Catherine Cookson
Der Spieler Inhaltsangabe Licht und Schatten in der nordenglischen Industriestadt Ironside am Ende d...
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Catherine Cookson
Der Spieler Inhaltsangabe Licht und Schatten in der nordenglischen Industriestadt Ironside am Ende des vorigen Jahrhunderts – unversöhnlich stoßen die gesellschaftlichen Gegensätze aneinander. Doch für Rory Connor, Sohn einer Arbeiterfamilie, steht der Weg nach oben offen: ein tüchtiger sympathischer junger Mann, der für den Hausbesitzer und Fabrikanten Kean die Mieten eintreibt. Ein Aufsteiger also – wenn da nicht die dunkle Seite seines Wesens wäre: seine Spielleidenschaft, durch die er in üble Kreise gerät. Alles scheint gutzugehen, als er seine Jugendfreundin Janie heiratet. Doch auch die Tochter seines Chefs, die nicht eben schöne, aber einfühlsame und intelligente Charlotte Kean, hat ein Auge auf ihn geworfen, und als ihr Vater stirbt, macht sie Rory zum Geschäftsführer. Da geschieht etwas Furchtbares: Die Jacht der Familie, bei der Janie als Kindermädchen arbeitet, geht auf der Überfahrt nach Frankreich unter, Janie wird für tot erklärt. Nun ist der Weg für Charlotte frei, sie heiratet Rory und wird mit ihm glücklich. Rory Connor scheint es geschafft zu haben, eine glanzvolle Zukunft liegt vor ihm – doch unversehens steht die Vergangenheit wieder auf und stellt alles, was er erreicht hat, in Frage. Mit ihrer unnachahmlich treffsicheren Milieuschilderung, ihrer dramatischen Handlungsführung und ihren unvergeßlichen Frauengestalten fasziniert die bedeutende englische Romanautorin auch in diesem Roman ihr großes internationales Leserpublikum.
Aus dem Englischen übersetzt von Erni Friedmann Die Originalausgabe erschien unter dem Titel THE GAMBLING MAN Sonderausgabe des Lingen Verlags, Köln © 1975 by Catherine Cookson © 1978 für die deutsche Ausgabe by Franz Schneekluth Verlag, München Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln-RD Schutzumschlag: Roberto Patelli printed in West Germany Alle Rechte vorbehalten Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Erster Teil Rory Connor
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as Tyne-Dock lag wie ausgestorben da. Es war Sonntag, zwischen Dämmerung und einbrechender Nacht, und bitterkalt. Die ersten Schneeflocken fielen matt zur Erde und bedeckten das mit Kohlenstaub und Spucke verschmutzte Pflaster mit ihrer makellosen Reinheit. Die fünf Schwibbogen, die von den Toren des Docks zur Jarrow Road führten, wiesen dunkelgrüne Streifen von dem ständig an ihnen herabfließenden Wasser auf. Es war eine trostlose Gegend, vor allem am Sonntag, wo die Docks Atem zu holen schienen, ehe mit Tagesanbruch abermals Wagen um Wagen vorbeirumpeln würden, um die Kohlenladungen an ihren Bestimmungsort zu bringen. Nach dem letzten Schwibbogen teilte sich die Straße: links lag Simonside, rechts Jarrow. Die Straße nach Jarrow war abscheulich, voller Schlick und Schlamm, der bis an den Fluß hinunterreichte. Die Straße nach Simonside hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihr; wenn man den Damm erst einmal erklommen hatte, waren die Docks und das verrußte East Jarrow sogleich vergessen. Man kam an gepflegten Gärten und hübschen Häusern vorbei, worauf der große Gutshof folgte, und danach befand man sich schon inmitten grünender Felder und hatte einen wunderbaren Blick ins Land. Natürlich nahm man, wenn man den Kopf wandte, noch die Schiffsmaste wahr, aber wenn man geradeaus sah, spürte man selbst in der Abenddämmerung, daß dies eine hübsche Gegend war, ländlich eben. Genau wie die holprige Landstraße, die immer schmaler wurde, bis sie schließlich in einen Karrenweg mündete. Fremde waren stets überrascht, wenn sie, nachdem sie diesen Kar2
renweg eingeschlagen hatten, an diesem ›Ende der Welt‹ nochmals auf drei kleine Häuschen stießen. In Nr. 1 wohnten die Waggetts, in Nr. 2 die Connors und in Nr. 3 die Learys. Aber da Sonntag war, befand sich sowohl die Waggett- als auch die Leary-Familie in Connors Haus, wo wie immer Karten gespielt wurde.
»Himmel noch mal, habt ihr schon so was gesehen! Er hat schon wieder gewonnen. Wieviel schulde ich dir diesmal?« »Zwölfeinhalb Pence.« »Zwölfeinhalb Pence! Muß ich sie dir auf der Stelle zahlen, oder wartest du, bis du's kriegst?« »Ich warte, bis ich's kriege.« »Bist du aber großzügig. Auch Zinsgeier haben also Herz – das muß man dir lassen, Rory.« »Zieh mich nur auf! Gleich werden wir's nochmals riskieren, was meinst du.« »Kommt gar nicht in Frage. Bei den paar Kohlen, die ich im Sack habe und auf die Janie noch dazu ganz scharf ist. Nicht wahr, Mädchen?« Bill Waggett drehte sich zu den Frauen um, die vor dem Kamin saßen und Stoffabfälle zusammenschnitten, um daraus Fußmatten zu machen. Janie, seine Tochter, lachte hell auf und sagte: »Laß ihm nur seine paar Kohlen, Pa, denn wenn du's nicht tust, grapscht er dir glatt das Hemd vom Leib.« Sie wechselte einen verständnisvollen Blick mit Rory Connor, der sich ebenfalls umgedreht hatte und rief: »Du willst wohl, daß ich rüberkomme und dich bei den Ohren ziehe, hm?«, worauf sie übermütig erwiderte: »Versuch's nur, mein Lieber, versuch das bloß mal.« Und alle, die ums Feuer herumsaßen, lachten aus vollem Hals, als hätte Janie etwas außergewöhnlich Witziges gesagt. Am meisten lachte Janies Großmutter, bis sie, ganz außer Atem geraten, keuchte: »So ist's recht, so ist's recht. Gib's ihm nur ordentlich. Wie 3
man sich bettet, so liegt man, tjawohl. Ich war fünfundsechzig Jahre verheiratet, und kein einziges Mal hat mein Seliger die Hand gegen mich erhoben – weil er nämlich nicht die geringste Chance dazu hatte.« Und wieder lachte sie, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen. Auch Ruth Connor lachte, aber es war ein ruhiges, gedämpftes Geräusch, das zu der kleinen, mageren Gestalt mit dem spitzen Gesicht und dem nach hinten gekämmten schwarzen Haar zu passen schien. Und Ruths Tochter Nellie lachte; sie war seit drei Jahren verheiratet und hieß nun Burke. Sie war genauso klein und mager wie ihre Mutter, nur daß sie blondes Haar hatte. Und Lizzie O'Dowd lachte. Sie gehörte zu den Connors, das heißt, sie war Paddy Connors Kusine zweiten Grades. Sie war nun einundvierzig, lebte jedoch seit ihrem siebzehnten Lebensjahr, als sie aus Irland gekommen war, mit den Connors zusammen. Lizzies Lachen klang kräftig, tief und herzlich; sie war eine dicke Person mit dichtem braunen Haar sowie braunen und kugelrunden Augen. Sie sah ganz anders aus als die übrigen vor dem Kamin sitzenden Frauen, vor allem anders als Kathleen Leary von Nr. 3. Kathleens Lachen klang erschöpft, vielleicht deshalb, weil ihr Körper nach sechzehn Geburten müde war. Es bedeutete für sie keinen Trost, daß sieben ihrer Kinder gestorben und drei nach Amerika ausgewandert waren, denn sie hatte immer noch sechs daheim, und das jüngste zählte noch keine zwei Jahre. Es war nun Paddy Connor, Rorys Vater, der sagte: »Du hast was von noch mal riskieren gesagt, Junge. Also gut, los: Fangen wir an.« Paddy war ein Stahlarbeiter in Palmers Schiffswerft in Jarrow. In den letzten fünfzehn Jahren hatte er beim Hochofen gearbeitet, und jeder Zoll Haut seines Gesichts war dunkelrot wie eine Runkelrübe, die zu lange gekocht worden war. Er hatte drei Kinder. Rory, sein Ältester, war dreiundzwanzig. Rory war größer als sein Vater, jedoch etwas untersetzt. Außerdem hatte er einen richtigen Quadratschädel und sah weder seiner Mutter noch seinem Vater besonders ähnlich. Denn sein Haar war dunkelbraun, und seine Haut sah frisch aus. Auch seine Augen waren braun, jedoch viel dunkler als sein Haar. Seine Lippen waren jedoch nicht 4
voll, wie man das bei seiner Gesichtsform eigentlich hätte erwarten müssen, sondern schmal. Selbst in Hemdärmeln sah er elegant aus und bedeutend sauberer als die um den Tisch herumsitzenden übrigen Männer. Jimmy, Paddys jüngster Sohn, hatte feines, helles Blondhaar, das seinem Gesicht ein besonders jugendliches Aussehen verlieh. Man hätte ihn gut und gerne auf vierzehn schätzen können, obwohl er bereits neunzehn war. Seine Haut war ebenso hell wie sein Haar, und die grauen Augen schienen übergroß für sein Gesicht zu sein. Sein Körper wirkte so lange kerzengerade und gut geformt, bis er aufstand. Dann sah man, daß er O-Beine hatte – und zwar derartige, daß man ihm ringsum den Spitznamen ›Krummbein‹ angehängt hatte. Paddys drittes Kind war Nellie, die jetzige Mrs. Burke, die Rory altersmäßig am nächsten stand. Bill Waggett von Haus Nr. 1, der Sohn von Oma Waggett und der Vater Janies, arbeitete in den Docks. Er war fünfzig, konnte jedoch ohne weiteres für sechzig gehalten werden. Seine Frau war vor sechs Jahren gestorben, als sie zum siebentenmal schwanger war. Janie war das einzige seiner Kinder, das es geschafft hatte, zu überleben, und Bill vergötterte sie geradezu. Bills Liebe war sogar so groß, daß er von seiner Tochter nicht verlangt hatte, daheim zu bleiben und ihm den Haushalt zu führen, nachdem seine Frau gestorben war, sondern daß er zugelassen hatte, daß sie sich als Kindermädchen verdingte. Auch wenn dieser Umstand gleichbedeutend damit war, daß er wieder wie ein Schuljunge von seiner herrschsüchtigen Mutter behandelt wurde. Doch bezeugte er ihr, wie sämtliche Bewohner besagter drei Häuser, den gebührenden Respekt, weil sie mit ihren fünfundachtzig Jahren noch immer das Haus in Schuß hielt. Collum Leary war Grubenarbeiter. Er war jetzt achtundvierzig, jedoch seit seinem siebenten Lebensjahr im Bergwerk. Seine Einführung hatte darin bestanden, daß er zwölf Stunden täglich in völliger Finsternis dazusitzen hatte. Mit acht war er ›aufgestiegen‹ und durfte auf Händen und Knien und mit einer Kette zwischen den Beinen den mit 5
Kohlen beladenen Laufwagen anziehen, während sein Bruder von hinten anschob. Er konnte sich an seine Mutter nicht erinnern, nur an seinen Vater, der aus Irland gekommen war, als er selbst noch ein kleiner Junge gewesen war. Das Irländischste, was Collum jemals zu sehen bekommen hatte, war das Irische Viertel von Jarrow. Denn – so pflegte er immer zu sagen – wer würde sich schon der Mühe unterziehen, übers Meer zu fahren, wenn doch jedermann wußte, daß die Kerle drüben vor den Haustüren herumlungerten? Collum war mit seinen achtundvierzig ein frühzeitig gealterter, ausgepumpter Mann, dem sein Beruf deutlich seinen Stempel aufgedrückt hatte. Gesicht und Körper waren nämlich von blatterähnlichen Narben übersät, den Abdrücken der Kohle. Aber Collum war glücklich. Einmal im Jahr ging er beichten, hier und da im Anschluß daran zur Kommunion, erfüllte in jeder Weise seine Christenpflicht, indem er jedes Jahr dafür sorgte, daß seine Frau schwanger war – zumindest beinahe jedes Jahr! – In jenen Jahren, in denen sie nicht schwanger wurde, war er beim Abendmahl gewesen. So lief das. »Was macht die Bootsbauerei, Jimmy?« fragte Collum über den Tisch hinweg. »Oh, alles geht großartig, wunderbar, Mr. Leary.« »Wann wirst du dir dein eigenes Schiff bauen, hm?« »Das wird noch dauern, aber ich werd's schon schaffen, und dann wird es der Tag der Tage sein!« antwortete Jimmy und nickte eifrig zur Bekräftigung. Als er Rorys Blick auffing, lächelte er breit und meinte: »Ich sagte, ich werd's tun, und ich werd's auch tun, stimmt doch, Rory?« Für Jimmy stellte Rory die Autorität an sich dar. Rory, der eben die Karten mischte, warf Jimmy von der Seite her einen Blick zu, wobei eine ungewohnte Weichheit in seiner Miene lag, die man bei ihm höchstens noch dann beobachten konnte, wenn er Janie anblickte. »Deine Lehrzeit muß doch jetzt bald um sein, nicht?« Jimmy drehte sich zu Bill Waggett um und antwortete: »Stimmt, mit Jahresanfang. Davor habe ich ohnehin Angst. Die kündigen einen glatt, wenn man erst mal damit fertig ist.« »Ach, dich werden sie schon nicht rausschmeißen.« Bill Waggett 6
schürzte die Lippen. »Man hört in den Docks so mancherlei, weißt du. Da geht es um mehr als um verdorbene Kohle. Und da hab' ich sagen hören, daß du der beste Lehrling bist, den Baker jemals auf der Werft hatte. Sie sagen, du seist ein Naturtalent, Jimmy; so was ist angeboren, meinen sie. Und daß du äußerst geschickte Hände hättest.« »Ach, Unsinn!« Jimmy wandte den Kopf ab und preßte die Lippen fest zusammen; aber aus seiner Miene sprach deutlich die Freude, die ihm solch ein Kompliment machte. Dann blickte er abermals Bill Waggett an, und sein Gesichtsausdruck änderte sich, als er sagte: »Aber ich dürfte nicht einmal meine Lehre bei Baker beenden, wenn er sähe, was ich in dieser Minute tue.« »Du meinst, weil du Karten spielst?« Rory hatte mit dem Mischen aufgehört, und Jimmy nickte und sagte: »Tja. Du weißt ja, wie manche von ihnen sind. Jetzt ist sogar ein Rundschreiben durchgegeben worden. Hab' ich dir nichts davon erzählt?« »Nein, hast du nicht. Ein Rundschreiben? Mit welchem Inhalt?« »Es heißt, daß jeder, der sonntags beim Kartenspielen erwischt wird, ebenso seinen Job verliert, wie jemand, der darüber Bescheid weiß, daß einer spielt, und es nicht meldet.« Rory schlug auf die auf dem Tisch liegenden Karten: »Tatsächlich?« »Tatsächlich, Rory.« »Ist das die Möglichkeit!« Rory blickte ringsum, und die Männer sahen ihn wortlos an, bis sein Vater brummte: »Du weißt gar nicht, was du für ein Glück hast, Junge.« Es lag eine Spur von Groll in seiner Stimme, und der Blick, den die beiden wechselten, war alles andere als freundlich. Dann sagte Paddy, indem er Bill Waggett zunickte: »Was hast du da unlängst erzählt, als du in der Sodafabrik gearbeitet hast, Bill?« »Ach das! Nun ja …« Bill ließ den Blick auf Rory ruhen. »Konnte dort nicht mal atmen, so ein Gefängnis war das. Wenn man ein paar Minuten zu spät dran war, bekam man schon eine Geldstrafe aufgebrummt, und wenn es gar mal eine Viertelstunde war, wie es im Winter leicht passieren kann, wenn man sich den Weg erst durch den Schnee durchkämpfen muß, dann ziehen sie einem gleich ein Viertel vom Taglohn 7
ab. Hat einer gewagt, etwas über seine Arbeit verlauten zu lassen, außerhalb, meine ich, mußte man glatt vier Shilling blechen – kam es zweimal vor, wurde man entlassen. Tatsache! Auch wenn das, was du erzählt hast, völlig bedeutungslos war. Hat man einen gedeckt, der sich verspätet hatte, war man selbst dran, das heißt, man wurde ebenso zur Ader gelassen wie der Zuspätkommende. Wie ein Rudel Schulbuben wird man dort behandelt. Dem Werkmeister eine einzige unverschämte Antwort geben – schon hatte man seine Strafe weg. Du meine Güte, ich mußte einfach da raus. Es ist schon so, wie dein Vater gesagt hat, Rory: Du weißt gar nicht, wie gut du dran bist mit deinem Mieteninkasso. Herrje, es will schon was sagen, wenn man sich seinen Lebensunterhalt verdienen kann, ohne sich die Hände schmutzig machen zu müssen.« Rory knallte die Karten schwungvoll auf das geblümte Wachstuch, das den Holztisch bedeckte. Kopf und Lider waren zwar gesenkt, aber die Lippen hatte er derart zusammengepreßt, daß man sich schon ausmalen konnte, was er dachte. Jimmy, der wie immer jede Stimmung seines Bruders erriet, wandte sich an Collum Leary und sagte: »Es ist ein Jammer, daß unser Rory nicht mit Michael und James auf einem dieser Boote Karten spielen kann, wie sie's in Amerika auf jedem Fluß tun, wie sie uns geschrieben haben. In aller Offenheit.« »Das stimmt«, lachte Collum. »Da würde Rory im Handumdrehen ein Vermögen machen.« Er drehte sich um, knuffte Rory spielerisch mit der geballten Faust in die Schulter und fügte hinzu: »Warum gehst du nicht auch nach Amerika, Rory – warum eigentlich nicht?« »Vielleicht geh ich noch eines Tages.« Rory breitete die Karten fächerförmig aus. »Würde mir zusagen, so ein schwimmender Spielsalon …« »Spielen, Karten, ein Vermögen in Amerika machen – das ist alles, was man zu hören bekommt.« Mit Ausnahme Rorys wandten sich alle Männer nach Lizzie O'Dowd um, die sich erhoben hatte, ihnen zunickte und fortfuhr: »Keiner ist jemals zufrieden. Nehmt, was Gott euch schickt, und seid dankbar.« Sie seufzte auf, lachte und sagte dann 8
in verändertem Ton: »In der nächsten Minute wird er euch ein schönes Bruststück schicken, kann ich euch verraten. Wer von euch möchte eingelegte Zwiebel dazu, hm?« Alles sprach und lachte durcheinander, als Lizzie am Schrank und Alkoven, in dem ein Bett stand, vorbei zur Spülküche ging. Janie sprang auf und folgte ihr. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, fing sie, die Schultern vor Kälte hochziehend, an, dicke Scheiben von dem krustigen Brot abzuschneiden. Erst als sie fast damit fertig war, sagte sie ruhig und mit gesenktem Kopf: »Sorg dich nicht, Lizzie; er geht schon nicht nach Amerika.« »Ach, das weiß ich doch, Kind, das weiß ich doch. Mein Temperament geht nur leider immer mit mir durch.« Sie hielt in ihrer Arbeit inne, sah Janie voll an und sagte: »Es ist komisch, Kind, aber du verstehst mich, nicht wahr?« »Doch, ich verstehe dich, Lizzie. Aber zerbrich dir wirklich nicht den Kopf: er tut's auch.« »Ich wollte, ich könnte es glauben.« »Er tut es, bestimmt.« Lizzie legte nun das Messer, mit dem sie hübsche Portionen von dem Bruststück abgeschnitten hatte, auf den Tisch, hob die plumpen Hände hoch, preßte sie fest unters Kinn und bemerkte: »Ich bin nicht schlecht, Janie, war es nie.« »Ach, Lizzie, Lizzie!« Janie streckte beide Arme aus und schlang sie um den üppigen, warmen Körper Lizzie O'Dowds, die sie von Kindheit an kannte und gern hatte; noch ehe ihre Mutter gestorben war, hatte sie bereits Lizzie O'Dowd geliebt, als handle es sich um ihre zweite Mutter. Möglich, daß sie sie ihr sogar vorgezogen hatte, sie war dessen nicht ganz sicher. Und nun flüsterte sie ihr, Wange an Wange gepreßt, zu: »Es wird alles in Ordnung kommen, letzten Endes wird bestimmt alles in Ordnung kommen, du wirst sehen.« »Ach Gott ja, du hast sicherlich recht, Kind.« Lizzie wandte den Kopf ab und wischte sich die Tränen mit einer heftigen Handbewegung von den Wangen. Dann ergriff sie abermals das Messer und murmelte mit 9
gesenktem Kopf: »Ich halt weiß Gott was von Ruth, hab's immer getan. Sie ist die beste Frau auf der ganzen Welt … Das Leben ist nicht einfach, Janie.« »Das weiß ich, Lizzie. Und Ruth schätzt dich über alle Maßen, das weißt du doch. Sie käme einfach nicht ohne dich aus. Keiner von uns käme ohne dich aus.« »Ach, Kind«, lächelte Lizzie und sah direkt erleichtert dabei aus. »Jeder von uns ist ersetzbar.« Sie lachte kurz auf. »Geh bloß einmal durch den Friedhof, dann weißt du's.« »Nun hör aber auf, Lizzie«, sagte Janie, sich an deren breite Schulter lehnend und gleichfalls lachend, »du bist wirklich unverbesserlich! Ich kann dir verraten, jedesmal, wenn meine Stimmung auf dem Tiefpunkt ist, denk' ich an dich.« »Hach, das ist das zweifelhafteste Kompliment, das ich je zu hören bekommen habe. Wenn deine Stimmung auf dem Tiefpunkt ist, denkst du also an mich, wie? Viel tiefer kannst du aber schon wahrhaftig nicht mehr geraten, oder?« »Ach du!« Janie versetzte ihr einen leichten Stoß. »Du weißt genau, was ich meine. Hör mal, sind das nicht schon genug Brote, was meinst du?« »Das da? Das füllt ja nicht mal einen hohlen Zahn. Besser, du fängst gleich mit einem zweiten Laib an … Wie geht's deiner Herrschaft?« »Oh, gut wie immer. Weißt du, oft frag' ich mich, wo ich ohne sie gelandet wäre. Höchstwahrscheinlich in einer Fabrik, wie die meisten ringsum. Ich hab' wirklich Glück gehabt. Das Leben bei denen ist ganz, ganz anders: das Haus, die Einrichtung, das Essen, alles. Wie sie reden und so, verstehst du, Lizzie? Du weißt doch, daß ich keine Streberin bin, aber ich bin gerne dort oben. Das heißt natürlich nicht, daß ich nicht riesig gerne heimkomme, selbst wenn ich schon im vorhinein weiß, daß meine Oma mich mit ihren ewigen Sprüchen halb totreden wird. Du meine Güte, woran die sich so alles erinnert …« Sie lachte abermals, ehe sie schloß: »Nun ja, es gibt eben verschiedene Arten zu leben. Du weißt schon, was ich damit sagen will, nicht wahr, Lizzie?« 10
»Tja, Kind, ich weiß schon, was du meinst, wenn ich auch nie ein anderes Leben gekannt habe als dieses hier. Ich will's auch gar nicht, nicht für mich – aber für dich und … und andere. Ja, ja, ich weiß, was du meinst.« Sie belegte nun die Brotschnitten mit Fleisch und schichtete sie auf eine große Platte. Dann tippte sie auf die letzte Schnitte und rief: »Also gehen wir unsere Raubtiere füttern, und fragen wir mal, ob sie Tee oder Bier wollen.« Damit trug sie die Platte nach nebenan, stellte sie mitten auf den Tisch und sagte: »Wollt ihr Tee, oder soll ich mit den Krügen herausrücken, hm?« Die Männer sahen einander verstohlen fragend an. Dann wandten sich Paddy und Bill gleichzeitig um und blickten zu den Frauen hinüber. Und wieder war es Lizzie, die das Wort ergriff und rief: »Keine von uns denkt auch nur im Traum dran, bei Nacht und Nebel Bier holen zu gehen. Wenn ihr nicht darauf verzichten wollt – da drüben stehen die Krüge, holt es euch nur schön selber.« Die Männer sagten kein Wort, sondern sahen weiter zu den Frauen hinüber, und dann sagte Ruth ruhig: »Es ist Sonntag.« Da seufzten sie, wandten sich wieder ihrem Tisch zu, und Bill Waggett murmelte: »Da haben wir's. Verdammter Sonntag. Wißt ihr …«, er blickte von den Karten auf und nickte Jimmy zu, »ich hasse die Sonntage – hab' ich immer getan, von klein auf. Weil man da härter angepackt wurde, als wenn man bei der Arbeit war.« Er hatte kaum ausgesprochen, als seine Mutter sich lauthals empörte: »Du fauler Kerl, du! Warst du schon immer. Wolltest ja nicht mal mit anschieben, als du zur Welt kamst. Bist einfach wie eine tote Fliege auf heißem Öl herausgeglitscht.« Lautes Gebrüll erfüllte die Küche, und Bill Waggett schrie seine Mutter an: »Also weißt du – so was zu sagen – du solltest dich was schämen!« Er sah nun Ruth an, als wolle er sich entschuldigen, aber sie mußte einfach lachen, und dabei kam es nur höchst selten vor, daß Ruth über eine Zote auch nur den Mund verzog. »Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem er zur Welt kam.« Alle blickten nun Oma Waggett an. »Meine Mutter und meine Großmutter haben ihn herausgezogen und ich kann mich noch genau an den 11
Kommentar meiner Oma erinnern: Wie ein Samstagabend-Kaninchen, sagte sie. Du weißt doch« – sie wandte sich an Janie –, »wie das Samstag auf dem Markt ist, wenn nur mehr die allerletzten Kaninchen übrig sind, an denen nichts dran ist als Haut und Knochen, nicht? – ›Den kriegst du niemals über die Runden‹, hat sie gesagt. ›Der wird genauso verrecken wie die übrigen fünf.‹ Aber ich hab' ja nie Glück gehabt; er hat und hat sich nicht an die Prophezeiung halten wollen!« Sie sah ihn schelmisch an, wie er mit gebeugtem Kopf dasaß und resignierend die Achseln zuckte. Er kannte seine Mutter. Wenn die einmal zu reden anfing, dann mußte schon ein ganz besonderes Ereignis eintreten, um sie zum Schweigen zu bringen. Überhaupt wenn ihr, wie jetzt und hier, alle zuhörten. Er hatte es nie recht verstanden, was die Menschen an ihrem Gerede finden konnten. »Es war meine eigene Mutter, die, wie sie dieses Nichts in Händen hielt, sagte: ›Eins steht jedenfalls fest, mein Kind. Den wird dir keiner zu den Matrosen verschleppen.‹ Und wißt ihr, was? Meinen Vater hätten sie um ein Haar gekriegt, jawohl. Muß so gegen siebzehnhundertneunzig gewesen sein, das Jahr weiß ich nicht mehr genau. Damals haben die Jungs die Köpfe zusammengesteckt und wollten es nicht mehr dulden, wo sie gingen und standen, aufs Schiff verschleppt zu werden. Da haben sie sich in North Shields zusammengerottet und diese Preßkommandos kurzerhand verjagt. Bis die Infanterie aufmarschierte, die Stadt durchkämmte und die armen Teufel an Bord zwang. Aber mein Vater hat sich nicht erwischen lassen. Es ist ihm gelungen, auf Schleichwegen auf unser Ufer herüber zu gelangen – wie er hinterher sagte, wußte er selbst nicht genau wie.« »Wird wohl über die Wellen geschritten sein.« Gelächter klang auf, und Oma Waggett rief ihrem Sohn zu: »Tja, das ist sehr gut möglich, mein Lieber. Früher einmal konnte man nämlich den Fluß tatsächlich durchwaten. Ja, ja, einmal haben sie eine Brücke geschlagen, die einfach aus Booten bestand, auf die man Bretter gelegt hat, hat meine Mutter erzählt. Und ein ganzes Regiment ist darüber marschiert, ob ihr's nun glaubt oder nicht. Ach ja, der Fluß hat sich verändert.« Sie nickte bedeutungsvoll. »Wißt ihr, daß meine Großmut12
ter mir berichtet hat, daß man früher so viele Lachse im Tyne gefangen hat, daß man das Pfund um eine einzige Kupfermünze bekam? So wahr ich da sitze, jawohl. Könnt ihr euch so was vorstellen? Für eine einzige Kupfermünze!« »Ja, ja, Oma.« Alle mit Ausnahme ihres Sohnes nickten. »Dabei braucht man gar nicht bis zu der Zeit, wo meine Mutter und meine Großmutter noch jung waren, zurückgehen, um sich mit Leichtigkeit an die riesigen Fischschwärme im Tyne erinnern zu können, meine Lieben. Damals genügten eben noch einfache Kähne, um die Kohle von hier fortzuschaffen. Nicht diese Ungeheuer aus Metall, wie Palmer sie heutzutage hat. – Was hast du gesagt, Bill?« Sie blickte ihren Sohn finster an. »›O mein Gott!‹ hast du gesagt? Nun, ich bin froh, daß du ihn als den deinen betrachtest, glaub mir.« Sie stimmte frohgemut in das Kichern ringsum ein, nickte den Anwesenden zu und fuhr fort: »Weil wir grade von Kohle reden: Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Simon Temple mit seiner Kohlengrube in Jarrow begann. Ich war damals erst acht, aber du meine Güte! Ich erinnere mich, als wenn's gestern gewesen wäre. Die Bürgerwehr ist aufmarschiert, die Musikkapellen haben um die Wette aufgespielt, und als er auf den Markt von Shields kam, spannten die Jungs ihm die Pferde aus und zogen seinen Wagen selbst durch die Gassen. Und auf der Don-Brücke sind ihm die Ratsherren von Jarrow entgegengekommen. Das war der Tag, an dem der Grundstein für die Schule der Arbeiterkinder gelegt wurde. Du lieber Himmel! Simon Temple …« Sie schüttelte den Kopf und versank einen Augenblick in Erinnerung an einen der wenigen fröhlichen, turbulenten Tage ihrer Kindheit. Collum Leary benützte diese Pause, um einzuwerfen: »Simon Temple und all die verdammten Grubenbesitzer. Große Burschen, große Kumpane, große Herren. O ja, groß waren sie, wenn's galt, Krokodilstränen zu vergießen über die, die unten geblieben sind. Neunundneunzig Männer und Knaben haben ihr Leben in der Fellon-Grube lassen müssen und zwanzig in der von Harrington …« »Das ist lange vorbei, Collum«, sagte Oma Waggett angriffslustig, weil der kleine Mann ihr die Rolle der Geschichtenerzählerin streitig 13
zu machen drohte. Aber er ließ sich nicht von ihr einschüchtern, sondern schrie sie mit grimmiger Miene an: »Sei nicht albern, Oma! Es passiert Monat für Monat in der einen oder anderen Grube. Lange vorbei – was heißt da lange vorbei?!« »Laßt doch, laßt doch.« Es war das erstemal, daß Kathleen Leary das Wort ergriff; ihr Mann sah sie an und wiederholte verbissen: »›Laßt doch, laßt doch‹, sagst du. Die verdammten Grubenbesitzer!« Die Stimmung in der Küche hatte sich gewandelt, wie es beinahe immer geschah, wenn die Rede auf die Arbeit kam; ob nun Paddy Connor von der Stahlarbeit sprach, Bill Waggett von den unmenschlichen Bedingungen im Hafen oder Collum Leary von der mörderischen Tätigkeit in den Gruben; und es geschah auch fast regelmäßig sonntags, daß die Bitterkeit Oberhand gewann, denn sonntags war Oma Waggett so gut wie immer anwesend. »Komm jetzt, Oma.« Janie hatte den Arm der Großmutter ergriffen. »Was willst du denn? Laß mich.« »Es ist Zeit zum Heimgehen. Ich muß mich noch fertigmachen, du weißt doch.« Oma Waggett sah Janie einen Moment lang an, dann nickte sie und sagte: »Ach ja, Kind, natürlich, hab' ganz vergessen, daß du ja bald weg mußt. Also dann …« Sie erhob sich mühsam. »Wo ist mein Schal?« Janie holte den großen schwarzen Schal, der über der Lehne der dreisitzigen Holzbank hing, die an der gegenüberliegenden Wand eingezwängt zwischen einer abgenützten Kommode und einem wirklich schönen holländischen Kleiderschrank stand. Die alte Frau nickte erst Ruth, dann Nellie und Lizzie und schließlich Kathleen Leary zu und verabschiedete sich von jeder einzelnen mit einem: »Auf bald«. Und sie antworteten der Reihe nach freundlich: »Auf bald, Oma«, und als sie, von Janie gefolgt, auf die Haustür zuging, rief Lizzie ihr nach: »Leg dir ein Backblech ins Bett, du wirst es heute nacht brauchen können.« »Mach ich, mach ich. O mein Gott, schaut euch das an!« rief sie, als sie die Tür öffnete. »Kommt dicker runter als je zuvor.« Sie wandte den Kopf und sah die Anwesenden nochmals der Reihe nach an. »So ein 14
Winter erledigt uns; der wird uns erledigen, sag' ich euch – ich kann's direkt riechen.« Janie hatte ihren alten Mantel vom Haken an der Tür heruntergeholt, fuhr hinein, warf Rory einen Blick zu und sagte halblaut: »In einer halben Stunde?« Dieser lächelte und nickte. »Geh schön, Oma, geh schön, sonst bläst sie der Wind noch alle zur Tür hinaus.« Janie schob die Großmutter über die Schwelle, aber die alte Frau leistete heftigen Widerstand und sagte: »Bleib mal stehen, so bleib doch stehen. Sieh nur, da kommt gerade jemand durchs Gartentor.« Janie trat an ihre Seite, spähte in die Dunkelheit hinaus, drehte sich um und rief: »Es ist John George.« Rory erhob sich langsam, kam auf die Tür zu und sagte: »War doch heute nicht vorgesehen. Sicher hat er sie wieder mal verpaßt.« »Hallo, John George.« »Hallo, Janie.« John George Armstrong putzte sich die Stiefel auf dem an der Hausmauer befestigten Eisenring ab und fügte hinzu: »Hallo, Oma.« Und Oma maulte: »Komm rein oder laß uns raus, sonst frier' ich glatt noch da an.« Janie schob nun ihre Großmutter energisch vor sich her und sagte im Vorbeigehen zu John George: »Bis später also.« »Tja, bis später, Janie«, erwiderte er, ehe er die Küche betrat und all die Willkommensgrüße erwiderte. Nachdem er Mantel und Melone am Türhaken aufgehängt hatte, nahm er seinen Platz am Tisch ein, und Rory fragte kurz: »Was ist denn schiefgegangen?« »Ach, das übliche … Ihr spielt Karten?« Diese Bemerkung in bezug auf eine nicht zu übersehende Tatsache sollte offensichtlich jedermann kundtun, daß er über den Grund seiner unerwarteten Anwesenheit an diesem Abend nicht zu reden wünschte, was auch von allen akzeptiert wurde. »Machst du mit?« »Was meinst du denn!« 15
Als John George und Rory ein kurzes Lächeln austauschten, sagte Bill Waggett: »Es wird gut sein, wenn du dir den Gürtel festschnallst und deine Hosen hochziehst, Junge, denn Rory ist heute wieder mal derart in Form, daß er mich bereits wie eine Weihnachtsgans ausgenommen hat.« »Nein!« »Doch, doch. Wir haben vorhin gesagt, er sollte nach Amerika gehen, dort kann er auf jedem Boot sein Glück versuchen.« »So weit braucht er gar nicht zu gehen, Mr. Waggett. Es gibt eine ganze Menge Spielmöglichkeiten in Shields und auf der anderen Seite des Flusses. Und in Newcastle soll einer sogar glatt ein Vermögen machen können, hab' ich gehört.« »Spielen, spielen – das ist alles, was man in diesem Haus zu hören bekommt! Möchtest du eine Tasse Tee?« Lizzie beugte sich über John George, und er wandte ihr sein langes, mageres Gesicht zu, lächelte sie freundlich an und antwortete: »Das wäre sehr nett, Lizzie.« »Hast du schon gegessen?« »Ja, ja, natürlich.« »Wann?« »Oh, ist noch gar nicht so lange her.« »Hast du für ein, zwei Bissen noch Platz?« »Das hab' ich immer, Lizzie.« Abermals lächelte er freundlich zu ihr auf, und sie versetzte ihm einen scherzhaften Stoß und sagte: »Gegessen! So siehst du aus. Bei dir ist jeder Bissen die reinste Vergeudung – wohin verschwindet denn alles, frag' ich mich. Du hast ja kein Gramm Fleisch auf den Knochen, Junge.« »Vollblüter sind immer mager, Lizzie.« Als sie sich auf dem Weg zur Spülküche umdrehte, sagte sie: »Sie hätten dir einen Ziegelstein auf den Kopf legen sollen, als du noch ein Kind warst, damit du in die Breite und nicht in die Höhe gewachsen wärst.« Das Spiel wurde mit der üblichen Neckerei fortgesetzt, bis die Tür abermals aufging und Janie, zum Ausgehen gekleidet, eintrat. Sie trug einen langen braunen Tuchmantel mit Kapuze, ein ausgesprochen ele16
gantes Kleidungsstück, das wie stets von ihrer Gnädigen stammte, die es abgelegt hatte. Ihr brauner Velourshut mit schmalem, flachem Rand thronte auf ihrem Haar, und seine Farbe verschmolz geradezu mit jeder ihrer glänzenden Locken. Der Hut war mit zwei Samtbändern unter ihrem Kinn festgebunden, die denselben Farbton hatten wie ihre prächtigen Wollhandschuhe. Das einzige, was nicht zu dieser Aufmachung paßte, waren die plumpen Knopfstiefelchen. Es sei schon ein Jammer, stellte Janie immer fest, daß ihre Füße zwei Nummern größer waren als die ihrer Gnädigen. Aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, daß Rock wie Mantel den größten Teil dieser Stiefel bedeckten, so daß nur die Spitzen hervorlugten. Ausgenommen, wenn sie schlammige Straßen überqueren und den Rock schürzen mußte. »Nein so was – siehst du aber wieder mal hübsch aus!« strahlte Lizzie und lief auf sie zu, drehte sich jedoch gleich darauf zu Rory um, der sich eben gemächlich vom Tisch erhob, und fuhr ihn an: »Was ist, willst du sie den ganzen Abend warten lassen? Beweg dich gefälligst.« Das Aufblitzen seiner Augen, das Zusammenkneifen seiner Lippen und der heftige Ruck seines Kopfes veranlaßten Janie, rasch beschwichtigend einzugreifen: »Wir haben Zeit, genug Zeit. Ich muß erst in einer Stunde meinen Dienst antreten. Es ist doch erst acht.« »Eine Stunde braucht ihr auch bis nach Westoe, wo die Straßen voller Schneematsch sind, Kind.« »Ach wo, Lizzie, solche Rennläufer wie wir – was glaubst du denn!« Als sie sah, daß John George seinen Mantel vom Haken nahm, fragte sie verwundert: »Du willst doch nicht etwa mitkommen? Bist doch noch gar nicht lange hier.« »Ich muß wieder zurück, Janie. Onkel Willy geht's nicht besonders gut.« »Tut es das jemals?« Diese Bemerkung stammte natürlich von Lizzie, und als Ruth leise warnend den Kopf schüttelte, warf Rory ihr einen Blick zu, der nur mit blanker Wut beschrieben werden konnte; seine Gesichtszüge waren auch dementsprechend verzerrt. Er schrie Lizzie nicht etwa an, aber seine gedämpfte Stimme brachte seine Gefühle deutlicher zum Aus17
druck, als wenn er sie angebrüllt hätte. »Willst du gefälligst den Mund halten und dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmern!« Merkwürdigerweise ging Lizzie nicht auf ihn los, sondern sah ihn nur einen Moment lang ruhig an und sagte mit beinahe sanfter Miene: »Ich hab' mein ganzes Leben damit zugebracht, mich um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, mein Junge. Und die bestehen nun einmal darin, auf jene aufzupassen, um die ich mir Sorgen mache. Und um John George mach' ich mir Sorgen. Dieser Onkel und diese Tante leben doch von ihm. Und was ich jetzt sage, hab' ich ihm auch schon früher gesagt, und zwar ins Gesicht – nicht wahr, John George?« »Das hast du Lizzie. Und ich hab's gern, wenn du dich um mich kümmerst, ich find's tröstlich.« »Na bitte!« Sie nickte Rory triumphierend zu, aber dieser wandte ihr den Rücken und ging zur zum Dachgeschoß führenden Treppe. Oben befand sich sein und Jimmys Schlafraum, und zwar seit den Kindertagen. Früher war er noch durch einen Vorhang abgeteilt gewesen, hinter dem Nellie gehaust hatte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren ging Lizzie nun in die Spülküche, und Janie begann, sich zu verabschieden. Als sie bei Nellie anlangte, beugte sie sich über sie und sagte leise: »Ist alles in Ordnung, Nellie?« »Ja, ja, Janie, es ist schon alles in Ordnung.« Janie sah auf das abgehärmte, kränklich wirkende Gesicht nieder. Sie wußte, daß bei Nellie keineswegs alles in Ordnung war – das war nie der Fall gewesen, seit sie geheiratet hatte. Nellies Ehe jagte ihr Angst ein. Charlie Burke hatte Nellie vier Jahre lang den Hof gemacht und sich keinen Sonntag von der Schwelle gerührt, und hier in diesem Raum hatten sie pausenlos gescherzt und gelacht wie die Kinder. Aber nachdem die beiden einige Monate verheiratet waren, war die gute Laune der beiden wie weggeblasen. Es hatte etwas mit dem – Schlafzimmer zu tun. Weder ihre Großmutter noch Lizzie hatten je mit Janie darüber gesprochen, und es mußte nicht erst erwähnt werden, daß Ruth mit keinem Wort daran rührte. Aber aus den wenigen Bemerkungen, die sie von Lizzie und ihrer Großmutter aufgeschnappt hatte, 18
konnte sich Janie schon zusammenreimen, wo der Hund begraben lag, und daß der Umstand, daß Nellie, obwohl sie nun schon über drei Jahre verheiratet war, noch immer nicht schwanger war, für die gespannte Stimmung zwischen den beiden Menschen verantwortlich war. Charlie Burke ließ sich hier sonntags kaum mehr blicken. Natürlich hatte er eine Ausrede parat: Da er auf den Kohlenschleppern arbeitete, mußte er jederzeit abrufbereit sein, um eine dringende Ladung den Fluß hinaufzufahren. Janie ging nun in die Spülküche, um sich von Lizzie zu verabschieden. Lizzie stand unter dem schrägen Fenster, das der Linie des Daches zu folgen schien, und umklammerte den Rand des Abwaschbeckens mit beiden Händen. »Ich gehe also jetzt, Lizzie.« Ohne sich umzuwenden, sagte Lizzie mit rauher, ein wenig zitternder Stimme: »Er ist ein verdammter Schnösel, weißt du das, Janie? Eine richtige Rotznase. Tut mir leid, das sagen zu müssen, Kind, aber das ist er.« »Das ist er nicht; du weißt genau, daß er das nicht ist, Lizzie.« Janie schüttelte den Kopf. »Und wenn es zwischen euch beiden ständig Unfrieden gibt, dann hast du dein Scherflein ebenso dazu beigetragen wie er, jawohl.« Sie machte eine drohende Bewegung mit dem Zeigefinger, und Lizzie streckte mit heftig flatternden Lidern die Hand aus und berührte Janies sahnige Haut, die vor Gesundheit und Jugend strotzte, wobei sie beteuerte: »Du bist viel zu gut für ihn, Kind. Das sag' ich dir schon die ganze Zeit, ist es nicht so? Er hat verdammt viel Glück, der Bengel.« »Ich auch, Lizzie.« »Ach, Kleines, du würdest dich auch beim Schicksal bedanken, wenn man dir einen Pudding aus reinem Stearin servieren würde, garantiert«, lächelte Lizzie trocken. »Und warum auch nicht? Es wäre nicht das erstemal, daß ich Stearin esse.« Sie stießen sich an, dann sagte Janie: »Erinnerst du dich nicht mehr 19
an unsere Hungerleider-Weihnacht? Wie alt war ich da … zehn, elf. Keine Arbeit, nichts als Streiks. Ach, damals haben wir glatt Kerzenreste verspeist. Oma kochte sie auf siebenerlei Art, Woche für Woche.« Sie hielt inne, die beiden sahen sich verständnisinnig an. Dann sagte sie: »Leb wohl, Lizzie.« Spontan schlang Janie die Arme um die rundliche Gestalt und küßte sie, und Lizzie zog das junge Mädchen fest an sich. Es war eine sonst nicht übliche Demonstration der Herzlichkeit. Die Menschen hier herum küßten und liebkosten sich nicht vor anderen; das schickte sich nicht – jedermann wußte das. Selbst verlobte Paare hoben sich diese Dinge für versteckte Hecken auf. Und wenn man in der Stadt lebte, dann gab es den Hinterhof dafür oder einen Torbogen. Der einzige Raum für einen flüchtigen Kuß war in einem anständigen Haus bestenfalls das Vorderzimmer, wenn man eines hatte. Wenn nicht, dann mußte man eben aufs Schlafzimmer warten – das lag auf der Hand. Janie hatte sich fest vorgenommen, aufs Schlafzimmer zu warten, und wenn sie sich einmal etwas vorgenommen hatte, dann war sie eisern; auch wenn die Vorstellung von dem, was sich in so einem Schlafzimmer – nach allem, was sie gehört hatte – abspielte, sie keineswegs überwältigte. Sie machte sich los und verließ eilig die Spülküche, in der Lizzie abermals das Abwaschbecken umklammerte. Rory und John George waren bereits zum Ausgehen fertig und warteten schon auf sie. Rory, der mit seinen fünf Fuß zehn keineswegs klein zu nennen war, nahm sich neben dem mageren, sechs Fuß messenden John George beinahe so aus. John George trug einen schwarzen Mantel, der offensichtlich nicht für ihn gemacht worden war. Obwohl die Länge stimmte – er ging gut unters Knie – waren die Achseln zu breit und die Ärmel zu kurz, so daß die dürren Handgelenke auf den ersten Blick die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Die linke Stiefelkappe wies einen deutlichen Riß auf, die rechte einen Flicken. Seine Melone war zwar sauber gebürstet, hatte jedoch eine leicht grünliche Tönung. Seine ganze Erscheinung erweckte den Eindruck sauberer Schäbigkeit. Dabei war er Rorys Vorge20
setzter in der Firma Septimus Kean; denn während Rory erst seit vier Jahren für Mr. Kean arbeitete, war John George bereits acht Jahre bei ihm. Nun, mit seinen zweiundzwanzig Jahren – er war ein Jahr jünger als Rory –, legte er jedenfalls nichts von dem verhältnismäßig luxuriösen Auftreten Rorys an den Tag. Rory trug einen dunkelgrauen Mantel über einem blauen Anzug, sowie einen blitzsauberen Kragen, wie jeder wohlbestallte Geschäftsmann, und nicht bloß einen Schal. Und obwohl er sonntags eine Kappe aufhatte – die Melone sparte er sich für Geschäftswege –, war es keine Arbeiterkappe. Zumindest sah sie nicht so aus, was vielleicht an dem forschen Knick lag, den er ihr versetzt hatte. Als Janie ihn wie immer mit einem Gefühl des Stolzes betrachtete, dachte sie: Er versteht sich genausogut zu kleiden wie ein Herr. »Also fort mit euch«, sagte Ruth. Sie begleitete sie allesamt an die Tür, klopfte Janie auf den Rücken und sagte: »Bis zum nächsten Sonntag, Kind, ja?« »Ja, Miß Connor, bis nächsten Sonntag. Sie sehen doch drüben mal nach, bitte.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf das Nebenhaus, und Ruth erwiderte: »Natürlich, sorg dich nicht um sie. Du weißt doch« – sie lächelte schwach –, »was ich immer sage: Die wird noch unter den Lebenden weilen, wenn wir die Radieschen längst von unten betrachten.« »Das würde mich nicht wundern.« Janie ging lachend hinaus und rief über die Schulter: »Wiedersehen, Wiedersehen, alle miteinander!« Als sie plötzlich im Dunkeln standen, hatten sie Mühe, ihren Weg zu finden. Hintereinander marschierten sie den schmalen Gartenweg hinunter. Nachdem sie die breitere Straße erreicht hatten, blieben sie einen Moment lang stehen; Rory stieß mit der Fußspitze den Schnee beiseite und sagte: »Du meine Güte, ist das ein Schneetreiben. Wenn das so weitergeht, kann das morgen ja fein werden, wie?« »Ist mir immer noch lieber als Regen«, erwiderte John George. »Wenigstens ist es endlich mal trocken. Es ist die Nässe, die mich fertigmacht, Tag um Tag.« »Da, häng dich ein.« Rory zog nun Janie neben sich, und sie schob 21
ihren Arm in den seinen. »Es kommt dichter vom Himmel als sonst. Man kann ja nicht einmal mehr die Lichter am Hafen sehen. Wenn wir nicht aufpassen, werden wir noch im Graben landen.« Sich fest an Rory drückend, stolperte Janie vorwärts, fing zu kichern an, wandte schließlich den Kopf und rief: »Wo bist du, John George?« »Ich bin hier.« Die Stimme erscholl hinter ihnen, und sie antwortete: »Gib mir deine Hand, los.« Als sie die Hand tastend ausstreckte und spürte, wie John George danach griff, sagte Rory: »Er soll sich nur schön allein durchkämpfen, er ist groß genug. Du paß auf deine eigenen Füße auf, sonst landen wir noch, wie ich bereits sagte, im Graben.« Es dauerte gute zwanzig Minuten, ehe sie die Tyne-Docks erreicht hatten. Unter dem letzten Schwibbogen machten sie halt und rangen nach Atem, so schnell waren sie gegangen. Und als Janie die erste Straßenlaterne erblickte, sagte sie: »Ist es nicht schön, ein Licht zu sehen?« »Du kannst nur einen Blick darauf werfen, komm. Besser, wir gehen weiter. Wenn wir hier stehenbleiben, kommen wir am Ende gar nicht mehr durch.« Als Rory Janie vorwärts ziehen wollte, hielt sie ihn zurück und sagte: »Hör mal, wart einen Moment. Es ist doch albern, daß du den ganzen weiten Weg bis Westoe mitkommst – du mußt ja doch wieder zurück. In der Stadt ist es nicht so schlimm, die ist beleuchtet, aber zu unserem Haus hinauf, nun, wir haben es ja gesehen, nicht? Wenn es weiter so schneit, bekommst du nur nasse Füße. Bei John George ist das was anderes, der hat keine fünf Minuten mehr von meiner Herrschaft.« »Sie hat recht Rory«, sagte John George. »Kehr lieber um.« Rory sah von einem zum andern, ehe er antwortete: »Stellt euch bloß den Empfang vor, den man mir da droben bereiten würde, wenn ich denen sage, ich habe Janie einfach unterm Schwibbogen stehenlassen. Die würden mir ganz schön heimleuchten!« »Aber du läßt mich ja nicht stehen! John George bringt mich garantiert bis an die Haustür. Paß auf« – sie drehte sich um und schob John George von sich –, »geh ein Stückchen vor, ich komm in einer Minute nach.« 22
Als John George sich wieder auf die Beine machte, rief ihm Rory nach: »Wart doch eine Minute …« »Ach, Rory«, sagte Janie und zupfte ihn an den Aufschlägen seines Mantels. »Sei nicht so dickköpfig. Mir ist lieber, ich weiß dich daheim und im Trockenen, als daß du mich um jeden Preis bei dem Wetter an der Haustür absetzt.« »Aber ich seh' dich doch die ganze Woche nicht!« »Das hat dich aber den Nachmittag über keine Minute gekümmert, denn da hast du ununterbrochen Karten gespielt, oder?« »Was kann man da droben anderes tun, frag' ich dich! Zum Reden gibt's dort keinen Platz für uns, und in die schneidende Kälte konnte ich dich auch nicht hinauslocken, sonst wären sie durch die Bank auf mich losgegangen. Dabei wollte ich reden mit dir, ernsthaft sogar, weil es … nun ja, weil es langsam Zeit wird, daß wir was unternehmen. Findest du nicht auch?« Sie sah ihm gerade in die Augen und antwortete: »Wenn Sie eine ehrliche Antwort hören wollen, Mr. Connor, muß ich Ihnen sagen: Jawohl, finde ich auch.« »Ach, Janie!« Er riß sie heftig an sich und preßte seinen Mund fest auf den ihren. Als sie beinahe das Gleichgewicht verlor und sich gegen eine Mauer lehnte, machte sie sich los und sagte: »Mein Mantel! Er wird ganz schmutzig werden.« »Ach, zum Teufel mit dem Mantel.« Mit sanfter Stimme sagte nun auch sie: »Ach ja, soll er doch zum Teufel gehen«; dann bot sie ihre Lippen wieder den seinen, und so standen sie eng umschlungen da, ihre Gesichter ineinander verschmolzen. Als sie sich wieder von ihm losmachte, zitterte er, schluckte heftig und sagte schließlich: »Laß es dir diese Woche durch den Kopf gehen, ja?« »Du bist es, der sich alles überlegen muß, Rory. Wir brauchen eine Unterkunft und Möbel und … Eins kann ich dir jedenfalls sagen: Ich habe nicht die Absicht, mit Pa und Oma unter einem Dach zu leben. Ich mag nicht im Dachgeschoß anfangen, sondern möchte ein Haus, das ich nach und nach hübsch einrichten kann. Anders mach' ich's nicht.« 23
»Als ob ich so was von dir verlangen würde! Wofür hältst du mich denn?« »Ich sag' es dir nur lieber gleich. Ich will, daß wir ordentlich anfangen, nicht mit irgendeinem Provisorium.« »Da bin ich hundertprozentig deiner Meinung. Auch ich mag kein schäbiges Untermieterzimmer, das kann ich dir garantieren … Ich hab' übrigens etwas in petto.« »Meinst du wieder mal spielen?« »Nun ja, gewissermaßen. Und sag das nicht in so einem Ton. Ich bin bisher nicht schlecht damit gefahren, oder? Alles, worauf es ankommt, ist, Zutritt zu einer guten Runde zu bekommen, wo es wirklich um etwas geht, verstehst du. Es gibt eine ganze Menge. Aber man braucht eben gewisse Empfehlungen.« »Wie willst du die zusammenbekommen, ehe du die Nase hineingesteckt und gezeigt hast, was du kannst, hm?« meinte sie etwas spöttisch. »Ob Boldon Colliery dir da weiterhilft …?« »Unsinn – diese Spiele in Hinterhöfen und Waschhäusern? Das ist doch alles Mist im Gegensatz zu dem, worauf ich es abgesehen habe. An den Plätzen, die ich meine, beginnt man mit einem Pfund, nicht mit einem Penny in der Hoffnung, sechs zu gewinnen. Ja, ja ich weiß schon, es gibt auch dort Runden, wo zehn Pfund in der Kasse liegen, aber die sind rar, und solche Spiele erfolgen in großen Abständen, kann ich dir sagen. Nein, ich möchte in einen wirklichen Klub aufgenommen werden, was natürlich schwierig ist, wegen der Polizei. Die behalten einen ständig in den Augen. Es ist eine heikle Sache, selbst für die Vermittler, weißt du? Denk nur daran, was Jimmy heute über die Rundschreiben erzählt hat. Sie versuchen rein alles, um einen zu schnappen. Es wimmelt nur so von Spitzeln, Polypen und deren Helfershelfern. Es ist schon komisch: Du kannst dich zu Tod saufen, da locht dich kein Mensch ein, aber kaum rührst du eine Karte an, und du bist es … Nun, jedenfalls habe ich einiges vor, und wenn es gelingt …« »Sei vorsichtig, Rory. Ich … ich mache mir Sorgen wegen deines Spiels. Das geht schon seit Jahren so. Selbst als du noch als kleiner Junge beim Kopf-oder-Adler-Spiel immer gewonnen hast, hab' ich mich 24
gefragt, wie du das nur angestellt hast. Mir war nicht recht geheuer dabei.« »Jetzt gewinne ich nicht immer.« »Aber meistens. Selbst wenn es nur um die paar Pennys bei Pa geht.« Als ein paar Männer vorbeigingen, traten sie beiseite. Und nun sagte sie: »Ich muß gehen; John George wird bestimmt bis auf die Haut naß sein. Ach, er tut mir so leid.« »Du verschwendest dein Mitleid. Er ist zu weich, als daß er jemals einen Treffer landen könnte, sag' ich immer. Es stimmt, was Lizzie gesagt hat. Die alten Blutegel saugen ihn richtiggehend aus. Er bekommt zwei Shilling mehr als ich pro Woche, aber sieh ihn dir doch nur an: Man könnte meinen, er kaufe seine Klamotten auf dem Markt. Und das stimmt auch zum Teil; er treibt sich immer bei den Buden herum und ersteht Sachen aus zweiter Hand. Und ausgerechnet diese schwärmerische Gans muß er sich anlachen. Eine Katholikin dazu.« »Nun, er ist jedenfalls keiner.« »Stimmt. Was läßt er sich dann mit diesem verbohrten Gesindel ein, frag' ich dich!« »Wie ist sie denn?« »Keine Ahnung.« »Spricht er denn nicht über sie?« »Oh, er kennt gar kein anderes Thema. Seinen Schilderungen zufolge muß sie die reinste Heilige sein.« »Aber Rory!« »Doch, doch, so einmalig ist sie, sagt er. Was die alles kann und tut und anstellt – du meine Güte! Dabei ist sie seit ihrem zehnten Lebensjahr nichts als der unbezahlte Dienstbote einer kranken Mutter, eines jähzornigen Vaters, zweier Schwestern und eines Bruders. Jetzt ist sie zwanzig und wagt sich aus lauter Angst vor ihrem Alten nicht mal vor die Haustür. Die anderen beiden Mädchen begleitet er sogar zur Arbeit. Sie sind in einer Drogerie angestellt, und da bringt er sie nicht nur hin, sondern holt sie auch tagtäglich nach Geschäftsschluß ab.« »Was ist denn der Vater?« 25
»Er hat einen kleinen Schneiderladen, hab' ich gehört. Aber vergiß John George mal eine Minute lang. Komm her.« Abermals drängten sie sich dicht aneinander, und als sie sich endlich trennten, sagte er: »Denk an das, was ich gesagt habe. Überleg dir alles genau, und am kommenden Samstag machen wir dann die Sache perfekt, hm?« »Ja, Rory.« Ihre Stimme klang sanft. »Ich bin jederzeit bereit, seit langem, oh, seit langem … Alles, was ich mir wünsche, ist, daß wir unser eigenes Zuhause haben …« Er nahm ihr Gesicht behutsam zwischen seine Hände, und nachdem er sie zärtlich geküßt hatte, drehte sie sich rasch um und lief durch den Schwibbogen auf die Straße, bis sie bei John George, der sich an die Dockmauer preßte, gelandet war. Sie sagte kein Wort, und so eilten sie gemeinsam an diversen kleinen Wirtshäusern vorbei, bis sie zur Eldon Street gelangten. Es würgte sie in der Kehle. Es war merkwürdig, aber sie hätte immer am liebsten geweint, wenn Rory einmal zärtlich zu ihr war. Für gewöhnlich jagten ihr seine heftigen Liebesbezeigungen Furcht ein. Aber wenn er sanft und zärtlich war, da liebte sie ihn grenzenlos. »Albern von ihm, daß er den ganzen langen Weg mitkommen wollte.« »Ja, John George.« »Wenn ich mir auch eben gedacht habe, daß er dich, wenn ich nicht mitgekommen wäre, bis an die Haustür gebracht hätte. Das war's schließlich, was er wollte. Ich bin manchmal richtiggehend vernagelt.« Sie war freundlich genug, zu sagen: »Aber nein, John George«, denn sie hatte es insgeheim ein bißchen kurzsichtig von ihm gefunden, daß er sie begleitet hatte. Nun fügte sie jedoch hinzu: »Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Ich verrate dir sogar etwas ganz Neues: Samstag werden wir beide alles perfekt machen.« »Wirklich? Oh, da bin ich aber froh, Janie, sehr froh. Ich habe mir schon die längste Zeit gedacht, daß es endlich dazu kommen sollte. Daheim fühlt er sich doch nicht richtig glücklich. Und dabei kann ich das gar nicht verstehen – ihr seid eine so nette Familie, alle mit26
einander; ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als bei euch zu sein.« »Wie kommst du denn darauf, daß er daheim nicht glücklich ist, John George?« »Nun, manchmal ist er es bestimmt nicht. Und dann hat er eine Art, mit Lizzie zu reden, die mich ordentlich verlegen macht. Es gehört sich nicht, denn sie ist ein feiner Kerl, stimmts? Ich habe sie sehr gern, sie ist so gemütlich und mütterlich. Aber manchmal behandelt er sie, als ob sie ein Stück Dreck wäre. Ich kann es mir nicht zusammenreimen, weil er doch sonst nie so ist, ich meine im Dienst, wenn er kassieren geht und so. Da ist er die Höflichkeit in Person, und alle Frauen mögen ihn. Das weißt du doch, nicht wahr? Ja, ja, sie mögen ihn, weil er mit ihnen umgehen kann. Nur bei Lizzie klappt es ganz und gar nicht …« Janie blieb stehen, legte die Hand auf John Georges Arm und veranlaßte ihn damit, gleichfalls anzuhalten. Dann fragte sie ruhig: »Weißt du denn nicht, weshalb er Lizzie so behandelt?« »Nein.« »Er hat es dir nie gesagt?« »Nein.« »Du meinst, er hat nie davon gesprochen, obwohl ihr miteinander arbeitet und du seit ich weiß nicht wie vielen Jahren in sein Elternhaus kommst?« »Seit vier Jahren etwa.« »Tsss, ich kann es nicht glauben. Ich dachte, du wüßtest es.« »Was denn?« »Nun, daß Lizzie … daß … sie ist seine Mutter.« »Lizzie?« Er beugte sich in seiner ganzen Länge zu ihr herunter. »Lizzie ist Rorys Mutter? Nein! Wie ist denn das nur möglich? Ich glaub' es einfach nicht.« »Es ist aber wahr. Es stimmt. Komm, bleiben wir nicht da stehen, sonst werden wir noch durch und durch naß.« »Was ist denn mit … Mrs. Connor? Ich dachte, sie wäre …« »Das Ganze ist sehr einfach, John George, wenn man die näheren Umstände einmal kennt. Weißt du, Mr. und Mrs. Connor waren be27
reits sechs Jahre miteinander verheiratet, und es hat immer noch keinerlei Anzeichen für Nachwuchs gegeben. Eines Tages hat Mr. Connor einen Brief aus Irland bekommen, von einer Kusine zweiten Grades, die er nie gesehen hatte. Sie hieß Lizzie O'Dowd. Ihre Eltern waren, soweit ich es richtig mitbekommen habe, glatt verhungert. Es herrschte richtiger Notstand da drüben, weißt du. Und so blieb das Kind völlig allein zurück. Und da hat sie angefragt, ob sie herüberkommen und er irgendeine Arbeit für sie ausfindig machen könne. Jedermann schien damals nach England kommen zu wollen, vor allem nach Jarrow; sie verließen Irland in ganzen Schiffsladungen. Was blieb Mr. Connor anderes übrig, als zu antworten, sie solle nur herüberkommen, und zwar gleich. Übrigens hat ein Geistlicher den Brief für sie abgefaßt, denn sie selbst konnte nicht mal ihren Namen schreiben, genau wie Mr. Connor, der zu einem Burschen nach Jarrow ging, der sich seinen Lebensunterhalt damit verdiente, für andere Leute die Korrespondenz zu erledigen. Das war der Grund dafür, daß Mr. Connor später dafür sorgte, daß Rory ordentlich lesen und schreiben lernte. Aber das nur nebenbei. Also Lizzie O'Dowd kam hier an; sie war siebzehn und hübsch, wenn man sich das bei ihrem jetzigen Aussehen auch vielleicht nicht vorstellen kann. Ich erzähle dir nur genau das, was mir meine Oma erzählt hat. Lizzie war voller Leben, ein munteres, warmherziges, stets zum Lachen aufgelegtes junges Ding. Um es kurz zu machen: Zwischen ihr und Mr. Connor kam es … nun, ich brauch' dir wohl nicht mehr zu sagen, nicht? Und so kam Rory zur Welt. Und jetzt kommt der merkwürdigste Teil der ganzen Geschichte. Ein Jahr darauf brachte Ruth ihr erstes Kind zur Welt. Das war Nellie. Und dann hatte sie noch eines: Jimmy. Würdest du das für möglich halten! Nach sieben Jahren vergeblichen Wartens … Natürlich wurden wir alle wie eine einzige Familie aufgezogen, so daß man sagen kann, daß die Bewohner unserer drei Häuser da draußen alle untereinander verwandt sind.« Als sie lachte, sagte John George mit ernster Miene: »Du überraschst mich, Janie. Für mich ist das ein ziemlicher Schlag. Ich find's gar nicht so lustig.« »Du wirst doch deshalb nicht schlecht von Lizzie denken!« 28
»Schlecht von Lizzie denken? Sei nicht albern. Natürlich tu ich das nicht. Ich bin nur wieder beim Ausgangspunkt angelangt; denn jetzt verstehe ich weniger als je zuvor, weshalb Rory so mit Lizzie redet, wo sie doch seine Mutter ist.« »Das hat er ja nicht immer gewußt. Das war auch komisch.« Sie schwieg einen Moment, ehe sie fortfuhr: »Da saßen wir wieder einmal alle beisammen: mein Pa, meine Ma und meine Oma. Nun, du kennst ja meine Oma. Der gelingt es einfach nicht, ihre Zunge im Zaum zu halten. Aber niemand von uns, nicht mal sie, hat jemals darauf angespielt, daß Mrs. Connor nicht Rorys Mutter sei, das wäre uns nie eingefallen. Ich glaube, wir dachten alle miteinander, daß er es ohnehin längst wisse, daß es ihm doch irgendeinmal jemand gesagt haben müsse. Aber niemand hat es ihm gesagt. Erst vor sechs Jahren, als er siebzehn war. Und dann war es Lizzie persönlich, die die Katze aus dem Sack ließ. Du weißt doch, daß Lizzie zu jenen Frauen gehört, die absolut keinen Alkohol vertragen. Gib ihr ein paar Gläschen Gin, und es ist aus mit ihr; da legt sie sich mit jedem an. Es war noch dazu Silvester, und du weißt ja, wie es da zugeht. Sie hatte einen in der Krone und sprudelte einfach über, und Rory lachte anfangs genauso über sie wie wir alle. Denn bis zu jenem Zeitpunkt hatte er sie sehr gern gehabt, ja, sie war ihm sogar richtig nahegestanden, wenn sie nicht gerade getrunken hatte. Denn das ist auch merkwürdig an ihm: Er kann es nicht ausstehen, wenn Frauen trinken. Genau erinnere ich mich ja nicht mehr daran, denn ich war damals noch ein Kind; nur soviel weiß ich, daß wir alle in der Küche bei den Connors saßen. Es war gegen drei Uhr morgens, und ich war beinahe eingeschlafen, als ich Lizzie plötzlich aufbrausen hörte: ›Sprich nicht so mit mir, du unverschämter Kerl, du. Schließlich bin ich deine Mutter, also nimm dich gefälligst zusammen! Die da drüben‹ – sie deutete auf Ruth – ›konnte nicht mal eine Maus gebären; also bin ich dahergekommen und hab' dich gekriegt.‹ Und das war's. Von dem Moment an hat er sie nicht mehr ertragen können. Und der Jammer dabei ist, daß sie ihn liebt. Er ist damals eine Woche lang verschwunden gewesen. Dann ist er eines Abends halb verhungert und erfroren aufgetaucht, und schließlich be29
kam er eine Lungenentzündung. Er hatte nämlich im Freien geschlafen – und das im Januar. Es ist ein Wunder, daß er nicht umgekommen ist. Beginnst du jetzt zu verstehen?« »Ich bin platt, Janie. Wenn ich denke, wie lange wir uns kennen! Und nie hat er ein Wort darüber verloren. Wo wir uns doch über so vieles unterhalten, wirklich. Ich dachte, wir wüßten alles voneinander, was es nur zu wissen gibt. Also ich zumindest erzähle ihm alles.« Er ließ den Kopf hängen. Dann murmelte er ein bißchen verlegen: »Ich habe Rory deshalb so gerne, Janie, weil, – nun ja, weil er alles das ist, was ich gern wäre und niemals sein werde.« »Du bist schon recht so, wie du bist, John George. Ich möchte dich gar nicht anders haben.« Ihre Stimme klang laut und kräftig, als wollte sie ihn verteidigen. »Tatsächlich nicht, Janie?« Die Frage war mit allem Eifer gestellt, und sie antwortete: »Nein, tatsächlich nicht, John George. Denn dein Herz sitzt auf dem rechten Fleck, und das ist alles, worauf es im Grunde genommen ankommt.« Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, bis sie ruhig sagte: »Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, wenn ich dich wegen des Mädchens, mit dem du gehst, frage – aber warum bringst du sie nicht mal mit zu uns, hm?« Er antwortete nicht gleich, sondern nahm ihren Arm, um sie über die Straße zu führen. Erst als sie die Ausläufer von Westoe erreicht hatten, wo die noblen Häuser von hübschen, weißgestrichenen Zäunen eingefaßt und die Straßen so breit waren, daß ohne weiteres zwei Kutschen aneinander vorbeifahren konnten, antwortete er: »Ich wollte, ich könnte es, oh, wie sehr würde ich mir das wünschen, Janie. Denn sie ist ausnehmend nett und sehr, sehr hübsch. Nicht so hübsch wie du, aber immerhin hübsch. Dabei hat sie ein so schweres Leben hinter sich, ja hat es noch, eine wahre Hölle. Ihr Vater hat's mit der Religion, glaube ich, und ihre Mutter ist bettlägerig. Weißt du, wie sie die Sonntage verbringen? Alle versammeln sich um das Krankenbett, und dann beten sie, einer nach dem andern. Sie hat nur an einem einzigen Nachmittag die Erlaubnis, auszugehen, nämlich Samstag. Da muß sie nach 30
Gateshead zu einer Tante, die im Sterben liegt und anscheinend über ein bißchen Geld verfügt. Ihr Vater ginge ja am liebsten selbst hin, weil er endlich wissen möchte, wem sie es vererben wird. Aber er muß sich um die anderen beiden Mädchen kümmern, denn sein einziger Sohn, Leonard heißt er, hat sich auf- und davongemacht und ist zur Marine gegangen. Und dazu kann man ihn nur beglückwünschen, sag' ich immer. Jedenfalls steht eines fest, daß Maggie Samstagnachmittag nach Gateshead fährt. So habe ich sie auch kennengelernt. Auf einer meiner Samstagfahrten.« »Du fährst jeden Samstag mit dem Zug nach Gateshead? Das wußte ich ja gar nicht. So was …« »Nun« – er lachte befangen auf – »nicht jeden Samstag. Nur wenn es meine Mittel erlauben. Und dann nicht nach Gateshead, sondern nach Newcastle. Ich fahre die halbe Strecke mit der Bahn, sagen wir: bis Pelaw, und den Rest gehe ich zu Fuß. Ich liebe Newcastle. Ach, Janie, wenn ich das nötige Geld hätte, würde ich unbedingt dort leben. Ich hätte gar nichts dagegen, die Mieten in der Umgebung von Newcastle einzukassieren.« »Gibt es denn dort keine Slums?« »Aber ja, Janie, noch und noch. Aber die sehe ich mir ja nicht an, sondern die prächtigen Bauten. Es gibt dort unendlich viel zu besichtigen. Warst du noch nie in Newcastle?« »Nein. Einmal war ich auf der anderen Seite des Flusses bis North Shields und Culvercoats, und einmal bin ich auf unserer Seite bis nach Felling gekommen – aber bis Gateshead oder gar Newcastle noch nie.« »Dann sollte Rory dich mal dorthin ausführen, ins Theater vor allem.« »Wir haben doch hier auch ein gutes Theater.« »Oh, ja, sicher ist es gut, aber nicht so wie das in Newcastle.« »Sie bekommen dieselben Aufführungen zu sehen, nur ein bißchen später.« »Oh, ich meine nicht die Aufführungen, ganz und gar nicht, sondern die Architektur, weißt du. Vielleicht war mein Rat mit dem Theater 31
gar nicht so gut; ich sollte dir besser all die schönen Straßen und Plätze und Bauten schildern.« »Ich hatte keine Ahnung, daß du solche Dinge magst, John George.« »Und wie – seit meiner Kindheit schon! Es war mein Vater, der mich dafür begeistert hat, an Feiertagen oder zum Wochenende sind wir hingefahren. Meine Mutter ist niemals mitgekommen; sie konnte das Reisen nicht vertragen und interessierte sich nicht für Gebäude. Weil mein Vater es aber tat, hat er mir Lesen und Schreiben beigebracht. Einmal ist er vor einem prachtvollen Haustor stehengeblieben und hat sich nicht daran sattsehen können. Das war am Westgate Hill; es war eine wunderbare Arbeit aus der Regentschaftszeit, hat er gesagt, mit Fächerfenstern und schmiedeeisernen Söllern rundherum. Dann hat sich ein vorbeikommender Mann zu uns gesellt und all die Feinheiten erst richtig herausgestrichen. Und es hat sich herausgestellt, daß er im Büro eines Architekten arbeitet. Er war ganz aus dem Häuschen darüber, daß mein Vater sich derart fürs Maurerhandwerk und all die schönen Gebäude interessiert und daß er mir das so schön erklärt hat. Das war das erstemal, daß ich den Namen Grainger erwähnen hörte, das war ein großer Baumeister in Newcastle. Und John Dobson, der hat für Grainger und viele andere die Entwürfe gemacht. Natürlich habe ich schon vorher vom Grainger-Markt gehört, ja ich bin sogar mehrmals durchgegangen, aber man denkt dabei ja nie daran, wer all die Plätze geschaffen hat. Ganz in der Nähe liegt übrigens auch die Grey Street, das ist eine Straße für sich, kann ich dir nur sagen. Am besten ist, wenn man sie sich sonntags ansieht, wo sie nicht mit Fuhrwerken vollgestopft ist, sondern höchstens ein paar Leute vorbeikommen. Du meine Güte, ist das ein herrlicher Anblick! Es ist genau wie mein Vater gesagt hat: Daß das Stadtbild durch das Schöpfertum eines begabten Menschen geprägt werden kann …« Janie blies den Schnee, der ihr die Lippen näßte, fort, wandte ihrem Begleiter ihr Gesicht zu und sagte erstaunt: »Du bist die größte Überraschung meines Lebens, John George, wirklich. Sprichst du jemals mit Rory über diese Dinge?« 32
»Manchmal. Aber Rory interessiert sich im Grunde weder für Newcastle noch für Gebäude oder derlei.« »Den Eindruck habe ich auch«, erwiderte Janie niedergeschlagen. »Er interessiert sich nur fürs Kartenspiel, das ist alles, woran er denkt.« »Und an dich.« »Na ja, das stimmt, das muß ich zugeben.« Sie lächelte ihm durch den dicht fallenden Schnee zu und meinte dann: »Du hast mich richtiggehend neugierig auf Newcastle gemacht. Ich werde es Rory sagen. Er muß mich wirklich mal dorthin bringen.« »Tu das, Janie. Sag ihm, daß du Jesmond sehen möchtest. Tss, ist Jesmond hübsch. Und die Häuser auf dem Weg dahin … Ach, Kind, so was bekommt man hier niemals zu Gesicht.« »Ich glaube, ich würde mir gerne die Brücken ansehen. Mein Pa hat mir erzählt, welch schöne Brücken es dort gibt. Komisch, daß ich noch nie in Newcastle war, wo es doch keine sieben Meilen entfernt ist. Meine Oma war einmal dort, sie hat dort gearbeitet; im Dienst war sie in irgendeinem hübschen Haus, von dem man den ganzen Fluß überblicken konnte. Sie hat immer von den mit Kohlen beladenen Schiffen erzählt, die auf ihrem Weg nach London dort vorbeikamen. Komisch, sie mochte Newcastle nicht. Sie spricht heute noch von den dortigen Menschen, als ob es Fremde wären. Sie behauptet, daß man dort die Männer aus South-Shields unterdrückt hat; sie wollten ihnen bis vor wenigen Jahren nicht einmal die Durchfahrt gestatten – nichts. Merkwürdig! Wenn man es sich so recht überlegt, John George, dann wissen wir mehr über die Irländer, wie zum Beispiel die Verwandten der Learys und Rorys Leute, als über die Menschen in Newcastle drüben. Ich begreife langsam den Sinn von Omas Ausspruch: ›Es ist leichter, mit einem Schweden auszukommen als mit einem dieser Quadratschädel aus Jarrow‹.« John George lachte und sagte: »Das hab' ich noch nie gehört.« »Oh, ich glaube, das ist auf Omas eigenem Mist gewachsen. Weißt du, ich habe oft den Verdacht, daß sie sich das meiste von dem, was sie so losläßt, selbst ausdenkt. Wenn sie jemals schreiben und lesen hätte können, wäre garantiert eine Geschichtenerzählerin aus ihr gewor33
den, das hab' ich ihr mehr als einmal gesagt. Oh …«, sie seufzte auf und schüttelte die behandschuhten Hände kräftig, um die Blutzirkulation zu fördern, »wir sind beinahe da.« Dann fügte sie kichernd hinzu: »Wenn meine Gnädige dich zu Gesicht bekäme, würde sie meinen, ich führe ein Doppelleben, und würde mich glatt für weiß Gott wie ausschweifend halten.« Als sie vor einer Seitenpforte haltmachte, die im Licht einer Laterne aufgetaucht war, blies sie ihm die Hände und meinte teilnahmsvoll: »Du mußt ganz steifgefroren sein, John George. Hast du keine Handschuhe?« »Handschuhe!« rief er aus. »Kannst du dir mich mit Handschuhen vorstellen? Man würde mich ja für einen Stutzer halten.« »Sei nicht kindisch. Du brauchst Handschuhe, wo du doch bei jedem Wetter herumlaufen und dir die Finger beim Inkasso krummschreiben mußt. Ich werde dir welche stricken.« Er stand da, sah lange auf sie nieder und sagte dann: »Nun, wenn du mir ein paar Fäustlinge machst, dann werde ich sie tragen.« »Abgemacht?« »Abgemacht.« »Danke, daß du mich bis daher begleitet hast, John George.« »War mir ein Vergnügen, Janie.« »Ich … ich hoffe, du bekommst dein Mädchen wenigstens nächste Woche zu sehen.« »Das hoffe ich auch. Ich … ich hätte gerne, daß du sie kennenlernst. Sie würde dir gefallen, das weiß ich. Und was noch wichtiger wäre: Ich bin überzeugt davon, daß du ihr die Zunge lösen könntest, denn sie ist im allgemeinen ein sehr verschlossener Typ. Aber du hast die Gabe, Menschen zum Reden zu bringen, das sieht man ja an mir. Den ganzen, langen Weg hierher habe ich dir von Newcastle erzählt.« Janie stand einen Moment da, sah zu dem langen jungen Mann auf und war sowohl verlegen als auch gerührt von der Zärtlichkeit, die von ihrem so überaus freundlichen Begleiter ausströmte. Sein Geplauder übte dieselbe Wirkung auf sie aus wie Rorys sanfte Berührung. Sie fühlte sich den Tränen nahe, und am liebsten hätte sie sich auf die Ze34
henspitzen gestellt, um ihn auf die Wange zu küssen wie eine Schwester. Das war natürlich albern. Es gab keine schwesterlichen Küsse. Das war auch so etwas, was ihr ihre Oma beigebracht hatte. Und ihr glaubte sie. Es gab mütterliche Küsse und leidenschaftliche Küsse, aber keine geschwisterlichen Küsse – jedenfalls nicht zwischen Mann und Frau, die nicht tatsächlich miteinander verwandt waren … Dennoch küßte der gnädige Herr seine Schwägerin, sie hatte es mit eigenen Augen gesehen. Ach, wozu standen sie hier herum? Hastig sagte sie: »Gute Nacht, John George. Nochmals schönen Dank und bis Sonntag.« »Ja, bis Sonntag, Janie.« Sie eilte durch die Seitenpforte, aber ehe sie die Küchentür öffnete, drehte sie sich noch einmal um, und als sie die verschwommenen Umrisse seiner Gestalt sich vom Licht der Laterne abheben sah, winkte sie John George zu. Und er winkte zurück. Dann betrat sie das Haus … Mrs. Tyler, die Köchin, wandte sich um, warf einen Blick auf Janie, dann einen auf die Uhr über dem Kamin, und sagte bissig: »Gerade noch rechtzeitig.« »Es fehlen sogar noch drei Minuten«, antwortete Janie keck. Sie mochte Mrs. Tyler nicht gerade. Zwar war sie erst seit achtzehn Monaten Köchin bei den Buckhams, aber von allem Anbeginn hatte sie sich so aufgeführt, als wäre sie mit der Familie aufgewachsen. Und ein noch schlimmerer Umstand kam hinzu: Wie Janie genau wußte, war sie riesig eifersüchtig auf Janies Stellung und ihr gutes Verhältnis zur Herrschaft. Die Köchin sprach dies alles nie offen aus, sondern wandte sich immer an Bessie Rice, das Stubenmädchen, wenn sie wie nebenbei bemerkte: »Manche Leute nützen die Gutmütigkeit anderer Menschen schamlos aus und wissen nicht, wo ihr Platz ist. Werden Sie nur ja nie so, Bessie. In Ladys Becketts Haus, in dem ich meine Ausbildung genossen habe, hatte das Kindermädchen ein Zimmer in der Mansarde, und es war keine Rede davon, daß sie im Salon oder im Eßzimmer zu sehen war. Bei der Erzieherin lag der Fall natürlich ganz anders. Das war ja schließlich eine gebildete Person.« Diese ewigen Bemerkungen über Lady Becketts Haus hatten Janie ei35
nes Tages derart auf die Palme gebracht, daß sie, als sie in die Küche kam, einfach – ohne sich speziell an jemanden zu wenden – heraussprudelte: »Ach, diese Lady Betty kann mich mal.« Natürlich hätte sie so etwas nicht sagen sollen, und sie bedauerte es auch, kaum daß sie zur Tür draußen war, und noch ehe sie das Kinderzimmer erreicht hatte, wußte sie, daß die Köchin bereits an die Wohnzimmertür klopfte und die Dame des Hauses zu sprechen verlangte. Zehn Minuten darauf war die Gnädige auch schon im Kinderzimmer und sah schrecklich gekränkt aus, als sie sagte: »Janie, ich bin über das, was mir die Köchin berichtet hat, überrascht. Derartige Ausdrücke dürfen sie einfach nicht verwenden, sonst gewöhnen Sie sich womöglich daran. Und stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn Ihnen so etwas vor den Kindern herausrutschen würde!« Janie hatte geschluckt und war sprachlos vor der jungen Frau, die ihr bisher nichts als Freundlichkeiten erwiesen hatte, dagestanden. Nachdem die Gnädige wieder gegangen war, hatte sie die Arme auf den Tisch gestützt und sich die Augen ausgeweint, bis der kleine David in ihr Weinen einzustimmen begann und dann Margaret und schließlich sogar das Baby. Wenn sie an jenen Tag zurückdachte, kam er ihr als der traurigste ihres Lebens vor, und dennoch hatte sie, als sie zu Bett gegangen war, das Gesicht in die Kissen drücken müssen, um ihr Lachen zu ersticken. Da sie schon vor dem Schlafengehen zu dem Schluß gekommen war, daß sie keine Ruhe finden würde, war sie nämlich nach unten gegangen, um sich bei ihrer Gnädigen zu entschuldigen. Sie wollte ihr feierlich versichern, daß sie in diesem Haus nie mehr einen derartigen Ausdruck gebrauchen würde und sie also keine Angst zu haben brauche, daß das Gemüt ihrer Kinder durch ihre Redeweise besudelt würde. Kaum hatte sie jedoch den Absatz der Haupttreppe erreicht, ließ ein aus dem Schlafzimmer der Gnädigen dringendes ersticktes Gelächter sie im Schritt innehalten. Da die Tür einen Spaltbreit offenstand, konnte sie den Herrn des Hauses sagen hören: »Hör auf zu lachen, Alicia, ich kann sonst nicht verstehen, was … Also, was hat sie gesagt?« 36
Wie angewurzelt war Janie auf Armeslänge von der Tür entfernt stehengeblieben, als sie ihre Gnädige unter Gelächter heraussprudeln hörte: »Sie … hat … gesagt: ›Ach was, Ihre Lady Betty kann mich mal am Arsch lecken!‹« »Ist nicht wahr!« Er fiel in ihr Lachen ein, und es war dasselbe Lachen, das man in Connors Küche zu hören bekam, wenn Lizzie etwas Komisches zum besten gab. »Ist das nicht zum … Schreien?« Das Gelächter verstärkte sich, dann kam wieder die Stimme des Hausherrn: »Ich kann diese Tyler nicht ausstehen. Du solltest versuchen, sie loszuwerden.« »Oh, das kann ich nicht machen, David. Sie ist eine ausgezeichnete Köchin. Und man darf Janie solche Ausdrücke nicht durchgehen lassen. Aber, du meine Güte, ich wußte wirklich und wahrhaftig nicht, wie ich es anstellen sollte, um dabei ernst zu bleiben.« Janie war lautlos wieder nach oben geschlichen, und als sie das Kinderzimmer erreicht hatte, grinste sie bereits über das ganze Gesicht. Wenn sie sich auch entrüstet sagte: Also das hab' ich doch gar nicht gesagt. So was würde ich nie sagen. Da sieht man wieder, wie schamlos diese Köchin übertreibt. Aber der gnädige Herr … also ich hab' ihn noch nie so lachen hören. Und die Gnädige auch nicht. Es klang genauso, als wären sie ein ganz gewöhnliches, junges Paar … Erst als sie sich wieder im Bett befand, sagte sie sich: Nun ja, sie sind ja schließlich auch ein junges Paar. Jedoch kam es ihr zur gleichen Zeit sonderbar vor, einsehen zu müssen, daß auch Leute dieser Gesellschaftsschicht miteinander lachten, frei herauslachten. Vor anderen benahmen sie sich immer überkorrekt, selbst wenn die eigene Schwester zu Besuch kam. Aber schließlich war diese Schwester auch mit einem Adeligen verheiratet, einem Sir oder Lord oder so was. Und da gehörte es sich schon, sich äußerst fein zu benehmen. Auf alle Fälle hatten die beiden gelacht, und die Gnädige hatte wortgetreu wiederholt, was sie gesagt hatte, bis auf das natürlich, was die Köchin in unverschämter Weise hinzugefügt hatte. 37
In jener Nacht war ihr wieder einmal klargeworden, wie gern sie ihre Herrschaft hatte, wirklich, und daß sie alles für sie tun würde. Und als sie sich ihr Gelächter abermals ins Gedächtnis rief, hatte sie sich auf den Bauch gedreht und das Gesicht in die Kissen gedrückt, um nicht lauthals herauszuplatzen. Und ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen war gewesen: Ich werde die daheim sonntags damit zum Lachen bringen, und wie! Und das tat sie dann auch.
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E
s war am Samstag vor Weihnachten; der Himmel hing tief über der Stadt, und die Schiffsmasten verloren sich im grauen Nebel. Rory fröstelte, als er den Kirchendamm hinaufging und Jarrow betrat. Erst mußte er an den weißgetünchten Häusern vorbei und dann durch den dichten Verkehr in der Ellison Street. Er haßte diesen Gang und die Samstagvormittage. Sie bedeuteten für ihn Pilbey Street und Saltbank Row. Die Pilbey Street war schon schlimm genug, aber die Row war noch ärger. Er hatte sechs Besuche in der Pilbey Street und fünfzehn in der Row zu erledigen, und wie immer, wenn er diese Straßen betrat, setzte er eine grimmige Miene auf und reckte die Schultern hoch, während er gleichzeitig dachte: Der alte Kean und all die anderen Hausbesitzer, die er vertritt, sollten glatt dafür gelyncht werden, daß sie es überhaupt wagten, für derartige Löcher Miete zu verlangen. Seit vier Jahren kassierte er nun in dieser Gegend. Im Grunde genommen hätte er Montag, Dienstag oder Mittwoch kassieren sollen, denn das waren die für das Mieteninkasso bestimmten Tage. Aber erfahrungsgemäß war es unmöglich, in der Pilbey Street oder in der Row zu einem andern Zeitpunkt als Samstagvormittag auch nur einen Penny zu Gesicht zu bekommen. Und man konnte von Glück sagen, wenn man es zustande brachte, dann etwas zu bekommen. Nur die Angst 38
vor dem Hinauswurf veranlaßte die hiesigen Bewohner dazu, mit ihren paar armseligen Groschen herauszurücken. Er hob den Türklopfer und schlug auf die abgeblätterte, rissige Haustür, hinter der, dem Geräusch nach zu schließen, Kinder spielten und zankten. Nach wenigen Minuten wurde ihm aufgemacht, und drei Augenpaare spähten aus schmutzverkrusteten Gesichtern zu ihm empor. Alle hatten rinnende Nasen, die Krätze und Gerstenkörner. Das Älteste, das ungefähr fünf Jahre alt war, sagte wie ein Erwachsener: »Ach, der Mietenkassierer.« Dann stob er, von den anderen gefolgt, davon und schrie durchs ganze Haus: »Der Mietenkassierer, Ma, der Mietenkassierer!« »Sag dem Kerl, ich bin nicht daheim.« Die Stimme der Frau scholl klar und deutlich an Rorys Ohr, und als das Kind zurückkam, zu ihm aufblickte und ausrichtete: »Sie ist nicht daheim«, sah Rory auf das Kind nieder und sagte, als spräche er mit einem Erwachsenen: »Sag deiner Ma, der Kerl wünscht den Zins und etwas von dem Rückstand zu kassieren, sonst kriegt ihr es mit der Polizei zu tun.« Diesmal starrte das Kind ihn etwas länger an, ehe es ins Haus zurückschlurfte, und als Rory das dünne Stimmchen sagen hörte: »Er sagt, der Kerl wünscht den Zins zu kassieren …«, schloß er die Augen, senkte den Kopf und preßte sich die Hand vor den Mund, weil er genau wußte, daß es ungünstig gewesen wäre, auch nur die Spur eines Lächelns zu zeigen, solange man dem prüfenden Blick der übrigen Kinder ausgesetzt war. Wenn man in dieser Straße jemals ein Lächeln zur Schau stellte, war es aus mit dem Mieteninkasso. Ungefähr drei Minuten später stand die Frau vor ihm. Sie trug einen gekreuzten Schal über dem Hängebusen, hatte einen abgerissenen Rock an und rief in jammerndem Tonfall und mit einem Lächeln, das ihr flaches Gesicht in die Breite zog: »Ach, Sie sind es, Mr. Connor! Sie wollen die Miete kassieren? Nun, Sie wissen doch, wie es so knapp vor Weihnachten in der Haushaltskasse aussieht. Das Geld löst sich einfach in Nichts auf, jawohl. Und sehen Sie sich die Kleinen nur an. Keine Spur von Fleisch auf den Sitzflächen. Und der Mann ist drei Wochen lang arbeitslos gewesen.« 39
Ohne die Miene zu verziehen, sagte Rory: »Er arbeitet im Walzwerk und hat in den letzten sechs Monaten keinen einzigen Tag gefehlt; ich habe es nachgeprüft. Sie sind zehn Wochen im Rückstand, den heutigen Tag nicht mit eingerechnet. Zahlen Sie mir fünf Shilling, und ich will bis nächste Woche kein Wort mehr darüber verlieren, wenn Sie es die darauffolgenden Wochen ebenso tun, bis die Schulden abgezahlt sind. Wenn nicht, gehe ich zu Palmer, und dann fliegt er.« Dies war eine leere Drohung, doch glaubte sie ihm halb und halb, weil Mietenkassierer über Macht verfügten, etwas Besonderes waren, nicht nur Menschen aus Fleisch und Blut. Sie starrten einander an, dann verschwand das Lächeln aus ihren Zügen, sie drehte sich unvermittelt um, durchquerte den Vorraum und rief: »Sie widerlicher Stutzer, Sie!« Das größte ihrer Kinder folgte ihr, um im nächsten Augenblick mit einer halben Krone und dem Zinsbuch wiederzukommen. Rory nahm das Geld, bestätigte den Erhalt im Zinsbuch, merkte es in seinem eigenen, mit hartem Einband versehenen Kassenbuch vor, schloß das Haustor und ging weiter. Im Nebenhaus stieß er die Tür auf und rief durch den dunklen Treppenschacht: »Die Miete wird kassiert!« nach oben. Ein paar Sekunden darauf grölte eine Männerstimme zurück: »Holen Sie sich's, wenn Sie sich trauen!« Rory zog angeekelt die Nase kraus. Wenn er für sämtliche Schimpfworte und Drohungen, die ihm so an den Kopf geworfen wurden, einen Penny erhalten hätte, überlegte er ärgerlich, hätte er sich längst ein Haus kaufen können. Nach einer kurzen Weile rief er abermals: »Entweder ich bekomme jetzt die Miete oder ich schicke euch Montag die Polizei auf den Hals!« Eine umfangreiche Gestalt in Baumwollhosen tauchte am Treppengeländer auf, warf Rory Zinsbuch und eine halbe Krone vor die Füße und schrie: »Sie wissen ja, was Sie und die verdammten Polypen mich können, wie?« Und dann, als Rory Geld und Zinsbuch aufgehoben und die üblichen Eintragungen gemacht hatte, fing der Mann des langen und breiten zu schildern an, was er und die Polypen ihn könnten. Wortlos legte Rory das Zinsbuch auf die unterste Stufe der Treppe, 40
blickte zu dem noch immer am Treppenabsatz stehenden Mann empor, drehte sich dann um und setzte seinen Weg fort. Hinter den drei nächsten Türen, an denen er klopfte, ließ sich überhaupt kein Laut vernehmen; aber kaum hatte er den Klopfer der vierten Tür betätigt, wurde ihm auch schon geöffnet, und Mrs. Fawcett stand mit dem Zinsbuch in der einen und der halben Krone in der andern Hand vor ihm. Statt jeder Begrüßung fing sie sofort an, auf ihn einzureden: »Von der Bagage werden Sie keinen Groschen kriegen.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung aufs Nebenhaus. »Von den anderen übrigens auch nicht. Die ganze Bande ist nach Shields auf den Markt gegangen, und wie ich sie kenne, werden die garantiert mit leeren Taschen zurückkehren. Faules irisches Pack. Und ich sag' Ihnen was.« Sie reckte ihr sauertöpfisches Gesicht in die Höhe. »Sie – die Flaherty – hat das Gassenzimmer bis an die Decke mit Betten vollgestopft. Wenn die eine Schicht rausstolpert, fällt die zweite in die Kiste – pausenlos geht das so. Von Montag bis Samstagmittag rühren die keinen Tropfen an, aber dann geht's los, kann ich Ihnen verraten. Sonntag gehen sie dann allesamt zur Beichte, aber kaum ist die Messe aus, sieht man sie schon wieder am Schanktisch, diese Heuchler. Eine Schande ist das!« Rory klappte das Zinsbuch zu, übergab es ihr, wobei er ihr fest in die Augen blickte, drehte sich dann auf dem Absatz um und ging. Er unterzog sich nicht der Mühe, nebenan anzuklopfen, denn er glaubte ihr aufs Wort. Sie waren allesamt ausgeflogen und machten sich einen guten Tag. Aber so merkwürdig es klingen mochte – obwohl sie die einzige verläßliche Zahlerin in der ganzen Straße war und schuldenfrei dastand, zog er jeden der irischen Halunken – wie sie sie nannte – dieser Mrs. Fawcett vor. Die Pilbey Street war arg genug, aber die Saltbank Row war, wie gesagt, noch ärger. Hier war es der fürchterliche Gestank, der Rory erledigte. Die schmutzstarrenden Katen, die überfüllten Senkgruben, die verfaulten Bohlen, waren schon im Winter eine Zumutung. Im Sommer wurde es hier jedoch einfach unerträglich. Warum die Stadtgemeinde dieses Viertel nicht einfach als unbewohnbar erklärte, war ihm schleierhaft. Das mußten so etwas wie althergebrachte Privilegi41
en sein, nahm er an. Jedenfalls schien für die irischen Einwanderer alles gut genug zu sein, denen schien das nichts auszumachen; wie jedermann wußte, waren sie ja daran gewöhnt, in ihren Elendshütten in Irland drüben mitten unter Schweinen und Hühnern zu schlafen. Und dennoch gab es unter den Leuten bei Palmers Iren, von denen Rory gehört hatte, daß sie es zu eigenen Häusern gebracht hatten. Das hatte er vom alten Kean selbst, und das gefiel dem alten Knaben ganz und gar nicht. Sein eigener Vater hatte jahrelang bei Palmer gearbeitet, aber es hatte niemals auch nur im entferntesten so ausgesehen, daß er sich eines Tages ein Haus würde kaufen können. Wahrscheinlich auch, weil er es nicht wollte. Sein Vater gab alles aus, was hereinkam; er aß gern gut und trank tagtäglich, soviel er nur konnte, weil er von der Hitze des Schmelzofens wie ausgedörrt war. Trinken war etwas, was Rory seinem Vater nicht übelnahm. Dagegen nahm er es ihm mehr als übel, wie er es mit ihr trieb … mit Lizzie. Er vermutete, daß sein Vater ihn damit quasi entschädigen wollte, daß er ihn zur Schule geschickt hatte. Aber er war ihm auch dafür nicht dankbar, denn er hatte nicht lange genug hingehen können, um mehr als Lesen, Schreiben und Rechnen zu erlernen. Wenn das Geld knapp war, war das Schulgeld das letzte, woran zeitgerecht gedacht wurde. Und ohne Geld konnte man nicht zur Schule gehen, außer, man machte ein Gesuch beim Armenunterstützungsverein; dann bestand die Möglichkeit, daß einem das Schulgeld erlassen wurde. Aber das war nichts für seinen Vater. Jedenfalls hatten seine Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse Rory in die Lage versetzt, eines Tages Mietenkassierer mit einem Wochenlohn von fünfzehn Shilling zu werden. Von allen Seiten hatte es geheißen, daß er ein Glückspilz sei, einen solchen Job zu bekommen: Fünfzehn Shilling, ohne den Rücken zu krümmen oder sich die Hände schmutzig machen zu müssen. Das betonte sein Arbeitgeber auch immer wieder mit Nachdruck. Mr. Kean war der Besitzer der Hälfte der windschiefen Hütten in der Saltbank Row, für die die Miete wöchentlich zwei Shilling betrug. 42
Aber als Rory an diesem Samstagvormittag am Ende der Row angelangt war, belief sich die Gesamtsumme in seinem Geldbeutel auf fünfundzwanzig Shilling und Sixpence. Es hatte eben zwölf Uhr geschlagen, als er die Hauptstraße erreichte und sich dem Menschenstrom anschloß, der aus Palmers Werft und den verschiedenen Seitengassen herausdrang. Fast schien es, als ergösse sich da ein Strom schwarzer Lava in den Hauptfluß, so grau waren die schweißbedeckten Gesichter. Er wurde im Gedränge bis zum Kirchendamm weitergeschoben, wo aus der schwarzen Masse langsam Menschen zu werden begannen. Rory überlegte, daß er so gegen eins im Büro sein müsse. Eine Uhr trug er auf seinen Rundgängen absichtlich nie bei sich, weil sie ihm allzu leicht hätte gestohlen werden können. Dazu genügte ein Haufen Jugendlicher, der so tat, als wäre er in ein Spiel vertieft. Das hatte er bereits mehrmals mit eigenen Augen gesehen. Aber als er auf der Don-Brücke einen Moment lang haltmachte, um auf die engen, schmutzbedeckten Flußufer hinunterzusehen, sagte er sich, daß er heute keinen Anlaß zur Eile hätte, weil der alte Kean sich auf einer seiner Kontrollfahrten in Hexham befand, wonach er für gewöhnlich seinen alten Vater besuchte. Traf dies zu, wurden die Samstag-Einnahmen ohnehin bis Montag im Büro eingesperrt. Sie fielen nicht ins Gewicht, jedenfalls nicht, was sein Inkasso anlangte. John George kassierte da schon mehr, denn er hatte die Hafenanlagen am Tyne und den besseren Teil der Stanhope Road. Er fing langsam an, sich um John George Sorgen zu machen. Etwas bedrückte ihn, das stand fest; offensichtlich war es die Tochter dieses Frömmlers, mit der er sich eingelassen hatte. Erst am Abend zuvor hatte er ihn darauf aufmerksam gemacht, sich die Sache gut zu überlegen, denn als gehorsame Tochter ihres Vaters konnte es sich am Ende herausstellen, daß sie durch und durch bigott war. Ganz Shields wurde langsam bigott; wie die Pilze schossen an allen Ecken und Enden Kirchen und Kapellen aus dem Boden, und je mehr davon errichtet wurden, desto größer wurde das Entrüstungsgeschrei gegen das Trinken und Spielen. Und die, die solchen Lärm schlugen – was waren denn die? Verdammte Scheinheilige, das stand 43
fest. Oh, er wußte Verschiedenes über einige von ihnen. Deshalb hatte er John George ja gewarnt. Als er am Tyne-Dock entlangging, vergaß er John George und dessen Sorgen langsam, weil seine Gedanken immer mehr von den Aussichten auf den heutigen Abend in Anspruch genommen wurden. Er hatte da nämlich von einem Schweden, der in der Gegend von Corstorphine Town wohnen sollte, gehört, der im Sommer immer zwischen Norwegen und Schweden hin und her kreuzte, den Winter aber hier verbringen und eine Art Spielsalon unterhalten sollte. Nicht für gewöhnliche Leute, sondern ungefähr vom Kapitän aufwärts und so. Natürlich war es so, wie der kleine Joe, der Schlepper, sagte, daß Fremde nicht leicht Zutritt dort bekamen. Das war schon komisch, wirklich, daß ein Schwede einen Engländer als Fremden bezeichnete, noch dazu in seinem eigenen Vaterland. Jedenfalls hatte der kleine Joe ihm versprochen, ihn irgendwie einzuschleusen. Rory spürte, wie sich sein Magen vor Aufregung darüber zusammenkrampfte, endlich in einem richtigen Klub Fuß fassen zu können. Da gab es dann keines von diesen Sechspence-Spielchen mehr – o nein, da betrug der Einsatz zwanzig Pfund pro Spiel. Wenn er da erst einmal mittun konnte, würde es nicht mehr lange dauern, und er konnte seinen eigenen Hausstand gründen. Mit Janie. Er wollte heiraten, er sehnte sich schmerzlich nach Janie. Das war das richtige Wort: schmerzlich. Nachts warf er sich von einer Seite auf die andere, bis er schließlich doch aufstehen und die Fußsohlen zur Abkühlung auf das kalte Stück Linoleum zwischen den Betten stellen mußte. Morgen würde er sie wiedersehen. Der bloße Gedanke daran ließ ihn seine Niedergeschlagenheit vergessen; sie bloß anzusehen, zerrte an seinen Nerven. Denn sie war nicht nur hübsch, sondern schön, direkt zum Anbeißen. Morgen würde er nicht den ganzen Nachmittag damit zubringen, wegen ein paar lumpiger Kröten Karten zu spielen. Hach! Er fragte sich selbst, weshalb er sich Sonntag für Sonntag darauf einließ. Nein, egal, ob die Sonne schien oder es regnete – sie würden den Heckenweg hinaufwandern, und er würde die Dinge auf seine Weise mit ihr abmachen, jawohl, das würde er. 44
»Rory! Rory!« Er drehte sich rasch um und ließ den Blick über den Hafen schweifen, bis er John George entdeckte, der sich durch die Menschenmenge drängte. Als er ihn erreicht hatte, sah Rory ihn an und sagte: »Du bist heute spät dran, nicht? Für gewöhnlich bist du doch gegen zwölf fertig.« »Stimmt. Aber es hat einen Unfall gegeben. In der Boldon-Lane, bei Toll. Ich mußte helfen, zwei ineinander verkeilte Wagen auseinander zu schieben. Ein junger Bursche wäre sonst glatt zermalmt worden. Toll wird nächstes Jahr fertig sein, sagen sie, und daß das gut sei und so weiter.« »Ja, aber sich mit dem Geld in der Tasche ins Gedränge begeben? Du mußt verrückt sein … Und wo hast du das wieder her?« Rory betrachtete John George von Kopf bis Fuß. »Hast du wenigstens den Preis ordentlich gedrückt?« John George strich die Aufschläge seines dicken braunen Überziehers glatt, der ihm, wenngleich er etwas zu kurz für ihn war, wie angegossen paßte, und sagte: »Ich habe ihn vergangenen Samstag in Newcastle erwischt, auf dem Markt.« »Und was hast du dafür bezahlt?« »Einen halben Dollar.« »Nun, dann hat man dich wenigstens nicht übers Ohr gehauen. Der Stoff ist gut. Du hättest dir gleich ein Paar Stiefel dazu besorgen sollen, wenn du schon dort warst.« Rory blickte auf die zerrissenen Schuhspitzen des andern nieder. »Ein Wunder, daß der Alte das noch nicht entdeckt und dich deshalb angepfiffen hat. Du weißt, welchen Wert er auf die äußere Erscheinung legt.« »Ich werde mich um ein Paar umsehen, sowie ich wieder drüben bin.« »Fährst du heute wieder nach Newcastle?« »Ja.« John George wandte den Kopf und lächelte Rory an. »Wir treffen uns beim Drei-Uhr-Zug, und dann gehen wir spazieren. Sieh mal« – er schob die Hand in die Tasche seines Überziehers und zog eine kleine, 45
in Seidenpapier eingewickelte Schachtel hervor –, »das habe ich ihr als Weihnachtsgeschenk gekauft. Wie findest du es?« Nachdem Rory den Schachteldeckel geöffnet hatte, sah er sich das herzförmige Medaillon, das an einem feinen Kettchen hing, sekundenlang an, dann fragte er John George ruhig: »Was hast du dafür bezahlt?« »Nicht das, was es wert ist. Es ist alt. Aber ein gutes Stück.« »Was hast du dafür bezahlt?« »Siebeneinhalb.« »Siebeneinhalb? Bist du verrückt! Wie kannst du dir das leisten? Du sagst doch immer, daß deine Tante Meg jeden Pfennig braucht, um den Haushalt in Schwung zu halten, und daß du höchstens vier Shilling für dich abzwacken kannst.« »Nun, das stimmt auch. Aber … aber ich hab' mir da ein System zurechtgelegt, weißt du.« »Ein System?« Rory verzog das Gesicht. »Was für ein System denn?« »Ach, nicht jetzt, Mann, nicht jetzt. Ich werde es dir nachher … später erzählen. Ich wollte über etwas anderes mit dir reden … Weißt du, ich denke daran, mir einen besseren Posten zu suchen. Bei dem Lohn, den ich bekomme, kann ich nicht einmal im Traum erhoffen, Maggie von daheim loseisen zu können, denn da sie dort nach dem Rechten sehen muß …« »Wie könntest du einen besseren Posten bekommen als den, den du ohnehin hast?« »Ach, in Newcastle gibt es genügend Arbeitsplätze.« »Tja, das weiß ich, aber die Jungs dort bekommen nicht mal soviel wie wir. Dort gibt es keine Gewerkschaft, die sich für dich einsetzt, mein Lieber. Ich bin bestimmt nicht das, was man zufrieden nennt, aber ich weiß verdammt gut, daß ich, wenn mir um mehr Geld zu tun ist, es als Mietenkassierer nicht kriegen werde. Hör mal, bist du etwa irgendwie in der Klemme?« »Nein, nein«, sagte John George und schüttelte hastig den Kopf. Schweigend gingen sie nebeneinander her, schlugen verschiedene Abkürzungen ein, bis sie zum Markt kamen, zwängten sich dort durch 46
die Budenreihen durch, überquerten ein enges Seitengäßchen, das sich stolz Tangard Street nannte, und standen schließlich vor einem kleinen Haus, mit der Aufschrift: ›Septimus Kean, Grundstücksmakler, Schätzmeister und Mietenkassierer‹. In der Mitte des Haustors befand sich ein Messingknauf, der niemals poliert war, und darüber ein Schlüsselloch. In demselben Moment, in dem John George aufschließen wollte, wurde das Tor von innen aufgerissen, und die beiden standen Mr. Kean persönlich gegenüber. »Oh, Mr. Kean … Wir dachten, Sie seien auswärts.« Der kleine Mann mit den Hängebacken sah Rory giftig an und rief: »Offensichtlich! Wissen Sie, wie spät es ist?« Er zog eine Uhr aus der Weste, ließ den Deckel aufschnappen und wandte sich dann abermals an Rory: »Zehn nach eins! Wenn die Katze aus dem Haus ist, feiern die Mäuse.« »Wir machen doch immer um eins Schluß«, verteidigte sich Rory, dessen Halsmuskeln sich nun deutlich abhoben und der vor unterdrückter Wut zornrot geworden war. »So. Machen Sie das? Vergessen Sie nicht, wen Sie vor sich haben! Sie wissen genau, was mit unverschämten Kerlen passiert. Kein Mensch ist unersetzlich. Ich weiß, daß Sie um eins Schluß machen, und das ist ein verdammtes Glück, kann ich Ihnen sagen. Aber Sie hätten vor eins zurücksein müssen und Geld und Kassabuch an den hierfür bestimmten Platz legen sollen – dann erst ist Ihr Dienst zu Ende, verstanden? … Und was ist mit Ihnen los?« Er starrte nun John George an. »Sind Sie krank, oder was?« John George schluckte heftig, schüttelte den Kopf und blieb wie angewurzelt auf der Türschwelle stehen. Was Mr. Kean sofort dazu veranlaßte, loszubrüllen: »Kommen Sie herein, Mann! Was ist nur in Sie gefahren? Schließen Sie die Tür, bevor es uns noch hinauszieht. Und geben Sie mir die Kassabücher, ich möchte so schnell wie möglich fort.« Mr. Kean drehte sich auf dem Absatz um und betrat den zweiten Büroraum, der durch eine Glastür von dem ersten getrennt war, damit 47
er sich mit einem einzigen Blick jederzeit vergewissern konnte, daß seine beiden Angestellten an ihren Schreibtischen nicht herumtrödelten. »Was gibt's denn, was ist los?« Rory packte John George bei der Schulter. »Du siehst ja aus wie der leibhaftige Tod!« John George schluckte zweimal, ehe er flüsterte: »Borg … borg mir zehn Shilling.« »Ich soll dir zehn Shilling borgen?« »Ja, nur für den Moment, du bekommst sie Montag morgen wieder. Nur leih sie mir jetzt, Rory – um Himmels willen – leih sie mir.« Rory warf rasch einen Blick zur Glastür, schob die Hand in die Hosentasche und zischte John George zu: »Du hast doch erst gestern deinen Lohn ausbezahlt bekommen.« »Ich weiß; ich erklär's dir schon, in ein paar Minuten.« Die Hand, die er Rory hinstreckte, zitterte, und als Rory ein goldenes Zehnshillingstück hineinfallen ließ, preßte er einen Augenblick fest die Finger zusammen, ehe er es in den Lederbeutel, den er in der andern Hand hielt, fallen ließ. »Herein mit euch, schnell.« Die beiden sahen einander an, dann drehte John George sich um und stolperte beinahe in das Zimmer seines Chefs. Rory blieb in der offenen Tür stehen und starrte ihm nach … Er saß also in der Klemme! Der verdammte Narr saß richtig in der Klemme! Und das alles nur wegen dieses Mädchens. Mein Gott, wenn er jetzt nicht zur Stelle gewesen wäre, hätte der Alte tatsächlich entdeckt, daß er zehn Shilling zu wenig hatte! Abermals brüllte Mr. Kean los: »Was ist mit Ihnen, Armstrong? Sie sehen aus, als ob Ihnen todübel wäre, was?« Darauf erklang John Georges Stimme dünn und zitternd: »Es ist – eine Erkältung, Sir. Ich habe mich verkühlt, glaube ich.« Es entstand eine Pause, dann sagte Mr. Kean: »Dieser Überzieher ist doch neu, wenn mich nicht alles täuscht. Darin sollten Sie nicht frieren. War schon höchste Zeit, daß Sie sich ein bißchen ausstaffieren. Macht einen schlechten Eindruck, wenn meine Kassierer wie Land48
streicher aussehen.« Abermals hielt er inne, dann krächzte er: »Diese Mrs. Arnold hat ja überhaupt nichts von ihrem vierwöchigen Rückstand abgezahlt. Weshalb haben Sie nicht dafür gesorgt?« »Sie war krank. Sie ist bis gestern … gelegen. Aber sie hat versprochen, daß sie's bald begleichen will, weil ihre Tochter am anderen Ufer bei Haggie untergekommen ist … das ist die Seilerei, wissen Sie.« »Das weiß ich, ich kenne den Betrieb. Und ich kenne die Typen, die dort arbeiten. Höchstwahrscheinlich hat sie ihren Lohn vertrunken, noch ehe sie die Fähre betreten hat. Es arbeiten ja auch noch andere Kinder, oder?« »Ja, sie hat einen Jungen in der Grube. Aber er ist noch klein und bekommt bloß zehn Pence pro Tag. Sie … sie hat viel durchgemacht, seit ihr Mann gestorben ist.« »Das ist weder meine noch Ihre Angelegenheit. Ich wünsche keine Familienangelegenheiten vorgesetzt zu bekommen. Alles, was ich wünsche, ist die Miete und den Mietrückstand. Also sorgen Sie dafür. Sie werden nachlässig, Armstrong. Das habe ich in letzter Zeit mehr als einmal feststellen müssen.« Nach abermaligem Schweigen betrat John George den Vorraum. Seine Miene war bekümmert, seine Augen weit aufgerissen, und in seinem Blick lag ein derartiger Ausdruck von Trübsal, daß Rory sich rasch abwandte, nach seinem Lederbeutel griff und nun seinerseits das Chefzimmer betrat. Nachdem er das Geld auf den Tisch geleert hatte, zählte Mr. Kean es Münze für Münze mit Hilfe seines Zeigefingers ab, dann sah er Rory von unten herauf an und sagte bissig: »Wollen Sie mir etwa einreden, daß dies hier das Ergebnis Ihrer Arbeit eines ganzen Vormittags ist?« »Es handelt sich schließlich um die Pilbey Street und die Saltbank Row.« »Das weiß ich, verdammt noch mal. Samstags handelt es sich immer um die Pilbey Street und die Saltbank Row. Meine Frage lautet: Soll das alles sein, was Sie von dem Pack bekommen haben?« Rory biß sich auf die Lippen, ehe er antwortete: »Um Weihnachten ist es immer dasselbe.« 49
»Hören Sie!« Mr. Kean warf den Kopf in den Nacken und schrie los: »Der eine kommt mir mit Familiengeschichten daher, der andere führt die Feiertage als Entschuldigung an. Ich will Ihnen etwas sagen: Diese Ausreden sind nicht gut genug, nicht stichhaltig, weder die eine noch die andere, ob es jetzt um Weihnachten geht oder nicht. Wenn Sie mir beim nächsten Inkasso nicht zumindest das Doppelte auf meinen Schreibtisch legen, wird es einiger Karren bedürfen, um die Bande mit all ihrem Dreck und Plunder dort abzutransportieren; richten Sie das den Leuten gefälligst aus! Ein für allemal.« Abermals stocherte er in den Münzen herum. »Bringen Sie mir das Doppelte, sonst jage ich denen die Polizei auf den Hals.« Als Rory sich unvermittelt umwandte, brüllte Mr. Kean ihn an: »Antworten Sie gefälligst, wenn ich mit Ihnen rede!« Rory blieb stehen, aber es dauerte einige Sekunden, ehe er Mr. Kean sein Gesicht wieder zudrehte und dann antwortete: »Jawohl, Sir.« Wieder vergingen einige Sekunden, ehe Mr. Kean sagte: »Es wird Veränderungen hier geben, Connor.« Und abermals erwiderte Rory nur: »Jawohl, Sir.« »Hinaus mit Ihnen!« Die Knöpfe auf Rorys Mantel spannten sich heftig, als er tief einatmete, ehe er sich umdrehte, das Büro seines Chefs verließ und die Tür hinter sich schloß. John George stand an seinem schmalen, hohen Schreibtisch. Sein Gesicht hatte wieder etwas Farbe angenommen, und er wollte gerade den Mund auftun, als die Außentür sich öffnete und die beiden Miß Charlotte Kean erblickten. Charlotte war Keans einziges Kind, sah dem Alten aber nicht ähnlich, da sie groß, ja sogar außergewöhnlich groß für eine Frau war und mager dazu. Außerdem hatte sie eine überdimensionale Hakennase. Auch ihr Mund war groß, paßte jedoch zu ihren Gesichtsproportionen. Ihre Augen waren grünlichgrau, ihr Haar schwarz. Sie war eine häßliche, junge Frau, oder richtiger ausgedrückt, es schien mit ihrer Schönheit haarscharf danebengegangen zu sein. Denn jeder ihrer Gesichtszüge war für sich gut in Ordnung, nur zusammengenommen ergaben 50
sie kein einnehmendes Bild. Vielleicht, weil einem soviel Kraft, Stärke, ja geradezu Männlichkeit daraus entgegenstrahlte. Jedermann wußte, daß sie ebensoviel vom Geschäft verstand wie ihr Vater. Sie kam jedoch nur selten ins Büro. Rory hatte sie in den vier Jahren, die er hier angestellt war, nicht mehr als höchstens sechsmal zu sehen bekommen, und ihr Erscheinen hatte ihm jedesmal genügend Material zu Scherzen daheim geliefert, wenn sie sonntags alle vergnügt beisammensaßen. Von Zeit zu Zeit hatte er John George ihretwegen geradezu aufgezogen. Dieser hatte nämlich gesagt, daß sie ihm leid täte, weil eine junge Frau wie sie so gut wie keine Chancen hätte, jemals einen Freier zu finden. Seine Worte schienen sich zu bewahrheiten, denn sie galt mit ihren achtundzwanzig längst als ›sitzengeblieben‹. Aber es gab etwas an der Tochter seines Chefs, worüber sich Rory nicht lustig zu machen vermochte, ja, das ihn sogar in Verlegenheit brachte – und das war ihre Stimme. Sie sprach niemals Tyneside-Dialekt, wohl deshalb, weil sie bereits mit zehn Jahren auf eine der höheren Töchterschulen nach Shields geschickt worden war, von wo sie erst mit siebzehn zurückkam. Sie grüßte nicht beim Eintreten – man grüßte Angestellte nicht –, sondern sah Rory nur kurz an, ehe sie fragte: »Ist mein Vater da?« »Ja, Miß.« Rory deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür. Sie verweilte einen Moment und sah von einem zum anderen. Dann ruhte ihr Blick abermals auf Rory, ja sie musterte ihn geradezu von Kopf bis Fuß. »Die reinste Schlachtviehbeschau«, pflegte Rory daheim zu sagen. Aber er ließ sich von diesem Blick nicht einschüchtern, sondern erwiderte ihn. Er betrachtete ihren pelzbesetzten Hut, den sie zu einem grauen Samtmantel mit braunem Pelzkragen trug. Ihre Füße steckten in schmalen braunen Rehlederstiefeln. Er hatte ihre Füße schon früher bemerkt. Sie waren so schmal, daß er sich fragte, wie sie sich damit aufrecht zu halten vermochte und wie sie wohl jemals passende Stiefel auftrieb. Aber wenn man Geld hatte, konnte man schließlich alles auftreiben. Dennoch wäre er jede Wette eingegangen, daß ihre Hemden aus gewöhnlichem, ungebleichtem Kattun waren. Spitzenhemden trug die garantiert nicht. Was hätte sie auch groß da hineinstecken sollen! 51
Als sie zur Tür des Chefzimmers ging, besah er sich ihre Rückseite. Wie ein Ladenstock sah sie aus, überhaupt nicht wie eine Frau. Er nickte John George, der an seinem Schreibtisch festzukleben schien, vielsagend zu, und als er ihr die Tür öffnete, hörte er sie sagen: »Du wirst zu spät zur Fähre kommen. Komm jetzt, Vater.« Der alte Mann fuhr stets mit der Fähre nach Newcastle; er mochte die Bahn nicht, obwohl er sie für die Strecke von Newcastle nach Hexham ja doch benützen mußte. Wenn er seine übliche Rundfahrt machte, fuhr er Samstag meist zeitig los. Was hatte ihn wohl diesmal aufgehalten? Jedenfalls hatte dieser Umstand John George offensichtlich beinahe um den Verstand gebracht. Sie überquerten bereits den Markt, als Rory ungeduldig sagte: »Also los, spuck es aus, Junge.« »Ich werde … werde es dir ganz sicher zurückzahlen. Sechs Shilling kann … kann ich dir auf der Stelle geben, ich muß sie nur von daheim holen. Und … und den Rest bekommst du dann Montag.« »Was hattest du denn vor?« »Ach« – John George wiegte den Kopf –, »ich wollte Maggie unbedingt etwas geben, und es mußte heute sein – das ist der einzige Tag in der Woche, wo ich sie treffen kann. Das nächste Mal sehen wir uns vielleicht erst nach den Feiertagen wieder. Und da hab' ich mir gedacht: Der Alte kommt ja ohnehin nicht vor Montag, da kann ich es mir doch gleich … ausleihen. Und so hab' ich die zehn Shilling eben aus dem Beutel herausgenommen.« »Du verdammter Narr, du!« »Ich weiß, ich weiß, daß ich einer bin.« »Aber wie konntest du dir einbilden, es Montag zurückgeben zu können, wenn du es jetzt nicht hast!« »Nun ja, weißt du« – abermals wiegte er den Kopf hin und her –, »für gewöhnlich pack' ich meinen guten Anzug ein und meine Uhr und so ein paar Sachen …« »Was heißt für gewöhnlich! Hast du das am Ende früher schon mal getan?« John George nickte langsam. »Na ja, ein paarmal. Manchmal, wenn 52
ich weiß, daß er übers Wochenende wegfährt und vor Montag mit seinem Eintreffen nicht zu rechnen ist. Als ich ihn vorhin so dastehen sah, dachte ich, ich würde auf der Stelle tot umfallen.« »Das hättest du auch verdient, du Esel, du. Weißt du, daß er dich hochgehen lassen kann? Und er ist genau der Typ, der so was tut. Ehe du noch ›piep‹ sagen kannst, bist du erledigt. Du mußt total übergeschnappt sein, Mann.« »Ich glaube wirklich, daß ich bald überschnappen werde, wenn die Dinge sich nicht ändern.« »Alles, was du tun mußt, ist, dich zusammenzureißen und noch heute alles mit deiner Familie in Ordnung zu bringen. Verlaß Tante Meg und Onkel Willy – er kann schließlich arbeiten. In meinen Augen ist er nichts weiter als ein Dieb, was dich anlangt. Such dir ein ganz gewöhnliches leeres Zimmer und …« »Was!« John George wandte sich heftig nach Rory um. »Soll ich etwa die Möbel mitnehmen und sie in kahlen Räumen zurücklassen oder ihnen sagen, daß sie verschwinden sollen? Was du nicht verstehst, Rory, ist, daß es so etwas wie Dankbarkeit gibt. Ich vergesse nicht, daß sie nach dem Tod meines Vaters gut zu meiner Mutter gewesen sind – im Grunde genommen schon lange vorher. Zwei Jahre haben sie bei seiner Pflege mitgeholfen, solange er eben bettlägerig war.« »Nun, sie wurden auch verdammt gut dafür bezahlt, wenn du mich fragst. Also schön, nehmen wir an, daß du ihretwegen wirklich nichts unternehmen kannst. Du möchtest aber unbedingt, daß das Mädchen … sagen wir eben: deine Frau wird, von mir aus. Dann bitte sie um ihre Hand und bring sie heim zu dir.« »Das ist leichter gesagt als getan. Wenn ich sie aus ihrem Elternhaus fortholen würde, dann ginge ihr Vater mit ziemlicher Sicherheit direkt zum alten Kean und würde mich bei ihm anschwärzen.« Er legte die Hand auf seine trotz bitterster Kälte schweißbedeckte Stirn und murmelte: »Aber irgendwas werde ich unternehmen müssen, und zwar bald, denn … o mein Gott! Ich sitze schön in der Patsche, Rory.« »Das sehe ich.« 53
»Es gibt da nämlich noch etwas anderes, weißt du.« »Ach.« Rory schloß die Augen und schlug sich mit der Hand auf den Mund, dann griff er schnell nach seiner Melone, um zu verhindern, daß der Wind sie ihm vom Kopf peitschte. »Also los …« »Ein andermal, Rory, ein andermal. Heute bist du nicht in der richtigen Stimmung … Sieh mal!« Er zeigte auf die gegenüberliegende Seite. »Ist das nicht Jimmy?« Rory blieb stehen und sagte: »Ja, das ist er … Jimmy!« rief er hinüber, und Jimmy, der mit gesenkten Augen vor sich hin geschlendert war, kam in dem für ihn so charakteristischen schwankenden Gang auf sie zugeeilt. »So was, daß ich euch beide da treffe. Ich habe eben an dich gedacht, Rory.« »Wirklich? Warum? Bist du auch so einer, der Unterstützung braucht, hm?« »Keine Spur«, lachte Jimmy. »Ich dachte bloß, daß ich dich, wenn du heimkommst, bitten werde, nochmals hier herunterzukommen. Wirklich komisch.« »Ich kann daran nichts zum Lachen finden, Jimmy, jedenfalls noch nicht.« »Nun, ich wollte dir etwas am Fluß unten zeigen. Und da kommst du gerade daher! Weißt du, was –, komm jetzt mit.« Er deutete mit einer Kopfbewegung zum Fluß hinunter, fügte dann jedoch gleich hinzu: »Und du auch, John George.« »Ich kann nicht, Jimmy, tut mir leid. Ich bin … auf dem Heimweg.« »Schon gut, John George, ich verstehe. Heute ist ja dein Tag für Newcastle.« Wieder lachte er. John George behielt jedoch ein ernstes Gesicht und wiederholte nur: »Ja, Jimmy, es ist mein Tag für Newcastle.« Dann nickte er ihm zu und sagte: »Auf bald. Wiedersehen, Rory. Richtig, daß ich nicht vergesse: Was ist wegen der andern Sache, ich meine …« »Hat Zeit bis Montag. Aber daß du mir bis dahin nicht wieder irgend etwas Verrücktes anstellst!« »Ich werd' dran denken. Aber was geschehen ist, ist geschehen. Je54
denfalls danke, danke vielmals. Du bekommst es am Montag. Auf Wiedersehen.« »Auf Wiedersehen.« »Was ist denn los mit ihm?« fragte Jimmy, als sie zum Fluß hinuntergingen. »Er ist ein ausgesprochener Narr, verrückt!« »Was hat er denn angestellt?« »Nichts … ich sag's dir ein andermal. Weshalb willst du mich zum Fluß hinunterführen?« »Ich möchte dir etwas zeigen.« »Ein Boot?« »Ja, ein Boot. Und noch mehr als das.« Rory blickte in das junge Gesicht seines Bruders. Es fiel ihm stets schwer, zu glauben, daß Jimmy neunzehn Jahre alt war, denn er sah immer noch wie ein Schuljunge aus. Er hatte Jimmy nicht nur gern – wenn sie auch Halbbrüder waren –, er mochte ihn am liebsten von allen. »Wo gehen wir denn hin?« »Die Strandpromenade entlang und dann die Abzweigung hinunter.« »Dort gibt es doch nichts als Lagerhäuser.« »Genau. Und nach Snowdons Lagerhaus ist es auch, du wirst schon sehen.« Nachdem sie an den Lagerhäusern vorbeigegangen waren und einen freien Platz überquert hatten, gelangten sie an einen aus rostigen Ankern, Ketten und Sparren bestehenden Schrottplatz, und schließlich zwängte sich Jimmy durch einen aus dickem schwarzem Holz bestehenden Zaun und sagte zu Rory: »Hier durch.« Es machte Rory einige Schwierigkeiten, sich durch die morschen Planken hindurchzuzwängen; aber kaum hatte er es geschafft, sah er so etwas wie eine Miniaturwerft vor sich. Darauf befand sich das halbfertige Gerippe eines Boots, das von Holzscheiten aller Formen und Größen umgeben war. Er trat an die Mole, blickte über die Reling und hinunter aufs Wasser, dann drehte er sich um und besah sich Boot und Werft. 55
Das Gebäude unterschied sich kaum von den übrigen Lagerhäusern ringsum – nur daß es drei Fenster aufwies, drei große Fenster. Je eines links und rechts von der Tür und eines, das in den Giebel eingepaßt war. Es stand kein Name auf der Vorderseite, wie auf anderen Bootsplätzen und Lagerhäusern, und Rory drehte sich um, blickte in Jimmys glänzende Augen und erkundigte sich: »Nun, und?« »Es ist eine komplette kleine Werft.« »Das sehe ich, aber begeistert bin ich nicht gerade davon. Du hast doch wohl nicht die Absicht, deshalb bei Baker zu kündigen?« »Nein, nein, natürlich gehe ich nicht weg von Baker. Ich wollte, ich könnte es. Gleichzeitig fürchte ich mich davor – man weiß ja nie, was nachkommt. Nein, ich wollte bloß, daß du es dir ansiehst.« »Weshalb?« »Oh, weil … weil es zu verkaufen ist.« »Zu verkaufen?« »Mhm.« »Und was hat das mit uns zu tun?« »Nichts … nichts.« Rory sah, wie der Glanz langsam aus Jimmys Augen wich. Er beobachtete, wie der Junge sich abwandte und auf den Fluß, die kleine Werft und das Bootshaus blickte. Und er sagte weich: »Ich weiß, was du denkst, aber das ist ein Traum, Junge. Es kann nie Wahrheit werden.« »Ich weiß.« »Weshalb hast du mich dann hergeführt?« »Ich wollte bloß, daß du es siehst, ich wollte es dir nur zeigen.« »Wozu soll das gut sein, hm?« »Nun, ich wollte dir zeigen, daß man mit so gut wie nichts anfangen und weitermachen, etwas richtig aufbauen kann. Sie haben es alle so gemacht, den ganzen Fluß entlang. Die Pittie-Brüder haben mit nichts angefangen. Ein einziges Skullboot haben sie zu dritt besessen, und jetzt haben sie hier so gut wie alles in der Hand oder bilden es sich zumindest ein. Denn für ein, zwei andere ist immer noch Platz. Manche sagen, die Tage der Kahnschiffer seien seit der Flußverbreiterung vor56
bei, weil man jetzt die Kohlen direkt von den Verladeplätzen übernehmen kann, aber, wie Mr. Kilpatrick zu sagen pflegte, gibt es schließlich auch andere Dinge zu befördern als Kohle. Auf jeden Fall habe ich es nicht darauf abgesehen, Fährmann zu werden, denn die tun so, als bildeten sie einen Geheimbund und seien ein besonders rauher Schlag, o ja! Auch möchte ich keine Kähne mit Kajüten drauf bauen, weil es dreier Männer bedarf, um so was in Schwung zu halten. Aber so was wie das hier würde ich schon eher ins Auge fassen. Da sind gut dreißig Fuß Platz für Holz, Kisten und jegliche Art von Waren; damit könnte ich notfalls allein fertigwerden, wenn es zu zweit auch leichter wäre. Und Mr. Kilpatrick hat einmal gesagt, daß er etwas entwerfen könnte …« »Wer ist Mr. Kilpatrick?« »Der Alte, dem der Platz hier gehört hat.« »Hast du ihn denn gekannt?« »In gewisser Hinsicht. Ich bin manchmal während der Mittagspause vorbeigekommen. Er hat mir immer Ratschläge erteilt, auf die man nur durch Erfahrung kommt. Er pflegte zum Beispiel das Holz aus dem Fluß zu fischen« – er deutete auf die rings ums Boot lagernden Holzstücke –, »und wenn man es richtig zubereitet, dann ist es genausogut wie neues. Ja, der konnte mit Holz umgehen! Und er hat gemeint, ich auch.« »Du sagst: Er hat … Lebt er denn nicht mehr?« »Nein.« »Wer verkauft dann das hier?« »Sein Sohn. Und er verkauft den Kundenstamm mit.« »Kundenstamm!« Rory lachte kurz auf. »Was für Kundschaften wird's hier schon geben? Bei einem halbfertigen Boot und Holz, das man aus dem Fluß fischen kann!« »Es ist ein Haus drauf, und darin gibt es ein paar sehr schöne Möbel. Und dann all das Werkzeug. Außerdem hat er einen Vertrag auf zehn Jahre.« »Heißt das, daß das hier nur zu mieten ist?« »Mhm.« 57
»Und was kostet es pro Woche?« »Dreieinhalb Pfund.« »Hach!« Es klang reichlich sarkastisch. »Wenig verlangt der gerade nicht – dreieinhalb Pfund für das da!« »Ja, aber damit bekommt man auch die Bewilligung, Sachen auf dem Fluß hin- und herzubringen.« »Und was will er dafür haben?« »Fünfunddreißig Pfund.« »Was!« Das war ein richtiger Aufschrei. »Du willst mich wohl zum Narren halten?« »Bestimmt nicht. Es ist nicht teuer, Rory. Da wäre einmal das Boot und das ganze Holz. Dann hast du das Werkzeug noch nicht gesehen; da ist alles da, was man nur braucht. Und dann die Möbel. Das Bootshaus besteht aus drei Räumen, ich bin drinnen gewesen, weil er mir hier und da eine Tasse Tee gemacht hat. Er hat allein hier gelebt. Es sind große Räume. Das kann man sich von hier draußen gar nicht vorstellen.« »Aber ein fahrbereites Boot ist nicht dabei – das muß er doch gehabt haben, oder?« »Natürlich. Aber das hat sich der Sohn genommen.« »Der weiß genau, was er tut, kann ich nur sagen. Hat er dir das Ganze einzureden versucht?« »Nein, natürlich nicht. Weshalb sollte er auch? Alles, was er von mir wußte, war, daß ich mich ab und zu mit dem Alten unterhalten habe. Er ist ein-, zweimal hergekommen, als ich es mir angesehen habe, und da hat er es mir erzählt. Er hat gesagt …« Jimmy wandte sich ab und ging auf das Bootshaus zu, wobei sein Oberkörper mehr zu wippen schien als seine gebogenen Beine. Rory rief ihm nach: »Nun, weiter. Erzähl mir alles, was er gesagt hat.« »Ist ja egal. Stimmt ja, was du gesagt hast – es ist nur ein Traum.« Damit drehte er sich um und wies mit heftiger Gebärde auf den Platz, als er schloß: »Aber eines Tages werde ich ihn wahrmachen – denk an meine Worte. Ich weiß nicht, wie, aber ich werde es tun. Dann werde ich mein eigenes Dach über dem Kopf haben und ein Boot bauen kön58
nen und das Handwerk ausüben können, das ich verstehe. Du wirst sehen – du wirst schon sehen!« »Gut, gut.« Rory ging auf ihn zu. »Kein Grund, dir die Seele aus dem Leib zu schreien.« »Das hast du als erster getan.« »Nun, ich habe ein Recht dazu.« Er ging an Jimmy vorbei bis ans Ende der Helling, über die sich das halbfertige Boot erstreckte, und blickte zu der an der Wand befestigten Leiter hinüber, die bis zu einer Falltür reichte. Belustigt rief er Jimmy über die Schulter zu: »Ist das der Eingang?« »Nein, natürlich nicht«, sagte Jimmy in verächtlichem Ton. »Es gibt eine Treppe und eine richtige Tür, du hast es ja gesehen. Aber« – und nun begannen seine Augen von neuem zu glänzen, »ich kann dich reinbringen. Ich weiß, wie man durch die Einstiegsluke ins Innere gelangt.« »Worauf warten wir dann, wenn es uns nichts kostet! Also los, rüber mit dir.« Der Wunsch, seinem Bruder Freude zu bereiten und dessen Traum ein bißchen länger am Leben zu halten, regte sich heftig in Rory. Er sah ihm nach, wie er die senkrechte Leiter mit affenartiger Behendigkeit emporkletterte, dann die Hand auf den Lukenhebel legte, ihn mit einer ruckartigen Bewegung zur Seite drehte und die Luke schließlich aufklappte. Rory stand am Fuß der Leiter und sah Jimmy durch die Luke verschwinden. Dann kletterte er ihm nach, aber weniger rasch. Er war schließlich nicht gewöhnt, die Wände hochzuklettern, sagte er sich. Nachdem Rory das Innere des Bootshauses betreten hatte, richtete er sich auf, blickte sich um, sagte jedoch nichts. Es war so, wie Jimmy vorhin erzählt hatte: Es befanden sich wahrhaftig ein paar schöne Möbelstücke in dem Raum, über dessen Behaglichkeit er überrascht war. Der Fußboden war mit einer aus Tauen bestehenden Matte, die verschlungene Muster aufwies, bedeckt. Der Kaminplatz war einladend, über dem Herd war ein Haken für einen Bratspieß oder einen Kessel angebracht. An der einen Wand stand eine guterhaltene Kommode, daneben eine dunkle Eichentruhe mit Messinggriffen. In der Mit59
te des Raumes befand sich ein großer, ovaler, auf einem einzigen Mittelteil basierender Tisch, dessen Oberfläche blankpoliert war, um die Qualität und Farbe des Holzes besser zur Geltung zu bringen. Es gab drei Lehnstühle und einen Schaukelstuhl, und an den Wänden hingen Schiffsandenken: Kompasse aus Messing, Räder, alte Seekarten und so weiter. Langsam ging Rory auf die in den angrenzenden Raum führende Tür zu. Es war ein Schlafzimmer, in dessen einer Ecke eine Pritsche stand und in dem sich von Wand zu Wand eine Hängematte schwang. Auch hier befand sich eine Seemannstruhe, aber keine gewöhnliche, sondern ein Möbelstück, das ein Mann vom Rang eines Kapitäns benutzt haben mochte. Den größten Teil der gegenüberliegenden Wand nahm eine breite Kommode mit Aufsatz ein. »Gute Sachen, nicht? Sieh dir mal die Instrumente an!« Jimmy hob den Deckel der Truhe hoch, um Rory die imponierende Reihe blitzblank glänzender Instrumente, die nebeneinander im Truheninneren aufgehängt waren, zu zeigen. »Tja, es sind gute Sachen. Jedenfalls war er kein unordentlicher Dockhengst, dein Mr. Kilpatrick. Alles ist tadellos.« »Natürlich war er nicht unordentlich, das hätte gar nicht zu ihm gepaßt. Denn er war kein gewöhnlicher Mann, sondern ein Herr; kein Adeliger, aber eben ein Herr. Er war, wie er mir erzählt hat, als junger Mensch von daheim ausgerissen und zur See gegangen. Seine Familie muß vermögend gewesen sein. Als seine Frau starb, nahm sie seinen Sohn zu sich; deshalb will er nichts mit der Gegend am Fluß zu tun haben. Er ist ein Geschäftsmann – Tuchhandel, glaube ich.« »Und was ist da droben?« »Ein langer Raum, der sich über die beiden unteren Zimmer erstreckt. Auch dort gibt es eine Menge Kostbarkeiten: Landkarten, Bücher und so Sachen. Er konnte lesen, o ja, er war sogar ein begeisterter Leser.« Rory sah auf Jimmy nieder. Er sah ihn lange an, ehe er imstande war, zu sagen: »Es tut mir leid.« »Was soll dir schon leid tun?« Jimmy hatte sich abgewandt, ging aufs Fenster zu und blickte auf den Fluß hinaus. 60
»Du weißt genau, was ich meine. Daß du es nicht bekommen kannst. Wenn ich das nötige Geld hätte, würde ich es noch in dieser Minute für dich kaufen. Ehrlich!« Er sah, wie der Bruder ihm langsam sein Gesicht zuwandte. Und seine Miene war wieder sanft, sein Ton herzlich, als er erklärte: »Ich weiß, daß du das tun würdest. Deshalb wollte ich ja, daß du es dir ansiehst, damit ich dich das sagen höre. Denn ich bin überzeugt davon: Wenn du das Geld hättest, würdest du es mir geben, mir borgen.« Rory ging auf den Schaukelstuhl zu, nahm darin Platz und fing an, sich langsam hin und her zu wiegen. Er hatte einmal bei einem einzigen Spiel dreizehn Pfund gewonnen, sie jedoch wiederum verloren, ehe er gegangen war. Aber wenn er abermals gewinnen würde, würde er mit einem Lächeln auf den Lippen aufhören, sofort. Das heißt natürlich nur, wenn er nicht gegen Seeleute antrat – denn die waren imstande, einen wegen zweier schäbiger Pfennige glatt die Kehle durchzuschneiden. Er sprang plötzlich auf und sagte: »Gehen wir.« »Wohin?« »Laß das meine Sorge sein. Komm jetzt bloß, verschwinden wir von hier.« Aber ehe er durch die Luke kletterte, blickte sich Rory noch einmal um und dachte: Damit würde ich zwei Fliegen mit einem Streich treffen. Janie würde über das hier begeistert sein, sie würde sich in ihrem Element fühlen. Und das Zimmer da droben war wie für Jimmy gemacht. Er schloß die Augen und schüttelte den Kopf. Er wurde schon genauso verdreht wie sein kleiner Bruder. Aber es ging schließlich nichts über einen Versuch. Nachdem sie den Ankerplatz verlassen hatten und wieder auf der Straße waren, blieb Rory stehen, blickte Jimmy an und sagte: »Ich möchte, daß du jetzt direkt heimgehst, Jimmy. Du kannst ja sagen, du hättest mich mit einem Kollegen gesehen und daß wir ausgehen wollten: Ins Theater oder so.« »Wirst du spielen?« »Ja, wenn ich jemanden finde.« »Ach, Rory.« 61
»Nun, nun, bekomm nicht gleich leuchtende Augen. Möglich, daß nichts draus wird. Aber ich will es versuchen. Und wenn wir so viel zusammenbekommen, daß wir eine gewisse Summe anzahlen können, dann …« – er versetzte Jimmy einen liebevollen Stoß – »dann wird der Bursche vielleicht warten und es auch ratenweise nehmen, hm? Nicht jeder würde über einen solchen Platz gleich einen Luftsprung vor Freude machen. Aber wie gesagt: Versprich dir nicht zuviel! Sag ihnen, was ich dir aufgetragen habe, und falls ich nicht daheim bin, ehe sie zu Bett gehen, dann sag ihnen – nun ja, sag ihnen, sie sollen nicht auf mich warten.« »Ja, ja, Rory, natürlich, das mach' ich. Und … sei vorsichtig, hörst du.« »In welcher Beziehung?« »Man hört doch so Verschiedenes über die diversen Spielrunden hier herunten. Es sind ein paar ganz schön rauhe Gesellen dabei.« »Genau wie ich.« »Du bist schon in Ordnung.« Sie sahen einander an: Der untermittelgroße Junge mit den O-Beinen und dem engelhaften Gesicht und sein etwas untersetzter, Selbstsicherheit und Hochmut ausstrahlender Halbbruder. Und jeder von ihnen liebte den anderen auf seine Art: Rory die blinde Bewunderung, die aus dem Gesicht des Jungen sprach, und Jimmy die Härte, Entschlossenheit und offensichtliche Furchtlosigkeit dieses Mannes, den er mehr mochte als alle anderen Menschen. »Also fort mit dir, los!« Rory streckte die Hand aus, und Jimmy drehte sich flink um und lief davon. Erst als er Rorys Blicken entschwunden war, drehte sich dieser um und schlenderte in Richtung Hafen. Aber ehe er noch an dem Uferteil angelangt war, an dem die schönen Häuser mit dem Blick aufs Meer und den Nord- und Südhafen standen, die von Schiffskapitänen und angesehenen Kaufleuten der Stadt bewohnt waren, bog er in ein Gäßchen ein, das seinem Aussehen nach absolut nicht in diese Nachbarschaft paßte. Es bestand nur aus acht Häusern, deren Tore fest verriegelt waren und die bloß winzige Hinterhöfe aufwiesen. Rory klopfte gleich an das erste Tor – es war ein scharfes Po62
chen –, und nach wenigen Minuten wurde dasselbe einen Spalt breit von einem Mann geöffnet, der kaum größer war als ein Zwerg. »Hallo, Joe.« »Oh, Sie sind es, Mr. Connor.« »Tja, Joe. Ich möchte mit Ihnen sprechen.« »Nun ja, Mr. Connor, ich muß mich aber gerade auf den Weg machen, um etwas auszurichten, wissen Sie.« Er gestikulierte mit seinen ungewöhnlich langen, wohlgeformten Händen, und Rory nickte, lächelte und sagte: »Das sieht man. Sie haben ja Ihre allerbesten Klamotten an. Da muß es sich schon um eine besondere Nachricht handeln.« Rory hatte den ›kleinen Joe‹, wie er allgemein genannt wurde, noch nie in einer solchen Aufmachung gesehen. Er hätte sich nicht im Traum einfallen lassen, daß der kleine Mann etwas anderes zum Anziehen haben könnte als schmierige, alte Baumwollhosen und den schäbigen Tuchrock, den er für gewöhnlich trug. Nicht daß er es sich nicht hätte leisten können, sich einen neuen Anzug zu kaufen! Er mußte über ganz schöne Extraeinnahmen verfügen. Denn abgesehen davon, daß er ein bekannter Buchmacher war, konnte man seinen Rat den ganzen Fluß entlang über die merkwürdigsten Geschäfte einholen. Im vergangenen Jahr hatte es geheißen, daß es ihn beinahe erwischt hätte, als zwei blutjunge Mädchen vermißt worden waren. Sie konnten ihm aber nichts beweisen. Er war ein listiger kleiner Kerl. Aber die Sache brachte die Entrüstungswelle in Erinnerung, die sich vor einigen Jahren über die Stadt ergossen hatte, als ein paar kaum den Kinderschuhen entwachsene Mädchen per Schiff außer Landes gebracht worden waren. Danach kam diese Art von Geschäften gezwungenermaßen für einige Zeit zum Stillstand. Aber da eine große Nachfrage nach jungen Dingern, besonders weißen Mädchen, herrschte, war auch Joe wieder zur Stelle. Rory sagte nun zu dem kleinen Mann: »Ich möchte, daß Sie mich heute abend wo einführen, Joe. Wie Sie es mir versprochen haben. Aber keine Hinterhofspielchen –, daran bin ich nicht interessiert.« »So etwas braucht Zeit, Mr. Connor. Und ich habe Ihnen ja gesagt …« Er schloß das Haustor ab, und als er weiterging, versuchte Rory, sich den kürzeren Schritten Joes anzupassen. 63
»Aber Sie können das, wenn Sie nur wollen, Joe. Sie haben mir doch versprochen …« »Ich habe Ihnen gesagt, daß diese Dinge Zeit brauchen, Mr. Connor. Sie sind ständig hinter unsereinem her. Die Polypen treiben sich einfach überall herum.« »Sie haben schon Ihre Mittel und Wege, Joe, das weiß ich. Und ich würde schon dafür sorgen, daß die Sache lukrativ für Sie ist, das wissen Sie doch.« »O ja, durchaus, Mr. Connor. Sie waren noch nie knauserig, wenn's zum Zahlen kam, das weiß ich. Und wenn ich es könnte, würde ich es auch tun … Zum Beispiel bei den Rileys.« »Ich mag dieses Pack nicht, das habe ich Ihnen letztens schon gesagt.« »Nun, ich gebe zu, es sind wirklich rauhe Burschen.« »Und gerissen dazu.« »Da ich selbst nicht spiele, Mr. Connor, kann ich darüber nichts sagen.« »Es gibt andere Plätze, Joe.« »Tja, aber da muß man bekannt sein, Mr. Connor. Und … es handelt sich schließlich um meine Existenz, wissen Sie.« »Sie können, wenn Sie nur wollen, Joe.« So schleppte sich das Gespräch fort; schmeichelndes Drängen auf der einen, übergroße Vorsicht auf der anderen Seite. Und als sich die beiden trennten, hatte die Vorsicht den Sieg davongetragen. »Es tut mir leid, Mr. Connor. Aber ich verständige Sie, sobald ich etwas Passendes für Sie habe. Dann komme ich bei Ihrem Büro vorbei, das verspreche ich Ihnen.« Rory nickte, blieb stehen und sah der kleinen, dahintorkelnden Gestalt nach, die schleunigst davoneilte und am unteren Straßenende verschwand; wobei er für sich wiederholte: »Das verspreche ich Ihnen!« – Dann tauchte plötzlich die Frage in seinem Innern auf: Wo geht er nur hin, so aufgetakelt, wie er ist! Hätte es sich um einen der üblichen Schlupfwinkel gehandelt, dann hätte er sich nicht derart herauszuputzen brauchen. Wo also ging er hin? 64
Als würde er von hinten angeschoben, machte sich nun auch Rory auf den Weg. Nachdem er jedoch in die Hauptstraße einbog, verlangsamte er seinen Gang. Der kleine Joe war ihm um eine gute Nasenlänge voran, er behielt ihn jedoch im Auge, bis er in der Fowler Street untertauchte. Dort wurde Rory durch vorbeihastende Leute aufgehalten, die eilends auf den Gehsteig getreten waren, um einer Privatkalesche und einem Bierwagen die Möglichkeit zu bieten, sich aneinander vorbeizuquetschen. Es gab zornige Zurufe und derbe Beschimpfungen von jenen, deren Kleidung mit Kot bespritzt worden war, und da Rory dieser Möglichkeit gleichfalls auszuweichen trachtete, hielt er sich wegen des Gedränges so dicht wie möglich an die Hauswand, so daß er mit Mühe gerade noch zurechtkam, um zu sehen, wie Joe in die Ogle Terrace einbog. Ogle Terrace war, abgesehen von Westoe, das beste Viertel der Stadt. Wen mochte er dort nur aufsuchen? Die kleine Gestalt eilte wieselflink bis ans Ende des Plynlimmon Way, und dort entschwand sie Rorys Blicken. Rory, der versuchte, hinterdrein zu laufen, wurde abermals aufgehalten, diesmal von mehreren Damen, die durch ein schmiedeeisernes Tor auf die Straße traten, um auf eine bereitstehende Kutsche zuzugehen. Als er schließlich Plynlimmon Way erreicht hatte, war vom kleinen Joe weit und breit nichts zu sehen. Er stand heftig atmend da und reimte sich in Gedanken verschiedenes zusammen. Einen Mann wie Joe ließ man in einer solchen Gegend bestimmt nicht durch den Haupteingang; dennoch mußte er in einem dieser Häuser verschwunden sein. Folglich hatte es nur dann einen Zweck, auf ihn zu warten, wenn er sich an der Hinterfront postierte. Die Hinterhöfe waren hier bedeutend sauberer als anderswo die Vorgärtchen; es war der Bereich der Dienerschaft, mindestens zwei, drei Mädchen pro Haus. In einem davon war der kleine Joe verschwunden und richtete seine Botschaft aus. Er hatte bestimmt etwas Wichtiges vor hier. 65
Als eine der Hintertüren sich öffnete und ein Mann mit einer Weste mit Ledereinsatz den Staub hinausfegte, versteckte sich Rory eilends und kehrte erst wieder zurück, nachdem von dem Mann nichts mehr zu sehen war und sämtliche Hintereingänge geschlossen waren. Er ging an dem ersten vorbei, ebenso an dem zweiten, und als er schon auf den dritten zugehen wollte, öffnete sich derselbe, und der kleine Joe trat heraus. Der kleine Mann stand reglos da und starrte Rory betroffen an, ehe er murrte: »Das hätten Sie nicht tun sollen, Mr. Connor, wirklich nicht. Sie wissen gar nicht, was Sie sich da eingebrockt haben.« Er warf einen hastigen Blick auf die Tür, die er soeben geschlossen hatte, dann eilte er weiter. Und Rory lief neben ihm her. Erst als sie die Hauptstraße erreicht hatten, verlangsamte der Kleine seinen Schritt, und da sagte Rory schließlich: »Nun, Joe, wie steht es also?« Und abermals antwortete Joe, und sein Ton war ausgesprochen schroff: »Sie wissen nicht, was Sie sich eingebrockt haben und worauf Sie da aus sind, wahrhaftig nicht.« »Ich weiß genau, worauf ich aus bin, Joe«, erwiderte Rory grimmig. »Die Kerle, die hier wohnen, sind genauso wie jene in den Landhäusern drüben in Westoe: Sie beherrschen die ganze Stadt; sie kontrollieren Polizei, Schiffahrtswesen, Brauereien, Glashütten und chemische Fabriken. Und einer von denen, die in der Ogle Terrace wohnen, sitzt sogar im Aufsichtsrat. Sie vergessen, daß ich Mieteninkassant bin, Joe. In diesem Distrikt wird keine Miete kassiert, das sind lauter Hauseigentümer. Aber ich weiß über sie Bescheid. Wie jeder andere auch. Morgen schon werde ich herausbekommen haben, wer unter dieser Nummer wohnt. Das ist alles, was ich wissen muß, denn daß der was Besonderes im Schilde führt, liegt auf der Hand. Worum handelt es sich denn, Joe? Um Spiel oder um halbwüchsige Dinger?« »Es wäre besser, Sie würden sich um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, Mr. Connor, jawohl.« Die Stimme des kleinen Joe war nun mit Furcht erfüllt. »Sie müssen auf der Hut sein mit dem, was Sie sagen, er ist …« 66
»Schon gut, Joe, hab' schon verstanden. Er ist ein einflußreicher, mächtiger Mann. Also lassen wir uns die Sache mal durch den Kopf gehen, hm? Er muß auf alle Fälle eins von beiden sein: Entweder ein Mann, der selbst gern spielt, oder einer, der Spiele arrangiert. Das andere wollen wir für den Moment außer acht lassen, nicht? Nun, meiner Meinung nach dürfte er Spiele arrangieren, höchstwahrscheinlich in diesem Haus, denn wenn er es woanders täte, würde er nicht Sie als Botengänger brauchen. Ein Mann seiner Position besitzt sozusagen einen Schlüssel für sämtliche Türen, sogar für jene in Newcastle. Und dort gibt es ein paar ganz große Spielrunden, stimmt's, Joe? Keine Dreikreuzerangelegenheiten, sondern Einundzwanzig und Black Jack und wie immer sie heißen mögen, nicht wahr?« Als er auf den Kleinen niedersah, bemerkte er trotz der einsetzenden Dämmerung und des aufkommenden eisigen Windes, daß Joe schwitzte. Er haspelte ziemlich aufgeregt: »Sehen wir zu, daß wir aus dem Gedränge herauskommen, Mr. Connor.« »Ganz wie Sie wünschen, Joe. Wohin gehen Sie jetzt?« »Ich muß in die Mile End Road.« »Noch eine Botschaft ausrichten?« »Nein, nein.« Dann sagte er, und es klang nicht ungefährlich: »Eines sag' ich Ihnen: Was immer sich daraus ergeben mag, es wird gut sein, wenn Sie so tun, als wüßten Sie von nichts. Denn – und das ist jetzt kein Scherz, Mr. Connor! – sonst könnte allerhand passieren … allerhand.« »Daran zweifle ich nicht, Joe.« »Mit so was spaßt man nicht.« »Ich spaße nicht, glauben Sie mir, Joe. Am Fluß entlang passiert unentwegt was, und dasselbe kann ich mir auch von Plynlimmon Way und dergleichen vorstellen. Aber Sie kennen mich, Joe. Auf mich ist Verlaß. Wenn ich Ihnen früher mal ein paar Shilling schuldig war, haben Sie sie immer noch bekommen, mit einer kleinen Draufgabe, oder? Und niemals habe ich beim Rennen etwas gewonnen, ohne daß nicht für Sie auch etwas dabei herausgesprungen wäre. Also passen Sie auf, Joe.« Er blieb stehen und beugte sich zu dem kleinen Mann nieder. 67
»Alles, was ich von Ihnen möchte, ist, daß Sie mich in eine anständige Spielrunde einschleusen, bei der sich's auszahlt.« »Dort ist aber der Einsatz groß, Mr. Connor«, entgegnete der Kleine, nun wieder ruhig. »Das ist es ja, was ich möchte, Joe.« »Soviel werden Sie kaum zur Hand haben. In derartigen Runden fängt man unter zehn Pfund überhaupt nicht an, und dabei bleibt es nicht.« »Schön, es muß ja nicht gleich die größte Spielrunde sein, dort komme ich eines Tages schon noch hin; für den Moment würde mir eine gute mittlere genügen.« Der kleine Mann blinzelte, nagte an seiner Unterlippe und blickte aufs Pflaster nieder, als überlege er. Dann kniff er die Augen zusammen, sah zu Rory auf und sagte in verschwörerischem Tonfall: »Es gibt eine Runde in Corstorphine Town, wo es mir eventuell gelingen könnte. Es ist nicht gerade der Clou, aber bis zu fünf Pfund steigern die auch.« »Gut, dann will ich dort anfangen, Joe.« »Und Sie werden nichts davon verraten?« Der Kleine warf den Kopf in den Nacken. »Nein, Joe, ich werde kein Sterbenswort verraten – Sie können ganz unbesorgt sein, Joe.« »Es handelt sich nicht um mich, Mr. Connor. Ich sorge mich nur darum, was passiert, wenn Sie einen falschen Schritt unternehmen. Sie kennen diese Spiele noch nicht, Mr. Connor.« »Ich bin nicht schlecht im Kartenspielen, Joe.« »Tja, das haben Sie mir schon mehrmals gesagt. Aber es gibt da gewisse Regeln, Mr. Connor: gewisse Regeln.« »Dann werde ich mich an diese Regeln halten, Joe.« »Aber was ist, wenn Sie's mit Leuten zu tun kriegen, die sich nicht daran halten, Mr. Connor?« »Mit denen werd' ich schon fertig werden, verlassen Sie sich drauf. Also dann führen Sie mich in die Runde in Corstorphine Town ein, Joe, gut?« 68
»Wie spät mag es wohl sein?« Joe blickte in den dunkler werdenden Himmel und stellte fest: »Gegen vier ist es jetzt, würde ich sagen.« »Ja, so gegen vier – das kann hinkommen.« »Sagen wir also um sieben am Hafeneingang.« »Sieben Uhr am Hafeneingang, Joe. Ich werde dort sein. Und danke.« Rory blickte dem kleinen, davon stolpernden Joe nach. Dann rannte er heim. Als er die Küche betrat, sah Jimmy ihn voller Neugier an und sprudelte hervor: »Ich hab' ihnen gesagt« – er deutete mit einer Handbewegung sowohl auf seine Mutter als auch auf Lizzie – »ich hab' ihnen gesagt, daß du einen Kollegen getroffen hast und wahrscheinlich mit ihm ausgehen wirst.« »Das wollten wir auch, aber wir sind eine Weile unten bei den Booten gestanden und so durchgefroren gewesen, daß wir beschlossen, erst mal was Warmes zu essen und zu trinken. Ich wollte ihn schon einladen, aber dann hab' ich mir's wieder überlegt. Also, ich hätte nichts gegen einen anständigen Bissen einzuwenden. Wir treffen uns um sieben wieder.« Ruth kam lächelnd auf ihn zu und sagte: »Gib mir deinen Mantel und setz dich ans Feuer. In einer Minute steht das Essen auf dem Tisch.« Rory grinste Ruth an. Er hatte sie gern, wahrhaftig, man konnte ruhig sagen, er liebte sie. Weshalb konnte nicht sie seine Mutter sein? Die andere sollte der Teufel holen. Und seinen Vater dazu. Die beiden waren ja doch nur herumhurende Nichtsnutze. Ach, was kam es schon darauf an! Er hatte jedenfalls einen Versuch gewagt, und Jimmy würde seine kleine Werft bekommen. Und er und Janie würden heiraten und in dem Bootshaus mit dem Blick übers Wasser wohnen. Und Jimmy würde sich langsam eine richtige Firma aufbauen, und er würde ihm dabei helfen. Und dann würde er seine Spielchen haben und Janie haben. Es fiel ihm gar nicht auf, daß er Janie nach dem Spiel eingereiht hatte.
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ie ganze Zeit blickte sie von einem zum anderen; die beiden jedoch lächelten nur schweigend. Dann sprudelte sie hervor: »Aber das Geld – hast du denn das Geld, um es zu kaufen?« Sie breitete die Arme aus und blickte sich freudestrahlend um. »Nun« – Rory spitzte die Lippen –, »jedenfalls genug, um die nötige Anzahlung hinzublättern.« »Er ist heute erst um sechs Uhr morgens heimgekommen«, sagte Jimmy. Janie fragte: »Du hast also wieder gespielt?« »So ist es, Miß Waggett, so nennt man es: gespielt.« »Und du hast gewonnen?« »Sonst würde ich dir das hier wohl kaum zeigen.« »Wieviel?« »Nun ja« – er blickte zur Seite –, »anfangs beinahe elf Pfund. Aber damit« – er nagte an seiner Unterlippe –, »damit konnte ich mich natürlich nicht so einfach davonmachen. Da muß man schon noch bleiben und weiterspielen. Jedenfalls hatte ich beim Gehen sechs Pfund mehr in der Tasche als beim Kommen.« »Sechs Pfund?« »Tja, sechs Pfund.« »Und das hier kostet fünfunddreißig?« »Das stimmt schon. Aber fünf Pfund tun's für den Anfang. Jimmy wird die Adresse des Sohns des ehemaligen Besitzers auftreiben, und dann werde ich ihm morgen schreiben.« Es herrschte einen Moment lang Schweigen, bis Rory, Janies Profil betrachtend, fragte: »Was hast du?« »Da am Fluß gibt es doch … viel Gesindel, nicht?« »Nicht in dieser Gegend.« 70
Sie drehte sich zu Jimmy um. »Nein?« »Nein«, erwiderte Jimmy eifrig. »Hier sind lauter anständige Geschäfte. Holz- und Zimmereiplätze, Werkstätten und solcherlei. Und außer diesen Läden tut sich hier nicht viel. Wir haben kein Gegenüber und … herrje!« lachte er. »Jetzt sag' ich glatt ›wir‹, als ob wir's bereits hätten …« »Wie findest du es, Janie?« Rory sah sie an. »Ach!« Sie ging langsam auf und ab, streckte die Hand nach Kommode, Messingbeschlägen, Eichentruhe, Tisch und Schaukelstuhl aus und sagte dann: »Ach, es ist wunderbar. Und überraschend dazu. Von außen würde kein Mensch glauben, daß es hier drin so aussieht. Weil es so baufällig wirkt. Aber es ist sehr, sehr schön. Und so heimelig.« »Du mußt noch nach nebenan gehen.« Janie betrat den Schlafraum, lachte und sagte: »Also wenn das nicht zusammenkracht, dann weiß ich nicht. Und alle in einem einzigen Raum …« »Wo denkst du hin!« sagte Jimmy. »Ich werde natürlich oben sein und es mir einfach großartig einrichten. Komm doch mit hinauf und sieh es dir an. Meinst du, daß du über die Leiter klettern kannst?« Janie brachte es zustande, und als sie unterm Schrägdach stand und die langgedehnte Dachstube überblickte, rief sie aus: »Du meine Güte! Hat man jemals soviel Papierkram und Landkarten und Bücher auf einem Haufen gesehen? Also das hier sind bestimmt mehr Bücher als in der Bibliothek vom gnädigen Herrn.« »Bestimmt«, sagte Jimmy, stolz auf- und abgehend, als gehöre dies alles schon ihm. »Bis ich alles richtig aufgeräumt und sortiert habe, kann ich auch lesen, wetten?« »Apropos lesen.« Janie wandte sich an Rory. »Meine Gnädige hat für die Kinder eine Lehrerin fürs Lesen engagiert und gesagt, ich könne beim Unterricht ruhig sitzen bleiben. Was hältst du davon?« »Du wirst nicht lange genug sitzen bleiben bei denen, um auch nur das Alphabet zu lernen. Ich werde dir schon selbst alles beibringen, was ich weiß, und glaube kaum, daß du hier viel freie Zeit fürs Lesen haben wirst. Jedenfalls nicht, soweit es von mir abhängt.« 71
»Rory!« rief Janie in gespielter Entrüstung aus und blickte von ihm zu Jimmy, worauf Jimmy mit gesenktem Kopf auf die Leiter zuging und etwas von ›nach dem Treibholz sehen‹ murmelte. Als sie allein waren, sahen sie einander an; dann zog Rory Janie mit einer raschen Bewegung in die Arme und küßte sie. Er küßte sie lange und leidenschaftlich, und sie erwiderte seine Küsse mit festgeschlossenen Augen. Bis seine Hände sich an ihrem Leibchen zu schaffen machten. Da entzog sie sich ihm mit aller Gewalt, und so standen sie mit roten Gesichtern da und starrten einander an. »Ich will dich haben, ich – begehre dich, Janie«, sagte er. Abermals schloß sie die Augen, schüttelte leicht den Kopf, fuhr sich mit dem Zeigefinger über die feuchten Lippen und murmelte schließlich: »Ich weiß, ich weiß, aber – aber nicht, ehe … nein, nein, nicht vorher. Ich würde mich – ängstigen.« »Es gibt nichts, wovor du dich ängstigen müßtest. Du kennst mich: Du bist die einzige Frau auf der ganzen Welt für mich, bist es immer gewesen und wirst es immer sein. Da gibt es nichts zu ängstigen …« »Ich weiß schon, Rory, aber ich kann nicht, ich trau mich nicht.« Sie schlug mit beiden Händen spielerisch auf ihn los. »Da sind Pa und Oma und all die anderen.« Wiederum hielt er sie fest. »Nichts wird geschehen, – bloß einmal, Janie!« »Das kenn' ich«, lachte sie ihm direkt ins Gesicht. »Davon hat mir meine Oma auch erzählt. Erst heißt es: Bloß einmal. Und dann ist es passiert, und dann will man es …« Sie preßte die Hand auf den Mund. »Ich darf nicht so daherreden. Du solltest mich nicht dazu bringen, so daherzureden. Es schickt sich nicht. Wir sind nicht … wir sind nicht verheiratet.« »Sei nicht albern. Wir sind so gut wie verheiratet. Ich sag' dir doch, daß es nur dich für mich gibt, nur dich …« »Nein, Rory, nein. Nicht, ehe wir's wirklich sind.« Sie schob ihn weg. »Ich meine richtig, mit allem Drum und Dran. Tut mir leid. Ich liebe dich, oh, ich liebe dich so sehr, Rory, und ich werde dich mein Leben lang lieben. Niemals habe ich an einen anderen Burschen auch nur ge72
dacht; und dabei bin ich schon zwanzig. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich dich liebe, es frißt mich geradezu auf. Aber trotzdem möchte ich, daß wir ordentlich anfangen, damit du mir nachher nichts vorzuwerfen hast.« »Wie kannst du nur so etwas sagen!« er hatte sie an den Schultern gepackt und schüttelte sie heftig. »Ich und dir etwas vorwerfen? Glaubst du tatsächlich, daß ich so was täte?« »Du bist ein Mann, und die machen es alle so. Meine Oma …« »Ach, deine Oma soll der Teufel holen – was weiß denn die. Sie ist alt. Zu ihrer Zeit war alles anders.« »Das nicht. Da hat es nie einen Unterschied gegeben, und es wird auch keinen geben. Das ist der einzige Grund, weshalb ihr uns Frauen verächtlich behandelt. Selbst wenn unsereins einen Diebstahl begehen würde, wäre man nie derart abgestempelt, wie wenn man ein … Kind hat.« »Du wirst kein …« »Nein, Rory. Ich sage nein, und dabei bleibt es. Wir haben so lange gewartet; was machen da die paar Monate schon aus?« »Es kann doch was dazwischenkommen. Ich kann sterben, du kannst sterben – alles ist möglich.« »Das müssen wir riskieren.« »Du bist herzlos, Janie, wirklich. In gewisser Hinsicht warst du das immer …« »Ich bin nicht herzlos!« Ihre Stimme bebte. »Doch, das bist du.« »Bin ich nicht, ist nicht wahr.« »Also schön. Kein Grund zum Weinen. Es tut mir leid, wirklich. Wein doch nicht.« »Ich bin nicht – herzlos …« »Nein, das bist du nicht. Du bist lieb und gut und reizend. Ist ja schon gut, es ist doch alles in Ordnung. Ich will dich ja bloß in den Armen halten.« Als seine Arme sie umschlangen, riß sie sich abermals los und trat ans Fenster, von wo aus sie den Fluß betrachtete. Trotzig blieb er stock73
steif stehen und sagte kein Wort mehr. Nur seine Backenknochen bewegten sich, als er mit den Zähnen knirschte. Sie holte tief Atem und wurde beim Anblick des Flusses ruhiger. So weit das Auge reichte, waren Boote jeglicher Art und Größe auszumachen: von der kleinsten Jolle bis zur Fähre, vom Ruderboot bis zum großen Dampfer, dessen Schornsteine sich deutlich vom Himmel abhoben. Langsam kam Rory näher, legte den Arm um Janies Schulter und sagte in besänftigtem Ton: »Sieh dir das an. Das Boot da drüben zum Beispiel: mit der Gallionsfigur. Was für ein schönes Mädchen. Was für ein Busen. Ich wette, daß Thomas Anderson viel Spaß an der Arbeit gehabt hat.« »Aber Rory!« Er zog sie nun an sich und lachte. Dann sagte er: »Siehst du die Fähre da drüben? Die geht nach Newcastle. Wir könnten sonntags einmal dahin fahren. Da gibt es immer was zu sehen.« Sie wandte ihm das Gesicht zu und sagte: »Du hast gesagt, die Miete macht dreieinhalb aus, nicht?« »Mhm.« »Von Jimmy wirst du nichts bekommen, erst wenn seine Sache hier gut angelaufen ist.« »Das weiß ich. Aber wir werden es schon schaffen. Ich werde weiterarbeiten, so lange, bis das hier gut geht und wir richtig davon leben können. Ich kann vielleicht kein Boot bauen, aber Steuern wird sich wohl noch erlernen lassen. Und ich kann Kohlen schaufeln und Waren verladen helfen. Schließlich hab' ich nicht immer nur Mieten kassiert, weißt du; ich habe in der chemischen Fabrik in Jarrow und vorher in der Flaschenfabrik gearbeitet.« »Ich weiß, ich weiß. Ich hab' mir bloß überlegt, was die Gnädige gesagt hat.« »Und zwar?« »Nun« – sie wandte sich von ihm ab und ging auf und ab – »sie will auf keinen Fall, daß ich gehe – das waren ihre Worte.« Sie drehte sich wieder um. »Weißt du, daß sie mir direkt ins Gesicht gesagt hat, daß sie mich vermissen würde. Komisch, so was zu sagen.« 74
»Natürlich wird sie dich vermissen. Jeder würde das.« Abermals trat er dicht an sie heran und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. »Auch ich würde dich vermissen. Wenn ich dich jemals verlieren müßte, mein Gott, wie sehr würdest du mir fehlen, Janie!« »Ach wo. Keine Minute«, scherzte sie, stieß seine Hände beiseite und sagte: »Würdest du verlangen, daß ich den ganzen Tag daheim sitze?« »Ich weiß nicht, ob ich's direkt verlangen würde, aber ich hätte es gern, wenn du daheim bliebst. Natürlich nur, wenn du möchtest. Wer soll denn sonst kochen und waschen und bügeln und so weiter, hm? Worauf willst du eigentlich hinaus?« »Nun ja, die Gnädige hat das Thema angeschnitten, weißt du. Sie möchte meinen Lohn erhöhen und …« »Ach, damit hat sie bloß die Fühler ausgestreckt. Die hat ohnehin nicht vor, dich loszuwerden, keine Angst.« »Nein, natürlich nicht. Sie weiß aber, daß wir heiraten wollen – das habe ich ihr gesagt –, und da hat sie gemeint, ob ich nicht wenigstens dann noch eine Zeitlang bei ihnen bleiben möchte, nur untertags, bis die Kinder größer sind und sich an jemanden andern gewöhnt haben. Denn wie sie gesagt hat, hängen die Kleinen sehr an mir. Dann würde sie es so einrichten, daß Bessie mein Zimmer bekäme, also neben ihnen schläft, und ich brauchte nicht vor acht Uhr morgens dazusein und könnte um halb sieben, wenn ich die Kinder zu Bett gebracht habe, gehen.« Er wandte sich hastig ab, hob die Arme über den Kopf, klopfte mit den Händen gegen das niedere Dach, bis er das Ende des Raumes erreicht hatte, sich umdrehte und wiederum vor ihr stand. Dann schnaufte er: »Paß auf, Janie: Du wirst heiraten, also das Leben einer verheirateten Frau führen, wie wir es uns vorgenommen haben. Du wirst meine Frau sein, und ich will dich nicht von halb sieben oder sieben Uhr abends bis um acht in der Früh haben, sondern die ganze Zeit über. Ich möchte, daß du da bist, wenn ich mittags oder zum Tee heimkomme.« »Sie will mir drei Shilling pro Woche geben, das darf man nicht unterschätzen. Es würde beinahe den halben Zins ausmachen.« 75
»Hör mal, wir werden es schon schaffen. Ein paar Spiele wie das vergangene Nacht – vielleicht sogar welche, die noch mehr einbringen! –, und ich kann dem alten Kean ins Gesicht spucken. Und deiner Herrschaft ebenso.« »Sprich nicht so.« Sie war ungehalten. »Ihnen ins Gesicht spucken! Sie waren immer gut zu mir, besser als sonst jemand. Ich hatte Glück, diesen Posten zu bekommen. Du meine Güte, ich bin bestimmt eines der bestbezahlten Kindermädchen der ganzen Stadt. Immerzu schenkt sie mir ihre kaum getragenen Kleider, und vergiß nicht« – sie schüttelte mißbilligend den Kopf über ihn –, »als es vor einigen Jahren so schwierig mit der Arbeit war und alles ringsum streikte, hat sie mir zu jedem Wochenende einen bis oben vollgepackten Korb mit Lebensmitteln mitgegeben. Und auch dein Magen wäre mehr als einmal leer gewesen, wenn sie das nicht getan hätte. Denk doch nur an das gute Fleisch, das Mehl, den Zucker …« »Gut, gut. Dafür mußt du ihr doch, um Himmels willen, nicht dein Leben lang dankbar sein! Für die war das doch ein Pappenstiel. Die einzig ernst zu nehmende Art von Wohltätigkeit ist die, wo der Gebende selbst kaum was oder überhaupt nichts hat. Höchstwahrscheinlich wirft sie jede Woche genausoviel auf den Kehrichthaufen.« »Die haben gar keinen Kehrichthaufen.« »Du weißt schon, was ich meine.« Sie sagte leise und es klang irgendwie enttäuscht: »Nein, ich weiß nicht, was du meinst, Rory. Es gibt Dinge an dir, die ich nicht verstehe, nie verstanden habe.« Er näherte sich ihr diesmal nicht, sondern wandte den Kopf ab, blickte sie dann sekundenlang von der Seite an und murmelte: »Du hast doch gesagt, daß du mich liebst.« »Ja, das hab' ich gesagt, und das stimmt auch. Aber man kann jemanden lieben und ihn trotzdem nicht verstehen. Wenn wir schon davon reden, möchte ich dir zu diesem Punkt einmal klipp und klar sagen, daß ich es ganz und gar nicht verstehe, wie du dich immerzu aufs Kartenspielen einlassen kannst. Das ist die reinste Manie bei dir. Und es würde mich nicht wundern, wenn du, nachdem wir verheiratet sind, 76
genauso sein wirst wie die andern Männer; die gehen eben ins Wirtshaus und du zum Spieltisch.« »Ich werde nur dann spielen, wenn ich Geld brauche, um dir etwas zu kaufen.« »Das wirst du als Ausrede gebrauchen. Du wirst spielen, weil du nicht aufhören wirst, spielen zu wollen, zu müssen. Das liegt dir gewissermaßen im Blut. Selbst wenn ich mich an unsere Kindheit zurückerinnere, hast du's schon so getrieben. Wenn wir miteinander Hagebutten pflücken gingen, wolltest du immer schon wetten, wieviel du in deiner Faust halten könntest.« Sie starrten einander an, und dann sagte er: »Du möchtest also nicht hierherziehen?« »O ja, doch, Rory, natürlich!« Sie eilte auf ihn zu, lehnte sich an ihn und murmelte dann: »Ich möchte dort sein, wo du bist, das steht fest. Aber zur gleichen Zeit hab' ich das Gefühl, meiner Herrschaft Dank schuldig zu sein. Du siehst sie nicht so, wie ich es tue. Aber … aber sorg dich nicht. Ich werde es der Gnädigen schon beibringen.« Er blickte sie nun liebevoll an und sagte mit sanfter Stimme: »Es würde nicht klappen, Janie! Ich möchte meine Frau auf alle Fälle für mich haben. Ich will nicht, daß du wie die anderen Hilfsarbeiterdienste verrichtest, ob es sich nun um Fischeausnehmen oder Kartoffelschälen handelt – nur damit das Geld reicht. Ich möchte ganz allein für dich sorgen, ich wünsche mir ein wirkliches Heim mit einer lustigen Kinderschar – und einer Frau, die vor dem Kamin auf mich wartet.« Sie nickte ihm zu und sagte: »Du hast recht, Rory, du hast recht« – und dabei tauchte vor ihrem Innern das Bild Kathleen Learys auf. Mrs. Leary hatte sechzehn Kinder zur Welt gebracht und war verbraucht, müde und früh gealtert. Janie wußte, daß Rory zu jener Sorte Männer gehörte, die – falls sie dazu imstande waren – einer Frau glatt sechzehn Kinder schenkten. Nun, so war es eben im Leben. Ja, natürlich. Aber sie war sich nicht sicher, ob sie diese Art Leben wirklich wünschte. Sie machte sich nun behutsam von ihm los, ging auf die Tür zu und sagte: »Ich werde mit der Näherei beginnen müssen. Viel hab' ich gerade nicht in meiner Kommode.« 77
Als er ihre Hand ergriff, um ihr nach unten zu helfen, blickte sie zu ihm auf und sagte: »Die Gnädige will mir das gesamte Bettzeug schenken, das hab' ich dir noch gar nicht gesagt, nicht?« »Nein.« »Nun, das hat sie jedenfalls versprochen. Und so was ist schließlich auch nicht zu verachten, findest du nicht?« »Sicher. Da ist schon was dran.« Aber während er auf sie niedersah, mußte er sich gewaltig beherrschen, um nicht herauszuplatzen: Soll sie sich doch das verdammte Bettzeug an den Hut stecken. Ich werde in kurzer Zeit so viel Geld beisammen haben, daß ich sie in Bettzeug einwickeln kann!
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ory bekam nicht soviel zusammen, um Janie binnen kurzer Zeit in Bettzeug einwickeln zu können. In der dritten Woche des neuen Jahres war alles, was er an Gewinn einstreichen konnte, acht Pfund, und das, nachdem er vier Samstagabende am Spieltisch verbracht hatte. Der Grund dafür war weder sein schlechtes Spiel noch Pech, sondern der, daß er gegen ein mieses Pack von Betrügern antreten mußte, das noch dazu wie Pech und Schwefel zusammenhielt. Nun, er war jedenfalls fertig mit der Corstorphine-Town-Bande, das hatte er dem kleinen Joe mit Nachdruck gesagt. Entweder, so hatte er verlangt, schleuse Joe ihn in eine gute Spielrunde, oder er würde selbst ein paar Nachforschungen auf dem Plynlimmon Way Nr. 3 anstellen. Ebensogut hätte er ihm auch gleich sagen können, daß er dies bereits getan und herausbekommen hatte, daß der Besitzer besagten Hauses ein gewisser Mr. Nickle, von Beruf Reeder, sei. Auch war allgemein bekannt, daß Mr. Nickle ein prominentes Mitglied des Reederverbandes war, dessen Klub sich in einem Haus in der Lawe befand. Außerdem besaß er Aktien diverser großer Betriebe, die für die Verproviantie78
rung sämtlicher Schiffe verantwortlich waren und hatte bei der Talgfabrik und noch einigen Geschäften ein Wörtchen mitzureden. Zu seinen Gunsten mußte allerdings gesagt werden, daß er für großzügige Spenden für notleidende Seeleute und deren Familien sorgte, und deren gab es viele. Die Schenken am Fluß waren keineswegs immer gut besucht. Genausowenig wie die dazugehörenden Tanzsäle, wo Matrosen in guten Zeiten mit den Frauen, die sie sich so anlachten, wenn sie auf Landurlaub waren, eine Sohle aufs Parkett legten. Mr. Nickle war auch ein lautstarker Verfechter einer besseren Kanalisation, besonders seit dem Ausbruch der Cholera im Jahre 1866 und der Pocken vier Jahre danach. Er hatte weiter sein Scherflein dazu beigetragen, daß die Abteilung für Straßenreinigung der Stadtverwaltung eingegliedert wurde. Bis dahin war die Beseitigung des Schmutzes den Hausbesitzern überlassen worden. Oh, Mr. Nickle war eine richtige Stütze der Gesellschaft; Rory hatte nichts gegen ihn vorzubringen – wenn es da auch eine Schwäche gab, deretwegen er von angesehenen Gemeindeangehörigen, vor allem aber von Mitgliedern der Temperenzlerbewegung, mißtrauisch betrachtet worden wäre, würde etwas davon durchgesickert sein. Natürlich dachte Rory deshalb um keine Spur schlechter von Mr. Nickle. Denn wenn gekrönte Häupter spielen konnten – und jedermann wußte, daß der Prinz von Wales ein ausgemachter Spieler war –, weshalb sollten dann ein Mr. Nickle oder ein Rory Connor, wie übrigens jedermann weit und breit, nicht spielen? Es war eben immer dieselbe Ungerechtigkeit. Es gab Gesetze für die Reichen und Gesetze für die Armen: eine Erkenntnis, die ihn jedoch keineswegs davon abschreckte, dem kleinen Joe mit mehr oder weniger verblümten Drohungen zu kommen. Und der kleine Joe fand nichts weiter dabei, daß Mr. Connor sich dieses Mittels bediente. Seine Philosophie lautete einfach, daß es eben Männer von der verschiedensten Sorte gab: große Herren, solche, die in die mittlere Kategorie gehörten und solche, die zu den kleinen gehörten, wie zum Beispiel Mr. Connor. Aber sein Geld war ebensogut wie das der mittleren und großen, ja er war beinahe immer bedeutend großzügiger als besagte Herrschaften. Die wirklich 79
Großen – und dazu gehörten seiner Meinung nach auch jene, in denen er die zukünftigen Großen witterte – hatten stets eine offene Hand. Mr. Nickle zählte Joes Meinung nach, obwohl er stadtbekannt war und in einem der besten Viertel wohnte, nur zur mittleren Kategorie. Jedoch verfügte er ebenso über Macht wie jene, die für ihn arbeiteten. Und sie alle konnten zum gegebenen Zeitpunkt mehr als unangenehm werden – das stand fest. Der kleine Joe machte sich wegen Mr. Connor Sorgen, wenn dieser selbst sich auch offensichtlich keine machte. In gewisser Hinsicht bewunderte Joe diesen jungen Mann. Er bewunderte vor allem seine Beherztheit, weil er von dieser Eigenschaft so gar nichts mitbekommen hatte. So kam es, daß der kleine Joe Mr. Nickles linker Hand, wie sein männliches Mädchen für alles überall genannt wurde, von Rory erzählte. Nicht daß er ihn geradezu anlog dabei, aber er berichtete ihm, daß Connor ein im Immobiliengeschäft tätiger Herr sei, ein ausgezeichneter Spieler und dazu völlig verschwiegen wäre. Auch daß er ihn bereits seit einigen Jahren kenne und ihn bisher in diverse Spielrunden am Fluß eingeschleust hätte. Da er nun gehört habe, fuhr er fort, daß erst vor kurzem zwei von Mr. Nickles Freunden – wobei er die Betonung auf das Wort Freunde legte – verzogen seien, wollte er wissen, ob Mr. Nickle im Prinzip an einer Art Blutauffrischung interessiert wäre. Und er fügte in vertraulichem Ton hinzu, daß er eines mit Sicherheit sagen könne: Dieser Mr. Connor sei alles andere als schäbig. Mr. Nickles linke Hand meinte, daß er sehen würde, was sich tun ließe. Und damit meinte er, daß er erst einen Blick in Mr. Nickles diesbezügliches Programm werfen müsse. Das tat er auch. Als er den kleinen Joe wieder traf, konnte er ihm die Mitteilung machen, daß er dafür gesorgt hätte, daß Mr. Connor für eine Spielrunde in der Ocean Road, in der Nähe des Arbeitshauses, eingeteilt werde.
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»Glaubst du, daß du es heute abend schaffen wirst, Rory?« Jimmy stellte diese Frage leise und in der Nähe der Tür, als er sah, wie Rory in den Mantel schlüpfte. »Ich werde mein Bestes versuchen – mehr kann ich nicht sagen. Es ist eine neue Runde. Ich muß erst sehen, wie da die Dinge stehen, nicht?« »Ungünstig, wenn du nicht verdammt gut aufpaßt«, erklang es hinter ihm. Rory drehte sich um und warf Lizzie, die über einer Näharbeit saß, einen finsteren Blick zu. Dann erwiderte er: »Du würdest selbst dem lieben Gott Verhaltensmaßregeln geben, was?« Ruth, deren zartes Gesicht unter dem schwachen Licht der Lampe ganz durchsichtig schien, schüttelte sanft den Kopf und sagte in begütigendem Ton zu Rory: »Du sollst bloß auf dich aufpassen, das ist alles.« »Das hab' ich ja immer müssen, oder?« »Natürlich, du Klugscheißer: ganz allein bist du groß und stark geworden, das wissen wir alle.« Rory griff nach der von Jimmy bereitgehaltenen Melone, riß die Tür auf und stürmte aus dem Haus. Es war ein schöner Abend. Die Luft war kalt, der dunkle Himmel klar und voller Sterne. Er konnte mit Hilfe ihres Gefunkels sogar das Gartentor ausnehmen. Und mit Hilfe des Lichts, das aus Learys Fenster fiel. Die zogen niemals die Rollos herunter, diese Learys. Vorsichtig durchquerte er den engen Hinterhof, um sich die blankgeputzten Stiefel nicht schmutzig zu machen, obwohl er auf alle Fälle einen Lappen eingesteckt hatte, um sie sich nochmals abzuwischen, ehe er zu der neuen Runde stieß. Denn bei den Häusern in der King Street und unten in der Ocean Road handelte es sich um hübsche, gepflegte Villen. Der Zorn, den Lizzie stets in ihm zu erwecken verstand, flaute in jenem Augenblick ab, als Rory Leam Lane erreichte und die Hafenanlage betrat. Er beschloß, eine Kutsche zu nehmen, falls rechtzeitig eine auftauchte. Das war nicht sehr wahrscheinlich in der Hafengegend. Es kam auch keine vorbeigefahren, und so mußte er den langen Weg, der 81
sich gut über ein paar Meilen hinzog – bis zur Ocean Road zu Fuß machen. Auf dem Marktplatz ging es zu wie in einem Bienenstock; die von Ölfunzeln beleuchteten Buden boten jede Art Nahrungsmittel, Hausartikel und Stoffe an; letztere waren natürlich dritt- bis viertklassig. Aus den Fisch- und Fleischzelten strömten die verschiedensten, meist scharfen Gerüche. In der King Street brannten bereits die Gaslampen. Die Menschen standen in Gruppen darunter und betrachteten sich die Auslagen. Samstag hatte niemand Eile mit Einkäufen. Es gab von allem genug, und die Läden hielten bis zehn, manche sogar noch länger offen. Rory blieb einige Yards vor seinem Ziel stehen. Er war am Abend vorher schon dagewesen, um sich der Nummer zu vergewissern. Es handelte sich um ein Eckhaus, das nicht über die Maßen großartig aussah, jedoch keineswegs schäbig war. Er rieb seine Stiefel fest mit dem Lappen sauber und warf ihn anschließend in den Rinnstein. Dann zupfte er sich Rock und Mantel zurecht, setzte den Hut leicht schräg auf, zog die falschen gestärkten Manschetten zurecht, die nur an den Enden seines blaugestreiften Flanellhemdes befestigt waren, und ging schließlich, den Anweisungen des kleinen Joe Folge leistend, um die Ecke, einige Stufen bis zum Souterrain nach unten, wo er ans Tor klopfte. Er war überrascht, als eine junge Frau ihm öffnete – offensichtlich ein Mädchen für alles, aber jedenfalls eine Frau. »Ja?« sagte sie und spähte ihm im Licht der an einem Wandarm an der Hausmauer befestigten Gaslampe ins Gesicht. Er antwortete genau das, was der kleine Joe ihm aufgetragen hatte. »Mein Name ist Connor. Der kleine Joe hat mich hergeschickt.« »Ach ja, treten Sie bitte ein.« Er folgte ihr in einen Raum, der anscheinend als Küche benützt wurde, und sie sagte, nachdem sie die Tür geschlossen hatte: »Warten Sie einen Moment.« Damit ließ sie ihn stehen. Ein paar Minuten später kehrte sie mit einem Mann wieder, der mittleren Alters und ein Arabermischling war, wie Rory vermutete. Sein Haar und seine breiten Nasenflügel deuteten darauf hin. Er maß Rory von Kopf bis Fuß, dann 82
sagte er in breitem Georgie-Dialekt, was im völligen Widerspruch zu seiner Erscheinung stand: »Der kleine Joe hat gesagt, daß Sie hier eingeführt werden wollen. Stimmt das?« »Das stimmt.« »Haben Sie's in bar?« »Natürlich.« »Zeigen Sie her.« Rory blickte verblüfft in die leblos wirkenden Augen seines Gegenübers. Dann hob er langsam den Rockschoß, schob die Hand in dessen Innentasche und brachte eine Handvoll Münzen zum Vorschein, unter denen sich mehrere Sovereigns und Halbsovereigns befanden. Wortlos hielt er die geldgefüllte Hand dem Mann entgegen. Der blickte darauf nieder, nickte und sagte kurz: »Schön.« Dann drehte er sich um und fügte hinzu: »Kommen Sie.« Als sie die Küche durchquert und einen schmalen Gang betreten hatten, sagte der Mann über die Schulter zu Rory: »Man erwartet von Ihnen, daß Sie imstande sind, beim Einsatz mit den andern immer gleichzuziehen. Hat der kleine Joe Ihnen das gesagt?« Der kleine Joe hatte nichts dergleichen gesagt, aber Rory erwiderte natürlich: »Ja, selbstverständlich.« Sie betraten nun einen anderen Raum, den Rory als Lagerraum einschätzte, weil ringsum eine Menge Holzkisten standen. Das einzige Fenster, das es hier gab war verschalt. An der einen Wand stand ein altmodischer, heftig glühender Kohleofen, erleuchtet wurde der Raum von zwei an der Wand befestigten Gaslampen. Außer Rorys Begleiter und ihm selbst befanden sich sechs Leute im Raum: Vier von ihnen saßen um den Tisch herum und waren ins Spiel vertieft, die andern beiden sahen zu. Die Spieler blickten nicht auf, aber die Zuschauer wandten sich zu Rory um, und der Arabermischling sagte, indem er mit einer Kopfbewegung auf ihn deutete: »Das ist der, von dem ich Ihnen erzählt habe. Connor …« – er wandte sich an Rory –: »Wie lautet Ihr Vorname?« »Rory.« »Wie?« 83
»Rory.« »Komischer Name. Nie zuvor gehört.« Die beiden Zuseher nickten Rory zu, und er nickte zurück. Dann nannte Rorys Begleiter ihm der Reihe nach die Namen der Anwesenden. Rory achtete nicht besonders auf die Namen, bis er durch die Wiederholung des Namens Pittie stutzig wurde: Dan Pittie und Sam Pittie. Die beiden Brüder blickten beinahe gleichzeitig zu ihm auf, nickten kurz und wandten ihre Aufmerksamkeit gleich wieder dem Spiel zu. Rory, der etwas verlegen beim Ofen stehengeblieben war, sah sich die Spielrunde näher an und sein Blick blieb abermals auf den beiden Pitties haften. Es waren Zwillinge, kleine Männer mit breiten Schultern und runden Schädeln. Das mußten die Kerle sein, die – zusammen mit einem dritten – mit nichts unten am Fluß begonnen hatten, wie Jimmy ihm erzählt hatte. Es schienen rauhe Burschen zu sein, anders als ihre Spielpartner, die nicht so wie Typen vom Fluß wirkten. Der ältere Mann da drüben sah sogar beinahe wie Mr. Kean aus, zumindest der Kleidung nach. Jedenfalls war es im Vergleich mit Corstorphine Town ein Aufstieg, sagte sich Rory, denn gleich zu Beginn wurde Einundzwanzig gespielt. Allerdings hätte er noch nicht sagen können, ob ihm diese Beförderung lieb war oder nicht. Irgendwie mochte er diese Runde nicht, am wenigsten den Arabermischling, das stand fest. Aber er war schließlich nicht hier, um den einen oder andern zu mögen oder nicht zu mögen, sondern um das Geld in seinem Beutel zu verdoppeln und dann zu sehen, daß er sicher wieder hier herauskam. Dieser letzte Gedanke veranlaßte Rory dazu, sich den Araber und die Pittie-Brüder nochmals gründlich anzusehen und er sagte sich dabei, daß er hierzu all seinen Grips benötigen würde – und wie!
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oll das heißen, daß sie schwanger ist?« »Verwende keine solchen Ausdrücke, Mann.« »Wie denn soll ich mich deiner Meinung nach ausdrücken! Du verdammter Narr, du, wie hast du das nur wieder geschafft? Wo? Auf dem Fährboot oder im Zug! … Schon gut, schon gut.« Rory stieß John Georges abwehrend erhobenen Arm beiseite. »Aber ich meine genau, was ich sage. Pro Woche siehst du sie kaum eine Stunde lang, hast du mir erzählt, und dann hast du sie nach Newcastle geführt, um mit ihr Gebäude anzusehen. Vom Hauptbahnhof bis zur Jesmond-Düne scheint es keines zu geben, das du ausgelassen hättest. Deshalb frag' ich dich ja, wie und wo. Ach, Mann …« Sie befanden sich auf einem riesigen Baugrund, auf dessen einer Seite Neubauten im Entstehen begriffen waren, während man auf der anderen Seite noch dabei war, alte Häuser abzureißen. Es nieselte ganz fein, die ganze Szenerie strahlte Düsterkeit aus und paßte genau zu John Georges niedergeschlagenem Äußeren. Seine mageren Schultern waren gekrümmt, der Kopf hing ihm auf die Brust herab, sein Blick war auf die Ledertasche in seiner Hand gerichtet, ohne dieselbe wahrzunehmen. Er murmelte nun: »Es geht schon in Ordnung, sorg dich nicht, ich werde schon damit fertig werden. Es tut mir leid, daß ich dich darum gebeten habe. Du brauchst jetzt selbst jeden Groschen für eure Werft, das weiß ich.« »Darum geht es nicht. Die zwei Pfund kannst du ohne weiteres von mir haben – aber wie sollen die dir denn aus der Klemme helfen, frag' ich dich. Das ist doch ein Tropfen auf einen heißen Stein! Und was wird passieren, wenn sie es ihren Leuten sagt, ha?« John George blickte ängstlich zum grauen Himmel empor. 85
»O Gott, ich weiß es einfach nicht. Er wird sie umbringen. Nach allem, was sie mir so erzählt hat, ist er ein schrecklicher Mensch. Darum möchte ich sie ja unbedingt von dort wegbringen, bevor er draufkommt.« »Im wievielten Monat ist sie denn?« »Im dritten. Etwas darüber hinaus.« »Nun, dann kann es nicht mehr lange dauern, bis er etwas davon bemerkt.« Rory schüttelte den Kopf, schob die Hand in die hintere Hosentasche, holte seinen kleinen Lederbeutel hervor und entnahm demselben zwei Sovereigns. Aber während er dies tat, knirschte er hörbar mit den Zähnen. Das brachte ihn selbst ganz schön in die Klemme. Er hatte nur mehr fünf Pfund übrig und einen Abend vor sich, von dem er sich viel versprach, vor allem, wo er nur mehr mit dreien der Spielrunde zurückgeblieben war. An jenem Samstagabend in dem Lagerraum hatte er nichts gewonnen, aber er hatte auch nicht verloren, er war glatt ausgestiegen. Und die darauffolgenden Wochen war er bloß dazu imstande gewesen, dreieinhalb Pfund aus der Sache herauszuholen. Die Woche darauf hatte er um ein Uhr morgens neun Pfund beisammen gehabt, aber als er dann ging, waren sie auf vier Pfund zusammengeschmolzen, und selbst das war ihnen nicht recht gewesen. Nein, keinem von ihnen war das recht, am allerwenigsten den Pittie-Brüdern. Vergangene Woche, als er sechs Pfund gewonnen hatte und schon aufhören wollte, hatte der ältere der Pittie-Brüder ihn angesehen und gesagt: »Nein, noch nicht, mein Junge.« Trotzdem war er aufgestanden, hatte seinen Gewinn eingestreift, trotzig zurückgeblickt und mit grimmiger Miene erwidert: »Doch, genau das tue ich. Keiner wird mir hier vorschreiben, wann ich zu kommen und wann ich zu gehen habe. Nächste Woche komme ich wieder, dann können Sie's wieder zurückgewinnen – aber jetzt gehe ich.« Darauf hatte sich ein mehr als merkwürdiges Schweigen in dem Raum breitgemacht; es knisterte geradezu. Und dann war einer nach dem anderen auf seinem Stuhl hin- und hergerückt, bis der eine zu 86
ihm: »Dann also auf bald« gesagt hatte. Erst, nachdem Rory die Stufen nach oben geklettert und wieder auf der Straße war, atmete er befreit auf. Einen Augenblick lang hatte er schon gedacht, sie würden ihm etwas antun. Da hatte er beschlossen, daß es das letztemal gewesen sein sollte, daß er hingegangen war. Dreimal hatte er in dieser Woche versucht, den kleinen Joe ausfindig zu machen, aber ohne Erfolg. Offensichtlich wich dieser ihm aus, also blieb ihm, wenn er spielen wollte, nichts anderes übrig, als abends abermals in den Lagerraum hinunterzusteigen. Er ging nie mit weniger als fünf Pfund in der Tasche hin, und heute würde es ihn viel Mühe kosten, soviel zusammenzukratzen; vergangene Woche hatte er zwölfeinhalb Pfund angezahlt und einen Vertrag unterzeichnet, demzufolge er die restlichen siebzehneinhalb Pfund innerhalb von sechs Wochen begleichen würde. Denn er wußte genau, daß er dazu imstande sein würde, falls seine Glückssträhne anhielt und er sich nicht auf ein Spiel mit Gaunern einließ. Eines stand nämlich in bezug auf die Leute in diesem Lagerraum fest: Sie spielten anständig. Zumindest hatten sie es bisher getan. Aber wenn er nur mit drei Pfund ankam und dieselben bei einem einzigen Spiel verlor, würde es Funken sprühen; also mußte er sich etwas einfallen lassen … Oh, dieser verdammte Narr! Als er die zwei Sovereigns John George aushändigte, und dieser sie mit Dankesgemurmel entgegennahm, fragte sich Rory, wo er ein paar Pfund auftreiben sollte. Es hatte keinen Sinn, jemanden von daheim darum zu bitten. Sein Vater warf den halben Lohn meist schon zum Fenster hinaus, ehe er heimkam. Und wenn er einmal seine Schulden für die Getränke, die er sich so im Laufe einer Woche durch die Gurgel jagte, bezahlte, konnte Ruth von Glück sagen, wenn auf dem Kaminsims zehn ganze Shilling für den Haushalt übrigblieben. Dann war da noch Janie: Sie hatte ein bißchen was gespart, aber er zweifelte daran, daß es ganze zwei Pfund sein könnten. Jedenfalls bekam er sie erst morgen zu Gesicht, und dann war es zu spät. Ach, am liebsten hätte er die Hand gehoben und diesem verrückten John George Armstrong so was wie Vernunft eingebleut, aber tüchtig. 87
Schweigend gingen sie durch Seitengäßchen und über den Markt nebeneinander her. Als sie vor der Tür zum Büro standen, wechselten sie gewohnheitsmäßig einen Blick, als wollten sie sagen: Also, es hilft alles nichts! Aber als die Tür dann nicht aufging, auch nicht auf Rorys Stoßen und Rütteln, sah er John George nur an und sagte: »Das ist aber komisch.« Dann steckte John George den Schlüssel ins Schlüsselloch und sperrte auf. Sie betraten ihr Büro und blickten sich um. Die Tür zum Chefzimmer war geschlossen, aber auf einem der beiden Schreibtische hatte man Nachricht für sie hinterlassen. Sie beugten sich nieder und lasen: »Wurde abberufen. Mein Vater ist gestorben. Sperren Sie die Einnahmen ein. Meine Tochter wird das Geld am Montag holen.« Unterschrift gab es ebensowenig, wie es eine Anrede gab. Die beiden richteten sich auf und sahen einander an. Dann meinte Rory mit einer ruckartigen Kopfbewegung: »Nun, so was nennt man Glück im Unglück. Ich hatte den schlechtesten Inkassotag seit Jahren. Er wäre glatt die Wände hochgeklettert bei den Einnahmen.« »Komisch«, lächelte John George schwach. »Meine Einnahmen waren zufriedenstellend. Über vier Pfund. Ungefähr fünfzehn Shilling hat heute einer an Rückständen abgezahlt, und es hat kein verschlossenes Haustor gegeben.« »Ein ausgesprochener Rekord.« »Mhm.« John George öffnete die Tür zum Chefzimmer und sagte: »Hoffentlich hat er den Schlüssel für die Kasse dagelassen.« Er trat an Mr. Keans Schreibtisch, öffnete die oberste Lade zur Rechten, schob die Hand ganz nach hinten und zog den gewünschten Schlüssel hervor. Dann ging er zu der auf einem kleinen Abstelltisch festgeschraubten Eisenkasse und sperrte sie auf. Er entnahm seinem Lederbeutel fünf Sovereigns, legte sie ins oberste Fach, das Kleingeld darunter, schließlich das Abrechnungsbuch in das dafür bestimmte Fach und trat zurück, um Rory seine Einnahmen ins untere Fach legen zu lassen. Als John George das Haustor absperrte, meinte er: »Eines Tages wird er sich ja doch zu einem richtigen Safe aufschwingen müssen.« 88
»Das wäre reine Geldverschwendung. Es liegt doch niemals genug da drin, als daß jemand sich darüber hermachen würde.« »Nun, dieses Wochenende schon. Und das war auch früher hier und da der Fall.« »Das ist schließlich seine Angelegenheit. Komm.« Als sie miteinander in Richtung Laygate gingen, sagte Rory förmlich: »Was wirst du jetzt tun? Hast du dir's schon überlegt?« »Ja, ja, natürlich. Ich werde sie heute noch bitten, von daheim wegzugehen und zu uns zu kommen. Dort kann sie sich verstecken, bis wir am Standesamt heiraten können.« »Am Standesamt?« »Ja, am Standesamt. Das ist ebenso verbindlich wie anderswo.« »Aber es ist nicht dasselbe.« »Nun, für uns muß es eben ausreichen.« »Ach, Mann«, sagte Rory und schüttelte den Kopf. »Du läßt wirklich jeden auf dir herumtrampeln. Du bist schon verdammt weichherzig.« »Ich bin so, wie Gott mich geschaffen hat, wir können nichts dagegen tun.« »Doch. Du bist schließlich kein Kind mehr.« »Nun, was erwartest du von mir? Daß ich sie verlasse?« »Wenn du nicht willst, daß die ganze Straße zusammenläuft, dann brüll gefälligst nicht so.« Sie gingen schweigend weiter bis zu der Stelle, wo sich die Straße teilte. »Ja, also bis Montag.« Rorys Tonfall war wieder freundlich, und John George sah ihn an und sagte: »Bis Montag. Und danke, Rory. Du bekommst es wieder, das versprech' ich dir. Ich zahl' es dir zurück.« »Ich hab' diesbezüglich keine Angst, das hast du immer getan.« »Ach, ich wollte, ich wäre wie du, Rory. Du hast ja ganz recht, ich bin zu weichherzig. Ich kann einfach nicht nein sagen.« Es lag Rory auf der Zunge, zu erwidern: Und dein Mädchen offensichtlich auch nicht. – Janie hatte nein gesagt, die stand mit beiden Beinen im Leben. Statt dessen meinte er großmütig: »Gerade deshalb mögen dich die Menschen. Du bist ein guter Kerl. Soll ich dir was verra89
ten? Man mag dich sogar überall lieber als mich, vor allem bei uns daheim. Immerzu heißt es: John George tut dies, John George tut das.« »Ich bitte dich! Aufziehen darfst du mich nicht. Aber es ist auf alle Fälle nett von dir, so etwas zu sagen. Und wie ich bereits gesagt habe« – er klopfte auf seinen Lederbeutel im Mantelsack –, »ich werde es nicht vergessen.« »In Ordnung, Mann. Auf bald und viel Glück.« »Auf bald, Rory. Und danke. Nochmals vielen Dank.« So ging jeder seiner Wege, und keiner von ihnen hätte sich auch nur im Traum einfallen lassen, daß er den andern nie mehr sehen sollte.
Als Rory diesen Abend in den Lagerraum kam, hatte er acht Pfund in der Tasche. Die Pittie-Brüder saßen bereits am Spieltisch, aber die anderen beiden Mitspieler waren für Rory neu, bis er erkannte, daß es sich bei einem davon um den dritten Pittie-Bruder handelte. Er war beinahe einen Kopf größer als die beiden anderen. Seine Nase war flach, als hätte sie ihm jemand breitgeschlagen. Das mußte derjenige sein, der, wie er hatte sagen hören, gut mit seinen Fäusten umgehen konnte. Wogegen an sich nichts einzuwenden war. Nur gegen sein Gesicht, da war verschiedenes einzuwenden, fand Rory. Der vierte Mann sah nicht viel größer aus als der kleine Joe und wirkte ungemein listig, war jedoch gut gekleidet. Sein Anzug bestand aus bestem Wollstoff und sah richtig elegant aus, ebenso wie die Perlmuttknöpfe auf seiner Weste. Im Verlauf des Gesprächs stellte sich dann heraus, daß er von der anderen Uferseite stammte und in North Shields eine Schuhcreme-Fabrik besaß. Rory mußte sich beinahe eine Stunde lang die Beine in den Bauch stehen, ehe er eingesetzt wurde. Denn nach Beendigung des ersten Spiels verging mit Biertrinken und Sandwiches-Essen eine gute Spanne Zeit. Obwohl Rory regelmäßig ein, zwei Glas Bier trank, hielt er sich diesen Abend mehr als sonst zurück, weil er einen klaren Kopf behalten wollte. Irgendwie machte ihn die Anwesenheit des dritten Pit90
tie-Bruders besorgt, ja er spürte bei dessen Anblick eine unerklärliche Angst in sich aufsteigen. Der große Pittie gab die Karten aus, nachdem er sie derart lange gemischt hatte, daß Rory schon am liebsten gesagt hätte: Los, fangen wir endlich an. Dann begann besagter Pittie zu reden. »Sie wollen die Werft des alten Kilpatrick kaufen, hab' ich gehört?« Rory war unangenehm überrascht, und man mußte ihm das angemerkt haben, denn der große Kerl stieß das Kinn in die Luft, als er fortfuhr: »Oh, man kann am Fluß unten nichts geheimhalten. Die Flut bringt mehr herein als bloßen Schaum. Euer Jüngster arbeitet bei Baker, stimmt's?« »Ja, er arbeitet bei Baker.« »Was will er denn auf Kilpatricks Gerümpelplatz anfangen? Sich 'ne Fregatte bauen?« Die drei Brüder brüllten vor Lachen, und der kleine Mann mit der eleganten Weste lachte mit. Rory schob den Unterkiefer von einer Seite auf die andere, ehe er sagte: »Nein, sondern Ruder-, Skull- und kleine Kielboote.« »Kielboote, herrje!« rief nun der Jüngste der Pittie-Brüder. »Und wo will er dann hin damit?« »Auf den Fluß, wo sie hingehören.« »Wirklich! Da muß er aber Glück haben, man kann ja jetzt schon kaum mehr eine Planke zwischen die vielen Boote schieben. Und was will er mit den Kielbooten und so weiter anfangen, wenn er sie tatsächlich aufs Wasser kriegt, ha?« »Dasselbe wie Sie, sie für sich arbeiten lassen oder sie verkaufen.« Als die drei Augenpaare auf ihn geheftet waren, sagte sich Rory, daß er Ruhe bewahren müsse. Diesen Kerlen ging es ums Geschäft, die waren heute abend nicht nur des Spiels wegen hier. Er ließ sie nicht aus den Augen, als er sich erkundigte: »Nun, was ist. Da ihr nun wißt, was wir vorhaben, spielen wir, oder spielen wir nicht?« Der große Kerl mischte ausgiebig, dann teilte er betont langsam die Karten aus. Rory betrachtete sich die seinen und dachte: schlechter Anfang, gutes Ende. 91
Und so schien es auch. Er verlor das erste Spiel, gewann die beiden nächsten, verlor das darauffolgende, danach gewann er drei hintereinander. Und gegen ein Uhr früh hatte er einen kleinen Stoß Sovereigns und einen größeren Stoß Silbergeld neben sich liegen. Zwischen diesem Zeitpunkt und zwei Uhr wurde der Geldhaufen ein bißchen kleiner, ehe er abermals an Umfang zunahm. Am Ende des Spiels sagte der kleine Mann in der eleganten Weste, daß er gehen müsse, als kein Geld mehr vor ihm lag. Er meinte, für eine Nacht hätte er genug verloren, und was noch wichtiger wäre, er müsse nun versuchen, jemanden aufzutreiben, der ihn ans andere Ufer rudere, und so etwas koste um diese Zeit einen schönen Batzen Geld. Er hoffe nur, daß er wenigstens dazu noch genug bei sich habe. Als auch Rory verlauten ließ, daß er sich auf den Heimweg machen müsse, tönte ihm von allen Seiten zorniges Geschrei entgegen. »O nein, mein Junge«, sagte der große Kerl. »Immer schön fair bleiben. Sie haben alles eingesteckt, was Sie uns abgeluchst haben, jetzt geben Sie uns auch gefälligst eine Chance, etwas davon zurückzugewinnen, ja? Auch wir müssen schließlich noch ans andere Ufer und so weiter.« Darüber wurde zwar gelacht, aber es war kein fröhliches Lachen. Und so begannen sie noch ein Spiel, und noch lange, ehe es zu Ende war, machte sich ein widerliches Gefühl von Übelkeit in Rorys Magengrube breit, bis er sich – ungern genug! – eingestehen mußte, daß er Angst hatte. Abermals ging eine Stunde vorbei, und wiederum standen die Dinge zu Rorys Gunsten, als der jüngste der Pittie-Brüder über Jimmy zu reden anfing, als setze er einfach das Gespräch von vorhin fort. »Euer Jüngster hat ganz schöne O-Beine, was?« sagte er. »Krummbein wird er unten am Fluß genannt. Hab' ihn erst vor wenigen Tagen von meinem Boot aus gesehen. Man könnte ein ganzes Pferd durch seine Beine treiben, so gebogen sind sie.« Er stieß seinen Bruder an, und sie brachen allesamt in schallendes Gelächter aus. »Seine Mutter muß ihn rittlings zur Welt gebracht haben, wahrhaftigen Gotts.« Jeder Hinweis auf Jimmys deformierte Beine hatte Rory schon immer in Weißglut gebracht, und er hatte deshalb mehr Kämpfe ausge92
fochten als um seiner selbst willen. Nun aber warnte ihn – so zornig er auch war – eine innere Stimme, um jeden Preis Ruhe zu bewahren, denn es lag auf der Hand, daß die Pitties etwas im Schilde führten. Sie waren wie drei Bullterrier, die jemand in die Enge treiben wollten. Ihm fielen diverseste Geschichten über die Übeltaten der drei Brüder ein, was zwar seine Furcht steigerte, seine Wut jedoch um nichts verkleinerte, selbst als die warnende Stimme ihm zuflüsterte: Vorsicht, Vorsicht, laß sie doch! Sieh zu, daß du wegkommst! Als er auf ihre Sticheleien nicht reagierte, legte einer nach dem andern seine Karten nieder; alle drei sahen ihn an, und Rory sah sie an. Dann legte auch er seine Karten nebeneinander auf den Tisch. Die drei Pitties und der Arabermischling starrten darauf nieder und hoben nicht einmal den Blick, als er das Geld von der Tischmitte auf seinen Platz schob. Erst nachdem Rory den Stuhl zurückgestoßen hatte und aufgestanden war, ergriff einer von ihnen das Wort. Es war der jüngste der Brüder. »Sie gehen also?« sagte er. »Tja«; sagte Rory und nickte langsam. »Das war aber eine Glückssträhne, die Sie heute hatten.« »Ihr hattet alle die gleiche Chance.« »Darüber läßt sich streiten.« »Tatsächlich?« »Ich glaube, Sie haben ein, zwei Tricks angewendet.« »Was! Also wenn ihr meint, daß ich falsch gespielt hätte, dann untersucht mich doch.« »Das ist nicht nötig, ich habe nicht nur die Karten allein gemeint, sondern, daß Sie einer von den ganz Pfiffigen sind, stimmt's?« »Es freut mich, daß Sie das finden«, sagte Rory und begann, sich den Mantel zuzuknöpfen, wobei er bemerkte, daß der Arabermischling sich nicht mehr im Raum befand. Er nahm seine Melone von einem Seitentisch auf und ging zur Tür, indem er sagte: »Wiedersehen also.« Die Brüder schwiegen. Aber als Rory die Tür öffnen wollte, ging es nicht, so fest er auch daran ziehen mochte. Er drehte sich um und blickte die drei Männer, die sich nun erhoben hatten, an. Und erneut wurde ihm vor Angst beinahe übel. 93
»Weshalb stehen Sie dort herum? Können Sie nicht raus?« Der große Kerl näherte sich ihm mit baumelnden Armen. Merkwürdigerweise waren es nicht die Arme, auf die Rory immer wieder blicken mußte, sondern seine Füße. Bisher hatte er sie gar nicht bemerkt. Es waren riesige Füße, die in genagelten Stiefeln steckten. Die Stiefel glänzten matt; offensichtlich waren sie mit Fett eingerieben worden. Als die Arme seines Gegenübers plötzlich hochschossen und seine Schultern packten, schlug Rory zu, nach rechts und links, rechts, links. Aber es waren Hiebe, wie man sie unter den Jungs in den Hinterhöfen anwandte, wenn es eine Balgerei gab. Er erinnerte sich, den großen Kerl auflachen gehört zu haben, ehe die Riesenfaust sein Kinn traf und ihm beinahe den Kopf vom Körper schlug. Rory lag auf dem Boden und schrie auf, als der Stiefel ihn ins Kreuz traf. Dann stand er wieder auf den Füßen, jemand hielt ihn, während ein anderer auf ihn losdrosch, nämlich der große Kerl. Die beiden andern überließen alles dem Hünen. Immer noch kämpfte Rory, aber wie ein Kind, das Fliegen verscheucht, einfach, indem er um sich schlug. Dann traf ihn abermals ein Schlag aufs Kinn, und er lag flach auf dem Rücken. Diesmal merkte er nichts mehr. Und er wurde nicht gewahr, daß der Große ihn schulterte und an dem nun in der Tür stehenden Araber vorbeitrug, die paar Stufen zur dunklen Seitengasse hinauf, und dann durch einen finsteren Durchgang, zum Fluß hinunter. Daß Rory nicht bis dorthin gelangte, verdankte er zwei voluminösen Gestalten, die plötzlich zwischen den Lagerhäusern auftauchten. Einer der beiden Männer war ein dunkelgekleideter Priester, der eben von einem Schiff kam, auf dem er einem sterbenden Matrosen die Letzte Ölung verabreicht hatte. Sein Begleiter war der Freund des Toten, der offensichtlich dafür sorgte, daß der Priester wieder sicher in die Stadt zurückgelangte. Aber für die drei Brüder deuteten ihre Umrisse auf stämmige Seeleute oder Nachtwächter hin, beides Typen, die selbst fest loszuschlagen verstanden. Also warfen sie den schlaffen Körper mit einem Schwung auf einen Haufen Abfälle. Und ein paar Minuten dar94
auf gingen Priester und Matrose – keine sechs Fuß von Rory entfernt – ihrer Wege.
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ie waren in der Küche versammelt: Bill Waggett, Oma Waggett und Janie, die noch ihre Ausgehkleidung anhatte; Colum Leary, Kathleen und deren Sohn Pat; Paddy Connor, Ruth und Jimmy; und schließlich Lizzie. Und es war Lizzie, die den jungen Pat Leary ansah und sagte: »Rede keinen Unsinn, Junge. Es ist drei Uhr nachmittags und Sonntag. Und er ist gestern gegen sechs Uhr abends aus dem Haus gegangen. Wer würde so lange Karten spielen, frage ich dich?« »Das gibt es, Lizzie, wirklich. Ich habe schon von Spielen gehört, die vierundzwanzig Stunden gedauert haben. Die Leute gewinnen und verlieren, gewinnen und verlieren – so ist das.« »So lange würde er niemals ausbleiben. Da ist etwas passiert.« Niemand widersprach ihr, aber sie wandten sich alle um und blickten Janie an, die die Finger fest auf die Unterlippe preßte und sagte: »Ihr hättet die Polizei verständigen sollen.« »Und was sollen wir ihr erzählen, mein Kind?« fragte Paddy Connor ruhig. »Daß mein Sohn gestern abend spielen gegangen und noch nicht zurück ist? Schön, würden sie sagen, wir werden ihm den Kopf schon zurechtrücken, keine Sorge. Wohin ist er denn spielen gegangen? Keine Ahnung, sag' ich dann drauf. Glaubst du, daß die sich damit zufriedengeben? Kind« – seine Stimme klang ausgesprochen freundlich –, »wir haben an alles gedacht, glaub mir.« Oma Waggett, die als einzige saß, drehte nun ihren Stuhl herum und sagte, während sie mit ihren hellen Augen die anderen der Reihe nach anblickte: »Wenn ihr meine Meinung hören wollt, dann macht euch am besten nicht verrückt. Es ist genauso, wie Pat gesagt hat: Er ist mit Leib und Seele in sein Spiel verwickelt. Er spielt ja wie ein Wahnsinni95
ger, das hat er schon immer getan, es ist die reinste Sucht. Manche Burschen trinken eben, andere huren herum …« »Oma!« Die alte Frau funkelte Janie an. »Huren herum, hab' ich gesagt, und herumhuren meine ich auch. Und was mich betrifft, so würde ich lieber einen solchen haben als einen, der spielt. Denn mit den Draufgängern ist man wenigstens zeitweilig sicher, ein Dach über dem Kopf zu haben – bei einem Spieler nie, der verspielt den Stuhl unter deinem Hintern, selbst wenn du noch so fest draufsitzt. Ich kenne diesen Typ. Ich hab' mal bei einem solchen Mann gearbeitet. Es war ein wirklicher Herr. Mit einem wunderschönen Haus in Newcastle und einem Zweispänner und einer bildschönen Frau und einem Landhaus dazu, mit allem, allem. Am nächsten Tag hatte er nichts mehr, keinen roten Heller. Ich sage dir, mein Kind« – sie drehte sich um und bohrte Janie den Zeigefinger in die Brust –, »entweder machst du der Sache von allem Anfang an ein Ende, oder du machst dich darauf gefaßt, unter freiem Himmel zu leben. Denn ein Dach wird dir, wie gesagt, nie sicher sein …« »Sei still, Ma.« Oma Waggett drehte sich zu ihrem Sohn herum. »Von dir lass' ich mir keine Vorschriften machen, wann ich still zu sein habe.« »Nun seid mal alle ruhig«, sagte Ruth schließlich leise. »Ich finde, einer von uns sollte zum Krankenhaus hinuntergehen, zum neuen, meine ich, und nachsehen. Wenn ihm was zugestoßen sein sollte, dann hätten sie ihn dorthin gebracht.« »Sollen wir uns etwa zum Narren machen mit dieser Fragerei?« Ruth sah ihren Mann nur an. »Mir macht es nichts aus, mich zum Narren zu machen. Ich gehe.« »Nein, Ma«, sagte Jimmy, der bisher den Mund nicht aufgemacht hatte. »Ich gehe. Ich ziehe mich um und gehe!« Als der Junge nach oben geklettert war, sagte Collum: »Es ist merkwürdig, daß er nicht mal erwähnt hat, wo er hingeht, nicht? Aber vielleicht hat er recht. Wenn er in eine große Spielrunde eingeschleust wird, ist es am besten, man sagt gar nichts. Man kann gar nicht vor96
sichtig genug sein. Die Polizei braucht nur einen Wink zu kriegen, und schon sind sie wie die Bluthunde hinter einem her.« Im Dachgeschoß ging Jimmy zum Schrank und nahm ein paar guter Hosen und seinen Sonntagsrock heraus, zog sich jedoch nicht sofort um. Gut ein paar Minuten stand er da, hielt die Sachen fest an die Brust gedrückt und murmelte mit geschlossenen Augen vor sich hin: »Lieber Gott, mach, daß unserm Rory nichts zugestoßen ist, bitte, bitte, mach, daß ihm nichts passiert ist.« Als er wieder die Leiter herabgestiegen kam, sagte Janie: »Ich komme mit.« Aber er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, es ist besser, ich gehe allein. Ich meine, da kann ich gleich am Ufer entlang nachfragen gehen.« »Sei vorsichtig.« Er drehte sich zu Lizzie um, nickte und beschwichtigte: »Aber ja.« Und als er zur Tür ging, folgte Ruth ihm nach und sagte ruhig: »Bleib nicht zu lang, Jimmy, nicht wenn es dunkel ist und nicht dort unten, verstehst du?« »In Ordnung, Ma.« Er nickte ihr zu und ging. Den größten Teil des Wegs nach Shields rannte er drauflos, und das, ohne außer Atem zu kommen. Er nahm keine Notiz von den Bälgern, die ihm »Krummbein, Krummbein!« nachschrien. Früher einmal hatte ihm das weh getan, aber nun war er dagegen abgehärtet. Nichts konnte ihm wehtun, sagte er sich, außer, wenn Rory etwas passiert war. Für diesen Fall war das Schlimmste, daß er allein dafür die Verantwortung trug. Denn wenn er ihm nicht mit der Werft in den Ohren gelegen hätte, wäre Rory auch nicht spielen gegangen … Nun ja, spielen vielleicht – er spielte ja immer –, aber nicht bei so gewichtigen Runden, wie er es die letzten Samstage getan hatte. Er hatte nichts darüber verlauten lassen, wo das war. Jimmy hatte natürlich gefragt, aber Rory hatte lachend erwidert: »Frag nicht, dann bekommst du keine Lügen vorgesetzt …« Der Portier im Krankenhaus sagte: »Nein, Junge, niemand mit dem Namen Connor ist bei uns heute eingeliefert worden. Sonntags werden überhaupt keine Leute bei uns aufgenommen, außer wenn es sich um einen Unfall handelt.« 97
»Ich dachte eben, daß es ein Unfall gewesen sein könnte.« »Nun, es ist kein Connor hier, Junge. Weder ein Mann noch eine Frau.« »Also dann – danke.« Jimmy hätte nicht sagen können, ob er nun enttäuscht oder erleichtert war. Er wollte eben den Kiesweg hinuntergehen, als der Portier ihm nachrief: »Einen Moment! Da liegt ein Bursche drin – ich hoffe nur, daß es nicht der ist, den du suchst. Sie haben ihn mittags gebracht, ohne Ausweispapiere und so. Man hat ihn am Fluß gefunden. Kein Matrose, wohlgemerkt. Seine Kleidung war anständig, zumindest das, was davon übriggeblieben ist. Ich glaube, daß er ins Gras beißen wird.« Langsam ging Jimmy zurück und fragte dann den Mann: »Wie sieht er denn aus?« »Ach, Junge, seine eigene Mutter würde nicht imstande sein, ihn zu erkennen. Er ist ärger zusammengeschlagen, als du dir vorstellen kannst. Ich habe so etwas noch nie gesehen.« »Hat er vielleicht braunes, dichtes, gewelltes Haar und …?« »Wie die Farbe auch gewesen sein mag, Junge –, nun ist es dunkelrot, nämlich voller Blut.« Jimmy stand da und blickte den Mann mit leicht offenstehendem Mund an. Dann schloß er ihn, und die Worte drangen mühsam hervor, als er sagte: »Könnte … könnte ich ihn sehen, diesen … diesen Burschen?« »Nun, ich werde die Schwester fragen. Komm her.« »Setz dich eine Minute«, beschied er einen Moment später und deutete auf einen sauberpolierten Holzstuhl in der Halle. Jimmy setzte sich und war froh, die Beine ausstrecken zu können. Es war ihm flau im Magen, er fühlte sich ganz kraftlos und verängstigt, sehr verängstigt. Dann kam der Portier zurück und nickte ihm zu. Er legte Jimmy die Hand auf die Schulter, zeigte vor sich hin und sagte: »Dorthin, Junge – am Ende des Korridors, links, da findest du die Schwester.« Die Schwester war groß und mager und erinnerte Jimmy irgendwie an John George. Er mußte den Kopf in den Nacken legen, um zu 98
ihr aufblicken zu können. Sie erkundigte sich: »Du suchst deinen Bruder?« »Ja, Miß.« »Wie alt ist er?« »Dreiundzwanzig. Vierundzwanzig wird er nächsten Monat.« »Da drinnen liegt ein junger Mann«, sagte sie. »Es geht ihm sehr schlecht, er wurde fürchterlich zusammengeschlagen. Aber wenn es dein Bruder ist, kannst du ihn vielleicht trotzdem erkennen.« Damit wandte sie sich um, und Jimmy folgte ihr bis zu der auf dem Bett liegenden Gestalt. Es war sehr still. Der Kopf war von Bandagen umhüllt, das Gesicht von Quetschungen völlig entstellt. Er spürte, wie er bei diesem Anblick nach Luft schnappte. Er hatte einmal einen Mann gesehen, den man aus dem Fluß gefischt hatte. Er war blauschwarz und aufgedunsen gewesen. Sie hatten gemeint, daß er bereits tagelang tot sein müsse. Dieser Mann hier sah gleichfalls wie ein Toter aus. Er hätte nicht sagen können, ob es Rory war. Die Schwester flüsterte ihm etwas ins Ohr, und er drehte sich um und sah sie wie betäubt an. Dann deutete er auf seinen Daumen und flüsterte ebenfalls: »Er hat zwischen Zeigefinger und Daumen eine Warze –, die hatte er schon immer.« Die Schwester hob die schlaffe Hand sanft von der Bettdecke hoch und drehte sie um; dann sah sie Jimmy an, der auf die flache, harte Warze niederstarrte, an der Rory seit Jahren gerieben und gekratzt hatte in dem Bemühen, sich auf diese Art davon zu befreien. Die Schwester zog ihn fort vom Bett, und als sie wieder auf dem Korridor waren, lag ihre Hand immer noch auf seiner Schulter, während sie ihn zu beruhigen versuchte. Tränen drohten ihn zu ersticken. Obwohl sie ihm übers Gesicht liefen, würgten sie ihn derart, daß er kaum atmen konnte. Sie brachte ihn in einen kleinen Raum und erkundigte sich dort: »Wo wohnst du?« Jimmy war nicht imstande, zu antworten. Also fragte sie weiter: »In der Stadt?« Er schüttelte den Kopf. 99
»Am Hafen?« Keuchend stieß er hervor: »Draußen … draußen, in Simonside.« »Oh, das ist weit.« Er wischte sich mit dem Rockärmel übers Gesicht, dann zog er einen sauberen Lappen aus der Rocktasche und putzte sich die Nase. Nach einigen Minuten blickte er zu ihr auf und sagte: »Ich werde meine Eltern herbringen.« Dann fügte er hinzu: »Wird er …?« Sie antwortete leise: »Ich weiß es nicht. Er ist sehr schwach. Möglich, daß er die Nacht überlebt; ich kann nur wiederholen: Ich weiß es nicht.« Jimmy nickte ihr zu, dann verließ er den Raum. Aber auf dem Korridor drehte er sich um, warf einen Blick zurück und sagte: »Wiedersehen«, und sie lächelte ihm schwach zu. Er lief nicht sofort los, sondern verließ das Krankenhausgelände mit schleppenden Schritten, die erst rascher wurden, als er auf die Straße nach Westoe gelangte. Er mußte an Janie denken. Arme Janie! Sie alle waren arm. Jedem von ihnen würde er auf andere Weise fehlen, sie alle würden ihn schrecklich vermissen. Er war anders gewesen als sie, anders als sein Pa und Mr. Waggett und Mr. Leary. Sämtliche Frauen hatten zu ihm aufgeblickt, weil er was geworden war. Ein Mieteninkassant. Es gab in ihren Kreisen sehr wenige Menschen, die bis zum Mieteninkassant aufgestiegen waren … Und er selbst? Jimmy blieb mitten auf der Straße stehen. Wenn Rory starb, war es mit seinem Leben zu Ende. Nicht einmal mehr Boote würden ihn zu trösten vermögen. Was er für Rory empfand, war nicht nur Bewunderung, weil er es zu etwas gebracht hatte – er war das einzige Wesen, das er wirklich zu lieben vermochte. Insgeheim wußte er, daß er auch einer anderen Liebe fähig gewesen wäre, aber dabei handelte es sich nur um heimliche Träume. Er würde niemals ein Mädchen haben, denn kein Mädchen würde ihn ansehen, nein, keines würde ihm auch nur einen einzigen Blick schenken. Bisher hatte ihm das nicht allzuviel ausgemacht – er hatte ja Rory … Als wolle er zu einem Wettlauf ansetzen, rannte er plötzlich los. Bis er glaubte, das Herz müsse ihm im nächsten Augenblick zerspringen, 100
weil es den ganzen langen Weg aufwärts ging, nachdem er die Docks hinter sich gelassen hatte. Als er schließlich in die Küche gestolpert kam, ließ er sich, völlig ausgepumpt, einfach auf den Boden fallen und hielt sich die schmerzhaft stechenden Seiten, ehe er zu sprechen imstande war. Sie beugten sich alle über ihn, aber seine Worte waren ausschließlich an Janie gerichtet.
Sie eilten mit Riesenschritten mit ihm zurück: Paddy, Ruth, Lizzie und Janie. Und dann mußten sie stundenlang in dem winzigen Nebenraum warten. Das war gegen die Vorschrift, aber die Nachtschwester hatte Mitleid mit ihnen und brachte es nicht übers Herz, sie in der Kälte draußen stehenzulassen. Janie verließ das Krankenhaus gegen elf, um ihre Herrschaft zu verständigen, und ein Blick in ihr bis zur Unkenntlichkeit verstörtes Gesicht erstickte die Vorwürfe der Köchin und ihrer Herrschaft im Keim. Das junge Paar war über diesen Vorfall zutiefst betroffen und gestattete Janie, bereits am frühen Morgen wieder ins Krankenhaus zu gehen. Glücklicherweise lag das Haus ihrer Arbeitgeber keine fünf Minuten davon entfernt; deshalb rieten sie ihr, gleich nach oben zu gehen und sich hinzulegen, weil sie all ihre Kräfte brauchen werde, um den kommenden Ereignissen halbwegs gefaßt entgegensehen zu können. So drückte man sich hierzulande aus, wenn ein Mann gestorben war und die Familie rat- und hoffnungslos zurückblieb. Es war, als wäre Rory tatsächlich bereits dahingegangen. Und die Familie erwartete ja auch allen Ernstes, daß er vor Tagesanbruch sterben werde. Menschen in einer derartigen Verfassung verschieden gewöhnlich gegen drei Uhr morgens. Deshalb fragte Janie nur, so höflich sie konnte, ob sie nicht gleich wieder zurückgehen dürfe, weil sie dabeisein wollte, wenn er starb. Ihre Herrschaft beriet sich kurz im Salon, und dann gaben sie ihr die Erlaubnis dazu. 101
Rory überstand die Krise gegen drei Uhr früh. Er atmete auch um fünf Uhr noch, aber die Nachtschwester erklärte ihnen, daß er noch tagelang im Koma liegen könne und daß sie deshalb besser heimgehen sollten. Ruth und Paddy nickten gehorsam; schließlich wußten sie beide, daß Paddy zur Arbeit mußte. Und Ruth sagte zu Janie: »Auch du mußt wieder zurückgehen, Kind, man darf die Lage nicht ausnützen, dann werden sie dich sicher wieder fortlassen.« Janie, die vor Kummer wie betäubt war, konnte dazu nur nicken. Aber Lizzie weigerte sich schlechtweg, sich von der Stelle zu rühren. Hier war sie, und hier würde sie bleiben, sagte sie. Bis sie wußte, ob er überleben oder sterben werde. Und auch Jimmy beharrte darauf, hierzubleiben, bis es Zeit war, zur Arbeit zu gehen. Also verabschiedeten sich Ruth und Paddy mit einem bloßen Nicken von Janie, als ihre Wege sich in Westoe trennten, und dann ging das Ehepaar, ohne ein Wort zu wechseln, durch die dunklen Straßen, die bereits von Männern erfüllt waren auf ihrem Weg zur Werft, zu den Docks und zu Palmer in Jarrow. Aber als sie die Brückenbögen durchquert hatten und zu jenem Punkt kamen, wo die Straße sich teilte, sagte Paddy: »Ich gehe lieber direkt zur Arbeit, sonst komm' ich noch zu spät.« »Du hast aber deinen guten Anzug an.« »Was scher' ich mich schon darum!« Ruth spähte ihm ins Gesicht, soweit sie das in der Dunkelheit vermochte, ehe sie ruhig sagte: »Wenn er stirbt, werden wir knapp dran sein, vergiß das nicht. Da wird es bedeutend weniger für Bier geben und so gut wie gar nichts für die Garderobe. Ich war immer auf ihn angewiesen.« »Ach, Frau!« sagte er und drehte sich mit einem heftigen Ruck um. Als er auf die Simonside Road zuging, rief er ihr noch über die Schulter zu: »Dann halt mich nicht auf. Wenn man mir eine halbe Stunde abzieht, wird noch weniger auf dem Kaminsims liegen, denk daran.« Denk daran, hatte er gesagt. Sie hatte seit Jahren daran gedacht. Sie hatte an all den Kummer gedacht, mit dem man während des Tages, 102
wenn man fest drauflos arbeitete, noch irgendwie fertig wurde, der einem aber während der Nacht so zusetzte, daß man meinte, nichts und niemand würde ihn jemals zu lindern imstande sein. Vor Jahren hatte sie ihn geliebt, aber nachdem Rory zur Welt gekommen war, hatte sie ihn gehaßt. Jedoch hatte sich dieser Haß nie auf Lizzie erstreckt. Das war merkwürdig, aber sie hatte Lizzie immer gemocht. Und das tat sie heute noch. Sie konnte sich ein Leben ohne Lizzie gar nicht vorstellen. Als Nellie kam, war es, als wäre ein kleines Wunder in ihr Leben getreten, dabei hatte sie sich so gegen die Schwangerschaft gewehrt. Jedesmal, wenn er den Versuch gemacht hatte, sie auch nur anzurühren, war sie ihm aus dem Weg gegangen. Manchmal siegte sie, weil beide des Kampfes überdrüssig waren; dann jedoch war sie ihm aus reiner Erschöpfung zu willen, nach einem harten Tag am Waschbottich und Backen und Saubermachen – was sie alles allein bewältigen mußte, weil Lizzie täglich putzen ging zu Leuten, die am Ufer unten ein Haus hatten. Als Jimmy kam, lief das Leben eine Zeitlang in ruhigen Bahnen. Sie war glücklich, daß sie einen Sohn hatte; daß er Rachitis hatte, machte ihr nicht viel aus. Mit dem Wachsen würden die Beine schon gerade werden, hatte sie gedacht. Dann kam der Tag, an dem der Haß auf Paddy abermals in ihr erwachte. Das war, als er sich wieder an Lizzie heranzumachen versuchte. Sie war unvermutet von nebenan herübergekommen und hatte die beiden nackt auf der Matte vor dem Kamin vorgefunden. Die Kinder hatten sie in die Spülküche gesperrt. Lizzie brauchte erst gar nicht zu beteuern: »Ich will nichts von ihm, Ruth, ich will ihn nicht!« Sein zerkratztes Gesicht allein sprach Bände. Von da ab war ihr Doppelbett ein ständiges Schlachtfeld. Schließlich rückte er sogar mit dem Priester an und sie wurde, wenn sie nicht die ewige Verdammnis riskieren wollte, dazu gezwungen, ihren ehelichen Pflichten nachzukommen. Die Frage, weshalb Lizzie all die Jahre bei ihnen geblieben war, hatte sich Ruth nie gestellt. Wohin sollte eine ledige Mutter schon gehen? Jedenfalls mußte er für sie sorgen, da er ihr schon ein Kind angehängt hatte. 103
Und nun lag dieses Kind da drüben im Krankenhaus – im Sterben. Was würde Lizzie ohne Rory anfangen? Seit dem Tag, an dem er erfahren hatte, daß sie seine Mutter sei, war er ihr mit Verachtung begegnet. Aber das hatte an ihrer Liebe zu ihm nichts geändert; das einzige, was diese Behandlung bei ihr bewirkt hatte: daß ihre Redeweise bissig wurde, sooft sie mit ihm sprach. Komisch, aber sie beneidete Lizzie. Obwohl sie wußte, daß Rorys Zuneigung ihr gehörte, beneidete sie sie – denn sie war seine Mutter. Rory kam am Montagmorgen gegen acht zu Bewußtsein. Lizzie saß an seinem Bett, und er sah sie an, ohne sie zu erkennen. Als seine Lippen sich unter offensichtlichen Schmerzen bewegten, legte sie ihr Ohr daran, um ja zu verstehen, was er sagen wollte. Es war nur ein einziges Wort, das er mehrmals wiederholte. »Tja, mein Junge«, nickte sie, »da hast du wohl recht. Es ist bitter.« Sie sagten ihr dann, daß er nun langsam Kräfte sammeln und sie mit dem Wachehalten aufhören müsse. Sie solle lieber am Nachmittag wiederkommen. Lizzie verließ das Krankenhaus ohne Widerrede. Aber sie ging nicht auf direktem Weg heim, sondern machte einen Umweg zur katholischen Kirche, in der sie nie zuvor gewesen war. Einmal im Jahr ging sie zwar zur Kirche, aber da zog sie die in Jarrow vor. Sie wartete das Ende der Messe ab, dann ging sie furchtlos auf den Priester zu und erklärte ihm, ohne jene Ehrfurcht an den Tag zu legen, an die er gewöhnt war, daß ihr Sohn im Krankenhaus da drüben im Sterben läge: Ob er dafür sorgen wolle, daß er die Letzte Ölung bekäme. Der Priester fragte sie, woher sie sei und noch andere Einzelheiten. Er bezeigte ihr keinerlei Mitgefühl, weil er ihre schroffe Art nicht mochte; auch weil sie – abgesehen von der mangelnden Ehrfurcht – keinen Heller in seine Hand gleiten ließ, wenn sie auch versicherte, daß sie, für den Fall, ihr Sohn würde sterben, eine Messe lesen ließe. Er sah ihr nach, wie sie die Kirche verließ, ohne etwas in die Armenbüchse zu tun. Lizzie erwiderte die Gefühle des Priesters hundertprozentig. Sie sagte sich, daß er kein Vergleich mit jenem aus Jarrow sei und daß sie ihn 104
nicht mochte. Dann tröstete sie sich jedoch mit dem Gedanken, daß das nicht viel ausmache. Auch nicht, wer einem das Geleit auf dem Weg hinüber gebe – solange nur dafür gesorgt sei, daß man auf diese Reise ordentlich vorbereitet werde.
Es war gegen halb zwei, als Lizzie, die sich eben wieder den Schal umwickeln wollte, um neuerlich ins Spital zu gehen, nach einem Blick aus dem Fenster stehenblieb und sagte: »Da kommt John George; er muß davon gehört haben.« Nachdem sie die Tür geöffnet und einen Blick in das blasse, verzerrt aussehende Gesicht John Georges geworfen hatte, sagte sie: »Komm herein, Junge. Komm herein.« Er trat ein, blickte von einem zum andern, und als er gerade den Mund aufmachen wollte, meinte Ruth leise: »Du hast es also gehört, John George?« Und er wiederholte verständnislos: »Gehört? Was?« »Nun, die Sache mit Rory.« »Rory? Ich … ich bin hergekommen, um ihn zu sprechen.« »Du weißt also nichts davon?« John George drehte sich zu Lizzie um. »Was … was ist denn geschehen?« Er schüttelte den Kopf, dann fragte er abermals: »Ist ihm etwas passiert?« »Oh, Junge!« Lizzie legte die Hand auf die Stirn. »Soll das heißen, daß du nichts davon gehört hast? Jimmy wollte es Mr. Kean doch in aller Frühe sagen.« »Mr. Kean?« »Natürlich. Setz dich, Junge.« Ruth drückte John George auf den nächsten Stuhl nieder, und er sah sie erst schweigend an, bis er mit einiger Mühe herausbrachte: »Mr. Kean ist nicht hier. Miß Kean … vertritt ihn auf eine Weile.« Dazu nickte er langsam. Dann fragte er in förmlichem Ton: »Und wo ist Rory?« »Unten im Krankenhaus, John George. Er wurde fürchterlich zusammengeschlagen – sie haben ihn glatt zu Tode geprügelt.« 105
Als John George daraufhin einfach über den Tisch sank, traten beide Frauen näher, und Lizzie murmelte: »Ach, Junge, mein Gott, ich weiß ja, wie dir zumute ist.« Nach einer Weile hob er den Kopf, sah von einer zur andern, und sagte, als hätte man ihm selbst einen fürchterlichen Schlag versetzt: »Er ist also tot?« »Nein«, sagte Lizzie und schüttelte den Kopf. »Aber nahe daran. Und es wäre eines von Gottes seltenen Wundern, wenn er sich je wieder erholen würde. Und selbst wenn er es täte, kann kein Mensch sagen, in welcher Verfassung er dann wäre … Hat Mr. Kean nach ihm gefragt?« Wieder hatte es den Anschein, als mache ihm das Sprechen Mühe, denn John George schluckte mehrmals, ehe er wiederholte: »Er war nicht hier, kommt auch nicht vor dem Abend. Sein Vater ist gestorben.« »Ach! Gott lasse seine Seele in Frieden ruhen. Natürlich, du hast ja vorhin gesagt, daß er nicht hier war. Nun, wenn du ihn siehst, kannst du ihm sagen, daß es einige Zeit dauern wird, bis Rory weiter Mieten kassiert, das heißt, wenn er es überhaupt jemals wieder tut.« John George senkte den Kopf, und das Geräusch, das aus seinem Mund drang, klang wie ein Stöhnen. »Willst du mitkommen? Ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus.« Er stand auf, starrte Lizzie an, dann drehte er sich um, als wäre er ein Schlafwandler, und ging zur Tür. Die beiden Frauen sahen ihm nach, wie er den schmalen Weg hinunterging. Und als er außer Sichtweite war, sahen sie einander ziemlich verblüfft an, und Lizzie sagte: »Es hat ihn wie ein Blitzschlag getroffen. Er hat immer große Stücke auf Rory gehalten. Es hat ihm derart zugesetzt, daß er selbst wie ein Toter ausgesehen hat.« »Nimm deinen Schal und lauf ihm nach«, sagte Ruth besorgt. Aber Lizzie schüttelte den Kopf: »Er will keine Begleitung – das ist klar zum Ausdruck gekommen, daß er das nicht will.« Ruth voll ansehend, meinte sie dann: »Gott weiß, daß es jeden von uns getroffen hat, aber merkwürdigerweise ihn am allermeisten. Das ist doch sonderbar … Hast du 106
sein Gesicht gesehen, diesen Blick? Es war, als stünde er selbst dem Tod gegenüber. Mir bricht im Moment wegen meines eigenen Jungen fast das Herz, aber es ist immer noch Platz für Mitleid mit diesem Jungen. Armer John George.«
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anie saß neben dem Krankenbett und blickte in das Gesicht, das sie immer für dasjenige des bestaussehenden Jungen in der ganzen Stadt gehalten hatte. Und sie fragte sich, ob er jemals wieder so aussehen würde wie früher? Oh, sie hoffte von Herzen, daß das der Fall wäre, denn gerade einem Mann wie Rory würde es unerträglich vorkommen, fürs Leben gezeichnet zu sein. Auch sie konnte den Gedanken, daß er für immer entstellt sein könnte, kaum ertragen; aber wenn er nur am Leben blieb – das war alles, worauf es jetzt ankam. Und er war am Leben und kämpfte mit allen Kräften darum, am Leben zu bleiben. Einmal hatte er die Augen geöffnet und sie angesehen, und ihr schien, als ob er sie erkannt hätte; aber ganz sicher war sie dessen nicht. Seine Lippen bewegten sich unausgesetzt, aber alles, was er immerzu stammelte, war: »Bitter, bitter …« Es mußte ihm etwas auf der Seele liegen, daß er sich so sehr an dieses Wort klammerte. Und es stimmte ja: Es war bitter, daß er spielte, daß er überhaupt jemals die Karten angefaßt hatte. Denn sie hegte keinen Zweifel daran, daß er von seinen Mitspielern verfolgt und ausgeraubt worden war, und zwar von gutbekannten Mitspielern. Aber – wie Jimmy am vorhergehenden Abend gesagt hatte – sie durfte kein Wort davon verlauten lassen, denn wenn die Sache Mr. Kean zu Ohren käme, wäre es aus mit dem Mieteninkasso. Man konnte nicht Spieler und Kassierer gleichzeitig sein … Und dann war da die Sache mit John George. Ach, wie froh war sie, daß Rory nichts davon wußte; das hätte ihn 107
erst recht erledigt. Von sämtlichen Narren dieser Erde war John George bestimmt der größte. Sie konnte es gar nicht glauben, und wenn es ihr nicht ihr eigener Brotgeber erzählt hätte, hätte sie's auch nie geglaubt; aber der Firmenpartner ihres gnädigen Herrn stand mit Mr. Kean in Geschäftsverbindung. Merkwürdig, das hatte sie vorher nicht gewußt, nun ja, weshalb auch … Jedenfalls hatte er die Ohren gespitzt, als er hörte, daß einer von Mr. Keans Leuten ein Betrüger sei, weil er, wie er sagte, wußte, daß ihr Zukünftiger für Mr. Kean arbeitete. Rorys Kopf bewegte sich auf dem Kissen hin und her, seine Lider flatterten, und als Janie sich über ihn beugte und leise fragte: »Wie fühlst du dich, Rory? Ich bin's, Janie«, sagte er wiederum: »Bitter … bitter.« Die Tränen schossen ihr aus den Augen und rollten über die Wangen, als sie ihm zuflüsterte: »Ach, Rory, komm zurück, wo immer du sein magst.« Dann meinte sie sanft: »Ich muß jetzt gehen, aber abends komme ich wieder. Die Gnädige hat gesagt, daß ich mir mittags und abends eine Stunde freinehmen kann. Das ist sehr anständig von ihr.« Sie sprach, als könne er sie verstehen. »Wiedersehen, Liebling, Wiedersehen«, sagte sie leise. Als sie fünf Minuten später in die nach Westoe führende Hauptstraße einschwenkte, erkannte sie die dunkelgekleideten Gestalten Ruths und Lizzies. Sie eilte auf die beiden zu, und sogleich erklang wie aus einem Munde die Frage: »Warst du bei ihm?« »Ja, ja, natürlich.« »Irgendeine Veränderung?« Janie sah Lizzie an, schüttelte den Kopf und sagte: »Er hat die Augen aufgeschlagen, aber … aber ich glaube nicht, daß er mich erkannt hat. Er sagt bloß immerzu: ›Bitter … bitter.‹ Habt ihr vielleicht etwas von John George gehört?« »Von John George? War er im Krankenhaus?« »Nein, Mrs. Connor« – sie sprach Ruth immer mit dem Familiennamen an –, »er wurde … verhaftet!« »Verhaftet?« riefen die beiden fast gleichzeitig und sahen Janie ganz entgeistert an. »Weshalb denn?« »Wegen Diebstahls.« 108
»John George?!« Janie nickte langsam. »Es waren fünfeinhalb Pfund, und … und er hat es angeblich schon längere Zeit so gemacht.« Sie waren sprachlos. Ihre Münder standen offen, als sie Janie mit ungläubiger Miene zuhörten. »Mr. Kean war nicht da, und Miß Kean ist früher gekommen – früher als üblich – um das Geld zu holen. Sie hatte in der Nähe zu tun und kam ganz zufällig vorbei. Sie hatte den Kassenschlüssel ihres Vaters bei sich, und als sie aufsperrte und nachzählte, fehlten laut Kassabuch fünfeinhalb Pfund. Vielleicht hat er gespielt.« »Bestimmt nicht. Doch nicht John George!« rief Ruth und umklammerte krampfhaft ihren Strohhut. »Ich konnte es erst auch nicht glauben, es hat mich ganz krank gemacht. Aber mein gnädiger Herr hat es im Anwaltsbüro gehört, wißt ihr. Ich … ich habe natürlich gleich ein gutes Wort für ihn eingelegt und gesagt, daß er ein wirklich lieber Mensch sei. ›Aber schau, Janie‹, hat der gnädige Herr darauf gesagt. ›Er hat bereits zugegeben, daß er es jedesmal so gemacht hat, wenn er sicher war, daß Mr. Kean die Samstageinnahmen nicht mehr abholen käme.‹ Offensichtlich wollte er es sich sozusagen ausborgen bis Montag und dann wieder zurücklegen, am frühen Morgen – aber diesmal war es zu spät. Und dann sagte der gnädige Herr, daß nur ein törichter Mann zugeben würde, so etwas bereits früher getan zu haben und dennoch abstreiten würde, fünfeinhalb Pfund genommen zu haben. John George behauptete, daß es nur zehn Shilling gewesen wären, und die hatte er bereits bei sich, um sie zurückzugeben. Er war gerade beim Pfandleiher gewesen. Den Pfandschein hat man tatsächlich bei ihm gefunden.« »Allmächtiger! Was wird noch alles passieren? Erst Rory und jetzt John George. Und alles innerhalb von drei Tagen – das ist doch unmöglich! Das erklärt natürlich seinen Gesichtsausdruck, als er gestern zu uns kam. Ach, du meine Güte!« Lizzie wiegte sich mit schmerzverzogenem Gesicht hin und her. »Es ist wegen dieses Mädchens, an dem er so hängt, Lizzie.« Janie nickte zur Bekräftigung. »Rory hat gesagt, daß er ihretwegen ganz verdreht sei. Zu Weihnachten hat er ihr eine goldene Halskette mit ei109
nem Medaillon gekauft, und jede Woche fährt er mit ihr nach Newcastle und dann gehn sie richtig aus, nachdem sie sich all die Gebäude angesehen haben, auf die ist er ganz versessen. Ich hatte keine Ahnung davon, bis er es mir eines Abends erzählte. Und er geht nicht etwa in irgendeine Teestube mit ihr, sondern in eines der großen Lokale in der Grey Street, und Rory hat mir gesagt, daß es dort nur noble Lokale gibt.« »Frauen können einen Mann auf mehr als eine Weise zugrunde richten«, sagte Lizzie nachdenklich. »Nun, egal – jedenfalls tut er mir aus Herzensgrund leid, ich habe John George immer gemocht. Er ist von einer Sanftheit, wie man sie für gewöhnlich kaum bei einem Mann findet.« Ruth fragte: »Weißt du, wann die Verhandlung ist, Janie?« »Nein, aber ich werde es schon herausbekommen.« »Jemand sollte ihn besuchen; soviel ich weiß, hat er niemanden als die beiden Alten. Und bei ihnen handelt es sich wirklich nicht nur um Faulheit« – sie wandte sich zu Lizzie um –, »wirklich nicht, Lizzie. Sie sind steif vor lauter Rheumatismus, das ist es. Und wenn John George sie nicht mehr unterstützen kann, bedeutet das für sie das Armenhaus. Du lieber Himmel« – Ruth sagte niemals »Gott« –, »man muß sich ernstlich fragen, weshalb das alles passiert.« Die drei standen einen Moment lang da und sahen einander an. Dann sagte Janie: »Ich muß jetzt gehen, aber abends darf ich wieder weg. Eine Stunde mittags und eine abends, hat die Gnädige gesagt. Das ist doch nett von ihr, nicht?« Die beiden nickten eifrig, und Lizzie ließ sich sogar zu der Bemerkung herab: »Tja, in diesem Punkt benimmt sie sich außergewöhnlich gut. Also, dann leb wohl, Kind.« »Lebt wohl«, erwiderte Janie, und schon lief sie über die Straße – und um ein Haar in einen Pferdewagen hinein, dem sie gerade noch in allerletzter Sekunde ausweichen konnte. Lizzie, die ihr nachgesehen hatte, meinte: »Das fehlte noch, daß Janie unter die Räder kommt. Das wäre dann der dritte von uns. Unglück schlägt ja bekanntermaßen dreimal zu – also frag' ich mich wirklich, was noch alles passieren muß!« 110
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anie hatte noch nie im Leben einen Gerichtssaal betreten. Darum hatte sie sich ängstlich auf die der Wand am nächsten befindliche Bank gesetzt. Direkt gegenüber befand sich der Richter, vor dem einige dunkelgekleidete Männer standen. Sie gingen mit Schriftstücken in den Händen immerzu von einem zum andern, bis der letzte der Bettelei Angeklagte seine Strafe von einem Monat aufgebrummt bekommen hatte und der Name »John George Armstrong!« aufgerufen wurde. John George tauchte auf, als käme er geradewegs aus dem Keller. Die Barriere des Zeugenstands reichte ihm bloß bis zu den Hüften, aber sein Oberkörper schien irgendwie eingeschrumpft zu sein, die Schultern waren gebeugt, und das aschfahle Gesicht hielt er gegen die Brust gedrückt. Einer der dunkelgekleideten Männer fing zu reden an. Janie hörte nur mit halbem Ohr zu, weil ihr Blick fest auf John George geheftet war, als wolle sie ihn mit all ihrer Willenskraft dazu zwingen, sie anzusehen, damit er wisse, daß jemand da war, der sich um ihn sorgte. »… und hat am vierundzwanzigsten Januar seinem Arbeitgeber, Herrn Septimus Kean, Birchingham House, Westoe, die Summe von fünfeinhalb Pfund gestohlen …« Die darauffolgenden Worte entgingen Janies Aufmerksamkeit, als sie beobachtete, wie John George die Augen schloß und den Kopf schüttelte. Es war, als wollte er sagen: Nein, nein! – Dann fiel Miß Keans Name. »… sagte sie dem Angeklagten aufgrund des Kassabuches den Fehlbetrag im Safe auf den Kopf zu.« Rory hatte immer erzählt, daß es in seinem Büro keinen Safe gäbe, jedenfalls keinen richtigen. Sie blickte zu Miß Kean hinüber, und ob111
wohl sie nur ihr Profil sehen konnte, nahm sie an, daß sie sehr mager und sicherlich groß war. Sie trug einen pillenschachtelähnlichen Hut aus grünem Samt, der obenauf auf ihrem Haar saß. Es sah aus, als hätte sie sehr viel Haar, aber vielleicht war es auch bloß toupiert. Selbst ihre Gnädige toupierte sich das Haar, wenn sie ausging – vor allem, wenn es sich um die Erfüllung einer ihrer zahlreichen Repräsentationspflichten handelte. »Der Angeklagte wandte ein, daß es sich nur um einen Fehlbetrag von zehn Shilling handle, den er bereits bei sich trug, um ihn zurückzugeben. Er bat Miß Kean eindringlich, das Geld nochmals nachzuzählen, was sie auch tat. Er gab dann zu, daß er auch früher schon mehrmals kleine Summen an sich genommen, sie jedoch jedesmal wieder prompt zurückgegeben hätte. Er beteuerte, daß es sich nur um zehn Shilling gehandelt habe. Dann versuchte er, Miß Kean dazu zu überreden, diesen Betrag an sich zu nehmen und die Angelegenheit ihrem Vater gegenüber nicht zu erwähnen … Als er verhaftet wurde, sagte er …« O John George! Weshalb war er nur so dumm gewesen – weshalb? Es war dieses Mädchen. Wenn sie ihr jemals begegnen sollte, würde sie ihr gehörig die Meinung sagen, jawohl. Und wenn Rory wieder zu sich kommen und davon hören würde, würde er ganz sicher verrückt werden. Aber es würde schon noch eine Zeitlang dauern, bis sie ihm gegenüber diese Geschichte überhaupt erwähnen könnte. Der Richter sprach nun von Arbeitgebern, deren Vertrauen von Menschen wie dem Gefangenen schamlos ausgenützt werde, weshalb man ein Exempel statuieren müsse. Weil man nämlich die redlichen Bürger dieser Stadt vor gewissen Leuten, die nichts weiter als heimliche Diebe seien, schützen müsse. »Bekennen Sie sich schuldig, ja oder nein?« »Ich … ich habe keine fünfeinhalb Pfund genommen, Sir.« »Beantworten Sie meine Frage. Schuldig, ja oder nein?« »Ich habe keine fünf …« John Georges Stimme erstarb. Der Richter beriet sich mit den dunkelgekleideten Männern, dann riß Janie den Mund weit auf, als er sagte: »Ich verurteile Sie zu einer Gesamtstrafe von zwölf Monaten …« 112
Janie sprang auf und streckte die Hand aus, um John Georges Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber er hob überhaupt nicht den Kopf. Ein paar Minuten darauf stand sie am Tor des Gerichtsgebäudes. Die Tränen rannen ihr übers Gesicht. Ihre einstündige Ausgehzeit war beinahe um, und sie wollte unbedingt noch am Krankenhaus vorbei; dort vermutete ihre Herrschaft sie ja schließlich. Janie wußte nicht, was sie getan oder gesagt hätte, wenn der gnädige Herr im Gerichtssaal aufgetaucht wäre; zum Glück war dem nicht so. O John George, armer John George! Ein durchs Tor kommender Polizist musterte Janie. Er hatte sie im Gerichtssaal gesehen, wie sie versucht hatte, dem Gefangenen zuzuwinken; nicht unfreundlich sagte er: »Der Bursche ist noch gut weggekommen. Ich kenne Fälle, wo er ihnen drei Jahre aufgebrummt hat, besonders, wenn sie es so lange gemacht haben wie der. Er ist auf Männer, die es besser wissen müßten, immer besonders schlecht zu sprechen. Jedenfalls: Was ist schon ein Jahr?« Er lächelte auf sie nieder, und Janie stammelte: »Würden Sie … könnten Sie – ist es gestattet, eine Minute mit ihm zu sprechen?« Er starrte sie kurz an, dann sagte er rasch: »Kommen Sie. Kommen Sie hier herein. Beeilen Sie sich! Gleich wird man ihn hier vorbeibringen. Es geht heute noch ein Transport nach Durham. Ich nehme an, daß er unter ihnen ist.« Sie folgte ihm eilends, und als er unvermittelt stehenblieb, wäre sie beinahe aufgeprallt. Er öffnete eine kleine Tür, und Janie sah sich einigen Männern – ganz offensichtlich Gefangenen, das stand in ihren Gesichtern zu lesen – und drei Wachleuten gegenüber. Ihr Anführer mußte eine Autoritätsperson sein, denn nachdem er einen Wachebeamten halblaut gesagt hatte: »Einen Moment den Armstrong, ich bleibe dabei«, brüllte der sogleich: »Armstrong!« Da drehte sich John George auch schon um und blickte zur Tür. Und als sein Wächter über die Schulter deutete, kam er näher und trat auf den Gang hinaus. Der Polizist sah ihn nur an und sagte dann, Janie zunickend: »Zwei 113
Minuten also. Und wohlgemerkt: Versuchen Sie keine krumme Tour, verstanden?« Er sah John George durchdringend an, und John George erwiderte den Blick wortlos, ehe er sich an Janie wandte. »Hallo, John George …« Es war dumm, so etwas zu sagen, aber ihr fiel im Moment nichts anderes ein. »Hallo, Janie.« »Oh …« Als die Tränen ihr aus den Augen strömten, lockerte sich ihre Zunge, und sie redete hektisch drauflos: »Es tut mir so leid, John George. Uns allen. Weshalb nur, weshalb? Wir werden dich bestimmt besuchen kommen. Es muß eine Besuchszeit geben, bestimmt. Ich werde mich erkundigen.« »Janie.« Seine Stimme klang ruhig. »Ja, John George?« »Hör zu. Möchtest du zu Maggie gehen? Sie hat ja sicher keine Ahnung – zumindest glaube ich das. Nicht, ehe sie es in der Zeitung liest. Sie ist … sie – bekommt ein Kind, Janie – sie wird jemanden brauchen.« Sie schlug sich mit der Hand auf den Mund, riß die Augen auf und murmelte: »Mein Gott, John George.« »Die Zeit ist um. Das genügt.« »Janie, Janie, hör zu! Glaub mir: Ich hab' nie im Leben fünfeinhalb Pfund herausgenommen. Zehn Shilling, ja – aber keine fünfeinhalb Pfund. Sag das Rory, ja? Sag es ihm.« »Ja, das werde ich, bestimmt, John George. Leb wohl, John George, leb wohl.« Janie sah ihm nach, wie er in den angrenzenden Raum ging. Sie konnte den Polizisten vor Tränen kaum noch erkennen, neigte jedoch den Kopf und schluchzte: »Danke – danke.« Er begleitete sie bis zur Pforte, und dort meinte er tröstend: »Machen Sie sich keine Sorgen. Wie ich bereits sagte: Was ist schon ein Jahr? Außerdem können Sie ihn monatlich besuchen.« Dann beugte er sich zu ihr hinunter. »Wie stehen Sie denn zu ihm? Ich dachte schon, Sie wären seine Frau – wenn ich es auch nicht hoffe, nach allem, was ich gehört habe. Sind Sie … seine Schwester?« 114
»Nein, nur … nur eine Freundin.« Er nickte ihr zu, dann sagte er: »Nun, die nächsten zwölf Monate hindurch wird er keine Freunde brauchen, aber nachher dafür um so mehr.« »Gott schütze Sie«, sagte sie. »Viel Glück, Kind«, sagte er, und als sie sich abwandte, sah er ihr nach. Ihre Verbindung mit dem Inhaftierten verblüffte ihn. Nur eine Freundin, hatte sie gesagt. Sie war nicht imstande, nun rasch zu gehen, und so blieb ihr keine Zeit mehr fürs Krankenhaus. Als sie in der Küche ankam, weinte sie so sehr, daß die Köchin die Gnädige rief; diese versuchte zu trösten: »Oh, es tut mir leid, Janie, es tut mir ja so leid für Sie!« Und Janie antwortete unter Tränen: »Nein, es ist nicht … das … Sein Zustand ist unverändert. Es ist … es ist John George. Ich weiß, ich hätte es nicht tun sollen, aber ich mußte einfach zur Verhandlung gehen, Ma'am. Er hat ein Jahr bekommen.« Das Gebaren ihrer Brotgeberin änderte sich blitzartig, ihre Miene verhärtete sich. »Sie sind ein dummes Ding, Janie«, schimpfte sie. »Der gnädige Herr wird sehr ärgerlich darüber sein. Gerichtssäle sind nicht der passende Ort für eine Frau, schon gar nicht für ein junges Mädchen. Auch ich bin böse auf Sie. Ich habe Ihnen freigegeben, damit Sie Ihren Verlobten besuchen können, aber nicht diesen diebischen Taugenichts. Es überrascht mich, daß Ihr Verlobter ihm nicht schon früher auf die Schliche gekommen ist … Welche Strafe hat er bekommen, sagten Sie?« »Ein Jahr, Ma'am.« »Das ist so gut wie gar nichts, tatsächlich. Wenn ein gewöhnlicher Arbeiter so etwas tut, ein ungelernter Mann – wenn so einer hingeht und stiehlt, dann ist das etwas anderes. Aber wenn einer, von dem man etwas anderes erwarten könnte und der noch dazu eine Vertrauensstellung bekleidet, so etwas tut, dann verdient er, betraft zu werden, sogar empfindlich. Trocknen Sie sich die Augen, gehen Sie nach oben, und sehen Sie nach den Kindern. Ich bin sehr unzufrieden mit Ihnen, Janie!« 115
Janie lief sofort nach oben und wurde stürmisch von den Kleinen umringt. Warum sie weine, fragten sie durcheinander. Ob Mama etwa böse mit ihr gewesen sei? Sie schüttelte den Kopf, während sie sich an den Kleinen anklammerte, und die Mädchen fingen gleichfalls an zu weinen. Ja, ihre Mama war böse auf sie gewesen, aber merkwürdigerweise berührte das Janie nicht. Zu jedem andern Zeitpunkt hätte sie ein einziges scharfes Wort ihrer Herrin zutiefst betrübt. Aber in diesem Augenblick dachte sie nicht einmal an Rory, denn der war, wie es hieß, über das Schlimmste hinaus und befand sich auf dem Wege der Besserung. Nein, ihre Gedanken weilten ausschließlich bei John George. Sein Gesicht verfolgte sie. Die Mitteilung darüber, daß er ein Mädchen in Schwierigkeiten gebracht hatte, hatte sie erschreckt, aber noch mehr war sie über seine geistige Verfassung erschrocken gewesen, weil sie sich des Gefühls nicht erwehren konnte, er müsse völlig durcheinander sein, wenn er zugab, zwar zehn Shilling, aber nie im Leben fünfeinhalb Pfund genommen zu haben. Armer John George, armer, armer John George! Ja, es würde ein harter Schlag für Rory werden, wenn er davon erfuhr.
9
V
ierzehn Tage darauf brachten sie Rory in einer Kutsche, die von Miß Kean bezahlt wurde, heim. Miß Kean hatte ihn dreimal im Krankenhaus besucht. Beim letzten Besuch saß Rory bereits hochaufgestützt im Bett, hatte sie angestarrt und die Nachricht, die sie ihm von ihrem Vater ausrichtete, schweigend angehört. Er brauche sich keine Sorgen zu machen, sein Posten bleibe ihm so lange erhalten, bis er wieder arbeiten könne. Außerdem hatte ihr Vater ihn befördert und ihm Mr. Armstrongs Job anvertraut. Zwar sei ein älterer Mann eingestellt worden, doch könne dieser nicht einmal 116
mit dem halben Bezirk allein fertig werden. Nichtsdestoweniger sei er ehrlich, und ehrliche Leute waren ja heutzutage schwer zu bekommen. Das habe ihr Vater immer schon gewußt, und nun war es ihm von neuem bewiesen worden. Dann hatte Miß Kean gefragt: »Haben Sie irgendeine Ahnung, wer über Sie hergefallen ist?« Aber Rorys ganze Antwort hatte in einer leicht verneinenden Kopfbewegung bestanden, wobei er Miß Kean fest angesehen hatte. Sie hatte ihm zugelächelt und gesagt: »Ich hoffe, daß die Trauben Ihnen schmecken, Mr. Connor. Und daß Sie bald wieder auf der Höhe sind.« Abermals hatte er mit Mühe bloß leicht mit dem Kopf nicken können. Und dann hatte sie gesagt: »Lassen Sie mich wissen, wann Sie hier entlassen werden, dann wird eine Kutsche für Sie bereitstehen.« Rory konnte nun wieder klar denken, sein Geist arbeitete normal, und so sagte er sich immer wieder vor, daß er sich mit der Sache abfinden müsse. Es nützte nichts, stets von neuem in die völlige Verwirrung zurückzugleiten, wie es ihm in den ersten Tagen seiner Wiederherstellung passiert war, als sie ihm der Reihe nach alle gesagt hatten: »Sorg dich nicht, laß dir Zeit. Du wirst mit jedem Tag Fortschritte machen. Du befindest dich auf dem Wege der Besserung, und das ist ein Wunder, vergiß das nicht!« Obwohl er am dritten Tag damit aufgehört hatte, ewig ›bitter‹ vor sich hinzumurmeln, waren all seine Gedanken auf dieses eine Wort konzentriert. Wann immer er die Augen schloß, sah er den riesigen Fuß auf sich zukommen. Das war alles, woran er sich zu erinnern vermochte: Dieser riesige Fuß. Er hatte keine Ahnung, wohin sie ihn zuerst geschlagen hatten: ob auf den Kopf oder ins Kreuz oder in die Rippen. Fest stand, daß sie ihm die Rippen gebrochen hatten. Tagelang hatte es ihn unsägliche Mühe gekostet, durchzuatmen. Nun war es leichter. Sein Körper war – obwohl von Kopf bis Fuß mit Abschürfungen und blauen Flecken bedeckt – nicht mehr eine einzige wunde Masse. Er wußte nicht, wie er aussah, aber sein Gesicht kam ihm ebenso breit vor wie seine Schultern. Erst als er daheim anlangte, sah er zum erstenmal sein Spiegelbild. 117
Nachdem sie ihm über die Stufen geholfen hatten, war er direkt auf den Kamin zugegangen. Obwohl Ruth versucht hatte, ihn daran zu hindern, schob er sie sanft, aber nachdrücklich zur Seite. Und dann beugte er sich vor und betrachtete sein Gesicht in dem länglichen, fleckigen Spiegel über dem Kamin. Seine Nase war zum Glück immer noch gerade, aber seine Augen sahen aus, als befänden sie sich in dickverschwollenen Fettbeuteln. Beinahe fünf Zentimeter seines Haares war bis auf die Kopfhaut abrasiert worden, und von dort bis vor übers linke Ohr verlief eine dicke zickzackförmige Narbe. »Dein Gesicht wird schon wieder in Ordnung kommen, sorg dich nicht.« Er drehte sich um und sah Ruth an, sagte jedoch kein Wort. Sie fuhr fort: »Wir haben das Klappbett für dich hergerichtet, du kannst die Leiter noch nicht hochklettern. Wir werden einstweilen oben schlafen.« Er erwiderte langsam, als wäre er ein alter Mann: »Ich schaff … die Leiter … schon.« »Kommt nicht in Frage. Außerdem ist schon alles bereit, und damit basta. Komm, setz dich.« Sie führte ihn zum Lehnstuhl, und er war froh, sich hinsetzen zu können, denn die Beine versagten ihm einfach den Dienst. Abermals beteuerte er: »Ich schaff die Leiter schon …«, und noch während er es sagte, sah er Lizzie in die Spülküche gehen. Es war, als könne sie seine Gedanken lesen: er wollte nicht im selben Raum mit ihr liegen, obwohl ihr Bett hinterm Vorhang stand. Er konnte nichts für seine Gefühle ihr gegenüber. Er wußte, daß sie in den vergangenen Wochen gut zu ihm gewesen war, daß sie jeden Tag den langen, mühseligen Weg bis ins Krankenhaus zurückgelegt hatte. Und doch hatte er ihr nicht ein einziges gutes Wort gegönnt – nicht einmal, als er bereits ohne große Mühe sprechen konnte! Es war sonderbar. Aber er konnte ihr nicht verzeihen, daß sie ihn um die Frau, die er für seine Mutter gehalten hatte, gebracht hatte. Aber sonst … Was machte es schon aus, wo er schlief. Wo immer er auch schlafen würde, die Erinnerungen, die er mit sich herumschleppte, würden schon dafür sor118
gen, daß er sich wie mitten in der Hölle vorkäme. Sie dachten natürlich alle, daß er noch nicht imstande sei, klar zu denken. Und er hatte nicht die Absicht, sie aufzuklären. Denn er würde für seine weiteren Handlungen eine Entschuldigung brauchen. Niemand hatte ihm gegenüber John George erwähnt, keiner von ihnen hatte seinen Namen genannt. Aber der Umstand, daß er ihn niemals besuchen gekommen war, sprach schon allein Bände. Etwas war mit ihm passiert. Und er konnte sich schon denken, was – ja er war sogar sicher, zu wissen, was es war. Und er wußte auch, daß er selbst nichts dagegen unternehmen würde. Er konnte es nicht. Herrgott, er konnte es einfach nicht! »Da, trink das.« Lizzie reichte ihm eine Tasse Tee; er nahm sie, ohne sie anzusehen, und bedankte sich. »Es war nett vom alten Kean«, sagte sie, »daß er eine Kutsche zum Krankenhaus geschickt hat. Er kann nicht gar so schlimm sein, wie du immer geschildert hast. Und seine Tochter ist sogar ein paarmal ins Spital gekommen. Ach, Gott, ist die häßlich! Elegant und modisch und so weiter, zugegeben. Aber eben häßlich. Nun, jedenfalls scheint dein Chef dich zu schätzen.« »Hach!« Selbst die leiseste Kopfbewegung bedeutete immer noch eine schmerzhafte Handlung, die ihn dazu veranlaßte, die Hand auf den Hals zu legen, als könne er so den Kopf ein wenig besser schütteln, während Lizzie schloß: »Nun ja, du kennst ihn natürlich besser als ich. Aber ich bin der Meinung, daß Taten mehr sagen als Worte.« Als Lizzie Rory die leere Tasse abnahm und in die Küche ging, um frisch einzuschenken, sagte Ruth, während sie das Feuer schürte: »Ich werde mit dem Backen anfangen müssen.« Dann drehte sie sich um und sah ihn an. »Es ist schön, daß du wieder daheim bist, Junge. Jetzt können wir unser normales Leben wiederaufnehmen.« Er nickte, lächelte ihr schwach zu, antwortete aber nichts. Es war merkwürdig. In den vergangenen Wochen hatte er sich danach gesehnt, wieder daheim zu sein, raus aus den kahlen Spitalwänden und der klinischen Sauberkeit. Aber wenn er sich jetzt so umsah, dann kam ihm die Küche, die ihm bisher immer so groß erschienen war – denn 119
sie bestand im Grunde genommen aus zwei Räumen, aus denen man einen einzigen gemacht hatte –, klein, schäbig und schrecklich vollgestopft vor. Früher hatte er sich hier nie beengt gefühlt, da war ihm vieles nicht bewußt. Zum Beispiel hätte er sich nie vorstellen können, feige zu sein. Furchtsam, wenn es triftige Gründe gab – gut, das schon. Aber nicht feige! Nun wußte er jedoch, daß er feige war. Bis zum Verrat. Er hatte sich immer davor geängstigt, eingeschlossen zu werden. Sicher war das der Grund dafür, daß er die Türen immer und überall offen ließ. Und wahrscheinlich hatte er sich deshalb sofort auf diesen Kassierer-Job gestürzt, weil es sich dabei um Außendienst handelte. Ja, er hatte sich immer davor gefürchtet, eingesperrt zu sein. Er konnte sich an jenen Vorfall zurückerinnern, der diese Furcht in ihm ausgelöst hatte. Die Leary-Jungs von nebenan hatten stets Possen und Streiche aufgeführt, und als sie eines Tages eine sargähnliche Kiste aus dem Fluß gefischt hatten, mußten sie sich unbedingt einen passenden Verwendungszweck dafür ausdenken, ehe sie Kleinholz daraus machten. Also hatten die Älteren eine Jagd auf die Jüngeren veranstaltet, und er war es, den sie eingefangen und in die Kiste gesteckt hatten. Kaum war ihnen dies gelungen, hatten sie den Deckel draufgenagelt. Erst hatte er losgebrüllt, aber dann war er vor Schreck wie gelähmt gewesen, so daß es ihm glatt die Stimme verschlagen hatte. Als sie von draußen auf ihn einschrien, war er nicht imstande gewesen, zu antworten. Da hatten sie es langsam mit der Angst zu tun bekommen und mit vereinten Kräften versucht, den schweren Deckel wieder abzureißen. Als sie schließlich die Kiste vorsichtig umgekippt hatten, fiel er steif wie ein Toter heraus und mußte erst einmal kräftig erbrechen. Erst als die Erwachsenen ihm dann gut zugeredet und ihn fest durchfrottiert hatten, fing er an zu weinen. Jahrelang litt er danach an Alpträumen, die ihn zum Schlafwandler machten. Und Nacht für Nacht kletterte er lange Zeit in diesem Zustand über die Leiter in die Küche hinunter. Erst wenn er die nach draußen führende Tür öffnete, erwachte er und huschte fröstelnd ins Bett zurück, bis er dort mit klappernden Zähnen in einen schweißüberströmten, bleiernen Schlaf fiel. 120
Seitdem er jedoch mit dem Job begonnen hatte, waren die Alpträume ausgeblieben, ebenso wie das Schlafwandeln aufgehört hatte. Aber was würde nun geschehen in all den Wochen und Monaten, die vor ihm lagen? Jimmy kam um halb sieben heim, blieb in der Tür stehen, starrte zum Klappbett hinüber, in dem Rory – auf Kissen gestützt – aufrecht saß, und grinste übers ganze Gesicht. »Ach, ist das schön, dich wieder daheim zu haben!« Damit ging er langsam auf Rorys Bett zu. »Wie fühlst du dich?« »O gut, gut. Weißt du, nicht direkt hundertprozentig, aber so zehnprozentig.« »Hauptsache, du bist wieder daheim und wirst bald wieder auf eigenen Beinen stehen. Und weißt du, was?« Er setzte sich auf die Bettkante. »Ich habe den jungen Kilpatrick getroffen und ihm erzählt, wie die Dinge stehen. Und was meinst du, was er gesagt hat! Der Rest könne in monatlichen Raten beglichen werden. Wenn du es in einem Jahr abbezahlen kannst, würde er sich damit zufriedengeben.« »Das hat er gesagt?« »Stell dir vor!« »Nun ja« – Rory seufzte. »Das ist wenigstens etwas. Ja …« Er nickte Jimmy zu, »das ist schon etwas. Wir können also weitermachen, nicht?« »Weißt du, er ist nur deshalb zu meinem Betrieb hinuntergekommen, weil er gerade geschäftlich dort zu tun hatte. Und Mr. Baker wollte natürlich wissen, weshalb er mich sprechen wollte, weil ich meine Arbeit deshalb fünf Minuten unterbrechen mußte. Also hab' ich's ihm erzählt.« Jimmy zog ein Gesicht. »Er war nicht gerade erfreut. Nun, das konnte ich mir natürlich ausrechnen. Weißt du, was er gesagt hat? Daß er vorgehabt hätte, mich zu behalten und meinen Lohn zu erhöhen … Ist natürlich überhaupt nicht wahr. Er hat mich gefragt, was wir dafür bezahlen würden, und als ich es ihm sagte, meinte er, wir seien schön hereingelegt worden, wo es sich bloß um einen halbfertigen Kahn und ein paar alte Möbel handle. Aber einer der Jungs hat mir gesteckt, daß er ihn unten herumschleichen gesehen hat, und ich wette, daß er selbst 121
auch hinter der Sache hergewesen ist. Auf alle Fälle steht eins fest: Wir beide sind ihm zuvorgekommen.« Jimmy grinste vergnügt. »Hätt' ich mir nie träumen lassen, wirklich. Also ich finde es wahnsinnig aufregend.« Er beugte sich vor und legte seine Hand auf Rorys Arm. »Und wenn einige Dinge nicht geschehen wären, dann würden wir beide jetzt richtig aus dem Häuschen sein, stimmt's?« »Das können wir immer noch sein: aus dem Häuschen.« »Wie kannst du dich mit deinen schmutzigen Kleidern nur aufs Bett setzen!« »Ach, Lizzie.« Jimmy stand auf, um ihrer Hand auszuweichen, lachte sie jedoch nur an und sagte: »Wenn du nicht keifen kannst, dann fühlst du dich nicht wohl.« Und als sie auf ihn losgehen wollte, rannte er – schwankend wie immer – fröhlich kichernd in die Spülküche. Jimmy war glücklich, Ruth war glücklich, und natürlich war auch Lizzie glücklich. Und Janie würde erst recht glücklich sein. Alle waren sie glücklich! Nur er nicht … und John George nicht. John George. Allmächtiger – John George!
Ja, Janie war darüber, daß sie die Werft erstanden hatten, wahrhaftig glücklich, denn das bedeutete, daß sie nun jederzeit heiraten konnten. Sie war jedoch nicht deshalb so aufgeregt, sondern über den Umstand, einen ganzen freien Tag bewilligt bekommen zu haben. Jetzt saß sie neben dem Bett und sah Rory strahlend an, als sie ihm die Neuigkeit erzählte. Er lag nun nicht mehr im Bett, sondern völlig bekleidet darauf. Da sowohl Beine als auch Rippen ihn immer noch schmerzten, ließ man das Bett auch während des Tages aufgeklappt stehen, damit er sich jederzeit darauf ausstrecken konnte. Janie blickte von Rory zur wieder einmal in der Küche versammelten Sonntagsrunde, zog die Schultern hoch und sagte: »Ich habe natürlich geflunkert – nicht viel, nur ein bißchen. Ich sagte meiner Gnädigen, daß ich zum Saubermachen da unten stundenlang brauchen würde, also hab' ich ihr das mit dem freien Tag sozusagen in den Mund ge122
legt, wißt ihr? Und was glaubt ihr, wozu ich den freien Donnerstag tatsächlich haben wollte? Ich dachte, wir würden alle miteinander nach Durham gehen und –« Sie schlug sich mit der Hand auf den Mund und fügte leise hinzu: »Wir … wir haben es dir bisher nicht gesagt, Rory, wegen deines schlechten Zustandes und weil du sicher nicht imstande gewesen wärst, es zu ertragen.« Sie sah ihn an, als wolle sie sich entschuldigen. »Aber wir wußten natürlich, daß du, sobald du wieder halbwegs auf der Höhe sein würdest, nach ihm fragen wirst. Also sei nicht allzu bestürzt, Rory.« Sie ergriff seine Hand. »John George hat eine Dummheit gemacht: nur wegen dieses Mädchens, weißt du. Du hast ja selber gesagt, daß er sich ihretwegen direkt albern aufgeführt hat. Also, das war der Grund dafür, daß er sich an der Kasse vergriffen hat. Er wollte es nach dem Wochenende gleich wieder zurücklegen. Ich weiß nicht, ob du davon gewußt hast oder nicht. Aber er hat es schon jahrelang so gemacht. Diesmal hat man ihn eben erwischt.« Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Man hat ihn verurteilt. Er ist in Dur … mein Gott, Rory …!« Sie waren alle um sein Bett versammelt und blickten auf ihn nieder. Er war schweißbedeckt, und Lizzie schrie sie an: »Geht einen Schritt zurück, ihr alle, damit der Ärmste Luft bekommt.« Sie sah Janie zornig an. »So hättest du es ihm nicht beibringen sollen.« »Es tut mir leid. Ich weiß, aber … nun ja, eines Tages mußte er es schließlich erfahren, Lizzie.« »Er wird schon wieder in Ordnung kommen.« Ruth tupfte Rory den Schweiß von der Stirn und von der kahlen Stelle auf seinem Kopf. »Es ist nur ein Schwächeanfall. Nach seinen Alpträumen war es genauso.« Sie machte den um den Tisch sitzenden Männern ein Zeichen. »Spielt nur weiter.« »Das ist schlimm«, sagte Oma Waggett. »Gefällt mir gar nicht – ein schlechtes Zeichen.« »Jeder kann mal einen Schweißausbruch haben, Oma«, sagte Jimmy mit zögernder Stimme; aber sie beugte sich in ihrem Stuhl nach vorne, fuchtelte ihm mit dem Zeigefinger vor der Nase herum und sagte: »Nein, Junge, nicht jeder. Frauen – die schon. Aber nicht Männer. Män123
ner haben keine Wallungen. Und wenn sie dennoch mal ins Schwitzen geraten, dann ist das das Zeichen für was Besonderes. Da steckt immer was dahinter. Da brauch' ich nur daran zu denken, wie …« »Oma, hör mal, wir müssen jetzt heim«, mischte sich Bill Waggett ein und zerrte sie heftig am Arm. Sie schrie ihn an: »Laß mich, du Tölpel!« »Du kommst jetzt schön mit hinüber! Rory braucht Ruhe.« »Rory hat es gern, wenn es ein bißchen lebhaft zugeht. Außerdem hab' ich gar nichts gesagt und …« »Geh schön, Oma«, sagte Janie und trat an ihre Seite. Unentwegt plappernd und scheltend ließ die alte Frau zu, daß ihr Sohn sie aus dem Haus brachte. Und das war gleichzeitig das Aufbruchsignal für die Learys, obwohl es erst sechs Uhr und außerdem Sonntag war – jener Tag, auf den sie sich die ganze Woche hindurch freuten. Als die Besucher fort waren, kletterte Jimmy wie auf ein vereinbartes Zeichen die Leiter nach oben, und sein Vater folgte ihm sogleich, während Lizzie und Ruth in der Küche verschwanden und Rory und Janie allein ließen. Sie hatte ihren Stuhl ans Kopfende des Bettes gezogen und fragte, sich liebevoll zu ihm niederbeugend, zärtlich: »Fühlst du dich wieder besser?« Er nickte nur. »Ich wußte, daß es dir einen Schock versetzen würde – tut mir leid.« Er rührte sich nicht, fuhr jedoch fort, sie anzustarren. »Ich … ich dachte mir, wir könnten ihn Donnerstag alle miteinander besuchen. Er darf nur einmal im Monat Besuch haben, das ist die einzige Möglichkeit … Gut, gut, wie du willst.« Er hatte heftig den Kopf geschüttelt, sich abgewandt, den Kopf in die Kissen gedrückt und etwas vor sich hingemurmelt. Sie legte ihr Gesicht nahe an das seine und flüsterte: »Was sagst du?« »Ich … ich kann nicht.« »Wir könnten das Fährboot bis nach Newcastle nehmen und dann den Zug. Vielleicht würde dir eine solche Ausfahrt guttun.« »Ich kann nicht, Janie – besteh nicht darauf.« 124
Sie sah ihn einen Moment lang an, ehe sie sagte: »Du willst ihn nicht sehen?« »Ich … ich kann dort nicht hingehen!« »Aber weshalb nicht, Rory? Er … er ist doch dein Freund. Und wenn du ihn bei der Gerichtsverhandlung gesehen hättest, also …« Abermals schüttelte er den Kopf. Seine nun fest zusammengekniffenen Augen verschwanden beinahe in dem verfärbten, verschwollenen Fleisch. Sie lehnte sich zurück und sah ihn bekümmert an. Es ging über ihren Verstand. Sie wußte, daß er gewissermaßen noch nicht er selbst war: Aber daß er nicht einmal die Anstrengung unternehmen wollte, hinzugehen und John George zu besuchen, wo der Arme doch eingesperrt war – nun, das konnte sie einfach nicht verstehen. Als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte, sagte er zwischen zusammengebissenen Zähnen: »Sprich nicht weiter davon, Janie. Es tut mir leid, aber … ich kann nicht. Du weißt, daß ich immer einen Abscheu vor solchen Örtlichkeiten gehabt habe. Du weißt, daß ich es nicht ertragen kann, eingesperrt zu sein, daß ich Angst vor versperrten Türen habe und davor, mich dann wie ein Verrückter aufzuführen. Verstehst du das?« Die letzten Worte klangen direkt flehentlich, und wenn Janie seine Angst vor dem Eingeschlossensein auch ein klein wenig verstand, dachte sie doch insgeheim, daß er ein einziges Mal den Versuch unternehmen hätte können, sie zu bekämpfen: bloß um John George durch einen Besuch seine traurige Lage ein wenig zu erleichtern. Sie sagte sanft: »Jemand von uns sollte hingehen. Er hat doch niemanden auf der ganzen weiten Welt.« Wieder murmelte er etwas vor sich hin. »Was hast du gesagt?« »Geh du hin.« »Ich? Ganz allein. Den weiten Weg? Ich bin doch noch nie mit der Bahn gefahren und noch nie allein auf einem Fährboot gewesen, niemals.« »Nimm dir eine von den beiden mit.« Er deutete zur Spülküche. Und 125
nun nickte sie nachdenklich: »Stimmt, das könnte ich tun. Ich werde sie fragen.« Sie starrte ihn lange an, ehe sie sich erhob und in die Spülküche ging. Lizzie und Ruth wandten sich bei ihrem Eintritt sofort um und warteten darauf, daß sie etwas sage. Sie blickte von einer zur andern und erklärte: »Er will nicht. Ich meine: Er kann John George nicht in Durham besuchen; er fühlt sich noch nicht danach. Später mal. Es ist eben noch zu früh.« Sie nickte den beiden zu und fügte hinzu: »Würde eine von euch mit mir mitkommen wollen, hm?« Ruth blickte sie traurig an und meinte: »Ich kann leider nicht, Kind. Ich kann Rory nicht allein daheim lassen und von den andern verlangen, daß sie sich um ihn kümmern. Vielleicht Lizzie …« »Was, ich? Allmächtiger! Ruth – ich und nach Durham! Ich bin die letzten zehn Jahre über nicht mal auf den Markt nach Shields gegangen. Und was die Bahnreise betrifft: Denen trau ich nicht – wer weiß, was da passiert! Außerdem, Kind …« Ihre Stimme wurde leiser. »Ich habe nicht die richtigen Kleider für eine solche Reise.« »Aber Lizzie, das, was du hast, ist schon in Ordnung. Du hast doch einen so schönen Schal, den kannst du einfach umnehmen. Und Ruth leiht dir vielleicht ihren Hut?« »Oh, natürlich kann sie ihn haben. Auch meinen Mantel, nur fürchte ich, daß er ihr nicht passen wird. Ach ja, fahrt zusammen hin, das wird euch guttun.« Sie nickte Lizzie zu. »Außer diesen Krankenhausgängen bist du doch kaum auf die Straße gekommen seit …« Sie hielt inne, weil sie nicht ›Seit du übers Meer herübergekommen bist‹ sagen wollte; also fuhr sie fort: »… seit Jahren. Das Ziel ist gräßlich, das weiß ich, aber diese kleine Reise wäre doch so was wie ein Urlaub für dich.« »Ich würde John George schon gern sehen«, sagte Lizzie. »Der arme Junge. Ein Narr war er ja immer, aber dafür eine Seele von einem Menschen. Sonntags hat er mir fast immer eine Kupfermünze zugesteckt, obwohl ich genau wußte, daß er keinen Groschen übrig hatte. Ich wollte sie auch nie nehmen, aber wenn ich es nicht getan hätte, dann hätte er sie glatt auf der Fensterbank liegengelassen … Ja, Kind, ich kom126
me mit. Wahrscheinlich werde ich unmöglich aussehen und dir nur Schande bereiten, aber wenn es dir nichts ausmacht – mir macht es bestimmt nichts aus.« Janie lachte, streckte Lizzie die Hand hin und meinte: »Ich hätte nichts dagegen, mich mit dir sehen zu lassen, und wenn du im Nachthemd mitkämst, Lizzie«, und Ruth strahlte: »Oh, Janie, Janie!« während Lizzie sagte: »Du bist ein gutes Ding, Janie. Du hast etwas, was man um Geld nicht kaufen kann: Ein Herz. Wirklich, das hast du.«
Janie brachte in den ersten paar Minuten kein Wort hervor; also war es Lizzie, die John George begrüßte. »Hallo, Junge.« Und er erwiderte: »Hallo Lizzie. Ach, Lizzie …« Und er sagte es in einem Ton, als wolle er ihr die Hände hinstrecken. Nur daß eben ein Gitter zwischen ihnen war. »Hallo, Janie«, wandte er sich dann an sie. Sie mußte schlucken. Tränenblind konnte sie nur die Umrisse seiner abgehärmten Gestalt wahrnehmen, bis sie mühsam stammelte: »Wie … wie geht es dir, John George?« »Nun ja, Janie, nicht allzu schlecht. Mal so – mal so eben. Wie geht es denn allen daheim?« »Gut, gut, John George. Weißt du, Rory … schafft es noch nicht, John George. Er ist noch immer recht schwach auf den Beinen, nachdem sie ihn zusammengeschlagen haben. Ach, wir dachten eine Zeitlang, daß er es nicht überleben würde. Sonst wäre er jetzt hier. Er kommt ein anderes Mal, das nächste Mal.« John George erwiderte nichts darauf, sondern sah nun Lizzie an, und die nickte ihm zu und bekräftigte: »Bestimmt, er wird dich später mal besuchen kommen. Er schickt dir Grüße.« »Wirklich?« Damit wandte er sich wieder an Janie. »Ja, ja natürlich.« »Was hat er gesagt, Janie?« »Wie?« 127
Er drängte sich näher ans Gitter heran. »Ich fragte: Was hat Rory denn gesagt?« »Nun ja.« Sie schnupfte auf, wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen und murmelte schließlich: »Er sagt, du sollst den Mut nicht sinken lassen, und es werde sich schon alles finden, wenn du erst mal wieder draußen bist.« »Das hat er gesagt?« Er sah ihr in die Augen, und sie antwortete nicht sofort, so daß es, als sie dann nur »Ja, ja« murmelte, nicht sehr überzeugend klang. »Wir haben dir ein frisches Brot und noch ein paar Sachen gebracht«, schaltete sich Lizzie ein und deutete auf ein Paket, und er erwiderte: »Oh, vielen Dank, Lizzie. Das ist lieb von euch. Sehr lieb und gut, wirklich.« »Ach, Junge, von gut wollen wir nicht reden. Das ist genau der Grund, der dich da hineingebracht hat: Das Lieb-und-Gut-Sein.« Beide blickten sie auf John Georges gesenktes Haupt. Als er es mit einem Ruck hob, waren sie über die Heftigkeit, mit der er die folgenden Worte ausstieß, überrascht. »Ich habe keine fünfeinhalb Pfund genommen, ehrlich! Glaubt mir, bitte! Glaubst du mir, Janie?« Er blickte nun Janie an. »Ich hab' zehn Shilling genommen, und das hab' ich, wie ich zugegeben habe, schon mehrmals davor getan. Aber ich hab' es jedesmal geschafft, es Montagmorgen zurückzugeben, weißt du – gleich, nachdem ich beim Pfandleiher war.« Er blickte nun Lizzie an, als könne sie letzteres verstehen. Dann wandte er sich wieder an Janie. »Sag es ihm, ja? Sag ihm, John George hat gesagt, daß er die fünfeinhalb Pfund nicht genommen hat.« Es dauerte sekundenlang, bis sie antwortete: »Aber ja, das werde ich. Reg dich nicht auf, John George. Ja, ich werde es tun, und er wird dir glauben. Rory wird dir glauben.« Er blickte ihr nun direkt in die Augen, und seine Lippen bewegten sich mehrmals lautlos, ehe er hervorbrachte: »Bist du bei Maggie gewesen, Janie?« Janie wurde rot und meinte verlegen: »Nein, ich konnte nicht, John George, weil du mir nicht gesagt hast, wo sie wohnt.« 128
In dem Moment, wo er die geballte Faust an die Stirn preßte und den Kopf senkte, schrillte die Glocke durchs Haus; John George sprang auf, als wäre er hochgerissen worden, und stammelte: »Horsley Terrace … vierundzwanzig. Geh hin, Janie, bitte, ja?« »Ja, John George, natürlich, John George.« Sie waren beide aufgestanden. »Danke, ich danke euch … Ich werde euch nie vergessen. Kommt ihr wieder? Kommt ihr wieder, ja?« Sie nickten und sahen, wie er sich in die Gruppe der übrigen Gefangenen einreihte. Dann wandten sie sich um. Als sie vor dem Gefängnistor standen, sahen sie einander weder an noch sprachen sie ein Wort. Erst als Lizzie die Straße überquert und sich an die nächste Hausmauer gelehnt hatte, indem sie das Gesicht in den Händen barg, legte Janie, gleichfalls weinend, den Arm um sie und führte sie langsam die Straße entlang in die Stadt. Und abermals sprach keine von ihnen ein Wort.
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Zweiter Teil Miß Kean
1
R
ory stand vor dem Chefschreibtisch und blickte auf Miß Kean hinunter, während er sagte: »Tut mir leid, daß Ihr Vater krank
ist.« »Es ist eine starke Erkältung, aber er wird bald wieder auf der Höhe sein. Wie ich Ihnen bereits sagte, sollen Sie Armstrongs Platz einnehmen und werden natürlich denselben Lohn erhalten, den er bekommen hat … Sie sehen noch nicht sonderlich erholt aus, Mr. Connor. Fühlen Sie sich wieder auf dem Damm?« »O ja, Miß, ich bin völlig in Ordnung.« »Sie sollten sich lieber setzen«, meinte sie und deutete mit gebieterischer Geste auf den vor dem Schreibtisch stehenden Stuhl. Er sah sie einen Augenblick überrascht an, ehe er »Danke« murmelte und Platz nahm. »Wie ich Ihnen bereits mitteilte, haben wir einen neuen Mann eingestellt.« Er nahm zur Kenntnis, daß sie ›wir‹ sagte, als ob sie an der Geschäftsführung beteiligt wäre. »Er war der Beste von den Bewerbern. Da es heutzutage so viele Arbeitslose gibt, hätte man eigentlich annehmen können, daß die Auswahl größer sein würde. Ich glaube, daß man uns, wenn es sich um einen Arbeiter gehandelt hätte, die Tür eingerannt hätte.« Es überraschte Rory, zu erfahren, daß Mietenkassierer nicht zur Arbeiterklasse gezählt wurden, obwohl er wußte, daß sie, wenn sie in der Stadt gelebt hätten – egal ob rund um die Docks oder in Shields selbst – mit Leuten wie den Learys oder den Waggetts keineswegs auf so gutem Fuß hätte stehen können, wie es der Fall war. Es machte eben einen großen Unterschied aus, ob man einen Stehkragen oder bloß ein Halstuch trug. 131
»Mein Vater schlägt vor, daß Sie nun Shields komplett übernehmen. Mr. Taylor wird sich um Jarrow kümmern, vor allem, was das Samstagvormittagsinkasso betrifft.« Sie lächelte ihm leicht zu. »Er meint, daß es schade wäre, einen Mann von Ihren Fähigkeiten weiterhin dort einzusetzen. Er hält viel von Ihrer Sachkenntnis, Mr. Connor.« Nun, das war neu für ihn, Schockschwerenot! Und wenn die Dinge anders gestanden hätten, würde er insgeheim gebrüllt haben vor Lachen und es später John George erzählt und … Wieder schnappte diese Falle in seinem Innern mit einem scharfen Klicken zu, und er zwang sich, zu sagen: »Das freut mich, Miß.« Sie lächelte ihn noch immer an, und als er sie ansah, dachte er dasselbe, was Lizzie gesagt hatte: Gott, ist sie häßlich. Irgendwie kam es ihm unfair vor, daß eine Frau, die die besten Chancen hatte, die man sich nur vorstellen konnte, so aussah. Sie hatte eine tadellose Erziehung genossen, ausgezeichnete Schulen besucht, verfügte über einen Haufen Geld – es fehlte ihr wirklich an nichts. Wenn Janie all diese Möglichkeiten gehabt hätte und sich eine Garderobe wie die da leisten könnte, dann würde sie alle anderen Frauen weit hinter sich lassen. Als er auf das gesenkte Haupt vor sich niederblickte und auf die magere, sich eifrig bewegende Hand – sie schrieb eben seinen Bezirk aus –, sagte sich Rory, daß alles, was sie anhatte, vorbildlich zusammenpaßte. Von dem eleganten, mattroten Hut bis zu dem Kleid mit einer im Farbton dazu passenden Borte am Kragen. Es war ein Wollkleid, das durch den halbgeöffneten grünen Mantel zum Vorschein kam, ebenfalls mattrot, jedoch mit winzigen, bis zur Taille reichenden grünen Knöpfchen besetzt. Er konnte sehen, wie sich die Turnüre des Kleides in den tiefen Plissees des modischen Mantels durchdrückte. Es kostete viel Geld, immer nach der neuesten Mode gekleidet zu sein. Offensichtlich hielt der Alte sie nicht gerade knapp. Als sie aufstand, erhob er sich ebenfalls und wartete ab, bis sie um den Schreibtisch herum auf ihn zukam. »Ich kann also alles Ihnen überlassen, nicht wahr, Mr. Connor?« Sie überreichte ihm das engbeschriebene Blatt Papier. »Selbstverständlich, Miß.« 132
»Gut, dann kann ich jetzt gehen. Mr. Taylor muß jeden Moment hier sein.« Sie zog die an einer zierlichen Kette baumelnde Uhr aus dem Brusttäschchen ihres Kleides und warf einen Blick darauf. »Es ist noch nicht neun. Sie müssen sich eben selbst mit ihm bekannt machen, ich habe zu tun. Und abends hätte ich gerne, daß Sie meinem Vater bis zu seiner Genesung die täglichen Einnahmen ins Haus bringen – Sie wissen doch, wo wir wohnen?« »Ja, ich weiß, wo es ist.« Und ob er es wußte. Er hatte schon mehrmals einen Blick durchs Tor geworfen und gehört, daß besagtes Haus von Keans Großvater erbaut worden war. Das war aber schon alles. Er war noch nie aufgefordert worden, vorbeizukommen. Eines wußte er jedoch – daß die Keans durch die Bank Männer gewesen waren, die Geld zu machen verstanden hatten, und daß der letzte Kean ein richtiger Tyrann war. Mehr als einmal war er in diesem Büro gestanden und wie ein Hund zusammengestaucht worden, so daß er oft den Wunsch gehegt hatte, es ihm mit den Fäusten heimzuzahlen. »Dann also auf Wiedersehen, Mr. Connor.« »Auf Wiedersehen, Miß.« Er ging ihr voran, öffnete ihr die Tür, blieb eine Sekunde lang stehen und sah ihr nach, wie sie die Allee zur Straße hinunterging. Sie hatte eine Haltung wie ein Soldat, ihr Gang war am ehesten mit einem Marschtritt zu vergleichen; sie schwang die Arme dabei und verhielt sich überhaupt nicht so, wie Frauen ihres Standes es für gewöhnlich taten. Er schloß das Haustor, sah sich in seinem Büro um, warf einen Blick ins Chefzimmer, betrat es schließlich langsam, nahm hinter dem Schreibtisch Platz, legte den Kopf schräg und sagte zu seinem nur in seiner Phantasie bestehenden Gegenüber: »Also, Mr. Taylor, ich werde Ihnen Jarrow zuweisen.« Ja, er wollte sich unbedingt gewählt ausdrücken, wenn es sich um Untergebene handelte. Und freundlich. Schließlich war er selbst lange genug Mietenkassierer gewesen und wußte, wie einem als solcher zumute war. Nun aber – er blickte sich um –, nun war er hier sozusagen der Chef. 133
Ha! Würde das Stoff zum Lachen abgeben, wenn er nur jemanden gehabt hätte, mit dem er hätte lachen können. Als er hörte, wie die Außentür geöffnet wurde, stand er rasch auf und trat vor den Schreibtisch. Er blickte der sauber, aber schäbig gekleideten Gestalt, die mit dem Hut in der Hand vor ihm stand, entgegen und sagte: »Mr. Taylor, nicht wahr?« »Ja, Sir.« Der alte Mann neigte den Kopf, und Rory räusperte sich und sagte: »Mich brauchen Sie nicht mit ›Sir‹ anzusprechen, Mr. Taylor. Ich bin genauso ein Laufbursche wie Sie. Mein Name ist Connor. Mr. Kean liegt mit einer Erkältung im Bett. Seine Tochter ist gerade hiergewesen und hat mir gesagt, daß Sie meinen Distrikt übernehmen sollen.« »Wie Sie wünschen, Mr. Connor. Ganz, wie Sie wünschen.« Mein Gott! Hatte das, was er in diesem Raum von sich gegeben hatte, ebenso servil geklungen, wenn er Kean gegenübergestanden war? Es sollte gesetzlich verboten werden, ausgewachsene Männer dazu zu zwingen, vor ihren Arbeitgebern einen Kniefall zu machen! Als er den alten Mann ansah, wurde ihm klar, daß sich so gut wie alles in seinem Leben verändert hatte. Und daß es sich weiter verändern würde. Wie, wußte er nicht. Er wußte nur, daß es nie mehr so sein würde, wie es gewesen war.
Es war halb sechs, als er sich auf den Weg nach Birchingham House in Westoe machte, und der feine Regen durchnäßte ihn bis auf die Haut. Das Haus befand sich weder im sogenannten Stadtbereich noch in jenem Teil von Shields, der am Fluß lag, sondern in einer stillen Seitengasse, die von der Hauptstraße nach Harton abzweigte und zu zwei ansehnlichen Besitzen führte. Einer der Nachbarn war ein Grubenbesitzer, der andere ein Reeder. Die Geschichte der Häuser dieser einflußreichen Persönlichkeiten bot ein beliebtes Gesprächsthema für die breite Bevölkerung, denn be134
sagte Persönlichkeiten sorgten immerzu für Klatsch – nicht nur in den Wirtshäusern am Fluß unten, sondern auch in den Klubs. Die Lage des Hauses seines Brotgebers hatte Rory bisher wenig beeindruckt. Kean war in seinen Augen bloß ein geldraffender Knicker, der eine Reihe von Häusern besaß – vor allem in Jarrow – die längst niedergerissen gehört hätten, und ganze Straßenzüge in Shields, die dem Verfall preisgegeben waren und großangelegter Reparaturen bedurft hätten. Er gestand sich jedoch insgeheim ein, daß Kean in dieser Hinsicht um nichts schlimmer war als die übrigen Hausbesitzer, die er vertrat. Als er sich dem Haus nun in der Dunkelheit näherte, blieb er einen Moment im Regen stehen und besah sich die von zwei Gaslampen beleuchtete Vorderfront. Es war ein großes Haus, das auf der Straßenseite allein zehn Fenster aufwies. Überdies hatte es drei Stockwerke. Den dritten Stock konnte Rory nicht mehr genau wahrnehmen, der war nur mehr durch die schimmernden Glasscheiben zu erraten. Wahrscheinlich handelte es sich um Dachstuben. Am Fuße der Treppe stand eine Kutsche, und auf dem Kutschbock saß ein fest in seinem Mantel gewickelter Mann, der zu schlafen schien. Jedenfalls hatte er Rory nicht bemerkt. Er zögerte. Sollte er am Haupteingang klingeln oder zur Hintertür gehen? Ach, sollte sie doch allesamt der Teufel holen. Warum nicht am Haupteingang! Er ging die paar Stufen hinauf und schellte. Ein Dienstmädchen mit gestärkter blendend weißer Schürze über einem Kleid aus schwarzem Alpakastoff öffnete ihm. Der Besatz der Schürze bestand aus einer steifen Rüsche, die sich auch auf den Trägern fortsetzte. Das gestärkte Häubchen sah ebenso steif aus wie die dazugehörenden Bänder, die mit einer Schleife unterm Kinn zusammengebunden waren. Sie wirkte erhitzt, als sie sagte: »Ja, bitte?« »Mein Name ist Connor. Miß Kean erwartet mich. Ich bringe die Tageseinnahmen.« »Ach so. Dann kommen Sie doch am besten herein.« Sie trat beiseite, um Rory in den kleinen Vorraum eintreten zu lassen. Dann öff135
nete sie eine zweite Tür, die in die Halle führte – und die, wie er sofort bemerkte, mindestens so groß war, wie die Küche seines Elternhauses. »Warten Sie hier bitte«, sagte das Mädchen. »Ich werde Sie melden. Dem gnädigen Herrn geht es im Moment gar nicht gut. Wir mußten wieder nach dem Arzt schicken.« Damit nickte sie ihm zu und eilte zur spiralförmigen Treppe. Und Rory sah ihr nach, bis sie seinen Blicken entschwand. Er stand da und blickte sich in unverhohlener Verwunderung um. Rechterhand der Treppe befand sich ein Abstelltisch mit einer Petroleumlampe, obwohl es sich bei den Außenlampen um Gaslampen handelte. Der sanfte Schein der Lampe beleuchtete ein großes Ölgemälde, das das Brustbild eines Mannes mit breitem, stumpf wirkendem Gesicht darstellte. Sein Kinn war in einen hohen Kragen eingezwängt, er hatte einen weißen Haarkranz, der übrige Kopf war kahl; die kleinen, runden und glänzenden Augen blickten ausgesprochen mißbilligend auf den Besucher herab. Rory erriet ohne Mühe, daß es sich um einen Vorfahren Mr. Keans handeln mußte. An der gegenüberliegenden Wand stand ein sichtlich kostbarer Glasschrank aus honiggelbem Holz, das goldfarbene Beschläge aufwies. Im Schrank befanden sich Glaspokale, Porzellanfiguren und bemalte Vasen. Von der Halle aus führten diverse Türen nach allen Seiten, und der dicke, rote Teppich, auf dem Rory stand, reichte bis an die Wand. Rory spürte, wie er automatisch den Mund zumachte, als er von der Treppe her das Knistern eines Gewandes hörte und Miß Kean auf sich zukommen sah. Ihre Miene war bedrückt. Sie erläuterte sogleich: »Der Zustand meines Vaters hat sich verschlechtert – wir sind sehr besorgt. Wollen Sie bitte hier hereinkommen?« Ohne ein Wort zu sagen folgte er ihr in eine Art Büro, das sich jedoch von jenem in der Tangard Street sehr unterschied. Der Raum war in gewisser Hinsicht ein Abbild der Halle, wies ebenfalls einen dicken Teppich und einen auf Hochglanz polierten Schreibtisch auf, der mit Stößen von Büchern und Akten bedeckt war. An sämtlichen Wänden 136
gab es Gemälde, außer an jener Wand mit den zwei großen Fenstern, vor denen die Vorhänge zugezogen waren. Rory sah ihr zu, wie sie die Gaslampe entzündete, und das weiche Licht verlieh dem Raum einen warmen Schimmer. Er verstand die Gefühle, die ihn im Moment bewegten, nicht ganz. War es Neid, Bewunderung oder jener widerwillige Respekt, den Wohlstand hervorzurufen vermochte? Er wußte nur eines: Daß ihm zumute war, als bestünde er nur aus Armen und Beinen. »Setzen Sie sich, Mr. Connor.« Das war das zweitemal an diesem Tag, daß sie ihn zum Sitzen aufforderte. Er zögerte, sich in dem Ledersessel, auf den sie gedeutet hatte, niederzulassen, öffnete statt dessen die Tasche, die er auf den Schreibtisch gestellt hatte, und entnahm derselben zwei Lederbeutel und zwei Kassabücher. Als er alles vor sie hinlegte, sagte er: »Ich habe nachgezählt, es ist in Ordnung.« Sie sah zu ihm auf und sagte: »Danke.« Dann deutete sie abermals auf den Sessel. Er setzte sich und sah zu, wie sie den Inhalt der Beutel auf den Schreibtisch leerte, das Geld nachzählte und mit den Bucheintragungen verglich. Im Licht der Gaslampe sah sie, vor allem bedingt durch ihren besorgten Gesichtsausdruck, anders aus als im unbarmherzig grellen Licht des heutigen Morgens – irgendwie weicher. Nachdem sie ihre Arbeit beendet hatte, stand sie auf, blickte ihn einen Moment an und sagte dann: »Ich bin überzeugt davon, Ihnen vertrauen zu können, Mr. Connor. Sie werden im Büro nach dem Rechten sehen, bis es meinem Vater wieder bessergeht. Ich werde vielleicht nicht in der Lage sein, sobald hinzukommen. Wissen Sie …«, sie deutete auf den Schreibtisch, »ich muß mich um so viele andere Dinge kümmern. Und er möchte, daß ich die ganze Zeit bei ihm bin.« »Machen Sie sich wegen des Büros keine Sorgen, Miß. Alles wird ordnungsgemäß abgewickelt werden. Und … und Mr. Taylor scheint mir ein zuverlässiger Mann zu sein.« 137
»Danke, Mr. Connor.« »Es tut mir leid wegen Ihres Vaters.« »Das glaube ich Ihnen gerne.« Er blickte sie an. Wieder lag dieses gewisse Etwas in ihrem Tonfall. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte er sich gefragt: Also, wie meint sie das jetzt! Er öffnete ihr die Tür, um sie in die Halle vorangehen zu lassen. Dort angelangt, drehte sie sich um und fragte: »Regnet es noch immer?« »Ja, als ich kam, hat es geregnet.« »Sie haben einen langen Heimweg. Gehen Sie doch in die Küche und lassen Sie sich etwas Warmes zu trinken geben.« Krumen vom Tisch der Reichen. Armensuppen, von wohltätigen Damen ausgeteilt. Holzpantoffel für die Barfüßigen … Weshalb dachte er so? Sie wollte doch nur freundlich sein. Also richtete er seine Antwort dementsprechend ein: »Danke, Miß. Aber ich würde lieber gleich heimgehen.« »Sie sehen selbst nicht allzugut aus, Mr. Connor.« »Es geht schon wieder, Miß. Danke jedenfalls. Gute Nacht, Miß.« »Gute Nacht, Mr. Connor.« Das Mädchen tauchte wie aus dem Erdboden auf und ließ ihn hinaus. Er ging die paar Stufen hinunter, dann die kurvenreiche Auffahrt zur Straße entlang und kam sich wie ein Bettler vor, dem man ein Almosen gegeben hatte. Er fühlte sich gedemütigt, klein, irgendwie verloren. Das war nur dieses Haus! Den ganzen langen Weg ging er zu Fuß, trotz des Regens: erst durch Westoe, dann durch Laygate, über die Tyne-Docks, unter die Schwibbogen durch. Und schließlich den Feldweg hinauf nach Simonside, zu den drei winzigen Häusern. Er öffnete die Tür, stolperte in die Küche und ließ sich, durchnäßt wie er war und ohne sich den Mantel abnehmen zu lassen, auf den erstbesten Stuhl fallen. Er protestierte nicht einmal, als Lizzie ihm die Stiefel auszog, während Ruth ihm den Schal abnahm und schließlich beim Ausziehen half. An jenem Abend brauchte er nicht so zu tun, als wäre er krank, zu138
mindest, was das Körperliche anlangte. Denn der erste Arbeitstag nach seiner Krankheit, noch dazu mit dem langen Rückweg von Westoe, hatte ihm den Rest gegeben. Als ihm etwas später Jimmy, gewissermaßen um ihn zu trösten, zuflüsterte: »Wenn wir erst auf der Werft unten sind, wird es leichter für dich sein. Von dort hast du dann keine fünf Minuten zum Büro, wenn du die Abkürzung nimmst«, nickte er ihm zu, während er nicht ohne Verachtung dachte: Hat sich was mit der Werft! Um fünfunddreißig Pfund hätte er eine Hypothek für ein anständiges Haus bekommen können … Langsam dämmerte ihm, weshalb er sich darauf eingelassen hatte, sich mit dieser Werft zu belasten. Nicht nur, weil er zwei Fliegen auf einen Schlag treffen wollte, nämlich Janie heiraten und Jimmy dazu zu verhelfen, selbständig zu werden. Es war, weil er von hier fortwollte, von dieser Küche. Vor allem aber vor den hier täglich mit mehr Nachdruck geäußerten Fragen, weshalb er denn seinen im Gefängnis sitzenden Freund noch immer nicht aufgesucht habe und ob es denn tatsächlich noch so schlecht um seine Gesundheit bestellt sei. Erst vergangenen Abend, als er sich von Janie verabschiedet hatte, war ihm das Bootshaus da unten wie der reinste Himmel erschienen. Und später, als er in der Finsternis dalag und Jimmys sorglosen Atemzügen lauschte, hatte er gedacht: Wenn wir erst einmal dort sind, wenn wir erst mal verheiratet sind, dann wird alles, alles anders sein. Und dann hatte er wie ein Kind – und gar nicht wie Rory Connor – das Gesicht in die Polster gedrückt und bitterlich geweint. Ich werde es wiedergutmachen, wenn er herauskommt, hatte er sich geschworen. Er wird mich dann schon verstehen. Er wird einsehen, daß ich damals ja gar nichts tun konnte, weil ich so schlecht beisammen war. Er wird es verstehen. John George versteht alles. Ich werde es ihm vergelten, ja, das werde ich … Aber nun, nach seiner Vorsprache in Birchingham House, sah er das Bootshaus als das, was es war: eine baufällige Hütte am Fluß. Und er dachte: Ich muß verrückt gewesen sein, mich auf diese fünfunddreißig Pfund einzulassen. Man sieht ja, wohin ich dadurch gekommen bin … Und wieder fiel die Klappe herab und hinderte ihn daran, weiter zu denken als bis zu: und erst John George. 139
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ie heirateten am Samstag nach Ostern. Es war eine ruhige Angelegenheit. Ohne große Feier. Bei Tagesanbruch fuhren sie mit Ruth, Paddy, Lizzie, Jimmy und Will Waggett in die katholische Kirche nach Jarrow. Es war eine gute Portion Takt nötig gewesen, Oma Waggett davon zu überzeugen, daß es besser für sie sei, daheimzubleiben. Denn wer hätte denn sonst Kathleen Leary beim Tischdecken und so weiter helfen sollen! Auch mußte man ihr immer genaue Anweisungen geben, und wer konnte das wohl besser als Oma Waggett! Janies Aufmachung war einfach, aber solid, denn ihr volantbesetzter Mantel stammte ebenso von ihrer Gnädigen wie das geblümte Stoffkleid, das sie darunter trug. Den blauen Strohhut hatte sie sich selbst gekauft und die neuen braunen Knopfstiefelchen gleichfalls. Sie zitterte am ganzen Leib, als sie vor dem Altar knieten, aber schließlich herrschte auch eine solche Kälte in der Kirche, daß sogar der Priester blau im Gesicht war. Offensichtlich müde zum Umfallen, murmelte er sein: »Willst du, Rory Connor …?« und »Willst du, Janie Waggett …« Und sie erwiderten ebenso leise: »Ja.« Nachdem sie einander vor aller Augen geküßt hatten, bestiegen sie abermals den Wagen, der von einer großen Kinderschar umgeben war, die ihnen zurief: »Raus mit dem Penny, raus mit dem Penny!« Sie hatten sich natürlich rechtzeitig mit einer Handvoll Münzen eingedeckt. Ruth, Lizzie und Jimmy warfen sie den Kleinen zu, aber als nichts mehr nachfolgte, hieß es sofort: »Lausiges Pack – lausiges Pack!« Die Väter lachten, und Ruth schnalzte mit der Zunge, während Lizzie sagte: »Wenn ich da draußen wäre, würde ich sie der Reihe nach versohlen, das schwöre ich!« Aber Janie und Rory lächelten nur, und Jim140
my, der ihnen schweigend gegenübersaß und die Hände zwischen den Knien herabbaumeln ließ, sah sie an und war einerseits glücklich, und zum andern – aber tief da drinnen versteckt nur – tat es ihm weh.
Aus Anstandsgefühl ging Jimmy nicht gleich zur Werft hinunter. Das Jungverheiratete Paar sollte seinen neuen Wohnort bis Montag allein für sich haben. Erst dann sollte das Leben in der geplanten Art so richtig beginnen. Denn Janie hatte ihren Kopf durchgesetzt und wollte tagsüber weiterhin zu den Buckhams gehen. Natürlich wußte sie insgeheim, daß die drei Shilling dabei eine ausschlaggebende Rolle gespielt hatten. Denn da Rory nun nicht mehr spielte, gab es sonst keine Möglichkeit, die bescheidenen Einnahmen zu ergänzen. Sie hatten ausgemacht, daß Rory vorläufig ein bißchen daheim zupacken sollte, denn ihr und Jimmys Geld würden ohnehin nur knapp für drei reichen. Nachdem sie die Tür ihres neuen Heims aufgesperrt hatten und nach dem Eintreten ihre Körbe und Bündel auf dem Fußboden abgesetzt hatten, umarmten sie einander, atemlos, wie sie nach dem Gepäckschleppen von der Kutsche auf die Werft waren. »Wo ist die Kerze?« »Auf dem Kaminsims natürlich«, antwortete Janie lachend. Rory tastete nach den Streichhölzern; als die Kerze brannte, trug er sie zum Tisch hinüber und zündete damit die Lampe an. Janie stand da und sah sich um. Und er sagte: »Da sind wir also. Daheim, endlich daheim.« »Werde ich abends auch immer daheimbleiben müssen?« fragte sie. »Nun, wenn Sie untertags schon unbedingt arbeiten gehen müssen, wird Ihnen gar nichts anderes übrigbleiben, Mrs. Connor«, entgegnete er. Dann zog er sie abermals an sich. »Glücklich?« Sie lächelte weich. »Und wie!« »Ein leichtes Leben wird es nicht gerade sein, Janie.« »Ach, was ich mir schon aus einem leichten Leben mache!« Sie schüt141
telte den Kopf. »Ich würde selbst Fische ausnehmen, wenn ich dir damit helfen könnte, Rory. Und du weißt doch, wie ich das Fischeausnehmen hasse. Das war schon so, als wir sie noch so gut wie umsonst bekamen – damals am Hafen. Erinnerst du dich, wie wir bis Shields zu Fuß gelaufen sind, nur um einen Korb voll für drei Penny zu bekommen?« »Und den hat's auch nur deshalb gegeben, weil denen sonst alles verdorben wäre.« »Ach, du ewiger Nörgler! … Möchtest du was essen?« »Nein.« »Hast du denn keinen Appetit?« »Nicht darauf.« Sie preßte die Lippen fest zusammen, schloß die Augen und senkte den Kopf. Er zog ihr die Hutnadel heraus, ergriff den Hut und warf ihn beiseite. Dann knöpfte er ihr den Mantel auf. »Laß uns doch erst auspacken und wegräumen.« Er fuhr mit dem Mantelaufknöpfen fort. »Morgen und die kommenden Tage hast du Zeit genug dazu.« »Moment, was treibst du denn? Das ist mein guter Mantel. Wie kannst du ihn nur auf den Boden werfen.« »Laß ihn ruhig liegen. Es folgt noch mehr nach.« »Rory, Rory – ich muß erst die Betten machen.« »Ist bereits geschehen, dafür hab' ich schon gesorgt.« »Ach, Rory – mir ist kalt, richtig kalt. Warte, ich möchte mir schnell mein Nachthemd holen.« »Du brauchst kein Nachthemd.« »Aber Rory – so warte doch!« rief sie, als sie nur mehr in Hemd und Hose dastand. Da riß er sie in die Arme, trug sie ins Schlafzimmer und ließ sie aufs Bett fallen. Sie blieb in dem schwachen Licht, das aus der Küche hereinstrahlte, liegen, wo er sie fallen gelassen hatte, und sah zu, wie er hastig die eigenen Kleidungsstücke abstreifte und wegschleuderte. Als er neben sie ins Bett sprang, schrie sie auf und sagte: »Willst du nicht die Lampe anmachen?« 142
»Die Lampe kann warten.« Sie preßten sich aneinander, jedoch protestierte sie leise; sie wollte nicht gedrängt werden – sie fürchtete sich ein wenig vor diesen Dingen. Wenn sie ihn nur dazu überreden hätte können, die Sache ruhig anzugehen, sozusagen mit einer Einleitung. Oma Waggett hatte ihr gesagt, daß es höllisch weh täte. Schon bedeckte sein Mund ihr Gesicht mit Küssen, als sie in einer völlig fruchtlosen Anstrengung, seine Glut einzudämmen, murmelte: »Ach, Rory, Rory – ich werde bestimmt niemals glücklicher sein als in dieser Minute. Es war so ein wunderbarer Tag. Sie waren alle so gut und haben es richtig genossen, findest du nicht? Ich wette, die feiern die ganze Nacht weiter.« Als seine Hände ungestüm über ihren Leib glitten, stöhnte sie leise und schloß mit ersterbender Stimme: »Wenn doch nur John George – dabeigewesen wäre …« Seine Hände hielten jäh inne, seine Lippen verharrten reglos auf ihrer Brust, und sie schrie ängstlich auf, als er sie mit derartiger Kraft von sich stieß, daß sie mit den Schultern gegen die Wand schlug. »Allmächtiger!« brüllte er sie an. »Kannst du ihn nicht in Frieden lassen? Wozu mußt du ausgerechnet in diesem Augenblick die Rede auf ihn bringen! Das hast du vorsätzlich getan, jawohl!« In dem darauffolgenden Schweigen lauschte er ihrem Keuchen. Dann lag sie abermals in seinen Armen, und er wiegte sie hin und her. »Oh, Janie, es tut mir leid – es tut mir leid, ich hab's nicht so gemeint. Hab' ich dir wehgetan? Verzeih. Es war doch nur, weil … nun ja, weil ich solange darauf gewartet habe … Und … und …« Als sie keinen Laut von sich gab, beschwor er sie sanft: »Janie – sag doch was, Janie, bitte!« Ihre Antwort war: »Ist schon in Ordnung. Ist ja schon gut.« »Ich liebe dich, ich liebe dich, Janie! Ach, wie sehr ich dich liebe. Wenn ich dich verlieren müßte, würde ich glatt um den Verstand kommen, das schwör' ich dir.« »Schon gut, schon gut – du wirst mich nicht verlieren.« »Wirst du mich immer lieben?« »Immer.« »Versprichst du es mir?« 143
»Ja, ich verspreche es dir.« »Ich werde niemals eine andere Frau lieben, das könnte ich gar nicht. Ach Janie, Janie …« Später, als sie das Licht abgedreht hatten und er eingeschlafen war, lag sie schweigend, aber hellwach in seinen Armen. Es war nicht so gewesen, wie sie es erwartet hatte – in keiner Hinsicht. Vielleicht würde sie diese Dinge überhaupt nie mögen. Ihre Oma hatte gesagt, daß es das gab. Manche Frauen mochten es nicht, während andere nie genug davon bekommen konnten. Nun, zu letzteren würde sie bestimmt nie gehören, dessen war sie heute bereits sicher. Vielleicht hatte er damit, daß er sie an die Wand gestoßen hatte, als sie John Georges Namen erwähnte, alles für sie verdorben. Es war wirklich merkwürdig, wie er sich benahm, wenn John Georges Namen erwähnt wurde. Sie konnte noch verstehen, daß er ihn nicht im Gefängnis besuchen wollte, wo er doch immer soviel Angst vor dem Eingeschlossensein hatte. Was sie sich jedoch nicht erklären konnte – weshalb er nie über John George sprach. Und wenn sein Name von jemandem andern erwähnt wurde, schwieg er beharrlich. Und sich so zu benehmen, wie er es vorhin getan hatte, nur weil … Nun, sie war platt, einfach platt. Ihre Oma hatte ihr geraten: Wenn er irgendwelche ausgefallenen Dinge von dir verlangen sollte – und das tun manche Männer, so was weiß man nie, ehe die Schlafzimmertür hinter ihnen ins Schloß fällt! –, dann mach einfach nicht mit. Und wenn er die Hand gegen dich erhebt, dann hol den Schürhaken – laß ihn immer in Reichweite. Du mußt es dir von allem Anfang an so einrichten, wie du es haben willst. Denn selbst die Besten von ihnen tun so, als ob sie kein Wässerchen trüben könnten, ehe sie dich ins Schlafzimmer gebracht haben. Aber wenn man erst einmal drinnen ist, geht's genauso zu wie bei Adam und Eva, die einander jede Nacht durchs Paradies gejagt haben. Und wenn du's nicht zuläßt und dich wehrst, bringen sie dir glatt den Priester ins Haus, und der liest dir dann die Leviten. »Wenn du das Verlangen deines Mannes nicht stillst, wirst du in der Hölle schmoren«, heißt es dann. Die halten zusammen wie Pech und Schwefel. Da gibt es nur eines: Hör nicht auf sie. 144
Da hatte sie lachen müssen, die Arme um die alte Frau gelegt, sie hin und her gewiegt, und die Tränen waren ihnen vor Lachen über die Wangen gelaufen. »Sorg dich nicht, Oma«, hatte sie erwidert. »Nichts dergleichen wird bei uns passieren. Vergiß nicht, es ist Rory, den ich heirate. Und ich kenne meinen Rory. Das muß man wohl, wenn man seit Jahren bloß durch eine dünne Wand getrennt ist.« Und nun waren sie noch keine paar Stunden verheiratet, und schon hatte er sie gegen die Wand geschleudert, daß ihr die Schultern jetzt noch weh taten. Das Leben war schon merkwürdig, mehr als merkwürdig.
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eptimus Kean starb, und Rory fuhr fort damit, die Tageseinnahmen jeden Abend ins Haus zu tragen. Und jedesmal empfing ihn Miß Kean in jenem Zimmer, das sie Büro nannte. Aber ungefähr vier Wochen nach der Beerdigung ihres Vaters sagte sie zu ihm: »Legen Sie die Sachen einfach auf den Schreibtisch, Mr. Connor – wir wollen das später erledigen. Haben Sie es übrigens eilig?« Natürlich hatte er es eilig. Er hatte es eilig, zu Janie heimzukommen, sich vor den Kamin zu setzen, die Beine von sich zu strecken und von Jimmy zu hören, ob es ihm gelungen war, einen Auftrag zu erhalten oder ob sich einer der Pitties in der Nähe herumgetrieben hatte … Die Pitties. Er hätte buchstäblich seinen rechten Arm dafür hingegeben, es ihnen heimzahlen zu können. Der Haß, den er für sie empfand, war abgrundtief. Und es hatte den Anschein, als wären sie noch lange nicht fertig mit ihm, weil sie immer noch um die Werft herumspionierten. Er wußte natürlich, daß Jimmy sich als Anfänger mit den Kleinaufträgen zufriedengeben mußte. Aber wenn es von den Pitties abhing, würde er nicht einmal Kleinaufträge bekommen. Das waren Bestien, gefährliche Bestien. Bei Gott – alles, alles würde er hingeben, um ihnen eins auswischen zu können. 145
Er antwortete nun: »O nein. Miß Kean. Ganz und gar nicht.« »Ich möchte gerne etwas mit Ihnen besprechen. Und da es gerade Teezeit ist, bitte ich Sie, mir ein bißchen Gesellschaft zu leisten, wenn es Ihnen recht ist.« Die Tochter des alten Kean fragte ihn, ob es ihm recht sei, ihr beim Tee Gesellschaft zu leisten! So was, das durfte ja nicht wahr sein! Rory traute seinen Ohren nicht. Die Dinge begannen sich vielleicht zu entwickeln – Junge, Junge! In der Halle sagte sie zu dem Mädchen: »Nehmen Sie Mr. Connor Hut und Mantel ab.« Dann folgte er ihr ans Ende der Halle, und sie betraten ein langgestrecktes Zimmer. Zur Rechten brannte ein behagliches Feuer im Kamin, der von besonderer Art war: mit Marmoreinfassung und schöngeformtem Gitter. Auf dem Kaminsims standen urnenförmige Vasen, und darüber hing ein großes Ölgemälde eines anderen Ahnen. Auf den ersten Blick waren die dominierenden Farben in diesem Raum braun. Die Couch, die vor dem Kamin plaziert war, und die beiden tiefen Ledersessel waren mit braunem, geripptem Kordstoff bezogen. Die Möbel wiesen ein spiegelblankes Braun auf. Es gab drei kleine Tischchen mit verschiedenem Krimskrams darauf und ein großes Möbelstück, das wie ein Büfett aussah – jedoch wie eines, wie Rory es noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Es standen silberne Kerzenleuchter darauf. Die Samtvorhänge waren grün mit braunem Fransenbesatz, und die Vorhangstange, an der sie befestigt waren, hatte die Stärke eines Unterarms. »Nehmen Sie Platz, Mr. Connor.« Sie deutete auf einen der tiefen Fauteuils, und nachdem er Platz genommen hatte, setzte sie die auf dem Kaminsims stehende Glocke in Bewegung. Als die Tür aufging und ein anderes Mädchen als das, das ihm immer das Haustor öffnete, erschien, sagte sie: »Ich möchte jetzt meinen Tee, Jessie. Bitte bringen Sie eine zweite Tasse.« Das Mädchen knickste und verschwand. Er nahm zur Kenntnis, daß sie, obwohl ihr Tonfall hochmütig wie immer gewesen war, »bitte« gesagt hatte. Dann beobachtete er, wie sie 146
auf der Couch Platz nahm und die Beine kreuzte, wobei ihr Rock etwas in die Höhe rutschte, und er die seidenstrumpfbedeckten Knöchel zu sehen bekam. Offensichtlich legte sie großen Wert darauf, was sie trug. Sie war zwar in Trauer, aber die Trauerkleidung bestand von Kopf bis Fuß aus Seide. »Ich will direkt zur Sache kommen, Mr. Connor. Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen.« »Einen Vorschlag?« Seine Augen wurden groß. »Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß Grundstücksangelegenheiten nur einen jener Geschäftszweige darstellten, für die mein Vater sich interessierte.« Sie wartete nicht ab, daß er sich dazu äußerte, sondern fuhr fort: »Er ist an verschiedenen florierenden Firmen beteiligt gewesen, und seit dem Tod meines Großvaters sind auch einige kleine Geschäfte in unseren Besitz geraten. Kennen Sie die Wrighton-Tallow-Fabriken?« »Ich habe davon gehört.« »Nun, mein Großvater war Besitzer derselben, und natürlich sind sie dann auf meinen Vater übergegangen. Unglücklicherweise, möchte ich beinahe sagen – denn seit dem Hinscheiden meines Vaters muß ich mich nun auch darum kümmern … Wie weit sind Sie in der Buchhaltung beschlagen, Mr. Connor?« »Was … was meinen Sie damit genaugenommen, Miß?« »Ich meine damit, ob Sie mehr gelernt haben, als Einnahmen zu addieren. Haben Sie jemals an Ihr Fortkommen gedacht und sich zum Beispiel in irgendeiner Weise auf eine Bankangestellten- oder Beamtenlaufbahn vorbereitet?« »Nein, Miß.« Rorys Antwort war kurz, sein Tonfall kalt. »Diese Gelegenheit hat sich mir nie geboten.« »Schön. Jetzt bietet sie sich Ihnen. Und Gelegenheiten sind dazu da, daß man sie ergreift, finde ich. Unsere Stadt offeriert jenen, die rasch zu schalten verstehen, große Möglichkeiten. Nicht nur bei Werftbesitzern und Bootsbauern finden sich für intelligente, geschickte Leute Lernmöglichkeiten, das gibt es heute auch bereits in ganz anderen Sparten – ob es sich nun um Wissenschaften oder Künste handelt.« 147
Wissenschaften und Künste! Er kniff die Augen zusammen. Worauf wollte sie hinaus? Hatte sie vor, sich über ihn lustig zu machen? Weshalb kam sie nicht zum Thema? Sie kam zum Thema, indem sie sagte: »Was mir vorschwebt, Mr. Connor, ist ein wirklicher Geschäftsführer. Jemand, der nicht nur unsere Grundstücksangelegenheiten zu beaufsichtigen versteht, sondern der mir auch beim Tagesablauf anderer Geschäftszweige an die Hand geht. Es sind ständig Kontrollbesuche zu machen, Bücher zu überprüfen, neue Leute einzustellen. Natürlich habe ich meinen Bücherrevisor und meinen Anwalt, aber die sind einerseits nur für die Jahresbilanz, andererseits nur für ganz spezielle Ratschläge zuständig. Dazwischen ist noch so vieles zu beachten, und mein Vater pflegte diese Seite der Angelegenheiten immer persönlich zu erledigen. Sie wissen ja, wenn man sich nicht um alles kümmert und die diversen Betriebe nicht regelmäßig aufsucht, lassen die dafür Verantwortlichen allzuleicht nach.« Sie sah ihn beinahe eine Minute lang an, ohne etwas zu sagen. Dann fuhr sie fort: »Würden Sie es in Betracht ziehen, eine derartige Position zu übernehmen, wenn man Ihnen die Möglichkeit gibt, sich gründlich darauf vorzubereiten? Denn natürlich benötigt man dazu eine gewisse Ausbildung.« Das Herz schlug Rory derart heftig gegen die Rippen, daß er erst einmal durchatmen mußte. Er konnte es nicht glauben. Sie schlug ihm vor, ihr Geschäftsführer zu werden. Er warf ihr einen Blick von der Seite zu. Er war verwirrt, verlegen. Weshalb annoncierte sie nicht einfach, wenn ihr die geschäftlichen Lasten allmählich über den Kopf wuchsen? Als könne sie seine Gedanken lesen, sagte sie: »Ich bezweifle nicht, daß ich im Handumdrehen jemanden bekommen könnte, der diesen Posten auszufüllen imstande wäre. Aber es würde sich dabei um einen völlig Fremden handeln. Und … und das fällt mir nicht leicht. Ich brauche lange, um mich mit Menschen sozusagen anzufreunden.« Schweigend starrten sie einander in dem schwindenden Tageslicht an. Sie war es schließlich, die dieses Schweigen brach, und ihre Stimme klang nun leise und ganz normal, überhaupt nicht hochmütig. »Ich … 148
ich kenne Sie nun seit geraumer Zeit, Mr. Connor. Und ich habe mir gedacht, daß Sie noch über ganz andere Fähigkeiten verfügen müßten, als zum ausschließlichen Mieteninkasso nötig sind.« Ehe er noch darauf antworten konnte, ging die Tür auf, und das Mädchen schob den Teewagen herein. Miß Kean wartete ab, bis das Mädchen das Gefährt an die Couch herangeschoben hatte, dann sagte sie: »Ich mache das schon, Jessie. Wenn ich etwas brauchen sollte, klingle ich.« »Sehr wohl, Miß.« Abermals knickste sie und verschwand. »Nehmen Sie Zucker, Mr. Connor?« »Nein, nein, danke.« »Das ist ungewöhnlich. Männer mögen meist sogar viel Zucker.« Er sah ihr zu, wie sie den dünnen Tee in die beiden Tassen goß und aus einem dazu passenden Krug Milch hinzugab. Als er den ersten Schluck gemacht hatte, dachte er: Mein Gott, das reinste Spülwasser! »Oh, entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht gefragt, welche Teesorte Sie mögen. Wir sind so an den chinesischen Tee gewöhnt, daß … Ich werde gleich klingeln und für Sie …« »Nein, nein, bitte nicht. Er ist ja gut, nur anders. Und« – er lächelte sie nun an –, »Sie werden sicher verstehen, daß ich keinen chinesischen Tee gewöhnt bin.« Sie lachte nun tatsächlich, und er stellte fest, daß das ihr Gesicht völlig veränderte; sie sah direkt liebenswürdig aus, so lang und spitz ihre Nase trotz allem verblieb. »Ich hoffe, daß Sie sich mit der Zeit an den Geschmack gewöhnen werden.« Rory bezweifelte das zwar, nickte ihr jedoch zu und lächelte gleichfalls. Er nahm das reichlich mit Butter bestrichene Brötchen, das sie ihm anbot, fand es köstlich, nahm ein zweites, und als der Zeitpunkt gekommen war, wo ihm ein wunderbarer Kuchen sozusagen auf der Zunge zergangen war, lachte er insgeheim und dachte: So was. Das sollten die daheim mal sehen. Wartet nur, bis ich es Janie erzähle, du meine Güte! – Würde man so etwas für möglich halten? Sie hatte ihn gefragt, ob er es in Betracht ziehe, eine derartige Position zu überneh149
men und ob er gewillt wäre, alles für die Geschäftsleitung Nötige zu lernen. Sie hatte ihm sozusagen mir nichts, dir nichts eine Chance gegeben. Junge, Junge, war er da mal wieder auf die Füße gefallen! Es spielte nun keine Rolle mehr, ob die Schiffswerft ein gutes Geschäft oder eine Pleite wurde. Dennoch hoffte er ersteres, schon allein wegen Jimmy. Er brachte ihr gegenüber auch kurz die Sprache auf seine Werft. Und dann sagte sie: »Nun darf ich Sie aber wirklich nicht mehr länger aufhalten, Mr. Connor – Sie haben einen langen Heimweg. Da können Sie sich meinen Vorschlag wenigstens in Ruhe überlegen. Vielleicht sagen Sie mir morgen abend, wie Sie sich entschieden haben. Sollte Ihre Antwort ja lauten, dann kann ich Sie mit einem Mann zusammenbringen, der Sie in die Buchhaltung einführt und Ihnen die Anfangsgründe der Geschäftsleitung beibringt. Vielleicht können Sie eine Abendschule besuchen. Darüber ließe sich später noch reden.« Er stand auf und sagte: »Ich habe jetzt keinen so langen Heimweg mehr – bloß zehn Minuten. Ich wohne … am Fluß.« Sie zog fragend die Brauen hoch und wiederholte: »Am Fluß?« »Ja«, sagte er, indem er sich breitbeinig vor ihr aufpflanzte. »Ich bin an einer Schiffswerft beteiligt – an einer sehr kleinen, wohlgemerkt.« Er nickte ihr lächelnd zu. »Nicht größer als ein Taschentuch, könnte man sagen. Aber dennoch groß genug, um diverse Boote zu bauen und auszubessern. Es befindet sich so eine Art Bootshaus darauf. Ich habe das alles vor allem wegen meines Bruders gemacht. Er hat seine Lehrzeit als Bootsbauer abgeschlossen und sich als überaus geschickt erwiesen. Und es war schon immer sein Traum, seine eigene Werkstatt zu haben und selbst Ruderboote, Jollen, Fähr- und Skullboote bauen zu können. Als ich davon hörte, daß der Besitzer gestorben sei und man die Werft zu vernünftigen Bedingungen haben könnte – nun, da habe ich eben zugegriffen.« Sie lächelte nun mit geöffneten Lippen, wobei eine Reihe fester Zähne sichtbar wurde. »Na, so was!« Dann nickte sie ihm zu. »Ich habe also gar nicht so unrecht gehabt, nicht wahr? Sie haben Geschäftssinn! Und wo ist dieser Platz?« »Auf der anderen Seite, beim Mühlenwehr. Es ist so klein, daß man 150
es unter all den Werften da draußen kaum sieht. Es gehörte einem gewissen Mr. Kilpatrick.« »Kilpatrick?« Sie schüttelte den Kopf. »Kann mich nicht erinnern, seinen Namen jemals gehört zu haben. Aber jedenfalls interessiere ich mich für Ihr Unternehmen. Ich muß es mir unbedingt einmal ansehen kommen.« »Ja, ja, tun Sie das.« Sie begleitete ihn ans Haustor, und obwohl das Mädchen bereitstand, öffnete sie es selbst für ihn, indem sie sagte: »Gute Nacht, Mr. Connor. Wir wollen morgen abend unser Gespräch fortsetzen, ja?« »Gerne, Miß. Gute Nacht.« Und damit ging er die Auffahrt hinunter – oder besser gesagt: marschierte er die Auffahrt hinunter. »Wir wollen morgen abend unser Gespräch fortsetzen …« Bei Gott, und ob wir das wollen. Hätte er so was je für möglich gehalten? Dabei hieß es, daß das Zeitalter der Wunder längst vorbei sei. Ob er eine Abendschule besuchen würde? Natürlich, natürlich! Er würde selbst zur Hölle fahren und ohne mit der Wimper zu zucken auf einem glühenden Bratrost sitzen, nur um sie zufriedenzustellen! Auf der Straße angelangt, verlangsamte er jedoch seine Schritte und fragte sich abermals, weshalb sie ausgerechnet ihn ausgewählt hatte. Er beantwortete sich diese Frage mit ihrer eigenen Erklärung: Ich brauche lange, um mich mit Menschen anzufreunden, mich an sie zu gewöhnen, hatte sie gesagt. Nun, das konnte er verstehen. Sie gehörte nicht zu jener Art, auf die Männer scharf waren. Erstens verfügte sie absolut über kein einnehmendes Äußeres, und zweitens, so nahm er an, war sie für die meisten Männer viel zu gescheit. Denn daß sie gescheit war, stand für ihn fest. Deshalb mochten auch die Frauen sie nicht besonders. Hipp, hipp, hurra! Am liebsten hätte Rory den Hut in die Luft geworfen. Es geschahen noch Zeichen und Wunder, egal was die Leute sagten. Janie, da komme ich – ein Geschäftsführer! Welchen Lohn er wohl bekommen würde? Das mußte er natürlich ihr überlassen. Nun, morgen abend würde er es erfahren. 151
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anie verließ das Haus der Buckhams, während ihr die Worte der Gnädigen nur so durch den Kopf wirbelten. »Sie haben einen Monat Zeit, es sich zu überlegen, Janie«, hatte sie zu ihr gesagt. »Und denken Sie daran, daß Sie vielleicht in Ihrem ganzen Leben nie mehr eine Gelegenheit haben werden, ins Ausland zu fahren. Und die Kinder möchten Sie natürlich unbedingt dabeihaben, das wissen Sie.« Ja, das wußte Janie, aber sie wußte auch, weshalb sie zum Mitkommen aufgefordert war: Um die Kinder zu beschäftigen und von den Eltern fernzuhalten, damit die beiden ihre Ferien in Frankreich so richtig genießen konnten. Sie hatte gesagt, daß sie mit ihrem Mann darüber sprechen müsse, obwohl sie seine Antwort jetzt bereits kannte. Ihm war schon die Vorstellung, daß sie untertags nicht daheim war, verhaßt, und wenn er ihren Lohn nicht so gut brauchen hätte können, würde er der Sache längst einen Riegel vorgeschoben haben. Aber dadurch, daß sich die Dinge für ihn in jüngster Zeit so günstig entwickelt hatten und ihn Miß Kean sogar zum Geschäftsführer gemacht hatte, wußte sie, daß ihre Tage bei den Buckhams gezählt waren; im Grunde genommen hätte sie heute morgen bereits kündigen können. Noch etwas lag Janie auf der Seele. Sie hatte John George versprochen, sein Mädchen aufzusuchen, aber bisher war immer etwas anderes dazwischengekommen. Heute abend war Rory jedoch später zu erwarten, weil er sich, um den neuen Vertrag abzuschließen, in Westoe befand. Deshalb sagte sie sich, daß es höchste Zeit sei, ihr Gewissen zu beruhigen und diesen Besuch nachzuholen. Sie mußte bereits im sechsten Monat sein. So ging Janie nicht zum Fluß hinunter, sondern in Richtung Horsley Terrace weiter. 152
Das waren hübsche Häuser hier, dachte sie, ansehnliche. Dann stand sie vor Nummer vierundzwanzig. Drei Stufen führten zur Haustür, und ein Eisengeländer umrahmte einen vier Fuß breiten Garten. Sie ging die paar Stufen nach oben und betätigte den Türklopfer. Eine junge Frau öffnete ihr und starrte sie verwundert an. Sie war nicht schwanger. »Könnte ich … könnte ich, bitte, Miß Maggie Ridley sprechen?« Die junge Frau warf einen raschen Blick über die Schulter, dann trat sie näher und zog die Tür halb zu. »Sie ist nicht hier.« »Oh. Ich habe eine Nachricht für sie.« Die Augen des Mädchens wurden groß. »Eine Nachricht? Von wem?« »Nun … von einem Freund von ihr.« Abermals starrte die junge Frau sie einen Moment an, dann beugte sie sich zu Janie und zischte ihr ins Ohr: »Wenn es sich um jenen Freund handelt, den ich meine, können Sie ihm sagen, daß sie verheiratet ist. Bestellen Sie ihm das.« »Verheiratet?« »Genau das.« »Nun, dann« – Janie nickte eifrig –, »ich bin in gewisser Hinsicht froh, das zu hören. Ich … ich hoffe, daß sie glücklich ist.« Das Gesicht des Mädchens schien sich zu verzerren, und nun klang das Flüstern weich und voller Trauer, als sie sagte: »Er … er war ein Freund meines … meines Vaters. Es ist ein Witwer mit erwachsenen Kindern.« Nachdem sie einen verständnisinnigen Blick getauscht hatten, erübrigte sich jedes weitere Wort. Janie nickte ihrem Gegenüber zu: »Danke für die. Auskunft. Ich werde … ich werde es ihm ausrichten.« Und damit drehte sie sich um und ging die paar Stufen hinunter. Armer John George. Armes Mädchen, das sicherlich gezwungen worden war, diesen viel zu alten Mann zu heiraten. Der bloße Gedanke daran erfüllte sie schon mit Ekel. Rory war noch nicht zurück, als sie heimkam, aber Jimmy war da und hatte sich bereits nützlich gemacht. Der Tisch war gedeckt, das 153
Teewasser kochte, und er sagte sofort: »Setz dich und leg die Beine hoch. Janie.« »Ich bin nicht müde.« »Müßtest du aber von rechts wegen sein. Wenn nicht, wird es bestimmt bald dazu kommen. Denn ich habe bereits die Wäsche für dich eingeweicht.« »Danke, Jimmy. Gibt es etwas Neues?« »Tja, Mr. Pearson wird wahrscheinlich bald mein Kunde werden. Du kennst ja Pearsons Warenhaus. Da bin ich heute nachfragen gegangen und habe gesagt, daß ich alles auf dem Wasserweg befördere. Erst hat er nur gescherzt, aber dann hat er gesagt, daß es bei ihm immer ein paar Dinge gäbe, die nach Norway gebracht werden müßten. Denk dir nur!« Er lachte und fuhr ganz aufgeregt fort: »Und dann hat er gesagt: ›Ist recht, Junge, ich werde sehen, was ich für dich tun kann.‹ Er meinte, daß er sehr dafür sei, die Arbeit reihum zu vergeben, weil er von der jetzigen Alleinherrschaft gewisser Leute absolut nichts halte. Und ich solle morgen wieder vorbeikommen.« »Oh, Jimmy, das ist ja großartig!« Sie ergriff seine Hand. »Alles, was du brauchst, ist ein guter Start. Und wenn ich erst einmal den ganzen Tag daheim sein werde, kann ich dir sicher auch irgendwie zur Hand gehen. Ich bin zum Beispiel gut im Zusammenpacken. Und steuern könnte ich höchstwahrscheinlich auch lernen … Freilich wird's gut sein, wenn ich vorher erst mal schwimmen lerne.« Sie stieß ihn an, und sie lachten beide; dann sagte er: »Wenn alle, die auf dem Fluß zu tun haben, vorher schwimmen lernen müßten, dann wär's da draußen bald leer, Janie. Fast keiner der Matrosen kann schwimmen.« »Nein!« »Doch, das ist Tatsache.« »Kann ich gar nicht verstehen. Ich will's jedenfalls riskieren. Dann kann ich Segel hissen und steuern und was weiß ich sonst noch. Denn wenn es bei dir erst richtig losgeht mit den Aufträgen, dann wirst du unbedingt jemanden brauchen, meinst du nicht?« Schritte erklangen; sie lief rasch zur Tür, und als Rory eintrat, sah sie sofort, daß er ganz aus dem Häuschen war. 154
»Ist also alles abgemacht?« »Aus dem Weg, Mrs. Connor«, sagte er mit gespielt hochmütiger Miene und stolzierte durch die Küche. Als er vor Jimmy anlangte, schlug er kräftig auf seinen Hut und herrschte ihn übermütig an: »Was ist, kannst du nicht grüßen, Junge?« Dann umklammerten sie einander lachend, drehten sich im Kreise, und Rory grölte: »Wir sitzen unterm Hollerbusch, machen alle husch, husch, husch …« »Kinder, wir klettern nach oben, es ist nicht zu fassen!« Er hielt mit einem Ruck an, blickte Janie ins lachende Gesicht und fügte hinzu: »Hoch und höher, immer höher, Kind – nichts kann uns mehr aufhalten. Meine Brötchengeberin hat einen Narren an mir gefressen, weiß der Himmel, aber sie ist die Leiter, auf der wir hochklettern werden, laßt euch das gesagt sein. Und zwar alle, wir alle« – er versetzte Jimmy einen Nasenstüber. »Die Dame hat Einfluß, kann ich dir sagen, praktisch überall, auch am Fluß herunten. Du wirst Augen machen, Junge.« Als sie dann später nebeneinander im Bett lagen, sagte Rory zu Janie: »Du bist lange nicht so begeistert gewesen, wie ich es mir vorgestellt habe. Dir liegt doch was am Herzen, stimmt's?« Sie antwortete nichts darauf, aber er drang in sie. »Los, sag schon.« Bis sie erwiderte: »Ja, zwei Dinge sogar, Rory – aber wenn ich davon anfange, streiten wir ja doch nur wieder. Also lass' ich's lieber.« Er schwieg einen Moment und meinte dann ermunternd: »Los, raus damit. Ich werde nicht aufbrausend sein – was es auch sein mag, das verspreche ich dir.« Es dauerte eine Weile, bis sie schließlich sagte: »Also, dann vergiß gefälligst nicht, was du versprochen hast.« Er wartete ab, und schließlich flüsterte sie ihm zu: »Die Gnädige möchte, daß ich mit ihnen nach Frankreich auf Urlaub fahre. Natürlich nur, damit ich ihnen die Kleinen vom Leib halte, das weiß ich schon, aber sie liegt mir dauernd in den Ohren, daß so eine Chance für mich nie wiederkommt …« 155
»Ich bitte dich! Sie sind nicht die einzigen, die sich eine FrankreichReise leisten können. Du gehst nicht mit. Das hast du ihr doch hoffentlich gleich gesagt? Schön, schön, ich will deshalb nicht den Schnabel wetzen, aber ich meine, du hättest doch wissen müssen, wie ich über so was denke, oder?« »Ich habe ihr gesagt, daß ich nicht glaube, daß du damit einverstanden sein würdest.« »Genau. Und wenn wir schon dabei sind, kannst du ihr, damit es in einem Aufwaschen geht, auch gleich kündigen … Und was ist das zweite?« Er wartete. »Ich bin heute zu dem Mädchen von John George gegangen, um ihr etwas auszurichten. Aber sie ist … sie ist verheiratet.« »Verheiratet!« »Ja, mit einem um vieles älteren Mann. Einem Witwer mit erwachsenen Kindern.« »Das ist … das ist das Beste so.« Sie verstand ihn kaum, so leise hat er gesprochen, aber sie war erleichtert, daß er sein Versprechen gehalten und nicht wieder über sie hergefallen war, weil sie John George und seine Angelegenheiten erwähnt hatte. Und es dauerte keine Minute, so murmelte er an ihrem Hals: »Wenn er wieder herauskommt, werde ich ihm helfen, so gut es in meiner Macht steht. Das … das habe ich immer schon vorgehabt, daß ich etwas für ihn tun werde. Und nun kann ich es auch. Ich werde ihm soweit wie möglich behilflich sein.« »Ach, Rory, Rory – jetzt bist du wieder ganz mein alter, geliebter Rory. Ich wußte es ja. Oh, danke, Liebster, danke! Ich werde gleich morgen mit meiner Gnädigen reden und ihr sagen, daß mein Mann mir nicht erlaubt, nach Frankreich zu fahren, und daß ich bald kündigen werde. Oh, Rory, Rory …« Um Mitternacht wachte sie dadurch auf, daß sie Rory schreien hörte. Er schlug mit den Armen um sich, und als sie die Hand auf seine Stirn legte, fühlte sie, daß diese schweißbedeckt war. Sie rüttelte ihn und rief: »Rory! Rory, wach auf!«, aber er fuhr fort, herumzuschlagen und undeutliche Worte auszustoßen, aus denen sie nur so viel entnehmen konnte, als daß sie etwas mit ihrem Gespräch vor dem Einschlafen zu 156
tun hatten. »Ich werde John George helfen – das werde ich, das werde ich, das hab' ich immer vorgehabt.« Dann begann er zu schreien: »Man hat mich eingeschlossen, ich bin eingeschlossen worden!« Als es ihr schließlich gelungen war, ihn aufzuwecken, sagte er hastig: »Was ist – was ist denn los?« Dann legte er sich die Hand auf die Stirn und fügte hinzu: »Ich muß geträumt haben … Hab' ich irgendwas gesagt?« »Nur undeutliches Zeug. Daran war nur die Aufregung heute abend schuld.« »Ja, ja, sicher – die Aufregung. O Gott, ich bin naß zum Auswinden.« »Ja, das bist du. Leg dich wieder hin, unter die Decke – so.« Sie zog ihn an sich, drückte ihn ans Herz und redete beruhigend auf ihn ein, als ob er ein Kind wäre, bis er wieder eingeschlafen war.
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D
rei Nachmittage und drei Abende besuchte Rory in den darauffolgenden drei Wochen Mr. Dryden, um in die Geheimnisse der Buchhaltung und der Geschäftsführung eingeweiht zu werden. Mr. Dryden war früher einmal Buchhalter und dann Angestellter bei einem Anwalt gewesen, und die Berichte über die Fortschritte seines Schülers klangen höchst ermutigend. »Er legt großen Scharfsinn an den Tag, Miß Kean«, sagte er. »Ich finde, daß Sie eine gute Wahl getroffen haben.« Jedoch erzählte er gleichzeitig seinen Freunden mit unverhohlenem Grinsen, daß die Tochter des alten Kean sich einen Schützling zugelegt habe. Natürlich amüsierten sich diese. Nun ja, es war eben höchst unwahrscheinlich, daß sie jemals einen Mann bekommen würde, also mußte sie zu einem derartigen Zeitvertreib Zuflucht nehmen. Freilich hätte sie ihre Stellung berücksichtigen und sich diesen Kandidaten aus der einschlägigen Gesellschaftsschicht auswäh157
len sollen, nicht ausgerechnet aus den Reihen von Mietenkassierern, die doch kaum etwas anderes darstellten als ganz gewöhnliche Lohnhengste. Wäre der Junge nicht verheiratet gewesen, hätte man die Sache noch ganz anders auslegen können, denn – wie sie bereits mehr als einmal demonstriert hatte –, sie war eine äußerst dickköpfige junge Dame, die der Meinung der Leute so gut wie keine Aufmerksamkeit schenkte. Man brauchte sich ja nur vor Augen zu führen, wie sie sich in diversen Komitees benahm. Da hatte sie schon mehrmals ganz offen den vorgebrachten Ansichten der Männer Trotz geboten. Natürlich hing das mit der Art ihrer Erziehung zusammen. Schließlich war sie ins Ausland geschickt worden, nicht wahr? Was konnte man da anderes erwarten? Rory entging Mr. Drydens persönliche Meinung in bezug auf seine Person nicht. Das war schon dem herablassenden Ton zu entnehmen, in dem er zu ihm sprach. Aber was machte das schon aus. In dem Punkt konnte er es leicht mit ihm aufnehmen. Er erhielt nun die hübsche Summe von fünfundzwanzig Shilling pro Woche mit dem Versprechen, daß dieselbe erhöht würde, wenn er sich als fähig erwies, die Pflichten eines Geschäftsführers tatsächlich zu übernehmen. In den letzten Tagen hatte er kurz Einblick nehmen können, worin diese Pflichten vor allem bestanden. Da hatte er nämlich die Besitzungen in Hexham und Gateshead besichtigt und die diversen Läden aus Großvater Keans Hinterlassenschaft. Es verblüffte ihn immer mehr, erkennen zu müssen, wieviel sein ehemaliger Arbeitgeber im Grunde genommen an Vermögen sein eigen genannt hatte. Und dennoch hatte er weder im Sommer noch im Winter jemals einen Abend ausgelassen, immer war er noch ins Büro gekommen, um sich die Tageseinnahmen abzuholen, außer wenn er seinen Vater besuchen mußte. Niemals hatte er auch nur einen Tag lang Urlaub gemacht – zumindest, solange Rory im Geschäft war; und dabei schwammen die Keans in Geld. Er hätte gerne gewußt, wieviel Geld sie alles in allem besaßen. Sollte sie jemals heiraten, würde ihr Zukünftiger jedenfalls ein schönes Vermögen als Mitgift bekommen. Aber abgesehen davon, daß Miß Kean 158
nicht zu jener Art Frauen gehörte, auf die Männer für gewöhnlich scharf waren, hielt Rory sie für viel zu selbständig, als daß sie so denken könnte. Man konnte eben unmöglich derart geschäftstüchtig sein, ohne daß sich solche Anlagen auch im Äußeren ausdrückten. Es war Samstagvormittag, und er hatte eben die Einnahmen seiner beiden Männer abgeliefert: er nannte sie stets ›seine‹ beiden Männer – sie hatte ihm gestattet, sich den Zweiten selbst auszusuchen. Es handelte sich um einen jungen Burschen, der noch nie einkassiert, jedoch bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr ohne Unterbrechung zur Schule gegangen war. Und das war ein guter Start. Außerdem machte er einen aufgeweckten Eindruck und brauchte Arbeit. Rory hatte das Gefühl, eine gute Wahl getroffen zu haben. Das sagte er Miß Kean auch. »Patterson macht seine Sache gut. Er lernt rasch und läßt sich nicht einseifen.« »Das ist wichtig«, hatte sie erwidert und ihm zugelächelt. Dann sagte sie: »Ich hätte gerne, daß Sie mich Montag nach Hexham begleiten.« »Nach Hexham?« Er senkte den Kopf, während er den Blick auf ihr ruhen ließ. »Gern.« Er unterließ es manchmal, Miß zu sagen, aber sie hatte ihn deshalb noch nie zur Rede gestellt. »Ich finde, es wird Zeit, daß Sie die Häuser und Betriebe, für die Sie verantwortlich sein werden, kennenlernen.« »Ach ja, natürlich.« »Übrigens« – sie lächelte ihm noch immer zu –, »ich würde mir sehr gerne Ihre Werft ansehen, das interessiert mich. Höchstwahrscheinlich könnte ich Ihnen dabei behilflich sein, Aufträge zu bekommen, zumindest bescheidene. Würde es Ihnen heute nachmittag passen?« Er überlegte rasch. Wie sah es daheim aus – war alles nett und sauber? Hing irgendwo Wäsche herum? Nein, Janie hatte gestern abend noch alles aufgebügelt und danach sogar den Boden gescheuert. Er nickte ihr zu und sagte: »Mir auf jeden Fall. Meine Frau wird zwar nicht daheim sein, weil sie Samstag bei den Buckham-Kindern in Westoe bis um vier zu tun hat, aber mir sind Sie auf alle Fälle …« »Ihre … Frau?« Sie brachte die Worte offenbar nur mit größter Mühe über die Lippen; es klang, als handle es sich um eine Fremdsprache. 159
»Ja, Miß, meine Frau …« Er hielt verblüfft inne, als er wahrnahm, daß sie bis zum Haaransatz rot wurde. »Ich … ich wußte nicht, daß Sie verheiratet sind, Mr. Connor … Seit wann denn?« »Nun …«, er rückte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her, »erst kurze Zeit, Miß. Damals wollte ich es Ihnen gegenüber deshalb nicht erwähnen, weil unser Hochzeitstermin ganz kurz nach dem Begräbnis Ihres Vaters angesetzt war. Ich konnte es nicht mehr verschieben, aber irgendwie kam es mir nicht passend vor, und …« Sie senkte die Lider und blickte starr auf ihre flach auf der Schreibunterlage ausgestreckten Hände. Sie saß kerzengerade da, gewissermaßen unbeugsam, und ihre Stimme klang kühl, als sie sagte: »Sie hätten mich von dieser Veränderung informieren sollen, Mr. Connor.« »Ich … ich dachte nicht, daß das so wichtig sei.« »Nicht wichtig!« Noch immer sah sie ihn nicht an, aber ihre Blicke huschten über den Schreibtisch, als suche sie irgendwelche Unterlagen. »Ein verheirateter Mann kann den geschäftlichen Belangen nicht dieselbe Aufmerksamkeit schenken wie ein lediger, das ist doch klar. Er verfügt, um nur ein Beispiel zu nennen, schon einmal nicht mehr über soviel Zeit.« »Oh, ich habe übergenug Zeit …« »Ganz abgesehen von dem nötigen Interesse.« Nun sah sie ihn voll an. Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, so daß es aschgrau aussah. »Das ändert natürlich alles, Mr. Connor.« Er starrte sie an, und seine Stimme klang mürrisch, als er sagte: »Das verstehe ich nicht. Ich sehe den Grund nicht ein.« »Wirklich nicht? Nun, dann habe ich mich in punkto Auffassungsgabe, soweit es Sie betrifft, geirrt.« Er saß nun ebenso kerzengerade da wie sie, und sein Gesicht hatte einen grimmigen Ausdruck angenommen. Als sie seinem Blick standhielt, dachte er: Nein, nein, es wäre ja verrückt, sich so was einzubilden. Unmöglich! Andererseits lag es auf der Hand, daß der Umstand, daß er verheiratet war, sie verstörte. Wahrscheinlich gehörte sie zu jenen Frauen, die nichts von der Ehe hielten – 160
solche gab es. Eine davon lebte sogar in derselben Gasse, in der er früher gewohnt hatte. Sie kleidete sich wie ein Mann und konnte mit Booten wie Pferden genausogut umgehen wie ein Mann. Allerdings sah sie auch fast so aus wie ein Mann. Die hier jedoch nicht. Obwohl sie über einen wirklich männlich zu nennenden Geschäftsgeist verfügte, zog sie sich stets wie eine Modedame an. Er kannte sich bei ihr nicht aus. Nein, bei Gott, es war unmöglich. Er sagte nun: »Ich kann Ihnen versichern, Miß, daß der Umstand, daß ich verheiratet bin, nichts an meiner Arbeitsweise ändert. Sowohl meine Zeit als auch meine Loyalität steht Ihnen nach wie vor zur Verfügung …« »Aber, wie ich bereits angedeutet habe, Mr. Connor, eben nur eine gewisse Zeit und nur ein gewisser Teil Ihrer Loyalität … Ein verheirateter Mann hat Verpflichtungen. Wir können diese Sache später besprechen. Mr. Dryden wurde für Ihre Unterrichtsstunden im voraus bezahlt. Sie werden also weiter zu ihm gehen. Das ist für den Moment alles, Mr. Connor. Guten Tag.« Er erhob sich steif. »Guten Tag – Miß.« Das Mädchen ließ ihn hinaus. Sie lächelte ihm zu und sagte: »Guten Tag, Sir.« Mit ›Sir‹ wurde er angesprochen, seit es bekannt war, daß Miß Kean ihn zum Geschäftsführer ausbilden ließ. Seither benahm sich die Dienerschaft hier im Haus ihm gegenüber ganz anders. Es standen alles in allem sechs Leute in ihren Diensten, inklusive dem Kutscher, der zugleich sämtliche Gartenarbeiten verrichtete. Rory erwiderte höflich den Gruß, sprach das Mädchen jedoch, wie gewöhnlich, nicht mit ihrem Namen an. Seine Position war noch nicht von solcher Art, daß er dies schon hätte tun können, fand er. Er ging langsam die Auffahrt hinunter, bis er schließlich stehenblieb und sich selbst sagte: Nein, nein! Und ehe er die Hauptstraße betrat, verlangsamte er abermals seine Schritte und rief nun laut aus: »Sei doch kein Narr!« Er gab sich keinerlei falscher Bescheidenheit über seine Anziehungskraft hin. Er wußte, daß ihm jederzeit so manche Türe offengestanden 161
wäre, wenn er bloß die Brauen hochgezogen oder auf das Aufglänzen in den Augen einer der liebeshungrigen Damen ringsum reagiert hätte. Er bezeichnete sich zwar nicht gerade als blendend aussehend, wußte jedoch, daß etwas an ihm war, das noch mehr Anklang fand. Wenn man von ihm verlangt hätte, dieses Etwas näher zu beschreiben, wäre er nicht dazu imstande gewesen. Er wußte bloß, daß die Frauen ihn sofort und überall zur Kenntnis nahmen. Das gefiel ihm. Das gab ihm Auftrieb. Gleichzeitig wußte er jedoch, daß für ihn keine andere Frau als Janie existierte. Er konnte jedoch nicht abstreiten, daß seine Brotgeberin all das, was sie für ihn getan hatte, nur deshalb getan hatte, weil sie ihn für ledig gehalten hatte. Die Frage lautete nun: Weshalb? Weshalb? Abermals schüttelte er energisch den Kopf und sagte sich: Nein, unmöglich! Du meine Güte, die Frau verkörperte ein Vermögen, und obgleich sie häßlich wie ein Haubenstock war, gab es in der Stadt garantiert nicht nur einen, sondern mehrere Männer, die diesen Umstand gerne übersehen hätten, wenn sie sich dadurch nur all ihre Besitzungen einverleiben hätten können. Zweifellos machten bereits einige diesen Versuch, denn in letzter Zeit hatte Rory zweimal, als er sich dem Haus genähert hatte, Kutschen vorfahren und dunkelgekleidete Herren aussteigen sehen. Und er rief sich ins Gedächtnis, daß dieselben reichlich energisch ausgesehen hatten. Wenn man Miß Kean allerdings näher kannte, wozu er in den vergangenen Wochen genügend Gelegenheit gehabt hatte, dann mußte man ihr unbedingt soviel Verstand zubilligen, derartige Freier, die nur hinter ihrem Geld her waren, zu durchschauen. Sie gehörte ganz sicher zu jenen Frauen, die lieber auswählten als ausgewählt zu werden, und abgesehen von ihrem Gesicht verfügte sie über eine Menge Dinge, die sie dazu berechtigten, selbst auszuwählen … Hatte sie am Ende ihn auserwählt? Diesmal beantwortete er die Frage nicht mit einem energischen ›Nein, nein!‹, sondern ging weiter, indem er statt dessen vor sich hinmurmelte: »Allmächtiger – es ist einfach nicht zu glauben!« 162
»Du bist heute aber ruhig. Es ist doch nichts passiert? Und weshalb bist du nachmittags nochmals ins Büro gegangen?« »Oh, ich hatte noch verschiedenes zu erledigen. Es war diese Woche viel los, und außerdem habe ich diese Pittie-Blase im Kopf. Hat Jimmy etwas davon gesagt, daß sie heute wieder hier herumgelungert sind?« »Nein. Er war nur ein paar Minuten daheim und hat gesagt, er wolle noch das hängengebliebene Holz einsammeln gehen.« »Ja, aber das war am Nachmittag, hast du gesagt. Und jetzt ist es schon dunkel. Er müßte längst zurück sein. Besser, ich gehe nachsehen.« Rory blickte auf die Teig knetende Janie nieder, dann verließ er das Bootshaus. Der Mond stand hoch am Himmel und wurde von weißen, merkwürdig geformten Wolken gejagt. Rory ging bis ans Ende der Mole und suchte mit den Augen jene Uferplätze ab, an denen mehrere große und kleine Boote verankert waren. Er mochte den Fluß, wenn es Nacht war und alles so still dalag, aber dennoch hatte er sich insgeheim dazu entschlossen, Janie, so bald es nur ging, in ein richtiges Haus in die Stadt zu bringen. Jimmy konnte ja hierbleiben, dem würde es nichts ausmachen, allein zu bleiben, er war ein genügsamer Typ. Nun aber hatten die Dinge eine Wendung genommen. Die heutige Besprechung hatte all seine Pläne zu Staub zerfallen lassen. In letzter Zeit hatte er immer wieder das Gefühl gehabt, in rasender Eile auf einen bestimmten Ort zuzugaloppieren, hatte aber nicht gewußt, wohin. So viele merkwürdige Dinge hatten sich innerhalb der vergangenen Monate ereignet. Er trug nicht einmal mehr dieselben Anzüge, die er noch vor wenigen Wochen getragen hatte. Miß Kean hatte ihm nicht nur einen deutlichen Wink gegeben, daß er sich einen neuen Anzug anschaffen, sondern auch, wo er ihn kaufen solle. Zwar hatte er das von ihr vorgeschlagene Geschäft dann doch nicht aufgesucht, weil er, wie er sich sagte, vorläufig nicht genügend Geld für eine derartige Schneiderarbeit besaß. Nichtsdestoweniger hatte er sich einen recht ordentlichen Anzug mit einer gutsitzenden Weste gekauft, dessen Rock nach unten zu höchst modisch geschweift war und ihn schon allein durch diesen Schnitt aus der Reihe der Mieteninkassanten heraushob. Nun aber war die rosige Zukunft mit einemmal tot und 163
begraben. Was würde sie ihm am Montag sagen? … Nun, er mußte es abwarten – das war alles, was er tun konnte. Er hörte ein leises Plätschern, und dann sah er Jimmys winzige Gestalt ein Boot zur Mole steuern. Rory beugte sich nieder und fing das Seil, das Jimmy ihm zuwarf, auf. Dann sagte er: »Ist alles in Ordnung? Wo warst du denn nur? Was hat dich so lange aufgehalten?« »Das viele Holz, das zusammenzufischen war. Einiges davon schwamm weit draußen im Fluß herum. Überall. Es war eine Heidenarbeit, alles wieder zusammenzukriegen.« »Meinst du, daß das die Pitties getan haben?« »Würde mich nicht wundern. Ich glaube nicht, daß es die Kinder gewesen sind, es wäre viel zu schwer für sie gewesen.« »Nun, laß es bis morgen liegen. Dann wollen wir es aussortieren.« Nachdem Jimmy das Boot vertäut hatte, blickte er zu Rory auf und sagte: »Was ist los? Du siehst aus wie die Katze, wenn's donnert. Stimmt was nicht?« »Nein, nein, bei mir ist alles in Ordnung. Und bei dir?« »Nun, sie haben sich wieder frühzeitig bemerkbar gemacht. Zwei von ihnen. Sie sind direkt gegenüber vor Anker gegangen und haben dort gesessen und herübergesehen. Bloß herübergestarrt. Aber ich habe mich deshalb nicht von meiner Arbeit ablenken lassen, nur hab' ich von Zeit zu Zeit gleichfalls hinübergesehen. Schließlich sind sie weggefahren.« Und er fügte hinzu. »Falls sie irgendein Ding drehen wollen, geh' ich glatt zur Flußpolizei.« »Dann wird es höchstwahrscheinlich bereits zu spät sein. Das einzige, was du tun kannst, ist, vorsichtig sein und auf keinen Fall so lange im Dunkeln heraußen zu bleiben. Bei Tageslicht werden die kaum was inszenieren, aber wenn du leichtsinnigerweise im Dunkeln herumkrauchst, dann kriegst du, wonach du verlangst.« Alles, was Jimmy darauf erwiderte, war: »Ja, ja, schon möglich. Meine Güte, bin ich hungrig!« Und damit lief er ins Haus und sagte, kaum daß er die Tür geöffnet hatte: »Mm! Riecht's hier aber gut.« Janie drehte sich vom Tisch her um und sagte: »Du wartest gefälligst, wir haben ja auch auf dich warten müssen.« 164
»Ich hab' aber einen Riesenhunger, Janie!« »Wann hast du den nicht?« sagte sie lachend. »Nun, da ist frisches Teegebäck, mach dich drüber her.« Nachdem er sich zwei Stück in den Mund gestopft hatte, fragte Jimmy: »Und was gibt's zum Abendessen?« »Schellfisch.« »Fein, mach rasch, mir knurrt schon der Magen.« Sie streckte die Hand aus, um ihn am Ohr zu ziehen, aber er wich ihr aus, hockte sich vor den Kamin und plapperte drauflos. Als Rory ihn so ansah, überkam ihn so etwas wie Neid: Der Kleine war zwar krumm geboren, aber glücklich. Weshalb konnte er nicht so sein? Sofort tauchte die Antwort vor seinem Innern auf: Weil sie verschiedene Mütter hatten. Er hatte lange nicht mehr daran gedacht. Merkwürdig, es geschah immer nur dann, wenn er Schwierigkeiten hatte. Dann ließ er seiner Bitterkeit gegen Lizzie freien Lauf. Mit einemmal sagte er, ohne sich an jemanden bestimmten zu wenden: »Müssen wir morgen wieder heimgehen?« Janie und Jimmy sahen ihn fragend an. Dann sagte sie: »Natürlich gehen wir heim. Das tun wir doch immer, oder? Morgen ist doch Sonntag.« »Das ist es ja, das meine ich ja damit: daß wir immer heimgehen. Könnten wir nicht einmal etwas anderes unternehmen? Eine Flußfahrt oder so? Schließlich haben wir unser eigenes Boot.« »Sie erwarten uns doch. Es würde kein richtiger Sonntag für sie sein, wenn wir nicht kämen. Sicher werden wieder alle versammelt sein.« »Tja, sie werden alle versammelt sein.« Seine Stimme erstarb in einem Seufzer, dann drehte er sich um und ging ins Schlafzimmer, während Janie und Jimmy Blicke wechselten. Dann sagte Jimmy leise: »Irgendwas stimmt nicht. Ich hab' es sofort bemerkt.« »Glaubst du?« flüsterte nun auch Janie. »Mhm. Du nicht?« »Nun, ich fand auch, daß er ein bißchen still sei, aber als ich ihn deshalb fragte, sagte er, es sei alles in Ordnung.« »Nun, das sagt er. Aber irgendwas ist los. Ich sag' dir, irgendwas ist los.« 165
Als Janie um Mitternacht abermals durch Rorys Geschrei aufgeweckt wurde – diesmal murmelte er nicht, er schrie –, zischte sie ihm zu: »Schsch. Wach auf, Rory! Was ist denn?« Aber er fuhr laut fort: »Ich werde es wiedergutmachen. Ich werde ihn dafür entschädigen … Ich weiß, ich weiß! Aber ich konnte nicht.« »Rory, Rory! Wach doch auf!« »Fünfeinhalb Pfund – ja, ich hab' sie genommen. Und dich haben sie dafür verantwortlich gemacht.« »Rory, hörst du mich!« Sie versuchte, ihn wachzurütteln. »Was …? Was …?« Er erwachte halb und packte ihre Hände, stieß sie jedoch im nächsten Moment beiseite und schrie: »Was hätte es für einen Sinn gehabt, wenn wir beide eingelocht worden wären! Ich geh dort nicht hinein, also hör endlich auf damit. Du kriegst mich dort nicht hin, nicht für fünf, nicht mal für fünfzig Pfund. Fünfeinhalb dreckige Pfund. Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, hätte ich sie wieder zurückgelegt, ehrlich. Ich … hätte …« Seine Stimme erstarb, und er sank in die Kissen zurück. Janie setzte sich kerzengerade im Bett auf. Für einen Moment vergaß sie Rory und starrte durch die Dunkelheit auf ihre Hände nieder, die sich fest in die Decke verkrallt hatten … Das also war es. Natürlich, das war es! Das hätte ihr von allem Anfang an klar sein müssen, klar wie der Tag. Wieder sah sie John Georges abgehärmtes Gesicht durchs Gefängnisgitter hindurch und hörte seine beschwörende Stimme: »Sag das Rory, ja? Sag ihm, daß ich keine fünfeinhalb Pfund genommen habe.« Was John George tatsächlich damit hatte ausdrücken wollen, war: Sag ihm, was er mir schuldig ist … Sie konnte es nicht glauben. Und dennoch wußte sie, daß es sich so verhielt. Rory hatte John George, seinen besten Freund, allein an jenem übelriechenden, gräßlichen Ort im Stich gelassen. Es stimmte schon, daß er anfangs in dieser Beziehung nicht viel tun hätte können. Aber von dem Moment an, wo er wieder klar bei Sinnen gewesen war, mußte er es gewußt haben. Deshalb hatte er niemals nach John George gefragt. Dabei hätte das das erste sein müssen, jeden von ihnen zu fragen: 166
»Was ist nur mit John George los? Weshalb kommt er mich nicht besuchen?« Nein, Janie konnte es nicht glauben, sie konnte es nicht. Aber sie mußte es. Sie wandte nun den Kopf nach dem neben ihr Liegenden, und instinktiv rückte sie von ihm ab, ganz zur Wand. Aber im nächsten Moment schon führte sie sich wie ein wildes Tier auf, das auf seine Beute losfährt. Sie packte Rory an den Schultern und schrie: »Wach auf, wach sofort auf, du!« »Wa…? Was – ist denn? Was – ist los? Ist was nicht in Ordnung?« »Steh auf! Steh auf der Stelle auf!« Sie zog sich im Bett hoch, kletterte einfach über ihn hinweg, nahm die Streichhölzer vom Tisch und zündete die Kerze an, und während all der Zeit fragte er immer wieder: »Was ist los? Was ist passiert?« Als die Kerze brannte, hielt sie sie hoch und starrte in seine sie anblinzelnden Augen. »Was ist los mit dir? Hast du den Verstand verloren?« »Wenn es nicht schon der Fall ist, wird es garantiert in der nächsten Minute passieren.« Es klang, als spräche Lizzie zu ihm. Oder Oma Waggett. Oder alle beide zusammen. Er stieß die Decke zurück, stand jedoch nicht auf, sondern sah ihr nur ins Gesicht. »Was, zum Teufel, ist los, Janie?« »Das fragst du mich? Nun, du hast soeben einen Alptraum gehabt und etwas klargestellt, was mir seit langem zu denken gegeben hat. Du!!! Weißt du, was ich im Moment am liebsten mit dir täte? Dir ins Gesicht spucken – jawohl, Rory Connor: ins Gesicht spucken.« Nun lehnte er sich an die Wand an. Er hatte also einen Alptraum gehabt. Er hatte geredet … Der Schweiß brach ihm aus, aber es war Angstschweiß, der ihn frösteln machte. Mit einer heftigen Armbewegung stieß er Janie beiseite, langte nach der Hose, zog sie sich übers Nachthemd, sagte jedoch nichts. Und sie schwieg ebenfalls. Aber als er auf die Tür zuging, die in die Küche führte, folgte sie ihm mit hocherhobener Kerze. Sie sah zu, wie er die Streichhölzer vom Kaminsims holte und die Lampe anzündete. Als sie brannte, drehte er sich um, sah sie an und sagte ruhig: »Nun weißt du es also.« 167
»Jawohl, jetzt weiß ich es. Wie du so dastehen und dies in aller Seelenruhe sagen kannst, kann wohl nur Gott allein verstehen. Mein Gott, wenn ich mir vorstelle, daß du John George die Gefängnisstrafe an deiner Stelle hast antreten lassen …« Er fuhr auf sie los. Seine Stimme war leise, aber zornig, als er sagte: »Er hat sie nicht an meiner Stelle angetreten, sondern seinetwegen. Früher oder später wäre er auf alle Fälle ertappt worden. Er hat es seit Monaten gemacht.« »Möglich, aber er hat immer nur ein paar Shilling genommen, keine fünfeinhalb Pfund.« »Darum geht es nicht. Ich hab' ihn gewarnt.« »Du hast ihn gewarnt!« Sie sagte es voller Verachtung. »Und dann bist du hingegangen und hast genau dasselbe getan. Nur daß es sich dabei um keine kleine Summe gehandelt hat. Er hat wegen deiner fünfeinhalb Pfund ein Jahr aufgebrummt bekommen, nicht wegen der paar Kröten.« »Das stimmt nicht. Ich sag' dir – das stimmt nicht.« »Ach, halt doch den Mund. Versuch ja nicht, mich ebenso zum besten zu halten, wie du dich selbst zum besten gehalten hast. Das hast du dir die ganze Zeit über eingeredet, wie? Um dein Gewissen zu beruhigen. Aber dein Gewissen hat sich nicht beruhigen lassen, stimmt's? Erinnere dich nur an unsere erste Nacht hier. Da hast du mich gegen die Wand geschmettert, nur weil ich seinen Namen erwähnt habe. Damals hätte ich es bereits kapieren müssen.« »Wahrscheinlich«, sagte er, und es klang matt und niedergeschlagen. »Dann wäre die Sache wenigstens damit erledigt gewesen, und ich hätte weniger durchgemacht.« »Du hättest weniger durchgemacht! Du sprichst von Durchmachen. Und was ist mit John George?« »Zum Teufel mit John George!« schrie er nun. »Ich sag' dir doch, sie hätten ihn auf alle Fälle erwischt.« »Das wirst du dir einreden, bis du die Augen schließt. Nur daß du es selbst nicht glaubst. Weil du ihm im Schlaf versprochen hast, schon dafür zu sorgen, daß er dafür entschädigt werden soll, wenn er herauskommt. 168
Ach!« Sie schüttelte spöttisch den Kopf. »Wie lieb von dir, wie edel von dir, was? Ich wäre damals vor dir beinahe auf die Knie gefallen.« »Janie …« er kam auf sie zu. »Versuch mich zu verstehen. Du … du weißt, wie mir bei der bloßen Vorstellung daran, eingesperrt zu sein, zumute ist. Und ich war damals, weiß Gott, schlecht genug beisammen. Es hat nicht viel gefehlt und ich wäre abgekratzt. Du weißt doch selbst, daß ich nicht so zu tun brauchte, als könne ich wochenlang keinen klaren Gedanken fassen. Das weißt du doch.« Als er die Hand nach ihr ausstreckte, sprang sie zurück und rief: »Rühr mich nicht an, Rory Connor. Rühr mich nicht an, ehe du nicht zur Polizei gegangen bist und ihnen die Wahrheit gesagt hast.« »Was!« rief er völlig verdutzt. »Du möchtest wirklich, daß man mich jetzt noch einsperrt?« »Ja, das möchte ich, damit ich dann, wenn du wieder herauskommst, wieder mit dir leben kann. Es sind nicht die fünfeinhalb Pfund, die mir zu schaffen machen. Wenn kein anderer zu leiden hätte, würde ich vielleicht sagen: ›Gut für dich, wenn du noch mal davongekommen bist!‹ Aber so nicht, o nein, so, wie die Dinge liegen, nicht. Der arme Junge muß das ganz allein büßen. Wenn ich daran denke, wie leicht er dich hätte hineinreißen können. Er hätte nur zu sagen brauchen, daß du außer ihm der einzige warst, der einen Schlüssel hatte. Er hätte sagen können, daß du schon immer ein Spieler warst und deine eigene Mutter verkaufen würdest, wenn es um den nötigen Einsatz geht. O ja« – sie nickte nun heftig zur Bekräftigung –, »das würdest du: Morgen würdest du deine eigene Mutter verkaufen dafür, sogar um weniger als um fünf Pfund, stimmt's? Die arme Lizzie …« Der Hieb, der sie auf den Mund traf, ließ sie taumeln. Im selben Moment kam Jimmy die Leiter heruntergeeilt. Ohne ein Wort zu sagen, trat er an Janies Seite und legte den Arm um die sich vor Schmerzen krümmende Gestalt, sah Rory an und sagte: »Das wird dir noch leid tun, Rory. Es kommt der Tag, wo es dir leid tun wird.« »Du halt dich da heraus und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten.« »Das werd' ich nicht tun. Ich habe genug gehört, mehr als genug. 169
Ich kann so was von dir gar nicht glauben – ich kann es einfach nicht. Ausgerechnet bei John George. Und er hätte jederzeit sein Leben für dich riskiert.« Rory wandte sich von den beiden ab, stolperte auf den Kamin zu, klammerte sich am Kaminsims an und starrte ins bereits herabgebrannte Feuer. Daß er von Jimmys Reaktion mehr betroffen war als von der Janies, überraschte ihn keineswegs, weil er wußte, daß er für seinen Bruder stets so eine Art Held gewesen war. Nie hatte er etwas Besonderes geleistet, um sich diesen Nimbus zu verdienen, jedoch hatte er Jimmys Verehrung seit Jahren akzeptiert, ja Trost darin gefunden. Und nun hatte sich auch Jimmy gegen ihn gewandt. Du lieber Gott, warum kam dies alles auf einmal über ihn? Gestern die Sache mit Miß Kean, die es ihm so schrecklich übelgenommen hatte, daß er verheiratet war. Und nun dies mit Janie. Und nicht nur mit Janie, auch mit Jimmy. Und doch wußte er insgeheim, daß ihm, wenn er bei Tagesanbruch tatsächlich zur Polizei gehen würde, alle beide das Geleit geben würden. Aber er konnte es nicht, er wußte, daß er einfach nicht hingehen und ihnen die Wahrheit sagen konnte. Abgesehen von der Angst vor dem Eingesperrtwerden mußte man sich doch vor Augen halten, was er dabei aufs Spiel setzen würde. Seinen guten Posten. Und seinen Namen dazu, der allein ihm zu einem neuen Job verhelfen würde. Niemals mehr würde man einem Mann, der in eine solche Sache verwickelt gewesen war, Geld anvertrauen. Außerdem wäre damit auch dieser Platz hier verloren gewesen. Jimmys Werft. Daran hatte er offensichtlich nicht gedacht. Rory fuhr herum und schrie die beiden an: »Schön, nehmen wir an, ich würde mich freiwillig stellen. Was meint ihr, was dann geschehen würde? Aus wäre der Traum mit deiner Werft, Jimmy. Die könntest du schon in den Rauchfang schreiben. Hast du daran gedacht?« »Nein, hab' ich nicht. Aber jetzt, wo du es erwähnst, muß ich sagen, daß das schließlich nicht mein Ende wäre. Ich könnte immer noch meine alte Stelle kriegen. Und ich kann immer wieder heimgehen. Das soll dich nicht davon abhalten. Versuch nicht, mich als Grund vorzuschieben, Rory.« 170
»Und was würde mit ihr geschehen, wie?« Er sprach über Janie, als würde sie nicht, das Gesicht in die Hände vergraben, am Tisch sitzen. Und Jimmy antwortete: »Sie wäre um keinen Jota schlimmer dran als vorher, sie hat immer noch ihre Stelle.« »Ach, zum Teufel mit euch allen!« Rory warf die Arme hoch, als wolle er sie beide aus der Küche fegen. »Was versteht denn ihr, was wißt denn ihr? Schön alles zugeben, offen und ehrlich, nicht wahr? Ein braver Junge sein. Dann werden auch alle zu dir halten. Ihr habt ja keine Ahnung, ihr seht nicht weiter, als eure verdammte Nasenspitze reicht. Jeden Tag wird geschwindelt und betrogen. Angesehene Männer, Männer, zu denen jedermann in der Stadt aufblickt, lügen und betrügen mit jedem ihrer Atemzüge. Und ihr beiden würdet glatt zusehen, wie ich mein ganzes Leben ruiniere wegen lumpiger fünf Pfund.« »Es geht nicht um fünf Pfund, sondern …« »Sei still, Jimmy, sei still!« Janie sprach leise. »Bei Rory kommst du nicht durch. Der versteift sich auf seine fünf Pfund und versucht, dir ebenso Sand in die Augen zu streuen, wie er sich selbst Sand in die Augen streut. Nun« – sie stand vom Tisch auf –, »ich weiß jedenfalls, was ich tun werde.« Damit ging sie langsam ins Schlafzimmer, und beide starrten hinter ihr her. Als die Tür hinter ihr zuschlug, ging Jimmy auf die Leiter zu und klomm ohne ein weiteres Wort nach oben. Rory blickte sich einen Moment lang in der leeren Küche um, dann drehte er sich wieder zum Kamin, senkte den Kopf auf den Kaminsims und schlug mit der Faust gegen die unverputzte Mauer darüber.
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A
ber Kind, das ist die Chance deines Lebens! Eine Kreuzfahrt nach Frankreich. Meine Güte, der Bruder deines gnädigen Herrn muß viel Geld haben, daß er ein solches Schiff sein eigen nennt.« 171
»Ich glaube, es ist seine Frau, die das Geld besitzt. Er hat eine angeblich sehr wohlhabende Französin geheiratet.« »Und du sagst, sie leben in einer Art Schloß?« »Ja, das hat die Gnädige erzählt.« »Du wirst uns fehlen, Kind.« Lizzie, die kniend aufgewischt hatte, setzte sich auf die Fersen, sah Janie fest an und sagte: »Ich weiß, daß es nur auf drei Wochen ist, aber was mich wundert ist, daß Rory dich überhaupt fahren läßt. Hat er nicht Lärm geschlagen?« Janie wandte sich ab und sah Ruth, die eben aus der Spülküche kam und einen großen Teller Butterbrote hereinbrachte, an, als sie antwortete: »Doch, ein bißchen. Aber schließlich hat er so viel mit seiner eigenen Stellung zu tun, daß er ohnehin meist sehr spät heimkommt.« »Nun ja.« Lizzie fuhr mit dem Aufwaschen fort. »Seine neue Stellung … Wahrhaftig, wenn der nicht auf die Füße gefallen ist! Ein wahrer Segen, daß der alte Kean ins Gras gebissen hat, könnte man sagen.« »Du fährst also bereits in aller Herrgottsfrühe, Kind?« Janie nickte Ruth zu und sagte: »Ja, wir müssen gegen acht in Newcastle sein. Wir fahren mit dem Wagen.« »Und dann die ganze lange Strecke bis London mit dem Zug.« Ruth schüttelte den Kopf. »Es ist doch wunderbar, was du da alles zu sehen bekommen wirst. Wäre jammerschade gewesen, wenn du von einer derartigen Gelegenheit nicht Gebrauch gemacht hättest. So was kriegt man nur einmal im Leben vorgesetzt … Und du bleibst nicht mal, um einen Happen mit uns zu essen?« »Ich kann nicht, wirklich. Jedenfalls vielen Dank. Aber es gibt noch soviel vorzubereiten, wißt ihr. Da fällt mir ein: Ich brauche euch doch nicht erst extra darum zu bitten, daß ihr euch um meine Oma kümmert, nicht wahr?« »Ach, Kind«, sagte Ruth und tat direkt beleidigt – »so was brauchst du doch nicht mal zu erwähnen, das versteht sich von selbst.« »Na, dann ist ja alles gut. Danke, jedenfalls, ich danke euch beiden.« Janie blickte von der einen zur anderen, dann sagte sie, nachdem Lizzie aufgestanden war: »Besser, ich mach' mich jetzt auf die Beine.« 172
Im nächsten Moment hatte sie Lizzie auch schon umarmt, und Lizzie drückte sie fest an sich und sagte in begütigendem Ton: »Wein doch nicht, Kind, dazu ist doch wirklich kein Grund. Wo du doch in die Ferien fährst … Nicht, Kind, nicht.« »Aber, aber«, sagte Ruth, die Janie nun umfangen hielt, wobei Lizzie ihr immer noch die Schulter tätschelte. Dann raffte sich Janie zusammen, ergriff ihre auf dem nächsten Stuhl liegende Handtasche und rannte zur Tür hinaus. Es war Ruth, die, nachdem sie die Tür geschlossen hatte, Lizzie vielsagend ansah und meinte: »Nun, was hältst du davon?« »Was soll ich schon davon halten? Etwas stimmt da nicht. Schon seit Wochen nicht, wenn du mich fragst. Rory hat ja kaum mehr bei uns hereingeschaut. Und Jimmy? Denk doch nur, wie still er letztens war. Und sonst ist er doch nicht zu bremsen, wenn es um seine Boote und Aufträge und so weiter geht, nicht?« »Was es auch sein mag – es kann nicht nur die beiden allein angehen, wo Jimmy doch ganz offensichtlich auch davon betroffen ist.« »Ja, da hast du ganz recht.« Lizzie nickte. »Es kann sich nicht einfach um eheliches Geplänkel handeln. So was würde Jimmy glatt übersehen, wo er doch sozusagen damit aufgewachsen ist.« Sie lächelte schwach. »Nein, was es auch sein mag, es ist unbedingt etwas Schlimmes. Ich mache mir ernstliche Sorgen.« »Weißt du, was? In ein, zwei Tagen gehen wir hinunter und räumen ein bißchen auf und backen etwas. Was meinst du dazu, Lizzie?« »Das ist eine gute Idee. Klar, das machen wir. Und dabei werden wir schon herausbekommen, worum es sich handelt.« »Sehr gut möglich, sehr gut möglich.« »Es ändert sich eben alles, Ruth. Auch die Menschen. Alles.« Ruth ging auf sie zu, klopfte ihr sanft auf den Arm und sagte: »Sorg dich nicht seinetwegen. Er wird schon alles wieder ins Lot bringen. Was für Schwierigkeiten es auch geben mag. Rory bringt immer alles ins Lot. Schließlich ist er dein Fleisch und Blut und hat damit die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sich einsichtsvoll aufzuführen, hm?« 173
»Du bist eine gute Frau, Ruth, wirklich – es gibt keine bessere.« Sie wandten sich traurig voneinander ab, und jede ging ihrer Beschäftigung nach.
Janie war nun zehn Tage fort, und Rorys Welt war wie ausgestorben. Wenn sie in diesem Moment vor ihm aufgetaucht wäre, dann hätte er zu ihr gesagt: »Schön, ich melde mich. Ich gehe auf der Stelle zur Polizei. Solange ich nur weiß, daß du hier bist und die alte bist und auf mich wartest, bis ich wieder herauskomme, Janie.« Sein Gemüt war ein einziges Schlachtfeld. Er schwankte zwischen Liebe und Haß und zwischen Anklagen und Bitterkeit. Die Anklagen richteten sich meist gegen seine Arbeitgeberin. Er hatte sie in den vergangenen drei Wochen nur zweimal gesehen. Abends trug er immer noch die Einnahmen in ihr Haus, aber sein Auftrag lautete nun, sie im Büro zu hinterlegen und sich die Bücher am Morgen darauf abzuholen. Während dieser kurzen Begegnungen hatte es keinerlei Diskussionen über Zukunftspläne gegeben. Miß Keans Gebaren war kühl und förmlich gewesen und ihr Tonfall derselbe, dessen sie sich vor Jahren anläßlich ihrer kurzen Besuche im Büro befleißigt hatte. Ein Tonfall, in dem Aufträge erteilt, bei dem jedoch keine Fragen geduldet wurden. Aber obwohl Rory sich in dem einen Augenblick einredete, daß er genau das tun würde, was Janie von ihm verlangt hatte, wenn sie nur erst wieder hier wäre, fragte er sich im nächsten Moment, was geschehen würde, wenn sie wiederkam. Nach der Nacht, in der die Karten offen auf den Tisch gelegt worden waren, hatte sie oben in der Dachkammer und Jimmy auf einem Klappbett in der Küche geschlafen. Würde es nun so weitergehen, bis er nachgab? Natürlich hätte er seine ehelichen Rechte geltend machen können, wie es so viele Männer schon vor ihm getan hatten, und zwar in der althergebrachten Art, nämlich durch eine ordentliche Tracht Prügel. Aber der Umstand, daß er sie 174
einmal geschlagen hatte, genügte: Das allein hatte diese Barriere zwischen ihnen beiden errichtet. Sie gehörte nicht zu jener Art Frauen, die sich mit Schlägen abfanden, dazu besaß sie viel zuviel Charakter. Und er schämte sich, schämte sich zutiefst, daß er sich zu so etwas hatte hinreißen lassen. Er hatte sich nicht besser aufgeführt als sein von ihm zutiefst verachteter Vater. Wiederum war es Samstag. Rory haßte Samstage. Beinahe ebensosehr wie Sonntage. Seit Janie fort war, war er nie mehr heimgegangen, aber sie waren zu ihm heruntergekommen, zumindest Ruth und Lizzie. Sie hatten saubergemacht, gekocht und sich miteinander unterhalten, als ob sie bei sich zu Hause wären. Sie hatten ihm keinerlei Fragen gestellt, wie er sich fühle. Daß Janie fort war, bestätigte ihnen eindringlicher als alle Worte, daß hier etwas nicht stimmte. Dann war da noch Jimmy. Er machte Rory einfach wütend, wenn er abends herumhockte, Papierfetzen bekritzelte und den Mund nicht auftat. Erst am vorangegangenen Abend hatte Rory ihn angeschrien: »Wenn jemand an der ganzen Sache Schuld hat, dann bist du's. Wer hat mich pausenlos damit gequält, diese verdammte Kiste hier zu kaufen, ha? Wer?« Und damit hatte Rory das Miniaturschiffsrad aus Holz, das über dem Kamin hing, von der Wand gerissen und es zu Boden geworfen, daß es in tausend Stücke zersplitterte. Jimmy hatte es in stummer, den Tränen naher Trauer mit angesehen und war die Leiter nach oben geklettert, und Rory war elender als je zuvor zurückgeblieben. Nun stand Rory am Fenster und blickte auf die kleine Werft hinab. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser. Boote glitten auf dem Fluß dahin, und Jimmy arbeitete wie immer, nur daß er ihm normalerweise geholfen und sich mit ihm unterhalten und mit ihm gelacht hätte. Als er eine Sekunde den Blick von Jimmys Blondschopf abwandte, machte ihn plötzlich das um diese Zeit völlig unvorhergesehene Auftauchen seiner Verwandten stutzig: Da kamen Ruth, sein Vater und Lizzie langsam auf Jimmy zugegangen. Und was das Merkwürdige dabei war: Sie waren alle drei offensichtlich zutiefst betrübt, ja Lizzie und Ruth weinten haltlos, was sie sonst nie taten. Sein Vater hielt Jimmy die Zeitung hin, und Rory sah, wie dieser, nachdem er die angedeutete 175
Stelle gelesen hatte, ungläubig den Kopf schüttelte, dann die Hand auf die Stirn legte, sich umwandte und zu ihm hochsah. Und dann blickten sie alle miteinander hinauf. Rory trat nicht zurück, sondern starrte auf diese wie Bildsäulen wirkende Gruppe nieder. Er sah, daß Lizzie noch ihren ganz alten Schal umhatte, ebenso wie Ruth. Dabei ging letztere nie ohne Häubchen aus. Und beide hatten noch ihre Schürzen umgebunden. Rory trat einen Schritt zurück, lief auf die Tür zu, öffnete diese und blickte die Treppe hinunter. Da kamen Sie. Sein Vater ging voran, und Rory fragte sofort: »Was ist denn los?« Aber Paddy antwortete nicht, sondern trat ein, und Ruth, Lizzie und Jimmy folgten ihm auf dem Fuß. Rorys Blicke wanderten von einem zum andern, bis sie auf der Zeitung in Jimmys Händen haftenblieben. Er nahm sie ihm ab und begann zu lesen.
»Mit tiefem Bedauern müssen wir von der schrecklichen Tragödie berichten, die eine Familie aus Shields betrifft, die an der französischen Küste Urlaub machte. Mr. Charles Buckham, dessen Frau und dessen drei Kinder sowie deren Kindermädchen, Mrs. Jane Connor, gelten ebenso wie Mr. Buckhams Bruder als verloren, nachdem ihre Jacht in ein heftiges Unwetter geraten ist. Mrs. Buckhams Leichnam wurde mit dem eines ihrer Kinder gemeinsam mit Schiffstrümmern ans Ufer gespült. Es besteht wenig Hoffnung, daß einer der Bootsinsassen überlebt hat. Zur gleichen Zeit erlitten noch zwei weitere Boote Schiffbruch, wobei den letzten Meldungen zufolge insgesamt sechsundzwanzig Menschen ums Leben gekommen sein dürften. Mr. Charles Buckham war ein bekanntes Mitglied …«
Irgend jemand mußte Rory einen Stuhl hingeschoben haben, damit er sich setze, denn als er den Kopf wieder hob, standen sie im Halbkreis 176
um ihn herum und weinten hemmungslos, selbst sein Vater. Seine eigenen Augen waren ohne Tränen, sein ganzer Körper war trocken; er war unfähig, sich zu bewegen, und saß halb zusammengesunken auf dem Stuhl. Sein Verstand hatte aufgehört zu arbeiten, und nur etwas war fühlbar: ein brennender Schmerz, der sich wie Säure bis in sein Herz fraß und dort einen einzigen Namen eingravierte: Janie … »Janie! Janie!« Nun sagte er den Namen laut vor sich hin, und als er sich umwandte, sah er, wie Lizzie sich die Schürze übers Gesicht zog und wie ein Klageweib losstöhnte. Und diesmal protestierte er mit keinem Laut, denn dieses Geräusch fand sofort Widerhall in seinem Innern. »Janie, Janie«, stöhnte nun auch er, ohne sich dessen bewußt zu sein. »Verlaß mich nicht, komm zurück – du darfst nicht tot sein. Verlaß mich nicht. Ich werde mich um John George kümmern, ich schwör es bei Gott, gleich, auf der Stelle. O Janie.« »Gib ihm aus deiner Flasche zu trinken.« Paddy schob die Hand in die innere Rocktasche, zog eine Whiskyflasche hervor, ergriff die nächstbeste Tasse und füllte sie halb voll. Dann händigte er sie Rory aus und sagte: »Trink es auf einen Zug runter, Junge – auf einen Zug, hörst du? Du brauchst was zur Stärkung. Gott weiß, daß du was zur Stärkung brauchst.« Als Lizzie plötzlich laut aufweinte: »Weshalb bringt Gott ein derartiges Unglück über uns – was haben wir denn getan?« fuhr Paddy sie an, indem er ihr zu zischte: »Still, Weib. Diese Fragen sind's, die Unheil bringen.« Ihr Wehklagen nahm zu, und sie schrie: »Das ist das dritte. Ich habe gesagt, daß es drei geben wird, nicht? Stimmt's? Das habe ich auch Andrew, dem Polizisten, gesagt, als er uns die Nachricht brachte, nicht wahr?« »O Janie, Janie, komm zurück, Janie! Laß dich bloß noch ein einziges Mal sehen.« Diese Redewendungen waren es, die, wie sein Vater sagte, Unheil brachten. Dabei war er ein ungebildeter, einfacher Mann. Das hatte er zu Janie gesagt: »Sie waren alle unwissend.« Und er hatte ihre Redeweise, ihr Benehmen, ihre Hütte – diesen Wohnsitz, den er seit seiner Geburt kannte – mit Charlotte Kean und deren 177
schönem, elegantem Haus verglichen. Und doch war diese ihre Unwissenheit eine wärmende, gute Unwissenheit, etwas, was man nicht erst erlernen mußte – etwas, wobei es keinerlei Verstellung gab. Diese Schlichtheit war ein solides Fundament, auf das er sich nun stützen konnte. Und er stützte sich darauf, indem er den Kopf in warmes, dickes Fleisch bettete, und auch als er erkannte, daß es Lizzies Fleisch war, das Fleisch seiner Mutter, stieß er es nicht weg. In diesem Augenblick brauchte er Unwissenheit, Liebe, Wärme, ach, so vieles, um den Verlust Janies wiedergutzumachen. »O Janie, Janie, es tut mir so leid, es tut mir ja so leid!«
7
C
harlotte Kean las die Zeitung erst am Samstagabend. Sie war gegen sieben aus Hexham zurückgekehrt und fühlte sich müde, gereizt und einsam. Nach dem Essen war sie in der Absicht in ihr Büro gegangen, zu arbeiten, aber nachdem sie sich hingesetzt und einen Moment lang auf den Aktenberg gestarrt hatte, schloß sie angeekelt die Augen und ließ sich in die Tiefe des Lehnstuhls sinken. Wie lange konnte sie noch so weitermachen? Diese Frage hatte sie sich in den letzten Wochen oft und oft gestellt. Es gab ein Heilmittel. Sogar zwei. Aber die Kur, die ihr Mr. Henry Bolton einerseits und Mr. George Pearson andererseits anboten, war in ihren Augen schlimmer als ihr gegenwärtiger moralischer Kater. Henry Bolton war achtundvierzig und Witwer; George Pearson um die fünfzig – und sie war nicht verrückt genug, sich einzubilden, daß auch nur einer von beiden sich in sie verliebt hätte. Ja sie würde sogar so weit gehen, zu behaupten, daß sie sie alle beide nicht einmal mochten, nach der ganzen Art, wie sie sie bei diversen Sitzungen stets behandelt hatten. Erst seit dem Tod ihres Vaters hatten sie begonnen, ihr die Tür einzulaufen. Das kam also nicht in Frage, nein, niemals. 178
Sie erhob sich vom Schreibtisch. Sie war eben eine alte Jungfer und würde eine alte Jungfer bleiben. Der wild-phantastische Traum, den sie gehabt hatte, war eben nichts anderes als ein wild-phantastischer Traum, so sehr sie bereit gewesen war, sich wegen dieses Traumes in aller Öffentlichkeit zu demütigen. Sie verließ das Büro und ging nach oben auf ihr Zimmer, das noch bis vor wenigen Wochen ihrem Vater gehört hatte. Es war das größte Schlafzimmer im ganzen Haus und sah auf den Garten hinaus. Bald nach seinem Tod hatte sie den Raum frisch tapezieren und neu einrichten lassen und ihn sich ganz und gar zu eigen gemacht. Sie wußte, daß die Dienerschaft über diesen Mangel an Respekt in bezug auf den Toten leicht schockiert war, aber sie machte sich nichts daraus, was die Dienerschaft dachte. Auch nichts aus dem, was sich alle übrigen denken mochten. Es war merkwürdig, grübelte sie, während sie langsam das Tageskleid abstreifte und in ein Hauskleid schlüpfte, übrigens auch so eine Neuerwerbung, von der die Dienerschaft gleichfalls schockiert schien, weil es weder schwarz noch braun noch grau, sondern von einem alarmierenden Hellrosa und aus Samt war. Ja, es war merkwürdig, sehr merkwürdig: Aber es gab tatsächlich keinen Menschen, auf dessen Meinung sie auch nur soviel gab. Und was noch trauriger war: Es gab auch keinen Menschen, der sich auch nur soviel daraus machte, was mit ihr geschah. Verwandte waren ihr keine verblieben, Freunde hatte sie keine – nämlich enge Freunde. Es gab einige Leute in der Stadt, die sie als Freundin ansprachen, jetzt, seit dem Tod ihres Vaters, vielleicht sogar mehr als früher, aber für sie waren es nicht mehr als Bekannte. Sie saß vor dem Spiegel und löste ihr Haar, bis die dunklen, glänzenden Flechten ihr über die Schulter fielen, beinahe bis zur Taille. Während ihre Finger damit spielten, schien ihr Haar sich selbständig zu machen, Leben anzunehmen und nachdem sie es mit festen Strichen vom Scheitel bis zu den Enden gebürstet hatte, bedeckte es sie wie ein Mantel. Mit über der einen Gesichtshälfte balancierender Bürste betrachtete sie ihr Spiegelbild. Dies Haar war bei einer Frau wie ihr die reinste Verschwendung. Jedes nur halbwegs hübsche weibliche Wesen hätte es be179
stimmt in eine Schönheit verwandelt, wogegen es auf ihrem Haupt nur die Häßlichkeit ihrer Züge unterstrich. Sie beugte sich vor und starrte ihr Spiegelbild an. Wie kam es nur, daß zwei Augen, eine Nase und ein Mund ein Gesicht unendlich anziehend zu machen vermochten, während ein anderes nicht über die mindeste Anziehungskraft zu verfügen schien? Sie war nicht das, was man einen totalen Fehlschlag hätte nennen können. Sie zog sich gut an, verfügte über einen ausgezeichneten Geschmack, wußte genau, was ihr stand – aber all diese Pluspunkte endeten an ihrem Ausschnitt. Es ging sozusagen bis hierher und nicht weiter. Trotz der Kunstgriffe, zu denen sie Zuflucht genommen hatte – ob es sich um Gesichtspuder, eine Spur Wangenrot oder gekonnt aufgetragenen Lippenstift handelte. Was jeder anderen Frau geschmeichelt hätte, rief bei ihr den Effekt hervor, als handle es sich um eine Straßendirne. Also hatte sie diese Verschönerungsmethoden größtenteils wieder sein lassen. Sie stand auf und warf einen Blick auf ihr Bett. Wenn sie sich jetzt schon niederlegen würde, würde sie garantiert noch nicht schlafen können. Und lesen konnte sie nicht im Bett. Was die Folge dessen war, so dachte sie, daß man ihr schon im Internat eingeprägt hatte, nur auf einem Stuhl mit gerader Lehne sitzend zu lesen. Eigentlich hatte bereits ihr Vater diese Regel mit allem Nachdruck aufgestellt, und die Lehrer in jenen Schulen, in die sie auf Wunsch ihrer Mutter geschickt worden war, waren der gleichen Meinung gewesen. Als sie noch sehr jung war, hatte ihre Vorstellung vom Himmel darin bestanden, auf dem Fell vor dem Kamin lümmeln und frisch drauflos schmökern zu dürfen. Aber als sie endlich wieder aus dem Internat heimgekommen war, hatte sie an dieser Art Entspannung keinerlei Vergnügen mehr gefunden. Sie beschloß, in den Salon hinunterzugehen und ein bißchen Klavier zu spielen. Das beruhigte. Im Anschluß daran würde sie dann ein Bad nehmen, und danach würde sie vielleicht einschlafen können, ohne dauernd grübeln zu müssen. Als sie die Halle durchquerte, bemerkte sie die Lokalzeitung, die fein säuberlich zusammengefaltet mit mehreren Illustrierten auf dem Präsentierteller auf einem der kleinen Tische lag. Sie nahm den Stoß an 180
sich und ging in den Salon. Ehe sie sie weglegte, warf sie einen Blick auf die Schlagzeile: »Familie aus Shields Opfer einer Unwetterkatastrophe.« Sie las stehend weiter: »Mit tiefem Bedauern müssen wir von der schrecklichen Tragödie berichten, die eine Familie aus Shields betrifft, die an der französischen Küste … Mr. Charles Buckham … Kindermädchen, Mrs. Jane Connor …« Mrs. Jane Connor. Er hatte ihr gesagt, daß seine Frau Kindermädchen bei den Buckhams sei. Richtig, es waren die Buckhams aus Westoe. Sie kannte Charles Buckham. Auch seiner Frau war sie bereits mehrmals begegnet und … Es konnte doch unmöglich zwei Kindermädchen des Namens Jane Connor geben. Er hatte ihr nicht gesagt, daß seine Frau verreist war, aber sie hatte schließlich seit Wochen nicht mehr mit ihm gesprochen, nicht, seitdem er sie mit der Mitteilung, daß er verheiratet sei, in völlige Verwirrung gestürzt hatte. Es tat ihr leid. Sehr leid … Wirklich? Natürlich! Es war einfach schrecklich. Konnte sie jetzt gleich zu ihm gehen und ihm dies sagen? Wie spät war es? Sie drehte sich rasch um und warf einen Blick auf die Uhr über dem Kaminsims: Viertel vor neun. Es war noch hell. Jedoch wußte sie nicht genau, wo sein Bootshaus sich befand. Am Fluß, natürlich – aber bis sie dahin gelangte, würde es dunkel sein. Sie merkte plötzlich, daß sie auf und ab ging. Ihr Magen war vor Aufregung in Bewegung geraten. Sie murmelte abermals: »Schrecklich. Was für eine Tragödie. Und die armen Kinder.« Unvermittelt blieb sie stehen, dann ließ sie sich in einen Stuhl fallen und beugte den Oberkörper vor, so daß ihre Brüste beinahe ihre Knie berührten. Sie durfte sich nicht lächerlich machen; es hatte sich nichts geändert – alles war genauso, wie es vor wenigen Minuten gewesen war. Langsam erhob sie sich, atmete tief und sagte sich: Du kannst morgen früh hingehen. Dann wird es völlig in Ordnung sein, daß du 181
vorbeischaust, um ihm dein Beileid auszusprechen. Er ist dein Angestellter, und da ist es nur natürlich, daß dir seine Sorgen am Herzen liegen. Geh und nimm jetzt ein Bad, und dann leg dich hin; bis morgen kannst du sonst nichts unternehmen. Sie nahm ein Bad und ging zu Bett, aber es dämmerte bereits, als sie schließlich einschlief. Und sie schlief auch noch, als das Mädchen um acht in ihr Zimmer kam, um ihr den Morgentee zu bringen. Sie nahm sich kaum Zeit, ihren Tee auszutrinken, so schnell hatte sie das Bett verlassen, Toilette gemacht und sich angekleidet. Um neun Uhr verließ sie das Haus, nachdem sie Jessie darüber informiert hatte, daß sie keine Kutsche brauche, sondern an diesem schönen Morgen lieber zu Fuß gehen wolle. Die einzige Antwort hierauf war ein »Jawohl, Miß«, aber Jessies Gesichtsausdruck verriet Charlotte, daß sie mit einer derartigen Maßnahme schon wieder einmal das Familienansehen geschädigt hatte; denn zu Fuß ging man einfach nicht zur Kirche. Und daß ihre Herrin zur Kirche wollte, stand für Jessie fest. Da ihr Besuch einen ernsten Anlaß hatte, hatte Charlotte dasselbe schwarze Kleid angezogen, das sie zum Begräbnis ihres Vaters getragen hatte. Und so fiel sie nicht auf, als sie den weiten Weg von ihrem Wohnsitz in Westoe bis zum Fluß hinunter antrat. Sie blieb natürlich nicht unbemerkt, weil sie groß und schlank war und ihr Gang zielbewußt wirkte, als wüßte sie genau, wohin sie gehe. Dabei tat sie es diesmal ja gar nicht, zumindest nicht genau. Als sie die Lawe beinahe erreicht hatte, fragte sie einen alten Einwohner dieses Bezirks, ob er ihr den Weg zu Mr. Connors Werft erklären könne. »Connors Werft? Hab' niemals von einer Werft unter diesem Namen gehört, Ma'am. Die gibt es nicht in dieser Gegend.« »Es ist … eine kleine Werft, soviel ich gehört habe.« »Groß oder klein, Ma'am, unter diesem Namen gibt es keine.« »Mr. Connor hat die Werft erst vor kurzem erstanden.« – »Vor kurzem erstanden?« Der alte Mann rieb sich den Stoppelbart und sagte dann: »Ach ja, jetzt wird's mir klar. Das ist die vom alten Barney Kil182
patrick. Stimmt, ich hab' gehört, daß ein Junger dort angefangen hat. Da muß einer schon viel Mumm haben, um sich in dieser Gegend selbständig machen zu wollen. Nun, Ma'am, dann drehen Sie sich um und gehen bis zu dem Schuttabladeplatz zurück. An dem führt die Abzweigung zu Kilpatricks Werft vorbei, die liegt ein paar Stufen tiefer.« »Danke. Vielen Dank.« »Gern geschehen, Ma'am.« Sie ging die von Schlaglöchern durchsetzte Straße zurück, folgte der ihr von dem alten Mann angegebenen Richtung und befand sich innerhalb weniger Minuten vor einer Holztür, die einen Spaltbreit offenstand, so daß sie die sogenannte Werft ohne weiteres betreten konnte. Sie kletterte die paar zur Eingangstür des Bootshauses führenden Stufen empor, klopfte leise an und wartete. Nach einer kurzen Pause klopfte sie abermals, nur fester, und nachdem sie ein drittes Mal angeklopft hatte, ohne daß sich etwas gerührt hätte, versuchte sie, aufzumachen, merkte jedoch, daß die Tür versperrt war. Sich umblickend, entdeckte sie Anzeichen eines im Bau befindlichen kleinen Bootes. Sie ging bis zur Mole, kehrte wieder um und blickte zu den Fenstern auf. Als Werft konnte sie sich diesen Platz, so klein er auch war, vorstellen, als Wohnung jedoch nicht. Es schauderte sie, als sie sich überlegte, daß es hier, so knapp am Fluß, von Ratten nur so wimmeln mußte. Und wie feucht es hier war. Und doch wohnte er hier offensichtlich gern, denn er hatte mit solcher Begeisterung davon gesprochen! Wo er nur war? Höchstwahrscheinlich daheim bei seinen Leuten. Natürlich, dort würde er sein. Nun, dorthin konnte sie nicht gut gehen – oder doch? Das darfst du nicht, das kannst du nicht, sagte sie sich. Sie verließ die Werft, schloß das Tor hinter sich zu und ermahnte sich, so eindringlich sie nur konnte: Du darfst nicht – du darfst nicht! Man muß Anstand bewahren. Aber bis morgen war noch so lange. Ob er zur Arbeit erscheinen würde? Nun, das einzige, was sie tun konnte, war abwarten. Wenn er nicht auftauchte, dann wollte sie in sein Elternhaus gehen. Dann würde das völlig in Ordnung sein. 183
Langsam ging sie durch die Stadt zurück. Die Menschen befanden sich auf dem Weg zur Kirche. Sie fragte sich, ob sie auch dahingehen sollte. Dann entschied sie sich, es nicht zu tun. Worum sollte sie denn beten? Sie durfte keine Heuchlerin sein. Sie war bisher immer so stolz auf ihre Aufrichtigkeit gewesen – zumindest sich selbst gegenüber. Sie ging zwar zur Kirche, war jedoch nicht das, was man eine regelmäßige oder gar bigotte Kirchgängerin nannte. Sie wußte, weshalb mehr als die Hälfte der Leute zur Kirche ging: Nicht Gott zuliebe, sondern um zu sehen und gesehen zu werden, um Verbindungen herzustellen. Es war Tatsache, daß es einem in der Geschäftswelt absolut nicht schadete, einer Religionsgemeinschaft anzugehören, vor allem dann nicht, wenn man über einen auf seinen Namen lautenden Kirchenstuhl verfügte, der mit einem silbernen Namensschild versehen war. In ihren einsamsten Momenten warnte Charlotte sich selbst vor allen Zynismen, da sie wußte, daß sie ihre radikalen Ansichten für sich behalten mußte, wenn sie jene paar Menschen, die sich selbst als ihre Freunde bezeichneten, nicht verlieren wollte. Aber ach, wie oft hatte sie schon gedacht, wie wunderbar es sein müsse und wie tröstlich obendrein, einen einzigen Menschen zu haben, mit dem man offen reden konnte. Einen Mann, jemanden wie … Wann hatte sie nur zum erstenmal auf diese Art an ihn gedacht? Offensichtlich ihr Leben lang. Mach dich nicht lächerlich! Nun, viereinhalb Jahre waren ein Leben lang …
Der Sonntag zog sich hin. Und da sie am Montagmorgen zeitig aufwachte, war sie schon um acht Uhr zum Ausgehen bereit und saß um Viertel vor neun hinter ihrem Schreibtisch im Chefbüro in der Tangard Street. Falls er zur Arbeit kam, würde er hierherkommen, um die Arbeit für die beiden andern Männer einzuteilen. Sollte er nicht auftauchen, mußte sie dafür sorgen, und danach würde sie nach Simonside gehen und ihm ihr Beileid aussprechen … 184
Er kam zehn vor neun ins Büro, und sie war über seinen Anblick erschrocken und traurig – wirklich traurig. Und doch beneidete sie gleichzeitig jene Frau, die es durch ihr Hinscheiden zuwege gebracht hatte, diesen Mann über Nacht um Jahre altern zu lassen. Sie stand rasch auf, kam um den Schreibtisch herum, bis sie vor ihm stand, und sagte dann mit aufrichtiger Empfindung: »Es tut mir so leid. Sie hätten nicht kommen sollen. Ich habe Sie nicht erwartet. Sie … Sie müssen heimgehen und so lange dort bleiben, wie Sie es für nötig erachten; es eilt nicht, ich werd' schon allein hier fertig …« Sie sah, wie er sich die Lippen befeuchtete, ehe er mit einer Stimme, die so gar nicht seiner gewohnten glich, weil sie aller Kraft beraubt schien und an die eines alten Mannes erinnerte, sagte: »Ich würde … würde lieber arbeiten, falls Sie nichts dagegen haben.« »Nun« – sie schüttelte langsam den Kopf –, »ganz wie Sie wollen. Aber … aber Sie sehen nicht gut aus. Und haben Sie nicht verschie… Nun, ich meine, sind nicht diverse Amtswege zu erledigen?« »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Wir … Ich bin Samstag auf die Polizei gegangen, und da hat man mir gesagt, daß man mich verständigen wird, wenn man Näheres erfährt. Mr. – Mr. Buckhams Vater kümmert sich um die Angelegenheit.« »Oh.« Sie starrte ihm ins Gesicht. Es war grau, leblos. Als sie ihn so ansah, erkannte sie, daß seine Anziehungskraft überhaupt nicht mit seinem Aussehen zusammenhing, wie man es hätte annehmen können und wie sie es selbst vor Jahren angenommen hatte. Sondern mit der Vitalität, die er für gewöhnlich ausstrahlte, mit der arroganten Unverschämtheit, die zu seinem Wesen gehörte. Im Augenblick ging nicht die Spur von Leben von ihm aus, weder von seinem Gesicht noch von seinem Körper. Natürlich verstand es sich von selbst, daß dies nur vorübergehend so war. Er stand unter dem Einfluß eines Schocks. Er würde schon wieder aufleben. Sie würde dafür sorgen, daß er wieder auflebte. Die Entscheidung, sogleich zur Arbeit zu kommen, war klug, ja das Bestmögliche, was er hatte tun können. Sie sagte nun: »Dann kann ich Sie also verlassen?« »Selbstverständlich.« 185
Sie griff nach Tasche und Handschuhen, drehte sich nochmals zu ihm um und sagte: »Wenn Sie wollen, können Sie Mr. Taylor abends mit den Einnahmen zu mir schicken.« »Danke.« Er neigte den Kopf. »Bleiben Sie jetzt bei Ihren Eltern?« »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin übers Wochenende bei ihnen gewesen, gehe aber wieder auf die Werft zurück.« Sie sagte, und es klang leicht besorgt: »Halten Sie es für ratsam, ganz allein am Fluß unten zu bleiben?« »Mein Bruder ist bei mir.« »Ah ja.« Sie sah ihn an. Und dann sagte sie abermals: »Es tut mir so leid für Sie.« Er antwortete nichts darauf, wandte sich aber von ihr ab, und es kostete sie eine übergroße Anstrengung, nicht auf ihn zuzugehen und ihm die Hand auf die Schulter zu legen, denn sie hatte das deutliche Gefühl, daß ihm sehr nach Weinen zumute war. Und wenn sie ihn weinen sehen müßte, dann … Sie drehte sich hastig um und ging aus dem Zimmer. Er blieb stehen und sah auf den Schreibtisch nieder, als hätte er ihn nie zuvor gesehen, als wäre er überrascht darüber, ihn hier vorzufinden. Dann trat er dahinter, nahm Platz, zog ein Taschentuch aus der Rocktasche und wischte sich das Gesicht damit ab, ehe er sich die Nase putzte. Er hatte gesagt, daß er lieber arbeiten wolle. Weil er gedacht hatte, daß er sich dabei besser fühlen werde. Dabei wußte er, daß er sich weder hier noch sonstwo besser fühlen würde – niemals. Außer daß es besser war, hier als in der Küche daheim herumzusitzen. Er wäre verrückt geworden, wenn er noch länger zuhören hätte müssen, wie sie unentwegt über Janie sprachen. Seit Samstagabend hatten sie nichts anderes getan, sie hatten geklagt und gejammert und geweint ihretwegen. Auch er hatte getrauert. Aber nur innerlich. Für sie war es so, als läge sie mitten in der Küche aufgebahrt, und sie hatten ihr Bier und ihr Gläschen Whisky getrunken, gleichsam als hielten sie die Totenwache. Die ganze Nacht waren sie so aufgewesen, die Learys und ihr Pa und Oma und sein Vater und Ruth und Jimmy und … sie. Nel186
lie war mit ihrem Mann gekommen und hatte unter Tränen verkündet, daß sie schwanger sei, und sie – und das hatte ihn am meisten verrückt gemacht! –, seine dicke Schlumpe von eifernder Mutter, hatte sofort geschrien: »Das sind die Wege des Herrn! Das sind die Wege des Herrn – Er schließt nie eine Tür, ohne daß Er eine andere öffnet!« Noch einen Tag bei denen da droben, und er hätte glatt den Verstand verloren. Das einzig Gute, das sich bei alledem herauskristallisiert hatte, war, daß er und Jimmy wieder so zueinander standen wie vorher. Zwar hatten sie kein Wort gesprochen, aber Jimmy war ihm seit Samstag nicht von der Seite gewichen – nicht einmal während der Nacht, der längsten Nacht seines Lebens. Den ganzen Samstagabend hatte er oben auf dem Boden neben ihm gesessen und die vergangene Nacht ebenfalls, und er war es, der am frühen Morgen zu ihm gesagt hatte: »Gehen wir lieber wieder heim, hm?« Merkwürdig, daß Jimmy lieber die Werft als sein Zuhause betrachtete als jenen Ort, an dem er aufgewachsen war. Aber Janie hatte es eben zu einem Heim gemacht. Mit Scham und Schuldbewußtsein hatte Rory daran gedacht, wie er begonnen hatte, es mit Charlotte Keans Haus zu vergleichen. Mein Gott, in diesem Moment hätte er einen diamantenbesetzten Palast dagegen eingetauscht, wenn nur Janie wieder dagewesen wäre. Ach, Janie, Janie. Mein Gott, wie Fremde waren sie voneinander geschieden. Er erinnerte sich an seine letzten Worte, die er an sie gerichtet hatte: »Du bist herz- und gefühllos. Ich habe es in diesen vier Wänden schon einmal zu dir gesagt, und ich sage es noch einmal. Du hast einen echten Zug zur Hartherzigkeit.« Sie hatte ihn angesehen und erwidert: »Möglich – vielleicht hast du recht.« Dann war sie gegangen. Und als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, hatte er mit den Fäusten gegen seine Stirn getrommelt. Hinter seinem Rücken fingen sie bald wieder an, ihn bewundernd als den ›großen Spieler‹ zu bezeichnen. Und als solcher sah er sich und das nicht ohne Stolz, nachdem er wieder mit dem Kartenspiel begonnen hatte. Aber was war er wirklich? Er war ein Niemand, der nicht einmal 187
die eigene Frau in Griff bekommen hatte, der sich von einem so zarten Ding zum Narren hatte machen lassen. Ach, Janie, Janie, wie soll ich nur weiterleben? Es klopfte, und Mr. Taylor trat ein und brachte ihm damit die Antwort darauf: es gab nur eines – Arbeit. Arbeit oder den Fluß.
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Dritter Teil Die Abmachung
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S
eit im Jahre 1851 die ›Erste Nationalunion der Techniker und Ingenieure‹ gegründet worden war, schossen im ganzen Land auch Gewerkschaften aus dem Boden. Zum Schrecken und zur Bestürzung des Mittelstandes, die sie als ein Geflecht von Geheimgesellschaften betrachteten, deren einziger Zweck es war, ehrenwerte Bürger einzuschüchtern, Komplotte zu schmieden, angestammtes Eigentum zu konfiszieren, den Pöbel zu Gewalttätigkeiten anzustacheln und – für den Fall, daß sie die Oberhand gewannen – das Land in eine totale Revolution zu stürzen. Die Grafschaft von Durham war das geeignete Terrain für solche Leute. Sie agitierten in den Kohlengruben, in den Werften und in den Fabriken, und es hieß sogar, daß sie nicht davor zurückscheuten, selbst junge Frauen zu beschwatzen. Und nicht nur solche aus gewöhnlichem Milieu, wohlgemerkt, sondern auch gebildete, wohlerzogene Frauen aus den allerbesten Kreisen. Eine von diesen verdächtigen Gestalten in South Shields war Miß Charlotte Kean. Nicht, daß man sie öffentlich bezichtigt hätte, die Gewerkschaften zu unterstützen – was auch zu jenem Zeitpunkt lächerlich gewesen wäre, wo sie doch an vielen großen und noch mehr kleinen Firmen ganz schön beteiligt war. Nein, man beschuldigte sie keineswegs, ihre Sympathie jener Seite zuzuwenden, die sie letzten Endes doch nur ruinieren würde, sondern man behauptete einfach, daß sie ihre Nase in allzu viele kulturelle Belange stecke, Belange, die bisher ausschließlich Männern vorbehalten gewesen waren: wie – um ein Beispiel zu nennen – die Büchereien, die man vor vier Jahren allgemein zugänglich gemacht hatte. Shields konnte mit gutem Grunde stolz darauf sein, daß das ein190
schlägige Gebäude achttausendzweihundert Bücher aufwies – und dies hauptsächlich aufgrund von überaus großzügigen Schenkungen von Leuten wie den Stephensons, Mr. Williamson und Mr. Moore, die übrigens auch für die Errichtung diverser Schulen gesorgt hatten. Wer also hatte derlei Bildungsmöglichkeiten geschaffen? Männer! Nicht Frauen! Es war einzig und allein das Verdienst besagter Männer gewesen, daß die Stadt über nennenswerte Bildungs- und Sportzentren verfügte, soviel stand fest. Und nun erzwangen sich auf einmal Frauen Zutritt zu den diversesten Besprechungen, Sitzungen und Komitees, ob es nun um Erziehungs-, Schul- oder Religionsfragen ging. Und allen voran marschierte, ohne nach links oder rechts zu blicken, Miß Charlotte Kean. Es gab Männer, die ihre Haltung belustigte und die sagten, daß man ihr einfach zugestehen solle, daß sie über eine männliche Denkungsweise verfüge, und damit basta. Aber die Majorität betrachtete sie und ihresgleichen als potentielle Gefahr, sowohl in bezug auf ihre Hausangestellten als auch, was geschäftliche Belange betraf. Um Feuer zu legen, genügte bekanntlich ein Streichholz. Und genau das war sie. Man brauchte sich ja bloß vor Augen zu halten, wie sehr sie jeden weiblichen Anstand vermissen ließ, indem sie mit diesem Emporkömmling von einem ehemaligen Mieteneintreiber in der ganzen Grafschaft paradierte. Sie hatte ihn nicht nur zu ihrem Geschäftsführer gemacht, sondern nahm ihn sozusagen als Geleitschutz auch noch überallhin mit. Damit brachte sie sich nur selbst in schlechten Ruf. Du meine Güte, wenn ihr Vater noch am Leben gewesen wäre – so etwas hätte nie passieren können! Sein einschneidendster Fehler war gewesen, ihr Einblick in das Geschäftswesen gewährt zu haben, denn sie hatte nach und nach einen derartigen Geschäftsgeist entwickelt, daß die andern Mühe hatten, mit ihr Schritt zu halten. In dieser Beziehung war sie tatsächlich bemerkenswert. Aber sie mochten keine bemerkenswerten Frauen – weder solche, die gegen sie, noch solche, die für sie waren. Nein, sie hatten absolut nichts übrig für bemerkenswerte Frauen. Dies hier war eine Stadt der Männer, eine Stadt der Seefahrer; Frauen besaßen darin ihren angestammten Platz, und man ehrte sie, solange sie sich auf diesen Platz 191
beschränkten. Wenn sie jedoch anfingen, bemerkenswert zu werden, wurden sie unbeliebt, vor allem dann, wenn sie darauf abzielten, es den Herren der Schöpfung gleichzutun.
Auch Charlottes Geschäftsführer hatte so seine Vorstellungen über seine Brotgeberin und die Dinge, die sie anpeilte. Jedoch gestand er sich neidlos ein, daß sie tatsächlich eine bemerkenswerte Frau war. In gewissen Dingen etwas merkwürdig, zugegeben, aber nichtsdestoweniger bemerkenswert. Ein Jahr war seit der Nachricht über Janies Tod ins Land gegangen, und die Binsenweisheit, daß die Zeit Wunden heile, hatte sich wieder einmal bewahrheitet. Denn innerhalb der letzten Monate war Rory aus diesem Meer der Verzweiflung langsam wieder aufgetaucht und hatte mit aller Energie begonnen, sich sein Leben zurechtzuzimmern. Obwohl Janie noch immer einen festen Platz in seinem Herzen einnahm, war der Schmerz um sie geringer geworden. Selbst während der Nacht, wo er am deutlichsten spürte, wie er sie vermißte, empfand er nicht mehr die anfängliche Seelenqual noch dieselbe Sehnsucht nach ihrer Gegenwart. Zwei Dinge hatten dazu beigetragen, ihm die Sache zu erleichtern: Erstens die Verbindung mit Jimmy und der Werft und zweitens – oder hätte er dies an erster Stelle anführen sollen? – Charlotte Kean. Als er vor sechs Monaten die Stelle eines Geschäftsführers angetreten hatte, hatte sie seinen Lohn – »Gehalt« nannte sie es nun – auf drei Pfund pro Woche erhöht. Das schien ihm unglaublich. Nie im Leben hätte er sich träumen lassen, jemals imstande zu sein, drei Pfund die Woche zu verdienen. Einen solchen oder auch einen zehnmal größeren Betrag beim Spielen zu gewinnen – ja, davon hatte er schon geträumt; aber nie sich denselben als ehrlichen Lohn zu erwerben. Und verdiente er ihn? War die Arbeit, die er nun leistete, drei Pfund pro Woche wert? Sie bestand darin, daß er frühmorgens das Stadtbüro aufsuchte und sich gegen zehn im Hause Charlotte Keans 192
einfand, wo er in ihrem Büro, direkt ihrem Schreibtisch gegenüber, Platz nahm. »Was würden Sie in einem derartigen Fall raten, Mr. Connor?« Das erste Mal, als sie ihm einen Brief über den Schreibtisch hinweg zugeschoben hatte, hatte er sie ausdruckslos angestarrt, ehe er ihn zu lesen begann. Er stammte von ihrem Anwalt, der sie davon benachrichtigte, daß eine neue Chemiegesellschaft vorhatte, Aktien in Umlauf zu bringen, und der ihr riet, sich zu überlegen, ob sie nicht einen Teil davon erwerben wolle. Verwirrt hatte Rory sie weiterhin angesehen, weil er spürte, wieviel davon abhing, was er ihr antworten würde. Ihrem Blick standhaltend, sagte er schließlich: »Ich kann Ihnen diesbezüglich keinen Rat geben, weil ich von diesen Dingen so gut wie überhaupt nichts verstehe.« Hatte aber dann hinzugefügt: »… Vorläufig.« Sie hatte den Blick nicht gesenkt, als sie erwiderte: »Dann müssen Sie es eben lernen – das heißt, falls Sie Wert darauf legen. Ist das der Fall, Mr. Connor?« »Ja, ja, natürlich, ich möchte es unbedingt erlernen.« »Nun, damit ist die Sache erledigt«, hatte sie gesagt. »Dann wissen wir wenigstens, wo wir stehen, nicht wahr?« Und dann hatte sie ihm zugelächelt und geklingelt. Und als Jessie auftauchte, sagte sie: »Wir möchten jetzt eine kleine Erfrischung haben, Jessie.« So sahen ungefähr jene Tage aus, an denen er nicht nach Hexham oder Gateshead oder übers Wasser nach Wallsend fuhr, um sich dort überall um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Bis sich diese Ausfahrten vor ungefähr zwei Monaten in der Weise geändert hatten, daß sie anfing, ihn zu begleiten. Sie reisten mit der Bahn und saßen Seite an Seite in Erster-KlasseAbteilen. Nahmen sie eine Droschke, öffnete er ihr den Wagenschlag und half ihr beim Ein- und Aussteigen. Er gehorchte ihren Befehlen in jeder Hinsicht, außer daß er ihre Einladung abgelehnt hatte, zum Essen zu bleiben, als er eines Abends die Tageseinnahmen abliefern kam. Manchmal sprach sie eine solche auch aus, wenn sie von ihren diversen Kontrollfahrten zurückkehrten. Er hatte als Grund für seine Ab193
lehnung immer angegeben, daß sein Bruder daheim auf ihn warte und ganz allein wäre. Einmal hatte sie ihn darauf von der Seite angesehen und gefragt: »Wie alt ist denn Ihr Bruder?« »Er wird zwanzig.« »Zwanzig! Und da braucht er nachts noch Ihren Schutz?« Er hatte etwas matt und förmlich geantwortet: »Ja, leider. Erst vergangene Woche hat man ihm ein Boot, an dem er eben erst zu arbeiten begann, zu Kleinholz geschlagen. Und das nächste Mal kann er selbst an der Reihe sein.« »Oh!« Sie zeigte sich ernstlich interessiert. »Haben Sie die Polizei verständigt?« »Nein.« »Haben Sie eine Ahnung, wer es getan haben könnte und weshalb?« »Ja, sowohl als auch: ich weiß, wer es getan hat, und ich weiß, weshalb. Es gibt da unten eine Familie, die die gesamte Flußschiffahrt gepachtet zu haben scheint. Drei Brüder namens Pittie …« »Ach, die Pitties«, nickte sie verständnisvoll. »Haben Sie schon von ihnen gehört?« »Ja, ja, ich habe den Namen schon gehört, und mir ist auch einiges über ihre Tätigkeit bekannt.« »Nun, dann wissen Sie ja Bescheid.« »Ja, ich habe eine ziemlich genaue Vorstellung von ihren Methoden. Und« – sie hatte genickt und hinzugefügt – »diesen Grund, weshalb Sie des Nachts unten bei Ihrem Bruder sein wollen, akzeptiere ich. Aber auch Sie müssen vorsichtig sein. Denn was die einmal getan haben, können sie wieder tun.« Er hatte sich ruckartig aufgesetzt und gefragt: »Was meinen Sie damit?« »Nun, sie könnten ja noch ein Boot ruinieren.« »O ja, natürlich, das könnten sie.« Also war er Abend für Abend, einschließlich Samstag, daheimgeblieben. Bis vor kurzem, als es ihm wieder in den Fingern zu kribbeln begann und er eine Spielrunde aufsuchte, nicht am Fluß oder 194
in der Stadt, sondern weiter weg, in einem der Vororte, nämlich Boldon. Es war merkwürdig, auf welche Weise er auf das Haus in Boldon stieß. Er hatte ganz vergessen, daß er jemals da gespielt hatte. Es war im Zug nach Gateshead, als er von einem Mitreisenden auf ein Glas Bier eingeladen worden war. Im Speisewagen war es dann zwischen besagtem Mann und einem im Tyne-Dock zugestiegenen, angeblich völlig Fremden zu einem kleinen Spielchen gekommen, bei dem der Hinzugekommene natürlich unentwegt gewann. Der Mann, der Rory zum Biertrinken animiert hatte, jammerte daraufhin lauthals los, wie sehr er vom Pech verfolgt wäre, um sich schließlich mit der Frage an ihn zu wenden, ob nicht vielleicht er einmal sein Glück versuchen wolle. Rory hatte ihn jedoch nur verächtlich angesehen und gesagt: »Der Trick stammt aber zumindest aus der Arche Noah, mein Lieber.« Einen Moment hatte er schon gedacht, die beiden Kerle würden über ihn herfallen; dann hatte jener, der die ganze Zeit über so getan hatte, als wäre er am Gewinnen, ihn näher in Augenschein genommen und gesagt: »Du meine Güte, Sie kenne ich ja – ich hab' schon mal mit Ihnen gespielt. Sind Sie früher nicht zu den Telfords in Boldon gegangen?« Es stimmte. Er hatte bei den Telfords in der Küche, in der Waschküche und einmal sogar im Dachstübchen gespielt. Von diesem Zusammentreffen an hatte sich die alte Spiellust wieder in ihm geregt – nicht daß sie ihn jemals tatsächlich verlassen hätte. Aber seit Janies Tod hatte er nie mehr gespielt, nicht einmal mehr um ein paar Groschen. Also hatte er mit den Telfords wieder Verbindung aufgenommen, und eines Samstags abends war er dann nach Boldon gegangen. Die Telfords waren spiel- und wettbesessene kleine Leute, die vom Kopfoder-Adler-Spiel bis zum Hahnenkampf, vom Kaninchenwettlauf bis zum Hunderennen bei allem mit gleicher Begeisterung mitmachten – sämtlich Dinge, von denen Rory schon längst nichts mehr wissen wollte. Er beschränkte sich aufs Kartenspiel, wobei weder seine Gewinne 195
noch seine Verluste jemals mehr als fünf Pfund ausmachten. Hauptsache, er wußte, daß es sich um eine faire Runde handelte. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt war er jedoch noch in ein anderes Spiel verwickelt, das ihm ernstliches Kopfzerbrechen machte. Er erinnerte sich an jenen Samstagvormittag, als er Charlotte Kean gesagt hatte, daß er verheiratet sei – vor allem an ihre Reaktion hierauf und an die auf der Hand liegenden Schlußfolgerungen, die er damals damit abtun hatte wollen, daß er sich selbst einen eingebildeten Tropf schalt. Nun jedoch tat er das nicht mehr. Er betrachtete die Situation, in der er sich befand, als das gewagteste Spiel seines Lebens. Es gab nur zwei Spieler dabei, und es war unvermeidlich, daß einer von ihnen in absehbarer Zeit die Karten auf den Tisch legen mußte. Nun, er konnte es nicht sein – aus mehr als einem Grund. Er und Charlotte Kean heiraten, eine Frau, die um Jahre älter war als er und von völlig reizlosem Aussehen, formlos wie eine Bohnenstange und mit einem Gesicht, das man nicht anders als häßlich bezeichnen konnte. Es stimmte natürlich: Sie hatte eine ausnehmend angenehme Stimme, ein einnehmendes Wesen und eine schöne Seele, das mußte man zugeben. Und man konnte sich in ihrer Gesellschaft ungemein wohl fühlen, das hatte er auf ihren vielen Ausfahrten oft genug feststellen können. Sie konnte über alles und jedes reden, und er hatte bemerkt, daß er durch das bloße Zuhören eine ganze Menge gelernt hatte. Und sie verstand sich auf Freundschaft – in dem Punkt kam sie Rory direkt ideal vor. Aber selbst wenn man dies alles berücksichtigte, konnte aus zwei Gründen kein Paar aus ihnen werden: Erstens weil man sich in seiner Gesellschaftsschicht nichts aus Freundschaften zwischen Männern und Frauen machte – so was gab man höchstens vor, um ans Ziel zu gelangen; und zweitens war es ja nicht Freundschaft, was sie wollte. Was sie suchte, war ein Mann, ein Ehemann. Oh, er wußte, wohin die Dinge führten. Er wollte sich nicht selbst zum Narren halten, nur weil er sich begreiflicherweise geschmeichelt fühlte. Nachts lag er da und überlegte, was es bedeuten würde, auf Birchingham House zu leben, in der vornehmsten Gegend von Westoe. 196
Mit all den Besitztümern, Geschäften und Liegenschaften obendrein. Mein Gott, an so etwas bloß zu denken! Und dies alles würde dann auch ihm gehören. Was die Frau besitzt, gehört ebensogut ihrem Mann. Und da saß sie ihm nun Tag für Tag gegenüber, und er spürte direkt, daß sie bereit war, mit ihm zu teilen – mit ihm, Rory Connor, dem ehemaligen Zinsgeier aus der Simonside. Es war phantastisch, einfach nicht zu glauben! Und erst die daheim. Was die wohl sagen würden, wenn er einen derartigen Schritt unternähme? Du meine Güte, es würde drunter und drüber gehen. Oder nein – in dem Punkt irrte er sich höchstwahrscheinlich. Ruth war in solchen Dingen nicht zu beeindrucken. Und was seine Mutter betraf, würde sie nach einem Blick auf Charlotte Kean garantiert sagen: »Ja, ja, man muß eben für alles im Leben bezahlen.« Sie hatte eine sehr direkte Art, die Dinge deutlich zu machen. Sein Vater würde natürlich mit ihm prahlen, das verstand sich von selbst. Jedermann ringsum würde es zu hören bekommen, von der Kirchenbank angefangen übers Wirtshaus in Jarrow bis in den letzten Winkel der Ellison Street. Was aber würde Bill Waggett sagen? Ach, zum Teufel mit ihnen allen. Es würde ohnehin nicht dazu kommen. Es war unmöglich – er konnte es nicht tun. Schließlich war alles in Ordnung so, wie es war. Jimmy kam nicht schlecht voran, wenn er auch natürlich noch bedeutend besser vorangekommen wäre ohne die verdammten Pitties. O Gott, eines Tages würde er es ihnen heimzahlen, und wenn es das Letzte war, was er im Leben tat. Es ging kaum ein Tag zu Ende, ohne daß er nicht an sie gedacht hätte, an dem er nicht diese oder jene Möglichkeit erwogen hätte, wie er mit ihnen quitt werden könnte. Und das würde er, um jeden Preis. Eines Tages würde er einen Wink bekommen, und dann sollten sie nur sehen! … Was übrigens den Wink betraf, so hätte er jetzt auf der Stelle einen brauchen können. Wenn man Geld besaß, besaß man Macht, und es bedurfte der Macht, um es den Pitties heimzuzahlen. Alles, was er tun mußte, war, zu sagen: »Ich danke Ihnen sehr, Miß Kean. Ich bin damit einverstanden, Ihr Mann zu werden.« Damit hätte er in den sichersten Hafen 197
der Welt einfahren können, mit vollen Truhen obendrein, und wenn das Meer noch so stürmisch gewesen wäre. Aber er wußte, was er sagen würde: »Tut mir leid. Miß, aber es würde nicht gutgehen.« Sonderbarerweise mußte er sich eingestehen, daß es ihm, wenn er dies zu ihr sagen würde, leid täte. Denn wenn er sich noch so sehr über sie lustig machte – und das tat er –, so war doch eine Stelle in seinem Innern, wo sie ihn dauerte, und diese Stelle war in letzter Zeit größer geworden. Er bemitleidete sie wegen ihrer Einsamkeit, und er verstand sie, weil er selbst einsam war. Aber obwohl sie im Gegensatz zu ihm seit Jahren einsam war, hatte sie sich ganz offensichtlich noch nicht damit abgefunden. Deshalb hatte sie ihn ins Auge gefaßt. Fragte sich nur, weshalb? Leute ihres Standes betrachteten seinesgleichen als Boden, als schmutzigen Boden unter ihren Füßen. Wenn man noch dazu bedachte, wie jedermann über sie reden würde, wenn es dazu kam. Guter Gott! Eine Miß Kean und er: die Stadt würde überkochen. Er war sich jetzt schon vage dessen bewußt, wie man ihnen heimliche Blicke nachwarf. Als sie das letzte Mal in Durham waren, um einen Betrieb am Fluß zu besichtigen, waren sie nachher in einem Gasthof eingekehrt. Sie hatte ihn ausgesucht und gesagt, daß sie dächte, es würde ihm gefallen. Es war ein richtiges Männerlokal mit Tischen aus Eichenbalken, klobigen Stühlen, Fleischpudding und Bier. Und es hätte ihm auch gefallen, wenn es sich nicht um Durham gehandelt hätte. Denn in Durham war das Gefängnis. Nun, er hatte getan, was in dieser Hinsicht in seinen Möglichkeiten lag. Er hatte versucht, es wiedergutzumachen und Jimmy mit zehn Pfund zu John George geschickt; er sollte ihn fragen, ob er ihn nach der Entlassung aufsuchen wolle. Aber Jimmy war mit den zehn Pfund zurückgekommen: John George sei bereits entlassen worden, und niemand wüßte, wo er sich jetzt aufhalten würde. Rory hatte tagelang seinen Besuch erwartet, aber John George war nicht gekommen. Also hatte er sich gesagt, daß die Sache damit erledigt sei; er hatte sein Bestes getan. Jedoch erlebte er in einem neuerlichen Alptraum jene 198
Nacht wieder, in der ihn Janies Toben aufgeweckt hatte, und er erkannte, daß sein Bestes nicht gut genug gewesen war und John George bis ans Ende seiner Tage eine nie verheilende Wunde in seiner Seele bilden würde. Anläßlich ihres Gasthofbesuchs in Durham also waren zwei Herren aus Shields an ihren Tisch gekommen, um mit Charlotte Kean zu sprechen, und sie hatte ihnen Rory vorgestellt. Es handelte sich um einen Mr. Allington und einen Mr. Spencer. Rory wußte Bescheid über sie: Allington war Rechtsanwalt, und Spencer besaß eine Ladenkette; er hatte vor ungefähr fünfzehn Jahren mit einem einzigen kleinen Laden angefangen; inzwischen breiteten sich seine Filialen weit über Jarrow aus. Nach den ersten Begrüßungsworten hatten sie die ganze Zeit über kein Wort mehr an ihn gerichtet, und als sie sich schließlich empfahlen, ihn nur eines kurzen Nickens gewürdigt – weiter nichts. Er war eben ein emporgekommener Mieteninkassant.
Und dann kam der Tag, an dem Charlotte dem Spiel ein jähes Ende machte und ihre Karten offen auf den Tisch legte. Sie waren eben aus Newcastle zurückgekehrt, wo sie sich eine Eisengießerei angesehen hatten, an der sich Miß Kean unter Umständen beteiligen wollte. Die Reise war gegen den Rat ihres Anwalts unternommen worden. Die Gießereien am Tyne, so hatte er gesagt, seien nicht mehr in der Lage, Eisen genauso billig herzustellen, wie es früher der Fall gewesen wäre; die Bahn hatte die Eisenfabrikation in diesem Teil des Landes unrentabel gemacht. Charlotte hatte Rory jedoch erklärt, daß sie den Argumenten des Anwalts nicht zustimmen könne, weil ihrer Meinung nach die Leute immer Küchenöfen, Kaminroste, Geländer und Gitter jeglicher Art brauchen würden – ob es sich nun um Parkzäune, Tore, Bettgestelle, Safes oder dergleichen handelte. Sie sagte auch, daß sie nicht im Traume daran dächte, Palmer Konkurrenz zu machen, sondern bloß einschlägige Dinge für den täglichen Gebrauch 199
herstellen und vor allem Haushalte beliefern wolle. Was er denn darüber denke? Er hatte ihr offen und kurz wie immer geantwortet, weil er gelernt hatte, daß ihr die Wahrheit über alles ging, zumindest in den meisten Belangen. »Ich denke, daß ich mit Mr. Hardy einer Meinung bin; er weiß, wovon er spricht.« »Glauben Sie denn, ich nicht?« »Nun, ich würde nicht gerade behaupten, daß Sie besonders viel vom Eisenhandel wissen.« »Haben sie nicht bemerkt, daß ich eine ganze Menge darüber gelesen habe?« »Doch, das habe ich wohl bemerkt, aber meiner Meinung nach bedarf es, um in einen derartigen Handelszweig tatsächlich Einblick zu bekommen, mehr als bloßer Lektüre.« »Sicher. Aber ich würde mich selbstverständlich von Fachleuten beraten lassen. Was meinen Sie denn?« »Ich meine, daß Sie letzten Endes ja doch das tun werden, was Sie tun wollen«, hatte er lächelnd erwidert. Daß er auf diese Art mit ihr sprechen konnte, war der beste Beweis dafür, wie weit ihre Verbindung in letzter Zeit gediehen war. Er gebrauchte nun nur mehr höchst selten die Anrede ›Miß‹, und obwohl sie von Zeit zu Zeit ›Mr. Connor‹ zu ihm sagte, tat sie dies für gewöhnlich nur in Gegenwart des Personals; ansonsten sprach sie mit ihm, ohne ihn überhaupt beim Namen zu nennen. Was ihr Personal über die neue Lage auch denken mochte, es behandelte den Geschäftsführer der Gnädigen mit Respekt, ja sogar mit einer gewissen Unterwürfigkeit, was Rory früher einmal belustigt hätte. In jenen Tagen hätte ihm ein derart sklavisches Verhalten genügend Material zum Nachäffen geliefert, und es hätte daheim einen Riesenspaß gegeben; ja, seine Verbindung mit Miß Charlotte Kean wäre dort überhaupt ein einziger Riesenspaß gewesen. Früher einmal – aber nicht heute. Jedenfalls verliefen die Sonntage nun anders. Er ging bei weitem nicht immer nach Hause, sondern nur noch hier und da und auch das nur auf Jimmys Drängen hin. Er stellte sich niemals die Fra200
ge, weshalb er nun etwas gegen das althergebrachte sonntägliche Beisammensein daheim hatte, denn er wußte insgeheim, daß er denen zu ›groß‹ geworden war. Und möglicherweise war sogar etwas Wahres daran, denn er mußte sich ehrlicherweise eingestehen, daß er, je mehr er von Westoe zu sehen bekam, immer mehr die Umstände verdrängte, unter denen er aufgewachsen war. An diesem Tag hatte er wieder einmal einen innerlichen Kampf ausgefochten, mit dem Ergebnis, daß er überhaupt nicht mehr wußte, wohin er gehörte. Es war der Jahrestag von Janies Tod, und er verspürte keinerlei heftigen Schmerz mehr, obwohl ihn das Gefühl beschlich, daß es der Fall hätte sein müssen. Er hätte auf irgendeine Weise eine Art Gedächtnisfeier abhalten müssen, zumindest insgeheim. Und was hatte er statt dessen getan? Er war an der Seite seiner Brotgeberin nach Newcastle gefahren, mit ihr in einer Gießerei herummarschiert, und danach waren sie in bester Laune ins ›Royal Exchange Hotel‹ essen gegangen. Dann hatte er wie ein fügsamer Gatte darauf gewartet, daß sie ihre Einkäufe bei Bainbridge erledigte. Anschließend war er mit ihr über den Haymarket geschlendert, wo sie beinahe vor jeder Eisenwarenhandlung haltgemacht hatte, um sich über Angebot und Preise zu informieren. Schließlich bestand sie darauf, sich die allseits bekannten Tanzsäle anzusehen, so daß er sich ehrlich erstaunt fragte, was sie dort wolle, bis sie davorstehend beinahe traurig sagte: »Meine Mutter hat einmal hier getanzt. Sie hat mir oft davon erzählt. Es war gewissermaßen der Glanzpunkt ihres Lebens. Sie wurde von einem jungen Mann zum Tanzen aufgefordert, und dann haben die beiden die ganze Nacht durchgetanzt.« Als sie sich zu ihm umwandte, fuhr er in keckem Ton fort: »Und dann haben sie geheiratet und waren glücklich bis ans Ende ihrer Tage.« »O nein. Geheiratet hat sie meinen Vater.« Wie war das nun wieder zu verstehen? Ihr letzter Besuch galt Mawson & Swan in der Grey Street, wo sie sich mehrere Bücher aussuchte. Als sie den Bahnhof erreicht hatten, verglich er sich im stillen mit einem Packesel, so sehr war er mit vielerlei Dingen beladen. Er dankte 201
Gott, daß sie wohl kaum Bekannten begegnen würde. In Shields angelangt, nahmen sie eine Kutsche und fuhren durch den dichtesten Sprühregen zu ihrem schönen Haus, das mit seiner behaglichen Wärme nur auf sie zu warten schien. Übrigens war es mehr als bloß behaglich: es war elegant. Noch so ein Ausdruck, den er in letzter Zeit seinem Vokabular hinzugefügt hatte. Es schien das einzig passende Wort, dieses vornehm wirkende, geschmackvoll eingerichtete Haus zu beschreiben. »Ist es nicht schön, wieder daheim zu sein?« fragte sie, nachdem sie sich oben rasch frischgemacht hatte. Offensichtlich hatte sie ihr Haar kräftig durchgebürstet und etwas Puder aufgelegt, denn ihr Kinn sah genauso aus wie das von Ruth, wenn die gute mit der bemehlten Hand darübergefahren war. »Diese Nässe ist gräßlich. Sie müssen unbedingt etwas Warmes zu sich nehmen, bevor Sie gehen. Hat Mr. Taylor die heutigen Einnahmen abgeliefert?« »Ja, ich habe inzwischen alles kontrolliert. Es stimmt.« Das war auch eine Neueinführung. Nicht er ging mehr ins Stadtbüro, um die Eingänge abzuholen, sondern Mr. Taylor lieferte sie jeden Abend hier ab. An jenen Tagen, an denen es keine Inspektionsreisen gab, brachte der alte Mann ihm die Einnahmen ins Chefbüro; Rory zählte das Geld ab, verglich die Beträge mit den Eintragungen und gab dann den beiden Angestellten die Bücher zurück. Wenn er mit dem Alten auf diese Weise zu tun hatte, war ihm jedesmal, als sähe er sich selbst vor noch einem Jahr – eine jüngere Ausgabe eben, das war der ganze Unterschied: eine jüngere Ausgabe. Es war erst eine Woche her, daß Rory sich gesagt hatte, daß es wohl noch eine gute Weile so weitergehen würde. Aber heute, an Janies Todestag, spürte er es in sämtlichen Knochen, daß der Zeitpunkt dafür gekommen war, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Und wie bei jedem Spiel würde es einen Gewinner und einen Verlierer geben. Schließlich konnten unmöglich beide gewinnen. Aber warum eigentlich nicht? Mein Gott, hatte er dies alles nicht schon hundertmal durchgekaut? Nacht um Nacht. Er war, was er war – deshalb ging es nicht. 202
Hinter der Fassade von Keckheit und Aggressivität verbargen sich vielleicht ein, zwei wertvolle Eigenschaften, zugegeben. Aber auch eine Menge Schwächen, über die nur er allein Bescheid wußte. Jedoch in diesem speziellen Fall hatte er absolut nicht die Absicht, so schwach – oder so stark? – zu sein, ein unfaires Spiel zu spielen und ihr den Sieg zu überlassen. Und wiederum sagte er sich, daß er endlich damit aufhören müsse, sich etwas vorzumachen. Denn es war nicht eine Frage der Moral, die ihn davon abhielt, sie gewinnen zu lassen, sondern der Umstand, daß er nicht daran glaubte, in der Lage zu sein, den Preis bezahlen zu können: Dieser war zu hoch. Dabei mochte er sie. O ja, es kam ihm merkwürdig genug vor, aber er mußte zugeben, daß er sie mochte. Er war gerne mit ihr beisammen; sie war eine ungemein angenehme Gesellschafterin, abgesehen von jenen Momenten, in denen sie in ihm das Gefühl erweckte, so winzig zu sein, daß er bestenfalls um ihre Beine herumkriechen konnte. Ein- oder zweimal hatte sie ihn auf diese Weise behandelt – immer dann, wenn er es gewagt hatte, ihr in geschäftlichen Dingen zu widersprechen. Dennoch zeigte sie in Gegenwart anderer nie, daß sie zornig auf ihn war, sondern behandelte ihn genauso respektvoll, wie eine Frau ihren Gatten oder ihren Boß vor anderen behandelte – das heißt, wenn diese klug war. Sie war schon eine merkwürdige Person; er war nicht imstande, sie wirklich zu ergründen. Nie im Leben hatte er jemanden kennengelernt, der so klug, so selbstbeherrscht gewesen wäre. Aber schließlich hatte er auch nie im Leben mit Frauen ihres Standes Kontakt gehabt. »Wollen Sie zum Essen bleiben?« Er zögerte, dann sagte er: »Sehr gern, danke.« »Gut.« Sie lächelte ihm zu, strich sich das Haar aus der Stirn und sagte dann: »Sitzen Sie doch nicht auf der Stuhlkante, als wollten Sie im nächsten Moment zu einem Wettrennen starten.« Seine freundliche Miene verschwand schlagartig. Diese Art von Behandlung machte ihn jedesmal verrückt. »Oh, tut mir leid.« Nun setzte sie sich auf die Couchkante und beugte sich zu ihm. »Bit203
te seien Sie nicht böse. Ich habe die unglückselige Angewohnheit, meine Bitten in einer Art Befehlsform vorzubringen.« Sie machte eine tadelnde Kopfbewegung. »Ich … ich muß wirklich versuchen, mir das abzugewöhnen. Alles, was ich damit ausdrücken wollte, war: Entspannen Sie sich doch, machen Sie es sich bequem, fühlen Sie sich wie zu Hause.« Nach sekundenlangem Zögern ließ er sich in den Stuhl zurücksinken und lächelte sie reuig an. Auch sie lehnte sich bequem zurück, sah ihn an und sagte dann kaum hörbar: »Ich werde zu Ihnen … Nein« – sie hob abwehrend die Hand. »Beinahe hätte ich es schon wieder falsch gemacht. Ich wollte sagen: Darf ich Sie mit Ihrem Vornamen anreden?« Er antwortete nicht, sondern sah sie ohne mit der Wimper zu zucken an. Sie blickte nun auf ihre im Schoß verschlungenen Hände, rieb sich mit streichenden Bewegungen die Knöchel und sagte: »Wissen Sie, ich … ich möchte heute abend über etwas Wichtiges mit Ihnen sprechen, wenn Sie nach dem Essen noch ein wenig Zeit für mich haben. Was mich daran erinnert, Sie zu bitten, zu klingeln.« Er stand langsam auf und kam ihrem Wunsch nach. Beide schwiegen, bis das Mädchen erschien. Dann sagte sie: »Mr. Connor bleibt zum Abendessen Jessie. Wie lange wird es dauern?« »Es ist bereits fertig, Miß. Ich könnte in ungefähr fünf Minuten servieren, wenn es Ihnen recht ist.« »Sehr gut, Jessie. Danke.« Nachdem sich die Tür hinter dem Mädchen geschlossen hatte, sagte sie: »Ich habe Sie niemals rauchen sehen. Rauchen Sie überhaupt nicht?« »Doch. Ich paffe manchmal abends ein wenig.« »Mein Vater hat nicht geraucht. Dabei mag ich den Geruch von Tabak sehr gerne … Was – was Ihren Vornamen betrifft: Was bedeutet das R.? Robert?« »Nein, Rory.« »Roar-y. Ist das eine Abkürzung?« 204
»Keine Ahnung. Ich wurde einfach Rory getauft.« »Roar-y«, wiederholte sie etwas gespreizt. Dann fügte sie hinzu: »Das gefällt mir. Mein Name lautet, wie Sie wissen, Charlotte. Mein Vater hat einmal gesagt, daß dies ein sehr passender Name für mich sei, obwohl ich nie ein Geheimnis daraus machte, daß ich ihn abscheulich finde.« Sie ließ den Kopf sinken. »Er war ein unfreundlicher, garstiger Patron. Das meine ich wortwörtlich.« Er wußte nicht, was er darauf antworten sollte, so verblüfft war er über ihre Offenheit. Er saß einfach da und starrte sie an, bis sie sagte: »Möchten Sie vielleicht nach oben gehen und sich die Hände waschen?« Rasch sah er hoch, schluckte, befeuchtete sich die Lippen und erwiderte, indem er sich erhob: »Ja, bitte. Das heißt danke.« Sie stand nicht von der Couch auf, sondern blickte zu ihm hoch. »Das Badezimmer ist die dritte Tür rechts vom Treppenabsatz.« Rory nickte kurz, verließ den Salon, durchquerte die Halle und ging nach oben. Es war das erstemal, und er nahm an, daß es auch das letztemal sein werde. Nachdem er die Badezimmertür hinter sich zugemacht hatte, blickte er sich verblüfft um. Da stand einmal eine riesige Badewanne auf vier verzierten Beinen mit hellglänzenden Messinghähnen. Linker Hand waren eine Waschmuschel, daneben ein Handtuchhalter mit strahlendweißen Handtüchern. Darüber befand sich ein Regal mit bunten Flaschen und hübschen Büchsen. Als er neugierig eine kleine Tapetentür aufstieß, erblickte er ein richtiges Porzellanklosett. Das war etwas anderes als der ausgedörrte Misthaufen daheim oder der Kübel am Fluß. Dies hier funkelte geradezu vor Sauberkeit, als sollte es einem ganz anderen Zweck dienen als jenem, für den es gedacht war. Indem er so dastand und sich langsam und genußvoll die Hände wusch – nicht weil sie schmutzig waren, sondern weil es ihm Spaß machte, zu beobachten, wie sich das Becken mit Wasser füllte –, dachte er: Wenn ich kein Idiot bin! Wahrhaftig, das bin ich, ein verdammter Idiot, weiter nichts. Das hier könnte ich jeden Tag benützen. Ich könnte Tag für Tag in einem eigens dazu bestimmten Wohnzimmer essen. Im Salon sitzen, jeden Tag rauchen. Und in einem der Zimmer 205
hier oben schlafen, wenn … Er beendete diesen Satz nicht einmal in Gedanken, sondern trocknete sich die Hände, blickte sich noch einmal in dem Badezimmer um und ging dann nach unten.
Die Mahlzeit war zu Ende, und abermals saßen sie im Salon. Er hatte während des Essens kaum den Mund aufgemacht. Was seine Arme und Beine anlangte, hatte er das Gefühl, sich hier ebenso am Platz zu fühlen wie eine Mauerassel. Da auch sie nicht das Wort ergriffen hatte, kam er sich ziemlich hilflos vor. Für gewöhnlich führte sie die Konversation an, ja gab sich sogar häufig selbst die Antwort auf gestellte Fragen. Aber nun, da ihr Spiel in die Endphase getreten war und sie offensichtlich die Karten auf den Tisch legen wollte, schien auch sie gehemmt und tat ihm leid. Nicht nur sie übrigens, alles. Vor allem aber der Umstand, daß sie augenscheinlich auf der Stelle trat. Er wünschte aufrichtig, ihr weiterhelfen zu können. Wenn sie nur endlich zu reden begonnen hätte! Vollkommen reglos dasitzend, den Blick auf das Bild des Großvaters über dem Kamin gerichtet, sagte sie schließlich: »Ich … ich weiß wirklich nicht, wie ich anfangen soll. Aber wir müssen einmal darüber reden. Das wissen Sie genausogut wie ich, nicht wahr?« Es dauerte einige Sekunden, bis sie ihm das Gesicht zuwandte, und nun hatte sein Mitleid derartige Dimensionen angenommen, daß er ihrem Blick nicht standhalten konnte. Er blickte auf seine Hände nieder, wie sie es vorhin getan hatte, wobei auch er die Finger aneinanderrieb. Abermals ergriff sie das Wort mit sanfter Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war. »Ich weiß, daß ich Sie jetzt in Verlegenheit bringen werde, weil Sie – selbst wenn Sie die bewußte Frage stellen wollten –, unter den gegebenen Umständen gar nicht den Mut dazu hätten. Aber lassen Sie sich eines gesagt sein: Ich weiß, daß Sie keinerlei Wunsch hegen, mir diese Frage zu stellen. Falls Sie also meine Frage positiv beantworten sollten, werde ich mich keinesfalls der Illusion hingeben, daß es aufgrund meiner persönlichen Anziehungskraft ge206
schähe, sondern weil mein Angebot mit einigen Vorteilen für Sie verbunden wäre.« »Ich will auf diese Weise keine Vorteile erringen«, sagte er, nachdem er den Kopf gehoben hatte. »Ich danke Ihnen zumindest dafür.« Als sie ihm einen raschen Blick zuwarf, lenkte er sofort ein: »Verstehen Sie mich nicht falsch. Was ich meinte, ist …« Er schüttelte den Kopf, biß sich auf die Unterlippe und mußte feststellen, daß es ihm unmöglich war, ihr zu erklären, was er meinte. So entgegnete sie: »Ich weiß, was Sie meinten, aber … aber Sie haben ja meinen Vorschlag noch nicht gehört.« Sie wandte das Gesicht ab und starrte abermals auf das Bild, als sie fortfuhr: »Angenommen, ich würde Sie jetzt fragen, ob Sie mich heiraten wollen – dann würden Sie dies auf den ersten Anhieb ablehnen und auf alle Vorteile, die mit einem solchen Vorschlag verbunden sind, verzichten. Nehmen wir aber einmal an, daß ich zu Ihnen sagen würde, daß dies keine gewöhnliche Ehe wäre, daß ich … daß ich von Ihnen nicht dasselbe erwarten würde, was eine Frau unter normalen Umständen von ihrem Gatten erwartet. Sie könnten völlig abgetrennt von den übrigen Räumen hier wohnen. Alles, worum ich Sie bitten würde, wäre … wäre Ihre Gesellschaft und Ihre Anwesenheit in diesem Haus, dessen … dessen Herr Sie sein würden.« Abermals wandte sie ihm ihr Gesicht zu. Er saß nun kerzengerade auf seinem Stuhl, mit weit aufgerissenen Augen und leicht offenstehendem Mund. Dann sagte er leise: »Da würden Sie aber schlecht dabei wegkommen, finden Sie nicht?« »Schlecht dabei wegkommen?« Sie lachte kaum merklich. »Nun, wenn ich mich damit zufriedengeben würde, wäre Ihnen das nicht genug?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein! Das wäre nicht recht, denn soweit ich die Sache übersehen kann, würden Sie dann auch nicht mehr von mir haben als jetzt … Also weshalb sollen wir nicht alles so lassen, wie es ist?« Sie schwieg nun offensichtlich verlegen, ehe sie sagte: »Weil ich Gesellschaft brauche, männliche Gesellschaft. Nicht irgendeinen x-beliebigen, sondern jemanden, den ich schätze. Und meine Wahl ist eben auf Sie gefallen. Außerdem habe ich das Gefühl, daß ich 207
Sie kenne, sehr gut kenne. Ich weiß, daß Sie dieses Haus hier mögen, daß Sie diese Lebensweise mögen, daß Sie es lernen könnten, schöne Dinge zu schätzen. Nicht daß ich Ihre – Ungeschliffenheit nicht mag – nein, sie macht bestimmt einen Teil Ihrer Anziehungskraft aus, ebenso wie Ihre Arroganz oder Ihre Unverschämtheit. Es ist schwieriger, arrogant zu sein, wenn man nichts sein eigen nennt, als wenn man alles hat.« Er war verblüfft, versuchte es jedoch zu verbergen, indem er eine ausdruckslose Miene aufsetzte. Diese Art von Gescheitdaherreden hatte ihn immer schon verrückt gemacht, vor allem dann, wenn es keine Möglichkeit gab, zu kontern. Also sagte er nur in mürrischem Ton: »Sie scheinen anzunehmen, daß Sie eine Menge über mich wissen, ja sogar alles.« »Nicht alles, aber ziemlich viel. Ich habe mir immer geschmeichelt, Menschenkenntnis zu besitzen. Ich weiß eine Menge über die Menschen, besonders über jene dieser Stadt – auch, wie viele Lügen sie in diesem Augenblick von sich geben und verbreiten. Und zwar über uns.« »Über uns?« »O ja, über uns. Wissen Sie denn nicht, daß man über uns spricht? Wissen Sie nicht, daß sie sagen« – und nun verfiel sie mit voller Absicht in den ringsum üblichen Dialekt –: »Wie findet ihr das, ha? Keans Tochter und der Zinsgeier. Dabei ist sie fünf Jahre älter als er und häßlich wie ein Haubenstock. Unglaublich, nicht? Sie kauft sich den Burschen einfach. Und natürlich läßt er sich gerne kaufen. Welcher Mensch würde schon eine solche Chance ausschlagen? Er müßte ja ein Narr sein, wenn er es täte. Sie sollte sich was schämen, ihr Geld als Köder zu verwenden. Den Jungen kann man nicht dafür verantwortlich machen. Aber das hat ja nicht erst heute oder gestern angefangen. Die haben es schon lange miteinander getrieben, als seine Frau noch lebte sogar … Das redet man über uns.« Sein Gesicht war hochrot und brannte wie Feuer. »Regen Sie sich bitte nicht auf deshalb. Sie müssen doch gewußt ha208
ben, daß unsere Verbindung so was wie einen Skandal hervorrufen würde, oder?« »Nein, das hab' ich nicht!« gab er ungestüm zurück. »Wenn ich geahnt hätte, daß man so über uns redet, dann hätte ich … dann hätte ich doch nicht weitergemacht. Ich habe mich nie als etwas anderes als Ihren Geschäftsführer betrachtet. Wenn Sie dies alles gewußt haben, dann verstehe ich nicht, weshalb Sie der Sache kein Ende bereitet haben. Weshalb haben Sie es dabei belassen?« – »Warum? Nun, um die Wahrheit zu sagen: Weil es mich noch entschlossener machte, fortzufahren. Ich kümmere mich keinen Deut um ihr Geschwätz. Wer sind sie schon – zumindest die meisten von ihnen? Prahlhänse, sich aufblähende Nullen, Männer, die sich ihren Weg skrupellos über die zahllosen Toten der Bergleute oder über die geschundenen Leiber der Fabrikarbeiter hinweg nach oben gebahnt haben. Oh, es gibt viele, viele Heuchler in dieser Stadt. Scheinheilige Individuen, die einfach ein Doppelleben führen. Ich könnte Diverses auffliegen lassen, wenn ich wollte. Es ist merkwürdig, aber viele Frauen sprechen sich bei mir aus, wissen Sie, sie vertrauen sich mir an – vielleicht weil ich in ihren Augen unweiblich bin. Dabei« – sie machte eine abwehrende Kopfbewegung – »habe ich kein Recht, mich darüber zu mokieren, wie manch einer sich den Weg nach oben erkämpft hat. Denn was hat mein eigener Vater schließlich schon für andere getan? Und was habe ich getan, wenn ich ehrlich bin – außer geredet! Aber hier fangen Sie an, eine Rolle zu spielen. Ich habe mir überlegt, daß ich mit Ihnen imstande sein könnte, für andere etwas zu tun. An Ihrer Seite« – ihre Stimme wurde wieder leise – »könnte ich so zufrieden und ausgeglichen sein, daß ich meine Gedanken auf die Bedürfnisse anderer lenken könnte. Und es gibt in dieser Stadt viele Menschen, die in Not sind. Sie wissen das besser als ich, weil Sie auf der anderen Seite gestanden haben. Deshalb waren Sie stets gezwungen, ›Ja, Sir‹, ›Nein, Sir‹, ›Ja, Miß‹, ›Sehr wohl, Miß‹ zu sagen und erst durch Sie – und auch das erst seit kurzem – habe ich einsehen gelernt, wie Menschen in Ihrer Lage zumute sein muß.« Sie erhob sich nun unvermittelt von der Couch, ging auf den Kaminsims zu, legte die Arme darauf und blickte ins Feuer hinunter, als sie 209
murmelte: »Ich sage das alles nicht, um Ihnen damit ein verlockendes Zukunftsbild auszumalen. Falls Ihnen eine engere Verbindung mit mir unerträglich scheint – nun gut, dann brauchen Sie es nur zu sagen.« »Und was wäre, wenn ich es täte?« fragte er ruhig, und sie antwortete ebenso: »Ich weiß es nicht, weil … weil ich es bisher noch nie gewagt habe, in die Zukunft zu blicken und der trostlosen Einsamkeit ins Auge zu sehen.« Als er zu ihr aufsah, dachte er: Sie ist bemerkenswert, o ja, sie ist eine bemerkenswerte Frau. Er hätte sich nie vorstellen können, daß jemand so offen sprechen würde, wie sie es getan hatte. Kein Mann würde jemals derart ehrlich sein. Leise fragte er: »Wollen Sie mir Zeit zum Überlegen geben?« »Nein!« Sie schrie dieses Wort heraus, was ihn mit einem Ruck auf die Beine brachte, als wäre eben ein Kanonenschuß abgefeuert worden. Er sah ihr nach, wie sie durchs Zimmer marschierte und dann wieder auf ihn zukam. Am Kopfende der Couch blieb sie stehen, vergrub die Finger fest in der Polsterung und sagte kurz und bündig: »Ich muß diese Antwort gleich bekommen. Ja oder nein. Ich … könnte diese Ungewißheit nicht ertragen. Alles, worum ich Sie bitte, ist, in diesem Haus einzuziehen und bei mir zu bleiben. Als ein … Freund, als Gesellschafter. Sie werden es jetzt sicher nicht glauben, aber Sie werden noch darauf kommen, daß Freundschaft ein beständigeres Glücksgefühl zu vermitteln vermag als die allergrößte Liebe. Ich weiß, daß Sie mich nicht lieben, mich nicht lieben könnten und es niemals tun werden …« Sie hob abwehrend die Hand. »Nein, nein, protestieren Sie nicht. Wir wollen von allem Anfang an aufrichtig miteinander sein. Als Sie Ihre Frau verloren, wußte ich, daß Sie sie geliebt haben müssen, und ich kann mir denken, daß einem diese Art Liebe nur einmal im Leben begegnet. Aber es gibt andere Gefühle, die man durchaus mit der Liebe vergleichen kann. Ein Mann kann sie für eine Frau hegen und glücklich dabei sein. Das gilt natürlich auch für Frauen, obgleich …« Sie schluckte heftig, ehe sie schloß: »Obgleich wir in den meisten Fällen wohl die Möglichkeit zu lieben brauchen, selbst wenn wir nicht wiedergeliebt werden.« 210
Gott, war ihm heiß; er schwitzte richtiggehend. Was konnte er darauf antworten? Was konnte er tun? Merkwürdigerweise wußte er genau, was er gerne getan hätte, und das zerstreute all seine vorangegangenen Entschlüsse mit Windeseile. In diesem Moment wünschte er nur eines: hinter die Couch zu treten, die Arme um sie zu legen und sie zu trösten. Nur das: sie zu trösten. Weshalb tat er es dann nicht? Es überraschte ihn, sich selbst mit einer völlig normal klingenden Stimme sagen zu hören: »Kommen Sie, setzen Sie sich.« Er streckte ihr die Hand entgegen, und langsam legte sie die ihre hinein. Dann zog er sie um das Kopfende der Couch herum nieder und setzte sich, ihre Hand noch immer in der seinen haltend, neben sie. Und als er sie ansah, bemächtigte sich seiner eine nie gekannte Erregung. Sie schien von ihr auf ihn überzugehen. Es glich beinahe jenem Gefühl, von dem er ergriffen wurde, wenn er sich auf ein gutes Spiel konzentrierte. Er hatte es nicht gewußt – aber das war der Grund, weshalb er gerne in ihrer Gesellschaft war, sie gerne reden hörte. Selbst wenn sie ihn hier und da aus dem Hinterhalt angriff – sie war aufregend. Wenn sie nicht so groß, mager und häßlich gewesen wäre, wäre das, was nun geschah, wahrscheinlich schon vor Monaten geschehen. Aber nun erkannte er, daß ihre Art zu denken, ihre Stimme, ihr Gebaren, wie sie sich kleidete, all die Dinge, die sie tat, in gewisser Weise ein Ersatz für ihr Aussehen waren. Tatsächlich hatte es sie gewissermaßen eingehüllt, denn es hatte in letzter Zeit Augenblicke gegeben, wo er in ihrer Gesellschaft immer wieder vergessen hatte, wie sie aussah. Er war sich bisher nur nicht klar darüber gewesen. Plötzlich fühlte er sich entspannt und behaglich wie nie zuvor. Er wußte, daß er jetzt mit ihr reden, sie trösten konnte. So beugte er sich zu ihr und sagte: »Darf ich Ihnen etwas sagen?« Ihre Augen schimmerten feucht, als sie antwortete: »Ich bin gespannt, was immer Sie auch sagen mögen, Rory.« – »Es wird schwer für mich sein, es in Worte zu fassen, weil ich in diesem Punkt lange nicht so begabt bin wie Sie.« Er schüttelte die Hand, die in der seinen lag. »Sie wissen bestimmt, daß Sie die Kunst, zu reden, sich richtig auszudrücken, beherrschen, nicht wahr? Eines steht jedenfalls fest: 211
So oft Sie den Mund aufmachen, kommt etwas Bedeutungsvolles heraus. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und mir … und meinesgleichen eben. Aber ich … ich möchte Ihnen doch sagen, daß ich in den vergangenen Monaten viel gelernt habe. Kein einziger Tag, den ich mit Ihnen verbrachte, ist vorbeigegangen, ohne daß ich etwas von ihnen gelernt hätte. Vielleicht merkt man es mir nicht an, weil meine ewige Aggressivität das einfach zudeckt.« Abermals schüttelte er ihre Hand. »Und ich möchte Ihnen noch etwas sagen. Ich war gern mit Ihnen zusammen, ich meine – ich bin gern mit Ihnen zusammen. Sie werden es nicht glauben, aber – nun ja, ich finde Sie irgendwie aufregend. Ich habe niemals eine Frau wie Sie kennengelernt. Das ist natürlich klar, wenn man aus meinem Viertel kommt. Wozu ich unbedingt sagen muß, daß Janie ein feines Mädel war und daß ich glücklich mit ihr war. Das muß ich einfach sagen: Sie haben vorhin ja selbst erklärt, daß wir aufrichtig miteinander sein sollen. Jedoch muß ich im gleichen Moment zugeben, daß sie nicht die Spur von aufregend war. Liebenswert, das schon – aber nicht aufregend. Wenn ich so zurückblicke, wird mir klar, daß Janie mir nicht viel beizubringen hatte, außer vielleicht Rücksichtnahme auf andere. Sie konnte wirklich und wahrhaftig an den Problemen anderer Menschen teilnehmen, wissen Sie. Und das ist schließlich nicht wenig, hab' ich recht?« »Bestimmt nicht … Rory?« »Ja?« »Wie lautet Ihre Antwort? Ich möchte das auf klipp und klare Weise hören. Sie sind sehr freundlich, aber ich weiß nicht, ob Sie mich nicht bloß beruhigen wollen. Ich möchte, daß Sie zu mir sagen: ›Ja, Charlotte‹, oder: ›Nein, Charlotte.‹« Ihre Hände waren noch immer vereint, ihre Knie berührten sich beinahe, und ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Er wußte, daß sein Leben, wenn er jetzt nein sagte, in gewisser Weise leer sein würde, uninteressant, inhaltslos. Und nicht nur deshalb, weil er dann vielleicht keinen Zutritt mehr zu diesem Haus haben würde. »Ja … Charlotte.« 212
Er sah, wie sie die Augen schloß. Als sie sie wieder öffnete, glänzten sie; in jedem anderen Gesicht wären sie strahlend gewesen. »Es ist also abgemacht.« »Ja, es ist abgemacht.« Als er diese Worte aussprach, sah er abermals die Küche seines Elternhauses vor sich: seinen Vater, Ruth, sie und Jimmy. Wie sie ihn allesamt anstarrten und sagten: »Was – sie? Miß Kean? Niemals! … Und was ist mit Janie?« Mit einemmal sagte er: »Ich werde wegen meiner Leute keine Ausreden gebrauchen, Sie nicht verstecken. Sie werden Sie kennenlernen müssen.« »Das würde mich nur freuen. Sehr sogar. Ich hatte niemals Verwandte.« Er lachte auf und fuhr fort: »Wissen Sie, was? Ich werde Ihnen gegenüber überhaupt nie Ausreden gebrauchen, sondern Ihnen immer die Wahrheit sagen – das verspreche ich Ihnen. Es wird Ihnen wahrscheinlich nicht immer Vergnügen bereiten …« »Bestimmt nicht«, sagte sie, indem sie ein Gesicht schnitt und laut herauslachte. »Vor allem dann nicht, wenn Sie mir sagen, daß Sie jeden Abend spielen gehen werden.« Als er Mund und Augen aufriß, lachte sie nur noch mehr und rief wie ein junges Mädchen aus: »Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich über die meisten Leute hier eine ganze Menge weiß?« Mit ernster Miene und in ziemlich niedergeschlagenem Ton fragte er: »Wieso haben Sie davon gewußt?« »Schlußfolgerungen, mein Lieber. Und das eine Wort, das Sie immerzu wiederholt haben, als Sie im Spital lagen. Als ich Sie zum erstenmal aufsuchte, sagten Sie immer und immer wieder: ›Pittie, Pittie, Pittie.‹ Und als ich Sie das zweitemal besuchte, sagten Sie es immer noch.« »Wirklich?« »Ja. Und da dachte ich mir, wenn ein Mann so zusammengeschlagen wird, wie Sie zusammengeschlagen wurden, da steckt doch was dahinter. Ein Straßenräuber hätte Ihnen vielleicht einen Hieb versetzt oder Sie bewußtlos geschlagen, aber ich glaube nicht, daß er Sie so zu213
gerichtet hätte, daß Sie beinahe daran gestorben wären. Nachdem ich mir die Sache überlegt hatte, kam ich zu dem Schluß, daß Sie jedermann den Namen Ihres Angreifers nannten, nur daß keiner Notiz davon zu nehmen schien. Sie dachten anscheinend, daß Sie immerzu ›Bitter, bitter‹ sagten, während Sie in Wahrheit den Namen derjenigen preisgaben, die Sie angegriffen hatten: der Pittie-Brüder. Die Pittie-Brüder sind stadtbekannte Schurken und Falschspieler der ärgsten Sorte obendrein. Erst vor kurzem hat man sie deshalb zu einer saftigen Geldstrafe verurteilt.« »Ach?« Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte, bis sich sein ganzer Körper schüttelte; und sie lachte mit ihm. Sein Brustkasten dehnte sich, und er lachte noch immer, als er ihr abermals ins Gesicht blickte und sagte: »Ich habe es mir immer schon gedacht, aber nun will ich es auch aussprechen: Sie sind eine bemerkenswerte Frau.« »Bitte beurteilen Sie meine Intelligenz nicht nach einem Umstand, der eigentlich jedermann ins Auge hätte stechen müssen, die Polizei miteingeschlossen. Obwohl ich gleichzeitig annehme, daß die Polizei nicht so unwissend war, wie sie vorgegeben hat. Im Grunde genommen waren Sie es, der auf die Fragen nach Ihrem Angreifer immer wieder beteuerte – wie man mir berichtet hat –, daß Sie sich nicht erinnern könnten.« Er kniff die Augen zusammen und meinte nachdenklich: »Daß ich spiele, wissen Sie also …« Sie sah ihn ziemlich lange an, ehe sie nun in ernstem Ton sagte: »Vorhin haben Sie versprochen, daß Sie mir immer die Wahrheit sagen würden. Ich dachte erst, daß Sie damit die Zukunft meinen. Aber jetzt möchte ich Sie fragen: Gibt es noch etwas, was ich Ihrer Meinung nach wissen müßte – etwas über Ihre Vergangenheit?« Einen Moment fragte er sich, ob sie damit seine Herkunft meine. Er starrte sie an und schluckte, während er dachte: Sie kann über die andere Sache nichts wissen, sonst wäre ich jetzt nicht hier. »Denken Sie genau nach, ehe Sie antworten.« 214
Er spürte wie er rot wurde. Sie sahen einander in die Augen. Sein Körper war schweißbedeckt. Es war, als erlitte er mitten am Tag einen seiner Alpträume. Er flüsterte mit rauher Stimme: »Da Sie alles zu wissen glauben, frage ich mich nur, weshalb ich hier sitze.« Ihre Stimme war ebenso leise, als sie erwiderte: »Das werde ich Ihnen in einer Minute sagen. Sowie Sie mir meine Frage beantwortet haben.« Sein Blick war fest auf sie geheftet, als er überlegte: Wenn sie es nicht weiß, wenn sie von der Sache mit John George nicht die leiseste Ahnung hat, dann wird das, was ich ihr zu gestehen habe, den Heiratsantrag von selbst erledigen. Wenn es hingegen das war, worauf sie anspielte, dann war sie bei Gott eine mehr als bemerkenswerte Frau. Er schloß einen Moment lang die Augen, senkte den Kopf, wandte sich ab und murmelte, als befände er sich im Beichtstuhl: »Ich war's, der die fünfeinhalb Pfund genommen hat, wegen denen John George gesessen ist. Ich bin an jenem Abend noch einmal ins Büro zurückgegangen und habe das Geld an mich genommen. Aber genau wie er war ich sicher, Montagmorgen rechtzeitig genug dort zu sein, um das Geld wieder an seinen Platz legen zu können. Wenn ich dort gewesen wäre und Sie mich erwischt hätten, hätte ich die Strafe angenommen. Aber als ich erfuhr, was geschehen war, lag ich ja im Krankenhaus, völlig geschwächt und starr vor Angst bei dem bloßen Gedanken ans Gefängnis.« Den Kopf immer noch abgewandt, stammelte er: »Ich … ich hatte eine Riesenangst davor – immer schon, seit man mich als Kind in eine Kiste gesperrt hat. Ich fürchte mich immer noch davor, eingeschlossen zu werden. Ich kann versperrte Räume nicht ertragen. Ich … ich hätte mich natürlich melden sollen, als ich wieder bei klarem Bewußtsein war, das weiß ich. Aber so ist es nun mal: Ich hab's nicht getan … War es das, was Sie wissen wollten?« Es entstand eine lange Pause, und als sie keine Antwort gab, sah er sie abermals an und fragte: »Haben Sie es die ganze Zeit über gewußt?« »Nein, nicht von allem Anfang an«, erwiderte sie und schüttelte langsam den Kopf. »Aber im Gerichtssaal spürte ich instinktiv, daß der Mann die Wahrheit sagte. Auch erinnerte ich mich an seine Verblüffung, als ich erwähnte, daß nicht zehn Shilling, sondern fünfein215
halb Pfund gefehlt hätten. Er war darüber derart erstaunt, daß es ihm offensichtlich die Rede verschlug. Natürlich mußte er auf alle Fälle bestraft werden –, denn wie er selbst eingestand, hat er schon lange falsche Eintragungen gemacht, und zwar, wie er ebenfalls zugab, nicht nur wegen zehn Shilling.« Die ganze Zeit über waren ihre Hände verschlungen im Schoß gelegen, und er blickte darauf, als er ruhig fragte: »Weshalb bin ich jetzt hier? Sagen Sie mir das. Da Sie dies alles über mich wissen – weshalb bin ich jetzt hier?« Sie entzog ihm ihre Hand, stand auf, ging zum Kamin und blickte abermals zu dem darüber befindlichen Bild auf. Dann befeuchtete sie sich zweimal die Lippen, holte tief Atem und erwiderte leise: »Ich … Zufällig mache ich mir was aus Ihnen … Das hebt mein ganzes Gerede über Freundschaft natürlich wieder auf, aber wissen Sie« – abermals netzte ihre Zunge die Lippen –, »ich liebte Sie von dem Augenblick an, wo ich Sie im Büro meines Vaters zum erstenmal gesehen habe. Einfach so. Ganz plötzlich. Ich erinnere mich genau daran, gedacht zu haben: Das ist der Mann, den ich gerne heiraten würde, wenn es möglich wäre. Ich wußte, daß es ein lächerlicher, völlig hoffnungsloser Wunsch war. Mein Vater hätte es niemals geduldet. Merkwürdigerweise konnte er Sie nicht leiden. Aber schließlich hat er sowenig Menschen leiden können … Ich wußte also, daß er Sie, wenn ich nur das mindeste Interesse für Sie an den Tag gelegt hätte, ja nur Ihren Namen auf freundliche Art genannt hätte, entlassen hätte.« Sie drehte sich um und sah ihn an. »Ich bin eine Schwindlerin, aber ich hatte wirklich nicht die Absicht, daß Sie das erfahren sollten. Ich … ich wollte Ihre Zuneigung unter falschen Vorspiegelungen gewinnen. Aber … was unsere Abmachung betrifft, macht es keinen Unterschied. In dem Punkt bleibt alles, wie es ist. Soviel« – sie lachte etwas befangen – »über meine schönen, rein platonischen Reden. Wissen Sie, Rory, Gefühle haben absolut nichts mit unserem Äußeren zu tun. Wenn es so wäre, wären die schönsten Frauen der Welt auch die leidenschaftlichsten Liebhaberinnen. Aber soviel ich darüber gelesen und gehört habe, handelt es sich gerade bei ihnen oft um sehr kalte Geschöpfe. 216
Meine Gefühle zum Beispiel passen überhaupt nicht zu meinem Aussehen, Rory. Aber wie ich bereits sagte – die Abmachung gilt: Sie geben mir Ihre Freundschaft und den Schutz des Ehemanns, und ich werde Ihnen das geben, was … nun ja, was ich nicht vermeiden kann, Ihnen zu geben.« Er erhob sich von der Couch, ging langsam auf sie zu, sah sie an und sagte dann leise: »Es muß in dieser Stadt gut ein Dutzend Männer geben, die bestimmt froh wären, Sie zur Frau zu bekommen und die Ihnen sicherlich nützlicher sein könnten, als ich es bin.« »Zweifellos«, erwiderte sie und nickte langsam. »Aber, sehen Sie – wir wollen doch aufrichtig miteinander sein, nicht wahr? –, die, hätten mich nur meines Geldes wegen geheiratet und wären zu derartigen Abmachungen wohl kaum bereit gewesen. Ich hätte in all diesen Fällen garantiert gewünscht, daß sie in ihren eigenen Wohnungen verblieben wären, und darauf hätte sich keiner von ihnen eingelassen. Und mit einem Mann unter einem Dach leben zu müssen, den ich nicht liebe – also das …« Langsam legte er die Arme um sie und zog ihre dünne Gestalt fest an sich. Und als er spürte, wie ihr verkrampfter Körper sich an dem seinen entspannte und ihr Kopf sich wie von selbst auf seine Schulter senkte, vergrub er sein Gesicht in der schwarzen Haarfülle und murmelte: »Nein, nicht. Ist ja schon gut. Nicht weinen, bitte. Ich verspreche dir, daß ich dich glücklich machen werde, Charlotte. Ich weiß, ich werde dich glücklich machen.« Dabei hatte er noch keine Ahnung, wie er es anstellen würde. Was er jedoch in diesem wunderlichen Moment mit Sicherheit wußte, war, daß er alles daransetzen würde, es zu versuchen.
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r stand am oberen Ende des Küchentisches, während die andern wie eine vereinte Streitmacht sich am unteren Ende zusammengeschart hatten: Ruth, sein Vater und Lizzie. Jimmy stand etwas abseits, sein Gesicht war blaß und ängstlich, und seine Blicke schossen zwischen den beiden feindlichen Parteien wie die eines besorgten Schiedsrichters hin und her. »Nun, irgendwas könntet ihr doch sagen, oder?« Rorys Stimme schien sich an der Decke zu brechen. Es war sein Vater, der schließlich ruhig das Wort ergriff: »Janie ist doch noch nicht einmal richtig kalt.« »Janie ist seit einem Jahr tot – seit einem Jahr und drei Wochen, um genau zu sein.« »Ich bitte dich!« Paddy sonderte sich von der Gruppe ab, ging zum Kamin, holte sich die Tonpfeife vom Kaminsims, klopfte den Tabakrest am Rost heraus und meinte: »Für dich ist es jedenfalls ein Haupttreffer. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Es hat schon immer geheißen, daß der alte Kean ganz Shields aufkaufen hätte können, dieser Geizkragen. Nun ja, bei den Moneten …« »Es war nicht wegen des Geldes …« »Nun, wegen ihres Aussehens wird es schon nicht gewesen sein!« Rory fuhr herum und fixierte Lizzie. Einen Moment lang sah es so aus, als würde er mit einem Satz ans untere Tischende springen und auf sie losschlagen. Sie starrten einander über die ganze Tischlänge hinweg an, ohne mit der Wimper zu zucken, bis sie den Blick senkte, sich umdrehte, in Richtung Spülküche losmarschierte und deutlich vor sich hinmurmelte: »Du meine Güte, was wird in diesem Haus noch alles passieren!« 218
Einen Augenblick machte ihn der Zorn richtiggehend blind. Jede andere Familie zwischen hier und Newcastle wäre ihm bei einer solchen Neuigkeit um den Hals gefallen – jede. Aber nicht die seine – o nein. In ihrer Einfalt dachten sie, daß man Toten um jeden Preis die Treue halten müsse, wenn schon nicht auf immer, so doch zumindest auf eine Reihe von Jahren. Als er wieder deutlich zu sehen vermochte, starrte er Ruth an. Für gewöhnlich hielt sie zu ihm und hatte seinen Standpunkt noch jedesmal verstanden. Diesmal jedoch offensichtlich nicht. Sie sah ganz betroffen aus. Er legte die Hände auf den Tisch, beugte sich zu ihr und rief: »Janies Vater hast du nicht verurteilt, was? Dabei ist er kurz nach dem Tod ihrer Mutter zu diesem Frauenzimmer nach Jarrow gezogen. Er konnte nicht allein bleiben, nicht mal sechs Wochen. Da hast du nichts gesagt! Und ich, ich heirate sie. Ich heirate sie doch, verstanden?« Er warf einen raschen Blick auf das gebeugte Haupt seines Vaters. »Ich lebe nicht nur einfach so mit ihr … Ihr versteht's, bei Gott! Aber jetzt reicht's mir, das kann ich euch sagen – jetzt reicht's mir!« Es war mucksmäuschenstill in der Küche. Paddy regte sich nicht, Ruth rührte sich nicht, und Lizzie stürmte nicht aus der Spülküche herein. Rory stand heftig atmend da. Dann sah er Jimmy an und schrie: »Da komme ich her, verstehst du – da komme ich her, um euch zu sagen, daß sie euch alle kennenlernen will! Mein Gott, sie hat ja keine Ahnung, was sie sich damit antun würde … Nun, es macht nichts. Jetzt weiß ich wenigstens, wo ich stehe. Ihr werdet mich früher brauchen, als ich euch brauche – alle miteinander.« Damit drehte er sich um und stürmte aus dem Haus. Noch ehe die Tür schmetternd ins Schloß fiel, tauchte Lizzie aus der Spülküche auf. Paddy drehte sich vom Kamin um, und Ruth streckte Jimmy die Hand hin, als wolle sie ihn zur Tür hinausschieben und sagte in eindringlichem Ton: »Geh ihm nach, Jimmy. Sag … sag ihm, daß schon alles in Ordnung kommen wird.« Damit drängte sie Jimmy zur Tür. »Sag … sag ihm, daß ich es verstehe und … und daß sie uns willkommen ist. Sag ihm das: Sie wird uns willkommen sein.« 219
Jimmy erwiderte kein Wort, griff nach seiner Kappe, zog sie sich fest in die Stirn und riß die Tür auf. Und dann rannte er in seinem schlenkernden Gang den Gartenweg hinunter und rief immerzu: »Rory, Rory!« Kaum hatte er ihn unter Gekeuche eingeholt, sagte er mühsam: »Bleib endlich stehen, Mann! Es … es hat doch keinen Sinn, einen Wutanfall zu kriegen. Ich hab' … ich hab' dir ja vorausgesagt, daß es Knatsch gibt, wenn du ihnen damit kommst. Mich hat's ja auch ganz schön durcheinandergebracht. Nicht nur … nicht nur wegen Janie, sondern …« »Sondern was?« Rory blieb unvermittelt stehen, so daß Jimmy noch ein paar Schritte weiterlief, ehe er sich zu ihm umdrehte, zu ihm aufsah und furchtlos fortfuhr: »Du willst wirklich die Wahrheit hören? Schön, dann sollst du's auch: Sie ist anders als Janie. Älter und häßlich. Genau wie Lizzie gesagt hat. Und …« »Nur weiter!« sagte Rory in drohendem Ton. »Also gut, ich will es dir sagen. Sie gehört einer anderen Gesellschaftsschicht an. Du wirst dir wie ein Fisch vorkommen, der auf dem Trockenen sitzt.« Rory beugte sich nun über Jimmy und fragte langsam und in bedeutend ruhigerem Ton: »Bist du dir gestern wie ein Fisch vorgekommen, der auf dem Trockenen sitzt, als du sie kennengelernt hast?« Jimmy schüttelte den Kopf, blinzelte unsicher, drehte sich um und ging weiter. Nach einer Weile antwortete er: »Nein, weil … weil ich spürte, daß sie es darauf abgesehen hatte, daß ich sie mag. Aber ich brauche auch nicht mit ihr zu leben.« Nun sah er wieder zu Rory auf. »Das ist der Unterschied. Ich brauche nicht ihr Leben zu führen und mit ihrer Art von Leuten zusammenzukommen. Ich brauche mich nicht mit aller Gewalt anzupassen.« »Und du glaubst, das kann ich nicht?« Jimmy antwortete eine Weile nichts, und dann sagte er ruhig: »Meine Mutter läßt dir sagen, daß sie ihnen willkommen sein wird. Du kannst sie ruhig mitbringen. Sie wird ihnen willkommen sein.« »Den Teufel werd' ich! Soll ich sie diesem heuchlerischen Pack aussetzen? Kommt überhaupt nicht in Frage. Nun« – er richtete sich auf, 220
sein Gang wurde rascher, und er schwenkte die Arme –, »weshalb soll ich mir den Kopf zerbrechen. Sie sind die Verlierer. Sie haben sich nur selbst um was gebracht. Ich hätte ihnen allen auf die Beine helfen, ihnen allen was geben können, auf Lebenszeit.« Er warf Jimmy von der Seite einen Blick zu. »Weißt du, was ich wert sein werde, wenn ich heirate – hast du die leiseste Ahnung? Ich werde ein reicher Mann sein, denn sie schwimmt im Geld und wird alles mit mir teilen. Stell dir das einmal vor.« »Klingt vielversprechend. Hoffentlich bleibt's dabei.« Dieser skeptisch klingende Satz, den Lizzie zu ihrem Leib- und Magenspruch gemacht hatte, veranlaßte Rory, die Augen fest zusammenzukneifen. Hoffentlich bleibt's dabei … Konnte er jemals etwas recht machen auf dieser Welt? Konnte er jemals alle zufriedenstellen? Alle nicht. Aber sie! Sie stellte er zufrieden, oder etwa nicht? Er hatte noch nie eine Frau so offenkundig glücklich gesehen, wie Charlotte es in den letzten drei Wochen gewesen war. Ihr Glück verwirrte ihn und machte ihn demütig – ja, demütig. Jede Nacht, wenn er sie verließ, sagte er sich: Ich werde es ihr zurückzahlen, irgendwie werde ich es ihr zurückzahlen. Und das würde er auch. Zur Hölle mit den anderen! Die daheim hatten ihn heut zum letztenmal gesehen. Er würde mit ihr zum Standesamt gehen, wann immer sie wollte. Und dann würde er es ihnen zeigen. Er würde es ihnen schon zeigen, ob er sich anzupassen verstand oder nicht. Hoffentlich bleibt's dabei … Ach was, Janie war tot!
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aum hatte er die Haustür aufgesperrt und die Tür, die vom Korridor zur Halle führte, geöffnet, stand Jessie schon bereit, um diensteifrig hinter ihm abzuschließen. »Was für eine Nacht, Sir. Herrje, sind Sie aber naß.« Als sie seinen Hut und seinen dicken Tweedmantel entgegennahm, beugte er sich zu ihr hinunter und sagte in verschwörerischem Flüsterton: »Nicht so laut, Jessie, sonst muß ich sofort wieder Hustenmedizin einnehmen.« »Ach, Sir.« Sie kicherte und schüttelte den Kopf. Dann sagte sie: »Die gnädige Frau ist oben«, und als er ihr zunickte und auf die Treppe zuging, zischte sie ihm nach: »Ihre Stiefel, Sir!« Er sah auf seine nassen Füße nieder, reckte das Kinn hoch und biß sich auf die Unterlippe wie ein Schuljunge, der bei einer strafbaren Handlung ertappt worden war; dann setzte er sich auf den nächsten Stuhl und schnürte sich die Stiefel auf. Anschließend nahm er ihr die Hausschuhe ab und zog sie an. Und als er aufgestanden war, beugte er sich abermals zu ihr nieder und flüsterte ihr zu: »Ganz im Vertrauen, Jessie: Ich werde garantiert gleich ins Bett gesteckt werden – so oder so.« Abermals kicherte sie, ehe sie in die Küche lief, um die Köchin davon zu verständigen, daß der gnädige Herr daheim sei. Sie mochte den gnädigen Herrn wirklich: Das Haus hatte sich gewaltig verändert, seit er eingezogen war. Möglich, daß er vom unteren Ende der Stadt kam und sozusagen aus kleinsten Verhältnissen stammte, aber er benahm sich niemals anmaßend. Und was noch wichtiger war: Er hatte aus der Gnädigen erst eine richtige Frau gemacht. Wahrhaftig, das hatte er. Jessie hatte noch bei keinem Menschen eine derartige Veränderung bemerkt, noch hatte sie jemals in einem Haus derartige Veränderun222
gen erlebt. Alle waren angesteckt; es war, wie die Köchin gesagt hatte: Sie würden sich noch alle in ihn verlieben … Als Rory die Schlafzimmertür aufmachte, stieß er Charlotte beinahe um. Rasch streckte er die Arme aus, um sie aufzufangen, und sagte: »Weshalb stehst du denn hinter der Tür?« »Ich bin nicht hinter der Tür gestanden, Mr. Connor. Ich wollte sie eben aufmachen.« Sie hob ihr Gesicht zu seinem empor, und er küßte sie sanft auf den Mund. »Ich habe dich gar nicht heimkommen gehört.« »Natürlich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Jessie hat mir, kaum daß ich aufgesperrt habe, befohlen, ja sofort Hausschuhe anzuziehen und ein braver Junge zu sein.« Sie schüttelte seinen Arm und lächelte ihn an; dann lockerte sie seine Krawatte, während sie sich erkundigte: »Wie ist es gegangen?« Er schob sie nun von sich, auf den dickgepolsterten Samtstuhl vor dem Toilettentisch zu; dann zog er den Rock aus, legte Kragen und Krawatte ab und ging zum Kleiderschrank, der beinahe eine ganze Wand ausfüllte, stülpte das Hemd über den Kopf und sagte: »Gut, sehr gut. Der heutige Tag hat mir richtigen Spaß gemacht.« Er blickte über die Schulter. »Mehr als gewöhnlich?« »Bedeutend mehr sogar.« Nun entnahm er der Kleiderschranklade ein Seidenhemd mit breitem, weichem Kragen und zog es über. Dann legte er die Beinkleider ab und suchte sich neue vom Hosenständer. Er stieg hinein, und sie sah ihm die ganze Zeit schweigend und mit offensichtlichem Vergnügen zu. Schließlich schlüpfte er in einen dazu passenden Rock, kam zurück und sagte: »Ich habe jemanden getroffen, den ich schon seit langem treffen wollte.« »Mann oder Frau?« Er grinste sie an und antwortete: »Mann.« »Aha …« Sie legte die Hand aufs Herz und sagte: »Mir fällt ein Stein vom Herzen. Bitte fahr fort.« 223
Er lachte leicht auf, dann setzte er sich neben sie. »Kennst du einen Mann namens Nickle?« »Nickle? Zwei sogar. Einen Frank Nickle und einen John Nickle – die beiden sind aber nicht miteinander verwandt. Welchen hast du getroffen?« »Oh, den Vornamen kenne ich nicht. Meiner wohnt am Plynlimmon Way.« »Das ist Frank Nickle. Weshalb wolltest du ihn treffen? Ich bin ziemlich sicher, daß ihr in keinem Punkt übereinstimmt.« »Da irrst du dich … Was weißt du über ihn?« Sie legte den Kopf schräg, als wolle sie nachdenken, dann sagte sie: »Weißt du, ich mache mir nichts aus ihm, habe aber auch nichts gegen ihn – außer in einer Beziehung: Ich erinnere mich, daß er nicht nett zu seiner Frau war. Ich bin ihr zweimal begegnet, kurz, nachdem ich vom College heimkam. Meine Mutter war damals noch am Leben. Einmal waren wir zum Dinner bei ihnen, und einmal kam sie hierher. Sie war eine traurige Person. Ich glaube, sie hat sich vor ihm gefürchtet. Soweit ich mich erinnern kann, hat auch meine Mutter nicht viel für ihn übrig gehabt, aber sie gehörten allesamt derselben Kirche an und … Worüber lachst du?« »Es hat eben gegongt, meine Liebe. Ich werde es dir nachher erzählen.« »Du sagst es mir jetzt gleich.« Er sah sie einen Moment an, dann meinte er seelenruhig: »Ich werde es Ihnen später erzählen, Mrs. Connor.« Sie biß sich auf die Lippen, um nicht laut herauszulachen, neigte leicht das Haupt, streckte ihm die Hand hin und erhob sich. Als er ihr nicht sofort folgte, sagte sie: »Hätten Sie was dagegen, mich zum Essen nach unten zu begleiten, Mr. Connor?« »Keineswegs, Mrs. Connor.« Er stand nun auf und reichte ihr den Arm, und sie legte den Kopf einen Moment an den seinen. Darauf gingen sie Arm in Arm zur Tür hinaus über die Treppe nach unten ins Wohnzimmer wie ein junges, unsterblich verliebtes Paar, das es nicht ertragen konnte, auch nur eine Minute voneinander getrennt zu sein, 224
nicht einmal auf dem Weg zum Essen … Sie waren nun fünf Monate verheiratet, und Rory hatte sich derart an dieses Leben gewöhnt, daß es ihm manchmal schwerfiel, sich vorzustellen, jemals anders gelebt zu haben. Er war gekleidet, wie es einem Mann von Bedeutung zustand; er speiste wie ein Mann von Bedeutung; er begann, in die Gesellschaft der Stadt Eingang zu finden, wie es einem Mann von Bedeutung zukam. Vor kurzem erst hatte sie zweimal nacheinander Leute zum Dinner eingeladen, und es war keine vier Tage her, daß er genau an diesem Tisch zehn prominenten Gästen als Herr des Hauses gegenübergesessen hatte. Manchmal wunderte er sich über sich selbst; nie hätte er gedacht, sich so rasch und so leicht anpassen zu können. Sogar Jimmy hatte erst letztens gesagt: »Es ist erstaunlich, wie schnell du dich eingewöhnt hast. Es wird nicht mehr lange dauern, und du wirst mit Lord Cole verkehren wie mit unsereinem.« Er hatte gelacht und erwidert: »Würde mich gar nicht wundern, mein Junge.« Dabei war er sich sehr wohl dessen bewußt, daß es immer noch Türen gab, die sich dem ehemaligen Mietenkassierer niemals öffnen würden, wobei es sich sogar um Mitglieder der Kirche handelte. Charlotte hatte versucht, ihn in die anglikanische Kirche mitzunehmen. Er solle aus zweierlei Gründen der Messe beiwohnen, hatte sie ihm lachend erklärt: sowohl aus religiösen als auch aus geschäftlichen Gründen. Aber in diesem Fall hatte er sich energisch dagegen zu verwahren verstanden. Er wollte kein solcher Heuchler sein. Er war als Katholik aufgewachsen, und obwohl er seit Jahren keine Kirche mehr betreten hatte – mit Ausnahme seines Hochzeitstages –, hatte er nicht die Absicht, zum Konvertiten zu werden, sondern wollte als Katholik sterben. Rory war so glücklich, wie er es nie im Leben für möglich gehalten hätte. Es handelte sich um eine andere Art von Glück als jenes, das er mit Janie erlebt hatte. Er war nun völlig ruhig, ausgeglichen und zufrieden; zum Teil sicherlich der geordneten materiellen Verhältnisse wegen, zum andern aus Dankbarkeit – aber da war noch etwas anderes. Es war nicht Liebe, und doch gehörte es irgendwie zur gleichen 225
Kategorie, wenn er es auch nicht in Worte kleiden konnte. Er hatte Charlotte gern, sehr gern; und er bewunderte sie. Merkwürdigerweise hatte er aufgehört, Mitleid für sie zu empfinden. Und ebenso merkwürdig kam es ihm vor, daß er sich in ihrer Gesellschaft ungezwungener benahm als in der Gesellschaft sämtlicher anderer Zeitgenossen, seine eigene Familie miteingeschlossen. Abgesehen von Jimmy natürlich … Janie gegenüber war er gar nicht immer ungezwungen gewesen. So sonderbar es auch klingen mochte – aber es war so. Nein, er war nicht imstande, das Gefühl, das er Charlotte entgegenbrachte, näher zu umschreiben. Er wußte nur, daß er gern mit ihr zusammen war und daß dies genau das richtige Leben für ihn darstellte. Er war wirklich auf die Füße gefallen, wie man so zu sagen pflegte, und er würde alles daransetzen, daß sie ihn in alle Zukunft auch sicher trugen … Als die Mahlzeit vorbei war und sie sich im Salon befanden, setzte sich Charlotte neben ihn auf die Couch und sah zu, wie er anfing, seine Pfeife zu stopfen. Diese Freiheit hatte selbst die ihm überaus gutgesinnten Dienstboten schockiert. Herren rauchten niemals im Salon. Aber es war nicht zu fassen: Die Gnädige erlaubte es! – Sie sagte nun: »Ich warte, mein Lieber. Was hast du denn über Mr. Nickle in Erfahrung gebracht, das dir solchen Spaß bereitet?« »Spaß?« »Jawohl, Spaß. Das habe ich dir auf den ersten Blick an der Nasenspitze angesehen.« »Er ist doch sicher ein braver Kirchengänger, nicht?« »Das stimmt.« »Ein allseits respektiertes Mitglied der Gesellschaft.« Rory drückte den Tabak fest in den weißen Pfeifenkopf seiner Rotholzpfeife. »Also, worum handelt es sich – sag schon!« Sie streckte die Hand aus und schlug ihm spielerisch aufs Knie, und er sah sie sekundenlang an, ehe er antwortete: »Er ist der unverschämteste Heuchler, der mir je untergekommen ist. Was sagst du dazu?« »Ist das alles? Dann ist er in unserer Stadt kein Einzelfall.« »Er unterhält einen Spielsalon.« 226
Nun war sie unangenehm überrascht. »Mr. Nickle hat einen Spielsalon? Du träumst wohl, Rory.« »Keineswegs, Charlotte – Rory träumt ganz und gar nicht.« Er äffte sie ein bißchen nach. »Rory hat nämlich einmal alles Mögliche angestellt, um zu diesem Spielsalon Zutritt zu erlangen, was ihm aber mit aller Entschiedenheit ausgeredet wurde. Statt dessen hat man ihn in ein Haus in der King Street empfohlen. Und du weißt doch, was Rory in der King Street passiert ist, nicht wahr?« »Das kann doch nicht wahr sein!« Sie sahen einander nun völlig ernst an, und sein Tonfall klang bitter, als er antwortete: »Doch. Und es ist nicht nur das Kartenspiel, woran er interessiert ist. Das, womit er dem kleinen Joe so eingeheizt hat, daß …« »Wer ist der kleine Joe?« »Ein Buchmacher, der Wetten entgegennimmt, aber noch die verschiedensten Nebengeschäfte betreibt. Einige davon sind so beschaffen, daß es gefährlich werden kann, darüber Bescheid zu wissen. Nicht daß der kleine Joe etwa viel anrichten könnte, aber seine Auftraggeber, beispielsweise ein gewisser Mr. Nickle. Weißt du …« Er stand auf, ging zum Kamin, entzündete einen Fidibus und danach damit seine Pfeife, machte einen tiefen Zug, kam wieder zu ihr und fuhr fort: »Weißt du, ich hätte dir wahrscheinlich niemals etwas davon erzählt. Ich meine, ich hätte ihn nicht verraten. Wenn ich ihn nicht ausgerechnet bei den Crawfords getroffen hätte, wo er es auf dasselbe Grundstück abgesehen hatte wie ich. Aber er hat mich dabei völlig ignoriert – getan, als ob ich Luft wäre – und hat sich beim Verhandeln derart aufgespielt, daß Crawford schließlich mit mir abgeschlossen hat statt mit ihm. Etwas später habe ich ihn dann beim Essen im Hotel wiedergesehen. Und abermals hat er mich geschnitten. Nun bin ich ja an dieses Benehmen gewöhnt und nehme es auch in den meisten Fällen ohne Wimpernzucken zur Kenntnis. Aber nicht von ihm, von dem ich so vieles weiß. Was ihm natürlich nicht bekannt ist. Weißt du, Charlotte, es handelt sich nämlich nicht nur um den Spielsalon, sondern um Mädchenhandel.« »Das kann ich mir einfach nicht vorstellen!« 227
»Es ist aber so. Und auf diesem Weg ist schon eine ganz erkleckliche Anzahl junger Dinger verschwunden.« »O nein, Rory! Das … das würde er nicht tun.« »Doch. Er würde es nicht nur tun, er hat es bereits getan. Mehrmals. Der kleine Joe fürchtet sich mit gutem Grund vor unserem hochgeschätzten Mr. Nickle, das kann ich dir versichern. Weißt du, wie ich ihm auf die Schliche gekommen bin? Eines Tages, als ich mir bei Joe bloß einen guten Tip holen wollte, hatte er sich gerade von Kopf bis Fuß derart in Schale geworfen, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Nachdem er mir meine Bitte abgeschlagen hatte, bin ich ihm heimlich nachgegangen und habe gesehen, wie er in Nickles Haus verschwand. Und als ich ihn danach daraufhin ansprach, war mir sofort klar, daß es nicht um eine Wettannahme allein gegangen ist bei dem feinen Herrn. Dazu hatte ich schon viel zuviel über dessen Machenschaften gehört. Paß auf, Charlotte.« Er zog sie an sich. »Ich habe mir da was überlegt. Hältst du es für möglich, ihn zu uns zum Essen einzuladen?« »Zu uns?« »Genau das. Sag ihm, dein Mann würde ihn sehr gerne kennenlernen.« »Aber nachdem er dich geschnitten hat, wird er wohl kaum zusagen, oder?« »Doch, wird er. Lade ihn auf eine Weise ein, daß er sich's zweimal überlegt, abzulehnen. Du mußt nur dieses gewisse Etwas in deine Stimme legen … Das kannst du sehr gut.« »Denkst du etwa an Erpressung?« »Wenn du so willst …« Sie lächelte ihm zu. »Ich verstehe deinen Standpunkt, Rory. Ja, ich werde ihn einladen. Wenn mich nicht alles täuscht, sehe ich ihn bereits nächste Woche in der Sitzung des Kirchenbeirats. Ja!« Sie lachte nun laut heraus. »Ich werde den feinen Herrn einladen, und es wird mir ebensolchen Spaß machen wie dir. Das heißt, falls er die Einladung annimmt.« »Das wird er, wenn du es ihm auf deine spezielle Art suggerierst … Ha, ist das Leben komisch!« Er lehnte sich behaglich zurück, während 228
sie etwas von ihm abrückte, um ihn besser in Augenschein nehmen zu können. »Wie kommst du darauf?« »Worauf?« »Daß das Leben komisch ist.« Er nahm die Pfeife aus dem Mund und sagte: »Ich mag dieses Leben, Mrs. Connor. Sehr sogar. Ich hätte mir nie träumen lassen, daß ich es einmal so gern haben würde.« »Ich wünschte, ich wäre schön«, entgegnete sie leise. Da umschlang er sie mit beiden Armen und meinte: »Du verfügst über Qualitäten, die Schönheit bei weitem übertreffen. Außerdem bist du die bestgekleidete Frau der ganzen Stadt. Und bemerkenswert obendrein.« »Bemerkenswert! Ich wäre gerne ein Einfaltspinsel, wenn ich nur … wenn ich nur anders aussehen würde.« Da stieß er sie von sich und sagte aufrichtigen, aber rauhen Tones: »Nun, ich kann dir nur soviel sagen: Wärst du eines dieser hirnlosen Geschöpfe, dann würdest du jetzt nicht hier sitzen, und ganz bestimmt würde ich nicht hier sitzen, neben dir, als dein Mann. Weil ich Einfaltspinsel nämlich nicht ausstehen kann.« »Ach, Rory!« Sie warf sich in seine Arme, und er preßte sie ganz fest an sich. Es verging kaum eine Woche, ohne daß er sie in bezug auf ihr Aussehen beruhigen und trösten mußte. Es hatte den Anschein, als würde sie sich mit der Zeit ihrer Häßlichkeit zunehmend mehr bewußt. Dabei bemerkte selbst er den Mangel an Schönheit immer weniger; es gab sogar Momente, in denen ihr Gesicht ausgesprochen anziehend wirkte. Dazu kam noch ihre wohltuende Stimme, die wunderschön war. Er wurde nie müde, ihr zu lauschen, selbst wenn sie sich in einer ihrer immer seltener werdenden anmaßenden Stimmungen befand. Sie sagte: »Du hast überhaupt nicht gefragt, was ich den ganzen Tag über gemacht habe.« »Also, was hast du den ganzen Tag über gemacht, meine Liebe?« »Nichts. Jedenfalls nicht viel. Und doch … doch muß ich dir zwei Dinge sagen.« 229
»Zwei Dinge? Nun, dann los. Worum handelt es sich?« Sie entzog sich ihm sanft und sagte: »Reg dich nicht auf, Rory, aber … Jimmy war heute nachmittag da. Eines … eines seiner Boote ist versenkt worden …« Er saß wie zum Sprung geduckt da und herrschte sie beinahe an: »Warum hast du mir das nicht gleich erzählt?« Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und beschwichtigte: »Nur ruhig, reg dich nicht auf. Ich habe mich bereits um alles gekümmert.« »Wo ist Jimmy jetzt?« »Wo er immer ist – im Bootshaus.« »Dann wird's besser sein, wenn ich hinuntergehe. Er sollte nicht allein dort sein. Ich werde …« »Ich hab' dir doch gesagt, daß ich mich um alles gekümmert habe. Ich habe dafür gesorgt, daß Mr. Richardson bei ihm übernachtet.« »Was ist denn mit dem Boot passiert?« »Man hat eine Planke gelockert, und dann …« »… dann ist es vollgelaufen. Und die Ware von Watson ist natürlich davon geschwommen.« »Sie haben alles in Sicherheit bringen können.« Rory stemmte sich von der Couch hoch und begann, auf und ab zu gehen, wobei er mit den Zähnen knirschte. »Diese verdammten Pitties!« Er entschuldigte sich nie, wenn er in ihrer Gegenwart fluchte, noch tadelte sie ihn deswegen. »Wenn man ihnen nicht Einhalt gebietet, bringen sie ihn noch um! Wir müssen etwas unternehmen.« Er stand vor ihr und sah auf sie hinunter. Und sie sagte ruhig: »Es wird auch etwas unternommen werden, dafür habe ich gesorgt … Ich habe – den Polizeipräsidenten angerufen und ihm über unseren Verdacht ins Bild gesetzt. Natürlich kann man, solange man keinen absoluten Beweis hat, niemanden anklagen, aber nach dem wenigen, das er entgegnete, wußte ich sofort, daß er über die Pitties sehr genau Bescheid weiß und genauso froh wäre, wie wir, wenn man ihnen das Handwerk legen könnte. Außerdem sagte er etwas, was ich sehr interessant fand – nämlich: ›Es ist äußerst schwierig, kleine Fische zu fangen, solange sie von großen Fischen beschützt werden.‹ Was sagst du dazu?« 230
Er rieb sich fest übers Kinn. »Was ich dazu sage? Daß es sehr gut zu dem, was ich dir vorhin erzählt habe, paßt: Es gibt einige ehrenwerte Leute in dieser Stadt, die ein richtiges Doppelleben führen. Das sind die großen Fische, die hinter den kleinen stecken.« Er kniff die Augen zusammen. »Würdest du etwa die Pitties decken? Das tut doch nur jemand, der sie für seine Zwecke verwenden will. Und was kann das wohl sein? Laufende Frachten, angefangen vom geschmuggelten Whisky über Reinseide, zum Tabak und Menschenschmuggel …« »Mädchenhandel also, wie du vorhin gesagt hast.« Er nickte. »Genau das.« Dann senkte er den Kopf, schüttelte ihn und stieß schließlich hervor: »Wovor ich ehrlich Angst habe, ist, daß sie über Jimmy herfallen könnten. Der kann es mit keinem von denen aufnehmen, wenn er auch noch so mutig ist. Was nützt einem Mut bei einem solchen Pack! Da hilft nur eines: List.« »Wenn du dir Jimmys wegen solche Sorgen machst, dann mußt du ihn dazu überreden, hier zu schlafen.« Er lächelte schwach. »Das ist lieb von dir, wirklich – aber ich bezweifle, daß er es tun würde.« »Warum denn nicht? Er hat nicht nur seine Scheu mir gegenüber abgelegt, sondern fängt langsam an, mich zu mögen, habe ich den Eindruck. Und das gibt mir Hoffnung, daß deine Verwandten nach und nach seinem Beispiel folgen könnten.« Er wandte sich von ihr ab und ging zum Kamin, von wo er zum Bild ihres Urgroßvaters aufblickte und dachte: Das wird der Tag der Tage sein! Diese hochnäsige Bande. Selbst Ruth war nun in diesen Gedanken mit eingeschlossen. Jimmy, der sich als Vermittler betätigt hatte, hatte alles so arrangiert, daß er Charlotte an einem Samstag mit heimbringen konnte – was er vor allem tat, weil sie es so sehr wünschte, obwohl es ihm selbst mehr als gegen den Strich ging. Und was war geschehen? Nichts. Sie hatte alles darangesetzt, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Die einzige Reaktion darauf war, daß man sie angestarrt hatte, als wäre sie eine Jahrmarktskuriosität. 231
Später hatte Charlotte dann zu ihm gesagt: »Ich glaube, daß deine Mutter ein sanftes Wesen hat.« Seine Mutter! Das war das einzige Geheimnis, das er für sich behalten hatte. Alles wußte sie über ihn – mit dieser einzigen Ausnahme eben. Er konnte es nicht über sich bringen, ihr einzugestehen, daß diese kleine, unbedeutende ruhige Frau mit der ihr eigenen Würde nicht seine Mutter war, sondern jene, die er ihr mit den trockenen Worten: »Das ist Lizzie« vorgestellt hatte. Daheim hatte er ihr dann erklärt, daß sie die Base seines Vaters sei. Warum war es nur so unmöglich, solche Dinge zuzugeben? Er fühlte sich an dem Umstand, Lizzies Sohn zu sein, ebenso schuldig, als wäre er es selbst gewesen, der diese sündige Geburt verschuldet hätte. Zum Teufel mit ihnen allen! Sollte sie doch der Kuckuck holen. Jimmy war's der ihm Sorgen machte, und diese verdammten Pitties fingen an, ihm Furcht einzujagen. Kleine Fische, die von großen beschützt wurden … Er drehte sich zu Charlotte um. »Ich gehe hinunter«, entschied er. »Schön.« Sie erhob sich von der Couch. »Ich begleite dich.« »Kommt gar nicht in Frage, wo gleich die Flut eintritt.« »Wenn du hinuntergehst, dann gehe ich mit dir.« Er schloß einen Moment die Augen; er kannte diesen Ton. »Gut, dann zieh dich an«, knurrte er. Während sie zur Tür ging, meinte sie: »Ich werde es Stoddard sagen.« »Nein, nein.« Er trat an ihre Seite. »Du wirst doch nicht um diese Zeit den Wagen vorfahren lassen. Er wird sich sicher schon hingelegt haben. Ich hatte vor, zu Fuß zu gehen.« »Meinetwegen. Dann gehen wir eben zu Fuß.« »Oh, W-e-i-b!« »Oh, M-a-n-n!« Sie lächelte ihm zu, zwickte ihn scherzhaft in die Nase und verließ den Raum.
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Eine halbe Stunde später betraten sie das Bootshaus und schreckten Jimmy und Mr. Richardson aus dem Kartenspielen auf. »Oh, hallo.« Jimmy stand auf, sah von einem zum andern und fragte: »Ist irgendwas nicht in Ordnung?« »Bei uns schon. Aber wie ist es bei euch? Was hab' ich da gehört?« »Ach, das.« Jimmy nickte und sagte dann: »Nun, die Sache hat jedenfalls bereits Konsequenzen gezeigt.« Er sah nun Charlotte an. »Die Strompolizei ist heute schon dreimal dagewesen. Sonst kriegt man sie kaum zu Gesicht. Das sollte die Kerle wohl vor weiteren Zugriffen abschrecken.« »Ein bißchen wenigstens.« Rory schob Charlotte einen Stuhl zurecht. Sie setzte sich und fragte: »Habt ihr genug zu essen?« »Das will ich meinen.« Jimmy lächelte sie an. »Lizzie war hier und hat was gebacken. Sie stopft mich voll, als wenn ich mindestens die Schwindsucht hätte.« Charlotte zwinkerte ihm verständnisinnig zu. Es war komisch, aber er mochte sie; er mochte sie mit jeder Begegnung lieber. Wenn man sie näher kannte, vergaß man, wie sie aussah. Das hatte er nachmittags auch zu Lizzie gesagt, als sie über Rory loszog. Daraufhin war sie sofort auf ihn losgegangen und hatte gefaucht: »Du bist also auch so einer, der ein hundsmiserables Gedächtnis hat, wie? Und ich dachte, du hieltest weiß Gott was von Janie.« Das stimmte schon. Aber Janie war nun mal tot. Das hatte er ihr auch unter die Nase gerieben. Und was hatte sie darauf geantwortet? Daß die Toten ein Recht hatten, in unserer Erinnerung weiterzuleben. Und zwar bis zu unserem letzten Atemzug. Sie war schon eine harte Nuß, diese Lizzie. Sie wollte das Gute, das Rory tat, um keinen Preis anerkennen. Und doch hatte er das Leben aller erleichtert. Drei Pfund bekamen die daheim Woche um Woche. Noch nie hatten sie unter so guten Verhältnissen gelebt. Sie hatten sich neu eingekleidet, Bettzeug gekauft und aßen auf das üppigste. Wenn Lizzie so weitermachte und seine Mutter dazu – denn auch Ruth war Charlotte gegenüber um keinen Deut milder geworden –, dann würde er den beiden dieser Tage mal reinen Wein einschenken. Er würde ihnen ohne weiteres sagen: »Nun, wenn ihr tatsächlich so denkt, dann 233
solltet ihr auch sein Geld nicht nehmen.« Jawohl, das würde er sagen. Und was würden die garantiert darauf antworten: »Junge, das ist nicht sein, sondern ihr Geld …« Nun, es kam nicht darauf an, wessen Geld es war, sie nahmen es jedenfalls entgegen, ohne die Spur von Dankbarkeit zu zeigen. Er selbst war dankbar – bei Gott, das war er! Er hatte bereits drei Boote – nicht eines: drei! Er wandte sich an Charlotte: »Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee?« »Nein, danke, Jimmy. Wir wollten bloß nachsehen kommen, ob bei euch alles in Ordnung ist.« Sie lächelte erst ihn und dann Mr. Richardson an. Mr. Richardson war ein beleibter Mann um die Vierzig, der früher mit Jimmy bei Baker gearbeitet hatte, Seite an Seite. Aber er war gerne hierher übergesiedelt, nachdem Rory ihm fünf Shilling mehr bot, als er bei der alten Firma bekommen hatte. Da er jedoch verheiratet war und Kinder hatte, konnte man natürlich nicht von ihm verlangen, daß er auf die Dauer am Fluß übernachtete. »Wir sind Ihnen sehr dankbar, daß Sie Jimmy Gesellschaft leisten«, sagte Charlotte. »Ich tu, was ich kann, Ma'am.« »Danke, wir werden es nicht vergessen, Mr. Richardson.« Der Mann nickte und grinste breit. Dann stand Charlotte auf und sah Rory an. »Nun, bist du jetzt beruhigt?« Ehe er noch antworten konnte, wandte sie sich an Jimmy und sagte: »Das Malheur bei deinem Bruder ist, daß er nicht einsehen will, daß du ein junger Mann und kein Kind mehr bist.« Jimmy lächelte sie an und erwiderte: »Nun, dann werden wir es ihm eben beibringen müssen, nicht? Sagen Sie ihm, wenn Sie ihn sehen, daß ich es jederzeit mit jedermann aufnehme, abgemacht?« Rory versetzte dem Bruder eine leichte Kopfnuß und lachte. »Wenn du kein alberner Kerl bist, dann weiß ich nicht.« »Albern? Ach nee! Du willst von albern reden und kommst mitten in der Nacht herunter, noch dazu bei dem Wetter und in Damenbegleitung.« Er schüttelte ostentativ den Kopf. 234
»Charlotte ist doch nur mitgekommen, um mich notfalls zu beschützen! Oder kannst du dir etwa vorstellen, daß mich jemand angreift, wenn sie dabei ist?« Damit ergriff Rory Charlottes Arm und führte sie zur Tür. »Und daß du mir ja den Riegel vorschiebst«, schärfte er, sich nochmals umwendend, seinem Bruder ein. »Ja, ja, sorg dich nur nicht«, Jimmy grinste Rory beruhigend an. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, eilten sie durch den nun noch ärger herabprasselnden Regen am stockfinsteren Ufer entlang heimwärts, und Rory dachte: Jimmy hat recht. Es war verrückt, sie mitkommen zu lassen. Noch dazu um diese Zeit. Daher atmete er erst auf, als sie die Hauptstraße erreicht hatten, und sogleich sagte sie zu ihm: »So. Jetzt entspann dich gefälligst.« Er antwortete nicht, sondern stieß nur einen beredten Seufzer aus, als er zum x-ten Mal dachte: Wahrhaftig, sie ist eine bemerkenswerte Frau. Da er die Sorge um Jimmy nun los war, sagte er: »Du wolltest mir doch zwei Dinge mitteilen. Also komm, schieß los. Was ist das zweite, hm?« »Nicht jetzt. Erst wollen wir zusehen, aus dem nassen Zeug herauszukommen, ich bin klitschnaß.« »Geschieht dir recht. Du mußtest ja unbedingt deinen Kopf durchsetzen.« »Weitaus besser, meinen Kopf durchgesetzt zu haben, als daheim zu sitzen und mir die Seele aus dem Leib zu ängstigen, bis du wiederkommst.« »Du bist schon ein verrücktes Frauenzimmer – das weißt du doch, oder?« »Ja, ich weiß es. Ich weiß es nun seit fünf Monaten und drei Tagen.« »Ach, Charlotte …« Er preßte ihren Arm fest an sich.
Sie hatte ein Bad genommen und ein blaßgrünes Chiffonnachthemd mit dazu passendem Morgenmantel angezogen. Diese Aufmachung 235
hätte man eher von einem dieser Fotomodelle in langen, fließenden Gewändern erwartet, wie man sie auf Kitschpostkarten aus Frankreich zu sehen bekam, als von der als stocknüchtern verschrienen Tochter des alten Kean. Er hatte sich bereits daran gewöhnt, sie solcherart gekleidet zu sehen. Sein eigenes Nachtgewand hätte die Frauen in der Küche seines Elternhauses ja auch dazu veranlaßt, sich die Schürzen vors Gesicht zu halten, wogegen die eleganten Männer der Stadt sicher einen anerkennenden Blick riskiert hätten. Denn Rorys Nachtgewand war aus blaßblauem, ganz feinem Flanell, der beinahe wie Kaschmir aussah, und hatte umgeschlagene Stulpen, die ebenso wie der Kragen mit hübschen Borten versehen waren. Ungefähr ein Dutzend solcher Nachtgewänder hatte Charlotte ihm bereits zum Geschenk gemacht. Um seine Verlegenheit darüber zu kaschieren, hatte er die Sache ungemein ins Lächerliche gezogen, als er zum erstenmal ein solches Nachtgewand anlegte; aber nun dachte er nicht einmal mehr daran, wenn sie ihm Abend für Abend ein neues dieser Art herauslegte. Während er das heutige über den Kopf zog, rief er Charlotte zu: »Ich warte!« »Ich auch.« Als diese leise Antwort ertönte, biß er sich auf die Lippen, schloß die Augen, warf den Kopf in den Nacken und lachte still in sich hinein. Sie war der reinste Star geworden, tatsächlich. Wer hätte das je von ihr vermutet? Lächelnd verließ er den Ankleideraum und betrat das Schlafzimmer. Sie hatte sich noch nicht hingelegt, sondern saß auf der Bettkante und sah im weichen Licht der Lampe geradezu ätherisch aus. Es kam ihm so vor, als würde der Nachtwind, der ums Haus fegte, sie beim ersten Fensteröffnen hinwegblasen. Er setzte sich neben sie, kreuzte die Beine, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte erwartungsvoll drein. »Fühlst du dich auch stark genug?« »Stark? In welcher Beziehung?« fragte er. »Ach, in jeder Beziehung.« 236
»Hör mal, worum handelt es sich denn?« Er blickte ihr fragend ins Gesicht. »Schleich doch nicht ewig wie die Katze um den Brei herum. Was verheimlichst du mir denn?« Sie lachte leise auf wie ein junges Mädchen, dann sagte sie: »Ich will dir ja nichts verheimlichen, Rory, bestimmt nicht. Also: Ich bin schwanger.« »Sch … schwanger?« Als ihm der Mund offenstand, nickte sie bekräftigend: »Genau das, mein Lieber.« Er atmete so heftig, daß seine kräftigen Schultern sich dehnten. Sie war schwanger, sie bekam ein Kind – nein, so was! Am liebsten hätte er vor Glück herausgelacht, hielt sich aber aus Taktgefühl zurück. Sie würde ein Baby haben – Charlotte würde ein Kind haben. Und er hatte es ihr geschenkt … Nun, was war daran überraschend? Nach allem, was in den letzten Monaten geschehen war, war dies die normalste Sache der Welt. Denn wenn eine Frau jemals alles daran gesetzt hatte, ein Kind zu bekommen, dann Charlotte. Er konnte die erste Nacht in diesem Bett nie vergessen. Er hatte sich vorgenommen, sie zart zu behandeln. Denn von dem Augenblick angefangen, wo sie zum erstenmal vor der Tür da drüben gestanden hatte, hatte sie ihm die Chance eingeräumt, jeden Vorteil ihrer Abmachung auszunützen. Ja, sie hatte ihm sogar den Weg in dies Zimmer blockiert, indem sie sagte: »Ich würde es dir nicht übelnehmen, wenn du jetzt nicht … Kurz und gut: Ich verlange es nicht von dir.« Und was hatte er getan? Er hatte sie näher gezogen und die Tür hinter ihr abgeschlossen. Und sie war mit gesenktem Haupt eingetreten wie eine scheue Braut, so daß er sich abermals im stillen geschworen hatte, das mindeste, was er tun könne, sei, gut zu ihr zu sein, ihre Qual zu stillen und sie glücklich zu machen. Und er hatte sie glücklich gemacht, bei Gott, er hatte sie glücklich gemacht – und sich selbst auch. Sie hatte schon als Gefährtin und Mitarbeiterin stets eine Überraschung für ihn bedeutet. Aber als Frau war sie ihm auf eine Art und Weise begegnet, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Weil sie ihn liebte. Wahrhaftig, sie war es, die die Initiative ergriffen hatte. Bis zu jenem Moment hatte er gar nicht gewußt, daß 237
er jemals geliebt worden war. Er hatte natürlich Janie geliebt. Oder besser gesagt: Er hatte sie genommen. Und sie hatte es mit sich geschehen lassen. Aber sie hatte ihn nie auf diese Weise geliebt, wie er jetzt geliebt wurde. Vielleicht war es sein eigener Fehler gewesen, daß es mit Janie nie richtig funktioniert hatte. Es war die Sache mit John George, die in der ersten Nacht dazwischengekommen war. Natürlich hatte er vor Janie ein paar andere Frauen gekannt. In dem ersten Jahr seiner Kassierertätigkeit hatte es eine in Jarrow gegeben. Ihr Mann war zur See gegangen, und alles, was sie ersehnt hatte, war Trost, nicht Liebe. Die zweite war nicht viel besser gewesen, denn sie hatte ihm nur das gegeben, was sie jedem gegeben hätte, der einen Shilling einsetzte. Nein, er war niemals geliebt worden, bis Charlotte ihn in die Arme schloß. Er fand es erstaunlich, wie sie zu ihren Kenntnissen gekommen war, denn eines stand fest: Er war der erste Mann in ihrem Leben. Vielleicht geschah alles rein instinktiv. Was es auch sein mochte – es war das reinste Entzücken. Und nun kam sie daher und erklärte, sie … »Hurra!« Er preßte sie fest an sich, und dann sanken sie aufs Bett und herzten und küßten sich lange und leidenschaftlich. Als er sie schließlich ruhig in den Armen hielt, war das Band aus ihrem Haar geglitten, das ihr nun lose über die Schultern hing. Rory ergriff eine Handvoll dieser schwarzen Geschmeidigkeit und preßte sie an seine Wange. »Freust du dich?« »Oh, Charlotte, was könntest du mir Schöneres schenken!« »Eines jedes Jahr, bis ich dick und fett werde, einverstanden? Ich würde riesig gern auf diese Art dick und fett werden.« »Ich möchte dich aber nicht dick und fett – ich mag dich genauso, wie du bist.« Und in diesem Augenblick sprach er die Wahrheit. Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und sah, wie ihre Nasenflügel bebten. Ihr Blick war sanft und von Liebe erfüllt, und er sagte: »Du bist die großartigste Frau, der ich je im Leben begegnet bin.« Und sie lächelte: »Ich liebe dich.« Er war nicht imstande, zu sagen: »Ich dich auch!«, sondern nahm sie nur in seine Arme und drückte sie fest, ganz fest an sich. 238
Vierter Teil Die Wiederkehr
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D
ie fremdländisch aussehende junge Frau gab dem Schaffner ihre Fahrkarte, starrte ihn einen Moment lang an und durchschritt dann die Sperre. Sie war die letzte von etwa einem Dutzend Reisenden, die den Bahnsteig verließen, und sein Blick folgte ihr. Daß sie eine Fremde war, ließ sich schon allein aufgrund ihrer Kleidung feststellen. Sie hatte merkwürdig aussehende Holzpantoffel an den Füßen, und ihre schwarze Pelerine reichte bis zu den Knöcheln. Das Sonderbarste aber war ihre Kopfbedeckung – teils Hut, teils Schal und fransenverziert –, die mit einer offensichtlich alten Schnur unterm Kinn zusammengebunden war. Auch ihr Haar war mehr als merkwürdig, schon weil es, obwohl die Haut der Fremden starke Bräunung aufwies, weiß war und gekraust, wie das Haar einer alten Negerin. Jedoch war das Gesicht der Frau jung. Sie erinnerte ihn an einen ehemaligen Nachbarn, der ebensolch weißes Haar und rotgeränderte Augen gehabt hatte und den sie als Albino bezeichnet hatten. Als die junge Frau die Hauptstraße erreicht hatte, schien sie leicht verwirrt zu sein; der Samstagabend-Verkehr brandete durch die Gassen und die Menschen drängten und schoben nur so dahin. Sie trat in den Rinnstein, und der Schlamm spritzte bis über den Saum ihres Umhangs empor. Außerdem starrte sie die Vorbeigehenden an, als hätte sie noch nie im Leben Menschen zu Gesicht bekommen. Wie betäubt schritt sie ihres Wegs, über den Marktplatz, an den Buden entlang, immer weiter. Nur als eine Schiffsirene aufheulte, blieb sie stehen und blickte zum Fluß hinunter, dann ging sie wieder weiter. Als sie schließlich die zum Fluß hin abfallende Gasse hinunterkam, blieb sie abermals stehen. Und nun schob sie die Hand in den Umhang 240
und preßte sie gegen die Rippen. Dann wandte sie den Kopf nach oben und blickte ins schwindende Tageslicht. Zwei Männer hielten im Gehen inne und starrten sie an. Einen Moment lang erwiderte sie ihren Blick, aber dann eilte sie an ihnen vorbei, daß ihre Pantoffeln nur so aufs Pflaster klapperten. Als sie am Ufer angelangt war, eilte sie zielstrebig dem ehemaligen Abfallplatz zu, blieb jedoch plötzlich verwirrt stehen, weil sich hier so vieles verändert hatte. Es gab Bretter und Zäune und Bauparzellen, und so näherte sie sich dem schmalen Durchgang, der zur Bootswerft führte, langsamen Schrittes. Die Dunkelheit hatte bereits merklich zugenommen, als sie das Tor öffnen wollte. Nachdem sich herausstellte, daß es versperrt war, rüttelte sie mehrmals daran; dann klopfte sie, wartete einen Augenblick und nahm schließlich in einem Anfall von Raserei beide Fäuste zu Hilfe. Als hierauf immer noch keine Reaktion erfolgte, eilte sie ans andere Ende der Einzäunung und tat dann das, was sie früher unzählige Male getan hatte, wenn Jimmy den Riegel vorgeschoben hatte: Sie umklammerte den letzten Pfosten des Zaunes, schwang sich auf die andere Seite und betrat so die Werft. Nun stand sie reglos da und blickte zum Bootshaus hinauf. Es brannte Licht im großen Zimmer. Abermals schob sie die Hand in den Umhang und preßte sie auf die Rippen, dann ging sie die paar Stufen langsam nach oben. Sie machte nicht gleich die Tür auf, sondern klopfte erst. Es waren daraufhin wohl Schritte zu hören, ohne daß jedoch geöffnet wurde. Eine Stimme fragte: »Wer ist da?« Sie wartete eine Sekunde, ehe sie antwortete: »Mach auf, Jimmy.« Nun umfing sie völlige Stille, nichts regte sich hinter der Tür, so daß sie abermals sagte: »Mach auf, Jimmy, bitte. Bitte mach doch auf.« Erneut folgte keine Antwort, sondern die Schritte entfernten sich. Sie wandte den Kopf und sah, wie die Vorhänge beiseite geschoben wurden. Sie konnte die Umrisse von Jimmys blassem Gesicht, das sich an die Fensterscheibe drückte, wahrnehmen und streckte die Hand aus. Nichts rührte sich, nicht einmal am Fluß. Es kam ihr vor, als wäre sie 241
abermals tot. Mit lauter Stimme rief sie nun flehend: »Jimmy, Jimmy, ich bin's! Öffne die Tür. Bitte, öffne doch die Tür!« Als schließlich die Tür aufging, hatte es den Anschein, als geschähe dies aus eigenem Antrieb; sie schwang weit auf, und niemand stand in der Öffnung. Sie schritt über die Schwelle und sah sich um, und dann bemerkte sie, wie Jimmy bis ans äußerste Ende des Raumes zurückwich. Die Schnalle ihrer Pelerine immer noch in der Hand haltend, sagte sie in beschwörendem Ton: »Fürchte dich nicht, Jimmy, ich bin … ich bin kein Geist. Ich … ich bin es – Janie. Ich … war sehr krank. Ich … ich bin nicht ertrunken.« Sie schloß die Tür, dann lehnte sie sich mit dem Rücken daran und glitt langsam zu Boden. Jimmy starrte auf die zusammengekauerte Gestalt nieder, rührte sich jedoch nicht. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie so gefürchtet – am liebsten wäre er davongelaufen, aus dem Fenster gesprungen –, nur weg, weg von … ihr. Und dennoch: Es war Janies Stimme, und sie behauptete ja auch, daß sie Janie sei. Das war jedoch schon alles, was er als Anhaltspunkt hatte, denn was ihr Äußeres betraf, so stimmte einfach überhaupt nichts. Ihre Haut war so braun wie die eines Arabers, ihr Haar schlohweiß. Und Janie war ein so hübsches Ding gewesen, mit einem wahren Pfirsichteint und braunem Haar von besonders schöner Tönung. Als sie sich wieder regte und abermals das Wort an ihn richtete, fuhr Jimmy wie aus einem bösen Traum auf. »Gib mir was zu trinken, Jimmy. Tee oder sonstwas.« Wie hypnotisiert ging er zum Herd, nahm die Teekanne, die dort immer bereitstand, und füllte mit zitternder Hand eine Tasse voll, in die er automatisch zwei Stück Zucker gab. Dann näherte er sich ihr wieder. Er sah zu, wie sie sich hochzog; als er mit der Tasse in der Hand dastand und sie entsetzt anstarrte, ging sie an ihm vorbei auf einen Stuhl zu, streckte dann die Hand nach der Tasse aus und leerte sie, obwohl der Tee brühheiß war, auf einen Zug. Dann fragte sie: »Wo ist Rory?« Da er hörbar schwer atmete, beugte sie sich vor und fragte leise: »Es ist … es ist ihm doch nichts zugestoßen?« Jimmy schüttelte langsam den Kopf, und dann machte er zum er242
stenmal den Mund auf. »Wo … bist du die ganze Zeit über gewesen?« stotterte er. »Ich … ich wurde ans Land gespült. Ich erinnere mich überhaupt an nichts, aber sie haben es mir erzählt. Das heißt – nach langer Zeit erst, als der Priester über den Hügel kam. Der verstand Englisch. Das Fischerboot hat mich nach Le Palais gebracht. Ich hatte mich an eine Holzplanke angeklammert, und sie dachten, ich wäre tot. Ich muß lange Zeit im Wasser gewesen und von der Strömung ans Ufer getrieben worden sein, meinten sie. Und … und als ich wieder zu mir kam, wußte ich nicht, wer ich war. Ich … ich habe es die ganze Zeit über nicht gewußt, bis vor einem Monat.« »Erst vor einem Monat?« »Ja«, sagte sie und nickte langsam. Er schluckte zweimal, ehe er fragte: »Und wie hast du dich durchgebracht? Wer hast du denn zu sein geglaubt?« – »Niemand. Ich konnte mich einfach an nichts erinnern. Nur ganz vage daran, ein Kind in den Armen gehalten zu haben. Das habe ich auch dem Priester gesagt, und als er das nächstemal kam – er kommt nur zweimal pro Jahr dorthin –, sagte er mir, daß er entlang der Küste Erkundigungen eingezogen hätte und daß niemand Bescheid darüber wisse, daß eine Frau mit einem Kind verschollen sei. Es hätte jedoch heftige Stürme in diesem Jahr gegeben, in deren Verlauf viele Boote gesunken wären. Er sagte mir, ich müsse Geduld haben, dann würde mein Erinnerungsvermögen schon wiederkehren, und dann würde mir auch einfallen, wer ich sei. Es … es war Henri, der mir schließlich dazu verhalf.« »Wer ist Henri?« »Der Sohn einer Fischersfrau, die sich um mich gekümmert hat. Es sind lauter Fischer dort. Das Leben ist dort sehr hart, sehr, sehr hart – viel härter als hier.« Sie blickte sich langsam um. »Ich … ich erinnere mich daran, daß ich das Fischeausnehmen als die allergeringste Arbeit betrachtet habe. Nun, ich mußte lernen, Fische auszunehmen. Sie arbeiten alle von frühmorgens bis spät in die Nacht hinein. Es bleibt ihnen keine andere Wahl: Fische fangen oder sterben! Du kannst dir gar keine Vorstellung davon machen.« 243
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Aber die Menschen waren alle freundlich und – glücklich.« Jimmy schluckte. Die Gedanken überstürzten sich in seinem Kopf. Es war Janie! Du meine Güte! Was würde nun geschehen? Weshalb war sie nicht geblieben, wo sie war? Was hatte sie da gesagt …? Er murmelte: »Wie hast du dein Gedächtnis wiedergefunden?« »Mit Hilfe von Henri. Er konnte nicht verstehen, daß ich nicht schwimmen lernen wollte. Alle jungen Leute schwammen dort – es bildete ihr einziges Vergnügen. Eines Tages trat er hinter mich und stieß mich vom Felsen. Und als ich ins Wasser fiel, kehrte mein Erinnerungsvermögen zurück. Es hat ihm leid, sehr leid getan, daß ich mich wieder an alles erinnern konnte.« Sie sah auf den Tisch nieder und fragte plötzlich erneut: »Wo ist Rory? Oben?« Jimmy wandte sich von ihr ab. Er schüttelte heftig den Kopf, hob die Teekanne vom Herd, stellte sie wieder ab, drehte sich dann rasch um und sagte: »Du bist … du bist beinahe zwei Jahre weggewesen, Janie. Es hat sich manches in dieser Zeit ereignet.« Sie stand langsam auf. »Was hat sich ereignet? Was?« – »Nun … es wird dir natürlich einen Schock versetzen. Es … es tut mir leid, Janie. Nicht, daß es ihn nicht ganz fürchterlich getroffen hätte – er hat beinahe den Verstand darüber verloren. Und … und er hat es wohl hauptsächlich deshalb getan, weil er so einsam war, aber …« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab, und er senkte den Kopf, als er schloß: »Er hat wieder geheiratet.« Sie hielt sich die Hand ans Ohr, als hätte sie nicht richtig gehört. Dann öffnete sie den Mund, aber nur, um ihn gleich darauf wieder zu schließen. Sie sagte kein Wort, sondern setzte sich plötzlich mit einem hörbaren Plumps auf den Stuhl, und abermals blickte sie sich in der großen Küche um. Dann fragte sie nur: »Wen?« Jimmy legte die Hand auf den Mund. Er wußte, daß dies, noch ehe er den Namen aussprach, noch schwerer für sie zu verstehen sein würde. »Wen?« schrie sie ihn nun an. Wenn er bisher irgendwelche Zweifel daran gehabt hatte, ob dies Janie sei oder nicht – damit waren sie beseitigt. 244
»Miß … Kean.« »Was!« Sie sprang auf und eilte mit derartiger Vehemenz auf ihn zu, daß er ängstlich zurückwich. »Das ist wohl ein Witz?« »Nein, nein, absolut nicht, Janie.« Er blieb am Fuß der nach oben führenden Leiter stehen, und auch sie machte halt. Mit einer ungestümen Bewegung hakte sie die Schnalle ihrer Pelerine auf und warf sie beiseite. Dann riß sie sich das Häubchen vom Kopf und schleuderte es ins Eck. Und dann ging sie an den Tisch zurück, beugte sich weit darüber hin und schrie: »Geld! Geld! Er hat sie des Geldes wegen geheiratet. Durch das Kartenspielen allein schaffte er es nicht – aber haben mußte er es, um jeden Preis.« »Nein, nein, so war es nicht …« Sie fuhr wie von der Tarantel gestochen herum, und als sie ihm direkt gegenüberstand, stellte Jimmy überrascht fest, daß die einst dralle Janie nun beinahe ebenso flach war wie Charlotte Kean, ehe sich deren Leib zu wölben begonnen hatte. Um Himmels willen, das kam ja auch noch hinzu: das Kind! O mein Gott. Wie sollte das enden? Er sagte nun mit rauher Stimme: »Es ist beinahe zwei Jahre her, Janie, das mußt du bedenken. Er … er war ihr Geschäftsführer, und … und sie war einsam.« – »Einsam? Einsam?« Sie fing an zu lachen; dann schüttelte sie energisch das weiße Haupt und fragte: »Wo ist er jetzt? Lebt wohl in dem prächtigen Haus, wie? Nun, sein dortiger Aufenthalt wird nicht mehr von langer Dauer sein – das wirst du doch einsehen, Jimmy! Er kann nicht zwei Frauen gleichzeitig haben, oder?« »Er wußte doch nicht … Du kannst ihn nicht dafür verantwortlich machen.« »Ich kann ihn nicht dafür verantwortlich machen! Daß ich nicht lache! Ich war die einzige Frau, die er je haben wollte – die einzige, die er bis zu seinem Tod lieben würde, hat er gesagt. Du, du verstehst nichts davon, Jimmy, nein, du verstehst nichts davon.« »Du hättest niemals wegfahren dürfen; es war dein eigener Fehler, daß du diese Reise mitgemacht hast. Ich … ich hab' ihm damals gesagt, daß er dich nicht fahren lassen hätte dürfen.« 245
»Er hat es aber getan. Er hat mich ruhig fahren lassen, Jimmy. Statt daß er mir damals nachgelaufen und mich – koste es, was es wolle – zurückgeholt hätte, und wenn's mit Hilfe einer Tracht Prügel geschehen wäre! Er hätte mich einfach zum Bleiben zwingen müssen. Aber er hat es nicht getan, oder? Er hat mich eben gehen lassen.« »Du weißt genau, weshalb er dich gehen hat lassen. Es war wegen John George und deiner Unnachgiebigkeit. Weil du verlangt hast, daß er sich stellen soll. Du bist in diesem Punkt genauso schuldig wie er. Aber deshalb, weil er geheiratet hat, darf man ihn nicht tadeln. Wie hätte er dies alles wissen sollen? Er hat ein Jahr gewartet, über ein Jahr.« »Wie nett von ihm! Nun, was sollen wir jetzt tun, Jimmy? Du wirst hingehen und ihm sagen müssen, daß seine Frau zurückgekommen ist. Das ist alles: Hingehen und ihm sagen, daß seine Frau wieder da ist.« Er starrte sie an. Das war wieder die alte Janie – und doch war sie anders. Nicht nur ihr Äußeres hatte sich verändert, sondern auch ihr Gebaren, ihre ganze Art. Und als er sie so anstarrte, konnte er sich einfach kein Unheil vorstellen, das groß genug war, um eine Frau so zu verändern, wie sie es verändert hatte. Sie sah, wie sein Blick auf ihrem Haar haftenblieb, und fuhr nun ruhig fort: »Ich meine, was ich sage, Jimmy. Besser, du gehst hin und sagst es ihm. Und … und bereite ihn auch gleich darauf vor, was er zu erwarten hat, ja?« Sie legte die Hand aufs Haar. »Sie … sie sind mir alle ausgegangen. Ich war völlig kahl, genauso kahl, wie es sonst nur Männer sind. Sie haben es mit Fischfett behandelt … und so ist es langsam wieder nachgewachsen. Nur weiß. Wenn man den ganzen Tag im Freien arbeitet, in der prallen Sonne und in dem Wind dort, da wird man ganz braun. Und da ist für mein Haar offenbar keine Farbe mehr übriggeblieben. Möglich, daß es auch wegen meines hellen Teints war.« Sie setzte sich plötzlich auf den nächstgelegenen Stuhl, stützte die Ellbogen auf den Tisch und barg das Gesicht in den Händen. »Weine nicht, Janie, weine nicht.« Er trat an ihre Seite. Sie sah ihn aus tränenlosen Augen an und sagte: »Ich weine ja gar nicht, Jimmy. Das 246
ist noch so eine Sache: Ich kann einfach nicht mehr weinen. Ich sollte doch weinen um die Kinder und um meine arme Herrschaft und darüber, wie ich jetzt aussehe – aber irgendwas hält mich eisern davon ab … Geh und hol ihn jetzt, Jimmy.« »Ich … ich kann nicht, Janie. Es würde …« »Was würde es?« »Er würde … er würde einen solchen Schrecken kriegen.« »Nun, wenn er nicht zu mir kommt, dann werde eben ich zu ihm gehen müssen. Einen Schrecken wird er also auf alle Fälle kriegen, und es wird weitaus besser sein, wenn wir uns hier treffen als … als dort drüben … Was ist los? Was hast du denn jetzt wieder?« »Deine Oma, Janie – das muß ich dir noch sagen. Sie ist …« »O nein, nein!« Sie ließ den Kopf sinken und schwieg mit bekümmerter Miene. Dann sagte sie: »Wann?« »Vergangenes Jahr, gleich nach … nachdem die Nachricht kam.« »Und mein Vater?« »Er … er ist nach Jarrow übergesiedelt, wo er mit … Er hat sich dort eingemietet. In unserem alten Haus wohnen jetzt Fremde. Ein altes Ehepaar. Auch die Learys sind ausgezogen. Dabei hätte ich nie gedacht, daß er jemals dort wegziehen könnte. Aber er hat Arbeit in der St.-Hilda-Zeche gefunden, und da war es ihm im Winter zu weit. Sie wohnen jetzt in High Shields. Es hat sich vieles verändert und …« Er wollte in dem hoffnungslosen Bemühen weitersprechen, sie irgendwie abzulenken, aber sie gebot ihm mit einer energischen Handbewegung Einhalt, lehnte sich zurück und seufzte tief. Dann sagte sie: »Ich glaube nicht, daß ich noch mehr Nachrichten von der Sorte verkraften kann. Ich bin auch so müde, weißt du. Ich habe so lange nicht geschlafen, es kommt mir vor, als wären es Tage gewesen … Geh und hol ihn, Jimmy!« Der Befehl wurde zwar leise ausgesprochen, aber ihre Stimme klang fest und duldete keine Widerrede. Er starrte sie noch einen Augenblick lang an; dann nahm er Mantel und Kappe vom Haken und eilte hinaus. Aber als er die Tür hinter sich zugemacht hatte, blieb er stehen, lehnte sich an die Wand des Bootshauses an und murmelte vor sich hin: »O Gott, o Gott, wie soll das bloß enden?« 247
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harlotte strich Rory die Seidenkrawatte glatt, putzte ein unsichtbares Stäubchen von seinem schwarzen Anzug, ließ schließlich die Finger über sein dezent pomadisiertes Haar gleiten, trat einen kleinen Schritt zurück und sagte: »Meiner Meinung nach ist es die reinste Zeitverschwendung, so was an einen Spieltisch zu setzen.« – »Es ist niemals Zeitverschwendung, wenn ich an einem Spieltisch sitze«, entgegnete er, preßte die Lippen zusammen, machte eine ruckartige Kinnbewegung und zwinkerte ihr zu. Ihre Miene wurde nun ernst, als sie bat: »Sei vorsichtig, Liebster. Je mehr ich über diesen Nickle höre, desto beunruhigter werde ich.« »Dabei hast du selbst gesagt, daß du noch nie einen besser erzogenen, kultivierteren Herrn als ihn gesehen hast, stimmt's?« »Das macht das Ganze ja so unheimlich. Es ist einfach unglaublich, wenn man es sich recht überlegt. Ich bin nur froh, daß er jetzt weiß, daß ich über ihn im Bilde bin. Ich wollte, ich wäre dabei, wenn er seinen Versuchsballon steigen läßt und sagt: ›Ihre Frau weiß doch bestimmt nichts über unseren kleinen, sagen wir – Abstecher, was das Kartenspiel anlangt, oder?‹« Rory nahm eine hochmütige Haltung an und antwortete in dementsprechendem Ton: »›Sir, meine Frau weiß alles; sie ist eine durch und durch bemerkenswerte Frau.‹ – Und das ist sie auch!« Er streckte die Hand aus und tätschelte ihren gewölbten Leib, und sie lachte und sagte: »Dummes Zeug« und schlug ihm nun ihrerseits auf die Hand. Dann wurde ihr Gebaren wieder ernst; sie meinte: »Nun, von etwas bin ich zumindest überzeugt: Er wird keinen seiner schmutzigen Tricks an dir ausprobieren. Denn wenn er dich zum Schweigen bringen wollte, müßte er auch mich zum Schweigen bringen … Wen erwartest du heute abend?« 248
»Keine Ahnung. Ich sage dir, die Geschichte wird immer erstaunlicher. Du hättest sehen sollen, was für ein Gesicht Veneer gemacht hat, als er mich dort erblickte – ich meine in den Räumlichkeiten von Newcastle. Ich dachte schon, er würde im nächsten Moment seinen Geist aufgeben. Um ein Haar hätte ich's selbst getan, denn ich konnte meinen Augen nicht trauen: eine derartige Stütze der Temperenzler. Die würden ihn glatt auf den Scheiterhaufen schleppen, wenn sie es wüßten. Stell dir bloß die Damen der Stadt vor, was die erst sagen würden, wenn sie Wind davon bekämen, was ihr hochgeschätzter Mr. Veneer so alles treibt … Und soll ich dir was verraten? Ich würde ihnen noch beim Spänesammeln helfen, nur um ihn fest prasseln zu sehen. Ich konnte ihn nie ausstehen. Ich erinnere mich, wie dein Vater mich einmal in einer geschäftlichen Angelegenheit in sein Büro geschickt hat. Er behandelte mich, als ob ich Dreck wäre. Entschuldigen Sie, Madam!« Er schnitt eine Grimasse. »Ich meinte natürlich: Staub.« Sie stand nun vor ihm, hielt sein Gesicht fest in den Händen und sagte – von ehrlichem Stolz erfüllt –: »Nun, wir werden es ihnen zeigen. Zwei von dieser Bande hast du bereits überflügelt. Und das ist erst der Anfang. Außerdem bist du der bestgekleidete, bestaussehende Mann der Stadt – was heißt: der Stadt – der ganzen Grafschaft.« Er hatte nicht die Absicht, sich mit ihrem Lob zu schmücken, sondern sagte aus ehrlichster Überzeugung: »Und ich behaupte weiterhin, daß du eine bemerkenswerte Frau bist. Ja, das bist du. Mit jedem neuen Tag entdecke ich etwas noch Bemerkenswerteres an dir. Schon allein der Umstand, daß du gegen mein Spiel keinerlei Protest erhoben hast, verblüfft mich.« »Was ist schon ein Abend pro Woche? Solange deine Schwächen sich auf Karten und Wein erstrecken, werde ich zufrieden sein.« Er beugte sich über sie und küßte sie sanft auf den Mund. Dann sagte er: »Sie können vollauf versichert sein, Mrs. Connor, daß dies meine schlimmsten Schwächen bleiben werden. Aber nun zu meinen Anordnungen.« Seine Stimme nahm einen gebieterischen Ton an: »Du hast nicht auf mich zu warten, unter keinen Umständen – hast du gehört? Stoddard wird mich um zwölf abholen, und wenn ich heimkom249
me, wünsche ich dich im Bett – und zwar im festen Schlaf – vorzufinden. Wenn nicht, gibt's Unannehmlichkeiten.« »Was willst du tun?« Er starrte sie einen Moment an, ehe er antwortete: »Ich werde mir eine andere Schwäche zulegen – du weißt schon, welche.« »Sag so was nicht – nicht einmal im Spaß«, bat sie, und nun lag keinerlei Spitzbübigkeit in ihrer Stimme. »Das ist etwas, was ich nicht ertragen könnte.« »Dummerchen, glaubst du denn immer noch nicht, was ich dir schon hundertmal gesagt habe?« »Ich möchte es glauben.« »Was soll ich denn noch sagen, daß du mir glaubst, hm?« Sie sah ihm in die Augen und mußte sich mit aller Macht beherrschen, um nicht herauszuplatzen: Sag, daß du mich liebst! O sag, daß du mich liebst … »Geh jetzt.« Sie schob ihn aus dem Zimmer, half ihm in den Mantel und reichte ihm danach Hut und Schal. Anschließend blieb sie auf der obersten Stufe stehen und sah ihm nach, wie er zur Kutsche ging und einstieg. Und dann winkte sie, und er winkte zurück. Er streckte die Beine weit von sich, lehnte sich bequem in die Lederpolsterung zurück und seufzte tief und zufrieden auf. Als sie sich dem Tor näherten, hielt der Kutscher unvermittelt an und schrie: »Aus dem Weg, Mann!«, und dann fügte er hinzu: »Wer sind Sie denn?« Rory schob das Fenster herab, blickte hinaus und erkannte im Licht der Kutschenlampe Jimmy. Er öffnete rasch den Wagenschlag, rief dem Kutscher zu: »Ist schon gut, Stoddard!« und forderte Jimmy auf: »Komm, steig ein. Was ist los? Ist was geschehen?« Als die Kutsche einen Ruck machte, fiel Jimmy auf den Sitz zurück, und abermals fragte Rory: »Was gibt's denn? Was ist jetzt wieder passiert? Haben sie noch ein Boot versenkt?« »Nein.« Jimmy schüttelte den Kopf. »Es hat nichts mit der Werft zu tun.« »Nun, was denn dann? Ist daheim was nicht in Ordnung?« Rorys 250
Fragen klangen ruhig, und als Jimmy abermals den Kopf schüttelte, meinte er beinahe zornig: »Also spucks endlich aus – es sei denn, du bist auf einen kleinen Schwatz gekommen.« »Nein, nicht deshalb, sonst hätte ich mich nicht beinahe eine Stunde lang ums Anwesen herumgetrieben, nur um abzuwarten, daß du allein aus dem Haus kommst.« »Weshalb denn?« Rory setzte sich auf und beugte sich vor. Ihre Knie berührten sich. Er spähte Jimmy ins bleiche Gesicht und befahl: »Los, was es auch sein mag – heraus mit der Sprache.« »Du wirst einen Schock kriegen, Rory.« »Einen Schock?« »Jawohl, und du wirst es nie im Leben glauben. Besser, du bereitest dich auf eine Art Erdbeben vor. Es ist … es ist etwas, was du nicht fassen wirst können.« Als er innehielt, fragte Rory ruhig: »Also sag schon, was es ist.« »Es ist … es handelt sich um Janie.« Jimmys Stimme war derart leise, daß Rory dachte, er müsse sich verhört haben. Deshalb fragte er fast scharf: »Was hast du gesagt?« »Ich sagte, es handle sich um Janie.« »Janie?« Plötzlich ausbrechender kalter Schweiß bedeckte Rorys Körper, und seine Stimme war kaum vernehmbar, als er nun fragte: »Was … was ist mit Janie?« »Sie ist … sie ist zurückgekommen. Sie ist … nicht tot. Sie ist nicht ertrunken …« Rory sprach kein Wort – weder drückte er seinen Unglauben noch sonstwas aus –, aber sein Körper sank zurück, und sein Kopf pendelte in der Polsterung, als befände er sich abermals in einem Alptraum. Er hörte Jimmy sagen: »Ich war wie gelähmt. Es war ihre Stimme, aber … aber ich wollte ihr erst gar nicht aufmachen. Und dann … dann, als ich sie sah, glaubte ich noch immer nicht, daß sie es sei. Sie ist … sie hat sich verändert. Niemand … würde sie wiedererkennen. Es … es war der Schock. Ihr Haar ist weiß geworden, und sie ist braungebrannt wie eine Araberin aus Corstorphine Town. Sie sagt, das käme von der Sonne. Sie war … in irgend einem französischen Fischernest, weitab von 251
jeglicher Zivilisation. Sie hat mir erzählt, daß dort nur alle sechs Monate ein Priester hinkommt und … Wie gesagt sie hat sich sehr verändert, wahrhaftig. Ich wußte, daß ich dir damit einen Schreck einjagen würde, aber … aber ich mußte herkommen. Wenn ich nicht gegangen wäre, hätte sie sich auf den Weg gemacht. Mein Gott, wie die sich verändert hat! – Was wirst du tun, Rory? Was wirst du jetzt tun?« Seine Welt schien in Scherben zu gehen. Es drehte sich alles um ihn, und dann sah er nur vor sich, wie alles, was er errungen hatte – seine neue Lebensweise, das Ansehen, seine Position – sich in Nichts auflöste. Charlotte hatte ihm alles gegeben, was eine Frau einem Mann nur geben konnte: einen Beruf, der ihn ausfüllte, Anerkennung, ein Heim, Wohlhabenheit und nun sogar ein Kind. Er war nie im Leben so glücklich gewesen wie seit jenem Tag, an dem er sie geheiratet hatte, und seine Gefühle für sie vertieften sich mit jedem Atemzug. Man konnte nicht mit einer derartigen Frau leben und soviel von ihr empfangen, ohne dies alles zu erwidern. Etwas Neues war in seinem Innern entstanden und immer mehr angewachsen. Am vergangenen Abend hätte er es ihr beinahe gesagt, es beinahe in Worte zu kleiden versucht. Er hätte nie gedacht, daß er imstande sein würde, zu einer anderen Frau zu sagen: Ich liebe dich. So etwas passiert einfach nicht zweimal, hatte er sich gesagt. Nein, er hatte recht – so etwas passiert auch wirklich keine zweimal. Es gab eben verschiedene Arten von Liebe. Selbst ihm war es gedämmert, daß das, was er nun empfand, etwas Größeres, Besseres, Wertvolleres war als all seine bisherigen Empfindungen. Charlotte hatte ja einmal erwähnt, daß die besten Ehen auf Freundschaft und nicht auf den Beteuerungen ewiger Liebe basierten. Er hatte Janie einst ewige Liebe geschworen, aber nun wußte er, daß dies die Folge einer Knabenliebe gewesen war, das Ergebnis des Zusammenaufgewachsenseins, alter Gewohnheit und weil man niemand anders kannte. Sie konnte nicht plötzlich wieder auftauchen. Unmöglich! Das durfte ihm das Leben einfach nicht antun. Er war vor seiner Verehelichung mit Charlotte zum Magistrat gegangen, und der Beamte hatte ihm erklärt, daß er ruhig wieder heiraten könne. »Ihre Frau ist als ertrunken gemeldet, also tot«, wurde ihm beschieden. Und das war 252
sie auch: tot. Seit beinahe zwei Jahren. Für ihn auf alle Fälle! Und er wollte nicht, er duldete nicht, daß sie von den Toten auferstand. Allmächtiger, was sollte er sagen, was denken? Er würde noch den Verstand verlieren! »Rory, Rory!« Jimmy schüttelte ihn am Arm. »Bist du wieder klar? Ich … ich wußte ja, daß du einen Schock kriegen würdest. Sie … sie hat auch mich zu Tode erschreckt. Was wirst du jetzt machen?« »Wie?« »Ich hab' dich gefragt, was du jetzt machen wirst? Sie ist im Bootshaus und will dich sprechen.« Rory starrte Jimmy eine Weile schweigend an, dann neigte er sich nach vorn, als wäre er betrunken, und klopfte mit seinem silberbeschlagenen Spazierstock an das Verdeck der Kutsche. Nachdem er danach das Fenster heruntergelassen hatte, rief er dem Kutscher zu: »Wir steigen hier aus, Stoddard. Ich habe … ich habe hier eine Kleinigkeit zu erledigen.« Stoddard öffnete kurz darauf den Wagenschlag, machte die Trittleiter bereit und fragte, nachdem Rory im Freien stand: »Um zwölf Uhr, Sir?« »Was? O ja bitte, Stoddard.« »Gute Nacht, Sir.« »Gute … Gute Nacht, Stoddard.« Er ging in Begleitung von Jimmy weiter, aber nachdem die Kutsche in der Dunkelheit verschwunden war, blieb er unter der Straßenlaterne stehen, sah seinen Bruder an und sagte: »Was, um alles in der Welt, tut man in so einem Fall?« »Ich … ich weiß es nicht, Rory.« Sie gingen, automatisch die Richtung zum Fluß einschlagend, ihres Wegs und machten erst halt, nachdem sie die Werft betreten hatten. Dann sah Rory zum erleuchteten Fenster empor, wieder auf Jimmy und wandte sich schließlich um, um bis ans Ende der Mole zu gehen. Dort umfaßte er das Geländer und blickte ins dunkle Wasser hinab. Jimmy näherte sich ihm langsam, blieb einen Augenblick an seiner Seite stehen und sagte dann: »Bring es hinter dich, Mann.« 253
Rory preßte die Finger auf die Augäpfel, als versuche er, damit einen Alptraum zu verscheuchen. Er befand sich in einer regelrechten Panik. Er wußte, daß er die paar Stufen hinausstürmen, die Tür aufreißen und ›Janie, Janie!‹ schreien sollte. Aber das, was er am liebsten getan hätte, war, sich auf der Stelle umzudrehen und durch die Stadt nach Westoe zurückzulaufen – heim, in sein Haus – und ›Charlotte, Charlotte!‹ zu schreien. »Los, Rory, komm schon.« Auf Jimmys Berührung hin drehte sich Rory um, überquerte den Hof und klomm die paar Stufen nach oben. Jimmy war hinter ihm hergegangen; aber er war es nun, der vorgehen und die Tür öffnen mußte. Dann trat Rory ein. Die Frau stand neben dem Tisch. Das Licht der Lampe fiel voll auf sie. Sie war ebensowenig jene Janie, die er in Erinnerung hatte, als er selbst Jimmy war. Sein Herz vollführte bei dem Gedanken, daß alles nur ein Trick sein könnte, einen richtigen Sprung. Vielleicht hatte sich das jemand ausgedacht, vielleicht wollte man ihn nur zum Narren halten. Die Leute hatten gehört, daß er zu Geld gekommen sei, und nun … Er warf Jimmy einen raschen Blick zu, als wollte er damit ausdrücken: Wie hast du dich nur drankriegen lassen können? Dann ging er langsam auf die Frau zu. Als er keinen Meter mehr von ihr entfernt war, blieb er stehen, und die Hoffnung, die sich in ihm zu regen begonnen hatte, versickerte wie die Flüssigkeit aus einem zerbrochenen Faß. Denn es waren Janies Augen, in die er blickte. Es war das einzige, woran sie wiederzuerkennen war – ihre Augen. Sonst verhielt es sich genauso, wie Jimmy es geschildert hatte: Ihre Haut war braun wie die der Araber, und ihr kurzgeschnittenes Haar hatte die Farbe frisch gefallenen Schnees. Janie starrte ihn auf dieselbe Weise an: Denn dies war ebensowenig jener Rory, den sie gekannt hatte, als sie jene Janie war, die er in Erinnerung hatte. Ihr stand ein auffallend eleganter Herr gegenüber, der sogar noch besser gekleidet war als ihr damaliger Brotgeber, weil bei ihm noch das Modische hinzukam. Sein Gesicht sah ebenso verändert aus, ja selbst seine Haut, die weich und glattrasiert war. Kei254
nerlei blaue Bartstoppeln waren mehr an Kinn, Wangen und Oberlippe zu sehen. Ihr Herz verhärtete sich bei diesem Anblick noch mehr – auch deshalb, weil er ihr nicht die Hand entgegenstreckte, sie also offensichtlich nicht einmal berühren wollte. »Janie.« »Ganz recht, ich bin's. Du bist anscheinend ganz aus dem Häuschen darüber, mich … mich wiederzusehen.« Die letzten Worte brachen nur so aus ihr hervor. »Ich dachte … Wir alle dachten …« »Ja, ich weiß, was du dachtest. Aber schließlich ist es nicht gar so lang her, nicht einmal ganz zwei Jahre. Du konntest nicht warten, nicht? Aber du warst ja immer schon ein Spieler – du konntest dir nie eine Chance entgehen lassen. Nie!« Er senkte den Kopf, bedeckte die Augen mit der Hand und murmelte nun: »Was soll ich darauf antworten?« »Das weiß ich nicht – aber wie ich dich kenne, wird dir schon eine Ausrede einfallen. Auf alle Fälle hat es sich bezahlt gemacht, wie ich sehe. Du hast ja immer gesagt, daß du eines Tages schon die richtigen Karten in die Hand kriegen würdest.« Sie wandte ihm den Rücken zu, ging ans Ende des Tisches und setzte sich. Er fuhr sich mit der Hand über Gesicht und Kinn und blickte sie an, wie sie dasaß und ihn anklagend betrachtete. Jimmy hatte ihm berichtet, daß sie sich verändert hätte – und das hatte sie auch, in jeder Hinsicht. Sie sah aus wie eine Frau vom Land, die ihr Leben lang in der Natur verbracht hatte. Der dunkle Rock, den sie trug, ähnelte dem der Fischweiber – nur daß er so aussah, als hätte sie ihn seit Jahren nicht mehr abgelegt. Ihre Bluse bestand aus einem rauhen, grobgestreiften Material, und ihre Füße steckten in Holzpantinen. So was – niemals hatte sie so was getragen, nicht einmal, als sie noch ein Kind gewesen war und es hinten und vorne nicht gereicht hatte. Ihre Stiefel waren damals ebenso wie die seinen derart mit Flicken übersät gewesen, daß sie schließlich aus schier nichts mehr anderem bestanden. Aber Pantinen hatte sie niemals getragen. 255
Ach, arme Janie … Sie alle waren arm … Arme Charlotte, o mein Gott, Charlotte! »Es tut mir leid, daß ich mit meiner Auferstehung«, sagte sie nun mit lauter Stimme, »dein ganzes großartiges Leben über den Haufen geworfen habe, mein Lieber! Aber ich bin nun mal am Leben und wieder da – was willst du also dagegen tun? Du wirst es ihr wohl sagen müssen – deiner hochgeschätzten Miß Kean … Mein Gott, ausgerechnet sie hast du heiraten müssen. Ausgerechnet sie! Aber du hättest ja schon immer alles getan, um zu Geld zu kommen, stimmt's?« »Ich habe sie nicht des Gel …« sprudelte er hervor, ohne nachzudenken, biß jedoch im letzten Moment die Zähne zusammen und beugte das Haupt. Sie nickte ihm zu, wobei ihr Kopf auf und ab schwankte wie an einer Feder. Und dann keuchte sie: »Nun, das ist wirklich interessant! Du hast sie also nicht des Geldes wegen geheiratet. Herr im Himmel! Du wagst mir zu sagen, daß du sie nicht des Geldes wegen geheiratet hast. Dann war es wohl deswegen, weil du sie begehrt hast. Sie, diese aufgeschossene Bohnenstange, über die du dich immer lustig gemacht hast!« »Halt den Mund! Mein Gott, es ist tatsächlich so, wie Jimmy gesagt hat: Du bist völlig anders, du hast dich verändert. Und doch auch wieder nicht. Nicht gar so sehr. Wenn ich recht entsinne, so hab' ich dir schon früher gesagt, daß du hartherzig bist, gefühllos. Das habe ich schon vor Jahren gespürt. Also: Es ist wahr, was ich gesagt habe. Ich habe sie nicht des Geldes wegen geheiratet. Es stimmt aber auch, daß ich sie nicht deshalb geheiratet habe, weil … weil ich in sie verliebt war.« Er schluckte heftig, wandte den Kopf ab, und seine Stimme war nur mehr ein Murmeln, als er hinzufügte: »Sie war einsam. Ich war einsam. So … so ist alles gekommen.« »Und wie ist es jetzt?« Er konnte darauf nicht antworten, denn es war wundervoll jetzt – oder war es zumindest gewesen. »Du kannst es nicht sagen, nicht? Mein Gott, ein wahrer Jammer, daß ich nicht gestorben bin. Das denkst du doch, stimmt's? Ich hätte 256
es nie für möglich gehalten, das nicht, niemals.« Sie umklammerte mit beiden Händen ihren Kopf und wiegte sich hin und her. Dann hielt sie plötzlich inne, starrte ihn an und sagte: »Nun, man wird es ihr schonend beibringen müssen, nicht? Sie wird es erfahren müssen, daß du nur eine Frau haben kannst.« Während er sie gleichfalls anstarrte, wiederholte er ihre Worte: »Ich hätte es nie für möglich gehalten, niemals.« Und er erkannte in diesem Moment, daß es für einen Mann unbegreiflich sein mußte, die Frau, die er einst geliebt hatte, nach einer so kurzen Zeitspanne wie kaum zwei Jahren ansehen und denken zu müssen: Ja, nur eine Frau. Und die wirst nicht du sein – nicht, wenn ich auch nur das mindeste dagegen unternehmen kann … Aber was hätte er dagegen unternehmen können, was? Er saß in der Falle. Vor ihm stand seine Frau, seine rechtmäßige Frau. Und er würde Charlotte eröffnen müssen, daß Janie zurückgekommen sei und weder sie selbst ein Recht auf ihn hatte noch das Kind in ihrem Leib jemals seinen Namen tragen könne. Das konnte er nicht, nein, er konnte es einfach nicht. Er hörte sich mit klarer, fester Stimme sagen: »Ich kann es ihr nicht sagen.« »Was?« »Ich sagte, ich kann es ihr nicht sagen. Sie ist … sie bekommt ein Kind.« Es herrschte lange Zeit völliges Schweigen im Raum. Bis Jimmy sich regte. Er stand vor dem Kamin und hatte mit dem Fuß den Rost berührt, was die beiden dazu veranlaßte, zu ihm hinüberzuschauen. Und dann sagte Janie: »Nun, es wird hart für sie sein, ein Kind zur Welt zu bringen, ohne einen Vater dafür zu haben, nicht? Aber schließlich kann sie sich ja alles richten. Geld entschädigt für vieles, o ja, für sehr vieles sogar. Man kann eine Menge unternehmen, wenn man Geld hat. Ich besaß vier Sovereigns. Die Gnädige hat sie mir gegeben, damit ich jedem von euch eine Kleinigkeit mitbringen könne. Ich habe sie in meinen kleinen Beutel gesteckt, und du weißt ja, wie ich es mit dem gehalten habe. Sowie ich mich umzog, hab' ich ihn an der Innenseite meines Rocks befestigt. Nur wußte ich nichts davon, bis ich mein 257
Gedächtnis wiederfand. Die alte Frau, die mich gepflegt hat, hatte den Beutel an sich genommen. Aber als ich zu mir kam und mich wieder an alles erinnern und heimfahren wollte, jedoch nicht wußte, wie ich das bewerkstelligen sollte, hat ihr Sohn mir diesen Beutel in die Hand gedrückt. Das war mehr als ehrlich, wo sie mich doch die ganze Zeit durchgefüttert hatten, so gut sie konnten. So bin ich also höchst luxuriös gereist. Erst auf dem Boden eines Viehwagens, mitten unter den Schweinen. Dann meilenweit zu Fuß, immer auf den dreckigsten Gasthofböden übernachtend – danach auf dem Schiff und zuletzt auf dem Tender des Zugs. Und ich« – schrie sie Rory nun an –, »ich tu dir nicht mehr leid als ein räudiger Hund, der im Rinnstein liegt! Das einzige, worum du besorgt bist, ist dein großartiges Leben, mit dem es jetzt vorbei ist, weil ich zurückgekommen bin. Nun, wenn du es ihr nicht sagst, dann werde ich es tun. Ich lasse mich nicht beiseite stoßen. Ich beanspruche den Platz, der mir zusteht.« »Janie … Janie«, murmelte er beinahe flehend. Da stockte ihr Redeschwall, und sie starrte ihn mit zuckendem Gesicht, jedoch immer noch trockenen Auges an. »Ich werde … ich werde tun, was ich für recht halte. Letzten Endes werde ich es tun. Aber laß mir ein bißchen Zeit, ja? Ein paar Tage, damit ich mich wieder zurechtfinden, mich daran gewöhnen kann, daß …« Er schluckte. »Du kannst soviel Geld haben, wie du willst …« »Ich will dein Geld nicht. Übrigens ist es gar nicht dein Geld, du hast es dir nicht erworben. Es ist ihr Geld.« »Ich habe es mir erworben, durch ehrliche, harte Arbeit auch noch dazu«, sagte er nun wieder barsch und in voller Lautstärke. »Ich arbeite jetzt härter, als ich je gearbeitet habe. Und nun werde ich dir einmal etwas sagen: Dräng mich nicht! Treib mich nicht in die Enge! Dies alles ist eine vollkommene – Überraschung. Versuch, es zu verstehen und vergiß nicht: Ich bin immer noch Rory Connor und lasse mich nicht drängen.« Er hielt einen Moment inne, dann schloß er: »Ich komme … ich komme morgen abend wieder.« Damit wandte er sich um und ging. Jimmy warf einen Blick auf die mit schlaff herabhängenden Armen 258
und offenem Mund dastehende Janie, dann drehte auch er sich um und lief Rory nach. Im Hof sah er die schwachen Umrisse seines Bruders sich von der Reling abheben. Er ging auf ihn zu, legte die Hand auf seinen Arm, ließ sie einen Augenblick dort liegen und sagte dann: »Es tut mir leid, Rory. Es tut mir von Herzen leid, aber … sie trifft keine Schuld.« »Was soll ich nur tun, Jimmy?« Die Frage klang wie ein Stöhnen. »Ich weiß es nicht, Rory, ehrlich – ich weiß es nicht. Charlotte wird in einen schönen Zustand geraten! Es tut mir so leid, ich meine: wegen Charlotte.« »Ich … ich kann sie nicht verlassen, ich kann Charlotte nicht verlassen. Nicht nur, weil sie ein Kind bekommt, sondern … O du meine Güte, was soll ich bloß tun! – Hör mal, Jimmy«; er beugte sich zu dem Jüngeren nieder. »Überrede Janie dazu, im Haus zu bleiben, laß sie um keinen Preis zu uns gehen … Paß auf – gib ihr das da.« Er schob die Hand in die Innentasche, zog einen Beutel aus Sämischleder hervor und schüttete ein paar Sovereigns in Jimmys Handfläche. »Sieh zu, daß sie etwas Anständiges zum Anziehen kauft; sie sieht ja schrecklich aus. Ich hätte nie gedacht, daß sie sich jemals so gehenlassen könne – du etwa?« »Nein, nein, Rory. Ich hab' dir ja gesagt, sie ist … sie hat sich verändert. Sie muß viel mitgemacht haben, das sollte man bedenken.« »Sicher, und nun sorgt sie dafür, daß wir was mitmachen.« Als Rory den Hof überquerte, ging Jimmy mit ihm und fragte: »Wohin wolltest du vorhin?« »Zum Spielen.« »Zum Spielen? Weiß Charlotte davon?« Rory blieb abermals stehen und sagte ruhig: »Ja, Charlotte weiß es und hat nichts dagegen. Solange ich glücklich bin und das tue, was mich glücklich macht, hat sie nichts dagegen. Sie kennt nur eine einzige Angst: mich zu verlieren. Merkwürdig, nicht?« Sie sahen einander in der Dunkelheit an. »Wo gehst du jetzt hin, Rory? Wieder heim?« »Nein, nein, ich muß dorthin. Die erwarten mich. Wenn ich nicht 259
erscheinen würde, gäbe es nur Gerede. Ich muß mir ohnehin erst alles überlegen. Mir ist, als hätte ich den Verstand verloren.« Jimmy antwortete nicht darauf; Rory tippte ihm zum Abschied leicht auf die Schulter und eilte zum Tor hinaus. Er ging nicht geradewegs zum Plynlimmon Way, sondern marschierte eine gute halbe Stunde durch die Nacht, ehe er in dem angegebenen Haus eintraf, wo er von Frank Nickle mit: »Nun, Connor, wir dachten schon, Sie kämen nicht!« begrüßt wurde. »Wir haben eine gute halbe Stunde …«, er zog eine goldene Ankeruhr aus der Westentasche – »nein, eine dreiviertel Stunde auf Sie gewartet.« »Ich … ich wurde aufgehalten.« »Ist etwas vorgefallen? Ist Ihnen nicht gut?« »Ich bin nur ein bißchen unpäßlich.« »Sie hatten doch hoffentlich keinerlei Schwierigkeiten?« »Nein.« »Dann wollen wir anfangen.« Nickles Ton war herrisch; Rory sollte gewissermaßen in die ehemalige Angestelltenklasse zurückgewiesen werden, soweit das eben machbar war. Daß dieser Mann ihn haßte, erkannte Rory auf den ersten Blick. Schließlich wußte er ja, daß er ihn mit der Einladung zum Essen in sein Haus in Verlegenheit gebracht hatte. Deshalb war ihm auch klar, daß er sich ihm gegenüber in jeder Hinsicht in acht nehmen mußte. Doch erschien Rory in diesem Augenblick Nickle und dessen schändliches Treiben als das geringste Übel. Sie gingen in den sogenannten Rauchsalon, der zum Teil ein Büro, zum anderen Teil das war, was man zur Zeit unter einem Herrenzimmer verstand, und der mit dicken Ledersesseln, einem großen Schreibtisch, einem kleinen, viereckigen Tisch und vier einfachen Stühlen ausgestattet war. Die bereits anwesenden beiden Männer pafften Zigarren und begrüßten Rory mit leicht gekünstelt wirkender Herzlichkeit, während Nickle den kleinen, viereckigen, unscheinbar wirkenden Tisch auszog, so daß die mit grünem Flanellstoff bezogene Spielfläche zum Vorschein kam. Danach nahmen alle um den Tisch herum Platz, Nick260
le entnahm einer geschickt versteckten eingebauten Lade die Karten, und das Spiel begann. Drei Stunden später erhob sich Rory und war beinahe um zwanzig Pfund ärmer. Einmal hatte er im Verlauf des Abends dreißig Pfund gewonnen. Er brach vor den anderen auf und an der Tür meinte Nickle mit einem dünnen Lächeln: »Heute waren Sie aber nicht so brillant wie üblich, Connor.« »Nein. Ich glaube, ich bekomme eine Erkältung.« »Schade. Meine Empfehlungen an die Frau Gemahlin.« Das großflächige bleiche Gesicht überzog nun ein höhnisches Lächeln. »Sagen Sie ihr, sie soll ihren kleinen Jungen nicht so arg verdreschen, weil er verloren hat.« Rory hätte seinem Gegenüber am liebsten in die Visage geschlagen. Aber warte nur, dachte er. Laßt mir bloß ein bißchen Zeit. Dann zahle ich es euch heim, auf eine andere Weise. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Haus. Der Kutscher wartete bereits auf ihn. Nickle hatte ihm angedeutet, daß es unklug wäre, mit der Kutsche zu kommen, weil Bedienstete – gewöhnliche Bedienstete – eben redeten. Worauf Rory erwidert hatte, daß Stoddard kein gewöhnlicher Bediensteter, sondern genauso loyal sei wie Nickles eigener Diener. Als Rory daheim anlangte, lag Charlotte zwar bereits im Bett, schlief jedoch noch nicht. Und als er sich über sie beugte und sie küßte, schob sie ihn ein wenig von sich, packte ihn an den Schultern und erkundigte sich: »Was ist denn? Ist was passiert?« »Nein, gar nichts.« »Das kannst du mir nicht einreden, Rory. Du siehst so angespannt aus. Ist bei Nickle irgendwas geschehen?« »Nein, bestimmt nicht.« Er entzog sich ihr. »Nur daß ich verloren habe … zwanzig Pfund.« »Ach, gekränkte Eitelkeit also!« Sie ließ sich in die Kissen zurückfallen. »Zwanzig Pfund sind natürlich eine ganz schöne Summe. Aber ich glaube trotzdem, daß du sie gewinnen lassen mußt. Wenn du jedesmal gewinnen würdest, würden sie dich für einen Betrüger halten.« 261
»Natürlich, du hast recht.« Als er nach nebenan ging, um sich zu entkleiden, rief sie ihm ängstlich nach: »Es ist doch sonst nichts schiefgegangen, oder? Ich meine: Hat einer von ihnen etwas gesagt, hat es Unannehmlichkeiten gegeben?« »Nein, nein, er war nicht unfreundlicher als üblich. Er ist schon als unfreundlicher Patron zur Welt gekommen.« »Ja, das stimmt.« Diesmal blieb die Liebesszene aus, doch hielt Rory Charlotte fest in den Armen und murmelte in ihr Haar: »Ach, Charlotte, Charlotte.« Es dauerte lange, bis er eingeschlafen war, und selbst dann war sie immer noch wach, obwohl sie bereits einige Zeit so getan hatte, als wäre sie eingeschlafen. Etwas stimmte nicht, das fühlte sie. Sie kannte ihn nun durch und durch, jede seiner Mienen, jede seiner Stimmungen. Ihre Liebe zu ihm war so groß, daß ihr schien, als könne sie in seinem Innern lesen. Um vier Uhr morgens erwachte sie durch sein Schreien. Er hatte einen Alptraum – den ersten seit ihrer Hochzeit.
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rei Tage verstrichen, bis Charlotte eindringlich und offen heraus fragte: »Also, was ist los, Rory. Etwas stimmt doch da nicht.« Sie schloß die Augen und hob abwehrend die Hand. »Es hat keinen Zweck, mir einreden zu wollen, daß alles in Ordnung sei. Bitte, glaub mir, daß ich nicht nur Augen im Kopf hab', sondern auch Ohren, und wenn das alles nicht hilft, meine fünf Sinne zu Hilfe nehmen kann. Etwas stimmt nun mal nicht, und ich muß wissen, was es ist, Rory. Ich muß es einfach wissen!« Als er nicht antwortete, sondern sich abwandte und zum Fenster marschierte, sagte sie: »Heute abend gehst du schon wieder aus, nachdem du die beiden letzten Abende ausgewesen bist, angeblich, um Jim262
my zu besuchen. Als ich heute am Fluß zu tun hatte, bin ich zu Jimmy gegangen …« »Du bist was?« Er fuhr herum und sah sie aus weitaufgerissenen Augen an. Sie erwiderte seinen Blick, ehe sie aufstand und langsam sagte: »Ich sagte, ich bin bei Jimmy gewesen. Weshalb überrascht dich das? Das habe ich früher doch auch getan. Was mich aber an der ganzen Sache stutzig macht, ist, daß ihr beide auf die gleiche Weise reagiert. Ich fragte ihn, ob es ihm nicht gut ginge, und er antwortete recht vage: ›Doch.‹ Und dann fragte ich, ob es weitere Angriffe in bezug auf seine Boote gegeben habe und er sagte: ›Nein.‹ Kein Wort mehr. Rory – komm her.« Als er sich nicht rührte, ging sie rasch auf ihn zu, legte die Arme um ihn und bat in beschwörendem Ton: »Sieh mich an. Bitte, sieh mich an.« Nachdem er den Kopf gehoben hatte, sagte sie: »Was es auch sein mag – nichts kann so schrecklich sein, daß du es mir nicht sagen könntest. Und was immer es sein mag, mein Lieber: Man kann es dir am Gesicht ablesen, daß etwas nicht stimmt. Du siehst ganz krank aus. Komm.« Sie zog ihn zum Kamin und auf die Couch nieder, und als sie nebeneinandersaßen, drang sie sanft in ihn: »Sag es mir, Rory, bitte. Was es auch sein mag – sag es mir. Du hast einmal versprochen, daß du mir immer die Wahrheit sagen wirst. Nichts darf zwischen uns stehen, Rory. Handelt es sich um diesen jungen Mann, diesen John George? Erpreßt er dich? Nach allem, was ich für ihn getan habe, kann ich …« »O nein, nein! Mein Gott, ich wollte, ich könnte sagen, es ginge nur um ihn – ich wünschte, das wäre alles. Nein, John George würde niemals jemanden erpressen, nicht einmal, wenn es um sein Leben ginge. Das weiß ich … Charlotte« – er nahm nun ihre Hand fest in die seine und legte sie auf seine Brust –, »ich wollte es dir schon längst sagen, aber … aber ich habe geglaubt, daß ich dich doch nicht davon überzeugen könnte. Denn um die Wahrheit zu gestehen, hätte ich selbst es mir nie träumen lassen, daß es jemals möglich sein würde. Aber, Charlotte, Liebling, ich habe dich nicht nur liebgewonnen, ich – ich liebe dich …« 263
»Ach, Rory, Rory.« Sie schüttelte langsam den Kopf, dann preßte sie die Lippen fest zusammen, als er fortfuhr: »Ich möchte, daß du das weißt und mir glaubst, denn … denn was ich dir jetzt sagen muß, wird dir einen argen Schock versetzen. Wenn es möglich wäre, es vor dir geheimzuhalten, würd' ich es tun, besonders jetzt, wo ich dich um nichts in der Welt besorgt machen oder beunruhigen möchte, aber … Mein Gott! Wie soll ich es dir nur beibringen?« Als er den Kopf abwandte, flüsterte sie: »Rory, hör zu – sieh mich an: Was du auch getan haben magst, es wird meine Gefühle für dich in keiner Weise ändern – in keiner Weise, hörst du!« Er blickte ihr erneut in die Augen. »Ich habe nichts getan, Charlotte. Nicht wissentlich. Das ist es ja.« Er schluckte heftig und seufzte tief. »Samstag, als du mich so gutgelaunt zum Spielen verabschiedet hast – erinnerst du dich? –, da hat Jimmy unten an der Auffahrt auf mich gewartet. Er … er hatte eine Nachricht für mich …« Rory hielt inne. Er konnte nicht weiterreden, sondern sah sie nur an. Aber sie fragte nicht: »Was für eine Nachricht?«, sondern verhielt sich still – so still, als wüßte sie, was nun kommen würde. »… er hat mir etwas Ungeheures, Niederschmetterndes gesagt. Ich … ich konnte es nicht glauben, aber … aber weißt du: Janie … Sie ist zurückgekommen … Charlotte, mein Gott, Charlotte!« Sie war auf die Couch zurückgesunken, die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, und sie sah aus wie tot. Er packte sie bei den Schultern, schüttelte sie und rief abermals: »Charlotte! So höre doch, um Himmels willen. Ich verlasse dich nicht. Ich werde dich niemals verlassen, das verspreche ich dir. Ich weiß, daß sie laut Gesetz Anspruch auf mich erheben kann, daß sie immer noch meine Frau ist. Aber nachdem ich sie gesehen und gehört habe …« Er senkte den Kopf. »Sie ist ebensowenig jene Frau, die ich einst geliebt habe, wie …« Charlotte hatte leise aufgestöhnt, und nun nahm er ihren schlaffen Körper in seine Arme, strich ihr übers Haar und murmelte: »Glaub mir, Charlotte, glaub mir doch, ich werde dich niemals verlassen. Egal, was auch geschehen mag – ich werde dich nie verlassen, außer – außer du willst es …« 264
»Ich?« Ihre Stimme war kaum zu vernehmen. »Wie kannst du … so etwas … nur annehmen! Ich würde dich in meiner Nähe haben wollen, selbst wenn ich wüßte, daß du ein Mörder oder wahnsinnig bist. Nichts – was immer du auch tun würdest – könnte jemals den Wunsch in mir erwecken, von dir getrennt zu sein.« »Oh, meine Liebe, oh, Liebste!« Fest hielten sie einander umschlungen, und indem sie ihren Mund an seine Wange preßte, murmelte sie: »Wie … wie wirst du es anstellen? Weiß … weiß sie, daß du …« Er ließ sie los und lehnte sich langsam zurück. »Ich werde … ich werde es ihr heute abend sagen.« »Wo ist sie?« »Im Bootshaus.« »Natürlich, dort muß sie sein. Deshalb war Jimmy so aufgeregt. Merkwürdig – mir ist, als hätte ich einen Verwandten verloren, ein Kind. Ich habe Jimmy gern, wirklich. Ich … ich hatte im Zusammenhang mit der Werft große Pläne, weißt du. Ich wollte eine große Werft für ihn auftreiben. Ich habe mich bereits danach umgesehen. Es … es sollte eine Überraschung für dich sein, für dich und deine … deine Leute. Mir kam es so vor, als fingen sie langsam an, mich zu akzeptieren, besonders deine Tante. Denn sie hat mir von Anfang an am meisten die kalte Schulter gezeigt. Aber in den letzten paar Wochen hat sich das geändert, eigentlich erst am Donnerstag, als ich ihr im Bootshaus begegnete, wo sie für Jimmy kochte. Da haben wir uns unterhalten und gescherzt miteinander, und zum erstenmal hat sie mich nicht mehr mit ›Ma'am‹ angeredet … Und jetzt … Ach, Rory!« sie wandte sich ab und barg ihr Gesicht an seiner Schulter, und als sich ihr ganzer Körper vor Weinen schüttelte, litt er so sehr darunter, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Es war erst das zweitemal, daß er sie weinen hörte. Sie war keine Tränensuse, alles andere als das. Sie war stark und sicher und beherrschte sich und ihn und jedermann. Während er sie fest an sich gedrückt hielt, dachte er darüber nach, wie merkwürdig das Leben doch war und wieviel zwei Jahre an den Gefühlen eines Menschen zu ändern vermochten. Und er erkannte, 265
daß kein Mensch sich selbst wirklich trauen könne, indem er behauptete, daß das, was er heute empfand, auch morgen noch Geltung haben werde. Erst vor wenigen Augenblicken hatte er Charlotte gesagt, daß er sie liebe und niemals verlassen würde, und vor zwei Jahren hatte er Janie gesagt, daß er sie liebe und daß sie immer und ewig die einzige in seinem Leben sein und bleiben werde … Was war ein Mensch – was zählte wirklich, wenn alles und alle so veränderlich waren? Das, was hinter ihm lag, war vorbei; er konnte es nicht mehr verstehen. Er war sich nur eines Umstands völlig sicher: Daß er nicht mehr Janie, sondern Charlotte wollte und daß das, was er für sie empfand – nicht nur Dankbarkeit, sondern Liebe war. Eine Liebe, die überhaupt nichts mit dem Äußeren zu tun hatte, sondern tief in seinem Innern verwurzelt war, an einer Stelle, von der er bisher überhaupt nicht gewußt hatte, daß es sie gab.
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anie hatte sich geweigert, das Geld, das Rory für sie hinterlassen hatte, anzunehmen. Erst wenn sie sich wieder an dem ihr zustehenden Platz befinden werde, hatte sie gesagt, würde sie etwas von ihm annehmen, bis dahin keinen Pfennig. »Aber Janie«, redete Jimmy auf sie ein. »Du kannst so nicht herumlaufen, in dieser Aufmachung. Und deine alten Sachen … nun ja, die wurden weggegeben. Die Learys haben sie bekommen.« »Weshalb sollte ich nicht so herumlaufen können, Jimmy? Das hier habe ich die letzten beiden Jahre getragen. Und es ist so, wie ich sagte: Wenn ich wieder den mir zustehenden Platz eingenommen habe, werde ich von Rory auch Geld für neue Kleider annehmen – früher nicht.« Eine der ersten Fragen, die sie Jimmy abends stellte, lautete: »Was ist mit John George?« 266
»Oh«, antwortete er, »dem geht es gut. Er hat einen Zeitungsladen in Newcastle … Und das Mädchen ist bei ihm. Als er herausgekommen ist, haben sie einander wiedergesehen, und daraufhin hat sie ihren Mann verlassen. Ihr Vater ist ihr natürlich auf den Pelz gerückt und hat sie beide bedroht, aber sie sagte, es hätte keinen Zweck, in sie zu dringen – sie ginge nicht mehr zurück. Ja, den beiden geht es gut«, schloß er. Janie hatte ihn fest angesehen: »Und wie ist er zu dem Zeitungsladen gekommen?« »Nun«, sagte Jimmy, indem er einen Fuß bis zum Knie hochzog und sich den Knöchel massierte, »sie war es – Charlotte –, die dafür gesorgt hat.« »Sie hat dafür gesorgt? Soll das heißen, daß sie ihm, nachdem sie ihn ins Gefängnis gebracht hat, einen Laden gekauft hat?« »Ja.« »Und er hat das zugelassen?« »O ja, er trägt ihr nichts nach. So ist John George eben, weißt du. Er ist in Wirklichkeit viel zu gut für diese Welt, oder zu weich – ganz wie man will. Charlotte hat herausbekommen, wo er sich aufhält, und ist zu ihm gegangen und hat mit ihm gesprochen und … nun ja, so ist eben alles gekommen. Charlotte ist ein guter Mensch, Janie.« Janie hatte ihn abermals fest angesehen und erwidert: »Ich weiß nicht, ob sie ein guter Mensch ist oder nicht – aber eines ist mir klar: Sie ist schlau. Sie hat euch alle miteinander gekauft. Du bist ganz auf ihrer Seite, nicht wahr, Jimmy? Und ich gehe jede Wette ein, daß die daheim ihr samt und sonders zu Füßen liegen, stimmt's?« »O nein, Janie, keineswegs! Es war höllisch schwer für sie! Sie … haben eine Ewigkeit nicht mit ihr geredet.« Offensichtlich leicht besänftigt streckte sie die Hände übers prasselnde Feuer und meinte dann bedächtig: »Nun, er will mich nicht mehr, das steht fest, Jimmy. Das sieht man auf den ersten Blick.« Und Jimmy sah sich außerstande, ihr hierauf eine tröstliche Antwort zu geben … Und genauso verhielt es sich auch am nächsten Abend, nachdem 267
Rory gegangen war, und den Abend darauf. Denn mit jeder Begegnung schienen die beiden sich weiter voneinander zu entfernen. Sie waren wie Boxer, die einander haßten. Selbst für den Fall, daß er Charlotte verlassen würde, konnte sich Rory nicht vorstellen, jemals wieder mit Janie zusammenzuleben. Das erkannte sogar Jimmy. Und er fragte sich immer wieder, weshalb Janie derart darauf bestand. Als Jimmy von der Werft kam und sah, daß Janie eine Mahlzeit vorbereitet hatte, sagte er zu ihr: »Lizzie kommt morgen herunter, das ist ihr Backtag, weißt du? Was wirst du tun, Janie?« »Nun, was glaubst du wohl?« antwortete Janie und fuhr fort, den durchwachsenen Speck in dicke Schnitten zu schneiden. »Du wirst ihr einen schönen Schock versetzen.« »Das ist keinem von uns erspart geblieben, Jimmy«, erwiderte sie ungerührt und deckte den Tisch. Ohne aufzusehen sagte sie dann: »Du hast es zwar mit keinem Wort erwähnt, Jimmy, aber ich nehme an, daß die ›Gnädige‹ sie alle miteinander unterstützt, wie?« Es dauerte einige Sekunden, ehe er antwortete: »Das tut Rory mit seinem eigenen Geld. Denn es stimmt, was er gesagt hat: Er arbeitet hart dafür. Er kontrolliert sämtliche Betriebe, kümmert sich um alles und jedes, und abends studiert er noch dazu fleißig – wirklich.« »Er studiert!« Sie hob den Kopf und sah ihn spöttisch an. »Rory Connor studiert! Was denn, wenn ich fragen darf? Neue Kartentricks etwa?« »Sei nicht so zynisch, Janie.« Sie warf das Messer derart heftig auf den Tisch, daß es auf den Fußboden sprang. Dann beugte sie sich zu Jimmy hinüber und schrie: »Kannst du dir denn auch nur im mindesten vorstellen, wie mir zumute ist, Jimmy? Nicht so zynisch! Seit ich zurückgekommen bin, hab' ich nichts anderes zu spüren bekommen, als daß mich keiner mehr haben will. Keiner. Oh, ich wünschte, ich hätte mein Gedächtnis nie mehr wiedergewonnen. Weißt du, was? Ich war glücklich dort drüben. Das Leben war hart, aber es waren gute, hilfsbereite Menschen, die mich ohne große Umstände bei sich aufgenommen haben.« Sie sah nun auf den Tisch nieder. »Noch etwas möchte ich dir verraten. Der 268
Sohn der Frau, die mich gepflegt hat, der … nun ja, er wollte mich heiraten. Es gibt dort wenige junge Frauen; bis zur nächsten Ortschaft hatten sie meilenweit zu laufen, um mal eine zu Gesicht zu kriegen. Aber ich wollte nichts davon wissen, weil ich ja immer noch einen Ehering am Finger hatte. Obwohl ich mich an absolut nichts mehr erinnern konnte, sagte ich ihm, ich müsse mit jemandem verheiratet sein. Sie haben sich das dann so zurechtgelegt, daß ich mit Mann und Kind unterwegs gewesen war und die beiden ertrunken sein müssen. Weil ich immerzu von einem Kind geredet hatte, ehe ich richtig zu mir gekommen war, hat der Priester gemeint. Und dann ist die Sache mit der Felsklippe passiert, von der Henri mich ins Wasser gestoßen hat und wonach ich mich plötzlich wieder an alles erinnern konnte. Und bemerkt habe, daß ich unter fremden Menschen war, rauhen Fischersleuten, rauher als alle, die man hier zu sehen bekommt: die von der Hand in den Mund leben und zusammen nur zwei alte Boote besaßen. Es war Henris Boot gewesen, das mich aufgegriffen hatte. Deshalb hatte er …« – ihre Stimme war kaum zu vernehmen – »… das Gefühl, daß ich zu ihm gehöre.« Als sie den Blick wieder hob, fuhr sie leise fort: »Alle haben mich begleitet und sich von mir verabschiedet. Fünf Meilen sind sie bis zum mit dem Priester vereinbarten Treffpunkt mitgekommen. Der hat mich dann mit dem Wagen zur nächsten Stadt gebracht. Und soll ich dir noch was sagen? Er hat mich gewarnt. Dieser Priester hat mich gewarnt und gesagt, daß die Dinge und die Menschen sich hier verändert haben würden. Und weißt du, was ich ihm darauf geantwortet habe, Jimmy? Nun, einer hat sich ganz bestimmt nicht verändert, Hochwürden. Und das ist mein Mann.« Als sie nach einer halben Stunde mit dem Essen fertig waren und Jimmy auch das letzte Restchen Sauce mit Brot aufgetunkt hatte, wandte er sich in zögerndem Ton an Janie: »Was soll geschehen, wenn er sie nicht – verlassen will; was meinst du wohl?« »Er muß sie verlassen. Er hat gar keine andere Wahl, Jimmy. So lautet einfach das Gesetz.« »Janie –«, sagte er, indem er am letzten Stück Brot kaute, »du weißt 269
doch, daß Rory sich nie viel aus dem Gesetz gemacht hat. Ich meine, er hat sich nie um die Meinung der Leute gekümmert. Was ist, wenn er sagt – ich meine, weil doch das Kind unterwegs ist –: ›Zur Hölle mit dem Gesetz!‹ und bei Charlotte bleibt – was ist dann?« »Was dann ist? Nun, dann wird sie in Sünde mit ihm leben, nicht wahr? Und da sie eine bekannte Persönlichkeit ist, werden die feinen Leute nichts davon wissen wollen, jedenfalls nicht offiziell. So was kann einmal alle heiligen Zeiten passieren, zugegeben – aber heimlich, verstehst du! Wenn es sich aber vor Gericht herausstellen würde, daß er mich nicht zurücknehmen will, wo ich doch seine Frau bin, und daß er statt dessen mit ihr leben will, dann würden die Leute in der Stadt den beiden garantiert den Rücken kehren. Es gibt Dinge, die man tun kann, und Dinge, die man nicht tun kann – vor allem nicht in Westoe. Dort geht es nicht so zu wie hier herunten am Fluß. Da wird er schon noch draufkommen. Und ob er das wird!« Kaum hatte sie das letzte Wort beendet, öffnete sich die Tür, und Rory trat ein. Sie drehte sich nicht einmal nach ihm um, und er ging langsam auf den Kaminplatz zu. Jimmy war hastig vom Tisch aufgestanden und sagte: »Hallo.« Rory nickte ihm zu, gab jedoch keine Antwort. Er nahm den Hut ab, hielt ihn in der Hand, sah Janie an und fragte: »Meinst du, daß wir in Ruhe miteinander sprechen können?« »Das hängt von dir ab«, entgegnete sie, ohne ihm auch nur einen Blick zuzuwerfen. »Ich … ich habe meine Entscheidung getroffen.« Sie gab keine Antwort, wartete jedoch ab. Rory warf Jimmy, dessen Augen fest auf ihn gerichtet waren, einen Blick zu, ehe er abermals das Wort ergriff. Er streckte das Kinn angriffslustig in die Luft und eröffnete: »Ich werde Charlotte nicht verlassen, Janie.« Sie rührte sich nicht. »Du kannst mich natürlich vor Gericht bringen – das ist dein gutes Recht. Und ich werde für deinen Lebensunterhalt sorgen, und zwar anständig, wie es dir zusteht. Aber … aber sie trägt mein Kind unterm Herzen, und ich werde sie nicht verlassen.« 270
Nun fuhr sie wie eine gereizte Katze auf ihn los und spie ihm die Worte nur so ins Gesicht. »Du Schwein! Jawohl, das bist du – ein verkommenes Schwein, Rory Connor! Und wie ich Jimmy schon vorhin sagte: Du wirst schon noch draufkommen, daß du dich in dieser Stadt in Zukunft nicht mehr blicken lassen kannst. Und was ich dazu beitragen kann, werde ich tun. Ich werde dich verklagen, ich werde dich vor Gericht bringen – bei Gott, das werde ich! Es wird in sämtlichen Zeitungen stehen, und ihr beide werdet euch verstecken müssen, vor und nach dem Urteil – nachher erst recht. Ihr Geld wird euch nicht vor der Schande retten können. Nicht alles ist käuflich, Rory Connor, merk dir das!« Als er in dieses haßverzerrte Gesicht blickte, dachte Rory: Selbst wenn Charlotte in dieser Minute sterben würde, würde ich nicht mehr zu ihr zurückgehen; ich könnte nicht mehr mit ihr leben … Blitzschnell kehrten seine Gedanken in die Vergangenheit zurück, und er versuchte, jenen jungen Mann wiederzufinden, der diese Frau einst geliebt und der ihr geschworen hatte, sie ewig zu lieben. Aber er forschte vergebens in sich. Und so sagte er nur: »Tu, was du glaubst, tun zu müssen. Wenn du dich dadurch auch nur irgendwie besser fühlst, dann erledige uns eben; ich mache dich nur darauf aufmerksam, daß Shields nicht die einzige Stadt auf diesem Planeten ist. Die Welt ist groß, und wenn man Geld hat, kann man sich niederlassen, wo immer man will.« Er spürte nicht die geringsten Skrupel, ihr dies unter die Nase zu reiben. Im Anschluß daran starrte er sie sekundenlang an und sagte sich abermals: Sie ist nicht wiederzuerkennen. Das weiße Haar, die sonnverbrannte Haut; selbst ihre Augen waren nicht mehr Janies Augen. Er setzte den Hut auf und schloß: »Nun, das wär's. Das übrige hängt von dir ab.« Damit drehte er sich um und ging. Und wie immer folgte ihm Jimmy nach draußen. Es war ein schöner Abend; die Dämmerung hielt lange an. Sie gingen Seite an Seite ans Ende der Werft und lehnten sich gegen die Reling. Die vertäuten Boote schlugen leicht aufs Wasser. Sie standen da und blickten auf sie hinab, bis Rory schließlich fragte: »Verurteilst du mich jetzt?« 271
Es entstand eine kurze Pause, ehe Jimmy antwortete: »Nein, nicht wirklich, Rory, nein. Aber … aber sie tut mir leid. Ich kann ihren Standpunkt verstehen.« »Nun, das habe ich erwartet. Denn auch sie ist im Recht. Und auch mir tut sie leid. In diesem Moment können wir uns wohl alle leid tun.« Er blickte den Fluß hinauf und meinte: »Alles ist so gut gegangen. Ich bin so gut vorwärtsgekommen, ich war mein eigener Herr. Selbst mit Charlottes Geld war ich mein eigener Herr, weil ich genau wußte, daß jedermann es spürte, wie sehr ich mich ums Geschäft gekümmert habe.« Er blickte auf Jimmy. »Du weißt, daß es stimmt, was ich vorhin sagte. Wir könnten jederzeit von hier wegziehen. Aber im Grunde genommen möchte ich die Stadt gar nicht verlassen. Und ich weiß, daß Charlotte das ebensowenig will. Aber egal, ob wir gehen oder bleiben – du kannst dich darauf verlassen, daß wir uns weiterhin um dich kümmern werden.« »Ach, denk jetzt nicht an mich, Rory. Ich komm' schon durch. Außerdem hast du bereits mehr als genug getan. Übrigens: Ich habe es dir noch nicht gesagt weil du jetzt ohnehin den Kopf voll hast. Aber diese Kerle müssen vergangene Nacht wieder etwas unternommen haben. Ich habe jemanden auf der Werft draußen gehört, und zwar müssen es mehr als einer gewesen sein. Zuerst dachte ich, sie hielten sich direkt unterm Bootshaus auf, aber dann kam eine Polizeistreife vorbei und machte, wie jetzt jeden Abend, halt hier, und danach war nichts mehr zu hören. Ich … ich hab' mich, ehrlich gesagt, schon ein bißchen gefürchtet.« »Bitte Richardson, daß er unbedingt hier übernachtet.« »Gut, das werd' ich tun, nur glaube ich, daß ich mich nach jemandem andern umsehen werde müssen, auf die Dauer, weißt du. Jemandem Ledigen und nicht einem, der Frau und Kinder hat.« »Mach das. Sag, daß man ihn gut bezahlen wird.« Jimmy nickte; dann fragte er: »Was wird jetzt mit Janie? Meinst du, daß sie weiter hierbleiben will? Es ist ein bißchen peinlich, weißt du. Sie hat gesagt, daß sie heute oder morgen heimgehen wird. Vielleicht beschließt sie dann, dort zu bleiben.« 272
»Daheim? Ha!« Rory warf den Kopf in den Nacken. »Das wird das Ereignis für die. Unsere liebe Lizzie wird mit sämtlichen Sprüchen, die sie im Laufe ihres Lebens aufgeschnappt hat, daherkommen, so: ›Was man sät, das erntet man‹; und: ›Hochmut kommt vor dem Fall.‹ Ich höre sie direkt!« »Das … das glaube ich nicht, Rory! Weißt du, ich wollte es dir schon längst sagen: Du siehst Lizzie nicht so, wie sie in Wirklichkeit ist. Die ist schon in Ordnung. Ich konnte im Grunde genommen nie recht begreifen, was du gegen sie hast. Und ich muß dir ehrlich gestehen, daß ich die Sache jetzt so sehe: Wenn du nach allem, was dir zugestoßen ist, ihren Standpunkt nicht verstehst, dann wirst du's nie.« »Schon möglich, wahrscheinlich hast du recht … Nun, ich muß jetzt gehen. Ich … ich werde nicht mehr hierherkommen, solange sie da ist. Komm zu uns, ja – komm, wann immer du kannst. Und laß mich wissen, wie es hier weitergeht. Es wird gut sein, wenn du mich darüber informierst, damit ich gewappnet bin, wenn sie mir die Polizei auf den Hals hetzt.« »Gut, Rory, ich lasse es dich wissen. Bestell Charlotte, daß ich ihr alles Gute wünsche und daß es mir leid tut …« »Das werde ich; sie wird sich darüber freuen. Bis bald!« »Wiedersehen, Rory.« Sie sahen einander noch einen Moment an, dann drehte sich Rory um und verließ die Werft. Jimmy wartete noch eine Weile, ehe er ins Bootshaus zurückkehrte, und als er die Stufen nach oben ging, hörte er Janie weinen. Als er die Küche betrat, sah er, daß sie das Gesicht in die auf dem Tisch liegenden Arme vergraben hatte und am ganzen Körper bebte. Er ging nicht zu ihr hin, sondern setzte sich ans Feuer; rein gewohnheitsmäßig zog er einen Fuß bis zum Knie hoch und massierte sich den Knöchel. Es würde ihr guttun, alles herauszuweinen, sagte er sich. Vielleicht würde es die Bitterkeit zumindest zum Teil fortwaschen. Nach einer Weile streckte er den Fuß wieder aus und blickte auf den dreieckig geformten Schatten nieder, den seine Beine warfen. Er hatte sie immer gehaßt, denn von allem Anfang an hatten sie jeden Hoffnungs273
schimmer in ihm vernichtet, jemals ein Mädchen auftreiben zu können: Kein Mädchen würde sich neben ihm auf der Straße blicken lassen wollen. Er hatte deshalb viel gelitten und tat es gelegentlich noch, aber meistens sublimierte er diese Gefühle in jene der Zuneigung für seine Familie oder in das seiner Liebe zu Rory … Tja, und für die, die da hinter ihm saß. Aber in diesem Augenblick war er, als er so auf seine Beine niedersah, in gewisser Weise dankbar für ihre Verformung, denn ihretwegen würde er niemals jene Pein durchmachen müssen, die Rory und Janie und Charlotte in dieser Minute durchzumachen hatten. Das Leben war schon sonderbar. Es entschädigte einen auf die merkwürdigste Art.
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ist du sicher, Liebling, ganz sicher?« »So sicher, wie ich nur jemals im Leben war.« »Du wirst es nicht zu bereuen haben. Das werde ich keine Minute lang zulassen.« »Das weiß ich, Rory. Sicher wird es einen fürchterlichen Wirbel geben, und es wird schon so sein, wie sie dir prophezeit hat: Wir werden uns verstecken müssen … Sollten wir deiner Meinung nach von hier fortgehen?« »Nein, nein, wir werden nicht fortgehen – das werden wir nicht tun. Ich bin froh, daß wir auch diesbezüglich einer Meinung sind, Liebste.« »Wir haben in gutem Glauben geheiratet; und dann: Sie hat keine Kinder von dir, aber ich werde deines zur Welt bringen. Wir sind Opfer der Umstände.« »Die Menschen dürften es nicht auf diese Weise betrachten. Du weißt genausogut wie ich, was sie behaupten werden: Er hat einen Haupttref274
fer gemacht, dieser Kerl; da wäre er doch blöd, wenn er alles wieder hergeben und am Ende gar abermals Mietenkassierer werden würde.« »Macht es dir viel aus, was sie sagen?« Er dachte einen Moment nach, ehe er antwortete: »Ja, durchaus, weil … weil es nicht wahr ist. Ich bleibe mit dir jetzt aus einem einzigen Grund beisammen, das weißt du. Obwohl ich nicht behaupten könnte, daß ich mich an dies alles« – er breitete die Arme aus – »nicht leicht und gerne gewöhnt hätte. Aber wenn ich für sie auch nur im mindesten etwas von dem empfinden würde, was ich für die Janie von einst empfand, dann würde mir das alles nichts ausmachen.« »Das weiß ich … Oh, warum mußte das geschehen? Wir waren so glücklich, so zufrieden; es hat eigentlich nur mehr eines gefehlt …« »Und zwar?« »Das, was du mir vorhin geschenkt hast, mit deinem Geständnis, daß du mich liebst.« »Oh, Charlotte!« Er streckte die Hand aus und umfaßte die ihre. »Wann glaubst du, daß sie etwas gegen dich unternehmen wird?« »Wahrscheinlich schon morgen. Nach der Gemütsverfassung zu schließen, in der ich sie verließ, wird sie keine Zeit verschwenden. Aber soll ich dir etwas sagen? Trotz allem weiß ich, daß dies geschehen muß: der Skandal, der Tratsch, die Zeitungsmeldungen, alles. Ich sehe die Schlagzeilen direkt vor mir: ›Frau kehrt von den Toten zurück. Der bereits wiederverheiratete Gatte weigert sich, sie als rechtmäßige Ehefrau anzuerkennen und so weiter …‹ Trotz alledem hatte ich von dem Augenblick an, wo ich heimgekommen und in der Tür gestanden und dich dort sitzen gesehen habe, ein ganz seltsames Gefühl. Es war sehr, sehr merkwürdig. Ich kann mich nicht erinnern, jemals zuvor etwas Derartiges empfunden zu haben. Es war … ich kann es nicht in Worte fassen: eine Art Freude? Nein, nein« – Rory schüttelte den Kopf –, »das ist nicht das richtige Wort … Gewißheit, ja, Gewißheit, daß alles, alles gut ausgehen wird, Charlotte. Ich dachte, daß es in gewisser Hinsicht gut sei, daß dies alles geschehen mußte: Wir wollen ein neues Leben anfangen, du und ich und er – oder sie.« Er legte seine Rechte auf ihren gewölbten Leib, und sie legte beide Hände darauf, und als sie sie 275
fest darauf preßte, sah sie ihm ins Gesicht und sagte: »Ich liebe dich, ich vergöttere dich. Das ist eine Blasphemie, nicht? Aber für mich bist du mein alles und mein Gott.« Da fiel er auf die Knie, barg sein Gesicht in ihrem Schoß und murmelte: »Charlotte, Charlotte, ich werde niemals eine andere lieben, glaub mir …« Als es an die Salontür klopfte, drehte er sich hastig um, kniete sich vors Feuer hin und tat so, als lege er nach, während Charlotte »Herein!« rief. Jessie schloß die Tür leise hinter sich zu, kam näher, blieb an der Couchecke stehen und erklärte: »Ein … ein Mann ist an der Haustür, Sir, der sagt, daß er Sie sprechen möchte.« »Ein Mann?« Rory stand auf und dachte sogleich: O Gott, Zeit hat sie nicht gerade verschwendet! »Hat er Ihnen seinen Namen genannt?« »Nein, Sir. Er hat bloß gesagt, es wäre wichtig und … und daß er mit Ihnen sprechen müsse. Es ist ein kleiner Mann, Sir, ein sehr kleiner Mann.« Ein kleiner, ein sehr kleiner Mann. Er kannte nur einen, auf den diese Beschreibung paßte: den kleinen Joe. »Wo ist er jetzt?« »In der Halle, Sir. Weiter wollte ich ihn nicht führen. Er ist – ziemlich gewöhnlich angezogen.« Rory warf Charlotte einen Blick zu, dann ging er rasch an Jessie vorbei. Als er die Tür zur Halle öffnete, sah er sich dem kleinen Joe gegenüber. »'n Abend, Mr. Connor.« »Hallo, Joe. Was führt Sie zu mir?« Rorys Stimme klang förmlich. »Mr. Connor, ich möchte … ich möchte mit Ihnen reden.« »Sie brauchen mich jetzt nirgends mehr einzuführen, Joe, das sollten Sie eigentlich wissen.« Sein Ton wechselte etwas ins Sarkastische. »Es handelt sich nicht darum, Mr. Connor. Ich … ich glaube, Sie sollten mich anhören, und zwar unter vier Augen. Es ist wichtig – sehr wichtig sogar, meine ich.« Rory zögerte einen Moment, dann sagte er: »Kommen Sie hier herein.« Er öffnete die Tür zum Büro und ließ den 276
kleinen Kerl vorbeigehen. Er beobachtete ihn, wie er sich rasch umblickte. Dann nahm er hinter dem Schreibtisch Platz und deutete auf einen Stuhl. Nachdem Joe dieser Aufforderung Folge geleistet hatte, sagte Rory: »Also, was gibt es.« »Ich dachte, Sie sollten Bescheid wissen, Mr. Connor. Aber ehe ich weiterrede, möchte ich, daß Sie mir glauben, daß ich mit der ganzen Sache nichts zu tun hatte; ich meine: wie man Sie damals zusammengeschlagen hat. Es ist ein dreckiges Pack, das mich dort hingekriegt hat, wo es mich haben wollte, die Pitties und dieser Mr. Nickle. Aber es gibt ein paar Dinge, bei denen ich nicht mitmache, obwohl es gefährlich ist. Wenn einer von denen wüßte, daß ich jetzt bei Ihnen bin, würde mein Leben keinen Pfifferling mehr wert sein. Aber … aber ich dachte eben trotzdem, daß Sie es wissen sollten.« »Was wissen?« »Nun ja.« Joe streckte die Beine aus, bis er mit den Zehenspitzen den Teppichboden berührte. Dann beugte er sich vor, umklammerte die Schreibtischkante und sagte leise: »Die haben was vor. Ich habe erst vor kurzem Wind davon bekommen. Sie wollen Sie durch Ihren Bruder treffen. Ich habe … ich habe ihn gesehen, ich kenne ihn. Er ist ja nicht viel größer als ich und hat ohnehin Schwierigkeiten genug mit seinen Beinen und so. Deshalb finde ich, daß es nicht fair ist, und deshalb bin ich hergekommen, um es Ihnen zu sagen. Denn Sie haben sich mir gegenüber immer anständig benommen – nie sind Sie schäbig oder so was gewesen, wie die meisten andern. Und dann: Daß Sie mich damals nicht mit hineingezogen haben und nichts gesagt haben – und das hätten Sie können, leicht sogar! –, das habe ich Ihnen hoch angerechnet. Und deshalb hab' ich mir geschworen: Wenn es jemals …« »Weiter Joe. Was haben die Leute vor?« Joe ließ nun den Schreibtisch los, preßte die Hände zwischen die Knie, und dann kündigte er Rory an: »Die wollen Sie ausräuchern.« »Ausräuchern? Hier?« »O nein, nicht hier. Hier herauf trauen sie sich nicht. Nein, die Werft und das Bootshaus drunten. Steve Mackin hat diesbezüglich eine Bemerkung fallenlassen. Sie haben sich bei ihm Brennöl geholt.« 277
»Was!« Rory war aufgesprungen und blitzartig um den Schreibtisch herumgeeilt. »Wann?« »Am späten Nachmittag etwa. Ich war gerade bei ihm, um seinen Wettgewinn auszuzahlen, und er sagte: ›Der arme kleine Bastard.‹« Joe blickte rasch auf, als wolle er sich entschuldigen, daß er ein solches Wort gebrauchte. Dann fuhr er fort: »Ich fragte ihn: ›Wer denn?‹ Und er darauf: ›Der kleine Connor, das Krummbein. Aber was kann man gegen solche Lumpen schon ausrichten.‹« Rory ging rasch zur Tür. »Um wieviel Uhr war das?« »Ach, vor einer Stunde oder etwas mehr. Ich bin gleich zum Fluß hinuntergegangen, weil ich mir dachte, wenn ich Ihren Bruder zu Gesicht kriege, geb' ich ihm einen Wink. Aber da sah ich den großen Pittie an der Ecke stehen. Er tat so, als unterhielte er sich mit irgendeinem Kerl, rein zufällig, wissen Sie. Aber ich weiß doch, daß der gar nicht in der Gegend wohnt, und da sagte ich mir: Das ist unfair und deshalb, Mr. Connor …« Sie standen in der Halle, als die Salontür aufging. »Was gibt's denn?« »Ich … ich muß zur Bootswerft, Charlotte. Es ist nichts weiter.« Charlotte kam auf ihn zu, als er den Mantel aus dem Kleiderschrank nahm, und abermals fragte sie: »Was ist es denn?«, um dann drängend zu flüstern: »Was ist denn schon wieder los, Rory?« »Nichts.« Er drehte sich mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen zu ihr um. »Dieser Mann hier« – er deutete auf Joe –, »war so freundlich, mich warnen zu kommen. Die Pitties haben was vor: Ich glaube, sie wollen Jimmys Boote losmachen.« »Geh nicht!« sagte sie in entschlossenem Ton. »Bitte, geh nicht. Melden wir es der Polizei, die wird sich schon darum kümmern.« »Aber, aber.« Er legte ihr die Hände auf die Schultern, drehte sie um und schob sie sanft auf die Salontür zu. Nachdem sie eingetreten und er die Tür hinter ihr zugemacht hatte, sagte er leise zu ihr: »Es ist nichts, Charlotte, wirklich. Gut, gut«, beruhigte er sie, »ich werde die Polizei verständigen, das verspreche ich dir.« »Es ist dunkel; da kann alles Mögliche passieren.« 278
»Nichts wird passieren. Richardson ist ja unten. Das ist ein kräftiger Kerl. Ich muß jetzt gehen. Und du bleibst gefälligst, wo du bist.« »Nein, laß mich mitkommen. Bitte, laß mich …« »Nein, kommt nicht in Frage! Wage ja nicht, aus dem Haus zu gehen!« Er öffnete die Tür und rief nach Jessie. Als das Mädchen auftauchte, sagte er zu ihr: »Sorgen Sie dafür, daß die gnädige Frau das Haus nicht verläßt, bis ich zurückkomme. Das ist ein Befehl, verstanden?« Das Mädchen blickte von einem zu andern, dann stammelte sie: »Ja, Sir, jawohl, Sir.« Dann drehte sich Rory wieder zu Charlotte um, streckte die Hand aus, ergriff ihr Kinn und kniff es liebevoll, ehe er zur Haustür eilte, wo Joe auf ihn wartete. Der kleine Kerl warf Charlotte rasch einen Blick zu, tippte an den Rand seiner Kappe und sagte: »'n Abend, Madam«, und Charlotte grüßte mechanisch zurück. Dann glitt er rasch hinter Rory zur Tür hinaus. Sie hatten die letzte Stufe noch nicht erreicht, als Charlotte ihnen nachrief: »Warte auf die Kutsche!« »Ich brauche keine Kutsche. Geh wieder hinein. Tu, was ich sage!« Und damit verklang seine Stimme, als er die Auffahrt hinuntereilte. Als er in der Seitengasse ankam, fing Rory an zu laufen, und der kleine Joe versuchte krampfhaft, Schritt mit ihm zu halten. Aber als Rory den Stadtkern von Westoe erreicht hatte, war der Kleine bereits weit zurückgeblieben. Feuer! Eine einzige Kanne Brennöl und ein Zündholz genügten, und es brannte lichterloh. Wo doch da unten alles aus Holz war und die vielen Abfälle ringsum. So was würde sich blitzartig ausdehnen, so daß sie höchstwahrscheinlich nicht einmal mehr rechtzeitig ins Freie kamen. Wenn Jimmy am Ende gar auf dem Boden oben war, würde der Rauch ihn glatt ersticken. All die Bücher und Papiere und das geteerte Holz innen und außen und die Balken und … Er würde die Pitties umbringen; einen oder alle würde er umbringen. Früher oder später mußte es dazu kommen: Entweder sie oder er. Wenn sie Jimmy et279
was zuleide taten … Außerdem war sie ja auch unten – Janie. Von den Toten aufzuerstehen, um dann bei lebendigem Leib verbrannt zu werden. Und das konnte passieren, wenn sie bereits zu Bett gegangen waren. Diese Schweinehunde, diese Mörder, diese Verrückten! Rory raste quer über den Markt. Dunkelgekleidete Gestalten blieben stehen und sahen ihm nach, dann wandten sie sich um, um herauszubekommen, ob er von jemandem verfolgt werde. Als er in die Abzweigung einbog, roch er den Rauch, und dann erblickte er den Widerschein des Feuers. Wie ein wilder Hengst schoß Rory zum Ufer hinunter. Aber er war zu spät dran. Er wußte es, noch ehe er die Menschenansammlung erreicht hatte, daß er zu spät kam. Von allen Seiten drängten und schrien sie durcheinander, so daß Rory sich kaum durchzudrängen vermochte. Sie starrten wie gebannt auf die Flammen, die hinter dem Zaun aufloderten. Rory ergriff die letzte Latte und schwang sich auf die andere Seite, auf der einige Männer schon Schläuche aufrollten. Über die Trümmer stolpernd rief und schrie Rory: »Jimmy, Jimmy!« Er packte den nächstbesten Mann am Arm. »Sind sie heraußen?« »Wer denn, Mann?« »Mein … mein Bruder.« Er blickte wild um sich. »Und … Janie.« »Es ist niemand drinnen, Mann. Sehen Sie doch nur hin. Niemand würde eine solche Hölle überleben; der Rauch allein erstickt einen ja schon.« »Jimmy, Jimmy!« Er hing mit dem Oberkörper über der Reling und schrie den Namen seines Bruders zu den Booten hinunter, als er eine Frau auftauchen sah. Auch sie schwang sich über den Zaun, und er starrte ihr ins Gesicht, das im Widerschein des Feuers rosig erschien. »Janie!« Er packte sie am Arm. »Wo ist … wo ist Jimmy?« »Jimmy? Ich … ich habe ihn daheimgelassen, als ich zu meinen Leuten gegangen bin.« »O mein Gott!« Rory wandte sich nun zum Bootshaus um und starrte empor. Das 280
ganze Gebäude glich einer einzigen riesigen Fackel. Flammen drangen aus den beiden unteren Fenstern. Aus dem oberen quoll jedoch nur Rauch. Während er nach oben starrte, klang das Geräusch zerberstenden Glases an sein Ohr. Möglich, daß es durch die Hitze verursacht worden war, aber ebensogut war es auch möglich, daß … Er wechselte mit Janie einen ahnungsvollen Blick, worauf sie sich mit der Hand auf den Mund schlug und »Allmächtiger, Jimmy!« aufschrie. Rory raste auf die Stufen zu; aber als er nach oben klettern wollte, ließ ihn die furchtbare Hitze zurückprallen. Neben ihm rollten zwei Männer einen Schlauch auf, aus dem unausgesetzt und stoßweise Wasser in die unteren Fensterhöhlen spritzte. Er griff nach einem über dem Geländer hängenden Sack, warf sich ihn über und drang ins Innere des Hauses ein. Alles, was aus Holz war, brannte. Der Fußboden fühlte sich wie ein schlüpfrig-nasser Brei unter seinen Füßen an. Blind raste er zur gegenüber befindlichen Leiter. Eine Seite derselben brannte bereits, doch hatte er sie in Sekundenschnelle erklommen und die nach oben führende Falltür aufgestoßen. Der Raum war von Rauch erfüllt; dennoch konnte Rory den brennenden Bücherkasten am anderen Ende wahrnehmen. Hustend und würgend ließ er sich flach auf den Boden fallen, robbte zum Fenster vor und tastete sich mit den Händen weiter, bis er einen schlaffen Körper berührte. Erst nachdem er ihn zur Falltür gezogen hatte, erkannte er, daß Jimmy sowohl an den Händen als auch an den Beinen gefesselt war. Es blieb keine Zeit, die Fesseln loszumachen. Also zog er ihn an den Achseln bis zur Tür; dort hielt er kurz inne, damit er sich den nassen Fetzen in den Mund stopfen und das ausgedrückte Wasser durch seine Kehle rinnen lassen konnte; so gelang es ihm, nicht zu ersticken. Um die Leiter nach unten klettern zu können, mußte Rory auf die Knie gehen und dann Jimmys leichten Körper über die Schultern wuchten. Nun war er sich seiner Handlungen gar nicht mehr richtig bewußt; sie wechselten einander rein automatisch ab. Nicht einmal der Schmerz, den das Berühren der brennenden Sprossen auslöste, kam ihm mehr zu Bewußtsein. 281
Der Raum war mittlerweile ein einziges Inferno zischender Flammen und beißenden Rauchs; Rorys Mantel brannte nun ebenso wie Jimmys Wollhemd. Als er sich in der Mitte des Raums befand, spürte er, wie der Fußboden unter ihm nachgab und seine Füße einsanken; so warf er sich und seine Last jener Richtung entgegen, in der er die Tür vermutete. Seine Lungen barsten, sein ganzer Körper schien ebenso wütend zu brennen wie alles ringsum her. Blind weitertappend suchte er die Öffnung und fand sie schließlich: Die Stufen waren unten. Er ließ Jimmy zu Boden sinken. Er erstickte – er erstickte! Schwach war er sich diverser Zurufe und Schreie bewußt, und zur gleichen Zeit spürte er, wie das ganze Bootshaus erzitterte. Das war alles, woran er sich erinnerte.
Er lebte, als sie den brennenden Balken hochhoben, unter den er geraten war. Sie dämpften mit allen Mitteln die Flammen, die aus seinen Kleidern schlugen. Als sie ihn zu jener Stelle trugen, wo Jimmy mit Mäntel bedeckt dalag, stolperte Janie an seine Seite, und als sie seine geschwärzte Hand ergriff, löste sich die Haut in Fetzen von deren Innenfläche. Als würde sie des Tumults um sie herum überhaupt nicht gewahr, kniete sie zwischen den beiden Männern, mit denen sie aufgewachsen war, nieder und stöhnte laut auf. Jemand wollte sie hochheben, aber sie stieß die Hände beiseite. Die Stimmen fluteten über sie hinweg. »Wir müssen ihn ins Spital bringen. Holt eine Bahre, eine Tür, irgendwas.« Dann war eine Zeitlang nur mehr Gemurmel zu hören, bis eine Stimme klar und deutlich sagte: »Hier, Mrs. Connor. Er ist hier, Mrs. Connor.« Da hob Janie den Kopf und sah eine große Gestalt, die auf die Knie fiel auf der anderen Seite des Mannes, der ihr Gatte war. Sie starrte die Frau an, die den Arm unter Rorys Schulter geschoben hatte und ihm zärtliche Worte zuflüsterte, die sie noch nie in ihrem Leben aussprechen gehört hatte. »Oh, mein Liebling, Liebster, Liebster, Liebster. Ach Rory, Rory, mein Ge282
liebter, mein Herz.« Und all diese vertraulichen Worte waren von Seufzern begleitet. Janie spürte, wie sie von einem Polizisten aufgehoben, ja beinahe weggestoßen wurde. Er ordnete an, daß Jimmy auf die erste Bahre kam. Und als sie Rory aufheben wollten, mußten sie die Hände der Frau erst von ihm lösen. Und abermals hörte Janie sagen: »Wir müssen ihn ins Spital schaffen.« Worauf die Stimme der Frau erklang, die entschied: »Nein, nein, er muß heim. Beide. Wir müssen sie heimbringen. Ich … ich habe die Kutsche da.« »Die beiden bringen wir nie im Leben in eine Kutsche, Ma'am«, sagte der Polizist. »Dann eben auf einen Karren, ein Fuhrwerk – irgendwas. Sie müssen nach Hause.« Wieder erklangen Stimmen, wieder herrschte großes Durcheinander. Dann standen plötzlich drei uniformierte Männer da. Als sie die beiden reglosen Gestalten zum Hof hinaustrugen, folgte ihnen Janie. Sie überquerten den freien Platz, um dem Feuer auszuweichen, das jedoch nur mehr glühte, und erreichten den irgendwo aufgetriebenen Kohlenkarren. Janie beobachtete, wie man die beiden Bahren darauf hob, und als sie davon rumpelten, sah sie die Frau von vorhin daneben hergehen. Dann sah sie, wie der Kutscher aus dem am Randstein wartenden Wagen über die Straße gelaufen kam und erkannte, wie die Frau auf dessen Aufforderung hin, doch einzusteigen, den Kopf schüttelte. Daraufhin kletterte er wieder auf den Bock und fuhr hinter dem Kohlenkarren her. Und Janie lief hinter der Kutsche her. Selbst als diese in die Auffahrt einbog, folgte Janie noch. Sie blieb nur stehen, als die Kutsche in die Remise rumpelte. Die Leute, die den Karren begleitet hatten, hoben nun die beiden Bahren herunter; Bediente kamen aus dem Haus gelaufen, und schließlich verschwanden alle miteinander im Hausinnern. Sekundenlang stand Janie mutterseelenallein da und blickte zu den erhellten Fenstern auf, bis der Kutscher an ihr vorbeigelaufen kam, den Wagen wieder aus dem Stall holte und in Blitzeseile davonjagte. Dann war sie wieder eine Zeitlang allein und starrte weiterhin auf das Haus. 283
Sie wußte nicht, wie lange sie dagestanden hatte, ehe der Wagen zurückgekommen und der Arzt mit seiner Ledertasche ausgestiegen und ins Haus geeilt war. Es dauerte beinahe zwei Stunden, ehe er wieder aus dem Haus trat. Als er in die Kutsche einsteigen wollte, schien Janie aus ihrem tranceartigen Zustand zu erwachen, denn sie stolperte auf ihn zu und stammelte: »Bitte, wie geht es ihm? Wie geht es den beiden?« Der Arzt musterte sie von oben bis unten; ihre merkwürdige Kopfbedeckung, den Umhang, die Pantinen: Sie sah aus wie eine Bäuerin aus dem vergangenen Jahrhundert und noch dazu nicht einmal wie eine einheimische. Er forschte in ihrem Gesicht, ehe er antwortete: »Der junge Mann wird überleben; aber Mr. Connor geht es schlecht, es ist sehr ernst.« Damit nickte er ihr kurz zu, stieg ein, und der Kutscher wollte schon losfahren, als ein Mädchen aus dem Haus gelaufen kam und »Will, Will!« rief. Der Kutscher beugte sich zu ihr nieder, und sie haspelte aufgeregt: »Die Gnädige läßt Ihnen sagen, daß Sie, nachdem Sie den Herrn Doktor heimgebracht haben, gleich weiterfahren sollen. Zu seiner Familie, die Familie des gnädigen Herrn holen, meine ich. Sie kennen ja die Adresse.« »Ja, natürlich«, sagte der Kutscher, knallte mit der Peitsche, und abermals zogen die Pferde an. Das Mädchen erblickte nun die Frau, die neben der Balustrade stand, und fragte: »Wünschen Sie etwas?« Janie schüttelte den Kopf. »Sind … sind Sie mit denen gekommen?« Janie nickte nur. Auch das Mädchen musterte Janie von Kopf bis Fuß. Noch nie hatte sie eine Frau gesehen, die derart angezogen gewesen war, sie wirkte wahrhaftig wie eine Landstreicherin – bis auf das Gesicht, das jung und glatt war, wenn es auch durch die gebräunte Haut, das schlohweiße Haar und die sonderbare Kopfbedeckung höchst merkwürdig aussah. Das Mädchen wiederholte: »Was wollen Sie also?« »Bloß wissen, wie es den beiden geht.« Die Stimme beruhigte das Mädchen. Sie mochte eine Ausländerin sein, war aber zumindest jetzt bestimmt in ihrem Stadtteil ansässig. 284
»Es geht ihnen schlecht, vor allem dem gnädigen Herrn. Die Gnädige ist ganz kopflos. Der Bruder des gnädigen Herrn wird durchkommen. Wenn sie Näheres hören wollen, kommen Sie morgen früh wieder. Kennen … kennen Sie ihn?« »Ja.« »So … Nun, kommen Sie morgen wieder.« Als das Mädchen die Stufen hinauflief, drehte sich Janie um und tat so, als wolle sie tatsächlich gehen. Aber sowie die Tür ins Schloß gefallen war, blieb sie stehen und nahm wieder die Wartestellung von vorhin ein, indem sie auf die zwei hellerleuchteten oberen Fenster starrte.
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ory lag in Öltücher eingewickelt da. Sein Gesicht hatte dieselbe Farbe wie der Verband. Um fünf Uhr früh war er zu sich gekommen, hatte Charlotte ins Gesicht geblickt und sie murmeln hören: »Liebster, o mein Liebster.« Noch empfand er keine Schmerzen, weshalb er versuchte, ihr zuzulächeln; aber als er es tat, war ihm, als ob sämtliche Gesichtsmuskeln platzen würden, und er verspürte unerträgliche Qualen. Er schloß die Augen, stöhnte und wandte den Kopf zur Seite. Als er die Augen dann erneut öffnete, glaubte er zu träumen, denn nun blickte er in Lizzies Gesicht. Er konnte sie deutlicher ausmachen, als sie ihn, denn ihr Gesicht war tränenüberströmt. Aber sie weinte lautlos. Vage dachte er: Für gewöhnlich jammert sie so laut wie ein irisches Totenweib. Und jetzt …? Er wandte den Kopf abermals nach Charlotte, und ihre Miene schien ihm die Antwort auf diese Frage zu geben. Er war also in einem derart schlechten Zustand … Ja, er fühlte sich ungeheuer miserabel. Diese Schmerzen. Er konnte sie nicht länger ertragen. Gleich würde er herausschreien, brüllen. O Gott, Gott! Was war nur mit ihm passiert? Das Feuer … Die Pitties. Die Pitties. Mörder waren 285
das. Er hatte immer geglaubt, es ihnen heimzahlen zu können, aber letzten Endes hatten sie ihn doch erwischt. Ihn und Jimmy … Jimmy … Jimmy … Er wiederholte den Namen mehrmals in Gedanken, ehe er ihn aussprechen konnte: »Jimmy!« »Er ist gerettet, Liebling. Es geht ihm besser. Er liegt … er liegt nebenan. Schlaf, Liebling, ruh dich aus.« »Char-lotte.« »Ja, mein Liebling?« Die Worte überstürzten sich nur so in seinem Kopf, sprangen über ein Flammenmeer hinweg, das aus seinen Fingernägeln bis in seine Schultern, ja bis zur Brust strömte. Sie hatten ihn fest eingewickelt; er konnte kaum atmen. Aber er wollte ihr unbedingt sagen, er wollte ihr abermals sagen, ihr verständlich machen, sie davon überzeugen, es tief, tief in sie eingraben, daß er sie liebte. Er wollte ihr so gern etwas Tröstliches zurücklassen. Zurücklassen? Was meinte er damit? War er am Ende? Hatten sie ihn erledigt? Würde er sterben? Nein, Nein. Er konnte dagegen ankämpfen – ja, natürlich, wie immer –, er konnte dagegen ankämpfen. Wenn das höllische Brennen da drinnen doch nur aufhören würde. Wenn er einfach in den Fluß springen könnte – alles ausziehen und in den Fluß springen. »Charlotte.« »Schlaf, Liebling, ruh dich aus. Schlaf.« Ja, er wollte schlafen. So würde er es bekämpfen. Er würde überleben; und er würde die Pitties erwischen. Der kleine Joe … Natürlich, er würde den kleinen Joe schon dazu kriegen, alles zu sagen. Und zwar über Nickle, das war der große Fisch … Allmächtiger, diese Schmerzen … Er brauchte ja bloß fünfunddreißig Pfund, um die Werft für Jimmy zu bekommen. Wenn man ihn bei einem richtigen Spiel ansetzte, dann könnte er das ohne weiteres schaffen. Er wollte Jimmy irgendwie für die lausigen Beine, die er nun einmal mitgekriegt hatte, entschädigen … Jemand verbrannte ihn, brannte ihn aus … »Trink das.« Die Flüssigkeit zischte geradezu auf in seinem Innern, dann schlu286
gen die Flammen über ihm zusammen, und er versank abermals in erlösende Bewußtlosigkeit. »Er wird eine Zeitlang schlafen, Kind.« Lizzie nahm Charlotte das Glas aus der Hand, stellte es auf den kleinen Tisch und trat an die andere Seite des Bettes. »Komm weg von hier, ruh dich selbst ein bißchen aus.« »Nein, nein – ich kann ihn nicht verlassen.« »Er braucht dich jetzt nicht. Er braucht im Moment niemanden. Erst, wenn er wieder aufwacht, und das wird nicht lange dauern. Komm schön, folg meinem Rat, Kind.« Charlotte riß sich vom Anblick des fahlen Gesichts in den Kissen los und sah in das runde, nun zerknittert wirkende Gesicht der Frau, von der sie annahm, daß sie Rorys Tante sei. Dann erhob sie sich gehorsam von ihrem Stuhl und ging zur Tür. Und Lizzie, die ihr folgte, sagte: »Ich an deiner Stelle würde ein Bad nehmen und die Kleider wechseln und hinuntergehen und einen Bissen essen. Wenn du das nicht tust, wirst du bald neben ihm liegen, und dann wirst du ihm nicht viel nützen können.« Charlotte drehte sich um und starrte die dicke Frau an: sie sprach so vernünftig in ihrer burschikosen Art. Sie nickte ihr zu, sagte aber nichts. Lizzie schloß hinter ihr die Tür, kehrte zum Bett zurück und blickte, sich langsam auf einen Stuhl niedersinken lassend, auf ihren Sohn – auf jenen Sohn, der ihr seit Jahren kein gutes Wort mehr gegeben hatte. Als Junge hatte er sie gemocht und aufgezogen, als Mann hatte er sie gekränkt, verachtet, verspottet, ja selbst gehaßt; aber all die Zeit über hatte sie ihn geliebt … Nun war ihr, als müßte ihr das Herz brechen. Er war das einzige, was sie hatte, Fleisch von ihrem Fleisch, Blut von ihrem Blut: Und nun lag er im Sterben. An dem Tag, als er geboren und in ihren Armen gelegen und zum erstenmal nach ihrer Brust getastet hatte, war ihr durch den Kopf gegangen: Er ist stark. Er wird immer die Zügel in der Hand halten. Er wird es schaffen. Und alles, was er unternommen hatte, schien darauf hinzuweisen. Denn von seinem siebenten Lebensjahr hatte er be287
gonnen, mal da, mal dort ein paar Kupfermünzen zu verdienen. Und war er nicht zur Schule geschickt worden? Hatte er nicht eine Ganztagsbeschäftigung erhalten, noch ehe er vierzehn war? Und dann war ihm der Sprung vom Fabrikarbeiter zum Mieteninkassant geglückt. Noch dazu war er der bestgekleidete Mieteninkassant der Stadt, weil er aus dem Kartenspiel immer genug herausschlug, um sich nicht nur anständig herauszuputzen, sondern auch immer ein, zwei Shilling in der Tasche zu haben. Und nun gar erst diese Glückssträhne mit der Einheirat und der fabelhaften Position. Wer hätte je gedacht, daß es dazu kommen würde? Er hatte eben immer das Glück eines Spielers gehabt. Tja, aber man durfte nicht vergessen, daß das Glück eines Spielers zweischneidig war. Daran hatte sie am Tag vorher denken müssen, als zur Teezeit plötzlich dieser Geist in der Tür gestanden hatte. Wie es ihr gelungen war, nicht zusammenzuklappen, wußte sie nicht. Nur die Tatsache, daß Ruth sich offensichtlich selbst kaum aufrechthalten konnte, hatte sie davor bewahrt. Denn plötzlich Janie dastehen zu sehen, diese Janie, die sich so sehr von der früheren Janie unterschied, außer wenn sie sprach. Gott im Himmel! Niemals in ihrem ganzen Leben hatte sie einen derartigen Schock erlitten. Und nichts, was ihr in diesem oder im nächsten Leben zustoßen würde, würde dem gleichkommen. Als sie ein paar Stunden später Janie nachblickte, wie sie zum Fluß hinunterging, als käme sie von einem anderen Stern, da hatte sie Gott in Gedanken um Vergebung dafür gebeten, daß in ihrem Herzen nicht ein einziger Gedanke des Willkommens für Janie wachgeworden war. Denn der einzige Zweck im Leben dieser Janie, die den Mann, dessen Frau sie immer noch war, einst geliebt hatte, schien zu sein, sein Leben zu ruinieren. Und daß sie immer noch seine Frau war, bildete eine Tatsache, über die keiner von ihnen hinwegsehen konnte. Dabei trug die arme Seele da drüben im Nebenzimmer sein Kind unterm Herzen. Nun, es war schon so, wie sie immer sagte: Gottes Wege waren sonderbar, aber wenn man nur lang genug Geduld hatte, dann löste er alle Probleme. Aber, du meine Güte, sie wünschte mit der ganzen Inbrunst ihrer Seele, daß er dieses Problem auf andere Weise hät288
te lösen können, als ihr eigen Fleisch und Blut zu sich zu nehmen. War Rory doch alles, was sie besaß. Als sich die Tür hinter ihr öffnete, stand sie auf und sagte, auf Charlotte zugehend: »Ich werde Ruth und das Mädchen rufen, und dann komme ich zu dir hinunter und werde die Beine ein bißchen hochlagern.« Charlotte lief an ihr vorbei auf das Bett zu, beugte sich darüber, legte die Lippen sanft auf die bleiche, schweißbedeckte Stirn. Als sie Rorys Gesicht abwischen wollte, ergriff Lizzie einfach ihren Arm und sagte: »Laß. Nicht mehr. Nicht jetzt. Mit Tagesanbruch kommt ja die Schwester.« Auf dem Treppenabsatz saß Jessie auf einem Stuhl, und Charlotte sagte zu ihr: »Setzen Sie sich doch bitte an sein Bett, Jessie. Ich komme in ein paar Minuten wieder.« »Ja, Ma'am.« Das Mädchen verschwand in Rorys Zimmer, und Charlotte überquerte den Gang, öffnete die gegenüberliegende Tür und fragte Ruth, die an Jimmys Bett saß, im Flüsterton: »Wie geht es ihm?« »Er schläft.« Charlotte trat ans Fußende des Bettes und sagte, Jimmy unverwandt ansehend, leise: »Das Haar wird wieder nachwachsen. Es ist nur am Hinterkopf schütter. Ich bin froh, daß er so leicht einschläft.« Dann bat sie Ruth, als bäte sie sie um einen Gefallen: »Würdest du dich zu Rory hinübersetzen, bloß für den Fall, daß er aufwacht? Jessie ist drinnen, aber … aber es wäre mir lieber …« Sie machte eine vage Handbewegung. »Du könntest ja die Tür offenlassen, falls Jimmy ruft.« Ruth blickte zu ihr auf, dann sah sie Lizzie an und meinte schließlich: »In Ordnung, Charlotte, natürlich …« Im Salon setzte sich Charlotte auf die Couch, verschlang die Hände fest ineinander und starrte ins Feuer. Dann ging die Tür auf, und Lizzie trat mit einem Tablett, auf dem eine dampfende Teekanne und ein Teller mit Butterbroten stand, ein. Charlotte war nicht einmal überrascht darüber. Die Zeit seit dem vergangenen Abend war derart angefüllt gewesen 289
von merkwürdigen Vorfällen, als wäre ein ganzes Menschenleben verstrichen. Deshalb kam ihr die Tatsache, daß diese Frau in ihre Küche gegangen und Tee gemacht hatte, völlig natürlich vor. So selbstverständlich, als wäre es nie anders gewesen. Charlotte war seit dem Moment, wo sie am vergangenen Abend neben Rory gekniet hatte, hundertmal gestorben und wieder zum Leben erwacht – immer und immer wieder; denn jedesmal, wenn sie gedacht hatte: Jetzt oder jetzt habe Rory seinen letzten Atemzug getan, war sie mit ihm gestorben. Daß er bald seinen letzten Atemzug tun würde, begriff und akzeptierte ein Teil ihres Innern, während ein anderer mit einer wahren Hysterie dagegen ankämpfte und schrie und sich verzweifelt wehrte. Sie kämpfte um ihn, verlangte einfach, daß er am Leben bleibe. Du kannst ihn nicht sterben lassen, er darf nicht sterben, er darf mich nicht verlassen! schrie es in ihrem Innern. Man muß sich nur mit der Seele des andern verbinden, ihm all seine Kraft, seinen Willen einflößen, dann kann es nicht passieren, dann kann er nicht sterben, unmöglich – er darf nicht sterben … »Da, trink schön und iß einen Bissen, Kind.« »Danke. Aber essen – nein, ich könnte nichts hinunterbringen.« »Du mußt einfach. Und wenn schon aus keinem anderen Grund, dann deshalb, um das kleine Wesen da drinnen am Leben zu halten. Oder es wird dir noch leid tun.« »Es tut mir leid. Aber ich kann trotzdem nicht. Und was ist mit dir? Bedien dich doch, bitte.« »Ich? Ach, ich brauche nichts zu essen.« Lizzie seufzte aus Herzensgrund, als sie sich auf der Stuhlkante niederließ. Es folgten ein paar Minuten Schweigen, ehe sich Charlotte umwandte und mit weitaufgerissenen Augen die Frage stellte: »Was glaubst du? Was meinst du?« »Nun, Kind, solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung, heißt es. Solange er atmet, gibt es eine Chance. Aber wenn du meine Meinung hören willst, so ist es eine winzig kleine. Er war zwar immer ein Spieler, aber diesmal hat er überreizt.« Sie stellte die Tasse nieder, und ihre fest zusammengepreßten Lippen zitterten. Abermals entstand ein Schweigen, bis Lizzie ruhig sagte: »Es ist nicht 290
meine Absicht, dir gerade im gegenwärtigen Zeitpunkt Sorgen zu bereiten, denn Gott weiß, daß genug auf dir lastet – aber ich denke, daß du es wissen solltest, denn nur du kannst diesbezüglich etwas unternehmen … Es geht um Janie. Sie ist die ganze Nacht da draußen gewesen: im Stall, hat der Kutscher gesagt. Er weiß natürlich nicht, wer sie ist. Er hat deinem Mädchen gesagt, daß eine fremde Frau da draußen wäre, die um keinen Preis weggehen wolle und daß er glaube, es handle sich um eine Verwandte.« Lizzie sah zu, wie Charlotte aufstand, die Hände ineinander verschlang, zum Kamin ging, dort stehenblieb und ins Feuer starrte. Da fügte sie noch hinzu: »Als sie gestern bei uns in die Küche trat, war mir, als müsse ich gleich selbst tot umfallen.« Charlotte schüttelte kaum merklich den Kopf. Diese Frau, seine Frau, seine ehemalige Frau – in ihrem Stall? Sie erinnerte sich vage daran, neben Rorys Bahre eine zusammengekauerte Gestalt knien gesehen zu haben, und später dann, als sie die Bahre vom Kohlenkarren heruntergehoben hatten, hatte sie einen flüchtigen Blick der Frau aufgefangen. Was sollte sie tun? Würde Rory sie sehen wollen? Er hatte sie einmal geliebt … Sie konnte diesen Gedanken nicht ertragen: Er gehörte ihr – ganz und gar ihr. Das Glück, das sie in den letzten Monaten mit ihm erfahren hatte, war so tief, so stark, daß es ihr ganzes Leben einschloß, von der Geburt bis weit über den Tod hinaus. Und er liebte sie, liebte sie ebenso; er hatte es ihr gesagt. Nicht mit oberflächlichen, leichtsinnig hingeworfenen Worten des unreifen Laffen, der er gewesen war, als er seine ehemalige Spielgefährtin geheiratet hatte, sondern als Mann, der seine innersten Gefühle nicht so leicht eingestand. Welchen Platz nahm diese Frau also in ihrer beider Leben ein? Hatte er denn nicht klar und eindeutig ausgedrückt, daß er sie nicht mehr mochte …? »Wenn Rory ins Spital gebracht worden wäre, hätte sie ihn besucht; sie hätte sich auf ihr Recht berufen.« Charlotte fuhr herum. Sie sah die dicke Frau finster an und vergaß einen Moment lang, daß sie Rorys Tante war. Sie war bloß ein dickes, gewöhnliches, ungebildetes Weib. Was wußte sie schon von Recht und Gesetz? 291
»Reg dich nicht auf, Charlotte. Du weißt so gut wie ich, daß sie ein Recht darauf hat. Und das Gesetz kümmert sich nicht darum, ob die Gefühle eines Menschen sich geändert haben oder nicht.« Sie nickte Charlotte nun zu. »Ja, Janie hat mir berichtet, daß er nicht zu ihr zurückwolle, er hat es ihr ins Gesicht gesagt, und das muß hart genug für sie gewesen sein. Da dir das die Genugtuung verschafft, daß er dich – nur dich allein – will, und offensichtlich nicht deshalb, weil du ihm dies alles hier bieten konntest, sollte dir dein Herz eingeben, daß du dir nicht das mindeste vergibst, wenn du ihr gestattest, einen Blick auf ihn zu werfen.« »Ich – ich kann nicht.« Lizzie stand auf und seufzte, ehe sie entgegnete: »Nun, wenn du nicht kannst, dann kannst du eben nicht. Aber auf eines möchte ich dich doch hinweisen. Meiner Meinung nach solltest du wirklich nichts gegen sie haben. Du hast ihr nichts vorzuwerfen, als daß sie am Leben ist. Willentlich hat sie dir nichts angetan. Eher umgekehrt. Ja, natürlich« – sie ließ das Kinn auf die Brust sinken –, »ihr habt im guten Glauben geheiratet, völlig legal, könnte man sagen. Jedenfalls habt ihr geheiratet, das steht fest. Wie würdest du empfinden, wenn du nun an ihrer Stelle wärst?« Charlotte setzte sich langsam wieder hin, neigte den langen Oberkörper weit nach vorn und umklammerte mit beiden Händen ihre Knie. Es dauerte lange, gute fünf Minuten, ehe sie flüsterte: »Bring sie herauf. Aber … aber ich will sie nicht sehen. Ich … ich werde eine halbe Stunde hier herunten bleiben. Das heißt, wenn … wenn er mich nicht braucht.« Sie war irgendwie überrascht, als sie keine Antwort erhielt. Sie legte den Kopf schräg und sah, wie Lizzie langsam den Salon durchschritt. Sie war eine merkwürdige Frau: geradeheraus, herrisch, ohne jeglichen Respekt vor Gesellschaftsklassen, um welche es sich auch handeln mochte. Dennoch war etwas an ihr, was einen … tröstete. Charlotte ließ sich auf die Couch zurücksinken und spitzte ganz unbewußt die Ohren. Einige Minuten war es völlig still. Dann hörte sie die Haustür gehen, tappende Schritte die Halle durchqueren, schließlich auf die Treppe zukommen. Langsam richtete sich Charlotte wie292
der auf. Da ging sie also nach oben, Stufe um Stufe, diese Frau. Seine Frau. Zu ihrem Schlafzimmer, zu ihrem gemeinsamen Schlafzimmer. Mit der Vorstellung, ihren Mann besuchen zu gehen. Nein, nein, nicht ihren Mann, niemals mehr. Hatte Rory nicht gesagt, sie könne tun, was sie wolle – er würde nie mehr zu ihr zurückkehren? Nun mußte sie bereits an seinem Bett stehen, auf ihn niedersehen, sich an ihre Liebe erinnern, an jene ersten Tage im Bootshaus. »Meine Frau wird zwar nicht daheim sein, Miß, aber mir sind Sie natürlich willkommen.« Wieder saß sie hinter ihrem Schreibtisch und sah ihn vor sich, hörte ihn sagen, daß er verheiratet sei. Sie sprang auf. Sie konnte es nicht ertragen – sie konnte nicht ertragen, daß diese Frau allein da oben bei ihm war. Sie mußte auch nach oben gehen, sich zeigen, sehen lassen, daß sie diejenige war, die er erwählt hatte, um für immer bei ihr zu bleiben – sie, nicht eine, die sieben Jahre jünger war als er und schön und was weiß ich – nein, sie! Schon hatte sie den Salon verlassen, war nach oben gestürmt, hatte die Tür zum Schlafzimmer aufgerissen … Und dann, dann blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte die drei Frauen an, die rings um Rorys Bett standen; seine Mutter, seine Tante und die Person in der schwarzen Pelerine, die alles andere als jung und schön war. Merkwürdig sah sie aus mit ihrer dunklen Haut und dem schlohweißen Kraushaar. Zugegeben: sie war jung. Aber von Schönheit war bei Gott nichts an ihr zu entdecken, nicht einmal von Anziehungskraft. Charlotte ging langsam auf jene Seite des Bettes zu, an der Ruth stand, und blickte in die Augen der Frau, die sich Janie nannte und die sie zwar müde, jedoch gleichzeitig herausfordernd ansah. Eine leichte Kopfbewegung Rorys nahm Charlottes Aufmerksamkeit im Handumdrehen in Anspruch. Er war aufgewacht und sah sie an. Wenn Rory bisher auch nur im mindesten daran gezweifelt hatte, daß sein Ende nah bevorstand, dann war dieser Zweifel nun zerstreut. Janie und Charlotte standen gemeinsam an seinem Bett. Das qualvolle Feuer in seinem Körper wurde von einem Gefühl der Trauer verdrängt. Am liebsten hätte er darüber geweint, daß hier ein Spiel 293
im Gange war, das er verlieren würde. Die Karten, die offen auf dem Tisch lagen, waren durch die Bank schwarz … tiefschwarz. Und dennoch hatte er sein Spiel ordentlich gespielt, oder? Das Spiel war kurz gewesen, aber nicht ohne erregende Momente. Nein, nein, gewiß nicht. Nun war es also vorbei … beinahe. Er wünschte, das Ende würde rasch kommen, weil er die Schmerzen nicht mehr viel länger ertragen konnte, ohne seine Qualen laut herauszuschreien. Weshalb gaben sie ihm nicht eine anständige Dosis dieses Lau … Laud … Laudanums … Er blickte nun in Janies Augen. Sie waren wieder wie in jenen weit zurückliegenden Tagen, ehe sie geheiratet hatten – als sie noch glücklich war. Denn danach war sie nie mehr glücklich gewesen … Es war merkwürdig, aber Janie war nicht für die Ehe geschaffen. Sie sah zwar so aus, sie hatte den hierfür notwendigen Körperbau, aber sie war nicht für die Ehe geschaffen. Während Charlotte … Ach, Charlotte. Charlottes Gesicht befand sich dicht über dem seinen. Er blickte zu ihr auf. Charlotte. Charlotte war bemerkenswert. Charlotte konnte Sünden vergeben. Sie war wie alle Priester zusammengenommen. Es war ein Priester dagewesen vergangenen Abend, nicht wahr? Er konnte sich nicht mehr genau erinnern. Nun, falls einer dagewesen war, dann wußte er schon, wer ihn hergeschickt hatte … Eine Dosis … Warum gaben sie ihm nicht irgend etwas?? »Liebling …« Es war schön, mit Liebling angesprochen zu werden … O Gott, die Schmerzen! Warum, zum Teufel, gaben sie ihm nichts? … Janie hatte ihn niemals ›Liebling‹ genannt. Sie hatte gesagt, daß sie ihn liebe, das war alles. Aber es gehörte mehr zur Liebe, als das allein. Es gab Worte dafür. Charlotte kannte die Worte. Charlotte … Sollte er versuchen, gegen die Schmerzen anzukämpfen, versuchen, zu überleben? Er konnte kaum atmen … Wenn sie ihm nur etwas geben würden. Er schloß sekundenlang die Augen; als er sie wieder öffnete, blickte er in Lizzies Augen. Es lag etwas in ihrem Gesichtsausdruck, was nirgendwo anders zu finden war. Was war es? Weshalb hatte er sie so gehaßt? Jetzt kam es ihm dumm vor, albern. Weshalb hatte er immer ihr die Schuld in die Schuhe geschoben? Wenn jemand schuldig war, dann 294
war es sein Vater. Wo war sein Vater? Er war von Frauen umgeben – und sein Vater? Und Jimmy? Sie hatten behauptet, daß Jimmy in der Nähe und gerettet sei. Und sein Vater? Er hatte ein schlimmes Bein; er hatte Brandwunden davongetragen beim Hochofen … Brandwunden. Brandwunden. Wieder war er im Bootshaus, keuchte, kämpfte, robbte sich vor. Der Fußboden gab nach. Er ließ Jimmy von seinen Schultern gleiten. Er kam durch. Er kam heraus … »Er ist wieder eingeschlafen. Lassen wir ihn in Ruhe.« Lizzie trat vom Bett zurück, und Ruth folgte ihr, so daß Janie und Charlotte allein miteinander blieben. Janie blickte auf den Mann hinunter, dessen Gesicht vor Schmerzen verzerrt war. Sie sah weder den kräftigen, jungen Mann vor sich, den sie geheiratet hatte, noch den Jungen, mit dem sie aufgewachsen war, sondern den Fremden, der ihr wie ein feiner Herr gekleidet im Bootshaus gegenübergetreten war. Nicht einmal, als er ihr vorhin in die Augen gesehen und sie einen Moment lang erkannt hatte, erblickte sie wieder den alten Rory. Sie sah ihn wie jemanden, der eine andere Welt betreten und sich ihr voll und ganz angepaßt hatte, der sich diese Welt sozusagen erobert hatte und der fest entschlossen schien, diese Eroberung festzuhalten. Sie war die erste, die sich vom Bett abwandte. Sie wußte, daß sie dieses Gesicht zum letztenmal gesehen hatte, und sie hätte um nichts in der Welt beschreiben können, wie ihr zumute war. Als Charlotte sah, wie Janie auf die Tür zuging, war sie erstaunt darüber, daß der Aufruhr in ihrem Innern sich gelegt hatte. Sie empfand keinerlei Eifersucht, keinerlei Haß mehr, sondern überraschenderweise nur mehr Mitleid mit dieser Frau. Es war, wie Lizzie gesagt hatte: Versetz dich in ihre Lage … Sie war schließlich diejenige, die zurückgewiesen worden war. Sie beugte sich nun tränenblind über Rory, wischte ihm behutsam den Schweiß von der Stirn und murmelte dabei ununterbrochen: »O mein Liebling, mein Liebster.« Als die Tür aufging und Jessie eintrat, erhob sich Charlotte und sagt mit gebrochener Stimme: »Ich … ich geh' nur auf eine Minute nach unten. Wenn der gnädige Herr erwa295
chen sollte, rufen Sie mich sofort«, und Jessie flüsterte: »Ja, Ma'am«, während sie erneut ihren Platz neben dem Bett einnahm. Am Treppenabsatz blieb Charlotte einen Moment stehen, trocknete sich die Tränen und bemühte sich, das würgende Gefühl, das sie zum Losschreien zwingen wollte, zu unterdrücken. Und so flehte sie nur lautlos: Ach, Rory, verlaß mich nicht. Was soll ich nur ohne dich anfangen? O mein Liebling, wie soll ich ohne dich weiterleben? Verlaß mich nicht, bitte, bitte, verlaß mich nicht … Aber mit jeder Stufe wußte sie, daß dies ein hoffnungsloses Flehen war. In der Halle angelangt, sah sie Ruth, die sich eben die Haube zuband, überrascht an, ging auf sie zu und murmelte: »Du – du gehst doch nicht? Du, du kannst doch …« Ruth schluckte heftig, ehe sie antwortete: »Bloß … bloß auf eine kurze Weile. Ich bringe Janie zu uns heim. Und dann muß ich mich schließlich auch um meinen Mann kümmern. Er kann nichts tun mit seinem Bein, so wie es jetzt ist. Ich komme später wieder.« »Dann werde ich den Wagen für dich kommen lassen«, sagte Charlotte förmlich. »Das wäre sehr lieb von dir.« »Wenn ich auch nicht verstehen kann, wie du …« Charlotte sah Ruth mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ich … ich hätte gedacht, daß du Lizzie heimgehen und für alles sorgen lassen würdest. Als seine Mutter solltest du …« Sie hielt inne, als Ruth ihr zunickte und ruhig erwiderte: »Aber ja, ich weiß, was du denkst. Zu einem solchen Zeitpunkt ist der Platz der Mutter an der Seite ihres Sohnes. Nun, er wird seine Mutter bei sich haben, bis zuletzt. Denn siehst du, Kind, ich bin gar nicht seine Mutter – Lizzie ist es.« »Was!« Der Ausruf war trotz allem gedämpft. »Ja, Lizzie ist seine Mutter.« »Aber … aber ich verstehe nicht. Er hat niemals, ich meine: Er hatte so eine enge Beziehung zu dir, daß ich …« »Tja, es ist ein bißchen verwirrend. Und eine lange Geschichte dazu. Um es kurz zu machen: Mein Mann hat Lizzie ein Kind angehängt, als sie keine siebzehn war. Rory hat mich jahrelang als seine Mutter be296
trachtet, und als er es herausbekam, daß nicht ich, sondern Lizzie ihn zur Welt gebracht hatte, hat er sich gegen sie gewandt. Ich bin keineswegs überrascht, daß du es nicht weißt. Das Merkwürdige an der Sache ist nämlich, daß er sich ihrer schämt. Dabei ist sie eine so gute Frau und hat seinetwegen viel durchgemacht. Ich sollte es in dieser Minute vielleicht nicht sagen, aber um fair zu sein, muß ich es einfach: Viele andere Frauen hätten sich von ihren Söhnen längst abgewandt, wenn sie so behandelt worden wären, wie Rory Lizzie behandelt hat. Aber ihre einzige Reaktion hat darin bestanden, ihm hier und da die Leviten zu lesen. Geliebt hat sie ihn jedoch immer, nach wie vor. So, Kind, das ist die ganze Wahrheit.«
Als die Haustür hinter ihr ins Schloß fiel, blieb Charlotte reglos stehen. Dann sah sie sich um und ging langsam auf ihr Büro zu, wo sie sich hinter dem Schreibtisch niederließ, die Unterarme darauf legte und mit den Fingern leicht auf den Lederbelag klopfte. Er hatte ihr den Diebstahl eingestanden; er hatte ihr alles über sich gesagt, all seine Schwächen hatte er ihr bekannt und mit seiner Stärke geprahlt. Und dennoch hatte er die Umstände seiner Geburt für sich behalten, als handle es sich dabei um ein Geheimnis, dessen man sich schämen müsse. Warum? Weshalb hatte er ihr ausgerechnet das nicht sagen können? Sie fühlte sich verletzt, daß er es vor ihr geheimgehalten hatte. Sie hatte sich schon immer gewundert, daß er seine Mutter mit ›Ruth‹ ansprach. Er hatte immer den Anschein erweckt, als mache er sich aus dieser ruhigen kleinen Frau mit der sanften Stimme besonders viel, ja, als wäre er richtig stolz auf sie. Und dennoch war von beiden Frauen sie in jeder Hinsicht die geringere: Ob es sich nun um den Körper, den Hausverstand oder die menschliche Ausstrahlung handelte. Sie erinnerte sich daran, daß Rory Lizzie einmal ›ungebildet‹ genannt hatte, worauf sie ihm erwidert hatte, daß ihrer Meinung nach diese Unbildung ein reiner Mangel an Gelegenheit wäre, weil ihr Verstand sehr lebendig zu sein schien. 297
Es war merkwürdig, dachte sie, daß er offensichtlich nie erkannt hatte, daß das Beste in ihm von Lizzie stammte. Denn nun sah sie erst, daß er ihr hundertprozentiges Ebenbild war, was Größe, Stärke, Charakter, Eigensinn, Anmaßung und – Liebe anging. Doch in der Liebe hatte sie ihn noch um einiges überrundet, weil sie, obwohl von ihm zurückgestoßen, weitergeliebt hatte. Es klopfte, und als Charlotte »Herein!« rief, öffnete sich die Tür, und Lizzie stand auf der Schwelle. »Ich hab' mich schon gewundert, wo du bist, Kind. Du solltest lieber nicht allein herumsitzen und vor dich hinbrüten, das hat keinen Sinn. Komm schon.« Wie ein Kind, das seiner Mutter gehorcht, erhob sich Charlotte und ging auf Lizzie zu. Dann blieb sie vor ihr stehen, sah ihr in die Augen und sagte ruhig: »Oh, Lizzie, Lizzie …« »Tja.« Lizzie ließ den Kopf sinken. »Ich bin seine Mutter, und er hat diese Vorstellung immer gehaßt – nur ist das eine Tatsache gegen die er einmal nichts unternehmen konnte. Ich bin, die ich bin, und er ist mein Fleisch und Blut, und ich hänge an ihm; selbst als er mich von sich zu stoßen begann, hab' ich nicht aufgehört, an ihm zu hängen.« »O Lizzie, meine Liebe.« Sie schlang die Arme um Lizzie, und diese drückte sie fest an die Brust. Keine von ihnen brachte ein weiteres Wort heraus, sondern sie weinten bloß gemeinsam.
Drei Tage darauf starb Rory. Die letzten zwölf Stunden war er nicht mehr bei Bewußtsein gewesen, und seine letzten Worte galten Charlotte. »Wenn es ein Junge ist, nenn ihn nach mir«, murmelte er schwach. Sie wußte nicht, wie sie es überhaupt zustande brachte, ihm zuzuflüstern: »Und wenn es ein Mädchen ist?« Er hatte sie einige Zeit nur angesehen und dann aufgeseufzt: »Das … das überlasse ich dir.« Es war merkwürdig, aber irgendwie hatte sie gehofft, daß er sagen würde: »Dann nenn sie Lizzie.« Das hätte dann wenigstens verraten, daß er endlich Frieden mit ihr gemacht hatte. Aber er sagte nur: »Das 298
überlasse ich dir.« Seine allerletzten Worte waren: »Danke, meine Liebe … für alles.« Durch einen dichten Tränenschleier blickte Charlotte auf das Gesicht des Mannes nieder, der sie zum Leben erweckt hatte, der ihren Körper zum Leben erweckt und ihn mit neuem Leben erfüllt hatte – seinem Leben. Sie trug ihn in sich; er war nicht tot; Rory würde nie sterben. Als sie über seinem leblosen Körper zusammenbrach, dachten die anderen einen Augenblick lang, daß sie mit ihm dahingegangen sei.
7
R
orys Begräbnis verlief genauso wie das eines jeden prominenten Einwohners der Stadt. Nach den Zeitungsnachrichten über seine tödlichen Verletzungen, die er sich dadurch zugezogen hatte, daß er seinen Bruder aus dem lichterloh brennenden Bootshaus gerettet hatte, war ihm das ehrliche Mitgefühl aller sicher. Vor allem, als die Nachricht durchsickerte, daß es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Brandstiftung gehandelt habe und der Fall zur Anzeige kommen werde. Es gab nicht die Spur eines Skandals. Das Wiederauftauchen seiner ehemaligen Frau wurde gar nicht erwähnt. Andere Berichte führten die Namen jener Persönlichkeiten an, die dem Begräbnis beigewohnt hatten. Mr. Nickles Name befand sich nicht darunter. Mr. Nickle war geschäftlich ins Ausland abberufen worden. Zwei der Pittie-Brüder befanden sich bereits in Schutzhaft, auf den dritten machte die Polizei noch Jagd. Es gab auch Gerüchte, daß einer der Brüder in enger Verbindung mit einer namhaften Persönlichkeit stünde, die vorläufig noch geheimgehalten würde. Nicht nur die Lokalzeitungen, sondern auch jene von Newcastle brachten die Story über die Versuche, die unternommen worden waren, um die gesamte Schiffahrt zu monopoli299
sieren. Und daß Mr. Connors Boote nicht nur losgemacht und abgetrieben, sondern sogar versenkt worden waren. Die Berichte machten aus Jimmys bescheidenen kleinen Booten großmächtige Segler, ja sogar richtige Dampfer und stempelten ihn selbst damit zum erfolgträchtigsten Geschäftsmann weit und breit. Die Privatkutschen anläßlich des Begräbnisses hatten weit über die Grenzen der Stadt hinaus eine ansehnliche Kolonne gebildet; ihre Insassen waren durch die Bank Männer. Mit einer einzigen Ausnahme: Mrs. Connor war beim Begräbnis ihres Mannes anwesend und – was die männlichen Trauergäste in Verlegenheit setzte –, sie befand sich sogar in anderen Umständen. Sie trug einen schwarzen Seidenmantel und einen hochmodernen Hut mit einem wallenden Witwenschleier, der ihr jedoch nicht einmal bis zur Brust reichte. Sie war tatsächlich eine bemerkenswerte Frau, eine Persönlichkeit, die sozusagen ihr eigenes Gesetz an sich verkörperte. Noch etwas Bemerkenswertes ereignete sich bei diesem Begräbnis, nämlich daß John George anwesend war. Er hielt sich zwar völlig im Hintergrund, reihte sich nicht unter die Beileidsagenden ein, ja sprach nicht einmal ein Wort mit Paddy, der sich auf Stöcken den Weg zum Grab seines Sohnes durchgekämpft hatte. Alle, mit Ausnahme Jimmys, behaupteten, daß sie John George um ein Haar nicht wiedererkannt hätten. Aber schließlich verändert das Gefängnis einen Menschen. Auch war er wohl aus mehr als aus einem Grund ihrer Meinung nach zutiefst beschämt. Denn lebte er nicht mit der Frau eines andern? Armer John George, hieß es. Jedoch beschäftigte sie allesamt insgeheim die Frage, wer wohl der Ärmere war: John George, der am Leben war, oder der tote Rory Connor … Und genau dieser Gedanke war es auch, der Jimmy durch den Sinn ging, als er John George an der Friedhofsmauer lehnen sah. Er entdeckte ihn rein zufällig, als er nach den Beileidsbekundungen von den anderen getrennt und tiefbedrückt und trostlos in Gedanken an all die ihm bevorstehenden, ohne Rory so leeren Tage in eine der Seitenalleen eingebogen war. Plötzlich sah er auf der anderen Seite die hochaufgeschossene Gestalt John Georges. Er stand mutterseelen300
allein, mit gesenktem Haupt da, und seine ganze Haltung spiegelte seine Gefühle deutlich wider. Ohne zu zögern, ging Jimmy auf ihn zu. Aber erst, als er beinahe vor ihm stand, hob John George den Kopf. Beinahe eine volle Minute lang sahen sie einander an, ohne ein Wort zu sagen. Dann räusperte sich Jimmy und meinte: »Bin froh, daß du gekommen bist, John George.« John George schluckte heftig, befeuchtete sich die Lippen, schnupfte auf, zog ein Taschentuch hervor, rieb sich damit fest das Gesicht ab und murmelte schließlich: »Es tut mir leid, Jimmy, von Herzen leid.« »Tja, ich wußte, daß dir so zumute sein würde, John George. Trotz allem war ich sicher, daß du ihm in deinem Herzen vergeben würdest.« »Ach, das …« John George schüttelte heftig den Kopf, dann senkte er ihn abermals und schloß: »Das ist vergeben und vergessen, seit langem.« »Das paßt wieder mal zu dir, John George. Du warst immer ein guter Mensch.« »Nein, nicht gut, nur schwach, Jimmy. Und weißt du, auf gewisse Weise fühle ich mich dafür verantwortlich, denn …« »Nein! Sei nicht albern, John George!« fiel ihm Jimmy ins Wort. »Rede dir ja so was nicht ein. Wenn überhaupt jemand die Schuld auf sich zu nehmen hat, dann bin ich es. Hätte ich mir nicht um jeden Preis diese verdammte Werft gewünscht, dann wäre er heute noch am Leben.« »Nein, nein, das darfst du nicht sagen, Jimmy. Solche Dinge passieren nun mal. Das Leben besteht aus derlei, wenn man sich's recht überlegt, nicht?« Er machte eine Pause, dann fragte er leise: »Und wie geht es Miß … ich meine, seiner Frau? Wie trägt sie es?« »Schwer. Wenn sie auch nach außen hin das Gesicht wahrt. Sie hat ihn mehr als bloß gern gehabt, weißt du.« »Ja, ja, das hab' ich mir gedacht. Dennoch war es eine Überraschung, als ich hörte, daß sie geheiratet haben. Aber noch mehr hat mich überrascht, daß und wie sie mich ausgeforscht hat. Ich konnte es erst gar nicht glauben. Schließlich … nun, du weißt ja, nach allem, was ich ge301
tan habe. Ich habe geglaubt, daß sie genauso wäre wie ihr Vater … Du weißt doch, was sie für mich getan hat, nicht wahr? Sie hat mir zu einem richtigen Geschäft verholfen.« »Ja, ich weiß, John George.« »Und hast du es mir nicht angekreidet, daß ich es angenommen habe?« »Aber nein, John George, natürlich nicht! Ich war froh darüber. Es ist nur die Bestätigung dafür, daß du nicht nachtragend bist.« »Manche Leute würden es nicht so ansehen. Was haben denn die bei dir daheim darüber gesagt?« »Oh, sie dachten einfach, daß es nett von ihr war. Sie wissen nicht die ganze Wahrheit, John George.« Abermals sahen sie einander wortlos an. Dann sagte John George: »Nun, von mir werden sie diese auch nie zu hören bekommen, Jimmy. Ich habe es keiner Menschenseele erzählt, nicht einmal Maggie.« »Danke, John George. Du bist wirklich eine einmalige Seele.« »Nein, nur schwach, nehme ich an. Er pflegte das jedenfalls zu sagen: schwach.« John George drehte sich um und blickte über die Grabsteine zu dem frischen Hügel hinüber, aber es lag keinerlei Bitterkeit in seinen Worten. Dann sah er wiederum Jimmy an und sagte: »Es hat mich sehr erleichtert, daß ich mit dir sprechen konnte, Jimmy. Ich hoffe, daß ich dich wieder mal zu sehen kriege.« »Mich und uns alle, John George. Ich werde dich einmal besuchen kommen, wenn du nichts dagegen hast.« »Du wirst mir immer mehr als willkommen sein, Jimmy, mehr als willkommen.« »Nun, ich muß jetzt gehen, sonst halte ich noch die ganze Gesellschaft auf. Sicher warten sie auf mich. Auf bald, John George.« Jimmy streckte dem hochaufgeschossenen Mann die Hand hin. John George ergriff sie. »Auf Wiedersehen. Auf bald, Jimmy.« Sie nickten einander zu, dann drehten sie sich gleichzeitig um, und John George ging zu Rorys Grab, während Jimmy sich dem Tor, der Kutsche, Charlotte und der bevorstehenden Nacht zuwandte, die die 302
erste sein würde, die er ohne Rory zubringen mußte; bisher war wenigstens sein Leichnam im Haus aufgebahrt gewesen. »Oh, da sind Sie ja«, sagte Stoddard, der Jimmy schon entgegengeeilt kam. »Die gnädige Frau hat schon nach Ihnen gefragt, Sir.« »Tut mir leid. Ich habe einen alten Freund meines … meines Bruders entdeckt und mußte mich kurz mit ihm unterhalten.« »Natürlich, Sir.« Es war komisch, mit ›Sir‹ angesprochen zu werden. Er würde sich niemals daran gewöhnen, wie Rory es getan hatte. Sie durchquerten mehrere Menschengruppen, um zum Tor zu gelangen, und der Kutscher eilte voraus, als Jimmy sie erblickte. Vielleicht war es wegen des starken Kontrasts in der Kleidung, daß die geisterhaft gewandete Gestalt, die im Schatten des Zypressenbaums stand, auf den ersten Blick hervorstach. Sowohl Jimmy als auch Stoddard sahen zu ihr hinüber, und als Jimmy abermals stehenbleiben wollte, mahnte der Kutscher eindringlich: »Die gnädige Frau wartet, Sir.« »O ja, natürlich.« Arme Janie. Was mußte sie in diesem Augenblick empfinden? Sie als Rorys Frau, als Rorys rechtmäßige Frau schließlich, mußte sich wie eine Verbrecherin verstecken. Aber sie war gekommen. Trotz aller Proteste war sie gekommen. Ihre Anwesenheit würde sicherlich für Gesprächsstoff sorgen. So dachte Stoddard. Aber schließlich wiederholte er in Gedanken, was er bereits am vorangegangenen Abend zum übrigen Personal gesagt hatte, handelte es sich in diesem Haus um eine ausgesprochen glückliche Familie, die niemanden vorzuweisen hatte, dessen sie sich bei aller Wunderlichkeit hätte schämen müssen. Es kam nicht nur in den allerersten Kreisen, sondern auch unter bedeutend einfacheren Menschen immer wieder vor, daß es Außenseiter gab. Dafür konnte man doch wirklich weder den gnädigen Herrn noch seine Angehörigen verantwortlich machen.
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ie waren allesamt in der Küche. Paddy saß vor dem Kamin, die Beine auf den Stuhl gestützt; Ruth ihm gegenüber, ein halbfertiges Hemd über dem Schoß liegend, auf dem ihre Hände ruhten; Jimmy hatte am einen Ende des Tisches Platz genommen, während Janie am anderen stand und sie alle ansah. Sie war genauso gekleidet, wie sie es seit ihrer Rückkehr gewesen war; selbst im Hausinneren trug sie diese sonderbare Kopfbedeckung. Sie sah sie der Reihe nach an und sagte: »Ihr nehmt es mir übel, daß ich es angenommen habe, nicht wahr? So wie ich mich verhalten habe, hätte ich ihr das Geld wohl vor die Füße werfen müssen, wie?« »Nein, nein«, sagten sie, jeder von ihnen auf seine Weise: kopfschüttelnd, mit einer abwehrenden Handbewegung oder bloß vor sich hinmurmelnd. Aber ihre Proteste klangen für Janie nicht überzeugend genug, denn sie fuhr mit erhobener Stimme fort: »Ihr habt von ihr genommen, wie? Für euch war das in Ordnung, etwas von ihr anzunehmen, alle miteinander. Aber hat sie euch etwa was getan? Nein – nichts.« »Kein Mensch hat behauptet, daß du es nicht annehmen hättest sollen, Janie. Wir sind bloß traurig darüber, daß du noch immer so empfindest, wie du es tust.« Sie drehte sich um und sah Jimmy an, und ihr Körper schien in der schwarzen Pelerine zu verschwinden, als sie mit monotoner Stimme erwiderte: »Wie hättet ihr empfunden, frag' ich euch? Seht es einmal so. Hättet ihr denn anders gehandelt? Und vergeßt nicht: Ich hätte zur Polizei gehen und sagen können, wer ich bin. Ich hätte alles in die Öffentlichkeit zerren können. Aber ich habe es nicht getan. Ich habe geschwiegen. Ich bin nicht einmal hergekommen, um meinen Vater zu 304
besuchen. Ich bin ihm aus dem Weg gegangen, sogar als ich ihn beim Begräbnis gesehen habe. Und ich werde ihn auch jetzt nicht aufsuchen, denn er würde reden. Das würde er natürlich tun. Aber … aber als sie nach mir geschickt hat, weil sie wußte, daß ich wieder zurückgehe, und mich gefragt hat, ob sie irgend etwas für mich tun könne, da habe ich gesagt: Ja, das könne sie. Ich hab' es ihr gesagt, wie es da drüben aussieht. Wie arm die Menschen sind und wie sie sich plagen müssen und wie wenige Hilfsmittel sie haben und daß sie so gut wie nichts besitzen. Und dann war sie es – sie – die die Summe genannt hat. Fünfhundert, hat sie gesagt, und ich habe nichts darauf erwidert, weder ja noch nein.« »Soll das heißen, daß sie dir tatsächlich fünfhundert Pfund gegeben hat?« Paddy sah Janie aus zusammengekniffenen Augen an. »Nein, sie hat mir einen Scheck gegeben. Mit dem mußte ich auf eine französische Bank gehen. Über vierhundertfünfzig Pfund. Und den Rest hat sie mir in Sovereigns ausgehändigt.« »Und nach alledem hast du noch immer kein einziges gutes Wort für sie, Kind?« Sie senkte den Blick vor Lizzies eindringlichem Blick. Dann antwortete sie: »Ich kann nicht so sein wie ihr alle und ihr um den Hals fallen.« »Keiner ist ihr um den Hals gefallen.« Sie wandte sich um und sah Jimmy an. »Nein, du bist ihr nicht um den Hals gefallen, Jimmy, bloß in die Arme. Du warst genauso schlimm wie Rory. Ich muß es einmal sagen: Es ist schon reichlich sonderbar, wozu Geld imstande ist, o ja. Ich hätte es nie im Leben geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.« »Nun, du bist dir schließlich auch nicht zu gut gewesen, etwas von ihr anzunehmen, oder?« »Nein, bin ich nicht, Jimmy. Aber wie ich die Sache betrachte, nehme ich nur, was mir zusteht, denn so wie die Dinge lagen, hätte Rory mich erhalten müssen. Und das hätte ihn mehr gekostet als fünfhundert Pfund, denn ich werde aller Voraussicht nach lange leben.« Sie starrten sie allesamt an: Ruth, Lizzie, Paddy und Jimmy. War das 305
tatsächlich das kleine Ding, das nebenan aufgewachsen war, das lustige, freundliche Kind, das sich um seine Oma gekümmert hatte und mit jedermann gut ausgekommen war. Und es erkannte jeder auf seine Weise, was das Leben aus einem Menschen zu machen vermochte. Jeder von ihnen erlebte einen blitzartigen Moment des Verständnisses. Und dann war es Ruth, die als erste das Wort ergriff und sagte: »Nun, wohin immer du gehst, was immer du tust, Kind – unsere besten Wünsche werden dich begleiten. Wir vergessen dich nicht, wir werden uns immer an dich erinnern.« Sie fügte nicht hinzu: So, wie du einst gewesen bist. »Tja, das gilt genauso für mich und alle, wie wir hier sind.« Paddy nickte Janie zu. »Wir haben eine schöne Zeit miteinander erlebt, in dieser Küche. Ich werde immer daran zurückdenken, Janie.« Lizzies Gesichtsausdruck war sanft und ihre Stimme weich, als sie sagte: »Es ist so, wie du gesagt hast, Kind: Du wirst lange leben und wieder heiraten und Kinder haben. Und wenn dies der Fall ist, dann nenne eines von ihnen nach uns, ja?« Janie stand hochaufgerichtet da, ihre Lippen waren fest zusammengepreßt, ihre Augen groß und glänzend wie einst, als Tränen aus ihnen hervorquollen. Und alle umringten sie und tätschelten sie und sprachen auf sie ein. Selbst Paddy hatte sich mühsam von seinem Stuhl erhoben und kam auf sie zugehumpelt und beschwichtigte: »Aber Kind, Kind, nicht doch, nicht weinen.« »Ich … ich muß jetzt gehen.« »Ja, ja, du mußt gehen.« Ruth trocknete sich die Augen und lächelte. »Und wir wünschen dir eine gute Reise, Kind. Es ist weit bis dorthin, über das Meer in ein anderes Land. Fürchtest du dich nicht?« »Nein«, schluckte Janie, schüttelte den Kopf und putzte sich die Nase. »Ich kenne meinen Weg und werde jetzt nicht mehr mit dem Viehwagen reisen müssen.« Sie lächelte schwach, und Lizzie meinte zögernd: »Weshalb hast du dich nicht ein bißchen herausstaffiert, ehe du zurückfährst, Kind?« »Nein, Lizzie, das wäre nicht richtig gewesen«, erwiderte Janie, abermals den Kopf schüttelnd. »So bin ich hergekommen, und so fahre ich 306
auch zurück. Wißt ihr, die da drüben würden es nicht verstehen, wenn ich aufgeputzt zurückkäme. So werde ich … werde ich wieder eine der Ihren sein. Dennoch habe ich eine Menge gesehen und Dinge gelernt, von denen sie keine Ahnung haben, und so werde ich imstande sein, ihnen zu helfen … Es ist schon merkwürdig, wie das Leben so spielt.« Als sie von einem zum anderen blickte, sahen sie endlich wieder ein schwaches Abbild ihrer alten Janie vor sich und lächelten ihr liebevoll zu. »Ach, du meine Güte, jetzt ist es aber höchste Zeit. Sonst verpasse ich noch meinen Zug.« Sie machte einen Schritt zurück, und außer Jimmy folgte ihr keiner nach, um sie an die Tür zu begleiten. Jimmy öffnete sie ihr, und nach einem letzten Blick eilte sie, von Jimmy gefolgt, aus dem Haus. Am Gartentor sagte er: »Wart einen Moment, Janie, ich hol' mir nur meinen Mantel, dann bringe ich dich zur Bahn.« »Nein, nein, Jimmy, vielen Dank. Dazu bist du noch nicht genug beisammen. Und das mit dem Bahnhof ist doch gar nicht so wichtig.« Er ergriff ihre Hand, und sie sahen einander an. »Werde glücklich, Janie. Versuche alles, was geschehen ist, zu vergessen. Und … und noch etwas möchte ich dir sagen: Danke, daß du es ihnen nicht verraten hast« – er deutete mit einer Kopfbewegung zum Haus hinüber –, »ich meine, die Sache mit John George, du weißt schon.« Sie sah ihn bloß an. Zum zweitenmal innerhalb eines kurzen Zeitraums wurden die gleichen Worte an sie gerichtet. Gestern noch, als sie in jenem wunderschönen Raum gestanden war und sich mit einem Rest von Bitterkeit umgeblickt und gedacht hatte: Ich verstehe, weshalb er nicht zurückwollte. Wer würde dies hier alles für ein schäbiges, kleines Bootshaus aufgeben. – Ohne sich den Umstand eingestehen zu wollen, daß ja die große, schwarzgekleidete, traurig blickende Frau ihr gegenüber der Magnet gewesen war, der ihn hier zurückgehalten hatte. Sie hatte sich nicht von ihr beeinflussen lassen, als Charlotte mit offenkundiger Großmütigkeit gesagt hatte: »Ich verstehe, wie Ihnen zumute ist, denn er war ein wunderbarer Mann.« Da war sie, ohne zu überlegen, mit der Bemerkung herausge307
platzt: »Sie haben ihn nicht lange genug gekannt, um zu wissen, wie er war … wirklich war.« »Ich wußte, wie er wirklich war«, hatte Charlotte da plötzlich in schroffem Ton gesagt. Janie hatte sie fest angesehen und darauf erwidert: »Ich sollte es in diesem Augenblick vielleicht nicht sagen, aber ich bezweifle es.« Und die Antwort, die sie erhielt, lautete: »Das ist nicht nötig, denn ich kannte meinen Mann« – die letzten Worte wurden mit Betonung ausgesprochen – »besser als die meisten Menschen. Ich war mir all seiner Schwächen bewußt und wußte alles über ihn, ehe ich ihn geheiratet habe – mit einer einzigen Ausnahme.« »Ja, ich weiß, was das war«, hatte sie gesagt. »Darüber hätte er nie gesprochen, das ist mir klar.« Einen Moment lang war der Eindruck entstanden, als würden sie gleich aufeinander losstürzen. »Tatsächlich?« »Tja.« »Nun, dann sagen Sie mir, was es Ihrer Meinung nach gewesen ist.« Das hatte sie verwirrt. »Das war seine Angelegenheit«, hatte sie gesagt. »Es ist vorbei. Am besten, man spricht nicht mehr davon.« Und dann war sie fassungslos, als sie die Frau sagen hörte: »Sie wollen damit die Geschichte mit John George Armstrong andeuten und daß Rory die fünfeinhalb Pfund genommen und seinen Freund für diesen Betrag ins Gefängnis gehen ließ, nicht wahr?« Sie hatte den Mund sperrangelweit aufgerissen und endlich gestammelt: »Das … hat er ihnen gesagt?« »Ja, das hat er. Aber ich wußte es bereits. Ich habe mir die Geschichte nach den Ereignissen, die im Gerichtssaal zutage traten, zusammengereimt.« »Und Sie haben nichts unternommen, um … ich meine, um John George freizubekommen?« »Er hatte bereits mehrmals gestohlen. Seine Strafe wäre dieselbe gewesen …« Immer noch mit offenem Mund hatte sie die Frau angestarrt. Das 308
ging über ihr Begriffsvermögen. Sie war eine Dame, sie gehörte der ersten Gesellschaft an, und dennoch waren ihre Gefühle für Rory solcherart gewesen, daß sie sein Vergehen nicht als Vergehen betrachtet und ihn nicht in Bausch und Bogen verurteilt hatte. Dabei war es im Grunde genommen genau diese seine Handlungsweise gewesen, die die Ursache für alles abgegeben hatte, was ihr zugestoßen war – für all ihren Kummer und all ihre Not. Sie war in diesem Moment nicht imstande gewesen, ihre eigenen Gefühle zu verstehen, denn die sonderbarsten Gedanken waren ihr durch den Kopf gewirbelt. Irgendwo hatte sie einen Fehler begangen. Hatte sie Rory etwa niemals geliebt? Unsinn. Natürlich hatte sie ihn geliebt. Aber nicht so, wie diese Frau ihn geliebt hatte. Vielleicht lag ihr Fehler darin, daß sie zu viele Menschen gern gehabt hatte und daß das die einzige Liebe, auf die es angekommen war, irgendwie verwässert hatte. Wohingegen diese Frau all ihre Gefühle auf eine einzige Sache konzentriert und dafür Rorys Liebe errungen hatte … Sie hatte ihn nicht gekauft, das erkannte Janie. Und das war die letzte bittere Pille, die sie zu schlucken hatte. »… das einzige, was er vor mir geheimhielt, war der Umstand, daß Lizzie seine Mutter ist.« »Das?« »Ja.« »Weil er sich ihrer immer geschämt hat. Ich konnte es nie verstehen, denn Lizzie ist in Ordnung.« »Ja, Lizzie ist in Ordnung.« Danach hatte Charlotte sie zum Sitzen aufgefordert und dann hatte sie ihr das Geld angeboten. Aber selbst als sie es angenommen hatte, hatte sie sie immer noch nicht leiden oder gar für sie Sympathie empfinden können … »Ist alles in Ordnung, Janie?« »Aber ja, Jimmy, es ist alles in Ordnung.« »Versuch zu vergessen und zu vergeben.« »Ja, das will ich. Es wird Zeit brauchen, aber ich werde es, Jimmy. Ich werde heiraten. Ich werde Henri heiraten. Ich mochte ihn von Anfang 309
an gern, aber es ist nicht Liebe. Nun, wir müssen eben nehmen, was wir kriegen, nicht?« »Du wirst bestimmt glücklich werden, Janie.« »Nun ja, möglich … Denk manchmal an mich, Jimmy.« »Das werde ich immer tun, Janie, immer.« Er beugte sich zu ihr und küßte sie sanft, dann wandte sie sich mit gesenktem Kopf rasch von ihm ab und durchquerte das Gartentor und lief den schmalen Weg zum Fluß hinunter, bis sie zwischen den Baumhecken Jimmys Blicken entschwand. Ziemlich lange stand er da und sah ihr nach. Er hatte sie geliebt, seit er ein kleiner Junge gewesen war. Während jener Zeit, in der Rory ihr den Hof gemacht hatte, hatte er sie mit einer besonderen Art von Schmerz geliebt, und als er im Dachgeschoß über ihnen gelegen war, hatte er eine Zeitlang richtige Todesqualen ausgestanden, weil er sie alle beide geliebt hatte. Nun waren sie – in gewisser Hinsicht – beide tot. Denn jene Janie, die er geliebt hatte, existierte nicht mehr. Sie war nicht erst in diesem Moment zwischen dem Buschwerk unten verschwunden; paradoxerweise war sie gestorben, als sie von den Toten auferstanden und als fremdes Geschöpf in jener Nacht im Bootshaus aufgetaucht war. Ihre Auferstehung hatte ihn befreit. Das Leben war merkwürdig, wirklich. Es war so, wie sie gesagt hatte: Wie das Leben so spielt … Er wußte, daß das Leben, das nun vor ihm lag, anders, ganz anders sein würde, als sein bisheriges Leben gewesen war. Charlotte wollte nicht nur dafür sorgen, daß er eine richtige Werft bekam, sondern auch, daß er sich nach und nach ihre Geschäftskenntnisse aneignete und bei ihr mitmachte. Ja, eine neue Art Leben eröffnete sich ihm, aber was es auch bieten mochte, es würde leer sein, weil Rory nicht mehr da war. Er sehnte sich schmerzlich nach ihm, Nacht um Nacht weinte er still vor sich hin und wünschte, daß Gott ihn zu sich berufen hätte statt Rory. Ja, an Rorys Stelle. Weshalb war er nicht gestorben, wo er doch von keinem Menschen auch nur im entferntesten so vermißt worden wäre, wie es bei Rory der Fall war? Durch sein Hinscheiden waren so viele Leben in310
haltlos geworden. Charlottes, Janies, Lizzies, das seiner Mutter, selbst das seines Vaters – ihrer aller Leben war nun leer … Zum Glück hatte es nicht die Spur eines Skandals gegeben. Das war das einzige ›Gute‹ – wenn man es so ausdrücken wollte – an seinem Tod. Es war sonderbar, ja sogar ein bißchen unheimlich. Auf gewisse Weise schien es die logische Folge von Lizzies ewigem Gerede zu sein: »Überlaß nur alles Gott, Er wird es schon recht machen.« Jimmy ging langsam wieder zum Haus zurück und betrat die Küche, in der sich das altgewohnte Leben abspielte.
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bermals waren sie in der Küche versammelt, aber nun warteten sie auf die Kutsche, die sie zu ihrem alle zwei Wochen erfolgenden Besuch nach Birchingham House bringen sollte, wie es ihnen mittlerweile zur Gewohnheit geworden war. Ruth hatte sich vor Lizzie und Jimmy aufgepflanzt. Sie breitete die Arme aus und sagte: »Macht euch meinetwegen bloß keine Sorgen. Wenigstens werde ich mein Haus einmal für mich allein haben.« Dann nickte sie in Paddys Richtung und fuhr fort: »Außerdem bleibt mir genug zu tun, wenn ich mich um Dad kümmere.« »Aber sollen wir denn wirklich alle beide gehen, Ma?« Jimmy schnitt ein Gesicht. »Nun ja, du mußt es von dieser Warte aus betrachten, mein Junge.« Ruths Ton war ungewöhnlich munter. »Du steigst dort drüben ganz groß ins Geschäft ein, und das liegt am Fluß, praktisch am anderen Ende der Stadt. Wenn du also nicht gerade eine Kutsche hast, kannst du diese Strecke unmöglich zweimal täglich bewältigen. Westoe liegt hingegen sozusagen direkt vor deiner Haustür. Es gibt ja immer noch Wochenenden, da kannst du heimkommen. Und was dich angeht, Lizzie«, dabei blinzelte sie Lizzie freundlich an, »wir wissen doch alle ganz 311
genau, daß du dir tagtäglich den Hals verrenkst, um nur ja in Erfahrung zu bringen, wie es unten weitergeht. Du kannst die Geburt des Kindes schon nicht mehr erwarten.« »Also hör mal! Ich und mir den Hals ausrenken!« Lizzie stieß das Kinn angriffslustig in die Luft. »Ich weiß genau, wovon ich rede, und du auch. Auch bist du in letzter Zeit abgemagert. Das Fleisch hängt ja schon in Falten von dir herunter.« »Hach!« Lizzie kreuzte die Arme über die Brust. »Was mir das schon ausmacht. Seit Jahren sagtest du, daß ich zu dick bin, und jetzt auf einmal … Außerdem: Was meinst du, was Charlotte dazu sagen wird?« »Charlotte wird dich mit offenen Armen empfangen. Euch beide. Sie braucht euch. Erinnert euch nur, wie sie dreingesehen hat, als wir uns das letztemal von ihr verabschiedet haben. Ganz verloren hat sie ausgesehen. Sie hat keine Familie, braucht aber eine.« »So wen wie mich?« Lizzie deutete mit dem Daumen auf ihre Brust. »Ja, so jemanden wie dich. Wer würde besser zu ihr passen? Hör endlich auf, was anderes vorzuspiegeln, als du denkst. Geh und pack deine Siebensachen. Und du auch, Jimmy, alle beide. Und mich laßt gefälligst einmal im Leben in meinem Haus machen, was ich will. Ich hab' bisher in meinen eigenen vier Wänden wahrlich nicht viel zu sagen gehabt, oder?« Sie drehte sich um und sah ihren Mann an, der sie ganz verblüfft anstarrte und ihr schließlich zulächelte. Dann nickte er Lizzie und Jimmy zu und sagte: »Sie hat recht, vollkommen recht. Sie hat bisher immer den kürzeren gezogen. Tut, was sie sagt, und gebt Frieden.«
Stoddard war ein wenig überrascht, als ihm die beiden mit Ledergurten versehenen Bastkörbe ausgehändigt wurden, damit er sie neben sich auf den Sitz stelle. Aber schließlich waren in letzter Zeit so viele überraschende Dinge passiert, daß er die Sachen ohne Aufhebens entgegennahm. 312
Dreiviertel Stunden darauf half er Mrs. O'Dowd – als die Lizzie dem Personal nun bekannt war – aus dem Wagen, nahm die beiden Körbe zur Hand und folgte ihr und dem jungen Herrn die paar Stufen zur Haustür hinauf, an der seine Herrin bereits wartete. Nachdem die Begrüßungsworte gewechselt waren, trug Stoddard die Bastkörbe in die Halle und stellte sie dort nieder. Als Charlotte einen flüchtigen Blick darauf warf, sagte Lizzie, während sie den Mantel auszog: »Das glaub' ich, daß du dir das ansiehst, Charlotte. Du wirst noch dein blaues Wunder erleben, kann ich dir verraten.« Als sie ein paar Minuten später im Salon saßen, fragte Lizzie in sanftem Ton: »Nun, wie fühlst du dich jetzt, Kind?« Die Antwort ließ etwas auf sich warten, da Charlotte unruhig die Hände faltete und wieder öffnete, ehe sie erwiderte: »Mir ist, um die Wahrheit zu sagen, trostlos zumute, Lizzie – einfach trostlos.« Ihre Stimme brach, sie schluckte heftig und schloß dann: »Es wird immer schlimmer, ich – ich vermisse ihn mit jedem Tag mehr. Ich war auch vorher einsam, aber nie auf diese Weise, nie so sehr.« Lizzie mühte sich damit ab, aus dem tiefen Sessel hochzukommen, setzte sich neben Charlotte auf die Couch, ergriff ihre Hand, tätschelte sie und sagte: »Tja, und … und so wird es wahrscheinlich auch einige Zeit bleiben. Das weiß ich. O ja, denn ich hab' eine ganze Welt von Einsamkeit da drinnen.« Sie legte die Hand auf ihre Rippen. »Aber es wird leichter werden; es wird bestimmt leichter werden, Kind. Es wird nicht ganz und gar verschwinden, aber es wird sich in etwas anderes verwandeln, und dann wird es leichter sein. Wir könnten nicht weiterleben, wenn es nicht so wäre. Also haben Jimmy und ich uns in der Zwischenzeit die Köpfe zerbrochen, nicht wahr?« Sie sah Jimmy an, der dasaß und sich auf die Lippen biß und ihr zunickte. »Und wir haben uns folgendes ausgedacht. Es hängt jedoch wohlgemerkt von dir ab – einzig und allein von dir, ob du damit einverstanden bist oder nicht. Aber da Jimmy binnen kurzem am Fluß unten arbeiten wird, ist es wirklich, wie Ruth gesagt hat, schon eine ganz schöne Reise, wenn man zweimal täglich von dort bis zu unserem Haus da droben unterwegs sein muß. Und das bei jedem Wetter. Noch dazu auf Schusters Rappen, da er sich 313
garantiert nicht so bald eine eigene Kutsche leisten können wird, wie Ruth ganz richtig bemerkt hatte. Also hat sie sich gefragt, ob du was dagegen hättest, ihn auf einige Zeit hierzubehalten, denn …« »Aber ja, ja, Jimmy, bitte tu das – bleib bei mir.« Charlotte beugte sich eifrig zu ihm hinüber und streckte ihm begierig die Hand entgegen, die Jimmy auch sogleich ergriff. Und dann sagte Charlotte mit Tränen in den Augen: »Oh, ich bin sehr dankbar dafür, wirklich. Aber … aber deine Mutter, was ist mit der?« »Oh, da gibts keine Probleme«, antwortete Jimmy mit leicht schwankender Stimme. »Sie hat Vater zu versorgen, und das ist bei ihr immer die Hauptsache: daß sie sich um jemanden kümmern kann, weißt du? Und ich werde sie ja oft besuchen. Das geht schon klar, mach dir keine Gedanken.« »O danke, danke.« Nun sah Charlotte Lizzie an, die mit einer Handbewegung auf sich aufmerksam gemacht hatte und sagte: »Und das ist noch nicht alles. Ich bin ja schließlich auch noch da.« Sie deutete mit dem Daumen auf ihre Brüste. »Ich weiß absolut nichts mehr mit mir anzufangen da droben, weißt du. Ich sitz den lieben langen Tag da und putz mir die Nägel und so. Und da hab' ich mir gedacht: Also, wenn sie's mit mir aushält, dann bleib' ich, bis das Kleine da ist, denn ich bild' mir nun einmal ein, daß ich ein Recht darauf habe, meinen Enkel oder meine Enkelin oder die Zwillinge oder Drillinge – was auch immer herauskommen mag –, als erste zu sehen.« »O Lizzie, liebe Lizzie!« Charlotte drehte sich zu ihr um und barg das Gesicht in Lizzies festem, tröstlich warmem Fleisch. Und Lizzie strich ihr über die Haare und murmelte: »Na, na. Ist ja schon gut. Hör auf zu weinen – das ist das Schlimmste, was du im Moment tun kannst: dir die Augen ausweinen. Oma Waggett sagte immer, daß man niemals weinen sollte, wenn man schwanger ist, weil man dem Kindchen das Wasser wegnimmt, in dem es da drinnen schwimmt.« Sie lachte leise auf, dann beschwichtigte sie abermals: »Ist ja gut. Komm schon, trockne dir die Tränen. Was du brauchst, ist eine anständige Tasse Tee.« Sie wandte sich an Jimmy und sagte: »Klingle mal, Jimmy, damit wir Tee kriegen.« Dann, immer noch mit Tränen in den Augen, lachte 314
sie plötzlich auf und erklärte, als Charlotte den Kopf hob und sie verständnislos ansah: »Habt ihr schon je so was im Leben gehört? Ich, Lizzie O'Dowd, sage ganz einfach: ›Klingle mal, damit wir Tee kriegen.‹ Wohin soll das noch führen, frag ich dich?« Charlotte blickte in das Gesicht der Mutter des Menschen, den sie am meisten geliebt hatte. Vor zwei Jahren war sie allein gewesen. Dann hatte sie erfahren, was Liebe ist, und zwar eine derartige Liebe, wie sie sie – das wußte sie genau – nie mehr erleben würde. Aber an dem Tag, an dem sie mit Rory jene Abmachung getroffen hatte, hatte sie zu ihm gesagt, daß es mehrere Arten von Liebe gebe. Und genau diese Worte bewahrheiteten sich nun. Als Lizzie zu ihr sagte: »Wenn du nicht auf der Hut bist, übernehm' ich im Handumdrehen das Regiment in deinem Haus. So bin ich nun mal beschaffen, weißt du? ›Klingle mal‹, sag ich großartig, als hätt' ich mein Lebtag nichts anderes gekannt. Du wirst es nicht leicht mit mir haben – ich warne dich!« Charlotte umfaßte mit beiden Händen die runden Wangen ihres Gegenübers und sagte genau das, was sie in vielen vor ihr liegenden Jahren noch häufig wiederholen sollte, nämlich: »Ach, Lizzie – meine liebe, liebe Lizzie.«
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