Nr. 366
Der tödliche Test Atlan in der Höhle der Panik von Hans Kneifel
Pthor, der Kontinent des Schreckens, hat sich...
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Nr. 366
Der tödliche Test Atlan in der Höhle der Panik von Hans Kneifel
Pthor, der Kontinent des Schreckens, hat sich auf Loors, dem Planeten der Brangeln, lange genug aufgehalten, um es Atlan zu ermöglichen, Spercos, des Tyrannen der Galaxis Wolcion, Gewaltherrschaft ein jähes Ende zu setzen und den unterdrückten Völkern die verlorene Freiheit wiederzugeben. Inzwischen ist Pthor zu neuem Flug durch den Kosmos gestartet. Eingeleitet wurde der Start durch den »Ruf des Wächters«, der fast alle Lebewesen auf Pthor in tiefen Schlaf versinken ließ, und durch das Erscheinen des »schwarzen Kontrolleurs«. Um zu verhindern, daß Pthor wieder der Kontrolle der mysteriösen Beherrscher der Schwarzen Galaxis anheimfällt, macht sich Atlan, der dank dem Goldenen Vlies nicht in Tiefschlaf verfallen ist, auf den Weg zur »Seele« von Pthor. Doch es gelingt Atlan nicht, auf die Steuerung Einfluß zu nehmen. Statt dessen wird der Arkonide auf die »Dimensionsschleppe«, den Ableger Pthors, verschlagen, der eine kleine Welt für sich bildet. Dort gelangt der Arkonide in den Kreis der Clanocs, der Ausgestoßenen von Pthor. Als Neuling unter den Ausgestoßenen erwartet Atlan DER TÖDLICHE TEST …
Der tödliche Test
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide im tödlichen Test. Dorstellarain - Anführer der Ausgestoßenen von Pthor. Jott-Mutesial - Dorstellarains unberechenbare Geliebte. Tanyte, Favt und Vandry-Rann - Drei Clanocs.
1. Dorstellarain hielt sein Reittier kurz an, als sich die Kavalkade der Brasterreiter dem Bauwerk bis auf Bogenschußweite genähert hatte. »Wir sind in Oigster. Oder unmittelbar davor!« sagte Dorstellarain zu Atlan. »Hübsch, nicht wahr?« »Gräßlich! Ein Alptraum aus heißem Metall!« sagte der Arkonide. Jetzt fiel ihm ein, zu welcher Form sich die einzelnen Kuppeln, Wölbungen, Vertiefungen und Vorsprünge summierten. Es sah unverkennbar aus wie der Kopf eines Affen von grotesker Häßlichkeit. Als ob man den Kopf unterhalb des Kinns waagrecht abgetrennt und in den Schnee gesetzt hätte. Dies alles ins Monströse vergrößert, aus Metall in den Färbungen zwischen Hellgrau und Pechschwarz, versehen mit verschieden großen Luken und Öffnungen. Durch einige der Luken schimmerte künstliches Licht in unterschiedlichen Farben. »Wieviel Ausgestoßene leben hier?« fragte Atlan, als die Gruppe wieder anritt und die Tortürme passierte. Ein runder Torbogen spannte sich über ihren Köpfen. »Ungefähr dreihundert. Alle von Pthor, aber aus verschiedenen Teilen unserer Welt.« »Das ist nicht wenig. Und du bist der Anführer aller?« Dorstellarain stieß ein heiseres Lachen aus. »Es ist manchmal schwer zu sagen. Aber ich denke, noch tun sie, was ich ihnen sage.« Die Braster kamen in einen Vorhof. Nichts an dem widerwärtigen Eindruck änderte sich. Das Pflaster unter den Klauen der Reitvögel wirkte wie geriffeltes, schmutzi-
ges Eisenblech, von Rost bedeckt. Atlan fragte sich, ob er nicht den Fehler beging, sich mehr unter Oigster vorzustellen, als dieses Eisenschloß wirklich darstellte. Vermutlich hast du recht, sagte der Logiksektor mit Entschiedenheit. Die Braster hielten an, die Reiter schwangen sich aus den Sätteln. Aus einem seitlichen Tor kamen einige andere Pthorer heraus und musterten Atlan im Goldenen Vlies wie eine übernatürliche Erscheinung. Atlan glitt vom Rücken des Brasters und sah, wie die Helfer die Kadaver der Schneeschweine von den Sätteln banden. Überall an den Innenwänden des Hofes gab es Bildwerke und Statuen. Sie stellten Fabelwesen dar, die in allen denkbaren Arten der gegenseitigen Kämpfe und des Zerfleischens erstarrt waren. Aus einigen Erkern fiel schärferes Licht in den Hof. Man führte die Braster nach links weg; es stank nach Stallungen und verwahrlosten Lagern. Das Licht meißelte die Konturen der Bilder und Plastiken stärker heraus. Es war nicht ein einzig schönes Bildwerk unter all den Scheußlichkeiten. Oigster schien mit Grauen, Entsetzen und abstoßenden Inhalten geradezu angefüllt zu sein. Die eisernen Mauern hatten diese Eindrücke irgendwann förmlich aufgesogen und strahlten sie jetzt Atlan entgegen. Der Arkonide schauerte unter dem wärmenden Anzug zusammen und bemühte sich, seine Empfindungen nicht zu zeigen. Einige Angehörige der Gruppe stiegen eine breite, von abblätterndem Rost verunzierte Treppe hinauf und gingen auf ein breites Portal zu. Aus Höhlungen rechts und links der Stufen zuckten fahles Licht aus versteckten Scheinwerfern. »Dir gefällt's, wie?« fragte dröhnend Dorstellarain, der ihn bisher schweigend beob-
4 achtet hatte. Atlan fragte sich, ob es klug sei, dem Anführer der Ausgestoßenen die Wahrheit zu sagen. Also entgegnete er: »Eine keineswegs gewöhnliche Heimstätte!« Dorstellarain lachte wieder und zog ihn mit sich. Andere Zeichnungen und Flachreliefs aus nichtrostendem Metall schoben sich in den Vordergrund, als die beiden Männer auf die Treppe zugingen. Nirgendwo waren Schnee und Eis zu sehen. Aber ständige Feuchtheit schimmerte auf den Wänden. Die »Schnauze« des Affenkopfes wurde gerade von einem Nebelstreifen verhüllt und verschwand halb darin. Dieses metallene Bauwerk mußte auf seinem Weg durch die Geschichte schreckliche Dinge erlebt haben. Er sah sich schweigend ein letztesmal um, als sie auf der obersten Stufe standen. »Immerhin«, sagte Atlan und verdrängte seine Gedanken. »Es scheint keine Probleme mit der Kälte hier zu geben.« »Mit der Kälte gibt es keine Probleme!« sagte Dorstellarain zweideutig. Sie gingen weiter, als vor ihnen das Portal aufgestoßen wurde. Eine bemerkenswerte Gestalt schob sich ins Freie. Eine Frau mit flammend rotem Haar, das ihren Kopf wie eine züngelnde Aura umgab, ging mit schnellen, weit ausgreifenden Schritten auf Dorstellarain zu. Sie war nur um wenige Zentimeter kleiner als er. »Hier bist du endlich!« fauchte sie ihn an. Sie hatte eine kehlige Stimme, deren Tonfall ebenso Sinnlichkeit wie ein ungezügeltes Temperament verriet. Atlan trat zur Seite und musterte schweigend die Frau. »Eine Begrüßung nach meinem Geschmack, Liebste«, sagte Dorstellarain kalt. »Wie wäre es mit ein paar Umarmungen und einem zärtlichen Kuß?« Offenbar waren die beiden in einer Art Haßliebe miteinander verbunden; zweifellos ein exzellentes Paar Chaotiker. »Du hast nichts Besseres zu tun, als dich mit deinem verrückten Vogel im Schnee herumzutreiben. Ich bin allein, wie immer – es ist sterbenslangweilig!« schrie die Frau.
Hans Kneifel Dorstellarain hielt ihr die geballte Faust vors Gesicht und donnerte: »Schweige! Ich habe einen Neuen abholen müssen. Ich habe mit dir darüber gesprochen! Das ist Atlan!« Er deutete mit der Faust auf Atlan. Der Arkonide versuchte eine ironisch angedeutete Verbeugung. »Das ist hier, Jott-Mutesial«, erklärte der Anführer. »Wir leben zusammen. Das heißt, wenn es ihr Benehmen zuläßt.« Er grinste kalt. Atlan starrte in die blauen Augen der hochgewachsenen Frau. Sie packte Dorstellarain an seinem Fell und zog ihn durch das Portal ins Innere von Oigster. Dabei fiel ihr Blick, stechend und prüfend, wieder auf Atlan und den auffallenden Schutzanzug. Sie keuchte erschrocken auf und rief: »Deine Brust, Atlan! Ich merke …« Sie überlegte, dann huschte ein schlaues Lächeln über ihr Gesicht. »Was merkst du, Jott?« erkundigte sich Atlan und zuckte zusammen. Mit ausgestreckten Fingern wies sie auf die Stelle, an der sich der Zellschwingungsaktivator unter die Knochenplatte gegraben hatte. »Diese Ausstrahlung! Ich sehe sie förmlich! Er ist ganz anders als jeder von uns. Er trägt eine seltsame, starke Ausstrahlung unter der Haut.« Sie kann den Aktivator identifizieren! erklärte der Logiksektor. Atlan ahnte, daß dieses Gerät und somit sein Leben in Gefahr waren. Er zog den Helm des Anzugs vom Kopf, um etwas Zeit zu gewinnen und schüttelte sein schweißnasses Haar aus. »Ich bin der Mann der seltsamen Ausstrahlungen. Selbst mein Geist funkelt hin und wieder. Aber sonst bin ich auch nicht mehr und nicht weniger als ein Ausgestoßener von Pthor wie ihr alle.« Jott-Mutesial ließ den Arm sinken und lehnte sich gegen das stählerne Portal. »Er muß die Prüfungen ablegen! Jede einzelne!« rief sie. »Eins nach dem anderen«, unterbrach sie
Der tödliche Test Dorstellarain. »Wir müssen zuerst einmal etwas essen und uns die Hände waschen. Die Prüfungen haben Zeit. Außerdem … darüber reden wir nachher. Komm, Atlan.« Er schien sich zu erinnern, daß Atlan ihm beim Kampf gegen die wütenden Schneeschweine halbwegs das Leben gerettet hatte. Die Pelzkleidung von Jott-Mutesial wies eine gewisse hilflose Eleganz auf und hatte sicherlich auf Dorstellarain sinnverwirrende Wirkung – wie die Art bewies, in der er ihr folgte. Atlan hielt das Portal auf und warf einen langen Blick ins Innere. So ungefähr hatte er sich den ersten Raum der Stahlfestung vorgestellt. Eine dunkle, barbarische Pracht zeigte sich ihm. Hinter Atlan krachte das Portal mit einem metallischen Donner zu. »Guten Abend«, murmelte der Arkonide trocken. Er befand sich in einer Art Treppenhaus ohne Stufen. Breite Rampen, feucht und in verschiedenen Metallfarben, führten sternförmig auseinander und strebten in verschiedenen Winkeln in die Höhe. Die Wände zwischen den Schrägen und den Türen und Pforten zeigten dieselben Ausdrücke einer schrecklichen Phantasie wie die Mauern des Hofes. Überall rankten sich Figuren unbekannter Wesen, die sich gegenseitig unvorstellbar drastisch geschilderte Scheußlichkeiten zufügten. Atlan schüttelte sich und hielt sich dicht hinter dem breiten Rücken des hünenhaften Freundes. Freund? Der kritische Einwand des Logiksektors war berechtigt. Atlan konnte keineswegs sicher sein, daß Dorstellarain freundschaftliche Absichten hatte. Zumindest war er bisher nicht im mindesten so aggressiv gewesen wie die Frau neben ihm. Sie gingen eine lange, leicht gekrümmte Rampe aufwärts und überwanden etwa zwanzig Meter Abstand vorn Boden. Plötzlich, kurz vor einem Durchgang, hinter dem lautes Lärmen und Schreien zu hören waren, blieb Jott-Mutesial stehen und wandte sich an Atlan.
5 »Du weißt, wer wir sind? Du kennst die Clanocs?« »Ich weiß«, sagte Atlan, wieder beunruhigt, »daß wir die Ausgestoßenen von Pthor sind. Ich weiß, daß Dorstellarain ihr Anführer ist. Ihr nennt euch die Clanocs?« »Richtig!« brummte der Riese. Er schien zu wissen, was seine Gefährtin plante. »Um als gleichberechtigtes Mitglied der Clanocs anerkannt zu werden, mußt du die Proben ablegen. Du mußt dich ganz einfach qualifizieren.« »Warum nicht? Wenn es mich nicht umbringt?« antwortete Atlan unbehaglich. Er vermochte sich vorzustellen, wie diese Qualifikationen aussahen. Und alle waren sie voller Gefahren und Kämpfe. Jetzt lachte Jott-Mutesial. Es war das Lachen einer Hysterikerin. »Vielleicht bringt es dich um? Wer weiß?« lachte sie schrill. Dorstellarain schob sie auf die Tür zu. Ein handgroßer Becher, aus dem irgendeine Flüssigkeit spritzte, flog dicht an seinem Kopf vorbei und klirrte gegen die Wand. Von dort aus rollte und polterte er die Rampe abwärts. Atlan sprang einen Schritt zur Seite, um dem Geschoß auszuweichen. »Dich scheint die Aussicht zu erheitern«, meinte der Arkonide. »Heiter oder nicht! Wir Ausgestoßenen haben unsere unverrückbaren Gesetze. Auch jemand im Goldenen Anzug kann sie nicht umstoßen.« Er begriff. Dreihundert Ausgestoßene bildeten eine vermutlich keineswegs geschlossene Gruppe, sondern mehr eine Interessenvereinigung von Überlebenskünstlern. Trotzdem ballten sie sich hier in Oigster zusammen. Er war fremd; schon allein durch das Goldene Vlies erkenntlich. Das Mißtrauen gegen alles Ungewohnte und Fremde war eine Eigenschaft solcher Minoritäten. Alles, was von außen kam, war so lange eine undeutliche Gefahr, bis es integriert worden war. Die Prüfungen dienten der Annäherung an die Gruppe. Wer sie nicht bestand, starb und beseitigte das Problem hierdurch.
6 Atlan versuchte es mit Vernunft. Die drei Personen standen noch immer vor dem Eingang zu einem Saal, in dem die Heimkehr der Brasterreiter gefeiert wurde. Es begann nach schmorendem Fleisch zu riechen. Fleisch, das mit Sicherheit von den beiden Schneeschweinen stammte, die durch kleine Geräte im Nacken auf die Ausgestoßenen gehetzt wurden. »Hör zu, Jott-Mutesial«, sagte er beschwichtigend. »Ich bin völlig fremd hier. Ich kenne eure Regeln nicht. Ich habe nicht vor, wenige Minuten nach meiner Ankunft von euch als gleichberechtigtes Mitglied gefeiert zu werden. Laß es langsam angehen, Schwester.« »Ich bin nicht deine Schwester, Zwerg!« fauchte sie. »Ich meinte es auch nur symbolisch!« gab Atlan zurück. »Außerdem rieche ich Braten. Ihr werdet mir doch nicht ein wenig Gastfreundschaft verweigern wollen?« »Laß ihn in Ruhe!« sagte Dorstellarain und zog sie mit sich. »Hör endlich auf!« Sie riß sich los. Ihre lange Hand fuhr zwischen die Säume der Pelze und kam mit einer schimmernden Waffe wieder zum Vorschein. Sie richtete die Waffe auf Atlan und drückte ab. Ein Energiestrahl traf Atlan an der Brust und schleuderte ihn zu Boden. Der harte Schlag war, abgesehen vom aufzuckenden Feuer, die einzige Wirkung. Atlan rollte sich zur Seite und sprang auf. Im selben Moment sah er, wie Dorstellarains Hand herunterzuckte und der Frau die Waffe aus den Fingern schlug. Der Hüne fing sie auf und schrie Jott-Mutesial an. »Du hinterhältiges Stück! Du hättest ihn umbringen können!« Die Frau wich zurück und hob die Schultern, als erwarte sie einen Schlag. »Er ist fremd«, stieß sie haßerfüllt hervor. »Und du hilfst ihm!« Atlan wußte, daß jetzt auch Jott-Mutesial auf die wahre Natur des Goldenen Vlieses aufmerksam gemacht worden war. Das gefährdete ihn noch mehr, denn kein lebendes Wesen überstand den Schuß einer Energie-
Hans Kneifel waffe. »Warum willst du mich umbringen?« fragte er. »Die Clanocs dulden nicht, daß ihre Gesetze umgangen werden. Sag es ihm, Dor!« schrie die Frau. Dorstellarain stöhnte auf und sagte resignierend: »Eines Tages werde ich nicht mehr in der Lage sein, dich länger zu ertragen.« Er sah Atlan kurz in die Augen und schloß: »Noch eine hinterhältige Aktion dieser Art, und ich lasse dich aus Oigster jagen. Verstanden, Jott?« Sie lachte grell und ging schweigend an ihm vorbei in den dahinterliegenden Raum. »Ihr führt ein aufregendes Leben«, bemerkte Atlan. Zum erstenmal seit ihrer Bekanntschaft schien Dorstellarain echt verlegen zu werden. »Sie ist nicht wirklich schlecht oder böse. Aber witzig temperamentvoll. Dieses Leben hier macht jeden verrückt. Aber ich weiß nicht, ob mein Einfluß in diesem Fall reichen wird.« »Beruhige dich, Kumpel«, sagte Atlan leise. »Ich werde mich euren verdammten Prüfungen stellen. Aber nicht jetzt! Einverstanden?« »Wir sprechen später darüber.« Der Unterschied der letzten Stunden draußen in Schnee und Eis zu jetzt war nicht sonderlich groß: Er bestand im wesentlichen darin, daß es hier gemütlich warm und hell war und nach Braten und irgendwelchen Getränken roch. Und nach verschwitzten Fellen und Kleidern. Sie fanden sich nach wenigen Schritten im Zentrum eines mittelgroßen Saales wieder. Etwa hundert oder hundertfünfzig Personen standen und saßen an klobigen Tischen. Man sah sowohl der Einrichtung als auch den ausgestoßenen Pthorern an, daß eine düstere und barbarische Kultur hier aufgebaut worden war. Zahllose Augenpaare richteten sich auf
Der tödliche Test Atlan. Dorstellarain blieb zwischen den Tischen und Bänken stehen und hob beide Arme. Er schrie, so laut er konnte: »Freunde! Einige von euch kennen ihn schon! Das ist Atlan, der Ausgestoßene im goldenen Anzug. Ich habe ihn, wie ihr wißt, von den Robotern abgeholt. Er hat sich bereiterklärt, sich den Prüfungen zu unterziehen. Das zeigt, daß er unserer kleinen Gemeinschaft würdig ist.« Jemand schrie zurück: »Die Prüfungen sind schon lange nicht mehr durchgeführt worden!« Johlen und Gegröle erscholl von allen Seiten. Atlan ließ seinen Blick langsam durch die Halle gehen und betrachtete ein Gesicht nach dem anderen. Überall sah er die Spuren des harten, an Entbehrungen und Fröhlichkeit armen Lebens der Ausgestoßenen. Sie lechzten förmlich nach Unterhaltung – und wenn es den Tod eines der Ihren bedeutete. »Richtig, Favt!« rief der Riese zufrieden. »Diese Prüfungen sind ein Relikt aus der Vergangenheit der Clanocs.« Ein anderer Mann rief dazwischen: »Außerdem sind dabei viele der Neuen umgekommen. Fast die Hälfte!« »Aber wir haben schöne Kämpfe gesehen!« kreischte Jott-Mutesial aus einer Ecke. Atlan hörte sehr genau zu und versuchte, die Stimmung richtig zu analysieren. Sie war gegen ihn. »Wir können es uns nicht leisten, wertvolle Clanocs zu verlieren«, wagte Favt einen zweiten Einwand. Wieder hob Dorstellarain den Arm und donnerte: »Atlan hat sich mir gegenüber verpflichtet, die Prüfungen abzulegen. Zwar ist er in meinen Augen ein tapferer Mann, denn wir haben zwischen der Stahlhütte von Gynsaal und der Halle hier viele schwere Abenteuer gehabt. Ohne seine Hilfe wäre ich nicht hier. Und ich bin von euch allen als Anführer gewählt worden. Noch etwas, meine Freunde!
7 Atlan hat den Plan, uns nach Pthor zurückzubringen. Er weiß noch nicht, auf welche Weise, aber er ist fest entschlossen dazu. Anstatt ihn umzubringen, sollten wir ihm dabei helfen!« Ein lauter Tumult erhob sich. Die Clanocs, gleichgültig, aus welchem Teil Pthors sie stammten, waren geteilter Meinung. Atlan kannte den Effekt: Jede Gemeinschaft setzte sich aus Vernünftigen, Fanatikern und Mitläufern zusammen. Hier und jetzt überwogen eindeutig die Fanatiker. Gab es für ihn ernsthafte Chancen? Etwa zwanzig Tische und die entsprechende Anzahl von Stühlen und Bänken befanden sich im Saal. In der metallenen Decke gab es runde Aussparungen, aus denen senkrecht Licht abgestrahlt wurde. Auf den Tischen standen metallene oder aus Holz geschnitzte Becher, hölzerne Schüsseln und Teller, Körbe mit dicken Scheiben eines dunklen, groben Brotes. Die Ausgestoßenen hatten nur zum Teil ihre Fellmäntel und Mützen abgelegt. Sie alle waren eine wilde Schar; offensichtlich ernährten sie sich weitestgehend von der Jagd auf jene Tiere, deren Gebeine und Schädel sich hier an den Wänden befanden. Auch Sessel und Bänke waren mit den Fellen der erlegten Beute beschlagen und gepolstert. Erst als Atlan sich durch die Masse der Ausgestoßenen schob und neben Dorstellarain stehenblieb, hörten das Murmeln und Schreien, die Zwischenrufe und das Hämmern der Fäuste auf den Tischen auf. »Ich habe es eben zu Dorstellarain gesagt. Ich stelle mich den Prüfungen, selbst wenn sie mich umbringen sollten. Und ich bin sicher, daß es uns gelingen wird, wieder nach Pthor zurückzukommen. Laßt mir etwas Zeit! Ich bin erst eine Viertelstunde in Oigster!« »Klug gesprochen!« schrie Favt. »Hört nicht auf ihn! Er will sich dem Kampf entziehen!« schrie von gegenüber die einzigartige Freundin Dorstellarains. Atlans Vorstoß schien gescheitert zu sein. Zurück konnte er jetzt nicht mehr, nur noch
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vorwärts. Er mußte es versuchen. Dazu brauchte er die mehr oder weniger geschlossene Unterstützung der dreihundert Clanocs. Sein Ziel verlor er nicht aus den Augen, aber er wußte nicht, welcher Art die Prüfungen sein würden. Zweifellos handelte es sich um Kämpfe. Aber welcher Art? Versuche, Zeit zu gewinnen! flüsterte der Logiksektor. Sicherlich Mutproben. Ein Mann gegen zwei oder gegen einen besseren Gegner. Oder gegen Tiere, die zu diesem Zweck abgerichtet worden waren. Es war deutlich ausgesprochen worden, daß nur die Hälfte der Neuankommenden diese Qualifikationen überlebt hatte. Es würde schwierig, wenn nicht unmöglich sein, sich der Unterstützung der Clanocs zu versichern. »Ich will mich nicht dem Kampf entziehen. Außerdem würde ich längst tot sein, wenn deine Waffe nicht versagt hätte, JottMutesial!« rief Atlan. »Aber ich will etwas trinken, mich ausruhen, etwas essen und erst einmal wissen, wo ich eigentlich bin! Darum bitte ich euch alle.« »Wir waren immer gastfreundlich!« rief Favt eindringlich. »Ich bin dafür, ihm diese Bitte zu erfüllen!« Dorstellarain versuchte, die augenblickliche Ruhe auszunützen und rief laut: »Schluß für heute. Atlan soll sich zwischen uns setzen und essen und trinken. Morgen werden wir über alles entscheiden, Freunde. Hebt die Hand, wenn ihr damit einverstanden seid!« Die meisten Anwesenden hoben tatsächlich – zur Atlans Überraschung – die Arme. Atlan wurde von Dorstellarain auf einen Stuhl mit Fellpolster niedergedrückt. Der Riese setzte sich ihm gegenüber. Jemand schob Becher und Teller an die frei gewordenen Plätze. Atlan wußte nur eines. Er hatte rund zehn Stunden Ruhe.
2. Etwa drei Stunden lang dauerte jenes seltsames Gastmahl. Um Atlan an einem langen
Tisch bildete sich schnell eine Gruppe der verwegensten Brasterreiter und der merkwürdigsten Frauen, die er je erlebt hatte. Dazu kam, daß keiner der Ausgestoßenen wirklich gut oder gepflegt wirkte. Auch diejenigen aus Pthor, die an Jahren jung waren, wirkten älter, reifer und härter. Eine Art Bier wurde aus großen, tönernen Krügen ausgeschenkt; es roch stark nach Kräutern und Pflanzen. Brot und Braten unterschieden sich in nichts von jenen einfachen Speisen, die er im Lauf seines langen Lebens bei Barbaren aller Arten und Planeten gegessen hatte. »Bei der Blase von Zarmack!« staunte Favt, nachdem Atlan einen riesigen Becher durstig leergetrunken hatte. »Ich glaube, du würdest jeden Kampf gewinnen.« »Wenn er so kämpft, wie er trinkt«, kicherte ein alter Mann, der anscheinend aus Orxeya stammte, »dann wird er jeden Gegner in die Flucht schlagen.« Der Saal war offensichtlich so etwa wie eine Kantine. Einzelne Ausgestoßene kamen oder gingen, allein oder in Paaren. Über allem hing ein dichter Geruch nach Fleisch, Schweiß und ungewaschener Haut. Nicht weniger als zwanzig Türen oder Torbögen mündeten an verschiedenen Stellen und in unterschiedlicher Höhe in den Saal. Die Figuren an den Wänden entwickelten, je mehr Dampf und Rauch an die Decke stiegen, desto mehr Eigenleben. Sie schienen sich zu bewegen und weiter zu kämpfen. »Wie stellt ihr dieses Bier her?« fragte Atlan, um die Neugierigen von sich abzulenken. »Wir züchten in bestimmten Räumen Kräuter. Es hat lange gedauert, bis wir richtiges Bier herstellen konnten.« »Und das Wasser? Geschmolzener Schnee?« »Nein. Wir haben einen eigenen Brunnen.« »Der Angstbrunnen, Tanyte!« kicherte Jott-Mutesial. »Daher haben wir unser Wasser!« Dorstellarain warf ihr einen argwöhni-
Der tödliche Test schen Blick zu. Sie aßen und tranken ohne Hast. Deutlich war die Aufgeregtheit der Frau zu spüren. »Ihr lebt von der Jagd?« erkundigte sich der Arkonide und kaute auf einem heißen Brocken Fleisch. »Nicht nur. Aber es leben viele verschiedene Tiere in der Dimensionsschleppe«, antwortete Dorstellarain. Auch er ließ seine Blicke umhergehen und versuchte, die Stimmung genau abzuschätzen. Für ihn als Anführer war es sicherlich ebenso wichtig wie für Atlan, zu wissen, was seine Freunde oder Mitverbannten dachten und sagten. »Was jagt ihr?« fragte der Arkonide und trank abermals einen großen Schluck dieses dünnen Bieres. »Alles Denkbare. Schneeschweine, Auraelche, viele Schneevögel und in wenigen offenen Wasserstellen auch Fische aller Größen. Wir müssen nicht hungern, aber wir können auch keine Vorräte anhäufen. Die Tiere sind nicht sehr zahlreich.« »Das Brot? Reift im Schnee auch das Korn?« Ringsum erscholl Gelächter. »Oigster ist riesengroß. Wir haben viele Bäume, in denen Pflanzen wachsen. Es ist feucht, wir haben Samen und Licht. Zugegeben – es gibt nicht sehr viel Korn. Aber es wird von unseren Frauen zu gutem Schrot und Mehl verarbeitet.« Atlan erfuhr durch vorsichtiges Fragen, daß der Angstbrunnen Trinkwasser in hervorragender Qualität lieferte. Der Brunnen selbst, auf der Bodenebene von Oigster gelegen, war ein Quader, den es schon immer gegeben hatte, wie jene gräßlichen Figuren und Gestalten an den Wänden und Säulen. Nach den Erzählungen der Ausgestoßenen schien es ein uralter Stein zu sein, der auf rätselvolle Weise bearbeitet worden war. Seine Formen schwangen und flossen in sich selbst zurück. Tausende winziger Löcher überall in der Konstruktion lieferten das Wasser, das in einem Becken unterhalb des Angstbrunnens aufgefangen wurde und zehn Tage stehengelassen werden mußte.
9 »Wir denken, daß der Stein des Angstbrunnens ein Monolith war, der aus der Schwarzen Galaxis stammt«, erklärte Dorstellarain. »Und das Wasser verleiht uns große Kräfte und die Stärke kluger Gedanken!« pflichtete ihm der Alte bei und kicherte merkwürdig. »Aus der Schwarzen Galaxis? Ein Monolith? Tatsächlich?« fragte Atlan. »So scheint es. Keiner von uns ist in der Lage ist, so etwas zu schaffen. Obwohl … einige von uns geben sich den Dimensionsspielereien hin. Du wirst sie vielleicht morgen im Saal der Manifestationen sehen können, wenn die Zeit gut und die Zeichen günstig sind!« sagte Dorstellarain. Atlan versuchte, die neuen Informationen zu verarbeiten. Er gähnte ausdrucksvoll und hoffte, jemand würde es bemerken. Wasser, das erst zehn Tage später wohlschmeckend und kräfteverleihend wurde? Dimensionsspielereien? Denke daran, daß du dich in der n-Aura oder der Dimensionsschleppe befindest. Warum nicht? sagte der Logiksektor. Männer und Frauen stapelten die Teller und Schüsseln aufeinander und ineinander. Es schien inzwischen späte Nacht geworden zu sein, obwohl das Licht sich nicht verändert hatte. Auch die Natur draußen kannte weder Tag noch Nacht. Die Ausgestoßenen in Oigster hatten ihren eigenen Lebensrhythmus gefunden. Einige Gruppen von Clanocs verließen den Saal und schrien den anderen derbe Worte zu. »Beim Rätsel Poro-Gheloos! Der Neue ist müde. Willst du schlafen, Atlan?« fragte ein spitzgesichtiger Ausgestoßener. Er sah aus, als sei er aus Moondrag hierher verschlagen worden. »Es wäre eine Freude, endlich schlafen zu können«, gab Atlan zu. »Fragt Dorstellarain, was wir alles auf unserem Weg erlebt haben. Es macht den besten Mann müde!« »Aber nicht meinen Dorstel!« lachte JottMutesial und fing an, ihren Liebhaber zu küssen. Ihre Äußerung wurde mit lautem
10 Gelächter quittiert. Atlan stand auf und sah, daß in seinem metallenen Becher noch ein großer Schluck war. Er hob den Becher an und sagte nachdrücklich: »Morgen werden wir weitersehen. Ich hebe den Becher auf meinen Freund Dorstellarain. Wir haben uns gut geschlagen, draußen im Schnee und im Eis.« Favt stand ebenfalls auf und deutete nach oben. »Ich bringe dich in ein Zimmer. Oder jedenfalls verschaffe ich dir ein Bett, in dem du in Ruhe gelassen wirst, Atlan. Ich denke, daß morgen ein schwerer Tag für dich wird.« Atlan nickte dem Alten dankbar zu. »Das denke ich auch.« Favt bugsierte den Arkoniden zwischen den Ausgestoßenen bis zu einer Rampe hinauf, die aus dem Saal führte. Atlan orientierte sich, wie stets, wenn er neue Umgebung betrat, so sorgfältig wie nur gerade möglich. Sein photographisches Gedächtnis würde ihn nicht im Stich lassen. Sie kamen in einen stark gekrümmten Korridor, von dem aus rechts und links viele Zimmer oder Säle abzweigten. Die gerundeten Tore waren mit weichen Fellen und grob gewebten Stoffvorhängen abgetrennt. Hinter den Vorhängen hörte Atlan Gelächter, Flüstern oder Streit. Der Greis führte ihn bis fast an das Ende des Korridors. Atlan fragte: »Woher kommen Licht und Wärme?« »Niemand weiß es.« »War beides schon vorhanden, als die Ausgestoßenen Oigster entdeckten?« »Die Sagen berichten es. Ich bin einer der Ältesten hier. Es war nie anders.« »Wie lange bist du hier, Favt?« »Ich weiß es nicht. Zwanzig Jahre oder mehr. Man verliert hier das Zeitgefühl.« »Es wurde gesprochen von Poro-Gheloos und der Zarnack-Blase. Sind es Mythen oder wirkliche Dinge?« »Beides ist möglich. Keiner von uns hat das eine oder andere gesehen. Aber alle reden davon.«
Hans Kneifel »Sehnt ihr euch nicht nach der Rückkehr?« fragte Atlan vorsichtig. »Rückkehr? Wie sollte das möglich sein?« »Alles ist möglich«, sagte Atlan, »wenn man es nur wirklich will. Ich glaube, ihr seid in dieser Beziehung nicht aktiv genug. Habt ihr resigniert?« »Wir haben es gar nicht versucht. Mit Messern und Braster-Lenkern können wir gegen Roboter und Energiesperren nichts ausrichten.« Favt schlug einen Vorhang aus mehreren feuchten Fellen zur Seite und deutete in den dahinterliegenden Raum. »Sehen wir weiter«, sagte Atlan. »Wie lange habe ich Ruhe?« »Wenn dich niemand stört, können es zehn Stunden werden, Atlan. Ich gehe wieder hinunter und höre zu, was Jott-Mutesial vorzuschlagen hat. Sie ist die Verrückteste von uns allen. Aber … welch eine Frau!« Atlan nickte und schloß: »Du sagst es.« Er befand sich in einem kleinen Raum. Eine Liege aus rohen Holzstücken, mit Lederriemen bespannt und voller Felle und grobgewebter Stoffe, ein knarrender Sessel, ein kleines Luk in der gerundeten Wand, mehrere Gehörne und Eberschädel, das waren mehr oder weniger alle Einrichtungsgegenstände. Auch hier strahlten aus lochartigen Elementen indirekt angebrachte Beleuchtungskörper. Atlan warf sich aufatmend auf die Liege und streckte sich aus. Tatsächlich schaffte er es, schnell einzuschlafen.
* Dorstellarain saß in dem Sessel, der sich unter dem Gesicht des massigen Körpers beängstigend bog. Diesmal trug der Riese weder seine Pelzmütze noch den riesigen Mantel. Er wirkte weniger groß und kräftig, als er Atlans fragende Blicke bemerkte, grinste er. »Du siehst aus wie das blühende Leben«,
Der tödliche Test sagte er freundlich. »Ich friere nicht, ich leide weder Hunger noch Durst, niemand hat mir die Kehle durchgeschnitten. Es ist leicht, sich wohl zu fühlen. Die Kratzer an deiner Wange … sie sind von Jott-Mutesial?« Dorstellarain nickte. »Ein Teufelsweib, trotz ihrer Hysterie. Aber, was die Prüfungen betrifft, hat sie die Mehrheit der Clanocs auf ihrer Seite.« »Ich hatte nichts anderes erwartet. Wann geht es los?« erkundigte sich Atlan resignierend. »In fünf oder sechs Stunden. Heute ist eine der häufigen Feiern im Saal der Manifestationen. Anschließend wird sich wohl herausstellen, welche Prüfungen dir drohen.« »Wie ich mich darauf freue, Dorstellarain!« meinte der Arkonide sarkastisch. »Ich kann dir nicht direkt helfen. Aber ich werde versuchen, die Folgen klein zu halten oder einzugreifen, wenn es zu arg wird. Du mußt wissen, daß die Clanocs sich betrinken werden und so weiter.« »Ich ahnte es«, gab Atlan zu. »Ich rechne, mußt du wissen, niemals oder nur höchst selten mit leicht zu lösenden Problemen. Ich bin zu alt, um optimistisch sein zu können!« »Du siehst jung aus. Wie alt bist du wirklich, Atlan?« fragte Dorstellarain und spielte mit dem Griff seines riesigen Messers. »Tausend Jahre und mehr«, gab Atlan zur Antwort, aber er lachte dabei. Dorstellarain hielt dies für einen herrlichen Witz. Er stand auf und sagte: »Bevor es ernst wird – ich zeige dir das Innere von Oigster. Ich glaube, du wirst die Proben bestehen, und dann sollst du wissen, wie deine zukünftige Heimat aussieht, und welche Merkwürdigkeiten dir hier auf Schritt und Tritt begegnen werden.« Atlan schwang sich von der Liege und sagte: »Ich möchte zuerst den Angstbrunnen sehen. Und dann möchte ich wissen, was es mit den Dimensionsspielereien auf sich hat.« Denke an den König der Dellos, Vater Pegallu! flüsterte der Logiksektor unvermittelt.
11 Richtig! Atlan erinnerte sich, wie der Dello mit seinen Händen aus einer anderen Dimension ein noch zuckendes Stück Wild hervorgezerrt hatte. Wenn es zwischen der Dimensionsschleppe und Pthor entsprechende Bezüge gab, dann hatte der Dello vielleicht sogar hierher »gegriffen« und den Braten jenes Abends aus der n-Aura hervorgezerrt. Aber … diese anderen, verkrümmten und verunstalteten Artefakte, die zwischen den Dimensionen stehengeblieben waren, schienen wiederum nicht aus der Dimensionsschleppe zu stammen. Atlan verschob das Nachdenken über diese beiden Themen ebenfalls auf einen späteren Zeitpunkt. »Die Spielereien, nun, sie sind nicht sonderlich interessant. Sie sind jedenfalls nicht gefährlich für dich.« »Wie beruhigend. Gehen wir?« Wortlos deutete Dorstellarain auf den Durchgang. Sie verließen den Raum, stiegen über unbekannte Rampen und Treppen an anderer Stelle wieder nach unten. Atlans Eindrücke vom Tag zuvor wurden bestätigt und vertieft. Fast überall sah er seltsame, düstere Symbole, die alptraumhaft häßlichen und abstoßenden Figuren und Friese wiederholten sich auch in den weniger wichtigen Gängen und Treppenanlagen. Die eiserne Festung Oigster beeinflußte auf diese Weise ununterbrochen das Fühlen und Denken eines jeden lebenden Wesens innerhalb dieser Zone. Selbst der Arkonide begann zu fühlen, wie damals, als er in den Spercoiden-Anzügen steckte, daß seine Empfindungen brutalisiert wurden. Je länger er sich hier aufhielt, desto weniger wohl fühlte er sich. Schließlich blieben sein Führer und er in einem dämmerigen Saal, ein Stockwerk unterhalb des Vorhofs, stehen. »Das ist der Angstbrunnen!« sagte Dorstellarain und deutete in die Richtung des plätschernden Wassers. Über ihren Köpfen dröhnten die Schritte von Reitvögeln auf dem Metall. Die Ausgestoßenen ritten aus, um zu jagen und Beute für den Abend und das Fest zu machen.
12 »Es stimmt, was ich gestern über den Brunnen erfuhr?« fragte Atlan. »Jedes Wort.« Atlan näherte sich dem blauschwarzen Monolithen. Vor sich sah er eine Form aus Stein, rund und mit etwa vier Metern Durchmesser, etwa eineinhalb Meter hoch, die nicht zu fixieren war. Die Konturen, die am ehesten einem kunstvoll geschlungenen Bündel dicker Taue glichen, verschwammen vor Atlans Augen. Sie wirkten, als ob sie sich ununterbrochen bewegen würden, als ob der schwarze Stein ein lebendes Wesen sei. Dazu kam, daß der Stein unablässig von Wasser berieselt wurde, das tatsächlich aus unzähligen winzigen Löchern überall an der Außenfläche, die zugleich Innenfläche war, floß. Atlan stand da und starrte ziemlich fassungslos den Angstbrunnen an. Dann bemerkte er, daß neben dem Brunnen insgesamt zehn große, hölzerne Bottiche standen. Sie befanden sich in einer Linie und waren durch Schläuche aus zusammengenähtem Leder miteinander verbunden. Aber sie funktionierten nicht nach dem System der kommunizierenden Röhren. »Warum heißt dieser zugegebenermaßen verwirrende Stein ›Angstbrunnen‹?« fragte Atlan und schritt die Reihe der Bottiche ab. Sie waren verschieden hoch mit schwarzem Wasser gefüllt. Das Wasser verlor, je weiter der betreffende Bottich stand, mehr und mehr von der tristen Färbung. »Weil die Wirkung des Wassers erst nach zehn Tagen positiv ist.« »Und wenn jemand direkt aus dem Brunnen trinkt?« »Dann«, erläuterte Dorstellarain, »wird er binnen kurzer Zeit zu einem zitternden Feigling.« »Wie?« »Du hast richtig verstanden. Das ganz frische Wasser, das vielleicht aus der Schwarzen Galaxis stammt, verwandelt jeden, der davon trinkt, in einen Feigling. Je später«, er deutete auf die zehn Fässer, »das Wasser entnommen ist, desto klarer wurde es. Und desto weniger wirkt es mutfressend.«
Hans Kneifel Atlan ging kopfschüttelnd in dem dunklen Raum mit den wuchtigen Säulen hin und her und blieb schließlich wieder vor dem Brunnen stehen. »Mutfressend«, sagte er betont. »Ihr habt diesen Brunnen hier vorgefunden?« »Er war da, ehe die ersten von uns kamen«, sagte Dorstellarain. »Und ihr habt niemals versucht, aus dieser Zusammenballung von Schrecken, Merkwüdigkeiten und Scheußlichkeiten zu flüchten?« »Nein. Wohin denn?« »Es muß doch in der Dimensionsschleppe einen Ort geben, an dem man sich weniger unwohl fühlt als hier.« »Kennst du ihn?« fragte der Riese gleichmütig und sah sich lauernd um. »Nein, natürlich nicht.« »Keiner von uns kennt ihn. Niemand hat den Weg zum legendären Poro-Gheloos gefunden. Keiner hat jemals die Zarmack-Blase entdeckt. Wir sind für alle Zeiten mit Oigster verbunden. Oigster ist unser Schicksal.« Atlan winkte seinem Freund und steuerte auf einen Ausgang zu, der sich nur durch größere Helligkeit von den anderen Türöffnungen und Durchgängen unterschied. Oigster schien auch sein Schicksal zu werden. Sie kamen auf einer Kanzel aus Eisen oder Stahl heraus. Von weit oben fiel das trübe Licht des Tages in der Dimenionsschleppe in einen zylinderförmigen Schacht hinein. Der Schacht schien unendlich tief zu sein. Das Licht nahm ab, je weiter Atlan seinen Blick nach unten richtete. Überdies schien sich der zylindrische Lichtschacht nach unten zu verjüngen zu wollen; die spiralige Rampe oder Treppe, immer wieder durch Kanzeln und seltsam geformte Vorsprünge unterbrochen, verschwamm im Grau und endete in totaler Schwärze. »Ich habe bis eben Oigster für ein Stahlschloß gehalten, das auf die Ebene des Landes gesetzt wurde«, sagte Atlan. »Diese Annahme ist falsch. Die Tiefe dort und zahllose Räume, Hallen, Korridore und
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Gesteinshöhlen bergen Geheimnisse, die wir nur Schritt um Schritt enträtseln konnten.« Atlan merkte, daß schon hier die Worte metallisch klingende Echos hervorriefen. »Welche Geheimnisse?« »Keines von ihnen ist heiter oder freundlich. Diese Festung aus Eisen ist ein Reich, in dem nichts Gutes gedeiht!« erwiderte Dorstellarain mit ungewohntem Ernst. Atlan wurde aufmerksam und blickte in das grobporige Gesicht des anderen Mannes. »Wenn ich alle Eindrücke zusammenrechne, dann bin ich sicher, daß in das Leben der dreihundert Clanocs eingegriffen wird. Ob es nun Pthor, Gynsaal oder Schwarze Galaxis ist, kann ich nicht sagen.« Dorstellarain wirkte abweisend und verschlossen, als er antwortete. »Du magst recht haben. Wir wissen es nicht anders und nicht besser. An deiner Stelle aber würde ich mich mehr mit den unmittelbar bevorstehenden Ereignissen beschäftigen.« Immer wieder war es dasselbe. Wenn Atlan wichtige Fragen stellte, wichen alle Ausgestoßenen aus. Sie schienen weitaus mehr zu wissen oder wenigstens zu ahnen, als sie zuzugeben bereit waren. »Du kannst sicher sein«, antwortete er, »daß ich mich sehr intensiv damit beschäftige.« Dorstellarain deutete in eine bestimmte Richtung. Dort befand sich wahrscheinlich die Halle der Manifestationen. »Ich werde tun, was ich kann. Aber gegen dreihundert betrunkene und aufgeputschte Ausgestoßene bin auch ich machtlos.« »Mein Freund«, sagte Atlan entschlossen, »ich verstehe dich besser, als du glaubst!«
3. Atlan war an diesem Tisch ohne Zweifel die auffallendste Erscheinung. Neben ihm saß Dorstellarain, an den sich Jott-Mutesial lehnte. Sie war halb betrunken. Der alte Tanyte aus Orxeya hockte Atlan gegenüber, ihm zur Seite Favt. Vier stämmige Männer mit narbenbedeckten Gesichtern saßen auf
den harten Bänken und den knarrenden Sesseln. In der Halle breitete sich seit mehr als einer Stunde ein höllischer Lärm aus. Ein breitschultriger Mann schlug auf eine Trommel, die dröhnende, harte Töne von sich gab. Sie hatten eindeutig eine hypnotisierende und aufpeitschende Wirkung. An allen Tischen standen Krüge, aus denen es ausgesprochen würzig roch – sie enthielten vergorene Pflanzensäfte, die stark alkoholhaltig sein mußten. Die Wirkung jedenfalls war die hochprozentigen Schnapses. Zwei Frauen bliesen auf langen, aus Knochen geschnitzten Querflöten. Die Töne schnitten durch den Lärm zahlloser Gespräche, durch das Lachen und das Klirren der Becher, durch das Gegröle und die Flüche und die Wolken von Rauch aus klobigen Pfeifen. Atlan fühlte sich im Zentrum eines chaotischen Festes, das garantiert in noch größerem Chaos enden würde. Andere Ausgestoßene bevorzugten weitaus exotischere Instrumente. Atlan sah Flöten, die eine Mischung zwischen Dudelsack und Mundorgel darstellten und an den Nasenöffnungen angesetzt wurden. Sie erzeugten wimmernde, heulende und jaulende Töne von einer unmittelbaren Eindringlichkeit. Eine kleine, dürre Frau und ein großer, dicker Mann tanzten zu diesen Klängen selbstvergessen. Ein junger, schmächtiger Mann, der wie ein Dello aussah, schlug mit zwei kleinen Hämmern gegen die verschieden großen Bleche einer Galerie aus sechzehn Scheiben. »Laut oder sehen?« fragte Dorstellarain, der auch nicht mehr ganz nüchtern war. »Beides. Besonders fasziniert mich der Rhythmus«, antwortete Atlan. Er war völlig beherrscht und wartete auf den entscheidenden Moment. Er versuchte, immer nur Wasser aus einem der Krüge zu trinken und ignorierte die Blicke Jott-Mutesials, mit denen sie ihn immer wieder anfunkelte. »Der Rhythmus ist einzigartig!« lallte der Riese vom Regenfluß. »Es geht unter die Haut«, stöhnte Jott leidenschaftlich.
14 »Das ist richtig«, entgegnete Atlan trocken und beobachtete, wie auf dem obersten Rang der Halle zwei Männer mit Fäusten einen erbitterten Kampf ausfochten. Die »Halle der Manifestationen« war ähnlich wie eine Arena angeordnet. Etwa ein Dutzend breiter Kreisringe zogen sich schlüsselförmig bis an den oberen Rand. Auf diesen Flächen standen Tische, Sitze und Bänke. Ganz unten ergab sich aus dieser Anordnung eine Arena. Sie war mit Sand oder pulverisiertem Gestein von dunkelgrauer Farbe gefüllt. Der Durchmesser war sicherlich nicht kleiner als dreißig Meter, der Abstand der senkrecht abfallenden Stahlmauer zu der ersten Kreisringebene voller Tische betrug rund drei Meter. In dieser Fläche grinsten abermals kämpfende Gestalten die Betrachter an. Die Ausgestoßenen schienen sich seit langer Zeit an diesen Anblick gewöhnt zu haben, für Atlan war er immer noch erschreckend. Jedenfalls betrachtete Atlan dieses gesellige Zusammensein als eine Art Henkersmahlzeit. Er wartete und hielt sich zurück. Außerdem war er völlig waffen- und wehrlos, abgesehen von der Schutzwirkung des Goldenen Vlieses, die er zu schätzen gelernt hatte. Der Arkonide richtete seinen Blick auf Favt. Von allen Ausgestoßenen in unmittelbarer Nähe schien er am wenigsten betrunken zu sein. »Es ist nur eine Steigerung möglich«, rief Atlan durch den Lärm der seltsamen Musik. »Was kommt als nächstes?« »Die Elche!« rief Favt zurück. Atlan glaubte, sich verhört zu haben. »Die … was?« »Aura-Elche. Vier Läufe, einen riesigen Körper, mächtige Schaufeln mit zugefeilten Zacken. Sie werden gerade betrunken gemacht und angefeuert.« »Was habt ihr mit den Aura-Elchen vor?« Jott-Mutesial kicherte grell und biß Dorstellarain ins Ohrläppchen. Favt beugte sich über den Tisch, stieß einen leeren Becher um und rief Atlan zu:
Hans Kneifel »Zwei Elchbullen! Sie werden gegeneinander kämpfen. Es wird garantiert ein Riesenspektakel. Wir sind alle schon sehr neugierig darauf. Auf den helleren Bullen sind riesige Wetten abgeschlossen worden.« Die Clanocs hatten in der unbestimmt langen Zeit, in der sie in Oigster hausten, mehr als eine Möglichkeit gefunden, ihre verständlichen Frustrationen abzubauen. Der bevorstehende Kampf zweier riesiger, aufgepeitschter Elchbullen war ein Mittel dazu. Ein anderes waren die Prüfungen, die neu Angekommene abzulegen hatten. Orgiastische Zusammenkünfte wie dieses Fest gehörten ebenfalls zu diesen Fluchtmechanismen. Ohne es genau zu beabsichtigen, wollten sie Atlan vorführen, in welche Art von Leben er versuchte, sich integrieren zu wollen. Wenn richtig war, was Atlan vermutete, dann hatte dieser riesige, indirekt beleuchtete Saal seinen Namen zudem von den Dimensionsspielereien verschiedener Ausgestoßener. Er erwartete in Kürze Darbietungen, die jenen von Vater Pegallu ähnelten – aber im dimensional umgekehrten Sinn. Und er selbst würde wohl den Höhepunkt dieses Abends bilden. Er fing an, ausgesprochen furchtsame Überlegungen anzustellen. »Sind auch Wetten auf mich abgeschlossen worden?« fragte Atlan. »Sicher!« gab Jott zurück. »Wenn du überlebst, werden einige von uns reich werden!« Du hättest diese Stahlfestung nicht betreten dürfen, erklärte der Logiksektor. Die Musik wurde wilder und hektischer. Von den Kämpfenden dort hinten war nichts mehr zu sehen. Dafür erhob sich Geschrei; eine Gruppe Ausgestoßener löste die Braster-Lenker von ihren Schultern und eilte aus der Arena hinaus in einen Korridor. »Sie bringen die Elche. Es fängt immer mit einem Tierkampf an!« erklärte Dorstellarain. »Ich nehme an, daß die Elche bis zur Kampfunfähigkeit gegeneinander anrennen werden?« »Richtig. Einer bleibt auf der Strecke«,
Der tödliche Test versicherte Jott-Mutesial mit einem beziehungsvollen Blick auf den Arkoniden. »Oder beide.« Die Elche waren bereits zu hören. Sie stießen markerschütternde Laute aus, die durch den Trichter des Korridors verstärkt und verändert wurden. Männer zerrten das erste Tier in die Arena herein. Zwei Männer hingen an den riesigen Schaufeln der Tiere und klammerten sich daran fest. Sie zwangen den großen, kantigen Schädel mit den wild rollenden Augen fast bis zum Boden. An jedem Lauf zerrte ein Clanoc. Das Tier versuchte wütend um sich zu schlagen, aber die Traube der Männer machte fast jede Bewegung unmöglich. Aus der Kehle des Tieres kamen Schreie, die den Saal zu erschüttern schienen. Das Tier war tatsächlich größer als ein ausgewachsenes terranisches Pferd und zitterte vor Wut am ganzen Körper. Schweiß troff aus dem dunklen, zottigen Fell. Als der zweite Elchbulle mit hellerem Fell hereingezerrt wurde, ging ein Murmeln durch die Versammlung der Feiernden. Auch Atlan konnte sein Staunen nicht unterdrücken. Der zweite Bulle war noch größer und stärker – und viel wütender. Ein Dutzend Clanocs versuchte, ihn am Ausbrechen zu hindern, und schleppte und stieß ihn in die Arena. Einige laute Kommandos ertönten. Die Männer lösten teilweise die Lederlassos und klammerten sich an die Hälse und die Geweihschaufeln der Bullen. Die Tiere schlugen mit den scharfen Hufen aus und wirbelten lange Fahnen aus Sand quer durch die Arena. Beide Elchbullen waren maßlos erregt und versuchten gleichzeitig, die Männer abzuwerfen und den Gegner anzugreifen. Wieder ein Schrei. Schlagartig ließen die Clanocs los und sprangen nach allen Seiten davon. Die Elche rissen die Köpfe hoch und versuchten erst einmal, den Standort des Gegners zu erkennen. Die kurze Zeitspanne gab den Männern Gelegenheit, mit weiten Sätzen aus der Arena zu flüchten. Der Bulle mit dem helleren
15 Fell riß den Kopf herum, senkte ihn halb und rannte auf das andere Tier zu. Mit schmetterndem Geräusch krachten die Schaufeln gegeneinander. Der Bulle mit dem dunkleren Fell wurde einige Meter zurückgeschleudert, setzte sich auf die Hinterkeulen und schüttelte sich benommen. Ein lauter Aufschrei ging durch die Reihen der halb betrunkenen Clanocs. Der Helle zog sich zurück bis an den Rand der Arena und nahm röhrend und schnaubend einen neuen Anlauf. Der Gegner sprang auf, schüttelte sich abermals und griff seinerseits an. Die schlanken, aber muskulösen Läufe stemmten sich tief in den Sand. Die Tiere sprangen in gerader Linie aufeinander zu und prallten fast in der Mitte des Kreises zusammen. Krachend hämmerten die natürlichen Waffen der Elche aufeinander. Eine Schaufeldes Hellbraunen rutschte ab und zog eine tiefe Reißwunde in den Schädel des Gegners. Beide Tiere dampften und keuchten. Sie schoben die Köpfe vor und versuchten, den anderen zurückzudrängen. Ein Tier rutschte zwei, drei Meter zurück und drang dann wieder vor, dann wich das andere schräg aus, schlug verzweifelt mit den Hinterläufen und stemmte die Vorderbeine hart ein. Es rückte Handbreit um Handbreit vor; beide Schädel mit dem riesigen Schaufelgehörn stießen und ruckten hin und her. Immer wieder gelang es einem der Tiere, eine der scharfen Kanten durch die Deckung zu bohren und dem anderen eine Wunde beizubringen. Das andere Tier reagierte daraufhin rasend schnell und schüttelte seinen Gegner ab und drang augenblicklich wieder vor. »Das wird nichts anderes als ein gegenseitiges Abschlachten«, murmelte Atlan. Wieder krachten die Waffen der Elche aufeinander. Das dunklere Tier rutschte ab, wurde halb in die Höhe gestemmt und rutschte über den Kopf und den Hals des Gegners bis auf dessen Schultern. Die Spitzen der Schaufeln rissen tiefe Spuren in die Flanken und in den Bauch. Der Elch gab unbeschreibliche Geräusche von sich und erhob sich auf die Hinterbeine. Die Vorderfü-
16 ße schlugen pfeifend durch die Luft. Die harten Schalen der Klauen schlitzten das Fell des dunklen Bullen an mehreren Stellen auf. Dann wandte sich das hellere Tier zur Flucht. Die Clanocs schienen das Gegenteil erwartet zu haben. Sie schleuderten leere Becher und abgenagte Knochen nach dem Elch, der aus mindestens zwei Dutzend schwerer Wunden blutete. Das andere Tier nahm sofort die Verfolgung auf und trieb den Gegner dreimal entlang des inneren Randes der Arena. Das hellere Tier schien jeden Gedanken an Angriff aufgegeben zu haben. Es machte, als die vierte Umkreisung begann, einen gewaltigen Satz. Angst und letzter Anfall von Wut zwangen den Elch, drei oder vier Meter fast senkrecht hochzuspringen und die unterste Kreisringebene zu erreichen. An drei Tischen, die dort standen, brach Panik aus. Das Tier, dessen Flanken jetzt vom Geweih des anderen Bullen bearbeitet und aufgerissen wurden, klammerte sich mit den Vorderläufen an einem mächtigen Tisch fest. Die hinteren Klauen rutschten immer wieder am glatten Metall ab. Endlich hakten sich die Klauen am Rand ein. Die nächste Muskelanspannung schleuderte das rasende Tier förmlich zwischen die Stühle, Bänke und die Clanocs, die darauf saßen oder daneben gestanden waren. Der Elch rammte eine Bank zur Seite, warf mit einem schweren Stoß einen Tisch halb um und schleuderte einen Clanoc hinunter in die Arena. Der Mann wurde vom anderen Elch sofort aufgenommen, rannte im Zickzack durch den Sand und trat, als der Elch mit gesenktem Kopf und tief gehaltenen Schaufeln ihn gegen das Metall pressen wollte, auf die linke Schaufel. Als der Elch den Kopf hochriß, schleuderte er mit einem einzigen wilden Ruck den untersetzten Mann über den Rand der Arena und halbwegs in den Korridor hinein. Drei-
Hans Kneifel hundert Clanocs johlten vor Begeisterung und hörten nicht auf, das einzelne Tier mit Knochen, Tellern und Schüsseln zu bombardieren. »Ein gräßliches Schauspiel«, sagte Atlan zu Dorstellarain und spürte einen Anflug ungewisser Angst. »Wie lange dauert es noch?« »Es dauert so lange, wie es dauert – da gibt es keine starren Regeln«, sagte Favt und sah voller Interesse, wie der hellere Elchbulle versuchte, sich zwischen den Tischen und den Menschen, einen Weg zu bahnen. Stühle gingen zu Bruch, Geschirr flog zu Boden, Frauen kreischten und flüchteten sich einen Rang höher hinauf. Hin und wieder versuchte einer der betrunkenen Männer, sich dem Elch in den Weg zu stellen und ihn mit dem breiten Messer zu erledigen. Aber das blutende Tier, durch Schmerz und Wut zur Raserei getrieben, stieß die halb verrückten Männer zur Seite, schlitzte ihre Kleidung und Haut auf, trampelte sie nieder und rannte weiter. Von weiter oben feuerten Frauen und Männer zum Teil den Elch, zum anderen Teil ihre Schicksalsgenossen an. »Das ist offensichtlich keine Dimensionsspielerei!« murmelte Atlan. Aber plötzlich sprangen drei Männer und eine Frau hinunter zu dem Elch mit dem dunklen Fell. Der Elch war über das unerwartete Auftauchen ebenso erschrocken wie der Arkonide. Die vier Clanocs gingen langsam und schweigend auf das Tier zu. Der Bulle senkte den Kopf, aber er griff nicht an. Dicht vor ihm blieb ein schlanker Mann mit asketischen Gesichtszügen stehen und hob den Arm. Jetzt kommst du zu deinem Schauspiel! sagte der Logiksektor alarmiert. Hastig schüttete Atlan einen halben Becher schieren Wassers herunter. Das andere Tier raste eben unterhalb des Tisches vorbei, an dem Atlan saß. Hinter sich hatte der blutende Elchbulle eine breite Spur der Verwüstung hinterlassen. Aber die Clanocs lachten nur und schlugen sich ge-
Der tödliche Test genseitig auf die Schultern. Der einzelne Mann unten in der Arena forderte durch schwingende Bewegungen und eine Art Tanz das Tier zu einem Angriff heraus. Atlan blinzelte; die Konturen des Mannes lösten sich stellenweise auf und wurden durchsichtig, wurden wieder stabil und abermals milchig. Das Tier schnaubte und berührte mit der Nase den Boden. Die Schaufeln mit den weißgeschliffenen Zacken streckten sich nach vorn und drohten. Völlig unvermittelt schnellte sich der riesige, mit zottigem Pelz bedeckte Körper nach vorn und raste auf den Ausgestoßenen zu. Noch eine Sekunde war es bis zu dem Moment, an dem die scharfen Kanten der Schaufeln den Mann förmlich auseinanderschneiden würden. Aber jetzt wurde die Mitte des Körpers mitsamt der Fellkleidung unsichtbar. Zwischen den Knien und den Schultern gab es nichts mehr, nicht einmal milchig- undeutliche Formen. Der Elch, blind und halb wahnsinnig vor Zorn, stürmte weiter und sprang durch den Mann hindurch, schlitterte durch den hochgewirbelten Sand und krachte dröhnend gegen die Wand der Arena. »Also doch«, flüsterte Atlan und begann sich vor den nächsten Stunden wirklich zu fürchten. »Dimensionsspielereien.« Donnernder Beifall belohnte diese Darbietung. Zwei andere Männer standen, während die Gestalt des Ausgestoßenen wieder deutlich und real wurde, mitten in der Arena und griffen mit ausdrucksvollen Ringerbewegungen immer wieder in die andere Dimension hinein. Ihre Hände und Arme verschwanden einmal weit, dann wieder weniger tief, im Unsichtbaren. Die Männer schienen etwas zu sehen und zu suchen und danach zu tasten. Atlan fürchtete sich davor, was sie aus Pthor herausziehen würden. Er fürchtete sich wirklich – warum plötzlich diese Angst? Vergeblich lauschte er auf einen Einwand seines Extrasinns; er schien sich vorübergehend zurückgezogen zu haben.
17 Der Elch stand regungslos da und stierte die Clanocs an. Seine Flanken hoben und senkten sich tief. Das Tier war verwirrt und erschöpft. Der hellere Elchbulle war inzwischen, nachdem er die Hälfte der untersten Ebene in ein Trümmerfeld verwandelt hatte, über eine Treppe weiter nach oben gelangt. Immer wieder warfen sich ihm Männer in den Weg und versuchten, ihn zu reizen oder zu verletzen. Das Ende des Tieres war bereits vorgezeichnet. Er würde irgendwann zusammenbrechen oder erlegt werden. Atlan merkte, daß ihm ein ähnliches Schicksal drohte. Die Ausgestoßenen, an deren Tisch er saß, kümmerten sich nicht um ihn. Sie starrten alle hinunter in die Arena. »Sie machen es wieder herrlich aufregend!« stöhnte Jott-Mutesial am Hals von Dorstellarain. Atlan hielt sich krampfhaft an der Tischplatte fest. Das schweißtriefende Tier sah unschlüssig von einem Gegner zum anderen. Die Vorderläufe bewegten sich nervös. Die beiden Männer tauchten tief in die andere Dimension ein. Sie keuchten und zerrten, und schließlich tauchten ihre Schultern und Arme millimeterweise wieder im Bezugssystem der Dimensionsschleppe auf. Damals, erinnerte sich der Arkonide und fühlte seine Finger zittern, hatten Vater Pegallus Darbietungen ihn nicht erschreckt. Die Clanocs bewegten sich. Nein! Sie wurden bewegt; ihr Fang in der anderen Dimension wehrte sich. Aber sie waren stärker und hartnäckiger. Ihre wilden Gesichter glänzten vor Schweiß. Ihre Augen waren verdreht. Sie schienen in einer Art Trance zu sein. Ihre Arme waren jetzt bis zu den Ellenbogen sichtbar geworden. Je mehr sie zerrten und zogen, desto stiller wurde es im Saal der Manifestationen. Dann tauchten die Handgelenke auf. Beide Männer stemmten sich fest in den Sand und zogen schließlich einen Robotbürger aus Wolterhaven aus der pthori-
18 schen Dimension hervor. Aber die Konstruktion war noch nicht real; obwohl ihre Konturen genau zu sehen waren, schimmerte das Bild des Elches dahinter deutlich durch. Der zitternde Elchbulle wurde offensichtlich von diesem Fund, der sich gegen die Clanocs erbittert wehrte, in rasende Angriffslust versetzt. Er sprang los und senkte die schwarzen Schaufeln. Hinter ihm kletterte der noch immer teilweise halb entstofflichte Ausgestoßene über die Sprossen einer primitiven Holzleiter aus der Arena. Das andere Tier war inzwischen zusammengebrochen und getötet worden. Die Frauen der Clanocs gingen daran, den Elch aufzubrechen und auszuwaiden. Atlan zitterte vor Abscheu und Aufregung. Der Robotbürger wurde nicht völlig real. Die Ausgestoßenen ließen ihn los und sprangen zurück, als der Elch mit großen Sätzen herandonnerte. Als er mit dem Robotbürger zusammenprallte, stieß er durch die verschwimmenden Konturen hindurch. Aber gleichzeitig mit dem Augenblick, an dem sich die Dinge aus zwei unterschiedlichen Dimensionen berührten – also ein nebelhaft verdichteter Teil der Maschine und die zugefeilte Spitze der Schaufel –, gab es eine donnernde Entladung. Dann funkelnden nach allen Seiten lange, haarfeine Linien, die wie Lichtbogen wirkten. Der Elch rannte geradeaus weiter, schrie auf, sprang in die Luft und verendete mit zuckenden Läufen. Einer der seltsamen Blitze erreichte den Mann mit dem langen, schwarzen Bart und warf ihn krachend gegen das Metall der Arenawand. Er rutschte langsam am Metall herunter, kippte nach vorn und blieb liegen. Atlan fragte nach einigen Sekunden mit vor Entsetzen krächzender Stimme: »Ist er tot?« In einem weiteren Hagel lautloser Blitze nach allen Seiten verschwand der Robotbürger binnen kurzer Zeit völlig und kehrte in das reale Pthor zurück. Ein Geruch nach schmorendem Fleisch und stinkendem Horn
Hans Kneifel breitete sich durchdringend vom Zentrum der Arena aus. Die Ausgestoßenen reagierten verschiedenartig: die Musik wurde lauter, einige schrien begeistert, andere waren still und verharrten in betretenem Schweigen. Atlan lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen und seine rätselhaften Ängste zu verlieren. Als er die Hand nach dem Krug voller Wasser ausstreckte, meldete sich höchst alarmiert sein Extrasinn. Es muß Wasser aus dem Angstbrunnen sein. Ein oder zwei Tage alt! In dem Moment, als seine Hand kurz vor dem Krug in der Luft anhielt, bemerkte Atlan den hämischen Blick der Frau. Sein Verstand funktionierte noch immer mit gewohnter Schärfe: Er verstand. Jott-Mutesial hatte ihrer krankhaften Natur gemäß gehandelt. Atlan erwiderte den Blick und wußte, daß er abermals verloren hatte. Noch während die Clanocs aus allen Richtungen herbeikamen, um den Toten und das verendete Kampftier wegzuschaffen, stand Dorstellarain auf und hob den Arm. »Das Fest hat seinen Höhepunkt überschritten! Atlan hat sich bereiterklärt, die Prüfungen abzulegen. Die Prüfungen beginnen jetzt. Tanyte, unser kluger Freund, wird sich seiner annehmen.« Dreihundert Clanocs fingen wie wild an zu schreien und zu lachen. Atlan fühlte einen eisigen Schauder in seinem Rücken. Die Angst schüttelte ihn. Er wandte sich leise an Dorstellarain und stieß hervor: »Jott-Mutesial hat meinen Becher und den Krug mit nicht abgestandenem Wasser aus dem Angstbrunnen gefüllt.« Dorstellarain winkte gerade dem alten Clanoc und zuckte zusammen. »Wie?« »Es war ein heimtückischer Anschlag. Ich flehe dich an, Dorstellarain … verschiebe die Prüfung! Ich habe entsetzliche Angst!« Dorstellarain starrte seine Gefährtin an und versuchte, in ihrem regungslosen Gesicht die Wahrheit herauszulesen. In Atlans Augen sah er deutlich die flackernde Angst. »Zu spät!« sagte Dorstellarain. »Du bist eine verdammte, heimtückische Hexe, Jott.
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Warum haßt du Atlan?« »Weil er fremd ist und ganz anders. Er wird uns verführen, unser Leben zu opfern. Er will nach Gynsaal. Das ist unser Tod.« »Unsinn!« rief der Anführer aufgeregt. Er streckte Atlan die Hand entgegen und zog ihn aus dem Sitz. Dann flüsterte er eindringlich: »Ich helfe dir. Geduld! Ich tue, was ich kann.« Auch Dorstellarain zitterte; aber er war von einer rasenden Wut erfüllt. Er konnte im Augenblick nichts anderes tun als der Meinung von dreihundert Clanocs zu gehorchen. Er schob Atlan hinüber zu Tanyte, der sich auf die Fortsetzung der Aktion zu freuen schien. Atlan kämpfte mit dem letzten Rest der Beherrschung gegen einen schweren Anfall von Panik und spürte, wie seine Knie zitterten. Vor ihm, überdimensional groß und deutlich, von der Angst aus der Masse der Gesichter herausgehoben, sah er das schmale, harte, von Leidenschaften durchglühte Gesicht Jott-Mutesials. Sie war dafür verantwortlich, daß er hier als jämmerlicher Feigling dastand.
4. Jetzt entsann sich Atlan in seiner Panik, daß der alte, weißhaarige Tanyte schon in die Feierlichkeiten eingegriffen hatte. Nur mit wenigen Handbewegungen, aber die Zeichen und Aufforderungen wurden befolgt. Tanyte war ein schmaler, aber breitschultriger Mann von abgerissener Eleganz. Die hochschäftigen Stiefel glänzten, waren aber vielfach geflickt. Er trug eng anliegende Fellhosen und eine Pelzjacke aus schwarzem Elchfell mit einem riesigen Kragen. Am Gürtel trug er, wie alle anderen, einen eng zusammengerollten Braster-Lenker und das bekannte Messer. Das Haar war im Nacken von einer Metallspange zusammengefaßt. Das Gesicht war ausgesprochen interessant. Tanyte schien Haut, Haar und Bart sorgfältig zu pflegen. Er sah gleichermaßen abgeklärt, erfahren und verschmitzt drein; dazu
kam, daß seine Augen unverändert klug und vergnügt funkelten. Atlan fürchtete sich vor diesem Ausdruck. Für einen Moment wurde es etwas ruhiger im Saal der Manifestationen. Die Clanocs wußten nichts von Atlans Zustand. Atlan krächzte: »Hört auf! Ich bin nicht in der Lage, etwas zu tun! Ich habe das Wasser getrunken …« Die Umstehenden hörten, wie er um Gnade flehte. Tanyte sah ihn mit deutlicher Verblüffung an. Auch er wußte nichts vom Wasser aus dem Angstbrunnen. »Ich höre nicht recht!« rief er. »Du bittest um Gnade, Fremder?« Je länger sie miteinander sprachen, desto leiser wurde es. Atlan besaß nur noch wenig Selbstkontrolle. Er hob bittend die Hände und fiel vor Tanyte auf die Knie. »Ich fürchte mich!« schrie er. »Hört auf! Verschiebt die Prüfungen. Ich tue alles, was ihr wollt – aber später!« Aus der Stille wurde ein Schweigen der Verachtung. Jeder im Raum spürte es. Alle Augen hefteten sich auf den Mann im Goldenen Vlies. Er kniete tatsächlich vor Dorstellarain und Tanyte und bettelte um einen Aufschub. Er selbst konnte sich dabei irgendwie beobachten und teilte die Verachtung, die er von überall her spürte. Plötzlich meldete sich wieder der Logiksektor und schrie förmlich: Du wirst immer falsch reagieren. Du bist vor Angst wie gelähmt. Ich auch. Wir werden untergehen! »Ich bitte euch! Zwingt mich nicht! Ich habe keine einzige Chance. Schon der Gedanke an die Prüfungen lähmt mich. Ich bin feige geworden!« rief Atlan abermals. Dorstellarain hatte die Wahl, sich für Atlan oder für Jott-Mutesial zu entscheiden. Seine Gedanken überschlugen sich. Falls er versuchte, ihnen allen zu sagen, daß Atlan Wasser aus dem ersten oder zweiten Bottich oder dem Angstbrunnen selbst getrunken hatte, würde er dies niemandem gegenüber beweisen können. Seine Freunde wunderten
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sich über sein Zögern. Sie erkannten, daß er intensiv überlegte. Aber das Hämmern der Trommeln und das Geschrei aus nahezu dreihundert Kehlen führten die Entscheidung herbei. Mit donnernder Stimme schrie Dorstellarain: »Er wird die Prüfungen bestehen. Er hat vielleicht falsches Wasser getrunken und ist von der Feier geschockt. Aber ich weiß, daß er mutig und tapfer ist. Er wird lebend und klüger zurückkommen und dann ein würdiges Mitglied der Gemeinschaft sein, der Gemeinschaft der Ausgestoßenen von Oigster!« Dann deutete er auf Atlan und schrie: »Steh auf, mein Freund. Wir alle denken an dich!« Seine Hand wies auf Tanyte, der ein hohles Kichern ausstieß: »Bringe meinen Kampfgefährten Atlan hinunter an den Anfang der Prüfungsstrecke. Hilf ihm, soweit dies die Regeln zulassen. Und ihr, das Kommando der Wächter, werdet verhindern, daß sich einer der beiden seinen Pflichten entzieht.« »Nein!« hörte sich der Arkonide winseln. »Gnade! Wartet noch … ich bin vergiftet worden.« Eisiges Schweigen erfüllte den Saal. Einige Männer übergaben an andere Clanocs die breiten Gürtel mit den Messern und den Braster-Lenkern. Eine Gruppe von rund einem Dutzend schwer bewaffneter Clanocs näherte sich der Stelle, an der Dorstellarain und Tanyte versuchten, den windenden Arkoniden vom Boden hochzuziehen. Du wirst sterben! schrie der Logiksektor.
* Sie rissen Atlan unbarmherzig hoch. Er versuchte, sich zu sträuben, aber die Kraft des riesigen Anführers war zu groß. Vier Männer machten Schlingen in ihre BrasterLenker, legten sie um seine Handgelenke und zogen ihn mit sich. Donnernder Beifall und lautes Schreien kommentierte die Akti-
on. Atlan fühlte sich auf rätselhafte Weise schizophren. Obwohl er vor Angst zitterte und schlotterte, funktionierte sein Verstand. Er registrierte alles. Die Wirkung des Angstbrunnen-Wassers war sicherlich nur vorübergehend, aber jetzt erreichte sie einen neuen Höhepunkt. Selbst der Logiksektor war davon betroffen und flüsterte ständig Panikmeldungen. »Komm, mein Goldener!« schrie Tanyte und kicherte. Er schien alles für einen grandiosen Spaß zu halten. Atlan brauchte nicht zu reagieren; vier Clanocs zogen ihn vom Tisch weg und die Treppe auf einen unbekannten Ausgang zu. Jott-Mutesial deutete auf Atlan und sah sich mit triumphierendem Lachen um. Dorstellarain biß sich auf die Unterlippe und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Laßt mich los!« rief Atlan. Er fing jetzt an, sich selbst zu verachten. Aber er konnte absolut nichts gegen die Angst tun. Etwa hundertzwanzig Stufen weit ging es abwärts. Der Lärm des orgiastischen Festes wurde leiser, die Dunkelheit nahm zu. Aber noch immer hatte sich die Umgebung noch nicht wesentlich verändert. Überall feuchte, warme Metallwände, Ornamente und Symbole, Bilder von erschreckender Grausamkeit. Jedes Bild, das er deutlicher sehen konnte, jagte Atlan einen weiteren Schauer panischen Entsetzens ein. Vor ihm ging der kichernde Tanyte, die Clanocs zogen ihn vorwärts, dahinter schritten sieben oder acht Männer, die mit mindestens je zwei Messern bewaffnet waren. Ein Fluchtversuch war sinnlos, trotzdem versuchte Atlan immer wieder, sich aus den Schlingen der Braster-Lenker zu befreien. »Du entkommst den Prüfungen nicht, Gast aus Pthor!« murmelte Tanyte. »Es wird spannend werden für dich!« Sie schleppten ihn durch einen stählernen Bogen in ein dunkles Gewölbe hinein. Die Höhle der Panik! schrie der Logiksektor. Nur vereinzelte Scheinwerfer leuchteten
Der tödliche Test Teile der gerundeten Wände an. Es war ein schauerlicher Ort. Wasser tropfte mit lauten Geräuschen von der Decke. Ein Dämonenkopf aus einer anderen Welt grinste Atlan mit schwertförmigen Zähnen an. Atlan bäumte sich auf, riß an den Armfesseln und warf sich vorwärts. Aber der Griff lockerte sich nicht. Es ging tiefer in die Halle hinein. Atlan litt bereits unter Orientierungsschwierigkeiten und wußte nicht mehr, wie sein Weg hierher verlaufen war. Alles in ihm sträubte sich gegen die Prüfungen. Im Zentrum der Höhle aus Metall stand ein furchterregendes Gerät. Es war aus Stacheln, Zahnrädern, Pleueln und durchlöcherten Plattformen zusammengesetzt. Die Ausstrahlung dieser rostigen, von Spinnennetzen bedeckten Maschine war furchtbar. Sie konnte nur irgendwelchen entsetzlichen Zwecken gedient haben. Im Saal der Manifestationen war die Aura der stählernen Burg nicht so deutlich zu spüren gewesen; hier in den tiefergelegenen Gewölben drangen die Angstgefühle verstärkt auf Atlan ein. »Wir sind noch lange nicht dort, wo die Prüfungen anfangen!« verkündete Tanyte geradezu fröhlich. »Warum habt ihr kein Erbarmen? Ich kann nicht kämpfen! Ich fürchte mich zu Tode!« schrie Atlan verzweifelt und empfing einen neuen Schwall der lautlosen Gedanken längst vermoderter Bewohner. »Du brauchst dich nicht zu fürchten. Die Prüfungen werden dich das Fürchten ohne dein Zutun lehren!« knurrte einer der Clanocs hinter ihm. Sein Verstand sagte Atlan, daß jene Wesen, von denen das eiserne Schloß Oigster geschaffen worden war, gleichermaßen eine hochstehende Technik und eine pervertierte Kultur besessen hatten. Auch der gewundene Gang, der aus der Halle abwärts führte, zeigte ihm dies wieder. An den Wänden hingen Dinge, die wie Handfesseln aussahen, wie seltsame Fangeisen, wie Marterwerkzeuge. Atlans Blicke irrten durch den schwach erleuchteten Korridor, der in engen Windungen abwärts führte
21 und vielerlei kleine Ausgänge hatte. Schwere Gitter, unterbrochen von bizarr gedrehten Stacheln und Dornen, schlossen die meisten Nebenkorridore ab. Wieder andere und schreckliche, indirekt beleuchtete oder von hinten angestrahlte Figuren aus Metall, die von den Wänden starrten und grinsten. Atlan registrierte, während ihn ein neuer Schreckensanfall schüttelte, daß auch die Clanocs unter dem Eindruck dieses bildgewordenen Dramas standen. Atlan verlor das Zeitgefühl. Unter dem Terror des Extrasinns, der seine hilflose Furcht unentwegt verstärkte, vergaß er, wie lange und wie weit sie diesen gewendelten Gang entlanggestürmt und in welche Tiefe sie gekommen waren. Der penetrante Gestank nach Feuchtigkeit und Rost nahm zu und wurde unerträglich. Wieder öffnete sich eine niedrige Halle aus Eisen. Mehrere Dutzend seltsamer Geräte wuchsen wie stählerne Pflanzen aus dem Boden. Eine Maschine wirkte phantastischer als die andere. Jeder Schritt ließ die Gruppe in den Einflußbereich einer neuen Angstwelle geraten. Aber nur die Gegensätze von Licht und Schatten und die grauenvolle Ausstrahlung hier in der Tiefe von Oigster riefen diese Eindrücke hervor. Atlan sagte sich, daß die fremden Wesen vermutlich an ihrer eigenen Bosheit erstickt und umgekommen waren. Schweigend trieben ihn die Clanocs weiter, im Zickzack zwischen den Geräten hindurch, über rostknisternden Abfall. »Gleich erlebst du den ersten Teil der Prüfung!« schrie der Alte. Seine Worte wurden in schrillen Echos von den metallenen Wänden zurückgeschleudert. »Er wird in die nächsten Teile der Prüfung nahtlos übergehen«, bemerkte ein anderer Clanoc und stieß Atlan, der stehenblieb und sich gegen den Zug stemmte, grob an den Schultern vorwärts. »Weiter!« »Ich kann nicht kämpfen«, wimmerte Atlan. »Was nützt euch ein toter Ausgestoßener?« Wenn dich die Prüfung nicht umbringt,
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töten die Clanocs dich hier! schrie der Logiksektor. »Wir sprechen uns nachher! Falls du zurückkommst!« Tanyte ging weiter und riß ein schweres Gitter aus Metallstäben, Dornen und gekrümmten Sicheln auf. Dahinter sah Atlan, der an seinen Fesseln zerrte, eine massive Tür mit Reihen dicker Nieten. Auch diese Tür wurde mit einem schauerlich knirschenden Geräusch geöffnet. Dahinter tauchte eine kleine, schwach beleuchtete Kammer auf. Auch ihre Wände bestanden aus Eisenplatten. »Was habt ihr vor?« schrie der Arkonide. Er bekam keine Antwort. Man schleifte ihn die letzten Schritte vorwärts. Am Gittertor versuchte er auszubrechen. Aber die Männer ließen ihn nicht mehr als einen halben Meter weit, dann drängten sie ihn auf die massive Tür zu. Eine Schlinge löste sich, und gleichzeitig stellte ihm jemand ein Bein. Er stolperte und fiel in die Kammer. Dröhnend schloß sich die Metallplatte. Mit einem geringfügig leiseren Geräusch fiel auch das dicke Gitter ins Schloß. Atlan war allein mit seinen vielfältigen Ängsten.
* Er lehnte sich zitternd gegen die stählerne Wand. In der Kammer herrschte totale Stille. Atlan glaubte, seinen eigenen Herzschlag hören zu können. Alles in ihm drängte nach Flucht, schrie danach, sich in einen Winkel zu verkriechen und dort zusammengekauert zu warten, bis alles vorbei war. Atlan fühlte sich unbeschreiblich elend. Alles, was er seit dem ersten Schluck dieses verdammten Wassers erlebt hatte, erfüllte ihn mit dem Gefühl der letzten, unwiderruflichen Niederlage. »Nein«, sagte er flüsternd. »Das ist der Alptraum, vor dem ich mich mein Leben lang gefürchtet habe.« Dabei wußte er genau, daß es kein Traum war. Die Realität war viel gräßlicher, als jeder Traum es sein konnte. Die Angst hielt
ihn in ihren Klauen wie niemals zuvor. Er war sicher, daß er hier nicht wieder lebend herauskommen würde. Er erkannte, daß er sich binnen Stunden in einen willenlosen Feigling verwandelt hatte. In einer unbewußten Bewegung, als ob er sich vor zukünftigen Zwischenfällen zu schützen versuchte, zog Atlan den kapuzenartigen Helm des Goldenen Vlieses über den Kopf. Mechanisch schloß er die seltsamen Handschuhe. Die Wand in seinem Rücken fing an zu vibrieren. Ein leiser, sirrender Ton war zu hören. Er war scharf und eindringlich und schwoll schnell in Intensität und Lautstärke an. Sie bringen dich mit Schall um! sagte der Extrasinn. Aus dem hellen Ton wurde ein kreischendes Geräusch. Ein schmetterndes Klirren ertönte und verwandelte die Metallkammer in ein Inferno. Atlans Nerven begannen zu toben. Ein dritter Ton mischte sich in die unheimlichen, lauten Tonfolgen. Jede Zelle des Körpers spürte die Vibrationen und reagierte darauf. Aus der vordergründigen Angst wurde Schmerz, das Wissen, daß das Ende unmittelbar bevorstand, breitete sich aus. Weitere Töne und Geräusche drangen von allen Seiten auf Atlan ein, wurden lauter und leiser, wechselten einander ab und hörten wieder auf. Schaurige Töne drangen durch die Stahlwände, die von Feuchtigkeit troffen. Jedes Geräusch, jede Veränderung trieb Atlan ein Stück mehr in die Raserei. Es gab keine Möglichkeit, sich zu wehren, obwohl er die behandschuhten Fäuste gegen die Ohrenteile des Helmes preßte. Die Töne durchdrangen alles. »Aufhören!« schrie er. Aber sein Aufschrei wurde mühelos von den Kadenzen dieser gräßlichen, heulenden Schallwellen verschluckt. Langsam rutschte er mit dem Rücken an der glitschigen Wand herunter und blieb im Winkel zwischen Boden und Wand hingekauert. Abermals brach eine Geräuschflut los. Wände und Boden bebten. Das winzige,
Der tödliche Test versteckte Licht in der unerreichbar hohen Decke begann stärker aufzuleuchten und stroboskopisch zu flackern. Eine neue Art, ihn in den Irrsinn zu treiben! Er war unfähig, einzusehen, daß es sich um nichts anderes als Nerventerror handelte. Er kauerte da, zitterte und fühlte sich unter dem Ansturm von Angst, Licht und Geräuschen von Sekunde zu Sekunde dem Tode näher … Nach einer Ewigkeit, in der sich verschiedene farbige Lichtblitzfolgen und Töne fast jenseits des Spektrums austobten, riß es Atlan nach vorn. Gleichzeitig stürzte er. Nach einem Sekundenbruchteil des Fallens in irgend etwas Dunkles schlug er ins Wasser. Als er eintauchte, konnte er gerade noch erkennen, daß sich der Boden der Kammer in vier Dreiecke aufgeteilt hatte. Sie waren gleichzeitig heruntergeklappt und hatten ihn in die stinkende, schwarze Flüssigkeit geschleudert. Er tauchte einige Meter tief und sah, als er auftauchte, daß das Wasser langsam stieg. Obwohl er genau wußte, daß er im Anzug der Vernichtung auch unter Wasser überleben konnte, erlitt Atlan den nächsten Anfall; er fürchtete, ertränkt zu werden und hier in der Kammer zu ersticken. Das Licht schaltete sich ab. Die Geräusche hörten schlagartig auf. Das Wasser stieg, eine klare Überlegung war Atlan unmöglich. Er holte Luft und tauchte so tief, wie es ging. Seine Augen versuchten, die Schwärze des Wassers zu durchdringen, aber der Versuch verlief ergebnislos. Er sah nichts. Seine herumtastenden Hände glitten über glatte Wände, die mit irgendwelchen Schwämmen bewachsen waren. Atlan warf sich herum, tastete die andere Wand ab und versuchte, Boden unter den Füßen zu finden. Der Schacht schien sehr tief zu sein. Atlan schwamm hin und her, wurde hochgedrückt und tauchte in rasender Hast wieder herunter. Du wirst ertrinken und tot nach oben gespült werden, meldete sich der Logiksektor. Es muß einen Ausweg geben! Ich muß hier heraus! sagte sich Atlan immer wieder
23 und tauchte wieder schräg nach unten. Er befand sich mitten im dicken Strom des hereindrückenden Wassers. Wo war die Öffnung? Wieder schlug er wie rasend mit den Beinen und schaffte es, eine kurze Strecke gegen die Strömung zurückzulegen. Die Dunkelheit blieb, er konnte nach wie vor nichts sehen. Die Angst trieb ihn zur Höchstleistung. Er schwang seine Arme nach vorn und bekam etwas zu fassen. Es schien ein Stein zu sein oder ein unregelmäßig geformtes Stück Metall. Atlan klammerte sich daran fest und fühlte den Strom des Wassers. Der Anzug schützte ihn wie immer in einer solchen Lage, aber er fürchtete sich trotzdem. Die Wirkung des Angstbrunnens ließ nicht nach. Atlan zerrte an dem Brocken und fühlte, wie seine Armmuskeln schmerzten. Seine Finger tasteten die Umrisse des Gegenstands ab. Es war also doch ein weitestgehend eckiger Stein. Ein großer Quader, der hochkant vor einem eckigen Loch in der Metallwand stand. Von drei Seiten war er von hereinschießendem Wasser umspült. Hinaus! Schwimme aus diesem Todesloch hinaus. Das Wasser wird dich erdrücken! tobte der Extrasinn. Atlan riß und schaukelte an dem Stein. Der schwere Stein gab millimeterweise nach. Dann schwang sich Atlan herum, stemmte die Sohlen gegen die rutschige Wand und stemmte sich mit den Schultern an den Stein. Langsam kippte der Stein um, das Wasser packte den Arkoniden und wirbelte ihn wieder zurück und aufwärts. Er versuchte es erneut, kämpfte sich wild rudernd vorwärts und schob den Kopf und die Schultern durch die Öffnung. Mit den Armen griff er nach vorn, ertastete eine Kante und zog sich weiter. Auch weiterhin umgab ihn völlige Schwärze. Er hörte keinerlei Geräusche, nicht einmal das Gurgeln des Wassers. Er winkelte ein Bein ab und schwamm schräg aus dem Strom heraus. Noch immer sah er den Wasserspiegel nicht von unten; er drehte den Körper und versuchte, an die Oberfläche
24 zu kommen. Drei oder vier lange Schwimmstöße gelangen ihm, dann packte etwas seinen Knöchel und hielt ihn fest. Wieder schlug die Angst zu. Nimm das Messer! Schneide das Ding durch! schrie der Extrasinn. Messer? Der Extrasinn schuf zusätzliche Verwirrung. Er hatte kein Messer. Er zitterte wieder und trat wütend nach etwas, das sich wie ein dickes Tau anfühlte und mit harter Gewalt an ihm zog und zerrte. Er merkte, daß er nicht mehr aufwärts schwamm, sondern senkrecht nach unten gezogen wurde. Trotz seiner Furcht versuchte er einen Trick. Er gab seinen Widerstand auf und ließ sich in die Tiefe ziehen. Ein zweiter Tentakelarm glitt durch die Finsternis, tastete an seinem Körper umher und ringelte sich schließlich um das Schienbein. Ein dritter Greifarm wickelte sich um die Hüften des Goldenen Vlieses. Atlan merkte, daß er mehr als fünfzehn Meter tief in die Finsternis hinuntergezerrt wurde. Die Angst, zu ertrinken, kämpfte mit der Furcht, von einem unbekannten Lebewesen erdrosselt zu werden. Er versuchte, trotz seiner innerlichen Lähmung richtig zu handeln und griff mit beiden Händen nach dem Tentakel oder Seil, das um seine Hüften lag. Er zog sich selbst noch tiefer, drehte sich herum und fühlte, wie der Druck gegen seinen Knöchel etwas leichter wurde. Er schlug gegen eine gummiartige Masse und versuchte, diese seltsame Liane zu zerreißen, aber im selten Moment blendete ihn ein Blitz, der von seinem Schulterblatt ausging. Durch das Wasser zuckte eine lautlose Entladung, die sich in einer riesigen Menge von kleinen und großen Luftblasen auflöste. Im Zucken der Blitze sah Atlan zuerst die Blasen, die aufschimmerten und hochquollen, und er sah auch eine riesige, dunkle Masse unter sich, von der aus eine Unzahl von Ausläufern, Tentakeln oder Taue nach oben drifteten. Als der Blitz – vermutlich von dem stachelartigen Ausläufer des Anzugs an der
Hans Kneifel Schulter – zuckte, lösten sich zwei der Tentakel. Kämpfte Atlan gegen einen Roboter oder ein reales Wesen? Er konnte es nicht sagen, aber im Moment dachte er auch nicht daran. Er wehrte sich. Wieder geriet etwas von der dunklen Masse unter ihm in den Bereich des stachelartigen Fortsatzes. Ein langer Blitz zuckte auf, dann ein zweiter. Atlan, der wütend gegen zwei oder drei dünne Tentakel kämpfte, merkte, daß das Untier vor ihm zurückzuckte. Er bewegte die Beine und kam frei. Drei oder vier Meter der Wasseroberfläche näher, holte ihn ein hochgeschleuderter Arm wieder ein. Diesmal handelte er richtig. Er griff nach dem Tentakel, hielt das Ding fest, das sich wand und um sich peitschte wie rasend. Er zog es an sich heran, schwang sich im Wasser herum und brachte seine rechte Schulter in den Bereich der seltsamen Waffe des Anzugs. Wieder zuckte eine Entladung durch die schwarze Dunkelheit, wieder wölkte eine große Menge von Blasen hoch. Der Tentakel versteifte sich, aber Atlan fühlte sich frei. Er fing augenblicklich mit schnellen und kräftigen Schlägen an, wegzuschwimmen. Hinter ihm tasteten weitere Fangarme durch das schwarze Wasser, erwischten ihn aber nicht mehr. Sie kommen von oben und von den Seiten! rief der Logiksektor. Atlan ruderte, eine winzige Spur ruhiger geworden. Den Einwand des Logiksektors hatte er vergessen. Aber er fühlte nicht die charakteristische Erleichterung, die sich einstellte, wenn er aus großer Tiefe auftauchte. Trotzdem bewegte er Arme und Beine weiter und schwamm, so schnell er konnte. Er blinzelte, als er weit vor sich – oder durch die Dunkelheit in der Entfernung schlecht zu schätzen – einen vagen Schimmer Helligkeit sah. Flammen! Sie werden dich verbrennen! Es gab für ihn keine andere Möglichkeit. Wo Licht war, hörte diese gräßliche, furchteinflößende Umgebung auf. Er schwamm
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auf das Licht zu, immer noch aufwärts in dem Schacht, der sich auf geheimnisvolle Weise vergrößert zu haben schien. Die Furcht ließ ihn vergessen, wie lange und wie weit er geschwommen war. Die undeutliche Helligkeit nahm zu. Nach ungewisser Zeit schlugen Atlans Knie auf einen kiesartigen Grund. Er stand auf und merkte nicht, daß das Wasser vom Goldenen Vlies abfloß, als würde es abgestoßen werden. Vor ihm blendete ein mächtiger Scheinwerfer auf. Das grelle Licht ließ ihn erkennen, daß er auf einem winzigen Strand oder einer Uferstelle stand, bis zu den Schienbeinen im Wasser. Er machte einige Schritte und fühlte Kiesel unter den Sohlen knirschen. Das Licht ließ ihn blinzeln, als er darauf zutappte. Eine neue Gefahr griff nach ihm. Hinter dem Licht, das wie aus einem Rohr auf ihn zugeflutet kam, schälte sich eine schlanke, große Gestalt aus der Finsternis. Atlan erkannte nur undeutlich die Umrisse, aber ohne Zweifel war es eine schöne Frau von düsterer Erscheinung. Vorsichtig ging er auf sie zu. Die Frau sprach ihn an, aber er verstand kein Wort – es war eine völlig fremde Sprache. Die Unwirklichkeit der Szene und die noch eindringlichere Unwirklichkeit der schlanken, dunklen Frau versetzten den Arkoniden in neue Ängste und verwirrten ihn noch mehr. Mit tauben Knien und zitternden Fingern, unfähig, ein Wort zu sagen, ging er auf die Frau zu und fragte sie. Sie antwortete, abermals in unbekannten Worten.
5. Jott-Mutesial lehnte an dem wuchtigen Tisch und hielt den Becher in den Fingern. Jedesmal, wenn Dorstellarain auf sie zukam, schrak sie zurück. Ihre Furcht schien echt zu sein. »Ich werde dich hinauswerfen lassen!« schrie der Anführer. »Du hast die Gesetze der Ausgestoßenen gebrochen!«
»Ich habe nur versucht«, gab sie schrill zurück, »die Clanocs zu retten.« »Du?« rief er höhnisch. »Retten? Du glaubst noch immer, daß der arme Kerl eine Gefahr für uns ist? Du bist hoffnungslos verrückt.« »Niemand wirft mich hinaus. Auch du nicht«, keifte sie. Dann lächelte sie ihn herausfordernd an und sagte etwas leiser: »Du schon gar nicht. Du weißt schon, warum.« »Du überschätzt meine Geduld. Er ist ein fairer Kämpfer. Warum hast du ihm Wasser aus dem Angstbrunnen gegeben?« »Damit wir hier weiterleben können. Hier ist es warm und gemütlich. Er will uns nach Gynsaal führen und dort sterben lassen.« »Wir hätten diesen Vorstoß auf andere Weise ablehnen können. Ich weiß«, donnerte Dorstellarain und riß ihr den Becher aus der Hand, »daß er dort unten umkommen wird. Was hast du davon?« Der Saal war fast leer. Die meisten Clanocs hatten sich, müde und betrunken, zurückgezogen. Nur Favt von Moondrag saß schweigend an einem Tisch und hörte dem handfesten Streit zu. »Nichts habe ich davon. Wenn er wirklich so gut ist, wie du immer tust, kommt er schon ohne deine Hilfe zurück.« Dorstellarain nahm einen Schluck und winkte hinüber zu Favt. »Komm einmal her zu uns. Ich brauche deinen Rat!« »Habe ich erwartet«, sagte Favt und stand auf. Jott-Mutesial war über diese Unterbrechung verblüfft. Sie ahnte, daß der Anführer der Clanocs diesmal Ernst machen würde. Ihr Einfluß auf ihn war in diesem Punkt verschwunden. Wie ein Feuer breitete sich die Wut auf den seltsamen Fremden in ihr aus. Er war an allem schuld! »Was willst du tun?« fragte Jott zaghaft. »Ich werde mit Favt zusammen versuchen, wenigstens meine persönliche Ehre wiederherzustellen. Du hast Atlan in den sicheren Tod geschickt. Wir werden ihn zurückbringen.« Sie warf ihm einen hämischen Blick zu.
26 »Wenn er noch lebt.« Dorstellarain funkelte sie an und erklärte grob: »Wenn er nicht mehr lebt, werde ich mit allen Clanocs das Richtige beschließen: Du wirst aus Oigster vertrieben.« Jetzt schrien sie sich nicht mehr an. Sie sprachen leise und erbittert miteinander. Favt kam herbei und setzte sich auf die Tischkante. »Mir scheint, ihr habt ernsthaften Streit miteinander. Nicht, daß es etwas Neues wäre, aber …« »Aber diesmal ist Jott zu weit gegangen«, sagte Dorstellarain. Kalte Entschlossenheit erfüllte ihn. »Gehst du mit, Favt?« Favts Zeigefinger wies senkrecht nach unten. »In die Unheimlichen Gewölbe? Ins Reich der Prüfungen? Den Mann im Goldenen Anzug holen?« »Ja. Oder versuchen, was noch zu retten ist. Das Wasser aus dem Angstbrunnen hat ihn in einen hilflosen Feigling verwandelt. Ich kenne Atlan ganz anders.« »Einverstanden. Ich mag derlei Manipulationen auch nicht, Jott. Du schaffst dir wenig Freunde mit solchen Versuchen. Ich stelle mir vor, wie ich mich fühlen würde mit einigen Bechern Angstwasser im Bauch.« Sie vergaßen Mäntel und Mützen, aber sie rafften alle Braster-Lenker zusammen, die sie auf den Sitzen fanden. Dann suchten sie ihre Messer, schoben sie in die Scheiden zurück und blieben auf der Treppe noch einmal stehen. Favt erklärte: »Was wir tun, ist nichts anderes als ein gerechter Ausgleich, Jott.« »Wir wollen nur Atlans Leben retten«, sagte Dorstellarain. »Ich warne dich ein letztesmal. Du denkst daran, die anderen gegen mich und Atlan aufzuhetzen! Ich kann es nicht dulden. Und … im Gegensatz zu Atlan: Ich kann mich erfolgreich wehren!« »Keine Worte mehr! Wir müssen handeln. Er ist schon knapp eine Stunde dort unten!« sagte Favt drängend. Sie eilten davon. Bis zu einem bestimm-
Hans Kneifel ten Punkt und einschließlich einer bestimmten Ebene waren ihnen die tiefliegenden Räume bekannt. Zwar hatte noch keiner der Clanocs es versucht, die Anlagen zu enträtseln oder gar auszunutzen; eine erklärliche Scheu hielt jeden davon ab. Viele der Wege, Höhlen und Hallen, der Stollen und Wendelrampen waren flüchtig erkundet worden. Dorstellarain wußte aber, wohin die Clanocs Atlan gebracht haben mußten. Auch der Anführer und sein treuer Begleiter Favt waren keineswegs frei von Furcht. Sie vermieden es tunlichst, die rostenden Geräte, die schauerlichen Fratzen und die verrosteten Maschinen des Grauens näher anzusehen. In mäßiger Eile, um ihre Kräfte nicht vorzeitig zu verbrauchen, bewegten sie sich tiefer in die seltsame Welt unterhalb der Eisenburg hinein. Als die Männer in eine Zone vordrangen, in der die Beleuchtung auf ein Minimum abgesunken war, blieb Dorstellarain kurz stehen und sagte knurrend: »Irgendwie nötigt mir Atlan ungeheuren Respekt ab.« »Kannst du das genauer erklären?« fragte Favt und holte tief Luft. Sie schwitzten und fühlten sich, umgeben von den schauerlichen Relikten einer unbekannten Zeit, keineswegs wohl. »Er zitterte und schrie vor Angst, aber er stellte sich dennoch der Aufgabe.« »Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Sie hätten ihn weitergetrieben!« »Trotzdem. Ich sah ihn kämpfen, zuletzt gegen die Schneeschweine. Er kämpft wie ein Rasender und macht nicht einmal eine einzige überflüssige Bewegung.« »Dafür führen wir jetzt ein überflüssiges Gespräch. Wo, denkst du, ist er gerade – wenn er noch lebt?« Dorstellarain schien seine Antwort genau überlegt zu haben. »Am Schwarzen Strand der Illusionen vorbei. Dann meinethalben zur Hitzequelle. Und mit Sicherheit finden wir ihn bei den Zwergen. Denn wenn er noch lebt, wird es ihn dorthin verschlagen. Einverstanden?«
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»Meinetwegen. Klingt ganz richtig, was du vorschlägst.« An der nächsten, bereits in tiefem Zwielicht liegenden Kreuzung rannten sie in die Richtung auf den Schwarzen Strand der Illusionen zu. Vielleicht fanden sie den Mann im Goldenen Anzug dort. Vielleicht nur seine Spuren. Und vermutlich fanden sie seinen Leichnam.
* Atlan trat seitwärts aus dem grellweißen Lichtkegel hinaus und hob zitternd die rechte Hand in einer universell gültigen Geste der Freundschaft. »Ich bin Atlan«, sagte er langsam nacheinander in Pthora, Terranisch und Interkosmo. »Ich wurde von den Clanocs zu den … Prüfungen verurteilt.« Seine Stimme rief Echos hervor. Er hörte sich selbst und stellte fest, daß er noch immer unter den Eindrücken der Furcht stand. Die Stimme war die eines niedergeschmetterten Feiglings, der seinen letzten, nur noch verkümmert vorhandenen Mut zusammennehmen mußte. Er verachtete sich dafür. Aber er konnte den Zustand nicht ändern. Die Frau antwortete wieder; auch jetzt verstand er kein Wort. Aber ihre Stimme war verlockend und versprach Ruhe, Frieden und eine gefahrlose Umgebung, in der er sich verkriechen konnte. Jetzt, da das Licht ihn nicht mehr blendete, erkannte er, daß es erstens tatsächlich eine Frau von beträchtlicher Schönheit war, daß zweitens dieser Eindruck getrübt wurde. Sie wirkte düster, seltsam unwirklich und auf alle Fälle gefährlich. »Was willst du?« fragte Atlan hoffnungslos und näherte sich der Frau. Sie war völlig in Schwarz gekleidet, und ihre weiße Haut lockte und reizte ihn trotz der Angst vor jedem weiteren Schritt. Die Frau zog sich zurück. Aber sie heftete den Blick ihrer großen, dunklen Augen unverändert auf ihn. Sie will dich umgarnen! Sie lockt dich ins
Verderben! tobte der Extrasinn. Das Licht aus dem unsichtbaren Scheinwerfer strahlte das gegenüberliegende Ende der Höhle an. Atlan drehte sich um und bemerkte, daß er sich noch immer im Zentrum von Schwärze und Finsternis befand. Ein annähernd runder See, klein und schwarz, überall schwarze und feuchtigkeitstriefende Felswände, unterbrochen von metallenen Streben und Platten, geheimnisvolle Grüfte und Nischen, schwarze Kiesel und schwarzer, anscheinend vulkanischer Sand unter seinen Füßen, das hallende Geräusch fallender Tropfen, ein Geruch, der an eine Kloake erinnerte, die leichten Schritte der Frau – jeder einzelne Faktor trug dazu bei, ihn weiter zu verunsichern. »Wohin führst du mich?« fragte er noch einmal. Die Frau antwortete, aber er verstand nur die Schwingungen ihrer Stimme. Er ging hinter ihr her. Durch einen seltsamen Effekt bewegte sich die hochgewachsene, schlanke Frau mit den üppigen Formen stets im Zentrum des hellen Lichtes. Atlan folgte ihr. Sie war für ihn die einzige Rettungsmöglichkeit, die er in seiner Furcht sah. Er starrte sie an; ihr schwarzes Haar umgab den schmalen, dämonischen Kopf wie eine magnetische Aura. Die Bewegungen der schlanken Gliedmaßen irritierten ihn. Er tappte wie blind über knirschenden schwarzen Sand. Er befand sich in Trance und merkte es auch, aber er war unfähig, sich daraus zu lösen. Er vergaß seine Vorsicht und sein berechtigtes Mißtrauen. Schweigend ging er der Frau nach, bewegte sich über Metallplatten und konnte es noch immer nicht erreichen, daß er etwas bewußt tat. Er war total abhängig, als stünde er unter Drogen oder einer starken Hypnose. Er starrte in den Lichtkegel, sah undeutlich die herausfordernden Gesichtszüge der düsteren Schönheit vor ihm und erkannte, daß er ihr nicht wirklich näher kam. Immer gab es zwei oder mehr Meter Abstand. Sie treibt dich ins Verderben! rief abermals der Logiksektor. Plötzlich, als die Frau beide Arme nach
28 ihm ausstreckte und wieder einige Worte mit ihrer samtenen Stimme aussprach, glaubte er, sie verstanden zu haben. »Komm! Komm mit mir. Ich bringe dich dorthin, wo du in Sicherheit bist«, hatte sie gesagt. Er ging unwillkürlich etwas schneller. Sie wich in der gleichen Geschwindigkeit vor ihm zurück. Aber die Lockung blieb unverändert stark und leidenschaftlich. Unter den Sohlen waren jetzt Staub und ganz feines, flockiges Material, das wie Asche längst erloschener Feuer auf ihn wirkte. Er glaubte, den Geschmack der Asche auf der Zunge spüren zu können. Wie weit hatte er sich in Wirklichkeit schon von dem Strand der schwarzen Kieselsteine entfernt? Er wußte es nicht. Gehorsam folgte er der dämonischen Frau und sah schließlich, daß hinter ihr ein dunkles, beruhigendes Licht aus der Finsternis schälte. Es wirkte wie ein Glutkreis, wie ein kleiner Krater, der mit Magma gefüllt war. Aber er spürte keinerlei Wärme und auch nicht die Gerüche der verschiedenen Gase, die aus einem Krater aufstiegen – falls es sich tatsächlich um einen solchen handelte. Er bewegte sich wie eine Marionette. Es ging leicht aufwärts, und er registrierte eine leichte Anstrengung seiner verkrampften Beinmuskeln. Kantige Steine bewegten sich, wenn er darauf trat. Während das grelle Licht des schweinwerferähnlichen Lichtkegels abnahm, wurde das Glühen vor ihm intensiver. Er sog die Luft ein; noch immer stank sie nach warmer Feuchtigkeit und nichts anderem. Das Licht erlosch ganz plötzlich. Die Gestalt der Frau verschwand ebenso schnell. Atlan wischte sich über die Augen und schüttelte den Kopf. Er stand direkt am Rand eines steil abfallenden Abhangs. Die schräge Fläche führte aus der Dunkelheit in einem gefährlichen Winkel direkt hinunter in die rote, von schwarzen Krusten bedeckte Oberfläche des Kraters. Der Arkonide wußte noch immer nicht, ob er unter Hypnose stand oder die Geschehnisse um sich herum
Hans Kneifel bewußt aufnahm. Er blickte hierhin und dorthin, aber die dunkle Frau war verschwunden. Ebenso endgültig wie das erste Licht aus dem starken Scheinwerfer und auch das zweite, das mit der Frau selbst gewandert schien. Atlan kam halbwegs zu sich. Er stand auf einem schmalen Grat. Diese Trennlinie befand sich zwischen dem einigermaßen waagrechten Boden und dem abfallenden Hang. Der Krater, oder was immer diese rote Kreisfläche vor ihm zu bedeuten hatte, befand sich direkt vor seinen Zehen. Der Kreis hatte einen Durchmesser von schätzungsweise zwanzig Metern. »Nein!« keuchte Atlan auf und hob den Kopf. Jenseits des Kraters leuchtete wieder helles Licht auf. Diesmal war es nicht der Scheinwerfereffekt, sondern eine andere Art von Beleuchtung. Atlan sah, daß die Frau ihm gegenüberstand und die Arme wie suchend nach ihm ausstreckte. Genau in dem Moment, da er den nächsten Schritt machte, geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Das Licht wurde schwächer, und die Gestalt der Frau verschwand. Und – er selbst trat ins Leere, begann zu rutschen und krachte schwer auf den Rücken. Er verschwand in einer Wolke aus Staub und Asche. Seine Knöchel und Absätze stießen gegen lockeres Gestein, sein Rücken scheuerte gegen unkenntliche Gegenstände und bremste seinen Fall. Die rote, schwarzgeäderte Fläche kam rasend schnell näher. »Ein Krater! Lava! Ich verbrenne!« schrie er in Todesangst auf, warf beide Arme nach rechts und links und versuchte, seinen Sturz abzubremsen. Es gelang ihm halbwegs, und sein Körper hörte in einer großen Wolke aus vulkanischer Asche zu rutschen auf. Er hustete und würgte; jetzt roch er den Schwefel und alle anderen Gase aus dem Innern der Welt in der Dimensionsschleppe. Regungslos hing er zwischen zwei Trümmern erkalteter Lava da. Er sah vor seinen Augen Spiralen und Sterne.
Der tödliche Test Sie war niemals wirklich! Du bist auf hypnosuggestive Impulse hereingefallen! Sie alle haben nichts anderes im Sinn, als dich auf qualvolle Weise umzubringen! rief alarmiert der Extrasinn. Atlan versuchte, sich wieder neu zurechtzufinden. Vor ihm strömte die Oberfläche des Kraters eine ungeheure Hitze aus. Er spürte sie nur im Gesicht; dem einzigen Teil seines Körpers, der vom Goldenen Vlies nicht völlig umhüllt wurde. Aber diese Hitze versengte ihn nicht, sondern trieb ihn dazu, sich umzudrehen und zu versuchen, den steilen Kraterhang wieder hinaufzuklettern. Er rutschte, fing sich wieder, klammerte sich angstvoll irgendwo an und zog sich hoch. Keuchend klomm er Handbreit um Handbreit weiter. Während der Arkonide versuchte, der neu entstandenen Gefahr zu entkommen, sagte er sich, daß er ununterbrochen zwischen allen denkbaren Gefahren schwebte und es bisher fast instinktiv verstanden hatte, sich von keiner dieser Gefahren umbringen zu lassen. Vorsichtig griff er nach oben, ertastete wieder eine scharfe Kante, stellte seinen rechten und dann den linken Fuß auf harte Ecken oder Vorsprünge und versuchte, sich so leicht zu bewegen wie nur irgend möglich. Er war sicher, daß er den oberen Rand, also die Kante zwischen dem Boden und dem Kraterabhang erreicht hatte. Im gleichen Moment, als er sich, ein wenig erleichtert, über die scharfe Kante zog und schob, hörte er links von sich ein lautes Scharren und Kratzen. Ihm war, als würde ein riesiges Tier aus der Dunkelheit auf ihn zutappen. Er hob den Kopf. Vorwärts! Nein, rückwärts. Oder nach oben – sie verfolgen dich! sagte laut und drängend der Logiksektor. Atlan hörte den Hinweis und sagte sich trotz seiner eigenen Panik, daß der Extrasinn noch verwirrter und furchtsamer reagierte als er selbst. Der zuverlässigste Helfer, den er seit der ARK SUMMIA besaß, war vom feigheitserzeugenden Wasser des Angst-
29 brunnens ebenso beeinträchtigt wie er selbst. FURCHT! Dies war der bestimmte Faktor seines Denkens, seines Fühlens und aller seiner Reaktionen. Wie auch immer: Die panikerzeugenden Geräusche hielten an. Sie kamen näher und wurden auf bedrohliche Weise lauter. Atlan schob sich mit einem letzten, wilden Schwung hinaus auf den ebenen Boden. Er sprang auf die Füße, wirbelte herum und starrte zurück. In diesem Augenblick wölbte sich ganz im Mittelpunkt der rotglühenden Fläche eine Blase hoch. Sie hatte einen Durchmesser von weniger als fünf Metern, blähte sich qualvoll langsam hoch, glühte in hellem Feuerrot auf und platzte mit einem dumpf knallenden Geräusch. Atlan sprang senkrecht in die Höhe, weil er erst jetzt erkannte, daß es sich tatsächlich um einen Krater voller Magma oder Lava handelte. Gleichzeitig wurden die Geräusche lauter, mit denen sich ein schwarzer Riese auf ihn zubewegte. Atlan sah nichts. Aber er fing zu laufen an und rannte auf einen vagen Schimmer phosporeszierender Helligkeit irgendwo vor ihm, an der Wand der Halle, zu. Was immer auf ihn zukam, es schien ebenso tödlich und gefährlich zu sein wie alles, was er innerhalb der eisernen Burg erlebt hatte. Es gab keine Ruhe. Für ihn existierten nur noch Gefahren, von denen jede einzelne geeignet war, ihn mit Leichtigkeit umzubringen. »Ich werde es ihnen heimzahlen! Ich schlage ihnen allen die Zähne ein!« knirschte er und merkte nicht, daß die Wirkung des Angstbrunnen-Wassers ganz langsam nachließ. Atlan spurtete auf die Fläche aus undeutlicher Helligkeit zu. Als er sich ihr bis auf dreißig Schritte genähert hatte, sah er abseits von ihrer Mitte so etwas wie einen Durchgang oder ein Loch, in das er flüchten konnte. Darauf lief er zu. Hinter ihm erscholl, jetzt lauter und gefährlicher, dieses alarmierende Kratzen und Schlurfen. Ein riesiges Tier kroch schnell hinter ihm her. Er zögerte eine halbe Sekun-
30 de vor der großen Wand. Sie war nicht wirklich hell, aber in all dieser angsterzeugenden Finsternis schien sie dem Arkoniden die einzige vorhandene Rettung zu signalisieren. Der Durchgang war nicht groß, aber ihm bot er genügend Platz. Hinein! Niemand ist so klein wie du! heulte der Logiksektor auf. Wieder hatte Atlan keine Zeit, zu erkennen, daß der Extrasinn völlig verworren reagierte und verwirrte Äußerungen von sich gab. Er rannte im Zickzack auf den dunklen Fleck der hellen Wand zu, duckte sich und spurtete in jenen Gang hinein. Das düstere Glühen des Kraters hinter ihm verging. Atlan tastete mit dem linken Arm nach der Wand und streckte den rechten Arm vor. In seinem Rücken ertönte ein lautes, gieriges Fauchen und Schmatzen. Nach etwa fünfzig schnellen Schritten war der enge Gang zu Ende. Atlan stieß gegen eine Wand. Er fuhr herum und tastete wild um sich. Undeutlich sah er, daß der schmatzende Riesenkörper sich gerade am anderen Ende in den Korridor zwängte. Vielleicht war es das Tier, das ihn schon unter Wasser angegriffen und beinahe ertränkt hatte. Die Gliedmaßen des Tieres rasselten, als wären sie aus Metall. Atlans Hände fuhren über Mauerkanten, glitten über die rauhe Oberfläche von Stein und griffen endlich über seinem Kopf ins Leere. Ein Schacht! sagte der Logiksektor plötzlich in geringerer Panik. Auch in diesem Tunnel herrschte fast völlige Finsternis. Das Rasseln und Schnauben kam näher, das Tier schien den Tunnel fast völlig auszufüllen und kam nur langsam vorwärts. Atlan sah nicht, wer oder was ihn verfolgte. Er versuchte einen Satz senkrecht nach oben, tastete weiter und erkannte, daß sich direkt über dem Ende des Korridors ein enger Kamin aus Fels befand. Atlan stemmte seinen Rücken und die Arme gegen die rechte, die Sohlen gegen die linke Wand des Ganges. Dann stemmte er sich Handbreit um Handbreit an den Wänden hinauf. Das Rasseln der Panzerteile oder
Hans Kneifel Gliedmaßen hallte lauter und eindringlicher in dem engen Schlund aus Stein. Atlan krümmte sich, spannte die Muskeln, glitt schnarrend an der Wand aufwärts und befand sich nach kurzer Zeit bereits unter der Decke dieses seltsamen Fluchtweges. Er bekam einen Arm frei und tastete wieder umher. Vergeblich – es gab keinen Griff. Mit einem donnernden, metallisch klingenden Krachen rammte das unbekannte Wesen die Kopfwand des Tunnels und schrie auf. Ein gräßlicher, trompetenartiger Laut schien die Felsenkammer sprengen zu wollen. Das Untier bewegte sich hin und her und schlug mit seinen Kiefern oder anderen Waffen gegen die Wände. Wieder ein Schrei der Wut und Enttäuschung. Atlans Muskeln begannen zu zittern. Er konnte sich nicht mehr lange in dieser unbequemen Haltung hier feststemmen. Er überlegte, was er tun könnte. Ein verrückter Gedanke kam ihm in den Sinn. Er merkte überdies, daß die panische Furcht nachzulassen schien. Ganz plötzlich lockerte er seinen angespannten Körper und versuchte, sich so abzustoßen, daß er sich in der Luft drehen konnte. Er schaffte es und landete hart auf einem mit unregelmäßigen Höckern und Platten versehenen »Ding«. Vielleicht waren es Kopf und Nacken des riesigen Tieres, das ihn verfolgte. Augenblicklich klammerte sich Atlan mit Händen und Füßen fest. Die Masse unter ihm bewegte sich. Wieder schrie das Tier auf; das Maul war rechts von Atlans Schultern. Atlan duckte sich so tief wie möglich auf den Kopf oder Hals hinunter und ertastete schuppenartige Ringe, die hart wie Metall waren. Das Tier schüttelte sich und versuchte ihn abzuwerfen. Aber die Kammer war zu eng, und das Ungeheuer bewegte sich fauchend und mit ratternden Gliedmaßen rückwärts. Noch immer beherrschten Angst und Verwirrung ausschließlich den Arkoniden. Aber er war in seinen Handlungen ein wenig freier geworden. Er wußte, daß er verloren war,
Der tödliche Test wenn das Ungeheuer unter ihm genügend Platz hatte, um ihn richtig anzugreifen. Er hielt sich fest, als sein Rücken hart gegen die Decke schrammte. Das geheimnisvolle Material des Goldenen Vlieses schützte ihn vor Verletzungen. Das Ungeheuer unter ihm zuckte und wand sich hin und her, aber es bewegte sich mit aller Kraft rückwärts. Nach einiger Zeit hörte Atlan hinter sich, wie der Schwanz oder die hinteren Gliedmaßen des langen Tieres – es schien die Form eines gepanzerten Tausendfüßlers zu haben – sich frei in dem Raum des Kraterlochs bewegten. Atlan drehte den Kopf und versuchte, einen Lichtschimmer zu erhaschen. Er sah schwaches Licht, das zwischen der Unterkante des Korridors und dem Körper hindurchfunkelte. Du mußt sofort abspringen und wegrennen! sagte der Logiksektor. Endlich, nach mehreren verzweifelten und rasenden Windungen des Hinterteils, schoß das monströse Tier aus dem engen Korridor hinaus. Gleichzeitig schüttelte es wild den Kopf. Atlan ließ im denkbar günstigsten Moment seinen Griff los und wurde in hohem Bogen zur Seite geschleudert. Sein Körper schnellte sich in die Luft und rollte sich zusammen. Atlan wurde in einen Haufen aus Schlacke und Asche geschleudert, rutschte halb rollend einen kleinen Abhang hinauf und blieb in einer riesigen Wolke aus weißen Ascheflocken liegen. Sofort sprang er auf die Füße und blickte in die Richtung des Ungeheuers. Es war tatsächlich eine Art Tausendfüßler mit einem kantigen Schädel, voller schwerer Platten und scharf vorspringenden Kanten. Zwei mächtige Zangen links und rechts des Kiefers öffneten und schlossen sich mit drohendem Knacken. Die Silhouette des Riesentiers schob sich vor die phosphoreszierende Wand. Atlan erschrak vor der bedrohlichen Größe des Tieres, das sich jetzt auf ihn zu in Bewegung setzte. Wieder war das charakteristische Klirren und Rasseln so laut, daß es in dem gewaltigen Höhlenraum aus Metall wider-
31 hallte. Atlan flüchtete entlang der leuchtenden Mauer. Er war waffenlos und hatte nicht die geringste Chance. Vor ihm wuchs, mit jedem weiteren Schritt höher und gewaltiger, eine alptraumhafte Landschaft aus dem aschebestaubten Boden. Die Nadeln, Türme und Torbögen schienen aus hochgeschleuderter Lava zu bestehen. Das Material glühte von innen, aber es war nicht mehr heiß. Atlan merkte es, als er mit der Schulter gegen eine schräge Säule stieß und sich festhalten mußte. Er rannte im Zickzack zwischen den schimmernden Formationen hindurch und änderte ständig seine Richtung. Das riesige Tier hinter ihm hatte Schwierigkeiten, ihm ebenso schnell zu folgen. Irgendwann war aus der Erdspalte, auf der die eiserne Burg stand, gashaltiges Magma ausgetreten und schlagartig erstarrt. Vielleicht sorgte dieselbe Energie, die Oigster wärmte, für das verschiedenartige Leuchten und Glimmen der Formationen. Die Formen waren außerordentlich phantastisch, und Atlan sagte sich, daß die Clanocs sicherlich ebenfalls vor einem Besuch hier unten zurückscheuten. Er warf sich zur Seite, als ein riesiger Splitter sich von einem turmartigen Lavabrocken löste und auf ihn zukippte. In dem Moment, wo das glasartige Material sich klirrend und berstend auflöste, hörte das Glühen dieses Teiles auf. Das Ungeheuer warf sich hinter Atlan mit aller Kraft zwischen die schimmernden Säulen und Nadeln. Die Lavakonstruktionen, einem Irrgarten mit messerscharfen Kanten ähnlicher als allem anderen, splitterten und barsten. Die Geräusche hallten durch den Raum und erfüllten ihn mit einem höllischen Lärm. Atlan sah noch kein Ende dieses großen Labyrinths. Er rannte weiter und war nur darauf bedacht, sich vor dem Ungeheuer in Sicherheit zu bringen. Das Tier befand sich keine zwanzig Schritte hinter Atlan. »Wie tief ist denn diese Stalagmitensammlung?« rief er verzweifelt. Unter seinen Schritten wolkten immer wieder große Mengen federleichter Asche hoch und reiz-
32 ten seine Schleimhäute. Brüchige Oberflächen von längst erkalteten Blasen brachen unter dem Tritt. Es knirschte und knallte jedesmal grauenerregend. Aber wenigstens machten ihn Angst und Furcht nicht mehr bewegungslos, sondern spornten ihn an. Er wurde schneller und hechtete durch ein riesiges Loch aus scharfkantigen Ecken und Kanten. Wieder schlugen die massigen Kiefer des Untiers gegen Lava und zerbrachen sie. Es war wie ein Rennen durch unaufhörlich berstendes Glas. Geisterhafter Schimmer wechselte unaufhörlich in allen denkbaren Pastellfarben. Vor Atlan war jetzt eine nahezu ebene Fläche von weniger als hundert Schritt Durchmesser. Er sah, daß das Feld aus skurril und surrealistisch geformten Lavatürmen jenseits dieser Lichtung weiterging. Er konnte nicht unterscheiden, ob die eiserne Konstruktion des Oigster-Komplexes hier Pfeiler besaß, die von Lava umkleidet waren. Auf jeden Fall war diese Höhle aus Metall gigantisch. Da sich die Ränder im Dunkel verloren, erkannte er die Form dieser Anlage nicht. Weiter! Schneller! Er mußte seinem Verfolger entkommen! Atlan sah sich um, als er die Mitte der Lichtung erreicht hatte. Er selbst stand in einer Aschenwolke, die ihm bis zu den Schultern reichte. Der Anblick, den sein Verfolger bot, war schlichtweg faszinierend. Rechts und links schwankten Lavasäulen, kippten und barsten mit klirrenden Geräuschen. Jedesmal, wenn sie umfielen, hörten sie zu strahlen auf. Die vielen gepanzerten Füße des Tiergiganten – oder war es vielleicht doch ein Roboter? – wirbelten ebenso Asche auf, die ihn in einer langgezogenen Wolke umgab. Die leuchtenden Formationen erfüllten die Wolken mit irrisierendem, zuckendem Licht. Atlan schüttelte verwirrt den Kopf und rannte weiter. Zehn Schritte konnte er noch ungehindert machen. Dann brachen knisternd und prasselnd weitere Blasen unter ihm zusammen. Erschreckt sprang er zur Seite und fühlte,
Hans Kneifel wie der Boden unter ihm nachgab. Diesmal sackte er zunächst etwa einen halben Meter tief durch, breitete die Arme aus und wollte sich abfangen wie jemand, der durch dünnes Eis bricht. Aber als seine Ellenbogen auf das Lavamaterial schlugen, gab es einen weiteren Ruck. Unter ihm öffnete sich der Boden, und er fiel. Reflexe, die seit unendlich langer Zeit sein Leben bestimmten und immer wieder gerettet hatten, handelten auch jetzt für ihn. Zusammen mit einem Schauer von Lavabruchstücken fiel er mehrere Meter tief, lockerte alle seine Muskeln und landete schwer auf einer harten, aber nachgiebigen Unterlage. Asche und scharfkantige Bruchstücke krachten und fielen auf ihn und das Goldene Vlies. Seine Knie federten schwer durch. Er schlug mit Händen und Gesäß schwer zu Boden und saß einige Sekunden wie betäubt da. Aber der stechende Schmerz und der kalte Schock, die signalisierten, daß er sich das Schienbein oder sonst etwas gebrochen hatte, blieben aus. Seine Augen erfaßten das Bild der nahen Umgebung. Er war in einer ebenso rätselhaften, skurrilen und surrealistischen Welt gelandet wie derjenigen, die er eben unfreiwillig verlassen hatte. Stöhnend richtete er sich auf und registrierte mit einem Hauch von Erleichterung, daß er abermals überlebt hatte. Über ihm brüllte das Ungeheuer seine Enttäuschung über die entgangene Beute heraus. Der Schrei ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Dann sah er eine Bewegung. Er blinzelte überrascht: Vor ihm stand ein Wesen, das ihm bis zum Knie ging. Es bewegte sich nicht, aber es starrte ihn mit allen Zeichen der Verwunderung an. Ein Zwerg! Warum bewegte sich der Zwerg nicht? Als Atlan den Kopf drehte, sah er weitere Zwerge. Sie schienen alle in unnatürlichen Bewegungen erstarrt oder eingefroren zu sein. Das Tier über ihm – vier Meter ungefähr waren es – schrie und trompetete ein zweitesmal und begann, die Öffnung mit wuchti-
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gen Hieben der Greifzangen zu vergrößern. Ein kiloschwerer Brocken, der Atlan schmerzhaft an der Schulter traf, schreckte ihn aus seiner Erstarrung auf. »Wo bin ich?« sagte er leise und erkannte, daß er von einem Schrecken in einen neuen buchstäblich gefallen war. Aber die neuen Schrecklichkeiten waren von einer ganz speziellen, außerordentlich ungewöhnlichen Art. Er befand sich in der Zwergenwelt der Zeitlupenbewegungen!
* »Diese Furie Jott-Mutesial, deine Gefährtin … sie wird den ganzen Haufen unserer Freunde gegen uns aufwiegeln!« sagte Favt. »Das ist dir doch klar, Dorstellarain? Oder etwa nicht?« Sie hatten soeben den Schwarzen Strand der Illusionen verlassen. Er war leer, und nichts wies auf Atlans Anwesenheit hin. »Du hast vermutlich recht«, gab Dorstellarain zu und fühlte den Griff des schweren Messers in seiner Hand. »Aber sie ist …« »Ich weiß«, ächzte Favt und bemühte sich, mit dem riesigen Mann Schritt zu halten. »Sie ist schön, leidenschaftlich, erfahren in den Künsten der Liebe und so weiter. Aber sie hat eben eine Niederlage erlitten und wird nicht eher ruhen, bis wir alle drei unsere Strafe erhalten haben. Du weißt, wie schnell und leicht sie andere Menschen beeinflussen kann!« »Ich weiß. Trotzdem sollten wir uns um Atlan kümmern. Alles andere kommt später. Ich bin übrigens deiner Meinung«, sagte Dorstellarain. »Wir sollten zu den Winzlingen rennen.« Ein donnernder Schrei ließ sie aufmerksam werden. Sie bewegten sich durch ein System von schmalen Gängen und Rampen, das neben und oberhalb der bezeichneten Zonen verlief. Sie waren sicher, daß Atlan die Kammer des Wassers und der Geräusche verlassen hatte. »Was war das?«
»Dieses Vieh, das zwischen der Lava und dem Krater sein Unwesen treibt«, brüllte Dorstellarain. »Vielleicht rennt es Atlan hinterher. Dort entlang, Favt!« »Verstanden. Aber wir sollten trotzdem auch an uns denken!« gab Dorstellarain zu bedenken. »Das werden wir tun, wenn wir mit Atlan wieder zurück sind.« Sowohl der Anführer als auch Favt wußten, daß es mehrere Möglichkeiten gab, zu den bezeichneten Stellen zu gelangen. Einen Weg, der ebenso tödlich wie unerwartet war und einen anderen, den die wenigsten kannten, und der bei Prüfungen niemals benutzt wurde. Sie bewegten sich innerhalb eines ungefährlichen, aber dunklen und engen Systems von Korridoren, Rampen und Gängen von einem fraglichen Punkt zum anderen. Viele der Ausgestoßenen kannten nicht einmal diese Gänge. Dorstellarain und Favt hörten den zweiten Schrei des Untiers und bogen mehrmals ab. Ihr Ziel war einerseits der Irrgarten aus glasartig erstarrter Lava, andererseits waren es die geheimen Zugänge zum Reich der Winzlinge. Sie wurden schneller und schwiegen; angesichts der Gefährdung Atlans verblaßten ihre persönlichen Probleme vorübergehend. »Der letzte Schrei kam aus dem Lavalabyrinth!« rief Favt und änderte seine Richtung. »Hierher, Dorstellarain.« Der Hüne folgte ihm. In den leeren Gängen riefen ihre Stiefel harte Echos hervor. Die uralten Symbole und Darstellungen grinsten sie an. Sie wußten, daß Atlan gegen das Untier, auch im System der Lavabrocken, keine echte Chance hatte. Aber ihre Hoffnung, ihn lebend zu finden, war ein wenig gewachsen.
* Atlan war auf einem Vorsprung gelandet, der sich an der oberen Kante einer völlig unregelmäßig geformten Halle befand. Der Ort wirkte wie eine kolossale Bühnendekoration. Zwar gab es genügend Licht, aber alle
34 Lichtquellen waren verdeckt. Schlanke Säulen von mehr als dreißig Metern Länge spannten sich zwischen den Deckenteilen und dem Boden. Unzählige Nischen und Erker ließen die Ränder zwischen Boden und Wand undeutlich werden. Große, bizarr geformte Felsen brachen aus den eisernen Wänden hervor und bildeten Dächer oder monumentähnliche Anordnungen. Die Teile dieses vielgestaltigen Raumes waren in allen denkbaren Farben gehalten, von strahlendem Weiß verschiedener Abschnitte der Decke bis zum Schwarz von vielen Bodenflächen. Fast überall schien eine Art farbiges Moos zu wuchern; es überzog die Felsen, Teile der metallenen Konstruktionen und den Boden. Atlans Sturz, das sah er erst jetzt, war von einem solchen Moospolster aufgefangen worden. Atlan starrte durch das Loch über seinem Kopf. Dort knisterte und scharrte es noch immer. Ein riesiges Auge starrte ihn an, dann schob sich eine Zange des Untiers ins Bild. Das Tier sah ihn, aber es machte keinerlei Anstalten, ihm hier hinunter zu folgen. Langsam stand der Arkonide auf und fühlte zu seiner Überraschung, daß seine Finger nicht mehr zitterten. Dieses äußere Merkmal seiner Angst war ebenso verschwunden wie der starke, innere Zwang, der ihn in den letzten Stunden ausschließlich beherrscht hatte. Ihm war, als sei er aus einem bösen Traum aufgewacht – und befände sich in einem anderen, dessen Gefährlichkeit sich ihm noch nicht bewiesen hatte. Aber noch immer fürchtete er sich. Er wußte auch nicht mehr, ob er sich schon Tage oder Stunden lang durch die Keller des Metallschlosses bewegte. Ganz vage hatte er sein Ziel vor Augen: das fehlende Schaltungsteil für La'Mghor zu finden und zurückzubringen. »Aber … in welchem abenteuerlichen Bereich befinde ich mich jetzt?« murmelte er. Noch immer blickte ihn der Zwerg an, der sich etwa fünf Meter vor ihm befand. Er hatte, seit ihn Atlans erster Blick getroffen hat-
Hans Kneifel te, seine Körperhaltung verändert. In einer Hand hielt er ein etwa fingerdickes, langes Tau. Wohin dieses Seil lief, konnte Atlan nicht erkennen, da es sich zwischen den Moosbüscheln davonschlängelte. Zwerge! Auch Überbleibsel aus den alten Zeiten Oigsters! sagte der Extrasinn. Er funktionierte also wieder zuverlässig und exakt. »Und was tun diese Zwerge?« Atlan sah sich konfrontiert mit Erinnerungen an Märchen und Sagen. Die Zwerge, die in der Unterwelt Waffen schmiedeten und Schätze bewachten, geheimnisvolle Magier, die das Tageslicht scheuchten. Also hatte auch die Dimensionsschleppe ihre wahrgewordenen Mythen. Er ignorierte vorläufig den nächsten Zwerg und schwang sich von dem Felsvorsprung hinunter auf den Boden. Auch hier ging er über federndes Moos. Es war warm, die Luft roch annehmbar, und vor allem war es völlig still. Es war nicht ihre geringe Größe, auch nicht der Umstand, daß sie sich unendlich langsam bewegten, wovon dieser Eindruck ausging: Die Zwerge schienen gutmütig und harmlos zu sein! Atlan sah zwei weitere Bewohner dieses Komplexes, die sich zwischenzeitlich gebückt und Taue aufgehoben oder ausgerollt hatten. Er machte noch eine zweite Beobachtung. Wenn er sich normal schnell bewegte, verlor er für kurze Zeit die Orientierung in dieser seltsamen Welt. Es schien für ihn keine festen Umrisse mehr zu geben, die Grenzen verschoben sich und wurden fließend. Was tun? Vor ihm rutschte ein Zwerg eine der vielen Säulen herunter. Atlan stand völlig starr da und sah den Winzling an. Der Blick der großen, farblosen Augen des Kleinen richtete sich voll auf ihn. Die Zwerge waren entweder dicht behaart, oder sie trugen ziegenfellartige Gewänder. Ihre Finger und die nackten Zehen waren unnatürlich lang und kräftig. Ihre Köpfe trugen büschelartig wucherndes Haar, das zitronengelb schimmerte.
Der tödliche Test Das Gesicht ihm gegenüber war fast haarlos und von Hunderten tiefer Falten durchzogen wie von einem Netzwerk. Atlan schüttelte den Kopf und ging auf der unregelmäßigen Bodenfläche etwa ein Dutzend Schritte bis zu einer Stelle, an der behauene Steine standen. Sie bildeten einen Tisch und viele lehnenlose Hocker. Auf einem der kleinen Steine saß ein weiterer Zwerg und grinste den Mann im Goldenen Vlies an. Wieder befand sich, solange er sich bewegte, rings um ihn die gesamte Szenerie in einem wilden Aufruhr! Säulen bogen und knoteten sich, die Farben veränderten Intensität und Richtung, aus den festen Umrissen wurden schwankende Linien. Atlan fand sich, als er stehenblieb und sich langsam umsah, an einer ganz anderen, vorher nicht gekannten Stelle wieder. Ein Zwerg schien ihn zu suchen, aber er Kleine starrte in eine ganz andere Richtung. Wenn du starr stehenbleibst, bist du für sie unsichtbar! stellte der Logiksektor fest. »Sehr aufschlußreich.« Vermutlich starb er hier nicht, aber er war nahe daran, sich hoffnungslos zu verirren. Aber sicherlich war auch dieser Teil der Anlage nicht unendlich groß und hatte den einen oder anderen Ausgang. Wie stark waren Dorstellarains Beteuerungen, ihm zu helfen? Konnte er auf die Hilfe des Anführers warten? Atlan versuchte, einen Sinn in die Umgebung und seine Beziehung dazu zu bringen. Er begann, sich ungewöhnlich langsam zu bewegen. Er verwandelte sich in einen Organismus, dessen Reaktionen scheinbar auch in Zeitlupe abliefen. Als er sich jetzt umblickte, kam in die Bewegungen der Zwerge ein gewisser Sinn. Atlan zählte in seiner näheren Umgebung etwa dreißig dieser kleinen Gestalten. Er kämpfte mit aller Kraft, um sich in diesem seltsamen Zustand der teilweisen Starrheit zu halten. Viele der Zwerge schienen zu lachen und sich auf irgend etwas zu freuen. Sie zogen an den Seilen, und schon jetzt war
35 deutlich zu sehen, daß die Seile die Eckpunkte eines großen, runden Wurfnetzes darstellten. »Aha! Sie wollen mich fangen!« sagte sich der Arkonide. »Nun, das wird nicht ganz einfach werden – für beide Parteien.« Er machte einen neuen Versuch. Er bewegte sich nur geringfügig schneller und visierte einen Punkt an, der ihm für die nächste Zeit größere Sicherheit versprach. Wieder verzerrten sich die Bezüge. Die Zwerge erstarrten zu lebenden Bildern, die Umgebung verschob sich bis zur Unkenntlichkeit. Es war eine bizarre, suggestiv wirkende Verschiebung der Wirklichkeit. Atlan schwindelte es, vor seinen Augen rotierten Farben und Formen. Er zwang sich dazu, bis zu dem einmal fixierten Punkt zu gehen. Aber diesen Punkt gab es nicht mehr – er hatte sich verändert oder war verschwunden. Erschrocken und verwirrt blieb der Arkonide stehen und versuchte, sich neu zu orientieren. »Verdammtes Zwergenreich!« stieß er hervor. Er hatte laut gesprochen. Die Worte schienen ebenfalls Änderungen hervorzurufen. Die Zwerge, die jetzt schon das Netz fast ganz hochgezogen und senkrecht in der Luft hatten, verschwammen vor seinen Augen. Die farbigen Lichtinseln um ihn herum flackerten. Das Netz löste sich in einzelne Teile auf, die klar erkennen ließen, daß dieses Netz vorbereitet war. Die Zwerge schienen darauf zu warten, daß jemand in ihr seltsames Reich eindrang und ihre Beute wurde. Das Netz schwebte eine Weile scheinbar im Nichts, dann fügten sich die Seile und Knoten wieder zusammen und bildeten die perfektionierte Nachbildung eines Spinnennetzes, das senkrecht hing und sich dem Arkoniden dank einfacher Bewegungen näherte. Atlan verstand und blieb völlig starr stehen. Er bemühte sich sogar, möglichst flach zu atmen und die Augen nur ganz langsam zu bewegen. Jetzt waren die Zwerge wieder schneller als er.
36 Sie handelten immerhin aber so langsam, daß er ihre Bemühungen recht genau verfolgen konnte. Die Winzlinge waren auf bösartige Weise fröhliche Gesellen; ihr Gesichtsausdruck täuschte. Das heitere Grinsen entpuppte sich als sarkastisch, die Bewegungen waren sehr zielstrebig, und die Zwerge bekamen entschieden etwas Menschenfresserisches. Die Finger verkrampften sich immer wieder, als würden sie sich schon jetzt um die Beute streiten. Atlan fühlte, wie es ihm kalt den Rücken herunterlief. Jetzt hatten die Zwerge die Orientierung verloren! Atlan sagte sich, daß der Versuch, zu entkommen, wichtiger war. Er verzichtete darauf, die physikalischen Eigenschaften dieser Zone einer näheren Prüfung zu unterziehen. Für ihn genügte es, zu wissen, wie er sich zu verhalten hatte. Die Zwerge suchten in steigender Aufregung nach ihm. Sie schienen sich wortlos verständigen zu können, denn außer einem dumpfen Murmeln, das aus den Wänden kam, gab es hier keinerlei Geräusche. Das Netz schwebte bewegungslos in der Luft. Es erstreckte sich in einer Breite von mindestens dreißig Metern zwischen einem System von verschieden langen Säulen. Atlan mußte wider Willen grinsen. Blieb er bewegungslos wie ein Standbild, würde folgendes passieren: Die Zwerge verloren ihn aus den Augen und stießen vielleicht durch Zufall wieder auf ihn. Aber dadurch war er zur Bewegungslosigkeit verurteilt und würde niemals hier herauskommen. Diese Lösung hatte er auszuschließen. Bewegte er sich langsam genug, um nicht verwirrt zu werden, waren die Winzlinge eine Spur schneller als er und würden ihn irgendwann einholen und im Netz fangen. Sein weiteres Schicksal versuchte er sich nicht erst auszumalen; es würde keineswegs angenehm sein. Versuchte er schnell zu fliehen, verirrte er sich und lief vermutlich in das Netz oder in eine andere Falle. Was also sollte er tun? Weiterhin mit allen drei Möglichkeiten zu entkommen versuchen!
Hans Kneifel Er zuckte die Schultern. Das war es wohl – eine Alternative sah er nicht, jeder Möglichkeit beraubt. Immerhin konnte er hier eine Weile überleben, ehe er sich wieder den Clanocs und dieser halb verrückten JottMutesial stellen mußte. Er ging entschlossen auf eine Zone hellgelben Lichts zu und schloß die Augen. Mutig setzte er Schritt vor Schritt und hoffte, einigermaßen gerade zu gehen. Leichte Übelkeit überfiel ihn, aber er zwang sich, die Augen geschlossen zu halten. Er zählte bis zwölf und blieb stehen. Die Übelkeit schwoll an und verging, nachdem er die Augen wieder geöffnet hatte. Er war fast gegen einen Felsen gestoßen, der von breiten Metalladern durchzogen und von einer organisch herausgewachsenen Säule gekrönt war. Das Licht war dunkelrot und staubig. Wieder erstarrte Atlan und orientierte sich neu. Vor ihm breitete sich so etwas wie eine Werkstatt aus. Den Zweck der Geräte aus Stein, Metall und Holz konnte er nicht erkennen, aber der Eindruck war zwingend. Dahinter standen vier Säulen in dichtem Abstand nebeneinander und stützten die Decke. Auf halber Höhe hingen seltsam geformte Käfige. Jedes einzelne Teil war von einer anderen Farbe. Dahinter aber fing eine Treppe an, die aus Eisen oder einem grauen Metall bestand. Sie drehte, wand und ringelte sich in kühnen Kurven aufwärts. Wenn ihn seine Augen nicht täuschten, dann durchbrach der obere Teil der Treppe in mehr als siebzig Metern Höhe die Metalldecke. Das kann ein Weg in die Freiheit sein, wisperte der Logiksektor. Unendlich langsam drehte sich Atlan um. Die Zwerge turnten über Felsen, Steine, Stahlkonstruktionen und Moospolster. Das Netz näherte sich. Es war jetzt etwa schalenförmig, konkav ausgespannt. In wenigen Minuten nach dieser verrückten Zeit würden sie ihn gefangen haben. Wieder mußte der Arkonide handeln. Er merkte sich einen festen Punkt, schloß die Augen und marschierte, die Übelkeit ignorierend, darauf zu. Er
Der tödliche Test konnte nur hoffen, den Anfang der Treppe nicht allzu drastisch zu verfehlen. Das rätselhafte Brummen aus den Wänden oder von der Decke nahm zu. Nach zwanzig Schritten blieb Atlan stehen und sah starr geradeaus. Wieder befand er sich an einer anderen Stelle als geplant. Der Treppenanfang aber war links von ihm. »Moment!« knurrte er. »Ich bin nach rechts gegangen, die Treppe verschob sich nach links, also muß ich jetzt …« Er setzte sein Vorhaben augenblicklich in die Tat um. Er suchte sich einen Platz, der sich deutlich links von der Treppenstufe befand. Die Entfernung hatte etwa zehn Meter betragen, also machte Atlan zwölf lange Schritte. Er hätte vor Erleichterung laut lachen können. Jetzt stand er unmittelbar vor der untersten Stufe. Aber noch vor Sekunden war der Treppenanfang in grelles blaues Licht getaucht worden. Jetzt war der gesamte Abschnitt des Raumes orangefarben ausgeleuchtet. Es war gleichgültig. Atlan packte das Geländer und zog sich in einem Satz nach oben. Als er einige Stufen überwunden hatte, spürte er, daß sich die Treppe zu bewegen begann. Er war sicher, daß dies auch nur eine Illusion war, aber sie wirkte bestechend wirklich. Die Treppe wurde steiler, wölbte sich ihm entgegen, und seine Füße glitten von den nächsten Stufen ab. Unter ihm ertönte eine brüllende Stimme. Sie kam ihm erstaunlich bekannt vor. Gleichzeitig kam von links ein stechender Lichtstrahl. »Du bist auf dem richtigen Weg! Schneller! Sieh ins Licht, Atlan!« »Keine Angst! Das sind nur kindische Spielereien!« schrie ein anderer. Es mußten Favt und Dorstellarain sein. Atlan keuchte im Griff der taumelnden und sich verformenden Realität: »Ich versuche es, Dorstellarain!« Er blinzelte in das grelle Licht. Er vermied es, die Stufen anzusehen. Seine Hände verkrampften sich in dem metallenen Geländer. Schritt
37 um Schritt stieg er weiter, und er merkte noch immer, daß sich die Treppe wie ein lebender Organismus verhielt. Aber er schien vorwärts zu kommen. Was die Zwerge taten, interessierte ihn nicht mehr. Obwohl sich die Treppe nach allen Richtungen drehte, gelang es ihm stets, ins Licht zu blicken. Beim nächsten Zuruf des Anführers registrierte er nur noch mit mäßiger Überraschung, daß er von unten kam. Atlan wurde schneller. Er erklomm Stufe um Stufe. Abwechselnd griffen seine Hände zu; er riskierte es nicht, den Halt zu verlieren. Dann wieder hatte er das Gefühl, die Treppe hinunterzusteigen, aber er wertete dies als gutes Zeichen. Noch zehn, fünfzehn, zwanzig Stufen. Er schloß die Augen. Plötzlich ging es wieder steil aufwärts. Die Sinnestäuschungen wechselten unaufhörlich einander ab. »Schneller! Sie kommen mit dem Netz. Wir helfen dir, Atlan!« Diesmal kam der Schrei von oben. Atlan blickte auf und erkannte, daß er dem Durchbruch in der Decke beträchtlich nähergekommen war. Er blieb stehen, schaute nach unten und nach hinten und mußte erkennen, daß die Zwerge das Netz geschleudert hatten. Es segelte wie eine große Schüssel aus Knoten und Seilstücken auf ihn zu. Sofort sprang er weiter und schloß wieder die Augen. Seine Füße schienen die Stufen zu sehen, denn nicht ein einzigesmal trat er daneben. Er stieß sich ab, nahm zwei Stufen auf einmal und merkte, wie er schneller und schneller wurde. Schließlich trug ihn der Schwung weiter, ins Leere. Starke Fäuste fingen ihn auf. Atlan schüttelte sich und wagte es, die Augen wieder zu öffnen. Er starrte direkt in das grobe Gesicht Dorstellarains. »Alles ist vorbei!« beruhigte ihn der Clanoc. »Du hast es überstanden.« Sie befanden sich in einer kleinen Halle. Auch hier waren die Wände voller Fratzen. Undeutlich erkannte er die beiden Männer.
38 Er blickte an die Stelle, an der er die Treppe verlassen haben mußte und sah nicht mehr als ein Loch, durch das er sich unmöglich hätte hindurchzwängen können. »Dieses Reich der Zwerge – das war der reinste Irrsinn. Gibt es eine Erklärung?« erkundigte er sich, nachdem er sich wieder gefangen hatte. »Und … dieses Loch? Bin ich hier hindurchgekommen?« Favt nickte langsam und erklärte: »Kein Clanoc traut sich dort hinein. Nur lauter Schall und grelles Licht können etwas ausrichten. Das Reich der Zwerge ist ebenfalls eine Mischung aus mehreren Dimensionen. Wir wissen es nicht besser – es gibt keine Verbindung zwischen den Winzlingen und uns.« Zögernd begriff der Arkonide. Dies war eine mögliche Erklärung. Er war froh, dieser mythischen und skurrilen Zone entkommen zu sein. Er wandte sich an Dorstellarain. »Die Wirkung des Angstbrunnenwassers hat fast ganz nachgelassen. Habe ich diese verdammte Prüfung nun bestanden?« Der Anführer zog ihn am Oberarm mit sich. Sie verließen die Halle und kamen ans untere Ende einer breiten, in helleres Licht getauchten Rampe. »Was uns betrifft«, sagte der Hüne, »Favt und mich, ist alles klar. Jemand, der dieses Wasser getrunken hat und jetzt noch lebt, ist mehr als nur ein Held.« »Ich habe mich mein ganzes Leben lang niemals weniger als ein Held gefühlt«, antwortete Atlan wahrheitsgemäß und klappte den Helm des Goldenen Vlieses nach hinten. »Gleichgültig. Aber es gibt neue Schwierigkeiten …« »Jott-Mutesial!« murmelte Favt grimmig. »Sie ist verrückt!« Atlan wagte einen Einwand. »Jott-Mutesial ist Dorstellarains Freundin. Ich habe nichts mit ihr zu schaffen. Trotz dieser heimtückischen Angelegenheit mit dem Wasser habe ich mich, einigermaßen unfreiwillig, der Prüfung gestellt. Wo seht ihr Schwierigkeiten?« Noch ehe Dorstellarain antworten konnte,
Hans Kneifel fügte Atlan hinzu: »Und vielen Dank für eure Hilfe. Ich wäre auf der Wendeltreppe verrückt geworden und abgestürzt.« »Nicht der Rede wert. Die Schwierigkeiten liegen in der Natur dieser lockeren Gemeinschaft. Fast jeder begehrt Jott-Mutesial. Jott nützt ihren Status aus und verdreht jedem den Kopf. Sie ist launenhaft und unberechenbar. Das ist nicht das erstemal, daß derlei unkontrollierbare Dinge vorfallen. Nachher weint sie, schreit laut und verspricht Besserung. Ich denke, sie heckt schon wieder eine neue Teufelei aus.« »Und wenn du dich von ihr trennst?« fragte Atlan. »Dann stiftet sie meinen Nachfolger dazu an, mich umzubringen. Oder umbringen zu lassen, denn einer allein schafft es nicht.« »Nachher tut es ihr wieder leid«, rief Favt und lachte sarkastisch. »Dieses Weib wird noch unser gemütliches Eisenheim zerstören mit ihrem unsinnigen Verhalten.« Sie steigen langsam die Rampe hinauf. Für Atlan waren die folgenden Minuten eine Oase der Stille und Geborgenheit. Er dachte wieder einmal an Schlaf, Essen und Trinken, an ein Bad und an genügend Zeit, über alles nachzudenken. Und dann dachte er an die selbstgestellte Aufgabe, die ihn in dieses Inferno der Gegensätzlichkeiten geführt hatte. »Angenommen, wir werden in den bewohnbaren Teilen von Oigster nicht gerade mit Beifall begrüßt«, begann er. »Wie verhalten wir uns dann?« »Diese Möglichkeit besteht. Wir verhalten uns den Erfordernissen der geänderten Situation entsprechend.« »Du machst mir Mut!« bestätigte der Arkonide ironisch. Schweigend gingen sie etwa eine halbe Stunde lang weiter. Jetzt konnte Atlan die schauerlichen Symbole, Zeichen und Skulpturen ohne Anflüge panischer Furcht betrachten. Aber der allererste Eindruck änderte sich nicht. Dieses eiserne Schloß war eine Ausgeburt einer krankhaften bösen Phantasie. Wie konnte er dann von den Wesen, die darin leben mußten, etwas
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anderes erwarten als unsinnige und unvernünftige Reaktionen? Rechne damit, und du überlebst! versicherte der Logiksektor lakonisch. »Wie lange dauert es noch?« fragte Atlan. »Eine reichliche halbe Stunde, wenn wir nicht rennen«, sagte Favt und spukte aus. »Ich denke, es ist klüger, nicht zu rennen«, meinte Atlan beunruhigt. Er kannte den möglichen Einfluß krankhaft eifersüchtiger Frauen auf größere Männergemeinschaften. Er unterschätzte Jott-Mutesial keine Sekunde lang.
6. Ihre Stimme war von großer Eindringlichkeit. Sie sprach nicht laut, aber jeder hörte und verstand sie. Die Gesichter von etwa hundertfünfzig Clanocs waren ihr zugewandt, als Jott-Mutesial fortfuhr: »Wir alle sind lange genug hier und kennen die einfachen Gesetze unserer Gemeinschaft. Sie sind dazu da, um uns vor verderblichen Einflüssen zu sichern. Unser Leben ist derart gefährlich, daß schon leichte Erschütterungen unsere Gemeinschaft vernichten können!« »Wahr gesprochen!« rief kichernd Tanyte. »Keine Sorge! Atlan kommt lebend nicht wieder!« »Es geht mir nicht um sein Leben. Es sollte uns allen um den Zusammenhalt gehen, um die Tatsache, daß ausgerechnet unser Anführer dem Goldenen geholfen hat. Ich spreche als Clanoc, nicht als seine Freundin!« Jott-Mutesial stand auf einem Tisch und hatte wieder einen Becher des Kräuterbiers in der Hand. Sie sah tatsächlich hinreißend aus: ihre langen Beine, die bloßen Arme, das aufgelöste Haar und ihr Körper, der sich aufreizend bewegte. Die Augen der Männer funkelten lüstern. »Was willst du von uns?« schrie jemand aus der Menge. Sie waren betrunken gewesen, hatten einige Stunden geschlafen und tranken jetzt wieder. Kaum einer von ihnen
war noch in der Lage, klare Überlegungen zu fassen. Die Hälfte der Clanoc-Gruppe stellte eine unschwer zu manipulierende Masse dar. »Nichts will ich von euch. Ich sage euch nur, was ich denke. Jeder, der einem Prüfling während der Prüfung hilft, hat ebenso den Tod verdient wie ein schwacher Kandidat. Wir alle sind durch diese Prüfungen gegangen, weil wir stark waren. Wir haben überlebt. Niemand hat uns geholfen!« Die Menge schrie begeistert. Von den eineinhalb Hundert Clanocs hatten bestenfalls vierzig oder fünfzig – vor vielen Jahren – diese Prüfung bestanden. Sicherlich hatte ihnen niemand geholfen. Warum jemand den Tod verdiente, nur weil er dem anderen half, war niemals erörtert oder gar festgelegt worden. Daß Jott-Mutesial Atlan mit Angstbrunnenwasser in einen hilflosen Feigling verwandelt hatte, verschwieg sie ebenfalls. Vermutlich hatte sie es in ihrer rasenden Eifersucht sogar wirklich verdrängt und vergessen. »Ausgerechnet unser Anführer half dem Neuen. Das hat mich sehr nachdenklich gemacht. Atlan, wie er sich nennt, will uns nach Gynsaal führen und dort eindringen. Das wird unser Tod sein. Und dabei unterstützt Dorstellarain ihn noch, zusammen mit diesem Verräter Favt. Ich bin dafür, daß wir Dorstellarain das Vertrauen absprechen. An Favt soll ein Exempel statuiert werden. Und meine Phantasie versagt angesichts des Problems, was mit dem Goldenen geschehen soll.« Sie sprach das Wort Goldener mit ausdrucksvoller Geringschätzung und Verachtung aus. Wieder stimmte die Menge zu. Einige schrien, man solle alle drei Männer totschlagen. Andere brüllten, man solle sie nackt und waffenlos in den Schnee hinausjagen. Wieder eine andere Gruppe meinte, es wäre das beste, ihnen Wasser aus dem Angstbrunnen einzuflößen und sie dann von den wilden Elchen zu Tode schleifen zu las-
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sen, unten in den Korridoren und Gängen. Unter den betrunkenen und aufgepeitschten Clanocs begann sich eine Stimmung auszubreiten, die eindeutig die Züge der Massenhysterie trug. Jott-Mutesial, die wie eine Anklägerin die Arme schwenkte und versuchte, sich schreiend durchzusetzen, fand kein Gehör mehr. Die Clanocs standen auf und bewegten sich in die Richtung des breitesten Ganges. Durch dieses Tor würden die Männer wohl zurückkommen. Messer blitzten, als sie aus den Scheiden gerissen und in der Luft geschwenkt wurden. Braster-Lenker wirbelten pfeifend durch die Luft. Hin und wieder fiel ein leerer Becher vom Tisch oder aus der Hand eines halbwegs Betrunkenen. »Bestraft sie! Laßt es ihnen nicht durchgehen!« gellte die Stimme der Frau. Die Rückwirkung ihres Erfolges auf sie selbst stachelte sie noch mehr an. Letzte Hemmungen wurden abgebaut, und sie trank sich selbst Mut zu. Die Menge der Clanocs veränderte sich. Sie wurde zu einem einzigen, nur in der Masse starken und überzeugten Körper. Jeder einzelne wäre einem Kampf gegen Dorstellarain entsetzt aus dem Weg gegangen. Jetzt waren sie entschlossen, den Verrätern an der richtigen Sache die Stirn zu bieten und sie zu bestrafen.
* Favt blieb jäh stehen und flüsterte erschrocken: »Ihr könnt den Lärm hören! Es kann nur eines bedeuten!« Dorstellarain winkte ab, aber auch er war unsicher geworden. Das Lärmen schallte verzerrt durch den breiten Korridor. »Unsinn. Das sind unsere betrunkenen Freunde!« Das Ende des Ganges und die beiden fast ganz geöffneten Torflügel zeichneten sich gegen die Helligkeit dahinter deutlich ab. Von einem der Metalltore löste sich ein
Schatten und kam mit erhobenen Armen näher. Dorstellarain zog das Messer und knurrte: »Jemand kommt. Achtung.« Der Mann rannte auf sie zu. Favt sagte nach einigen Sekunden erleichtert: »Das ist Vandry-Rann. Er gehört zu uns.« Der Mann vom Ufer des Flusses Xamyhr hielt vor ihnen an und stieß in heller Aufregung hervor: »Dorstellarain! Deine Gefährtin ist ebenso betrunken wie der Rest der Clanocs. Sie hält Hetzreden. Ihr sollt bestraft werden. Einige fordern euren Tod. Sie verhalten sich wie die Irrsinnigen. Blutgeruch ist in der Luft.« »Mir scheint«, murmelte Atlan, »es herrscht eine verderbliche Stimmung, Freunde.« »Ist das dein Ernst, Vandry?« grollte Dorstellarain wütend. »Es ist denen dort Ernst!« drängte Vandry-Rann. »Kann ich euch helfen? Es sind rund hundertfünfzig halbverrückte und betrunkene Clanocs, die in der Halle auf euch warten. Wenn sie wieder nüchtern und ausgeschlafen sind …« Favt sagte in kalter Wut: »Man sollte Jott-Mutesial auf einen Elch binden und prügeln, bis sie normal geworden ist.« »Wir haben keinen Elch«, erklärte Atlan. »Als vorsichtiger Mann bin ich der Meinung, wir sollten uns verstecken und abwarten. Sie können ja nicht dauernd betrunken sein.« Dorstellarain fluchte ausdauernd und verkündete dann: »Ich werde es ihnen zeigen! Den ersten, der auf mich losgeht, schlage ich zu Brei. Die anderen werden dann sehr schnell nüchtern sein. Schließlich haben sie mich zum Anführer gewählt.« Vorsichtig warf Vandry-Rann ein: »Ein toter Anführer ist nicht gerade das, was wir erstreben. Nimm Vernunft an, Dorstellarain!« »Die anderen sind noch viel unvernünftiger. Ihr helft mir!«
Der tödliche Test Es war keine Frage oder Bitte, sondern eine Feststellung. Favt fluchte jetzt auch, folgte aber dem Anführer, als Dorstellarain mit langen Schritten auf den Durchgang zueilte. Atlan hob die Schultern und sagte sich, daß ein guter Dienst des anderen wert sei. Sie hatten ihm geholfen, jetzt half er Dorstellarain. Er konnte nur hoffen, daß der riesenhafte Mann mit den Bärenkräften seine Autorität schnell genug wiederherstellte. Sonst kamen sie in Schwierigkeiten, aus denen sie sich nicht mehr selbst befreien konnten. »Du bist der größte Narr, den ich kenne«, rief ihnen Vandry-Rann nach. Sie beachteten ihn nicht und sprangen aus dem dunklen Korridor in die rauchige Helligkeit der Halle hinein. Dorstellarain stand breitbeinig in der Mitte, hielt das Messer in Angriffshaltung und brüllte mit erstaunlicher Lautstärke: »Ihr Feiglinge! Ihr wollt mich beseitigen? Ich habe alles gehört! Kommt her und holt mich, ihr …« Er fügte ein obszönes Schimpfwort an und suchte den Blick einzelner Männer. Hinter der Masse, die sich in der Arena und im untersten Rang etwa halbkreisförmig drängte, stand Jott-Mutesial auf dem Tisch, schwankte und trank aus ihrem Becher. Tanyte sprang von der Rampe, rannte auf Dorstellarain zu und schrie mit grellem Kichern: »Ich kämpfe nur mit Worten! Du hast uns alle verraten. Du bist derjenige …« Er kam nicht weiter. Favt machte einen drei Meter weiten Satz, schlug zweimal zu und hob den Körper des Alten hoch. Er schleuderte ihn mit einer Kraft, die alle überraschte, in die Masse der regungslos dastehenden Männer. Dann griffen die Clanocs an. Sie kamen von allen Seiten und behinderten sich gegenseitig. Atlan schaffte es gerade noch, sich den Helm wieder über den Kopf zu ziehen. Dann mußte er kämpfen. Er schlug zuerst wild um sich. So schaffte er sich ein wenig Luft. Den ersten Mann, der sich ihm bis auf wenige Meter näherte, erledigte er mit zwei einfachen Dagor-Schlägen.
41 Der zweite rannte in einen Schwinger hinein, der ihn von den Beinen riß und über den zusammengebrochenen ersten Angreifer schleuderte. Vier Männer mit geschwungenen Lassos stürzten sich auf Favt. Favt schüttelte sich, sprang hin und her und griff einen Mann nach dem anderen an. Sein Messer beschrieb funkelnde Halbkreise durch die Luft. Er schlitzte einem Angreifer den Ärmel und die Haut auf. Einem anderen zertrennte er mit einem wilden Schnitt den Braster-Lenker. Der dritte Mann wickelte das Lasso um Favts rechtes Schienbein und zerrte daran, während der letzte Angreifer ihn von hinten anrempelte. Jemand trat ihm das Messer aus der Hand. Ein Rudel Männer warf sich über ihn, und Atlan sah aus dem Augenwinkel nur noch hochgeschwungene Fäuste und straff gespannte Lederlassos. Favts Körper verschwand hinter dem Wall der Clanocs. Atlan sprang zurück und trat einem Angreifer mit aller Wucht auf die Zehen. Der Mann jaulte auf und fing an, wie ein Behexter umherzutanzen. Dorstellarain allerdings kämpfte von ihnen allen am schnellsten und besten. Seine Kraft war tatsächlich ebenso bemerkenswert wie sein Körperbau. Und sein Zorn sprengte alle Dimensionen. Die beiden ersten Clanocs, die nahe genug heran waren, brach er mit wuchtigen, scharf gezielten Tritten das Knie. Sie gingen schreiend zu Boden. Aber dies stachelte die Wut der anderen noch mehr auf. Der Anführer parierte einen Messerangriff mit dem eigenen Messer, wandte einen klassischen Handhebel an und brach dem Mann das Handgelenk. Gleichzeitig hämmerte er seine linke Faust einem anderen Mann ins Gesicht. Er duckte sich unter dem nächsten Angriff. Ein Mann flog und rutschte über seinen Rücken, der andere wurde mit einigen harten Schlägen bewußtlos gemacht und in die Menge zurückgeschleudert. »Zeigt es ihm!« »Sie sind nicht unverwundbar!«
42 »Favt haben wir schon!« schrien Stimmen aus der Menge, die sich immer dichter um Atlan und Dorstellarain ballte. Man schleifte Favt nach links weg; er schien bewußtlos geschlagen zu sein. »Zeigen wir es ihnen!« grollte Dorstellarain und machte einen Satz in Atlans Richtung. Wieder drangen mindestens ein Dutzend Männer auf sie ein. Atlan vergaß alle Rücksichtnahme. Er ahnte, daß er wieder einmal um sein Leben kämpfte. Er bemühte sich, die Schulterzone des Anzugs der Vernichtung so oft wie möglich einzusetzen, krümmte den Oberkörper und richtete diese geheimnisvollen Waffen auf die Angreifer. Hin und wieder zuckten scharfe Entladungen auf und schleuderten Clanocs schreiend zurück. Atlan trat um sich, schlug gezielt zu, setzte seinen Körper als Waffe ein. Die Handschuhe bewahrten Knöchel und Handkanten vor empfindlichen Abschürfungen und Verstauchungen. Er rammte mit den Fäusten Brustkörbe, Schultern und Gesichter. Immer wieder taumelten die blutüberströmten und schmerzverzerrten Köpfe der Clanocs rechts und links von ihm weg. Als er vorsprang und zutrat, legte sich eine Schlinge um seinen Knöchel. Sofort änderte er die Körperhaltung, aber als er wieder sicher zu stehen schien, wickelte sich ein zweites Lasso um den anderen Fuß. Zu spät, schrie der Logiksektor. Atlan schwankte und versuchte, einen Fuß aus der Schlinge zu ziehen. Aber die Angreifer rissen heftig an den Braster-Lenkern, während drei oder vier Männer von hinten auf ihn eindrangen und ihre Lassos schleuderten. Die Ringe, durch die das Leder geführt wurde, schlugen hart gegen den Anzug. Atlan fühlte, wie seine Arme hart nach hinten gerissen wurden. Er bewegte die Schultern und erwischte noch einen Mann mit dem goldenen Schulterdorn. Dann war er so gut wie bewegungsunfähig. Nur Dorstellarain kämpfte noch immer. Rund um sich hatte er einen Wall von be-
Hans Kneifel wußtlosen Clanocs zurückgelassen. Hin und wieder bewegte sich einer der Niedergeschlagenen und versuchte, aus dem Ring davonzukriechen. Aber auch Dorstellarains Kampf wurde durch Braster-Lenker, die aus sicherer Entfernung geschleudert wurden, beendet. Jeder Fuß und jeder Arm war von mindestens zwei Schlingen gehalten. Jetzt, als Dorstellarain zwei Männer mit dem rechten Arm zu sich heranzog und einem davon den Ellbogen in den Mund schlug, legte sich würgend eine weitere Lederschnur um seinen Hals. Die Clanocs schrien begeistert auf, als sie den Kampf für sich entschieden hatten. Sie packten Atlan und Dorstellarain und schleiften beide Männer durch eine schnell sich öffnende Gasse davon. Jetzt bist du wieder so weit wie vorher, bemerkte der Extrasinn bissig. Dorstellarain und Atlan wurden durch den schwarzen Sand der Arena gezerrt und durch eine schmale Eisenpforte zu einem Gang. Türen wurden aufgerissen, und man warf schließlich die Männer in eine Zelle hinein, nachdem man ihnen die Waffen abgenommen hatte. Atlan krachte schwer gegen die metallene Wand und fiel über Dorstellarain. Aus einer Ecke kam ein langgezogenes Stöhnen. Dorstellarain spuckte aus und murmelte: »Es waren zu viele. Wir hatten keine echte Chance.« »Aber wir haben uns gewehrt wie Berserker. Mindestens dreißig Männer werden morgen große Schmerzen und weniger Zähne haben.« »Und einige gebrochene Knochen, Atlan«, stimmte der Anführer zu. »Aber jetzt kennt ihre Wut keine Grenzen mehr.« Wieder das Stöhnen. Gleichzeitig tasteten sich Atlan und der Hüne in die Richtung des Geräusches. »Favt? Bist du es?« »Ja«, stöhnte der Mann. »Nur noch ein Drittel von Favt. Der Rest ist nicht mehr zu gebrauchen.« Atlan fragte alarmiert:
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»Wie können wir fliehen, falls es überhaupt möglich ist?« Die massive Tür hatte ihm gezeigt, daß es so gut wie unmöglich war. Allerdings gab es an der Tür außen kein Schloß, sondern nur einen halbierten Ring, der durch zwei Löcher griff. »Es sieht bitter aus. Wenn sie uns holen, dann versuchen wir es. Ich kenne keine Zelle mit Falltür.« Sie schienen Favt mehr als übel zugerichtet zu haben. In der engen Zelle war es stockfinster. Außerdem stank es unerträglich. Sie hatten nicht einmal Wasser, um dem Mann helfen zu können.
* Dorstellarain schob seine Arme unter den Oberkörper Favts und hob den stöhnenden, von stechenden Schmerzen gepeinigten Mann auf seinen Schoß. Der Hüne lehnte sich an die Metallwand und murmelte beruhigend. Atlan tastete unter sich und entdeckte etwas Weiches; es konnte Moos sein oder muffige Felle. Er streckte sich ebenfalls aus, verschränkte die Arme hinter dem Nacken und entspannte sich mühsam. Das Stöhnen Favts wurde leiser. Nach einer Weile fragte der Arkonide: »Gibt es vergleichbare Situationen, aus denen wir erkennen können, welches Schicksal man uns bestimmt hat?« Dorstellarains Antwort war nicht geeignet, ihm Mut zu machen. »Einmal haben sie Verräter von Elchen zu Tode schleifen lassen. Die Tiere wurden in die Tiefe Oigsters getrieben und verendeten mit ihrem Anhängsel irgendwo.« »Das sollten wir vermeiden. Wir müssen durchbrechen.« »Ohne alles? Ohne Waffen? Aber es gibt immer einen Ausweg.« Atlan untersuchte die beiden Wände neben seinem Kopf. Sie waren glatt und fugenlos. Auch die Fläche, auf der er lag, war nicht unterbrochen. Nachdem sie etwa eine
Stunde lang gewartet und auf den leiser werdenden Lärm der Clanocs gelauscht hatten, stand der Arkonide auf und begann, den Raum neben der Tür abzutasten. Achtung! Einige leise Schritte waren zu hören, dann ein gedämpftes Klirren. Die Tür öffnete sich. Als Atlan Jott-Mutesial, in den Händen ein Fell und einen Scheinwerfer, vor sich erkannte, sprang er sie an und riß sie herum. Mit einigen Griffen war sie in die Mitte des Raumes gestoßen worden. Sie strauchelte und fiel vor Dorstellarain fast in den Schmutz. Atlan schob die Tür vorsichtig fast ganz zu und richtete den Strahl der Lampe auf das Gesicht der Frau. Jott-Mutesial weinte, ihre Schultern zuckten und bebten. Sie war völlig außer sich. Atlan hörte seinen Freund fluchen und fragen: »Was suchst du hier, Jott?« Dorstellarain sprach völlig ungerührt und kühl. Alle seine Gefühle für Jott schienen erloschen zu sein – selbst die Wut. »Sie wollen auch dich umbringen, nicht nur Atlan und Favt. Ich bin hier, um dich zu retten.« Sie legte Dorstellarains Pelzmütze, seinen Mantel, einen Brasterlenker und zwei Messer mit Gürtel und Scheiden vor ihm hin. Atlan öffnete die Tür wieder und spähte nach rechts und links in den leeren Gang hinein. »Wenn ich gerettet werden will, dann nur mit diesen beiden Männern.« Sie schluchzte. Dann rief sie schrill: »Hast du nicht verstanden? Mir geht es um dich! Ich wollte nicht, daß sie dich töten. Die anderen beiden schon.« Dorstellarain schob behutsam den Körper Favts auf den Boden zurück und lehnte ihn mit den Schultern gegen die Wand. Das Licht aus dem Scheinwerfer ließ die schmutzstarrende Umgebung deutlich werden. Dorstellarain zog schweigend den Fellmantel an und schnallte den Gürtel fest. »Ich gehe nicht ohne Atlan und Favt. Und du wirst auch nicht mitgehen!«
44 »Ich habe einen Braster für dich gesattelt! Er steht im kleinen Hof. Dorstellarain – sie kommen! Sie werden dich umbringen!« Jott-Mutesial hatte ihren Erfolg uneingeschränkt genossen. Die Macht, die sie vorübergehend über die Menge der betrunkenen und aufgepeitschten Clanocs gehabt hatte, entglitt ihr schnell. Die Menge entwickelte schon während des Kampfes gegen die drei Männer ihre eigene Gesetzmäßigkeit. Jetzt hatte sie sich der Kontrolle durch JottMutesial völlig entzogen. Was noch eine Stunde vorher als Erfolg geleuchtet hatte, wurde jetzt durch die Einsicht verdunkelt. Dorstellarain würde sterben müssen. Sie wußte, daß sie daran schuld war. Wieder klammerte sie sich an den Mann, der sie mit einer unwilligen Bewegung wegschob. »Schnell! Sie kommen euch holen. Dann nimm meinetwegen deinen Goldenen mit!« schrie Jott auf. Atlan befestigte ebenfalls einen Gurt mit einem Messer um seine Hüften. Er hörte, an der Tür stehend, den näherkommenden Lärm. »Es eilt, mein Freund!« sagte sie drängend. »Sie kommen wirklich!« Die Clanocs in der Arena schienen zu streiten, wer als erster umgebracht werden sollte. Aus einem anderen Korridor erscholl das unverkennbare Wutgebrüll eines Elches, den man aus seinem Stall prügelte. »Ich komme!« sagte Dorstellarain. »Und Favt nehmen wir mit.« »Sie werden euch verfolgen und euch fangen!« schrie die Frau. Dorstellarain zerrte die Pelzmütze auf seinem Kopf fest, bückte sich und hob Favt hoch. Er blickte Atlan an und sagte zu Jott-Mutesial: »Du wirst sie ablenken. Sage ihnen, daß wir geflohen sind. Vielleicht erschlagen sie in ihrer Wut dann dich statt uns. Los, Atlan, nach links!« Atlan riß die Tür auf und wartete, bis Dorstellarain mit dem schweren Körper Favts auf den Armen an ihm vorbei war. Dann schloß er die Tür und sicherte den Riegel. Von innen hörte er das hysterische Weinen der Frau. Er zuckte die Schultern und
Hans Kneifel rannte, den primitiven Scheinwerfer hochhaltend, hinter Dorstellarain her. Nach zwanzig Schritten machte der Korridor einen scharfen Knick. Atlan setzte sich an die Spitze und rief unterdrückt: »Du kennst die Gänge hier. Sage mir, ob nach links oder rechts. Ich trage die Lampe.« »Geradeaus und beim Obelisken nach rechts, die Treppe hinauf.« Sie rannten. Das Geschrei der Clanocs begleitete sie auf ihrem langen Weg durch die Stollen und Kammern. Sie schienen die drei Flüchtigen tatsächlich zu verfolgen. Aber weder Atlan noch Dorstellarain sahen einen Verfolger. Einmal, mitten in einem endlos scheinenden röhrenartigen Korridor, fragte Atlan: »Was werden sie mit der Frau anstellen?« Dorstellarain, der den bewegungslosen Körper ohne sichtbare Kraftanstrengung schleppte, gab in unversöhnlichem Ton zur Antwort: »Ist mir egal. Aber sie kommt immer durch. Sie wird schnell einen neuen Liebhaber finden. Wir sind gleich da!« »Favt? Ist er schwer verletzt?« »Er kommt durch. Aber es steht nicht besonders gut um ihn. Er hat die Besinnung verloren.« »Verstanden.« Noch etwa zehn Minuten lang flüchteten sie, meist enge Treppen und Rampen abwärts. Sie befanden sich also irgendwo im äußersten Bezirk Oigsters. Hinter ihnen waren unverändert das Gebrüll und die Geräusche der Schritte ihrer Verfolger zu hören. Aber der Abstand schien gewachsen zu sein. Die letzte Treppe brachte sie hinunter in einen winzigen Stall, in dem ein großer Braster gesattelt stand. Er beäugte die Männer mißtrauisch, aber er hielt still, als sich Dorstellarain in den Sattel schwang, sich von Atlan den Bewußtlosen hinaufstemmen ließ und in seinem Rücken festhielt. »Trägt er alle drei?« erkundigte sich Atlan argwöhnisch. »Für kurze Zeit. Los, steig auf!«
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In den Ohren des Tieres war bereits ein Braster-Lenker verknotet. Atlan riß die Schiebetür auf und stand unvermittelt in einem kleinen Hof aus Metall, der denselben Ausdruck zeigte wie der Vorhof, durch den er Oigster betreten hatte: dunkel, abstoßend, voller Rost und gräßlichen Zeichen und Symbole. Der trübe, sonnenlose Himmel über dem Metallschloß allerdings erschien Atlan geradezu als herausfordernd strahlend. Er rannte in den Stall zurück und ergriff Dorstellarains Hand, die ihn mit einem wilden Ruck auf den Rücken des Brasters zog. Das Tier sprang los, duckte sich unter dem Torbogen, war mit einem Dutzend Schritten über den Hof und preschte fast in vollem Tempo hinaus in die schneebedeckte Landschaft. Dorstellarain lenkte den Laufvogel entlang der schwarzen Außenmauern etwa halb um Oigster herum, dann zwang er den Vogel, im rechten Winkel abzubiegen und direkt, genau in den Spuren vieler Braster, in das hügelige, nebelverdeckte Land hineinzurasen.
* Nachdem das Tier, sichtlich ermüdet, aus einem rasenden Lauf wieder in eine ruhigere Gangart zurückgefallen war, sagte Atlan: »Die Clanocs werden uns weiterhin verfolgen. Mit Sicherheit sammeln sie eine Brasterherde und jagen uns nach. Den Spuren im Schnee zu folgen, ist kein Problem. Sie wissen, daß unser Tier dreifache Last trägt.« Dorstellarain, der inzwischen seine ledernen Handschuhe angezogen hatte, gab nachdenklich zurück: »Der Nebel kann uns schützen. Ich kenne jeden Pfad und die Richtung.« »Auch den Weg nach Gynsaal?« »Ja.« Der Braster lief langsam zwischen den Hügeln entlang und zog eine einzelne Spur. Die tief eingetretenen Abdrücke seiner langen Klauen waren deutlich zu erkennen; die Clanocs würden keine Mühe haben. Favt rührte sich noch immer nicht; er
stöhnte auch nicht mehr, eingeklemmt zwischen Atlan und Dorstellarain. Trotz aller Risiken, die vor ihnen lagen, fühlte sich der Arkonide frei und erleichtert. »Kannst du jemals noch zurück nach Oigster?« fragte Atlan nach einer Weile. Er glaubte, weit hinten im Nebel wieder das Geschrei der Verfolger zu hören. »Nur dann, wenn ich Selbstmordabsichten habe«, knurrte Dorstellarain. »Also zwingen uns die Clanocs, nach Gynsaal zu reiten? Oder siehst du das Problem anders?« Die Aufgabe, die in Gynsaal auf Atlan wartete, konnte auch nicht unangenehmer sein als die Erlebnisse, die hinter ihm lagen. Seltsamerweise maß er der Bedrohung durch die verfolgenden Clanocs keine größere Bedeutung bei. Viel mehr Sorgen machte ihm der Zustand des Reitvogels. Das Tier lief langsamer und wurde müder. Schweiß troff in breiten Bahnen aus dem Fell und bildete Dampfwolken. Längst war Oigster weit zurückgeblieben, Nebelbänke und mehrere Ketten von Hügeln und kleinen Tälern lagen zwischen den Flüchtenden und der Stahlburg. Schweigend hielten sich Dorstellarain und Atlan im Sattel und versuchten, dem Tier Erleichterung zu verschaffen. Tatsächlich hörte Atlan nach einiger Zeit hinter sich das Trappeln von Brasterfüßen und die gellenden Schreie der Verfolger. Er tippte dem Riesen auf die Schulter und rief: »Sie sind hinter uns! Das Tier ist schlapp – was können wir tun?« »Nicht viel. Immer weiter geradeaus reiten.« »Und wenn sie uns fangen?« »Dann«, erklärte Dorstellarain, »werde ich ihre Vögel in Panik versetzen. Sie rennen in alle Richtungen auseinander. Ich weiß, wie man das macht.« »Hmmm.« Der Braster tappte mit schwer durchfedernden Gelenken einen Hügel hinunter. Von links schob sich eine riesige Nebelbank heran. Geradeaus lag ein ebene Fläche, von kleinen Schneewehen in das Muster einer er-
46 starrten Wasseroberfläche verwandelt. Das Tier tappte darauf zu; der Hüne hatte sich die letzten Kilometer darauf beschränkt, nur die Richtung einzuhalten und sonst dem Instinkt des Brasters zu vertrauen. Als die Gruppe das Zentrum der Schneefläche erreicht hatte, ertönte ein Knirschen, Fauchen und Heulen. Es geschah ohne jeden Übergang und jede Warnung. Der Boden bebte. Der Braster kreischte auf und sprang in grotesken Sätzen nach rechts. Dampf hüllte das Tier und die Männer ein. Viele einzelne Schollen kippten als Bruchstücke aufwärts. Der Braster rutschte von einem Bruchstück ab und schleuderte die Männer zu Boden. Er sprang geradeaus, und ein gewaltiger Strahl heulenden Dampfes traf und verschluckte ihn. »Ein Eisgreiser!« schrie Dorstellarain. »Zurück! Schnell weg von hier!« Sofort hüllte Nebel das Geschehen ein. Aus der Erde brach ein ungeheurer Strahl hochgespannten Dampfes und riß die Schicht aus gefrorenem Boden und gepreßtem Schnee auf. Dann prasselte ein gewaltiger Hagel aus Erdbrocken, Gestein, Schneetrümmern und scharfen Eisspeeren aus der Luft herunter auf die Schneefläche. Der Braster schrie wieder auf, dann riß sein Schrei unvermittelt ab. Atlan, der versuchte, aus dem kochenden Dunkel zu entkommen, war sicher, daß ihm ein Eisspeer in den Schädel gefahren war. Er stolperte über die Ränder der Schollen und entdeckte neben sich eine dunkle Gestalt, die ebenfalls flüchtete. Der Dampfstrahl aus dem Innern der Dimensionsschleppe erzeugte heulende und pfeifende Geräusche. Unablässig ging der Hagel aus Bruchstücken nieder. Atlan wurde von einem schweren Brocken getroffen und niedergeschleudert; er sprang wieder auf und rannte dem Schatten nach, von dem er annahm, es sei Dorstellarain. Die Konzentration der Dampfwolken ließ nach, als sie sich auf der anderen Seite des Hügels befanden. Tatsächlich schob sich Dorstellarain aus dem Nebel und schrie: »Favt! Er wurde di-
Hans Kneifel rekt in den Geiser geschleudert!« »Dann ist er zweifellos tot«, sagte Atlan keuchend. »Der Vogel auch. Wir sind wieder einmal Fußgänger!« Sie drehten sich um und starrten den Geiser an. Die erste Wucht der Explosion hatte nachgelassen. Es regnete noch immer Eistrümmer. Aber jetzt stand die dicke Säule des Geisers fast allein deutlich sichtbar senkrecht über dem Loch. Noch immer gurgelte und heulte der Dampf. Ein leichter Windstoß trieb die Wolke zur Seite. Atlan und der Hüne starrten schweigend hinunter auf die Fläche und sahen dort die beiden regungslosen Körper. Aus dem Kopf des Brasters floß eine riesige Blutlache. Regungslos lag Favt dicht neben dem toten Braster. »Hinter uns die Clanocs. Der Braster ist tot. Favt ist sicherlich auch nicht mehr am Leben«, sagte der Riese. »Ich sehe nach, ob Favt noch zu retten ist.« »Klar. Ich wehre allein die hundert Clanocs auf ihren ausgeruhten Brastern ab!« murmelte Atlan. Dorstellarain untersuchte Favt und winkte Atlan heran. Er sagte tonlos: »Tot. Das haben sie auch geschafft, diese Wahnsinnigen. Los, wir müssen weiter.« Sie sahen sich schweigend an. In ihrem Blick lag das Eingeständnis der Niederlage. Aber sie gaben nicht auf. Sie schleppten Favts Körper in eine Vertiefung, die mit Wasser gefüllt war. Es würde früher oder später wieder gefrieren. Als sie damit fertig waren, verhüllte eine herandriftende Nebelfront den Ort des Geschehens. Sie umrundeten in weitem Abstand den Geiser. Dorstellarain deutete geradeaus und knurrte: »Irgendwo dort liegt Gynsaal. Es wird ein langer, beschwerlicher Weg, Freund Atlan!« »Ich verstehe. Gehen wir. Vielleicht begegnet uns unterwegs ein herrenloser Braster.« Sie gingen los. Schritt um Schritt wanderten sie durch die Schneelandschaft, und hinter ihnen blieben die Schreie der Verfolger
Der tödliche Test
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immer gleich laut. Atlan dachte an seine Aufgabe; würde er dort finden, was er suchte? Das Schicksal Pthors und, notwendigerweise, auch der Dimensionsschleppe, stand auf dem Spiel. Und sein eigenes Überleben. ENDE
ENDE