Alfred Leman
Der unsichtbare Dispatcher Wissenschaftlich-phantastische Erzählungen
Verlag Neues Leben Berlin
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Alfred Leman
Der unsichtbare Dispatcher Wissenschaftlich-phantastische Erzählungen
Verlag Neues Leben Berlin
Illustrationen von Peter Nagengast
© Verlag Neues Leben, Berlin 1980 2. Auflage, 1981 Lizenz Nr. 303 (305/128/81) LSV 7001 Schutzumschlag und Einband: Achim Kollwitz/Gerhard Christian Schulz Schutzumschlagmotiv: Peter Nagengast Typografie: Achim Kollwitz Schrift: 10p Garamond Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30 Bestell-Nr. 643 032 1 DDR 8,30 M
Der unsichtbare Dispatcher
Alle Augenblicke sprangen die Skaphanderpumpen an, am Rücken quiekten die Reduzierventile, das Geräusch war mit einer gewissen Peinlichkeit behaftet. Abermals kontrollierte ich den Indikator. Die Toleranzen des Binnendrucks standen wirklich im Minimum. Dennoch drohte mein Schädel zu zerspringen. Grimmig schaute ich in die Runde. Sollten sie sich amüsieren! Ich dachte nicht daran, die Toleranzen zu erweitern. Im Grunde waren es lauter nette Leute. In den beiden Tagen hatte mich niemand spüren lassen, daß ich der Mann vom Mond war, der Mann von Selen III, der Neue aus der Provinz, die sie so einschätzten, wie Leute aus der Metropole die Provinz eben einschätzen. Sie hatten es gut, daß sie über diese Provinz nicht so genau Bescheid wußten, und ich wollte es auf mich nehmen, eine solche Art der Herablassung zu verstehen. Vielleicht hatten sie es hier auch gar nicht so gut. Mir jedenfalls machte die überschwere Atmosphäre mächtig zu schaffen. Nicht nur die Atmosphäre. Es hatte einen Wechsel in der Leitung gegeben. Die Flotte erhielt einen neuen »General«, und wir erlitten gegenwärtig die Folgen, die ein derartiges Ereignis nach sich zieht: Bewegung in der Organisation, in den Plänen und bei den Kadern, Umzüge, Umsetzungen, Umdispositionen, Unebenheiten und Reibereien im Getriebe unseres winzigen Gemeinwesens, all jene Erscheinungen, die sich hinter dem Begriff »Rekonstruktion« verbergen. Jetzt war ich also hier unten, Mitglied dieser Truppe, die sich auf dem Marsch befand und soeben rastete. Es fiel in diesem Gelände nicht leicht, für alle die dick aufgeblasenen Leute einen Sitzplatz zu finden, sofern man die eigenartigen Stellungen, die unsere Körper momentan innehatten, sitzen nennen wollte. Die Gegend war weithin und lückenlos von den Waben der Pulmotinen überwachsen. Die zerbrechlichen Polster gingen eins ins andere über. Die kleinen setzten sich aus zierlichen, zuweilen winzigen Waben
zusammen, sechseckigen Kammern, ähnlich denen, die daheim von Bienen gebaut werden. Andere Polster bedeckten Dutzende, sogar Hunderte von Quadratmetern, und in ihre Kammern konnte leicht ein Mann hineinfallen, wenn sie offen waren. Die Systeme türmten sich meist zu vielstöckigen Gebäuden übereinander, so daß Hügel entstanden oder Klippen von einiger Höhe und mitunter von bizarrer, aber da und dort wiederkehrender Gestalt. Auf diese Weise wurde das Gelände unübersichtlich. Zudem täuschte die Perspektive. Zarte und fortwährend wechselnde Farbtöne ergossen sich über die Polster hin, deren Wölbungen schienen mit den Farben zu fließen, als entrücke, was eben noch nahe lag, oder Fernes treibe heran. Jedenfalls mochte es sich bei der Sippe der Pulmotinen um ein Sammelsurium zahlloser verschiedener Spezies handeln und der Ausdruck nichts Genaueres bezeichnen als bei uns die Kategorie »Pflanzen«. Es waren gewiß keine Pflanzen. Die Pulmotinen atmeten so, wie Tiere atmen. Dicht über der Oberfläche der Gewächse war das Gas der Atmosphäre in stetiger, wirbelnder Bewegung begriffen, angetrieben vom Blasen und Saugen in den Polstern diskret verborgener Nasenlöcher. Die Luft in der Nähe dieser Öffnungen war erfüllt von den kleineren Formen der Ballons. Gelassen segelten sie in den zähen Wirbeln und betupften die Landschaft mit Lichtern knalliger Farben über dem sanfteren, freundlicheren Kolorit der Pulmotinen. Zu diesem Bild mochte auch ein Bukett überraschender Düfte gehören, aber die Aggregate des Schutzanzuges lieferten nur Aromen allzu trivialer Provenienz. Rechter Hand ragten einige Greisenbäume auf. Ich erkannte nur Wogen feinen bläulichen Gespinstes, die weit oben im Gasstrom wallten. Man hatte mich gewarnt. Die Berührung habe schreckliche Folgen. Die Gewächse sahen nicht danach aus. In der Ferne zog sich ein Hain von Trichtern hin. Die waren wirklich tückisch. Das hatte ich gesehen. Ihre Schirme schienen hoch über dem Boden zu schweben, die dünnen Stiele blieben von hier aus unsichtbar. Über dem Hain, der Sonne abgewandt, spannte sich der Himmel in wunderbarem, seidigem Grau. Dort trieb ein Pulk riesiger Ballons dahin. Diese sehr großen Arten hatten die Form verkehrtherum hängender Birnen. Die Entfernung milderte ihre Farben zu pastellfarbenen Tönen. Vielleicht wirkte deshalb das Grau
des Himmels so warm und wohltuend auf die Sinne, beschwichtigend und ruhig. Dann erst bemerkte ich den Simulierer. Er stand ganz nahe, kaum ein paar Meter von unserem Lager entfernt, einer jener seltsamen luftigflüchtigen Wechselbälger, die plötzlich da und dort wie aus dem Nichts hervortraten und die man Simulierer nannte. Polymorphus plagiator. Mit dem exakten Namen waren sie als reale Wesen anerkannt. Man berichtete höchst phantastische Dinge und manche heiteren Geschichten über ihre Fertigkeit, die Gestalt anderer Organismen zu imitieren und deren Gehabe nachzuahmen. Sie sollten nicht häufig sein. Vorerst tat sich dieser hier nur als glasig durchscheinender Schatten kund von vielleicht einunddreiviertel Meter Höhe und noch unbestimmter Form. Ein großes Exemplar. Mein Schädel brummte, aber jetzt freute ich mich über die Gelegenheit. Auch die Gefährten hatten den Simulierer bemerkt. Man redete über ihn. Auch dieses Mädchen. Unterwegs hatte ich öfter durch die Kuppel ihres Helmes gespäht, um in ihren Zügen zu forschen. Jetzt hockte sie mir gegenüber in einem Knubbel abgestorbener Pulmotinen. Das Substrat war unter ihr zerbröselt, und der vom Skaphander verunstaltete Körper war halb in den mürben Boden versunken. Hin und wieder glitt ihr Blick über den Simulierer hin, und sie redete eifrig auf den Gefährten ein, der nahe bei ihr und in weniger unglücklicher Stellung lagerte. Sie trug ihr Haar kurz, denn es war jene Art dünnen, glatten rotblonden Haares, das seine Trägerinnen unsicher macht. Das Gesicht war nicht besonders hübsch, aber zart, mit hübschen grauen Augen unter unscheinbaren Wimpern. In ihm stand verborgene Intelligenz, und es wirkte sensibel. Ich war sicher, daß ihm ein leichter Körper zugehörte mit kleinen Händen und Füßen, ein Naturell, das der Zuwendung bedurfte. Ich hatte eine Schwäche für diesen Typ. Indessen trieb der Simulierer seine Sache still voran. Unversehens stand dort jetzt ein Mensch. Ein Mann. Mit uns also gedachte er sich diesmal zu befassen! Schon erkannte ich ein rundes, angenehmes Gesicht, dunkle, von den Jahren gelichtete Haare, kunstvoll arrangiert, um die Blöße des Schädels
zu vertuschen. Runde, geschmeidige Formen des Leibes, sogar Bauch. Ein Mann mit glaubhaftem, sinnfälligem Gepräge. Er schien das Dispatcherzivil der Basis zu tragen, an den Ärmeln drei Streifen; ein Fehlgriff nur die Art der Stiefel: Zivile Dispatcher trugen kaum Kletterschuhe. Der Horizont leuchtete durch ihn hindurch und in der oberen Hälfte die Helligkeit des Himmels. Das legere Habit in dieser tödlichen Atmosphäre und unter uns wohlverpackten Figuren stimmte nicht. Dennoch wirkte die Illusion perfekt. Das Mädchen redete noch immer. Sie schien ihrem Problem Bedeutung zuzumessen, es ging wohl über Zufälle dieser Rast hinaus. Aus ihrer Mimik sprach der Trieb zu überzeugen. Ich zweifelte nicht, wie man hierorts über das Lauschen dachte. Zu leicht obsiegte Neugier dem Takt, und ich ließ die Abstimmung des Empfängers über die Welle laufen, bis ich ihre Stimme fand. »Es sind noch vier Tage«, sagte sie eifrig, »in vier Tagen können wir zusammen dorthin.« »Ja?« Ihr Begleiter war verwirrt, als habe er in der erörterten Sache keine Meinung. Das paßte nicht gut zu seinem Gesicht. Es war ein dunkles, kluges, vor allem aber energisches Gesicht mit kantigem und ein wenig übertrieben vorspringendem Kinn. Ich konnte mir ihn gut als Commander eines Space-shuttle vorstellen, als Mann von schnellen Entschlüssen und von Durchsetzungsvermögen in kritischen Situationen, beim Passieren der Cassinischen Teilung am Ende der Route zum Saturn etwa, oder als Flottencommander in der Sigmazone eines schwarzen Loches. Eigentlich war es überraschend, daß keiner der Commander, die ich kannte, in Wirklichkeit so aussah wie dieser hoffnungsvolle Bursche. »Die geben mir eine komplette selenologische Forschungseinheit, nur Typ zwei, aber mit vierhundert Kilometer Aktionsradius und zwei Mann. Die Monatsrapporte bin ich damit los«, sagte sie. Die berechnende Redeweise wirkte auf mich wie ein Schock. Und daß sie dorthin wollte, woher ich kam. Ich hätte ihr etwas Besseres gewünscht als vierhundert Kilometer Aktionsradius auf Selen III.
»Aber das Archiv hier«, wandte er ein. »Es wird durcheinanderkommen, wenn ich…« »Als ob es von dir abhinge, wenn der Zugriff zu den Konserven nicht klappt. Dort werden wir unabhängig sein.« »Du wirst unabhängig sein. Einer muß die Rapporte doch machen«, widersprach er zäh. »Die Arbeit im Archiv ist überhaupt nicht respektabel. Auf Selen III haben die Aufgaben anderes Format.« »Ich habe kaum Ahnung von Monden.« »Aber ich!« sagte sie. »Das genügt doch für uns. Oder?« Der Mann äußerte sich nicht dazu. Das Mädchen streifte den Simulierer mit einem verlorenen Blick. Der Simulierer war einen Schritt näher getreten. In seinen Eingeweiden schienen mattfarbene Kugeln zu rollen. Aber ich durchschaute die Täuschung als einen Effekt der Durchsichtigkeit seines Leibes. In Wahrheit spielte ein Rudel Ballons hinter ihm im Wirbel der Gase. Man sagte, die Ballons verfügten über originelle physiologische Mechanismen, über eine ungewöhnlich hohe biochemische Aktivität. So mochten sie hier die Primärproduzenten sein, die eigentlichen Schöpfer organischer Substanz, die Pflanzen dieser Welt. Jetzt erst und so plötzlich begriff ich diesen einfachen Sachverhalt und sah nun kritischer hin. Das Gedränge hinter dem Bauch des falschen Dispatchers lichtete sich. Alsbald hatte ich die Pulmotinen in Verdacht, die Ballons in die Nasenlöcher einzusaugen, sie verschwinden zu lassen und in aller Stille zu verdauen. Der Simulierer achtete der grausamen Heimlichkeiten nicht. Er demonstrierte eine andere, unsere Welt. Wohlwollen erleuchtete seine Miene von innen her, die Lippen bewegten sich, als ob er rede. Ein zu prächtiges Gebiß wurde sichtbar. Jacketkronen. Die Worte vermittelten Vertrauen, tilgten Zweifel, richteten ermattete Tatkraft auf, wiesen gewisse Umstände vor und Notwendigkeiten. Die Rede war stark und sparsam und nicht wie ein Schwall, hinter dem der Haken einer Sachlage verhüllt werden soll. Ausdrucksvolle Bewegungen der Hände formten in die Luft, was Worte nicht vermochten. Freilich, zu hören war
nichts. Aber das Phantom redete wirklich. Von ihm ließ man sich überzeugen. Übrigens war es kein Phantom. Aus irgendeiner Tiefe hob sich Erinnerung. Erinnerung an diesen Dispatcher. Mir war, als kennte ich den Mann. Das Mädchen blickte nun auf ihren Gefährten, ratlos oder aufgebracht. Der hielt die Lider über die Augen gesenkt, ermüdet oder störrisch. Ich begann, meine Meinung über ihn zu korrigieren. Die Flotte, seiner Leitung anheimgegeben, würde wohl zerschellen. Aber das Mädchen verfügte schon über neue Argumente: »Weißt du, was Aram sagte?« »Wer ist das, Aram?« »Hörst du mir eigentlich zu? Aram ist der Hauptdispatcher der Basis hier.« »Natürlich«, sagte der junge Mann und betrachtete den Simulierer eingehend und voller Verwunderung. »Natürlich. Ich weiß jetzt, wer Aram ist. Ich kenne ihn.« »Er sagt, ich hätte eine durchdringende Beobachtungsgabe.« »Das freut mich«, antwortete der Mann trübe. »Besonders wenn es der Hauptdispatcher sagt. Das freut mich sehr für dich.« »Er sagt, Selen III verschlinge zuviel technische Kapazität. Es gebe gewisse Erfolge, aber sie seien nicht übertrieben hoch. Man wisse jetzt, daß zuwenig herausgekommen sei, um die Investition dieser Technik auch künftig zu rechtfertigen. Im Grunde sei das logisch, sagt er, denn Technik sei blind. Was dort schlummere, müsse von scharfen Augen entdeckt werden und mit einem gut funktionierenden Verstand. Mit durchdringender Beobachtungsgabe eben. Er habe meine Rapporte verfolgt, und ich sei sehr gut geeignet für die neue Methode der Erkundung.« »Muß man bei den Erhebungen in der Sechzehn hier unten nicht auch gut beobachten?« »Doch. Sicher«, gab sie zu. »Aber wenn der Hauptdispatcher ein solches Angebot macht, sollte man ihm entgegenkommen.« »Ich glaube, ich verstehe deine Beweggründe«, sagte der Mann.
Plötzlich blitzte mir da ein Gedanke auf. Ich sah mir das durchscheinende Plagiat des Dispatchers genau an. Aber ja. Das war Aram! Der Simulierer kopierte Aram! Vor einer Reihe langer Jahre – damals in der Astrophysik Tbilissi – hatte ich viel mit dem echten Aram zu tun gehabt, ihn schätzengelernt, und ich hatte Anlaß, ihm für vieles dankbar zu sein. Nun, er war wohl reifer geworden, wenn die Kopie stimmte, die hier stand. Es gab keinen Grund, ihrer Detailtreue zu mißtrauen. Hier also in der Basis wirkte er jetzt. Als Hauptdispatcher. Er hatte Karriere gemacht. Wie eng war die Welt! Die Erinnerung schärfte verblaßte Konturen, und ich gedachte Arams als des Virtuosen der Organisation und im Umgang mit Menschen. Er war zum Dispatcher geboren. Die Dinge hier fügten sich plötzlich zu einem klaren Bild. Alles war nach den Regeln gelaufen, denen es gewöhnlich folgte: Zunächst wurde zu irgendeinem Zeitpunkt ein bestimmtes, kritisches Niveau des Wissens erreicht. Unter den vielen neuen wunderbaren Erscheinungen, die die Spezialisten hier vorgefunden hatten und mit denen sie spielten, wie es die Art von Forschern ist, hob sich nun irgendein Umstand, ein Effekt, ein Prozeß, vielleicht die attraktive Weise der Biomasseproduktion, als etwas Einzigartiges heraus. Als etwas Wichtiges, als Mechanismus mit Modellcharakter, als praktisch verwertbares Phänomen. Über Nacht wurde es Ernst, als sich die Ökonomen seiner bemächtigten. Dazu waren die Ökonomen schließlich da. Sofort und auf der Stelle forderte man die technische Kapazität und die Kaderkapazität von Selen III an. Man zog die Technik und die Kader von dort ab. Indessen waren auf diesem Mond gewisse Zonen aufgefunden worden, die die Experten als störungsfrei bezeichneten. Solche Orte gab es im Kosmos selten, und Störungsfreiheit war ein Begriff von Gewicht. Kristallmikrotechnologien rückten dort in die Nähe praktikabler Möglichkeiten, von denen die Fachleute seit langem träumten. Das wenigstens wußte ich aus erster Hand. Plötzlich war sie also wieder da, jene Zwangslage, die im Verborgenen heranzuwachsen pflegt, wenn ein Unternehmen wie unseres fündig wird: Man wünschte, dies zu tun, ohne das andere zu lassen, und unterlag doch dem Gesetz der Beschränkung. Es war zu spät, Selen III einfach nur fallenzulassen, das Projekt ganz
und gar aufzugeben. Die Sache würde eines Tages jemandem empfindlich auf die Füße fallen. Wenn die Dinge so heikel wurden, übertrug man sie Aram. Ich sah jetzt, wie er sie löste. Liebes Mädchen. Nun schaute sie versonnen zu diesem nachgeahmten Aram hin, aber sie spähte wohl nur nach ihrer Zukunft aus. Sollte ich sie vor dieser Zukunft warnen? Auch Dispatcher sind Menschen. »Aram hat mich schon mit Bobrow zusammengebracht«, sagte sie. »Dem Dicken? Primäreffekte der Strahlung kleiner Teilchen?« »Ja, mit dem. Und mit Jefferson.« »Mikroseismographie, Magnetismus.« »Du kennst die alle?« fragte sie ungläubig. »O ja«, sagte er lebhafter. »Im Archiv trifft man mit vielen Leuten zusammen. Es ist erregend, für die vielen Fäden, die dort zusammenlaufen, das richtige Nadelöhr zu finden, das sie weiterführt. Eine Art stiller Strategie. Jefferson sagte neulich…« »Jefferson war nicht sehr freundlich zu mir.« »Er versteht sehr viel von Magnetometrie in kleinen Feldern«, erwiderte der junge Mann, und in der Betonung des »sehr« schwang verhaltene Bewunderung. »Aram sagte, es sei gar nicht opportun, sich dort oben im Detail zu verlieren. Er sagte, ich solle meine Beobachtungsgabe…« Der Simulierer hatte das diplomatische Scharmützel mit dem imaginären Partner wohl hinter sich gebracht. Siegreich. Ruhig stand er da, lächelnd, die Jacketkronen blitzten. O Aram! Welche überraschende Empfehlung! Details seien nicht »opportun«? Du sagst das, den ich als Fanatiker des Details kenne, der du mit Einzelheiten jongliertest, sie in virtuoser Weise als Werkzeuge handhabtest, um erfolgreich zu sein, um durchzusetzen, was du als das Richtige befunden hattest. Immer warst du der Sache ergeben, der guten Sache, und so unbestechlich, wie das Menschen möglich ist. Ich sehe dich da sitzen, das Protokoll verfassen über deine Entscheidung. In ihren Begründungen wird die »durchdringende Beobachtungsgabe« deiner Klientin ihre Rolle spielen, diejenigen zu überzeugen, die
das Mädchen in die Wüste schicken werden, in die Wüste, wohin es die Unerfahrene so mächtig zieht. Füge dem Schrieb kein Bild des Mädchens bei! Man wird dir Motive unterstellen, deren du nicht schuldig bist. Plötzlich einmal, Gott weiß warum, werden die Dinge unter anderen Gesichtspunkten geprüft werden. Du bist erfahren genug, um zu wissen, wie nahe dieser Zeitpunkt liegt. Dennoch hast du so seltsam entschieden. Seltsam? Nachdenkend fürchte ich, dich zu verstehen. Deine Aufgabe ist unlösbar, das Kapital zu klein, es sind zuwenig Steine, um ein Haus daraus zu bauen. Ach, Aram, jäh verwandeln sich die Züge deines Abbildes, das mir die Erinnerung aus fast vergessener Vergangenheit hebt. Das Feuer in deiner Miene ist erstickt; woher rührt die Müdigkeit um deine Augen, während du schreibst? Ich sehe deine Hand innehalten, denn sie zittert. Du weißt, dein Schiedsspruch ist eine Verurteilung ohne Schuld, und du fälltest ihn ohne Freiheit der Wahl. Ich sehe, du weißt es gut genug. Das Mädchen sieht es nicht. Dieser graue, mit Zweifeln angefüllte Aram wird ihr immer unsichtbar bleiben. Was tust du ihr an? – Dennoch stehe ich auf deiner Seite. Und ich stehe zugleich auf der Seite des Mädchens. Ich kann das eine tun, ohne das andere zu lassen. Ich darf das. Du darfst es nicht. Ich möchte niemals Dispatcher sein… Man brach auf. Ich spürte erfreut, das Kopfweh war verflogen. Die peinlichen Toleranzen des Tensiometers durften erweitert werden. Der Simulierer stand nur da und erlosch. »Als ob er gewußt hätte, daß wir von ihm reden«, sagte der junge Mann und half dem Mädchen auf die Beine. »Wer?« »Aram. Der Dispatcher.« »Wieso Aram?« fragte das Mädchen. Ihr Gesicht hatte einen etwas abwesenden Ausdruck. »Nun ja. Nicht Aram persönlich. Der Simulierer!« »Wie?« »Der Simulierer hat doch den Dispatcher kopiert. Er hat deinen Aram nachgemacht!« sagte der Mann ein wenig ungehalten.
»Aber nein! Was denn für ein Simulierer? War denn einer da?« fragte das Mädchen und stapfte mit großen Schritten über prasselnde Pulmotinenwaben ihrem Gefährten nach. »Wie du manchmal abschweifst. Ich glaube, du willst vielleicht gar nicht mit mir nach Selen III.« (Frei nach Graham Greene)
Tektonische Spalten
I-Träger 4/916 m/Nr. 3–5 … läuft ein weiterer, sonnennaher Trabant. Zwei Monde. Größe 0,18 bis 0,24 Erddurchmesser. Dichte 4,1 bis 4,4. Blauer Halo, vermutlich verursacht durch hochionisierte Atmosphärenmaterie, verschleiert Sicht auf die Oberfläche. Radioechos geben mittlere Oberflächenrauhigkeit von 50 m an und wenige Maxima bis 4000 m über Null. Signale kaum verschmiert, was auf stehenden Terminator deutet. Chat spürte schon in der Höhe, ehe er zu Boden niederging, daß der Fünfzigmetersprung ein Fehler gewesen war. Fünfzig Meter, das war schon etwas! Natürlich hatte er das Risiko gekannt, aber… Wild wirbelte er Arme und Beine durch die Luft, wild und keineswegs mehr besonnen, und so tauchte er mitten in den Aschehügel ein, den der letzte Sturm trügerisch flach und gerade dort aufgehäuft hatte. Chat strampelte noch, während er langsam versank, tiefer, als er befürchtet hatte. Er schrie. Der Schrei erstickte in röchelndem Husten. Da endlich erlahmten seine Glieder. Jija fuhr zusammen, als der Ruf in ihren Helmmuscheln schepperte. Sie setzte den eingerollten Kugelkruster unsanft nieder, daß er eine Strecke weit über den schwarzrissigen Boden kollerte, und sah sich um. Die weiße Kombination war nirgends zu entdecken. Jija dachte an Chats waghalsige Manöver und suchte auch den Himmel ab. Die beiden Monde erhellten alle Dinge wie ein Tag, und gegen den schwarzen Himmel oder das blaue Flirren der Ionosphäre hätte Chat leuchten müssen. Nichts. Aber dann sah sie, wie ziemlich weit voraus der Boden wallte. Er buckelte sich auf. Träge fiel die Kuppel wieder in sich zusammen, nur ein Ringwall blieb eine Weile stehen, und dann stieg aus der Mitte des Kraters lautlos und behäbig eine Fontäne auf. Die Figu-
ren folgten einander wie Bildungen einer Wasserfläche, die von einem Stein durchstoßen wird – unmäßig vergrößert und in Zeitlupe. Jija hatte kaum Erfahrung. Dennoch wußte sie sofort, was geschehen war. »Chat!« rief sie zu laut, denn sie hatte noch dieses schreckliche Röcheln im Ohr, »Luftdusche! Blas den Staub raus! Dann Zuluftventil nach links!« Das Mädchen war gewarnt und bewegte sich so vorsichtig, wie sie es vermochte, auf die Wolke hin, zu der der Staubstrahl indessen angeschwollen war. An den Rändern der Dunstglocke krochen Schleppen dichterer Substanz herab. »Chat?« Es erwies sich, daß der versunkene Chat verdrossen antwortete, folglich lebendig war. Unentschlossen hielt Jija inne, als die Ascheflocken dichter auf ihre Kombination rieselten. Sie sah nichts mehr und kauerte nieder. Einen Moment wollte sie sich besinnen. Sie wollte ihr Bewußtsein zusammenrollen, so wie jene Kruster ihren Körper zusammenrollten, wenn der Sturm über sie kam. Also gut: Dies war nichts als Staub. Sie kannte diese Asche aus hundert Protokollen und wußte, daß sie in tektonischen Spalten lag. Sie wußte von diesem Staub aus zahllosen Worten, aus Diskussionen, Plänen, Analysen, aus Programmen zu neuen Analysen und aus für notwendig erachteten Wiederholungen solcher Analysen. Sie wußte von ihm aus einem unübersehbaren Wust von Papier und Worten, I-Trägern und Zahlen, die von der Wissenschaft geprüft, bestätigt und wieder verworfen worden waren. All dies war ihr grau geblieben und fern der Wirklichkeit, fern dieser lockenden fremden Welt, in die sie eintauchen, in der sie handeln wollte, um sie zu begreifen. O ja, sie war nun endlich hier. Und die Dinge zeigten sich anders, als die allzu vorsichtig aus der Ferne ertasteten Informationen angekündigt hatten, ganz anders: reich, farbig, prall gefüllt mit wunderbaren Einzelheiten, die den Sonden entgingen. Sie würde hier ihre Arbeit tun, so, wie sie getan werden mußte, handelnd, mit Muskeln, Sinnen, Nerven, Verstand, als stiege sie auf einer Leiter zur erstrebten Höhe. Plötzlich war diese Vorstellung da: Unter sich sah sie das Stück der Leiter brechen, das sie eben überwunden hatte. Einen Augenblick lang dachte
sie an einen sanften Hügel weißgrauen Staubes, der sie zudecken würde wie Chat, an eine unscheinbare Düne gleich den zahllosen anderen um sie her – und an Tränen der Verlassenheit. I-Träger 4/948 m/Nr. 1–8 Die Expertise der Planetologen zum mutmaßlichen Landschaftsbild ist bemerkenswert vorsichtig abgefaßt. Basis: Annahme geringer, nur in planetogonischen Zeiträumen meßbarer Terminatorverschiebung. Prognose: Bedeutende Staubmassen. Permanente Staubstürme. Schwache Beleuchtungsintensitäten, zeitweilig und wirkungsvoll aufgehellt durch blaues Flimmerlicht aus der Troposphäre sowie Reflexlicht der Monde. Konkrete Bilder setzen höhere Datendichte zu Einflüssen der Atmosphärenturbulenz, der Wasserbilanz, der tektonischen Masseaktivität voraus. Anzahl der denkbaren Varianten infolge niedriger Gravitation hoch. Nr. 17–19 … unterschiedliche Ansichten. Die Bahn des Planeten liegt außerhalb der sowohl nach Kosonzew wie auch der von Barer definierten Biosphäre der Sonne Ro18/z. Andererseits widerspricht die sauerstoffreiche und derart mächtige Atmosphäre bei einem Objekt dieser Größenklasse aller Erfahrung. Schlüsse auf die mögliche Existenz einer extrabiosphärischen »Biozone« (im Sinne eines lebensfreundlichen Areals) nach Rechneranalyse vorerst unzulässig. Jija schnitt diesen Gedanken jäh ab. »Chat!« rief sie und stürzte sich in technische Erörterungen mit ihrem unsichtbaren Gefährten, wie er aus dem Flockensumpf herausgelangen könne. Chat wagte nicht mehr, sich zu bewegen. Wenn er auch nur ein Glied rührte, sank er tiefer in das luftig-widerstandslose Material. Wenigstens kam es ihm so vor, und er hatte einleuchtende Argumente zur Hand, als er es behauptete. Nach einer Flaute der Ratlosigkeit fiel ihm etwas ein: Erst recht wolle er kräftig strampeln. Einmal müsse er ja unten auf festen Grund stoßen. Dort könne er entlangkriechen, immer geradeaus, bis er den Rand der Düne erreiche. Überdies gewinne er auf diese Weise endlich wieder ein Gefühl dafür, was oben und was unten sei. Und er wolle es recht genießen, dieses Gefühl, sobald es nur wieder da sei.
»Aber wenn der feste Grund nun…« »Wenn!« Jija vernahm den verächtlichen Unterton mit zwiespältigen Gefühlen. Sie schwankte zwischen Besorgnis und Stolz auf ihren kühnen Chat. Aus Archivfilmen kannte sie eine Menge Szenen realer und simulierter Planetenerkundungen. In solchen Augenblicken sah sie Chat in ihrer Phantasie mit schwerem Skaphander vor dem Panorama einer fremden, überaus poetischen Landschaft; Grus knirscht unter seinen Stiefeln, und vor ihm ragt ein umwölktes Bauwerk himmelhoch sich aufschwingender Architektur. Er durchschreitet das Tor als erster… Sie erinnerte sich seines Stöhnens während einer der endlosen Debatten im Orbit. Widerspruch verbot er sich aus Disziplin, und er schätzte Freese, der die Runde leitete. »Bilanzen, Kalküle, Informationsdichte«, hatte er Jija zugeflüstert, »diese schrecklichen, abgeschabten Worte über verschwommenen Daten. Wer glaubt hier irgend etwas wirklich? Und auf zwölftausend Kilometer Distanz möchten sie Herzen schlagen hören. Mir wird übel.« Er hatte ihre Hand gedrückt. »Niemand wagt etwas. Man muß das dort anfassen. Man muß das dort unten mit der Hand anfassen, um wirklich etwas zu erfahren. Ich will dort runter!« Oh, Chat war kühn und wunderbar. Manchmal war Chat wirklich wunderbar… Jija zog sich einige Schritt zurück, um sehen zu können, wo ihr Chat aus dem Dunst auftauchen werde. Eben unterschied sie kaum noch die Pulverwölkchen, die jeder ihrer Schritte aufwirbelte und die wie plustrig versponnene Watte über dem Boden schweben blieben, da gelangte sie auch schon aus den Staubschwaden hinaus ins Klare, als hätte sie eine Wand durchstoßen. Vor ihr, im harten Doppelschein der Monde stand plötzlich einer der kleinen Haftraupenwalker, wie sie als Nahverkehrsmittel auf der Station üblich waren. Das Toppschott klappte auf. Gelenkig wand sich eine vermummte Gestalt durch die Luke und glitt an der Flanke des Gefährts auf den Boden herab. Jija erkannte den schweren adiabatischen Typ der Kombination. Wozu das? fragte sie sich und ließ sich von der verblüffenden Eleganz der
Bewegungen nicht täuschen: Es war ein Mann. Ein kurzes Wort zu Chat, dann tippte sie am Gürtel auf die Taste der allgemeinen Welle. Der Mann strebte mit schwingenden Beinen auf Jija zu, als bewege er sich auf einem unsichtbaren Zweirad ohne Pedale. »He!« rief er schon von weitem, »was machen denn Sie hier? Wenn Eston Sie an dieser Stelle allein erwischt…!« Er stieß die Arme wie ein wütender OrangUtan himmelwärts, um das Ausmaß von Estons Zorn für diesen Fall zu beschreiben, da hatte er das Mädchen erreicht und erblickte Jijas Gesicht hinter der Scheibe. »Oh! Schon erblühte wieder eine Rose auf der Brandstatt«, sagte er und verneigte sich. »Eine Blume im Aschegehäuf. Eston wird nicht gleich hier vorbeikommen«, fügte er trocken und mit vertraulich gesenkter Stimme hinzu. Noch einmal verbeugte er sich tief, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, und sagte: »Mockeldey.« Jija hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Auch das noch, dachte sie, als sie begriff, daß dies wohl der Name des Mannes sei. Sie hatte Eston zwar noch nie gesehen, aber als in allen Einheiten der Basisflotte populärer Mann war er ihr dem Namen nach bekannt. Nach Mockeldey durchforschte sie ihr Gedächtnis vergeblich. »Wir suchen Kugelkruster«, bemerkte sie knapp und nur auf den sachlichen Teil der Mockeldeyschen Beredsamkeit bezogen. »Hier?« »Gibt’s hier keine?« fragte Jija, ein wenig von oben herab, denn sie gedachte der wohlbesetzten Sammelcontainer, die sie einige hundert Meter abseits stehen wußte. »Es gibt sie überall, meine Schöne«, sagte der Mann und erläuterte mit pompöser, alle Horizonte einbeziehender Besitzergeste, was er unter »überall« verstand. Jija spähte in den Dunst nach einem Schatten von Chat. Dieser zu redselige Walkerfahrer kam zur rechten Zeit. Aber Chat sollte endlich dasein. Er sollte rasch dort herausgelangen, aus eigener Kraft, ohne daß sich hier Konsequenzen ergaben. In ihrem Kopfhörer flossen munter Mockeldeys Worte. »Sie sind ein liebenswertes Völkchen mit gereiftem Charakter, diese Kruster, feinfühlig, vorsichtig, sparsam, erfindungsreich.« Mockeldey fiel in sinnierendes Schweigen. »Nun«, sagte er seufzend nach stillem Vergleich, »sie ha-
ben’s wohl nötiger als wir, wenn der Feuersturm unversehens über den Terminator braust. Und hübsch anzuschauen sind sie! Wunderhübsch. Haben Sie Sinn für Ebenmaß? Polierter Achat! – Alle sind sie reizend hier, die Gliederschlängler, die geschickten Roller und die Panzerhopfe.« Mockeldey hielt inne. »Nun ja«, sagte er mit gespielter Verlegenheit, »Bicephalus asphäricus, Triangulus volens… Sagen Sie’s lieber so? Selbst die… Wieso ›wir‹?« fragte er plötzlich. »Wer hüpft außer dir noch hier umher?« Energisch rückte er dicht an Jija heran. Aus einem massigen roten Gesicht sah sie kleine graue, durchdringende Augen auf sich gerichtet. »Chat ist noch hier, Chat E. Sqor von WS einundzwanzig«, sagte sie widerstrebend. »Wo?« Jija deutete vage in Richtung der Dunstwolke. »Da drin.« »Gesprungen, zehn, fünfzehn Meter? Weiß er denn Bescheid, der Held?« »Ja doch«, sagte Jija forsch, »er wird gleich herauskommen.« »So. Wird er. Wann hat er denn das da hochgeblasen?« Mockeldeys nötigende Kürze reizte Jijas Widerspruch. Doch ehe sie antworten konnte, sah sie Chat. »Na bitte«, sagte sie, schaltete die Frequenz um und stob auf den Schemen zu, der sich hell vor dem Dunst abhob. Mockeldey schnob durch die Nase, als er ihr nachsah. Die näheren Umstände des Zusammenpralls der beiden entgingen ihm, da sie sich in einer Pulverwolke vollzogen, die die jungen Leute augenblicklich umhüllte. Die Wolke blieb einige Zeit stehen, ohne sich merklich zu verändern. Auch Mockeldey verharrte an seinem Standort. Er beobachtete die Wolke nicht ohne Wohlwollen. Dann endlich sah er das Paar mit lobenswert gemäßigtem Schwung auf sich zukommen, hörte das Knakken des Wellenschalters und betrachtete sich wieder als in das Geschehen aufgenommen. I-Träger 4/969 m/Nr. 7–9
Endlich liegen Infrarotanalysen vor. Temperaturen auf der sonnenzugewandten Hemisphäre konstant, 900 bis 1700 K (Differenz aufgrund unterschiedlicher Interpretation der Meßsignale). Nachtseite mit 280 bis 340 K erstaunlich warm (Konvektion der Atmosphäre?). Hier auch kurzzeitige unperiodische Hitzespitzen bis 1600 (1850) K, die mit Aufleuchten des Areals einhergehen. Als Ursache der Temperatursprünge werden Konvektionszyklone katastrophalen Ausmaßes oder entsprechend dimensionierte Knallgasexplosionen angesehen. Beide Auffassungen schließen auf dem Planeten die Existenz einer Biozone – von Leben in irgendwelcher Form – mit Sicherheit aus. Die mutmaßlichen Knallgasexplosionen stellen die Frage nach der Herkunft des Sauerstoffs… Nr. 13–17 … auffällige Details auf hochauflösenden Infrarotfotogrammen. Ausgedehnte Flächen von 100 bis 1200 km2 auf der Nachtseite erscheinen von vernetzten Ortern ungewöhnlicher IR-Emission im 15-Mikrometer-Bereich überlagert. Annahme von Minerallagerstätten unterschiedlichen Reflexionsverhaltens, die in entsprechenden Mustern zutage treten. Keine Modellfälle bekannt. Die beobachteten Strukturen fehlten auf Wiederholungsaufnahmen, erschienen jedoch Stunden später auf weiteren Aufnahmen in vollem Kontrast wieder. Jija nannte in aller Form die Namen, als man einander gegenüberstand. Auch »Mockeldey« ging glatt über ihre Lippen. Mockeldey musterte Chats lange Gestalt ungeniert und kritisch von oben bis unten. Chat stand zu hoch aufgerichtet und zu steifbeinig da, als daß er glauben machen konnte, die Besichtigung unangefochten zu ertragen. Als er vernahm, wie der lachhaft um ihn herumtänzelnde Mann etwas vom »Buben auf dem Eise« murmelte, quoll sein Unmut über. »Wir sind hier, um die Fauna zu sondieren. Es würde kaum zum Ziel führen, die Container nur mit vermiedenen Risiken zu füllen«, sagte er kühl. Mockeldey blieb stehen. »Oh, unsere stürmische Jugend!« rief er mit dem Ausdruck freudiger Überraschung. »Sie ist im Bilde! Dies hier«, großräumig schwenkte er seinen Arm in die Öde, »dies hier ist ein Zwanzigtausendhektarwald, von der aufblasbaren Sorte«, er wandte sich
beflissen Jija zu, »Aerophagenwald, Luftschlucker – Sie kennen das. Jedenfalls war er’s bis…, nun, sagen wir, bis kürzlich. Nur ein paar Minuten Feuersturm, von der schlimmen Seite hinterm Terminator blasend. Aus. Aschehaufen. Aber nein!« Mockeldey schüttelte heftig den Kopf. »Da sind noch die Kugelkruster. Auch die sind im Bilde. Feinsinnig ahnen sie das Unheil, ehe es heranbraust, kriechen tief in die isolierende Asche und kugeln sich ein. Polierte Keramik umhüllt zartes, geruhsames Innenleben. Asche gibt’s immer, denn es gibt immer Feuerstürme, so kalkulieren sie, veratmen ihren Speck vermittels Peroxiden und überleben zweitausend Grad.« Chat betrachtete den heftig agierenden Mann stumm und ein wenig hilflos. Er wandte sich Jija zu, aber die hob nur die Schultern. Mockeldey tippte Chat unbeirrt auf die Brust. »Auch wir kalkulieren«, sagte er schlau. »Wo viel Asche ist, sind auch viele Kruster.« Er senkte den Kopf und schoß unter den Lidern einen schrägen Blick zu Chat hinauf. »Wo haben Sie Ihren Fang? Ich mag kluge Wesen. Zeigen Sie sie mir?« Chat sah an seinem Widerpart vorbei. »Ich habe keine«, sagte er. »Ich fiel in diesen Haufen hinein, zufällig, und bin froh, daß ich wieder herauskam.« »So. Keine. Zufällig«, murmelte Mockeldey enttäuscht. »Nun ist er froh.« Er wechselte plötzlich das Thema. »Es wird gut sein, die Ventile durchzublasen. Eston tobt, wenn er verdreckte Ventile sieht. – Eston hat Sie hierhergeschickt?« »Nein«, antwortete Chat. »Wer denn?« »Niemand.« »Na so was«, sagte Mockeldey. »Da stapfen Sie die dreißig Kilometer ohne Auftrag los? Einfach so?« »Wir sind nicht hier, um…« »Richtig!« unterbrach Mockeldey erschrocken. »Ich erinnere mich Ihrer Abneigung gegen den Kanister mit dem eingefangenen Risiko drin.« Chat wandte sich ab und zeigte mit einer verstohlenen Geste der flachen Hand in Höhe der Kehle, wie weit ihm dieser Walkerfahrer stand.
»Nun gut«, sagte der mit freundlicher Gelassenheit. »Ich denke, wir werden jetzt alle zusammen nach Hause fahren.« Aber dann rieb er plötzlich die Innenflächen seiner Handschuhe auf eine nervöse, heftige Weise gegeneinander, als ob er friere. Jija krümmte ihre Zehen in den Stiefeln. Sie kannte das entnervende Geräusch, wenn adiabatisches Material aufeinanderwetzte. Das Geräusch blieb aus. Jija erwartete die Rückkehr ihrer Sicherheit. Du überziehst, mein Freund, dachte sie, aber warum? Kühlen Blickes und mit vorgeschobener Unterlippe unterzog sie den Walkerfahrer einer erneuten Kritik. Chat stand eine Weile unlustig herum. Als Jija schwieg, erklärte er: »Wir haben noch zwei Stunden hier zu tun.« »Hm«, Mockeldey schien unentschlossen. »Ich fürchte… Der Wald…« sagte er undurchsichtig. »Wann seid ihr denn von der Basis heruntergekommen?« »Vor bald fünfzig Stunden.« Jija kam Chat zuvor, da sie seine Sachlichkeit schwinden sah. »Aha, Stunden«, bemerkte Mockeldey. »Nun also«, sagte er dann munter und neigte den Helm schief auf die Schulter, »fahren wir los.« Jija registrierte die Hartnäckigkeit des Fahrers auch durch die psychologische Verpackung hindurch. Untertöne seiner Redeweise alarmierten sie. Langsam setzte sie sich in Bewegung, um die Container zu holen. Chat sah ihr nach, dann folgte er Mockeldey mit schleppenden Bewegungen zum Walker. Das Fahrzeug erwies sich als überraschend geräumig. Jija und Chat nahmen in der Kabine auf Sesseln Platz, die für eine nachlässigere Haltung eingerichtet waren, als die beiden sie sich momentan erlaubten. Der Einstieg in das Gefährt hatte das Verhältnis zu dem Fahrer unvermutet verschoben. Mockeldey schloß das Topluk mit Schwung. »Rums!« kommentierte er mit der unbekümmerten Sicherheit dessen, der sich hier zu Hause fühlte. Sorgfältig verriegelte er die zwölf Schlösser, ließ sich gelenkig auf den Fahrersitz herab, und die Spitzen seiner Handschuhe tippten leicht und geläufig auf die Manuale der Steuerung.
Chat demontierte seinen Helm, fuhr sich in burschikoser Eitelkeit mit allen zehn Fingern durch die rotblonde Bürstenfrisur, die die Breite seines blassen, von Kinn und Stirn bestimmten Gesichtes betonte. Er reckte den Hals, um dem Fahrer durch das Kockpitfenster über die Schulter sehen zu können, aber Mockeldeys Manipulationen waren vorerst nicht ernst gemeint, der Start ließ auf sich warten. Im Kockpit ging es eng zu. Ächzendes Rumoren hob dort an, denn Mockeldey begann sich aus der Kombination zu schälen. Ein Schimmer von Betroffenheit überflog Jijas Gesicht, als ein Wust kurzer brandroter Locken zum Vorschein kam, weißhäutige, muskulöse Arme und ein gedrungener, viel zu kurzer Hals. Fünfzig Jahre, schätzte Jija mit einem Interesse, das sie selbst befremdete, und ein wenig bestürzt nahm sie wahr, daß die Gestalt, die sich hier beweglich aus kompakter Hülle wand, kaum an Umfang abnahm. Die Augen des Mädchens zuckten zwischen dem Mann in der Fahrerkabine und Chat hin und her, und dann schaute sie nur noch durch die Kockpitscheibe, ihre Unterlippe schob sich vor, und einen Moment lang wurde ihr Blick leer. Die Bilder, die sie miteinander verglich, lagen zeitlich weit auseinander. Da wurde sich Jija ihres Starrens bewußt, ungebührlichen Starrens, sie spürte Chats Aufmerksamkeit und löste die Augen von jenem Berg von Mann. Endlich nahm auch sie ihren Helm ab, schüttelte ihr brünettes Kurzhaar und nestelte ein wenig zu dringlich an den Spangen ihrer Kombination. Aber es sog ihren Blick nach vorn. Er traf mitten in dieses grobflächig-bullige Gesicht des Fahrers, das plötzlich rot und nackt und nicht mehr vom Rahmen des Helmes beschnitten aus dem Rückspiegel auf sie zusprang. Mockeldey grinste und entblößte zwei regelmäßige Reihen kleiner blitzendweißer Zähne, die alle einzeln standen. Mein Gott! dachte sie. Aber da waren unpassend gute Augen auf sie gerichtet. »Hübsche Wesen gibt’s hier«, rief Mockeldey nach einem langen Blick in den Spiegel hinein, »die possierlichen Kugelkruster und…« Da ließ er die Turbinen aufsingen. Das Licht der Monde malte Paare scharf umrissener Rechtecke auf die Kabinenwand. Unmerklich setzten sich die hellen Flecke in Bewe-
gung und spielten über die Einrichtung des Raumes. »Na schön«, murmelte Chat, »fahren kann er.« Jija tastete nach seiner Hand, und die beiden jungen Leute gaben sich ein wenig mehr der Bequemlichkeit hin, die ihnen von den Sesseln angeboten wurde. Aber das Mädchen spürte alsbald, daß auch Chat nicht bei der Sache war. Seine Augen gingen den unablässig wandernden Flecken des Lichtes nach. Endlich rückte er von Jija ab und spähte lange durch eine der Luken, um den Grund für das fortwährende Kurvenfahren zu finden, das Mockeldey für angebracht hielt. »Auch der hat Angst vor dem Staub«, berichtete er Jija flüsternd und mit beziehungsvoller Geste nach vorn. »Um jedes Aschehäufchen fährt er herum. Diese Walker nähmen jede Düne im Spiel. Mag der Dreck zum Himmel stieben. Wozu gibt es den Leitstrahl…? Der Tacho zeigt ganze fünfzehn.« Träge verstrich die Zeit. Der unstete Singsang der Turbinen, fahrig durch die Kabine ziehende Lichter und Schweigen im Kockpit belud sie mit Unbehaglichkeit. Jija und Chat saßen nun voneinander getrennt. Die launische Fahrweise ihres Steuermanns, der sie sich ausgeliefert sahen, und die geringe Schwerkraft hatten sie veranlaßt, sich anzuschnallen. Breite orangefarbene Gurte fesselten sie nun an die Tiefe der Sessel, und sie mußten ihre Oberkörper strecken, um durch die Luken schauen zu können, jeder auf seiner Seite. I-Träger 4/981 m/Nr. 2–3 … wurden Deformationen des Magnetfeldes beobachtet. Da sie nicht allein durch das Wirken solarer Plasmastrahlung erklärbar sind, werden Masseumlagerungen innerhalb des Planeten angenommen, die notwendig zu tektonischer Unruhe auf seiner Oberfläche führen müssen. Der Umstand wird mit den veränderlichen Mustern auf den Infrarotfotogrammen in Zusammenhang gebracht. Man schließt auf Systeme vernetzter und offener tektonischer Spalten. Draußen kreiste die Ebene um den Walker wie ein Karussell, das in unberechenbaren Intervallen die Drehrichtung wechselt. In der Nähe
lag schwärzliches, porös gebranntes Gestein wie überhitzte, unreine Keramik, da und dort matte, koksschwarze Flecken, und darüber gebreitet die weichen, windgeriffelten Wellen der Aschehügel, aufgehäufte Inseln aus Pulver und Flocken, die das Licht scharf und weiß reflektierten. Aber zum Horizont hin gewann das Netzwerk aus Hell und Dunkel geisterhaftes Leben. Leuchtende Dünen schienen über die Ebene zu jagen wie Wogen eines aufgewühlten Meeres. Stummer Sturm trieb weißgischtige Kämme vor sich her, alsbald hielten sie an und stürzten denselben Weg zurück. Darüber hin huschten die Monde vor tief kobaltglimmendem Himmel. Jija spürte ihre verkrampften Muskeln. Mit geöffneten Sinnen erwartete sie ein Ereignis, dessen Vorankündigung über den draußen vorbeieilenden Bildern zu lasten schien. Sie rückte sich nachdrücklich ins Bewußtsein, daß die gespenstische Beweglichkeit der Landschaft nur geborgt war, vorgetäuscht durch das Gekurv des Walkers. Aber auch wenn es ihr gelang, sich das Feld beruhigt vorzustellen, so, wie sie es hier schon kennengelernt hatte, vermochte sie nicht, ihren Blick davon zu lösen. »Was ist das für eine elende Art zu fahren«, sagte Chat. »Oh, Chat!« Jija reckte ihren Körper steif zum Fenster auf, ihre Lippen waren trocken und standen ein wenig auseinander, und sie hielt ihre aufgerissenen Augen dicht an das Panzerglas. »Was soll es für einen Sinn haben, so zu fahren?« fragte Chat. Es war nicht so sehr die Antwort auf diese Frage, die ihn bewegte. »Es paßt mir nicht hier drin.« »Chat«, sagte Jija atemlos. Ihr Ausdruck wandelte sich zu äußerstem Erstaunen. »Der Wald wächst.« Die Frist der Todesruhe und der in feuchter Tiefe verborgenen Quellung und Synthese war abgelaufen. Plötzlich geriet die Oberfläche der Dünen in rieselnde Bewegung. Sie trieb in verworrenen Mustern auf, und große Blasen zwängten sich durch die Asche ans Licht, fahlfarbene, eiförmige Aufblähungen, die so aussahen, als fühlten sie sich derb und ledrig an. In widernatürlicher Hast schwollen die Blasen zu meterhohen Keulen an, Glanzlichter flossen über pralle Flächen. Unablässig streckten sich die Ballons aufwärts, unablässig gebar der Boden lebendige Substanz.
Wohin der Walker seinen Bug wandte, immer neue Pulks stramm gespannter, drängender Schößlinge glitten heran, zogen an den Luken vorüber und flohen rückwärts davon. Ein jäher Spuk verwandelte das Bild der Landschaft. Jija streckte ihren Arm aus zu Chat. Sie brauchte die Berührung, um sich seiner Nähe zu versichern. Chat sagte nichts. Er nagte an den Lippen und starrte durch die Scheibe. Die Gebilde streckten sich zu schlanken, schwankenden Schläuchen, wucherten mit übertriebener Eile über das Blickfeld der Luken hinaus, als wüchsen sie unter dem Drang, schwindelnde Höhen zu erreichen. Aus den Flanken der Schläuche quoll grobblasiger Schaum. Er erhärtete zu knolligen Emergenzen, die alsbald begannen, sich zu Verästelungen in die Länge zu ziehen und den Wirrwarr der Linien zu vervielfältigen. Kränkliches Licht erfüllte den zerstückelten Raum. Im Spiel seltsam transparenter Schatten gerann ein Fleck Helligkeit oberhalb der Linie, in der Jija den Horizont vermutete. Als sich ihm ein zweiter Lichthof zugesellte, verstand sie, daß dies der Schein der Monde war. Das Licht sickerte durch die Häute, die jetzt durchsichtig waren, pergamenten dünn und zum Zerreißen gespannt. Das Röhricht engte den Weg des Walkers ein. Manche Gassen im Dickicht glichen dem Bett tief geschnittener Canons zwischen wogenden, glasigen Wänden, und dann begannen sich die Konturen des Röhrichts zu verdoppeln, zu zerfasern wie in schlierig aufsteigendem Strom erhitzter Gase. Für Augenblicke löste sich die Masse der Formen in Büschel aufwärtsflatternder Linien auf. Die Weitläufigkeit der Gefilde schrumpfte, und die Enge der Sicht zwang die Frage auf, was dort geschah, wohin man nicht mehr schauen konnte. Plötzlich verhärteten sich die Konturen, der Strom der senkrechten Linien vor den Fenstern des Walkers riß, kobaltflimmernd und dunkel brach offener Himmel durch die Lücke. Der Gesang der Turbinen sprang eine Terz höher, der Walker preschte in freies Feld. Jija und Chat sahen den Waldinseln nach, bleichem, wogendem Gerank, das sich in nebelhafter Höhe verlor und hinter ihrem Gefährt zurückblieb. Benommen sanken die beiden in ihre Sessel zurück. Jija
resümierte, was sie aus den Protokollen über diesen Wald hatte erfahren können. Die Wörter und Sätze der Berichte schwammen grau und ärmlich in ihrer Erinnerung. Sie mochten ohne rechte Anteilnahme verfaßt worden sein, eilig, pflichtgemäß, von Physikern und Radiologen, die mit Beobachtungen dieser Art Nebendinge trieben. Man hatte das nicht als seine Sache angesehen. Nachdenklich schürzte Jija die Lippen, sah vor sich hin und empfand plötzlich eine überdeutliche Klarsicht, die sekundenlang die dumpfe Betäubung durchdrang: Gewiß gab es eine weniger leichtfertige Art des Lesens solcher Berichte, und sicher war es dringend notwendig, auch sinnentrückte Begriffe als Abstraktionen farbigen und zupackenden Geschehens zu erkennen und sie in stimmige Deckung mit der Wirklichkeit zu bringen. Sie hatte von diesen Dingen mehr zu wissen als Physiker und Radiologen. Wozu sonst war sie hier? Indessen höhnte die groteske Unmäßigkeit des Wachstums der Massen dort draußen, die Weise, wie sie sich aus dem Nichts zu ungeheuerlichem Volumen aufblähten, aller Erfahrung. Jija sah sich außerstande, die Hyperproduktion mit dem Verstand zu akzeptieren. In ihrer Erinnerung stiegen eine Stimme und einige Sätze auf, die diese Stimme sprach. Wesentliche Sätze, wie sie jetzt unversehens wußte. Da war auch das lange, scharfzügige Gesicht Freeses über den Köpfen der Gruppe, bleich vor Erregung, des Mannes, den sie niemals anders als verschlossen erlebt hatte, der schweigsam, ja geräuschlos war bis zum Überdruß. Er war aufgesprungen, seine hagere Länge ragte wie ein Pfahl, und dann stieß er diesen Ausruf hervor, leise auch diesmal und kaum zu verstehen: »Wir sind im Geozentrismus gefangen! Wir spekulieren auf platte Wiederholungen dessen, was uns geläufig ist und was uns auf den ersten Blick billig und passend erscheint. Geben wir diese Hoffnung auf!« Genau sah Jija auch jene Geste wieder vor sich, deren Heftigkeit so unangemessen war für diesen Mann. »Machen wir doch Gebrauch von dem, was zu denken möglich ist. Von allem! Nicht nur von Hergebrachtem, das trivial und nahe herumliegt!« – »So sieht das also aus«, sagte Chat. Jija schrak zusammen. Sie raffte sich zu einer disziplinierteren Haltung auf. Unverhofft wurde sie der Stille in der Fahrerkabine inne. Mit
einer zaghaften Gebärde deutete sie auf die Kockpitscheibe. »Sieh mal«, sagte sie zu Chat. Fast die gesamte Frontscheibe des Walkers war von einem Bogen rosa Kopierfolie bedeckt, die Mockeldey dort angeheftet hatte. Auf die Folie war ein Plan kopiert, eine Wirrnis breiter und schmaler, sich vielfach kreuzender brauner Linien und Schraffuren und vieler zwischen die Linien gestreuter Zahlen, die teils von der Maschine, teils mit der Hand eingetragen sein mochten. Wie ein »roter Faden« wand sich auf einer Teilstrecke zwischen den braunen Markierungen eine grüne Schlangenlinie, deren Herkunft offensichtlich war. Mockeldey hielt einen Filzstift ebensolchen Grüns zwischen den Zähnen. Er schwitzte. Seine Lippen waren grün verschmiert, und der Schweiß hatte die Tinte bis zum Kinn hinuntergespült. Ein Kopfhörerbügel lief schief durch die Locken. Die kurzen, mit goldfarbenen Härchen bewachsenen Finger seiner Linken spielten über die Tasten der Steuerung, die Rechte handhabte einen buntgefelderten Diskus. Mockeldey hatte das Ding zwischen die Knie geklemmt, und Chat hielt es für einen Kursrechner veralteter Bauart. Dieser Fahrer schien eine Menge Hände zu haben. Auf dem Plan griff er mit dem Maßzirkel Strecken ab, fügte mit dem Stift weitere Krümmungen an das Ende des grünen Mäanders an, er fuhr, rechnete und hatte noch freie Kapazität, um sich mit dem Handrücken die schweißnasse Stirn zu wischen. Die Karte versperrte ihm die Sicht. Ab und an reckte er den von Mikrophonen beengten Hals zur Seite und sah an der Karte vorbei ins Freie. Aber dort gab es längst wieder nur das Gewirr der Schläuche, die unübersichtlichen kahlen Gassen und Felder dazwischen und das diffuse, an den dünnen Häuten hundertfach gebrochene Licht. In der Kabine geisterten die gelben, grünen und blauen Signale der Fluoreszenzdioden, aber die wirksamste Quelle der Helligkeit schien Mockeldeys rotes, glühendes Gesicht zu sein. »Er fährt blind«, sagte Chat. »Er wird wissen, was er tut«, erwiderte Jija bittend, »du solltest wirklich nicht so von ihm reden.« »Warum?« »Ach, Chat…«
»Ja doch.« Chat winkte mit der Hand ab. »Er fährt blind! Blind und nur nach der Karte!« I-Träger 4/992 m/Nr. 6–9 … Erkundung des Objekts durch unbemannte Sonde. 32. Stunde nach Bodenkontakt. Qualität der empfangenen Impulse über alle Radiofrequenzen mangelhaft. Dechiffrierung nur zeitweilig möglich. Ursache wird im Ionisationsgrad der oberen Atmosphärenschichten gesehen, die Phänomene werden für atmosphärenanatomische Studien genutzt. Entzifferbare seismische Analysen und Echolotungen bestätigen Annahme des tektonischen Spaltensystems. Maximale Tiefe der Spalten um 200 m. Meßwerte zweifelhaft. In der Qualität unbefriedigende, durch die Sonde übermittelte FernsehPanoramabilder widersprechen dem Befund. Anstelle der Spalten sind seichte Bodenwellen angedeutet, möglicherweise Staub bzw. Material feiner Körnung mit starker Reflexion im sichtbaren Spektralbereich. Die Bilder klärten sich erst 14 Stunden nach Sendebeginn (Staubfontäne am Landeort?). Die Vermutung, daß die Spalten von leichtem Material ausgefüllt sind (Verwehung durch thermische Zyklone?) gilt keineswegs als bewiesen… Jija machte sich von ihrem Sessel los. Der Fahrer spürte die Bewegung hinter sich. Er fand die Zeit, ausdrucksvoll mit der Hand zu wedeln; Chat deutete den Wink so, daß er die Kockpitscheibe öffnen solle. Hitze, Geruch nach Ozon und die Stimme Mockeldeys drangen durch den Spalt. Die Spitze des Stiftes spießte nun grün aus dem fuchsigen Lokkenwust unter dem Hörerbügel. »Interessante Gegend? – Man ist flink hierzulande. Schoß das Kraut nicht hoch wie Rhabarber im Mai?« »Was ist das?« Jija stellte diese Frage, als erwache sie aus einem Traum voller wirbelnder, unverständlicher Bilder. Mockeldey stutzte. »Da draußen?« Nachdrücklich stieß er einen Finger auf eins der Manuale, der Walker sprang in eine Kurve. Jija prallte auf Chat, der Fahrer schielte an der Karte vorbei hinaus. »Nun, der Wald«, sagte er bieder und trug die Wendung grün in seinen Plan ein.
»Aber…« »Keine Ahnung«, sagte Mockeldey, »für uns ist das der Wald. Wir wissen, wann er wächst, und wir haben hübsche Karten darüber, wo er wächst. Für uns langt das. Der Wald langt uns überhaupt, besonders wenn… Das Zeug brennt nämlich.« Für ihn war die Auskunft erschöpfend. »Seid ihr nicht die Biologen?« Im Spiegel fixierte er Chat. »Der Walker schlägt doch keine Funken«, sagte Chat. Mockeldey hob plötzlich lauschend den Kopf und rückte an den Mikrophonen. »Ja, ist hier«, sagte er mit gedämpftem und förmlichem Tonfall. »Nein, nein; sie sind beide okay. Ich fand sie da, wo… – Ja, ausgerechnet da. Wie’s der Teufel will. – So? Das fehlt gerade noch. – Halbe Stunde. Das heißt vielleicht eine. – Danke. Ja, Nordstollen. Ende. – Man wünscht euch volle Kisten«, fügte er mit erhobener Stimme an. »Warum fahren Sie nicht geradeaus da hindurch? Haben Sie hier keinen Leitstrahl?« fragte Chat. »Wie du dir das denkst, Junge«, antwortete Mockeldey. Jija und Chat taumelten gegen die Scheibe. Der Walker stand. Mockeldeys Linke lag auf der Steuertastatur wie zu einem Forte auf Orgelmanualen. Die Nase des Fahrzeugs steckte im Saum einer schütter bewachsenen Düne. Träge erhob sich aus dem Hügel ein Vorhang aus Staub und Flocken. Rundum erblindeten die Scheiben. »Also doch eine ganze«, knurrte Mockeldey in die Stille. Als er die Blässe in den Gesichtern der beiden jungen Leute im Dämmer hinter sich wahrnahm, zog er seinen Mund zu einem so wohlwollenden Grinsen auseinander, daß die Lippen schmal wurden. Zärtlich legte er die Spitzen zweier Finger auf die Tasten. Die Turbinen regten sich, und die Kabine schien zu schweben. »Ich versuch’s erst mal so«, sagte er, »aber ich fürchte… Zurrt nur schon mal den Helm fest, ihr zwei!« Eine Weile hörten Jija und Chat unter ihren Hauben der verhaltenen Melodie der Rotoren zu. Der Wagen lief weich wie auf Kufen im Schnee. Dann spürten sie Leerlauf. Mockeldey setzte an das Ende des grünen Streckenprotokolls ein dickes Kreuz, und das Kreuz umschrieb er mit einem bedenklich aufgeblähten Kreis, der die Unsicherheit der Ortung umriß.
Jija registrierte den Widerspruch zwischen Mockeldeys gesammelter Miene und der mangelhaften Glätte des Kreises, den seine Hand zuwege gebracht hatte, und stemmte sich gegen aufsteigende Beklommenheit. Der Fahrer stieg in das Luk. »Ihr müßt raus«, sagte er von dort oben und begann die Verschlüsse zu lösen. »Er fürchtet schon wieder…«, sagte Chat spitz. Aber als er Jija ansah, schürzte sie die Lippen auf eine Art, die ihn veranlaßte, sich eines ausführlicheren Urteils zu enthalten. »Lotst mich aus dem Dunst«, sagte der Fahrer. »Verständigung auf allgemeiner Welle. Beide Raupen müssen auf gewachsenem Boden laufen. Sie müssen! Beide! Einer von euch geht durch die Schwaden da hindurch!« Er zwängte sich in seinen Sitz. »Keinen Schritt weiter als zwanzig Meter ohne Sicht! Keinen Schritt weiter, wenn die Asche bis zu den Knien reicht! Der andere bleibt am Wagen und hält die Nabelschnur straff.« »Die was?« fragte Chat. Mockeldey streckte seine Hand nach hinten in die Kabine und hielt Chat das dünne, sorgfältig gerollte Kabel auffordernd vor die Nase. Behende wandte er sich auf seinem Sitz in voller Breite den beiden jungen Leuten zu und sah ihnen in die Gesichter. »Ich denke, Jija bleibt beim Wagen«, sagte er bestimmt. »Und ein bißchen flott durch die Klappe oben, damit noch ein paar Liter Luft für mich hier drin bleiben.« Die Staubdecke dämpfte das Auftreffen ihrer Füße draußen neben dem Walker. Sie fanden sich in grauem Nebel und konnten einander gerade noch sehen, wenn sie dicht beisammen standen. Mit der flachen Hand lehnten sie sich an den Stahl der Karosserie, als zögerten sie, den Kontakt zu diesem vertrauten Metall aufzugeben. »Also los«, sagte Chat zu sich selbst, er löste die Hand vom Walker und drehte die Kupplung des Kabels wie unschlüssig in der Hand. »Er baut auf dich.« Jija dachte zu spät an den mithörenden Fahrer. Sie war stolz auf Chat, und der Fahrer hatte ihm seine Unbesonnenheit nicht angerechnet. Aber als die Worte nun gesagt waren, kamen sie ihr theatralisch vor.
Mockeldey schwieg. Chat kuppelte das Kabel an den Gürtel, tippte grüßend an den Helm und tauchte in die staub gesättigte Luft. Jija ließ die Schnur durch die freie Hand laufen. Sie spürte, wenn Chat anhielt, nahm Länge zurück, wenn er sich näherte, und bemühte sich angestrengt, das Limit von zwanzig Metern abzuschätzen, das dieser seltsame Fahrer mit so eindrucksvoller Schärfe vorgegeben hatte. Sie hörte die beiden Männer reden. Der Wagen fuhr an. Jija griff fester um ein Rohr an seiner Außenwand. Von weit oben sank irgend etwas auf sie herab. Vergeblich bohrte sie ihren Blick in den fahl durchleuchteten Raum über sich, und dann fühlte sie die Berührung. Knisternde Bänder senkten sich auf ihren Helm und ihre Schultern, sie sanken zu ihren Seiten herab, sie sanken sacht und leicht, aber unaufhörlich. Immer mehr dieses Röhrichts quoll aus der Tiefe des Himmels, Jija fühlte sich in den Massen fremder, niedergehender Substanz versinken. Mit einer Hand hielt sie sich am Walker, die andere hütete die Leine, an der Chat hing. Unmerklich kam ihr die Sicherheit abhanden, mit den Füßen auf festem Boden zu stehen. Langsam kippte der Raum, und nichts schien ihr so gewiß, als daß sie kopfüber an der stählernen Flanke des Walkers hinge. Vorsichtig und abwechselnd zog Jija die Beine an den Körper, um die ewig rieselnden gewichtslosen Massen unter sich zu treten, dorthin zu stampfen, wo sie wünschte, daß unten war. In Knien und Magen dehnte sich fade Leere aus. Voller Angst vor sich selbst bemühte sie sich um konstruktives Denken. Sie rief sich Bilder pneumatischer Mechanismen ins Bewußtsein und die Art, wie diese lufterfüllten Bäume aus irgendeinem Grund welken mochten. Als sei dies jetzt unabdingbares Wissen, grübelte sie, warum die Gewächse so zusammensanken, wie sie es eben verspürte, und dann suchte sie nach Ursachen für die Nässe unter ihren Sohlen. Die Nässe vermischte sich mit Staub zu schmierigem Brei. Jijas Füße glitten auf Flächen aus, deren Neigung im Raum keinesfalls zu fixieren war. Die Bewegungen verloren an Besonnenheit. Zu heftig zerrte Jija an dem Kabel, dessen lose Schleifen sich unversehens im Gewirr der Bänder verloren hatten. Sie hörte die ruhigen Rufe Chats und die Antworten des Fahrers, ohne daß sie dem Sinn der Worte zu
folgen vermochte. Krampfhaft umklammerte sie ihren Halt, schwamm neben dem Walker durch grundloses Gewoge von Schlingen und schwebendem Pulver, erwartete jedes einzelne Glied der Haftraupe, das sich aus kompaktem Grau auf sie zuschob, sekundenlang dachte sie an den geringen Abstand zwischen den schweren, lautlos laufenden Gliedern und den lose fliegenden Bändern, die ihren Körper fesselten. Sie spürte Widerstand gegen ihren Bewegungsdrang und lebendige, bewegliche Schwere, als ob Tiere über ihre Füße glitten. Plötzlich durchstießen schrille Pfiffe das stickige Grau. Jija kämpfte gegen die Rebellion ihres Körpers und um ihren Mut. Zwanghaft klammerte sie sich an die Verantwortung für jene zwanzig Meter, von denen sie wußte, daß sie ihr längst entglitten waren, und sie preßte die Lippen aufeinander, um nicht zu schreien. Einmal glomm Helligkeit durch ihre Lider. Sie öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf Streifen blauglühenden Himmels, den sie mit befreiender Eindeutigkeit wieder über sich vorfand, und auf das Flechtwerk des Röhrichts, das die blaue Fläche zerschnitt. Die Gewächse schwankten wie in Strömungen tiefer Gewässer, sie schwangen sich zu überwältigender Höhe empor, und es war unbegreiflich, welche Triebkraft ihre Spitzen dorthinauf hatte gelangen lassen und welche Festigkeit sie aufrecht hielt. Von der Schräge sich spitzwinklig abspreizender Verzweigungen rieselten Spuren von Staub. Über die Kontur des Walkers zu ihrer Seite hinweg sah Jija zwei, drei der Gewächse zusammensinken. Sie mochten hier so gut wie kein Gewicht haben. Die Dichte der Atmosphäre reichte aus, um sie kaum schneller niedersegeln zu lassen, als sie aufwärts gewachsen waren. In klarer Luft und mit freien, unbehinderten Augen gewannen die Dinge auch dieser Welt ihren Anfang und ihr Ende zurück. Es sah alles phantastisch aus, aber auch gefahrlos. I-Träger 5/12 m/Nr. 1–4 Analysen des Pulvers, das anstelle der hypothetischen Spalten vorgefunden wurde, weisen 92 Prozent Mineralstoffe aus. Das Mengenverhältnis der Elemente schließt die Herkunft aus biogener Masse nicht aus. Deutliche Bezüge zu »biogener Asche«. Proteine und verwandte Stoffklassen fehlen. Positiver Effekt des Luziferin-
Luziferase-Tests, somit von Lebensformen auf Eiweißbasis. Das sind Befunde, die einander kraß widersprechen. Drei Varianten der Deutung werden diskutiert: 1. ATP ist nicht biogenen Ursprungs (Widerspruch zu aller Erfahrung, keine Modellfälle bekannt). 2. Biologische Evolution wird genau zum gegenwärtigen Zeitpunkt durch die beobachteten thermischen Katastrophen beendet (rechnerische Zufallswahrscheinlichkeit nahe Null). 3. Hypothetische Lebensformen überdauern die unperiodischen Feuerstürme in hitzebeständiger Anabiose. Vegetationszyklen zwischen den Anabiosen extrem kurz und in die kühle Zwischenphase »passend«. Menge der Asche weist auf bedeutende Massezuwachsrate. (Hypothese von den Biologen als absurd verworfen. Man fordert die Überprüfung des ATP-Analysesystems.)… Nr. 9–13 … transportierte die Sonde originale Substanzproben von der Planetenoberfläche zur Umlaufbasis. Automatische Staubanalyse der Sonde bestätigt. Daraus folgt die Notwendigkeit, alle bekannten Daten anders zu interpretieren. Neues Denkmodell: 1. Zur Zeit bekannte Fakten zur Oberflächenstruktur der Planetenrinde schließen sogenannte Fluchtareale nicht aus, die in mehr oder weniger großer Tiefe Überlebensbedingungen für angepaßte Organismen bieten könnten (Aufschluß der mineralischen Phase durch tektonische Spalten; hohes Wärmeisolationsvermögen des Füllstaubes). 2. Echolotungen deuten auf Anwesenheit tropfbar flüssigen Wassers ab 30 m Tiefe. 3. Vegetative Zyklen sind damit nicht unbedingt auf die kurzen Fristen zwischen den Hitzeperioden angewiesen. 4. Die Frage der positiven Energiebilanz ist vorerst auszuklammern. Daß es irgendwelche – unbekannten – Möglichkeiten dazu gibt, ist kaum bestreitbar. 5. Gesamtmasse der als biogen angenommenen Asche muß nicht notwendig aus der Biomasseproduktion nur der letzten vegetativen Generation stammen.
6. Zufallswahrscheinlichkeit für den Umstand, daß keine Fernsehbilder von Organismen aufgezeichnet wurden, ist rechnerisch bedeutend größer als die Zufallswahrscheinlichkeit einer Reihe von Argumenten gegen die Möglichkeit einer biologischen Evolution. Jenseits einer schwärzlich verbrannten Fläche stand Chat vor dem Fuß einer Düne. Er stand fest und breitbeinig da. Seine Montur war über und über bestaubt und leuchtete im Licht der Monde. Mit beiden Armen winkte er auf eine eindringliche Art auf sich zu. Ascheflocken wölkten aus den Falten seines Overalls und umhüllten den Mann mit dem Schein einer Gloriole. Chat wies dem Fahrer freies Feld, überflüssigerweise, denn der konnte längst selbst sehen. Mockeldey quittierte Chats Zeichen mit ruhigen Worten. Endlich wagte Jija ihre Hand vom Walker zu lösen. Sie bewegte die verkrampften Finger gegen den Widerstand der Handschuhe, lief dem Walker voraus auf Chat zu und nahm das Kabel auf, das sie noch immer mit ihm verband. »Achtzehn Meter«, sagte sie mit fliegendem Atem, als sie vor Chat stand, und ein Lächeln erwärmte Chats vor Konzentration verkniffene Miene. Nahe hinter Chat ragte ein Pulk dieser armdicken Rohre aus der Oberfläche der Düne. So unmittelbar und in unverletztem Zustand hatte Jija die Gebilde noch nie gesehen. Durch das Glas ihres Helmes drang aufdringliche Hitze und legte sich auf das Gesicht. Neugier, die Triebkraft ihres Faches, weckte Jijas Lebensgeister. Die Röhren blähten sich glänzend und prall, ihre Haut war dünn und durchsichtig und von lebendig rieselndem Geäder durchzogen. In den Adern bewegte sich Flüssigkeit. Jija sah einen Strom winziger silbrigglänzender Gasblasen, die in unendlichen, zierlich gegliederten Ketten aufwärts perlten. Es war mehr Gas als Flüssigkeit, was sich dort innen bewegte. Jija überschritt den Saum der Düne, griff nach Chats Hand und trat auf die Gewächse zu. »Stopp!« dröhnte Mockeldeys Stimme in den Membranen an ihren Ohren. »Bist du verrückt?« Chat packte hart zu. Das Mädchen strauchelte, langte mitten in das Geflecht der Rohre, aber das rasende Wachstum hatte die Materie aufs
äußerste verdünnt, die Hand blieb leer, als griffe sie in Rauch. Jijas Körper schwebte, sich behäbig überkugelnd, durch die Luft und sank auf dem halben Wege zwischen Düne und Walker sanft auf festen Boden nieder. »Gut, Chat!« lobte Mockeldey. Chat blickte mißtrauisch auf das nahe Röhricht und schüttelte verständnislos den Kopf. Das Zeremoniell des Einsteigens verlief glatt und schweigsam. Mokkeldey verriegelte alle Schlösser des Luks und startete sofort, diesmal ohne alle Zeichen des Vergnügens an der Pflicht. Er steuerte den Walker frontal und dicht an den Rand einer Düne heran und stoppte. Chat beobachtete am Kockpitfenster. »Warum fahren Sie nicht endlich gerade durch?« Mockeldey knurrte abweisend und hantierte am Steuerpult. Plötzlich füllte dissonantes Sirren den Raum. Aus dem Bug des Walkers wuchs der Arm eines Auslegers hervor, der dem Äußeren des Wagens die Gestalt eines Einhorns verleihen mochte. Von der Spitze des äußersten Teleskopgliedes senkte sich ein Kabel herab. Sein Ende war von einer rotierenden Spindel beschwert. Wenige Meter voraus tauchte die Spindel in das lose Pulver des Hügels. Mockeldey äugte an seiner Karte vorbei und wandte sich dann den Armaturen zu. Dort hatte ein Zählwerk zu laufen begonnen. Die letzten Stellenwerte kletterten hurtig in die Höhe, und Chat begriff, daß hier die Kabelmeter gezählt wurden, die die Spindel hinter sich her in irgendeine unverständliche Tiefe zog. Schon nach Sekunden schaltete der Fahrer um. Über der Eintauchstelle stand ein Wölkchen, das sich zu blähen begann; das Kabel wurde wieder aufgehaspelt. Chat starrte auf die Ziffer der Kontrollanzeige. Der Umkehrpunkt des Spindelweges hatte bei vierundachtzig Metern gelegen. Der Mann im Kockpit handhabte jetzt einen roten Stift, dann stieß er den Wagen rückwärts und lotete an einer anderen Stelle der Düne. Das Kabel lief an dreißig Meter ab und wurde eingeholt, ehe es auf Grund gestoßen war. Jija hockte zusammengekrümmt in ihrer Ecke. Sie jagte einem Gedanken nach, der immer wieder hinter dem Flimmern überreizter Er-
schöpfung zerrann. Überdies störte sie Chats sture Hartnäckigkeit, mit der er den Fahrer bedrängte. »Was macht er?« fragte sie müde. Chat starrte auf das Zählwerk und antwortete nicht. »Er löst eine Fleißaufgabe«, ertönte Mockeldeys Stimme von vorn. »Schau raus! Die Dreckshügel laufen in einem schönen, vernagelten Kreis um uns herum. Aber wenn wir in die Stube hereingekommen sind, kommen wir auch wieder hinaus. Eine Sache der Beharrlichkeit, würde Eston sagen.« Plötzlich war dieser Gedanke da! Masseumlagerung. Das Netz tektonischer Risse. Wie vage waren ihre Vorstellungen von diesen Rissen. Sie hatte darüber gelesen, man hatte sie gewarnt, vielleicht hatte man sie und Chat zu oft gewarnt. Die Worte waren in dieser kurzen, von Arbeit verdichteten Zeit rasch verschlissen. Und sie waren unbequem gewesen, ein Hindernis, erstickender Nebel für das Feuer ihres Tatendrangs… Und da war diese furchtbare Zahl: zweihundert Meter Tiefe! Jija erschauerte unter dem Blitz, der die pragmatische Lügenhaftigkeit ihres Gedächtnisses ins Licht riß. Sie sah, wie sich Chat mit abwesendem Gesichtsausdruck die Lippen weiß biß. Die leichtfertigen Sprünge! »Um Gottes willen, Chat! Wenn…« Da war auch schon das grobe Gesicht im Spiegel. »Was ist los?« fragte Mockeldey in das polierte Metall. Irgend etwas schien er nicht zu begreifen. Dann war der Spiegel wieder leer. Noch einmal spähte Mockeldey nach den beiden Gesichtern hinter sich. »Das ist doch… Ihr kennt diese Spalten nicht? Daß es hier hundert Meter abwärts geht? Ihr wißt nicht Bescheid über den fließenden Morast dort unten? Ihr wißt das tatsächlich nicht?« Der Blick der grauen Augen schnellte zwischen den Armaturen des Steuerpultes und dem Spiegel hin und her, aber er ließ nicht von Chat ab, bis der antwortete. Chat grub die Zähne noch immer in die Lippen. Langsam schüttelte er den Kopf. »Ja. Doch«, sagte Chat tonlos. »Aber daß…, daß sie so sind; daß sie hier sind… Jetzt…« I-Träger 5/13 m/Nr. 1–4
Erstaunlicher Fund von 87 Kugelschalensegmenten in den von der Sonde transportierten Staubfraktionen. Es ist nicht bekannt, warum die Sonde nach Aufnahme der Objekte keine Information übermittelte. Fehlende Reaktion des kybernetischen Dispatchers kann mit »Unangemessenheit« dieser Körper (bezüglich der von der Sonde analysierten Gesamtsituation auf dem Gestirn) in Zusammenhang gebracht werden, die auch das Urteil der Beobachter nach dem ersten subjektiven Eindruck bestimmte. Kugelschalendurchmesser schwankend zwischen 52 mm und 12/100 mm. Jede der Schalen kann durch Montage mit identischen Teilen zu Hohlkörpern ergänzt werden, die die geometrischen Bedingungen der Kugel mit geradezu unglaublicher Genauigkeit realisieren. Nach formalen Gesichtspunkten wird das Material als Keramik definiert. REM-Analyse von Brüchen und Schliffen gibt indessen eine weite Skala von Feinstrukturen des Mikrogefüges an, die an »Züchtung« auf der Grundlage unbekannter Technologien denken läßt. Politur der konvexen Seite sowie gewisse Oberflächendetails der konkaven Seite der Segmente veranlaßten Mikroelektroniker und Halbleiterexperten, das Material tiefergehend zu analysieren. Expertisen derart widersprechend und phantastisch, daß sie abgelehnt werden mußten. Material wird jetzt von Biologen bearbeitet. Biologisches Denken ersetzt Terminus »Technologie« durch die Mechanismen der Evolution, damit technische Intensität durch selektive Extensität, deren Leistungen plausibler erscheinen. Mockeldey arbeitete eine halbe Stunde, bis er eine Furt gefunden hatte, die er als hinreichend sicher einschätzte, um den Walker mit geringer Gefahr über den pulvergetarnten Bodenriß zu steuern. Irgendwann sagte Chat etwas von einem Schwarm von Pfeilen. »Fliegende Pfeile?« fragte Mockeldey scharf. »Pfeile. Pfeifende, spitze Dreiecke. Eine ganze Wolke, dreißig oder vierzig Meter hoch. Sie schossen in dieser Richtung entlang…« Chat streckte seine Hand unbestimmt aus. »Jetzt schon? Wohin flogen sie exakt?«
Chat orientierte sich durch eines der Fenster. »In diese Richtung«, sagte er, mit der flachen Hand weisend. »Genau?« »Ja. Ziemlich genau.« Der Walker stoppte. Mockeldey löste seine Karte vom Fenster ab und hielt sie so, wie man eine Karte einnordet. Mit energischem Strich markierte er den Kreis um den Standort durch einen Vektor. Fragend sah er zu Chat hoch. »Ja, so«, sagte Chat. Mockeldey zog sein Gesicht in die Breite. Sein Grinsen wirkte nicht überzeugend. »Diese kleinen Walker haben keinen Kreiselkompaß. Wozu auch? Man lädt sich Biologen ein; sie sind als genaue Beobachter bekannt.« Er zwinkerte Jija zu, pfiff mit gespitzten Lippen und stieß seinen kurzen Zeigefinger zur Decke der Kabine. »Das sind unsere Vögel.« Plötzlich rieb er fröstelnd die Handflächen gegeneinander. »Wenn sie kommen, sind noch fünfzig Minuten Zeit.« »Bis…?« Mockeldey heftete seine Karte ans Fenster. Die Turbinen sangen schon auf, während er sich schwer in seinen Sitz warf. »Ja, dann wird’s warm«, sagte er. Jija sah, wie der Mann mit beherrschten Bewegungen seine vielhändige Fahrweise wieder begann, und im Spiegel fing sie seine Blicke auf. »Erst wenn sich die Kruster einrollen, ist Alarmstufe eins. Dann sind’s noch gut fünfzehn Minuten bis zur ersten Bö. Ihr habt doch die Chronometer dabei; zwei Kisten voll«, sagte er und ergänzte das Strekkenprotokoll mit beruhigendem Grün. »Bis dahin möchten wir schon beim Vesperbrot sitzen.« I-Träger 5/16 m/Nr. 2–4 … gab den Ausschlag, das Objekt mit bemannter Arbeitsstation zu besetzen. Koordinaten des Standortes bestimmt durch minimalen Abstand zum Terminator und Zwang zu geringsten Risiken für thermische Sicherheit der Besatzung. Station wird in drei Stufen besetzt: Baugruppe mit wissenschaftlichem Beirat; planetologisches
Team, Radiologen, Service- und Dispatchergruppe; zuletzt spezielle Analytik und Biologen. Die Gruppen folgen einander, so rasch es die Umstände erlauben. Schwächster Punkt des Unternehmens liegt in Unzulänglichkeit der Kommunikation durch Radiowellen. Versuch, ausreichende Informationsdichte auf der Grundlage kohärenten Lichtes zu erreichen, scheiterte an der technischen Kapazität. An Mockeldeys Fahrstil änderte sich nichts. Jija und Chat saßen wieder nahe beieinander. Verstohlen hob das Mädchen die Staubkappe vom Chronometer. Die vertrauten Rechtecke an den Kabinenwänden leuchteten auf, begannen durch den Raum zu wandern. Der Wald trieb vom Walker ab, es wurde sichtbar, wie hoch oben er gegen den Himmel grenzte, die verwaschene Linie sank herab, verschmolz mit dem Horizont. Aber dort, zwischen Festland und Himmel, lohte ein orangefarbener Saum, und sein Widerschein überflutete die Landschaft mit einem Hauch wärmenden Lichtes, der bis in den Walker drang. In der Enge der Kabine glommen rötliche Reflexe, und als Jija die roten Funken auch an Chats Chronometer blitzen sah, spürte sie ihr Herz heftiger schlagen. Chat blies durch die Ventile seines Helmes. Er legte einen Arm um Jijas Nacken, drückte das Mädchen an sich und pustete stereotyp durch den Schnorchel eines längst gängigen Ventils. Der Walker kippte auf eine schräg abwärts geneigte Bahn. Einen Augenblick erloschen die Kabinenfenster. Jija vermochte einen Seufzer nicht zu unterdrücken, als sich schwere Schleusendiaphragmen wummernd hinter dem Wagen schlossen, und dann blinkten Ketten elektrischer Lichter durch die Luken. Draußen zogen die rohen, sparsam erhellten Armaturen des Einfahrtsstollens vorüber. Die Turbinen sangen ab. In das Pfeifen der letzten Rotorumdrehungen mischten sich Serien scharfen Knackens. Die jungen Leute sahen sich an. Das Geräusch schien von einer Kinderrassel herzurühren oder auch von einem Holz, das an einem Lattenzaun entlangratterte. Sie kannten dieses Geräusch gut, und es schallte aus ihren Containern. So sprangen Nut und Falz an den Rändern der Schalensegmente ineinander, wenn sich die großen Formen der Kruster zu Kugeln einrollten, zu
diesen glänzend polierten Kugeln von so ebenmäßiger Gestalt, daß ihr organismischer Ursprung so wenig einleuchtend war. »Der Countdown beginnt bei neunhundert«, sagte Chat. Er verbarg seinen Spott, und so blieb es offen, gegen wen er sich richtete. Eine Weile geschah nichts. Jija empfand den Mangel an Ereignissen, ihr Blick glitt zum Rückspiegel des Fahrers. Mockeldey saß ein wenig krumm da und sehr allein, und er betrachtete eine seiner Hände. Er schloß und spreizte die Finger der grünbefleckten Hand. Dann lüftete er mit zwei Fingerspitzen, die er wohl für ausreichend rein ansah, das feinmaschige Hemd an der Brust, und seine Zunge spielte in den Mundwinkeln, um sie zu befeuchten. Chat rückte den Container zurecht. Mockeldeys Augen trafen den Spiegel. Jija sah Verlegenheit in den Zügen des Mannes, die für diese Regung so ungeeignet geschnitten waren, und sie nahm betroffen wahr, daß sie ihn mochte. Minuten später standen alle drei, mit ihren Siebensachen beladen, am Schott des Walkerbunkers, und niemand hatte eine Hand frei, um sich zu verabschieden. »Ihr seid schon in Ordnung«, sagte Mockeldey mit bemessener Beiläufigkeit. »Ich kann euch ganz gut folgen. Vielleicht übt auch ihr Nachsicht mit einem alten Mann. Noch werdet ihr gebraucht. Was sollen wir mit der Asche junger Helden? Euch fehlt eine Karte von der Gegend hier herum«, setzte er seine Rede fort, »ich werde euch eine geben. Vielleicht kommt ihr mal bei der Direktion vorbei. An meiner Tür steht nur ›Eston‹. Irgendein Schmierfink, der gegen ordentliche Namen ist, hat das dort drangeschrieben.« Er verbeugte sich gegen Jija so galant, wie es die Umstände und die mangelnde Schwerkraft zuließen. »Eston Mokkeldey empfiehlt sich zur Vesper«, sagte er pfiffig und stupste mit dem Knie gegen Chats Container, »ihr müßt erst das Kleinvieh versorgen. – Da oben geht’s in vier Minuten los«, fügte er hinzu, »und ziemlich genau acht Minuten später explodiert der Wald. Knallgas. Von dem, was danach geschieht, werdet ihr hier unten nichts hören.« Dann bewegte er sich vorsichtig vor das Schott, das sich selbsttätig öffnete. »Hm«, sagte Chat, in Nachdenken versunken, als sich die Plastflügel der Schleuse hinter Mockeldey wieder geschlossen hatten.
Die Revision
Die Fähre Louvis Ferreira strich mit der Kuppe seines Zeigefingers über ein Sims, das in dieser nicht ganz lotrechten Stellung des Schiffskörpers horizontal dalag. Danach, im Schein der Handlampe und dicht vor den Augen, war ein Anflug bläulichen Staubes auf der Fingerkuppe unverkennbar, Ferreira überschlug flüchtig, wie lange es gedauert haben mochte, bis sich mit Rücksicht auf die gegebenen Bedingungen, gewissermaßen durch bloße Entropie, so viel Staub hatte bilden können. Er schob die Überlegung zur Seite. Ohnehin wußte er genau, daß das Schiff, in dessen Räumen er sich hier eben zurechtzufinden suchte, die große Fähre der MAKROVAL 11 war und daß diese Fähre mindestens achtundvierzig Jahre in dieser abwegigen Position stehen mußte. Immerhin schickte er den Lichtkegel der Lampe rundum über die Wände. Aber er konnte nichts ausfindig machen, was ihn den ordnungsgemäßen Verschluß der Kabine hätte anzweifeln lassen. Der Schein huschte über ein Geschlinge von Rohren unterschiedlichen Kalibers, verweilte auf voluminösen Wölbungen, hinter denen Tankraum zu vermuten war, und stand schließlich lange auf einer Serie offener Rohrenden. Ferreira brachte ein Auge dicht an eine der Mündungen. Innen zeigte sich gedämpfter Glanz fluoräthylenbeschichteten Metalls, an der Frontfläche allerdings die Spur einer grobzähnigen Säge. Mit dem Sockel seiner Lampe klopfte Ferreira an eine ihm zugängliche Tankwand. Er hatte mit einigem Dröhnen gerechnet, dennoch überfiel ihn der akustische Aufruhr, den die geringfügige Ursache auslöste. Der Hall enteilte in irgendwelche Fernen des Schiffsraumes, und nach einem in Atemzügen zu messenden Schweigen kehrte er, zerteilt in Wogen und Täler, wie am Ufer gebrochene Wellen in die ungeheure Stille der Kabine zurück. Ferreira stand unbeweglich. Dann wanderte der Lampenschein aufs neue.
Der Strahl zielte nach gewissen Einzelheiten der Installation, nach Batterien entblößter und sinnlos in die Luft ragender Kontaktzungen elektrischer Versorgungsanlagen, nach roh geöffneten Rohren und stach durch ausgeräumte Leere. Ferreira war nun ziemlich sicher, daß er sich hier in einer Sektion der Bio-Kontikultur befand, in einer ehemaligen Sektion, soweit er sich momentan in die Technik der alten Anlage hineinzudenken vermochte. Nicht sicher war er sich über die Art der Demontage. Die Bilder sachgemäßen Abbaus und gewaltsamer Eingriffe, die Anzeichen geplanter Aktivität und des Abbruchs unter irgendwelcher Bedrängnis mischten sich. Und gerade auf diese Unterscheidung kam es Ferreira an. Unter dem Eindruck des eben verklungenen Getöses unterdrückte er einen Laut der Resignation und verließ die Kabine durch ein Schott, das ihm in Richtung zur Schiffsachse hin gelegen schien. Trotz angespannter Aufmerksamkeit, die ihm der Mangel an topographischer Sachkenntnis und unzureichende Beleuchtung abforderten, empfand er die robuste, ja klobig wirkende Gediegenheit der Anlagen. Ferreira durchquerte eine Anzahl wohlverschlossener Räume und gelangte schließlich in einen gekrümmten Korridor. Bemüht, das Lärmen seiner ungleichmäßigen, behinderten Schritte zu dämpfen, lief er die Runde ab. Nach kurzer Strecke war der Gang durch eine Wand verschlossen. Der Mann neigte sich der Fläche zu. Plötzlich hob sie sich und schlüpfte unter dem Sirren eines verborgenen Servomotors in einen Schlitz an der Decke des Raumes. Ferreira folgte weniger seinem Willen als einem Reflex auf die einladende Geste der Maschinerie, als er drei, vier Schritte vorwärts ging. Erneutes Sirren. Die Wand hatte sich wieder geschlossen. Aufglimmendes Licht hob die Flächen des Raumes aus der Dunkelheit. Mit der Finsternis zerrann jede Vorstellung von Weitläufigkeit. Die Wände schossen von allen Seiten aus entrückender Schwärze in die Sichtbarkeit und auf den Mann zu, der sich unversehens in einer unwirtlich kahlen Zelle eingeschlossen fand. Unter der niedrigen Decke stand er gebeugt da. Er maß knapp zwei Meter. Seine Länge wirkte durch den ausladenden Brustkorb kaum günstiger proportioniert, denn unterhalb des athletischen Oberkörpers war
die Figur hager und knochig. Schultern, Hüften und Gelenke modellierten sich eckig durch die hautenge Kombination. Am rechten Knie zeichnete das Gewebe brutal eine mißförmige Aufblähung des Gelenkes nach. Das Knie wies nach auswärts, die Spitze des zugehörigen Fußes ein wenig nach innen. Ferreira hinkte. Sein Hals ragte dünn aus der Mitte des ovalen Sockels für den Helm, den er hier nicht mit sich führte. Das Gesicht war bernsteinfarben und häßlich und dem Licht nackt preisgegeben. Zwei tiefe Furchen liefen senkrecht über die Wangen bis zu den Augen hinauf. Die rechte setzte sich über das Auge hinweg purpurn gefältelt bis in den Schädel fort. Eine Stufe markierte den Rand der Knochenprothese unter der Haut. Schwarze, schwerbewegliche Augen unter ergrauenden Brauen, die rechte in zwei Inseln zerfetzt, dichtes eisgraues Haar, schief in der Stirn ansetzend und in physiologischer Paradoxie nur im Bereich der Schädelnarbe noch schwarz. Die Reinheit der Iris und die der Färbung unangemessene Lebendigkeit des Haares verrieten Ferreiras wahres Alter: sechsunddreißig Jahre. An der konvexen Wand der Kabine sah er die Fugen eines Schotts, daneben ein spannenhohes Rechteck mit einer Anzahl üblicher Handhaben zur Bedienung von Elektronik, in einem Fensterchen Fluoreszenzdioden, die eine Signatur bekanntgaben. Ferreira blickte lange und mit unbewegter Miene auf die Ziffernfolge. Dann drückte er zwei der quadratischen Auslöser. Irgendwo schepperte erwachende Mechanik, die Ziffern wechselten in flimmernder Eile. Das Schott hob sich in der nun schon vertrauten Weise und gab den Weg in die Liftkabine frei. Die Flut von Rückschlüssen und Konsequenzen, die die sonderbare Willfährigkeit dieser längst erstorbenen Mechanismen in seinem Gehirn weckte, äußerte sich in einem einzigen Heben und Senken des Adamsapfels, als Ferreira schluckte. Weisungsgemäß hielt der Lift in einer der oberen Sektionen an und öffnete sich auffordernd. Ferreira trat in eine ebensolche Zelle, wie er sie unten verlassen hatte, auch hier war sie Teil eines gekrümmten Korridors. Ein Beleuchtungsrelais. Knopfdruck. Wirklich war Ferreira das Licht gefügig. Er hinkte durch den Gang, registrierte an gewissen über die Zeiten gültigen Merkmalen des Interieurs, daß er sich auf der Ebene
der Navigation und nahe dem Steuerhirn des Schiffes bewegte, genau dort, wohin er gelangen wollte. Eine Abzweigung, abwärts geneigt. Ein Schott. Nein, offenbar eine Schleuse. Feinpunktierte Wände rundum. Ein Clean-Raum? Dahinter noch ein Clean-Raum. In der Ecke ein Haufen Plastband. Er sah genau hin. Auf dem millimeterschmalen Band ein unendliches Muster winziger Löcher. Wozu das? Er erinnerte sich: Eine Zeitlang diente derartiges Material als Informationskonserve. Ferreira nickte, seinen Überlegungen zustimmend. Fünfzig Jahre lag das hier? Die Dinge liefen glatt ab. Er sog die Luft tief ein und war unzufrieden. Die Dinge liefen zu glatt. Er nahm sie in Verdacht, doppelbödig zu sein; sie wiesen ihm ein Janusgesicht mit Zügen unaufrichtigen Entgegenkommens. Dann sprunghaft ansteigender Aufwand an Klimatisierungsmitteln. Endlich weitläufiger Raum. Im Licht erwies er sich als halbrunder Saal. Betroffen von den enormen Dimensionen dieser Anlage und der Abwegigkeit seiner eigenen Vorstellungen von ihrem Gesicht, wurde ihm bewußt, daß er die Rechenzentrale gefunden hatte. Der Raum war überaus leer und lag in tödlicher Verlassenheit. Überraschend stumme Schritte vorwärts, hundert zuckende Pupillen, seine eigenen Spiegelbilder in den Schirmen toter Monitoren. Er kniff die Lippen zusammen. Die riesige konkave Wand war ein einziges unüberschaubares Mosaik elektronischer Einschübe. Die Frontplatten über ausgedehnte Areale dicht bestachelt mit winzigen Bedienungselementen, die nur spitzfingrig zu handhaben sein konnten, überlagert von einem Netz farbiger Linien und bestreut mit einem Wust erloschener Signaldioden und abstrakt symbolisierender Signaturen. Abseits ein Kreissektorentisch und vier Drehsessel. Dieser Wirrwarr ließ sich beherrschen? Ferreira schüttelte die Bewunderung für das Format jener Menschen ab. Auf Gesicht und Händen spürte er erhöhte Temperatur. Sein Blick heftete sich auf weitflächige, dunkle, zerfranste Flecke, die so aussahen, als sei die Rechnerfront von Korrosion zerfressen; darüber kreuzten sich Linien wie die Maschen eines Gitters: Hunderte, vielleicht tausend leere, ihrer elektronischen Hirne beraubte Chassis.
Dann entdeckte er im Heer der toten Pupillen ein einziges lebendes Licht. Er preßte alle Information aus den ihm schwerverständlichen Symbolen und deutete das Fünkchen als Zeichen für Betriebsbereitschaft eines Kleinreaktors, der die Riesenanlage speisen mochte und jetzt auf Minimallast lief. Über ein halbes Jahrhundert? Ja. Er hielt das für wahrscheinlich. Die verschwenderische Raumbeleuchtung enthob ihn theoretischer Begründungen. Aber die Signaldiode? Ließen sich Urteile der Art, wie man sie von ihm erwartete, auf Zweifeln an der Lebensdauer einer elenden Fluoreszenzdiode auftürmen? Inwieweit galten seine Erfahrungen in dieser Sache? – Ferreira drehte an einer Anzahl gröber dimensionierter Schaltknebel, denen er zentrale Funktion zuschrieb. Nichts. Alle Augen blieben blind. Fast die gesamte ebene Basisseite des Halbrunds erwies sich als Archiv elektronischer Konserven. Wahllos klappte Ferreira ein Dutzend Fächer auf. Kassetten. Tausende Kassetten. Hatte der Datenstoffwechsel eines Schiffes dieser Klasse solch ungeheure Volumina an Informationsmüll zu produzieren? Wann wurden diese Bänder beladen? Womit? Ferreira hielt inne. Da war wieder diese vage Unstimmigkeit… Die Borke verrottenden Rußes an den Heckkompensatoren, zentimeterdick, zerrissen, abblätternd. Verführerische Eindeutigkeit der Diagnose: Diese Motoren schwiegen seit Jahrzehnten. Vor kaum einer Stunde hatte er sie gefällt. Was war mit der Mannschaft geschehen? Sie war einfach nicht mehr vorhanden. Die Indizien überzeugten. Er war nicht überzeugt. Endlich fand er Bücher. Atlanten, dickleibige Sammlungen von Algorithmen, Tabellenwerke. Zielsicher langte er nach einem schmalen, gehefteten Band mit Normzeichen, die auch ihm geläufig waren. Raschelnde Folien, Thermotypie. Richtlinien, Pläne, Programme, Varianten. Durchdachter, wenn auch weitschweifiger Text, man hatte damals noch Zeit. Er blätterte auf den Titel zurück: DIREKTIVE, eine Ziffernfolge – MAKROVAL 11 – weitere Ziffern. Diese Signatur kannte er auswendig. Auch die Termine. Von einem bestimmten Zeitpunkt an wurde die vorgegebene Folge der Ereignisse unterbrochen, von der Zeit überholt.
Die Termine starben, denn Pflichten und Leistungen der Mannschaft, durch die sie lebten und ihre Rechtfertigung erfuhren, wurden nicht mehr erfüllt. Die Zeit hatte die Menschen zur Seite geschoben und sie unter sich zermalmt. War es so gewesen? Er war hier, nicht nur um das Ja zu finden. Man erwartete von ihm ein Bild vom Wie und ein Urteil über das Warum. Es gab nichts Unerträglicheres als die Vergeudung menschlicher Tatkraft, gestern, jetzt und in der Zukunft. Ferreira setzte seinen Willen gegen aufsteigende Erbitterung. Er nahm das Heft an sich und verstaute es in einer Tasche seiner Kombination. Dann griff er nach einem dicken Band mit Anzeichen häufigen Gebrauchs. Handschrift, kurze, für ihn vorerst wenig informative Notizen, Folgen aneinandergereihter Symbole, leere Seiten. Unversehens wurde ihm bewußt, daß er den ersten unmittelbar menschlichen Äußerungen der Besatzung begegnete. Er verlor sich in der Betrachtung der Handschriften. Es waren vier verschiedene, ebenso viele, wie hier Sessel standen. Er kannte alle zwölf Namen der Mannschaft und suchte im Schriftduktus die vier Persönlichkeiten zu erkennen. Dieser steile Zug, neurotisch verzwickt, hinter dem Flug der Gedanken zurückbleibend und an der Grenze der Unleserlichkeit: Woronzew? Simpel als Mathematiker ausgewiesen. Er wußte einiges mehr über diesen Mann. In lächerlich überhöhtem Kontrast eine kleine akkurate Schrift, die nach oben oder unten gerundete Bögen streng unterschied. Die beiden kamen miteinander aus? Gewiß mochten auch die Kybernetiker hier geschrieben haben. Wright. Der schwarze Borba M’Bar. Oder auch Gisele Dahl. Niemand hatte die Notizen signiert, einleuchtenderweise, man kannte sich hinreichend. Dann stieß er auf konkrete Daten. Tag, Monat, Jahr. Betriebszeitprotokolle der Rechenanlagen. Er verglich die Zeitangaben mit den Schlüsselterminen Landung und Rückstart. Das Ergebnis ließ seinen Atem stocken. Er wiederholte die einfache Rechnung. Unter seinem energischen Zugriff lief der Packen von Seiten über seinen Daumen, die später, noch nach diesen Daten, beschrieben worden waren.
Für den Bruchteil einer Sekunde hielt er in der Bewegung inne, als das Schott hinter ihm klappte. Ferreira schluckte. Er wußte: Jetzt drehte ihm der Januskopf sein zweites bisher verborgenes Gesicht offen entgegen. Die letzten Seiten der Kladde glitten schlaff über seine Finger. Mit steinerner Miene stellte er den Band in die Lücke zurück. Dann erst wandte er sich langsam um. Vor dem Schott stand ein Mensch. Ein Mann. Eher klein, kompakt, der Körper dicht und schwarz behaart. Haupthaar und Bart zügellos gewachsen, aber nicht unschön. Wenig freie Fläche eines tiefgebräunten Gesichtes. Über Brust und Bauch der Stern breiter Fallschirmgurte, die in der Platte des Patentverschlusses zusammenliefen. Der Mann trug seltsame Schuhe, weiter nichts. Eine Hand umfaßte den Schloßbügel des Schotts, die Endgültigkeit dieser Begegnung in Frage stellend. Im Gesichtsausdruck lagen – schon jenseits von Überraschung – distanzierende Abwehr und Neugier zugleich. In einem Blitz blendender Klarsicht erkannte Ferreira das Wesentliche: Dieser Mann war kaum älter als dreißig Jahre, so jung wie er selbst. Ferreira durchforschte dieses Gesicht nach Zügen, die er von den Fotogrammen der Besatzung wiederzuerkennen hoffte. Zwischen den Männern schwoll das Schweigen an. Schon behutsam setzte Ferreira einen Fuß vor den anderen auf den Mann zu. Er streckte ihm die Hand entgegen. »Sie sind… Ich bin Louvis Ferreira…« Er sah, wie sich die Augen des Mannes auf die dargebotene Hand richteten. Sie fanden die Hand leer. Mit zweifelnder Unstetigkeit huschte der Blick über Ferreiras Länge und kehrte zu dessen Pupillen zurück. Ferreira ließ die Hand sinken. »Ich bin Louvis Ferreira«, wiederholte er einfach. »Wie heißen Sie?« »Maurice«, sagte der Mann fast tonlos. »Ihr Nachname?« »Maurice.« Ferreira nickte. »Bitte, wie hieß Ihr Vater?« »Ich heiße Maurice… Du kommst von…?« »Ja«, sagte Ferreira, »von der Erde… letzten Endes.« Maurice’ dunkle Augen suchten einen Punkt, der in unendlicher Entfernung hinter Ferreira zu liegen schien. Langsam öffneten sich die Lippen, aber der Mann blieb stumm.
Ferreira rührte sich nicht. Wie in Schüben kehrte das Leben in die schwarze Gestalt zurück. Der Blick faßte nach greifbaren Dingen, die Hand löste sich endlich vom Bügel des Schlosses. Maurice wandte sich ab und ging zielsicher auf eins der Archivfächer zu. Ferreira erfuhr, was es mit den Fallschirmgurten auf sich hatte: Die Hülle des Rückenschirms diente als Transportmittel und enthielt eine Menge zu Päckchen gebündelter Bandkassetten, die Maurice sich anschickte, in das Fach einzuordnen. Danach räumte er ebenso viele Kassetten aus einem anderen Fach heraus, um sie in seinem improvisierten Rucksack unterzubringen. Die Handgriffe schienen zügig und unbefangen abzulaufen wie oft geübte Routine. Aber dann stand Maurice unschlüssig da. Er sandte Ferreira ein zögerndes Lächeln zu, eher in den Augen zu erkennen als am Mund im dichten Gestrüpp des Bartes. Plötzlich schritt Maurice auf Ferreira zu, und unversehens fühlte sich Ferreira von den kräftigen Armen des Mannes umfangen. Er fühlte sich viel zu lang. Linkisch und gefesselt stand er da, sah diese Sekunde auf den schwarzen Schopf herab und ertrug die Gefühlswallung des nackten Mannes mit zwiespältigen Empfindungen. Endlich gaben ihn die Arme frei. »Komm mit!« forderte Maurice.
Kalk Draußen packte sie das Licht. Aus Inseln grünseidenen Himmels schmetterten weiße Sonnen auf weißen Kalk. Die Rückstrahlung zwang ihnen die Augenlider zu Schlitzen zusammen. In einer kindlich anmutenden Geste hob Maurice den angewinkelten Arm vor das Gesicht. Aus der Armbeuge blinzelte er die Böschung hinauf, wo Ferreiras Gleiter hockte. An den horizontalen Konturen der Konstruktion hingen Ketten dicker Tropfen, tausend winzige Sonnen im Gegenlicht. Ferreira erschien die Silhouette gegen den dampfenden Himmel und aus dieser Perspektive imposant genug; Maurice mochte die knifflige Feingliedrig-
keit des Gefährts, das gegen den Koloß in ihrem Rücken wahrhaft nichtig wirkte, mit Argwohn erfüllen. Ferreira stand steif da, voller Erwartung. Aber Maurice schwieg. Mit einer Art ritueller Umständlichkeit schloß er das Außenschott der Gangway, umfing die narbige, strapazierte, turmhoch und ein wenig schief aufragende Masse des Schiffes mit ausführlichen Blicken, sah dann auffordernd zu Ferreira hin und begann die Böschung zu erklettern. Am Grunde des Landekraters glänzten jetzt Lachen weißgrau verschlammter Kreide und dick aufgewölbte Blasen, die letzte Tropfen des Regengusses dort geschlagen hatten. Ferreira vermied die Flecke unsicherer Nässe und folgte dem Lotsen, so rasch es seine Gehweise zuließ. Das Plateau dampfte. Schon zwängten sich blendendweiße Flächen getrockneten Karbonates zwischen die Pfützen, die alsbald nur noch von schmalen graufeuchten Bändern umsäumt waren. Es mochte annähernd westliche Richtung sein, die Maurice eingeschlagen hatte. Vorerst richtete Ferreira seine Gedanken auf die Motive der übermäßigen Zurückhaltung dieses dunklen Mannes, der kräftig ausschritt, ohne sich umzusehen als sei er bestrebt, Raum als Barriere gegen Worte zwischen sie zu schieben. Gegen notwendige Worte. Oder gegen ihre Folgen? Auch er, Ferreira, hatte geschwiegen. Er war Untersucher und genötigt, sich an die Normen seiner Funktion zu halten. War es so? Er beschleunigte seine Schritte. Er gelangte in eine Rinne, die sich zwischen mäßig hohen Wällen aus weißen, mehr oder minder porösen Sedimenten abwärts schlängelte. Seine schweren Tritte zerquetschten Brocken des hier im Schatten noch wassergesättigten Gerölls zu pappigem Brei. Die Unsicherheit seiner Gehweise zwang die Aufmerksamkeit auf die nächstliegende Wegstrekke. Keine Spuren. Die geschwinde Wirkung der Erosion mochte hier keine zulassen. Dann fand er doch da und dort Eindrücke nackter Füße in verhärtetem Schlamm, und schließlich gab es Abschnitte, die von sehr vielen Sohlen, bloßen und mannigfaltig gemusterten, platt gestampft waren. Er hob den Blick vom Boden auf, als fordere die Expansion seiner Aufgabe weiterreichende Übersicht.
In der Tat hatte sich die Landschaft aufgetan und offenbarte ihre alpinen Ausmaße, die seine Überlegungen schon aus der Höhe nachhaltig beeinflußt hatten. Welch abwegiger Landepunkt für ein strahlgetriebenes Monstrum wie die Fähre! Vor ihm stürzte das Terrain jäh in eine hundert Meter tiefer liegende Talsohle ab. Jenseits in schwer abschätzbarer Entfernung ein ebenso schroffer Anstieg. Hinter gezackten Konturen waren immer neue Gipfel und Kämme in den Horizont gestaffelt. Das Tal senkte sich nach Osten, in die Richtung, aus der er kam. Dort drang ein dumpfer Keil Himmels unter den Horizont und markierte die Grenze des Massivs gegen ein Tiefland, das im Dunst ertrank. Aus scharf geschnittenen Schluchten quollen Ströme losen Gesteins oder gigantische Massen weißen Teiges, der zu übereinanderwallenden Wogen irgendwann im Flusse erstarrt sein mochte. Aber dort, wohin die Moränen nicht reichten, wellte sich die Talsohle sanft und gefällig aufwärts bis zum Sattel, der die Wände im Westen miteinander verband. Weitläufigkeit milderte die Härte des Lichtes; feuchte, durchsonnte Frische, lebensweckende paradiesische Atmosphäre erfüllte den ungeheuren Raum. Aber die Landschaft war kahl. Nur pastellfarbene Nuancen überhauchten die weißen Flächen oder lagerten in Nischen des Gebirges als schöne Effekte der Dispersion des Lichtes und der Kontraste von Strahlung und Schatten, spektraler Schein, der die Öde trügerisch belebte. Ferreira atmete hart und gönnte sich nur Sekunden müßigen Betrachtens. Der Weg führte jetzt entlang der Flanke des Steilhanges parallel zum Tal und noch immer sacht abfallend über ein Sims härteren Sediments, das der Verwitterung länger standgehalten hatte und so als endlose Stufe stehengeblieben war. Ungelenk schritt Ferreira aus und streifte mit der Schulter dann und wann die Wand. Weißes Pulver stäubte auf, mürbe Brocken lösten sich und hüpften eine Strecke talwärts oder zerfielen in papierdünne Blättchen, die im Luftstrom aufwärts taumelten wie Schmetterlinge. Sinnierend sah er ihnen nach. – Es begann immer mit hohen Gehalten an Kohlendioxid in der Atmosphäre. Treibhauseffekt, lebenshemmende hohe Temperaturen auf dem Festland, aufgeheizte Meere. Er wußte, das Register dieser Planeten füllte im Planal mehrere Seiten. Von diesem Punkt aus erlaubten die biosphärischen
Bedingungen eine biologische Evolution, oder sie erlaubten sie nicht. Venus, Zwillingsschwester der Erde, tot und heiß wie seit Anbeginn und klassischer Standard für diesen Fall. Lief die Evolution aber erfolgreich, so erfand sie zu irgendeinem frühen Zeitpunkt einen Mechanismus, die Atmosphäre von Kohlendioxid zu reinigen, das Gas festzulegen in mineralischem Karbonat. Im Meer umgaben sich Organismen mit einer Hülle aus Kalk. Molekül um Molekül Kohlensäure entzogen sie dem Lösungsgleichgewicht des Gases, banden es an Kalzium und bauten aus dem Karbonat ihr Haus. Sie pflanzten sich fort, starben, und über unermeßliche Zeiträume sanken ihre leeren Schalen wie ein sanfter Regen auf den Grund der Meere, Schicht um Schicht. Die atmosphärischen Temperaturen fielen auf lebensfreundliches Niveau. So war die Erde glücklicher gewesen als ihre Schwester. Auch hier hatte es diesen Mechanismus gegeben. In ungehemmter Maßlosigkeit. Diese Welt bestand aus organismischem Kalk. Weiter nichts. Warum hatte sich die Evolution in der Schaffung dieser kalksynthetisierenden Lebewesen erschöpft? Hatte sie sich wirklich erschöpft? War dies der dritte noch unbekannte Fall? Die Fragen reizten seinen Verstand. Er verdrängte sie nachdrücklich. Es gab zu viele andere. Der Pfad wurde schmal und schwierig. Dann waren da Anzeichen für menschliche Eingriffe, für Arbeit, durch die das Sims da und dort wohl erst passierbar gemacht worden war. Endlich Aluminiumstangen, als Haltegriffe ins Gestein geschlagen; sparsam, registrierte er. Plötzlich stand Maurice vor ihm. »Das ist Borbas dritte Siedlung«, sagte er. Mit einer flüchtigen Gebärde wies er ins Tal. Ferreira sah in die Richtung. Die Sonnen trommelten auf weißen Stein. Er hörte Maurice’ Fingernagel in aufreizender Wiederholung über das Rändel des Gurtverschlusses kratzen. Auf dem Gesicht spürte er wachsam abwartende Blicke. Er kniff die Lider zusammen. Zuerst unterschied er eine gekrümmte Schattenlinie. Sie zog sich horizontal und in geometrischer Genauigkeit, einer Höhenlinie ähnlich, durch das Tal. Jenseits hockte ein Trupp weißer Halbkugeln beieinander. Er gelangte zu keinerlei Vorstellung von ihrer wahren Größe. Einige lehnten sich an den Hang einer Moräne. Oder waren sie von ihr verschüttet? Er mißtraute dem natürlichen Ursprung der Moräne. Eine
Halde? Dann erst sah er den Turm. Rund, aus Kalkstein. Zweifellos ein Gebäude. Allmählich nahmen die Linien und Flächen im flimmernden Kontrast von Weiß gegen Weiß den Charakter einer weithin ausgedehnten Baustelle an. Geräumige Fahrstraßen, Böschungen, Pfade. Gelände einer seltsamen, verödeten Industrie. »Borba war hart. Er hatte nur acht Männer. Sie förderten mehr als zwölftausend Kubikmeter Gestein und gewannen neun Kilopond Reineisen mehr, als investiert werden mußte. Dann brach der See in die Querschläge.« »Eisen?« fragte Ferreira. »Weiter im Norden baute Borba noch drei solcher Türme. Aber man kam über zweihundert Meter Tiefe nicht hinaus. Im vierzehnten Jahr gab er auf.« »Ihr braucht Eisen?« »Wir?« Maurice lächelte wie über einen Scherz. Ferreira starrte über die verlassene Stätte. Eine Sekunde lang sah er auf ihren Wegen Menschen gehen, die leichte Luft trug ihm den Lärm ihrer anachronistischen Technik zu. Müde hob er die Hand und preßte sie auf die Augen. Er erlaubte sich nur einen Moment der Flucht. Maurice schabte mit einem Stein verkrustete Kreide von seinen haarigen Beinen. Die schwarzen Locken fielen über sein Gesicht, und unter ihnen hervor sandte er einen raschen Blick zu Ferreira hinauf. »Bist du allein, Louvis Ferreira? Warum? Ihr seid viele dort. Ist es bei euch so, wie sie sagen?« Ferreira fühlte sich hilflos. »Was sagen sie denn?« »Ach…«, sagte Maurice, verlegen von mißglückter Höflichkeit. Zwischen den ungleichen Männern spannte sich eine Membran aus verdichteter Zeit. Wie ein Diaphragma filterte sie die Ströme von einem zum anderen in unberechenbarer Willkür. Maurice haschte nach Ferreiras Hand. Er richtete sich auf und setzte den Weg leichtfüßig fort. Unter Ferreiras Sohlen zerkrachten Splitter scharfkantiger Schalen zu Grus. Auf dem Sims erglänzten jetzt Funken zartfarbenen Perlmutts. Ferreira war hungrig, und der Schmerz fraß sich nun vom Knie durch den Schenkelknochen bis in die Gelenkpfanne der Hüfte hinauf.
Die Siedlung Punkte barsten zu geschreierfüllten Räumen. Endlos die Wüste, zu der die Räume ineinanderflossen. Aus der Tiefe silbrigen Sandes wühlten sich Figuren an die Oberfläche. Immer neue Figuren. Alle rannten sie auf ihn zu, nur auf ihn, denn er war die Mitte, und sonst war nichts da. Weitgeöffnete Münder. Daher also das Schreien. Jetzt stürzten die Figuren über ihn her. Er hob die bleiernen Lider. In der übermäßigen Helle zerstob das Bild. Es war schon wieder Tag. Nein, noch immer, denn die Sonnen lösten einander ab, zumindest die kleinen, besann er sich, und mit erwachendem Interesse nahm er seine Umgebung wahr. Aus sauber gefügten Quadern wölbte sich über ihm das Halbrund des Iglus. Sektoren steinerner Tischflächen schmiegten sich in das Rund der Wand. Improvisierte Aufbauten aus Aluminium, Glas und Plasten, übereinandergetürmte Elektronik, etwas, was aussah, wie er sich den Prototyp eines Lötkolbens vorstellte, mitten in dem Wirrwarr eine angeschlagene Tasse mit Blümchendekor. Und wahrhaftig: Vor dem schrägen, einzigen Fenster eine Ampel mit kümmerlichem Gesträuch, aber glühendgrün in dieser blutlosen Welt und an Zitrusformen erinnernd. Mit einem Ruck setzte sich Ferreira auf. Da war noch immer dieses Schreien! Er erhob sich von der Matte und spähte durch die flügellose Türöffnung ins Freie. Kinder. Es waren drei Kinder. Das älteste mochte zehn, die beiden jüngeren fünf oder sechs Jahre zählen. Sie rannten am Ufer des grünen Weihers entlang, splitternackt, wie alle Jungen hier, und mit wehenden Haaren. Augenblicklich erwies sich die Klangfarbe der Stimmen als Ausdruck fröhlichen Übermutes. Nach einigem Zögern schlüpfte Ferreira in seine Montur. Er fand auch die beiden Becher mit der grünlichen Paste und jenen spröden Raspeln, die man miteinander zu vermischen hatte, ehe man sie aß – so hatte er es den anderen abgesehen –, und fügte sich schon der Sitte, die Notdurft des Essens als tunlich zu übersehende Belanglosigkeit abzutun.
Sie waren zusammengelaufen und hatten mit ihm gesprochen. Männer, Frauen. Halbwüchsige? Nein. Auch keine Kinder. Wie viele? Er war zu müde gewesen. Ob er bleibe? Er sei nicht allein? Nein, hatte er gesagt, er wisse nun nicht mehr, ob noch andere seiner Gefährten hierherkämen. Ja, ihre MAKROVAL, das Mutterschiff, sei geortet und kreise auf stabiler Bahn. Ja, auch die Fähre habe lange gesucht werden müssen, man habe sie keineswegs in dieser Position vermutet. Ja, gewaltig genug sei sie schon, aber… Er erfuhr, daß der Standort klimatische Gründe hatte. Die Höhenlage wurde durch die Zusammensetzung der Atmosphäre erzwungen. Die Bedingungen waren, wie er einsah, hier von seltener Gunst. Nein, hatte er betroffen abgewehrt, Hilfe brauche man nicht. In der Tat, sie hatten Hilfe angeboten, und aus ihrer Rede klang festgefügter, naiver Ernst. Auf seine einzige, wie er sehr wohl wußte, unaufrichtige Frage, was sie von ihm, Ferreira, erwarteten, hatten sie gelächelt. Er war ein Fremder und doch außerstande, sich unter ihnen fremd zu fühlen. Aber er war sehr müde gewesen, und sein überfordertes Gelenk hatte ihm zu schaffen gemacht… Die Kinder tobten noch immer am Weiher. Ferreira mußte sich beugen, als er durch die Türöffnung trat. Aus irgendeinem Grunde war er mehr als sonst bemüht, sein Hinken zu unterdrücken. Vor ihm hüpfte vierfacher Schatten von irritierend ungleicher Tiefe über den weißen Grund. Plötzlich rammten die Kinder ihre Füße in die Kreide. Der Lärm brach ab. Drei Körper erstarrten zu bronzegegossenen Posen, und drei Paar aufgerissene Augen waren auf Ferreira gerichtet. Nachhall der Stimmen hing noch in der Luft, da schnellten die Leiber mit kühnen Sätzen in die Flut, der sie sich vorerst lieber anvertrauen mochten als der unerprobten Nähe dieses absonderlichen, allzu langen Mannes. Die Wasserfläche wallte kaum auf. Ferreira pfiff anerkennend durch die Zähne. Als er das Ufer erreichte, sah er nur Wolken weißen Schlammes aus der Tiefe quellen, und dann tauchten auch schon die drei triefenden Köpfe dicht beieinander und in beträchtlicher Distanz vom Ufer auf.
»Kommt her!« rief Ferreira. Drei Wellenringel liefen auf der leeren Wasserfläche ineinander. Die Köpfe tauchten etwas näher wieder auf. Schließlich siegte die Neugier. Ana, Gisele und Per hießen sie also. Nässe rann an ihnen hinab, wusch dunkle Streifen aus der Tünche, die ihre Körper bedeckte, und färbte den Boden um ihre Füße grau. Gisele? Ferreira dachte an Gisele Dahl. Auch hier sahen ihn braune, intensive Augen an, aber die Haare waren sehr blond und dünn. Ana versteckte sich hinter dem großen Per. Aus der Deckung wies sie dem Mann verstohlen ein tröpfelndes Etwas vor, das sie in den Händen hielt. Ferreira sah einen glänzenden, zierlich durchbrochenen Schild und Büschel rötlicher Fächer und Borsten, die sich in die Luft spreizten und zitternd umeinanderspielten. Blitzschnell wandte sich Per um. »Ana!« Einen Haken schlagend, sauste Ana zum Ufer und legte ihren Fang behutsam ins Wasser zurück. Für eine Sekunde schien das Wasser im Umkreis zu kochen. »Sie ist unser bester Fänger. Ohne besondere Taktik, aber schnell. Sie kriegt eben die meisten«, sagte Per sachkundig. »Leider erst sechs Jahre alt.« »Vorläufig«, sagte Ana ernsthaft, vom Laufen rasch und tief atmend und durch eine Zahnlücke behindert. »Fangt ihr viele?« fragte Ferreira aufs Geratewohl. »Nur manchmal«, sagte Per, »wenn Murray und Arkadi welche brauchen, hier und auf den Stationen oben. Sie fängt fast alle allein. Ohne Ana wären wir aufgeschmissen.« Ana bohrte mit den Zehen in der Kreide. »Tüchtig!« sagte Ferreira, »deine Eltern werden stolz auf dich sein.« »Wer?« fragten alle drei. »Na, dein Vater«, und als sie schwiegen: »Dein Papa.« »So heißt doch keiner«, sagte Ana abweisend. Es entstand eine Pause. Auf den Körpern trocknete die Kreide zu weißen Krusten. Per kämpfte mit verklebten Locken. Ana hüpfte auf
einem Bein auf der Stelle. Dann umkreiste sie Ferreira. Sie hinkte, mal auf dem einen, mal auf dem anderen Bein. »Ana!« rief Per streng. Das Hinken ließ nach. Ana blieb stehen, stupste mit dem Finger über Ferreiras silanbeschichtetes Hosenbein. Der Finger ließ weiße Spuren auf der Hose zurück. Ana sah steil aufwärts, dem Mann in die Augen. »Du bist überhaupt nicht grün.« »Ich?« fragte Ferreira betroffen. »Ja. Bei euch ist alles grün. Per hat’s gesagt.« »Alles?« »Alles, nicht wahr, Per?« »Mir hat’s Arkadi gesagt«, bestätigte Per, »›die grüne Erde‹ hat er gesagt und ›dort ist alles grün‹«, und vermittelnd zu Ferreira hin: »Du siehst schon ein bißchen komisch aus.« »Na also. Wenn’s Arkadi gesagt hat«, Ana hob die spitzen Schultern. Ferreira hörte Mißtrauen und Herausforderung, und diesen Augenblick lang wäre es ihm recht gewesen, wenn er grün ausgesehen hätte, wenigstens ein bißchen. Von irgendwoher schrillte eine elektrische Klingel. »Schicht!« schrie Ana. Die Kinder stürzten sich in den Teich, das Wasser stäubte auf, aus nicht durchschaubaren Gründen waren ihre Körper diesmal rein und dunkel, als die drei das Ufer erkletterten. Sie rannten auf die Iglus zu, Ana legte eine Strecke starken Hinkens ein, verlor dabei aber zuviel Boden gegen Gisele, auf den Wegen dort war plötzlich einiger Betrieb. Per stoppte in vollem Tempo. »Geh zu Arkadi!« schrie er zurück und wies mit ausgestrecktem Arm auf das größte der sichtbaren Gebäude, einen Iglu, der aussah wie ein langgestreckter, halbierter, liegender Zylinder. Und dann war auch er zwischen den Bauten verschwunden. Ferreira bemerkte einen Streifen fein und regelmäßig geriffelten Gesteins, der eine Strecke weit und in schönem Bogen das Ufer säumte. Er starrte in das grüne Gewässer. Die trübe Tiefe lag regungslos.
Arkadis Bau war nur über eine Schleuse zugänglich. Ferreira stand krumm und unschlüssig in der niedrigen, winzigen, weißsteinernen Zelle, in die er geraten war. Der Rückzug nach draußen erwies sich plötzlich als versperrt, und erst als ein Generator sirrend Wolken adstringierenden Aerosols in den Raum sprühte, begriff er den Sinn der Sache und machte sich bereit, was da sonst noch kommen mochte, über sich ergehen zu lassen. Die sterilisierende Prozedur dauerte nur zwei Minuten. Das Aufglimmen grünen Lichtes in einem Indikatorfenster legte er als Genehmigung aus, seinen Weg zu diesem Mann Arkadi fortzusetzen. Mit Feuchtigkeit gesättigte Hitze, rotviolettes Licht im Spektrum von Chlorophyllstrahlern und Geräusche elektrischen, mechanischen und hydraulischen Ursprungs schlugen ihm entgegen; darüber schallte die helle Stimme eines Kindes: »Arkadi! Er ist da!« Einen Moment war Ferreira befremdet von dem programmäßigen Avis, aber die Großartigkeit der Anlagen, denen er sich hier gegenübersah, lenkte ihn ab. Der Raum war nicht zu überblicken. Bündel geradlinig ausgerichteter Rohrleitungen unter der Decke deuteten auf eine gewisse Weitläufigkeit. Ferreira erkannte den massiven Typ der Kupplungen und Verbundarmaturen sofort als denselben wieder, den er in der MAKROVAL-Fähre gesehen hatte. Unten verirrte sich der Blick in den Lamellenbatterien gläserner Algenkultivatoren, die dort zu Hunderten meterhoch und in veralteter offener Bauweise aufgestellt waren. Unter dem Licht der Spektralstrahler wirkte die dünne Schicht Grün zwischen den Scheiben fast schwarz, Ferreira sah sich hundertfach in diesem unfreundlichen Licht gespiegelt. Er erinnerte sich der Leere in der Biokultur der Fähre und verstand nun, warum das so war. Endlich fand er einen Durchschlupf durch das Gewirr der Küvetten. Weiter hinten vernahm er das Greinen eines hochtourigen Turbinenbohrers. Er steuerte auf das Geräusch zu. Dann sah er seitwärts unter einem Aufbau zusammengebastelter elektronischer Einschübe Kinderfüße baumeln. Um die Kante eines Gehäuses spähte ein Lockenkopf. Aber es war nicht Per. Ferreira hätte allenfalls Per hier vermutet. Es war ein fremdes Gesicht, und Ferreira vermochte nicht einmal sicher zu bestimmen, ob es das Gesicht eines Jungen oder eines Mädchens war. Das Kind riß plötzlich die Hand vor den Mund, prustete zwischen den
Fingern in fröhlichem Entsetzen, als sähe es in Ferreira einen überaus närrischen Mummenschanz. Ferreira blickte eine Sekunde lang auf seine Stiefel. Er schluckte, entschloß sich und stieg über ein Bündel unordentlich verschlungener Kabel auf das Kind zu. Es war also doch ein Junge, vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt. Er saß auf einem zu hohen Schemel vor dem Pult einer kleinen elektronischen Steueranlage. Als sei der lange, merkwürdige Mann zu Luft zerflossen, seit er so nahe stand, beschäftigte sich der Junge mit der Tastatur. Vor dem Pult flimmerte der Schirm eines Monitors. Ferreiras Blick biß sich an diesem Schirm fest. Hier wurden Algorithmen entwickelt. Es handelte sich wohl um eine Art programmierten Lernens. Die Ausdrücke erinnerten an mehrdeutig ausführbare Algorithmen, wie sie in der mathematischen Linguistik verwendet wurden, und soweit Ferreira dem Gang der Dinge überhaupt zu folgen vermochte, wußte dieser Junge, was er tat. Ferreira sah sich plötzlich außerstande, den Jungen anzusprechen. Er war hier, um Fragen zu stellen. Die Art Fragen, die er parat hatte, hielt diesen Maßstäben momentan nicht stand. Er fand wirklich kein geeignetes Wort. Verwirrt wandte er sich ab, um seinen Weg zu Arkadi fortzusetzen. »Arkadi!« schmetterte die helle Stimme über ihn hinweg. Er vergaß beinahe, seine Füße über die hängenden Kabel zu heben. Als er dann aufsah, stand ein hochgewachsener, schmaler, weißhäutiger Mann vor ihm. Überlanges, strähniges Flachshaar, dünner, ebenso flachsblonder Bart, wasserblaue Augen hinter einer merkwürdigen Brille, stechend, vielleicht lag es an der Stärke der Gläser, und unpassend inmitten freundlich erwartungsvoller, lebendiger Züge. Ferreira sah, daß die Augen des Mannes von rotentzündeten Lidern eingeschlossen waren. Er schätzte ihn jünger ein als sich selbst. »Ich bin Arkadi«, sagte der Mann, und zu dem Jungen hin: »Es ist gut, Kirill. Du hast noch eine gute Stunde.« Ferreira spürte verstohlene Blicke über seine Montur gleiten und das Bemühen des Mannes, die Neugier zu unterdrücken. Diese Leute gingen mit entwickelter Technik um und wunderten sich über einen Kos-
monautenoverall. Er wandte sich ein wenig ab, seine Hülle begann ihm Unbehagen zu bereiten. »Das ist Informationstheorie?« fragte er, um endlich etwas zu sagen. »Kirill wird Linguist«, antwortete Arkadi, »er wird’s schaffen.« »Mathematische Sprachanalyse? Wozu das?« »Es ist jetzt das dringlichste Problem«, sagte Arkadi verwundert, »die Arbeitsgruppe muß stark sein, wir verstehen sie noch nicht.« »Wen?« Ferreira begegnete einem verständnislosen Blick. »Dafür sind wir doch da. Habt ihr uns nicht deswegen hierhergeschickt?« Ferreira sah sich plötzlich dieser ungeheuerlichen Frage konfrontiert, er, der glaubte, hier fragen zu müssen. »Wen versteht ihr nicht?« fragte er nüchtern. »Ana hat sie dir doch gezeigt«, sagte Arkadi. Durch Ferreiras Hirn wirbelten einige Dinge zugleich. Die Direktive. Der Auftrag, der in den Zeiten verschollen war. Der eine und einzige Grund jener Landung vor einem halben Jahrhundert: Recherchen zur Kosmonogie dieses Planeten, dessen Bahn im Gravitationsbereich von mehr als vier Sonnen nach den klassischen Beweisen eine Unmöglichkeit war, eine physikalische Abnormität. – Ana. Das tropfende Tier in ihren winzigen Händen; eine Molluske. – Die geisterhafte Allgegenwärtigkeit der Information über alle seine Schritte, die er in dieser ungesetzlichen Siedlung ging. – »Das spricht?« fragte er ungläubig. Arkadi lächelte verlegen und strich eine Haarsträhne mit einer routinierten Bewegung hinter die Schulter. »Es gibt da einige Vorfälle.« Er sah Ferreira einen Moment lang unschlüssig an. »Du bist sicher sehr klug. Du wirst unzufrieden sein, wenn ich dir nur irgend etwas darüber sage. Ich weiß fast nichts. Ich verstehe ein wenig von Biochemie, von Chlorella und Scenedesmus und Hansenula und… Frag Maurice. Er wird dir’s erklären. Ich soll dir diese Anlage zeigen. Wir haben nur eine knappe Stunde, und die Zeit vergeht rasch«, sagte er drängend. Ferreira überkam ein jäher Verdacht. Er langte nach dem Mann, scheute vor der blassen Nacktheit dieses Leibes zurück, dann bekam er
einen Augenblick Arkadis Handgelenk zu fassen und sah scharf in die überanstrengten Augen. »Was tust du danach, wenn ich gegangen bin?« »Dies hier«, erwiderte Arkadi, sein Arm beschrieb einen Bogen, der die ganze Halle umfaßte, »meine Arbeit. Es darf nichts passieren. Wir brauchen zu essen und…« »Wie lange? Heute?« »Immer.« »Wer löst dich ab?« »Niemand. Es ist niemand da.« »Hier ist jeder Spezialist?« »Spezialist?« Arkadi zog die Brauen hoch. »Doch, ich verstehe dich. Ja. Es ist wohl so.« »Und wenn du schläfst?« Arkadi lächelte verschmitzt. »Unser Tag hat fünfundzwanzig Stunden. Fünf davon dürfen wir schlafen. Ich mach’s in drei Etappen. Das krieg ich schon hin.« »Alle schlafen fünf Stunden?« »Ja. Wenn sie sechzehn Jahre alt sind und gesund. Gehen wir jetzt?« Ferreira setzte sich mit beflissener Hast in Bewegung. Arkadi zeigte ihm sein Reich. Druckkessel, Detritusvorklärer in weißen, gemauerten Becken, Sedimenthauptklärer, Verdampfer, Verdichter, zwei schwere Klötze einer improvisierten Magnetisierungsanlage, zur Prophylaxe gegen Kesselstein, wie Ferreira erfuhr, Pumpen, Ventile, Membranfiltersterilisatoren, Mineralstoffdosierer, Sensoren, ein Röhrenwald und dazwischen Ellipsoide kustodischer Automatik oder Relais, mit Stolz vorgewiesen, grob, wie in einer Feldschmiede gefertigt. Ordnung und Pflege, kämpfend gegen den unerbittlichen Fraß der Abnutzung. Das war das Problem Wasser. Dann folgte die Abteilung der Algen und der Hefen. Arkadi turnte über die Armaturen, behende wie ein Tier, strich mit der Hand über Glas und Metall wie über lebendige Haut, die der Zärtlichkeit bedurfte. Welcher Mangel an technischen Mitteln, wenn aus dem Nichts Neues hatte geschaffen werden müssen. Welcher Riß zwischen dieser dürftigen irdischen Technik und dem seltsamen Menschen in ihrer Mitte, der aus irgendwelcher Urzeit seines Geschlechts herauf-
gestiegen zu sein schien, verschlagen in diese entlegene Stätte, der überaus feingliedrige Hände hatte und der eine Brille trug. Welche Hingabe, welcher Fleiß, welche spitzfindigen Ideen, um die grünen und weißen Kulturen gesund und bakterienfrei zu halten. Wozu? Es gab elf Algenrassen. »Warum elf?« Arkadi winkte ab, ratlos, er spähte über den Rand seiner Brille. »Es hat so viele Gründe…« Am Ende waren da Serien offener Flächenfilter mit einer Schicht feuchten Grüns, eine Trommel, in der jene Raspeln im Warmluftstrom wirbelten, und nahe dabei eine Menge Becher. Becher mit grünlichem Inhalt, andere mit grauen Flocken, Löffel und – wahrhaftig: Radieschen, eins bei jedem Becherpaar. Ferreira zählte genau. Er zählte die Radieschen. Es waren siebzehn. Er merkte sich die Zahl. Der Raum wurde immer weitläufiger, schien endlos. Auf ihrem Weg gingen sie an einer Nische vorüber. Weißes, abgeschirmtes Licht. Aus dem Lichtkreis jaulte der Turbinenbohrer, Ferreira spürte das penetrante Geräusch plötzlich in den Zahnwurzeln. Ein Mädchen werkte mit dem Bohrer. Es bearbeitete tatsächlich eine Zahnprothese, ein Ungetüm, wie es in jener Zeit üblich gewesen sein mochte. »Borbas fixe Idee«, sagte Arkadi, »mit den Zähnen ist er genau. Aber sieh dir das hier an«, er schwenkte seine Brille. Noch einmal Algen. Aber die Anlagen hatten hier andere Abmessungen. Glas, kleinere Volumina, ein Wirrwarr parallel laufender Systeme, Probenwechsler, fistelnde Lochbandstanzer, Kassetten, die das schmale, gemusterte Plastband verschlangen, Analytik mit dem technischen Stand jener vergangenen Zeit, aber mit raffinierter Ökonomie genutzt, einzelne Aggregate in der Größenordnung eines produktionsvorbereitenden Technikums. Arkadi sprach immer schneller, seine Hände suchten in expressiven Gesten zu verdichten, was die Sprache in dieser Eile nicht vermochte. Mit geübter Bewegung warf er den Kopf zurück, wenn die absonderliche Haartracht zwischen seine Finger geriet. Dies seien GenomMutationen, gezielte Aneuploide, genmanipulierte Varianten. Es gehe um Eisen-Protein-Komplexe vom Typ der Zytochrome. Sie seien anzureichern. Die Schwierigkeit: Zytochrome bildeten ein wunderbar aus-
gewogenes System von Elektronenspendern und Elektronenempfängern, sie bewerkstelligten die Atmung einer jeden einzelnen lebendigen Zelle. Es gab das ATP, Energiebilanzen, ein Heer in ihrer Wirkung verzahnter Fermente. Eingriffe wirkten fast immer tödlich, Schwermetalle seien letzten Endes Gift. Der helle glatthäutige Arm wies auf Kultivatoren, die genauso aussahen wie alle anderen auch. Arkadi sprach von wachsenden Ausbeuten an organisch gebundenem Metall, die nun schon siebenhundert Prozent der Normalwerte überstiegen, von pathologischen Befunden, wenn man’s so ansehen wolle, von Instabilität und kippenden Ungleichgewichten, er sprach von Vergeblichkeit und Erfolg. Ferreira folgte dem Strom der Worte mit hochgespannter Intensität. Der Gegenstand lag ihm allzufern, und die Furcht bohrte in ihm, über dem einzelnen das Wesentliche zu überhören. Seine ungleichen Brauen zuckten, während er da und dort eine Minute zu verweilen suchte, um das schmerzende Knie zu entlasten. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr. Die Worte liefen über ihn hinweg, ohne ihn zu erreichen. Bloßfüßige, unter den Geräuschen der Halle lautlose Schritte. Ein erwachsenes Mädchen? Nein. Eine junge Frau. Während sie vorüberging, fing er einen Blitz aus dunklen Augen. Ein Schwall braunen Haares, nackte Schultern, blasse, glatte Haut im Spiel der Muskeln, die sich unter ihr regten. Die Frau ging wie eine Katze. Ferreira starrte ihr nach. Plötzlich war sein Mund trocken wie Sand. Ferreira erschrak, Arkadi schwieg. »Das ist Gisele«, sagte Arkadi nach einigen Sekunden der Unsicherheit. »Gisele? Früh am Teich draußen war dieses Kind.« »Es sind Mutter und Tochter«, erklärte Arkadi lebhaft. »Ihre Mutter?« »Ja. Auch die Mutter der großen Gisele hatte diesen Namen. Gisele Dahl. Damals hatten sie noch zwei, so wie du, Louvis Ferreira.« »Ihre Mutter?« fragte Ferreira beharrlich. »Und ihr Vater?« »Ich verstehe dich nicht.« Arkadis Blick glitt von Ferreira ab, als jage er einem Gedanken nach.
»Wer ist der Vater des Kindes?« »Der Vater?« Arkadi betonte das »der«, er sah verlegen und unglücklich aus. Aber dann hellte sich seine Miene auf. »Du meinst den biologischen Vater?« Er lachte. »Wer weiß? – Gut«, sagte er dann, »bei Kirill und Gor geben wir uns Mühe, es nicht zu wissen.« »Ja?« fragte Ferreira dringlich. Ein Schwarm rascher Ideen ordnete sich zu einer Kette, die er plötzlich zu überschauen vermochte. »Jedes Kind hat seine Mutter. Aber alle Männer sind die Väter aller Kinder zugleich«, formulierte er. Er nickte, seiner Erkenntnis zustimmend und im Gefühl des Erfolges, wenigstens etwas zu begreifen. Er verstand die praktische Logik dieser Art Moral und den Nutzen, den sie für diese zu kleine menschliche Enklave bringen mochte – Umstände, die er anerkannte, ohne sie zu billigen. Arkadi schwieg. Auch er dachte nach. Dann sah Ferreira die wasserhellen Augen hinter den Gläsern auf sich gerichtet, stechend vor Wachsamkeit. »Ich weiß jetzt, warum du so fragst«, sagte der Mann. »Ich erinnere mich eurer seltsamen Sitten.« Eine Klingel riß ihm das Wort vom Mund. Kirill fegte an ihnen vorbei, der Schleuse zu, der Bohrer verstummte. Arkadi stand da, abwartend, als sei er auf dem Sprung. Ferreira spürte die Sekunden zerrinnen. Plötzlich hatte er die wesentliche Frage zur Hand: »Die Metallkomplexe, auf die ihr aus seid… Das Metall ist… Eisen?« »Ja. Natürlich. Deshalb wählten wir die Zytochrome.« »Ihr braucht Eisen?« »Ja.« »Eisen? Wozu? Es ist genug da.« Ferreira wies mit einer trägen Bewegung seiner Hand in die Halle. »Ich verstehe dich nicht, Louvis Ferreira«, sagte der Mann müde. »Wie lange sollten sie damit leben?« »Wer?« »Sie. Unsere… Partner.«
»Ihr produziert das Metall für… diese Muscheln?« fragte Ferreira überrascht. Aber er war keineswegs entgeistert. Er war Untersucher. »Ja. Wir brauchen das Eisen für sie.« Ferreira registrierte nur unbefangene Verwunderung in der Antwort. Sein Abstand zu diesem Mann schien sich zu erweitern, so, als rücke Arkadi von ihm ab in die Position des Vertreters einer abgelegenen Kultur zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung. Plötzlich schienen sie beide in verschiedenen Sprachen zu reden. Arkadi wünschte nichts mehr, als die seltsam springenden Fragen dieses eingehüllten Fremden so zu beantworten, daß der den Sachverhalt verstand. Er sah die Dinge schlicht und einleuchtend miteinander verknüpft, sobald man sie aus dem Meer der Fakten filterte. »Die Fermentketten ihres Stoffwechsels laufen auf andere Weise, als wir es bisher kannten«, erklärte er. »Die Evolution führte hier nicht zur Biosynthese von Zytochromen, aber auch bei diesen Wesen fällt die Elektronenkaskade der biologischen Oxydation über eine Stufenfolge von Komplexen, in denen Eisen die bestimmende Rolle spielt. Eisen ist wohl überall unersetzlich. Aber diese Welt ist eine Wüste ohne Eisen. So wie es bei euch Landstriche geben soll, auf die niemals Regen fällt. Der Vorrat an Eisen ist erschöpft. Er liegt in der Tiefe des Kalks begraben, von der Masse ihrer Vorfahren verbraucht, durch die Entropie in den Leichen ihrer Leiber unendlich verdünnt. Aber die heute noch leben, vermögen unsere Zytochrome zu assimilieren. Wir wissen das, und wir sind glücklich darüber.« »Gut«, sagte Ferreira, »und eure Algen, woher nehmen die das Metall?« »Wir gewinnen jetzt Wasser aus großer Tiefe. Nicht hier, Murray macht das, in den Bergen. Es gibt eine Leitung bis hierher. Zwei der Varietäten von Scenedesmus vermögen dem Wasser die Eisenspuren zu entziehen, die es enthält. Die Zellen stapeln das Metall in den Zytochromen.« »Jetzt erst?« »Seit neun Jahren.« »Das ist lange«, widersprach Ferreira.
»Wenn du es sagst?« antwortete Arkadi. »Ich weiß nicht, nach welchem Maß ihr die Zeit beurteilt. Es mußte lange gesucht und viele Male gebohrt werden, nicht alle Wässer sind geeignet. Die Ausbeuten waren zu gering.« Ferreira bedachte das Ausmaß dieser ungeheuren Arbeit. Sein Adamsapfel bewegte sich auf und ab. »Das alles für diese Mollusken?« fragte er kalt. Arkadi preßte die Lippen aufeinander. Seine Energie war verlodert, das Nachdenken fiel ihm schwer. »Ich weiß nicht sehr genau, was Mollusken sind«, sagte er. »Du hast keine gute Meinung von ihnen. Wenn du jene damit benennst, denen es widerfuhr, hier zu überleben, teilen wir dein Urteil nicht, Louvis Ferreira.« Er nahm die Brille ab, schloß eine Sekunde die Augen. Eine Träne löste sich aus den entzündeten Lidern. Ferreiras Blick folgte dem Lauf des Tropfens mit angestrengter Aufmerksamkeit. Der Untersucher wußte, da war noch irgendein Widerspruch, der ihn widerlegte. Aber dann sah er plötzlich, wie der Körper des Mannes von Schweiß glänzte, wie Arkadi verfiel. »Mann!« sagte er. »Du könntest längst schlafen?« »Ja«, sagte Arkadi verlegen. »Gehst du jetzt zu Maurice?« – Draußen stürzten Güsse kompakten Wassers herab, einer der kurzen, übertrieben heftigen Niederschläge dieser Landschaft. Ferreira sah seine Füße in Strudeln warmen weißen Breies verschwinden, die Tünche spritzte ihm bis zum Bauch. In phlegmatischer Beharrung verzichtete er auf die Rückkehr zu Arkadis Schleuse. Ohne Hast zog er die Halsdichtung zu, spürte, wie sich die Rinnsale innerhalb der Montur zwischen der Wäsche verloren. Er erinnerte sich, daß er hier keine Dächer oder Unterschlupfe gesehen hatte. Die Nackten hatten keinen Bedarf. Unversehens tauchte Ana aus dem fallenden Wasser neben ihm auf, winzig, triefend, eine amphibische Wilde. Hemmungslos platschte sie durch die Brühe und lachte. Dicht vor Ferreira blieb sie stehen, drückte ihm etwas in die Hand; Ferreira erkannte zwei Becher, sorgsam verschlossen, und ein Radieschen. Nach einem gewissen Stereotyp überspielte sie die Handlung, zupfte an Ferreiras Hose. »Da drin wirst du gar nicht naß«, stellte sie bedauernd fest und langte hinauf nach Ferreiras Hand, »ich bringe dich zu Maurice.«
Linguistik Noch während sie gingen, brachen zwei der Sonnen durch die Schleier des Regens, die große gelbe und eine gleißende kleine. Plötzlich schoß jeder Tropfen winzige Blitze in reinen spektralen Farben, die Luft erglänzte wie ein gläserner Dom aus wunderbarem kühlem Licht. Eine kurze Strecke schritten sie gleichsam inmitten eines Regenbogens vor dem milden Weiß dieser Welt, und diesen Augenblick lang glaubte sich Ferreira der Schwere seines Leibes enthoben. Aber er entzog sich dem Zauber, als sei der dazu bestellt, ihn, den Untersucher, nun auch mit magischen Mitteln gefügig zu machen. Oh, sie hatten ihn viel zu gut im Griff. Unversehens hinkte er stärker. Was er tat, war von ihnen arrangiert, was er wollte, wußten sie zu vereiteln. Sie gaben ihn von Hand zu Hand, hielten seinen Atem kurz, er fühlte sich unter ihnen nackter, als sie es waren, und in seiner Schwäche durchschaut. Ana hatte man ihm gesandt, ihn zu manipulieren, diese winzige Wilde. Er war nicht der Mann, ihr zu widerstehen. – Ferreira glaubte, sich in der Fähre wiederzufinden: das Halbrund des Rechenzentrums, nur kleiner, als er es dort gesehen hatte. Zeichen von Improvisation, nicht die Perfektheit industrieller Montage. Er erinnerte sich an die tausend leeren Chassis. Hier also fand er die Einschübe wieder. Dazwischen steinerne Tischfläche, selbst neben den veralteten Bandspeichern neolithisch wirkend. Stapel von Büchern, in Gruppen aufgehäuft, als seien sie geordnet zu erledigen oder in Angriff zu nehmende Arbeiten, einige der Stapel waren beflaggt mit Buchzeichen; Bandkassetten, Karteien, denen Gebrauch anzusehen war, ein Feld schöpferischer Tätigkeit und dennoch überhaucht von befremdender Sterilität. Und diese Anlage lebte. Es roch nach Ozon, der Raum summte, Bandspeicher zuckten nach den Kommandos der Maschine in mühseliger, mechanischer Hast im Zugriff zur konservierten Information. Ferreiras Blick traf auf Flecke knalliger Farben. Bilder. Sorgfältig gemalte Impressionen. Systeme gegabelter Linien, die letzten Verzweigungen blähten sich zu beizend grünen Ballons, ein Baum. Mennigerote und violette Tiere, jedes eine Anzahl Beine spreizend wie ein Schemel
und hoch wie ein Haus. Zwischen den Tieren standen auch tatsächlich Häuser da, Häuser wie Quader oder Obelisken, keine Iglus; die Wände von zahllosen, schreiend bunten Fenstern durchbrochen, die seltsam verkrümmt aussahen. Es waren wohl doch keine Impressionen. Es waren schmerzliche Reminiszenzen über eine Schlucht ohne Brücken hinweg. Ferreira überwallte eine Woge von Groll gegen den Zerstörer dieser Brücken. »Louvis Ferreira.« Er fuhr zusammen. Langsam wandte er sich um. Maurice stand hinter ihm. Maurice lächelte ihm zu wie einem Vertrauten. In dem dunklen, kraus behaarten Gesicht wirkte das Weiß der Augen wie graugefärbtes Glas. Im Blick der braunen Iris entdeckte Ferreira einen Schimmer anziehender Melancholie. Es war gar nicht so sehr der Bart, hinter dem sich dieses Gesicht versteckte. Die Ausstrahlung schien sich einfach nur nach innen zu kehren. Im letzten Moment beherrschte Ferreira seine Hand, die sich schon zum Gruß geöffnet hatte. »Maurice«, sagte er, trotz allem entschlossen, sich in dieser Stunde das Pensum nicht vorschreiben zu lassen. Vor einem der Steuerpulte fanden sie Platz. »Was möchtest du wissen?« fragte Maurice. Ferreira schluckte, aber er fing sich sofort. »Du bist Linguist?« erkundigte er sich. Maurice sah sein Gegenüber eine Weile ernsthaft an, nickte dann nachdenkend. »Ich befasse mich mit Mathematik, mit einigen Zweigen, die wir in der Physik der Schwingungen verwenden, und mit mehrdeutig ausführbaren Algorithmen, soweit man sie für Linkos braucht; Linkos bis zur zweiten Ebene der Vroedel-Skale und schon ein wenig in der dritten. Du magst recht haben, wenn du die Frage so meintest.« »Linkos. Lingua kosmika in der zweiten Ebene? Die wird hier verstanden?« fragte Ferreira voller Zweifel. Maurice zögerte mit der Antwort. »Wenn wir das wüßten.« Ferreira wich schon von seinem Konzept ab. »Ja? Was wäre dann?« Er sah, wie der Blick des Mannes über ihn hinwegglitt auf eine Weise, wie sie sich ihm in den Sekunden ihrer ersten Begegnung ins Gedächtnis gegraben hatte.
»Noch ein Jahr oder zwei Jahre, und wir könnten dorthin«, sagte Maurice. »Wohin?« »Zu euch.« »Du wünschst die Rückkehr?« »Rückkehr? Ich kenne nur dieses Land.« »Du möchtest zur Erde?« fragte Ferreira nach einigem Nachdenken. »Ja, alle möchten das.« Es verstrichen einige Augenblicke. »Ihr könntet zu jeder Zeit starten, in jeder Minute.« »Nein«, antwortete Maurice leise, aber mit sicherer Entschiedenheit. Ferreira erhob sich von seinem Schemel, hinkte die kurze Strecke zu den Bildern hin und betrachtete die Darstellungen voller Erbitterung. »Es ist ein… Daß es eure unselige Siedlung gibt, ist…« Plötzlich fand er die Möglichkeit, das Urteil zu formulieren, von unüberwindlichen Hindernissen verstellt. »Wer ordnet hier an, was getan wird und was zu unterlassen ist?« fragte er rauh und wußte, daß er die einfachsten Normen einer Untersuchung mit Füßen trat. »Niemand. Borba…« »Borba?« Ferreira wandte sich um, als bedürfe die Bewegung großen Kraftaufwandes. »Was für ein Borba?« »Der Kybernetiker. Der letzte der alten Mannschaft.« »Borba M’Bar. Der Äthiopier? Der lebt?« fragte Ferreira lauernd. »Er müßte alt sein, steinalt.« Maurice lächelte. »Borbas Jahre zählen wenig.« »Gut. Ich will zu Borba M’Bar. Wo ist er?« »Borba ist überall.« »Ich habe ihn nirgends gesehen.« »Er wird sich bei Murray aufhalten, in den Bergen. Aber seine Augen, seine Ohren und seine Sorge ist überall. Er ist über Funk mit jedem Haus verbunden.« Maurice blickte Ferreira ins Gesicht. »Warte, bis er dich ruft«, sagte er. »Bitte.«
Ferreira stampfte zu seinem Schemel zurück. Er rieb die Handflächen über die Knie, starrte auf einen Punkt vor seinen Füßen. Als seien die Steine dort durchsichtig, sah er dieses rätselhafte Gemeinwesen von einem Nervengeflecht durchzogen, die Stränge liefen in diesem Mann Borba zusammen, und er sah, wie die fremden Neuronen schon in ihn selbst ihre Synapsen eingesenkt hatten, um seine Handlungen auf Reflexe zu reduzieren. Mit Gewalt schob er das Bild von sich. Er nahm die Niederlage nicht hin. »Beginnen wir also von vorn! Eure Schalentiere, eure… Partner sprechen. Ist es so?« »Du bist Pilot? Atmosphärenkinetiker? Oder Kosmogoniker oder Planetologe?« Maurice sah betreten in irgendeine Ferne. »Ein Linguist würde so nicht fragen«, sagte er, als fühle er sich schuldig. Eine Weile brütete er vor sich hin, dann begann er zu sprechen. »Kurz nachdem die Fähre hier niedergegangen war, fanden sie sich ein. Einzelne. Nach wenigen Tagen war es eine Invasion. Manche Einzelheiten der alten Protokolle sind mir nicht gegenwärtig, und ich weiß jetzt nicht, wie sie es anstellten, aber im Handumdrehen hatten sie wohl das ganze Schiff überflutet, eine Kruste gebildet, oder es ist auch von gewissen Hilfsbauten die Rede, die sie errichteten, um jede freie Stelle der Außenhaut zu erreichen. Es wurde eine Menge unternommen nach den Programmen, die es für derartige Zufälle damals gab. Dann stellte man fest, daß sie die Außenhaut korrodierten…« »Eisen?« warf Ferreira ein. »Titanstahl. Ja. Es ging ihnen nur um das Eisen.« »Das blanke Metall?« »Solche Dinge weiß Arkadi besser«, sagte Maurice mit einiger Verlegenheit. »Eisen ist für sie wichtig genug, daß sie seinen Mangel zu empfinden vermögen. Als Durst oder als Müdigkeit oder… Irgendein starker Antrieb, der sie immerfort zur Suche zwingt. Ohne diesen Trick der Evolution hätten sie die Zeit nicht überdauert. Sie bedienen sich bestimmter Methoden, die Arkadi ›exosekretorische Chemismen‹ nennt, um das Metall assimilierbar zu machen. Dieses Vermögen retteten sie aus der Vergangenheit, aus einem Zeitalter, in dem meteoritisches Eisen eine Rolle gespielt haben soll. Arkadi kann…«
Ferreira bewegte seine Hand, als sei die Luft eine zähe Flüssigkeit. Er bestand nicht auf der Frage. »Und?« »Es gab Komplikationen. Nach einigen hitzigen Wochen stellte sich heraus, daß doch Gewalt angewendet werden mußte, eine Art chemischer Desinfektion. Woronzew war dagegen…« »Der Mathematiker? Das kann ich mir denken. Er hatte Gründe?« »Gründe gegen Gewalt hatten alle. Aber Woronzew führte einige Umstände an, die auch die rigoroseren Meinungen ins Wanken brachten. Während dieser Zeit wurde sehr intensiv an diesen Organismen gearbeitet, an ihrer Physis und an den Motivationen ihres Handelns. Eine der ersten Sensationen war die Entdeckung, daß in der elektrischen Komponente ihrer Nervenfunktionen – das, was wir hier Nervenfunktionen nennen – hochfrequente Wechselströme die tragende Rolle spielen, nicht Gleichströme wie bei uns.« Ferreira hob den Kopf. »Schwingkreise?« Maurice nickte. »Irgendwann mußte ihre Evolution zwangsläufig auf die Erfindung des Schwingkreises stoßen. Und man fand sie tatsächlich. Es war nicht einmal Woronzew, der ihre Korrespondenzen auf dem Empfänger einfing. Er hat sie nur mathematisch bearbeitet. Ein ungeheurer Aufwand. Ihre Frequenzen sind sehr hoch. Mikrowellen. Sie umfassen ein schmales Band und liegen nahe beieinander. Die nervalen Aktivitäten dieser Tausende Organismen verfilzten untereinander zu einem Wirrwarr von Interferenzen, die entschlüsselt werden mußten. In der Fähre liegen ungezählte Kassetten aus dieser Zeit. Die Resultate ergaben den Grund für Woronzews Einspruch.« »Er fand ihre… Sprache?« »Ja. Aber er fiel einer Täuschung zum Opfer.« »Woronzew?« »Nicht nur er. Ihre Sprache wurde seither noch mehrere Male entdeckt, nachdem sich die vorige Hypothese jeweils nicht mehr halten ließ. Wir sehen die Lösung dieser Frage heute in weiterer Ferne, als er sie gesehen haben mag…« Ferreira stoppte Maurice’ Worte mit einer Bewegung der Hand. »Wenn sie über Mikrowellen korrespondieren, ist das doch Sprache genug.«
»Nicht im linguistischen Sinne«, widersprach Maurice. »Ja. Sie verständigten sich. Die Art der Informationsübermittlung war auch der Grund für die rasche Invasion. Wir sind ziemlich sicher, daß damals alle oder doch nahezu alle Individuen dieses Areals an der Fähre versammelt waren. Gehirne nach dem Prinzip von Schwingkreisen führen zu überraschenden Effekten: Die Erfahrung eines einzelnen wird zugleich die Erfahrung aller, die sich in der Reichweite seines Senders befinden. Jede Information, sobald sie nur da ist, gehört allen. Aber Sprache beginnt erst mit dem zweiten Signalsystem, wenn das Wort für die Sache steht.« Ferreira nickte. »Das war Woronzew doch bekannt.« »Gewiß«, bestätigte Maurice. »Er fand in den Modulationen der Trägerwellen etwas, was er einfach ›kollektive Bilder‹ nannte. Der Begriff ist verworren definiert. Es ist niemand mehr da, der Woronzews Arbeiten zu interpretieren versteht.« Irgend etwas erlosch. Maurice spähte nach einem Punkt, der hinter Ferreiras Rücken lag. Ferreira wartete, ehe er sich träge umsah. Fast alle Bandspeicher standen. Dann quäkte ein Summer. Eine orangefarbene Leuchte blinkte inmitten der Rechnerfront in Sekundenintervallen. Maurice erhob sich mit einer stummen, abschließenden Geste. »Wir können ihn nicht mehr fragen«, sagte er im Gehen. Einige Handgriffe an einer der Tastaturen, Maurice führte ein handlich geformtes Gerät ans Ohr, lauschte. Dann sprach er, wenige Worte nur, mit einer neuen, entspannten Stimme, leise, als sei die Stimme jetzt von einem wohltuend wärmenden Schleier umhüllt: »Setze bitte E zwölf ein… Ja. Dreieins-vier. Gib acht, gegen die Mitte bleibt er leicht hängen… Ja, der Rauschpegel ist rechts. Sei vorsichtig… Das ist gut… Ach, mit Per? Morgen früh? Ich will’s versuchen…« Ein elektrischer Fernsprecher also, dachte Ferreira. Diese Stimme störte ihn. Wie sie es vermochte, die seltsame Fracht kahler Worte wie auf einer Welle aus Zutrauen und Hinwendung zu einem anderen Menschen davonzutragen. Er wünschte, Maurice möchte auch zu ihm so reden, und hoffte, daß er es nicht tat. Er, Ferreira, war Untersucher. Er hatte am Ende eine Entscheidung zu fällen. Die meisten Urteile gediehen besser in der Kühle. –
Sehr plötzlich und mit überstürzter Rastlosigkeit nahmen die Bandspulen in den Speichern ihre Arbeit wieder auf, die orangefarbene Leuchte erstarb. Maurice kehrte mit lautlosen Schritten auf seinen Platz zurück. »Dennoch hatte Woronzews Entdeckung praktische Folgen«, setzte er seine Rede fort. »Unter dem Druck der Notwendigkeit schlug er vor, die Invasoren einfach mit Linkos anzusprechen, mit einer von ihm in unglaublich kurzer Zeit entwickelten Variante. Es muß ein großer Augenblick gewesen sein, als der elektromagnetische Singsang draußen erstarb. Sie schwiegen tatsächlich, als man sie kaum mit den ersten Programmzyklen traktiert hatte.« »Sie verstanden die Information sofort?« »Oh, das ist damit keineswegs bewiesen«, antwortete Maurice. »Eine andere Erklärung liegt näher. Sie reagierten mit einem Reflex. Dafür, daß sie verstehen, gibt es nur einen Beweis: eine sinnvolle Antwort.« »Ja? Und?« »Man hat den Kursus mit vier Geschwindigkeiten auf vier verschiedenen Frequenzen ablaufen lassen, und zwar alle drei Komponenten: Achtung, hier ist Information – Lehrkurs der Sprache – die Information selbst. Der dritte Teil informierte über die Folgen ihrer Eisenfresserei und enthielt die Bitte, davon abzulassen. Man wußte nicht, wie schnell sie begreifen. Die schnellste Variante gab viertausend Zeichen in der Minute aus. Das gesamte Programm umfaßte etwa sechzigtausend Zeichen. Nach zwanzig Minuten begannen sie abzuziehen.« »Das wäre kein Beweis?« Maurice schüttelte den Kopf. »Der Effekt läßt sich als Flucht deuten.« »Flucht wovor?« »Vor dem elektromagnetischen Lärm.« »Sie kehrten zurück, als Linkos schwieg?« »Niemals.« »Na bitte!« sagte Ferreira. Maurice hob langsam die Schultern. »Man versorgte sie mit Eisen. Sie hatten es nicht mehr nötig, die Fähre zu benagen. Woronzew schildert eine Menge anderer Vorfälle, die man so auslegen kann, wie du möchtest. Eines Tages gingen einige Steroide aus. Man hatte nicht auf so lange Sicht hin hausgehalten. Der Arzt, ich
denke, es war damals Symkins, brachte Woronzew dazu, eine Bitte um Hilfe, haarsträubend naiv formuliert, über Linkos an sie zu übermitteln. Kurze Zeit später folgte ein Mann einem ihrer Wanderwege. Er fand einen Tagsee aus schwarzer, dickflüssiger Brühe, eine Art Erdöl. Sie haben ein Rezeptakulum in ihrem Körper, das sie von Zeit zu Zeit mit diesem Öl füllen müssen. Sie brauchen es zum Leben, vielleicht so wie wir Vitamine. Übrigens gibt es dort interessante Tankanlagen…« »Diese Mollus… Sie arbeiten?« warf Ferreira zweifelnd dazwischen. Maurice schwieg. Er suchte nach einem Wort. »Nein«, sagte er dann. »Ich las über… Ameisen?« Er sah Ferreira abwartend an. »Ich verstehe, was du meinst«, sagte Ferreira. »Die machen in der Tat erstaunliche Dinge, aber Arbeit ist das nicht«, gab er zu. »Die Zapfstellen nutzen wir heute selbst«, fuhr Maurice fort, »denn die Steroide sind wirklich in diesem fossilen Material vorhanden. Man hat den Fall minutiös analysiert. Woronzew wollte Klarheit. Es spricht ebensoviel dafür wie dagegen, daß es Zufall war.« Plötzlich wandelte sich das Kolorit im Raum, die Dinge wurden von neuen Farben übergossen, Ferreira blinzelte in die Helle des Fensters. Dann sah er, daß die Bücher jetzt doppelte Schatten warfen; ein Spiel von Purpur, Grün und wärmendem Dunkel, wo die Schatten aufeinanderfielen. »Na schön«, sagte er, die Schatten betrachtend, »ob erstes, zweites oder irgendein hybridisches Signalsystem… Das ist doch eine akademische Frage.« Er korrigierte sofort: »Sie hat kein praktisches Gewicht.« »Seht ihr das so, Louvis Ferreira?« fragte Maurice verwundert. »Wie sollen sie dann erfahren, auf welche Weise sie sich das Eisen verschaffen können, wie sie es selbst gewinnen müssen, wenn wir nicht mehr da sind? Arkadi hat die Technologie in der Hand. Du warst bei ihm. Er sagt, daß die Methode der Entropie unterliegt; sie läuft nicht von allein, man muß sie beherrschen, und das wird immer so sein. Wir haben es mit Linkos versucht. Vier Jahre lang. Es war, als ob wir in den Wind funkten.« »So«, sagte Ferreira gedehnt. Da stand er wieder vor diesem unergründlichen Loch, in dem seine Fragen zu versinken schienen. Warum
hängten sie sich so an diese Tiere? »Sie wollen nicht verstehen, sie können nicht. Sie sind zu dumm!« rief er erbost. Maurice’ Gesicht erhellte sich in offener Bewunderung. »Du hast eine ungewöhnliche Art zu formulieren«, sagte er in unverhoffter Lebhaftigkeit. »Aber ich denke, dein Urteil ist scharf und rasch. Woronzew benötigte einige Jahre für diese Einsicht. Sie liegt nicht auf der Hand. – Sie begannen sehr bald, sich zu vermehren. Die Veränderung ihrer Anzahl war wohl eins der wesentlichsten Grunderlebnisse unter den neuen Bedingungen ihres Daseins. Man beobachtete, wie sie sich zu Gruppen formierten. Gruppen unterschiedlicher Stärke fanden sich zu seltsamen Riten zusammen; die Beobachter sahen in der Art der Bewegungen etwas, was sie mit ›Prozession‹, ›Tanz‹ und ›Feier‹ bezeichneten. Jede dieser Episoden endete mit gewissen Variationen der Gruppenfrequenz. Nach mehr als zwei Jahren setzte sich die Überzeugung durch, daß die Veränderung der Gruppenstärke der eigentliche Inhalt dieser Zeremonien sein mochte. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, sie als Ausdruck gesellschaftlicher Phänomene zu deuten, bis sie Woronzew dann plötzlich als Spiele erklärte. Als Spiele mit der Zahl. In dieser Zeit klaubte er aus dem Rauschen ihrer Hirnströme neue Figuren. Die Bänder mit den eingefangenen Modulationen türmten sich zu Bergen. Aber er siebte aus der ungeheuren Menge der Substanz diese Figuren aus und erkannte in ihnen Zahlen. Um das zwanzigste Jahr begannen sie, die Arbeitsgruppe um Woronzew durch ihre Operationen mit diesen Zahlen in Erstaunen zu versetzen. Zu dieser Zeit war ich sechs Jahre alt. Woronzew nahm mich zu sich, um mich für die Mathematik zu interessieren, für Algorithmen und Linguistik. Eine Zeitlang lernte ich zusammen mit ihm und mit ihnen, mit Zahlen zu spielen.« Maurice lächelte. »Wir sind einander treu geblieben, nur ihnen vermag ich heute nicht mehr zu folgen. Sie eilen in bestürzender Schnelligkeit davon. Wenige Jahre später fanden wir Ausdrücke, die den Peanoschen Axiomen glichen, die Basis der natürlichen Logarithmen wurde als transzendent erklärt. Es folgten viele Zeichen von immer tiefer lotender Einsicht in das Wesen der Zahl, Lösungen bisher ungeklärter Hilbertscher Probleme, und heute finden wir eine Menge Formalismen, deren Logik wir nicht mehr verstehen. Sie schicken sich an, uns zu überrunden.«
Ferreira starrte auf die farbigen Schatten. Sein Finger fuhr ihren langsam wandernden Konturen mit zwangvoller Genauigkeit nach, als benötige er die geometrische Realität dieser Linien zum Halt. Der Grund unter seinen Füßen und den Füßen des Schemels, auf dem er hier saß, schien nachzugeben. Die Begrenzungen des Raumes entwichen, alles Geräusch verstummte. Er sah sich über eine hohe, geländerlose Brücke gehen, ohne noch das andere Ufer zu erkennen, und spürte, daß die Brücke hinter ihm Stück um Stück, so wie er auf ihr vorwärts schritt, in die lautlosen Fluten sank. Der Verlust seiner Position war schwierig durchzustehen, wie immer, wenn er sich auf fremdem Territorium bewegte. Jetzt, wie so oft zuvor, war es wie ein erstes Mal: Die Revision dieses ungesetzlichen Unternehmens kehrte sich in eine Revision seiner Aufgabe und seiner selbst. »Ich habe mich geirrt«, sagte er schroff, ohne jetzt genauer zu wissen, worin. Maurice mochte den Einwand überhört haben. Mit jäh aufbrechender Leidenschaft fuhr er in seiner Rede fort: »Durch die Aufhebung des Mangels, unter dem sie litten, vermochten sie sich zu vermehren. Mit ihrer Anzahl wuchs die Kapazität ihres einen kollektiven Hirns. So beobachten wir die Evolution ihrer Intelligenz, die sich mit einer Eile vollzieht, die ohne Beispiel ist, einer sonderbaren Intelligenz. Sie kann keine Rezepte für die Hand erfinden und keine Algorithmen, um ihre Welt zu verstehen und sie zu gestalten. Es gibt hier keine Hände. Sie bedienen sich keiner Technik außer der ihres erstaunlichen Leibes. Alle menschliche Tatkraft gilt dem vorgefaßten Ziel. Sie aber haben keins. Der Geist ist ihnen ein Jux. Wozu, außer zum Spiel, sollten sie ihn gebrauchen? Er fällt einfach ab, eine exzessive Funktion ihrer schwingenden Hirne. So beginnen sie mit dem äußersten Luxus des Geistes, mit der Zahlentheorie. Sie sind nicht imstande, in Linkos Nachrichten zu sehen, Symbole für Information, für praktische Information, deren Bedeutung sie lernen müssen, um zu überleben. Sie kommen nicht darauf. Sie sind wahrhaftig zu dumm.« »Es ist absurd«, bemerkte Ferreira, ohne darauf zu achten, was er sagte, »von jeher sieht man im Hirn das Überlebenswerkzeug höchster Wirksamkeit.«
Maurice wiegte den Kopf. »Auch Menschen gebrauchen es zweckentfremdet. Auch wir erfanden die Zahlentheorie, die Nur-Liebe, die Neugier und…« Das Spiel der Schatten auf dem weißen Stein des Tisches war erloschen. Ferreira sah, wie die Leere des Fleckes zu Bildern gerann, zu zwiefachen Bildern seiner selbst, des Mannes, der sich im Wirbel scharf umrissener, krachend aktionsreicher Gefahr selbst riskierte, kühl handelnd, weil für etwas anderes kein Raum war – die Zeichen an seinem Leib waren deutlich genug, daß es diesen Mann gab –, und des anderen, ebenso vertrauten, den ein Geschehen zur Seite zu schieben vermochte, das plötzlich über abgesteckte Grenzen hinaus anschwoll, der unter den Stößen unerwarteter Konsequenzen erschauerte und nicht nachzudenken wagte über die Folgen, von denen er nur wußte, daß sie eintreten würden. Eine widerliche Schizophrenie. Er raffte sich zusammen. Es war ihm nicht erlaubt, in hypnotische Starre zu fallen, nur weil die Dinge plötzlich zu groß wurden. Groß bis zur Unmöglichkeit. Er versuchte sich selbst zu verspotten, um sie zu verkleinern. Es gelang nicht. Also setzte er auf die Zeit, daß sie die Maßstäbe – die dieser Welt und seine eigenen – einander annähern mochte. »Ist es möglich«, fragte er zögernd, »ich würde sie gern sehen.« »Per bringt dich morgen zu Murray«, sagte Maurice. »Werden dir zwei Stunden Weg nicht zu beschwerlich sein?« »Nein. Es wird gehen«, antwortete Ferreira und erhob sich. Er spürte sein Knie nicht. Plötzlich, als steche ihn eine Nadel schmerzhaft ins Mark, fielen ihm Maurice’ Worte an jenem Fernsprecher ein.
Die Exkursion Als er in der Frühe des zweiten Tages aus seinem Iglu trat, gab es in der Tat nichts anderes als köstliche Frische, Licht und den vertrauten Geruch von Kreide und Wasser; die Einzelheiten der Landschaft lagen so da, als wollten sie mit ihm zu reden beginnen. Die Gründe für seine Furcht waren entwichen, der Raum war voll ausgefüllt mit freundlicher Atmosphäre. Diesmal hörte er nichts. Das Wasser lag grün und still und
eben wie Glas. Er erinnerte sich des vorangegangenen Morgens und der Kinder, der winzigen Ana, und empfand flüchtige Enttäuschung. Plötzlich war Per da. Immer tauchten sie hier auf wie aus dem Nichts oder dem Boden entwachsen, aber jetzt legte er es nicht zu ihren Ungunsten aus. Schließlich war Per dieser Landschaft eingeboren, und es stand ihm zu, sich ihrer Gegebenheiten ganz natürlich und ohne Hinterlist zu bedienen. Per war in einen Rucksack gehüllt, wie ihn Maurice getragen hatte. Die breiten Gurte deckten den mageren Körper fast zu, ihre Enden waren viel zu lang und sträubten sich von ihm ab wie zerbrochene Federn eines absonderlichen, gerupften Vogels. Seine Füße steckten in Sandalen aus glänzend braunem Material. Es war geflochtenes Magnetband. Ferreira fühlte wieder diesen Blick aus Neugier und Skepsis über sich hinlaufen. Pers Augen blieben eine Sekunde an den Reißverschlüssen seiner Beintaschen hängen und eine zweite an seinen Stiefeln. Ferreira empfand die Visitation wirklich wie eine Prüfung. »Was ist da drin?« fragte er rasch und wies auf Pers Rücken. »Ich weiß nicht. Zu essen für die Gruppe oben«, antwortete Per widerstrebend. »Ist es schwer?« »Nein. Du bekommst es nicht«, sagte Per und setzte sich in westlicher Richtung in Marsch. Es war die gleiche Art Weg, wie ihn Ferreira schon gegangen war, diesmal ansteigend. Nach einigen Minuten stieß eine Rohrleitung auf den Pfad zu, und von da an liefen Pfad und Leitung nebeneinanderher. Das Rohr war stumpf vom Alter und überzogen von Kreide, da und dort verschüttet von verhärtetem Schlamm oder weißem Geröll. Per hielt im Gehen die Augen aufmerksam auf das Rohr gerichtet. Ferreira vermochte Pers Tempo gut zu folgen. Von Zeit zu Zeit änderte sich die Beschaffenheit des Gesteins, über das sie schritten. Die Sedimente waren aus tektonischen Gründen gekippt oder gefaltet und von der Erosion aufgeschlossen, so daß Formationen unterschiedlichen Alters zutage lagen. Eine Zeitlang war der Weg grob und brockig von derben Schalen; eine ungeheure Anzahl dieser fossilen Gehäuse baute den gesamten Berg auf. Faustgroße Knollen zersprangen unter Ferrei-
ras Sohlen zu scharfkantigen Bruchstücken, andere hielten stand, und er hatte mit seinen ungleichen Schritten um Gleichgewicht zu kämpfen. Per schien gewichtslos über die Buckel hinwegzuschweben, er sah kritisch auf Ferreiras Stiefel. Auch Ferreira warf einen nachdenklichen Blick auf Pers günstigeres Schuhwerk. Hinter einer Biegung des Berges glänzte ein Hang blendend auf von ungezählten perlmuttenen Funken. Ferreira hob die eine oder andere Schale auf. In intaktem Zustand waren sie rundum geschlossen und von schwer bestimmbarer Symmetrie. Über ihre Oberfläche liefen gewundene Reihen von Löchern, durch die hindurch die lebende Substanz aus dem Inneren der Schale heraus einstmals mit der Umwelt Kontakt gehalten haben mochte. Ferreira drehte die Schalen in der Hand. Trotz ihrer Dicke waren sie überraschend leicht und warfen kaum Schatten. Einen Augenblick gedachte er der Fülle des Lebens in den Gewässern, die nun verschwunden waren; mit den Gewässern war auch das Leben in ihnen dahingegangen. »Die sind nicht besonders«, sagte Per. Dann änderte sich das Geräusch ihrer Schritte. Der Weg und die Böschung leuchteten noch weißer, als sie vorher schon gewesen waren. Der fossile Boden wurde stäubend fein, und nach einigen Schritten erkannte Ferreira jene dünnen Lamellen wieder, die so leicht waren, daß sie sich scheinbar ohne Ursache vom Boden loslösten und in der erwärmten Luft umhergaukelten wie aus eigener Kraft. Ferreira dachte an ausgeglühte Asche einer verbrannten, riesigen Bibliothek. Per beobachtete Ferreiras naive Forschungen. »Warte«, sagte er und erklomm die Böschung an einer Stelle, die er für geeignet hielt. Eine Weile blieb er in einer Wolke aufflatternder Flocken verschollen. Weiß bestäubt tauchte er wieder auf. Er hielt eine weiße Tafel in der Hand. Sie setzten ihren Weg einige Minuten lang fort. Per hielt an, als der Pfad wie eine Stufe auf einer Seite steil und ziemlich tief abfiel. Er setzte sich in halsbrecherischer Weise auf diese Stufe und ließ die Beine in den Abgrund baumeln. Er streckte die Arme vor sich in die Luft, und mit einer schnellen Bewegung blätterte er die Tafel auf. Sie fiel zu einer Unmasse zarter Blätter auseinander. Die Blätter waren dünn bis zur Durchsichtigkeit. Sie schmiegten sich sofort in die Thermik, begannen erst langsam, dann immer rascher zu rotieren, der Kurs ihrer Flugbahn
erhielt mit diesem Trick Stabilität, so daß sie als scharf umrissenes, schillerndes Wölkchen miteinander aufwärts und davonschwebten, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Per genoß Ferreiras Verwunderung. »Du kennst dich mit diesen… aus?« Ferreira ließ die Nomenklatur offen. Die seine hatte sich bisher als ungeeignet erwiesen. »Freilich«, sagte Per. »Es sind fossile Skelette«, fügte er ernsthaft hinzu und schwang sich wieder auf den Pfad zurück. »Ich kenne die alle. Diese hier heißen Kosmonauten. Es geht nicht immer so gut, sie fliegen zu lassen. Arkadi kann’s am besten.« »Kosmonauten?« »Ja. Wir alle nennen sie so.« »Warum?« Per rückte an seinen Gurten. »Mit dem Eisen weißt du nun Bescheid?« »Ja«, sagte Ferreira. »Sie haben schon lange keins. Arkadi sagt, es wurde schon vor mehr als fünfzig Millionen Jahren knapp. Damals gab es noch viele verschiedene Formen, viel mehr, als man hier sehen kann. Arkadi kennt vierhundertdreiundzwanzig Arten. Der weiß sie auch lateinisch. Aber es gab sicher ein paar tausend, sagt Arkadi. Wir haben nur noch nicht alle gefunden. Wie viele einer Art zusammen lebten, siehst du hier selbst. Sie machten sich die paar übriggebliebenen Eisenionen streitig. Es entwickelten sich Formen, die hoch über der Stratosphäre schweben konnten. Dort fanden sie meteoritischen Eisenstaub. Es war dort nicht zu kalt; irgendeine Sonne schien immer. Arkadi sagt, während sie lebten, hatten sie eine dunkle Farbe. Das waren die Kosmonauten, und die Zeit, in der sie lebten, war die Kosmonautenzeit. Wenn sie starben, fielen sie langsam herunter. Und hier liegen sie jetzt.« Ferreira hörte Pers Erklärungen so ernsthaft zu, wie sie vorgetragen wurden. Die Rolle der Kinder in diesem ungewöhnlichen Gemeinwesen war ihm keinesfalls durchsichtig – aus Mangel an Einblick und Muße, ihn zu gewinnen. In seiner reaktionsträgen Art sah er zweifelnd auf diese zehn- oder elfjährige Persönlichkeit, die schon ein wenig schlaksig
wurde, und mißbilligte den Umstand, daß er so tief auf sie hinabblicken mußte. War es erlaubt, so mit Kindern zu verfahren, wie man es hier tat? Er war Untersucher. Letzten Endes ging es immer um die Menschenwürde. Aber dann bemerkte er den angespannten, abwartenden Ausdruck in Pers Gesicht. Er entschied sich für Per und fragte nach Beweisen für die Kosmonautenhypothese. Zu seiner Überraschung schien Per um eine Antwort verlegen. Sie sollten jetzt wohl weitergehen, riet Per. Und während sie ihren Weg fortsetzten, hielt er sein Augenmerk weiterhin auf das Rohr gerichtet. Er ging voraus. »Du kennst den alten Auftrag der MAKROVAL?« fragte er plötzlich, ohne sich umzuwenden. »Ja«, sagte Ferreira, hellwach. Per hatte an einen Umstand gerührt, auf den Ferreira empfindlich reagierte. Und Per schien das zu wissen. Ferreira spürte Borbas Regie. Die Fäden in der Hand des Äthiopiers bildeten ein dichtes Netz, sogar die Kinder waren darin verwoben, um ihn, den Untersucher, darin zu fangen. Aber diesmal lächelte er. »Dann ist es leicht, dir Arkadis Theorie zu begründen«, stellte Per fest. »Im Archiv liegen sehr viele Nachrichten über die Bahn des Planeten. Sie ist unregelmäßig. Einmal schnitt sie die Bahn einer Wolke aus kosmischem Staub. Die Wolke enthielt Stickstoffverbindungen und meteoritisches Eisen. An den Magnetpolen verdichtete sich der Staub und drang in die Atmosphäre ein. Die magnetischen Pole wandern. Arkadi sagt, wenigstens einmal zog einer auch über dieses Land.« »Wann war das?« »Vor weniger als fünfzig Millionen Jahren. Als die Staubwolke da war und als es die Kosmonauten gab. Es kann kein Zufall sein, sagt Arkadi.« »Gibt es Zwischenformen dieser Entwicklung?« »Arkadi hat welche gesammelt, aber er ist nicht zufrieden. Er sagt, vorläufig wären es missing links«, antwortete Per. »Nicht wahr, du glaubst es nicht?« fragte er nach einigen Schritten. »Arkadi kannst du schon glauben. Und ich zeige dir noch einen anderen Beweis.« Der Weg führte über eine sanfte Kuppe. Kurz vor ihrem höchsten Punkt versanken Pfad und Rohr in einer Lache. Per gebot Halt und
betrachtete Gewässer und Umgebung mit Mißtrauen. Er entledigte sich des Fallschirmsackes, beförderte einige Gläser daraus hervor und prüfte Proben des Wassers mit einer einfachen analytischen Reaktion. Ferreira setzte sich und nutze die Rast, um das lädierte Bein zu strekken. Plötzlich fiel ihm schmerzhaft ins Bewußtsein, daß er dahin ging, wo auch Borba war. Am östlichen Horizont ragte die Fähre wie eine Nadel steil aus den großartigen Kulissen der Bergzüge, durch die Ferne bläulich und ein wenig schief. Ferreira bedachte die Winzigkeit dieses Zeichens, und er bedachte sie nicht ohne Gewinn. »Es ist nichts«, sagte Per, »nur Regenwasser, kein Eisen, die Leitung ist dicht.« »Du wartest die Leitung?« »Ja«, sagte Per ohne Stolz. »Es ist meine Leitung, im vierten Jahr. Ich mache sie auch wieder dicht, wenn’s nötig ist. Ich kann schweißen. Murray braucht die Zeit.« Per pirschte sich an Ferreira heran, jedenfalls hatte Ferreira diesen Eindruck. Der Blick des Jungen hing an Ferreiras Beintaschen. Es war der Reißverschluß, der ihn reizte. Ferreira öffnete den Verschluß und zog ihn wieder zu. Pers Augen und Finger bemächtigten sich, zurückhaltend erst, aber bald von Entzücken getrieben, dieses simplen technischen Details. Ferreira zog aus der Tasche des anderen Beines den kleinen Havarieschweißer hervor und schnitt den Verschluß aus der Kombination. »Ein Andenken an Louvis«, sagte er. Per ließ die Trophäe eilig in seinem Rucksack verschwinden. Nach einer halben Stunde wurde der Weg schwieriger. Zu ihrer Rechten öffnete sich eine Schlucht, die so tief in den Kalk gegraben war, daß ihre Sohle unsichtbar blieb. Von dort ragten steinerne Pfeiler herauf, gigantische Stämme geköpfter Bäume, die vor der gegenüberliegenden Wand aufgereiht waren wie die ins Unmaß vergrößerte Bepflanzung einer Allee. Die Wurzeln der Bäume schlangen sich entblößt, tot und ausgeblichen in der Luft, als hätte eine wilde Flut die Straße hinweggeschwemmt; unten, wohin der Blick nicht mehr gelangte, mochten sie sich in den Boden krallen. Zwei der Sonnen hingen jetzt schräg über der Schlucht. Die absonderlichen Schöpfungen erosiver Kräfte leuchteten in Rosa und Blau und waren von beißend weißen Konturen umris-
sen. Zwischen dem Astwerk der Wurzeln lagerte grüner, fleckig durchsonnter Dämmer. »Ruh dich aus!« sagte Per. Und als Ferreira mit gestreckten Beinen dasaß, sein Knie reibend, wies Per über die Schlucht hinweg. »Gut, nicht wahr? Arkadi war oft dort drüben, bis er wußte, was das ist. Jetzt weiß er’s. Ein Glück, denn nun hat er keine Zeit mehr für solche Spiele. Man wundert sich, daß sie nicht umfallen«, fuhr Per fort. »Arkadi sagt, er habe sich auch gewundert. Deshalb ging er hin und fand, daß diese Steine so stabil sind, weil sie sich aus vielen kleinen Röhren zusammensetzen. Jedes Röhrchen war die Schale eines Lebewesens, und sie alle sind fest miteinander verwachsen. In Röhren wird Wasser transportiert, und die Dinger sehen wirklich aus, als wollten sie von dort unten etwas aufsaugen. Und das haben sie auch gemacht, sagt Arkadi. Die Kosmonautenzeit ging zu Ende, als der Planet die Eisenwolke verließ. Die fossilen Lager der fliegenden Plättchen enthielten meist viel mehr Eisen, als sonst im Kalk zu finden war. Das machten sich die hier zunutze. Sie wuchsen als Rohre in die Kosmonautenlager ein und laugten sie mit einem Wasserstrom aus. Später haben Wasser und Wind die Schlucht ausgehöhlt, nur die härteren Röhren blieben stehen.« Per sah Ferreira ins Gesicht. »Ich weiß schon, was du fragen willst«, sagte er pfiffig. »Der Beweis: Solche Röhrenkolonien gibt es nur da, wo auch Kosmonautenlager sind. Und Arkadi hat viele Zwischenformen gesammelt. Aber die größten Arten sind gar nicht die jüngsten; im Gegenteil, die großen gingen an den kleinen zugrunde, sagt Arkadi, denn die kleinen haben auf ihnen schmarotzt.« Dann schloß er bündig: »Das ist der zweite Beweis für die Kosmonautentheorie.« Ferreira schwieg eine Weile. »Das alles hört sich gut an für einen wie mich, der wenig davon versteht«, sagte er dann. »Aber es ist nur ein Indiz, kein Beweis.« »Kein Beweis? Was ist ein Indiz?« »Ein Umstand, der Verdacht erregt.« Juristischer Termini bedarf man hier nicht, dachte Ferreira; und ein wenig bitter: Borba ist das recht. Er sah die Andeutung einer senkrechten Falte über Pers kindlicher Nase.
»Es erregt den Verdacht, daß es die Kosmonauten gegeben haben muß?« fragte Per. »Ja. So.« »Du bist genau.« »Man muß genau sein«, sagte Ferreira und erhob sich. »Es ist nicht schwer. Schwieriger ist es, zu wissen, wann man genau sein muß und wie genau man sein muß. Gehen wir!« Per hielt sich jetzt an Ferreiras rechter Seite. »Louvis«, sagte er, »du bist wie Arkadi. Der haut manchmal solche Sachen heraus.« Ihre Schatten liefen nun vor ihnen her. – Murray erwartete sie schon. Sie sahen ihn unten stehen, ein Stück vor den Iglus, klein und noch tief unter ihnen. Er schwenkte die Arme. Ferreira glaubte, auf ein blasses Insekt hinabzublicken, das man nur an seinem scharfen Schatten wahrnahm, ein winziges, zappelndes Tier in dieser ungeheuren, schweigenden Einsamkeit. Dann hörten sie Murrays »Hallo!«. Einige Minuten später, als der Pfad in die Talsohle auslief, stand dort aber doch ein stabiler Mann. Murray bedachte Per mit einem freundschaftlichen Klaps und wies ihn in irgendeine Richtung hinter die Hütten. »Eine Überraschung für dich!« Dann wandte er sich Ferreira zu: »Ich bin Murray.« Ferreira sah in ein ruhiges Gesicht, das auf eine angenehme Weise ebenmäßig und unauffällig schien, so als würde es von den Jahren auf immer unbehelligt bleiben. Aber er vermutete hinter den gleichmäßigen Zügen verborgene Beweglichkeit, wie er sie oft bei empfindsamen Menschen mit produktiver Phantasie beobachtet hatte. Der Mann war breit gebaut mit modellierter Muskulatur, brünett, langhaarig wie alle. Und knapp über dreißig Jahre alt wie alle. Wie alle Erwachsenen, präzisierte er und fixierte die Einsicht rasch, um sie zu bedenken. Er ertrug den erkundenden Blick in sein Gesicht, der dann über den Körper glitt und einen Moment zu lange auf seinem rechten Bein verharrte. Erregende Sekunden einer Begegnung. Da bugsierte ihn Murray schon auf eine weißsteinerne Bank vor einem der Iglus. In der Sonne solle er eine Minute verschnaufen; er, Murray, komme um ein weniges zurück. Auf der Bank fand Ferreira zwei Becher vor, einen Löffel und ein Ra-
dieschen. Aha, dachte er. Die abfertigende Eile verwandelte sich in Takt. Seine weiße und grüne Mahlzeit löffelnd, blinzelte er gegen das Licht. Voraus schlängelte sich der Pfad in kaum sichtbaren Serpentinen bis weit dort hinauf, woher sie gekommen waren. Das Rohr verlief steil und direkt von der Höhe in diesen Talkessel herab, die dünne Linie schnitt die Kehren des Pfades. Ein kurzer Abschnitt glänzte silbern und neu. Pers Arbeit? Halsbrecherisches Schweißen auf der steilen Lehne! Per hatte geplappert und geschwiegen. Die vielen Formen fossiler Schalen. Zu jeder wußte er eine Geschichte. Die Kommentare hatten Rastpausen erzwungen, wohldosierte, ihm zugedachte Unterbrechungen des Gehens; Per war elf Jahre alt. Ferreira sog diese Atmosphäre ein. Sie enthielt die besondere Art der Gelassenheit von Außenposten, die den Metropolen fernlagen. Selbst das Schnaufen der Pumpenanlage wirkte behaglich in der Rastlosigkeit. Über diese Zeitspannen vergaß Ferreira, daß er Borba hier gegenüberstehen würde. Er erinnerte sich des Ausblicks von dort oben: das erhabene Panorama, der Pulk der Iglus tief unten und winzig, aber im Schräglicht scharf kontrastiert, ein Fremdkörper und leicht auszumachen, die Siedlung überdies markiert durch zwei unglaublich blaue Teiche, die durch kultivierende Arbeit der Menschen gezeichnet waren. »Da sind sie drin«, hatte Per ihm verkündet mit der Klangfarbe des Bedeutungsvollen, Schwerwiegenden in der Stimme. »Alle, die Ana gefangen hat.« Plötzlich war Murray wieder da. Er trug einen runden, gläsernen Kolben, der mit trüber, orangeroter Flüssigkeit gefüllt war. Murray gebrauchte beide Hände, um das Gefäß zu halten, so, als ob es schwer sei. Er hatte große Hände, der Kolben verschwand fast in ihnen. »Gehen wir?« fragte er. Ferreira erhob sich, er folgte Murray, hinkend, denn das Bein schmerzte nun doch nach dem harten Abstieg. Wieder bedurfte es keiner Verständigung über das Programm. Der Mann war informiert, was sein Gast zu sehen wünschte, wie alle informiert gewesen waren, die Ferreira aufgesucht hatte. Nur des Redens und bloßer Verbindlichkeit
wegen waren Worte hier wohl nicht üblich. Warum aber hatte man keine Fragen an ihn? Sie gingen zwischen den Iglus hindurch. Ferreira spürte neugierige Blicke. Als er sich umwandte, tauchte ein heller Körper in das Dunkel der Türöffnung zurück. Ein Mädchen? Der Mann vor ihm bewegte sich mit der geschmeidigen Lässigkeit ausdauernder Läufer. Murray hatte große Füße, die Zehen spreizten sich, er mochte nie Schuhe getragen haben. Hinter den Gebäuden rückten Mauern gewachsener weißer Sedimente heran. Das gangbare Gelände verengte sich zu einem Pfad, der wieder aufwärts führte. Ferreira sah, daß Murray die Füße nun doch mit großer Sorgfalt setzte. Seine balancierende Art zu gehen und die vorangehaltenen, das Gefäß umschließenden Hände verliehen dem Kolben das Attribut einer fast sakralen Kostbarkeit. Plötzlich wußte Ferreira, was das Gefäß enthielt. Einige Worte Arkadis tauchten aus der Tiefe unverarbeiteter Erinnerung. Alpha- und Soretbande der Absorption. Zytochrome mußten rot oder rotorange gefärbt sein. Murray plante eine Demonstration. Dann verließen sie den Schatten des Hohlweges. Voraus, im offenen Gelände, glänzte ein Weiher. Einer der Teiche, die von der Höhe zu sehen gewesen waren? Wohl kaum. Dieser war zu klein und rund wie ein Kreis. Murray hielt an, trat zur Seite, Ferreira stumm zum Schauen ermunternd. Man sah von oben auf den Wasserspiegel hinab. Er war still und glatt wie eine Scheibe blauen Glases, da und dort blinkten Flecke aus vielfarbigem Glanz. Ölfilme? Der Weiher war tatsächlich kreisrund; wie ein Rahmen umgab ihn ein Saum zierlich geriffelten Gesteins, das sich in sanfter Neigung aus dem Wasser hob. Steinmetzarbeit. Ferreira kannte derartiges schon von der Siedlung her. Er hielt auch diesen Teich für eine künstliche Anlage. Der steinerne Saum war mit seltsamen Konstruktionen bestückt. Ferreira unterschied eine große Anzahl konkav gewölbter Blätter, die die geriffelte Zone besetzten. Sie prägten ihr ein Muster auf. Er verglich die Blätter mit halbgeöffneten Händen, aber sie schienen dünn, zerbrechlich und technischer Provenienz. Alle wandten die konkave Seite in dieselbe Richtung. Der Umstand veranlaßte Ferreira, sein Gedächtnis zu durchforschen. Aber er konnte sich nicht erinnern, jemals eine solche Anlage gesehen zu haben.
»Antennen?« Er wandte sich um und gewahrte die Spannung in Murrays Miene. »Du hast einen guten Blick für technische Lösungen«, sagte Murray heiter. »Nun, wagen wir noch einige Schritte. Mach’s so wie ich.« Murray setzte den Kolben am Boden ab. Dann schob er sich mit sparsamen Bewegungen näher an das Ufer heran, als ob er gleite, ohne die Füße zu heben. Ferreira war verwirrt, er sah Murray mißtrauisch nach. Mit einer solchen Gehweise hatte er freilich Schwierigkeiten. Er mühte sich, wie er es vermochte, fühlte Unbehagen und Dankbarkeit, daß Murray seiner nicht achtete, und dann kamen sie den seltsamen Strukturen nahe genug, daß anderes die Aufmerksamkeit erforderte. Das Bild von Händen oder gewölbten Blättern gab Ferreira auf. Was dort auf dem Uferkalk aufgebaut war, konnten in der Tat nur Antennen sein, sphärische oder parabolische, fein durchbrochene Gitter, sonderbare, vorerst unsinnige Miniaturen von Bauteilen, deren radiotechnischen Sinn er gut verstand, solange sie vertretbare Ausmaße hatten. Aber dann erwies sich auch die Annahme montierter Empfangs- oder Sendeanlagen als Irrtum. In lächerlicher Übereinstimmung mit seiner eigenen Art zu gehen bewegten sich einzelne der elektronischen Aggregate ihrerseits über den Boden hinweg. Murray erstarrte, deutete mit der Hand nach rückwärts an, behutsam wie ein Jäger, daß auch Ferreira stehen bleiben solle. Jetzt endlich begriff Ferreira: Das dort waren sie! Die Bewohner des Weihers! Und plötzlich wurde ihm bewußt, was das hieß: die Bewohner dieses Teiches. Ferreira hielt den Atem an. Murray brach in die Kette der Folgerungen ein. »Gefallen sie dir?« Ferreira starrte mit engen Augen. Eine Gruppe der Wesen hockte nur wenige Meter von ihm entfernt. Hier und da glitten einzelne von ihnen ein Stückchen an der geriffelten Uferlinie entlang wie Segelboote über eine Wasserfläche. Ferreira sog das Bild in sich ein. Die Details entglitten seinem Zugriff, mit dem er sie wie ein Mosaik zu einer vernünftigen Vorstellung zusammenfügen wollte. »Sind es nun Antennen?« flüsterte er. »Kannst ruhig reden«, sagte Murray, »hören können sie nicht. Jedenfalls nicht unsere Stimmen. Es ist fast das einzige, was ihnen abgeht.
Die Gitter? Ja. Antennen sind das auch. Aber momentan funktionieren sie mehr als Solarbatterien. Silizium gibt es genug. Sie fangen jetzt Licht ein, zum Frühstück. Stickstoff und Kohlenstoff assimilieren sie aus der Luft. Der Aufwand an Energie zur Reduktion ist hoch. Deshalb brauchen sie diese Kraftwerke.« Ferreiras Blick war noch im Konkreten verhaftet, im äußeren Bild, in der Morphologie, dem Gehabe dieser Wesen. Er sah, daß jedes zwei Gitter mit sich trug. Sie ragten aus einem Körper hervor, der rundum mit rötlichen, spielenden Borsten besetzt war. Er dachte an Anas Fang. Ja. Er erinnerte sich dieser roten Borsten. Der Leib mochte Form und Größe eines längs halbierten Eies haben. Eigentlich war davon nichts zu sehen. Er lag unter den Borsten verborgen. Die Gitter saßen an ihm wie zwei große Ohren. Ein roter Schopf mit zwei viel zu großen, abstehenden, glitzernden Ohren, weiter nichts. Alle diese Ohren bewegten sich nun sacht, als fächele leichter Wind über die Schar, streichelnde Luft wie Atemhauch. Jedesmal huschte eine funkelnde Welle rund um den Teich. Es raschelte so, wie wenn Grashalme aneinanderstoßen. Unmerklich lichtete sich die Versammlung in der Nähe. Auf eine verstohlene Weise bildete sich um die Männer eine Zone leeren weißen Kalks. Einige Nachzügler saßen noch dort. Sie schienen sich zu ducken. Ferreira dachte an Schmetterlinge, denen nicht geheuer ist, weil ein Schatten über ihnen schwebt. »Sie verdrücken sich«, sagte Murray, und Ferreira hörte Vorwurf und Ironie. »Das ist eine ihrer rätselhaften Unzulänglichkeiten. Ein Ärgernis für uns. Wer erträgt es, wenn Liebe so beharrlich abgewiesen wird? Sie haben keine Feinde. Sie haben ihr Leben durch uns, und sie könnten’s nun bald wissen. Du hast ja erfahren, was Maurice von ihnen erzählt. Sie verschweigen, womit wir sie ärgern.« Murray lachte. »Aber sie rükken wenigstens mit schlechtem Gewissen aus. Man sieht es ihnen an.« Als der Kreis um sie leer war, bewegte sich Murray behutsam auf eine andere Gruppe zu. Ferreira folgte. Alsbald hob das heimliche Gleiten wieder an. Nach Minuten war die Zone des Mißtrauens wieder hergestellt. Murray faßte den Kolben, sie zogen sich vorsichtig zurück. Ein wenig abseits, in den Felsen eingehauen und äußerlich kaum zu erkennen, befand sich ein kleines Labor, vollgestopft mit Technik. Murray
ersetzte den leeren Kolben eines Aggregates, das wie eine Dosieranlage aussah, durch den vollen, kontrollierte die Überwachungsperipherie und wandte sich Ferreira zu. »Die feineren Sachen, Spurenelemente und eben das Eisen – er deutete auf den Dosierer – holen sie sich aus dem Wasser. Das Rohr hier mündet draußen unter dem Wasserspiegel. Beobachte den Einlauf, und dann sieh dir an, was die anderen machen. Die, die sich am Ufer sonnen.« Dann standen sie wieder am Teich, Ferreira hatte die Düse bald entdeckt. Ein wenig später war der obligatorische Kreis um die beiden Männer wieder geräumt. »Noch zwei Minuten«, sagte Murray. Sie mußten einige Zeit länger warten. »Achtung«, sagte Murray, ohne sich zu bewegen. Ferreira starrte in das klare Wasser. Ein flaches, ausgebreitetes Wesen schwamm heran, etwas wie ein sehr kleiner Rochen. Es war der wellenschlagende Saum, der Ferreira an einen Rochen denken ließ. Das Wesen schien nicht zu schwimmen, sondern mit schwereloser Eleganz im Wasser zu fliegen. Aber in der Mitte zwischen den großen, jetzt gespreizten und sanft flatternden Ohren leuchtete es rot, die längsten Borsten flossen dem Körper wie eine Schleppe nach. Das Wesen kurvte im Wasser umher wie aus bloßer Lust an der Bewegung. »Jetzt«, sagte Murray. Das Wesen erstarrte, wie vom Blitz getroffen. Eine Viertelsekunde. Dann schoß es auf die Kanüle zu. Da schien plötzlich das ganze Ufer hochzuhüpfen. Ehe Ferreira den Blick zu wenden vermochte, war der weiße Rahmen des Weihers leer. Es gab nur spärliche Spritzer, als sich die Schar – Hunderte dieser Leiber – wie ein einziger Körper ins Wasser stürzte. Ebenso viele Wellenkreise liefen ineinander. Dann kochte das Wasser um die Düse gleichsam. Ferreira glaubte, es seien kaum zwei Sekunden vergangen. »Verstanden?« fragte Murray. »Vor der Praxis verblassen die Effekte der schönsten Theorie. In dieser Sache bin ich gegenüber Maurice im Vorteil.« Ferreira suchte das schäumende Gebrodel mit seinen Blicken zu durchdringen. Aber er hörte doch, daß das Geschehen für Murray noch immer ein Wunder war.
»Nele!« schrie Murray plötzlich. »Was ist los?« Über dem Wasserspiegel tauchte nahe dem anderen Ufer ein Kopf auf. »Maurice hat angerufen. Er braucht zwei«, schallte eine helle Stimme herüber, die Stimme eines Mädchens. »Wozu?« »E zwölf!« »Nimm Xerxes und Dschingis-Khan!« erwiderte Murray. »Dschingis habe ich schon!« Der Kopf verschwand. »Ihr kennt die alle?« fragte Ferreira verblüfft. »Nun«, antwortete Murray, »so ziemlich.« »Sie haben alle Namen? Klangvolle Namen.« – Ferreira sah den Körper des Mädchens durch das Wasser schießen. »So? Sind sie klangvoll?« fragte Murray ohne sonderliches Interesse zurück. Er reckte den Hals, um Neles Operationen zu verfolgen. Dann lächelte er. »Borba liefert sie. Die Namen sind sein Monopol. Es seien sehr intelligente Menschen gewesen, sagt er, aber ohne Zutritt zur Weisheit. Hirndeffekt, wie bei diesen hier. Und lauter Männer.« Dann trat Nele zu ihnen. Sie hielt die Hände vor sich hin, in jeder trug sie eins der Wesen. Ferreira schluckte. Siebzehn Jahre, schätzte er und erkannte sofort das in weibliche Jugend umgeprägte Ebenbild Arkadis: den schmalen, straffen Körper, bis zum Bauch beklebt mit Strähnen weißblonden Haares. Er sah wasserblaue, ein wenig angestrengte Augen, durchsichtig-helle, triefende Haut; die Tropfen rannen zu Füßen mit rührend gespreizten Zehen hinab. Mit zwiespältigen Empfindungen nahm er wahr, daß ihn die Nähe und die Nacktheit des jungen Leibes weniger anfocht, als er es erwarten mußte. Es waren die Anmut ihrer Unbefangenheit und unbenutzter Charme, die Öl auf das sturmbedrohte Wasser gossen, ehe sich die Wogen aufzutürmen vermochten. Dennoch wagte er nicht, nach den tröpfelnden Wesen zu greifen, die sie ihm entgegenhielt, denn er fürchtete um die Ruhe seiner Hände. Er rief sich ins Bewußtsein, daß Borba hier war. Murray ergriff die Initiative. Für ihn war jetzt nichts anderes von Interesse als Xerxes und Dschingis, seine Schützlinge, die er liebte. Er
wies Ferreira auf Merkmale hin, die auch auf diese oberflächliche Weise der Betrachtung sichtbar waren. Schon das, was sie Gitter nannten, die Ohren, offenbarte sich als hochentwickeltes System, als uralte Struktur, als greise, organische Materie, die Zeit gehabt hatte, sich zu verfeinern. Die Köpfe der drei neigten sich dicht über Neles Hände. Die Vielfalt der Borstenformen; daß es gar keine Borsten waren, sondern in Reihe gegliederte Ketten winziger Organe; daß sie in Wahrheit nicht einmal rot waren, die Färbung nur vorgetäuscht durch Lichtdispersion, ein Zeichen der Kleinheit der Strukturen. Unter den Borsten heller gefärbte Wolle; ihre Bewandtnis? Ein Schulterheben. Man könne die nicht auseinandernehmen, es seien keine Mäuse. Atemlöcher. Eine Doppelreihe von Filterreusen. Xerxes tat, als berühre ihn die Betrachtung nicht. Er suchte die nun wieder konkave Öffnung seiner Ohren auf den Weiher zu richten. Nele schielte dorthin. Die Wasserfläche hatte sich unversehens geglättet und lag dort wie ein Spiegel. Unter ihr hundertfältiges, atemlos lauschendes Leben. Plötzlich war Per da. Er hatte einen Stein mitgebracht. Mit einer geschickten Bewegung seiner Hände klappte er den Stein auf wie ein Buch. Auf die Innenseiten war ein Muster geprägt, Bruchstücke gewölbter Flächen, die von regelmäßig geformten Löchern durchsiebt schienen, eine Art groben Gitters. »Eine Zwischenform?« Per nickte mit sachlichem Ernst. Ferreira fragte nach den Schwingkreisen, wo sie sich befänden. »Oh«, sagte Murray, »wir fürchten, es sind funktionslose Rudimente.« »Aber…« »Sie machen’s anders, als wir dachten«, fuhr Murray fort. »Sie nutzen zum Senden und Empfangen den Josephson-Effekt dünner Schichten von Supraleitern, die durch Filme von Isolatoren voneinander getrennt sind.« »Bei diesen Temperaturen? Hier sind mehr als dreihundert Kelvin!« Ferreira zog die Brauen hoch. »Aber ja!« beharrte Murray. »Auf der Basis organischer Supraleiter ist der Exzitonenmechanismus von der Temperatur unabhängig. Nun,
soweit die Substanz selbst hohe Temperaturen aushält«, schränkte er ein. Ferreira erinnerte sich einer solchen Hypothese. »Hypothese? Noch immer?« Murray lachte. »Von der wissen diese hier nichts. Sie machen’s eben so. Sie handhaben ihre Mikrowellen wie wir unsere Reflexe. So einfach ist das.« Per griff Ferreiras Hand. »Borba ist da. Willst du zu ihm gehen?« Ferreira sah Murrays Züge erstarren. Nele zog die Hände an ihren Körper zurück. Er war nicht überrascht. Der Gedanke an Borba war bei all den Ereignissen nebenhergelaufen, seit er wußte, daß es Borba gab und welche Rolle er hier spielte. Jetzt also war dieser Anruf da. Nicht nur er schien darauf zu warten. Dennoch war sein Mund trocken, als er fragte: »Borba hat dich geschickt, nicht wahr?« »Ja«, sagte Per einfach. »Ich soll dich zu ihm bringen.« Ferreira war plötzlich in Schweiß gebadet. Er fühlte die Tropfen unter den Achseln rinnen und war versucht, seine Kleidung herunterzureißen, daß er endlich einer unter Gleichen sei, nur für einen Augenblick. Einige lange Sekunden stand er wie ein Klotz. »Das ist sehr gut«, sagte er dann mit fremder und beruhigter Stimme, und zu Per mit freundlichem Ernst: »Wir wollen Borba nicht warten lassen.«
Die Unterredung Der Mann stützte sich schwer auf die Tischplatte, als er sich erhob, um Ferreira entgegenzutreten. Ferreira beschleunigte seine ungleichen Schritte, er wünschte, die Distanz selbst zu überwinden, Borba mußte mehr als achtzig Jahre zählen. Ferreira ergriff die dargebotene Hand, seine eigene versank in beiden Händen des anderen. Er sah auf einen Kopf hinab, der für den Mann viel zu groß war. Zwischen Inseln gekräuselter weißgrauer Haare glänzte dunkle Haut, die sich über den geräumigen Schädel spannte. Borba blickte Ferreira nicht an. Er hielt sein Gesicht mit stiller, fast demütiger Sammlung über die verschlungenen Hände gesenkt. Ferreira nahm nun diese Hände wahr: weiche und doch dicht und kräftig zupackende Handflächen, ihre Wärme, ledrige Falten an den
Gelenkknoten der Finger, heller als das Graubraun des Handrückens, grauviolettes, geschwollenes Geschlängel der Adern. Borba schwieg. Ferreira hatte nicht über die möglichen Formen dieser Begegnung nachgedacht. Aber er wußte nun, daß er eine Vorstellung davon gehabt hatte. Eine andere Vorstellung. Die Haltung des alten Mannes verwirrte ihn. Nach einer endlos scheinenden Zeit gaben ihn die Hände frei. Borba langte zu Ferreiras Schulter hinauf und drückte ihn wortlos in einen Sessel. Es war ein richtiger Sessel aus dem Schiff, der erste, den Ferreira in einem Iglu vorfand. Borba ging um den Tisch herum zu seinem Schemel, auf dem er gesessen hatte. Er trug richtige Hosen, die untere Hälfte einer Kombination, und auf der bloßen Haut ein Hemd, von dem die Knöpfe abgetrennt waren. Das Hemd gab die dunkle Brust frei, unter der Haut zeichneten sich breit gewölbte Rippen ab und Knoten geschrumpfter Muskelstränge. Dann saß Borba straff und gerade an der anderen Seite des Tisches. Ferreira sah endlich das schwarzgraue Gesicht vor den nackten, glatten Quadern der Igluwand, die im gebrochenen Licht des Raumes jetzt grau und stumpf wirkten. Ein Gesicht aus tausend Runzeln. Glänzende, verhornte Haut. Alle Falten gingen von den Augen aus und verliehen dem Antlitz einen Ausdruck, in dem Erfahrung, eine gewisse Traurigkeit und verschmitzte Schläue zu einem seltsamen Gemenge ineinanderflossen. Die Augen selbst waren in den Gruben versteckt, in die alle Runzeln mündeten. Eine überhohe, breit ausladende Stirn, der Mund fast schwarz, vollippig, beweglich, merkwürdig jung. Die Lippen zuckten, ehe Borba zu reden ansetzte. »Sie wissen, ich bin Borba M’Bar. Die Leute hören auf mich, das wissen Sie nun auch.« Borba hielt zwei, drei Sekunden inne, als warte er auf etwas. »Nach dem kritischen Zeitpunkt hätte man sechzehn Jahre benötigt, um uns hier anzusteuern. Der früheste Termin eurer Nachsuche liegt zweiunddreißig Jahre zurück. Seitdem warten wir. Jetzt sind Sie da, Louvis Ferreira, wir sind froh darüber. Nein. Das nicht. Es ist einfach ein unabdingbares Ereignis. Eine für uns lebensnotwendige Zäsur… Aber das ist ja wohl nicht alles.«
Ein Vorhang, dahinter die Schlafstelle zu vermuten, Tischfläche mit einer Menge verschiedenen, unordentlich verstreuten Informationsmaterials, zwei Schemel und dieser komfortable Sitz, ein Hampelmann, knallbunt, einziger Farbfleck, an einem Faden von der Decke herabhängend; als Schwerpunkt des Raumes ein Aggregat von Sende- und Empfangsanlagen und zwei kleine Monitore, daneben eine Anzahl Zettel mit flüchtigen Notierungen an die Wand geheftet. Ferreira schloß aus der Kommunikationsanlage, daß dieser Iglu Borbas Wohnsitz war, daß Borba sich zumindest oft und länger hier aufhielt. Er sah die Kahlheit der Zelle. Nichts, gar nichts, nicht einmal der Hampelmann, widerspiegelte die Gegenwart eines erdgeborenen Menschen. Ferreiras Hirn arbeitete glatt, vielgleisig wie der gut gesteuerte Fusionspunkt eines städtischen Verkehrsbandes. Der Verzicht auf Erinnerung verschob das Format und den Charakter Borbas auf unzugänglichere Ebenen, als er erwartet hatte. Zugleich hörte er Borbas Worte. Es gab nichts mehr zu erläutern. Der Mann wußte, worum es ging. Aber er war zu offen und gab sich den Anschein, als maskiere er seine Trümpfe nicht, um sie im richtigen Augenblick zu präsentieren. Ferreira schwieg, sah zu, wie sich das schwarze Gesicht wandelte: Das Faltengewirr um die versteckten Augen ordnete sich zu faunischem Lächeln. Borba war Nachfahre abessinischer Bauern, die sich darauf verstanden hatten, ihre Kamele, ihre Esel und Rinder vorteilhaft zu verkaufen. Aber er war es auch, der dem Schweigen unterlag. »Ihr seid unzufrieden mit uns. Du bist unzufrieden. Ich hab’s zu weit getrieben? Was?« Der Ton dieser Worte, die wasserklare naive Arglosigkeit, die in der Stimme schwang, versetzte Ferreira einen Hieb. »Ich habe mir’s niemals leicht gemacht«, sagte Borba, »und niemals wußte ich sicher, ob es richtig war, wie ich entschied. Die Leute hörten auf mich. Wie sollte ich’s machen?« Ferreira dachte an das Spiel der Schatten hinter den Büchern, als er bei Maurice gewesen war. Er schob alle Versuchungen zur Seite, richtete sich steif auf. »Borba M’Bar«, sagte er und zog die Lippen ein, um sie mit der Zunge zu befeuchten. »Soweit ich sehen kann, gab es keinen Zweifel, was zu tun war, wie Sie zu jenem Zeitpunkt zu entscheiden
hatten, den Sie den kritischen nennen.« Ferreira nestelte an einer Tasche seiner Kombination, zog den Heftband heraus, schob ihn über den Tisch unter Borbas Augen; auf dem Deckblatt Normzeichen und der Titel DIREKTIVE. »Ach so«, sagte Borba gedehnt, als erkenne er die Dinge plötzlich aus neuem, unerwartetem Gesichtswinkel. Aber dann hielt er unversehens Papiere in der Hand, einen Stapel vom Gebrauch zerfranster thermotypischer Folien, deren oberste den gleichen Aufdruck trug; Ferreiras Heft schob er über den Tisch zurück. »Die Besatzungen flogen damals ohne Kommandanten?« fragte Ferreira, obgleich er es wußte. »Und de facto?« »Du siehst da einen Unterschied?« »Sie sagten selbst, daß die Leute…« Borba schüttelte den Kopf, andeutend, daß er das Argument nicht anerkenne. »Ich verstehe eure Motive, auch deine«, sagte er mit gesenkten Lidern. »Halten wir die Dinge also auseinander. Der Auftrag – sein Gewicht, der Aufwand, Arbeit, Opfer, Risiko. Damals hat das niemand zu gering geachtet. Niemand. Wir haben geschuftet und hatten Erfolg. Er liegt in viertausend Kassetten in der Fähre. Keine Revolution in der kosmogonischen Theorie. Widersprüche. Löcher in den Deduktionen, keineswegs alle Beweise stichhaltig. Immerhin fanden wir Indizien für die Wiederholbarkeit von Prozessen, wie sie sich gegenwärtig an Jupiter darstellen, der sich als Sonne entpuppt, die unkonventionelle Geburt von Doppelsternen und Sternhaufen in alten, stabilen monosolaren Systemen, die Möglichkeit, daß es einigen Planeten gelingt, metastabile Bahnen über die Katastrophe zu retten, wenn es nur ausreichend viele Planeten gibt in diesem System. Unseres hier hatte damals mehr als sechshundert.« Borbas Hand spielte mit den Blättern. »Willst du davon reden?« fragte er mit einem Anflug von Müdigkeit in der Stimme. »Ja«, sagte Ferreira. »Aber nicht jetzt.« Borba nickte. »All das liegt weit in der Vergangenheit. Ich hab’s fast vergessen. Manchmal, in guten Stunden, vergaß ich auch, daß die Ergebnisse den Auftraggeber noch nicht erreichten. Das meinst du doch?«
Ferreira gab keine Antwort. »Als ich hörte, ihr seid endlich da, du seist da, habe ich mir’s so ausgedacht, wie es gelaufen ist. Du mußt doch gesehen haben, warum wir… Du mußt begriffen haben, daß wir hier nicht wegkonnten. Wir sollten die Kerlchen hier sitzenlassen, die uns die halbe Fähre auffraßen? Gut. Es wäre gegangen. Eine Zeitlang. Dann wurde ein gewisser Punkt überschritten. Von da an war der Abflug unmöglich. Muß ich diese Vokabeln anführen: Moral, Verstand, Gewissen? Sogar Woronzew, der Rechner, würde es dir bewiesen haben, und Wright. Ich habe auf meine Weise versucht, uns vorerst zu rechtfertigen, habe sie genau ausgewählt, die mit dir umgehen sollten: Arkadi, Ana, Maurice, Murray, Per. Maurice habe ich auf dich angesetzt. Warum soll ich’s verhehlen?« Die Falten um Borbas Augen vertieften sich, er lächelte. »Maurice, das ist ein Kerl!« Borba schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Haben sie es gut gemacht mit dir?« Ferreira sah äußerste Spannung in dem schwarzen Gesicht. Er vermochte dem Mann nicht länger zu widerstehen. Er schluckte. »Ja«, sagte er leise. »Sie haben es gut gemacht.« Borba sank ein wenig in sich zusammen. Die Männer schwiegen lange. Dann begann Borba wieder zu sprechen: »Im vierten Jahr verloren wir Morow durch einen Unfall. Wir waren nur noch zehn. Eine schlimme Zeit. Die Entscheidung war gefallen, das Ziel noch ohne allen Horizont. Im dreizehnten Jahr wurde Arkadi geboren. Versagen der Pharmazie, eine glückliche Katastrophe, die das Eis brach. Du hast gehört und gesehen, wie ich es dann eingerichtet habe.« Ferreira setzte zu einer Antwort an. Borba hob die Hand, schnitt ihm mit einer ungestümen Geste das Wort ab. »Sie leben ein gutes Leben, die Jungen, auch wenn sie nackt herumlaufen. Wer soll weben und schneidern? Sie träumen seltsame Träume von ihrer Heimat, die sie nicht kennen und die ihre Heimat nicht ist. Es sind bunte, grüne, erwartungsvolle Träume, die freundlicher sind als meine, wenn ich die Zeit ihrer Reise bedenke. Entscheide anders, fälle dein Urteil, Louvis Ferreira, aber nicht von dort aus, wo du sitzt, sondern von diesem Schemel aus!« Borbas Blick kehrte zu Ferreira zurück. »Ach, laß sie diesen Weg
zu Ende gehen, den sie nicht selbst gewählt haben. Seid behutsam mit ihnen. Es sind lauter Kinder. Gute Kinder.« Ferreira sprang auf. Mit viel zu großen, heftigen Schritten ging er die Strecke hin und her, die ihm die Wände des Iglus zumaßen. Er brauchte den Schmerz in seinem Knie, wenigstens diese Qual, um sie zu ertragen und sie gegen sich selbst zu benutzen, damit sie das Gefühl seiner Überflüssigkeit verdränge. Gewiß, er hatte sich schon entschieden, ehe er diesen Iglu betrat. Er hatte sich für Borba entschieden und für diese Menschen und ihr Projekt, das freilich faszinierend war und unbequem für den Untersucher. Abgewogene Motive, Analogieschlüsse aufgrund von Erfahrung, scharfsinnige Ökonomie der Argumente, wohlwollende Auslegungen, Spitzfindigkeiten. Seine Benommenheit wandelte sich zu reiner, rückhaltloser Bewunderung. Dort saß Borba, kleiner – nicht nur, weil er, Ferreira, jetzt hier aufrecht ging –, älter, einsam, ein wenig krumm und in sich versunken; Borba M’Bar, der die Erde nicht wiedersehen würde, von der er hierhergekommen war, nicht einmal im günstigsten Fall, und der das wußte; Borba, der das entscheidende Ziel seines Lebens, daß Menschen von diesen kleinen, unsinnig klugen Antennenwesen verstanden wurden, nicht würde erreichen können und der auch das wußte. Er bewunderte den Mut dieses Mannes, der auf sich nahm, was er auf sich genommen hatte; diese besondere Art Mut, die nicht zum Zweck der Vervollständigung der Person arrangiert oder geplant, die nicht Ehrgeiz war. Tapferkeit als von der Sache bestimmte Überwindung des Risikos. Ferreira wollte nicht mehr zurückkehren und war von nichts tiefer überzeugt, als daß er zu den Seinen zurückkehren mußte. Eine Lawine von Pflichten stürzte auf ihn zu. Er hatte zu überzeugen, er hatte die Unantastbarkeit von Plänen zu erschüttern, den Stellenwert von Direktiven an den richtigen Platz zu rücken, von dem er sich zu entfernen drohte in der Welt, die ihn hierher entsandt hatte. Er hatte durchzusetzen, daß dieses Projekt zu Ende geführt wurde, auch wenn es ungesetzlich war. Denn es gab nichts Verwerflicheres als die Vergeudung lebendiger Tatkraft. Nein. Es war keine Lawine. Er glaubte in diesem Augenblick, daß er dem Ansturm der Dinge gewachsen sein würde.
»Sag was«, hörte er Borbas leise Stimme. Er hielt in seinem Marsch inne, stieß mit dem Kopf, als er sich umwandte, an den Hampelmann, so daß der jäh am Faden schaukelte, alle Glieder schlenkernd. Ferreira fing die Figur mit sorgsamen Händen ein, bis sie wieder beruhigt dahing, befremdend reglos, die Miene voll platzender Heiterkeit. »Ach«, sagte Ferreira, »gib dir keine Mühe. Du hast mich längst gewonnen. Es ist nicht der ganze Weg. Aber eure Sache ist gut, sie kann nicht fallen. Ich habe noch neun Tage hier. Gib mir zwei davon, damit ich mich bedenke, um mit euch zu reden. Wie es weitergeht. Daß wir nicht mit leeren Händen zu euch zurückkommen.« Borba erhob sich und ging auf Ferreira zu. Er trug jetzt eine Brille mit goldgefaßten, runden Gläsern. Seine Hände langten nach Ferreiras Kopf, zogen ihn herab. Ferreira sah das schwarze Gesicht dicht auf sich zukommen. Der Mann musterte ihn aus nahen, trockenen Augen. »Ja. Das ist gut«, sagte er, »geh nur. Das ist gut.« Ferreira blinzelte, als er ins Freie trat. Ein anderer schlenkernder Hampelmann hüpfte auf ihn zu, winzig, braun und voller Leben: Ana. Als sie den langen Mann dort stehen sah, hinkte sie auf ihn zu und fuchtelte wild mit einem Arm, der von einem Band umschlungen war. Ferreira erkannte den Reißverschluß seiner Knietasche. »Ana!« ertönte Pers strenge Stimme. Plötzlich vermochte Ana wieder zu gehen, wie es sich gehörte.
Die Straße
B 9, Aufklärer im Schwarm »Beagle«, entdeckte unter den Trabanten des Objekts C 312 in der Gruppe Eiserne Inseln einen Planeten, der rundum und vollständig von Wasser bedeckt ist. Echolotungen gaben die Tiefe dieses einen Ozeans mit sechstausend bis elftausend Metern an. B 9 verfügte über einen schweren Bathyskaphen. Die unterseeische Sonde wurde abgelegt und getaucht. Aus nicht rekonstruierbaren Ursachen besetzte man sie nur mit einem Mann, obwohl der Bathyskaph der Vorschrift nach – sie folgte naheliegenden Gründen der Vernunft – mit zwei Mann besetzt zu werden hatte. Während des Manövers kam es zu Komplikationen, in deren Folge B 9 kurze Zeit später Havarie erlitt. Der verstummte Aufklärer konnte erst nach reichlich drei Monaten geortet werden. Weitere zwei Jahre vergingen bis zum Kopplungsmanöver des »Retters« mit dem nur äußerlich intakt erscheinenden Wrack. Die Besatzung wurde tot und vom Frost konserviert vorgefunden. Ein Mann – nach der Mannschaftsliste der Syntheoretiker Han Ogoun – und der Bathyskaph fehlten. Man ermittelte den Standort des Bathyskaphen aus der Logkonserve des verunglückten Aufklärers. Der »Retter« nahm unverzüglich Kurs auf den Wasserplaneten und erreichte ihn nach einem Jahr. Indessen war der Kreis gewachsen, der die möglichen Standorte der Sonde umschrieb, seine Größe überdies unsicher, denn niemand vermochte über Tauchtiefe der Sonde sowie Geschwindigkeit und Richtung ozeanischer Strömungen auf diesem Objekt auch nur Vermutungen bekanntzugeben. Da es keine hinreichenden Gründe dafür gab, am Überleben des Sondenpiloten zu zweifeln, suchte man so lange, bis der Standort des Bathyskaphen in der Tat fixiert wurde. Die Ermittlung der genauen Koordinaten und der Tauchtiefe verschlang weitere vierzehn Monate. Danach waren nur noch elf Stunden erforderlich, bis der Spezialist aus der Mannschaft des »Retters«, der Untersucher Louvis Ferreira, seine autonome Kleinstsonde in sechstausenddreihundertundzwanzig Meter Tiefe mit dem Bathyskaphen kuppeln konnte. Das Manöver gelang schulmäßig. Ferreira öffnete die Konnek-
tivschleuse und betrat wenige Minuten später den Hauptraum des Bathyskaphen. Hinter dem Durchschlupf richtete Ferreira seine lange Gestalt auf, verlagerte das Gewicht seines Leibes auf das linke Bein, um das rechte, ewig schmerzende Knie zu entlasten. Er hielt die Augen gesenkt und richtete seinen Willen keineswegs darauf, mit raschem, durch Erfahrung perfektioniertem Blick die zu erkundende Sachlage sofort zu erfassen. Er gab nicht allzuviel auf den ersten Eindruck. Als Untersucher in Fällen dieser Art wußte er zu genau, daß er Zeit haben würde, sehr viel Zeit, soweit es die Dinge um ihn und außer ihm anging, und daß es weit notwendiger war, sich vorerst gegen das zu wappnen, was ihm hier, wie schon so oft vorher und doch so noch niemals, gegenüberstehen würde. Sein Adamsapfel hob und senkte sich, als er schluckte. Dann erst richtete er seinen Blick in den Raum. Mit dem Rücken noch immer dicht vor der ovalen Öffnung der Schleuse stehend und ohne einen Schritt vorwärts zu gehen, stellte er systematisch fest: Dies war der Hauptraum des Bathyskaphen, nahezu weitläufig bei allem Umfang und aller Vollkommenheit der technischen Ausrüstung. Er sah unversehrt aus. Der Raum war erfüllt von Schwingungen im Zwanzighertzbereich, von unmenschlichem, synthetischem Dröhnen noch unbestimmbaren Ursprungs, das alles übrige lebensfreundliche Fluidum der Atmosphäre erstickte: Beleuchtung, Temperatur, Reinheit der Luft, Ordnung. Links arbeitete ein Rechner. Gegenüber schien eine Kreislinie vollendeter Rundung stechend weiß und selbstleuchtend in der Luft zu schweben, und eine gerade Linie, die den Kreis vertikal schnitt, verlor sich irgendwo in der Höhe. Ferreira durchschaute die optische Täuschung als jenes neumodische Phänomen, das von übergroßen, konkaven Monitorschirmen hervorgerufen wurde. Aber dieser Mann, für den all dies da war, für den er hierhergekommen war, fehlte. Han Ogoun fehlte hier. Er, der Untersucher, war allein. An diesem Zustand änderte sich auch nichts, als Ferreira zunächst großzügig und danach sehr gründlich alle Räume der unterseeischen Kugel durchsuchte.
Fangen wir also an, dachte er. Aber zu geordnetem Vorgehen fühlte er sich außerstande, solange er diesen infernalischen Vibrationen preisgegeben war. Einen Moment lang behinderte ihn auch jene gleißende geometrische Figur, die vor dem Monitor im Raum hing. Unversehens drang sie in einer Weise auf ihn ein, die er nicht begriff. Eine Berührung, ein nachdrücklicher Anruf. Er schob den Affekt brüsk von sich. Die Betroffenheit mochte auf den Umstand zurückzuführen sein, daß der Arbeitsraum zwar von eindeutigen Flächen begrenzt war, jene senkrechte, den Kreis schneidende Linie sich aber in seltsamer Endlosigkeit durch die Decke der Kabine hindurch nach oben zu erstrecken schien. Und da war diese Gewalttätigkeit der Töne, die jedes Urteilsvermögen erdrosselte. Ferreira hinkte die wenigen Schritte zur Front des Rechners hin, baute sich vor ihr auf, zwang Übelkeit nieder, die aus dem Magen heraufquoll, und tastete das Gewirr der Signaturen mit den Augen ab. Aus einem der Inputschlitze der Anlage ragte die Handhabe einer Programmkarte. Einige Sekunden lang fixierte Ferreira das unscheinbare Detail. Dann zog er die Karte mit einer leidenschaftslos trägen, entschlossenen Bewegung seiner Hand aus dem Schlitz. Das Dröhnen erstarb. Er wandte sich um. Auch der leuchtende Kreis war erloschen. Ferreira warf einen Blick auf die Programmkarte. Plötzlich führte er sie dicht vor die Augen und betrachtete sie eingehend und aus verschiedenen Blickwinkeln. Über die Fläche der Karte flossen Schleier spektralbunter Interferenzfarben, Kennzeichen eines enorm dichten, nach Zehntausenden von Elementen zählenden Systems von Anweisungen an die Maschine. Ferreira sah ins Leere. Er schluckte. Das Ergebnis dieses ungeheuren Aufwandes ein närrischer, steriler Krawall in den Membranen? Ein simpler Kreis auf dem Monitor? Ferreira legte die Karte irgendwo hin. Die Stille tat ihm wohl. Die Sachlage konnte womöglich viel einfacher angesehen werden: Vielleicht war Ogoun mit dem mobilen Pendler unterwegs. Ferreira wußte, daß ein Bathyskaph dieser Klasse über eine rasch bewegliche Kleinstkammer verfügte, die, ähnlich seiner eigenen, auch der Rettung diente. Han Ogoun mochte mit ihr auf Erkundung gefahren sein. Der Einfall schien Ferreira einleuchtend und verlockend, verlokkend im Hinblick auf die Lösbarkeit seiner gegenwärtigen Aufgabe. Er
gab derartigen Impulsen nicht leicht nach, und auch jetzt ergab er sich dieser Auffassung nur im Gefühl unverbindlicher Vorläufigkeit, die die Dinge nach wie vor in der Schwebe hielt. Aber zu diesem frühen Zeitpunkt der Untersuchung beging er diesen Fehler, der für die Sache selbst freilich keine wesentlichen Folgen nach sich zog – ein paar Stunden Zeitverlust –, den er danach jedoch aus Gründen, die er aus dem Ethos seines Berufes ableitete, niemals vergaß, sich zur Last zu legen. Dem Schott der Konnektivschleuse gegenüber wölbte sich die Wand des Gehäuses glatt, schwarz und strukturlos. In der Form eines Kugelschalenabschnittes zog sie sich dort bis unter das Niveau des Bodens hinab, auf dem Ferreira stand. Der unten verborgene Sektor war über eine kurze Stiege zugänglich. Diese Wand bestand aus Panzerglas. Ihre Schwärze war die samtene Schwärze der Tiefsee. Ferreira stieg nochmals die paar Stufen hinab, spähte in die Finsternis hinaus, seine Finger trommelten irgendeinen Takt auf das Glas. Dann brachte er sein Gesicht mit einer raschen Bewegung nahe an die Scheibe. Eine plötzliche Wendung, wenige ungefüge Schritte, er betrat den geneigten, gläsernen Boden, legte sich flach dorthin. Sein Gesicht befand sich nun unmittelbar über einer der rund eingefaßten, in das Glas geschliffenen Sichtluken an der tiefsten Stelle der Wölbung. Das Licht drang nur schwach hierher, dennoch sah Ferreira, wie sich der Abglanz auf seinen Pupillen im polierten Glas spiegelte. Er nahm die Hände zu Hilfe, um das Licht abzuschirmen. Die Reflexe blieben. Er zweifelte nun nicht mehr daran, daß es auch in der Tiefe dort unten Licht gab, im Wasser oder am Grund unter dem Wasser, Licht in dieser fremden Welt, das nichts mit dem Licht der Lampen im Bathyskaphen zu tun hatte. Es war nur ein vager, aufgehellter Klecks. Zwei, drei, fünf Flecke lagerten dort am Grunde der Finsternis wie mürbe, dünn und durchscheinend geschabte Stellen in der griffig soliden Schwärze des Meeres. Die Flecke bewegten sich nicht, eine Weile nahm ihre Helligkeit zu, und sie schienen sich auf ein Dutzend zu vermehren, bis das Bild zerfloß. Ferreiras Augen tränten. Er erhob sich. Ein unterdrückter Laut des Schmerzes. Ferreira rieb das Knie, erklomm die Stufen, machte die Relais für die Beleuchtung ausfindig, mit trägen Blicken prägte er sich die Topographie des Raumes ein, auch die Distanz zu Ogouns Schreibplatz schätzte er ab, vor dem ein übertrieben technisch ausse-
hender Drehstuhl stand, und löschte die Raumbeleuchtung. Unversehens tauchte eine Menge farbiger Leuchtpunkte aus der Dunkelheit, optische Kontrollen der Serviceanlagen: Luft, Wasser, Energie. Ferreira fand das in Ordnung. Er tappte zu diesem Drehstuhl hin, man konnte wirklich gut darin sitzen, entspannt und mit weit in den Raum ausgestreckten Beinen. Ein lästiger Gedanke rumorte in einem Winkel des Hirns: daß der Clou dieser ganzen glänzenden Technik der Luftregenerator sein mochte, er lief im fünften Jahr. Allmählich behelligten Ferreira auch die Diodenfunken, immer neue krochen aus verborgenen Ekken des Raumes hervor, und sie starrten ihn aufdringlich an. Da und dort erwachten Geräusche. Ferreira lauschte ihnen und seinem Atem. Er sah auf sein Chronometer, neunundzwanzig Minuten waren vergangen, da schloß er die Augen. Als er meinte, daß weitere zehn Minuten abgelaufen seien, machte er sich auf den Weg, die Stufen abwärts, zu seinem Beobachtungsplatz. Seine Finger glitten über das Glas, geduldig rückte er den Körper zurecht, bis sein Gesicht genau über der geschliffenen Facette lag. Noch einige Sekunden ließ er vergehen, sich sammelnd. Dann erst öffnete er die Augen. Die Dunkeladaption der Netzhäute tat ihre Wirkung, jetzt lösten sie ein Panorama auf. Was Ferreiras auf kahle Logik trainierten Verstand anfocht, war die überaus unpassende, ja bestürzende Vertrautheit dieses Bildes. Er hatte es hundertmal gesehen: die nächtliche, wolkenlose, irdische Landschaft, die jeder Reisende erblicken kann, wenn er nur ein wenig den Kopf wendet zum Bullauge der Maschine hin, die ihren Kurs in zwanzig- bis dreißigtausend Meter Höhe über der Erde dahinzieht. Schwarzes Land. Darüber hingestreut die glimmenden Flecke der kleinen und großen Städte, die sich aus unzähligen Funken und Fünkchen zusammensetzen. Die Funken fließen zu ruhigem, diffusem Schimmer ineinander. Lichterketten, gekrümmt, gerade, zu Sternen sich kreuzend; da und dort verdichten sie sich zu Punkten helleren Glanzes, weiß, gelblich, Nuancen von Blau. Selten Nadelstiche reiner, harter Farben. Von den erhellten Zentren stoßen Linien ins schwarze Land vor, dünn, vergänglich und kaum auszumachen; sie verlieren sich irgendwo in der Finsternis oder spannen sich zwischen den Flecken wie Spinnweben. Das Licht ruht. Alle Signale des Lebens, das in diesen Städten tost, ersticken in der Distanz.
Auch hier war das Licht tot, als es Ferreiras Augen erreichte. Selbst das stimmt, dachte er. Eine Stunde lag Ferreira so da, betrachtete dieses Bild in der Tiefe. Er erwartete nicht, daß in seinem Blickfeld etwas geschehen könnte, daß die Lichter erloschen oder andere aufglänzen mochten, und bemühte sich, seine Sinne und das Gedächtnis nur wie eine Kamera arbeiten zu lassen, unerlaubte Assoziationen zu blocken und sein Denken zu zügeln, daß es nicht den Versuchungen erlag und auf Abwege der Phantasie entglitt. Es geschah wirklich nichts. Ferreira verweilte dennoch auf seinem Posten, als die Stunde vergangen war, und nun trachtete er danach, sein Bewußtsein gegen das Bewußtsein Han Ogouns auszutauschen, des Mannes, der unzählige Stunden so an dieser Stelle gelegen haben mochte, wie er, Ferreira, jetzt hier lag im Angesicht dieses stillen, bestürzenden Bildes. Er benötigte Kenntnisse über die Antriebe Han Ogouns. Aus Motiven würden sich Handlungen ableiten lassen. Der Transfer gelang ihm nicht. Er wußte, daß Ogoun Syntheoretiker war mit einem Hirn, das geschult war, nicht das Areal einer einzigen Disziplin, oder doch einer beschränkten Anzahl mehr oder weniger streng abgegrenzter Disziplinen zu beherrschen, sondern in den Räumen zwischen vielen Wissenschaften einherzugehen und Technologien analytischer und synthetischer Logik zu handhaben, die ihm, Ferreira, fremd waren. Ferreira fühlte die Kälte des Glases an seiner Stirn. Der Mann mußte von Tag zu Tag, von Monat zu Monat stets ein anderer gewesen sein, denn es war eins, ein paar Stunden auszuharren voller Zuversicht oder auch einen Tag oder drei mit verwundertem Zweifel, und es war ein anderes, einem Jahr, drei, fünf ungeheuerlichen Jahren der Isolation ausgeliefert zu sein ohne Hoffnung und doch nicht ohne alle Hoffnung. In weniger als einer Sekunde entrückte Ogoun in eine unüberwindliche Leere, die ihn aller menschlichen Bemühung unzugänglich machte. Über der Zeit näherte sich die Hoffnung dieses Mannes der Null, ohne sie je zu erreichen. Eine teuflische Asymptote. Er, Ferreira, hatte diesen ewigen, qualvollen Rest durch seine Ankunft materialisiert und bewiesen.
Entgegen mancherlei Anhaltspunkten, die er hier vorgefunden hatte, erlag Ferreira einem trüben Verdacht um den Verbleib Ogouns. Die Wege der Männer, denen nachzugehen er beauftragt war, liefen von jeher weit auseinander, und sie mündeten dennoch zu oft in dasselbe blinde Tor. Auch diesmal war es wohl das Gewöhnliche, wenn Ogoun es vermocht hatte, ein Mensch zu bleiben. Dies zu überleben, hielt er für einen Menschen mit gesunder Vernunft für allzu zweifelhaft. Ferreira bekamen diese Einsichten nicht gut, ohnehin stellte er sich selbst zu oft in Frage und litt an der fixen Idee, in die Schuld verstrickt zu sein an all den unglücklich verschlungenen, verhängnisvollen Umständen, von denen er nur erfuhr, weil man ihm den Auftrag gegeben hatte, sie zu untersuchen. Er haßte seinen Beruf. Die Depression drohte sich klebrig an ihn zu heften. Er raffte sich auf. Er floh vor der Anfechtung in eine betriebsame Begehung aller Funktionsräume des Bathyskaphen. Sie gab ihm Gelegenheit, jeden Winkel des Gehäuses hell auszuleuchten, Befunde zu notieren, er übertrieb den Aufwand an Genauigkeit, um die Ausgangsposition darzustellen, als müsse ein anderer und nicht er selbst Schlüsse aus den Angaben ziehen. Ein Schwall von Informationen strömte ihm zu, leere Fakten, denn am Ende wußte er nur wenig mehr: Der Bathyskaph hatte sich lediglich in den ersten beiden Monaten nennenswert bewegt, einmal war er aufgetaucht. Danach stand er nahezu fest am Ort, an diesem Ort, an dem er sich jetzt befand, und in maximaler Tiefe. Der Bathygraph schrieb sein Diagramm seither mit maschineller, sturer Unermüdlichkeit einige Millimeter unter der roten Grenzlinie bei sechstausend Metern, die der hydrostatische Druck dem Gefährt als unüberschreitbare Barriere vorgab. Später fand sich Ferreira wieder im Hauptraum ein. Die Unrast fiel von ihm ab. Ogoun, dachte er müde, du warst zwiefach gefesselt. Du warst Gefangener dieser Kugel und gefangen von der Lockung dieses unverständlichen Bildes dort unten. »Was hast du mit dem Bild getan? Was mit dir selbst?« fragte er laut. Seine Stimme schepperte zwischen der glatten Front des Rechners, dem Monitor und den gewölbten Wänden. Eine Sekunde lang lauschte Ferreira dem Klang betroffen nach, dann sah er auf das Chronometer, berechnete seine Anwesenheit im Bathyskaphen mit genau sechs Stunden
und achtzehn Minuten, bedachte mißbilligend, daß er nach der kurzen Zeit schon laut mit sich selbst rede, und war dennoch geneigt, damit fortzufahren. »Warum nicht?« sagte er tatsächlich, renitent gegen die Beanstandung, wenn auch leise und kaum die Lippen bewegend. »Fangen wir endlich an!« Es mangelte ihm an einem Angelpunkt, um zu beginnen. Er wußte sehr genau, daß dieser Mangel nur ein Vorwand war, um das Ergebnis der Untersuchung hinauszuschieben, um die Realisierung der Prognose zu vereiteln, sich totzustellen, indem er einfach auf Ogouns Rückkehr wartete. Aber auch diesen Weg fand er verbaut, denn er vermochte nicht mehr an Han Ogouns Rückkehr zu glauben. Er war müde. Er war außen und innen müde und wünschte, eine Minute lang über nichts nachdenken, nichts erkunden zu müssen, lässig zu genießen, während er nun im Drehsessel saß, wie der Schmerz rechts, zwischen Hüfte und Schienbein, verebbte. Das Licht fiel sacht in sich zusammen zu grauem Dämmer und wehenden grauen Schatten. Dann sah er, daß es Ogoun war, der mit schwebenden Schritten im Raum hin und her ging, und er mußte nun doch wieder das Gesicht des Mannes erforschen, das der beharrlich von ihm abwandte. Er beobachtete Ogouns Treiben zwanghaft genau, aber Ogoun gab sich mit geschäftiger Böswilligkeit nur Nichtigkeiten hin, als sei er darauf aus, nichts anderes zu tun, als die Zeit zwischen den Händen zu zerbröseln, und als der Mann seinem Beobachter doch endlich das Gesicht zuwandte, war es ein weißes, leeres Oval unter dünnem, schwarzem, angeklebtem Haar. Plötzlich füllte sich das Blickfeld Ferreiras mit dem fotografisch genauen, übergroßen Bild eines Details der Programmierungsperipherie: Die kleine, gläserne Kuppel über dem mikrolithographischen Vakuum war von übermäßigem Gebrauch geschwärzt. Ferreira stürzte aus seinem Dahindämmern in helle Wachheit. In diesem Raum mußte es eine umfangreiche Sammlung von Programmkarten für den Rechner geben! Er brauchte nicht lange zu suchen. Es waren Hunderte solcher Karten in wohlgeordnetem Zustand.
Ferreira fand sofort zu seinem Stil zurück. Lange schien er die Kartothek nur zu belauern, ohne daß er eine Hand rührte. Endlich griff er auf seine phlegmatische Weise eine der Karten heraus, die Karte, von der er hoffte, sie möge ihm Aufschluß geben, wie Ogoun seine Aufgabe angegangen war. Ein Blick auf die lithographierte Seite. Sie sah fast leer aus. Er nickte. Einige Handgriffe am Rechner, das Programm sprang an. Ferreira ließ sich im Sessel nieder, mit dem gesunden Bein schwang er den Sitz in die Richtung zum Monitor. Eine Folge feingezackter Diagramme, frei oder mehr oder minder engmaschig übergittert, Legionen winziger Ziffern. Echolotungen also. Ferreira berechnete das Datum des Zeitgebers auf den vierten Monat nach der Wasserung des Bathyskaphen. Wieder nickte er, zustimmend. Die numerischen Werte pendelten um eine Distanz von tausendzweihundert Metern bis zum Grund des Ozeans. Eine verhängnisvolle Größe. Sie trennte Ogoun von diesem Bild, das ihn eingefangen hatte, ebenso wirkungsvoll wie eine nach Parsec zu messende kosmische Distanz. Und eine erstaunliche Größe, wie Ferreira fand, denn sie setzte ungewöhnliche Reinheit des Wassers voraus, wenn Licht sie zu durchdringen vermochte. Er grübelte nach vergessenen physikalischen Funktionen, verglich mit dem, was er über die irdische Tiefsee wußte, um das Besondere des Falles einzukreisen, verhedderte sich bald im Wirrwarr der mathematischen Beziehungen. Als er aufgab, liefen noch immer die Zacken und Zahlenheere der Echolotungen über den Monitor hin. Ferreira stoppte das Programm, wechselte die Karte. Ein neues Thema: Ogoun hatte sich der Bildanalyse zugewandt, das Areal des hellfleckigen Grundes in unzählige Punkte zerlegt. Digitale Helligkeiten, multispektrale Analysen dieser Bildpunkte. Danach die Synthese der akustischen und spektralen Methoden in verwirrenden, dreidimensionalen Polygrammen. Eine Folge von Varianten der Bilder. Ableitungen, Abstraktionen. Ferreira glaubte, Brüche in der Logik der Darstellung zu erkennen. Plötzlich hingen genau an den Orten der graphischen Ungereimtheiten leuchtende, verbeulte Kugeln und Ellipsoide in der Luft. Ferreira ließ einen Atemzug aus. Das war Handschrift. Ogouns Handschrift! Erstes unmittelbares Lebenszeichen dieses Mannes. Hier hatte er den Lichtstift geführt, Kreise gezeichnet, erstaunt, Anstoß nehmend,
mit unwilligem Schwung der Hand. Die Elektronik hob die flüchtigen Kreise in die dritte Dimension. Die nächsten Programmkarten lieferten eine Wiederholung der ersten Diagnosen. Danach eine zweite, eine dritte Wiederholung. Zur Zeit dieses dritten Anlaufs – nach dem Zeitgeber zu Beginn des zweiten Jahres – stiegen die Unstimmigkeiten sprunghaft an. Ogoun hatte gewisse kritische Abschnitte gedehnt und vielfältigen analytischen Manipulationen unterworfen, die Anzahl der Befehle an die Maschine nahm zu, wie an den Karten zu sehen war. In dieser Periode schien er mit seiner Erfindungsgabe und mit seinen technischen Mitteln förmlich um sich zu schlagen. Und mitten in einem Feuerwerk verwegener mathematischer Ansätze brach die Folge der Graphiken ab, der Schirm erlosch, in das leere Summen der strapazierten Elektronik sprang eine Stimme, Ogouns Stimme. »Wie ich alles Handeln hasse! Ich handle, um es hinter mich zu bringen. Wie ich Erinnern hasse. Bleibt etwas zu lieben übrig? Liebe ist Erinnerung… Ich liebe das Nachdenken. Dort unten zu liegen, hinabzusehen, nachzudenken. Eine Minute lang. Eine Stunde, immer. Der Spiegel ist endlich weg. Das graue Gesicht ist weg, das ewig fragende Gesicht, die betrügenden, des Betruges überführenden Augen, die Falten, der Schrecken, wenn sich der Mund bewegt. Jetzt endlich können einige Worte gesagt werden, denn der Mensch möchte Worte hören.« Es war eine warme, ausdrucksvolle Stimme von überraschender, einnehmender Entschiedenheit, und Ferreira dachte daran, auf welche Weise der Mut dieser Stimme einmal gebrochen werden würde. Wie viele Menschen neigte er dazu, andere zu bewundern, weil sie Eigenschaften besaßen, von denen er glaubte, sie lägen außerhalb seiner eigenen Reichweite. Mit gewohnten Bewegungen strich er über Oberschenkel und Knie, über beide Knie diesmal, um die feuchten Handflächen zu trocknen. Dann lebte der Monitor wieder auf. O ja, dachte Ferreira, als er die Figuren erkannte, ein genialer Weg. Schwingungsanalysen nach der Fourier-Popper-Transformation. Ogoun sprach dem, was dort unten leuchtete oder was die Lichter erglänzen ließ, eigene Stimme zu. Sie
mochte sich den zurückkehrenden Impulsen seines akustischen Lotes überlagern. Ein einleuchtender, einfacher Gedanke, um die Konfusion in den Diagrammen der Echos aufzulösen – eine Idee mit weittragenden Konsequenzen. An diesem Problem biß er sich fest. Ferreira wechselte die Programme rasch, als spiele er Bänder an, um eine ihm zusagende Musik zu finden. Er suchte Ogouns Stimme. Ogoun hatte ein ganzes Jahr darangesetzt, um sich seiner Sache zu versichern. In den Graphiken fanden sich Hybriden zwischen Fourierschen Ausdrücken und gewissen Formalismen etymologischer Logik. Den Signalen unterstellte er einen Code. Unter dem Code sah er eine Sprache. Diese Sprache suchte er zu entschlüsseln. Die Verquickung der Methoden mündete ins uferlose. Ferreira streckte die Hand aus, um die Karte auszustauschen. Die Hand blieb in der Luft hängen. Ogouns Stimme: »Man muß seine Seele hineinlegen. Man muß! Alles Vergangene ist abgeschafft, aufgelöst in Rauch: die Wissenschaft, Slava, der Stolz, die heimlichen Scherben der Spiegel, die Angst, die Zeit, das Leben. Für mehr als eine Leidenschaft gibt es keinen Platz. Die FourierTransformation tanzt. Die dort unten werden reden. Zu mir! Aber der Rauch! Wohin mit dem Rauch?« Später erst gelangte Ferreira zu der Einsicht, daß das Folgende der nächste logische Schritt nach dem Vorangegangenen war. Auf die Analyse folgt die Synthese. Auf die Fouriersche Schwingungsanalyse folgt die Fouriersche Schwingungssynthese. Aber Ogoun war in Gebiete vorgestoßen, die Ferreira unzugänglich blieben. Ferreira gewann wohl nach und nach ein Gefühl für diese Klänge und Bilder, ihre rationale, konstruktive Absicht vermochte er jedoch nicht sogleich zu begreifen. Zumal die stumme, kühle Nüchternheit der Linien und Zahlen von einem Schwall animalischer Formen, von wilden oder sanften Farben und von Musik hinweggefegt wurde. Er erschrak. Allzu plötzlich warf der Monitor die Projektion einer simulierten Welt in den Raum. Wasser, Licht und Leben. Aus der Finsternis schälte sich ein Feld, bespickt mit einer Art roher, dunkler Pfosten, mit kurzen oder tief in den Boden gerammten, knorrigen Pflöcken, Stümpfen, in vielen Reihen hintereinander gestaffelt,
nicht wie Kulissen mit der trügerischen Fiktion unbemessener Tiefe; das Computerbild hatte Sparsamkeit nicht nötig, knauserte nicht mit dem Detail, ordnete die riesige Anzahl wie mit kindlich naivem Fleiß in den Raum, ohne hilfreichen Dunst oder trübe verhüllende Bläue, bis zur letzten Einzelheit. Aus irgendwelcher Höhe scholl ein einfacher Rhythmus und Nachhall zwischen den Knoten des Schalls. Die Pflöcke schwammen auf Ferreira zu. O nein! Das war nichts dergleichen! In der Nähe wuchsen die Gebilde zu imponierenden Ausmaßen heran, zu gedrungenen, organisch wirkenden Essen, zu Türmen – verwirrt und vergeblich fahndete Ferreira nach einem Maßstab, nach einem Vergleich, um wahre Größen zu ermessen –, und dennoch erzeugte ihre Masse die Imagination paradoxer Schwerelosigkeit leichten, wäßrig verquollenen, schwimmenden Materials, aus dem sie beschaffen sein mochten. Aus dem Schlund der Essen strömte Licht. Schwacher, farbiger Schein zerfloß über der unterseeischen Landschaft, sickerte in die Gassen zwischen den dunklen Gebäuden wie reines, lichtgeschwängertes Wasser. Es war Wasser! Ferreira bemerkte Schlieren über den Mäulern der Schlote, als atmeten sie dieses Licht. Am Grunde spiegelte sich der Schein in bunten Reflexen. Die Reflexe fügten sich in ein Muster. Auch der Boden bildete ein Muster konvexer Wölbungen. Buckel, Hügel, Berge? Ferreira vermochte es nicht zu beurteilen. Jeder Gipfel trug einige der Schlote. Plötzlich übergitterte sich das Panorama mit leuchtenden Linien. Ferreira erkannte eins der graphischen Systeme wieder, die aus Echolotungen abgeleitet waren. Die Linien schmiegten sich in seltsam suggestiver Harmonie in die Landschaft unter dem Wasser. Der Rhythmus schwoll zu übermütigem Stampfen an, als frohlocke die Maschine über ihre logische Potenz. Ferreira widersetzte sich dem Angriff auf seine Vernunft. Er mißtraute den Machenschaften der Computerkunst, wußte, daß ihre Probleme schon mit der Hygiene des Inputs begannen. Nebelhaft erinnerte er sich jener interdisziplinären Methode, Signale vermittels Kunst zu verdichten, einige Namen fielen ihm ein: Glaul, Foglfing, Tarnorow, ihre Axiome der Informationsepigenese, der Vermehrung von Information aus sich selbst durch die Kunst der Computer. Er hielt das Verfahren für windig, in dieser Sache war er konservativ. Indessen schätzte er
Ogouns Arbeitsweise nach diesen Stunden als höchst gediegen ein. Mit Vorbehalten gewappnet, begann er gleichwohl Ogoun zu verstehen. Unversehens fiel das Bild auseinander. In einer Weise, wie sie nur Rechnerprojektionen möglich war, entblößten die Dinge ihr intimes, inneres Wesen. Die Farben wurden feurig, die Kontraste hart. Vielerlei Perspektiven waren knifflig ineinander verstrickt, dennoch bewahrte das Bild vergängliche Schönheit. Ferreira verschärfte seine Wachsamkeit, entzog sich den Reizen dieses absonderlichen Formenspiels und wandte sich den Dingen zu, die hier mitgeteilt werden sollten. In der Tat vermochte er ihnen leicht zu folgen. In irgendwelcher Tiefe unter dem Meer lagerten weitläufige Flächen leuchtender Substanz. Sie glommen nur schwach und mit kalten spektralen Nuancen in einer Art milder Phosphoreszenz, wie sie ihm von mancherlei irdischen Mikroben geläufig war. Die leuchtende Schicht stellte wohl tatsächlich einen horizontweit ausgebreiteten Rasen von Organismen dar. Sie war dünn und unscheinbar und fiel nur durch überhöhende Tricks der Maschine ins Auge. Letzten Endes schien sie nicht mehr zu sein als die Grundfläche eines weit attraktiveren voluminösen Bauteils des Systems: transparente Massen, über dem Leuchten zu einem Gebirge aufgehäuft und von höchst subtiler Struktur. Eine Reihe Details verblaßte, ehe Ferreira sie zu erfassen vermochte. Er knurrte einen Laut des Unmuts. Der Rechner reduzierte das Angebot anscheinend auf ein Niveau, das er dem menschlichen Verständnis für angemessen hielt. Soviel also hatte Ferreira zu begreifen: Die glasige Substanz empfing dieses dünne Licht, leitete es aufwärts, aber nicht geraden Weges. Ausgeklügelte optische Inhomogenitäten verdichteten den diffusen Schimmer in der Art von Linsen zu Bündeln immer höherer Intensität, warfen die Strahlung hierhin und dorthin, trennten spektrale Anteile ab, sonderten in Helle und Dunkelheit. Oben, unter den Gipfeln in der Höhe des Gebirges, dort, wo die Kuppeln an das Wasser der Tiefsee grenzten, lagen die letzten Brennpunkte, gleißend verdichtete Strahlenbüschel, weiß, gelb, da und dort in brennenden Farben. Über jedem Fokus erhob sich ein Schlot. Das Licht ergoß sich in die Höhlung der Schlote. Die Projektion schob die
Schlote dicht unter die Augen ihres Betrachters. Ihre Natur blieb zweifelhaft. Die Innenwände der Essen waren mit Fransen bewachsen. Strähnen blaugrüner oder violetter Fäden hingen lang in den Hohlräumen der Essen herab, wedelten wie Bärte in einer behutsamen Strömung, wiegten sich wohlig im Licht. Die Demonstration war eindeutig: Ein fotochemischer Prozeß lief dort ab, Ziel und Sinn des immensen optischen Aufwandes. Die Fäden sonderten ein milchiges Sekret in das Innere der Röhre ab, die Strömung trug die Emulsion abwärts. Plötzlich ergänzte der Rechner das Bild. Der gewaltige gläserne Aufbau erschien nun von Geäder durchzogen. Ferreira sah, was er sehen sollte. Auf eine verwirrende Weise des Zusammenspiels von Mechanismen der Filterung und Passage nahm das Adernetz die fotosynthetische Lymphe auf, peristaltische Wellen förderten sie hinab, die Wege des Lichtes umgehend, bis zum gewachsenen Boden. Dort mochte sie sich als Nahrung oder Stimulans über jene Mikroben ergießen, damit ihr Leuchten nicht ermatte. – Ein Kreis. Ferreira lehnte sich zurück. Er war unzufrieden, schloß die Augen, um der werbenden Pracht des Bildes zu entkommen. Aber die Überredung dauerte fort, drang nun durch die Ohren auf ihn ein. Unbemerkt hatte sich der akustische Rhythmus verschoben. Aus dem Nachhall zwischen den eintönigen Takten wuchs eine naive, süße Melodie. Aber ihre Einfalt war tödlich. Die Melodie umschlang den Rhythmus mit erdrosselnder Zärtlichkeit, bis er erstickte. Sie setzte sich an seine Stelle, kehrte in immer ärmlicheren Variationen wieder, führte sich selbst zurück zu ermüdend leerem Stampfen. Nachhall schwang zwischen den Knoten des Schalls. – Ein Perpetuum mobile. Ohne hinzusehen, wußte Ferreira, was ihm die Projektion vorweisen würde. Aber dann warf ihm der Rechner einen unerwarteten Trumpf in die Augen: Das Bild kippte in die Draufsicht. Ferreira blickte von oben her in die erleuchteten Schlote hinein. Jäh versank das Bild, stürzte in einen Abgrund hinab, bis es fern und winzig dort unten liegenblieb. Die Feuer in den unzähligen Schloten schrumpften zu Funken zusammen, die Funken verschmolzen zu Flächen milden Glimmens. Aus der Dunkelheit flossen dem Bilde von allen Seiten neue Abschnitte zu, andere sanft glühende Flecke, Lichterketten, die die Flecke miteinander verbanden, da und dort Punkte reiner Farben. Dann war da plötzlich das
bildanalytische Original aus dem ersten Jahr. Die Projektionen legten sich übereinander. Die Bilder waren kongruent. Die Maschine bedurfte nicht des Atemholens. Sie warf unverzüglich neue Varianten in den Raum, ohne Rücksicht diesmal auf Beschränktheit menschlichen Aufnahmevermögens, Erfindungen, Assoziationen, verknüpft mit elektronischer Akribie und Grenzenlosigkeit, Auslegungen der Daten, mit denen sie gefüttert worden war, ineinanderlaufende Gemenge verschrobener Phantasien und bündig passender Sachverhalte, Klänge, Rhythmen, Bilder. Ferreira blickte durch horizontale, von unten her erleuchtete Fenster in Räume unter dem Meeresboden, die erfüllt waren von Licht, von seltsam wirbelnden Industrien und emsigem Getriebe kompakter, wissend blickender Wesen. Zwischen den Konstruktionen schwebten sie auf und nieder, hundert Hände zuckten und veranlaßten die rotierenden Aggregate zur Erzeugung rätselhafter Produkte. Dann wieder sah er eine tote, mineralische Welt voller Feuer und Farben. Überhitzte magmatische Ströme und Rinnsale kreisten nach Gesetzen einer sonderbaren Physik in verworrenen hydraulischen Systemen, stießen durch die Oberfläche des Meeresbodens, die unversöhnlichen Elemente gebaren nach wütenden Vermischungen tausend und tausend Kaskaden komprimierter, gleißend heißer Gase und Strudel weißer, gelber und bläulicher Glut. Danach erfand die Maschine Bilder ruhigen, schaffenden Friedens. Gebäude schwereloser Architektur, zu schwindelnder Höhe übereinandergetürmte Zellen oder abweisend gedrungene Kastelle, Häuser wie Bäume, korallenhaft ineinandergeflochten, zerbrechlich oder biegsam, in sanften Strömungen fächelnd, Formen ausschweifender Übermäßigkeit, üppig, verspielt, oder schlichte, schöne Proportionen. Zwischen den Gebäuden oder in ihnen gefangen quirlten, schwebten, sprangen oder bewegten sich auf irgendeine andere Weise fremdartige Völkerschaften. Wesen wie Kobolde hockten in den Gassen. Plötzlich vollführten sie gravitätische Sprünge mittels eines einzigen, überaus schwächlichen Beinchens. Rund um die Kugel in ihrer Mitte glänzte ein Kranz gewölbter, goldgerandeter Teleskopaugen. Ohne Lidschlag und ernst betrachteten sie ihre Welt, und einige der Augen blickten aufmerksam auf das Spiel einer Wolke vielgliedriger Finger, die dem Leib
entsprossen, mit denen sie atmen mochten und die zugleich irgendwelcher Manufaktur hingegeben waren. In anderen Bildern boten sich die Einwohner der Städte in pflanzenhaft statischem Gehabe dar, dünn, verästelt wie die Gebäude ihrer Stadt. Sie ragten aus den Konstruktionen heraus, waren in sie verwachsen oder gar nur Teil von ihnen, und sie schienen Initiatoren seltsamer, träger Transporte zu sein, die sich unten am Boden vollzogen. Rohstoffe wurden herangeschafft, Fabrikate hinwegbefördert, die Umwandlung der einen in die anderen verlief mit undurchschaubaren Technologien und in behäbiger Geruhsamkeit im Inneren der Häuser. Andernorts schwebten nackte, rundliche Wesen zu zweit oder in individuenreichen Sippen einher. Ihre Glieder hafteten anhänglich aneinander wie in einem Zönobium. Auf Kosten unsichtbarer Produzenten schienen diese Wesen nur nutzlosem Müßiggang zu obliegen, dem Genuß ihres Vorhandenseins und ihrer immerwährenden Treue. Da waren Gemeinwesen mit dem Gepräge hochentwickelter Technokratien, Wälder voluminöser Maschinen, die einander ähnlich sahen, so, als seien sie alle aus aufgeblasenen Hüllen zusammengesetzt, aber dennoch waren sie wohl tauglich zu energischem Betrieb, denn sie erfüllten das Wasser mit Turbulenz und Geschäftigkeit. Niemand schien dazusein, der sie lenken mochte. Da und dort schwoll aus dem Nichts eine Blase auf, ein Kopf entsproß dieser Blase, ein Antlitz und ein leuchtendes Auge. Unversehens alterte das Auge, trübte sich wie in Trauer, alsbald verging der Ausdruck dieses Gesichtes, aus dem erloschenen Haupt keimte ein neues hervor; so wuchsen die Wesen fort und fort, gleichwie im Scheinleben Traubescher Zellen, in sonderbarer Vermischung von Schöpfer und Schöpfung durchliefen sie hundert Metamorphosen, nahmen allmählich die Gestalt jener Maschinen an, rukkend begannen ihre Mechanismen zu laufen, und sie reihten sich in das technische Getriebe ein, dessen Sinn verborgen blieb. So ließen die Projektionen kaum eine Möglichkeit aus, ihre Geschöpfe mit einleuchtenden oder absurden Morphologien auszustatten, niemals zeigten sie Fische. Aber immer wieder war da Licht. Ferreira nahm es hin. Längst hatte er es aufgegeben, zu verfolgen oder zu verstehen, mit welchen einfa-
chen oder spitzfindigen Deduktionen die Herkunft der Strahlung und deren stets wiederkehrende Struktur begründet wurde – und der Rechner mochte sie wohl gewissenhaft begründen. Ferreira war erschöpft. Sein Bewußtsein taumelte diese geräuschvolle, gewundene Straße entlang, die zu bewältigen ihm aufgezwungen war, denn auch auf diesem Wege gab es den unseligen Punkt, auf dem zu verharren unmöglich war und der die Rückkehr ausschloß. Ferreira hatte diesen Punkt überschritten. Wie im Traum hinkte er auf der geraden Linie zwischen seinem Sessel und dem Inputschlitz des Rechners hin und her, um die Programmkarten zu wechseln. Einmal trieb ihn auch der Hunger, nach etwas Genießbarem zu suchen. In endlosen Variationen bohrte sich die Musik in sein überflutetes Hirn. Er saß da, lang ausgestreckt in seinem Sessel, das Kinn war von schwarzen Bartstoppeln überwuchert und zwischen die Buckel seiner Schlüsselbeine gesunken. Die Lider hingen schwer über den Augäpfeln herab. Zwischen den Brauen zuckte ein winziger Muskel, signalisierte überanstrengte Wachsamkeit. Immer wieder schlich sich eins der Bilder in seine Gedanken ein: jenes Bild der sprossenden Häupter, die Trauer in ihrem erlöschenden Auge. Das Engramm saß in seinem Hirn wie Takte einer simplen Melodie, die sich zuweilen lästig ins Ohr bohren und wiederkehren bis zum Überdruß. Immer wieder diese umflorten Gesichter, immer wieder stampfende, vergängliche Maschinen, die den Gesichtern ähnlich waren, als könnten die einen in die anderen übergehen. Ferreira riß die Augen auf. Der Monitor entwarf ganz andere Produktionen. Flüchtig dachte Ferreira an jenen suspekten Trick der Kinegraphie, Einzelbilder, kurz wie ein Blitz und nicht wahrnehmbar, in Handlungen einzustreuen, um das Unterbewußtsein der Betrachter zu verführen. – Ferreira wartete. So wie Ogoun gewartet haben mochte, harrte er des Augenblicks, in dem die Musik jene Leere durchbrechen würde, die die optischen Aktionen so beflissen und so geschwätzig überspielten. Noch war Ogouns Frage offen; all dieses Leben äußerte kein einziges Wort. Ferreira belauerte Momente der Stille, eines gewissen atemlosen Schweigens, das immer wieder zwischen die Klänge fiel, und er wußte schon, daß dieser Stille neue, drängende Töne entstiegen, reine elektronische Frequenzen oder Bündel verspannter Dissonanzen
und aufstrebender Läufe, beladen mit dem unbändigen Trieb, sich mitzuteilen, eine Mission zu erfüllen, komprimierte Nachricht auszuschütten, irgendwohin. Ein erlösender Schrei stand bevor, ein erstes verständliches Wort. Aber noch immer verloren sich die Klänge, brachen ab, die Musik erstarb, verirrte sich vor dem letzten Aufschwung, der die dünne Wand endlich durchstieß. In der wiederkehrenden Enttäuschung tönte Ogouns Stimme: »Das Ziel ist die Propagation eines jeden Bits. Sie sollen hecken! Ich benutze das Gesetz der großen Zahl.« Die Stimme war nun kalt, voll falschen Frohlockens und fiel aus großer Höhe herab. Ferreira vernahm in ihr den Keim der Verzweiflung, die diesen Mann im fünften Jahr überwältigen würde. Nach dem Zeitgeber der Programmkarten brach dieses fünfte Jahr an. Ogoun verfolgte sein Ziel konsequent, zu konsequent. Die Produktionen des Rechners schritten zur Zeugung mit sich selbst. Die Inzucht der Sukkuben hatte ihre Folgen. Die Menge des Materials, die Zahl der reellen Daten, über die der Rechner verfügte, war begrenzt, so wie die Zahl der Gene in einem Organismus begrenzt ist. Die Mechanismen zwischen Input und Output glichen in der Tat den physiologischen Prozessen des Wachstums und der Entwicklung, durch die sich ein genetischer Code in den Merkmalen eines Individuums manifestiert. Das Ziel des Codes, der Organismus, war hier nicht der Computer selbst, sondern seine optischen und akustischen Produktionen, die vom Programm kontrolliert wurden. Das totale Potential an Information traf nun verdoppelt, verdutzendfacht im Inzest aufeinander. Vergeblich öffneten sich die Kanäle zur informierenden Peripherie; die Speicher waren leer. Angriffspunkt dieses fragwürdigen Ablaufs war die elektronische Logik und die Vitalität der Maschine. Unmaß als Attribut der Inzucht rückte in den Kreis des Möglichen vor: Schwachsinn oder Genialität. Nach einer kurzen Periode exzessiver Verirrung, der Produktion von Schwulst und abnormen Phantasien suchte die Maschine den Forderungen des Programms nach strenger Rationalität des Outputs durch Trillionen vergleichender Operationen gerecht zu werden. Der Filter führte zu fortschreitender Lähmung der schöpferischen Ausdrucks-
kraft. In den Bildern wurden die Panoramen rapide von Ansammlungen vielflächiger Figuren verdrängt. Nach einer Schar kubistisch anmutender Varianten, die gleichsam eilig und schlechten Gewissens in den Raum geworfen wurden, begannen die Farben zu verlöschen, der Rechner beschränkte sich auf die Reihung stupider geometrischer Klischees in Weiß. Auch die Musik tendierte zur Abstraktion. Fragmente in der Bauart von Fugen. Über monotonem Baß verflüchtigte sich eine letzte, primitive Melodie in immer höher auffliegenden Diskant. Ferreira erschauerte. Er fror und wußte nicht, ob er dreißig oder schon fünfzig Stunden hier saß. Er wartete auf Han Ogouns Reaktion. Ogoun sprach noch zweimal. »Man müßte…«, sagte Ogouns Stimme mit makabrer Zuversicht, als sei es möglich, noch einen einzigen neuen Gedanken zu finden. Ferreira preßte die Ellbogen in die Seiten, zog die Beine an, als wolle er seine Oberfläche verringern, die all diesen Dingen ausgeliefert war, diesen Dingen, von denen er nun wußte, in welch unglücklicher Weise sie ausgehen würden. Noch einmal gaukelte jenes Gemenge aus Gesichtern und Maschinen durch sein Bewußtsein, dann kippte sein Blick weg. Ferreira nahm die Bilder kaum noch wahr. Die Projektion öffnete sich nach oben. Die expressiven Kräfte der Maschine ballten sich zu einem letzten Phänomen: Aus einem leuchtenden Zentrum schossen Punktreihen aufwärts. Durch einen Kanal, der sie vor dem Zugriff der Elemente schützte, eilten die Punkte auf gerader Linie einem Ziel entgegen, das irgendwo weit oben lag. Das Zentrum vereinfachte sich zum Kreis, die Punkte ereilten einander und erstarrten zu einer weißen Geraden. Aus der Tiefe erscholl unmenschliches Dröhnen, Vibrationen im Zwanzighertzbereich. Und unter dem Dröhnen war noch einmal Ogouns Stimme, leicht, erregt in ungläubiger Überraschung: »Diese Straße! Endlich schicken sie mir diese Straße! Sie beginnt für mich hinter dem Schott. Ich öffne das Schott. Ich passiere die Schleuse…, trete hinaus…, gehe zu ihnen hinab… Ich muß nur gehen. – So einfach ist das.«
Ferreira hörte nichts mehr. Sein Kopf war zur Seite gefallen, die Brust atmete ruhig, die Bewußtlosigkeit der Erschöpfung überdauerte das infernalische Getöse aus den Membranen des Monitors. Bobrow rüttelte Ferreira an der Schulter. Der erwachte nur allmählich, widerwillig von Stufe zu Stufe in die Bewußtheit emporklimmend. »Wie steht’s?« fragte Bobrow mit dosierter Gelassenheit und schätzte Ferreiras Zustand mit genauen Blicken ab. Er erwartete keine Antwort. »Ich habe den Lärm einstweilen mal abgestellt«, er wedelte mit seiner kleinen Hand in die Richtung zum Rechner hin. »Wir hatten sechzig Stunden vereinbart. Jetzt bin ich also hier. Wo ist Ogoun?« Ferreira vernahm nur diese letzte Frage. Wie auf ein Alarmzeichen raffte er sich von seinem Sessel auf »Ogoun«, stammelte er, »er ist nicht da. Mit dem Pendler… Er ist kundschaften… Oder…« Bobrows hurtige Augen waren überall. Heftig wandte er den schweren Körper zu Ferreira um. Auf dem Gesicht, das glatt und wohlwollend war, malte sich Erstaunen und Unverständnis. »Mit dem Pendler? Lieber Gott! Das Ding hängt draußen. Die Klammern sind seit Jahren nicht geöffnet worden… Wo ist Ogoun?« Ferreira schluckte. »Ja doch«, sagte er. Wie eine Woge brandete alle Erinnerung in die Leere seines Hirns zurück. »So?« fragte er, »der Pendler ist draußen? Ich hatte nicht nachgesehen.« Er sah an Bobrow vorbei. »Han Ogoun ist tot. Er ist umgekommen. In kleinen Schritten. Er ist in so vielen kleinen Schritten umgekommen, wie fünf Jahre Tage haben oder Stunden. Den Rest zerquetschten sechshundert Atmosphären Druck.« Ferreira sah Bobrow jetzt genau in die Pupillen. »Ogoun ist vor drei Monaten ertrunken«, formulierte er die offizielle Antwort, »er war ein tapferer Mann.« Das Urteil des Untersuchers Louvis Ferreira erweist sich heute als nicht den Kern der Sachlage treffend. Die Revision der Rechnerprogramme ergab hinreichende Gründe, den von Han Ogoun entdeckten Phänomenen auf dem Wasserplaneten nachzugehen. Unter Einsatz beträchtlicher Investitionen und mit Hilfe ausreichend dimensionierter Technik gelang – wie wir sechs Jahre nach Ogouns Tod erfahren – der Kontakt mit einer unterseeischen Zivilisation. Nach vorläufigen, zu
Lasten der großen Entfernung zu den »Eisernen Inseln« lückenhaften Informationen handelt es sich um eine hochentwickelte Technokratie auf der Grundlage einer nicht näher bestimmten »Identität von Individuen und Maschinen«. Vorsichtige Formulierungen in Sekundärkommentaren deuten an, daß technische Aggregate infolge »Absonderung« aus lebender Substanz oder durch »Metabolie« einäugiger Prototypen selbst entstehen können. Es wird nicht bezweifelt, daß Güter unter Aufwendung planender Vernunft produziert werden. Über Genese und Ziel der Produktion sowie gesellschaftliche Strukturen ist noch nichts bekannt geworden. Es gibt eine Sprache auf der Basis hochfrequenten Ultraschalls. Sie ist vom Typ der dritten Ordnung (E2 der VroedelSkale), ihre Decodierung daher von äußerster Schwierigkeit. Als das wesentliche Argument für weitere, erhebliche Anstrengungen zum Ausbau des Kontaktes gelten jedoch moralische Aspekte. Initiativen gingen vom Partner aus: Der Körper Ogouns wurde seinerzeit vom Partner sichergestellt und »in außerordentlicher Weise« konserviert. Er scheint sich gegenwärtig bereits wieder in der Hand unserer Mannschaft zu befinden. Der Partner wies ein Arsenal von Bauteilen vor, die sowohl durch ihre »Inkohärenz mit der Physiognomie seiner übrigen Technik« auffielen als auch durch den Aufwand ihrer Erzeugung, der selbst vor dem Hintergrund der dort vorgefundenen Maßstäbe als enorm angesehen werden muß. Die Konstruktionen dienten offensichtlich dem unvollendeten Versuch, die in jenen fünf Jahren verhängnisvolle Distanz zu Ogouns Bathyskaphen mit technischen Mitteln zu überwinden. Für den Partner scheint diese Distanz von eintausendzweihundert Meter Wassertiefe ein Problem »kosmischen Ausmaßes« darzustellen. Die Umrisse, in denen sich dieser neue Kontakt bisher zu erkennen gibt, berechtigen zu großen Hoffnungen auf wechselseitigen Gewinn. Indessen heben sie schon heute die Verdienste des Syntheoretikers Han Ogoun auf dem Sachgebiet der Rechnerprogrammierung in eine neue Dimension.
Episoden
Kioshi Tokito und Anatol Bykow stapfen über schwarzgebrannten Tuff. Sie schweigen. Es gibt einiges zu besprechen, aber momentan ziehen sie es vor, nur zu denken. Überall ist hier schwarzer Tuff, ausgenommen ein paar Flocken Schnee aus richtigem Wasser, mit einem guten Schuß Ammoniak vermischt. Die chromfarbenen Kutten der beiden Männer blinken jetzt rosa. Auch die Wölkchen längs der Tritte hinter den Männern sehen rosa aus im waagerecht einstrahlenden Licht der Sonne. Bykow trägt ein außergewöhnliches Ding über der Schulter, etwas wie ein verbeultes Blech, unförmig, mit großen und kleinen Löchern und schwarz überkrustet. Er macht sich Gedanken über seinen Fund. Auch Tokito hat eine Trophäe. Er hält sie auf der Innenfläche des ungefügen Handschuhs im Gehen vor sich hin wie eine Hostie, ein Scheibchen, bräunlich, glatt und mit erstarrten Metallkügelchen besetzt. Und auch Tokito erwägt gewisse Umstände. »Halt an!« sagt Bykow nach ein paar hundert Schritten. Tokito bleibt stehen. Bykow geht zehn oder zwölf Schritte seitwärts, bückt sich, hebt etwas auf und verharrt dann in einer Haltung, die Tokito merkwürdig vorkommt. Deshalb geht er zu Bykow hin. Der starrt auf ein zweites Stück Blech, das er gefunden hat. Es ist fast so groß wie seine Pranke, verbogen, die Ränder sind zerfressen, es sieht sehr alt aus und ebenfalls rosa in diesem Licht. »Aluminium«, sagt Bykow unbeirrt, dreht das Stück um und fügt hinzu: »Gold. Aufgedampftes Gold.« Auf dieser wie neu glänzenden Seite ist eine Zeichnung sichtbar. Linien, die sich sternförmig kreuzen, und ein paar Schnörkel am Rand, offenbar Reste einer größeren Darstellung, die abgeschlagen oder abgeschmolzen ist. »Das sind PulsarFrequenzen«, sagt Bykow lakonisch. Tokito sieht, daß die Linien zu äußerst präzise ausgeführten Mustern zerschnitten sind. Nach einer Weile nickt er zustimmend. Bykows schwarze Augen strahlen wie die eines Kindes. »Das hier soll ein steriler Brocken sein?« fragt er und stampft mit dem Stiefel gewaltig auf den Tuff, daß es staubt, und der andere begreift, er meint den ganzen Planeten. »Ich weiß es nicht«, be-
antwortet Tokito die rhetorische Frage. »Ist dies vielleicht von selbst entstanden?« Bykow wedelt mit dem Blech. »Nein. Gewiß nicht«, antwortet Tokito. Dann setzen sie ihren Marsch fort, und Bykow trägt das Blech in der freien Hand wie eine Monstranz. Nach zweihundert schweigsamen Schritten bleibt er stehen und sieht Tokito triumphierend an. »Aber ich weiß was. Ich weiß jetzt, was die Schnörkel bedeuten. Es sind drei Füße und eine Hand.« Die Männer beugen sich über das Stückchen Metall. »Na?« Bykow versucht, Tokitos Erkenntnisvermögen zu beschleunigen. »Es ist so«, bestätigt Tokito ernsthaft, »drei Füße und eine Hand.« Bykow betrachtet die Zeichnung voller Entzükken, und seine Phantasie ergänzt das Bild. »Ich hab immer gehofft, daß es die hierherum gibt. Solche wie… Na, solche wie uns… Oder so ähnlich.« Noch einmal und mit schiefem Kopf beäugt er das Bild der drei Füße, ehe er sich wendet, um weiterzugehen. »Ich weiß nicht«, äußert Tokito nach einer Weile, und dann hört er Bykow sagen: »Wir erleben etwas ganz Großes.« Bykow flüstert fast, weil er ergriffen ist von der Erhabenheit seiner Einsicht. Tokito schweigt diesmal. Sein Gesicht zeigt über den Zeitraum vieler Schritte hin einen abwesenden Ausdruck. Da lacht Bykow auf wie ein Junge und schreitet so weiträumig aus, daß Tokito die Zahl seiner Schritte verdoppeln muß. Nach einer Viertelstunde beginnt Tokito zu reden. »Es ist mir jetzt eingefallen«, sagt er. »So? Was denn, Kioshi?« fragt Bykow leichthin, und Tokito antwortet ein wenig lehrhaft, weil er Mitgefühl zu verbergen hat: »In den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts passierte eine von der Erde entsandte Sonde vom Typ Pioneer den Jupiter und verließ als erster Raumflugkörper das Sonnensystem. Sie trug eine vergoldete Aluminiumplatte mit sich mit Angaben zu einigen damals bekannten Pulsaren und dem Bild eines Menschenpaares. Es war ein Versuch, Nachricht von unserer Existenz in den Kosmos zu senden.« Tokito verstummt, und Bykow steht jetzt erstarrt da. »Das ist wahr?« fragt er nach einer Ewigkeit, obgleich er es weiß, denn die Worte kamen von Tokito. »Vor zweihundert Jahren«, sagt er stöhnend. »Und es gibt niemanden, der das Ding findet. Niemanden außer uns, außer uns blöden Kerlen.« Dann setzt er sich wieder in Bewegung. Tokito geht hinter ihm. Er kann nun die Zahl seiner Schritte auf das normale Maß ver-
mindern, und es kommt ihm so vor, als seien Bykows Arme ein Stückchen länger geworden. Alles, was sich in ihm regt, stößt er in die Tiefe zurück, alle Gefühle, die heraufquellen wie Dunst. Er füllt sich an mit dem wütenden Trieb, sie unter sich zu stampfen, unter seine Füße, dorthin, wo sie außer ihm sind und sich nicht mästen können an seiner Kraft und sich nicht aufblähen, um ihn zu demütigen. Er bedarf jetzt nur seiner Vernunft, zerlegenden, gliedernden, kalten Verstandes. Seine Handflächen sind schlüpfrig von Schweiß, er trocknet sie an den Hüften und macht sich ein hilfreiches Bild, an das er sich klammern will: Nerven, ein Raumbild von Ganglien, das Geflecht seiner eigenen Neuronen, zu Eisnadeln gefroren, Hirnströme als exakte Physik. Dann reißt er die Augen auf. Also gut. Es geht. Jetzt gelingt es ihm, das dort hinter der Scheibe zu betrachten. Er erkennt es wieder, viel zu genau, wie immer springt ihn der Anblick an, verletzend, anstößig, und er würgt an Erinnerung. Aufgehäufte, lastende Masse, gewisse Bewegungen, schale Farbigkeit. Seine Pupillen verfolgen den Lauf der verschlungenen Wülste, er blickt nur das dort an, nicht das Spiel auf dem Oszillographenschirm, und er läßt sich nicht beirren von jäh über das Monstrum hin hüpfenden Glanzlichtern, die auch von innen herausblitzen durch glasiges Fleisch. Es sind nur gewöhnliche Reflexe, und der Glanz rührt von tropfender Feuchte her, warnt er sich selbst, bitte, es muß so sein und ist nichts als natürlich, wenn Leuchtröhren brennen in diesem »Kabuff«. Plötzlich weiß er: Es sind drei. Drei wie eins. Es stimmt, denkt er, denn ich zähle sechs Augen. Ihre Augen sind keineswegs das einzige Eindeutige. Da sind noch Finger, Haare, verklebte Haarsträhnen selbst im Innern dieser Leiber, Lungen, etwas wie ein Kreislaufsystem, blubbernde Peristaltik. Und all die anderen schauerlichen Übereinstimmungen, die er erkennt, und die Übertragbarkeit gewisser Merkmale durch Phantasie, die der Zügelung entwischt. Unerlaubte Vergleiche, Geräusche, von der Einbildungskraft an falschen Ursprung entführt. Er hört nichts, hier im »Kabuff«, die Geräusche schleichen sich auf andere Weise in ihn ein. Aber das furchtbarste sind jene Zonen beseelten Ausdrucks nahe ihren Augen, schreiende Zeichen der Empfindsamkeit, Bereitschaft und Bemühung. Er denkt an jene plötzlichen, unberechenbaren Ausbrüche der
Qual, in der er das dort sich bäumen sah, und sein Blick gleitet nun doch zu Bruns ab, der neben ihm hockt. Bruns starrt stur auf den Oszillographen. Sein Gesicht ist weiß und gedunsen, auf der Stirn glitzert Schweiß. Zu beflissen fingert der Mann an den Knöpfen der Black box, die den Oszillographen speist, summend vor Fleiß, um die Sprache der Leiber jenseits der Scheibe zu entschlüsseln. Da beißt sich Bruns auf die Lippen, daß die Haut dort zu platzen droht. Die grünen Linien auf dem Schirm vervielfachen sich zu wildem Gestrüpp zuckender Peaks. Jetzt sieht er weiße Flöckchen von Speichel, die sich in Bruns’ Mundwinkeln angesammelt haben. Nein! O nein! denkt er und fühlt die erste Konvulsion seines Magens herannahen. »Es ist nicht so schlimm«, sagt da Bruns plötzlich und mit unmöglicher Gelassenheit. »Sie ekeln sich nur vor uns.« Bruns schluckt Speichel hinunter, als hätte er den ganzen Mund voll davon, und versucht ein Lächeln. »Brechen wir vorerst ab.« Diese Gedanken. Jetzt, gerade jetzt im letzten, unwiederbringlichen Augenblick. Was für dumme Einfälle: Menschen erfinden Wesen, heben sie herauf aus dem unerschöpflichen Dunkel des Nichtvorhandenseins. Morgensterns musizierende Nasobeme. Lems Tichy jagt in Tentotam, jenseits der Milchstraße, geheimnisumwitterten Sepulken nach und findet doch nichts als schamvolles Erröten der Ardriten. Die handäugigen grünen Männchen Vonneguts, die ihre erhobenen Hände zu Fäusten schließen, wenn sie nicht ansehen wollen, was ihnen Unbehagen schafft. Sind all diese Gestalten wirklich nur erdacht? Als letzter schwingt sich Jiri in die Schleuse, und von da an sind es kaum noch zwanzig Minuten bis zum Start. Welch brutale Zäsur! Jenseits harren nur blutlose Konserven und Erinnerung, die zu verblassen bestimmt ist. Aber noch dringt ein Bild durch das Schott, ehe es sich schließt. Noch ist der Blick nach draußen möglich in die duftende, zärtliche Luft, die zu streicheln vermag und zu klingen wie der Nachhall glücklichen Lachens. Und unten stehen sie! Hunderte. Sie sind nicht grün. Sie sind nicht klein. Sie sind gütig, und ihre Handflächen sind glatt und blind. Aber… Wir fragten sie nach ihren Liedern, da klappten sie sich einfach zu. Immerfort sangen sie. Was sie taten, mündete in Lieder. Drei volle Jahre lang fragten wir sie nach ihren Liedern. Und drei Jahre lang klappten sie sich zu. Sobald die Frage da war, verbargen sie sich hinter dem
Schild eines seltsamen Lächelns, klappten zu, und wir hörten den Singsang durch ihre Nasenlöcher aus ihrem Innern summen. Sie hörten nicht auf zu singen, auch nach tausend Fragen nicht. Aber sie hüteten ihr Geheimnis. Sie singen auch jetzt. Plötzlich höre ich eine einzelne Stimme über dem sanften Wogen der Töne, fistelnd, wie es ihre Art ist. Jiri steht am Translater, preßt die Membranen an die Ohren. Langsam öffnet sich sein Mund. »Band an!« schreit er, und dann flüsternd vor Aufregung: »Er spricht über ihre Lieder.« Das Fisteln erstickt im Grollen der Schleusenschotts. Der Spalt schließt sich. Jiri reißt die Verstärker aus den Ohren, denn da ist sie, die Zäsur, das Startprogramm hat keinen Rezeptor für Offenbarungen. Später fragen wir Gobar, warum sie uns erst antworteten, als es zu spät war. Gobar verstand sie am besten. Er lacht lautlos, und wir glauben, es sei ihre Weise zu lächeln, die sich auf seine Züge verirrt. »Wer eine gute Geschichte abbricht, der wünscht, daß die Zuhörer wiederkehren, um das Ende zu erfahren«, sagt er schlicht. »Drei Jahre lang sorgten sie sich, daß ihre Geschichte gut genug werden möge.« Gobar schaut sonderbar durch uns hindurch. Woran denkt er jetzt?
Im ökologischen Epizentrum
Es war von nichts Geringerem als von Schöpferkraft die Rede, einem Begriff, der zu Weitläufigkeiten verleitet. Aber man beschränkte den Gegenstand schon auf die Fähigkeit belebter Systeme, körperliche Formen zu gestalten. Es schien, als einige man sich auf zwei verschiedene Quellen dieser Potenz, nämlich die Mechanismen der organischen Morphologie und die Phantasie als Leistung der Intelligenz. Alsbald stieß man wieder auf dieses Paradoxon: Die Entfaltung der individuellen Formenfülle aus dem simplen Ei oder die langen, verschlungenen Wege der Entwicklungsgeschichte, die zu diesem Ei führten, wurden von unerhört strengen Gesetzen kontrolliert; die Natur bestraft nahezu jeden Fehltritt vom genetisch fixierten Pfad mit dem Tod. Dennoch mußte der Erfindungsreichtum der Evolution als eine Tatsache anerkannt werden. Man gab zu, daß der Weg des Lebens auf der Erde am erfolgreichsten gewesen ist. Der Almanach erkundeter Planeten war zwar schon ein respektabler Band, aber die astrobiologischen Formenkataloge zählten enttäuschend Monotones auf und nur wenige Beispiele, die sich originell von den bildnerischen Grundlösungen der irdischen Flora und Fauna abhoben. Deren Vielfalt jedoch war eben wunderbar; niemand nahm Anstoß an diesem Prädikat, obgleich es den Rationalisten reizt. Ich sah M. in der Runde. Sein Gesicht war schmal, von scharfen Zügen gezeichnet und mit langem, vorspringendem Kinn. Der Mann hatte die Mitte seines Lebens gerade überschritten, dennoch glänzten die seidendünnen Haare so weiß, wie es oft für blonde Typen zutrifft, wenn sie frühzeitig ergrauen. Er war bisher kaum in Erscheinung getreten, ich erinnerte mich nur einer Bemerkung von ihm zum Habitus gewisser Vogelarten: Die auffällige und bunte Ausstattung vieler Männchen sei durchaus nicht so zweckmäßig, wie es nach dem als so hart strafend dargestellten Selektionsprinzip erwartet werden müsse. Überdies entwickle sich das Schönheitsempfinden ihrer Weibchen danach, wie die Männchen nun einmal geworden seien, nicht umgekehrt, und
schon gar nicht nach sonstigen anthroposophisch oder vitalistisch anmutenden Gesichtspunkten. Was er sagen wolle: Es scheine ihm unzureichend, die Quellen gestaltender Schöpferkraft der Natur so streng und in nur zwei verschiedene zu trennen. Und solle er hier unrecht haben, so könne ihm doch niemand einreden, daß es der Sache förderlich sei, ins irdische Schema zu pressen, was der Kosmos an Bildern gezeigt habe und noch bereithalte. Dem Leben wohne – soweit man erfahren habe – die Potenz zu plastischem Gestalten inne, und er meine, man solle diesem Vermögen einräumen, daß es sich hier auf diese und andernorts auf irgendeine unterschiedliche Weise manifestiere; auch so, daß animalisches Protoplasma Gestalten hervorzubringen imstande sei, die nicht notwendig nur den Gesetzen des genetischen Codes, der Wirkung adaptiver Fermente, der Mutation, der Variabilität und ihrem Spiel mit der Selektion und all diesen Dingen gehorchen müßten, nur deswegen letzten Endes, weil wir darüber Bescheid wissen. Die noch so einladende Bequemlichkeit einer Denkweise könne niemals als Beweis der Einzigartigkeit dieser Denkweise gelten. Es seien immer noch andere möglich. Ich erinnere mich nicht, wie man dem Mann antwortete. Indessen erzählte er mir später eine Geschichte, in die er einst selbst verstrickt gewesen war. Einige Grundzüge der Episode waren mir aus Berichten bekannt. Aber die Protokolle verschwiegen gewisse Einzelheiten, die ich von ihm erfuhr. Ich weiß nicht, ob seine Geschichte mehr Wahrheit enthielt als die offiziellen Versionen. Aber ich sehe keinen Grund, seiner Erzählung zu mißtrauen, denn sie offenbarte einige Bekenntnisse, die keineswegs zu seinen Gunsten sprechen. Warum hätte er sie anführen sollen, wenn nicht um der Wahrheit willen? Ich denke, um die ging’s ihm vor allem, er wünschte, sich etwas von der Seele zu reden, denn nach den amtlichen Berichten war er fast ein Held. Felix Meerenbjerg – nennen wir ihn so – pfiff etwas durch die Zähne, eine einfältige Folge von Tönen, die er für melodisch zu halten schien. Er schob das Handgelenk mit dem Chronometer vor die Augen, aber außer dem Umstand, daß die letzte Stelle der gelblich leuchtenden Zahlenkolonne im Sekundenrhythmus herumhampelte, konnte er nichts erkennen. Sein Gepfeife setzte aus, als er den Kopf schüttelte, um das
Wasser aus den Wimpern zu schleudern. Mit der anderen Hand rieb er über das triefende Uhrglas, betrachtete die Zeitanzeige lange und aus verschiedenen Gesichtswinkeln und nahm dann seine musikalische Übung wieder auf. Meerenbjerg war der Typ des blonden Nordländers, nicht ganz von der rechten Länge für diese Bezeichnung, seines Faches Atmosphärenphysiker, Spezialist für epibolische Gashüllen und – damit fast legitim – anfällig für gewisse, aus diesen leichten Medien sublimierte Stimmungen. Zudem tat er sich durch seine Jugend in der Mannschaft hervor, er war erst in der zweiten Hälfte der Zwanzig, und auch das berechtigte ihn zu maßvollen emotionalen Extravaganzen. Momentan war ihm danach zumute, zu pfeifen. Nur, er war nicht allein. »Mensch, Regenpfeifer! Muß das sein?« meldete sich denn auch eine Stimme dicht hinter Meerenbjergs Rücken aus dem Dunkel. »Hast du nichts Konstruktives auf der Kassette?« Die Stimme klang hoch und quäkend in der argonhaltigen Luft. Das Pfeifen erstarb. »Vier Stunden sind um.« »Das ist konstruktiv?« Meerenbjerg spürte die Vibrationen der Stimme unmittelbarer, sonorer und fast eher an seiner Haut, als er sie hörte. Er hockte Rücken an Rücken mit Daniel Buhr, dem Biologen, sie hatten beide fast nichts an, und das bißchen Gewebe zwischen ihren Körpern troff vor Nässe, so daß der Kontakt von Haut zu Haut im physikalischen Sinne optimal war. Sie kauerten zu dritt auf dem gerundeten Buckel ihres »Coleopters«, eines kleinen, aber schwer gepanzerten Geländewagens; das Gefährt war unangemessen für diese turnusmäßige Fahrt zur Außenstation, aber ein anderes, mit Raupen laufendes Vehikel war nicht greifbar gewesen. Momentan konnte man freilich kaum etwas von der Maschine sehen. Nur ihr Buckel ragte wie eine winzige, verlorene Insel schräg aus schwarzschlammiger Flut. Von oben schüttete Wasser in Sturzbächen herab. Handwarme Güsse platschten in das Meer – die drei fürchteten in der Tat, die heiße, schwarze, staubgeschwängerte Wüste habe sich in diesen paar Stunden in ein regelrechtes Meer verwandelt –, es klang, als schöpfe eine Million unsichtbarer Geister in einer gigantischen Wäsche-
rei immerfort Wasser mit Eimern, um sie sogleich wieder auszugießen; von Rauschen, wie es sich für ordentlichen Regen gehört oder auch für einen Wolkenbruch akzeptabler Dimension, konnte keine Rede mehr sein. Überdies war es Nacht, wenn auch nicht weit bis zum Aufgang Tetas, der Sonne, und aus unerfindlichen Gründen gab es trotz der Wassermassen in der Atmosphäre und den massiven Wolken, die man mit Erstaunen jetzt plötzlich dort oben zu vermuten hatte, einen restlichen Schimmer von Licht. »Ich habe vorher etwas Konstruktives gesagt. Im Augenblick bin ich nicht dran.« »So?« fragte Buhr unbewegt. »Daß der Druck fällt.« »Wenn ich könnte, würde ich lachen«, sagte der Biologe mit gelassenem Ernst. »Das ist deine stereotype Redewendung seit Wochen. Und was war? Getrocknete Heißluft, der Himmel gähnend leer bis zur Andromeda, abgesehen von den Staubschwaden, der Boden schwarz und zäh wie Polyphenol. Kein Tropfen Tau. Nichts, solange wir hier sind. Vorhin? Mein Schädel ging auf wie ein Luftballon. Wenn man riecht, was los ist, braucht man kein Barometer – und keine feinfühligen Gasphysiker, um zu bemerken, daß der Druck ins Bodenlose stürzt.« Meerenbjerg schubste mit dem Rücken nach hinten. Buhr lachte. Dann hörte man gurgelnde Geräusche. Er spuckte Wasser. »Daß uns Stepan auch so plötzlich rausgeschmissen hat in diese Unwirtlichkeit.« Stepan Kolinko fühlte sich angegriffen, wie es auch beabsichtigt sein mochte. Maschinisten sind empfindlich. »Schreit nicht so«, sagte er. Diese Stimme tönte überraschend tief und in den Obertönen beschnitten. Es war eine Lautsprecherstimme. Buhr turnte über die rundum abschüssigen Wölbungen des Wagendaches zu Kolinko hin, seine Gummisohlen quietschten. Dann drehte er an einem der Regler am Helm des Maschinenwartes. »Besser so? Bißchen nervös?« »Lutrell hat uns in diesen Bulldozer gesteckt, nicht ich«, knurrte Kolinko gereizt.
»Aber Stepan«, sagte Buhr, als müsse er ein Kind besänftigen, und kehrte zu seinem unbequemen Sitzplatz hinter Meerenbjerg zurück. Einige Minuten gab es nur wieder das Platschen des Wassers und ab und zu farblose Reflexe auf der Wasserfläche. Der junge Meerenbjerg setzte an zu pfeifen, hielt aber sogleich wieder inne. »Vielleicht nimmst du besser den Helm ab, Stepan«, sagte Buhr nach einer langen Pause. »Die Luft ist frisch gewaschen und staubfrei, brauchst um deine Lungen nicht mehr zu fürchten. Warme Güsse auf den Kopf wirken beruhigend, und vielleicht haben wir das bißchen Akkuenergie bald nötig.« Kolinko war mit Buhrs Vorwurf noch nicht fertig. »Wir mußten raus«, sagte er mit weniger eindrucksvoller Stimme; er hatte den Helm aufgeklappt. »Der Coleopter ist kein Amphibium. Der sackt ab wie ein Stein. Das Wasser lief zu allen Knopflöchern herein. Oder sollte ich euch in der Büchse ersaufen lassen?« Und nach einer Weile, als verdaue er die angeschnittenen Fragen gründlich und der Reihe nach: »Energie ist bei diesem Spektakel das kleinste Problem. Aus dem Kasten hole ich jedes Quantum raus.« Plötzlich tanzte in der Nähe ein Flämmchen über dem Wasser. Kaum hatten sie die Augen dorthin gerichtet, da sprang eine Unmenge dieser Lichter aus der Flut, und dann sahen sie, wie die Illumination rundum zu einer geschlossenen Schicht fahlen Leuchtens zusammenfloß. Das Licht schwebte dicht über der brodelnden Wasserfläche wie eine Decke lautlos siedender Phosphoreszenz. Alsbald formte sich die Erscheinung zu einem Ring, sie hockten in seiner dunklen Mitte, der Ring weitete sich riesig aus, sie vermuteten, bis zum fernen Horizont. Das Phänomen währte zwei, drei Sekunden. Die drei Männer duckten sich in Erwartung des Donners. »Elmsfeuer?« fragte Kolinko, als der Donner ausblieb. Buhr antwortete, nicht Meerenbjerg. Er fädelte das Band seiner Helmbrille hinter die Ohren. »Nein. Gas. Eine Art Sumpfgas. Entzündet durch uns selbst. Spitzenentladung. Ich denke, die Glocke über uns ist ein hoch aufgeladener Kondensator. Felix?« Der Physiker schwieg. Er wußte von diesen Dingen zuviel und zuwenig für ein bündiges Urteil.
»Oje, Regenpfeifer, wozu haben wir dich nur mitgenommen?« Kolinko seufzte. »Es wird wiederkommen«, sagte Buhr nachdenklich. »Wenn das wirklich Sumpfgas ist, sehen wir die Attraktion noch mal. Vielleicht eine normale Sache, wenn das schwarze Biolith von hinreichend viel Wasser bedeckt ist. Nur, Sumpfgas entsteht anaerob. Wer verpulvert den vielen Sauerstoff in dieser Brühe? Vielleicht ist es ein simpler Zyklus im Stoffumsatz dieses Bodens. Und vielleicht ist es ein… Vorzeichen.« Kolinko wandte den schweren Körper behende zu Buhr hin. »Du meinst, es passiert noch mehr?« »Ja«, sagte Buhr gedehnt, und nach einigem Nachdenken: »So habe ich’s gemeint. In ökologischen Systemen sind die Dinge durch ein Gewirr alternativer Beziehungen miteinander verknüpft. Jedes Ereignis zieht dann ein Rudel anderer hinter sich her.« Meerenbjerg sah die Schatten seiner Gefährten, wie sie die Köpfe drehten, um andere solcher Lichter zu entdecken. Buhr und Kolinko redeten miteinander. Sie erhofften sich Information über das verwandelte Gesicht der Landschaft, falls das Feuer wiederkehrte. Er achtete nicht recht auf die Worte. Er hatte zu geringe Erfahrung, wie man mit derartigen Situationen fertig werden konnte. Die Irrlichter – Daniel Buhr schien das Feuer tatsächlich für ein überdimensionales Irrlicht zu halten – ein Vorzeichen… Wofür? Unversehens kam ihm sein Gleichmut abhanden. Fast fünf Stunden waren vergangen, ohne daß sich an ihrer prekären Lage etwas geändert hatte. Die Wassermengen, die auf das bißchen irdisches Metall prasselten, konnten unerschöpflich sein, das wußte er. Und es war nicht mehr zu übersehen, daß ihre Insel kleiner wurde. Der Pegel des widerlichen Meeres stieg. Da hockten sie nun, Buhr und Kolinko. Stepan Kolinko, das Walroß, und der redselige, immerfort von Ideen übersprudelnde Daniel Buhr. Wie stark sie waren. Waren sie wirklich so stark und gelassen? Aber ihn, Meerenbjerg, nahmen sie nicht ernst. Niemand nahm ihn ernst. Dazu die vielen Verdachte, die er gegen sich selbst hegte. Freilich, da war noch Enn. Er fingerte nach dem kleinen glänzenden Iflonkamm in seiner Tasche. Er gehörte Enn. Sie hatte ihm den Kamm gegeben, damit er immer etwas von ihr bei sich tragen sollte. Für sie
war er ein Halbgott. Enn war einfach naiv. Ein übler Gedanke. Aber es war doch überwältigend, wenn sie… Meerenbjerg schüttelte sich unter dem warmen fallenden Wasser. »Du siehst in diesem Spektakel noch andere Probleme, Stepan?« fragte er plötzlich, um seiner diffusen Niedergeschlagenheit wenigstens eindeutige Züge zu verschaffen. »Habe ich das richtig verstanden?« Kolinko stutzte. Man ahnte, daß er sich über die kahle Wölbung seines Schädels strich. »Das viele Wasser«, sagte er mit unbefangener Aufrichtigkeit. »Wenn das lange so geht. Eine Woche, einen Monat oder…« »Wenn’s nur das ist«, mischte sich Buhr ein. »Du meinst…?« »Was unter dem Wasser ist, scheint mir interessanter. Der schwarze Boden, der hier überall zutage tritt. Das Biolith. Brunner nennt ihn so. Der große Brunner. Biolith beschreibt er als Mineral.« Buhr hielt einen Augenblick inne. »Eine Diagnose gilt soviel und so lange wie der wissenschaftliche Kredit ihres Autors. Ein Mineral? Das Zeug sieht so aus – basta! Orthodoxie und Beweise sind unvereinbare Kategorien.« Die reden…, dachte Meerenbjerg und spähte, ob das Wasser steigen würde. »Du hast dazu eine Meinung?« fragte Kolinko interessiert. »Nur Gefühle«, erwiderte Buhr. »Und?« »Ich halte das Zeug für sehr jung. Es könnte das komprimierte, lytische Endprodukt einer Vegetation sein. Ich wette, unterm Mikroskop würde es Erstaunliches offenbaren.« »Vegetation in dieser Wüste?« »Vegetation muß nicht immerfort vorhanden und grün sein, Zweige, Blätter und Läuse drauf.« »Und ist was damit?« »Nun, dem Biolith kann man getrost einiges zutrauen. Jetzt zum Beispiel könnte es quellen. Nicht nur so ein bißchen. Es nimmt so lange Wasser auf, bis es zu Pudding wird, zu wabbelnder Götterspeise.«
Kolinko dachte eine Weile nach. »Die Raupen drücken mit mehr als achttausend Pond auf den Quadratzentimeter.« »Na bitte«, sagte Buhr. »Glaubst du, es gibt ein Gelee, das so viel aushält?« »Das ist bestimmt so?« »Ach woher!« widersprach Buhr. »Es ist mein purer Hang zu übermütigen Hypothesen. Hat es hier schon mal Wasser gegeben? Und hat schon mal jemand Brunner Experimente machen sehen?« Der junge Meerenbjerg richtete sich auf. »Aber Lutrell wird uns doch hier herausholen«, sagte er, bemüht, seiner Stimme einen unbefangenen Klang zu geben. »Gewiß«, antwortete Buhr bestimmt. Und dann, wie leichthin, hob er die Zuverlässigkeit der Aussage wieder auf: »Wenn er kann.« Buhrs Worte erzeugten Schweigen. Auch Buhr selbst dachte nach. Er dachte über Meerenbjerg nach, um sich einzufühlen, wie dem Jungen wohl zumute sein mochte. Er sprach laut, als wende er sich an den Maschinisten oder doch an beide: »Wenn wir zu Hause mit dem Auto auf der Piste fahren, lesen wir jede Kurve, jede Neigung, jedes Ereignis, das uns erwartet, schon hundert Meter im voraus am Signalstreifen ab. Und immerfort hoffen wir, daß da mal ein Schild vergessen wurde, daß uns eine Kurve überrascht, die nicht schon angekündigt ist. Wir hoffen zu Recht, daß die Dinge anders verlaufen möchten, als wir’s erwarteten, denn wir haben Erfahrung. Nur deshalb benutzen wir das Auto und nicht die Zito, die uns mit nichts als der kahlen Sicherheit beschenkt, das Ziel zu erreichen. Auch hier fahren wir Auto.« Buhr schlug mit der flachen Hand auf den Stahl. Es patschte. »Auf einer Piste voller unbezeichneter Kurven und voller Hoffnung auf sie.« »Piste!« bemerkte Kolinko vorwurfsvoll. Felix Meerenbjerg hörte die Worte, bedachte flüchtig, daß sie an ihn gerichtet sein mochten, aber ohne sein Zutun mangelte ihm plötzlich die Bereitschaft, ihren Sinn zu empfangen. Irgend etwas sog seine Aufmerksamkeit an. Er blähte die Nüstern, spürte sogleich einen fremden, warmen, dumpfen Hauch. Er hörte den Maschinisten fragen, was zu tun möglich oder nötig sei. Hypothesen und Unkenntnis seien eine
ungeeignete Basis für Pläne und Aktionen, meinte Buhr und riet, mehr Helligkeit abzuwarten, bis man Geeignetes unternehme. Danach wußte niemand mehr etwas zu sagen. Sie kauerten auf ihren Plätzen, ohne darauf zu achten, den Güssen möglichst kleine Flächen ihrer Körper preiszugeben, brüteten vor sich hin, ab und an die Haltung wechselnd, wenn eins ihrer Glieder einzuschlafen drohte. Meerenbjerg überkam eine sonderbare, beharrliche, sich zuspitzende Wachheit. Da war ein Fächeln der Luft auf der nassen Haut. Er inhalierte die Luft, schmeckte ein neues, modriges Aroma auf der Zunge. Unversehens trocknete der Mund. Meerenbjerg schluckte, strengte alle Sinne an. Unmerklich veränderten sich die Geräusche des Wassers, sie schienen sich Zentimeter um Zentimeter in den grauen Umkreis davonzuschleichen. In den verdünnten Raum sickerte Helligkeit. Dann spürte er einen Einbruch von Infrarot, gelinde Hitze, zuerst auf dem Gesicht, danach unter der nassen Kleidung, von dorther, wo die Sonne zu vermuten war. Er warf einen Blick zum Chronometer. In der Tat, Teta acht mußte schon ein Stückchen über dem Horizont stehen. Buhr regte sich hinter ihm, langte erstaunt mit der Hand nach der bestrahlten Seite seines Leibes, aber ehe der Mann die Bewegung vollenden konnte, stürzte Stille auf die Männer herab, Stille wie massive Substanz, die sie körperlich umhüllte. »Stepan! Daniel!« rief Meerenbjerg. »Achtung! Teta kommt. Die Sonne!« Der Ruf erstickte in der Leere, und hinter ihm schlug die Stille zusammen, die tödliche Stille dieser »Natur«, die ihnen eine verschwommene Maske wies, von der sie nicht wußten, was sie verbarg. Alle drei fuhren sie hoch, auf die Beine, unsicher vom langen Hocken mit geknickten Gelenken. Buhr und Kolinko sahen ungläubig zu Meerenbjerg hin, tasteten mit blitzschnellen Blicken die beruhigte Wasserfläche ab, den grauen Raum über ihnen und die Richtung nach Osten. Überallhin verlor sich die Sicht in zwielichtigem Dämmern. Buhr schüttelte sich wie ein Hund, schleuderte einen Schwall von Spritzern um sich. Seine und Kolinkos Blicke begegneten sich. Aber schneller, als sie es begriffen, war alles wieder ganz anders. Licht zuckte auf, schmetterte wild auf ihre winzige stählerne Insel. Die Wolken stoben auseinander, Teta acht hieb mit weißen Schwertern schräg
auf die Fläche der Welt, die sich plötzlich ohne Ende um sie ausdehnte, reglos und glänzend wie diamantgeschnittenes Chrom. Sie blinzelten ins Helle. Ihre Vorstellungen stießen sich an einer neuen Seite der Realität, ihres stets unberechenbaren Rivalen. Die Atmosphäre klärte sich unversehens zu einer Durchsichtigkeit, die sie aus ihren Erfahrungen in diesen Breiten für unmöglich gehalten hatten. Sie kannten hier nur die ungesunde, schwere, staubgesättigte Luft, die jeden Fernblick ausschloß, den zähen, ewig schwarzen Boden mit den handgroßen gelbverkrusteten Dellen, denen sie den Ursprung des Dunstes zuschrieben, die sonderbare, trockene Elastizität dieser tiefschwarzen Masse, über die ihr Wagen schon einen ganzen der hiesigen langen Tage gefahren war und fast eine ganze Nacht, ohne daß die schweren Raupenglieder eine dauerhafte Spur ihres Weges hinterlassen hätten. Und nun dies. Das viele Wasser, die Weitläufigkeit des Horizontes, diese neue Landschaft, die Melancholie ihrer Grenzenlosigkeit, die das Gelände bei allem Überschwang des Lichtes auf einmal zu nördlich oder sehr viel südlicher wirken ließ, als es seinem Gepräge bisher zugekommen war. Kolinko stand groß und schwer und breitbeinig da; er kratzte seine Glatze, die rings von ergrauendem Gekräusel umgeben war. Es tropfte noch von seinem Ellbogen, im aufgeklappten Helmdach schwappte Wasser. »Regenpfeifer! Mensch, Regenpfeifer«, sagte er voller Bewunderung. Er lächelte. Die Lippen entblößten zwei prächtige Eckzähne, die zu den herabhängenden Borsten seines Schnurrbartes paßten. Meerenbjerg sah ein bißchen stolz und ein bißchen verlegen aus, als sei der Sonnenschein wirklich sein Verdienst. »Hoppla, eine Kurve«, sagte Buhr. »Spontaneität inmitten berechneter Beharrung ist unsere sicherste Zuflucht.« Er verstand ziemlich viel unter diesen wenig durchsichtigen Worten und fügte nach einer Weile gelassen hinzu: »Gut, Felix! Nun denn. Tun wir was.« Sie spielten einige Varianten durch, sahen ein, daß fast alle Ideen absurd, ihre Möglichkeiten auf ein bedenklich leicht überschaubares Feld beschnitten waren.
»Wir brauchen Funk und etwas zu essen«, faßte der praktische Kolinko zusammen. »Solange das Wasser nicht abläuft, ist an Fahren nicht zu denken.« Meerenbjerg starrte in die reglose Luft. Der Himmel war jetzt grün und bodenlos, und in einer fast künstlich anmutenden Verteilung standen dort Wolken wie einzeln angepflockt, kitschig, rosa, als seien sie einem billigen Werbeprospekt für Badeschaum entliehen. Im Osten hing Teta, zottig und grell. Mit der Sonne im Rücken sah die Landschaft jedoch schauderhaft aus. Eine Wüste braunen Wassers, da und dort durchbrochen von weichen, weitläufigen Wellen aus fettglänzendem Schlamm. Sie bemerkten es kaum, als der Stahl unter ihren Füßen erzitterte. Plötzlich hob sich ihnen das Gefährt mit groben Rucken entgegen, als ständen sie auf dem Rücken eines schweren Tieres, das sich aus dem Schlaf erhob. Sie taumelten gegeneinander, die Hände griffen ins Leere, Profilsohlen glitten quietschend über lackiertes Eisen, bis sie hafteten; Geräusche abfließenden Wassers. Kolinko fand sich ein wenig abseits wieder. Er umklammerte einen der Haltegriffe am Toppaufstieg, die aus der Flut aufgetaucht waren. Er faßte derb zu, riß irgendwelche triefenden Fetzen von den Halteseilen und schleuderte sie grimmig weithin in den Morast. »Das Biolith erfüllt die Prognose«, stellte Buhr lakonisch fest. Er stand noch auf derselben Stelle wie vorher, auf einem Bein balancierend. »Ein munteres Mineral. Brunner sollte jetzt hiersein.« Wie versuchsweise setzte er das zweite Bein nieder. Kolinko beugte sich weit vor. »Der Rand des Schotts schaut schon aus der Brühe heraus. Ich denke, jetzt kann ganz gut einer in den Wagen hineinkommen.« Meerenbjerg äugte in den Schlamm. Er verzog das Gesicht. »Ich versuch’s, ich bin der Kleinste«, sagte er tapfer. »Der Kürzeste«, antwortete Buhr wohlwollend. Er tauschte einen Blick mit Kolinko. »Gut, Felix. Rette uns für die nächsten Stunden.« Meerenbjerg erhielt Kolinkos Helm und die Sauerstoffreserve angepaßt und eine Menge präziser Anweisungen. Eine halbe Stunde später klappte er die Helmkuppel herab, schmatzend schloß sich der Falz, die
Lippen des Indikators für Atemgas begannen sich zu öffnen und zu schließen. Er kletterte an den Bügeln des Toppaufstiegs hinab und tauchte Stufe um Stufe in den Schlamm. Über ihm glätteten sich dickliche Wirbel, alsbald bedeckte eine dünne Schicht beweglichen Wassers die Stelle, an der Meerenbjerg verschwunden war. Der Maschinist stand am äußersten Rand des Wagendaches. Seine nackten Fäuste umklammerten die obersten Haltegriffe des Aufstiegs, sein Gesicht dampfte, und stumm verfluchte er seine eigene Leichtfertigkeit, daß er den Jungen hatte gehen lassen. Er, Stepan Kolinko, war der Maschinenwart. Dann blickte er wie ein Wachtposten in die Runde, als könne er auf diese Weise Rechtfertigung gewinnen, daß er hier oben vorhanden war. Buhr betrachtete mißbilligend Schlieren gelben Pulvers, die auf dem Wasser schwammen. Den Wirbeln folgend, hatten sie sich zu Spiralen geformt. »Der Junge muß etwas tun«, sagte er, »er hat Erfolg jetzt nötiger als du.« Dann geriet das Wasser in Bewegung. Nahe dem Rand des Schotts wölbte es sich auf, voluminöse Gasblasen stießen fauchend durch die Oberfläche. Zähflüssiges spritzte hoch auf. Kolinko stöhnte. Er rieb seine schlammverkleisterten Augen. »Jetzt ist er drin«, sagte Buhr ungerührt. »Dein schönes Mobiliar ist ohnehin im Eimer. Die paar Kubikmeter Modder mehr in der Kabine sind nicht der Rede wert.« »Aber es stinkt«, sagte Kolinko. »Gewöhne dich daran.« »An das?« Buhr zwinkerte hinter den Gläsern, auf denen trübe Spritzer trockneten. »Verdamme nicht den Geruch des Wassers, wenn es dir am Halse steht. Er ist unschuldig.« Meerenbjerg tauchte dreimal. Dann saßen sie wieder auf ihrer eisernen Plattform und löffelten heißhungrig aus kalten Büchsen. Neben ihnen häufte sich schlammverkrustetes Material. Sender, Empfänger, Proviant, Kabel, Werkzeug, drei komplette Kombinationen, im Innern der gläsernen Helme rann Kondenswasser.
Der Physiker berichtete zwischen den Bissen. Das schlimmste seien die Kurzschlüsse gewesen, nachdem der Schlamm das Wageninnere erreicht habe. »Wird der Sender funktionieren?« fragte Buhr. »Er wird schon«, antwortete Kolinko. »Irgendwann werden wir ihn schon zum Gehen bringen. Nur, ob auch die Luft geht?« »Das sind jetzt lauter Ionen«, erklärte Meerenbjerg, »die tragen nicht. Man muß warten.« Der Maschinist und der Physiker befaßten sich mit dem Funkgerät. In seinem Innern fanden sie Schlamm und Wasser. Kolinko entlud seinen Groll in Form bildhafter Flüche. In Meerenbjergs erschrockene Augen sprang plötzlich jungenhaftes Lachen. Später hörte man gedrosseltes Schwebungsgeheul, Kratzen und Knattern aus dem Lautsprecher. Einige Stunden flossen dahin. Kolinko hielt die Augen kurzsichtig über das Formblatt eines Stromlaufplanes, dessen winzig gedruckte Information im Licht der Sonne flimmerte. Plötzlich war es ihm zu still. Er spähte um die Armaturen der Wagenantenne. Buhr stand dort, lange und ohne sich zu rühren. Daniel Buhr dachte nach. Er stand in sich versunken da, in einer Weise, die Kolinko irritierte. »Er übt sich in biologischer Meditation«, versuchte der Physiker zu spotten. »Ja, die sind manchmal besessen.« Der Maschinist wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Aber die Stille hinter dem Mast dauerte ihm zu lange. Er schwenkte seine Masse mit der Gelenkigkeit schwerer Männer um die Antenne herum, baute sich vor Buhr auf und schwieg ebenfalls. Der Biologe regte sich nicht. Der Schwüle wegen hatte er die Kombination angelegt, aber die Helmkuppel war aufgeklappt. Ein schwarzer Schmierer schief über der Stirn und die scharfen Schatten des Antennengitters verliehen seinen Zügen einen diabolischen Ausdruck. »Wird uns Lutrell hier holen?« fragte Buhr nach einer Weile leise und so, als frage er nur der Vollständigkeit halber. Kolinko hielt sein Formblatt noch immer in der Hand. »Hm«, sagte er interessiert. »Wie denn?«
»Na schön«, sagte Buhr. »Das ist also klar.« Dann lenkte er ab. »Ich möchte nicht in Lutrells Haut stecken, wenn er jetzt an uns denkt.« Kolinko wollte Buhr aus der Reserve locken. »Es wird lange dauern, bis das da befahrbar ist«, sagte er, auf die Wasserfläche deutend, »ziemlich lange.« »Das auch.« Der Maschinist mit rascher Wendung zu Buhr hin: »Ja?« Die Reflexe von Teta blitzten jetzt genau in der Mitte von Buhrs Gläsern. Buhr lächelte. »Du hast kein Talent für krumme Diplomatie, mein Lieber, und ich bin nicht Kassandra oder Sibylle. Ökologie ist eine Wissenschaft. Ich sehe die Zukunft ganz gut voraus, leider nicht, ob sie auch so eintreffen wird. Und ich denke, für uns geht’s hier erst richtig los.« Kolinko nagte an den Spitzen seines Schnurrbartes. Er richtete seinen dicken Zeigefinger auf das Wasser. »Hier drin?« »Diese Welt ist nur für Abenteurer eine Idylle. Und Abenteurer sind hier mit Fug und Recht verboten. Wir Braven vermögen mit etwas Mut, mit List und mit sehr viel Anpassungsvermögen der Bedrohung zu entgehen, wenn die Dinge zubeißen. Schließlich bleibt uns die Hoffnung auf unbezeichnete Kurven. Wer schon sollte sich beklagen, daß das wenig sei?« Der Maschinist zog es vor, bei berechenbaren Größen zu verweilen. »Ich verstehe das gut«, sagte er, »du meinst, dies sei eine Unheil brütende Bouillon.« »Eine glänzende Diagnose. Biolith als Brühwürfel definiert. Das sollte Brunner hören.« »Na danke«, sagte Kolinko. »Dann wird das bald von Bakterien wimmeln. Oder was hier an Kleinzeug üblich ist.« »Hoffentlich«, sagte der Biologe. »Hoffentlich nur das.« »Wie?« Und da Buhr schwieg: »Müßte doch schon angefangen haben?« »Ich denke, es hat«, sagte der Biologe.
Kolinko wandte sich der Wasserfläche zu. Einige Handbreit über dem Spiegel wölkten dünne gelbliche Schwaden. Das Wasser hatte seinen Glanz verloren, obgleich die Sonne unbehindert herabschmetterte. Kolinko sah nach der Sonne und wieder auf das Wasser. Erst dann entdeckte er, daß der Wasserspiegel von ganz kurzen, kaum sichtbaren Wellen gekräuselt war, sie machten die Fläche rauh und stumpf wie ein Gewebe. Er drehte sein Gesicht prüfend in alle Richtungen. »Es geht überhaupt kein Wind«, sagte er verwundert. »Eben«, antwortete Buhr. »Warte ein bißchen. Es gibt noch mehr zu sehen.« Nach wenigen Minuten bemerkte der Maschinist einige Lichtblitze dicht über dem seltsam bewegten Wasser. Er schirmte die Augen mit der Hand vor der Sonne ab. Ganz in der Nähe bildeten sich Ringwellen, als sei dort etwas ins Wasser gefallen. Über dem Mittelpunkt der Ringe schwebte ein glänzender Körper, ein gelber, durchsichtiger Tropfen von einer Gestalt, als habe er sich eben von einem imaginären Wasserhahn gelöst, aber mit der Spitze nach unten und groß wie eine Faust. Der Körper sah massiv aus und schwer wie Gold. Dennoch hing er dort in der Luft. Er warf das Sonnenlicht gleißend zurück. Der Glanz flackerte, der Körper schien zu zittern, als koste es ihn äußerste Anstrengung, diese physikalisch abwegige Position aufrechtzuerhalten. Binnen kurzem stand ein ganzes Rudel solcher Tropfen beieinander. Kolinko beobachtete, daß sie aus dem Wasser schossen oder herausgeschossen wurden. So fanden die Wellenringe ihre Erklärung. Plötzlich zerplatzten die Gebilde eins nach dem anderen. Zurück blieb nichts. Fast nichts. Eine zerfließende gelbliche Trübung der Luft. »Sieh dorthin«, sagte Buhr und gab die Richtung mit einem Blick an. Ein schmaler schwefelgelber Saum markierte die Grenze, mit der die seichten Schlammhügel ins Niveau des Wasserspiegels übergingen. Die Färbung schien, sich verdünnend, die Bodenwellen zu erklimmen. »Felix hätte den Feldstecher mitbringen sollen«, sagte der Maschinist. Buhr wies auf eine Reihe anderer Erscheinungen im Wasser, die auch in der Nähe kaum sichtbar waren. Winzige Wirbel, ein Getümmel gegenläufiger Strömungen, die nur eine Sekunde dauerten, über eine Strecke, nicht länger als ein Finger, Weißlichtrübes dazwischen, kugelig
oder zerfasert. Gewisse Anteile der Flüssigkeit schienen sich zu bewegen und aneinander zu reiben. Kolinko bedachte die ungeheure Anzahl der Gebilde, deren es bedurfte, um diese kurzen Kräuselwellen über der weiten Wasserfläche zu erzeugen. »Was? Den Feldstecher?« fragte Buhr jetzt erst. »Den würden wir nicht lange nötig haben.« Plötzlich war ihm so, als müsse er sich umwenden. Sein Blick traf mitten in Kolinkos fragende Augen. Er sah jetzt auch Meerenbjerg neben dem Maschinisten stehen. »Ihr wollt wissen, was das ist? Es sind irgendwelche Keime, Pianosporen oder Gameten oder Zygoten oder Eier oder komplette primitive Organismen oder…, oder nichts von alldem«, sagte er schroff, »was verlangt ihr von mir? Ganz bestimmt werden sie bei den Astrobiologen große Begeisterung hervorrufen und sich wundervoll ausnehmen in ihren mageren Katalogen.« »Müssen wir was tun?« fragte der Maschinist, »können wir etwas tun?« Meerenbjerg neigte sich über den Bordrand hinweg und schaute in das braune Wasser. »Eier?« fragte er voller Interesse, »es werden doch keine Tachorge herausschlüpfen oder wie die großen reißenden Biester heißen auf Pandora?« »Ach die?« sagte Buhr. »Nein. Tachorge werden nicht ausschlüpfen.« »Aber du bist nicht eben begeistert von den Dingern?« »Nein. Begeistert bin ich nicht.« »Überall sagen sie, die Biologen hätten ein so vorbildliches Berufsethos«, sagte Meerenbjerg, als sei er enttäuscht. Der Biologe schwieg. »Stimmt’s, Stepan?« wandte sich Meerenbjerg an den Maschinisten, »es gibt sogar welche, die sagen, Biologen wären alle besessen.« »Wie hoch lag das Biolith in den Bohrkernen?« fragte Buhr kühl, zu Kolinko gewandt. »Fünf, acht und manchmal bis zu zwanzig Meter«, antwortete Kolinko. »Eine Menge«, sagte der Biologe. »Alles staubtrocken. Auf lebende Biomasse mit normaler Hydratur umgerechnet, ist das fünfmal soviel. Fünfzig Meter. Eine ganze Menge.« Er sah zum Antennenmast hinüber
und ließ seinen Blick von der obersten Spitze an einer gedachten vertikalen Linie entlang himmelwärts gleiten, bis sein Schädel im offenen Helmgehäuse anstieß. Meerenbjerg öffnete die Lippen. Sein Blick wurde starr. »Es wird schon etwas wachsen… Aus diesen Eiern oder was das sonst ist«, sagte Buhr sehr ruhig zu Meerenbjerg hin. »Ich wünschte, es wären deine Tachorge. Aber es werden nur ganz harmlose Gebilde sein. Sie werden wachsen und sich vermehren, was das Zeug hält. Und dies hier, die Wärme, das Wasser, die Nährstoffe, zu denen sich das Biolith auflöst, vielleicht auch das Licht und wer weiß was sonst noch, gibt eine Menge her. Für Dimensionen, die wir begreifen können, ist das alles so gut wie unerschöpflich. Die lebende Biomasse jedes einzelnen Keimes und jedes einzelnen Exemplars dieser…, dieser Brut wird sich vermehren, wie es das in diesen Stunden getrieben hat, es wird sich millionenmal vervielfachen. Und was da draußen umherschwimmt und was die Schlammhügel färbt, wird Milliarden neue Keime oder Sporen und Milliarden neue hübsche Kügelchen und Strudelchen produzieren.« »Hör auf!« sagte Meerenbjerg entsetzt. Teta acht kroch träge höher über den Horizont. Langsam, aber beharrlich belud sie die Atmosphäre mit Hitze. Der Himmel schien nun über der Landschaft aufgespannt zu sein wie das Dach eines Zeltes. Im begrenzten Raum verdichtete sich das Licht, es wurde dick und schwer, als könne man es schöpfen, und lagerte wie in Schichten über dem Wasser. Das Wasser gebar Scharen golden blitzender Tropfen. Die Tropfen spien Staub. Der Horizont verschwamm in gelbem Dunst aus Dampf und schwebendem Pulver, und die Luft biß auf der feuchten Haut. Als die Männer zu husten begannen, legten sie die Kombinationen an und schlossen die Helme. Durch die Scheiben beobachteten sie, wie der Kreis dieser fremden Welt schrumpfte. In weniger als einer Stunde verwandelte sich das Wasser zu wimmelndem, lebendigem Brei. Und dann begann jene Erscheinung, auf die Buhr später immer wieder hinwies: der Drang des Gemenges aus Wasser und lebender Substanz nach Gestaltung und plastischer Aktivität, die keineswegs seiner Beschaffenheit entsprach, physikalisch plausibel war oder sonstwie na-
helag. Der Brei schien sich zu einem Ganzen zu organisieren, ohne daß er die flüssige oder halbflüssige Konsistenz verlor. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, als habe der riesige lebendige Sumpf in diesem Augenblick seine Reife erreicht, vollzog sich die Metamorphose. Sie begann in bescheidenen Ausmaßen, wenngleich nicht minder überraschend, erstaunlich und wunderbar. Seiner Oberfläche entsprossen plötzlich Filamente, Hunderte, bald viele Tausende fingerdünner Emergenzen. Die Gebilde züngelten nahe der Bordwand auf, aber auch weithin über die Ebene verteilt, bis zu den Schlammhügeln, so weit das Auge reichte. Sie wanden und schlängelten sich in die Höhe. Dann hatten die Männer aufwärts zu blicken, um zu verfolgen, was oben an den Spitzen geschah. Flüssiges strömte dort hinauf und sammelte sich am obersten Ende zu einer Art Knolle an. Der Prozeß lief rasch ab, in weniger als einer Minute, wie mühelos, spielend und elegant. Die Bulbe wuchs. Die Ballung der Substanz sah wirklich wie eine Zwiebel aus, verkehrtherum stehend, den Zwiebelboden nach oben. Sie erreichte die Größe eines Kinderkopfes oder einer Melone, und sie sah auch so schwer aus wie eine Melone. Ihr Gewicht stand schließlich in einem unsinnigen Verhältnis zur Tragkraft des dünnen Stieles, der doch nur aus etwas wie Gallert zu bestehen schien. Die Strömungen in diesem Stiel beschleunigten sich, das Gebilde begann zu erschauern wie unter unmäßiger Anspannung verborgener Kraft. Dann riß der Stiel. In der Tat bestand er aus Flüssigkeit, er mochte nichts als eine Nabelschnur gewesen sein, denn die Bulbe schwebte nun frei in der Luft. Sie bebte, Glanzlichter zuckten über ihre Oberfläche, und unter ihr wirbelte eine seltsame Trübung der Luft. Aber dann sackte die Knolle herab, langsam, als leiste sie dem Zwang der Schwerkraft äußersten Widerstand, bis sie ihm endlich erlag und in den Brei eintauchte, der sie geboren hatte. Sie versank und war dann wohl einfach nicht mehr vorhanden. Immer neue junge Triebe züngelten in die Höhe. Der Brei trat in eine Phase fortdauernden Erzeugens, Gestaltens und Vergehens ein. Er verwandelte sich in ein riesiges Feld wogender, sich windender Halme, die diese sonderbaren Früchte trugen. Diesmal gab es keine Farben, nur glasigen Glanz feuchter, gerundeter Flächen. Die Männer verfolgten das Schauspiel mit Befangenheit. Sie tauschten ihre Beobachtungen nur mit knappen Worten oder Zurufen aus. Buhrs
Prognose schien erschöpft zu haben, was ein Mensch von diesen unbekannten Prozessen wissen konnte, und sie vermieden es auszusprechen, was ihre Phantasie heraufbeschwor. Sie warteten auf Anzeichen, daß ihr Wagen tiefer in das Gewoge versinken oder vom quellenden Substrat emporgehoben werden würde, aber die Insel hielt. Dann verständigte sich Kolinko mit Meerenbjerg. Sie rissen sich von diesem seltsamen Geschehen los und wandten sich wieder ihrem elektronischen Puzzlespiel zu. Buhr schien nur herumzustehen. Aber in seinen Bewegungen verbarg sich die Intensität einer lauernden Katze. Sein Blickfeld war beschnitten, seine Pupillen standen still und sprungbereit. Kolinko schielte nur selten über die Bordkante hinweg. Er sog an seinem Bart. Mit dem Beharrungsvermögen seines Naturells kämpfte er gegen das Schweigen der Funkanlage, handhabte den elektronischen Kleinkram mit dicken, feinfühligen und ruhigen Fingern, als beeindrukke ihn das Geschehen nicht. Er nahm auseinander, setzte zusammen, prüfte. Nach langer Zeit wandte sich Buhr ihm zu. »Noch nichts?« »Noch nichts«, antwortete der Maschinist. »Mensch, Stepan!« sagte der Biologe dringlich. »Tu was für die Kommunikation!« »Ist klar«, antwortete Kolinko entgegenkommend. »Diese Dinger sind nicht zum Reparieren eingerichtet. Man braucht ein Mikroskop und nicht Rohrzangen. Aber wir kriegen’s schon hin.« »Du bist sicher, daß wir es sind, die nicht können?« Kolinko begriff nur langsam. »Du denkst… Du spielst mit der Möglichkeit, die Zentrale wäre nicht in der Lage… Lutrell wäre dort außerstande… Ihr Funk wäre tot, weil… Du weißt, was das bedeutet?« Er verstummte. Röte stieg in sein Gesicht, die Brauen knäuelten sich dick über der Nase zusammen. »Spar dir das!« sagte er laut und rauh und hieb mit der Faust auf das Dach des Wagens. Die Hand des Biologen fuhr zum Helm, die gewohnte und jetzt vergebliche Geste des Brillenträgers. »Geschrei ist der Tod meiner Phantasie«, sagte er kalt. Es entstand eine Pause. Meerenbjerg sah die Männer mit aufgerissenen Augen an. Buhrs Oberlippe zuckte hinter der Helmscheibe. Dann
langte Kolinko zu Buhr hin und legte ihm seine Pranke auf die Hand. »Manchmal wäre das kein Verlust«, sagte er bittend. »Blindheit können wir uns jetzt nicht mehr leisten«, sagte Buhr. »Und ich denke, Großer, es ist nicht das erstemal.« »Ich werd’s schon schaffen«, erwiderte der Maschinist ungenau. Einige Sekunden verstrichen. »Und der Helikopter?« fragte Buhr mit neuem Tonfall. »An den denke ich immerzu«, sagte Kolinko. »Ist nichts Besonderes damit. Steht startklar in der Zentrale. Zur besonderen Verwendung für Lutrell, wie immer.« »Ohne Piloten.« »So ist es. Wakili ist in der Außenstation auf dem Berg, und ich bin hier. Dazwischen je tausend Kilometer das da«, der Daumen des Maschinisten wies außenbords. Dort deutete sich ein neuer Abschnitt der Entwicklung an. Die Anzahl der dicken, schwebenden Bulben wuchs. Wo die Knollen versanken, drängten sich neue in die Lücken. Das Auf und Ab wurde zu fortdauerndem Wellenschlag, als habe sich das Niveau des Sumpfes um Meter gehoben und als sei der Brei zu trägem Sieden erhitzt. Buhr sah genau hin. Da und dort neigte eine Anzahl Stiele, ein halbes Dutzend, später vielleicht fünfzig, ihre Spitzen zusammen, die Substanz floß eilends ineinander und schwoll zu einer einzigen, diesen vielen Stielen gemeinsamen Knolle an. Den neuartigen kollektiven Gewächsen gelangen größere Höhe und längere Lebensdauer, aber auch sie verfielen am Ende wieder dem mütterlichen Morast. Später entstanden verzweigte, mehrstöckige Gebilde bedeutenderer Ausmaße und seltsamer Symmetrie. Irgend etwas an ihnen kam Buhr bekannt vor. Als er Kolinko etwas von Statik murmeln hörte, wußte er, was es war. Die Gebäude erinnerten für wenige Augenblicke an die Geometrie irdischer Technik, ein Gedanke, der sich in dieser Situation ebenso abwegig wie einleuchtend ausnahm. Buhr reckte sich, er bog den Körper, um in die Lücken des Gewoges zu spähen. Er war fast sicher, daß alle Varianten dieser organismischen Bauten Bulben erzeug-
ten. Sie zu schaffen mochte das einzige Ziel des sonderbaren Gestaltungstriebes sein. »Wozu sind diese Bollen gut?« fragte Kolinko. Der Biologe verzog das Gesicht. »Eine Maschinistenfrage. Der Pragmatismus eurer Hebel und Thyristoren gilt nicht überall.« Er sah den Maschinisten an. Kolinko empfand die Blicke so, als solle er einer Prüfung unterzogen werden, deren Gegenstand und deren Beginn noch erwogen werden mußten. Dann erst bemerkte er, daß Buhrs Augen hinter den Gläsern fast geschlossen waren. Als der Biologe erneut zu sprechen begann, schien alle Munterkeit seines Temperaments erloschen. Er deutete die Produktion der absonderlichen Früchte als Ausdruck des Dranges, begrenzte Portionen aus dem unbegrenzten Stoff des Sumpfes herauszulösen, Individuen aus anonymer Masse zu sondern. Der Trieb sei wild und stark und sprenge das Maß des physikalisch Verständlichen. Er scheine ebenso unbändig wie vergeblich zu sein. Buhr wies in das Gewoge. Die alternden Gebäude fielen in tetanische Krämpfe, ehe sie ihrer Schwere erlagen. Die Spasmen der flüssigen Stränge und Streben ließen die Luft erzittern. In der Tat wurde ein Summen hörbar, dessen Frequenz dann im Laufe der Stunden wechselvolle Modulationen erfuhr, und die Männer berichteten später, sie hätten Stimmen vernommen, Schreie, nicht laut, aber von bestürzender Ausdruckskraft. Buhr stand ganz starr da. Seine Augen waren klein, in Gefältel versunken, und die Pupillen waren ins Leere gerichtet. »Es sieht aus wie ein Versuch«, sagte er, »wie der Anlauf zu einer Tat der Evolution, die nicht vollendet werden kann. Vielleicht ging die Entwicklung an der Sexualität vorbei. Die wurde nicht erfunden. Vielleicht ist Sexualität für jede Evolution unumgänglich, wie sie in unserem Leben unumgänglich war. Geschlechter setzen Individuen voraus. Vielleicht… Aber dies hier paßt in nichts. Wir können so nicht denken. Woher die gewaltige Triebkraft? Man sucht nach dem Wissen und dem Willen, der sie erzeugt. Das da draußen ist alles viel zu primitiv. Nein. Das wohl nicht. – Ich muß darüber nachdenken.« Buhrs Gesicht entspannte sich, eine flüchtige Helligkeit flog darüber hin, ein zaghaftes Lächeln angesichts
dieser heftigen, großen und fremden Welt. »Eine unbezeichnete Kurve.« Nichts deutete freilich auf ein Zeichen der Art, daß sich die Männer angegriffen fühlen mußten. Das wuchs und verging, vital, animalisch, blind und ganz auf sich selbst gerichtet, auf das eine Ziel, schwebende Bulben zu erzeugen, und in stupider Teilnahmslosigkeit gegen den irdischen Fremdkörper in seinem Fleisch. Nur war dieses wilde Leben zu nahe, zu groß, zu verdächtig unerschöpflicher Potenz, zu dicht an der menschlichen Haut und bedrohlich durch seine ungeheure Masse, die die kleine eiserne Insel umwallte. »Interessant«, fuhr Buhr nachdenklich fort, »es gibt keinen Staub mehr, keine einzige Spore.« Dann fiel sein Blick auf Meerenbjerg. Der junge Physiker hockte abseits nahe dem Rand ihres Refugiums. Er starrte in die Richtung der Sonne, aber es war nicht Teta, die seinen Blick anzog. In dieser Richtung war die Oberfläche des Morastes momentan fast kahl. Die Sicht reichte für Augenblicke bis zum verschwommenen Horizont. Gegen das Licht schien die nackte Fläche aus den Fugen zu geraten, sie sah verbeult aus, zerfurcht und schief, als verlagerten sich die organischen Massen dort in einem Umfang, gegen den die bisherigen plastischen Produktionen verspielt und harmlos wirkten. In einiger Entfernung türmten sich Buckel und Bastionen aus der Fläche, manche noch dicht bepelzt mit fruchtenden Stielen, wie Gischt, der über den Wogen eines Meeres erstarrte, nachdem das Wasser durch irgendeinen Trick zu unendlich behäbigem Flusse gezügelt war. Auch davon schien der Physiker jetzt nichts mehr zu sehen. Seine Hände spielten mit Enns blitzendem Iflonkamm. Zahn um Zahn des Kammes bog er hin und her, bis die Zähne ausbrachen, und machte Miene, die Splitter in den Sumpf zu schleudern. »Stop!« rief Buhr scharf. Er neigte den Helm, blickte über den Rand seiner Brille hinweg dem Jungen ins Gesicht und danach auf den Kamm. Er kannte die Bedeutung dieses Iflonkammes. »Wozu soll er noch nützen?« fragte Meerenbjerg zögernd. »Felix Meerenbjerg, du bist ein Scheißkerl«, sagte Buhr traurig, aber streng artikulierend, wandte sich abrupt ab und fügte im Gehen an:
»Setze den schäbigen Rest deiner Hoffnung auf Stepans Unaufmerksamkeit. Er würde weinen.« Buhr blieb noch einmal stehen. »Was hier geschieht, ist etwas Wunderbares, für deinen Kleinmut mag es ein Zwischenfall sein. Aber niemals ist es eine Katastrophe«, warf er in Meerenbjergs Richtung hin. Er ging einen Schritt und wandte sich abermals um. »Gesetzt den Fall, es wäre eine, dann behandelten wir sie auch nur wie einen Zwischenfall. Nicht mal Lutrell wünscht uns als Helden. – Übrigens: Iflon ist synthetisches Protein. Winzige Mengen, soviel wie dein Kamm, könnten immunologische Abwehr provozieren. Ich denke, wir sind nicht scharf darauf, zu erfahren, in welch überraschender Weise sie in diesem Riesenvieh verläuft. Wir haben Anlaß, es bei guter Laune zu erhalten.« Plötzlich stand Kolinko neben ihm. Der Steckanschluß seines Kopfhörers baumelte über dem Stahl der Plattform. »Jetzt ist was drauf«, sagte er, und seine kleinen Augen glänzten. »Wo? Was?« schnarrte Buhr unwirsch. Der aufgegebene Kamm focht ihn mehr an, als er es wahrhaben wollte; er fühlte sich zwar schuldlos, aber eben doch nicht ganz. »Die lange Welle geht jetzt. Und es ist was drauf.« »Von Lutrell?« Der Maschinist ließ sich willfährig vom Ort der Niederlage Meerenbjergs hinwegbugsieren. »Von wem sonst?« Nach einigen Minuten hatten sie ein lesbares Band. Der Maschinist buchstabierte geläufig: basis an kolinko / hören euch lautstarke 0 bis 1 auf 900-m-band / basis nach wetterwechsel kompakt überwachsen 3 m mächtig mit spitzen 15 m geschätzt / fahren variante totale isolation minimalprogramm ohne operationen nach außen da fürchten immunoabwehr / vermuten ökologisches epizentrum wandert ab in richtung eure position / anweisen keinerlei operationen bei perspektive ablösung vorerst unmöglich. Kolinko hielt inne. Die Atemluft in den Helmen schien unversehens dünner. Meerenbjerg hob die Augen, fixierte einen Punkt über der Antenne. »Fünfzehn Meter«, sagte er tonlos. »Die Schlinge zieht sich zu.«
»Noch leben wir gut darin«, sagte Buhr. »Perspektive Ablösung unmöglich. Er läßt uns sitzen.« Buhr ballte seine Hand zur Faust, betrachtete die straffe Glätte der Folie über den Fingerknöcheln und sah zu Meerenbjerg hin, als messe er die Distanz. »Lutrell ist aus Eis«, sagte der Maschinist. »Was? Du?« Buhrs Kopf schnellte zu Kolinko herum. Er öffnete die Faust. »Was soll er denn machen?« fragte er müde. Er langte nach dem Band, das sich aus der herabhängenden Hand des Maschinisten zum Boden ringelte, und las plötzlich einige französische Worte am Ende der Mitteilung: en haut la téte… / mais je n’aime vous pas comme heros. Er hielt dem Maschinisten den Zipfel des Plaststreifens unter die Nase. »Ich kenne Lutrell. Der und einen Spruch ohne Schlußzeichen, ohne sk!« Und er fuhr fort, als sich in den Gesichtern nichts regte: »Heißt: kopf hoch für zeitraum stunden / als helden seid ihr mir zuwider / lutrell sk.« »Oh«, sagte Meerenbjerg und senkte die Lider. Sie warteten, so, wie Lutrell sie zu warten angewiesen hatte. Kolinkos kleine runde Augen bewachten den Schreiber des Empfängers, daß der die Qual der Tatenlosigkeit endlich durch eine Nachricht, durch Forderungen an ihre Kraft, ihren Verstand und ihren Willen zu handeln ersetze, durch irgendeine einfache, wunderbare Idee, wie sie ihrer verlorenen Position zu entrinnen vermochten. Er grübelte, verwarf, registrierte Möglichkeiten in seinem Gedächtnis und schwieg. Auch Buhr und der Physiker schwiegen. Meerenbjerg beobachtete die Ruhe seiner Gefährten und den Wettlauf des Chronometers mit dem Fortgang der bedrohlichen Gärung dieser Landschaft, vor der ihm graute. Buhr nutzte einen günstigen Augenblick, schob sich an den Rand des Wagendaches und spähte über die Kante hinab. Er sah nackte, glänzende Raupenglieder. Der Pegel des organischen Meeres fiel. Der Brei floß in irgendeine Richtung hin und ließ das Metall so blitzend neu zurück, als sei der Wagen eben vom Montageband gerollt. Aber dort, wo die Schlammhügel zu vermuten waren, bäumten sich nun Sokkel in der Mächtigkeit von Brückenpfeilern und Hochhäusern auf. Massive Bauten verdrängten das Filigran der Stiele und Streben. Was dort zusammenfloß, war wuchtig, schwer, oft kühn in der Konstruktion und
voll fremdartiger Schönheit gewölbter Flächen und Bögen. Und es war vergänglich und fließend und ohne Sinn. Buhr sah noch mehr: Die schwebenden Bulben wurden selten. Er entdeckte sie später als Wucherungen und Knollen an den Flanken von Säulen, von denen sie sich nicht mehr abzulösen vermochten. Ihre strenge zwiebelartige Form schien zu degenerieren, sie türmten sich zu Haufen solider, fließender Substanz in der Gestalt enormer Schaumblasen, oder sie hingen in Trauben an Podesten oder in Nischen, riesig aufgebläht oder klein wie Beeren. Zu dieser Zeit verstummte die Landschaft, und plötzlich schwand die Sicht. Unversehens gab es wieder Staub, gelbliche Schwaden mikroskopisch kleiner Keime oder Sporen. Immer dichteres und tiefer ziehendes Gewölk gelben Staubes reflektierte das Licht Tetas, das nun steil von oben herabfiel, und verwandelte sich in opake, schwebende Kulissen. So kurz die Ausblicke zwischen die undurchsichtigen Schleier auch wurden, die Männer sahen, daß sich hinter ihnen etwas zu bilden anschickte, daß diese Sockel und Podeste und Türme nur ein Beginn waren, Anlage oder Basis für Bauwerke dieser ungeheuerlichen organischen Massen, deren endgültige Form und Größe jenseits des Vorstellungsvermögens lagen. Buhr empfand die Aufblähung der Formen als übertrieben, als Tendenz zum Monströsen, zur Dekadenz, und er fühlte eine unbestimmte Trauer. Er registrierte die rapide Verdichtung des Sporenstaubes, der reproduktiven Phase. Nach dem Gespür des Biologen in ihm hatte das Geschehen den Zenit überschritten, das Wesentliche mochte vorüber sein. Als Ende dieses Prozesses sah er Verwesung und Trocknung der lebendigen Masse zu schwarzem Biolith und Staub voraus, das Zusammenfügen von Anfang und Ende eines vitalen, leidenschaftlichen Ausbruchs zu einem Zyklus, von dem er wußte, daß der in Millionen Abwandlungen im Kosmos allerorten und immer wiederkehrte. Aber er wußte nicht, ob sich der Kreislauf nun wirklich schon schließen würde, ob die Leidenschaft dieses fremden Lebens wirklich erlosch zu der schwarzen Wüste, die sie kannten. Und er verbot sich selbst alle Illusionen, daß die Dinge an ihnen vorüberlaufen möchten wie ein Schauspiel,
das sie beobachteten, dem sie zusahen ohne Gefahr, verhängnisvoll in seinen Fortgang verstrickt zu werden. An dieser Stelle seines Berichtes verstummte M. Es schien, als wolle er ihn so beenden, als sei das Wesentliche gesagt und abgetan. Ich überließ ihn seinen Gedanken. Plötzlich lachte M. auf. »Sie wollen wissen, was aus uns dreien wurde. Die Sache ging banal aus, in einer Weise, die den Dingen überhaupt nicht angemessen war. Natürlich endete sie harmlos, in einem beschämenden Maße uns, den Eindringlingen, entgegenkommend. Ich bin hier, gesund und geschwätzig. Ach, freilich gab es noch Unbill und Erregung genug in der Zentrale, bis sich die Prognose Buhrs erfüllte. Es sah dort schauderhaft aus, als wir anlangten. Schauderhaft. Aber die Bilder büßen über die Zeiten ihren Schrecken ein. Ich erinnere mich heute mit Gelassenheit, wie wir die Wiederkehr der heißen Sporenluft ersehnten, als das fremde Leben dort starb.« Die fortwährende Anspannung forderte ihren Tribut. Zu viele dieser prall erfüllten Stunden dauerte ein solcher Tag. Die Männer kauerten in der Mitte ihres Wagendaches, ergaben sich über die Zeiträume, die sie am Ende nicht mehr abzuschätzen vermochten, ihrer Müdigkeit. Mit knappen Worten verständigten sie sich von Zeit zu Zeit, wer die Augen offenhalten solle. Aber es schien, als nehme die wilde Welt wirklich von ihnen keine Notiz, und wie ein Wunder blieb ihr Eiland unberührt. Dann war da plötzlich ein fremdes Geräusch. Meerenbjerg fuhr auf. »Ssst!« zischte Buhr. Kolinko lachte. Dröhnend, zu jäh und zu laut. Er wies mit dem Daumen himmelwärts. Es war der Helikopter der Zentrale. Sie starrten alle drei nach oben. Der Pilot der Maschine hatte die Gruppe schon ausgemacht und hing in steiler Kurve. Sie erhaschten einen Blick in das Kockpit. Der Pilot trug einen blendendweißen Schutzanzug. »Lutrell?« fragte Kolinko entgeistert. »Lutrell fliegt die Maschine?« »Er hat ein Patent?« fragte Buhr.
»Aber nein!« antwortete der Maschinist verwirrt. »Der hat noch nie in dem Ding gesessen, geschweige denn als Pilot. Mein Gott, der traut sich was!«
Urteile
Das Licht wirkte plötzlich kalt und gleichsam synthetisch, als der Lift die Grenze nach unter Tage passierte. Brian Foster war solche Abfahrten seit Jahren gewohnt, wenn es auch nicht immer die gleiche Strecke und vormals weit weniger tief hinabging. Seine Miene blieb gleichmütig, aber er hatte ein aufmerksames Auge auf den Gefährten, der die Kabine mit ihm teilte. »Doktor Foster?« Und auf Fosters Nicken hatte er sich oben mit »Artjuschin, Sergej Artjuschin« vorgestellt, den Händedruck auf kräftig-sympathische Weise erwidert und seither wachsam geschwiegen. Mit wie vielen dieser Jungen, auch mit Mädchen, meist schon jungen Frauen allerdings, war Foster schon hier hinabgefahren. Sie alle unterschieden sich voneinander, wie sich Menschen voneinander unterscheiden, aber hier in der Kabine glichen sie sich doch: Durch die mehr oder weniger durchlässige Schicht vorgetäuschter Sicherheit drangen Zeichen erwartungsvoller Erregung, hochgespannter Bereitschaft, den vorerst noch nicht erkennbaren Anforderungen gewachsen zu sein, die sie allenthalben, auf der Lauer liegend, vermuteten, und der Wille, wenigstens das Gesicht zu wahren, wenn die Dinge plötzlich überraschende Wendungen nehmen würden. Und wenn diese jungen Doktoren in seine, Fosters, Hände gerieten, hatten sie schon gute Gründe, auf der Hut zu sein. Sie kannten wohl die Geschäftigkeit der Hörsäle und Labors, aber in der Regel waren sie doch nur in der leichtflüssigen Heiterkeit ihrer Jugend über den Ernst der Universitäten hinweggeschwommen. Die zupackende Wucht der Dimensionen hier in der ASTROPHYSIK von Baikonur kannten sie nicht. Es war eines, von diesem Koloß zu hören, zu lesen und zu reden, ein anderes, sich auch nur einen Tag in seinem Labyrinth tatsächlich und in eigener Person zu bewegen. Unterhalb der Sohle vierzig lauerten die Kompressoren. Lautlos legten sich Vibrationen mit schweren Amplituden im Infraschallbereich auf die Körperoberfläche, paralysierten die Trommelfelle. Der Speichel
schien zu gelieren. Foster verpaßte den Augenblick für ein vorwarnendes Wort. Erst als er sah, wie Artjuschin mit Gewalt die Zähne zusammenbiß, hob er beruhigend die Hand. »Hochdruckpumpen der Simulatoren für unsere Kulturen der Jupitermikroben, unten, ab der Fünfundsechzig«, sagte er knapp. »Geht vorüber.« Dann waren sie in Fosters Zimmer. Foster sah, wie sein Gast die bescheidene Wohnlichkeit des kleinen Raumes sondierte, und dann traf ihn selbst ein Blick aus den dunklen, asiatisch schmal geschnittenen Augen. Danach spürte er förmlich die wägenden Gedanken, mit denen Artjuschin beide Aspekte miteinander verband. »Meine Denkkabine«, spöttelte Foster und deutete unbestimmt auf die Sitzgelegenheiten. »Ging es gut oben?« fragte er freundlich und mit bemessener Unverbindlichkeit, von der er hoffte, daß sie dem jungen künftigen Kollegen guttat, denn wie die meisten würde auch er Gelegenheit brauchen, sein eigenes Wertbewußtsein wiederzufinden. Artjuschin schwieg. Foster hatte plötzlich von irgendwoher zwei hübsche Porzellantassen zur Hand und ein passendes Döschen Kandiszucker. Er bediente Artjuschin und sich selbst mit Tee aus einem bunten geriffelten Thermophor, den er alsbald an einer weniger sichtbaren Stelle wieder verschwinden ließ. Den Schaukelstuhl mag oder wagt er wohl nicht, dachte er voller Sympathie, rückte das frei gebliebene Sitzmöbel heran und ließ sich darin nieder. Artjuschin schwieg noch immer. »Sie verstehen etwas von Helium-Wasserstoff-Ökologie?« fragte Foster nunmehr bestimmter. »Ja, auch«, antwortete Artjuschin endlich. »Allerdings mehr von Methan- und Ammoniakatmosphären.« »Ach! Dann waren Sie sogar… Waren Sie etwa bei Lutrell? Ganz oben in der Zweiundsiebzig?« Artjuschin sah an Foster vorbei, eine Weile mißhandelte er seine eingezogene Unterlippe mit ein wenig unregelmäßigen, aber sehr weißen
Zähnen. »Da war ich«, sagte er einsilbig und mit einem Lachen, das nicht gut klang. Die Tassen klirrten auf ihren Tellern, ein leises, aber auf die Dauer aufreizendes Geräusch. »Man gewöhnt sich an alles. An fast alles«, sagte Foster versuchsweise. Ein fragender, abwartender Ausdruck trat in sein Gesicht. Aber sofort entschärfte er die Zweideutigkeit seiner Worte. »Tee läßt sich nicht gut aus Plast trinken.« Artjuschins Gedanken hingen noch hinter der Gegenwart zurück. Plötzlich ließ er die flache Hand geräuschvoll auf die Platte des Tischchens fallen. »Haben Sie schon mal in der Druckkammer mit großen Mengen gefrorenen Methans gearbeitet? Und dort mit komprimiertem Sauerstoff manipuliert? Daran gedacht, daß jeder Krümel Dreck auf Ihrer Montur als hochaktiver Katalysator wirken kann, der die Gase wie eine Tonne TNT explodieren läßt?« fragte er Foster schroff ins Gesicht und übersah dessen aufmerksames Nicken. »Genauso eisig und genauso heiß kam es mir dort in der Zweiundsiebzig vor. Bei diesem Herrn Lutrell. Vier Minuten lang. Dann war ich wieder draußen. Dieser Mann ist Leiter? Er würde unser Leiter sein?« »So ist es«, sagte Foster gelassen. »Nein!« Foster langte nach seiner Tasse, um ein wenig Zeit zu gewinnen. »Ich arbeite seit Jahren bei Lutrell, und Sie werden bei ihm beginnen«, fuhr er so aufgeräumt fort, als sei Artjuschins Entscheidung einfach nicht vorhanden. »Mich freut’s. Wenn Sie bei Lutrell nicht bestanden hätten, Sergej Artjuschin, wüßte ich das schon.« Eine Weile schien es nur das Klirren der Tassen zu geben. »Er hat bei mir nicht bestanden«, sagte Artjuschin. Foster ließ einen Atemzug aus. »Aha«, sagte er nur; es gelang ihm, zu verschweigen, was ihm der Zorn auf die Zunge trieb. Er sandte einen langen Blick über die Gestalt seines Gegenübers. Er sah die zuckenden Kontraktionen eines Muskels unter Artjuschins Ohr, die straffe Hand, die noch immer auf der Tischplatte lag, und das Spiel ihrer Finger. Er fand die Art, wie der Junge dort saß, fern aller Lässigkeit. Er berechnete
die Altersdifferenz zwischen Artjuschin und sich selbst mit gut fünfundzwanzig Jahren und bedachte diese Umstände. Er bedachte die Folgen, die sich ergeben mochten, wenn er den Jungen gehen ließe, die Folgen für seine Arbeitsgruppe und für Artjuschin, soweit sie sich absehen ließen, und er erinnerte sich seiner eigenen Begegnung mit Lutrell. Unvermittelt, eine Sekunde lang, verwandelten sich die Züge Artjuschins in die Gesichtszüge Lutrells, als sie noch glatter waren vor langer Zeit und als er dem Mann zum erstenmal gegenübergestanden hatte. Als Foster zu sprechen begann, war er schon wieder ruhig. »Sie möchten nicht hier arbeiten?« fragte er, »Sie möchten das Angebot unseres Instituts ausschlagen und die Aufgabe, die wir hier haben für Sie? Sie möchten das alles Lutrells wegen, weil Lutrell Ihr Leiter sein würde?« »Ja. Weil… Es würde…« Artjuschin blieb stecken. Seine Hand auf dem Tisch ballte sich. Foster wartete einige Augenblicke. »Wissen Sie«, sagte er dann, »Urteile sind keine absoluten Größen, und es ist immer schwierig, Irrtümern zu entgehen. Ich versuche, Urteile als etwas zu sehen, das sich verhält wie indirekte Variable in einer Gleichung. Sie ändern ihren Wert mit der Art und der Anzahl der Perspektiven, aus denen man sie fällt.« Foster gab seinem Stuhl einen sanften Schwung. Als er wieder nach vorn pendelte, erhob er sich. »Natürlich können Sie tun, was Sie für richtig halten. Sie sind frei. Indessen…«, Foster zögerte, es fiel ihm nicht leicht, die passenden Worte zu finden, »indessen bitte ich Sie um einen Gefallen, um eine Freundlichkeit: Leihen Sie mir eine halbe Stunde ihrer Zeit…? Kommen Sie mit«, forderte er, ohne Artjuschins Zustimmung abzuwarten, »ich zeige Ihnen etwas.« Es knackte, als Foster die Projektionsanlage in Gang setzte. Langsam erstarb das Licht, und noch ehe sich die Konturen des Saales im Dunkel aufgelöst hatten, kroch dumpfes Murren aus allen Richtungen heran. Einige Atemzüge lang war die Schwärze stumpf wie Samt. Der Projektionsraum entrückte in die Sphäre der Simulation. Nur in unbe-
stimmter Höhe über dem Zenit flackerten kleine, eckige Zahlen im Feld eines elektronischen Zeitnehmers. Blaues Flimmern von irgendwoher, Sturm heulte auf. Urplötzlich zerbarst die Peripherie des Raumes rundum in Millionen Splitter. Durch das Netz gezackter Spalten schleuderte eine außerhalb liegende Welt weißblaues Gleißen. Blitze. Kreischen zerreißenden Titanbleches. Der Donner sprang von unten herauf, wälzte sich aus brüllender Tiefe in immer neuen Wellen empor. Rasende Gasmassen überschrien die elektrischen Entladungen. Wolken von Methankristallen stoben mit kaltem Glitzern aufwärts und prallten auf Güsse flüssigen Wasserstoffs, die schräg durch das Blickfeld jagten. Die Phasen wirbelten ineinander und vermengten sich zu brodelndem Morast. Minutenlanger Sturz durch diesen Sumpf. Sturz durch Massen von Nebel, Hagel, Flüssigkeiten und Gas, durch Schwärze und durch Schlieren kalten Glühens. Sturz bis in stille Tiefen, in denen die Wut der Atmosphäre gebändigt schien. Nur Wetterleuchten, jetzt weit oben, flimmernd, violett, stumm; Widerschein des Loderns auf glänzenden, fast lotrecht stehenden Wänden. Endlich fand der Blick Halt an fester Substanz. Das Raumschiff war zunächst kaum auszumachen. Ein nadelfeiner, senkrechter Strich auf der angeleuchteten Wand: sein Schatten. Unweit davor glimmten winzige Funken in der Leere: Steuermanöver der Korrektionsspiegel, die das Schiff am Ort fixierten. Dann riß die Optik das Schiff in die Nähe. Seine Länge wuchs, bis die Kiemenreihe der Fluttanks an Bug und Heck sichtbar wurden und nach oben und unten aus dem Gesichtsfeld wich. Zylindrisch gewölbte Fläche schob sich heran, flachte ab. Schrammen, zerfranste Korrosionsflecke auf der Außenhaut. In letzter Sekunde klappte die Fläche seitwärts weg wie ein Torflügel. Dahinter ein Balken aus Licht. Endlich Licht von wärmendem Weiß aus dem Brenner eines Scheinwerfers. Das Lichtbündel war auf die Wand gerichtet und traf auf ein Ei von der Länge eines Menschen, das dort in der Wand hing. Das Ellipsoid sah eher aus wie der geschwollene Leib einer Spinne. Gliederbeine ragten aus dem Körper: Manipulatoren. Kugelgelenke verrieten hydraulischen Antrieb. Das Licht zersprühte auf der polierten Fläche dieses Hochdruckskaphanders, der einer Spinne in der Tat täu-
schend ähnlich sah, es spritzte auf die Wand, in die die Maschine verkrallt war. Der Skaphander erzitterte. Anzeichen der Gegenwart des Menschen, der sich in ihm verbarg. Zwei oder drei der gespaltenen Klauen an den Enden der Manipulatoren ließen ihren Halt los, spreizten auseinander, glitten aufwärts und zwängten sich in höher gelegene Risse. Hinter der Technik tasteten heiße Hände nach Unebenheiten, nach Widerlagern für die Greifer der künstlichen Gliedmaßen, um nach oben zu klimmen. Die Maschine gewann Meter um Meter. Die Augen der Spinne spien Licht. Oben brach die Wand ab. Nach riskanten Manövern griff die erste Klaue über die Kante hinaus, und der Skaphander kippte auf das horizontale Plateau, in dem die Wand hier zu enden schien. In einer schönen Bewegung knickte der Kranz der Beine ein, und wie ein Kranker wippend, stakte die Maschine ins Ungewisse. Von dorther scholl dumpfer Lärm. Der Mann hielt im Schreiten inne. Die Kapsel duckte sich lauernd. Eine Weile geschah nichts. Aufjaulend sprang eine Bö in den Dunst und riß ihn auseinander. Die Lichtspieße prallten auf eine weitere Wand. Das Plateau war nur ein Sims. Staub stiebte aufwärts. Da und dort ballte er sich zu Wölkchen, die um sich selbst rotierten wie im Spiel und wie Keime neuer Welten. Gegen die Schubkraft des Gasstromes stürzten Bäche herab. Sie zerrieselten zu Flächen glitzernder Nässe oder schäumten in Rinnen, die sie augenblicklich und wie sonderbar stumme Sägen in den Grund schliffen. Die Oberfläche des Massivs zerschliß wie Eis unter Güssen kochenden Wassers. Pfeiler, Balkons, formlose Klötze und Serien lamellenartig aufgereihter Platten hingen dort in unglaublicher Labilität. Rinnsale nagten an ihrer Basis, der Sims lag unter dem Hagel herabfallender Bruchstücke, die sich hinter Gischt in irgendwelchen Tiefen verloren oder bedrohlich nahe in die Fläche des Simses schlugen. Die Scheinwerfer der Spinne tasteten das bewegte Gelände ab. Da loderten plötzlich und für den Bruchteil einer Sekunde grelle Farben auf. Die Lichtspieße erstarrten. Langsam und mit elektronischer Präzision schlichen sie ihren Weg zurück. Ihr Fokus packte zu und riß einen Fleck bunter, knollig aufgeblähter Massen aus dem Dämmer.
Die Farben leuchteten grell in dieser fahlen Welt. Einen Moment wurde die Maschine von einem Schwaden winziger Kristalle verschlungen. Man hörte das Schmettern von Geschossen auf Metall. Dann war die Sicht wieder frei. Hochgereckt und regungslos verharrte die Spinne und hielt noch immer die mißfarbige Beute in ihren Fängen aus Licht. Ein stolzes Bild. Das stolze Bild siegender Technik und siegenden Geistes. Die Spinne ragte ein wenig schief. Man sah es erst jetzt: Eins ihrer Beine fehlte, ein zweites schien sonderbar verrenkt und spießte in den Raum. Es zuckte. Der Mensch in der Kapsel rang mit der Widersetzlichkeit demolierter Mechanik, um das Bein seiner Gewalt gefügig zu machen. Plötzlich biß der Druck der Atmosphäre zu. Panzerstahl der Röhrenglieder fiel platt zusammen, als habe kindliches Spiel die papierne Hülle eines Trinkhalms leer gesaugt. Es war nur eine nichtige Geste dieser Welt. Es war nur ein Augenblick und ein schwaches Knistern. Der zerknitterte Rest des Manipulators schwang aus. Plötzlich setzte sich die Maschine in Bewegung. Hochbeinig stelzte sie mitten in den Schauer der Geschosse hinein. Nur die Hast der Bewegungen widersprach selbstmörderischer Absicht. Indessen vermochte der Mann im Gehäuse nur zwei seiner künstlichen Gliedmaßen auf einmal zu setzen. Sein Wille war behindert, das Rennen zerhackt zu stereotyper Wiederkehr stets vereitelten Vorwärtsstürzens. Grotesker Kontrast. Tödliche Langsamkeit stand gegen den Zwang zu äußerster, lebensrettender Eile. Die Katastrophe war unausbleiblich. Brutal brach die Sturzflut von Brocken gefrorenen Materials über die Spinne herein und hämmerte sie in den Grund. Nach einem Atemzug lag der Skaphander wie ein Wrack unter Dampf und Schutt dicht vor dem Rand jener farbigen Massen, die zu erreichen der Mensch so begierig gewesen war. Die Lichter waren erloschen. Höhnend gab der Dunst dem Scheinwerfer des Schiffes freie Bahn, und das Licht zeichnete die verbeulten Wölbungen nackt und scharf. Die leuchtenden Massen lagen noch immer da. Teigig floß ein Strom ineinanderlaufender Farben. Dann wich ihre Kontur träge vor dem irdischen Metall zurück.
Als sei dies eine Herausforderung, zuckte die Spinne auf. Aus unsichtbaren Fugen rann schwarze Flüssigkeit mit breiten Zungen über das Metall. Dünnflüssig und geschwind schlängelten sich dazwischen blutrote Fäden. Das Heck der Kapsel reckte sich hoch empor. Schutt schrammte über den Stahl. Die Maschine stand schief auf dem letzten ihrer Greifer. Artjuschin lag steif in seinem Drehsessel und nahm vom Angebot entspannender Bequemlichkeit keine Notiz. Manche Umstände dieser Reportage kannte er gut genug, um sie von den ersten Augenblicken an als Protokoll zu akzeptieren und nicht als Produktionen irgendwelcher Simulacker. Er neigte den Kopf weit zurück, um den Zeitnehmer zu beobachten, der jetzt zum wesentlichen Maß der Dinge werden mußte. Ein Schatten glitt an ihm vorüber. Foster. Geräuschlos ließ sich Foster unweit in einem Sessel nieder. Artjuschin löste seine Aufmerksamkeit vom Gang der Zahlen im Zenit und sah eine Sekunde zu dem Mann hin. Ja. Er begriff Fosters Absicht. Plötzlich wußte er ziemlich sicher, wer der Mensch in der Spinne war. Unendlich mühsam richtete der Mann das Ende seiner Kapsel auf den farbigen Teppich hin und überwand den Wall von Trümmern, unter dem er begraben gewesen war. Den einzigen beweglich gebliebenen Greifer schob er voraus, ertastete Halt; die überforderten Gelenke knirschten, falteten die Glieder des Manipulators ein. Der zerrte am Gehäuse, das dem Zug endlich nachgab. Die Distanz zum Ziel verkürzte sich um Zentimeter. Splitterschauer peitschten auf das Metall. Artjuschins Blick hing an den Zahlen über ihm. Der Zeitnehmer übersprang nun immer längere Intervalle des Geschehens, wie um es zu verschweigen, Zeiträume, die prall gefüllt sein mochten mit Hoffnung, Zähigkeit und Verzweiflung und leer von Erfolg. Die Kamera komprimierte Stunden zu bequemen Augenblicken, und längst war der Punkt überschritten, die Mühsal des Mannes dort in der Maschine, der nicht
aufzugeben vermochte, als sportlichen Ehrgeiz abzutun. Das Ende war nahe. Mein Gott! dachte Artjuschin. Aber der geschundene Leib der Spinne zog sich Zug um Zug an den Rand des mißfarbenen Substrats und mitten in die Masse hinein. Dort wälzte er sich wie in der Qual verendenden Lebens, bis seine Oberfläche über und über mit dem Brei beschmiert war. Langsam verzuckte die Bewegung. Die Spinne erlag dem Übermaß erlittener Gewalttätigkeit dieser rohen Welt. Im aufhellenden Licht des Projektionsraumes verblich das Bild. Die Weite schrumpfte, die Illusion erlosch. »Irgendwie haben sie ihn dann hereingeholt.« Fosters Stimme klang unerwartet dünn und nahe. »Haben Sie die Gegend erkannt?« »Jupiteratmosphäre?« »Ganz recht«, antwortete Foster, »Sie sind gut beschlagen. Es sind Bilder des Zwillingsunternehmens JUPITER zwölf und dreizehn. Aus dem Mikrobenschlamm, in dem sich der Mann dort wälzte, wurden die Originalstämme der Organismen isoliert, die wir seither in den Drucksimulatoren unten kultivieren.« »Und der Mann in der Spinne war…« »Ja«, sagte Foster, »das war Lutrell. Er hatte sich den Gang der Dinge wohl anders vorgestellt. Wir alle hatten uns das anders vorgestellt.« Foster lächelte. »Lutrell hat ein Faible für Grazie und für gewisse Formen von Eleganz. Man kann mit solchen Manipulatoren arbeiten wie ein Fleischer, oder man kann’s wie Lutrell. Aber diesmal… Und da war noch etwas. Er wußte schon im voraus, was dort draußen möglich sein konnte, was auf den niedergehen würde, der da hinausging. Er verbot es all denen, die eigentlich dafür da waren, die Proben zu holen. Er verbot es ihnen schroff und geradezu, wie es zuweilen seine Art ist, die auch Sie erfahren haben. Es gab damals Diskussionen in dieser Sache. Aber ich denke, heute legt kaum noch jemand die Affäre zu Lutrells Ungunsten aus. Übrigens trägt er seitdem seine Armprothese. Sie wer-
den sie nicht bemerkt haben, als Sie oben bei ihm waren. – Gehen wir jetzt unseren Tee austrinken?«
Konkurrenten
Als Brian Foster die Einladung Lutrells erhielt, schwante ihm schon, worum es gehen würde. Bei Lutrell fand man sich tunlichst fünf Minuten vor der Zeit ein, also durchschritt er genau sieben Uhr fünfundfünfzig die Vorzimmertür, an der ein Leuchtschild überzeugender Größe darüber informierte, mit wem man es zu tun haben würde: Hauptabschnitt genetische Analyse – Lutrell – Direktor. Im Vorzimmer stieß Foster auf Görgy Molnàr, und sofort verstärkte sich sein Verdacht. »Sie hier, Brian?« begrüßte ihn der Ungar mit steiler Stirnfalte zwischen schwarzstruppigen Brauen. Er blieb in seinem Sessel sitzen und versank in irgendwelche Erwägungen, die er momentan für wichtiger halten mochte als Höflichkeit. Plötzlich zog verstehendes Grinsen Molnàrs Gesicht zu gemütlicher Breite auseinander, so daß sein bläulich rasiertes Kinn erglänzte, und als er sich nun doch aus dem Sessel herausstemmte, gewann seine kompakte Gestalt nicht eben viel an Höhe. »Echt Lutrell«, sagte er, trotz der dick aufgeblasenen Polsterung der Tür zum Chefzimmer vorsichtshalber mit verhaltener Stimme, und reichte Foster die Hand. Foster legte Ahnungslosigkeit in seine Miene. Der Ausdruck gelang ihm schlecht, denn die taktische Unaufrichtigkeit lief seiner englisch rechtwinkligen Mentalität zuwider. Er unterschätzte seinen Partner. »Müssen wir uns etwas vormachen?« fragte Molnàr auch sogleich, und dehnte das »wir« mit augenzwinkerndem Verstehen. In überraschender Kollegialität, die aus dem Unbehagen der Nähe des Chefs fördernde Impulse zu empfangen schien, zählte er an Fingern auf: »Eintreffen des Mikrobenmaterials nach Rückkehr der JUPITER zwölf am sechsten Juni – Rücklauf des Arbeitsprogramms für unseren Hauptabschnitt am achten Juni – Genehmigung des Investmittelplanes am zehnten Juni – Fundament des methodischen Ablaufs der Analyse: Entscheidung über den einzusetzenden Rechnertyp. Wessen Meinungen verhalten sich in
dieser Sache wie Plus- und Minuspol?« Molnàr beantwortete diese Frage ebenso stumm wie eindeutig, indem er mit dem Zeigefinger erst in Richtung auf Fosters und dann auf seine eigene Brust stach. »Über Lutrells infame Methoden, kitzlige Entscheidungen zu fällen, brauchen wir nicht zu diskutieren. Soweit wir den Chef kennen, jedenfalls soweit ich ihn kenne, entscheidet er spätestens am elften Juni, mittags. Ich denke, heute ist dieser elfte Juni, und zwar vier Minuten vor acht Uhr. Und da fiele Ihnen nicht ein, was wir hier sollen? In vier Minuten werden wir in Lutrells Arena hineingelassen, und er wird sich daran weiden, wie wir uns zerfetzen.« »Gut«, gab Foster zu. »So weit war ich auch, als ich Sie hier sitzen sah.« »Anschließend wird er telefonieren, und wir bekommen die notwendige Kapazität am linear determinierten Rechner«, schloß Molnàr und verbarg die Herausforderung hinter jovialer Wendigkeit. Fosters Miene spannte sich. Eine Sekunde schloß er die Augen. Das Gefecht begann also schon hier. »So?« sagte er, »am determinierten?« Die beiden Männer standen sich noch immer nahe gegenüber. Foster sah auf Molnàr hinab. Der Ungar nestelte an allen drei Knöpfen seines prall gespannten Jacketts, die durch die Leibesfülle gefährlich überfordert waren. Mit einem verschwommenen Rest altenglischer Jagdleidenschaft bemerkte Foster Molnàrs Nervosität. Er gewann an Sicherheit. »Bogdanski in Warschau wies glaubwürdig nach, daß der Erbgang dieser Jupitermikroben an mindestens sieben Geschlechter gebunden ist«, sagte er ruhig. »Vieles deutet darauf hin, daß die Anzahl der Geschlechter bei freier Variabilität letzten Endes keine Grenze hat. Ein absurder Gedanke.« Foster fuhr sich mit dem Finger zwischen Hals und Kragen. »Sie kennen das Videogramm?« Und eindringlich: »Haben Sie denn kein Gefühl für die Konsequenzen? Die Aufgabe ist gigantisch! Mit der Wahl des Rechners steht und fällt ihre Lösung – mit der Wahl des richtigen Rechners!« Der Ungar ließ sich in den am nächsten stehenden Sessel fallen. »Sie können den Fortgang Ihres Appells als bekannt voraussetzen«, schnitt er Fosters Rede ab. »Jetzt folgt etwas über ›synthetische Sicht‹ und ›komplexe Deutung‹ und wie die nebulosen Leistungsattribute dieser
neumodischen stochastischen Apparate sonst noch geheißen werden. Sie scheinen die Dinger zu lieben. Daß ein Mann wie Sie, Foster, überhaupt zu denen gehört, die sich dazu hergeben, diese… diese, als Rechner zu bezeichnen!« Molnàr kramte in allen seinen Taschen, förderte eine Pfeife zutage und riß ein Streichholz an. »Weiß denn noch jemand, was in diesen okkultistischen Büchsen vor sich geht…? Elektronische Kurpfuscherei… Hokuspokus mit doppeltem Boden…«, murmelte er zwischen heftigem Paffen, und selbst als er sich die Finger verbrannte, hatte er noch nicht bemerkt, daß er nur den Qualm des Zündholzes einsog; die Pfeife enthielt wohl nur noch Asche. Foster wiegte den Kopf. »Wenn schon«, sagte er nicht unbefangen, »das Wesentliche sind brauchbare Antworten, sehr schnelle und durchaus brauchbare Antworten.« »Ein Rechner wird nach bestem Wissen und Gewissen gebaut«, fuhr der Ungar fort, als habe er Fosters Einwand gar nicht wahrgenommen, »damit er ein nach bestem Wissen und Gewissen entwickeltes Programm abarbeiten kann. Er ist determiniert«, schloß er mit der Klangfarbe der Endgültigkeit, sog weiter erfolglos an seiner Pfeife und sah nach der Uhr. Aber die Zeit rettete ihn nicht. Foster war steif stehen geblieben, »Ihr nach bestem Gewissen entwickeltes Rechnerprogramm werden Sie in einigen Wochen haben«, antwortete er. »Wenn alles gut geht. Bis dahin sind diese Organismen längst nicht mehr dieselben, die sie heute sind. Ein einziger nicht mehr passender Algorithmus blockiert das gesamte Programm. Ihr Rechner wird nichts als Nullen liefern. Und wenn nicht, dann ergeben sich hundert neue Fragen. Woher nehmen Sie die Leute für die hundert neuen Programme, die dann nötig werden? Ihr seliges Vertrauen zu unseren Methoden der Kultur derartig multisexuellen Mikrobenmaterials, von dem wir nichts wissen, ist beneidenswert. Nein, das nicht«, korrigierte er sich selbst, »es ist dumm und gefährlich.« Foster hielt inne. »Verzeihen Sie«, lenkte er ein. Als aber Molnàr anscheinend gleichmütig vor sich hin sah, fügte er hinzu: »Es gibt keine andere Wahl: Stochastische Rechner brauchen so gut wie kein Programm. Sie gehen das Problem auf die einzig mögliche Weise an, nämlich mit Intuition. So wie das menschliche Hirn.«
»Richtig!« erwiderte Molnàr bissig, »diesen Slogan hatte ich vergessen.« Foster spürte, daß er langsam wütend wurde. Wut hielt er für unmoralisch. Er glaubte, ihr entgegenzuwirken, indem er sich nun auch in einen der Sessel niederließ. Die neue Perspektive bescherte ihm eine Überraschung: Molnàr und er waren gar nicht allein hier. In einer seinem Blick erst jetzt zugänglichen Ecke dieses Vorzimmers saß ein junger Mann in lässiger Haltung und mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl. Die hochgezogenen Hosenbeine gaben pepitagemusterte Socken frei, und danach bemerkte Foster eine ebenso pepitagemusterte Schleife am Hals des Mannes. Der Mensch sah aus, als sei er als Dressman zur Fotoaufnahme für die nächste Nummer eines großstädtischen Modemagazins ausstaffiert. Der Anblick dieses modisch gekleideten Herrn an ausgerechnet diesem Ort war ungeeignet, Fosters Gemüt zu besänftigen. Schärfer, als er es für richtig hielt, fuhr er Molnàr an: »Sie wissen ganz genau…« »Allerdings!« fiel der Ungar unbeherrscht ein, »Sie brauchen mich nicht mit stochastischer Elektronik zu agitieren, denn ich kenne ihre Risiken.« »Und ich kenne die Labilität hingehaltenen biologischen Materials.« Foster war nun wirklich wütend. Wenn nun auch noch derartige Pepitatypen Institute bevölkerten, in denen ernsthaft an ernsthaften Problemen gearbeitet wurde, dann… Er wußte jetzt nicht im einzelnen, was dann sein würde! Überdies verdroß es ihn, das Gesicht dieses Jungen nicht nur intelligent, sondern auch sympathisch zu finden. Der junge Mann schien dem unerfreulichen Disput zu folgen, denn seine dunklen Augen richteten sich offen auf Molnàr, dann wieder auf ihn, Foster. Die Antwort auf derlei Fragen brauche eben ihre Zeit, äußerte der Ungar und erstrebte eine Warteposition. Der genaue Wortlaut war Foster entgangen, nicht aber die Spur Resignation, die in ihm schwang. »Bogdanski in Warschau löst ähnliche Probleme Schlag auf Schlag und mit einer Schnelligkeit, die diesen auf Zeit empfindlichen Organismen einzig angemessen ist«, hieb Foster in die Bresche. »Sieben Geschlechter! Was da in Stunden geschieht!«
»Bogdanski, der ach so große Bogdanski!« sagte Molnàr giftig und voller Respekt. »Weiß der Teufel, wie er das macht. Aber wir sind hier nicht in Warschau!« Plötzlich erhob sich der junge Mann von seinem Stuhl, ging mit zögernden Schritten auf Foster und Molnàr zu. »Verzeihen Sie«, sagte er in englisch und wenig sicher. »Ihr Gespräch… Ungarisch…« Er hob die Schultern mit Nachsicht erheischendem Lächeln. »Aber Sie nannten meinen Namen. Janusz Bogdanski aus Warschau«, stellte er sich vor und verneigte sich höflich. Molnàr stöhnte. Er und Foster wuchsen langsam und mit behinderten Gelenken aus ihren Sesseln empor. Sie vergaßen beide, dem jüngeren Kollegen die Hand zu reichen. »Brian Foster«, nannte der Engländer endlich auch seinen Namen. Molnàr stopfte seine unbrauchbare Pfeife in die Tasche zurück, fragte nun ebenfalls in englisch und mit belegter Stimme: »Und welchen Rechner haben Sie dort?« Der Pole lächelte verlegen. »Wissen Sie«, sagte er mit Charme, »wir arbeiten nur mit dem Kopf. Die neuartigen genetischen Analysen an den Jupitermikroben kommen uns daher gelegen; wir freuen uns darüber, denn unser Institut ist noch jung, die Ausstattung vorerst bescheiden. Wir haben noch keinen Rechner nennenswerter Kapazität. Damit ginge es wohl auch zu langsam.« Der Minutenzeiger des Chronometers sprang auf die Zwölf. Energisch schwenkte die rotgepolsterte Tür auf und wehte einen aromatischen Hauch frischgebrühten Kaffees in den Raum. Dann erschien Lutrell in der Öffnung und lud die drei Experten mit freundlicher Geste zur anberaumten Besprechung in sein Zimmer ein.
Ungeordnete Verhältnisse
Er wußte, daß der Boden hoch aufgeheizt war. Aber der trockene Staub knirschte unter seinen Schritten wie Schnee bei schneidender Kälte. Das Pulver war grau und auch so fein wie Zement, und das tief und ausgeklügelt gemusterte Profil seiner Stiefelsohlen stand in den Fußstapfen hinter ihm, daß jeder Former seine Freude daran gehabt hätte. HERMES / Serie VI, las er nicht ohne Stolz inmitten jedes Abdrucks. Schließlich war er es, der dieses Siegel als erster diesem jungfräulichen Boden so viele Male aufprägte. Das Gelände, in das er auf eine Distanz von genau vier Kilometern vorzudringen beauftragt war, trug zwar alle Merkmale einer Wüste, aber allenthalben gab es da und dort Gebilde, die nicht in seine Vorstellung von einer Wüste paßten. Ohne tieferes Nachdenken bezeichnete er sie vorläufig als »Gewächse« oder »Vegetation«. Ihren Anblick fand er insofern erfreulich, als diese Bildungen nicht grau aussahen wie sonst alles rundum, sondern gelb. Ein etwas fades Gelb nach seinem Geschmack. Aber es kontrastierte gut mit dem endlosen Grau dieser Welt. Es wäre wohl mehr Aufregung wert, daß hier etwas wächst, fiel ihm ein, und schon bedachte er nebenher, wie vorsichtig die Begriffe zu wählen waren, wenn dem Dispatcher nach der Rückkehr berichtet werden mußte. Wachsen war ein zu bestimmter Ausdruck, er bedeutete zuviel. Diese Formen waren eben einfach vorhanden. Punktum. Beiläufig entwarf er das fällige Protokoll: »… wie Nadelkissen. Manche so groß wie Maulwurfshügel, über die höchsten kann man gerade hinwegsehen. Dicht gespickt mit Hunderten von Enden dünnen, starren Drahtes. Alles gelb wie Schwefelblüte… Nein!« widersprach er seinem imaginären Partner, »nicht wie trockene Büschel Borstengras. Grasblätter enden spitz…« Er unterbrach den prospektiven Bericht und hob die Augen, um über Einzelheiten den Blick für das Ganze zu bewahren. Voraus schoben sich die Drahtbüschel enger zusammen. Das Gelb verdichtete sich. Dahinter Schleier träge wogender Staubfahnen, die die Sicht begrenz-
ten. Oben verlor sich ihre trügerische Durchsichtigkeit im Bleigrau wolkenlosen Himmels. Es wehte wohl eine böige Brise, von der in der dick auftragenden adiabatischen Kombination nur der Druck zu spüren war. In ruhigem Rhythmus stapfte er vorwärts, versuchte sich für das Abenteuer zu begeistern, das er soeben durchlebte. Der Versuch fiel matt aus. Seine inneren Regungen blieben gemäßigt, unangemessen gemäßigt. Er schüttelte den Kopf. Es lag an Jo, die immer wieder einen weit größeren Anteil seiner Gedanken band, als es hier gut war, für ihn, seine Gefährten und das Unternehmen, in das er hineingeraten war. Wie immer in solchen Augenblicken begannen seine Sinne, sich der Berührung mit den Dingen der Wirklichkeit zu entziehen. Anderes, Vergangenes drängte sich plötzlich in die Gegenwart, in eine Gegenwärtigkeit, von der er wußte, daß sie auf eine seltsame Art unzuverlässig und doch weit dringlicher und zupackender war als all die Signale dieser Welt, in der er sich hier bewegte. Wie immer erlag er der Lockung, und es bedurfte nicht der geringsten Mühe, bis er Jos helles, unscheinbares Gesicht in minutiöser Genauigkeit vor den Augen hatte, einschließlich der Sommersprossen über dem naiven Nasenrücken, die mit dem Laub kamen und gingen. Er sah sofort, daß es auch diesmal wieder die verschlossene Jo war: kühler Blick aus grauen Augen, die zu anderen Zeiten blau sein konnten oder grün oder auch alles zusammen. »Schau nicht dorthin«, sagte Jo ruhig, und gehorsam nahm er den Blick zurück von ihrem ein wenig dürftigen, kurzen, stumpfschwarzen Haar, das ihr Gesicht umstand und es noch runder machte, als es ohnehin schon war. »Für mich bist du schön genug«, sagte er. »Ich brauche dich, und das hängt nicht von der Dichte deiner Haare ab. Du weißt, daß ich dich dringender nötig habe als etwas zu essen.« »Was für große Worte«, sagte Jo ohne jede Spur von Vorwurf in der Stimme, obgleich sie ihn argwöhnisch musterte. »Du bist zu schnell und zu findig in glatten und zu großen Worten.« »Wie sollte es anders sein?« fragte er. »Du bringst mich durcheinander, und dann kommen mir die psychologischen Feinheiten abhanden,
ich rede zu rasch, bin durcheinander und unternehme nichts dagegen. Ich habe nicht mal den Willen, etwas dagegen zu tun.« »Ich weiß…«, sagte Jo nach einer Pause und brach ab. Ihr Gesicht nahm einen neuen Ausdruck an. Er glaubte, Mitgefühl zu erkennen, und deshalb gelang es ihm diesmal bis zuletzt, die Frage zu unterdrükken, wann sie sich wiedersehen würden. »Alsdann«, sagte sie wie leichthin und stiefelte über den pfützenbedeckten Beton zu jenem östlichen Seitentrakt im Kosmodrom, in dem er Aussicht hatte, sie zu finden. Er registrierte aus den Augenwinkeln, daß sie sich nicht umwandte, ehe die Glastür hinter ihr zupendelte. Er haßte diese Tür. »Ja, auf Wiedersehen«, murmelte er unschlüssig. Es war ihm nun gleichgültig, wohin er gehen sollte. Als sei es Zufall, trafen sie eine Zeitlang nun öfter zusammen, fast jeden Tag. Jo tauchte einfach dort auf, wo er zu tun hatte oder etwas zu tun zu haben vorgab. Eine Weile standen oder saßen sie beieinander, wie es die Gelegenheit ergab, einige Minuten oder gar eine halbe Stunde, und sprachen über unbedeutende Dinge. Er wußte sehr bald, daß es keineswegs Zufall war, was sie zusammenführte. Er wußte es, noch ehe Jo ein erstes Mal und wie beiläufig erwähnte, wann und wo sie am nächsten Tag zu finden sei. Ab und an platzte er mit ungeschickten Huldigungen zwischen die belanglosen Gegenstände ihres Plauderns, und die Beredsamkeit, mit der er seine Ansichten darzulegen verstand, geriet ins Stocken. Jo hörte sich diese Bekenntnisse gelassen an, aber er spürte, daß ihr Gleichmut dünn war, er sah den Glanz der Augen und daß sie sich freute. Er schaute ihr ins Gesicht und hatte Mühe, dem Sinn der Worte zu folgen, die Jo dann allzu eifrig hervorsprudelte. Wenn er wieder allein war, gab es in dieser Zeit Augenblicke, in denen er sich plötzlich und in einer von ihm unbeeinflußbaren, fast gewaltsamen Weise hoch emporgehoben fühlte wie von einer Woge. Dann war er glücklich. Aber er war es niemals völlig und in aller Ausschließlichkeit. Immer blieb ein Rest des Mißtrauens gegenüber diesem rauschenden Gefühl, er wußte nicht, wohin die Woge mit ihm davonstürzen würde, und dachte daran, daß es irgendein ungewisser, grauer Strand sein könnte, an den sie ihn
würfe. Und immer kam ihm die Unerbittlichkeit jener Pendeltür in den Sinn, die alle Tage hinter Jo zuklappte und ihm das Mädchen stahl. Sein Weg hier und jetzt erforderte indessen doch einige Aufmerksamkeit. Ohne daß sich der Eindruck stäubender Trockenheit gemindert hätte, nahm das Gelände mehr und mehr den Charakter einer Steppe an, die befremdlich bewegungslos war und der es zudem an Weite mangelte oder gar an Grenzenlosigkeit. Wesentliches glich dennoch der irdischen Vegetationsform. Die Borstenbüschel rückten dicht zusammen. Die Marschroute konnte nicht geradlinig fortgesetzt werden wie bisher, denn er hielt sich streng daran, nur auf den nackten, grauen Zement zu treten, den er als simpel genug einschätzte, daß er seine Stiefelsohlen ohne Bedenken hineinstempeln durfte. Das Gelände gewann an Farbigkeit. Manche der drahtgespickten Hügel leuchteten nun in intensivem Gelb, erreichten stattlichere Höhe, und er meinte sogar, zuweilen Orangetöne wahrzunehmen. Es schien ihm an der Zeit, genaueres Detail der Beschaffenheit dieser Gewächse zu erkunden, denn er erwartete, daß man ihn in dieser Richtung befragen würde. Deshalb blieb er stehen. Er wollte sich niederhocken und gewissenhafte Studien aufnehmen, die nach stillschweigender Übereinkunft als Nebenpflicht für jeden Kundschafter anerkannt wurden, auch dann, wenn der nur den offiziellen Auftrag hatte, einen funktrigonometrischen Sender auf den Zentimeter genau vier Kilometer von der Libelle des Meßsenders der Station zu plazieren. Entgegen dieser Absicht blieb er aufrecht stehen. Hinter Staubfahnen zerflossen die Konturen der Landschaft… Oh, Jo war auch anders! Allen Bemühungen zuständiger und nicht zuständiger Dienststellen zum Trotz verspürten an schönen Sommertagen zu bedenklich frühen Stunden des Nachmittags viele den Drang, das Gelände des Kosmodroms zu verlassen. Auch er hatte geglaubt, es sich leisten zu können, stand nun eingeklemmt in der Mauer der Menschen am Rande des fliegenden Trottoirs. Noch benommen vom gestauten, hitzeflimmernden Dunst in den Schluchten aus Glas und Beton erwartete er sein Indikatormuster auf dem laufenden Steg. Plötzlich löste sich etwas Grünlichbuntes aus der transportierten Menge, die an ihm vorüberglitt, und sprang ihm mitten auf die Füße. Ein heißes Gesicht dicht vor dem sei-
nen. Lachen. Ein fröhlicher Blick aus blauen Augen. Dann sprang Jo auf das Außenband zurück, wechselte geschickt von Bahn zu Bahn und war seinen Blicken entkommen, ehe sie den schnellen Mitteltrakt erreicht hatte. Immer ist es ein Abschied, dachte er erbittert und suchte nach einem Bild der Begegnung. Der Mechanismus des Erinnerns lief glatt ab. Die Schaltneuronen seines Gehirns kannten dieses tausendmal geübte Spiel und kamen seinen Wünschen willig entgegen: Es war eine Art Sparkassenmilieu, wie es für die technischen Sachinformationszentren aller Kosmodrome typisch zu sein schien. Eine Schalterfront, parallel zu ihr eine Wand nervöser Magnetbandspeicher, dazwischen offener Raum, belebt mit meist jungen, adrett gekleideten Damen, die sich zwischen sonstigem Mobiliar und dem mit Organisation betrauten elektronischen Beiwerk gemessen bewegten. Ein helles Gesicht wandte sich ihm zu, so rund, daß es von selbst freundlich aussah, graue, höflich aufmerksame Augen. »Ihre Nummer?« Er hatte noch keine. Plötzlich hielt das Persönchen eine Karteikarte in der Hand und lochte die üblichen Angaben vermittels einer Zange. Auf seine ungläubige Miene hin lächelte sie verschmitzt. »Wir senken die Quote der Fehlleistungen.« Sie deutete hinter sich auf eine mächtig ausgedehnte Kartothek, die er übersehen hatte, weil er die Existenz eines derartig konservativen Informationsspeichers in dieser Institution gar nicht für möglich gehalten hatte. »Dienststellung?« »Astronikingenieur.« Es vergingen einige Sekunden zuviel. »Fliegendes Personal?« »Ja. – Müssen Sie das denn auch wissen?« fragte er. »Nein«, sagte sie sehr leise, und mit einer sonderbaren plötzlichen Wachheit nahm er die winzige Unsicherheit wahr, mit der sie ihre Papiere handhabte. Er hatte damals nicht gewußt, daß er in diesem einen Augenblick einen Weg betreten hatte, der dahinlief, ohne zu einem Ziel zu führen. Forsch und selbstgewiß war er auf ihm geschritten, bis er inne wurde,
daß sich der Pfad in einer Wüste verlor, die zu durchwandern er nicht ausgerüstet war. Auch jetzt stand er verloren in einer Wüste. Er verkniff die Lippen. Die wärmenden Lichter, mit denen die Öde betupft war, vertieften nur ihre Düsternis. Nahebei wirbelte Staub auf in der Form einer Spindel. Hochgepeitscht von geisterhaft lautlosem Wind, wuchs die rotierende Spindel unversehens himmelwärts und schwoll nach allen Seiten. In Sekundenschnelle überwallte ihn ein bläuliches, wattigdichtes Meer, das ihn blind machte. Schlecht gewappnet gegen diesen Ausbruch, geriet er in Panik. Ohne Besinnen stürzte er los, taumelte mit unkoordinierten Bewegungen in irgendeine Richtung, da die Gelenke der schweren Kombination seinem Trieb, der Blindheit zu entrinnen, die Trägheit des Materials entgegensetzten. Erst als das Prasseln brechenden Glases in sein Bewußtsein drang, da seine Stiefel die Gewächse zermalmten, hielt er an, rief sich keuchend zur Ordnung, schämte und beruhigte sich und bedachte seine Lage. Im Grunde wußte er ziemlich genau Bescheid über die Harmlosigkeit solcher Windhosen. Dieser Staub war so fein und leicht, daß es unerheblicher Energien bedurfte, ihn aufzujagen. Die Blindheit war allenfalls lästig, mehr nicht. So sah er es als naheliegend an, zu warten, bis die Dunstfahne von selbst abziehen würde und empfand es sehr wohl, daß er die Zwangslage zu bereitwillig auf sich nahm. Er erinnerte sich ihrer albernen Spiele, wenn sie einander Worte zuwarfen wie Bälle, ohne Bedenken, daß die Bälle ein wenig abgegriffen sein mochten, weil viele sie schon vor ihnen gebraucht hatten in Augenblicken glücklichen Übermutes. Manchmal wurden die Worte zu Pfeilen. Nicht immer waren bei diesen Spielen die Pfeile stumpf, und es gab Worte, die unversehens tiefer drangen, zu tief. Dann sah er, wie Jos Lächeln langsam verging. Plötzlich flog sie auf ihn zu, drückte ihr Gesicht an seine Brust, und inmitten seiner aufbrechenden Zweifel und seines Zorns auf sich und Jo spürte er das Zucken des Körpers, den er umfangen hielt. In jähem Schrecken drängte er Jo
von sich weg, um ihr ins Gesicht zu sehen, und erhaschte die letzten Regungen ihres Lachens. Er dachte nach, aber es fiel ihm nicht ein, wie sie an solchen Tagen auseinandergegangen waren. Diese Lichter warfen lange Schatten. Er hatte ein System von Gründen entwickelt, daß alle seine Wege im Kosmodrom über jenen östlichen Trakt führten. Einfach ins Informationszentrum einzutreten, glaubte er sich seines Stolzes wegen verbieten zu müssen. Zu dieser Zeit ging ihm Jo keinen Schritt entgegen. Wie so oft verstrichen Wochen, ehe sie sich wiedersahen, und dann traf er wie gewöhnlich eine ernüchternd kühle Jo. »Ein Tag ohne dich ist kein Tag«, sagte er und fragte dann schroff: »Warum bist du so gleichgültig?« Sie antwortete ruhig: »Man kann nicht alles haben.« »Ich möchte wissen, ob du lügst, wenn du solch ein frostiger Eiszapfen bist; oder lügst du, wenn…« Plötzlich wurde ihr Gesicht beinahe häßlich. »Wie dumm du bist«, sagte Jo mühsam und so leise, daß er ihre Stimme kaum vernahm. Er ließ sie stehen, ging mit hallenden Schritten über den Beton davon. Erst nach vielen dieser zu energischen Schritte wandte er sich um. Jo hatte noch nicht einmal die Pendeltür erreicht. Es trieb ihn weg von dieser unbefriedigenden Position, weg, ohne den Aufwand zu berechnen. Immerhin prüfte er, welche Richtung einzuschlagen war, um den vorgeschriebenen Punkt zu erreichen. Er hielt den Orter dicht vor das Helmfenster, löste dann die Kupplung der adiabatischen Hülle eines der Handschuhe und putzte mit dem darunterliegenden Gewebe die Scheibe vor seinen Augen. Der Effekt war gering. Vorsichtig, gebückt, um den nächsten Schritt zu überblicken, tappte er zwischen den Borstenbüscheln voran, langsam, fast blind, aber entschlossen. Der Weg war mühevoll. Nach mehr als einer Stunde gab es noch immer kein Anzeichen dafür, daß die Staubwolke wich. Da erhielt er einen dröhnenden Schlag vor die Stirnseite seines Helmes. Er wankte, und drehstahlharte Kanten schrammten kreischend über die Titankuppel, die seinen Kopf schützte. Sein Körper krümmte sich zu einem hochge-
spannten Bogen der Abwehrbereitschaft. Mit zusammengekniffenen Augen richtete er allen Willen darauf, seine Blindheit zu brechen. Gelbrote Feuerzungen flammten trübe. Plötzlich wurde der Dunst wie ein Vorhang zur Seite gezogen, und um ihn herum erstand scharf und von harten Konturen umrissen das Panorama eines orangefarbenen Märchens: Ein Wald gezackter Säulen, die sich hoch über ihn hinweg zu einem Dom erhoben. Kaum armdickes Gestänge ragte, wo er stand, noch spärlich verteilt, aus dem Boden, vernetzte sich weiter oben in zahlreichen Anastomosen zu bizarrem Filz. Dort waren horizontale Segel gespannt. Die Segel hingen in mehreren Etagen übereinander. Je länger er aufwärts blickte, um so mehr schien es ihm, als handle es sich eher um Bleche. Es gab überhaupt nur ebene Flächen, stellte er fest. Selbst das tragende Armierungsskelett war bis zum Grund, dem es entsproß, von geschliffenen Facetten begrenzt, eckig, starr und ohne jede Spur einer Rundung. Das Ganze glanzlos, aber von brennenden Farben übergossen. Eine Explosion von Orange, Gelb und Rot. Die Dinge schienen von innen zu leuchten wie eine geschickt illuminierte Theaterdekoration, und die aufgespannten Bleche warfen keine Schatten. Er wußte sofort, woher der Angriff kam. Blind und blindlings war er in diesen Wald geraten und fand es nun erstaunlich, warum sein vorgeneigter Schädel nicht viel früher gegen eine dieser Stangen gekracht war. Er entspannte sich und versuchte zu lächeln. Aber ein Schwall widersprüchlicher Empfindungen erstickte sein Mühen um Gelassenheit. Die geordnete Wirrnis der Unzahl mathematisch anmutender Geraden traf ihn wie eine Provokation. Sie forderte seine Phantasie zu Bildern irdischer Wälder heraus, zu Bildern lieblicherer Harmonie. Er zog die Gültigkeit des Vergleiches in Zweifel, und plötzlich überwältigte ihn die Pracht dieser statisch ausgewogenen Formen. Anerzogene Skepsis mobilisierte seinen Verstand, sie nüchtern als Folge von Genese und Zweck zu durchschauen, die ihm freilich rätselhaft blieben. Diese Spekulationen waren allzu vage und wurden jäh von Gefühlen überflutet, die eigenwillig aus irgendeiner unbewältigten Tiefe quollen: Daß er allein hier hockte, daß es nur seine eigenen beiden Augen waren, die hier sahen, schmetterte ihn nieder. Er glaubte, es geschähe ohne sein Zutun, als die verdünnte Leere um ihn das Bild des Mädchens herbeisog, und er wünschte nichts dringender, als diese Welt vor Jo hinzu-
breiten. Aber jetzt hatte er keine Macht über den Ablauf der Bilder, und die Reflexionen folgten ihrem eigenen Programm. Jo war es gewesen, die sich zuerst vom Weg in die Büsche schlug. Das grüne Dach deckte beide zu. Mit unvermutetem Geschick fanden Jos vom Trottoir und vom Beton erzogenen Füße durch das dichte Unterholz den Hang hinauf. Vor ihm tanzte ihr Rücken und strahlte Eifer und Hitze durch das bunte Sommerkleid, das sie trug. Der Hang forderte ihre Kraft, und es blieb kaum Atem zum Reden übrig. Ab und zu hielt Jo an, manchmal sehr plötzlich und in der Bewegung erstarrend wie ein Jäger oder wie in freudigem Schreck einer Entdekkung. Und wenn er dann sah, was sie fesselte, war es ein Fleckchen Sonnenlicht, das sich in einer Wüste von Schatten behauptete und einem Halm oder einem welken Blatt zitterndes Leben verlieh, oder es war ein Ausblick zwischen den Säulen der Stämme und eine blaue Esse in der Stadt dort unten, ein besonderer Zusammenklang von Linien; es war ein Grüppchen blühender Moose auf einer Wurzel oder eine Winzigkeit, die beflissen und vielbeinig über den Boden stürmte. Er kannte dies alles, und er kannte es nicht. Er sah diese Dinge, aber wenn er allein war, nahm er sie gewöhnlich nicht wahr. Für ihn bestand Wald aus Bäumen, die Luft war kühl und gut, und rundum war alles grün. Aber in diesen Augenblicken spürte er einen starken wärmenden Zustrom an Intensität seines Daseins, und er war glücklich, daß dieser Strom von Jo ausging, von seiner Jo. Er wollte bestätigt haben, daß sie froh war. »Hm, immer wenn ich Dinge entdecken kann, die andere nicht sehen. Aber…«, antwortete sie unbestimmt. Er besann sich eines Augenblicks im Madrider Prado. In einem der Säle mit alten niederländischen Meistern war Jo von den Ungeheuern, die Hieronymus Boschs »Garten der Lüste« bevölkerten, nicht wegzubringen gewesen. »Die schlimmen Viecher sehen aus, als hätte sie zu lange niemand gestreichelt. Ich würde es gern tun…« Ein Schatten verschlang die Erinnerung. Da war dieses »aber«. »Aber?« fragte er ahnungsvoll.
Jo mußte erst eine schwieriger zugängliche Stelle des Dickichts zwischen ihn und sich schieben, ehe sie die Antwort über sich brachte: »Es klappt nur, wenn sich jemand mit mir freut.« Er hatte genug von ihr gelernt, um alle Worte zurückzuhalten, an denen er fast erstickte. Die Zweige knackten unter den Schritten. Da wandte sich Jo endlich um und sagte ihm hart ins Gesicht: »Ich weiß, woran du kaust. Aber du bist doch nicht durch Zufall beim fliegenden Personal. Denk nach! Denk nach über dich und mich! Und denk bis zu Ende!« Nach einem Atemzug war ihre Sicherheit aufgebraucht, und sie hatte nun Mühe, ihn anzusehen. »Du kannst dich nicht mehr binden, und du weißt es gut genug. Du weißt gut genug, eines Tages wird dein Beruf stärker sein als dies alles und stärker als ich. Und dann… Willst du mehr geben, als du hast?« Er ließ die Arme hängen. Mit einem Fuß scharrte er nutzlos, aber sorgfältig alles vorjährige Laub von einem Fleckchen des steinigen Grundes. »Ich möchte dir so gern die Lampen ein bißchen heller stellen«, sagte er befangen. Sie kamen nie wieder auf diesen Augenblick zurück. Jo verfolgte hartnäckig die Taktik, Fragen, die sie für unlösbar hielt, zu »vergessen«, und er vergaß diese Frage wirklich. Das Mädchen schien ihm angefüllt mit Süße und Bitterkeit, und er meinte, sie gäbe ihm beides in vollen Zügen zu schmecken. Sie war ihm unberechenbar, und unermüdlich und aussichtslos berechnete er sie wie die Quadratur des Kreises. Jo hielt sich von ihm fern. Er traf sie nur noch selten und nach immer längeren Zwischenräumen. Nur abends sah er sie öfter vom Rande des Trottoirs aus in ihren Wohnkomplex fahren, er erinnerte sich vieler ihrer kleinen Wünsche und rief sie nicht an. In wildem und verzweifeltem Trotz meldete er sich später zum Unternehmen HERMES. Jo wußte es schon, als sie sich an einem der nächsten Tage trafen. »Wie lange?« fragte sie. »Für dich elf Jahre«, antwortete er. Irgendwie hatte er es über sich gebracht, noch von diesen und jenen Banalitäten zu sprechen. Jo hatte die künstliche Beiläufigkeit seiner Re-
de reflektiert. Vom Inhalt ihrer Unterhaltung war ihm nichts im Gedächtnis haftengeblieben, dessen Genauigkeit in allen intimen Einzelheiten erprobt war, soweit sie Jo betrafen. Es war die letzte Begegnung. Er hatte geglaubt, Jo könnte zu einem Traum werden. Er hatte gehofft, der Traum würde im grellen Licht zerflattern, wie es Träumen zukommt, zu einer Erinnerung zerfließen, die zuletzt kühl und blaß sein würde. Dieser jedoch blieb. Er wußte nun, daß die Schatten mitgekommen waren, hartnäckig, klebrig, unverwischbar wie ein Brandmal. Er vermochte nicht mehr, die Schatten zu verdrängen, und ergab sich diesen Bildern wie einem unentrinnbaren Rausch und der Leere, die der Preis dieses geliehenen Scheinlebens war. »Ach, Jo«, sagte er trübe in seinen Helm hinein, und es war wieder ein Abschied, für diesen Augenblick der letzte in der langen Kette der vorangegangenen. Bereitwilliger öffneten sich seine Sinne dem Schwall aufdringlicher Signale, mit denen ihn diese Welt reizte. Er studierte den Orter, beugte die Knie, um die zähen Gelenke der Kombination in weniger unbequemen Sitz zu rücken, und drang breitbeinig stelzend weiter in den Wald vor. Nach kurzem Marsch sah er sich von dichtem Gewirr dieser reglos starren, flammengefärbten Armierungen gefangen. Neue Varianten absonderlicher Formen, kantige Warzen, Schuppen, haarfeine Borsten und vielerlei raffiniert ausgestaltete Auswüchse, wandelten die Oberflächen der Gestänge ab. Verästelungen umflochten mannshohe Hohlräume wie Käfige. Diese Grotten waren von purpurnem Dämmer erfüllt, oder es wucherten dort spröde Filze aus fadendünn ausgezogenem Material, und das Versponnen-Subtile imitierte den Bauplan robusterer Gegenstücke. Was unverändert blieb, waren jene Bleche. Dorthin verlegte er den Ursprung leiser Töne, die anschwellend und ersterbend zuweilen von der Höhe auf ihn herabsanken. Dort oben orgelte der Wind. In flüchtigen Momenten muteten die Klänge wirklich wie verhaltenes Brausen aus Orgelpfeifen an und darüber singender Diskant, aber Zwischentöne und tremolierende Schwebungen entfremdete sie seinen irdisch gestimmten Ohren, und das Tönen vertiefte nur die Stille und die rote, atemlose Reglosigkeit. Anderwärts rankten Drähte in spiraligem Zick-
zack zu schwindelnder Höhe hinauf, und als sein Auge diesen Windungen folgte, gewahrte er hoch oben Wolken gelber Borstenbüschel, die den leuchtenden Blechen entsprossen. Wie die glutfarbene Wirrnis, die ihn hautnah umspann, verschlangen sich hundert Ideen in seinem erhitzten Gehirn. Aber über allen Widerständen schwamm da dieses Gefühl: Es ist ein verrückter Urwald brisanter Vitalität. Voraus im Dickicht sprang ein Geräusch auf. Das Netzwerk seines Denkens zog sich zu einem Punkt zusammen. Klirrend und schabend huschte das Geräusch auf ihn zu. Irgend etwas glitt behende an seiner Brust vorüber und verlor sich in der Richtung, aus der er selbst hierher vorgedrungen war. Was blieb, war ein Bild von verblüffender Eindeutigkeit, dessen Herkunft er nicht verstand, das Bild einer großen stahlglänzenden Spiralfeder. Ein Rest des Schreckens nistete noch in seinen Knien, da rasselte ein ganzer Schwarm solcher Gebilde durch das Gestrüpp. Er riß die Augen auf. Eine Wendung des Körpers. Sein Blick folgte der Erscheinung. Was er sah, war ebenso sinnfällig wie unpassend für die Situation, die zu begreifen ihm noch kaum gelungen war, unpassend aber nur für den ersten Augenblick. Aus Draht, armdick oder fingerdünn gewunden wie in maschinell gefertigter Perfektion, rotierten diese Dinge – tatsächlich Spiralen – um ihre Seele. Der Effekt leuchtete ein. Die Windungen glitten in der Art von Schrauben durch das Geflecht, sie bohrten sich in die Vegetation, ohne den grauen Boden zu berühren. Übrigens mit virtuoser Eleganz und geschwind, denn schon nach Sekunden war das Gerassel hinter ihm verflogen. Wie im Stollen einer städtischen Metro, wenn der Zug vorüber ist, rann die zerschnittene Stille wieder zusammen. Eine originelle Weise der Fortbewegung, dachte er und verharrte unentschlossen an seinem Standort. Störend tickte eine unerledigte Frage, etwas Wesentliches schien ihm zu entgleiten. Er betrachtete den grünflimmernden Kranz auf seinem Chronometer so eingehend, als könne er die Einsicht dort gewinnen. Plötzlich warf er den Kopf hoch und starrte in die Richtung, wohin das Lärmen entwichen war.
Wie in der Metro… Mit dem Bild war das Symbol für einen Vektor verknüpft, die Rechengröße, gekennzeichnet durch Betrag, Richtung und Angriffspunkt. Der Betrag? Nun gut. Die Richtung der rasselnden Schar hatte genau mit der seinen übereingestimmt, freilich um hundertachtzig Grad verdreht. Immerhin lagen die Linien genau aufeinander. Zufall? Das Ende des Vektors gab den Angriffspunkt an, das Ziel. Nein, angegriffen fühlte er sich nicht. Dennoch verschoben sich die Dinge um ihn, und nicht zugunsten des Gefühls überlegener Sicherheit. Das Schweigen quoll ihm nun entgegen, als hätte es Partei gegen ihn ergriffen. Er kannte sich gut mit sich selber aus und entwich der Lawine von Anfechtungen durch den Vorsatz, den vorgeschriebenen Punkt irgendwie zu erreichen, und zwar so schnell wie möglich. Plötzlich trieb es ihn, der Enge zu entrinnen, die nach ihm griff. Wie von selbst öffnete sich dazu der einzig mögliche Weg, den Boden zu verlassen, aufwärts zu klimmen und die Route auf höher gelegenem Niveau über das verfilzte Unterholz hinweg fortzusetzen. Seine Hand hatte eine der nahen Stangen noch nicht fest umfaßt, da biß Hitze durch das Gewebe des Innenhandschuhs. Im Zischen schmelzender Kunststoffasern riß er die Hand zurück und sah die adiabatische Außenhülle lose an der Kupplung baumeln, die er selbst gelöst hatte. Die Hand sah nicht gut aus. Er versorgte sie mit den verfügbaren Mitteln und verbiß den Schmerz, wenn Kunststoffgewebe abgelöst werden mußte, das mit der Haut verschmort war. Schmerz war ihm nichts Fremdes. Er traute sich zu, mit ihm fertig zu werden. Aber was sich häuserhoch um ihn türmte, sah nun lauernd und wie mit verborgener Bosheit auf ihn herab. Da gab er nach und trachtete, dorthin zu flüchten, wo alle Dinge, und nicht nur der Schmerz, vertraut waren, wo er eingebettet gewesen war und geborgen. Er schickte seine Gedanken als Sonden in die Vergangenheit und wußte genau, wohin ihre sensiblen Spitzen treffen sollten. In der Hand klopfte Schmerz im Rhythmus seines Pulses. Vielleicht erboste ihn weniger diese animalische Qual und hinderte seine Wünsche daran, ihr Ziel zu erreichen, sondern das Wissen, daß sich auch dort mit beharrlicher Gewißheit nur wieder ein Stachel in irgendeine empfindliche Stelle
seines Wesens bohren würde und daß Hoffnung auf Geborgenheit dieser Art eitel war. Er fingerte in einer der Knietaschen. Voller Selbstverachtung schnippte er zwei anästhesierende Dragees aus dem Dosiertubus in seinen Mund. Mit einem unflätigen Fluch raffte er sich auf, um seinen Weg fortzusetzen. Die Route begann wenig ermutigend. Es war nicht so sehr das Handicap durch seine versengte Hand, die nun beruhigt und wieder sicher in der schützenden Kapsel steckte. Es erwies sich in der Tat auch als möglich, in gewisser Höhe über das dichte Gestrüpp hinwegzuturnen. Aber der Aufwand, aus dieser Möglichkeit auch nur wenige Meter wirklich zurückgelegter Strecke herauszupressen, war enorm. Umkehr? Den Gedanken verwarf er sofort. Er erlaubte sich nicht das Risiko, mit Griffen oder Tritten einen der Äste zu brechen, denn er vermutete messerscharfe Bruchgrate. Sie würden ihm die Kombination aufschlitzen, wenn er fiel, und seinen Weg hier und alle seine Wege zu früh und unwiderruflich beenden. Er schwitzte vor Anstrengung und, wie er zugab, aus Furcht, nur einmal falsch zu entscheiden, wenn wieder und wieder die Tragfähigkeit eines Trittes oder einer Handhabe zu prüfen war, von deren mechanischen Eigenschaften er nichts wußte. Die gespannte Aufmerksamkeit, zu der ihn die turnerische Übung zwang, wirkte heilsam und glättend auf seine Stimmung, und nach einer gewissen Distanz vermochte er sehr genau gelbliche oder mehr ins Purpurrote spielende Farbnuancen der Armierungen zu unterscheiden, ihre Dicke, die besondere Struktur der Oberfläche und ihre Neigung zur Senkrechten, und er fand heraus, wie diese Merkmale ausgewogen sein mußten, wenn der Festigkeit des Objekts zu trauen war. Mit der Zeit wandelte sich das diagnostische Puzzlespiel in ein ziemlich sicheres Gefühl dafür, wohin er gefahrlos greifen und treten durfte. Daß er jetzt besser vorankam, stimmte ihn nahezu heiter. Und unversehens empfing sein entlastetes Hirn Signale seiner Sonden, die er so verzweifelt und erfolglos ausgesandt hatte. Ungefragt kehrten freundliche Bilder jetzt zu ihm zurück.
Buchara, Oktober. Auf schmalen Lößsteigen verschlungener Gassen am Rande dieser alten Stadt waren sie entlangbalanciert, durch vergessene Winkel, die schon zur Dämmerstunde nach Sonnenuntergang still und leer von Menschen waren. Jo lachte hell heraus: Da stand ein Eselchen in übertriebener Pose tiefster Schläfrigkeit vor einem Leiterkarren, der mit Korinthen in offenen Körben beladen war, und eingekeilt zwischen den Körben flimmerte bunt das stumme Bild eines Fernsehers, den man vergessen hatte auszuschalten. Aber er sah nur, wie die fröhlichen Augen das Gesicht dieses Mädchens beherrschten. Er hielt Jo bei der Hand, so, daß ihre Hand von seiner ganz und gar umschlossen war. Das ging gut, denn Jos Hand war klein und sehr schmiegsam. Sie hatten sich noch nicht oft gesehen seit ihrer ersten Begegnung, da warf sie der Zufall beide in diese Stadt, und nun wußte er schon, daß Jo oft kalte Hände hatte, und nutzte den Anlaß zu dieser Berührung. Hochatmend von der Strapaze seines akrobatische Fertigkeit fordernden Weges, hielt er an und verkeilte seinen Körper zwischen fazettierten Ästen. Sein Leib troff von Schweiß. Er schüttelte den Kopf in der Höhlung des Helmes, um den Lauf der Tropfen von der Stirn zu beschleunigen, und lächelte. – Überraschend und zu früh für die Jahreszeit hatte es damals geregnet. Sie flüchteten unter die Bäume eines Parks, die die Menschen der Trockenheit abtrotzten. Dann saßen sie auf einer Bank, sehr eng beieinander, denn ihre Taschentücher hatten nicht ausgereicht, um einen größeren Platz auf der Bank trockenzureiben. Vor ihnen dampfte der Teich. Aus dem Dunst scholl der Chor der Frösche, die sich über den unverhofften Guß freudig erregten. Er verstand die Frösche gut, und so ergab es sich, daß er Jo küßte. Sie kam ihm sofort entgegen, drängte sich an ihn, und es verging eine Weile, ehe sie sich wieder voneinander zu lösen vermochten. Plötzlich befreite Jo ihre Hand energisch aus dem warmen Käfig, in dem er diese noch immer eingeschlossen hielt. Sie streckte ihm ihre beiden Hände hin. »Jetzt sind sie alle beide warm«, sagte sie, »die und die andere.« Sie legte ihm ihre Hände nacheinander an die Stirn. »Bist du nun mit mir zufrieden? Bist du mit dir zufrieden?« Er sah nun nichts mehr als nur ihr Gesicht, das sie ihm darbot und das ihm in der herabsinkenden Dunkelheit seltsam hell entgegenleuchtete.
»Du hast hübsche Augen«, sagte er, »und eine gefährliche Art, sie zu gebrauchen.« »Gefährlich?« fragte Jo und lächelte undurchsichtig. »Ich schaue alle Leute so an, und noch niemand hat davon Schaden genommen«, und sehr leise, als er sie mißtrauisch musterte: »Außer dir.« Eine Weile saßen sie stumm nebeneinander und sahen den Dunstschwaden nach, die in der heranziehenden Kühle leicht und weiß über den Weiher dahintrieben. »Ja«, sagte er dann, »so wird es sein. Ich werde Schaden nehmen.« »Mir ist gut«, sagte Jo. »Mir ist viel zu gut. Ich sehe dich gern so an. Muß ich’s lassen?« Er dachte vieles zugleich. »Du könntest das?« Jo schwieg, und er sah, daß auch hinter ihrer Stirn etwas geschah. »Ja«, antwortete sie mit Festigkeit, so, als sei es ein Entschluß. Von jener Sekunde an hatte er gewußt, daß er diesem Mädchen verfallen war. Daß er von ihr nicht würde loskommen können. Nicht als derselbe, als der er ihr begegnet war. Die Wäsche klebte vor Nässe an seinem Leib und kühlte aus. Die Atmosphäre im Helm war dampfgesättigt. Zerstreut und lange betrachtete er den Orter. Nebenher vernahm er entferntes Knistern. Plötzlich prasselte es in der Nähe von allen Seiten zugleich. Er erstarrte. Die Reichweite der heranpreschenden Spiralen endete unterhalb seiner Stiefel, denn jene Gebilde brauchten dicht verflochtenes Milieu, um sich hindurchzubohren. Noch während er stillhielt, belebte sich der Raum unter ihm und füllte sich mit ruckendem Hasten, nervösem Hin und Her, Herauf und Hinab, und er sah wohl, wie die Bohrer mit Anlauf und vergeblichem Sprung darauf aus waren, die Grenze ihrer Aktionen nach oben zu verschieben, genau dorthin, wo er selbst seine unsichere Position innehatte. Mit einem Rest sachlichen Interesses registrierte er, daß diese gewundenen Drähte die einzigen Wesen dieser Welt waren, die, mit rätselhaftem Privileg ausgestattet, runde Formen entwickelt hatten. Unter ihnen gab es winzige, die er kaum ausmachen konnte, und derbere aller Größen. Ebendiesen sah er beklommen ent-
gegen, denn ihnen mochte es gelingen, sich bedenklich nahe an ihn heranzupirschen. Das Schaben und Knirschen verdichtete sich zu einem einzigen infernalischen Mahlen, und dann waren sie plötzlich da, diese tellergroßen Windungen! Von oben stießen sie auf ihn herab. Aber es geschah nichts, was seinen Schrecken gerechtfertigt hätte. Gut einen Meter von ihm entfernt stoppten die Gebilde, verklemmten ihren Leib im Geäst, zwischen dem sie herangejagt waren, und verharrten dort summend und wie in zitternder Erwartung. Nach einer Weile wagte er eine Finte. Er setzte einen Fuß vor, um einen Schritt auf sie zu vorzutäuschen. Sie zuckten um die gleiche Distanz zurück. Zunächst wußte er nicht, warum er von diesem Verhalten so beeindruckt war. Er schaute genau hin und konnte auch aus der Nähe nichts anderes entdecken, als daß die Wesen aussahen wie ins Lächerliche vergrößerte, aus einem Mechanismus entsprungene Bauteile, die auf irgendeine Weise zu diesem intensiven und absonderlichen Leben erweckt worden waren. Und doch bedurfte es keines Nachdenkens, um davon überzeugt zu sein, daß die Spiralen lebten, im Sinne des Begriffes Leben, wie er ihn momentan zu bestimmen vermochte. Letzten Endes verhielten sie sich so wie er selbst: Sie achteten auf Distanz zu ihrem Partner, von dem ihnen unbekannt war, was sie von ihm zu halten hatten. Er bewertete den Sachverhalt als Symptom von prinzipieller Bedeutung. Dann fiel ihm auch ein, warum. Es war nichts als ebendiese simple Gleichartigkeit des Verhaltens, des seinen und des der Spiralen. Hatte er all dies auf sich genommen, hatte er die irrsinnige Anzahl von Kilometern leeren Raumes zwischen seiner Heimat Erde und diesem Gestirn überwunden, um hier nichts anderes zu finden als Sprungfedern, die sich so betrugen wie er selbst oder wie ein Kaiman oder ein Wasserbüffel? Der Unterschied in der äußeren Gestalt dünkte ihn von geringer Wichtigkeit. Zögernd zunächst, dann aber beharrlich, als der Versuch soweit gut anschlug, setzte er seinen Weg fort, darauf bedacht, diesen aufgeregten Wesen nicht zu nahe zu treten.
Die Horde unter ihm und um ihn herum folgte allen seinen Bewegungen. Später beschleunigte er das Tempo. Dann brach ein Zacken unter einem seiner Stiefel. Das Bruchstück klirrte gläsern abwärts. Aus der Wunde sprang ein dünner Strahl dampfender Flüssigkeit. Schneller, als er schauen konnte, schoß ein Schwarm der Spiralen auf die Wunde zu und umschloß sie in gierig summendem Knäuel. Der Strahl versiegte. Letzte Tropfen fielen, rollten als zischende Kügelchen über heißes Geäst. Dorthin zuckten Massen von Spiralen, und dichte Haufen gewundenen Drahtes kennzeichneten jede Stelle, auf die eine Spur dieser Feuchtigkeit gespritzt war. Von seiner erhöhten Position aus sah er dem wilden Treiben zu. So ist das also, dachte er, und umriß damit die ernüchternde Einsicht: Was sich hier abspielte, war Kampf um Wasser oder was immer diese Flüssigkeit sein mochte. Auch diesem Leben steckte Feuchtigkeit die Grenze der Existenz ab. Alle Gier zielte darauf ab, jede winzige Spur kostbarer Feuchte zu bewahren. Nicht nur die Gier, korrigierte er sich, auch aller Aufwand der Evolution, ihre Produkte mit Fähigkeiten auszurüsten, daß sie diesen Trieb zu befriedigen vermochten. Das Ausmaß des Aufwandes spürte er jetzt am eigenen Leibe. Ließ sich denn diese rote, vitale Welt, die ihn hier eingefangen hatte, die sein Blut und seine Nerven erregte, die ihn ängstigte und erhob, ließ sich diese Welt darauf reduzieren, nur Mittel zu sein, um Wasser zu bewahren und zu gewinnen? Als er erkannte, zu welcher Art von Urteilen er vordringen würde, sprach er sich das Recht ab, sie zu fällen. Müde nahm er den Blick von den summenden Knäueln zurück. »Weiter!« befahl er sich und schwang seinen Körper über das Gestrüpp in Richtung seines Zieles. Was wollten die gewundenen Wesen von ihm selbst? Er wog ab, ob es Zufall sein mochte, daß sie kamen, als der Raum zwischen seinem Körper und der Kombination vor Schweiß troff. So oder so, es gab kaum Zweifel, daß er als Quelle von Wasser angesehen wurde. Im Hinblick auf Wasser war er für diese hier eine Art geschlossenes System. Ihr Spürsinn mußte ungewöhnlich sein, ungeheuerlich, bezogen auf menschliches Maß. Von diesem Punkt aus ließ sich vieles denken. Was verbarg sich unter den glatten Oberflächen dieser Wesen? Welcherart waren die Beziehungen zwischen den Eckigen, Brandfarbenen und den
Runden, Glänzenden, die sich fortbewegten? War es ein Gegeneinander, ein Miteinander…? Die Gedanken verschwammen. Die Muskeln vibrierten, sein Atem flog. Er lehnte sich an eine der starken aufstrebenden Säulen, streckte die Beine steif nach vorn, wo die Sohlen seiner Stiefel einen Halt fanden, der ihm zuverlässig schien. Die Arme durften abwärts hängen. Er mochte nur atmen und nichts weiter tun. Eine Minute nur. Das Konturengewirr zerlief, und die farbigen Flächen der Landschaft flossen ineinander. In seinen Ohren schwoll das Rauschen seines Blutes auf und ab wie der Schwall unablässig kommender und gehender Wellen einer fernen Brandung. Welche Unmengen Wassers! Was galt ein Tropfen? – In der Nacht vorher hatte es gestürmt. Lange vor dem Wecken klopfte ihn das Mädchen aus den Federn. Die aufgehende Sonne versöhnte ihn mit der erlittenen Unbill, vor allem aber Jos kindliches Begehren: Sie wünschte Kostbarkeiten zu besichtigen, die die stürmische Brandung über Nacht auf den Strand geschleudert hatte. Sie gingen mit der Sonne und gegen das Rauschen, und als sich das Meer endlich vor ihnen auftat, war es ungeheuer blau, und das Weiß der brechenden Wogen blendete. Jo blieb stehen, schaute auf das Meer, und dann sah er zwei Sekunden lang, wie blau auch die Iris ihrer Augen sein konnte und wie winzig die schwarze Pupille mittendrin. Hierauf schlenkerte Jo schwungvoll die Sandalen von den Füßen und rannte über den Sand den Wellen entgegen. Aber dann stand sie plötzlich da, wie in den Boden gerammt. Schon während er ihr nachlief, sah er die verendeten Quallen, dort, wo die äußersten feinen Linien im Sand markierten, wie weit die Zungen der nächtlichen Wogen ins Land geleckt hatten. Die Sonne tat ihr Werk, sog Wasser aus den tausend gläsernen Leibern und schmolz sie zu trüben, eklen Haufen zusammen. Jo beugte sich nieder. Eine der Quallen warf sie ins Wasser zurück. Sie schaute den endlosen, schrecklich beladenen Saum des Strandes entlang, wandte sich ab und ging. Als er sie wiederfand, lag sie bäuchlings im Sand, die Ellbogen im Geriesel vergraben und in der Beuge eines Armes ihr schwarzer Schopf. Lange saß er bei ihr, ohne daß sie
sich regte. Er liebte Jo sehr. Wie sehr liebte er sie um ihrer Niederlage willen gegen die Brutalität der Natur. – Der Orter begann zu flimmern. Später erlosch er vollends. Die Batteriekontrolle signalisierte Betriebsbereitschaft. Diagnose: Mangelhafter Empfang wegen Streuung des Leitstrahls an den Fazetten dieser vertrackten Gewächse. Er recherchierte. Erster Fehler: Neugier. Er hatte dem Dispatcher verschwiegen, daß seine Route in einen der rötlichen Gürtel führte, die frühzeitig auf den fotogrammetrischen Karten gesehen worden waren. Der Dispatcher konnte davon nichts wissen. Aber er selbst hatte es gewußt, und nun erfuhr er mehr über ihre handgreifliche Realität, als ihm lieb war. Zweiter Fehler: liederliches Denken, gefolgt von Fehlbilanz über Ziel und Aufwand. Dies waren vorerst seine und nur seine Gedanken. Aber genau hierin sah er alle Möglichkeiten zu einem Punkt gebündelt, den dritten Fehler zu begehen, und diesmal würde hernach mit Nachdenken nichts mehr auszurichten sein: Hier war die letzte und äußerste Position, von der aus er umkehren müßte. Aber hinter der Umkehr, hinter dem Auftrag, der dann nicht erfüllt werden würde, stand der Zwang zu bitterer Ehrlichkeit. Noch hatte er die Wahl. Er focht mit seinem Gewissen und mit einem Satz, der in ihm brannte. Nein. Es war nicht ihre letzte Begegnung gewesen. Inmitten eines Wustes von Papieren, deren Kopf schon mit dem Signum HERMES gekennzeichnet war, schnarrte der Summer des Telefons. Er drückte die Verbindung. Jos Gesicht auf dem Schirmchen, Spuren des Widerscheins seines Bildes, das sie nun sah. »Ich möchte dir sagen… Ich möchte mich… Ich hätte es nicht gekonnt, diesen Strich zu ziehen. Es war gut und wichtig, daß du… Ich wußte nie, ob du mich verstanden hast. Man kann nicht alles haben. Nein. Du sollst mich nicht so ansehen. Ich…« Jo verstummte. Plötzlich glänzten Schweißtröpfchen auf ihrem Nasenrücken. Er würgte an einer Antwort. Dann las er von ihren Lippen: »Ich wollte dich doch nur noch mal sehen. Noch einmal.« Sie trennte die Verbindung.
Sein Hirn war leer gewesen. Dann glomm dieser Satz auf: Man kann nicht alles haben. – Glaubte sie denn, dies sei der Grund, warum sein Name in der Mannschaftsliste stand? Ehrlichkeit? Wieder besiegte ihn Trotz. Grimmig entschloß er sich, dafür zu sorgen, daß seine Gedanken seine Gedanken blieben, und nur seine! Der Preis: ein erfolgreich plazierter Sender und alle Konsequenzen, die damit verbunden waren, diesen einen Quadratzentimeter zu finden, auf dem der Sender niedergelegt werden konnte. Er war bereit, ihn zu zahlen. Aber der Fortgang der Dinge entwickelte sich katastrophal: Er kletterte hoch hinauf ins lockere Gestänge, und die Hoffnung, der Orter werde dort ansprechen, erfüllte sich. Sein Gefühl für die Zeit erlosch. Er vergaß, auf das Chronometer zu sehen, und wußte nicht, zum wievielten Male er sich bis dicht unter das Niveau der leuchtenden Segel hinaufquälte. Der Blick hing an Tritten für seine Füße, an Griffen für die Hände und am Indikator des Orters. Stumpf nahm er das rasselnde Gewimmel seiner Begleiter hin, und seine Muskeln spannten und lösten sich schmerzhaft und mechanisch. Aber einmal nahmen seine vom Schweiß verätzten Augen wahr, daß der Orter doch endlich die Position Null anzeigte. Ohne Genugtuung über den Sieg legte er dort den Sender nieder, hoch oben, auf den Zentimeter genau, wie es gefordert war, und es gelang ihm, das kleine Ding an seinem Ort irgendwie zu fixieren. Ein letztes Mal glitt er abwärts auf eine Ebene, auf der er mit weniger Qual voranzukommen hoffte. Ohne Rast strebte er geradeaus heimwärts und gab sich keine Rechenschaft, was denn geradeaus jetzt bedeute. Unfähig zur Rücksicht auf sich und das fremde Leben brach er verbissen durch das Gestrüpp, verschloß seine Sinne vor klirrendem Splittern unter seinen Sohlen und Händen und erstickte alle Gefühle für den Schwarm der Spiralen, der ihm folgte und sich wie irrsinnig gebärdete, denn der Weg, den er hinter sich brachte, war gezeichnet. »Geh weg!« schrie er boshaft und voller Haß, ein Bündel kopflosen Willens und der Verlassenheit. »Geh!« schrie er immer wieder, wenn der zuckende Leib einige Meter Weges überwunden hatte, und er beschwor das Bild des Mädchens fort und fort in eine verschwimmende Gegenwart. Das Feuer der Farben um ihn verblich, taumelnd prallte er gegen eine Säule. Er umschlang sie mit seinen
Armen, langsam sackte er zusammen. »Geh«, bat er flüsternd. Seine Füße verloren ihren unsicheren Halt. Schwer sank der Körper zwischen knirschendes Gestänge und blieb schief darin hängen. Die Wunden der Gewächse gaben bald keine Feuchte mehr her, die Quellen versiegten und mit ihnen alle lebendig rasselnde Bewegung. Leise tönte von oben das Orgeln des Windes. Später fanden ihn die Gefährten. »Sieh hin! Auf den Zentimeter genau…«, hörten sie ihn murmeln, noch ehe es ihnen gelungen war, ihn halbwegs wieder ins Leben zu holen, und sie nahmen mit Schaudern wahr, wie dieses zerstörte Gesicht lächelte. Endlich vermochte er sie zu fragen, wie sie ihn denn gefunden hätten. Sie deuteten in irgendeine Richtung hin. Da sah er die Schneise, in der das gelbrote Leuchten der Gewächse erloschen war. Schwärzlich stachen getötete Stämme aus Nestern braunschwarzen Dickichts, und in die Bleche oben fraßen sich fleckig versengte Zonen. »Es war nicht schwierig, deinem Weg zu folgen«, sagten sie ohne Vorwurf. Dann mahnten sie behutsam zum Aufbruch. Man brauche dort jeden Mann. Unter dem grauen Zement hätten sich Unmengen rasender Sprungfedern herangewühlt. Die Station sei von unübersehbaren, wimmelnden Haufen rotierenden Drahtes umlagert, ohne daß jemand noch wisse, was es damit auf sich habe. Wirklich, man brauche jeden Mann dort, und er fehle ihnen sehr.
Es sind die letzten
»Noch niemals hat sie ein Weißer gesehen, jemand aus dem Norden oder Leute wie du.« »Wen?« Ignatio Perez hielt eine Antwort für überflüssig. »Du meinst…? – Doch!« sagte Oppenkamp. »Gesehen?« Die Paddel blieben eine Sekunde länger über dem Wasser in der Schwebe. »Ja. Nycman hat sie gesehen. Der hat sie ganz gewiß gesehen«, sagte Oppenkamp bestimmt. Er war keineswegs überzeugt davon, daß diese Behauptung ohne jeden Zweifel richtig sei, nur dies eine schien ihm sicher: Die nun schon zwei Wochen lastende Monotonie ihrer Dialoge bedurfte der Auflockerung. Aber dann stachen die Paddel doch nur wieder zu beiden Seiten des Bootes ein. Wirbel gurgelten vor den Blättern, rissen trübgrünen Mulm, der auf dem warmen, schwärzlichen Wasser schwamm, für Augenblicke aus schlaffer Reglosigkeit. Schwaden lebender Pflanzen lösten sich vom Rande der Treibinseln ab. Wenn die Paddelblätter in der Luft bugwärts glitten, floß plätschernd Wasser ab; ehe sie wieder eintauchten, ächzte eine verborgene Stelle im Boot. Gurgeln, Plätschern, Quietschen – stereotyp, aufreizend, einschläfernd. Modriger Dunst, Mücken. Hinter dem Boot die Spur der Blasen, dauerhafter, stehender, weißgerandeter Blasen, die immer noch nicht platzten, wenn die nächste Biegung des Flusses sie dem Blick entzog. Das Wasser des Rio Jiparana stand. Jedenfalls hundert Kilometer nordnordwest, lange, ehe sich der Fluß mit dem Rio Madeira vereinigte, hatte er noch Jiparana geheißen. Noch weiter im Norden, mehr als tausend Kilometer nordnordost, mischte sich das Wasser des Rio Madeira mit dem Amazonas. Breit und träge lag dort die Wasserfläche, daß der von grüner Enge behinderte Blick ungläubig durch Meilen sonnengesättigter Feuchte hindurch vorwärts in die Weite schoß oder nach oben in weißblauen Himmel, der sich endlich großzügig wölbte, und auf die
horizontale, flimmernd zartblaue Linie dazwischen, zu der die Ferne das Ungeheuer Selva dezimierte. Dort berührte die Bautrasse der großen Nord-Süd-Transbrasilia-Magistrale den Strom. Von dorther waren die beiden Männer gekommen, den Rio Madeira, den Jiparana dann mit dem Motorboot aufwärts, Presidente Hermes passierend, an unzähligen Gabelungen des Gewässers vorüber, bis das blauseidene Gewölbe über ihnen wieder zum schütteren Band zusammenschrumpfte, weiter mit Aluminiumboot und Paddel ins Gewirr der Wasseradern, die sich teilten, wieder zusammenflossen, sich unversehens zu idyllischen Weihern öffneten oder auch in Sumpflöchern enden mochten. Die Karte hatte längst ihren Sinn verloren. Perez entschied die Richtung mit einer Handbewegung oder mit seinem Paddel, als ob er den Weg wisse. Die Kronen der Uferbäume schlossen sich über ihren Köpfen, nur hier und da stach ein Sonnenstrahl in den Dämmer unter dem Blättermeer, der Mückenschwarm um das Boot erglänzte, und die Blasen hinter dem Heck warfen spitze Lichter. »Aha, Nycman«, sagte Perez nach einer Ewigkeit. »Er hätte also die blauen Hütten gesehen?« Zwischen Strähnen widerspenstigen schwarzen Haars hindurch blitzte das Weiße seiner Augen auf. »Du denkst dir was dabei?« »Nur, was sich jeder denken kann«, sagte Oppenkamp und verbarg seine Befriedigung, daß der maulfaule Indio anbiß. Aber Perez hatte die Absicht schon durchschaut. »Jeder?« Der Funke in seinem Blick erlosch, über das bronzene Gesicht senkte sich Ausdruckslosigkeit. »Woher weiß man, daß sie blau sind?« fragte Oppenkamp mit der Hartnäckigkeit des Niederländers. »Das weiß jemand?« »Du nanntest sie selber so.« »Aber nicht, weil es Nycman gesagt hat.« »Nycman nicht«, gab Oppenkamp zu, »aber als Nycman tot war, gefiel es plötzlich all diesen Schreiberlingen, sie die blauen Wunder zu nennen.« »Eine Redensart. Einer schrieb sie vom anderen ab.«
Perez schien mit nichts als mit Paddeln beschäftigt. Seine breitflächigen Züge strahlten Gleichmut aus. Nur die beiden Furchen auf der niedrigen Stirn wurden jetzt von neuen Linien über der Nasenwurzel gekreuzt, und der Schweiß rann ihm wie Tränen zu den Nasenflügeln hinab. »Nycman war erst zweiundvierzig, als er starb«, sagte er schließlich. Der Holländer schwieg eine Weile. Er hielt die Lippen ein wenig geöffnet, eine Menge Gold erglänzte zwischen unregelmäßigen Zähnen. Sein Gesicht sah noch bleicher aus als sonst. Mit der Rechten rieb er den blonden, vierzehntägigen Bart. Er bedachte die Unfehlbarkeit, mit der Perez Spuren erkannte. »Nycmans Tod und gleich darauf das Auftauchen dieser Vokabel ›blau‹ in den Gerüchten von den Hütten im Dschungel, beides geschah ein wenig plötzlich, ein wenig zu plötzlich«, sagte er dann. »Daß er starb, hat mit der Sache nichts zu tun.« »So?« fragte Oppenkamp. Er spann seine Zweifel nicht weiter. »Es geht viel mehr um die paar Tage vor seinem Tod.« »Um drei Tage.« Oppenkamp straffte sich. Immer wieder und unversehens wußte dieser Indianer um Dinge und Umstände, von denen man annehmen mußte, daß unmöglich jemand um sie wissen konnte. »Das paßt ganz gut«, sagte er lebhaft. »Nycman war mit Barris unterwegs. Hier in dieser Gegend, wie ich hoffe…« »Weiter südlich. In den Bergen«, unterbrach Perez, ohne im Paddeln innezuhalten. »Barris hatte Fieber. Es warf ihn um. Nycman ging allein los. Nach drei Tagen also kehrte er zurück. Irgendwann während dieser drei Tage hat er sie gesehen. Eine Woche später trafen die beiden wieder in Aripuana ein. Dort starb Nycman, ohne Barris über seine Erlebnisse informiert zu haben. Er schwieg diese drei Tage einfach tot. Und nicht etwa, weil er zu reden außerstande war. Warum, bleibt ein Rätsel. Barris setzte daraufhin alle Hebel in Bewegung. Damals startete er diese Hubschrauberaktion. Falschfarbenaufnahmen von einem Riesenareal…« »Schon gut. Es kam nichts dabei heraus.«
»Mit Falschfarben sieht man, ob die Bäume hier ein paar Kupferionen zuviel oder zuwenig zu futtern bekommen oder Mangan oder sonst irgendeine Belanglosigkeit«, sagte Oppenkamp, »und dann sollte außerirdisches Leben keine Spur auf den Filmen hinterlassen? Ausgeschlossen! Lebendige Substanz, die weiß Gott, woher, hier angeflogen ist? Selbst wenn sie von unseren nächsten Nachbarn stammt. Die Entwicklung lief seit Milliarden Jahren getrennte Wege! Das ist ganz ausgeschlossen. – Der Rest war eine Flut von Hohn, die sich über Barris ergoß. Nicht nur Hohn. Der Aufwand war enorm.« »Er hat den Mund zu voll genommen.« »Möglich«, sagte Oppenkamp. »Ohne Reklame setzt man nichts durch in diesem Land. Jedenfalls ist Barris seither verbittert und läßt keine Silbe mehr zwischen den Lippen hinaus. Das einzige, was blieb, war dieses ›Morphoblau‹, das anscheinend in jenen Tagen seinen Ursprung hat. Es kann nur auf Barris zurückgehen und letzten Endes auf Nycman.« Perez antwortete nicht. Eine rotgoldene Wolke schwebte wie ein Fleck Sonnenlicht über dem Wasser. Hunderte von Faltern wirbelten durch die Schneise, die der Fluß in den Dschungel schnitt. Die Wolke senkte sich auf den Kahn, und bald waren auch die Männer von den Tieren besetzt. Mit geschmeidigen Bewegungen fischte Perez nach seiner Brille und bugsierte einen Falter auf seinen Finger, um ihn zu betrachten. Die Beine des Schmetterlings tasteten auf dem glatten Nagel und fanden keinen Halt. Er flatterte auf und mit ihm der gesamte Schwarm. Der goldene Spuk verlor sich in den Kronen der Bäume. »Trotzdem sind es Bläulinge«, sagte der Indio, hielt die Augen noch immer auf den Finger gerichtet, und sein brauner Blick hinter dem Glas verschleierte sich. »Nycman war hinter den Papilioniden her. Sie sind schön. Den Mann hätte ich gern gekannt.« Die Worte versickerten im gleichmäßigen Takt der Paddel. Der Holländer neigte den Rücken, als beuge er sich unter der Last der Schwüle. Er stach das Paddel ein, wieder und wieder wie all die Tage zuvor, sein Blick bohrte sich in das Ufergrün. Plötzlich rückten die Dinge von ihm ab, sie entzogen sich seinen Sinnen wie Schemen hinter einer Glaswand und gewannen dort ein seltsam
eigenwilliges Leben. Die Wellen des Flusses verloren sich an einem ungewissen Horizont. Die grüne Wand der Selva schien durch dieses endlose Wasser zu glimmen, die Ränder der Dinge begannen zu fließen, was er sah, wurde durchsichtig und schütter. Das Laubwerk entblößte Stämme wie ein Skelett. Der Wald schrie auf. Scharfe Stakkati gezündeter Dynamitpatronen zerrissen Kompressorengeheul, erstickten den Hall von Hammerschlägen auf unsichtbare Bleche und den Lärm von Bulldozern, Planierraupen und Motorsägen. Hoch oben erzitterte feines Maßwerk aus Zweigen und Blättern. Stämme neigten sich, rissen Löcher, durch die blasser Himmel fiel. Die grünen Riesen stürzten, ihre Kronen brüllten, wenn sie zu Boden niedergingen. Dann lagen sie da, auf anderen, schon ausgeweideten Baumleichen, die vor ihnen gefallen waren. Geschändete Erde dort, mißfarbene Weiher von Schlamm. Unrat, den die Zivilisation umherspie. Und wenn der Moloch den Atem anhielt, flatterte dünnes Geschrei der Indianer auf. – Das war der Kopf der Trasse; das schlingende Maul der großen Nord-Süd-Transbrasilia-Magistrale, das seit sechs Jahren eine Schneise in den Wald fraß, fast dreihundert Meter breit. – Ein Mann hockte dort in der Leere, fast nackt, muskulös, dunkelhäutig. An den filzigen Haaren war noch die Bororo-Tracht zu erkennen. Der Mann kratzte mit den Nägeln Reste aus einer Büchse. Sein Oberkörper pendelte in stupidem Rhythmus hin und her. Oppenkamp wußte um die seltsamen Formen des Stolzes der Bororo-Männer. Dieser mochte betrunken sein, leere Flaschen lagen genug umher. Der Holländer stemmte seinen Willen gegen die Vision. Er gedachte der Stapel präzise gezeichneter Pläne, mit denen er täglich umging und auf denen das Projekt schon fertig und glänzend vorweggenommen war. Er wußte von umfassenden Überlegungen und wohlbilanzierten Entwürfen, die diesem Chaos vorausgingen. Er war es, der den Wirrwarr durchschaute oder doch zu durchschauen verpflichtet war. Es gab Symbole der Ordnung genug, jene Reihen weißroter Meßlatten, zu konzentrierter Prüfung zusammengekniffene Augen in ernsthaften Gesichtern hinter den Okularen der Vermessungsgeräte. Aber er wußte auch, daß die Vision nicht nur ein Trugbild war. Die Bilanzen schienen ihm zu glatt, zu zwanghaft und verdächtig, die Meßlatten waren brüchig.
Der Holländer raffte sich auf, sah zu Perez hin, sein Blick traf mitten in wachsame Augen. »Meine Väter lebten lange in diesem Wald«, sagte Perez nach vielen Paddelschlägen, »einige hundert Meilen ostwärts, aber es ist derselbe Wald. Es war ein gutes Leben, bis man den Stamm entdeckte. Mutter weiß viele Geschichten vom Bau der Ost-West-Transamazonica und der Perimentral Norte, die sie erlebte, als sie ein junges Mädchen war. Nur wenige der Geschichten sind gut. Und ich weiß, was geschah, als ihre Familie den Werbungen der INCRA erlag. Es sind nicht mehr viele Sippen da, auf die die INCRA lauern kann.« Perez’ Worte klangen gleichmütig und kühl, die Stimme ließ kein Gefühl erkennen, und sie waren so gesetzt, als hätte der Mann mit angesehen, was Oppenkamp in dieser Minute sah und bedachte. Er nahm sein Paddel herein, legte es über die Bank. Er hockte sich neben das Paddel hin, aß einige Aguacatefrüchte mit ein wenig Salz und viel Pfeffer, trank aus seiner Kalebasse, von der er sich nie trennte, der Teufel mochte wissen, warum. Dann brütete er vor sich hin. Auch der Wald schwieg. Oppenkamp bugsierte das Boot allein weiter, schlecht und recht, und er erinnerte sich des Tages, an dem er mit dem Indio zusammengetroffen war. Ein Schwall Lärm stob von draußen in den düsteren Raum, als man den Indianer oben an der Trasse in seinen Verschlag geschoben hatte. »Señor Perez möchte Sie sprechen. Er ist Pumpmeister bei der Ufertruppe.« Zuerst hatte der Holländer die nicht mehr jungen, sensiblen Hände des Mannes gesehen, die aus weiß verwaschenen Drillichärmeln ragten und einen Plastehelm hielten. Dann war da diese helle, spröde Stimme: »Ich bin Ignatio Perez. Sie sind Señor Oppenkamp?« Perez dann auf einem Stapel Theodolitenkästen sitzend und schweigend. Der Streifen von schmutzigen Fensterscheiben gebrochener Helligkeit. Das Licht auf dem breiten Gesicht des gut Fünfzigjährigen, die braunen, melancholischen Indianeraugen. Oppenkamp erinnerte sich nicht des Vorwandes, unter dem der Indio zu ihm vorgedrungen war.
Am nächsten Abend kam Perez wieder und an vielen Abenden darauf. Er brachte topographische Karten mit von einem Gebiet südwestwärts und eine nickelgerandete Brille mit ovalen Gläsern. Auf den Karten war mit laienhaften, aber sauberen Linien der zukünftige Verlauf der Trasse markiert, wie ihn ein kluger Kopf mutmaßen konnte. Oppenkamp bedachte nur flüchtig, wie genau Perez die tatsächlichen Pläne erraten hatte; andere Markierungen im Einzugsgebiet des Jiparana unweit der Trasse erregten ihn weit mehr. Betroffen starrte er auf die umrissenen Flächen. Zu lange schon und zu ausgiebig hatte er sich mit den rätselhaften Dingen beschäftigt, die er augenblicklich als Sinn dieser Zeichen erkannte, und mit ihrem Widerhall in der Welt. – Da war die indianische Legende von einem Dorf fremden Lebens inmitten der Wälder und des Wassers, überaus fremdartigen Lebens, abgesondert durch ein schwarzes Nichts vom grünen Dschungel, der dieses Leben ummauert. Der bilderreiche Singsang sprach von gewölbten Hütten, von Erhabenen, die darin wohnten, die herabgesunken seien aus dem Raum zwischen den Sternen. Er sprach auch vom Wasser des Jiparana, wo es noch sprühend jung und verborgen war, er wußte, daß das fremde Leben dort tönte und sang. Aber er berichtete nicht, wann es zu keimen begonnen hat. »Sie kennen diese Geschichten«, sagte Perez plötzlich mit sonderbarer, feststellender Bestimmtheit und ohne daß eine Frage oder eine Verständigung über den Gegenstand vorausgegangen wäre. Und dann schürte er das Feuer dieses Traumes, den das Land um den Rio Madeira seit Wochen in Oppenkamp mit quälender Aufdringlichkeit geweckt hatte. Oft saßen die Männer beisammen, sprachen oder schwiegen über diesen Traum. Die indianischen Erzählungen verschlangen sich in hundert Arabesken, durch die Furcht, Anbetungsbereitschaft, Sinn für spitzfindig sinnierenden Kult mit Geheimnisvollem und all die vielen Emotionen derer schimmerten, die sie weitergaben. Jedes Wort entglitt wägendem Verstand, so, wie auch die zahllosen nüchternen Wörter der Nachrichten, Berichte oder Protokolle in wissenschaftlichen und populären Schriften über mehr als zehn Jahre hinweg letztlich hohl klangen, sofern sie die Existenz der Fremden nicht energisch verneinten. Aber da waren auch die Bilder und Reportagen von den riesigen Augen und Ohren, mit denen die Menschen in Selentschukskaja und Puerto Rico, Pasadena, in Green Bank und Charkow
seit einem halben Jahrhundert gigantische Räume des Himmels nach Zeichen fremden Lebens durchforschten, und das Wissen um das abweisende Schweigen des Kosmos. Damals schon sah der Holländer die gekreuzten Furchen über der Nasenwurzel des Indianers. Hinter den Buckeln seiner Stirn mochte Perez den Traum von jener alten Insel außerirdischen Lebens in diesem, in seinem Wald verteidigen. Er mochte sich vor ihn stellen gegen die Wucht der Beweise. Oppenkamp wußte nicht, aus welchen verborgenen Quellen der Indio die Kraft zum Widerstand gegen die Tatsachen sog. Ihm waren sie wohl ergiebiger als das einzige dünne und dennoch so quälende Argument der Vernunft, das Perez gelassen formulierte: »Es ist nicht unmöglich.« Aber das war nicht alles. Oppenkamp hatte das Gefühl, Perez trage ein Geheimnis in sich, habe irgendeine Absicht, und mit vorsichtigen Worten, mit Schweigen oder versteckten Provokationen trachtete er danach, hinter dieses Geheimnis zu kommen. Er wußte, daß manche dieser Männer tiefer dachten und über weiterreichendes Wissen verfügten, als man gemeinhin erwartete oder aus den Umständen ihres Lebens erklären konnte. Aber er wußte auch um ihre Verschlossenheit, wenn es um ihre Sippen ging, um ihre Geschichten, in denen oft ein sakraler Sinn verborgen war. Perez hatte ihn, Oppenkamp, aufgesucht. Perez warb um ihn. Warum? Warum gerade um ihn, einen Weißen? Der Mann blieb undurchschaubar. Von seiner hellen, brüchigen, gleichmütigen Stimme, seinem lächelnden Schweigen, mit dem er der blumigweitschweifigen Beredsamkeit der Legende nachsah, wenn sie das Unbeschreibliche beschrieb, von den Fingern, die schmalgliedrig auf den Linien der Karte entlangfuhren, und den ruhigen Augen hinter den Gläsern strömte endlich Vertrauen zu diesem Indio auf Oppenkamp über. Und so reifte langsam dieser Entschluß heran, von dem Oppenkamp glaubte, daß er Perez’ Ziel gewesen sei von Anfang an, der Entschluß, zusammen Urlaub zu nehmen, wenn der Regen vorüber war, um nach den blauen Hütten zu suchen. Die Tage und Nächte gingen dahin. Sie bestanden aus Mücken, dem Gurgeln des Wassers vor den Blättern der Paddel, aus dumpfigem
Dunst, kurzen, heftigen Güssen warmen Regens, aus nächtlichen Schreien hinter den schwarzen Wänden, die zu beiden Seiten des Wassers aufragten, oder freundlicher klingendem Gezwitscher der Horden von Löwenäffchen und Tamarinen, der Schnurrvögel und Sittiche hoch oben über dem Boot in den grün durchsonnten Kronen, das kein Mensch auseinanderhalten konnte. Vor allem aber aus Mücken. Einmal hielt der Indianer im Paddeln inne. Ein schwimmender Baumstamm war mit den Ästen am Ufer verkeilt und ragte ins Wasser vor. Perez klemmte sein Paddel zwischen das schlickverhangene Wurzelwerk, um das Boot ruhig zu halten. Hornfrösche platschten ins Wasser. Systeme von Ringen breiteten sich über die Wasserfläche aus und kreuzten die Wellenfront, die vom Bug des Bootes davonzog. Der Raum zwischen den Ufern war eng geworden. Wortlos wies der Indio mit dem Paddel auf schaukelndes Schwimmgut hin, und es erwies sich, daß es kräftig auf den Kahn zutrieb. »Die Berge?« fragte Oppenkamp. »Es gibt hier Fische«, antwortete der Indianer und tarnte seine Erregung über die Nähe des Ziels, »wir hängen Haken aus.« Oppenkamp kümmerte sich um die Bratutensilien, die in einem Winkel unter dem Verdeck lagen. Perez hantierte mit den Angelschnüren, als der Holländer wieder auftauchte. »Du weißt, daß sich Nycman übergab, daß er sich förmlich die Seele auskotzte, als er von seinem Alleingang zurück und wieder bei Barris war?« fragte Oppenkamp. »Deine Gedanken laufen verworrene Wege, und sie zeugen von wenig Vertrauen«, antwortete Perez, den Blick auf die Pfanne geheftet. »Ich kenne die Fische gut genug«, fuhr er fort, und als er seinen Gefährten abwinken sah, »du meinst, der Magen kehrte sich ihm um aus Ekel, weil er etwas zu genau sah und zu sehr aus der Nähe. Ekel vor den Blauen. Das paßt nicht gut. Eine schwache Spur.« »Eine Spur.« Perez schwieg zustimmend. Ein paar Tage darauf fragte Oppenkamp, ob es nicht von Nutzen sei, dann und wann innezuhalten, um zu lauschen.
»Weil sie sprechen?« Der Indianer sah seinen weißen Gefährten sonderbar dringlich an, lachte sein seltenes, in sich gekehrtes Lachen, das so fern allen Ausdrucks von Fröhlichkeit war, und hielt allzu bereit sein Paddel still. Hoch oben scholl perlendes Zwitschern, in das sich heisere Schreie mischten, die staffettengleich in viele Richtungen davongetragen wurden. »Verdammte Papageien!« Perez lachte verhalten. »Laubfrösche und Pinseläffchen.« Langsam spannten sich seine Züge. »Die Stromschnellen sind nahe.« Dann liefen ihnen die Ereignisse fast davon. Das Gewässer verdichtete sich zu einer flink dahinfließenden Ader, und die Männer hatten bald Mühe, gegen die Strömung anzukommen. Sperrige Klippen kündigten die Fälle an. Über dem Schwatzen des Wassers waren sie dennoch erst auszumachen, als die Kaskaden nach einer Biegung dem Boot jählings entgegenstürzten. Für das Boot war die Reise zu Ende. Sie sicherten den Kahn. Perez stimmte für eine Erkundung vom Morgen bis zum Abend des kommenden Tages. »Gummistiefel, Proviant für achtundvierzig Stunden. Was du mitnimmst, mußt du tragen.« Die Richtung deutete er ohne nachzudenken mit den Augen an. Vor Tag durchstießen sie die Mauer der Ufervegetation und tauchten in die schwarzgrüne Finsternis. Der Marsch brachte die übliche Quälerei. Selbst als das Blätterdach in der Höhe schon durchsonnt sein mußte, wateten sie im Zwielicht durch den schweigenden Sumpf. Vergeiltes Geschlinge wurzelte in sterbenden Pflanzen und starb selbst dahin. Einziger Ausdruck kräftigen Lebens in diesem untersten Labyrinth des Waldes waren Myriaden fliegender, springender, beißender und blutsaugender Bestien, die jeder ihrer Schritte aus fauligen Schlupflöchern scheuchte. Die Stunden flossen zähe, doch gewannen die Männer an Höhe und Licht, an zuverlässigem Grund unter den Füßen, und sie bezahlten mit Umwegen um unzugängliche Felsen. Der Blick, müde des unablässigen Stromes von Grün, fiel auch hier auf ein Mosaik blasser oder brennendgrüner, nässetriefender Moose und Farne, die das Gestein überzogen.
Der Fuß einer Klippe zwang sie in östliche Richtung. Geradeaus leuchtete endlich ein Fetzen Himmel durch das Netzwerk der Blätter. Perez kniete nieder und musterte einen Fleck auf dem Boden, eine Spanne im Durchmesser, frei von Vegetation, schwärzlich und glänzend wie vergossenes Öl. Er strich mit den Fingern darüberhin und löste vom Rande her ein Häutchen, das den Fleck durchsichtig überzog. An der Unterseite klebte toter Mulm. Oppenkamp lehnte an der Felswand und vermochte nur, das wilde Pochen seines Blutes zu verwünschen. Der Indio verstaute die Folie in seiner Packtasche, sah den Holländer an und hob die Schultern, aber Oppenkamp hatte die Manipulationen nur wie eine Kamera registriert. Sie klommen höher hinauf ins unbegangene Ungewisse. Noch einigemal stocherte der Indianer an solchen Kahlstellen herum, die ein wenig größer oder kleiner sein mochten. Dann blieb er stehen. »Mann!« rief er seinem Gefährten zu. »Hörst du denn nichts?« Nein. Oppenkamp hörte nichts. Seine Lungen gierten nach Luft, und je mehr er die Sinne anstrengte, um so unentwirrbarer schmolz ein Rauschen vagen Ursprungs mit dem Hämmern seines eigenen Blutes zusammen. Der Indianer widmete ihm nur einen forschenden Blick. Dann eilte er weiter, kurzbeinig und voll Kraft. Die Felswand zu ihrer Rechten brach ab, und da schwang endlich auch für Oppenkamps Ohren jenes Geräusch im Raum. Er fand es nicht eben überwältigend, ein geschwätziges Kontinuum, dem die Zischlaute fehlten. Aber soviel wußte er sofort: Es stammte nicht aus tierischen Kehlen. Es gehörte nicht in diesen Wald. In seinem Hirn schwoll eine Luftblase an und in der Brust die Empfindung, als preßten sich Finger einer fremden Hand um das Herz. Und dann wußte er, daß sie das Unerhörte hörten, daß sie gefunden hatten und sehen würden. O ja, sie sahen! Es kostete noch Stunden harten Kletterns, mit unvermutet leichten Gliedern plötzlich. Dann standen sie auf einer Felsnase. Dampfende, schwindelnd offene Weite umspülte ihre zögernden Füße, und dort, gegenüber, schmiegte sich Kuppel an Kuppel in die Senken zwischen grünen Wogen. Das blaue Wunder. Kein anderer Name mochte die Anmut dieser Stätte besser treffen. Schwebendes,
flimmerndes Blau, schön wie die Flügel des Falters Morpho didius. Was sie erblickten, schnürte ihnen die Kehle zu. Der Fels fiel nach Westen steil in die Waldschlucht ab, an deren Grund eine der Adern des Jiparana zu vermuten war. Gegenüber stieg die grüne Mauer täuschend nahe wieder an. Wasser hatte sie zu einer Anzahl Tobel zerschnitten, in ihnen stürzten die Bäche stäubend zu Tal. Eine absonderliche Thermik trieb die Nebel in den Rinnen immer wieder aufwärts, so daß die Luft mit wallenden, frisch betauten Schleiern aus schwerelosen Geweben erfüllt schien. Die Dünste verschmolzen mit den Wogen des Blättermeeres zu einem schwierig unterscheidbaren Ineinander, aber unter den Schleiern flammte das Blau der Kuppeln. Wie Konsolen waren sie in die Felsrinne eingewachsen oder ausgespannt von Hang zu Hang. Die größten maßen wohl an zehn Meter im Radius, aber auch kleinere, viel kleinere gab es zum Rand der Siedlung hin. Es mochten Hunderte sein. Dicht zueinander gedrängt, türmten sie sich wie Treppenstufen übereinander, sie klommen, zu Ketten aufgereiht, den Lauf der Rinnen empor, viele durchwuchsen einander, als sei der Raum zu eng oder nur wie im Spiel harmonischer Varianten. Mit rundem Umriß ragten die Dächer vom Felsen ab weit in die freie Luft, als wollten sie dem Licht, dem Wasser und der Wärme die größte Fläche darbieten. Sanft hoben sie sich dem Himmel entgegen, auf das betörend zarte Spiel der Töne von Blau streute die Sonne sprühende Reflexe, und die Wölbungen glänzten gläsern. Im Tal erscholl sonderbares Geschnatter wie aus hundert verstimmten Saxophonen – perfider Kontrast zu dem bestrickenden optischen Bild. Lange standen sie dort und schauten. Plötzlich schrie der Indio mit seiner spröden Stimme in den Raum hinaus, Laute einer Sprache, die Oppenkamp nicht verstand. Dennoch glaubte er, Perez zu begreifen: Er war ein Indianer, Tropfen im Fluß der Generationen, die die Legende weitergetragen hatten. Dieser eine Augenblick schenkte ihm Ausdruck für Aufruhr, Ergriffenheit und Freude, für die Lust des Entdekkens: Der Traum ist wahr!
Der Schrei tönte von drüben zurück, klang im Echo nach, aber mit dem Ersterben des letzten Widerhalls brach Stille über die Männer herein. Schmetternde Stille, betäubend wie ein Alarmruf. Oppenkamp spürte Schmerz. Der Indianer umklammerte ihm das Handgelenk wie ein Schraubstock. »Hörst du«, sagte er, »sie schweigen!« Irgendwann hockte er abwartend nieder und spähte mit dem Feldstecher über das Tal. Fassungslos schaute der Holländer auf diesen Mann hinab, auf Ignatio Perez, den Pumpmeister, der so leicht und so schwierig zu durchschauen war. »Du wußtest, daß sie schweigen, wenn du rufst?« »Nein«, sagte Perez, und nach einem Atemzug: »Es heißt, ›Die blauen Hütten reden‹. – Rede ist auch Antwort, ist auch Schweigen, um zu hören, was der andere spricht. Rede ist Sinn. Man muß vertrauen. Man muß dem Wort vertrauen. Auch der Mensch muß seinem eigenen Wort vertrauen. Die Menschen sind klug. Doch sie wissen es nicht immer.« Oppenkamp hatte keine Antwort auf die sonderbare Logik dieses Indios. »Warte!« sagte Perez mit ruhigem Nachdruck. Oppenkamp hockte sich neben ihn hin. Später reichte ihm Perez das Fernglas und kommentierte in überraschender Redseligkeit, was man durch das Glas zu sehen vermochte. »Es gibt Grün und Blau. Die Farben schließen einander aus. Nicht nur die Farben. Die stehen für mehr. Kein Blatt wächst zwischen den Kuppeln. Die Fremden müssen töten, ehe sie ein Quentchen unseres Bodens gewinnen, und so umgeben sie sich mit einem Saum aus Niemandsland. Mit schwarzer, getöteter Erde. Auf das schmale Band haben sie die Leere zwischen den Sternen zusammengepreßt, die zwischen uns liegt und dem Abgrund, aus dem sie kamen. – Aber der Wald ist stark. Niemand weiß, wie lange sie schon hier kämpfen. Ihre Kolonie ist klein.« Perez verstummte. Oppenkamp vermochte nicht, das Schweigen zu ertragen. Ihn dünkte, es müsse etwas geschehen, irgend etwas sei jetzt zu unternehmen, das der Bedeutung des Augenblickes angemessen war. Aber er wußte nicht, was sie denn nun beginnen sollten, und so betäubte er ziellose Unrast mit Worten.
»Vieles von dem, was über sie erzählt wird, stimmt«, sagte er. »Natürlich versagen Falschfarben in solchem Nebel. Wie aber sollte jemand hier ohne Luftaufnahmen etwas finden?« »Meine Väter haben gefunden. Sonst wären wir nicht hier«, sagte der Indianer abweisend. »Man kann vieles darüber denken, daß sie hier sind. Blinder Zufall? Kamen sie an diesen einen Ort mit offenen Sinnen und berechnend? Die Erde ist groß. Diesen muß sie ungeheuer erschienen sein, als sie ihr begegneten.« »Ja, vieles«, sagte Perez. »Dieser Ort wird unwiederholbar sein.« »Für sie!« »Sie wußten es wohl. Zufälle sind selten.« »Ihr Glück, daß die Rechnung stimmte.« »So? Glück?« Den Grund für Perez’ Zweifel erfuhr der Holländer nicht. Ein Klang durchbrach die Stille. Dünn schwangen sich die Töne von drüben herüber, aber bald schwollen sie kraftvoll an. Eine einzige, permanente Frequenz, weit abseits von der Wärme einer lebendigen Stimme. Perez’ Augen lächelten. »Ihre Antwort!« rief er, um die klingende Luft zu übertönen. Die Antwort auf Perez’ Schrei! Die Dinge stimmten allzu gut. In diesem Augenblick glaubte Oppenkamp, die Gedanken des Indios zu erkennen. Er begriff sie als Ausdruck grenzenlosen Vertrauens zu den Worten der Legende, die Worte der Väter waren. – Welch sinnlosen Mißklang schrie ein Lautsprecher, den man mit all den Stimmen in den Häusern einer irdischen Siedlung zugleich speiste…? Und jetzt demonstrierten die Blauen ihre Fähigkeit zur Disziplin. Eine einzige Frequenz! »Wie oft werden sie es schon versucht haben?« fragte er betroffen, »vor Fröschen, vor Affen, vor…« Eine Sekunde sah ihn Perez von der Seite her an. Bestürzt spürte Oppenkamp, es war die Spanne an Zeit, um »… vor Wilden« zu ergänzen.
»Es wäre ein Glück für sie gewesen, daß die Rechnung stimmte?« fragte Perez. Oppenkamps Mund trocknete aus, und es trieb ihn, den Augenblick in Vergessenheit zu stoßen. »Es sind keine Hütten. Es sind keine Dächer. Es sind… Niemand wohnt darin. Die Kuppeln sind nichts als sie selbst«, sagte er, widerspenstig gegen die Gewalt der Legende. »So?« fragte Perez voller Nachsicht. »Was können wir tun?« »Nichts«, antwortete der Indio. »Fast nichts.« »Nichts? Sie warten seit einer Ewigkeit!« Der Blick des Holländers glitt über die krumm dahockende Gestalt des Mannes neben ihm, über den mückenzerstochenen Nacken und die hellen Spuren darauf, die der Schweiß in den Schmutz gezeichnet hatte, über schwarzkerbig zerschundene Finger, die sich auf den Beinen verflochten. An den Stiefeln klebten Krusten, die trocknend rissen. Dreck, ein müdes Gesicht und brennende Augen. Die Männer hatten nur ihre beiden Hirne, Willen und Begeisterung. Und Einsicht in ihre Grenzen. Auch Perez litt unter dem fordernden Ruf, der noch immer das Tal durchschallte, dem er nichts entgegenzusetzen wußte, nichts, das über respektloses Spiel hinausging. Die Muskelstränge über seinen Kinnladen traten hervor, er biß die Zähne zusammen. Mit fahrigen Händen kramte er in seiner Packtasche, förderte eine Büchse, Zwieback, ein Messer und seine Kalebasse zutage und begann zu essen. Zu oft griff er zur Flasche. Kauend sandte er dem Holländer einen Blick. Dann wies er mit der offenen Klinge in die Richtung der Sonne. »In fünf Stunden geht sie unter. Werden wir…« Da verstummte der Ton. Nachhall. Stille. Perez blies Luft durch die Nase, seine Art zu seufzen. »Werden wir zügig zum Boot absteigen?« vollendete er mit einer Gelassenheit, der Oppenkamp mißtraute, und als dieser nickte: »Dann bleibt eine Stunde. Ruh dich aus. Ich sehe nach, ob man dort hinüber kann. In einer halben Stunde bin ich zurück.« Ohne die Mahlzeit zu vollenden, stieß er das Messer bis zum Heft in den Boden, ergriff seine Kalebasse und tauchte in das Gestrüpp.
Bohrender Hunger überfiel den Niederländer, als er allein war. An einen Stamm gelehnt, kaute er Zwieback. Die Mücken beruhigten sich. Oppenkamp starrte in die blaue Pracht. Ihr Schweigen forderte Antwort und war beladen mit Trauer der Vergeblichkeit. Zuerst sah es aus, als jage eine Schliere verdichteter Luft über die Kolonie. Unten im Tal stumpfte das Blau der Kuppeln ab, plötzlich erlosch dort die Glut zu kaltem Grau, die Konturen schienen zu wabern, in gespenstisch stummem Tumult rissen die Wölbungen an ihrer Basis; gleich einer Welle eilte die Erregung aufwärts und brach sich in den höchstgelegenen Ausläufern der Ansiedlung. Dann prallte der Schall auf die Kuppe, auf der Oppenkamp stand. Die Atmosphäre brüllte auf. Oppenkamp riß die Hände an die Ohren. Aber es war nur ein einziger kurzer Ausbruch wilder, fremdartiger Gefühle. Wie einen Guß Wasser suchte der Holländer die Verwirrung abzuschütteln, zu beobachten, aber als er hinsah, ebbte die Erscheinung schon ab. Nach einer Minute vermochte er kaum noch Spuren irgendwelchen Geschehens dort drüben zu entdecken. Da und dort eine Unruhe der Linien, flüchtige Trübung des Glanzes. In wiedererwachendem Blau lag die Siedlung in den Hängen auf der anderen Seite. Als Rest der Erschütterung blieb ein weißlicher Schwaden, der über der Talsohle schwebte, dichter als der den Gewässern entsteigende Dunst; die Thermik begann alsbald, die vergängliche Materie zu durchstoßen, ihre Ränder zu zerfasern, und es würde nicht lange dauern, bis der Nebel in den Nebeln des Tages aufginge. Da erst dachte Oppenkamp an seinen Gefährten. Er wußte sofort, daß der Indianer in die ungestüme Entladung verstrickt sein mußte, daß Perez, nur Perez selbst, ihre Ursache gewesen war, Ursache von Angst, Schrecken, Zorn, Abwehr oder wie auch immer das Fremde empfand angesichts herannahender Berührung. Berührung aber bedeutete vielleicht, wahrscheinlich, Antastung seiner Natur, mochte seine Existenz in Frage stellen. Die Worte des Indios saßen in Oppenkamps Hirn, und alle Zweifel an ihnen zerstoben in diesem Augenblick. Die wirren Gedanken drängten zu Entschlüssen und energischem Handeln, und Oppenkamp wußte nicht, wozu er sich entschließen sollte. Er starrte ins Tal, tat nichts, der weiße Schwaden lastete nun giftig und bedeutungsschwer über dem Talgrund, und die Minuten schlichen.
Dann kam Perez zurück. Steif blieb er am Rand der Lichtung stehen. Sein Gesicht war grau. Er spie aus, wischte sich den Mund mit dem Handrücken und hielt die gespreizten Finger vom Körper ab. Die erschrockenen Augen des Niederländers drängten ihn zur Antwort. »Es ist unmöglich«, preßte Perez zwischen den Lippen hervor, »zu denen gibt es keinen Weg.« Er verstummte und sank auf eine sonderbar ungelenke Weise auf den Boden nieder. Was der Indianer verschwieg, worüber er seine Zunge zügelte oder was er nicht mitzuteilen vermochte, wuchs zwischen den Männern auf. Perez hustete, sein Magen bäumte sich. Oppenkamp sah, daß Gesicht und Arme des Mannes von geröteten Flecken übersät waren. »Schweig!« sagte Perez endlich, »sie gehen alle zugrunde. Der Wald bringt sie um. Eine vertrocknete Haut ist der Rest, tote Erde. Der Wald… Grüne Schößlinge dann… Nach einem Jahr zerfetzen sie, was übrig ist… Vielleicht dauert es viel länger… Aber die da drüben…« Oppenkamp konnte zusehen, wie die Flecken auf der Haut des Indios zu wäßrigen Blasen aufschwollen. Die Winkel zwischen den braunen Lippen troffen von dünnflüssigem Speichel. Perez wehrte sich, auszuspeien. Er ballte die Fäuste und richtete sich auf, starr, als sei er gegen ein Brett gelehnt. »Sie sind nicht mit irdischer Elle zu messen. Wir haben kein anderes Maß. – Ja«, schrie er dem Gefährten plötzlich mitten ins Gesicht und voll herrischen Vorwurfs, »ihre Nähe ist unerträglich! Aber sie schaffen Schönheit aus Trübem und Schwarzem, Schönheit und Geist, von dem wir nichts wissen, als daß sie Gewalt haben über sich selbst.« Dann war seine Selbstbeherrschung erschöpft. Mit unartikuliertem Krächzen warf er sich auf den Boden, wälzte sich, der Leib wühlte im Mulm, als wolle er sich in die Erde graben. Er schlug mit den Fäusten, als Oppenkamp nach ihm griff. »Schmeiß mich weg…«, verstand der Holländer zwischen gurgelnden Lauten. Gewaltsam drehte er den Mann auf den Rücken und sah in ein entstelltes Gesicht: Ein Klumpen gedunsenen Fleisches, zugeschwollene Augen, zum Bersten aufgetriebene Lippen. Er goß alles Wasser, das sie hatten, über das Gesicht des Indios, über Arme und Hände, riß ihm die Kleider vom Leib, in seiner Not zwang er ihm Antihistamin zwi-
schen die Zähne, die Perez in besinnungsloser Abwehr aufeinanderbiß. Dann sah er, daß der Mann reden wollte. Durch die Speichelblasen auf seinen Lippen drang Zischen und Stöhnen. Oppenkamp starrte auf diesen Mund. Endlich glaubte er, ein Wort zu verstehen. »Trasse«. Dann immer wieder dieses selbe Wort. Der Holländer fragte. Ja, er verstehe; was es mit der Trasse auf sich habe? Aber Perez warf nur den Kopf hin und her, als ob er verneine. Oppenkamp fragte wieder und wieder, und in der Tat schien das Zucken des Kopfes wirklich Nein zu bedeuten. Er wußte nicht, wie die Nacht verging. Da war dieser geschundene Leib, Kampf mit der Finsternis, Kampf um Tropfen Wassers aus Moosrasen und Blattzisternen von Bromelien, die Gier des Mannes, sich die rasend juckenden Blasen mit den Nägeln aufzureißen, bis ihn Oppenkamp band, zu einem zuckenden Bündel zusammenschnürte, der Indio zischte vor Haß. Das Antihistamin. Ein gefährliches Mittel. Wieviel durfte er ihm geben? Was vermochte es gegen das Aerosol, das die Blauen gegen die Menschen spien? Teuflisches Sekret einer fremden Welt, und dennoch kompatibel genug, daß es sich in das Spiel der Säfte irdischen Lebens einzudrängen vermochte. Irgendwann begann Perez wieder zu reden. Oppenkamp entzifferte von den Lippen nur wenige Wörter: … Cinta Larga… Bororo… Magistrale. Und wieder Cinta Larga… Bororo… Er sah die Blasen auf seinen eigenen Händen. Er riß sie mit den Zähnen auf, denn niemand hinderte ihn daran. Fetzen wirren Denkens. Wütender Haß auf die Blauen, dort, jenseits der Finsternis. Besinnung, Einsicht. Unterm Bewußtsein das Gefühl ihrer Gleichgültigkeit, in derselben Sekunde niedergemacht von Flüchen. Und dann begriff Oppenkamp. Er begriff alles und von Anfang an. Ja. Er hatte die blauen Hütten nun gesehen. Er hatte das ungeheure Ereignis fremden Lebens auf der Erde mit eigenen Augen gesehen. Und doch war dieses Unglaubliche nur ein Köder. Ein Köder für den leitenden Projektingenieur der Trasse, für ihn, Oppenkamp. – Die Straße würde das Gebiet der Cinta Larga, versprengter Bororo-Stämme, berühren oder schneiden, von denen die weiße Welt noch nichts wußte. Aber Perez wußte davon, und er sah das Leid dieser Stämme voraus.
Perez kannte nur dieses Mittel: den leitenden Ingenieur zu bestechen, ihn, Oppenkamp, daß er den Fortlauf der Trasse verlege. – Cinta Larga… Bororo… Trasse… Nein… Das war Perez’ verborgener Antrieb, sein Motiv, aufs äußerste verdichtet, das er in seiner Qual verriet oder das er weitergab in der Furcht, daß die Forderung mit ihm erlösche. Er opferte das Geheimnis der Blauen, er gab die Legende preis, die für ihn längst keine Legende mehr gewesen sein mochte. Er kannte die Weißen, er kannte ihn, Oppenkamp, und seinen Traum, und fing ihn an seiner Angel. Die Blauen waren der kostbare Köder. Weiße Männer bissen nur auf kostbare Köder an. Perez bewertete die Dinge nach seinem eigenen Maß. Für ihn standen die Menschen dieses Waldes über allem, und er handelte danach… Dann wurde der Indianer still. Viel später zog der neue Tag herauf. Oppenkamp blickte nur immer auf den schlafenden Mann, er sah zu, wie unter der gedunsenen Grimasse Perez’ Züge wieder sichtbar wurden. Er verbrannte den Kittel des Indios. Vielleicht war es der beizende Qualm, der Perez weckte. Oppenkamp befreite den Mann aus den Fesseln. Perez erbrach sich, sah ins Leere. »Es ist gut«, sagte er. Sie saßen stumm da. Auch die Blauen schwiegen. »Sei glücklich, daß du nicht…«, flüsterte Perez. Aus den Augenwinkeln sandte er einen ersten verstohlenen Blick über das Tal hinweg. Als die Sonne sich neigte, raffte er sich auf, griff nach seiner Kalebasse, nach dem Messer und den Resten seines flüchtigen Mahles, die er in der Packtasche verstaute. »Sie haben das Prinzip des Farbenspiels nicht allein erfunden«, murmelte er, als rede er zu sich selbst und nicht, um etwas mitzuteilen. »Manche Papilioniden zeichnen ihre blauen Flügel mit der gleichen Technik, sie sind schön, Morpho, Mesosemia, Croesus und…« Oppenkamp dachte über den Indio nach, über den Pumpmeister Perez, und wußte nichts zu tun, als dem schmutzigen, halbnackten tapferen Mann die Hand auf die Schulter zu legen. Der schüttelte sich frostig. »Nycman kam von Westen her, aus Aripuana, von der anderen Seite, und muß dort mitten hineingeraten sein. Mitten da hinein«, sagte Perez
und sah zu seinem Gefährten auf. Seine breite Nase krauste sich über herabgezogenen Mundwinkeln. Mühsames Lächeln. »Gehen wir!« Nur anfangs machte das Boot flotte Fahrt. Zu bald wurde das Wasser schwarz, und die Paddel schienen nur widerwillig in die zähflüssige, blasentreibende Masse zu tauchen. Die Mücken blieben dem Boot treu, und wieder hingen die Männer zwiespältigen Gedanken nach, die jeder für sich mit Schweigen bedeckte. Für Oppenkamp waren es nicht die gleichen Gedanken, wie sie ihn bewegten, als die Nase des Bootes noch zu den Bergen wies, und Perez brütete in seinem runden Schädel wohl über anderem als er. Tage glitten dahin. Die wenigen Worte, die die Männer wechselten, betrafen praktische Belange der Fahrt. Oppenkamp wartete. Aber Perez äußerte nicht eine Silbe, die einen Bezug zu jener dramatischen Nacht bei den Kuppeln gehabt hätte. Er schwieg auch über die blaue Siedlung, als seien diese vergangenen Tage nicht gewesen. Und dann schien es Oppenkamp, als ob auch Perez wartete. Der Niederländer hatte mit sich selbst zu tun, er gab sich vor, daß er mit sich selbst ins reine zu kommen hätte, und wußte doch, daß er es aus irgendeinem Grunde nicht über sich bringen würde, den seltsamen Pumpmeister nach seiner Wahrheit zu fragen. Er grübelte über den Mann. Perez steckte in seinem Fleisch wie ein Pflock. Vielleicht lag es an den viel zu grellen Farben, den zu schrillen Geräuschen, an der trägen, wilden, tropischen Welt, in die dieser Indio eingebettet war, daß es dem Holländer opportun erschien zu glauben, er käme an den Mann nicht heran. Es war ein Vorwand. »Es ist ein Mysterium.« Irgendwann mochte Oppenkamp diese Vokabel entschlüpft sein, als das Schweigen unerträglich wurde. »Dieses Wort macht mir einen schlechten Geschmack im Mund«, antwortete Perez unvermutet bereitwillig. »Die Dinge sind da. Sie haben keinen doppelten Boden. Wer mit ihnen so umgeht, als seien sie undurchschaubar, ist gefährlicher als jene Experten des Ungefähren, die Poeten, die aus Form und Größe und Farbe einen schönen, schimmernden Dunst herauskochen, um uns damit zu narkotisieren. Es handelt sich nur darum, seinen Sinnen zu trauen, Kräfte zu berechnen,
Widerstände abzuschätzen und mit dem Verstand zu entscheiden. Das Unbekannte? Natürlich gibt es das. Wer dort anstößt und sich weiterzugehen weigert, der versackt im Ungefähren, das verderblich ist.« Oppenkamp war zutiefst betroffen. Die Worte stachelten seinen Protest auf. Eine solche Sicht stand dem Indianer nicht zu. O ja, wie sehr war er jetzt willens, Perez als einen Mann anzuerkennen, als einen Mann neben sich. Es war eine Lüge gegen sich selbst. Er begriff. Und augenblicklich sah er die Perspektive zwischen ihm und Perez sich umkehren: Der Indianer war ihm überlegen. Auch anderes verschob sein Gewicht. Oppenkamp stand hinter Perez im Boot. Er sah den Rücken des Mannes sich im Takt neigen und strecken, wie der Mann sein Paddel einstach, und er sah den nun heftiger wirbelnden Mulm auf dem Wasser sehr wohl und daß die Wellen hinter dem Boot aus ihrer Trägheit erwachten. So leicht, wie er’s glauben machen wollte, fiel es auch Perez nicht, das Richtige zu tun. Oppenkamp führte das Paddel auf der anderen Seite. Er grübelte. Er führte das Paddel erbärmlich, und das Boot machte keine glatte Fahrt. Er grübelte über die Blauen und die Cinta Larga, über den grünen Wald zwischen ihnen und der fressenden Trasse, der noch immer stand. Er dachte an die Bilanzierer dieser Straße, die ein gefälliges Ohr hatten und eine offene Hand für Daniel Ludwig und Dupond, für Liquigas, für Saint Gobain und US-Steel-Corporation. Wenn er nicht handelte, würde der Wald fallen. Perez hatte ihm gesagt, was zu tun war. Oppenkamp hielt es für möglich, die Dinge so zu regeln. Er starrte in das braune Wasser und wußte nicht, wie er sich entscheiden würde. »He!« rief Perez und wandte sich um, Oppenkamps Blick traf in wissende, lächelnde Augen. »Du hast es nicht eilig, nach Hause zu kommen, zum Rio Madeira, zur Trasse?« fragte der Indio.
Wort- und Sacherklärungen
Adenosintriphosphat (ATP) – energieübertragende Substanz, in den Zellen aller bekannten Lebewesen vorkommend und von überragender Bedeutung für deren Stoffwechsel adiabatisch – Wärmeaustausch verhindernd adstringierendes Aerosol – »zusammenziehender Nebel«; hier: versprühtes Desinfektionsmittel Algorithmus – Ablaufschema für eine Folge von (meist rechnerischen) Operationen Alpha- und Soretbande – Absorptionslinien im Spektrogramm der Zytochrome (siehe dort) anaerob – ohne Luftsauerstoff lebend Anastomose – Verbindung, z. B. zwischen Blutgefäßen oder Nerven; hier: verbindende Struktur Aneuploide – Organismen mit einer vom Grundbestand abweichenden Anzahl einzelner bestimmter Chromosomen in den Zellkernen Antihistamin – Medikament gegen Überempfindlichkeit auf Reizstoffe Bathygraph – Tauchtiefenschreiber in Unterwassersonden Bio-Kontikultur – Laborjargon; Ausdruck für eine technisch aufwendige Form der Kultivierung von Mikroorganismen, bei der die Lebensbedingungen der Mikroben unabhängig von der Dauer ihrer Kultur immer gleich bleiben Bit – Maßeinheit für den Informationsgehalt von Signalen Black box – wörtlich: »schwarzer Kasten«; Ausdruck aus der elektronischen Rechentechnik für ein System, bei dem die in ihm ablaufenden Operationen nicht mehr ohne weiteres durchschaubar sind Chlorella – Gattung der Grünalgen Clean-Raum – Arbeitsraum, der durch Filtersysteme und Steuerung des Luftstromes staubfrei gehalten wird
Detritus – zerriebene Gesteinstrümmer und Reste organischen Materials, Ursache für die Trübung natürlicher Gewässer Diaphragma – Scheidewand, z. B. halbdurchlässige Filter in der Elektrochemie Dispersion – Zerlegung weißen Lichtes in Spektralfarben Emergenz – pflanzliches Anhangsorgan, z. B. Stacheln, Drüsen Engramm – Spur von Empfindungen oder Wahrnehmungen in der Großhirnrinde Entropie – physikalische Zustandsgröße; hier: Maß für das Anwachsen von »Unordnung« epibolisch – umwachsend, umwallend etymologisch – die Ableitung und Bedeutung der Wörter betreffend exosekretorisch – nach außen absondernd Exzitonenmechanismus – physikalischer Effekt; hypothetische Grundlage für Supraleitfähigkeit bei relativ hohen Temperaturen Fourier, Jean Baptiste Joseph – französischer Mathematiker, 1768 bis 1830, von überragender Bedeutung für die Theorie periodischer Bewegungen (Akustik, Optik, Elektrodynamik u. a.) Gameten – Geschlechtszellen Genom-Mutation – Veränderung der Anzahl von Chromosomen gegenüber dem arttypischen Grundbestand in den Zellkernen Hansenula – Gattung der Hefepilze Hilbert, David – deutscher Mathematiker, 1862 bis 1943, bedeutend auf dem Gebiet der Zahlentheorie; Autor der 23 »Hilbertschen Probleme« Hydratur – Zustandsgröße im Wasserhaushalt der Organismen Inkohärenz – Fehlen von Zusammenhang, Nichtübereinstimmung Josephson-Effekt – physikalischer Effekt an bestimmten Anordnungen von Supraleitern; vielseitige Bedeutung z. B. in der Datenverarbeitungstechnik Kinegraphie – fotografische Aufzeichnung von Abläufen kompatibel – zusammenpassend, verträglich Konvektion – vertikale Luftströmung
kustodische Automatik – abgeleitet von Custos (lat.), der Wächter; hier: überwachendes System Luziferin-Luziferase-Test – Anordnung zur Ferndiagnose von Leben auf anderen Gestirnen. Bei Vorhandensein von ATP (siehe dort) auf dem Gestirn kommt es zum Aufleuchten des Luziferins (Leuchtsubstanz der Glühwürmchen), das fotometrisch erfaßt wird Metabolie – Formwandel metastabil – sich anders verhaltend, als es den obwaltenden Bedingungen entspricht mikrolithographisch – einer technischen Anlage zugehörend, mit der mikroelektronische Funktionselemente erzeugt werden missing link – wörtlich: fehlendes Glied; nicht nachgewiesene Übergangsform in einer stammesgeschichtlichen Ahnenreihe Morpho didius – tropische Schmetterlingsart Papilioniden – Verwandtschaftsgruppe der Tagfalter Peano, Guiseppe – italienischer Mathematiker, 1858 bis 1932; aus den fünf Peanoschen Axiomen lassen sich die Eigenschaften der natürlichen Zahlen ableiten Photogrammetrie – Technik der Kartierung von Gelände nach Luftaufnahmen Pianospore – unbewegliche, der ungeschlechtlichen Fortpflanzung dienende Keimzelle REM – Abkürzung für Raster-Elektronen-Mikroskopie Scenedesmus – Gattung der Grünalgen Selva – portugiesisch: Wald. Bezeichnung für den brasilianischen Urwald Simulacker – technische Anlage zur Nachahmung bestimmter Bedingungen oder Abläufe Steroide – Klasse organisch-chemischer Verbindungen, zu der z. B. eine Reihe von Hormonen gehört Sukkubus – Buhlschaft mit Dämonen, mittelalterlicher Irrglaube
Supraleitfähigkeit – Verschwinden des Ohmschen Widerstandes in elektrischen Leitern bei sehr tiefen Temperaturen Synapse – Struktur des Nervensystems, die Erregungen von einer Nervenzelle auf die andere überträgt Tachorge – Anspielung auf A. und B. Strugazki: Fluchtversuch; in: Fluchtversuch, Verlag Volk und Welt, Berlin 1976. Große räuberische Tiere Tensiometer – Meßgerät für Gasspannung Thyristor – steuerbares Halbleiterbauelement Traubesche Zelle – einfaches »selbstwachsendes« osmotisches System; entsteht durch Einbringen eines Kupfersulfatkristalls in eine Lösung von Blutlaugensalz Vroedel-Skale – Anspielung auf Lem: Vestrans Extelopädie; in: Imaginäre Größe, Verlag Volk und Welt, Berlin 1976. System utopischer Sprachen Zönobium – Zellkolonie Zygote – befruchtete Eizelle Zytochrom – eisenhaltiges, in allen Zellen vorkommendes Atmungsferment