Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 540 All‐Mohandot
Der Weise von Break‐2 von Kurt Mahr
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 540 All‐Mohandot
Der Weise von Break‐2 von Kurt Mahr
Vorstoss ins Reich der Ysteronen
Seit Dezember des Jahres 3586, als die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Schließlich ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Gegenwärtig schreibt man an Bord des Schiffes den November des Jahres 3791, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL bereits den Anstoß zu entscheidenden positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, daß er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Demontage rettete. Gegenwärtig ist Atlan mit der abgekoppelten SZ‐2 in der Kleingalaxis Flatterfeld unterwegs. Seine selbstgewählte Mission besteht darin, das Geheimnis des Volkes der Nickeldiebe zu enträtseln. Diese Expedition führt die SZ‐2 erst zu dem seltsamen Volk der Pluuh, dann weiter zu einem einsamen Planeten – und dort begegnet den Solanern DER WEISE VON BREAK‐2 …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide stößt ins Reich der Ysteronen vor. Girgeltjoff ‐ Ein Ysterone an Bord der SZ‐2. Palo Bow und Brooklyn ‐ Zwei Magniden an Bord der SZ‐2. Halbfuß ‐ Sprecher der Buhrlos. Traug‐Tul‐Traug ‐ Ein verstoßener Ysterone.
1. Girgeltjoffs erster Bericht »Ich war auf dem Weg zu meiner Zelle. Ich hatte es eilig; ich wollte nicht auf der Straße sein, wenn das Unvermeidliche eintrat. Ich spürte die Erregung der Menge, durch die ich mir mühselig einen Weg bahnte. Vor kurzer Zeit hatte ich auf dem Khadsch gestanden und den Worten gelauscht, die verkündeten, daß die letzte Expedition unbemerkt verlaufen war. Die Tantrik, die von den Nickelsuchern hinterlassen worden waren, meldeten tiefe Ruhe in den Raumsektoren, in denen statt blühender Planeten jetzt nur noch kosmische Staubwolken ihre Bahnen um kinderlose Sonnen zogen. Die Periode der Scham war vorüber. Niemand hatte unsere Schandtat bemerkt – mit Ausnahme der Wesen, die wir von ihren Planeten hatten verschwinden lassen, bevor wir diese zerstörten und uns des lebenswichtigen Metalls bemächtigten, das sie in ihrem Innern bargen. Lebenswichtig? Ich glaubte nicht daran. Ich selbst war das beste Beispiel dafür, daß ein Ysterone ohne das Metall auskommen konnte. Aber konnte ich jemand zu meiner Meinung bekehren? Wenn ich darüber zu sprechen begann, wie ich über das Metall empfand, lachten sie mich aus und nannten mich Girgeltjoff, den Nichtswisser, den Unerfahrenen, den Zurückgebliebenen. Und wenn ich auf meinem Thema beharrte, dann wurden sie ernst und warfen mir vor, ich verstoße gegen das Tabu. Die Erregung der Menge wuchs. Meine Zelle war nicht mehr weit;
aber wenn das Schlimmste eintrat, dann war ich auch dort nicht sicher. Es waren immer nur ein paar hundert Ysteronen, ein halbes Tausend, die der Drang nach einer neuen Expedition überkam. Er übermannte sie wie ein Rausch, und sie kamen nicht eher wieder zur Vernunft, als bis die Expedition unterwegs war. Niemand wußte im Voraus, in welchem Teil unserer Heimat der unwiderstehliche Drang ausbrechen würde. Die Erregung, die die Ysteronen ergriff, wenn die Tantrik meldeten, daß niemand unsere jüngste Schandtat entdeckt hatte, war allgemein. Der Drang dagegen erfaßte jeweils nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Dort, wo der Drang auftrat, herrschte für geraume Zeit das Chaos – bis die vom Drang Berauschten sich organisiert und unter dem begeisterten Jubel der übrigen Bevölkerung ihre Expedition vom Stapel gelassen hatten. Diesmal, fürchtete ich, befand ich mich mitten im Drangwirbel. Nie zuvor hatte ich miterlebt, wie kleine Gruppen innerhalb der Menge einander durch stets lautere Zurufe aufpeitschten, wie durch dröhnende Gesänge die Hysterie entfacht wurde, wie sich die breite Straße zu einer Szene wandelte, auf der sich verzückt schreiende, vom Drang berauschte Bacchanten tummelten. Kreise bildeten sich. Die Ysteronen faßten einander bei den verkümmerten Händen. Die Kreise drehten sich, schneller und immer schneller. Der hundertfältige Wirrwarr der dröhnenden Stimmen wurde zu einem rhythmischen Gesang, der die Zellenwände und den Boden der Straße erzittern ließ. Das Metall – das Metall – das Metall holen wir! Jemand griff nach mir und wollte mich in einen der tanzenden Kreise ziehen. Ich wich dem Griff aus. Meine Zelle war nur noch wenige Schritte entfernt. Ich erreichte die Tür und öffnete sie. Augenblicke später war ich im Innern meines Heims. Die Tür schloß sich selbsttätig und dämpfte das hysterische Singen der Menge. Ich lehnte mich gegen die Wand und atmete erleichtert. Für den Augenblick war ich in Sicherheit. Die nächsten Stunden würden lehren, ob ich mich dem Rausch entziehen konnte.«
Ich aß, vor Furcht zitternd und ohne zu wissen, was ich zu mir nahm. Der Gesang war lauter geworden – aber nicht laut genug, als daß ich nicht hätte hören können, wie gegen Zellentüren gepocht wurde. ,Heraus, ihr Schläfer!ʹ gellte der Ruf. Das Pochen kam näher. Die Berauschten suchten nach Gleichgesinnten. Wehe dem, der in seiner Zelle gefunden wurde und nicht sofort bereit war, mit ihnen zu tanzen und zu singen! Die unter dem Einfluß des Drangs standen, schreckten nicht davor zurück, den der ihre hysterische Begeisterung nicht teilte, zu mißhandeln. Davon hatte ich gehört – sogar davon, daß der eine oder andere, der sich dem Taumel nicht hatte anschließen wollen, unter den Händen der Tobenden den Tod gefunden hatte. Etwas knallte gegen meine Tür. Kurz darauf hörte ich eine laute Stimme. ,Laßt ab! Das ist meine Zelle!ʹ ,Und du bist mit uns, Bruder?ʹ ,Ich bin mit euch!ʹ Ich hatte mich in die hinterste Ecke des Wohnraums verkrochen. Jetzt aber schöpfte ich Hoffnung. Ich kannte die Stimme. Sie gehörte Verjangat, meinem Freund – einem meiner wenigen Freunde. Girgeltjoff, der Nichtswisser, war nicht sonderlich beliebt. Verjangat hatte mich vor dem Toben der johlenden Horde bewahrt. Wäre er nicht eingeschritten, hätten die Berauschten die Tür eingerannt und mich nach draußen gezerrt. Der unendliche Weltraum und das heilige Tabu mochten wissen, was dann aus mir geworden wäre. Ein paar Minuten später knallte es von neuem gegen die Tür. Das Schloß sprang auf; Verjangat kam hereingetaumelt. Der Schwung, mit dem er sich gegen die Tür geworfen hatte, trug ihn bis an die Rückwand meiner Zelle. Ich trat schnell herbei und verschloß den Eingang. ,Wenn sie dich fassen, bist du verlorenʹ, stieß Verjangat hervor. ,Warum willst du dich der Expedition nicht anschließen?ʹ ,Willst du es etwa?ʹ antwortete ich mit einer Gegenfrage.
,Ich fühle den Drangʹ, antwortete mein Freund. ,Ich kann mich ihm nicht mehr lange widersetzen. Wenn ich dir helfen soll, muß es schnell geschehen.ʹ ,Helfen? Warum solltest du mir helfen müssen? Sie pochten an meine Tür, und du wiesest sie zurück. Ich bin hier sicher. Ich warte, bis die Expedition unterwegs ist.ʹ Verjangat war ärgerlich. ,Du Narr! Hast du noch nie einen Drang erlebt? Sie geben keine Ruhe, bis sie nicht sicher sind, daß alle, die in diesem Sektor leben, sich ihnen angeschlossen haben.ʹ Er wischte mit der Hand durch die Luft. ,Oh ja, ich habe sie zurückgewiesen. Aber bevor sie zum Khadsch aufbrechen, werden sie noch einmal alle Zellen untersuchen.ʹ Das Gefühl der Erleichterung wich. Die Angst packte mich von neuem. ,Nein, ich habe noch nie einen Drang erlebtʹ, antwortete ich. ›Was soll ich tun?‹ ,Du mußt den Sektor auf dem schnellsten Weg verlassenʹ, sagte Verjangat. ,Du brauchst ein Versteck. Komm mit mir – ich weiß eines!ʹ Er griff mich bei der Hand. Als die Tür sich öffnete, drang das frenetische Gebrüll der Berauschten auf uns ein. ,Das Metall – das Metall – das Metall holen wir!ʹ Die primitive Melodie, der pochende Rhythmus, das vielstimmige und doch eintönige Geschrei – sie alle vereinigten sich und verschmolzen zu einem Phänomen von hypnotischer Wirkung. Verjangat zerrte mich mit sich. Wir schlossen uns tanzenden Kreisen an und verließen sie wieder, sobald sich die Gelegenheit ergab. Die Berauschten schenkten uns keine Beachtung, solange wir nur mit ihnen tanzten und schrien. Ich bemerkte, daß Verjangat die Richtung zum Khadsch eingeschlagen hatte. Warum ausgerechnet dorthin? Zum Khadsch würden die Tobenden sich wenden, wenn der Rausch sich ihrer vollends bemächtigt hatte. Ich beobachtete meinen Freund mit Sorge. Ich sah, wie der Ausdruck seiner Augen sich wandelte. Als er in meine Zelle kam, war er aufgeregt, ansonsten aber sachlich und besonnen gewesen. Ich sah, wie die Besonnenheit von ihm wich. Seine Augen begannen zu leuchten. Seine Worte, mit denen er den
Gesang begleitete, wurden lauter und eindringlicher. Ich selbst war es, der Verjangat aus dem letzten Kreis der Tanzenden riß. Hätte ich es nicht getan, er hätte mich vergessen und sich ohne Zögern den vom Drang Berauschten angeschlossen. Meine Handlung brachte ihn halbwegs wieder zu sich; aber ich erkannte, daß ich keinen Augenblick mehr verlieren durfte. ,Wo ist das Versteck?ʹ fuhr ich ihn an. Vor uns lag ein verhältnismäßig ruhiger Abschnitt der Straße, die zum Khadsch führte. ,Dort vorneʹ, stieß er hervor. ›Komm mit!‹ Ich sah seine Mundwinkel zucken und die Lippen sich bewegen. Er sang den Gesang der Berauschten; aber es kam kein Laut aus seinem Mund. Noch ein paar Minuten, und mein Freund Verjangat war ebenfalls dem Drang verfallen. Wir erreichten den Khadsch. Hoch ragten die Wände ringsum auf. An ihnen entlang liefen die Rampen, die zu den Wohnzellen der Bevorzugten führten. Ich zögerte unwillkürlich, als Verjangat auf eine der Rampen zusteuerte. ,Was soll ich dort?ʹ fragte ich ängstlich. ,Ich kenne eine leere Zelleʹ, antwortete mein Freund hastig. ,Ihr Bewohner hat vor kurzem das Tabu erreicht. Bis man sie wieder vergibt, werden ein paar Tage vergehen. Bis dahin bist du sicher!ʹ Der Gedanke, mich in der Zelle eines Toten zu verstecken, war mir nicht angenehm. Aber gewiß war es besser, als von den Berauschten zur Teilnahme an der Expedition gepreßt zu werden. Ich folgte Verjangat. Drunten auf der Sohle des Khadsch befanden sich nur wenige Ysteronen, und ihre Aufmerksamkeit war auf den rhythmischen Lärm gerichtet, der aus der Straße drang. Sie wußten, daß unter dem Einfluß des Drangs eine neue Expedition vorbereitet wurde. Ihre Rufe gellten über die Weite des Platzes, und aus den Zellen, die den Khadsch säumten, kamen deren Bewohner, um sich das Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Ich blickte ängstlich die Rampe empor. Wir befanden uns halbwegs zwischen der Sohle und
der Decke des Khadsch. Falls sich irgendwo über uns eine Tür öffnete, war ich verloren. Girgeltjoff, der Nichtswisser, hatte nichts mit den Bevorzugten zu tun – aber sie alle kannten mich und meine Eigenart. Wenn sie mich hier sahen und den Lärm aus der Straße hörten, würden sie wissen, daß ich versuchte, dem Drang zu entfliehen. Das aber war schändlich. Sie würden mich aufhalten und zur Rede stellen – und das weite All mochte wissen, was dann geschah. Verjangat blieb plötzlich stehen und wies auf eine Tür. ,Dort … dort ist es!ʹ keuchte er. Seine Augen waren zur Decke des Khadsch hinauf gerichtet und loderten in gefährlichem Feuer. Ich hastete auf die Tür zu, öffnete sie und zwängte mich in eine finstere Zelle. Noch bevor sich der Eingang wieder schloß, sah ich durch den Türspalt, wie Verjangat sich umwandte und die Rampe hinabstürmte. Ich hörte seinen brüllenden Gesang: ,Das Metall – das Metall – das Metall holen wir!ʹ Er war dem Drang erlegen. Ich tastete mich an der Wand der Zelle entlang, bis ich den Beleuchtungsschalter fand. Für die luxuriöse Einrichtung, die mich umgab, hatte ich nur einen kurzen Blick. Ich wußte seit geraumer Zeit, daß die Bevorzugten bequemer lebten als die durchschnittlichen Ysteronen. Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf den fernen Gesang, der jetzt immer deutlicher aus der Straßenmündung hervorquoll. Ohne Zweifel hatte sich Verjangat den Berauschten längst angeschlossen. Unter frenetischem Gebrüll drang die Menge aus der Mündung der Straße hervor auf die weite Fläche des Khadsch. Der Rhythmus des Gesangs machte die Wände zittern. Dann aber ertönte, scheinbar aus dem Nichts, eine mächtige Stimme, die den Lärm mühelos übertönte. ,Seid ihr bereit?ʹ Die Menge schwieg für den Bruchteil einer Sekunde. Dann gellte ihr Schrei: ,Wir sind bereit!ʹ Ich hatte die Tür einen Spalt geöffnet und blickte
hinab. Ringsum, an den Rändern des Khadsch, standen die Neugierigen, nach Tausenden zählend. Sie umgaben die Schar der Berauschten, nicht mehr als fünfhundert, die unter dem Einfluß der dröhnenden, körperlosen Stimme plötzlich ruhig geworden war. ,Dann sei es!ʹ donnerte die Stimme. ›Das Metall! Holt das Metall!‹ Ein Schrei wie aus einer einzigen Kehle stieg zur Decke des Khadsch empor. Ein dumpfes, vibrierendes Rumoren war zu hören. Ich sah voller Staunen, wie die Wand des Khadsch sich auf der gegenüberliegenden Seite zu öffnen begann. Die Mündung eines finsteren Tunnels wurde freigelegt. Die Neugierigen, die sich in der Nähe der Öffnung befanden, wichen hastig beiseite. Die Schar der Berauschten dagegen setzte sich in Bewegung. Mit dröhnenden Schritten marschierten die vom Drang Erfaßten auf den Tunnel zu, und von neuem ertönte ihr primitiver Gesang: ,Das Metall – das Metall – das Metall holen wir!ʹ Ich sah zu, bis der letzte von ihnen verschwunden war. Der letzte war übrigens mein Freund Verjangat; ich erkannte ihn deutlich trotz der großen Entfernung. Traurigkeit nahm mich gefangen. Wie sollte ich Verjangat jemals wieder begegnen, nachdem er an einer … Schandtat teilgenommen hatte? Die Gefahr für mich war vorüber. Ich eilte die Rampe hinab und erreichte die Sohle des Khadsch, noch bevor sich die Tunnelmündung vollends wieder geschlossen hatte. Die Straße, die zu meiner Zelle führte, lag zu meiner Linken. Vor wenigen Augenblicken noch war sie von tosendem Lärm erfüllt gewesen; jetzt bot sie sich mir verlassen und schweigend dar. Ich gelangte unbehindert zu meiner Zellentür. Im Innern der Zelle sah ich mich um und bedauerte einen flüchtigen Atemzug lang, daß sie nicht so behaglich eingerichtet war wie das Quartier, in dem ich mich versteckt hatte. Aber der Gedanke besaß kein Gewicht. Mein Denken konzentrierte sich auf den Augenblick, an dem Verjangat und der Rest der Expedition zurückkehren würde. Ich versuchte, mir die Siegesfeier vorzustellen. Denn siegreich
würde die Expedition sein, daran bestand kein Zweifel, mit einer Beute von Millionen von Tonnen des lebenswichtigen Metalls. Man würde die zurückkehrenden Helden mit Ehren überhäufen – und dann übergangslos in die Periode der Scham eintreten. Der Scham, die jeden Ysteronen überfiel, ob er an der Expedition teilgenommen hatte oder nicht. Der Scham, die daher rührte, daß wiederum blühende Welten zerstört worden waren, nur damit unser unersättlicher Hunger nach dem Metall gestillt werde. Begierig würde jeder auf die Stimme lauschen, die die Anzeigen der Tantrik verkündete. Und wenn die Tantrik über Wochen hinweg meldeten, daß kein intelligentes Wesen sich dem Ort unserer jüngsten Schandtat genähert hatte, dann würde sich die Scham allmählich legen – und dann war es Zeit für einen neuen Drang, der irgendwo in der Weite unserer Heimat fünfhundert Ysteronen erfaßte und mit unwiderstehlicher Kraft dazu bewog, zu einer neuen Expedition, einer neuen Schandtat aufzubrechen. Ich verstand das nicht. Wenn wir uns unserer Taten schämten, warum begingen wir sie? Eine solche Frage kam natürlich nur Girgeltjoff, dem Nichtswisser, in den Sinn. Ich brauchte das Metall nicht. Alle anderen Ysteronen waren überzeugt, daß sie ohne das Metall nicht leben könnten. Sie begleiteten die Expeditionen mit ihrer Begeisterung und unterwarfen sich der unausweichlichen Periode der Scham, weil sie glaubten, auf andere Weise nicht existieren zu können. Im Grunde aber, meine ich, empfinden sie genauso wie ich. Ich – Girgeltjoff, der Nichtswisser.« 2. Atlans Blick flog über die kleine Gruppe derer, die der Aufzeichnung zugehört hatten. Dann wandte er sich in Richtung der kleinen Schaltkonsole.
»Optische Darstellung?« fragte er. »Die Informationen reichen für die Herstellung eines zuverlässigen Bildes nicht aus«, antwortete der Computer. »Bjo?« Der Katzer schüttelte den Kopf. »Ich war dabei, als Girgeltjoff den Bericht sprach«, sagte er. »Er war aufrichtig, soviel kann ich sagen. Er hat uns keine erfundene Geschichte aufgetischt. Aber seine Gedanken bezüglich der Umgebung, in der sich das Erlebnis abspielte, waren vage ‐fast so, als …« »Als wolle er die Erinnerung verdrängen?« fiel ihm Sternfeuer ins Wort. »Das ist eine Möglichkeit.« »Was ist der Khadsch?« fragte Atlan den Computer. »Unbestimmt. Wahrscheinlich eine große freie Fläche, ein Platz innerhalb der Umwelt, die als ›Heimat‹ bezeichnet wird.« »Und was ist ›Heimat‹?« »Diese Frage kannst du dir selbst beantworten«, antwortete der Computer nicht ohne einen gehörigen Schuß Sarkasmus. »Der Ysterone kannte den Begriff ›Heimat‹ ursprünglich nicht. Wir selbst haben ihn veranlaßt, ein entsprechendes Wort zu prägen und es mit dem Ysterioon gleichzusetzen. Heimat ist das Ysterioon – gemäß unserer Definition.« Palo Bow, der stämmige, zur Korpulenz neigende Kommandant der Solzelle‐2, meldete sich zu Wort. »Tantrik. Der Begriff kam mehrmals vor. Was sind Tantrik?« »Robotstationen. Singular Tantar, Plural Tantrik. Das sind die Automaten, die die Ysteronen am Ort ihrer Schandtaten hinterlassen. Wir hatten mit ihnen in Bumerang zu tun.« Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Dann begann Palo Bow von neuem: »Was jetzt? Wir haben Girgeltjoffs Bericht gehört. Er macht keine eindeutigen Aussagen. Welches ist unser nächster Schritt?«
Das Gesicht des dunkelhäutigen Magniden wirkte mürrisch und gelangweilt wie immer; aber in seiner Stimme schwang ein Unterton, der den Arkoniden aufhorchen ließ. Es entging ihm auch nicht, daß Brooklyn ihn unter den Wimpern hervor aufmerksam musterte. Sie zählte ebenso wie Palo Bow zu den Fortschrittlichen unter den Magniden, die die herrschende Kaste an Bord des Generationenschiffs SOL darstellten. Palo und Brooklyn hatten sich Atlan angeschlossen, als dieser von Chart Deccon, dem High Sideryt, die Erlaubnis erwirkte, mit der Solzelle‐2 ins Innere der Kleingalaxis Flatterfeld vorzustoßen. Der Arkonide besaß in der SOL‐Gesellschaft keinen offiziellen Rang. Palo Bow hatte das Kommando über die Solzelle übernommen. Nach seiner Entscheidung richtete sich der weitere Kurs des großen Raumschiffs. Aber es war unter den Magniden, besonders unter den Fortschrittlichen, eine gewisse Faszination bezüglich des Auftrags entstanden, den Atlan von »kosmischen Mächten« erhalten zu haben behauptete. Palo Bow würde keinen Befehl erteilen, ohne zuvor die Meinung des Arkoniden gehört zu haben. Worauf wollte er jetzt hinaus? Die Solzelle‐2 war seit mehreren Wochen von der SOL getrennt. Atlan wußte, daß die Solaner ihr Raumschiff als ein unteilbares Ganzes betrachteten. Die derzeitige Lage mußte ihnen unnatürlich erscheinen. Palo Bow wartete auf seinen Vorschlag, zur SOL zurückzukehren. »Ich fasse zusammen«, sagte der Arkonide kühl und sachlich. »Die Ysteronen halten Nickel für eine lebensnotwendige Substanz und unternehmen in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen Raubzüge, bei denen sie Planeten mit metallischem Kern vernichten, um sich des im Kern enthaltenen Nickels zu bemächtigen. Viele dieser Welten sind besiedelt. Die eingeborene Zivilisation wird im Verlauf der Auflösung des Planeten zerstört. Die Ysteronen sind sich der Schändlichkeit ihres Tuns bewußt. Aus Girgeltjoffs Bericht geht klar hervor, daß auf jeden Raubzug eine Periode des moralischen Katzenjammers folgt. Die Tantrik werden offenbar zu
dem Zweck hinterlassen, die Annäherung von Fremden an den von den Ysteronen verwüsteten Raumsektor zu registrieren. Werden keine Fremden wahrgenommen, dann beruhigt sich das Schamgefühl der Nickelräuber allmählich: ihre Schandtat wurde nicht entdeckt. Sie gehen zum Alltag über und planen einen neuen Raubzug. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß der Drang zur Vorbereitung eines Raubzugs offenbar in der Form eines psychologischen Zwangs auftritt, von dem jeweils nur einige hundert Ysteronen erfaßt werden.« Er hielt abrupt inne. Brooklyn sah überrascht zu ihm auf. »Ja«, sagte sie. »Und was haben wir damit zu tun?« Sie war eine hochgewachsene, schlanke Frau, die mit Sorgfalt auf ihre äußere Erscheinung achtete. Mit einem Alter von 60 Jahren stand sie erst am Beginn jener Lebensspanne, die man »die mittleren Jahre« nannte. Ihr Haar war frühzeitig ergraut. Sie verzichtete auf die Zuhilfenahme kosmetischer Mittel und trug es mit der Würde einer Dame. »Wenn ich so gefragt werde«, lächelte Atlan, »bin ich selten sicher, ob das ›wir‹ mich einschließt oder nicht. Die Solaner, die sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, ziellos durch das Weltall zu irren, haben mit dem ysteronischen Rätsel gewiß nichts zu tun. Warum sollten sie auch? Für sie sind nur sie selbst wichtig. Aber ich habe einen Auftrag. Ich kann nicht anders, als mich um die Ysteronen zu kümmern.« Er sah sich um. Aus den Augen des Katzers und der Zwillinge Sternfeuer und Federspiel leuchtete ihm Zustimmung entgegen. Brooklyn sah nachdenklich vor sich hin. Palo Bows Gesicht war um noch eine Nuance mürrischer geworden. »Du schlägst also vor, daß wir nach den Ysteronen forschen?« fragte er. »Ja. Und ich hoffe, daß du und Brooklyn meinen Vorschlag wohlwollend in Erwägung zieht.« Brooklyn setzte ein spöttisches Lächeln auf.
»Immer nur zu, Arkonide! Schmeichelei ist nicht die schlechteste aller Taktiken.« »Wir werden Schwierigkeiten bekommen«, brummte Palo Bow. »Die Leute sind nicht daran gewöhnt, mit dem Bruchstück eines Raumschiffs durch den Weltraum zu fahren, auf Planeten zu landen und mit fremden Völkern zu verhandeln.« »Hast du Anzeichen von Unruhe bemerkt?« erkundigte sich Atlan. »Bis jetzt noch nicht. Aber sie werden nicht lange auf sich warten lassen.« »Ich betrachte unser Unternehmen als eine Art Vorerkundung«, gab ihm Atlan zu bedenken. »Es gibt im Augenblick keinen erkennbaren Grund, warum es mehr als ein paar Tage in Anspruch nehmen sollte. Sobald wir die nötigen Informationen besitzen und einen Vorgehensplan entwickelt haben, kann die SOL uns folgen.« »Du glaubst, Chart Deccon läßt sich darauf ein?« fragte Brooklyn zweifelnd. »Ich rechne damit«, antwortete der Arkonide ernst. »Und, woher beziehen wir die Daten, die wir brauchen, um nach den Ysteronen zu suchen?« Atlan lächelte. »Von den Pluuh«, sagte er. »Ich bin sicher, daß unser Vorhaben ihre Zustimmung finden wird.« * Vor dreißig Stunden hatte die Solzelle‐2 den Planeten Worsian‐IV, den vierten Satelliten der gleichnamigen Sonne, verlassen. Worsian‐ IV war eine Industriewelt der friedliebenden, humanoiden Pluuh, deren Heimatplanet All‐Jasgard, der dritte Satellit der Sonne Worsian, war. Die Solzelle‐2 hatte eine gemischte Mannschaft an Bord: Solaner, Buhrlos, Angehörige der SOLAG, fünf zwergenhafte Molaaten, die
nach dem jüngsten Nickelraubzug der Ysteronen aus einem Asteroiden gerettet worden waren, den Puschyden Argan U, der sich inzwischen zu Atlans Vertrautem entwickelt hatte – und schließlich den Arkoniden selbst, der. keiner der genannten Kategorien angehörte, seine eigenen Pläne verfolgte und in den ersten acht Monaten seit seinem unerwarteten Auftauchen mehr Unruhe an Bord der SOL hervorgerufen und tiefergreifende Veränderungen bewirkt hatte als die Gesamtheit aller Ereignisse während der vergangenen rund zweihundert Jahre, seit das Generationenschiff sich selbständig gemacht hatte und auf die endlose Reise durch die Weite des Universums gegangen war. Auf Worsian‐IV war die Besatzung der Solzelle‐2 dem ersten Exemplar des Spezies Ysterone begegnet: Girgeltjoff, einem verwirrten und von Scham erfüllten Giganten mit vier Beinen, verkümmerten Armen und einer Körperhöhe von zwanzig Metern. Die Ereignisse auf Worsian‐IV waren turbulent gewesen. Girgeltjoff floh beim Anblick der Molaaten, weil er Augenzeuge gewesen war, wie deren Welt von seinen Artgenossen vernichtet wurde. Die Molaaten ihrerseits – mit Ausnahme der Rechenkünstlerin (Paramathematikerin war die offizielle Bezeichnung) Sanny – waren von brennendem, unstillbarem Haß gegenüber jedem Ysteronen beseelt. Es entspann sich eine Hetzjagd zwischen Atlan und einer Handvoll Begleiter auf der einen, vier Molaaten auf der anderen Seite. Girgeltjoff wurde schließlich unbeschädigt geborgen. Er erzählte die Geschichte, seines Lebens, die an das Herz eines jeden fühlenden Wesens rührte – auch an das der von Rachedurst besessenen Molaaten, die ihr unzivilisiertes Verhalten nun zutiefst bereuten. Für die friedliebenden Pluuh allerdings kam die Reue zu spät. Der Rat der Pluuh auf All‐Wasgard hatte bereits beschlossen, daß ein weiterer Kontakt mit derart rabiaten Intelligenzen nicht wünschenswert sei (der Einfachheit warf der Rat Molaaten, Solaner, SOLAGer, und was es sonst noch gab, alle in einen Topf) und die
Solzelle‐2 das Worsian‐System auf dem schnellsten Weg verlassen müsse. Als Abschiedsgeschenk hatten sie dem großen Raumschiff Girgeltjoff, den Ysteronen, mitgegeben. Girgeltjoff kampierte seitdem in einem evakuierten Hangarraum dicht unter der Oberfläche der Solzelle und wurde aufmerksam betreut von seinen Freunden: Argan U, Sanny und Bjo Breiskoll, dem Telepathen. Atlan hatte das Dilemma der Pluuh frühzeitig erkannt. Sie waren im Besitz einer Technologie, die der des terranischen 34. Jahrhunderts entsprach, und somit ohne Zweifel einer der größten Machtfaktoren in der Zwerggalaxis Flatterfeld, die in ihrer Sprache den Namen All‐Mohandot trug. Sie wußten um das üble Treiben der Ysteronen, dem Einhalt zu gebieten ihnen nicht hätte schwerfallen können – wenn nicht ihre fanatische Friedensliebe und ihr alle anderen Prinzipien zur Bedeutungslosigkeit verdammender Grundsatz der Gewaltlosigkeit gewesen wären. Die Pluuh hatten – so Baster Minn, einer der Tonangebenden auf Worsian‐IV – den Einflußbereich der Ysteronen mit einer angeblich undurchdringlichen Sperre nichtspezifizierter Konsistenz umgeben. Die Sperre existierte seit geraumer Zeit. Was von ihrer Undurchdringlichkeit zu halten war, wußte Atlan, der vor kurzem die Spuren des jüngsten Nickelraubzugs in der Sternenballung Bumerang mit eigenen Augen gesehen hatte, selbst am besten. Die Pluuh befanden sich in einem Dilemma. Das moralische Gesetz gebot ihnen, weniger entwickelten Völkern der Galaxis All‐ Mohandot gegen die barbarischen Züge der Ysteronen beizustehen – aber ihr übertriebener Hang zur Gewaltlosigkeit ließ ein solches Vorgehen nicht zu. Atlan vermutete, daß Girgeltjoff abgeschoben worden war, weil er die Pluuh ständig an ihre Hilflosigkeit in dieser Zwangslage erinnerte. Eine ähnliche Überlegung führte ihn zu dem Schluß, daß die Pluuh es wahrscheinlich gerne sähen, wenn jemand, der weniger von Skrupeln des fanatischen Pazifismus geplagt war als sie selbst, es übernähme, sich um das ysteronische Übel zu kümmern.
Auf dieser Schlußfolgerung beruhte seine Überzeugung, daß es nicht schwerfallen könne, von den Pluuh diejenigen Informationen zu erhalten, die er zur Fortführung seines Vorhabens brauchte. * Der Mikrocomputer, der den Hypersender steuerte, kannte die gängigen Frequenzen, die von der Raumfahrt der Pluuh verwendet wurden. Er kannte auch den pluuhischen Informationscode. Die Sendung, die Atlan ununterbrochen ausstrahlte, mußte auf All‐ Jasgard empfangen und verstanden werden, daran gab es keinen Zweifel. Aber die Pluuh ließen sich Zeit, auf seinen Anruf zu reagieren. Er war nicht allein in der kleinen Funkkabine. Sanny hockte neben ihm auf einem Tischchen, unmittelbar vor einem Videogerät, das an den Mikrocomputer angeschlossen war. Mit ihren 47 cm Körpergröße, dem grünen Pelz und dem haarlosen, kugelförmigen Schädel vermittelte sie den Eindruck einer possierlichen Zwergengestalt aus dem terranischen Märchen. Sie trug als einziges Kleidungsstück einen lockeren Umhang, der durch eine Spange auf der linken Schulter zusammengehalten wurde. Um den Leib hatte sie einen Gurt geschlungen, an dem eine Handvoll kleiner, lederner Beutel hingen. In diesen befanden sich ihre wichtigsten Habseligkeiten. Ihr Blick ruhte mit gespannter Aufmerksamkeit auf dem Arkoniden, der mit wachsender Ungeduld darauf wartete, daß auf dem Bildschirm vor ihm eine Reaktion der Pluuh materialisiere. Sanny hatte, seitdem sie mit ihren Artgenossen von einem Beiboot der SOL aufgeklaubt worden war, nicht nur Interkosmo, sondern auch die Bedienung solanischer Computer erlernt. Sie besaß die paranormale Fähigkeit überschnellen Rechnens. Sie behandelte mathematische Probleme in einem gesonderten Sektor ihres Bewußtseins und bediente sich dabei synoptischer
Betrachtungsweisen, die einem normalen Verstand nicht zur Verfügung standen. Ihre Rechengeschwindigkeit bei der Lösung numerischer Probleme übertraf selbst die größerer Computer. Sanny wartete auf die Daten, die der Arkonide von den Pluuh zu erhalten gedachte, um sich blitzschnell einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Atlan war fast bereit, den Kontaktversuch vorläufig aufzugeben, als plötzlich ein Muster bunter Linien über den Bildschirm huschte, sich stabilisierte und das Bild eines Pluuh formte, der sein Gegenüber mit unwilligem Blick musterte. »Man hat dir auf Worsian vier gesagt, daß wir keinen Kontakt mit euch wünschen, Fremder«, eröffnete er die Unterhaltung. »Die Hartnäckigkeit deines Versuchs, Verbindung mit uns aufzunehmen, beweist, daß wir die Rücksichtslosigkeit deiner Art richtig eingeschätzt haben.« Im Laufe seines zwölftausendjährigen Lebens hatte Atlan gelernt, seine Emotionen zu beherrschen und Geduld zu üben. Er war immun gegenüber Frechheit, Zudringlichkeit, Zorn, aufbrausender Spontaneität und mehreren Dutzend anderer Charakterzüge und Gemütsregungen, mit denen die Welt ihn hin und wieder konfrontierte. Aber ein Phänomen gab es, auf das er auch heute noch mit ungezügeltem Ärger reagierte: Arroganz. »Besser rücksichtslos und entschlossen als verweichlicht und verantwortungslos«, knurrte er den Pluuh an. »Mir liegt nichts an dem Kontakt mit dir. Aber du bist im Besitz von Informationen, die ich brauche, um eine Aufgabe zu lösen, um die eigentlich ihr euch kümmern solltet.« Der Pluuh hatte eine solch heftige Reaktion nicht erwartet. Die Pluuh waren, bei aller Selbstüberzogenheit, höfliche Geschöpfe. Ihre Friedensliebe bezog sich nicht nur auf Taten, sondern auch auf das gesprochene Wort. Er blinzelte verwirrt und brachte stockend hervor: »Das … ich sehe jetzt, warum Baster Minn … du bist der …«
»Bevor du mich beleidigst, sag mir deinen Namen!« fiel Atlan ihm ins Wort. »Lotir Pall«, antwortete der Pluuh, völlig überrumpelt. »Also schön, Lotir Pall. Du bist Mitglied des Rats der Pluuh?« »Wo‐woher weißt du das?« Atlan grinste spöttisch. »Nachdem ihr euch einmal entschlossen hattet, meinen Anruf entgegenzunehmen, würdet ihr gewiß nicht irgendeinen dahergelaufenen Pluuh an den Empfänger schicken. Im Übrigen habt ihr erwartet, daß ich versuchen werde, mit euch Verbindung aufzunehmen. Ihr kennt mich und wißt, daß ich keine halb vollendeten Sachen hinter mir lasse.« Lotir Pall schluckte. Er hatte dem selbstbewußten, kräftigen Auftreten des Arkoniden nichts entgegenzusetzen. »Was willst du von uns?« fragte er kleinlaut. »Du weißt es. Sag duʹs mir!« forderte Atlan ihn auf. »Nähere Angaben über den Einflußbereich der Ysteronen …« »Ich wußte, daß ihr nicht auf den Kopf gefallen seid«, bestätigte der Arkonide grimmig. * Sanny musterte die Daten, die so rasch über den Videoschirm glitten, daß das Auge ihnen kaum zu folgen vermochte. »Die Hülle eines Ellipsoids«, sagte sie gedankenverloren. »Ein Dutzend Lichtjahre lang, Maximaldurchmesser sieben Lichtjahre. Die Grenzen sind verwaschen …« »Woraus besteht die Hülle?« unterbrach sie Atlan. »Das geht aus den Daten nicht hervor. Wir werden es von einer der Wachstationen erfahren.« Die Verbindung mit Lotir Pall war längst getrennt. Nach anfänglicher Überraschung hatte der Pluuh sein seelisches Gleichgewicht schließlich wiedergewonnen und die Unterhaltung
mit Atlan auf das Notwendigste beschränkt. Er übermittelte die Daten des Sperrgürtels, mit der die Pluuh den Einflußbereich der Ysteronen umgeben hatten, und gab zu verstehen, daß die pluuhischen Wachpositionen in der Nähe des Gürtels angewiesen seien, die Solzelle‐2 passieren zu lassen und ihr den Durchtritt durch die Sperre nach Möglichkeit zu erleichtern. Mehr hatte Lotir Pall nicht sagen wollen. Man merkte ihm an, daß sein Unbehagen wuchs, je länger das Gespräch dauerte. Er war an das höfliche Wortgeplänkel gewöhnt, das Mitglieder seines Volkes miteinander austauschten. Die Unterhaltung mit einem, der genau wußte, was er wollte, und sich durch keine Floskel ablenken ließ, war mehr, als er vertragen konnte. »Der Ysteronen‐Sektor liegt auf der anderen Seite von Flatterfeld«, fuhr Sanny mit ihrer Auswertung fort. »Es wäre gut, wenn wir eine Projektion herstellen könnten …« »Du weißt, wie das geht«, ermunterte sie der Arkonide. Durch ein akustisches Kommando stellte die zierliche Molaatin eine Verbindung zum Bordcomputer her. Sie erteilte der Maschine spezifische Anweisungen, was sie zu sehen wünsche. Der kleine Raum wurde verdunkelt. Im Hintergrund entstand eine, dreidimensionale Darstellung des Randgebiets der Zwerggalaxis All‐Mohandot. Die Informationen, die das Bild enthielt, waren von der SOL beim Anflug auf Flatterfeld gesammelt worden. Die Darstellung war nicht vollständig. Sie enthielt nur Sterne von einer gewissen Leuchtstärke an aufwärts. Nahe dem Zentrum des Bildes fiel eine nur aus acht Mitgliedern bestehende Sternenballung auf, die in grellem Weißblau strahlte. Sanny nannte eine Reihe von Koordinaten. Der Computer reagierte, indem er in die Darstellung ein milchig leuchtendes Ellipsoid zeichnete, dessen Hülle durchsichtig war, so daß man die in ihm enthaltenen Sterne sehen konnte. Atlan fiel auf, daß eines der beiden Enden des Ellipsoids sich in unmittelbarer Nähe der kräftig leuchtenden Sternenballung befand.
»Dorther beziehen sie ihre Energie«, sagte Sanny. »Der Betrieb des Sperrgürtels erfordert eine ungeheure Leistung. Sie haben die acht blauen Giganten angezapft.« . Zwei blinkende, rote Punkte erschienen im Innern des milchigen Gebildes. »Die beiden Brennpunkte des Ellipsoids«, erklärte Sanny. Der weiter von der Sternenballung entfernte Brennpunkt war deckungsgleich mit einem Stern von bedeutender Leuchtkraft, der ebenfalls in bläulichem Weiß strahlte. »Das könnte …«, begann Sanny. Dann wischte sie mit der Hand durch die Luft und schüttelte nach solanischer Manier den Kopf. »Nein, das ergibt keinen Sinn.« Ein Leuchtzeiger erschien und bewegte sich nach ihrem Kommando. Er wies auf eine Stelle in der engen Passage zwischen dem Ellipsoid und der Gruppe von acht Sternen. »Dort irgendwo befindet sich ihre Zapfstation. Ich nehme an, daß sie weiter nichts tut, als Leistung von den acht Riesen aufzunehmen, sie umzuformen und weiterzubefördern. Die eigentliche Projektion des Sperrgürtels erfolgt an anderer Stelle. Die beiden Brennpunkte eines Ellipsoids sind Orte von besonderer geometrischer Bedeutung. Ich bin sicher, daß der Projektor sich an einem der beiden Fokusse befindet. Vorzugsweise an dem, der der Achtergruppe am nächsten liegt.« Der Leuchtpfeil zeigte auf einen der beiden blinkenden roten Punkte. »Warum aber hat der Gürtel die Form eines Ellipsoids? Von dem einen Brennpunkt läßt sich leicht auf den anderen einwirken …« Der Zeiger wanderte zum zweiten Fokus, dessen Ort identisch war mit dem des leuchtstarken Sterns. »Hidden‐X«, sagte Atlan plötzlich. Sanny sah ihn verwundert an. »Dort ist das Versteck der Ysteronen«, erklärte der Arkonide mit Nachdruck. »Unmittelbar am Ort des zweiten Brennpunkts!« »Ich stimme mit dir überein«, antwortete die Molaatin ernsthaft. »Es gibt keine plausiblere Erklärung. Wie nanntest du es?«
»Hidden‐X, das versteckte Unbekannte.« Sanny schmunzelte. »Du hattest schon immer einen Flair für das passende Wort.« 3. »Wir wissen nicht, woraus der Sperrgürtel besteht«, grollte Palo Bow. »Wir sind auf das Wohlwollen der Pluuh angewiesen, die uns gegenüber die Nase rümpfen, weil sie uns für Barbaren halten. Wir müssen damit rechnen, daß sie uns absichtlich in eine Falle laufen lassen. Wem gegenüber willst du ein solches Risiko verantworten?« Er sprach die letzten Sätze mit weithin hallender Stimme. An den Arbeitsplätzen und auf den Rängen der großen Kommandozentrale spitzte man die Ohren. Der Magnide wußte, wohin die Sehnsüchte seiner Mannschaft zielten. Er wollte von sich hören lassen, daß er mit den Plänen des Arkoniden nicht einverstanden war. Atlan durchschaute seine Taktik wohl; aber er hielt es für unter seiner Würde, lauter zu sprechen, als nötig war. Er hatte nur zwei Zuhörer: Palo Bow und Brooklyn. Sie saßen an der Konsole des Kommandanten, die auf einem Podest im Zentrum des kuppelförmigen Raumes stand. »Ein Risiko von der Größe, wie du es dir vorstellst, gibt es nicht«, antwortete er gelassen. »Die Pluuh lassen uns in keine Falle laufen. Sie sind selbst brennend daran interessiert, daß das Ysteronen‐ Problem gelöst wird. Sie halten nicht viel von uns, das gebe ich zu; aber insgeheim sind sie uns dankbar, daß wir für sie die Kastanien aus dem Feuer holen wollen.« »Es gibt Schwierigkeiten mit der Mannschaft«, warnte Brooklyn. »Ist das wieder nur eine Vermutung …« »Nein. Halbfuß hat sich an mich gewandt. Er drängt darauf, daß wir so schnell wie möglich zur SOL zurückkehren.« Das war ernst. Halbfuß war der Sprecher der Buhrlos an Bord der
Solzelle‐2. Seinen Namen verdankte er dem verkümmerten Wuchs seines linken Fußes. Die Buhrlos – Weltraummenschen, wie sie manchmal genannt wurden – waren im Grunde friedliche Naturen. Sie verlangten nichts weiter, als daß man sie allein ließ und ihnen in regelmäßigen Abständen Gelegenheit gab, Spaziergänge im Weltraum zu unternehmen, die sie ohne künstlichen Schutz absolvierten. Was Atlan Sorge bereitete, war der Umstand, daß die Buhrlos mehr noch als andere Gruppierungen innerhalb der SOL‐Besatzung das mächtige Generationenschiff als ihre gott‐ und naturgegebene Heimat betrachteten und mit einer fast religiösen Ergebenheit an ihm hingen. Die Buhrlos waren aus den Solanern durch eine Mutation, eine Laune der Natur hervorgegangen. Sie besaßen die Fähigkeit, sich ohne Schutz im Vakuum und der Eiseskälte des Weltalls zu bewegen. Aber dieser Vorzug war gleichzeitig eine schwere Hypothek. Die Buhrlos brauchten den Weltraum, um zu überleben. Sie würden sich niemals auf der Oberfläche eines Planeten niederlassen können. Daher erklärte sich ihre Anhänglichkeit an das Schiff. Von all denen, die an Bord der SOL lebten, waren es die Buhrlos, denen es am schwersten fiel, geistig zu verkraften, daß das große Raumschiff in drei Teile gespalten werden konnte, von denen jedes unabhängig und als autarkes Fahrzeug zu operieren vermochte. Das Wissen, daß die SOL in ihre Bestandteile zerlegt werden konnte, war lange verloren gewesen. Erst Atlan und die Ereignisse in der Nähe des Planeten Osath hatten es wieder ans Tageslicht gebracht. Der Arkonide verstand die Sorge und das Unbehagen der Buhrlos. Er sah aber auch, daß er einen Auftrag zu erfüllen hatte, von dem er sich durch mystische Überlegungen eines kleinen Teils der Gesamtbesatzung nicht ablenken lassen durfte. »Ich werde selbst mit Halbfuß sprechen«, erklärte er. »Falls ihr beide noch Zweifel an unserem weiteren Vorgehen habt, laßt uns Chart Deccon anrufen und um seinen Rat bitten.«
»Pah«, machte Palo Bow ärgerlich. »Das habe ich schon längst getan.« »Und was sagte er?« Der stämmige Magnide musterte ihn mit durchdringendem, aber nicht unfreundlichen Blick. »Im Interesse des großen Ganzen«, antwortete er grollend, »genau das waren seine Worte: im Interesse des großen Ganzen soll ich auf deine Vorschläge hören und mich nach ihnen richten.« Atlan grinste. »Soviel Entgegenkommen hatte ich von ihm nicht erwartet«, sagte er. »Also – warum sind wir nicht schon unterwegs?« * Auf dem Weg zu seinem Quartier hörte Atlan die üblichen Signale der Startvorbereitung. Glocken‐, Summ‐ und Pfeiftöne erfüllten die Korridore des Zentraldecks – akustische Wiedergaben der Impulse, mit denen sich die für die Kontrolle des großen Raumschiffs verantwortlichen positronischen Geräte untereinander verständigten. Kosmopsychologen hatten empfohlen, die Signale hörbar zu machen – damals, als die Planer langfristiger Raumfahrtunternehmen noch etwas von Kosmopsychologie verstanden. Der Vorschlag war implementiert worden. Der Wirrwarr elektronischer Klänge belebte den eintönigen Alltag der Besatzung, gab ihr das Gefühl, daß etwas Wichtiges im Gang war, und verlieh ihrer Tätigkeit Sinn und Ziel. Atlan sah auf die Uhr. Palo Bows Wache war vorüber. Er würde sich so rasch wie möglich aus der Kommandozentrale verziehen. Palo hielt nichts von einem weiteren Vorstoß in Richtung des ysteronischen Zentrums, daraus hatte er von Anfang an keinen Hehl gemacht. Er würde nicht dabei sein wollen, wenn die Solzelle‐2 sich in Richtung eines Ziels in Bewegung setzte, das er für das falsche
hielt. Wahrscheinlich hatte er Brooklyn das Kommando überlassen. Wie dachte Brooklyn über das Vorhaben? Wann immer die weitere Vorgehensweise diskutiert wurde, gab sie Warnungen von sich. Aber es war niemals klar geworden, ob sie Atlans Plan für grundsätzlich falsch oder nur wegen eben jener Schwierigkeiten für undurchführbar hielt. In Gedanken schob der Arkonide das unergiebige Thema beiseite. Es würden noch ein paar Jahre vergehen, bis er die Mentalität der Magniden soweit verstand, daß er sich ihre Motive erklären konnte. Im Augenblick bestand kein Anlaß zur Sorge. Sein Plan wurde von Chart Deccon unterstützt und es stand nicht zu befürchten, daß jemand aufzumucken wagte. Die Tür zu seinem Quartier öffnete sich, als der Sensor ihn erkannte. Er trat in einen hell erleuchteten Vorraum und sah den Eingang zur Aufenthaltszelle offenstehen. Eine Leuchte in der Wand zeichnete den Schatten einer stämmigen, breitschultrigen Gestalt auf den Boden. Atlan trat unter die offene Tür. »Halbfuß, du?« fragte er erstaunt. Der Buhrlo nickte – die Geste war Antwort und Gruß zugleich. Halbfuß war eine ungewöhnliche Erscheinung unter seinesgleichen. Die Weltraummenschen waren von Natur aus schlank, sogar dürr. Halbfuß dagegen verfügte über eine bedeutende Körperfülle. Er war muskulös und mit einem Stiernacken ausgestattet. Die dicke Buhrlo‐ Haut leuchtete in fast unnatürlichem Hellrot. Halbfuß verdankte seine Rolle als Sprecher der Buhrlos an Bord der Solzelle‐2 seiner Tatkraft, die wiederum einem durch keinerlei mystische Einflüsse getrübten Verhältnis zu der Wirklichkeit seiner Umwelt entsprang – einem Zug, den man an den eher träumerisch veranlagten Weltraummenschen nicht oft fand. »Ich habe mit dir zu reden«, erklärte Halbfuß knapp. »Du kommst meinem Wunsch entgegen«, antwortete der Arkonide. »Wir hören, daß die Zelle weiter ins Innere dieser Galaxis
vorstoßen soll, anstatt auf dem schnellsten Weg zum Mutterschiff zurückzukehren.« Atlan nickte. »Das ist richtig. Du hast die Signale gehört. Wir sind unterwegs.« »Ohne unsere Zustimmung!« sagte der Buhrlo zornig. Atlan lächelte. Er erwog für den Bruchteil einer Sekunde, dem Sprecher auseinanderzusetzen, daß die Mannschaft eines Raumschiffs kein demokratischer Verein sei, in dem alle Beschlüsse mit Mehrheit gefaßt werden müssen. Das Thema war gefährlich; die Philosophen mochten sich daran, die Zähne ausbeißen. Er beschloß, Halbfußʹ Bedenken auf andere Weise zu entkräften. »Ja, ohne eure Zustimmung«, gab er zu, »aber mit Erlaubnis des High Sideryt. Es geht um wichtige Dinge. Wenn du Zeit hast, will ich sie dir gerne erklären. Aber warum stellt ihr euch gegen mich? Was …« »Die SOL ist die Heimat!« fiel ihm Halbfuß ins Wort. »Die SOL wird uns in Kürze folgen«, versprach Atlan. »In der Zwischenzeit mangelt es euch an nichts. Wo immer die Sicherheit der Zelle es zuläßt, erhaltet ihr Gelegenheit zu Spaziergängen im Weltraum. Es fehlt euch nicht an Proviant, nicht an Möglichkeiten der Betätigung. Ich weiß, wie ihr gegenüber der SOL empfindet. Aber es bleibt mir nichts anderes übrig, als euch um diesen einen Gefallen zu bitten: gebt mir noch ein paar Tage Zeit!« »Wie lange?« fragte Halbfuß mürrisch. »Das weiß ich nicht. Die Lage, auf die wir zusteuern, ist undurchsichtig.« »Es können Wochen sein, nicht wahr?« »Unwahrscheinlich, aber im schlimmsten Fall denkbar.« Atlan sprach ernst und eindringlich. »Es kommt nicht darauf an, wie zuverlässig meine Vorhersagen sind, Halbfuß. Was als einziges zählt, ist, daß wir alle darauf bedacht sind, die Zelle und die SOL auf dem schnellstmöglichen Weg wieder zusammenzuführen.« Der Buhrlo musterte sein Gegenüber mit undurchdringlicher
Miene. »Wir sind rund fünfzehnhundert an Bord dieser Zelle«, sagte er. »Ich will unseren Leuten vortragen, was du gesagt hast. Wir werden sehen, wie sie darauf reagieren.« Er wandte sich um und schritt zur Tür hinaus. Atlan kam nicht einmal dazu, ihn zu fragen, wie er sich Eintritt verschafft hatte. Er gönnte sich eine Massage, die ihn teilweise entspannte, und hatte sodann die Absicht, ein paar Stunden zu ruhen. Aber der Schlaf floh ihn. Er mußte an Halbfuß denken, der sich so ohne alle Schwierigkeiten hatte abspeisen lassen. Es war alles viel zu leicht gewesen. Was hatte der Buhrlo wirklich gewollt? Die Müdigkeit übermannte ihn schließlich. Aber sein Schlaf war unruhig und voll unguter Ahnungen. * Das Erwachen war schmerzlich. Ein schriller, gellender Summton drang ihm ins schläfrige Bewußtsein. Er hörte eine Stimme, fuhr auf und sah Brooklyns aufgeregtes Gesicht auf der Videoscheibe an der gegenüberliegender Wand. Sie mußte die Notschaltung aktiviert haben. »… endlich aufwachst! Ich brauche deine Hilfe. Palo ist verschwunden.« Atlan stemmte sich in die Höhe. Er war im Begriff gewesen, die Alpträume abzuschütteln und in tiefen, ungestörten Schlaf zu versinken. Die Müdigkeit hielt ihn gepackt. »Langsam«, sagte er und hob abwehrend die Hand. »Und immer der Reihe nach. Wohin kann er schon verschwunden sein? Wir befinden uns an Bord eines Raumschiffs, nicht wahr?« »Er sollte vor einer Stunde die nächste Wache übernehmen«, sprudelte Brooklyn hervor. »Als er nicht auftauchte, rief ich sein Quartier an. Er meldete sich nicht. Ich ließ nach ihm suchen. Ich gab
einen Rundspruch aus. Keine Antwort. Ich sage dir, er ist verschwunden!« Mehr noch als die Worte, die er hörte, überzeugte ihn Brooklyns Miene, daß die Sache nicht auf die leichte Schulter genommen werden dürfe. Brooklyn war nicht eine, die aus nichtigem Anlaß in Panik geriet. »Ich komme«, brummte er. In der Zentrale herrschte der übliche Betrieb. Die Solzelle‐2 bewegte sich durch den Linearraum. Brooklyn hatte dafür gesorgt, daß die Neuigkeit vom Verschwinden Palo Bows nicht die Runde machte. Vorerst wußten nur die, die auf ihr Geheiß nach dem Magniden gesucht hatten, von dem eigenartigen Vorfall. Atlan hatte auf dem Weg hierher Gelegenheit gehabt, sich ein paar Gedanken zu machen. Er stieg die drei Stufen zur Schaltkonsole des Kommandanten hinauf. »Was Neues?« fragte er knapp. Brooklyn schüttelte den Kopf. »Nichts. Es ist, als hätte sich ein Loch aufgetan und ihn verschlungen.« Sie hatte Angst, das sah man ihr an. »Mach dir keine unnötigen Sorgen«, riet der Arkonide. »Die Sache wird sich vermutlich auf ganz harmlose Weise klären.« Er wußte, was sie beunruhigte. Die starre Kastengesellschaft der SOL war erst vor kurzem in Bewegung geraten. Unter dem Einfluß liberalisierender Kräfte hatten Solaner, Buhrlos, Bordmutanten (früher Monster genannt), ja sogar Extras begonnen, sich gegen die Allmacht der SOLAG aufzulehnen. Der Prozeß der Gärung hielt an. Es gab Dutzende, Hunderte von Wesen aus allen Abschnitten des sozialen Spektrums, die einen tiefen Groll gegen die Angehörigen der SOLAG mit sich herumtrugen – besonders gegen die Magniden, denen die hauptsächliche Verantwortung für die barbarischen Gebräuche der Vergangenheit zugeschoben wurde. Was lag näher, als daß ein Verbitterter sich Palo Bow gefaßt hatte, um ihn für
begangenes Unrecht zu bestrafen? So dachte Brooklyn. Atlan dagegen vermutete einen anderen Zusammenhang. Er machte es sich in einem Sessel neben der Kommandantin bequem. Als hätte er damit ein Stichwort gegeben, leuchtete im selben Augenblick die kleine Videofläche des Interkoms auf, und das Gesicht des Buhrlo‐Sprechers Halbfuß erschien. »Ich sehe, ich habe den Zeitpunkt richtig gewählt«, sagte er mit zufriedenem Lächeln. »Beide Hauptpersonen vor der Kamera! Da kann ich mein Anliegen …« »Höre, mein Freund«, fiel ihm der Arkonide ins Wort, »in letzter Zeit wirst du mir ein wenig zu frech. Erst dringst du in mein Quartier ein, obwohl dessen Eingang dreifach gesichert ist, und jetzt schaltest du dich ins Kommunikationsnetz des Kommandanten, das nur für Mitteilungen benützt werden darf, die mit der Kontrolle des Schiffs zu tun haben.« Halbfuß schien den Verweis eher als ein Lob zu betrachten. »In der Tat«, grinste er. »Wir haben einiges dazugelernt. Es haben sich uns ein paar Solaner angeschlossen, die sich auf Elektronik und Positronik verstehen.« »Was ihr tut, ist strafbar«, warnte Atlan. »Oh, du solltest erst hören, was wir sonst noch getan haben!« trumpfte Halbfuß auf. »Ihr habt Palo Bow gekidnappt« sagte der Arkonide gelassen. * Der Buhrlo riß die Augen auf. »Woher … woher weißt du das?« stieß er hervor. »Du bist so leicht zu lesen wie eine Schrift mit großen Buchstaben, Halbfuß«, antwortete Atlan ernst. »Du ließest dich zu leicht abspeisen. Du kamst nicht zu mir, um Zugeständnisse zu erwirken,
sondern um mich eine Zeitlang abzulenken – gerade lange genug, daß euch niemand in die Quere kommen konnte, während ihr Palo Bow entführtet.« Der Buhrlo gewann allmählich sein inneres Gleichgewicht wieder. »So ist es«, bestätigte er. »Und jetzt, da wir Palo haben, wird es dir schwer fallen, unsere Forderung abzuschlagen.« »Was ihr tut, ist Meuterei!« »Seiʹs drum!« brauste Halbfuß auf. »Ihr habt kein Recht, uns zu quälen, uns von der Heimat fernzuhalten …« »Schlimmer noch, Halbfuß: ich habe kein Vertrauen mehr zu dir.« Die unbeherrschte Wut flackerte aus den Augen des Buhrlos. »Ich pfeife auf dein Vertrauen!« schrie er. »Ich will heim! Wir alle wollen heim! Ich sage dir: du hast eine halbe Stunde Zeit, die Zelle auf den richtigen Kurs zu bringen.« »Und wenn ich mich weigere?« »Dann … dann erlebt Palo Bow ein Schicksal, für das du selbst die Verantwortung trägst!« »Das ist reizend«, antwortete der Arkonide mit beißendem Spott. »Ihr dreht ihm den Hals um, und ich bin dafür verantwortlich.« »Kein langes Gerede!« fuhr ihn der Buhrlo ungeduldig an. »Denk daran: eine halbe Stunde, mehr nicht.« »Du bist ein Narr, Halbfuß«, sagte Atlan ruhig. »Ich lasse mich von Meuterern nicht einschüchtern – zumal ich keine Garantie dafür habe, daß Palo Bow sich wirklich in eurer Gewalt befindet und daß ihr ihm noch keinen Schaden zugefügt habt.« Halbfuß wandte sich zur Seite und machte eine Handbewegung zum Hintergrund. Wenige Augenblicke später trat er beiseite, und an seiner Stelle erschien Palo Bow, mürrischer denn je. »Sie haben dich also wirklich«, lächelte Atlan. »Meinen Glückwunsch. Du befindest dich im Kreise derer, deren Anliegen du bisher unterstützt hast.« »Lumpen, Schufte!« grollte der Dunkelhäutige. »Sie gehören ausgestoßen, abgesetzt auf irgendeiner gottverlassenen Welt. Ich
sage dir, Atlan, wenn du …« Ein Wink des Arkoniden brachte ihn zum Schweigen. »Gib mir Halbfuß«, verlangte er. Der Buhrlo erschien von neuem auf der Bildfläche. »Ich sehe, daß es Palo gut geht«, sagte Atlan. »In eurem eigenen Interesse hoffe ich, daß sich sein Zustand in der nahen Zukunft nicht verschlechtert. Wenn zu der Anklage auf Meuterei noch eine solche auf Mißhandlung eines Magniden hinzukommt, seid ihr wirklich geliefert!« »Das werden wir sehen!« trotzte Halbfuß. »Du hast noch fünfundzwanzig Minuten.« »Soviel Zeit brauche ich nicht«, antwortete Atlan grob. »Mein Entschluß ist gefaßt. Die Solzelle‐zwei bleibt auf dem bisherigen Kurs!« Mit diesen Worten unterbrach er die Verbindung. * Brooklyns Entrüstung war verständlich. Sie bezichtigte Atlan der Unmenschlichkeit und gebärdete sich ganz entgegen ihrem sonstigen Bemühen, als die stets gefaßte Vertreterin des sensibleren Geschlechts zu erscheinen, so unbeherrscht, daß man ringsum in der Zentrale allmählich auf den Wortwechsel am Platz des Kommandanten aufmerksam wurde. »Du gefährdest deinen Ruf als Dame«, bemerkte Atlan sarkastisch. »Das ist mir gleichgültig«, zischte Brooklyn. »Palo befindet sich in Gefahr, und du …« »Die Gefahr bildest du dir nur ein«, unterbrach sie der Arkonide. »Es gibt keine friedliebenderen Geschöpfe als die Buhrlos. Die Verzweiflung hat sie zu dieser Tat getrieben; aber wenn sie erkennen, daß sie damit keinen Eindruck machen, werden sie sang‐ und klanglos aufgeben.«
»Andere Solaner haben sich mit ihnen verbündet!« beharrte die Magnidin. »Wer weiß, welchen Groll sie mit sich herumtragen. Mag sein, daß wir uns wegen der Buhrlos nicht zu sorgen brauchen. Aber die anderen …« »Schatten der Vergangenheit«, spottete Atlan. »Hättet ihr gerechter regiert, dann brauchtet ihr euch darüber nicht den Kopf zu zerbrechen.« »Hättet, hättet, hättet«, echote Brooklyn zornig. »Was nützt mirʹ dein verspäteter Rat?« »Halbfuß läßt sich das Heft nicht aus der Hand nehmen«, versuchte Atlan, sie zu beruhigen. »Er hat ein paar Solaner angeheuert, die ihm helfen, Riegel zu knacken und ein gesperrtes Kommunikationsnetz anzuzapfen. Aber er bleibt der Sprecher. Es geschieht nichts, was er nicht will.« Brooklyn schwieg schließlich. Sie war nach wie vor in größter Sorge, aber es waren ihr die Argumente ausgegangen, mit denen sie den Arkoniden zu ihrem Standpunkt hätte bekehren können. Die Minuten tropften träge dahin. Das große Schiff zog ruhig seine Bahn. Jede Sekunde brachte es um einen Viertellichtjahr seinem Ziel näher. Die Dreißig‐Minuten‐Grenze wurde überschritten. Wenige Augenblicke später leuchtete der Interkom‐Video von neuem auf. Halbfußʹ Gesicht zeigte Spuren der Verwirrung und der Bitterkeit. »Du gibst also nicht auf?« fragte er mit dem Verhandlungsgeschick eines Amateurdiplomaten. »Nein«, antwortete Atlan. »Um das herauszufinden, hättest du keine halbe Stunde zu warten brauchen.« »Also gut. Die Verantwortung für Palo Bows Schicksal liegt bei dir.« »Krümmʹ ihm auch nur ein Haar, und ich setze dich und deine Genossen eigenhändig auf dem nächsten Planeten aus!« Atlans Stimme hatte einen harten, unerbittlichen Klang angenommen. Der Buhrlo blinzelte. »Was für Zugeständnisse bist du sonst bereit zu machen?«
Atlan unterdrückte mit Mühe ein Schmunzeln. Als Erpresser hatte Halbfuß soviel Geschick wie ein Ochse beim Erzeugen von Nachwuchs. »Meuterern? Keine«, antwortete er kalt. »Du wirst es bereuen!« begehrte der Buhrlo. »Das wird sich weisen.« »Du weißt, wo wir sind?« »Ich habe keine Ahnung.« »Ich warne dich! Laß nicht nach uns forschen. Versuche nicht, uns zu zwingen.« Atlan winkte ab. »Hab keine Sorge. Ich habe Besseres zu tun, als mich um eine Schar von Narren zu kümmern.« Diesmal war es Halbfuß, der die Verbindung unterbrach. Die halb verwirrten, halb zornigen Züge seines Gesichts schienen noch eine Sekunde lang auf der Bildfläche zu zittern, bevor sie endgültig entmaterialisierten. * Zehn Minuten vergingen. In dieser Zeit legte die Solzelle‐2, umgerechnet auf die Sternenkarte des Normaluniversums, 150 Lichtjahre zurück. Der Auftauchpunkt war nicht mehr fern. Atlan hoffte, daß die Kidnapping‐Affäre bereinigt sein würde, bevor er seine Aufmerksamkeit auf die Kommunikation mit den Wachpositionen der Pluuh zu konzentrieren hatte. Palo Bows Eintritt vollzog sich nahezu unbemerkt. Er erschien unter der Öffnung eines kleinen Seitenschotts und bewegte sich gemessenen Schrittes auf das Podest des Kommandanten zu. Brooklyn wollte aufspringen, aber Atlan zog sie in ihren Sitz zurück. »Wir brauchen kein Aufsehen«, raunte er. Palo Bow überflog die Anzeigen auf der Konsole, als sei er gekommen um fahrplanmäßig seine Wache anzutreten.
»Ich weiß nicht, was ich zuerst tun soll« knurrte er dabei. »Euch für eure überwältigende Anteilnahme an meinen Schicksal danken, oder eure kaltblütige Hartnäckigkeit bewundern, mit der ihr Halbfuß in die Knie gezwungen habt.« »Ich hatte nichts damit zu tun!« versicherte Brooklyn voller Eifer. »Womit? Mit der Anteilnahme oder der Sturheit?« »Mit keinem von beidem«, antwortete Atlan. »Ich gestehe, daß ich Brooklyn während der vergangenen Dreiviertelstunde nicht habe zu Wort kommen lassen. Was für Beschwerden du auch immer haben magst – der Empfänger bin ich!« Palo Bow wandte sich ihm zu, und auf dem sonst so mürrischen Gesicht erschien ein anerkennendes Grinsen. Er streckte die Hand aus, die der Arkonide bereitwillig ergriff. »Wenn ich jemals wieder in eine Klemme gerate«, sagte der Magnide, »möchte ich dich als meinen Verbündeten im Hintergrund wissen.« »Es war riskant, Palo«, antwortete Atlan. »Aber ich glaubte keine Sekunde lang, daß ich die Lage falsch eingeschätzt hätte.« »Hattest du nicht«, schmunzelte Palo Bow. »Du hättest sehen sollen, wie sie sich krümmten und wandten, als du dich weigertest, auf ihre Forderung einzugehen. Sie sind Schlappschwänze …« Atlan hob die Hand. »Friedlich, nicht schlapp«, korrigierte er. »Die Buhrlos sind außerstande, einem anderen Wesen Gewalt anzutun – es sei denn, sie befinden sich selbst in größter Gefahr. Sei dankbar für das, was du Schlappheit nennst.« »Wie dem auch sei«, brummte der Magnide, »wir werden sie als Meuterer zur Verantwortung ziehen, nicht wahr?« Atlan lächelte. »Das kommt auf Halbfußʹ weiteres Verhalten an.« »Er hat sich mitsamt seinen Helfershelfern verkrochen«, lachte Palo Bow. »Vor Ablauf von drei oder vier Tagen wirst du ihn nicht zu sehen bekommen. Er mag ein Narr sein, aber er weiß, wann er sich blamiert hat.«
»Mit anderen Worten: er ist einsichtig«, interpretierte Atlan. »Es ist wahrscheinlich niemand damit gedient, wenn wir ihn als Meuterer verfolgen.« Palo Bow hatte eine heftige Erwiderung auf der Zunge. Aber in diesem Augenblick begann das hektische Summen und Klingen der elektronischen Signale von neuem. Auf den großen Bildschirmen erschien das flimmernde Sternenmeer der Galaxis All‐Mohandot. Die Solzelle‐2 hatte den Linearraum verlassen. Eine Sekunde später meldete sich aus dem Empfänger auf der Konsole des Kommandanten eine Robotstimme. »Wir werden angesprochen. Eine Hyperfunkmeldung im Informationscode der Pluuh liegt vor.« 4. Die komplexen Orteranlagen der Solzelle‐2 hatten zu spielen begonnen, sobald das Schiff aus dem Linearraum auftauchte. Die ersten Ergebnisse liefen auf den Empfängern der Konsole des Kommandanten ein. Die Aufmerksamkeit der Orter konzentrierte sich auf die Zone, in der sich nach den Angaben der Pluuh der Sperrgürtel befand, der den Wirkungsbereich der Ysteronen umgab. Noch wußte niemand, welcher Mittel sich die pluuhische Technologie bediente, um die nickelsüchtigen Giganten an der Verübung weiterer Untaten zu hindern. Niemand kannte die Konsistenz des Gürtels. Es war zweifelhaft, ob von den Wachstationen der Pluuh erschöpfende Auskunft erhalten werden könne. Atlan war fest entschlossen, die Solzelle‐2 erst dann weiter vorrücken zu lassen, wenn feststand, daß dem Schiff von der Sperrzone keine Gefahr drohte. Die Bildschirme zeigten weiter nichts als das Lichtermeer der Sterne. Wie immer in der Leere des Weltraums erwies sich auch hier die optische Beobachtung als die am wenigsten effektive Methode
der Informationsbeschaffung. Ohne daß ein einziges Wort gefallen war, hatte der Arkonide die Rolle des Kommandanten übernommen. Die Debatte über die meuternden Buhrlos war vergessen. Palo Bow und Brooklyn hatten ihre Sessel zur Seite gefahren, um Atlan den Platz an der Konsolenmitte zu überlassen. Die Magniden wußten sich die kosmonautische Erfahrung des Arkoniden zu schätzen. Es gab keine Diskussion darüber, wer in einer Lage wie dieser die Lenkung des Schiffes übernehmen solle. Die Orter registrierten sporadisch auftretende Schockwellen, die gravitomechanischer Natur waren. Räumliche Anordnung und zeitliche Aufeinanderfolge der Schocks gehorchten den Gesetzen der Statistik; aber der Bereich, innerhalb dessen sie auftraten, war identisch mit der Zone, die die Pluuh als den Standort des Sperrgürtels angegeben hatten. Atlan wandte sich in Brooklyns Richtung. »Bitte laß Sanny in die Zentrale kommen«, sagte er. Er nahm die gespeicherte Hyperfunkmeldung entgegen. Ein junger Pluuh blickte ihn von der Videofläche herauf an. Er bediente sich der Sprache seines Volkes; aber der zwischengeschaltete Translator übersetzte seine Worte. »Wachposition dreizehn an fremdes Raumschiff. Ihr nähert euch einer Zone, in der euer Fahrzeug vernichtet werden wird. Kehrt um und sucht einen anderen Weg. Es sei denn, ihr wäret das Schiff, das uns von Lotir Pall angekündigt wurde.« Der Rest der Meldung enthielt Daten, die sich auf die Kommunikationstechnik bezogen. Sie waren der Mikrocomputersteuerung des Hypersenders direkt zugespielt worden. Von Atlans Seite bedurfte es nur eines akustischen Befehls, um den Sender zu aktivieren. Das Bild flackerte ein wenig, stabilisierte sich und zeigte denselben Pluuh wie zuvor, jetzt jedoch live. »Ich kenne dich«, sagte er, als er den Arkoniden erblickte. »Du bist
Atlan. Bist du bereit, mit deinem Schiff in den Sperrgürtel einzudringen?« »Nicht ohne weiteres«, antwortete Atlan. »Ich benötige Informationen über die Wirkungsweise des Gürtels.« »Die kann ich dir nicht geben«, erklärte der Pluuh. »Selbst wenn ich wüßte, wie der Sperrmechanismus funktioniert, müßte ich darüber Stillschweigen bewahren. Es ist denkbar, daß Hyperfunkgespräche von den Ysteronen abgehört werden.« »Das wäre vergeudete Mühe von Seiten der Ysteronen«, sagte der Arkonide spöttisch. »Sie haben längst gelernt, wie man den Sperrgürtel durchdringt.« »Das glaube ich nicht«, erklärte der Pluuh mit eiserner Miene. Atlan unternahm keinen Versuch, ihn eines Besseren zu belehren. Die Pluuh litten, was die Isolierung der nickelplündernden Ysteronen anging, an einem Komplex. Sie hatten den Sperrgürtel errichtet, um weitere Nikkelraubzüge zu verhindern. Sie mußten daran glauben, daß der Gürtel diesen Zweck wirklich erfüllte; andernfalls wären sie gezwungen gewesen, sich ihr Versagen einzugestehen. Ihr Bewußtsein verdrängte alles, was darauf hinwies, daß der Gürtel für die Ysteronen kein undurchdringliches Hindernis mehr war. »Welche Garantie willst du mir geben«, fragte Atlan, »daß mein Schiff von den Kräften, die innerhalb der Sperrzone tätig sind, nicht beschädigt wird?« »Der Gürtel arbeitet nach einem bestimmten Rhythmus«, lautete die Antwort. »Längs eines Korridors, dessen Koordinaten dir soeben zugespielt werden, haben wir den Rhythmus so geändert, daß dein Fahrzeug, wenn es sich an eine bestimmte Geschwindigkeit hält, nicht gefährdet ist.« Der Arkonide überzeugte sich, daß die Koordinaten angekommen waren. Sie beschrieben nicht nur den Verlauf des Korridors, sondern legten auch die Geschwindigkeit der Solzelle‐2 relativ zu der pluuhischen Wachstation und den Zeitpunkt des Starts fest. Der
letztere war neunzig Minuten entfernt – Zeit genug, um zusätzliche Analysen anzustellen und die Lage noch einmal zu überdenken. »Wir haben festgestellt«, sagte er, »daß innerhalb des Sperrgürtels energiereiche Vorgänge in wahlloser Reihenfolge ablaufen. Gesetzt den Fall, sie haben mit der Wirkungsweise des Gürtels zu tun, wie soll dann allein eine Verlangsamung des Rhythmus mein Schiff vor Gefahr bewahren?« »Nicht absolut bewahren«, antwortete der junge Pluuh ungerührt. »Wir bieten keine Garantie. Wir verringern die Gefahr für dein Fahrzeug. Die Wahrscheinlichkeit, daß du die Sperrzone unbeschädigt durchquerst, beträgt achtundneunzig Prozent.« »Das ist kein akzeptabler Wert!« begehrte der Arkonide auf. »Mehr kann ich dir nicht bieten. Ich höre, der Vorstoß in den Kernbereich der Ysteronen ist deine Idee. Niemand zwingt dich dazu.« »Aber ihr seht gern, wie ich für euch die Kastanien aus dem Feuer hole, nicht wahr?« erwiderte Atlan sarkastisch. Die Bemerkung kam nicht an. Der Translator kannte das pluuhische Wort für »Kastanien« nicht, und das Bild stammte aus einer Vorstellungswelt, die den Pluuh fremd war. »Ich verstehe deine Worte nicht«, erklärte Atlans Gegenüber. »Spielt keine Rolle«, knurrte der Arkonide. »Wie komme ich wieder heraus?« »Es gibt eine Robotstation im Innern des Gürtels. Setz dich auf dieser Frequenz mit ihr in Verbindung. Sie schafft einen Korridor für den Ausflug. Du wirst nachweisen müssen, daß du keine Ysteronen beförderst.« »Ich habe schon jetzt einen Ysteronen an Bord!« »Girgeltjoff? Diese eine Ausnahme ist dir zugestanden.« Atlans Blick haftete noch lange auf dem Bildschirm, nachdem die Verbindung längst getrennt war. »Eines Tages«, brummte er, »werdet ihr für euren verdammten Hochmut teuer bezahlen müssen.«
Er schaute auf und sah Sanny, die von Palo Bow in die Höhe gehoben und auf die Kante der Konsole gesetzt worden war, »Sanny, wir stecken tief im Dreck«, bemerkte er philosophisch. »Wie tief, das möchte ich gerne von dir erfahren.« * »Aus den Koordinaten geht hervor, daß der Korridor vierzig Lichtminuten lang ist«, erklärte die Molaatin. »Wir sind angewiesen, ihn mit fünfundsiebzig Prozent Licht zu durchfliegen – macht dreiundfünfzig Minuten, minus relativische Effekte.« »Warum stoßen wir nicht im Linearflug vor?« erkundigte sich Brooklyn. »Weil es gefährlich ist«, antwortete Sanny ernst. »Ich habe mir die Orteraufzeichnungen angesehen. Die Pluuh arbeiten mit Hyperbarie‐Detonationen. Sie erzeugen in statistischer Folge kurzlebige, aber ungeheuer massive Schwarze Löcher. Die Idee ist offenbar, den gesamten Raum des Sperrgürtels mit Gravitationsfallen so zu verseuchen, daß kein vernünftiges Wesen je versuchen würde, die Zone zu durchfliegen. Durch die Hyperbarie‐ Entladungen wird das Raum‐Zeit‐Gefüge in unvorhersehbarer Weise verzerrt. Wie ich euren Linearantrieb verstehe, würden wir auf unkontrollierte Art und Weise aus dem Linearraum gerissen und Gott weiß wohin geschleudert.« »Nicht daß es uns dann noch etwas ausmachte«, spottete Atlan. »Wir wären hoffnungslos zerquetscht oder zerrissen. Den Andrücken, die bei solchen Vorgängen auftreten, ist der beste Antigrav nicht gewachsen.« Palo Bows Miene war undurchdringlich. »Ich möchte meine Meinung nicht schon wieder revidieren müssen«, sagte er. »Die Buhrlos haben mich endgültig davon überzeugt, daß du auf dem richtigen Weg bist. Aber wir dürfen die
Solzelle unter keinen Umständen riskieren. Wie schätzt du die Lage ein?« Atlan gönnte sich ein paar Sekunden des Nachdenkens. Dann antwortete er: »Ich gehe davon aus, daß die Pluuh von unserem Vorgehen zumindest eine Teillösung des Ysteronen‐Problems erwarten. Mit anderen Worten: sie werden alles tun, um uns den Weg zu ebnen. Ich glaube diesem jungen Laffen, wenn er sagt, er weiß nicht, wie der Sperrgürtel funktioniert. Infolgedessen hat er auch keine Ahnung, was unter der Verlangsamung der Rhythmusʹ zu verstehen ist. Ich nehme an, man hat ihm aufgetragen, uns zu erklären, daß eine sichere Passage durch den Gürtel nicht gewährleistet wird. Die achtundneunzig Prozent hat er sich vermutlich aus den Fingern gesogen. Die Wahrscheinlichkeit, daß wir heil auf der anderen Seite ankommen, liegt nach meiner Ansicht wesentlich näher bei eins.« Palo Bow nickte. »Du willst es also wagen?« »Ja.« Der dunkelhäutige Magnide wandte sich zur Seite. »Was ist deine Meinung, Brooklyn?« Ein kleines Lächeln erschien auf Brooklyns Gesicht. »Meine Meinung ist, daß ich überfragt bin«, antwortete sie. »Ich verstehe von der Materie zu wenig, als daß ich eine vernünftige Entscheidung treffen könnte. Ich verlasse mich auf den, der hier Bescheid weiß.« Atlan antwortete ihr mit einem dankbaren Blick. Wie unvorstellbar wäre es noch vor wenigen Monaten gewesen, daß eine Angehörige der regierenden Kaste der Magniden ihre Unkenntnis auf einem wie auch immer gearteten Sachgebiet offen eingestand! Die Zeiten hatten sich gewandelt. Zum Besseren, ging es ihm durch den Sinn. Durchaus zum Besseren. Er schlug mit der flachen Hand auf die Abdeckplatte der Konsole. »Dann ist es also abgemacht«, sagte er. »Wir stoßen vor!«
* Das mächtige Schiff schoß mit einer Geschwindigkeit von 225.000 km/sec durch die Tiefe des Raumes. Aber auf den großen Bildschirmen schien das Universum stillzustehen. Relativistische Effekte erzeugten ein gewisses Maß an Blauverschiebung im Licht der Sterne, die in Fahrtrichtung standen, während die Strahlung derer, von denen die Solzelle sich entfernte, einen Rotstich erhalten hatte. Das All war bunter geworden – weiter erzeugte die rasende Fahrt des großen Raumschiffs keinen Effekt. Achtzig Prozent der Orter beobachteten den Raum in Fahrtrichtung. Der Rest peilte seitwärts, nach oben und nach unten durch den von Gefahren erfüllten Bereich, der den pluuhischen Sperrgürtel darstellte. Hyperbarie‐Entladungen erschienen als grelle, kurzlebige Reflexe auf den Videoschirmen. Ringsum waren die Mechanismen des Sperrsystems unvermindert aktiv. In Flugrichtung der Solzelle‐2 jedoch herrschte Ruhe. Mit jeder verstreichenden Minute wuchs die Zuversicht derer, die sich um die Konsole des Kommandanten drängten und mit gespannter Aufmerksamkeit die vielfältigen Anzeigen der Instrumente verfolgten. Sanny war zur Statue erstarrt. Ihrem Blick entging keine Lichtmarke, kein Reflex, keine Nuance der elektronischen Summtöne. Der paramathematische Sektor ihres Bewußtseins verarbeitete Dutzende von Eindrücken zur gleichen Zeit. Ab und zu sah Atlan auf und musterte das angespannte Gesicht der zierlichen Molaatin. Solange Sanny sich nicht rührte, bestand keine Gefahr, sagte er sich. Eine der Uhren auf der Konsole war so kalibriert worden, daß sie den Ablauf der Zeit anzeigte, wie ihn ein Beobachter wahrnahm, der sich relativ zur Sperrzone in Ruhe befand. Die Solzelle würde ein wenig mehr als dreiundfünfzig Minuten brauchen, um den
gefährlichen Gürtel zu durchqueren. Es war interessant, zu bemerken, daß die übrigen Uhren in der Kommandozentrale nur mit zwei Dritteln der Geschwindigkeit des kalibrierten Chronometers liefen – auch dies ein relativistischer Effekt. Achtundvierzig Minuten waren verstrichen. Atlan musterte das Bild des gigantischen, weißblauen Sterns, der im zweiten Brennpunkt des Ellipsoids stand, das der Sperrgürtel beschrieb, und den er für den Sitz jener merkwürdigen Kraft hielt, die er Hidden‐X genannt hatte. Seine Gedanken waren dem augenblicklichen Geschehen weit voraus. Er versuchte sich auszumalen, wie er sich Hidden‐X nähern würde, welche Vorsichtsmaßnahmen zu beobachten seien und ob die Verteidigungsmechanismen der Solzelle‐2 ausreichten, das Schiff vor den Gefahren, die den zentralen Sitz der Ysteronen zweifellos umgaben, zu schützen. »Fünfzig Minuten«, sagte Brooklyn mit einem Seufzer der Erleichterung. Die flackernde Leuchterscheinung erschien wie aus dem Nichts. Von einer Sekunde zur andern stand sie riesig und drohend auf den Bugbildschirmen, ein rötlich leuchtender Mahlstrom, eine Spirale, ein wirbelnder Trichter. Die Orter reagierten im selben Augenblick. Alarmpfeifen geilten voll hysterischer Hast. Der Zentralcomputer aktivierte selbsttätig die Feldschirme der Solzelle. Aber seine Reaktion kam um den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Ein schwerer Schlag erschütterte das große Schiff. Ein hallender Klang wie von einer heftig geschlagenen Glocke erfüllte sekundenlang die Luft und ertränkte alle anderen Geräusche. Eine unwiderstehliche Macht hob Atlan aus seinem Sessel und preßte ihn gegen die Sitzgurte. Die Beleuchtung flackerte. Aus der Tiefe des Schiffskörpers drang ein schauriges Geheul, als die Batterie der schweren Antigravaggregate sich mühte, des unerwarteten Andrucks Herr zu werden und dabei mehr als die Hälfte des Ausstoßes sämtlicher Kraftwerke verzehrte. Der Arkonide, durch den plötzlichen Ruck nach vorne
geschleudert, hatte die Arme ausgestreckt und im letzten Augenblick Sanny ergriffen, die schutzlos auf der Kante der Konsole kauerte. Eine Zehntelsekunde später, und sie wäre wie ein Geschoß quer durch das Rund der Zentrale geschleudert worden. Er barg die Molaatin an seiner Schulter. Er spürte das Zittern ihres Körpers und redete ihr mit unzusammenhängenden Worten beruhigend zu. Der Spuk dauerte nicht länger als eine halbe Minute. Die düsterrote Erscheinung auf den Bildschirmen erlosch, die Beleuchtung stabilisierte sich, die Alarmpfeifen hörten auf zu gellen. Auf der Konsole liefen die ersten Schadensmeldungen ein. Atlan warf einen raschen Blick auf die Uhr. Noch eine Minute, und der Durchstoß durch die Sperrzone war vollzogen. Sanny kletterte an seiner Montur herab. Mißtrauisch äugte sie in Richtung der Videogeräte. »Es tut mir leid«, sagte sie mit heller Stimme. »Ich kann schnell rechnen; aber eine Prophetin bin ich nicht. Das Ding kam völlig unerwartet, nicht wahr?« Atlan nickte. »Und Gott sei Dank nicht nahe genug, um ernsthaften Schaden anzurichten. Das waren die achtundneunzig Prozent, von denen der Pluuh sprach. Die restlichen zwei hätten uns um ein Haar erwischt.« Die Schadensmeldungen waren belanglos. Die Solzelle‐2 hatte die Erschütterung ohne nennenswerte nachhaltige Wirkung überstanden. In der Mehrzahl der Fälle hatten die Selbstreparaturmechanismen die Schäden bereits behoben. Am schlimmsten hatte es noch Palo Bow mitgenommen. Er empfand, wenn er in seinem Sessel saß, den Schultergurt als lästig und hatte einen (vorschriftswidrigen) Trick entwickelt, ihn nicht anlegen zu müssen. Als der Ruck ihn nach vorne riß, war er mit der Stirn gegen die Kante der Konsole geschlagen und hatte sich eine Platzwunde zugezogen. Brooklyn alarmierte die nächste Medostation. Wenige Sekunden später erschien ein Roboter und versorgte den Magniden. In der Zwischenzeit hatte das Schiff die gefährliche Zone
endgültig hinter sich gelassen. Gemäß der vorgegebenen Programmierung führte der Autopilot einen Linearsprung von drei Lichtmonaten Weite durch und bremste das Fahrzeug danach ab, bis es relativ zum Innern der Sperrzone zur Ruhe kam. Von dieser Position aus wollte Atlan den Zentralbereich der Ysteronen mit Hilfe fernwirkender Instrumente erforschen, bevor er einen Entschluß bezüglich des weiteren Vorgehens traf. Binnen einer Stunde waren auch die letzten Schäden an Bord der Solzelle behoben, die Spuren der gefährlichen Begegnung mit der Hyperbarie‐Entladung völlig getilgt. Palo Bow, die häßliche Stirnwunde durch ein Stück synthetischer Haut verschlossen, nahm den Hyperkom in Betrieb und peilte die SOL an. Nach einigen Minuten vergeblichen Hantierens, wobei seine akustischen Befehle immer schroffer und ungeduldiger klagen, wandte er sich erstaunt und ein wenig entrüstet an den Arkoniden. »Die SOL meldet sich nicht«, konstatierte er. Atlan, der seine erfolglosen Bemühungen mit zunehmender Erheiterung verfolgt hatte, unterdrückte ein spöttisches Lächeln. »Das war zu erwarten«, sagte er. »Wenn die Hyperbarie‐ Entladungen im Sperrgürtel Raumschiffe aus dem Linearraum reißen, dann lassen sie auch keine Hyperfunksignale durch. Wenigstens nicht ohne weiteres.« »Du meinst, wir sind von der SOL abgeschnitten?« fragte Palo Bow verblüfft. »Für den Augenblick, ja.« »Das gibt Unruhe!« prophezeite der Magnide düster. »Es besteht kein Grund, die Sache an die große Glocke zu hängen«, hielt ihm Atlan entgegen. Bevor Palo Bow darauf antworten konnte, meldete sich der Interkom. Atlan schaltete den Empfänger ein und blickte in Bjo Breiskolls aufgeregtes Gesicht. »Strahlung«, sagte der Mutant übergangslos. »Ich empfange Strahlung von einer Art, die mir bekannt vorkommt. Sie erinnert
mich an die Signale, die von dem Nickelbrocken ausgingen, den wir in der ysteronischen Robotstation in Bumerang an uns nahmen.« Der Arkonide horchte auf. »Kannst du feststellen, woher sie kommt?« wollte er wissen. »Ich habe mich noch nicht darum kümmern können«, antwortete der Katzer. »Zuerst wollte ich dich informieren.« Atlan nickte. »Es ist wichtig, zu erfahren, von welchem Punkt die Strahlung ausgeht.« Der Bildschirm erlosch. Atlan sah vor sich hin. Die Dinge gerieten allmählich in Bewegung. Die erste Spur war gefunden. Es hätte ihn nicht überrascht, zu erfahren, daß die Impulse von demselben Ort kamen, den er als den Sitz des Hidden‐X bezeichnet hatte. 5. Girgeltjoffs zweiter Bericht »Ich war mitten unter der Menge auf dem Khadsch, als die Expedition zurückkehrte. Seit Stunden dröhnten durch alle Straßen und in allen Zellen die Nachrichten von der erfolgreichen Mission der Metallsucher. Sie hatten unermeßliche Beute gemacht, und jedermann war aufgefordert, sie in gebührender Weise zu begrüßen. Allein die Klugheit erforderte es, daß ich mich auf dem Khadsch einfand. Die Bevorzugten beobachteten mich aufmerksam. Ich durfte mir nicht anmerken lassen, daß ich bezüglich der Metallexpeditionen grundsätzlich und zu allen Zeiten so empfand wie die Teilnehmer der Expedition selbst, sobald die Scham sie überkam. Die Metallsucher hatten ihre Beute irgendwo deponiert. Als sie aus dem finsteren Tunnel auf der gegenüberliegenden Seite des Khadsch auftauchten, waren ihre Schritte von keiner Last mehr gehemmt. Sie fuchtelten mit den kurzen Armen, und aus ihren Augen strahlte der Glanz des Sieges. Die nach Tausenden zählende
Menge begrüßte sie mit einem Aufschrei der den Boden und die Wände zittern machte. Die Menge schwärmte aus und nahm die siegreichen Sucher in die Mitte. Der Khadsch füllte sich mit wildem, turbulentem Geschrei. Ich kam mir verloren vor. Man stieß mich hin und her. Ich schrie und jubelte, weil das von mir erwartet wurde. Aber hätte sich jemand die Mühe gemacht, mir ins Gesicht zu sehen, wäre ihm offenbar geworden, daß ich keinen Anteil an der allgemeinen Begeisterung hatte. Im allgemeinen Trubel prallte ich mit einem Ysteronen zusammen, der die Arme hoch erhoben hatte und aus voller Lunge unzusammenhängende Worte schrie. Seine Augen waren blutunterlaufen. Ich erkannte ihn kaum wieder: Verjangat, meinen Freund. Er war so in Fahrt, daß er mich fast über den Haufen gerannt hätte. Im letzten Augenblick bemerkte er sein Ungeschick und streckte die Hände aus, um mich vor dem Sturz zu bewahren. Er erkannte mich. ,Girgeltjoff, mein junger Freund!ʹ brüllte er. ,Ich … ich bin froh, daß du siegreich und unversehrt zurückgekehrt bistʹ, stammelte ich. ,Siegreich? Und wie! Unversehrt? Es bestand nie auch nur die geringste Gefahr. Wir haben sie auseinandergenommen, eine nach der anderen. Unsere Beute ist unendlich!ʹ So sprachen sie immer. Verjangats Expedition war die erste, deren Rückkehr ich mit eigenen Augen erlebte. Aber ich hatte von anderen gehört. Stets wurde die Beute als unvergleichlich, als unermeßlich, als unendlich bezeichnet. Und stets erklang wenige Wochen später der Ruf nach einer neuen Expedition. Mein Volk wußte nicht mehr, wenn es um das Metall ging, was die Worte unermeßlich und unendlich bedeuteten. Sein Verstand war verwirrt. Verjangat hatte mir die Arme auf die Schultern gelegt. ,Jemand hat von einer großen Feier gesprochen, die unseretwillen veranstaltet wirdʹ, schrie er mir ins Ohr, um sich über den Lärm der
Menge hinweg verständlich zu machen. ,Du mußt mit dabei sein. Du bist mein Ehrengast!ʹ ,Ich kommeʹ, sagte ich und machte dabei die Geste der Zustimmung; denn meine Stimme war vor lauter Trauer so schwach, daß er sie im Tumult nicht hören konnte. Was hätte ich auch anderes sagen sollen? Mir lag nichts an der Feier. Ich wußte von dem, was ich gelernt hatte, wie rasch der Freudentaumel in das Trauma der Scham umschlug. Aber es war eine Ehre, von einem der Metallsucher zur Feier eingeladen zu werden. Die Augen und Ohren der Bevorzugten waren überall. Man hätte es mir übel angekreidet, wenn ich Verjangats Aufforderung nicht gefolgt wäre.« * »Ich hatte noch keine solche Feier erlebt, und wenn ich ehrlich sein soll, dann muß ich sagen: ich würde mir eher den Zorn der Bevorzugten zuziehen, als an einer weiteren teilzunehmen. Ein wahrer Berg aus Metall war in der Mitte des Khadsch errichtet worden – ein winziger Bruchteil dessen, so wurde gesagt, was die Sucher von ihrer Expedition mitgebracht hatten. Das Volk tanzte um das glitzernde Gebilde und sang Lieder, die um so wüster wurden, je mehr Essen und Trinken verteilt wurden. Mit Verjangat sprach ich während der Feier kein einziges Wort. Er sah mich und nickte mir zu. Ansonsten war er viel zu beschäftigt, zu schreien, zu grölen und sich mit den Weibern zu beschäftigen, die sich ihm, dem Metallhelden, entgegenwarfen, als daß er sich um seinen Ehrengast hätte kümmern können. Um meinen Kummer zu vergessen, trank und grölte auch ich, bis mir übel wurde. Ich fand mich bei Anbruch der nächsten Tagesperiode in meiner Zelle wieder. Irgendeine mitleidige Seele mußte mich hierhergeschleppt haben. Ich sah Spuren von Unrat auf dem Boden meines Wohnraums. Man hatte aufgeräumt und war
dabei nicht besonders sorgfältig verfahren. Verjangat bekam ich erst ein paar Tage später wieder zu sehen. Er besuchte mich. Seine Miene war schwer zu deuten. Er wirkte wie einer, der ursprünglich etwas Wichtiges im Sinn gehabt hatte, jedoch nicht mehr wußte, was es war. ,Es war eine herrliche Feierʹ, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel und ich das Gefühl hatte, ich müsse ihm irgendein Kompliment über das Fest machen, zu dem er mich eingeladen hatte. ,Ja, das war sieʹ, antwortete er, und sein Gesicht erhellte sich ein wenig. ›So etwas müßte öfter geschehen.‹ Es geschieht oft genug, dachte ich. Aber laut brachte ich nur hervor: ,Nun, wenn das nächste Mal eine siegreiche Metallexpedition zurückkehrt, wird es wieder eine Feier geben.ʹ Er fuhr herum und starrte mich an, als wolle er mich mit seinen Blicken durchbohren. ,Eine Metallexpedition? Wovon sprichst du?ʹ stieß er hervor. Ich erkannte daß ich einen Fehler gemacht hatte. Aber jetzt war es zu spät für einen Rückzieher. ,Die siegreichen Metallsucher werden gefeiertʹ, sagte ich. ,Du warst einer von ihnen. Erinnerst du dich nicht?ʹ Eine erschreckende Veränderung vollzog sich an ihm. Sein Gesicht wurde zu einer Grimasse. Die Augen sprühten zorniges Feuer. Er hob die Arme und ballte die Fäuste. .Bist du wahnsinnig? Ich, ein Metallsucher? Was ist ein Metallsucher?ʹ Die Metamorphose hatte begonnen. Die Siegreichen wurden zu Unwissenden, die Unwissenden zu Schamerfüllten. Ich hatte den Vorgang noch nie als Augenzeuge erlebt; aber ich wußte, wie er sich abspielte. Ich zog mich ein paar Schritte zurück, damit ich im Notfall in den Nebenraum fliehen konnte. Aus dieser sicheren Position sagte ich: ,Du hast an der letzten Metallexpedition teilgenommen. Du versuchst, die Erinnerung zu verdrängen, weil sie Scham in deinem Bewußtsein auslöst. Du weißt so gut wie ich, daß die Erinnerung
sich nicht auf Dauer beiseite schieben läßt. Wir alle haben das gelernt. Du warst dabei, als ein halbes Dutzend Welten vernichtet wurde, nur damit uns Ysteronen das Metall nicht ausging.ʹ Er stand ein paar Sekunden lang starr wie eine Säule. Dann stieß er einen ächzenden Wehlaut aus, schlug die Hände vors Gesicht und sank gegen die Wand. ,Ich bin ein Schandbarer!ʹ stieß er hervor. ,Ich habe geholfen, die Welten anderen Wesen zu zerstören! Ich bin ein Barbar! Wie kann ich …ʹ Der Rest waren unverständliche, klagende Laute, die Verjangat in rascher, hysterischer Folge von sich gab, bis ihm schließlich die Kraft ausging. Als er schließlich die Hände vom Gesicht nahm, sah er aus wie einer, der soeben eine Vision seines eigenen Todes erlebt hatte. Er sah mich nicht. Er starrte blicklos vor sich hin. Seine Lippen bewegten sich tonlos. Plötzlich warf er sich herum und stürmte auf den Ausgang zu. Als er sich durch die Tür zwängte, die bei seiner ungestümen Eile noch nicht Zeit gehabt hatte, sich weit genug zu öffnen, hörte ich ihn stöhnen: ,Tantar! Tantar! Die Tantrik müssen her!ʹ So kam es, wie es immer gekommen war. Die siegreiche Expedition kehrte an den Ort ihrer Schandtat zurück – nicht sofort, oh nein; Verjangat hatte die richtige Idee, aber er hatte sie viel zu früh; die anderen mußten erst mit der Eruption des Schamgefühls wenigstens soweit fertig werden, daß sie wieder einigermaßen klar denken konnten – die siegreiche Expedition kehrte also zurück und installierte mehrere Tantrik. Deren Aufgabe war, jede ungewöhnliche Bewegung im weiten Umkreis zu registrieren und entsprechende Meldungen zum Ysterioon zu funken. Trafen keine oder nur belanglose Meldungen ein, so waren die Ysteronen gewiß, daß ihre Barbarei von niemand entdeckt worden war. Meldeten die Tantrik aber die Annäherung fremder Intelligenzen, dann brach, wie ich mir hatte sagen lassen, im Ysterioon
vorübergehend die Panik aus. Die Tantrik waren darauf programmiert, die Fremden zu verscheuchen. Falls das nicht gelang, hatten sie die Aufgabe, sie anzugreifen und zu vernichten. Für diese Aufgabe waren die Tantrik mit einer Beweglichkeit ausgestattet, die der eines Raumschiffs in nichts nachstand. Erst wenn feststand, daß die neugierigen Fremden entweder verjagt worden waren oder den Untergang gefunden hatten, so daß sie auf ihrer Heimatwelt nicht über die Schandtat der Metallsucher berichten konnten, kehrte bei uns wieder Ruhe ein. Diesmal schwiegen die Tantrik – das heißt: in weit gespannten Intervallen meldeten sie, daß sich in dem von ihnen überwachten Raumsektor keine ungewöhnliche Aktivität abspielte. Die von der Scham Gejagten beruhigten sich allmählich. Bald würde in einem anderen Sektor des Ysterioons der Metallrausch eine andere Gruppe von Ysteronen in seinem Bann schlagen und bewirken, daß eine weitere Expedition durch einen finsteren Tunnel hinaus in die Weite des Alls aufbrach, um Welten zu zerstören und das lebenswichtige Metall zu bergen. Ich traf Verjangat etliche Tage später. Er wirkte normal. ,Es ist alles in Ordnungʹ, sagte er fröhlich. ›Es weiß niemand von unserer letzten Aktion.‹ Wenn ihr soviel Angst habt, daß jemand davon erjährt, dachte ich, warum tut ihr solche Dinge? Ich glaube, ich werde die Antwort auf diese Frage niemals finden. Es ist alles viel zu verwirrend. Aber wer mag sich darüber verwundern? Wer bin ich denn?« Girgeltjoff, der Nichtswisser. 6. »So hat erʹs gesagt, und nicht anders«, erklärte Argan U mit Nachdruck. Der Puschyde war ein possierliches Geschöpf. Seine Gestalt
gemahnte an die eines Koala‐Bären; aber sein Fell bestand in Wirklichkeit aus Schuppen von orangeroter Farbe. Er hatte große Augen und eine Art, sein Gegenüber anzusehen, die einen vorschnellen Beobachter zu der Meinung veranlassen mochte, er sei einfältig. Auch Atlan hatte so empfunden, als er Argan U kurz nach seiner Ankunft auf der SOL zum ersten Mal begegnete. Inzwischen war er zu der Ansicht gelangt, daß in dem Puschyden weitaus mehr Intelligenz steckte, als man ihm auf den ersten Blick zugestehen wollte. Argan U hatte sein Destilliergerät, aus dem er seine zuckrige Flüssigkeit bezog, auf Worsian‐IV verloren, als er es auf einen schneebedeckten Berghang hinabschleuderte und somit eine Lawine auslöste, die Girgeltjoff das Leben rettete. Eine Zeitlang war er über diesen Verlust – ungeachtet des Guten, das er damit bewirkt hatte – recht unglücklich gewesen. Inzwischen hatte sich jedoch Breckcrown Hayes, der Chefpilot, bereit gefunden, ihm einen neuen Destillator zu bauen, Argan U trug das glitzernde, funkelnagelneue Gerät voller Stolz an einem langen Band um die Schulter. Seine Worte galten Atlan und Bjo Breiskoll, die sich in seinem Quartier eingefunden hatten, um seinen Bericht zu hören. Er hatte Girgeltjoffs Worte behutsam aufgezeichnet, so daß seine Versicherung eigentlich überflüssig war. Wessen Worte hätten es sonst sein sollen? »Hast du ihn nach dem Ysterioon gefragt?« erkundigte sich der Arkonide. »Es ist wichtig, daß wir erfahren, was das ist. Ein Planet?« »Ich habe ihn gefragt«, antwortete Argan U. »Er weiß nicht viel darüber. Das Ysterioon besteht aus einer Vielzahl von Zonen und Zellen, die vielen Tausenden von Ysteronen als Wohnstatt dienen. Girgeltjoff weiß nicht, wie groß sein Volk ist. Er spricht von Tausenden, aber es können ebensogut Millionen sein. Er kennt nur ganz wenige der Zonen. Nach seiner Schilderung ist das Ysterioon riesig; aber ich weiß nicht, wie man das deuten soll. Der Weg von einer Zone oder Zelle zur anderen führt durch mächtige Kanäle. Die
Kanäle verlaufen, soweit er sich erinnert, geradlinig. Auch die Straßen im Innern der Zonen haben durchweg einen geraden Verlauf.« Atlan nickte. »Ein künstliches Gebilde«, sagte er. »Die Heimat der Ysteronen ist kein Planet, sondern eine Struktur, die entweder von ihnen selbst oder von jemand anderem für sie erschaffen wurde.« Sein fragender Blick ruhte auf Bjo Breiskoll, als erwarte er von dem Katzer eine Bestätigung seiner Hypothese. Aber Bjo starrte gedankenverloren vor sich hin. »Girgeltjoff spricht von einer Tabu‐Zone irgendwo im Innern des Ysterioons«, fuhr Argan U fort. »Er hat gehört, daß niemand sie betreten darf. Angeblich darf sich ein Ysterone nicht einmal in Gedanken jemals mit der Tabu‐Zone befassen.« Atlan horchte auf. »Woher hat er diese Kenntnis?« »Er hat eine gewisse Ausbildung genossen«, antwortete der Puschyde. »Von wem oder auf welche Weise, darüber läßt er sich nicht aus. Aber er weiß vieles, ohne es mit eigenen Augen gesehen zu haben. Allerdings traut er seinem Wissen nicht. Er ist verwirrt und leidet an einer Art Minderwertigkeitskomplex. Du merkst es daran, daß er von sich selbst immer wieder als von Girgeltjoff, dem Nichtswisser, spricht.« »Eine fremde Macht«, sagte Bjo Breiskoll plötzlich. Atlan wandte sich ihm zu. »Was ist mit der fremden Macht?« »Die Ysteronen glauben, ohne Nikkel nicht leben zu können«, erklärte der Mutant. »Ich weiß nicht, ob man Girgeltjoffs Beispiel verallgemeinern kann; aber ich bin fast sicher, daß seine Artgenossen ebenso leicht ohne das Metall auskämen wie er. Die Nikkelsucht wird ihnen aufgedrängt. Die fremde Macht – Hidden‐X meinetwegen – braucht das Metall für irgendeinen Zweck und ist auf diese Methode verfallen, es sich zu verschaffen.« »Das ist eine ziemlich ausgefallene Idee«, bemerkte Atlan. »Aber nicht ohne Parallele!« hielt ihm der Katzer entgegen. Und
als der Arkonide ihn erstaunt musterte, fuhr er fort: »Hidden‐X und Ysteronen mit manipuliertem Bewußtsein. Sind wir einer solchen Kombination nicht schon einmal begegnet? Fühlten sich nicht auch die Roxharen zu etwas berufen, und stand nicht auch hinter ihnen eine Undefinierte Macht, die sie den Geistigen Faktor nannten?« Atlan antwortete nicht sofort. Sein Extrasinn hatte sich gemeldet. Natürlich hat er recht, sagte er. Die Analogie hätte auch dir auffallen müssen! »Die Roxharen hatten die Aufgabe, eine technologiefreie Zone zu schaffen«, meinte er nachdenklich. »Wir sehen in ihrem Bemühen das Wirken einer feindlichen Superintelligenz, die bestrebt ist, in ihrem Vorfeld keine Zivilisation von Bedeutung aufkommen zu lassen. Was aber sollen die Ysteronen bewirken? Wozu braucht Hidden‐X das Nickel?« »Das wissen wir nicht«, antwortete Bjo. »Aber wenn wir uns das Ysterioon aus der Nähe ansehen, werden wir es womöglich erfahren.« »Du hältst das Ysterioon für den Sitz des Hidden‐X?« »Ja. Was sonst hätte die Tabu‐Zone zu bedeuten, von der Girgeltjoff sprach?« Atlan starrte vor sich hin. Eine völlig neue Perspektive hatte sich plötzlich aufgetan. Es bestand eine Ähnlichkeit zwischen den modi operandi des Geistigen Faktors und des Hidden‐X. Aber war die Idee wirklich neu? Hatte er nicht von allem Anfang an empfunden, daß der Auftrag der Kosmokraten die Befriedung der Ysteronen mit einschloß? War er nicht von der ersten Sekunde an entschlossen gewesen, dem Wirken der geheimnisvollen fremden Macht in der Kleingalaxis Flatterfeld ebenso entgegenzutreten, wie er es im Raumsektor Chail getan hatte? Nein, die Idee war nicht neu. Nur das Bild, das ihm zur Orientierung diente, wurde von Stunde zu Stunde deutlicher. Es gab nur ein Ziel, das die Solzelle‐2 in dieser Stunde sinnvollerweise verfolgen konnte.
Das Ysterioon mußte gefunden werden! * Seine Entschlossenheit wurde jedoch längst nicht von allen geteilt. Das stellte er fest, als er sich zur Kommandozentrale begab, um mit Brooklyn und Palo Bow die als nächstes zu unternehmenden Schritte zu besprechen. Brooklyn hörte ihm höflich zu, als er darlegte, was zwischen ihm, Bjo Breiskoll und Argan U soeben diskutiert worden war. Aber Palo Bow brachte es nicht fertig, seine Ungeduld zu zügeln. »So einfach wird das nicht sein«, brach es aus ihm hervor, noch bevor der Arkonide zu Ende gesprochen hatte. »Du weißt, ich stehe auf deiner Seite. Ich stimme mit dir überein, daß wir die ganze Expedition nicht hätten zu unternehmen brauchen, wenn wir nicht bis zum Ysterioon vorstoßen. Aber die Besatzung empfindet anders.« Eine Falte entstand auf Atlans Stirn. »Nicht schon wieder Halbfuß und seine Buhrlos?« fragte er. »Nein, von Halbfuß hat schon seit geraumer Zeit niemand mehr etwas gehört. Diesmal ist es keine organisierte Angelegenheit. Die gesamte Mannschaft ist unruhig. Wir sind zu weit von der SOL entfernt, sagen sie. Die Trennung erfüllt sie mit Unbehagen, zumal …« Er zögerte. Atlan horchte auf. »Zumal?« Der Magnide schlug sich mit der geballten Faust in die offene Handfläche, daß es klatschte. »Wollte das All, diese Zelle wäre ein Kriegsschiff, wie es sie in früheren Zeiten gab«, knurrte er zornig. »Wo der Kommandant Befehle geben kann, die Gewicht haben, und jedermann weiß, was er zu tun und was er zu lassen hat!« Atlan lächelte.
»Laß mich raten«, sagte er. »Die Funker haben nicht dichtgehalten?« »Nein. Sie plappern wie die kleinen Kinder, und manchmal weiß man nicht, wer mehr Angst hat: sie oder die Leute, denen sie ihre Geschichte erzählen.« »Mit anderen Worten: die Besatzung weiß, daß wir funktechnisch von der SOL abgeschnitten sind?« »So ist es. Und das ist nicht alles. Das Wort von der geheimnisvollen Nickelstrahlung, die Bjo Breiskoll entdeckte, hat die Runde gemacht. Du weißt, wie sich solche Dinge aufbauschen, wenn sie von Mund zu Mund weitergegeben werden. Warte noch zwei Stunden, und du wirst zu hören bekommen, daß die Solzelle unter intensivem Beschuß aus einer unbekannten Quelle steht und sich nur retten kann, indem sie schleunigst die Flucht ergreift.« Atlan antwortete nicht. Das alte Kastensystem der SOL war noch längst nicht überwunden. Informationen aus der Kommandozentrale sickerten nur in Form von Gerüchten zum Rest der Besatzung hinab. Es gab keinen offiziellen Informationskanal. Die Schiffsleitung behielt für sich, was sie wußte. Schließlich war sie allein für Wohl und Wehe des Raumfahrzeugs verantwortlich. Wen sonst hätten solche Dinge interessieren können? Und selbst wenn Brooklyn oder Palo Bow sich plötzlich entschlossen hätten, die Mannschaft über jede Phase des Fluges zu informieren – wer hätte ihnen glauben wollen? Die Solaner, die auf den Decks außerhalb der Kommandozentrale ihren Dienst versahen oder auch nur einfach vor sich hinlebten, waren durch jahrzehntelange Gewohnheit darauf trainiert, daß von »oben herab« keine Information kam. Sie waren eher geneigt, skurrilen Gerüchten Glauben zu schenken, als den Worten des Kommandanten zu vertrauen. Brooklyn war Atlans Nachdenklichkeit nicht entgangen. »Wenn wir in diesem Augenblick weiter in Richtung des Ysterioons vorstoßen«, sagte sie, »haben wir eine Revolution an der Hand.«
Der Arkonide musterte sie aufmerksam. »Glaubst du das«, fragte er, »oder ist hier der Wunsch der Vater des Gedankens?« »Ich glaube es«, antwortete die Magniden fest. »Aber ich mache keinen Hehl daraus, daß der Gedanke an das Ysterioon mir Unbehagen bereitet. Besonders seitdem Bjo Breiskoll die Nickelstrahlung empfängt.« * Während Atlan noch schwankte, ob er an seinem ursprünglichen Entschluß festhalten oder angesichts der zunehmenden Unruhe an Bord auf einen Kompromiß zusteuern sollte, trat eine Entwicklung ein, die die Lage noch schwieriger machte. Die ständig rotierenden Hyperantennen der Solzelle‐2 empfingen Signale, die aus dem Innern des Sperrgürtels kamen. Es handelte sich eindeutig um modulierte, d. h. informationstragende Strahlung des hyperelektromagnetischen Spektrums. Aber der Informationscode, der der Modulation zugrunde lag, war derart fremdartig, daß sich die Dechiffrierroutinen der Bordcomputer daran die Zähne ausbissen, ohne auch nur den geringsten Erfolg zu erzielen. Die Rotationsantennen suchten nach der Richtung, aus der sie das Signal mit maximaler Intensität empfingen, und kamen zum Stillstand. Aber selbst bei diesem simplen Prozeß des Anpeilens entstand Verwirrung. Die Antennen waren geteilter Meinung. Es entstanden zwei Gruppen, von denen jede behauptete, sie empfange die Signale aus einer anderen Richtung als die andere. Azimut‐ und Höhenmessungen wurden miteinander verglichen. Die beiden Azimutanzeigen waren annähernd um 180° voneinander entfernt; die Höhen dagegen bildeten mit der Äquatorialreferenz des Peilsystems gleiche Winkel: die eine
nördlich, die andere südlich der Äquatorialebene. Die Verwirrung dauerte nicht lange. Ein überaus unwahrscheinlicher Zufall hatte die Solzelle‐2 in das Streufeld eines Duplex‐Kanals geführt, in dem sie Nachrichten von zwei Seiten empfing. Die Computer hatten im Handumdrehen ermittelt, daß der eine der beiden Hypersender sich irgendwo entlang der gedachten Linie befand, die von der Solzelle in Richtung des vermuteten Standorts von Hidden‐X führte. Der zweite Sender lag ebenfalls auf dieser Linie, jedoch auf der anderen Seite des Schiffes. Atlan und Sanny beschäftigten sich mit der Auswertung der Meßergebnisse. Der paramathematische Verstand der Molaatin arbeitete auf Hochtouren und stellte Zusammenhänge und Querverbindungen schneller her als der mit der Analyse beauftragte Computer. »Nehmen wir an, der eine Sender steht dort, wo sich das Ysterioon befindet«, sagte sie. »Einen plausibleren Schluß gibt es im Augenblick nicht. Die Peillinie führt geradeswegs auf den großen, blauen Stern zu, der im zweiten Brennpunkt der Ellipse steht. Dann müssen wir weiterhin folgern, daß entweder Hidden‐X oder die Ysteronen sich mit jemand unterhalten, der sich außerhalb des Sperrgürtels befindet.« »Wieso außerhalb?« fragte Atlan überrascht. »Der Gürtel ist für Hyperfunk undurchlässig.« Sanny blendete eine Sternenkarte der Umgebung auf den Bildschirm. Mit wenigen Handgriffen erreichte sie, daß die Peillinie durch einen dünnen, grün leuchtenden Strich dargestellt wurde. »Wie du siehst, gibt es innerhalb des Gürtels entlang dieser Linie keinen einzigen Himmelskörper«, antwortete sie auf Atlans Frage. »Bliebe die Möglichkeit, daß sich dort irgendwo ein ysteronisches Raumschiff befindet, das von der Karte natürlich nicht angezeigt würde. Aber der Kurs, der uns an diesen Ort brachte, ist mit der grünen Linie nahezu deckungsgleich. Haben wir ein fremdes Fahrzeug bemerkt? Nein.«
Atlan musterte die zierliche Gestalt mit nachdenklichem Blick. »Du hast einen bestimmten Verdacht, Sanny«, sagte er schließlich. Die Molaatin nickte. »Die Ysteronen unterhalten sich mit einer ihrer Tantrik.« Der Arkonide stutzte. »Welchen Grund hätten sie dafür? Nach allem, was wir von Girgeltjoff wissen, sind die Robotstationen völlig unabhängige Gebilde, die lediglich festzustellen haben, ob sich ein Fremder …« Mitten im Satz hielt er inne. Sein Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. »Die Frage ist«, murmelte er, »was geschieht, wenn ein Fremder auftaucht, der sich weder in die Flucht schlagen noch vernichten läßt.« »In einem solchen Fall braucht die Robotstation spezifische Anweisungen«, ergänzte Sanny. »Das ist es vermutlich, was unsere Antennen empfangen.« Atlan starrte auf die Sternenkarte. »Sag mir, daß ich unrecht habe, Sanny«, forderte er die Molaatin mit düsterer Stimme auf. »Ich wollte, ich könnte das«, antwortete sie. »Aber der Sektor, auf den die auswärts verlaufende Peillinie weist, ist derselbe, in dem die SOL auf Warteposition gegangen ist, während sie sich mit Rohstoffen versorgt.« Atlan stand auf. »Die SOL hat sich mit einer ysteronischen Robotstation angelegt«, resümierte er. »Entweder die SOL selbst oder eine ihrer Bordeinheiten«, korrigierte Sanny. »Wir haben keine Möglichkeit, zu erfahren, was dort draußen vorgeht«, fuhr Atlan fort. »Und die SOL weiß nicht, was aus uns geworden ist. Ich gäbe einen Finger meiner rechten Hand dafür, zu wissen, daß Chart Deccon angesichts dieser Lage nicht in Panik gerät!«
Er schritt voller Unruhe auf und ab. Deccon ist kein Narr, belehrte ihn der Extrasinn. Er hat Erfahrung. Mach dir um ihn keine Sorge! Aber da war noch eine Frage, die ihm keine Ruhe ließ, »Wie bringen es die Ysteronen fertig, mit ihren Hyperfunksignalen den Sperrgürtel zu durchdringen?« »Ich bin am Rechnen«, antwortete Sanny. »Halte mir zugute, daß ich nicht allzu viel von der Hyperfunktechnik verstehe. Aber die Sendeleistung, die hier verwendet wird, scheint mir außergewöhnlich hoch. Das heißt: die Leistung, die aus der Richtung des Ysterioons kommt. Die Signale von der anderen Seite sind eher von normaler Amplitude.« »Worauf willst du hinaus?« fragte Atlan. »Ich glaube, die Ysteronen sind weitaus schlauer, als wir bisher angenommen haben. Sie kennen die Natur des Sperrgürtels und wissen, wie sie gehandhabt werden muß. Sie strahlen mit überhöhter Leistung und gehen davon aus, daß der größte Teil in der Sperrzone absorbiert werden wird. Was durchkommt, reicht immer noch aus, um von der Robotstation verstanden zu werden. In entgegengesetzter Richtung wird ebenso verfahren.« Ein müdes Lächeln huschte über das Gesicht des Arkoniden. »Mit anderen Worten: sie gehen dem Sperrgürtel mit brutaler Gewalt zuleibe.« »Nein.« »Nein?« Sanny schüttelte den Kopf. »Ich habe lange Zeit versucht, zu verstehen, warum die Computer deines Schiffes den Informationscode nicht entschlüsseln können. Nach meiner Ansicht liegt es daran, daß die Hyperstrahlung mehrfach moduliert ist. Eine Modulation befördert die eigentliche Information. Die anderen sind für den Sperrgürtel gedacht.« Sie machte eine hilflose Geste. »Ich kann es mir nur so erklären, daß die Sekundärmodulationen mit den Energien des Gürtels in
Wechselwirkung treten und dafür sorgen, daß die Information relativ unbeschädigt ihr Ziel erreicht, während der Sperrgürtel gleichzeitig den größten Teil der Sendeleistung absorbiert.« Atlan starrte sie an. Eine Sekunde lang war er sprachlos vor Staunen. »Es gibt solche Methoden«, stieß er schließlich hervor. »Sie sind kompliziert. Nur eine hochentwickelte Technologie bringt die Geräte hervor, die dafür gebraucht werden.« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Sollten wir die Ysteronen so sehr unterschätzt haben?« »Das Bild, das wir uns von den Ysteronen machen«, bemerkte Sanny ruhig und sachlich, »beruht zum größten Teil auf unserem Eindruck von Girgeltjoff. Du mußt bedenken, daß er ein Unerfahrener mit geringer Ausbildung ist.« »Ja, du hast recht«, nickte der Arkonide. »Im übrigen«, begann Sanny von neuem, »gehört das Verdienst für die technische Leistung gewiß nicht ausschließlich den Ysteronen.« Atlan sah auf. »Hidden‐X?« »Die Erklärung bietet sich an, nicht wahr? Wenn es wirklich eine geheimnisvolle, fremde Macht gibt, die hinter den Ysteronen steht und sie zu ihren unglaublichen Taten veranlaßt, wie du meinst – warum sollte sie ihnen nicht ihr technisches Wissen zur Verfügung stellen?« * Die endgültige Aussprache war ernst, sachlich und ohne Animosität. »Es wäre unklug von mir, weiter darauf zu bestehen, daß die Solzelle‐2 weiter in Richtung Ysterioon vorstößt«, erklärte Atlan.
»Andererseits habe ich wenig Neigung, unser Unternehmen sang‐ und klanglos aufzugeben. Ich schlage einen Kompromiß vor. Es muß im Innern des pluuhischen Sperrgürtels Sterne mit gäoiden Planeten geben. Wir fliegen eine dieser Welten an. Von dort aus können kleinere Bordeinheiten den Vorstoß in Richtung der Heimat der Ysteronen betreiben.« Palo Bow nickte, nachdem er sich die Worte des Arkoniden sorgsam zu Gemüte geführt hatte. »Hört sich an wie ein Vorschlag«, brummte er, »gegen den ein wohlmeinender Solaner kaum etwas einzuwenden haben könnte.« »Ich gehe davon aus«, ergänzte der Arkonide, »daß die Neuigkeit über die Hyperfunksignale, die wir empfangen haben, die Runde machen wird. Man wird sich ausrechnen, daß der Hyperfunk der Ysteronen nur deswegen aktiv geworden ist, weil sich die SOL – oder eines ihrer Fahrzeuge‐ mit einer Robotstation der Nickelräuber angelegt hat. Von der Zentrale aus sollte dafür gesorgt werden, daß man dieser Entwicklung nicht zuviel Bedeutung beimißt. Man muß der Besatzung erklären, daß eine ysteronische Robotstation die SOL nicht ernsthaft in Gefahr bringen kann.« Brooklyn lächelte. »Du machst dir umsonst Sorgen«, sagte sie. »Was die SOL angeht, so ist sie in Chart Deccons Händen. Es gibt viele Solaner, die Chart als die Personifizierung der Tyrannei betrachten und ihn hassen. Aber es gibt kaum einen, der ihm nicht zutraut, daß er mit seinem Schiff umzugehen weiß. Chart Deccon ist – in den Augen der Mehrheit – ein Tyrann. Und ein verdammt guter Kommandant und Astronaut obendrein.« Atlan nickte ihr zu. »Ich danke dir«, sagte er. »Ein Freund, der mir sehr nahesteht, hat mir vor kurzem Ähnliches zu verstehen gegeben. Ich wollte ihm nicht so recht glauben; aber deine Bestätigung beseitigt alle Zweifel.« Er wandte sich an Palo Bow.
»Das ist es also«, erklärte er. »Die Besatzung bekommt zu hören, daß wir drei Chart Deccon restlos vertrauen, daß die SOL sich in keinerlei Gefahr befindet und daß die Wiedervereinigung der Schiffsteile sich in Kürze vollziehen wird.« Bevor Palo Bow darauf antworten konnte, meldete sich der Interkom. Breckcrown Hayes erschien auf der Videofläche. Er wirkte verwirrt und unsicher. Ein Ausdruck ungläubigen Staunens lag auf seinem grob geschnittenen Gesicht. »Wir empfangen etwas Seltsames«, sagte er, als er den Arkoniden erblickte. »Die Worte sind in ysteronischer Sprache. Der Translator gibt sie wie folgt wieder.« Deutliches Hintergrundrauschen war zu hören, dann meldete sich die emotionslose Robotstimme des Translators: »Wer weiß über das Tabu? Der, der auf festem Boden steht.« 7. Der Versuch der Auswertung blieb ergebnislos. Die Sendung war nur wenige Sekunden lang, ihre Signale zum Teil von den Impulsen, die von Hidden‐X kamen, überlagert. Die Peilantennen konnten sich nicht einigen, aus welcher Richtung die Sendung gekommen war. Anstelle einer Peillinie spezifizierten sie einen Konus mit einem Öffnungswinkel von knapp dreißig Grad, der ein Dutzend Himmelskörper enthielt, von denen jeder der Ausgangsort der geheimnisvollen Botschaft gewesen sein mochte. Atlan ließ die Möglichkeit nicht außer acht, daß auf irgendeine unerklärliche Weise Girgeltjoffs Stimme in die Empfängerkreise des Hyperkoms geraten sein könne. Aber Argan U, der seinen Freund kaum eine Sekunde lang aus den Augen ließ, versicherte mit Nachdruck, der Ysterone habe zur fraglichen Zeit fest geschlafen. So schob man die Verantwortung für den unerklärlichen Vorfall schließlich der Natur mit ihren sprunghaften Launen zu –
vermutlich hatte der pluuhische Sperrgürtel eine Nachricht, die ursprünglich in ganz anderer Richtung abgestrahlt worden war, reflektiert und den Antennen der Solzelle‐2 zugespielt – und vergaß ihn. Die Suche nach einem Planeten, auf dem die SZ‐2 vorderhand vor Anker gehen konnte, erforderte keinen nennenswerten Aufwand. Die Sterne der Umgebung waren längst analysiert und katalogisiert. Die Suche konzentrierte sich auf die unmittelbare Umgebung einer gelben Sonne vom Sol‐Typ. Mehrere Planeten wurden nachgewiesen. Der zweite unter ihnen bewegte sich auf einer Bahn, die die Entstehung erdähnlicher Verhältnisse zuließ, falls die Natur die nötigen Voraussetzungen geschaffen hatte. Die Solzelle‐2 nahm Fahrt auf und verließ den Linearraum wenige Lichtminuten von dem fraglichen Planeten entfernt. Während der Bremsphase richteten sich alle verfügbaren Beobachtungs‐ und Analysegeräte auf die fremde Welt und ermittelten, daß man in der Tat einen guten Griff getan hatte. Der Planet, dem Atlan den Namen Break‐2 gab, entpuppte sich als ein wahres Paradies. Weite Meere wechselten mit üppig grünen Landmassen, und die geringe Achsneigung ließ jahreszeitliche Gegensätze kaum zur Geltung kommen. Den Temperaturmessungen nach zu urteilen, herrschte in den gemäßigten Zonen von Break‐2 ewiger Frühling, während sich über dem Tropengürtel der immerwährende Sommer angesiedelt hatte. Zeichen intelligenten Lebens wurden nicht gefunden. Es gab keine Siedlungen, keine Rodungen, keine Straßen, und nur der Wind bewegte die Oberflächen der blauen Meere. Im Strahlungsspektrum des Planeten fehlte jener charakteristische, nichtthermische Anteil der längerwelligen Bereiche, der auf zivilisierten Welten das Vorhandensein elektromagnetischer Kommunikation verriet. Das Schiff umrundete Break‐2 mehrmals auf wechselnden Umlaufbahnen. Eine detaillierte Oberflächenbeschreibung wurde angefertigt und in Form von Kartenbildern gespeichert. Als
Landeplatz wählte Atlan eine weite, von Büschen und Baumgruppen bewachsene Ebene, die sich von 30 bis 35 Grad nördlicher Breite erstreckte und im Osten durch einen mehrere hundert Kilometer langen Gebirgszug begrenzt wurde. Das Landemanöver wurde ohne Zwischenfall abgewickelt. Mit der Südpolkuppe fünfzig Meter über dem flachen Gelände schwebend, auf einem Antigravpolster ruhend, kam die Solzelle‐2 zur Ruhe. Atlan, der sich im Gegensatz zum Durchschnittssolaner keine Gelegenheit entgehen ließ, die Beine auf der festen Oberfläche eines Planeten zu vertreten, sorgte dafür, daß die Südpolschleuse einsatzbereit gemacht wurde. Ein zweifach gepoltes künstliches Schwerefeld führte vom äußeren Schott zum Boden hinab. Der Arkonide plante, die Umgebung des Landeplatzes zu erforschen, sobald die Detailanalyse der fremden Umwelt abgeschlossen war. Bis dahin gab es andere Dinge zu tun. Eine Strategie für weitere Vorstöße in Richtung Hidden‐X mußte entwickelt werden. Es würde schwer sein, Besatzungen für die Einheiten zu finden, die an diesem Vorhaben teilnehmen sollten. Der Solaner hatte sich eine unbestimmte, dumpfe Furcht bemächtigt. Wilde Gerüchte bezüglich der Macht, die Hidden‐X darstellte, waren im Umlauf. Palo Bow hatte unter der Hand nachforschen lassen, ob es eine organisierte Bemühung gebe, die Gemüter in Unruhe zu versetzen. Aber bislang war kein entsprechender Hinweis gefunden worden. Es war ein unterschwelliges, spontanes Gefühl der Bedrohung, das die Solaner kopfscheu machte. Unabhängig von Palo ließ Atlan nach Halbfuß, dem Sprecher der Buhrlos, forschen. Halbfuß war untergetaucht, in der Versenkung verschwunden. Selbst die Buhrlos wußten nicht, wo sie nach ihm hätten suchen sollen, und trugen sich mit der Absicht, einen neuen Sprecher zu wählen. Einer der Weltraummenschen versicherte Atlan im Vertrauen, Halbfuß habe sich aus Scham über seinen mißglückten Versuch der Meuterei zurückgezogen – und der Arkonide schenkte ihm Glauben.
Unmittelbar nach der Landung setzte er sich mit Brooklyn und Palo Bow zu, einer Diskussion der weiteren Schritte zusammen. Sie einigten sich darauf, zunächst eine Patrouille in Richtung Hidden‐X zu entsenden. Über die Mannschaft wurde nicht gesprochen; aber angesichts der gespannten Lage an Bord der Solzelle‐2 sah Atlan keine andere Möglichkeit, als daß er selbst den Befehl über das Unternehmen führen werde. So planten sie – und dann kam alles ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatten. Atlan schrak aus unruhigem Schlaf in die Höhe, als der Interkom sich meldete. Er warf einen Blick auf den Wandbildschirm, der nach der Art eines Fensters die Umgebung des Schiffes zeigte. Es war finster draußen. Die Nacht hatte sich über Break‐2 gesenkt. Ein wenig verwundert aktivierte er den Empfänger. Es mußte etwas Wichtiges vorgefallen sein. Einen belanglosen Anruf hätte der Kommunikationsroboter abgewimmelt. Erstaunt musterte er das Gesicht, das auf der Videofläche materialisierte. Er kannte den Mann kaum. Irgendwo im Hintergrund seines Gedächtnisses hütete er das Informationsbruchstück, daß der Solaner mit dem pockennarbigen Gesicht der astronomischen Gruppe angehörte und Froyd oder Frodo hieß. Er hatte keine Ahnung, was er mitten in der Nacht von ihm wollen könne. Frodo – er nannte seinen Namen – entschuldigte sich für die Störung. »Es blieb mir keine andere Wahl«, fügte er eifrig hinzu. »Ich habe eine Beobachtung gemacht, die mir überaus wichtig erscheint.« »Was ist mit Palo Bow?« erkundigte sich Atlan mißtrauisch. »Hättest du nicht zuerst ihn in Kenntnis setzen sollen?« »Ich bin nicht sicher, daß er genug von solchen Dingen versteht«, sagte Frodo. Seine Antwort klang offen und ehrlich und brachte einen Zweifel zum Ausdruck, mit dem der Arkonide selbst sich mitunter
beschäftigte. »Was ist es?« fragte er. »Was hast du beobachtet?« »Der blaue Stern, den wir für den Sitz des Hidden‐X halten, hat zu pulsieren begonnen«, erklärte Frodo. »Im hyperenergetischen Bereich. Die Frequenz beträgt rund vier Minuten. Ich kann nicht entscheiden, ob den Schwankungen eine Modulation überlagert ist, die womöglich Informationen befördert. In diesem Fall …« »Spiel mir die Daten zu, Frodo«, unterbrach ihn Atlan. Der Astronom machte ein verlegenes Gesicht. »Das geht nicht«, sagte er. »Die Aufzeichnung wurde nicht ordnungsgemäß angefertigt. Sie ging verloren. Ich habe nur ein paar Bilder, die die automatische Kamera anfertigte.« Vorkommnisse dieser Art waren nicht selten. Trotz Atlans fieberhafter Bemühungen waren die Solaner mit den technischen Mitteln und Möglichkeiten ihres Schiffes noch immer unzureichend vertraut. Fehler in der Handhabung von Maschinen und Geräten waren an der Tagesordnung. Besonders davon betroffen waren solche Männer und Frauen, die wie Frodo aus der allgemeinen SOL‐ Besatzung zu den technischen und wissenschaftlichen Diensten gestoßen waren, ohne die Ausbildung der Ferraten oder höherer SOLAG‐Kasten zu besitzen. Atlan erwog ohne Begeisterung die Mühsal eines nächtlichen Marsches quer durch die nördliche Kugelhälfte der Solzelle und kam zu dem Schluß, daß ihm keine andere Wahl blieb. »Ich komme, Frodo«, sagte er mürrisch und machte sich kurze Zeit später auf den Weg. Es war ruhig auf den Korridoren und in den Schächten des großen Schiffes. Die Solaner mochten sich für Weltraumvagabunden halten, deren Heimat die Weite des Alls war. Aber jenen charakteristischsten Zug des planetengebundenen Daseins, den Wechsel zwischen Tag und Nacht, hatten sie unverändert beibehalten. Des Nachts wurden die Lichter gedämpft, und ein Großteil der Besatzung ging schlafen. Nur die Armee der Roboter
und ein paar Dutzend Diensthabende waren zur Zeit der gedrosselten Beleuchtung noch auf den Beinen. Die einzigen Geschöpfe, denen Atlan auf seinem Weg zur Nordpolkuppel begegnete, waren Instandhaltungsroboter, deren Programmierung vorsah, daß sie Ereignisse, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Aufgabe standen, sofort wieder vergaßen. In der Nähe der Polkuppel war es noch stiller als sonstwo. Atlan schwang sich aus dem Antigravschacht und sah sich um. Er wußte nicht, in welchem der zahlreichen Räume der astronomischen Abteilung sich Frodo befand, und hatte erwartet, daß dieser in der Nähe des Schachtausstiegs auf ihn warte. Von Frodo war jedoch nichts zu sehen. Der Arkonide öffnete aufs Geratewohl eines der Schotte und geriet in ein hellerleuchtetes, aber leeres Astronomielabor. Er durchquerte es und gelangte durch eine Verbindungstür in den angrenzenden Raum. Am anderen Ende gewahrte er eine Gestalt, die sich über eine Datenkonsole beugte. »Frodo, bist du das?« rief er. Hinter ihm schloß sich die Tür, durch die er soeben gekommen war. Atlan tat ein paar Schritte vorwärts. Die Gestalt an der Konsole rührte sich nicht. Das Licht erlosch. »Heh, was soll das?« fuhr der Arkonide auf. Aus der Finsternis sprach eine Stimme. Sie kam von einem Punkt, der nicht mehr als fünf Meter entfernt sein konnte. »Ich bedaure, was ich zu tun habe«, sagte sie. »Ich handle im Auftrag eines, dem ich mich nicht widersetzen kann. Der, der auf festem Boden steht, wünscht dich zu sprechen.« Atlan hörte ein feines, helles Summen. Dann hatte er das Gefühl, er pralle in vollem Lauf gegen eine Mauer aus solidem Stahl. Die Tätigkeit des Nervensystems erlosch sofort. Er verlor das Bewußtsein.
* Als er wieder zu sich kam, spürte er die bleierne Müdigkeit und das heftige Pochen im Schädel, die die charakteristischen Merkmale der Nachwirkung eines Schocktreffers darstellen. Er fühlte sich annähernd schwerelos. Gedämpfte Geräusche drangen an sein Ohr. Es war stockfinster. Er versuchte, sich zu bewegen, stieß jedoch sofort gegen ein Hindernis, das ihn, wie er rasch feststellte, auf allen Seiten und nahezu hauteng umgab. Er befand sich im Innern eines Behälters! Er hatte nicht einmal genug Platz, um den Arm zu heben und auf die Uhr zu sehen, die er am Handgelenk trug. Das Gefühl drastisch reduzierter Schwerkraft ließ sich leicht erklären. Der Behälter schwebte durch einen Antigravschacht. Er wurde abtransportiert. Plötzlich fielen ihm die Worte wieder ein, die die Stimme im Dunkel gesprochen hatte: Der, der auf festem Boden steht, wünscht dich zu sprechen. Es fuhr ihm wie ein elektrischer Schock durch den Körper. Wo hatte er Ähnliches zuvor gehört? Breckcrown Hayes hatte eine merkwürdige Hypersendung empfangen, als sich die Solzelle‐2 noch auf Warteposition befand. Wer weiß über das Tabu? Der, der auf festem Boden steht. Er hatte an der geheimnisvollen Botschaft herumgerätselt und war endlich zu dem Schluß gekommen, daß sie weder ihm noch sonst irgend jemand an Bord des Schiffes galt. Sie war durch Zufall abgefangen worden, so hatte er gedacht. Und jetzt? Frodo hatte ihn in eine Falle gelockt. Er handelte nicht aus eigenem Antrieb. Er stand unter dem Einfluß eines Fremden. Wer anders konnte der Fremde sein als »der, der auf festem Boden stand«? Atlan spannte die Muskeln und begann, mit den Fäusten gegen die Wände seines Behältnisses zu trommeln. »Laß mich ʹraus, du Narr!« schrie er. »Ich gehe freiwillig mit dir!« Von draußen hörte er Stimmengemurmel. Frodo war nicht allein;
er hatte Helfer. Atlan fuhr fort zu trommeln und zu schreien. Sein Behälter setzte sich plötzlich in rotierende Bewegung. Die Burschen gaben sich wirklich Mühe. Sie wirbelten das Behältnis, so schnell sie konnten, um sämtliche drei Achsen des geometrischen Raumes. Die geringe Gravitation ertrank im Durcheinander der Zentrifugalkräfte, und im Dunkel seines Gefängnisses, in dem der Verstand sich nicht orientieren konnte, wurde dem Arkoniden alsbald entsetzlich übel. Sie wollten ihn zum Schweigen bringen, das war unverkennbar. Aber wie lange konnten sie diese Methode anwenden? Irgendwann fand der längste Antigravschacht sein Ende, dann würden sie ihn auf normale Weise transportieren müssen. Er versuchte, sich in ihre Lage hineinzudenken. Sie durften sich nicht sehen lassen. Die nächtliche Ruhe im Schiff bot ihnen einen gewissen Schutz. Wenn ihr Gefangener fortfuhr zu randalieren, gerieten sie in Gefahr. Die einzige betriebsbereite Schleuse befand sich am Südpol der Solzelle, zweieinhalb Kilometer von dem Ort entfernt, an dem Atlan überwältigt worden war! Es war ein verzweifeltes Unternehmen. Der, der Frodo unter seinen Bann gezwungen hatte, verstand nur wenig von den Verhältnissen an Bord des großen Raumschiffs. Atlan kämpfte gegen die Übelkeit, die in ihm aufzusteigen drohte. Der Behälter erhielt plötzlich einen kräftigen Stoß, und fast im gleichen Augenblick setzte die normale Schwerkraft wieder ein. Er lag auf der Seite. Draußen hörte er jemand ungeduldig sagen: »Dreht ihn in die richtige Lage! Dort drüben steht der Transporter!« Der Behälter wurde reichlich unsanft um neunzig Grad rotiert, so daß Atlan wieder in Rückenlage kam. Das Summen eines Robotmotors war zu hören. Jemand hatte den Transporter in Gang gesetzt. Atlan schätzte, daß er sich jetzt auf dem untersten Deck der Solzelle befand. Die Südpolschleuse war nicht fern. Noch ein paar Minuten, und sie hatten ihn aus dem Schiff hinausbugsiert. »Halt! Keine Bewegung!« gellte eine Stimme.
Jemand schrie. Das helle, ungeduldige Summen eines Schockers war zu hören. Eine Reihe dumpfer Geräusche wie vom Aufprall schwerer Gegenstände folgte. Dann herrschte ein paar Augenblicke lang tiefe Stille. Das Brummen des Robotmotors war verstummt. Der Behälter bewegte sich nicht mehr. Plötzlich – Schritte! Sie näherten sich Atlans unbequemem Gefängnis. Hände machten sich an dem Behältnis zu schaffen. Eine dumpfe Stimme brummte Verwünschungen. Ein heller Lichtstreif entstand. Atlan schloß die Augen bis auf einen schmalen Spalt, um nicht geblendet zu werden. Ein Kopf mit kahler Schädelplatte beugte sich über ihn. Große, besorgte Augen musterten ihn aufmerksam. Das Gesicht des Mannes war unter einer dicken, gläsernen Schicht aus Hornhaut geborgen, die seiner Haut eine hellrote Farbe verlieh. »Halbfuß!« staunte Atlan. »Ich war die ganze Zeit hinter euch her«, stieß der Buhrlo hervor. »Ich mußte vorsichtig sein, sonst hätten sie mich entdeckt.« Der Arkonide stemmte sich auf dem Rand des kastenförmigen Behältnisses in die Höhe. Wenige Meter entfernt stand ein Lastenroboter. Auf dem Boden lagen drei reglose Gestalten, gefällt von dem Schocker, den Halbfuß sich auf irgendeine Weise beschafft hatte. Atlan kletterte aus dem Behälter, der die Form und das Aussehen eines Sarges hatte. »Danke, Halbfuß«, sagte er. 8. Aus dem Verhör ergab sich eine bizarre Geschichte, die, soweit sie Frodo und seine Helfershelfer anging, weder Hand noch Fuß hatte. Halbfuß, der Buhrlo, hatte sich in der Weite des Schiffsinnern verloren, nachdem seine Meuterei fehlgeschlagen war. Vor lauter
Scham hatte er sich von niemand sehen lassen wollen, täglich das Versteck gewechselt und angestrengt darüber nachgedacht, wie er sich rehabilitieren könne. In dieser Nacht wäre er um ein Haar mit Atlan zusammengestoßen. Nach kurzem Zögern war er dem Arkoniden gefolgt, weil er mit ihm sprechen wollte. Er hatte Atlan die Astronomische Abteilung betreten sehen. Kurze Zeit später waren Frodo und seine Begleiter mit einem verschlossenen Kasten zum Vorschein gekommen. Halbfuß folgte ihnen vorsichtig, und als Atlan in seinem unbequemen Gefängnis zu trommeln und zu schreien begann, wußte er, was die Stunde geschlagen hatte. Hier war die Gelegenheit, sein ramponiertes Ansehen wiederherzustellen. Er ließ sie nicht ungenutzt verstreichen. Frodo und seine Kumpane dagegen hatten keine Ahnung, wie ihnen geschehen war. Als Frodo zu sich kam, sagte er aus, seine letzte Handlung sei gewesen, ein paar computergestützte Bilder des Nachthimmels über der Solzelle anzufertigen. Er war höchst verwundert, sich im Innern einer Medostation wiederzufinden, und besaß keinerlei Erinnerung an die dazwischen liegenden Ereignisse. Seinen Gefährten erging es ähnlich. Ihre Gedächtnisse besaßen identische Lücken, wie von den Psychophysikern eindeutig festgestellt wurde, von anderthalb Stunden Dauer – die Zeit der Bewußtlosigkeit nicht mitgerechnet. Bjo Breiskoll und Sternfeuer wurden hinzugezogen. Beide hatten zur fraglichen Zeit geschlafen. Der Katzer jedoch erinnerte sich an einen unangenehmen Traum, in dem eine finstere Kreatur von Undefiniertem Aussehen eine wichtige Rolle gespielt hatte. Es bestand die Möglichkeit, daß der Traum durch eben jenen mentalen Einfluß ausgelöst worden war, der Frodo und Genossen in seinen Bann geschlagen hatte. Aber eine Spur, die man hätte verfolgen können, ergab sich aus diesem Zusammenhang nicht. Einer Eingebung folgend, suchte Atlan den Hangar auf, in dem man Girgeltjoff, den Ysteronen, untergebracht hatte. In demselben Raum hatte sich auch Argan U einquartiert, der sich als Girgeltjoffs
Freund betrachtete und es übernommen hatte, den Ysteronen vor allem Unheil zu bewahren. Der große Hangarraum war matt erleuchtet. Girgeltjoff lehnte an der rückwärtigen Wand – ein zwanzig Meter hoher Gigant, dessen Körper auf zwei Paar Säulenbeinen ruhte, mit einer sich nach oben verjüngenden Statur, winzigen, kaum über einen Meter langen Armen und einem kugelförmigen Schädel von 50 cm Durchmesser. Abgesehen von seinen vier Beinen, die die Hälfte der Körperlänge ausmachten, war Girgeltjoff durchaus humanoid. Er besaß ein lebhaftes Mienenspiel, in dem Atlan sich im Lauf der Tage auszukennen gelernt hatte. Im Augenblick befand er sich allerdings in Ruhestellung. Er schlief. Über den Raum verteilt waren mehrere seltsam geformte und ausnahmslos riesige Einrichtungsgegenstände, die von den Bordwerkstätten nach Girgeltjoffs Angaben hergestellt worden waren. Einer davon war ein Tisch, der auf einem Bein vom Umfang einer korinthischen Säule dreizehn Meter weit in die Höhe ragte. An diesem Tisch pflegte der Ysterone seine Mahlzeiten einzunehmen, die von flugfähigen Robotern herantransportiert wurden. Hinter der Säule hervor tauchte Argan U auf. Der kleine Puschyde, einem terranischen Bären nicht unähnlich, gestikulierte voller Eifer und stieß flüsternd hervor: »Jetzt nicht! Er schläft.« »Darauf kann ich leider keine Rücksicht nehmen«, antwortete Atlan in normalem Tonfall. Der Gigant gab einen halb ächzenden, halb gähnenden Laut von sich und richtete sich an der Wand auf. »Wer ist das?« dröhnte seine Stimme. »Atlan, du?« Der Translator, den der Arkonide an sich trug, übersetzte seine Worte. »Ja, ich bin es. Ich habe mit dir zu sprechen.« »Ich habe dich seit langem nicht mehr gesehen«, sagte Girgeltjoff in tadelndem Tonfall. Er bemühte sich, seine Stimme zu dämpfen
und nicht mehr akustische Leistung zu erzeugen, als ein normales Trommelfell vertragen konnte. Aber selbst sein Wispern hörte sich noch an wie das Rauschen eines Sturmes, der sich zwischen den Hangarwänden gefangen hatte. »Es gab viel zu tun, Girgeltjoff«, antwortete der Arkonide. »Ich wollte dich nicht vernachlässigen. Aber es haben sich ein paar geheimnisvolle Dinge zugetragen. Ihretwegen bin ich hier.« Der Ysterone war rasch besänftigt. »Ich nehme es dir nicht übel, Atlan«, sagte er. »Sprich zu mir von den geheimnisvollen Ereignissen.« Atlan berichtete zunächst von der merkwürdigen Hyperfunknachricht, die die Antennen der Solzelle‐2 aufgefangen hatten, ohne den Ort ihrer Herkunft ermitteln zu können. Er betonte, daß die Botschaft in ysteronischer Sprache abgefaßt war. Dann sprach er über die Vorkommnisse dieser Nacht. »Es läuft darauf hinaus«, schloß er, »daß irgendwo in der Nähe jemand herumspukt, der sich ›Der, der auf festem Boden steht‹ nennt und auf Biegen oder Brechen mit uns Verbindung aufnehmen will. Leider kennt er sich in den örtlichen Gegebenheiten nicht aus und stiftete allerhand Unfug – wie zum Beispiel dadurch, daß er Frodo und seine Freunde unter mentalen Zwang setzte. Wir müssen ihn finden.« Girgeltjoff sah lange Zeit nachdenklich vor sich hin. »Ich weiß von keinem, der einen solchen Namen trägt«, sagte er schließlich. »Aber Argan U hat mir erzählt, daß diese Welt unbewohnt ist. Daß es kein intelligentes Leben auf ihr gibt. Ist das wahr?« »Es ist wahr, soweit wir erkennen können«, bestätigte Atlan. »Wenn es also wirklich einen Ysteronen hier gäbe«, fuhr Girgeltjoff in seinen Überlegungen fort, »dann führte er das Leben eines Einsiedlers. Ysteronen sind im Grund ihres Wesens gesellige Geschöpfe. Es kann einem von uns nichts Schlimmeres zustoßen, als daß er in die Einsamkeit verschlagen wird und den Rest seines
Lebens ohne Gesellschaft zubringen muß. Der, der auf festem Boden steht, handelt aus Verzweiflung. Du kannst ihn für seine Taten nicht verdammen.« »Von Verdammen kann keine Rede sein«, antwortete Atlan heftig. »Finden will ich ihn, Girgeltjoff. Finden!« »Da er sich per Hyperfunk an uns gewandt hat, besitzt er einen Sender. Wahrscheinlich auch einen Empfänger.« Bei diesen Worten zögerte er ein wenig. »Hast du daran gedacht, dich auf dem Funkweg mit ihm in Verbindung zu setzen?« »Nein«, sagte Atlan verblüfft. »Die Idee ist mir nicht gekommen.« »Du könntest es versuchen. Wenn ich mich in seine Lage versetze, dann meine ich, ich würde mich in der Nähe des Fahrzeugs aufhalten, mit dessen Besatzung ich in Verbindung treten will – vorläufig allerdings in sicherer Deckung. Denn ich weiß nicht, ob sich an Bord des Fahrzeugs nicht solche befinden, die mir übelwollen.« Er blickte aus großen, ausdrucksvollen Augen auf den Arkoniden hinab. »Ich habe die Landschaft dieses Planeten auf dem Bildschirm gesehen«, fuhr er fort. »Die Ebene bietet einem Ysteronen kein Versteck. Wenn er wirklich in der Nähe ist, hält er sich in den Wäldern der Berge verborgen. Von dort aus hat er außerdem einen guten Überblick, was in der Umgebung des Schiffes geschieht. Sobald der Tag anbricht, sollten wir uns draußen umsehen. Wenn er einen einzelnen Artgenossen erblickt – nur einen, der sich in der Begleitung fremder Wesen befindet – gibt er seine Vorsicht womöglich auf.« »Du willst mich begleiten?« fragte Atlan erfreut. »Ja. Warum? Ist es dir nicht recht?« »Im Gegenteil«, atmete der Arkonide auf. »Eben darum hatte ich dich bitten wollen.« *
In den frühen Morgenstunden des neuen Tages, noch vor Sonnenaufgang, begann der Hypersender der Solzelle‐2 mit minimaler Energie zu funken. Er strahlte auf der Frequenz, auf der seinerzeit die Botschaft dessen, der auf festem Boden steht, empfangen worden war. Die Sendung war in ysteronischer Sprache abgefaßt und besagte, daß der Empfänger von den Solanern nichts zu fürchten habe, daß sie das Gespräch mit ihm suchten und daß er sich melden solle. Als die Sonne aufging, war noch keine Antwort eingetroffen. Atlan ließ die Sendung abbrechen. Die Gefahr, daß die Signale über die Grenze des Break‐Systems hinaus vordrangen und das Schiff somit seine Position verriet, war zu groß. Er erinnerte sich, daß Girgeltjoff gezögert hatte, als er von der Möglichkeit sprach, den geheimnisvollen Einsiedler von Break‐2 per Funk zu erreichen. Als er den Ysteronen kurz nach Sonnenaufgang aufsuchte, um den bevorstehenden Ausflug mit ihm zu besprechen, fragte er ihn danach. »Ich hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, daß du mit dieser Methode Erfolg haben würdest«, gestand Girgeltjoff. »Warum nicht? Er sprach uns an. Warum sollte er nicht antworten?« »Weil er nicht kann. Er hat dich nicht gehört. Er besitzt keinen Empfänger.« Als er am fragenden Blick des Arkoniden erkannte, daß dieser mit der Antwort nichts anzufangen wußte, fuhr er fort: »Wenn es sich wirklich um einen Ysteronen handelt, dann ist er nicht aus freien Stücken hierhergekommen. Wäre er hier mit seinem Fahrzeug verunglückt, dann hätten wir wahrscheinlich Spuren des Absturzes oder Überreste seines Raumschiffs gefunden. Bleibt also eine dritte Möglichkeit: er wurde ausgesetzt. Ich habe in meiner Zone nie jemand gekannt, der ausgesetzt wurde. Aber ich habe gehört, daß Aussetzung eine Strafe ist, die oft verhängt wird. Man gibt den
Ausgesetzten Gerät und Vorräte mit, die sie zum Überleben brauchen, oft auch ein wenig mehr, damit ihr Dasein nicht allzu eintönig wird. Diesem hier hat man einen Hypersender mitgegeben. Er kann sich die Seele erleichtern, indem er seinen Kummer ins Weltall schreit. Einen Empfänger würde man ihm jedoch auf keinen Fall überlassen.« »Aus Furcht, er könne die Gespräche der Metallexpeditionen damit belauschen?« erkundigte sich Atlan interessiert. »Nein. Um ihn nicht in den Wahnsinn zu treiben. Die Einsamkeit ist schwer genug zu ertragen. Wenn er die Möglichkeit hätte, tagaus und tagein ysteronische Stimmen zu hören, und sich dabei vor Augen halten müßte, daß er niemals im Leben wieder einen seiner Artgenossen zu Gesicht bekommen werde, verlöre er unweigerlich den Verstand.« Atlan gab sich keine Mühe, sein Staunen zu verbergen. Welch ein seltsames Volk! Es schreckte nicht davor zurück, denjenigen seiner Mitglieder, die sich vergangen hatten – wogegen eigentlich? – die schlimmste aller Strafen angedeihen zu lassen: die Verbannung in die Einsamkeit. Gleichzeitig aber sorgte es sich um ihre geistige Gesundheit. Auch hier wieder derselbe Zwiespalt: Grausamkeit auf der einen, Fürsorge auf der anderen Seite. »Wir werden mehr darüber erfahren«, sagte er ein wenig zerstreut, »sobald wir ihn gefunden haben.« * Die fremde Sonne meinte es gut. Sie stand erst ein paar Fingerbreit über dem Grat der Bergkette und brannte doch schon mit sommerlicher Hitze. Hinter sich hörte Atlan die dröhnenden Schritte des Ysteronen. An seiner Seite schritten Bjo Breiskoll und die Zwillinge Sternfeuer und Federspiel. Seitwärts, an den Flanken des kleinen Zuges, bewegten sich mit Paralysatoren bewaffnete
Solaner, die es übernommen hatten, die Expedition gegen Angriffe aus der unbekannten Tierwelt des fremden Planeten zu schützen. Es zeigte sich im Verlauf des Unternehmens, daß ihre Bemühung überflüssig war. Die Fauna von Break‐2 war friedliebend, eher furchtsam. Aber Atlan wußte seinen Begleitern Dank. Sie kämpften jeden Schritt des Weges gegen die angeborene Abneigung, die der weltraumgeborene Solaner gegen den Aufenthalt auf der Oberfläche eines Planeten empfand. Weit draußen über der Ebene schwebten zwei Space‐Jets. Sie schienen mit der Expedition nichts zu tun zu haben. In Wirklichkeit waren ihre Suchgeräte auf die Flanke der Bergkette gerichtet, in der Atlan das Versteck des Einsiedlers vermutete. Er hatte die Fahrzeuge weit hinaus beordert, um den Gesuchten nicht zu verängstigen. Er hätte sonst womöglich das Weite gesucht. Eine der beiden Maschinen meldete sich, als der kleine Zug den Fuß der Bergkette erreichte. »Ich sehe eine Art Schneise, die einhundert Meter über der Talsohle beginnt und schräg nach Süden die Flanke emporführt«, drang es aus Atlans Empfänger. Er ließ sich von dem Beobachter der Space‐Jet ein paar zusätzliche Angaben machen. Daraus ergab sich, daß er sich nach rechts halten mußte, wenn er den Anfang der Schneise erreichen wollte. Zwei Späher waren inzwischen in den Wald vorgedrungen, der den Berghang bedeckte. Bei ihrer Rückkehr meldeten sie, das Gelände sei ohne Mühe begehbar. Der Wald bestand aus hochgewachsenen Hölzern, die ein dichtes Laubdach bildeten. Unter dem Dach war es kühl, und es herrschte ein dämmriges, grünes Halbdunkel. Der Mangel an Licht hatte einen dichten Bewuchs an Unterholz nicht aufkommen lassen. Es gab Gruppen von farnähnlichen Gewächsen, die leicht umgangen werden konnten. Der Boden bestand aus einer weichen kompostartigen Masse, die von den herabfallenden Blättern der fremden Bäume im Lauf der Jahrhunderte aufgeschüttet worden war.
Der einzige, der beim Vorwärtskommen Schwierigkeiten hatte, war Girgeltjoff. Seine Größe entsprach annähernd der Durchschnittshöhe der Bäume. Mit dem Kopf befand er sich mitten im Laubdach. Er nahm die Hände zu Hilfe, um hindernde Äste und Zweige aus dem Weg zu schieben. Auf diese Weise entstand eine Schneise, die nach der Aussage der Beobachter beider Space‐Jets genauso aussah wie jene, die Atlans Ziel war. Der geheimnisvolle Einsiedler hatte also dieselben Schwierigkeiten wie Girgeltjoff. Argan U hatte sich übrigens die Teilnahme an der Expedition nicht ausreden lassen. Er sah seinem ysteronischen Freund auf der Schulter und bemühte sich nach Kräften, bei der Beseitigung hinderlicher Äste behilflich zu sein. Seine Anstrengung war jedoch kaum mehr als eine Geste guten Willens. Mit seinen kurzen, possierlichen Ärmchen richtete er unter der kräftigen einheimischen Flora keinen nennenswerten Schaden an. Sie brauchten eine knappe Stunde, um den Beginn der Schneise zu erreichen, die von den beiden Space‐Jets gefunden worden war. Der Fremde – es mußte sich ganz eindeutig um einen Ysteronen handeln, denn kein Wesen von durchschnittlichem Bau hätte ein solches Durcheinander anrichten können – hatte hier eine kleine Lichtung geschaffen. Mehrere Bäume waren angeknickt und zur Seite gestoßen worden. Der Boden war aufgewühlt. Drei Baumstämme ragten parallel zueinander in einem Winkel von 45 Grad in den angrenzenden Wald hinein. Girgeltjoff untersuchte sie aufmerksam und teilte seine Beobachtungen dem Arkoniden mit. »Er hat diese Verwirrung nicht freiwillig angerichtet«, sagte er. »Eine Schwäche oder sonst was muß ihn überkommen haben. An den Baumstämmen ist die Rinde zum Teil abgeschabt. Er muß auf ihnen geruht haben. Kein Ysterone würde sich von sich aus in eine solche Lage begeben. Es fällt uns schwer, wieder auf die Beine zu kommen.« Immerhin lieferte der Ort einen Aufschluß. Unterhalb der kleinen Lichtung, nach Westen hin, war der Baumwuchs eine Strecke weit
verkümmert. Unfruchtbarkeit des Bodens oder sonst ein Effekt hatte das Wachstum der Bäume auf eine Höhe von zehn Metern beschränkt. Ein Geschöpf von der Größe eines Ysteronen hatte von hier aus freien Ausblick ins Tal hinab und konnte alles sehen, was sich am Fuß der Solzelle‐2 abspielte. Der Einsiedler war also hierhergekommen, um besser beobachten zu können. Der Himmel mochte wissen, was ihn dazu bewogen hatte, umzufallen und ein solches Durcheinander anzurichten. Von der Lichtung aus folgten sie der Schneise, die schräg hangaufwärts führte. Girgeltjoff ging jetzt voran. Er sollte der erste sein, den sein Artgenosse zu sehen bekam. Die beiden Space‐Jets beobachteten den Fortschritt der Expedition anhand des runden Ysteronen‐Schädels, der hin und wieder aus dem Blattwerk emportauchte, und ließen Atlan wissen, wie weit er noch vom Ziel entfernt war. Dort, wo die Schneise endete, mußte der Einsiedler seinen Wohnsitz haben. Anders ließ sich nicht erklären, daß er nur diese eine Spur hinterlassen hatte, die halbwegs den Hang herab‐ und dann wieder hinaufführte. Diese Vermutung wurde rasch bestätigt. Im weichen Boden fanden sich die Abdrücke gigantischer Ysteronen‐Füße. Die ältere Fährte kam den Berg herab, die jüngere führte in die Höhe. Noch ein weiterer Unterschied wurde von Girgeltjoff, der sich auf solche Dinge verstand, alsbald bemerkt. Abwärts hatte sich der Einsiedler zielstrebig und sicheren Schrittes bewegt. Aufwärts dagegen schien er Schwierigkeiten gehabt zu haben. Die Fußabdrücke des jüngeren Teils der Fährte wiesen unregelmäßige Abstände voneinander auf und wichen mitunter nach rechts oder links aus, als sei der Fremde getaumelt. Der Pfad wurde schließlich eben und mündete in ein halbkreisförmiges Tal, in dessen Hintergrund buschbewachsene Felswände steil in die Höhe strebten. Wie der Eingang zur Hölle gähnte der mehr als dreißig Meter hohe Schlund einer finsteren Höhle. Atlan ließ anhalten. Sie horchten; aber nur die Geräusche der fremden Tiere, die den Wald bevölkerten, und das sanfte Rascheln
des Windes drang ihnen an die Ohren. Die Spur führte quer durch den Kessel und verlor sich auf dem harten Boden am Fuß der Felswand. Inzwischen war es Argan U auf der Schulter des Ysteronen zu langweilig geworden. Er hangelte sich am Gewand des Riesen herab und lief quer durch das Tal auf die Höhle zu. Atlan folgte ihm eilig – aus Furcht, der Kleine könne unversehen in Gefahr geraten. Girgeltjoff stapfte neben ihm her. Am Eingang der Höhle blieb der Puschyde stehen. Er wandte sich um, und Atlan sah einen Ausdruck ungläubigen, fast ehrfürchtigen Staunens auf seinem Gesicht. Die mächtige Höhle, die aus der Nähe längst nicht so finster wirkte wie von der gegenüberliegende Seite des Tales, war mit technischen Geräten und Armaturen erfüllt. Die Ysteronen hatten ihren Ausgestoßenen nicht ohne Hilfsmittel in die Verbannung geschickt. Die Maschinen wirkten fremdartig und waren von gigantischen Ausmaßen, die der Gestalt ihres Eigentümers entsprachen. Ihre Funktionen ließen sich auf Anhieb nicht erkennen; aber es war offenbar, daß sie einer hochentwickelten Technik entstammten. Atlan wollte die Höhle betreten; aber Girgeltjoff warnte: »Tritt nicht über die Schwelle, solange der, der hier wohnt, dich nicht eingeladen hat. Das ist ysteronische Sitte.« Atlan wandte sich um. »Wo ist er? Warum zeigt er sich uns nicht?« Girgeltjoff wies auf die Felswand. »Ich glaube, ich weiß, wo er steckt«, sagte er so laut, daß es gut und gern einhundert Meter weit zu hören war. »Er weiß nicht, was er von uns halten soll – ob wir ihm freundlich oder feindlich gesinnt sind. Laß mich nach ihm suchen gehen.« Er schritt seitwärts. Erst jetzt wurde offenbar, daß es dort einen schmalen, aber hohen Spalt gab, der schräg in die Felswand hineinführte. Ein vorstehender Erker sowie das verfilzte Buschwerk hatten ihn vor den Blicken der Suchenden verborgen, die allerdings ohnehin nur Augen für die Höhle gehabt hatten. Girgeltjoff zwängte
sich durch das Buschwerk und war Sekunden später verschwunden. Kaum eine halbe Minute später tauchte er an einer anderen Stelle der Wand wieder auf. »Dort drinnen ist er nicht«, rief er den Wartenden zu. »Ich glaube, er hat uns irregeführt. Er kam hier herauf, damit wir seine Spur auf dem harten Untergrund verlören. Danach ist er wieder in den Wald entkommen.« Er wandte sich ab und schritt auf den westlichen Rand des Tales zu. Dort war die Felswand nur noch ein niedriger Wall, hinter dem hohe Bäume aufragten. Atlan folgten ihm verwundert. Der Ysterone bewegte sich unsicheren Schrittes, als sei er betrunken. Argan U huschte an dem Arkoniden vorbei und eilte hinter dem Riesen her. Er bekam einen Zipfel des Gewandes zu fassen und turnte daran in die Höhe. Der Ysterone blieb stehen und sah sich verwundert um. »Was soll das?« fragte er mit dröhnender Stimme. Der Puschyde hielt inne. Er war fünf Meter weit geklettert. Jetzt spähte er mit großen Augen an der riesigen Gestalt empor, als wolle er sich überzeugen, daß er auch auf dem richtigen Weg war. Plötzlich stieß er einen gellenden Schrei aus, ließ los und sprang zu Boden. Fünf Meter waren für den kleinen Kerl eine beachtliche Distanz. Er stürzte und kam schwerfällig, benommen wieder auf die Beine. Atlan eilte auf ihn zu, um ihm zu helfen. Das war der Augenblick, an dem die Dinge erst richtig in Bewegung kamen. Aus dem Hintergrund des Talkessels kam ein röhrendes Dröhnen. Der Arkonide blickte auf und sah einen zweiten Ysteronen vor der hohen Felswand stehen. »Genug gespielt!« rief der Gigant mit donnernder Stimme. Dann fiel sein Auge auf Argan U, der sich auf den Boden gehockt hatte und unter leisem Wimmern sein rechtes Bein massierte. Augenblicklich setzte er sich in Bewegung. »Was ist dir geschehen, mein kleiner Freund? Wer hat dich verletzt?« Er musterte seinen Artgenossen.
»Du bist es gewesen. Du wußtest nicht, daß wir Freunde sind. Du hieltest dich im Labyrinth der Felsengänge versteckt. Als du hörtest, daß ich nach dir suchen wollte, wußtest du, daß ich ein paar Minuten in den Felsen zubringen würde. Du wolltest die Gelegenheit nützen, mich an meine Stelle zu setzen! Die Zwerge können einen Ysteronen nicht vom anderen unterscheiden, dachtest du. Nun, vielleicht hast du recht. Aber meinen kleinen Freund hättest du nicht verletzen dürfen!« Atlan hob die Hand. »Er hat ihn nicht verletzt, Girgeltjoff«, sagte er. »Argan U sprang freiwillig. Er hatte die Höhe unterschätzt. Und was das Täuschungsmanöver deines Artgenossen angeht – ich glaube, Argan U hatte ihn schon durchschaut, nicht wahr?« Der kleine Puschyde sah mit schmerzverzerrtem Gesicht auf. »Ja«, ächzte er. »Ich wußte, daß es nicht Girgeltjoff war. Deswegen sprang ich.« Atlan wandte sich an den zweiten Ysteronen, der sich bis jetzt weder gerührt, noch ein Wort gesprochen hatte. Die Artgleichheit war in der Tat verblüffend. Wenn nicht die Freundschaft zwischen Argan U und Girgeltjoff gewesen wäre – wer mochte wissen, wie lange dieser Enakssohn sie noch an der Nase hätte herumführen können! Selbst die Gewänder der beiden Ysteronen waren identisch. »Wer bist du?« fragte der Arkonide ernst. Der Ysterone verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die Heiterkeit ausdrückte. »Ich bin froh, dir begegnet zu sein, Fremder«, sagte er mit dröhnender Stimme. »Zu lange hat die Einsamkeit schon gewährt. Du hast mich vor meinem erzürnten Bruder in Schutz genommen. Ich danke dir dafür. Mein Name ist Traug‐Tul‐Traug.« Der Translator war darauf programmiert, Eigennamen im Originaltext wiederzugeben, soweit sie aussprechbar waren. Er tat dies und fügte die Übersetzung hinzu: »Traug‐Tul‐Traug: der einzige, der auf festem Boden steht.«
9. Traug‐Tul‐Traug folgte ihnen bereitwillig zur Solzelle‐2. Er verwickelte Girgeltjoff, der ihm nicht mehr zürnte, in eine angelegentliche Unterhaltung, in deren Verlauf der jüngere Ysterone mitunter weithin hallende Laute des Staunens von sich gab. Atlan, der das Gespräch mit Hilfe seines Translators teilweise mitverfolgte, gewann den Eindruck, daß Traug‐Tul‐Traug ein wenig schrullig sei. Die lange Einsamkeit mochte dafür verantwortlich sein. Der einzige, der auf festem Boden steht war offenbar ein älteres Exemplar seiner Art. Traug‐Tul‐Traug erinnerte sich nicht daran, wie lange er sich schon auf dieser Welt befand; aber nach seinen Erzählungen zu schließen, mußte es etliche Jahrzehnte her sein, seitdem man ihn auf Break‐2 abgesetzt hatte. An Bord des Schiffes wurde beide Ysteronen eine Mahlzeit serviert, die Atlan hatte vorbereiten lassen. Traug‐Tul‐Traug war von der Gastfreundschaft der Solaner sichtbar beeindruckt. »Bei euch läßt es sich Wohlsein«, erklärte er, nachdem er eine Menge an Proviant verschlungen hatte, mit der mühelos zwanzig Solaner hätten gespeist werden können. »Ich freue mich, daß ihr auf meiner Welt gelandet seid, und hoffe auf eine lang dauernde, beiderseits ersprießliche Freundschaft. « Inzwischen hatte sich der Hangar, in dem Girgeltjoff untergebracht war, mit allerhand Neugierigen gefüllt. Palo Bow und Brooklyn waren herbeigekommen, ebenso Breckcrown Hayes und die fünf Molaaten. Wer sich irgendwie hatte freimachen können und berechtigterweise hoffen konnte, von den Robotern am Hangarschott nicht zurückgewiesen zu werden, hatte sich eingefunden. Es war eine nach Dutzenden zählende Zuhörerschaft, vor der sich Atlans erstes Gespräch mit dem ysteronischen Einsiedler abwickelte.
»Unserer Freundschaft bist du gewiß«, versicherte der Arkonide. »Allerdings werden wir sie zumeist aus der Ferne betreiben müssen – es sei denn, du willst mit uns kommen. Denn wir haben nicht vor, uns auf dieser Welt lange aufzuhalten. Unser Ziel ist ein anderes.« »Das Ysterioon, nicht wahr?« fragte Traug‐Tul‐Traug. Atlan sah erstaunt zu ihm auf. »Woher weißt du das?« »Oh, es ist nicht schwer zu erraten. Aus welch anderem Grund sollten Fremde den Gürtel durchstoßen, von dem die Pluuh meinen, er sei undurchdringlich, als um den Ort zu finden, der der Ausgangspunkt so vieler Missetaten ist?« »Du hast uns beobachtet«, sagte Atlan. »Meine Geräte registrierten euer Schiff zum ersten Mal, als es aus der inneren Zone des Sperrgürtels hervorbrach«, bestätigte der Ysterone. »Die Neugierde packte mich. Ich wollte wissen, wer ihr seid. Deswegen sandte ich euch die Botschaft. Da ihr den Gürtel durchdrungen hattet, dachte ich mir, müßtet ihr vom Ysterioon wissen. Meine Worte sollten euch stutzig machen und hierher locken. Leider konnte ich nicht hören, was ihr antwortet. Man hat mir keinen Empfänger gegeben.« Er schlug eine Sekunde lang die Augen nieder, und ein Zucken ging über sein faltiges Gesicht. »Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich fühle, wie mein Leben sich dem Ende zuneigt. Ich sehnte mich nach Gesellschaft – und ich wollte euch sehen, um beurteilen zu können, ob ihr in der Lage sein würdet, dem Unheil zu Leibe zu rücken, das mein Volk seit Jahrhunderten plagt.« Er sah auf, und ein freudiger Glanz erschien in seinen Augen. »Wie ihr seht, habe ich Erfolg gehabt«, rief er. »Ihr seid hier. Ihr habt mir meinen kleinen Schauspielertrick droben in den Bergen vergeben und mich freundlich bewirtet. Unsere Freundschaft soll leben!« »Nicht so rasch«, mahnte der Arkonide. »Warum hast du versucht, mich in deine Gewalt zu bringen?«
»Dich? In meine Gewalt? Ich wollte mit dir sprechen, das war alles. Noch wußte ich nicht, was für eine Art von Wesen sich an Bord dieses Raumschiffs befand. Ich streckte meine gedanklichen Fühler aus und berührte ein paar Bewußtseine. Ich las in den Gedanken eines Geschöpfs, dessen Aufgabe es ist, Sterne zu beobachten und zu analysieren. In seinen Gedanken wurdest du mir beschrieben. Ich nahm das Bewußtsein des Geschöpfs und einiger seiner Freunde unter meine Kontrolle und trug ihnen auf, dich zu mir zu bringen.« Er schnitt eine Grimasse. »Das Dumme war, daß ich meine Kräfte überschätzte. Ich besaß keine Übung mehr darin, in die Gedanken anderer Wesen einzudringen. Die Anstrengung war zuviel für mich. Ich brach zusammen. Ihr müßt die Bäume gesehen haben, die ich dabei umriß. Eine Stunde lang lag ich starr vor Erschöpfung, und als ich mich endlich aufrichten konnte, war ich so schwach und hilflos wie ein Neugeborenes. Aber dich in meine Gewalt bringen? Niemals hatte ich eine solche Absicht.« »Ich glaube dir«, sagte Atlan nach kurzem, nachdenklichen Schweigen. »Gibt es viele in deinem Volk, die die Fähigkeit besitzen, in den Gedanken anderer zu lesen?« »Ich kenne keinen«, antwortete Traug‐Tul‐Traug und machte die Geste des Verneinens. »Und nach meinem jüngsten Erlebnis werde auch ich keinen Versuch in dieser Hinsicht mehr unternehmen.« »Aber du weißt über das Tabu?« Die Frage überraschte den Ysteronen. Er blickte geraume Zeit auf den Arkoniden hinab, bevor er antwortete: »Ja – was man so wissen nennt.« »Ich möchte darüber erfahren«, sagte Atlan. »Willst du mir erzählen, was du weißt?« »Ich bin gesättigt und der Ruhe bedürftig«, erklärte Traug‐Tul‐ Traug. »Wir haben viel Zeit. Laß mich dir morgen darüber berichten.«
»Wir haben keine Zeit«, hielt ihm Atlan entgegen. »Du vermutest richtig. Wir sind auf dem Weg zum Ysterioon, und jede Stunde, die wir zögern, kann neues Unheil über die Welten unschuldiger Wesen bringen.« »Glaubst du denn, daß es so leicht ist, diese Welt wieder zu verlassen?« fragte der Ysterone. Atlan nahm die Frage nicht ernst. »Ich sehe keine Schwierigkeit«, antwortete er kurz angebunden. »Ich wäre dir dankbar, wenn du uns berichten wolltest, was du über das Tabu weißt.« Traug‐Tul‐Traug gab einen seufzenden Laut von sich. »Also gut, ich will deine Ungeduld befriedigen. So höre denn, Fremder …« Traug‐Tul‐Traug´s Bericht »Das meiste weiß ich von meinen Vorfahren – meinem Vater und dessen Vater. Denn ich selbst, wiewohl alt und dem Tode nahe, reiche nicht weit genug in die Vergangenheit zurück, um all das Unglück, das mein Volk überfiel, am eigenen Leib erlebt zu haben. Vor langer Zeit lebten die Ysteronen glücklich und friedlich auf der Welt, auf der die Natur sie hatte entstehen lassen – einem Planeten nicht unähnlich diesem, mit frischer, sauerstoffreicher Luft, blauen Meeren und grünen Kontinenten. Sie waren ein geschäftiges Volk und entwickelten eine reiche Technik. Aber als es dazu kam, daß sie mit Raumschiffen ihre angestammte Welt verließen und in den Weltraum zu anderen Sternen hinaus vorstießen, da begegneten sie einem fremden Volk, das weit in der Ferne seine Heimat hatte und im Besitz einer Zivilisation war, die gegenüber der unseren einen Vorsprung von mehreren tausend Jahren hatte. Ich kenne den Namen dieses Volkes nicht. Ich weiß nicht, wie seine Vertreter aussehen oder wo sich ihre Heimatwelt befindet. Ich weiß nur, daß es meine Vorfahren lockte – mit Versprechungen von unerhörter Freiheit, unvorstellbarer Glückseligkeit und tiefstem innerem Frieden. Was es als Gegenleistung dafür verlangte, war nicht mehr und nicht weniger als unsere Heimat. Infolge einer
Verblendung, die heutzutage niemand mehr erklären kann, gingen die Ysteronen auf den Vorschlag ein. Sie verschacherten ihren Planeten gegen die Freiheit, das Glück und den Frieden, den die Fremden versprochen hatten – ohne auch nur annähernd glaubwürdig zu machen, daß sie ihr Versprechen würden halten können. Den Ysteronen wurde eine neue Heimat versprochen. Nachdem sie ihre angestammte Welt verlassen hatten, lösten die Fremden diese auf und förderten aus ihrem metallhaltigen Kern sämtliches Nickel zutage. Aus dem Nickel bauten sie das Ysterioon und sagten zu den Ysteronen: Das ist eure neue Heimat; in diesem Gebilde sollt ihr von nun an leben.« Traug‐Tul‐Traug, schwieg eine Zeitlang. Es war erkenntlich, daß ihm die Erinnerung zu schaffen machte. Schweißtropfen bildeten sich auf der flachen Stirn. Der Atem des Giganten ging heftig und stoßweise. Atlan hatte ihn fragen wollen, was das Ysterioon sei. Er verzichtete darauf, als er sah, wie schwer sich der alte Ysterone tat. Vielleicht kam er von selbst darauf zu sprechen. »Die Ysteronen taten, wie ihnen von den Fremden geheißen worden war«, fuhr Traug‐Tul‐Traug schließlich fort. »Sie zogen in das Ysterioon – und seitdem leben sie in dieser Falle des Teufels! Um sich das Glück, den Frieden und die Freiheit zu verdienen, die ihnen versprochen worden waren, mußten sie auf Geheiß der Fremden auf Nickeljagd gehen. Ich nehme an, ihr wißt, wie das geschieht. Man findet einen Planeten, der einen metallischen Kern enthält, löst ihn auf und birgt das kostbare Metall. Niemand hat je in Erfahrung gebracht, wofür Nickel gebraucht wurde. Die Fremden schienen einen unersättlichen Bedarf zu haben. Milliarden von Tonnen wurden angeschleppt und verschwanden spurlos – verschwinden heute noch! Gerade das aber ist das Unerklärliche. Denn die Fremden zogen sich vor langer Zeit zurück. Sie sagten, sie hätten ihr Versprechen eingelöst, und es sei nun an der Zeit, in einem anderen Raumsektor
aktiv zu werden. Aber unter den Ysteronen war in der Zwischenzeit eine neue Religion entstanden – anders kann man es nicht nennen. Mein Volk glaubte, das Nickel sei für seinen Fortbestand unerläßlich. Es fuhr fort, Welten aufzulösen und das kostbare Metall zum Ysterioon zu schaffen, wo es gewöhnlich spurlos verschwand. Die Fremden hatten uns einen Teil ihrer Technik hinterlassen. Mit den Mitteln, die sie uns zur Verfügung stellten, fiel es uns leicht, solch lächerliche Hindernisse wie zum Beispiel den Sperrgürtel der Pluuh zu überwinden. Wir waren ungehindert in unserer Bewegungsfreiheit, und mit unserem unersättlichen Hunger nach Nickel brachten wir Unheil über unzählige, von intelligenten Wesen besiedelte Welten.« Abermals schwieg der einzige, der auf festem Boden steht. Atlan musterte ihn mit Besorgnis und fragte sich, ob er ihm nicht doch lieber Ruhe gönnen solle. Aber es war eine Ungeduld in ihm, die ihm sagte, daß es wichtig sei, auf dem raschesten Weg soviel wie möglich über die seltsame Zivilisation der Ysteronen zu erfahren. Er unterdrückte seine Sorge und wartete geduldig, bis Traug‐Tul‐ Traug sich soweit erholt hatte, daß er mit seinem Bericht fortfahren konnte. »Ich kam im Ysterioon zur Welt, und alles, was ich bisher beschrieben habe, war längst geschehen. Ich besaß von früher Jugend an die Gabe, zu beobachten und mir über das Beobachtete Gedanken zu machen. Es schien mir widersinnig, daß mein Volk noch immer Geboten gehorchte, die ihm von Fremden gegeben worden waren, von denen niemand mehr wußte, wie sie aussahen oder wohin sie gegangen waren. Ich hörte die alten Legenden von Freiheit, Glück und Frieden und stellte fest, daß sie weiter nichts waren als das: Legenden. Mein Volk war unfrei, unglücklich und kannte keinen Frieden. Ich nahm an zwei Metallexpeditionen teil, als der Drang mich packte, und kenne das Leid, das die Ysteronen nicht nur über andere Sternenvölker, sondern auch über sich selbst bringen, aus eigener Erfahrung. Ich lernte, die Fremden, die längst
in der Vergangenheit verschwunden waren, aber von unseren Anführern noch immer als die ›Bringer unseres Glücks‹ gepriesen und verehrt wurden, als etwas Böses zu betrachten. Freilich durfte ich zu meinen Artgenossen davon nicht sprechen. Oh, ich versuchte es ein paarmal. Sie wurden zornig und meldeten mich den Bevorzugten. Wahrscheinlich hätte mich damals schon die Strafe erteilt, wenn nicht mein Vater den Verantwortlichen klargemacht hätte, ich sei schon von Geburt an nicht ganz richtig im Kopf gewesen. Ich bekam darauf hin einen Spitznamen. Man nannte mich ›den verrückten Erzähler‹. Ich hatte indes meine Lektion gelernt und hielt fürderhin den Mund – es sei denn, ich befand mich im Kreis von Freunden, auf die ich mich verlassen konnte.« Er machte eine weit ausholende Geste. »Nach außen hin war ich ruhig und spielte den, dessen Verstand man nicht so richtig trauen konnte. Aber in mir brannte die Wißbegierde. Ich hörte mich um, und da man mich allenthalben für den Verrückten hielt, bekam ich Dinge zu hören, die anderen nie zu Ohren kamen. Für eines hatte ich mich besonders zu interessieren begonnen. Das Ysterioon war ein riesengroßes Gebilde, das aus zahllosen Zonen und Zellen bestand. Aber keiner von denen, mit denen ich sprach, kannte mehr als einen winzigen Bruchteil des großen Ganzen. Überall, so sagte man, lebten Ysteronen. Wie wurden sie regiert, wenn selbst die Bevorzugten und Verantwortlichen nur ihre unmittelbare Umgebung kannten und niemand wußte, wie es in der angrenzenden oder in der übernächsten Zone aussah? ,Wer regiert uns?ʹ fragte ich einen meiner Freunde. ,Woher wissen die Verantwortlichen, was sie zu tun haben?ʹ Mein Freund lachte und antwortete: ,Sieht dir ähnlich, daß du dir den Kopf über ein Problem zerbrechen mußt, das es gar nicht gibt. Die Verantwortlichen wissen, was sie anzuordnen haben. Wer regiert uns? Wir regieren uns selbst!ʹ Wenn er das glaube, sagte ich ihm, dann sei er ein Dummkopf. Ein Gebilde, so groß und so komplex
wie das Ysterioon regiert sich nicht von selbst. Irgendwo mußte es eine ordnende Macht geben. Mein Freund wurde daraufhin sehr zornig und ließ mich wissen, er habe keine Lust, sich weiter mit einem Verrückten herumzustreiten. Ich nahm ihm seinen Ärger nicht übel. Fragen wie die meinen wurden von niemand anderem gestellt. Es war natürlich, daß er mich für verrückt hielt. Aber der Verdacht hatte sich in mir festgesetzt, und ich war entschlossen, ihm nachzugehen.« »Ich schlich mich einfach davon. Ich mischte mich unter den Verkehr, der durch einen der rohrähnlichen Kanäle floß. Ich dachte nicht, daß ich weit kommen werde. Aber wenn man mich faßte, konnte ich mich darauf hinausreden, daß mein Verstand verwirrt sei und ich nicht wisse, was ich tue. Zu meiner großen Überraschung erreichte ich die nächste Zone – und dann die übernächste, die dritte und die vierte – ohne ein einzigesmal angehalten zu werden. Ich fing an zu begreifen: was ich tat, war so ungewöhnlich, daß es nie jemand in den Sinn gekommen war, nach Umherirrenden zu suchen oder Barrieren zu errichten, an denen sie aufgegriffen werden konnten. Ich lernte rasch, wie ich es anstellen mußte, mir Nahrung zu verschaffen. Die meisten Ysteronen, mit denen ich es zu tun hatte, waren freundlich und gaben mir, ohne Fragen zu stellen, was ich brauchte. Nur ganz selten geschah es; daß ich stehlen mußte, um meinen Hunger zu stillen. Je weiter ich vordrang, desto öfter hörte ich die Bewohner des Ysterioons von der Tabuzone sprechen. Mit dieser hatte es offenbar eine seltsame und besondere Bewandtnis. Niemand wußte, wo sie sich befand. Ich schloß, daß ich mich ihr seit Beginn meiner Wanderung genähert haben müsse; denn dort, woher ich kam, wußte niemand etwas von einem Tabu. Hier und da versuchte ich, einen vertrauenswürdig aussehenden Ysteronen in ein Gespräch über die Tabuzone zu verwickeln, um mehr Informationen zu erhalten. Aber bald wurde mir klar, daß über das Tabu nicht gesprochen werden durfte. Ja, selbst daran zu denken, war bei Strafe
verboten – obwohl niemand bisher eine Methode entwickelt hatte, die geheimen Gedanken meiner Artgenossen zu erforschen. Ich zog also auf eigene Faust weiter. Die Zonen, die ich durchquerte, unterschieden sich in nichts von meiner Heimat. Das Leben im Innern des Ysterioons war uniform und homogen. Wenn ich von einer Zone zur nächsten gelangen wollte, hielt ich mich gewöhnlich in der Nähe einer Kanalmündung auf, bis der Verkehr dort eine gewisse Dichte erreichte, daß ich mich unbemerkt in den Strom aus Lasten, Waren und Wesen einschleusen konnte. Eines Tages jedoch gelangte ich an einen Kanal, vor dessen Mündung ich zwei geschlagene Tage verbrachte, ohne daß sich auch nur ein einziger Ysterone, eine einzige Warensendung dieses Verkehrsweges bediente. Infolge meines Herumlungerns würde ich über kurz oder lang einem der Verantwortlichen auffallen. Ich wartete, bis die Bewohner der Zone zur Ruhe gingen. Dann schlich ich mich in den Kanal. Ich wußte mit einemmal: ich war dem Tabu nahe. Nach langer Wanderung gelangte ich in einen Bereich, der sich in der Anlage seiner Straßen und Wohnabteilungen nicht von anderen Zonen unterschied; aber er war völlig leer. Hier wohnte niemand. Eine unheimliche Stille zwischen den hohen Wänden – und plötzlich spürte ich fremde Gedanken, die aus dem Nichts in meinen Verstand materialisierten. Damals muß ich jene Gabe erlangt haben, die ihr Telepathie und Suggestion nennt. Nie zuvor hatte ich die Gedanken eines anderen Wesens in meinem Bewußtsein gespürt. Ich lauschte den fremden Regungen und kam zu dem Schluß, daß sie nicht den Gehirnen meiner Artgenossen entsprangen. Die Gedanken, die auf mich eindrangen, waren so unglaublich fremd in ihrer Struktur und verwickelt in ihrer Logik, daß ich so gut wie nichts verstand. Nur eines begriff ich: hier wurde über das Schicksal der Ysteronen entschieden. Ich hatte endlich den Ort gefunden, von dem aus das Ysterioon regiert wurde.
Aber der Augenblick des Triumphs war gleichzeitig die Sekunde der Niederlage. Plötzlich wurde es dunkel ringsherum. Ich verlor die Orientierung und stürzte. Ein mächtiges Rauschen ertönte in meinem Schädel, und kurze Zeit später schwand mir das Bewußtsein. Ich empfing noch eine Reihe zorniger Impulse, die aus den Gehirnen der fremden Wesen zu kommen schienen – dann war alles aus. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in meiner Heimatzone. Ich erfuhr nie, wie man mich gefunden und zurücktransportiert hatte. Ein Tribunal saß über mich zu Gericht und warf mir vor, mich gegen ›das Unaussprechliche‹ sündhaft vergangen zu haben. Das Attribut ›sündhaft‹ war in diesem Zusammenhang von besonderer Wichtigkeit, denn es bedeutete, daß ich der Gemeinschaft der Ysteronen nicht mehr angehören dürfe, wenn ich für schuldig befunden wurde. Der Schuldspruch war einstimmig. Man ließ mir die Wahl, ob ich meinem Leben ein Ende machen oder in die Verbannung gehen wolle. Ich entschied mich für die Verbannung, was mich in den Augen meiner Artgenossen endgültig als Wahnsinnigen klassifizierte; denn es hieß, die Einsamkeit der Verbannung sei hundertmal schlimmer als der Tod. Ich störte mich nicht daran. Es hatte, soweit ich wußte, niemand je mit einem Toten und einem Verbannten gesprochen, um zu erfahren, welcher von beiden sein Schicksal für das schlimmere halte. Man ließ mich unter einer Vielzahl von Geräten wählen und diejenigen aussuchen, die ich mit mir nehmen wollte. Ich bekam, wonach mein Herz begehrte, nur Maschinen, mit denen ich Nachrichten von der Außenwelt hätte empfangen können, gab man mir nicht. Sie würden mich in den Wahnsinn treiben, sagte man – eine seltsame Art der Fürsorge gegenüber einem Wesen, das ohnehin von jedermann für verrückt gehalten wurde. So kam ich schließlich auf diese Welt. Das letzte, was ich je von meinem Volk sah, waren die Umrisse des Raumschiffs, das von dieser Ebene aus zum Rückflug startete und langsam in den Wolken
verschwand. Ich habe das Gefühl für den Ablauf der Zeit verloren. Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier bin. Ich fühle das Ende nahen und bin dem Schicksal dankbar, daß es mich so kurz vor meinem Tod noch einmal mit atmenden, denkenden Wesen zusammengeführt hat, besonders mit meinen Bruder Girgeltjoff, der mir die letzten Stunden meines Daseins verschönt.« Tiefes, ehrfürchtiges Schweigen senkte sich über die zahlreiche Zuhörerschaft, nachdem Traug‐Tul‐Traug seinen Bericht beendet hatte. Schließlich, nach mehreren Minuten, war es Atlan, der als erster das Wort ergriff. »Hast du während der Verhandlung mehr über die Tabuzone erfahren können?« fragte er. »Wurde ausgesagt, wer oder was ›das Unaussprechliche‹ ist?« Der Ysterone machte die Gebärde der Verneinung. »Nichts dergleichen«, antwortete er. »Ich stellte Hunderte von Fragen; aber niemand wollte darauf eingehen, und schließlich verboten sie mir sogar den Mund. Ich glaube nicht, daß selbst die Richter wußten, wer sich hinter dem Unaussprechlichen verbirgt.« »Und wer, glaubst du, sind die Geschöpfe, die in der Tabuzone wohnen und deren Gedanken du empfingst?« »Die Fremden, wer sonst«, sagte Traug‐Tul‐Traug niedergeschlagen. »Jedermann glaubte, sie hätten uns längst verlassen. Für die Mehrzahl mag das zutreffen. Aber eine Restgruppe hält sich in der Tabuzone versteckt und lenkt von dort aus die Geschicke der Ysteronen. Ich habe keinen Beweis für diese Behauptung; aber ich bin meiner Sache sicher.« 10. Traug‐Tul‐Traug bat darum, fürs erste bei seinem »Bruder« Grigeltjoff an Bord der Solzelle‐2 bleiben zu dürfen. Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden, insbesondere Atlan nicht, der hoffte,
von dem Ysteronen noch weitere Auskünfte bezüglich des Ysterioons erhalten zu können. Den Ausdruck »fürs erste« gebrauchte Traug‐Tul‐Traug allerdings nicht. Er sprach statt dessen, wie er es auch zuvor schon getan hatte, von den letzten Stunden, die er in Girgeltjoffs Gesellschaft verbringen wollte. Man gab sich Mühe, ihm die Todesahnungen auszureden; aber der alte Ysterone wollte nichts davon wissen. Mit der Hartnäckigkeit des fortgeschrittenen Alters hielt er daran fest, daß der Tod nur noch wenige Schritte entfernt sei. Die Medik‐ Experten des Schiffes sahen keine Möglichkeit, sein Ende hinauszuzögern. Zu fremdartig, zu verschieden von der des Menschen war die Natur des Ysteronen. »Wir haben es also«, sprach Atlan zu seinen Zuhörern in einem kleinen Raum abseits der Kommandozentrale, »wie im Fall Chail mit einem Volk zu tun, das von einer fremden Macht unterdrückt wird. Ich habe zu euch oft über meinen Auftrag gesprochen. Ich kann nicht anders: ich muß dafür sorgen, daß diese Tyrannei ein Ende findet. Hier wie im Raumsektor Chail werden wir eine Friedenszelle einrichten, wie es im Plan der kosmischen Mächte vorgesehen ist.« »Du gehst davon aus, daß Traug‐Tul‐Traug die Wahrheit sagt«, antwortete Palo Bow. »Daß er uns nicht irgendeine Geschichte erzählt, die er sich in den Jahren der Einsamkeit ausgedacht hat.« »Vergiß nicht«, unterstützte Brooklyn den Kommandanten, »daß sein Verstand mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich einen leichten Knacks hat.« Da meldete sich Bjo Breiskoll zu Wort. »Unaufrichtigkeit von Seiten des Ysteronen kann von vornherein ausgeschlossen werden«, erklärte er. »Ich habe seine Gedanken auf mich einwirken lassen, während er zu uns sprach. Was er berichtet hat, sind Erlebnisse, die er selbst als wahr empfindet.« »Die aber nicht unbedingt wahr sein müssen«, gab Palo Bow zu bedenken.
»Das ist richtig«, bestätigte der Katzer. »Aber sein Bericht wurde aufgezeichnet. Wenn Traug‐Tul‐Traug unter dem Einfluß eines Wahns steht, werden sich in der Aufzeichnung Ungereimtheiten finden.« »Die Analyse ist im Gang«, bemerkte Brooklyn. »Ich rechne mit den ersten Ergebnissen in ein bis zwei Stunden. Es ist nicht leicht, den verschlungenen Pfaden einer fremden Mentalität auf die Schliche zu kommen.« »Inzwischen wächst an Bord die Unruhe«, sagte Palo Bow. »Verschiedenes von dem, was Traug‐Tul‐Traug berichtet hat, ist an die Öffentlichkeit gedrungen. Das Ysterioon und die fremde Macht, die in seinen Tiefen lauert, erscheinen den Solanern immer unheimlicher. Sie werden nicht mehr lange Ruhe halten. Sie wollen zur SOL zurück.« Der Arkonide stand auf. »Um so dringender ist es, daß wir handeln«, erklärte er mit harter Stimme. »Wann kann die erste Patrouille starten?« »Wir haben noch nicht einmal eine Mannschaft beisammen«, hielt ihm Brooklyn entgegen. »Dann macht euch an die Arbeit«, sagte Atlan mit unüberhörbarem Ärger und übersah in diesem Augenblick geflissentlich, daß er nicht die Autorität besaß, den beiden Magniden Befehle zu erteilen. Unwillig kehrte er in sein Quartier zurück. Die Kosmokraten hatten ihm einen Auftrag erteilt. Er würde ihn erfüllen und sich dabei von Kleinlichkeit und unbegründeten Ängsten nicht stören lassen. Selbst wenn er nicht im Dienst der Kosmokraten gestanden hätte, wäre es aus Gründen der Menschlichkeit erforderlich gewesen, die Glaxis All‐Mohandot von dem Fluch zu befreien, den die unersättliche Metallgier der Ysteronen darstellte. Wieviel blühende Welten sollten den barbarischen Raubzügen noch zum Opfer fallen? Er setzte sich an sein Datengerät und begann, mit Hilfe einer
Simulation ein Fragenprogramm zusammenzustellen, das er Traug‐ Tul‐Traug vorzulegen gedachte. Das Programm war darauf abgestellt, auch die letzten, verborgensten Informationen aus dem Unterbewußtsein des Ysteronen ans Tageslicht zu bringen. Wenn er zum Ysterioon vorstieß, mußte er wissen, was ihn erwartete. Er gab sich, was die Gefährlichkeit des Unternehmens anging, keinen Illusionen hin. Die fremde Macht würde sich mit Krallen und Klauen gegen jeden Eindringling wehren, der ihren Einfluß zu verringern oder gar zu brechen trachtete. Plötzlich unterbrach er seine Tätigkeit und lehnte sich weit in seinen Sessel zurück. Warum ausgerechnet ich? ging es ihm durch den Sinn. Weil die Kosmokraten, antwortete sein Extragehirn spöttisch, einen sentimentaleren Narren nicht haben finden können. ENDE Während Atlan und die Besatzungsmitglieder der SZ‐2 sich mit den Geheimnissen der Ysteronen beschäftigen, wird die wartende SOL in einen schweren Kampf verwickelt. Mehr über diesen Kampf im Weltraum und über seine Folgen berichtet Hans Kneifel im Atlan‐Band der nächsten Woche. Der Roman trägt den Titel: DIE ZEHNLINGE