John Grey
Der Spion aus Mexico Ronco Band Nr. 105/02
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 196...
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John Grey
Der Spion aus Mexico Ronco Band Nr. 105/02
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – acht Jahre alt, Waisenjunge, der bei den Padres in der Mission am Pease River aufwächst und einem Verbrechen auf die Spur kommt. Clay Wilkins – neun Jahre alt und Freund Roncos. Will gern tapfer sein, weil er älter als Ronco ist, aber … Drago Santoya – schießt zwei Sternträger über den Haufen und geht einer zwielichtigen Tätigkeit nach. Jefferson W. Stephans – pensionierter Offizier und hochgeachtete Persönlichkeit. Reitet einen Apfelschimmel, der für Ronco und Clay der Schlüssel zu einem Geheimnis wird. Padre Ambrosius – hat Ronco in sein Herz geschlossen und allerlei Sorgen wegen des Jungen.
Der Spion aus Mexico 28. August 1878 Es ist viel geschehen, seit ich gezwungen war, meine Aufzeichnungen zu unterbrechen. Ich bin angeschossen worden. Eine böse Sache. Es hat auf des Messers Schneide gestanden. Aber ich glaube, daß ich es noch einmal geschafft habe. Gerade bin ich aufgewacht. Draußen ist es hell. Die Sonne ist soeben aufgegangen. Mein Bett steht direkt neben dem Fenster des kleinen Wohnwagens, in dem ich mich verstecken muß. Ich kann aus dem Fenster schauen und das ganze Zigeunerlager überblicken. Die Zigeuner versteckten mich. Es sind mexikanische Zigeuner. Ausgestoßen und verfemt wie ich. Ich bin Ihnen dankbar. Sie haben mich versorgt und meine Verletzung behandelt. Ohne sie wäre ich vielleicht schon tot. Es geht mir noch immer miserabel. Aber langsam kehren die Kräfte zurück, und das ist gut so. Denn ich weiß nicht, wie lange es noch dauern wird, bis jene, die mich jagen, mich wieder aufgespürt haben und ich wieder fliehen muß. Heute ist der erste Tag, an dem ich mich besser fühle. Deshalb habe ich mir vorgenommen, mein Tagebuch da fortzusetzen, wo ich zuletzt aufhören mußte. Ich versuche mich zu konzentrieren. Es ist gar nicht so einfach. Die Dinge liegen sehr lange zurück. Nach und nach nur fallen mir wieder Einzelheiten ein. Ich muß mir immer wieder einreden, daß ich im Augenblick in Sicherheit bin, sonst klappt es nicht, sonst schweifen meine Gedanken ständig ab. Ich bin froh, daß ich mich dazu durchgerungen habe, mein Leben aufzuschreiben. Nach allem, was mir in den letzten Tagen passiert ist, sehe ich, daß es notwendiger denn je ist. Die erzwungene Ruhe ist eine gute Gelegenheit dazu. Papier habe ich noch, auch einen Bleistift. Das Zigeunermädchen, das mich wie eine Mutter pflegt, hat mir viele Kissen gegeben, so daß ich im Bett sitzen kann und das Schreiben nicht so schwerfällt. Morgen oder übermorgen, so hoffe
ich, werde ich schon wieder soweit sein, daß ich mich allein waschen und rasieren kann. Ich bin froh, daß es keinen Spiegel im Wohnwagen gibt. Ich bin sicher, daß ich wie ein Gespenst aussehe. Draußen höre ich den Rio Grande an die Ufer spülen. Ich freue mich auf den Tag, an dem ich ins Wasser steigen und im Fluß schwimmen kann. Aber nun genug davon. Ich verliere sonst zuviel Zeit. Und Zeit habe ich heute nicht mehr viel, befürchte ich. Damals war das anders, damals hatten alle Zeit, viel Zeit. Sogar ich. Damals, das war 1853…
1. Der Winter kam früh in diesem Jahr. Eines Morgens wachten wir auf, und überall lag Schnee. Die Häuser hatten weiße Pelzkappen aufgesetzt, die Bäume und Sträucher auch. Das Land hatte sich unter einer dichten Flockendecke verkrochen. Ein milchigfarbener, verwaschen wirkender Himmel hing tief wie der Baldachin eines alten Bettes über der Erde. Der Fluß hinter der Mission war etwas angestiegen. Das Wasser hatte eine eisgraue Tönung und spülte bereits die Schneekrusten vom Ufer fort. Ich mochte den ersten Schnee. Er hatte etwas Verheißendes, etwas Geheimnisvolles, genauso wie die ersten Blütenknospen im Frühling. Der Winter war eine anheimelnde, gemütliche Jahreszeit. Überall bullerten die Öfen, die mit Tannenholz gefüttert werden mußten und die harzigen Holzkloben, deren Rauch die Zimmer mit einem würzigen Duft füllte, unersättlich in sich hineinschlangen. Auf den rußigen, heißen Platten kochte Glühwein in verbeulten Kesseln, in den Backröhren lagen Äpfel und Kastanien. Wenn Schneestürme um die Häuser tobten, saß man drinnen am Kamin zusammen, lauschte auf das Heulen und Toben des Wetters draußen, auf das Knistern und Knacken in der Glut der Feuerstelle, und die Männer erzählten alte Geschichten. Um diese Zeit war die Missionsküche von den herrlichsten Gerüchen erfüllt. Es ging auf Weihnachten zu, und Padre Elfego begann zu backen. Seine Weihnachtstorten, seine Bisquits und seine
Pfefferkuchen waren berühmt im ganzen Land. Ich erinnere mich gerade an diesen Winter so gut, weil ich im Dezember 1853 zum erstenmal eine Stadt sah. Einmal im Jahr, meist kurz vor Weihnachten, fuhren zwei Padres in den nächsten Ort, um die Dinge einzukaufen, die in der Mission nicht hergestellt werden konnten. Das hört sich leichter an, als es war. Die nächste Ortschaft war Mulberry und lag sieben Tagesreisen von der Mission entfernt. Das war eine kleine Ewigkeit. Es gab nur wenige unter uns Jungen vom Fluß, die schon einmal in der Stadt gewesen waren. Nach ihrer Rückkehr wurden sie umlagert und gaben mit weltmännischer Gelassenheit ihre Erfahrungen zum Besten. Von da an genossen sie einen gewissen Ruhm. Als in diesem Winter Padre Frastus und Padre Ambrosius nach Mulberry fuhren, saß ich neben ihnen auf dem Wagenbock. Der Schnee lag noch nicht hoch, so daß wir gut vorankamen. Wir rasteten unterwegs auf Farmen oder schliefen auf der Ladefläche des Wagens, eingepackt in feste Decken. Am Morgen des achten Reisetags erreichten wir Mulberry. Es war vermutlich das schäbigste Nest unter der Sonne. Doch das wußte ich damals noch nicht. Ich hielt es für den Inbegriff der menschlichen Zivilisation und war tief beeindruckt. Die Häuser bestanden aus Holz und Lehmziegeln und hatten flache Dächer. Gehsteige gab es nicht. Das Verkehrsnetz von Mulberry beschränkte sich auf eine einzige Straße. Diese war nichts weiter als die Verlängerung des Überlandweges, auf dem die Farmwagen in die Stadt rollten, wurde aber stolz »Hauptstraße« genannt. Seit kurzem war der Ort an die Postkutschenlinie der Butterfield Company angeschlossen. Einmal im Monat traf eine Kutsche ein, hielt kurz, wechselte das Gespann, nahm Post auf, brachte Brief- und Paketsendungen, ab und zu mal eine Zeitung und fuhr weiter. Fahrgäste stiegen nie hier aus. Keiner schien bisher Lust verspürt zu haben, sich länger als ein paar Stunden in Mulberry aufzuhalten. Denn es gab kein Hotel, nur einen verräucherten Saloon, in dem Selbstgebrannter Schnaps ausgeschenkt wurde. Vermutlich trug dieser Fusel zur raschen Vergrößerung des stadteigenen Friedhofs
bei. Jedenfalls meinte das Padre Ambrosius. Das größte Gebäude in der Stadt war der Store. Bestimmt war er auch das erste Haus, das hier entstanden war. Es war auch bei weitem das stabilste. Es war aus ungeschälten Baumstämmen zusammengefügt worden und wurde von zahllosen Geschoßeinschlägen verziert. Neben der Tür steckten die abgebrochenen Schäfte von Comanchenpfeilen in der Wand. Padre Frastus erklärte mir alles, und bald begann es in meinem Kopf zu schwirren. Am Nordende des Ortes hielten wir neben einem schmalen, länglichen Schuppen an. Hätte Padre Ambrosius mir nicht gesagt, daß dies die Kirche von Mulberry sei, von allein wäre ich nicht darauf gekommen. Daneben stand eine kleine Hütte, in der der Prediger wohnte. Er empfing uns an der Tür. Er war ein großer, knorriger Mann in abgetragener, schwarzer Kleidung. Dunkles Haar hing ihm strähnig bis auf die Schultern, der Bart reichte ihm bis auf die Brust. »Gott zum Gruße!« rief er. »Ich habe schon gedacht, ihr würdet in diesem Jahr nicht mehr kommen.« Er lachte wie eine Kreissäge, und als er mich anschaute, lief es mir kalt den Rücken herunter. »Wen haben wir denn da?« fragte er. »Das ist Ronco«, sagte Padre Ambrosius, während er dem wilden Prediger die Hand schüttelte. »Guten Morgen«, sagte ich, und ich war überzeugt, daß dieser Mann kleine Kinder fraß. »Von dir habe ich schon gehört, mein Sohn«, sagte der Prediger. Er grinste und bleckte dabei seine Zähne, die einen Vergleich mit dem Gebiß eines kräftigen Hengstes nicht zu scheuen brauchten. »Ich bin Padre Amerigo.« Er bemühte sich, freundlich zu sein. Aber er sah aus, als sei er aus einem Gefängnis ausgebrochen, darum war er mir nicht geheuer. Er führte uns ins Haus und zeigte uns das Zimmer, in dem wir die nächste Nacht verbringen würden. Es war ein einfach eingerichtetes, aber sauberes Zimmer. Ich hörte, wie sich Padre Frastus für die Gastfreundschaft bedankte. Eine Viertelstunde später saßen wir in der Küche des Hauses am
Tisch und aßen. Padre Amerigo zermalmte gewaltige Fleischbrocken in seinem Mund. Zwischendurch erzählte er, was in den vergangenen Monaten in Mulberry geschehen war. »Wie lange bleibt ihr diesmal?« fragte er dann. »Morgen früh fahren wir wieder«, sagte Padre Ambrosius zu meiner Erleichterung. »So rasch?« »Es sieht nach viel Schnee aus«, sagte Padre Ambrosius. »Wir wollen auf dem Rückweg nicht steckenbleiben.« Amerigo nickte. »Es wird ein harter Winter.« Es begann zu schneien, als wir aus dem Haus traten. Leise und sacht schwebten die Flocken wie kleine Wattekugeln zur Erde nieder. Hinter einigen Fenstern sah ich Kerzen brennen. Von Westen ritt ein Mann in die Stadt, der einen Tannenbaum hinter sich im Sattel liegen hatte. Ein Pferd stand vor dem Store, die Zügel waren locker um den Querholm geschlungen. Wir gingen am Schaufenster vorbei und traten ein. Knisternde Wärme umfing uns. Der Schnee auf unserer Kleidung schmolz sofort. Es roch nach Kaffee, Tabak und Lederfett. Ein riesiger Adventskranz hing von einem schenkelstarken Deckenbalken. Ich war überwältigt von all der Herrlichkeit. Auf der Theke standen hohe Gläser, die mit bunten Zuckerstangen und Kandis gefüllt waren. In den Regalen stapelten sich Konserven, daneben standen Mehl-, Zucker- und Kaffeesäcke. Ein schmaler, junger Bursche mit abstehenden Ohren und Sommersprossen stand hinter der Ladentheke und bediente einen großen, hageren Mann, dessen strähniges Haar bis über den Kragen einer dickgefütterten Mackinawjacke fiel. Als wir den Laden betraten, kam aus dem hinteren Raum ein kleiner Mann mit schweißglänzender Glatze und einem dichten Schnurrbart auf uns zu. Er schien die Padres zu kennen und nickte freundlich. Ich wurde ihm vorgestellt. Er hieß Faulkner und war der Besitzer des Stores. Er strich mir über den Kopf und drückte mir eine Zuckerstange in die Hand.
Ich lutschte an der Zuckerstange und schaute mich im Laden um. Der andere Kunde nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Er sah aus, als sei er in der Hölle zu Hause. Der Storegehilfe hatte einen Berg von Konserven und anderen Lebensmitteln vor ihm aufgetürmt und schrieb nun alles auf einen Zettel, während der Mexikaner die Waren in einen Ledersack stopfte. Er war gerade damit fertig, als die Tür aufsprang. Ich drehte mich um. Draußen war Wind gekommen. Ein Schwall Schneeflocken wirbelte herein. Von einem Hauch eisiger Kälte umgeben stampfte ein großer, bulliger Mann mit mächtigem, sichelförmigen Schnauzbart, einem energischen Kinn und wasserhellen Augen in den Store. Er trug einen gefütterten, langen Fellmantel, der ihm das Aussehen eines Bären verlieh, und hohe Schaftstiefel. Die Kälte hatte sein großporiges Gesicht gerötet. Schneeflocken schmolzen auf der Krempe seines Hutes. Er trug einen feucht schimmernden Blechstern auf der Mantelbrust. Ihm folgte ein zweiter Mann, etwa zehn Jahre jünger, ebenfalls mit einem Stern an der festen Jacke. Er schloß die Tür. Die Beamten zogen ihre Handschuhe aus, schauten sich kurz im Laden um, nickten dem Besitzer zu, der überrascht aufschaute, und gingen dann zu dem Mexikaner hinüber, der gerade den Ledersack mit dem Proviant verschnürte. Sie blieben hinter ihm stehen. Ich spürte auf einmal, daß etwas nicht in Ordnung war. Es war seltsam still geworden im Verkaufsraum. Der sommersprossige Storegehilfe hatte die Augen aufgerissen, und die Padres sprachen nicht mehr. Ich biß die Spitze meiner Zuckerstange ab und kaute darauf, ohne es zu merken. Ich fühlte, wie sich die Hand von Padre Ambrosius auf meine Schulter legte, und starrte gespannt auf den Mann an der Theke, der von alledem nichts zu bemerken schien und seinen Ledersack wieder abstellte, um die Rechnung zu bezahlen. »Was ist nun?« sagte er zu dem Storegehilfen, der nervös schluckte. »Wie viel kostet das? Ich hab's eilig.« »Hallo, Santoya«, sagte der schnauzbärtige Marshal jetzt. »Du hast viel Zeit.« Er hatte einen breiten Ledergürtel über den Fellmantel geschnallt. Rechts hing eine Halfter, in der ein
großkalibriger Colt-Revolver steckte. Die Faust des Beamten senkte sich auf den Griff der Waffe. »Stell keinen Unsinn an. Dreh dich um und komm mit. Du bist verhaftet.« Ich bemerkte gar nicht, daß Padre Ambrosius seinen Griff auf meiner Schulter verstärkte und mich an sich zog. Ich kaute noch immer auf meiner Zuckerstange. In diesem Augenblick drehte sich der hagere Mexikaner um. Er bewegte sich sehr schnell. Seine linke Hand wirbelte den gefüllten Proviantsack hoch und schlug ihn dem Marshal mit aller Kraft an die Brust. Der Beamte taumelte zurück und stieß gegen seinen Deputy, der ebenfalls das Gleichgewicht verlor. Und schon hielt der Hagere einen Revolver in der rechten Faust. Das Gesicht des schnauzbärtigen Marshals verzerrte sich auf einmal zu einer häßlichen Fratze der Angst. Seine Augen weiteten sich. Zwei Schüsse krachten. Der Marshal schrie, taumelte und brach zusammen. Er fiel direkt vor meine Füße. Aus seinem Mund, seiner Nase und zwei häßlichen Wunden in Brust und Hals schoß Blut. Ein dritter Schuß schleuderte den Deputy von den Beinen. Der junge Beamte hatte seine Waffe aus der Halfter ziehen können. Der Lauf zeigte zu Boden. Ein grellroter Blitz zuckte aus der Mündung. Das Geschoß fetzte einen langen Span aus dem Fußboden. Die Schußdetonationen dröhnten in dem Raum. Der Deputy prallte mit dem Rücken an den Türrahmen und sackte daran hinunter. Sein Revolver polterte zu Boden. Blut rann aus seinem rechten Ärmel über seine Hand und tropfte auf die Dielen. Schwerfällig versuchte er, sich wieder aufzurichten. Da schoß der hagere Mexikaner ihm eine Kugel durch den Kopf. Es war ein völlig sinnloser Mord. Ich hatte auf einmal Tränen in den Augen und sah nur noch verschwommen, daß der Mann sich nach seinem Proviantsack bückte, die Tür aufriß und hinaussprang. Das Pferd am Querholm gehörte ihm. Er schwang sich in den Sattel und jagte im stärker werdenden Schneefall nach Süden aus der Stadt.
Ich vernahm Stimmen auf der Straße und hörte den Storegehilfen schreien. Mir wurde gar nicht bewußt, daß mir die Zuckerstange aus der Hand fiel. Stinkender Pulverdampf breitete sich im Raum aus und legte sich beißend auf meine Schleimhäute. Ich hustete und lehnte mich gegen Padre Ambrosius, der mir immer wieder über den Kopf strich und kreidebleich war. »Schon vorbei«, hörte ich ihn immer wieder sagen. »Keine Angst, Söhnchen. Es ist schon vorbei.« Ich wußte nicht, ob er mich oder sich selbst beruhigen wollte. * Es verging nicht einmal eine Minute, dann wimmelte es vor dem Store von Menschen. Sie drängten sich vor der offenen Tür, starrten entsetzt herein und redeten und schrien durcheinander. Niemand traute sich über die Schwelle in den Laden, wo die Toten lagen. Padre Ambrosius zog mich von dem toten Marshal weg in eine Ecke des Verkaufsraumes, wo mehrere Sättel auf Holzstützen aufgebockt waren. Ich konnte meinen Blick nicht von dem Beamten nehmen. Neben seinem Kopf hatte sich eine dunkelrote Pfütze auf den ausgetretenen Dielen gebildet. Unweit davon lag meine angeknabberte Zuckerstange. Ich weiß nicht, wie lange wir so dastanden, gar nichts sagten und versuchten, mit dem soeben Erlebten fertigzuwerden. Ich weiß nur, daß der junge Storegehilfe ganz grün im Gesicht wurde, würgte, und sich schließlich umdrehte und nach hinten hinausstürzte. Wahrscheinlich mußte er sich übergeben. Denn eine Minute später kehrte er zurück und sah richtig krank aus, Dann endlich bahnte sich ein junger Mann einen Weg durch die Neugierigen vor der Tür. Er trug ebenfalls einen fünfzackigen Blechstern, aber er sah keineswegs danach aus, als sei er froh darüber. Dennoch tat er das einzig richtige. Er schloß kurzerhand die Ladentür vor den hereingaffenden Bürgern. Er murmelte einen Gruß und beugte sich über die beiden Toten. Ihnen konnte niemand mehr helfen. Der junge Deputy sah erst aus, als müsse auch er sich übergeben. Dann aber riß er sich zusammen und trat zur Theke.
»Was ist passiert, Mr. Faulkner?« fragte er. Seine Stimme klang unnatürlich rauh. Er wirkte unsicher. »Bill kam herein und wollte einen Mann verhaften«, sagte Fred Faulkner. »Es war ein Mexikaner. Bill nannte ihn Santoya. Der Kerl hat sich umgedreht und sofort geschossen. Dann ist er auch schon 'raus und auf seinen Gaul. Das war alles.« Der junge Deputy schluckte und drehte sich zu uns um. »Und Sie, Padre?« fragte er erst Padre Ambrosius und dann Padre Frastus. »Was haben Sie gesehen?« »Das gleiche«, sagte Padre Ambrosius. »Was war das für ein Mann, Val?« fragte der Ladenbesitzer den jungen Marshal. »Drago Santoya«, sagte der. »Ein mexikanischer Spion. Er wird seit ein paar Monaten steckbrieflich gesucht. Er soll vor einem halben Jahr einen Anschlag auf einen Truppentransport verübt haben, bei dem zwanzig Soldaten draufgingen. Er hat noch ein paar andere Sachen auf dem Kerbholz. Wir hatten ihn vor einer Stunde in die Stadt reiten sehen und waren nicht ganz sicher, sonst hätten wir ihn sofort verhaftet. Der Marshal hat erst den Steckbrief herausgesucht. Als wir keinen Zweifel mehr hatten, daß es Santoya war, wollten wir ihn festnageln.« Der Händler nickte. Sein rundes, zufriedenes Gesicht hatte jetzt einige tiefe Kummerfalten. »Bill war ein guter Marshal«, sagte er. »Ich werde den Tischler schicken, damit er die Leichen abholt«, sagte der Deputy. »Können wir jetzt gehen?« fragte Padre Frastus. Er trat auf den Deputy zu und zeigte auf mich. »Sie sehen doch, daß wir ein Kind bei uns haben.« »Gehen Sie nur.« Der Beamte nickte. »Die Sache ist ja klar …« Seine Unterlippe zitterte. Er schaute wieder auf die Toten. Padre Ambrosius schob mich zur Tür. Padre Frastus öffnete und rief über die Schulter zurück, daß er am Nachmittag mit dem Wagen die Waren abholen werde. Dann standen wir wieder draußen auf der Straße. Es schneite immer noch. Die Menschenmenge hatte sich aufgelöst. Die Neugierigen standen jetzt in kleinen Gruppen herum und starrten uns an, als wir die Straße hinunter zum Haus des Padre
Amerigo gingen. Ich hob den Kopf, als wir die Hütte fast erreicht hatten, und fragte: »Was ist ein Spion?« Die Padres antworteten nicht. Sie strichen mir nur über den Kopf, und ich fragte nicht weiter. Ich hatte auch so verstanden, daß die Padres nicht mit mir darüber reden wollten. Ich war vor ein paar Monaten sieben Jahre alt geworden, fühlte mich wie acht und wußte bereits, daß Erwachsene manchmal die merkwürdige Angewohnheit hatten, Kinder in meinem Alter wie Säuglinge zu behandeln. Padre Amerigo, der nach der Ursache der Schüsse fragte, erhielt nur eine kurze Antwort, und später wurde, solange ich dabei war, kein Wort mehr über den Vorfall verloren. Ich mußte aber immer wieder daran denken, wie der große, hagere Mexikaner sich umdrehte, seinen Revolver zog und den Marshal und seinen Deputy niederknallte. Ich war sicher, das Gesicht dieses Mannes nie vergessen zu können. Als ich abends im Bett lag, es dunkel im Zimmer war und ich die schweren Atemzüge der schlafenden Padres hörte, fielen mir die Ereignisse vom Sommer wieder ein, als ich von Comancheros verschleppt worden war. Ich hatte einen Mann getötet, einen Banditen. Ich, ein Kind von sieben Jahren. In den ersten Wochen hatte ich Nacht für Nacht davon geträumt. Dann hatte es nachgelassen, und ich hatte geglaubt, darüber hinweg zu sein. Jetzt tauchten die Bilder von damals wieder vor meinen Augen auf. Ich zitterte plötzlich unter meiner Decke, obwohl es gar nicht kalt war. Ein unheimliches Gefühl kroch durch meinen Körper. Ich wälzte mich hin und her. Als ich schließlich einschlief, träumte ich von den Comancheros, die im vergangenen Sommer sengend und raubend durch das Pease-River-Land gezogen waren, und von dem Mexikaner, der zwei Marshals einfach niedergeschossen hatte. Es waren keine schönen Träume. Schweißgebadet wachte ich am nächsten Morgen auf. * Es schneite immer noch, als wir aufbrachen. Der Himmel war von
einem tristen, verwaschenen Grau. Es wurde nicht richtig hell. Wir stiegen auf den Wagenbock, verpackt in dicke Fellmäntel. Als wir die Stadt verließen, winkte Padre Amerigo uns lange nach, bis die Schneeschleier Mulberry hinter uns verschluckten. Nirgends hatte ein Licht gebrannt, als wir durch die Mainstreet gefahren waren. Mulberry schien in seinen Winterschlaf versunken zu sein. Nachdem wir eine Stunde unterwegs waren und die Schneeschleier sich etwas lichteten, sahen wir plötzlich Reiter vor uns. Sie kamen uns entgegen und ritten vorbei, ohne anzuhalten. Es war das Aufgebot aus Mulberry unter Führung des jungen DeputyMarshals, das am Vortage versucht hatte, den Mörder des Marshals und seines Stellvertreters einzuholen. Die Männer hatten keinen Erfolg gehabt. Sie glitten vorbei wie unwirtliche Erscheinungen aus dem Schattenreich. Bald waren wir wieder allein. Gegen Mittag kam Wind auf, der die Schneeflocken von vorn gegen uns trieb. Padre Ambrosius wickelte eine Decke um meinen Oberkörper und wand mir einen Schal vor das Gesicht. Gesprochen wurde nicht. Das Wetter machte es unmöglich. Wir gelangten nur langsam voran. Der Schneefall verstärkte sich von Tag zu Tag, und die Pferde hatten es schwer, den hochbeladenen Wagen zu ziehen. Einige Farmen, an denen wir vorbeifuhren, waren fast völlig eingeschneit. Wir waren fast zehn Tage unterwegs, bis wir den Pease River vor uns sahen, an dessen Ufern sich hohe Schneewälle gebildet hatten, die vom reißenden Wasser immer wieder unterhöhlt und zum Einsturz gebracht wurden, sich aber genauso beharrlich wieder neu bildeten. Es schneite auch noch, als wir die Mission erreichten. Von weitem hörten wir schon den Ton der Glocke. Es war das Abendläuten, aber bei diesem Wetter ging niemand zur Messe. Wir fuhren auf den Hof und stiegen ab, von Kopf bis Fuß mit Schnee bedeckt und durchgefroren. Wir wurden begrüßt wie verlorengeglaubte Söhne. Als wir dann im Aufenthaltsraum der Mission standen, wo der Adventkranz von der Decke hing und die Kerzen brannten, und uns aus den gefütterten Mänteln schälten, tauten wir im wahrsten Sinne
des Wortes auf. Die Padre tranken würzigen Glühwein, und ich saß, in eine Decke gewickelt, dicht neben dem Kamin, aß einen wundervoll duftenden Bratapfel und trank ab und zu einen Schluck von der warmen Milch, die Padre Elfego mir gebracht hatte, während Padre Ambrosius und Padre Frastus von der Fahrt berichteten. Nur über den Mord in Mulberry sagten sie nichts. Und ich auch nicht. Ich trank meine Milch und aß den halben Apfel, und dann merkte ich auf einmal, daß ich müde wurde. Es war die wohlige Wärme im Raum, die mich einschläferte, es war das gute Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Draußen schwoll der Wind an und heulte um die Gebäude der Mission. Er trieb den Schnee in dichten Schleiern über den Hof und warf hohe Verwehungen auf. Ich schlief neben dem Kamin ein. Ich merkte nicht, daß Padre Ambrosius mich aufhob und in meine Kammer brachte, wo er mich ins Bett steckte.
2. Clay Wilkins war mein Freund, in guten wie in schlechten Tagen. Ich erinnere mich, wie er mit seinen Eltern auf einem alten Planwagen herkam. Aus Illinois. Eines Tages hatte er auf dem Missionshof gestanden. Er war der erste Junge in meinem Alter gewesen, der in das Land am Pease River getreckt war. Clay Wilkins – im Sommer hatte er seinen Vater verloren. Die Comancheros hatten ihn umgebracht, weil er als Anführer der Bürgerwehr dafür gesorgt hatte, daß drei von ihnen gehenkt worden waren. Clay war damals mit mir und seiner Mutter entführt worden. Seitdem kränkelte sie. Als zwei Tage nach der Rückkehr aus Mulberry der Schneefall aussetzte, verließ ich die Mission und lief zum Fluß, um Clay zu suchen. Ich fand ihn nur knapp eine Meile von der Mission entfernt an der schmalen Brücke, die den Pease River überspannte. Ich war froh, ihn wiederzusehen. Er stapfte im Schnee herum, mit einer festen Leinenhose, hohen Stiefeln und einer dickgefütterten Jacke bekleidet, die ihm viel zu groß war. Als ich näher heran war, erkannte ich, daß
es eine Jacke seines Vaters war, die für ihn zurechtgeschnitten worden war. Er hatte sich eine Wollmütze über die Ohren gezogen und war damit beschäftigt, dicke Bälle aus dem Schnee zu formen, die Körperteile für einen Schneemann. Er war so in seine Arbeit vertieft, daß er mich nicht bemerkte. Erst als ich vor ihm stand, schaute er auf und grinste etwas schief. »Na«, sagte er. »Wieder zurück?« »Ja«, sagte ich. Ich bückte mich und half ihm, einen Schneeball, der gewiß halb so groß war wie wir, auf einen zweiten von der gleichen Größe zu setzen. »Wie war's?« fragte er. »Prima«, sagte ich. »So eine Stadt ist schon eine feine Sache.« Er nickte, und ich bemerkte den sehnsüchtigen Ausdruck in seinen Augen. Clay war noch nie in Mulberry gewesen. »Vielleicht fahre ich im nächsten Jahr auch hin«, sagte er. »Bob will ein paar neue Geräte kaufen. Er nimmt mich bestimmt mit.« Bob Danton war sein Schwager. Seit dem Tod von Clays Vater bewohnte er mit Clays Schwester die ehemalige Wilkins-Farm und kümmerte sich um Clay und dessen Mutter. Ich erzählte ihm noch einiges. Ich übertrieb auch ein bißchen. Über das, was im Store passiert war, sagte ich nichts. Ich wußte, daß er den schrecklichen Tod des Vaters, den er und ich ja miterlebt hatten, immer noch nicht überwunden hatte. Ich wollte nicht mit der Beschreibung eines solchen Vorfalls böse Erinnerungen wecken. Wir bauten den Schneemann, der größer war als wir selbst. Wir kratzten aus dem gefrorenen Ufersand ein paar dunkle Steine heraus, die wir als Augen und Nase in den Kopf des Schneemanns drückten. Es war wirklich ein schöner Schneemann. Die ganze Zeit über hatte Clay mir schweigend zugehört. Als wir fertig waren, beendete ich auch meinen Bericht, und Clay sagte zu mir: »Ich muß dir etwas zeigen.« »Ein Geheimnis?« Er nickte. »Du mußt schwören, es nicht zu verraten.« »Ich schwöre es«, sagte ich feierlich. Wir gingen nebeneinander her. Der Wind war jetzt schneidend und scharf. Wir sanken bei jedem Schritt tief im Schnee ein. Aber wir
gingen weiter. Nach fast einer Stunde erreichten wir den Wald, der knapp eine Meile südlich der Wilkins-Farm lag. »Weißt du, was Fallensteller sind?« fragte Clay plötzlich. »Nicht genau«, sagte ich. »Das sind Männer, die davon leben, Tiere zu fangen und ihre Felle zu verkaufen.« »Was für Tiere?« »Trottel! Solche, die einen schönen Pelz haben, natürlich.« Er schaute mich schräg an. Ich überlegte, ob ich beleidigt sein sollte. Da sagte er auch schon: »Das bringt eine Menge Geld ein.« Wir waren inzwischen in das Unterholz eingedrungen und tappten zwischen den hohen, dicht stehenden Bäumen entlang. Der Schnee lag hier nicht so hoch, dafür war es dämmrig in dem Gehölz. Die Baumwipfel wurden von dicken Schneekappen bedeckt, die das Licht der Wintersonne abfingen. »Ich denke, ich werde einmal Fallensteller«, sagte Clay. Den Ton kannte ich. Er war ein Jahr älter als ich und meinte manchmal, sich mir gegenüber »erwachsen« geben zu müssen. Ich begann etwas zu ahnen. »Hast du Schlingen gelegt?« fragte ich. »Es gibt viele Biber am Fluß«, sagte er ausweichend. »Viel zu viele, hat Bob gesagt. Außerdem gibt es Füchse, die uns die Hühner klauen.« Er schaute mich von der Seite an. »Irgendwann muß man ja anfangen, sich darum zu kümmern, wovon man später leben will. Was meinst du, was man für Biber- und Fuchsfelle erhält?« »Dresche«, sagte ich. »Und Ärger werden wir kriegen. Du hast also Fallen gestellt?« »Hab ich«, sagte er. »Es ist ganz einfach. Man legt die Schlingen und braucht nur zu warten, bis sich etwas darin fängt.« Ich schwieg. Mir war nicht wohl bei der Sache. Aber das behielt ich für mich. Schon ein paar hundert Yards vom Waldrand entfernt stießen wir auf die erste Schlinge. Sie war leer. Meine Hoffnung, daß alles doch noch ein gutes Ende nehmen würde, stieg. Als wir auch die zweite Schlinge leer fanden, besserte sich meine Stimmung, während Clays
Gesicht immer länger wurde. Er sagte kein Wort. Aber ich konnte ihm ansehen, daß es in ihm arbeitet. Die leeren Schlingen stellten Niederlagen für ihn dar, die ich miterlebte. Als wir die dritte Schlinge erreichten, sahen wir schon von weitem, daß sich etwas darin gefangen hatte. Wir erkannten zunächst nur einen dunklen Fleck auf der weißen Schneedecke, und Clay geriet in freudige Erregung. Wir liefen schneller. Mein Herz klopfte, aber nicht vor Freude. Und dann standen wir vor der Schlinge. Kein Biber hatte sich darin gefangen, auch kein Fuchs. Es war ein kleines, rotbraunes Wollknäuel. Ein Eichhörnchen. Verkrümmt hing sein kleiner Körper in der Schlinge. In der Kälte war es steifgefroren. Die winzigen Knopfaugen waren seltsam stumpf. Ich preßte nur meine Lippen zusammen und sagte gar nichts. In meinem Magen bildete sich ein dicker Klumpen. Mein Herz schlug laut und schnell. Clay stieß einen erschreckten Ruf aus. Dann wurde ihm schlecht. Er drehte sich um, und sein Gesicht war fast so weiß wie der Schnee. »Das hab ich nicht gewollt«, sagte er. Seine Stimme zitterte. Ich schwieg noch immer. Ich konnte meinen Blick nicht von dem Eichhörnchen nehmen. Ich dachte daran, daß ich als Vierjähriger ein Eichhörnchen gezähmt hatte. Mir fiel der Tag ein, als ein Bussard das Tier erwischt und vor meinen Augen weggeschleppt hatte. »Sag doch was«, flüsterte Clay neben mir. »Verdammt, ich hab das nicht gewollt.« »Nimm es weg und grab es ein«, sagte ich. »Oder willst du seinen Pelz verkaufen?« Clays Augen schimmerten plötzlich feucht. »Woher konnte ich wissen, daß so ein gottverdammtes Eichhörnchen in die Schlinge läuft, die für einen Biber bestimmt war!« Seine Stimme klang schrill. »Woher sollte das Eichhörnchen das wissen?« fragte ich. »Außerdem sollen wir nicht fluchen, hat Padre Ambrosius gesagt.« »Ich fluche wann ich will«, sagte Clay. Er drehte sich um und blickte das Eichhörnchen an. »Vielleicht ist es besser, wenn ich die Fallen wieder abbaue.« Er wirkte auf einmal sehr kleinlaut. »Das war ein idiotisches Geheimnis«, sagte ich.
Clay antwortete nicht. Er bückte sich und packte das tote Eichhörnchen mit spitzen Fingern. Er hob es mit der Rechten an, öffnete mit der Linken die Schlinge und nahm das Tier heraus. Dann trug er es ein Stück weiter zu einer Schneeverwehung und grub es dort ein. Als er damit fertig war, sah er aus, als müßte er sich gleich übergeben. Wir nahmen die beiden anderen Schlingen mit. Während wir zum Waldrand marschierten, sprachen wir kein Wort. Als wir aus dem Wald traten, blendete uns die Wintersonne. Ich blieb stehen und schaute Clay an. »Du stellst keine Fallen mehr«, sagte ich. Zu meiner Überraschung nickte er niedergeschlagen. In diesem Moment hörte ich ein Geräusch hinter uns. Schnee knirschte unter Stiefelabsätzen. Ich fuhr herum. Da entdeckte ich einen Schatten hinter uns im Unterholz und sah ein Gesicht durch die Zweige eines kahlen Busches schimmern. Im ersten Moment war ich erschrocken. Dann erkannte ich All Fizzard, einen achtjährigen Jungen, der mit seinen Eltern erst vor zwei Monaten angekommen war. Er war ein ekelhafter Kerl. Kein Mensch konnte ihn leiden. Er war eingebildet, suchte stets Streit, war ein hemmungsloser Aufschneider und stahl wie ein Rabe. Als er merkte, daß er entdeckt war, richtete er sich mit dem für ihn typischen arroganten Grinsen auf, schob die Hände in die Taschen seiner Levis-Hose und schlenderte näher. Ein paar Strähnen seines brandroten Haares schauten unter seiner Wollmütze hervor. »Na«, sagte er herausfordernd. Er blieb keine zwei Schritte vor uns stehen. »Ihr seht aus, als hätte euch der Schlag getroffen.« »Verschwinde«, sagte Clay. »Hau ab, du aufgeblasener Affe.« »Sachte, sachte,«, sagte All Fizzard. »Das wird teuer.« »Was willst du?« fragte ich. »Ihr habt Schlingen gelegt, stimmt's?« »Und wenn?« fragte ich. »Ein Eichhörnchen ist tot«, sagte All Fizzard. Er stellte befriedigt fest, daß wir beide schwiegen. »Ich habe alles gesehen«, sagte er. »Ich habe schon gesehen, als der da«, er zeigte auf Clay, »die Schlingen gelegt hat. Ich habe nur
darauf gewartet, daß ihr euch treffen und herkommen würdet.« »Nun sind wir ja da«, sagte ich. »Ja.« Er grinste wieder. »Was meint ihr, werden die Padres dazu sagen, oder Lizzy, deine Schwester, Clay?« »Du Idiot«, sagte Clay. Er ballte die Hände. »Schätze, ihr werdet Ärger kriegen«, sagte All. »Was willst du?« fragte ich zum zweitenmal. »Ein paar Weihnachtsgeschenke«, erwiderte All. »Laßt euch was Schönes einfallen. Dann will ich alles vergessen.« Ich spürte eine unbändige Wut in mir aufsteigen. Woher nahm dieser Kerl das Recht, so zu reden? Ich bemerkte, daß es Clay nicht anders ging als mir. »Du wirst zufrieden sein«, sagte ich. Dann bückte ich mich, faßte in den Schnee und warf dem immer breiter grinsenden All blitzschnell eine Handvoll mitten ins Gesicht. Er schrie auf, und im selben Moment stürzte ich mich auf ihn. Er war genauso groß wie ich. Er stieß beide Fäuste nach vorn, um sich zu wehren. Aber ich packte ihn an den vorschnellenden Handgelenken und zog ihn blitzschnell herum. Clay war nun auch heran, packte All Fizzard am Kragen und riß ihn zu Boden. Dann hielt er ihn fest, während ich dem schreienden All das Gesicht mit Schnee einrieb, bis es knallrot war. Wir dachten, gleich müsse sein Kopf platzen. Wir ließen ihn los. Schnaufend und laut jammernd richtete er sich auf. Er hatte seine Mütze verloren. Sein brandrotes Haar hing ihm strähnig in die Stirn. Tränen rannen aus seinen Augen. »Ihr Feiglinge!« schrie er. »Das werdet ihr noch bereuen!« Ich versetzte ihm eine Ohrfeige, daß er sich auf den Boden setzte und laut zu heulen begann. Auf allen vieren kroch er durch den Schnee und grapschte nach seiner Mütze. Er kam wieder auf die Beine und jagte wie von Hunden gehetzt davon. Wir sahen ihn rennen und fingen an zu lachen. Auf einmal fühlten wir uns wieder besser. Wir liefen noch ein Stück hinter ihm her und freuten uns daran, daß All Fizzard vor lauter Angst immer größere Sprünge vollführte. Völlig außer Atem blieben wir schließlich stehen. »Dieser Blödian«, sagte Clay. »Hoffentlich verrät er nichts.«
»Er ist dumm, häßlich und feige«, sagt ich. »Der hat genug. Der verrät gar nichts mehr.« »Kommst du mit zu mir?« fragte Clay. »Lizzy hat bestimmt ein paar Kastanien geröstet.« Ich nickte. Wir stapften durch den hohen Schnee nebeneinander her zur Wilkins-Farm. * In zwei Wochen war Weihnachten. Wir redeten unterwegs darüber. Ich war es gewöhnt, daß es an diesem Tag Geschenke gab. Es war noch nie anders gewesen. Clay hatte noch nie Geschenke zu Weihnachten erhalten. Die Wilkins' waren früher zu arm gewesen, und jetzt war sein Vater tot. Als wir die Farm vor uns liegen sahen, setzte leichter Schneefall ein. Wir gingen etwas schneller. Unterhalb des Farmhauses rauschte der Pease River vorbei und klatschte gegen die Pfeiler der breiten Brücke, die John Wilkins noch gebaut hatte, bevor er ermordet worden war. Wir erreichten den Farmhof und verhielten überrascht im Schritt. Mitten auf dem Hof stand ein kleiner Eselskarren, den ich gut kannte. Er stammte aus der Mission. Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß es besser wäre, nicht mit ins Haus zu gehen. Doch während ich mir das noch überlegte, trat ich bereits hinter Clay ein. Als ich die Tür hinter mir schloß, hörte ich Lizzy weinen. Jetzt war es zu spät, um umzukehren. Wir gingen in das geräumige Wohnzimmer mit dem breiten Kamin, in dem ein Feuer loderte, das prasselnd Wärme verbreitete. Clays Schwester saß am Tisch, hatte den Kopf in beide Hände gestützt und weinte. Bob Danton, ihr Mann, stand ein wenig seitlich von ihr, mit dem Rücken an einen Schrank gelehnt. Sein Gesicht war starr und blaß. Ich hatte ihn noch nie so gesehen. Wir blieben an der Tür stehen. Clay blickte sich um und fragte: »Was ist denn los?« Lizzy hob den Kopf und schaute ihren kleinen Bruder aus rotgeweinten Augen an. Sie schluchzte laut auf, stieß ein paar
unverständliche Worte aus und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. Bob Danton sagte kein Wort. Mir wurde immer unbehaglicher, und ich sah die Angst in Clays Augen. »Was ist denn los?« fragte er wieder. Seine Stimme zitterte auf einmal, wurde schrill. »Sagt mir doch, was passiert ist.« Ein Gedanke schien ihn zu durchzucken. »Wo ist Ma?« Da öffnete sich die Tür zum Schlafzimmer. Ein großer, dicker Mann mit mächtigem Bart in erdbraunem Gewand trat über die Schwelle. Es war Padre Ambrosius. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt. Er schien Clay und mich gar nicht zu sehen, sondern sagte nur: »Sofort heißes Wasser! Schnell, schnell! Und dann kommen Sie, Lizzy!« Die junge Frau sprang auf. Sie taumelte etwas. Bevor sie ging, warf sie einen Blick auf Clay und sagte leise: »Mutter stirbt.« Ich erschrak bis ins Mark. Clay begann zu weinen wie seine Schwester und zitterte auf einmal am ganzen Körper. Ich konnte ihn verstehen. Lizzy verschwand mit Padre Ambrosius in der Schlafkammer. Bob Danton ging auf Clay zu und strich ihm über den Kopf. »Hör auf zu heulen«, sagte er. Es sollte hart klingen. Aber seine Stimme klang seltsam sanft und fremd. »Davon wird es auch nicht besser.« Er führte Clay zu einem Stuhl. Ich hatte mich noch nie so überflüssig gefühlt wie in diesem Moment. Aber ich wußte auch nicht, was ich tun sollte. Stocksteif stand ich noch immer an der Tür zum Flur. »Sie war ja seit Wochen krank«, hörte ich Bob Danton zu Clay sagen. »Sie hat immer gehustet und kaum noch etwas gegessen. Seit der Sache damals …« Ich erinnerte mich. Nachdem John Wilkins getötet worden war, hatten die Comancheros Kate Wilkins, Clay und mich, weil ich zufällig bei den Wilkins war, mitgeschleppt, um uns an die Indianer zu verkaufen. Kate Wilkins war unterwegs mehrmals vergewaltigt worden. Später war sie noch durch eine Revolverkugel schwer verletzt worden, und es war fast ein Wunder gewesen, daß sie am
Leben blieb. Aber seitdem hatte sie ständig gekränkelt. Ihre Lunge hatte während der Gefangenschaft in der feuchten, kalten Banditenhütte in den Bergen etwas abbekommen. Bob Danton sagte: »Heute mittag wollte sie zum erstenmal wieder aufstehen. Da hat sie plötzlich einen Hustenanfall gekriegt, Blut gespuckt und ist zusammengebrochen. Sie hat das Bewußtsein verloren. Der Padre hat gesagt, daß wahrscheinlich in der Lunge etwas geplatzt ist. Man kann nichts mehr tun, Junge. Das mußt du verstehen.« Clay schluchzte auf wie ein gepeinigtes Tier. Ich sah entsetzt in sein tränenverschmiertes Gesicht. Langsam drehte ich mich um und öffnete die Tür. Ich stahl mich hinaus. Weder Clay noch Bob Danton beachteten mich. Es gab in diesem Moment nichts, worüber ich froher war. Draußen schneite es jetzt dichter. Ich merkte es kaum. Ich rannte, so schnell ich konnte, um die Farm weit hinter mir zu lassen. In der Mission verkroch ich mich in meine Kammer. Ich fühlte mich richtig jämmerlich, weil ich Clay nicht hatte helfen können. Nach zwei Stunden kehrte Padre Ambrosius müde und erschöpft in die Mission zurück. Es wurde bereits dunkel. Kate Wilkins war tot. Sie war nicht mehr zu Bewußtsein gekommen. In dieser Nacht konnte ich lange nicht einschlafen. Ich dachte nur an Clay. Ich hatte keinen Vater und keine Mutter. Ich hätte gern Eltern gehabt. Ich konnte besser als jeder andere nachempfinden, was Clay litt, was er verloren hatte. * Drei Tage später war die Beerdigung. Bob Danton hatte eine Grube neben dem Grab von John Wilkins ausgehoben. Er hatte auch selbst den Sarg für seine Schwiegermutter gefertigt. Es war ein trüber Vormittag, als Kate Wilkins beigesetzt wurde. Eisige Nordwinde strichen über das Land, wühlten den Fluß auf und peitschten feine Schneekristalle wie weiße Schleier durch die Luft. Der Himmel verbarg sich unter grauen Schwaden, von denen niemand genau sagen konnte, ob es Wolken oder
Schneevermassungen waren, die bald auf die Erde stürzen würden. Der Wind heulte durch die kahlen Büsche und Baumwipfel am Fluß und fetzte Padre Emanuel, der die Totenmesse las, die Worte von den Lippen. Die Farmer waren fast alle erschienen. Schon früh am Morgen waren die flachen Wagen an der Mission vorbeigerollt. Dick vermummt hatten die Familien darauf gesessen. Selbst die Benders waren hergefahren, die den weitesten Weg zurücklegen mußten. Sie versammelten sich alle unter dem großen Kreuz, das sie einst für John Wilkins aufgerichtet hatten, nachdem die Comancheros ihn ermordet hatten. Vier Söhne der Longley-Sippe trugen den Sarg. Wir sangen. Der Wind trug die Melodie mit sich fort. Padre Emanuel las aus der Bibel. »… er hat es gegeben, er hat es genommen, gelobt sei der Herr …« Wir beteten. Ich sah Clay neben Lizzy, seiner Schwester und Bob Danton stehen. Er schluchzte die ganze Zeit. Ich traute mich nicht, ihn nach der Zeremonie anzusprechen. Nachdem der Sarg ins Grab gesenkt worden war, gingen alle nacheinander vorbei und warfen eine Schaufel Erde hinunter. Sie stiegen still wieder auf ihre Wagen und fuhren davon, zurück zu ihren Farmen. Bob Danton schloß das Grab und pflanzte die Tafel mit dem eingebrannten Namen hinein. Das Land forderte Opfer. Gegen Abend wurde der Wind stärker, entwickelte sich zum Sturm und zwang alle, in den Häusern zu bleiben. Später setzte wieder Schneefall ein. Das Unwetter dauerte eine Nacht und einen Tag und dann noch einmal eine Nacht. Dann war es vorbei, und wir waren alle eingeschneit und hatten eine Menge zu tun, um wenigstens die Türen der Missionsgebäude wieder freizuschaufeln. Auf den Farmen sah es ähnlich aus. Die Temperaturen sackten dann ziemlich rasch ab. Der Fluß fror bis auf den Strudel hinter der Mission zu. Zwei Tage nach dem Unwetter fuhr Padre Frastus in den nahen Wald und kehrte mit zwei schlanken Tannen zurück. Von diesem
Tag an durfte ich nicht mehr in den Aufenthaltsraum der Mission. Die Vorbereitungen für Weihnachten hatten begonnen. * Es verging knapp eine Woche. Dann war Weihnachten da. Ich war in den Tagen zuvor ein paarmal zum Fluß gelaufen, hatte Clay jedoch nicht getroffen. Er hatte sich auf der Farm verkrochen. Ich traf ein paar andere Farmerjungen. Wir bauten einen Iglu und veranstalteten Schneeballschlachten. Aber ohne Clay war das für mich alles nicht das richtige. Am Weihnachtsabend war dann alles Schlimme, das im ausklingenden Jahr geschehen war, vergessen. Die Padres hatten einen herrlichen Lichterbaum im Aufenthaltsraum der Mission für mich geschmückt. Unter den Geschenken, die darunter aufgebaut waren, befanden sich zu meiner Überraschung ein Stapel Bücher, eine schwarze Tafel in einem Holzrahmen und ein halbes Dutzend Griffel. Padre Emanuel erklärte mir, daß noch im Frühjahr eine Schule in der Mission eröffnet werden würde und diese Dinge dafür bestimmt seien. Reich beschenkt und vollbepackt zog ich mich nach der Bescherung in meine Kammer zurück, wo ich meine neuen Schätze auf einem Wandbord aufbaute. Ich betrachtete alles eingehend, besonders das Taschenmesser, das Padre Ambrosius mir zugesteckt hatte. Es hatte einen Horngriff, in dem sich zwei verschieden große Klingen, ein Bohrer und ein Korkenzieher verbargen. Ich kritzelte ein wenig mit den Griffeln auf der Tafel herum, und dann erschien auch schon Padre Ambrosius, um mich zur Christmesse zu holen. Als wir aus dem Haus traten, sah ich, daß es bereits dunkel geworden war. Vor der Mission standen die Wagen der Farmer. In der Kapelle drängten sie sich in den schmalen Gängen zwischen den Bankreihen. Die Glocke im Turm läutete. Lichter brannten, Hunderte, wie es mir schien. Ein geschmückter Tannenbaum stand neben dem Altar, und Padre Hieronymus saß hinter dem alten, abgeschabten Harmonium, das erst vor vier Wochen gebracht worden war. In einer der Bankreihen entdeckte ich Clay. Er erschien
mir schmal und sehr blaß. Er sah mich nicht, obwohl ich eine Zeitlang zu ihm hinschaute. Dann begann der Gottesdienst. Der Gesang der vielen Menschen füllte die kleine Kapelle und hallte durch das offene Tor hinaus in die sternenklare Nacht. Es war so wie in jedem Jahr. Aber es erschien mir immer wieder neu und faszinierend. Die Größe des Augenblicks machte alle in der Kapelle befangen. Ich erinnere mich genau, wie sie Jahr für Jahr die Christmesse besuchten, die Farmer mit ihren ernsten, kantigen, von harter Arbeit geprägten Gesichtern, und die Frauen, mit ihren verschlossenen, vom Leben gezeichneten und doch auf eine herbe Art schönen Antlitzen. Ich erinnere mich, wie sie dicht an dicht in den Bankreihen der Kapelle saßen, zerfledderte Gesangbücher in den schwieligen Händen hielten und mit ihren rauhen Stimmen sangen. Später fuhren sie in die Nacht hinaus. Die meisten mit ihren Wagen, andere mit großen, hohen Schlitten, an denen Fackeln steckten, die von weitem wie verglühende, auf die Erde gestürzte Sternschnuppen aussahen. Der Klang der Missionsglocke hallte ihnen nach. Tage später läutete wieder die Glocke im Turm der Kapelle. Diesmal, um das neue Jahr zu begrüßen. Einige Farmer fanden sich am Fluß zusammen. Sie sammelten Reisig, brachten Gerümpel mit und türmten alles zu einem großen Scheiterhaufen auf, den sie in Brand setzten. Das Feuer war mehrere Meilen weit zu sehen. Die Longleys kamen mit ihren Instrumenten. Die Stoddards brachten ein Faß mit Selbstgebranntem Whisky. Es wurde gefeiert, getanzt und gesungen. Und es wurde getrunken, sehr viel getrunken. Cyril Ricks betrank sich so fürchterlich, daß er singend auf das Eis des Pease River hinaustaumelte, mit seinem Revolver wild in die Luft schoß und fast einbrach. Ein paar andere Männer holten ihn vom Eis herunter und trugen ihn zu seinem Wagen, wo seine Frau schon auf ihn wartete und ihn nach Hause fuhr. Er nahm gar nicht wahr, was mit ihm geschah. Sein Singen war noch zu hören, als der Wagen in der Dunkelheit untergetaucht war. Die restliche Gesellschaft versammelte sich um Mitternacht in der Missionskapelle zum Gebet. Dann begann der Alltag wieder.
Ein neues Jahr hatte begonnen. 1354 – Hoffnungen, Träume und Wünsche rankten sich um diese Zahl. Jeder war entschlossen, das Jahr zu nutzen, um vorwärtszukommen.
3. Ich traf Clay eine Woche nach Neujahr am Strudel hinter der Mission. Er schien auf mich gewartet zu haben. Er wirkte noch immer verschlossen und geknickt, schien sich jedoch langsam wieder zu fangen und den Tod der Mutter zu überwinden. Ich wollte erst fragen, wie es ihm gehe, verkniff mir das aber lieber. Er sagte etwas von Sturmschäden und daß er seinem Schwager habe auf der Farm helfen müssen. Ich nickte dazu und verstand ihn. An seiner Stelle hätte ich auch Ausreden gebraucht. Ich drang nicht in ihn, sondern lenkte das Gespräch bald auf andere Themen. »In ein paar Wochen wird in der Mission eine Schule eröffnet«, sagte ich. »Ich habe schon Bücher und eine Tafel zu Weihnachten bekommen.« »Ich kann schon lesen«, sagte Clay. »Aber nicht schreiben«, sagte ich. »Und auch nicht rechnen.« »Wozu soll das gut sein?« Er schlenderte neben mir her, als ich am Ufer des Flusses südwärts wanderte. »Ich werde später wahrscheinlich doch auf einer Farm arbeiten«, sagte er. »Da muß ich pflügen können. Ich muß wissen, auf was für Boden Mais wächst und wo man Kartoffeln anpflanzt. Ich muß wissen, wie man mit einer Heugabel umgeht und mit einer Sense.« »Und wenn du in die Stadt fährst, um einzukaufen?« fragte ich. »Was ist dann? Jeder Händler wird dich übers Ohr hauen, wenn du nicht rechnen kannst.« Er schaute mich von der Seite an und schien sich zu überlegen, was ich gesagt hatte. Ich ließ ihm Zeit dazu. Er brummte plötzlich etwas und sagte dann: »Solange auf den Feldern keine Arbeit ist, werde ich auch zur Schule gehen.« Er schaute starr geradeaus. »Wohin wollen wir eigentlich?« »Jerry, Tom Stoddard und ich haben vor ein paar Tagen einen Iglu
im Wald gebaut«, sagte ich. »Einen richtigen Iglu?« »Klar. Ziemlich groß sogar. Du paßt auch noch 'rein.« Clays Interesse war geweckt. Seine gedrückte Stimmung wich. Während wir zum Wald liefen, zeigte ich ihm das Taschenmesser, das Padre Ambrosius mir geschenkt hatte. Ich bin sicher, daß ich damals der einzige Junge am Pease River war, der ein solches Taschenmesser besaß. Clay war tief beeindruckt. Es gelang mir im Verlauf der nächsten Viertelstunde, ihn etwas aufzuheitern, so daß er fast wieder der alte war. Ich fühlte mich ihm gegenüber irgendwie verpflichtet. Noch vor einem Jahr hätten seine Eltern mich beinahe adoptiert, und ich wäre sein Bruder geworden. Jetzt fühlte ich mich ihm wirklich verwandt. Er hatte nun auch keine Eltern mehr – wie ich. Wir erreichten den Wald. Der Iglu stand auf einer kleinen Lichtung, kaum fünfzig Yards vom Waldrand entfernt. Wir hatten uns wirklich Mühe gegeben. Es war ein feiner Iglu geworden. Clay und ich krochen hinein. Es war ein bißchen dunkel im Innern. Aber das machte nichts. Wir kauerten uns hin. »Na, was sagst du?« fragte ich. Es blieb still. Ich konnte Clays Gesicht nicht sehen. Aber ich hörte plötzlich, daß er leise weinte. »Was ist los?« fragte ich erschrocken. Er antwortete nicht. »Vielleicht sollten wir doch besser wieder nach draußen gehen«, schlug ich vor. »Ich dachte …« Er schluckte. »Ja«, sagte er leise. »In ihrem Grab ist es bestimmt genauso kalt und dunkel …« »So ein Quatsch«, sagte ich etwas schroffer, als ich es eigentlich gewollt hatte. »Wenn sie noch lebte, würde sie dir jetzt was hinter die Löffel geben.« »Aber …« »Hör auf«, sagte ich. Und dann fluchte ich, obwohl die Padres es mir hundertmal oder noch öfter verboten hatten. »Verdammt noch mal, was jammerst du? Was soll ich denn sagen? Ich habe meine Eltern überhaupt nicht gekannt. Die Apachen haben sie massakriert,
noch bevor ich richtig wußte, daß ich auf der Welt war. Ich habe nie einen Vater und eine Mutter gehabt. Denkst du, deine Ma würde sich freuen, daß du hier sitzt und flennst? Du hast deine Schwester, und du hast Bob. Was willst du eigentlich?« Er schien etwas erwidern zu wollen. Da krachte draußen ein Schuß. Wir schwiegen beide und lauschten angespannt. Dann kroch ich kurzentschlossen nach draußen. Clay wollte nicht allein in dem dunklen Iglu bleiben und folgte mir. Ich drehte mich nach ihm um und sah, daß er mit einer fahrigen Bewegung mit dem Ärmel seiner Jacke über seine Augen und sein Gesicht strich, um die Tränen abzuwischen. Ich richtete mich auf und schaute mich um. Abermals krachte ein Schuß. »Der Hase«, hörte ich Clay mit rauher Stimme neben mir sagen. Dann sah auch ich das graue Wildkaninchen aus dem Wald über die Lichtung jagen. Der Schuß war noch nicht verhallt, da überschlug es sich, wurde nach vorn geschleudert und blieb mit ausgestreckten Läufen im weißen Schnee liegen, der sich sofort um das Tier herum dunkelrot färbte. Die Farmer vom Fluß jagten selten hier im Wald. Schon gar nicht um diese Zeit und wenn, dann jagten sie gemeinsam, und wir Jungen spielten für sie die Treiber. Ich hatte kein gutes Gefühl bei der Sache und griff nach Clays linkem Arm. »Los«, sagte ich. »Verschwinden wir lieber.« Er folgte mir. Doch da war auf einmal der fremde Mann da. Groß, hager, unrasiert und wild. Er trat aus dem Baumschatten am Südrand der Lichtung. Ein kurzläufiger Sharps-Karabiner lag in seiner Rechten. Aus der Laufmündung kräuselte sich noch grauer Pulverdampf. Er sah uns sofort. »Bleibt stehen!« rief er. Das wäre unnötig gewesen. Wir waren so erschrocken, daß wir ohnehin stehenblieben. Der Mann näherte sich mit großen Schritten. Auf halbem Wege verhielt er kurz im Schritt, bückte sich und hob das Wildkaninchen auf, das er mit seinem zweiten Schuß ins Genick getroffen und getötet hatte. Blut tropfte von dem weichen, graubraunen Fell, so daß
der Mann eine Spur aus roten Punkten im Schnee hinterließ. Er war Mexikaner. Als er vor uns stand, erkannte ich ihn. Es war derselbe Mann, der in Mulberry den Marshal und dessen Deputy niedergeschossen hatte. Er sah noch etwas rauher aus. Wochenalte Bartstoppeln bedeckten seine großknochigen Wangen. Sein Haar war noch länger und strähniger geworden. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen, sie schimmerten schwarz und drohend. Seine Kleidung war zerlumpt und völlig verdreckt. »Wer seid ihr?« fragte er. Er sprach völlig ohne Akzent, was mir auch schon in Mulberry aufgefallen war. »Was treibt ihr euch hier herum?« Clay blickte starr auf den toten Hasen, den der Mann an den langen Ohren gefaßt hielt. »Wir spielen hier«, sagte ich. Ich deutete überflüssigerweise auf den Iglu. Der Mann nickte uninteressiert. »Ihr werdet bestimmt zu Hause erzählen, daß ihr mich hier gesehen habt, wie?« Ich sagte kein Wort, und auch Clay schwieg. »Kommt ihr von den Farmen am Fluß?« »Ja.« »Ihr werdet euren Vätern sagen, daß ihr einen Fremden gesehen habt, nicht wahr?« »Nein«, sagte ich. Und das war die reine Wahrheit. Clay und ich hatten ja keine Väter mehr. »Red keinen Unsinn, Junge«, sagte der Mexikaner. »Ich weiß doch, wie das ist.« Er beugte sich vor, und seine Augen hatten plötzlich einen eisigen Schimmer. In meinem Hals setzte sich ein Kloß fest. Der Mann schwenkte das Gewehr nervös in der Rechten. Wie zufällig zeigte die Mündung mal auf mich und mal auf Clay. »Wir sagen bestimmt niemandem etwas, Mister«, erklärte Clay. Seine Stimme zitterte. »Vielleicht sollte ich euch mitnehmen«, sagte der Mann mehr zu sich selbst. Er beugte sich wieder vor. Ich befürchtete, daß er mich wiedererkennen würde. Aber er hatte damals in Mulberry wohl gar
nicht auf den kleinen Jungen geachtet, der neben ihm gestanden und an einer Zuckerstange geknabbert hatte. »Ihr werdet zu Hause nichts erzählen«, sagte er drohend. »Hört gut zu: Ihr werdet kein Wort erzählen. Ihr werdet vergessen, daß ihr mich gesehen habt, und zwar sofort. Habt ihr das verstanden?« Ich nickte rasch und sagte: »Ja.« Ich stieß Clay an, und der beeilte sich, das gleiche zu versichern. »Ich verspreche euch, daß ich zurückkehre und euch hole, wenn ihr euer Wort brecht«, sagte er. Seine Stimme senkte sich und klang nun irgendwie dumpf und hohl. Wir schauderten. »Ich finde euch. Egal, wo ihr euch verkriecht. Ich finde euch überall. Mir ist noch nie einer entwischt.« Er klopfte auf sein Gewehr. »Damit habe ich sechsundzwanzig Männer getötet.« Ich glaubte ihm aufs Wort. Ich hatte ja selbst erlebt, zu was dieser Kerl fähig war. »Ich kriege euch«, wiederholte er. »Eure Eltern können euch gar nicht helfen. Und es nutzt auch nichts, wegzulaufen. Ich erfahre es, wenn ihr nicht den Mund gehalten habt. Ich erfahre immer alles, versteht ihr? Also, was werdet ihr tun?« »Wir werden niemandem etwas sagen, Sir«, sagte ich. »Wir sind stumm wie Fische«, fügte Clay hinzu. Der Mexikaner musterte uns noch einen Moment. Dann hob er die Linke mit dem toten Hasen und rief: »Dann verschwindet und laßt euch hier nie wieder blicken.« Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Wir drehten um und rannten davon. Wir liefen bis zum Waldrand und blieben keuchend stehen. Der kalte Wind hatte unsere Gesichter gerötet. Clay lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum. »Teufel noch mal«, sagte er. Er sah sehr blaß aus. »Ich kenne den Kerl«, sagte ich. Clay mußte es zweimal hören, bevor er es verstand. Dann erzählte ich ihm, was ich in Mulberry erlebt und ihm verschwiegen hatte. Er fragte nicht, warum ich nichts berichtet hatte. Er schien meine Gründe zu ahnen. »Ein Spion«, sagte er fast andächtig. »Das ist ein dickes Ei.« »Er ist ein Mörder«, sagte ich. »Ich habe es selbst gesehen.«
»Wir müssen herauskriegen, was er hier treibt«, sagte Clay. Seine weinerliche Stimmung war völlig verflogen. Er schien überhaupt nicht mehr an seine tote Mutter zu denken. »Du bist verrückt«, sagte ich. »Der knallt uns glatt ab, wie den Hasen. Hast du nicht gesehen? Der hat den Hasen mit einer Kugel getroffen. Mit einer Kugel, verstehst du? Alle schießen auf Hasen mit Schrot, weil er viel zu schnell ist für einen sicheren Kugelschuß. Aber der Bursche hat ihn mit einer Kugel erwischt. Kannst du dir nicht vorstellen, wie der Kerl schießen kann?« »Er muß uns ja nicht sehen«, sagte Clay. »Er denkt ja ohnehin, wir sind weg.« Ich überlegte. Ganz unrecht hatte Clay nicht. Was tat dieser Mörder hier? Wie hatte der junge Deputy gesagt: Santoya hieß er, Drago Santoya. Womöglich wollte er ein Verbrechen verüben, und wir konnten es verhindern. Vielleicht konnten wir auch den Behörden helfen, und vielleicht gab es sogar eine Belohnung und … »Versuchen wir es«, sagte ich. »Aber wir müssen vorsichtig sein.« »Klar doch.« Wir schlichen zurück in den Wald. Ein bißchen flau war mir schon zumute, und ich bin sicher, daß es Clay nicht anders erging. Wir waren innerlich fest überzeugt, daß der Killer sein Versprechen verwirklichen und uns erledigen würde, wenn wir uns nicht an seine Anweisungen hielten. Trotzdem schlichen wir weiter. Wir brauchten uns nicht anzustrengen, um den Mexikaner zu finden. Er hatte eine deutliche Spur im Schnee hinterlassen. Trotzdem gelangten wir nur langsam voran, da wir an jedem Baum stehenblieben und uns umschauten. Wir waren fast eine Stunde unterwegs und bewegten uns in einem Teil des Waldes, den wir nur selten betraten, weil er zu weit von den Farmen entfernt war. Plötzlich nahmen wir Rauch in der klaren Luft wahr und verhielten. Wir wären am liebsten umgekehrt. Ich dachte an die toten Marshals von Mulberry. Aber wir rissen uns zusammen und bewegten uns weiter, peinlich darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen. Plötzlich öffnete sich vor uns das Dickicht. Wir ließen uns erschrocken zu Boden fallen und preßten uns in den Schnee hinter dem Stamm einer dicken Redwoodeiche.
Nicht weit vor uns entdeckten wir den Eingang zu einer Höhle. Davor stand ein gesatteltes Pferd. Wir lagen erst wenige Minuten in unserem Versteck, da schob sich der Mexikaner aus dem schmalen Höhleneingang. Er trug seine Satteltaschen und seine Deckenrolle bei sich. Beides warf er auf den Pferderücken. Dann holte er das abseits liegende Reisig, einige vertrocknete kahle Büsche und viel Zweigwerk herbei und tarnte damit den Höhleneingang. Als er in den Sattel stieg, hätte niemand mehr vermutet, daß sich zwischen dem Dickicht der Eingang einer Erdhöhle verbarg. * Santoya sah uns nicht. Er wirkte ziemlich unbesorgt. Er trieb sein Pferd an und ritt langsam durch das Unterholz des Waldes nach Süden davon. Wir beeilten uns, dem Reiter zu folgen. Da er im Wald doch nicht rasch vorankam, hatten wir gute Chancen. Wir richteten uns nach dem Gehör, so konnten wir genügenden Abstand halten und brauchten nicht zu fürchten, entdeckt zu werden. Wir sprachen kaum während der Verfolgungsjagd. Wir verstanden uns auch ohne Worte. Es gab Augenblicke, in denen ich mich fragte, was das alles sollte. Uns ging es schließlich nichts an, was der Mexikaner trieb. Santoya hätte uns vorhin auf der Lichtung abknallen können. Er hatte es nicht getan. Warum also ließen wir ihn nicht zufrieden und kümmerten uns nicht weiter um ihn? Nun, wir waren damals in einem Alter, in dem wir beweisen wollten, daß wir langsam erwachsen wurden. Wir wollten beweisen, zu was wir in der Lage waren. Wir folgten dem Mann immer weiter. Wir verloren fast unsere Orientierung, und wie spät es war, wußten wir schon lange nicht mehr. Dann aber lichtete sich das Unterholz vor uns. Wir begriffen, daß das andere Ende des Waldes erreicht war, und wir konnten nur vage schätzen, wie weit wir gelaufen und wie weit wir von dem sicheren Farmgebiet entfernt waren. Santoya war verschwunden. Wir warteten, völlig außer Atem. Auf
einmal sahen wir ihn wieder vor uns. Sofort sprangen wir hinter ein Gebüsch. Aber er schaute sich nicht um. Er ritt zum Waldrand und hielt neben einer riesigen, alten Posteiche an. Er stieg nicht vom Pferd ab. Er legte das rechte Bein über das Sattelhorn und drehte sich eine Zigarette. Wir beobachteten ihn, wie er rauchte und auf etwas zu warten schien. Ab und zu blickte er zum Himmel, anscheinend um den Stand der Sonne zu kontrollieren. Plötzlich hörten wir Hufgeräusche auf dem hartgefrorenen Schnee. Dann tauchte ein zweiter Reiter in unserem Blickfeld auf. Wir konnten ihn jedoch nur von hinten sehen. Es war ein großer, schlanker Mann, der in kerzengerader Haltung auf einem Apfelschimmel saß. Wir kannten damals nur die Ackergäule auf den Farmen. Wirklich gute Reitpferde sahen wir selten. Daher waren unsere Kenntnisse über Pferde recht bescheiden. Dennoch sahen wir, daß dieser Schimmel kein gewöhnliches Tier war. Ein so wunderschönes Pferd hatten wir noch nie im Land am Pease River gesehen, der herrliche, rassige, muskulöse Körper, der edel geformte Kopf, die schlanken Fesseln und die grazilen, geschmeidigen Bewegungen – es war geradezu ein Traum von einem Pferd. Wir waren überwältigt. Noch mehr hätten wir uns jedoch gefreut, wenn wir den Reiter dieses Traumschimmels, der einen hocheleganten Fellmantel und eine teure Pelzkappe trug, einmal richtig gesehen hätten. Aber er schaute nicht in unsere Richtung. Er unterhielt sich angeregt mit dem Killer Santoya. Dabei paßten die Männer zueinander wie zwei linke Stiefel. Doch die beiden schienen sich zu kennen. Schließlich zog der elegante Reiter einen bräunlichen Umschlag aus der Satteltasche und reichte ihn dem Mörder, der ihn rasch einsteckte. Dann zog Santoya sein Pferd herum und sprengte nach Süden davon. Der elegante Reiter blickte ihm nur ein paar Sekunden nach, bevor er westwärts auf das Bergland zuritt. Knapp sechzig Meilen entfernt von hier gab es eine Pferdewechselstation der Butterfield-Overland-Company. Wir nahmen an, daß sie das Ziel des Reiters war. Wir merkten, daß nun nichts mehr zu beobachten war, drehten um und trotteten enttäuscht zurück. Wir hatten mehr erwartet.
Eine ganze Weile marschierten wir schweigend nebeneinander her. Dann fragte ich: »Erzählst du etwas Bob oder Lizzy?« »Bin ich verrückt?« Clay schüttelte den Kopf. »Hast du die Augen von dem Kerl gesehen? Der erwischt uns noch in der tiefsten Hölle.« »Ich werde auch den Mund halten«, sagte ich. »Ich hab gesehen, wie er zwei Marshals abgeknallt hat. Warum sollte es bei uns anders sein? Außerdem kommt er bestimmt nicht mehr wieder, wenn wir den Mund halten.« »Bestimmt nicht«, sagte Clay. »Den suchen sicher längst die Ranger. Der verzieht sich nach Mexiko.« »Ich möchte nur wissen, was in dem Umschlag gewesen ist, den dieser geschniegelte Bursche ihm gegeben hat,« »Er ist doch ein Spion«, sagte Clay. »Das hast du selbst gesagt.« »Der Deputy-Marshal von Mulberry hat es gesagt«, erwiderte ich. »Ich weiß nicht, was das ist.« »Ein Spion …« Clay zögerte, stotterte, »der verrät sein Land …« Ich überlegte mir das eine Weile, verstand es aber nicht. So ganz konnte die Antwort nicht richtig sein. Denn soweit ich den jungen Marshal damals verstanden hatte, spionierte Drago Santoya für Mexiko. Also hatte er sein Land nicht verraten und war trotzdem ein Spion. Ich fand das alles sehr kompliziert. Ich beschloß, mir darüber nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Santoya war weg. Ich würde ihn vergessen. Doch ganz so einfach, wie ich mir das vorstellte, war es nicht. In der nächsten Nacht träumte ich wieder von Mulberry. Und ich sah Drago Santoya vor mir. Er hielt sein Gewehr in der Hand, fuchtelte damit vor meiner Nase herum und drohte, mich zu Hackfleisch zu verarbeiten, wenn ich jemals ein Sterbenswörtchen davon verraten würde, daß ich ihn im Wald am Fluß gesehen hatte. Am Schluß hob er seine Sharps und drückte auf mich ab. Es gab einen Knall, und ich schrie und wachte auf. Draußen war es hell. Die Sonne stand strahlend am eisblauen Winterhimmel, schickte ihre Strahlen durch das Fenster in meine Kammer und blendete mich. Ich streifte die Decke ab und richtete mich auf. Ich ging zur Kommode seitlich von der Tür. Hier stand eine Porzellanschüssel mit buntem Blumenmuster, daneben eine
einfache Tonkanne. Ich füllte aus der Kanne kaltes Wasser in die Schüssel und steckte meinen Kopf, soweit es ging, hinein. Als ich dann zum Fenster trat und hinausschaute, fühlte ich mich besser. Ich streifte die bösen Gedanken ab. Warum sollte ich mich sorgen? Der Tag war viel zu schön für häßliche Gedanken.
4. Ende Februar schmolz der Schnee. Überall erhielt die schöne weiße Decke, unter der sich die Erde bis jetzt versteckt hatte, Risse und Löcher, durch die blaßgrünes, zerrupftes Gras und von Eiswasser aufgeweichter lehmiger Boden schimmerten. Für einige Wochen sah das Land aus wie das von Pockennarben zerfressene Gesicht eines alternden Riesen. Der Fluß schwoll mächtig an und trat über die Ufer. Er überflutete die beiden Brücken eine Meile südlich der Mission und unterhalb der Wilkins-Farm. Das Wasser reichte für ein paar Tage bis an den Missionshof heran. Ein paar tote Kühe trieben auf den Wellen vorbei, entwurzelte, riesige Bäume wurden flußabwärts gespült. Hausrat und Gerümpel trieben auf dem Wasser und kündeten davon, daß viele Meilen entfernt von uns am Oberlauf des Pease River die Farmen heftig gebeutelt worden waren. Wir kamen glimpflich davon. Auf der Ricks-Farm wurde ein Geräteschuppen von den Fluten weggerissen. Bei den Benders wurde ein Vorratslager überschwemmt, und ein paar Zentner Saatgut gingen verloren. Das war auch schon alles, wenn man von den drei Schafen absah, die den Stoddards ertranken. Nach allem, was die Siedler in den letzten Jahren im Pease-River-Valley durchgestanden hatten, waren das nur »Feiertagsschäden«, wie Peter Longley es nannte. Als der März begann, hatte sich der Fluß in sein Bett zurückgezogen. Der Schnee war zum größten Teil geschmolzen. Nur am Rande der Karrenwege lag noch schmutziggrauer Schneematsch, und hier und da fand sich noch ein weißer Fleck. Doch die Erde atmete wieder. Sie erwachte aus dem Winterschlaf. Überall sprossen die ersten Pflanzen aus dem Boden. Der Graswuchs verdichtete sich, und die bunten Wildblumen begannen zu knospen.
Am 1. März im Jahre des Herrn 1854, wie Padre Ambrosius zu sagen pflegte, wurde in einem kaum genutzten Magazingebäude der Mission der größte Raum leergeräumt. Alles Gerümpel, das sich im Laufe der Zeit hier angesammelt hatte, wurde hinausgeschafft und am Fluß verbrannt. Dann wurden einfach gefertigte Tische und Bänke hineingestellt. Eine große schwarze Tafel, die im Store von Mulberry abholbereit gestanden hatte, als wir vor Weihnachten dagewesen waren, wurde ebenfalls aufgestellt. Es wurde nun ernst mit der Schule. Am Sonntag zuvor hatte Padre Emanuel bereits in der Kapelle nach dem Gottesdienst die Nachricht verlesen, daß die Mission eine Schule eröffnen werde und alle, die lesen, schreiben und rechnen lernen wollten, herzlich willkommen seien. Als die Schule drei Tage später eröffnet wurde, erschienen sie fast alle. Sogar die Benders schickten Sam und Joe, die beiden neun und zehn Jahre alten Söhne, obwohl sie jedesmal einen Weg von fast acht Meilen zurückzulegen hatten. Sie ritten auf eigenen Ponys. Auch ein paar Erwachsene kamen, um sich die Sache anzusehen. Sie saßen in der ersten Unterrichtsstunde an der Rückwand des Klassenraumes und ich bin sicher, daß das meiste, was Padre Ambrosius uns erzählte, auch für sie neu war. Ich hatte mich auf die Schule gefreut. Doch das verging mir bald. So einfach, wie ich mir das alles vorgestellt hatte, war es nicht. Gleich in der ersten Stunde ging es los. Padre Ambrosius malte mit Kreide ein seltsames Gebilde an die Tafel und erklärte zu unser aller Erstaunen, daß dies ein A sei. Dann mußten wir es selbst probieren. Die Padres hatten Tafeln an die Kinder verteilt, die keine besaßen. Sie sollten am nächsten Tag von zu Hause das Geld dafür mitbringen. Soweit ich mich erinnere, taten das alle. Ich malte lustig drauflos und stellte fest, daß das vertrackte A viel leichter aussah, als es sich schreiben ließ. Nachdem ich eine Zeile mit viel Mühe vollgeschrieben hatte, war ich am Ende meiner Kraft, und als ich dann hörte, daß das ganze Alphabet sechsundzwanzig Buchstaben hätte, sank meine anfängliche Begeisterung auf den Nullpunkt. Ich bezweifelte, daß ich auch nur ein Viertel davon jemals lernen würde, und den anderen Kindern erging es nicht viel
besser. Nur All Fizzard, dieser hinterhältige Giftzwerg, hatte nicht die geringsten Schwierigkeiten. Er malte ein A, das schöner aussah als das von Padre Ambrosius. Er schrieb die ganze Tafel damit voll, war als erster fertig und handelte sich ein Lob von Padre Ambrosius ein. Ich glaube, wir haßten ihn in diesem Moment alle, und mir wurde wieder einmal klar, wie ungerecht die Fähigkeiten auf dieser Welt verteilt waren. Nach der ersten Stunde las Padre Ambrosius aus der Bibel vor und entließ uns schließlich mit der Aufgabe, bis zum nächsten Tag eine Tafel voll mit sauberen A-Buchstaben zu schreiben. Die meisten begaben sich etwas nachdenklich auf den Heimweg. Da hatten wir uns etwas schönes eingehandelt. Wider Erwarten erschienen am nächsten Tag alle Kinder vom Fluß vollzählig in der Mission. Auch diesmal waren ein paar Erwachsene dabei. Es waren drei der Longley-Brüder, der jüngste fünfundzwanzig, der älteste schon an die dreißig Jahre alt. Sie kamen nicht, um zuzuhören, sondern um mitzulernen. Sie stellten sich erst etwas linkisch an, merkten aber bald, daß es uns Kindern völlig egal war, wer außer uns noch in der Klasse saß. Im Laufe der nächsten Wochen lernten alle, auch ich zu meiner Verwunderung, das Alphabet. Bald schrieben und lasen wir ganze Sätze, und die Schulzeit wurde auf drei Stunden täglich erweitert. Denn nachdem wir die Qual der ersten Schreibversuche hinter uns gebracht hatten, kam eine neue, noch schrecklichere Aufgabe auf uns zu. Padre Frastus weihte uns in die Grundbegriffe des Rechnens ein. Aber trotz der Schule trafen wir Jungen uns noch immer an den Nachmittagen am Fluß. Nach ein paar Wochen wurde die Schule auf drei Tage in der Woche beschränkt, da die Feldarbeit wieder eingesetzt hatte und alle, auch die Kinder, auf den Feldern gebraucht wurden. Ich ging auf die alte Wilkins-Farm und half Clay und Lizzy, die ja nun seit fast einem Jahr, seit sie mit Bob verheiratet war, Danton hieß. Aber die Arbeit bereitete mir längst nicht mehr soviel Spaß wie zu der Zeit, als John und Kate Wilkins noch gelebt hatten. An einem Tag im April erzählte Jerry Ricks davon, das bald ein Fremder in unsere Gegend ziehen würde. Sein Vater war in Mulberry
gewesen und hatte es dort gehört. Ein pensionierter Offizier. Eine Woche später tauchten Bauarbeiter im Pease River Valley auf. Clay hatte sie als erster gesehen und flüsterte es mir während des Unterrichts zu. Am Nachmittag liefen wir hinaus zur Baustelle. »Sie haben am Hill's Point alles abgeholzt«, sagte Clay unterwegs. »Und jetzt schachten sie eine Grube aus. Ich sage dir, das wird das größte Haus auf tausend Meilen im Umkreis.« Wir erreichten die Stätte, wo im vergangenen Jahr die Comancheros von der Bürgerwehr gehenkt worden waren, und schon von weitem waren die Wagen zu sehen, die hin und her fuhren, und die vielen Männer, die den ganzen Hügel abzutragen schienen. Als wir heran waren, sahen wir, daß kein Baum und kein Strauch mehr auf dem Hügel stand. Statt dessen gähnte dort ein riesiges Loch von mindestens zwanzig Yards Länge und etwa zwölf Yards Breite. Uns blieb nicht viel Zeit, die Sache genauer zu betrachten. Ein hühnenhafter Mann scheuchte uns davon und drohte mit einem Knüppel. In einigem Abstand blieben wir stehen und schauten weiter zu. »Stephens heißt der Mann, der hierherzieht«, sagte Clay. »Colonel war er. Das wird jetzt überall erzählt. Er soll sogar mal persönlicher Adjudant von Sam Houston gewesen sein.« »Was ist das?« fragte ich. »Adjutant?« »Keine Ahnung«, sagte Clay. »Irgend so ein hohes Tier. Jedenfalls ist er verdammt reich. Bob hat davon erzählt. Er war bei den Longleys, und Big Longley kennt ihn. Er ist ja auch im Krieg gewesen.« »Die Longleys spinnen manchmal«, sagte ich. »Die wollen sich bloß wichtig tun.« »Der alte Longley war im Krieg«, sagte Clay. »Du hast selbst den Orden gesehen, den er mit sich herumschleppt. Er hat gegen Mexiko gekämpft, unter General Zachary Taylor. Warum soll er da nicht auch mal einen Colonel Stephens gesehen haben?« »Vielleicht ist es ein ganz anderer«, sagte ich. »Jedenfalls wird's ein Riesenhaus«, sagte Clay nach längerem Schweigen. Das stimmte. Wir schauten noch eine Weile zu. Doch da die
Bauarbeiter uns nicht näher heranließen, kehrten wir bald zum Fluß zurück. »Bob meint, daß wir vielleicht bald eine Postkutschenagentur herbekommen, wenn sich bei uns alles weiter so entwickelt«, sagte Clay. »Was entwickelt?« »Na, wenn noch mehr Leute hier siedeln und so.« »Wär 'ne feine Sache«, sagte ich. »Die Gegend wird zivilisiert, sagt Bob.« Clay quälte sich mit dem komplizierten Wort ab. »Ich bin mal gespannt auf den Colonel«, sagte ich. Clay nickte. Er blickte sehnsüchtig über den Fluß. »Vielleicht gehe ich auch zur Armee«, sagte er nach einiger Zeit. »Ich dachte, du wolltest Fallensteller werden?« Sein Gesicht verzog sich ein wenig, als er mich anschaute. »Ein Job bei der Armee ist eine feine Sache«, sagte er, ohne meinen Einwand zu beachten. »Man kann jeden Tag reiten, schießen, kämpfen, kriegt sein Essen, wird gut bezahlt und braucht sich nicht groß den Kopf zu zerbrechen.« »Und wenn du Pech hast, schießt dich ein Indianer oder sonstwer aus dem Sattel«, sagte ich. »Ein Risiko ist bei jedem Beruf.« Er hatte die Hände tief in seine Hosentaschen vergraben. »Jedenfalls kriegt man eine feine Uniform, und man wird befördert. Sieh dir diesen Colonel an. Was der sich für ein Haus baut.« »Wenn du Offizier werden willst, mußt du nach West Point«, sagte ich. Das hatte Padre Tenebro mir erzählt. »Glaubst du, die nehmen dich in West Point?« »Warum nicht?« Clay hockte sich ans Ufer, hob einen Stein auf und warf ihn in flachem Winkel auf den Fluß, so daß er ein gutes Stück über das Wasser tanzte, bevor er versank. Ich schwieg. Damals wollten fast alle Jungen vom Fluß zur Armee oder zu den Texas-Rangers. Daß jetzt auch Clay damit anfing, wunderte mich etwas. Ich selbst hatte nicht die gleichen Wünsche. Genaugenommen hatte ich noch nie darüber nachgedacht, was aus mir einmal werden sollte. Ich fand, daß ich noch genügend Zeit dazu
hatte. Clay richtete sich auf. »Ich muß noch ein paar Aufgaben erledigen«, sagte er. »Ich wollte, Bob würde sagen, daß er mich auf den Feldern braucht, damit ich nicht mehr zur Schule muß.« Ich nickte nachdenklich und zog mit der Spitze meines rechten Stiefels Kreise in den Ufersand. »Es ist schon eine teuflische Sache, dieses Rechnen.« »Wer das erfunden hat, den sollte man aufhängen«, sagte Clay. Er schlug mir mit der Rechten auf die Schulter und schlenderte davon. Ich schaute ihm eine Weile nach, ehe ich langsam in Richtung Mission trottete. * Wir brauchten nicht lange auf den geheimnisvollen Colonel Stephens zu warten. Er hieß wirklich Stephens. Jefferson W. Stephens. Und er war ein ehemaliger Colonel der Armee. Er hatte auch gegen Mexiko gekämpft, und Big Halsey Longley, der Stammvater der überaus fruchtbaren Longley-Sippe, versicherte überall stolz, daß er Stephens mal auf einer Parade gesehen habe, als er selbst noch bei der Armee gedient hatte. Eine Woche nach Baubeginn, Ende April, kam Colonel Stephens. Er erschien mit großem Gefolge. Er selbst saß in einer schwarz verhangenen Kutsche, die von einem Negersklaven gelenkt wurde. Allein das war schon eine Sensation. Es war das erstemal, daß wir Jungen einen Sklaven sahen. Einmal hatte uns Sam Bender ein Bild von einem Neger gezeigt. Er besaß ein dickes Bilderbuch mit allerhand Abbildungen darin. Aber das waren eben nur Bilder, während jetzt ein leibhaftiger Mann mit schwarzer Hautfarbe in unserer Gegend leben sollte. Der Colonel wurde von seinem Privatsekretär begleitet, einem großen, dürren Mann, der Beine hatte wie ein Storch und sich auch so bewegte. Er war der erste, den wir aus der Gefolgschaft des Colonels sahen. Er turnte nämlich hysterisch auf der Baustelle herum, schnauzte die Arbeiter an, war mit nichts zufrieden und veranstaltete ein
Riesentheater. Wir beobachteten das alles aus sicherer Entfernung, denn natürlich hatte sich die Ankunft der Männer herumgesprochen, die so feine Anzüge trugen wie die Farmer vom Pease River nicht mal an Sonnund Feiertagen. Den Colonel sahen wir zunächst nicht. Der hielt sich in einer Hütte auf, die die Bauarbeiter für sich errichtet hatten. Darin ruhte er sich von der langen Fahrt aus. Ab und zu sahen wir den Negersklaven heraustreten, etwas besorgt und dann wieder in der Hütte verschwinden. Eine Art Landvermesser war damit beschäftigt, die Grenzen des Grundstücks abzumessen und abzustecken. Ein anderer Mann maß Wege und Beete rings um die Baugrube aus und zog überall dünne Schnüre zwischen kleinen Pflöcken, die er in die Erde rammte. Nicht nur Clay und ich hatten uns in der Nähe des Hill's Point versammelt, um dem Treiben zuzuschauen. Nach der Schule waren fast alle anderen Jungen mitgekommen. Bevor sie den Heimweg antraten, wollten sie sehen, was sich auf der Baustelle tat, um ihren Eltern ein paar Neuigkeiten berichten zu können. An diesem Nachmittag zeigte sich Colonel Stephens dann doch nicht mehr. Wir sahen, daß der Negerdiener den Einspänner neben der Hütte, in der der Colonel sich aufhielt, abstellte umd mit einer Plane verdeckte. Daneben baute er für sich als Unterkunft ein kleines Zelt auf. Der storchenbeinige Sekretär und die beiden Gartenvermesser suchten eine zweite Hütte auf. Und für die Arbeiter, die aus den Hütten ausquartiert worden waren, wurden Zelte errichtet. Erst am nächsten Tag wurde unsere Geduld belohnt. Wir brauchten gar nicht zur Baustelle zu gehen. Colonel Stephens besuchte die Mission, während wir gerade Unterrichtspause hatten. Sein Erscheinen war mit einem kleinen Schock verbunden. Zumindest für Clay und mich. Vieles, was ich vergessen geglaubt hatte, stand plötzlich so klar und deutlich vor mir, als wäre es erst gestern gewesen, und ich begann an jenem Tag zu ahnen, daß noch eine Menge Ärger auf uns zukommen würde. Wir hatten gerade die gefürchtete Rechenstunde mit Padre Frastus
hinter uns gebracht und standen draußen auf dem Missionshof, um für ein paar Minuten neue Kraft zu schöpfen. Da näherte sich ein Reiter von Süden. Es war kein Farmer und auch keiner der für das Land typischen Reiter. Es war ein großer, schlanker, weißhaariger Mann, der in tadelloser Haltung im Sattel saß. Er trug einen dunkelgrauen Gehrock, dezent gestreifte Hosen, ein weißes Hemd mit einer schwarzen Schnürsenkelkrawatte und einen halbhohen Zylinder. Ein würdiger, schlohweißer Backenbart gab seinem schmalen, aristokratisch geschnittenem Gesicht eine etwas behäbige Note. Aber nicht allein der Anblick dieses Reiters löste Erschrecken in mir aus. Es war das Pferd, das er ritt. Es war ein Apfelschimmel von überwältigender Schönheit. Ein Traumpferd. Ein Tier, das man nicht vergessen konnte, wenn man es einmal gesehen hatte. Ich hatte es schon einmal gesehen. Und Clay auch. Ich war ganz sicher. Es war dasselbe Pferd, das wir damals im Wald südlich von der Mission gesehen hatten, als wir Drago Santoya, den Mörder, beobachtet hatten. Mir entfuhr ein leiser Schreckensruf, als ich den Reiter von weitem sah. Jerry Ricks und Sam Bender standen gerade bei mir, drehten sich um, schauten dem Reiter entgegen und blickten mich dann verwundert an. Aber ich gab ihnen keine Erklärung für mein Erschrecken. Ich schaute mich rasch nach Clay um und entdeckte ihn neben dem Brunnen in der Mitte des Hofes. Er hatte den Reiter auch entdeckt, und er war blaß. Da wußte ich, daß er in diesen Sekunden das gleiche dachte, wie ich. Der Reiter näherte sich und ritt auf den Hof. Uns kamen Zweifel. Wir hatten damals nicht das Gesicht des Mannes gesehen, der dem Mexikaner einen braunen Umschlag übergeben hatte. Nur das Pferd und die elegante Kleidung des Mannes waren uns aufgefallen. Vielleicht gab es mehrere solcher Apfelschimmel. Gleichzeitig aber sagte ich mir, daß das unmöglich war. Ein solches Tier gab es nur einmal. Aber die Zweifel blieben. Denn wir waren uns alle sofort darüber im klaren, wer der Reiter war. Er ritt dicht an mir vorbei. Ich konnte seine eisgrauen Augen sehen
und den etwas arroganten Zug in dem schmalen Gesicht. Als ich ihn von hinten sah, durchzuckte es mich wieder: Das mußte der Mann sein, den Clay und ich im Winter im Wald beobachtet hatten. Der Mann stieg ab. Padre Emanuel hatte ihn von seinem Arbeitszimmer aus gesehen und trat aus dem Haus. Der Fremde nahm den Zylinder ab und zog die dünnen Lederhandschuhe aus, die er beim Reiten getragen hatte. »Stephens ist mein Name«, hörten wir ihn sagen. Er hatte eine sonore, angenehme, aber dennoch irgendwie energische Stimme, die es gewöhnt war, zu befehlen. »Jefferson Stephens, Padre. Ich werde bald Ihr Nachbar sein und wollte mich gewissermaßen vorstellen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, in dieser Gegend ein Plätzchen gefunden zu haben, auf dem ich meinen Lebensabend verbringen kann.« »Ihr Besuch freut mich außerordentlich, Mr. Stephens«, sagte Padre Emanuel. »Die Mission ist immer darum bemüht gewesen, zu allen Menschen, die in diesem Land leben, gute nachbarschaftliche Beziehungen zu unterhalten.« Er bat den Colonel ins Haus, und als sich die Tür schloß, setzte lebhaftes Gemurmel unter den Jungen ein. Das Pferd wurde bestaunt, aber niemand traute sich an das Tier heran. Ich beteiligte mich nicht an der Diskussion und Clay auch nicht. Ich schlich hinter das Magazingebäude, in dem der Unterricht stattfand, und wartete eine Minute. Dann tauchte Clay auf und lehnte sich neben mich an die Hauswand. Wir schwiegen erst und lauschten den Stimmen auf dem Hof. Clay war es, der schließlich als erster etwas sagte: »Eine verteufelte Sache.« Ich nickte. Genau das hatte ich auch gerade gedacht. »Ich glaube, daß das alles Blödsinn ist«, sagte ich schließlich. Aber es klang nicht sehr überzeugend. »Es wird viele Apfelschimmel geben. Und so nahe waren wir damals ja nicht an den beiden Kerlen dran, daß wir das Pferd uns so genau hätten anschauen können.« »Möglich«, sagte Clay. »Und außerdem: Dieser Stephens ist ein ehemaliger Colonel. Was
soll der mit einem Verbrecher wie diesem Santoya zu tun haben?« »Ich kann es mir ja auch nicht vorstellen«, sagte Clay. »Es ist schon zu lange her«, sagte ich. »Viele Männer reiten mit einem Zylinder herum. Und es gibt sicher Tausende von Apfelschimmeln.« »So wird es sein«, sagte Clay. Wir hörten die Stimme von Padre Ambrosius in diesem Moment, der in der nächsten Stunde unterrichtete und rief, daß die Pause beendet sei. »Also, wir halten den Mund?« fragte ich. »Klar.« Clay strich sich seine dichte Haartolle aus der Stirn. »Was meinst du, wie man uns auslachen würde, wenn wir erzählten, was wir gerade gedacht haben. Und dann würde es ein großes Donnerwetter geben, weil wir Schauergeschichten über einen vornehmen Mann erzählen. Nein, nein, lassen wir lieber die Finger davon, und halten wir die Klappe. Außerdem ist bestimmt alles eine Verwechslung, und wir hätten nur einen Haufen Ärger, wenn wir redeten.« »Es ist bestimmt alles ein Irrtum«, sagte ich. »Vergessen wir die Sache.« Wir umrundeten das Magazingebäude und konnten gerade noch als letzte in das Klassenzimmer schlüpfen und uns auf unsere Plätze setzen. Dann begann Padre Ambrosius mit dem Unterricht. Wir hatten unsere Lesebücher vor uns liegen und mußten der Reihe nach aus einer Geschichte vorlesen, deren Inhalt ich vergessen habe. Ich weiß nur noch, daß ich nicht bei der Sache war und mich ständig verhaspelte, was mir einen strafenden Blick von Padre Ambrosius eintrug. Mir gingen der Apfelschimmel und sein eleganter Reiter nicht aus dem Sinn. Immer wieder dachte ich an die Szene im Winter, als Clay und ich hinter einem Gebüsch gelegen und das Treffen des Killers Santoya mit einem gut gekleideten Reiter auf einem Apfelschimmel beobachtet hatten. Noch während der Unterricht in vollem Gange war, sah ich durch ein Fenster Colonel Stephens davonreiten. Ich sah ihn nun wieder von hinten, und je weiter er sich entfernte, um so sicherer war ich,
daß es genau derselbe Mann war, den wir im Winter gesehen hatten. Aber das konnte ja nicht sein, weil es nicht sein durfte. Colonel Stephens war ein ehrenwerter und angesehener Mann. Padre Emanuel war freundlich zu ihm gewesen. Colonel Stephens hatte nichts mit Killern zu schaffen. Ich mußte mir diese wirren Gedanken aus dem Kopf schlagen. An diesem Tag verrann die Zeit wieder unerträglich langsam. Die Stunde schien überhaupt nicht verstreichen zu wollen. Draußen schien die Sonne. Es war heißer, als es für diese Jahreszeit gut war. In der Klasse war es stickig, und die Sonne brannte auf die Fensterscheiben, so daß es noch wärmer im Raum war. Zumindest erschien es mir so. Dann aber war der Unterricht doch zu Ende. Ich packte meine Bücher und meine Tafel zusammen und nahm mir vor, mit Clay ein Stück flußaufwärts auf die Wilkins-Farm zuzulaufen, um mit ihm zu reden, bevor zum Mittagessen in der Mission geläutet wurde. Aber an diesem Tag war einfach alles wie verhext. Gerade, als wir das Schlußgebet gesprochen hatten, hielt vor der Mission ein Farmwagen, der mit einem Pflug und anderen Feldgeräten beladen war. Auf dem Bock saß Bob Danton in verwaschenen Levis-Hosen und einer grauen Leinenjacke. Er trug einen breitkrempigen Hut. Neben sich auf dem Bock hatte er ein Sharps-Gewehr stehen. Er kam, um Clay abzuholen, der ihm den ganzen Nachmittag auf den Feldern helfen sollte. So konnte ich nicht mehr mit ihm sprechen. Ich schaute Clay nach, der wie ein Häufchen Elend neben seinem Schwager auf dem Wagenbock saß. Die anderen Kinder stürmten lachend und schwatzend davon, bestiegen ihre Pferde oder gingen zu Fuß nach Hause. Was wußten sie schon von meinen und Clays Sorgen. Sie hatten ein unbeschwertes Leben. Warum, zum Teufel, fragte ich mich, war ich es immer, der in solche Sachen hineingeriet. Der eingebildete großklotzige All Fizzard, der als Rechengenie und Streber in der Missionsschule bei allen Kindern der Gegend noch unbeliebter geworden war, würde niemals auf einen mexikanischen Spion stoßen. Er würde niemals vor dem Gewehr eines kaltblütigen Killers stehen und später Zeuge werden, wie der Kerl sich mit einem
Mann traf, der dem ehrenwerten Colonel Stephens verteufelt glich. Das Leben war schon ein Kreuz. Nachdenklich zog ich mich in meine Kammer zurück. * Ich traf Clay tatsächlich nicht mehr an diesem Nachmittag. So lief ich allein zur Baustelle am Hill's Point hinaus, wo die Arbeiter wie ein emsiges Ameisenvolk schufteten, angetrieben von dem storchenbeinigen Sekretär Stephens'. Es war wirklich erstaunlich, zu sehen, wie rasch das Haus wuchs. Der Keller war bereits fertig, als ich gegen fünf Uhr am Nachmittag das Hügelland erreichte. Ich sah den Neger-Sklaven, der den Apfelschimmel striegelte und ihn dann in ein eigens dafür aufgebautes Zelt führte, in dem er wohl schon am Vortage gestanden hatte, da wir ihn ja nicht gesehen hatten. Stephens selbst bewegte sich vorwiegend schweigend auf dem Hügel herum, schaute sich alles an und schien zufrieden zu sein. Ich lag lang ausgestreckt im Gras. Der Boden war bereits warm, und ich kaute auf einem Grashalm. Von der Baustelle aus konnte man mich nicht sehen. Aber ich beobachtete, daß der Neger ein Pferd vor den schwarzen Wagen spannte und dann allein auf den Fluß zu ohne Stephens davonfuhr. Ich wartete, bis er sich weit genug entfernt hatte, so daß ich sicher sein konnte, daß sein Ziel der Pease River war, und erhob mich dann und folgte ihm langsam. Als ich den Fluß erreichte, sah ich den Wagen am Ufer stehen. Ich ging noch ein Stück näher, legte mich dann flach auf den Boden und kroch vorsichtig näher. Meine Neugier war groß. Der Neger hatte das Gespannpferd angehobbelt und war damit beschäftigt, den Wagen zu säubern. Er hatte sich zu diesem Zweck bis auf Hosen und Stiefel entkleidet. Jetzt aus der Nähe sah ich erst, wie groß er war. Er maß weit über sechs Fuß. Er hatte eine hünenhafte Gestalt. Unter der ebenholzfarbenen Haut wölbten sich starke Muskelwülste an Brust, Schultern und Armen, die bei jeder Bewegung deutlich hervortraten. Er sang, während er arbeitete. Er hatte eine eigenartige dumpfe
und doch wohlklingende, volltönende Stimme, wie ich sie noch nie vorher gehört hatte. Seine Nase war vielleicht etwas zu breit und seine Lippen zu voll. Doch das paßte zu seinem Gesicht. Er schien völlig kälteunempfindlich zu sein. Zwar war es an diesem Tag recht warm, doch der Pease River führte noch immer die eisigen Schmelzwasser aus den Bergen mit sich. Aber der Neger stieg ohne zu zögern in den Fluß, schöpfte mit zwei Ledereimern Wasser zur Wagenwäsche heraus und schien nicht im geringsten zu frieren. Als er mit dem Wagen fertig, dafür selbst aber ziemlich schmutzig war, watete er zu meinem Entsetzen in den kalten Fluß, warf sich hinein und schwamm mit kräftigen Zügen bis zum anderen Ufer und wieder zurück. Ich war unterdessen noch näher herangekrochen und kriegte schon vom Zuschauen eine Gänsehaut. Als der große Mann aus dem Wasser stieg, entdeckte er mich und bleckte ein herrliches, gleichmäßig gewachsenes Gebiß. »Hallo!« rief er. Ich war etwas unsicher, richtete mich aber dann doch auf und blieb in sicherem Abstand stehen. »Was treibst du denn hier?« fragte er. Seine dunkle Haut glänzte vor Nässe. Er lachte und schlüpfte in seine Kleidung, ohne sich vorher abzutrocknen. »Ist Ihnen nicht kalt?« fragte ich zurück, ohne seine Frage zu beantworten. »Kalt?« Er lachte, während er sein Hemd zuknöpfte. »Jetzt ist es gerade richtig.« Er betrachtete mich genauer. »Bist du von einer der Farmen?« »Ich wohne in der Mission«, sagte ich. »Ihr seid wohl alle mächtig neugierig, weil wir hierherziehen, wie?« »Es kommen selten Fremde in die Gegend«, sagte ich. »Stimmt es, daß Mr. Stephens Colonel war?« »Das war er.« Der Neger nickte stolz. »Er hat so viele Orden, daß er damit eine ganze Wand tapezieren könnte.« Er zog die Stiefel an, die er, bevor er ins Wasser gestiegen war, abgestreift hatte. »Und wie heißt du, Kleiner?«
»Ronco«, sagte ich. »Und ich mag es nicht, wenn man mich Kleiner nennt. Ich werde in diesem Jahr acht Jahre alt.« »Das ist natürlich etwas anderes«, sagte er. »Ich heiße Napoleon. Aber du kannst mich Nap nennen.« Er lächelte wieder mit seinem kräftigen Gebiß und streckte mir seine große schwarze Hand entgegen. Ich zögerte einen Moment, dann ging ich langsam auf ihn zu und gab ihm meine Hand, die in der seinen völlig verschwand. »Man braucht Freunde, wenn man sich neu irgendwo niederläßt«, sagte er. »Ich schätze, wir können Freunde werden.« Ich hatte nichts dagegen. Er gefiel mir immer besser. »Arbeitest du für den Colonel?« fragte ich. Er nickte. »Der Colonel hat mich gekauft, unten in New Orleans auf dem Sklavenmarkt. Er hat fast tausend Dollar für mich bezahlt.« Er sagte es nicht ohne Stolz. Ich begriff das nicht gleich. Zwar war mir früher schon erzählt worden, das Sklaven wie eine Ware verkauft wurden. Aber da hatte ich auch noch keinen gekannt. Jetzt erschien es mir unmöglich, daß ein Mann wie Nap einfach wie ein Pfund Zucker gekauft werden konnte. »Gefällt es dir bei Mr. Stephens?« fragte ich unsicher. »Es ist auszuhalten.« Er lächelte und blickte über den Fluß, auf den jetzt langsam die Dämmerung sank. »Meine Eltern haben noch Baumwolle gepflückt, irgendwo in Luisiana, und auf den Tabakfeldern von Kentucky gearbeitet. Mir geht es besser als Ihnen.« Er drehte sich zu mir um und strich mir über den Kopf. »Das Land hier ist gut, Ronco«, sagte er. »Der Fluß erinnert mich an den Mississippi. Soll ich dich zur Station bringen?« »Es ist nicht weit«, sagte ich. »Ich komme schon hin.« Ich drückte wieder seine Hand, und er stieg auf den Bock des Wagens, nachdem er das Pferd angespannt hatte. Er winkte mir zu, knallte mit der Peitsche und fuhr davon. Ich hörte ihn leise singen, während er den Wagen zum Hill's Point steuerte. Ich schlenderte zurück zur Mission. Ich war nachdenklich geworden. Mir stiegen wieder Zweifel auf, ob Stephens der Mann war, für den Clay und ich ihn hielten. Nur, weil er sich gut kleidete und einen Apfelschimmel ritt …
Ich versuchte, nicht mehr daran zu denken. Den ganzen Nachmittag hatte ich an nichts anderes mehr gedacht. »Der Teufel soll das alles holen«, sagte ich laut zu mir selbst. Und dann hatte ich an diesem Tag auf einmal keine Zeit mehr, mir den Kopf darüber zu zerbrechen. Denn als ich die Mission erreichte und auf meine Kammer gehen wollte, erwischte mich Padre Ambrosius mit strengem Gesicht, nahm mich an der Hand und schleppte mich in sein Zimmer. »Ich habe dich gesucht, Söhnchen«, sagte er. »Den ganzen Nachmittag.« Er nötigte mich zum Setzen, legte das Lesebuch vor mich hin und klappte es auf. »Das war heute keine Glanzleistung im Unterricht«, sagte er. »Du sollst lesen lernen, und du wirst lesen lernen, wenn du willst, daß wir Freunde bleiben.« Er schaute mich ernst an, und ich begriff, daß es keine Ausflüchte und kein Wenn und Aber gab. Ich ergab mich in mein Schicksal, senkte den Kopf über das Buch und begann zu lesen.
5. In den folgenden Wochen waren Clay und ich noch häufiger an der Baustelle. Das Haus wuchs schnell, fast beängstigend schnell. Ich hatte Clay auch mit Napoleon bekannt gemacht. Aber wir sahen uns selten. Inzwischen war Colonel Stephens mit ihm auch wieder abgereist. Nur der Sekretär, der Brady hieß, in der ganzen Gegend aber nur »Storch« genannt wurde, hüpfte noch ein paar Tage aufgeregt auf dem Bauplatz herum und legte sich mit den Arbeitern an. Dann reiste auch er ab, und die Decke des Erdgeschosses wurde gerade eingezogen. Danach schienen die Arbeiter ihr Tempo noch zu verschärfen. Die Wände wuchsen wie durch Zauberei, und während die Zimmerleute darangingen, das Dachgebälk aufzusetzen, waren andere bereits damit beschäftigt, den Park rings um das herrliche, palastartige Haus anzulegen und die Flächen für ein paar kleine Nebengebäude abzustecken. Die ganze Zeit ließ sich Colonel Stephens nicht sehen. Es wurde gesagt, daß er im Moment noch in Austin, in der Hauptstadt, ein
Haus habe und beratend für die Regierung tätig sei. Es hieß, daß er das Haus verkaufen wolle, sobald sein neues Haus fertig sei. Dann würde er sich völlig in die Abgeschiedenheit des Pease-River-Tales zurückziehen und seinen Lebensabend genießen. Mit der Zeit schwand unser Interesse an dem Bau ein wenig. Auch die wirren Spekulationen über den Colonel verblaßten. Es gab andere Dinge, und wir waren inzwischen fest überzeugt, uns zu irren und nur durch unsere Phantasie dazu verleitet worden zu sein, in dem Colonel einen Komplicen des Killers Drago Santoya zu sehen. Wir waren froh, den Mund gehalten und niemandem etwas gesagt zu haben. Denn überall wurde über den Colonel gesprochen und es war nur das beste, was sich die Leute über ihn erzählten. Alle freuten sich, daß ein so reicher und wichtiger Mann in unsere Gegend gezogen war. So vergaßen wir alles nach und nach. Es ging auf den Sommer zu. Nur noch zwei Tage in der Woche war Schulunterricht. Wir hatten leidlich lesen, schreiben und sogar rechnen gelernt, was niemanden mehr wunderte als mich selbst. Als die Missionsschule ihren Betrieb einstellte, da nun auf den Farmen auf keine Hand verzichtet werden konnte, war das Haus des Colonel Stephens fertig. Es war ein Palast. Joe Culpok, der einmal mit seinem Vater in Austin gewesen war und das Gouverneursgebäude gesehen hatte, behauptete, daß sich dieses wie eine armselige Hütte gegen das Haus von Colonel Stephens ausnähme. So ganz glaubten wir ihm nicht. Aber das Haus war wirklich prachtvoll anzusehen. Es war weiß gestrichen worden. Rechts und links von einem wuchtigen Portal standen riesige Säulen, die ein vorgebautes Dach trugen. Die Fenster waren groß und im romanischen Stil gemauert. Es gab eine breite Freitreppe aus Marmor und einen riesigen Balkon. Rings um das Haus wurden Rosenstöcke gesetzt. In der Parkanlage wurde noch gearbeitet, doch auch hier war bereits zu erkennen, daß ein Garten von paradiesischer Schönheit entstehen würde. Einige Nebengebäude für das Personal und ein Stall befanden sich noch im Bau. Doch es konnte sich hier höchstens noch um ein oder zwei Wochen handeln, bis auch diese fertiggestellt waren. Es konnte nun täglich mit dem Einzug des Colonels gerechnet
werden. Und dann erschien er. Fünf große, vollbepackte Conestogaschoner fuhren ihm voraus. Sie brachten die Möbel, den Hausrat, die Bibliothek des Colonels und sein anderes persönliches Eigentum. Er selbst ritt den Apfelschimmel, während Fred Brady, sein Sektretär, in der schwarzen Kutsche saß, die von Napoleon gelenkt wurde. Ich wurde Zeuge dieser denkwürdigen Prozession. Es war der 20. Juni. Es war am frühen Vormittag, und ich befand mich auf dem Weg zur Wilkins-Farm, um Clay und den Dantons bei der Arbeit zu helfen und mir ein paar Cents zu verdienen. Seit kurzem sparte ich. Ich wußte noch nicht genau, wofür. Ich hatte nur inzwischen gelernt, daß man für alles etwas bezahlen mußte. So hob ich jeden Cent auf, den ich für Hilfsarbeiten auf den Farmen erhielt. Ich steckte die Cents in eine hölzerne Dose, die Padre Frastus vor zwei Jahren einmal für mich geschnitzt hatte. Jeden Abend zählte ich sie durch. Mittlerweile besaß ich fünfzehn Cents und fühlte mich fast schon reich. Ich blieb stehen, als ich die Wagen sah, und schaute zu, wie sie durch das hohe Gras vorbeifuhren, leicht schwankend wie kastenförmige Schiffe auf einem grünen Ozean, deren weiße Planen wie geblähte Segel erschienen. Dann sah ich die schwarze Kutsche und daneben Stephens auf dem Apfelschimmel. Ich spürte wieder einen dumpfen Druck im Magen. Ich konnte mich einfach nicht gegen die Gedanken wehren, die mir sofort wieder durch den Kopf zuckten. Ich wandte mich ab und lief davon. Ich schaute mich nicht mehr um, bis ich die Wilkins-Farm erreichte, wo Clay schon auf mich wartete und mich zu Bob Danton und Lizzy in die Scheune führte. Hier wurde ein Wagen mit Werkzeugen beladen. Wenig später fuhren wir gemeinsam zum Heuen hinaus. Ich erzählte Clay nichts von meinen Beobachtungen.
6. Die Erntezeit rückte näher. Die Kornfelder standen in voller Reife. Anfang Juli hatte ein Mann aus Kansas bei uns in der Mission Station gemacht. Er hatte lange mit Padre Emanuel gesprochen, und
später wurde im Farmland bekannt, daß die Einrichtung einer Poststation im Pease-River-Valley geplant war. Die ButterfieldOverland-Company interessierte sich dafür, eine Kutschenlinie von Mulberry aus durch unsere Region einzurichten. Die Gesellschaft plante, unter Umständen einen Farmer der Gegend die Leitung der Station zu beauftragen, da der Betrieb auf dieser Strecke ja doch nur gering sein und der Bau einer gesonderten Agentur sich nicht lohnen würde. In diesen Tagen schrieben einige Farmer Briefe an die nächste Generalagentur der Butterfield-Line und bewarben sich um den Posten. Denn obwohl sie alle drauf und dran waren, im Tal am Fluß reich zu werden, war doch jeder von ihnen an einem Zubrot, das mit wenig Arbeit zu erwerben war, interessiert. Dann wurde bekannt, daß mit einer Entscheidung der Frachtgesellschaft nicht vor dem nächsten Frühjahr zu rechnen war, und die Aufregung flaute wieder ab. Es gab auch genug anderes zu tun. Clay und ich sahen uns jetzt etwas seltener. Ich konnte nicht so häufig zu den Dantons gehen um zu helfen, denn mittlerweile gab es auch Arbeit auf den Feldern der Mission und im »Weinberg« von Padre Ambrosius, der zwar nur ein kleiner Hügel war, aber dennoch Beachtliches hervorbrachte. Ich hatte deshalb auch wenig Zeit, mich um Colonel Stephens zu kümmern, der längst keine Sensation mehr im Tal am Fluß war, sondern ein Bürger wie jeder andere. Er lebte still und zurückgezogen. Es fiel nur auf, daß er häufig verreiste und oft tagelang fortblieb. Er fuhr in seinem Einspänner häufig nach Süden in die Grenzgebiete, manchmal allein, manchmal begleitet von Napoleon, dem Sklaven. Hank O'Conners, ein Farmer, der erst im vorigen Sommer zum Pease River gezogen war, hatte einmal den langen Weg nach Austin, der Hauptstadt von Texas, auf sich genommen, um dort von einem Bankier einen Kredit zu günstigen Bedingungen aufzunehmen. Er erzählte nach seiner Rückkehr, daß er den Colonel dort getroffen habe. Er habe beobachtet, wie er den Gouverneurspalast und das Innenministerium aufgesucht habe. Da alle wußten, daß der Colonel
früher einmal, als er noch Offizier gewesen war, als Regierungsberater fungiert hatte, wunderte sich niemand darüber. Alle nahmen an, daß er eben noch immer nicht ganz von seiner Arbeit gelassen hatte. Wenn Stephens zu Hause war, ritt er jeden Morgen aus. Er ritt mit seinem Apfelschimmel durch die Flußniederungen und über die weitflächigen Weiden des Farmlandes. Jedesmal, wenn Clay und ich ihn reiten sahen, fielen uns unsere Erlebnisse vom Winter wieder ein. Nichts konnte sie verdrängen. Nach und nach jedoch schwanden unsere Zweifel, daß Stephens der Wolf im Schafspelz war, für den wir ihn insgeheim hielten. Er benahm sich überall höflich und bescheiden. Er besuchte jeden Sonntag mit seinem Personal die Messe. Er spendete der Missionskapelle einen prachtvollen Opferstock aus schwarzer Mooreiche, auf dem im Hochrelief die Jünger Jesu eingeschnitzt waren, brachte jeden Monat eine große Kerze mit farbigen Verzierungen mit und ließ sich bei der Kollekte nie lumpen. Napoleon, den ich manchmal am Fluß oder in dem großen Park des Stephens-Hauses traf, wo er den Rasen mit der Sense mähte oder Blumenbeete umgrub, sprach stets respektvoll von der Güte seines Herrn und dankte dem Schicksal, von Stephens gekauft worden zu sein. So wurde es für Clay und mich immer schwieriger, in Stephens einen verkappten Gauner zu sehen. Wobei Naps Beurteilungen für mich ausschlaggebend waren. Denn erstens war er fast ständig mit seinem Herrn zusammen und mußte ihn daher kennen, und zweitens mochte ich Nap gern. Er konnte Geschichten erzählen wie kein anderer. Da er sehr abergläubisch war, wimmelte es in seinen Erzählungen immer von Nachtgeistern, von verfluchten Seelen, von Toten, die um Mitternacht aus ihren Gräbern stiegen und anderen grauenvollen Dingen, die Clay und mir jedesmal eine Gänsehaut über den Rücken jagten. Manchmal, wenn ich mit Nap in seiner Hütte saß, die am Rande des Stephens-Grundstückes errichtet worden war, und seinen Geschichten lauschte, ließ er sich auch dazu bewegen, zu erzählen, wohin er mit seinem Herrn fuhr, wenn wieder kurze Reisen des
Colonels bevorstanden. Meist waren die Ziele mir völlig unbekannte Grenznester, oder es waren ein paar größere Städte im Innern des Landes, wie etwa Austin oder Houston. Was Stephens trieb, wußte Nap auch nicht, zumindest sagte er, daß er es nicht genau wisse. Er meinte nur, daß die Geschäfte seines Herrn mit Politik zu tun hätten, da er sich häufig mit Ministern, Abgeordneten und hohen Offizieren treffe. Das alles hörte sich zwar geheimnisvoll, aber sonst ganz normal an. Unser Mißtrauen sank, zumal ja auch in unserer Gegend alles ruhig blieb. Wir taten innerlich Abbitte bei Colonel Stephens, diesem feinen, guten Mann, der mir sogar einmal in der Mission über den Kopf gestrichen und einen halben Dollar in die Hand gedrückt hatte. Einen halben Dollar. Das war ein Vermögen für mich. Ich schlief an diesem Tag lange nicht ein und betrachtete die silberne Münze, die ich schließlich zu den Centstücken in meiner Holzdose tat. Es wurde August, und ich weiß noch genau, daß es in der Mitte des Monats war, als das geschah, was das ganze Pease-River-Valley in Aufregung versetzen sollte. Clay und ich hatten uns an diesem Tag vor der Arbeit gedrückt. Es war unerträglich heiß, und der Fluß sah so einladend aus. Wir trafen uns an der kleinen Brücke zwischen der Mission und der WilkinsFarm, die mittlerweile von allen »Danton Farm« genannt wurde, um zu schwimmen. Wir hielten uns etwa zwei Stunden am und im Wasser auf und beschlossen dann, mal wieder unseren hohlen Baum aufzusuchen. Wer die Idee dazu hatte, weiß ich nicht mehr. Seit dem Tage, als wir von dort aus Zeuge geworden waren, wie die MillerFamilie von einer kriegerischen Apachenhorde niedergemetzelt worden war, hatten wir den Baum nicht mehr aufgesucht. Es war uns auch verboten worden. Doch das hatten wir längst vergessen. Wir kleideten uns an, überquerten die Brücke und marschierten los. Schon von weitem merkte ich, daß etwas nicht in Ordnung war. Ich blieb stehen und faßte nach Clays Schultern. »Auf dem Baum ist jemand«, sagte ich. Clay kniff die Augen zu engen Schlitzen zusammen. »Du spinnst«, sagte er. »Da ist jemand«, beharrte ich.
»Wer soll denn da sein?« Clay schaute mich zweifelnd an. »Außer uns kennt doch niemand den Baum.« »Jeder kann ihn finden«, sagte ich. »Es ist einfach ein Baum, und warum sollen nicht auch andere merken, daß er hohl ist und oben einen Ausguck hat.« »Unsinn«, sagte Clay. Er setzte sich wieder in Bewegung. Ich folgte ihm notgedrungen. »Du wirst schon sehen«, sagte ich. Wir gingen noch etwa hundert Yards schweigend nebeneinander her. Dann waren wir nicht mehr weit von dem Baum entfernt, der einsam in der Ebene stand. Da bewegten sich einige der starken Äste, die die Krone bildeten. Nun verhielt auch Clay im Schritt. »Da ist jemand«, sagte ich wieder. Diesmal widersprach Clay nicht. »Was tun wir jetzt?« fragte er. »Wir gehen weiter«, sagte ich. »Ich will wissen, wer da zwischen den Ästen herumturnt.« Wir gingen weiter, wenn auch etwas langsamer als zuvor. Schließlich standen wir vor dem Baum und konnten durch die Zweige zwei Gesichter entdecken, die böse grinsend auf uns herunterschauten. Wir erkannten All Fizzard und Fitz O'Conner. Über All Fizzard wunderten wir uns nicht. Dieser schleimige Kerl war zu allem fähig, warum hätte er da unseren Baum nicht finden sollen? Aber das es ihm gelungen war, Fitz O'Conner mitzuschleppen, war schon ein starkes Stück. Fitz war der schmächtigste Junge in der Klasse und auch der stillste. All hatte sich ihn wahrscheinlich als ständigen Bewunderer auserkoren, weil wir anderen nichts mit ihm zu tun haben wollten. Und Fitz, der nicht sehr gesellig war, hatte sich dem großmäuligen All wohl eher aus Schwäche angeschlossen. Ich sah, daß Clay wütend wurde. Er steckte den Kopf in den Stamm und schaute in dem hohlen Baum nach oben. »Na, ihr Würstchen!« rief All Fizzard von oben herunter. Er gab sich überlegen und war sich seiner sicheren Lage voll bewußt. »Komm 'runter, du Scheißer!« sagte Clay. »Aber schnell, Freundchen, sonst wirst du dich entschuldigen, geboren worden zu
sein.« »Das ist unser Baum«, sagte ich. »Vielleicht war es mal euer Baum«, sagte All. Er brach kleine Rindenstückchen ab und warf sie gelangweilt auf mich herunter. Ich mußte zur Seite springen, um nicht ins Gesicht getroffen zu werden. »Jetzt ist es unser Baum.« »Das werde ich dir zeigen«, sagte Clay. »Sollten wir nicht besser 'runtergehen«, hörte ich Fitz sagen. »Wir haben doch auch alle hier oben Platz.« »Du bist wohl verrückt?« sagte All. »Die beiden Hohlköpfe sollen doch versuchen, sich den Baum zurückzuholen!« Clay hatte sich indessen in den hohlen Stamm gezwängt und kletterte hinauf. Ich wollte ihn noch zurückhalten, aber es war schon zu spät. Ich ahnte, was nun folgte, und da schrie auch All Fizzard schon: »Tritt ihn auf den Kopf, wenn er auftaucht, Fitz, tritt ihn richtig auf den Kopf.« »Aber ich kann doch nicht …« jammerte Fitz O'Conner. »Du Feigling!« schrie All Fizzard wütend. »Ich sollte dich einfach 'runterschmeißen, du Schlappschwanz.« Ich hörte Clay laut schreien. Dann hatte er auch schon den Halt verloren und rutschte in der Baumröhre wieder nach unten. Er schrammte sich dabei die Hosenbeine an den Knien auf und kroch wutschnaubend aus dem Baum. Er hatte eine blutige Schramme an der Stirn. Verschwitzt hing ihm sein dichtes Haar ins Gesicht. »Dieser Hund hat mich auf die Stirn getreten«, sagte er gequetscht. »Dieser verdammte Kerl. Er hat mich tatsächlich getreten.« Er drehte sich und schaute am Baum hoch. »Das wirst du bereuen, All, du verdammter Hund. Das hast du nicht umsonst getan.« Er ballte die Hände. All schrie einen Spottvers und lachte wie ein Verrückter. Ich war nahe daran gewesen, die Sache aufzugeben. So wichtig war ein hohler Baum schließlich nicht. Doch Alls Frechheit reizte mich. Ich zwängte mich in den Stamm und schob mich die schmale Röhre hoch. Ich sah das rote Gesicht Alls über mir. Er grinste mir entgegen. »Komm nur!« rief er höhnisch. »Komm nur näher, damit ich dich
richtig erwische.« Ich hörte Fitz jammern, was All unbeachtet ließ, und ich hörte Clay draußen fluchen und mich warnen. Dann sah ich plötzlich den Stiefel von All Fizzard über der oberen Öffnung der Baumröhre auftauchen. Da duckte ich mich zusammen und zog den Kopf ein. Ich reckte meine Arme nach oben, als der Stiefelabsatz auf mich heruntersauste, und faßte entschlossen zu. Ich konnte den Stiefel packen, obwohl ich das Gefühl hatte, in Grund und Boden gestampft zu werden. Ich erhielt auch einen Tritt auf dem Kopf. Doch da ich den Stiefel fest gepackt hielt, zog ich All mit meinem ganzen Gewicht nach unten, als ich den Halt verlor und wegrutschte. All brüllte jämmerlich, denn ich riß ihm fast das rechte Bein aus. Er schrie Fitz an, er möge ihm helfen. Aber der hatte keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte und schien auch Angst zu haben. Clay tanzte draußen begeistert herum und rief: »Du hast ihn, Ronco, du hast ihn, zum Teufel noch mal. Reiß ihm sein Bein ab.« Ich klammerte mich an dem Stiefel fest, bis ich wieder einen Halt hatte. Dann zerrte ich so lange – und Clay langte in den Stamm hinein und half mir –, bis All Fizzard sich nicht mehr halten konnte und mit einem spitzen Schrei durch den hohlen Stamm nach unten rutschte. Clay und ich zogen ihn aus dem Baum. Jetzt war es mit der Frechheit Alls vorbei. Clay vermöbelte ihn nach Strich und Faden wegen seiner aufgerissenen Hosen und der Schramme an seiner Stirn. Ich stand daneben und schaute hochbefriedigt zu. Humpelnd und heulend stahl sich All schließlich davon. Kleinlaut und vor Angst kletterte Fitz O'Conner herunter. Wir taten ihm nichts. Er war heilfroh darüber und nahm die Beine in die Hand. Dann endlich konnten wir den glücklich zurückeroberten Baum besetzen. Es war ein gutes Gefühl, nach so langer Zeit wieder hier zu sitzen, umgeben von dichtem Blattwerk, hoch über der Erde wie in einem Adlernest. Wir konnten die ganze Ebene überblicken, fast bis hin zum Fluß, der eine Meile entfernt war. Wir blieben bis zum Abend hier und wurden nicht mehr gestört. Als die Sonne verblaßte und sich rötlich färbte, verließen wir den Baum und schlenderten zurück.
Wir ließen uns Zeit. Es war ein schwüler Abend. Mücken ballten sich über Salbei- und Creosot-Sträuchern zu wild zuckenden und tanzenden Gebilden zusammen. Ein Gewitter lag in der Luft. Das war für diese Jahreszeit nichts Ungewöhnliches. Aber so kurz vor der Ernte gab es niemanden, der sich nicht über Zeichen gesorgt hätte, die ein Unwetter erwarten ließen. Ein paar kleine, düstere Wolken kreuzten wie winzige Piratenschiffe den rotglühenden Horizont. Die Sonne sank nun rasch, das Tageslicht nahm ab. Wir erreichten den Fluß. Es wurde wirklich Zeit für uns, nach Hause zu kommen. Als wir die schmale Brücke überquerten, hörten wir weit vor uns plötzlich Schüsse. Wir blieben mitten auf der Brücke stehen und lauschten. Wieder krachten Schüsse. Dumpf und belfernd, und dann wieder hell und peitschend. Revolver und Gewehre. »Heut ist doch niemand zur Jagd gegangen«, sagte ich. Es war fast eine Frage. Clay schüttelte den Kopf. »Niemand«, sagte er. Die Dämmerung wurde dichter wie ein festgewebter Schleier. Jetzt war es still. Wir hörten nur das Gurgeln des Stromes unter der Brücke. Das Land vor uns war leer. Zu sehen war nichts. Aber wir konnten auch nicht mehr sehr weit sehen. »Los, wir müssen nach Hause«, sagte ich. »Ich werde mich ohnehin zum Essen verspäten.« Clay nickte stumm. Wir verließen die Brücke. In diesem Moment klang Hufschlag auf. Dumpf und hämmernd, wie ein Stakkato von Paukenschlägen. Wir sahen einen Schatten südwestlich von uns auftauchen, instinktiv packte ich Clay am Arm und zerrte ihn hinter einen hohen Mesquitestrauch. Hier kauerten wir uns hin. Mein Herz schlug bis zum Hals. Der Reiter näherte sich rasch. Er schwankte im Sattel, wie wir sehen konnten. Das Pferd wurde langsamer. Als es die Brücke passierte, trottete es mit hängendem Kopf weiter. Es war offenbar
erschöpft. Der Reiter aber lag flach auf dem Pferdehals. Plötzlich rutschte er zur Seite und fiel zu Boden. Das Pferd blieb sofort stehen. Der Mann, dem der Hut vom Kopf gerutscht war, blieb reglos im Gras liegen. Wir konnten von unserem Versteck aus sehen, daß er groß und hager war. Die Zeit schien stillzustehen. Ich weiß nicht, wie lange wir in unserer Deckung hockten und auf den Körper im Gras starrten. Schließlich richteten wir uns wie auf einen unhörbaren Befehl gemeinsam auf und tappten vorsichtig auf den Mann zu. Das Pferd hob den Kopf, schnaubte und beäugte uns mißtrauisch. Wir beachteten es nicht. Wir blieben neben dem Gestürzten stehen. Als ich mich bückte, erschrak ich bis ins Mark. Es war Drago Santoya, der Killer. Er war bewußtlos. Er war verletzt. Blut bedeckte seinen Oberkörper. Sein grobknochiges Gesicht wirkte im Zwielicht der Dämmerung wie ein Totenschädel. »Teufel noch mal!« entfuhr es mir. Clay erschrak nicht weniger als ich. »Los, weg«, sagte ich. Ich packte Clay am Arm. Wir wollten davonlaufen, da begann der Mörder sich wieder zu bewegen. Wir sprangen rasch hinter den Busch zurück und kauerten uns hin. Der Mexikaner richtete den Oberkörper halb auf. Er stöhnte durchdringend. Taumelnd und ächzend kam er auf die Beine, torkelte zwei Schritte bis zu seinem Pferd und zog sich mühsam in den Sattel. Er quälte sich wirklich. Wir bezweifelten erst, daß er es schaffen würde. Aber er schaffte es wirklich. Er trieb das Pferd an, und als es antrabte, sackte er nach vorn und umklammerte mit beiden Armen den Pferdehals. Mit großen Augen schauten wir ihm nach. Er ritt ostwärts. Zum Hill's Point. Clay und ich verließen unsere Deckung. Wir huschten hinter dem Banditen her. Ich weiß noch heute genau, daß wir kein Wort miteinander sprachen. Der Gedanke, den Mann zu verfolgen, muß uns beiden
gleichzeitig gekommen sein, unabhängig voneinander. Ich selbst dachte, während wir durch das hohe Gras eilten, an die Drohungen, die der Killer im Winter ausgestoßen hatte, als er uns im Wald erwischt hatte. Drago Santoya ritt zum Haus von Colonel Stephans. Langsam trabte sein Pferd den flach ansteigenden breiten Weg zum Hof des Herrenhauses hinauf. Wir blieben unterhalb des Hügels stehen und versteckten uns zwischen einigen alten Eichen. Wir sahen, daß oben im Haus ein Licht aufflammte. Wenig später konnten wir schemenhafte Gestalten auf dem Hof sehen. Das Pferd wurde weggeführt. Dann wurde es wieder still. Wir wollten uns gerade erheben, als wir einen Mann den Weg heruntereilen sahen. Er war fast so schwarz wie die Nacht. Es war Napoleon. Er hatte es sehr eilig. Er trug einen ausgerissenen Busch bei sich, der aus dem Garten des Colonels zu stammen schien. Damit versuchte er wenig später, die Spuren des Reiters im hohen Gras zu beseitigen. Er schritt weit in die Dunkelheit hinaus und schleifte den Busch immer wieder über das Gras, das die Hufe des Tieres gebeugt hatte. Er richtete die Halme damit wieder auf. Er bemerkte nicht, daß er dabei beobachtet wurde. Er vernichtete die Spuren auf einer Strecke von etwa zweihundert Yards vom Weg zum Herrenhaus entfernt. Dann kehrte er hastig zurück. Als er verschwunden war, löste sich unsere Spannung ein wenig. »Das ist ja ein dickes Ei«, sagte Clay. »Der Colonel war also doch der Mann, den wir im Winter gesehen haben«, sagte ich. »Dieser scheinheilige Kerl. Dabei besucht er jeden Sonntag die Kirche.« »So einer hat vor gar nichts Respekt«, sagte Clay, und er sagte es, als sei der Umgang mit Verbrechern sein tägliches Brot. »Einen Opferstock hat er gespendet«, sagte ich. »Und mir hat er einen halben Dollar geschenkt.« »Blutgeld«, sagte Clay. Ich schauderte bei dem Wort. »Kein Mensch wird uns das glauben«, sagte ich. »Nicht einer. Alle mögen ihn.«
Clay nickte stumm, und wir schauten mit bitteren Mienen zum Herrenhaus hinauf, wo es jetzt wieder dunkel wurde. Für uns brach eine Welt zusammen. Wir hatten in der Sonntagsschule gelernt, daß Ehrlichkeit belohnt würde. Wir hatten gelernt, das Schlechtigkeit und Verbrechen sofort die Strafe des Himmels nach sich zögen, daß Gott die Heuchler zeichnet. Aber Colonel Stephens war ein Gauner, und dennoch war er reich, besaß ein Haus, das schöner war als der Gouverneurspalast in Austin, besuchte regelmäßig den Gottesdienst und gab sich immer freundlich und bescheiden. Er sah nicht einmal aus wie ein Verbrecher, was wohl das mindeste gewesen wäre. Mir kamen damals zum erstenmal leise Zweifel, ob alles, was die Padres uns sagten, wirklich so stimmte. Wir beobachteten das Haus noch eine Weile und hatten die Zeit vergessen. Als Clay schließlich vorschlug, den Hügel hinaufzuschleichen, um zu überprüfen, ob der ehrenwerte Colonel wirklich ein solcher Halunke sei, wie es nun den Anschein hatte, stimmte ich sofort zu. Es war einfacher, als wir es uns vorgestellt hatten. Außer Napoleon schien das Personal des Ex-Offiziers nichts von dem unerwarteten Besuch gemerkt zu haben. Wir nahmen uns höllisch in acht, als wir den Hof überquerten. Vorsichtig umrundeten wir das Haus und hielten nach Fenstern Ausschau, hinter denen noch Licht brannte. Auf der Rückseite des Gebäudes fanden wir, was wir suchten. Nahe beim Hintereingang brannte Licht. Das Fenster stand halb offen. Wir hörten Stimmen. Dicht an die Mauer gepreßt, schoben wir uns näher heran und erkannten die Stimme des Colonels. Schließlich wagten wir es, einen Blick ins Haus zu werfen. Das Risiko, entdeckt zu werden, war nicht groß, da es mittlerweile dunkel geworden war und aus der Helligkeit im Innern des Hauses also nicht gesehen werden konnte, was sich vor dem Fenster abspielte. Wir schauten in einen etwas spartanisch eingerichteten Raum, der eigentlich nicht zu dem Haus paßte. Auf einem alten, zerfledderten Sofa lag der Killer. Er trug kein Hemd mehr. Napoleon war damit
beschäftigt, das Blut von dem hageren, aber kräftig wirkenden Körper zu waschen. Santoya war offenbar von einer Kugel in die rechte Brustseite getroffen worden. Er redete stockend. Colonel Stephens stiefelte nervös im Raum auf und ab. An der Tür stand Fred Brady, der Storch, der Sekretär des Colonels. Er sagte kaum ein Wort. Wir konnten nicht richtig verstehen, was gesprochen wurde. Aber es ging darum, daß Santoya verfolgt wurde. Stephens warf ihm vor, daß er zu ihm geflüchtet sei. Das halte er für sehr leichtsinnig, sagte er. Wir hatten keine Ahnung, was gemeint war. Uns genügte es, zu wissen, daß Drago Santoya ein kaltblütiger Killer war und als Spion – was immer das auch sein mochte – gesucht wurde, und daß der angesehene Colonel Stephens offenbar sehr enge Verbindungen zu dem Banditen hatte und ihm jetzt half, seinen Häschern zu entgehen. In diesem Moment war Napoleon mit seiner Arbeit fertig. Er stellte die Schüssel mit Wasser zur Seite und suchte nach Verbandsstoff. Da setzte sich Fred Brady plötzlich in Bewegung. Er durchquerte das Zimmer und ging auf das Fenster zu, vor dem wir standen. Uns durchzuckte es eiskalt. Wir warteten nicht ab, bis er uns entdeckte. Wir drehten uns um und nahmen die Beine in die Hand. Wir eilten den Hügel hinunter, und erst jetzt wurde uns bewußt, daß es schon richtig dunkel geworden war und man bestimmt zu Hause auf uns wartete. Ich glaube, wir waren ziemlich verwirrt. Clay nannte den Colonel einen »Drecksack«, und ich erinnerte ihn an die Racheschwüre Santoyas vom Winter. Zwar war der Killer verwundet und lag angeschlagen im Haus des Colonels. Doch ich traute ihm einiges zu, da ich ihn ja schon in Mulberry in Aktion gesehen hatte. Dazu kam die Überzeugung, daß uns die ganze Geschichte kein Mensch glauben würde. Daher entschieden wir uns, den Mund zu halten und kein Wort über das zu erzählen, was wir gesehen hatten. Das würde schwerfallen. Aber schließlich wollten wir leben. Wir hatten Angst. Ich will das ganz offen gestehen. Und wer an unserer Stelle hätte nicht ebenso gefühlt und gehandelt? Wir wollten
nicht noch mehr Schwierigkeiten kriegen. Wir schworen, daß kein Wort über unsere Lippen dringen würde, anderenfalls sollten wir sofort tot umfallen. Damit trennten wir uns und liefen davon, ich zur Mission, wo ich außer Atem anlangte, und Clay zur Farm.
7. In der Nacht entlud sich über dem Tal ein Gewitter. Ich wälzte mich schlaflos im Bett herum. Es war ein gewaltiges Unwetter. Blitz zuckte auf Blitz, und der Donner grollte krachend und schmetternd, als stürze der Himmel ein. Später begann es zu regnen. Gegen Morgen war dann alles wieder vorbei. * Aber ich stand tausend Ängste in dieser Nacht aus. Vielleicht folgte nun doch die Strafe des Himmels. Vielleicht waren Clay und ich mit unserem Urteil zu voreilig gewesen. Vielleicht schlug ein Blitz in das Haus von Stephens ein, und es brannte mit Stephens und Santoya ab. Vielleicht aber galt das tobende Wetter auch Clay und mir, weil wir schwiegen und damit zwei Verbrecher deckten. Wider Erwarten schlief ich doch noch ein, wachte jedoch am anderen Morgen wie zerschlagen auf. Doch ich lebte noch, und die Erde stand noch, und das Herrenhaus am Hill's Point war auch unversehrt. Ich begann, an der Macht des Himmels zu zweifeln. Aber das dachte ich nur leise für mich. Die Padres durften das nicht hören. Zumal es ein Sonntag war, der dem ereignisreichen Tag und der Gewitternacht folgte. Nach dem Gottesdienst stand die Sonntagsschule für uns Kinder auf dem Programm. Ich hörte die Glocke läuten, als ich an der Kommode neben der Tür stand und mich wusch. Balthasar, der rote Hahn und Herr über das Hühnervolk der Mission, krähte auf dem Hof und versuchte mit der Glocke einen Wettstreit auszutragen. Es gelang ihm einige Male tatsächlich, sie zu übertönen. Ich trat, während ich mich abtrocknete, ans Fenster und schaute auf den Hof hinaus. Draußen standen tiefe Pfützen. Die Dächer der
Missionsgebäude glänzten vor Nässe in der grellen Frühsonne. Das Gewitter war weitergezogen. Der Himmel war blau wie ein frischgewaschenes Bettuch. Padre Tenebro verließ den Stall und watete durch den Schlamm. Er trug einen grauen Leinensack bei sich, griff hinein, holte eine Handvoll Maiskörner heraus und rief nach den Hühnern, indem er lockend Gluckslaute ausstieß. Ich fand, daß er beinahe besser gackerte als ein richtiges Huhn. Es wurde rasch heißer. Die Erde begann zu dampfen, die Pfützen trockneten aus und die Schlammkrusten platzten auf. Kleine Krater öffneten sich. Als ich angezogen war, hörte die Glocke auf zu läuten. Ich hatte heute meine gute Hose angezogen wie jeden Sonntag. Die gute Hose unterschied sich von der anderen Hose, die ich täglich trug, dadurch, daß sie weder ausgebeult war noch Flicken oder Flecken hatte. Ich kämmte mich flüchtig und ging zum Frühstück. Ich war überzeugt, man würde mir ansehen, was für düstere Gedanken mich beschäftigten. Aber keinen der Padres schien etwas aufzufallen. Nach dem Frühstück, als ich wieder auf meine Kammer gehen wollte, hielt Padre Emanuel mich noch zurück, bis die Padres gegangen und wir allein waren. Er sagte: »Wir haben uns gestern gesorgt.« Ich versuchte ehrlich zerknirscht auszusehen. »Du bist erst lange nach Einbruch der Dunkelheit zurückgekehrt. Wird das jetzt öfter so sein?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« »Willst du mir nicht sagen, warum du gestern abend so spät gekommen bist?« Ich senkte meinen Kopf noch tiefer. In diesem Moment drängte es aus mir heraus, alles. Die Beobachtungen vom Winter, der Verdacht gegen Colonel Stephens und die Vorfälle gestern abend, die keinen Zweifel mehr zuließen, daß Stephens ein Verbrecher war. Dann aber dachte ich an den Schwur, den Clay und ich uns gegenseitig geleistet hatten. Und ich dachte an die furchtbaren Drohungen des Killers. »Ich habe nicht auf die Zeit geachtet«, sagte ich.
Das schien Padre Emanuel zu verstehen. Er schwieg fast eine Minute lang und sagte dann: »Es ist gut.« Er trat auf mich zu und strich mir über den Kopf. Ich erwiderte seinen Blick. »Wir haben uns wirklich gesorgt«, sagte er. »Es tut mir leid«, sagte ich. Er nickte, und ich lief hinaus, froh, daß er nicht versucht hatte, weitere Fragen zu stellen. Es hätte mir verteufelt leid getan, Padre Emanuel belügen zu müssen, und ich weiß nicht einmal, ob ich es fertiggebracht hätte. Ich ging auf den Hof, wo noch immer die Hühner im Staub scharrten und pickten. Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel und brannte gnadenlos auf die Erde herunter. Der Boden war fast schon wieder trocken. Ich lief über den Hof hinunter zum Fluß. Ich hoffte, Clay noch vor dem Gottesdienst und der Sonntagsschule zu sehen. Aber das war natürlich Unsinn. Ich blieb nachdenklich an dem schwarzen Strudel stehen, der sich noch vor der Entstehung der Mission bei einem Unwetter hier gebildet hatte. Ich warf ein paar Steine hinein und kehrte langsam wieder um. Ich nahm mir vor, nach der Sonntagsschule mit Clay zu sprechen. Ich ging in meine Kammer, las noch etwas in meiner Bibel und lernte ein paar Verse auswendig. Denn Padre Emanuel, der den Sonntagsschulunterricht leitete, war ziemlich streng und erwartete von jedem, daß er etwas gelernt hatte. Es dauerte auch nicht mehr lange, dann setzte das Glockengeläut wieder ein, und die ersten Wagen fuhren los. Die Farmer stiegen in ihrem Sonntagsstaat ab und betraten die Kapelle. Ich meinte, daß es nun auch für mich Zeit wurde. Als ich aus dem Haus trat, hielt gerade der Wagen der Dantons auf dem Hof. Lizzy und Bob stiegen ab, und Clay folgte ihnen. Ich sah ihm sofort an, daß er genauso schlecht geschlafen hatte wie ich. Vielleicht sogar noch schlechter. Ich hielt mich neben ihm, als wir in die Kapelle gingen. Wir wechselten eine Menge vielsagender Blicke, aber kein einziges Wort. Dazu kamen wir nicht. In der Kapelle setzte ich mich neben Clay. Doch sprechen konnten
wir immer noch nicht. Nach und nach füllte sich die Kirche. Dann geschah etwas Ungeheuerliches. Draußen fuhr ein schwarzer Einspänner vor. Napoleon saß auf dem Bock. Er sprang herunter und riß den Seitenschlag auf. Colonel Stephens stieg aus und ging gemessenen Schrittes zur Kapelle. Vor dem Eintreten nahm er den Zylinder ab. Ich mußte Böses geahnt haben, denn ich schaute mich jedesmal um, wenn ein weiterer Kirchenbesucher erschien. Mich rührte fast der Schlag, als ich den Colonel sah. Ich stieß Clay kräftig in die Rippen. Er drehte sich erschrocken um und wurde weiß wie die gekalkten Wände in der Kirche. Der Rest meiner bis dahin festgefügten Welt geriet nun vollends aus den Fugen. Wie konnte der Himmel das zulassen? Mußte er nicht sofort ein Zeichen setzen, um allen zu zeigen, daß ein nichtswürdiger Verbrecher sich unter der Gemeinde befand, der die Weihe des Gottesdienstes befleckte? Augenblicklich hätte meiner Meinung nach ein Blitz niederfahren müssen, um den Heuchler die verdiente Strafe zu erteilen. Aber der Himmel war strahlend blau und ohne eine Wolke. Es fuhr kein Blitz nieder. Der Gottesdienst begann. Ich hörte kaum, was Padre Emanuel predigte. Ich glaube, Clay ging es nicht anders. Es wurde gesungen, es wurde gebetet. Und nicht einmal beim Beten scheute sich Stephens, sein Spiel weiterzuspielen. Danach, beim Hinausgehen, stand Padre Tenebro mit dem Kollektenbeutel an der Tür, und ich konnte von meinem Platz aus deutlich sehen, daß Stephens ein Goldstück hineinwarf. Draußen bestieg er seinen Wagen und ließ sich von Napoleon zu seinem Haus zurückfahren. Die Farmer traten ebenfalls den Heimweg an. Wir Kinder waren in der Kapelle zurückgeblieben. Für uns begann jetzt die Sonntagsschule. Auch hier waren Clay und ich nur halb bei der Sache. Ich wurde aufgerufen und stotterte ein paar Verse herunter. Als Clay an der Reihe war, kriegte er den Mund überhaupt nicht auf und starrte stumm vor sich hin, während alle anderen schadenfroh grinsten. Am
übelsten grinste All Fizzard, der trotz einer Beule an der Stirn und einem blutunterlaufenen Auge erschienen war. Er konnte wie immer die meisten Verse aufsagen, und er konnte es am besten. Wir haßten ihn wirklich von ganzem Herzen. Gerade, als er sich gesetzt hatte, klang draußen Hufschlag auf. Padre Emanuel, der ein Buch mit biblischen Kindergeschichten aufgeschlagen hatte, legte das Buch auf den Altar zurück und schaute abwartend zur Tür der Kapelle. Wir drehten uns ebenfalls um. Wir sahen draußen eine Reitergruppe. Etwa fünfzehn Männer hatten auf dem Hof der Mission gehalten. Es waren hart aussehende, rauhe Männer, die meisten mit struppigen Bärten. Ihre Kleidung war staubbedeckt. Sie trugen tiefhängende, große Revolver. Jeder von ihnen hatte ein silbernes Abzeichen an der Brust stecken. Es war ein fünfzackiger Stern in einem Kreis. Es waren Texas Ranger. Sekunden später stand ein hünenhafter Mann in der Tür der Kapelle. Er maß gewiß über sechs Fuß, hatte Schultern wie ein Büffel und Hände groß wie Kohlenschaufeln. Er trug verwaschene, ausgebeulte Hosen. Ein breitrandiger Hut bedeckte seinen Kopf. Als er durch den Gang zwischen den Bänken schritt, klirrten seine großen Visalia-Sporen. Rechts an seinem Gürtel hing eine riesige, metallverstärkte Halfter, in der ein Walker-Colt steckte, eine Sattelkanone von gewaltigem Ausmaß, die jedoch zu dem Riesen paßte. Er nahm den Hut ab, als er vor Padre Emanuel stand, der neben ihm wie ein Zwerg aussah. Seine Stimme dröhnte, als er zu sprechen begann. »Mein Name ist Wallace, Padre. Captain Alexander Wallace. Texas-Ranger-Department. Entschuldigen Sie, daß ich so einfach hier eindringe.« »Ich bin sicher, Captain, daß Sie gute Gründe haben werden«, sagte Padre Emanuel. »Wir können in mein Office gehen.« Der Ranger, der, wie wir später erfuhren, »Big Foot« genannt wurde, blickte sich kurz um und strich sich über seinen ungepflegten, schwarzen Bart. Dann schüttelte er den Kopf. »Was ich zu sagen habe, sage ich lieber hier, Padre. Das geht alle
an. Auch die Kinder. Es ist schade, daß die Eltern nicht mehr da sind.« »Vor einer Viertelstunde war der Gottesdienst zu Ende«, sagte Padre Emanuel. »Sie sind zu spät gekommen.« Der Ranger nickte. Er wandte sich uns zu und blickte uns aus seinen eisgrauen Augen an. Ich ahnte, was nun kam, und ich wünschte mir ein Mauseloch, wo ich mich verkriechen konnte. Ich rutschte auf meinem Platz etwas tiefer, und Clay neben mir ging es in diesem Moment wohl ähnlich. »Ihr wißt, was Texas Ranger sind«, sagte der Captain. »Ich wette, es sind einige unter euch, die vielleicht selbst einmal Ranger werden wollen.« Ich sah die glänzenden Augen der anderen Kinder. Wahrscheinlich hätte ich genauso geschaut, wenn ich nicht so fürchterliche Angst gehabt hätte. »Wir sind hier, weil wir einen Verbrecher verfolgen«, fuhr Captain Wallace fort. »Es ist ein gefährlicher Verbrecher, ein Spion aus Mexiko, der eine große Gefahr für unser Land darstellt, und ein Mörder. Er hält sich in dieser Gegend versteckt. Wir werden ihn sicher früher oder später finden. Er ist wahrscheinlich verletzt und kann nicht weit gelangt sein. Hat einer von euch gestern oder heute morgen etwas Ungewöhnliches bemerkt?« Niemand hatte etwas bemerkt. Ich schwieg – und Clay auch. »Nun gut.« Der Captain stemmte die Fäuste in die Hüften. »Hört gut zu: Sagt euren Eltern, was ich euch hier erzählt habe. Sagt ihnen, daß sie alle verdammt aufpassen und nachts die Türen und Fenster besonders gut verriegeln sollen. Und ihr geht in den nächsten Tagen besser nicht allein weit von zu Hause weg. Der Kerl, den wir suchen, ist sehr gefährlich. Er schreckt vor nichts zurück. Er muß versuchen, irgendwo unterzukriechen und Lebensmittel zu ergattern. Deshalb sind die Farmen besonders gefährdet. Wenn euch oder euren Eltern etwas auffällt, dann versucht sofort, es uns zu melden. Wir bleiben solange in der Gegend, bis der Mann gefaßt ist. Er heißt Drago Santoya und hat viele Menschen erschossen. Sagt das euren Eltern.« Er wandte sich Padre Emanuel zu und fragte, ob einer der Padres vielleicht etwas Außergewöhnliches bemerkt hätte. Aber Padre
Emanuel verneinte das. Der Captain entschuldigte sich, daß er den Unterricht unterbrochen hatte. Eine Einladung zum Essen schlug er aus. Die Suche nach dem Mörder war wichtiger. Clay und ich, die genau hätten sagen können, wo der Kerl sich aufhielt, blieben still. Der Ranger ging hinaus. Draußen rief er seinen Leuten etwas zu und schwang sich in den Sattel. Dann ritten die Männer vom Hof. Der Unterricht ging weiter. Aber jetzt war niemand mehr bei der Sache, so daß Clays und meine Nervosität nicht mehr auffiel. Padre Emanuel schien zu begreifen, daß der Unterricht an diesem Tag nicht mehr sehr fruchtbar verlaufen würde. Darum kürzte er ihn ab und beendete ihn rasch. Er mahnte alle, auf dem Heimweg vorsichtig zu sein, sich nirgends aufzuhalten, sondern rasch nach Hause zu gehen und nicht zu vergessen, die Nachricht des RangerCaptains an die Eltern weiterzugeben. Die Kapelle leerte sich. Es hielt sich wirklich kaum jemand auf. Alle beeilten sich, nach Hause zu eilen. Ich konnte Clay noch schnell zurufen, daß ich am Nachmittag zur kleinen Brücke kommen würde. Dann lief auch er davon, und ich ging auf meine Kammer. Wenig später wurde gegessen.
8. Ich traf Clay gegen drei Uhr am Nachmittag. Er stand an der schmalen Brücke und starrte gedankenverloren ins Wasser. Die Beine hatte er zu einem X verschränkt, und in dieser etwas schwierigen Haltung balancierte er, die Hände tief in die Taschen seiner Hose vergraben, die von breiten Lederhosenträgern gehalten wurde. Als ich ihn anrief, zuckte er zusammen und fiel beinahe um. Er war wirklich sehr nervös. »Die Spuren sind weg«, sagte er. »Was für Spuren?« fragte ich. »Alle Spuren«, sagte er. »Nicht nur die, die Nap gestern abend verwischt hat. Auch das Blut ist weg.« Er zeigte auf die Stelle, wo am Vorabend der verletzte Mörder ins Gras gestürzt war. Es war
tatsächlich nichts zu sehen, dabei hatte Santoya geblutet wie ein geschlachtetes Schwein, und eigentlich hätten am hellen Tag Spuren davon zu sehen sein müssen. »Der Regen hat alles weggewaschen«, sagte Clay. »Hast du gehört, was der Ranger gesagt hat?« »Genauso gut wie du«, sagte Clay. »Hätten wir was verraten sollen?« »Dann wären die Ranger hingeritten, und womöglich wäre der Kerl nicht mehr dagewesen.« Clay hatte seine Stirn in Falten gezogen, was seinem Gesicht einen düsteren Ausdruck verlieh. »Dann hätten der Colonel und dieser Santoya gewußt, daß jemand alles gesehen und verraten hat, und dann …« Er hatte recht. Die Folgen wären schrecklich gewesen. Natürlich hätten die Gauner nach dem Verräter geforscht. Wir hegten keine Zweifel, daß sie uns entlarvt und bestraft hätten. »Stephens ist zum Gottesdienst erschienen«, sagte ich. »Vielleicht ist Santoya in der Nacht noch weitergeritten.« Ich schaute Clay von der Seite an. »Gehen wir zum Hill's Point?« Clay nickte zögernd. Wir marschierten los. Das Herrenhaus lag in tiefstem Frieden. Ich hatte heimlich erwartet, eine dunkle Wolke oder ein anderes Zeichen darüber stehen zu sehen. Aber auf den Himmel konnte man sich eben überhaupt nicht verlassen. Das wurde mir immer klarer. Und die Wunderdinge, die man sich über die Ranger erzählte, konnten auch nicht stimmen. Denn die verfielen auch nicht auf den Gedanken, sich das Haus anzuschauen. Wir sahen Napoleon im Garten arbeiten. Er hackte Unkraut in den Blumenrabatten am Rand der Auffahrt. Als wir uns näherten, richtete er sich auf und bleckte erfreut sein prächtiges Gebiß. Er nahm den breitrandigen Strohhut vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Na, ihr beiden?« sagte er. »Wollt ihr helfen?« »Das nicht gerade«, sagte ich. Ich forschte in den Zügen des großen Negers. Doch Napoleon wirkte wie immer und nicht im geringsten verändert. »Das war ein Gewitter in der Nacht«, sagte er, während er sich
wieder bückte und weiterarbeitete. »Ich hab gedacht, der Teufel persönlich steige aus der Hölle.« Seine Stimme senkte sich. Er drehte den Kopf ein wenig, so daß er uns anschauen konnte und sagte: »Ich hab ihn schon ein paarmal gesehen, den Kerl mit dem Pferdefuß.« Er nickte bekräftigend. »In den Sturmnächten reitet er auf seinem Gaul, der nur aus Feuer und Schwefel besteht, durch die Luft. Wenn man Glück hat, kann man ihn sehen. Aber dann muß man sofort drei Vaterunser beten und an einem Kreuzweg eine geweihte Kerze vergraben. Sonst kommt großes Unglück über einen.« Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Letzte Nacht, das war wieder so eine Nacht, in der er herumgeritten ist und die Welt verflucht hat. Meist wird er begleitet von einem Schwarm Nachtgeister.« Nap atmete schwer. »Ja, ich sage euch, jeder, der letzte Nacht unterwegs war und kein sicheres Dach über dem Kopf hatte, tut mir leid.« Wir hörten andächtig zu. Wir glaubten fast jedes Wort von Naps Erzählungen. Das war keine Schande. Damals hätten auch viele Erwachsene diese Geschichten geglaubt. »Hast du letzte Nacht schlecht geträumt?« fragte ich. Ich wußte nicht, ob es sehr geschickt war, das Gespräch so anzuknüpfen. Aber mir fiel nichts besseres ein, und irgendwie wollte ich versuchen, Nap auszufragen, ohne daß er Verdacht schöpfen konnte. Clay wagte ja nicht, den Mund aufzutun. Doch auch mir war nicht wohl bei der Sache. »Du erzählst doch sonst an einem so schönen Tag nicht solche Geschichten.« »Jetzt ist die Luft auch wieder rein«, sagte Nap. »Aber in der Nacht, da ist der Teufel geritten, sage ich euch. Man konnte es riechen. Die Luft war voller Schwefel.« »Vielleicht sind auch noch andere herumgeritten, und die hast du gesehen«, sagte ich. »Wer letzte Nacht noch unterwegs war, den hat der Teufel geholt«, sagte Nap. »Du mußt wirklich schlecht geschlafen haben«, sagte ich. »Warum war eigentlich Mr. Brady heute nicht mit in der Kirche? Habt ihr
Besuch?« »Wie kommst du darauf?« Nap arbeitete weiter. Doch er schaute uns jetzt nicht mehr an. »Ich meinte nur«, sagte ich. »Weil er sonst immer mit im Gottesdienst ist.« »Mr. Brady ist krank«, sagte Nap. »Er liegt im Bett und hat Fieber.« »Ich dachte, ihr hättet Besuch.« »Wir kriegen keinen Besuch«, sagte Nap. »Colonel Stephens will hier seine Ruhe haben. Er empfängt keine Gäste.« Nap konzentrierte sich nach diesen Worten schweigend und verbissen auf seine Arbeit. Es war nun ganz offensichtlich, daß er uns loswerden wollte. Und es hatte für uns auch nicht viel Sinn, noch länger zu bleiben und weiterzufragen. Damit machten wir uns nur verdächtig. Nap würde sowieso nichts verraten, das war klar. Er log. Und an seiner Stelle hätten wir das wahrscheinlich auch getan. Schließlich war Stephens sein Herr, und sicher würde er Nap furchtbar bestrafen, wenn er den Mund auftat und über Dinge redete, die niemanden etwas angingen. Wir gingen zurück zum Fluß. Wir suchten den hohlen Baum auf, wo wir Ruhe hatten und uns ungestört zusammensetzen konnten, um die ganze Angelegenheit noch einmal zu überdenken. Wir beschlossen, weiterzuschweigen. Wohl fühlten wir uns nicht dabei, aber sicherer. * Wir hatten geglaubt, damit unser Problem gelöst zu haben. Doch das war ein Irrtum gewesen. Die bohrenden Zweifel blieben. Und mit Ihnen die Angst. Es verging eine qualvolle Woche, in der wir täglich darauf hofften, zu erfahren, daß die Ranger Stephens entlarvt und Santoya gefunden hatten. Doch nichts dergleichen geschah. Die Ranger zogen sich nach einer Woche erfolglos aus dem Tal am Fluß zurück. Damit war für uns, wie es uns schien, die letzte Chance, jemals wieder in Ruhe leben zu können, dahin.
Am Tag, als die Ranger davonritten, fuhr Bob Danton zur Mission, um ein Faß Nägel zu kaufen. Clay begleitete ihn. Während Bob mit Padre Frastus in der Schmiede verhandelte, waren Clay und ich auf dem Hof ungestört. »Der Colonel verreist morgen wieder«, sagte Clay. »Jetzt sind die Ranger weg«, sagte ich. »Jetzt braucht er sich nicht mehr zu sorgen und kann wegfahren.« »Vielleicht ist Santoya schon gar nicht mehr da«, sagte Clay. »Wo sollte er denn sein?« »Vielleicht haben sie ihn weggeschafft, irgendwann nachts. Vielleicht ist er auch gestorben, und sie haben ihn irgendwo auf dem Grundstück eingegraben.« Clay schob die Hände tief in die Hosentaschen. »Dann machen wir uns ganz umsonst verrückt. Ich glaube, er ist nicht mehr da. Die Ranger waren nämlich vor zwei Tagen beim Colonel.« Das war mir neu. Ich war überrascht. »Sie haben nichts gefunden«, fuhr Clay fort. »Sie waren im Haus. Frank Stoddard hat sie gesehen. Er fuhr gerade am Hill's Point vorbei, als die Ranger dort waren.« »Vielleicht haben sie das Haus gar nicht durchsucht«, sagte ich. »Vielleicht wollten sie nur mit dem Colonel sprechen. Er war schließlich mal ein großes Tier bei der Armee und der Regierung.« »Wir sollten vielleicht mal nachschauen«, sagte Clay. »Du bist ja verrückt.« Ich schüttelte den Kopf. »So eine idiotische Idee.« »Der Colonel ist ab morgen nicht mehr da.« Clay blickte zum Fluß hinunter. »Morgen nacht wäre die richtige Zeit. Das Haus ist halbleer, es steht bestimmt niemand Wache.« »Wenn die uns erwischen, drehen sie uns den Hals um«, sagte ich. »Und außerdem, wie sollen wir in der Nacht abhauen?« »Trottel«, sagte er. »Du gehst abends ins Bett, und wenn alle schlafen, kletterst du aus dem Fenster. Ich tu das genauso.« Ich schaute ihn skeptisch an. Er schien diesen Plan schon seit einigen Tagen mit sich herumzutragen. »Das gefällt mir nicht«, sagte ich. »Wozu soll das gut sein? Wir werden bestimmt geschnappt.«
»Willst du nicht auch wissen, ob der Killer noch da ist, oder ob er weg ist?« Da war was dran. Zwar hatte ich noch vor fünf Minuten keinen Gedanken darauf verschwendet, daß Drago Santoya möglicherweise gar nicht mehr im Herrenhaus des Colonel Stephens versteckt war. Doch nach allem, was Clay gesagt hatte, schien mir, daß dieser Aspekt nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen war. »Das möchte ich schon wissen«, gab ich zu. »Na also.« Clay nickte befriedigt. »Dann treffen wir uns morgen nacht.« »Moment mal«, sagte ich. »Wir wissen ja gar nicht, wo wir suchen müssen.« »Wenn der Killer noch da ist, wo wird er sich dann wohl verstecken?« »Im Keller vielleicht«, sagte ich. »Na, also«, sagte Clay. »Was heißt ›na also‹?« Ich schaute ihn ärgerlich an. »Sollen wir etwa einbrechen? Ohne mich. Ich bin nicht lebensmüde.« »Wir können ja wenigstens mal gucken«, sagte Clay. »Jedenfalls ist mir wohler, wenn ich weiß, daß der Kerl nicht mehr da ist.« Ich hätte noch eine ganze Menge Einwände gehabt. Doch da trat Bob Danton aus der Schmiede und rief nach Clay. »Morgen nacht?« flüsterte Clay. »An der kleinen Brücke?« Ich nickte widerstrebend. Mir gefiel das alles immer noch nicht. Da rannte er schon davon, um Bob Danton mit dem schweren Faß zu helfen. Ich schaute zu, wie das Faß aufgeladen wurde und Bob Danton und Clay davonfuhren. Mir war alles andere als wohl bei der Geschichte.
9. Am nächsten Tag fuhr Colonel Jefferson W. Stephens tatsächlich mit seinem Einspänner davon. Ohne Napoleon. Mehrere Farmer sahen ihn. Als es Abend wurde, kroch ich mit klopfendem Herzen in mein
Bett und wartete. Ich brauchte mir keine Mühe zu geben, wach zu bleiben. Ich war viel zu aufgeregt, um einzuschlafen. Ich hörte die Padres noch lange hin und her gehen und sprechen. Als es endlich in der Mission still wurde, war es draußen stockfinster. Ich schob meine Decke weg und erhob mich. Rasch schlüpfte ich in meine bereitliegenden Kleider und ging zum Fenster. Ich hoffte, daß es nicht wie sonst quietschte. Am Mittag hatte ich die Scharniere noch mit etwas Fett eingerieben, das ich Padre Elfego in der Küche geklaut hatte. Das Fenster ließ sich leicht öffnen. Ich stieg auf einen Stuhl, kletterte von da aus auf das Fensterbrett und schwang mich hinaus. Es war alles leichter, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich schaute mich auf dem dunklen Hof um und lief dann zum Fluß hinunter. Schwarz und irgendwie drohend wirkte der Pease River in der Dunkelheit. Leise plätscherten die Wellen an die Ufer. Ich drehte mich noch einmal um, als ich den Fluß erreicht hatte. Aber in der Mission hatte niemand mein Verschwinden bemerkt. Eilig strebte ich der Brücke zu. Der Weg erschien mir in der Nacht länger als am Tage. Als ich das helle Holz des Brückengeländers dann schließlich doch vor mir sah, trat der Mond hinter einer schwarzen Wolke hervor. Silbriges Licht schwebte wie ein feiner Schleier durch die Dunkelheit und glitzerte auf den Wellen des Stromes. Ich blieb neben der Brücke stehen. Wie aus dem Erdboden gewachsen stand plötzlich Clay vor mir. »Erschrocken?« Er grinste. »Blödmann«, sagte ich. »Hat alles geklappt?« »Was soll nicht geklappt haben?« »Bei mir hat auch keiner was gemerkt.« Clay grinste wieder. »Bob und Lizzy haben nachts anderes zu tun, als auf mich aufzupassen. Du müßtest mal die Matratze von denen hören.« »Was soll schon damit sein?« sagte ich. »Die knarrt wie eine Katze, der man auf den Schwanz tritt«, sagte Clay. »Die beiden müssen es ganz schön treiben.« Er drehte sich um. »Gehen wir.«
»Wäre es nicht besser, wir würden uns die Sache noch einmal überlegen?« »Was gibt es da zu überlegen? Warum bist du gekommen, wenn du nicht mit willst?« Ich sagte nichts mehr. Wir setzten uns in Bewegung und liefen durch das hohe Gras zum Hill's Point. Je mehr wir uns dem Herrenhaus näherten, um so ungemütlicher wurde mir die Sache, und ich hatte das Gefühl, daß es besser gewesen wäre, umzukehren. Aber ich wollte Clay gegenüber nicht feige wirken. Außerdem ging es um eine Angelegenheit, die uns beide betraf. Ich konnte Clay schlecht allein lassen. Als wir die Auffahrt zum Haus erreichten, blieben wir stehen. Oben auf dem Hügel lag das Herrenhaus, eine riesige, kompakte, drohende, schwarze Masse. Kein Licht brannte. Alles war still. Nur in den wenigen Bäumen, die die Bauarbeiter am Fuß des Hügels stehengelassen hatten, rauschte leise der Nachtwind. Es war eine schwüle Nacht. Ich aber fröstelte und zog die Schultern hoch. »Also los«, hörte ich Clay sagen, und es hörte sich so an, als wollte er sich damit selbst Mut zureden. »Noch können wir umkehren«, sagte ich. »Umkehren?« Clay setzte sich in Bewegung und schaute mich von der Seite an. »Machst du dir in die Hose?« »Das ist wohl eher dein Problem«, sagte ich etwas schärfer als nötig. Ich glaube, Clay wurde rot. Aber das konnte ich wegen der Dunkelheit nicht so genau sehen. Außerdem war jetzt nicht die Zeit zum Streiten. Wir gingen schweigend den breiten Weg zum Vorhof des Herrenhauses hinauf. Die Personalgebäude lagen in tiefster Finsternis, das große Haupthaus wirkte wie ausgestorben. Wir überquerten den Hof. Zum erstenmal standen wir zwischen den wuchtigen Säulen, die das weit vorgebaute Dach und den riesigen Balkon trugen. Aus der Nähe wirkte alles noch gewaltiger, noch größer und bedrückender. Wir umrundeten das Haus und fanden bald das Fenster wieder, vor
dem wir an dem Abend gestanden hatten, als Drago Santoya sich angeschossen und blutend hierhergeschleppt hatte. Natürlich war es auch hier dunkel. Das Fenster war verschlossen. Da die Vorhänge nicht zugezogen waren, konnten wir mit einiger Mühe hineinschauen und feststellen, daß der Raum, in dem Napoleon Santoya das Blut abgewaschen hatte, leer war. Eine seltsame, undefinierbare Erregung hatte mich erfaßt, und Clay ging es wohl nicht anders. Es war keine Angst. Es war eine Mischung aus Neugier und prickelnder Nervosität. Bis zu diesem Zeitpunkt war alles so reibungslos verlaufen, daß wir die Gefahr, in die wir uns begaben, längst vergessen hatten. Dabei standen uns die größten Schwierigkeiten erst noch bevor. Clay war weitergehuscht, während ich noch immer an dem Fenster stand, das Gesicht an die Scheibe preßte und in den Raum hineinspähte. Ein leises Zischen ließ mich herumfahren. Ich sah Clay nur als Schemen in der Finsternis, etwa zehn Yards entfernt. Er winkte mir zu. Ich folgte ihm. »Das Kellerfenster«, flüsterte er. Ich bückte mich und sah nun auch das schmale Fenster, hinter dem ein schwarzer, grundloser Schacht gähnte. Das Fenster stand offen. »Du bist wirklich verrückt«, sagte ich. »Es ist doch alles still.« Clay fuchtelte aufgeregt mit beiden Händen in der Luft herum. »Hier schlafen sie doch alle wie Murmeltiere. Kein Mensch wird uns hören.« »Wozu soll das gut sein?« fragte ich. »Mir gefällt das alles nicht. Wir kriechen in den dunklen Keller, finden doch nichts und verlaufen uns höchstens.« Clay antwortete nicht. Er hatte sich, während ich geredet hatte, bereits hingekniet und schob sich durch das Kellerfenster. Er klammerte sich am Fensterrahmen fest. Auf seiner Stirn perlte Schweiß. Langsam ließ er sich in die Finsternis hinabgleiten. Schließlich war er verschwunden. Und ich hörte nur noch seine Stimme. In meinem Gehirn signalisierte es Gefahr. Ich wußte genau, daß
der Zeitpunkt zum Umkehren gekommen war. Aber ich empfand, daß es dazu jetzt schon zu spät war. Ich schob mich durch das schmale Fenster und ließ mich vorsichtig in den Kellerschacht hinunter. Ich spürte Clays Hände an meinen Beinen. Er stützte mich, und wenig später stand ich neben ihm. Ein paar Yards weiter sahen wir einen Lichtschimmer. Auf Zehenspitzen bewegten wir uns darauf zu. Der Gang bog vor uns in einem scharfen Knick ab. Als wir um die Ecke schauten, sahen wir einen langen Flur mit mehreren Türen rechts und links. An den Wänden steckten in gußeisernen Halterungen ein paar Kerzen, die trübes Licht spendeten. Der Gang war leer, alles war totenstill wie in einer Gruft. Eine Treppe nach oben ins Haus zweigte seitlich ab. »Verschwinden wir besser wieder«, sagte ich. »Blödsinn«, sagte Clay. »Jetzt sind wir einmal hier, jetzt können wir auch noch weitergehen. Es ist doch ganz einfach.« Ich schaute ihn an. Sein Aussehen stand in einem krassen Gegensatz zu seinen Worten. Er war ganz käsig im Gesicht, und seine Stimme zitterte. Clay hatte Angst, noch mehr als ich. Er wollte es nur nicht zugeben, da das ganze Unternehmen seine Idee gewesen war. Wir schlichen weiter. Wir passierten den Treppenaufgang und lauschten an den Türen im Gang. Es war still dahinter. Den Mut, die Klinken niederzudrücken, brachten wir nicht auf. Wir gingen bis zum Ende des Gangs und stellten fest, daß er hier abermals um eine Ecke führte. Jetzt hatte ich endgültig genug. »Wir drehen um«, sagte ich entschlossen. »Wir verschwinden. Wir finden Santoya sowieso nicht.« Clay schien jetzt fast erleichtert darüber zu sein. Er nickte. In diesem Moment hörten wir das Stöhnen. Es klang hohl und dumpf durch den Kellergang. Es schien aus einem Sarg zu dringen. Wir blieben wie angewurzelt stehen und lauschten. Da war es wieder zu hören. Nur etwas leiser als vorher. Es ertönte vom Ende des Gangs.
Wir zögerten zunächst. Dann folgten wir dem Geräusch. Ein Mensch, der so stöhnte, war nicht gefährlich. Daß die hinterste Tür im Gang nur angelehnt war, bemerkten wir erst, als wir direkt davor standen. Wir stießen sie ein Stück auf. Ein schmaler Streifen Licht fiel heraus. Dann sahen wir den Mann. Er lag lang auf einem einfachen Lager ausgestreckt, halb nackt, mit einbandagiertem Oberkörper. Sein Gesicht war eingefallen und glänzte vor Schweiß, seine weitaufgerissenen Augen schimmerten fiebrig. Es war Drago Santoya, und er sah hundserbärmlich aus. Sein Anblick war zuviel für uns. Sein durchdringendes Stöhnen zerrte an unseren Nerven. Wir drehten uns um und hasteten davon. Wir wußten nun, was wir hatten wissen wollen. Wir liefen den Gang hinunter, bogen um die Ecke und rannten vorbei an den vielen Türen. Als wir die Treppe erreichten, stand plötzlich eine Gestalt seitlich von uns. Groß und hager, mit dürren Beinen. Fred Brady, der Storch. Der Sekretär des Colonels. Er starrte uns an, als sehe er weiße Mäuse, und wir zeigten wahrscheinlich auch nicht gerade unsere intelligentesten Gesichter. In jedem Fall wußten wir sofort, was die Glocke geschlagen hatte. Wir hielten uns nicht auf und rannten um die nächste Gangecke zu dem offenen Fenster. Die Angst fiel uns an wie ein wildes Tier. Clay weinte laut, und ich zerbiß mir vor Aufregung die Unterlippe. Wir erreichten das Fenster, und Clay sprang mit einem verzweifelten Satz nach oben. Er klammerte sich am Fensterrahmen fest und zog sich hoch. Ich gab ihm einen kräftigen Stoß von hinten. Aber da war Fred Brady auch schon über uns. Er versetzte mir einen Hieb an die linke Schulter, so daß ich zu Boden geschleudert wurde. Ich sah, wie Brady Clay am Hosenboden packte und zurückzerrte. Clay schrie aus Leibeskräften. Eine Ohrfeige, die ihm die Unterlippe aufriß, brachte ihn zum Schweigen. Benommen taumelte er auf mich zu. Ich richtete mich langsam wieder auf. Meine Angst war weg. Zwar hämmerte mein Herz, aber ich fühlte in diesem Moment nichts als kalte Wut auf mich selbst, daß ich diesem irrsinnigen Unternehmen
zugestimmt hatte. Brady beugte sich vor und starrte uns mit seinen Froschaugen drohend an. »Sieh einer an«, sagte er. »Wen haben wir denn da?« Er fixierte mich. »Bist du nicht der Bengel von der Mission?« Ich antwortete nicht. Bradys Spinnenarme schossen vor. Er packte Clay mit der Rechten und mich mit der Linken am Kragen. Ohne ein weiteres Wort schleifte er uns mit bis zur Treppe. Dann rief er nach Napoleon. Die hohe Gestalt des Negers tauchte wenig später auf. Er ging die Treppe hinunter. Als er uns sah, wurden seine Augen groß und rund. »Sieh dir das an«, sagte Brady leise. »Ich habe die beiden Bengels hier erwischt. Was hast du zu sagen?« Napoleon schwieg. Sein Anblick gab mir etwas Hoffnung. Napoleon war immer unser Freund gewesen. »Du Trottel!« sagte Brady. »Du Vollidiot. Du blöder Nigger. Anscheinend kann hier jeder einfach ins Haus steigen und herumschnüffeln. Hatte ich dir nicht aufgetragen, Wache zu stehen?« Napoleon schwieg immer noch. »Sperr sie ein!« befahl Brady. Nap packte uns gehorsam und schleppte uns zu einer der Türen im Kellergang. Er stieß sie auf und schob uns in den Raum dahinter. Er sagte kein Wort zu uns und wich unseren Blicken aus. Er schloß rasch hinter uns die Tür, und wir saßen in einem dunklen Gelaß. Hier war die Luft abgestanden und dumpf. Ein Fenster schien es nicht zu geben. Als wir ein wenig in der Dunkelheit herumtasteten, stolperten wir über eine Pritsche. Mit wackligen Beinen ließen wir uns darauf nieder. Auf dem Gang draußen hörten wir Bradys Stimme. Er schnauzte mit Napoleon herum und nannte ihn einen stinkfaulen, gefräßigen und verblödeten Nigger. Brady schien nicht zu wissen, was er mit uns anstellen sollte. Ich hörte ihn sagen: »Wenn die Lümmel nicht mehr auftauchen, wird in der Gegend der Teufel los sein. Alle diese dreckigen Schollenbrecher werden hier jeden Stein umdrehen. Aber wenn wir sie wieder laufenlassen, werden sie erzählen, was sie gesehen haben …«
Die Stimme entfernte sich. Brady und Napoleon stiegen die Treppe hoch. Wir waren allein. Allein mit unserer Furcht, allein mit der Ungewißheit. Clay weinte leise. »Sei still«, herrschte ich ihn an. »Deine dämliche Idee …« Dann verstummte ich. Es hatte keinen Sinn, daß wir uns gegenseitig zermürbten. Was geschehen war, war geschehen. Es ließ sich nicht mehr ändern. Jedes Wort darüber, wie wir in den Schlamassel geraten waren, war überflüssig. Ich war überzeugt davon, daß wir nicht mehr aus dem dunklen Verlies herauskommen würden. Wahrscheinlich würde man uns verhungern lassen. Es überraschte mich selbst, wie ruhig ich war, als ich über unser Schicksal nachdachte. Wahrscheinlich hat man als Kind noch nicht so genaue Vorstellungen vom Sterben und vom Tod. Clay weinte immer noch. Ich sagte nichts mehr deswegen. Wir hockten eng aneinandergepreßt auf der Pritsche. Und irgendwann in dieser Nacht müssen wir eingeschlafen sein. * Als wir erwachten, war es immer noch stockfinster. Wir hatten keine Ahnung, wie spät es war und wie lange wir geschlafen hatten. Zu unserer eigenen Verwunderung lagen wir nebeneinander auf der harten Pritsche. Ein Geräusch hatte uns geweckt. Angespannt lauschten wir. Da hörten wir den Schlüssel im Schloß knacken. Clay griff nach meinem rechten Arm. In diesem Moment schwang die Tür auf. Helligkeit blendete uns. Wir schlossen die Augen. Als wir klar sehen konnten, erkannten wir Napoleon. Er stand im Türrahmen und so, wie er aussah, war seine Angst mindestens ebenso groß wie unsere. Er streckte uns seine Hände entgegen und verzog sein Gesicht, als seien wir aus dem Nest gefallene, nicht flügge Vögelchen. »Ganz still«, flüsterte er. »Seid ganz still. Keinen Mucks.« Wir schauten ihn an. Die anfängliche Furcht wich. Napoleon war kein Kindermörder.
»Ich laß euch jetzt 'raus«, sagte er. »Aber seid still. Keinen Laut. Wenn wir erwischt werden, läßt Mr. Brady mich totschlagen.« Er winkte mit der Rechten. »Los jetzt, kommt!« Wir hatten nur verstanden, daß er uns 'rauslassen wollte. Wir liefen auf ihn zu und an ihm vorbei hinaus auf den Kellergang. Napoleon zog die Zellentür hinter sich zu und drehte den Schlüssel im Schloß, als habe er in der Nacht die Tür nicht richtig verschlossen. Er faßte uns an den Schultern und schob uns eilig vor sich her. Er führte uns die Treppe hoch und schlich mit uns durch eine riesige Halle, die dick mit Teppichen ausgelegt war und an deren Wänden große Gemälde hingen. Napoleon führte uns zur Tür. Er öffnete sie, und vor uns lag der Vorhof des Herrenhauses. Der Himmel hatte die Farbe von kaltem Haferschleim. Es war kühl, die Luft war feucht und klamm. Es war etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang. »Jetzt lauft«, sagte Napoleon. Seine Stimme klang dumpf. »Lauft, so schnell ihr könnt.« Ich drehte mich um. »Danke«, sagte ich. Clay schluckte nur und kriegte kein Wort heraus. »Ihr dürft nichts verraten«, flüsterte Nap eindringlich. »Ihr müßt vergessen, was ihr gesehen habt. Der Colonel schlägt mich tot, und Mr. Brady schlägt mich tot …« Seine Stimme zitterte. »Ihr dürft kein Sterbenswörtchen verraten.« Ich nickte und drückte Nap die Hand. Dann packte ich Clay und zerrte ihn mit. Wir rannten davon. Als ich einmal zurückschaute, sah ich Napoleon mit Leichenbittermiene an der Tür stehen. Wir liefen den Hügel hinunter und durch das taufeuchte Gras zum Fluß. Hier blieben wir stehen und schauten uns an. »Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es noch, in unsere Zimmer zu schlüpfen, ohne daß jemand etwas merkt«, sagte ich. Clay schluckte wieder. »Es – es war eine Schnapsidee«, sagte er. »Und was werden wir jetzt tun?« fragte ich, ohne seine Worte zu beachten.
»Ich – ich weiß nicht.« Clay zuckte mit den Schultern. »Wir treffen uns heute mittag«, sagte ich hastig. Es blieb keine Zeit, lange herumzustehen und zu beraten. Clay nickte erleichtert. Er schien sich miserabel zu fühlen, und das war verständlich. Mir ging es nicht viel besser. »Wasch dir das Blut von der Lippe«, sagte ich. Wieder nickte Clay. Ich drehte mich um und lief davon, zur Mission. Ich schaute nicht zurück. Doch ich nehme an, daß Clay es ebenfalls eilig hatte, nach Hause zu kommen. Ich erreichte die Mission tatsächlich noch vor Sonnenaufgang. Sie lag still und ruhig im Frühnebel, als ich über den Hof hastete. Ich kletterte außer Atem durch das Fenster in meine Kammer, kleidete mich aus und schlüpfte ins Bett. Dann lag ich wach unter meiner Decke und ließ mir alles noch einmal durch den Kopf gehen. Wir hatten Unsinn angestellt, lebensgefährlichen Unsinn. Und wir hatten in den letzten Monaten so ziemlich alles falsch angepackt, was man nur eben falsch anpacken konnte. In dieser Nacht war noch einmal alles gutgegangen. Aber ich war sicher, daß dieses Abenteuer noch Folgen haben würde, die weder Clay noch ich allein verkraften konnten. Es wurde Zeit, die Fehler zu korrigieren, falls das noch möglich war.
10. Niemand hatte etwas von unserem nächtlichen Abenteuer bemerkt. Weder auf der Mission noch bei Clay auf der Farm. Ich traf ihn nach dem Mittagsessen an der Brücke. Er saß am Ufer und ließ die nackten Füße ins Wasser baumeln. Ich setzte mich neben ihn und betrachtete mein Spiegelbild in den Wellen. »Wir sollten jetzt zu Padre Ambrosius gehen und alles sagen«, sagte ich. Clay wandte ruckartig den Kopf. »Aber Napoleon hat gesagt …« »Wenn wir noch länger den Mund halten, wird es noch schlimm für uns werden«, sagte ich hart. »Wir werden gehenkt oder
mindestens ins Gefängnis gesteckt, und dann landen wir in der Hölle, weil wir Verbrechern geholfen haben.« »Wir haben die ganze Zeit den Mund gehalten«, sagte Clay. »Wir haben monatelang geschwiegen.« »Was daraus wird, haben wir ja jetzt gesehen«, sagte ich. »Glaubst du, der Colonel oder Brady, der Storch, werden nichts unternehmen, wenn sie merken, daß wir abgehauen sind? Die werden sich denken, daß wir weitererzählen, was wir gesehen haben, und werden versuchen, sich dagegen zu schützen. Deshalb müssen wir uns beeilen, wenn nicht alles umsonst gewesen sein soll.« »Man wird uns kein Wort glauben«, sagte Clay. »Darauf müssen wir es ankommen lassen«, sagte ich. »Padre Ambrosius wird uns bestimmt glauben. Wir hätten schon viel früher zu ihm gehen sollen. Wir haben uns monatelang wie Esel angestellt. Wir sind Idioten, Clay.« Ich richtete mich auf und hakte die Daumen hinter den Hosengürtel. »Komm mit, Clay«, sagte ich. Er erhob sich zögernd und schnitt ein unglückliches Gesicht. Folgsam wie ein Hund trottete er hinter mir her. * Wir trafen Padre Ambrosius in seinem Weinkeller. Er begrüßte uns freudig und rückte uns ein paar grobgefertigte Schemel hin. Er schwärmte eine Weile von dem Wein des vergangenen Jahres, und wir rutschten auf unseren Schemeln herum und wußten nicht, wie wir anfangen sollten. Dann aber begann ich doch stockend zu erzählen, während Clay zunächst schwieg, später aber meinen Bericht ergänzte. Wir erzählten alles. Von Anfang an. Von der Begegnung mit Santoya im Winter, von dem Treffen der beiden Männer am Waldrand, von dem Apfelschimmel und dem eleganten Reiter, von unserem Verdacht gegen Stephens, von den Beobachtungen an jenem Abend, als Santoya sich verletzt in das Herrenhaus geschleppt hatte, und von dem, was in der letzten Nacht geschehen war. Das große, gutmütige Gesicht von Padre Ambrosius wurde immer
ernster. Er hatte einen Humpen Wein vor sich auf einem Tischchen stehen und nippte ab und zu daran. Er strich sich über seinen dichten, langen Bart und unterbrach uns mit keinem Wort. Als wir endeten, richtete er sich auf, faltete die Hände auf dem Rücken und wanderte für lange Minuten stumm im Weinkeller zwischen den Fässern auf und ab. Wir beobachteten ihn mit gemischten Gefühlen und erwarteten eine Standpauke so groß wie ein Scheunentor. Aber er sprach lange Zeit kein Wort. Als er schließlich stehenblieb, sagte er: »Ihr bleibt von dem Haus weg, verstanden?« Wir nickten wie auf Kommando. »Ich sollte euch mit dem Weihwasserwedel den Hintern versohlen«, sagte er. »Was habe ich dir getan, daß du kein Vertrauen zu mir hast?« Er schaute mich nicht böse, aber vorwurfsvoll und etwas traurig an. Mir wurde heiß, ich hatte auf einmal einen seltsamen Druck in der Kehle, und ich schämte mich. Ich begriff, daß ich Padre Ambrosius mit meinem Schweigen gekränkt hatte, daß mein Schweigen ihn stärker schmerzte als der Gedanke, in welcher Gefahr ich geschwebt hatte. Er lief noch eine Weile auf und ab und strich erst mir und dann Clay über den Kopf. Er fragte nicht weiter. Er sparte sich sogar die Vorwürfe. »Sorgt euch nicht. Jetzt wird alles in Ordnung gebracht«, sagte er. »Anderen gegenüber werdet ihr jetzt noch ein paar Tage lang so verschwiegen sein, wie ihr es mir gegenüber gewesen seid, verstanden? Und bleibt von dem Haus weg!« Er wiederholte seine Mahnung und begleitete uns dann nach oben. Als wir draußen auf dem Hof standen, schien die Sonne heller zu scheinen, und die Luft schien klarer zu sein. Ich fühlte mich leichter, und Clay erging es nicht anders. Padre Ambrosius lächelte jetzt wieder. Er nickte uns zu und ging hinüber zum Office von Padre Emanuel. Nachdem nun alles vorbei war und wir kein Geheimnis mehr hatten, waren wir fast ein wenig enttäuscht. Wir hatten eine größere Reaktion auf unsere Enthüllungen erwartet. Ich weiß nicht mehr, was wir uns damals erhofft hatten. Wahrscheinlich wußten wir es auch
damals nicht genau. Aber ich nehme an, daß wir gedacht hatten, daß sofort ein Kreuzzug gegen das Herrenhaus von Colonel Stephens gestartet werden würde. Um eine weitere Illusion ärmer gingen wir zum Fluß hinunter.
11. In den nächsten Tagen passierte gar nichts. Wir hielten uns strikt an das Verbot von Padre Ambrosius und schlugen um das Herrenhaus einen weiten Bogen. Unsere Hoffnung, daß unser Bericht etwas genützt hätte, sank auf einen Tiefpunkt. Zwar hatte ich am Rande registriert, das Padre Juan, einer der jüngsten Mönche in der Mission, fortgeritten war. Aber seltsamerweise brachte ich das nicht mit unseren Problemen in Verbindung. Wir schlichen ziemlich geknickt herum, denn nach der anfänglichen Erleichterung waren uns doch wieder Bedenken gekommen, zumal wir am nächsten Tag von weitem Napoleon gesehen hatten. Er hatte mit bloßem Oberkörper im Freien gearbeitet, und sein Rücken war von blutroten Peitschenstriemen bedeckt gewesen. Colonel Stephens kehrte von seiner Reise zurück und benahm sich, wenn er mit Farmern zusammentraf, wie immer. Aber vier Tage nach unserem Gespräch mit Padre Ambrosius waren plötzlich die Ranger wieder da. Ich weiß nicht mehr, wer es mir sagte. Ich glaube, es war Padre Juan, der an diesem Tag in die Mission zurückkehrte. Er hatte die Ranger aufgesucht und benachrichtigt. Da ich mir denken konnte, daß es den Padres nicht recht war, wenn ich zum Hill's Point lief, verdrückte ich mich klammheimlich, als die Gelegenheit günstig war. Es war schon merkwürdig. Kein Mensch konnte etwas davon gewußt haben, was Colonel Stephens für ein Mann war, niemand konnte auch gewußt haben, daß die Ranger zurückkehren würden, um ihn sich vorzuknöpfen. Trotzdem traf ich Jerry Ricks, Sam Bender, Jay Kingsley, Fitz O'Conner und ein paar andere Jungen auf
dem Weg zum Hill's Point. Und als wir eintrafen, war Clay bereits da, und sein Gesicht war puterrot vor Aufregung. In unseren sonst recht ruhigen Breiten schien jeder ein Gespür für besondere Vorfälle zu haben. Die Ranger waren wirklich da. Sie hatten das Herrenhaus umzingelt. Der große Captain, den alle Big Foot Wallace nannten, gab die Befehle. Vom Haus krachten plötzlich Schüsse. Ich sah Fred Brady hinter der Scheibe eines Fensters. Sein häßliches, zerknittertes Gesicht war verzerrt. Er hielt ein Gewehr in den Händen. Ein Ranger lief auf uns zu. Er war hager und breitschultrig und trug schwere Lederchaps an den Beinen, die bei jedem Schritt hin und her schwappten. Er hielt einen rauchenden Colt in der Faust. »In Deckung!« schrie er mit überschnappender Stimme. »Seid ihr noch nicht weg von hier? Verdammte Bengels! Bringt euch in Deckung!« Er taumelte plötzlich, stieß ein heiseres Stöhnen aus und stürzte nach vorn ins Gras. Er blutete aus der linken Schulter, richtete sich halb auf, preßte die rechte Hand auf die Wunde und wälzte sich hinter einen Salbeibusch. Wir drehten uns um und hetzten ein Stück davon, bis zu einer tiefen Mulde neben dem Weg. Hier warfen wir uns zu Boden. Die Schießerei hatte sich inzwischen verstärkt. Eine stinkende, graue Pulverdampfwolke schwebte Minuten später über dem Hof des Herrenhauses. Auf Befehl von Captain Wallace rückten die Ranger langsam vor. Auch der Mann, der vor unseren Augen eine Kugel in die linke Schulter empfangen hatte. »Stellen Sie das Feuer ein, Colonel Stephens!« rief der Captain. Doch im Haus dachte niemand daran, der Aufforderung Folge zu leisten. Ein paar Farmer näherten sich jetzt. Sie fuhren mit ihren Wagen heran, hielten in respektvoller Entfernung und beobachteten das Feuergefecht. Es war etwa vier Uhr am Nachmittag, und der Schußwechsel zog sich fast eine Stunde hin. Dann gelang es zwei Rangers, von hinten
in das Haus einzudringen. Plötzlich fiel vom Haus her kein Schuß mehr. Die Ranger stellten das Feuer ein. Es wurde unheimlich still. Von Süden strich ein heißer Windhauch heran und zerteilte die Pulverdampfschwaden. Vorsichtig erhoben wir Jungen uns aus der Deckung. »Bleibt liegen!« schrie jemand. Aber da ging bereits oben am Haus das breite Portal auf. Die beiden Ranger, die von hinten eingedrungen waren, traten heraus. Sie führten Colonel Stephens zwischen sich. Er sah ganz und gar nicht mehr vornehm aus. Er trug ein weißes Hemd, dessen linker Ärmel bis zur Schulter aufgerissen war. Schwarze Pulverspuren zeichneten sein Gesicht. Wirr hing ihm das weiße Haar in die Stirn. An seiner linken Wange blutete er aus einem schmalen Riß. Die Ranger unten am Hügel sprangen auf, rissen sich die Hüte vom Kopf und brüllten »Hurra!« Dann rannten sie ihren Kameraden entgegen, klopften ihnen auf die Schultern und brachten den Colonel herunter. Ein paar andere drangen in das Haus ein, und wenig später wurde ein lebloser Körper herausgetragen. Es war Fred Brady, der Storch. Eine Kugel hatte ihn am Hals erwischt und ihm fast den Kopf abgerissen. Die Ranger trieben das völlig verängstigte Personal auf den Hof. Auch Nap war dabei. Wir hatten unsere Deckung natürlich längst verlassen und näherten uns der Ranger-Gruppe, die den verhafteten Colonel Stephens bewachte. Auch die Farmer kamen näher. Wir hörten den Colonel wütend schreien. Er drohte, sich beim Präsidenten persönlich zu beschweren und Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, damit der Mann, der seinen Sektretär erschossen hätte, an den Galgen käme. Die Ranger beachteten das Geschrei nicht. Sie legten Stephens Handschellen an und banden ihn an einem Baum fest, bis sie mit der Durchsuchung des Hauses fertig waren. Währenddessen lag die Leiche Bradys mitten auf dem Weg, und sein Blut sickerte in den Boden.
Die Farmer waren inzwischen von ihren Wagen gestiegen. Sie standen in einer Gruppe zusammen und redeten aufgeregt durcheinander. Ray Fizzard, der Vater des verschlagenen All, der ein gutmütiger Kerl war und seinem mißratenen Sohn nur sein brandrotes Haar, nicht aber sein verträgliches Wesen vererbt hatte, sagte, daß man sich doch höllisch in einem Menschen täuschen könne, und daß sich selbst unter der edelsten Maske ein Verbrecher verbergen könne. Die anderen äußerten sich genauso und waren ziemlich schockiert. Jefferson W. Stephens hatte sie alle getäuscht und hinters Licht geführt. Nur Clay nicht – und mich auch nicht. Die Ranger kehrten aus dem Haus zurück. Wir hörten, wie sie dem Captain Meldung erstatteten, und nun durchfuhr uns doch ein Schreck. Drago Santoya war nicht mehr da. Das Haus war leer. In Clay und mir kroch die Angst wieder hoch. Santoya war nicht mehr da. Er war der Verhaftung entgangen. Wir waren sicher, daß er zurückkehren und sich rächen würde. An uns. Wir hörten kaum, daß der Ranger – Captain befahl, noch alles einmal gründlich zu durchsuchen, auch die Ställe und die Personalgebäude. Clay und ich sonderten uns von den anderen Jungen ab, die zusammenstanden und genauso wirr herumschnatterten wie ihre Väter. Ich schaute Clay an, und ich wußte, daß wir beide das gleiche dachten. »Der Wald«, sagte ich. »Wenn der Kerl noch hier ist, dann im Wald. Sie haben ihn versteckt, nachdem wir hier waren.« Clay nickte. Ohne ein weiteres Wort drehten wir uns um und hasteten davon. Kein Mensch achtete auf uns. Wir liefen, ohne zu überlegen, auf was wir uns schon wieder einließen. Wir waren zu aufgeregt, um lange über unser Handeln nachzudenken. Wir erreichten den Wald und brachen ungestüm durch das Unterholz am Waldrand. Ohne auf tiefhängende Zweige zu achten, liefen wir weiter, atemlos und mit vor Aufregung roten Gesichtern. Bald wurden unsere Schritte langsamer. Wir hatten nicht bedacht,
daß wir die versteckte Erdhöhle nur einmal im Winter gesehen hatten, als alles hochverschneit gewesen war. Jetzt lag kein Schnee mehr. Vieles hatte sich verändert. Damals hatten wir auch nur der Fährte Santoyas zu folgen brauchen. Jetzt mußten wir die Höhle ohne Spuren wiederfinden. Und das war schwerer, als wir geglaubt hatten. Ich weiß nicht, wie lange wir im Wald herumirrten. Auf einmal jedenfalls standen wir vor der Höhle, und wir waren darüber nach der langen vergeblichen Suche selbst am meisten überrascht. Sie war gut getarnt. Aber nicht gut genug. Wir erkannten den Einstieg trotzdem, und wir wußten sofort, daß die Höhle bewohnt war. Wir nahmen Rauch in der Luft wahr, ohne ihn zu sehen. Anscheinend verfeuerte Santoya in seinem unterirdischen Versteck nur knochentrockenes Holz mit schwacher Rauchbildung. Wir zögerten ein paar Minuten, bis wir uns zu dem Höhleneingang trauten. Dann aber sagten wir uns, daß Santoya schwer verletzt war und kaum in der Lage sein würde, uns etwas zu tun. Das war ein Irrtum. Aber das würden wir noch früh genug merken. Vor dem Einstieg blieben wir stehen und zogen vorsichtig das davor aufgehäufte Gestrüpp fort. Wir bückten uns und schauten durch das Loch nach unten. Wir blickten direkt in das abgemagerte, schmerzverzerrte Gesicht Dargo Santoyas. Er lag fast genau unter dem Einstieg auf einem einfachen Lager aus Laub und Moos und schaute uns entgegen. Es ging ihm noch immer miserabel. Das konnten wir sehen. Aber so schlecht, wie wir gedacht hatten, ging es ihm nicht mehr. Und das bewies er uns gleich. Er hielt auf einmal seinen Revolver in der Hand. Er schien ihn unter der Decke gehabt zu haben. Jedenfalls konnten Clay und ich gerade noch zurückspringen. Dann krachten auch schon zwei Schüsse. Die Kugeln bohrten sich klatschend in einen Baumstamm und zerfetzten die Rinde. Clay und ich stolperten und fielen auf den Rücken. »Los, weg!« rief ich. Ich sprang auf und riß Clay auf die Beine. Da tauchte auch schon der Kopf Santoyas aus dem Erdloch auf. Er sah aus wie ein Totenschädel. Ein dichter Bart bedeckte seine hohlen
Wangen. »Bleibt stehen!« schrie er. Seine Stimme klang dünn und krächzend. »Ihr verdammten Bengels! Der Teufel soll euch holen!« Wir rannten, ohne uns umzudrehen. Clay rammte mit der rechten Schulter einen Baum und lief weiter, während er vor Schmerz schrie. Hinter uns krachten wieder Schüsse. Jetzt hatten wir Angst, und wir fragten uns, wie wir so verrückt sein konnten, allein in den Wald zu laufen, um zu sehen, ob Santoya da war, wo wir ihn vermuteten, nachdem er im Haus von Stephens nicht gefunden worden war. Andererseits hätte es eine ziemliche Blamage für uns bedeutet, wenn wir die Ranger in den Wald geschickt hätten, und Santoya wäre nicht da gewesen. Die Kugeln umschwirrten uns und bohrten sich rechts und links von uns in Baumstämme. Keine traf, und ich glaube noch heute, daß das ein kleines Wunder war. Wie wir den Waldrand erreichten, weiß ich nicht mehr. Clay taumelte, als wir aus dem Unterholz brachen, schlug der Länge nach hin und hob schwerfällig den Kopf. »Ich – kann nicht mehr«, stieß er keuchend hervor. Ich riß ihn hoch und zerrte ihn hinter mir her. Die Sonne stand schon weit im Westen, als wir den Hill's Point wieder erreichten. Hier hatten sich mittlerweile noch mehr Farmer und fast alle Kinder aus der Gegend versammelt. Die Ranger hatten dafür gesorgt, daß sie gebührend Abstand hielten und schienen noch immer in den Gebäuden von Colonel Stephens nach Santoya zu suchen. Der Colonel wurde von drei Rangers verhört. Clay und ich drängten uns durch die Zuschauermenge und hasteten den Weg zum Haus hoch. Ein Ranger, der mit einem Gewehr in der Nähe der Pferde der Kompanie stand, rief uns etwas zu. Aber wir hörten nicht. Wir hielten erst an, als wir vor dem riesigen Captain standen, der mit Colonel Stephens vor dem Portal des Herrenhauses einen heftigen Disput hatte. Er schaute uns überrascht und mit gerunzelter Stirn an und hörte zu, was wir stotternd und zusammenhanglos hervorbrachten. Ich sah, daß Colonel Stephens blaß wurde und uns mit zusammengekniffenen Augen anschaute. Wenn Blicke töten könnten, wären Clay und ich
damals sicher auf der Stelle tot umgefallen. Der Captain aber legte uns seine riesigen Hände auf die Schultern und schlenderte mit uns bis zum Rand des Vorhofes. Er lobte uns, und wir wurden ganz rot, weil wir dieses Lob ja nun wirklich nicht verdient hatten. Nach allem, was wir angestellt hatten. Wir waren froh, daß der Captain das nicht wußte, und als er uns riet, sofort nach Hause zu gehen, befolgten wir diesen Ratschlag wirklich. Wir waren auch der Meinung, nun genug geleistet zu haben. Wir warteten noch, bis sechs Ranger ihre Pferde bestiegen und zum Wald hinunterritten. Dann begaben wir uns auf den Heimweg, ohne den Farmern und den anderen Jungen, die neugierig herumstanden und darüber rätselten, was wir dem Captain erzählt hatten und die sechs Ranger wohl vorhatten, ein Wort zu sagen. * Der Abendhimmel spiegelte sich im Fluß, so daß das Wasser rötlich schimmerte. Wir blieben am Ufer stehen. »Jetzt holen sie sich Santoya«, sagte ich. »Jetzt ist alles vorbei.« »Wir waren Idioten«, sagte Clay. »Hornochsen.« »Es ist ein verdammtes Land«, sagte Clay. Er wirkte auf einmal viel älter. »Man kann nirgendwo hintreten, ohne für oder gegen etwas kämpfen zu müssen.« »Es ist ein schönes Land«, sagte ich. »Ich möchte nicht woanders leben. Man kann mit allem fertig werden, wenn man nur will. Nap hat auch gesagt, daß das Land schön sei.« Nap … »Ob sie ihn einsperren werden?« fragte Clay. »Er ist kein Verbrecher«, sagte ich. »Er hat dem Colonel gehorchen müssen. Er war sein Sklave. Er mußte einfach gehorchen.« »Vielleicht sperren sie ihn doch ein.« »Wenn er nichts getan hat, sperren sie ihn auch nicht ein.« »Morgen wissen wir mehr.« Clay strich sich seine Haartolle aus
der Stirn. »Ob die Ranger morgen mit Santoya und den anderen schon weg sind?« »Möglich.« Ich blinzelte in die Abendsonne. »Vielleicht gibt es eine Schießerei im Wald. Vielleicht wird Santoya erschossen.« »Es ist alles eine verdammte Sache und ein verdammtes Land«, erklärte Clay. »Ruhe werden wir hier nie haben, hat Bob gesagt.« »Manchmal ist Bob auch ein Schwätzer«, sagte ich. »Ma und Pa sind tot«, sagte Clay. »Und es ist ein verdammtes Land. Wir hätten in Illinois bleiben sollen.« »Dann wärt ihr heute noch arm wie Kirchenmäuse«, sagte ich. »Das Land kann nichts dafür, daß dein Pa und deine Ma tot sind. Es sind die Menschen, nicht das Land. Banditen gibt es überall.« Ich schaute Clay voll an. Er hatte ein nachdenkliches Gesicht. »Wir sehen uns mal«, sagte ich. Er nickte. »Wir sehen uns.« Ich drehte mich um und ging zur Mission. Als ich einmal zurückschaute, sah ich Clay noch immer unbeweglich am Ufer des Flusses stehen und ins Wasser starren. Eine kleine, schmale Gestalt in geflickten, viel zu kurzen Hosen und einem viel zu weiten Hemd. Seine kleine Gestalt warf in der roten Abendsonne einen langen Schatten.
12. Ich fühlte mich leicht und war zufrieden mit der Welt, als ich am Abendbrottisch in der Mission saß. Ich aß soviel wie selten und trank einen ganzen Krug Milch leer. Das dicke Ende aber sollte noch folgen. Als ich den Küchenanbau verließ, hielt gerade der Wagen von George Kingsley auf dem Hof. Jay, sein Sohn, der genau wie sein Vater das Feuergefecht am Hill's Point beobachtet hatte, saß neben ihm auf dem Bock. Ich wollte eigentlich in meine Kammer gehen. Doch da hörte ich, daß George Kingsley davon sprach, daß der mexikanische Spion, hinter dem die Ranger her seien, noch immer nicht gefaßt worden sei. Da blieb ich stehen und lauschte auf das, was der Farmer den
Padres erzählte. Die Ranger hatten im Wald nur noch ein leeres Versteck gefunden. Santoya war verschwunden, und bis jetzt war er nicht gefunden worden. Jetzt wurde es dunkel, und die Chancen des Killers, noch einmal zu entwischen, standen nicht schlecht. Als George Kingsley davonfuhr, schlich ich mit hängendem Kopf in meine Kammer und setzte mich mit weichen Knien auf mein Bett. Santoya war nicht gefangen, er war noch immer frei. Für mich war klar: Er würde kommen und sich rächen. Ich dachte nicht darüber nach, daß er dazu keine Möglichkeiten hatte, da er ja gar nicht wußte, wo er Clay und mich finden konnte. Ich dachte in diesem Moment nur an die beiden Marshals in Mulberry. Ich hatte mit einem Mal eine Stinkwut auf die Ranger, denen es nicht gelungen war, den Killer zu fassen. Als ich wenig später ins Bett stieg, war ich überzeugt, in dieser Nacht kein Auge mehr zutun zu können. Lange lag ich wach und starrte in die Dunkelheit. Dann schlief ich doch ein. Aber ich hatte böse Träume. * Ich wurde wach. Ich wußte nicht, was mich geweckt hatte. Aber ich spürte, daß etwas nicht in Ordnung war. Die Angst griff mit einer eisigen Klaue nach mir. Ich schaute zum Fenster. Draußen war es dunkel. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Ich schob die Decke weg und stand auf. Unschlüssig verharrte ich eine Weile neben dem Bett, ging dann zum Fenster und blickte nach draußen. Aber auf dem Hof war nichts zu sehen. Ich ging zur Tür und lauschte. Ich hörte Schritte und Stimmen. Ich drückte langsam die Klinke nieder und öffnete die Tür. Auf dem Gang draußen war es ebenfalls dunkel. Aber ich hörte immer noch die Stimmen, jetzt lauter als vorher. Ich schlüpfte auf den Gang hinaus und sah nun auch den schwachen Lichtschimmer dort, wo der Gang in den
Aufenthaltsraum der Mönche mündete. Ich spürte die Kälte des Fußbodens nicht, als ich barfuß den Gang hinunterschlich. Ein oder zwei Yards vor der Tür, die nur angelehnt war, blieb ich stehen und lauschte. Jetzt hörte ich sie ganz deutlich, die rauhe, kratzende, schwache Stimme, in der jedoch eine tödliche Drohung mitschwang. »… werde hierbleiben«, hörte ich die Stimme sagen. »Hier wird mich keiner von den verfluchten Sternträgern suchen. Ihr werdet mich verstecken. Irgendwo. Und ihr werdet mich gut versorgen. Einer von euch wird immer als Geisel bei mir bleiben, und wenn die anderen Mist bauen, werde ich ihn abknallen.« »Sie werden eine Blutvergiftung kriegen, Mann«, hörte ich Padre Frastus sagen. »Sie müssen operiert werden, so, wie Sie aussehen, sterben Sie in ein paar Tagen, wenn Sie nicht operiert werden.« »An mir schnippelt keiner herum«, sagte die rauhe Stimme. »Ihr wollt mich nur abschlachten. Ich kenne euch. Aber das schafft ihr nicht. Das schafft keiner.« Ich schob mich näher an die Tür und warf einen Blick durch den schmalen Spalt, aus dem das Licht fiel. Für einen Moment schien mein Herz stillzustehen. Direkt an der Tür stand Drago Santoya. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten und sah aus wie sein eigenes Gespenst. In seiner Rechten lag der Navy-Colt. »Wir können Sie nicht verstecken. Verstehen Sie doch«, sagte Padre Emanuel in diesem Moment. »Ihr könnt«, sagte Santoya. Ich konnte die Padres nicht sehen. Aber irgend etwas schien Santoya nervös zu machen, denn er schrie plötzlich: »Stehenbleiben, ihr verdammten Pfaffen. Ich schieße …« Er taumelte vor Schwäche und zog mit dem Daumen den Hammer des Revolvers zurück. Da durchzuckte mich die wilde Angst, daß den Padres etwas geschehen könnte. Ich warf mich mit aller Kraft gegen die Tür. Es war eine schwere, massive Eichentür. Sie schwang wuchtig nach innen und traf mit der Kante den rechten Ellenbogen des Mörders. Ein Schuß löste sich, der sich in eine Wand bohrte, aber niemanden verletzte. Dann flog der Revolver quer durch den
Aufenthaltsraum. Santoya stieß einen langgezogenen, klagenden Schrei aus, torkelte wie ein Betrunkener und brach zusammen. Er wollte sich noch einmal aufrichten, verlor jedoch das Bewußtsein und blieb regungslos liegen. Sekunden später lag ich in den Armen von Padre Ambrosius, der mir immer wieder über den Kopf strich und beruhigend auf mich einsprach. Die anderen Padres schleppten den Banditen weg. Sie versorgten seine Wunde und sperrten ihn in einem Kellerraum ein. Jetzt war wirklich alles vorbei. Ich will es kurz machen: Am nächsten Tag benachrichtigte Padre Emanuel die Ranger, die die ganze Nacht vergeblich den Wald durchsucht hatten. Gegen Mittag ritten die Ranger auf den Hof der Mission und holten Drago Santoya ab. Er leistete schwachen Widerstand. Ich wurde noch einmal von Captain Wallace gelobt, und hörte dann, wie der Captain Padre Emanuel erklärte, daß Santoya als Kurier und Saboteur für den mexikanischen Geheimdienst gearbeitet hätte. Colonel Stephens hatte seine hohe militärische Stellung ausgenutzt, um geheime Unterlagen, Pläne von Forts, Magazinen, Statistiken über Mannschaftsstärken, Bewaffnung und Ausrüstung, politische Informationen und vieles mehr an Mexiko zu verkaufen. Er war reich damit geworden, was ihm nun allerdings auch nichts mehr nutzte. Ich verstand nicht viel davon, aber ich sah, wie alle sich freuten, daß Santoya gefaßt war. Ich freute mich auch darüber. Später hörten wir, daß Drago Santoya zwei Tage vor seiner Hinrichtung gegen einen amerikanischen Agenten in mexikanischer Gefangenschaft ausgetauscht worden und so noch einmal mit dem Leben davongekommen war. Da war jedoch längst wieder der Alltag im Pease-River-Valley eingekehrt. Die Ernte war eingebracht. Es "mrde Herbst. Alle feierten das Erntedankfest. Wieder neigte sich ein Jahr zu Ende. Zu vermerken wäre noch, daß Napoleon nicht eingesperrt wurde. Als das Herrenhaus von Colonel Stephens verkauft wurde, übernahm der neue Besitzer auch Nap. Aber das ist eine andere Geschichte …
* Draußen höre ich Hufschlag. Ich bin hundemüde. Ich muß aufhören zu schreiben. Mir tut die Hand weh, und meine Wunde bereitet mir wieder Schmerzen. Im Moment fühle ich mich verdammt schwach. Wahrscheinlich habe ich mir doch zuviel vorgenommen. Gerade ist Luvella erschienen, die mich seit Tagen pflegt. Sie bringt mir Essen. Aber ich habe keinen Hunger, ich bin nur müde. Doch aus dem Schlaf wird wohl nichts werden. Ich kann jetzt den Mann sehen, der auf das Zigeunerlager zureitet. Es ist Lobo, und er reitet bestimmt nicht aus reiner Freude wie ein Wilder durch die Gegend. Ich spüre, daß es wieder Ärger gibt. Ich kann mich auf meinen Instinkt verlassen. Es ist vorbei mit der Ruhe. Eigentlich wundert es mich, daß ich mich so lange verstecken konnte. Jetzt habe ich mich fast daran gewöhnt, und ich werde mich zusammenreißen müssen, um wieder hochzukommen. Zwar bin ich noch nicht wieder ganz auf dem Damm. Aber das ist unwichtig. Ich werde es schaffen. Ich muß es schaffen. Ich will weiterleben. Ich lasse mich nicht fangen und abschießen, als sei ich ein tollwütiger Hund. Ich werde um mein Recht kämpfen, auch mit einer schlecht ausgeheilten Schußverletzung in der Brust. Lobo kommt, und ich denke, die nächsten Tage werden noch hart werden. Irgendwann werde ich weiterschreiben, irgendwann …
ENDE
Vorschau Zigeuner vergessen nicht so leicht, wenn ihnen ein Unrecht zugefügt wurde. Und der Tod des jungen Ramigar war immer noch ungerächt. Doch eines Tages tauchte Santino auf, Ramigars Bruder. Der Bote hatte ihn endlich gefunden, und er war sofort gekommen, um Ramigar zu rächen. Die Männer im Lager schauten Santino mit einer Mischung aus Bewunderung und Furcht an. Auf der anderen Seite des Flusses sprachen die Leute seinen Namen nur hinter der vorgehaltenen Hand, denn er hatte einen Beinamen, der einem einen Schauer über den Rücken jagte: der Leichenmacher. Und an einem regennassen Tag standen sie sich auf der Main Street von Eagle Spring gegenüber: der Leichenmacher und Dutch Cassidy, der Mörder Ramigars und der Star-Killer der Hilton Company … Die Jagd auf Ronco, den Geächteten, geht weiter. Lesen Sie nächste Woche Band 106 dieser großen deutschen WesternSerie:
Der Leichenmacher