Scan by Schlaflos
Buch: Unaufhaltsam rückt das Ende der fünfundzwanzig Äonen näher: jener Augenblick, da die vier Älte...
26 downloads
666 Views
757KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Scan by Schlaflos
Buch: Unaufhaltsam rückt das Ende der fünfundzwanzig Äonen näher: jener Augenblick, da die vier Älteren Götter ihren Nachfolgern, den Jüngeren Göttern, weichen und sich dem ewigen Schlaf hingeben müssen. Und genau diesen Zeitpunkt hat sich das grausame Vlagh ausgesucht, um zu seinem bisher gefährlichsten Schlag auszuholen und der vereinten Macht der Älteren und Jüngeren Götter die Stirn zu bieten. Verborgen im Ödland, brütet es seine bislang größte und tödlichste Insektenhorde aus, die das Land Dhrall überrennen und die gesamte Menschheit verschlingen soll. Doch als sogar noch gefährlicher könnte sich eine ganz andere Entwicklung erweisen, die niemand voraussehen konnte: Denn Aracia, eine der Älteren Göttinnen, hat so viel Gefallen an ihrem jetzigen Dasein gefunden, dass sie ihrer Nachfolgerin um keinen Preis weichen will - und so plant sie das Undenkbare: den schlimmsten Verrat, den man sich vorstellen kann ... Autoren: David Eddings, geboren 1931 in Spokane, Washington, wurde 1982 mit seinem ersten Fantasy-Epos, der »Belgariade«, bekannt. Seither hat er teils alleine, teils in Zusammenarbeit mit seiner Frau Leigh von der Kritik viel beachtete Werke in der Tradition Tolkiens verfasst, die ihm eine ständig wachsende, begeisterte Leserschaft eingetragen haben. David und Leigh Eddings leben in Carson City/Nevada. Außerdem bei Blanvalet erschienen: GÖTTERKINDER: I. Das wilde Land (24279), 2. Dämonenbrut (24280), 3. Im Flammenmeer (24281), 4. Der Verrat (24282)
David & Leigh Eddings
Der Verrat Götterkinder 4 Deutsch von Andreas Heiweg
Vorwort Jene von uns, die wir unser Leben der Sorge um die Mutter widmen, waren überaus bekümmert wegen ihres Zorns nach dem Desaster mit dem »blauen Feuer«, welches so viele ihrer Kriegerkinder verschlungen hatte. Den Kriegerkindern obliegt die Pflicht zu sterben, wenn es den Zielen der Mutter dient, doch Tod in diesen Ausmaßen dezimiert unsere Anzahl und schwächt den Überverstand, der uns alle führt. Und wahrlich, die Schwächung des Überverstands setzt uns allen zu, die wir doch nur leben, um unserer geliebten Mutter zu dienen. Von jenen, die uns vorausgingen, wurde überliefert, dass Mutter in ihrem Nest, in dem wir alle Schutz finden, zufrieden war, bis sich vor gar nicht allzu langer Zeit - das Wetter wandelte und es mit jedem Jahr weniger zu essen gab als im Jahr zuvor. Damals geschah es, dass Mutter jene Diener aussandte, die wir die »Sucher des Wissens« nennen, und als sie schließlich zurückkehrten, berichteten sie Mutter von dem Land hinter den hohen Bergen, in dem man genug für alle zu essen finde. Das erfreute ihr Herz. So verfiel sie auf folgenden Gedanken: Wenn jene, die nach Dingen suchen, die wir essen können, hinter die hohen Berge zögen und viel zum Essen herbeischaffen würden, könnte sie mehr Nachkommen zur Welt bringen - und immer noch mehr. Und schließlich wäre unsere Zahl so groß, dass keine anderen Mütter es wagen würden, ihre Kinder in den Kampf um 7 das Essen zu schicken, weil wir deren Nachkommen vernichten würden, und bald säßen sie ganz allein in ihren Nestern und würden vor Verzweiflung schreien. Daher veränderte Mutter die Kinder, die in den Ländern jenseits der hohen Hügel nach Dingen zu essen suchen sollten. Viele, viele Veränderungen nahm sie vor, denn die Menschenwesen, die in den Ländern jenseits der hohen Berge lebten, waren sehr, sehr klug und benutzten Waffen, die nicht Teil ihres Körpers waren. Das erfüllte Mutter mit großer Sorge, denn es ist für jedes Geschöpf unnatürlich, Dinge als Waffen zu benutzen, die nicht zu seinem Körper gehören. Und Mutter stellte sich die Frage, ob ihre Kinder es nicht ebenso halten könnten wie die Menschenwesen. Also sandte sie weitere Sucher des Wissens aus, um Geschöpfe zu finden, die ungewöhnliche Körperteile hatten und dadurch Vorteile bei der Suche nach Essensdingen besaßen.
Nach einer Weile kehrten diese Sucher des Wissens zurück und brachten vieles, das Mutter vielleicht nützlich erscheinen könnte. Es gab Geschöpfe ohne Beine, aber mit langen scharfen Zähnen, und diese Geschöpfe ohne Beine konnten alles, was sie zu essen sahen, unverzüglich töten. Andere Geschöpfe mit acht Beinen anstelle von sechs konnten das Innere von Essensdingen in Flüssigkeit verwandeln, die sie dann genüsslich schlürften. Dann gab es Geschöpfe mit harten Panzern, die ihre Körper bedeckten und schützten, und wieder andere hatte scharfe Mäuler, mit denen sie Stücke aus dem Essensding reißen konnten. Je länger die liebe Mutter überlegte, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass die Zähne der Geschöpfe ohne Beine am wirkungsvollsten wären. Schließlich schickte Mutter eine Generation nach der anderen während langer Zeit zur Arbeit in die hohen Berge, die zwischen unserem Nest und dem Land des Sonnenuntergangs liegen. Dort gab es Höhlen, durch die Mutters Kinder sicher die Gipfel der 8 hohen Berge unterqueren konnten, und an den Hängen der hohen Berge waren viele flache Steine aufgestapelt, bei denen es sich wohl um leere Nester der Menschenwesen handelte, die sich vielleicht als nützlich erweisen würden, um sie zu überlisten. Nach einer Zeit war alles fertig, und Mutter wartete, bis die älteren Gottheiten noch älter und unaufmerksam wurden. Im Frühjahr des gegenwärtigen Jahres war alles bereit, und Mutter befahl den Kindern, die Menschenwesen anzugreifen, die sich in der Nähe des besonders hohen Berges versammelt hatten. Aber die Menschenwesen wussten nicht, dass die meisten Diener unserer lieben Mutter durch die Höhlen unter den hohen Bergen krabbelten und zwischen den verschiedenen Felsstapeln auf der Sonnenuntergangsseite herauskamen. Und Mutter war hocherfreut, denn der Sieg lag in greifbarer Nähe. Doch sollte es anders kommen, denn großes Unheil ereilte die Diener in den Höhlen. Zwei der hohen Berge begannen unvermittelt, flüssiges Feuer hoch in den Frühlingshimmel zu speien. Doch nicht das flüssige Feuer im Himmel bereitete der Mutter Kummer, sondern jenes, das in die Höhlen floss und die Diener verschwinden ließ, als hätte es sie niemals gegeben. Und als die Nachricht Mutter erreichte, stieß sie vor lauter Qualen einen schrillen Schrei aus, und alle, die lebten, um ihr zu dienen,
schrien desgleichen, war doch der Überverstand durch dieses Unglück geschwächt. Indes hatten die Sucher des Wissens über Generationen hin viel Zeit in den Ländern der Menschenwesen verbracht, und sie hatten gelernt, auf welche Weise die Menschenwesen Laute benutzten, um sich zu verständigen. Und viele der Sucher des Wissens hatten gelernt, wie man diese Laute erzeugte, welche die Menschenwesen »Sprache« nennen. Und als unsere geliebte Mutter beschloss, dass wir hinunter ins Land der längeren Sommer ge9 hen sollten, wo es so viel zu essen gab, stiegen die Sucher die Hänge der hohen Berge hinauf, um Wissen über die Menschenwesen jener Gegend zu sammeln. Und während die Sucher mit dieser Aufgabe beschäftigt waren, brachte die geliebte Mutter eine Vielzahl neuer Gestalten für die Kriegerkinder hervor. Diese neuen Formen sollten die Vorteile ausgleichen, welche die Menschengeschöpfe im Land des Sonnenuntergangs gehabt hatten. Und als die Sucher zurückkehrten, waren sie überaus unzufrieden, hatten ihnen die Menschenwesen doch vieles erzählt, das gar nicht der Wahrheit entsprach. In Wirklichkeit erschien es so, dass die Menschenwesen mehr Dinge gesagt hatten, die nicht der Wahrheit entsprachen, als solche, die wirklich wahr waren. Allerdings hatten die Sucher eine Sache gefunden, die sie als ausgesprochen wichtig erachteten. Obwohl in diesem Land der längeren Sommer derjenige, der herrschte, Veltan genannt wurde, hatte ein anderes Menschenwesen namens Omago viel, viel mehr Macht. Dieses Omago-Wesen hatte seine Macht jedoch noch nicht ganz erkannt und sie niemals eingesetzt. Zudem gab es ein anderes Menschenwesen namens Ära, das dieses Wissen mit dem Omago teilte, hingegen nie mit dem Omago über diese Macht sprach. Nachdem die nächste Brut von Kriegerdienern herangereift war, schickte die geliebte Mutter sie zum Land der längeren Sommer, und wir alle glaubten, unsere Kriegerdiener würden die Menschenwesen leicht überwinden, und das Land des längeren Sommer würde noch vor dem Wechsel der Jahreszeit uns gehören. Aber so geschah es nicht, denn viele andere Menschenwesen waren ins Land der längeren Sommer gekommen und hatten etliche Haufen flacher Steine aufgestapelt, um uns am Vormarsch zu hindern, obwohl wir dazu alles Recht besaßen. Und abermals benutzten die
verfluchten Menschenwesen Dinge als Waffen, die nicht Teile ihrer Körper waren. So begegneten uns, wie schon einmal, fliegende Stöcke, wenngleich keiner von uns zu verste10 hen vermochte, wie die Menschenwesen die Stöcke zum Fliegen brachten. Manche von uns waren der festen Überzeugung, dass diese fliegenden Stöcke lebten und von den Menschenwesen beherrscht wurden. Wenn ein Menschenwesen sagte: »Fliege«, so gehorchte der Stock. Wenn der Stock dann in der Luft war, sprach das Menschenwesen erneut und befahl: »Töte.« Und der Stock tötete. Wir suchten und suchten nach Stöcken, die unseren Befehlen gehorchen würden, fanden jedoch keine. Die Menschenwesen setzten noch andere Waffen ein. Der lange Stock flog zwar nicht, doch war er fast genauso grausam wie der fliegende. Die langen Stöcke hatten breite Spitzen, die eigentlich gar nicht so recht dazugehörten. Diese Spitzen waren sehr spitz, und allzu leicht durchbohrten sie die Leiber der Kriegerdiener. Es wurde uns klar, dass viele der Menschenwesen, denen wir begegneten, nicht mit den Menschenwesen verwandt waren, die im Land der Sonnenuntergangs und nun im Land der längeren Sommer lebten. Der Kampf am Hang dauerte lange an und barg Schwierigkeiten, und unsere geliebte Mutter schickte viele Diener mit neuer Gestalt in die Schlacht, doch konnten sie die Menschenwesen nicht besiegen, welche hinter ihren Steinstapeln Schutz suchten und sich nur zeigten, um unsere Angreifer zu töten. Uns, die wahren Diener unserer geliebten Mutter, erfüllte es mit großer Sorge, als sie darauf beharrte, dass wir sie aus dem Nest in das Gebiet bringen sollten, wo der Kampf stattfand. Ihre Sicherheit ist stets unsere oberste Pflicht, aber Mutter sah keinen Grund zur Beunruhigung. Gewiss, sie ist unsterblich, aber im Land der längeren Sommer wütete Krieg. Im Nest war es sicher, nicht jedoch auf dem Feld der Schlacht. Sie ist die Mutter, und uns blieb keine andere Wahl als zu gehorchen. II
Schließlich jedoch stürmte eine weitere Gruppe dieser Menschenwesen aus dem Land der längeren Sommer heran, und sie hatten offenbar ein anderes Ziel als den Sieg über die Kriegerdiener der Mutter. Von den Suchern gab es viele Berichte, dass diese Menschenwesen, die gegen Mutters Kriegerdiener gekämpft hatten,
zur Seite traten und die Neuankömmlinge einfach passieren ließen. Und die neue Gruppe preschte auf der anderen Seite den Hang hinauf und auf unserer wieder hinunter - fast so, als würden sie Mutters Kriegerdiener gar nicht bemerken. Zu unserem Leidwesen mussten wir erfahren, dass diese Menschenwesen ungemein klug sind, aber die Neuen schienen sich nur wenig oder gar keine Gedanken zu machen, als sie blindlings den Hang hinabstürmten auf etwas zu, das für uns unsichtbar blieb. Und Mutters Kriegerdiener in der veränderten Gestalt töteten diese geistlosen Menschenwesen zu Tausenden, doch die anderen geistlosen Menschenwesen schenkten dem Schicksal ihrer Gefährten keine Beachtung, sondern stürmten weiter den Hang hinauf auf etwas zu, das für uns unsichtbar blieb. Dann strömte plötzlich diese unfassbare Menge Wasser aus einem der Berge über uns, und Mutters Kriegerdiener und die geistlosen Menschenwesen wurden gleichermaßen von Wasser umschlossen und den Hang hinunter in die sichere Vernichtung gespült. Und die Mutter schrie in Qualen, während jene von uns, die nur leben, um ihr zu dienen, sie in die Sicherheit des Nestes zurücktrugen, denn nun hatten wir gelernt, dass Wasser ebenso tödlich sein kann wie Feuer. Und das Land der längeren Sommer blieb von nun an auf immerdar für uns unerreichbar. Groß war das Leid unserer geliebten Mutter, doch nach einer Weile überzeugten die Sucher des Wissens sie davon, dass hinter den hohen Bergen noch zwei Länder lagen, die uns nicht für jetzt 12 und immerdar versperrt blieben. Es gab das Land des Sonnenaufgangs und das Land der kürzeren Sommer. Streit brach zwischen jenen Kriegerdienern aus, die das Land der kürzeren Sommer bevorzugten, und denen, die das Land des Sonnenaufgangs bevorzugten, und dieser Streit wurde immer hitziger, bis jene, die die kürzeren Sommer bevorzugten, und jene, die für den Sonnenaufgang waren, einander zu töten begannen. Und schließlich wählte die geliebte Mutter, um weiteres Töten zu verhindern, die kürzeren Sommer, und nachdem sie entschieden hatte, nahm das Töten ein Ende. Die Sucher waren sehr an einem niedrigen Baum interessiert, der flackerte und Licht und dunkle Wolken verströmte, welche entweder nahe am Boden schwebten oder hoch in den Himmel aufstiegen, und die Sucher erkannten in dem niedrigen Baum ein Mittel, wie man die
Menschenwesen aus großer Distanz töten könnte, ohne dass einer der Diener unserer geliebten Mutter in Gefahr geriet. Und die Sucher waren höchst zufrieden, als sie entdeckten, dass der niedrige Baum sehr großzügig war und sein Flackern und seine Wolken mit anderen niedrigen Bäumen seiner Art teilte. Nun waren andere Sucher in die hohen Berge gezogen, die den Weg zum Land der kürzeren Sommer versperrten, und bald fanden sie einen schmalen Weg durch die hohen Berge und gelangten, gut getarnt, in das Land der kürzeren Sommer. Unsere geliebte Mutter hingegen war vorsichtig, und sie sandte Diener aus, die die Laute der Menschenwesen erzeugen konnten, um die Menschenwesen zu verwirren und sie zum Krieg gegeneinander zu verleiten, denn der Überverstand war zu der Erkenntnis gekommen, dass die Menschenwesen sich manchmal noch mehr gegenseitig hassten als uns und sich auch gern gegenseitig töteten, was wiederum die Sache für die Kriegerdiener der Mutter vereinfachen würde. 13 So zogen wir durch das ebene Gebiet, wo es keine Essensdinge gibt, und erreichten schließlich den schmalen Pfad, der aus dem Land der Mutter in das Land der kürzeren Sommer führte. Groß war die Enttäuschung, als wir dort anlangten, denn abermals hatten die Menschenwesen flache Steine auf andere flache Steine gestapelt und uns so den Weg versperrt. Nun jedoch verfügten wir über ein Mittel, die Menschenwesen zu vertreiben. Die Sucher betraten einige Nesthöhlen in den hohen Bergen unterhalb der Stapel aus flachen Steinen und häuften die flacheren in diesen Nesthöhlen an. Dichte schwarze Wolken wehten über die Steinstapel, und dann machten die Menschenwesen kehrt und flohen und gaben den Kriegerdienern den Weg frei. Freude bemächtigte sich der Mutter, und sie befahl den Kriegerdienern, rasch über den schmalen Pfad auf das Land der kürzeren Sommer weiterzuziehen, denn die niedrigen Bäume - die unsere geliebte Mutter gewisslich beinahe so sehr lieben wie wir, die ihr dienen und sie beschützen - vertrieben die Menschenwesen weiter. Und so geschah es, dass die Kriegerdiener den schmalen Pfad hinaufstürmten, den sicheren Sieg vor Augen. Aber dann entfesselte eines der Menschenwesen, das jedoch nicht zu den Lebendgebärenden zählte, etwas, das wir nie zuvor gesehen
hatten. Wir, die Diener der geliebten Mutter, kannten die Feuer der Menschenwesen, aber dieses Menschenwesen, das nicht zu den Lebendgebärenden zählte, sandte eine riesige Woge Feuer den Pfad hinab, Feuer, das nicht gelb war. Stattdessen hatte es eine blaue Farbe, und es verzehrte unzählige Kriegerdiener, während es sich den schmalen Pfad hinunterwälzte. Das an sich war schon entsetzlicher als alles, was wir bis dahin erlebt hatten, doch dann erzeugte das Menschenwesen, das nicht lebend gebärt, ein weiteres Feuer am Fuße unseres schmalen Pfades. Und dieses blaue Feuer erhob sich höher als die Stapel aus 14 flachen Steinen, welche die Menschenwesen errichtet hatten, und zeigte keine Anzeichen, dass es jemals zu brennen aufhören würde. Und abermals schrie unsere geliebte Mutter vor Qualen, und wir, die wir ihr dienen, stimmten in ihr Wehklagen ein. In ihrem großen Zorn hörte die Mutter auf den Vorschlag eines der Sucher - einen Vorschlag, dem sie, wäre sie ruhiger gewesen, niemals Beachtung geschenkt hätte. Der Sucher erklärte, die Menschenwesen würden sicherlich wissen, wo die Kriegerdiener als Nächstes angreifen würden, denn es gab nur noch einen Teil des Landes, dessen Zugang nicht versperrt war, und dort würden wir auf riesige Massen von Menschenwesen stoßen. »Du wirst viele, viele Kriegerdiener brauchen, um die Menschenwesen zu überwinden, geliebtes Vlagh«, sagte er. »Kannst du diesmal noch mehr Nachkommen erzeugen als zuvor für die Angriffe in die anderen Richtungen?« »Viel, viel mehr«, antwortete die teuere Mutter. »Ich werde die Menschenwesen unter frisch geschlüpften Nachkommen begraben. Ich bekomme das Land des Sonnenaufgangs, und meine Kinder werden sich an den Überresten der Menschenwesen gütlich tun, die dieses ganze Land verunreinigen - und dann wird es für immer mir gehören.« Wir wollten die geliebte Mutter nicht daran erinnern, dass eine Brut von dieser Größe jegliche zukünftigen Brüten beeinträchtigen würde und nicht mehr genug von jenen schlüpfen könnten, die sich um ihre Bedürfnisse kümmern. Daher würden ungezählte Jahreszeiten verstreichen, ehe sie eine neue Brut zur Welt bringen könnte. Gewiss taten wir unser Möglichstes, sie darauf aufmerksam zu machen, doch sie schenkte uns keine Beachtung, sondern befahl uns, sie unverzüglich in die Brutkammer zu tragen. Und wir taten, wie es uns
befohlen ward. Sollte wieder eine Katastrophe über uns hereinbrechen, wer15 den die Brüten in der Zukunft so wenige Kinder hervorbringen, dass es in den kommenden Jahreszeiten im Nest unserer geliebten Mutter nur sehr wenige - falls überhaupt noch welche - von jenen geben wird, die sich um ihre Bedürfnisse kümmern, und eines Tages könnte sie sogar ganz allein sein. Der Berg Shrak 1 Mitternacht war vorüber. Zelana stand allein auf dem Balkon des Raumes, den ihr großer Bruder Dahlaine als seine »Kriegshöhle« bezeichnete. Ihr schien es, als hätte Dahlaine schon immer eine Schwäche für solch ausgefallene Namen gehabt. Aus irgendeinem Grund verspürte er ständig diesen Drang, beinahe allem einen übertriebenen Namen zu geben. Wenn er so viel Zeit damit verbracht hätte, ein Problem zu lösen, wie er für gewöhnlich brauchte, einen Namen dafür zu finden, wäre er schon ein ganzes Stück weiter gewesen. Im Augenblick jedoch versuchte Zelana einige höchst sonderbare Ereignisse zu verdauen. Offensichtlich hatten sie eine geheimnisvolle Helferin, die Wunder aus dem Hut zaubern oder aus dem Ärmel ziehen konnte, und zwar ganz ohne jede Vorwarnung. Unten im Süden, in der Domäne des kleinen Bruders Veltan, war Langbogen von einer Reihe eigenartiger Träume geplagt worden, die ihm ein Wesen in den Kopf setzte, das er »unsere unbekannte Freundin« nannte, obwohl er Zelana und den anderen gesagt hatte, dass er ihre Stimme kenne - sie jedoch nicht mit dem Namen der Sprecherin in Verbindung bringen könne. So leicht, das wusste Zelana, ließ sich Langbogen bei einer derart wichtigen Angelegenheit nicht durcheinander bringen, also hatte diese »unbekannte Freundin« zweifelsohne auf eine Weise an ihm herumgepfuscht, die Zelana einfach nicht begreifen wollte. 17 Eine Sache war jedoch mehr als deutlich. Die »unbekannte Freundin« konnte nicht nur Erinnerungen auslöschen, sie konnte außerdem einige sehr grundlegende Regeln brechen - oder sich zumindest darüber hinwegsetzen. Zelana und ihre Familie durften zum Beispiel nicht töten. Die »unbekannte Freundin« dagegen hatte die Angehörigen der trogitischen Kirche mit ihrem »Meer aus Gold«
verführt und sie in eine offene Konfrontation mit den Wesen des Ödlands gelockt. Als die beiden feindlichen Streitmächte sich dann in eine Schlacht verstrickt hatten, die vermutlich in der gegenseitigen Auslöschung geendet hätte, vernichtete die »unbekannte Freundin« sie alle mit einer riesigen Wand aus Wasser, das sie aus einer Tiefe von ungefähr sechs Meilen aus der Erde holte. Offensichtlich verfügte ihre Freundin über Kräfte, die Zelana sich nicht einmal vorstellen konnte, obwohl sie fast sicher war, dass sie sich dabei von den Träumern helfen ließ. Je länger Zelana darüber nachdachte, desto mehr war sie davon überzeugt, dass Elerias Flut und Yaltars Doppelvulkan ebenfalls der Fantasie ihrer »unbekannten Freundin« entsprungen waren. Die Beteiligung der Träumer wurde auch durch die gemeinsame Vision der Kinder bestätigt, in der von einem »Feuer, wie es noch niemand gesehen hat«, die Rede war, und dieses Feuer war als blaues Inferno in Erscheinung getreten, das vermutlich eine gesamte Brut des Vlagh vernichtet hatte. Das hatte Aracia in ihrer Torheit dazu veranlasst, Lillabeths Traum von vornherein verschweigen zu wollen. Aracia war stets von ihrer eigenen Göttlichkeit besessen gewesen, aber jetzt -wahrscheinlich aufgrund der übertriebenen Anbetung durch die verschiedenen Faulpelze, die sich als ihre Geistlichkeit betrachteten - hatte sie die Reste ihres Verstandes eingebüßt und schien der Überzeugung anzuhängen, das wichtigste Wesen des Universums zu sein. Den absurden Versuch ihrer Schwester Aracia, Lillabeths Traum zu verheimlichen, musste man als eindeutigen 18 Hinweis darauf betrachten, dass ihr jegliche Vernunft abhanden kam. Je länger Zelana darüber nachdachte, desto deutlicher erinnerte sie sich daran, dass Aracia schon immer mit einem gewissen Unwillen schlafen gegangen war und ihre Domäne Enalla überlassen hatte. Tief im Innersten schien Zelanas Schwester Enalla zu hassen. Die Länge des Schlafzyklus machte Veränderungen unausweichlich. Zelana erinnerte sich trübselig daran, wie sie einmal vor langer, langer Zeit aufgewacht war und feststellen musste, dass ihre Domäne von mindestens zwei Meilen dickem Eis bedeckt war. Dahlaine hatte Zelana dies wochenlang erklären müssen, bis sie sich damit abgefunden hatte. Er versicherte ihr, die Tauperiode habe bereits eingesetzt, dennoch hatte es fast fünf Jahrhunderte gedauert, bis das Eis verschwunden war, und Zelanas Domäne sah hinterher überhaupt
nicht mehr so aus wie zu dem Zeitpunkt, als sie in den Schlaf hinübergedämmert war. Noch beunruhigender war vielleicht der Umstand gewesen, dass die Geschöpfe, die sie im vorhergegangenen Zyklus kennen gelernt hatte, sämtlich verschwunden und an ihre Stelle eigenartige neue Tiere getreten waren. Dahlaine hatte dafür den Begriff »Aussterben« verwendet, und bei dem Wort war ihr ganz schauerlich zumute geworden. Während jenes Zyklus hatte sie so gut wie keinen Kontakt zu Aracia, aber sicherlich hatte ihre Schwester die Sache so lange gedreht, bis sie Enalla die Schuld in die Schuhe schieben konnte für das Zeitalter des Eises und das Verschwinden fast aller Geschöpfe, die noch in ihrer Domäne gelebt hatten, als sie sich schlafen gelegt hatte. Das passte zu Aracia. Zelana wurde inzwischen immer müder, und nur zu gern hätte sie die Verantwortung für ihre Domäne des Westens an Balacenia übergeben - die erwachsene Version von Eleria -, doch sicherlich würde Aracia ganz anderer Ansicht sein, und ihre Priesterschaft befand sich mittlerweile vermutlich am Rande der Panik. Ob sie nun wollte oder nicht, Aracia musste schlafen gehen, und zwar in sehr naher Zukunft, und Enalla würde an ihre Stelle treten. Zelana hatte von Eleria einige Andeutungen aufgeschnappt, dass Enalla - die eigentliche Version der kleinen Lillabeth - einige Pläne hatte, die Aracias Priester nicht unbedingt vor Freude hüpfen lassen würden. »Es würde sich fast lohnen, so lange aufzubleiben und sich das anzuschauen«, murmelte sie. »Fast«, fügte sie hinzu, »aber so recht nun doch wieder nicht.« Wenn sie es richtig einschätzte, blieben nur mehr einige Monate bis zur »Schlafenszeit«. Schon lange hatte sie entschieden, diesmal in der rosa Grotte auf der Insel Thurn zu nächtigen. Die rosa Delfine würden ihr ein Schlaflied singen, und vielleicht würde sie diesmal sogar eigene Träume haben - Träume vom Lande Dhrall ohne ein Vlagh, von einem Land, wo ihre Freunde nicht alt wurden und starben und wo sie singen und dichten konnte, wo ewig Frühling herrschte und die Blumen niemals welkten. Ja, das wäre der allerschönste Traum. »Ich dachte, ich hätte deine Anwesenheit gespürt, liebe Schwester«, sagte Dahlaine und gesellte sich zu Zelana auf dem Balkon über der »Skulpturenkarte« seiner Domäne. »Du wirkst so besorgt. Worüber zerbrichst du dir den Kopf?« »Natürlich über Aracia«, erwiderte Zelana. »Ich glaube, ihr Verstand hat sich noch mehr verflüchtigt als zu dem Zeitpunkt, als sie
Lillabeths Traum verheimlichen wollte. Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, wie wir sie diesmal ein paar Monate eher zum Schlafen bewegen könnten. Dann könnten wir uns auf das Vlagh konzentrieren und brauchten uns nicht ständig Sorgen wegen ihr zu machen.« »Ja, bestimmt wäre dann alles viel einfacher.« »Was ist eigentlich mit Aracia los, dass sie am Ende jedes Zyklus die Nerven verliert?«, wollte Zelana wissen. »Ich habe mal 20 nachgedacht, und soweit ich mich erinnern kann, hat sich Aracia noch nie schlafen gelegt, ohne sich mit Händen und Füßen dagegen zu sträuben. Warum muss das eigentlich immer so sein?« Dahlaine zuckte mit den Schultern. »Minderwertigkeitsgefühle wahrscheinlich. Also, wenn wir unsere Stellvertreter dazunehmen, sind wir zusammen acht, und soweit ich feststellen konnte, handhaben sie die Sache mit der Führung genauso wie wir. Dementsprechend hat Aracia nur für fünfundzwanzigtausend Jahre das Sagen. Danach muss sie hundertfünfundsiebzig Jahrtausende warten, bis sie wieder an der Reihe ist. Aus irgendeinem Grund kann sie das nicht ertragen. Sie möchte ständig im Mittelpunkt des Universums stehen. Wenn ich mich recht erinnere - was gewöhnlich der Fall ist -, hat sie sich beim letzten Mal, als sie unser Vorstand war, richtiggehend in dieser Position geaalt. Gewiss, damals hatten sich die Menschen noch nicht so entwickelt wie heute, also war sie die Einzige, die sich anbeten konnte, aber diese Selbstverehrung war schon ein wenig extrem.« Zelana lächelte. »Vielleicht sollten du und ich uns Veltan anschließen, wenn der nächste Wachzyklus beginnt. Bestimmt war es ja nur wieder einer seiner Scherze - wir wissen ja alle, wie sehr Veltan Scherze mag -, doch kürzlich hat er mir gegenüber fallen lassen, dass er lieber wieder auf den Mond zieht, wenn Aracia beim nächsten Mal das Zepter in die Hand bekommt, und ich glaube, er hat es mindestens zur Hälfte ernst gemeint.« »Ganz unser kleiner Bruder. Sobald er irgendwo von fern Verantwortung herannahen sieht, macht er die Biege.« Dahlaine kratzte sich an der Wange. »Vermutlich hätte es auch in den vergangenen Zeitaltern nur einen kleinen Unterschied ausgemacht, aber jetzt leben in den Domänen Menschen. Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber ich werde auf keinen Fall zulassen, dass Aracia die Bewohner meiner Domäne tyrannisiert.«
»Du hörst dich fast so an, als wolltest du unserer Schwester den Krieg erklären.« 21 »Krieg würde ich es nicht nennen, Zelana. Von Aracias Menschen wird erwartet, jeden wachen Moment damit zu verbringen, sie zu verehren, daher geht von ihnen keine große Bedrohung aus.« »Jetzt steckst du unsere Schwester in die gleiche Kategorie wie den heiligen - und wahnsinnigen - Azakan aus der Atazakan-Nation in deiner eigenen Domäne, großer Bruder«, meinte Zelana. Dann runzelte sie die Stirn. »Es gibt schon einige Ähnlichkeiten, oder?« »Mit einem Unterschied: Aracia verfügt über die Macht, tatsächlich etwas zu bewirken. Der arme Azakan hat der Erde und dem Himmel ständig befohlen, ihm zu gehorchen, nur, fürchte ich, haben die ihn wenig beachtet. Aracia besitzt durchaus eine gewisse Macht, und sie kann in die Tat umsetzen, was sie als notwendig erachtet.« »Vielleicht. Trotzdem ist es uns nicht erlaubt, unsere Macht zu verwenden, wenn dadurch jemand zu Tode kommen könnte. Falls Aracia diese Grenze überschreitet, wird sie sich wahrscheinlich auf der Stelle in Nichts auflösen«, gab Zelana zu bedenken. »Und wenn sich Aracia in Nichts auflöst, werden wir dann weiterexistieren? Zwischen uns vier besteht doch ein Band, Dahlaine, und wenn einer von uns nicht mehr da ist, werden wir dann nicht einfach alle verschwinden?« »Zelana, langsam bekomme ich Kopfschmerzen.« »Immerhin hast du noch einen Kopf, der Schmerzen empfindet, mächtiger Bruder.« »Wenigstens in einer Hinsicht haben wir Glück gehabt, Zelana. Dein Piratenhäuptling hat Kommandant Narasan überredet, seine Siebensachen nicht zu packen und nicht nach Hause zu fahren. Wir brauchen Forts im Langen Pass, und wenn jemand >Forts< sagt, denkt er dabei für gewöhnlich an Trogiten. Hast du bei Sorgans kleinem Komplott die Finger im Spiel gehabt?« »Nein, großer Bruder. Soweit ich es sehe, ist Hakenschnabel 22 allein darauf gekommen. Bestimmt hatte es Einfluss auf seine Entscheidung, dass er Aracia wahrscheinlich einen Haufen Gold abschwatzen kann, doch abgesehen davon zählt auch seine Freundschaft zu Narasan. Er wird in ihren Tempel gehen und bei ihr für so helle Aufregung sorgen, dass sie Narasan vermutlich völlig vergisst. Dann wird er unsere nicht ganz so helle Schwester davon
überzeugen, dass er sie allzu gern verteidigen würde, wenn sie ihm genug Gold gibt.« »Gegen wen soll er sie denn verteidigen?«, fragte Dahlaine. »Die Diener des Vlagh kommen den Langen Pass herunter, geraten also kaum in die Nähe von Aracias Tempel.« Zelana lächelte. »Wenn ich Sorgan richtig einschätze - und dessen bin ich mir sicher -, wird ihm schon etwas einfallen, wie er Aracia mitsamt ihrer Priesterschaft so sehr in Angst und Schrecken versetzen kann, dass sie nicht einmal auf den Gedanken kommt, jemanden hinauf zum Langen Pass zu schicken, wo derjenige Narasan belästigen könnte, während er die Forts baut.« Nicht lange darauf öffnete sich die Tür des Kartenraums einen Spalt weit, und Eleria spähte herein. »Ach, hier bist du, Geliebte«, sagte sie zu Zelana. »Wir hätten es uns denken können, dass du dich mit dem alten Graubart unterhältst.« »Vergiss deine guten Manieren nicht, Eleria«, schalt Zelana ihren Träumer. »Entschuldige, Alter Graubart«, sagte Eleria und setzte ihr spitzbübisches Grinsen auf. »Wir suchen schon stundenlang nach dir und der Geliebten.« »Wir?«, fragte Dahlaine neugierig. »Na, das Große Ich und ich. Mutter möchte mit euch reden.« »Mutter?« Zelana war verwirrt. »Wir haben jeder eine Mutter, weißt du, Geliebte. Das Große Ich kann es dir ganz bestimmt viel besser erklären als ich.« Dann 23 trat Eleria in den großen Raum, unmittelbar gefolgt von einer außergewöhnlichen Schönheit. Dahlaine stockte der Atem. »Was machst denn du hier, Balacenia?«, wollte er wissen. »Du solltest überhaupt noch nicht wach sein.« »Werd langsam erwachsen, Dahlaine«, erwiderte die Dame. »Mit deinem kleinen Spiel hast du fast die Welt zerstört. Wir hatten eine Menge Arbeit, um die Sache auszubügeln, und dabei brauchten wir eigentlich wirklich noch nicht einmal wach zu sein.« Zelana starrte die Dame an. »Bist du wirklich ...« An dieser Stelle hielt sie inne. »Ja, Geliebte, ich bin deine Mitgöttin. Unsere Domäne untersteht jedoch noch deiner Gewalt. Ich verspreche dir, nicht herumzupfuschen, es sei denn, Mutter trägt es mir auf - uns.« Sie legte Eleria die Hand auf die Schulter. »Manchmal ist das ganz
schön verwirrend. Dies ist mein Kleines Ich. Ihr kennt sie unter dem Namen Eleria, was schon in Ordnung ist, glaube ich. Sie bringt mich häufig zum Lachen, und Lachen ist gut für die Seele - hat man mir jedenfalls gesagt. Eine Sache würde mich allerdings sehr interessieren. Wo in aller Welt hat sie das mit dem Knuddeln und Küssen her? Den armen Vash hat sie damit so durcheinander gebracht, dass er nicht mehr weiß, was er tun soll.« Plötzlich lächelte Zelana. »Die Idee kam Eleria in der rosa Grotte, als sie noch sehr, sehr jung war. Mit einem Küsschen kann sie jeden rosa Delfin im Nu dazu bringen, alles für sie zu tun.« Dann schaute sie sich Balacenia, ihre Mitgöttin, genau an. »Die Ähnlichkeit ist unverkennbar, Balacenia. Du bist tatsächlich die erwachsene Ausgabe von Eleria, der Träumerin. Wieso könnt ihr beide euch zur gleichen Zeit am gleichen Platz aufhalten?« »Die Antwort ist nicht ganz so einfach, Geliebte. Eigentlich sind wir nicht zur gleichen Zeit hier. Oder besser gesagt, eigent24 lich bin ich gar nicht hier. Ich schlafe immer noch fest, und was wir alle sehen, ist mein Traum.« »Das ist unmöglich!«, widersprach Dahlaine. »Warum - und wie - bin ich dann bitte schön hier?«, wollte Balacenia wissen. »Dein kleines Spielchen war recht klug, Dahlaine, aber es ist eigentlich gleich von Anfang an aus dem Ruder gelaufen. Du hast geglaubt, du könntest uns mit diesem Kinderschwindel austricksen, aber die Geschichte klappte schon nicht bei Eleria und ihrem ersten Traum. Das war der, in dem sie die Entstehung der Welt sah. Ein wenig später im Lande Maag hatte sie eine Variation dieses Traums, die du nicht einmal erwartet hast. Es handelte sich um einen >Warntraum<, wie wir es nennen, und dieser Traum rettete Langbogen und seine Freunde vor dem, was dieser Maag namens Kajak vorhatte. Dir war wohl nicht ganz klar, was dieser Traum für uns bedeutete. Träume konnten sowohl Warnungen als auch Prophezeiungen sein.« »Ich habe mich schon ein wenig erschrocken«, räumte Dahlaine ein. »Denn ich hatte mir ja eingebildet, die Träumer einigermaßen kontrollieren zu können, aber die Kinder entglitten mir dauernd.« »Eigentlich hat Mutter die Träumer geführt. Sie hat dein kleines Spiel aufgegriffen und vollbringt Dinge, für die deine Fantasie nicht ausreicht.« »Mutter?« Dahlaine klang erschrocken. »Wir haben keine Mutter.«
»Woher stammen wir denn sonst?«, wollte Balacenia wissen. »Du wirst sie sicherlich mögen, Dahlaine«, sagte Eleria. »Sie kann so viele lustige Sachen machen. Mich hat sie unter Wasser mitgenommen, damit ich mir meine rosa Perle aus dem Meer holen konnte. Damit hat alles angefangen, schon vergessen?« »Sie ist die Mutter des gesamten Universums, Dahlaine«, fügte Balacenia hinzu, »und auf dich ist sie im Moment ganz schön sauer. Die Ausländer sind schon in Ordnung, denke ich, doch 25 Mutter hat sich auf ihre Weise mit ihnen befasst und wird es auch weiterhin tun.« »Das genügt, Balacenia«, sagte eine wohlklingende Stimme durch die offene Tür. »Warum kann ich mich nicht auch hiermit befassen?« Dann kam eine nebelhafte Gestalt, die aus reinem Licht zu bestehen schien, herein. »Was hast du dir dabei gedacht, diese Ausländer anzuheuern, damit sie den Krieg für euch austragen, Dahlaine?« »Du weißt doch, wir sind Beschränkungen unterworfen«, erwiderte Dahlaine. »Wenn ich es mir recht überlege und du tatsächlich diejenige bist, als die Balacenia dich bezeichnet, hast du sie dir vermutlich selbst ausgedacht. Vielleicht ist es dir ja entfallen, aber wir dürfen nicht töten - sogar dann nicht, wenn wir angegriffen werden. Daher brauchten wir Armeen und zogen hinaus in die Welt, um die Ausländer anzuheuern, damit sie das Töten für uns übernehmen.« »Diese Beschränkung könnte allerdings wirklich ein wenig überholt sein«, räumte die strahlende Präsenz ein. »Zuerst gab es so wenige Lebewesen hier, und wir wollten keines von ihnen verlieren zumindest nicht, bis ihre Zahl so weit angewachsen war, dass ein Aussterben eher unwahrscheinlich war. Als die Einfälle der Wesen aus dem Ödland begannen, wollte ich mich ja selbst darum kümmern, doch ehe ich damit anfangen konnte, wimmelte es im ganzen Land Dhrall schon von diesen Ausländern. Du musst lernen, mir zu vertrauen, Dahlaine.« »Langbogen hat einen Vorschlag gemacht, der dich vielleicht interessieren wird«, mischte sich Zelana ein. »Die ganzen Ausländer helfen uns ja, die Wesen aus dem Ödland zurückzutreiben, aber Langbogen hält es für viel wichtiger, den gierigen Fremden klarzumachen, dass die Menschen im Lande Dhrall in der Lage sind, jedem Eindringling das Leben schwer zu machen. Die Ausländer
sind hilfreich, und gleichzeitig sollen sie etwas lernen. Die Gier der amaritischen Kirche unten im trogitischen 26 Weltreich ist nahezu legendär, aber du hast dich ja eingehend mit denen befasst, und damit sollten alle Ausländer begriffen haben, dass sich jeder Versuch, unseren Teil der Welt erobern zu wollen, als fürchterlicher Fehler erweisen könnte.« »Und dein blaues Feuer in der Kristallschlucht hatte das noch einmal klargestellt«, fügte Dahlaine hinzu. »Niemand, der bei klarem Verstand ist, läuft ins Feuer. Manche der gierigeren Ausländer könnten zwar den Wunsch verspüren, eines Tages zurückzukehren, doch das werden sie sich inzwischen, glaube ich, zweimal überlegen.« Er zögerte. »Du scheinst ja aus irgendeinem Grund sehr an uns zu hängen«, sagte er vorsichtig. »Ihr seid meine Kinder«, erwiderte die strahlende Gestalt, »und ich werde euch beschützen. Ihr habt einen weiten, weiten Weg hinter euch gebracht, aber vielleicht möchtet ihr noch einmal ein Stück zurückgehen und sehen, wo - und wann - dies alles begonnen hat.« Plötzlich begann sich die Welt um Zelana zu drehen, als Erinnerungen auf sie einstürzten, die aus solch ferner Vergangenheit stammten, dass es kein Wort für die riesige Anzahl der Jahre gab. Der Vorschlag der verschwommenen Lichtgestalt ließ die Glocken in Zelanas Kopf läuten. Dahlaine riss die Augen auf - offensichtlich strömten die gleichen Erinnerungen auch auf ihn ein. »Alles in allem hast du deine Sache gut gemacht, mein Sohn«, fuhr die schleierhafte Dame fort. »Deine Idee mit den Träumern war brillant, und sie hat fast perfekt funktioniert - nur musst du dir nun noch überlegen, wie du die Träumer überreden kannst, sich wieder mit ihren früheren Identitäten zu vereinigen. Die Situation ist diesmal ein wenig heikel, daher möchte ich, dass ihr, meine Kinder, euch zurückhaltet und es mir überlasst, die Dinge in Aracias Domäne zu regeln. Aracia hat beinahe den Punkt erreicht, an dem sie lieber sterben als Enalla ihre Domäne übergeben möchte. Wir müssen sie unter Kontrolle bringen, denn sie 27 steht am Rande des Wahnsinns. Sollte sie diese Grenze überschreiten, verlieren wir sie, und das führt in die Katastrophe vielleicht nicht unverzüglich, doch wenn wir es am Ende ihres Schlafzyklus mit einer tobenden Irrsinnigen zu tun haben, gerät das
gesamte Land Dhrall in Gefahr - und im Vergleich zu dieser Gefahr wird uns der Ansturm der Wesen aus dem Ödland wie ein Kinderspiel vorkommen.« 2 Ihrem Gefühl zufolge, dachte Zelana, musste es kurz nach Sonnenaufgang sein, als die Kommandanten der ausländischen Streitmächte, angeführt vom düster dreinschauenden Langbogen, hereinkamen und auf den Balkon traten, der sich rings um Dahlaines Kartenraum zog. »Die Karte hat sich ein wenig verändert, scheint mir«, meinte Langbogen und betrachtete das Modell des Landes, das Dahlaine aufgebaut hatte, nachdem Balacenia und diese eigentümliche, dunstverschleierte Gestalt der »Mutter« gegangen waren. Dahlaine zuckte mit den Achseln. »In meinem Teil des Landes Dhrall sind wir fertig«, erklärte er, »daher habe ich eine >Skulpturenkarte< der Domäne meiner Schwester Aracia angefertigt. Eigentlich hätten wir uns wegen der Karte auf Aracia verlassen sollen, doch sie hat ein eher vages Bild von ihrer Domäne, weil sie ihren Tempel fast niemals verlässt.« »Angebetet zu werden beansprucht vermutlich eine Menge Zeit«, sagte Sorgan Hakenschnabel und schaute hinunter auf die gut beleuchtete Karte. »Und wo genau liegt nun diese >Tempelstadts über die sich alle so aufregen?« Dahlaine streckte die Hand aus, und ein Lichtstrahl aus seinem Zeigefinger erhellte einen Punkt an der Ostküste. 28 »Das ist aber eine nützliche Idee, Herr Dahlaine«, sagte Sorgan, »besonders, wenn wir alle zehn Fuß über der Karte stehen.« »Doch, ja, es scheint seine Aufgabe zu erfüllen«, antwortete Dahlaine bescheiden. »Und wo ist dieser >Lange Pass<, von dem alle ständig reden?« Dahlaines kleiner Lichtpunkt wanderte am östlichen Rand der Karte entlang zur Replik einer Bucht, in die ein ziemlich breiter Fluss mündete. »Demnach ist der Fluss nicht mit der Tempelstadt deiner Schwester verbunden?«, wollte Sorgan wissen. Dahlaine schüttelte den Kopf. »Die Ostküste des Landes Dhrall erlebt jedes Jahr mehrere heftige Überflutungen«, erklärte er. »Aracia wollte nicht, dass ihr Tempel so oft zerstört wird, daher befahl sie ihren Dienern, weiter im Süden zu bauen, wo keine
größeren Flüsse aus den Bergen kommen. Der Boden ist zwar sumpfig, aber Aracias Arbeiter haben ein tiefes Fundament gelegt, ehe sie mit den Arbeiten begannen.« »Wann haben sie den Tempel denn errichtet?«, fragte Keselo. »Vor acht oder vielleicht zehn Jahrhunderten, nicht wahr, Zelana?«, wandte sich Dahlaine an seine Schwester. »Mich brauchst du nicht zu fragen, lieber Bruder«, entgegnete Zelana. »Ich habe die Zeit in meiner Grotte auf der Insel Thurn verbracht.« »Bestellen die Priester, die deine Schwester anbeten, auch Land in der Nähe des Tempels?«, erkundigte sich Sorgan. Dahlaine schüttelte den Kopf. »Es sind die Bauern in Aracias Domäne, die riesige Mengen Essen liefern, damit die Priester unserer Schwester so fett bleiben, wie sie sind.« »Das Wort >fett< scheint ja fast untrennbar mit dem Wort >Priester< verbunden zu sein«, stellte Langbogen fest. »Berufskrankheit, nicht wahr, großer Bruder?«, meinte Zelana. »Priester verbringen den größten Teil ihrer Zeit damit, sich Essen in den Mund zu stopfen.« 29 »Davon werden sie fett, und am Ende machen ihre Herzen das nicht mehr mit, und die Kerle kippen einfach tot um«, fügte Dahlaine hinzu. »Na, das wäre doch mal eine Idee«, sagte Hase. »Wir brauchen nur zwanzig oder dreißig Tonnen mit Essen auf die Stufen von Aracias Tempel zu stellen, und die Priester fressen sich innerhalb einer Woche tot.« »Der Gedanke gefällt mir, Bruder«, wandte sich Zelana an Dahlaine. »Wir würden nicht gegen unsere Beschränkungen verstoßen, wenn wir den Priestern unserer lieben Aracia Essen schenken, oder? Und wenn sie zu viel in sich hineinstopfen und tot umfallen, ist es doch nicht unsere Schuld.« Dahlaine blickte zur Decke. »Damit solltest du lieber zu Mutter gehen, Zelana. Wenn wir Aracias Priester mästen und sie daran sterben, wäre das nicht so, als würden wir sie vergiften?« »Spielverderber«, murrte Zelana. »Kannst du dir vorstellen, "was sich in Aracias Tempel für ein Geschrei erhöbe, wenn sie eines Morgens aufwachte und feststellte, dass alle ihre Priester in der Nacht gestorben sind?« »Wir behalten die Idee im Hinterkopf, liebe Schwester«, sagte
Dahlaine. »Machen wir jetzt erst einmal weiter.« Er blickte Narasan an. »Wer, würdest du sagen, ist das Oberhaupt von Aracias Priesterschaft?« »Er heißt Takal Bersla«, antwortete Narasan, »und er ist fast so fett, wie Adnari Estarg von der amaritischen Kirche es war -ehe diese übergroße Spinne ihn sich zum Mittagessen geholt hat. Bersla hat sich das Reden zum Beruf gemacht. Stundenlang erzählt er eurer Schwester, wie heilig sie ist, und Aracia ist von Berslas übertriebenen Schmeicheleien fast hypnotisiert. Padan ist einmal, kurz nach unserer Ankunft, die ganze Zeit dabeigeblieben, und Bersla hat sechs Stunden zu eurer Schwester gesprochen. Dann hat er Mittag gegessen - und zwar so viele Speisen, dass sie vier oder fünf neue Menschen satt gemacht hätten -, 3° dann hat er wieder fünf oder sechs Stunden geredet. Der Mann spricht und spricht ohne Unterlass, doch eure Schwester scheint von dieser weitschweifigen Anbetung nicht genug bekommen zu können.« »Das hört sich an, als wäre es noch schlimmer mit ihr geworden, Dahlaine«, stellte Zelana fest. »Sie braucht die Anbetung fast so sehr wie ein Trinker das Bier.« »Kein gutes Zeichen, werter Herr Dahlaine«, sagte Sorgan. »Wenn sie schon derart viel von ihrem Verstand verloren hat, könnte es schwierig werden, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.« »Nicht unbedingt, Vetter«, widersprach Tori. »Wenn dieser Priester Bersla der Hauptanbeter im Tempel der werten Aracia ist und er eines Morgens tot umfällt, könntest du ihre Aufmerksamkeit sicherlich sofort auf dich lenken.« »Vielleicht, Tori«, lenkte Sorgan ein, »bloß woher sollen wir wissen, ob er in nächster Zukunft sterben wird?« Tori schob die Hand in den Stiefel und zog einen langen zierlichen Dolch hervor. »Das könnte ich dir sogar garantieren, Vetter«, sagte er und spielte mit dem Dolch herum. »Diese Möglichkeit sollte man durchaus in Betracht ziehen, werter Dahlaine«, schlug Sorgan vor. »Wenn deine Schwester eines Morgens auf dem Thron sitzt und die Priester die Leiche ihres liebsten Anbeters in den Thronsaal schleppen und ihr vorführen, dass jemand - oder etwas - in den Tempel geschlichen ist und ihren obersten Priester ermordet hat, wird sie zusammenbrechen. Wenn ich ihr dann erkläre, die Stichwunden in Berslas Leiche stammten
höchstwahrscheinlich von den Zähnen der Insektenmenschen, wird sie mir bestimmt sehr aufmerksam zuhören. Ich könnte ihr alle möglichen wilden Geschichten über Insektenmenschen erzählen, die durch die Hallen ihres Tempels schleichen und die Priester zu Dutzenden töten.« »Würde sie nicht die Leichen sehen wollen?« 31 Sorgan zuckte mit den Schultern. »Wenn sie Leichen sehen will, zeigen wir ihr Leichen. Tori muss seinen Dolch vielleicht sechs- oder achtmal am Tag wetzen, aber das wäre nicht so schlimm.« »Danke, Vetter«, meinte Tori säuerlich. »Nicht der Rede wert, Tori«, gab Sorgan zurück. »Also meiner Meinung nach sollte es gut für euch sein, wenn wir den Langen Pass und Aracias Tempel strikt voneinander getrennt halten«, meinte Langbogen eine Weile später zu Sorgan und Narasan. »Ihr könnt an der Ostküste entlang zu der Flussmündung segeln, und dort gehen diejenigen, die in den Langen Pass aufbrechen, an Land, während Sorgan mit seinen Maags weiterzieht, um Aracia zu beschwichtigen. Sie und ihre Diener werden gar nicht erfahren, dass ihr dort oben seid, Narasan, und deshalb kann sie euch auch nicht den Befehl erteilen, nach Süden zu marschieren und sie zu verteidigen.« »Eine hervorragende Idee, Langbogen«, stimmte Narasan zu. »Ohne Frage wird sich Bersla ausschließlich für die Verteidigung des Tempels interessieren. Was aus dem einfachen Volk in Aracias Domäne wird, kümmert ihn nicht. Selbst wenn der ganze Rest von Aracias Domäne von Insektenmenschen überrannt wird, würde ihn das nicht jucken.« »Da hätte ich einen Einfall, Kapitän Hakenschnabel«, sagte Keselo. »Wenn du Kundschafter ausschickst und die berichten, dass die Insektenmenschen die Landbewohner fressen, bekommen die Priester Angst und werden sich nicht aus dem Tempel trauen, um selbst nachzuschauen. Sie werden sich verkriechen -und sich so gewissermaßen selbst in Gefangenschaft begeben.« »Jedenfalls laufen sie uns dann nicht vor den Füßen herum«, befand auch Sorgan. Er blickte seinen Freund Narasan an. »Du warst schon einmal da, ich jedoch nicht«, sagte er. »Gibt es vielleicht in der Nähe des Tempels etwas, das man als Baumaterial benutzen könnte? Felsen oder Baumstämme, solche Dinge? 32
Wenn wir zum Schein so täten, als würden wir eine Mauer zur Verteidigung errichten, müssten wir schließlich irgendetwas bauen, das zumindest so aussieht wie ein Fort.« »In Sumpfgebieten findet man weder Felsen noch Baumstämme, Sorgan«, entgegnete Narasan. »Na ja«, sagte Sorgan, »der Tempel ist ja auch noch da. Es sollte nicht zu schwer sein, ihn abzureißen und aus den Steinen ein Fort zu bauen.« »Unsere Schwester wird einen Zusammenbruch erleiden, wenn du das machst, Sorgan«, warnte Zelana. »Und das Geschrei der Priester wird man noch zehn Meilen entfernt hören«, fügte Dahlaine hinzu. »Nicht, wenn meine Kundschafter berichten, die Insektenmenschen würden die Bauern bei lebendigem Leib fressen«, widersprach Sorgan. »Wenn die Fetten das hören, werden sie vielleicht sogar ihre Hilfe anbieten. Wie groß ist denn der Tempel ungefähr, Narasan?« »Ungefähr eine Meile im Quadrat«, antwortete Narasan. »Du scherzt!« »Die Priesterschaft hat Jahrhunderte an Aracias Tempel gebaut, Sorgan«, meinte Dahlaine. »Mit so viel Steinen müsstest du doch eine recht hübsche Mauer bauen können, Sorgan«, warf die Kriegerkönigin Trenicia ein. »Sie werden trotzdem eine Weile lang krakeelen«, meinte Veltan. »Nicht, wenn die Berichte meiner Kundschafter schrecklich genug sind«, widersprach Sorgan abermals. »Sobald die Priester von einem zwölf Fuß hohen Käfer hören, der einem Menschen die Leber herausreißt, wenn er hungrig ist, werden sie uns erlauben, alles zu tun, was erforderlich ist, solange wir nur die Ungeheuer zurückdrängen - und sie werden sich tief im Tempel verstecken und sich mindestens für einen Monat nicht ans Tageslicht trauen.« 33 »Mir gefällt das.« Narasan freute sich wie ein Kind. »Also wird's so gemacht, alter Freund«, erwiderte Sorgan und grinste breit. Zelana lächelte. Die Freundschaft zwischen Sorgan und Narasan, diesen beiden so unterschiedlichen Männern, schien fester und fester zu werden, und inzwischen hatte sie schon fast den Eindruck, die beiden würden beinahe alles füreinander tun. Während sich die Männer für den langen Marsch zur Ostküste von Dahlaines Teil des Landes Dhrall rüsteten, verbrachten Sorgan,
Narasan und einige andere viel Zeit damit, die Karte zu studieren. »Ich brauche die Schiffe zurück, sobald deine Männer unten in Aracias Tempelstadt von Bord gegangen sind, Sorgan«, erinnerte Narasan seinen Freund. »Und trotzdem wird zunächst mehr als die Hälfte meiner Armee am Strand festsitzen.« »Kein Problem«, beruhigte Sorgan ihn. »Die Schiffe würden den Hafen von Tempelstadt doch nur verstopfen. Und wenn sich die Priester deine Schiffe zu lange anschauen, kommen sie womöglich noch auf die Idee, dass sie eine Flotte brauchen, um draußen auf dem Meer den Fischen zu predigen.« Er runzelte die Stirn. »Nennen die Leute dort unten ihren Ort tatsächlich >Tempelstadt Die meisten Städte haben fantasievollere Namen.« »Die Priester - und Aracia selbst auch - betrachten es gar nicht als Stadt, Sorgan«, erklärte Narasan. »Die Menschen, die außerhalb der Mauern leben, haben vielleicht einen anderen Namen, die Leute jedoch, mit denen du es zu tun haben wirst, sprechen einfach nur vom >Tempel<. Wäre durchaus möglich, nehme ich an, dass die meisten der Priester die Gebäude und Häuser außerhalb der Tempelmauern sogar noch nie bemerkt haben. Für sie stellt der Tempel die ganze Welt dar.« »Dumm, dumm, dumm«, meinte Sorgan. »Das Wort passt wohl fast immer, wenn man über irgendeine 34 Priesterschaft spricht, Sorgan«, erwiderte Narasan und deutete ein Lächeln an. Langbogen hatte seine Aufmerksamkeit der Karte gewidmet und winkte Sorgan jetzt zu sich. Der Maag-Kapitän trat zu ihm. »Ist dir etwas aufgefallen, das schief gehen könnte?« »Bis jetzt nicht, Freund Sorgan. Ich habe nur gerade gedacht, dass der Großteil deiner Flotte noch immer in dieser Bucht dort drüben liegt.« »Das sollte sie auch lieber«, erwiderte Sorgan. »Ich habe Skell hingeschickt, damit er gut auf sie aufpasst.« »Bestimmt wären doch weitere Bogenschützen oben im Langen Pass von Nutzen, und deine Schiffe liegen nur ein paar Tagesreisen nördlich vom Dorf des Alten Bären, wo Hunderte von Bogenschützen herumsitzen und sich Geschichten erzählen, vor Anker. Wenn Skell sie zu diesem Fischerdorf an der Küste bringt, sind sie nur ein paar Tage hinter uns, und vermutlich würden sie das
obere Ende des Langen Passes erreichen, ehe die Insektenmenschen aus dem Ödland heranstürmen.« »Die Idee ist nicht schlecht, Langbogen«, lobte Sorgan. »Die Seeleute hätten etwas zu tun, und Narasan bekommt Hilfe, die er wahrscheinlich gut gebrauchen kann.« »Dem kann ich nur zustimmen«, sagte Narasan, »und ich nehme jede Hilfe, die ich bekommen kann.« Langbogen betrachtete Dahlaines Nachbildung des östlichen Dhrall weiter. »Da gibt es diese Kette von flachen, runden Hügeln, die sich an der Ostseite entlangzieht. Ich glaube, wenn wir dort ankommen, führe ich die Bogenschützen aus Tonthakan diesen Weg hier hinunter, und die Bogenschützen des Alten Bären wären nicht allzu weit hinter uns. Vermutlich erreichen wir das obere Ende des Langen Passes vor Narasans Fortbauern. Dann können wir dafür sorgen, dass die Trogiten keine unliebsamen Überraschungen erleben, wenn sie eintreffen.« 35 »Ich werde Skell benachrichtigen lassen«, sagte Sorgan. Dann sah er seinen Freund an. »Wie viele Forts willst du eigentlich bauen?«, fragte er Narasan. »So viele, wie ich in der Zeit schaffe, die mir das Vlagh lässt«, antwortete Narasan. »Mir wäre eins ungefähr jede Meile lieb ... wenn genug Zeit bleibt. Die Insektenmenschen können Forts nicht ausstehen, und ich möchte die Sache für sie gern so unangenehm wie möglich gestalten.« »Wie willst du denn verhindern, dass die Käfer wieder diesen Rauch einsetzen wie in der Kristallschlucht?«, fragte Hase. »Veltan und ich können uns darum kümmern, falls es nötig wird«, schlug Dahlaine vor, »aber ich denke, die Käfer werden es nicht noch einmal versuchen. Der Wind dort unten weht vorwiegend aus Osten und würde ihnen den Rauch geradewegs in die Gesichter treiben.« »Das Vlagh muss diesmal zu allem entschlossen sein, großer Bruder«, sagte Veltan. »Der Weg in die anderen Teile des Landes Dhrall ist ihm versperrt, nur dieser ist noch frei. Wenn es diesmal nicht gewinnt, wird es für den Rest der Ewigkeit draußen im Ödland in der Falle sitzen. Deshalb wird es alles unternehmen, damit seine Diener euch überwinden.« »Und wir sollten alles daransetzen, genau das zu verhindern, kleiner Bruder«, erwiderte Dahlaine entschieden.
Ein wenig später waren die Ausländer zu Bett gegangen; Zelana und ihre Brüder verweilten jedoch noch im Kartenraum. Die drei waren recht sicher, bald neue Anweisungen zu erhalten. Langbogen war ebenfalls geblieben, nannte allerdings dafür keinen Grund. Ungefähr gegen Mitternacht öffnete sich die Tür, und Balacenia trat mit ihrer strahlenden, verschleierten Begleiterin zu ihnen auf den Balkon. »Einer von euch wird mit Sorgan zu Schwester Aracias Tempel reisen müssen«, sagte die Dunstschleierdame. 36 »Das könnte ich machen«, meldete sich Veltan freiwillig. »Aracia hält mich für einen Kindskopf ohne Hirn, daher wird sie mich kaum beachten.« »Keine schlechte Idee, Veltan«, sagte die Dame. »Behalte Aracia gut im Auge. Sie steht kurz davor durchzudrehen, und wenn sie tatsächlich den Verstand verlieren sollte, musst du Zelana und Dahlaine sofort davon berichten. Ihr drei dürft auf keinen Fall zulassen, dass sie gegen die Regeln verstößt. Wir wollen sie ja nicht verlieren.« Langbogen stand an der Seite und zeigte ein ausnehmend überraschtes Gesicht. Dann, nachdem Balacenia und ihre leuchtende Begleiterin wieder gegangen waren, begann der Bogenschütze, der sonst für gewöhnlich eine grimmige Miene zeigte, aus heiterem Himmel zu lachen. »Was gibt es denn so Lustiges, Langbogen?«, fragte Zelana. »Ach, nichts«, antwortete er. Und lachte erneut. Zelana fand das sehr ärgerlich, konnte sich allerdings nicht erklären, wieso. 3 Früh am nächsten Morgen bereiteten sich die verschiedenen Armeen auf den Abmarsch vor, und Langbogen gesellte sich zu Zelana, die in der Nähe des Höhleneingangs stand. »Es würde uns vielleicht Zeit sparen, wenn Häuptling Alter Bär weiß, dass die Maags mit ihren Langschiffen kommen«, schlug er vor. Zelana lächelte. »Ich soll wohl hinunterfliegen und es ihm mitteilen, habe ich das recht verstanden?« »Wenn es dir nicht allzu viel Mühe macht«, erwiderte Langbogen. 37 1 »Und wenn doch?« »Flieg trotzdem hin.«
»Langbogen!«, rief Zelana. »Willst du mir jetzt tatsächlich Befehle erteilen?« »Sagen wir lieber, es war eine sehr dringende Bitte.« »Das läuft auf das Gleiche hinaus, oder?« »So in etwa, klingt aber höflicher.« »Das Leben wäre leichter für dich, wenn du hin und wieder ein bisschen lächeln würdest.« »Im Augenblick ist die Luft so kalt, Zelana«, gab er zurück. »In der Kälte lächeln ist nicht gut für die Zähne.« »Hatte Dahlaine Zeit, für dich einen Blick auf die zerklüftete Bergkette im Osten zu werfen?« Langbogen nickte. »Er ist mit dem Blitz hin, beim ersten Tageslicht«, erzählte er. »Bei seiner Rückkehr hat er berichtet, wir würden nirgendwo auf Schwierigkeiten stoßen.« »Wen nimmst du mit, wenn du dich von der Hauptarmee trennst?« »Überwiegend einheimische Jäger«, antwortete er. »Kathlak wird die Tonthakaner anführen, Zweihand die Matakaner. Ekial und die Pferdesoldaten der Malavi begleiten uns ebenfalls. Das war eigentlich Narasans Vorschlag. Er wird die Schiffe für seine Armee brauchen, und die Malavi mögen ohnehin keine Schiffe. Vermutlich sind sie am oberen Ende des Langen Passes sowieso nützlicher.« »Eigentlich sollte für dich und deine Leute alles glatt gehen«, sagte Zelana. »Solange ihr nicht in einen Schneesturm geratet.« »Auch darum kümmert sich dein älterer Bruder, glaube ich«, erwiderte Langbogen. »Er kann sehr gut mit dem Wetter umgehen.« »Wie weit ist es von dem Punkt, an dem du nach Süden abbiegst, bis zum oberen Ende des Langen Passes?«, fragte Zelana. »Wenn Dahlaines Karte genau ist, dürften es etwa hundert38 sechzig Meilen sein«, schätzte Langbogen. »Wahrscheinlich werden wir dreißig Meilen am Tag schaffen, und demnach sind wir in fünfeinhalb Tagen dort, noch bevor Narasan mit den Schiffen am anderen Ende des Passes eintrifft. Somit werden wir wohl verhindern können, dass die Wesen aus dem Ödland oben in den Pass eindringen.« »Das ist eigentlich das Wichtigste«, meinte Zelana. In diesem Moment kamen Sorgan und Narasan aus Dahlaines Höhle. »Mach dir keine Sorgen, Narasan«, sagte Sorgan gerade. »Ich werde Zelanas Schwester so beschäftigen, dass sie überhaupt nicht auf den Gedanken kommt, dir irgendwelche Schwierigkeiten zu machen.«
»Danke, mein Freund«, antwortete Narasan. »Selbst wenn ich die Schwester der werten Zelana niemals wieder sehen muss, wäre das immer noch sechs Wochen zu früh.« Sorgan grinste. »Das Schönste daran ist, dass sie mich auch noch dafür bezahlt, sie von dir fernzuhalten.« Danach trat Elerias erwachsenes Ich mit der Kriegerkönigin Trenicia aus der Höhle. »Sind wir so weit, Geliebte?«, fragte Balacenia. »Geliebte?«, fragte Zelana leicht beunruhigt zurück. »Eleria färbt ein bisschen auf mich ab«, erklärte Balacenia. Trenicia gesellte sich zu Narasan und Sorgan, Balacenia zu Zelana. »Ich habe so ein paar Andeutungen mitbekommen, dass Trenicia etwas für Narasan empfindet«, sagte Elerias älteres Ich leise. »Sie will ihn«, bestätigte Zelana. »Ich habe mit ihr darüber gesprochen, nachdem sie und Narasan vor Aracia Reißaus genommen haben. In vielerlei Hinsicht denkt Trenicia nicht wie eine Frau - und benimmt sich auch nicht so. Ich habe ihr ein paar Vorschläge gemacht, und anscheinend beherzigt sie die.« »Glaubst du, sie kriegt ihn?« »Wahrscheinlich. Wenn sie möchte, kann sie wirklich bezau39 bernd sein.« Zelana lächelte. »Es klingt vielleicht ein bisschen seltsam, aber im Laufe der Jahre ist mir aufgefallen, dass Frauen, die sich einen Mann angeln wollen, sich selbst als Köder benutzen. Ich weiß nicht, ob Trenicia Narasan schon am Haken hat, aber lange wird es wohl nicht mehr dauern.« Dann gähnte Zelana. »Entschuldige«, sagte sie. »So langsam kann ich kaum mehr die Augen offen halten.« »Dieser dumme Krieg ist bestimmt bald vorüber«, sagte Bala-cenia, »und dann werden Eleria und ich dich nach Hause bringen und ins Bett legen.« Sie zögerte, und plötzlich bekam ihr Gesicht einen sehr vertrauten Zug. »Wäre das nicht süß?«, fragte sie und benutzte einen der liebsten Aussprüche Elerias. Zelana lachte und nahm ihre Mitgöttin in die Arme. »Das nennt Eleria eine >Umarmung<«, erklärte sie. »Ja«, stimmte Balacenia zu, »und jetzt verstehe ich auch, warum sie es so gern mag. Wann immer dir nach einer Umarmung zumute ist, Geliebte, bin ich zur Stelle.« Zelana lachte und gähnte erneut. Die Reise 4
Als der Marsch von Kommandant Narasans Armee vom Berg Shrak zur Ostküste des Landes Dhrall losging, war Unterkommandant Andar dem Häuptling Zweihand von der matanischen Nation über alle Maßen dankbar, dass er ihm einen dieser dicken Bisonfellmäntel geschenkt hatte. Der Winter war eingekehrt, und im Grasland von Matakan herrschte bitterer Frost. Andar war in Kaldacin aufgewachsen, der Hauptstadt des trogitischen Weltreiches, und manchmal, wenn es während der Wintermonate kalt wurde, bildete sich eine dünne Eisschicht auf den Teichen; einen See, der vollständig von der Oberfläche bis zum Grund zu einem massiven Eisblock gefroren war, hatte Andar allerdings nie zuvor gesehen. »Wie findet ihr denn bei dieser Kälte Wasser zum Trinken, Tlindan?«, fragte er einen der Matakaner. »In dem Teich ist doch einiges an Wasser«, antwortete Tlindan. »Es ist gefroren«, hielt Andar dagegen. »Dann musst du es schmelzen«, sagte Tlindan. »Überwiegend schmelzen wir Schnee, wenn wir Wasser brauchen, aber Eis schmilzt ebenfalls, wenn du wirklich Durst hast und kein Schnee in der Nähe ist.« Der Matakaner, der ebenfalls in einem Pelzmantel steckte, schaute über das braune Gras zum Horizont. »Meistens verbringen wir im Winter nicht so viel Zeit draußen. Stattdessen verkriechen wir uns in unseren Hütten. Wenn man dann 41 sein Feuer in Gang hält, ist es hübsch warm, und ein Topf voll Schnee schmilzt in einer Stunde. Eis braucht länger, schmilzt aber auch irgendwann. Die meisten von uns machen sich allerdings nicht so viel aus Eis. Weil es eben so langsam schmilzt, selbst wenn es in der Hütte sehr warm ist.« »Und wie schmelzt ihr es, wenn ihr draußen seid und es sehr kalt ist?« »Meiner Meinung nach geht es am besten so: Zuerst zerstampft man das Eis mit dem Faustkeil. Wenn man ein Beil benutzt, bekommt man nur größere Brocken. Und es sollen ja sehr kleine sein, denn größere brauchen länger, um zu schmelzen. Wenn du meinst, genug zu haben, tust du sie in einen Topf. Dann harkst du einen Haufen trockenes Gras zusammen, stellst den Topf mitten hinein und steckst das Gras an. Kurz darauf hast du Wasser zum Trinken.« »Ist das Wasser dann nicht zu heiß?« Tlindan zuckte mit den Achseln. »Dann tut man eben etwas Eis hinzu. Im Winter trinke ich allerdings gern heißes Wasser. Die
Wärme breitet sich vom Bauch aus, und man fühlt sich überall besser - außer an den Füßen. Im Winter haben alle kalte Füße.« »Wie kann man bloß an einem solchen Ort leben?« Tlindan breitete die Hände aus. »Man kann gut jagen, und so lang ist der Winter nun auch wieder nicht. Und wie gesagt, wir verbringen dann eben nur wenig Zeit außerhalb unserer Hütten. Die Zeit eignet sich hervorragend, um ein bisschen Schlaf nachzuholen. ZwölfStunden-Nickerchen sind ziemlich nett, wenn draußen sowieso nichts los ist. Und nachdem man so viel geschlafen hat, ist man gut ausgeruht, wenn der Frühling kommt.« Andar sah hinauf zu den grauen Wolken, die nach Osten zogen. »Ist es den ganzen Winter so bewölkt?«, fragte der den Eingeborenen. 42 »Meistens, ja. Dahlaine spielt dieses Jahr allerdings mit den Wolken. Normalerweise haben wir zu dieser Jahreszeit Schneestürme.« »Schneestürme?« »Richtig heftige Schneestürme. Da kommen manchmal zwölf Fuß Schnee in anderthalb Tagen runter. Bei solchem Wetter geht natürlich niemand vor die Tür. Aber es gibt nicht nur Schlechtes. Wenn der Schnee im Frühjahr schmilzt, hat das Gras viel Wasser und wächst sehr schnell. Dadurch haben die Bisonherden viel zu essen und werden hübsch fett, bis wir zur Jagd gehen. Das Wetter arbeitet für dich, wenn du es nur richtig zu nehmen weißt.« Daraufhin blickte er zum Himmel. »Vermutlich müssen wir bald anhalten und das Lager aufschlagen. Es wird bald dunkel.« »Mittag ist doch gerade erst vorbei«, protestierte Andar. »Das ist eine Sache, die man über den Norden unbedingt wissen sollte. Im Winter sind die Tage hier nur sechs oder sieben Stunden lang, und die Nacht kommt schnell.« Andar runzelte die Stirn. »Wir können uns später weiter unterhalten«, sagte er. »Ich glaube, erst einmal warne ich Kommandant Narasan, dass die Nacht heranrückt.« Er eilte zur Spitze der Kolonne. »Ich fürchte, wir haben ein Problem, Kommandant.« »Was denn?«, wollte Narasan mürrisch wissen. »Es wird bald dunkel. Einer der Matakaner hat mich davor gewarnt. Wir haben nicht mehr lange Tageslicht.« »Es ist erst ein paar Stunden nach Mittag, Andar.« »Der Matakaner hat mir gesagt, hier oben habe man im Winter nicht mehr als sechs oder sieben Stunden Tageslicht.«
Narasan sah ihn missmutig an. »Ich denke, wir sollten uns lieber mal mit Herrn Dahlaine unterhalten, Andar. Bis zur Ostküste liegt ein weiter Weg vor uns, und wir brauchen längere Tage -oder es ist Sommer, bevor wir das Meer erreichen.« »Das ist eigentlich kein großes Problem, Narasan«, versprach Dahlaine. »Du erinnerst dich gewiss an meine Spielzeugsonne. Sie und Schwester Zelanas Nebelbank - haben uns in Veltans Domäne ein wenig geholfen.« »Daran hätte ich gleich denken können«, meinte Narasan. »Wie viele zusätzliche Stunden pro Tag wird sie uns geben können?« »Wie viele braucht ihr denn? Sie hat viel Spaß daran, Licht auszuschütten, daher wird sie euch so viel liefern, wie ihr wollt?« Narasan schaute blinzelnd über das gefrorene Grasland. »Kann sie auch Hitze ausstrahlen, nicht nur Licht?« »Sie hat immer in meiner Höhle für mollige Wärme gesorgt, als Ashad noch ein Säugling war.« »Wärme wäre sogar besser als Licht«, sagte Narasan. Dann sah er Dahlaine an. »Es geht mich ja nichts an, aber empfindet ihr Hitze und Kälte nicht auf die gleiche Weise wie wir?« »Ich weiß, dass es sie gibt«, erklärte Dahlaine. »Nun, ich glaube, ich weiß, worauf du hinaus willst, Narasan. Jetzt, da du es erwähnst, halte ich es für keine schlechte Idee. Wenn meine kleine Sonne euch Licht und Wärme spendet, kommt ihr am Tag viel weiter voran, nicht wahr?« »Ich würde sagen, mindestens fünf Meilen mehr«, schätzte Narasan. »Möglicherweise sogar sieben oder acht.« Dann zuckte er zusammen. »Vielleicht würde das meine Männer ein bisschen beunruhigen.« »So ganz kann ich dir nicht folgen, Narasan.« »Zehn Meilen pro Tag sind sozusagen ein ungeschriebenes Gesetz in der trogitischen Armee, Herr Dahlaine. Einzelne Soldaten können natürlich mehr schaffen, aber für den Marsch in der Kolonne gelten zehn Meilen als Obergrenze. Was darüber hinausgeht, gilt als Schinderei. Das ist halt so ein Brauch, und wenn es um Bräuche geht, sind wir Trogiten ganz groß.« Er zuckte mit den Schultern. »Eigentlich hängt es mit den Verzöge44 rungen zusammen, die sich nicht vermeiden lassen, wenn man hunderttausend Mann in Bewegung setzt.« »Meinst du nicht, >Ruhezeit< hat ebenfalls etwas mit dieser Zehn-
Meilen-Grenze zu tun, Kommandant?«, warf Andar ein. »Ruhezeit?«, fragte Dahlaine. »Noch so ein Brauch, Herr Dahlaine«, erklärte Narasan. »Man erwartet von uns, den Männern von jeder Stunde Marschzeit ein Viertel zu lassen, damit sie Atem schöpfen können. In gebirgigen Gegenden ist das durchaus sinnvoll, aber im Flachland ist es kompletter Unfug.« Sein Blick wurde hart. »Ich glaube, es ist Zeit, diesen Blödsinn abzuschaffen. Wenn wir jeden Tag ein paar Meilen mehr schaffen, werden wir mit ziemlicher Sicherheit die Ostküste deiner Domäne einige Tage früher erreichen als ursprünglich geplant. Ich würde sagen, es wäre einen Versuch wert. Und wenn es wärmer ist, müssen wir uns doch wegen Schneestürmen keine Sorgen machen, oder?« Dahlaine grinste. »Vielleicht sind die Stürme zunächst ein bisschen eingeschnappt«, sagte er, »doch ich glaube, ich kann ihnen das Schmollen austreiben. Probieren wir mal aus, was mein Liebling so schafft. Hochsommer wollen wir ja auch nicht, aber Frühherbst wäre doch recht angenehm.« »Was immer du für das Beste hältst, Herr Dahlaine«, meinte Narasan. »Du bist sehr gut darin, Dinge auf die Beine zu stellen, Narasan«, merkte Dahlaine an. »Dazu ist ein Armeekommandant schließlich da, Herr Dahlaine. Unsere Leute kommen mit den verrücktesten Ideen zu uns, und wir sollen daraus einen Plan basteln, der zum Erfolg führt. In meiner Armee gibt es viele Männer, die klüger sind als ich, doch das macht mir nicht allzu viel aus. Meine Aufgabe besteht darin, die verschiedenen Ideen aufzugreifen und sie so zu verwirklichen, dass möglichst wenige Männer ihr Leben dabei lassen müssen.« 45 »So ganz entspricht das ja nicht der Uniform, Padan«, meinte Andar am nächsten Tag zu seinem Freund, als sie früh am Morgen aufbrachen. »Ich soll ja auch aussehen wie ein Maag«, erklärte Padan. »Narasan hat das Sorgan vorgeschlagen. Die Maags können Städte nicht so gut verteidigen - niederbrennen, ja; verteidigen, nein. Ich halte mich im Hintergrund, damit mich Aracias Priester nicht wieder erkennen, und unterstütze Sorgan, wenn er Rat braucht. Dahinter steckt die Idee, etwas zu bauen und es so sehr wie ein Fort aussehen zu lassen, dass die Priester glauben, wir hätten eine uneinnehmbare Festung
errichtet. Wenn es darum geht, Forts zu bauen, bin ich zwar nicht so gut wie Gunda, aber ich sollte wohl etwas hinbekommen, das in etwa wie ein Fort aussieht.« »Bis mal eine kräftige Böe weht«, sagte Andar. »Sei nett zu mir«, entgegnete Padan. Dann kratzte er sich an der Wange. »Gibt es Probleme?«, erkundigte sich Andar. »Sorgan findet, ich sollte mir den Bart wachsen lassen, und überhaupt: Wenn ich wie ein Maag aussehen möchte, sollte ich ein bisschen zerzauster sein. Dabei hat er vergessen, mir zu sagen, dass das Haar dabei die ganze Zeit juckt.« »Maags bemerken es vielleicht nicht, Padan.« Andar lächelte schwach. »Man sollte meinen, Leute, die draußen auf dem Meer leben, würden häufiger baden. Ich würde fast wetten, dass die Maags eine willkommene Heimstatt für Flöhe und Läuse sind.« »Du bist heute aber schlecht gelaunt, Andar.« »Heimweh vermutlich«, räumte Andar ein. »Ich vermisse Kaldacin. Es ist verdorben, und dort riecht es auch nicht gut, doch es ist die Heimat.« »Wenn Herr Dahlaine recht hat, wird dies der letzte Krieg im Land Dhrall sein. Für die Wesen aus dem Ödland steht nur noch ein Weg offen. Ist der erst versperrt, können wir alle heimkehren und das schöne Geld zählen, das wir uns hier verdient haben.« 46 »Nachdem die Kirche von Amar ausgetilgt ist, wird es in Kaldacin viel sauberer sein«, fügte Andar hinzu. »Ich weiß nicht, ob dir die Ähnlichkeiten zwischen den Priestern der >Heiligen Aracia< und den hohen Geistlichen der Kirche von Amar aufgefallen sind.« »Alle sind fett, wenn du darauf hinaus willst«, meinte Padan. »Habe ich dir eigentlich schon gratuliert zu der Horrorgeschichte, die du diesem fetten Priester namens Bersla aufgetischt hast?« »So weit war die gar nicht von der Wahrheit entfernt, Padan«, protestierte Andar. »Wir kennen doch alle die Geschichten über Hungersnöte, die so häufig vorkommen. Wenn jemand dem Hungertod nahe ist, wird er manchmal zum Kannibalen - nur dass er die Menschen erst verspeist, wenn sie schon tot sind. Ich war mir sehr sicher, die Aussicht, bei lebendigem Leibe gefressen zu werden, hat Bersla ausreichend erschreckt, um den Vorgängen in der Welt draußen ein bisschen Aufmerksamkeit zu schenken.« »Die Haare standen ihm zu Berge, und die Augen traten aus den
Höhlen, was durchaus Anzeichen sein dürften, die deine Vermutung bestätigen.« »Hoffentlich, denke ich. Seine Überheblichkeit war einfach nicht mehr zu ertragen. Er benimmt sich, als wären die einfachen Leute in Aracias Domäne nur Vieh, dessen einziger Sinn darin besteht, ihm Essen zu liefern, und Aracias Verstand ist schon so weit benebelt, dass sie ihm jedes Wort glaubt.« »Ich gebe es ja nicht gern zu«, meinte Padan, »doch ich denke, Keselos Idee ist vielleicht die beste, die einer von uns jemals haben wird. Wenn Sorgan seine Kundschafter ausschickt und diese berichten, die Insektenmenschen würden kommen und wären ganz, ganz schrecklich, werden alle fetten Priester bestimmt in Deckung gehen und sich so tief im Keller verstecken, dass sie gar nicht mehr mitbekommen, was wirklich vor sich geht. Da sie so beschäftigt damit sind, sich zu verstecken, fällt ihnen garantiert 47 nicht auf, dass Sorgan bestimmte Teile des Tempels abreißt, um mit den Steinen ein Fort zu bauen.« Da Dahlaines kleine Spielzeugsonne ihnen nun mehr Tageslicht und außerdem wärmeres Wetter - schenkte, kamen die Armeen in der Tat wesentlich schneller voran als am ersten, unangenehmen Tag, und so erreichten sie die niedrige Bergkette im Osten viel eher, als es jemand für möglich gehalten hätte. Die ausgewaschenen Berge vermittelten Andar ein willkommenes Gefühl der Vertrautheit. Sie ähnelten den Bergen südlich von Kaldacin, deshalb fand Andar sie ziemlich schön, und außerdem waren sie nicht so zerklüftet und imposant wie die Gebirge in Zelanas, Veltans und Dahlaines Domänen. Der junge Gelehrte, Keselo, hatte ihm erklärt, dass Berge so manches mit Menschen gemeinsam hatten. Mit jedem Jahr, das sie alterten, wurden die rauen Kanten mehr abgeschliffen, und sie wurden stetig sanfter. »Ich glaube, für heute haben wir genug geschafft«, verkündete Kommandant Narasan. »Die Männer sollen das Lager aufschlagen. Morgen trennen wir uns, daher wäre es vielleicht nicht so dumm, wenn wir noch einmal alles genau durchsprechen.« »Gute Idee«, stimmte Dahlaine zu. »Langbogen hat uns erzählt, er wolle die Tonthakaner, Matakaner und die Malavi-Pferdesoldaten an diesem Gebirgszug entlang nach Süden führen, bis zum oberen Ende des Langen Passes, während die Trogiten und Maags zur Küste marschieren und an Bord der Schiffe gehen. So haben wir es am
Berg Shrak beschlossen, und ich sehe eigentlich keinen Anlass, daran etwas zu ändern.« »Du hast es ihm also noch nicht gesagt, wie ich sehe«, meinte Ekial, der Malavi, zum finster dreinblickenden Langbogen. »Ich wollte ihn nicht beunruhigen - und auch seine Schwester Zelana nicht«, erwiderte Langbogen. »Beunruhigen?«, hakte Zelana nach. »Was hast du denn schon wieder vor?« 48 »Ich führe die anderen natürlich, Zelana«, erklärte Langbogen, »allerdings werde ich ein ganzes Stück vor ihnen unterwegs sein. Kathlak, Ekial und Zweihand wissen, wo es hingeht, aus dem Grunde brauchen sie mich nicht, damit ich alle paar Minuten nach Süden zeige. Deshalb gehe ich voraus und überzeuge mich davon, dass die Wesen des Ödlands noch nicht in dieses Gebirge vorgedrungen sind. Anschließend laufe ich durch den Langen Pass bis zum Meer. Wenn die Schiffe eintreffen, werde ich vermutlich schon da sein, und dann kann ich unseren Freunden über alles, was mir unterwegs aufgefallen ist, Bericht erstatten.« »Das ist zu riskant«, befand Zelana. »Du kannst nicht einfach so ganz allein herumrennen.« »Nun, dann begleite mich doch, wenn du möchtest«, bot Langbogen an und lächelte schwach. »Einer muss vorgehen - und zwar einer, der sich gut mit den Dienern des Vlagh auskennt und weiß, wonach er Ausschau zu halten hat. Und dieser eine bin ich, Zelana. Ich weiß mehr über die Wesen des Ödlands als jeder andere, und vor allem weiß ich, wie ich mich unsichtbar für sie bewegen kann. Das mache ich schon seit sehr, sehr langer Zeit, Zelana, deshalb ist es für mich auch nicht wirklich gefährlich.« »Du beharrst also auf deiner Entscheidung, scheint mir?«, fragte Zelana. »Ja, ich glaube, ich habe gerade darauf beharrt. Du sorgst dich zu viel, Zelana. Das macht alt, wenn du nicht aufpasst.« »Ich bin bereits alt«, fuhr sie ihn an. »Aber du möchtest doch nicht, dass man es dir ansieht, oder? Mir wird schon nichts passieren, Zelana. Ich weiß, was zu tun ist und wie es zu tun ist. Da es sonst niemanden gibt, der das kann, muss ich es selbst erledigen.« Er blickte sich unter den anderen um. »Ich weiß, viele von euch würden mir gern helfen, aber ihr würdet mir doch nur im Weg stehen. Ich sehe euch in ein paar Tagen am unteren Ende des
Langen Passes wieder, meine Freunde«, sagte er, dann drehte er sich um und lief mit geschmeidigen 49 Schritten in Richtung Süden davon. Andar war recht sicher, dass Langbogen sich so entschieden hatte, weil er unbedingt mal wieder allein sein wollte. Langbogen mochte es nicht sehr gern, Leute um sich zu haben, und er brauchte es auch nicht. Wenn Andar je einem richtigen Einzelgänger begegnet war, dann Langbogen. 5 Andar hatte seine Meinung über die Kriegerkönigin Trenicia natürlich sorgsam für sich behalten, denn sie war immer zugegen, wenn er mit dem Kommandanten sprechen musste. Dabei störte sie weder noch mischte sie sich ein, und doch befiel ihn allein wegen ihrer Anwesenheit ein gewisses Unbehagen. Das mochte sicherlich an dem großen Schwert liegen, das sie am Gurt um die Taille trug. Frauen sollten solche Waffen nicht tragen. Frauen sollten sanft und liebevoll sein - und, wie sich von selbst verstand, unterwürfig. Andar fand, Trenicias bloße Existenz verstoße bereits gegen ein Naturgesetz, das seit Anbeginn der Zeiten gültig war. Gewiss, Andar hatte noch nicht einmal von der Insel Akalla gehört, bis die trogitische Flotte im letzten Frühherbst beim Tempel von Zelanas Schwester angekommen war. Der Gedanke, es gebe einen Ort, wo Frauen herrschten, war derart unnatürlich, dass Andar sicher war, es müsse sich um einen wie auch immer gearteten Schwindel handeln. Bestimmt war ein Mann der wahre Anführer auf der Insel, und bei Trenicia handelte es sich lediglich um ein ausgeklügeltes Täuschungsmanöver. Immerhin konnte sie mindestens einen halben Tag laufen, und ihre Schultern waren breiter als Andars. Sie zeigte alle Merkmale eines Kriegers - bloß war sie dabei eine Frau. Kommandant 5° Narasan behandelte sie mit Respekt, und die beiden kamen offensichtlich recht gut miteinander aus. Auf dem Marsch Richtung Osten führte Andar sein inneres Streitgespräch fort. Königin Trenicia hätte eigentlich nicht hier sein sollen - war es jedoch trotzdem. Königin Trenicia sollte in einem großen Palast umgeben von Dienern sitzen, die ihr jeden Wunsch von den Lippen ablasen - aber sie saß dort nicht. Andars Weltbild wurde dadurch auf den Kopf gestellt, und das
passte ihm nun überhaupt nicht. »Wenn wir bloß zuhause geblieben wären«, murmelte er vor sich hin. Einige Tage später erreichten sie die Küste, wo die trogitischen Schiffe immer noch genau da vor Anker lagen, wo Kommandant Narasans Armee sie zurückgelassen und sich auf den langen Marsch zum Berg Shrak gemacht hatte. Sorgan Hakenschnabel ruderte hinüber zur Sieg, und Narasan stand bereits an der Reling und wartete auf ihn. »Wir müssen uns unterhalten, Narasan«, rief Hakenschnabel. »Aber gern«, antwortete Narasan. »Über das Wetter?« »Sehr lustig«, entgegnete Sorgan, ohne zu lächeln. »Können wir vielleicht zur Sache kommen?« »Tut mir leid«, entschuldigte sich Narasan. »Ich habe mit einigen der Männer gesprochen, die dich begleitet haben, als du im Tempel der verrückten Schwester unserer werten Dame Zelana warst. Wenn ich recht verstanden habe, sind ihre Priester nicht allzu helle im Kopf. Hätte ich es mit Leuten zu tun, die außer Luft noch etwas anderes zwischen den Ohren haben, könnte ich zunächst mit einer Vorhut anlanden, aber nach dem, was ich über diese >Heiligen< gehört habe, würden sie nicht einmal annähernd begreifen, wovon ich rede. Daher muss ich meine gesamte Armee auf einmal auf den Strand bringen. Allein dadurch kann ich die dumme Schwester unserer werten Zelana davon überzeugen, dass ich genug Männer habe, um sie und 51 ihre >allerheiligsten Heiligen< zu beschützen, wenn die Käfer ihren ach so innig geliebten Tempel angreifen.« » Und um herauszufinden, wie viel Gold sie bereit ist, dir zu zahlen?«, fragte Narasan. »Das ist ebenfalls wichtig, Narasan. Aber wenn ich meine gesamte Armee auf einmal an Land bringen muss, brauche ich ungefähr hundert von deinen Badewannen.« »Erscheint mir richtig, Freund Sorgan. Sobald du deine Männer an Land hast, schick die Schiffe wieder los. Viele meiner Männer werden noch hier warten, und ich bin ziemlich sicher, dass ich sie alle brauche, wenn die Wesen aus dem Ödland heranstürmen.« Er blickte seinen Freund forschend an. »Wäre es dir recht, wenn ich dir ein paar Ratschläge gebe, wie man mit der Schwester der werten Zelana am besten umgeht?« »Aber immer doch, Narasan. Du kennst sie ja schon, ich nicht.«
»Erstens«, sagte Narasan, »solltest du den Preis ein bisschen in die Höhe treiben. Geld bedeutet Aracia nichts, daher wird sie vermutlich kaum auf die Summe achten. Wenn du mit ihr redest, benimm dich despotisch. Sag ihr, du würdest deine Männer nehmen und abziehen, falls sie deinen Forderungen nicht zustimmt. Sie wird dir zahlen, was du forderst, und sie wird einverstanden sein, ihre Priester anzuweisen, sich nicht einzumischen; wenn sie sich deinen Bedingungen fügen muss, wird sie sich in die Defensive gedrängt fühlen. Daher musst du ihr ein paar Lügen erzählen oder dir etwas ausdenken, damit das auch so bleibt. Falls sie glaubt, du würdest die Oberhand gewinnen, tut sie fast alles, was du von ihr verlangst. Sei schroff - und sogar ein bisschen herrisch -, besonders wenn du ankündigst, dass du einen großen Teil des Tempels abreißen wirst, um Baumaterial für ein Fort zu bekommen. Frag sie nicht; teil es ihr einfach mit. Ihr fetter Hauptpriester wird wahrscheinlich sofort zu zetern beginnen. Ich weiß nicht, ob ich ihn nicht auf der Stelle umbringen würde, 52 aber du kannst ja ein paar Drohungen ausstoßen - zieh dein Schwert oder schlag ihm mit der Faust aufs Maul. Und bring Aracia wann immer möglich ein bisschen aus dem Gleichgewicht.« »Du kannst ein ziemlich garstiger Kerl sein, wenn du dir Mühe gibst, alter Freund«, sagte Sorgan und grinste breit. »Ich habe aus meinen Fehlern gelernt, Freund Sorgan. Denn als ich da war, wollte ich nicht >garstig< sein, sondern höflich. >Höflich< bringt dich jedoch nicht weiter, wenn du es mit jemandem wie Aracia zu tun hast. Bedräng sie - und gib keinen Zoll nach. Lass ihr keine Zeit, dir zu widersprechen.« »Darf ich vielleicht auch etwas vorschlagen?«, mischte sich Andar ein. »Ich nehme jeden Rat an, den ich bekommen kann«, sagte Sorgan. »Ich würde sagen, Keselo hatte die beste Antwort«, meinte Andar. »Such dir die besten Lügner deiner Armee zusammen, schick sie hinaus ins Land, unter dem Vorwand, sie würden auf Kundschaft gehen. Wenn sie zurückkehren, lässt du sie Geschichten über die Gräuel erzählen, welche die Insektenmenschen den gewöhnlichen Landbewohnern antun - sie bei lebendigem Leibe fressen, ihnen die Leber herausreißen, die Augen als Nachtisch verspeisen - solche Geschichten eben. Sobald der Schock bei der Priesterschaft einsetzt, wird Aracia fast alles tun, was du ihr sagst.«
»Du bist ja noch garstiger als Narasan«, merkte Sorgan an. »Ich wurde auch vom Besten ausgebildet, Kapitän Hakenschnabel«, gab Andar bescheiden zurück. »Also, das werde ich mal versuchen«, kündigte Sorgan an. Dann grinste er. »Ich habe so das Gefühl, dass ich viel mehr Spaß haben werde als ihr beiden. Ihr müsst euch mit den echten Käfern rumschlagen. Ich brauche mich nur um ausgedachte Insektenmenschen zu kümmern und muss der großen Schwester le53 diglich ausreichend Angst einjagen, damit sie tut, was ich ihr sage.« »Ich denke, du bekommst das schon hin, Freund Sorgan«, meinte Kommandant Narasan und grinste ebenfalls. Es dauerte mehrere Tage, bis die Maags auf die Schiffe gebracht worden waren, die sich Sorgan geliehen hatte, und dann, als die Arbeit erledigt war, gesellte sich der stämmige Maag zu Narasan und den anderen an Bord der Sieg. »Wir sind bereit zum Aufbruch«, gab er bekannt. »Wenn nichts dagegenspricht, stechen wir in See. Es wird nicht lange dauern, die Männer an Land gehen zu lassen, und dann schicke ich die Schiffe wieder zurück, damit sie Narasans Männer aufnehmen und zum unteren Ende des Langen Passes bringen können. Von Zeit zu Zeit schicke ich euch eine Nachricht, wie die Dinge stehen, aber eigentlich erwarte ich wenig Schwierigkeiten.« »Du musst unsere Schwester nur immer ein wenig durcheinander bringen, Sorgan«, riet Zelana ihm und sah Dahlaine an. »Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sie auf Unerwartetes verängstigt reagiert.« »Ich finde auch den Plan gut, Aracia - und ihrer Priesterschaft Gräuelgeschichten zu erzählen«, fügte Dahlaine hinzu. »Wenn es so läuft, wie ich denke, werden die Priester vor lauter Angst ihre Schmeichelreden nicht mehr halten können, und das allein wird Aracia schon an der Wurzel treffen.« »Eure Schwester hat eine Wurzel, Dahlaine?«, fragte die wunderschöne Dame namens Ära und lächelte verschlagen. »Dann könnte man sie vielleicht einfach umpflanzen - am besten bei Nacht und Nebel. Wenn die Priester aufwachen und sie nicht mehr vorfinden, haben sie keine Ahnung, wohin sie verschwunden ist und warum -, und daraufhin wird ihr Verstand vermutlich aussetzen.« »Ob das so leicht geht, weiß ich nicht, gute Frau«, erwiderte 54
Dahlaine. »Aracias Priester katzbuckeln den ganzen Tag im Thronsaal herum, ob sie nun da ist oder nicht. Katzbuckeln ist für Aracias Priester eine Kunstform.« »Machen sie sich da nicht eigentlich überflüssig?«, wollte Aras Gemahl wissen. Andar wusste eigentlich überhaupt keinen Grund, warum die beiden Nachbarn von Herrn Veltan hier auf der Sieg waren - nun ja, außer den unglaublichen Kochkünsten, mit denen Ära Narasan und seine Freunde verwöhnte. Zweifelsohne war Ära die beste Köchin der ganzen Welt, aber aus welchem Grund nahm sie mit ihrem Gemahl an den Versammlungen teil? »Bau gute Forts, Freund Narasan«, sagte Sorgan nun. »Ich möchte nicht, dass mich die Insektenmenschen hinterrücks überfallen, wenn ich gerade der heiligen alten Aracia die Hucke vollschwindle.« »Wir geben unser Bestes, Sorgan«, gab Narasan grinsend zurück. »Schwindle du nur, so gut du kannst, und wir halten dir die Insektenmenschen vom Leib.« Das Wetter hielt - vermutlich, weil Dahlaine es ihm befohlen hatte -, und so kamen die verbliebenen Schiffe der Flotte rasch zum unteren Ende des Langen Passes voran. Die Schiffe, die Sorgans Maags zu Aracias Tempel gebracht hatten, waren umgekehrt und hatten Narasans Flotte vor zwei Tagen passiert, und inzwischen nahmen sie wahrscheinlich die zahlreichen Kohorten an Bord, die warteten. Bald schon wäre die gesamte Armee wieder vereint und würde hinauf zum Pass marschieren, um jeden - oder jedes -, der - oder das - eindringen wollte, eben genau daran zu hindern. Der Tempel der Aracia 6 Es war später Nachmittag, als die hundert trogitischen »Badewannen«, die sich Sorgan von Narasan geliehen hatte, in den Hafen der Tempelstadt von Zelanas älterer Schwester einliefen. Sorgan, Veltan und Padan standen am Bug des Hauptschiffs Himmelfahrt, und Sorgan staunte nicht schlecht angesichts der Ausmaße des Tempels. Narasan hatte ihm ja erzählt, das dumme Ding messe eine Meile im Quadrat - was man leicht so dahinsagte -, aber Sorgan begriff nun, dass Sagen und Sehen zwei unterschiedliche Dinge waren. »Der hört ja überhaupt nicht mehr auf«, sagte er mit einer gewissen Ehrfurcht in der Stimme zu Veltan. »Ich glaube, das wäre Aracia am liebsten«, erwiderte Veltan. »Der größte Teil steht allerdings leer«, erklärte Padan. »Er ist nicht
gerade mit Priestern und Anhängern der Kirche voll gestopft. Bei unserer Ankunft im letzten Herbst habe ich mich ein bisschen umgeschaut, und eigentlich wohnen dort nicht sehr viele Menschen.« »Vermutlich ist der fette Takal Bersla verantwortlich für die übertriebene Größe des Dings«, fügte Veltan hinzu. »Das ist eines der Ammenmärchen, die er meiner großen Schwester so gern auftischt. Er behauptet, in dieser Lächerlichkeit würden Tausende und Abertausende von Priestern wohnen. Aracia ist absolut sicher, dass hier unzählige Gläubige wohnen, aber sie macht sich 56 nie die Mühe, einmal nachzuschauen. Vermutlich leben dort tatsächlich Tausende und Abertausende - allerdings Mäuse.« »Oder Spinnen«, fügte Padan hinzu. »Als ich letzten Herbst herumgewandert bin, waren die meisten Gänge im >Heiligen Tempel< bis unter die Decke voller Spinnweben.« »Das Ganze ist also nur ein Schwindel?«, fragte Sorgan. »Ein >heiliger Schwindels Kapitän Hakenschnabel«, berichtigte Veltan. »Aracia glaubt streng daran, dass diese Absurdität, die ihre Priester ihr aufgedrängt haben, ein Zeichen für ihre unermessliche Wichtigkeit ist.« »Wie jämmerlich«, rief Sorgan. »Das beschreibt meine Schwester durchaus zutreffend, ja«, stimmte Veltan zu. »Wir bekommen Gesellschaft«, sagte Padan und zeigte auf die Bucht. »Ich möchte meinen, es ist höchstwahrscheinlich der fette alte Bersla, der herüberkommt und in Erfahrung bringen möchte, was wir wollen.« »Das Ding da hat aber wenig Ähnlichkeit mit Langbogens Kanu«, merkte Sorgan an. »Es ist auch nicht das Gleiche, Sorgan«, bestätigte Veltan. »Langbogens Kanu ist für einen Mann gebaut. Das hässliche Ding da soll vor allem etwas hermachen. Bersla sehnt sich danach, wichtig zu sein, und er glaubt, wenn er sich von hundert Mann hierher paddeln lässt, sehe er wichtig aus.« Sorgan blinzelte in Richtung des Bootes. »Kommt mir vor, als wäre es aus einem einzigen Baumstamm gemacht.« »Das ist hier im Land Dhrall durchaus üblich«, erklärte Veltan. »Man nennt es >Einbaum<, wohl eben deshalb, weil es tatsächlich aus einem Baum gemacht ist, der mit scharfen Steinen ausgeschabt wird. Eigentlich habe ich noch nie gesehen, wie einer gebaut wird,
aber ich habe mir sagen lassen, die meisten würden zumindest teilweise mit Feuer ausgehöhlt - wobei natürlich gut auf das Feuer aufgepasst wird. Das hat durchaus Vorteile. Ein 57 Boot aus einem einzigen Baumstamm bekommt kaum ein Leck, oder?« »Vielleicht nicht«, sagte Sorgan, »aber da es keinen Kiel hat, wird es vermutlich kentern, sobald einer der Paddler niest oder Schluckauf hat.« »Das passiert recht häufig, Kapitän Hakenschnabel«, erwiderte Veltan lächelnd. »Der stattliche - wenn auch nicht sehr helle - Bersla hat bisher nicht verstanden, warum, aber er wird es schon noch begreifen - eines Tages.« »Das ist ausgesprochen dumm!«, fuhr Sorgan auf. »Ich würde sagen, damit ist Bersla wunderbar beschrieben, ja. Aracia hast du ja schon in meiner Domäne kennen gelernt, deshalb brauchst du Bersla eigentlich nicht, damit er sie dir vorstellt. Allerdings ist er ungemein von sich beeindruckt. Also, von dir wird er wissen wollen, warum du hier bist, aber ich würde vorschlagen, du sagst ihm einfach, dass du mit Aracia sprechen möchtest und nicht mit irgendeinem ihrer Diener.« »Ist er dann nicht beleidigt?« »Vermutlich schon, ja. Deshalb schlage ich dir vor, ihm geradewegs ins Gesicht zu sagen, dass du zu wichtig bist, um mit Dienern zu reden. Sobald wir im Tempel sind, stelle ich dich meiner Schwester vor und teile ihr mit, du würdest ihren Tempel verteidigen, wenn sie dir genug zahlt.« »Das hört sich gut an«, sagte Sorgan. »Wie soll ich mich benehmen? Muss ich mich verbeugen oder sonstigen Unsinn machen?« »Eine gewisse Arroganz kann sicherlich nicht schaden. Sag ihr, du seiest der mächtigste Krieger der Welt und wärest es wert, mehrfach in Gold aufgewogen zu werden - so etwas in der Art. Eins darfst du nie vergessen: Lass dir von ihr nie Befehle erteilen. Sag ihr, du würdest alles tun, was zu ihrer Verteidigung notwendig ist, aber du würdest dir jegliche Einmischung ihrer Priesterschaft verbitten. Mach das von vornherein klar. Du wirst einen 58 großen Teil ihres Tempels niederreißen, die Priester werden also ein lautes Geschrei anstimmen. Sag ihnen, du hättest ihre Erlaubnis und sie sollten sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Falls es
sein muss, zieh dein Schwert.« »Oder vielleicht auch, falls es nicht sein muss?« »Ich glaube, so langsam begreifst du. Das bekommst du schon hin, doch zuerst musst du meine Schwester ein wenig aus dem Gleichgewicht bringen, und das könnte ein paar Tage dauern.« »Sollte es aber lieber nicht, Veltan«, warf Padan ein. »Kapitän Hakenschnabel muss deine Schwester wohl überreden, ihn die Sache auf seine Weise machen zu lassen, allerdings darf es sich nicht zu lange hinziehen. Sie müssen zu einer Einigung kommen, ehe er die Männer an Land gehen lässt, und erst dann sind die Schiffe wieder verfügbar. Die jedoch sind lebenswichtig für Narasan, weil seine halbe Armee immer noch auf Herrn Dahlaines Gebiet am Strand sitzt.« »Da hat er nicht ganz unrecht, Veltan«, meinte Sorgan. »Ich habe Narasan versprochen, seine Schiffe so schnell wie möglich zurückzuschicken, und meine Freunde lüge ich nicht gern an.« »Nun, das eine oder andere könnte ich ein wenig beeinflussen«, sagte Veltan und runzelte leicht die Stirn. »Ein wenig Rückenwind würde die Reise um ein oder zwei Tage beschleunigen. So viel Zeit hast du also, um meine Schwester zu bearbeiten, wenn es notwendig sein sollte. Danach könntest du dich despotisch aufführen, wenn du mit Aracia verhandelst.« »Ich sehe dabei kein großes Problem, Veltan«, meinte Sorgen. »Ich bin schließlich ein Maag, und wir haben es erfunden, despotisch zu sein.« Das offensichtlich instabile Baumstammboot drehte längsseits an der Himmelfahrt bei, und der fette Priester erhob sich im Bug - was Sorgan als der Gipfel der Dummheit erschien. »Wir haben erschaut, dass ihr euch dem Tempel der heiligen Aracia an59 genähert habt«, verkündete er in einer Art Singsang, »und wir müssen erfahren, welcher Grund euch hergeführt hat.« Veltan trat vor. »Ich bin Veltan«, sagte er, »der jüngere Bruder jener, die euch führt.« »Ich habe nie von dir gehört«, tat Bersla hochnäsig kund. »Gewiss hätte die Heilige Aracia mich in Kenntnis gesetzt, wenn sie außer dem Mächtigen Dahlaine einen weiteren Bruder hätte.« »Ich würde mich an deiner Stelle nicht mehr so sehr auf Aracia verlassen, fetter Mann. Ihr Verstand lässt sie langsam im Stich.« »Gotteslästerung!«, rief Bersla schockiert aus.
»Nicht, wenn es der Wahrheit entspricht, oder?«, widersprach Veltan. »Ich sehe, man muss dich überzeugen. Schau genau zu, fetter Mann, und pass gut auf. Dies ist deine einzige Gelegenheit, meinen Groll zu vermeiden.« Daraufhin erhob sich Veltan in die Luft und schwebte über der Himmelfahrt. Der fette Bersla wurde blass, und die Augen fielen ihm fast aus dem Kopf. »Ich kann noch höher, wenn du möchtest«, sagte Veltan. »Falls es dich überzeugen würde, könnte ich auch dich in die Luft heben. Ich habe keine Grenzen, Takal Bersla. Wenn es sein muss, kann ich euch alle zum Mond bringen - aber das würde euch vermutlich wenig gefallen. Auf dem Mond gibt es nichts zu essen und keine Luft zum Atmen, deshalb würdet ihr wohl rasch sterben.« »Ich glaube dir!«, verkündete Bersla schrill. »Ich glaube dir!« »Ist er nicht ein netter Kerl?«, fragte Veltan milde die anderen. Der zitternde Bersla brauchte eine Weile, bis er die Fassung wiedererlangt hatte. »Ich bitte dich, Herr Veltan«, sagte er, »warum bist du hergekommen?« »Ist das nicht offensichtlich, Priester meiner Schwester?«, antwortete Veltan. »Die Wesen des Ödlands werden bald in die Do60 mäne meiner Schwester einfallen, und ich bringe furchtlose Krieger, die sie vertreiben werden.« »Ewiger Dank soll dir gelten, wenn dir das gelingt, Herr Veltan.« »Willst du denn ewig leben, Hoher Priester Bersla?«, fragte Veltan und spielte den Erstaunten. »Ah - wir werden deine Taten an jene weiterberichten, die noch nicht geboren sind, zeitloser Veltan«, ergänzte Bersla. »Darf ich nun mit dem Häuptling der mächtigen Krieger sprechen, die den weiten "Weg auf sich genommen haben, um die Heilige Aracia zu verteidigen?« »Ich verschwende meine Zeit nicht mit Dienern«, erklärte Sorgan, so barsch er konnte. »Gehen wir zu deiner Schwester und reden mit ihr, Veltan.« »Das ist unmöglich!«, protestierte Bersla. »Der Tag der Heiligen Aracia ist bereits ausgefüllt. Wie ihr jedoch vielleicht wisst, spreche ich im Namen der Göttlichen Aracia, sofern denn die Notwendigkeit entsteht.« »Für mich gilt das nicht«, lehnte Sorgan ab. »Ich rede nur mit denen, die Gold haben.«
Sorgan und Veltan berieten kurz, dann band ein Seemann, der gerade nichts zu tun hatte, ein Seil los, an dem ein ordentliches Beiboot befestigt war, und ließ es ins Wasser. »Das erlaube ich nicht!«, rief Bersla. »Fremde Schiffe oder Boote dürfen in der Domäne der Heiligen Aracia nicht anlegen.« »Du glaubst doch nicht, ich würde in einem so schwankenden Kahn wie deinem zum Strand fahren, was?« »Er ist einwandfrei«, verteidigte sich Bersla. »Gewiss«, erwiderte Sorgan sarkastisch. »Zumindest, solange er am Strand liegt. Erst im Wasser neigt er dazu, ohne große Vorwarnung zu kentern. Wie oft ist das diesen Monat schon vorgekommen?« 61 Bersla stotterte und wollte verneinen, doch hinter dem fetten Priester saß ein kräftiger Ruderer, der die eine Hand mit fünf ausgestreckten
236 fähr fünfundzwanzig Äonen lang um alles. Dann legen sie sich schlafen, und die zweiten vier übernehmen. Wenn es so hin und her geht, sollten sie lange, lange Zeit überleben können. Du und ich dürfen uns hier nicht fesseln lassen. Wir haben noch andere Verpflichtungen. Fangen wir doch an, Herzliebste. Wahrscheinlich sind wir eine Weile beschäftigt.« Omago war so lieb und protestierte nicht, als Ära verkündete, sie wolle die Namen der Götter aussuchen - sowohl der älteren als auch der jüngeren. Omago hatte keinen besonderen Sinn für Poesie, Ära hingegen flogen die Namen zu Dutzenden zu. Nachdem sie lange nachgedacht hatte, nannte sie die älteren Götter Dahlaine, Zelana, Veltan und Aracia. Die Namen hatten einen sehr schönen Klang, der Ära ausgesprochen gut gefiel. Die jüngeren Götter würden - wenn ihre Zeit zum Erwachen käme -Balacenia, Vash, Enalla und Dakas sein. Omago pflanzte die Namen und falschen Erinnerungen in die Köpfe der Götter, dann begab er sich außer Sicht und weckte das Bewusstsein der vier älteren. »Was ist hier los?«, sagte der graubärtige, wenn auch erst einige Minuten alte Dahlaine. »Das wollte ich dich auch gerade fragen«, sagte die Göttin Zelana. »Wie ich mich erinnere, habe ich mir einen Gebirgszug angeschaut, aber jetzt sind die Berge plötzlich weg.« »Ich weiß ja nicht, ob ich mich nicht irre, Dahlaine«, verkündete der jugendliche Veltan, »aber ich denke, du hast uns hier zusammengerufen, um uns vor etwas zu warnen, das du das Vlagh genannt hast.« »Ah«, erwiderte Dahlaine. »Jetzt fällt mir alles wieder ein. Ich habe viele, viele Äonen damit verbracht, Insekten zu beobachten. Ich verstehe einiges von denen, die schon lange, lange Zeit hier sind, aber dieses Vlagh hat eine Reihe höchst beunruhigender Ambitionen.« »Das ist absurd, Dahlaine«, meinte die Göttin Aracia. »Käfer können nicht zusammenhängend genug denken, um Ambitionen zu entwickeln. Die wollen doch nur Eier legen - und zwar zu Tausenden.« »Genau«, antwortete Dahlaine. »Das Vlagh scheint zu denken, dass seine Kinder, wenn es nur genug Eier legt, hinausziehen und uns die Welt stehlen. Denn es scheint zu denken, die Welt gehöre
rechtmäßig ihm.« »Nicht, solange ich noch ein Wort mitzureden habe«, meinte Veltan. »Wenn das Vlagh auch nur versucht, einen Teil meiner Domäne zu erobern, binde ich seine sechs Beine zu einem so festen Knoten, dass es Jahre braucht, um ihn wieder aufzubekommen.« »Dürfen wir dabei zuschauen, kleiner Bruder?«, fragte Zelana begeistert. »Aber gern doch, große Schwester«, antwortete Veltan. »Wenn das Vlagh nach Süden kommt, steige ich ihm auf den Kopf.« Ära lächelte. Die Erinnerungen, die Omago den Kindern eingepflanzt hatte, überzeugten die neu geschaffenen Götter davon, bereits seit Äonen zu leben, und nicht erst seit ein paar Minuten, wie es in Wirklichkeit der Fall war. »Alles scheint mir perfekt zu sein, Herzliebster«, schickte sie ihrem Gemahl einen Gedanken. »Die falschen Erinnerungen sind tief in ihnen verankert. Meinst du, wir sollten jetzt die jüngeren Götter machen?« »Wir brauchen sie im Moment noch nicht, Ära«, antwortete Omago. »Wann willst du ihnen denn die Anbeter machen?« »Lassen wir ihnen noch eine Weile Zeit«, sagte Omago. »Ich glaube, die Älteren müssen sich erst eingewöhnen, ehe wir die Gewöhnlichen erschaffen, die sie dann anbeten können. Im Augenblick haben sie genug Tiere, damit sie wissen, dass sie nicht die einzige Lebensform auf dieser Welt sind.« 238 »Dann wären wir zunächst fertig hier?«, fragte Ära. »Ich denke doch, ja.« »Vielleicht sollten wir ein wenig herumschweben und uns in den anderen Ländern dieser Welt umschauen«, schlug Ära vor. »Wenn es in jenen Ländern Menschen gibt, brauchen wir hier vielleicht auch welche.« »Werfen wir einen Blick darauf«, stimmte Omago zu. Nur mit einigem Widerwillen verließ Omago seinen Körper und wurde wieder zu reinem Bewusstsein, als sie das Land Dhrall verließen und zu anderen Ländern aufbrachen. »Es geht viel schneller, Herzliebster«, erklärte ihm Ära. »Wenn man seinen Körper mitschleppt, gibt es einige Beschränkungen. Jetzt brauchen wir nur Ausschau zu halten, und darum kann sich unser Bewusstsein kümmern.« »Es erscheint mir so unnatürlich«, beschwerte sich Omago. »Was ist schon bei irgendetwas >natürlich«, wollte Ära wissen.
»Du und ich, wir stammen aus einer anderen Zeit und von einem anderen Ort, die Regeln dieser Zeit und dieses Ortes gelten also nicht für uns. Versuch es nur, Omago. Ich habe es bereits einmal gemacht, schon vergessen? Es gibt vielleicht Dinge, die wir wissen müssen, ehe wir weitere Entscheidungen treffen, also gehen wir, ja?« »Na, gut«, gab sich Omago geschlagen. Ära lächelte. »Siehst du? Es war doch gar nicht so schwer, oder?« So trennten sie ihr Bewusstsein von ihren Körpern ab und überquerten das wogende Meer im Westen des Landes Dhrall. »Sehe ich recht oder irre ich mich?«, fragte Omago still in Gedanken. »Was denn?«, wollte Ära wissen »Da drüben am Rande des Wassers«, antwortete Omago. »Ich glaube, das ist kein Tier.« 239 »Es steht auf den Hinterbeinen«, stimmte Ära zu, »und es hat Hände. Ich glaube, Tiere haben keine Hände. Was macht es hier unten?« »Anscheinend will es ein Fischgeschöpf töten«, erwiderte Omago. »Deshalb trägt es vermutlich diesen langen spitzen Stock. Vermutlich hat es Hunger, doch es ist noch sehr primitiv. Ziehen wir weiter, Herzliebste. Vielleicht stoßen wir in anderen Ländern auf entwickeltere Menschen. Wenn sie alle so primitiv sind, können wir schließlich noch abwarten, bis wir den Göttern im Lande Dhrall Anbeter erschaffen.« Sie schwebten gen Süden, und als sie das Land jenseits des Meeres erreichten, gewahrten sie eine Ansammlung von einfachen Hütten. »Behausungen«, vermutete Omago. »Zum Schutz vor schlechtem Wetter. Wenn sie intelligent genug sind, so etwas zu bauen, müssten sie schon fast Menschen sein.« »Und dem Rauch zufolge haben sie auch schon das Feuer entdeckt«, fügte Ära hinzu. »Vielleicht haben sie herausgefunden, dass Feuer sie vor Kälte schützt.« Dann schaute sie hinunter zu einer großen Ansammlung von Hütten. »Was in aller Welt macht das da?«, fragte sie Omago. »Anscheinend ist es ein Weibchen, und es hat den Teil eines anderen Tieres über offenem Feuer angebracht.« »Riecht ausgesprochen interessant«, fügte Omago hinzu. »Ich würde sagen, diese Menschen hat einen Weg gefunden, wie man Tierfleisch schmackhafter machen kann.« »Also, darauf bin ich bislang auch noch nicht gekommen«, sagte Ära. »Rohes Fleisch dürfte ungefähr ziemlich stark nach Blut
schmecken.« Sie dachte darüber nach und entschied, es nach ihrer Rückkehr ins Land Dhrall selbst einmal zu versuchen. »Ich •weiß, du würdest lieber noch warten, ehe wir die Anbeter für die Götter machen, die wir erschaffen haben, aber wenn das Vlagh versuchen sollte, das Land Dhrall zu erobern, brauchen wir 240 Menschen. Unseren Göttern ist es schließlich verboten zu töten, doch die Menschen unterliegen dieser Einschränkung nicht. Sie werden die Kinder des Vlagh möglicherweise zwar nicht essen wollen, aber Töten muss ja nicht unbedingt gleichbedeutend mit Essen sein.« »Ich glaube, du hast Recht, Herzliebste«, stimmte Omago zu. »Ich hielt es für das Beste, noch eine Weile zu warten, ehe wir die Anbeter einführten, aber das könnte sich am Ende als schwerer Fehler erweisen.« Sie schwebten weiter Richtung Süden und sahen, dass die Menschen in der Gegend zusätzlich zum Tierfleisch Wurzeln und Beeren und andere Pflanzenlebewesen aßen. Ära war inzwischen fest überzeugt, dass sie auch Menschenwesen neben den Göttern erschaffen sollten, die das Land Dhrall bevölkerten, und anders als die Götter würden die Menschenwesen essen müssen. Rohes Essen würde den Menschen das Leben erhalten, aber Essen, das in der Nähe von Feuer zubereitet worden war, würde ganz gewiss besser schmecken. Dieser Gedanke eröffnete eine Menge Möglichkeiten für Ära. Der Besucher 35 Am Ende des Langen Passes war es bitterkalt, und sogar die zotteligen Bisonfelle, die Häuptling Tlantar Zweihand von der Matakaner-Nation uns geschenkt hatte, konnten die Kälte nur teilweise verbannen. Ich fand einen recht gut geschützten Platz in Gundas Fort, und nachdem die Sonne untergegangen war und ich mein Abendessen beendet hatte, entschied ich, ein wenig zu schlafen. Die Malavi hielten die Wesen aus dem Ödland zurück, daher gab es für mich nicht viel zu tun, und obwohl ich das meinen fremdländischen Freunden gegenüber niemals zugeben würde, hatten mich die tagelangen Läufe durch dieses müde alte Gebirge und durch den Langen Pass eine Menge Kraft gekostet. Offensichtlich kam ich doch langsam in die Jahre. Ich döste ein, und wie es in letzter Zeit immer häufiger und häufiger vorkam, träumte ich von der Zeit, als ich jung war und in der Hütte
von Häuptling Alter Bär wohnte. Damals dachte ich den ganzen Tag über an nichts anderes als an Trübes Wasser, die wunderschöne Tochter von Alter Bär, und in meinen Träumen sah ich sie wieder und wieder, und allein bei ihrem Anblick befiel mich Schwäche. Obwohl ich schlief und träumte, wusste ich tief in mir, dass eines Tages etwas geschehen würde, was mich vermutlich beinahe zerstören würde. Das hatte ich stets verdrängt und meine Aufmerksamkeit ganz auf meine Vision derjenigen gerichtet, die einst meine Gefährtin sein sollte. 242 »Hörst du mich, o tapfrer Krieger?«, erscholl die Stimme meiner nicht mehr so unbekannten »unbekannten« Freundin. Inzwischen wusste ich, wer sie war, dennoch ärgerte mich die Unterbrechung meines Traumes. »Und?«, fragte ich schroff. »Sei nett«, schalt sie mich. »Tut mir leid«, entschuldigte ich mich. »Ich hatte gerade etwas anderes vor. Möchtest du mir etwas mitteilen?« »Nein«, erwiderte sie. »Ich kam zu fragen, nicht um kundzutun.« »Das ist aber ungewöhnlich. Gibt es ein Problem?« »Einer, den gut du kennst, hat etwas getan, was er noch nicht hätte tun sollen.« »Ich denke, du könntest ihm doch den Hintern versohlen und ihn ohne Abendbrot ins Bett schicken«, schlug ich vor. Ich war noch immer ein wenig verärgert. »Das finde ich nun überhaupt nicht lustig, Langbogen«, sagte sie und gab den altertümelnden Sprechstil auf. Ihre bekannte Stimme bestätigte, was ich bereits am Berg Shrak erkannt hatte. »Tut mir leid«, entschuldigte ich mich nochmals. »Und um wen handelt es sich bei diesem unserem Freund, der etwas tut, was er nicht soll?« »Er hat geträumt«, antwortete sie, und ihre Gereiztheit war nicht zu übersehen. »Einen dieser Träume?« »Nein, eigentlich nicht. Er hat nicht wie die Kinder eine Flut ausgelöst oder einen Berg in Brand gesetzt. Stattdessen hat er seine wahre Identität entdeckt. Das sollte er nicht tun.« »Und warum nicht?« »Das brauchst du nicht zu wissen, Langbogen.« Ich zuckte mit den Schultern. »Dann brauche ich auch nicht mit ihm
zu reden. So sind die Regeln, unbekannte Freundin. Wenn du nicht mit mir redest, rede ich nicht mit Omago.« M3 »Woher weißt du ...« Sie brachte die Frage nicht zu Ende. »Du benimmst dich ziemlich auffällig, Ära. Omago ist dein Gemahl, und deshalb bist du so aus der Fassung. Warum soll Omago nicht wissen, wer er wirklich ist?« Dann dämmerte es mir. »Ihr beide seid schon ein Paar seit dem Anbeginn der Zeit, nicht?« »Noch seit vor dem Anbeginn der Zeit sogar«, antwortete sie. »Die Zeit begann, als wir beide im gleichen Moment >jetzt< sagten. Da fing alles an - und genau darum ging es in Omagos Traum, und das sollte er noch nicht wissen. Denn schließlich wollte er etwas herausfinden. Wir mussten die wahre Natur von euch Menschenwesen kennen lernen, daher hat Omago seine Erinnerungen ausgelöscht, damit er das Leben eines gewöhnlichen Menschenwesens führen konnte. Aber jetzt hat er plötzlich Träume über Dinge, die er gar nicht wissen sollte. Neugier ist eine seiner großen Schwächen.« »Wann habt ihr denn der Zeit befohlen anzufangen? Ich meine, vor wie vielen Jahren?« »Für die Zahl gibt es kein Wort, Langbogen. Eine Million Millionen trifft es nicht einmal annähernd.« »Und was ist ausgerechnet an dem Punkt passiert, das ihr so wichtig fandet?« »Es war der Punkt, an dem das Universum begann.« »Das Universum ist doch schon immer da gewesen, oder nicht?« Sie schüttelte den Kopf. »Damals gab es nichts. Nicht einmal Omago und ich existierten in unserer gegenwärtigen Gestalt. Wir waren reines Bewusstsein, und es hat sehr, sehr lange gedauert, bis wir einander gefunden haben. Darüber können wir uns ein andermal unterhalten. Im Augenblick ist nur wichtig, dass eines unserer Kinder etwas tun will, das verboten ist, und die Betreffende wird zu existieren aufhören, wenn sie es wirklich tut. Ich fürchte, Omago wird ihr Verschwinden nicht ertragen können.« »Wir reden über Aracia, nicht wahr?« 244 »Das habe ich nicht gesagt.« »Brauchtest du auch nicht. Es ist recht offensichtlich.« Dann begriff ich plötzlich, worum es eigentlich ging. »Sie will dieses kleine Mädchen namens Lillabeth töten, nicht wahr?«
»Ich fürchte, da liegst du richtig.« »Das kann sie nicht machen.« »Ich weiß, deshalb wird dieser Versuch sie vernichten.« In ihrer Stimme schwang eine Art Schmerz mit. »Kannst du sie nicht aufhalten? So, wie ich es sehe, gibt es nichts, was du nicht tun könntest.« »Das betrifft die Welt der Dinge, lieber Langbogen. Ich kann das nicht in der Welt der Gedanken tun. Wenn Aracia versucht, Lillabeth zu vernichten - oder eigentlich Enalla -, überschreitet sie die verbotene Linie.« »Und dann stirbt sie?« »Sie kann nicht sterben, Langbogen. Sie hört einfach auf zu existieren.« »Ist es nicht das, was sterben bedeutet?« »Nein, es geht ein wenig darüber hinaus.« »Und davor hast du Angst, Ära?« »Wie hast du das jetzt schon wieder herausgefunden?« »Du bist ziemlich aufgeregt, und deshalb hast du ein paar Andeutungen fallen lassen. Vermutlich hätte ich es gleich sehen sollen. Du bist Aracias Mutter, und allein der Gedanke ihrer Vernichtung zerreißt dir das Herz.« »Ich denke, vielleicht sollte ich Dahlaine den Hintern versohlen. Seine >Träumer<-Idee hat ja anscheinend ganz gut funktioniert, doch im Augenblick werden dadurch andere Träume ausgelöst, für die es eigentlich noch zu früh ist.« »Für solche, wie ich ihn gerade habe?« »Dieser ist ein bisschen anders, mein Sohn.« »Vielleicht könntest du mir erklären, inwiefern er anders ist, Mutter?« 245 Also gut, es war dumm, das zu sagen, aber diese Gelegenheit war einfach zu gut, um sie sich entgehen zu lassen. »Soll ich jetzt ohne Abendbrot auf mein Zimmer gehen?«, fragte ich sie. »Nein. Du sollst dorthin gehen, wo Omago schläft, und versuchen zu verhindern, dass er ganz und gar die Nerven verliert.« »Ich kümmere mich sofort darum, Mutter.« »Hörst du wohl sofort damit auf?«, fuhr sie mich an. »Was immer du möchtest, Ära.« Sei nicht mehr 36
»Deine Gegenwart dort sollte Enalla und mich vor Aracia verbergen, Kleines Ich«, erklärte Balacenia mir, als wir durch die kalte Luft über Aracias blödem Tempel schwebten. »Ich glaube, ich kann dir nicht ganz folgen, Großes Ich«, sagte ich zu ihr. »Wenn sich alle nicht vollkommen irren, lässt sich die ältere Schwester der Geliebten den Verstand von dieser Käferfrau namens Alcevan verwirren. Wenn ihr Verstand nicht mehr funktioniert, wird sie auch niemanden erkennen, oder?« »Das ist ja eine der Sachen, die wir herausfinden müssen, Elena«, antwortete Großes Ich. »Wenn Aracias Verstand noch ein bisschen funktioniert, könnten wir sie vielleicht Alcevans Griff entreißen.« >Ich würde mir nicht allzu große Hoffnungen machen, Großes Ich«, erwiderte ich. »Dieser Gestank, den Alcevan gegen ixacia einsetzt, ist vermutlich der gleiche, mit dem wir es schon oben in Tonthakan in Dahlaines Teil der Welt zu tun hatten. Wenn wir Ochs mit seiner Streitaxt hier hätten, könnte er das •Voblem vielleicht für uns lösen.« Das Große Ich schüttelte den Kopf. »Die anderen und ich haben uns bereits darüber unterhalten«, sagte sie. »Alcevan könnte möglicherweise der Schlüssel sein, mit dem wir abschließen, ihn dann wegwerfen und das Vlagh für immer eingesperrt haben. Und deshalb wollen wir sie noch nicht gleich töten.« 247 »Warum fragen wir nicht Veltan?«, wollte ich wissen. »Er könnte das Vlagh einfach zum Mond verfrachten und dort lassen, und dann könnte es niemals zurückkommen.« »Ich weiß nicht, ob Veltan dazu in der Lage ist, Eleria. Möglicherweise würde er damit gerade diese Linie überschreiten, über die zu treten wir bei Aracia verhindern wollen. Wir lieben Veltan doch und wollen kein Risiko eingehen.« »Was willst du also von mir, Balacenia?«, fragte ich sie. »Was ist mit >Großes Ich< passiert?«, wollte sie wissen und lächelte schwach. »Mit >Balacenia< ist alles in Ordnung«, antwortete ich ihr. »Es ist ein hübscher Name, und ich benutze ihn von Zeit zu Zeit gern, wenn ich mit dir rede. Was willst du von mir, Balacenia?« »Warum erzählst du nicht einfach Enalla - die wie Lillabeth aussehen wird - die Geschichten über die rosa Delfine, mit denen du gespielt hast, als du jünger warst?« Sie hielt inne. »Du weißt doch, dass es diese Zeit mit den Delfinen war, die uns so weit voneinander getrennt hat, dass wir niemals wieder verschmelzen können, oder?«
»Die Geliebte hat davon nichts gesagt«, erwiderte ich, »aber ich bin schon mehr oder weniger von allein draufgekommen. Mach dir nicht so viele Sorgen, Großes Ich. Wir werden so schlecht schon nicht sein, weißt du. Während des nächsten Zyklus gibt es eben zwei von uns, und dann werden wir auch viel mehr schaffen. Vergiss nur eins nicht: Langbogen ist meiner\« »Du hast ihn sehr lieb, oder?« »Natürlich. Wir alle haben Langbogen lieb, nicht wahr?« Balacenia seufzte. »Vielleicht haben wir ihn alle lieb, aber du bist diejenige, der er gehört.« »Ich würde nicht von >gehören< sprechen. Langbogen gehört niemandem. Ich denke viel eher, wenn man es recht betrachtet, gehören wir ihm. Ich würde mir nicht allzu viele Hoffnungen machen, Aracia wieder in einen normalen Zustand zurückver248 setzen zu können, Großes Ich. Das musst du den anderen nicht gleich auf die Nase binden, aber ich bin fast sicher, dass wir Aracia bereits für immer verloren haben. Klein-Stinkie hat sie ziemlich fest im Griff.« »Stinkie?«, wiederholte das Große Ich und lachte. »Damit meinst du Alcevan, oder? Du bist wirklich perfekt, Kleines Ich.« »Ich würde mich nicht perfekt nennen, Großes Ich. Ich habe durchaus meine Fehler, weißt du. Jedenfalls fiel mir >Stinkie< einfach aus heiterem Himmel ein. Manchmal habe ich Schwierigkeiten, das richtige Wort zu finden, wenn ich diese Menschensprache benutze. Ich spreche und denke immer noch in der Sprache der rosa Delfine.« Ich hielt inne, so wie ich es fast immer tue. Und dann fügte ich hier zu: »Ist das nicht hübsch?« Und Großes Ich konnte sich nicht mehr halten und lachte. Balacenia wurde gewissermaßen unsichtbar, als wir durch das schäbige Dach des armselig gebauten Tempels von Aracia hinabschwebten. Ich spürte sie zwar immer noch, konnte sie jedoch nicht mehr sehen. Enalla saß in Lillabeths prunkvollem Zimmer, und sie ähnelte Lillabeth so sehr, dass ich beinahe erschrocken wäre. Ich hatte Lillabeth während des Krieges in der Domäne der Geliebten im letzten Frühjahr kennen gelernt, und ich habe mich zu ihr gesellt, als wir gemeinsam ihren Traum rezitierten -zum großen Verdruss Aracias, die verzweifelt versucht hatte, den Traum geheim zu halten -, und obwohl ich also wusste, dass sie eigentlich Enalla war, fühlte ich mich bei ihr recht wohl.
»Wir sind die gleiche Person, Eleria«, erinnerte mich Lillabeths andere Persönlichkeit in einer Stimme, die ein wenig reifer klang als Lillabeths. »Wir sind in etwa so wie du und Balacenia.« »Nicht ganz, Schwester«, sagte Balacenias Stimme zu ihr. »Eleria hat den größten Teil ihrer Kindheit mit rosa Delfinen verbracht, und ich fürchte, durch diese Delfine wurden wir auf Dauer voneinander getrennt.« 249 »Warum hat Zelana das zugelassen?«, wollte Enalla wissen. »Die Geliebte hatte nur Zeit für Musik und Poesie«, erklärte ich. »Sie hatte die rosa Delfine sehr lieb, und nachdem Dahlaine mich ihr in den Schoß hatte fallen lassen, wusste sie, dass jemand - oder etwas - mich stillen musste. Da hat sie sich an Meeleamee gewendet.« »Delfine haben Namen?«, fragte Enalla verblüfft. »Oh, ja«, antwortete ich, »und sie haben sogar eine Sprache. Die Geliebte beherrscht ihre Sprache, deshalb konnte sie Meeleamee rufen, als sie entdeckte, dass ich nicht allein von Licht lebe wie sie. Meeleamee stillte mich, und in einem gewissen Sinn ersetzte sie mir die Mutter, die ich nicht hatte.« »Aracia hat mich einfach einigen einheimischen Frauen übergeben, die mich dann stillten«, sagte Enalla. »Ich habe zu keiner von ihnen eine so enge Beziehung entwickelt wie du zu Meeleamee. Sie haben mich gestillt, aber ich habe sie nie richtig lieb gewonnen.« »Deswegen hast du vermutlich so wenig Spaß als Säugling gehabt. Die rosa Delfine waren wohl der Meinung, Schwimmen lernen sei mindestens so wichtig wie Stillen. Ich konnte bereits lange wie ein Fisch schwimmen, bevor ich das Laufen lernte.« »Warum erzählst du mir nicht ein paar Geschichten über deine rosa Delfine, Eleria?«, flüsterte Enalla. »Balacenia und ich sind ziemlich sicher, damit könnten wir Aracia davon überzeugen, dass wir lediglich zwei dumme kleine Mädchen sind.« Dann sprach sie lauter. »Wie soll denn ein Säugling schwimmen lernen?«, fragte sie, als würde sie sich brennend für dieses Thema interessieren. »Es ist gar nicht so schwierig, Lillabeth«, antwortete ich. »Meeleamee war nicht der einzige weibliche Delfin, der mich stillte. Es gab auch noch andere, und mehr fanden sich neben dem Becken in der Grotte ein, als sie hörten, dass ich diejenigen, die mich stillten, mit Küsschen belohnte.« 250 »Da hat es also mit deiner Küsschen-Gewohnheit angefangen«, sagte
Enalla. »Ich habe mich schon oft danach gefragt.« »Früh im Leben habe ich herausgefunden, dass man mit Küsschen und Umarmungen fast alles bekommt, was man möchte, Lillabeth«, erzählte ich. »Ich habe Langbogen geküsst, und er war mir binnen fünf Minuten verfallen. Jedenfalls trieben die rosa Delfine Fische in die Grotte, damit ich lernen konnte, wie man sich selbst ernährt. Wenn ein Säugling Zähne bekommt, kann es ziemlich schmerzhaft werden, ihn zu stillen. Delfine sind Meerestiere, und daher leben sie von Fisch. Zuerst bekam ich kleine Stückchen, und nach einer Weile entschieden sie, mir beizubringen, wie ich meinen Fisch selbst fangen kann. Alle waren sehr glücklich, als ich meinen ersten Fisch selbst gefangen und verspeist hatte.« »Mir ist aufgefallen, dass es in Zelanas Grotte gar kein Feuer gibt. Wie hast du den Fisch denn gekocht?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihn nicht gekocht. Es wäre schließlich ziemlich schwierig, unter Wasser ein Feuer in Gang zu halten.« »Heißt das, du hast den Fisch roh gegessen?« »Natürlich. Das ist einer der Gründe, warum Meeleamee und die anderen mir rohe Fischstücke zu essen gaben, als sie mich von der Delfinmilch entwöhnten. Ich war so stolz, als ich meinen ersten Fisch in dem seichten Becken am Anfang der Grotte gefangen hatte. Das Fischen war jedoch im tiefen Wasser viel besser, und ich habe nicht viele Mahlzeiten verpasst.« »Willst du damit sagen, Zelana hätte es erlaubt?« »Die Geliebte isst nie etwas, außer ein bisschen Licht, und deshalb hat sie meine Ernährung den Delfinen überlassen.« »Ich wollte eigentlich schon immer mal wissen, wieso du sie ständig die >Geliebte< nennst.« »So nennen die Delfine sie. Ich habe es von ihnen gelernt, doch ich benutzte die Sprache der Geliebten. Natürlich erst in letzter 251 Zeit. Delfinisch konnte ich schon lange vor der Menschensprache sprechen. Den Namen, den sie mir gegeben haben, fand ich jedoch nicht so schön. Sie nannten mich >Beeweeabee<, was so viel heißt wie >Kurze-Flosse-ohne-Schwanz<. Als mir die Geliebte den Namen Eleria gab, war ich viel glücklicher. Ich schwamm trotzdem weiter mit den Delfinen, wenn ich hungrig wurde. Und dann eines Tages stellte mich Meeleamee einer alten Walkuh vor - die vermutlich überhaupt kein Wal war. Die führte mich zum Grunde
des Meeres, wo sich eine Auster öffnete und mir die rosa Perle schenkte, mit der sich dann die Träume einstellten, sobald ich mich wieder zur Geliebten in der rosa Grotte gesellt hatte.« »Zelana hat das erwähnt«, sagte Enalla-Lillabeth. »Ging der erste Traum, den du hattest, bis zum Anfang der Welt zurück?« »Das hat mir jedenfalls die Geliebte gesagt«, antwortete ich. »Ich habe in dem Traum vor allem eine "Welt des Feuers gesehen.« »Weiter würde ich nicht zurückgehen, Kleines Ich«, hörte ich Balacenias Stimme in Gedanken. »Falls Aracia zufällig lauscht, wollen wir ihr doch nicht verraten, wo - und wann - dein Traum wirklich begann.« »Woher weißt du darüber Bescheid?«, fragte ich sie. »Eleria«, hörte ich Balacenias stille Stimme erneut, »wir sind die gleiche Person, weißt du, deshalb kann ich mich an deinen Traum genauso gut erinnern wie du. Ich weiß noch, am Anfang deines Traumes gab es das Universum nicht, und auch nicht die Zeit.« »Also hast du auch Mutter und Vater gesehen?« »Natürlich, Kleines Ich.« Ich schmollte ein wenig. Bisher hatte ich stets geglaubt, der früheste Teil des Traums gehöre mir ganz allein - eine Art Geschenk von Mutter und Vater, weil ich ihr Lieblingskind war. Das Große Ich hatte mir gerade dieses Geschenk stibitzt, und das gefiel mir ganz und gar nicht. 252 »Wir unterhalten uns ein andermal darüber, Kleines Ich«, sagte Balacenia. »Aracia soll schließlich nichts davon mitbekommen. Sie würde noch etwas Törichteres anstellen, würde sie die ganze Geschichte des Traums kennen. Lass Enalla-Lillabeth mal eine Weile reden. Frag sie nach dem Leben in diesem blöden Tempel. Das sollte Aracias Aufmerksamkeit von deinem Traum ablenken. Sicher ist sicher.« »Manchmal hätte ich mich wirklich übergeben können«, erzählte mir Lillabeth. »Der fette Bersla konnte Aracia stundenlang vorbeten, wie wundervoll sie ist. Mir wurde regelrecht übel davon, aber Aracia konnte davon nicht genug bekommen. Sie himmelt es an, angehimmelt zu werden, und an diesen Lobpreisungen konnte sie sich laben. Dabei schien sie vollkommen zu übersehen, dass diese von ihm so genannten Lobreden nur einen einzigen Grund hatten. Solange es sie nach dieser Anbetung hungerte und dürstete, brauchte er keine ehrliche Arbeit zu tun, und nicht zu arbeiten war stets das
oberste Ziel im Leben des fetten Bersla.« Dann sprach das Große Ich still zu Enalla. »Werde nicht zu ausführlich, liebe Schwester«, sagte sie. »Alcevan der Käfer lauscht vielleicht, und ihr Ziel besteht im Augenblick darin, Aracia zu überreden, Lillabeth - und natürlich dich - zu töten. Die Insektenmenschen wollen, dass Aracia noch länger lebt - oder wach bleibt -, denn sie haben sie unter Kontrolle. Ich bin ziemlich sicher, dass sie auf dich diese Art von Einfluss nicht haben werden, und deshalb soll Aracia dich töten.« »Dann wissen sie überhaupt nicht, was mit Aracia passiert, wenn sie auch nur den Versuch unternimmt?« »Über solche Dinge unterhalten wir uns nicht allzu oft«, erwiderte das Große Ich. »Eins habe ich immer noch nicht verstanden«, meinte Enalla. »Soweit ich es feststellen kann, ist Alcevan die einzige Priesterin 253 in Aracias Domäne. Wie hat sie es geschafft, das dem guten alten Bersla abzuluchsen?« »Die gute alte >Stinkie< hat vermutlich ihre Gabe dafür benutzt«, antwortete das Große Ich. »Stinkie?«, fragte Enalla still und musste sich anstrengen, um nicht laut loszulachen. »So nennt das Kleine Ich sie«, erwiderte Balacenia. »Alcevan benutzt einen Geruch, um Einfluss auf andere auszuüben, und auf die Weise hat sie vermutlich auch den fetten Bersla auf ihre Seite gebracht.« Sie stockte. »Ich bin nicht ganz sicher, ob sie wirklich schrecklich stinkt, aber der Name passt doch gut zu ihrer Niedertracht.« »Ich werde ihn mir jedenfalls merken«, sagte Enalla. »Schließlich könnte er sich in nicht allzu ferner Zukunft als sehr nützlich erweisen.« Sie seufzte. »Ich war ziemlich sicher, Aracia sei durch Sorgan Hakenschnabels Schwindeleien wieder zu Verstand gekommen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie entsetzt Bersla dreingeschaut hat, als Aracia ihm und den anderen Priestern befahl, an der Südmauer beim Bau stärkerer Verteidigungsanlagen zu helfen. Wie ist Stinkie denn die Flucht gelungen? Wie konnte sie hierher zurückkommen und uns Aracia erneut abspenstig machen?« »Sie ist über die Mauer geklettert und um den Tempel herumgelaufen«, erwiderte Großes Ich. »Sie hat versucht, Novizen anzustacheln, Lillabeth zu ermorden - und zwar auf ziemlich genau
die gleiche Weise, die sie versucht hat, ehe Aracia sie zur Südmauer geschickt hat.« »Willst du damit sagen, es gebe Novizen, die so dumm sind, dass sie ihr immer noch glauben, nachdem sie dem ersten gescheiterten Meuchelmörder die Kehle aufgeschlitzt hat?«, wollte Enalla wissen. »Ich könnte mir vorstellen, die Nachricht von diesem Mord hat noch nicht ganz die Runde gemacht«, antwortete Großes 254 Ich. »Alcevan hat die Leiche ja nicht gerade mitten im Thronsaal liegen lassen oder so. Trotzdem hat ihr dieser kluge kleine Maag namens Hase einen Strich durch die Rechnung gemacht, indem er alle so sehr in Angst und Schrecken versetzte, dass sie sich nicht mehr in die Gänge trauten.« »Ach, und?« »Er hat den Priestern eingeredet, in den Gängen würden sich Riesenspinnen herumtreiben, und von einer Spinne getötet -und gefressen - zu werden, beschrieb er als das grässlichste Schicksal der Welt.« »Schlimmer noch als Schlangenbisse?« »Viel, viel schlimmer, liebe Schwester«, bestätigte Großes Ich. »Niemand - und ich meine absolut niemand - wird sich jetzt noch darauf einlassen, gleichgültig welche Belohnung winkt.« »Warum setzen wir nicht einfach Langbogen auf sie an, Großes Ich?«, schlug ich vor. »Er könnte Stinkie doch aus einer Entfernung töten, wo ihn ihr Geruch nicht erreichen kann.« »Das wäre vermutlich das Beste, Balacenia«, meinte Enalla. »Sobald wir Stinkie los sind, sollte Aracia bald wieder bei Verstand sein.« »Leider nur ist Langbogen oben in dem Krieg im Langen Pass beschäftigt«, entgegnete Großes Ich. »Ich fürchte, Stinkie ist unser Problem, und wir sollten es besser bald lösen.« 37 »Ich denke, es ist Zeit zum Schlafen, Kind Eleria«, hörte ich Mutters Stimme. »Was hast du gesagt?«, hakte ich nach. »Du wirst wieder einen Traum haben, Eleria. Das ist vermutlich die einzige Möglichkeit, wie wir verhindern können, dass 255 sich Aracia selbst zerstört - und ich bin nicht einmal sicher, ob es gelingt. Alcevan hat Aracia den Verstand bis zu einem Punkt verdreht, an dem sie glaubt, immun gegen das zu sein, was mit
beinah absoluter Sicherheit das Ergebnis sein wird, wenn sie einen Versuch unternimmt, Lillabeth zu vernichten. Ich hoffe, dein Traum wird sie wieder zu Verstand bringen.« »Ich soll also so tun, als würde ich schlafen, und ihr dann eine so schreckliche Geschichte erzählen, dass sie es nicht wagt, Lillabeth umzubringen?« »Nicht so >tun<, Eleria«, sagte Mutter zu mir. »Du wirst schlafen, und du wirst einen Traum haben. Dann wirst du mit Enalla, die sich als Lillabeth ausgibt, diesen Traum unisono vorsprechen, so wie du es im letzten Herbst schon mit Lillabeth getan hast. Aracia weiß, dass die Träume über eine Macht verfügen, die über die ihre weit hinausgehen, und dein Traum sollte ihr genug Angst machen, um abermals über Alcevans Einflüsterungen nachzudenken.« »Und wenn nicht?« »Wenn nicht, werden wir Aracia verlieren«, sagte Mutter in aller Offenheit, »und ich bin noch nicht sicher, was das alles nach sich ziehen wird.« Ich wusste, dass ich schlief. Unter anderem dadurch unterscheiden sich »diese« Träume von gewöhnlichen. Der Traum, den Mutter mir schickte, war einigermaßen schrecklich, und ich war mir ziemlich sicher, er würde Aracia dazu bringen, sich die Sache noch einmal gründlich zu überlegen. Aber leider kam alles ganz anders. Aracia - oder auch Alcevan der Käfer - war uns einen Schritt voraus. Die Tür von Lillabeths Zimmer wurde aufgerissen, und Aracia stürmte mit wildem Blick und wirrem Haar herein. Heiser stieß sie Schreie aus, die wie Flüche klangen. Klein-Stinkie folgte ihr auf dem Fuße und trug ihre Siegesgewissheit offen zur Schau. 256 »Ich habe geträumt.« Lillabeth, also eigentlich Enalla, und ich begannen, den Inhalt des Traumes aufzusagen, den Mutter mir geschickt hatte, aber ich bemerkte gleich, dass Aracia überhaupt nicht zuhörte. Ich denke, möglicherweise hatte Alcevan der Käfer ihr die Ohren abgestellt. »Du verderbte Thronräuberin!«, kreischte Aracia das Kind an, das sie für Lillabeth hielt. »Schänderin meines Tempels! Ich habe aus vollstem Herzen für dich gesorgt, doch deine erste Handlung, nachdem ich mich schlafen gelegt haben werde, wird darin bestehen, mich zu verraten. Wisse, du sollst diesen Tempel nicht bekommen und auch nicht die Anbetung jener, die mir dienen, denn ich muss
dich für jetzt und immerdar aus der Welt der Lebenden verbannen, verruchtes Kind. Sei nicht mehr, verfluchte Lillabeth!«, brüllte Aracia. »Beende deine Existenz!« Einen Augenblick lang stand Aracia wie erstarrt da, und dann, wie in meinem Traum, verwandelte sie sich nach und nach von einer menschlichen Gestalt in winzige Lichtpunkte. Ihre Umrisse veränderten sich dabei nicht, doch enthielten sie nun nur mehr Lichtflecken. Ich war ziemlich sicher, Großes Ich und Enalla hatten ihren Befehl einfach umgekehrt und ihn gegen Aracia selbst gerichtet, doch je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass sich ihr eigener Befehl schlicht gegen sie selbst gewandt hatte. Hätten wir Aracia retten können, wenn sie uns gestattet hätte, ihr den Traum zu schildern? Ich weiß es nicht. Wenn Töten verboten ist, könnte es denjenigen, der einen Todeswunsch ausspricht, eher umbringen als das ins Auge gefasste Opfer. Auf dem, was mir als Aracias Gesicht erschien, zeigte sich offensichtlich blankes Entsetzen. Dann war das Gesicht verschwunden, und die Lichtpunkte wurden heller und heller. Schließlich gab es einen gewaltigen Ausbruch reinsten Lichtes, und Aracia war verschwunden. Alcevan heulte niedergeschlagen auf, und dann floh sie, während Lillabeth zu weinen und zu schluchzen begann. Enalla 257 stand mit dem Großen Ich an der Tür, und so musste die arme Lillabeth ihren Kummer ganz allein ertragen. Ich schloss sie in die Arme und hielt sie fest. Ob diese Geste ihr wirklich Trost in dieser Zeit des Leids spendete, weiß ich nicht, doch etwas anderes wollte mir nicht einfallen. Lillabeth weinte noch, als Veltan in Zimmer eilte. »Was war das für ein schrecklicher Lärm?«, verlangte er zu wissen. In dem Moment hegte ich nicht gerade freundliche Gefühle für irgendwen, und daher beantwortete ich Veltans dumme Frage kalt und barsch. »Deine Schwester hat sich gerade selbst zerstört. Sie kam wutentbrannt mit Stinkie herein. Dann befahl sie Lillabeth, nicht mehr zu sein. Da das verboten ist, wandte sich ihr Fluch - oder wie man es immer nennen will - gegen sie selbst, und plötzlich verwandelte sie sich in kleine grelle Lichtpunkte. Die Punkte wurden heller und heller, und schließlich gab es einen gewaltigen Lichtausbruch, und deine Schwester war nicht mehr.« Ich entschied mich, keinem der Familienmitglieder meine Verwicklung zu enthüllen. Wenn Mutter es ihnen erzählen wollte, sollte sie es tun,
aber ich hielt lieber den Mund. Veltan wurde sehr bleich, und dann begann er zu weinen. Dann tauchte Mutter plötzlich auf. »Was ist hier los?«, wollte sie wissen, als wüsste sie es nicht ganz genau. »Aracia ist mit dem Käferding, das sich Alcevan nennt, hereingekommen«, antwortete ich. »Ich würde sagen, Alcevan hat wieder einmal ihren Geruch eingesetzt und Aracia überredet, Lillabeth zu vernichten. Natürlich kann ich Alcevans Schuld an allem nicht beweisen, aber sie war dabei, und Aracia hat sich über eine sehr wichtige Regel hinweggesetzt und Lillabeth befohlen, sich aufzulösen - oder so in der Art -, aber ihr Befehl wandte sich gegen sie selbst und löste sie auf. Ich fürchte, du hast eines deiner Kinder verloren, Mutter, und von Aracia ist nicht einmal genug übrig, um sie zu bestatten.« 258 Mutter legte den Zeigefinger an die Lippen und sah mich streng an, damit Veltan und die anderen im Zimmer nicht herausfanden, was wirklich passiert war. Dann sprach sie mit dieser Stimme, die sie immer benutzt, um ihre Kinder zu erreichen: »Dahlaine und Zelana. Wir haben eine Krise in Aracias blödem Tempel. Ihr solltet lieber so schnell wie möglich herkommen und die Kinder mitbringen.« Lillabeth weinte immer noch, als die anderen sich zu uns gesellten, und ich gab mein Bestes, die Kleine zu trösten. Doch dann, und gewiss auf Mutters Vorschlag hin, nahm Enalla Lillabeth in die Arme, und Mutter bat mich, die Geschichte von Aracias Selbstvernichtung für die anderen zu wiederholen. »Ohne sie ist es besser«, behauptete Vash aus Veltans Domäne. »Nein, Vash«, widersprach Großes Ich. »Eigentlich ist es schlimmer. Wir sind nun ein Gott weniger, und das bringt alles aus dem Gleichgewicht. Wenn wir das nicht irgendwie berichtigen, wird es nicht lange dauern, fürchte ich, bis wir alle das gleiche Schicksal wie Aracia erleiden.« »Das ist doch absurd, Balacenia«, sagte Mutter zu Großes Ich. »Wir müssen sie nur ersetzen.« »Durch wen?«, wollte Enalla, die Lillabeth im Arm hielt, wissen. Dann wandte sie sich an Dahlaine. »Du solltest dir lieber schnell etwas einfallen lassen, großer Bruder, sonst werden wir uns alle in leuchtenden Staub verwandeln.« Mutter war Enalla natürlich wie immer drei Schritte voraus -und uns anderen auch. »Die Antwort ist ganz leicht, liebe Enalla«, sagte sie.
Dann lächelte sie mich an. »Du hast noch genug Zeit, dich an den Gedanken zu gewöhnen, Eleria«, meinte sie zu mir. »Es dauert noch fünfundzwanzig Äonen, bis du Aracias Platz als Göttin des Ostens einnehmen wirst. Deine Kindheit bei den Delfinen hat dich von Balacenia getrennt - oder von >Großes 259 Ich< -, und deshalb seid ihr nicht mehr dieselben. Und da du ansonsten nichts zu tun hast, kannst du den Platz der armen Aracia einnehmen.« Sie zögerte einen Augenblick, und dann bekam ich meine eigenen Worte unter die Nase gerieben: »Wäre das nicht hübsch?« Der Niedergang des Tempels 38 Sorgan Hakenschnabel aus dem Lande Maag schlief in jener Nacht in seinem Schwindelfort. Er hätte lieber auf der Himmelfahrt draußen im Hafen geschlafen, doch war es natürlich wichtig, dass er die gespielte Bedrohung einer Invasion der Insektenmenschen aufrechterhielt, und möglicherweise wäre die werte Dame Aracia misstrauisch geworden, wenn er draußen im Hafen geschlafen hätte. Jetzt, da sie wieder zu Verstand gekommen war und ihren fetten faulen Priestern befohlen hatte, Verteidigungsmauern um den Tempel zu bauen, musste er alles tun, damit dieser Zustand so blieb. Kurz nach Mitternacht, so schätzte Sorgan jedenfalls, kam Vetter Tori in Begleitung von Zelanas Träumer Eleria in sein Zimmer. »Warum lauft ihr denn mitten in der Nacht noch herum?«, fragte Sorgan. »Die werte Dame Zelana hat mir aufgetragen, das kleine Mädchen herzubringen, damit es dir etwas vielleicht recht Wichtiges erzählt, Vetter«, antwortete Tori. »Was gibt es denn nun schon wieder?«, knurrte Sorgan. Eleria grinste ihn an. »Die Geliebte dachte, du solltest wissen, dass die Dame, die euch angeheuert hat, nicht mehr da ist.« »Wohin ist sie denn gegangen?« »Schwer zu sagen, Kapitän Hakengabel«, gab Eleria zurück. »Sie hat eine der Regeln gebrochen und machte puff.« 261 »Puff?« »Besser kann ich kaum beschreiben, was geschehen ist. Sie kam zu Lillabeth und befahl ihr, nicht mehr zu sein; und jetzt ist es sie, die nicht mehr existiert.«
»Wer hat das getan? Ich meine, wer hat ihr befohlen, nicht mehr zu leben?« »Sie - ganz allein. Ich glaube, so geht das bei Göttern. Ihnen ist es verboten zu töten, und wenn es einer trotzdem versucht, schlägt es gegen ihn zurück, und zwar voll ins Gesicht. Hat dir die Geliebte das nicht erklärt, als du hergekommen bist, um für sie zu arbeiten?« Sorgan blinzelte heftig, als ihm ein fürchterlich schrecklich unaussprechlicher Gedanke kam. »Mein Gold!«, rief er. »Hast das auch mit ihr puff gemacht?« »Daran habe ich so meine Zweifel, Hakengabel«, erwiderte Eleria. »Der Tempel steht noch, und das Gold gibt es vermutlich auch noch. Du könntest ja mal nachschauen, aber zuerst müssen wir uns um etwas anderes kümmern.« »Und zwar?«, wollte Sorgan wissen. »Hier im Tempel gibt es eine Menge Leute, die gerade ihre Göttin verloren haben. Ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern, bis ein Krieg ausbricht. Da Aracia jetzt nicht mehr hier ist, um ihnen zu sagen, sie sollen sich benehmen, wird es vermutlich ein wenig eklig im Tempel zugehen. Ich denke, du solltest lieber jemanden hineinschicken, der ein Auge auf die Sache hat.« »Und der den Lagerraum findet, in dem Aracia ihr Gold aufbewahrt«, murmelte Sorgan in sich hinein. Das konnte allerdings warten. Er wandte sich an Vetter Tori. »Hat der junge Trogit Keselo den Hafen schon verlassen?«, erkundigte er sich. »Ich glaube kaum«, antwortete Tori. »Es war schon dunkel, als er an Bord der Himmelfahrt ging. Vermutlich bricht er erst bei Tagesanbruch nach Norden auf.« »Gut«, sagte Sorgan ein wenig erleichtert. »Mach dich zur 262 Himmelfahrt auf und erzähle Keselo, was hier gerade passiert ist. Narasan muss unbedingt davon erfahren, und sobald Keselo das untere Ende des Langen Passes erreicht, sollte er auf sein Pferd steigen und sofort zu dem Fort, in dem Narasan steckt, reiten und ihm berichten, dass es die Schwester der werten Dame Zelana nicht mehr gibt.« »Klingt sehr vernünftig, Vetter«, stimmte Tori zu. »Schön, dass es dir gefällt. Dann wirst du ein wenig im Tempel herumschnüffeln und schauen, was dort vor sich geht - und vor allem versuchen, die Schatzkammer zu finden, in der Aracia ihr Gold aufbewahrt. Sie braucht es ja nicht mehr, aber wir.«
»Ich werde sehen, was ich herausfinden kann, Vetter«, antwortete Tori. Dann nahm er Eleria an der Hand, und die beiden gingen zurück zum Haupttempel. Sorgan dachte ausgiebig über Elerias Warnung nach. Die Priester des Tempels stellten keine große Bedrohung dar, doch ergab es keinen Sinn, irgendein Risiko einzugehen. Er ging in den Raum, in dem Ochs und Schinkenpranke schliefen, und weckte sie. »Was gibt's, Käpt'n?«, fragte Ochs. »Eine unerfreuliche Überraschung«, berichtete Sorgan. »Es scheint, die werte Dame Aracia hatte erneut den Verstand verloren vielleicht, weil die kleine Priesterin, die in Wirklichkeit ein Käfer ist, wieder einmal ihren Duft abgesondert hat - und ist verrückt geworden. Sie stürmte in das Zimmer ihres Träumers und befahl der Kleinen, sie möge zu leben aufhören. Ich schätze, damit hat sie gegen die Regeln verstoßen, und jetzt gibt es Aracia nicht mehr.« »Sie ist einfach tot umgefallen?«, fragte Schinkenpranke. »Wie Eleria sagte - und die war schließlich dabei -, blieb von Aracia nicht mehr genug übrig, um umzufallen. Eleria benutzte den Ausdruck >puff gemacht<, um zu beschreiben, was passiert 263 ist. Ich denke, Aracias Körper hat sich einfach in Luft oder was immer aufgelöst und wurde durch Lichtpünktchen ersetzt. Dann ging das Licht aus, und man konnte nichts mehr von dem sehen, das vorher Aracia hieß. Sobald die Nachricht die Runde gemacht hat, werden alle diese faulen fetten Priester in den Tempel zurückkehren. Dann werden sie gegeneinander Ränke schmieden, und im >heiligen Tempeh wird vermutlich knöchelhoch das Blut stehen.« »Was für eine Schande«, sagte Ochs. »Ja, nicht?«, stimmte Sorgan zu. »Hier draußen wollen wir allerdings nichts mit ihnen zu tun haben, deshalb nimm dir genug Männer mit in die Gänge, die zum Haupttempel führen, und versperr ihnen den Weg.« »Wir sind doch schon bezahlt worden, Käpt'n«, meinte Schinkenpranke. »Warum nehmen wir nicht einfach das Gold und verduften?« »Weil im Tempel vermutlich irgendwo noch viel mehr Gold liegt. Ich werde nicht einfach verschwinden und es hier zurücklassen. Mein Vetter Tori schaut sich gerade im Haupttempel um und erkundet, was dort vor sich geht, und gleichzeitig überprüft er jeden Raum in dem Teil des Tempels, ob er dort Gold findet. Wenn er
Erfolg haben sollte, werden wir alle sehr, sehr reich.« Zwei Tage später kam Tori zum Fort, und er hatte eine eigenartige Miene aufgesetzt, als er Sorgans Zimmer betrat. »Gibt es ein Problem, Vetter?«, fragte Sorgan ihn. »Du glaubst nicht, was im Haupttempel vor sich geht, Vetter«, antwortete Tori. »Die sind alle vollkommen verrückt geworden.« »Was genau meinst du mit >verrückt<, Vetter?«, hakte Sorgan nach. »Zuerst waren es nur einfache Morde - ein Messer in den Rücken, die Kehle aufschlitzen, den Schädel mit Keulen oder großen Steinen brechen. Sie haben sich dutzendweise gegenseitig 264 umgebracht. Ich würde sagen, geben wir ihnen vielleicht noch einen Tag, dann wird dort drüben offener Krieg ausgebrochen sein. Die Wände sind bereits voller Blutspritzer, aber es wird ein wahres Meer von Blut geben, wenn sie erst richtig anfangen.« »Konntest du Aracias Goldraum finden?« »Noch nicht. Ich bin nur hergekommen, um dich davor zu warnen, wie gefährlich die Lage in dem Teil des Tempels ist.« »Sehr freundlich von dir, Tori. Ich lasse bereits jeden Gang bewachen, der aus dem Haupttempel zu uns führt.« »Gute Idee, Sorgan. Hast du etwas von Veltan gehört?« »Kein Wort. Ich würde sagen, er muss sich gerade um einen Notfall in der Familie kümmern. Seine ältere Schwester ist gerade verschwunden - oder hat aufgehört zu existieren, und damit dürften einige Probleme verbunden sein. Geh du zurück in den Haupttempel, Vetter, aber halt die Augen offen. Wir wollen das Goldlager unbedingt finden, denn wir sitzen hier schließlich fest, bis wir es endlich entdeckt haben.« 39 Am Vormittag des folgenden Tages kam der fette Priester namens Bersla um die Außenmauern des Tempels zu Sorgans behelfsmäßigem Fort. Sorgan war ein wenig überrascht, weil Bersla selbst ging. Wenn der Ruderer Platsch sich nicht geirrt hatte, ging Bersla sonst nie irgendwo allein hin. »Na«, rief Sorgan von der Außenmauer seines Forts hinunter, »wenn das nicht der Heilige Takal Bersla ist. Möchte die werte Aracia sich mit mir über etwas unterhalten?« Er sah den Fetten scharf an, und wie er es mehr oder weniger erwartet hatte, wurde dessen Gesicht plötzlich sehr bleich. Dann riss er sich zusammen. »Ich spreche in einer dringenden Angelegenheit für die
265 Heilige Aracia, mächtiger Sorgan. Es scheint, als hätten die verruchten Diener von Das-Man-Vlagh-Nennt den Heiligen Tempel infiltriert, und während wir hier reden, haben alle nur Mord und Totschlag im Sinne. Nun, natürlich wäre ich bereit, mich den verruchten Dienern des Vlagh allein zu stellen, doch die Heilige Aracia hat mir befohlen, mit dir zu reden.« »Natürlich wäre ich bereit, ganz Ohr zu sein, Takal Bersla«, versicherte Sorgan. »Wir sollten das jedoch unter vier Augen tun. Einer meiner Männer am Tor wird dir den Weg zu meinem Quartier zeigen, und dort treffen wir uns.« Sorgan rieb sich die Hände, während er die schmale Treppe hinunter in den zentralen Hof seines Forts stieg. Wenn irgendwer im Tempel wusste, wo Aracias Gold verborgen war, dann war es ohne Zweifel der fette Bersla. Er ging in das Zimmer, in dem er für gewöhnlich schlief, und einige Minuten später führte ein stämmiger Maag den Priester herein. Nachdem der Seemann gegangen war, blickte Sorgan den Priester von oben herab an. »Ich habe noch nicht gehört, dass es den Insektenmenschen gelungen ist, in den Tempel zu gelangen, und dabei lasse ich fast den ganzen Tempel von meinen Männern überwachen. Wie haben sie es geschafft, an denen vorbeizugelangen?« Bersla wand sich einen Moment lang, dann sagte er: »Tunnel, habe ich gehört. Wie es heißt, können sich diese Wesen durch massiven Fels beißen.« »Dazu sind sie in der Lage, Takal«, antwortete Sorgan. »Während des ersten Krieges im Westen, drüben in der Domäne der werten Dame Zelana, schwärmten Tausende Insektenmenschen aus den Tunneln, die sie im Laufe von Jahrhunderten durch den Fels gebissen hatten. Tunnel sind ein sehr guter Weg, um unter Mauern und Gebäuden hindurchzugelangen, ohne gesehen zu werden. Also, dann wollen wir doch rasch eins ausräumen. Diese herumschleichenden Käfer sind doch keine Spinnen, oder? 266 Wenn ich das Wort >Spinne< auch nur erwähne, kann ich mich glücklich schätzen, morgen noch über auch nur ein Dutzend Männer zu verfügen.« Bersla wirkte erschüttert. »Ich bin sicher, es handelt sich nicht um Spinnenkäfer. Spinnen haben doch acht Beine, nicht wahr?«
»Das hat man uns gesagt, ja«, erwiderte Sorgan. »Demnach sind wir in Sicherheit. Diese Käfer, die durch die Tunnel unter dem Tempel kriechen, haben sechs Beine, nicht acht.« »Ich bin erleichtert. Nun, wie sollen wir darauf denn reagieren? Wenn ich Tausende Männer in die Gänge des Tempels schicke, sollte das die Käfer durcheinander bringen.« »Du bist der Krieger, mächtiger Sorgan«, erwiderte Bersla. »Ich kenne mich mit solchen Dingen so gut wie gar nicht aus.« »Also gut«, meinte Sorgan. »Wie viel willst du mir denn dafür bezahlen, dass ich dein Leben schütze?« »Auch mit Geld kenne ich mich nicht so gut aus, tapferer Sorgan«, räumte Bersla ein. »Allerdings habe ich Zugang zu vielen Blöcken dieses gelben Metalls, das ihr Gold nennt.« »Das ist die richtige Antwort, Takal Bersla«, sagte Sorgan. »Jeden Abend, an dem du noch lebst, gibst du einen dieser Blöcke meinem Vetter Tori. Die Eins ist eine leichte Zahl, die man sich gut merken kann, und so werden wir beide nicht durcheinander kommen. Fangen wir mit ein paar Dutzend Männer an. Wenn Tori glaubt, das wäre nicht genug, schicke ich weitere, die dich beschützen.« Bersla stieß einen tiefen Seufzer aus, und seine Hände hätten beinahe aufgehört zu zittern. »Ich gebe dir eine Eskorte mit in den Haupttempel, Takal«, sagte Sorgan. »Du brauchst nicht noch einmal die Mauern zu verlassen. Meine Männer versperren die Gänge, aber dich werden sie passieren lassen. Schließlich sind du und ich jetzt Freunde, oder?« i67 »Ja, wir sind Freunde, mächtiger Krieger«, versicherte Bersla. »Ganz bestimmt.« Sorgan hätte vermutlich am nächsten Morgen nicht besonders überrascht sein sollen, als die kleine Priesterin Alcevan hinaus zum Fort kam und eine Bitte an ihn richtete, die fast identisch war mit der, die Takal Bersla ihm am gestrigen Nachmittag angetragen hatte. Zumindest versuchte sie Sorgan nicht diesen Unfug von Insektenmenschen aufzutischen, die angeblich in den Tunneln herumkrochen. »Die Kirche der Heiligen Aracia ist gespalten, Kapitän Hakenschnabel«, erklärte sie. »Der sich selbst zum >Hohenpriester< ernannt hat, glaubt, dass er allein für die Heilige Aracia sprechen kann, und er hat Meuchelmörder ausgesandt, um jene von uns zu töten, die sehr wohl wissen, wie wenig seine Selbsterhöhung von der Heiligen Aracia ausging. Da mein Leben
ganz im Zeichen des Dienstes für sie steht, hatte Bersla seinen Handlangern befohlen, sich vor allem auf mich zu konzentrieren, denn ich bin die wahre Führerin des Klerus in Aracias heiligem Tempel. Ich darf ihm nicht gestatten, meinen Rang an sich zu reißen. Deshalb brauche ich Schutz vor Berslas Schurken. Ich vergüte es dir auch, wenn du mich verteidigst. Nenne deinen Preis, und ich werde ihn gern zahlen.« »Oh, ich weiß nicht«, sagte Sorgan. »Wie klingt denn ein Goldblock pro Tag für dich?« »Höchst angemessen, Kapitän Hakenschnabel. Soll ich das Gold herschicken?« »In den Gängen ist es unsicher, Priesterin«, erwiderte Sorgan. »Mein Vetter Tori wird im Tempel sein. Warum gibst du ihm nicht einfach jeden Morgen einen Goldblock? Tori liebt Gold, daher wird er dafür sorgen, dass einer Dame, die ihm jeden Morgen zum Frühstück einen Block bringt, nichts zustoßen wird.« »Es soll geschehen, wie du möchtest, mächtiger Sorgan«, stimmte die kleine Priesterin zu. 268 Sorgan musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Im Tempel gab es zwei, die sich voller Inbrunst hassten, und jetzt bezahlten sie Sorgan beide einen Goldblock pro Tag, um sie voreinander zu beschützen. Zwei Tage später gegen Mittag kam Tori hinaus zu Sorgans Schwindelfort und brachte vier Goldblöcke. »Ich kann ums Verrecken nicht herausfinden, wo die Schatzkammer liegt, Vetter«, berichtete er. »Bersla und Alcevan verlassen den Thronsaal nur am Morgen und Abend, und jeweils einer reicht mir dann einen Goldblock.« »Der Sold ist gut, Vetter«, sagte Sorgan. »Und die Arbeit ist nicht so anstrengend.« Daraufhin runzelte er die Stirn. »Es gibt nur einen Nachteil: Wahrscheinlich wird es ziemlich lange dauern, bis wir die Schatzkammern geleert haben - vorausgesetzt, die beiden klauen die Blöcke aus verschiedenen Räumen. Aber wie wir recht gut wissen, könnten sie das Gold auch aus der gleichen Schatzkammer holen.« »Wenn das der Fall ist, muss sie ja irgendwann leer sein.« »Da stimme ich mit dir überein, Tori«, sagte Sorgan. »Ein Tag ohne Sold, und wir sind hier weg.« »In dem Augenblick, in dem wir hier verschwunden sind, bringen sie sich wahrscheinlich gegenseitig um«, sagte Tori.
»Und das wird uns ganz fürchterlich schrecklich traurig machen, nicht?«, meinte Sorgan und grinste. »Ich glaube, eigentlich wird es mir das Herz nicht richtig brechen, Vetter«, entgegnete Tori. »Ein bisschen biegen wird es sich vielleicht, aber brechen ... ? Nein, ganz bestimmt nicht.« »Du hast aber ein kräftiges Herz, Vetter«, befand Sorgan. Dann lachten sie. 269 40 Später am gleichen Tag schaute Veltan ebenso krachend wie laut auf seinem Lieblingsblitz vorbei. Wie gewöhnlich hätten sich bei dem Lärm Sorgan beinahe die Zehennägel aufgerollt. »Wo hast du gesteckt?«, wollte er vom jüngeren Bruder der werten Zelana wissen. »Wir hatten einen Notfall in der Familie, Sorgan«, antwortete Veltan. »Ich -weiß«, sagte Sorgan. »Was unternehmt ihr jetzt deswegen?« »Wir sind noch zu keiner Entscheidung gelangt. Gibt es hier unten außergewöhnliche Vorkommnisse?« »Ich glaube, man nennt es >Kirchenpolitik<, Veltan«, berichtete Sorgan, »eine höfliche Weise, um das Wort >Krieg< zu umschreiben. Takal Bersla und die kleine Alcevan stehen kurz davor, sich gegenseitig auszulöschen. Im Augenblick schicken sie ihre Meuchler los, um Angehörige der gegnerischen Seite umzubringen. Bersla und Alcevan wissen, dass sie sich beide in tödlicher Gefahr befinden, daher haben sie mich angeheuert, um sie zu beschützen. Deshalb habe ich drüben in der Hauptkirche meine Männer, die sie voneinander getrennt halten.« Er grinste. »Eigentlich ist dieser bevorstehende Krieg eine Goldgrube für mich - und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Vor einer Weile hat mich nachmittags Takal Bersla angeheuert und am nächsten Morgen die klitzekleine Alcevan, und beide zahlen mir einen Block Gold pro Tag, solange sie am Leben bleiben. Dieser Krieg ist für mich also recht profitabel. Sie hassen sich bis aufs Blut, und früher oder später, da bin ich sicher, werden sie mich bitten, doch noch das eine oder andere für sie zu erledigen, und ganz bestimmt werden sie mir interessante Angebote machen.« »Du wirst dich doch nicht in ihren Streit einmischen, oder?« 270 »Natürlich nicht, Veltan. Allerdings nehme ich gern ihr Gold. Und verschwinde.«
»Das ist ja entsetzlich!«, rief Veltan. »Ich weiß«, räumte Sorgan ein. »Macht aber trotzdem Spaß.« Einige Tage später kam Tori zum Fort hinaus und brachte die Beute. »Ich denke, du solltest dir diese Blöcke einmal genau anschauen, Vetter«, sagte er. »Ich glaube, ich habe das Lagerhaus für die Goldblöcke gefunden. Streng doch mal deine Äuglein ein wenig an, dann erkennst du ein bisschen Sand an dem einen.« »Warum sollte jemand Sand dran tun?«, wollte Sorgan wissen. »Auf die Weise verstecken sie das Gold, Vetter. Diese Sandschicht lässt sie aussehen wie gewöhnliche Ziegelsteine.« »Ja, da könntest du wohl recht haben. Und wozu soll das gut sein?« »Auf die Weise verstecken sie das Gold. Und ich habe den Ort gefunden, an dem Aracia ihr ganzes Gold aufbewahrt.« »Na, endlich«, seufzte Sorgan. »Wo denn?« »In ihrem Thronsaal, Vetter. Eigentlich bestehen die Wände des Thronsaals der Heiligen Aracia aus reinem Gold, das als gewöhnliche Ziegel getarnt ist. Ich habe an ein paar Stellen mit dem Messer gekratzt, als niemand zuschaute, und jeder Ziegel, den ich ausprobierte, bestand tatsächlich aus Gold!« »Dieser Thronsaal ist riesig!«, rief Sorgan. »Ja, nicht, und er ist aus reinem Gold gebaut. Ich würde sagen, einer von Aracias Priestern - möglicherweise Takal Bersla - hatte die Idee, ehe Narasans trogitische Armee hier im letzten Herbst eintraf. Wir haben tagelang nach dem Goldlager gesucht, und am Ende hatten wir es geradewegs vor der Nase, jedes Mal, wenn wir den Thronsaal betraten. Wir brauchen viele Schiffe, um unser Gold fortzubringen, wenn wir von hier aufbrechen.« Sorgan begann heftig zu zittern. »Ich glaube, ich gehe mal hinüber und sehe mir die Sache selbst an«, sagte er. »Im ganzen 271 Lande Dhrall gibt es nicht genug Schiffe, um so viel Gold zu befördern, und ich werde nicht einfach absegeln und den größten Teil hier zurücklassen.« »Hier ist es sicherer, Vetter«, meinte Tori. »Sie werden nicht wissen, dass wir in dem geheimen Gang sind, und vor einiger Zeit habe ich ein paar gewöhnliche Steinblöcke herausgekratzt, damit ich zuschauen kann, was in dem blöden Thronsaal vor sich geht, und natürlich auch, damit ich besser lauschen kann.« Er überlegte kurz. »Wenn ich einfach durch die Löcher in der Wand gegriffen hätte, hätte ich einige Dutzend Goldziegel einsammeln können.«
»Du hast deine Chance vertan, Tori«, sagte Sorgan und lächelte. Dann spähte er durch Toris kleines Loch. Es verblüffte ihn, Takal Bersla auf Aracias Goldthron zu sehen. »Übertreibt er nicht ein bisschen?«, fragte er Tori. »Aracia ist erst vor einer Woche oder so verschwunden, und der Fette hat sich schon ihren Thron geschnappt.« Tori zuckte mit den Schultern und grinste. »Zumindest hat er durch die Lehne Rückendeckung, wenn ihn jemand umbringen will. Außerdem glaubt er, als Sieger aus dem Streit mit Alcevan hervorzugehen.« »Meine lieben Mitpriester«, verkündete Bersla mit seiner Rednerstimme, »die Heilige Aracia ist hinausgezogen, um sich die Wesen anzusehen, die gegenwärtig in diese heiligste aller vier Domänen des Landes Dhrall Einzug halten. Auf ihren Befehl hin habe ich ihren Platz hier übernommen. Sie hat zu mir gesprochen, und nur ich allein kenne ihren Willen.« »Dort drüben, Sorgan«, flüsterte Tori und zeigte zur anderen Seite des Thronsaals. Sorgan spähte hinüber und sah eine ansehnliche Schar Priester in Kapuzenroben, die durch die Haupttür von Aracias Thronsaal eintraten. Sie durchquerten den überdimensionierten Raum bis 272 zu dem Thron, auf dem Bersla sich niedergelassen hatte, und knieten in offenkundiger Verehrung vor ihm - alle außer einem. Der trat mit einem Tablett voller exotischer Speisen vor. »Das ist eine Möglichkeit, die Aufmerksamkeit des Fetten zu gewinnen«, flüsterte Tori. »Die beste«, stimmte Sorgan leise zu. Takal Bersla wirkte überaus zufrieden, und gierig langte er zu, um das überladene Tablett entgegenzunehmen. Dann begann er, große Bissen von den verschiedenen Speisen auf dem Tablett in den Mund zu stopfen, und dabei achtete er nicht mehr auf die Priester in Kapuzenroben, die vor ihm knieten. Der eine, der Bersla das Tablett überreicht hatte, schob die Kapuze zurück, und bestürzt erkannte Sorgan nun die kleine Priesterin Alcevan. Mit einem Ausdruck des Triumphes im Gesicht öffnete sie die Robe und zog aus der Schärpe um den Leib einen breiten Dolch, der offensichtlich von den Maags stammte. »Woher hat sie den denn?«, entfuhr es Tori. »Vermutlich gestohlen«, antwortete Sorgan. »Schließlich ist sie ein
Käfer, und Käfer stehlen alles, was sie in die Klauen kriegen.« Dann stand Alcevan auf, warf sich auf den fetten Bersla und trieb ihm den Dolch bis zum Heft in den fetten Bauch. Bersla ließ das Essen fallen, das er in den Händen hielt, und schrie laut, während er versuchte, der Priesterin den Dolch aus den Klauen zu ringen. Alcevan war offensichtlich viel kräftiger, als sie sonst den Anschein erweckte. Sie stieß Berslas Hände zur Seite und schlitzte ihn mit dem scharfen Dolch langsam der Länge nach auf. Bersla brüllte und versuchte seine Gedärme zu halten, die durch den Schnitt herausquollen. Mehrere Dutzend von Berslas Anhängern stürzten zum Thron, doch die Begleiter von Alcevan in ihren Kapuzenmänteln stellten sich ihnen mit Schwertern und Speeren entgegen. Die 273 Anhänger Berslas starben zu Dutzenden, während der Fette, weiterhin schreiend, seine Innereien beieinander zuhalten suchte. Alcevan war allerdings bereits einen Schritt weiter. Sie packte Bersla am Hinterkopf im Haar, zog den Kopf zurück und begann mit dem scharfen Dolch an der Kehle zu säbeln. Plötzlich endete Berslas Geschrei, und große Mengen Blut spritzten aus dem Schlitz in seinem Hals. Damit hätte es mit ihm aus sein sollen, dachte Sorgan, doch Alcevan war noch nicht fertig. Sie säbelte und sägte weiter, bis der Hals schließlich durchtrennt war. Dann hob sie Berslas Kopf am Haar in die Höhe. »Sehet den Göttlichen Bersla!«, rief sie. »Folgt ihm, wenn ihr wollt, und ihr werdet euch bald schon im Haus der Toten zu ihm gesellen! Wahrlich, ich sage euch, von nun an herrsche ich im heiligen Tempel.« »Also, 50 etwas hätte ich nicht erwartet«, meinte Tori. »Die Kleine ist eine richtige Wilde, was?« »Nein, Vetter«, widersprach Sorgan. »Eigentlich ist sie ein Käfer, und ich wäre nicht allzu überrascht, wenn sie die Überreste des armen alten Bersla auch noch auffrisst.« »Dafür würde sie eine Weile brauchen«, befand Tori. »Sie ist nicht so groß, und auf dem Thorn liegt eine ganze Menge Bersla.« Sorgan zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hält sie einfach ein Festmahl mit allen Priestern ab, die sie unterstützt haben.« »Und tötet alle, die sich weigern, ihre Portion aufzuessen?« »Das wäre allerdings möglich, denke ich«, meinte Sorgan. »Im Augenblick allerdings sollten wir beide uns vor allem überlegen, wie
wir diese ganzen Goldmauerziegel aus dem Thronsaal herausbringen und sie zum Hafen schleppen. Mich beschleicht so die leise Ahnung, ein Vorgehen nach dem Motto >nimm das Gold und verschwinde< könnte eine ganze Weile dauern.« Der Schneesturm 41 Tlantar Zweihand war nicht sonderlich überrascht, als plötzlich ein Schneesturm aus Norden heranzog. Dahlaine hatte die gewöhnlichen Schneestürme zurückgehalten, während die verschiedenen Armeen am Gebirge entlang zum Anfang des Langen Passes gezogen waren, doch nun, da alle ihr Ziel erreicht hatten, gab es dazu keinen Anlass mehr. Es schien, die liebe Winter hatte es übel genommen, dass man ihr die gewohnten Vergnügungen untersagte, und jetzt, da sie befreit war, ließ sie alle unterdrückten Stürme auf einmal los. Tlantar hatte damit kein Problem. Er und seine Freunde hatten das Fort von Gunda dem Trogiten als Unterschlupf, aber die Wesen aus dem Ödland standen dort draußen im offenen Gelände, wo sie unter zwanzig Fuß hohen Schneewehen begraben wurden. Am dritten Tag des tosenden Schneesturms schlug Langbogen der Bogenschütze vor, ein paar Mann sollten auf Gundas Mauer steigen und nachschauen, was unten am Hang zum Ödland vor dem Langen Pass vor sich ging. »Wie lange wird das Wetter wohl noch so bleiben?«, erkundigte sich Gunda bei Tlantar, nachdem Langbogen sie nach oben geführt hatte. Zweihand zuckte mit den Achseln. »Mindestens noch eine Woche«, antwortete er. »Dahlaine hat Winter bislang nicht zum 275 Zuge kommen lassen, und vermutlich wird sie eine Weile brauchen, bis sie ihre Enttäuschung überwunden hat. Mir ist aufgefallen, dass Winter so ist. Sie mag es nicht, wenn man es ihr nicht gestattet, mit ihren Spielzeugen zu spielen. Allerdings dürften wir uns deswegen keine großen Sorgen machen. Dein Fort bietet uns Schutz. Den Insektenmenschen dort draußen wird es allerdings kaum so gut gehen.« »Oh, die Armen«, sagte Gunda und grinste dabei bösartig. »Die alte Mama Vlagh wird vermutlich eine Menge Kinder verloren haben, ehe der Schneesturm sich verzogen hat.« »Das wäre durchaus nicht undenkbar«, stimmte Zweihand zu. »Sie werden nur einige Fuß weit sehen können, und auf dem Hang gibt es sowieso nichts zu sehen, allerdings auch nichts, hinter dem sie
Schutz suchen könnten. Die meisten werden steif gefroren sein, ehe das Frühjahr Einzug hält.« Gunda zog seinen Bisonfellmantel enger um sich. »Hast du jetzt alles gesehen, was du wolltest, Langbogen?«, fragte er den großen Bogenschützen. »Ich würde gern wieder ins Warme gehen. Meine Füße werden schon kalt.« »Also gut, gehen wir wieder rein«, stimmte Langbogen zu. Sie stiegen die schmale Treppe zum unteren Teil des Forts hinunter und gesellten sich zu Schläft-Mit-Hunden und dem Bauern Omago aus Veltans Domäne in einem großen Raum mit ordentlichem Ofen an einer der Felswände. Zweihand hatte feststellt, wie gern die Trogiten Öfen mochten, obwohl es in ihrer Heimat eigentlich nie so viel Schnee gab. »Lässt der Schneesturm draußen nach?«, fragte Schläft-Mit-Hunden. »Ich würde sagen, er wird noch schlimmer«, berichtete Langbogen seinem Freund. »Ah, gut«, meinte Schläft-Mit-Hunden, »diese Hütte aus Stein sollte ihn uns vom Leib halten. Haben die Insektenmenschen irgendetwas vor?« 276 »Das ist schwierig zu beurteilen«, meinte Langbogen. »Der Schnee ist so dicht, dass wir nur ein paar Fuß weit sehen konnten.« »Wie kalt ist es denn draußen?«, fragte Omago. Gunda lachte. »Ich habe es zwar nicht selbst ausprobiert, trotzdem würde ich sagen: Wenn jemand spuckt, ist die Spucke schon gefroren, ehe sie am Boden ankommt.« Er blickte sich um. »Dieses Fort ist sehr gut, schätze ich, aber wenn es weiter schneit und weiter kälter wird, werden wir es überhaupt nicht brauchen. Die Insektenmenschen werden alle erfroren sein, ehe sie hier ankommen.« Er warf Tlantar einen fragenden Blick zu. »Dieser Schneesturm ist doch die Art, wie der werte Herr Dahlaine die Insektenmenschen zum Stillstand bringen will, oder? Ich meine, zu so etwas ist er doch in der Lage, oder?« Zweihand schüttelte den Kopf. »Dahlaine darf nicht töten. Wir können sie töten, er nicht. Ich würde sagen, dieser Schneesturm ist die natürliche Reaktion von Winter darauf, dass Dahlaine das Wetter an die Leine genommen hat, bis wir hier eintrafen. Sobald Dahlaine ein wenig locker ließ, hat Winter all ihre Stürme in diese Richtung geworfen. Die Jahreszeiten bekommen ziemlich schlechte Laune, wenn ihnen jemand den Spaß verdirbt.«
»Willst du damit sagen, Jahreszeiten können >denken« »Ich würde es nicht gerade denken nennen, Freund Gunda«, mischte sich Langbogen ein. »Das Wetter staut sich eben sozusagen einfach auf, und im Winter halt noch mehr als in den anderen Jahreszeiten. Dieser Sturm jedoch hat seinen Ursprung vermutlich gar nicht im Winter. Ich habe einen kurzen Blick in den Langen Pass geworfen, als wir von der Mauer heruntergestiegen sind. Am Hang hinunter zum Ödland schneit es sehr heftig, doch im Langen Pass so gut wie gar nicht. Ich würde sagen, da pfuscht jemand kräftig herum.« »Deine >unbekannte Freundin< vielleicht?«, fragte Gunda. »Das wäre durchaus möglich, oder was meinst du? Sie ist auf 277 unserer Seite, und jeder Käfer, den der Schneesturm erledigt, ist einer weniger, den wir töten müssen.« »Das verdirbt einem richtig den Spaß an diesem Krieg, Langbogen«, beschwerte sich Gunda. »Du könntest ja mir ihr schimpfen, wenn du dich betrogen fühlst«, schlug Langbogen vor. »Äh - ach, nein, ich glaube nicht«, entgegnete Gunda. »Ich will mir bestimmt keinen Ärger mit ihr einhandeln.« »Klingt vernünftig«, befand Zweihand. Narasan, der Häuptling der Trogiten, hatte mit Gundas Freund Andar in dem Fort etwa eine Meile tiefer im Pass gesprochen, und am nächsten Morgen kehrte er mit seiner ständigen Begleiterin, der Kriegerkönigin Trenicia, in Gundas Fort zurück. »Pfuscht da wieder jemand herum?«, fragte er, als er sich zu Gunda und seinen Freunden im Hauptraum des Forts gesellte. »In Andars Fort gibt es allenfalls ein paar verirrte Schneeflocken, und im Westen tost ein ausgewachsener Schneesturm.« »Langbogen glaubt, da könnte seine unbekannte Freundin wieder einmal die Finger im Spiel haben«, meinte Gunda. »Nach dem, was sie in Veltans Land im letzten Sommer und vor einem Monat oder so in Dahlaines Domäne angestellt hat, erscheint mir dieser Schneesturm ganz nach ihrem Geschmack. Die Insektenmenschen sitzen unten am Hang fest und kommen nicht aus dem Ödland heraus, und vermutlich sind sie außerdem zu sehr damit beschäftigt, anständig zu erfrieren.« »Ich wünschte, unsere Freundin dort draußen würde eine Möglichkeit finden, das Vlagh auszulöschen«, sagte Narasan. »Wenn das Vlagh erledigt ist, können wir alle wieder nach Hause.«
Der Bauer Omago lächelte. »Wir werden dich schrecklich vermissen, Kommandant«, sagte er, »aber sicherlich gibt es in deiner Heimat auch eine Menge zu tun, nicht wahr?« 278 »Ganz bestimmt«, erwiderte Narasan. »Ich würde zum Beispiel unseren Kaiser gern ein bisschen besser kennen lernen. Er hat die trogitische Kirche so gut wie zerstört, und es gibt da einige andere Dinge, über die er vielleicht einmal nachdenken sollte. Die hochrangigsten Mitglieder des Klerus als Sklaven zu verkaufen, nun, das war gewiss nicht unangemessen, aber ich denke, man sollte die Idee der Sklaverei einmal ganz grundsätzlich in Frage stellen.« »Ich weiß nicht«, sagte Gunda. »Wenn er versucht, die Sklaverei abzuschaffen, werden die Sklavenhalter und die Schufte, die Menschen verkaufen, einen anständigen Preis auf seinen Kopf aussetzen.« »Nun, das ist mal ein Gedanke«, meinte Narasan. »Wenn wir angeheuert würden, um ihn zu beschützen, könnten wir jeden Preis fordern, meinst du nicht?« »Das Palvanum würde sicherlich alle Streitigkeiten sofort beenden, wenn wir unsere Hände so tief in die kaiserliche Schatztruhe steckten«, gab Gunda zurück. »Vielleicht wäre es mal an der Zeit, sich das Palvanum ebenfalls genau anzuschauen«, schlug Narasan vor. Dann blickte er in die Runde. »Das sind allerdings innere Angelegenheiten des Imperiums, und ich glaube, unsere Freunde sind daran nicht so sehr interessiert. Im Augenblick sollten wir uns auf das konzentrieren, was ansteht, wenn es zu schneien aufhört.« Zweihand stieg eine starke Note von Ehrgeiz in die Nase. Wenn Narasan in seine Heimat zurückkehrte, würde er im trogitischen Weltreich eine wichtige Persönlichkeit werden und möglicherweise eines Tages selbst den Kaiserthron besteigen. Zweihand lächelte. Falls es dazu käme, meinte er sicher zu wissen, wer Kaiserin im Lande der Trogs werden würde. Am Vormittag des folgenden Tages kam der junge trogitische Soldat Keselo zur Rückseite von Gundas Fort geritten. Im Lau279 fe der Nacht hatte der Schneesturm ein wenig nachgelassen, doch der Schnee türmte sich weiter auf dem Hang vor dem Fort auf. Keselo stieg von seinem Pferd und trat ins Fort. Als ihm Narasan entgegenkam, tippte er sich mit einer Hand an die Stirn, um zu
salutieren, wie es die Trogiten nannten. »Gibt es Probleme?«, erkundigte sich Narasan. »Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten, Herr«, antwortete Keselo. »Anscheinend existiert die Schwester der werten Dame Zelana nicht mehr.« »Was sagt du da?«, rief Narasan aus. »Ich bin nicht persönlich Zeuge geworden, Herr, aber Kapitän Sorgan trug mir auf, mich so schnell wie möglich herzubewegen, um dir zu berichten, was vorgefallen ist. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, hatte die werte Dame Aracia der kleinen Träumerin Lillabeth befohlen zu verschwinden oder zu sterben oder so ähnlich.« »Sie hat die Kleine getötet?«, rief Narasan. »Allem Anschein nach hat sie es versucht, Herr«, erwiderte Keselo, »doch ist es dazu nicht gekommen. Sobald sie es gesagt hatte, löste sie sich einfach auf. Zumindest hat Eleria das Sorgan erzählt. Ihr Körper verwandelte sich in kleine Lichtpunkte. Dann verlosch das Licht, und die werte Dame Aracia gab es nicht mehr. Kapitän Sorgan hat mit Veltan gesprochen, und Veltan hat ihm erklärt, seine Schwester habe versucht, etwas Verbotenes zu tun, und dabei wurde sie selbst ausgelöscht.« »Gute Götter!«, entfuhr es Narasan. »Wer hat da unten denn jetzt den Befehl übernommen?« »Mir schien es, das Kind Lillabeth, Herr«, antwortete Keselo. »Kapitän Sorgan hat sie ein- oder zweimal gesehen, allerdings ist sie jetzt kein Kind mehr, und sie heißt jetzt auch Enalla.« »Verehren diese fetten Priester nun diese Enalla?«, fragte Gunda. Keselo schüttelte den Kopf. »Kapitän Hakenschnabel hat mir 280 erzählt, sie hätte befohlen, es nicht zu tun und den Bauern der Umgebung die Anweisung überbringen lassen, dass sie in Zukunft keine Vorräte mehr an den Tempel zu liefern brauchen.« »Meine Güte«, meinte Narasan milde. »Was sollen die armen Priester denn jetzt essen?« »Vielleicht ihre Schuhe, Herr.« »Was hat die werte Dame Aracia denn dazu getriebene, etwas so Verbotenes zu tun?«, wollte Gunda wissen. »Kapitän Sorgan hat mir gesagt, es habe sich um das gleiche Phänomen gehandelt, wie es auch oben in Herrn Dahlaines Teil des Landes Dhrall aufgetreten ist, Herr. Es gibt da eine sehr kleine Priesterin namens Alcevan, die in der Lage war, die werte Aracia
durch einen Duft zu kontrollieren - genauso wie diese beiden, die den Häuptling oben in Tonthakan beeinflusst haben, bis dieser Maag mit dem Namen Ochs ihnen den Schädel mit der Axt eingeschlagen hat.« »Mir scheint es, das Vlagh treibt wieder seine Spielchen«, knurrte Gunda. »So scheint es, Herr«, stimmte Keselo zu. »Oh, und noch etwas. Kapitän Hakenschnabel bat mich, euch mitzuteilen, dass seine Männer versuchen werden, alles Gold in die Hände zu bekommen, das es dort unten gibt, und dann kommen sie zu uns, um uns zu unterstützen - und um das Gold mit uns zu teilen.« Narasan blinzelte verblüfft, und dann begann er aus vollem Hals zu lachen. 42 Es dauerte noch einige Tage, bis der nur auf einer Seite des Forts stattfindende Schneesturm nach Süden abzog, und als sich die bleiche Sommersonne wieder zeigte, bestätigte sie mehr oder 281 weniger Langbogens Vermutungen. Der Hang, der hinunter zum Ödland führte, war mit tiefem Schnee bedeckt, doch war nur wenig Schnee in den Langen Pass gelangt. Zweihand kam nun ebenfalls zu der Überzeugung, dass bei diesem Schneesturm nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war. Sobald das Wetter aufklarte, setzten Gundas Männer alles daran, den Schnee von den Mauern zu fegen, während der junge Trogit Keselo die Katapultmannschaften hinter dem Fort versammelte, wo man behutsam verschiedene Flüssigkeiten mischte, um die Brandgeschosse herzustellen, die ihren Nutzen bereits während des Kriegs in der Kristallschlucht bewiesen hatten. Das hätte Zweihand durchaus noch mehr beunruhigen können. Pfeile und Speere waren eine Sache, aber Kugeln aus flüssigem Feuer eine ganz andere. Wären ihre Feinde in diesem und dem vorhergehenden Krieg Menschenmenschen gewesen, hätte Zweihand laut protestiert. Doch bei Insektenmenschen sah es natürlich etwas anders aus. Käfer in Brand zu stecken erschütterte auch Zweihand nicht sonderlich. Die trogitischen Soldaten waren noch immer damit beschäftigt, den Schnee zu räumen, als Langbogens Freund Schläft-Mit-Hunden sich zu ihnen auf die Mauer gesellte. Er spähte den Hang eine Weile hinunter, dann zeigte er auf eine größere Anzahl Schneehaufen. »Hätte der Wind die nicht verwehen sollen?«
»Das hängt davon ab, wie fest der Schnee gepackt ist«, erwiderte Zweihand, dachte jedoch trotzdem über den Einwand nach. »Nun, wo du es erwähnst: Diese Haufen gehören da wirklich nicht hin. Der Wind hätte sie tatsächlich verwehen sollen.« »Würde das nicht darauf hindeuten, dass die Haufen nicht natürlichen Ursprungs sind?«, meinte Schläft-Mit-Hunden nun. »In der Tat«, stimmte Zweihand zu. »Ich würde sagen, die Insektenmenschen haben sich eine Art Unterschlupf zum Schutz vor dem Wetter geschaffen, und wir konnten nicht sehen, was sie 282 gemacht haben, weil der Schneesturm es verborgen hat. Glücklicherweise hält wenigstens einer von uns die Augen offen.« »Wenn wir also damit ungefähr richtig liegen würden, sollte doch früher oder später der eine oder andere Käfer am Hang auftauchen solange sie nicht versuchen, sich einen Gang unter dem Schnee zu graben«, fuhr Schläft-Mit-Hunden fort. »Wenn sie das versuchen, werden sie nicht sehr lange leben«, erklärte Gunda. »Unter dem Schnee stecken ungefähr tausend vergiftete Pfähle im Boden, und ein einziger kleiner Kratzer genügt, um jeden zu töten, der sich daran verletzt - ob nun über dem Schnee oder darunter. Einer-Der-Heilt hat uns auf die Idee gebracht, und diese Pfähle haben vermutlich schon mehr Insektenmenschen auf dem Gewissen als wir alle zusammen.« »Einer-Der-Heilt war vermutlich der weiseste Mann im ganzen Land Dhrall«, meinte Schläft-Mit-Hunden stolz. »Wir haben gehört, er sei vor einiger Zeit gestorben«, sagte Gunda. »Woran denn?« »Am Alter«, antwortete Schläft-Mit-Hunden. »Gleichgültig, wie viele Kriege wir gewinnen, das Alter wird am Ende doch den Sieg über uns erringen.« »Na, wer wird denn gleich so schwarzsehen?«, sagte Gunda. »Man sollte immer so schwarz wie möglich sehen«, entgegnete Schläft-Mit-Hunden. »Wenn man dann von einem Pfeil oder Speer getötet wird, kann man sich richtig freuen, nicht wahr?« Zweihand bedeckte den Mund, damit Gunda sein Grinsen nicht sehen konnte. Es dauerte nicht lange, bis einer der Schneehaufen auf dem Hang auseinanderrutschte und darunter ein ungewöhnlich großer Insektenmensch zum Vorschein kam. »Sehe ich da richtig?«, fragte Gunda. »Der sieht mir aus wie ein
übergroßer Käfer mit einem dieser Bisonfelle, die wir von den Matakanern bekommen haben, damit wir nicht erfrieren.« 283 »Möglich wäre das schon, denke ich«, stimmte Langbogen zu. »Ich würde sagen, das Vlagh hat begriffen, wie nützlich die sind, und es hat seine neue Brut entsprechend angepasst.« »Er trägt außerdem einen Speer«, bemerkte Zweihand. »Kann das Vlagh inzwischen sogar Waffen herstellen?« »Die Käfer stehlen diese Speere mittlerweile seit einiger Zeit«, meinte Gunda. »Sie plündern die Schlachtfelder und nehmen den Toten die Waffen ab.« »Deswegen würde ich mir nicht so viele Sorgen machen, Gunda«, meinte Langbogen. »Speere haben eine gewisse Reichweite, Pfeile jedoch eine deutlich größere, und wir haben hier eine Menge Bogenschützen - und dazu auch noch Brandgeschosse. Mir ist aufgefallen, dass sich das Vlagh im Wesentlichen auf große Zahlen von Kriegern verlässt, wenn es in den Krieg zieht, aber mit großen Zahlen kann es kaum etwas gegen unsere Pfeile und Brandgeschosse ausrichten.« »Wisst ihr«, meinte Kathlak, Langbogens tonthakanischer Freund, »während des Kriegs in der Kristallschlucht ist mir das Gleiche aufgefallen. Was denkst du, Langbogen? Sollen wir sie gleich niederschießen, wenn sie aus den Schneewehen kommen, oder sollen wir ihnen etwas Zeit geben?« »Warten wir ab, bis sie ein bisschen näher gekommen sind«, erwiderte Langbogen. »Verschwenden wir keine Pfeile durch Weitschüsse. Außerdem ist der Schnee oben am Hang wesentlich niedriger, und Ekial hält sich dort mit seinen Pferdesoldaten verborgen. Wir sollten Tausende von Insektenmenschen mit unseren Pfeilen niederstrecken können, und dann werden die Pferdesoldaten noch viele, viele mehr erledigen.« Zweihand sah, dass die Insektenmenschen sich nicht sehr schnell bewegen konnten, als sie den Hang zu Tausenden hinaufzogen. Offensichtlich waren sie mit Schnee und seinen Folgen nicht vertraut. Nachdem ein paar hundert der Insektenmenschen durch 284 den Schnee gestapft waren, hatten sie ihn so weit platt getrampelt, dass er fast zu Eis geworden war, und niemand - weder Mensch noch Käfer - kann sich auf Eis schnell bewegen. »Was denkst du, Langbogen?«, fragte Kathlak.
»Wahrscheinlich sind sie jetzt nahe genug«, stimmte Langbogen zu. »Willst du den Befehl geben?« »"Warum machst du das nicht?«, schlug Kathlak vor. »Niemand widersetzt sich, wenn du einen Befehl erteilst.« »Also gut«, stimmte Langbogen zu. Dann holte er tief Luft und rief: »Schießt!« Die Pfeile flogen in einer riesigen Welle von Gundas Fort los, und die vorderen Reihen des heranmarschierenden feindlichen Heeres wurden wie Weizen niedergemäht. Die toten Insektenmenschen bildeten fast eine Art Wall, die den folgenden den Anmarsch versperrte. Dann rief der Pferdesoldat Ekial: »Zum Angriff!«, und seine Männer galoppierten über das obere Ende des Hangs und töteten Tausende weiterer Feinde. Schließlich war ein Trompetenton zu vernehmen, und die Pferdesoldaten zogen sich zurück. Zweihand war beeindruckt, wie hervorragend alles geklappt hatte. Dann rief der junge Trogit Keselo: »Schießt!«, aber damit meinte er nicht die Pfeile. Große Klumpen brennenden Pechs flogen über die vordere Mauer von Gundas Fort, und ein wildes Chaos brachte den Angriff der Insektenmenschen endgültig zum Stillstand. »Wissen sie denn nicht, dass sie das Feuer löschen können, indem sie sich im Schnee wälzen?«, erkundigte sich Zweihand bei Langbogen. »Eigentlich nicht«, antwortete Langbogen. »Diese Käfer stammen aus der Wüste, und vermutlich haben sie keine Ahnung, dass Schnee einfach nur eine andere Form von Wasser ist.« Die Wintersonne ging im Westen unter und brachte die Rauchwolken mit ihrem roten Licht zum Leuchten. »Sonnenuntergänge haben mir schon immer gefallen«, sagte 285 Gunda. »Und das Beste am Sonnenuntergang ist, dass er das Abendessen ankündigt. Inzwischen bin ich doch schon ganz schön hungrig.« Der Doppelgänger 43 Omagos Traum hatte eine Menge Erinnerungen aus weiter Vergangenheit wachgerufen, und jetzt wusste er, wer - und was - er in Wirklichkeit war. Diese Erkenntnis hatte ihn tief erschüttert. Nachdem nun eine gewisse Ruhe eingekehrt war, hatte er das Gefühl, er solle diese niederschmetternde Wahrheit noch besser
verdauen, doch dazu musste er ein wenig allein sein. Und so stieg er, während es längst auf Mitternacht zuging, auf die Hauptmauer von Gundas Fort am Anfang des Langen Passes. Es war bitterkalt, aber aus tiefer Vergangenheit dämmerte es Omago, dass er gegen das Wetter immun war - gegen Kälte und Hitze -, und dass er eigentlich auch nicht zu atmen oder zu essen brauchte. Nun entsann er sich jenes Augenblicks vor ungefähr dreißig Menschenjahren, als er seinen Plan Ära enthüllt hatte. »Das müssen wir doch unbedingt wissen, Herzliebste«, hatte er erklärt. »Der Geist der Menschenwesen hier im Lande Dhrall unterscheidet sich vom Geist aller anderen Geschöpfe hier, und ich glaube, am besten finden wir den Grund dafür heraus, wenn ich alle meine Erinnerungen auslösche und das Leben eines gewöhnlichen Menschenwesen führe.« »Ich weiß nicht, welchen Nutzen das haben sollte, Omago«, entgegnete Ära. »Ein Prinz oder ein Häuptling verfügen vielleicht über bestimmte Kenntnisse, die man gebrauchen könnte, 287 aber die gewöhnlichen Menschen haben schon Schwierigkeiten damit, Tag und Nacht zu unterscheiden.« »So schlimm ist es nun auch wieder nicht, Ära. Prinzen und Häuptlingen fehlt es jedoch an Berührungen mit der Wirklichkeit. Sie verbringen den Großteil ihrer Zeit damit, vor der Realität zu fliehen. Ich habe eher an ein Leben als gewöhnlicher Bauer gedacht am besten bei Veltan in der südlichen Domäne.« »Warum dort, Herzliebster?« »Apfelblüten, Ära«, erwiderte er. »Ich glaube, es sind die schönsten Blüten, denen ich je auf dieser Welt begegnet bin - und auch in anderen Teilen des Universums. Ich brauche Schönheit, Ära. Deshalb sind wir doch so lange zusammen. Deine Schönheit hält mich seit Anbeginn der Zeit gefangen, als wir unserem Bewusstsein Gestalt hinzufügten.« »Deine Schmeicheleien nützen dir nichts, Omago.« »Oh, da bin ich nicht so sicher, Herzliebste«, hatte Omago entgegnet und plötzlich gelächelt. Dann war er wieder ernst geworden. »Es gibt einen weiteren Grund, weshalb ich gedenke, bei Veltan in der Nähe zu bleiben. Denn ich würde sagen, er ist der beste Lehrer unter den Göttern. Dahlaine ist zu sehr damit beschäftigt, wichtig zu sein, und Vash und Dakas sind ein wenig schroff und nicht sehr fröhlich.« »Warum denn keine der Göttinnen?«
»Frauen und Männer denken unterschiedlich, Ära. Ist dir das nie zuvor aufgefallen? Ich habe so das starke Gefühl, dass im Lande Dhrall etwas Wichtiges passieren wird. Die Menschenwesen der Welt werden weiter existieren oder ausgelöscht werden, weil etwas in diesem verborgenen Teil der Welt geschehen wird. Es gibt da ein Geschöpf, das sie vertilgen will, und wenn diese Menschenwesen tatsächlich ausgelöscht werden, geschieht das in allen Teilen dieser Welt. Ich muss herausfinden, um was für ein Ding es sich handelt, und es aufhalten - oder sogar vernichten, falls es notwendig ist.« 288 Ära hatte geseufzt. »Du lässt mir ja keinen großen Spielraum, Herzliebster«, warf sie ihm vor. »Meinetwegen kannst du ja gerne dein Spielchen treiben, aber ich werde dich nicht allein spielen lassen. Ich werde dich begleiten, ob du willst oder nicht, und ich werde stets wissen, wer du wirklich bist. Wenn du einen schweren Fehler begehst, werde ich zur Stelle sein, und im Zweifelsfalle werde ich einschreiten.« »Tu das, Herzliebste, ich würde dich sonst vermissen«, gestand Omago. »Keine Sorge, Omago. Ich sorge schon dafür, dass das nicht passiert.« Omago erinnerte sich deutlich an die frühen Jahre seiner Doppelgängeridentität, als Veltan ihm einen überraschend umfassenden Unterricht erteilt hatte. Als der junge Mann älter wurde, hatten die anderen Bauern der Gegend ihn als »Botenjungen« benutzt, wenn sie Veltan etwas wissen lassen wollten, anstatt selbst das riesige Haus auf dem Hügel aufzusuchen. Die Bauernversion von Omago hatte alle Mitteilungen pflichtbewusst an Veltan weitergegeben, und im Laufe des Zeit hatte er außerdem seine Meinung über die verschiedenen Bauern der Umgebung hinzugefügt. Zum Beispiel hatte er Veltan immer gesagt, dass der kleine Bauer namens Selga viel mehr daran interessiert war, Veltans Respekt zu gewinnen, als Warnungen und Ähnliches an den Gott zu übermitteln. Die Bauernversion von Omago hatte in jungen Jahren nicht sehr viel Interesse an Frauen, und die ältere Version wusste auch, aus welchem Grund. Ära hatte offensichtlich ein kleines bisschen herumgepfuscht. Omago lachte, als ihm das klar wurde. »Was ist so lustig?«, hörte er Aras Stimme von irgendwoher. »Nichts, Herzliebste«, log Omago. »Ich habe mich nur gerade an etwas sehr Amüsantes erinnert, mehr nicht.«
Und Omago der Ältere erinnerte sich recht lebhaft an Aras 289 ziemlich unverblümten Vorschlag. Ihre Worte würde er nie vergessen. »Ich heiße Ära«, hatte sie begonnen. »Ich bin sechzehn Jahre alt und ich will dich.« »Sie hat ihr Ziel damit erreicht«, räumte der Ältere ein, »aber bei jemandem wie meinem Doppelgänger hätte es auch durchaus schief gehen können.« Je länger Omago darüber nachdachte, desto deutliche wurde ihm bewusst, wie sehr sich seine wahre Identität unauffällig in den Vordergrund gedrängt hatte. Als Veltan der jüngeren Bauernversion das Eisenmesser geschenkt hatte, war es die unsterbliche Version gewesen, welche die jüngere zur Erfindung des Speers geführt hatte. Die ältere Version hatte den Jüngeren auch dazu gebracht, sich das auszudenken, was Keselo als »die Phalanx« bezeichnet hatte. Der jüngere Omago war keinesfalls so unschuldig, wie er zunächst erschien - vor allem, weil der ältere Omago ordentlich herumgepfuscht hatte. Der große Plan des ursprünglichen Omagos hatte ein paar feine Löcher aufgewiesen. Als der unflätige Jalkan dann jedoch Ära beleidigte, hatte der junge Omago ihm ganz ohne Hilfe des Älteren ins Gesicht geschlagen, und das war so rasch vonstatten gegangen, dass es sogar sein unsterbliches Bewusstsein erschreckt hatte. »Er hatte durchaus etwas Viel versprechendes an sich«, murmelte der unsterbliche Omago und lächelte schwach. Während der nächsten Stunde rief er sich die Erfahrungen seiner jüngeren Doppelgängerpersönlichkeit vor Augen. Trotz der mangelnden Übung hatte sich der jüngere Omago während des Krieges in Veltans Domäne als klug und nützlich erwiesen, und noch mehr sogar während des Krieges im Norden. »Genug davon«, murmelte er. Er und seine Gemahlin waren vom Lande Dhrall angezogen worden, weil sie die tiefe Gewissheit hegten, genau hier würde sich etwas ereignen, das die Auslöschung der Menschenwesen auf dieser Welt verhinderte. Die 290 Geschehnisse im Laufe der drei vergangenen Jahreszeiten hatte es überdeutlich gemacht, dass das »Das-Man-Vlagh-Nennt« der Vernichter sein würde. Nachdem es hier erfolgreich wäre, würde es über die anderen Teile der Welt herfallen und die Menschenwesen auch dort auslöschen. Bereits in wenigen Jahren würde es keine
Menschenwesen mehr geben, und dann würde das Vlagh Millionen von Nachkommen ausbrüten, die sich ausbreiten und alle anderen Geschöpfe töten würden. »Nur über meine Leiche«, schwor sich Omago. Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer wurde er sich, dass diese Alcevan der Schlüssel zur Vernichtung der Menschenwesen war, und wenn sie Alcevan aufhielten, würden sie auch das Vlagh aufhalten können. Aber wie? »Haben wir uns in Geschöpfe der Nacht verwandelt, Omago?«, fragte der Bogenschütze Langbogen mit dem ernsten Gesicht. Omago zuckte vor Schreck zusammen. »Könntest du nicht wenigstens ein paar ganz leise Geräusche verursachen, Langbogen?«, fragte er. »Das wäre vielleicht ein bisschen schwierig, Freund Omago«, erwiderte Langbogen, hielt einen seiner Füße in die Höhe und zeigte auf seine weichen Lederschuhe. »Du könntest vielleicht hüsteln oder so«, meinte Omago säuerlich. »Gibt es einen Grund, warum du mitten in der Nacht noch wach bist?«, erkundigte sich Langbogen. »Da ist etwas, das sich als sehr wichtig herausstellen könnte«, antwortete Omago. »Jedenfalls ist es wichtig genug, um mich um den Schlaf zu bringen, damit ich draufkomme, wie ich damit umzugehen habe.« »Ach?« »Das Vlagh hat viele Diener - oder eigentlich Kinder -, aber die meisten davon sind dumm wie Bohnenstroh. Wenn jedoch 291 das stimmt, was ich gehört habe, ist diese Alcevan weitaus intelligenter. Sollte das richtig sein, werden die Kinder des Vlagh uns wahrscheinlich besiegen. Ich denke allerdings, dass ich einen Weg gefunden habe, wie wir stattdessen das Vlagh besiegen. Dazu muss ich allerdings mehr über die Natur seiner Diener erfahren.« Langbogens Miene veränderte sich an diesem Punkt kaum merklich. »Du bist doch nicht einfach bloß ein gewöhnlicher Bauer, Omago?«, fragte er. »Nun ...« Omago ließ den Satz unbeendet. »Habe ich mir schon gedacht. Ich glaube, deine Gemahlin hätte sich sicherlich nicht besonders für jemanden interessiert, der seinen Hauptzweck im Leben darin sieht, Äpfel zu pflücken und Bohnen zu züchten.«
Omago wirkte ein wenig enttäuscht. »War das denn so offensichtlich?« Langbogen lächelte. »Ich habe Ära seit dem Krieg in Veltans Domäne recht gut kennen gelernt. Ihr beide seid schon lange, lange Zeit hier, nicht wahr?« »Schon seit vor dem Anbeginn, ja.« »Aber du hast es bis kürzlich gar nicht geahnt, stimmt's?« »Woher weißt du das denn?«, fragte Omago. »Du hättest deiner Gemahlin nichts von diesem Traum erzählen sollen. Der hat sie sehr aufgeregt, nachdem du ihr davon erzählt hattest. Mir hat sie aufgetragen, etwas deswegen zu unternehmen. Ich bin nicht sicher, was, aber sie hat es mir anvertraut. Deshalb führen wir gerade dieses Gespräch. Warum hast du dir überlegt, diese Bauernrolle abzulegen und stattdessen der richtige unsterbliche Omago zu werden?« Omago lächelte. »Ära macht das ab und zu«, sagte er. »Dieser schlichte Bauer Omago gefällt ihr nicht, aber jetzt möchte sie ihn verteidigen - obwohl er nicht einmal mehr besonders nützlich ist. Meine ursprüngliche Absicht bestand darin, die 292 Menschenwesen im Lande Dhrall zu verstehen. Ihr Leute hier tut Dinge, die sonst niemand auf diesen ganzen Welten jemals tun würde. Ich wollte das Leben aus der Perspektive der einfachen Menschen sehen, doch offensichtlich hat mein Verstand Möglichkeiten, diese Beschränkungen zu umgehen, die ich ihm auferlegt habe - vermutlich immer dann, wenn ein Notfall auftritt.« »Omago«, erklärte Langbogen ihm daraufhin, »seit dem letzten Frühjahr befinden wir uns ständig in einem Notfall. Braucht dein Verstand so lange, um aufzuwachen?« »Ich glaube, diese Alcevan hat ihn letztlich wachgerüttelt. Das Vlagh - oder seine Kinder - sind mit der Fähigkeit aufgetreten, Menschen auszulöschen - und zwar alle Menschen, glaube ich. Dieser Geruch, den sie einsetzen, lässt die Menschen glauben, was das Vlagh sie glauben machen will. In Tonthakan war es noch sehr einfach, aber diese Alcevan hat es weitaus weiter getrieben und sogar Aracia ausgelöscht. Um Alcevan werde ich mich bald kümmern, doch zunächst muss ich mehr über das Vlagh selbst erfahren.« »Ich habe schon viele seiner Diener gesehen«, gab Langbogen zurück, »doch nur einmal es selbst: Damals in Veltans Domäne, als es zurück ins Ödland getragen wurde. Was möchtest du über das
Vlagh wissen?« »Ich muss wissen, wo es lebt, und wer sich um es kümmert.« »Dann solltest du dich vielleicht mit Dahlaine unterhalten«, schlug Langbogen vor. »Allerdings hat er im Augenblick viel zu tun. Ich glaube, Keselo könnte uns auch einiges über die Welt der Käfer verraten. Er hat mir erzählt, er habe ein langes Studium geführt, um nicht arbeiten zu müssen, und dabei hat er sich ausgiebig mit der Welt der Fische und Vögel beschäftigt - vielleicht hat er ja auch die Käfer studiert. Warum wecken wir ihn nicht? Wenn du und ich schon wach sind, kann er doch eigentlich auch aufstehen, oder?« 293 »Meine Lehrer an der Universität von Kaldacin haben sich nicht so sehr für Insekten interessiert«, erklärte Keselo ihnen, als sie ihn nicht viel später nach der Welt der Käfer fragten. »Sie kannten sich allerdings gut mit Bienen aus, denn Honig kann recht wertvoll sein. Außerdem warnten sie uns vor Heuschrecken und Ameisen, aber das war auch schon alles. Jedoch habe ich ein paar Dinge von Dahlaine über das Vlagh gehört. Vielleicht solltet ihr also lieber ihn fragen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich ansonsten alles, was ich über Käfer weiß, von dir, Langbogen, und von deinem Schamanen Einer-DerHeilt erfahren. Möglicherweise hat das Vlagh deinen Schamanen töten lassen, weil er so viel darüber wusste.« »Damit hätte ich noch einen guten Grund, es im Gegenzug zu töten«, sagte Langbogen. Dann hielt er inne. »Männliche Käfer sind doch nicht so wichtig, oder?« »Sie sind nur zur Paarungszeit von Bedeutung«, erwiderte Keselo. »Es gibt keinen Bienenkönig und keinen Ameisenkönig.« »Hat Dahlaine eigentlich herausfinden können, wo genau sich das Nest des Vlagh befindet?«, fragte Omago. »Oh, ja«, antwortete Keselo. »Er weiß es genauestens. Wenn es ihm erlaubt wäre, könnte er das Vlagh mitsamt allen Nachkommen auslöschen.« Der junge Trogit runzelte die Stirn. »Das habe ich eigentlich nie so ganz verstanden. Dahlaine ist ein Gott, und er kann fast alles tun - mit einer Ausnahme: Er darf kein Lebewesen töten. Ich wäre nicht überrascht, wenn es sein Ende bedeuten würde, bloß einen Baum zu fällen.« »Bislang war es für uns nur zum Besten«, meinte Langbogen. »Aracia wollte unbedingt Enalla umbringen. Kriege zwischen Menschen sind nicht so wichtig, aber eine Auseinandersetzung zwischen Göttern könnte die ganze Welt in Brand setzen.«
»Hat Dahlaine je die Diener des Vlagh beschrieben?«, erkundigte sich Omago. »Ich meine, was genau sie zu tun haben.« 294 »Sie füttern die Mutter«, antwortete Keselo, »und sorgen natürlich für Wärme. Gewiss ist es nur eine Vermutung, aber ich schätze, wenn es für das Vlagh nichts mehr zu essen gäbe, würden sich die Diener opfern, und ebenso würden sie sich selbst in Brand setzen, wenn das Vlagh vor Kälte zitterte. Selbstaufopferung scheint im Nest des Vlagh einen hohen Verbreitungsgrad zu genießen.« »Na, das ist doch schon etwas«, sagte Omago. »Das Vlagh hat seine Kinder seit dem letzten Frühjahr weiter verändert. Es gestaltet sie als Nachahmungen von Menschen - nur verfügen sie über keinen Begriff vom Selbst. Wenn wir ihnen ein Gefühl für ihre eigene Persönlichkeit vermitteln könnten, würden sie sich nicht mehr so leicht aufopfern.« »Sondern einen ihrer Artgenossen dazu überreden«, meinte Keselo. »Das wäre immerhin ein erster Schritt«, stimmte Omago zu. »Sie müssen Namen bekommen«, fügte Keselo hinzu. »Ein Name ist der Kern jeder Persönlichkeit.« Er zögerte kurz. »Darauf bin ich nicht selbst gekommen. Einer meiner Lehrer in der Universität hat es mir beigebracht. Er hat es sehr hervorgehoben und meinte, ein Mensch ohne Namen sei eigentlich kein Mensch. Dabei hat er ganz vergessen, uns zu erklären, was denn ein Mensch ohne Namen dann sei.« »Wir sollten Hase herholen, ehe wir ins Ödland aufbrechen«, stellte Langbogen fest. Omago blinzelte und war ein wenig verlegen. »Ja, nicht wahr?« sagte er. »Daran hätte ich auch selbst denken können.« »Damit sind wir also vier - oder werden vier sein«, verkündete Keselo recht förmlich. Daraufhin lachte er. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Aber die Gelegenheit war einfach zu günstig.« 295 44 »Bist du sicher, dass wir diesen Maag namens Hase brauchen?«, fragte Omago ein wenig später. »Er ist sehr klug«, antwortete Keselo, »und bei verschiedenen Gelegenheiten sind ihm schon Dinge eingefallen, wie man manches bewerkstelligen kann, die mir niemals in den Sinn gekommen wären.« Der junge Trogit lächelte. »Außerdem wäre es ohne ihn
einfach nicht so nett«, fügte er hinzu. »Hat einer von euch eine Ahnung, wo ich ihn jetzt finden kann?« »Sorgan Hakenschnabel sollte es wissen«, antwortete Langbogen, »und Sorgan ist höchstwahrscheinlich in Aracias Tempel und stiehlt alles, was in diesem übergroßen Bauwerk einen Wert besitzt. Ich kann hinlaufen und ihn suchen, wenn du möchtest.« »Darum kümmere ich mich schon, Langbogen«, erwiderte Omago. »Ich verfüge über einige vorteilhafte Eigenschaften, die dir fehlen.« »Du willst hinfliegen, ja?« »Nun, so ungefähr«, meinte Omago. »Ich kann sehr schnell von einem Ort zum anderen gelangen, wenn es sein muss.« »Hast du auch so einen zahmen Blitz wie Dahlaine?«, erkundigte sich Keselo. Omago lächelte. »Nicht ganz«, meinte er. »Warum belassen wir es nicht einfach dabei? Das ist eine dieser Sachen, die ihr vermutlich eigentlich gar nicht wissen wollt. Spätestens morgen sollte ich mit Hase zurück sein. Dann brechen wir zum Nest des Vlagh auf und schauen mal, wie wir unserem Erzfeind das Leben schwer machen können.« Omago stieg die Steintreppe hinunter in Gundas Fort, und als er außer Sicht war, stieg er schnell in den stillen, dunklen Nacht 296 himmel empor und wünschte sich zu dem schäbigen Steinbau, den Aracias übergewichtige Priester errichtet hatten, um ihre Göttin glücklich zu machen. Er schickte seine Gedanken aus und suchte Hase, doch der kleine Schmied war nicht da. Allerdings spürte er die Gegenwart von Sorgans Vetter Tori und ging mitten im Tempel nieder, um ein paar Worte mit dem klugen Maag zu sprechen. »Ich suche nach Hase«, sagte er, »aber ich finde ihn nirgendwo.« »Du bist doch der Bauer Omago, nicht wahr?«, fragte Tori. »Der bin ich«, antwortete Omago. »Langbogen, der Bogenschütze, möchte ein paar Worte mit Hase wechseln, nur finde ich den kleinen Kerl nicht.« »Er ist draußen im Hafen an Bord dieses trogitischen Pottes namens Himmelfahrt«, sagte Tori. »Wir haben entdeckt, dass die Wände in Aracias Thronsaal aus Goldblöcken bestehen, und Vetter Sorgan hat Hase darangesetzt, sie zu schmelzen und kleine Blöcke daraus zu gießen. Ein großer Goldblock ist zu wertvoll, um ihn für kleine Dinge zu verschwenden. Kleinere Goldblöcke sind besser.« Er
blickte Omago fragend an. »Kannst du wohl ein Skiff hinüber zur Himmelfahrt rudern?«, fragte er. »Ich würde es ja gern für dich machen, aber Vetter Sorgan hat mich gut mit Arbeit eingedeckt.« »Das bekomme ich schon hin, Tori«, sagte Omago. »Danke für die Auskunft. Ich hätte in diesem übertrieben großen Bauwerk von einem Tempel wahrscheinlich eine Woche nach Hase gesucht. Beste Grüße an deinen Vetter.« »Richte ich aus, Omago«, meinte Tori. Omago verließ den Tempel und sah die Himmelfahrt im Hafen liegen. Er wünschte sich vom Strand zum Schiffsdeck und hörte vom Bug her deutlich das Geräusch, das entstand, wenn jemand auf Eisen hämmerte. »Ach, da bist du ja, Hase«, sagte er zu dem kleinen Schmied. »Warum arbeitest du denn mitten in der Nacht?« 197 »Befehl vom Käpt'n«, antwortete Hase sauer. »Er vertraut den Seeleuten dieses Riesenpottes nicht, und daher möchte der Käpt'n, dass ich lieber nicht am helllichten Tag mit dem Gold arbeite.« »Ich habe ein eigenartiges Geräusch gehört, als ich an Bord des Schiffes kam. Klingt Gold tatsächlich wie eine Glocke, wenn du mit dem Hammer darauf schlägst?« »Das war die Gussform«, erklärte Hase. »Das Gold, das der Käpt'n aus dem Tempel der werten Aracia geklaut hat, wurde zum größten Teil als Ziegelsteine getarnt, und aus denen wiederum war der Thronsaal gebaut. Ich habe es geschmolzen und in Formen gegossen. Sobald das Gold wieder erstarrt ist, haue ich auf die Rückseite der Formen, damit die Blöcke herausfallen.« »Ach, jetzt verstehe ich.« Omago betrachtete das halbe Dutzend Goldblöckchen auf Hases Amboss. »Die sind aber nicht sehr groß, oder?« »Jeweils vier Unzen«, sagte Hase. »Das war Toris Idee. Diese großen Blöcke, die wir von der werten Dame Zelana bekommen haben, sind zwar hübsch groß, aber zu riesig, um sie als Geld zu benutzen - solange man nicht gerade ein Schiff kaufen will oder ein Haus in Kormo oder Weros. Tori hat dem Käpt'n gesagt, wir brauchten kleinere Stücke, wenn wir Essen kaufen wollen. Im Lande Maag gibt es keine Münzen. Wir verwenden stattdessen Blöcke aus Gold, und Tori hat recht, wenn er meint, Beutel voller Vier-UnzenBlöcke könnten sehr nützlich sein.« Dann grinste er Omago an. »Die Größe und Form lassen allerdings an etwas anderes denken, nicht
wahr?« »Ich kann dir nicht ganz folgen«, gestand Omago ein. »Sie haben zwar keine Augen, aber genau die gleiche Größe und Form wie Würfel. Maags sind mit Würfeln vertraut, doch von einem Spiel mit goldenen Würfeln habe ich noch nie gehört. Der Käpt'n ist ganz allein auf die Idee gekommen. Diese Goldwürfel könnten die Maagversion von Geld werden.« 298 »Sehr schlau«, sagte Omago. »Langbogen hat mich hergeschickt, um dich zu holen. Er und Keselo brauchen dich.« »Ich weiß nicht, ob ich weg kann, Omago«, sagte Hase ein wenig skeptisch. »Der Käpt'n hat wirklich viele Goldblöcke, die unsere Leute aus dem Tempel gestohlen haben und die in diese Goldwürfel umgeformt werden müssen. Wenn ich versuche, mich davonzuschleichen, wird er mich ganz bestimmt zurückholen lassen.« »Ich kümmere mich darum, dass sie dich nicht erwischen, Hase.« »Wirklich? Und wie willst du das anstellen?« Omago war ziemlich sicher, dass Hase ihm die Antwort auf die Frage nicht glauben würde, daher überlegte er sich eine andere Möglichkeit. »Schlaf, Hase«, sagte er ruhig. Dann packte er den plötzlich bewusstlosen kleinen Maag und nahm ihn mehrere Fuß mit sich hoch in die Luft über dem Tempelhafen. »Du hast auch sehr müde ausgesehen, Hase«, murmelte er. Daraufhin drehte er sich um und kehrte zu Gundas Fort am Ende des Langen Passes zurück. »Das ging aber schnell!«, rief Keselo und klang ziemlich erstaunt. »Ich habe ein bisschen gemogelt«, räumte Omago ein. »Ich weiß nicht, ob du mir das glauben wirst, aber Sorgan Hakenschnabel hat eine Menge Gold aus Aracias Tempel stibitzt. Dann hat er Hase den Auftrag gegeben, das Gold zu schmelzen und in Form und Größe dieser Würfel zu gießen, die manch einer zum Glücksspiel benutzt. Hase hat mir erzählt, Sorgan plane, diese Goldwürfel als Geld einzuführen, wenn er ins Land Maag zurückkehrt.« Keselo blinzelte. »Nun, auf die Idee wäre ich nie und nimmer gekommen.« »Sorgan ist sehr gut darin, sich Dinge einfallen zu lassen, auf 299 die andere Leute niemals kommen würden«, meinte Langbogen und sah sich den schlafenden kleinen Maag argwöhnisch an. »Ihm fehlt doch nichts, oder?«, fragte er.
»Ihm geht es gut«, antwortete Omago, »und er wird morgen früh wunderbar ausgeruht sein.« »Ich denke eigentlich, wir sollten nicht bis zum Tagesanbruch warten«, fand Keselo. »Eine Menge Leute werden eine Menge Fragen stellen, wenn sie sehen, wie wir den verschneiten Hang hinunterziehen.« »Das wirft eine weitere Frage auf, Omago«, meinte Langbogen. »Wenn wir bei helllichtem Tag durch das Ödland marschieren, werden doch die Insektenmenschen über uns herfallen.« »Nur, wenn sie uns sehen können, Freund Langbogen«, erwiderte Omago. »Und ich kann dir garantieren, sie werden uns nicht sehen.« »Willst du uns unsichtbar machen?«, fragte Keselo. »>Unbemerkbar< würde es besser treffen. Die Insektenmenschen werden uns sehen, aber sie werden uns nicht bemerken.« »Und so etwas kannst du?«, rief Keselo. Omago zuckte mit den Schultern. »Zelana macht das dauernd, und wenn sie das kann, warum sollte ich es nicht auch können. Sollen wir los?« »Also, habe ich das jetzt richtig verstanden?«, fragte Hase, nachdem Omago ihn geweckt und Langbogen ihm erzählt hatte, wo es hinging und was sie an ihrem Ziel vorhatten. »Ihr behauptet ernsthaft, wir vier wandern durch das Ödland, brechen in den Palast des Vlagh ein und überreden dessen Kinder, davonzurennen und uns ihre Mutter zu überlassen?« »So in etwa, ja«, antwortete Omago. »Vielleicht wird es am Ende ein wenig komplizierter, aber im Grunde hast du es richtig zusammengefasst.« »Habt ihr zu viel Grog getrunken?«, wollte Hase wissen. »Die 300 Insektenmenschen haben Tausende und Abertausende von Menschenmenschen getötet, und ihr drei glaubt, wir können einfach durch sie hindurchmarschieren und uns würde nichts passieren?« Keselo mischte sich an diesem Punkt ein. »Du musst dich einfach nur an einen Gedanken gewöhnen, Hase: Omago sieht vielleicht aus wie ein gewöhnlicher Bauer, aber er hat mindestens so große Macht wie seine Gemahlin, und wir haben alle erlebt, wozu Ära in der Lage ist. Die Insektenmenschen werden uns nicht sehen, wenn wir das Ödland durchqueren und das Nest des Vlagh betreten. Sie werden uns nicht einmal bemerken, und deshalb können wir tun und lassen, was wir wollen.«
»Das Vlagh massakrieren vielleicht?«, schlug Hase vor, wobei die Skepsis in seiner Stimme unüberhörbar war. »Du wirst ihm zeigen müssen, wozu du fähig bist, Omago«, sagte Langbogen. »Hase muss die Dinge sehen, ehe er sie glaubt.« »Und nur so zum Spaß könntest du uns diesen >Unbemerkbar< Trick vorführen, mit dem wir sicher durch das Ödland gelangen sollen«, fügte Keselo hinzu. Omago zuckte mit den Schultern. »Wenn es euch denn beglückt«, sagte er. Er erhob sich in die kalte Winterluft, bis er ungefähr vierzig Fuß über seinen Freunden stand. »Sind deine Fragen damit beantwortet, Hase?«, fragte er den kleinen Maag. »Also gut, passt gut auf.« Er drang in ihre Köpfe ein. »Wohin ist er verschwunden?«, wollte Hase wissen. »Ich bin immer noch hier, Hase«, rief Omago. »Du kannst mich nur nicht mehr sehen, das ist alles.« »Willst du sagen, du wärest unsichtbar?« »Nein. Du achtest nur nicht auf mich, das ist alles.« Er verscheuchte ihre Unempfänglichkeit, und alle drei schienen zu erschrecken, als er plötzlich wieder auftauchte. »Bist du sicher, dass du uns an diesem kleinen Spiel teilhaben lassen kannst?«, fragte Keselo zweifelnd. 301 Omago lachte. »Ich kann eine Gebirgskette verschwinden lassen, "wenn ich wirklich will«, antwortete er. »Sie wird immer noch da stehen, nur wird sie niemand mehr bemerken. Das ist eigentlich gar nichts so Besonderes. Zelana macht das ständig.« »Willst du damit sagen, du seiest so mächtig wie die werte Dame Zelana?«, erkundigte sich Hase. »Mächtiger, Hase«, erwiderte Omago. »Bestimmt wird sie sich steigern, wenn sie erst groß wird, aber da hat sie noch einiges vor sich. Sind deine Fragen damit beantwortet? Wir haben einen recht langen Weg vor uns, daher sollten wir lieber aufbrechen.« 45 Der kalte Wind fegte über das steinige Ödland hinweg und erzeugte einen eigentümlichen Klageton, den Omago als ausgesprochen bedrückend empfand. Es gab noch einige Gründe mehr, aus denen sie sich beeilen sollten, doch im Herzen wusste Omago, dass ihn vor allem dieses Klagelied des Windes vorantrieb. Nachdem sie den Hang im Westen von Gundas Fort hinuntergezogen waren, verfiel Omago auf seine so genannte »Hüpfer«-Methode, mit
der er weite Strecken zurücklegen konnte. Er erwähnte es den anderen gegenüber nicht, und er war ziemlich sicher, es entging ihnen auch, dass er mogelte. Als seine Hüpfer eine Weite von vielleicht zehn Meilen erreichten, hob Langbogen jedoch die Hand. »Ich glaube, das ist keine so gute Idee, Freund Omago«, sagte er. »Was denn?« »Diese Sprünge sind zu groß. Wir könnten mitten in einer riesigen Gruppe von Insektenmenschen landen, und wir würden 302 gerade genug Lärm machen, um die Aufmerksamkeit des Feindes auf uns zu lenken. Die Sprünge sind natürlich nicht schlecht, nur an deiner Stelle würde ich sie auf eine Meile begrenzen.« »Ist mir irgendetwas entgangen?«, fragte Hase. »Wenn du einmal auf die Berge im Osten des Ödlands schaust, wirst du bemerken, dass sie recht oft zu springen scheinen. Ein Berggipfel, gerade noch recht nah, entfernt sich plötzlich um ein gutes Stück.« Langbogen lächelte Omago an. »Ich glaube, wir sollten ein wenig auf Nummer sicher gehen, oder?« »Du bekommst aber auch alles mit, Langbogen, was?«, wollte Omago eher ein wenig beleidigt wissen. »Das soll ich doch schließlich. Ein Teil meiner Aufgabe besteht darin, meine Freunde vor Gefahren zu beschützen. Wenn wir mit dieser Geschwindigkeit weiter hüpfen, werden wir unser Ziel sehr bald erreichen. Wir wollten das Nest des Vlagh aber eigentlich gar nicht erreichen, ehe die Sonne untergegangen ist, denn wir wollen dort doch nicht eindringen, ehe sich die Diener des Vlagh schlafen gelegt haben, oder?« Omago seufzte. »Vermutlich nicht«, stimmte er widerwillig zu. Nur wenige Tage später erreichten sie einen eigentümlichen Felsgipfel, der aus der unfruchtbaren Wüste namens Ödland in die Höhe ragte. »Ich glaube, das dürfte es sein«, sagte Omago leise zu seinen Freunden. »Da laufen tatsächlich eine ganze Menge Käfer um diesen Felshaufen herum«, stimmte Hase zu. »Irgendwie ähnelt es fast einem Fort, oder?«, meinte Keselo. »Ich glaube, einen solchen Berg habe ich noch nie gesehen. Wie könnte der entstanden sein?« »Erosion«, erklärte Omago. »Früher einmal bildete das, was wir heute das Ödland nennen, den Grund eines ziemlich großen Meeres, und Wasser neigt dazu, an Fels zu nagen. Gebt einem
303 Meer eine Million Jahre Zeit, und es wird so gut wie jeden Stein an seiner Küste in Sand verwandeln.« »Wenn ich richtig verstanden habe, was du über diese Bergspitze sagst«, meinte Hase, »ist es das >Nest<, in dem alle Insektenmenschen leben.« »Nicht ganz alle, Hase«, sagte Langbogen. »Einige von ihnen sind draußen unterwegs und wollen Menschen umbringen. Deshalb nennen wir dies einen >Krieg<, oder?« »Sehr lustig, Langbogen«, erwiderte Hase. »Worauf ich hinauswollte: Diese Käfer machen doch keine Feuer an - oder jedenfalls nicht bis zu dem Krieg oben im Norden. Wenn sie kein Feuer haben, wie beleuchten sie diesen Berg dann von innen?« »Viele Käferarten brauchen gar kein Licht, Hase«, antwortete Keselo. »Sie finden sich mit dem Tastsinn zurecht, nicht durch Sehen. Zudem gibt es einige Käfer, die sogar Licht aus ihren Körpern strahlen lassen können. Manche Menschen nennen sie >Glühwürmchen<, und die glühen auch ganz ohne jedes Feuer.« »Wir werden mehr erfahren, wenn wir erst einmal drin sind«, sagte Langbogen düster. »Eine Sache noch: Das Vlagh gehört mir. Denkt daran. Ich bin derjenige, der es töten wird.« Das überraschte Omago nun sehr und beunruhigte ihn außerdem. Er hatte sich die Sache ganz anders vorgestellt, und so war es nun offensichtlich, dass er sich mit Langbogen darüber unterhalten musste - und zwar bald. »Diese Höhlenöffnung in der Mitte der Bergspitze ist wahrscheinlich der Haupteingang zum Nest«, erklärte Keselo ihnen leise, während die Abenddämmerung über dem Ödland anbrach. »Dort gehen aber eine Menge Käfer ein und aus«, beobachtete Hase. »Selbst wenn sie uns nicht sehen können, werden wir wahrscheinlich mit einigen in der Höhle zusammenstoßen.« »Darum kann ich mich kümmern«, versicherte Omago dem 304 kleinen Schmied. Dann blickte er sich um. »Was ist das für ein Summen?«, wollte er gereizt wissen. »Ich höre nichts«, antwortete Hase. Omago sah zunächst Langbogen und dann Keselo an. »Hört ihr das nicht?« Beide schüttelten den Kopf. »Vielleicht hörst du ja das Vlagh selbst?«, fragte Keselo. »Es gibt
doch diesen so genannten >Über verstand^ Möglicherweise erteilt das Vlagh seinen Kindern Befehle, und denen lauscht du jetzt. Du besitzt schließlich Fähigkeiten, die uns nicht gegeben sind.« »Das könnte sein, Omago«, stimmte Langbogen zu. »Hast du vielleicht die Möglichkeit zu verstehen, was der Überverstand des Vlagh zu den Kindern sagt? Wenn wir wissen, was es von ihnen will, hätten wir einen erheblichen Vorteil.« Omago runzelte die Stirn. »Auf den Gedanken bin ich noch gar nicht gekommen«, räumte er ein. »Ich glaube, was es ihnen mitteilt, wird klarer, wenn wir erst in der Höhle sind.« »Das könnte wirklich ein sehr leichter Krieg werden«, meinte Hase. »Wenn du die Befehle der Käferkönigin an ihre Kinder belauschen kannst, sollten wir die Feinde aufhalten können, ehe sie überhaupt aufgebrochen sind.« »Gehen wir zunächst hinein«, forderte Omago seine Freunde auf. »"Wenn ich das Summen in der Höhle immer noch hören kann, sollten wir es uns mal genauer anschauen ... äh, anhören?« Die Wände dessen, was von außen eher wie eine natürliche Öffnung in der Seite des Berges erschien, waren so glatt wie die Mauern in Veltans Haus im Süden. Polierte Wände - insbesondere bei einer Höhle - kamen Veltan ein bisschen seltsam vor, doch hatten die Kinder des Vlagh wohl wenigstens etwas zu tun gehabt, wenn sie sich einmal nicht damit beschäftigten, über die Länder der Menschen herzufallen. 3°5 Viele Insektenmenschen waren in die Höhle hinein oder aus der Höhle heraus unterwegs, und obwohl sie mit ziemlicher Sicherheit Omago und seine Freunde nicht sehen konnten, gingen sie ihnen beinahe höflich aus dem Weg. Während Omago tiefer und tiefer in die Höhle vordrang, wurde das nervende Summen immer lauter und deutlicher. Er erforschte dieses Geräusch in seinem Kopf, und nach einigen Fehlversuchen verstand er, was das Vlagh seinen Kindern mitteilte. »Kümmert euch um die Kleinen«, war sehr deutlich herauszuhören. »Bringt sie dorthin, wo es nicht so kalt ist, und füttert sie gut, denn sie werden bald größer werden und eure Arbeit übernehmen. Enttäuscht mich nicht, wenn euch euer Leben lieb ist, denn die Kleinen bedeuten mir wirklich sehr viel.« Hase war ein Stück vorangegangen, und als er sich wieder zu ihnen gesellte, konnte man ihm die Ehrfurcht am Gesicht ablesen. »Was ist denn los?«, fragte Langbogen seinen kleinen Freund.
»Du wirst nicht glauben, wie groß die Höhle ist, die am Ende dieses Tunnels liegt, Langbogen«, sagte Hase. »Ich konnte nicht einmal die Wand gegenüber erkennen.« »Gibt es dort Licht?«, fragte Keselo. »Wenn du es so nennen willst«, antwortete Hase. »Es haben sich einige dieser Glühwürmchen zwischen die gewöhnlichen Käfer gemischt. Sie geben zwar nicht viel Licht ab, aber es ist auch nicht stockfinster.« »Hast du das Vlagh gesehen?«, erkundigte sich Langbogen. Hase schüttelte den Kopf. »Die Insektenmenschen schauen alle zu etwas hoch, das wie ein großer Klumpen Spinnenweben von der Decke hängt.« »Das dürfe ein Kokon sein«, erklärte Keselo. »Manche Käfer hüllen sich in ein solches Gespinst ein, wenn sie ihre Form verändern - oder wenn sie einer neuen Generation von Jungen das Leben schenken oder wie man die kleinen Käfer sonst nennt.« 306 Langbogen wurde kalt und dann auch ein wenig mulmig. »Das dürfte dann wohl das Vlagh selbst sein, oder?«, fragte er Omago. »Bestimmt«, meinte auch Omago. Dann entschied er, es sei der richtige Zeitpunkt, um eine ganz bestimmte Angelegenheit zu klären. »Du brauchst nicht nach Pfeil und Bogen zu greifen, Freund Langbogen. Ich habe andere Pläne mit dem Vlagh.« »Aha?« »Wenn du hörst, was ich vorhabe, wirst du sicherlich damit einverstanden sein.« »Dann überrasche mich«, sagte Langbogen. Omago zuckte mit den Schultern. »Das Vlagh wird ewig leben, und ich werde dafür sorgen, dass es jeden Augenblick dieser Ewigkeit leidet.« »Ich bin ganz Ohr«, versprach Langbogen. Das Kümmert-euch-um-die-Kleinen-Summen wurde wieder und wieder wiederholt, obwohl der Kokon noch unversehrt war, und Omago war sicher, die »Versorger« wussten, was sie zu tun hatten. Es dauerte eine Weile, bis er das Summen ausgeblendet hatte, und nachdem es nicht mehr zu hören war, versah er das Geräusch mit einer vollkommen anderen Botschaft. »Ihr seid die Besten, die mir dienen«, brummte er den Brutumsorgern zu. »Sollen sich andere um die neue Brut kümmern, denn ihr habt viel wichtigere Pflichten. Geht hinaus aus unserem ewigen Nest und bereitet euch darauf vor, uns
gegen die Menschenwesen zu verteidigen, die gerade durch das Land heranziehen, das kein Essen hervorbringt. Das Schicksal des Nestes hängt allein von euch ab.« »Wie hast du das gemacht?«, flüsterte Hase Omago zu, als praktisch alle Insektenmenschen in den Gang huschten, der nach draußen führte. »Ich glaube, der Begriff, mit dem es sich am besten beschrei3°7 ben ließe, lautet >mogeln<, mein kleiner Freund. Ich habe das Summen nachgeahmt und fast jedem dieser Käfer in der großen Kammer befohlen, nach draußen zu laufen und eine eingebildete Invasion zu verhindern.« »Sollen sie sich denn nicht um die Jungen kümmern?«, wollte Hase wissen. »Sollten sie, ja. Aber der >Überverstand< hat ihnen gerade neue Befehle erteilt.« Omago blickte sich in der riesigen Höhle um, die voller Insektenmenschen gewesen war, bis er seinen falschen Befehl ausgesprochen hatte. »Hier sind nicht mehr viele Diener des Vlagh, oder?«, stellte er fest. Und daraufhin brach er in schallendes Gelächter aus. Der Besuch von Sorgan Hakenschnabel 46 Kommandant Narasan aus Kaldacin war gelinde gesagt ziemlich bestürzt über das plötzliche Verschwinden der feindlichen Armee. Nicht einmal der Schneesturm hatte bislang die Insektenmenschen vertrieben, die einfach ihren sinnlosen Angriff den Hang hinauf auf Gundas Fort fortsetzten, obwohl beständig Pfeile und Brandgeschosse auf sie niederhagelten und ihnen zudem von Prinz Ekials Pferdesoldaten heftig zugesetzt wurde. Aber jetzt hatten die Insektenmenschen ohne jeden für Narasan ersichtlichen Grund ihren Angriff abgebrochen, hatten, soweit man das von Gundas Fort aus feststellen konnte, den Hang verlassen und waren zurück ins kahle Ödland gezogen. Um die Sache noch zu verschlimmern, war Königin Trenicia von der Insel Akalla nirgends im Fort zu finden, und ihre Abwesenheit bereitete Narasan mehr Sorgen, als er zugeben wollte, nicht einmal vor sich selbst. Trenicia war wild und manchmal arrogant, und sie neigte dazu, große Risiken einzugehen, die eigentlich überflüssig waren, und trotzdem verspürte Narasan eine entsetzliche Einsamkeit, wenn sie nicht in seiner Nähe war. Sie hatte ihn während des Krieges
in Herrn Dahlaines Domäne im Norden des Landes Dhrall häufig verärgert, und es war recht offensichtlich, dass sie damit hier im Langen Pass fortfahren wollte. »Wenn sie mir nur gesagt hätte, wohin sie geht«, murmelte er vor sich hin, während er auf der hohen Vordermauer von 309 Gundas Fort stand und über den schneebedeckten Hang hinunter ins Ödland schaute. »Ich will ihr ja nicht vorschreiben, was sie zu tun oder zu lassen hat, aber ich muss wissen, wo sie ist.« »Ach, hier bist du«, sagte Narasans Freund, Unterkommandant Padan, und gesellte sich zu Narasan auf der Mauer. »Gibt es irgendwelche Anzeichen für Insektenmenschen auf dem Hang?« »Nichts, absolut nichts«, antwortete Narasan. »Ich schätze, möglicherweise haben sie sich wieder ans Buddeln gemacht.« »Dafür würden sie Jahre brauchen, Narasan«, spottete Padan. »Ich bin hergekommen, um dir mitzuteilen, dass durch den Langen Pass Besuch heraufkommt.« »Wer?« »Unser lieber alter Freund Sorgan Hakenschnabel. Ein Läufer ist gerade eingetroffen, um dich zu warnen, dass Sorgan dich wegen irgendetwas zur Schnecke machen möchte.« »Und zwar weswegen?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung, glorreicher Führer.« »Muss das ständig sein, Padan?«, beschwerte sich Narasan. »Ab und zu wenigstens, ja. Sollen wir ihnen entgegengehen und sie begrüßen, damit wir erfahren, was er uns zu sagen hat? Oder willst du dir lieber ein Versteck suchen?« Narasans Freund, der stämmige Sorgan Hakenschnabel, erreichte die Rückseite von Gundas Fort etwa eine halbe Stunde später, und er hatte den zotteligen matanischen Bisonfellmantel fest um sich zugezogen. »Gibt es einen dringenden Notfall hier oben, Freund Narasan?«, wollte er wissen. »Unsere Feinde greifen gerade Gundas Fort nicht an«, antwortete Narasan. »Das würde ich eher das Gegenteil von einem Notfall nennen. Komm mit ins Warme, dann kannst du mir dein Problem schildern.« »Ist doch ein bisschen kalt hier oben«, stimmte Sorgan zu. »Geh nur voran, mein Freund. Ich folge dir mit Freuden.« 310 Auf Padans Vorschlag hin gingen sie in Aras Küche. Das war der
wärmste Ort im ganzen Fort, und Sorgan hatte nach der langen Wanderung den Pass hinauf vermutlich Hunger. »Wir wollen dich nicht stören, Ära«, sagte Narasan, »doch Kapitän Hakenschnabel war mehrere Tage draußen in der Kälte unterwegs, und ich könnte mir vorstellen, dass etwas zu essen seinen Bauch sehr glücklich machen würde.« »Aber du störst doch nicht, Narasan«, erwiderte die wunderschöne Ära. »Er soll sich ein wenig aufwärmen, während ich ihm ein Mittagessen bereite.« »Das würde wiederum mich nicht im Geringsten stören, meine Dame«, sagte Sorgan und zog sich den Bisonfellmantel aus. »Dein Gemahl ist nun vermutlich schon einige Tage unterwegs«, fügte er hinzu, »und deshalb bin ich hergekommen, um mit meinem Freund Narasan zu reden.« Er warf Narasan einen Blick zu. »Deshalb habe ich dich gefragt, ob es wohl hier oben einen Notfall gebe. Omago ist zur Tempelstadt gekommen und hat nach Hase gesucht. Ich schätze, sie haben sich eine Weile unterhalten, und nun können wir beide nicht mehr finden. Es ist fast, als hätten sie sich einfach in Luft aufgelöst.« »War Hase denn gerade mit etwas Wichtigem beschäftigt?« »Mit etwas sehr, sehr Wichtigem, Narasan. Wir haben Tonnen und Abertonnen Gold im Tempel der werten Aracia gefunden, und Hase hat die Goldblöcke für uns umgeformt, doch jetzt ist er weg. Ich lasse nun mehrere andere Männer daran arbeiten, aber die sind nicht annähernd so gut wie Hase.« »Wo hast du das Gold denn gefunden, Freund Sorgan?« »Du wirst es nicht glauben: Die Wände des Thronsaals waren aus massiven Goldblöcken gebaut.« »Wann ist denn das passiert?«, wollte Narasan wissen. »Als ich dort unten war, gab es da nur gewöhnliche Ziegel.« »Die Ziegel haben vielleicht gewöhnlich ausgesehen«, meinte Sorgan, »doch irgendwer war klug genug, sie zu tarnen.« 311 »Wie hat derjenige denn das angestellt?« »Soweit wir erkennen konnten, hat man das geschmolzene Gold mit Sand bestreut, während es in der Form abkühlte. Der Sand klebte am Gold, und die Blöcke sahen aus wie aus Lehm. Ich möchte meinen, einer der faulen Priester war klug genug, das Gold zu verbergen damit wir es nicht finden.« Er blickte sich um. »Hast du vielleicht etwas zu trinken für mich?«, fragte er.
»Ich werde dir einen Krug oder zwei holen, Kapitän«, sagte Padan und ging zur Tür. »Wie können Menschen nur an einem Ort leben, an dem es so kalt ist?«, wollte Sorgan von Narasan wissen. »Diese Bisonfelle helfen ein wenig gegen die Kälte«, antwortete Narasan. »Ich würde, glaube ich, gar nicht nach draußen gehen, wenn ich den nicht hätte, das ist einmal sicher«, pflichtete Sorgan bei. »Ach, ehe ich es vergesse, ich brauche wohl noch ein paar deiner Schiffe unten in der Tempelstadt. Die Himmelfahrt ist ein hübsches Schiffchen, doch kann sie leider nicht das ganze Gold tragen.« »Von wie viel Gold reden wir denn eigentlich, Sorgan?« »Wie hieß noch mal die Steigerung von >Tonnen<, Narasan? Wir haben viel, viel mehr als Tonnen, und noch haben wir längst nicht alles aus dem Tempel geholt.« »Ich würde ja gern eine Probe davon sehen, Sorgan. Natürlich will ich dich nicht der Lüge bezichtigen, aber immerhin ...« »Na, ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr fragen, Narasan«, meinte Sorgan. Dann band er einen Lederbeutel von seinem Gürtel los, öffnete ihn und schüttete mehrere ziemlich kleine Goldblöcke auf den Tisch, als Padan gerade mit zwei großen Krügen zurückkam. »Hübsch«, sagte Padan und betrachtete das Gold auf dem Tisch, »aber warum macht ihr daraus so kleine Stücke?« »Nur so eine Idee, die ich euch Trogiten abgeschaut habe«, gab 312 Sorgan zu. »Wir haben ja keine Goldmünzen drüben im Lande Maag. Kupfermünzen, Messingmünzen, ja, und ein paar aus Silber, aber aus irgendeinem Grunde hat noch nie jemand an Goldmünzen gedacht.« »Viereckige?«, fragte Narasan. »Ich glaube, viereckige Münzen habe ich noch nie gesehen.« »Darauf ist Hase gekommen. Er sagte, wenn wir viereckige Münzen machen, wüsste jeder gleich, dass sie aus dem Land der Maags stammen.« »Gehört nicht ein Bild von irgendwem auf diese Blöcke geprägt?«, fragte Padan. »Ein Bild? Von wem?« »Von dir vielleicht. Du hast schließlich den Einfall gehabt, und wenn dein Bild auf jeden Block geprägt ist, werden die anderen Maags dich als eine Art Kaiser betrachten.«
»Darauf bin ich noch gar nicht gekommen«, räumte Sorgan ein. »Wie macht man denn so etwas?« »Man ritzt das Bild am Ende einer Eisenstange ein, setzt die Stange auf die Oberseite eines Goldblocks und haut mit einem Hammer auf das andere Ende.« »Wie gedenkst du deine neuen Münzen denn in Umlauf zu bringen, Freund Sorgan?«, erkundigte sich Narasan. Sorgan zuckte mit den Schultern. »Ich kaufe damit Sachen -Schiffe, Häuser, Land. Wenn ich es recht überlege, werde ich vermutlich tatsächlich Kaiser der Maags werden, da mir alles gehören wird, und dann kann ich eine Armee anheuern, die jeden zwingt, sich vor mir zu verbeugen. Und Freund Narasan kann sich das trogitische Reich kaufen, da die Hälfte des Goldes ja ihm gehört.« »Wie bist du denn auf den Einfall gekommen, Sorgan?«, fragte Narasan durchaus überrascht. »Wir sind Partner, Freund Narasan, und einen Partner betrüge ich nicht. Das solltest du doch inzwischen wissen.« 3*3 »Ich versinke ja fast in Kaisern«, sagte Padan. Dann zog er den Stopfen aus einem der Krüge, die er geholt hatte. »Trinken wir darauf, ja?«, schlug er vor. »Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr fragen«, meinte Sorgan und grinste breit. Ära hatte ihre verschiedenen Ofen überprüft und war dann mit einem Ausdruck des Unwillens im wunderschönen Gesicht zu Narasan und Sorgan an den großen Tisch getreten, wo sich die Männer seit fast einer Stunde unterhielten. »Ich glaube, da gibt es etwas, dass ihr Herren wissen solltet«, sagte sie. »Dass schon fast Zeit für das Abendessen ist?«, fragte Sorgan und grinste. »Sehr lustig, Hakenschnabel«, gab sie zurück. »Ich möchte euch ja nicht den Tag verderben, mächtige Soldaten, aber mein Mann hat sich entschlossen, diesen Krieg ohne euch zu beenden.« »Deshalb ist er also zur Tempelstadt gekommen und hat mir Hase stibitzt«, stellte Sorgan fest. »Ich glaube, jetzt steige ich nicht mehr durch, Freund Sorgan«, meinte Narasan. »Der Bauer ist schlau genug, um zu erkennen, dass Langbogen, Hase und dein Keselo in den vergangenen Kriegen eine hervorragende Mannschaft gebildet haben, und ich bin ziemlich sicher, wenn wir
uns umschauen, werden wir keinen von ihnen hier in Gundas Fort finden.« Er blickte Ära an. »Sollte ich das, was die Leute so sagen, richtig verstanden haben, können du und dein Gemahl über tausend Meilen hinweg in Verbindung bleiben. Ich vermute also, du weißt sehr genau, wo er und seine Freunde im Augenblick sind.« »Oh, ja, und tausend Meilen ist gar kein Ausdruck für die Entfernungen, über die hinweg wir einander erreichen können, wenn wir sollen oder wollen. Bis vor kurzem war er sich dessen 3M jedoch nicht ganz bewusst. Dann hatte er einen Traum, der weit über die Träume der Kinder hinausging.« »Ein Traum über das, was im Ödland geschehen wird?«, fragte Narasan. »Nein. Eigentlich gehörte der Traum überhaupt nicht zur Sache. Er hat Omago lediglich verraten, wer - und was - er eigentlich ist. Jetzt weiß er, dass er das Vlagh und alle seine Jungen vernichten kann. Er hat die Mannschaft zusammengestellt, die in der Vergangenheit schon so nützlich war, und hat mit den drei das Ödland bis zum Nest des Vlagh durchquert.« »Ist das nicht gefährlich?«, erkundigte sich Narasan. »Soweit wir wissen, wimmelt es im Ödland von den Kindern des Vlagh.« »Nicht mehr«, erwiderte Ära, »und selbst, wenn sie dort zu Tausenden herumlaufen würden, könnten sie unsere Freunde nicht sehen.« »Wann, meinst du, werden sie das Nest des Vlagh erreichen?«, wollte Narasan wissen. »Im Prinzip haben Entfernungen für Omago keine Bedeutung, und Zeit auch nicht. Sie sind bereits da.« »Wie sieht denn sein Plan aus?«, fragte Sorgan. »Er hat die Stimme des Vlagh ausgelöscht. Es versucht zwar, seinen Kindern Befehle zu erteilen, aber die hören es nicht. Omago hat sich seiner Stimme bemächtigt, und nun gehorchen die Kinder ihm. Das Vlagh hat gerade erst eine Million Eier gelegt. Wenn die Eier ausgebrütet sind, sollen die Jungen zu >Versorgern< heranwachsen, die für die nächste Brut sorgen sollen. Da Omago die Befehle des Vlagh unhörbar gemacht hat, konnten die >Versorger< die kleinen Käfer nicht erkennen und haben sie einfach aufgefressen.« Sorgan würgte es plötzlich. »Sie fressen ihren eigenen Nachwuchs?«, rief er. »Sie wissen nicht, dass die neue Brut vom Vlagh stammt«,
antwortete Ära. »Für sie stellt eine neue Brut nur kleine Raupen dar. 315 Omago hat mir mitgeteilt, dass das Vlagh zu schreien angefangen hat, als die >Versorger< jedes einzelne seiner Jungen aufgefressen haben. Omago ist sicher, es wird noch sehr, sehr lange schreien.« »Wie lange?«, hakte Narasan nach. »Omago hat das Wort >ewig< benutzt, als er es Langbogen erklärt hat. Und ihr werdet es vielleicht nicht glauben, aber Langbogen hat seine Pfeile eingesteckt, nachdem Omago >ewig< zu ihm gesagt hat. Er hatte offensichtlich geplant, das Vlagh zu töten, doch als mein Gemahl ihm gesagt hat, das Vlagh werde in seinem Kummer Millionen Jahre lang schreien, fand er das sehr viel befriedigender, als es mit Pfeilen zu beschießen.« »Wenn es keine weiteren Brüten mehr gibt, sterben die Insektenmenschen vermutlich über kurz oder lang aus, nicht wahr?«, fragte Sorgan. »Was verstehst du unter >lang<, Hakenschnabel?«, gab Ära zurück. »Ich weiß nicht«, gestand Sorgan ein. »Höchstens ein Jahr oder so, würde ich sagen.« »So lange hat noch kein Käfer gelebt«, sagte Ära. »Vier bis sechs Wochen, mehr würde ich ihnen nicht geben. Das Vlagh wird zwar noch da sein, aber während der nächsten Jahrmillionen ganz allein und schreiend.« »Wenn es so weitergeht, brauchst du mit deinen Männern ja nicht mehr hier bleiben, Freund Narasan«, sagte Sorgan. »Deine Männer könnten wir viel besser unten in der Tempelstadt zur Bewachung des Goldes einsetzen.« »Was ist da unten eigentlich los, seit die werte Dame Aracia verschwunden ist?«, erkundigte sich Narasan bei seinem Freund. »Ich glaube, das nennt man gegenseitige Vernichtung<«, antwortete Sorgan und grinste fies. »Die Priester bringen einander um, wann immer sie Gelegenheit dazu haben. Diese kleine Priesterin hat den armen alten fetten Bersla mitten im Thronraum 316 aufgeschlitzt. Bersla hatte sich auf Aracias Thron gesetzt, und die kleine Alcevan kam zu ihm, kniete nieder und gab vor, sich von ihm segnen lassen zu wollen. Ich schätze, er hat gerade darüber nachgedacht, was er sagen soll, da ist sie schon auf ihn losgegangen und hat ihn mit dem Messer von oben bis unten aufgeschlitzt. Ich habe es ja nicht mit eigenen Augen gesehen, aber ich habe gehört,
seine Gedärme hätten sich über den Boden des Thronsaals ergossen. Schon ekelig, einen so umzubringen, aber am Ende ist der Betroffene doch auch nur tot.« »Über diese Alcevan habe ich schon einiges gehört«, sagte Ära. »Ich glaube, ich werde meinem Gemahl einen Vorschlag machen. Es wäre vielleicht keine schlechte Idee, sie zurück ins Nest zu schicken. Dann könnte sie irgendwo herumsitzen und ihrer Mutter die nächste Jahrmillion beim Schreien zuhören.« »Sie kann doch unmöglich so lange leben«, widersprach Narasan. »Vergiss >unmöglich<, lieber Narasan«, entgegnete Ära. »Wenn ich will, dass Alcevan die nächste Jahrmillion den Schreien ihrer Erzeugerin lauscht, dann wird sie das tun, das garantiere ich dir. Jemanden zu töten ist eine Form der Rache, aber nicht zu töten ist manchmal viel befriedigender.« Am Vormittag des folgenden Tages kam die Kriegerkönigin Trenicia den Hang aus dem Ödland herauf, und begleitet wurde sie von Prinz Ekial. »Wo hast du gesteckt?«, verlangte Narasan von ihr zu wissen, als sie Gundas Fort betrat. »Meine Güte«, sagte sie, »wir haben aber gute Laune heute Morgen.« »Ich habe dich mehrmals gebeten, mir Bescheid zu sagen, wenn du einen Kundschaftergang unternimmst.« »Hast du wirklich geglaubt, ich würde mich daran halten? Du hast Auskünfte gebraucht, und also bin ich hinausgegangen und 317 habe sie für dich gesammelt. Der Hang scheint verlassen zu sein, ist er aber nicht. Da unten sind Tausende von Insektenmenschen, nur sind die alle tot.« »Wer - oder was - hat sie getötet?«, fragte Narasan ziemlich verblüfft. »Ich würde sagen, das Wetter«, antwortete sie. »Würdest du dem nicht zustimmen, Prinz Ekial?« »Sie hat vollkommen recht, Freund Narasan«, sagte Ekial. »Das Eigenartige war nur, dass alle, die wir gesehen haben, noch aufrecht standen.« »Gehen wir rein«, schlug Narasan vor. »Sorgan Hakenschnabel ist da, und er wird die Geschichte bestimmt auch hören wollen.« »Außerdem ist es hier draußen ein bisschen kalt«, meinte Trenicia. Dann tätschelte sie Narasans Wange. »Du machst dir zu viele
Sorgen, Narasan. Ich bin schon ein großes Mädchen und kann auf mich aufpassen.« Sie gingen ins Fort und fanden Sorgan, der sich mit Gunda und der schönen Ära unterhielt. »Was ist los, Narasan?«, wollte Sorgan wissen. »Anscheinend ist der Hang westlich vom Fort gar nicht so verlassen, wie wir dachten«, antwortete Narasan. »Dort gibt es immer noch Insektenmenschen, bloß sind sie alle tot.« »Pfeile?«, fragte Sorgan. Narasan schüttelte den Kopf. »Die Kälte, habe ich gehört. Erzähl ihm, was du gesehen hast, Trenicia.« »Es erschien mir doch ein wenig ungewöhnlich, dass die Horde von Insektenmenschen, die mehrere Wochen lang den Hang hinaufgestürmt war, einfach verschwunden sein sollte - und zwar, ohne auch nur irgendwelche Spuren im Schnee zu hinterlassen«, berichtete Trenicia dem Kapitän, »daher bin ich hinuntergegangen, um mir die Sache anzuschauen. Die Insektenmenschen sind noch da, aber sie rühren sich nicht mehr. Ich würde sa318 gen, die sind alle erfroren.« Sie zog ihr schweres Schwert aus der Scheide, strich den Daumen über die Schneide und zuckte zusammen. »Ich werde Wochen brauchen, bis ich alle Scharten ausgewetzt habe«, jammerte sie. »Ein paar der Insektenmenschen habe ich in Stücke gehauen, und die waren alle durch und durch gefroren. Aus irgendeinem Grund müssen sie sich nicht mehr bewegt haben, und bei dem Wetter haben sie sich dann in Eisblöcke verwandelt.« »Die Insektenmenschen sind nicht so helle«, meinte Sorgan, »aber wer bei dieser Kälte draußen im Freien herumsteht, an dessen Verstand muss man zweifeln.« »Da gibt es gar nichts zu zweifeln«, meinte Ära. »Die Insekten haben keinen Verstand. Deshalb brauchen sie den >Überverstand<. Jetzt hat Omago die Stimme des Vlagh zum Verstummen gebracht, und der Überverstand kann keinen Kontakt mehr zu den Kindern aufnehmen. Sie warten auf Befehle, bekommen aber keine. Daher wissen sie nicht, was sie tun sollen, stehen einfach herum und erfrieren.« »Es scheint, sie haben dort viel zu lange herumgestanden«, stellte Sorgan fest. »Meinetwegen noch nicht lange genug«, sagte Narasan darauf und
lächelte schwach. »Es wäre wirklich außerordentlich liebenswürdig von dir, wenn du mich wissen lassen würdest, wohin du gehst, ehe du aufbrichst, Trenicia«, bat Narasan die Kriegerkönigin nochmals, als sie allein in Narasans Unterkunft waren. »Als ich bemerkte, dass du verschwunden bist, habe ich befürchtet, dich verloren zu haben, und da wäre ich beinahe am liebsten gestorben. Bitte, mach das nicht noch einmal, Herzallerliebste.« Trenicias Augen wurden groß und immer größer, und sie starrte Narasan an. Dann plötzlich kamen ihr die Tränen. Sie schloss ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich. 319 »Geht es dir auch gut, Trenicia?«, fragte Narasan. »Nicht schlecht, ja«, erwiderte sie, während ihr Tränen über die Wangen rannen. »Du hast mich gerade >Herzallerliebste< genannt, und das bedeutet, dass du mich liebst, oder irre ich mich?« »Ich dachte, du wüsstest das längst.« »Nun ja, ich habe gewisse Hoffnungen gehegt, aber du hast es bisher nicht so deutlich geäußert.« »Na, ja, irgendwann wäre es schon herausgekommen«, sagte Narasan und lächelte. »Vergib mir bitte, Herzallerliebste. Solche Gefühle waren mir bislang vollkommen unbekannt, daher war ich ein bisschen unbeholfen, als ich sie dir zeigen wollte.« »Ach, du machst das sehr gut, Herzallerliebster«, sagte sie und wischte sich die Augen. »Ich glaube, es gibt nur ein einziges Problem: Bestimmt werde ich jedes Mal, wenn du mich >Herzallerliebste< nennst, in Tränen ausbrechen.« »Das ist doch nicht schlimm«, sagte er. »Das spült den Staub aus den Augen.« »Musst du die Dinge denn immer so praktisch sehen?«, beschwerte sie sich. »Man erwartet von mir, praktisch zu sein, Trenicia«, sagte er. »Schließlich bewahrt das meinen Männern das Leben. Aber natürlich könnte ich extra für dich ein bisschen unpraktisch sein.« Dann lachte er und umarmte sie zärtlich. Das Nest 47 Keselo hatte doch so seine Schwierigkeiten mit der wahren Identität des Bauern Omago. Natürlich hätte er längst Verdacht geschöpft haben sollen, betrachtete man nur mal die unbegrenzten Fähigkeiten
von Omagos Gemahlin. Aus irgendeinem Grunde allerdings hatte er nie daran gedacht, dass Omago ähnliche Katastrophen für die Wesen des Ödlands heraufbeschwören konnte wie Ära. Je länger Keselo darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass Omago gewiss ebenso mit den Menschen in seiner Umgebung »herumpfuschen« konnte, denn sonst hätten sie ihn ja schließlich nicht als ganz gewöhnlichen Bauern mit ganz gewöhnlicher Begabung angesehen. Wenn allerdings das stimmte, was Omago ihnen in Gundas Fort erzählt hatte, musste er sogar sich selbst getäuscht haben. In seinem Bemühen, die Menschen des Landes Dhrall zu verstehen, hatte Omago sein Wissen darüber, wer - und was - er wirklich war, ausradiert und war als ganz gewöhnlicher Bauer aufgewachsen, der Getreide und Gemüse säte und pflanzte, den ganzen Sommer lang beim Wachsen zuschaute und im Herbst erntete. Anscheinend jedoch wusste ein bestimmter Teil von Omagos Bewusstsein genau, wer - und was - er eigentlich war, und als die Notwendigkeit entstand, verdrängte dieser Teil von Omago kur321 zerhand den »Bauern« und übernahm den Befehl. Dementsprechend hatten es Keselo und seine Freunde jetzt mit einem vollkommen anderen Omago zu tun - einem, der sich, wenn er wollte, über das kleine Wörtchen »unmöglich« hinwegsetzen konnte. Er war zu Aracias Tempelstadt gegangen und hatte Hase zu Gundas Fort am Ende des Langen Passes geholt, und dafür hatte er summa summarum nur wenig länger als eine Stunde gebraucht. Um das Ganze noch zu verschlimmern, hatte Omago sie alle »unbemerkbar« gemacht - offensichtlich eine Variation von »unsichtbar« - und sie dann mit Zehn-Meilen-Hüpfern durch das Ödland aufs Nest des Vlagh zubewegt, bis Langbogen darauf hinwies, dass diese langen Sprünge zu Problemen führen könnten. Und so hatten sie spät an einem kalten Wintertag das »Nest« des Vlagh erreicht. »Gehen wir durch die Höhle bis zur Hauptkammer des Vlagh, oder werden wir mit einem >Puff< plötzlich mittendrin stehen?«, erkundigte sich Hase bei Omago. »Puff?«, fragte Omago und wirkte leicht verwirrt. »Du weißt schon, was ich meine«, antwortete Hase. »Die werte Dame Zelana taucht jedes Mal mit so einem >Puff< auf, wenn sie die Chance hat, jemanden zu erschrecken.«
»Gehen wir einfach«, schlug Langbogen vor. »Sollten wir in der Hauptkammer auf Schwierigkeiten stoßen, wäre es gut, wenn wir wissen, wo sich der Ausgang befindet.« »Vertraust du mir immer noch nicht, Langbogen?«, wollte Omago wissen. »Bisher hast du deine Sache gut gemacht«, gab Langbogen zurück, »aber du weißt ja: Was schiefgehen kann, geht schief. Wenn nicht, erlebt man eine angenehme Überraschung.« Keselo war von Ehrfurcht ergriffen, als Omago ihm auf die Frage nach der eigenartigen Form des Berges, der das Nest des 322 Vlagh bildete, das Phänomen der Erosion auf eine Weise beschrieb, die darauf schließen ließ, dass er einem Prozess, der Tausende von Jahren dauerte, persönlich zugeschaut hatte. Dann erinnerte er sich, dass Langbogen ihm erzählt hatte, Omago und Ära seien schon beim Anbeginn der Zeit dabei gewesen. Hase machte sich Gedanken darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit totale Finsternis im Nest herrschen würde, »da sich die Käfer doch nicht besonders gut mit Feuer auskennen, oder?« Keselo erinnerte sich an etwas, was ihm Einer-Der-Heilt einmal erzählt hatte. Der Schamane hatte Insekten erwähnt, die Glühwürmchen hießen und in ihren Körpern Licht erzeugten. »Aber dabei kommt kein Feuer ins Spiel«, sagte er. »Jedenfalls habe ich das so gehört. Selbst habe ich noch kein Glühwürmchen gesehen.« Als es über dem Nest des Vlagh langsam dunkel wurde, brachte Omago sie durch den Eingang in einen Gang, der aller Wahrscheinlichkeit nach zum Heim des Vlagh führte. Ehe sie eintraten, blieb er jedoch stehen und fragte seine Freunde erneut, ob sie das Summen hören konnten. Alle lauschten angestrengt, doch Omago war weiterhin der Einzige, der es wahrnahm. »Hörst du möglicherweise die Stimme des Vlagh?«, fragte Keselo. »Möglich wäre das, denke ich«, räumte Omago ein. »Gehen wir in die Höhle. Das Geräusch wird vielleicht deutlicher, wenn wir uns dem Vlagh nähern.« Die Höhle hatte von außen wie eine natürliche Öffnung in der Seite des spitzen Berges gewirkt, doch nachdem sie ein paar Schritte gegangen waren, sahen die Wände sehr glatt aus, fast wie poliert. In der Höhle wanderten etliche Insektenmenschen hin und her, und Keselo erschrak fast, als er einige entdeckte, die in der Dunkelheit leuchteten.
323 »Lebende Lampen, aha«, merkte Hase an. »Das Vlagh scheint an beinahe alles gedacht zu haben, nicht?« »Ich würde sagen, das hat es wieder irgendwo geklaut«, meinte Keselo. »Ich schwöre, dass ich schon dreißig oder vierzig Insektenarten gezählt habe - Käfer und Ameisen und Heuschrecken und Fliegen - und einige sogar mit Flügeln.« »Dann waren da welche, die wie Würmer aussahen - nur hatten sie fünfzig oder hundert Beine«, fügte Langbogen hinzu. »Es gibt auch jede Menge andere Arten, die wir noch nicht zu Gesicht bekommen haben«, sagte Omago. »Wie gelingt es dem Vlagh, den Frieden zu bewahren?«, wollte Keselo wissen. »Es ist schon seltsam, wenn so viele natürliche Feinde auf so engem Raum zusammenleben.« »Das könnte uns vielleicht nützen«, sagte Omago. »Wenn diese Käfer anfangen, sich gegenseitig umzubringen, brauchen wir nur dabeizustehen und zuzuschauen.« »Das sind die besten Kriege«, meinte Hase. »Bleibe ich auch unsichtbar, wenn ich vorausgehe?«, fragte er. »Wir sollten vielleicht wissen, was da vorn los ist, oder?« »Sie werden dich nicht sehen, Hase«, versicherte Omago dem kleinen Schmied. »Jetzt, wo du es erwähnst, fällt mir ein, dass ich eigentlich Überraschungen nicht besonders mag, und deshalb ist es keine schlechte Idee, ein wenig vorauszuschauen.« Während Keselo, Langbogen und Omago durch die scheinbar endlose Höhle gingen, bemerkten sie jüngere Brüten des Vlagh, die viel größer waren als die Vorgänger. »Mir will scheinen, die Maags haben das Vlagh ziemlich beeindruckt«, meinte Langbogen. »Das war vielleicht keine so gute Idee von ihm«, befand Keselo. »Größere Kinder haben größeren Hunger, und hier in der Wüste gibt es nicht so viel zu futtern, oder?« »Vorwiegend andere Käfer«, antwortete Langbogen. »Natürlich könnte das von vornherein ein Teil der Idee gewesen sein. Es 262 gibt ja andere Nester und >Königinnen<, wenn man den Begriff denn benutzen möchte. Wenn das Vlagh den Plan hatte, die anderen Käferstämme des Ödlands auszulöschen, wären >hungrige Kinder< durchaus nützlich.« Dann kam Hase zurück und erzählte ihnen ein bisschen ehrfürchtig von der riesigen Halle am Ende des Tunnels. Daraufhin wurde
Omago sehr still. Keselo erklärte, dass diese riesige Sammlung von Spinnwebklumpen, die Hase gesehen hatte, ein Kokon genannt wurde. Obwohl Hase und Langbogen ihm zuhörten, fiel Keselo auf, wie Omago ein wenig abseits stand und etwas lauschte, das nur er allein wahrnahm. »Seid ganz leise«, mahnte Langbogen. »Wir sollten uns diesen >Kokon< mal anschauen.« Omago folgte ihnen, allerdings glaubte Keselo, ihr Freund war dabei mit etwas ganz anderem beschäftigt. Sie betraten den, wie Hase es nannte, »Thronsaal«, und Keselo war von der unglaublichen Anzahl verschiedener Käfer, die auf dem Boden und an den Wänden herumkrabbelten, beeindruckt. Schwaches Licht spendeten einige wenige »Glühinsekten«. Keselo wollte sich an Omago wenden und mit ihm reden, doch der winkte ab. An seinem Gesicht ließ sich ablesen, wie ungemein er sich konzentrierte. »Wo ist dieser >Kokon«, erkundigte sich Langbogen leise bei Hase. »Ich würde sagen, vermutlich mitten in dieser Höhle«, antwortete der kleine Maag. »Von hier hinten ist er schwer zu erkennen, weil zwischen uns und diesem blöden Vogelnest Tausende von Käfern herumschwirren.« Keselo zuckte leicht zusammen. »Vogelnest« traf es nicht ganz genau. »Zieht euch an eine der Wände zurück«, sagte Omago zu ih325 nen. Keselo bemerkte das hinterhältige Grinsen ihres Freundes. »Mehrere tausend dieser Diener machen sich gleich zum Ausgang auf, und wir wollen doch nicht von ihnen niedergetrampelt werden.« »Sollten die nicht eigentlich hierbleiben und auf die Säuglingskäfer aufpassen?«, fragte Keselo. »Sie haben gerade neue Befehle erhalten«, gab Omago zurück. »Das Vlagh hat ihnen gesagt, sie sollen weggehen?« »Das glauben sie wenigstens, aber eigentlich gehorchen sie mir.« »Wie hast du denn das wieder hinbekommen, du rustikaler Hundesohn?«, wollte Hase wissen. Omago zuckte mit den Schultern. »Ich habe das Summen vom Vlagh unhörbar gemacht und dann eigene Befehle gesummt. Nun denken sie, durch das Ödland kämen Eindringlinge heran, und ich habe den
Fürsorgern befohlen, sie sollen die Höhle verlassen und gegen diese bösen Menschenmenschen kämpfen. Nur einige bleiben hier, um sich um die neue Brut zu kümmern, die bald aus dem Kokon schlüpft. Ich bin fast sicher, dass das Vlagh noch vor der Brut aus dem Kokon kommen wird, und dann sollen genug Fürsorger in der Höhle sein, damit das Vlagh glaubt, alles sei in Ordnung. Den überaus hässlichen Schock wird es früher oder später doch erleiden, und im Anschluss daran wird es lange, lange Zeit schreien - lange, lange, lange Zeit, wenn ich die Sache richtig angestellt habe.« »Hast du schon jemals etwas falsch gemacht?«, wollte Keselo durchaus ziemlich gereizt wissen. »Nicht dass ich wüsste«, antwortete Omago unbekümmert. Nachdem die dazu bestimmten Fürsorger die große Haupthalle verlassen hatten, versicherte Omago seinen Freunden, dass sie immer noch »unbemerkbar« seien, also durchquerten sie die nun fast leere Höhle, um sich ihren Feind genauer anzuschauen. 326 Der obere Teil des Kokons begann sich zu wölben, und offensichtlich zwängte sich das Vlagh hinaus ins Freie. Keselo stockte der Atem, als es schließlich in Sicht kam. »Das ist unmöglich!«, rief er. »Wohl nicht so ganz«, widersprach Omago. »Wir hätten es eigentlich erwarten können.« »Das ist doch nicht wirklich die werte Dame Aracia?«, fragte Hase. »Nein«, antwortete Omago. »Die ist ein für alle Mal weg. Sie war allerdings die Herrscherin des Ostens und hat sich benommen, als sei sie die Königin des ganzen Landes Dhrall. Das Vlagh hält sich für die Königin, daher ergibt es durchaus Sinn, wenn es Aracias Gestalt nachahmt. Sicherlich ist dir das auch lieber so, Hase. Bestimmt möchtest du gar nicht wissen, wie das Vlagh in Wirklichkeit aussieht. Als ich es mir das letzte Mal angeschaut habe, war es neun Fuß hoch und hatte sechs Beine, wackelnde Fühler auf dem Kopf und Mandibeln, mit denen es Steine zu Staub zermalmen kann. Aracia war zwar nicht so schön wie Zelana, trotzdem wesentlich hübscher anzuschauen als das Vlagh in seiner wahren Gestalt.« »Da unten bewegt sich etwas am Boden des Kokons«, sagte Langbogen. »Die neue Brut«, erklärte Omago. »Die werden erwachsenen Insektenmenschen nicht ähneln - und auch nicht Aracia, was das betrifft.«
Der Boden des Gewebes gab nach, und eine Kette wurmartiger Insektenkinder schlängelte sich heraus. »Raupen?«, stellte Hase mit Unglauben in der Stimme fest. »Das ist die ganz gewöhnliche Form von Kinderinsektenmenschen«, erläuterte Omago. »Nachdem sie vielleicht eine Woche lang gefüttert wurden, nehmen sie die Gestalt an, die das Vlagh für sie vorgesehen hat. Sie haben viele, viele Füße, um von hier nach dort zu gelangen, und dazu einen überwältigenden Appe327 tit. Die verbliebenen Fürsorger werden eine Menge Arbeit mit ihnen haben, möchte ich meinen. Aber ich fürchte, sie werden nicht viel >Sorge< leisten.« »Da kommen immer mehr aus dem Kokon«, sagte Keselo. »Wie viele sind denn da gerade geschlüpft?« »Eine Viertelmillion mindestens«, antwortete Omago. »Wahrscheinlich mehr. Das Vlagh braucht im Augenblick eine Menge Diener.« Die neuen »Jungen« krabbelten über den Boden der großen Halle zu den in ihrer Anzahl wesentlich verminderten »Fürsorgern«, und sie gaben dabei Laute von sich, die durchaus an das Geschrei neugeborener Menschlinge erinnerten. Keselo konnte zwar nicht übersetzen, was die Jungen riefen, aber er war sicher, es hieß so viel wie: »Futter!« Die »Fürsorger« schienen sich dafür nicht besonders zu interessieren - zumindest nicht, bevor die heulenden Neugeschlüpften den Bereich im Westen der Halle erreichten. Und nun geschah etwas, das in dieser Form bestimmt nicht vorgesehen war. Einer der »Fürsorger« packte sich eines der Jungen und betrachtete es, als habe er nie zuvor ein Käferkind gesehen. Dann, offensichtlich zufrieden mit dem, was er vor sich hatte, stopfte sich der Diener das raupenähnliche Junge ins Maul und biss kräftig zu. Die anderen »Fürsorger« schauten genau zu, schnappten sich daraufhin ebenfalls jeder einen Kinderkäfer und stopften ihn sich ins Maul. »Sie fressen die Kleinen!«, piepste Hase. »Scheint so«, stimmte der Bauer Omago zu. »Ist das nicht nett?« In diesem Augenblick begann die nachgemachte Aracia, die neben dem Kokon stand, zu kreischen. »Ich glaube, jetzt wirst du deine Pfeile bestimmt einstecken, 328
Langbogen«, meinte Omago. »Das Vlagh tut genau das, was wir wollten.« »Wie lange wird es denn wohl weiterschreien?«, wollte Langbogen wissen. Omago zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt: höchstwahrscheinlich ewig.« »Es ist aber nicht sehr schwierig für das Vlagh, einen neuen Haufen Eier zu legen, oder?«, fragte Langbogen. »Nicht im Geringsten«, antwortete Omago. »Natürlich werden aus den Eiern keine Jungen schlüpfen. Das ist der Hauptgrund, weshalb wir hergekommen sind, Freund Langbogen. Das Vlagh kann jetzt keine Diener mehr erzeugen. Ich würde sogar sagen, das Vlagh bekommt keine Kinder mehr - und damit auch keine Krieger. Von heute an bis zum Ende der Zeit wird das Vlagh keine Nachfahren mehr haben, und nach sechs Wochen wird es ganz allein in seinem Nest sitzen - und weinen und schreien. Wären damit deine Rachegelüste befriedigt, mächtiger Jäger?« »Das Geschrei klingt doch wirklich wunderschön, nicht?«, fand Langbogen, »und um alles in der Welt möchte ich es nicht unterbrechen.« Also schob er den Pfeil, den er in der Hand gehalten hatte, zurück in den Köcher. Die letzte Generation 48 »Wenn es dich nicht stört, Omago«, sagte Hase zu ihrem Freund, »würden Keselo und ich einen Blick in die anderen Teile dieses Forts werfen - oder wie auch immer man es nennen soll. Wir halten das für eine gute Idee. Schön und gut, wenn die Käfer ordentlich durcheinandergeraten, aber falls sie möglicherweise losstürmen, um die Menschenmenschen in der näheren Umgebung umzubringen, sollten wir doch wohl darüber Bescheid wissen.« »Eine hervorragende Idee, Hase«, meinte Omago. »Wir haben uns so sehr auf das Vlagh konzentriert, dass wir gar nicht mehr auf seine Kinder geachtet haben. Jetzt, wo sein Verstand nicht mehr funktioniert, könnten seine Kinder alles Mögliche versuchen wollen, und davon sollten wir uns in der Tat nicht überraschen lassen.« »Sie werden doch nicht mehr lange leben, oder?«, fragte Hase. »Nein. Vier bis sechs Wochen, länger nicht. Dann und wann könnte man auf einen Insektenmenschen stoßen, der sieben oder gar acht Wochen schafft, aber darüber hinaus kommt keiner, glaube ich.« »Ich denke, wir brauchen wohl eine Fackel«, sagte Keselo. »Da
draußen sind wahrscheinlich Käfer unterwegs, die im Dunkeln sehen können, meine Augen sind hingegen nicht so gut.« Omago griff in den Leinenbeutel, der an seinem Gürtel hing, 330 und holte einen hellen runden Gegenstand hervor, der offensichtlich aus Glas bestand. »Nehmt das«, sagte er und reichte die Glaskugel Keselo. »Wenn ihr Licht braucht, drückst du einfach drauf, und es wird so hell, wie ihr es braucht. Wenn es wieder dunkel werden soll, lässt du los.« Keselo begutachtete die runde Kugel. »Ich sehe nichts, was Licht erzeugen könnte«, sagte er. »Es ist nicht da drin«, erklärte Omago und lächelte schwach. »Es ist hier drin.« Und er tippte sich an die Stirn. »Oh«, meinte Keselo. »Das hätte ich mir gleich denken können.« »Typisch, unser Keselo«, sagte Hase. »Immer muss er genau wissen, wie alles funktioniert. Lass ihn niemals zu nah an den Mond heran, Omago. Den nimmt er vermutlich auseinander, nur um herauszufinden, wie er am Nachthimmel hängt.« »Neugier ist nicht grundsätzlich schlecht, Hase«, entgegnete Omago. »Ich habe doch bloß Spaß gemacht«, sagte Hase. »Mit seinen Freunden darf man sich ja wohl noch ein Späßchen erlauben, oder? Komm, Keselo«, wandte er sich an den Trogiten. »Schauen wir mal, ob wir noch ein paar Junge der Großen Mama finden.« »Ja, warum nicht?«, erwiderte Keselo. Die gegenüberliegende Wand der Halle war wenigstens eine Meile von der Stelle entfernt, wo die »Fürsorger« die Kinder des Vlagh fraßen, doch die Schreie des Vlagh waren weiterhin zu vernehmen. »Wirklich eine große Schnauze«, sagte Hase zu seinem Freund. »Oh, ja«, stimmte Keselo zu. »Ich würde in einem Umkreis von zehn Meilen nicht versuchen zu schlafen.« Dann zeigte er an der hinteren Wand auf etwas, das fünfzig Schritte weiter links lag. »Dort scheint es ein Loch in der Wand zu geben. Vielleicht führt es zu einem anderen Teil des Nestes.« 331 »Drück doch mal auf diese Lichtkugel«, schlug Hase vor. »Wir sollten lieber ausprobieren, ob sie wirklich leuchtet, ehe wir an irgendwelchen dunklen Stellen herumkriechen.« »Omago würde uns doch nicht anlügen, Hase.« »Das will ich auch gar nicht behaupten. Die Kugel funktioniert sicherlich, wenn er sie drückt, aber wir sollten uns vergewissern, ob
es auch bei uns klappt. Man überprüft seine Ausrüstung am besten immer, ehe man sie zum ersten Mal einsetzt.« »Wenn es dich glücklich macht«, sagte Keselo und drückte Omagos Spielzeug. Als die Glaskugel zu leuchten begann, nickte Hase. Dann blickte er sich in der riesigen Höhle um, in der weiterhin die Schreie des Vlagh widerhallten. »Wir brauchen vielleicht eine Weile, Keselo«, gab er zu bedenken. »Wenn dieser Berg - oder wie du ihn auch immer nennen willst - voller Insektenmenschen steckt, könnte es Hunderte von Höhlen geben, wo sie sich verkriechen, wenn sie sich nicht draußen herumtreiben und Menschenmenschen fressen.« »Wir werden es niemals erfahren, wenn wir nicht nachschauen«, gab Keselo zurück. »Je gründlicher wir nachschauen, desto mehr werden wir hinterher wissen.« Das Loch in der hinteren Wand, das Keselo gesehen hatte, entsprach nicht ganz dem, was Hase als Tür bezeichnen würde, allerdings gab es Anzeichen dafür, dass die verschiedenen Kinder des Vlagh es häufiger als Durchgang benutzt hatten. Als Hase und Keselo durch das Loch krabbelten, kamen sie in einer Art Schacht heraus, der hoch, hoch in den Berg hinaufführte. »Ich glaube, jetzt sitzen wir in der Patsche«, meinte Hase. »Hä?« »Wir haben vergessen, eine Leiter mitzubringen.« Keselo spähte nach oben. »Die Wände des Schachtes sind nicht so glatt«, stellte er fest. »Mir scheint, es gibt genug Halt, um hochzuklettern.« 332 »Haben Käfer denn neuerdings Hände?«, fragte Hase und spielte den Erstaunten. »Lustig, Häschen, sehr lustig«, erwiderte Keselo sarkastisch. »Häschen!«, protestierte Hase. »Habe ich von Eleria geklaut«, gab Keselo lächelnd zurück. »Schauen wir mal, ob wir in diesem Schacht nach oben gelangen. Wenn es zu riskant wird, kehren wir um und fragen Omago, ob er nicht eine Leiter für uns machen kann.« Langsam stiegen sie an der Schachtwand empor, und Hase fiel auf, dass es viele runde Löcher im massiven Fels gab. Offensichtlich waren hier schon viele Generationen von Käfern im Laufe der Jahrhunderte hochgeklettert. »Mir scheint, hier gibt es etliche Öffnungen in diesem senkrechten Gang«, sagte er.
»Getrennte Unterkünfte wahrscheinlich«, behauptete Keselo. »Ich würde sagen, die verschiedenen Arten von Insektenmenschen versuchen, einander so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen.« »Da vorn«, flüsterte Hase. »Da hat gerade ein Käfer den Kopf aus einem der Löcher in der Wand gesteckt.« »Meinst du, er hat uns gesehen?« »Vermutlich nicht. Er hat eigentlich nach oben geguckt und nicht nach unten. Um dir die ungeschminkte Wahrheit zu gestehen, Keselo, ich bin nicht sonderlich begeistert von der Aussicht, in eines dieser Löcher in der Wand zu kriechen, das möglicherweise bis zum Rand mit hungrigen Käfern voll gestopft ist.« »Ich bin doch die ganze Zeit bei dir, Hase«, gab Keselo zurück. Dann lehnte er sich leicht nach hinten und spähte den düsteren Schacht hinauf. »Fünfzehn Fuß über dieser kleinen Öffnung hier sehe ich eine größere. Die wäre vielleicht sicherer zu untersuchen.« »Das Wort >sicherer< gefällt mir, mein Freund«, erwiderte Hase. Vorsichtig stiegen sie an der durchlöcherten Schachtwand em333 por, bis sie die größere Öffnung erreichten. Hase schob den Kopf über die Kante und zog ihn sofort wieder zurück. »Keine Käfer«, flüsterte er. »Sind wir noch unsichtbar?« »Ich glaube, Omago hat immer von >unbemerkbar< gesprochen«, erwiderte Keselo. »Ich würde sagen, das trifft noch zu. Wenn eine dieser Käferdamen uns gesehen hätte, hätte sie vermutlich Alarm geschlagen.« »Ich werde mich nie an den Gedanken gewöhnen, dass unsere Feinde sämtlichst Frauen sind.« »Vielleicht solltest du sie nicht als >Frauen< betrachten, Hase«, meinte Keselo. »Weiblich ist eine Sache, aber >Frau< eine ganz andere.« Die größere Öffnung schien der Eingang zu einer Höhle zu sein, und ähnlich, wie der Gang unten in die riesige Halle mündete, führte auch diese zu einem viel größeren Raum. Als die beiden dort ankamen, blieben sie verwundert stehen. Hier gab es Tausende von Käfern, die nicht der gleichen Art angehörten, und die unterschiedlichen Sorten hielten sich voneinander fern. Jeweils gleiche drängten sich zusammen, und für Hase sah es aus, als herrsche zwischen den Gruppen eine wachsende Feindseligkeit. In manchen Gruppen unterhielten sich die Käfer mit unhörbaren Lauten, während andere mit den Vorderbeinen die Vorderbeine
anderer berührten. »Du hast nicht zufällig Käferisch in der Schule gelernt?«, flüsterte er seinem Freund zu. »Wir sind nicht entsprechend ausgestattet, um Käferisch zu sprechen, Hase«, gab Keselo zurück. »Die meisten Käfer verständigen sich durch Berührungen. Wenn in ihrer Sprache Laute vorkommen wie in unserer, dann werden sie jedoch meist durch das Aneinanderreihen von Beinen erzeugt. Käferisch müsste allerdings ziemlich leicht sein, glaube ich. Schließlich haben sie keine so enorm großen Gehirne. Natürlich ist es nur eine Vermutung, aber ich denke, Käferisch geht nicht weit über >töten, töten, töten< hinaus.« 334 Plötzlich hatte Hase einen Einfall. »Hättest du Lust auf ein Experiment, Freund Keselo?«, fragte er. »Hinge von der Art des Experiments ab.« »Omago kann doch alle möglichen eigenartigen Dinge anstellen, nicht wahr?« »Ich würde sagen, >eigenartig< ist ein wenig untertrieben. Woran denkst du denn?« »Warum nimmst du nicht die Lichtkugel, die Omago dir gegeben hat, und drückst sie?« »Möchtest du unsere Anwesenheit einer halben Million wenig freundlich gesonnener Käfer mitteilen? Hast du den Verstand verloren?« »Ich glaube, sie werden uns nicht sehen, Keselo. Omago würde uns doch nicht etwas geben, das uns in Gefahr bringt, oder? Bestimmt sehen wir zwar das Licht der Kugel, aber die Käfer nicht.« »Ein Licht, das nur wir sehen können?« »So etwas würde man doch von Omago erwarten, nicht?« Keselo runzelte die Stirn. »Das war jetzt aber gemein von dir, Hase«, beschwerte er sich. »Es wäre durchaus möglich, und nun hast du meine Neugier geweckt, und ich will es unbedingt ausprobieren.« »Mach dir nicht so viele Sorgen, Keselo«, meinte Hase. »Wenn es klappt, haben wir einen riesigen Vorteil.« »Und wenn nicht?« Hase zuckte mit den Schultern. »Immerhin ist der Schacht leer, also haben wir einen freien Fluchtweg. Wir können jederzeit abhauen, wenn es notwendig wird. Versuch es schon. Denk nur an den Vorteil. Wir haben Licht, und die Käfer sitzen im Dunkeln.« Keselo holte die Glaskugel unter dem Hemd hervor. »Komm mir bloß nicht in die Quere, wenn ich wirklich weglaufen muss, Hase.«
335 »Mach dir keine Sorgen, Freund Keselo«, sagte Hase. »Ich kann mindestens doppelt so schnell rennen wie du, ich stehe dir also bestimmt nicht im Weg.« »Ich muss einfach herausfinden, ob deine dusselige Idee funktioniert, Hase«, jammerte Keselo. »Eigentlich sollte es nicht gehen, aber ich platze, wenn ich es nicht ausprobiere.« Er hob die Glaskugel über den Kopf, und während er zudrückte, wurde das Licht aus Omagos Spielzeug heller und heller. »Du kannst loslassen, Lichtbringer Keselo«, sagte Hase zu seinem Freund. »Das Licht strahlt so hell wie die Mittagssonne, und die Käfer scheinen nichts davon zu bemerken.« »Die armen Kleinen«, meinte Keselo. Dann ließ er los, drückte sofort wieder zu, ließ wieder los, drückte wieder zu, und immer so fort. Das Licht ging aus und wieder an, wie Keselos Hände es verlangten. »Angeber«, maulte Hase. Doch dann lachte er. Sie stießen auf mehrere ihnen bekannte Insektenmenschenarten, während sie tiefer in die riesige Halle hineingingen. Es gab viele der Schlangenmenschen, die ihnen das Leben in der Schlucht oberhalb von Lattash so schwer gemacht hatten, und Hase war überrascht, als er einige der Glühwürmchen zwischen den Schlangenmenschen entdeckte. »Es scheint fast, die Glühwürmchen sind bei den anderen Käferarten beliebt«, sagte er zu Keselo. »Vermutlich hast du recht«, stimmte Keselo zu. »Licht kann ausgesprochen nützlich sein. Es würde mich gar nicht überraschen, "wenn die anderen sogar diejenigen füttern, die im Dunkeln leuchten.« »Die Insektenmenschen zahlen für das Licht, meinst du?« »Wäre doch nicht so abwegig, Freund Hase.« Dann blieb Keselo stehen und zeigte zur Decke. »Fledermauskäfer«, sagte er. »Beinahe wie in alten Zeiten«, erwiderte Hase. »Wir wollen 336 sie lieber nicht aufscheuchen. Diesmal habe ich keine Netze dabei.« Und so drangen sie weiter in die Halle ein und begegneten etlichen bekannten und manchen unbekannten Käferarten. »Was könnten das da für welche sein, die Haarigen, die die Klauen über den Boden schleifen lassen?«, fragte Hase. »Sehen aus wie Affen«, antwortete Keselo. »Ich glaube, über die sind wir noch nie gestolpert, oder?«
»Erinnern kann ich mich jedenfalls nicht an sie. Vermutlich hat sich diese Art nicht durchgesetzt. Das Vlagh hat ja ständig herumprobiert, und unter Garantie sind dabei mehr nutzlose als brauchbare Kreationen entstanden.« »Mist-Käfer sozusagen?«, schlug Hase vor. »Das wäre durchaus eine gute Bezeichnung dafür«, stimmte Keselo zu. Dann hörten sie von weiter hinten aus der Höhle ein lautes Gebrüll. »Wenn es das ist, was ich denke, dass es ist, haben wir Glück gehabt, dass wir damit bislang nicht zu tun hatten. Es klingt ja wie ein Löwe.« »Was ist ein Löwe?« »Eine sehr, sehr große Katze. Ich habe gehört, ein ausgewachsener Löwe wiegt über fünfhundert Pfund, hat lange scharfe Zähne und tödliche Krallen. Es ist ein Tier aus den Tropen, deshalb wäre es hier im Lande Dhrall wahrscheinlich kaum einsetzbar, außer vielleicht in Veltans Domäne.« Das Gebrüll dauerte an. »Ich glaube, eine sechsbeinige Katze habe ich bisher noch nie gesehen«, sagte Hase, während die beiden Freunde sich dicht an der Wand entlang zu einer äußerst gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Sorten Insektenmenschen vorwagten. »Das Vlagh hat da wohl Pfusch gemacht«, erwiderte Keselo. 337 »Es hat nie ganz verstanden, weshalb manche Geschöpfe gar nicht so viele Beine brauchen, deshalb haben manche dieser Nachahmungen einfach zu viele.« »Als es diese Alcevan erschaffen hat, muss es sich jedoch mehr Mühe gegeben haben«, meinte Hase. »Die sah nämlich wie eine echte Frau aus - ein bisschen klein vielleicht, aber sonst war alles dran, was eine Frau haben sollte.« »Ich würde sagen, diese Alcevan war das Beste, was das Vlagh je zustande gebracht hat. In vielerlei Hinsicht ist Alcevan sogar besser als das Vlagh selbst, und wenn du den Geruch noch hinzunimmst, hatte diese kleine falsche Priesterin alle Chancen, den Krieg unten in der Tempelstadt zu gewinnen.« »Da hast du recht, Freund Keselo«, befand auch Hase. »Aber gerade sehe ich ein Dutzend sehr große Spinnen auf der anderen Seite der Halle und auch einen Löwenkäfer sowie ein paar Krabbeltiere, die aussehen, als würden sie einen Panzer tragen, und dahinter fliegen
Wespenkäfer mit kampfbereiten Stacheln herum. Haben eigentlich alle Käfer so große Augen?« »Sie wollen - und müssen - alles sehen, Hase.« Dann stockte Keselo der Atem. »Was ist denn das}«, rief er. Hase starrte das Geschöpf an, auf das Keselo zeigte. »Das Vlagh hat tatsächlich versucht, Langbogen nachzumachen«, fuhr er auf. »So erscheint es mir auch«, sagte Keselo, »aber er hat sechs Gliedmaßen anstelle von vier, und er hält zwei Bögen, nicht nur einen.« »Nein, das muss ich mir anschauen«, sagte Hase. »Wenn das Ding zwei Pfeile gleichzeitig abschießen kann, könnte es mehr Feinde töten als jeder andere Käfer.« Keselo und Hase beobachteten die Neuentdeckung eine Weile lang; schon bald erlegte der Bogenschützenkäfer zwei Löwenkäfer auf einmal. Schnell begannen die toten Käfer mit Pfeilen im Bauch sich zu häufen. 338 »Nicht schlecht«, musste Hase widerwillig einräumen. »Langbogen schießt nie daneben, aber er benutzt auch nur einen Bogen.« »Pass auf!«, rief Keselo, als er ein lautes Krachen von oben hörte. Die Decke über ihren Köpfen bekam Risse, und Hase und Keselo zogen sich rasch ein Stück zurück. Über sich sahen sie eine neue Käferart, und die hielt große Felsen im Maul. »Sind die riesig«, staunte Keselo. »Die müssen mindestens zehn Fuß hoch sein, und sie schleudern Felsen gegen die Decke. Die ganze Höhle muss gleich zusammenkrachen.« Ein Schwärm Fledermauskäfer flatterte über sie hinweg und griff die Löwenkäfer und den Käferbogenschützen an. »Das war's dann wohl!«, meinte Hase. »Lass uns hier verschwinden, Keselo. Es ist Zeit, zu Omago zurückzukehren und ihm zu erzählen, was in diesem Teil des Nestes los ist. Lassen wir denen ein paar Tage Zeit, dann werden hier keine Käfer mehr übrig sein.« »Das wäre aber auch wirklich zu schade«, murmelte Keselo, und dann rannten die beiden zu dem zentralen Schacht zurück, und dabei lachten sie noch nicht einmal übertrieben viel. 49 Als die beiden Forscher in die Haupthöhle zurückkehrten, schrie die falsche Aracia immer noch herum, doch andere Käfer waren nicht mehr zu sehen. »Ich habe bisher überhaupt nicht gewusst, was >Vlagh< bedeuten
soll«, meinte Hase. »Deshalb haben wir ja Große Mama gesagt. Aber jetzt weiß ich Bescheid.« »Und?«, wollte Keselo wissen. »Was heißt es?« 339 »Ich würde sagen, >ganz allein< trifft es ziemlich genau, oder?« »Nicht ganz allein, Freund Hase«, mischte sich Langbogen ein. »Wenn du genau die Ohren aufsperrst, kannst du andere Schreie aus einem anderen Teil des Nestes hören. Die wunderschöne Dame hat noch eine Schreierin vorbeigebracht, während ihr beide durch das Nest gestreift seid. Diese Alcevan ist nun wieder zuhause und kann den Schreien der Großen Mama lange, lange Zeit lauschen.« »Nur wird sie wohl nicht so lange leben«, wandte Keselo ein. »Die wunderschöne Ära hat sich darum gekümmert, ehe sie Alcevan hergebracht hat«, erwiderte Omago. »Alcevan wird so lange leben, wie die Große Mama schreit. Dieses hochkünstlerische Geschrei verlangt doch nach einem Publikum, nicht wahr? Zwischen den beiden stehen jedoch massive Steinwände, so dass sie sich nicht sehen und auch nicht miteinander reden können. Nur ihre Schreie können sie austauschen.« »Duette sind auch netter als ein Solo«, sagte Keselo. »Damit wäre die Sache endgültig vorbei, nicht wahr?«, meinte Hase und war sogar ein wenig traurig, weil sich der Aufenthalt im Lande Dhrall dem Ende näherte. »Willst du damit andeuten, du vermisst den Krieg, Hase?«, fragte Langbogen. »Nicht so sehr den Krieg als vielmehr die Freunde, die ich hier gefunden habe.« Dann schnippte er mit den Fingern. »Was denkst du, Keselo?«, fragte er. »Sollen wir Langbogen von der Nachbildung erzählen, die die Große Mama von ihm angefertigt hat?« »Bist du sicher, dass ihn das nicht beleidigen wird?«, fragte Keselo. »Es ist eigentlich ziemlich schwierig, Langbogen zu beleidigen, Freund Keselo«, meinte Hase. »Jedenfalls scheinst du die Große Mama sehr beeindruckt zu haben mit deinem Bogen und deinen Pfeilen, Langbogen - genug jedenfalls, damit sie ihre ei340 gene Version von dir angefertigt hat. Natürlich war es ein Käfer, und deshalb hatte er sechs Beine anstelle von zwei Armen und zwei Beinen. Nachdem er jedoch gelernt hatte, auf den Hinterbeinen zu stehen, hatte er vier Arme und konnte damit zwei Bögen halten und zwei Pfeile gleichzeitig abschießen. Zwar hat er nicht über eine
halbe Meile weit getroffen, doch auf eine Entfernung von hundert Schritten konnte er jeweils gleich zwei Gegner töten.« Dann kam ihm ein gemeiner Gedanke. »Ich möchte doch wetten, Omago könnte dich auch ein bisschen verändern und dir zwei zusätzliche Arme verpassen - oder sich mal eben einen Oktopus anschauen und dir insgesamt sechs Arme schenken. Auf die Weise könntest du eine ganze Armee allein erledigen.« Langbogen lächelte schwach. »Höchst interessant, Freund Hase«, antwortete er. »Und wo willst du dann deine Pfeilfabrik aufbauen, nachdem Omago mir so viele Arme gemacht hat? Ich würde ziemlich viele Pfeile brauchen, weißt du.« Hase zuckte zusammen. »Daran habe ich allerdings nicht gedacht, Freund Langbogen.« »Tja, das kann durchaus mal passieren, kleiner Freund.« Damit wandte er sich an Omago. »Sind wir hier fertig?«, fragte er. »Wenn du nicht noch bleiben und dem Vlagh beim Schreien lauschen möchtest«, gab Omago zurück. Langbogen zuckte mit den Schultern. »Nachdem man das ein paar Stunden gehört hat, wird es doch ein wenig langweilig. Warum kehren wir nicht in Gundas Fort zurück und verbreiten die gute Nachricht, dass der Krieg zu Ende ist und vermutlich auch nicht wieder anfangen wird.« »Gute Idee«, stimmte Omago zu. »Gehen wir.« »Warum hast du nicht einfach ein Dutzend Pfeile oder so auf das Vlagh abgeschossen, Langbogen?«, wollte Sorgan von dem Bogenschützen wissen, nachdem Omago den Freunden, die sich im großen Raum in Gundas Fort einige Tage später versammelt hat34i ten, beschrieben hatte, in welchem Zustand sich ihr großer Feind befand. Langbogen zuckte mit den Schultern. »Omago hat mich überredet, es nicht zu tun«, erwiderte er. »Der Tod der ... Großen Mama ... hätte ja höchstens eine Minute gedauert, wenn ich einen Pfeil auf sie abgeschossen hätte. Jetzt sind alle ihre Kinder tot, und sie wird keine Eier mehr legen und somit keine Kinder mehr bekommen. Daher sitzt sie bis ans Ende aller Zeiten in ihrem Nest und schreit. So zahlt sie in gewissem Sinne für jeden unserer Freunde, den die Insektenmenschen getötet haben. Ich würde fast sagen, sie wollte vermutlich, dass ich sie umbringe, aber für mich war es immer sehr wichtig, dem Vlagh nichts zu schenken, was es sich wünschte.«
»Jetzt sitzt das Vlagh also allein in diesem Loch und schreit sich die Lungen aus dem Leib«, sagte Sorgan. »Ich bin ganz Langbogens Meinung. Soll es doch schreien. Schließlich ist es weit genug von jeder Stadt entfernt, und so wird niemand um den Schlaf gebracht.« »Na, ja, vollkommen allein ist es nicht«, erklärte Omago. »Meine teure Ära hat sich die Insektenfrau Alcevan geschnappt und sie ins Nest des Vlagh verfrachtet. Zwar wird sie ihre Mutter niemals sehen, aber sie wird ihr Geschrei hören. Und sie wird ebenfalls schreienund hoffentlich genauso lange. Ich bin sicher, die meisten von euch haben längst begriffen, dass man meine Gemahlin lieber nicht beleidigen sollte, und Alcevan hat sich an diese Regel nicht gehalten, als sie Aracia auf Lillabeth gehetzt hat. Aracia hat zwar aufgehört zu existieren, doch Alcevan wird weiterexistieren - und ordentlich leiden, bis in alle Ewigkeit.« »Das geht schon ein wenig über einen Teller rohe Bohnen zum Abendessen hinaus«, sagte Hase. »Ziemlich weit darüber hinaus, ja.« »Damit dürften diese Kriege hier im Lande Dhrall ja ein Ende gefunden haben, nicht wahr?«, stellte der trogitische Komman342 dant Narasan fest, während Zelana und ihr jüngerer Bruder Veltan den Raum betraten. »Noch nicht, Freund Narasan«, verkündete der Kapitän von Hase. »Die Sache ist erst vorüber, wenn wir das Gold, das wir in Aracias Tempel gefunden haben, an Bord der Schiffe gebracht haben.« Er schürzte die Lippen und wandte sich an Zelana und Veltan. »Warum vergessen wir nicht einfach das Gold, das ihr beiden uns angeboten habt, damit wir herkommen und im Krieg für euch kämpfen?«, fragte er. »So großzügig, Sorgan?«, meinte Zelana gelinde überrascht. Sorgan schüttelte den Kopf. »Nein, nein«, erwiderte er. »So vorsichtig würde es eher treffen. Wir haben dort im Tempel Tonnen von Gold, und wenn wir zu viel auf die Schiffe laden, sinken sie vermutlich.« »Eine weise Entscheidung, Kapitän Hakenschnabel«, fand auch Veltan. Dann kamen Eleria und ihre große Schwester Balacenia herein und gesellten sich zu den anderen. »Wo hast du denn gesteckt, Häschen?«, wollte Eleria wissen. »Jemand musste ja ins Ödland gehen und sich mit dem Vlagh
befassen, kleine Schwester«, gab Hase zurück. »Ist er nicht der süßeste Kerl auf der ganzen Welt?«, flötete Eleria und kletterte auf den Schoß von Hase. »Du schuldest mir eine Menge Küsschen, Häschen«, sagte sie. »Gerechtigkeit muss schließlich sein. Als du einfach weggegangen bist, hast du niemanden dagelassen, der mir Küsschen gibt, und jetzt ist es an der Zeit, deine Schulden zu begleichen.« »Ich fange sofort damit an, kleine Schwester«, versprach Hase. Fast den ganzen Tag unterhielten sie sich über die Ereignisse im Nest des Vlagh. Als sie später am Abendbrottisch die wunderbaren Speisen schmausten, die Ära gekocht hatte, wandte sich die Kriegerkönigin Trenicia an Kommandant Narasan. »Nach343 dem wir hier im Lande Dhrall alles erledigt haben, wie sehen denn da unsere weiteren Pläne aus, tapferer Führer?« »Das zu besprechen, haben wir noch viel Zeit, teuerste Königin Trenicia.« »Wie viel Zeit?«, drängte sie. »Ich würde sagen, den Rest unseres Lebens, glorreiche Trenicia«, antwortete Narasan glattweg. »Wie bitte?«, vergewisserte sie sich. »Ich dachte, das wäre klar, teure Königin«, sagte Narasan. »Gewöhne dich schon mal an eins, Deine Majestät. Du wirst mich nicht verlassen. Niemals. Du gehörst jetzt mir.« »Und du mir«, erwiderte sie ebenso leidenschaftlich. »Darüber können wir uns unterhalten, wenn wir allein sind«, sagte Narasan und wirkte angesichts seines besitzergreifenden Benehmens ein wenig verlegen. »Genau«, stimmte Trenicia zu und erhob sich. »Gehen wir. Auf genau diese Sorte Unterhaltung warte ich jetzt schon seit Monaten.« Kurz stockte sie. »Warum hat das so lange gedauert?« An diesem Punkt errötete Narasan tatsächlich. Viel später in der Nacht stellte Hase fest, dass er einfach nicht einschlafen konnte. Ständig kreisten die Erinnerungen an die Erlebnisse im Lande Dhrall in seinem Kopf. Irgendwie war er einfach kein richtiger Maag mehr. Natürlich stand ihm der Sinn noch immer nach Reichtümern, aber das war nun auch wieder nicht so einzigartig. Keselo fand Gold mindestens so hübsch wie Hase, und auch Prinz Ekial fühlte sich davon angezogen. Langbogen dagegen empfand gar nichts für das gelbe Metall. Sein Hauptziel im Leben
hatte darin bestanden, das Vlagh und seine Nachkommen zu vernichten. »Dieses Land ist der seltsamste Ort, an dem ich je war«, murmelte Hase, während er durch die dunklen Gänge von Gundas Fort wanderte. »Ich bin sicher, ich werde ihn vermissen - und die 344 Freunde, die ich hier gefunden habe. Dieses Gefühl der Leere wird mich wohl noch eine lange Weile begleiten, fürchte ich.« Dann holte er tief Luft. »Das führt doch zu rein gar nichts«, sagte er. »Ich könnte mich genauso gut ins Bett legen und es mit Schlafen versuchen.« Zwar war er sicher, er würde nicht einschlafen können, aber er ließ es trotzdem darauf ankommen. Epilog im Lande der Träume 50 »Ich bin nicht sicher, ob dies wirklich so eine gute Idee ist, Vash«, sagte Balacenia gerade zu ihrem Bruder, während sich die jüngeren Götter und ihre älteren Geschwister in Dahlaines Höhle im Berg Shrak versammelten. »Dahlaines Menschenmenschen haben Zugang zu diesem Ort. Gewiss sind sie sehr nett, doch über diese Angelegenheit sollten sie lieber nicht Bescheid wissen. Mit ziemlicher Sicherheit wird es Streit geben, und ich glaube, die Menschen müssen nicht unbedingt erfahren, dass sich die Götter nicht immer einig sind, oder?« »Damit könntest du durchaus recht haben, liebe Schwester«, stimmte Vash zu. Er zwinkerte Omago und Ära zu, die ein Stück von den anderen entfernt standen. »Ich werde es Mutter und Vater gegenüber erwähnen. Und wie lautet dein Vorschlag, wohin wir gehen sollten?« »Wohin wohl, Vash?«, erwiderte Balacenia. »Das ist unser Ort, Balacenia«, widersprach Vash. »Ich weiß, und dort ist so wunderschön, dass die anderen vermutlich mit allem einverstanden sind, was wir vorschlagen. Von Zeit zu Zeit haben wir doch schon ein paar Besucher gehabt, und sie waren immer mit allem einverstanden.« »Ich werde sehen, was ich tun kann, mächtige Führerin.« »Was soll denn das nun wieder, Vash?« »Du solltest dich langsam daran gewöhnen, Balacenia. Du 346 wirst diesmal die Bestimmerin sein. Ich schau mal, was Mutter und Vater zu sagen haben.«
»Oh, sei gesegnet, Vash«, antwortete Balacenia. »Gesegnet?« »Ich übe nur, kleiner Bruder. Ich war seit langer, langer Zeit nicht mehr die Bestimmerin. Wenn ich mich recht entsinne, hüpfen die anderen herum wie Welpen, wenn man sie segnet.« Vash grunzte missbilligend und ging zu Omago und Ära. »Gehst du immer so mit ihm um, Großes Ich?«, erkundigte sich Eleria. »Nur, wenn es notwendig ist, Kleines Ich.« Nachdem Vash kurz mit Omago und Ära gesprochen hatte, kam er wieder zurück. »Sie fanden auch, dass diese Höhle vielleicht nicht unbedingt am besten für die Versammlung geeignet ist«, berichtete er. »Deshalb werden sie mit Dahlaine darüber reden. Er hört auf sie, würde sich aber möglicherweise weigern, wenn du und ich den Vorschlag machen würden.« »Diese beiden sind wirklich manchmal sehr nützlich«, fand Balacenia. »Ich verstehe überhaupt nicht, was falsch am Berg Shrak ist«, beharrte Dahlaine. »Ich kann die Einheimischen fernhalten.« »Sicherlich, lieber Dahlaine«, meinte Ära, »aber es ist Winter, und hier ist es ein bisschen düster. In diesem Land der Träume war ich schon einmal. Balacenia und Vash haben es aus ihrer Fantasie erschaffen, und vermutlich ist es der schönste Ort im ganzen Universum. Wir haben eine wichtige Entscheidung zu treffen, und ein wenig Schönheit wäre dabei sehr angenehm.« »Ich sehe trotzdem nicht ein, weshalb es notwendig ist«, murrte Dahlaine. »Bereits vor langer Zeit habe ich gelernt, dass es nicht klug ist, es sich mit der Dame zu verderben, die für die Küche zuständig ist«, sagte Omago. 347 »Ich brauche kein Essen, Omago«, gab Dahlaine zurück. »Küchen interessieren mich nicht, weil ich nie esse.« »Du solltest es bei Gelegenheit mal probieren«, schlug Omago vor, dann legte er die Stirn in Falten. »Ich denke zwar, irgendwann hat es mal irgendeinen dummen Grund für diese Regel gegeben, nach der weder gegessen noch geschlafen werden soll, aber eigentlich halte ich das inzwischen für überholt.« »Wie kommen wir denn zu diesem erfundenen Ort?«, wollte Dahlaine wissen.
»Dein Träumer Ashad, der ja eigentlich Dakas ist, wird den Weg kennen, großer Bruder«, erklärte ihm Balacenia. »Wir haben uns dort vor einer Weile schon einmal getroffen. Es gab einige Dinge, über die wir zu einer Einigung gelangen mussten, und daher sind wir alle ins Land der Träume gegangen, um die notwendigen Entscheidungen zu treffen.« Durch den langen Tunnel verließen sie die Höhle und traten hinaus auf das schneebedeckte Grasland. Dann nahm jeder der Träumer oder jüngeren Götter - sein älteres Pendant an die Hand, und alle stiegen in den kalten Winterhimmel auf. Anders als bei den übrigen hielt Balacenia an beiden Händen jemanden. Sie und Eleria konnten nicht mehr verschmelzen, daher musste Balacenia sowohl Zelana als auch ihre jüngere Version tragen. Balacenia war ziemlich sicher, dass Eleria die einzig mögliche Nachfolgerin für Aracia war, doch gewiss würde sich Eleria mit Händen und Füßen dagegen sträuben. Es musste etwas geben, das nur Ära und Omago der Kleinen anbieten konnten, um das kleine Mädchen davon zu überzeugen, die eigene Göttlichkeit anzunehmen. »Ich denke, darüber muss ich noch ein wenig nachdenken«, murmelte sie. »Ich habe dich nicht verstanden, Liebste«, sagte Zelana. »Habe nur laut gedacht, Zelana. Das habe ich mir in den Zeiten angewöhnt, bevor die Menschen existierten.« »Das waren sehr einsame Zeiten, ich erinnere mich noch«, 348 stimmte Zelana zu. »Ich habe den Bäumen Gedichte aufgesagt und für die Mutter Meer Lieder gesungen.« »Haben ihr deine Lieder gefallen?« »Manche, ja. Das konnte ich gut erkennen, weil sie dann den Himmel mit Regenbögen füllte.« »Und wenn sie ihr nicht gefielen?« »Dann gab es Hagelstürme, wie ich mich entsinne.« Balacenia zuckte zusammen. »Hast du Eleria das Singen beigebracht?« Zelana nickte. »Allerdings war das ein Fehler. Ihre Stimme ist so wunderschön, dass der Mutter Meer stets die Tränen in die Augen stiegen. Das war recht praktisch, als einmal große Trockenheit herrschte. Eleria kann mit ihrem Gesang einen dreitägigen Wolkenbruch auslösen, wenn es notwendig ist. Haben wir es weit bis zu diesem Land der Träume?«
»Nein«, antwortete Balacenia. »Es könnte gleich hier sein, wenn Vash und ich wollten. Vash kümmert sich gerade um die Aurora. Niemand streitet sich mit dem anderen, wenn die Aurora zu leuchten beginnt.« Die jüngeren Götter ließen die älteren hinunter ins Land der Träume, und Balacenia sah, dass Vash sich diesmal mit der Aurora selbst übertroffen hatte. Für gewöhnlich erstreckte sie sich am Horizont entlang, doch diesmal schien sie sich aus Wiesen und Bergen auf allen Seiten des Traumlandes zu erheben, und die Schönheit raubte selbst Balacenia fast den Atem. »Sag mal, Vash«, meinte Veltan zur eigentlichen Version von Yaltar, »was ist eigentlich in dich und Balacenia gefahren, einen so wunderschönen Ort zu erschaffen?« »Das ist schon vor langer, langer Zeit passiert, Onkel. Es gab keine Menschen und auch noch keine Tiere, und Balacenia und ich sahen fünfundzwanzig Äonen entgegen, in denen wir allenfalls dem Gras beim Wachsen zuschauen durften. Nach einigen 349 Jahrhunderten brauchten wir schlicht ein wenig Abwechslung. Balacenia hatte einmal am Horizont kurz das Nordlicht gesehen, und dann schwebte sie mit mir nach Norden, eigentlich in die Domäne von Dakas. Vermutlich könnte man sagen, wir hätten Dakas eine Aurora gestohlen und sie dann an einen Ort verpflanzt, der eigentlich gar nicht wirklich existiert - außer in unseren Träumen, versteht sich. Wir haben hier Jahrhunderte in der Schönheit unseres Traumes verbracht. Dadurch wurde die Leeres jenes Zyklus erträglich.« »Auf jeden Fall ist es viel, viel schöner als der Mond, zu dem Mutter Meer mich geschickt hat«, gab Veltan zu. »Natürlich hat mich die Schwester Mond belogen, als sie mir sagte, die Mutter Meer sei noch böse auf mich, weil ich an ihrer Farbe herumgepfuscht hatte.« »Der Schwester Mond kann man nicht vertrauen, Onkel«, sagte Vash. Dakas ließ Dahlaine sachte auf das Land der Träume hinunter, und der alte Graubart, der noch immer ein bisschen verärgert war, schaute sich um. »Wir haben etwas sehr Wichtiges zu erledigen«, sagte er zu ihnen, »und sich eine ausgedachte Landschaft anzuschauen ist reine Zeitverschwendung.« »Wir haben keine große Eile, Onkel«, widersprach Dakas. »Hier existiert die Zeit eigentlich nicht. Als Balacenia und Vash uns letzten Sommer hergeführt haben, schien es, wir wären monatelang hier
geblieben, aber es war nur ein Traum. Beim Erwachen waren wir wieder zuhause, und nur eine einzige Nacht war vergangen. Wir können uns Zeit lassen, um die Entscheidung zu treffen, denn Zeit hat hier keine Bedeutung. Ein Jahrhundert oder sogar ein Äon kann verstreichen, und trotzdem wird die Welt nicht einmal einen Tag älter sein.« Omago und Ära waren noch ganz von der Pracht der Aurora gefangen, als Veltan mit leicht besorgter Miene auf sie zutrat. »Wie 35° sollen wir denn nun einen Gott erschaffen, der unsere Schwester Aracia ersetzt?«, fragte er sie. »Der, oder besser: die ist längst hier, Veltan«, erwiderte Omago. »Wir müssen sie nur noch überreden, den Posten zu übernehmen wenn man es denn so ausdrücken kann.« Veltan blickte sich um. »Ich sehe hier nur bekannte Gesichter«, stellte er fest. »Natürlich, lieber Veltan«, sagte Mutter Ära. »Du kennst sie vermutlich schon, seit sie noch ein Säugling war. Schließlich hast du Zelana doch in ihrer Grotte einige Male besucht, nachdem die Kinder angekommen "waren, oder?« »Also, ja, aber ...« Veltan stockte, und mit großen Augen starrte er Eleria an. »Wollt ihr sagen, dass ihr Balacenia zwei Domänen aufbürden wollt?« »Das würden wir niemals tun, lieber Veltan«, sagte Ära. »Eleria und Balacenia wurden vor langer, langer Zeit getrennt.« Sie unterbrach sich kurz. »Lassen wir diese Kindersprache. Eleria wurde zu unabhängig, und Balacenia hat ihre Gesellschaft so sehr genossen, dass sie nichts dagegen eingewandt hat. Es könnte natürlich sein, dass Mutter Meer und Vater Erde bereits wussten, dass Aracia sich am Ende selbst vernichten würde, und deshalb Eleria gleich zu etwas Besonderem geformt haben.« »Warum reden alle über mich, Großes Ich?«, fragte Eleria. »Weil du etwas so Besonderes bist, Kleines Ich«, antwortete Balacenia. »Macht das nicht besonders viel Spaß?« »Mir nicht«, entgegnete Eleria. »Ich fühle mich überhaupt kein bisschen göttlich, also sag den anderen, sie sollen sich jemand anderen aussuchen.« »Wen?«, fragte Balacenia. »Es gibt sonst niemanden. Du hast deine Kindheit mit den rosa Delfinen verbracht, und dadurch hast du dich von mir abgespalten, und zwar so viel, dass wir nie wieder zu ein
und derselben Person verschmelzen können. In351 zwischen verfügst du schon über große Macht - vielleicht sogar über mehr als wir anderen, ob nun die jüngeren oder die älteren. Und ob du es nun willst oder nicht: Du wirst Aracia ersetzen, wenn Enalla irgendwann schläfrig wird.« »Ich will aber nicht!«, schrie Eleria. »Hier geht es nicht um Wollen, liebstes Kleines Ich«, erwiderte Balacenia unbeeindruckt. »Ob du möchtest oder nicht, du wirst die Göttin des Ostens, sobald Enalla sich schlafen legt.« Eleria schmollte, nachdem Balacenia ihr so gnadenlos die Wahrheit an den Kopf geworfen hatte. Eleria konnte andere Leute gut überreden, das zu tun, was sie von ihnen wollte, doch Balacenia hatte ihr das gerade verweigert, und zudem mit voller Absicht. Die Ältere ließ der kleinen Mitgöttin Zeit, ihren Unwillen auszudrücken, ehe sie fortfuhr. »Nun zieh nicht solch einen Schmollmud, Kleines Ich«, sagte sie. »Zelana kommt, und du willst sie doch nicht aufregen.« Sie hielt kurz inne. »Du weißt doch, dass wir Aracia unbedingt und bald ersetzen müssen}« »Was meinst du mit >bald«, fragte Eleria. »Enalla - oder Lillabeth - wird den Osten während der nächsten fünfundzwanzig Äonen regieren, oder?« »Ja, sicherlich, und dadurch hast du fünfundzwanzig Äonen, um dich an die neue Eleria zu gewöhnen.« »Nein! Nein! Nein!«, kreischte Eleria und stampfte mit dem Fuß auf. »Lässt du das wohl sofort sein, Kleines Ich«, schimpfte Balacenia. »Du benimmst dich wirklich gar nicht lieb.« Leiser fügte sie hinzu: »Weißt du eigentlich, dass die wahren Götter Omago und Ära dir alles geben, was du willst, nur damit du Aracias blöden Tempel annimmst?« »Alles}« Plötzlich war Elerias Interesse geweckt. »Du brauchst nur zu sagen, was, Kleines Ich, und sie werden es dir geben.« 352 »Bist du da ganz sicher, Großes Ich?« »Sag ihnen, sie sollen alle Berge platt trampeln oder den Mond wegwerfen, und sie werden es wohl oder übel tun müssen, wenn du es verlangst.« »Also«, meinte Eleria daraufhin, »das klingt doch schon ganz anders.«
51 Balacenia und Eleria gingen durch das Land der Träume zu einem nahen grasbewachsenen Hügel, auf dem sich Ära die Aurora mit ihrem Gemahl anschaute. »Sie ist wunderschön, Herzliebste«, sagte er zu Ära. »Es sieht fast aus, als wäre der Himmel plötzlich aufgeblüht.« Ära lächelte zärtlich. »Blüten hast du schon immer gemocht, Herzliebster, aber den Himmel hast du bestimmt noch nie blühen gesehen.« »Als Vash und ich dieses Land entworfen haben, hat es uns viel Zeit gekostet, es hübsch zu machen. Die Welt draußen war damals noch nicht besonders einladend, daher haben Vash und ich uns vor allem auf Schönheit konzentriert«, erklärte Balacenia. »Das ist euch sehr gut gelungen«, lobte Omago. »Denkt ihr, wir könnten nun langsam zur Sache kommen?«, fragte Eleria ziemlich drängelnd. »Benimm dich, Kleines Ich«, wies Balacenia sie zurecht. »Ich bin so höflich, wie ich nur kann, Großes Ich. Schließlich bin ich nicht im Mindesten daran interessiert, den Platz dieses Ungeheuers einzunehmen, das sich bei dem Versuch, Lillabeth zu töten, selbst vernichtet hat. Ich will keinen Tempel und auch keine Priesterschaft, die so tut, als würde sie mich anbeten. Viel lie353 ber möchte ich zurück in meine rosa Grotte, damit ich mit meinen Delfinen spielen und mich um die Geliebte kümmern kann, wenn sie schläft. Warum braucht man überhaupt eine Göttin im Osten? Man kann den dummen Tempel doch einfach abreißen und den fetten Priestern sagen, mit ihrem Luxusleben habe es ein Ende. Sollen sich Lillabeth und Enalla darum kümmern.« »So geht es aber nicht«, erklärte Omago. »Sie werden wieder zu einer Identität verschmelzen, Kleine.« »Das heißt >Kleines Ich<«, berichtigte Eleria ihn. »Wie bitte?«, fragte Omago. »Weiß doch jeder: Balacenia ist das >Große Ich<, und ich bin das >Kleine Ich<«, antwortete Eleria. Dann sah sie Omago - auf sehr vertraute Weise - schelmisch an. »Jetzt schuldest du mir einmal Umarmen«, sagte sie. »Ich wäre vorsichtig, Omago«, warnte Balacenia. »Seit Jahren bringt Eleria mit ihren Umarmungen die Leute dazu, das zu tun, was sie will. Wenn sie etwas will, umarmt sie dich und holt es so aus dir
heraus.« »Petze«, warf Eleria ihrer Mitgöttin vor. Dann wandte sie sich wieder Omago und Ära zu. »Warum ist es so wichtig, im Osten zwei Göttinnen zu haben?« »Aus Gründen der Balance«, erklärte Omago. »Wenn es nicht in jeder Domäne zwei Götter gibt, gerät alles aus dem Gleichgewicht, und das könnte Mutter Meer und Vater Erde verstimmen. Du hast ja gesehen, was passiert ist, als Yaltar - also eigentlich Vash - diese Vulkane am Ende der Schlucht oberhalb von Lattash entfesselt hat, und die waren nur Spielzeuge im Vergleich zu dem, was Vater Erde anrichten kann, wenn er sich aufregt. Deshalb sollten wir niemanden herausfordern, Kleines Du.« »Ich mag ihn«, sagte Eleria zu Ära. »Kann er gut umarmen?« Ära wurde von dieser Frage überrascht. »Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich nie einen Grund zur Beschwerde«, erwiderte sie und wurde rot. 354 »Gut. Umarmungen sind sehr wichtig, weißt du.« Omago schaute ebenfalls ein wenig verlegen drein, und Balacenia schlug die Hand vor den Mund, um ihr Grinsen zu verbergen. »Also schön«, meinte Eleria. »Dieses ganze Gerede ist ja recht nett, und jetzt haben wir uns auch ein bisschen besser kennen gelernt, deshalb stelle ich nun mal die Frage, auf die ihr gewartet habt. Was ist dabei für mich drin?« »Du wirst eine Göttin, Kleines Du«, antwortete Ära. »Warum sollte ich so etwas Doofes werden wollen? Wenn ich meine rosa Delfine gebeten hätte, mich anzubeten, hätten sie mich fürchterlich ausgelacht. Ihr müsst mir also schon etwas Besseres anbieten.« »Und zwar was, Kleines Du?«, wollte Ära wissen. »Nun bedrängt mich nicht so«, gab Eleria zurück. »Ich denke ja schon darüber nach. Wenn ich mich entschieden habe, sage ich es euch.« Damit drehte sie sich um und ging den Hügel hinunter. »Kommst du, Großes Ich?«, fragte sie Balacenia. Sie stiegen den Hügel hinunter und blieben in einem Wäldchen stehen, in dem die Bäume blühten. »Das hast du sehr schlau angestellt, Kleines Ich«, lobte Balacenia ihre kleine blonde Mitgöttin. »Erst hast du sie richtig schön geködert und sie dann in der Luft hängen lassen, als du ihnen gesagt hast, du hättest dich noch nicht entschieden, was du wirklich möchtest.«
»Das ist leicht, Großes Ich«, erwiderte Eleria. »Ich will, dass sie mich in Ruhe lassen.« »Werden sie aber nicht, Kleines Ich. Wie lautet dein zweitliebster Wunsch? Mach es so unmöglich, wie du nur kannst.« »Eigentlich verstehe ich überhaupt nicht, warum sie mir das aufhalsen wollen. Wenn sie jemanden haben wollten, der mehr als alle anderen im Kampf gegen das Vlagh getan hat, müssten sie 355 Langbogen nehmen. Er ist es doch, der uns in diesem Krieg gegen die Käfer eigentlich zum Sieg geführt hat. Nicht nur das, er ist auch der Beste auf der Welt, was Umarmungen angeht.« »Denkst du eigentlich immer nur an das Eine, Kleines Ich?«, wollte Balacenia wissen, inzwischen leicht gereizt. »Umarmungen sind wichtig, Großes Ich.« Dann spähte Elena durch die blütenbedeckten Äste. »Da kommt die Geliebte. Vielleicht kann sie dieses Problem für uns lösen.« »Na, was habt ihr beiden denn?«, fragte Zelana eher kurz angebunden. Balacenia zuckte mit den Schultern. »Das Kleine Ich möchte keine Göttin werden, und schon gar nicht will sie die verrückte Aracia ersetzen.« »Sei nett«, murmelte Zelana abwesend. »Ich habe dem Großen Ich gerade erzählt, Omago und Ära sollten, wenn sie unbedingt jemanden zum Gott machen wollten, doch einmal mit Langbogen reden. Wenn irgendwer auf der Welt die Unsterblichkeit verdient hat, dann Langbogen. Ohne ihn wären die Fremden von den Käfern gefressen worden - und die Einheimischen gleich mit.« Zelana seufzte. »Selbst wenn Ära und Omago ihm diesen Posten anbieten, wird Langbogen ihn ablehnen. Er will nichts. Sein Leben ist leer, seit Trübes Wasser gestorben ist.« »Damit hätten wir die Antwort«, verkündete Balacenia. »Trübes Wasser wieder zum Leben erwecken, meinst du«, sagte Eleria. »Wir sehen vielleicht nicht unbedingt gleich aus, Großes Ich, aber wir haben fast die gleichen Gedanken - oder ist dir das nicht auch gerade eingefallen?« Sie wandte sich an Zelana. »Ära und Omago können das doch, oder, Geliebte?« Zelana runzelte die Stirn. »Möglich wäre es schon, glaube ich. Sie müssten in der Zeit zurückgehen, aber das machen sie ständig.« »Und dann haben wir einen glücklichen Langbogen anstelle
356 des düster dreinblickenden, den wir alle kennen und lieben. Ich würde sagen, das ist einen Versuch wert. Wenn ich Ära und Omago sage, Trübes Wasser wäre mein Preis, entschließen sie sich vielleicht, jemand anderen zu belästigen.« Balacenia hatte das Gefühl, dass sie etwas übersah, was von außerordentlicher Wichtigkeit war, aber sie kam einfach nicht drauf. »Theoretisch ist es natürlich möglich, Herzliebster«, sagte Ära zu ihrem Gemahl, nachdem Eleria ihre Forderung gestellt hatte. »Das weiß ich, ja, Liebste«, antwortete Omago, »aber würden dadurch nicht viele Dinge durcheinandergeraten, die inzwischen passiert sind?« »Sie müssten ja nicht unbedingt passiert sein, oder?«, widersprach Eleria. Plötzlich klingelte es in Balacenias Kopf, als wäre eine dieser trogitischen Münzen gefallen, und die Sache war so leicht, dass sie beinahe laut gelacht hätte. »Wie ich es verstehe, könnt ihr beiden doch Ereignisse in der Zeit vorwärts oder rückwärts bewegen, ja?« »Das ist nicht so schwierig, Kind. In der Vergangenheit müssten wir viele Fehler berichtigen. Welten sind nie so stabil, wie sie von außen erscheinen«, erklärte Ära. Dann blickte Balacenia Omago an. »Du hast doch gerade das Vlagh vernichtet, oder?« »Nein. Ich habe einfach lediglich alle Eier, die es im Bauch trug, unfruchtbar gemacht, für die nächsten Äonen. Das Vlagh kann zwar noch Eier legen, aber es wird nichts mehr daraus schlüpfen.« »Aber du kannst Dinge in der Zeit vorwärts oder rückwärts bewegen, ja? Wenn du das nun schon vor langer Zeit getan hättest, wäre das Vlagh niemals zu einer Bedrohung für das Land Dhrall geworden, oder? Und wenn es keine Gefahr dargestellt 357 hätte, wären die älteren Götter nicht losgezogen, um ausländische Armeen anzuheuern und Kriege auszutragen, oder?« »Das ist brillant, Balacenia!«, rief Ära aus. »So, wie die Dinge jetzt stehen, wird stets die Gefahr drohen, dass ausländische Goldsucher in das Land Dhrall eindringen. Aber wenn sie gar nichts darüber wissen, können sie es auch nicht aufsuchen.« »Und Langbogen würde sich mit Trübes Wasser verheiraten«, setzte Eleria hinzu, »und die Welt wäre viel schöner.« »Und du wirst dich nicht mehr weigern, die Göttin der Domäne des
Ostens zu werden?«, fragte Omago hinterhältig. »Nur unter einer Bedingung«, antwortete Eleria. »Und die wäre?« »Du wirst mich umarmen, wann immer ich es brauche«, beharrte Eleria. Omago lächelte. »Ich glaube, das bekomme ich schon hin, Kleines«, sagte er. »Siehst du, wie leicht man alles bewältigen kann, wenn man sich nur ein wenig Mühe gibt, Großes Ich?«, sagte Eleria zu Balacenia und vergaß darüber völlig, dass sie diese Anrede »Kleines« doch überhaupt nicht mochte und Omago ihr deshalb eigentlich eine weitere Umarmung schuldete. 52 Natürlich stand nie außer Frage, dass die Götter, und zwar sowohl die älteren als auch die jüngeren, der Zeremonie beiwohnen würden, in der Langbogen und Trübes Wasser, die Tochter von Häuptling Alter Bär, vereint wurden. Einer der Vorteile, die mit der Göttlichkeit verbunden waren, bestand darin, dass man dafür sorgen konnte, von den gewöhnlichen Menschenwesen als guter alter Bekannter wahrgenommen zu werden. 358 Balacenia fand auch die Hirschlederkleidung, die die Eingeborenen trugen, sehr schön. Nur eine Sache verblüffte Balacenia und die anderen Götter ebenfalls - nämlich die Erscheinung des jungen Langbogen. Der ihnen vertraute ältere Langbogen hatte fast nie gelächelt, und aus seinen Augen hatte immer auch Trauer gesprochen. Der junge Langbogen hörte so gut wie überhaupt nicht auf zu grinsen, und als Balacenia die schöne Trübes Wasser zum ersten Mal sah, wusste sie auch warum. Balacenia hatte in ihrem nahezu endlosen Leben viele, viele schöne Frauen gesehen, doch Trübes Wasser war mit Abstand die schönste, der Balacenia je begegnet war. Ihr schwarzes Haar glänzte, die Haut war hellweiß. Und mit den riesigen Augen blickte sie fast unverwandt auf Langbogen. »Die ist aber hübsch, nicht?«, meinte Zelana gähnend. Wenn die Zeremonie der Verbindung von Langbogen und Trübes Wasser nicht dazwischengekommen wäre, hätte sie inzwischen vermutlich längst geschlafen. Obwohl diese Verbindung eigentlich Elerias Idee gewesen war, schien die Kleine eigenartigerweise nicht viel für Trübes Wasser
übrig zu haben. »Könntest du ihr nicht einen Pickel auf die Nase setzen, Geliebte?«, fragte sie Zelana, während der Tag der Zeremonie näher kam. »Warum in aller Welt sollte ich so etwas tun, liebes Kind?«, fragte Zelana milde. »Ich gebe es ja nicht gern zu, Geliebte«, sagte Balacenia, »aber ich habe so das Gefühl, das Kleine Ich ist ein bisschen eifersüchtig.« »Muss sie denn unbedingt so schön sein?«, maulte Eleria. »Langbogen hat immer mir gehört, und jetzt klaut sie ihn mir einfach.« Dann betrachtete sie den jungen Langbogen. »Ist er nicht prächtig}« »Ich weiß nicht, ob >prächtig< das richtige Wort ist, um männliche Menschen zu beschreiben«, erwiderte Zelana. »Aber auf je359 den Fall sieht er viel netter aus, wenn er nicht immer so grimmig dreinschaut.« Gegen Mittag kam der Schamane des Stammes, Einer-Der-Heilt, aus seiner Hütte, und ungefähr zur gleichen Zeit führte Häuptling Alter Bär Langbogen, der in goldene Hirschhaut gekleidet war, und Trübes Wasser, die weißes Leder trug, zur freien Fläche in der Mitte des Dorfes. Alter Bär sprach recht förmlich zu seinem Freund. »Diese beiden Kinder möchten vermählt werden, Weiser Schamane, und deshalb habe ich dich gerufen, um diesen Bund zu bestätigen.« »Und hat diese Verbindung die Zustimmung der Eltern, mächtiger Häuptling?«, antwortete Einer-Der-Heilt ebenso förmlich. »Ich bin der betreffende Elternteil, Weiser Schamane«, sagte Alter Bär, »und ich stimme zu.« »Und ist es dein ehrlicher Wunsch, tapferer Langbogen?«, fragte Einer-Der-Heilt. »Von ganzem Herzen, Weiser Schamane«, antwortete Langbogen mit einer wohltönenden Stimme, wie Balacenia und die anderen sie noch nie von ihm gehört hatten. »Und ist es auch dein Wunsch, hübsche Trübes Wasser?« »Ich habe keinen anderen Wunsch, Einer-Der-Heilt«, erwiderte die junge Schönheit mit einer Stimme, die fast wie Musik klang. »Und höre dies, Weiser Schamane: Solltest du dich weigern, uns zu vermählen, werde ich gewiss noch vor der Dämmerung des morgigen Tages sterben. Langbogen wird stets in meinem Herzen und meiner Seele sein, und ohne ihn hat mein Leben keinen Sinn.« »Der würde ich lieber nichts abschlagen«, murmelte Balacenia ihren
Verwandten zu. »Wenn Einer-Der-Heilt so dumm ist, sich ihr zu widersetzen, wird er vermutlich tot sein, ehe die Sonne untergeht.« 360 »Ich habe Langbogen früher eigentlich nie richtig verstanden«, räumte Veltan ein. »Aber jetzt leuchtet mir die Sache ein. Bestimmt werden wir nach dieser Zeremonie die beiden glücklichsten Menschen der Welt vor uns haben.« »Und vielleicht auch die traurigste Person«, fügte Balacenia hinzu und zeigte auf Eleria, deren Augen sich gerade mit Tränen füllten. »Hat irgendjemand aus dem Stamm einen Einwand gegen diese Verbindung?«, fragte Einer-Der-Heilt. »Das wäre sicherlich keine gute Idee«, zischelte Balacenia den anderen Göttern zu. »Wenn Langbogen denjenigen nicht umbrächte, würde Trübes Wasser es tun.« Dann straffte sich Einer-Der-Heilt und hob die Hand. »Da niemand einen Einwand erhebt, habe ich die Aufgabe zu verkünden, dass Langbogen und Trübes Wasser von nun an vermählt sind, und zwar für immerdar.« Die Angehörigen des Stammes jubelten - zumindest die meisten. Es gab einige junge Männer und mehrere junge Frauen, die sich entschieden, keinen Beifall zu spenden. Sie waren jedoch weise genug, keinen Widerspruch einzulegen. Und dann begann die Feier. Fast jeder sprach kurz mit Langbogen und Trübes Wasser und gratulierte. Balacenia war sicher, dass die Ansprache von Einer-Der-Heilt überflüssig gewesen war. Die Verbindung zwischen Langbogen und Trübes Wasser hatte in ihrem Herzen und ihren Seelen schon vor langer Zeit stattgefunden, und nichts konnte sie jemals voneinander trennen. Die Gratulationen der Stammesangehörigen dauerten fast bis zum Abend, und dann trat zu Balacenias Erstaunen Zelana zu dem glücklichen Paar. »O höret, ihr zwei«, sagte sie ziemlich förmlich, »dass eure Vermählung von den Göttern des Landes Dhrall - den älteren und den jüngeren - schon vor Äonen be361 schlössen wurde, denn in dieser Verbindung liegt die wahre Vollkommenheit. Die Liebe hat eine neue Heimat gefunden, und sie wird ewig bei euch verweilen.« Im Anschluss daran sank Zelana langsam zu Boden, als würde sie im nächsten Moment zusammenbrechen. »Bringt sie nach Hause!«, schnarrte Dahlaine. »Sie hätte schon vor
Monaten schlafen gehen sollen.« »Nimm ihre andere Hand, Kleines Ich«, sagte Balacenia zu Eleria. »Bringen wir sie in die rosa Grotte und legen sie ins Bett, ehe die Sonne untergegangen ist.« »Ich komme mit«, sagte Ära. »Zelana ist unser liebstes Kind, deshalb wollen wir besonders auf sie Acht geben.« »Was hast du dir dabei gedacht, Zelana?«, wollte Ära wissen, als sie die rosa Grotte erreichten und die Geliebte in ihr Bett legten. »Es war ein Notfall, Mutter«, erwiderte Zelana. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt eingeschlafen wäre, wenn ich es nicht bis zum Ende miterlebt hätte. Balacenia ist gut, ganz gewiss, aber ich wusste, was im Wind lag und wie man es verscheuchen konnte. Natürlich ist sie, wie sich herausgestellt hat, mindestens ebenso klug wie ich. Am Ende meines Zyklus habe ich mir allerdings Sorgen gemacht, was geschehen würde, wenn Eleria an die Reihe kommt. Bis vor kurzem kannte ich Balacenia ja nicht einmal.« »Wir wurden ermuntert, es auch so zu lassen, Geliebte«, antwortete Balacenia. »Geliebte?«, wiederholte Zelana und lächelte matt. »Das ist Elerias Name für dich, ja, aber aus irgendeinem Grund habe ich mich daran gewöhnt. Schlaf gut, liebe Zelana. Das >Kleine Ich< und ich werden schon aufpassen.« Zelana seufzte. »Es ist wirklich Zeit zu schlafen für mich.« Sie lächelte Eleria an. »Sag mir >Gute Nacht<, Kleines, und dann dämmere ich bestimmt hinüber.« 362 »Träum etwas Schönes, Geliebte«, sagte Eleria und schob Ze-lana die Decke unter das Kinn. Balacenia war langsam zurückgewichen. »Mir ist gerade eingefallen, Mutter, dass wir alle unsere ausländischen Freunde verloren haben, da sie nun überhaupt nicht zu uns kommen werden.« Eleria entfernte sich leise von Zelanas Bett. »Du klingst gar nicht glücklich, Großes Ich«, stellte sie anschließend fest. »Was gibt es denn?« »Wegen meines klugen Einfalls haben wir nun eine ganze Reihe guter Freunde verloren. Hase, Keselo, Gunda, Ochs und all die anderen, die nun nicht ins Land Dhrall kommen werden, weil wir sie nicht brauchen. Das Vlagh ist verschwunden - oder zumindest ganz allein -, und deshalb wird es keinen Ärger machen.« »Häschen werde ich sicherlich vermissen«, sagte Eleria, »und Keselo
auch.« Dann blinzelte sie. »Oh, nein!« »Ja, Kleines Ich?«, fragte Balacenia. »Was denn?« »Wir haben uns so viel Mühe gegeben, Trenicia und Narasan zusammenzubringen, und das können wir jetzt vergessen. Trenicia hat überhaupt keinen Grund, Narasan auch nur zu kennen.« Balacenia runzelte die Stirn. »Da hast du wohl recht, Kleines Ich«, räumte sie ein. »Mädchen, warum überlasst ihr das nicht mir}«, meinte Mutter Ära. »Narasan wird natürlich die Führung des trogitischen Weltreichs übernehmen müssen, und ich sorge dafür, dass Trenicia ihm einen Besuch abstattet - irgendwann in der Vergangenheit, denke ich. Trenicia kann mit ihren Waffen fast so gut umgehen wie jeder andere, und Narasan wird sich in großer Gefahr befinden, wenn er mit dem Imperium herumpfuscht. Trenicia kann ihn beschützen. Und irgendwann sehen wir dann wieder so eine Zeremonie wie heute. Trenicia und Narasan werden sich vermählen, darum kümmere ich mich persönlich.« 363 »Ist das nicht praktisch, wenn man eine solche Mutter hat, Kleines Ich?«, fragte Balacenia. »Ich bin sicher, dass wir hier bleiben, bis Zelana fest eingeschlafen ist. Danach sollten du und ich uns mit Enalla unterhalten. Ganz sicher wird sie diesen blöden Tempel über kurz oder lang abreißen, aber du brauchst einen Ort, an dem du schlafen kannst. Denn es wird noch lange, lange Zeit dauern, bis du aufwachst und deine Domäne übernimmst.« »Könnte ich nicht einfach hier bei der Geliebten bleiben, Großes Ich? Ich weiß, wenn ich aufwache, muss ich hinüber in den Osten und dort aufpassen, aber bis dahin würde ich gern bei der Geliebten bleiben.« »Was hältst du davon, Mutter?«, erkundigte sich Balacenia bei Ära. »Ich wüsste nicht, was dagegenspricht, Großes Ich«, antwortete Mutter. »Es gibt viele Dinge, die sie noch lernen muss, und wenn sie hier in der rosa Grotte bleibt, weiß ich, wo ich sie finde.« »Was immer du für das Beste hältst, Mutter«, stimmte Balacenia zu. Balacenia war sich ihrer Position als Bestimmerin im Lande Dhrall während dieses Zyklus durchaus bewusst, doch würden Dakas und Vash in den nächsten paar Jahrhunderten auch allein zurechtkommen. Enalla beschäftigte sich vermutlich mit dem Abriss von Aracias Tempel und damit, die fetten Männer zu vertreiben, die sich selbst Priester nannten. Mutter Ära war ja da und würde Enalla
davon abhalten, zu weit zu gehen, und damit hatte Balacenia eine Weile frei, um sich alles in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen. Sicherlich würde sie eine Reihe der Ausländer vermissen, mit denen sie im Laufe des vergangenen Jahres Freundschaft geschlossen hatte. Durch ihren Vorschlag, auf den hin Vater den Zeitpunkt, an dem das Vlagh seine Kinder verlor, nach hinten verschoben hatte, bestand nun keine Notwendigkeit 364 mehr, die Ausländer herzuholen - ob sie nun Freunde waren oder nicht. Balacenia seufzte. »Sie waren reizend und sehr liebenswert«, murmelte sie, »nur leider ist es so viel besser. Niemand muss um sein Leben fürchten, und ich habe trotzdem noch die Erinnerungen an sie.« Und diese Erinnerungen rief sie nun hervor, während sie in der rosa Grotte mit der gesegneten Zelana und dem geliebten Kleinen Ich saß, und ließ sich noch einmal alle Ereignisse durch den Kopf gehen. Das Jahr existierte ja nicht mehr, und umso wertvoller waren diese Erinnerungen. »Ich glaube, ich werde sie gut aufbewahren«, sagte sie laut. »Dann kann ich sie im Laufe meines Zyklus mit Kindern und anderen teilen.« »Hast du etwas gesagt, Großes Ich?«, fragte Eleria und erwachte aus dem Schlaf. »Hab nur laut gedacht, Kleines Ich«, antwortete Balacenia. »Schlaf nur weiter und gesell dich wieder zur Geliebten.« »Das werde ich tun, Großes Ich«, meinte Eleria, »sobald du aufhörst zu schwatzen.« Daraufhin musste Balacenia lachen und blickte ihre Mitgöttin liebevoll an. »Ich könnte wirklich eine Umarmung gebrauchen«, sagte sie. »Warum hast du das nicht gleich gesagt, Großes Ich?«, erwiderte Eleria. »Komm her zu mir, und ich drücke dich so fest, dass du platzt. Ich bin der beste Umarmer auf der ganzen Welt, weißt du.« »Natürlich weiß ich das, Kleines Ich«, sagte Balacenia. Dann ging sie hinüber zu Elerias kleinem Bett und ließ sich so fest drücken, dass es ganz bestimmt für die nächsten Jahre reichen würde.