Doris Gercke
Der Tod ist in der Stadt Bella Block Band 10
Ein Mann bezieht die Dachwohnung eines renovierten Hauses im...
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Doris Gercke
Der Tod ist in der Stadt Bella Block Band 10
Ein Mann bezieht die Dachwohnung eines renovierten Hauses im Hamburger Stadtteil Hammerbrook. Er macht sich Notizen über die Hausbewohner, auch über die junge Frau, die er sich als nächstes Mordopfer ausgesucht hat. Als diese sich ihm vertrauensvoll mit einem Anliegen nähert, ist er gerührt und ermordet an ihrer Stelle eine ebenfalls im Hause wohnende Rollstuhlfahrerin. Inzwischen ermittelt die Polizei. In Brunner, einem fähigen, aber alkoholabhängigen Beamten, erkennt der Mörder einen ernstzunehmenden Gegner und handelt...
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Doris Gercke
Der Tod ist in der Stadt Ein Bella-Block-Roman
Goldmann
2003
Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Genehmigte Taschenbuchausgabe August 2000 Copyright © 1998 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagmotiv: Photonica/Muto Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Druck: Eisnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 44426 FB Herstellung: Sebastian Strohmaier Made in Germany ISBN 3-442-44426-8
Wie einen Schatten hat Gott den Menschen erschaffen, wer soll ihn richten wenn die Sonne untergegangen ist. Heiner Müller
28. Juli 1997 Möbelpacker müssen kräftig sein. Aber müssen sie auch roh sein? Ich habe ihnen die Wohnung aufgeschlossen und bin spazierengegangen. Ich ertrage es nicht, ihre Schritte zu hören, ihr lockeres Hinunterlaufen und die keuchenden Kommandos, wenn sie das Klavier auf dem dritten Treppenabsatz wieder aufnehmen. Als ich zurückkam, standen die schweren Stücke an ihrem Platz, alles andere aber lag in einem großen Durcheinander in der Mitte des Wohnraums. Auf Mutters Gesicht stand ein Tischbein. Das Glas vor dem Foto war gesprungen, und weißliche Splitter verdeckten das Gesicht des kleinen Jungen, den die Frau an der Hand hielt. Ich mußte das Glas erst ganz entfernen. Nachher habe ich lange das Foto angeschaut. Zwischen mir und dem Jungen an Mutters Hand besteht noch immer eine kleine Ähnlichkeit. Nach so vielen Jahren. Später Ich bin dann eingeschlafen. Als ich aufwachte, lag ich mit dem Kopf auf dem Fuß der Schreibtischlampe. Die Wohnung ist mir noch fremd. Es hat eine Weile gedauert, bis ich eine Steckdose fand. Sie ist neben der Eingangstür. Das Licht reichte gerade, um die Umrisse des Möbelhaufens zu beleuchten. Der Wohnraum ist groß und hat hohe Fenster. Ich bin sehr froh über diese Wohnung und werde auf gar keinen Fall Gardinen anbringen lassen. Ich habe nichts zu verbergen. Auch meine letzte Wohnung hatte keine Vorhänge. Vielleicht Später Die Hälfte habe ich weggeräumt, den Rest erledige ich morgen. Wenn ich aus dem Fenster sehe, zeigt sich in einer Scheibe der gegenüberliegenden Wohnung ein interessantes Bild. Vielleicht -5-
kommt es durch Spiegelungen zustande. An einem Galgen hängen zwei Körper, ein größerer und ein kleinerer. Ein wenig sehen sie aus wie gehäutete Tiere mit kurzen Arm- und Beinstümpfen. Sie bewegen sich nicht. Ich glaube wirklich, es handelt sich um eine Spiegelung. Welch eine Vorstellung: Die Wohnung liegt am Fuß eines Galgenbergs. Ich werde ein Taxi rufen und in die Stadt fahren. 29. Juli Wie seltsam ruhig dieses Haus ist. Es wird etwa hundert Jahre alt sein. Das erste Haus mit dicken Mauern, in dem ich wohne. Ich brauche die dicken Mauern nicht, aber jetzt, am Morgen, ist es angenehm, nicht die Geräusche der Nachbarn zu hören, das ekelhafte Gurgeln aus dem Bad nebenan, das Pfeifen des Wasserkessels, das ununterbrochene Rauschen des Wassers im Rohr an der Wand des Badezimmers. Bisher habe ich keinen von den anderen Mietern gesehen. Gestern abend, als ich nach Hause kam, hätte ich beinahe jemanden getroffen. Das Treppenhaus, vielmehr die Treppenhäuser, sind sehr verwinkelt. Die Person, ich weiß nicht, ob es ein Mann oder eine Frau war, bog um eine Ecke, bevor ich sie einholen konnte. Als ich den Flur erreicht hatte, war sie hinter einer der Wohnungstüren verschwunden. Die Treppen sind hier aus Stein, und wenn man sich nicht bemüht, seine Schritte zu dämpfen, hallt es merkwürdig lange nach. Im Grunde habe ich nicht bedauert, daß ich den Mann (oder die Frau?) nicht gesehen habe. Ich werde sie alle kennenlernen. Einige von ihnen werden auch mich kennenlernen. Flüchtig, will ich meinen, aber immerhin. Was für ein merkwürdiger Mensch dieser Taxifahrer gestern nacht! Er gab sich so große Mühe, freundlich zu sein. Aus welchem Grund? Was nützt es ihm, wenn er mich zum Lachen -6-
bringt? Bei mir im Wagen hat noch jeder gelacht, sagte er, als ich ihn fragte, ob seine Kunden die Witze mögen, die er erzählt, billige Ausländerhetze, »humoristisch« verpackt. Wahrscheinlich war ich wirklich der erste, der nicht darüber gelacht hat. Ich habe ihm kein Trinkgeld gegeben, aber er wurde trotzdem nicht unfreundlich. Als ich ausstieg, ich saß hinter ihm und rutschte langsam über den Sitz auf die rechte Tür zu, wandte er den Kopf und sah mich fröhlich an. Ich hatte Gelegenheit, mir sein Gesicht genauer anzusehen, er hielt es direkt unter die Deckenbeleuchtung. Ich mag diese Sorte Gesicht nicht. Großflächig, kleine Nase, kleine, helle Augen, blonde Haare überall, am Kinn, an den Ohren, aus der Nase, in der Stirn. Wahrscheinlich muß jemand, der so aussieht, dauernd lachen. Wenn so ein Gesicht einmal ruhig ist, ist es so trostlos wie das Tote Meer. Trotzdem war etwas Faszinierendes in dem Gesicht, etwas, das mich die ganze Zeit hineinschauen ließ, während ich über den Sitz rutschte, mit den Füßen die Straße suchte, gebückt aufstand und die Tür schloß, auch dann noch durch das Wagenfenster sah ich in das lachende Tote Meer. Erst als ich in meiner Wohnung am Fenster stand und hinter den geschlossenen Scheiben auf die Geräusche der unten vorbeirasenden Autos hörte, fiel mir ein, was es gewesen war. Mir scheint, dieser Mann wird nicht mehr lange leben. Aber ich werde es nicht sein, der ihm bei seinem Ableben behilflich sein wird. Jetzt werde ich anfangen, die Bücherkisten auszuräumen. 30. Juli Ich hätte es wissen müssen. Auf dem zweiten Bücherkarton lagen die Schachteln mit den Fotos. Ich nahm sie heraus und war ganz sicher, daß ich sie nicht ansehen würde. Dann fiel die größere Schachtel zu Boden, die Fotos rutschten über den -7-
Fußboden, die meisten in ein von der Nachmittagssonne und dem Fensterkreuz gezeichnetes Parallelogramm. Lange habe ich in der Sonne auf dem Boden gesessen und Fotos angesehen. Sie, er und sie, einen Jungen an den Händen zwischen sich haltend, er, auf seinen Schultern ein Junge, dessen dünne Beine ihm über den Brustkorb baumeln. Der Junge auf einem Fahrrad. Der Junge mit einer Schultüte. An die Schultüte erinnerte ich mich genau. Das Foto war schwarzweiß, aber die Tüte ist rosa gewesen. Sie hatte ein Muster, das ich vor ein paar Jahren auf einem seidenen rosa Nachthemd gesehen habe. Die Frau, die es trug, war nicht in der Lage, meine Wohnung ohne meine Hilfe zu verlassen. Meine Wohnung. Warum schreibe ich das? Diese Wohnung habe ich schon lange nicht mehr. Sie gehörte mir auch nicht. Ich hatte sie gemietet. Sie lag unter dem Dach, so wie diese hier, aber das Haus war ein neues Haus, ohne Fahrstuhl und ohne Müllschlucker, obwohl beides sehr gut zu gebrauchen gewesen wäre. Ich habe auf dem Fußboden gesessen, bis die Sonne hinter dem Dach des Nachbarhauses verschwand, habe die Fotos angesehen und versucht, mich zu erinnern, ob ich die Leute kannte, die darauf abgebildet waren, wie ihre Stimmen geklungen haben, ihre Häuser gerochen, ihre Hände sich bewegt haben. Es gelang mir nicht. Nichts fiel mir ein, außer, daß ich das leicht erhabene Druckmuster auf der Außenseite der rosa glänzenden Schultüte in meinen Fingerspitzen fühlte und die weiche rosa Seide des Nachthemds auf meinen Handflächen. Die hatte ich berührt, als ich die Frau zurück in ihre Wohnung trug und auf das Bett legte. Sie hatte eine Wohnung von gleichem Zuschnitt wie meine, aber sie war ziemlich geschmacklos eingerichtet, soweit ich mich erinnere. -8-
10. August Vierzehn Tage schon in dem alten Haus, und es gefällt mir von Tag zu Tag besser. Wenn ich von meinen Spaziergängen nach Hause komme, tauche ich ein in die Stille des Hausflurs, gehe, jedes Geräusch vermeidend, über den schwarz und weiß gefliesten Fußboden, laufe durch den einen oder anderen Korridor, bevor ich die Wendeltreppe zu meiner Wohnung hinaufsteige. Erst einmal habe ich im Treppenhaus jemanden gesehen, einen uninteressanten, durchschnittlichen, jungen Mann, der nicht grüßte und an mir vorüberging, ohne mich wahrzunehmen. Ich weiß schon jetzt, daß es mir leid tun wird, eines Tages gezwungen zu sein, hier wieder auszuziehen. 20. August Ich habe es hingeschrieben. So schnell ist es gekommen. Ich wußte, daß alles, was ich mir vorgenommen hatte, vergeblich sein würde. Aber ich wußte nicht, daß ich weniger als zwei Monate brauchen würde, um wieder zu dem zu finden, was mein wirkliches Leben ist. Ich wollte es nicht. Ich will es. 21. August Für einen sensiblen Mann sind die Frauen, die in den Büros herumsitzen, unerträglich. In jedem Zimmer ein anderer durchdringender Parfümgeruch, vermischt mit den Ausdünstungen ihrer Körper, dem Geruch ihrer Frisuren, den Beigaben von Aceton und Lack. Ich will nicht darüber nachdenken, wie es um ihre Sprache bestellt ist. Sie haben keine Sprache. Sie sind eine sprachlose, stinkende, gleichförmige, unintelligente Masse. Und ich hatte zu tun, was sie sagten. -9-
Glücklicherweise bin ich auch ohne zu arbeiten in der Lage, mein Leben auf die gewohnte Weise zu führen. Und Gott weiß, daß ich damit nicht meinen Lebensstandard meine. Der übrigens gar nicht so besonders hoch ist. Ich könnte es mir leisten, sehr viel besser zu leben. Aber ich tue es nicht. Es gibt Vergnügen, auf die man verzichten muß, nur um größeren Vergnügungen nachgehen zu können. Ich liebe den Hausflur im Haus. Wenn ich den Hausflur betrete, der sehr groß ist und kahl, eine Art steinerner, kalter Würfel, in dessen Innerem an zwei Seiten nützliche Dinge befestigt sind, vergesse ich die Frauen. (Oder wende ich mich ihnen gerade noch intensiver zu?) Links an der Wand sind in drei Reihen untereinander die Briefkästen angebracht; weiße Kästen, die so groß sind, daß auch die dicken Wochenendausgaben der Tageszeitungen darin leicht verschwinden können. Aber das Schöne, das, was mich wirklich entzückt, sind die Namensschilder auf den Briefkästen. Nicht genormt, nein, jeder Mieter schreibt sein eigenes Schild. Diese kleinen, hingekrakelten, sorgfältig gemalten, einfach getippten, auf weißem, lila oder grünem Papier, auf Pappe oder auf Kunststoff hingesetzten Schriftzüge vermitteln mir geheimnisvolle Andeutungen über den Charakter der Bewohner. Ich studiere sie, wenn ich nach Hause komme. Ich bleibe still vor ihnen stehen und sehe sie aufmerksam an, eines nach dem anderen. Dann wende ich ihnen den Rücken zu, und meine Blicke suchen die gegenüberliegende Wand. Sie fallen auf die dort befestigte Tafel mit den Klingelknöpfen. Und zum großen Entzücken meiner Augen und meiner manchmal so gequälten Seele finde ich an den Klingelknöpfen das gleiche bunte Bild, nur viel schöner noch, denn hier gibt es nicht die Möglichkeit, die bunten Zettel weit voneinander entfernt anzubringen, damit sie im Auge des Betrachters zusammenwachsen zu einem Psychogramm der Bewohner dieses schönen alten Hauses. -10-
Nein, hier auf der Tafel mit den Klingelknöpfen stecken sie dicht beieinander. Mit einem Blick erfasse ich die wunderbare Anhäufung von Individuen, die hinter dicken alten Mauern in ihren winzigen Wohnungen sitzen und darauf warten, daß ihnen das Besondere geschieht. Und ich bin sicher, daß es einigen geschehen wird. Wenn ich am Nachmittag von meinen regelmäßigen Spaziergängen zurückkomme, sehe ich jetzt häufig Mitbewohner. Ich scheine der Älteste zu sein. Niemand grüßt mich. Aber ich habe festgestellt, daß sie sich auch untereinander nicht grüßen. Später/sehr spät Heute ist in die Wohnung, die auf der Vorderseite des Hauses und meiner direkt gegenüberliegt, jemand eingezogen. Ich habe lange im Dunkeln am Fenster gesessen und ihm beim Einräumen zugesehen. Er war völlig ahnungslos. Ich glaube nicht, daß ich ihn mag. Morgen werde ich nachsehen, welcher Name auf seinem Briefkasten steht. Meier, nehme ich an, oder irgendwas anderes Langweiliges. 22. August Er heißt nicht Meier. Sein Name ist Volkmar von Thun. Der Eindruck, den ich von ihm hatte, wurde durch das Namensschild bestätigt; ein schwarzer Kunststoffstreifen, der Name mit einem dieser billigen Handdruckapparate eingedruckt. Bisher hatte noch niemand ein so scheußliches Schild. Als ich seinen Namen auf den Briefkästen suchte, habe ich festgestellt, daß in der kurzen Zeit, in der ich hier wohne, schon sechs Namen gewechselt haben. In diesem Haus wird zu viel ein- und ausgezogen. Dadurch entsteht ein Problem. Wie soll ich mich mit dem Leben der Bewohner vertraut machen, -11-
wenn man mir nicht genug Zeit dazu gibt. Später Es gibt kein Problem, für das nicht eine Lösung zu finden wäre. 22. August Natürlich hat er auch eine Freundin. Unsere Balkons sind nur zehn Meter voneinander entfernt. Wenn er nur nicht so langweilig wäre! Nicht ein einziges Bücherregal sieht man bei ihm. Allerdings ist klar, daß gerade deshalb eine Frau diesen vollkommen durchschnittlichen, unbelesenen Langweiler zu ihrem Geliebten nehmen kann. Seine Freundin benimmt sich völlig ungehemmt, läuft nackt in der Wohnung herum, gießt nackt den Gummibaum, den er auf seinen Balkon gestellt hat. Sie tut so, als wäre sie allein mit diesem Mann auf der Welt, als existierte ich nicht. Vielleicht sieht sie mich nicht. Aber sie könnte doch immerhin darüber nachdenken, ob sie hinter der verschlossenen Glastür, von der sie nur zehn Meter entfernt ist, während sie den Gummibaum ihres Geliebten gießt, als vollzöge sie eine heilige Handlung, einen Zuschauer hat. Möglicherweise würde sie anders handeln, wenn sie wüßte, daß dieser Zuschauer über ein paar interessante Methoden verfügt, um sich bemerkbar zu machen. Ich glaube übrigens nicht, daß sie eine von denen ist, die diese Methoden kennenlernen werden. Sie ist verheiratet. Natürlich nicht mit dem Langweiler. Ich erkenne es an den Zeiten, zu denen sie ihn besucht. 20. September Ich brauche ein paar Tage Ruhe. Irgend etwas bedrängt mich. Ich vermute, es hat mit den Gerüchen in der U-Bahn zu tun. -12-
Ab morgen bleibe ich zu Hause. Ich werde eine Woche lang nicht ausgehen. Ich brauche Ruhe. Ich weiß, es wird mir bald bessergehen. 23. September Anstatt zu schlafen, wie ich es mir vorgenommen hatte, lief ich die ganze Nacht schwitzend in der Wohnung umher. Ich fand keine Ruhe, bis ich begann, die Fotos in dem kleinen Karton anzusehen. Ich bin so froh, daß ich die Aufnahmen habe. Ich habe sie nacheinander herausgenommen und um mich herum auf dem Fußboden ausgebreitet. Als ich das letzte Foto herausgenommen hatte, fand ich in einer Ecke des Kartons einen dünnen, kleinen Knochen. Ich habe ihn lange angesehen. Er besteht aus drei harmonisch sich verjüngenden Teilen, deren Verbindung an die Gelenke von Schachtelhalmgliedern erinnert. Das vorderste Knöchelchen ist rührend schmal und zart, elegant gebogen und für sich allein gesehen fast völlig wesenlos. Es könnte genausogut Teil eines Nagetiergliedes gewesen sein. Oder Teil eines Wesens, das noch zu schaffen wäre, schöner als alles, was es bisher gab. In Gedanken an die Schönheit und Unberührtheit dieses Wesens habe ich geweint. Es waren Tränen der Erleichterung. Ich spürte, wie die Spannung in mir nachließ. Später konnte ich den Fingerknochen in den Karton zurücklegen, ohne Verzweiflung und ganz ruhig. Alles hat seine Zeit. 24. Oktober Ich habe einen Namen ausgesucht. Es ist alles so einfach. Einer von denen, die von Anfang an auf den Briefkästen waren. Sie gehört zu den Seßhaften. Wie schön. Etwas Merkwürdiges ist dann geschehen. Ich ging hinauf in meine Wohnung, um den feinen Stift zu holen, mit dem ich ein winziges schwarzes Kreuz hinter ihren Namen zu machen gedachte. Ich hätte -13-
schwören können, daß ich meine Balkontür geschlossen hatte, bevor ich am Morgen zum Brötchenholen hinuntergegangen war. Sie war aber nur angelehnt. So ist das also. Ich habe die Tür zugemacht, den Stift vom Schreibtisch genommen und bin wieder hinuntergegangen. Sicher wäre es nicht gut gewesen, wenn mich einer der Hausbewohner dabei gesehen hätte, wie ich mich an dem Namensschildchen auf dem Briefkasten zu schaffen gemacht habe. Aber die Gefahr war gering. Um diese Zeit ist das Haus leer. Ich habe dann eine sonderbare Entdeckung gemacht. Auf dem Namensschild, das ich zeichnen wollte, war in der rechten unteren Ecke ein feines schwarzes Kreuz angebracht. Das Kreuz war von mir. Niemand anderer macht es in dieser Feinheit, in dieser Form, an die Stelle, an die es gehört. Aber ich kann mich nicht erinnern, wann ich es angebracht habe. Ich kann mich einfach nicht erinnern. Später Ich werde nicht mehr darüber nachdenken. Ich werde sie die Doppeltgezeichnete nennen. Und anfangen, sie genauer zu beobachten. Sie heißt Sonja Frank. Es scheint, als liebte ich sie schon. Sehr viel später Ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte wissen müssen, daß die Bilder aus dem kleinen Karton mich deprimieren. Ich sollte sie wegwerfen und verachte mich dafür, daß ich es nicht tue. Mehrere Personen, auch sie und er, sitzen um eine Tafel. Der Junge sitzt zwischen ihnen. Sie nehmen ihn nicht wahr. Er sitzt da und glotzt auf die Schenkel des gebratenen Truthahns, die mit weißen Papiermanschetten umwickelt und direkt auf ihn gerichtet sind. Gleich werden sie ihm einen dieser ungeheuren Schenkel, hellbraun, knusprig, glänzend vom Saft der -14-
ausgebratenen Speckscheiben, die das Fleisch im Ofen davor bewahrt haben auszutrocknen, auf seinen Teller legen. Und er wird sich schweigend über das unhandliche Stück gebratenen, weißen Fleisches hermachen, in der Hand den Knochengriff, umwickelt mit der weißen Manschette und beinahe zu groß, um von seiner Hand gehalten zu werden. Und er wird nicht aufhören zu essen. Er wird essen, bis der große Knochen abgenagt ist und nur noch zarte Fasern von Fleisch unregelmäßig auf seiner Oberfläche festsitzen, die hell, fast weiß schimmert. Und die Enden des Knochens werden an beiden Seiten über den Teller hinausragen. Später wird er vom Tisch aufstehen, und ihm wird übel sein, und sie haben nicht bemerkt, daß es ihm schlecht ging beim Essen, daß er aufstand vom Tisch, daß er nicht an den Tisch zurückgekehrt ist. Ich weine zuviel. 26. Oktober, abends Ich kann mir nicht verhehlen, daß ich doch ein wenig enttäuscht bin von der Wahl des Hauses, die ich getroffen habe. Sollte es nur den Anschein gehabt haben, als sei hier alles solide und geordnet? Heute früh im Waschmaschinenraum mußte ich feststellen, daß die Münzautomaten aufgebrochen waren. Es ist nun möglich, die Waschmaschine und den Trockner in Bewegung zu setzen, ohne zu bezahlen. Anfangs dachte ich, daß jemand aus dem Haus versucht hätte, das Geld für die Maschinen zu sparen. Inzwischen glaube ich das nicht mehr. Die eiligen, gut gekleideten, gut verdienenden jungen Leute, die in diesem Haus wohnen, haben es nicht nötig, für die wenigen Groschen den Münzautomaten aufzubrechen. Nein, seit ich gestern diesen abgerissenen Mann in der Nähe des Hauses gesehen habe, ist mir klar, was die Zerstörung des Automaten bedeutet. Jemand aus dem Haus hat einfach -15-
vergessen, die Tür zum Waschmaschinenraum abzuschließen. Sie laufen doch auch durch das Haus, ohne zu grüßen. Manchmal springen junge Männer mit Surfbrettern die Steintreppen hinunter, schnell, auf weichen Sportschuhen, die Köpfe hinter den Brettern verborgen. Manchmal rufen junge Frauen aus den der Straße zugewandten Fenstern jungen Männern, die dort unten neben ihren schnellen, kleinen, schwarzen Autos stehen, ein paar Worte zu. Wenig später laufen die Frauen, ihre hohen Absätze klappern auf der steinernen Treppe, schnell und unaufmerksam hinunter. Nie sehen sie vor lauter Eile und Vorfreude auf das, was sie erwartet, wer da im Treppenhaus an ihnen vorübergeht oder stehenbleibt und ihnen nachsieht. Nie haben sie Zeit, ihre Umgebung wahrzunehmen. Wie unwichtig ist für sie die abgeschlossene oder unabgeschlossene Tür einer Waschküche. Dem Mann in verdreckten Hosen und ausgetretenen Schuhen kann sie unter günstigen Umständen zwei sorgenfreie Tage ermöglichen. Er wird hier herumlungern, bis der Automat wieder in Ordnung gebracht worden ist, wird abwarten, bis sich ein wenig Geld angesammelt hat - eine Handvoll silbern glänzender Fünfzigpfennigstücke bedeutet für so einen zwei Tage sorgenfreies Leben. Er wird den Automaten wieder aufbrechen. Ich werde zur Polizei gehen. Man soll uns vor solchen stinkenden Strolchen schützen. 27. Oktober Schon früh ist mir aufgefallen, daß ich gut daran tue, mich nach meinen Träumen zu richten. Ich träume zur Zeit merkwürdige Dinge, von denen ich noch nicht genau weiß, wie ich sie in die Tat umsetzen soll. Ich stehe nackt vor einem Spiegel. Meine Haut ist bleich und vollkommen haarlos, aber die breiten Fettwülste um meinen Bauch, die hängenden, fast wie bei einer Frau hängenden -16-
Brüste, die weichen, runden Schultern gehören mir. Ich weiß, daß ich nicht träume. Das da bin ich. Um es mir zu beweisen, fasse ich mit der rechten Hand mein linkes Handgelenk und ziehe den linken Arm aus der Schulter. Es geht ganz leicht. Ich halte ihn in der Hand, wenn ich aufwache. 29. Oktober Die Polizei - ich könnte schon wieder weinen, wenn ich es mir nicht verboten hätte. Wozu sind diese Leute da. Gut, ich zahle nicht sehr viel Steuern. Aber immerhin, es kommt am Monatsende auch von mir ein Sümmchen dazu. Also habe ich das Recht, die Dienste der Polizei in Anspruch zu nehmen. Und sie haben die Pflicht, mir behilflich zu sein. Ich glaube nicht, daß irgend etwas geschehen wird, nachdem ich dort war, um uns vor undurchsichtigen Subjekten schützen zu lassen. Ich stand eine Viertelstunde in der Wache herum, bevor mich jemand gefragt hat, ob ich etwas wünschte. Allein die Beobachtungen, die ich in dieser Zeit gemacht habe, hätten mir die Augen öffnen können. Leere Gesichter, halbe Sätze, die sie sich gegenseitig in halblautem Ton zuwarfen, ohne sich zuzuhören. Nach zehn Minuten hatte ich den Eindruck, der Raum sei ein Aquarium, in dem uniformierte Fische herumschwimmen und sich langweilen. Der, der mich schließlich ansprach, hatte Ähnlichkeit mit einem jener Welse, die sich mit ihrem breiten Maul an den Scheiben des Aquariums festsaugen, um den Algenbelag abzulutschen. Nur war dieser Wels zu schlaff, um sein Maul gespannt zu halten. Nach wenigen Minuten ließ er kraftlos von der Scheibe - von mir - ab. Ich konnte fühlen, wie er an mir hinunterrutschte, und sah ihn schlapp am Boden liegen und stumpfsinnig die breiten Lippen bewegen, während er noch immer vor mir stand und in reinem Hochdeutsch die Frage »Wollen Sie was?« an mich richtete. Seine Kraft reichte nicht aus, um das, was ich ihm zu sagen -17-
hatte, schriftlich festzuhalten. Er holte eine Art Neonfisch heran, vermutlich eine weibliche Person, die an ihrer Uniform irgend etwas trug, ich habe vergessen, was es war, denn es war ein winziges Detail, irgend etwas auffällig Farbiges jedenfalls, und mich neben eine Schreibmaschine führte, das heißt, schnell vor mir herschwamm und sich irgendwann einfach, ohne etwas zu sagen, ruckartig und schweigend ein Stück tiefer sinken ließ. Unwillkürlich sah ich mich um. Neonfische sind Schwarmfische, und ich erwartete ein paar, die dieser Person ähnlich sehen und nun auf uns zukämen. Es kam aber niemand. Da nahm ich dann auf dem Stuhl Platz, der neben dem Schreibtisch stand, schon mit der sicheren Gewißheit, daß diese Aquarienbewohnerin unmöglich länger als zwei Minuten auf ihrem Platz ausharren würde. Und genau so geschah es. Viermal, während sie meine Aussage zu Protokoll nahm, schwamm diese Zierde des Schaubeckens davon, schwamm wieder heran, tippte ein wenig, indem sie sich mit den gleichen ruckartigen Bewegungen den Tasten der Schreibmaschine näherte, mit denen die Neonfische sich im Wasser bewegen, fragte, warum hat er das getan. Jedenfalls haben sie das Protokoll aufgenommen und zugesagt, daß sie jemanden vorbeischicken werden. Vielleicht täusche ich mich, und sie kommen wirklich. Dieses Haus könnte ein wenig Schutz vertragen. Ja, dieses Haus sollte geschützt werden. 1. November Sonja Frank. 2. November Am Bußtag.
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3. November Eines Morgens ist er sehr früh aufgewacht. Er stand auf und sah aus dem Fenster, ihn fror, und er wickelte das Nachthemd fester um seinen Körper, während er da stand und zusah, wie am Ende der Welt ein schmaler, heller Streifen sichtbar wurde, der sich sehr schnell rosa färbte und größer wurde, und die Spitzen der Gräser begannen, vorsichtig zu leuchten, und die aufgeworfenen Furchen waren die glitzernden Straßen der Schneekönigin. Sein Vater ging über den Hof, plump und dunkel, ein schwerer, gestiefelter Schatten, der etwas zu verbergen hatte. Die Gänse schrien, und eine zarte, unbekannte Erregung erfaßte seinen Körper, und er blieb am Fenster stehen und hörte auf das Schreien der Gänse, bis der Vater der letzten Gans den Hals umgedreht hatte. Aus der offenen Stalltür kam weißer Dampf. Sie wohnt im linken, hinteren Flügel. Allem Anschein nach wohnt sie allein. Ich habe sie mir bisher zweimal genauer angesehen. Ich glaube nicht, daß sie mich bemerkt hat. Mir scheint, daß sie etwas langsamer ist als die jungen Leute, denen ich so häufig hier im Treppenhaus begegne. Sie trägt flache Schuhe und geht auf eine besondere Art die Treppe hinunter, eine Art, die man ruhig als »gesittet« bezeichnen kann. Die dunklen Haare trägt sie lang und offen. Ein merkwürdiges Mädchen. Irgendwas fehlt ihr. Ich habe noch nicht herausgefunden, was es ist. Irgendein kleines körperliches Gebrechen, eine schmerzende Narbe vielleicht nach einer gerade erst überstandenen Operation. Sie geht morgens gegen neun und kommt abends nach sieben zurück. Dann sieht sie blaß und abgespannt aus. Sie wird doch nicht Verkäuferin sein? So ein zartes, liebes Ding. 4. November In der Nähe gibt es ein Kino. Gestern abend war ich dort, um mich ein bißchen umzusehen. Im Foyer steht eine Bar aus den fünfziger Jahren mit rot gepolsterter Rückwand und -19-
goldfarbenen Leisten und Ziernägeln. An dieser Bar werden auch die Karten verkauft. Es ist überhaupt nichts los dort. Ich habe eine Karte gekauft und bin hineingegangen. Außer mir saßen noch zwei Männer im Saal. Einer schlief sofort ein. Neben der Leinwand auf der linken Seite führt eine Tür in einen Seitengang. Von dort aus gelangt man auf die Straße. Die Tür ist abgeschlossen. Einfaches Schloß. Später Es funktioniert. Ich habe ein paar alte Schlüssel mitgenommen und einen Dietrich. Den Dietrich brauchte ich gar nicht einzusetzen. Ein wenig Graphit, und schon der zweite Schlüssel paßte. Sicher ist auch das Türschloß aus den fünfziger Jahren. Vom Hinterausgang bis zu unserem Haus gehe ich genau zwölf Minuten. Der schlafende Mann in der Vorstellung hat mich, so glaube ich, auf eine gute Idee gebracht. 5. November Ich weiß nicht mehr, was ich gestern als »gute Idee« bezeichnet habe. Ich bin so tot, daß ich Mühe habe, mich zu erinnern, wer ich bin. Als ich beim Kaufmann anrief, um zu sagen, daß man mir ein paar Lebensmittel vorbeibringen möge, weil ich krank sei, fiel mir am Telefon mein Name nicht ein. Ich glaube nicht, daß man es bemerkt hat. Ich habe mich kurz entschuldigt, den Hörer aus der Hand gelegt. Ich stand neben dem Telefon. Meine Arme waren so schwer, und nichts, nichts war in meinem Kopf. Neben dem Telefon lag ein Briefumschlag mit einer Adresse. Ich nahm den Brief mit großer Anstrengung auf, auch den Hörer, und las ihnen die Adresse vor. Erst beim Lesen wurde mir klar, daß ich ihnen meine eigene Adresse vorlese. Ich kann mich nicht erinnern, schon einmal in diesem -20-
Zustand der Schwere gewesen zu sein. Es ist, als hätte sich mein Gewicht verdoppelt, als hätten nicht zweihundert, sondern vierhundert Pfund neben dem Telefon gestanden. Später Nichts geschieht ohne Grund, alles hat seinen Sinn. Wie anders soll sie denn Teil meiner selbst werden, wenn ich nicht ganz leer bin. Die Süße ihres Einzugs in meinen Körper, in meinen Kopf ist unbeschreiblich. Ich liege und warte, und sie kommt. Zuerst bilde ich mir ein, ihre Schritte zu hören. Sie sind leicht und ein wenig zögernd und bleiben vor meiner Tür stehen. Nichts geschieht, weil sie sich nicht traut zu klopfen. Und ich warte. Ich weiß nicht, wird sie ihre Schüchternheit überwinden, oder wird sie umkehren. Bei dem Gedanken daran, daß sie umkehren könnte, werde ich unruhig, aber ich zwinge mich, liegenzubleiben. Sie ist frei, und sie soll sich frei entscheiden. Dann höre ich die Türklingel. Ich weiß, daß sie nur einmal den Mut aufbringen wird, die Klingel zu betätigen. Wenn ich nicht an die Tür gehe, wird sie sich abwenden, enttäuscht und gleichzeitig erleichtert die Treppe hinunterlaufen, in ihrer Wohnung verschwinden. Das darf nicht sein. Ich erhebe mich, es scheint, als sei ich leichter geworden, aber noch immer leer, leer, bereit, sie in mich aufzunehmen. Später Sie stand wirklich vor der Tür. Ich hatte mir das Klingeln nicht eingebildet. Sie hielt ihren Haustürschlüssel in der Hand und fragte mich, ob ich bereit sei, ihren Briefkasten zu leeren, ihre Blumen zu gießen und ein Auge auf ihre Wohnung zu haben. Es werde doch so viel eingebrochen in der letzten Zeit. Sie wolle eine Woche zu ihrer Mutter fahren, die krank geworden sei und ihre Hilfe brauche. Sie hat gesagt, sie kenne hier sonst niemanden im Haus, und ich hätte ihr vor ein paar Tagen so -21-
freundlich zugelächelt. Ich nahm ihren Zweitschlüssel an. Wenig später ist sie gegangen. Ich hörte sie ihren Koffer absetzen, bevor sie die Wohnungstür abschloß. Im Haus war es ganz ruhig. Ich glaube nicht, daß jemand sie gesehen hat. Es wird hier niemandem auffallen, daß sie nicht da ist. Es hat auch niemand gesehen, daß sie mir ihren Wohnungsschlüssel anvertraut hat. Ich will aufpassen, daß mich niemand in ihrer Wohnung sieht. Später Ihre Mutter. Sie wird ihrer Mutter erzählen, daß sie mir den Schlüssel gegeben hat. Am zwölften November kommt sie zurück. Am fünfzehnten November ist Bußtag. Man wird ihre Mutter benachrichtigen, wenn sie danach nicht an ihrem Arbeitsplatz erscheint. Ihrer Mutter wird einfallen, daß jemand aus dem Haus, ein dicker, älterer, freundlicher Herr, einen Schlüssel zu ihrer Wohnung hat. Sie werden sich im Haus umsehen und mich finden. Auch wenn sie mir nichts nachweisen können, werden sie mich weiter verdächtigen. Sie werden mich beobachten lassen und meine Pläne stören. Ich fürchte, ich muß umdisponieren. Es war ein Fehler, mich nur auf sie zu konzentrieren. Ein korrigierbarer Fehler. 13. November Marlies Fuchs ist eine dumme Pute. Sie ist in keiner Beziehung mit der wunderbaren kleinen Sonja zu vergleichen. Ich werde der Pute den Hals umdrehen, und es wird mir nicht leid tun. Mit meiner kleinen Sonja werde ich Bußtag feiern und mit ihr weinen, wenn ihre Stunde gekommen ist. Manchmal erschrecke ich mich vor mir selbst. Die Klarheit, mit der ich bestimmte Dinge voraussehen kann, ist mir -22-
unheimlich. Marlies Fuchs. Ihre Wohnung liegt auf der Rückseite des Hauses im Parterre. Sie schläft bei offenem Fenster. Ich werde trotzdem durch die Tür kommen. Heute nacht werde ich in den Erdwall, der den Parkplatz hinter dem Haus umgibt, ein Loch graben müssen. Den Plan, das Kino zu nutzen, lasse ich fallen. Später/3.00 Uhr Ich bin erschöpft, obwohl das Graben eigentlich leicht war. Der Wall ist nicht besonders fest, und die Büsche darauf sind erst vor kurzem angepflanzt worden. Ihre Wurzeln haben sich noch nicht ausgebreitet. Ich werde ihr einen Heckenrosenbusch auf den Bauch pflanzen. Das wird sie davor bewahren, zum unpassenden Zeitpunkt entdeckt zu werden. Wieviel Katzen sich nachts bei den Autos auf dem Parkplatz aufhalten! Sie sitzen unter den Böden, laufen über die Dächer und die Motorhauben; wenn ein Auto auf den Parkplatz kommt (einmal kam eins, und ich mußte mich flach hinlegen, um nicht gesehen zu werden), warten sie, bis der Fahrer den Parkplatz verlassen hat. Dann kommen sie vorgeprescht, sie kommen von den Dächern herab, unter den Autos hervor, von den Motorhauben herunter, auf denen sie gesessen haben, und laufen auf das eben angekommene Auto zu, springen hinauf, fauchen sich an, weil sie sich gegenseitig die Plätze auf der warmen Motorhaube streitig machen, und richten sich dort ein, dicht nebeneinander und schnell ihre Feindschaft vergessend. Da hocken sie, bis die Motorhaube abkühlt, dann schleichen sie, eine nach der anderen, zuerst die vom Rand, zurück unter ein anderes Auto, von dem sie sich besseren Schutz versprechen vor dem eiskalten Wind. Wovon leben diese Katzen eigentlich? Ich habe sie gezählt, es waren elf, und ich bin sicher, sie sind mit Wunden bedeckt und triefäugig. Es war zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen. Ich glaube nicht, daß -23-
sie mich stören werden, aber ich habe doch das Loch tiefer gemacht als sonst und sorgfältig abgedeckt. Müde. 14. November Wie froh ich bin, daß ich nicht hinausgehen muß. Ich fühle mich nicht wohl. Vielleicht habe ich zuwenig geschlafen. Der Gestank in der U-Bahn wäre jetzt unerträglich. Ich habe gelesen, daß man in den Vereinigten Staaten Umweltinitiativen gegen die Verpestung der Luft mit Parfüm gründet. Ein kluges Volk. Jetzt kann ich mich ausruhen, ohne mich davor zu fürchten; wieder zurück in die stinkenden Hühnerställe zu müssen. Ich nehme an, daß sie etwa dreißig Jahre alt ist. Sie versucht, jünger auszusehen. Nichts an ihr ist natürlich. Ihr Gesicht ist unter einer Schicht brauner Creme verborgen. Der Hals ist rosa. Ihre Beine sind rasiert. Ich werde feststellen, daß auch ihre Achselhöhlen und ihre Schamhaare rasiert sind. Sie trägt sehr kurze Röcke, und ihre Schenkel kommen rot und fett unter dem Rocksaum zum Vorschein. Eitelkeit hindert sie daran, warme Schuhe anzuziehen. Vergebliche Eitelkeit. Ich wünschte, sie könnte sehen, wo ihr gestern nacht das Bett gemacht wurde. Sie wird es erfahren, aber die kurze Zeit, die ihr dann noch gegeben ist, reicht nicht aus, damit sie alle ihre Verfehlungen begreift und bereut. Nein, zur Reue ist es jetzt zu spät. Schreien würdest du gern, aber du kannst nicht. Dein Mund ist zugestopft, die Beine sind gefesselt. Ja, die Arme sind frei. Komm, wehr dich. Wehr dich. Sieh mich an. Ich bin dir zu fett, ja? Ich bin dir zu fett.
Volkmar von Thun Es kann ungeklärt bleiben, welchem der drei Prinzipien, nach -24-
denen Volkmar von Thun sein Leben einzurichten beschlossen hatte, von ihm selbst der Vorrang gegeben worden wäre. Wahrscheinlich hätte er selbst sogar Schwierigkeiten, sich für eine festgelegte Reihenfolge zu entscheiden. Unabhängigkeit, Karriere, Bewunderung junger Frauen - konnte man eines ohne das andere überhaupt haben? Wenn er jetzt zum Beispiel, hier in diesem Theaterrestaurant, zusammen mit einer Ehefrau wäre? Vielleicht mit einer, die ihm damit in den Ohren läge, wie schwierig es gewesen sei, einen Babysitter zu organisieren, und daß sie unbedingt um zehn wieder zu Hause sein müßten, damit die Frau, die dort saß und darüber wachte, daß ihr gemeinsames Produkt einen ungestörten Schlaf hatte, rechtzeitig gehen könnte. Der Gedanke an so eine Situation läßt ihn frösteln. Dabei ist es warm im Restaurant. Thun versucht, sich mit dem Glas in der Hand bis ins Foyer durchzudrängeln. Vermutlich wird es dort kühler sein. Verschiedentlich nicken ihm Menschen freundlich zu, Männer, mehr Frauen, alle zwischen vierzig und sechzig, denen man ansieht, daß sie dazugehören. Woran sieht man so etwas? Thun beginnt, darüber nachzudenken, wie anders sich diese Menschen geben, wenn sie in seiner Praxis vor ihm sitzen und ihm von dem bescheidenen kleinen Unglück erzählen, das ihnen irgendwann einmal widerfahren ist und mit dem sie nicht fertig zu werden glauben. Die da drüben, zum Beispiel: schöne Frau, vollkommen und vollkommen frigide. Anstatt Kapital zu schlagen aus dem, was sie anzubieten hat, rennt sie der großen Erfüllung hinterher. Sie wird sich beeilen müssen, wenn sie noch etwas erreichen will. Sie wird nicht jünger. Vielleicht sollte er ihr sagen, daß sie den Gedanken an den großen Orgasmus aufgeben und statt dessen mehr Energie in die Entwicklung ihrer Karriere investieren sollte. Allerdings wäre sie dann wohl die längste Zeit seine Patientin gewesen. Oder der da - ein Talentchen als Schriftsteller. Der Serienschreiber, -25-
der vom großen Roman träumt. Besteht auf einer Analyse, weil er hofft, verborgene Kräfte mobilisieren zu können. Am Ende der Analyse wird er nicht einmal mehr über das bißchen Talent verfügen, das ihm jetzt noch ein dickes Bankkonto beschert. Was für ein uneingeschränktes Vertrauen ihm diese Leute entgegenbringen. Die da drüben hat gestern noch so hemmungslos nach einem Beweis seiner Zuneigung verlangt, daß er beinahe in Versuchung gekommen wäre, ihrem Verlangen nachzugeben. Nun liebt sie ihn unglücklich. Das wird zwei oder drei Monate dauern. Dagegen ist nichts zu machen. Er wird aber die Sitzungen reduzieren müssen. Man wird sie langsam entwöhnen, ihr hin und wieder eine kleine kalte Dusche verabreichen müssen, damit sie irgendwann in der Lage wäre, ohne größere Komplikationen von ihm abzulassen. Seltsam, daß gerade das Phänomen der Übertragung, das ihn zu Beginn seines Studiums am meisten motivierte, sich inzwischen längst als lästigste Beigabe seines Berufes entwickelt hat. Es ist zu leicht, die Unabhängigkeit dabei zu verlieren. Professor! Ich dachte, Sie hätten keine Zeit, in Premieren zu laufen. Ist es nicht schrecklich, dieses Publikum? Wissen Sie, weshalb die Leute wie verrückt hinter Premierenkarten her sind? Natürlich wissen Sie es! Ich vermute, wir hier bestätigen Ihre schlimmsten Erwartungen. Gnädige Frau, ich gehöre selbst dazu, wie Sie sehen. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich im Grunde gar nichts dagegen habe, mich hin und wieder mit schönen Frauen bei interessanten Ereignissen zu zeigen. Und bitte: nicht »Professor« sagen. Ein paar Vorlesungen als Privatdozent rechtfertigen den Titel nicht. Noch nicht, mein Lieber, noch nicht. Und außerdem: interessantes Ereignis? Erwarten Sie das wirklich? Ich sage Ihnen, das Stück ist mittelmäßig, der Regisseur ist schlecht, -26-
was bedeutet: die Schauspieler sind sich selbst überlassen und werden sich gegenseitig zu übertrumpfen suchen. Zufällig kenne ich - Entschuldigen Sie mich, bitte, ich möchte Ihnen gern weiter zuhören. Aber dort drüben ist gerade Natürlich, wir sehen uns. Viel Vergnügen am Mittelmaß, denken Sie an meine Worte. Die ist er los. Wahrscheinlich hat sie gar nicht wirklich mit ihm reden, sondern nur mit ihm gesehen werden wollen. Den Gefallen hat er ihr getan. Ihr Mann macht in Kaffee und ihr Liebhaber in Büchern. Sie gehört zur allerbesten Gesellschaft und ist so reich, daß sie es sich leisten kann, von ihrem Taschengeld zehn Petersburger Familien zu ernähren, ohne deshalb auf irgendeine ihrer täglichen Annehmlichkeiten verzichten zu müssen. Ihn hält sie sich, weil es inzwischen zum guten Ton gehört, »mein Analytiker« sagen zu können. Probleme hat sie nicht. Zur Premiere ist sie gekommen, weil das Theaterstück im Verlag ihres Liebhabers erschienen ist. Schwarz scheint die einzige Farbe zu sein, die zulässig ist bei Gelegenheiten wie diesen. Professor: ein schöner Titel, aber nicht leicht zu erwerben in Zeiten wie diesen. Es fehlen eben die Unternehmer-Persönlichkeiten, die Elite-Universitäten durchsetzen, jedenfalls hier im Norden. Während Thun sich langsam auf die Treppe zum Rang zubewegt, denkt er an die beschmierten Wände des Fahrstuhls, der ihn zweimal im Monat zu dem Stockwerk hinaufbefördert, in dem er seine Vorlesung hält. Er ist sicher, daß er Karriere machen wird, aber nicht in einer solchen Umgebung. Sie hat ihn Professor genannt, weil das in ihrem Verständnis zwar ein niedriger, aber immerhin ein Titel ist. Er kommt sich merkwürdig »erwischt« vor, so, als habe er sich in eine Gesellschaft eingeschlichen, in der er nicht erwünscht ist. Das Gegenteil ist der Fall! Diese Leute brauchen ihn. Er weiß das, und sie wissen es. Und er weiß noch etwas, von dem sie alle -27-
keine Ahnung haben. Sie wissen nicht, daß sie das Material darstellen für die nächste Stufe, die er auf der Karriereleiter emporzusteigen beabsichtigt. Er bleibt stehen, lächelt versonnen und fühlt sich wieder wohl. Neben ihm wird die Schwingtür geöffnet. Noch ein Paar in Schwarz, die Frau trägt ihre kurzen Haare leuchtend rot gefärbt. Während die beiden an ihm vorbei zur Garderobe hasten, spürt er deutlich die Berührung der Frau. Es wäre ihm lieber, sie ginge nicht so nah an ihm vorbei. Man soll sich auf die Blödheit der Ehemänner nicht zu sehr verlassen. Er steigt die Treppe zum Rang empor, ohne sich nach dem Paar umzusehen. Aber er denkt daran, daß diese Frau, der er gerade zusammen mit ihren Mann begegnet ist, vor wenigen Tagen nackt und schamlos in seiner Wohnung herumgelaufen ist. Er hat noch nie eine so vollkommen schamlose Geliebte gehabt. Manchmal, in Augenblicken wie diesen, fürchtet er, sie werde vor aller Augen ihre Kleider ausziehen und ihn auffordern, vor den Leuten durch Taten zu bekennen, daß er ihr Liebhaber sei. Praktisch zu bekennen. Was für ein Alptraum. Unwillkürlich horcht er auf ihre Stimme, aber die beiden sind ihm nicht gefolgt. Er wird sich beruhigt dem Stück zuwenden können. Das Stück ist enttäuschend. Der Regisseur, vielleicht durch lukrative Fernsehregieaufträge für Zwischentöne unzugänglich geworden, hatte entweder den Text nicht begriffen oder nicht verstanden. Die Folge ist, daß die beteiligten Schauspieler ihre Rollen nach eigenen Vorstellungen interpretieren. Das Ganze ergibt keinen Sinn, der über eine gehobene Klamotte hinausgeht. In der Pause überlegt Thun, ob er gehen soll. Er bleibt, weil ihm eines der Mädchen gefällt, die im Theatercafé bedienen. Sehr jung, sehr schlank, sehr groß, sehr blond, entzückend anzusehen in einem winzigen schwarzen Trägerhemdchen und um die Hüften gewickelter, langer weißer Schürze. Gutgelaunt kehrt Thun auf seinen Platz zurück. -28-
Auf der Bühne kommt das Stück zum Schluß, ohne daß dem Regisseur noch eine Erleuchtung zuteil geworden wäre. Das Publikum klatscht begeistert. Thun ist sicher, das Stück wird, obwohl er es schlecht fand, großen Erfolg haben. Im Foyer und im Café drängen sich noch mehr Menschen als vor der Vorstellung. Wieder fällt ihm die Einheitsfarbe Schwarz auf. Wofür soll sie den passenden Rahmen abgeben? Er denkt darüber nach, während er darauf wartet, daß ihm die Junge ein Glas Wein bringt. Die Antwort fällt ihm ein, als sie vor ihm steht: mit nackten Schultern und Armen, die Brüste halb entblößt. Er nimmt den Wein aus ihrer Hand. Sie wendet sich ab. Es scheint ihm, als habe sie eine Sekunde lang etwas weniger professionell gelächelt. Das Schwarz soll ihnen Bedeutung verleihen, denkt er. So, wie ein schwarzer Rahmen manchmal ein Bild erst richtig zur Geltung bringt, sollen die schwarzen Kleider, Pullover, Jacketts, Mäntel, Schals die Menschen als etwas Besonderes zur Schau stellen. Es belustigt ihn der Gedanke, an einer Massenversammlung von Besonderen teilzunehmen und daß offenbar nur ihm der Widerspruch, der darin liegt, auffällt. Ich sollte, denkt er und weiß, er wird es versuchen, der in der Stadt meistgelesenen Tageszeitung eine regelmäßige Kolumne anbieten. Als Überschrift würde er vorschlagen: Unser täglich Brot... Er wird aus der Sicht des Psychologen gesellschaftliche Beobachtungen beschreiben, die er als eine Mischung aus Bestätigung und Ins-Gewissen-Reden verfassen wird. Wenn er es klug anstellt, wird er eine Chance haben, sich der Öffentlichkeit unentbehrlich zu machen. »Ich war im Theater, liebe Leserin, lieber Leser. Nun, Sie werden sagen: ja und? Geduld, Geduld. Ich habe dort etwas beobachtet, das Sie bestimmt auch schon gesehen, aber vielleicht in seiner Bedeutung noch nicht, sagen wir, ganz genau eingeordnet haben. Wer dazugehören will, trägt Schwarz. Übrigens nicht nur im Theater, sondern zu beinahe -29-
allen Gelegenheiten. Als Psychologe kann ich mich nicht nur an ästhetisch gelungenen - nein, das geht nicht, klingt zu abgehoben - an schön gekleideten Menschen erfreuen. Immer muß ich über die Zusammenhänge nachdenken, darüber, daß die Menschen sehr wenig ohne Grund tun. Was soll uns dieses Schwarz eigentlich sagen, außer, daß es für einige Menschen einen hübschen Rahmen abgibt? Bei politischen Demonstrationen war manchmal ein »schwarzer Block« dabei, der als besonders aggressiv galt. Aber aggressiv waren diese schwarz gekleideten Menschen im Theater nicht. Oder? Ich will Ihnen ein kurzes Gespräch wiedergeben, das ich mit angehört habe. Es fand statt zwischen zwei Frauen, die ja, zwei Frauen ist gut - die sich über eine dritte unterhielten, die allein ein wenig abseits stand.« Und so weiter und so weiter. Am Schluß würde er zusammenfassen und die Lehre der Woche von sich geben: Weniger Aggression durch Mut zu Farbe. Wie immer? Um fünf? Ihr Mann stand an der Garderobe. Er sah auf seinen Rücken, während er ein Bein der Frau zwischen seinen Schenkeln spürte. Ja, sagte er und trat vorsichtig einen Schritt zurück. Sie folgte ihm nicht. Gleich darauf ging sie am Arm ihres Mannes an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Noch vor wenigen Tagen hätte er sie genau in diesem Augenblick begehrenswert gefunden. Eine weitere Zeitungskolumne, diesmal zum Thema »Heimliche Liebe« fiel ihm ein. Er kam nicht dazu, länger darüber nachzudenken. Und? Wie gefällt Ihnen der Film? Der Film? Sie meinen, wie uns das Stück gefallen hat. Unsinn. Darüber kann man doch kein Wort verlieren. Der Fernsehfilm, über den alle Welt redet, diese St.-PauliGeschichte. -30-
Der Mann, der ihn angesprochen hatte, war der Ehemann einer Patientin: Er hatte an ein paar Sitzungen zusammen mit seiner Frau, in denen es um ihre Unlustgefühle im Bett gegangen war, teilgenommen. Danach waren beide nicht mehr gekommen. Er hatte daraus geschlossen, daß ihre Probleme behoben waren oder sie keine Lust hatten, sie zu beheben. Leider, mein Lieber, gehöre ich zu den bedauernswerten Menschen, die abends arbeiten müssen. Da haben Sie Glück, sagt der Mann vor ihm. Endlich fällt ihm der Name ein: Koschnieder, Dr. Ernst Koschnieder. Meine Frau mußte jede Folge ansehen. Und ich mußte mir hinterher ellenlange Geschichten darüber anhören, daß auf St. Pauli auch nur mit Wasser gekocht wird und die Nutten doch eigentlich Menschen sind wie du und ich, mit echten Gefühlen. Ja und? Sind Sie da anderer Meinung? Anderer Meinung? Das ist mir egal, Mann. Aber kommen Sie mal in meinen Betrieb. Thun fällt ein, daß dem Koschnieder ein Büroartikelkaufhaus gehört, in dem er Millionen umsetzt. Ihm fällt gleichzeitig ein, daß der gutverdienende Mittelstand sein ideales Publikum ist. Vorausgesetzt, die Männer haben intelligente Frauen geheiratet. Er setzt ein freundlich-fragendes Gesicht auf. Im Betrieb gibt es im Augenblick nur noch ein Thema: Prostitution. Obwohl, wenn Sie sich meine Verkäuferinnen ansehen, wäre das das Letzte, was Sie von ihnen annehmen würden. Alles brave 610-Mark-Hausfrauen. Na, mir soll's recht sein. Wenn sie darüber reden, beschweren sie sich nicht über anderes. Sind Sie allein hier? Ja, antwortet Thun. Ihm ist schon wieder ein Kommentar eingefallen: Die Frau von nebenan, würde er heißen. Er muß wohl ein wenig kurz -31-
angebunden gewirkt haben, denn Koschnieder verabschiedet sich mit ein paar freundlich vorgebrachten Entschuldigungen. Thun überlegt, daß er ebenfalls gehen sollte. Er hat plötzlich Lust, den Brief zu entwerfen, mit dem er der Zeitung seine Dienste anbieten wird. Es kommt ihm so vor, als sei die Zeit des Stillstands vorbei. Er hat sich nicht besonders darüber aufgeregt, daß in den vergangenen Monaten sein Leben in eher ruhigen Bahnen verlaufen ist. Er hat gelernt, daß es ruhige Zeiten gibt, in denen man festigen muß, was man erreicht hat, um dann vom festen Sockel aus um so besser agieren zu können. Er hat eine Ahnung gehabt, daß die Phase seines Lebens, in der er für die Patienten da ist und hin und wieder für die Studenten, irgendwann zu Ende sein wird. Er hat daran gearbeitet, mit kleinen Veröffentlichungen und einem Forschungsprojekt, das ihm selbst, wenn er, was manchmal vorkommt, ernsthaft darüber nachdenkt, als Hokuspokus erscheint. Von dem er aber überzeugt ist, daß die daraus entwickelten Methoden auf breite Zustimmung beim Publikum treffen werden. Was wollen die Menschen denn wirklich? Sie wollen ihre Angst vergessen und ihr Leben genießen. Und haben sie dazu nicht jedes Recht? Wenn er davon überzeugt ist, ihnen dabei helfen zu können - sollte, ja darf er ihnen seine Hilfe verweigern? An der Garderobe, auf seinen Mantel wartend, hört er einem Gespräch zu, das ihn in seinen Überlegungen bestätigt. Zwei Frauen, die er ihrem Äußeren nach für Lehrerinnen hält, deren Hobby es ist, Premieren zu besuchen, um dem näher zu sein, was sie für große Welt halten, unterhalten sich über einen Massenmörder in Belgien. Man hat schon wieder Leichenteile gefunden. Wieso? Ich denke, die belgische Polizei hat die Untersuchungen abgeschlossen? -32-
Ja, die von dem vorigen Fall, aber noch nicht von dem neuen. Die belgische Polizei scheint ja wohl selbst Dreck am Stecken zu haben. Hast du gelesen, wie lange sie den ersten Fall verschleppt haben? Das muß einem ja komisch vorkommen. Hast du übrigens den letzten Tatort gesehen? Unsere Polizei ist anscheinend auch nicht ganz ohne. Thun steht daneben und begreift. Das ist der Gipfel der Angst: Die Polizei als Massenmörder, die Polizei als Vergewaltiger. Die, die dazu da sind, die Ängstlichen zu beschützen, entpuppen sich als das Ungeheuer selbst. Was für ein Alptraum! Das ist der Kern ständigen Geredes über Massenmörder und Kinderschänder in Belgien und überall. Und je größer die persönlichen Ängste, desto begieriger werden die Berichte der Presse aufgenommen und besprochen. Das Gerede über Massenmörder erleichtert die Menschen. Wenn sie sich lange genug über die Einzelheiten eines Mädchenmords unterhalten haben, sind ihnen die Einzelheiten ihrer eigenen Misere für eine Weile aus dem Kopf verschwunden. Sie fühlen sich erleichtert. Was für ein Geschäft für die Medien und für Kriminalromanschreiber. Während er das Theater verläßt, denkt er darüber nach, ob auch der Massenmörder für seine wöchentliche Kolumne ein Thema sein könnte, aber er verwirft den Gedanken. Wohin soll er fahren? In die Praxis, wo er ein Zimmer zum Schlafen hat, oder in seine Wohnung? Er schläft nicht gern in der Praxis. Dort fehlt ihm der notwendige Abstand zu den Patientengeschichten. Wenn er morgens aufwacht, kommt es vor, daß er die Stimmen vom Vortag im Ohr hat, heulende, klagende, schreiende, tonlose Stimmen, die, jede auf ihre Art, immer dieselbe Geschichte erzählen: Man hat mich verletzt, ich war ein Kind, ich konnte mich nicht wehren, ich kann nicht -33-
mehr leben, ich will nicht mehr leben, hilf mir. Er hört die Stimmen nicht immer, aber wenn sie morgens da sind, versucht er, die Liste der Patienten zu kürzen. An solchen Tagen fühlt er sich nicht besonders leistungsfähig. Aber er hat seine Fachbücher und den Computer in der Praxis. Wenn er sich jetzt noch an die Arbeit machen will, ein Konzept entwerfen will für die Kolumne, das er der Zeitung liefern, womit er sie von Anfang an überzeugen wird, muß er dorthin gehen. Ach was, er hat sein Vorhaben so fest im Kopf, er weiß so genau, was er tun wird, daß er das Ganze auch morgen, am Tage, in Angriff nehmen kann. Jetzt wird er in die Wohnung fahren, eine Flasche Wein aufmachen und das Alleinsein genießen. Wie knallrot sie ihre Haare gefärbt hat. Und was für ein ungewöhnlich gutmütiger Esel ihr Mann ist. Sie hat ihm erzählt, daß er von ihrem Verhältnis weiß. Weißt du, er sagt, er hat nichts dagegen, wenn ich mich ein bißchen amüsiere. Ich soll ihm nur nicht sagen, mit wem. Und ich soll möglichst dezent sein. Was glaubst du, bin ich dezent genug? Wenn sie so redet, steht sie entweder nackt auf der Dachterrasse, oder sie öffnet dem Zimmerkellner die Tür und hat vergessen, ihren Morgenmantel überzuwerfen. Sie weiß, daß er sie in solchen Situationen aufregend findet. Sie selbst sich übrigens auch. Sie spielen dann beide »Verbote übertreten«. Je strenger das Verbot, desto größer der aus der Übertretung entstehende Genuß. Ein Problem ist, daß man Verbote nur eine bestimmte Zeit lang übertreten und dabei Genuß empfinden kann. Wenn man zehnmal die lächelnde, unbewegliche oder mühsam Interesse unterdrückende Miene des Kellners beobachtet hat, kommt einem beim elften Mal das -34-
Spiel lächerlich vor. Man beginnt zu überlegen, ob vielleicht die Kellner in der Preisklasse, in der man sich eingemietet hat, noch ganz andere Dinge gewöhnt sind, ja, daß es vielleicht von einer bestimmten Preisklasse an zu den Privilegien gehört, sich im Hotel so zu benehmen, als habe man die Verbote der bürgerlichen Erziehung überwunden. Nichts aber ist langweiliger als eine heimliche Geliebte, deren Geheimnis nur noch darin besteht, daß ihr Mann nicht wissen will, mit wem sie ihn betrügt. Als Thun die Tür zu seiner Wohnung aufschließt, meint er, hinter sich ein Geräusch gehört zu haben. Er dreht sich um, aber es ist niemand zu sehen. Die kleine Wendeltreppe, die zu seiner Wohnung unter dem Dach hinaufführt, ist leer. Im Treppenhaus bleibt es ruhig. Er legt seinen Mantel ab und betritt den großen Wohnraum, ohne das Licht anzumachen. Über der Dachterrasse, die durch eine gläserne Wand vom Wohnraum getrennt ist, liegt ein rot beleuchteter Nachthimmel. Die Dachterrasse der Wohnung, die der seinen gegenüberliegt, ist leer. Die Wohnung dahinter ist dunkel. Er versteht nicht, was die Wohnung da drüben für ihn so interessant macht, daß er jedes Mal, wenn er nach Hause kommt, einen Blick hinüberwirft. Vielleicht hat er, weil beide Wohnungen sich so ähnlich sind, weil sie sich so dicht gegenüberliegen, das unbestimmte Gefühl, als müsse der Mensch da drüben auch ähnlich leben wie er, ähnliche Gewohnheiten haben, ähnliche Bewegungen? Er steht hinter der Scheibe, und es kommt ihm vor, als warte er auf die Bewegungen seines Spiegelbildes, so wie dieser verrückte Marx Brother auf dem Schiff plötzlich vor einen Spiegel gerät und ganz aus dem Häuschen ist beim Anblick seines Doppelgängers. Für Thun, der wenig Humor hat und über Kinogags nur sehr selten lachen kann, war diese Szene ein großes Erlebnis, weil er zum ersten Mal im Kino hemmungslos gelacht hat. -35-
Die Wohnung drüben bleibt dunkel. Der Mieter, der dort wohnt, ist ein langsamer, dicklicher, weißblonder Riese, den er ein paarmal gesehen und der ihm jedes Mal mit einem weinerlichen Lächeln zugenickt hat. Die Idee, daß der Mann jetzt genau wie er hinter dem Vorhang stehen und darauf warten könnte, daß in seiner, Thuns Wohnung, das Licht angemacht wird, kommt ihm plötzlich lächerlich vor. Er knipst alle Lampen an, öffnet die Tür zur Dachterrasse und bleibt draußen stehen, bis er von der kalten Nachtluft genug hat. In der Wohnung gegenüber wird kein Licht angemacht. Sie bleibt dunkel, bis Thun schlafen geht, und auch nachts, als er aufwacht und automatisch einen Blick hinüberwirft, sind drüben die Vorhänge offen, ist dort kein Lichtschein zu sehen. Und dann muß der Mann doch noch gegen Morgen nach Hause gekommen sein. Als Thun aufwacht, ist es halb neun. Er hat keine Zeit mehr zum Frühstücken, sieht nur hastig, zufällig hinüber und stellt fest, daß jetzt die Vorhänge zugezogen sind. Scheint ein Nachtschwärmer zu sein, der Nachbar. Den Weg zu seinen Praxisräumen kann er zu Fuß gehen, soviel Zeit bleibt ihm noch, bis die erste Patientin erscheint. Er liebt den morgendlichen Weg an der Alster entlang, auch wenn jetzt die Schwäne ihr Winterquartier bezogen haben und die Wiesen am Ufer nicht mit sonnenhungrigen oder exhibitionistischen Stadtbewohnern bevölkert sind. Manchmal denkt er, daß er den Winter überhaupt lieber mag als den Sommer. »Die Sonn hat geschienen aus allen Kräften und hat mir bald zu heiß eingefeuert, aber sonst auch nichts hat geschienen«, schrieb Goethes Mutter in ihrem letzten Brief an Bettina von Brentano. Er hat die alte Frau sofort verstanden. Ihm kommt es so vor, als sei die Welt im Winter klarer, einfacher zu erkennen. Es gibt weniger verschwommene Umrisse, zitternde Linien, unruhige Flächen. Es ist stiller im Winter, jedenfalls könnte es -36-
stiller sein, wenn er nicht in der Stadt leben würde. Aber auch so fühlt er die beruhigende Gewißheit, daß es jetzt Gegenden gibt, in denen nichts zu hören ist, außer vielleicht hin und wieder das Geräusch eines vorüberfahrenden Treckers. Kein Vogel, der singt, keine Kinder, die kreischen, eine endlose, gewaltige Stille, die macht, daß man sich einsam fühlt und frei. Einsam und frei - wie merkwürdig, daß gerade das ihm als erstrebenswertes Ziel vorkommt. Ihm, der täglich mit Menschen zu tun hat, die ihre Einsamkeit nicht ertragen können. Mit Menschen, die darunter leiden, daß sie frei sind, sich entscheiden zu können. Die Angst haben vor der Einsamkeit und ihrer Freiheit. An diesem Vormittag hat Thun nur zwei Patienten bestellt. Er wird die Zeit danach nutzen, um seine Ausarbeitungen noch einmal gründlich durchzusehen. Noch immer betritt er die Vorlesungsräume mit einer gewissen Befangenheit, die ihn unsicher macht. Vielleicht hofft er, sie durch besonders gründliche Vorbereitung zu überwinden. Außerdem hat er festgestellt, daß er sich unmittelbar vor der Vorlesung nicht mehr auf den vor ihm sitzenden Patienten konzentrieren kann. Der bevorstehende öffentliche Auftritt, die Art, in der er sich zu präsentieren gedenkt, die Augen, die dann auf ihn gerichtet sind, fragend, nachdenklich, aufmerksam, haben auf ihn eine größere Wirkung, als er vor sich selbst eingestehen mag. Die unverhältnismäßig große Erschöpfung am Ende einer Vorlesung stimmt ihn manchmal nachdenklich. Auch die merkwürdige Tatsache, daß die Erschöpfung verschwindet, wenn sich ein paar Studentinnen einfinden, die ihn hinterher unbedingt noch sprechen wollen und mit denen er sich dann eine Weile diskutierend in dem schmutzigen, trostlosen Korridor vor dem Seminarraum aufhält, ist ihm schon aufgefallen. Sein Verhältnis zur Masse muß ein besonderes sein. Insgeheim hat er sich im Verdacht, erst wirklich lebendig zu werden, wenn er das Gefühl hat, daß ihm viele Menschen -37-
zuhören. Manchmal scheint es ihm in der letzten Zeit, als vergeude er das, was in ihm steckt, wenn er einem einzelnen Patienten gegenübersitzt. Er weiß, daß er mit der gleichen Kraft, die er für das Gespräch mit einem einzelnen aufbringen muß, auch eine Masse von Menschen bewegen kann. Und es kommt ihm so vor, als seien seine Vorlesungen so etwas wie ein Probelauf für ganz andere Auftritte. Auftritte, nach denen die Welt von ihm sprechen wird. Nicht nur ein paar übereifrige Studentinnen oder interessierte Hausfrauen. In seiner Arbeit als Therapeut hat Thun in den letzten Jahren gewisse Erfolge in der Behandlung von Zwangsneurosen gehabt. Durch Veröffentlichungen in diesem Bereich - ein Aufsatz über den Zeitungssammler war über die Fachwelt hinaus von einer interessierten Öffentlichkeit ungewöhnlich zustimmend aufgenommen worden - war er als Dozent an die Universität geholt worden. Dort liest er im Rahmen einer öffentlichen Vorlesungsreihe. Die Vorlesung heute wird sich mit einer besonderen Ausprägung von Zwangsneurose befassen: der Kaufsucht. Als er die Tür öffnet, kommt es ihm vor, als sei der Raum noch voller als sonst. Bevor er zu sprechen beginnt, mustert er die vor ihm Sitzenden eine Weile aufmerksam. Er fühlt, wie sich die Augen auf ihn richten, er wartet, bis es ruhig geworden ist, genaugenommen wartet er einen kurzen Augenblick länger. Er genießt. Dann beginnt er. Wenn Sie, meine Damen, in dieser Woche schon zwei Pullover gekauft haben, die Sie eigentlich gar nicht brauchen, weil Sie schon fünf besitzen, und wenn Sie trotz dieser beiden Neuerwerbungen mit großer Spannung auf den Beginn des Winterschlußverkaufs warten, in der Absicht, ihre Pulloversammlung dann noch um das eine oder andere Exemplar zu erweitern, haben Sie sich dann schon einmal Gedanken darüber gemacht, ob Sie unter Kaufsucht leiden? Jemand unter den männlichen Zuhörern lacht. -38-
Das hat Thun erwartet, und er ist froh, seine Erwartungen erfüllt zu sehen. Gemach, sagt er, wobei er die linke Hand ein wenig hebt, wie zur Beruhigung der Lacher. Der Anteil von männlichen und weiblichen Zwangskranken an der Gesamtzahl der Erkrankungen ist etwa gleich. Woraus Sie ruhig schließen können, meine Herren, daß wir uns Ihren Vorlieben in diesem Bereich ebenso gründlich widmen werden. Im übrigen kann ich die Damen beruhigen: Selbstverständlich leiden Sie, jedenfalls wenn es bei den Aktivitäten bleibt, die ich beschrieben habe, nicht an der Kaufsucht. Spürt er ein erleichtertes Aufatmen? Vielleicht. Aber noch stärker spürt er ein paar Augen, die auf ihn gerichtet sind. In der ersten Reihe, ganz rechts außen sitzt die junge Frau, die er im Theater gesehen hat. Allerdings trug sie bei ihrer Begegnung nur ein winziges schwarzes Oberteil. Mit einem Gefühl, dem deutlich eine sexuelle Empfindung beigegeben ist, erinnert er sich an ihre nackten Schultern, die zur Hälfte entblößten Brüste. Nicht einmal jetzt kann er finden, daß sie zurückhaltend dort sitzt. Weißblonde Haare, die langen Beine in engen Hosen weit von sich gestreckt - weshalb ist sie gekommen? Seinetwegen? Oder ist sie eine dieser Studentinnen, die nebenbei jobben? Oder nur eine kleine Kellnerin, die sich »weiterbilden« will? Vielleicht hat sie eine Freundin, die ihr von dieser Veranstaltung erzählt hat? Besonders klug sieht sie nicht aus. Aber sehr süß. Thun spürt, daß er sich auf seinen Vortrag konzentrieren muß, wenn er die Aufmerksamkeit des Publikums weiter fesseln will. Er verdrängt das blonde Mädchen, so gut er kann, aus seinen Gedanken, indem er es vermeidet, nach rechts zu sehen und mit den Augen wieder sozusagen über ihre langen Beine zu stolpern. Aber er fühlt die Beine die ganze Zeit, und er fühlt sie, er ist sicher, daß er so etwas zum ersten Mal erlebt, -39-
um seinen Körper geschlungen. Rechnet er deshalb fest damit, daß die junge Frau unter denen sein wird, die sich nach der Vorlesung um sein Pult versammeln? Sie ist nicht dabei, und er ist einen kurzen Augenblick lang enttäuscht, bevor er sich auf die Fragen einiger Zuhörerinnen konzentriert. Zum Schluß bleibt er allein zurück, macht sich ein paar Notizen, sammelt seine Papiere zusammen, verläßt den Raum. Auf dem Gang kommt ihm die blonde junge Frau entgegen. Irgendwann, sehr viel später, wird er eine seiner beliebten Kolumnen so beginnen: Ist es Ihnen auch schon passiert, liebe Leserin, lieber Leser, daß Sie einem Menschen begegnet sind und gespürt haben: Das ist er - das ist sie? Und Sie gehen aufeinander zu und sagen: du. Und mehr ist nicht zu denken, und mehr ist nicht zu sagen? Jetzt bleibt er allerdings nur stehen, wartet und sagt nichts. 15. November/Bußtag Die Handschuhe habe ich angelassen. Leider, aber ich glaube nicht, daß es daran lag. Es lag an der Stumpfsinnigkeit dieser dummen, dickschenkeligen Gans. Ich spürte gleichzeitig, daß es wiederkommen würde. Ein bald einsetzendes Unbefriedigtsein, eine starke Sehnsucht nach etwas, das ich nicht benennen kann, nahm von mir Besitz. Ich brachte die Wohnung in Ordnung und ließ den Körper an der Wand hinuntergleiten. Dann verließ ich die Wohnung durch die Tür. Das Fenster hatte ich geschlossen. Ein tagelang offenstehendes Fenster könnte zu leicht Verdacht erwecken. Wenn dies ein Haus wäre, in dem alte Leute lebten, hätte ich fürchten müssen, nachts auf dem Parkplatz gesehen zu werden. Ihr Körper war leichter, als ich gedacht hatte. Bevor ich den Rosenstrauch wieder eingepflanzt hatte, war ich einen Augenblick in Versuchung, mich auf ihr Grab zu legen. Ich -40-
habe es nicht getan. Morgen werde ich auf meinem Spaziergang zum Bäcker den Spaten, die Schuhe und die Handschuhe beseitigen. Später Ich schlafe ein, träume, bin wach. Sie haben ein Kind, aber es scheint, daß sie es nicht wissen. Es gibt etwas, das sie miteinander verbindet, aber das Kind ausschließt. Das Kind möchte etwas tun, damit sie es wahrnehmen. Sie gehen an einem Fluß entlang, und der Junge schlägt mit einer Weidenrute auf das Wasser, immer wieder, bis sein Arm schmerzt und er den Stock fallen läßt. Sie sind naß geworden, er hat es gesehen, sie hat Wassertropfen auf ihrem Mantel, aber sie bemerkt das Wasser nicht. Der Junge wirft sich auf die Erde, und sie bleiben stehen und unterhalten sich, ohne auf ihn zu achten. Sie werden so lange stehenbleiben, bis ihm kalt wird und er beschämt aufsteht und weitergeht, aber die ganze Zeit über werden sie miteinander sprechen und nicht mit ihm. Im Haus, in dem Haus, in dem er sein Zimmer hat, in dem sie ihre Zimmer haben, wird sie ihm saubere Sachen auf sein Bett legen und zurück in ihr Zimmer gehen. Warum hat er das getan? 16. November Ich glaube, daß mein Leben im Augenblick eintönig ist. Ich könnte das ändern. Aber ich werde es nicht tun. Ich würde gern noch einmal in die Wohnung dieser Fuchs gehen, obwohl ich mich zu erinnern glaube, daß die Einrichtung billig war. Auf dem Fußboden vor dem Bett lag ein langhaariger, weißlicher Teppich, der mich an etwas erinnerte. Vielleicht sollte ich mir heute nacht diesen Teppich holen. Es sieht nicht so aus, als sei ihr Verschwinden schon irgend jemandem aufgefallen. Ich habe darauf geachtet, ob ihr Telefon -41-
häufiger klingelt. Ich hörte es ein- oder zweimal, nichts Ungewöhnliches, scheint mir. Später Die Wohnung roch merkwürdig, wie Wohnungen riechen, in denen sich längere Zeit niemand aufgehalten hat und deren Bewohner besonderen Wert auf Sauberkeit legen. Ich glaube nicht, daß man mich als leichtsinnig bezeichnen könnte. Ich habe die Vorhänge zugezogen, bevor ich das Licht angemacht habe. Der Teppich lag vor dem Bett, aber bevor ich ihn genauer ansah, habe ich mich ein bißchen umgesehen. Überflüssigerweise, wie sich sehr schnell herausstellte. Es gab nichts, das mein Interesse hätte wecken können. Auch im Bad dieselbe Öde. Selbst dieses Zeug, das sie brauchen, um den Vorstellungen der Industrie von einem sinnvollen Leben zu entsprechen, war nur in der billigsten Ausgabe vorhanden. Vielleicht ist die Gans häufig ins Kino gegangen. Ich fand alle Produkte, die man zur Zeit in den Werbefilmen sehen kann. Auch in der Kochnische und im Kleiderschrank nichts, was auf einen denkenden Menschen schließen läßt. Nachdem ich die Wohnung gründlich inspiziert hatte, habe ich darauf verzichtet, den langhaarigen Läufer mitzunehmen. Es war, als bräuchte ich ihn nicht mehr, nachdem ich eine Weile davorgesessen und seine Schäbigkeit gründlich betrachtet hatte. Es hat einen anderen Teppich gegeben. Sie hat ihn dem Kind vor das Bett gelegt. Eines Nachts hat sie mit ihren Freunden vor dem Bett gestanden. Sie dachten, das Kind schläft. Aber das Kind war nicht mehr so klein. Das Kind war wach und hat genau zugehört. Libidoabfuhr, hat sie gesagt. Den Teppich hat er zur Libidoabfuhr. Das Kind hat das Wort nie vergessen. Lesen lernen, um zu prüfen, ob der Knochen, den sie ihm hingeworfen hat, vielleicht doch genießbar wäre. -42-
Ich ging zurück in meine Wohnung und warf ihren Schlüssel in eine der Mülltonnen im Hof. Es ist nicht mehr nötig, daß ich diese Wohnung betrete. Der Müll wird morgen früh abgeholt. Mir fiel ein, daß ich auch den Spaten, die Schuhe und die Handschuhe in die Mülltonnen werfen könnte. Und dann habe ich die Sachen, die ich beim Graben trug, auch hinuntergebracht. Niemand ist mir begegnet. Morgens gegen fünf liegt hier alles in tiefem Schlaf. Ich werde jetzt auch schlafen. 18. November/8.00 Uhr Und wenn etwas Wichtiges dazwischenkommt, dann schicken Sie mir ein Telegramm, habe ich ihr gesagt. Ich sehe noch ihr ungläubiges Lächeln, als ich ihr erklärte, daß ich kein Telefon hätte. Ich brauche kein Telefon. Es ruft mich niemand an. Als sie noch lebte, habe ich gewartet, daß sie anrufen möge. Eigentlich habe ich immer auf ihren Anruf gewartet, solange sie lebte. Nachdem sie gestorben war, habe ich das Telefon abgeschafft. Ich hätte es schon früher abschaffen können, aber das wußte ich nicht. Ich wußte nicht, daß sie in ihrem letzten Jahr nicht mehr sprechen konnte. Niemand hat es mir gesagt. Sie wollte nicht, daß ich sie besuche, weil sie Angst vor mir hatte, glaube ich. Ich hätte ihr nichts getan. Nein - nein Später/10.00 Uhr Sie kann am achtzehnten November nicht zurück sein. Die Krankheit ihrer Mutter fordert ihre Anwesenheit. Die Liebe, natürlich bleibt sie dort, wenn die arme Mutter Pflege braucht. Niemand von diesen surfbrettschwingenden Halberwachsenen, keins von diesen weiblichen Industrieprodukten würde so etwas tun. Nur sie, nur meine kleine Sonja, die Zarte, Sanfte. Der ich den Hals umdrehen könnte, wegen dieses verdammten -43-
Telegramms: »Komme erst Heiligabend, erbitte Rückruf, 05806/439, Sonja.« Weiß der Telegrammbote, was auf dem Zettel steht, den er abliefert? Weiß er, woher das Telegramm kommt? Ich werde mich bei Gelegenheit erkundigen müssen. Und Sonja anrufen, jetzt gleich. Sonst kommt sie noch auf die Idee, ein weiteres Telegramm loszuschicken. Nachmittags/15.00 Uhr Ich habe ihre Stimme gehört. Ihre Stimme ist zart und gleichzeitig klar und fest. Sie erinnert mich an etwas, das ich noch nicht herausgefunden habe. Ich hatte noch keine Gelegenheit. Sie wird nicht mehr telegrafieren. Sie kommt am 24. Dezember morgens zurück. Ich werde ihre Blumen weiter gießen. Sie hat mir erlaubt, für uns beide am Heiligen Abend ein Essen vorzubereiten. Ein Gänschen, ein entzückendes Gänschen ist die Kleine. Ich hätte sie so gern vorher ausführlich gesehen. Ich kenne sie fast nicht, aber ihre Wohnung verspricht jedenfalls eine interessantere Person als die Wohnung dieser Marlies Fuchs. Ich werde von jetzt an jeden Tag hinuntergehen, um mich auf den Heiligen Abend einzustimmen. Abends/l9.00 Uhr Bevor ich zum Blumengießen in Sonjas Wohnung ging, brachte ich Mutters altes Kopfkissen in den Keller, gegen das ich in den letzten Tagen eine unerklärliche Abneigung entwickelt hatte. Immer hat alles einen Sinn, auch wenn der Sinn nicht sofort erkennbar ist. Die Polizei ist im Haus. Ich hörte sie ins Haus kommen, als ich auf der Kellertreppe stand und nach dem Lichtschalter suchte. Es sind zwei, und ich habe sie an ihren Schritten erkannt. Ich blieb auf der Kellertreppe stehen, um zu warten, bis sie im Waschmaschinenraum -44-
verschwunden waren. Merkwürdigerweise haben sie diesen Raum aber überhaupt nicht beachtet. Sie stiegen die Treppe empor, und ich versuchte, an ihren Schritten zu erkennen, zu wem sie wollten. Ich bin nicht sicher. Ich habe mir wohl zuwenig Zeit gelassen. Mir schien es wichtiger, ungesehen in meine Wohnung zu kommen. Hätte es nicht sein können, daß sie sich auch den Keller ansehen? Ich wäre ihnen ungern dort begegnet. Hier oben in meiner Wohnung fühle ich mich sicher. Ich habe die Wohnungstür einen Spalt geöffnet, so daß ich hören kann, wenn sich im Hausflur jemand bewegt. Es scheint, als klingelten sie an jeder Wohnungstür. Eine Weile habe ich nichts gehört, ein schwaches Klingeln hin und wieder, aber keine Stimmen. Jetzt sind sie im Stockwerk unter mir, aber noch auf der anderen Seite des Hauses. Später hörte ich sie die Steintreppe heraufkommen und miteinander sprechen. Ich verstand nicht, was sie sagten. Der Fußboden hinter meiner Wohnungstür knarrt, und ich beschloß, nicht zu öffnen, wenn sie bei mir klingelten. Deshalb gehe ich jetzt nicht auf den Flur, um sie besser verstehen zu können. Noch etwa fünfzehn Minuten, dann müßten sie vor meiner Tür stehen. Später Sie waren da. Ich habe ihnen aufgemacht und sie hereingebeten. Ich weiß nicht, weshalb ich es tat. Vielleicht, weil sie sonst ganz sicher noch einmal wiedergekommen wären, möglicherweise in einem Augenblick, der unpassend gewesen wäre? Sie haben meine Einladung nicht angenommen. Ich konnte ihnen ansehen, wie gleichgültig ihnen ihre Arbeit war. Sie wollten wissen, ob mir eine Hausbewohnerin mit Namen Marlies Fuchs bekannt sei. Ich habe ihnen erklärt, daß ich erst sehr kurze Zeit in diesem Haus wohne und noch keine Gelegenheit hatte, irgend jemanden kennenzulernen. Sie -45-
sagten, diese Fuchs sei seit ein paar Tagen verschwunden, und wenn sie in den nächsten Tagen nicht wieder auftauche, würde wohl ihre Wohnung genauer untersucht werden müssen. Dann hat mich der eine gefragt, ob er bei mir telefonieren könne. Als er erfuhr, daß ich kein Telefon habe, hat er mich sehr merkwürdig angesehen. Vielleicht hat er mir nicht geglaubt. Ich vermute, sie werden die Sache nachprüfen. Sollen sie doch. Das wird sie von meiner Ehrlichkeit überzeugen. Wenn ich Polizist wäre! Da hätte niemand etwas zu lachen. Ich habe sie gefragt, ob sie denn in der Wohnung dieser Fuchs gewesen wären. Sie waren kurz drin und haben keine Besonderheiten festgestellt. Es gefällt mir jetzt, daß ich den Teppich nicht mitgenommen habe, obwohl ich ihn, das muß ich vor mir selbst zugeben, nicht aus Vorsicht dort liegengelassen habe. Er war mir plötzlich einfach zu widerlich. Ich fühle seine langen, verklebten Haare auf meinem Rücken, auf meinem Bauch. Ich wälze mich in den harten, verklebten Zotteln herum und grunze wie ein Schwein: Ja, wie ein Schwein. Sie sagt es von der Diele her, während sie geht, um die Haustür zu öffnen, denn es hat geklingelt, und es ist die Zeit, in der er nach Hause kommt. Wir werden gleich essen. Ich stehe auf, beschämt, denn ich habe ihretwegen gegrunzt, ich wollte, daß sie mich hört und kommt und fragt und mich vom Boden aufnimmt. Ich gehe ihnen nach ins Eßzimmer, und da stehen sie und sehen sich an. Ich gehe an ihnen vorbei: Von meinem Platz aus spüre ich sie in meinem Rücken und warte, daß sie voneinander ablassen mit ihren Blicken und mit den Händen, wer weiß denn, was sie hinter meinem Rücken tun, und ich drehe mich nicht um. Dann sitzen sie rechts und links vor mir an den Schmalseiten des Tisches, und Marie trägt die Suppe auf. Sie bewegt ein wenig die Kelle in der Suppenschüssel, und ich höre den besonderen Ton, den die silberne Kelle auf dem Boden der mit Suppe gefüllten Schüssel verursacht. Ich weiß, ich werde nichts essen. Marie steht mit -46-
der Schüssel neben mir, ich höre den Klang der Kelle auf Porzellan, und mit einem kleinen Schwung fährt die Kelle an meinem Gesicht vorbei, und vor mir läuft von der schräg gestellten Kelle dünne, glitzernde Brühe auf den weißen Teller, schaukelt einen Augenblick hin und her, bleibt stehen und wartet auf die Brotbrocken, die ich hineintun werde. Hattest du einen schönen Tag, sagt sie neben mir, und sie sehen sich an, und ich lege eine dicke Brotscheibe in den Teller und warte, daß sie zu Brei wird. 19. November Ich stand auf, und es klingelte an meiner Wohnungstür. Seit Tagen ist unten die Haustür kaputt. Jeder kann dieses Haus betreten und ungehindert bis vor die Wohnungstüren gelangen. Ich öffnete erst nach dem weiteren Klingeln. Manche gehen wieder, wenn sie nicht gleich Erfolg haben. Vor der Tür stand ein Mann, vielleicht vierzig Jahre alt. Es ging von ihm irgendwas Merkwürdiges aus, ich will nicht sagen, eine Bedrohung, denn inzwischen weiß ich, daß er mich nicht bedrohen würde, aber doch eine Bedrohung für andere, die ich sofort spürte. Er fragte nach den Namen von zwei Mietern, deren Namen ich unten auf den Schildern gelesen hatte, mit denen ich aber keine Personen verbinde. Ich konnte ihm nicht behilflich sein, aber ich spürte, daß er reden wollte, und so tat ich ihm den Gefallen, ihn nach seinem Beruf zu fragen. Ich fragte ihn, ob er Polizist sei, obwohl ich wußte, daß er es nicht war, aber ich dachte mir, er würde sich geschmeichelt fühlen. Er ist genau der Typ, der sich geschmeichelt fühlt, wenn man ihn für einen Polizisten hält, dachte ich, und so war es auch. Er war schon ein paar Schritte die Treppe hinuntergegangen, dann kam er wieder zurück, baute sich vor mir auf und begann zu flüstern! Er flüsterte und setzte dabei eine Miene auf, die Leid ausdrücken sollte, reines Leid. Er sah aus wie ein -47-
Schmierenkomödiant, der endlich die Rolle seines Lebens erwischt hat: JESUS. In Wirklichkeit war er Gerichtsvollzieher, und sein Leiden bestand darin, daß seine Kunden, von denen er viele hat und die täglich mehr werden, dazu übergegangen sind, auf Namensschilder an ihren Wohnungstüren zu verzichten. Das zwingt ihn dazu, an jeder unbeschrifteten Tür zu klingeln und sich nach dem Namen des Bewohners der dahinterliegenden Wohnung zu erkundigen. Sein eigentliches Problem ist, daß er nie sicher sein kann, daß ihm auf seine Nachfrage der richtige Name genannt wird. Er behauptet, in diesem Haus habe er fünf oder sechs Kunden, und der wahre Grund, warum die Leute hier ständig auszögen, sei ihre Flucht vor dem Gerichtsvollzieher. Eine merkwürdige Idee: all die bunten Surfbretter und schnellen schwarzen Autos und die Musikanlagen sind gar nicht bezahlt. Aber obwohl ich mich eigentlich über das unmoralische Zahlungsverhalten meiner Mitbewohner hätte aufregen müssen, blieben sie mir sympathisch, und ich begann, eine starke Abneigung gegen die Jammergestalt vor mir auf dem Treppenabsatz zu empfinden. Ich ließ den Mann einfach stehen. Mir fiel nicht ein, was ich sonst hätte mit ihm tun sollen. Es gibt wenige Dinge auf der Welt, die ich als angenehm empfinde oder die ich wirklich gern tue. Notwendigkeiten, nichts als Notwendigkeiten. Wie erfreulich ist es, wenn eine dieser Notwendigkeiten gleichzeitig eine Sache ist, die man mit Freuden wahrnimmt. Und wie scheußlich ist es, wenn man merkt, daß man dabei ist, so eine harmlose, kleine, alltägliche Freude zu zerstören. Schlafen. Eins meiner wenigen Vergnügen ist es, im Bett zu liegen und zu schlafen. Ich trenne beides sehr bewußt. Wenn ich gefragt würde, ich wüßte kaum zu sagen, welches von beiden mir lieber ist. Ist es der vollkommen durchwärmte, flachfleischige, schwerelosaufgelöste Zustand des Körpers unter der weichen Decke, die die gleiche Temperatur hat? Oder -48-
der Schlaf, die schiefen Ebenen der Träume, die andere Welt, in die man hineingleitet, wenn Haut und Laken und Decken ineinander übergegangen sind? Unendliches Entzücken, morgens ganz langsam aufzutauchen, lächelnd aufzutauchen, vor den geschlossenen Augen das Bild einer Straßenbahn aus den vierziger Jahren, die schrägschwebend und wimpelüberspannt davonfährt. Meine Schuhe sind zu klein. Ich muß gehen und mir Schuhe kaufen. Ich wurde wach und spürte den kleinen Zeh an meinem rechten Fuß - nein, ich spürte meine Hand, intensiv damit beschäftigt, Haut vom rechten kleinen Zeh zu entfernen. Ein größerer Hautfleck löst sich nach einer Weile, und die Hand fährt nach oben und steckt die Haut, fast in einer Art Automatik, in den Mund. Ich beginne im Halbschlaf zu kauen, spüre hartes, ledernes Zeug zwischen den Zähnen, werde völlig wach, und gleichzeitig entsteht vor meinen Augen das Bild von Affen, die sich gegenseitig das Fell absuchen und ihre Fundstücke zwischen den Zähnen verschwinden lassen. Wie nah dran. Die gleiche Automatik. Ekelhaft. Und gestört die morgendliche Zeremonie des langsamen Erwachens, des vorsichtigen, allmählichen Hinhörens auf die Geräusche von draußen, durch die der kommende Tag schon festgelegt wird. Stand ganz plötzlich auf, ging ans Fenster und zog die Vorhänge zur Seite. Dunkelheit, natürlich, jetzt Ende November, Sturm, zu dunkel noch, um die Sturmwolken zu zählen. Hinter den Fenstern gegenüber der Schatten eines nackten Mädchenkörpers gegen schwach beleuchteten Hintergrund. Ich blieb am Fenster stehen und stellte mir vor, daß sie mich von drüben sähe, so wie ich sie sehen konnte, einen unförmigen Haufen Fleisch, einen dunklen, stoffbedeckten Klumpen, unbeweglich hinüberstarrend. Es war schon klar, was sie tun würde, wenn sie mich entdeckte. Sie sind so langweilig, alle. -49-
Die übliche Schrecksekunde, Hände vor die Titten, verschwinden. Kurz darauf lief sie weiter unbekleidet an dem Fenster vorbei. Vielleicht doch eine ungewöhnliche Person. Ihn habe ich nicht gesehen. Ob er verreist ist und sie die Wohnung allein benutzt? Brunner Brunner betritt sein Büro. Bevor er die Tür hinter sich schließt, sieht er auf den Schreibtisch am Fenster. Er ist aufgeräumt. Sie sind ein guter Polizist. Brunner hat die Stimme des Arztes im Kopf, als er sich an den Schreibtisch setzt und automatisch die mittlere Schublade öffnen will. Sie ist abgeschlossen. Das hat er gestern selbst gemacht. Er steht auf und holt den Schlüssel aus der Tasche seiner Lederjacke. Die Schublade ist leer bis auf eine flache Halbliterflasche, auf der ein Saftetikett klebt, und eine Rolle ineinandergesteckter Pappbecher. Die Flüssigkeit in der Flasche ist klar. Brunner nimmt einen Pappbecher heraus, gießt ihn halbvoll und stellt den Becher vor sich auf die Schreibtischplatte. Dann legt er die Flasche zurück in die Schublade. Er läßt den Schlüssel stecken. Bevor er den Becher aufnimmt, betrachtet er einen Augenblick seine rechte Hand. Es ist nicht zu übersehen, daß sie zittert. Er sieht auch die Linke an. Sie liegt auf der Schreibtischplatte und ist ruhig. Ich kann Sie nicht guten Gewissens zur Beförderung vorschlagen, hat der Arzt gesagt. Wenn Sie so weitersaufen, machen Sie's nicht mehr lange. Haben Sie vor, sich langsam umzubringen? Nehmen Sie sich doch zusammen, Mann. Ich leg Sie noch mal auf Termin, obwohl das eigentlich nicht mehr zu verantworten ist. Sie sind ein guter Polizist. Besser als so mancher andere, der Sie schon längst überrundet hat. Als das Telefon klingelt, hat Brunner den Pappbecher zum zweiten Mal geleert. Er nimmt den Hörer auf. Seine Stimme ist ruhig, die angenehme Stimme eines Mannes von Ende Vierzig, der den Tag im Liegestuhl auf seiner Terrasse verbracht hat und jetzt -50-
neugierig ist, wer seine Ruhe unterbricht. Und? Was hat der Doktor gesagt? Am Telefon ist Fuchs. Brunners Teamkollege. Fuchs hat zusammen mit Brunner bei der Kripo angefangen; einer, der seine Arbeit immer ordentlich gemacht hat, nicht ganz so schnell vielleicht, wie seine Vorgesetzten es manchmal gewünscht hätten, aber zuverlässig und gewissenhaft. Bevor er zum Kriminalhauptkommissar befördert wurde, hat er zwei Monate gehungert, um sein Übergewicht loszuwerden. Danach hat er die Pfunde, die er losgeworden war, und noch ein paar neue wieder zugenommen. Das alles ist schon eine Weile her, und Fuchs, der weiß, daß Brunner trinkt - es gibt in der Dienststelle niemanden, der das nicht weiß -, aber bisher noch immer von der Zusammenarbeit mit ihm profitiert hat, ist aufrichtig interessiert am Ergebnis der ärztlichen Untersuchung. Der Doktor sagt, ich soll in einem halben Jahr noch einmal vorbeikommen. Die Auskunft ist positiver, als Fuchs erwartet hat. Er freut sich für den Kollegen und sagt das auch. Ich hab Magenschmerzen, sagt Brunner. Meinst du, du kannst für den Rest des Tages auf meine Anwesenheit verzichten? Er spürt, daß Fuchs einen kleinen Augenblick mit der Antwort zögert. Es ist ihm gleichgültig. Er kann heute nicht mehr arbeiten. Er wird auf jeden Fall gehen. Dann hört er Fuchs zu, dessen Stimme merkwürdig weit weg zu sein scheint. Es geht um eine Frau, die verschwunden ist, und darum, daß sie in der Sache bisher noch nicht weitergekommen sind. Aber Fuchs meint am Ende, für den Rest des Tages könne er sich auch mit anderen Akten beschäftigen. Brunner hat am Morgen wegen der Untersuchung nichts gegessen. Der Alkohol wirkt schneller als sonst. -51-
Danke, sagte er, morgen früh sehen wir uns den Fall gemeinsam mal näher an. Ich bin pünktlich. Er legt auf, geht zu dem kleinen, in der Ecke neben der Tür angebrachten Waschbecken, wäscht sich die Hände, spült den Becher aus und stellt ihn umgekehrt neben die Vertiefung für die Seife. Brunner schließt die Schreibtischschublade nicht wieder ab. Er zieht seine Jacke an. Aus dem Spiegel über dem Waschbecken sieht ihm das Gesicht eines Mannes entgegen, dessen dunkle Haare grau zu werden beginnen, der deutliche Tränensäcke unter den Augen hat, dessen bräunliche Haut ein paar Flecken aufweist. Eine gewisse Ergebenheit in sein Schicksal ist ihm außerdem anzusehen. Brunner hat kein Auto. Im Dienst versucht er, möglichst Kollegen fahren zu lassen. Privat haßt er es, nach einem freien Parkplatz zu suchen. Auch beim Trinken würde ihn ein Auto behindern. Er hat sich vorgenommen, seinen Job so lange wie möglich zu behalten. Er braucht das Geld, das er regelmäßig bekommt. Am U-Bahnhof Feldstraße steigt er aus und schlägt den Weg nach Hause ein. Als er an der Ampel am Pferdemarkt steht, bemerkt er, daß es zu früh ist, nach Hause zu gehen. Er überlegt so lange, was er tun soll, daß die Grünphase schon wieder beendet ist, als er den einzigen Entschluß gefaßt hat, der ihm in seiner Situation angemessen erscheint. Auf dem Weg in seine Stammkneipe begegnet er zwei uniformierten Polizisten, die ihn nicht kennen. Im Schanzenviertel sind regelmäßig uniformierte Polizeistreifen unterwegs; für Brunner ein deutlicheres Zeichen der Verkommenheit seiner Bewohner als die Unmengen von Hundescheiße an den Rändern der Bürgersteige. Es hat begonnen zu regnen. Der Regen schwemmt den Hundedreck langsam in den Rinnstein. Brunner geht an einer Gruppe von Straßenarbeitern vorbei. Sie sehen einem Kollegen zu, der damit beschäftigt ist, mit einer elektrisch betriebenen Ramme Pflastersteine in den Boden zu -52-
drücken. Der Lärm füllt die Straße wie die Hundescheiße, legt sich auf die eng hintereinander an beiden Seiten geparkten Autos und die verschmierten, hohen Tische, deren Platten mit Wachstuch bedeckt sind und auf denen unsaubere Aschenbecher sich langsam mit einer schwärzlichen Soße füllen. Vielleicht hat das zu warme Wetter die Ladenbesitzer dazu animiert, die Tische wieder auf die Straße zu stellen. Vielleicht hat man die Tische auch im Herbst gar nicht erst weggestellt. Brunner betritt die Kneipe, und die laute, verkommene Straße verschwindet sofort aus seinem Bewußtsein. Es ist kurz nach zwei. Nur wenige Leute sitzen auf den mit Kunstlederpolstern ausstaffierten Bänken. Der Raum ist in bräunliches, sanftes Licht getaucht, das aus Deckenlampen kommt. Die Lampen haben Ähnlichkeit mit Rettungsringen aus gelben Fliegenfängern, die mit unzähligen Punkten von Fliegendreck übersät sind. Brunner setzt sich an den Tresen. Der Schnaps wirkt noch ein wenig. Er hat Zeit. Der Koch, ein pockennarbiger Mann in nicht ganz weißer Arbeitskleidung, stellt vier Becher mit Eis und Schlagsahne auf den Tisch hinter dem Tresen. Eis ist fertig, ruft er. Er nickt Brunner freundlich zu, bevor er wieder hinter dem Vorhang verschwindet, der seinen Arbeitsbereich von den Blicken der Gäste schützt. Brunner sieht sich um. Er entdeckt Cora, die in einem sehr kurzen Kleid auf einem der Tische steht und die Palmen auf der Fensterbank mit Wasser besprüht. Sie hat die Sprühflasche in der linken Hand und bewegt die Finger der rechten Hand unterstützend im Rhythmus der linken. Ihm ist, als sei etwas Traumhaftes um die sprühende Frau auf der Fensterbank. Sie trägt schwarze Strümpfe und Schuhe mit dicken Sohlen. Ihre Beine sehen aus Brunners Perspektive aus, als seien sie mindestens zwei Meter lang. Unter Cora auf den Kunstlederpolstern und auf dem Tisch -53-
bilden sich große Wasserlachen. Sie stellt die Sprühflasche auf die Fensterbank und steigt vom Tisch. Ihre schwarzen Haare stehen in zwei hoch über den Ohren zusammengefaßten Büscheln vom Kopf ab. Sie lächelt Brunner freundlich zu, trägt die Eisbecher zu dem einzigen Tisch, der in der Fensterreihe steht, kommt zurück und beginnt, Brunners Bier zu zapfen. Ihre Oberarme sind von sehr kurzen Ärmeln bedeckt. An den Innenseiten der Arme läuft Wasser herunter. Cora sieht sehr jung, sehr müde und sehr begehrenswert aus. Sie stellt wortlos das Bier vor Brunner auf den Tresen und geht zurück zum Fenster. Im Spiegel hinter der Bar sieht er sie auf den Tisch steigen und die Sprüherei fortsetzen. Brunner hat nun Durst. Er stürzt das Bier hinunter und stellt das Glas mit einem lauten Geräusch auf dem Tresen ab. Vor den Fenstern hat sich eine Gruppe von Schwarzen versammelt. Sie stehen frierend herum, die Wollmützen tief ins Gesicht gezogen. Auf irgend etwas warten die, denkt Brunner. Noch ein Bier, sagt er laut. Das Mädchen klettert vom Tisch. Das Licht in der Kneipe ist nun beinahe braun. Während Cora das Bier zapft, beobachtet Brunner die Schwarzen. Er beobachtet sie professionell und gleichgültig. Dies ist nicht sein Revier. Ein vierter Mann ist gekommen, hat sich einen Augenblick bei ihnen aufgehalten und ist wieder gegangen. Ihr Bier, sagt Cora. Und einen Doppelten, sagt Brunner. Er wendet sich dem Glas zu. Hinter dem Vorhang kommt der Koch hervor und stellt sich an die Theke. Mein Auto ist hin. Er spricht Brunner an, aber auf eine merkwürdig diffuse Weise redet er auch an ihm vorbei, zu jemandem hin, der eigentlich hinter Brunner stehen müßte. Brunner kann aber im Spiegel sehen, daß da niemand steht. -54-
Ich seh einen Augenblick nach rechts, bums, schon war einer drin. BMW Das Wort BMW spricht der Koch mit der dem Viertel anstehenden Verachtung aus. Brunner hat keine Lust auf ein Gespräch. Er nickt nur, schluckt seinen Korn und schiebt Cora das leere Glas hin. Der Koch begreift, zuckt mit den Schultern und verschwindet wieder hinter dem Vorhang. Brunner trinkt den Schnaps und das Bier aus, zahlt und verläßt das Lokal. Die Männer, die er beobachtet hat, sind verschwunden. Ein feiner Nieselregen, sehr dicht, müht sich um die Hundehaufen. Hinter einer Frau mit einem Drillingskinderwagen geht Brunner die Straße hinauf. Es ist Zeit, einzukaufen und nach Hause zu gehen. Der Laden, den er bevorzugt, heißt »schauen & kaufen«. Als er, neu zugezogen, zum ersten Mal dort eingekauft hat, war das Zufall gewesen. Inzwischen hat er sich daran gewöhnt, daß die Ware unordentlich aufgeschichtet in offenen Regalen liegt. In der Ecke für Lebensmittel gibt es unbekannte Markennamen, große Drahtbehälter mit Unterwäsche stehen herum, an den Wänden sind besonders attraktive BHs und Höschen auseinandergespreizt angenagelt worden. Die Kunden, die hier kaufen, sind Türken und Arme. Brunner geht langsam durch die engen Gänge zwischen den Körben mit Sonderangeboten. Er wird etwas zu essen kaufen müssen. In der Ecke mit Lebensmitteln steht ein alter Mann und vergleicht die Preise. In seinen Einkaufswagen hat er eine Flasche Ketchup und ein Paket Nudeln gelegt. Brunner steht vor der Kühltruhe mit abgepackten Würsten. Er nimmt eine Wurst heraus, die die Form eines Schlagstocks hat und auch genauso hart ist. Auf dem Schild unter der Plastikhülle steht »Pepperoni Salami«. Mit der Wurst in der Hand drängt er sich an dem alten Mann vorbei. In dessen Einkaufswagen liegt inzwischen noch eine Packung Fleischsalat. Brunner geht suchend an den Regalen entlang. Er kauft einen Block mit Karopapier, weil ihm der -55-
Umschlag besonders gut gefällt: er ist beige und hat ein Muster aus dunkelgrünen Blättern und großen Gardenien in Rosa, Orange und einer Farbe, die er nicht näher bezeichnen kann. Bei sich nennt er sie Mauve, was ihm aber falsch zu sein scheint. Als er schließlich an der Kasse steht, legt er noch einen Beutel mit Glasmurmeln und ein Reh aus Marzipan auf das Förderband. Das Reh ist sitzend dargestellt und hat den Kopf mit weit gebogenem Hals auf den Rücken gelegt. Auf dem Hinterteil hat es fünf weiße Punkte. Brunner wartet und betrachtet das Paar, das vor ihm einen Berg von Waren auf das Band gelegt hat. Er merkt nicht, daß er dabei die Salami wie einen Schlagstock in der rechten Hand hält und sich mit kurzen, schnellen Schlägen auf seine linke Handfläche schlägt. Der Mann, den er beobachtet, ist zwischen sechzig und achtzig, trägt Jeans, eine Schiebermütze, ein weißes Hemd und seine Brille an einem Band um den Hals. Obwohl Brunner keine Schminkspuren erkennen kann, wirkt er geschminkt. Seine Begleiterin hat sehr schwarz gefärbte, lange Haare und trägt ein spitzenbesetztes Jeanskleid. Sie ist sechzig, denkt Brunner, und er beobachtet, wie folgsam die Frau allen Anweisungen des Mannes nachkommt. Er hat gelernt, daß es bei Personenbeschreibungen auf das Wesentliche ankommt, und vertreibt sich seit Jahren Wartezeiten damit, Menschen so zu registrieren, daß er ihr Äußeres wiedergeben könnte. Als die beiden bezahlt haben, hat sich hinter Brunner eine lange Schlange gebildet, Türkinnen mit Kopftüchern, zerlumpte Punks, zwei sehr junge Mädchen in kurzen Röcken warten darauf, endlich bezahlen zu dürfen. Als er den Laden verläßt, hört er den Geschminkten der Frau Anweisungen geben. Sie soll mit den Tüten auf dem Bürgersteig stehenbleiben. Er wird das Auto holen. Brunner findet den Mann fürsorglich. Auf dem Weg nach Hause kauft er eine Flasche Nordhäuser. Sie fällt ihm aus der Hand, während er sich müht, die Tür zum -56-
Treppenhaus aufzuschließen. Er geht noch einmal auf die Straße zurück. Gegenüber liegt ein portugiesisches Restaurant. Durch die bunt bemalten Glasscheiben schimmert das Licht von ein paar Kerzen. Es scheint wenig Betrieb zu sein. Brunner überquert die Straße und betritt das Restaurant. Der leichte Geruch nach gebratenem Fisch verursacht ihm einen Moment lang Übelkeit. Er stellt sich an die Theke im Hintergrund, trinkt ein Glas Rotwein, läßt sich zwei Flaschen einpacken und geht wieder hinaus. Vor dem Eingang zum Restaurant bleibt er stehen und sieht an der Front des gegenüberliegenden Hauses hoch. Manchmal, wenn er den Dreck auf den Straßen, die schreienden Schaufenster, die kläglichen, besprühten Wandflächen nicht mehr ertragen kann, sieht er die Hauswände hinauf. Viele der um 1900 gebauten Mietshäuser sind inzwischen restauriert worden. Vom ersten Stockwerk an bieten sie einen erholsamen Anblick. Dem Haus, in dem Brunner wohnt, ist die Gnade der Restaurierung nicht angetan worden. Es hat sich vermutlich nicht mehr gelohnt. Das Haus ist einfach nur grau und häßlich, ohne Stuckverzierungen und ohne Balkons. Vielleicht hat man der von Bomben beschädigten Vorderseite einfach die Stuckreste abgeschlagen und sie glatt verputzt. Die großen Wohnungen jedenfalls, die hinter den Fenstern liegen, deuten darauf hin, daß dieses Haus bessere Tage gesehen hat. Brunner schlägt die Wohnungstür hinter sich zu und bleibt stehen. Er weiß, daß es keinen Sinn hat zu rufen. In seinem Innern entsteht ein starkes Gefühl von Schmerz und Liebe, ein Gefühl, das er haßt. Er trägt die Flaschen in die Küche, nimmt den Block, das Reh und den Beutel mit den Glasmurmeln und geht über den Korridor ins Wohnzimmer. Es ist vier Uhr am Nachmittag. Im Zimmer brennt keine Lampe. Durch die beiden hohen Fenster, die zur Straße hinausgehen, dringt das Licht der Straßenlaternen und Leuchtreklamen, so daß es drinnen -57-
trotzdem nicht dunkel ist. Seine Tochter sitzt, in eine Decke eingewickelt, vor dem rechten Fenster in einem Armlehnstuhl. Sie sieht ihm entgegen. Langsam erscheint ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Brunner schaltet die Deckenlampe ein. Er geht zu ihr und legt ihr die Dinge, die er für sie gekauft hat, in den Schoß. Manchmal ist er bereit, der Versuchung nachzugeben und nichts zu sagen. Seine Tochter ist sechzehn Jahre alt. Seit drei Jahren hat sie nicht mehr gesprochen. Aber er weiß, die Ärzte haben es ihm gesagt, daß er mit ihr sprechen muß. Es regnet draußen, sagt er. Ich hab ein bißchen Hunger. 1. Dezember Um dieses Haus herum bewegt sich eine Art Ungeheuer. Schon bei meinen letzten nächtlichen Spaziergängen fiel es mir auf. Zweimal sah ich aus etwa zwanzig, dreißig Metern Entfernung ein Licht auf mich zukommen, einen Lichtstrahl unterhalb der Höhe von Fahrradlampen, viel langsamer und stärker. Ich blieb stehen und bemerkte hinter dem Licht einen schwarzen Klumpen, der aber, ebenso wie das Licht, nicht näher kam, wenn ich stehenblieb, so daß es mir jedes Mal zu langweilig wurde und ich ins Haus ging. Ich vermute, ich weiß jetzt, was dahintersteckt. Heute früh, ich war zum Bahnhof gegangen, um Zeitungen zu holen, habe ich das Ungeheuer bei Licht gesehen. Es handelt sich um eine Art Frau, die, etwa drei Zentner schwer, bewegungsunfähig in einem elektrisch betriebenen Rollstuhl sitzt. Ihr Körper ist so riesig und plump, daß ich annehme, der Rollstuhl muß eine Sonderanfertigung sein. Offenbar hat sich dieser Fleischkloß, der zu nichts mehr in der Lage ist, als zu essen, zu scheißen und auf den Bedienungsknopf des Rollstuhls zu drücken, eine Aufgabe ausgedacht. Er kommt, um die Katzen auf dem Hof zu füttern. Deshalb krepieren sie nicht, sondern vermehren sich, hocken -58-
auf den Kühlerhauben, zwischen den Büschen, überall... Weshalb fährt der Fleischkloß aber nachts durch die Gegend? Wahrscheinlich, weil niemand außer ihm der Meinung ist, daß diese Katzen regelmäßig gefüttert werden müssen! Man würde ein gutes Werk tun, wenn man ihn verschwinden ließe. Dazu würde es nötig sein, sich mit ihm anzufreunden. Kann ich mich überwinden? Ich kann! Möglicherweise nur, weil es dunkel war, aber es hat geklappt. Ich stand hinter Mauer und Hecke auf der rechten Seite der Hofeinfahrt, so daß die Frau mich nicht sehen konnte, während sie heranfuhr, und kam erst hervor, als sie fast neben mir war. Sie konnte nicht mehr zurück. Um sie nicht zu erschrecken, bemühte ich mich, freundlich zu sein. Ich weiß inzwischen, wo sie enden wird, aber dahin muß sie mir freiwillig folgen. Wir hatten einen kleinen Plausch über die armen Katzen, um die sich niemand kümmert, und das scheußliche Herbstwetter. Der Gestank, der von dem Ungetüm im Rollstuhl ausging, war beinahe unerträglich. Ein paarmal hielt ich die Hand vor den Mund, um die Übelkeit zu verbergen, die in mir aufstieg. Es roch nicht nur nach Katzen. Merkwürdig ängstlich und frech zugleich sprach sie mit mir. Ich kann mich täuschen, aber es schien mir, als habe sie eine Andeutung gemacht über »Leute, die nachts Beete umgraben«. Könnte sie mich beobachtet haben? War sie nachts unterwegs, ohne die Lampe am Rollstuhl anzuschalten? Vielleicht hat sie hinter einem der Autos gestanden, ohne daß ich sie bemerkt habe. Wie dem auch sei, ein Grund, ihr Ende zu beschleunigen. Aber noch mißtraut sie mir. 2. Dezember Heute nacht bin ich ihr gefolgt, ohne daß sie es merkte. Ich mußte herausfinden, wo sie wohnt. Ich habe mir die halbe -59-
Nacht um die Ohren geschlagen, aber es war nicht umsonst. Mit ihrer Wohnung läßt sich nichts machen. Sie wohnt in einem Anbau des Krankenhauses, das auf der anderen Seite des Bahndamms in der Nähe liegt. Tag und Nacht fahren dort die Krankenwagen vorbei und halten nur ein paar Meter weiter, um den Verkehrsmatsch oder schreiende Kalbende auszuladen. Der Gedanke, in ihr Wohnloch zu gehen, was von der Rückseite eventuell unter großen Anstrengungen möglich wäre, ist mir natürlich gekommen, läßt sich aber wegen des dort zu erwartenden Gestanks einfach nicht durchführen. Ist auch gar nicht nötig! 5. Dezember Ach, meine Liebe. Ich gestehe Ihnen, es ist kein Zufall, daß wir uns schon seit ein paar Nächten treffen. Ich will ganz offen sein. Es ist nicht Ihre Körperlichkeit, die mich anzieht. (Himmel, daß mir das eingefallen ist!) Sie werden im übrigen gesehen haben, daß wir uns äußerlich durchaus in gewisser Weise ähnlich sind. Natürlich - ich kann ohne Hilfe gehen. Aber was sind schon Äußerlichkeiten? Kommt es nicht vielmehr auf die Verwandtheit der Seelen an? (Ich bin sicher, sie hat nur die Hälfte verstanden, aber es hat ihr schön in den Ohren geklungen.) Wissen Sie, daß ich glaube, unsere Seelen könnten verwandt sein? Sie retten diese armen Lebewesen vor dem Tod durch Verhungern. Niemand dankt es Ihnen, aber Sie tun das, was Sie für Ihre Pflicht halten, gründlich und unerschrocken, keine Schwierigkeiten fürchtend. Denn ist es etwa nicht schwierig, nachts auf den Straßen herumzufahren, die Beutel mit Brot und die Tüten mit Milch auf dem Schoß? (Wenn bloß nicht diese widerlichen Katzenviecher auf ihr herumturnten!) Ich möchte Ihnen so gern helfen. Wollen Sie es mir -60-
gestatten? (Es ist zu dunkel, um ihr Gesicht genau zu sehen, aber ich kann spüren, wie ihr Widerstand schmilzt.) Sagen Sie mir, was ich tun muß. Sie gab mir Anweisungen mit einer Stimme, die allein schon ausgereicht hätte, sie ins Jenseits zu befördern. Die Stimme war wie stinkender Brei, grauer Brei, der über den Rand eines Tellers läuft. Aber nicht gleichmäßig über den Rand, nein, klebrig und grau kommt die Stimme aus ihrem Mund, an der Seite kommt sie heraus, aus einem kleinen Spalt an der Seite. Mit gemanschten, zerfressenen, zerkauten Worten sagt sie: Dasch musch da drum hin. Man kann es nicht aufschreiben, nicht deutlich machen, weil man nicht weiß, was widerlicher ist: der Gestank, der sie umgibt, ihre Unfähigkeit, sich zu bewegen, die Katzen, die an ihr herumturnen, oder die Tatsache, daß sie so grenzenlos einsam ist. Daher auch das Vertrauen, das sie mir nun entgegenbringt. Sie wird es nicht bereuen. 6. Dezember Wenn wir Vollmond hätten, wären sicher größere Probleme zu überwinden gewesen. So ging alles ganz einfach. Ich mußte nur sicher sein, daß sie mit niemandem über mich gesprochen hat. Wie das anstellen? Ich treffe sie nachts auf dem Parkplatz und helfe ihr, ihre Kinder (sie sagte tatsächlich »Kinder«) zu füttern. Dann verabschiede ich mich von ihr, lasse sie allein losfahren. Heimlich folge ich ihr. Sie spricht mit niemandem. Mit wem hätte sie auch sprechen sollen, nachts? Zu ihrer Behausung gibt es keine Nachbarn. Sie lebt in einer Art ebenerdigem Verschlag, wohl eher eine ehemalige Garage, die an eine nicht -61-
genutzte Werkstatt angebaut wurde. Die Tür zu ihrem Verschlag öffnet sich automatisch, wenn sie mit dem Rollstuhl angefahren kommt. Wahrscheinlich betätigt sie irgendeinen Knopf, wenn sie nahe genug herangekommen ist. Der Raum hat ein einziges Fenster. Es liegt der Tür gegenüber. Das Fenster geht zum Gelände des Krankenhauses hinaus. Das Gelände ist verwildert und jetzt im Winter ungenutzt. Niemand beobachtet sie. Niemand wird sie so bald vermissen. Niemand hat sie mit mir gesehen. Bleibt die Frage: woher bekommt sie das Brot? Das Brot holt sie täglich gegen Abend aus einer in der Nähe gelegenen Bäckerei. Sie spricht dort mit niemandem. Man stellt einfach einen Beutel mit Brot- und Kuchenresten für sie neben den Seitenausgang, bevor der Laden geschlossen wird. Natürlich soll sie nicht in den Laden kommen. Weder ihr Anblick noch ihr Geruch sind den Kunden zumutbar. Ich habe sie drei oder vier Tage und Nächte beobachtet. Sie hat mit niemandem gesprochen. Außer mit mir. Sie fängt an, sich an mich zu gewöhnen. So soll es sein. Erledigt Ich hatte den Eindruck, daß die Katzen hinter dem Haus mehr geworden sind. Es wurde höchste Zeit. Als ich hinunterging, gab es beinahe eine schwierige Situation. Die Wohnung gegenüber war dunkel. Ich verließ mich darauf, daß mein Nachbar wegbleiben würde, wie oft nachts. Im Treppenhaus hörte ich plötzlich seine Stimme. Er sprach mit einer Frau, deren Stimme ich nicht kannte. Beinahe wären wir uns begegnet. Ich kann aber auf dem Weg zu meiner Arbeit (weshalb sage ich Arbeit) keine Zuschauer brauchen. Im letzten Augenblick konnte ich auf die gegenüberliegende Treppe ausweichen. Der Vorteil weicher Turnschuhe ist auch, daß man nicht gehört wird. Ich habe ihre Stimmen belauscht, bis sie hinter seiner Wohnungstür verschwunden waren. Ihr Dialog: -62-
Er: Du kannst nicht einfach vor der Tür stehen und auf mich warten. Sie: Aber weshalb nicht? Es hat mich niemand gesehen. Es war nur kalt. Er: Darum geht es nicht. Sie: Worum dann? (Ich könnte dir sagen, worum es geht, Mäuschen.) Worum geht es, los, sag's mir. Wärm mich, bitte. Er: Komm, laß mich. Nicht hier auf der Treppe. Hör auf. (Pause) Ich hab eine Freundin. Sie: Du hast was? Seine Antwort höre ich nicht mehr. Sie sind hinter der Wohnungstür verschwunden. Ehrlich ist er, das muß man ihm lassen. Scheint sich ziemlich sicher zu fühlen. Ich muß mich beeilen. Sie hat die Lampe am Rollstuhl ausgemacht. Offenbar hat sie mit der Fütterei auf mich gewartet. Ich bin ein wenig abgehetzt, als ich auf sie zukomme. Es gibt in der Nähe eine Brücke, die über die Gleise führt. Die Gleise liegen tief unten, zwanzig Meter, schätze ich. Neben der Brücke ist auf der linken Seite eine ungesicherte Stelle, unverantwortlich, daß niemand sich darum kümmert. Wie leicht kann dort ein Unglück geschehen. Es ist tatsächlich ein Unglück geschehen. Ein krankes Kätzchen liegt dort, für das wir die besten Brocken aufheben müssen. Ich werde die Wohltäterin der Katzen begleiten. Das gefährlichste Stück des Weges dorthin ist etwa hundert Meter lang. Es führt direkt neben der Straße her. Man kann jederzeit jemandem begegnen. Aber wir haben Glück. Zwei, drei Autos fahren auf der Straße an uns vorüber, aber ihre Scheinwerfer erfassen uns nicht. Zu Fuß ist niemand mehr unterwegs. Ich habe keine Ahnung, weshalb ich so lange gebraucht habe, -63-
bis ich soweit war, sie in ihrem Rollstuhl den Abhang hinunterzustürzen. Es ging doch alles ganz einfach. War es wirklich nötig, erst ihr Vertrauen zu gewinnen? Was hätte sie denn tun sollen, wenn ich sie einfach vor mir hergeschoben hätte. Schreien? Mit dieser Stimme? Nachts? Jedenfalls geht es mir besser. Die Katzen werden verschwinden. Drüben in der Wohnung brennt in einer Ecke am Fußboden eine kleine Lampe. Die Vorhänge sind zugezogen. Ich werde duschen. Was für ein gräßlicher Gestank von ihr ausgegangen ist. Später So muß ein Müllarbeiter sich fühlen, wenn er nach Hause kommt. Nur, daß ihn vermutlich jemand erwartet. Ich bin allein. Ich liebe es, nach getaner Arbeit allein zu sein. Ich kann tun, was ich will, wenn ich allein bin. Ich kann den Karton mit den Fotos herausholen. Niemand hindert mich daran. Ich kann den Deckel abnehmen, das Foto hineinlegen und hineinsehen. Welches Foto liegt obenauf? O nein, nicht diese dumme Pute. Es war ein Zettel im Briefkasten. Ihretwegen. Sehr geehrte Hausbewohner! Die Kriminalpolizei bittet Sie noch einmal um Ihre Mitarbeit. Eine Ihrer Mitbewohnerinnen ist seit dem 14. November verschwunden. Es handelt sich um die achtundzwanzigjährige Marlies Fuchs, die hier im Haus die Wohnung Nr. 4 im Parterre gemietet hatte. Wir werden Sie in den nächsten Tagen aufsuchen, um zu versuchen, mit Ihnen gemeinsam die Tage von Frau Fuchs, bevor sie verschwand, zu rekonstruieren. Bitte, überlegen Sie genau: Wann haben Sie Frau Fuchs zum letzten Mal gesehen? Bei welcher Gelegenheit? Ist Ihnen an ihrem Verhalten etwas Ungewöhnliches aufgefallen? War jemand von Ihnen mit Frau -64-
Fuchs befreundet? Oder kannte jemand Freunde, Verwandte oder Bekannte von Frau Fuchs? Jeder Hinweis kann wichtig sein. Wir rechnen mit Ihrer Unterstützung. Ihre Kriminalpolizei Ina und Thun Thun ist immer erfolgreich, wenn es ihm darum geht, eine Frau zu gewinnen. Für seine Erfolge macht er in erster Linie drei strategisch wichtige Schachzüge verantwortlich: Er sorgt dafür, daß die Frau, auf die er es abgesehen hat, rechtzeitig erfährt, daß er Psychologe ist; er geht bei seiner Annäherung an das begehrte Objekt direkt auf sein Ziel los; und er denkt niemals darüber nach, ob er mit der Frau, die er zu erobern beabsichtigt, länger als eine Nacht zusammensein will. Die Schwierigkeiten, die sich manchmal aus Teil drei ergeben, hält er im Hinblick darauf, was sonst an Spontaneität und Unbekümmertheit verlorenginge, für gering. Auch Ina, die junge Frau mit den hohen Brüsten und den endlos langen Beinen, war eine leichte Eroberung. Er hat die Beine genossen, genauso, wie er es sich bei ihrem Anblick im Seminarraum vorgestellt hat. Will er länger mit ihr befreundet sein? Thun weiß es noch nicht. Er weiß nur, daß er es nicht erträgt, wenn eine Frau vor der Haustür auf ihn wartet, die für diesen Abend nicht auf dem Programm steht. Jetzt, sie sind in seiner Wohnung, Ina liegt in der Badewanne, und Thun hat den Fernsehapparat eingeschaltet, um die Nachrichten um 22.30 Uhr zu sehen, hat er seinen Ärger über ihr unvermutetes Erscheinen erst einmal vergessen. Offenbar gehört das Mädchen zu der Sorte von Menschen, die in der Badewanne singen müssen. Er kann ihre Stimme trotz der Musik hören, die die Sendung einleitet. Ihre Stimme ist ihm angenehm. Beim Anblick des dackelgesichtigen Tagesschausprechers kann Thun ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken. Er hält den Mann für dumm und fühlt sich ihm -65-
überlegen, wenn er daran denkt, wie er selbst auf dem Bildschirm wirken würde. Die Nachrichten zeigen eine kleine, fette, bösartige Frau, die im Auftrag des US-Präsidenten durch die Welt reist. Sie versucht, Bündnisgenossen dafür zu finden, das Problem der verhungernden Kinder im Irak - 4500 monatlich - auf einen Schlag lösen zu können. Es scheint kaum noch Regierungen zu geben, die ihr und der angebotenen Kriegslösung widerstehen. Thun langweilt sich, bis der Sprecher sein Dackelgesicht in traurige Falten legt, um den Bericht über einen Mädchenmörder gebührend einzuleiten. Thun hört interessiert zu, nicht so sehr wegen der Fakten, die vor der versammelten Nation detailliert ausgebreitet werden, sondern aus einem Grund, der ihn schon länger beschäftigt und der mit seiner Karriere zu tun hat. Er glaubt nicht, daß es mehr Mädchenmörder gibt als vor zehn oder zwanzig Jahren. Er vermutet, daß die Zahl der Infantilen unter den Männern in etwa gleich bleibt. Er nimmt sich aber vor, Ina in die Bibliothek zu schicken, um für ihn die Kriminalstatistik durchzusehen. Was macht sie eigentlich? Ihre Stimme ist nicht mehr zu hören. Offenbar eine von denen, die viel Zeit fürs Anziehen brauchen. Wenn seine Vermutung richtig ist, daß die absolute Zahl der Kinderschänder nicht zugenommen hat, was gibt es dann für Gründe, die Bevölkerung täglich mit neuen Informationen über Mädchenmörder und Kinderschänder zu versorgen? Was bringt Menschen dazu, sich am Arbeitsplatz, nach Feierabend, in Gesprächen mit Nachbarn und Freunden, vor dem Fernseher mit einem Thema zu befassen, das sie eigentlich nichts angeht, weil es sie nicht betrifft? Mach doch den Kasten aus, sagt Ina. Sie steht in der Tür, in sein schwarzes Badelaken gewickelt. Ich möchte mit dir reden. -66-
Thun ist belustigt über die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn zu ihrem Leben zu zählen scheint. Gehorsam stellt er das Fernsehgerät ab. Ina bleibt in der Tür stehen. Thun sieht sie an und sagt nichts. Ich hab keinen Job mehr. Das Theater ist pleite. Sie machen jedenfalls erst mal ein paar Monate zu, bis sich wieder ein Geldgeber findet. Was wirst du tun? Weshalb frage ich, denkt er, wenn sie mich nichts angeht und mich nicht interessiert, was sie tun wird. Ich weiß noch nicht. Wenn ich nicht sofort etwas finde, kann ich meine Miete nicht bezahlen. Wahrscheinlich muß ich vorübergehend bei dir wohnen. Was? Thun lacht. Die Idee, seine Wohnung mit einer Frau zu teilen, noch dazu mit einer, die ihn nur sehr oberflächlich interessiert, kommt ihm lächerlich vor. Findest du das so schlimm? Ein kluges Mädchen, denkt er überrascht. Wenn sie jetzt das Handtuch abgelegt und versucht hätte, sich neben mich auf den Sessel zu zwängen, würde ich sie spätestens in einer halben Stunde für immer entlassen haben. Ihre Stimme klingt absolut sachlich. Sie verläßt den Türrahmen, und er hört, daß sie sich im Nebenzimmer anzieht. Als sie zurückkommt, hat sie eine Miene aufgesetzt, die er eigentlich nur als »geschäftlich« bezeichnen kann. Sie setzt sich an den Arbeitstisch unter dem Fenster und sieht ihn aufmerksam an. Von seinem Sessel aus, der in der schräg gegenüberliegenden Ecke des Zimmers steht, sieht er mit Bücherregalen bedeckte Wände, das Sprossenfenster über dem Schreibtisch, das Ledersofa neben dem Fernsehgerät ihm gegenüber, über dem Sofa ein kleines, hochgelegenes, halbrundes Fenster. Auf der breiten Fensterbank stehen Bücher. Das Zimmer macht ein wenig den Eindruck einer -67-
altmodischen Studierstube, auch wenn der Teppich hell und die Bücherregale weiß sind. Ihm fällt auf, daß dieser Eindruck durch die Anwesenheit der jungen Frau am Schreibtisch nicht gestört wird, und er ist darüber erstaunt. Das Unbehagen, das er eigentlich empfinden sollte, stellt sich nicht ein. Wir kennen uns noch nicht lange, sagt sie. Sie hat ihre linke Hand ans Gesicht geführt, eine nachdenkliche Pose. Nein, keine Pose, überlegt Thun. Sie denkt wirklich nach. Ich glaube, ich hab trotzdem bemerkt, daß du ein paar ganz gute Ideen hast. Ich meine, was deine Arbeit und das alles betrifft. Das alles. Sie reagiert nicht auf seinen belustigten Ton. Du könntest jemanden brauchen, der dich managt. Zum Beispiel: deine Artikel. Ich finde, die könnten mehr bezahlen. Woher willst du wissen, was ich dafür bekomme? Die Kontoauszüge. Sie liegen drüben auf dem Schreibtisch. Da, wo die Notizen für die Fernsehsendungen liegen. Hast du mal daran gedacht, daß deine Sendung mit einer Frau, mit einer Assistentin meine ich, attraktiver sein könnte? Mit wem diskutierst du eigentlich die Themen, die du aufgreifen willst? Mit niemandem, scheint mir. Sonst kann ich mir nicht erklären, wie die beiden alten Hüte dazwischengeraten sind. Alte Hüte? Was meinst du? Sie sieht ihn prüfend an. Er weiß plötzlich genau, was sie denkt. Sie sagt, was er erwartet hat. Hör mal, noch haben wir keinen Vertrag miteinander. Entweder ich berate dich und wohn dafür 'ne Weile bei dir, oder ich geh jetzt. -68-
Er wird sie nicht gehen lassen. Nun will er hören, was sie zu sagen hat. Rauswerfen kann er sie immer noch. Vertrag! Gut, sagt er, machen wir eine Probezeit ab. Vier Wochen, und du wohnst nicht bei mir, sondern ich werde deine Miete zahlen. Und was du sonst noch so brauchst, sagt er nach einem kurzen Zögern. Er hat ihrem Gesicht angesehen, daß sie von seinem Vorschlag nicht begeistert ist, aber nun steht sie auf, geht nach nebenan und kommt gleich darauf mit der Themenliste zurück, die er zusammengestellt hat, um sie verschiedenen Redaktionen anzubieten. Du mußt dich entscheiden, sagt sie. Was willst du? Geld verdienen oder den Leuten Moral predigen? Wenn du Geld verdienen willst, ist so ein Thema wie »Fremdenhaß Ursachen, Veränderungen« überflüssig. Genauso das hier: »Sexuelle Selbstbestimmung«. Wenn du statt dessen »Das Glück der Unterwerfung« vorschlagen würdest, dann könnte was daraus werden. Thun ist sicher, daß er auch nicht den allerkleinsten ironischen Ton in ihrer Stimme gehört hat. Sie meint vollkommen ernst, was sie sagt. Soll er über ihre Vorschläge nachdenken? Jedenfalls hat sie nun seine Aufmerksamkeit. 10. Dezember Irgend etwas hat meine wunderbar leichte Stimmung zerstört. O nein, es war nichts. Als Kind mochte ich den Sommer nicht. Nicht die Brennesseln und nicht die Fliegen. Nicht die Sonne und nicht den Sand in den Schnürschuhen. Manchmal träume ich von einem Jungen. Er liegt im Gras. Der Boden unter ihm beginnt sich zu bewegen, so, als liege er auf der Oberfläche eines weiten -69-
Wassers. Es gibt keinen Halt. Auch wenn er die Arme bewegen könnte, woran sollte er sich festhalten? Jeder Griff in das Gras neben seinen Händen brächte die ekelhaften Käfer und Spinnen dichter an seine Haut. Er kann die Augen nicht öffnen, ohne sie zu sehen. Wie sie an den Grashalmen hin- und herrutschen, widerliche Marienkäfer. Dann liegt der Junge am Strand und hört neben sich sie und ihn. Worüber reden sie denn? Er hört ihre Stimme, weich und leise, lachend. Wenn er die Augen öffnen würde, könnte er sie sehen. Diesen schwarzen zweiteiligen Anzug, der macht, daß sie nackt aussieht. Ihre rasierten Beine, und sie hat vergessen, daß es an den Innenseiten der Schenkel Haare gibt. Die Falte am Bauch, wenn sie sich aufsetzt und über das Wasser sieht. Ihre Hände, um die Knie geschlungen, und die spitzen, roten Nägel in die Unterarme gekrallt. Er sieht sie durch den winzigen Spalt seiner zusammengekniffenen Augen. Er will die Augen nicht öffnen. Er will sie nicht sehen: braun und nackt mit den roten, spitzigen Nägeln. Und ihn, der den Fuß hebt, aber im Sand liegenbleibt, und seinen Fuß, seinen häßlichen Männerfuß an ihren Rücken schiebt und ihn hochschiebt bis unter die Haare, die ihr gerade bis auf die Schultern reichen; und der vordere Teil des Fußes, seine Zehen mit den gewölbten, zu langen Zehennägeln verschwinden unter ihren Haaren. Und der Junge liegt da und sieht das alles durch einen winzigen Spalt, nicht geschützt, nicht verschleiert, seine Wimpern sind wie die Borsten einer Zahnbürste, weiß und kurz, so daß er immer, immer wenn er die Augen nur ein ganz klein wenig öffnet, auch ein Stück von sich selbst zu Gesicht bekommt. Auch im Sommer ist dies Stück immer weiß und fett und weich und ohne Kontur und immer ist zu wenig Stoff darauf. Irgend etwas hat meine wunderbar leichte Stimmung zerstört. O nein, es war nicht dieser Zettel der Polizei, der mir beim Öffnen des Kästchens in die Hände fiel. Sollen sie nur -70-
kommen. Ich freue mich auf ihren Besuch. Es muß etwas anderes geschehen sein. Irgend etwas hat sich verändert, und ich bin davon betroffen, ohne mich dagegen wehren zu können. Es ist, als sei die Luft wie Schlamm. Später Sie ist wirklich wie Schlamm. Ich ging nach draußen, weil ich es in der Wohnung nicht aushalten konnte. Vielleicht war es so, daß ich versuchte, der Ursache meines Unbehagens auf die Spur zu kommen. Ich trat aus der Tür, ging die fünf Meter auf dem Plattenweg bis zum Bürgersteig und hatte schon das Bedürfnis, mir die Kleider vom Leib zu reißen. Nach fünf Metern, und obwohl ich zwischendurch stehenblieb, um die beiden übriggebliebenen Rosen zu bewundern, die blaßrot und krank und voll erblüht den November überstanden hatten und nun, fast schon in der Mitte des Dezember, plötzlich von Wärme umhüllt sind. Wenn die Wärme noch ein paar Tage anhält, 16 Grad müssen es sein, werden sich ihre Blätter von den Stengeln lösen. Die Wärme, die sie ersehnt haben, wird ihr Unglück sein. Ich ging noch einmal zurück, um einen leichteren Mantel anzuziehen. Zum ersten Mal sah ich die Tür zur Dachterrasse des Nachbarn tagsüber offenstehen. Die ungewohnte Sorglosigkeit eines Stadtbewohners. Gibt es einen Grund, deshalb beunruhigt zu sein. Ich hielt mich eine Weile hinter dem Vorhang auf, betrat auch meine Dachterrasse; drüben rührte sich niemand. Er hatte tatsächlich vergessen, die Tür zu schließen, bevor er gegangen war. Wieder im Freien, wurde mir der Grund meiner Unruhe klar. Es ist diese Wärme, die mich bedrängt. Jetzt, im Dezember, hat sie etwas Krankes, Klebriges, das einen langsam gehen läßt, obwohl man laufen möchte, den Atem flach einziehen läßt, obwohl man tief durchatmen möchte. Am Bahndamm stand ein -71-
Polizeiauto mit eingeschaltetem Blaulicht. Zwei Polizistinnen waren ausgestiegen und starrten den Abhang hinunter. Um das stille Auto - wie merkwürdig, wenn so ein Wagen stillsteht, mit eingeschaltetem Blaulicht, aber ohne Sirenen, verbreitet er eine eigenartige, ungewohnte, geradezu auffällige Stille - hatte sich eine Gruppe von Schülern versammelt. Einige standen auch neben den beiden Beamtinnen und starrten in die Tiefe. Ich ging langsam vorbei, ohne den Rhythmus meiner Schritte zu verändern. Schließlich wußte ich, was sie veranlaßte, dort hinunterzusehen. Das, was ich meine Unruhe nenne, war schon in mir, bevor ich die beiden Schülerinnen gesehen hatte. Auch ihnen war zu warm geworden in den dicken, gesteppten Daunenjacken. Sie hatten die Ärmel der Jacken um ihre Hüften gebunden. Ihre Oberkörper kamen schmal und beinahe nackt daraus hervor. Kein angenehmer Anblick. Bahnfahren an einem warmen Tag im Dezember ist eine besondere Qual für mich. Ich stieg ein paarmal um, ohne zu wissen, wohin die Züge fuhren, und ohne daß die Geruchsbelästigungen ein Ende nahmen. Als ich irgendwo ausstieg, sah ich die Bahnhofsuhr drei anzeigen, und ich begriff, daß es bald dunkel werden würde. Dunkel und warm würde es sein, wenn ich draußen herumliefe, aber es blieb mir nichts anderes übrig, als trotzdem loszugehen. Irgend etwas trieb mich voran. Ich mag es, in einer mir unbekannten Gegend herumzulaufen. Es ist, als fühlte ich mich dann besonders sicher; fast wie ein Glücksgefühl ist diese Sicherheit. Immer weiß ich, daß am Ende der ekelhaften Bahnfahrten dieses sichere Glück auf mich wartet, diesmal auf einem stillen, fast dunklen Waldweg. Ich öffnete meinen Mantel, niemand war da, der erstaunte oder empörte Blicke auf meinen Leib werfen konnte. Welche Stille, welche warme, dampfende Stille. Einoder zweimal kamen mir Läufer entgegen. Ich hörte sie von weitem atmen, kaum ihre Schritte, nur ihr Keuchen, und die -72-
Schritte auf dem weichen Waldboden erst, während sie an mir vorüberliefen. Eine halbe Stunde wohl ging ich und begann, meine Ruhe wiederzufinden, als links vor mir zwei Frauen und zwei Kinder den Abhang hinunterkamen und etwa zwanzig Meter vor mir auf den Weg stießen. Ich hörte die Frauen miteinander lachen. Die Kinder hüpften, begeistert von dem ungewohnten Ausflug in der Dämmerung, über umherliegende Baumstämme. Dabei erregte der Junge meine Aufmerksamkeit. Er trug an den Sohlen seiner Schuhe kleine, rote Lampen, die in der Dämmerung aufleuchteten, wenn er die Füße auf den Boden setzte. Ich überholte die Gruppe nicht. Eine Zeitlang ging ich hinter ihnen her, obwohl man ziemlich langsam ging. Es wurde dunkel, ich sah kaum noch den Boden unter meinen Füßen. Ich war auch nicht sicher, ob man mich da vorn überhaupt bemerkt hatte. Besser: Ich war ziemlich sicher, daß man mich nicht bemerkt hatte. An den kleinen roten Lichtern konnte ich erkennen, daß der Junge vor mir weit voraus lief. Einmal versuchte er, auf einen Baum zu klettern, wurde aber von einer keifenden Frauenstimme zurückgerufen. Diese Stimme war die einzige unangenehme Unterbrechung in der wunderbaren, dunklen, winterwarmen Stille, die uns umgab. Absichtlich ließ ich den Abstand zwischen mir und dem Jungen wohl noch etwas größer werden. Einzig die wenigen, hin und her hüpfenden, auf und ab hüpfenden roten Lämpchen wiesen mir den Weg. Ich war wie verzaubert. Noch nie, so glaubte ich, hatte ich schönere Augenblicke erlebt. Plötzlich waren die Lämpchen verschwunden. Ich blieb stehen, verwirrt, beunruhigt. Weit entfernt war noch immer das leise Lachen der Frauen zu hören. Zu meiner Rechten erkannte ich hinter den Baumstämmen eine glitzernde Wasserfläche. Ich bekam Angst. Was, wenn der Junge in den See gefallen und unbemerkt ertrunken wäre? Weshalb gingen die Frauen weiter, ohne sich um ihn zu kümmern? Weshalb blieben sie nicht stehen und riefen ihn bei seinem Namen? Ich spürte, wie die Angst -73-
verschwand und an ihrer Stelle Wut in mir entstand, Wut, die meinen Atem schneller gehen ließ; auch meine Füße gingen schneller. Ich werde sie strafen müssen. Sie haben meinen kleinen Freund verraten. Sie und dieses kleine Ding, das sie zwischen sich an den Händen halten. Dessen piepsende Stimme ich nun schon hören kann, hören kann, trotz meines stöhnenden Atems. Da plumpst er vom Baum auf den Weg. Steht vor mir, das liebe Jungengesicht zu mir erhoben, lacht, wendet sich ab, läuft davon, die tanzenden roten Lämpchen verschwinden in einem kurzen Augenblick hinter den Schatten der Frauen, die weitergehen, als wäre nichts geschehen, die das Mädchen zwischen sich an den Händen halten. Ich weiß nicht mehr, wie ich auf den S-Bahnhof gekommen bin. Ich fand mich, auf einer Bank sitzend, den Handwurzelknochen der linken Hand zwischen den Zähnen. Es war da ein Schmerz, und ich nahm die Hand aus dem Mund, die zerbissen war. Und naß. Naß von Tränen, glaube ich. Der Bahnsteig war beinahe leer. Zwei Männer kamen die Treppe herauf, denen zwei kleine Mädchen voranliefen. Die Männer trugen Einkaufstüten in den Armen. Die Mädchen mögen acht und zehn Jahre alt gewesen sein. Sie liefen auf dem Bahnsteig herum, unruhig, laut redend, unklar, mit wem sie sprachen. Als der Zug kam, merkwürdig gedämpft erreichten die Geräusche der heranrollenden Bahn meine Ohren, stiegen die Männer und die Mädchen mit mir zusammen in den gleichen Wagen ein. Ich wäre gern allein gewesen, deshalb ging ich ein paar Schritte bis in die Wagenmitte und setzte mich dort auf einen freien Platz. Es waren nicht viele Menschen im Wagen. An dem Geräusch, das die Tüten machten, als einer der Männer sie neben sich auf einer Bank abstellte, konnte ich hören, daß Bierflaschen darin sein mußten. Die Mädchen setzten sich nicht. Auch der zweite Mann war stehengeblieben. Er stand an der Tür, ein grobschlächtiger, jüngerer Arbeiter mit rot -74-
angelaufenem Gesicht, der seine Augen nicht von dem kleineren der beiden Mädchen abwenden konnte. Es war etwas Ungewöhnliches im Blick dieses Mannes. Auch schien mir die Röte in seinem Gesicht nicht von einer Anstrengung herzukommen oder seine normale Gesichtsfarbe zu sein. Sein Blick wechselte zwischen dem Mädchen und dem Mann auf der Bank, der die Tüten mit den Bierflaschen vom Sitz genommen und zwischen seinen Füßen abgestellt hatte. Auch der mit den Bierflaschen grinste. Er war älter als der Mann an der Tür, auch er nachlässig gekleidet, dick vom Bier, mit dunklen, fettigen Haaren. Dasselbe festgefrorene Lächeln, nein, Grinsen klebte auf seinem Gesicht, während er die Mädchen nicht aus den Augen ließ. Sie rannten im Zug herum, lachten und schrien, turnten auf leer gebliebenen Plätzen herum, wobei sie eine merkwürdige Art hatten, den Fahrgästen herausfordernd in die Gesichter zu sehen. Besonders die Ältere, die Zehnjährige, legte ein Verhalten an den Tag, das mir schamlos zu sein schien, irgend etwas Obszönes war in ihrem lauten, lachenden Kreischen. Wohin fahren wir denn? Papa, wohin fahren wir denn? Der mit den Bierflaschen bekam für einen Moment dieselbe rote Gesichtsfarbe wie sein Kumpan an der Tür, der das kleine Mädchen noch immer unentwegt anstarrte, die herumtobte, stumm, nicht lächelnd, und den Mann, der sie beobachtete, nicht wahrzunehmen schien. Ich sah, daß das Gesicht des Mannes an der Tür plötzlich nicht nur rot, sondern dunkelrot anlief. Papa, warum kommt Mama nicht mit? Die Größere saß beinahe auf dem Schoß eines ihr fremden Fahrgasts, schamlos, unzüchtig war ihr lachender Gesichtsausdruck, als sie ihr Gesicht, während sie fragte, ihrem Vater zugewandt hielt. Du weißt doch, daß ihr am Wochenende bei mir wohnt. -75-
Die Männer wechselten Blicke, sahen auf die herumtobenden Mädchen. Ich sah ihren Gesichtern an, daß es ihnen lieber gewesen wäre, die Mädchen hätten sich hingesetzt und geschwiegen. Der, den das größere Mädchen mit »Papa« angeredet hatte, versuchte einmal, mit den Händen nach ihm zu greifen, um es neben sich auf die Bank zu ziehen. Er hatte ungewöhnlich große Hände. Es gelang ihm, das Kind für einen kurzen Augenblick zwischen seine Beine zu ziehen. Nie habe ich einen schamloseren Ausdruck im Gesicht eines Kindes gesehen, als bei diesem, das zwischen den Beinen seines Vaters stand, sich wand, seinen groben Händen entwand, lachend, und kreischend auf die Haltestange zwischen den Türen zustürzte, seinen Körper um diese Stange wand, dabei den Mann, den Freund des Vaters, der mit hochrotem Kopf an der Tür stand, beinahe berührte. Warum wohnen wir denn bei dir? Das verrückte Mädchen schrie die Frage lachend zum Vater hinüber. Die kleinere Schwester hatte sich zu ihr gesellt, beide hingen nun an der Haltestange, sich drehend und kreischend, mit den gleichen geröteten Gesichtern. Du weißt doch, daß Mama und ich... Der Mann sah hinüber zu seinem an der Tür stehenden Freund, der nicht wußte, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Papa, was machen wir denn bei dir, Papa? Die Männer wechselten einen Blick. Der, der an der Tür stand, drehte sich um und sah aus dem Fenster. Der Zug fuhr durch die Dunkelheit, keine Lichter, keine erleuchteten Fenster waren zu erkennen. Es muß ihm seltsam vorgekommen sein, in die Dunkelheit zu starren. Solche Leute wissen mit Dunkelheit nichts anzufangen. Er drehte sich wieder um. Du weißt doch, daß ihr zu mir kommt, und dann essen wir Abendbrot, das weißt du doch. -76-
Das Mädchen ließ die Stange los, fiel beinahe auf den Boden, hielt sich am Knie des Vaters fest, rannte durch den Zug, setzte sich mir gegenüber hin und starrte mich an, lachend. Und was machen wir dann? Der Vater stand auf. Die Flaschen klirrten. Der Zug hielt. Die Männer und die Mädchen verließen miteinander das Abteil. Ich sah sie über den leeren Bahnsteig zum Ausgang gehen. Die Mädchen rannten um die Männer herum. Ich hörte sie lachen. Es klang erleichtert, so, als seien sie froh, dem hellen Zugabteil entkommen zu sein. Vor meinen Augen entstand die unaufgeräumte Küche einer Männerwohnung. Auf dem Küchentisch unter dem Fenster, das hoch lag, vielleicht im fünften oder sechsten Stockwerk eines Wohnblocks, lagen Holzbretter, Leberwurst und Mettwurst in geöffnetem Einwickelpapier lagen dort, ein Plastikbecher mit Margarine stand daneben. Am Tisch saßen zwei Männer, die geöffnete Bierflaschen in den Händen hielten. Die Küchentür stand offen. Über den Flur, dessen Fußboden mit einem langhaarigen, schmutzigen Läufer bedeckt war, lief ein achtjähriges Mädchen im Nachthemd ins Bad. Da nämlich saß die große Schwester in der Badewanne. Ich sah das Bild so deutlich vor mir, ich hatte den Geruch der Wohnung so genau in der Nase, daß ich sicher war, wäre ich ausgestiegen, ich hätte diese Küche gefunden, die hinter einem der erleuchteten Fenster lag, an denen der Zug gerade vorbeigefahren war. Am Hauptbahnhof stieg ich aus. Wieder die klebrige, warme Luft, nun vermischt mit dem Geruch nach Pommes frites, überbackenem Käse und Dreck und Parfüm. Ich ging sehr schnell, um diesen Geruch nicht länger als unbedingt nötig einatmen zu müssen. Trotzdem fiel mir ein Zelt auf, daß vor dem Haupteingang stand. Irgendwann, dachte ich, werde ich mir dieses Zelt näher ansehen, nur nicht jetzt. Ich war -77-
gezwungen, mich langsam durch die Menge zu bewegen, die sich dort angesammelt hatte. Ich hörte eine Frau mit einer anderen reden. Sie sprachen davon, daß sie nur noch wenig Zeit hätten, schließlich sei schon der zwanzigste, und da fiel sie mir wieder ein. Meine geliebte kleine Sonja. Wie hatte ich sie vergessen können. Morgen schon würde ich unser gemeinsames Weihnachtsfest vorbereiten. Sie würde ja kommen. In drei Tagen würde sie kommen. Natürlich bemerkte ich die beiden Autos, die vor der Tür standen. Im Treppenhaus war es still. Aber das hatte nichts zu bedeuten. Sie konnten in einer der Wohnungen sein, um einen dieser surfbrett- oder skischwenkenden Jünglinge nach seinen Beobachtungen zu Marlies Fuchs zu befragen. Mich sollten sie fragen. Ich könnte ihnen ein paar interessante Details erzählen. Nicht aus ihrem Leben, o nein. Die wären doch nun sowieso nicht mehr zu gebrauchen. Mit ein paar hübschen Details vom Sterben könnte ich aufwarten. Kann es sein, daß Sie daran nicht interessiert sind, meine Herren Polizisten? Oder vielleicht besonders interessiert? Mein Zustand war nicht gut, als ich die Wohnungstür hinter mir schloß. Ich spürte, daß meine Knie zitterten. Im Spiegel sah ich, daß meine Haut glänzte. Ich habe solche Zustände. Sie zeigen, daß der Tag mißlungen ist. Alles, was ich brauche, ist seelisches Gleichgewicht. Ich weiß, wie ich es erlangen, und ich weiß, wie ich es behalten kann. Einen Plan, ich brauche einen Plan, an dem ich herumdenken, den ich mir in all seinen Einzelheiten ausdenken und in Gedanken in verschiedenen Varianten durchspielen kann; so lange, bis ich sicher bin, nichts übersehen zu haben. Der Gleichmut, dieses herrliche Gefühl des Gleichmuts, das ich erreiche, wenn alle Möglichkeiten bedacht, jeder Zufall beantwortet, jede Unsicherheit ausgeschlossen ist, genau dieser Gleichmut ist das Erstrebenswerteste, was ich mir vorstellen kann. Fast, natürlich. Ich darf ja die Ausführung nicht vergessen. -78-
Konnte ich in dem Zustand, in dem ich mich befand, Polizisten empfangen? Es gibt ein paar Tricks, aber mir schien, daß ihre Anwendung sich verbot. Also trank ich einen Tee, verzichtete darauf, die Kerzen anzuzünden, ging unter die Dusche, behielt den Bademantel an, ließ auch die Tür zum Bad offen, als sie klingelten, und bat sie herein: ein frisch geduschter Herr, der dabei war, sich zum Ausgehen umzuziehen. Es waren zwei, wie üblich bei solchen Anlässen. Ich mußte mich zusammennehmen, um nicht zu lachen und um sie meine Überlegenheit nicht spüren zu lassen. Schade, daß ich kein Schriftsteller bin; was für brauchbare Vorlagen für dumme, kaputte, schlechtbezahlte, mißgünstige Kreaturen wären sie gewesen. Beide etwa gleich alt (was mir neu war, meist treten sie in der Konstellation jung und alt gemeinsam auf, sozusagen immer ein Lehrling und ein Meister). Diese beiden glaubten offensichtlich nicht, daß einer vom anderen noch etwas lernen könnte. Ich will nicht sagen, daß sie einander mißachteten. Sie waren sich einfach gleichgültig. Ihre miesen kleinen Verhältnisse, ihre sinnlose Arbeit, die schlechte Bezahlung, die ewigen Sorgen um die Ansprüche der Familie, die Regelmäßigkeit, mit der sie einmal in der Woche Ausgang hatten und dann Skat spielten und zuviel Bier tranken, all das hatte diese beiden Männer in Schatten ihrer selbst verwandelt. Nein, ich glaube, das ist falsch. Sie sind diese Schatten schon immer gewesen. Sie gehörten von Anfang an zu denen, die aus unerklärlichen Gründen dazu bestimmt sind, die Masse darzustellen. Und trotz einiger weniger Anzeichen dafür, daß sie sich in der ihnen seit zwanzig oder dreißig Jahren zugedachten Funktion nicht wohl fühlten - der eine kniff unkontrolliert und in unregelmäßigen Abständen das linke Auge zu, und der andere war offensichtlich Alkoholiker im vorletzten Stadium - erfüllten sie diese Aufgabe perfekt. Ich mache mir das Vergnügen, unser Gespräch wörtlich -79-
wiederzugeben. Guten Abend, Herr (Blick auf mein Türschild, dann der Name, der an der Tür steht, und den sie, ohne zu zweifeln, für den meinen halten). Ja, bitte? Es tut uns leid, daß wir Sie so spät noch stören, aber erfahrungsgemäß trifft man die Mieter in Häusern wie diesen tagsüber nicht an. Ja, bitte? Oh, entschuldigen Sie. Wir (solche Leute sagen immer »wir«, sie fürchten sich davor, allein aufzutreten) haben vor ein paar Tagen ein Flugblatt... es geht um die verschwundene Marlies Fuchs... ach so, Kripo Hamburg. Mein Kollege Brunner, mein Name ist Fuchs. Oh. Wollen Sie hereinkommen? Ich bekomme kalte Füße in der offenen Tür. Danke sehr, ja, machen wir. Es wird auch bestimmt nicht lange dauern. Dieser Fuchs, der geredet hatte, stand in der Wohnung, direkt unter dem Deckenlicht. Er war so stumpf wie ein abgebrochenes Obstmesser. In dem anderen waren noch Zeichen von Leben. Jedenfalls wanderten seine Augen einigermaßen flink in der Wohnung umher, kann aber sein, daß er auch nur auf der Suche nach etwas Trinkbarem war. Ich hätte ihm gern etwas angeboten, dachte aber, ich sollte ihn nicht merken lassen, daß ich seinen Zustand erkannt hatte. Sie erinnern sich, was wir gern von Ihnen wissen wollen? Sie haben unser Flugblatt gelesen? Ich... wissen Sie, man liest so viel. Macht es Ihnen etwas aus, mir einfach Fragen zu stellen? Verstehe, nein, selbstverständlich nicht. Wie lange wohnen Sie schon in diesem Haus? -80-
Ich bin Ende Juli hier eingezogen. Kannten Sie Frau Fuchs? Wenn Sie sie mir beschreiben, könnte ich vielleicht... Ihre Freundin (aha, die Freundin hat sie vermißt, hatte das arme Kind keine Eltern? Keinen Freund?) beschreibt sie als dunkelblond, achtundzwanzig, mittelgroß, schlank, ohne besondere Merkmale. Eine ganz normale junge Frau eben. Ich lege mein Gesicht in nachdenkliche Falten, schüttle den Kopf, lächle. Wissen Sie, daß von Frauen, wie Sie eben eine beschrieben haben, ungefähr zehn in diesem Haus wohnen? Sie haben doch bestimmt bei Ihrer Befragung Probleme mit dem Treppenhaus gehabt? Mit dem Treppenhaus? Der Alkoholiker fragt. Er ist mißtrauisch. Aber nicht, weil er mir mißtraut. Er mißtraut seiner Wahrnehmungsfähigkeit. Ich vermute, daß er, bereits mehrmals verwarnt, man weiß ja um die Alkoholprobleme bei der Polizei, tagsüber seine Ration soweit wie möglich herabsetzt. Gegen Abend, immerhin wird es inzwischen sieben Uhr sein, beginnt er nervöser zu werden. Mein Hinweis auf das Treppenhaus, den er nicht gleich versteht, läßt ihn irgendeine unvorhergesehene Verzögerung seines Feierabends befürchten. Er meint die vier Aufgänge, sagt sein Kollege. Ich spüre das Bedürfnis, diesen beiden Pappkameraden einen kleinen Vortrag über die Konstruktion von Treppen auf den Bildern von Escher zu halten, kann mich aber gerade noch besinnen. Man wirkt nicht mehr harmlos, wenn man zuviel redet, zu klug redet, zu freundlich redet mit den Hütern des Gesetzes. Sie werden mißtrauisch, weil man für sie den Eindruck erweckt, als gäbe es etwas zu verbergen. Ja, sage ich, es dauert eine Weile, bis man sich im -81-
Treppenhaus zurechtfindet. Ich habe zwei oder drei Wochen dazu gebraucht. Auch, weil man eben immer andere Menschen trifft. Hier wird, glaube ich, sehr viel ein- und ausgezogen. Also, Sie haben Frau Fuchs nicht gekannt. Das ist keine Frage, eher eine Feststellung. Der Körper des Durstigen strebt zur Tür, obwohl er sich nicht von der Stelle bewegt und seine Augen noch immer durch das Zimmer wandern. Es reizt mich, ihn noch ein wenig zu piesacken. Habe ich das Flugblatt richtig in Erinnerung, sie hat im Parterre gewohnt? In der Wohnung Nr. 4, ja, hinten links. Ja, denke ich, da, wo das Fenster beinahe zu ebener Erde liegt. Dahinter, ihr Lieben, gibt es einen Erdwall. Laut sage ich: Ich erinnere mich an eine Frau, auf die die Beschreibung zutreffen könnte. Sie kam ein paarmal morgens an den Briefkasten, wenn ich spazierenging. Ein bißchen schlampig, schien mir. Aber es war wohl Sonnabend. So eine Aufmachung, als wollte sie den Tag zu Hause und im Bett verbringen. Unfreundlich, ziemlich unfreundlich, aber so sind hier viele im Haus. Wann, glauben Sie, könnte das gewesen sein? Ich setze eine nachdenkliche Miene auf. Mir wird klar, daß ich aufhören muß zu reden. Ich hasse mich in diesem Augenblick. Ich spüre die Schwierigkeit, den Redestrom, der in meinem Innern anwächst, zurückzuhalten. Ich fürchte, wenn diese beiden Männer nicht so schnell wie möglich verschwinden, werde ich reden und reden, ihnen mein Herz öffnen, sie umarmen, ihnen die Füße küssen. In der letzten Zeit nicht, sage ich. Ich ziehe den Bademantel enger um mich herum. Mir ist kalt. Die Herren haben mich beim Baden unterbrochen. Ja, dann nichts für ungut, sagt der, der sich mit Fuchs -82-
vorgestellt hat. Ich unterdrücke die Frage, ob er mit Marlies Fuchs verwandt ist. Sie sollen gehen, sie sollen gehen. Wenn Ihnen noch etwas einfällt - er holt seine Karte aus der Manteltasche und hält sie mir hin. Ich nehme sie entgegen. Die Anstrengung, die es mich kostet, meinen Arm dabei ruhig zu halten, ist groß. Danke, sage ich und gehe an ihnen vorbei zur Tür. Ich öffne die Tür, halte sie offen, lächle, sie marschieren brav an mir vorbei, grüßen, ich schließe die Tür hinter ihnen, lehne mich von innen dagegen, plötzlich ganz ruhig horche ich ihren Schritten nach, die die Treppe hinuntergehen, leiser werden, nicht mehr zu hören sind. Erst jetzt gestatte ich mir, meinen Tränen ihren Lauf zu lassen. Nach einer Weile ging ich zurück ins Wohnzimmer, stellte mich an die Stelle, auf der der Alkoholiker gestanden hatte, und suchte den Raum mit seinen Augen ab. Was hatte er gesehen? Das Sofa mit den darauf liegenden Kleidungsstücken, den aufgeräumten Schreibtisch, die kleine Küche im Hintergrund, die geöffnete Tür zum Schlafzimmer, die Tür zur Dachterrasse. Nichts, was ihn hätte mißtrauisch machen können. Ich stand noch und sah auf die Dachterrasse hinaus, als gegenüber das Licht anging. Ich ging zurück ins Bad, machte dabei im Wohnzimmer das Licht aus, kam im Dunkeln wieder herein und setzte mich auf das Sofa, um die Wohnung drüben zu betrachten. Sie lag vor mir wie ein Bild aus einem Stummfilm. Er war nicht allein gekommen. Diesmal war die Frau bei ihm, die ich bereits kannte, die Ehefrau, wie ich sie nenne. Die beiden betraten nacheinander das Zimmer. Mir war bei ihrem Anblick sofort klar, daß der entscheidende Augenblick gekommen war. Er würde sie loswerden und gegen die Junge eintauschen wollen. Die Szene, der ich beizuwohnen gedachte, -83-
konnte nur diese Bedeutung haben. Vielleicht waren sie so miteinander beschäftigt, daß sie gar nicht bemerkt hatten, wie mein Licht ausgegangen war. Jedenfalls taten sie so, als fühlten sie sich unbeobachtet. Er war an der Tür stehengeblieben. Sie war weitergegangen bis in die Mitte des Zimmers. Nun wandte sie sich zu ihm um und sah ihn an, ohne etwas zu sagen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Ich sah, daß er zu sprechen begann, sich aber nicht von der Stelle rührte. Sie sah ihn ruhig an, ohne zu antworten, ohne sich zu bewegen. Schließlich wandte sie sich ab, ging ein paar Schritte bis in die Küche, kam gleich darauf zurück. Sie hatte nun die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Er stand noch immer in der Tür und sprach auf sie ein. Sie ging langsam auf ihn zu, immer noch, ohne etwas zu sagen. Im selben Augenblick, als mir klar wurde, was sie vorhatte, sah ich, der Winkel war jetzt günstig, das Messer, das sie auf dem Rücken in ihren Händen hielt. Ich stand auf und ging etwas näher heran. Die Dunkelheit würde mich schützen. Dabei wünschte ich ihr Glück. Ich hatte den Mann da drüben von Anfang an nicht leiden können. Die Frauen zu wechseln, wie schmutzige Wäsche gegen saubere, war ein Charakterzug, den ich ihm schon beim ersten Anblick zugetraut hatte. Daß so jemand auch nur die Frau hat, die seinem mickerigen Format entspricht, sollte mir im nächsten Augenblick bewußt werden. Die Dame war unfähig, sich ihres untreuen Liebhabers zu entledigen. Als sie vor ihm stand, ließ sie das Messer fallen, schlang ihre Arme um seinen Hals und brach in Geschrei aus. Ich sah, daß der Mann seine Arme hob, nicht, weil er sie um die Schultern der jammernden Frau legen wollte, sondern um sie von sich wegzuschieben. Das Gefühl, mit dem ich meinen Vorhang zuzog, um die Vorstellung zweier jämmerlicher Amateurdarsteller in einem schlechten Liebesfilm zu beenden, kann ich nur mit »tiefem Ekel« beschreiben. Sonja, meine liebe Sonja. -84-
Ich zog mich an, nahm den Schlüssel zu ihrer Wohnung aus dem Kästchen mit den Fotos und ging hinunter. Anscheinend bin ich ein paar Tage nicht dort gewesen. Die Erde der Blumentöpfe, die sie, die Liebe, Gute, in der Küche für mich zusammengestellt hatte, ist ausgetrocknet. Ich goß die Töpfe, setzte mich in die Mitte der Wohnung, sie ist kleiner als meine, ein wenig wie eine Puppenstube, schien mir, und begann darüber nachzudenken, wie ich sie dekorieren sollte. Wir werden ein schönes Weihnachtsfest haben. Da bin ich ganz sicher. Obwohl die Wohnung irgend etwas hat, das mich stört. Ich saß da und sah umher, um herauszufinden, was das sein könnte. Ich glaube, es sind zu viele Dinge darin, die mit -chen enden. Deckchen, Tischchen, Töpfchen, Blümchen, Kästchen. Und was für ein niedliches Bettchen, an das ich meinen Rücken lehne. Zu klein für mich. Überhaupt komme ich mir vor wie ein dicker rosa Ballon, der auf dem Boden liegt und langsam anschwillt. Irgendwann werde ich die ganze Wohnung ausfüllen, bis hin zu den Wänden, bis an die Decke wird meine Hülle wachsen. Diese -chens werde ich umschließen. Sie werden verschwinden, die -chens meiner kleinen Sonja. So wie das Kästchen, das dort drüben steht und in dem sie sicher ihre niedlichen kleinen Geheimnisse aufbewahrt. Ich stand auf, ging an das Tischchen in einer Nische und nahm den Kasten in die Hand. Es war eines dieser Schubladenschränkchen, wie man sie in Läden mit chinesischem Tee, Jadefiguren und bemalten Teetassen findet, aus dunklem Holz, mit goldfarbenen Metallbeschlägen an den Ecken und eingelegten Elfenbeinschnitzereien auf den Türen, hinter denen sich die Schubfächer verbergen. Obwohl das Schränkchen schwer war und einen durchaus soliden Eindruck machte, waren die Elfenbeinschnitzereien durch Kunststoff ersetzt worden. Ich nahm es in die Hand. Die untere Schublade fiel heraus. Sie fiel mit der metallbeschlagenen Kante auf -85-
meine Zehen, und weil sie zu schwer war und weil ich die Schuhe ausgezogen hatte und barfuß war, tat ich mir sehr weh. Ich setzte mich auf den Fußboden und begann, die herausgefallenen Schmuckstücke aufzusammeln - billiges Zeug aus farbigem Kunststoff, eine kleine Glasperlenkette, ein Medaillon aus goldfarbenem Metall an einer goldfarbenen Kette. Das Medaillon trug auf einer Seite die Aufschrift Charis. Darunter war ein lieblicher Mädchenkopf abgebildet. Die andere Seite zierte ein aufgeprägter Blumenstrauß in der Art alter holländischer Meister und eine darum herum kreisförmig angeordnete Inschrift: Der Strauß, den ich gepflücket, grüßet dich viel tausend Mal. Sieh an, romantisch ist sie, meine kleine Sonja. Ich werde diesen Blumenstrauß zu unserem Fest arrangieren, meine Kleine. Ich legte das Medaillon zurück, schob die herausgefallene Schublade in den Schrank und sah nun erst, daß die darüberliegenden Türen mit einem Vorhängeschloß gesichert waren. Das Schloß hatte eine ungewöhnliche Form, wie ein verschlossener Werkzeugkasten etwa, den der Handwerker am Griff transportiert, solange er verschlossen ist. Nirgends war ein Schlüsselloch zu sehen, dafür an der Vorderseite zierliche Vögel und winzige Blumen, die in das Metall eingeritzt waren, und rechts unten an der Seitenwand ein schmaler Schlitz. Sie ist nicht klug, meine kleine Sonja. Weshalb verschließt sie ihre dummen Geheimnisse und legt den Schlüssel zum Schloß dazu? In der Schublade, die ich gerade eingeräumt hatte, befand sich ein schmales Metallstück, aus zwei beweglichen Metallstäbchen zusammengesetzt und mit einer kleinen Metallschlaufe über dem Gelenk versehen. Eins der Stäbchen war etwas länger und trug an seiner Spitze eine Art Kralle, die aus zwei Gliedern bestand. Der Schlüssel. Ich schob das Krallenteil in den Schlitz, das Schloß war offen. Das Geheimnis meiner Kleinen war profan. Zwischen billigen, -86-
unechten Schmuckstücken - ein paar Plastikohrringe aus rosa und gelben übereinandergeklebten Dreiecken sind mir als besonders häßlich in Erinnerung geblieben - fand ich einen Brief. Ich las: An das Bezirksamt Hamburg-Mitte Abteilung für Gesundheit od. Hygiene Sehr geehrte Herren, ich möchte Sie darauf hinweisen, daß hinter Haus Nr. 23 in unserer Straße sich eine Katzenansammlung befindet, die ständig größer wird. Zur Zeit sind es etwa zwanzig, die sich dort täglich aufhalten. Ich bitte Sie, dagegen einzuschreiten, da die Katzen eine Belästigung darstellen. Eine Anwohnerin. Ich fand noch einen Zettel mit folgender Notiz: Charis=Grazie. Sie verleihen jungen Mädchen Schönheit und verteilen sanfte und liebliche Gaben. Ich will mir nicht verhehlen, daß ich das Schränkchen angeekelt beiseite gestellt habe. Angeekelt und beschämt. Beschämt über mich, da ich mir Illusionen gemacht habe über den Charakter der kleinen Schlampe. Ich bin der, der die sanften und lieblichen Gaben verteilt. Ich bin es, von dem Schönheit verliehen werden wird. Eine bleiche, sanfte, liebliche Schönheit wird sie sein, wenn wir unser Fest gefeiert haben. Ich spüre, daß die Traurigkeit kommt. Ich will schlafen. Dieser Tag war sehr lang und sehr anstrengend für mich. Es war nicht klug, die Polizisten im rosa Bademantel zu empfangen. Aber sie sind dumm. Sie werden sich nicht an einen dicklichen Mann erinnern, der weiße Haut hat und einen rosa Bademantel trägt. Der jetzt in der Tasche des Bademantels einen anonymen Brief zwischen den Fingern fühlt. Der jetzt ins -87-
Bett kriechen und vor Einsamkeit und Enttäuschung weinen wird. Brunner Brunner und Fuchs sind die Treppe hinuntergegangen. Unten im Hausflur sind sie neben der Klingelanlage stehengeblieben, weil Brunner seinen Kollegen um eine Zigarette gebeten hat. Fuchs hat sich darüber gewundert, denn er kennt Brunners Gewohnheiten: entweder Rauchen oder Trinken. Er hat den Eindruck, daß Brunner in den letzten Wochen mehr getrunken hat, als ihm guttat. Deshalb gibt er dem Kollegen die Zigarette mit einem Gefühl vorsichtiger Erleichterung. Sollte die Saufzeit mal wieder beendet sein? Mir wird übel, sagt Brunner, nachdem er zwei Züge aus der Zigarette genommen hat. Sie stehen noch immer neben der Klingelanlage. Die kleinen bunten Schildchen verschwimmen vor Brunners Augen. Hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß du seit Tagen nichts Festes mehr in den Magen gekriegt hast. Los, komm, gegenüber ist ein Grieche. Auf der Straße schlägt ihnen viel zu warme Luft entgegen. Die Straße wird auf beiden Seiten dreispurig befahren. Die nächste Ampel ist für Brunners Zustand zu weit entfernt. Die beiden brauchen eine Weile, um hier hinüber zu kommen. Auf dem Mittelstreifen bittet Brunner den Kollegen um eine zweite Zigarette. Er wirft den Stummel weg, als sie das Lokal des Griechen erreicht haben. Es ist kurz nach sieben und damit zu früh. Die Tische sind leer. Am Tresen sitzt ein Pärchen im Fitnessdress, neben den Barhockern liegen Beutel, wahrscheinlich mit irgendwelchen Utensilien, die nach Meinung der Sportindustrie zum Sporttreiben nötig sind. Brunner spürt, daß sein Magen zu schmerzen beginnt. In seinem Mund läuft Wasser zusammen. Er verschwindet im Waschraum. Sein Kollege läßt sich an -88-
einem der Tische nieder und sieht hinüber zum Tresen. Der Hintern der Frau im hellblauen, glänzenden Trainingsanzug hängt an beiden Seiten über die Sitzfläche des Barhockers. Der Mann neben ihr hat eine merkwürdig piepsende Stimme. Die Griechin hinter dem Tresen ist so klein, daß sie von Fuchs' Platz aus kaum zu sehen ist. Fuchs winkt ihr zu, und sie kommt mit zwei Speisekarten an seinen Tisch; eine freundliche, ältere Frau, die ihn mit sanfter Stimme nach seinen Wünschen fragt. Brunner erscheint in der Tür des Waschraums. Was willst du trinken, ruft Fuchs. Brunner möchte Wasser. Unterwegs zum Tisch bleibt er neben dem Vorhang stehen, der die Außentür verdeckt und zieht aus dem Automaten ein Päckchen Zigaretten. Und Streichhölzer, bitte, ruft er hinter der kleinen Frau her. Fuchs findet ihn blaß, als er am Tisch Platz nimmt, aber er sagt nichts darüber. Sie schweigen, bis die Frau das Wasser und ein großes Bier auf den Tisch gestellt hat. Die Streichhölzer gibt sie Brunner in die Hand. Und? fragt Fuchs. Was denkst du? Ich denke, daß mir Häuser wie das, in dem wir eben waren, ziemlich zuwider sind. Nicht die Häuser, natürlich, aber die Leute. Was glaubst du, was die Wohnungen kosten? Soviel teure Klamotten wie heute abend hab ich lange nicht auf einem Haufen gesehen. Wo kriegen eigentlich so junge Leute so viel Geld her? Denen glaub ich gern, daß keiner den anderen kennt. Fuchs trinkt sein Bier und sagt noch immer nichts. Er kennt die Gegend, in der sein Kollege wohnt. Auch wenn Polizisten nicht soviel Geld verdienen, um in Häusern wie dem da drüben zu wohnen, in so einem Viertel wie Brunner würde er nie wohnen wollen. Er hat auch nie verstanden, weshalb der da hockt. Der Mann ist aus keinem Grund zu beneiden. Irgendwas Neues von deiner Frau? fragt er. Brunner antwortet nicht. Er zündet sich eine neue Zigarette -89-
an, die fünfte, rechnet Fuchs nach. Er wird nicht mehr weiter fragen. Dafür kennt er Brunner zu gut. Irgendwann wird der damit rauskommen, was eigentlich los ist. Die Griechin kommt und erkundigt sich, was sie essen möchten. Das Essen haben sie vergessen. Fuchs bestellt Bratkartoffeln und gefüllte Hacksteaks für beide. Brunner beginnt zu reden: Ich hab mir die Wohnung von dem Kerl genau angesehen. Aus irgendeinem Grund paßt der nicht in das Haus. Oder? Bißchen zu alt, meinst du das? Ich weiß nicht, antwortet Brunner. Zu alt, ja, vielleicht. Ich werd ihn mir nachher mal genauer ansehen. Willst du noch mal hin? Ach was, im Büro. Mal sehen, ob er wirklich im Juli eingezogen ist. Und wo er vorher gewohnt hat. Das kannst du genausogut morgen machen, sagt Fuchs. Die Griechin bringt das Essen. Brunner hat keinen Appetit, zwingt sich aber, den Teller wenigstens zur Hälfte leer zu essen. Fuchs möchte noch ein Bier. Brunner überlegt einen Augenblick, bevor er ein zweites Wasser bestellt. Er weiß nicht genau, woran er dabei denkt. Er hat einfach das Gefühl, er muß nun einen klaren Kopf haben. Wann dieses Gefühl entstanden ist, kann er genau rekonstruieren. Er hat in der Wohnung gestanden und dieser Kerl, den Fuchs »rosa Riese« nennt, stand links von ihm. Er hat sich routinemäßig in der Wohnung umgesehen, während Fuchs dem Mann die üblichen Fragen gestellt hat. In der Wohnung hat er nichts Verdächtiges entdeckt. Dann hat er seinen Blick auf den Mann gerichtet. Und er hat diesen Ausdruck entdeckt, der nicht zu den gelassenen Reden paßt. Das ist nur ein sehr kurzer Augenblick gewesen. Es war so, als gäbe es in der Wohnung irgend etwas Verräterisches, irgendeinen Zipfel Stoff, ein Ding, das da nicht hingehört oder nicht weggeräumt worden ist. Und dieser Mann -90-
hat auf gar keinen Fall gewollt, daß er diesen Stoff oder dieses Ding oder was auch immer entdeckt. Nun sag schon, fängt Fuchs noch einmal an. Du hast doch was. Was hab ich übersehen? Wenn ich es weiß, werd ich es sagen. Es war nichts da, nur so ein Gefühl. Hübsches Mädchen, die Kleine, die wir auf der Treppe getroffen haben. Überhaupt 'ne Menge hübscher Mädchen in diesem Haus. Brunner schweigt. Vor Fuchs' innerem Auge erscheinen eine Reihe von Bildern: hübsche Mädchen, die stumme Tochter von Brunner und dieser dicke Kerl im Bademantel. Er findet es plötzlich kompliziert, mit Brunner zusammenzuarbeiten. Sie machen das schon seit einigen Jahren. Er hat den Kollegen nicht hängenlassen, als das Unglück mit der Tochter passiert ist. Brunner hat schon vorher getrunken, aber dann ist es eine Weile ziemlich schlimm geworden. Seine Frau hat nichts getaugt. Er hat sie ein paarmal beobachtet, auf irgendwelchen Betriebsausflügen. Sie hat sich ziemlich locker benommen. Zuletzt wurden vorher Wetten darüber abgeschlossen, wen sie diesmal an Land ziehen würde. Brunner schien das ziemlich egal zu sein. Jedenfalls ist er immer ruhig geblieben. Daß er trank, wußte man ja. Und zusammen nach Hause sind die beiden immer. Manche haben behauptet, sie geilen sich so neu auf und machen dann zu Hause die dollsten Sachen. Bis das mit dem Mädchen passiert ist. Von da an ist die Frau nicht mehr mitgekommen. So hatten sie auch gar nicht bemerkt, daß sie ihm weggelaufen war. Muß ungefähr zwei Jahre her sein. Irgendwann, sie hatten nach einem Ermittlungseinsatz in einer Kneipe gesessen, so wie jetzt, nur daß er sich vorgenommen hatte, mit Brunner über die Sauferei zu reden, hatte der von selbst davon angefangen. Sie ist weg, euer Flittchen, hatte er gesagt. Und er, Fuchs, obwohl er gleich gewußt hatte, wer gemeint war, hatte sich beleidigt gefühlt. -91-
Du weißt ganz genau, daß ich mich da rausgehalten habe, war seine Antwort gewesen. Und Brunner hatte »ist doch nun auch egal« gesagt und noch ein Bier und einen Doppelten bestellt. Gemessen an seinem damaligen Zustand ging es im Augenblick bergauf mit ihm. Ist dir auch schon aufgefallen, daß die Mädchen immer hübscher werden, je älter man wird? fragt Fuchs. Dann kommt ihm, er weiß nicht genau weshalb, irgend etwas peinlich vor an seiner Frage. Ich setz dich im Büro ab, sagt er, aber langsam muß ich meinen Hintern mal in Richtung Heimat bewegen. Woll'n wir? Er winkt der kleinen Frau hinter dem Tresen zu. Es ist nun leichter, über die Straße zu kommen. Der Feierabendverkehr ist vorbei. Brunner scheint es besser zu gehen. Er ist nicht mehr so blaß, und seine Schritte sind fester geworden. Ich geh zu Fuß, sagt er, ein bißchen Bewegung wird mir guttun. Wir sehen uns morgen. Er winkt Fuchs zu, der am Auto stehengeblieben ist und nach dem Schlüssel sucht. Fuchs sieht ihm nach. Komischer Kerl, denkt er, man weiß nie genau, woran man bei ihm ist. Aber 'n ziemlich guter Polizist, wenn er nicht zuviel geladen hat. Könnte sein, daß er 'ne Spur hat, ein Gefühl, wie er sagt. Ist wahrscheinlich die einzige Sorte von Gefühl, die er kennt. Mir soll's recht sein. Zufrieden, endlich den Autoschlüssel gefunden zu haben, steigt Fuchs ein und muß gleich darauf an einer Ampel noch einmal anhalten. Er sieht Brunner vor dem Wagen über den Zebrastreifen gehen, die Hände in den Taschen seiner Jacke, den Kopf gesenkt, als müsse er gegen Sturm anlaufen. Möchte wissen, was er jetzt denkt, überlegt Fuchs, aber dann zeigt die Ampel Grün, er fährt an und beginnt, darüber nachzudenken, ob es sein kann, daß heute Elternabend war und -92-
wenn ja, wie er seiner Frau erklären soll, daß er nicht daran gedacht hat. Brunner benutzt den schmalen Weg hinter dem Polizeihochhaus am Berliner Tor, um den Steindamm zu erreichen. Niemand begegnet ihm. Der Verkehrslärm kommt hier nur noch gedämpft an. Der Himmel ist rot vom Licht der Leuchtreklamen und hat tiefhängende Wolken, die die Ursache zu sein scheinen für die warme, klebrige Luft, die ihn umgibt. Vor den Läden der Türken auf dem Steindamm stehen die üblichen Kamelhaarmantelmänner, und drinnen fuchteln verschreckt aussehende Jungen in weißen Schürzen an Salatschüsseln und Halvaplatten herum. Im Savoy-Kino läuft seit Wochen der Titanic-Film. Brunner, der gern ins Kino geht, hat ihn gesehen und war enttäuscht. Heiße Luft, hat er Fuchs am nächsten Tag erklärt. Purer Gigantismus, erschlägt jedes Gefühl. Dauernd denkt man darüber nach, wie sie das wohl gemacht haben. Das Schicksal der Passagiere vergißt man dabei. Vor einem Peepshow-Laden bleibt er stehen. Der Türsteher nickt ihm auffordernd zu. Er weiß, wie es drinnen riecht und ist nicht ganz sicher, ob er sich die Luft schon zumuten kann. Er beschließt, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Die Frau liegt auf einer hohen Drehscheibe, die silbern angestrichen ist und mit Silberstoff bezogene Polster hat. Sie trägt schwarze Strümpfe ohne Strumpfhalter und Schuhe mit sehr hohen Absätzen. Die Haare zwischen ihren Beinen sind schwarz und buschig. Sie liegt auf dem Rücken, stützt die Ellenbogen auf und spreizt sehr langsam die angehobenen Beine auseinander. Es gibt keine Gedanken mehr, nur dieses große, schwarze Fell und die rote Spalte dazwischen. Dann ruft jemand aus der Nachbarkabine »nicht so faul« mit einer angespannten, geilen Stimme, und Brunner schließt seinen -93-
Hosenschlitz und verläßt den Kasten. Auf der Straße tritt der Portier an ihn heran. Du kannst sie auch richtig haben, sagt er leise. Heute im Sonderangebot. Allein oder zu zweien. Auch eine Frau und zwei Männer. Greif zu, Kumpel, sie sind heute günstig. Ist schon gut, sagt Brunner, auch günstig ist zuviel für mich. Er fühlt sich müde und so, als wäre er gar nicht vorhanden. Am Hauptbahnhof hat eine Elterninitiative ein paar Tapetentische zusammengestellt und Berge von Plastiktüten mit belegten Broten, Obst und Getränken darauf gestapelt. Halbverhungerte Drogensüchtige stürzen sich auf den kostenlosen Proviant. Brunner ist unangenehm berührt von ihrer Schamlosigkeit. Inmitten gutgekleideter Bürger wirken sie verwahrlost und ganz ohne Bedenken, daß irgend jemand Anstoß nehmen könnte an ihrer hemmungslosen Zurschaustellung von Hunger. Brunner beneidet die Kollegen in der Wache am Hauptbahnhof nicht. Er hat Verständnis dafür, daß sie manchmal gezwungen sind, hart durchzugreifen. Dieselben Eltern, die ihre Kinder verkommen lassen, jammern, wenn die Polizei sie hart anfaßt. Er wird seiner Tochter ein besonders schönes Stück Kuchen mitbringen. Der Verkäuferin hinter dem Tresen fallen vor Müdigkeit beinahe die Augen zu. Sie packt ihm ein Stück Aprikosenkuchen ein, verrechnet sich, als sie Brunner das Wechselgeld herausgibt und lächelt ihn dankbar an, als er sie auf ihren Irrtum aufmerksam macht. Die Mönckebergstraße ist leer wie immer am Abend. Vor ein paar Monaten hat Brunner in Berlin einen Kurs besucht. Da hat er zum ersten Mal gesehen, daß die Innenstadt einer Großstadt abends auch belebt sein kann. Seither kommt ihm Hamburg wie ein Provinznest vor. Merkwürdigerweise haßt er nun Berlin, obwohl ihm das bewegte Leben dort durchaus gefallen hat. Für die Luxusläden, an denen er vorbeigeht, bevor er sein -94-
Büro in den Hohen Bleichen erreicht, hat er keinen Blick. Er kennt die Markennamen der Waren nicht, die dort ausgestellt sind. Als er vor einem Papiergeschäft stehenbleibt, um sich eine Zigarette anzuzünden, hält er den Preis eines Bogens Geschenkpapier zunächst für einen Irrtum. Da hat jemand das Komma falsch gesetzt. Nicht zwölf Mark, sondern eine Mark und zwanzig Pfennig muß es heißen. Im Büro ist die Luft schlecht. Er öffnet das Fenster zum Innenhof. Dann nimmt er die Flasche aus der Schublade und betrachtet sie lange. Schließlich legt er sie zurück, schließt die Schublade ab und steckt den Schlüssel ein. Im Computer sucht er die Listen des Einwohnermeldeamts. Der Mann ist tatsächlich seit Juli in dieser Wohnung gemeldet; aus Bergedorf zugezogen, davor in Lüneburg wohnhaft gewesen. Weder in Bergedorf noch in Lüneburg wird er jetzt jemanden erreichen. Er beschließt, am nächsten Tag dort nach ungeklärten Fällen zu fragen. Aber viel Hoffnung hat er nicht. Diese Orte sind nicht so weit weg, von irgendwelchen Besonderheiten hätte er wenigstens am Rande erfahren. Brunner zieht seine Jacke an und geht. Im Ausgang fällt ihm ein, daß er den Kuchen im Büro vergessen hat. Er geht noch einmal zurück. Unterwegs überkommt ihn ein so starker Drang nach einem Schnaps, daß ihm der Schweiß ausbricht, obwohl ihm kalt ist. Aber er weiß, daß er nicht nachgeben wird. Er wird nicht mehr trinken, bis er diesen Kerl überführt hat. Was immer der Mann auch getan hat. Er wird ihn kriegen, da ist er ganz sicher, auch wenn er sich jetzt wie ein Wrack die Treppe hinaufschleppt und froh ist, daß ihm niemand begegnet. Thun Thun hat Beata durch das Treppenhaus nach unten begleitet, ist neben ihr hergegangen bis zum Auto, hat ihr einen sanften Kuß auf die Wange gegeben und sie mit dem Versprechen verabschiedet, sie anzurufen und sich mit ihr zu verabreden. -95-
Sie hat ein Treffen »auf neutralem Boden« verlangt, dem er als Zugeständnis an ihren verletzten Stolz und aus praktischen Gründen gern zugestimmt hat. Auf dem Rückweg in seine Wohnung läuft er den beiden Polizisten in die Arme, die ihn, da sie sich nicht daran erinnern können, ob sie ihn schon befragt haben, und weil sie durch das für sie verwirrend angeordnete Treppenhaus die Orientierung verloren und keine Lust mehr haben, an Türen zu klingeln, an denen sie schon waren, einfach auf der Treppe anhalten. Die Befragung ist kurz, da Thun ihnen erklärt, er lebe erst seit wenigen Wochen im Haus und könne deshalb die Frau, nach der sie sich erkundigen, gar nicht kennen. Die Männer notieren seinen Namen, die Nummer seiner Wohnung und bedanken sich höflich. Während er weiter die Stufen hinaufgeht, hört er einen der beiden dem anderen den Vorschlag machen, sie sollten ihre Befragung beenden. Einen Versuch machen wir noch, antwortet der andere. Diesen Aufgang haben wir, glaube ich, noch nicht befragt. Er hört ihren Schritten nach. Sie bewegen sich auf das gegenüberliegende Treppenhaus zu. In seiner Wohnung schaltet Thun das Licht ein. Automatisch wirft er einen Blick hinüber zur Nachbarwohnung. Drüben sind die Vorhänge zugezogen. Dahinter scheint kein Licht zu brennen. Er setzt sich an den Schreibtisch, um sich auf die Patienten vorzubereiten, die er für den nächsten Tag bestellt hat. Schon nach wenigen Minuten spürt er, daß es ihm schwerfällt, sich zu konzentrieren. Er legt den Bleistift beiseite, steht auf und beginnt, in der Wohnung herumzuwandern. Mechanisch sieht er durch die Scheibe der Terrassentür auf die gegenüberliegende Wohnung. Immer noch zugezogene Vorhänge. Die Dachterrasse davor ist leer bis auf ein langes Brett, das an die Hauswand gelehnt wurde. Thun bleibt hinter seiner Tür stehen, betrachtet die Pflanzen, die in großen Töpfen auf der Terrasse stehen und denkt flüchtig an Beata, nackt und -96-
mit der Gießkanne zwischen den Kübeln hantierend. Der Himmel über den Dächern, von dem er einen Ausschnitt sehen kann, ist dunkel und vom Licht der Großstadtlampen rot gefärbt. Thun findet, daß das Rot ungesund und hektisch aussieht. Er wendet sich ab; setzt seine Wanderung durch die Wohnung fort und beginnt erneut darüber nachzudenken, was ihn so beunruhigt, daß er sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren kann. Natürlich ist Ina dafür verantwortlich, aber er braucht drei Gänge durch die Wohnung, um es sich einzugestehen. Dann aber, nachdem ihr Name unmißverständlich in seinen Gedanken aufgetaucht ist und sich nicht wieder vertreiben läßt, will er der Sache auf den Grund gehen. Was ist so beunruhigend an Ina? Sie ist jung, sie ist schön, sie ist nicht dumm. Sie ist mit seiner Arbeit vertraut und hat offenbar großes Interesse an seinem Fortkommen. Sie bewundert ihn, jedenfalls, wenn er ihre Blicke und einige ihrer Sätze richtig interpretiert. Unwillkürlich geht ein Lächeln über sein Gesicht. Es ist von der gleichen Qualität wie das Lächeln aller Männer, die von einer Frau gelobt werden. Nie ist es ein dankbares oder bescheidenes Lächeln. Immer bringt dieses Lächeln zum Ausdruck, daß nicht eine bestimmte Eigenschaft oder eine besondere kleine Leistung gelobt wurde, sondern daß der Herr der Herrlichkeit ein ihm zustehendes Lob für seine unvergleichliche Erscheinung auf Erden huldvoll und gnädig lächelnd entgegennimmt. Trifft so ein Lob einen der Herren in Gesellschaft, so ist oft noch ein längerer Vortrag zu einem niemanden interessierenden Thema die Folge. Thun muß sich damit begnügen, bei seiner Wanderung durch die Wohnung beifallheischend in den Garderobenspiegel zu sehen. Ihm fällt aber ein, daß Ina davon gesprochen hat, später am Abend noch kommen zu wollen. Er nimmt sich vor, ihr den Fall einer besonders schwierigen Patientin zu erläutern und sie um ihre Meinung dazu zu fragen. Auf dem Weg zum -97-
Schreibtisch verfliegt seine Hochstimmung so schnell, wie sie gekommen ist. Sie ist nicht weich, diese Ina. Es ist dieses Harte, Zielstrebige an ihr, das ihn beunruhigt. Er hat gern Frauen, die hingebungsvoll sind, nicht dumm oder aufdringlich, aber im richtigen Augenblick hingebungsvoll. Auch Ina hat sich ihm hingegeben. Sie war aufregend, erregend ist das treffendere Wort. Und trotzdem: Wenn er darüber nachdenkt, dann war sie sogar in Augenblicken höchster Lust immer auf eine bestimmte Art wach, die ihn irritiert hat. Weshalb irritiert ihn ihre Wachheit? Er ist doch niemand, der dumme Frauen liebt. Weshalb spürt er tief verborgen unter Begehren und geschmeichelter Eitelkeit, auch unter der Zufriedenheit, eine Partnerin gefunden zu haben, die ihm in seiner Arbeit nützliche Dienste erweisen wird, trotz allem so etwas wie Beunruhigung, ja Angst, wenn er an Ina denkt? Weil ihr Interesse an ihm nicht selbstlos ist. Die Erkenntnis überrascht ihn so sehr, daß er stirnrunzelnd stehenbleibt. Ja, das ist es. Genau das ist der Grund: Sie wird alles für ihn tun, aber was sie tut, wird für sie selbst nicht ohne Nutzen sein. Sie hat Pläne, die mit ihm, mit seiner Arbeit, ja, vielleicht sogar mit seiner Existenz nichts zu tun haben. Mag sein, daß Ina ihn liebt, mindestens in ihn verliebt ist, aber im entscheidenden Augenblick wird sie sich nicht für ihre Liebe, nicht für ihn, sondern für sich selbst entscheiden. Und das beunruhigt dich, Thun? Nicht mehr, denkt er, geht, nun leise lächelnd, zurück an den Schreibtisch und beginnt, die Papiere zusammenzulegen, die darauf verstreut sind. Er hat nun keine Lust mehr, mit Ina über Patienten zu sprechen. Er hat Lust, mit ihr zu schlafen. Er hat Lust, sich zu vergewissern, daß er ihr überlegen ist. Er hat sie durchschaut. Was man kennt; muß man nicht fürchten. Eine halbe Stunde später kommt Ina. Thun sitzt vor dem -98-
Fernsehgerät und betrachtet die Gesichter von Männern, die gern Krieg machen würden. Ina hält eine Zeitung in der Hand, sagt aber nichts, setzt sich neben Thun auf die Lehne des Sessels. Gemeinsam sehen sie das Ende der Sendung zum Tod von Ernst Jünger an. »Wir sind gewohnt, den Tod, etwa durch Krankheit oder Unfall, als Ursache zu sehen, die das Leben beschließt. Das ist ein Irrtum, es ist vielmehr das Leben, das den Tod herbeiruft, wenn es in einen neuen Stand eintreten will.« Die Stimme des Sprechers klingt ehrfürchtig. Ja, sagt Ina. Und es scheint tatsächlich noch genügend Männer zu geben, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die praktische Seite dieser verquasten Weltsicht zu übernehmen. Jedenfalls eine originelle Interpretation von Krieg. Sie legt die Zeitung, die sie nicht aus den Händen gelegt hat, Thun auf die Knie, steht auf, geht in die Küche und kommt gleich darauf mit einer Flasche Rotwein und zwei Gläsern zurück. Hast du gelesen? Thun, der damit beschäftigt ist, darüber nachzudenken, ob die dunklen Sätze aus Dichtermund, die er in der Sendung gehört hat, nur Silbengemurmel sind oder vielleicht doch einen faßbaren, überprüfbaren Kern enthalten, was soll man zum Beispiel von einem Satz halten, der heißt: »Wenn Unzerstörbares lebt, dann wird es bleiben, auch wenn das Universum sich in Dynamit verwandelt, die Erde zerspringt«? - unterbricht seinen Gedankengang und wendet sich Ina zu. Er hat nicht gelesen. Ina nimmt ihm die Zeitung von den Knien und liest laut: »Angst breitet sich aus. In Hammerbrook, einem Stadtteil, den seine Bewohner gern als den vergessenen Stadtteil bezeichnen, breitet sich Angst aus. Dem grausigen Fund am Bahndamm - wir berichteten über den tödlichen Sturz einer Rollstuhlfahrerin vor wenigen Tagen - scheint kein -99-
Unglücksfall vorausgegangen zu sein. Gründliche Untersuchungen der Kriminalpolizei haben ergeben, daß die Frau nicht von selbst den Bahndamm hinuntergestürzt sein kann. Sowohl die angezogenen Bremsen als auch die Standspur des Rollstuhls, die sich deshalb gut überprüfen ließ, weil der schwere Körper der Frau die Räder des Rollstuhls ungewöhnlich tief in den aufgeweichten Boden eindrückte, lassen darauf schließen, daß die Frau gewaltsam den Bahndamm hinabgestürzt wurde. Nun fragt die Kripo, ob Anwohner in der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember die Rollstuhlfahrerin in Begleitung einer kräftigen Person gesehen haben. Beobachtungen können bei jedem Polizeirevier gemeldet werden. Ob das Verschwinden einer weiblichen Person aus einer Wohnung in der Nähe des Unglücksortes mit dem tödlichen Sturz der Rollstuhlfahrerin zusammenhängt, konnte der Sprecher der Polizei beim augenblicklichen Stand der Ermittlungen noch nicht beantworten.« Ja und? Gibt es einen Grund, weshalb ich mich mit einer Horrormeldung, wie man sie täglich in jeder Zeitung lesen kann, befassen soll? Thun spricht in belustigtem Ton. Seine neue Freundin kommt ihm in diesem Augenblick wie ein junges Mädchen vor, das keine Lebenserfahrung hat und von ihm in die Geheimnisse des Lebens eingeweiht werden wird. Der Gedanke gefällt ihm sehr. Der Bahndamm führt hinter diesem Haus vorbei, sagt Ina. Und die beiden Polizisten, die mich auf der Treppe angehalten haben, versuchten, Auskünfte über eine Frau zu bekommen, die anscheinend aus diesem Haus verschwunden ist. Sind sie denn noch nicht bei dir gewesen? Polizisten? Nein. Doch warte, auf der Treppe haben mich zwei Männer angehalten und gefragt, wie lange ich schon in -100-
diesem Haus wohne. Ich glaube, es waren Polizisten. Und? Was hast du gesagt? Mein Gott, Ina, was soll ich ihnen gesagt haben! Daß ich hier seit ein paar Wochen wohne. Und daß ich von den Leuten im Haus bisher noch niemanden kennengelernt habe. Ina sieht Thun schweigend an. Was ist? Was soll daran falsch sein? Mehr hatte ich wirklich nicht zu sagen. Was haben sie denn von dir gewollt? Genau das gleiche, antwortet sie. Ihre Stimme klingt versonnen. Sie spricht langsam, nachdenklich, so, als sei ihr eine Idee gekommen, die noch zu unklar ist, um sie auszusprechen. Sie geht zum Tisch und schenkt die Gläser voll. Thun hat inzwischen den Sender gewechselt und sieht gleichzeitig fasziniert und angeekelt einer Vergewaltigungsszene zu. Ein junges Mädchen, absichtlich naiv dargestellt, wird in einen Hinterhalt gelockt, in dem das Sofa bereitsteht, auf dem sie von einem Mann ausführlich vergewaltigt wird; eine Art Vergewaltigungsanleitung wird da gegeben, die so weit geht, daß dem Täter empfohlen wird, sein Gesicht unter einer Ledermaske zu verbergen. Thun hat genug gesehen und schaltet um. Einen Augenblick hört er den Ausführungen eines Kommentators zu, der zu bedenken zu geben versucht, daß sich die internationale Staatengemeinschaft nicht ungestraft auf der Nase herumtanzen lassen könne. Dem Regime im Irak müsse endlich gezeigt werden - Thun schaltet um. Die letzten Stunden der Karla Fay Tucker. Jubelnde Menschen, die die Nachricht von der Hinrichtung einer jungen Frau begeistert beklatschen. Sie sind geil, sagt Ina. Weißt du, wann die letzte öffentliche Hinrichtung in den USA stattgefunden hat? Keine Ahnung, sag's mir. In den dreißiger Jahren, in Kentucky. Was glaubst du, wie -101-
viele Menschen als Zuschauer dabei waren? Vermutlich ein paar tausend. Ich finde dieses Thema übrigens nicht geil, eher unangenehm. Wir sollten von etwas anderem sprechen. Es waren mehr als dreißigtausend Zuschauer, antwortet Ina. Dreißigtausend geile Zuschauer. Wieviel, glaubst du, würden heute kommen, wenn man es ihnen erlaubte? Thun schaltet das Fernsehgerät aus. Zu spät, um nicht zu sehen, daß die Menschen während des Wartens auf die Hinrichtung der Tucker mit Werbespots unterhalten werden. Das, sagt Ina, während sie Thun ein Rotweinglas in die Hand gibt, war bestimmt eine Rekordeinschaltquote für die Werbung. Was glaubst du, wieviel Geld die für so einen Sendeplatz hingelegt haben. Sie trinkt ihren Wein in großen Schlucken, schneller, als es seine Qualität eigentlich erfordern würde. Sie trinkt, bis das Glas leer ist, sagt »ah« und lehnt sich im Sessel zurück. Sie sitzt Thun gegenüber, der sie die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hat. Er stellt fest, daß er sie begehrt, daß sie ihm aber gleichzeitig auf eine neue, ungewöhnliche Weise fremd ist. Es reizt ihn, diese Fremdheit zu zerstören, aufzuheben, wegzuwischen, so, wie man die Staubschicht auf einem altersblinden Spiegel wegwischt und darunter plötzlich ein klares Bild sehen kann. Ja, denkt er, der Vergleich ist völlig richtig. Ich wische die Schicht weg, die uns trennt, und darunter ist nichts als hartes, klares Glas. Aber sie gefällt mir sehr. Was siehst du mich so an? Du bist schön, sagt Thun. Er stellt sein Glas auf den Fußboden und lehnt sich auffordernd im Sessel zurück. Ina steht auf und beginnt, sich auszuziehen. Später sitzen sie, feucht vom Duschen und eingewickelt in weiße Bademäntel in der Küche und trinken. Thun ist zufrieden, daß er wenigstens -102-
»die Staubschicht« entfernt hat. Er kennt nun Inas Körper. Wahrscheinlich bilde ich mir ein, daß da noch etwas anderes ist, denkt er. Aber was auch immer das sein soll, bedrohlich ist es nicht. Er ist inzwischen sicher, daß er der Überlegene ist. Er muß dieses Mädchen nicht fürchten. Ich hab übrigens vorhin auf der Treppe nicht nur die Polizisten getroffen, sagt Ina. Sie hat sich eine Zigarette angezündet und sieht Thun nachdenklich an. Kennst du eigentlich diesen Menschen, der in der Dachwohnung gegenüber wohnt? Woher sollte ich. Ein paarmal habe ich ihn am Fenster gesehen, einmal auf der Terrasse, glaube ich. Er scheint früh schlafen zu gehen. Keine Ahnung, ob er arbeitet oder was er sonst tagsüber treibt. Hast du ihn dir genauer angesehen? Ina. Warum sollte ich einen wildfremden Mann, der noch nicht einmal den gleichen Treppenaufgang benutzt wie ich, genauer ansehen? Ist etwas Besonderes an ihm? War er es, den du im Treppenhaus getroffen hast? Soweit ich mich erinnere, sieht der Kerl ziemlich nichtssagend aus. Wie man's nimmt, sagt Ina. Ich finde ihn eigentlich eher unheimlich. Thun lacht und schenkt sich ein weiteres Glas Rotwein ein. Die Lampe über dem kleinen, an der Wand angebrachten Küchentisch wirft einen kreisrunden Schein auf die weiße Tischplatte. Die Wohnung liegt im Dunkeln, nur aus der geöffneten Tür des Badezimmers fällt ein breiter Lichtkeil auf den Fußboden davor. Es ist still hier oben auf dem Dach. Nur hin und wieder ist das Hupen eines Lkws zu hören oder die Sirene eines Polizeiautos. Du weißt also nicht, was der Mann macht? Ich meine, ob er arbeitet, womit er sein Geld verdient, ob er Freunde hat? -103-
Ina, nun laß mal diesen Mann. Weshalb sollte er sich von den anderen Hausbewohnern unterscheiden? Die Leute hier im Haus verdienen gut, sonst könnten sie sich die Wohnungen nicht leisten. Sie sind unabhängig - oder hast du hier schon mal eine Familie mit Kindern gesehen? Und sie genießen das Leben, was man unter anderem an den verschiedenen Sportmode-Klamotten sehen kann, die zwischen Treppenhaus und Auto spazierengeführt werden. Vielleicht ist der da drüben ein bißchen zu dick für einen flotten Aerobicanzug. Aber als Gewichtheber könnte ich ihn mir ganz gut vorstellen. Die Frau aus dem Haus, die verschwunden ist, hatte weder einen Aerobicanzug noch ein Auto. Sie scheint ziemlich viel gearbeitet zu haben. Und allein war sie abends auch. Woher weißt du das? Ach, die Zeitung hat über sie geschrieben. Buchhalterin, glaube ich. Eine uninteressante Person. War auch nur eine Idee. Mir ist der Mann einfach unheimlich. Ich traf ihn, nachdem ich mit den Polizisten gesprochen hatte. Er ging an mir vorbei, sah mich nicht an, und trotzdem hatte ich ein Gefühl, als beobachte er mich. Es war, als hätte er nicht mit den Augen, sondern mit seinem Körper gesehen, mit der Haut. Das hört sich interessant an. Mit der Haut, sagst du. Wahrscheinlich der erste in der Reihe von Grottenolmen, in die sich die Menschheit langsam zurückverwandelt? Du nimmst mich nicht ernst. Stimmt, mein Kleines. O nein, entschuldige. Das ist es nicht. Ich weiß nur nicht, weshalb wir unseren Abend damit verbringen sollen, uns mit diesem unbedeutenden, meinetwegen auch unangenehmen Nachbarn zu beschäftigen. Weil es sein könnte, daß der Mann gefährlich ist. Ina. Du könntest genausogut jeden anderen Mann im Haus, jeden anderen Mann in der Straße für den Mörder - jetzt rede ich auch schon diesen Blödsinn. Kann ja sein, daß diese Frau -104-
im Rollstuhl mit Gewalt die Böschung hinuntergestürzt worden ist. Aber die Frau aus dem Haus ist bisher lediglich verschwunden. Es weiß doch überhaupt noch niemand, was aus ihr geworden ist. Geht es da nicht ein bißchen zu weit, einen höchstwahrscheinlich Harmlosen gleich zum Doppelmörder zu machen? Laß uns davon aufhören, bitte. Wir haben, ich habe eine Patientin, über deren Geschichte ich mit dir sprechen will. Und wir sollten den Artikel noch einmal durchgehen. Gut, lassen wir den Kerl. Jedenfalls jetzt. Versprich mir aber, ihn zu beobachten. Nicht aufwendig, natürlich nicht. Aber wenn du ihn siehst, merk dir doch einfach mal die Zeiten, ja? Ja, ich merk mir die Zeiten. Wenn's dich beruhigt, schreibe ich sie sogar auf. Ich mache eine Liste - hier, so. Thun steht auf, geht zum Schreibtisch und kommt mit einem neuen Blatt Papier und einem Bleistift zurück. Hier, oben drüber kommt »Die Bewegungen des Riesen«. Dann machen wir Spalten: Gekommen, Gegangen, Licht an, Licht aus, Besonderes. Ist es so recht? Ina überhört die Ironie in seiner Stimme absichtlich. Sie streckt ein nacktes Bein aus, öffnet mit dem Fuß Thuns Bademantel und berührt seinen Bauch. Das ist wunderbar, sagt sie, »Die Bewegungen des Riesen«. Du hast eine so schöne Sprache. Der hingerissene, leicht blöde Ausdruck, der auf Thuns Gesicht erscheint, zeugt davon, daß er ihr glaubt. Beata Nachdem Thun zurück ins Haus gegangen war, er hatte nicht gewartet, bis sie anfahren würde, war sie noch einmal in Tränen ausgebrochen. Es hatte eine Weile gedauert, bis ihr klar wurde, daß vor dem Haus des Geliebten zu stehen und zu heulen für eine Frau wie sie unwürdig war. Also hatte sie den -105-
Wagen in Bewegung gesetzt und war, immer noch heulend, losgefahren. Etwa in Höhe der Einmündung in die Straße an der Außenalster waren ihre Tränen versiegt. Eher übrigens, weil tränenverschleierte Augen beim Fahren hinderlich sind, als weil sie ihren Schmerz schon vergessen gehabt hätte. Beata Gollwitz ist eine praktisch veranlagte Frau. Auch ihr Verhältnis mit Thun, den sie als psychischen Berater aufgesucht hatte und der erst nach der vierten oder fünften Sitzung zu ihrem Geliebten geworden war, hat durchaus praktische Züge gehabt. Das war einer der Gründe, weshalb sie nicht ohne weiteres bereit war, ihren Geliebten aufzugeben. Wenn sie sich mit ihm traf, tagsüber - sie hatte sich schon seit langem jemanden gewünscht, mit dem sie tagsüber ins Bett gehen konnte, weil sie den ehelichen Beischlaf, der offenbar immer nur abends vollbracht werden mußte, tödlich langweilig fand -, brauchte sie keine Ausrede zu erfinden. Sie mußte, um die erotische Spannung zu erhalten, nur darauf achten, daß ihre Therapiestunden nicht immer zur gleichen Zeit und am gleichen Tag stattfanden. Männer hatten anscheinend einen merkwürdigen Hang zur Ritualisierung bestimmter, vor allem auch erotischer Handlungen. Thun, der sich einbildete, Beata erobert zu haben und auf diese Eroberung eine Zeitlang sehr stolz gewesen war, weil sie ihm den Zugang zu einer gesellschaftlichen Schicht zu ermöglichen schien, der er gern angehört hätte, war leicht von Beatas »Verrücktheiten« zu überzeugen gewesen. Gerade am Anfang ihrer Beziehung hatte sie versucht, ihm die Vorzüge des Geschlechtsverkehrs zu unregelmäßigen Tageszeiten zu erläutern. Wie wunderbar, konnte sie zum Beispiel sagen, wie wunderbar frisch die Luft an einem Sommermorgen ist. Die Autoschlangen haben sich aufgelöst, nur ein paar Radfahrer sind noch unterwegs, auf den Rosen in den Vorgärten liegt Tau, die Luft ist weich, und man hört sogar Vogelstimmen. Beinahe so, wie wenn du am Morgen auf dem Land -106-
aufgewacht bist und ein Tag im Garten, unter dem blühenden Kirschbaum, liegt vor dir. Du mußt nur noch die Fenster öffnen und die Welt in Besitz nehmen. An so einem Morgen zu lieben ist einfach wunderbar. Oder sie kam an einem Winterabend. Im Treppenhaus brannte ein warmes Licht. Die Hausbewohner waren unterwegs, kamen von der Arbeit, gingen in die gemeinsame Waschküche, einige, schon feingemacht, verließen zum Ausgehen das Haus. Draußen regnete und stürmte es. Ein endloser, stinkender, hupender Strom von Autos fuhr auf der Straße vorbei. Beata aber betrat Thuns Wohnung, trug nichts als ein durchsichtiges Etwas unter ihrem Pelzmantel, liebte ihn voller Verzweiflung über die Häßlichkeiten der Welt, denen sie tagsüber begegnet war. Seine Wohnung wurde zur stillen Insel in einer lauten Chaos-Welt, nur dadurch, daß sie sie zur stillen Insel erklärte. Einmal war sie mittags mit zwei auf Aluminiumfolien verteilten Mahlzeiten gekommen, korrekt gekleidet, und hatte ihn genötigt, das Kantinenessen zu probieren, für dessen Erhalt ihr Mann einer vom Konkurs bedrohten Firma eine größere Zuwendung gemacht hatte. Glaubst du, daß das Essen annehmbar ist, hatte sie ihn gefragt. Natürlich, es ist nicht aus dem Le Canard, aber es ist doch nicht schlecht, oder? Und sie hatte angefangen, ganz beiläufig angefangen, ihre Bluse aufzuknöpfen, so daß sie schließlich beide nackt vor diesen Aluminiumfolien gesessen und dann neben dem Küchentisch auf dem Fußboden gelegen hatten. Auf den Tellern waren Königsberger Klopse gewesen, und die Erinnerung an das »Plopp«, mit dem die Fleischknödel anschließend in Thuns leerem Mülleimer gelandet waren, hat Beata jetzt in den Ohren, während sie ihren Wagen in Richtung Wellingsbüttel durch den abendlichen Berufsverkehr nach -107-
Hause steuert. Sie hat oft darüber nachgedacht und nie wirklich verstanden, wie Menschen eigentlich funktionieren. Und sie hat den Verdacht, den sie aus taktischen Gründen nie laut geäußert hat, daß auch der Psychologe Thun darüber eigentlich nichts weiß. Er wußte sicher auch nicht, weshalb nämlich gerade dieses »Plopp«, mit dem die Fleischklopse in den Mülleimer gefallen sind, auf sie nun wie eine Art Signal zum Widerstand wirkt. Ihre Zweifel an Thuns Fähigkeiten hat sie übrigens noch mehr vor sich selbst als vor Thun verborgen gehalten. Beata nämlich ist eine ganz normale Frau, die sich wie die allermeisten Frauen auf der Welt ihre Kenntnisse und Erkenntnisse über die Qualitäten des männlichen Geschlechts nicht eingestehen darf. Würde sie das tun, müßte sie augenblicklich begreifen, daß nichts und niemand da wäre, auf den sie sich stützen könnte. Sie würde den Halt verlieren, von dem sie glauben soll, daß sie ihn braucht. Sie müßte anfangen, für ihr Leben verantwortlich zu sein. Sie würde ihre geborgte Sicherheit verlieren. Sie würde sich fürchten. Sich aber fürchten, ohne zu begreifen, daß diese Furcht einen Sinn hat, weil sie ein Anfang wäre, wer will das schon? Zu Hause angekommen, wartet Beata darauf, daß sich die Einfahrt öffnet. Über die halbhohe Mauer hinweg kann sie in die erleuchteten Fenster des Arbeitszimmers ihres Mannes sehen. Er sitzt, wie immer um diese Zeit, am Schreibtisch und liest seine Zeitung. Sie weiß, daß das Mädchen ein kleines Abendbrot im Eßzimmer auf den Tisch gestellt hat, bevor es sich in sein Zimmer zurückgezogen hat. Beata wird ihr Gesicht ein wenig herrichten, bevor sie ihren Mann begrüßt und mit ihm zusammen das Abendessen einnimmt. Nach dem Essen wird sie ein Bad nehmen. Ihr Mann weiß, daß die Therapiestunden anstrengend sind. In der Wanne liegend, wird sie einen Plan machen, wie sie Thun zurückgewinnen kann. Während sie die Haustür aufschließt, stellt Beata erstaunt fest, -108-
daß sich ihre Stimmung vollkommen gewandelt hat. Sie ist geradezu zuversichtlich. Während sie die Stufen zur Garderobe hinaufsteigt, sinnt sie darüber nach, womit diese Stimmungsschwankung zusammenhängt. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als sie auf den Anblick ihres lesenden Mannes am Schreibtisch seines Arbeitszimmers zurückzuführen. Leise lächelnd hängt sie ihren Mantel weg und betritt die Diele. 11. Dezember Man kann nicht wissen wollen, was man geträumt hat. Aber auch, wenn man nicht an den Traum denkt, wenn man sich zwingt, nicht an ihn zu denken, ist er da. Er steckt im Körper. Auf eine böse Art will er Wirklichkeit werden. Alle Handlungen will er bestimmen auf sein Ziel hin. Wenn du den Traum nicht kennst, kennst du an solchen Tagen dein Ziel nicht. Nach dem Aufstehen ertappte ich mich dabei, daß ich wieder auf der Stelle stand, die der Polizist am vergangenen Abend eingenommen hatte. Ich sah mit seinen Augen, aber wieder sah ich nichts, das zu Beunruhigung Anlaß hätte geben können. Ich hatte auch beim ersten Mal nichts gesehen. Mir fiel ein, daß ich, sollte dieser Mann versuchen, mein Gegner zu werden, besser über ihn Bescheid wissen müßte. Die Visitenkarte, die ich bekommen hatte, war noch in der Tasche des Bademantels: Peter Fuchs, Kriminalhauptkommissar, Polizeidirektion Mitte, Hohe Bleichen 19. Fuchs war der andere gewesen. Aber es war ein Anfang. Ich habe lange überlegt, von wo aus ich ihn anrufen sollte. Ich brauchte eine uneinsehbare Telefonzelle, die keine Rückschlüsse auf dieses Haus zuließ. Außerdem sollte dort so viel oder so wenig Betrieb sein, daß sich hinterher niemand an den Benutzer des Telefons würde erinnern können. Schließlich entschied ich mich gegen ein Restaurant und für den Bahnhof Altona. Ich war sicher, dort nicht aufzufallen, auch wenn ich beim Sprechen einen Schal vor den Mund halten -109-
würde. Ich hatte nicht bedacht, daß der Gestank in diesem Bahnhof, die bettelnden Nichtsnutze, der Anblick einer zerlumpten Frau, die ihre Habe in Plastiktüten bei sich trug, eine unerträgliche Belastung darstellen würden. Ich vergaß mein Vorhaben vorübergehend, wohl auch wissend, daß nichts und niemand mich drängte. Die Frau war betrunken. Ich ging ihr nach, als sie den Bahnhof verließ. Ich glaube, daß ich ihr nachging, um dem Gestank nach Essen, den bettelnden Jugendlichen zu entkommen. Aber weshalb gerade ihr? Habe ich geahnt, daß sie den Weg zur Elbe einschlagen würde? In der Parkanlage vor dem Museum begann ich, darüber nachzudenken, was ich mit ihr anfangen sollte. An einem normalen Vormittag im Winter sind in dieser Gegend kaum Menschen. Sie würde sich irgendwo eine Bank suchen, um darauf ihren Rausch auszuschlafen. Es war immer noch zu warm für die Jahreszeit. Ich benutzte den Bürgersteig. Ungefähr in Höhe des Eingangs zum Museum wurde mir die Bedeutung meines Traums klar. Ich begann, mich wieder wie in einem Traum zu fühlen. Weit weg waren alle Geräusche. Laut war nur das Blut in meinen Ohren. Die Frau, die überflüssig war, die niemand vermissen würde, die so dringend meine Behandlung brauchte, wurde zu einer winzigen Figur, sehr weit entfernt, die ich nicht aus den Augen lassen durfte, um sie nicht zu verlieren. Hinter dem Altonaer Rathaus überquerte sie die Straße. Natürlich war ihr Ziel eine Bank in den Elbuferanlagen. Mir wurde sehr warm, auch das gehört zum Traum, weiche, warme Stille und das Blut - so laut. Aus so einem Traum aufzuwachen, ist ernüchternd. Ich hasse den Moment, in dem ich begreife, daß alles vorbei ist. Im Bahnhof waren mir nun, merkwürdig genug, der Essensgestank und die Zerlumpten gleichgültig. Ich rief von -110-
der Telefonzelle aus, sorgfältig das Ende meines Schals vor den Mund gelegt, diesen Herrn Fuchs an. Im letzten Augenblick, der Hörer am anderen Ende der Leitung war schon abgehoben, fiel mir ein, daß die Geräusche um mich herum verraten würden, von wo telefoniert wurde, und ich legte auf. Ich mußte einen ruhigen Ort suchen, einen Ort mit Wohnzimmer-Atmosphäre. Sie durften nicht denken, jemand, der mit ihnen Kontakt aufnehmen wollte, sei in eine öffentliche Telefonzelle gegangen, um seine Identität zu verbergen. Auf dem Weg nach Hause kam mir eine glänzende Idee. Ich würde sie anrufen und, falls sie den Anruf zurückverfolgen sollten, gleichzeitig ärgern, ohne mich zu verraten. Ich muß bis zum Abend warten, vielleicht auch die Nacht abwarten, aber dann werde ich telefonieren. Ich bin froh. Meine kleine Sonja ist mir eingefallen, und daß ihre Wohnung für unser Weihnachtsfest geschmückt werden soll. Ich habe eine große Tüte mit allerlei Glitzerkram mitgebracht, der ihr gefallen wird. Wie gern würde ich schon jetzt damit beginnen, die Wohnung herzurichten. Es ist zu hell, um die Wirkung der Kerzen zu prüfen. Ich werde noch ein paar Stunden warten müssen. Später Es ist alles so einfach, wenn man seine Handlungen gründlich plant. Eine kleine Unwägbarkeit war die Frage, ob das Telefon noch angeschlossen sein würde. Aber zuerst habe ich mir eine Freude gemacht. Mir und Sonja. Ich glaube, ihre Wohnung ist nun wunderschön. Um das Kopfende des Bettes habe ich eine glitzernde rosa Girlande gewunden. Überall stehen Kerzen. Ich mußte sie auf kleinen Tellern befestigen, weil die Gute nur zwei Leuchter hat. Für den Eßtisch fand ich ein weißes Laken. Auch Teller, Gläser und Besteck sind schon aufgelegt. Die Baumwollhandschuhe waren sehr praktisch. Nichts ist -111-
häßlicher als Fingerspuren auf zarten Gläsern. Ihre Wohnung ist klein, winzig beinahe. Ich werde das Essen nicht dort zubereiten können, ohne den Essensgeruch im Zimmer zu haben. Soll ich das Essen kommen lassen? Noch ist Zeit zum Überlegen. Später Gegen zwölf in der Nacht ging ich zum Telefonieren. Es war, wie ich gedacht hatte. Das Telefon von Marlies Fuchs war noch nicht abgestellt. Von der Rückseite, an der das Fenster liegt, ließ sich leicht einsteigen. Ich bin sicher, daß mich niemand gesehen hat. Im Kommissariat meldete sich ein Mann, der mir bereitwillig Auskunft gab. Der Partner des Kollegen Fuchs heiße Brunner. Er sei früh ab 9.00 Uhr zu sprechen. Als ich den Verschlag verließ, spürte ich, daß ich die ganze Zeit über versucht hatte, so wenig wie möglich zu atmen. Der Geruch nach dieser Frau war widerlich. Bis eben war ich damit beschäftigt, eine Telefonzelle zu finden, um dort unter Brunner nach der Adresse des Herrn zu sehen. Es gibt zweiundsiebzig Brunner, davon scheiden neunundzwanzig aus, weil sie weiblich sind oder andere Berufe angeben. Ich hatte gedacht, ich könnte die Adresse leichter herausfinden, ohne ihn auf dem Weg vom Dienst nach Hause zu beobachten. Die Gefahr, bei so einer Beobachtung zufällig entdeckt zu werden, ist auch bei großer Umsicht nicht zu unterschätzen. Nun werde ich mich wohl doch damit befassen müssen. Ich muß wissen, wo Brunner lebt, wie er lebt, was er tut, wenn er Feierabend hat. Nur so kann ich ihn mir, wenn es nötig werden sollte, ohne Schwierigkeiten vom Hals schaffen. 12. Dezember Ich träumte: Sie will ein Fest geben. Sie braucht dafür meine Wohnung. Ich soll ausziehen, aber zuerst soll ich putzen. Es -112-
darf kein Stäubchen in der Wohnung sein, wenn die Gäste kommen. Es wird alles vorher geprüft werden. Ich weiß, daß meine Wohnung sauber ist. Weshalb krieche ich auf dem Fußboden herum und suche nach Schmutz? Weshalb sind meine Hände und Knie schmutzig? Woher kommt der Schmutz? Wenn ich die grauen Linien zwischen Wand und Fußboden entferne, verwandeln sie sich in graue Bänder aus Staub. Zusammengeklebter, locker gepreßter Staub kommt aus den Ritzen zwischen Wänden und Boden, sowie ich dorthin fasse. Sie steht hinter mir, sieht mich herumkriechen, lacht so laut, daß ich endlich aufwache. Bevor ich aufgewacht bin, habe ich ihr Gesicht gesehen. Sie sah so aus wie bei unserer letzten Begegnung. Das Gesicht hat sie mir hinterlassen. Ich wollte es nicht haben. Aber sie wollte, daß ich es bekomme. Immer gibt es Nachbarn, die glauben, sie müßten Gutes tun. In Wirklichkeit wollen sie nur ihre Neugierde befriedigen. Je mehr sie sich einmischen, desto mehr erfahren sie. Bei uns gab es nichts zu erfahren. Ich ging weit weg und kam nicht wieder. Sie konnten nicht mehr aus den Fenstern hängen und lächeln, wenn ich Mutter spazierenfuhr. Jawohl: Ich habe die alte Frau verlassen, weil ich endlich an mich denken wollte. Dies war der schwerste Entschluß in meinem Leben gewesen. Ich bin stolz darauf, daß ich nicht zurückgekommen bin. Ich habe überlegt, ob ich sie töten soll. Jawohl: Ich habe überlegt, ob ich meine Mutter töten soll. Als ich begriff, daß ich nicht dazu in der Lage war, bin ich gegangen. Jawohl. Ich weiß nicht, wie die Nachbarn herausgefunden hatten, wo ich wohne. Es ist eine Illusion zu glauben, daß man in diesem Land davor sicher sein kann, daß man gefunden wird, wenn man keine besonderen Maßnahmen ergreift. Es blieb mir nichts anderes übrig, als hinzugehen. Ich ging, weil sie mir sagten: sie stirbt. Und so war es auch. Ein paar standen am Gartenzaun. -113-
Ich versuchte, sie zu übersehen. Im Haus traf ich den Arzt. Rufen Sie mich, wenn es ausgestanden ist, sagte er. Es kann nicht mehr lange dauern. Ich hörte seine Schritte die Treppe hinuntergehen und daß hinter ihm die Haustür ins Schloß fiel. Ich dachte, daß ich auf der Treppe stehen bleibe und warte. Später hab ich mich hingesetzt. Dann bin ich hineingegangen. Sie lebte. Sie saß aufrecht im Bett und sah mir entgegen. Sie hatte auf mich gewartet. Sie war schon tot, sie hatte nur noch auf mich gewartet. Sie war nicht bei Sinnen, glaube ich. Es kam ein Laut aus ihrem Mund. Sie wollte etwas sagen. Aber sie fiel zur Seite, da lagen Kissen, und so lag sie, tot, auf großen weißen Kissen, und hielt mir ihr häßliches Gesicht hin. Sie hielt es mir hin, daß ich es mitnehme, daß ich es nicht vergesse, sondern immer bei mir trage. Ich kann sie überlisten. Nur im Traum bin ich manchmal zu schwach. Nach solchen Träumen geht es mir nicht gut. Das sind die Tage, an denen ich mich ablenken muß. Kann der Versuch, unter Einhaltung besonderer Vorsichtsmaßnahmen die schäbige Wohnung eines Polizisten auszukundschaften, auch Ablenkung sein? Ich will es wenigstens probieren. Später Es war so leicht. Kurz nach fünf verließ er sein Büro. Ich bin ihm in großem Abstand gefolgt, obwohl er keinen Verdacht haben konnte. Aber in dieser Sache ist der Zufall gefährlich. Er ging zur U-Bahn am Gänsemarkt. Unterwegs kaufte er einen kleinen Blumenstrauß. Einen Augenblick der Gefahr gab es auf der Treppe am Bahnsteig. Was, wenn er sein Gesicht gerade der Treppe zugewendet hätte, als ich herunterkam? Ich ließ ihm einen Vorsprung. Die wenigsten U-Bahn-Benutzer blieben am Fuß der Treppe stehen. Auch er nicht. Ich ließ drei Waggons zwischen uns. Am Bahnhof Feldstraße stieg er aus. -114-
Glücklicherweise sind um die Zeit dort viele Menschen unterwegs. Zwei Stunden früher oder später wäre es schwierig gewesen, ihm unentdeckt zu folgen. Er ging über den Pferdemarkt, bog in das Schulterblatt ein und verschwand nach hundert Metern in einem Laden mit Restposten. Ich hätte gern gesehen, was er dort kaufte, aber ich blieb hinter dem Schaufenster der Drogerie auf der anderen Straßenseite und wartete auf ihn. Er war nicht besonders bepackt, als er wieder auftauchte. Er trug nur eine kleine Tüte. Ein paar Schritte weiter verschwand er endgültig in einem Hauseingang. Das Haus war schmal und hatte drei Stockwerke. Hinter allen Fenstern brannte Licht, so daß ich nicht gleich feststellen konnte, welche Wohnung er betreten hatte. Ich wartete trotzdem eine Weile und wurde belohnt. Ich sah seinen Schatten hinter einer Gardine im ersten Stock. Es sah aus, als sehe er herab auf jemanden, der kleiner war als er. Nach einer Weile, sein Schatten war verschwunden, ging ich über die Straße. Der Hauseingang, schwarz gestrichen, lag voller Müll; kaputte Fahrräder, ein ausgedienter Sessel, in dem die Ratten nachts in der Polsterung gewühlt hatten, ein verbogener Wäscheständer aus Metall. Die Sachen sahen so aus, als lägen sie schon länger dort. Auf dem Türschild las ich den Namen: Brunner. Ich konnte es allerdings nur lesen, weil ein ungewaschener Alter mir freundlich ein Streichholz daranhielt. Die Lampe über der Haustür war kaputt. Daß die Polizei ihre Leute nicht gut bezahlt, ist bekannt. Daß sie in so verkommenen Gegenden wohnen müssen, enttäuschte mich. Aber dann überlegte ich, daß es ja in erster Linie darum geht, einen klugen Gegner zu haben. Die Umstände, unter denen er zu leben gezwungen ist, sollten keine so große Bedeutung haben. Als mir einfiel, daß alte Wohnungen in alten Häusern oft auch alte Schlösser haben, war ich sogar ganz einverstanden mit Brunners Domizil. Ich werde ihm in den nächsten Tagen in seiner Abwesenheit einen Besuch abstatten. -115-
Während ich mich zurückzog aus dem Viertel und langsam innerlich auch von Brunner (er ist ja nun dingfest gemacht), dachte ich darüber nach, daß er verändert auf mich gewirkt hatte. Irgend etwas an seiner Haltung hatte mich irritiert. Ich kam darauf, als mir auffiel, wie viele Kneipen es in dieser Gegend gibt. Ich hätte erwartet, daß Brunner nach der Arbeit als erstes seine Stammkneipe aufsucht! Ich erinnerte mich an sein Gesicht, an seine zitternden Hände, den unsteten Blick. Sollte ich mich so getäuscht haben? Oder trank der Mann nicht mehr? Als mir klar wurde, daß das letztere wahrscheinlicher war, als daß ich mich getäuscht hatte, wurde ich nachdenklich. Seit der Zeit denke ich darüber nach, was ihn wohl so plötzlich auf die Idee gebracht haben könnte, auf seine tägliche Alkoholration zu verzichten. Ich gestehe, daß mir die Sache nicht gefällt. Aber vielleicht sehe ich auch Gespenster. Trotz alledem geht es mir gut, wie seit langem nicht mehr. Dieser Mann bedeutet keine wirkliche Gefahr. Und Weihnachten steht vor der Tür. 13. Dezember Im Waschraum wurden wieder die Automaten aufgebrochen. Die neue Freundin des Herrn gegenüber scheint ein besonderes Interesse an mir entwickeln zu wollen. Es ist wie immer. Nach einer bestimmten Zeit, ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll: Gewöhnungszeit? Das Wort trifft die Sache nicht. Anlaufzeit? Das klingt zu aktiv. Einordnungsphase? Ich glaube, das ist richtig, obwohl das Ergebnis dann Abstoßung ist. Nach einer gewissen Einordnungsphase, der jeder neue Mieter in jeder Hausgemeinschaft ausgesetzt ist, wird festgestellt, daß man mich nicht einbeziehen kann. Ich bin zu dick, zu häßlich, zu freundlich, zu undurchschaubar, zu zurückhaltend. Einmal hörte ich im Zusammenhang mit mir sogar das Wort unheimlich. Niemand will mich einladen. Auf der Treppe bleibt niemand länger mit mir stehen, obwohl ich -116-
von Anfang an freundlich zu allen Leuten bin und man mir am Anfang immer freundlich entgegenkommt. Sie sind zu erwachsen. Wenn sie Kinder wären, würden sie nun anfangen, mich zu hänseln. Weil sie Erwachsene sind, beginnen sie, mich zu verdächtigen. Ich bin sicher, irgendwann, wenn ich lange genug bliebe, würde die Polizei bei mir auftauchen und nach Fünfzigpfennigstückchen suchen! Wenn es so weit gekommen ist, sollte ich meine Geschäfte erledigt haben und umziehen. Nicht, daß ich irgend etwas zu befürchten hätte, o nein. Die wenigsten Leute können sich vorstellen, mit wem sie wirklich Tür an Tür und Wand an Wand wohnen. Nur in seltenen Fällen wird deutlich, was hinter der nächsten Wohnungstür geschieht. Wenn zum Beispiel die Nachbarn mit mir im selben Haus gewohnt hätten, würden sie mich nicht damit gequält haben, mich an ihr Sterbebett zu holen. Sie hätten darauf verzichtet, weil ihnen bewußt gewesen wäre, welche Qual sie mir bereiten würden. Eine Qual, die ich nicht verdient habe. Manchmal scheint es mir, als habe sie bewußt das alte Haus zu unserem Quartier gemacht. Es lag weit genug weg von den Nachbarhäusern. Es hatte Zimmer genug, in die ein kleiner Junge eingesperrt werden konnte. Der Keller war dunkel genug, um darin das Fürchten zu lernen. Der Garten war groß, aber nicht groß genug, um sich vor ihren Blicken zu verstecken, um sich vor ihrer Stimme zu verkriechen. Sie hat mir nichts Böses gewollt. Sie wollte mich schützen. Sie hat sich meiner geschämt. Ich will nicht an sie denken. Später Es geht mir gut. Meine nächste Wohnung werde ich möbliert mieten. Ich habe darüber nachgedacht, daß ich von den Dingen, die um mich herum stehen, nichts vermissen würde. Manchmal sind sie Auslöser für Erinnerungen. Ich werde mich nicht mehr mit Dingen umgeben, die mir Unbehagen bereiten könnten. -117-
Mehr als mein Kästchen brauche ich nicht. Ich werde in die Stadt gehen, um ein rosa Nachthemd für die kleine Sonja zu kaufen. Was in ihren Schränken liegt, ist nicht sehr schön. Offen gesagt, es ist ziemlich billig. Wie überhaupt ihre Wohnung nicht von besonders feinem Geschmack zeugt. Ich bin aber bereit, darüber hinwegzusehen. Bei ihr, die mir so sehr vertraut, will ich eine Ausnahme machen. Ich kritisiere sie nicht, nicht einmal in ihrer Abwesenheit. Ich denke an ihre Zutraulichkeit, an ihre großen Augen in dem müden, kleinen Gesichtchen, und ich bin voller Zärtlichkeit für sie. Die andere ist sehr neugierig. Sie verbirgt sich hinter dem Vorhang und versucht, mich in meiner Wohnung zu beobachten. Ich glaube, daß sie mich absichtlich im Treppenhaus treffen will. Wenn sie ihr Verhalten nicht ändert, kann sie lästig werden. Dann muß ich mir überlegen, was ich mit ihr anfange. Ich möchte nicht, daß sie mich sieht, wenn ich Sonjas Wohnung betrete oder verlasse. Aber vielleicht ist es gerade nützlich, sie dabei zu stellen? Ich will darüber nachdenken, während ich unterwegs bin. Später Ich kann nicht zum Einkaufen unterwegs sein, ohne Szenen zu sehen, die mich erschüttern. Ein kleiner Junge, zwei Jahre alt, vielleicht auch drei, muß in ein Kaufhaus gehen. Sie zerrt ihn an der Hand hinter sich her. Da stehen die beiden an einem dieser stinkenden Stände im Eingang des Kaufhauses, sie in einer Wolke von Gerüchen der übelsten Art, er verzweifelt weinend, sich an ihre Beine klammernd. Ich werde traurig, gehe Bonbons kaufen, um sie dem Kleinen zu schenken. Und was geschieht? Ich halte ihm die Tüte hin, er brüllt noch lauter, die Frau sieht uns an, beginnt zu zetern. Bin ich es denn, der dem Kind Böses getan hat? Ich ging schnell fort. Es begann sich schon eine -118-
Ansammlung von Menschen um uns zu bilden. Glücklicherweise hatte ich meine Besorgungen schon erledigt. Auf dem Rückweg dachte ich über eine Frage nach, die vielleicht bald akut werden könnte: meine Alibis. Sie hat mir aber nicht viel Kopfzerbrechen bereitet. Wie jeder ordentliche Alleinlebende habe ich für die Nacht kein Alibi. Das wird der Polizei klar werden. Und hat mich jemand am Tatort gesehen? Aber: Wo ist, im Fall Marlies Fuchs, überhaupt der Tatort? Es weiß doch niemand, wo sie geblieben ist. Wer sagt überhaupt, daß sie tot ist? Das Grab! Es wird einsinken. Der Gärtner wird nachsehen. Man wird sie finden. Ich begann nachzudenken: Im Winter kommt kein Gärtner auf das Grundstück. Der bepflanzte Erdwall, der Parkplatz, der Vorgarten wurden im Herbst in Ordnung gebracht. Der Gärtner wird im Frühling wiederkommen, um Mulch aufzuschütten. Dann könnte er nachsehen, weshalb der Wall an einer Stelle eingesunken ist: ich werde im Frühling sicher nicht mehr hier wohnen, aber man könnte trotzdem Verdacht schöpfen und anfangen, mich genauer zu überprüfen. Es gibt nichts, was man entdecken könnte. Ich bin ein wenig zu oft umgezogen, das ist alles. Ich werde es ihnen erklären, wenn sie darauf bestehen. Aber solche Dinge sind lästig. Als ich zurückkam, ließ ich das Taxi auf dem Parkplatz hinter dem Haus halten. So hatte ich, da ich kein Auto besitze, einen Grund, langsam über den Parkplatz zu schlendern und mich genau umzusehen. Es fiel mir auf, daß kaum noch Katzen dort saßen. Ich sah zwei oder drei, die mir alt zu sein schienen. Und ich sah ganz deutlich, daß das Stück Erde, unter dem der Körper der Fuchs liegt, Risse bekommen hat. Ein längliches Stück Boden, ungefähr zwei Meter mal sechzig Zentimeter, wird in der nächsten Zeit einsinken. Nicht das fehlende Alibi -119-
könnte ein Problem werden, sondern die vorzeitige Entdeckung, überhaupt die Entdeckung dieses Notgrabes hinter dem Haus. Man weiß doch: Wo keine Leiche ist, da ist auch kein Täter. Es wird mir nichts anderes übrig bleiben, als die Stelle nachts ein wenig aufzupolstern. Das ist unbequem, wird sich aber leicht machen lassen. Man hat den Erdwall mit einer Mulchschicht abgedeckt. Es wird genügen, die einsinkenden Ränder noch einmal mit Mulch zu überdecken, vielleicht ein wenig Gartenerde darunterzumischen, alles schön festzuklopfen, erledigt. Beinahe beginnt mir meine vorübergehende Tätigkeit als Gärtner zu gefallen. Der Gärtner war ein schweigsamer Mann. Ich stand neben ihm, wenn er die Blumenzwiebeln setzte. Ich ging neben ihm her, wenn er den Rasen schnitt. Ich half ihm, die abgeschnittenen Zweige der Sträucher und Obstbäume zusammenzutragen. Nie sprach er ein Wort mit mir. Er sieht mich nicht, dachte ich lange Zeit. Es war ein anderes Nichtsehen als das, was ich gewohnt war. Es war nicht böse. Er trug einen Strohhut und eine lange, grüne Schürze. Ich weiß nicht, wie alt er war, aber er kam mir sehr alt vor. Irgendwann kam er nicht mehr. Ich habe sie gefragt, wann der Gärtner kommt. Sie hat mich angesehen und gesagt: Er wird niemals mehr kommen. Viel später, Wochen oder Monate später, waren die Zeitungen voll von Berichten über ihn. Es war auch ein Foto zu sehen, auf dem er in unserem Garten arbeitet. Im Hintergrund erkannte ich unser Haus. Ich habe lange darüber nachgedacht, woher die Zeitungen dieses Foto haben konnten. Der Gärtner hatte seine Frau getötet. Hatte sie ihn bei der Arbeit in unserem Garten fotografiert? Ich erinnere mich nicht mehr an Einzelheiten. Ich erinnere mich nur daran, daß er eines der Werkzeuge benutzt hatte, von denen ich glaubte, sie bei ihm in unserem Garten gesehen zu haben. Einen Spaten? Ein Beil? Wenn der Gärtner seine Arbeit getan hatte, ging er in unsere -120-
Küche und aß. Sie hatte ihm das Essen hingestellt und seinen Lohn danebengelegt. Sie war nie dabei, wenn er aß. Er nahm seinen Hut ab, wusch sich die Hände und setzte sich an den Tisch. Das alles tat er schweigend. Ich stand an der Tür und sah ihm zu. Sie stellte ihm ein merkwürdiges Getränk auf den Tisch, etwas, das ich noch nie gesehen hatte und auch später niemanden trinken sah: ein Glas Rotwein, in das ein Ei und Zucker geschlagen waren. Er trank es mit sichtlichem Behagen. Ich liebte ihn für den Ausdruck von Freude und Zufriedenheit, den sein Gesicht dann hatte. Wenn er gegangen war, kam sie in die Küche, um das Geschirr wegzuräumen. Das Glas, aus dem er getrunken hatte, betrachtete sie mit Ekel. An seinen Wänden waren die schlierigen Spuren des geschlagenen Eies zu sehen. Sie hielt das Glas gegen das Fenster, verzog ihr Gesicht, und ich hörte Worte, die mir nicht gefielen, weil sie nicht zu dem Gesicht des Gärtners zu passen schienen, das ich beim Trinken beobachtet hatte. Es war sehr einfach, sie zu hassen. Ich frage mich, ob der Gärtner im Gefängnis gestorben ist. Was mag die Frau ihm getan haben, daß er sie töten mußte. Ich spüre, daß ich traurig werde. Ich will schlafen und gegen Abend noch einmal ausgehen, um die Dinge zu besorgen, die ich für den Erdwall brauche. Nachts Ich würde umziehen, wenn ich der kleinen Sonja nicht ein Fest bei mir versprochen hätte. Es ist jetzt sicher, daß die neue Freundin des Herrn von gegenüber versucht, mich zu beobachten. Ich hatte geschlafen, wachte auf, und das Zimmer war dunkel. Allerdings ist der Himmel hier von den Lichtreklamen so hell, daß man die Vorgänge auf der Dachterrasse sehr wohl erkennen kann. Dieses Mädchen stand da und starrte -121-
unverwandt zu mir herüber. Ich vermute, sie nahm an, daß ich nicht zu Hause sei. Mädchen? Es wird sich um eine Frau handeln, eine von der Art, die mir nicht gefallen. Was nicht heißen soll, daß es keine Mittel und Wege gibt, sich ihrer zu entledigen. Ich beobachtete sie und hatte Zeit genug, mir zu überlegen, was mir an ihr nicht gefällt. Diese Art Frauen sind nicht weich genug. Das ist, auf einen Nenner gebracht, schon alles. Wahrscheinlich, weil es draußen noch immer ungewöhnlich warm ist, trug sie einen zu kurzen Pullover, der ein Stück Bauch über dem Rand ihres Rockes (oder ihrer Hose?) frei ließ. Flach, kein Gramm Fett, eingefallener Bauchnabel. Nachdem sie eine Weile gestanden und gestarrt hatte, ging sie hinein und kam mit einem Fernglas zurück. Ich, der ich auf dem Sofa saß, hatte gerade noch Zeit, auf den Boden zu rutschen, während sie das Glas aus dem Futteral zog. Es wäre mir nicht recht gewesen, wenn sie mich gesehen und begriffen hätte, daß ich sie durchschaue. Ich war sicher, daß sie nicht lange herübersehen würde. Es gab nichts zu sehen. Deshalb kroch ich ins Nebenzimmer, das nicht einsehbar ist, und wartete dort eine Weile. Dabei war ich gezwungen, im Dunkeln zu sitzen, denn die Tür zum Vorderzimmer klemmt, und ein Lichtschein auf dem Boden hätte mich verraten können. Das alles zeigt, daß ich nicht mehr frei bin. Als ich nach einer Weile vorsichtig auf die Dachterrasse sah, war sie verschwunden. Aber die Wohnung dort drüben blieb dunkel. War sie gegangen, oder lag sie auf der Lauer? Ich entschloß mich dazu, anzunehmen, daß sie auf der Lauer liege. Ich kroch im Dunkeln an die Wohnungstür und horchte. Draußen war niemand. Ich stand auf, öffnete die Tür und schaltete die Treppenhausbeleuchtung ein. In meiner Vorstellung ging ich die Treppen zu meiner Wohnung hinauf, stocherte im Schlüsselloch, öffnete und schloß die Tür und schaltete das Licht in der Wohnung ein. Ich war zu Hause und -122-
konnte mich frei bewegen. Welch ein Aufwand wegen einer neugierigen, kleinen Hexe! Später Die Arbeiten am Erdwall sind erledigt. Bis zu meinem Wegzug und noch ein paar Wochen darüber hinaus, vielleicht sogar für immer, wird es dort keine Veränderungen mehr geben. Ich glaube nicht, daß ich beobachtet wurde. Außerdem hatte ich das Vergnügen, von weitem zuzusehen, wie mein Dachnachbar mit seiner Freundin das Haus verließ. Gerade als ich zurückkam, auf der gegenüberliegenden Seite der Straße stand und das Haus beobachtete, hielt dort ein Taxi, das die beiden offenbar bestellt hatten. Am liebsten wäre ich gleich an die Arbeit gegangen. Es war aber zu früh. Ich blieb unter einem Schuppendach auf der gegenüberliegenden Seite sitzen. Das Gelände dort hat den Vorteil, nur tagsüber von ein paar kleinen Firmen genutzt zu werden. Weit nach Mitternacht, es waren seit beinahe einer Stunde keine Hausbewohner mehr gekommen, nahm ich mein Bündel und den Klappspaten und ging hinüber. Ich brauchte etwa eine Viertelstunde, dann noch eine halbe Stunde, um das Werkzeug, die Handschuhe, die Reste der Plastiksäcke verschwinden zu lassen. Morgen werde ich meine Schuhe und die Hosen verschwinden lassen. Nun will ich schlafen gehen. Die Wohnung drüben ist dunkel. Ich sitze hier und schreibe und kann nicht umhin zu lächeln, wenn ich aufsehe und hinüberblicke. Ich will noch festhalten, daß ich mich, wenn ich ausgeschlafen habe, unbedingt mit der nächsten Polizeiwache in Verbindung setzen muß. Bevor ich in die Wohnung zurückging, stieg ich die Kellertreppe hinunter. Man hat aus den Kellerfenstern einen flachen Blick über den Parkplatz und auf den Erdwall. Ich dachte, es könnte vernünftig sein, noch -123-
einmal zu kontrollieren, ob ich etwas übersehen hätte. Schon auf der Treppe nach unten spürte ich, daß etwas nicht in Ordnung war. Es ist sehr warm in den Kellergängen, weil die Heizungsrohre unverputzt an den Wänden entlangführen. Aber nicht die Wärme, sondern ein merkwürdiger Geruch machte mich mißtrauisch. Die Keller, die zu den Wohnungen gehören, haben Türen aus Latten. Man kann gut erkennen, ob der Benutzer des Kellers ein ordentlicher oder ein unordentlicher Mensch ist. Ich übertreibe sicher nicht, wenn ich feststelle, daß von den vierunddreißig Kellern vielleicht fünf oder sechs aufgeräumt sind. Der Gestank, der sich in manchem Gerümpel entwickelt, müßte allein schon ein Grund für die Hausverwaltung sein, einzuschreiten. Trotzdem roch es anders, als ich die Treppe hinunterkam. Und ich sah auch schnell, weshalb. In einer Ecke zusammengerollt, schlief tief und fest, wahrscheinlich betrunken, der Obdachlose, den ich vor Wochen um das Haus schleichen sah. Ich ging näher heran, um ihn mir genau anzusehen. Der Mann war noch jung. Er schien mir relativ sauber zu sein, aber er roch sehr nach Fusel. Ich frage mich, wie lange er den Kellergang schon als Nachtquartier benutzt. Wahrscheinlich noch nicht lange, da er allein dort liegt. Bevor sich ihm einige seiner Kumpane anschließen, muß der Sache ein Ende gemacht werden. Anrufen oder hingehen? Nach meinen letzten Erfahrungen mit der Polizei wird es besser sein, anzurufen. Ich ließ den Mann liegen, als Beweisstück sozusagen. Soll er sich sicher fühlen. Brunner Brunner fühlt sich nicht viel besser, als er am Bahnhof Feldstraße die U-Bahn verläßt. Ihm fehlt die Distanz zur Umwelt, die der Alkohol sonst hergestellt hat. Auf jedem Bahnsteig ist er in Versuchung gewesen, sich unter die Männer an den Kiosken zu mischen, die den Abstand zwischen sich -124-
und der Welt sicherheitshalber noch einmal befestigen, bevor sie nach Hause gehen. Einige von ihnen kennt er. Nicht, daß ihm jemand zugewinkt oder ihn angesprochen hätte. Zu dieser Stunde sind alle mit sich selbst beschäftigt. Aber er weiß, er hat es oft genug erlebt, wie man sich fühlt in so einer Gruppe am Kiosk. Nicht aufgehoben oder integriert oder akzeptiert oder wie sonst noch alle diese Modewörter heißen mögen, fühlt man sich unter den Schnapstrinkern. Er, Brunner, hat sich dort einfach immer auf eine angenehme Weise als nicht vorhanden empfunden. Er war weg gewesen, seine Probleme waren weg gewesen, der Raum um ihn herum leer, obwohl der Geruch der Currywurst, die sein Nachbar am Stehtisch aß, deutlich in der Luft lag. Und es war wichtig, sich einen kleinen Teil dieser Leere zu erhalten, wenn man weiterging. Man mußte sie mitnehmen, wie einen Panzer, wie einen unsichtbaren Panzer, der Schutz bietet vor all dem, was zu Hause auf einen wartet und dem man nicht entfliehen kann. Dieser Panzer ist es, der Brunner nun fehlt. Auf dem Weg zum Schulterblatt beginnt es zu regnen. Er hält das Kuchenpaket in der Hand. Als das Papier durchgeweicht ist, steckt er es in einen Papierkorb neben der Ampel, an der er steht und wartet. Er geht über die Straße und beschließt, beim Bäcker neben seinem Hauseingang ein anderes Stück Kuchen zu kaufen. Ein älterer, abgerissener Mann, der neben ihm an der Ampel gestanden hat, ist nicht mit über die Straße gegangen. Er ist dabei, den Papierkorb zu untersuchen. Er tut das mit hastigen, geübten Bewegungen, so, als sei es verboten, in öffentlichen Papierkörben nach Dingen zu suchen, die man essen oder gegen Essen eintauschen kann. Brunner sieht davon nichts. Er geht die Straße hinauf und bemerkt zum ersten Mal, daß die Schaufenster weihnachtlich dekoriert sind. Sogar der winzige Imbiß, der gegenüber von seinem Hauseingang liegt, hat irgend etwas Blinkendes im Schaufenster. Der Regen auf den schmutzigen und beschlagenen Scheiben verhindert einen genaueren Blick -125-
darauf. Auch seine Tochter wird wissen, daß in ein paar Wochen - oder Tagen? - Weihnachten ist. Nun ist er froh darüber, daß er nüchtern ist. Er wird nicht vergessen, etwas für sie zu kaufen. Marie, die oben am Fenster gesessen und ihren Vater die Straße heraufkommen gesehen hat, ist dabei, den Tisch in der Küche zu decken, als Brunner die Wohnung betritt. Er freut sich darüber. An solchen Tagen, an Tagen, an denen sie zeigt, daß sie auf ihre Weise bemüht ist, an ihrer Umwelt Anteil zu nehmen, hat er die leise Hoffnung, sie werde ganz plötzlich einen Satz sagen, irgendein Wort, etwas, das sie beide aus der Einsamkeit erlöst, in der sie sich bewegen. Brunner packt den Kuchen aus, diesmal hat er Kirschkuchen genommen, und stellt ihn auf Maries Platz. Ich hab ihn vom Bäcker nebenan, sagt er. Eigentlich hatte ich dir ein Stück Aprikosenkuchen vom Bäcker am Hauptbahnhof mitgebracht. Aber das Papier ist unterwegs durchgeweicht. War nur noch Matsch. Er sieht Marie an. Sie steht da und starrt auf das harmlose Stück Kuchen, als hätte der Teufel persönlich es ihr auf den Teller gelegt. Er möchte wissen, was sie jetzt denkt. Du magst keinen Kirschkuchen? fragt er, aber er weiß, daß es unmöglich allein der Kirschkuchen sein kann, der so viel Abneigung hervorruft. Marie sieht ihn an und verläßt die Küche. Brunner hat keine Lust mehr zu essen. Er sitzt am Küchentisch, starrt auf die rotweiß karierte Tischdecke und fühlt sich schuldig. Er weiß, daß er nicht schuldig ist. Er ist damals spät vom Dienst gekommen. Seine Frau war schon wieder weg gewesen. Sie ging oft allein aus. Er hatte manchmal das Gefühl gehabt, sie wollte ihn strafen für die langen Dienstzeiten und dafür, daß sein Gehalt dazu in keinem Verhältnis stand. Unten im Hausflur war ihm etwas aufgefallen, an das er sich später lange -126-
Zeit nicht mehr erinnern konnte. Er war einfach unruhig geworden und hatte hinter die Haustür gesehen. Dort war niemand. Deshalb hatte er die Kellertür aufgemacht, die nur angelehnt gewesen war. Unten an der Treppe hatte Marie dann gelegen. Das, woran er sich lange nicht erinnern konnte, obwohl er es eingesteckt haben mußte, war ihre Unterhose gewesen, ihr kleiner, rotweiß geringelter Slip, den er Wochen später in der Tasche seiner Lederjacke gefunden hatte. Natürlich war er zu spät gekommen, um sie vor dem Schwein zu bewahren, das ihr Gewalt angetan hatte, aber nicht zu spät, um sie ins Krankenhaus zu bringen. Wenn er nicht gekommen wäre, hätte Marie verbluten können. Er wußte nicht, ob sie ihm dankbar war. Brunner stellt den Kuchen beiseite und räumt das Geschirr zurück in den Schrank, bis ihm einfällt, daß sie es morgen früh wieder brauchen werden. Er nimmt Teller und Tassen zurück aus dem Schrank und stellt sie auf den Tisch. Er stellt auch Butter und Marmelade dazu und legt die Rolle mit dem Aluminiumpapier neben seine Tasse. Er füllt Wasser in die Kaffeemaschine und Kaffee in den Filter, bevor er zurück ins Wohnzimmer geht. Der Platz am Fenster ist leer. Marie scheint in ihr Zimmer gegangen zu sein. Der Raum ist dunkel und wird nur hin und wieder beleuchtet von einer roten und einer grünen Lichtreklame an der gegenüberliegenden Häuserwand. Einen Augenblick lang kommt Brunner der leere Lehnstuhl mit der Decke neben dem Fenster vor wie ein Requisit aus einem Theaterstück. Gerade als er sich abwendet, um nach Marie zu sehen, klingelt es an der Wohnungstür. Er glaubt zu wissen, wer vor der Tür steht, und er hat sich nicht getäuscht. Laß mich einen Augenblick mit dir reden. Einer von euch ist schließlich für den verbalen Kontakt zu den Nachbarn verantwortlich, und das bist du. Ohne darauf zu achten, daß Brunner den Eindruck vermittelt, als sei das Letzte, worauf er gewartet habe, der Besuch der -127-
Nachbarin, geht Charly an ihm vorbei in die Küche. Mein Gott, ist es bei euch ordentlich, sagt sie und setzt sich auf den Stuhl, von dem Marie eben aufgestanden ist. Brunner geht ihr nach und bleibt in der Tür stehen. Hier, sagt Charly, das kann ihr vielleicht auf die Sprünge helfen. Ich finde, sie macht in der letzten Zeit den Eindruck, als wolle sie reden. Was ist das? fragt Brunner und sieht auf das Päckchen, das Charly neben Maries Teller gelegt hat. Das hier, mein Lieber, ist der allerletzte Blödsinn, aber vielleicht trotzdem verwendbar. Sie nimmt das Päckchen auf, öffnet es an einer der schmalen Seiten und schüttet einen Stapel großer Spielkarten auf den Tisch. Brunner kommt näher und nimmt ein paar Karten in die Hand. Er sieht bunte, phantasievolle Zeichnungen und liest: Der Magier - Ritter der Scheiben - Tod - Liebe. Sag mal, was soll das? Bevor du dich aufregst, willst du mir nicht irgend etwas zu trinken anbieten? Sie war heute übrigens bis nach fünf bei mir. Ich glaube, es geht ihr langsam besser. Nimm ruhig 'n bißchen mehr Kaffee. Und falls du einen Cognac hast: Charly würde nicht nein sagen. Das hier sind Tarot-Karten. Wir benutzen sie manchmal für Patienten, die Probleme damit haben, ihre Gefühle auszusprechen. Hier, sieh mal! Charly hat die Karten auf den Tisch gelegt und schiebt sie durcheinander. Hier: Freude. Oder die hier: Nacht. Oder hier: Waffenruhe. Naja. Aber trotzdem: Du siehst schon, alles ganz brauchbare Wörter. Ich dachte, ich bring euch die Karten. Irgend jemand hat sie bei uns liegengelassen. Ich - ihr könnt sie vielleicht gebrauchen. Ich meine, Marie braucht sie vielleicht bald, um irgendwie den Einstieg wiederzufinden. -128-
Brunner beugt sich herunter, um sich die Karten näher anzuschauen. Sie sind aufwendig gemacht, bunt, mit Phantasiefiguren, die wie geheimnisvolle Symbolträger aussehen und Der Hohepriester, Prinz der Schwerter oder Ritter der Scheiben heißen. Der Prinz der Scheiben ist nackt, auch der Magier reckt sein Glied - oder hat er zwei? - in die Höhe. Glaubst du wirklich, daß diese Dinger das Richtige sind für Marie? Brunner ist unangenehm berührt von dem gewollt geheimnisvollen und untergründig sexuellen Symbolgehalt der Karten. Er kann sich nicht vorstellen, daß seine kleine Marie sie lange ansehen wird. Genuß? Umsicht? Niederlage? Er legt die Karten zurück auf den Tisch und nimmt ein Wasserglas aus dem Küchenschrank, das er halbvoll mit Cognac gießt und vor Charly auf den Tisch stellt. Wieso glaubst du, daß sie mit solchen Wörtern wieder sprechen lernen sollte? Sie wird sie nicht einmal verstehen. Hör mal, deine Tochter ist sechzehn. Seit drei Jahren ist sie mit nichts anderem beschäftigt als mit Nachdenken und Hinhören. Ich vermute, daß sie inzwischen eine Menge mehr gelernt hat als andere Kinder in ihrem Alter. Du wirst zugeben, daß nicht mal das Wort Kind für sie noch Geltung haben könnte. Hör endlich auf, sie in Watte zu packen. Hilf ihr, indem du sie ernst nimmst. Prost. Charly trinkt einen großen Schluck von dem braunen Zeug und sieht Brunner an. Du nicht? Ich nicht, antwortet er und überlegt, ob er Charly von der Ermittlung erzählen soll, mit der er begonnen hat. Entschließt sich aber zu schweigen. Er ist froh, daß sie sich um Marie -129-
kümmert. Sie arbeitet halbtags in einer Ambulanz für Jugendpsychiatrie, und außer, daß sie ein freundlicher Mensch ist, versteht sie etwas von den Jugendlichen, mit denen sie umgeht. Aber Brunner fürchtet auch die Nähe, die sich aus Gesprächen zwischen Charly und ihm ergeben könnte, die nicht Marie zum Inhalt haben. Und auch über Charlys Sohn Peter, den sie Pit und mißraten nennt, hat er selten Lust zu reden. Ich brauch mal ein paar Tage Pause, sagt er und gibt sich Mühe, nicht begehrlich auf Charlys Glas zu starren. Ich leg ihr die Karten einfach hier hin, sagt Charly. Du brauchst gar nichts damit zu machen. Sag besser nichts dazu. Ist ja auch nur 'n Versuch. Sie trinkt und blickt einen Augenblick still vor sich hin. Brunner sieht zum ersten Mal ein paar graue Haare in Charlys dichtem, schwarzen Haar. Du wirst grau, sagt er und fürchtet schon wieder, zu persönlich geworden zu sein. Bei dem Sohn, sagt sie. Gestern ist er mit seinen Kumpels zum Arbeitsamt gezogen. Sie haben bei der Arbeitslosendemonstration mitgemacht. Was, glaubst du, hat auf ihrem Transparent gestanden? Arbeit ist Scheiße! Charly steht auf. Sie geht an Brunner vorbei zur Tür. Ich hau mich jetzt vor die Glotze, sagt sie. Oder? Du hast nicht zufällig Lust, nachher auf ein Stündchen vorbeizukommen? Ich meine, ich könnte Tee kochen und wir könnten Sie spricht nicht weiter. Du meinst, wir könnten - Brunner sieht Charly an. Sie ist vierzig, groß, schlank, eine schöne Frau. Eine von der Art, die sich niemals Sorgen darum machen müssen, wie sie aussehen, weil sie immer und unter allen Umständen schön sind. Er hat -130-
noch nie eine Frau getroffen, die ihre Schönheit mit so großer Gleichgültigkeit nicht zur Kenntnis nimmt. Ich bin müde, Charly, sagt Brunner. Ich hatte heute einen schlechten Tag. Mach's gut, antwortet Charly, geht zur Tür, öffnet und bleibt noch einmal stehen. Übrigens: Da war heute ein Mann bei euch an der Tür. Ich hab nicht gehört, daß er geklingelt hat. Ich war nur kurz im Wohnungsflur und hab ihn durch die Scheibe gesehen. Marie war schon drüben, deshalb hab ich mir gedacht, ich will lieber noch einmal nachsehen. Ich hab nur Pits Fahrrad auf den Flur geschoben. Dieser Verrückte fängt an, meine Wohnung zu einer Reparaturwerkstatt umzubauen. Als ich zurückkam, war niemand mehr da. Hattest du 'ne Verabredung mit dem? Was für ein Mann? Vielleicht hatte der sich in der Tür geirrt. Zu mir kommt niemand nach Feierabend. Nicht, daß ich wüßte. Ziemlich groß, ziemlich breit. Aber ich hab ihn nur von hinten gesehen. Und dann war er auch verschwunden. Mach's gut, schlaf schön. Und laß die Karten liegen, wo sie sind. Charly geht über den Flur und verschwindet hinter ihrer Wohnungstür. Sie ist enttäuscht, aber sie läßt sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. Brunner ist ihr dankbar dafür. Er räumt Charlys leeres Glas beiseite, geht ins Wohnzimmer, setzt sich und steckt sich eine neue Zigarette an. Als er sie zu Ende geraucht hat, schaltet er den Fernseher ein. Er sieht ein paar Minuten lang einem Kriminalfilm zu, indem ein paar Obdachlose eine wichtige Zeugenrolle spielen. Als er umschaltet, gerät er in eine Komödie, deren Handlung davon zu leben scheint, daß sich zwei Kinder mit einem Obdachlosen angefreundet haben. Obdachlose scheinen im Fernsehen in Mode zu sein. Brunner schaltet das Gerät aus. Er wird schlafen gehen. Als er an Maries Zimmer vorbeikommt, sieht er Licht und klopft leise, bevor er eintritt. Marie schläft. Sie hat die -131-
Nachttischlampe nicht ausgemacht. Brunner steht neben ihrem Bett und sieht auf sie herunter. Ihr Gesicht ist friedlich und entspannt. Er findet, daß seine Tochter sehr kindlich aussieht, und spürt ungenau den Wunsch, sie möchte so sein. Brunners Schlafzimmer liegt, wie das Wohnzimmer, zur Straße hin. Er muß kein Licht anmachen, um sich zurechtzufinden. Die Reklame drüben am Haus wird erst um ein Uhr nachts abgeschaltet. Brunner liegt im Bett und versucht, seine Gedanken von dem Cognac wegzubringen, der in der Küche steht. Er schläft ziemlich schnell ein, träumt aber so unruhig, daß er schon nach zwei Stunden wieder aufwacht. Im Traum hat er Charly gesehen, die angezogen auf einem silbernen Wasserbett lag. Merkwürdig war auch, daß Fuchs in der Kabine neben ihm stand und damit beschäftigt war, in einem Katalog zu blättern. Es stimmt nicht, es stimmt nicht. Das war Fuchs' Stimme hinter der Bretterwand. Er war nicht mehr dazu gekommen, seinen Kollegen zu fragen, was nicht stimmte. Jemand, von dem er nur die Hände sah, hatte seine Kabinentür aufgerissen und Zeichen gemacht, ihm zu folgen. Dann war er aufgewacht. Noch im Halbschlaf erinnert er sich, wie die Hände ausgesehen haben: dick und weiß und sehr groß, und dann ist er vollkommen wach. Es dauert beinahe zwei Stunden, in denen Brunner eine halbe Schachtel Zigaretten raucht, bis er wieder einschläft. Natürlich verschläft er am nächsten Morgen und wacht erst auf, als Marie neben seinem Bett steht und ihm vorsichtig die Decke wegzieht. Sie hat schon gefrühstückt. Während er schnell eine Tasse Kaffee trinkt, sieht er auf den Stapel Karten, der neben Maries Teller liegt. Er kann nicht erkennen, ob sie die Karten schon in die Hand genommen hat. Brunner begleitet Marie jeden Morgen bis an die Schule, bevor er zum Dienst fährt. Sie wird in ein paar Monaten -132-
entlassen werden. Was sie dann tun wird, ist ungewiß. Er hat gehofft, sie würde bis dahin wieder sprechen. Sie ist gut in der Schule. Die Lehrer haben sich darauf eingelassen, daß Marie im Unterricht schweigt. Solange die Arbeiten ihrer Tochter in Ordnung sind, hat der Schulleiter gesagt, werden wir sie in der Klasse behalten. Marie schreibt sehr gute Arbeiten. Aber sie spricht nicht. Wie soll sie einen Beruf lernen, wenn sie stumm bleibt. Brunner weiß, die Ärzte haben es ihm gesagt, und Charly hat es ihm wieder und wieder erklärt, daß er Marie nicht drängen darf zu reden. Er hält sich daran, aber manchmal hat er Angst um ihre Zukunft. Dann trinkt er mehr als sonst, aber dieser Ausweg ist ihm nun versperrt. Im Büro wartet Fuchs. Er steht am Fenster und sieht in den Innenhof, als Brunner zur Tür hereinkommt. Mann, ich warte seit einer Viertelstunde. Hast du vergessen, daß wir um neun im Präsidium sein sollen? Brunner hat es vergessen. Er hat vorgehabt, die Kollegen in Lüneburg anzurufen. Dazu kommt er jetzt nicht mehr. Während sie die Treppe hinunterlaufen und Fuchs den Wagen aus dem Parkhaus fährt, überlegt er, ob er den Kollegen überreden soll, an dem Haus vorbeizufahren, in dem sie gestern die Befragung vorgenommen haben. Wozu soll das gut sein? fragt Fuchs. Aber meinetwegen. Auf die fünf Minuten kommt es nun auch nicht mehr an. Auch am Tage macht das Haus einen sehr gepflegten Eindruck. Erst jetzt sehen die beiden Polizisten, wie aufwendig, für Hammerbrook ungewöhnlich aufwendig, das Haus renoviert worden ist. Fuchs fährt auf der gegenüberliegenden Straßenseite daran vorbei, wendet bei der ersten Gelegenheit und fährt langsam zurück. Als sie vor dem Haus angelangt sind, schaltet vorn die Ampel auf Rot. Sie bleiben stehen und beobachten den Eingang des Hauses. Sie -133-
sehen, daß die Tür aufgeht, eine schwere, restaurierte, dunkelgrün lackierte Tür, und ein Mann durch den Vorgarten kommt, der sicher nicht zu den Bewohnern gehört. Seine Kleidung ist zerlumpt. In der Hand hält er eine Plastiktüte. Sieht aus, als hätte einer da drinnen für die Nacht ein warmes Plätzchen gefunden, sagt Fuchs. Er fährt an, und Brunner beobachtet den Mann mit der Plastiktüte im Rückspiegel, bis nachkommende Autos ihm die Sicht nehmen. Solche Leute sind harmlos, sagt er. Die Veranstaltung im Präsidium beginnt später, weil der Referent sein Flugzeug verpaßt hat. Während die Männer nach unten in die Kantine gehen, um einen Kaffee zu trinken, verläßt Brunner das Haus und betritt die nebenan gelegene Polizeiwache. Wenn es irgendwelche Besonderheiten um das Haus gibt, in dem die verschwundene Frau gewohnt hat, wird man auf der Wache am ehesten darüber Bescheid wissen. Der Revierleiter zeigt sich hilfsbereit. Ein Streifenbeamter kommt dazu, der sich erinnert, daß da irgend etwas war, im Oktober oder November. Sie gehen das Protokollbuch durch und finden schließlich unter dem Datum 29. Oktober eine Eintragung. Brunner läßt sich eine Kopie der Seite anfertigen und geht zurück. Der Vortrag beginnt gerade. Eine Weile versucht er, aufmerksam zuzuhören. Der Referent befaßt sich mit der in der Öffentlichkeit geäußerten Meinung - Brunner kann sich nicht erinnern, jemals jemanden öffentlich darüber gehört oder etwas darüber gelesen zu haben -, daß Europol in der gegenwärtigen Form undemokratisch sei. Der Referent legt dar, dieser Einwand beruhe auf der Annahme, europäische Einrichtungen müßten in derselben Weise und in demselben Umfang demokratisch legitimiert sein wie entsprechende Behörden der Bundesrepublik. Das, betont der Referent, fordert das Grundgesetz aber gerade nicht! -134-
Brunners Gedanken sind bei der Eintragung aus dem Protokoll der Revierwache. Seine Aufmerksamkeit kehrt erst zum Referenten zurück, als der sich damit auseinanderzusetzen beginnt, welchen Rechtsschutz der Bürger vor Maßnahmen von Europol hat. Informationssammlung und Informationsauswertung von Europol unterliegen nicht der gerichtlichen Nachprüfbarkeit. Der Satz des Referenten dringt plötzlich an Brunners Ohr, bewirkt einen Augenblick den Versuch, sich auf das Referat zu konzentrieren und verschwindet wieder aus seinem Kopf. In Wirklichkeit langweilt ihn der Vortrag. Er beobachtet die Kollegen, sieht, daß sie sich ebenfalls langweilen, und wünscht das Ende der Veranstaltung herbei. Ein Vormittag verschenkt, sagt er zu Fuchs, während der Fahrstuhl sie nach unten bringt. Laß uns zurück ins Büro fahren. Ich will jetzt nichts essen. Ich werd sowieso zu dick. Draußen zündet sich Brunner eine Zigarette an. Bevor er einsteigt, wirft er sie weg. Sie sind übereingekommen, im Auto nicht zu rauchen. Er ist auf der Wache gewesen, sagt Brunner. Wer? Dieser Euro-Fuzzi? Der Dicke aus dem Appartement. Was interessiert mich dieser Euro-Kram. Unser Verdächtiger. Er war auf der Wache und hat sich beschwert, daß jemand im Haus dauernd die Münzspeicher an den Waschmaschinen aufbricht. Erstens ist er nicht »unser« Verdächtiger, aber gut, wenn du meinst, und zweitens: Würde sich einer so verhalten, wenn er wirklich etwas auf dem Kerbholz hätte? Paß auf, daß du dich da nicht verrennst. Jedenfalls werde ich ihn mir gleich etwas genauer ansehen, antwortet Brunner. Er hält eine Zigarette in der Hand und wartet ungeduldig darauf, daß sie ankommen. -135-
Es ärgert mich übrigens, daß wir uns nicht gleich ein paar Fingerabdrücke besorgt haben, sagt er. Ich könnte sie jetzt gut gebrauchen. Kann man jederzeit nachholen, wenn du meinst, daß es wichtig ist. Wir müssen ja nicht unbedingt selbst noch einmal hingehen. Ruf die Wache an. Sie sollen sich etwas einfallen lassen. Aber irgend etwas, das nicht gleich die Pferde scheu macht. Ich würde selbst hingehen, aber... Nicht nötig, die von der Wache können das gut übernehmen. Sie haben ja einen Vorwand - die Beschwerde. Die werden uns zwar verfluchen, aber vielleicht sind sie auch interessiert daran, wer in ihrem Revier Frauen umbringt? Du meinst, die Frau, die verschwunden ist, ist tot? Du nicht? Fuchs antwortet nicht sofort. Vermutlich hast du recht, sagt er dann, verdammter Mist. Als ob wir nicht schon genug zu tun hätten. 17. Dezember Seit Tagen habe ich Kopfschmerzen. Ich weiß nicht mehr, wie ich es vor ein paar Tagen geschafft habe, diesen Mann im Keller zu sehen und nicht über ihn herzufallen. Ich vermeide es, wieder in den Keller zu gehen. Heute mittag ging ich hinaus, um etwas Milch zu holen. Die Wohnung war mir in Wirklichkeit zu eng geworden. Obwohl ich die Tür zur Dachterrasse weit geöffnet hatte, hatte ich dieses Gefühl, daß die Wände näher kommen, schon in der Nacht gehabt. Im Laden hat es mich große Mühe gekostet, der alten Hexe, die die Milch verkauft, die Tüte nicht ins Gesicht zu stoßen. Ich weiß nun, unterwegs wurde es mir klar, daß es nicht mehr reicht, den ganzen Tag spazierenzugehen, herumzulaufen, UBahn zu fahren und wieder herumzulaufen. -136-
Ich muß das Auto nehmen, obwohl ich geglaubt habe, daß ich es nicht mehr brauche. Was für eine Idee! Ich ging nach Hause und warf die Milch von der Terrasse in den Innenhof, nur um das Geräusch der platzenden Tüte zu hören. Die Blonde von gegenüber hat dabei zugesehen. Sie soll sich in acht nehmen. Gegen drei Uhr am Nachmittag ging ich aus. Ich sah einen Streifenwagen, der vor unserem Haus hielt. Zwei Uniformierte stiegen aus und gingen hinein. Ich zwang mich, langsam zu gehen. Sollten sie zu mir gewollt haben, werden sie wiederkommen. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie von mir wollen. Das Auto stand in der Garage. Es lag ein wenig Staub darauf. Ich war nicht in der Lage, mir Zeit zum Säubern zu nehmen. Ich war auch nicht in der Lage, darüber nachzudenken, wohin ich fahren sollte. Ich fuhr in Richtung Osten, bis ich an den Elbdeich kam. Um diese Jahreszeit wird es zu früh dunkel. Das Ding, das ich überfahren habe, hat gequiekt. Ich weiß nicht, ob da ein Hund oder eine Katze über die Straße gelaufen kam. Hinterher ging es mir besser. Aber ich weiß nun, daß alles wieder von vorn losgeht. Das ruhige Leben in diesem schönen Haus wird bald vorbei sein. Es ist ja schon jetzt nicht mehr ruhig. Ich hatte vergessen, die Tür zur Dachterrasse zu schließen. Ich bin sicher, daß niemand in meiner Wohnung gewesen ist. Aber wie lange kann ich noch sicher sein? Ein Brett, irgendein langes Brett oder besondere Kletterkünste reichen doch aus, um von einer Wohnung in die andere zu kommen. Was, wenn jemand den Karton mit den Fotos in die Hände bekommt? Lange habe ich auf dem Fußboden gesessen und meine Schätze betrachtet. Natürlich bei zugezogenen Vorhängen. Um die Katzenliebhaberin tut es mir nicht leid. Sie war wirklich widerlich. Selbst von ihrem Foto geht ein unangenehmer Geruch aus. Die andere, diese Marlies Fuchs, war ein Fehler. -137-
Sie hat mir die Polizei auf den Hals gebracht. Ihre Leiche liegt hinter dem Haus. Ihretwegen ist diese wunderschöne Wohnung unsicher geworden. Es wird Zeit, daß die kleine Sonja zu mir zurückkommt. Ich werde sie bitten, mir eine andere Wohnung zu suchen; eine einfache Wohnung in einem einfachen Haus, weit weg von der Garage und mit dummen Nachbarn, die zuviel mit sich selbst zu tun haben, als daß sie auf die Lebensgewohnheiten ihrer Mitmenschen achten könnten. Dann werde ich den Karton in die neue Wohnung tragen. Aber bis es soweit ist, muß er aus dieser Wohnung verschwinden. Ich werde ihn in das Auto bringen müssen. Ich tue es ungern. Mein Liebstes ist darin. Dann aber fiel mir ein, daß es mich auf meinen Fahrten begleiten würde. Mir wurde froh ums Herz, ja, so kann ich es nennen; mir wurde froh ums Herz. Ich schlief noch, als am nächsten Morgen an meiner Tür geklingelt wurde. Die Uniformierten standen davor. Sie benahmen sich so sonderbar, daß ich nachdenklich werden mußte. Angeblich waren sie wegen der Anzeige gekommen, die ich vor Monaten gemacht hatte. Dann hielten sie mir einen Gegenstand hin, irgendein Ding, das aussah wie ein ausgebautes Türschloß, und fragten, ob ich es identifizieren könne. Sie hielten es mir so aufdringlich unter die Nase, daß ich begriff: Ich sollte es in die Hand nehmen! Natürlich habe ich das getan. Am liebsten hätte ich die beiden Schwachköpfe hereingebeten und ihnen meine Haufen von Handschuhen gezeigt. Sie werden keine Fingerabdrücke finden, die mich mit ihren unaufgeklärten Fällen in Verbindung bringen könnten. Als sie gegangen waren, hoch zufrieden über ihr vermeintlich schlaues Vorgehen, begann ich allerdings gründlich zu überlegen, und mir wurde klar: Diese beiden waren nicht aus eigener Initiative gekommen. Der Alkoholiker hatte sie geschickt. Er war nicht bereit aufzugeben. Die Frage war, ob er mich überwachen ließ. Das hätte nur Sinn, wenn man die Überwachung rund um die Uhr organisieren könnte. -138-
Er hatte keinen konkreten Anhaltspunkt, nur sein Gefühl. Das war zuwenig, um ein paar Leute zusätzlich zu ihren sonstigen Aufgaben zu beschäftigen. Wenn er wirklich nicht lockerlassen wollte, würde er vorläufig nur selbst Überstunden machen können. Ich mußte den Karton so bald wie möglich wegbringen. Und mich um die Ausstattung unserer kleinen Weihnachtsfeier kümmern. Sonja muß so zufrieden sein, daß sie mir jeden Gefallen tun möchte. Wir mögen uns doch, nicht wahr, meine kleine Sonja? Später Ich bin sicher, daß er mich tagsüber nicht beobachtet. Ich brachte den Karton ins Auto und fuhr eine Weile herum. Immer zieht es mich in die östliche Richtung. Ich fahre und suche. Manchmal sehe ich jemanden auf einem Fahrrad, eine Frau oder einen Jungen, und ich bin versucht anzuhalten. Ich muß die Fahrtrichtung ändern. Ich glaube sogar, daß ich eine große Fahrt über Land unternehmen sollte, um wieder zur Ruhe zu kommen. Fünfhundert Kilometer, das ist leicht zu schaffen. 20. Dezember Es ist alles wieder gut. Später Ich habe sehr lange geschlafen. Keine Kopfschmerzen, nichts mehr von der Schwere in den Gliedern, die mich zu Boden zog. In einem solchen Zustand bin ich unfähig, mir zu überlegen, wie ich dem begegnen soll, was sich an Interessantem um mich herum entwickelt. Die einzig vernünftige Idee, die ich in den letzten Tagen gehabt habe, war die des Wohnungswechsels. Sonja wird die Wohnung mieten. Ich werde jetzt nicht darüber nachdenken, wie lange ich es dort aushalten kann, ohne daß -139-
mein Zustand unerträglich wird. Das war er nämlich, bevor ich das Auto benutzt habe. Ich habe, ich sehe es, darüber nichts geschrieben. Weil ich in diesem Zustand nicht schreiben kann. Dabei ist Schreiben für mich eine Beschäftigung, auf die ich weder verzichten will, noch verzichten kann. Es ist wie Reden, so, als erzählte ich jemandem, der dafür abgestellt ist, meine Geschichte. Und dieser jemand bleibt ruhig, und am Ende der Geschichte nickt er mir freundlich zu und sagt »bis morgen«, und ich stehe erleichtert auf und weiß, daß alles in Ordnung ist. Ich bin nach Westen gefahren, drei Stunden, vielleicht auch länger, über die Autobahn, dann, die Landschaft schien mir vielversprechend, weiter durch Dörfer. Ich war sicher, in der Gegend noch nie vorher gewesen zu sein. Trotzdem schien mir alles bekannt: lange, leere Straßen, Häuser, die aus der Reinigung gekommen zu sein schienen, ein Gasthaus, auf das das Wort »gastlich« falsch angewendet gewesen wäre. Hinter den Häusern Misthaufen, in den Fenstern Lichtbalken in der Form gleichschenkliger Dreiecke. Die Frau wollte zu Fuß von einem Dorf in das andere. Sie war froh, als ich sie mitnahm. Manchmal, nicht immer, begreifen diese Leute schneller als mir lieb ist, was ihnen geschehen wird. Diese hier nicht. Sie war stumpf bis zum Ende. Ich fragte sie, wie weit es sei bis zum nächsten Dorf. Es waren sechs Kilometer. Ich fuhr langsam, bis ich den richtigen Abzweig entdeckte. Ich hätte ihr wahrscheinlich nicht einmal sagen müssen, daß ich nur mal eben - sie nickte. Ich stieg aus, ging an den Waldrand, stellte mich einen Augenblick mit dem Rücken zu ihr, drehte mich um und winkte ihr zu. Sie stieg aus und kam heran. Es war nötig, sie zu vergraben. Man wird sie irgendwann vermissen, anfangen, sie zu suchen und die Suche wieder aufgeben, ohne sie gefunden zu haben. Den Waldrand wird kaum jemand in die Suche einbeziehen. Es sei denn, ich schreibe irgendwann einen Brief und lege eine Zeichnung dazu. So übermütig dachte ich jedenfalls, während ich langsam -140-
zurückfuhr. Nachts über die Elbbrücken in die Stadt hineinzufahren ist schön. Es ist dann schön, wenn man in einem Zustand ist, in dem man Schönheit wahrnehmen kann. Ich konnte auch wahrnehmen, wie eng Schönheit und Lüge miteinander verbunden sind. Da liegt die Stadt vor mir: tausende von Lichtern, Leuchtreklamen, phantastische Hotelbauten, erleuchtete Zimmerfenster, die Geschichten vom Leben versprechen, hinter jedem Fenster eine besondere Geschichte, die darauf wartet, entdeckt zu werden. Ich hielt an einer Straße neben einem Nachtclub, der, so schien es mir, alle die Versprechen einhalten würde, die die nachtleuchtende Stadt mir bis dahin gegeben hatte. Ich stieg ein paar Stufen hinunter, schlug einen dicken Vorhang zur Seite und war in einem winzigen Vorraum. Ein verlassener Tisch stand da, wahrscheinlich hatte am Abend die Kasse darauf gestanden. Rechts hinter dem Garderobentisch schlief ein Mann. Ich sah nur seinen Hinterkopf und seine Hände. Ein Inder? Links führten ein paar Stufen hinab in den Club. Die Musiker hatten ihre Instrumente neben der Tanzfläche auf einem Podest stehengelassen. Sie standen an der Bar. Es gab keine Gäste, außer einer Frau, die in einem der Sessel neben der Tanzfläche lag und schlief. Das Licht war erloschen, nur über der Bar brannten ein paar Lampen. Es wäre besser gewesen, man hätte auch diese Lampen ausgemacht. So waren die Gesichter der Musiker beleuchtet. Auch die Frau, die hinter der Bar stand, war überdeutlich zu sehen. Sie trug ein schwarzes Kleid mit einem großen Ausschnitt. Die Frau war fett und schlampig. Sie rauchte ununterbrochen, lachte zu laut, redete über Dinge, die niemand hören wollte. Ich weiß das, denn ich habe eine ganze Weile seitlich an der Bar gestanden und zugehört. Und getrunken, denn erst dort spürte ich plötzlich, daß ich nichts getrunken hatte während der ganzen Zeit, die ich unterwegs gewesen war. Ich trank ein Bier und -141-
dann noch mal ein Bier, und beim dritten sprach die Frau mich an. Es war ihre Schuld, daß diese verfluchte Schwere wieder über mich kam. Sie war da, als ich mit der Frau im schwarzen Kleid gesprochen hatte. Die Musiker sprachen vom Auswandern. Sie wollten ein Land suchen, wo die Leute abends Musik hören und nicht vor dem Fernseher sitzen würden. Es war einer dabei, ein kleiner, mit roten Locken, der konnte so reden, daß die anderen sehnsüchtige Augen bekamen. Wenn sie nur nicht so häßlich gewesen wären. Wenn die langen Nächte, die billigen Hotels, die schlampigen Mädchen, das fehlende Geld sie nur nicht so hätten verkommen lassen. Können solche Leute gute Musik machen? Ich stand da, trank mein Bier, spürte, daß ich schwer wurde, daß meine Schultern müde wurden, und empfand das Bedürfnis, diese verkommenen Männer als Freunde zu gewinnen. Ich glaube, wenn einer von ihnen auf die Idee gekommen wäre, mich anzusprechen, hätte ich ihnen alles gesagt. Nachts, wenn die Musik beendet ist, wenn alle Gäste gegangen sind, wenn in den Lokalen nur noch die Musiker am Tresen stehen, die niemanden gefunden haben, keine Frau, mit der sie schlafen können, kommen regelmäßig Männer herein, einsame Männer, die sich dazustellen, zuhören, trinken, nicht wahrgenommen werden und wieder gehen. Nicht alle, die einsam sind, sind harmlos. Ich weiß es. Weshalb gibt ihnen niemand die Chance, beachtet zu werden? Weshalb gehen nicht Polizisten, wenn sie wirklich daran interessiert sind, Mörder zu fangen, nachts in den Bars herum und sehen sich um? Selbst dem Alkoholiker hätte ich meine Geschichte erzählt. Aber niemand kam. Ich begann, mich vor der Schlampe im schwarzen Kleid zu ekeln. Als der mit den roten Locken die Frau im Sessel weckte, um mit ihr zusammen zu gehen, ging ich auch. Die beiden gingen ein Stück vor mir her. Ich sah, daß die Frau hinkte. Sie war sehr dünn, in einen schwarzen -142-
Pelzmantel gehüllt und hinkte. Den Karton habe ich im Auto liegengelassen. Ich nahm nur das älteste Foto mit. Es ist dreißig Jahre alt. Der Junge, der darauf zu sehen ist, ist viel blasser geworden. Er verblaßt auf dem Foto, aber nicht in meiner Erinnerung. Ich glaube sogar, daß die Erinnerung an ihn stärker wird. Sie wird stärker und ist schlechter auszuhalten. Sie macht, daß ich Kopfschmerzen und wilde Träume habe. Deshalb bin ich zu Fuß nach Hause gegangen. Ich dachte, daß ich müde würde durch den langen Fußmarsch und ungestört würde schlafen können. Ich ging beinahe zwei Stunden und kam morgens gegen halb fünf am Haus an. Das Haus wird nicht bewacht, noch nicht. Es ist ein feines Haus. Noch ist niemand auf die Idee gekommen, hinter seinen Mauern jemanden wie mich zu vermuten. Das Treppenhaus lag still da. Ich blieb stehen und sah in den Spiegeln mein Gesicht. Es war rund und weiß und ohne wirklichen Ausdruck. Müde? Nein. Mein Gesicht war nicht müde. Es war tot. 21. Dezember Ich habe nicht gut geschlafen. Ich kann diese Sonja nicht töten, weil sie mir helfen soll. Es muß etwas geschehen, bevor sie zurückkommt. Ich will nicht über sie herfallen. Ich will ihr nicht meine Geschichte erzählen, bevor ich mit ihrer Hilfe in der anderen Wohnung verschwunden bin. Der Drang zu handeln und der Drang zu reden. Der Drang zu handeln und der Drang zu reden. Ina Ist dir eigentlich aufgefallen, daß unser Nachbar immer Handschuhe trägt? Heute abend hat er das Licht angemacht, aber nur ganz kurz. Er hat die Vorhänge zugezogen und ist eine -143-
Weile hinter den Vorhängen stehengeblieben, um zu uns herüberzusehen. Das willst du im Dunkeln erkannt haben? Es war halb fünf, denke ich. Du vergißt den Himmel nachts über der Stadt. Heute nacht werden wir aufbleiben, und ich werde dir zeigen, daß der Himmel nachts rot ist und die Scheiben drüben ganz gut beleuchtet. Ina. Ich werde nicht heute nacht aufbleiben, um nächtlich beleuchtete Scheiben zu beobachten und auf einen Mann zu warten, der dann wahrscheinlich längst im Bett liegt und schläft. Es mag ja sein, daß er manchmal nachts unterwegs ist. Aber er kann sich doch nicht jede Nacht um die Ohren schlagen. Er wird schlafen wollen, am liebsten sogar unbeobachtet. Für einen Psychologen hast du erstaunlich wenig Kenntnisse über die Verhaltensweisen von Massenmördern. Wie bitte? Thun kommt aus dem Bad, ein Handtuch in der Hand und starrt Ina an. Sie sitzt angezogen und zum Ausgehen zurechtgemacht in der offenen Küche und frühstückt. Entschuldige, es ist nur so, daß ich in den letzten Tagen einiges gelesen habe, während du Während ich nur damit beschäftigt war, unsere erste Sendung inhaltlich vorzubereiten. Wolltest du das sagen? Komm her, Volkmar, sei nicht böse, bitte. Komm, der Kaffee ist noch heiß. Ich weiß, wie wichtig deine Arbeit ist. Erzähl mir, wozu du dich entschlossen hast: die Liebe oder die Zwangskrankheiten? Thun ist schnell besänftigt. Er bringt das Handtuch ins Bad, während Ina ihm Kaffee eingießt. Sie strahlt ihn an, als er ihr gegenüber Platz nimmt. -144-
Rat mir, sagt er. Womit fangen wir an? Sie weiß, daß er die Frage nicht ganz ernst meint, aber sie antwortet trotzdem so, als überlege sie gründlich. Also: Von Zwangskrankheiten betroffen sind etwa eine Million Deutsche. Das Thema Liebe beschäftigt oder hat beschäftigt alle Menschen ab vierzehn, grob gerechnet. Wenn wir nach der Einschaltquote gehen, ist die Frage damit beantwortet. Andererseits: Liebe - besteht bei diesem Thema nicht die Gefahr, daß man dich nicht ernst nimmt? Versteh bitte richtig: Gehört für einen Fachmann, kompetent für psychische Probleme aller Art, die »Liebe« überhaupt dazu? So wie ich das Thema darlegen werde, ganz sicher. Gut, dann Liebe! Wann wird die erste Sendung sein? In der ersten Woche des neuen Jahres, mittwochs, übrigens mit Assistentin! Volkmar! Ich liebe dich! Ina steht auf, geht um den Tisch herum, stellt sich hinter Thun und umarmt den vor ihr sitzenden Mann zärtlich. Als sie ihm wieder gegenübersitzt, sieht sie ihn vorbehaltlos bewundernd an. Du bist toll. Und was soll ich da tun? Wie hast du die Leute überzeugt, daß du eine Assistentin brauchst? Natürlich sagt Thun nicht, daß er niemanden zu überzeugen brauchte. Er hat sein Konzept dem Redakteur eines privaten TV-Senders vorgestellt, ein Foto von Ina dabeigehabt, und der Mann hat ohne wesentliche Einwände zugestimmt. Für den Sender war Thuns Vorschlag nicht wegen der Inhalte interessant, sondern deshalb, weil bisher niemand anders auf die Idee gekommen war, eine »psychologische Betreuung der Zuschauer« anzubieten. Unter diesem Markenzeichen würde sich Thuns Idee sehr gut vermarkten lassen, das war dem Mann, der dazu angestellt war, Sendungen zu konzipieren, die den Anteil seines Arbeitgebers an den Werbeeinnahmen erhöhen würden, sofort klar gewesen. Die Idee, eine hübsche -145-
Assistentin während der »Beratungsstunde« auftreten zu lassen, war nun allerdings nur auf den ersten Blick überzeugend. Der Redakteur rechnete damit, daß es Zuschauer geben würde, die sich bei ihrem Kontakt mit dem PsychoProfessor durch eine hübsche junge Frau gestört fühlen würden. Er hat das auch Thun gegenüber geäußert, aber auch gleichzeitig versichert, man würde es auf einen Versuch ankommen lassen. So ein hübsches Mädchen. Und bei den Zuschauern kann man auch als alter Hase noch seine Überraschungen erleben. Der Mann war höchstens dreißig! Der Ausdruck »alter Hase« hatte sich höchstens auf seine muffigen Gedanken beziehen können. Deine Aufgabe? Ach, weißt du, eigentlich das Übliche. Die Papiere zurechtlegen, Bücher zureichen (höchstens ein Buch, denkt er, man soll die Leute nicht überfordern), Wasser oder Kaffee servieren, falls wir einmal einen Fall leibhaftig vorstellen, den Patienten hereinführen. An wen denkst du? Nichts Konkretes, wir werden sehen. Und, natürlich, die Hypnose-Veranstaltungen. Das wird einer unserer Höhepunkte werden. Den ersten Vortrag hast du fertig? Ina fragt, und Thun spürt in ihrer Stimme unterdrückte Enttäuschung. Aber sie lächelt ihn an, als sei nichts geschehen. Er überlegt einen Augenblick, was sie sich wohl vorgestellt haben mag, beschließt dann aber, sich mit den Launen einer Studentin nicht länger zu beschäftigen als unbedingt nötig. Er hat vergessen, daß es Ina war, die ihn auf die Idee gebracht hat, sich dem Sender anzubieten. Er sieht auf die Uhr. Ein bißchen Zeit haben wir noch, sagt er, ich versuche, dir den Inhalt in Stichworten wiederzugeben. Er hat sich vorgenommen, bei seinen Auftritten frei zu -146-
sprechen, auf keinen Fall irgend etwas abzulesen, es sei denn, er müßte ein Zitat einbauen, durch das der Glanz des Namen des Zitierten auf ihn fallen sollte. Dann würde es sich gut machen, ein Buch zur Hand zu nehmen, von Ina gereicht, auch um seiner Sendung in den Augen der Zuschauer eine gewisse Weihe zu geben. Er weiß, daß er besser ankommt, wenn er frei spricht. Deshalb ist er durchaus daran interessiert, Ina als Probe-Publikum zu nutzen. Ich möchte mit einer Art Entspannungstraining beginnen. Meine Sendung soll man bequem zurückgelehnt im Sessel, auf dem Sofa oder überall dort, wo die Zuschauer sich im Sitzen wohl fühlen, genießen können. Genießen? Als Einleitung werde ich klarmachen, daß man nur lernt, wenn man gleichzeitig genießt. Deshalb fange ich auch mit dem Thema Liebe an. Zuerst werde ich mich intensiv mit dem Wort »Liebe« befassen. Auch einige Definitionen geben, die berühmten Männern zugeschrieben werden. Es sollen mit Absicht nur männliche Definitionen gegeben werden. Ich werde dann darauf verweisen, daß diese Männer deshalb so berühmt wurden, weil sie ewige Wahrheiten gesagt haben, auch über die Liebe. Liebe als Verschmelzung, als Sehnsucht, als Hingabe, als Aufopferung, als Hintenanstellen der eigenen Interessen. Liebe als Glück des anderen, als Loslösung vom Alltag mit seinen bekannten Beschwernissen, als die Sehnsucht nach dem Außeralltäglichen. Das wäre der erste Teil des Hauptteils. Der zweite soll sich damit befassen, wie Frauen Frauen? Ina scheint irritiert, wird von Thun darüber informiert, daß für die ersten sechs Sendungen eine Zeit vorgesehen ist, zu der erfahrungsgemäß die Mehrheit der Zuschauer Frauen sind, und gibt sich beruhigt. Also: Wie Frauen es wieder lernen können, diese wahre Liebe zu praktizieren. Dazu wird ein kleiner Ausflug in die -147-
augenblickliche und zukünftige Arbeitsmarktsituation nötig werden. Ich denke an »Das Ende der Arbeit« von Rifkin; kurz, aber eindrucksvoll dargeboten, kann ich damit, so glaube ich, viele wieder auf den richtigen Weg bringen. Was willst du anbieten? Arbeitsplätze? Thun überhört den Spott in Inas Stimme. Ich habe lange darüber nachgedacht. Das Ergebnis ist, daß ich auf die bewährten Mittel zurückgreifen werde. Die Menschen haben nun mal einen Hang zum Konservatismus. Man muß das nicht bekämpfen, sondern man muß sie damit aussöhnen. Sie müssen erkennen, daß sie, auf diese Weise ausgesöhnt, glücklich werden können. Deshalb wird übrigens »Glück« eines meiner nächsten Themen sein. Dann natürlich erhebt sich die Frage: was sind die bewährten Mittel? Jeder von uns kennt sie. Jeder hat sie erlebt, als wunderbar erlebt und verdrängt oder bewußt abzulehnen gelernt, weil man ihm eingeredet hat, sie seien nicht mehr zeitgemäß. Das war ein verhängnisvoller Irrtum, auch eine dieser Verblendungen, die die Achtundsechziger über unser Volk gebracht haben. Wer erinnert sich aber nicht an Augenblicke der Verschmelzung, in denen Sie und der Geliebte eins waren? Erinnern Sie sich an liebevolle Kindertage? Wie hätten sie sein können, ohne die Hingabe der Mutter, die ihre eigenen Ansprüche an das Leben nicht etwa hintanstellte, nein, die keine eigenen Ansprüche hatte! Und ist es ihr etwa nicht immer wieder gelungen, uns Kindern vom Alltag befreite Stunden zu bereiten? Denn, jawohl, auch Kinder, besonders wir Jungen, haben einen anstrengenden Alltag, der uns manchmal mehr belastet, als unserer kindlichen Entwicklung guttut. Wissen Sie denn nicht mehr, daß Liebe die Loslösung vom Alltag bewirken kann, daß Frauen die wunderbare Gabe haben, das zu bewirken? Und diese Gabe ist nichts Abstraktes. Sie kann durchaus auch konkret sein. Sie kann weich sein und warm und füllig, große, weiche Flächen der Darbietung, aber auch zart -148-
oder hart; Sie, meine Damen, werden Ihren Körper am besten kennen und wissen, wie Sie sich dem Mann darbieten, damit er vergißt, was ihn, bevor er Ihre gemütliche Wohnung betreten hat, so belastete. Du meinst jetzt aber den Mann, nicht den Jungen? War das unklar? Ja, manchmal sagt die Rede mehr, als wir von der Wahrheit preisgeben wollen. Aber du hast recht, ich muß mich da klarer ausdrücken. Das Sexuelle darf nicht vernachlässigt werden bei diesem Thema. Aber es ist nicht das einzige. Da werden die Frauen mir zustimmen. Und der Schluß? Wie willst du schließen? Ich denke an eine abschließende Entspannungsübung und an die Ankündigung des nächsten Themas. Etwa: schließen Sie die Augen - naja, du weiß schon, Gehirn leer machen, Wärme in den Gliedern, langsam aufrichten, und dann, wie gesagt, das nächste Thema. Weißt du, ich glaube nicht, daß danach dein nächstes Thema, wenn du bei den Zwangskrankheiten bleibst, ein Erfolg wird. Es fällt irgendwie ab, finde ich. Ina, du kannst mir vertrauen. Ich hab im Augenblick nicht die Zeit dafür, ich kann dir aber jetzt schon sagen, daß ich eine Form finden werde, die die Zuschauerinnen so fasziniert, daß sie dranbleiben. Entweder, weil sie oder ihre Familie betroffen sind oder weil sie Leute kennen, Verwandte, Bekannte, Nachbarn, bei denen sie mit meiner Hilfe Symptome erkennen werden. Die Menschen wollen lernen! Sie wollen ihre Welt besser durchschauen! Sie brauchen Anleitung zur Erkenntnis. Und Ratschläge, wie sie einmal erkanntem Übel abhelfen können. Ina sieht Thun, der aufgestanden ist und, seinen Mantel über dem Arm, noch einmal zu ihr zurückkommt, schweigend zu. Und du? fragt er. Sehen wir uns heute abend? Machst du hier noch ein bißchen Ordnung, bevor du gehst? -149-
Ina lächelt ihn an, ohne zu antworten. Sie begleitet Thun zur Tür, küßt ihn zum Abschied, schließt die Tür hinter ihm. Sie bleibt hinter der Tür stehen und lauscht auf seine Schritte. Sie hören sich an, als liefe er beschwingt die Treppe hinab. Sie wird die Wohnung nicht verlassen. Er hat sie nicht ernst genommen. Er hat überhaupt nicht begriffen, was sie vorhat. Aber er wird lernen, sie ernst zu nehmen. Zwangskrankheiten! Mag ja sein, daß er daraus einen mittelmäßig interessanten Vortrag machen kann. Was sie aber brauchen, ist eine Sensation, etwas noch nie Dagewesenes, etwas, das ihnen über Jahre einen Ruf als mutiges Team sichert, das heiße Eisen öffentlich anpackt. Vielleicht ist er ein guter Psychologe, aber er hat von Werbung und vom Sichverkaufen absolut keine Ahnung. Wie spießig, diese Idee mit der Assistentin, am besten noch mit Haube und weißem Schürzchen. Sie muß wissen, was für ein Mann dieser Dicke von gegenüber ist. Sie weiß jetzt schon, daß mit ihm etwas nicht stimmt. Aber sie muß genau wissen, was er tut, wenn er nachts unterwegs ist. Der hat keine Freundin, bei der er übernachtet. Welche Frau würde sich mit so einem abgeben? Fett und weiß und widerlich ist er. Und schläft am Tage, weil er nachts in Geschäften unterwegs war, von denen niemand etwas wissen darf. Sie steht hinter dem Fenster und sieht hinüber. Drüben bleiben die Vorhänge geschlossen, auch noch, nachdem sie die Wohnung in Ordnung gebracht hat. Dafür werden sie bald eine Frau haben, wenn sie überhaupt diese Wohnung behalten. Die ist zwar schön und sorgfältig ausgestattet, aber viel zu klein für sie beide. Ob der da drüben ein Auto hat? Wie kann man das feststellen? Ina zieht ihren Mantel über, verläßt die Wohnung, läuft die Treppe hinunter. Auf dem Parkplatz hinter dem Haus steht ein einziges Auto, ein kleiner blauer Sportwagen. Der gehört ihm nicht, aber sie will sichergehen. Von Thun weiß sie, daß er den Parkplatz für seinen Wagen bei der Hausverwaltung -150-
gemietet hat. Sie wird dort anrufen und unter einem Vorwand fragen, ob zur Wohnung des Nachbarn ein Parkplatz gehört. Als sie in den Hausflur zurückkommt, sieht sie, daß die Tür zum Kellergeschoß offensteht. Er muß einen Keller haben. Zu jeder Wohnung gehört ein Keller. Die Kellertüren tragen die Nummern der Wohnungen. Sie geht die Treppe hinunter. Warm ist es hier unten. Sie weiß nicht, in welchem der Kellergänge sie suchen soll. Sie wird alle Gänge abgehen, den Keller finden und sehen, was er dort aufbewahrt. Als das Licht ausgeht, fürchtet sie sich einen Augenblick lang, aber sie findet den Schalter für die automatische Beleuchtung schnell. Er ist durch ein kleines rotes Lämpchen gekennzeichnet. Das Licht geht noch einmal aus, aber dann hat sie den Raum gefunden, den sie sucht. Sie hat Glück. Das Schloß ist nicht richtig eingeschnappt. Sie zieht daran, und es öffnet sich. Durch die Spalten in der Tür kann sie undeutlich ein paar alte Möbelstücke erkennen. Sie muß untersuchen, was da in den Schubladen steckt. Ina behält das Schloß in der Hand, als sie die Tür geöffnet hat und eingetreten ist. Ein Kleiderschrank, ein schweres, dunkles Büffet mit Türen und Schubladen, zwei Nachttische aus schwarzem Holz - wer schläft wohl in einem schwarzen Schlafzimmer -, das Bett dazu fehlt. Das hat er bestimmt in seiner Wohnung. Wird das Schlafzimmer seiner Eltern gewesen sein. In der Ecke neben dem Fenster steht ein aufgerollter Teppich. Daneben liegt ein großer Koffer mit abgerissenem Henkel. Den wird sie zuerst untersuchen. Wieder geht das Licht im Gang aus. Es muß doch hier im Keller einen Extra-Schalter geben, da, neben der Tür. Sie schaltet die Kellerlampe ein, kniet neben dem Koffer, versucht, ihn zu öffnen. Er ist abgeschlossen. Vielleicht ist der Schlüssel in einer der Schubladen. Sie will schon aufgeben, alle Schubladen sind leer, als sie einen Schlüssel entdeckt, der in einer Blumenvase hinter der Teppichrolle liegt. Sie schüttelt ihn -151-
heraus und hört gleichzeitig Schritte. Irgend jemand kommt die Kellertreppe herunter. Sie macht das Licht aus, schiebt die Tür zu, es bleibt keine Zeit, das Schloß einzuhängen und zu verschwinden. Sie versteckt sich hinter der Teppichrolle und lauscht. Natürlich kann man das Herzklopfen nicht hören! Jemand schaltet die automatische Beleuchtung ein, jemand, dessen Schritte näher kommen. Sie kann nicht hinter dem Teppich hervorsehen, wenn sie nicht Gefahr laufen will, entdeckt zu werden. Aber sie weiß, daß er es ist, der da näher kommt. Als Mädchen hat sie abends Steine an das Fenster eines Jungen geworfen, in den sie verliebt war. Aber nicht der Junge, den sie so gern gesprochen hätte, sondern der Vater des Jungen stand plötzlich im Garten vor ihr und fragte sie, was sie da treibe. Sie hat irgendeine Ausrede gestottert und ist schnell weggegangen. Es war ihr egal, was der Vater von ihr dachte. Aber sie wird nie die Enttäuschung vergessen, als sie begriff, daß der Junge, den sie gemocht hatte, ein Feigling war. Weshalb fällt ihr das jetzt ein. Sie wird eine Ausrede brauchen, eine gute Ausrede, wenn er sie hier in seinem Keller entdeckt. Was soll sie sagen, was, um Gottes willen soll sie sagen? Die Schritte gehen vorbei. Hat sie ein winziges Zögern bemerkt? Sie hat es sich eingebildet. Wer immer da im Gang vorübergegangen ist - es war nicht der Mann, hinter dessen Geheimnis sie her ist. Das Licht im Gang geht aus und wird nicht wieder angeschaltet. Ina wartet lange, bevor sie im Dunkeln den Keller verläßt. Sie tastet nach den eisernen Beschlägen an der Kellertür, hängt das Schloß ein, ohne es fest zusammenzudrücken, verläßt leise und ohne die Beleuchtung anzumachen den Gang. Auf der Treppe nach oben spürt sie den Kofferschlüssel in ihrer Hand. Die Tür zum Flur ist nur angelehnt. Der Flur ist leer. Sie läuft die Treppe zu Thuns Wohnung hinauf, öffnet die Tür, schließt sie hinter sich ab, -152-
betritt mit zitternden Knien die Wohnung. Drüben beim Nachbarn sind die Vorhänge aufgezogen worden. Die Tür zu seiner Dachterrasse steht offen. Es ist niemand zu sehen. Ina braucht zehn Minuten, um wieder ruhig zu atmen. Ihre Knie sind immer noch weich, als sie zum Telefon geht und die Hausverwaltung anruft. Nein, der Herr aus der Wohnung Nummer vierunddreißig hat keinen Stellplatz für ein Auto gemietet. Es muß jemand anders sein, dem das Auto gehört, das ihrem die Ausfahrt versperrt. Na gut, wenigstens ist das geklärt. Und sie wird zurück in den Keller gehen müssen. Sie will wissen, was in dem Koffer ist, für den sie den Schlüssel noch immer in der Hand hält. Sie wird Thun nicht um Hilfe bitte, obwohl sie sich dann sicherer fühlen würde. Was für entsetzliche Minuten hinter diesem ekligen Teppich. Alte Teppiche stinken. Die Erinnerung an den Geruch verursacht ihr plötzlich Übelkeit. Was für ein widerlicher Geruch das gewesen ist. Wonach hat der Teppich gerochen? Irgend etwas, an das sie sich ungern erinnert. Sie kennt den Geruch. Er ist wie - o Gott er hat gerochen wie die Hundedecke, auf der die Hündin damals ihre Jungen bekommen hat. Sie wurden tot geboren, und die Hündin war schon verblutet, als sie dazugekommen sind. Sie haben die Hündin und die toten Jungen im Garten vergraben, da, wo die Brennesseln standen. Sie hat sich die Hände und die nackten Beine verbrannt, aber nichts gemerkt, weil sie die ganze Zeit über geweint hat. Ihr Vater hat die Hundedecke auf den Komposthaufen hinten im Garten geworfen. Da hat sie gelegen, bis die Schmeißfliegen eine Plage wurden und der Geruch unerträglich. Dann hat er die Decke verbrannt. Ina steht in der Mitte des Zimmers, sieht auf die gegenüberliegende Dachterrasse und spürt, daß ihre Knie weich werden. Diesmal von der Erkenntnis, die sie gerade gehabt hat. Der Mann von gegenüber steht auf seiner Terrasse und sieht in den Himmel. Er trägt einen Overall, einen weißen -153-
Overall, dessen Gummizug um seinen unförmigen Bauch gespannt ist. Er steht da, starrt in den Himmel und lächelt. Ina tritt langsam zurück in den Hintergrund des Zimmers, bis dahin, wo man sie von gegenüber nicht mehr sehen kann. Sie setzt sich auf den Boden, lehnt den Rücken an die Wand, stöhnt. In der Tasche ihres Jacketts fühlt sie nach dem Kofferschlüssel. Er ist noch da. Sie wird so schnell wie möglich zurück in den Keller gehen. Der Schlüssel muß zurückgebracht werden, aber vorher will sie in den Koffer sehen. Und ein Stück von diesem widerlichen Teppich abschneiden. Das wird das Schlimmste sein, den Teppich zu berühren. Wenn er nun nur so getan hat, als hätte er sie nicht bemerkt? Aber warum hätte er das tun sollen? Eine bessere Gelegenheit für ihn, sie umzubringen, hätte er doch gar nicht haben können. Bei dem Gedanken an die Gefahr, der sie sich ausgesetzt hat und die ihr nun erst völlig bewußt wird, beginnt sie zu zittern. Sie hat sich für mutiger gehalten. Nein, sie ist mutiger! Sie wird tun, was sie sich vorgenommen hat. Wenn sie sicher ist, daß der da drüben das Haus verlassen hat, wird sie noch einmal in den Keller gehen. Und wenn er in der Zwischenzeit seinen Koffer öffnen will? Wenn er merkt, daß jemand den Schlüssel genommen hat? Das muß sie riskieren. Sie wird in ihre eigene Wohnung gehen, um das Gefühl der Sicherheit wiederzugewinnen, das sie verloren hat. Thuns Wohnung, seine schöne, edel ausgestattete Wohnung, kommt ihr plötzlich vor, als sei sie von unsichtbaren Spuren beschmutzt. Hat sie nicht selbst schon mit dem Gedanken gespielt, über das Dach zu klettern und drüben die Wohnung zu durchsuchen? Was, wenn der Mann auf die gleiche Idee gekommen ist? Was, wenn er hier gewesen ist, auf der Dachterrasse, während sie mit Thun - Ina ruft sich mit Gewalt zur Ordnung. Er war nicht hier. Er ist viel zu schwer, zu unbeweglich, um über das Dach klettern zu können. Sie selbst -154-
hat bisher deshalb darauf verzichtet, weil die Kletterpartie riskant ist und ohne die Hilfe eines Brettes, um das letzte Stück zu überbrücken, nicht zu bewältigen. Im Vorübergehen vergewissert sie sich mit einem Blick, stellt fest, daß das Brett deutlich sichtbar gegenüber an der Wand lehnt, traut sich aber nicht, hinauszugehen und es auf den Boden zu legen. Damit, so glaubt sie, würde sie den Mann da drüben erst recht aufmerksam machen. Ina verläßt die Wohnung, läuft die Treppe hinunter, vorbei an den Briefkästen. In Thuns Briefkasten steckt ein großer Umschlag. Im Vorbeilaufen zieht sie ihn heraus, läuft weiter, ist endlich auf der Straße angelangt. Beinahe übersieht sie einen Radfahrer, der viel zu schnell auf dem Bürgersteig fährt. Langsam beruhigt sie sich. Sie wird ein Stück zu Fuß gehen, bevor sie in ihre Wohnung fährt. Plötzlich fühlt sie sich leer, nicht erleichtert, nur leer und müde, ohne die Kraft, irgendeinen Gedanken bis zu Ende zu denken. Sie ist dankbar für diesen Zustand. So werden sich die Frauen auf den Sofas fühlen, denen Thun nahegelegt hat, sich zu entspannen, denkt sie und lächelt belustigt. Sie ist schon eine Weile unterwegs, als sie von weitem eine Menschenansammlung sieht und neugierig darauf zugeht. Sie sieht Transparente und hört Musikfetzen. Die Menschen, die sie nun beim Näherkommen besser unterscheiden kann, stehen auf einem Stück abgesperrter Straße vor dem Arbeitsamt. Einige haben ihre Gesichter einem Redner zugewandt. Er steht auf der Ladefläche eines kleinen Lkws und spricht in das vor ihm aufgebaute Mikrofon. Die Töne aus dem Mikrofon sind viel zu leise. Sie erreichen nur die Menschen, die direkt davor stehen, nur die, die ihre Gesichter dem Redner zugewandt haben. Ina bleibt stehen, als sie von der Stimme erreicht wird. Hunderttausend Arbeitslose, die die Regierung Kohl auf dem Gewissen hat. Wir brauchen den Wechsel, Kolleginnen und -155-
Kollegen. Die Regierung, die den Reichen immer noch mehr Steuervergünstigungen in den Rachen schiebt, sie muß endlich weg! Müder Beifall! Was wir brauchen, sind neue Ideen, Initiativen, die Arbeitsplätze schaffen, eine Regierung, die endlich das Steuer in Bonn herumreißt. Kohl muß weg! Inas Interesse an politischen Zusammenhängen ist nicht groß. Aber daß hier gerade die hoffnungslose Situation von Arbeitslosen schamlos für Wahlpropaganda genutzt wird, ist ihr ziemlich schnell klar. Sie sieht in die Gesichter um sich herum. Menschen zwischen dreißig und sechzig, intelligente Gesichter, gut gekleidet, nur wenige, die ihre lange Arbeitslosigkeit nicht ausgehalten haben, ohne sich aufzugeben. Aber auch die, wie alle anderen, mit einem winzigen Ausdruck von Hoffnung im Gesicht. Hoffnung, die mit Skepsis kämpft. Weshalb lassen sich diese Leute so ruhig für dumm verkaufen? Warum unterbricht niemand den Redner, um ihn darauf hinzuweisen, daß er noch kein Wort dazu gesagt hat, welche Ideen, welche Initiativen eine andere Regierung entwickeln will? Weshalb stehen diese Menschen hier und lassen sich zu Stimmvieh machen, wo sie doch alles Recht hätten, auf die Barrikaden zu gehen? Na, Schwester, ein Flugblatt gefällig? Ein junger Mann, schwarz gekleidet, die Haare zu Rastalocken gedreht, steht neben ihr. Seid ihr das? Ina zeigt auf ein Transparent, schwarz mit weißer Schrift, das Arbeit ist Scheiße! verkündet. Der Junge nickt, lacht freundlich, drückt ihr ein Flugblatt in die Hand, verschwindet in der Menge. Ina hat keine Lust mehr, dem Redner länger zuzuhören. Sie verläßt die Kundgebung. Ein älterer Mann spricht sie an, der am Rand auf dem Bordstein gesessen hat und -156-
sich gerade mühsam aufrappelt. Er hält eine leere Bierflasche in der Hand. Ein Blick in sein Gesicht läßt erkennen, daß es sich dabei um sein Frühstück gehandelt hat. Ich könnte ein bißchen Geld gebrauchen. Weiß nicht, was ich hier mache. Hier war nichts zu holen, 'ne Mark würde reichen für den Anfang. Der Mann geht neben Ina her, während sie in der Manteltasche nach Kleingeld sucht. Kannst mitkommen, sagt er, nachdem sie ihm Geld gegeben hat. Prima Laden, kennst du wohl nicht, aber prima Laden. Wovon sprechen Sie? fragt Ina. Der Mann ist ihr überhaupt nicht unsympathisch, eher im Gegenteil. Ziemlich heruntergekommen, aber in Ordnung. Siehst du, das wußte ich doch. Die Mission, unser neues Café am Hauptbahnhof. Hat so 'n Künstler eingerichtet, irgendwas mit Schlingel oder so. Haste Lust? Ina hat keine Lust, mit ins Obdachlosencafé zu gehen. Sie hat genug von Arbeitslosen und Obdachlosen, auch wenn ihr der Mann sympathisch ist. Ich komm später mal, sagt sie, heute hab ich's ein bißchen eilig. Mach's gut. Der Mann bleibt zurück, während sie schnell weitergeht. Als sie ihre Wohnung erreicht, ist es beinahe Mittag. Die Wohnung liegt in der Koppel, einer ruhigen Straße in St. Georg, in einem kleinen Haus, das einem Lehrerehepaar gehört. Die beiden haben keine Kinder und bezeichnen sich als Achtundsechziger. Sie heißen Allwiß, und Ina nennt sie die Alt-Achtundsechziger im Vollbesitz der Wahrheit, manchmal auch Herr und Frau Doktor Allwissend. Sie leiden beide an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie, wenn es ginge, auf Krankenschein behandeln lassen würden. Ina stellt es sich ziemlich schlimm -157-
vor, in dem Bewußtsein zu leben, alles zu wissen und von niemandem mehr gefragt zu werden. Deshalb, und weil sie ihr die kleine Wohnung wirklich günstig vermietet haben, fragt sie manchmal, wenn sie einen der beiden im Treppenhaus trifft, nach irgendwelchen Dingen, von denen sie glaubt, sie würden gern darüber reden. Frau Dr. Allwiß kommt ihr entgegen. Sie trägt zwei Mülleimer, in denen sie ihre Haushaltsabfälle, säuberlich getrennt nach Kunststoffen und Organischem, in den Hof bringt. Gestern nacht - wie gut, daß Sie nicht hier waren oder erst spät gekommen sind. Wir hatten die Tür nicht abgeschlossen, mein Mann war der Meinung, ich hätte, ich war der Meinung, er hätte. Jedenfalls: Es hat ein Toter im Hausflur gelegen. Er hat sich hier eine Spritze gegeben. Seine letzte. Wir haben ihn erst heute morgen gefunden. Ein ganz junger Mensch. Wir sind deshalb beide nicht mehr zur Schule gegangen. Bis die Polizei hier war, na, Sie können sich ja denken, daß so etwas seine Zeit braucht. Ausgerechnet am letzten Schultag. Es kann doch nicht etwa jemand gewesen sein, der zu Ihnen wollte? Nein, natürlich nicht. Sie hätten den Jungen sehen sollen. So abgerissen läuft kein Student herum. Ich hab eben eine Arbeitslosenkundgebung gesehen, sagt Ina. Die Leute sehen ziemlich deprimiert aus. Und das ist erst der Anfang, sagt Frau Allwiß. Dieses System ist doch schon lange am Ende. Ja, das ist es wohl, antwortet Ina, komisch, daß das niemand merkt. Frau Allwiß sieht ein klein wenig irritiert aus. Dann sagt sie: Lesen Sie Bourdieu, mein Kind. Vom Elend der Welt. Lesen Sie das Buch unbedingt. Es wird Ihnen helfen, die Dinge zu durchschauen. Ina läuft die Treppe hinauf. Sie wird nicht Bourdieu lesen, -158-
sondern sich noch einmal gründlich mit der Triebstruktur, den Motiven und Handlungsweisen von Sexualstraftätern befassen. Sie ist davon überzeugt, daß Thuns Nachbar auf die eine oder andere Weise in die Kategorie gehört. Sie muß seine möglichen Veranlagungen studieren, Charakteristika herausfinden, um ihn sinnvoll beobachten zu können. Mit dem, was sie schließlich über diesen Mann weiß, wird sie ihm und Thun überlegen sein. Sie wird diejenige sein, die dazu beiträgt, einen gefährlichen Mörder dingfest zu machen. Sie wird diese lächerliche Assistentinnenrolle ablegen, die Thun ihr zugedacht hat. Wenig später sitzt sie am Schreibtisch, vor sich Notizen und einen Stapel Bücher, und sucht nach einem Bleistift. Sie findet auf dem Schreibtisch keinen brauchbaren Stift und beginnt, in ihrer Handtasche zu kramen. Dabei entdeckt sie den Umschlag, den sie aus Thuns Briefkasten genommen hat. Er ist nicht an Thun adressiert. Der Umschlag hat weder auf der Vorder- noch auf der Rückseite eine Anschrift. Erst jetzt fällt ihr auf, daß er auch ohne Briefmarke ist. Ina zögert, ihn zu öffnen. Sie schlenkert ihn, an einer Ecke anfassend, über dem Boden hin und her. Wenn etwas darin ist, muß es jedenfalls ziemlich klein sein. Wenn der Brief nicht ausdrücklich an Thun gerichtet ist, kann sie ihn genausogut aufmachen. Vielleicht enthält er etwas, woran sich feststellen läßt, in wessen Briefkasten der Umschlag eigentlich landen sollte. Der Umschlag enthält nichts außer einem Foto. Das Foto zeigt einen Waldrand, davor ein Stück Feld und etwas Himmel. Es ist ziemlich dunkel, wahrscheinlich in der Dämmerung aufgenommen. Zwischen Feld und Waldrand liegt eine Art Graben, jedenfalls eine dunkle, längliche Vertiefung. In den Wald führt ein Weg, der vom Feld her kommt. Rechts, gleich nach der Einmündung des Weges in den Wald, hat jemand mit einem weißen Stift oder mit weißer Farbe ein kleines Kreuz hingemalt. Es ist ein Kreuz in der Art, wie man sie, einer um sich greifenden Mode entsprechend, mehr und mehr an den -159-
Rändern von Landstraßen und Ortsausfahrten zu sehen bekommt. Das Kreuz bedeutet Tod. Brunner Nichts, sagt Brunner. Keine Fingerabdrücke registriert, ordentlich an- und abgemeldet, niemals aufgefallen. Ein harmloser Junggeselle mit der nicht ungewöhnlichen Angewohnheit, hin und wieder die Wohnung zu wechseln. Nichts, verdammt noch mal. Wenn er der ist, für den du ihn hältst, wird er sich irgendwann verraten. Er wird einen Fehler machen. Irgendwann machen sie alle einen Fehler. Fuchs sitzt Brunner am Schreibtisch gegenüber. Er findet, daß der Kollege übernächtigt aussieht, aber er wird nichts darüber sagen. Na klar wird er einen Fehler machen. Weißt du, was das heißt? Fuchs weiß es. Irgendwann, vielleicht schon bald, wird man ihnen eine Leiche präsentieren, oder es wird jemand verschwinden und als vermißt gemeldet werden. Wenn sie Glück haben, wird das in ihrem Zuständigkeitsbereich sein, aber nur, wenn sie Glück haben. Und ob er beim nächsten Mal schon den Fehler machen wird, auf den Brunner wartet, ist ungewiß. Wir können ihn nicht überwachen lassen, antwortet Fuchs. Wir haben praktisch nichts gegen ihn in der Hand. Du würdest uns beiden einen Gefallen tun, wenn du den Kerl für eine Weile vergessen würdest. Wir haben da nämlich noch ein paar andere Akten, die bearbeitet werden müssen. Hier, zum Beispiel. Ist zwar nur eine kleine Messerstecherei, und der Täter sitzt schon, aber der Staatsanwalt wartet bereits eine ganze Weile auf den Abschlußbericht. Machst du das? Dann -160-
kann ich mich um unseren Lieblingseinbrecher kümmern. Diesmal ist Schluß mit ihm. Dem werden sie endlich Sicherungsverwahrung verordnen müssen. Wenigstens einer, der uns dann keine Arbeit mehr macht. Die Messerstecherei, von der Fuchs gesprochen hat, war das Ende einer Sauftour unter Freunden - was man so Freunde nennt. Drei Männer haben bis nach Mitternacht in ihrer Stammkneipe gesessen und dann bei einem von ihnen zu Hause weitergetrunken. Irgendwann war der Sprit alle, kein Geld mehr da für Nachschub, ein Wort hat das andere gegeben, Wut, ein Küchenmesser, das sie zum Aufschneiden der Fleischwurst benutzt hatten und das noch auf dem Tisch lag, war einem in die Hände geraten, der sich anschließend an nichts mehr erinnern konnte. Bei den Promille nicht weiter verwunderlich. Am Ende hat jedenfalls einer tot auf dem Boden gelegen, einer hat heulend in der Ecke gesessen, und der dritte hat die Polizei angerufen. Ist der überhaupt schon richtig vernommen worden, der Messerstecher? Gib mal die Akte her. Brunner beginnt, die dünne Akte durchzusehen. Seine Gedanken sind bei dem, was Fuchs über den Mann in der Dachwohnung gesagt hat. Irgendwo ist ein Mensch in Gefahr, zum nächsten Opfer zu werden. Er kann es nicht ändern. Er kann nur warten, daß der Mörder einen Fehler macht. Was ist eigentlich mit Fußspuren? Sind irgendwelche Ergebnisse da, die wir verwerten können? Bei deinem Messerstecher? Was willst du denn da mit Fußspuren? Der Mann hat gestanden, denke ich, jedenfalls hat er nicht geleugnet. Wieso - ach so, jetzt verstehe ich. Du meinst die Sache mit der Rollstuhlfahrerin. Es hat keine Fußspuren gegeben, jedenfalls sind keine Abdrücke genommen worden. Du hast doch den Tatort gesehen. Da lag Laub auf dem Boden, -161-
trockenes Gras stand da, die Erde zwischen Bürgersteig und Abhang war gefroren. Wo hätte man da Abdrücke nehmen sollen? Wir haben geschlampt, antwortet Brunner, ich genauso wie alle anderen. Wenn wir so weitermachen, kriegen wir den Kerl nie. Kann es sein, daß die verschlossene Schublade in deinem Schreibtisch zusammen mit der vierzigsten Zigarette, die du da in der Hand hältst, Depressionen bei dir hervorruft? Jemand klopft an die Tür, die anschließend ohne Zögern geöffnet wird. Ein Polizeischüler tritt ein, der eine Frau vor sich herschiebt. Hier, ich bringe Ihnen die Person zum Verhör, sagt er, dreht sich um und verschwindet. Brunner und Fuchs sehen sich an, sehen die Frau an, zucken mit den Schultern. Wie heißen Sie, fragt Brunner schließlich. Die Frau nennt einen Namen: Pietz. Fuchs steht auf, bringt die Frau in einen Nebenraum, kommt zurück. Ich glaube, bei mir dämmert's gleich, sagt er. Bei mir hat's schon gedämmert. Das ist die, die gestern Nacht durch Billstedt gezogen ist und den Autos, die an ihrem Weg geparkt waren, die Reifen zerstochen hat. Eine Autofahrerin hat sie verfolgt, in ihrer Wohnung gestellt und die Polizei geholt. Die Streife hat sie festgenommen und ihr aufgetragen, heute hier zu erscheinen. Einmal vollendete und einmal versuchte Selbstjustiz, was? Oder einmal Selbstjustiz und einmal Denunziation? Weder noch. Einmal Volksschädigung und einmal vorbildliche Bürgerin, würde ich sagen. Was wir brauchen, sind eins, zwei, drei vorbildliche Bürger. Du glaubst gar nicht, wie es unsere Arbeit erleichtern würde, wenn die Leute sich gegenseitig bespitzelten. Paradiesische Zustände wären das, -162-
sage ich dir. Brunner sieht Fuchs über den Schreibtisch hinweg zweifelnd an. Ich weiß nicht, sagt er. Ein Volk von Spitzeln? Lauter Wichtigtuer? Ich kann mir was Besseres denken. War sie betrunken? Voll bis zum Rand. Was bedeutet, sie kann sich an nichts erinnern? Keine Ahnung, aber einer von uns muß das jetzt aus ihr rausbringen. Du oder ich? Mach du das, ja? sagt Brunner. Ich will mir noch einmal die Wohnung der Zechbrüder ansehen, bevor ich den Bericht schreibe. Ich hätte die Sache gern vom Tisch. Ist gut, aber laß die Finger von dem anderen Mann, ja? Welchen Mann meinst du, fragt Brunner, während er seine Jacke anzieht. Er geht zur Tür. Während er hinausgeht, hört er, daß Fuchs die Tür zum Nebenzimmer öffnet und Frau Pietz zum Platznehmen neben seinem Schreibtisch auffordert. Brunner läßt sich von einem Streifenwagen bis zur Wohnung der Zechbrüder mitnehmen. Er schickt den Wagen weg und betritt den Hausflur. Das Haus ist eine schlichte Wohnanlage, in den fünfziger Jahren gebaut, mit umlaufenden Außengängen, von denen die Wohnungstüren abgehen. Es ist so verrottet, daß es eigentlich abgerissen werden müßte. Die Wohnung am Ende des Ganges, ohne Türschild und nur durch die Versiegelung als Tatwohnung kenntlich, besteht aus einem Zimmer, Kochnische und Duschbad. Ein unangenehmer Geruch ist in der Luft, der möglicherweise mit dem Blut zu tun hat, das der Verletzte verloren hat, bevor er starb. Ein Blutfleck, der in seiner Form an Sylt erinnert, zieht sich über den braungrün gemusterten Teppich. Auf dem durchgesessenen, ehemals schwarzen Cordsofa liegt eine -163-
Decke, eher eine Art großer brauner Lappen, der offensichtlich zum Blutstillen benutzt wurde. Brunner sieht sich angewidert um. Das Geschirr, sämtliches Geschirr, wie er nach einem Blick in den Schrank über der Spüle feststellt, steht benutzt und nicht abgewaschen herum. Er entdeckt einen zweiten Fleck auf dem Teppich, der ein Rotweinfleck sein könnte. In der Akte war dieser Fleck nicht erwähnt. Brunner macht sich ein paar Notizen und ist froh, daß der Fall eindeutig ist. Hätte es sich um Mord gehandelt, wäre zum Beispiel der Täter geflohen, dann wären die Ermittlungen, die Spurensicherung am Tatort völlig unzulänglich gewesen. Trotzdem wird es hier darauf ankommen, ein sauberes Geständnis zu haben. Es wäre gut, wenn sein Anwalt dem Täter nicht inzwischen gesagt hätte, er solle den Mund halten. Hatte der Mann überhaupt schon einen Anwalt? Brunner verläßt die Wohnung. Im Gang vor den Türen wartet eine alte Frau auf ihn. Hat man den Mörder? flüstert sie, während Brunner an ihr vorbeigeht. Er bleibt stehen. Die Frau trägt ein Nachthemd und darüber einen abgetragenen Morgenrock. Sie hat keine Strümpfe an. Ihre Füße stecken in karierten Hausschuhen, die ihr zu groß sind. Die Frau scheint aufgeregt. Aber klar, sagt Brunner freundlich. Man hat ihn erwischt. Machen Sie sich keine Sorgen. Welches ist denn Ihre Wohnung? Die Alte zeigt auf eine der Türen. Brunner kommt die Tür besonders alt und häßlich vor. Sie ist bestimmt nicht gestrichen worden, seit sie eingebaut worden ist. Die Frau geht langsam auf ihre Wohnung zu. Sie wirkt unendlich gebrechlich. Durch die dünnen Haare auf ihrem Hinterkopf schimmert die Kopfhaut. Vor ihrer Wohnungstür bleibt sie stehen und wendet sich Brunner zu. Vielleicht möchten Sie einen Tee bei mir trinken? -164-
Brunner ist versucht, ihr zu sagen, sie solle nicht jeden Fremden zum Tee in die Wohnung einladen, aber ihm fällt rechtzeitig ein, daß er sie damit unnötig ängstigen würde. Er schüttelt den Kopf. Ich würde gern, aber mein Kollege wartet schon auf mich. Na, dann fangen Sie mal schön weiter die Verbrecher, sagt die Frau energisch. Ihre Stimme ist fester geworden, und die Bewegung, mit der sie ihre Tür aufschließt, wirkt kräftig. Machen wir, Muttchen, antwortet Brunner. Er ist erstaunt und erleichtert. Und Ihr »Muttchen« lassen Sie mal lieber. Für Sie bin ich eine Frau. Ob ich Ihre Mutter sein wollte, müßte ich mir noch sehr überlegen. Brunner lächelt, während er weitergeht. Hinter ihm fällt eine Tür ins Schloß. Auf der Straße sieht er sich nach einer Bushaltestelle um. Sie ist keine zwanzig Meter entfernt. Während er auf den Bus wartet, überlegt er, was er jetzt tun wird. Es lohnt sich nicht mehr, zurück ins Büro zu fahren. Er wird den Bericht zu Hause schreiben und den Rest des Abends mit Marie »Mensch ärgere dich nicht« spielen. Es ist nicht gut, sie abends lange allein zu lassen. Verrückte Idee von Charly, diese Sache mit den Karten. Es waren einige ziemlich scheußliche darunter gewesen. Ob er die aussortieren sollte? Den Tod zumindest, den würde er weglegen. Weshalb sollte Marie gerade diese Karte brauchen?! Brunners Dienststelle ruft an, kurz bevor er sein viertes Püppchen nach Hause gebracht hat. Bei Marie stehen erst zwei von den kleinen schwarzen Dingern im Schlußfeld. Er hat nicht gewollt, daß sie verliert, und es hat ihn ziemlich viel Mühe gekostet, so zu schummeln, daß sie seine Tricks nicht merkt. Dann klingelt das Telefon, er würfelt eine Eins; das war genau die Zahl, die ihm noch fehlte. Der Würfel bleibt mit der Eins nach oben liegen. Die vier Püppchen sind ordentlich -165-
hintereinander aufgereiht im Ziel, als er zurück ins Wohnzimmer kommt. Marie sieht ihn an. Sie weiß, daß er gehen muß. Auf ihrem Gesicht ist kein Protest. Es ist gerade dieses stumme Hinnehmen, das Brunner schlecht ertragen kann. Tut mir leid, mein Mädchen. Dein Vater wird noch gebraucht heute nacht. Vielleicht wird es spät. Ich sag Charly Bescheid, daß du allein bist. Soll sie zu dir kommen? Marie schüttelt den Kopf. Brunner zieht seine Jacke an und kommt noch einmal zurück. Wenn ich irgendwo etwas Schönes sehe, bringe ich es mit für dich, sagt er und ist froh, daß Marie ein ganz klein wenig lächelt. Als er die Treppe hinunterläuft, fällt ihm ein, daß ihr Lächeln nichts Kindliches gehabt hat, eher nachsichtig war, und er weiß nicht, was er davon halten soll. Unten auf der Straße wartet Fuchs im Auto auf ihn. Ich hab's dir schon am Telefon gesagt. Also, ich denke, wir sollten uns die Sache am besten von Anfang an mit ansehen. Immerhin haben die Kollegen im Osten gleich geschaltet, sagt er. Wenn's auch nur den geringsten Anhaltspunkt gibt, daß unser Mann in Frage kommt, werden wir eine Soko anregen und die Sache übernehmen, antwortet Brunner. Das ist es, worauf du schon die ganze Zeit wartest, was? Brunner antwortet nicht. Er ist nervös und wäre gern schneller gefahren, aber Fuchs fährt nur schnell, wenn es einen wichtigen Grund gibt. Als sie am Tatort ankommen, ist eine knappe halbe Stunde vergangen. Vielleicht wäre es unter anderen Umständen schwierig gewesen, den Ort zu finden, aber nun sehen sie schon von weitem das Scheinwerferlicht der Fernsehleute und zwei eingeschaltete Blaulichter. Wenigstens haben sie den Ton abgestellt, sagt Brunner, -166-
während sie auf den Parkplatz der Volkshochschule fahren, die groß und dunkel direkt an der Straße steht. Der Parkplatz ist betoniert. Am hinteren Rand, rechts von der Einfahrt, stehen überdimensionierte Müllcontainer. Es sind drei, und im Licht der Scheinwerfer sind die Beine deutlich zu sehen, die aus dem Einfülloch des mittleren herausragen. Wir dachten, wir sichern erst mal rundherum, was es an Spuren gibt, damit ihr auch was habt von dem Anblick schöner Beine. Die Fotos sind gemacht. Dann wollen wir mal. Hat der die Frau für uns da drin stecken lassen, fragt Fuchs leise, während sie näher herangehen. Die hätte doch noch leben können. Das werden sie hoffentlich geprüft haben, antwortet Brunner. Zwei Polizisten in Uniform, wahrscheinlich die, die bei ihrer nächtlichen Kontrollfahrt über den Parkplatz gekommen sind und die Tat entdeckt haben, sind schon auf umgekippte Kisten neben dem Container gestiegen, um sich einen besseren Standort für das Herausziehen des Körpers zu verschaffen. Auch in ihrer erhöhten Position haben sie Schwierigkeiten damit. Da muß einer sehr kräftig gewesen sein beim Reinlegen, sagt Brunner. Sie ziehen eine zierliche Frau heraus, deren Gesicht sie zuerst von Unrat befreien müssen. Dann liegt sie auf dem Beton, schmal, mittelalt, dunkelhaarig, die üblichen Merkmale Erwürgter im Gesicht, den Schal, mit dem ihr Mörder sie getötet hat, noch um den Hals. Brunner kniet auf dem Beton neben der Leiche und beobachtet den Kollegen von der Spurensicherung. Ist sie vergewaltigt worden? -167-
Kann man so noch nicht sagen, könnte auch irgendwie anders gelaufen sein. Diese Flecke hier - er zeigt auf eine Stelle des Jeansrocks - sind zumindest verdächtig. Wie lange kann sie schon tot sein? Nicht länger als drei Stunden denke ich. Aber das muß der Arzt genauer sagen. Nach meinem unmaßgeblichen Wissen nicht länger als drei Stunden. Das heißt, wenn die Kollegen mit ihrem Streifenwagen ein wenig öfter auf die Idee gekommen wären, den Parkplatz abzufahren Nun halt aber die Luft an. Wie sollten wir denn ahnen, daß gerade hier etwas passiert. Sollen wir vielleicht Ist ja gut, war nur laut gedacht. Wenigstens sind die Spuren frisch, weil ihr sie so bald gefunden habt. Was wir nämlich brauchen, ist ein genetischer Fingerabdruck, so schnell wie möglich. Wenn das unser Mann ist, der hier am Werk war, dann kriegen wir ihn jetzt. Gebt ihr uns eure Ergebnisse? Sobald wir sie haben. Meinetwegen kannst du die Leiche auch gleich mitnehmen. Wollt ihr gehen und nachsehen, ob sie mit jemandem zusammenlebt? Habt ihr denn die Adresse? Neben dem Müllcontainer lag die Handtasche. Sie wohnt nicht weit von hier, hat wohl zu lange getrödelt, nachdem ihr Kurs zu Ende war, ist noch schnell ein Bier trinken gegangen oder so. Sie hatte einen Volkshochschulkurs belegt, der Zettel war in der Tasche. Also, was ist, geht ihr Bescheid sagen? Ne, laß man, noch ist das euer Fall. Aber danke, daß ihr uns gerufen habt. Kann schon sein, daß wir bald zusammenarbeiten werden. Brunner und Fuchs gehen zum Auto zurück. Fällt dir auf, was mir aufgefallen ist? fragt Brunner, während Fuchs vor der Bahnüberführung hält, um einen Fußgänger über -168-
die Straße zu lassen. Wir haben drei Leichen, drei, von denen wir wissen, und sie liegen alle an derselben Bahnstrecke, alle an der U l. Und die kommt an seinem Haus vorbei. Willst du mir einen Gefallen tun? Bin schon auf dem Weg, antwortet Fuchs. Er fährt plötzlich sehr schnell. Es ist nach dreiundzwanzig Uhr, als sie vor dem Haus ankommen. Dort sind beinahe alle Fenster erleuchtet, einige stehen sogar offen, obwohl draußen inzwischen Frost herrscht. In der Haustür kommen ihnen ein paar elegant gekleidete junge Leute entgegen. Brunner hat den Eindruck, daß sie abfällig gemustert werden. Er weiß nicht genau, weshalb er sich darüber ärgert. Bevor sie die richtige Wohnung unter dem Dach gefunden haben, sind sie zweimal an falschen Türen gewesen. In beiden Wohnungen werden Feten gefeiert, und zweimal werden sie eingeladen, mitzumachen. Als sie endlich die richtige Wohnung gefunden haben und dort klingeln, bleibt hinter der Tür alles ruhig. Scheint der einzige in diesem Haus zu sein, der nachts schläft, sagt Fuchs. Oder nicht zu Hause ist, antwortet Brunner. Er nimmt die Hand nicht mehr von der Klingel. Sie wollen schon aufgeben, als sie Geräusche hinter der Tür hören. Brunner setzt noch einmal die Klingel in Gang. Ich würde mich beschweren, wenn mich einer nachts auf diese Weise aus dem Bett holt, flüstert Fuchs. Als die Tür geöffnet wird, sind beide gespannt auf den Anblick, der sich ihnen bieten wird. In der Tür steht eine Frau. Sie trägt den rosa Bademantel, den die Polizisten kennen. Als sie ihn zum ersten Mal gesehen haben, hat er gerade ausgereicht, um die Gestalt eines sehr großen, sehr dicken Mannes zu bedecken. Der Frau, die ihn nun trägt, reicht der -169-
Mantel bis auf den Boden, und er ist weit genug, um sie dreimal darin einzuwickeln. Die Männer starren sie an. Ja, bitte? Eine kleine, dünne, verschlafene Stimme, verstrubbelte, dunkle Haare, dünne Fingerchen, die den Bademantel zusammenhalten. Entschuldigen Sie, wohnt hier denn nicht Wer ist denn da? Wie spät ist es denn? Wo ist mein Bademantel? Die Stimme im Hintergrund kennen sie. Wir hätten Sie gern gesprochen. Brunner ruft über die kleine Frau hinweg in die dunkle Wohnung. Die Frau geht langsam nach hinten, sie geht rückwärts, als wolle sie sich von einer Gefahr entfernen und sie dabei im Auge behalten. Im hinteren Zimmer, das die Polizisten von der Tür aus nicht einsehen können, wird Licht angemacht. Der Mann tritt aus der Verbindungstür einen Schritt in das Vorderzimmer. Eine Lampe bescheint seine gewaltige Rückseite. Er ist nackt. Du hast ihn, sagt er. Die Frau wickelt sich aus dem Bademantel und huscht aus dem Blickfeld der Männer. Der Mann hat den Bademantel übergezogen und kommt nach vorn. Geht das nicht ein bißchen zu weit, fragt er. Er ist nicht unfreundlich, nur ein bißchen abwesend, denn er ist gerade aus den schönsten Träumen gerissen worden. Es tut mir leid, wenn wir stören, aber wir müssen wissen, wo Sie heute abend gewesen sind. In der Zeit von neun bis halb elf, ergänzt Fuchs. Sagen Sie's uns, und wir verschwinden wieder. Hier war ich, sagt der Mann, den ganzen Tag hier, nur zwischendurch, heute morgen, mal eben zum Kaufmann. Entschuldigen Sie, aber ich glaube, ich bin noch nicht wieder -170-
ganz nüchtern. Wir hatten eine kleine Feier heute, verstehen Sie? Macht es Ihnen etwas aus, am Tage noch einmal wiederzukommen? Mir ist ein bißchen übel im Augenblick er reißt plötzlich die Hand vor den Mund und verschwindet sehr schnell durch eine Tür, hinter der die Polizisten das Badezimmer vermuten. Gleich darauf hören sie ihn würgende Geräusche von sich geben. Die beiden sehen sich an. Laß uns verschwinden, sagt Fuchs. Das hier ist eindeutig. Wir kommen wieder, ruft Brunner in die offene Wohnung. Es klingt so, als würde ein kleiner Junge den Schauplatz seiner Niederlage verlassen und dem übermächtigen Feind androhen, er werde sich bei nächster Gelegenheit rächen. Wir hätten einfach reingehen und uns seine Klamotten ansehen sollen, sagt er, während sie die Treppe hinuntergehen. Das ist deine sechzigste Zigarette heute, antwortet Fuchs. Wir hatten kein Recht, reinzugehen. Er hatte jedes Recht, uns zum Teufel zu schicken. Was er nicht gemacht hat. Statt dessen hat er uns den großen Liebhaber vorgespielt. Kannst du dir das vorstellen? Dieser Fettwanst und die kleine Frau? Manche Frauen stehen auf so was, sagt Fuchs. Drei junge Leute, zwei Männer und ein Mädchen in Designer-Klamotten laufen an ihnen vorbei: Das Mädchen, dünn wie ein Strich, lilaweiß geschminkt, mit eng am Kopf anliegenden Haaren, hält eine Champagnerflasche in den Händen. Die beiden Polizisten sind so sehr Luft für die drei, daß es schon beinahe kränkend ist. Als sie auf die Straße treten, piepst Brunners Telefon. Sie gehen weiter zum Auto. Während Fuchs den Wagen öffnet und beide einsteigen, hört er Brunner ein paarmal »ja« sagen. Sein Ton verrät nichts Gutes. Ja, dann fahr mal gleich Richtung Barmbek, sagt er, als er das Telefon wegsteckt. -171-
Ich geh jetzt schlafen, antwortet Fuchs. Von mir kann keiner verlangen, daß ich mir eine Nacht um die Ohren schlage, nur um häßliche Leichen anzusehen. Oder worum geht's diesmal? Ich sage dir, wenn das nicht in unserem Gebiet ist, kriegen mich keine zehn Pferde mehr irgendwohin. Ich fürchte, das ist heute nicht dein Glückstag. Dafür ist es diesmal aber auch ein kleines Mädchen. Mist, sagt Fuchs. Wohin genau? Gleich hinter Dehnhaide. Kurz vorm Barmbeker Bahnhof ist 'ne Baustelle. Ein Mann hat die Leiche gefunden. Er hat mit seinem Hund einen Abendspaziergang machen wollen. Angeblich hat er einen Schock. Und sein Hund hat die Polizei angerufen? Brunner antwortet nicht. Auch Fuchs sagt nichts mehr. Als sie ankommen, sehen sie einen Streifenwagen und einen Mann mit Hund, der an den Bauzaun gelehnt dasteht, als fürchte er umzufallen. Vor ihm liegt ein Sandhaufen. Daneben stehen zwei Polizisten. Hier, sagt einer von ihnen. Er zeigt auf die Seite des Haufens, die von der Straße aus nicht zu sehen ist. Das Mädchen ist zehn oder elf Jahre alt. Es hatte sich die Kapuze seines Anoraks über den Kopf gezogen. Der Mörder hat sich nicht einmal Zeit genommen, die Kapuze abzustreifen, bevor er ihm die Kehle durchgeschnitten hat. Es ist drei Uhr früh, als Fuchs seinen Kollegen in dessen Straße absetzt. Die beiden sind so müde, daß sie auf der Fahrt kein Wort miteinander gesprochen haben. Bis morgen, sagt Brunner beim Aussteigen. Er bleibt neben dem Auto stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Fuchs, der ihm zusieht, merkt, daß seine Augen zufallen. Er gibt sich einen Ruck und fährt an. Brunner ist froh, noch ein paar -172-
Schritte gehen zu können. Er denkt, daß morgens um drei wahrscheinlich die einzige Zeit ist, in der hier niemand mehr draußen herumläuft, jedenfalls im Winter. Und er ist froh, niemanden sehen zu müssen. Aber dann wird auf der anderen Straßenseite eine Kneipentür geöffnet. Eine Frau, nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, geht ein paar Schritte die Straße entlang. Einen kurzen Augenblick glaubt Brunner, sie würde auf seine Seite kommen und ihn ansprechen. Dann hält ein Taxi neben ihr, und sie steigt ein und verschwindet. Seit das Viertel in Mode gekommen ist, lassen sie sich nun schon mit dem Taxi herbringen, denkt er. Was für merkwürdige Angewohnheiten beim Saufen die Leute entwickeln. Er sehnt sich nach einem großen Glas Schnaps, aber er weiß, daß er nichts trinken wird. Jetzt nicht, denkt er, jetzt noch nicht. Die Wohnung ist still. Marie hat das Spiel weggeräumt. In der Küche ist der Tisch zum Frühstück gedeckt. Auf ihrem Stuhl am Wohnzimmerfenster liegen weder Decke noch Kissen. Trotz der großen Müdigkeit spürt Brunner eine leichte Unruhe. Er geht schnell, ohne Lärm zu machen, in Maries Zimmer. Sie hat die Decke auf dem Fußboden ausgebreitet und die Tarot-Karten darauf angeordnet. Er sieht auf ihr Bett. Marie schläft. Brunner geht zurück in die Küche, um eine letzte Zigarette zu rauchen. Er setzt sich an seinen Platz und sieht erst jetzt den Zettel, den Marie ihm neben den Frühstücksteller gelegt hat. Hast du den Tod gesehen? steht darauf. Auf dem Zettel steht: Hast du den Tod gesehen. 24. Dezember Ich glaube nicht, daß es Zufälle gibt. Sonja. Als ich sie das erste Mal sah, wußte ich, daß sie meine Frau werden würde. Meine Frau - wie unerträglich banal diese Worte gemeinhin gebraucht werden. Jeder Hanswurst kann sie sagen. Er heiratet -173-
und darf sagen: meine Frau. Nie, nie wird ihm die Frau, die auf dem Papier seine Ehefrau geworden ist, wirklich gehören. So, wie mir meine Sonja gehört. Ganz, von den dünnen, kleinen Zehen bis zu den ausgefransten Haarspitzen. Wir werden sie schneiden müssen. Frauen wie Sonja sind ein Wunder an Tapferkeit. Wie eine zähe, kleine Katze hat sie sich dem Alkoholiker entgegengeworfen. Ich hatte ihn nicht unterschätzt. Ich wußte, daß er kommen würde, wenn sie die Frau gefunden hätten. Sonja, ich brauche dich doch. Morgens war Sonjas Nachricht in meinem Briefkasten. Zuerst wußte ich nicht, wie ich darüber denken sollte. Ich hatte alles für den Heiligen Abend vorbereitet. Nun würde sie einen Tag früher kommen. Sie sollte doch nicht sehen, wie ich ihre Wohnung geschmückt hatte, nicht, bevor es soweit war. Ich will mir jetzt, nachdem die Gefahr vorüber ist, endgültig vorüber, wie ich hoffe, ruhig eingestehen, daß ich in den letzten Tagen schwache Augenblicke gehabt habe, Momente der Angst, ein unangenehmes Bedrohungsgefühl. Nein, es war mehr als ein Gefühl. Ich wurde beobachtet. Ich werde übrigens noch beobachtet, aber ich kann die Beobachterin nun beiseite schaffen, wann ich es will. Ich werde sie noch ein wenig zappeln lassen. Vielleicht hat sie Lust, mir einmal in den Keller zu folgen? Vielleicht möchte sie meine Wohnung kennenlernen? Wenn es soweit ist, werde ich die Tür offenstehen lassen, und sie wird hereinspazieren. So, wie sie in den Keller gegangen ist, weil das Schloß offen war. Ich konnte ihre Angst riechen, als sie hinter dem Teppich stand - Ich hätte sie getötet, wenn ihre Stunde schon dagewesen wäre. Ich werde sie töten, wenn ihre Stunde gekommen ist. Und Sonja wird mir dabei helfen. Ich habe ihr alles gesagt. Ich ging zum Bahnhof, um sie abzuholen. Sie sah sehr -174-
abgehärmt aus, die Kleine, als sie aus dem Zug stieg. Wie hat sie sich gefreut, mich zu sehen. Ich fragte sie nach ihrer Mutter, und sie begann zu weinen. Da wußte ich alles über Sonja. Die alte Frau ist sehr anspruchsvoll gewesen in den Tagen, in denen Sonja bei ihr war. Sie hatte die Bösartigkeit derer, die sterben müssen und nicht sterben wollen. Und Sonja, meine hingebungsvolle Sonja, hat sie trotzdem geliebt. Sie hat ihr jeden Wunsch erfüllt, bis zum Ende. Ich glaube, daß die alte Frau ihrer Tochter zum Schluß nicht einmal das Essen gegönnt hat. Deshalb ist sie so abgemagert, meine Kleine. Ich nahm sie mit zu mir. Und dann wurde die Wohnung enger. Ich begann herumzulaufen, während sie im Bad war. Es ist schrecklich, in einer zu engen Wohnung herumzulaufen, wenn man spürt, daß man schwerer und schwerer wird. Und wenn man weiß, was das Schwererwerden bedeutet. Manchmal nützt es, wenn ich dann schlafe. Sonja war erschöpft, und ich hab sie überzeugt, daß wir uns hinlegen sollten. Ich glaube, daß wir beide einschliefen. Es hat mich verfolgt bis in den Traum. Da waren mehrere Frauen, hilflose, gefesselte Frauen, mit denen ich tun konnte, was ich wollte. Ich wollte sie erlegen. Ich begann, sie zu zerschneiden, eine nach der anderen. Von ihren Schreien, vom Anblick des Blutes auf den weißen Gliedern bin ich aufgewacht, schreiend bin ich aufgewacht. Sonja saß im Bett und starrte mich an. Mir fiel ein, daß ich nicht einmal den Kasten mit den Bildern und den Souvenirs in der Wohnung hatte, um mich zu beruhigen. Da mußte ich die Wohnung verlassen. Ich hab ihr gesagt, daß ich wiederkomme. Daß ich sie einschließen werde, weil ich sie behalten möchte. Daß ich ihr alles über mich sagen würde, wenn ich zurück wäre. Sie hat geweint und gesagt, sie würde die Wohnung putzen. Mach dir keine Sorgen, hat sie gesagt, mach dir keine Sorgen. -175-
Ich verließ die Wohnung. Mein Zustand war so, daß ich das Mädchen von gegenüber getötet hätte, wenn ich ihr im Treppenhaus begegnet wäre. Ich hätte auch jeden getötet, der zufällig dazugekommen wäre. Ich weiß, daß es nicht klug ist, immer die gleiche Bahnlinie zu benutzen. Wenn ich die Augen schließe, eine Weile mit geschlossenen Augen sitzenbleibe und sie wieder öffne, weiß ich sofort, wo wir sind. Ich kann nachts an den Lichtern, die in den Häusern brennen, erkennen, wo wir sind. Ich kenne diese Strecke inzwischen so gut, daß ich von ihr träume; daß ich an jeder Station aussteigen kann und mich sofort zurechtfinde. Es ist kein Zufall, wo ich aussteige. Es gibt einen Zustand von Atemnot und Bedrückung, von Schwere, der mich hinaustreibt, obwohl ich noch fahren möchte, obwohl ich die Erfüllung hinauszögern möchte. Ich stieg in Farmsen aus, so schwer, im tatsächlichen Sinn schwer geworden, daß ich Mühe hatte, die Stufen zu ersteigen. Ich glaube nicht an Zufälle. Wenn mir eine Gegend zugeteilt wird, dann nehme ich sie an. Hier waren Straßen, Kreuzungen beleuchtet. Ein Mann sprach mich an. Ob er mir helfen könne. Ihm sei mein unsicherer Gang aufgefallen. Suchen Sie etwas? fragte er. Ja, ich suchte etwas. Ich brauchte etwas, ich wollte etwas finden, hier wollte ich etwas finden. Es mußte hier zu finden sein. Hinter der Bahnüberführung liegt rechts ein Einkaufszentrum, ein langgestrecktes Gebäude, zweihundert Meter lang. Ich schleppte mich daran vorbei, sah am Ende einen Parkplatz, unbeleuchtet, ging über den Parkplatz um das Gebäude herum: zweihundert Meter Dunkelheit, Beton, leere Stellplätze, weit weg die Trasse der Hochbahn. Hier, dachte ich, hier wird es sein. Ich bin eine halbe Stunde, vielleicht auch länger, auf dem Platz hinter dem Einkaufszentrum herumgeirrt. -176-
Ich kann es nicht anders nennen: herumgeirrt. Jetzt, wo es mir gutgeht, kann ich leichten Herzens hinschreiben: Ich habe geweint. Geweint aus Enttäuschung. Dies war mein Platz, und niemand kam, um mich zu erlösen. Um sich erlösen zu lassen. Dann ging ich, überquerte die Straße, betrat den Weg, ging über den Betonplatz, wartete am anderen Ende neben einer Mauer. Es ist dunkel, eine Frau kommt, ich erkenne ihre Beine, ich bleibe, sie geht an mir vorüber, sie ist nicht groß, sie trägt eine Tasche, sie ist kleiner als ich, sie hat einen Schal um den Hals, sie hat diesen Schal, diesen Schal Ich wußte, sie würde mir nicht genügen. Nicht nach der Erregung, die ich durchlitten hatte. Wut - aus Wut habe ich sie dahin getan, wohin sie gehört: in den Müll. Später Immer sonst, wenn ich sie erledigt habe, fühle ich mich erleichtert. Es klingt verrückt, aber ich bin dann leicht wie eine Feder. Ich kann tanzen und singen, die ganze Nacht. Am schönsten ist es, wenn ich draußen bin, an einem Wald, in der Nähe einer Wiese. Ich fürchte mich nicht im Dunkeln. Ich bin der, der die Dunkelheit beherrscht. Diesmal beherrschte ich nicht einmal mich selbst. Ich ging zurück, vorbei an den Kneipen und Läden. Bleichgesichtige, geduckte Jünglinge sah ich auf billigen Barhockern im Neonlicht sitzen und gegen die Ladenscheibe starren. Sie hatten die Reste von roten Soßen um den Mund und blutige Reste auf ihren Tellern. In der Luft lag ein Geruch nach Abgasen und altem Bratfett. Die mir begegneten, hatten blutleere Gesichter, in denen Angst stand. Erbärmliche Geschöpfe, deren billige Kleider mehr wert waren als sie selbst. Ich schleppte mich die Treppen zur U-Bahn hoch, jede Stufe zu steigen war eine unendliche Anstrengung, und mir entgegen kamen Schübe von wandelnden Toten in einer Wolke von Schweiß und Parfüm und dem Geruch nach ungelüfteten Kleidern aus Räumen, in denen geraucht wird. -177-
Ich dachte an meine kleine Sonja und daß ich zu ihr zurückgehen mußte und daß ich sie lieber wiedertreffen würde, wenn ich den wunderbar leichten Zustand erreicht hätte. Wenn die Menschen so häßlich sind, wie sie sind, weshalb müssen sie dann unter hellen Lampen herumlaufen? Weshalb muß das Licht auf den Bahnhöfen grell sein? Weshalb lassen sich die Lampen in den Bahnen nicht so einstellen, daß die Züge dämmrig sind? Mir gegenüber saßen ein Mann und eine Frau. Der Mann hielt eine Bierdose in der Hand. Er war betrunken. Seine langen, fettigen Haare hingen ihm ins Gesicht. Er beugte sich zu der Frau vor. Von ihr sah ich die zottigen Haare am Hinterkopf und ein dickes Bein in einer hellblauen Jerseyhose. Und ich sah die freie Hand des Mannes, der den fetten, hellblauen Oberschenkel befummelte. Hin und wieder hörte ich die beiden vor Vergnügen glucksen. Als ich ihren Anblick nicht mehr ertragen konnte, stieg ich aus. Das schreibe ich nun leicht, aber es war schwer. Ich hielt mich am Geländer fest, als ich die Treppe hinunterging. Vor mir ging ein Mädchen. Wir waren die einzigen, die ausgestiegen waren. Das Mädchen überquerte die Straße und ging unter der Eisenbahnbrücke entlang. Ich bin ihr gefolgt. Sie hatte einen leichten Schritt. Als ich sie einholte, sah sie mich an, freundlich, sie sah mich freundlich an. Es ist schön, daß du mich begleiten willst, sagte sie. Ich fürchte mich, wenn ich unter dieser Brücke allein und im Dunkeln entlanggehen muß. Und weshalb lassen dich deine Eltern allein gehen? fragte ich. Dann sah ich die Baustelle. Baustellen spielen in meinen Träumen eine Rolle. Baustellen und Sandgruben, auch Bretterzäune und Spaten. Sie hat mir geantwortet. Bestimmt hat sie mir geantwortet. Ich weiß nicht, was sie gesagt hat. Es war nicht mehr wichtig. Für sie nicht und für mich nicht. Ich wußte nur, wenn ich es tue, wird es mir gutgehen. Es wird mir -178-
und Sonja gutgehen. Ich werde eine Zeitlang Ruhe haben. Ich werde dich meiner Ruhe opfern, liebe Kleine, dachte ich. Dann hab ich's getan. Später Sonja hat sich gefreut, als ich zurückkam. Sie sagt, daß sie es nicht liebt, eingeschlossen zu sein, und sie würde es nur von mir dulden, aber nicht zu oft. Ich hab ihr gesagt, daß ich sie brauche. Sie hat mich gefragt, weshalb. Und ich habe ihr alles erzählt. Nicht alles, aber alles, was geschehen ist, seit ich in dieser Wohnung lebe. Ich habe ihr von der Frau mit den kurzen, blonden Haaren erzählt, die mich beobachtet. Ich habe ihr von dem Alkoholiker erzählt, der mich fangen und für immer einsperren will. Die Frau mit den kurzen Haaren gefällt ihr nicht. Ich konnte es an ihrem Gesicht sehen. Sie hat mich trotzdem gebeten, sie in Ruhe zu lassen. Ich habe es versprechen müssen. Sie ist so naiv, die kleine Sonja. Für den Alkoholiker hat sie sich interessiert. Für Sonja gibt es gute und böse Menschen. Sie hat mir erklärt, daß sie die Menschen prüft, bevor sie ihnen ihre Abteilung zuweist. Mich habe sie von Anfang an zu den Guten getan. Das sei ihr gar nicht anders möglich gewesen. Ich habe ihr geholfen, für den Alkoholiker die richtige Abteilung zu finden. Nun kann sie mir helfen, mit ihm fertig zu werden. Es ist gut, daß sie ihn noch in der Nacht gesehen hat. So kann sie sich besser vor ihm in acht nehmen. Wir sprachen über ihn, und wie wir ihn überlisten könnten. Ich versuchte, Sonja für meinen Plan mit der neuen Wohnung zu gewinnen. Das war nicht leicht. Sie möchte in meiner Nähe sein. Als es klingelte, wußte ich, daß sie da waren. Ich hatte die ganze Zeit darauf gewartet. Sonja begriff sofort, was sie zu tun hatte. Ich habe sie bewundert, wie sie dastand, in den viel zu großen Bademantel gewickelt, und sich die Haare -179-
verstrubbelte; wie sich ihr Gesicht plötzlich veränderte, schlaftrunken wurde, klein und blaß aussah. Ich hatte genügend Zeit, mich auszuziehen und meine Sachen unter dem Bett verschwinden zu lassen. Ein einfallsloses Versteck, ich weiß, aber es kam auf jede Minute an, die Klingel ging nun ununterbrochen. Außerdem war ich sicher, daß Sonja die Polizisten beeindrucken würde. Es sollte ihre Feuerprobe werden. Sie hat sie bestanden. Er ist böse, sagte sie, als wir wieder allein waren. Ich habe seine Augen gesehen. Er ist böse. Ich glaube, er liebt Tiere nicht. Daß sie wieder gegangen sind, ohne sich die Wohnung anzusehen, ist neben der Überraschung, die ihnen die Anwesenheit Sonjas bereitet hat, der Tatsache zuzuschreiben, daß ihre Ermittlungen sich noch ganz am Anfang befinden. Aber ich kenne diesen Mann. Er wird nun beginnen, planvoll nach dem Täter zu suchen. Ich bin vielleicht die Person, die er am meisten verdächtigt. Irgendwann wird er mit einer Durchsuchungserlaubnis vor der Tür stehen. Dann werde ich weg sein von hier. Er wird nicht aufgeben. Aber was er nicht weiß, ist, daß er verloren hat, bevor das Spiel begonnen hat. Sonja ist ausgegangen. Sie sieht sich Wohnungen an. Es gibt Menschen, die sich auch heute nicht in ihren Geschäften stören lassen. Ich habe ihr eine Liste mitgegeben und die angekreuzt, die ich vorziehen würde zu mieten. Sie sah hübsch aus, meine kleine Sonja, als sie losging. Sie wird einen guten Eindruck machen. 25. Dezember Es gibt nichts oben in meiner Wohnung, das ich mitnehmen möchte. Ein paar Hosen und Hemden, das übliche Zeug. Ich könnte Sonja schicken, damit sie neue Sachen kaufe. Aber die ungewöhnlichen Größen, die ich brauche, könnten irgendwann -180-
zu einer Spur werden. Wenn ich verschwunden bin, wird er eine Fahndung einleiten. Vielleicht würden die Polizisten sogar in den entsprechenden Läden nachfragen, wenn sie bemerkten, daß ich meine Sachen zurückgelassen habe. Außer dem Zeug brauche ich nichts. Sonja ist oben in der Wohnung mit einem Zettel, um zusammenzupacken, was ich ihr aufgeschrieben habe. Ich sitze an ihrem Schreibtisch. Neben mir steht der chinesische Kasten, der ihr schmutziges kleines Geheimnis birgt. Ich werde sie bitten, den Kasten zu öffnen und mir den Inhalt zu zeigen. Ich möchte ihr Gesicht sehen, wenn ich den Brief lese. Ob sie rot werden wird vor Scham? Ihre Wohnungssuche war erfolgreich. Sie hat die Wohnungen bekommen, die ich ausgesucht hatte. Später Ich werde heute nacht dieses Haus verlassen. Sonja bringt die Sachen in die Wohnung Nummer zwei. Nummer eins liegt so nahe bei diesem Mädchen, daß ich kaum Schwierigkeiten haben werde, wenn es soweit ist, dem Alkoholiker einen Denkzettel zu geben. Die Wohnung Nummer eins brauche ich nur vorübergehend. In der zweiten Wohnung werde ich mich lange aufhalten müssen. Deshalb ist sie komfortabel. Es ist alles zu unserer Zufriedenheit geregelt. Sonja wird hierbleiben. Sie wird nicht wissen, wo ich mich aufhalte; für die Polizei wird sie es nicht wissen. Aber für mich wird sie lange Zeit der einzige Kontakt zur Außenwelt sein. Ich mag nicht fernsehen. Aber nun werde ich einen Fernseher haben. Er wird helfen, mir die Zeit zu vertreiben. Bevor Sonja gegangen ist, habe ich ein kleines Spiel mit ihr gespielt. Ich habe sie gebeten, den Kasten zu öffnen. Natürlich hat sie sich zuerst geweigert. Aber sie muß lernen, vor mir keine Geheimnisse zu haben. Sie hat es gelernt, unter -181-
Schmerzen. Es hat ihr geholfen, das Maß von Ergebenheit zu entwickeln, das sie in den nächsten Wochen für ihre schwere Aufgabe brauchen wird. Als sie ging, war sie mir dankbar. Aber ich war allein. Ist es ein Zufall, daß mir dieses Mädchen von gegenüber wieder einfiel? Seit Sonja gegangen ist, denke ich darüber nach, wie ich mit diesem Mädchen umgehen soll. Sie wird die erste sein, die merkt, daß ich ausgezogen bin. Ich weiß nicht, was sie vorhat. Aber es ist möglich, daß sie meine Wege überwacht. Vielleicht bespitzelt sie mich. Ich bin sicher, daß sie es tut. Das Foto in ihrem Briefkasten wird für sie kein Hinderungsgrund sein. Es wird sie nicht abschrecken, jedenfalls nicht lange. Auch deshalb ist es gut, wenn ich hier verschwinde. Aber vorher muß ich mir darüber klar sein, was mit ihr geschehen soll. Wenn ich sie in Ruhe lasse, wird sie mich weiter bespitzeln. Weiß ich, ob sie mir in der letzten Nacht nicht schon gefolgt ist? Wenn ich sie verschwinden lasse, muß ich vorsichtig sein, damit sie nicht eine zusätzliche Spur schafft. Es gibt keine Spuren. Aber es gibt die U-Bahn-Linie, die an diesem Haus vorbeifährt. Sie kann mir gefährlich werden. Wenn dieses Mädchen verschwindet, müßte es in einer Gegend geschehen, die mit der U-Bahn-Linie nicht in Verbindung gebracht werden kann. Ich glaube nicht, daß es schwer sein wird, das neugierige Ding in eine Gegend zu locken, die ungefährlich ist - für mich ungefährlich. Ich werde ihr schreiben und sie um ein Rendezvous bitten. Sonja wird den Brief in ihren Briefkasten werfen. Ich darf nicht vergessen, Sonja zu sagen, daß sie Handschuhe bei der Arbeit tragen muß. Den Zeitpunkt für das Treffen will ich jetzt noch nicht festlegen. Ich werde mich mit ihr treffen, wenn sie zu lästig wird.
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27. Dezember Sie sind bei Sonja gewesen. Sie glaubt, es habe sich um eine Befragung aller Hausbewohner gehandelt, aber sie ist nicht sicher, daß es so war. Sie weiß auch nicht, was die Polizisten wirklich gewollt haben. Haben sie vorher versucht, mich in meiner Wohnung zu sprechen? Jedenfalls haben sie sich nach mir erkundigt. Das hatten wir geübt: Es klingelt an der Haustür. Du mußt jedesmal damit rechnen, daß Polizisten hinter der Tür stehen. Du mußt auch damit rechnen, daß der böse Polizist dabei ist. Du weißt, daß er besonders gefährlich ist. Er will mich nicht nur fangen. Er will unser Glück zerstören. Weißt du, was unser Glück für mich bedeutet? (Ich bemerke ein leichtes Zögern, eine kleine Unsicherheit, bevor sie antwortet. Deshalb wird dieser Aspekt unseres gemeinsamen Lebens noch einmal gründlich behandelt. Für Frauen wie Sonja liegt das Glück in Anpassung und Unterwerfung. Man muß ihnen ihren eigenen Willen nehmen. Sie müssen ein Werkzeug sein, nichts als ein Werkzeug, und sich dabei glücklich fühlen.) Wenn es klingelt, gehst du nicht sofort an die Tür. Du bist mit etwas beschäftigt, das dich davon abhält, sofort an die Tür zu kommen. Du wirst ein Bügelbrett aufstellen, ein Stück Wäsche darauflegen und eine Büchse mit Wasser daneben bereithalten. Diese Dinge wirst du immer stehenlassen. Wenn es klingelt, wirst du beim zweiten Läuten an die Tür gehen, nachdem du das Bügeleisen eingeschaltet hast. Die Wasserbüchse wirst du dabei in die Hand nehmen. Es wird aussehen, als gingest du einer gewohnten Tätigkeit nach, als sei dein Leben wie immer. Sie werden dich nach mir fragen. Du weißt nicht, wo ich bin. Nein, besser: Ich habe mich von dir verabschiedet. Dabei hatte ich einen Koffer in der Hand. Du kannst den Koffer beschreiben. Es ist der, in dem du meine Wäsche hierher getragen hast. Ich habe dir gesagt, ich würde zu Weihnachten -183-
meine Mutter besuchen. Einen Ort habe ich nicht genannt. Weshalb sollte ich einen Ort nennen? Wir kennen uns noch nicht lange. Du gehst davon aus, daß ich in ein paar Tagen zurück bin. Wenn sie wiederkommen, bleibst du bei dem, was du gesagt hast. Irgendwann wird einer von ihnen, der böse Polizist, der trinkt und den wir unter uns den Alkoholiker nennen, eine Bemerkung darüber machen, daß ein anständiges Mädchen wie du sich nicht sofort mit einem Mann einlassen würde, den es kaum kennt. Dann wirst du weinen und fragen: Glauben Sie denn, daß er ein Heiratsschwindler war? Wenn sie dir bis dahin noch nicht gesagt haben, daß meine Mutter tot ist, werden sie es nun tun. Das wird für dich die Bestätigung sein, daß ich dich verführt und verlassen habe. Du wirst so sehr weinen, daß die Polizisten keine Lust haben werden, sich noch länger mit dir zu befassen. Das ist alles. Mehr wirst du nicht sagen. Und nun wiederhole genau, was du gehört hast. Ich habe sie diese Anweisung so lange wiederholen lassen, bis sie keinen einzigen Fehler mehr gemacht hat. Dann habe ich ihr beschrieben, wie sie das Haus verlassen kann, ohne gesehen zu werden, denn ich gehe davon aus, daß man sie bald überwachen wird, um mich zu finden. Im Hausflur gibt es eine rückwärtige Tür. Sie liegt der Eingangstür gegenüber und führt auf den Parkplatz hinter dem Haus, ist aber immer verschlossen. Du wirst dir sofort unter einem Vorwand den Schlüssel zu dieser Tür besorgen, einen Nachschlüssel anfertigen lassen und ihn wieder zurückgeben. Die, die das Haus bewachen, werden sich erkundigen, feststellen, daß die rückwärtige Tür immer verschlossen ist und keiner von den Hausbewohnern einen Schlüssel dazu hat. Sie werden dort keine Wache aufstellen. Du wirst das Licht in deiner Wohnung regelmäßig um elf Uhr abends ausmachen. Sie sollen deine Gewohnheiten kennen. Mich wirst du nachts -184-
zwischen zwei und vier Uhr besuchen. Du wirst die rückwärtige Tür benutzen, über den Parkplatz gehen und die hinter dem Parkplatz liegende Böschung so weit hinuntersteigen, daß du vom Parkplatz aus nicht mehr zu sehen bist. Du gehst auf halber Höhe die Böschung entlang in Richtung Krankenhaus. Vor dem Krankenhaus ist eine Brücke, die über die Bahngleise führt. Es ist zu gefährlich für dich, unter der Brücke durchzugehen. Du könntest auf die Schienen stürzen. Du wirst vor der Brücke die Böschung hinauf auf die Straße steigen. Du benutzt die Stelle, an der vor ein paar Wochen die Rollstuhlfahrerin hinuntergestürzt ist. Du gehst über das Krankenhausgelände, nimmst ein Taxi und fährst bis zum Winterhuder Markt. Dort steigst du aus und kommst auf Umwegen hierher. Du gehst auf keinen Fall so, daß der Taxifahrer ahnen könnte, in welcher Straße diese Wohnung liegt. Den gleichen Weg wirst du zurück nehmen. Meine kleine Sonja hat das alles sehr gut begriffen. Ich habe ihr eingeschärft, darauf zu achten, ab wann das Haus bewacht wird. Noch, sagt sie, steht kein Auto vor der Tür. Noch sind nachts keine verdächtigen Spaziergänger auf der Straße. Noch ist alles ruhig. Noch kann ich meine Gedanken, meine unruhigen Gedanken, frei sein lassen. Sie sind nicht frei. Ich bin nicht frei! Meine Gedanken zwingen mich in eine Wohnung, in eine bestimmte Wohnung. Es ist Nacht, jedenfalls dunkel. In der Wohnung brennt kein Licht. Ich sehe ein Fenster, vor dem ein Mädchen sitzt. Ich sehe das Mädchen im Profil. Es sitzt, eine Decke über den Knien, in einem Armlehnstuhl und sieht auf die Straße. Rote und grüne Lichter blinken von jenseits der Straße herüber. Ich sehe das Bild so deutlich, als stünde ich in der Zimmertür, als brauchte ich nur ein paar Schritte zu tun, um hinter den Stuhl zu kommen, um hinter das Mädchen zu kommen, das am Fenster sitzt und auf mich wartet. Ich darf nicht vergessen: Sonja muß einen Koffer kaufen. Ich -185-
werde einen Koffer brauchen, der harte Wände hat, undurchlässige Wände. Sie wird ihn am Bahnhof in einem Schließfach deponieren. Auf keinen Fall soll sie ihn mit in ihre Wohnung nehmen.
Brunner Seit er sechzehn war, hat Brunner die Angewohnheit, am Silvesterabend über das vergangene Jahr Bilanz zu ziehen. Damals war er mit einem Jungen befreundet gewesen. Wenn er heute daran denkt, was nicht oft geschieht, aber doch hin und wieder, weiß er, daß »befreundet« nicht das richtige Wort ist für die Gefühle, die er für diesen Jungen empfunden hat. Heute weiß er, daß er damals bewußt eine Entscheidung getroffen hat. Er wollte nicht schwul sein. Er war zu feige, die Konsequenzen zu tragen, die für Schwule bereitgehalten werden. Im Innersten hat er sich für seine Feigheit geschämt. Diese Scham ist ihm geblieben. Was zur Folge hat, daß er, anders als die meisten seiner Kollegen, homosexuelle Männer nicht mit Haß oder Häme verfolgt. Damals hat auch dieses regelmäßige Rechenschaftablegen begonnen. Damals war er eine längere Zeit davon überzeugt gewesen, daß aus einem Feigling nichts werden könnte. Seine spätere Entscheidung, zur Polizei zu gehen, war zu einem Teil auch daraus entstanden, daß er glaubte, sich beweisen zu können, daß er kein Feigling sei. Am Anfang hat sein Bilanzieren eher der genauen Beobachtung der Entwicklung, des Zustands seiner Gefühle gegolten: Was war der schönste Augenblick im vergangenen Jahr? Seit wie vielen Monaten haben wir uns nicht mehr gesehen? Wie oft träume ich, daß wir uns in den Armen liegen? Werden diese Träume weniger? Werden sie blasser? Seit wann? Meine Gedanken sind ohne Halt, ohne Antwort, wie lebe ich damit? Kann ich auch ohne ihn leben? Spüre ich -186-
Veränderungen? Irgendwann haben diese Bilanzen etwas von ihrem selbstzerstörerischen Charakter verloren, das gewöhnliche Leben wurde übermächtig, aber ganz verschwunden sind sie nie. Und auch das Bedürfnis, Bilanz zu ziehen, ist geblieben. Daß Brunner damit gleichzeitig seine Fähigkeit trainiert, Verhältnisse und Verhaltensweisen zu durchschauen, ist ihm längst bewußt und willkommen. Er hat nicht viele Gelegenheiten in seinem Leben gehabt, der Welt zu beweisen, was für ein toller Kerl er ist. Einzig in seiner Arbeit glaubt er, wenigstens manchmal etwas zu leisten, das die Bewunderung anderer herausfordert. An diesem Silvestertag hat er keinen Dienst. Charly hat ihn am Morgen beauftragt, ein paar Dinge einzukaufen, von denen sie glaubt, daß sie unbedingt zu Silvester gehören. Denn Charly hat beschlossen, daß sie und Pit, Brunner und Marie den Abend gemeinsam verbringen werden. In Wirklichkeit glaubt sie nicht, daß ihr mißratener Sohn zu Hause sein wird. Sie hat keine Lust, allein zu bleiben. Und sie macht sich Sorgen um Brunner und Marie, deren Zurückgezogenheit sie für »ungesund« hält. Marie ist seit Tagen mit dem Kartenspiel beschäftigt. Sie hat inzwischen eine große Fertigkeit darin entwickelt, ihren Gemütszuständen mit Hinweisen auf die Karten Ausdruck zu verleihen. Charly ist davon nur halbherzig begeistert. Ihre Hoffnung, daß Marie über die Karten ihre Sprache wiederfinden würde, hat sich nicht erfüllt. Es scheint eher so, als habe Marie eine noch bessere Möglichkeit gefunden, zu sprechen, ohne zu sprechen. Charly hat beschlossen, daß sie und Pit gegen zehn Uhr abends bei Brunner auftauchen werden. Ob sie Pit dann überreden kann, an einer bürgerlichen Silvesterfeier teilzunehmen, weiß sie noch nicht, aber davon hat sie den beiden anderen erst einmal nichts gesagt. Sie wird das Essen -187-
mitbringen, das sie inzwischen zubereitet hat. Brunner und Marie haben die Anweisung bekommen, Sekt kaltzustellen, Bier für Pit auf dem Küchenbalkon zu lagern, den Tisch zu decken und die Wohnung mit Papierschlangen zu schmücken. Sie haben die Anweisungen befolgt. Da Marie den Eßtisch ausnahmsweise im Wohnzimmer gedeckt hat, sitzen sie nun beide am Küchentisch. Brunner schreibt seine Bilanz des Jahres 1997 in eine schwarze, mit roten Ecken versehene chinesische Kladde. Es ist der zweite Band seiner Bilanzen. Für den ersten hat er ein teures DIN-A4-Buch der Firma Brunner benutzt, das er mit sechzehn von einem Onkel geschenkt bekommen hatte. Als er vor zwei Jahren ein neues Heft beginnen mußte, hätte er gern wieder ein ähnliches gekauft. Er war vor dem Preis zurückgeschreckt und hatte beschlossen, von nun an bei den billigen chinesischen Kladden zu bleiben. Marie sitzt ihm gegenüber und ist mit ihren Karten beschäftigt. Sie hat einen Block und einen Bleistift neben sich liegen und macht sich hin und wieder Notizen. An der Lampe über dem Küchentisch hängt eine einsame lila Papierschlange der Rest der Dekoration, die Brunner im Wohnzimmer verbraucht hat. Brunner hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Im stillen ärgert er sich, daß er auf Charlys Vorschlag eingegangen ist. Er meint, es wäre besser gewesen, wenn er mit Marie irgendwo in einer ruhigen Gegend, in den Walddörfern vielleicht oder in Aumühle, einen langen Spaziergang gemacht hätte, in einem einfachen Restaurant eingekehrt und erst nach zwölf wieder zu Hause gewesen wäre. Die Knallerei, die unten auf der Straße schon am Morgen begonnen hat und nun, zwei Stunden vor Mitternacht, beinahe überhaupt nicht mehr aufhört, stört ihn. Er kann das nicht als Ausdruck von Lebensfreude deuten. Er sieht darin sinnloses Geldausgeben von Leuten, die ihr Geld dringend für andere Dinge gebrauchen sollten. Er ahnt, daß Charly nach -188-
Mitternacht einen ihrer Versuche starten wird, ihn in ihr Bett zu holen, und er weiß nicht, wie er sich diesmal herausreden soll, ohne sie zu kränken. Ihr Pit wird es kaum bis dahin mit ihnen aushalten - wenn er überhaupt auftaucht. Ihn stört, daß seine Tochter sich seit Tagen so intensiv mit den Tarot-Karten beschäftigt, daß sie alles um sich herum zu vergessen scheint. Er weiß, daß er am 2. Januar morgens in sein Büro gehen, sich an den Schreibtisch setzen und zum wiederholten Mal feststellen wird, daß sie in der Sache, die ihn am meisten beschäftigt, nicht vorangekommen sind. Im Gegenteil: Der Mann, den er des mehrfachen Mordes überführen will, ist nun auch noch verschwunden. Er fürchtet, daß das Glas Sekt, das Charly ihm um Mitternacht anbieten wird, der Anfang einer weiteren Phase der Abhängigkeit von seiner Droge sein könnte. Er weiß, daß er damit seine Niederlage eingestehen würde. Und er fürchtet sich davor. Je länger er über alle diese Dinge nachdenkt, desto mehr spürt er, daß er wütend wird. Der Anblick, der sich ihm bietet, als er hochsieht, verstärkt noch seine schlechte Laune. Zum ersten Mal und vielleicht gerade wegen der nüchternen Verfassung, in der er sich befindet, begreift Brunner beim Anblick von Marie, daß sie erwachsen ist. Seine kleine Tochter, die er für ihr ganzes Leben beschützen wollte, gehört ihm nicht mehr. Am Vormittag ist sie mit Charly einkaufen gegangen. Die beiden haben für Marie in einem dieser Läden, in denen Räucherstäbchen, Perlenschmuck und bunte Kleider angeboten werden, ein dunkelrotes Samtkleid gekauft. Marie hat die blonden Haare hochgesteckt. Sie ist darin so ungeübt, daß die Hochfrisur, die sie sich vorgestellt hat, nur zum Teil gelungen ist. Brunner sieht, daß sie ein Paar bunte Ohrclips trägt, die ihre Mutter zurückgelassen hat. Die Clips, die an seiner ehemaligen Frau jedesmal, wenn sie sie trug, seinen Abscheu erregt haben, weil er fand, daß sie damit billig aussah, machen, er kann nicht anders, als es vor sich zuzugeben, Marie -189-
einfach schön. Marie sieht ihn an und lächelt. Und Brunner, der im Begriff war, sich darüber aufzuregen, daß Charly seine Tochter in einen dieser Läden mitgenommen hat, aus deren geöffneten Türen es für ihn oft verdächtig nach vernebelnden Düften riecht, kann nicht anders als zurücklächeln. Marie greift zu dem neben ihr liegenden Block, schreibt etwas auf und schiebt ihm den Block zu. Du kannst mir die Karte ruhig zurückgeben, liest er. Ich fürchte mich nicht vor dem Tod. Ich möchte, daß du mit mir redest, Marie, sagt Brunner. Ich bin ziemlich einsam, weißt du. Es wäre gut, wenn du mit mir reden würdest. Er weiß nicht, weshalb er das gesagt hat. Es ist die Wahrheit, die plötzlich zwischen ihnen deutlich wird. Brunner steht auf und stellt sich ans Fenster. Er möchte nichts zurücknehmen von dem, was er gesagt hat. Aber etwas scheint ihm unpassend gewesen zu sein. Er fühlt sich hilflos und schwach, und er haßt solche Zustände. Es klingelt an der Tür, und Marie, die aufgestanden ist, als wollte sie zu ihrem Vater ans Fenster gehen, wendet sich ab, um zu öffnen. Los, hilf mal, hallo, kein Mann im Haus, der mit anfassen kann? Charly steht in der Tür und versucht, einen altersschwachen Servierwagen über die Schwelle zu schieben. Brunner, auf einmal froh, daß Charly gekommen ist, geht zur Tür. Gemeinsam heben sie den Wagen in die Wohnung. Und? Was ist mit Pit? fragt er. Schläft er noch? Seine Stimme klingt ein ganz klein wenig zu fröhlich. Charly, die den ganzen Abend in der Küche gestanden und Quiche Lorraine, gebratene Auberginen, Frikadellen, -190-
Walnußtorte, Käsegebäck und ihren Spezial-Kartoffelsalat hergestellt hat, ist viel zu glücklich, rechtzeitig fertig geworden zu sein, als daß sie es merken würde. Er kämmt sich gerade, antwortet sie. Stell dir vor, er sagt, er hat frei heute abend. Um eins will er noch mal auf die Piste. Vorher will er mit uns essen. Und zusehen, wie die Bürgerlichen Silvester feiern, wie? Charly und Marie verteilen die Schüsseln auf dem Eßtisch, während Brunner auf den Balkon geht, um Bier zu holen. Er zögert nur einen ganz kleinen Augenblick, bevor er für sich eine große Flasche Wasser aus dem Kühlschrank nimmt. Als er ins Wohnzimmer zurückkommt, ist Pit da. Dünn wie ein Spargel, in engen, schwarzen Lederhosen und einem schwarzen T-Shirt mit Kapuze steht er neben dem Tisch und blickt bewundernd auf Marie. Brunner sieht plötzlich, er kann nichts dafür, die Bilder sind auf einmal da, eine Gruppe schwarz gekleideter junger Leute, Kapuzen mit Sehschlitzen verdecken ihre Gesichter. Sie werfen Steine, die sie vom Boden aufgenommen haben. Na, Spargel-Tarzan, sagt er, schon aufgestanden? Na, Bulle, sagt Pit, ganz ohne Knarre heute? Oder hat die Beule vorne in deiner Hose was zu bedeuten? Brunner ist überrascht. Hat er wirklich geglaubt, daß der Junge nicht weiß, wo er arbeitet? Jedenfalls hat er nie mit Charly über seinen Job gesprochen. Vielleicht hat er sich etwas vorgemacht. Jungen wie Pit wittern ihre Gegner schnell. Dabei hat er sich nie als Pits Gegner begriffen. Er hat versucht, hier im Haus seine Arbeit zu vergessen. Außerdem nimmt er die schwarz gekleideten Jungen, im Gegensatz zu einigen seiner Kollegen, nicht wirklich ernst. Er hält ihr revolutionäres Gebaren für eine Art Jugendkrankheit. Hast du schon mal einen Vierzigjährigen, vielleicht noch mit -191-
zwei Kindern an der Hand, schwarz gekleidet und Steine werfend, herumlaufen sehen? hat er Charly getröstet, wenn der die Unternehmungen ihres Sprößlings zu unheimlich geworden sind. Was wird aus all den Rockern und Exis und Rock 'n' Rollern und Rappern und sogar aus den Hell's Angels, wenn sie älter werden? Naja, die Hell's Angels, 'n paar Kriminelle sind übrig geblieben. Aber der Rest? Brave Familienväter, mit seligen Erinnerungen und verklärten Gesichtern, wenn sie später mal zusammensitzen. Vorausgesetzt, ihre Frau hat ihnen frei gegeben und sie haben Arbeit und Auskommen. Frieden, Leute, sagt Charly. Pit, mach das Bier auf. Der Bulle soll es sich selbst aufmachen, antwortet Pit, während er für Marie, für Charly und sich selbst die Flaschen öffnet. Er arbeitet doch so gern, oder? Er meint es nicht so, sagt Charly. Auf die Arbeit, antwortet Brunner und hebt sein Glas. Arbeit ist Scheiße, sagt Pit. Er trinkt erst, nachdem Brunner sein Glas auf den Tisch zurückgestellt hat. Ach, richtig, ihr wart das ja mit dem Transparent vor dem Arbeitsamt. Und? Haben euch die Arbeitslosen wenigstens ordentlich vermöbelt? Die? Die sind doch so was von fertig. Die sind doch längst tot. Stellen sich da hin und hören den Stimmenfängern von der Gewerkschaft zu. Da biste drin, Bulle, was? Ja, sagt Brunner und denkt, daß er keine Lust hat, mit diesem Grünschnabel seine Ansicht über die Gewerkschaften zu diskutieren. Im Grunde weiß er auch nicht genau, wie schlagkräftig seine Argumente sein würden. In der Gewerkschaft ist man eben. Und die Gewerkschaft ist eben die Hilfstruppe für die SPD. Soll er das zugeben? Ich will dir mal was sagen, Bulle, sagt Pit. Ich glaub nicht, daß du es begreifst, aber ich sag's trotzdem. Ihr könnt ja noch -192-
'ne Weile euer Heldenlied von der Arbeit singen. Am besten noch mit 'ner Strophe »Arbeit macht frei«. Soll ja schon mal irgendwo überm Tor gestanden haben. Aber irgendwann wird euch auch der letzte Idiot nicht mehr glauben. Lügt uns ruhig weiter die Hucke voll. Von wegen Arbeitslosigkeit halbieren, Arbeit für alle. Wie wär's damit? Er springt auf, steht in bittender Haltung mitten im Zimmer, singt: Ich üb immer Treu und Redlichkeit bis an mein kühülehes Grab, ich nehme jede Arbeit an, die keiner für mich hat. Charly und Marie lachen. Brunner merkt daß er wütend wird. Klar, sagt er, und bemüht sich, ruhig zu bleiben. Klar, wir werden euch jeden Monat zweitausend Mark in den Hintern schieben. Und ihr werdet uns dann vormachen, wie wir richtig leben sollen. Pit betrachtet Brunners ruhige Reaktion als ein Friedensangebot. Er setzt sich zurück an den Tisch. Man muß das den Leuten klarmachen, sagt er. Wenn keiner mehr den verlogenen Politikern glaubt, hätten wir schon halb gewonnen. Lohnarbeit ist gestohlene Zeit. Je weniger man damit zubringt, um so besser. Seht euch die Arbeitslosen an. Betteln um Arbeit, bloß weil man ihnen in den Kopf gesetzt hat, daß sie ohne Arbeit nichts wert sind. Das glauben eben alle. Das ist der Fehler. Ja, und woher sollen sie ihr Geld kriegen? Woher sollen die Leute das Geld kriegen, wenn sie keine Arbeit haben? Daß die Sozialhilfe nicht reicht, weißt du doch selbst. Charly mischt sich ein, eigentlich nicht, weil sie die Diskussion interessiert, sondern weil sie die, wie sie glaubt, friedliche Stimmung erhalten möchte. Pit beachtet den Einwurf nicht, jedenfalls sieht er Brunner an, während er noch einmal zu einer Rede ansetzt. Brunner hat -193-
plötzlich die Vision, daß er nur noch drei Tage in der Woche zum Dienst gehen muß. Und dann? Was macht er mit den anderen vier Tagen? Der Mensch ist nicht wegen der Lohnarbeit für den Unternehmer auf der Welt, hört er Pit weiterreden. Jetzt haben wir zum ersten Mal die Chance, mit dem menschlichen Leben was anzufangen. Es gibt nicht mehr genug Lohnarbeit, aber jede Menge Profit. Die wollen aber nicht, daß die Leute das begreifen. Die wollen den unterwürfigen Arbeitsbettler. Habt ihr mitgekriegt, was sich die Gewerkschaft leistet? Die Arbeitslosen ziehen sich Müllsäcke über und malen sich ein Transparent, wo draufsteht: »Wir sind der Wohlstandsmüll.« So ziehen sie durch die Straßen, und die Gewerkschaft hindert sie nicht, sich öffentlich zu erniedrigen. Dabei sind die Gewinne der Unternehmer noch nie so hoch gewesen. Oder was glaubst du, wovon BMW oder VW Rolls-Royce kaufen wird? Und Bertelsmann Random House? Und Bist du bald fertig mit deinem Quatsch, hört Brunner sich sagen. Er haßt Silvesterfeiern. Er haßt diesen Bengel, der daherredet, als habe er die Weisheit mit Löffeln gegessen. Er haßt sich und das Glas Wasser, das er vor sich stehen hat. Gib mir ein Bier, Charly, sagt er. Er fühlt die Blicke der drei auf sich gerichtet. Er fühlt sich mickerig, häßlich und durstig. Was ist? Soll ich mir das hier anhören und dabei nüchtern bleiben? Pit schiebt eine Flasche Bier über den Tisch. Prost, Bulle, sagt er. Hol dir deine Freiheit. Wenn du sie sonst schon nicht kriegen kannst. Brunner steht auf. Er sieht Charly an und dann Marie, zuletzt Pit. Die Gesichter der Frauen sind plötzlich klein geworden, irgendwie zusammengeschrumpft. Was für ein Einfall, diese Papierschlangen aufzuhängen. Sie sind so - unpassend. Wie ähnlich doch Pit seiner Mutter sieht. Ein schöner Junge, mit -194-
tiefen Rändern unter den Augen vor Müdigkeit. Was ist bloß los mit uns, denkt er, wer hat uns das alles eingebrockt. Was tun wir uns bloß an? Fangt schon mal mit dem Essen an, sagt er. Ich brauch einen Augenblick frische Luft. Ich bin gleich wieder zurück. Er verläßt das Zimmer, ohne das Bier anzurühren. Die drei hören hinter ihm die Wohnungstür ins Schloß fallen. Ina und Thun Thun sitzt vor dem großen Spiegel und sieht der Maskenbildnerin zu, die ihn für seinen Auftritt schminkt. Hinter ihm sitzt Ina. Sie ist fertig geschminkt. Thun findet, daß die Schminke sie älter macht, aber die Maskenbildnerin hat ihm erklärt, für die Kamera sei es so genau richtig. Am Tag vorher haben er und Ina eine Art Probesendung gemacht. Sie haben sich hinterher gemeinsam mit dem Regisseur den Film angesehen. Anschließend, während der Heimfahrt, haben sie sich gestritten. Thun fand, daß Ina sich zu sehr in den Vordergrund gedrängt habe. Es half ihr nichts, als sie versuchte, zu erklären, sie haben nur die Anweisungen der Regie befolgt. Was auch nicht ganz richtig war, aber von Thun nicht widerlegt werden konnte, denn er war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, während seines Vertrags ein freundliches Gesicht zu machen. Ina fand, er habe die ganze Zeit über blöde gegrinst, aber sie hat sich bemüht, ihm ihre Beobachtung vorsichtig beizubringen. Irgendwann ist dann Thun eingefallen, daß er schließlich der Psychologe sei und diesem Mädchen (das er sich vornimmt, so bald wie möglich abzustoßen) haushoch überlegen und daß es keine gute Voraussetzung für das Gelingen seiner Sendung wäre, wenn sie sich zerstritten vor die Kamera begeben würden. Er hat eingelenkt und Ina mit in seine Wohnung genommen. Sie ist gut im Bett, und die Aufregung, die seine -195-
Fernsehpremiere langsam in ihm hervorruft, braucht eine Kompensation. Offiziell ist zwischen ihnen wieder alles in Ordnung. Ina sitzt hinter Thun und lächelt ihm beruhigend zu, wenn er sie ansieht. In Wirklichkeit sind ihre Gedanken mit einem Problem beschäftigt, von dem sie nicht weiß, wie sie es lösen soll. Der Mann in der Wohnung gegenüber, der, auf dessen Entlarvung sie ihre Hoffnung gesetzt hat, ist ausgezogen. Jedenfalls ist er schon seit Tagen nicht mehr in seiner Wohnung gewesen. Thun, mit dem sie darüber gesprochen hat, ist, wie immer in dieser Sache, nicht ihrer Meinung gewesen. Er hat von Urlaubmachen geredet und davon, daß der Mann ihnen schließlich keine Rechenschaft schuldig sei. Ina hat das Gespräch nicht fortgesetzt. Im stillen ist sie davon überzeugt, daß der Mann ausgezogen ist, weil er Verdacht geschöpft hat und sich in Sicherheit bringen will. Die Polizei war schon zweimal im Haus. Und inzwischen ist Ina auch nicht mehr so sicher, daß er sie neulich im Keller nicht bemerkt hat. Der Koffer, zu dem sie den Schlüssel besitzt, ist verschwunden. Sie hat es gesehen, als sie gestern nach der Probe zusammen mit Thun in den Keller gegangen ist, um ein paar Flaschen Wein mit hoch zu nehmen. Sie hat den Koffer nicht erwähnt, aber seit gestern ist sie sicher, daß der Mann weg ist. Wie kann sie herausbekommen, wohin er gegangen ist? Ein junger Mann, Thun weiß nicht, ob es sich um denselben handelt, den sie am Vortag bereits kennengelernt haben, erscheint in der Tür und erkundigt sich bei der Maskenbildnerin, wieviel Zeit sie noch brauche. Ich bin fertig, sagt die, nimmt Thun den Umhang ab und lächelt ihm aufmunternd zu. Thun hat das Gefühl, er müsse der Frau ein Trinkgeld geben. Gerade noch rechtzeitig fällt ihm ein, daß er nicht beim Friseur gesessen hat. Der junge Mann führt die beiden durch unübersichtliche Gänge und turnhallenähnliche, halbdunkle Räume in das -196-
Studio. Als sie ankommen, steht die Maskenbildnerin mit einem Schminkkasten schon dort. Die Sendung wird live ausgestrahlt. Während sie die Werbung einblenden, wird sie das Make-up überprüfen. Der Regisseur kommt auf sie zu. Alles in Ordnung? fragt er. Thun findet, er sollte dabei nicht Ina ansehen. Schließlich ist er die Hauptperson, von der alles abhängt. Ich denke doch, sagt er laut. Sie werden uns ja gestern richtig eingewiesen haben. Ina lächelt den Regisseur an und stellt sich neben den Schreibtisch. Also, Sie sitzen hier, wie geprobt, sagt der Regisseur. Thun nimmt Platz. Er legt sein Manuskript auf die Tischplatte, für alle Fälle. Ina beugt sich vor, um die richtige Reihenfolge der Seiten zu prüfen. Thun findet plötzlich den Ausschnitt des Kleides, das er selbst mit ihr zusammen ausgesucht hat, zu tief. Jetzt ist es zu spät, denkt er. Sie wird alles vermasseln. Weshalb, zum Teufel, habe ich mich darauf eingelassen, sie mitzunehmen. Der Regisseur lächelt beruhigend. Er überlegt, während er noch einmal einen Blick auf die Szene wirft, ob er eine Gelegenheit haben wird, das Mädchen ohne diesen Psychofritzen zu sprechen. Er würde ihr gern seine Schallplattensammlung zeigen. Wir fangen dann in einer Minute an, sagt er und verschwindet im Dunkeln. Thun sitzt am Schreibtisch, Ina steht neben ihm. Beide hören auf das Ticken der Uhr und lächeln in die Kamera. Während des ersten Werbeblocks hören sie die ersten Rückmeldungen. Phantastisch, sagt der Regisseur. Sie sind großartig. Er sieht Ina an, wendet sich dann aber schnell Thun zu. Wir -197-
haben schon jetzt über hundert Anrufe. Beinahe alle ernst gemeint... Furchtbare Schicksale. Menschen ohne Arme, Menschen ohne Beine. Alle sehnen sich nach Liebe. Ist einer ohne Kopf dabei? sagt der Kameramann, der Ina am nächsten steht. Sie fängt an zu kichern, auch, weil die Anspannung einen Augenblick nachläßt. Die Maskenbildnerin pudert ihren Ausschnitt. Sie haben es gut, sagt derselbe Kameramann. Ina beschließt, ihn nicht mehr zu beachten. Schließlich rufen die Leute ihretwegen an. Und wegen Thun natürlich. Sie geht nah an Thun heran, beugt sich zu ihm, der noch immer am Schreibtisch sitzt, so, als fürchte er, den Platz und damit den Erfolg zu verlassen. Scheint das richtige Thema zu sein, flüstert sie ihm ins Ohr. Das hast du wirklich wunderbar ausgesucht. Noch zwei Minuten, hören sie eine Stimme. Um sie herum wird es wieder ruhig. Auf den Monitoren an den Seiten sehen sie die letzten Bilder einer Waschmittelwerbung. Ruhe, bitte! Ina, was war der Schluß? Wo machen wir weiter? Hingabe, flüstert Ina, du warst bei grenzenloser Hingabe, dann kommt Verschmelzung. Nach dem zweiten Teil wissen alle im Studio, daß die Sendung ein Erfolg werden wird. Man wünscht ihnen toi, toi, toi für den letzten Teil. Thun hat den Eindruck, daß die Leute ihm plötzlich zuvorkommender begegnen. Er ist nun ganz gelöst, strahlend sieht er in die Kamera. Hoffentlich umarmt der nicht zum Schluß den Kameramann, sagt der Regisseur. Ist schon komisch, wie solche Kerle aufleben, wenn sie Erfolg wittern. Solche? fragt die Assistentin neben ihm. Sie erwartet ein Kind von ihm, was seine Frau noch nicht weiß, und hat -198-
bemerkt, daß er sich für Ina interessiert. Ich hab's gewußt, denkt sie. Alle haben mir gesagt, daß ich nichts weiter für ihn bin als lange, blonde Beine. Viel Glück, Schätzchen. Noch eine halbe Minute, sagt sie laut. Ina, bitte, etwas mehr in den Hintergrund. Am Ende sind alle begeistert. Thun spürt, wie die Spannung von ihm abfällt. Er fühlt sich plötzlich erschöpft. Er sieht sich nach Ina um, winkt ihr zu, er möchte gehen. Die Schminke, sagt die Maskenbildnerin, soll ich Ihnen das Zeug noch aus dem Gesicht nehmen? Sie können einen Wagen haben. Kommen Sie, ich bring Sie hier raus, sagt der junge Mann, der sie hergebracht hat, neben ihm. Danke, mein Kind, sagt Thun zu der Maskenbildnerin. Wir fahren nach Hause. Ich brauch jetzt ein Bad. Und eine Frau, die ihm den Rücken schrubbt, sagt die Assistentin und sieht dabei den Regisseur an. Kann ich die Anrufe sehen? Hat man das aufgezeichnet, will Thun wissen. Alles. Mann, wir schicken ihnen alles zu. Auch die für ihre Assistentin, antwortet der Regisseur. Alles wunderbare Anrufer, nur ein einziger Verrückter dabei. Wenn der so weitermacht, werden sie allerdings Personenschutz brauchen. Dabei sieht er Ina an. Erst als sie im Taxi sitzen, fällt Ina ein, daß er mit dem Personenschutz sie gemeint haben könnte. Das Foto, denkt sie, das Foto mit dem Kreuz. Ob solche Männer nachmittags fernsehen? 4. Januar Meine Träume verändern sich. Seit ich in dieser Wohnung lebe, zwei Zimmer, Küche, Toilette, die Zimmer liegen -199-
hintereinander, das Durchgangszimmer hat nur ein einziges schmales Fenster in einer Nische, sind sie gewalttätiger geworden. Tagsüber denke ich darüber nach, wer dafür verantwortlich zu machen wäre, daß ich gezwungen war, meine Dachwohnung, die kleine Terrasse, das Marmorbad, alles, was mir so gut gefiel, aufzugeben. Ich erkenne immer deutlicher, daß der Polizist und die Frau von gegenüber mein Leben in dem schönen alten Haus beendet haben. Was mich dann erfüllt, sind Gefühle der Rache. Rache ist ein Gefühl, das mir bisher eher fremd war. Lust, ja, von Lust könnte ich sprechen. Auch von Mordlust. Aber es gab keine Schuldigen, die ich zur Verantwortung hätte ziehen müssen. Es gab dumme, einfältige (meine Sonja wäre eine von ihnen gewesen), widerspenstige, naive Mädchen oder Frauen. Es gab, jawohl, es gab auch ein paar junge Männer. Ich will über sie nicht reden. Beim Nachdenken komme ich nun darauf, daß allen diesen weiblichen Opfern irgend etwas gemeinsam gewesen sein muß. Irgend etwas, das mir Lust gemacht hat, gerade sie und keine anderen auszuwählen. Noch weiß ich nicht, was es war. An einem bestimmten Punkt bleiben meine Gedanken nicht mehr klar. Mir scheint, ich will wissen, was das für eine Gemeinsamkeit ist, aber gleichzeitig will ich es nicht wissen. Die Frau aus der Wohnung gegenüber hatte dieses Etwas nicht. Wenn ich an sie denke, stellen sich andere Gefühle ein als die, die ich sonst habe. Die ich zum Glück haben kann. Denn das einzige, was mir im Augenblick bleibt, ist meine Phantasie. Ich stelle mir vor, ich sei gefangen, lebenslänglich gefangen. Man hat mir anstatt eines Wärters eine Wärterin gegeben. Sie kommt nachts, um die anderen Gefangenen nicht zu beunruhigen. Es ist wohl eine Bevorzugung, daß man mir eine Wärterin gegeben hat. Man weiß nämlich noch nicht genau, was man mir zur Last legen soll. Bis die Anklage feststeht, soll ich bevorzugt behandelt werden. Die Wärterin ist das, allerdings einzige, Privileg, das ich habe. Man will mich -200-
eben jetzt schon strafen. Aber man weiß nicht, daß meine Phantasie ihnen einen Streich spielt. Ich liege tagelang still auf dem Sofa, das meine Pritsche ist. Man ist übereingekommen, mich stündlich durch das Guckloch in der Tür zu beobachten, weil man fürchtet, ich könnte mir etwas antun. Aber ich habe diese Absicht nicht. Ich liege nur still, weil ich meinen Phantasien nachhänge. Jede Bewegung würde mich dabei stören. Meine Welt ist in meinem Kopf. Ich beginne mit einem Finger. In der Schachtel, die immer noch im Auto liegt, denn Sonja weiß nichts von der Existenz dieses Autos, sind verschiedene Finger aufgehoben. Ich kann mir die Person, der er gehörte, in allen Einzelheiten vorstellen. Nicht immer habe ich die Frauen nackt gesehen. Manchmal waren die Umstände ungünstig. Ihr Liebreiz hatte mich überwältigt, bevor ich dazu kam, besser auf die Umstände zu achten. Schrieb ich Liebreiz? Welch ein Wort! Wie treffend: zärtlich und brutal zugleich. So haben sie mich kennengelernt. Ob sie mich auch geliebt haben? Ich glaube nicht. Es war ihnen zu wenig Zeit gegeben. Angst haben sie gehabt. Alle. Sie wissen nicht, was für ein wunderbares Geschenk sie mir damit gemacht haben. Wenn ich in der Zelle auf meiner Pritsche liege, weide ich mich an ihrer Angst. Ich finde meine Erfüllung darin. Nicht einmal in dem Augenblick, als ich ihr in den Keller gefolgt war und wußte, daß sie voller Angst hinter dem Teppich stand, hat mich diese Frau interessiert. Im Schloß der Angst heißt eine meiner Lieblingsphantasien. Ich bin der Schloßherr, der in einem Haus mit zweihundertundfünf Zimmern wohnt. Im ganzen Land sind meine Jäger unterwegs, um nach einer bestimmten Art von Frauen Ausschau zu halten. Sie sind genau instruiert. Wenn einer von ihnen eine Frau anbringt, die nicht meinen Vorstellungen entspricht, wird er fürchterlich bestraft. In meinem Hause lebt man in Furcht. -201-
Ich bin der einzige, der keinen Grund hat, sich zu fürchten. Zweihundert Zimmer sind immer von meinen Frauen bewohnt. Sie leben dort wartend und in Furcht, in einer Art Terrarium, das eine Tür hat, durch die ich vielleicht komme, und einen Ausgang zum Schloßhof, der zentral verriegelt ist und geöffnet wird, wenn ich es befehle. Dann wissen sie, daß sie im Schloßhof zu erscheinen haben. Nackt, kriechend, in Erwartung der Jäger. Mehr als die Jäger fürchten sie mich. Ich habe verschiedene Stufen des Umgangs mit ihnen erprobt. Am meisten fürchten sie, eines Tages zu denen zu gehören, die in eines der fünf leeren Zimmer gebracht werden. Ich sehe eine von ihnen, wie sie weinend ihr Terrarium verläßt, und, von den Jägern begleitet, freiwillig durch die Gänge und vor die geschlossene Tür eines der fünf Zimmer kommt. Da bleibt sie stehen. Einer der Jäger, ein nackter junger Knabe, den sie bei ihren Ausflügen in den Schloßhof kennengelernt hat, reicht ihr den goldenen Schlüssel. Sie weint stärker, denn sie weiß, daß sie ihren Jäger nicht wiedersehen wird. Man wartet, bis sie die Tür aufgeschlossen hat. Das dauert lange, denn ihre Hände zittern sehr. Im Zimmer sitze ich. Ich sitze in der Mitte auf einem Sessel. Das Zimmer ist leer, bis auf die Werkzeuge um mich herum. Ich bin der König. Ich erwarte eine demütige Haltung, wenn man sich mir zur Hochzeit nähert. Ich kann sehen, daß den Jägern nicht wohl ist, bevor meine Braut die Tür von innen verschließt. Wie man es ihr gesagt hat. Später Gestern habe ich versucht, mir die Frau von gegenüber als meine Braut vorzustellen. Das Ergebnis war, daß meine Phantasie zerstört war. Nichts als Wut auf diese Person blieb zurück. Ich war froh, daß Sonja gerade in diesem Augenblick kam. Ich hätte nicht gewußt, was ich mit dieser Wut anfangen sollte. -202-
Es war einfach, Sonja zu rügen. Es ist immer einfach. Trotz ihrer Umsicht unterlaufen ihr kleine Fehler, die in Wirklichkeit vielleicht unerheblich sein mögen, in unserer Lage, so jedenfalls sage ich es ihr, sich leicht zu einer Katastrophe auswachsen können. Diesmal hatte sie, um mir einen Gefallen zu tun, wie sie sagt, denn sie fürchtet, ich könnte mich zu langweilen beginnen und darüber auf den Gedanken kommen, auszugehen, ein kleines Buch aus meiner Dachwohnung mitgebracht. Wie wenig sie mich doch kennt, die Gute. Ich langweile mich nicht. Aber woher soll sie das wissen. Ich habe sie zur Mitwisserin meiner Taten gemacht. An meinen Träumen wird sie nie teilhaben. Daß sie in die Wohnung gegangen ist, obwohl wir besprochen hatten, die Wohnung in Ruhe zu lassen, war natürlich ein schwerer Fehler. Obwohl sie schwört, alle Vorsichtsmaßnahmen beachtet zu haben. Sie habe Handschuhe getragen, die richtige Zeit abgewartet, kein Licht gemacht, die Vorhänge unberührt gelassen, sich nur im Hintergrund bewegt, der doch nicht einsehbar sei. Sie habe auch zuerst eine Weile hinter dem Vorhang gestanden, um die gegenüberliegende Wohnung zu beobachten. Dort sei niemand zu Hause gewesen. Ich habe mir überlegt, daß sie damit recht haben könnte. (Gesagt habe ich es ihr nicht.) Sie ist nachts in die Wohnung gegangen, als ich meine ehemaligen Nachbarn in einer Fernsehsendung gesehen habe. Es war eine sogenannte LiveSendung und eine Premiere. Nach den Gesichtern der Zuschauer und gemessen an den angeblichen Anrufen, scheint es eine erfolgreiche Sendung gewesen zu sein. Es ist also durchaus möglich, daß die beiden anschließend gefeiert haben. Ich liebe das Fernsehen nicht. Es war ein Zufall, daß ich diese Sendung gesehen habe. Nun gut, es war ein glücklicher Zufall. Der Fernsehapparat stand da, ich schaltete spielerisch ein und sah meine Nachbarn. Eine glückliche Fügung, die mich davor bewahrt hat, eine Zeitlang in Unruhe zu leben. Aber ich -203-
werde mich nicht auf Fügungen dieser Art verlassen. Sonja ging weinend. Ich mußte sie an der Tür noch einmal zurückrufen, um sie zu trösten. In diesem Zustand hätte sie draußen Aufmerksamkeit erregen können. Ein zufällig vorbeikommender Streifenwagen, mitfühlende Polizisten, und schon würde eine Spur zu mir gelegt sein. Der Fernseher war, wie alle anderen Möbelstücke, bereits in der Wohnung, als Sonja sie gemietet hat. Alle diese Gegenstände sind mir fremd, und sie werden mir fremd bleiben. Ich wohne hier, aber ich lebe woanders. Ich liege auf dem Bett oder auf einem Sofa, und meine Phantasie macht Ausflüge. Manchmal stehe ich auf, um von den Dingen zu essen, die Sonja nachts in die Küche stellt. Manchmal erlaube ich ihr, mir beim Essen zuzusehen. Sie soll mit mir glücklich sein, auch wenn unserer Beziehung das fehlt, was gemeinhin das Wesentliche an den Beziehungen zwischen Männern und Frauen ausmacht. Ich weiß nicht, ob sie es erwartet. Ich deute an, daß wir es tun werden, wenn wir unter günstigeren Umständen zusammenkommen können. Sie nimmt meine Worte hin, ohne zu fragen. Ich glaube, daß sie in Wirklichkeit glücklich ist. Ich entnehme es dem Ausdruck ihres Gesichts, wenn sie kommt, und aus den sanften Worten, mit denen sie mich tröstet, bevor sie geht. Es tue ihr weh, mich meiner Einsamkeit wieder zu überlassen, sagt sie. Meine Einsamkeit! Ich will (vor mir selbst) gern zugeben, daß mich meine Träume, auch meine Tagträume, nun manchmal mehr erschrecken als bisher. Aber dieses Erschrecken ist im Grunde nichts weiter als ein schmerzhaftes Staunen darüber, wozu der Mensch fähig ist. Denn alles, was wir träumen, ist doch nichts als die Wahrheit über uns selbst. Als Sonja gegangen war, hatte ich mich wieder beruhigt. Um mich zu schützen, habe ich ein Tuch vor den Bildschirm -204-
gehängt, bevor ich mich wieder auf das Sofa gelegt habe. Es ist so einfach einzuschlafen, wenn man nicht weiß, was einem bevorsteht. Diesmal war es ein dunkler Traum, ein Traum ohne Farben, nur schwarz und weiß und grau, eher alle Abstufungen von Schwarz. Es gab keine Landschaft, nur schwarz-grauen, steinigen Sand und eine endlose Weite, die in grauem Dunst verschwamm. Drei Pfähle waren in den Sand gebohrt, schmale, geschnitzte Pfähle aus kräftigem Holz, in die je drei angespitzte, große Dornen an den oberen Enden gebohrt waren. Zwei dieser Pfähle waren besetzt. Es hingen die Gerippe von ausgewachsenen Schweinen daran, aufgespießt an den Köpfen. Die Bahnen der Messer waren an den Resten des Fleisches zu erkennen, das an den Gerippen hing. Schwarze Schweine, die Köpfe waren die Köpfe von schwarzen Schweinen. Der mittlere Pfahl war leer. Eine nackte Frau stand davor, die eine Kette um den Hals trug und über Kopf und Rücken ein Stück Stoff gehängt hatte. Der leere Pfahl war für die Frau. Die Frau war für mich. Später Ich bin wach geworden, weil jemand entsetzlich laut geschrien hat. Es waren hohe, gellende Schreie, die Schreie einer Frau, denke ich. Woher sie gekommen sind, konnte ich nicht feststellen. Als ich richtig wach war, blieb ich still liegen, um zu lauschen. Im Haus war alles ruhig. Vielleicht sind die Schreie von der Straße heraufgekommen. Vor den Fenstern war es noch dunkel. Ich bin liegengeblieben. Ich hatte keine Kraft, aufzustehen und auf die Straße hinunterzusehen. Was hätte ich tun sollen? Die Polizei rufen? Hier gibt es kein Telefon. Das wenigstens hat Sonja beachtet. Nach so einem Traum ist es schwer, wieder einzuschlafen. Ich stand auf, um mir etwas zu trinken zu holen. Mein Mund -205-
war trocken, wie ausgedörrt. Ich blieb lange am Küchentisch sitzen, so lange, bis im Treppenhaus die ersten Schritte der Leute zu hören waren, die morgens zur Arbeit gehen. Ich habe nachgedacht, über mich, meine Wünsche, meine Zukunft. Mir ist klar geworden, daß ich über mich und meine Wünsche sehr gut Bescheid weiß. Mir ist auch klar geworden, daß genau diese Tatsache mir ein Gefühl von Freiheit und Unangreifbarkeit gibt. Meine Wünsche sind so weit entfernt von den Wünschen und Taten anderer, daß niemand sie sich vorstellen kann. Deshalb kann auch niemand wissen, wer ich bin. Niemand wird mich erkennen. Niemand wird mir Schwierigkeiten machen, wenn ich klug genug bin. Was mir die Zukunft bringen, wie sie konkret aussehen wird, weiß ich nicht. Deshalb glaube ich, daß das in Wirklichkeit für mich nicht wichtig ist. Ich werde keine Gedanken mehr an die Zukunft verschwenden. Jetzt lebe ich hier, und meine Phantasien ersetzen mir die Welt. Irgendwann werde ich, vorübergehend oder für länger, diese Wohnung verlassen. Ein paar unerledigte Dinge wollen beendet sein. Irgendwann Später Es ist wahr: Weshalb sollte ich um die Wohnung trauern, die ich verlassen mußte. Wußte ich doch von Anfang an, daß ich nur vorübergehend dort wohnen würde. Und noch etwas anderes ist mir klar geworden. Wenn diese Frau von gegenüber mir gefährlich werden soll, werde ich sie treffen. Sie wird mich suchen, und vielleicht wird sie mich sogar finden. Daß am Ende ich sie finden und sie mir vom Hals schaffen werde, ist ihr nicht klar, aber mir. Sie wird mir Arbeit abnehmen oder aus meinem Leben verschwinden. Beidem kann ich ruhig entgegensehen.
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Thun Am Abend nach der Sendung ist Thun mit Ina in seine Wohnung gefahren. Während der Fahrt hat Ina einen Fehler gemacht. Sie hat Thun leise und zärtlich, aber ihr behutsamer Ton hat ihn nicht darüber getäuscht, daß sie ihre Worte ernst meint, daran erinnert, daß die Idee zu seinem Fernsehauftritt von ihr gekommen sei. Und daß sie es deshalb richtig fände, wenn man ihr beim nächsten Mal ein klitzekleines bißchen mehr Aufmerksamkeit schenken würde. Schließlich hätten auch viele Zuschauer ihretwegen angerufen. Und der nette Kameramann habe gesagt, sie sei ungewöhnlich fotogen. In allem, was sie sagt, hat Ina recht. Und gerade deswegen beginnt Thun, sich über sie zu ärgern. Er spürt, daß er ungerecht ist. Er bemüht sich auch, seinen Groll zu verbergen. Aber er schiebt die Anwesenheit des Taxifahrers vor, um auf ihre Andeutungen nicht eingehen zu müssen, und nimmt sich vor, irgendwann ein paar deutliche Worte mit ihr zu reden. Wenn sie sich daraufhin von ihm trennen wird, was er allerdings nicht glaubt, soll es ihm recht sein. Jetzt, im Taxi, möchte er seine Ruhe haben. Höchstens noch pfleglich behandelt werden nach der großen Anstrengung, die er hinter sich hat. Ina versteht und gibt sich Mühe. Der Taxifahrer verliert ein paar Worte über renovierte Altbauten und teure Mieten, als er Thun und Ina vor dem Haus absetzt. Ja, ja, guter Mann sagt Thun, da mögen Sie wohl recht haben. Wahrscheinlich können sich das bald nur noch Leute leisten, die im Fernsehen auftreten. Er findet sich witzig, und Ina ist sein Gerede ein ganz klein wenig peinlich. Sie steigt schnell aus und geht Thun voran ins Haus. Auf den kleinen blauen Sportwagen, der auf dem Parkstreifen vor dem Haus gestanden hat, als sie ankamen, achtet sie nicht. -207-
Thun hat den Wagen sofort gesehen, als das Taxi daran vorbeifuhr und davor anhielt. Er kennt dieses Auto zu gut. Er hat auch die Frau erkannt, die am Steuer sitzt. Thun sieht Ina nach, die in der Haustür verschwindet. Während das Taxi startet, geht er ein paar Schritte zurück und bleibt neben dem blauen Wagen stehen. Als Beata von innen die Scheibe an seiner Seite öffnet, beugt er sich hinunter und sieht in den Wagen. Er riecht Parfüm, das er sehr gut zu kennen meint, sieht Beata hinter dem Lenkrad und weiß plötzlich, mit wem er seine gelungene Sendung feiern möchte. Er weiß es so genau, so überdeutlich, daß er sich mit irgendwelchen Vorreden gar nicht mehr aufhält. Du hast sie gesehen, Liebes, sagt er. Meine Wohnung ist sie ist einfach nicht frei. Fahr in unser Hotel, bitte. Ruf mich von dort an. Ich bin in einer halben Stunde bei dir. Bis gleich. Als Thun seine Wohnung betritt, fühlt er sich gemein, aber glücklich. Im Badezimmer hört er Wasser in die Wanne laufen. Ina ist in der Küche damit beschäftigt, ein Tablett mit Champagner, Gläsern und ein paar eßbaren Kleinigkeiten zu füllen. Ich bring das ins Bad, sagt sie. Zieh dich schon aus. Ich komme gleich nach. Thun amüsiert sich über die Selbstverständlichkeit, die Ina bei allen Verrichtungen in seiner Wohnung an den Tag legt, vor wenigen Minuten hätte sie ihn noch geärgert. Sofort, sagt er, überlegt, ob er das Ausziehen hinauszögern soll, bis das Telefon klingelt, beschließt aber, Inas Anweisungen zu folgen. So wird sie am wenigsten Verdacht schöpfen. Es klingelt, als beide in der Wanne sitzen, das Tablett zwischen sich, und die Gläser erhoben haben, um sich zuzutrinken. Nein, sagt Ina, wir sind nicht da. Und wenn jemand vom Sender anruft, gibt Thun zu -208-
bedenken. Sie steigt aus der Wanne und läuft zum Telefon. Es ist die Klinik, sagt sie, als sie zurückkommt, um ihm den Hörer zu geben. Thun spielt ein wenig Theater, gibt Ina den Hörer zurück und verläßt die Wanne. Trink du, sagt er. Ich muß nüchtern bleiben. Wir holen alles nach, wenn ich zurück bin. Schließlich bin ich Arzt und nur im Nebenberuf Fernsehstar. Er spricht ernst und zieht sich schnell und sorgfältig an. Ina wagt nicht, ihm zu widersprechen. Sie wird den Champagner kalt stellen und auf ihn warten. Es gibt eben Bereiche, in denen er ihr überlegen ist; die erkennt sie neidlos an. Ina langweilt sich schnell, wenn sie allein ist. Eigentlich mag sie nicht fernsehen. Sie geht gern und oft ins Kino. Sie und ihre Freunde finden das Fernsehen spießig. Als sie Thun erobert hatte und feststellen mußte, daß er abends regelmäßig vor dem Fernseher sitzt, war sie am Anfang geneigt, sein spießiges Verhalten seiner Einsamkeit zuzuschreiben. Alle Frauen glauben, daß die Männer, die sie gerade kennenund liebengelernt haben, vor der Bekanntschaft mit ihnen einsam waren. Sie glauben es auch dann, wenn der Mann verheiratet ist und drei Kinder hat. Wahrscheinlich glauben sie es gerade dann besonders. Frauen sind Meisterinnen im Zurechtbiegen der Wirklichkeit, wenn es um das geht, was sie als Liebe bezeichnen. Selbst die nüchternsten unter ihnen, selbst die, die sich irgendwann vorgenommen haben, sich nie mehr etwas vorzumachen und schon gar nicht über Männer, lassen sich willig blenden. Es ist dies eine so umfassende Erscheinung in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern, sie tritt so regelmäßig auf, daß es durchaus berechtigt erscheint, hier an ein hinterlistig wirkendes Naturgesetz zu glauben. Was, wenn es das Gesetz der zeitweiligen Verblödung nicht gäbe? Würden Frauen sich dann immer noch um Männer -209-
bemühen? Würden sie sie immer noch ernst nehmen? Ina ist dem Gesetz unterlegen, gehört aber zu den beneidenswerten (oder bedauernswerten?) Frauen, bei denen die anfängliche Verblödung sehr schnell wieder einer gewissen Nüchternheit Platz macht. Sie mag Thun, soweit er in der Lage ist, ihre sexuellen Bedürfnisse intelligent zu befriedigen. Der Rest seiner Person interessiert sie inzwischen ausschließlich unter Nützlichkeitsaspekten. Er hat ihr langweiliges Leben zwischen Vorlesungen, Hausarbeiten in ihrer nicht sehr komfortablen Wohnung und häufigen Kinogängen mit jungen Männern, die sie albern fand, schon erfreulich verändert. Die Perspektiven, die sich aus der Beziehung mit ihm ergeben, sind, gemessen an dem Dasein einer arbeitslosen Akademikerin, großartig. Ina ist durchaus bereit, dafür Opfer zu bringen. Auf die Idee, ihre zukünftige Karriere einzig und allein ihrer eigenen Kraft verdanken zu wollen, kommt sie nicht. Zu sehr haben sich vielleicht schon die gesellschaftlichen Bedingungen für Frauen verändert, gemessen an Zeiten, in denen die Ideen der Frauenbewegung in die Köpfe einiger Frauen Eingang gefunden hatten. Ina beendet ihr Bad stellt, den Champagner zurück in den Kühlschrank und setzt sich, in Thuns Bademantel gewickelt, vor den Fernseher. Sie hat in der Wohnung das Licht ausgemacht, vielleicht, um wenigstens durch die sie umgebende Dunkelheit einen kleinen Kinoeffekt zu erreichen. Während sie noch dabei ist, sich durch die Programme zu zappen, klingelt das Telefon. Sie läuft ins vordere Zimmer. Es ist Thun, der ihr mitteilt, daß er die Patientin in die Psychiatrie nach Ochsenzoll begleiten müsse. Er könne nicht sagen, wann er zurück sei. Sicher nicht vor morgen früh. Ina ist enttäuscht, versucht aber, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sie ist nun die Arztfrau, die volles Verständnis dafür hat, daß ihr Mann im Dienste der Menschheit Opfer bringen muß, hinter denen sie nicht -210-
zurückstehen darf. Als sie den Hörer aufgelegt hat, denkt sie einen Augenblick nach und beschließt dann, den Champagner, wie Thun es ihr empfohlen hat, allein zu trinken. Als sie aufsieht, blickt sie automatisch hinüber zu der gegenüberliegenden Wohnung. Dort drüben ist es dunkel wie seit Tagen schon. Trotzdem glaubt sie, eine Bewegung gesehen zu haben. Kann es sein, daß der Mann zu Hause ist und im Dunkeln lebt? Kommt er nachts zurück? Ist er ihretwegen zurückgekommen? Ina fühlt Angst, aber auch Neugierde, und das Bedürfnis, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie zieht sich in den Hintergrund des Zimmers zurück und läßt die Wohnung drüben nicht mehr aus den Augen. Es dauert nicht lange, bis sie ihre eher vage Beobachtung bestätigt findet. Allerdings scheint es, als sei dort nicht dieser Mann in der Wohnung, dessen Umrisse eindeutig zu identifizieren wären. Es ist da jemand Kleineres, Flinkeres. Er hat einen Verbündeten, denkt Ina. Er hat sich versteckt und hat einen Verbündeten. Oder? Es könnte die Polizei sein, die ihn inzwischen ebenfalls verdächtigt und nachts heimlich seine Wohnung durchsucht. Ein leises Gefühl der Enttäuschung beschleicht sie. Wenn die Polizei an der Sache dran ist, hat ihre sensationelle Enthüllung keinen Wert mehr. Sie muß herausfinden, wer in der Wohnung ist. Sie findet keine Zeit, den Schlüssel für die Wohnungstür zu suchen, klemmt einen Schuh zwischen Tür und Schwelle, damit sie nicht zuschlagen kann und sie ausgesperrt wäre, und läuft barfuß und im Bademantel die Treppen hinunter, auf der anderen Seite des Treppenhauses ein Stück wieder hinauf, verbirgt sich auf dem letzten Treppenabsatz hinter einer vorspringenden Wand, wartet. Sie muß nicht lange warten. Sie hört, wie jemand vorsichtig, aber nicht ohne jedes Geräusch, oben die Tür abschließt. Sie hört Schritte, die die kleine Wendeltreppe herunterkommen, -211-
die zu den Dachwohnungen führt. Sie hält den Atem an, als die Person dicht an der Mauer, hinter der sie steht, vorbeigeht. Die Person hat auch im Treppenhaus kein Licht angemacht. Vorsichtig verläßt Ina den Platz hinter der Mauer, um ihr zu folgen. Eine Frau. Eine Frau, die plötzlich die Hand zum Lichtschalter ausstreckt, die Treppenhausbeleuchtung einschaltet, einen der seitlich gelegenen Flure betritt. Die kennt sie doch! Die Frau schließt eine Wohnung auf, verschwindet hinter der Tür. Ina läuft nach oben, zieht den Schuh aus der Tür, schließt die Wohnungstür hinter sich. Ihre Füße sind eiskalt. Sie geht ins Badezimmer, setzt sich auf den Rand der Wanne, nimmt die Brause in die Hand und läßt heißes Wasser über ihre Beine laufen. Langsam schlägt ihr Herz wieder ruhiger. Der Widerling ist ausgezogen. Eine Frau aus dem Haus, eine kleine, unscheinbare Person, die sie ein paarmal im Treppenhaus gesehen, aber nie wirklich wahrgenommen hat, hat einen Schlüssel zu seiner Wohnung. Sie betritt die Wohnung nachts und macht dabei kein Licht an. Sie will nicht gesehen werden. Warum? Entweder sie beklaut den Wohnungsinhaber, der ihr den Schlüssel gegeben hat, weil er wirklich verreist ist, so wie Thun vermutet. Oder er ist ausgezogen, weil er sich im Haus nicht mehr sicher fühlt, und sie ist seine Verbündete. Ina trocknet sich die Beine ab, verläßt das Bad, beginnt, sich anzuziehen. Ob sie aber seine Verbündete ist, kann man nur dadurch herausfinden, daß man ihr folgt. Sie wird mich zu seiner Wohnung führen, denkt Ina. Wenn ich mich beeile, vielleicht jetzt gleich. Lieber Gott, laß sie nicht schon weg sein, wenn ich fertig bin.
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6. Januar Es ist soweit. Heute gegen Mittag saß ich wie üblich hinter der Gardine am Fenster und sah auf die Straße. Da habe ich sie gesehen. Sie kam langsam die Straße hoch. Vielleicht hatte sie ihr Auto in einer entfernten Straße abgestellt, vielleicht war sie mit dem Bus gekommen, der an der Christuskirche hält. Sie ging auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig und betrachtete dieses Haus. Sie kam zurück, ging über die Straße. Ich konnte sie nicht mehr sehen. Vermutlich hat sie unten am Haus die Namen auf den Schildern neben den Klingelknöpfen studiert. Meinen Namen, ich meine, den Namen, den sie vom Türschild kennt, wird sie nicht gefunden haben. Aber ich mache mir nichts vor. Sie weiß, wo ich zu finden bin. Wie hat sie hergefunden, das ist die Frage. Ist sie Sonja gefolgt? Haben wir unabsichtlich eine Spur gelegt und nicht beseitigt? Was kann das sein? Gibt es eine Spur, die auch die Polizei leicht finden kann? Ich werde der Blonden ein paar Fragen stellen müssen. Und Sonja. Nachts, gegen Morgen Sonja kam um halb drei. Als sie ging, war es halb fünf. Und sie war ein neuer Mensch geworden. Ein wachsamer, so hoffe ich doch. Wachsam und folgsam wie noch nie vorher. Sie hat einen Brief für die Blonde mitgenommen. Eine Einladung zum Rendezvous. Ich habe sie nicht hierher bestellt, o nein. Solange ich nicht weiß, ob sie irgendeinem Menschen von meiner Einladung erzählt, muß ich vorsichtig sein. Sie wird Sonja morgen nacht in der Osterstraße treffen. Sonja wird sie zu mir bringen, wenn sie sich vergewissert hat, daß ihnen niemand folgt. Sobald ich sie in Empfang genommen habe, wird Sonja zum Hauptbahnhof fahren und den Koffer abholen. Sie wird -213-
auch ihn hierher bringen. 7. Januar Sonja brachte in der Nacht eine Zeitung mit. Über die Toten an der U l steht nichts darin, auch nicht über die Frau, die ich hinter dem Haus vergraben habe. Ich las einen interessanten Artikel mit der Überschrift: Alte Männer sollen unter die Haube. Mit einem sogenannten »Silver-age-Programm« möchte ein Anthropologe aus Kiel der drohenden Verwahrlosung alter Männer entgegenwirken. Da die Frauen sieben Jahre länger lebten als die Männer, sollten sie gefälligst in ihren letzten Lebensjahren wieder eine Lebensgemeinschaft mit einem älteren Herrn eingehen. Endlich einmal jemand, der mit der Wahrheit nicht hinter dem Berg hält und Konsequenzen fordert! Er hat meine volle Zustimmung. Ist es denn gerecht, daß die alten Männer verkommen und die alten Frauen sich allein einen vergnügten Lebensabend machen dürfen? Sie brauchen einen Herrn, wie der Kieler Wissenschaftler richtig herausgefunden hat. Wissenschaft im Dienste des Herrn, wie schön, daß es hier einmal deutlich wird. Später Ich saß nicht mehr am Fenster, seit ich wußte, daß Sonja sie heute nacht herbringen wird. Ich hing meinen Träumen nach. Es war nicht schwer, diese Frau aus meinen Träumen zu verbannen. Sie ist lästig geworden und muß verschwinden. Das ist alles. Wenn ich nun aber zu den Männern gehöre, die Befriedigung nur haben, wenn sie Gewalt ausüben können, wenn ich nun aber zur Zeit meine Wohnung nicht verlassen kann, wenn ich in der gleichen Situation lebe wie der eine oder andere von uns in einer Zelle, dann will ich nicht klagen, mich nicht vor -214-
meinen Träumen fürchten. Ich will meine Träume genießen. Ich genieße sie ein zweites Mal, wenn ich sie aufschreibe. Ich werde sie genießen, wenn ich sie irgendwann wieder lese. Was trägst du da in der Hand, liebe Kleine? Ich trage Kuchen und Wein. Die will ich der Großmutter bringen. Sie hat es mir nicht vorgelesen. Aber als ich selbst lesen konnte, habe ich sofort verstanden, was da geschah. Was da geschah, was da geschah, was da geschah. Später Ich glaube, das war die größte Entdeckung, die ich als Kind gemacht habe. Es folgten nicht mehr viele. Vielleicht noch die, daß ich frei bin. Und daß ich nicht allein bin, obwohl ich die anderen nicht kenne. Ein wenig kränkt mich das auch. Manchmal wäre ich gern der einzige Wolf, der die Schafe reißt. Manchmal wünsche ich, daß die Welt mich kennt. Sie sollen mich kennen, nicht nur fürchten. Dann wünsche ich, Briefe zu schreiben, an Zeitungen, um meine Verfolger vor aller Welt lächerlich zu machen. Sie sind meiner nicht würdig, deshalb lasse ich es. Auch der Alkoholiker könnte sich als meiner nicht würdig erweisen. Ich überlege, ob ich seinem Eifer ein wenig nachhelfen soll. Schließlich macht ein Spiel keinen Spaß, wenn die Gegner nicht ebenbürtig sind. Er wird über die blonde Frau stolpern müssen. Schritte auf der Treppe. Es klopft. Sonja hat ihren Auftrag erfüllt. Zwischenspiel Am 9. Januar entdeckt ein Bettler am Fuß der Treppe zum UBahnhof Lohmühlenstraße einen Koffer. Der Mann hat dort die Nacht zugebracht. Als er frühmorgens aufwacht, steht ein -215-
Koffer, der beim Einschlafen noch nicht da gestanden hat, neben seinem Lager. Der Koffer sieht aus, als lohne es sich, seinen Inhalt näher zu untersuchen. Der Mann vergewissert sich, daß niemand in der Nähe ist, der Anspruch auf den Koffer erheben könnte. Er packt seine Habseligkeiten besonders langsam zusammen, was ihm schwer fällt, denn es ist gegen Morgen kalt geworden, und er sehnt sich nach einem heißen Kaffee und einem Schluck. Als er fertig ist und noch immer niemand gekommen ist und den Koffer aufgenommen hat, betrachtet er ihn als sein Eigentum und nimmt ihn mit. Der Koffer ist nicht besonders schwer, aber weil er so durchgefroren ist, fällt dem Mann das Tragen nicht leicht. Deshalb steuert er eine kleine Kneipe an, in der ab sieben Uhr Frühstück angeboten wird und die ihm eigentlich zu teuer ist. Er ist neugierig darauf, was sich wohl in dem Koffer befindet, und er hofft, daß die Frau in der Kneipe, die er flüchtig kennt und von der er weiß, daß sie in Ordnung ist, ihm ein Werkzeug gibt, mit dem er den Koffer öffnen kann. Er geht davon aus, daß er verschlossen ist. In der Kneipe ist morgens um sieben eine Menge Betrieb. Männer, die nachts gearbeitet haben, Frauen, die angeschafft haben, ein paar Leute, die zur Arbeit gehen wollen, aber ohne eine Wegzehrung in Form von Alkohol möglicherweise ihr Ziel nicht erreichen würden, drängen sich um den Tresen. Der Bettler mit dem Koffer, froh, einen warmen Raum erreicht zu haben, zieht sich mit seinem Fund in eine Ecke zurück und wartet. Die Frau, auf deren Hilfe er hofft, hat zuviel zu tun. Unglücklicherweise hat er den Koffer so hingestellt, daß er den Weg zur Toilette versperrt. Zwei Männer, die den schmalen Durchgang gleichzeitig benutzen wollen, bewegen sich umeinander herum, wobei der eine, unwillig über die Enge, vielleicht auch darüber, daß der Alkohol noch nicht oder noch nicht wieder die Wirkung hatte, die er erhofft, mit dem Fuß kräftig gegen den Koffer tritt. Der Koffer, der nicht -216-
verschlossen war, springt auf. Der blutverschmierte Kopf einer Frau mit kurzen blonden Haaren rollt heraus, rollt ein paar Zentimeter weiter und bleibt auf einem Ohr liegen. An dem Ohr, das zu sehen ist, klebt ein mittelgroßer goldener Ohrring. Die beiden Männer starren auf den Kopf. Einer von ihnen sagt laut »Oh, Scheiße, paß doch auf.« Dann versucht er, offenbar in einem Anflug von Pietät, die übrigen Gäste daran zu hindern, mit ihren Füßen den Kopf anzustoßen. Es ist plötzlich sehr still in der Kneipe. Niemand sagt mehr ein Wort. Niemand will dem furchtbaren Ding auf dem Fußboden zu nahe kommen. Alle weichen zurück. Nur der Bettler, der mit dem Rücken zur Wand sitzt und blaß geworden ist, rührt sich nicht vom Fleck. Die Frau hinter der Bar tastet, ohne das Ding auf dem Fußboden aus den Augen zu lassen, nach dem Telefon an der Wand. Erst als sie den Hörer in der Hand hält, wendet sie sich ab und wählt die Nummer der Polizei. Es dauert fünf Minuten, bis der Wagen vor der Tür hält, zwei Beamte die Kneipe betreten und laut: Was ist denn nun - hier los? fragen wollen. Nach den ersten Worten verstummen sie. Die Gäste haben eine Gasse gebildet, an deren Ende der Kopf auf dem Boden liegt. Dahinter sitzt noch immer wie angenagelt der Bettler. Die Beamten, die vielleicht auch lieber geschwiegen und auf den Kopf gestarrt hätten, reißen sich sehr bald zusammen. Haben Sie vielleicht einen Gummihandschuh? fragt der eine die Frau hinter der Theke. Wem gehört der Koffer? fragt der andere. Die Frau reicht einen rosa Gummihandschuh hinter der Theke hervor. Die ersten Gäste beginnen leise, ihre Kommentare abzugeben, als der Polizist ihn überzieht und sich dem Kopf nähert. Der da sitzt, sagt einer laut, der hat den Koffer hier reingeschleppt. Ist - gehört der Koffer ihnen? fragt der andere Polizist, -217-
während sein Kollege, mit einer Hand vor dem Mund, den Kopf zurück in sein blutiges Behältnis legt und den Koffer dann mit beiden Händen zudrückt. Der Bettler antwortet nicht. Er steht einfach auf, noch immer bleich, nimmt seine Plastiktüte und die Decke, die neben ihm am Boden gelegen haben und folgt dem Beamten, der den Koffer trägt, wortlos zum Auto. Es sieht aus, als sei der Koffer ein Magnet. Der zweite Beamte folgt ihm. Die Gäste drehen sich um, sehen ihnen nach, beobachten, nun wieder schweigend, durch die Fensterscheibe, wie der Koffer im Kofferraum und der Bettler auf dem Rücksitz verstaut wird. Das Auto fährt an, fast sieht es so aus, als führe der Fahrer vorsichtig. Kann mal einer diese Scheiße hier vom Boden wegmachen, sagt der Mann, der mit seinem Fuß den Koffer angestoßen hat. Als sei seine Stimme das Signal gewesen, durch das alle anderen ebenfalls ihre Sprache wiedergefunden haben, erfüllt plötzlich lautes Stimmengewirr den Raum. Brunner Noch am Nachmittag desselben Tages wird der Kopf identifiziert. Die Verbindung zu Thun ist schnell hergestellt. Die Lage seiner Wohnung, die Nähe des Fundorts zur Linie U l und zum Haus, in dem sich die Wohnung des Mannes befindet, den Brunner verdächtigt, und seine gründlichen Vorbereitungen zur Begründung und Beantragung einer »Sonderkommission Ul« tragen dazu bei, daß die Kommission zum 10. Januar eingerichtet und Brunner zu ihrem Leiter berufen wird. Der 10. Januar ist ein Sonnabend, aber niemand verliert bei ihrem ersten Treffen ein Wort darüber. Sonderkommissionen genießen in der Öffentlichkeit ein hohes Ansehen und können durchaus einen Schritt nach oben auf der Karriereleiter bedeuten. In solchen Fällen ist die Arbeit am Sonnabend -218-
durchaus willkommen. Die Sonderkommission besteht neben Brunner selbst und Fuchs noch aus zwei weiteren Kriminalhauptkommissaren und einer Polizeischülerin, die dem Polizeirat, der für die Zusammenstellung zuständig war, durch besondere Schönheit aufgefallen ist. Brunner beginnt die Arbeit damit, daß er seine Leute zusammenruft und ihnen die Situation erklärt. Eine Karte, auf der die Fundorte der Leichen und die Wohnung des vermeintlichen Täters eingezeichnet sind, hängt dabei an der Wand. Anschließend besprechen sie ihr Vorgehen, insbesondere die Frage, ob und auf welche Weise die Öffentlichkeit informiert und vielleicht zur Unterstützung aufgerufen werden könnte. Man einigt sich darauf, zu schweigen, trotz einer gewissen Gefahr, die darin liegt, daß jemand, der die Geschichte mit dem Kopf miterlebt oder davon gehört hat, zur Zeitung geht. Im Augenblick brauchen wir Ruhe, sagt Brunner, Theater werden wir noch früh genug bekommen. Wir werden als erstes seine Wohnung gründlich auseinandernehmen. Es kommt darauf an, irgendeinen Hinweis auf die Doppelexistenz dieses Kerls zu finden. Hat er sich verkleidet? Falsche Namen? Endlich seine Fingerabdrücke, natürlich, Lektüre, Souvenirs, manche von diesen Tätern behalten Erinnerungsstücke von ihren Opfern zurück, an denen sie sich aufgeilen, besondere Wäschestücke, seine oder die von andern, Werkzeuge, Spuren auf Werkzeugen. Hinweise, die der Täter selbst gegeben haben könnte, weil er sich mächtig fühlt. Manche sind eitel bis zur Unvorsichtigkeit. Und vergeßt nicht, euch bei der Hausverwaltung zu erkundigen, ob zu der Wohnung irgendwelche Nebengelasse gehören. Boden, Keller, Abstellkammer, was weiß ich. Den Briefkasten nicht vergessen. Werden eigentlich die Fundorte der Leichen noch bewacht? -219-
fragt Fuchs. Man weiß doch, daß solche Irren gern wieder an den Tatort zurückkommen. Wir haben drei Leichen, bei denen Tatort gleich Fundort war, antwortet Brunner: die Frau im Rollstuhl, die aus der Mülltonne und das kleine Mädchen. Ich habe veranlaßt, daß dort genau aufgepaßt wird, ob ein Verdächtiger auftaucht. Leider haben wir kein Foto von dem Kerl, aber ich geh nachher schnell rüber und laß ein Phantombild machen. Hätte man das nicht schon längst machen müssen, fragt die Polizeischülerin. Brunner mustert sie stumm, sagt ja, und fährt fort: Wo diese Studentin umgebracht wurde, wissen wir nicht. Wir haben den Körper oder Teile davon noch nicht gefunden. Der Kopf wird zur Zeit auf Spuren untersucht, die einen genetischen Fingerabdruck ermöglichen. Ich glaube nicht, daß etwas dabei herauskommt. Wir haben auch bei den anderen Leichen keine Spermaspuren oder ähnliches entdeckt. Vielleicht wichst er ins Taschentuch, sagt einer der Männer halblaut. Niemand lacht. Brunner überhört die Bemerkung. Wir haben eine fünfte Leiche, sagt er, aber wir wissen nicht, noch nicht, wo sie liegt. Vermutlich ist sie die erste in der Serie gewesen, und wenn wir nicht schnell und gründlich arbeiten, wird seine Liste noch länger werden. Achtet auf Hinweise, die diese Frau betreffen könnten. Sie hat im Haus gewohnt und gilt noch immer als verschwunden. Die Polizeischülerin macht sich Notizen in einem kleinen Buch. Überrascht stellt Brunner fest, daß sie die einzige ist, die etwas notiert hat. Anfängerin oder besonders schlau, denkt er flüchtig. Ich kümmere mich um das Phantombild und werde mir dann diese Sonja Frank vornehmen, die wir in seiner Wohnung getroffen haben. Fuchs redet mit diesem Psychofritzen und macht nachher mit euch zusammen weiter. Ihr habt Zeit bis -220-
heute abend. Wir treffen uns hier um 17.00 Uhr. Falls die Spurensicherung etwas entdeckt: gleich in die Analyse. Am besten, wir haben die Ergebnisse heute abend schon vorliegen. Du hast es aber eilig, sagt einer der beiden Brunner zugeteilten Kollegen. Er sagt es nicht bösartig, eher wie eine Feststellung, aber Brunner reagiert scharf: Vielleicht stellst du dir freundlicherweise vor, daß es von uns abhängt, ob noch eine Frau dran glauben muß. Wenn's dir leichter fällt, denk doch, es wär deine. Mann, ist ja gut, murmelt der Kollege beim Hinausgehen. Glaubst du, es ist klug, die Leute von Anfang an sauer zu machen, sagt Fuchs, als die drei anderen das Zimmer verlassen haben. Sei froh, daß du sie hast. Man hat dir keine schlechten Leute gegeben. Das wird sich rausstellen, sagt Brunner ungerührt. Er geht ins Nebenzimmer. Fuchs hört, daß er der Sekretärin einschärft, auf jeden Anruf zu achten, jeden Anrufer zu notieren und jedesmal zu sagen, er sei ab 17.00 Uhr wieder zu erreichen. Glaubst du, er meldet sich per Telefon, fragt Fuchs, als sie zusammen die Treppe hinuntergehen. Was weiß ich, antwortet Brunner, eigentlich rechne ich mit allem. Während sie unterwegs sind, fällt Fuchs etwas ein. Hast du an diesen Penner gedacht, sagt er, den, der da im Haus übernachtet hat? Vielleicht hat er etwas gesehen? Hab ich, antwortet Brunner. Ich bin gestern abend noch mal hingegangen. Ich dachte, vielleicht hat er sein Nachtlager wieder da unten aufgeschlagen. Entweder war's zu früh, oder er ist umgezogen. Hatte nur seine Duftmarke gesetzt. Der Keller stank gewaltig. Den kriegen wir, wenn er noch mal auftaucht. Während Brunner den Gang zur Wohnung von Sonja Frank -221-
betritt, steigt Fuchs noch eine Treppe höher. Er wird mit Thun reden. Es ist elf Uhr morgens, aber Brunner muß kräftig klingeln, bevor sich hinter der Tür jemand bewegt. Die Frau, die ihm öffnet, ist Sonja Frank, er hat keinen Zweifel. Aber sie sieht so müde und mitgenommen aus, daß ein weniger guter Beobachter sie vielleicht nicht wiedererkannt hätte. Offenbar hat sie noch geschlafen. Sie versucht, Brunner auf einen späteren Zeitpunkt zu bestellen, benimmt sich dabei aber so unsicher, daß es ihm leicht fällt, eingelassen zu werden. Sonja bittet ihn, im Wohnzimmer Platz zu nehmen, während sie im Bad verschwindet. Brunner sieht sich um. Die Wohnung besteht aus dem Wohnzimmer, das eine offene Küche hat und einem winzigen Schlafzimmer, eher einer Art Koje, in der außer dem zerwühlten, noch warmen Bett nichts weiter als ein Bücherbord Platz hat. Über dem Bücherbord gibt es ein sehr kleines, halbrundes Fenster, das sich nicht öffnen läßt. Er sitzt ruhig auf dem Stuhl, den Sonja ihm angeboten hat, und betrachtet das in einer Ecke neben der Tür zur Schlafkoje aufgestellte Bügelbrett, als Sonja aus dem Bad kommt. Sie nimmt ein paar Sachen aus einem Kleiderschrank, verschwindet mit einer Entschuldigung in der Schlafkoje und schließt die Tür hinter sich. Brunner betrachtet das Bügelbrett, dann wandert sein Blick weiter über die Einrichtungsgegenstände. Als Sonja zurückkommt, hat er sich ein Bild von ihr gemacht: eine Frau, die allein lebt, den größeren Teil ihres Verdienstes für eine zu teure Wohnungsmiete ausgibt, ein paar schöne alte Möbel und etwas Geschirr geerbt hat, einsam ist. Er unterhält sich mit ihr länger als eine Stunde. Als er geht, weiß er, wo sie arbeitet und wie sie lebt; so einsam, wie er es sich gedacht hat. Der Mann aus der Dachwohnung ist der einzige gewesen, der sie freundlich gegrüßt hat. Weihnachten hat er sie eingeladen. Sie war verzweifelt über den Tod ihrer -222-
Mutter und froh, nicht allein sein zu müssen. Sie haben einen freundlichen Abend miteinander verbracht und ein bißchen zuviel getrunken. Er war sehr nett zu ihr, hat aber nicht mit ihr geschlafen. Obwohl Sie mit ihm in demselben Bett gelegen haben? fragt Brunner. Ja, antwortet Sonja, er war sehr nett zu mir, hat aber nicht mit mir geschlafen. Dann haben Sie uns aufgeweckt. Als Sie gegangen waren, war der Zauber verflogen. Ich hab mich bei ihm bedankt und bin in meine Wohnung gegangen. Zwei Tage später stand er vor meiner Tür, um sich zu verabschieden. Er wollte seine Mutter besuchen, glaube ich. Er hatte einen Koffer dabei. Was für einen Koffer? Können Sie ihn beschreiben? Sonja überlegt einen Augenblick, bevor sie antwortet. Ja, sagt sie dann, ich glaube schon. Es war so ein altmodisches Ding aus Segeltuch, nicht besonders groß, ganz bestimmt schon alt, eher wie aus einem Antiquitätenladen; helles Segeltuch und braune Lederecken, glaube ich. Alles ganz klare, einleuchtende, einfache Antworten, denkt Brunner, als er Sonjas Wohnung verlassen hat. Nirgends ein Pferdefuß. Nur ein bißchen einstudiert vielleicht. So ein ganz klein wenig wie ein Papagei? Auf der Treppe trifft er Fuchs, der ein mißmutiges Gesicht macht. Sie beschließen, die Kollegen nicht zu stören und zurück ins Büro zu fahren. Ich weiß nicht, warum, aber ich kann Kerle wie diesen Thun nicht ausstehen, sagt Fuchs, während sie den Steindamm in Richtung Hauptbahnhof hochfahren. Er zerfließt vor Trauer, aber dauernd merkt man, daß er lügt. In Wirklichkeit hat er einfach die Hosen gestrichen voll. Meinst du, daß er etwas mit der Sache zu tun hat? -223-
Der? Nicht im geringsten, antwortet Fuchs. Wahrscheinlich hatte er ein Verhältnis mit seiner Assistentin, die übrigens auch seine Studentin war. Aus irgendeinem Grund ist es ihm peinlich, die Sache offen zuzugeben. Versteh ich allerdings nicht, war doch ein hübsches Mädchen. Brunner denkt an den abgeschnittenen Kopf und antwortet nicht. Er sagt, er sei am Abend der Sendung noch einmal aus dem Haus gegangen, irgendeine Verabredung. Als er zurückkam, sei seine Freundin nicht da gewesen. Sie habe aber eine eigene Wohnung gehabt, deshalb habe er sich nicht weiter Gedanken gemacht. Er war's nicht, aber wenn jemand Zeit hat, soll er die Sache mit der Verabredung überprüfen. Im Augenblick ist die Frau, diese Sonja Frank, wichtiger. Irgend etwas stimmt nicht mit ihr. Sie hat sich ziemlich verändert, seit wir sie zum ersten Mal gesehen haben. Wie? Verändert? Ist doch noch gar nicht so lange her, daß wir sie besucht haben. Ja. Sie ist völlig cool, aber sie sieht aus wie Braunbier mit Spucke. Wie was? Hat meine Mutter immer gesagt, Braunbier mit Spucke, oder durchgeschissenes Apfelmus, wenn es jemandem schlecht ging und man es ihm ansah. Wir werden sie nicht mehr aus den Augen lassen, besonders nachts muß man ein Auge auf sie haben. Fuchs läßt Brunner vor der Tür des Dienstgebäudes aussteigen, bevor er den Wagen in die angemietete Tiefgarage auf der gegenüberliegenden Straßenseite bringt. Wie jedesmal, wenn er da unten zu tun hat, verschwendet er einen kurzen Gedanken daran, die Tiefgarage mit einer Goldgrube zu vergleichen. Als er zu Brunner ins Büro kommt, sieht er den Kollegen telefonieren. An seinem Gesicht kann er ablesen, daß -224-
schon wieder etwas passiert ist. Nicht noch eine Leiche, denkt er, bleibt stehen und wartet, bis Brunner aufgelegt hat. Sie haben die verschwundene Frau gefunden, sagt Brunner. Diese Kleine, wie hieß sie noch gleich, diese Anwärterin. Sie hat eben angerufen. Sie meint, sie habe sich in der Wohnung ein bißchen überflüssig gefühlt, weil die Kollegen so tüchtig waren Die haben sie kaltgestellt, wirft Fuchs ein. Jedenfalls ist sie nach draußen gegangen, hat sich das Gelände um das Haus herum genau angesehen und hat an irgendeinem unsachgemäß eingebuddelten Strauch oder was weiß ich gemerkt, daß da etwas nicht gestimmt hat. Naja, so ist sie auf die Leiche gestoßen. Alle Achtung. Müssen wir noch einmal hin? Wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, antwortet Brunner. Er behält die brennende Zigarette in der Hand, während er seine Jacke wieder anzieht. Schon am Abend, noch während der Auswertungsbesprechung, ist klar, daß es sich bei der Leiche um die verschwundene Marlies Fuchs handelt. Alle übrigen Ergebnisse der Durchsuchungsaktion sind so mager, daß Brunners Laune bald unerträglich schlecht wird. Es gibt nicht einen einzigen Fingerabdruck in der Wohnung des Mannes, der von ihm stammen könnte. Außer ein paar Fingerabdrücken dieser Frank gibt es überhaupt keine. Das ist so ungewöhnlich, daß auch daraus Schlüsse gezogen werden können, aber ein paar richtig gut lesbare Abdrücke wären Brunner lieber gewesen. Es gibt auch keine besonderen Werkzeuge, keine Souvenirs, keine verfänglichen Fotos. Offenbar fehlt ein Teil der Kleidung. Anscheinend ist das Bett frisch bezogen worden. Die benutzte Bettwäsche findet sich nirgends, wie überhaupt keine schmutzige Wäsche zu finden ist. Das einzige, unter -225-
Umständen interessante Fundstück lag im Keller und ist ein blutbefleckter, aufgerollter Teppich. Das Blut wird gerade untersucht. Noch während die Männer und die Frau um Brunner schweigend dasitzen und überlegen, welches ihre nächsten Schritte sein könnten, bekommen sie über Fax das Ergebnis der Analyse: Es handelt sich um eine größere Menge Hundeblut, auch Spuren von Fruchtwasser, wahrscheinlich die Geburtsunterlage mehrerer Hundegenerationen. Nichts, sagt Brunner. Hat jemand einen Vorschlag? Niemand? Ich würde die Öffentlichkeit einschalten, schlägt die Anwärterin vor. So? sagt Brunner. Wir haben das Phantombild. Es wird ziemlich genau sein, da Sie beide ihn gesehen haben. Wir geben dazu eine kurze Täterbeschreibung. Der Mann sieht ja wohl ziemlich ungewöhnlich aus. Beides geht überregional über Fernsehen und Zeitungen. Klar, antwortet Brunner, der weiß, daß ihnen gar nichts anderes übrigbleiben wird. Und von da an sitzen wir alle fünf hier ununterbrochen an den Telefonen und reden mit Idioten. Die Anwärterin wird rot, die Kollegen grinsen. Sie hat recht, sagt Fuchs. Das Porträt des mutmaßlichen Täters wird zum ersten Mal in der ARD im Nachtprogramm gesendet. Von da an zeigen alle Sender das Phantombild. Die Anwärterin hat einen kurzen Text dazu entworfen, der Brunners Billigung fand. Die öffentlichrechtlichen Sender halten sich an den Text. Die Privaten und bestimmte Zeitungen beginnen sehr schnell, ihre eigenen Texte unters Volk zu bringen. Es ist, als hätten sie darauf gewartet, endlich wieder eine Sensation servieren zu können. Die immer gleichen Meldungen über steigende Arbeitslosenzahlen, -226-
machtgeile Kanzlerkandidaten und ständig neue Einzelfälle von Rechtsradikalismus in der Bundeswehr haben Auflagehöhen und Einschaltquoten schon gefährlich stagnieren lassen. Huren- und Zuhälteranzeigen nehmen an ökonomischer Bedeutung ebenso zu wie Pornos zur Mobilisierung der Einschaltquoten. Nun kann man in den Zeitungs- und Fernsehredaktionen dieses gewinnträchtige, aber immer noch leicht anrüchige Gelände eine Zeitlang ruhigen Gewissens verlassen und zum Dienst an der Allgemeinheit antreten. Je nachdem, welcher Klientel sich die einzelnen Sender und Zeitungen besonders verpflichtet fühlen, wird die Geschichte des Hamburger Massenmörders besonders aufbereitet dargeboten. Sehr schnell sind alle tatsächlich polizeibekannten Details und darüber hinaus eine Menge erfundener Einzelheiten im Umlauf. Wer der Presse die Informationen gegeben hat, die Brunners Soko erst einmal für sich behalten wollte, bleibt unklar. Brunner hat weder Zeit noch Lust, in diesem Fall nach undichten Stellen zu suchen. Seit das Phantombild zum ersten Mal gezeigt wurde, die Zentrale gibt genau drei Minuten nach dem Erscheinen des Bildes auf der Mattscheibe an, melden sich Leute, die sachdienliche Angaben machen zu können glauben. Am nächsten Morgen, als Brunner und seine Mitarbeiter ihren Dienst antreten, liegen auf ihren Schreibtischen schon die Meldungen, die die Zentrale aufgenommen hat. Das ist aber erst der Anfang. Nach dem Erscheinen der Morgenzeitungen und durch die ständige Wiederholung in den Fernsehsendern scheint sich ein Volk, zumindest die Einwohner einer ganzen Stadt, in eine Bande von Denunzianten verwandelt zu haben. Weshalb bist du so vorsichtig in der Beurteilung deiner Landsleute? fragt Brunner, während er mit Fuchs beim Stadtbäcker am Gänsemarkt einen Kaffee trinkt. Er raucht, während Fuchs zwei halbe Brötchen mit Eiersalat vor sich stehen hat. Fuchs setzt den Becher mit Kakao ab, um Brunner -227-
zu antworten, nimmt ihn aber wieder auf, weil Brunner einfach weiterredet. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du den typischen Denunziantenbrief nicht kennst: »Sehr geehrte Polizei, in der Sache des von Ihnen gesuchten Massenmörders kann ich leider keine Angaben machen. Aber ich möchte doch bitten, wo Sie schon mal dabei sind, meinem Nachbarn (Name, Adresse, vielleicht wird sogar das Aussehen des Nachbarn beschrieben) einen Besuch abzustatten. Was man da beobachtet, kann nicht mit rechten Dingen zugehen.« Folgt die Beschreibung irgendeiner Schandtat, als da sind: Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit, falsche Angaben beim Sozialamt, illegale Untermieter, naja, du kennst die Dinge, mit denen sich der ärmere Teil der Bevölkerung versucht, über Wasser zu halten. Es kotzt mich an, wie sie sich gegenseitig in die Pfanne zu hauen versuchen. Es kotzt mich an, sag ich dir. Und wenn sich noch mal einer von diesen Heinis, so wie der vorhin, in unsere Dienststelle verirrt, hau ich ihm eins in die Schnauze. Das wirst du schön bleiben lassen, mein Lieber, antwortet Fuchs. Du kennst die uralte Regel: Zwischen hundert Fehlanzeigen liegt die eine richtige, die dem Fall die Wendung gegeben hätte, wenn man sie rechtzeitig Geschenkt, sagt Brunner, ich wollte mir nur mal Luft machen. Dreimal auf ihrem Weg zurück in die Dienststelle kommen sie an einem Klebezettel mit dem Phantombild vorbei. Beinahe alle Tageszeitungen titeln mit Massenmörder, Sex-Verbrecher, Frauenschänder. Kopf-ab-Killer scheint heute das Originellste zu sein, sagt Brunner mit einem Blick auf die Zeitungen am Tabakladen. Wenn ihnen keine neuen Wörter mehr einfallen, werden sie ein neues Thema entdecken müssen. Dann haben wir wieder unsere Ruhe. -228-
Wir sollten ihn haben bis dahin, antwortet Fuchs. Aber er weiß, daß er damit nur einen Wunsch äußert. Unter den Hinweisen aus der Öffentlichkeit ist bisher keiner, der sie weitergebracht hätte. An keinem der zurückgelassenen Kleidungsstücke des Mannes in der Dachwohnung haben sich Spuren von einem der Opfer befunden. Alles, was sie wissen, ist: Ein Mann mit dem Namen des Verdächtigen ist seit einiger Zeit in der Stadt ansässig. Er ist im Augenblick nicht zu Hause. Wenn er wieder auftaucht und für die in Frage kommenden Tatzeiten ein Alibi nachweisen kann, wird man ihm nichts anhaben können. Fuchs ist langsam davon überzeugt, daß die ganze Sache so enden könnte. Auch die anderen Mitarbeiter der Sonderkommission neigen seiner Ansicht zu. Nur Brunner, der in diesem Fall allerdings nicht mehr hat als seinen Instinkt, und die Anwärterin sind zuversichtlich. Weshalb die junge Frau auf Brunners Seite ist, ob aus Opportunismus oder weil sie tatsächlich mit dem Instinkt begabt ist, den sehr gute Kriminalpolizisten brauchen, weiß niemand so recht, am wenigsten Brunner. Was vielleicht auch damit zusammenhängt, daß er noch nicht darüber nachgedacht hat, weil er die Kollegin als Frau überhaupt nicht wahrnimmt. Frauen gehören zu dem Teil seines Lebens, den er abgeschlossen hat. Nach dem 20. Januar passiert dann etwas, das die Folgen der Medienkampagne unübersehbar macht und die Aufdeckung der denunziatorischen Fähigkeiten breiter Bevölkerungsteile in seiner Wirkung noch in den Schatten stellt. Zu den bis dahin schon aufgetauchten Trittbrettfahrern kommt eine Reihe von Menschen, die sich oder einen ihrer Nachbarn mit merkwürdig übereinstimmend klingenden Begründungen als Sexualstraftäter bezeichnen und ihre eigene oder die Festnahme ihres Nachbarn verlangen. Frauen bezichtigen ihre Ehemänner, Mütter ihre Söhne, Schwiegermütter ihre -229-
Schwiegersöhne. Die allgemeine Hysterie erfährt so noch einmal eine Steigerung. Der Grund dafür ist klar: Der clevere Redaktionschef des Privatsenders, der Thun für eine Reihe von Vorträgen zum Thema »Wir sind unsere Psyche« verpflichtet hatte, ist auf die Idee gekommen, Thun als Aktivposten zur Hebung seiner Einschaltquote im Konkurrenzkampf um lukrative Werbeaufträge zu nutzen. Thun, der seit Tagen an dem Konzept zum Thema »Der Sexualverbrecher und wir« arbeitet, ist von der vorsichtigen Anfrage des Senders begeistert. Er denkt dabei nicht an den Werbeetat des Senders, weiß aber sicher, daß sich mit einer gelungenen Sendung zum jetzigen Zeitpunkt sein Bild in das Bewußtsein der Öffentlichkeit eingraben wird. Ein Problem scheint ihm allerdings der Zeitpunkt der Sendung zu sein. Thun weiß, daß er eigentlich gegen die seit Tagen mit spektakulären Einzelheiten, Täterprofilen, Tatanalysen und mehr oder weniger qualifizierten psychologischen Sachverständigen arbeitenden Medien nichts Wesentliches mehr aufzubieten hat. Er grübelt deshalb intensiv über einem neuen Konzept seines Vertrags und ist froh, als ihm endlich etwas einfällt. An Ina denkt er nun mit zärtlichen Gefühlen. Sie hat nicht umsonst auf ihn gesetzt. Schneller als erwartet wird er am Ziel seiner Wünsche sein. Es wird keine Notwendigkeit mehr bestehen, reichen Privatpatienten bei ihren mickerigen Problemen zu helfen. Wie dieser Frau, deren Behandlung er seit kurzem übernommen hat. Er besucht sie in ihrem Haus, das sie nicht mehr verlassen kann. Sie leidet unter dem Zwang, kontrollieren zu müssen, ob alle Schränke und Türen abgeschlossen sind, bevor sie ihr Haus verläßt. Ihn, Thun, hat sie telefonisch engagiert. Sind Sie denn nicht längst in Behandlung? hat er sie gefragt, nachdem sie ihm das Ausmaß ihrer Krankheit geschildert und -230-
dabei mehrfach versichert hat, sie sei reich genug, um sich jeden Arzt leisten zu können. Er konnte sich schlecht vorstellen, daß eine solche Patientin bisher ohne Betreuung geblieben sein sollte. Natürlich, hat sie geantwortet. Zuletzt allerdings bin ich an eine Ärztin geraten, die Ausländerin war. Selbstverständlich habe ich die Behandlung bei ihr nicht fortgesetzt. Thun hat sich geweigert, eine neue Assistentin an seiner Seite auftreten zu lassen. Er ist nicht glücklich über den Tod von Ina, aber er kann sich auch nicht verhehlen, daß ihre gemeinsame Zukunft, auch und gerade, was diese Fernsehauftritte betrifft, nicht problemlos gewesen wäre. Deshalb möchte er sich Zeit lassen bei der Wahl seiner neuen Mitarbeiterin, um ähnlichen Entwicklungen von Anfang an vorbeugen zu können. Dem Sender und dem Publikum gegenüber spricht er von dem notwendigen Trauergefühl, das er zuerst überwinden müsse. »Trauer über den Verlust und Scham, die Katastrophe nicht verhindert zu haben« empfindet er öffentlich. Das Publikum ist gerührt über so viel Aufrichtigkeit. Der Sender hat darauf bestanden, Inas Foto während der Sendung groß im Hintergrund und klein im Silberrahmen mit schwarzer Schleife auf Thuns Schreibtisch zu zeigen. Damit ist er einverstanden gewesen. Mit seiner Sendung über den Sexualverbrecher in uns allen gelingt ihm, vorbereitet durch die Kampagne in den Medien, zum ersten Mal wieder ein Effekt, von dem betagtere Fernsehzuschauer und ältere Arbeiter in der Fernsehindustrie zuletzt nur noch zu vorgerückter Stunde an Stammtischen geschwärmt haben: der Durbridge-Effekt nämlich. Während Thuns Sendung sind die Straßen merklich leerer. Die Quotenforscher melden am nächsten Tag 30 Millionen Zuschauer. Thun wird diese Zahl bei seinen folgenden -231-
Sendungen nur geringfügig unterschreiten. Die Methode, mit der er die Zuschauer fesselt, die ihm wie eine wundersame Erleuchtung am Tag vor der Sendung eingefallen ist und deretwegen er in der Nacht sein Konzept noch einmal vollkommen überarbeitet hat, heißt nicht »Aufklärung«, sondern »Verblödung«, was er gleich zu Beginn mit brutaler Offenheit andeutet. Wir sollen heute über einen noch unbekannten Sexualverbrecher sprechen. Die Polizei ist ihm auf der Spur und wird ihn über kurz oder lang einfangen. In solchen Fällen gibt es kein perfektes Verbrechen. Sexualstraftäter, wie dieser Mann auf dem Phantombild, sind nicht therapierbar. Man muß sie vor sich selbst und die Öffentlichkeit vor ihnen effektiv schützen. Dafür gibt es Strafanstalten. Gewisse Methoden der Früherkennung sind möglich, so daß bei Einsatz von genügend Geld und Sachverstand der Schaden gering zu halten wäre. Im übrigen ist die Zahl sexuell motivierter Gewaltverbrechen, zumindest an Kindern, seit den 70er Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Das sind Fakten. Sagen Sie selbst, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, interessiert Sie so etwas? Hier macht Thun eine dramatische Pause, nimmt Inas Foto im Silberrahmen in die Hand, wischt wie zufällig unter einem Auge etwas weg, das auch eine Träne sein könnte, und setzt dann seinen Vortrag fort. Nein, es interessiert Sie nicht. Und, lassen Sie mich Ihnen sagen, es interessiert Sie zu Recht nicht. Ist nicht Ihr Leben von den Fakten, die Alltagssorgen heißen, schon belastet genug? Aber wann haben Sie zum letzten Mal diesen kleinen Kick gespürt, der das Leben lebenswert macht? Wann sind Sie zuletzt mit dem Abgrund in Berührung gekommen, der in Ihnen ist? Sie haben keine dunklen Seiten? Oh doch, und Ina - er -232-
nimmt das Bild, stellt es aber schnell wieder zurück - Ina wußte darum. Sie würde noch leben, hätte sie besser um ihre eigenen Abgründe gewußt. Doch genug von Ina. Heute abend geht es um Sie, meine lieben Zuschauer. Um Sie, die Sie ein Recht darauf haben, Ihre Abgründe zu erforschen. Die Sie auch ein Recht darauf haben, die Abgründe, die in Ihren Mitmenschen schlummern, besser zu erkennen. Denn mit unseren Mitmenschen müssen wir täglich auskommen, ob im Betrieb oder zu Hause. Was kann uns Besseres passieren, als ihre geheimsten Wünsche zu kennen, als in ihnen lesen zu können wie in einem offenen Buch? Auf drei Bereiche will ich heute eingehen, die Sie in ihrer Selbsterkundung »Bin ich ein Sexualverbrecher« und in der Ergründung der Seele Ihres Nachbarn merklich voranbringen werden: 1. Träume 2. Gerüche 3. der kleine Finger der linken Hand. Eine merkwürdige Zusammenstellung, werden Sie vielleicht denken. Warten Sie ab! Aber - doch bevor wir beginnen, habe ich nun eine dringende Bitte: Sollten Sie mir bis jetzt mit Ihren Kindern gemeinsam zugesehen haben, so beenden Sie nun das Zusammensein mit ihnen. In der kommenden halben Stunde geht es um uns, um Sie und mich. Kinder haben da vor dem Bildschirm nicht zu suchen. Damit Sie Zeit haben, die Brut ins Bett zu bringen, lösen sich die Eltern in den kommenden Minuten am besten vor dem Bildschirm ab. Lassen Sie sich trotz alledem unsere Werbung nicht entgehen. 21.Januar Ich lag auf dem Sofa und war damit befaßt, eine ungehorsame Frau im fünften Zimmer zu empfangen. Irgendein lautes Geräusch im Treppenhaus hat mich aufgeweckt. Zum ersten -233-
Mal, seit ich in dieser Wohnung lebe, hatte ich einen Augenblick lang das Gefühl, die Wände seien mir nähergerückt. Es fiel mir auch schwerer als sonst, vom Sofa aufzustehen und in die Küche zu gehen, um etwas Wasser zu trinken. Ich fühle hinter der zunehmenden Schwere eine leichte Unruhe. Ich warte auf Sonja, die mir hier bisher noch nie gefehlt hat. Ich will versuchen zu schlafen. Später Schlafen ist Träumen. Die Mauern um mich herum weichen zur Seite. Unter mir liegt die Stadt. Sie liegt friedlich da, aber im Gewirr der Straßen und Häuser verbirgt sich der Mörder. Ist deshalb niemand zu sehen? Angst ist in der Stadt. Man verbirgt die Frauen. Man verbirgt die Kinder. Zu viele Tote hat der Mörder der Stadt gebracht. Er hat sie ihr geschenkt. Sie haben seine Geschenke nicht verstanden. Sie wollen sie nicht haben. Sie fürchten sich vor ihm. Ich muß die Stadt vom Mörder befreien. Wie ihn finden? Langsam komme ich der Stadt näher. Oder ist sie es, die mir näher kommt? Wo soll ich den finden, der die Stadt in Angst und Schrecken versetzt? Ich kenne seine Gewohnheiten. Auf die Parks will ich achten, auf die grünen Alleen. Ich schleiche so leise. Niemand kann mich hören. Auch nicht der Mann, der, ein Mädchen an der Hand haltend, vor mir hergeht. Er ist groß. Ich sehe, daß er das Kind anfaßt. Er versucht, es zu würgen. Ich muß mich auf ihn stürzen. Ein furchtbarer Zweikampf, keuchend, gurgelnd, schreiend wälzen wir uns im Gras. Ich habe ihn besiegt. Da liegt er, ein jämmerlicher Klotz, jetzt. Ich habe nicht bemerkt, daß die Menschen aus ihren Häusern gekommen sind. Sie stehen um mich herum. Sie jubeln mir zu. Einer hält mir das gerettete Kind hin. Das Kind will mir danken. Es streckt mir seine Arme, seine Arme Es war Sonja. Sie war hereingekommen, ohne daß ich sie -234-
gehört hatte. Ich konnte an ihrem Gesicht sehen, daß sie verstört war. Sonja, was ist mit dir? Sie geht in die Küche, verstaut die Lebensmittel, die sie gebracht hat. Bleibt am Küchentisch sitzen und sieht vor sich hin. So finde ich sie, als ich in der Tür stehenbleibe. Ich stelle mich neben sie. Sie sieht auf. Sie sieht mich an. In ihrem Blick ist ein Schrecken, der mir gilt. Kleine Sonja, was ist geschehen? Dein Bild ist überall, sagt sie und zieht aus der Tasche ihres Mantels eine Zeichnung, die mich darstellt. Erst jetzt fällt mir auf, daß sie den Mantel nicht ausgezogen hat. Gestern habe ich den Psychologen im Fernsehen gesehen. Das Bild der Frau, die ich zu dir gebracht habe, stand auf seinem Schreibtisch. Du weißt, daß sie zu denen gehört hat, die unser Glück zerstören wollten, sage ich und setze mich ihr gegenüber an den Tisch. Täusche ich mich, oder zuckt sie vor mir zurück? Ja, sagt Sonja. Du hast es gesagt. Ich spüre meine Schultern schwer werden. Sie verbirgt etwas vor mir. Ich werde es herausfinden. Sprich weiter, Sonja, sage ich. Wir können nur glücklich werden, wenn wir keine Geheimnisse voreinander haben. Sie sieht mich an. Sie sieht erbärmlich aus, und ich hasse sie. Sie darf mich nicht fürchten. Ich brauche sie... Er hat gesagt, Menschen - sie unterbricht sich, und für diese Unterbrechung und dafür, wie sie den Satz noch einmal formt, den sie schon begonnen hat, werde ich sie ewig hassen. Er hat gesagt, solche wie dich kann man nicht heilen. Man muß sie einsperren. Man kann sie nicht, man muß Sie weint jetzt still vor sich hin. Ich stehe auf und gehe nach nebenan. Ich kann sie nicht sehen. Sie macht mich krank. Ich -235-
kann sie jetzt nicht beruhigen, wie sie es braucht. Ich muß mich selbst beruhigen. Dann will ich zurückgehen und mit ihr sprechen. Ich weiß nicht, wie lange ich am Fenster gestanden habe. Ich stand da und dachte, ich müßte die Arme gegen die Mauern drücken, die näher kamen. Sie würden mich einschließen. Sie würden mich unter sich begraben. Es gab nur eine Rettung. Ich sah sie irgendwann so klar vor mir, daß ich begann, ruhiger zu werden. Ich wußte, was ich tun würde. Jetzt war ich so ruhig, daß ich auch Sonja beruhigen konnte. Ich ging in die Küche. Sonja war verschwunden. Auf dem Küchentisch lag der Handzettel, das zerknitterte Phantombild. Sie hatte es umgedreht und etwas auf die Rückseite geschrieben. Daneben lagen zwei Schlüssel. Ich komme nicht wieder. Ich werde dich nie verraten. Die Schlüssel sind für diese und die andere Wohnung. In ewiger Liebe, deine unglückliche Sonja. Brunner Brunner hat am dreißigsten Januar Geburtstag. Weder er noch einer seiner Kollegen hat daran gedacht. Bis Fuchs zufällig einen Blick in seinen Taschenkalender geworfen hat. Die Kollegen haben Brunner nach Hause geschickt. Er soll wenigstens an seinem Geburtstag keine Überstunden machen. Bei der Sonderkommission sind bis zu diesem Tag 23561 Hinweise aus der Bevölkerung eingegangen. 402 Täter haben sich freiwillig gestellt. Alle politischen Parteien haben das Thema aufgegriffen und reden dem Volk nach dem Maul. Das Volk ist verwirrt und redet mal so, mal so. Auch kräftige Stimmen, die die Todesstrafe fordern, sind wieder zu hören. Wünschelrutengänger bieten der Polizei ihre Dienste an. -236-
Veganer verfluchen die Menschheit, die nicht auf den Konsum von tierischen Nahrungsmitteln verzichten will und sich deshalb nicht ändern wird; die gesamte esoterisch-ökologischpräfaschistische Bewegung tut einen weiteren Schritt hin zur Überwindung ihres gespaltenen Zustands. Brunner ist am Ende. Der Mann, den sie suchen, ist wie vom Erdboden verschwunden. Zu allem Überfluß hat er am Morgen auf seinem Schreibtisch eine Broschüre gefunden mit dem Titel: Massenmörder in der Hamburger Polizei nach 1945?« Auf dem Titelblatt ist ein Foto zu sehen, auf dem ein Polizist eine Frau erschießt, die ein Kind in den Armen hält. Innen lagen zwei ausgerissene Seiten einer Zeitung, auf denen die Verbrechen des Hamburger Reserve-Polizeibataillions 101 ab 1942 in Polen und Weißrußland geschildert werden. Brunner genügt ein Blick auf die Fotos, die dem Artikel beigegeben sind: Massenmörder in Aktion, allerdings diesmal staatlich beauftragt. Offenbar war es für die allermeisten nach 1945 nicht schwer, wieder in den Polizeidienst aufgenommen zu werden. Einen der widerlichsten Mörder hat SPDBürgermeister Max Brauer persönlich wieder zum Hauptkommissar befördert. Beim Anblick der Fotos fühlt Brunner sich plötzlich mutlos. Wer hat das hierher gelegt, hat er gefragt. Aber niemand hat darauf geantwortet. Wird die Dame gewesen sein, hat einer der Kollegen dann gesagt. Auf der Polizeischule machen die alles mögliche. Brunner hat ihn angesehen und nichts gesagt. Er ist einfach gegangen. Es ist kalt geworden. Der Winter, der bisher zu warm gewesen ist, hat sich mit starkem Frost und eisigem Wind in Erinnerung gebracht. Die üblichen Meldungen über im Schlaf erfrorene Bettler sind in den Medien aufgetaucht. Die Chefs -237-
der Kaufhäuser geben Anweisung, die Ansammlung von Wärmesuchenden in den Eingängen nachdrücklicher zu vertreiben. Gott hat Konjunktur, weil er der einzige sein soll, der helfen kann. Niemand redet davon, das Übel zu beseitigen. Viele reden davon, die Bettler zu beseitigen. Entsprechend demütig ist die Körperhaltung der von der Kirche unterstützten obdachlosen Zeitungsverkäufer geworden. Brunner, dem zur Zeit alles auf die Nerven geht und der ernsthaft darunter zu leiden beginnt, daß er seit beinahe sechs Wochen keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt hat, nimmt das Elend auf den Straßen nicht wahr. Es ist ihm so gleichgültig, wie er sich selbst gleichgültig geworden ist. Deshalb ist Unmut seine erste Reaktion, als er beim Nachhausekommen an seiner Wohnungstür eine Girlande und die Zahl 45 aus silberner Pappe vorfindet. Hinter der Tür stehen Charly und Marie. Charly singt »Happy Birthday«, entsetzlich falsch. Er bringt es nicht übers Herz, wütend zu werden. Beim Anblick des Festmahls auf dem Küchentisch verspürt er eine leichte Übelkeit. Er beobachtet sich dabei, wie seine Augen die neben den Tellern aufgebauten Gläser betrachten. Neben seinem Teller steht ein Wasserglas, und beim Anblick dieses verdammten, langweiligen, einsamen Wasserglases weiß er plötzlich, daß er sich an seinem Geburtstag besaufen wird. Wenigstens dazu wird der Tag gut sein. Na, sagt Charly, wie steht's mit einem Gläschen Sekt zur Feier des Tages? Ungefähr so, wie die schöne, ihrer Schönheit so gleichgültig gegenüberstehende Charly, muß Eva im Paradies dagestanden haben, als sie Adam den Apfel anbot, denkt Brunner. Zum ersten Mal an diesem Tag lächelt er. Gedanken an Adam und Eva liegen ihm im allgemeinen fern. Er ist durchaus bereit, vor sich selbst zuzugeben, daß eine bestimmte, nun wohl bevorstehende Erfüllung eines Bedürfnisses seines Körpers und -238-
der Wunsch seines Gehirns nach einem ordentlichen Besäufnis seine Phantasie beeinflussen. Er trinkt Charly und Marie zu. Den kleinen ängstlichen Ausdruck im Gesicht von Marie übersieht er dabei. Brunner kennt sich. Er weiß, daß er vorsichtig trinken muß, wenn er nicht innerhalb der nächsten halben Stunde untergehen will. Er will Charly und Marie nicht enttäuschen. Er will ihnen auch nicht den Anblick eines bewußtlos Betrunkenen zumuten. Er weiß, daß er irgendwann am Abend bewußtlos sein wird, aber dann wird er sich in seinem Zimmer verkrochen haben. Niemand soll ihn bemitleiden. Vielleicht wegen Brunners Selbstüberwindung, vielleicht auch, weil er nach Wochen wieder bereit ist, sich mit Charly zu unterhalten, vielleicht auch nur, weil Charly eine kluge Frau ist, die an diesem Abend ihre eigenen Pläne verfolgt, wird Brunners Geburtstagsfeier ein Erfolg. Marie freut sich über ihren redseligen Vater, der Geschichten von merkwürdigen Leuten erzählt, die er in seinem Beruf kennengelernt hat. Charly hat den Eindruck, sie weiß nicht genau, weshalb, aber sie ist sich beinahe sicher, daß Brunner diesmal bereit sein könnte, seine männliche Unnahbarkeit aufzugeben. Sie will ihn nicht verschrecken, nicht das Terrain verspielen, das sie bis jetzt gewonnen hat. Sie verhält sich zurückhaltend, aber anteilnehmend. Brunner fühlt sich wohl. Gegen elf Uhr beschließt Marie, ins Bett zu gehen. Charly und Brunner bleiben allein in der Küche sitzen. Zwischen ihnen entsteht genau die Stille und Spannung, die Charly den ganzen Abend gleichzeitig herbeigesehnt und gefürchtet hat. Brunner ist nicht betrunken genug, um die veränderte Stimmung zu übersehen. Und plötzlich scheint ihm alles ganz einfach zu sein. Mach dir nichts vor, Charly, sagt er. Es ist nichts als -239-
Verzweiflung. Ich glaub nicht, daß was dabei rauskommt, wenn wir uns zusammentun. Ja, sagt Charly, ich weiß. Ich möchte, daß wir zu mir gehen. Sie steht auf, und Brunner geht ihr nach, hält eine geöffnete Weinflasche in der Hand, geht hinüber in Charlys Wohnung, ohne Bedenken, ohne Gedanken, nur in dem Wunsch, sich in Charlys Hände zu begeben. Er Der Mann, der Marie töten muß, geht durch die Straßen wie ein Betrunkener. Er hat neun Tage allein in seiner Wohnung gesessen. Er hat länger als einen Monat die Wohnung nicht verlassen. Die kalte Luft wirkt auf ihn wie Alkohol. Er ist in der Wohnung geblieben, solange es ihm möglich war, denn er weiß um die Plakate, um die mißtrauischen Augen der Passanten. Seit die Frau, die ihn versorgt hat, nicht mehr kommt, ist das Fernsehen seine Verbindung zur Welt gewesen. Nun geht er durch die Stadt, versucht, nicht aufzufallen, und mit jedem Schritt, den er seinem Ziel näher kommt, fühlt er sich besser. Der eiskalte Wind hat die Menschen von den Straßen vertrieben. Die Gefahr, erkannt zu werden, ist geringer, als er gedacht hat. In seiner Manteltasche fühlt er den Schlüssel zur Wohnung über der seines Opfers. Dort wird er sich einquartieren und einen günstigen Augenblick abwarten. Er weiß nichts über die Gewohnheiten des Mädchens. Er weiß, daß sie nicht mehr spricht, seit er sie das letzte Mal in den Händen gehabt hat. Er weiß es von einer Reporterin, die einen Bericht über den Alkoholiker gemacht hat. Wenn er an das Mädchen im Hausflur denkt, dem er einmal schon so nah gekommen ist, wird ihm leicht, und er beschleunigt seine Schritte. Auf dem Sofa in der Wohnung, die er nun verlassen hat, verlassen mußte, hat die junge Frau, die am Fenster auf ihn wartet, in den letzten Tagen seine Phantasien beherrscht. Sie -240-
hat ihm stumm gedient. Bald wird sie ihm endgültig dienen. Als er die Unterführung am Schulterblatt passiert hat, liegt die Straße leergefegt vor ihm. Der Wind fegt die letzten Reste von Silvestermüll vor sich her. Im »Saal II« sitzen zwei Männer mit gelb gefärbten Haaren an einem Tisch hinter der Ladenscheibe und schweigen sich an. Hinter der Theke steht eine junge Frau mit schwarzen Haaren. Sie trägt einen Wintermantel und sieht gelangweilt aus dem Fenster. In den Unrathaufen um die Rote Flora jagen sich zwei Ratten. Auf den Stufen, die zu der vernagelten Eingangstür hinaufführen, liegen ein paar Bündel, in denen Menschen sein könnten. Er geht schneller. Bald ist er in Sicherheit, dort, wo ihn niemand vermutet, dort, am Ziel seiner Wünsche. Das portugiesische Restaurant gegenüber dem Hauseingang ist noch geöffnet. Auf den Tischen brennen Kerzen. Er sieht das Restaurant und den Raum hinter den Scheiben wie eine Inszenierung von Unwirklichkeit. Der Anblick von stummen Leuten vor dem winzigen Lichtschein von Kerzen hat etwas Irreales für ihn, etwas, das zu seinen Träumen gehört, zu dem Traum, dem er nun näher kommt. Im Hauseingang liegt ein mit Zeitungspapier bedeckter Körper. Er beachtet ihn nicht. Er hat anderes zu tun. Jemand hat die Haustür abgeschlossen, die bei seinem ersten Besuch in der Wohnung da oben offengestanden hat. Das Werkzeug, das er eingesteckt hat, um die Wohnungstür im ersten Stock zu öffnen, wenn die Gelegenheit gekommen ist, versagt beinahe an der schweren Eingangstür. Als er die Haustür hinter sich vorsichtig ins Schloß gezogen hat, lehnt er sich einen Augenblick erschöpft und erregt gegen die Wand. Er wartet, bis sein Atem ruhiger geht. Dann steigt er langsam und ohne ein Geräusch zu machen die Treppe hinauf. Die Wohnungstür im ersten Stock steht offen. Sie ist nur angelehnt. Jemand hat vergessen, sie hinter sich abzuschließen. Er zögert. Die Gelegenheit wird sich nicht noch einmal ergeben. Seine -241-
Vorbereitungszeit war zu kurz. Die Zeit der Vorfreude wird abgekürzt, wenn er jetzt hineingeht. Er kann nicht mehr warten. In der Wohnung brennt Licht. Es kommt von rechts, vom Ende des Flurs. Er lehnt sich an die Wand neben der Tür. Er weiß, daß er kein Geräusch macht beim Atmen. Das Blut in seinen Ohren ist laut. Es ist still. In der Küche ist niemand. Jemand hat vergessen, das Licht auszumachen. Das Mädchen sitzt nicht am Fenster. Ihr Stuhl ist leer. Vom anderen Ende des Flurs kommt ein Lichtschein. Wie der Schein einer Nachttischlampe. Es ist ihm, als ob er flöge. Er ist leicht. Er ist angekommen. Er wird sie haben. Sie gehört ihm. Marie sitzt im Bett. Sie hat die Karten auf der Bettdecke vor sich ausgebreitet. Sie hebt den Kopf, als der Mann fast an ihrem Bett steht. Sie schreit. Sie schreit. Sie schreit. Es gibt die Stumme nicht, die in seinen Phantasien eine Rolle gespielt hat. Die Frau in seinen Träumen war stumm. Der Mann ist verwirrt. Er sieht sich um, niemand ist da, die Frau schreit; wenn jemand kommt, sitzt er in der Falle. Er geht schnell und lautlos davon. Sie wird ihm nicht entkommen. Nur jetzt muß er sich schützen. Ihr Geschrei hallt durch das Treppenhaus. Es folgt ihm auf seinem Weg in die Wohnung darüber. Es wird erst leise, als er die Tür hinter sich geschlossen hat. Aufatmend lehnt er sich dagegen. Die Wohnung hat den gleichen Schnitt wie die, aus der er gerade kommt. Er wird sich gut zurechtfinden. Rechts liegt die Küche, links sind die Schlafzimmer. Die Tür ihm gegenüber führt ins Wohnzimmer. Sie steht offen. Im Wohnzimmer, ihm gegenüber, etwa drei Meter von ihm entfernt, steht Sonja. Ihre linke Seite wird abwechselnd rot und grün beleuchtet. Sie hält einen Revolver in der Hand, vielleicht auch eine Pistole. Er kann es in dem flackernden Licht nicht genau erkennen. Er hört -242-
auch nur den ersten der sechs Schüsse, die Sonja auf ihn abgibt. Sie bleibt neben der Leiche sitzen, bis die Polizei sie findet. Den Revolver hält sie noch immer in der Hand. Da ist der Mann schon zwei Stunden tot. Nachwort An einem Tag, der wie ein Irrtum ist, ein unzeitgemäßer Frühlingstag am 7. Februar, haben Pit und Marie sich getroffen, um die »Mission« am Hauptbahnhof aufzusuchen. Pit hat Geld bei sich, den Teil einer Sammlung nach einem Solidaritätskonzert, den er und seine Genossen für die Obdachlosen bestimmt haben. Im Bahnhof treffen sie auf eine ältere Frau im Pelzmantel. Sie sprechen die Frau an, weil sie ihnen verwirrt erscheint. Sie ist aber nur hungrig und hat Durst. Auf dem Weg in die Mission erfahren sie den Namen der Frau. Sie heißt Bella Block und kommt aus Sibirien. Pit, der ein Linker ist und Romane verachtet, kann mit dem Namen nichts anfangen. Marie, die eine kluge Frau werden wird, begegnet dem Leben. Sie weiß es nur noch nicht.
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