DIE ANWERBUNG Roman von Lynn Mason
Auf Basis der gleichnamigen Fernsehserie Von J. J. Abrams
Aus dem Amerikanischen von Christina Deniz
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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind auch im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
scanned by: crazy2001 @November 03 corrected by: casimyr Das Buch »Alias. Die Anwerbung« entstand nach der gleichnamigen Fernsehserie ausgestrahlt bei ProSieben. © des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung der ProSieben Television GmbH Erstveröffentlichung bei Bantam Books, eine Unternehmensgruppe von Random House, New York 2002. Titel der amerikanischen Originalausgabe: Alias. Recruited. ™ und © 2003 by Touchstone Televisison. All Rights Reserved. © der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft, Köln 2003 Alle Rechte vorbehalten. Lektorat: Michael Neuhaus Produktion: Wolfgang Arntz Umschlaggestaltung: Sens, Köln Satz: Hans Winkens, Wegberg Druck: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-8025-3290-9
Besuchen Sie unsere Homepage im WWW: www.vgs.de
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Was mich kolossal nervt, ist, wenn die Leute glauben, sie wüssten bereits alles über einen Menschen, den sie gerade erst kennen gelernt haben. Nehmen wir zum Beispiel mich: Ich bin groß und dünn und lasse mir einmal im Monat die Haare schneiden (höchstens einen halben Zentimeter, und wenn ich mutig bin, einen ganzen Zentimeter, aber nur, wenn Debbie an diesem Tag im Laden ist - nur ihr vertraue ich). Manchmal trage ich eine Hornbrille, und meine Freunde behaupten dann, ich sähe aus wie eine Bibliothekarin. Meistens sieht man mich mit einem elendig schweren Rucksack durch die Gegend ziehen. Ich trinke nicht, ich rauche nicht. Ich bin sportlich, ziehe aber den individuellen Wettbewerb jedem Mannschaftssport vor. Ich lese lieber zum neunten Mal Jane Eyre als auch nur eine Ausgabe der Cosmopolitan. Ich spreche fünf Sprachen (sechs, wenn mein Wald-und-Wiesen-Latein auch zählt). Anhand dieser wenigen Details kommen viele Menschen zu dem Schluss, dass ich ein vollkommen vergeistigter Typ bin. Dass ich kein Leben habe und in einer Welt der Bücher glücklich bin. Ja, dass ich bisweilen sogar in einer Fremdsprache träume und zu oft meinen Gedanken nachhänge. Und weifst du, was das Komische daran ist? Diese Leute haben Recht. Ich stehe am Beginn meines ersten Studienjahres, und irgendetwas da draußen wartet auf mich. Eine Art Berufung, ein höherer Sinn oder Lebenszweck ... oder so ähnlich. Ich kann es fühlen. Und ich werde herausfinden, wer oder was es ist...
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KAPITEL 1 »Das ist ja abartig!«, kreischte Francie und zeigte fast anklagend mit einem blassrosa lackierten Fingernagel auf Sydney. »Welcher normale Mensch nimmt denn Spanisch und Chinesisch als Wahlfächer?« Sydney Bristow verdrehte die Augen, und doch stahl sich ein nachsichtiges Lächeln in ihr Gesicht. Sie kannte Francie Calfo zwar erst seit diesem Sommer, doch die gelegentlichen temperamentvollen Anwandlungen ihrer Kommilitonin und Zimmergenossin kannte sie bereits zur Genüge. Mit ihrer melodischen Stimme und ihrem Hang fürs Dramatische konnte Francie aus jedem stinknormalen Gespräch heraus eine hochklassige, engagierte Diskussion vom Zaun brechen. »Sag's ihr, Baxter!« Francie stieß ihren neuen Freund mit dem Ellbogen gegen dessen muskulösen BasketballspielerArm. »Sag ihr, dass man im ersten College-Jahr gemeinhin Wahlfächer wie >Berühmte französische Filme< oder >Standardtänze< nimmt.« »Also, ich halt mich da raus«, erwiderte Baxter und hob halb kapitulierend, halb abwehrend die riesigen Hände. »Ihr könnt das meinetwegen gern ausdiskutieren, ich für meinen Teil versuche in der Zwischenzeit, den Eisverkäufer ausfindig zu machen.« Er drehte sich auf der Sitzbank um und ließ seinen Blick über das Treiben auf dem Campus der UCLA an diesem sonnigen Septembertag schweifen. »Lass gut sein, Fran«, sagte Sydney und deutete auf die vor ihr liegende Spanisch-Grammatik. »Ich mag Fremdsprachen, und es fällt mir leicht, sie zu lernen. Außerdem erhöhen Sprachkenntnisse meine Chancen auf eine Lehramtsstelle im Ausland.« -4-
Francie lehnte sich zu ihr hinüber. »Schön und gut, aber helfen sie dir auch dabei, Jungs kennen zu lernen?« Sydney lachte. »Keine Ahnung. Vielleicht Jungs aus dem Ausland.« Sie hoffte, für Francie war das Thema damit erledigt. Nachdem sie sich nun seit einigen Wochen mit Baxter traf, schien es Francie ein Bedürfnis zu sein, auch ihr zu einem Freund verhelfen zu wollen. Sydney musste zugeben, dass sie im Grunde nichts dagegen hatte. Es gab da nur ein kleines Problem: Alle Typen, die sie bisher getroffen hatte, kamen für eine Beziehung noch nicht mal theoretisch in Betracht. »So, du meinst es also ernst mit deiner LehrerinnenKarriere?«, fragte Francie zwischen zwei Bissen Salat. »Du siehst dich in Zukunft also tatsächlich vor einer Klasse stehen und die Gedanken zahlloser Hirne in rechte Bahnen lenken? Ich meine, unreife, widerwärtige, sexbesessene Hirne ...« »Du musst nicht immer von dir auf andere schließen«, meinte Sydney und lehnte sich ein wenig zurück, sodass ihr rosafarbenes T-Shirt ein Stück über den ungepiercten Bauchnabel rutschte. Und auch wenn sie es Francie gegenüber nie zugeben würde, hatte sie sich eben diese Situation schon oft vorzustellen versucht: An einem Katheder stehend zu dozieren, Texte von Sartre auf kreideverstaubte Tafeln zu schreiben, in den Pausen mit den anderen unterbezahlten Lehrerkollegen in einer überfüllten Halle herumzustehen und bei einer Tasse Kaffee zu tratschen ... Eben all das, was zu einem ganz normalen Lehrerdasein gehörte. Doch etwas an diesem Bild war falsch: Es hatte nichts mit ihr zu tun. Eine denkbar schlechte Voraussetzung für jemanden, der Pädagogik im Hauptfach studierte. So lange sie denken konnte, hatte sich Sydney aufs College gefreut. Und bislang hatte sie keinerlei -5-
Schwierigkeiten mit dem Studium an sich. Es waren ihre Mitstudenten, die sie verunsicherten. Jeder der hier Eingeschriebenen zählte zu den Besten der Besten seines Highschool-Abschlussjahrgangs - sie eingeschlossen. Hier trafen sie alle wieder zusammen: Die Streber, die Sportskanonen, die Computer-Geeks, die Schauspielasse, ja selbst die Vorzeige-Cheerleader - und sie alle versuchten, sich hier irgendwie einzugliedern. Nicht, dass sie bis jetzt einen von ihnen persönlich kennen gelernt hätte. Von den 30.000 Studenten an der UCLA kannte sie gerade einmal drei: Francie, Baxter und Todd de Rossi, den sie beim Lauftraining getroffen hatte. Die Einführungsseminare, die in den riesigen Hörsälen stattfanden, und die Vorlesungen hatten sie schier überwältigt. Und obwohl sie sich von offen zur Schau getragener Genialität noch nie hatte beeindrucken lassen, empfand sie die ständige Präsenz von Amerikas angehenden Elite-Gelehrten und Top-Wissenschaftlern doch ein wenig einschüchternd. So hatte sie beobachtet, dass selbst die Erstsemestler schon überaus engagiert mit ihren Professoren diskutierten, sei es in den Aufenthaltsbereichen oder bei einem Spaziergang über die Dickson Plaza. Einmal hatte sie mitbekommen, wie ein Dozent einem Studenten in der Kaffeepause angeboten hatte, ihm bei einem Problem behilflich zu sein. Die Großzügigkeit des Professors hatte sie beeindruckt - und auch ein bisschen wehmütig gestimmt. Ich wette, Mom war genauso, dachte Sydney jetzt, während sie gedankenverloren mit ihrem Kugelschreiber spielte. Ihre Mutter, Laura Bristow, war einst eine hoch angesehene Literatur-Professorin an der UCLA gewesen. Mehr noch, es hieß, sie war die geborene Pädagogin schlechthin. Doch das war, bevor sie bei einem Autounfall -6-
ums Leben kam, zu einer Zeit, als Sydney gerade sechs Jahre alt war. Es geschah an einem dieser typischen, leicht nebligen Freitagabende in Los Angeles. Sydneys Eltern hatten ins Kino fahren wollen, während ihre kleine Tochter zu Hause in der Obhut des Kindermädchens geblieben war. Und dann war auf dem Pacific Coast Highway ein Auto über den Mittelstreifen hinweg auf die beiden zugerast. Ihr Vater hatte versucht, dem entgegenkommenden Wagen auszuweichen, wobei er letzten Endes von der CanyonCreek-Brücke abgekommen und ins Wasser gestürzt war. Er hatte den Unfall überlebt, ihre Mutter nicht. »Sie hatte gar nicht die Zeit, darüber nachzudenken, was da passiert«, hatte ihr Vater dem kleinen Mädchen mit dem gebrochenen Herzen, das sie einmal gewesen war, erzählt. Als ob diese Einschätzung der Ereignisse auch nur ansatzweise ein Trost war. Typisch Papa, dachte Sydney. Stets ruhig, beherrscht und irgendwie seltsam unbeteiligt. Nicht, dass ihr Vater nie gelächelt hätte. Immerhin gab es dafür einen handfesten Beweis in Form eines Fotos in einem silbernen TiffanyBilderrahmen, der auf einem Schrank in seinem Schlafzimmer stand. Es war ein Schnappschuss von einem Ausflug nach Venice. Moms Hände ruhten auf Sydneys nackten, sonnenverbrannten Schultern, während sie mit halb geöffnetem Mund in die Kamera lächelte. Sydney dagegen, in ihrem Tanktop mit dem bunten Regenbogen, hielt eine tropfende Eistüte umklammert. An ihrem Kinn klebte noch ein Schokofleck. Und zuletzt Dad, der seiner offensichtlich glücklichen Frau zulächelte. Sydney konnte sich nicht erinnern, dieses Lächeln jemals live bei ihm gesehen zu haben. Nach dem Tod ihrer Mutter war Sydney bei ihrem fast nie anwesenden Vater groß geworden und hatte mehr Zeit -7-
mit ihren Büchern zugebracht als mit ihrer Familie oder Freunden. Mit der Zeit war die Erinnerung an Mom immer mehr verblasst, abgesehen von einigen wenigen Bildern, die sich unauslöschlich in ihr Hirn eingebrannt hatten. Wie etwa jener heiße Sommerabend, an dem sie Glühwürmchen in ausgediente Apfelmusgläser gesteckt hatten, in deren Deckel kleine Löcher gebohrt wurden. Oder der Tag, an dem sie in Disneyland eine Fahrt hinauf aufs »Matterhorn« unternommen und unisono vor Freude mal gelacht, mal gekreischt hatten. Oder die Nachmittage, an denen sie mit ihrer Mutter Brownies gebacken und die Teigreste aus der orangefarbenen Plastikschüssel genascht hatte, bis diese wieder ganz sauber war. Und schließlich die Momente, in denen sie ihre Mutter einfach nur beobachtet hatte, wie sie, das dunkle, seidige Haar zurückgebunden, in ihrer umfangreichen Sammlung alter ledergebundener Folianten stöberte - die wertvollen Bücher waren allesamt Geschenke ihres Mannes gewesen und nun Teil von Sydneys eigener Bibliothek. Francie hatte nicht lange gebraucht, um zu schlussfolgern, dass Sydney den Lehrerberuf nicht aus Passion anstrebte, sondern um mit dieser Wahl in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten und ihr damit eine letzte Ehre zu erweisen. Hatte Francie Recht mit dieser Vermutung? Wahrscheinlich. »Komm schon, Syd. Ich meine es ernst«, unterbrach Francie Sydneys schwermütige Gedanken und zog einen Schmollmund. »Du solltest dieses Lehrbuch jetzt wirklich zuklappen und darüber nachdenken, was du Freitagabend zu dieser Tropical-Gateway-Party anziehen willst. Darauf freuen wir uns doch schon seit Wochen!« Sydney seufzte. »Bien. Por que no?« Sie schlug das Buch zu und verstaute es in ihrem Rucksack. -8-
»Gutes Mädchen.« Francie nickte anerkennend. »Also. Trägst du nun deinen Hula-Rock oder den geblümten Sarong?« »Keine Ahnung. Wahrscheinlich den Sarong.« »Ausgezeichnet. Dann kann ich mir also den Hula-Rock ausborgen und ihn über meinem Bikini tragen? Bittebitte!« Francie riss flehend die Augen auf. »Hey, das hört sich gut an«, ließ sich nun Baxter vernehmen und drehte sich wieder zu ihnen um. »Ha!«, rief Francie aus und zeigte auf ihren Fieund. »Wie wär's, wenn wir alle drei mit Blumenketten auf der Party aufkreuzen würden? Wäre das nicht cool?« »Äh ... also, ich weiß nicht«, erwiderte Baxter und sein Lächeln erlosch. »Ich glaube nicht, dass ich meinen Teamkollegen so unter die Augen treten möchte. Die Jungs würden mich das ganze kommende Jahr über Martha Stewart nennen, das ist mal klar.« Francie verdrehte die Augen. »Sydney. Würdest du ihn bitte darüber aufklären, dass sich unsere Gesellschaft weiterentwickelt hat und dass Männer ihre Geschlechtsgenossen nicht mehr danach beurteilen, was sie tragen?« »Da kennst du meinen Freund Todd aber schlecht«, sagte Sydney. »Der hat einen untrüglichen Blick für modische Katastrophen.« »Danke, Sydney«, meinte Baxter und stand auf. »Und wenn die beiden entzückenden Damen mich nun entschuldigen würden. Ich muss einmal quer über den Campus - zu meiner Geschichtsvorlesung.« Er beugte sich zu Francie hinab und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss. Sydney starrte währenddessen auf ihren durchweichten Salat hinab und begann mit ihrer Gabel, die Blätter auf dem Teller neu zu arrangieren. -9-
Nach einer kleinen Ewigkeit schnappte sich Baxter endlich seinen Rucksack und machte sich davon. »Bye«, hauchte ihm Francie hinterher. Dann wandte sie sich wieder an Sydney und grinste übers ganze Gesicht. »Ist er nicht fantastisch? Ich freu mich riesig auf die Party. Wir drei werden tierisch viel Spaß haben!« »Ja-aa«, sagte Sydney gedehnt. Das fünfte Rad am Wagen zu sein, war nicht unbedingt eine tolle Vorstellung. »Weißt du«, sagte sie daher zögernd. »Ich muss dich mal was fragen. Bist du sicher, dass ihr mich wirklich auf diese Fete mitschleppen wollt?« »Syd.« Francie atmete vernehmlich aus. »Von Mitschleppen kann keine Rede sein. Wir wollen, dass du mitkommst, das ist doch keine Frage ...« Sie lächelte schwach. »Außerdem könntest du dir immer noch einen Begleiter suchen, sodass wir als Quartett dort aufkreuzen. Wie war's zum Beispiel mit diesem Jemand aus deiner Literaturklasse?« Nicht schon wieder, dachte Sydney und nahm einen kräftigen Schluck aus ihrer Mineralwassernasche. Höchste Zeit, das Thema zu wechseln. »Könnte ich mal einen Blick in deine Zeitung werfen?«, fragte sie und deutete mit dem Kopf auf die Los Angeles Register, die vor Francie auf dem Tisch lag. »Sicher.« Francie reichte sie ihr. »Warum?« »Ich brauche einen Job.« Sydney suchte und fand den Stellenanzeigenteil und schlug in auf. »Einen Job?«, wiederholte Francie lahm. »Ich dachte, du hättest ein Stipendium?« »Das stimmt«, erwiderte Sydney, während sie langsam die Anzeigen überflog. »Es deckt allerdings kaum meine laufenden Ausgaben. Und ich hab keine Lust, ständig meinen Vater um Geld zu bitten.« »Verstehe«, sagte Francie. - 10 -
Sydney war dankbar, keine weiteren Erklärungen abgeben zu müssen. Francie wusste mittlerweile, wie schwierig die Sache mit Jack Bristow war. Während ihrer langen abendlichen Gespräche hatte sich Sydney ihrer Kommilitonin nach und nach anvertraut und ihr über das unterkühlte Verhältnis zu ihrem Vater berichtet. Selbst an den lange zurückliegenden Elternsprechtagen war stets nur ihr ehemaliges Kindermädchen in der Schule erschienen. Und wenn sie heute Post von zu Hause erhielt, lag in dem Umschlag nur ein Scheck ohne eine einzige persönliche Zeile. Nun, da sie Psychologie im Hauptfach studierte, gab Francie oft und gern ihre neuesten Erkenntnisse in Form von Psychogebabble zum Besten. Für sie war klar, dass Sydneys Vater den Verlust seiner Frau nie überwunden hatte. Und die Tatsache, dass Sydney ihrer Mutter so ähnlich sah, erinnerte ihn nur umso stärker an seinen Schmerz. Ja, so mochte es sein. Zumal Sydney nie mit ihm darüber gesprochen hatte. Und es vermutlich auch nie tun würde. Oft nahm Sydney die wenigen kostbaren Fotos, die sie von ihrer Mutter besaß, zur Hand und prüfte sie eingehend. Sie beide besaßen die gleichen vollen, klar geschwungenen Lippen, dieselben tief liegenden dunklen Augen, die gleiche ausgeprägte Kinnpartie und dasselbe dichte kastanienbraune Haar. Sowohl auf den Fotos als auch in Sydneys verblassender Erinnerung lächelte ihre Mutter immer. Sydney dagegen war eher verschlossen und zurückhaltend, was neben ihrer Körpergröße das Einzige war, das sie dem Erbe ihres Vaters zurechnete. »Und? Schon was Passendes gefunden?«, fragte Francie und deutete mit ihrem Cracker auf die Stellenangebote. Sydney schüttelte den Kopf. »Telemarketing ... Telemarketing ... ein Job, der langjährige Berufserfahrung - 11 -
erfordert... Koch in einer besseren Frittenbude ... Friseuse ... Herrgott! Und hier sucht ein professioneller Fotograf >stark behaarte weibliche Models<.« »Würg!«, rief Francie aus. »Was das wohl zu bedeuten hat?« »Scheint so, als wäre ich aus dem Rennen«, murmelte Sydney und stützte ihr Kinn in beide Hände. »Ich kann nicht kochen, keine Dauerwelle machen, und übermäßig behaart bin ich auch nicht. Und bei der Vorstellung, irgendwelchen Leuten irgendwelchen Mist am Telefon aufzuschwatzen, wird mir einfach nur noch schlecht.« »Ich hab's!« Francie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Warum bin ich nicht früher darauf gekommen? Wir brauchen noch eine weitere Bedienung im Restaurant. Du solltest morgen mitkommen und dich um den Job bewerben!« »Bist du sicher?«, fragte Sydney und zog die Stirn kraus. »Ich hab noch nie gekellnert. Genauer gesagt hab ich noch nie irgendwas getan.« »Kein Problem. Bist du nicht in allem ziemlich gut?« »Zu lernen, wie man >Einen schönen Tag noch< in Mandarin sagt, ist eine Sache«, gab Sydney zurück. »Mit einem griesgrämigen, kurz angebundenen Koch namens Bubba klarzukommen, eine andere.« Francie sah sie viel sagend an. »Ich sage dazu nur eins: Trinkgelder.« Sie grinste. »Das ist der ganze Witz beim Kellnern. An so manchem Tag ist es die beschissenste Arbeit der Welt, aber es gibt keinen anderen Nebenjob, bei dem man abends mit so viel Geld in der Tasche nach Hause gehen kann.« Sydney hob eine Augenbraue. »Ich meine natürlich keinen anderen anständigen Nebenjob«, setzte Francie lachend hinzu. »Doch im Ernst: War's nicht toll, wenn wir zusammen arbeiten würden?« - 12 -
Sydney nickte, erst langsam, dann heftiger. »Okay, ich mach's.« Sie tauchte ihre Gabel wieder in den Salat und begann, nach den knusprigen Croutons darin zu suchen. Nun gut, Servieren war nicht unbedingt ein Traumjob, aber er würde ihr zumindest zu einer gewissen finanziellen Unabhängigkeit verhelfen. Und vielleicht, wer wusste das schon, auch zu einem Leben jenseits der Bücher. Auf einmal packte Francie sie am Unterarm und flüsterte ihr zu: »Nicht hingucken, aber ... da kommt er!« Sydney brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, von wem Francie sprach. Sein Gesicht hatte sich bei ihr eingebrannt, seit dem Tag, als er sich neben sie gesetzt und sich von ihr einen Stift ausgeliehen hatte - den er, nebenbei bemerkt, niemals zurückgegeben hatte. Es war traurig, aber seitdem wurde sie jedes Mal von einer stillen Erregung erfasst, wenn sie glaubte, ihren schwarzen Filzschreiber in seinen Händen zu entdecken. Und sie konnte der Gelegenheit nicht widerstehen ... ihn jetzt wieder zu sehen. Einen Blick auf sein dichtes, blondes, gewelltes Haar zu werfen, das ein Paar ungewöhnlich grüne Augen einrahmte. Auf seine gebräunte Haut, die irgendwie eine eigene, merkwürdige Hitze zu verströmen schien, und auf das Grübchen in seinem Kinn, das überaus kunstvoll in sein Gesicht gemeißelt worden war. Typen wie Dean Carothers wuchsen nicht auf Bäumen. Er war etwas ganz Besonderes, einer jener seltenen Vertreter seiner Art, die perfekt in einen Abercrombie & Fitch-Werbespot gepasst hätten. Oder in ein bodybetontes Musikvideo, wo pulsierende Beats jede seiner Bewegungen unterstrichen. Oder als Bohemien in einem Pariser Straßenbistro Milchkaffee schlürfend, einen Schal lässig um den Hals geworfen, das glänzende Haar von einer leichten Brise zerzaust... - 13 -
Doch abgesehen von seiner Attraktivität gab es noch etwas an Dean, das Sydney geradezu magisch anzog. Die Art, wie er sich bewegte, mit der Sicherheit eines jungen Mannes, der stets seinen Willen durchsetzte - zielsicher, selbstbewusst und doch mühelos-geschmeidig -, und das mit einem permanenten Lächeln auf den Lippen. Kurz: ein Typ, der wusste, was er wollte, und geradewegs darauf zusteuerte. Sydney konnte nicht umhin, ihn dafür zu bewundern. Dafür und für vieles andere mehr ... Er war jetzt nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt. Eine kribbelnde Vorfreude machte sich auf ihrem Nacken und ihren Wangen breit. Instinktiv zerrte sie wieder ihre Spanisch-Grammatik hervor und verschanzte sich mit eingezogenem Kopf dahinter. »Syd!«, raunte Francie ihr zu. »Versteck dich nicht vor dem Typen. Geh zu ihm und sag >hallo
»Ja, schon, aber dabei ging's meistens um meine Notizen oder um die Frage, ob ich ihm meinen Aufsatz zum Lesen überlasse«, erwiderte Sydney und hoffte, sie klang gleichgültig genug. »Nichts Besonderes also.« »So?«, rief Francie. »Wahrscheinlich flirtet er die ganze Zeit mit dir, und du kriegst es noch nicht mal mit!« Sydney musste kichern. Wovon träumte Francie eigentlich nachts? Typen wie Dean flirteten doch nicht mit ihr. Typen wie Dean taten rein gar nichts mit ihr. »Ich glaube nicht, Fran«, sagte sie daher. »Jetzt hör mir mal zu.« Francie lehnte sich zu Sydney herüber und sah ihr fest in die Augen. »Du gehst jetzt einfach da hin und redest mit ihm. Das ist alles. Die Party ist der perfekte Vorwand dafür. Und der Moment könnte kaum besser sein, jetzt, wo er noch allein ist.« Sydney hob den Kopf und riskierte einen flüchtigen Blick über die Schulter. Dean saß einsam an einem der schattigen Picknicktische, ganz ohne das übliche Gefolge, das ihm ständig an den Hacken klebte. Wenn sie mit ihm jemals unter vier Augen sprechen wollte, so war jetzt die Gelegenheit dazu. Mit einem hilflosen Blick wandte sie sich wieder an Francie. »Meinst du wirklich?« Die Freundin grinste. »Los, geh, bevor du es dir am Ende anders überlegst.« »Okay.« Sie holte tief Luft und erhob sich beinahe gegen ihren Willen. Fast musste sie ihre Füße dazu zwingen, sich vorwärts zu bewegen. Als sie sich seinem Tisch näherte, sah Dean zu ihr auf. »Hi«, sagte sie, während sie fahrig eine Haarsträhne zwirbelte, als ob sie sich an einer Sicherheitsleine festhielt. »Hey.« Er lächelte zögernd. »Wie geht's, wie steht's?« Sydney spürte, wie sich ihre eigenen Mundwinkel nach oben verzogen, wie das Blut wieder in ihre Wangen - 15 -
zurückkehrte. Sein Lächeln war das Signal gewesen, das nötig war, ihren Mut wieder zu finden. Sie hob die linke Schulter. »Geht so. Sag mal, hast du, ähm ...« Sie unterbrach sich, um sich zu sammeln. »Hast du schon von der Tropical-Gateway-Party gehört?« »Ja, sicher«, erwiderte er gelassen und rührte die Eiswürfel in seinem Mineralwasser um. Sie nickte. »Cool. Ahm ... und? Ich meine, würdest du zu so was hingehen?« »Ja, glaube schon«, sagte er schulterzuckend. Sydneys Herzschlag beschleunigte von Trab zu Galopp. »Ach, wirklich?« Visionen von Dean in Hawaiishorts, eine baumelnde Blumenkette vor seiner sonnengebräunten Brust, den Arm locker um ihre Schulter gelegt, erschienen vor ihrem inneren Auge. »Keine Ahnung. Vielleicht. Wenn ich nichts Besseres zu tun habe«, fuhr er fort. Seine smaragdfarbenen Augen sahen sie nun unverwandt an. »Warum? Machst du eine Umfrage für die Zeitung, oder was?« Ein kaltes Prickeln machte sich auf ihrer Haut breit. Oh Gott, dachte sie, er hat noch nicht mal im Traum daran gedacht, mit mir auszugehen! Und ich war drauf und dran, die Hosen vor einem Typen runterzulassen, für den ich nur eine unter vielen bin. »Nein«, sagte sie; es klang seltsam genuschelt. »Nein, ich wollte nur...« In diesem Moment wurde ihre Kehle trocken und eng, sodass sie den Satz nicht zu Ende bringen konnte. Alles, was sie wollte, war wegrennen und sich verstecken. Ist Kalifornien nicht der Staat der Erdbeben? Und wo sind sie, wenn man sie mal wirklich braucht? Da trat so etwas wie allmähliches Verstehen in Deans Miene. »Oh«, sagte er und straffte sich ein wenig. Ein amüsiertes Blinzeln erschien in seinen Augen. »Wolltest du - 16 -
mich etwa fragen, mit dir auszugehen, ähm, wie war noch mal gleich dein Name?« »Ich ... nein, nicht wirklich. Ich wollte ... ich meine, nein. Ich muss jetzt gehen«, sprudelte sie hervor, wobei sie ihre lackierten Fußnägel nicht aus dem Blick ließ. Hieß der Farbton nicht »Scharlachrote Betörung«? Sie sah wieder auf, riss sich dann von seiner Herrlichkeit Dean Carothers los und stapfte so schnell es ging zurück zu Francie. Erschießt mich - bitte, schnell, dachte sie. Peinlich berührt war noch untertrieben für das, wie sie sich im Moment fühlte. Ihr Gesicht musste Bände sprechen, denn Francie verkniff es sich zu fragen, was passiert war. Als Sydney wieder auf die Sitzbank zurücksank, legte ihr die Freundin den Arm um die Schulter und sagte nur: »Vergiss ihn. Er ist es nicht wert.« Sydney saß nur wie betäubt da und durchlebte den schrecklichen Moment ihrer Blamage wieder und wieder zu allem Überfluss in Zeitlupe. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Welcher Teufel hatte sie geritten zu glauben, sie hätte auch nur die geringste Chance bei Dean? Wolltest du mich etwa fragen, mit dir auszugehen, ähm, wie war noch mal gleich dein Name? Wie war noch mal gleich dein Name?... dein Name? Gut, er hatte in den Vorlesungen ein paar Mal mit ihr gesprochen. Und? Er war nicht interessiert. Er war einfach nur freundlich gewesen. Plötzlich wurden ihre düsteren Gedanken durch ein vielstimmiges hysterisches Gekreische unterbrochen. Sie fuhr herum, machte die Quelle des Lärms als ein MädchenTrio aus, das geradewegs einem Tommy-HilfigerWerbespot entstiegen zu sein schien. Im Schlepptau der drei befanden sich zwei niedliche Jungs, die Sydney von den Wirtschaftsvorlesungen wieder erkannte. Sie alle - 17 -
standen im Halbkreis um Dean herum. Und sie alle schauten zu ihr herüber. Und sie lachten. Offensichtlich ist er doch nicht so freundlich, dachte Sydney. »Komm«, sagte Francie sanft. »Lass uns gehen.« Sydneys Hände zitterten, als sie und Francie ihre Sachen zusammenpackten, ihre Rucksäcke schulterten und sich auf dem Weg zwischen dem Geologieund Mathematikwissenschaften-Gebäude vom Ort des Geschehens entfernten. »Gräm dich nicht«, sagte Francie leise und legte Sydney eine tröstende Hand auf die Schulter. »Du findest jemanden, der dich wirklich verdient. Nächstes Mal läuft's besser für dich.« Sydney antwortete nicht. Francie meinte es gut, aber sie irrte sich. Es würde kein nächstes Mal geben. Niemals. Das schwor sie sich.
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KAPITEL 2 »Ich behaupte ja nicht, dass es der beste Arbeitsplatz der Welt ist, aber so schlimm ist's da auch nicht. Ich meine, manche Gäste sind schon ziemlich kotzbrockig, oder schwer von Begriff, oder sie fragen nach idiotischen Sachen wie >Truthahn-Sandwich ohne Brot< oder so. Aber wirklich, so schlecht ist es auch wieder nicht«, plapperte Francie ohne Punkt und Komma, als sie Mittwochnachmittag durch das überfüllte Parkhaus in Downtown kurvten und nach einem freien Einstellplatz suchten. »Ist ja schon gut, Fran«, sagte Sydney, während sie einparkten. »Warum bist du denn so nervös?« Francie zuckte die Achseln. Auf ihrer linken Schulter hob und senkte sich eine dicke Strähne ihres langen, gekräuselten Haares. »Ich weiß nicht. Vielleicht, weil das alles meine Idee war. Ich würde mich verantwortlich fühlen, wenn du die Arbeit am Ende hassen würdest.« Sydney stellte den Motor ab. »Hey, du hast mich schließlich nicht dazu gezwungen. Im Gegenteil, du hilfst mir aus der Patsche. Und das weiß ich wirklich sehr zu schätzen.« »Okay«, meinte Francie und hob die Augenbrauen. »Aber wenn dir der Job nicht gefallen sollte, musst du mir versprechen, dass du ihn nicht mir zuliebe weitermachst, ja?« »Versprochen«, erwiderte Sydney. Angesichts der Tatsache, dass sie keine Erfahrung im Service vorzuweisen hatte, fühlte sie sich bei der Sache alles andere als wohl. Aber andererseits fing jeder ja mal irgendwo an. »Tatsächlich hab ich nicht gerade die freie Job-Auswahl.« Sie stiegen aus dem Wagen, und Sydney verriegelte die Tür ihres brandneuen weißen Ford Mustang. Ein Geschenk - 19 -
ihres Vaters zum Studienbeginn. Ohne fahrbaren Untersatz hatte man an der UCLA so gut wie kein Leben, und ohne die Hilfe ihres Vaters würde sie jetzt vermutlich eine Schrottkarre von einem »Autohaus« namens »Höker-Heinis unverwüstliche Gebrauchtwagen« fahren. Und dennoch war ihr unwohl bei dem Gedanken, ein solch großzügiges Geschenk angenommen zu haben. Jedes Mal, wenn sie das Auto ansah, musste sie an ihn denken, etwas, das sie sich freiwillig nicht allzu oft erlaubte. Insofern stellte das Auto eine unübersehbare Erinnerung daran dar, wie sehr ihr Vater ihr Leben noch immer kontrollierte - zumindest in finanzieller Hinsicht. Umso wichtiger, dass sie schnellstens einen Job fand. Sie überquerten die Straße und steuerten auf ein flaches, quadratisches Gebäude mit einer grünweiß gestreiften Markise zu. Auf dem Holzschild über dem Eingang stand in geschwungenen roten Lettern: Les Amis Cafe. Als sie durch den Haupteingang traten, atmete Sydney tief ein und schloss die Augen. »Mmmmmm. Gott sei Dank muss ich mich nicht mehr allein von dem Fraß im Wohnheim ernähren. Ich schwöre, ich wäre schon verhungert, wenn du nicht ab und zu was von der Arbeit mitbringen würdest. Riech mal!« »Ich weiß. Hier gibt's die besten Blintzes und Erdbeerkäsekuchen der Stadt«, bemerkte Francie mit einem Lächeln. »Moment mal! Mir hast du nie Käsekuchen mitgebracht.« »Na ja.« Francie verzog schuldbewusst das Gesicht. »Im Grunde schon, aber er hat's nie bis nach Hause geschafft.« »Francine!«, ertönte da die Stimme eines Mannes aus dem hinteren Bereich des Cafes, in dem die Küche und die Büros untergebracht waren. Als der Typ näher kam, konnte Sydney nicht umhin zu denken, dass er aussah wie ein zu - 20 -
groß geratenes Frettchen mit seiner knochigen Statur, dem hageren Gesicht, der langen, schmalen Nase und den winzigen braunen Knopfaugen. Er trat auf Francie zu und tippte dabei auf das Glas seiner Armbanduhr. »Dreieinhalb Minuten zu spät, Francine.« Dann lachte er bitter auf. »Aber wen interessiert das schon, nicht wahr?« »Sorry, Mr. Terwilliger. Es war 'ne Menge los in der Stadt; viel Verkehr, viele Staus«, erklärte Francie rasch, und als sie sein falsches Lächeln bemerkte, fügte sie hinzu: »Das ist meine Freundin Sydney. Ich hatte Ihnen von ihr am Telefon erzählt, Sie erinnern sich?« Sydney trat einen Schritt vor und streckte dem Mann artig ihre Hand entgegen. »Guten Tag, ich bin Sydney Bristow.« Eifrig ergriff Mr. Terwilliger ihre Rechte und schüttelte sie heftig auf und ab, auf und ab, auf und ab ... »Ja, ja, hallo. Sydney, richtig? Sehr nett, Sie kennen zu lernen. Ja.« Sydney hoffte, dass man ihr die Abscheu nicht ansah, als Mr. Terwilliger seine schlaffe, feuchte Begrüßung über Gebühr in die Länge zog. Jetzt verstand sie, warum sich Francie seit Wochen über ihren Boss beklagte und ihn ein ausgemachtes Arschloch nannte. Tatsächlich hatte Sydney noch nie einen unangenehmeren Zeitgenossen getroffen. Endlich ließ er ihre Hand los und deutete auf eine nahe gelegene Tür. »Nun, warum besprechen wir nicht alles Weitere im Büro?«, sagte er. »Sie müssen da noch ein paar Formulare ausfüllen.« »Ich fang dann mal mit meiner Schicht an«, sagte Francie mit einem aufmunternden Lächeln zu Sydney. »Komm zu mir, wenn du damit fertig bist.« Sydney betrat das spärlich möblierte, holzvertäfelte Büro und wischte sich dabei verstohlen die Hände an ihrem - 21 -
Leinenshirt ab. Dann nahm sie in einem quietschenden roten Vinylledersessel Platz, während sich Mr. Terwilliger auf seinen Bürostuhl hinter dem Schreibtisch plumpsen ließ. »Dann wollen wir mal«, sagte er und schob ihr einen Kugelschreiber sowie einen beidseitig bedruckten Bewerbungsfragebogen herüber. Als sie sich über das Blatt beugte und begann, das Formular auszufüllen, hätte sie eigentlich erwartet, dass Mr. Terwilliger sich nun empfahl, um erst dann wiederzukommen, wenn sie damit fertig war. Stattdessen blieb er einfach sitzen, schwang in seinem Bürosessel vor und zurück und tippte dazu im Takt mit seinem Kugelschreiber gegen die Tischplatte. Sydney versuchte, ihn zu ignorieren und sich, so gut es ging, auf die Fragen vor sich zu konzentrieren. Gott sei Dank brauchte sie nicht lange. Den einzigen Job, den sie vorzuweisen hatte, war eine Horror-Nacht als Babysitter bei den drei Kindern ihrer Nachbarn. »Dann wollen wir mal sehen«, murmelte Terwilliger, als sie ihm das Formular zurückschob. »Ausgezeichnete Schulabschlüsse. Ja. Unter den Besten der National-MeritAnwärter. Sehr schön. Stipendium ...« Er verstummte, seine Züge erschlafften, als er den Rest des Fragebogens überflog. Endlich legte er das Formular beiseite und verschränkte die Finger vor seiner Brust. »Sehe ich das richtig? Sie hatten bis jetzt noch keine Position in der Gastronomie inne?« Er betonte das Wort »Gastronomie«, als handele es sich hierbei um etwas so Bedeutungsvolles wie eine Heilmethode gegen den Krebs. »Ahm, nein«, erwiderte Sydney. In ihren Ohren begann es zu rauschen. »Aber ich hab mal Süßigkeiten im Rahmen einer Spendenaktion meiner Schule verkauft«, fügte sie mit einem hoffnungsvollen Lächeln hinzu. Unnötig ihm zu erzählen, dass sie nur zwei Schokoriegel losgeworden war - 22 -
an sich selbst. »Und ich hab an der Highschool auch ein bisschen Theater gespielt, insofern hab ich also keine Probleme mit kritischen Menschen. Und dann bin ich noch Mitglied des Bruins-Track-Laufteams was beweist, dass ich über Koordinationsvermögen verfüge, richtig?« Sie wurde nicht müde, ihr Gegenüber enthusiastisch anzugrinsen, wenngleich sie sich im Geiste auf ein »Danke-aber-neinDanke« gefasst machte. »Verstehe. Ja.« Mr. Terwilliger entknotete seine Finger und nickte langsam. Wieder vertiefte er sich in ihren Bewerbungsbogen, sah schließlich auf und lächelte. »Nun, Sydney«, sagte er. »Ich denke, wir können Sie in unserem Team gebrauchen.« Fassungslos starrte sie in seine hinterlistigen Nagetieräuglein. »Sie meinen, ich habe den Job?« »Genauer gesagt können Sie schon heute anfangen. Wir sind personell ein wenig unterbesetzt.« »Heute?«, wiederholte sie und blinzelte hektisch. Hatte er ihr den Job soeben wirklich angeboten? Hatte Francie ihn womöglich bestochen oder so? Mr. Terwilliger erhob sich und durchmaß sein Büro. »Wir haben da noch ein paar Ersatzarbeitsuniformen im Lagerraum. Keine Sorge, die sollten gereinigt sein. Ich möchte, dass Sie sich zunächst von Francie einweisen lassen. Nach ein paar Stunden können Sie dann selbstständig arbeiten.« »Das klingt toll«, rief Sydney, und ihre Wangen röteten sich vor Freude. Sicher, es war nur ein Kellnerinnen-Job, aber die Tatsache, dass jemand sie einer Anstellung für wert befunden hatte, dass jemand (und wenn es auch nur ein menschliches Frettchen war) es mit ihr versuchen wollte, erfüllte sie mit einem unerwarteten Gefühl von Stolz. Dem Herr sei Dank für Francie. - 23 -
Sydney setzte sich in Bewegung und schüttelte ihrem neuen Boss das klamme Händchen. »Danke. Vielen Dank.« Mr. Terwilliger öffnete die Bürotür und deutete in den Gastraum. »Sie haben vielleicht nicht besonders viel Berufserfahrung, aber ich hab ein gutes Gefühl, was Sie betrifft, Sydney. Ich denke, schon bald werden Sie feststellen, dass Sie für diesen Job wie geschaffen sind.« Fünf Stunden später versteckte sich Sydney hinter dem gigantischen, stählernen Kaffeeautomaten des Restaurants. »Wie schaffst du das nur, Fran?«, wisperte sie ihrer Freundin und Kollegin zu, wobei sie sich die schmerzenden Füße massierte. Obwohl Francie überaus geduldig und hilfsbereit gewesen war und Mr. Terwilliger sie vom Stand weg engagiert hatte, beschlich Sydney langsam, aber sicher das Gefühl, dass sie für diesen Job mitnichten wie geschaffen war. »Nun«, begann Francie, »ich trage für diese Arbeit zum Beispiel keine Stöckelschuhe.« Sie musterte ihr Spiegelbild in der glänzenden Metallverkleidung der Kaffeemaschine und zupfte ihren Pferdeschwanz und den Kragen ihrer pinkfarbenen Pepto-Bismol-Uniform zurecht. »Du musst dir unbedingt ein paar bequeme Schuhe zulegen.« »Hey, ich hatte mich für ein Bewerbungsgespräch angezogen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich unmittelbar danach schon mit der Arbeit beginnen würde«, gab Sydney zurück und wechselte von einem Bein aufs andere. »Außerdem hab ich das nicht gemeint. Was ich wissen wollte, war, fühlst du dich niemals -« Sie rang um die rechten Worte. ...... »Megagestresst?«, beendete Francie den Satz für sie. »Klar, die ganze Zeit. Aber keine Sorge, Sydney, du machst dich prima. Man braucht 'ne Weile, um seine Beine in den Griff zu kriegen, aber danach läuft's dann, als ob du 'nen Autopilot eingeschaltet hättest.« Sie klopfte Sydney - 24 -
aufmunternd auf die Schulter und kümmerte sich dann wieder um die korrekte Dosierung des kolumbianischen Kaffeepulvers. Es ist nur ein Job, dachte Sydney, als sie wieder in ihre Schuhe schlüpfte. Eine Chance, mich von Dad unabhängig zu machen, mich finanziell auf eigene Füße zu stellen. Falls meine Füße diesen ersten Arbeitstag überstehen ... »Ist der Kaffee bald mal fertig?«, blaffte ein Mann von einem nahe gelegenen Tisch in ihre Richtung. »Kommt sofort, Sir«, rief Francie zurück und lächelte ihn höflich an. Dann beugte sie sich zu Sydney hinüber und murmelte: »Mir scheint, der Typ sollte langsam mal zu Kaffee Hag wechseln, was meinst du?« »Allerdings«, bestätigte Sydney, und Bewunderung schwang in ihrer Stimme mit. Sah man Francie zu, dann erschien der Job fast wie ein riesengroßer Spaß. Tatsächlich hatte Sydney in den letzten Stunden eine gehörige Portion Respekt vor ihrer Freundin gewonnen. Francie witzelte mit den Gästen herum und lauschte deren Geschichten mit ehrlichem Interesse. Sie kannte sogar einige der Stammbesucher beim Namen. In den ersten beiden Stunden war Sydney ihr nicht von der Seite gewichen und hatte gelernt, wie man den normalen vom entkoffeinierten Kaffee unterschied (rote beziehungsweise blaue Dose!), wie man Bestellungen so notierte, dass der Koch sie auch lesen konnte, und wie man die grünen Stoffservietten korrekt faltete. Sie hatte sich sogar den typischen Singsang angewöhnt, mit dem Francie ihre Begrüßung unterlegte: »Hallo, ich heiße Sydney, und ich bin ihre persönliche Bedienung. Könnte ich Sie vielleicht für einen unserer preisgekrönten Appetizer erwärmen?« Doch irgendwie fiel es ihr schwer, Francies unerschütterliche gute Laune an den Tag zu legen. - 25 -
»Und? Wie macht sich unsere Neue?« Sydneys Kopf ruckte herum, und ihr Blick fiel auf ihre Kollegin Robyn, eine magere Rothaarige mit starkem texanischen Akzent. Sie schob eine Bestellung in die Durchreiche zur Küche. »Wette, du stehst kurz vor 'nem Kollaps, richtig?« »Sie schlägt sich tapfer, nicht wahr, Syd?«, fragte Francie und stieß Sydney mit dem Ellbogen an. »In den letzten Stunden hat sie die vorderen Tische ganz allein geschmissen. Sie ist ein Naturtalent.« »Ist das wahr?«, fragte Robyn, während sie einige Gläser mit Mineralwasser auf ihr Tablett lud. »Waren denn alle nett zu dir?« Sydney nickte. »Im Großen und Ganzen, ja.« »Also, wenn dir mal so richtig langweilig ist, mach es einfach so wie ich.« Sie hob das Tablett über ihren Kopf und wandte sich wieder dem Gastraum zu. »Versuch einfach zu erraten, was die Leute bestellen, noch bevor sie's dir gesagt haben. Ist nicht ganz wie >Glücksrad<, aber es hilft.« Sie drehte sich um und ging davon. »Danke, werd's versuchen«, rief Sydney ihr hinterher. Dann nahm sie ihr eigenes Tablett wieder auf und lächelte Francie zu. »Nun, dann werde ich mich mal wieder an die Arbeit machen.« »Nur noch drei Stunden«, sagte Francie und nickte zuversichtlich. Sydney ging zurück in den ihr zugewiesenen Bereich, bereit für einen neuen Anlauf. Sie schaffte es tatsächlich, das Hämmern in ihren Füßen zu ignorieren, als sie einem Mann an der Bar einen weiteren Kaffee einschenkte, organisierte einen sauberen Hochsitz für das zappelige Kleinkind eines jungen Paares und trug das angeblich verkochte Fischgericht eines Gastes wieder zurück in die Küche. - 26 -
Gerade als sie sich für eine weitere Pause hinter die riesige Kaffeemaschine zurückziehen wollte, schwang die Eingangstür auf, und die Silhouette eines Mannes vor der untergehenden Sonne erschien auf der Schwelle. Er steuerte direkt auf eine der Sitznischen im vorderen Bereich zu, für die Sydney zuständig war. Sie sah ihn aufmerksam an und versuchte, sich Robyns Rat zu Herzen zu nehmen. Was mochte er wohl bestellen? Der Mann war knochig gebaut, hatte lichtes blondes Haar und ein breites, pockennarbiges Gesicht. Mit Sicherheit einer dieser Fleisch-und-KartoffelKandidaten, vermutete sie. Und anschließend wird er alles mit einem kalten Bier runterspülen wollen. Als Sydney auf ihn zutrat, hob der Mann den Kopf und starrte sie aus wässrigen blauen Augen an. Als sie ein Glas Wasser vor ihm abstellte und die Karte daneben legte, taxierte er sie unverhohlen von oben bis unten. »Hallo, ich heiße Sydney, und ich bin ihre persönliche Bedienung. Könnte ich Sie vielleicht für einen unserer preisgekrönten Appetizer erwärmen?« »Klar.« Sein Blick wanderte über ihren Körper. »Für so einen Appetizer lasse ich mich gern erwärmen, Puppe.« Er lächelte anzüglich. »Vielleicht einige heiße -«, fuhr sie mit gepresster Stimme fort. »Sicher, ich steh auf heiße Sachen.« »- Shrimp-Quesadillas?« »Ich sag dir was, Cindy.« Er schlug die Menükarte zu, lehnte sich ein wenig zu ihr vor und senkte seine Stimme. »Warum bringst du mir nicht erst mal 'nen Kaffee, und dann besprechen wir, was ich will.« Sydneys Wangenmuskeln schmerzten unter dem erzwungenen Dauerlächeln. »Wie Sie meinen, Sir«, erwiderte sie schnell und marschierte zurück zur Theke. - 27 -
»Entschuldigt, Leute, aber wie sauer - ich meine, auf einer Skala von eins bis zehn - würde Mr. Terwilliger werden, wenn ich einem seiner Gäste ein Glas Eiswasser in den Schoß kippen würde?« »Was? Von wem redest du?«, fragte Francie, während ihr Blick über die Tische flog. »Von dem Penner da drüben in der Ecke.« Francie und Robyn verrenkten sich fast die Hälse, und dann rissen sie im gleichen Moment fassungslos die Augen auf. »Ach du liebe Güte«, sagte Francie und schüttelte den Kopf. »Diesen Typen kenne ich; der ist echt übel. Süße, tut mir Leid, wenn ich ihn hätte reinkommen sehen, hätte ich den für dich übernommen.« »Armes Kind«, murmelte Robyn. »Unglaublich, dass du schon an deinem ersten Tag an dieses Arschloch geraten musst.« »Ihr kennt ihn also?« »Leider, ja«, erwiderte Francie und verdrehte die Augen. »Er kommt oft hierher. Schlägt dann meist bis zu einem halben Tag Wurzeln an einem der Tische und schikaniert die Bedienung. Als ob er daraus irgendwie seine Daseinsberechtigung zieht.« »Habt ihr Terwilliger davon erzählt?« Robyn schnaubte verächtlich. »Das kannst du vergessen. Zum einen hat unser lieber Boss wahrscheinlich viel zu viel Schiss, um sich mit diesem Typen anzulegen, zum anderen macht der Idiot am Ende immer 'ne dicke Rechnung. Und nur daran ist Terwilliger wirklich interessiert.« »Soll ich ihn übernehmen?«, fragte Francie und machte Anstalten, auf den Mann zuzugehen. »Ich kenne diesen Blödmann immerhin zur Genüge.« »Nein!« Sydney packte sie am Arm und zog sie zurück. »Das wäre nicht fair. Ich hab gerade mal ein paar - 28 -
Sitznischen und ein paar Leute an der Bar zu bedienen, während jede von euch fast das halbe Restaurant betreuen muss.« In diesem Moment krakeelte eine Stimme durch den Raum. »Hey, Cindy! Ich wollte den Kaffee sofort, Puppe, nicht erst Weihnachten!« Francie und Robyn bedachten Sydney mit einem mitfühlenden Blick. »Keine Sorge«, sagte diese, während sie eine große, braune Tasse mit Kaffee füllte. »Ich komm schon klar mit ihm.« Sie zauberte ein freundliches und, wie sie hoffte, nicht zu freundliches Lächeln auf ihr Gesicht, und ging wieder zurück an den Tisch des Rüpels. »Bitte schön.« Sie setzte die Tasse vor ihm ab. »Was kann ich sonst noch für Sie tun?«, fragte sie und zückte ihren Bestellblock. Der Mann blinzelte ihr zu. »Wie wär's mit deiner Telefonnummer für den Anfang?« Sie umklammerte den Notizblock ein wenig fester und holte tief Luft. »Wie wäre es mit einer unserer hausgemachten Suppen?«, schlug sie vor. Ruhig bleiben, beschwor sie sich, vergiss nie, dass du nicht gut genug bezahlt wirst, um dich mit diesem Abschaum rumzuärgern. »Wir haben Kartoffeleintopf, Hühnersuppe, Gazpacho ...« »Wie wär's mit ein paar knackigen Schenkeln«, unterbrach er sie mit einem schmierigen Lächeln. »Was ich damit sagen will, ich nehme die Honig-BarbecueHähnchenschenkel. Und zieh am Draht, Puppe. Bin schließlich ein guter Kunde hier.« Einfach grinsen und Maul halten, sagte sie sich, als sie den Bestellzettel in die Küchendurchreiche schob. Ignoriere den Typen und seine widerlichen Bemerkungen und mach deinen Job. - 29 -
Als das Essen fertig war, belud Sydney ihr Tablett, holte tief Luft und ging zurück an den Tisch des plumpen Aufreißers. Der saß noch immer mit dem gleichen lauernden Gesichtsausdruck in seiner Ecke. Sie schlug die Augen nieder, beugte sich ein wenig über den Tisch und stellte den warmen Teller und das Soßenschüsselchen vor ihm ab. Plötzlich spürte sie eine Berührung an ihrem rechten Knie. Sie erstarrte und sah erschrocken auf. Der Typ hielt lässig seine Kaffeetasse in der einen Hand, während er mit der anderen unter ihren Rock langte. Das war's! Ohne groß nachzudenken, schlug sie seine Hand von ihrem Bein, wirbelte herum und stieß ihm das schwere Plastiktablett gegen die Brust. Lauwarmer Kaffee spritzte durch die Gegend und auch auf den Typen. Als er vor Schreck ein Stück nach vorn kippte, rammte sie ihm das Tablett genau unter seinen Adamsapfel. »Verdammt!«, kreischte der Mann außer sich. Sein großes, fleischiges Gesicht war blass geworden unter den unzähligen Kaffeespritzern, seine blutunterlaufenen Augäpfel zuckten hin und her. Plötzlich fiel jede Bedrohlichkeit von ihm ab, plötzlich wirkte er einfach nur noch unglaublich lächerlich. »Und jetzt sag ich Ihnen was!«, brüllte Sydney ihn an. »Suchen Sie sich in Zukunft ein anderes Restaurant. Und sollten Sie es doch noch einmal wagen, hierher zu kommen, beschränken Sie sich gefälligst auf die Dinge, die auf der Karte stehen!« »Yeah!«, rief eine Frau triumphierend von einem der Nebentische. Andere begannen zu applaudieren, einschließlich Francie, die näher gekommen war, um ja nichts zu verpassen. Robyn, die neben der Küchentür stand, musste lachen und schlug sich dabei die Hände vors Gesicht. - 30 -
»Was ist denn hier los?«, ertönte da Mr. Terwilligers Stimme, der aus seinem Büro geschossen kam. Uuuups! Rasch zog sich Sydney einige Schritte zurück und setzte ihr Tablett auf einem der anderen Tische ab. Der Typ sprang auf und rieb sich augenfällig den geschwollenen roten Fleck an seinem Hals. »Diese Bedienung da hat mich tätlich angegriffen«, keuchte er und zeigte mit dem Finger auf Sydney. »Ich sage Ihnen, die ist völlig durchgeknallt!« »Ist das wahr?«, fragte Mr. Terwilliger mit Blick auf seine neue Angestellte. »Mr. Terwilliger, er wurde zudringlich«, begann Sydney. »In Wahrheit hat er ...« »Haben Sie einen unserer Gäste tätlich angegriffen, ja oder nein?«, fragte ihr Boss lauter. Die Heilbutt-Augen des Pockennarbigen wanderten von Sydney zu dem Frettchen und wieder zurück. Ihr Magen sackte eine Etage tiefer. »Ja, das habe ich, aber ...« »Ich bedaure, aber ein solches Verhalten seitens unseres Service-Personals können wir nicht dulden«, sagte Terwilliger mit einem angedeuteten Nicken in Richtung des Widerlings, das wieselhafte Gesicht in strenge Falten gelegt. »Ich wünsche, dass Sie gehen.« »Sie meinen ... ich bin entlassen?«, fragte Sydney mit bebender Stimme. Sie war immer perfekt gewesen, in allem, was sie getan hatte ... Sie konnte nicht glauben, dass man sie soeben aus einem Kellnerinnen-Job gefeuert hatte! Nun, da ihre Wut verflogen war, fühlte sie sich schwach und erschöpft, und langsam begriff sie, was sie eigentlich getan hatte. Was ist los mit dir?, schrie sie sich innerlich zu. Deine Freundin verschafft dir einen Job, und du verbockst die Sache schon in den ersten Stunden! Damit hab ich bestimmt 'nen Rekord aufgestellt. - 31 -
»Mr. Terwilliger, tun Sie das nicht«, ließ sich nun Francie vernehmen und trat einige Schritte vor. »Dieser Typ hat es schon 'ne ganze Weile darauf angelegt.« Ein paar der anderen Gäste murmelten zustimmend. Robyn starrte unverwandt zu Boden. »Das haben Sie nicht zu entscheiden, Francine«, erwiderte Terwilliger nur. Er umrundete seine Angestellte und drehte ihr einfach den Rücken zu, als er hinzusetzte: »Ich bin hier der Geschäftsführer - und jetzt gehen Sie wieder an Ihre Arbeit.« »Verdammt richtig«, bemerkte das Arschloch und lehnte sich selbstgefällig in seiner Sitznische zurück. »Und ich will jetzt meinen Kaffee, und zwar pronto.« Sydney bemerkte, wie sich Francies Blick verhärtete, während sie eine Hand zur Faust ballte. Sie kannte dieses Zeichen nur zu gut. Jeden Moment konnte die Freundin ein Stakkato verbaler Hiebe austeilen, die mit jedem Wort pointierter und leidenschaftlicher wurden. Und obwohl sie die Loyalität ihrer Freundin sehr zu schätzen wusste, machte es wenig Sinn, wenn sie am Ende beide ihren Job verloren. Gerade als Francie tief Luft holte, ging Sydney auf sie zu und legte ihr besänftigend beide Hände auf die Schultern. »Ist schon in Ordnung«, sagte sie und suchte ihren Blick. »Ich bin eh nicht für diesen Job gemacht.« Sie drehte sich zu Terwilliger um. »Ich lege meine Uniform wieder zurück.« Sie ging in den Personalraum, atmete tief ein, um die Angst niederzukämpfen, die sie zu erdrücken drohte. Großartig. Nicht nur, dass sie ihre Freundin vor den Kopf gestoßen und ihren ersten Job in den Sand gesetzt hatte - sie stand nun wieder an genau demselben Punkt wie gestern. Was sollte sie jetzt tun? Sie besaß keinerlei Erfahrung, keine Verbindungen und keine herausragenden - 32 -
Talente. Und falls nicht ein ganz großer Glücksfall eintreten sollte, hatte sie keine Perspektive. Nein, Terwilliger hatte Unrecht. Ich bin für diesen Job keineswegs wie geschaffen, dachte sie. Sie schluckte hart, als sie ihre Bluse überstreifte und die formlose Kellnerinnen-Uniform wieder über den weißen Plastikbügel hängte. Doch bin ich überhaupt für irgendetwas wie geschaffen?
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KAPITEL 3 »Sydney! Key! Bristow! Du kannst mit dem Laufen aufhören!« Von der anderen Seite der Aschenbahn drang Todd de Rossis kräftige Stimme an ihr Ohr und riss Sydney aus ihren Gedanken. Sie kam am nächsten Zwischenstopp zum Stehen, beugte sich nach vorn und stützte ihre Hände auf die Knie. »Hast du was gesagt, Todd?«, fragte sie atemlos. Todd war Mitglied im Laufteam der Männer, und manchmal fiel ihr Training zusammen. Er hob den Arm und zeigte auf seine Armbanduhr. »Das Training der Frauen hat schon vor zehn Minuten geendet, wie auch das der Männer«, rief er ihr zu. »Einsatz ist ja schön und gut, aber ich glaube nicht, dass dein Coach es sonderlich toll findet, wenn du langsam, aber sicher einen Graben in den Schotter pflügst.« »Ach«, bemerkte Sydney mit Blick auf ihre BugsBunny-Uhr mit Metallarmband. Verdammt! Ihr Seminar für Staatskunde begann in fünfunddreißig Minuten! Der Nachmittag war wie im Fluge vergangen. Sie hatte sich heute wahrlich nicht geschont, und wann immer sie irgendwas beschäftigte, war Laufen die beste Methode zur Stressbewältigung. Der gleichmäßige Rhythmus ihrer Füße wie ihrer Atmung versetzte sie stets in einen tranceartigen Zustand, der es ihr ermöglichte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen und manchmal auch eine Lösung für ein Problem herbeizuführen. Doch heute war es anders gewesen. Nach einer Dreiviertelstunde Dauerlauf war sie der Klärung ihrer Situation noch keinen Schritt näher gekommen, und die Wunden, die die letzten Tage in ihrer Seele hinterlassen hatten, schmerzten nach wie vor. - 34 -
Sie schlenderte hinüber zu Todd, der bei der unüberdachten Zuschauertribüne stand, und schüttelte im Gehen ihre Beine aus. »Bin wahrscheinlich ein bisschen rammdösig heute.« Todd drehte sich zu ihr um, die Miene in seinem dunklen Gesicht spiegelte leichte Sorge wider. »Alles in Ordnung mit dir?« Sydney starrte ihn nur befremdet an. War das so offensichtlich? Sie kannte Todd erst seit einigen Wochen, insofern konnte es nicht sein, dass er ihre Stimmung so ohne weiteres erriet. Sie musterte sein Gesicht und fragte sich, ob sie ihm vertrauen konnte. Immerhin hatte sie ihn gleich gemocht. Todd gehörte zu den schrägen Theaterund Tänzer-Typen, aber er war nicht überkandidelt. Sydney liebte sein dunkles, melodisches Lachen und die Art, wie sein Lächeln das Gesicht in Falten legte und die braunen Augen funkeln ließ. Und doch kannte sie ihn nicht wirklich. Dazu kam, dass sie es hasste, sich bei Fremden auszuweinen - selbst bei Francie fiel es ihr schwer. Sie fühlte sich in solchen Situationen einfach nur schwach. »Nein. Alles okay. Wirklich«, erwiderte sie und schenkte ihm ein breites Grinsen. »Hab mir gestern Abend nur 'ne Überdosis Ben & Jerry-Eiscreme gegönnt und wollte sichergehen, die Kalorien heute auf jeden Fall abzuarbeiten.« »Das verstehe ich gut.« Todd nickte zustimmend. »Ich bin so verrückt nach >Chunky Monkey<, dass mein Exfreund mir sogar mal mit Konsequenzen gedroht hat.« Sydney lachte. »Egal. Bin froh, dass es dir gut geht«, sagte er mit einem warmen Lächeln. »Also, ich spring dann mal schnell unter die Dusche. Bis morgen!« Er winkte ihr zu und ging auf die offene Stahltür zu, hinter der sich der Umkleideraum befand. - 35 -
»Bis dann!«, rief Sydney ihm nach. Sie wanderte noch eine Weile über die Aschenbahn und ließ dabei Schultern und Kopf kreisen. Dann hielt sie inne und bog das linke Bein nach hinten, bis die Sohle ihres Laufschuhs ihr Hinterteil berührte. Als sie ein leichtes Zerren im linken Oberschenkel verspürte, stellte sie sich wieder gerade hin und wiederholte die Übung mit dem rechten Bein. Du musst sehen, dass du da schnellstens wieder rauskommst, Syd, dachte sie, als sie sich hintenüberbeugte, bis ihre Handflächen das Gras berührten. Diese ganze Trübsalblaserei hilft dir nicht weiter und verschreckt zudem die Leute. Sie erhob sich, presste ihre Stirn gegen das rechte Knie, straffte sich, und beugte sich dann hinab zur anderen Beinmitte. Vertreib es einfach 'ne Weile aus deinem Kopf. Entspann dich. Genieß das schöne Wetter. Sie konnte fühlen, wie ihre Stimmung sich ein wenig hob, als sie tief durchatmete und ihren Blick über den Sportplatz schweifen ließ. Es war einer jener klaren, wolkenlosen Tage, die alle Welt mit Südkalifornien verband. Das Sonnenlicht war fast mit Händen zu greifen und erwärmte angenehm ihren Körper. Auf der anderen Seite des Maschendrahtzauns wiegten sich alte Eichen unter der leichten Brise. Irgendwo versteckt in den Baumkronen schimpfte eine Spottdrossel. Warum nur verschwendete sie ihre Zeit mit Selbstmitleid? Sicher, sie hatte einige Probleme und ein paar Rückschläge erlitten. Aber vielleicht sollte sie sich einfach wieder darauf besinnen, die Schönheit der Welt um sich herum zu genießen. Sie ließ ihren Blick über das bunte Herbstlaub schweifen und schüttelte ihre Arme aus, um die Muskulatur zu lockern. Plötzlich wurde sie von einem kurz aufflackernden Licht geblendet. Sie blinzelte in die Richtung, aus der es - 36 -
gekommen war. Auf der Straße standen parkende Wagen. Eines der Autos kam ihr bekannt vor: ein schwarzer Sedan. Er hatte schon dort gestanden, als sie heute Morgen am Sportplatz eingetroffen war. Ein Auto, das gern von Herren wie ihrem Vater gefahren wurde: bodenständig, trist und praktisch. Als sie genauer hinschaute, erkannte sie auf dem Fahrersitz eine Silhouette hinter der getönten, halb heruntergelassenen Seitenscheibe. Und die Sonne in ihrem Rücken spiegelte sich in irgendetwas, das sich im Wagen befinden musste. Vielleicht reflektierten die Gläser einer Sonnenbrille? Wurde sie am Ende aus diesem Auto von jemandem beobachtet? Sie wirbelte herum und stapfte auf den Bau mit den Umkleidekabinen zu. Der leise Anflug von Frieden, der sich noch vor wenigen Minuten bei ihr eingestellt hatte, war wie weggeblasen. Das war doch alles nicht mehr fair! Konnte sie noch nicht mal in Ruhe ihr Lauftraining absolvieren, ohne dass irgendwas Widerwärtiges geschah? Erst die Sache im Restaurant und nun das. Bestand die Welt eigentlich nur aus Perversen? Sydney öffnete ihr Politikwissenschaften-Buch und vergrub sich dahinter, um nicht sehen zu müssen, was sich jenseits davon abspielte. »Weiter auf!«, ertönte Francies Stimme jenseits des Wälzers. »Mmmmm«, machte Baxter. Sydney versuchte, sich auf ihre Lektüre zu konzentrieren. Mal sehen ... Die Demokraten glaubten an soziale Reformen und die Internationalisierung der Gesellschaft. Die Republikaner fanden, dass die Regierung sich aus einigen Dingen raushalten sollte, insbesondere aus den Bereichen Handel und Wirtschaft. Und die Liberalen waren der Meinung, dass ...« - 37 -
»Crackers!«, rief Baxter aus. »Die brauchen wir.« Es folgte eine Salve von schmatzenden Kussgeräuschen und anderen, undefinierbaren Lauten. Francie kicherte verhalten. »Oje. Sieh nur, was ich gemacht habe. Jetzt ist dein ganzer Mund mit RanchDressing verschmiert.« Sydney seufzte ungehalten. Es störte sie nicht, dass Baxter nun in jeder Mittagspause anwesend war. Baxter war ein cooler Typ. Auch seine Spaß-beim-EssenTurteleien mit Francie waren nicht das Problem. Sie selbst war das Problem. Sie fühlte sich überflüssig. Ein nutzloses Anhängsel ohne Privatleben, das an Francie klebte wie eine Klette. Francie hatte keine Schwierigkeiten, auf alle Welt freundlich zuzugehen und sich mit jedermann anzufreunden. Ob sie nun an der Kasse im Supermarkt oder an der Bushaltestelle stand. Ja, selbst wenn sie ihre Dessous im Waschraum des Studentenwohnheims zusammenlegte, konnte dieses Mädchen ein Gespräch mit Wildfremden beginnen, als seien diese Zufallsbekanntschaften langjährige Intimfreunde. Und nicht zuletzt wegen Francies Offenherzigkeit hatten sie sich überhaupt kennen gelernt. Sydney war von Natur aus schüchtern. Nicht schüchtern in dem Sinne, dass sie Angst vor Fremden hatte - sie hatte einfach einen gehörigen Respekt vor der Privatsphäre anderer Menschen. Einige Leute hielten sie für arrogant, nur weil sie in den Pausen lieber las als herumzutratschen. Nicht, dass sie sich für etwas Besseres hielt, sie sah es einfach nur nicht ein, bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre persönliche Meinung in die Welt hinauszuposaunen. Sie hatte ihre langen, mal mehr, mal weniger tiefsinnigen Gespräche mit Francie, und die reichten ihr voll und ganz. Nicht wahr? - 38 -
»Hey, Syd.« Plötzlich erschien Francies Kopf über der Kante ihres aufgeschlagenen Buches. »Willst du mit uns nach Westwood fahren? Da hat ein neues Cafe aufgemacht, in dem sie schon nachmittags Live-Jazz spielen.« »Ich glaube nicht«, erwiderte Sydney und schlug sich den Gedanken an einen schäumenden Cappuccino mit cooler Musikuntermalung aus dem Kopf. »Ich muss noch 'ne Menge für diesen Test lesen.« »Sicher?«, fragte Francie nach. »Ja, ganz sicher, ich bin total im Stress.« Sie deutete auf die Bücher und die anderen Unterlagen, die vor ihr auf dem Picknicktisch lagen. »Geht ihr nur.« »Okay«, sagte Francie achselzuckend. »Und viel Glück mit der Prüfung. Wie sehen uns dann auf dem Zimmer.« »Bye, Syd«, rief Baxter und hob eine Hand zum Abschied. Sydney bemerkte einen kleinen Klecks Salatdressing an seiner Unterlippe. Sie sah den beiden nach, wie sie Hand in Hand davongingen. Plötzlich musste sie an Dean denken, und das altbekannte Gefühl tiefer Demütigung stellte sich wieder ein. Sie riss ihren Blick von Fran und Baxter los, schob die Ärmel ihrer hellblauen Bluse hoch und versuchte, den Aufruhr der Gefühle niederzukämpfen. »Entschuldigen Sie bitte. Sind Sie Ms. Bristow?« Sydney sah auf. Vor ihr stand - wie aus dem Nichts aufgetaucht - ein Mann in einem schwarzen Anzug. Er mochte um die fünfzig sein; sein sich lichtendes helles Haar war teilweise schon ergraut. Die breiten Schultern und die kräftige Statur zeugten von einer gewissen Sportlichkeit; vielleicht ein ehemaliger Footballspieler. »Ja ... das bin ich. Ich bin Sydney Bristow«, sagte sie zögernd. Es geschah nicht oft, dass sie auf dem Campus von wildfremden Männern angesprochen wurde, vor allem nicht von solch stattlichen Exemplaren. Und schon gar - 39 -
nicht von solchen, die so überaus geschäftsmäßig gekleidet waren. »Ich heiße Wilson. Ich bin Neuanwerber bei der Central Intelligence Agency.« Mit unbewegter Miene reichte er ihr eine graue Visitenkarte. Sydney sprang ein Firmenlogo ins Auge: Credit Dauphine Bank and Trust. Darunter stand der Name Reginald Wilson sowie eine Adresse und Telefonnummer. Nichts auf der Karte deutete auf eine Verbindung zur CIA hin. Sie blickte wieder auf und sah den Unbekannten eine Weile schweigend an. Helles Sonnenlicht ergoss sich über seine Schultern. Wollte ihr hier irgendeine Studentenverbindung einen üblen Streich spielen? »Ach ja?«, sagte sie schließlich, ohne die Skepsis in ihrer Stimme zu verhehlen. »Hab ich diese Nummer nicht erst letztens bei Vorsicht Kamera gesehen?« »Ich versichere Ihnen, ich mache keine Scherze«, fuhr er mit seiner monotonen und gänzlich emotionslosen Stimme fort. Er griff in seine Brusttasche und zog eine ledernes Etui hervor. Als er es aufklappte, wurde eine ID-Karte mit dem offiziellen CIA-Logo sichtbar. Er hielt ihr den Ausweis entgegen. Sydney blinzelte. Vielleicht war der Mann ja wirklich echt. Trotz der warmen Nachmittagssonne bekam sie plötzlich eine Gänsehaut. Was konnte der Geheimdienst von ihr wollen? Hatte sie in der Politikvorlesung irgendwas Falsches gesagt? Oder vergessen, ein altes Knöllchen zu bezahlen? Diese und andere idiotische Erklärungsversuche schössen ihr durch den Kopf. Da erschien der Anflug eines Lächelns in Mr. Wilsons Gesicht. Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, deutete er auf seinen Ausweis und sagte: »Kein Grund zur Sorge. Wir sind auf der Suche nach viel versprechenden Studenten, die - 40 -
wir für eine Position innerhalb unserer Organisation gewinnen und ausbilden möchten. Und wir sind der Meinung, dass Sie die perfekte Kandidatin sind.« Es war, als ob eine riesige Welle über ihr zusammenschlug. In ihren Ohren begann es zu rauschen. »Ich?«, fragte sie atemlos. »Für ... die CIA arbeiten?« »Wenn Sie interessiert sein sollten, melden Sie sich unter der Telefonnummer, die auf der Karte steht«, fuhr er fort, ohne von ihrer Verwirrung Notiz zu nehmen. »Und bitte, verlieren Sie sie nicht. Wir stehen nicht im Telefonbuch, und wir werden sie kein zweites Mal ansprechen.« Sydney sah Wilson nur sprachlos an, dann die Visitenkarte, dann wieder Wilson. »Aber wie immer Sie sich auch entscheiden mögen«, setzte er eine Spur ernster hinzu, »Sie dürfen mit niemandem über diese Unterhaltung sprechen - niemals. Ich kann das gar nicht ausdrücklich genug betonen.« »Okay«, murmelte sie schwach. Ein Anflug von Panik überfiel sie. »Das... werde ich nicht.« »Gut«, sagte er, und die Schärfe war wieder aus seiner Stimme gewichen. »Ich hoffe, schon bald von Ihnen zu hören.« Mit einem Nicken wandte er sich um und ging auf dem Bürgersteig davon. Sydney legte die Stirn in Falten, als sie ihm nachsah. Als ob mir irgendjemand die Geschichte glauben würde, dachte sie benommen. Sorgfältig verstaute sie die Karte in der vorderen Tasche ihres Rucksacks. Am nächsten Morgen suchte sie zwischen den Vorlesungen ihren ganz persönlichen Zufluchtsort auf: die College-Bibliothek im Powell-Library-Gebäude. Schon in ihrer ersten Woche an der UCLA hatte sie eine beschauliche Ecke im hinteren Bereich der Abteilung für Nachschlagewerke ausfindig gemacht. Hier war es ruhig - 41 -
und gemütlich, und Sydney fühlte sich zwischen den großen verstaubten Folianten fast wie zu Hause. Sie setzte sich auf den Hartholzfußboden und stemmte ihre Füße gegen das Seitenteil eines alten Eichenregals, sodass ihr Schoß als behelfsmäßiger Schreibtisch dienen konnte. Dann strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die aus ihrem Pferdeschwanz gerutscht war, und vertiefte sich in ihr Biologiebuch. Am Nachmittag stand eine größere Prüfung an, in der es um die Zellstruktur von Pflanzen und Tieren ging. Doch sie konnte nur an die Visitenkarte in ihrem Rucksack denken. Gestern Nachmittag und auch die ganze zurückliegende Nacht hindurch hatte sie das Gespräch mit Reginald Wilson immer wieder Revue passieren lassen. Der Mann hatte vertrauenswürdig gewirkt, und auch sein CIA-Ausweis hatte echt ausgesehen, obwohl ihr natürlich klar war, dass man so etwas mit Leichtigkeit fälschen konnte. Doch jedes Mal, wenn sie sich den Moment in Erinnerung rief, in dem Wilson ihr sagte, dass die CIA sie rekrutieren wollte, streikte ihr Verstand. Diese Vorstellung war so abstrakt und irreal, ja, fast schon bizarr, dass sie ihr Denken schlichtweg blockierte. Der berühmteste Geheimdienst der Welt war an ihr interessiert? Eher hätte sie es für bare Münze genommen, wenn sie den Zehn-Millionen-Dollar-Preis des Publishers Clearing House gewonnen oder wenn Francie beschlossen hätte, einem Nonnenorden beizutreten. Oder dass ein Raumschiff mit Aliens sie auf eine Vergnügungstour durchs All mitzunehmen gedächte ... Musste nicht jemand, der auf oberster Ebene für die Regierung arbeitete, so etwas wie ein Übermensch sein? Stark, hoch begabt, qualifiziert und absolut unerschrocken. Was wollte die CIA also mit einem Mädchen, das sich fast in die Hose machte, wenn es um die - 42 -
Verabredung mit einem Jungen ging, und das noch nicht mal einen simplen Kellnerinnen-Job schaffte? Sydney fand, dass, wenn die CIA sie wollte, diese Organisation bei der Wahl ihrer Mitarbeiter nicht besonders wählerisch sein konnte. Vergiss es, sagte sie sich und hob das Lehrbuch näher an ihr Gesicht. Da hat sich offensichtlich jemand mit dir einen Scherz erlaubt. Und so, wie die Dinge im Moment standen, konnte sie derartigen Stress nun wirklich nicht gebrauchen. Dieser Wilson war vermutlich nur ein Schauspieler, den die Mitglieder irgendeiner studentischen Verbindung angeheuert hatten, um arglosen Kommilitonen einen Streich zu spielen. Doch was, wenn nicht?, fragte eine Stimme in ihrem Kopf. Ihr Blick wanderte hinüber zu ihrem Rucksack und blieb an der Außentasche hängen. Was, wenn der Mann tatsächlich ein CIA-Anwerber und sein Angebot echt war? Sydney klappte ihr Lehrbuch zu und zog den Rucksack zu sich heran. Sie öffnete den Reißverschluss der Außentasche und holte Wilsons steife graue Visitenkarte hervor. Sie musste sich eingestehen, dass sie dort anrufen wollte. Sie wollte, dass es wahr war. Wenn er ihr nicht die Karte gegeben hätte, wäre ein Schwindel viel wahrscheinlicher und die Purzelbäume, die ihre Fantasie seither geschlagen hatten, wären nichts weiter als überspannte Wunschbilder gewesen. Doch da war diese Karte, und sie verlieh dem Ganzen eine nicht wegzudiskutierende Glaubwürdigkeit - wie ein Souvenir oder eine schriftliche Einladung. Ein kleiner, gleichwohl handfester Beweis, der ihr neue, aufregende Zukunftsperspektiven zu verheißen schien. Sie seufzte schwer und starrte aus dem großen Panoramafenster am anderen Ende des Raums. Draußen auf den Gehwegen gingen Studenten, allein oder in kleinen - 43 -
Grüppchen, ihren unbekannten, und doch vorbestimmten Zielen entgegen - unerschütterlich und mit entschlossenem Blick. Und ich?, fragte sich Sydney. Wohin gehe ich? Von Tag zu Tag war sie sich weniger sicher, ob ihr Ziel, Lehrerin zu werden, die richtige Entscheidung war. Ja, wenn man es genau nahm, zerbröselte ihre sorgfältige Zukunftsplanung immer mehr. Sicher, bis jetzt hatte sie ihr Studium sehr erfolgreich absolviert, doch tatsächlich erfüllten sie die Vorlesungen nicht mit jenem Gefühl der Befriedigung, das sich gemeinhin einstellte, wenn man seinem Wunschziel wieder ein Stückchen näher gekommen war. Die meisten Leute, die sie hier kennen gelernt hatte, schienen allein daran interessiert zu sein, einander zu übertrumpfen - und der Rest war nur auf Spaß und Party aus und benutzte das Studium als Vorwand für ein lockeres Leben. Sie musste zugeben, dass der einzige Höhepunkt ihres Studentenlebens darin bestand, sich zum Lunch mit Francie zu treffen. Und nun, da Baxter auf den Plan getreten war, hatte sie selbst dazu immer weniger Lust. Sydney kam zu dem Schluss, dass sie sich nirgendwo zugehörig fühlte. Hier war sie also und verkroch sich in die abgelegenste Ecke der Uni-Bibliothek, um sich hinter ihren Büchern zu verschanzen. Die meinen es mit ihrem Jobangebot bestimmt nicht ernst, dachte sie zum tausendsten Mal. Höchstwahrscheinlich ertönt am anderen Ende der Leitung infernalisches Gegröle und Gelächter, wenn ich die Nummer auf der Karte anrufe. Nein, eine weitere kalte Dusche brauchte sie weiß Gott nicht. Und auch wenn es tatsächlich wahr sein sollte, wer - 44 -
garantierte ihr, dass sie nicht wieder eine Fehlentscheidung traf, wenn sie sich dort meldete? Sie schloss ihre Hand um die Visitenkarte und sah langsam hinüber zu dem Mülleimer, der in der Nähe stand. Einen Moment lang blieb sie reglos sitzen, unschlüssig, was sie tun sollte. Dann erhob sie sich und verstaute die Karte wieder in ihrem Rucksack.
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KAPITEL 4 »Unzählige angehende Ingenieure auf diesem Campus versuchen herauszufinden, wie man der Schwerkraft trotzt«, murmelte Francie, »und mein Haar tut es ganz von allein!« Sie fuhr sich mit den frisch manikürten Fingern durch ihre dicke schwarze Mähne und sah ihr Spiegelbild zweifelnd an. »Eventuell sollte einer dieser Studenten mal hier vorbeischauen, um das Phänomen am lebenden Objekt zu untersuchen?« Sydney, die auf der Bettkante saß, beobachtete sie, die langen Beine vor sich ausgestreckt und übereinander geschlagen. »Relax, Francie«, sagte sie mit einem amüsierten Lächeln, »du siehst fantastisch aus.« Francie schenkte ihr ein dankbares Lächeln und wandte sich dann wieder zum Garderobenspiegel um. »Weißt du, ich will nicht, dass Baxter denkt, ich wäre Groupie einer Punkband geworden oder so. Viele seiner Freunde kommen heute Abend zur Party, und ich will ihn nicht blamieren.« Sie nahm ihr Haar zurück und versuchte, es mit einer glänzenden Spange zu bändigen, doch sie gab den Versuch mit einem frustrierten Grunzen wieder auf. »Lass mich mal«, meinte Sydney. Sie stand auf und zwinkerte ihrer Freundin zu. »Danke.« Francie durchquerte den Raum und stellte sich mit dem Rücken zu Sydneys Bett auf. Ihr Hula-Rock aus Bast raschelte bei jeder Bewegung. »Weißt du«, sagte sie, als sie Sydney die Haarbürste reichte, »ich wünschte, du würdest mitkommen.« Sie seufzte. »Klar, die Sache mit Dean war scheiße, aber das sollte dich doch nicht davon abhalten, Spaß zu haben. Wahrscheinlich taucht der Typ noch nicht mal auf der Party auf. Und wenn, dann hetzen wir die Jungs auf ihn.« - 46 -
Die Erwähnung von Deans Namen versetzte Sydney einen Stich in der Brust und verursachte ihr gleichzeitig einen Druck in der Magengegend. Es fühlte sich an, als ob all ihre lebenserhaltenden Organe nach oben trieben, um ihr Herz zu beschützen. »Das ist es nicht«, log sie und hoffte, Fran bemerkte nicht, wie ihre Hände zitterten, als sie die langen schwarzen Locken der Freundin ausbürstete. »Ich bin heute Abend einfach nicht in Partylaune. Ich bin echt erledigt.« Francie sog vernehmlich die Luft ein. »Ist das wirklich der Grund? Ehrlich? Ich hätte nämlich keinen Spaß, wenn ich wüsste, dass du hier traurig herumsitzt, während wir uns amüsieren.« Sydney biss sich auf die Unterlippe. Sie war immer stolz darauf gewesen, wie leicht es ihr fiel, ihre Gefühle in Schach zu halten. Doch komischerweise kostete es sie Francie gegenüber stets ein Mehr an Überzeugungsarbeit. »Pfadfinderehrenwort«, sagte sie daher und hielt zwei Finger in die Luft. »Du hattest Recht, als du meintest, ich würde mir mit all den Fächern, die ich belegt habe, ein wenig zu viel zumuten. Diese Woche war echt tödlich.« »Du musst mir versprechen, dass du im nächsten Semester ein bisschen kürzer trittst. Höchstens fünfzehn Stunden die Woche, okay?« »Versprochen«, sagte Sydney erleichtert. Offensichtlich hatte sie Francie am Ende doch noch überzeugt. Sie wüsste, die Freundin meinte es nur gut, aber es war ausgeschlossen, dass sie heute mit auf diese Party ging. Zum einen war sie zu solchen Anlässen noch nie die große Spaßkanone gewesen. Sie fühlte sich einfach nicht sonderlich wohl bei der Vorstellung, den ganzen Abend von unzähligen Fremden gemustert zu werden. Lieber unternahm sie etwas in Gesellschaft einer kleineren, überschaubaren Gruppe von Leuten. Zum anderen würde - 47 -
die Tatsache, dass sie als Anhängsel der Turteltauben Fran und Baxter mit zu dieser Party ging, sie nur noch mehr frustrieren. Francie würde sich genötigt sehen, sich pausenlos persönlich um sie zu kümmern und sie dauernd auffordern, doch dies oder das zu tun - und dabei die ganze Zeit mit Baxter herumschäkern. Und Sydney würde das Gefühl nicht loswerden, als ob sie den Abend, auf den die Freundin sich schon so lange freute, irgendwie sabotierte. Alles in allem eine weitere, ziemlich demütigende Situation. Und was, wenn zu allem Überfluss Dean mit seinem Hofstaat dort aufkreuzt? Sydney krümmte sich fast bei der Vorstellung. Auf keinen Fall! »Okay, halte mal für einen Moment still«, sagte sie, während sie mit festem Griff einige störrische Haarsträhnen packte und in die Höhe hielt. Mit ihrer freien Hand suchte und fand sie einige ihrer eigenen Messinghaarspangen. Damit steckte sie die Lockenpracht an Frans Hinterkopf auf und zupfte abschließend noch ein paar neckische Strähnchen heraus. »Fertig«, sagte sie und versetzte Francie einen leichten Klaps gegen die Schulter. »Wow! Das sieht einfach klasse aus!« Francie drehte sich zum Spiegel und lächelte. »Perfekt! Danke, Syd. Du hast mir gerade das Leben gerettet.« In diesem Moment ertönte ein lautes Klopfen von der Eingangstür. Francie wirbelte zu Sydney herum; ihre Augen waren tellergroß. Ihre Lippen formten: »Da ist er!«, während sie auf ihren sandalenbeschuhten Füßen auf und ab wippte. »Ich erledige das.« Sydney umrundete das Bett. »Setz dich einfach hin und versuche, einen entspannten Eindruck zu machen.«
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»Okay«, gab Francie verzagt zurück. Sie ließ sich auf einem Stuhl nieder und zog die Träger ihrer geblümten Korsage stramm. Sydney bewegte sich in Richtung Tür. »Nein! Warte noch 'ne Sekunde«, raunte ihr Francie zu, während sie hektisch mit ihren Händen umherwedelte. »Ich will nicht zu freudig erregt erscheinen. Moment noch ...« Ähnlich einem zerstreuten Dirigenten vollführte sie einige fahrige Handbewegungen, dann sagte sie: »Okay. Mach auf.« Sydney tat, wie ihr geheißen. Auf der Türschwelle stand, wie erwartet, Baxter. Er trug Bermudashorts und ein bunt bedrucktes Hawaiihemd, und ganz offensichtlich versuchte er, verführerisch zu wirken, wie er so gegen den Türrahmen gelehnt dastand. »Oh, hallo!«, sagte er hastig, als er Sydney erkannte, und nahm wieder Haltung an. »Ist Francie da?« »Glaube schon«, erwiderte Sydney und musste ein Lachen unterdrücken. »Komm rein.« Als sie ins Zimmer zurückkamen, grinste Francie von einem Ohr zum anderen und sprang von ihrem Stuhl auf, als ob unter der Sitzfläche gerade ein Sprengsatz detoniert wäre. Dann hielt sie plötzlich inne und lehnte sich lässig gegen den Kleiderschrank. »Hi, Baxter.« »Hallo, Francie. Mann, du siehst einfach ...« Er brach ab und schüttelte sichtlich beeindruckt den Kopf. Francies Lächeln wurde noch breiter. »Danke«, hauchte sie. Sydney seufzte leise und zog sich einige Schritte zurück. Es war schön, Francie so aufgeregt und glücklich zu erleben. Und doch war da in ihrem Innersten wieder dieses leise Gefühl von Selbstmitleid. Würde ihr so etwas Tolles jemals selbst widerfahren? - 49 -
»Tja, ahm, wir sollten jetzt vielleicht gehen«, meinte Baxter und deutete mit dem Kopf Richtung Tür. »Richtig.« Francie warf sich ihr Täschchen über die Schulter und wandte sich dann noch einmal an Sydney. »Bist du wirklich sicher, dass du hier gut allein klarkommst?« »Ganz sicher«, sagte Sydney nachdrücklich. »Und außerdem«, fügte sie augenzwinkernd hinzu, »ist es auch mal schön, das Zimmer ganz für mich allein zu haben.« »Also gut. Bye, Syd!«, rief Francie herzlich, als sie und Baxter in den Flur traten. »Ciao, Leute.« Sydney winkte ihnen nach. »Viel Spaß!« Als die Zimmertür endlich ins Schloss gefallen war, ließ sie sich seufzend aufs Bett fallen. Die plötzliche Stille, die sie umgab, tat fast körperlich weh. Jedes kleine Geräusch schien auf einmal tausendfach verstärkt an ihr Ohr zu dringen. Das konstante Ticken von Francies Looney-Tunes-Wecker kam kleinen Explosionen gleich, und zum ersten Mal vernahm Sydney auch das hochfrequente Gesumme des kleinen Kühlschranks. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war dagegen die permanente Geräuschkulisse des Wohnheims verstummt. Es fehlte sowohl das sonst allgegenwärtige Fußgetrappel auf den Gängen als auch die diversen Musikfetzen aus den Hi-Fi-Anlagen in den umliegenden Zimmern. War sie etwa ganz allein in diesem Gebäude? Unwahrscheinlich, dachte sie. Sie stand auf, ging mit ausholenden Schritten auf ihren Schreibtisch zu und ließ sich dann auf den Stuhl sinken. Verdammt, es ist Freitagabend in L. A.! Jedermann zieht entweder in der Stadt um die Häuser oder ist auf dem Weg zu seiner Familie. Jedermann hatte so etwas wie ein Leben. Sie hatte ihre Bücher. - 50 -
Wieder wurde sie von einer Woge aus Selbstmitleid erfasst, doch sie kämpfte das Gefühl mit einigen tiefen Atemzügen nieder. Dann griff sie nach ihrem SpanischLehrbuch und versuchte, sich auf die Geschichte einer nina namens Carmen zu konzentrieren. An der Stelle, wo Carmens perro davongelaufen war, schlug sie das Buch mit lautem Knall zu. Vergiss es. Nein, sie würde heute Abend auf keinen Fall fürs Studium lernen. Und obwohl sie keine romantische Verabredung oder eine Familie hatte, die sie mit großem Hallo und herzlichen Umarmungen zu Hause willkommen hieß, hatte sie doch zumindest ein bisschen Spaß verdient. Oder? Sie sprang auf und ging zum Kleiderschrank hinüber, um sich bequemere Kleidung herauszusuchen. Dann würde sie sich einen Film auf dem winzigen TV-Video-Gerät ansehen, das sie und Francie zu Beginn des Semesters angeschafft hatten. Als sie ihre Jeans aus dem Rucksack zerrte, flatterte etwas Kleines, Graues zu Boden. Es war Mr. Wilsons Visitenkarte. Sie hob sie auf und sah sie eine Weile an. Der ehemals starre Karton war vom vielen Anfassen schon ganz mürbe und aufgeraut. Nach dem Tag in der Bibliothek war dieses kleine Stück Pappe in ihrer Tasche geradezu omnipräsent gewesen. Es war, als ob eine lautlose Stimme in ihrem Kopf sie ständig daran erinnerte. Während ihrer Nachmittagsvorlesungen hatte sie die Karte dann wohl ein Dutzend Mal hervorgezogen und nicht nur sie, sondern im Geiste auch das ganze CIA-Thema immer wieder gedreht und gewendet. Wie erstarrt verharrte sie einen Moment inmitten der Bewegung und fragte sich einmal mehr, was sie tun sollte. Sie konnte die Karte in den Tiefen ihrer Schublade verschwinden lassen oder sie in ein Sammelalbum kleben. - 51 -
Und irgendwann in ferner Zukunft würde sie beim Blättern durch die Erinnerungen ihres Lebens auf das graue Stückchen Karton stoßen und laut auflachen. Erinnerst du dich noch an den sonnigen Septembertag, als die CIA versucht hat, dich anzuwerben? Nein, dachte sie. Sie ballte die Hand, in der die Karte lag, zur Faust. Genug der Erniedrigungen und Blamagen. Die Dinge waren auch ohne diese Flausen schwierig genug. Für die CIA arbeiten? Sie lachte bitter auf. Wenn sie die verdammte Karte nicht schnellstens loswurde, würde das Ding sie noch in den Wahnsinn treiben. Sie holte weit aus und warf die Karte durch die Luft. Sie landete elegant im Papierkorb. »Endlich«, sagte sie erleichtert. »Jetzt brauche ich dich nie wieder zu sehen.« Vier Stunden später lag sie in ihrem blauen Lieblingstrainingsanzug gegen ihr Bett gelehnt und balancierte eine Tüte mit Mikrowellenpopcorn auf dem Schoß. Auf dem winzigen Fernsehbildschirm stellte sich gerade ein stoischer, graubärtiger Obi-Wan Kenobi seinem Widersacher Darth Vader und ermöglichte damit Luke, Leia, Han Solo und den Droiden, sich den Weg zum rettenden Millennium Falken freizuschießen. In diesem Moment vernahm sie ein leises Geräusch von der Eingangstür her. Eine Sekunde später stand Francie im Zimmer. Ihre Wangen waren gerötet und einige der Haarspangen ein wenig verrutscht. Ansonsten trug sie den gleichen glückseligen Gesichtsausdruck zur Schau wie schon vor Stunden. »Hallo!«, begrüßte Sydney sie, während sie mit der Fernbedienung die Lautstärke des Fernsehers herunterregelte. »Wie war's?« - 52 -
»Ach, du weißt doch, wie diese Partys sind«, sagte Francie leichthin. Sie versuchte zu grinsen, doch das misslang. »Es war ganz okay. Die Band war scheiße, und ein paar der Gäste hatten sich wohl vorgenommen, den ersten Platz beim Kotzbrocken-Wettbewerb zu machen.« »Aber du und Baxter hattet doch Spaß, oder?« Francie hielt einen Moment inne. »Ja«, sagte sie schließlich mit weicher Stimme. Ein unbestimmtes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Den hatten wir.« Sie warf ihre Handtasche aufs Bett und kam dann zu Sydney herüber. Ihr Blick fiel auf den Fernsehbildschirm. »Ach du liebe Güte, den Film hab ich ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Wie bist du auf die Idee gekommen, dir ausgerechnet dieses Video anzusehen?« Sydney zuckte die Achseln. »Wie du schon sagtest - ist auch bei mir lange her, dass ich ihn zuletzt gesehen hab.« Sie mochte Francie nicht sagen, dass jeder andere Film aus ihrer spärlichen Videosammlung in ihrer momentanen Verfassung kaum das Richtige gewesen wäre -tatsächlich waren es fast ausschließlich Stimmungstöter. Scorseses Taxi Driver, Coppolas Der Pate I und II, Tarantinos Reservoir Dogs und die paar Hitchcock-Klassiker, die sie besaßen, waren ihr entweder zu blutrünstig oder zu gruselig. Und schließlich hegte sie nach der Sache mit Dean große Zweifel, ob sie je wieder romantische Komödien mit Julia Roberts ertragen konnte. Also hatte sie sich für SF-Action pur entschieden. »Hast du dir den heute Abend auch schon angeschaut?«, wollte Francie wissen und hielt die Kassette mit Jäger des verlorenen Schatzes in die Höhe, die auf Sydneys Bett lag. »Yepp.« »Du hast schon immer auf Harrison Ford gestanden, stimmt's?« »Yepp.« - 53 -
Francie hob den Hula-Rock in die Höhe und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen neben Sydney, die ihr die Popcorntüte reichte. Eine Weile schauten sie schweigend den Film. »Weißt du, was ich nicht kapiere?«, fragte Francie plötzlich mit einem Mund voller Popcorn. »Was?« »Am Ende verleiht Prinzessin Leia doch Luke und Han diese riesigen Ehrenmedaillen. Sogar Chewie kriegt eine.« »Ja, und?« »Na ja, wieso bekommt dieser Fighterpilot eigentlich keine? Wie hieß der noch? Wedge? Ich meine, der Typ hat immerhin einige Male Lukes Arsch gerettet und musste sich schließlich zurückziehen, als sein Schiff zu stark beschädigt wurde. Und dann taucht im letzten Moment Bruder Leichtfuß Han auf der Bildfläche auf, um doch noch zu helfen, nachdem er sich bis dahin wie der letzte Arsch benommen hat. Und dafür kriegt er dann einen Orden? Was soll das?« »Keine Ahnung, Francie«, sagte Sydney mit einem Achselzucken. »Es ärgert mich einfach, mehr nicht.« »Vielleicht sollten sie noch einen Film machen, in dem sich dieser Pilot bitterlich für diese Ungerechtigkeit rächt«, schlug Sydney vor und stupste Francie an der Schulter an. »Ja, Star Wars, Episode 12: Wedges Vergeltung.« Francie hob die Hand und zog einen imaginären Theatervorhang beiseite. »Er ist zurück! Er ist wahnsinnig! Er will seinen Orden!« Sydney schüttete sich fast aus vor Lachen. »Aufhören!«, rief sie schließlich nach Luft schnappend. »Sonst ersticke ich!« Langsam verebbte ihr Gekicher, und dann verfielen sie wieder in die Rolle der gespannten Zuschauer. - 54 -
Nach einer Weile sah Sydney ihre Freundin von der Seite an und musste lächeln. Wie oft hatte sie sich in der Vergangenheit gefragt, wie es auf dem College wohl sein und ob sie eine nette Mitbewohnerin haben würde? Und da war sie nun - auf dem College und beschenkt mit einer wahrlich supertollen Zimmergenossin. Eine, in deren Leben es bereits so etwas wie Romantik und Aufregung gab. Und Sydney hatte ... Videos. Ohne Vorankündigung traten plötzlich heiße Tränen in ihre Augen. Sie starrte an die Decke, wie um sie wieder zurückzuzwingen. Sie wusste, wenn sie nur einmal blinzelte, rollten sie unweigerlich über ihr Gesicht, um einen schier unendlichen Strom weiterer Tränen nach sich zu ziehen. Wie blöd, schalt sie sich. Wie kann man nur bei Star Wars grundlos anfangen zu heulen? Doch es half nichts. Es war, als ob jemand ein Loch in ihren unsichtbaren Schutzpanzer gerissen hätte. Unaufhaltsam, wie ein Sturzbach zu Tal strebt, pflanzte sich der Riss immer weiter fort und zersprengte schließlich die Rüstung, um nichts als ihre nackten Gefühle bloßzulegen. Sie musste blinzeln. Ein dünner Tränenstrom rann über ihre Wangen. Sie schlug sich eine Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken, aber das machte alles nur noch schlimmer. Ein gedämpftes Wimmern erstarb in ihrer Kehle, doch dabei ging ein merklicher Ruck durch ihren Körper. Francie sah zu ihr herüber. »Syd?«, rief sie alarmiert. »Süße, was ist mit dir?« Sydney konnte nur stumm den Kopf schütteln und blinzelte hektisch, um die Tränenflut zu stoppen. Francie betätigte die Stumm-Taste und rutschte näher. »Was ist denn um Gottes willen los?«, fragte sie erschrocken. - 55 -
»Ich bin ... ich bin nur müde«, krächzte Sydney und wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Ich hätte nicht so lange aufbleiben dürfen.« »Ach komm, erzähl mir die Wahrheit.« Francie rückte noch ein Stück näher, legte ihren Arm um Sydney und versuchte, Augenkontakt herzustellen. »Was ist passiert?«, fragte sie leise. Die Besorgnis in der Stimme der Freundin schien Sydneys letzten Rest an Stärke aufzulösen wie Metall in einem Säurebad, und das Gefühlschaos, das in ihr wütete, brach sich ungehindert Bahn. Sie lehnte sich gegen Francies Schulter und begann, hemmungslos zu weinen. Einige Minuten lang streichelte Francie einfach nur Sydneys Arm und wiegte sie mit einem leisen »Schhhhh« sanft hin und her. »Es ist in Ordnung«, sagte sie wieder und wieder, und als Sydneys Schluchzen langsam abebbte: »Bitte erzähl mir doch, was geschehen ist.« Sorgenfalten erschienen auf ihrer Stirn. »Ich möchte dir so gern helfen.« Stockend holte Sydney Luft. Sie fühlte sich gleichermaßen beschämt, kläglich und völlig am Ende. »Ich bin einfach so ... verloren«, begann sie und starrte auf ihre Hände. »In letzter Zeit habe ich ... irgendwie alles falsch gemacht.« »Aber das stimmt doch gar nicht«, sagte Francie mit Nachdruck und umfasste Sydneys Handgelenk. »Ich weiß, du hast ein paar wirklich üble Tage hinter dir - vor allem die Sache mit Dean und der Vorfall mit diesem Idioten im Restaurant, aber ...« »Nein, das ist es nicht allein.« Sydney seufzte, lehnte sich zurück und schloss die Augen in dem Versuch, ein wenig Ordnung in ihre Emotionen und Gedanken zu bringen. »Weißt du, ich dachte wirklich, das College wäre so etwas wie das Tor zu einem neuen Leben. Aber das ist es nicht. Die Professoren sind keine Übermenschen; sie - 56 -
sind Leute wie du und ich. Und die meisten Studenten hier sind genauso verlogen wie die Typen an der Highschool. Ich dachte, ich würde mich hier frei und voller Tatendrang fühlen. Stattdessen fühle ich mich einfach nur ... im Abseits.« Sie öffnete die Augen und sah Francie müde an. »Tatsächlich bist du der einzige Grund, hier an der UCLA zu bleiben.« Francie ergriff Sydneys Hände und drückte sie fest. »Hör mir zu«, sagte sie sanft und nachdrücklich zugleich. »Du bist, so wie du bist, hier ganz und gar nicht fehl am Platze. Du bist wunderschön, sportlich und hochintelligent. Was, wenn du deinen Weg bisher einfach noch nicht gefunden hast? Und ich verspreche dir, das wirst du! Das musst du mir einfach glauben.« Sydney wich Francies eindringlichem Blick aus. »Ach, ich weiß nicht ... Ich hoffe, es ist so, wie du sagst«, murmelte sie, während sie auf ihren Schoß starrte. »Ich schwöre dir, wenn du nicht schnellstens anfängst, dir darüber klar zu werden, dass du was ganz Besonderes bist, werde ich eine Petition einreichen. Worauf du dich verlassen kannst!« Sydney lachte leise auf. »Ich meine es ernst«, fuhr Francie unter dramatischen Gesten fort. »Du kennst mich doch. Du weißt doch, wie wählerisch ich bin, richtig?« »Richtig.« »Ich schau mir ja noch nicht mal einen Film an, der in der Kritik nicht wenigstens vier Sterne erhalten hat. Ich esse kaum Fastfood, und ich trage meine Klamotten meist nicht länger als eine Saison. Kurz: Ich bin ein Snob.« Sie stieß Sydney leicht in die Rippen. »Los, sag's schon!« »Du bist ein Snob.«
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»Und jetzt frage ich dich«, sagte Francie mit großen feuchten Augen. »Würde ich unter diesen Umständen irgendjemanden als meine Zimmergenossin akzeptieren?« »Oh, Fran«, sagte Sydney tonlos und legte ihren Kopf an die Schulter der Freundin. »Danke.« Als Sydney am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich wie zerschlagen. Die ganze Nacht hindurch hatten sie merkwürdige düstere Träume gequält, in denen sie vor irgendetwas davongelaufen war. Was oder wer es war, würde sie wohl niemals herausfinden. Einige Male war sie erwacht, hatte sich im Bett aufgesetzt und den Wecker auf ihrem Schrank angestarrt. Und sofort waren ihre Gedanken wieder zu der Visitenkarte gewandert, die noch immer im Papierkorb lag. Langsam, aber sicher fühlte sie sich von dem Ding geradezu verfolgt. Jetzt fiel ein Strahl Sonnenlicht durchs Fenster, der eine helle Schneise in die Industrieauslegware ihres Zimmers schnitt. Sie schlug die Bettdecke zurück und ging hinüber zum Abfallkorb. Der runde Metallbehälter schien unter ihren Blicken fast zu erglühen. Als sie sich ein wenig vorbeugte, konnte sie unter einigen zerknüllten Haftnotizen eine kleine graue Pappecke ausmachen. Fast automatisch zuckte ihr Arm vor, um die Karte wieder aus dem Papierkorb zu fischen. Vielleicht sollte sie wenigstens dort anrufen? Die Arbeit eines Regierungsagenten könnte wirklich interessant sein. Vielleicht sogar aufregend. Schade nur, dass ich überhaupt nicht der Typ für so was bin, dachte sie, und schon zog sich ihr Arm wieder zurück. Sie musste sich diese Sache wirklich ein für alle Mal aus dem Kopf schlagen, bevor sie noch völlig durchdrehte. Was sie zunächst brauchte, war ein langes, schnelles Lauftraining. So leise sie konnte, schlüpfte sie in bequeme Sportkleidung, zog ihre Laufschuhe an und schlich an - 58 -
Francies Bett vorbei aus dem Zimmer. Als sie ins Freie trat, erstrahlte der Campus im blassroten Licht des frühen Morgens. Die Luft war klar, und außer ihr schienen um diese Uhrzeit lediglich einige Vögel unterwegs zu sein. Alle anderen Studenten lagen vermutlich noch im wohlverdienten Schlaf, der auf einen langen aufregenden Freitagabend gefolgt war. Auch gut, dachte sie, dann hab ich die Piste wenigstens für mich alleine. Doch als sie fünf Minuten später durch das Haupttor auf den Sportplatz trat, sah sie vor der Tribüne eine einsame Gestalt am Boden sitzen und Streckübungen machen. »Todd?«, rief sie, als sie näher kam. Todd hob den Kopf und grinste. Dann sprang er auf die Füße und trabte auf sie zu. »Sydney, Püppchen. Was machst du denn schon so früh hier, und das an einem Samstagmorgen?« »Das wollte ich dich auch gerade fragen.« »Nun, dir kann ich's ja sagen«, meinte er und federte auf seinen Nikes auf und ab. »Ich hab gestern tolle Neuigkeiten erhalten und seitdem hüpfe ich durch die Gegend wie ein Gummiball. Ich konnte heute Nacht noch nicht mal schlafen. Also bin ich hierher gekommen, um all die überschüssige Energie in mir irgendwie abzuarbeiten, bevor noch jemand zu Schaden kommt.« »Los, sag schon!«, rief Sydney lachend. »Was ist es?« Todd machte eine dramatische Kunstpause und sah sich gehetzt um, als ob ihm von allen Seiten Heerscharen von Reportern samt Mikrofonen auflauerten. Dann schlug er die Hände zusammen und rief: »Ich bin gestern für einen Kaugummi-Werbespot gecastet worden!« »Wirklich? Todd, das ist ja klasse!« »Ja, ich weiß«, sagte er und stolzierte die Sandbahn auf und ab wie ein Footballspieler, der sich und seinen Sieg feiert. »Hab den Anruf gestern Nachmittag erhalten, und - 59 -
seitdem bin ich völlig aus dem Häuschen. Komm, lauf 'ne Runde mit mir.« Sydney machte ein paar schnelle Dehnübungen und stellte sich dann neben Todd auf. »Das ist ja wirklich toll«, sagte sie, als sie gemeinsam lossprinteten. »Wann hattest du denn den Vorsprechtermin?« »Am Montag.« »O Mann! Und seitdem hast du Tag für Tag neben dem Telefon ausgeharrt?« »Machst du Witze?« Todd machte ein abfälliges Geräusch. »Ich dachte, ich hätte das Ganze total verbockt.« »Ach, wirklich?«, fragte Sydney. »Wieso denn?« »Weil das schon mein, ich glaube, zwanzigster Vorstellungstermin war. Ich gehe zum Vorsprechen, seit ich im Sommer nach L. A. gekommen bin. Und bisher hab ich nur Absagen gekriegt. Sofern ich überhaupt einen Rückruf erhalten habe, wohlgemerkt.« Sydney schüttelte den Kopf. »Das ist so unhöflich, sich einfach nicht mehr zu melden.« »Ich hab schon fast an mir gezweifelt«, meinte Todd und verzog das Gesicht. »Ich hab sogar schon darüber nachgedacht, im Hauptstudium von Theaterwissenschaften zu Marketing zu wechseln. Jetzt bin ich froh, dass ich's nicht getan habe. Schauspielern ist, was ich wirklich tun möchte«, erklärte er und breitete die Arme aus, als wollte er die ganze Welt umarmen. »Heute Kaugummi, morgen Zahnpasta!« In diesem Moment machte es Klick bei Sydney. Sie wurde immer langsamer und kam schließlich ganz zum Stehen. Todds Worte hallten in ihrem Kopf wider wie eine auf- und abschwellende Sirene. Das ist es, dachte sie. Der verdammte Stress, die unentwegten Verlockungen der Karte ... Die ganze Zeit über hatte sie einfach nur Angst gehabt. Die Dean-Pleite und das Les-Amis-Desaster hatten - 60 -
sie total verunsichert und daran gehindert, etwas Neues überhaupt zu versuchen. Plötzlich begriff sie, dass sie nie herausfinden würde, wohin sie gehörte, wenn sie weiterhin jeder Chance aus dem Wege ging. »Sydney?«, schrie Todd einige Meter vor ihr. »Kommst du?« Sie sah auf und nahm langsam wieder ihre Umgebung wahr. »Nein«, rief sie ihm zu. »Ich hab gerade ... ich hab was Wichtiges vergessen.« »Was denn?« Er beugte sich neugierig vor. Sydney machte einige Schritte rückwärts. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Es war, als ob sie an diesem Tag zum zweiten Mal erwachte. »Sorry, Todd. Ich muss gehen«, rief sie. »Wir sehen uns morgen beim offiziellen Training.« Mit diesen Worten wirbelte sie herum und rannte durch das Haupttor in Richtung Studentenwohnheim . »Überraschung!«, rief Francie ihr entgegen, als Sydney rotwangig und schweißtriefend durch die Tür stürmte. »Ich hab sauber gemacht!« »Ha?« Sydney schob sich eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn und sah sich um. In der Tat! Alles war aufgeräumt und abgestaubt. Die Freundin hatte sogar ihre beiden Betten gemacht. »Tut mir Leid, dass ich in letzter Zeit so Ignorant war«, fuhr Francie fort. »Ich war total überbeschäftigt mit Baxter, während du dich mit deinem voll gepackten Vorlesungsplan fast zu Tode geschuftet hast. Aber ich sage dir, das wird sich ändern. Ich schwöre, von nun an werde ich die beste Zimmergenossin der Welt sein. Ach nein, das bist ja du ... Okay, dann eben die zweitbeste Zimmergenossin der Welt.« Da erwachte Sydney aus ihrer Starre und schoss geradewegs auf den Papierkorb zu. Er war leer. - 61 -
Mit weit aufgerissenen Augen fuhr sie zu ihrer Freundin herum. »Was hast du mit dem Müll gemacht?« Francie starrte sie verwirrt an. »Ich hab ihn rausgebracht«, sagte sie langsam. »Hab ihn in den Container geschmissen. Wird Zeit, dass das Ding endlich geleert wird. Aber ich hab die Müllabfuhr schon gehört. Die müssten auf dem Weg hierher sein.« Sydney japste, und in ihrem Magen machte sich ein schwerer Klumpen bemerkbar. Die Karte! Wenn sie das Ding verlor, konnte sie nicht zurückrufen und die Sache mit der CIA vergessen. Wilson hatte unmissverständlich klargemacht, dass man sie kein zweites Mal kontaktieren würde. Wie ein geölter Blitz schoss sie aus der Wohnungstür und hetzte in den Flur. Hinter sich hörte sie Francie etwas rufen. Sie rannte durch die Verbindungstür ins Treppenhaus, nahm die Stufen fast im Flug und passierte dabei den einen oder anderen Studenten, der ihr aus blutunterlaufenen Augen nachsah. Im Erdgeschoss angekommen stürmte sie durch die große Glastür der Eingangshalle ins Freie. Am Bordstein parkten zahlreiche Autos voller Leute, die zu einem Wochenendbesuch hierher gekommen waren. Sydney preschte an einer Gruppe vorbei, die sich im Wiedersehenstaumel in den Armen lag, sprang über einen Fahrradständer und flitzte zur Gebäuderückseite. Dort, in einer engen Seitenstraße, stand der gigantische Metallcontainer. Vor Erleichterung stieß sie die Luft aus, als sie eine schwarze Mülltüte über den Rand quellen sah. Gott sei Dank, er war noch nicht geleert worden! Doch aus einiger Entfernung konnte sie schon das Scheppern der Müllabfuhr hören. Ihr Wagen musste jede Minute hier eintreffen! Ich muss diese verdammte Karte finden, dachte sie. Egal, was kommt. - 62 -
Wie betäubt stieg Sydney auf einige Kisten, öffnete eine der Abdeckklappen des Containers und stieg hinein. Im Innern war es dämmrig und ziemlich heiß. Der süßliche Gestank verrotteten Abfalls erfüllte die Luft. Ihre Sportschuhe sanken hier und da ein Stück ein, als sie sich langsam auf den weichen Plastiksäcken im Kreis drehte und umsah. »Also, gut«, murmelte sie. »Unser Abfall musste noch ziemlich weit oben liegen.« Ihre braunen Augen flogen hin und her. »Eine weiße Tüte. Wahrscheinlich nur halb voll.« Unglücklicherweise watete sie knöcheltief in einem Meer aus weißen Plastiktüten! Plötzlich drang das Röhren eines riesigen Dieselmotors an ihr Ohr. Sie blinzelte über den Rand des Containers hinweg nach draußen. In einiger Entfernung rollte der schwere Sammelwagen der Müllabfuhr langsam in die Gasse. Abwechselnd folgte ein Schnaufen und das Quietschen von Bremsen. In Sydney stieg Panik auf. In Windeseile schnappte sie sich einen weißen Plastiksack nach dem anderen und nahm ihn in Augenschein. Das Geräusch des sich nähernden Müllwagens wurde immer lauter. Ihr Herz hämmerte so schnell, dass sie spürte, wie das Blut in ihren Armen pulsierte. Und doch waren ihre Gedanken nur auf dieses eine Ziel gerichtet, unfähig, sich durch irgendwas davon abhalten zu lassen. In diesem Moment fiel ihr Blick auf etwas Bekanntes. Sie hob den betreffenden Plastiksack in die Höhe und stellte fest, dass durch die milchige Folie das Logo einer Verpackung schimmerte. Es war die leere Popcorntüte von gestern Abend! Das musste er sein! Plötzlich begannen die Wände des Containers unter dem herannahenden Dreiachser zu vibrieren. Eine Sekunde - 63 -
später ertönte schon das enervierende Geräusch der Hecklader-Hydraulik. Sydney umklammerte den Beutel fest mit einer Hand, schwang ein Bein über die Kante des Containers und landete kurz darauf bäuchlings auf dem rauen Asphalt. Sie kroch ein Stück fort, bis sie die Rückseite des Wohnheims erreicht hatte, und sah gerade noch, wie die Greifarme des Müllwagens den Container vom Boden hievten. »Du bist ja völlig bescheuert«, schalt sie sich leise, als der Container nun ruckartig gekippt und sein Inhalt in einer Serie aus lautem Geschepper und Geraschel in den Müllwagen gekippt wurde. Hoffentlich war es das wert gewesen. Ihre Handflächen brannten noch immer von der Berührung mit dem rissigen Straßenbelag, als sie den Knoten des Müllbeutels löste. Und natürlich fand sich die lädierte Visitenkarte gleich neben der leeren Popcornschachtel. Matt lehnte sich Sydney gegen die Backsteinwand und seufzte vor Erleichterung. Am Montagmorgen, nach einigen gelaufenen Runden und einer Dusche, stand Sydney füßescharrend vor der Batterie öffentlicher Fernsprecher in der Nähe des Wohnheims. Ihr Puls raste, und auf ihrer Brust lag etwas schrecklich Großes und Schweres. Ein Gefühl, das sich bei ihr zum ersten Mal im Alter von acht Jahren eingestellt hatte, als sie versucht hatte, in eine riesige Welle einzutauchen. Worauf wartest du noch?, fragte sie sich und spielte nervös mit dem Silberanhänger ihrer Halskette. Es ist ein ganz normaler Arbeitstag zur besten Geschäftszeit. Tief durchatmen, springen und eintauchen ... - 64 -
Sie ging zum nächstgelegenen Apparat, nahm den Hörer ab und gab den Code ihrer Telefonkarte ein. Sie presste den Hörer gegen ihre Schulter, als sie langsam die Nummer eintippte, die auf der lädierten Visitenkarte stand. Ihre Hände zitterten, und ihr Atem ging stoßweise. Nur eine Sekunde später wurde am anderen Ende abgenommen. »Wilson«, sagte eine barsche Stimme. »Äh ... Mr. Wilson? Hier ist Sydney Bristow. Sie, ahm, haben mir auf dem Campus der UCLA vor einigen Tagen Ihre Karte gegeben ...« Sie versuchte, zuversichtlich und gefasst zu wirken, doch stattdessen klang ihre Stimme irgendwie gehetzt und schrill. »Ja, Sydney. Aber wir sollten das nicht am Telefon besprechen. Kommen Sie heute Nachmittag nach Ihrer Spanischvorlesung zur Credit Dauphine.« Er gab ihr eine Wegbeschreibung durch, die sich Sydney auf die Rückseite ihres Englisch-Heftes notierte. »Nennen Sie der Dame am Empfang einfach Ihren Namen, geben Sie ihr die Visitenkarte und fragen Sie nach mir.« »In Ordnung«, erwiderte Sydney, doch dann runzelte sie die Stirn. »Woher kennen Sie eigentlich meinen Stundenplan?« Doch sie erhielt keine Antwort. Wilson hatte bereits aufgelegt. An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Sydney A. Bristow Sie hatten Recht. Sie hat angerufen. An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Sydney A. Bristow - 65 -
Gute Arbeit. Bereite alles Weitere vor.
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KAPITEL 5 Am späten Nachmittag betrat Sydney die CreditDauphine-Bank in Downtown Los Angeles und wurde sogleich von einer enormen Geräuschkulisse empfangen. Für einen Moment verharrte sie in der Lobby aus poliertem Stein und lauschte dem allgegenwärtigen Telefongebimmel, dem Summen unsichtbarer Büromaschinen und dem unablässigen Stimmengemurmel. Geschäftig eilten Menschen an ihr vorbei, die meisten in konservativem Businessoutfit. Viele von ihnen sprachen mit wichtiger Miene in ihre Mobiltelefone. Sydney sah an sich herunter. In ihren lässigen KhakiHosen und dem buntgestreiften Sweater fühlte sie sich auf einmal sehr, sehr jung. Was tat sie hier? Sie war an diesem Ort eindeutig fehl am Platze. Was, wenn man sie nur kurz musterte und entschied, dass man einen Riesenfehler gemacht hatte? Einen Moment lang erwog sie den Gedanken, einfach von hier zu verschwinden. Doch sie wusste, wenn sie jetzt nicht weiterging, würde sie sich Zeit ihres Lebens fragen, was sie womöglich verpasst hatte. Sie berührte das Haar an ihrem Hinterkopf, um sicherzustellen, dass die Schildpattspange noch an ihrem Platz war, und ging hinüber zu dem ellipsenförmigen Empfangscounter. Dahinter saß eine Frau mit einem strengen blonden Dutt und telefonierte. Als das Gespräch beendet war, hob sie den Kopf und schenkte Sydney ein breites, überfreundliches Lächeln. »Kann ich Ihnen helfen?« Sydney trat einen Schritt vor und schob die derangierte Visitenkarte auf die Holztheke. »Ich heiße Sydney Bristow, und ich soll mich hier mit Mr. Wilson treffen.«
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Das Lächeln der Frau erstarb, und ihr Blick flog hektisch durch die Empfangshalle. »Bitte kommen Sie mit mir«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. Sydney folgte ihr durch die belebte Lobby zu einem Aufzug, mit dem sie in ein lang gestrecktes Foyer hinunterfuhren, das mit marineblauem Teppichboden ausgelegt war. Sie durchquerten die Halle und erreichten eine geschlossene Tür ohne Namensschild. »Nehmen Sie doch bitte drinnen Platz. Man wird sich gleich um Sie kümmern«, sagte die Frau zu Sydney. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und verschwand wieder in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Man?, wunderte sich Sydney, als sie die Tür öffnete und eintrat. Der Raum war nur spärlich möbliert, aber dank der grellen Neonlichter und des großen Fensters, aus dem man das verlassene Foyer überblicken konnte, extrem hell erleuchtet. In der Mitte des Zimmers stand ein riesiger Holzschreibtisch. Dahinter waren sechs Chefsessel aus Leder in einem Halbkreis platziert. Vor dem Schreibtisch stand ein schlichter Bürostuhl mit grauem Stoffbezug. Vermutlich für mich, dachte Sydney und nahm darauf Platz. Auf der schweren Arbeitsplatte lag ein dicker Aktenordner. Als sie sich ein Stück vorbeugte, konnte sie ihren Namen auf dem Deckel erkennen. Ist das für mich?, fragte sie sich. Oder über mich? Sie lauschte nach sich eventuell nähernden Schritten, dann zog sie den Ordner ein Stück zu sich. Einige Sekunden starrte sie das Ding nur an und kaute auf ihrem Daumennagel herum. Die Versuchung war zu groß. Wird schon nicht so schlimm sein, wenn ich einen kurzen Blick hineinwerfe, oder? Sie holte tief Luft und schlug den Ordner auf. - 68 -
Und da war sie. Direkt auf der ersten Seite prangte ein Foto von ihr, auf dem sie, an einem der CampusPicknicktische sitzend, Salat aß. Darunter klebte ein Bild, das eine Sydney zeigte, die auf dem Sportplatz ihre Runden zog. Sie fühlte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. Warum hatte man sie fotografiert? Und wann? Die Bilder waren gestochen scharf und wie es schien, ganz aus der Nähe aufgenommen worden. Sie hatte dergleichen nie bemerkt. Unter den Fotos war ein Stapel Notizen abgelegt. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, als sie feststellte, dass darauf Einzelheiten aus ihrem Leben festgehalten worden waren. Dazu Kopien ihrer Geburtsurkunde aus dem WestVirginia-Krankenhaus, Sozialversicherungskarte, Krankenakte, Vorlesungsstundenpläne, Zeugnisse und Prüfungsergebnisse, ja, sogar ein Duplikat ihrer zahnärztlichen Röntgenaufnahmen. Langsam stieß Sydney die Luft aus. »Mein Gott«, murmelte sie. »Die haben alles bis auf meine Fingerabdrücke.« Noch während sie die Worte aussprach und eine weitere Seite in ihrem Dossier aufschlug, fiel ihr Blick auf ebendies: ein Karton mit ihren Finger- und Daumenabdrücken. »Oh mein Gott«, wiederholte sie, lauter diesmal. Es war ihr schleierhaft, wie diese Leute an ihre Fingerabdrücke gekommen sein konnten. Und sie war nicht sicher, ob ihr das gefiel. Die Erkenntnis sickerte in sie hinein wie nasser Zement, und sie erstarrte auf ihrem Stuhl. Das ist alles real, zischte eine Stimme in ihrem Kopf. Diese Typen sind real. Sie wusste, sie sollte diesen Aktenordner schleunigst schließen und sich entspannt zurücklehnen, doch sie konnte es nicht. Es barg eine ganz besondere, morbide Faszination, das eigene Leben in Bilder und Worte aufgedröselt vor sich zu sehen. - 69 -
Als sie weiter durch den Ordner blätterte, fand sie zu ihrer Bestürzung sogar eine Handschriftenprobe von sich. Es war die Fotokopie eines Briefes, den sie im Sommer ihrer alten Schulfreundin Melissa geschrieben hatte. In ihm beklagte sie sich über ihren Vater und schilderte ihre Aufregung angesichts des bevorstehenden College-Starts. Offensichtlich hatte der Dienst sogar Zugriff auf ihre Privatpost. Sie schluckte hart, und ihre Gedanken begannen sich zu überschlagen. Wie lange eigentlich wurde sie von diesen Leuten schon beobachtet? An der Rückseite des Briefes klemmte ein amtlich aussehendes Schreiben: Handschriftenprobe 1-B: Graphologisches Gutachten bestätigt starken, unabhängigen Charakter, Großzügigkeit, Ideenreichtum, schauspielerisches Talent, Unsicherheit, Zurückhaltung gegenüber Fremden und ein großes Bedürfnis nach Abgeschiedenheit. Plötzlich ließ ein Geräusch sie zusammenfahren. Auf dem Korridor waren Schritte zu hören, wie es schien, von mehreren Personen. In ihren Ohren begann das Blut zu rauschen. Schnell schloss sie den Aktenordner, schob ihn zurück zur Schreibtischmitte und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Nur einen Atemzug später trat Wilson ins Zimmer, gefolgt von vier Männern mit versteinerten Mienen und einer Frau in einem strengen burgunderroten Kleid. Die fünf trugen gelbe Notizblöcke bei sich. »Guten Tag, Sydney«, begrüßte Wilson sie, während er und die anderen auf den Ledersesseln hinter dem Schreibtisch Platz nahmen. »Ich hoffe, Sie mussten nicht zu lange warten.« - 70 -
»Nein, überhaupt nicht«, erwiderte Sydney und zwang sich zu einem verbindlichen Lächeln. »Ich habe meine Kollegen gebeten«, fuhr Wilson fort und deutete auf die roboterhaften Gestalten neben sich, »bei diesem Gespräch zugegen zu sein. Aus Sicherheitsgründen kann ich sie Ihnen nicht namentlich vorstellen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass sie zum Führungsstab des Dienstes gehören, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Natürlich«, sagte sie und versuchte, ihre Irritation zu verbergen. Offensichtlich ist es völlig in Ordnung, dass diese Typen bis hin zu meiner Körbchengröße alles von mir wissen, während ich noch nicht mal ihre Namen erfahren darf. Nicht gerade fair... Wilson schaute in die Runde. »Also, wenn alle bereit sind, fangen wir am besten gleich an.« Die Frau in dem roten Kleid hob ihren Stift, um Sydneys Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Miss Bristow«, begann sie, »könnten Sie beschreiben, in welcher emotionalen Verfassung Sie sich derzeit befinden?« Sydney starrte ins Leere und dachte nach. Die Frage war viel mehr, welches Gefühl sie momentan nicht aufwühlte? Sie war derzeit einfach alles: verschreckt, empört und überwältigt zugleich. Sie war nervös und doch unglaublich neugierig. Und obwohl sie eingeschüchtert genug war, um ein Mindestmaß an Höflichkeit an den Tag zu legen, verabschiedete sie sich im Geiste vom Stil der Standardbewerbungsgespräche, in denen man sich besser darstellte, als man tatsächlich war. Sollen sie doch die wahre Sydney kennen lernen, für die sie offensichtlich schon so viel kostbare Zeit und Steuergelder aufgewendet hatten. Die Person, über die ihr Dossier so gut wie nichts aussagte. - 71 -
»Lassen Sie mich die Frage anders formulieren«, sagte die Frau. »Vertrauen Sie uns?« »Nein«, sagte Sydney geradeheraus. Sie erwartete Stirnrunzeln und verstohlene Blicke, doch die Anwesenden schienen mit ihrer Antwort zufrieden. »Was denken Sie über die Regierung der Vereinigten Staaten?« Sydney hob leicht die Schultern. »Ich bin nicht immer einer Meinung mit ihr, aber ich bin ihr loyal verbunden.« »Können Sie das näher erklären?« »Auch wenn manche Regierungsentscheidung mir vielleicht nicht immer richtig erscheinen mag, so sollte ich sie dennoch nicht in Frage stellen, denn ich gehe davon aus, dass die Verantwortlichen die betreffende Situation besser einschätzen können als ich.« Sie fragte sich, ob ihr Statement politisch korrekt genug war. Und sie fragte sich auch, ob das überhaupt wichtig war. Ihre Antwort hatte zur Folge, dass sich alle bis auf Wilson eifrig Notizen machten, wobei sie gelegentlich nickten. In den folgenden zwanzig Minuten wurden Sydney eine Reihe von Fragen zu den unterschiedlichsten Themen gestellt: über die Schule, den Sport, ihre Lieblingsbücher, welche historischen Vorbilder sie schätzte und welche Hobbys sie hatte, ja, sogar über ihre Essens- und Schlafgewohnheiten. Die ganze Zeit über saß Wilson nur schweigend da, ohne auch nur eine Zeile mitzuschreiben. Sydney antwortete auf alle Fragen so wahrheitsgemäß wie möglich, und doch konnte sie nicht aufhören, an das Dossier zu denken, das vor ihr auf dem Tisch lag und alle ihre Geheimnisse in sich barg. Was genau wollten diese Leute von ihr? Was glaubten sie, noch bei ihr zu entdecken, was sie nicht ohnehin schon wussten? - 72 -
»Miss Bristow, können Sie uns sagen, welche Musik Sie gerne hören?«, fragte ein Mann im marineblauen Anzug. Sydney lachte auf. »Keine Ahnung. Das ist ganz unterschiedlich.« Sie schüttelte erstaunt den Kopf. »Ist das wirklich von Belang?« Der Mann fixierte sie mit unbewegter Miene. »Ja, das ist es. Könnten Sie uns daher einige Beispiele nennen.« »Ooookay«, erwiderte sie und befummelte den Saum ihres Sweatshirts. »Ich höre alles von Alternative Rock über Trash New Wave bis hin zu Euro-Disco. Ich höre klassische Musik beim Lernen, aber ich bevorzuge Schnelleres, wenn ich trainiere. Letztens bin ich zur Musik eines Typen gelaufen, den meine Mitbewohnerin sehr schätzt - Raul Sandoval. Ich denke, man würde seinen Stil als >Latin-Hip-hop trifft Hardrock< bezeichnen.« Sie rieb sich ungläubig die Augen, als gleichzeitig fünf Bleistifte begannen, über Papier zu kritzeln. Wie lange sollte das eigentlich noch so weitergehen? Sie fand, die Fragen wurden immer merkwürdiger. »Miss Bristow, haben Sie jemals das Gesetz gebrochen?«, fragte nun die Frau. »Nein«, erwiderte sie verblüfft. »Haben Sie dergleichen jemals in Erwägung gezogen?« »Nein«, antwortete sie fassungslos. »Haben Sie jemals einen Kriminellen bewundert?«, fragte ein Mann, der einen Schlips mit Paisley-Muster trug. »Oder ein Verbrechen im Besonderen?« »Nein!«, sagte sie wieder. Was sollte das? Ein Mann im schwarzen Nadelstreifenanzug hob die Hand. »Miss Bristow, haben Sie momentan eine Beziehung?« »Wie bitte?« »Können Sie uns den derzeitigen Zustand Ihres Liebeslebens schildern?«, erklärte er eine Spur mürrischer. - 73 -
Sydney starrte ihm ins Gesicht, und Ärger stieg in ihr auf. »Ich habe keins«, sagte sie schließlich. Sie kochte vor Wut, als auch dieses Bekenntnis eifrig dokumentiert wurde. Sie hoffte, dass das alles bald vorbei sein würde. Die Fragen wurde immer persönlicher, was dazu führte, dass diverse unerwünschte Gefühle in ihr hochstiegen. Darüber hinaus konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man hier über sie zu Gericht saß. »Miss Bristow?« Ein griesgrämiger Kerl in einem stahlgrauen Anzug lehnte sich vor. »Können Sie uns etwas zu der Beziehung zu Ihrem Vater sagen?« Sydney verzog den Mund. Ein neuerlicher Anflug von Ärger stellte sich bei ihr ein. »Ich weiß wirklich nicht, was mein Vater mit all dem zu tun hat.« »Es hat eine Menge mit Ihnen zu tun, Miss Bristow. Würden Sie nun bitte die Frage beantworten.« »Nein! Das reicht!«, rief sie aus und schüttelte heftig den Kopf. »Ich war wirklich geduldig und kooperativ, was Ihre bisherigen Fragen anbetraf, doch bislang haben Sie mir nicht ein einziges Wort über sich oder darüber erzählt, was Sie eigentlich von mir wollen.« Die Miene des Mannes im grauen Anzug verhärtete sich. »Alles, was wir von Ihnen wissen wollen, ist ...« Da hob Wilson eine Hand und unterbrach ihn. »Es ist genug«, sagte er. »Wenn Sydney die Frage nicht beantworten möchte, muss sie es auch nicht. Ich denke, wir haben alle Informationen, die wir brauchen.« Er erhob sich, und die anderen folgten seinem Beispiel. »Wenn keine Einwände bestehen, denke ich, dass Sydney bereit ist für die nächste Gesprächsphase?« Er sah in die Runde, doch niemand erhob Widerspruch. »Gut. Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung«, sagte er mit einem knappen Nicken. Nach und nach verließen die fünf Mitarbeiter den Raum. Wilson ging zum Fenster und - 74 -
schloss die Jalousien. Dann trat er auf Sydney zu und sagte: »Über das, was ich Ihnen nun zeigen werde, dürfen Sie außerhalb dieses Gebäudes kein einziges Wort verlieren. Andernfalls hätte dies ernste Konsequenzen zur Folge.« »Ich verstehe«, erwiderte sie. Sie krümmte sich fast unter den Magenkrämpfen, die sich plötzlich eingestellt hatten. »Ich muss wissen, ob Sie gewillt sind, noch einen Schritt weiter zu gehen«, sagte Wilson mit eisigem Blick, »oder ob Sie uns jetzt verlassen und nie hierher zurückkehren werden.« Sydney kämpfte gegen den Wunsch an, auf ihrem Daumennagel herumzukauen, während sie sich seine Worte durch den Kopf gehen ließ. Klar, die Ereignisse von heute konnte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Und doch verspürte sie plötzlich so etwas wie Vertrauen und Respekt gegenüber Wilson. Er schien wirklich große Stücke auf sie zu halten, und es gefiel ihr, dass er sie ernst nahm und sie nicht von oben herab behandelte - so wie es ihr Vater immer getan hatte. Sie hatte nicht erwartet, überhaupt so weit zu kommen. Sie hatte geglaubt, dass der Verlauf des Interviews bei den fünf zu der Erkenntnis führen würde, einem großen Irrtum aufgesessen zu sein. Doch offensichtlich hatte sie den Test bestanden, zumindest bis hierhin. Und sie wollte wirklich wissen, wie weit sie es noch schaffen konnte. Dazu kam, dass sämtliche Vorbehalte, die sich im Laufe des Gesprächs bei ihr eingestellt hatten, durch eine unbändige Neugier im Keim erstickt wurden. »Ich bin dabei«, sagte sie nachdrücklich. Wilson sah sie eine Weile schweigend an. Dann nickte er. »Gut.« Er ging hinüber zu dem Schreibtisch und griff unter die Platte. Plötzlich glitt wie von Zauberhand ein Teil der Wand zur Seite und offenbarte einen Durchgang. - 75 -
»Willkommen beim CIA, Sydney.« Sydney trat über die Schwelle und blinzelte ungläubig. Sie befand sich in einem riesigen, fensterlosen Areal, in dem in schier endlosen Reihen Menschen mit Kopfhörern vor riesigen Computeranlagen saßen. Zu jedem dieser Terminals gehörten mindestens vier Monitore sowie ein verwirrendes Cockpit voller Knöpfe, Drehscheiben und Digitaldisplays. Der Ort vibrierte vor Aktivität. Selbst die Luft hier schien vor Elektrizität zu knistern. Das Dauersummen der Rechner und anderen Geräte wurde begleitet von in den Raum gerufenen Wort- und Zahlenkombinationen, die für Sydney keinen Sinn ergaben. Sie konnte nicht fassen, dass sie fast eine Stunde in einem Büro gleich nebenan gesessen hatte und kein einziges Geräusch aus diesem Hexenkessel an ihr Ohr gedrungen war. »Wir betreten nun den Training- und Tracking-Bereich«, erklärte Wilson und betätigte eine kleine Tastatur an der Wand neben sich. Lautlos schloss sich die Wand hinter ihnen. »Unser Hauptquartier befindet sich an anderer Stelle.« Er betrat einen Gang, und Sydney folgte ihm. In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken durcheinander. »Und ... die Bank über uns? Wissen die denn, dass Sie hier unten sind?«, fragte sie. »Im Grunde sind wir die Bank«, gab Wilson zurück. »Für die Welt da draußen ist die Credit Dauphine ein ganz normales Finanzinstitut. Und darüber hinaus ermöglicht sie uns, das Gebäude mit allen nur erdenklichen Sicherheitsmaßnahmen nach außen hin abzuschirmen, ohne dass es groß auffällt. Hier sehen Sie unser hochmodernes Sicherheitssystem, das direkt mit unserer Nachrichtenzentrale verbunden ist.« Während er - 76 -
weiterging, deutete er in Richtung einiger Mitarbeiter und kompliziert aussehender Apparaturen. Sydney nickte nur und versuchte den Eindruck zu erwecken, alles zu verstehen. »Folgen Sie mir«, sagte Wilson und ging auf eine Glastür zu, die am Ende des Überwachungszentrums lag. »Lassen Sie mich Ihnen den Rest unserer Einrichtung zeigen.« Noch mehr?, wunderte sich Sydney, als sie ihm durch die Tür folgte. Und jetzt rechts. Ach ja, da geht's tatsächlich noch weiter. Ihr schwirrte der Kopf. Wände mit versteckten Türen ... eine Bank, die den wichtigsten Geheimdienst der Welt beherbergte ... ein Dossier, in dem jeder ihrer Schritte festgehalten worden war - ohne ihr Wissen ... Sie fühlte sich wie Alice im Wunderland, und es hätte sie nicht gewundert, wenn sie eine Riesenraupe auf einem Giftpilz oder eine sprechende Katze, die sich unsichtbar machen konnte, treffen würde. Aber was zum Teufel mache ich hier?, fragte sie sich immer wieder. Wie sind die bloß auf mich gekommen? Der Rest der Anlage war genauso schmuck- und fensterlos wie der Überwachungstrakt. Wilson zeigte ihr ein Archiv, einen schalldichten Schießstand und ein Großraumbüro mit Computerarbeitsplätzen, das in zahlreiche Boxen unterteilt war und von Wilson als »Testraum« bezeichnet wurde. Auch kamen sie an vielen verschlossenen Türen vorbei, und Sydney konnte nur ahnen, welche Geheimnisse hinter ihnen liegen mochten. »Wir benötigen Menschen mit unterschiedlichsten Fähigkeiten, um eine Organisation wie diese zu führen«, erklärte Wilson, als sie um eine weitere Ecke bogen. Der ganze Komplex schien ein Labyrinth aus verschlungenen Korridoren und Räumen, die wiederum in andere Räume führten, zu sein. Sydney war längst nicht mehr in der Lage, - 77 -
selbst hier herauszufinden - doch sie bezweifelte ohnehin, dass ihr Begleiter sie auch nur eine Sekunde aus den Augen lassen würde. »Und schließlich«, sagte Wilson und deutete auf eine riesige gläserne Trennwand, »haben wir auch unser eigenes Kampftraining-Center.« Sydney trat einige Schritt vor und sah durch das Fenster. Dahinter lag ein komplettes Fitness- und Sportstudio, in dessen Zentrum eine große gepolsterte Bodenmatte lag. Darauf standen sich in angespannter, leicht gebückter Haltung zwei Männer gegenüber. Der eine war schon älter, grauhaarig mit einem dicken melierten Schnurrbart. Der andere hatte braunes gewelltes Haar und mochte etwa Mitte zwanzig sein. »Yoav hat früher als Kampfausbilder für die israelische Armee gearbeitet«, ließ sich Wilson hinter ihr vernehmen. »Hier trainiert er gerade einen unserer jungen Agenten in Krav Maga. Nicht die eleganteste, fachmännischste Art der Selbstverteidigung, eher was fürs Grobe a la Augen-zuund-durch-Streetfight. Also für Situationen, mit denen man gemeinhin im Feld konfrontiert wird.« Sydney beugte sich noch ein Stück weiter vor und sah den jungen Mann auf der Matte genauer an. Der Typ war extrem süß. Er hatte zwar nicht das leicht verderbte, nonchalante Äußere von Dean, dafür wirkte er reifer und draufgängerischer, und, soweit sie es von hier aus feststellen konnte, noch durchtrainierter. Als sie die aggressive, und doch konzentrierte Art seiner Angriffs- und Ausweichmanöver beobachtete, fühlte sie sich plötzlich unwiderstehlich von ihm angezogen. Wie hieß er? Woher kam er? Was hatte er getan, bevor er hier gelandet war? Plötzlich bewegte der junge Mann seinen Kopf in ihre Richtung. Sydney zog sich ein wenig zurück und hielt den Atem an. Sie konnte spüren, wie ihre Wangen erröteten und - 78 -
ihr Herz stolperte. Ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde und dann ... Wumm! Mit einer blitzschnellen Bewegung schnellte der Ältere der beiden vor und warf seinen jungen Kontrahenten zu Boden. »Wir sollten weitergehen«, meinte Wilson. Er setzte sich in Bewegung und bog um eine weitere Ecke. Sydney riss ihren Blick von dem gut aussehenden Kämpfer los und folgte ihm. Jetzt reicht es aber langsam, schalt sie sich im Geiste und schüttelte den Kopf. Wie lächerlich. Kaum sehe ich einen süßen Typen, brennen bei mir alle Sicherungen durch - definitiv nicht der beste Weg, seinen zukünftigen Boss von sich zu beeindrucken. Wilson führte sie einen weiteren Gang entlang zu einer weiteren Tür ohne Bezeichnung in einen weiteren spärlich möblierten Raum. »Bitte setzen Sie sich«, sagte er, als sie beide eingetreten waren. Sie nahm gegenüber des Schreibtischs Platz und versuchte, lässig zu erscheinen - als ob sie jeden Tag Einblick in die intimsten Bereiche eines Geheimdienstes erhielt. Wilson setzte sich ihr gegenüber und sah sie eine Weile schweigend an. Er schien ihre Gedanken lesen zu wollen, und sie schaute ihm ins Gesicht, ohne seinen Blick zu suchen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Krähenfüße unter seinen Augen und die Sommersprossen auf seinem Nasenrücken. Schließlich lehnte er sich zurück und ließ die Hände auf seinen Oberbauch sinken. »Nun, ich habe Ihnen heute alles gezeigt, was ich bis jetzt guten Gewissens verantworten kann.« Er wippte auf seinem Stuhl vor und zurück. »Haben Sie irgendwelche Fragen?« »Hunderte«, erwiderte sie. »Doch hauptsächlich ...« Sie stockte und biss sich auf die Unterlippe. Und dann stellte sie endlich die Frage, die sie seit Tagen beschäftigte: »Warum ausgerechnet ich?« - 79 -
Wilsons rotblonde Augenbrauen hoben sich erstaunt. »Können Sie sich nicht vorstellen, für uns zu arbeiten?« Sie holte langsam Luft. »Ich weiß es nicht. Sie haben mir viel gezeigt, aber Sie haben mir bisher nicht wirklich erzählt, was ich hier eigentlich tun soll. Wird es ein Schreibtischjob, eine Recherchetätigkeit oder etwas ... ganz anderes sein?« »Lassen Sie es mich Ihnen erklären«, sagte er. Er beugte sich wieder vor und legte seine Hände auf den Schreibtisch. »Unsere Organisation hat ständig Bedarf an neuen Mitarbeitern, doch wir müssen bei der Auswahl außerordentlich vorsichtig sein. Wir brauchen Leute, die intelligent, sportlich, aufgeweckt und in der Lage sind, selbstständig zu denken. Sie haben all diese Qualitäten bewiesen. Sie besitzen das ideale Profil einer Person, die ein erstklassiger Undercover-Mitarbeiter werden könnte.« Sydney hielt den Atem an, während ein Schauer über ihren Rücken lief. Also wollte man sie tatsächlich als Geheimagentin einsetzen. Sie. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Einerseits fühlte sie sich unglaublich geschmeichelt und von einer gespannten Erregung erfasst. Andererseits war sie einfach nur sehr, sehr erschrocken. »Wie alle neuen Rekruten werden Sie zunächst am Schreibtisch tätig werden«, fuhr Wilson fort, »sich langsam einarbeiten und mit unserer Organisation und unseren Zielen vertraut machen. Dann, nach einer gewissen Zeit, werden Sie dazu übergehen, in den Agentenstatus zu wechseln. Sie werden ein körperliches Training und eine Waffenausbildung erhalten. Der ganze Prozess wird etwa zwei bis drei Jahre in Anspruch nehmen.« Für eine Weile konnte Sydney nur ungläubig lächeln. Dann schüttelte sie den Kopf. »Aber was, wenn ... ich meine, was geschieht, wenn ... Wie können Sie sicher sein, die richtige Person angeworben zu haben?« - 80 -
Zum ersten Mal, seit sie ihn getroffen hatte, grinste Wilson. »Okay, also hören Sie zu. Neben Ihrem außerordentlichen IQ, Ihrem Tempo auf der Laufstrecke und Ihrer großen Sprachenbegabung, ist mir auch aufgefallen, dass Sie ein großes Gerechtigkeitsempfinden haben. Erinnern Sie sich noch an den Schwachkopf im Les Amis?« In Sydneys Kopf bimmelten tausend Alarmglocken, und eine Bilderflut stürmte auf sie ein. »Sie ... waren da!«, stieß sie hervor und zeigte auf ihn. »Sie saßen an der Bar. Sie hatten einen Spitzbart und trugen ein T-Shirt, aber Sie waren es! Moment mal.« Sie hielt eine Sekunde lang inne. »Waren Sie etwa auch derjenige, der vor dem Sportplatz in dem schwarzen Sedan gesessen hat?« Wilson nickte. »Sehen Sie. Sie haben eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe. Genau das, was wir brauchen.« Und dann verschwand, so schnell, wie es gekommen war, das Lächeln wieder aus seinem Gesicht und wich einem durchdringenden Blick. »Das sind also die Konditionen unseres Angebots, Sydney. Sie haben vierundzwanzig Stunden Zeit, sich zu entscheiden. Wenn Sie den Job wollen, muss ich bis spätestens morgen Nachmittag um fünf Uhr von Ihnen gehört haben. Und vergessen Sie niemals: Sie werden niemandem etwas über die wahre Natur Ihres Jobs erzählen können. Sämtliche Freunde und auch Ihre Familie werden glauben, dass Sie eine Assistentenstelle in einer Bank innehaben. Sie werden noch genaueste Instruktionen von uns erhalten, wie Sie mit Nachfragen hinsichtlich Ihres Broterwerbs umzugehen haben.« Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte sich Sydney kurz vorgestellt, wie es wohl wäre, ihrem Vater von der unglaublichen Wende in ihrem Leben zu berichten. Siehst du, Dad. Du wolltest mich nicht - Uncle Sam - 81 -
dagegen schon! Sie hatte es nicht ernsthaft in Erwägung gezogen, aber die Vorstellung hatte durchaus ihren Reiz. »Und wenn ich mich entschließe, Ihr Angebot nicht anzunehmen?« »Auch dann dürfen Sie niemandem davon erzählen. Ich kann das gar nicht ausdrücklich genug betonen. Von der strikten Geheimhaltung hängen unter Umständen Menschenleben ab. Jeder Vertrauensbruch wird scharf geahndet. Wir fordern den größtmöglichen Preis von denjenigen, die sich nicht an unsere Regeln halten.« Den Tod? Hatte Wilson etwa soeben angedeutet, dass man sie umbrachte, wenn sie auch nur ein Sterbenswörtchen über diese Sache verlauten ließ? Machte die CIA denn so etwas? Wie dem auch sei, ich bin nicht scharf darauf, das herauszufinden. Sie nickte stumm. »Nun denn«, sagte Wilson; er war wieder zu seiner gewohnt einschläfernden Sprechweise zurückgekehrt. »Ich werde Sie nun hinausbegleiten.« Sie erhoben sich und gingen zur Tür. »Und noch was, Sydney.« »Ja?« »Ich hoffe, Sie entscheiden sich für den Job.«
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KAPITEL 6 Die CIA will mich! Die CIA will mich! Sydney tanzte praktisch die Stufen zum Wohnheim hinauf. Seit sie die Bank verlassen hatte, hatte sie nur noch diesen einen Gedanken im Kopf. Die CIA will mich! Sie konnte Geheimagentin werden. Eine Spionin. Wenn sie es nur wollte. Und auch, wenn sie sich dagegen entschied, war es einfach toll zu wissen, dass man an sie glaubte. Sie stieß die Verbindungstür zu ihrem Stockwerk auf und hüpfte fast zur Wohnungstür. »Wo bist du gewesen?«, rief Francie ihr anklagend entgegen, als sie in das Apartment trat. »Ich hab mir solche Sorgen gemacht!« Jetzt bloß keinen Fehler machen, dachte Sydney und rief sich die Ausreden ins Gedächtnis, die sie für solche Zwecke einstudiert hatte. »Ich war auf Jobsuche.« »Was?« Francies Augen wurden groß und rund. »Wo?« »Ich hab mich bei einer Bank vorgestellt. Downtown.« Sie setzte sich auf die Bettkante und streifte ihre Schuhe ab. »Man hat mir einen Job als Bürogehilfin angeboten. Nichts Besonderes.« »Nichts Besonderes?!«, wiederholte Francie fassungslos. »Bist du verrückt. Das ist doch wunderbar. Ich meine, du nimmst die Stelle doch an, oder?« Gegen ihren Willen musste Sydney grinsen. »Vielleicht«, sagte sie, und das entsprach sogar der Wahrheit. »Immerhin ist es ein Bankjob. Ich bin nicht sicher, ob es das Richtige für mich ist.« »Hey, immerhin besser als irgendwelchen Schwachköpfen die Suppe an den Tisch zu bringen. Mann, ich bin so stolz auf dich!« Francie rannte zu ihr und schüttelte sie aufgeregt. »Ich hoffe, du weißt, was du tun musst? Wir müssen das unbedingt feiern gehen!« - 83 -
»Also, ich weiß nicht«, meinte Sydney und hoffte, sie wirkte nicht zu ablehnend. In der Stadt auf den Putz zu hauen, war nicht gerade das, was sie sich für heute Abend vorgestellt hatte. Sie konnte sich die peinliche Szene bildlich vorstellen, wie sie in einer neonerleuchteten Bar mit ihren Freunden herumsaß und ihren ganz eigenen Gedanken nachhing. Hmmmm. Mal überlegen. Soll ich Undercoveragentin für die CIA werden, oder nicht... Oh, sorry, Bedienung, äh ... ach ja, mehr Nachos und noch 'ne Runde Margaritas, bitte ... Wo war ich stehen geblieben? »Komm schon!«, drängte Francie. »Wir können auch zu mehreren losziehen. Ich rufe Baxter an und du deinen Sportsfreund ... wie hieß der noch gleich? Todd?« Sie sank förmlich auf die Knie und umfasste Sydneys Handgelenke. »Du bist noch nicht einmal richtig ausgegangen, seit du auf dem College bist. Und jetzt wäre 'ne echt tolle Gelegenheit dazu. Ich finde, du hast dir diesen Abend wirklich verdient.« Sydney sah Francie tief in die Augen. Sie hatte schon früher Dinge vor ihren Freunden verheimlicht. Zum Beispiel, als sie Melissa verschwiegen hatte, dass das Kleid (ein Hauch aus rosafarbener Seide), das sie sich für die Highschool-Abschlussveranstaltung ausgesucht hatte, absolut grauenvoll an ihr aussah. Oder ... oder die Tatsache, dass sie Möhrenkuchen hasste. Das war in dem Jahr gewesen, als ihre Internatszimmergenossin Caitlin nicht zu Sydneys Geburtstag hatte kommen können und deswegen einen Möhrenkuchen bei der örtlichen Bäckerei geordert hatte - als Überraschungspräsent. Oder die Sache mit dem Typen, in den Francie im letzten Sommer verknallt gewesen war und den Sydney zufällig Hand in Hand mit Francies Erzfeindin gesehen hatte. Klar, das waren alles Peanuts im Vergleich zu dem, was auf sie zukam, wenn sie für den US-Geheimdienst arbeiten würde, aber ... - 84 -
Wem versuchte sie eigentlich, etwas vorzumachen? Fakt war: Das war die größte Sache, die ihr je passiert war, etwas, von dem sie nie zu träumen gewagt hätte. Nichts auch nur annähernd vergleichbar Aufregendes war ihr jemals widerfahren. Und tatsächlich gab es kaum jemanden auf der Welt, dem so etwas je passieren würde. Würde es da schaden, ein bisschen auszugehen und dieses Ereignis mit ihren Freunden zu feiern? Danach konnte sie immer noch in Ruhe über ihr zukünftiges Leben nachdenken. Eine Stunde später saß Sydney am Ecktisch eines verrauchten Clubs am Santa Monica Pier. Ihr gegenüber schmiegten sich Francie und Baxter aneinander, während Todd zu ihrer Linken mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl saß und die langen Beine von sich streckte. »Diese Band will krampfhaft klingen wie 1/2,« rief er über die Musik hinweg, »aber sie schaffen es einfach nicht.« »Wirklich?«, fragte Sydney. »Was gefällt dir nicht an denen? Ich finde, die klingen eigentlich ganz okay.« »Ach, mich kotzt einfach dieses ganze Getue an«, meinte Todd und hob die Hände in einer theatralischen Geste. »Die meisten Bands von heute versuchen auf Teufel komm raus wütend und aggressiv rüberzukommen. Doch wogegen bitteschön haben eigentlich vier kleine Jura-Studenten zu rebellieren?« »Ich frage mich sowieso«, brüllte Francie über den Tisch, »was an dieser Depri-Musik so toll sein soll. Ich meine, was ist so schlecht an tanzbaren Tunes, die zudem noch gute Laune machen?« Baxter beugte sich zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr, was sie zum Kichern brachte. Übertrieben mitleidig schüttelte Todd den Kopf. »Arme Francine. Haben wir etwa den Trend verschlafen? Die Leute tanzen nicht mehr - sie produzieren sich zum Zwecke der Selbstdarstellung.« Er setzte sich gerade auf, hob das - 85 -
Kinn und verzog das Gesicht zu einer blasierten Fratze. Alles lachte. »Also, mir ist das egal«, rief Francie und sprang auf. »Ich werde auch in Zukunft über die Tanzfläche hüpfen wie Snoopy.« Sie ergriff Baxters rechte Hand. »Komm, lass uns ein bisschen Happy Dance machen.« »Ich komme mit«, sagte Todd. Er schwang sich von seinem Stuhl und bot Sydney seinen Arm. »Würden Sie mir die Ehre erweisen, Mylady?« »Sicher.« Die vier gingen hinüber auf die leere Tanzfläche und begannen, sich zur Musik zu bewegen. Zuerst fiel es Sydney schwer, die unvermeidlichen Blicke der anderen Gäste zu ignorieren - etwas, mit dem einsame Tänzer auf der ganzen Welt leben mussten. Unsicher machte sie ihre eher zaghaften Steps vor und zurück, während sie sich über die extravaganten Einlagen der anderen amüsierte. Todd, Francie und Baxter hatten sich offensichtlich vorgenommen, es gründlich zu übertreiben. Sie bewegten sich ruckend und zuckend hin und her und ruderten dabei mit den Armen, als ob sie vorhätten, einen MTVTanzwettbewerb zu gewinnen. Auf einmal jedoch sprang der Funke über, und Sydney war überrascht, wie gut sie sich dabei fühlte. Sie schloss die Augen, ließ sich einfach gehen, wirbelte mit den Armen und ließ die Hüften kreisen, während die Freunde sie anfeuerten. »Ja, Sydney, ja, Sydney. Ja! Ja!«, riefen sie. Es war ein Gefühl wie beim Wettlauf, nur lauter und ekstatischer. Der ganze Stress, der sie zuletzt fast niedergedrückt hatte, fiel von ihr ab; wurde quasi davongeschleudert. Francie hatte Recht - es tat gut, hier zu sein. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wann sie das letzte Mal so viel Spaß gehabt hatte. - 86 -
Als der Song zu Ende war, fielen sich die vier in die Arme und lachten. »Komm mit, Todd«, sagte Baxter und nickte in Richtung Bar. »Wir holen den beiden Damen 'ne Cola.« Lachend und keuchend gingen Sydney und Francie wieder an ihren Tisch zurück und setzten sich. »Siehst du, man kann die Arbeit oder das Studium durchaus gelegentlich abschütteln, und es bringt einen nicht um«, meinte Francie atemlos, während sie ihr zerzaustes Haar in Ordnung brachte. »Im Übrigen hast du ja nicht den Wahnsinns-Entscheidungsstress, nicht wahr?« Es war, als ob ihr jemand eine schallende Ohrfeige versetzt hätte. Sydney blinzelte, und dann war sie wieder da - die Realität des Hier und Jetzt. Die Unbeschwertheit war dahin. Und die alles entscheidende Frage, die sie für einige Zeit mit Erfolg aus ihrem Kopf vertrieben hatte, war wieder allgegenwärtig. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war schon nach zehn. Wilson hatte gesagt, sie hätte nur vierundzwanzig Stunden Zeit, sich sein Angebot zu überlegen. Wenn sie das wirklich tun wollte, musste sie sich jetzt einfach in die Abgeschiedenheit ihres Wohnheimzimmers zurückziehen. »Sydney«, fragte Francie ungeduldig. »Was ist denn? Willst du etwa schon gehen?« »Was? Äh ... tja ... so ist es«, erwiderte sie und zog die Nase kraus. »Ist das okay für dich? Ich hab noch so viel zu erledigen.« »Dieser Job hat dich richtig aus den Latschen gehauen, was?« Sydney öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch dann hob sie nur die Schultern. »Du hast mich nicht um meine Meinung oder um Rat gefragt, aber ich werde mich trotzdem einmischen.« - 87 -
Francie schob ihren Stuhl näher und legte eine Hand auf den Arm der Freundin. »Ich kenne dich, Syd, und ich muss dich fragen: Kann es sein, dass du dir die Sache tatsächlich noch überlegst?« Wieder hob Sydney nur die Schultern. Sie wusste Francies Anteilnahme wohl zu schätzen. Doch sie hatte Angst, zu viel herauszulassen, sobald sie auch nur den Mund öffnete. »Ich meine, es ist doch nur ein Job«, fuhr Francie fort. »Das muss ja nicht der Beginn einer lebenslangen Karriere sein. Und selbst wenn, was ist so falsch daran, in einer Bank zu arbeiten? Wir können schließlich nicht alle die Welt retten, wenn du verstehst, was ich meine.« Alarmiert starrte Sydney ihre Freundin an. In ihrer Verwirrung brauchte sie einen Moment, um zu begreifen, dass Francie nur eine Floskel gebraucht hatte. »Ja, ich weiß«, sagte sie schließlich. »Egal, mehr hab ich dazu nicht zu sagen.« Francie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Wenn du willst, können wir gleich nach dem nächsten Drink gehen, okay?« Sydney antwortete nicht. Sie dachte noch immer über Francies Worte nach. Ist es so?, fragte sie sich. Mache ich 'ne Riesensache aus etwas absolut Simplem? Die Wahrheit war: Sie hatte in der Tat die Chance, die Welt zu retten. In dieser Hinsicht war der Job also genau das Richtige. Die große Frage war jedoch, ob sie die Richtige für diesen Job war? Zusammengerollt lag Sydney auf ihrem Bett und starrte die Wand an. Nachdem man sie zu Hause abgesetzt hatte, waren Baxter und Francie noch zu einem Cafe in Santa Monica gefahren. So hatte sie also das Zimmer ganz für sich alleine. Kein Laut war zu hören, wenn man mal von dem Klingeln in ihren Ohren absah, das von dem Gedröhne im Club herrührte. Endlich hatte sie die Abgeschiedenheit - 88 -
und Ruhe, die sie brauchte, um gründlich nachzudenken. Leider nur stellte sich das Ganze nicht als die friedvolle, besinnliche Einkehr heraus, die sie sich gewünscht hatte. Stattdessen war sie verwirrt und zerstreut, als ob ein Teil von ihr noch immer über die Tanzfläche wirbelte. Bis jetzt wusste sie nur: Sie wollte den Job. Sie wollte ihn wirklich. Und doch nagte eine gewisse Verunsicherung an ihrem Enthusiasmus. Es war, als ob sie kurz vor einem Fallschirmabsprung stand - gespannt und aufgeregt. Aber sie wusste auch, dass, wenn sie ihren Fallschirm nicht richtig gepackt haben sollte, sie sich auf einen langen, quälenden Fall einstellen musste. Es war wie bei ihrer Entscheidung für den Lehrerberuf. So lange hatte sie geglaubt, dass es ihr Traum war, in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten. Und es hatte wehgetan zu erkennen, dass dieser Weg womöglich nicht der richtige für sie war. Nicht nur, weil es ihr an Alternativen mangelte, sondern auch, weil es bedeutete, dass sie doch nicht wie ihre Mutter war ... und womöglich nach ihrem Vater kam. Ihr Vater war definitiv nicht der Typ Mann, der die Welt rettete. Er verkaufte Flugzeugteile und war ein richtiger Spießer. Ein geradliniger, kompromissloser Spießer. Sie schloss die Augen und rief sich das Bild ihres Vaters ins Gedächtnis, Sein breites, ausdrucksloses Gesicht mit den doch scharfen Zügen, seine müden Augen. Auf merkwürdige Art gut aussehend, und doch irgendwie leblos. Ein Mann, den jedermann respektierte, aber niemand wirklich mochte. Selbst sie mochte ihn nicht sonderlich. Und doch wusste sie, dass sie ihn im Grunde ihres Herzens liebte. Sie hatte Jahre damit verbracht, um seine Gunst zu buhlen, hatte geglaubt, sie könnten eines Tages eine persönlichere Beziehung zueinander aufbauen. Sie hatte gehofft, sie würden einander wie Erwachsene begegnen, wenn sie erst - 89 -
einmal aufs College ging. Und sie hatte es bisher nicht gewagt, diese Hoffnung einer Überprüfung zu unterziehen. »Und nun?«, murmelte sie und setzte sich im Bett auf. Sie hätte einen Vater im Moment wahrlich gebraucht. Andere konnten jederzeit ihren Dad anrufen und ihn um Rat fragen. Warum sie nicht? Natürlich konnte sie ihm mitteilen, was sie bewegte, aber es wäre ein Wunder, wenn er ihr zuhörte. Vielleicht bestand ja die Möglichkeit, dass er ihr weiterhalf, obwohl sie ihm ihr Problem nicht im Detail schildern durfte? Sie griff zum Telefon, betätigte eine der Kurzwahltasten und wartete, während ihre Finger nervös auf dem Hörer herumtrommelten. Nach viermal Klingeln wurde am anderen Ende abgehoben. »Bristow«, ertönte die schroffe Stimme ihres Vaters. »Dad? Ich bin's. Sydney.« »Sydney? Es ist nach elf Uhr. Gibt's Probleme?« »Nein, mir geht's gut. Ich wollte nur ... ein bisschen mit dir reden.« Sie krümmte sich innerlich, wie jung und schwach sie in diesem Moment klang. Warum bat sie ihn nicht gleich um ein Glas Wasser oder um eine Gutenachtgeschichte?« »Reden? Worüber?« Sie zuckte die Achseln. »Ganz allgemein. Wie läuft die Arbeit?« »Viel zu tun«, kam es gereizt zurück. »Tatsächlich hab ich morgen früh um acht ein wichtiges Meeting. Also, warum rufst du wirklich an?« »Du liebe Güte! Kann ich nicht meinen Dad anrufen, um mich zu erkundigen, wie's ihm geht?«, schrie sie ins Telefon und sprang auf die Beine. »Warum fragst du eigentlich nicht mal, wie es mir geht?« - 90 -
»Weil es spät ist und weil ich morgen früh raus muss. Ich denke, das trifft auch auf dich zu.« Sie hörte ihn seufzen. »Hör mal, Sydney, ich hab keine Zeit für so was. Ich weiß, du brauchst Geld, also warum rückst du nicht mit der Sprache raus, anstatt dich und mich mit diesem Geplänkel aufzuhalten?« Sydneys Unterkiefer klappte herunter, und sie sank langsam auf die Bettkante. »Du glaubst, ich hab dich wegen Geld angerufen?«, murmelte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Das denkst du? Nun, du irrst«, fuhr sie fort und ihre Stimme wurde eine Spur schärfer. Alle Fantasien darüber, wie sie ihrem Vater über die Sache mit der CIA berichtete, waren wie weggeblasen. »Du kannst dein Geld behalten, Dad. Eigentlich hab ich dich angerufen, um dir zu erzählen, dass ich jetzt einen Job habe. Von nun an werde ich also nichts mehr von dir brauchen!« Bevor er antworten konnte, hatte sie das Gespräch beendet. Wütend warf sie das Telefon hinters Bett. Das war's, dachte sie und wischte sich eine Träne von der Wange. Ich werde den Job annehmen! Niemals würde sie so enden wie er. Ein Mensch, dem der Verkauf von Jetmotoren wichtiger war als seine Tochter. Darüber hinaus hatte sie die Chance, die Geschicke der Welt zu ändern. Sie wäre verrückt, sie nicht zu ergreifen. Und sie stellte sich vor, wie stolz ihre Mutter auf sie gewesen wäre. Guten Morgen, Mr. Wilson. Nach eingehender Überlegung möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich dabei bin. Ich, Sydney A. Bristow, möchte Agentin der U.S.Regierung werden und in den Dienst der Central Intelligence Agency treten. - 91 -
Unbehagliche Stille. Nervöses Kichern. Durchstreichen, zusammenknüllen und auf den Fußboden damit. Egal, wie oft ich diese Worte einstudiere, sie erscheinen mir mit keinem Mal realer. Nicht gestern. Nicht heute Morgen. Und wohl auch nicht, wenn ich heute Nachmittag in Wilsons Büro in der Credit Dauphine vorstellig werde und ihm sage, dass ich sein Angebot annehme. Sein Angebot, eine Superagentin zu werden, unglaubliche Missionen zu erfüllen und in allen erdenklichen Disziplinen ausgebildet zu werden. Oder was immer ich zu tun habe. Weißt du, warum ich beschlossen habe, das Angebot der CIA anzunehmen? Je mehr ich darüber nachdenke (und du kannst mir glauben, in den letzten vierundzwanzig Stunden hab ich nichts anderes getan als zu denken, grübeln, wiederkäuen, schreien), desto mehr bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass das eine unglaubliche Chance ist. Unglaublich. Wie viele Leute haben im Laufe ihres Lebens denn schon die Gelegenheit, etwas wirklich Wichtiges zu tun? Etwas für ihr Land, etwas wirklich Bedeutsames und Lebensveränderndes? Wer kann schon seine geschulte Beobachtungsgabe dazu einsetzen, um den Grad der Kundenzufriedenheit im Supermarkt an der Ecke zu beurteilen? Nicht viele, das steht fest. Nimm zum Beispiel meinen Vater. Er verkauft Flugzeugteile. Sicher, die Leute müssen fliegen, aber ist sein Beruf wirklich von Bedeutung? Kann der Umgang mit und der Verkauf von Jetmotoren für irgendjemanden die Erfüllung sein? Ich muss gestehen, dass ich ein wenig Angst habe. Wilson hat keinen Zweifel daran gelassen, dass es ihm ernst ist. Tod. Er hat angedeutet, dass ich umgebracht werden könnte, wenn irgendjemand erfährt, was ich nun tue. Er kann ja nicht wissen, dass ich schon Erfahrung mit dem Tod hatte. Wie mir die Beine unter dem Körper fortgerissen wurden, als es mir fast das Herz aus dem Halse - 92 -
riss und wie es wieder mit unbeschreiblicher Wucht zu pochen begann, als meine Welt in Millionen Stücke zerbrach und niemand mir half, sie wieder zusammenzusetzen. Andererseits, wenn wir bedenken, mit wem wir es zu tun haben, ist es wahrscheinlich, dass Wilson dies alles ohnehin schon weiß. Und in diesem Fall wüsste er auch, dass ich imstande bin, alles zu schaffen. Und bereit, bei dem Versuch zu sterben.
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Sechs Monate später
KAPITEL 7 Sydney saß über den Schreibtisch gebeugt, einen Arm aufgestützt und die Fingerspitzen gegen die Stirn gepresst. Links neben ihr türmte sich ein Aktenberg auf; jede der Mappen trug in hellroten Lettern den Stempel VERTRAULICH. Auch vor ihr lagen zahlreiche Sammelordner über die Tischplatte verstreut. Wenn man von den roten Nummern auf den Deckeln absah, die dem inliegenden Foto und den ein oder zwei erläuternden Seiten zugeordnet waren, sahen sie aus wie ganz normale Rundlaufmappen aus Karton. Langsam schüttelte sie den Kopf und stieß einen gedämpften Pfiff aus. Nie wieder würde sie die Welt als einen riesigen farbigen Reiseprospekt ansehen können. Nach diesen Karten zu urteilen, verbargen sich im ländlichen Bilderbuchdeutschland Dutzende Nuklearraketen, ein riesiges Waffenarsenal befand sich direkt hinter einer verfallenen Kirche in Spanien. Und nur eine halbe Meile von einem beliebten venezolanischen Badestrand entfernt stand vermutlich eine Fabrik für chemische Waffen. Sydney griff sich die Akte »Nordamerika« und öffnete sie gespannt. Gleich darauf stockte ihr der Atem. Rote Punkte, wohin das Auge blickte! Es sah aus, als ob die Karte Masern hätte. Gab es denn auf dieser Welt keinen sicheren Ort mehr? »Ich arbeite für die CIA«, murmelte sie, als sie die Pläne sorgfältig zusammenfaltete und in den entsprechenden Mappen verstaute. »Ich arbeite für die CIA.« Diese Worte waren ihr Mantra. Ihre Hymne. Sie hatte sie zum ersten Mal vor sechs Monaten aufgesagt. Und sie tat - 94 -
es noch, wann immer die Ausmaße dessen, was sie tat, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ihre Vorstellungskraft überstiegen. Nachdem sie Wilsons Angebot angenommen hatte, war sie in einem Strudel aus Aktivitäten schier fortgerissen worden. »Keine Sorge, Sie sind rechtzeitig zum Englischseminar wieder hier raus«, hatte Wilson ihr damals gesagt, nachdem sie ihm ihre Entscheidung mitgeteilt hatte. Wann war das gewesen? An einem Tag im letzten Herbst? »Wir müssen da nur noch ein paar Dinge klären, bevor die Sache unter Dach und Fach ist. Sie müssen sich einer eingehenden Untersuchung Ihrer körperlichen und geistigen Verfassung unterziehen, dazu kommen diverse Intelligenztests, und schließlich müssen Sie noch an die zwei Dutzend Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnen.« Sie hatte in dem Gespräch darauf bestanden, ihr Studium an der UCLA fortzusetzen. »Kein Problem«, hatte Wilson ihr versichert. »Tatsächlich wollen auch wir es genauso handhaben. Sie benötigen eine ganz normale Identität in Form von Freunden und Familie. Es wäre ohne Frage ein Risiko, weil völlig untypisch für Ihren Charakter, wenn Sie Ihr Studium für einen Hilfsjob in der Bank aufgeben würden, nicht wahr?« Sie hatte nur stumm genickt und sich gefragt, wie gut Wilson sie und ihren »Charakter« eigentlich kannte. Dann hatte er die Tür zu seinem Büro geöffnet und sie auf den Flur hinauskomplimentiert. »Und bis dahin kann es nicht schaden, wenn ich Ihnen zeige, wo Sie sich zukünftig zum Dienst einzufinden haben.« Als sie so neben Wilson hergegangen war, hatte sich bei Sydney eine nervöse Vorfreude eingestellt. Das war es. Hier begann also ihr neues Leben. Sie hatte sich gefragt, wo ihr »Dienst« stattfand. Vielleicht im Kampfsportzentrum? Oder am Schießstand? - 95 -
Doch anstatt sie in den Geheimsektor zu führen, hatte Wilson sie zurück in die Empfangshalle der Bank geleitet. Dort war er auf direktem Wege zu der Blondine gegangen, bei der sich Sydney anlässlich ihres ersten Besuchs hatte anmelden müssen, und hatte mit leiser Stimme ein paar Worte mit ihr gewechselt. Sofort war die Frau hinter ihrem Counter hervorgekommen und hatte sich lächelnd neben sie gestellt. »Das ist Maxime«, hatte Wilson die Dame vorgestellt. »Bei ihr werden Sie sich melden, wann immer Sie zur Arbeit erscheinen.« »Und ... was ist mit Ihnen?« Sydney hatte die Frage schon im gleichen Moment als albern empfunden, doch irgendwie hatte sie sich an Wilson gewöhnt. »Oh, ich werde in der Nähe sein«, hatte er erwidert und ihr eines seiner seltenen Lächeln geschenkt. »Vergessen Sie niemals: Wir werden Sie sehr genau beobachten, und wir werden Sie wissen lassen, wenn wir es an der Zeit finden, dass Sie -« Er hatte eine kurze Pause eingelegt und sich verstohlen in der Halle umgesehen. »- dass Sie aufsteigen.« »Kommen Sie mit, Sydney«, hatte Maxime gesagt und ihr mit der Hand einen Wink gegeben. Sie war der Frau zu einem nahe gelegenen Aufzug gefolgt. Bevor sich die Türen schlössen, hatte sie Wilson einen letzten Blick zugeworfen. Er hatte genickt, als wollte er sagen: »Es ist alles okay.« Dann war der Aufzug nach oben gefahren. Sydney hatte gespürt, wie ihre Knie weich wurden. Aus den Augenwinkeln hatte sie Maxime betrachtet - ihr maßgeschneidertes Kostüm und ihr perfekt gestyltes, schimmerndes Haar - und sich gefragt, was für eine Geschichte sie wohl hatte. Im Grunde fragte sie sich das bei jeder Person, der sie hier begegnete. Worin genau bestand - 96 -
ihre Tätigkeit für die Organisation? Wie viel wussten sie? Waren sie glücklich hier? Kurz darauf hatte der Aufzug im 20. Stock angehalten. Die Türen waren aufgeglitten, und Maxime hatte Sydney bedeutet, ihr zu folgen. Sie hatten sich in einem langen, mit Teppichboden ausgelegten Flur befunden, von dem zahlreiche Büros abgingen. Sydney hatte die typische Geräuschkulisse aus arbeitenden Fotokopierern und Telefongeklingel vernommen, die wie das Grillengezirpe in einer klaren Nacht an ihr Ohr drang. Eine Frau war an ihnen vorbeigeeilt und hatte im Gehen einen Stapel Papier sowie eine dampfende Tasse Kaffee balanciert. Gleich darauf war ein Mann durch den Flur gelaufen - ganz in die Lektüre einer Akte vertieft. Maxime hatte sie in ein spärlich beleuchtetes Büro geführt, in dem an beiden Wänden hohe, schwarze Aktenschränke standen. »Da sind wir«, hatte sie verkündet und die surrenden Leuchtstofflampen mit einem Schalter heraufgedimmt. »Hier werden Sie sich also die meiste Zeit aufhalten. Zunächst werden Sie Akten anhand dieser Bestellliste heraussuchen und sie an unsere Mitarbeiter im ganzen Gebäude ausliefern. Bei Ihren Runden werden Sie darüber hinaus nicht mehr benötigte Akten einsammeln und hier einsortieren.« »Okay«, hatte Sydney so motiviert wie möglich geantwortet. Maxime hatte ihr zugelächelt. »Ich weiß, es gibt aufregendere Jobs, aber es ist eine gute Möglichkeit, sich hier einzufinden. Nach einer Weile werden die Herausforderungen steigen, und dann werden Sie mit Aufgaben wie Recherche und dem Schreiben von Berichten betraut werden.« »Wie lange dauert es für gewöhnlich, bis...« Sydney hatte innegehalten, unsicher, wie sie die Frage am besten - 97 -
formulieren sollte und ob man sie überhaupt stellen durfte. Nach allem, was Wilson ihr eingeschärft hatte, und nachdem sie Zeuge davon geworden war, wie vorsichtig er sich in der Lobby verhielt, hatte sie eine Heidenangst, das Falsche zur falschen Zeit oder am falschen Ort zu sagen. »Bis Sie befördert werden?«, hatte Maxime gefragt und dabei leicht den Kopf geneigt. Sydneys Augen hatten sich vor Erstaunen geweitet. Nun gut, hatte sie bei sich gedacht, offensichtlich kann man hier im 20. Stock frei heraus sprechen. »Für gewöhnlich an die zwei Jahre«, hatte Maxime geantwortet. »Manche Leute steigen gelegentlich schneller auf.« »Ich verstehe.« »Nun denn«, hatte Maxime abschließend gesagt und die Hände zusammengeschlagen. »Wenn Sie noch einen Moment Zeit haben, zeige ich Ihnen unseren Kopierer.« »Großartig«, hatte Sydney erwidert und versucht, so viel Enthusiasmus an den Tag zu legen wie möglich. So viel also zum Thema Emma Peel, hatte sie gedacht, als sie hinter Maxime hertrottete ... Und dann, nach einigen Wochen, die aus Kopieren und dem Ausliefern von Akten bestanden hatten, hatte man sie daran gesetzt, Vorgänge zu dokumentieren und Recherchen zu bestimmten Fällen anzustellen. Sie hatte sich durch Berge von Daten, Bildern und Berichten gewühlt, die sie in ihrem fotografischen Gedächtnis abgespeichert hatte wie ein Schwamm Wasser aufsaugt. Und dabei hatte sich ihr eine gänzlich neue Welt eröffnet - eine Welt voller lauernder Gefahren. Doch diese Entdeckungen hatten sie keineswegs in Angst versetzt. Im Gegenteil. Sie war immer ungeduldiger geworden in ihrem Wunsch, sich für ihr Land nützlich zu machen. »Ich arbeite für die CIA«, hatte sie - 98 -
schon morgens unter der Dusche geflüstert, auf dem Weg zur Arbeit, bei ihren einsamen Runden auf dem Sportplatz ... Sie war so voller Stolz auf das, an dem sie nun teilhaben durfte, dass sie glaubte, platzen zu müssen, wenn sie es nicht jemandem erzählen konnte. Und so erzählte sie es sich eben selbst... »Sydney?« Maximes Kopf erschien im Türspalt, während ihr goldenes Armband gegen den Rahmen klimperte. »Haben Sie den Bericht zur Radioüberwachung fertig gestellt?« »Ja, hier ist er«, erwiderte sie. Sie öffnete den Ordner, der ganz zuoberst lag, und zog einen Stapel Dokumente von der Dicke eines Taschenbuchs heraus. »Und der Report über die südamerikanischen Söldner ist auch fertig«, fügte sie hinzu und wies auf einen zweiten Papierstapel. »Schon?«, fragte Maxime erstaunt und kam ins Büro. Sie nahm die erwähnten Dokumente zur Hand und sah sie ehrfürchtig durch, als ob es sich um seltene Artefakte handelte. »Ich frage mich, wie Sie das immer so schnell hinkriegen«, bemerkte sie respektvoll. »Es ist, als ob Sie das ganze Material einfach nur ein- und dann wieder auszuatmen brauchten. Was sind Sie? Ein Supermensch?« Sie schenkte Sydney ein breites Lächeln und wandte sich zum Gehen. »Und vergessen Sie nicht, diese Memos noch auszuliefern«, rief sie ihr über die Schulter zu. Sydney schüttelte den Kopf. Supermensch? Gut, Maxime war mehr als beeindruckt von Sydneys Formulierungsgeschick und Termintreue. Doch es gab Zeiten, da fragte sie sich, ob diese Frau eigentlich menschlich war. Auf Sydney wirkte die Blondine stets wie eine geheime Cyberkreation mit ihrem permanenten Lächeln und ihrer perfekten Erscheinung. Ja, sie hätte sich nicht gewundert, ein Mattel-Logo an Maximes Rücken vorzufinden. - 99 -
Doch sie hatte Recht, was Sydneys rasend schnelle Auffassungsgabe betraf. Alles, mit dem sie konfrontiert wurde, schien so wichtig und faszinierend. Und je mehr sie erfuhr, umso ruheloser und ungeduldiger wurde sie. Sie konnte von all dem einfach nicht genug bekommen. Sydney stand auf und streckte sich. Dann griff sie sich einen Papierstapel vom Regalbrett neben dem Kopierer und eilte den Flur entlang, wo sie je ein Exemplar des Memos in die Postkörbchen legte, die neben jeder Bürotür angebracht waren. »Sydney«, drang da eine tiefe männliche Stimme an ihr Ohr. Sie wirbelte herum und erkannte Wilsons Silhouette im Gang. »Boah ... hi«, rief sie überrascht. Sie hatte Wilson seit ihrem ersten Arbeitstag kaum wieder getroffen. »Was gibt es denn?« »Es ist an der Zeit, Sydney«, sagte er nur. »Kommen Sie mit mir.« Seine Miene war so ausdruckslos wie immer, doch die Art, wie er sie heute ansah, war einen Hauch liebenswürdiger als üblich. Es ist an der Zeit? Sydneys Puls beschleunigte. »Sicher«, sagte sie und grinste nervös. »Ich bin fast fertig mit diesen ...« »Lassen Sie das jetzt«, unterbrach er sie. Er nahm ihr den Stapel mit den Memos aus der Hand und legte ihn kurzerhand auf einem nahe gelegenen Tisch ab. Dann wandte er sich Richtung Aufzug und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Während der Fahrt nach unten gab Wilson ihr keinen Hinweis darauf, was sie nun erwartete, und überließ sie ganz ihren eigenen Gedanken. Ist es endlich so weit?, fragte sie sich. Beginnt jetzt mein Agententraining? Auf keinen Fall, drängte sich ihr sogleich Widerspruch auf. Ich bin doch erst sechs Monate hier, und jeder sagt, es - 100 -
dauert wenigstens zwei fahre, bevor ... Wahrscheinlich wollen sie dir nur eine etwas anspruchsvollere Büroarbeit aufs Auge drücken. Endlich kam der Aufzug zum Stehen. Sie traten in den Gang und gingen weiter zu Wilsons Büro. Als sie die Tür öffneten, erhoben sich sofort zwei Personen von ihren Plätzen. »Das ist Yoav.« Wilson deutete auf einen großen, muskulösen Mann mit dickem Schnurrbart. »Vielleicht erinnern Sie sich noch an ihn. Sie haben ihn auf unserer ersten Tour gesehen. Er trainiert all unsere Agenten im Nahkampf.« »Ja. Hi«, begrüßte Sydney ihn. Der Mann verbeugte sich leicht. »Und hier«, fuhr Wilson fort und zeigte auf eine schlanke Frau mit dunklem langem Haar und stolzem Gesichtsausdruck, »haben wir Pilar. Sie ist eine unserer Top-Waffenspezialistinnen.« »Hallo«, sagte Sydney und lächelte der Frau zu. Pilar nickte und lächelte zurück. »Bitte nehmen Sie doch Platz.« Wilson deutete auf die herumstehenden leeren Sessel, und Sydney und die beiden Ausbilder folgten seiner Aufforderung. »Ich komme am besten gleich zur Sache«, fuhr Wilson fort. »Im Hauptquartier ist man der Meinung, dass Sie, Sydney, bereit für Ihre Agentenausbildung sind.« Eine Woge der Emotionen schwappte über ihr zusammen. Sie fühlte sich plötzlich größer und leichter. Ich hatte Recht, dachte sie. Irgendwie hab ich's tatsächlich geschafft! Wilson sah sie aufmerksam an. Offensichtlich erwartete er eine Antwort. Sydney umfasste die Armlehnen ihres Sessels, als ob sie verhindern wollte, zur Decke aufzusteigen wie ein Heißluftballon, und holte tief Luft. - 101 -
»Das ist ... großartig. Vielen Dank. Nur ... was heißt das denn genau?« Wilson, Yoav und Pilar tauschten kurze Blicke. »Das heißt, nie mehr Papierberge im 20. Stock abarbeiten«, erwiderte Wilson. Er reichte ihr eine kleine Plastikkarte, auf der eine Folge aus Zahlen und Buchstaben aufgedruckt war. »Das ist der Code für den Kartenleser, der den Durchgang in der Wand öffnet, den Sie bereits kennen. Ich möchte, dass Sie sich die Kombination gut einprägen und die Karte zurückgeben, noch bevor Sie heute nach Hause gehen. Und morgen kommen Sie dann direkt hierher und melden sich bei Pilar am Schießstand. Nach Ihrer ersten Stunde mit ihr gehen Sie zu Yoav zwecks Ihres Kampftrainings. Danach dürfen Sie kurz duschen und ausruhen, bevor Sie mir Bericht erstatten. Ich werde Sie dann zum Thema >Verdeckte Operationen< unterweisen.« Sydney hörte aufmerksam zu, doch ihr schwirrte der Kopf. Das alles geschah zu schnell. Von nichts anderem hatte sie in den zurückliegenden Monaten geträumt, und nun war es plötzlich wahr geworden? Die ganze Situation erschien ihr auf einmal irgendwie surreal. Fest umschloss sie die Karte mit ihrer Hand, bis die scharfen Plastikkanten ihr ins Fleisch schnitten. Sie musste die Realität irgendwie körperlich spüren, um ihre Benommenheit abzuschütteln. »Es ist ungemein wichtig, dass Sie auch weiterhin den Anschein erwecken, als Bürohilfe in der Bank zu arbeiten«, fuhr Wilson fort. »Sie werden sich also auch in Zukunft jeden Morgen geschäftsmäßig kleiden und sich dann hier entsprechend umziehen.« »Ja, natürlich«, sagte sie, immer noch lächelnd und nickend. »Vielen Dank.« »Herzlichen Glückwunsch, Sydney«, schloss Wilson. Er beugte sich über seinen Schreibtisch und reichte ihr die Hand. »Wir hatten noch nie jemanden, der so schnell - 102 -
aufgestiegen ist wie Sie. Sie haben enormes Auffassungsvermögen und Verständnis für sämtliche Zusammenhänge unsere Arbeit betreffend bewiesen. Deshalb wünscht das Hauptquartier, dass Sie auf die Überholspur wechseln.« »Überholspur«, wiederholte sie lahm und schluckte. Sie war durchaus der Meinung, gute Arbeit geleistet zu haben, aber diese Auszeichnung von höchster Stelle haute sie einfach um. »Danke«, hauchte sie wieder, weil ihr schlicht und einfach die Worte fehlten. »Und daher lautet die einzige Frage, die ich Ihnen noch zu stellen habe«, fügte Wilson hinzu, »sind Sie bereit, Sydney? Sind Sie bereit, Agentin zu werden?«
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KAPITEL 8 »Hii-aah!« Sydney wirbelte herum und versetzte ihrem Gegner einen Schlag mit dem Ellbogen. »Reeee-aah!« Der Mann parierte mit einem unterschnittenen Sidekick. Sydney hechtete im letzten Moment zur Seite, rollte sich ab und sprang wieder auf die Füße. Blitzschnell wandte sie sich erneut ihrem Trainer zu, alle Sinne aufs Äußerste konzentriert; jeder Muskel in ihrem Körper gespannt - wie eine Kobra, die sich zum alles entscheidenden Vorstoß bereitmachte. Die Halle, die Matte, der Schweiß, der ihr über Rücken und Brust rann - all das war auf einmal vergessen. Ihr Blick war allein auf Yoavs große muskulöse Gestalt gerichtet, die sich lauernd vor ihr aufgebaut hatte. Sie fixierte ihn wie ein Jäger seine Beute, bereit, bei der kleinsten Bewegung zu reagieren und das geringste Anzeichen einer Schwäche für sich zu nutzen. Ohne Vorwarnung schwang ihr Ausbilder plötzlich herum. In letzter Sekunde und ohne groß darüber nachzudenken, konnte Sydney dem kraftvollen Sidekick ausweichen. »Ausgezeichnet«, sagte Yoav. »Hirn abschalten und allein den Reflexen vertrauen.« Sydney musste an ihre erste Sparring-Session mit Yoav denken. Nach Wochen des Trainings mit Punchingsäcken und Schlagpolstern, war sie immer noch zu sehr damit beschäftigt gewesen, ihn zu beeindrucken und sich auf den nächsten Schritt zu konzentrieren. Ich hatte mich zu sehr auf den Kampfablauf konzentriert, bis Yoav mich lehrte, den Blick nicht einzuengen und der ungebändigten Energie freien Lauf zu lassen. - 104 -
Sie hatte eine Weile gebraucht, um die analytische Seite in ihrem Hirn zum Schweigen zu bringen, was im Ernstfall überlebenswichtig war. Doch als ihr dies gelungen war, war sie in unbekannte Höhen aufgestiegen. Fast automatisch und unmerklich bewegte Yoav nun seine Schultern. Sydney wusste, was nun folgte. Und richtig, sein Körper driftete ein Stück nach rechts, sein linker Ellbogen hob sich seitwärts. Blitzschnell tauchte Sydney unter dem drohenden Schlag ab und versetzte ihrem Ausbilder gleichzeitig mit der Faust einen Schlag in die ungeschützte Seite. Yoav geriet ein wenig ins Straucheln. »Gut!«, rief er, während er einmal um sich selbst kreiste, um sein Gleichgewicht wieder zu finden. »Und beim nächsten Mal nicht so viel Rücksicht auf mich nehmen. Gib's mir einfach.« Sein Blick suchte den ihren. »In diesem Gebäude stehen entsprechende medizinische Einrichtungen für den Ernstfall zur Verfügung.« Sydney nickte knapp und versuchte, in ihrem Aktionsradius zu bleiben. Sie wusste, dass sie sich immer noch zurückhielt. Obwohl sie immer besser im Abtauchen und Entwaffnen wurde, hatte sie immer noch Hemmungen, wenn es darum ging, harte Treffer zu landen. Sie konnte sich immer noch nicht damit abfinden, dass dies alles ernst war. Yoav machte ein paar geschmeidige Schritte in Richtung des großen Sichtfensters, welches das Trainingszentrum vom Flur trennte. Als Sydney seine Haltung studierte, erhaschte sie aus den Augenwinkeln heraus eine unbestimmte Bewegung. Fast automatisch wanderte ihr Blick zur Scheibe, und dahinter, auf dem Korridor, stand der junge Mann, den sie bei ihrer ersten Führung durch das Gebäude gesehen hatte. Er starrte sie direkt an; auf seinem markanten Gesicht lag ein schiefes Grinsen. - 105 -
Da ist er!, schrie es in ihrem Kopf. Sie hatte seit Monaten an ihn gedacht, hatte Wilson oder sogar Yoav schon nach ihm fragen wollen, hatte dann aber gezögert, aus Angst, wie ein verknallter Teenager zu wirken. Und nun war er hier. Und er beobachtete sie! Sydney fühlte, wie ihr Puls beschleunigte, und dann schien die Welt plötzlich Kopf zu stehen. Für den Bruchteil einer Sekunde flog sie rückwärts durch die Luft, um gleich darauf mit einem dumpfen Aufprall auf der Matte zu landen. Da lag sie nun, japsend und mit einem Ausdruck der Verwirrung im Gesicht die Lampen an der Decke anstarrend. Yoavs Miene verdunkelte sich, die Enden seines buschigen Schnurrbarts unterstrichen die nun unwirsch herabgezogenen Mundwinkel. »Ablenkung im Training kann wehtun. Ablenkung im Kampf dagegen kann dich das Leben kosten.« Er reichte ihr die Hand und zog sie wieder auf die Beine. »Lass dich niemals, und ich meine niemals, ablenken.« »Es tut mir Leid.« Sie schnappte nach Luft und konnte nicht anders, als noch einmal schnell zum Fenster zu sehen. Der junge Mann war fort. Der Korridor war leer. Ein Anflug von Enttäuschung stellte sich ein. »Das war's für heute«, meinte Yoav. Er schnappte sich ein schmuddeliges weißes Handtuch und warf es ihr zu. »Wilson wollte dich noch sehen, und du solltest gleich zu ihm gehen. Also keine Zeit zum Duschen.« »Okay«, erwiderte sie, während sie sich Stirn und Nacken abtupfte. »Und ... sorry, dass ich am Ende so unaufmerksam war«, fügte sie hinzu und fühlte sich im gleichen Moment albern. »Ich hab ... hinter dem Fenster eine Bewegung gesehen. Das hat mich irgendwie abgelenkt.« - 106 -
Er kam nahe an sie heran. Die dicken Brauen überlagerten fast seine Augen, als er sagte: »Tatsächlich sollst du alle Dinge im Blick behalten, Sydney. Achte sorgsam auf deine Umgebung, aber bleib konzentriert dabei. Es besteht ein gravierender Unterschied zwischen Beobachten und Gaffen.« »Ist notiert.« Sie nickte. »Ich geh jetzt besser. Bis morgen.« Sie warf sich das Handtuch über die Schulter, stieß die schwere Stahltür des Studios auf und trat hinaus auf den Gang. Sie war gerade um eine Ecke gebogen und hatte die Richtung zu Wilsons Büro eingeschlagen, da sah sie ihn. Er stand inmitten einer Gruppe älterer Männer in blauen Anzügen und blätterte in einem Schreibblock. Sie verlangsamte ihren Schritt, während ihr Herz heftig zu pochen begann. Und dann sah er plötzlich von seinen Notizen auf und lächelte ihr zu. Sydney schluckte. Ihre Füße und Finger wurden taub, als alles Blut in die Wangen schoss. Aus Verlegenheit griff sie sich eine Ecke des Handtuchs und rieb damit über das Gesicht, wohl wissend, dass es ohnehin schon rot und fleckig war. Zu allem Überfluss wurde sie sich ihres schlaffen Pferdeschwanzes, des schweißgetränkten Tops und der ausgebeulten Trainingshosen bewusst. Warum zum Teufel musste Wilson sie ausgerechnet heute so dringend sprechen, dass ihr noch nicht einmal Zeit zürn Duschen blieb? Der Typ nickte ihr zu, und sie nickte zurück. Fast automatisch verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. Verdammt, ist der süß. Kurz erwog sie, einfach zu ihm rüberzugehen und sich vorzustellen. Doch nach drei weiteren Schritten war sie schon an ihm vorbei, und einfach kehrtzumachen, war dann doch ein wenig zu offensichtlich. - 107 -
Und so hoffte sie, dass ihre Rückseite nicht ganz so unvorteilhaft wirkte wie die Frontansicht. Nur für den Fall, dass er ihr nachschaute ... Als sie Wilsons Bürotür erreicht hatte, war ihr Herzschlag fast schon wieder normal zu nennen. Sie klopfte dreimal und trat ein. »Hi, Sydney.« Wilson sah kurz von dem Mosaik aus Fotos und Notizen auf, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Danke, dass Sie heute früher gekommen sind. Tut mir Leid, dass Sie sich so abhetzen mussten, aber ich habe später noch ein wichtiges Meeting und muss daher unseren Termin schnell hinter mich bringen.« »Kein Problem«, meinte sie, während sie ihm gegenüber ihren gewohnten Platz an dem kleinen Schreibtisch einnahm. Unangenehme Erinnerungen stiegen in ihr hoch. Sie hatte die Ausreden, in denen es um »wichtige Meetings« ging, bis zum Erbrechen von ihrem Vater gehört. Allerdings hatte er sich nie dafür entschuldigt. Vielmehr hatte er klargemacht, dass die Arbeit stets an erster Stelle kam und dass etwaige Enttäuschungen ihrerseits einfach unter Kollateralschaden zu verbuchen waren. Sydney öffnete die unterste Schublade ihres Schreibtischs. Darin lagen Notizblöcke und Handbücher. »Nehmen Sie die Einführung in die Nonverbale Kommunikation zur Hand«, wies Wilson sie an, während er sich von seinem Stuhl erhob. Er betätigte einen Knopf auf seinem Schreibtisch-Schaltpult, woraufhin sich eine weiße Leinwand von der Decke herabsenkte. »Ich hoffe, Sie haben sich ein wenig vorbereitet.« »Ja«, gab sie zurück und verzog das Gesicht. »Wobei mir nicht klar ist, auf welche Weise die Analyse der Körpersprache und die Anzahl der Lidschläge bei der verdeckten Ermittlung helfen könnte.« - 108 -
»Es hilft außerordentlich. Von der Norm abweichende Verhaltensweisen bei Dritten sind im Allgemeinen ein erster Hinweis darauf, dass Gefahr im Verzug ist. Und indem Sie Ihr eigenes Verhalten so unauffällig wie möglich gestalten, erhalten Sie Ihre Tarnung während eines Undercover-Einsatzes aufrecht.« Das sollte mir leicht fallen, dachte Sydney mit einem süßsauren Lächeln. Zeit ihres Lebens hatte sie Örtlichkeiten betreten und wieder verlassen können, ohne Aufsehen zu erregen. Auf diese Weise hatte sie anderen Menschen aus dem Weg gehen können, bis zu dem Moment, wo sich ein Kontakt einfach nicht mehr vermeiden ließ. Leider nur hatte dieser Hang zur Anonymität zur Folge, dass sie auch für die Dean Carothers dieser Welt unsichtbar blieb. Selbst wenn sie ausnahmsweise einmal bemerkt werden wollte, wurde sie es für gewöhnlich nicht. Aber warum hat mich dann dieser süße Agent angelächelt?, fragte sie sich, während das Schmunzeln in ihrem Gesicht zu einem breiten Grinsen wurde. Was sieht er, wenn er mich anschaut? »Das Wichtigste ist«, fuhr Wilson fort und riss sie wieder aus ihren Träumen, »dass Sie so gut wie möglich mit Ihrer Umgebung verschmelzen. Kleiden Sie sich wie die anderen. Fahren Sie einen Wagen wie sie. Vermeiden Sie es unbedingt, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. So weit, so gut.« Er griff nach einer Fernbedienung, und gleich darauf wurde das Bild einer überfüllten Straße auf die Leinwand projiziert. »Irgendwo auf diesem Foto versteckt sich ein bekannter Terrorist. Machen Sie ihn ausfindig.« Sydney biss sich auf die Unterlippe. »Der Mann in der grauen Jacke«, sagte sie schließlich. »Gut.« Wilson nickte zustimmend. »Warum fiel Ihre Wahl auf ihn?« - 109 -
»Wenn man sich das Laub der Bäume und die Kleidung der anderen Passanten ansieht, muss man zu dem Schluss kommen, dass das Wetter warm ist. Das wiederum könnte bedeuten, dass die betreffende Person die große Jacke nur deshalb trägt, um Waffen darunter zu verstecken.« »Ausgezeichnet. Welche anderen Hinweise wären im Hinblick darauf bemerkenswert?« Sydneys Augen wanderten zur Decke, während sie nachdachte. »Die starre Haltung des Oberkörpers, eine Hand außer Sichtweite, ungewöhnliche Ausbeulungen in der Kleidung.« »Korrekt. Es gibt richtige und falsche Methoden, eine Waffe unbemerkt am Körper zu tragen, und ich bin sicher, Sie kennen sie bereits. Wie geht es übrigens mit Ihrer Waffenausbildung voran? Pilar berichtete mir, Sie haben acht von zehn Mal ins Schwarze getroffen.« Sydney lächelte. »Ja. Aber wenn ich auf diese Porträts schießen soll, dann ...« In diesem Moment klingelte das Telefon auf Wilsons Schreibtisch. »Entschuldigen Sie mich«, sagte er und hob ab. »Hier Wilson. Ja ... Sagen Sie Sloane, ich habe die Dossiers. Ich hab die Überwachungsdaten heute Morgen übermittelt ... Ja, ich habe die Nachricht erhalten. Fünf Uhr ...« Zerstreut blätterte Sydney durch ihr Handbuch, um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass sie dem Gespräch lauschte. Auf den Fluren der Einrichtung hatte sie den Namen »Sloane« schon ein paar Mal aufgeschnappt. Sie hatte keine Ahnung, wer er war, doch dem Ton nach zu urteilen, mit dem die Leute über ihn sprachen, nahm sie an, dass der Mann wichtig war. »Ja. Sagen Sie Sloane, dass ich weiß, wie erfreut er sein wird ... Er will was? Verstehe ... Moment, bitte. Entschuldigen Sie mich einen Moment, Sydney?« Wilson - 110 -
bedeckte die Sprechmuschel mit seiner freien Hand. »Das hier wird noch eine Weile dauern. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich Sie bitte, sich mit Ihrem Handbuch ein Weilchen auf den Flur zurückzuziehen und noch ein bisschen darin zu lesen, bis ich fertig bin?« »Oh ... nein. Keineswegs«, erwiderte Sydney und versuchte, nicht allzu neugierig zu wirken. Noch nie hatte Wilson sie gebeten, den Raum zu verlassen, während er telefonierte. Sie schnappte sich ihr Lehrbuch und trat hinaus auf den geschäftigen Korridor. Sofort fühlte sie sich unangenehm auffällig. Wie eine Schülerin, die den Unterricht gestört und die man hinaus auf den Gang geschickt hatte. Außer Hörweite verbannt zu werden, war eine deutliche Erinnerung daran, wie unwichtig sie war. Folgen wir also dem Rat des Lehrers. Sie sank an der Wand herab zu Boden, schlug die Beine untereinander und blätterte in ihrem Lehrbuch. Eine Überschrift fiel ihr ins Auge: »Körpersprache und Vertrautheit im Ausdruck«. Dieses Kapitel hatten Wilson und sie übersprungen, doch es erschien ihr bei weitem interessanter als die Themen, die sie zur Zeit durchnahmen. Rasch überflog sie den Beitrag und die zugehörigen Illustrationen. »Ständige Berührungen sind ein typisches Zeichen für eine emotionale Bindung oder den Versuch, eine solche herzustellen«, stand im ersten Absatz. »Diese Art des Körperkontakts ist für gewöhnlich direkt, wenngleich zart, und zielt stets auf intimere Regionen wie etwa Gesicht oder Hände.« »Ach nee«, murmelte Sydney. »Wie viele Forschungsgelder hat man wohl verbraten, um zu dieser bahnbrechenden Erkenntnis zu gelangen?« Ihr Blick blieb an einem Foto hängen. Es zeigte einen jungen, dunkelhaarigen Dean-Carothers-Klon, der an einen - 111 -
Holzzaun gelehnt stand, neben ihm - in offensichtlicher Flirtbereitschaft - ein Mädchen. Sie hatte ihre Pose der lässigen Haltung des Jungen angepasst und den Kopf leicht geneigt. Gleichzeitig umschlossen ihre Finger sein linkes Handgelenk - offensichtlich in dem Versuch, die Zeit an seiner Armbanduhr abzulesen. Sydney runzelte die Stirn und betrachtete das Bild skeptisch. Dergleichen hatte sie nie getan. Es erstaunte sie immer wieder, wie geschickt sich manche Mädchen einem Jungen an den Hals werfen konnten. Sie schloss das Buch und starrte die gegenüberliegende Wand an. Dann versuchte sie im Geiste, die erlernte Methode auf den namenlosen Agenten anzuwenden. »Hallo, ich heiße Sydney«, könnte sie sagen, indem sie auf ihn zutrat und seinen Oberarm berührte. »Weißt du vielleicht, wie spät es ist?« Vergiss es, dachte sie und versuchte, die Vorstellung mit einem Kopf schütteln aus ihren Gedanken zu vertreiben. So eine Show könnte ich niemals durchziehen, ohne mich wie ein kompletter Vollidiot zu fühlen. Da riss Wilsons Stimme sie aus ihren Tagträumen. »Kommen Sie bitte wieder herein«, sagte er in der Tür stehend. Schnell sprang Sydney wieder auf die Füße und folgte ihm zurück ins Büro. »Es tut mir Leid, aber unsere Stunde wird heute sehr kurz ausfallen«, fügte der Ausbilder hinzu, nachdem er die Tür geschlossen und wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte. »Ich muss in zehn Minuten im Hauptquartier sein.« In zehn Minuten?, wunderte sich Sydney. Wenn das Hauptquartier in zehn Minuten zu erreichen war, konnte es nicht sehr weit sein. Vielleicht in einem anderen Gebäude hier in Downtown ... aber in welchem?
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»Das ist okay«, sagte sie und verstaute Lehrbuch und Notizen wieder in der Schublade. »Dann sehen wir uns also morgen Nachmittag wieder?« Sie wandte sich zum Gehen. »Einen Moment noch.« Wilson hob eine Hand. »Bevor Sie gehen, muss ich Ihnen noch etwas geben.« Er langte in die oberste Schublade seines Schreibtischs und holte etwas Kleines, Quadratisches hervor. »Das ist ein Pager«, erklärte er, als er ihr das Gerät aushändigte. »So werden wir Sie immer erreichen können.« Langsam drehte Sydney das schlanke kleine Kästchen in ihren Händen hin und her. Das ist von Bedeutung, dachte sie. Man muss mir wirklich vertrauen, wenn man mir ein solches Ding aushändigt. Ein warmes, wohliges Gefühl machte sich in ihr breit. »Danke«, flüsterte sie heiser. »Tragen Sie den Pager bitte immer bei sich«, sagte Wilson. Ein seltsamer Gesichtsausdruck legte sich über seine sonst so reglose Miene. »Man kann nie wissen, wann wir Sie brauchen werden.«
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KAPITEL 9 »Da bist du ja endlich!« Francie strahlte wie ein Honigkuchenpferd, als Sydney das Lion's Den betrat, einen verrauchten Jazzkeller unweit des Campus. »Bin ich etwa zu spät?«, rief sie, als sie sich zu Francies Tisch durchschlug und auf einen der altersschwachen Holzstühle sinken ließ. Sie setzte ihre Tasche ab und zerrte das Oberteil ihres nachtblauen Kleides zurecht. Sie hatte es vor ihrer Verabredung mit Francie zwar noch geschafft, schnell zu duschen. Doch das Abtrocknen war aus Zeitgründen ein wenig zu kurz gekommen, sodass der Stoff noch ein wenig an ihrer klammen Haut klebte. »Nö, ich war ein bisschen zu früh hier«, ächzte Francie. »Du glaubst nicht, was für einen Tag ich hinter mir habe. Erst musste ich feststellen, dass ich die falschen Kapitel für meinen mündlichen Soziologie-Test gelernt hatte. Dann musste ich mich auf der Arbeit mit einer Busladung Touristen abplagen, die mich die ganze Zeit gelöchert haben, wo denn nun die ganzen Filmstars seien. Und dann war da noch dieser Skatertyp, der für seine Braut bezahlen wollte und die Dollarscheine allen Ernstes aus seinen Shorts hervorkramte. Ich meine, er hat das Geld nicht etwa aus den Taschen seiner Shorts geholt, sondern direkt aus dem Hosenstall!« »Pfui Teufel!« Sydney verzog das Gesicht. »Und was hast du gemacht?« »Hab ihm gesagt, die Runde ginge auf mich.« Francie verdrehte die Augen. »Egal, jedenfalls hab ich mich danach bei Terwilliger wegen Migräne entschuldigt und bin früher gegangen.« Sie schob Sydney ein Glas Mineralwasser rüber. »Hier, hab mir die Freiheit genommen, dir schon mal einen Drink zu bestellen.« - 114 -
»Danke.« Sydney schlüpfte aus ihrer grauen CardiganJacke und hängte sie über die Stuhllehne. Francie nahm einen kräftigen Schluck aus ihrem eigenen Glas und lehnte sich dann gemütlich zurück. »Und?«, fragte sie strahlend. »Wie war dein Tag?« »Großartig«, gestand Sydney lächelnd. »Guck mal.« Sie langte in ihre Handtasche und zog den Pager hervor. Fast zärtlich strich sie über die glänzende Oberfläche. »Den hat mein Boss mir heute gegeben. Sagte, ich soll ihn immer bei mir tragen.« »Lass mal sehen.« Sydney reichte ihrer Freundin den Piepser. »Mann, cool! Heißt das jetzt, sie geben dir mehr Verantwortung, oder was? Oder wirst du vielleicht sogar demnächst befördert?« Sydney zuckte unmerklich die Achseln, aber ihr Lächeln wurde noch breiter. »Ich denke schon.« »Moment mal«, rief Francie. »Bedeutet das, die können dich jetzt jederzeit erreichen? Zum Beispiel während der Vorlesungen, oder wenn wir, so wie jetzt, mal ausgehen?« Sydney dachte einen Moment lang nach. »Keine Ahnung. Vielleicht. So wichtig bin ich nun auch wieder nicht. Zumindest bis jetzt noch nicht.« Francie stützte ihr Kinn auf und sah Sydney nachdenklich an. »Weißt du was? Ich finde, der Job ist echt gut für dich. Du hast dich verändert, seit du dort angefangen hast. Du wirkst irgendwie bodenständiger. Und selbstbewusster.« Sydney glättete die Falten an ihrem Kleiderfutter. Sie hat Recht, dachte sie. Seit sie für die CIA arbeitete, fühlte sie sich einfach stärker. Und das nicht nur, weil sie jetzt Kickboxen und Schießen konnte. Es war, weil sie zum ersten Mal im Leben eine richtige Aufgabe hatte. Eine äußerst ehrenwerte Aufgabe, wie sie fand. - 115 -
»Ich weiß, du hattest am Anfang deine Zweifel«, fuhr Francie fort. Sie lehnte sich ein wenig über den Tisch und ihre Pupillen funkelten im Kerzenlicht. »Ich vermute, das Bankgeschäft ist nicht gerade die aufregendste Sache der Welt. Aber die Welt braucht nun mal alle möglichen Talente. Und wenn die Finanzwelt dein Ding ist, dann zieh es durch!« Francie gab ihrer Freundin den Pager zurück. Sydney hielt ihn eine Weile umklammert, während sie ihr Spiegelbild in der verschmierten Glastischplatte anstarrte. Auch wenn sie sich anfangs nicht sicher gewesen war, so wusste sie inzwischen, dass die Arbeit für die CIA genau das Richtige für sie war. Sie hatte sich in der Vergangenheit bei vielen Dingen hervorgetan - sei es nun im Studium, im Sport oder beim Schauspielunterricht. Doch ihre Arbeit für den Geheimdienst war die erste Sache in ihrem Leben, die ihr wirklich wichtig war. Und nachdem sich ihr Vater nie um ihre Fähigkeiten geschert hatte, taten dies nun andere. Die Leute in der Firma fanden, dass sie stark, fähig und verlässlich war. Man hielt sie für vertrauenswürdig (zumindest einige von ihnen), und nun vertrauten sie ihr sogar einen 24-Stunden-Pager an. Die ganze harte Arbeit schien sich am Ende für sie auszuzahlen. »Siehst du, das meine ich«, erklärte Francie und zeigte mit dem Finger auf sie. »Was?«, fragte Sydney. »Du lächelst! Ich bin nun seit vergangenem Sommer Tag und Nacht um dich, und ich hab dich nie so viel lächeln gesehen wie in letzter Zeit. Du scheinst quasi von innen heraus zu erstrahlen. Jeder kriegt das mit. Insbesondere das andere Geschlecht. Siehst du den Typen an der Bar? Den in der Lederjacke, meine ich. Der schaut dich schon die ganze Zeit an.« - 116 -
Sydney sah flüchtig zum Tresen hinüber, doch alles, was sie erkennen konnte, war der Hinterkopf des Betreffenden und eine dicke, schwarze Lederjacke. Sie verdrehte die Augen und meinte zu Francie: »Unsinn. Der starrt wahrscheinlich dich an!« »Nee-nee«, protestierte Francie kopfschüttelnd. »Glaube mir, das hätte ich bemerkt. Seit Baxter und ich nicht mehr zusammen sind, schaue ich mich sehr genau nach einem adäquaten Ersatz um. Und hier hab ich schon in den ersten fünf Minuten alle Typen abgecheckt. Nichts.« »Ich kapiere immer noch nicht, warum du Baxter fallen gelassen hast«, sagte Sydney und rührte mit dem Strohhalm in ihrem Glas herum. Francie verzog das Gesicht. »Darum! Der wollte irgendwie immer nur das Eine. Ich weiß nicht, wie es bei dir ist, aber für mich gehört zu einer Beziehung ein bisschen mehr, als nur die körperliche Seite des Ganzen.« Plötzlich setzte sie sich gerade auf und starrte an Sydney vorbei Richtung Eingangstür. »Oh mein Gott! Gerade ist ein Supertyp reingekommen. Ich fasse es nicht! Antonio Banderas ist ja ein Witz dagegen!« Sydney machte Anstalten, sich umzudrehen. »Nein, nicht hinschauen«, zischte Francie. »Wie sieht denn das aus, wenn wir ihn so anglotzen?« »Wenn du ihn so süß findest, warum stellst du nicht Augenkontakt her?«, fragte Sydney lachend. Francie dachte einen Moment lang darüber nach. »Ich mach's, wenn du es machst«, sagte sie schließlich mit einem schelmischen Grinsen. »Der Typ an der Bar ist wirklich nicht übel. Vielleicht solltest du ihn mal genauer unter die Lupe nehmen?« »Jetzt hör aber auf!«, protestierte Sydney und schüttelte den Kopf. »Du weißt genau, dass ich nicht...« - 117 -
»Ich sag ja nur, du sollst ihn dir mal näher anschauen. Check einfach ab, ob er dein Typ ist. Mehr nicht.« Sydney kapitulierte und lehnte sich bequem zurück. Dann ließ sie ihren Blick in die betreffende Richtung schweifen. Der Typ lehnte immer noch am Tresen. Soweit sie es von hier aus beurteilen konnte, sah er ganz okay aus groß, mit langem gewellten Haar. Vielleicht einen Flirt wert, doch das konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen, da sein Profil teilweise vom Kragen seiner Jacke verdeckt wurde. Plötzlich überfiel sie eine merkwürdige Beklommenheit. Etwas hier stimmte nicht. Im Club war es warm, ja, fast stickig. Erdrückend. Schwitzende Gäste und dichter Zigarettenqualm, wohin das Auge sah. Warum also trug der Typ an der Bar noch immer seine schwere Lederjacke? Sie sah noch einmal zu ihm hinüber. Da fiel ihr auf, dass er den linken Arm merkwürdig steif gegen seine Seite gepresst hatte. Anstatt sich bequem auf dem Tresen abzustützen, hielt er den Ellbogen gegen seine Jacke gedrückt, als wenn er sie um jeden Preis geschlossen halten wollte. In diesem Moment drehte sich der junge Mann zu ihr um. Es schien, als studierte er die Galerie der Starfotos an der Wand hinter ihr, doch dann trafen sich ihre Blicke. Sie sah ihn direkt und unverwandt an, doch er schaute sofort wieder weg. Aber die wenigen Sekunden hatten genügt, dass Sydney sich ein genaues Bild von seinem Gesicht hatte machen können. Sie hatte ihn schon einmal gesehen, so viel war sicher. Und zwar gestern, als sie mit Francie auf dem Campus zu Mittag gegessen hatte. Er hatte an einem benachbarten Tisch gesessen, mit Sonnenbrille und Baseballmütze ausstaffiert. Er folgte ihr. Aber warum? In wessen Auftrag war er unterwegs? Wilson würde ihr doch bestimmt - 118 -
niemanden mehr hinterherschicken, um sie zu beobachten. Oder etwa doch? »Also, was meinst du?«, fragte Francie, nachdem sich der junge Mann wieder abgewandt hatte. »Lüg mich nicht an, Syd. Ich sehe doch, dass du interessiert bist. Er ist süß, findest du nicht auch?« »O ja, und er scheint ziemlich neugierig zu sein«, gab Sydney zurück. »Vielleicht könntest du rübergehen und dich vorstellen?« Francie sog scharf die Luft ein. »Oh Gott. Antonios Zwillingsbruder hat sich gerade an den Tisch direkt hinter dich gesetzt! Ich muss mich unbedingt ein bisschen frisch machen! Pass auf meinen Drink auf, ja?« »Sicher«, meinte Sydney geistesabwesend, als Francie in Richtung Waschraum davonstürmte. »Kein Problem.« Ihr Kopf drehte sich wie ein Karussell. Gedanken und Emotionen wirbelten durcheinander, doch sie konnte nichts davon packen und festhalten. Das ergibt einfach keinen Sinn, dachte sie. Warum sollte mir jemand folgen? »Es gibt nur einen Weg, das rauszufinden«, murmelte sie. »Zeit für Nachschub.« Sie leerte Francies halb volles Wasserglas in einem Zug und machte sich dann damit auf den Weg zur Bar. Dabei zwang sie ein Lächeln auf ihr Gesicht, nicht zuletzt für den Fall, dass Francie von der Toilette kam und sie beobachtete. Als sie näher kam, schien es, als ob der Typ sie bemerkte. Doch er sah nicht auf, zog stattdessen den Kopf zwischen die Schultern und presste den Arm noch stärker an seinen Körper. »Hi, ich bin Sydney!«, rief sie überschwänglich und glitt auf den Barhocker neben ihn. Der junge Mann nickte knapp und sah angestrengt in die andere Richtung. - 119 -
Sydney lehnte sich zu ihm hinüber und neigte dabei leicht den Kopf, wie sie es in dem KörperspracheHandbuch gesehen hatte. »Warum folgen Sie mir?«, zischte sie hinter ihrem strahlenden Lächeln. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, erwiderte er barsch. »Sie sollten ein bisschen vorsichtiger sein, Kumpel. Ich hab Sie gestern auf dem Campus gesehen, und heute sitzen Sie in der gleichen Bar wie ich, noch dazu mit einer Knarre unter der Jacke«, raunte sie ihm zu, während sie beiläufig mit einer Strähne ihres Haares spielte. »Würden Sie mir also sagen, was das soll? Oder muss ich erst eine Szene machen und dem Rausschmeißer erzählen, Sie hätten mich belästigt?« Plötzlich sah er sie direkt an und grinste. »Sie sollten ein bisschen vorsichtiger sein, Mädchen«, erwiderte er mit ebenfalls gedämpfter Stimme. »Man schätzt es nicht, wenn sich eine von uns zu weit aus dem Fenster lehnt.« Er leerte sein Glas, stand auf und schlenderte gemächlich aus der Bar. Man? Uns? Also folgte ihr die CIA doch! Aber weshalb? Warum gab man ihr einen Pager und lobte ihre Leistungen über den grünen Klee, wenn man sich ihrer dann doch nicht sicher war? Das Gefühl des Stolzes, das sie noch vor wenigen Augenblicken erfüllt hatte, war wie weggeblasen. Als Francie aus der Damentoilette gehuscht kam, saß Sydney schon wieder am Tisch. Stirnrunzelnd sah die Freundin in Richtung Bar und dann zu Sydney. »Hast du mit ihm geredet?«, wollte sie wissen. »Ja.« »Und?«, fragte Francie zögernd, als wenn sie die Antwort schon wüsste. »Wie ist es gelaufen?« »Er war ... beschäftigt«, sagte Sydney so gleichgültig wie möglich. Es war doch gar nicht so schwer zu verstehen: Wenn man ihr acht Monate nach Eintritt in die Firma - 120 -
immer noch hinterherspionierte, konnte es mit dem Vertrauen in sie nicht allzu weit her sein. Punkt. Aus. »Beschäftigt mit jemand anderem«, setzte sie hinzu. »Wie bitte?«, entfuhr es Francie. »Er hat 'ne Freundin und macht dir schöne Augen? Was für ein Arsch!« »Ich weiß«, sagte Sydney. Es klang entrüstet und niedergeschlagen zugleich. Sie starrte den Pager einen Moment lang an und warf ihn dann ohne viel Federlesens in ihre Tasche zurück. »Das zeigt mal wieder, dass man aufpassen muss, wem man vertraut.« Wutentbrannt stapfte Sydney in Wilsons Büro und schlug dabei die Tür so heftig hinter sich zu, dass die gerahmten Ehrenurkunden an der Wand wackelten. »Sie haben ihn auf mich angesetzt, stimmt's?« Wilson sah auf; er wirkte nicht sonderlich überrascht. »Guten Morgen, Sydney«, sagte er ruhig. »Warum?«, verlangte sie zu wissen, als sie auf seinen Schreibtisch zusteuerte. »Warum werde ich verfolgt?« Keine Reaktion. »Warum setzen Sie sich nicht?«, fragte Wilson stattdessen und deutete auf den Stuhl hinter ihrem Schreibtisch. Sydney ignorierte die Aufforderung. »Ich verstehe das nicht«, setzte sie wieder an, diesmal um einen etwas gemäßigteren Ton bemüht. »Ich arbeite mir hier seit acht Monaten den Arsch ab, und ihr Typen traut mir immer noch nicht über den Weg? Warum haben Sie mir eigentlich diesen Pager gegeben und mich glauben lassen, ich sei wichtig, wenn Sie mir dann zum Dank den«, sie schnappte kurz nach Luft, »wohl unfähigsten Spitzel aller Zeiten auf den Hals hetzen?« »Sydney, ich ...« »Ich meine, okay, vielleicht finden Sie ja, dass Sie mit mir einen Fehler begangen haben«, fuhr sie unbeirrt fort und stemmte die Hände in die Hüften. »Vielleicht ist man - 121 -
ja nicht besonders glücklich mit der Art und Weise, wie ich mich hier mache. Aber warum kann man nicht einfach mit mir darüber reden? Ich finde ...« »Sydney!«, schrie Wilson und fuhr von seinem Stuhl auf. Sie verstummte und blinzelte ihr Gegenüber mit offenem Mund an. »Setzen Sie sich. Sofort!« Schmollend nahm Sydney auf ihrem Stuhl Platz. »Wir sind glücklich mit der Art und Weise, wie Sie sich hier machen, Sydney«, begann Wilson, nachdem er sich wieder gesetzt hatte. »Tatsächlich hatten wir bisher noch nie eine Anwärterin, die so rasch aufgestiegen ist wie Sie.« »Wirklich?«, fragte Sydney zweifelnd. Das hatte sie nach dem gestrigen Abend nicht erwartet. Sie war hierher gekommen, um sich zu beschweren, und sie hatte sich auf ein erbittertes Wortgefecht eingestellt, doch stattdessen überschüttete man sie einmal mehr mit Lob? Sie fixierte Wilson aus zusammengekniffenen Augen, suchte nach Anzeichen für eine Falle. »Sehen Sie sich das nur an«, sagte Wilson. Er griff in eine Schublade und holte eine dicke schwarze Aktenmappe hervor. »All Ihre Intelligenztests kamen mit Traumergebnissen zurück. Waffenkunde und -ausbildung, Kampffertigkeiten, Linguistik, das Erlernen unserer speziellen Arbeitsweise - Sie haben das alles in Rekordzeit sowie virtuos bewältigt und damit auf sämtlichen Gebieten die Messlatte ein gutes Stück höher gelegt. Selbst Ihre regelmäßigen Gesundheits-Checks sind anstandslos. Machen wir uns nichts vor, Sie sind die perfekte Rekrutin.« »Bin ich das?« Sie fuhr mit den Fingerspitzen über die Kante des Aktenordners, während sie sich auf ihrem Stuhl vor und zurück wiegte. Die Wut, die sie noch bis vor - 122 -
wenigen Minuten im Bauch gehabt hatte, war verflogen. Nun fühlte sie sich einfach nur noch klein und eingeschüchtert. Auch wenn es ihr über die Maßen schmeichelte, was Wilson sagte, so hinterließ dies alles bei ihr ein ungutes Gefühl. Sie hatte noch nie gewusst, mit Komplimenten umzugehen. Und dass das Lob in diesem Fall von Wilson kam, der ihrem Vater so ähnlich und der doch so anders war, machte es nicht einfacher ... Doch, Moment mal, dachte sie und setzte sich gerade auf. »Aber der Mann hat mich eindeutig verfolgt, und Sie haben mir immer noch nicht gesagt, aus welchem Grund.« Unüberhörbarer Argwohn schwang in ihrer Stimme mit. Sie hatte nicht vor, sich von ein paar netten Worten einlullen und vom Thema abbringen zu lassen. »Das ist ein Standardverfahren, dem wir all unsere Rekruten unterziehen - mit dem Unterschied, dass die anderen von der Überwachung selten etwas mitbekommen«, erwiderte Wilson ruhig. Er machte eine kurze Pause. »Bei unserer Arbeit müssen wir die größtmöglichen Sicherheitsvorkehrungen treffen. Ich hoffe, Sie können das akzeptieren. Es geschieht allein zu Ihrem und auch zu unserem Wohle.« »Oh«, sagte Sydney matt. »Und ... das geht jetzt so weiter, bis ich meine Ausbildung abgeschlossen habe?« Wilson nickte. »Wenngleich wir Sie auch danach immer im Auge behalten werden. Vergessen Sie das niemals.« Sydney seufzte geschlagen und sah mit kummervoller Miene auf. »Hören Sie, es tut mir Leid«, stammelte sie. Als ich diesen Typen bemerkte, dachte ich nur ... tja, ich hab einfach angenommen ...« Wilson hob eine Hand und brachte sie zum Schweigen. »Das ist schon in Ordnung. Völlig nachvollziehbar. Doch in Zukunft sollten Sie es dabei bewenden lassen, Ihren Schatten zu entdecken, anstatt ihn zudem öffentlich zu - 123 -
enttarnen. Dergleichen könnte Sie beide in arge Bedrängnis und nicht zuletzt den gesamten Dienst in Gefahr bringen.« »Natürlich. Ich verstehe. Tut mir Leid«, wiederholte sie, während sie wieder auf ihren Schoß starrte. Sie hörte Wilsons Sessel quietschen, als dieser sich darin zurücklehnte. »Sie wissen«, begann er in einem leicht amüsierten Tonfall, »dass dies vermutlich Ihre einzige Schwäche darstellt.« Sydney sah erschrocken auf. »Was meinen Sie?« »Ihr Temperament«, erwiderte er und sah ihr dabei direkt in die Augen. »Sie müssen lernen, Ihre Gefühle aus der Arbeit rauszuhalten. Starke Emotionen können einen Agenten in große Schwierigkeiten bringen.« Sie runzelte leicht die Stirn und fragte sich, was genau Wilson damit meinte. Gerade als sie etwas sagen wollte, beugte er sich vor und legte die Hände vor sich auf den Tisch. »Ich möchte, dass Sie wissen, dass Ihre Vorgesetzten im Hauptquartier sehr zufrieden mit Ihren Fortschritten sind.« Er griff wieder in einer seiner Schubladen und zog eine Versandtasche heraus. »Sie haben hart gearbeitet, Sydney. Und wir möchten Ihnen dies zum Zeichen unserer Anerkennung überreichen. Eigentlich wollte ich Sie über Ihren Pager kontaktieren und zu mir bitten, um Sie damit zu überraschen, aber da Sie nun schon mal hier Sind ...« Ein warmes Gefühl der Sympathie ergriff Sydney, als Wilson ihr den Umschlag entgegenhielt und dabei unbeholfen grinste. Nie zuvor hatte sie diesen toughen Mann in einer derartigen Verfassung gesehen. Und nun gab er ihr tatsächlich ein Geschenk. Das war in der Tat noch besser als die Sache mit dem Pager. »Danke«, sagte sie, als sie das flache Paket entgegennahm. Was immer darin war, es war extrem leicht. - 124 -
Bedächtig öffnete sie die Verschlusslasche, griff in den Umschlag und zog ein bedrucktes Stück Papier hervor. Schnell überflog sie, was darauf geschrieben stand, und schnappte dann vernehmlich nach Luft. »Eine Karte für ein Konzert von Raul Sandoval?! Für heute Abend!« Wilson nickte und sah sehr, sehr zufrieden aus. »Ein Platz in vorderster Reihe. Wir haben nicht vergessen, dass Sie diesen Künstler sehr schätzen.« Wie hatte sie sich darüber geärgert, dass man während ihres Bewerbungsgespräches selbst vermeintlich unwichtigen Details Aufmerksamkeit geschenkt hatte, und nun das! »Aber .. aber seine Konzerte sind doch schon seit Wochen ausverkauft. Wie haben Sie das bloß hingekriegt?« »Lassen Sie es mich so formulieren: Wir haben unsere Verbindungen«, sagte er mit einem kleinen Augenzwinkern. »Haben Sie vielen Dank«, hauchte sie atemlos, während sie gleichzeitig verständnislos den Kopf schüttelte. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Sie wollte sich schon zum Gehen aufraffen, als Wilson sich räusperte. »Sydney«, sagte er und zog unmerklich den Kopf ein. »Bevor Sie gehen, möchte ich Sie noch um einen kleinen Gefallen bitten.« »Ja? Worum geht es denn?« »Ich weiß nicht, ob Sie es wissen«, begann er, »aber ich habe eine Tochter.« Er lächelte zögernd. »Sie heißt Claire, und sie ist elf Jahre alt.« Sydney grinste ihn an, schier überwältigt von der neuen, menschlichen Seite ihres Chefs. »Nein, das wusste ich nicht«, erwiderte sie erfreut ob dieses Geständnisses. »Nun«, fuhr Wilson fort, »auch sie ist ein großer Fan von Raul Sandoval, aber ich fand, sie ist noch zu jung, um auf Rockkonzerte zu gehen.« »Stimmt«, sagte Sydney. - 125 -
»Und da hab ich mich gefragt, ob es Ihnen vielleicht etwas ausmacht, ein paar Fotos von der Show zu schießen? Ciaire hat Ende Mai Geburtstag, und es würde ihr alles bedeuten.« Sydney nickte. »Sicher. Kein Problem. Aber ... sind Kameras bei Konzerten nicht grundsätzlich verboten?« »Daran habe ich schon gedacht.« Er griff in eine der Taschen seines dunkelblauen Sakkos und zog fast peinlich berührt einen silbernen Armreif hervor. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, den hier beim Konzert zu tragen?« »Äh ... ja, okay«, sagte sie. Sie nahm das Schmuckstück entgegen und hielt es gegen das Licht. »Und dieses teure Geheimdienst-Armband wird dafür sorgen, dass ich eine Kamera einschmuggeln darf?« »Nicht ganz. Dieses teure Geheimdienst-Armband ist die Kamera. Ich hab sie mir aus dem Ausrüstungslager der Technologieabteilung, ähm, geborgt«, erklärte er mit einem zaghaften Lächeln. »Sehen Sie den großen schwarzen Stein dort? Das ist die Linse. Richten Sie diese auf Ihr Ziel, und drücken Sie dann den kleineren roten Stein an der Seite.« »Was ist mit dem kleinen grünen Stein?«, fragte Sydney. »Der ist ohne Funktion und hat nur dekorativen Charakter.« »Aha.« Sie streifte den Ärmel ihres Shirts nach oben und legte den silberfarbenen Reif an. Kühl und starr drückte das Metall gegen ihre Haut. »Tragen Sie die Kamera nicht hier«, bemerkte Wilson leicht nervös, während er in Richtung Korridor nickte. »Im Labor wird man sie nicht vermissen, aber Agenten sollten ihre Privatangelegenheiten nicht mit der Arbeit vermengen.« Er senkte seine Stimme. »Ich könnte in große Schwierigkeiten geraten.«
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»Von mir erfährt niemand ein Sterbenswörtchen.« Gerade, als sie den Armreif in ihrer Handtasche verstauen wollte, berührte Wilson sie leicht am Ellbogen. »Hören Sie«, sagte er fast entschuldigend. »Wenn Sie sich bei dieser Sache nicht wohl fühlen, müssen Sie das nicht tun. Wirklich.« Sydney lächelte. »Soll das ein Witz sein? Es ist mir ein großes Vergnügen. Ich weiß noch zu gut, wie es ist, elf Jahre alt und in einen Popstar verliebt zu sein. Ich freue mich, wenn ich Ihnen beziehungsweise Ihrer Tochter behilflich sein kann.« Sie blickte ihn an, und in diesem Moment war Wilson nicht der harte, unnahbare CIAMitarbeiter, sondern nichts weiter als ein liebevoller Vater. Ein Anflug von Wehmut machte sich bei ihr breit. Wenn doch ihr eigener Vater nur ein bisschen so wie er gewesen wäre ... Aber das war er nicht. Ihr Dad würde sich nicht mehr ändern, und sie sollte langsam anfangen, das zu akzeptieren. Und wenn Wilson sie zum Wohle seiner Tochter um einen kleinen Regelverstoß bat, so würde sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihm zu helfen. »Danke, Sydney.« »Ich glaube, ich sollte jetzt besser gehen.« Sie schulterte ihre Tasche und wandte sich zur Tür. »Noch einen Moment«, rief Wilson. »Da gibt es noch etwas. Etwas sehr Wichtiges.« Abrupt drehte sich Sydney zu ihm um. »Ich muss Sie ins Hauptquartier bringen, Sydney«, sagte Wilson. »Sloane möchte Sie kennen lernen.« Sydney spürte kaum, wie sich ihre Füße vorwärts bewegten, als sie Wilson in die Empfangshalle der CreditDauphine-Bank folgte. Sie wusste nicht, wer dieser Sloane war, und sie wusste nicht, wo er war. Ja, sie wusste nicht einmal, warum er sie - 127 -
sehen wollte, was geschehen würde, wenn er sie getroffen hatte und wie sie überhaupt zum Hauptquartier gelangten. Allein der Zeitpunkt für das Treffen war ihr bekannt. Heute Morgen - jetzt. Wenn sie nur mehr Zeit gehabt hätte, sich darauf vorzubereiten, wäre sie vermutlich nicht so nervös. Wilson sagte kein Wort, als sie auf dem polierten Marmorfußboden die Halle durchquerten und in einen offen stehenden Fahrstuhl traten. Diskret glättete Sydney ein paar Falten an ihren Hosenbeinen und schob sich ein paar lose Haarsträhnen aus dem Gesicht. Als sich die Tür des Lifts geschlossen hatte, klappte Wilson ein kleines Kästchen auf, das sich unter dem Paneel mit den Knöpfen für die Stockwerke befand. Dann führte er einen kleinen Metallschlüssel ein und vollführte mit ihm eine Drei Vierteldrehung im Uhrzeigersinn. Sydney spürte einen leichten Ruck, und schon bewegte sich der Fahrstuhl nach unten. Sie rechnete damit, dass die Kabine auf einem der Parkdecks im Kellergeschoss zum Stehen kam, doch dem war nicht so. Stattdessen bewegte sich der Aufzug immer weiter abwärts, vorbei an den Tiefgaragen und den anderen unterirdisch gelegenen Einrichtungen, bis die Etagenleuchtanzeige nur noch eine horizontale Linie aus Lichtpunkten anzeigte. Sydney stand stocksteif da und versuchte, die Nerven zu behalten. Der Dauer ihrer Aufzugfahrt nach zu urteilen, mussten sie sich bereits mehr als fünf Stockwerke unter der Erde befinden. Wo zum Teufel hatte Wilson seinen Wagen geparkt? In Batmans Höhle? Endlich hielt der Fahrstuhl an, und die Türen öffneten sich. Sie und Wilson betraten einen kleinen, schmucklosen Raum. Sie fragte sich, ob das womöglich ein weiterer Fahrstuhl war, doch dazu fühlte sich der Boden unter ihren Füßen zu stabil an. Ihre Augen hatten sich gerade an das - 128 -
erbarmungslose Deckenlicht und die strahlend weiß vertäfelten Wände gewöhnt, als der Raum plötzlich von einem hellroten Lichtstrahl durchschnitten wurde. Sie blinzelte, als der Sensor über sie und Wilson hinwegwanderte, um dann so schnell, wie er gekommen war, wieder zu verschwinden. Was war denn das?, fragte sie sich. Eine Art Körperscan? Sie wollte Wilson danach fragen, doch er schien so auf andere Dinge konzentriert zu sein, dass sie sich dagegen entschied. In diesem Moment teilte sich die Wand vor ihnen und enthüllte einen schier unendlichen Bürokomplex. »Das ist das Hauptquartier«, sagte Wilson, als sie aus dem weißen Raum heraustraten. »Wir befinden uns sechs Stockwerke unter dem Bankgebäude. Nur Personen, die dem höchsten Sicherheitsstandard entsprechen, haben hier Zutritt. Sie, Sydney, gehören nun auch dazu.« Sydney nahm diese Neuigkeit mit einem leichten Nicken zur Kenntnis. Ich gehöre nun auch dazu, dachte sie. Sie fühlte Stolz in sich aufsteigen und musste sich ein triumphierendes Grinsen verkneifen. Sie durchquerten das Großraumbüro - in Wirklichkeit ein Labyrinth aus gläsernen Trennwänden und Steinsäulen, um die sich dicke Drähte und Kabel wanden. Männer und Frauen jeden Alters und jeder Volkszugehörigkeit eilten hin und her, viele von ihnen nickten Wilson zu, manche blieben stehen, um ihm einige Worte ins Ohr zu flüstern. Niemand nahm auch nur die geringste Notiz von Sydney. Diese indes wunderte sich, wie normal die Mitarbeiter des wohl bedeutendsten Geheimdienstes der Welt auf sie wirkten. Wäre sie einer dieser Personen zufällig auf der Straße begegnet, hätte sie geglaubt, einen Banker, Vertreter oder eine Sekretärin vor sich zu haben. Und genau das waren diese Leute nicht. Es waren Spione. Real - 129 -
existierende Geheimagenten der CIA. Sie wusste, es war so, und doch war die ungeheuerliche Erkenntnis noch nicht ganz zu ihr durchgedrungen. Was aussah, wie die Belegschaft einer Allerweltsfirma, war de facto der Zusammenschluss der tapfersten und fähigsten Helden der Welt, die angetreten waren, dem Terror Einhalt zu gebieten. Und sie war nun eine von ihnen. Sydney hatte ein wenig Mühe, in dem Gedränge mit Wilson Schritt zu halten, als sie plötzlich mit einem großen, würdig blickenden Schwarzen zusammenstieß. »Es tut mir sehr Leid«, entschuldigte sie sich hastig. »Kein Problem«, erwiderte der Mann und schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Hab selber nicht aufgepasst.« Er setzte seinen Weg durch den Korridor fort, und Sydney holte rasch wieder zu Wilson auf. Kurz darauf erreichten sie eine Flucht von geschlossenen Bürotüren, Vor einer von ihnen blieben sie schließlich stehen. »Da sind wir«, verkündete Wilson. Er hob die Brauen und sah Sydney fragend an. Sie lächelte und nickte. Wilson klopfte einige Male, bis schließlich von drinnen ein gedämpftes »Herein« ertönte. Wilson öffnete die Tür und bedeutete Sydney einzutreten. Sie straffte sich, holte tief Luft und schritt über die Schwelle. Sofort fiel ihr Blick auf den Mann, der mitten im Raum stand. Er hatte dunkles, lichtes Haar und einen grau melierten Bart. »Sie sind also Bristow«, begrüßte er sie mit einem dünnen Lächeln. »Ja, Sir.« Sie schätzte ihn auf etwa fünfzig. »Ich bin Arvin Sloane. Willkommen beim SD-6.« »Vielen Dank«, erwiderte sie und schüttelte seine Hand. Dann sah sie fragend zu Wilson. »Was ist der SD-6?« Wilson schloss die Tür und bedeutete den Anwesenden, Platz zu nehmen. Sie und Wilson ließen sich auf den - 130 -
gepolsterten weißen Stühlen nieder, die vor dem Schreibtisch standen. Sloane selbst setzte sich in den hohen Ledersessel, der dahinter stand. »Es gibt ein paar Dinge, die Sie wissen müssen, nun, da Sie an diesem Punkt Ihrer Karriere angelangt sind«, begann Wilson. Seine Miene war starr vor Ernsthaftigkeit. »SD-6 ist unser interner Kodename für die Organisation, in der wir tätig sind. Was wir sind und wovon Sie, Sydney, nun ein Teil sind, ist eine schwarz operierende Abteilung der CIA.« Sydney runzelte die Stirn. »Schwarz operierend?«, fragte sie verständnislos. »Das bedeutet einerseits«, Sloane lehnte sich ein Stück vor, »dass unsere Einheit sich nur aus den besten Mitarbeitern rekrutiert und dass sie andererseits einen ganz besonderen Status hat, selbst innerhalb des Dienstes. Nur einige wenige hochrangige Regierungsmitarbeiter wissen über uns Bescheid.« »Ich verstehe nicht«, sagte Sydney kopfschüttelnd. »Sie agieren selbst Ihrem eigenen Land gegenüber undercover? Warum?« »Ganz einfach. Je weniger Leute unsere Identität kennen, desto besser können wir unseren Job machen.« Sloane hielt kurz inne und deutete durch die Glasscheibe auf das geschäftige Treiben vor seinem Büro. »All diese Menschen, die Sie hier sehen, stellen die Elite der weitbesten Agenten dar, deren Hauptaufgabe darin besteht, all das aufzuspüren und aufzuhalten, was die nationale Sicherheit bedroht - selbst wenn dies der aktuellen Regierungspolitik zuwiderlaufen sollte. Wir riskieren unser Leben, während andere noch nicht einmal ihren guten Ruf riskieren wollen.« »Ich verstehe«, sagte Sydney, obwohl sie weit davon entfernt war. Demnach war sie also nicht nur Mitarbeiterin eines Geheimdienstes, sie würde darüber hinaus innerhalb - 131 -
dieser Organisation im Geheimen operieren. Oder so ähnlich ... »Sie werden umso mehr begreifen, je höher Sie aufsteigen«, fuhr Sloane fort, als ob er ihre Verwirrung registriert hätte. »Was, wie ich hinzufügen muss, sehr schnell geschehen kann. Ich habe viel von Ihnen gehört, Miss Bristow. Und wir alle sind ungemein erfreut über die Fortschritte, die Sie machen.« »Vielen Dank, Sir«, erwiderte sie nicht ohne Stolz. Sie sah auf und lächelte Wilson an, der ihr aufmunternd zunickte. »Ich fühle mich sehr geehrt, Teil des Ganzen zu sein, Sir.« Sloane sah sie eindringlich an. Für einen Moment schien es, als ob er sie inspizierte wie ein Wissenschaftler ein interessantes Versuchsobjekt. Doch gerade, als Sydney begann, sich unter seinen Blicken unbehaglich zu fühlen, erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Nun, denn«, sagte er. Er erhob sich und signalisierte damit das Gesprächsende. »Sie werden schon sehr bald für Ihren ersten Außeneinsatz bereit sein, und ich wollte mir zuvor einfach ein Bild von Ihnen machen.« »Ja, Sir«, sagte sie. »Vielen Dank.« Sie und Wilson erhoben sich von ihren Plätzen. »Danke, dass Sie gekommen sind, Miss Bristow. Ich bin sicher, wir werden uns schon bald wieder sehen.« Sloane drückte kurz ihre Hand. »Oh, und noch etwas, Miss Bristow: Viel Spaß auf dem Konzert.«
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KAPITEL 10 Sydney stand vor dem hohen Ganzkörperspiegel, den Francie vor einiger Zeit an ihrer Schranktür angebracht hatte, und betrachtete staunend ihr Spiegelbild. Fast hätte sie sich nicht wieder erkannt. Die Frau, die ihr entgegenstarrte war groß und tough in ihrer schwarzen Lederhose und dem dazu passenden hautengen Bustier. Ein Teil des Deckhaars war zu starren Strähnen geformt, die in einem 30-Grad-Winkel von ihrem Kopf abstanden. Die Augen waren schwarz umrandet, und eine blutrote Schicht zierte ihre vollen Lippen. Von ihrem rechten Ohr baumelte ein langer spitzer Dorn, während eine schwere Metallmanschette ihren linken Unterarm zierte. Sie hatte sich für dieses Rock-Groupie-Outfit entschieden, weil sie fand, dass das Silberarmband, das Wilson ihr gegeben hatte, zu nichts passte, was sie normalerweise trug. Das Letzte, was sie wollte, war, dass das Ding irgendwie auffiel und Verdacht erregte. Also hatte sie beschlossen, den Rest ihrer Erscheinung auf das extravagante »Schmuckstück« abzustimmen. Sie riss eine Faust in die Höhe und stieß ein rotziges »Yeah!« aus. »Sydney Vicious!« Das würde lustig werden. Sie hatte dieses Kostüm nicht mehr getragen, seit sie und Francie sich zu Halloween als Biker-Bräute verkleidet hatten. Sie musste lachen, als sie an die verblüfften Gesichter ihrer Mitstudenten dachte, während sie in diesem Aufzug durch das Wohnheim stöckelten. Francie, mit einer Peitsche bewaffnet, hatte kaum laufen können in ihrem hautengen Plastikrock und den superhohen Stiefeln. Schon als Kind hatte sie es geliebt, sich zu verkleiden und jemand anderen darzustellen. Eine Märchenprinzessin, eine schwarze Katze, einen verwegenen Piraten. - 133 -
Maskierungen verliehen ihr Sicherheit, ließen sie Dinge tun, die sie sich als Sydney Bristow nie getraut hätte. Ihr schauspielerisches Talent und ihre Begabung für Dialekte taten ihr Übriges. Wann immer sie und ihre Schulfreundinnen beschlossen hatten, shoppen zu gehen, hatten sie sich in ihre schicksten Klamotten geschmissen und im Laden vorgegeben, exaltierte britische LuxusTouristinnen zu sein. Die Verkäuferinnen in den Schickimicki-Boutiquen hatten sich jedes Mal fast überschlagen, sie zu beraten und zu bedienen. Es war klar, dass sie noch nicht mal einen Finger krumm gemacht hätten, wenn sie gewusst hätten, wer die Mädchen wirklich waren. Sydney seufzte. Zu gerne wäre sie mit ihren alten Freundinnen in Verbindung geblieben, doch so, wie die Dinge jetzt standen, war es schon schwierig genug, sich die neuen zu erhalten. Wenn nur Francie heute Abend dabei sein könnte. Francie liebte Raul Sandoval sogar noch mehr als sie selbst. Genau genommen war sie es gewesen, die Sydney mit seiner Musik bekannt gemacht hatte. Doch sie hatte nur eine Karte, und sie wäre sich sehr undankbar vorgekommen, wenn sie Wilson nach einer zweiten gefragt hätte. Darüber hinaus hätte sie sich eine Ausrede einfallen lassen müssen, warum sie während des ganzen Konzerts an diesem komischen Armband herumfummelte, das ihr offensichtlich noch nicht mal gehörte. Und zu guter Letzt, hätte sie plausibel erklären müssen, wie sie es geschafft hatte, Plätze in der ersten Reihe zu ergattern ... Plötzlich hörte sie das Geräusch eines Schlüssels in der Eingangstür. Panik überfiel sie ebenso wie der Wunsch, sich schleunigst zu verstecken. Doch dazu war es schon zu spät. Francie platzte ins Zimmer. Sie trug noch immer ihre Kellnerinnen-Kluft und wirkte nicht eben guter Laune. - 134 -
Auf dem Weg zu ihrem Bett blieb sie plötzlich stehen und starrte Sydney mit offenem Mund an. »Äh ... hallo. Wer sind Sie, und was haben Sie mit meiner Mitbewohnerin gemacht?« »Hi, Francie«, sagte Sydney mit einem dümmlichen Grinsen. »Ich dachte, du müsstest heute Abend arbeiten?« »So war das auch geplant. Aber Terwilliger hat uns frei gegeben, weil im Restaurant einfach nichts los war. Ich vermute, er ist danach vor Großherzigkeit schier explodiert. Wahrscheinlich ist die Stadt wie ausgestorben, weil heute jedermann zu diesem Raul-Sandoval-Konzert rennt. Haben die ein Glück!« In Sydneys Kopf überschlugen sich die Gedanken. »Ich gehe zu einer Themenparty«, erklärte sie hastig. »Ach, wirklich?«, fragte Francie mit glänzenden Augen. »Hört sich cool an. Kann ich mitkommen?« »Ähm ... ich weiß nicht. Die Sache ist, dass ...« Sie hielt inne und begann in ihrer Lederkluft zu schwitzen. »Ich bin dort mit jemandem verabredet.« »Raus mit der Sprache«, rief Francie und grinste von einem Ohr zum anderen. »Du gehst mit einem Typen aus, stimmt's?! Und du Luder hast mir nichts davon erzählt!« Sydney hob eine Hand. »Nein, nein! Ein romantisches Date ist es noch nicht. Bevor es dazu kommt, möchte ich ihn erst ein bisschen besser kennen lernen, weißt du? Und ich würde gern allein gehen, nur für den Fall, dass was passiert, du verstehst?« Francie grinste anzüglich. »Ich verstehe. Völlig.« »Wirklich?«, fragte Sydney schuldbewusst. »Und du bist nicht böse deswegen?« »Natürlich nicht.« Francie setzte sich auf die Bettkante und zog sich die Schuhe aus. »Außerdem hab ich selbst schon was vor. Ich werde ein langes, heißes Bad nehmen und danach gemütlich fernsehen. Heute Abend zeigen sie - 135 -
die Philadelphia Story auf TNN, und du weißt ja, wie sehr ich auf Cary Grant stehe.« »Ja, richtig.« Sydney stieß erleichtert die Luft aus. Das war knapp gewesen! »Dann wünsche ich dir einen schönen Abend.« Sie schnappte sich ihre Autoschlüssel vom Nachttisch und ging zur Tür. »Tschüss.« »Warte mal«, sagte Francie. »Willst du dir nicht meine Peitsche ausleihen?« Sydney musste lachen. »Nein, ich glaube nicht.« »Viel Spaß«, rief Francie ihr nach, als Sydney auf den Flur hinaus trat. »Vielleicht bin ich ja bei deiner nächsten Verabredung mit dabei?« Als Sydney die Las Cruces Arena erreichte, war der Platz hoffnungslos überfüllt von Menschen. Sie mischte sich unter die anderen Konzertgäste, die vor der Halle auf Einlass warteten und bemerkte erleichtert, dass auch andere Fans in Lederklamotten erschienen waren. Sie war froh, dass sie sich verkleidet hatte, sonst wäre sie sich bestimmt komisch vorgekommen, so allein auf ein Konzert zu gehen. Ihr toughes Outfit ließ sie sich stark, ja fast ein wenig rebellisch fühlen. Sie hatte sich sogar einen anderen Gang angewöhnt und stolzierte nun in ihren schwarzen Mechanikerstiefeln lässig, und doch selbstbewusst auf den Eingang zu. Als sie dem Türsteher ihr Ticket vorzeigte, klappte diesem fast die Kinnlade herunter. »Wow. Erste Reihe«, bemerkte er, als er die Sitznummer auf der Karte überprüfte. »Also, gut. Sie nehmen den Aufzug ins Untergeschoss, und dann wird Usher Ihnen Ihren Platz zeigen. Ach ja, und die Jungs von der Security wollen, dass wir die Leute daran erinnern, bloß keinen Mosh Pit zu veranstalten.« »Von mir aus«, sagte Sydney nur, als sie ihre Karte wieder einsteckte und den nächstbesten Aufzug ansteuerte. - 136 -
Sie fühlte sich total draufgängerisch und cool. Als sie durch die Vorhalle schlenderte, konnte sie die Blicke der Leute förmlich auf sich spüren. Einige Mädchen taxierten sie mit abschätzigen Blicken, während die meisten Jungs ihr schwarzes, hautenges Lederbustier anstarrten. Lässig schlenderte sie an ihnen vorbei, als ob sie das alles nicht im Geringsten interessierte. In Wahrheit genoss sie die Aufmerksamkeit, die sie mit ihrem gewagten Outfit erregte. Im Innenbereich der Arena hingen allerorten überdimensionale Porträts von Raul Sandoval von der Decke. Wohin man sah, überall sprangen dem Besucher Rauls schwarze Lockenpracht, sein aufreizender Blick und sein verführerisches Lächeln ins Auge. Der Typ war ohne Frage sexy. Und obwohl er für ihren Geschmack ein wenig zu draufgängerisch und selbstsicher auftrat, konnte Sydney gut verstehen, warum Francie und Ciaire Wilson ihn so megatoll fanden. Ein stotternder Junge auf dem Höhepunkt der Pubertät führte sie hinunter zu ihrem Platz. Sydney konnte nicht glauben, was für ein Glück sie hatte. Die Bühne lag direkt vor ihr - sie würde die Show in Augenhöhe verfolgen können! Im Moment waren allerdings nur dicke rote Theatervorhänge und zwei riesige Lautsprecher zu jeder Seite des Podiums zu erkennen. Direkt davor stand eine Reihe muskelbepackter Männer, den Blick starr auf die sich versammelnde Menge gerichtet. »Ra-ul! Ra-ul! Ra-ul!«, begannen die ersten Zuschauer zu skandieren, je lauter, je mehr der Saal sich füllte. Und dann ging es plötzlich los. Das Licht erlosch. Die Vorhänge öffneten sich, und dann erfüllte ein kurzes schrilles Gitarrensolo die Halle. Ein Spot flammte auf und erleuchtete eine einsame, schlanke Gestalt auf der Bühne. Sie stand direkt vor dem - 137 -
Mikrofon und trug ein schlichtes Rippenunterhemd zu braunen Lederhosen. Um ihre Hüften baumelte eine Les Paul-Gitarre. Da war er! Raul Sandoval! Als er die Arme wie ein Messias erhob, kreischte die Menge ekstatisch auf. »Hallo, Los Angeles!«, begrüßte er das Publikum. Dann nickte er kurz seinen Bandmitgliedern zu, griff in die Saiten, und das Spektakel begann. Noch nie war Sydney auf einem Konzert wie diesem gewesen. Die Musik war fast unerträglich laut, die Menge um sie herum geriet außer Rand und Band, und sie konnte spüren, wie die Bässe gegen ihren Solarplexus wummerten. Und doch war es ein unbeschreibliches Erlebnis. Sie schloss die Augen und ließ sich von der aufgeheizten Stimmung so sehr mitreißen, dass sie zu fast jedem Song ausgelassen tanzte. Ab und an hielt sie inne, fummelte an ihrem Armband herum und schoss ein paar Fotos. Und zu fotografieren gab es eine Menge! Zum Beispiel, als Sandoval unter einem Blitzlichtgewitter und im Schein eines ganzen Feuerwerks auf und ab stolzierte wie ein Heilsbringer. Oder als eine exotische Tanztruppe mit unterirdischen Liften hinauf auf die Bühne gefahren wurde. Und passend zu seinen rebellischen Texten drosch Sandoval mit grimmiger Miene auf seine Gitarre ein, als ob er stinksauer auf sie und die ganze Welt wäre. Nach vierzig Minuten erstarb die Musik plötzlich zu dem Geräusch eines entfernten Gewitters. Sandoval griff sich ein Mikro und kam bis ganz nach vorn an den Bühnenrand, womit er sich direkt über Sydney erhob. Das Licht erlosch bis auf einen einsamen weißen Spot, der auf den Musiker gerichtet war. Da stand er nun, erhitzt und mit schweißüberströmtem Körper. Sein Blick wanderte durchs Publikum und blieb an Sydney hängen. Er lächelte ihr zu, und sie erstarrte vor Schreck. Dann schwoll die Musik - 138 -
wieder an, und Sandoval begann, einen Song auf Spanisch zu singen. Es war eine Liebesballade, und im Geiste übersetzte sich Sydney jedes Wort, während Raul Sandoval die Augen schloss und seine linke Hand zur Melodie auf und ab bewegte. Du hast mein Herz gefangen. Deine Augen, deine Lippen, dein Lachen, deine Berührung - das sind die Mauern meines Gefängnisses. Ich kann nicht fliehen und will es auch gar nicht. Ich lebe unter deinem Befehl. Ich liebe unter deinem Befehl. Und ich sterbe unter deinem Befehl. Um sie herum wiegten sich eng umschlungen Liebespaare zur Musik, und Sydney verspürte einen Stich im Herzen. Zum ersten Mal an diesem Abend wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie allein hier war. Sie ertappte sich dabei, wie sie an den unbekannten jungen Agenten dachte und sich fragte, wie es wohl war, sich an ihn anzulehnen. Wie es sich wohl anfühlte, seine langen, starken Arme um ihren Körper zu spüren ... Vergiss es, dachte sie. Als ob das jemals passieren würde. Schlag dir diesen Typen aus dem Kopf und hob Spaß. Während Sandoval auf der Bühne schluchzte, schmachtete und litt, drehte Sydney das Armband in Position und betätigte den Auslöser in Form des roten Steins. Klick. So, dachte sie zufrieden. Das Foto würde Ciaire sicherlich unter ihr Kopfkissen legen. - 139 -
Mit einem langen, sehnsuchtsvollen Ton klang das Liebeslied aus, und auf der Bühne wurde es wieder hell. Sydney fiel in die Beifallsstürme der Menge mit ein, hier und da wurden Stofftiere und Kleidungsstücke auf die Bühne geworfen. Sandoval schnappte sich einen blauen Schal vom Boden und trocknete sich mit ihm das schweißglänzende Gesicht. Dann holte er weit aus und machte sich bereit, die Trophäe wieder zurück ins Publikum zu schleudern. Ein kleiner Tumult entstand, als einige Frauen aufkreischten und nach vorn stürmten. Hart wurde Sydney gegen die Bühne geschubst, als zwei Mädchen ohne Rücksicht auf Verluste ihr Glück versuchten. »Gib ihn mir! Mir! Mir!«, schrien sie. Da kniete Sandoval nieder und schaute Sydney direkt in die Augen. Ein unwiderstehliches Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er ihr mit großer Geste den blauen Schal überreichte. Sie stand wie angewurzelt da, noch immer leicht benommen ob des harten Zusammentreffens mit dem Bühnenrand. Schließlich hob sie die Hand und ergriff den verschwitzten Fetzen mit spitzen Fingern. »Danke«, murmelte sie, während sie spürte, dass sie ärgerlicherweise errötete. Keine Frage, Sandoval zog eine totale Show ab, aber er war unbestreitbar süß. Die Band setzte wieder ein, und nach einem Augenzwinkern in Richtung Sydney marschierte Sandoval wieder zum Podium zurück. Sämtliche Mädchen um sie herum bedachten sie mit hasserfüllten Blicken. Schnell schob sie den Schal unter ihr Bustier und setzte wieder ihre unnahbare, toughe Miene auf. Sie hoffte inständig, ihre Nahkampffähigkeiten nicht an einem der durchgeknallten weiblichen Fans unter Beweis stellen zu müssen. - 140 -
Der Rest der Show wurde wieder von Sandovals lauten, ungebändigten Rocksongs bestimmt. Sydney tanzte ausgelassen mit und schoss einige weitere tolle Fotos für Ciaire. Nach einer relativ langweiligen Abschlussnummer mit Lightshow, Pyrotechnik und viel Trockeneisnebel, packte Sandoval seine Utensilien zusammen, dankte dem Publikum und ging hinter die Bühne. »Ra-ul! Ra-ul! Ra-ul!«, schrie die Menge in ihrem Wunsch nach einer Zugabe. »Hey, du!«, erklang es plötzlich an Sydneys Ohr. Sie fuhr herum und fand sich Auge in Auge mit einem der bulligen Saalwärter. Ihr Magen verkrampfte sich. Hatte man sie womöglich dabei beobachtet, wie sie fortwährend an diesem Armband herumspielte, und messerscharf geschlossen, dass es sich dabei nur um eine Kamera handeln konnte? Was, wenn man das Ding konfiszierte? Wilson würde einen Riesenärger bekommen, genau wie sie. Womöglich würde die ganze Firma in Gefahr geraten! »Komm mal mit«, befahl der Mann schroff. »Warum?«, fragte sie so ruhig wie möglich. Er sah sie erstaunt an. »Was ist? Willst du etwa nicht hinter die Bühne kommen?« Sydney entspannte sich. Offensichtlich hatte sie dem großen Sandoval gefallen. Visionen von heruntergekommenen, willenlosen Groupies bei KissKonzerten erschienen vor ihrem geistigen Auge. Sie wollte schon nein sagen, als ihr Ciaire einfiel. Ich werde mir ein Autogramm von ihm holen, dachte sie aufgeregt. Wilsons Tochter würde damit an ihrer Schule den Vogel abschießen, und Wilson würde es einfach nicht fassen können! »Klar«, sagte sie daher. »Natürlich.« - 141 -
Der Mann umfasste Sydneys Oberarm mit hartem Griff und schob sie durch die Reihen. Zuerst ärgerte es sie, dass sie von diesem Typen an die Hand genommen wurde wie ein Kleinkind, doch als sie den flackernden Wahnsinn in den Augen so manchen Fans wahrnahm, war sie für diese Vorsichtsmaßnahme dann doch dankbar. Sie bahnten sich ihren Weg durch die tobende Menge und an der rechten Bühnenseite vorbei, stiegen ein paar Stufen hinauf und huschten dann hinter einen schwarzen Vorhang. Sydney fand sich in einem Gang wieder, der mit Equipment und Kisten voll gestellt war. Sie liefen noch durch einige dunkle Gänge und blieben schließlich vor einer schlichten Holztür stehen. Der Mann hob eine mächtige Faust und klopfte dreimal. Ein anderer gorillagleicher Typ öffnete ihnen schweigend, taxierte sie kurz und führte sie dann hinein. Sydney stand in einer langen, weiß getünchten Garderobe. An der hinteren Wand hing ein riesiger Spiegel, an dessen Rahmen unzählige Glühbirnen angebracht waren. Rechter Hand erkannte sie einen Tisch, der sich unter Klamotten, Snacks und Obst geradezu bog. Links von ihr hatten es sich ein paar schwarz gekleidete Gestalten auf diversen Sofas gemütlich gemacht. Eine blaue Wolke aus Zigarettenqualm schwebte über ihren Köpfen. Mitten im Raum schließlich stand Sandoval höchstselbst und zog sich gerade ein rotes Seidenhemd über. Sydney grinste. Sie konnte nicht fassen, dass sie backstage bei Raul Sandoval war! Es war eine Schande, dass sie Francie nichts davon erzählen durfte. Der Latino-Superstar wandte sich zu ihr um und sah sie an. »Ah, la senorita«, sagte er. »Hallo, ich bin Raul. Wie geht es dir?« Er reichte ihr die Hand. »Gut, danke«, erwiderte sie und wollte seine Rechte schon schütteln, als er ihre Hand an seine Lippen zog und - 142 -
sie küsste. In dem Spiegel an der Wand konnte sie sehen, wie ihre Wangen so feuerrot wurden wie ihr Lippenstift. »Hat dir Show gefallen?«, fragte er mit einem schweren kubanischen Akzent. Er ließ ihre Hand wieder los und begann, das Hemd halb zuzuknöpfen. »Ja«, sagte sie und versuchte eifrig, wieder cool und gelassen zu wirken. »Sag mal, könnte ich ein Autogramm kriegen?« »Natürlich.« Er langte nach einem Notizblock und einem Stift auf dem Telefontischchen. »Und dein Name ist?« »Könntest du >Für Claire< schreiben?« »Claire. Ja. Ist wunderschöner Name.« Er lächelte sie an und kritzelte eilig Für Claire - in Liebe, Raul S. aufs Papier. Dann riss er das oberste Blatt vom Block und reichte es Sydney. »Danke«, sagte sie und ließ das Autogramm in ihrer Hosentasche verschwinden. »All righty. Vamanos!« Gedämpft drang das Kreischen und Stampfen der Menge an ihr Ohr, die immer wieder Rauls Namen rief. »Oye. La gente me estä llamando«, sagte er und nickte in Richtung Bühne. »Meine Fans rufen nach mir. Ich muss raus.« »Oh. Klar.« Sie nickte. »Dann werde ich jetzt auch besser wieder gehen.« Da brach Sandoval in Lachen aus. »Nein, das denke ich nicht«, sagte er. Er legte die Hände auf ihre Schultern und schob sie sanft in Richtung der Sofas. »Du wirst hier bei meinen Freunden bleiben. Nach der Zugabe ich komme zurück.« »Ahm ... okay«, murmelte sie, als sie auf die Kante einer üppigen Chenillecouch sank. »Ahorn, vamanosl«, rief Sandoval seiner Band zu. Das Geschrei der Menge wurde lauter, als die Tür kurz - 143 -
aufschwang, und wieder gedämpft, als sie sich hinter ihnen schloss. Verstohlen schaute sich Sydney in der Garderobe um. Sie sah drei Goth-Mädchen in engen schwarzen Kleidern und mit leichenblassem Make-up sowie einige Typen in dunklen Klamotten und Sonnenbrillen und schließlich einen Meister-Proper-Doppelgänger, der direkt bei der Tür stand. Also will Sandoval, dass ich hier mit seinem Gefolge rumhänge?, fragte sie sich. Rein optisch passte sie definitiv hierher, aber innerlich fühlte sie sich total fehl am Platze. Eine Goth-Braut mit glattem schwarzem Haar starrte sie vom anderen Ende der Couch her an. Sydney nickte ihr freundlich zu, doch das Mädchen blies ihr einfach den Zigarettenqualm ins Gesicht und wandte sich wieder um. Wie nett, dachte Sydney und verzog das Gesicht. Sie fand, sie konnte genauso gut ein paar Fotos vom Backstagebereich schießen, während sie hier wartete. Wenn Sandoval zurückkam, würde sie sich dann artig bedanken und gehen. Während die anderen rauchten und sich in betont gelangweiltem Tonfall über die Show unterhielten, lehnte sich Sydney in die Sofakissen zurück und spielte mit ihrem Armband. Da entdeckte sie plötzlich mit Entsetzen, dass einer der Steine fehlte. Sie atmete erleichtert auf, als sie feststellte, dass es nur der grüne war - und nicht derjenige, der die Linse verdeckte. Dennoch musste sie hart schlucken. Wilson hatte ihr dieses hochtechnische Gerät anvertraut, und nun war es beschädigt. Wahrscheinlich war der Stein herausgefallen, als sie so brutal gegen den Bühnenrand geschubst worden war. Und wahrscheinlich war es jetzt viel zu spät, das fehlende Stück zu suchen und das Armband selbst zu reparieren. - 144 -
Sie hoffte, Wilsons Enttäuschung hielt sich angesichts der Fotos und des Autogramms in Grenzen. Sie schoss rasch einige Bilder von Sandovals Gitarrenkoffer, den düsteren Groupies und auch von Meister Proper. Sie hoffte, Ciaire würde die fast lückenlose Dokumentation des Gigs zu schätzen wissen, zumal Sydney im Moment ohnehin nichts Besseres zu tun hatte. Nach einer Weile öffnete Meister Proper die Tür und verkündete mit Grabesstimme: »So. Zeit, ins Hotel überzusiedeln, Leute, damit die Party beginnen kann.« »Was ist mit Raul?«, fragte das kettenrauchende Groupie. »Der hat noch zu tun und kommt später.« »Fein«, sagte das Mädchen ein wenig verunsichert. Sie und der Rest der Truppe erhoben sich und gingen zur Tür. Sydney blieb einfach sitzen und fragte sich, was sie jetzt tun sollte. In diesem Moment kam der Türsteher auf sie zu und blieb mit verschränkten Armen vor ihr stehen. Ungeduldig sah er sie an. »Ich auch?«, fragte Sydney. Er schaute auf sie herab, als ob er eine Schwachsinnige vor sich hätte. »Er hat dir doch den Schal gegeben, oder nicht?« »Ahm ... ja, und?« »Das bedeutet, er hat dich ausgewählt.« Er verdrehte die Augen, als ob er es mit der größten Dumpfbacke aller Zeiten zu tun hätte. »Du wirst ihm heute Abend Gesellschaft leisten, capito?« »Oh. Aber ich ... aber ich bin nicht ...« Sie erhob sich und holte tief Luft. »Tut mir Leid, aber ich glaube nicht, dass ich ihn begleiten kann.« Meister Proper straffte sich und starrte sie ungläubig an. »Mister Sandoval wünscht aber, dass du auf ihn wartest«, knurrte er und kam so nahe an sie heran, dass sie seine - 145 -
blutunterlaufenen Augen sehen konnte. »Oder hast du ein Problem damit?« Sydney blinzelte ihn schweigend an. Ihr Blick flog über sein grimmiges Gesicht, seine baseballgroßen muskelbepackten Oberarme und die charakteristische Ausbeulung unter seiner Lederjacke, die eine Schusswaffe verbarg. Offensichtlich umgab sich Sandoval mit einem ziemlich brutalen Haufen. Wenn sie sich weigerte, würde sie damit vermutlich Streit, wenn nicht Schlimmeres provozieren. Einen Streit, den sie nur verlieren konnte. Und sollte sie wider Erwarten bei der Auseinandersetzung als Siegerin hervorgehen, würde sie sich den anschließenden Fragen der Polizei stellen müssen. Und was sollte der SD-6 dann von ihr denken? Insbesondere, da sie unerlaubterweise eine Mikrokamera der Regierungsbehörde bei sich trug? »Nein«, sagte sie und hielt seinem harten Blick stand. »Kein Problem.« Die Haltung ihres Gegenübers entspannte sich unmerklich, und sein Mund verzog sich zu einem bösartigen Grinsen. »Gut. Warum tust du dann nicht, was ich gesagt habe, und steigst draußen in die wartende Limo?« Sydney war klar, dass seine letzten Worte keine Frage, sondern vielmehr eine unmissverständliche Aufforderung waren. »Ja, sicher«, murmelte sie, als sie vor dem Schläger aus der Garderobe stolperte. Okay, Syd. Denk nach, beschwor sie sich fieberhaft. Wie kommst du aus dieser Nummer wieder raus?
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KAPITEL 11 Zielstrebig bahnten sie sich ihren Weg durch den verschlungenen Backstagebereich der Las Cruces Arena. Das Licht hier war gedämpft, und nur mit Mühe konnte Sydney den Metallclip auf dem Kopf des fast kahlen Groupies erkennen, das vor ihr herlief, während Meister Proper ihr auf dem Fuß folgte. Sein stoßweiser Atem in ihrem Nacken erinnerte sie stets daran. Sie musste einen Weg finden, aus dieser Sache rauszukommen. Nicht nur, dass diese Leute sie nervös machten, sie war zudem überaus besorgt wegen des Mikrokamera-Armbandes. Wenn sie noch bei diesen Typen verweilte, konnte es ihnen womöglich in die Hände fallen. Und was, wenn sie seine Funktion durchschauten? Darüber hinaus wollte sie es nicht riskieren, dass es noch mehr beschädigt oder der Film darin gar unbrauchbar gemacht wurde. Doch wie sollte sie Sandovals Gorilla davon überzeugen, sie einfach gehen zu lassen? »Würg. Dieser Schuppen hier ist echt zum Kotzen. Die Halle in San Francisco war viel geiler«, lamentierte eines der Groupies vor ihr. Sydney hörte Gerüttel und einen dumpfen Knall, und dann rief jemand: »Roland, die Tür hier ist verschlossen, und irgendein Zeug tropft von der Decke. Bist du sicher, dass das der richtige Ausgang ist?« Meister Proper alias Roland grunzte unwirsch und drängelte sich nach vorn. »Immer mit der Ruhe. Ich hab 'nen Schlüssel.« Als der Tross kurz darauf wieder in Bewegung kam, fiel Sydney ein Stück zurück, denn Sandovals Schläger war nun nicht mehr hinter ihr. Das war ihre Chance. Blitzschnell sondierte sie die Lage und entdeckte zu ihrer - 147 -
Linken eine Art Korridor. So leise wie möglich huschte sie in den dunklen Gang und eilte auf Zehenspitzen davon. Soweit sie feststellte, befand sie sich in einem stickigen Tunnel. Es war nahezu stockdunkel, und es schien, als führte der Weg abwärts. Glücklicherweise fiel etwas Licht durch die Ritzen in der Decke, sodass sie nicht völlig blind umherstolpern musste. Vorsichtig ging sie weiter und fragte sich, was die erlauchte Partygemeinschaft wohl tun würde, wenn sie ihre Flucht entdeckte. Würde man versuchen, sie zu finden? Sydney bezweifelte, dass irgendjemand sie schmerzlich vermissen würde. Bis auf Sandoval vielleicht. Sie vermutete, dass ein verhätschelter Rockstar wie er es gewohnt war, alles zu kriegen, was er wünschte. Alles und jeden. Fast zwanzig Minuten lang suchte Sydney in dem düsteren Labyrinth nach einem Ausgang oder jemandem, der sie zu einem solchen führen konnte. Sie fand es äußerst befremdlich, dass ihr bisher niemand über den Weg gelaufen war. Entweder war sie in einen unbenutzten oder still gelegten Bereich der Arena vorgedrungen, oder die gesamte Belegschaft hatte das Gebäude bereits verlassen. Sie erwog umzukehren und den Weg wieder zurückzugehen, aus dem sie gekommen war, doch sie entschied sich dagegen. Auf keinen Fall wollte sie es riskieren, wieder mit Sandovals Gefolge zusammenzutreffen. Und dann bezweifelte sie stark, dass sie je wieder zurückfinden würde, nachdem sie an diversen Kreuzungen wahllos abgebogen war. Langsam wurde sie müde, und auch der Hunger meldete sich. Zu allem Überfluss schmerzten ihre Füße in den unbequemen, hochhackigen Stiefeln. Irgendwann ließ sie sich auf eine der herumstehenden Kisten nieder und streifte sie ab. - 148 -
»Viel besser«, sagte sie, als sie ihre Zehen beugte und streckte und die Fesseln massierte. Sie fragte sich, wie manche Leute es nur schafften, cool zu wirken, wenn ihnen beim Gehen fast die Füße abfielen. Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Irgendwo im Korridor vor ihr waren gedämpfte Stimmen zu vernehmen. Endlich! Sie schnappte sich ihre Stiefel und stahl sich langsam weiter. Etwas, das wie eine riesige LKW-Ladebucht aussah, kam in Sicht. Die Stimmen wurden lauter, und sie registrierte, dass einer der Sprechenden einen schweren, ihr wohl bekannten kubanischen Akzent besaß. Sydney hielt inne und zog sich wieder ein Stück zurück. Sie überlegte. Irgendwo da vorne gab es ohne Frage so etwas wie einen Ausgang. Doch sie konnte es nicht riskieren, ohne ein Wort der Erklärung an Sandoval vorbeizuspazieren. Vielleicht sollte sie hier so lange ausharren, bis er und seine Leute verschwunden waren. Vorsichtig machte sie erneut einige Schritte vorwärts und lugte um die Ecke. Sandoval stand mitten in der Ladebucht. Neben ihm war ein untersetzter Typ in einem grauen Anzug zu erkennen. Er war zu alt und zu gut gekleidet, um ein Mitglied der Security zu sein. Sie sah, wie er die rechte Hand hob und paffend an einer dicken braunen Zigarre zog. Irgendetwas an dieser Erscheinung beunruhigte Sydney. Und dann wusste sie, was es war: Sie hatte ihn schon einmal gesehen! Als der Ältere sich umdrehte und sein Profil ins Licht hielt, erstarrte sie für einen Moment, weil ihr klar wurde, wen sie vor sich hatte. Der Mann war Josef Levski, einer der führenden Köpfe des Mercado de Sangre - des blutigen Schwarzmarktes. Sydney hatte einiges über diese Organisation gelesen. Die Gruppe hatte in den Zeiten des Kalten Krieges von Europa bis Kuba operiert. In dem Chaos, das auf den Fall - 149 -
des Eisernen Vorhangs gefolgt war, hatte sie die Waffenarsenale der ehemaligen Sowjetrepubliken geplündert und das Zeug sodann an den Höchstbietenden verscherbelt. Der Mercado de Sangre verkaufte Waffen und nachrichtendienstliche Informationen an jedermann, seien es nun paramilitärische Organisationen oder Terroristen. In letzter Zeit hatte man das »Angebot« um begehrte Geheimdienstmitarbeiter erweitert, die man - gegen entsprechende Bezahlung, versteht sich - kurzerhand an die Gegenseite auslieferte. Diese Typen kannten keine Skrupel. Sie fühlten sich keinem Land und keiner Regierung dieser Welt verpflichtet, und über das, was sie taten, ließen sie auch nicht mit sich verhandeln. Doch was hat Sandoval mit diesen Kriminellen zu schaffen? Fast automatisch hob Sydney den Arm und schoss ein Foto von den beiden Männern. Vielleicht konnte Wilson etwas mit dieser Information anfangen, Falls sie jemals wieder hier herauskam ... Plötzlich war ihr, als ob ihr jemand eine Backpfeife versetzt hätte. Das ist kein Zufall, erkannte sie. Der SD-6 hat mich nicht ohne Grund hierher geschickt. Die Konzertkarte, die Kamera ... all das war von langer Hand eingefädelt worden, um... »Da bist du ja!«, grunzte plötzlich jemand hinter ihr. Im gleichen Moment fühlte Sydney, wie sie am Arm grob nach hinten gerissen wurde. Sie geriet ins Straucheln, verlor aber nicht das Gleichgewicht. Als sie herumfuhr, sah sie Roland vor sich stehen, der sie höhnisch angrinste -sein blanker Schädel schimmerte wie eine Bowlingkugel im dämmrigen Licht der Konzertsaal-Katakomben. Ohne nachzudenken rammte Sydney ihm einen Ellbogen in die Brust. Ein Ausdruck der Überraschung trat in sein Gesicht - und in das ihre. Ich hab gerade einen Typen der Klasse Schwarzenegger attackiert, schoss es ihr durch den - 150 -
Kopf, als sich sein Griff um ihren Arm lockerte. Bevor der Schläger reagieren konnte, wirbelte sie herum und trat ihm mit Wucht in die Rippen. Er stolperte rückwärts, was Sydney dazu nutzte, die Flucht anzutreten. Ihre nackten Füße verursachten ein klatschendes Geräusch auf dem Betonboden. Sie fühlte keine Furcht. Tatsächlich fühlte sie gar nichts. Sie reagierte einfach. Wenn ich hier jemals wieder rauskomme, dachte sie, als das Adrenalin durch ihren Körper pumpte, muss ich Yoav unbedingt sagen, wie gut sein Training war. Hinter sich konnte sie Roland fluchen hören. Sie hetzte um eine Ecke, und musste mit Bestürzung feststellen, dass sie in einer Sackgasse gelandet war. Gleichzeitig hörte sie, wie der Gorilla schweren Schrittes näher und näher kam. Sie duckte sich hinter einen Turm aus Lautsprechern und Metallkisten und versuchte, so gut es ging, lautlos zu atmen. Als Roland um die Ecke stapfte, hallte das Geräusch seiner schweren Stiefel dumpf von den Wänden wider, um dann abrupt abzubrechen. »Du kommst jetzt besser raus!«, bellte er. »Was glaubst du, wie lange du dich hier verstecken kannst?« Sydney verharrte an Ort und Stelle und versuchte, jedes kleine Geräusch, jedes Scharren von Rolands Schuhsohlen auf dem harten Untergrund richtig zu deuten. Ihr Herz hämmerte wie verrückt, und sie musste sich zwingen, reglos wie eine Statue zu bleiben und gleichzeitig ihre Sinne beisammen zu halten. Die Schritte kamen immer näher; Rolands keuchender Atem schien nur noch einen halben Meter entfernt... Rumms! Mit aller Kraft warf sich Sydney gegen den schweren Turm aus Konzert-Equipment und brachte ihn zum Kippen. Es folgte ein Krachen und Scheppern, das - 151 -
erschreckend laut von den nackten Wänden widerhallte, begleitet von einem Aufschrei der Überraschung. Dann war alles still. Zögernd umrundete Sydney die Trümmer ihres ehemaligen Verstecks. Vage erkannte sie die Umrisse von Rolands massiger Gestalt am Boden liegen. Einen Moment lang stand sie wie gelähmt da. Ich hab ihn tatsächlich erledigt, dachte sie und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dann kam wieder Leben in sie, und sie rannte wie eine Verrückte zurück in Richtung Ladebucht. Gerade als sie um die letzte Ecke biegen wollte, sprang etwas aus den Schatten heraus an wie eine Raubkatze. Automatisch brachte sie ihre Arme in Abwehrstellung, doch es war zu spät. Eine bloße Faust kollidierte mit ihrer Schläfe, und sie ging zu Boden wie ein gefällter Baum. Im Sturz erhaschte Sydney einen Blick auf Sandovals schwarze, wütend funkelnde Augen, und dann wurde es Nacht. »Autsch. Mach die Jalousien zu, Francie. Ich hab Kopfschmerzen«, murmelte Sydney. Wahrscheinlich hatte sie sich zudem den Magen verdorben, denn ihre Eingeweide fühlten sich an wie Steine. Auch ihr Nacken war steif, und vor allem tat es weh, ins Licht zu schauen. Zu allem Überfluss schien irgendjemand da draußen mit einem Vorschlaghammer zugange zu sein. Als sie die Augen öffnete, musste sie feststellen, dass sie sich mitnichten in ihrem Zimmer im Wohnheim befand. Der Vorschlaghammer wütete allein in ihrem Kopf. Und statt Francie, die zusammengerollt auf ihrem Bett lag, sah sie sich Amerikas größtem Superstar gegenüber. Raul Sandoval saß auf einem Sofa und starrte sie an. Sie befand sich wieder in der Künstlergarderobe, nur war sie diesmal allein mit Sandoval. Und sie hockte vornüber gebeugt auf einem Stuhl mit hoher Rückenlehne, an der ihre Arme gefesselt waren. - 152 -
Sie stöhnte leise, als sie sich umwandte, und stellte fest, dass man, um sie in Schach zu halten, Gitarrensaiten verwendet hatte, die schmerzhaft in ihre Handgelenke schnitten. »So trifft man sich also wieder, Claire«, murmelte Sandoval. Er presste seine Handflächen wie im Gebet gegeneinander und hob sie an den Mund. Dann schüttelte er den Kopf und gab ein leises, vorwurfsvolles »Ts-ts-ts« von sich. »Du hättest gehen sollen auf die Party, nina. Wieso bist du nicht gekommen?« »Ich hab mich verlaufen«, log sie und sah ihn mit waidwundem Blick an. Sie wusste nun, dass Sandoval gefährlich war. Nicht nur, dass er es mit äußerst üblen Zeitgenossen zu tun hatte, es schien, als gehörte er selbst dazu. Ihre einzige Chance, mit heiler Haut aus dieser Sache rauszukommen, bestand darin, sich dumm zu stellen und die Furchtsame zu spielen. »Bitte, lassen Sie mich gehen«, wisperte sie. Sandoval sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Warum hast du meinen Bodyguard angegriffen?« »Ich ... ich dachte, der wollte mir ans Leder«, erwiderte sie verzagt. »Ich hab nur versucht, mich zu wehren.« »Du hast dich sehr gut gewehrt, Kleine.« Er stand auf, kam zu ihr und packte sie grob am Kinn. »Zu gut.« Sydney sah ihm direkt in die Augen, wandte dann jedoch rasch den Blick ab. Sie konnte nicht glauben, dass sie Sandoval einmal attraktiv gefunden hatte. Jetzt sah er einfach nur böse und bedrohlich aus. Seine Lippen waren grausam verzogen, auf seiner Stirn traten dicke blaue Adern hervor, und der Ausdruck in seinen Augen war kalt wie Eis. Eines war klar: Sie musste weiter auf »unschuldig« machen. Wenn diesen Psychopathen je der Verdacht beschlich, dass sie für den SD-6 arbeitete, würde er sie auf - 153 -
der Stelle töten. »Ich hab einen Kurs in Selbstverteidigung belegt«, wimmerte sie. Er sah sie verächtlich an und ließ ihr Kinn wieder los. »Muss aber ein toller Kurs gewesen sein«, sagte er. »Und du hast schnell gelernt.« »Ich hab das einige Monate lang gemacht«, erklärte sie heiser. »Bitte, Sie müssen mir glauben. Ich wollte nichts Böses tun.« Sie sah ihn flehend an und ließ ihre Unterlippe erbeben. Zur Hölle mit Wilson und seinem »Könnten Sie nicht ein paar Bilder für meine Ciaire machen? Sie hat Geburtstag, Sydney, wissen Sie. Bitte.« Und zur Hölle mit dem SD-6! Wie hatte man sie bloß ohne Vorwarnung auf diesen durchgeknallten Rockstar-Anarcho ansetzen können? Und das alles nur für ein paar lausige Fotos? Plötzlich brach ihr der Schweiß aus. Das Armband! Was, wenn Sandoval es fand? Damit wäre sonnenklar, dass sie eine Spionin war. Langsam und ohne ihren Oberkörper zu bewegen, streckte sie hinter ihrem Rücken die Finger ihrer Rechten, bis sie das kalte Metall an ihrem linken Handgelenk ertastete. Gott sei Dank, es war noch da! Sie fuhr mit den Fingerspitzen über das Schmuckstück und stellte fest, dass die beiden verbliebenen Steine noch an Ort und Stelle waren. Da spürte sie, wie die Gitarrensaiten ein wenig nachgaben. Optimismus keimte auf, ließ sie ihre Kopfschmerzen vergessen und erfüllte sie mit neuer Kraft. So unauffällig wie möglich bewegte sie ihre Handgelenke hin und her und jubelte innerlich, als die Drahtfesseln sich immer weiter lockerten. Sandoval starrte sie verächtlich an. »Weißt du, Claire«, sagte er mit Grabesstimme, »ich hab da ein Problem.« Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihr genau gegenüber. »Du könntest die Wahrheit gesagt haben, aber wie kann ich sicher sein? Wie dem auch sei, ich glaube, ich - 154 -
kann das rausfinden.« Er griff in einen seiner Stiefel und zog einen langen, glänzenden Dolch hervor, dessen Griff aus geschnitztem Elfenbein zu bestehen schien. »Schön, nicht?«, fragte er, als er mit der Waffe vor ihrem Gesicht herumfuchtelte. »Hab ich im Sudan gekauft, als ich war geschäftlich dort. Sonderanfertigung - speziell für mich.« Sydneys Augen weiteten sich vor Schreck, als die rasiermesserscharfe Klinge über ihre Nase, ihre Wangen und über ihr Kinn fuhr. Der Typ ist wahnsinnig!, gellte eine Stimme in ihrem Kopf. Ich muss was tun, und zwar schnell, sonst... »Ist okay, wenn du schreist«, sagte er leichthin. »Hier ist niemand. Die Leute, denen die Halle gehört, sind meine Genossen. Haben mir all das für meine Arbeit zur Verfügung gestellt. Und der Mann, der bei mir war? Der ist wieder weg. Unser Geschäft ist unter Dach und Fach. Doch nun zu unserem Geschäft«, murmelte er und beugte sich mit einem niederträchtigen Grinsen vor. »Du wirst mir sagen jetzt, für wen du arbeitest, und ich werde freundlich sein. Aber wenn du nichts erzählst ...«, langsam bewegte er die Klinge an ihre Kehle, »ich werde sehr, sehr böse werden.« Sydney schluckte hart, als die Spitze des Dolchs über ihren Kehlkopf wanderte. Lähmende Angst wollte sich ihrer bemächtigen, doch sie schob das Gefühl so weit von sich wie möglich. Jetzt die Nerven zu verlieren, würde ihre Lage nur verschlimmern. Anstatt Sandoval anzusehen, starrte sie gegen die Decke. Ihr Blick streifte die nackten Neonröhren und die verstaubten Abzugsöffnungen der Klimaanlage. Währenddessen ließ sie hinter dem Rücken ihre Hände so schnell rotieren wie sie konnte. »Was ist los? Du antwortest nicht?« Sandoval lachte heiser auf, und sie konnte seinen heißen Atem an ihrem - 155 -
Gesicht spüren. »Okay«, sagte er. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und spielte mit dem Dolch in seiner Hand. »Dann eben auf die harte Tour.« In dieser Sekunde lösten sich ihre Fesseln. Sydney spannte sich. Das war der Moment! Sie musste etwas tun. Jetzt! Blitzschnell schoss ihr linker Fuß vor und traf Sandoval am rechten Arm. »Wie du meinst«, zischte sie und zog ihm brutal die lose Gitarrensaite durchs Gesicht. Der Latino schrie auf und fiel rückwärts vom Stuhl. Als sie aufsprang, schnappte sie sich geistesgegenwärtig seinen Dolch und stürmte aus der Garderobe. Während sie mit wehendem Haar den dunklen Gang entlanglief, versuchte sie sich fieberhaft an den Weg zu erinnern, den Roland und die Groupies eingeschlagen hatten. Hinter sich konnte sie Sandoval rufen hören. Offensichtlich hatte er die Verfolgung aufgenommen. Endlich kam die massive Stahltür in Sicht. Sie warf sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen, doch sie war - wie schon zuvor - verschlossen. Sandovals stampfende Schritte kamen immer näher. Sydney wirbelte herum und rannte ziellos in einen der anderen dunklen Gänge, die von hier abzweigten. Sie befürchtete jedoch, auch hier keinen Ausgang zu finden. In ihrer Verzweiflung stieß sie während ihrer Flucht Kistenstapel und Kabeltrommeln um und hoffte, die Hindernisse würden Sandoval bei seiner Verfolgung aufhalten. Sie befand sich tief in den Eingeweiden der Arena, und Sandoval hatte nicht gelogen: Der ganze Bau war wie ausgestorben. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, ihm so lange davonzulaufen, bis sie einen unverschlossenen Ausgang oder Hilfe fand. - 156 -
Aber wer sollte mir schon helfen?, fragte sie sich, und Tränen schössen ihr in die Augen. Allein der SD-6 wusste, wo sie war, und wie die Dinge standen, war sie hier auf sich allein gestellt. Selbst wenn sie die ganze Nacht nicht nach Hause kam, würde Francie vermuten, dass die Party dermaßen gelungen war, dass man einfach kein Ende fand. Verdammt, Syd, befahl sie sich. Reiß dich zusammen! Sie erreichte eine weitere Abzweigung im Gängesystem und schlug sie ein. Hier war es unwesentlich heller, aber die Unordnung, die herrschte, war noch größer. Als sie weiterrannte, schien die Decke immer näher zu kommen, sodass sie sich schließlich sogar ein wenig bücken musste. Ich muss mich direkt unter der Bühne befinden, schlussfolgerte sie. Der ganze Bereich war ein einziger Hindernisparcours aus Metallverstrebungen, Containern, ausrangierten Scheinwerfern und armdicken Kabeln. Vorsichtig bahnte sie sich ihren Weg durch das Chaos, immer wieder irgendwelchen Stahlträgern und herabhängenden Kabelsträngen ausweichend. Sie bewegte sich so lautlos wie möglich in der Hoffnung, dass Sandoval die letzte Abzweigung verpasst und sich daher schon kilometerweit von ihr entfernt hatte. Ein Scheppern hinter ihr machte diese Hoffnung jedoch zunichte. »Mierda!« Sandoval war ihr immer noch auf den Fersen! Allerdings schien ihm seine Körpergröße hier ein Handicap zu sein, und Sydney war froh, dass sie sich selbst vor einiger Zeit ihrer hohen Stiefel entledigt hatte. »Ich weiß, du bist hier«, rief er mit lauernder Stimme. »Ich finde dich, chica.« Kalte Wut stellte sich bei ihr ein. Sie musste sich schwer zusammenreißen, ihn nicht auf das Übelste zu beschimpfen und in den ihr bekannten fünf Sprachen zum Teufel zu wünschen. Doch im letzten Moment hörte sie in ihrem - 157 -
Kopf eine Stimme, die verdammt nach Yoav klang und sie warnte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten und sich allein aufs Wesentliche zu konzentrieren. Die Decke wurde immer niedriger, und Sydney musste sich im Gehen ducken. Nachdem sie eine große hölzerne Kiste umrundet hatte, kam etwas in Sicht, das wie ein kleiner Aufzug aussah. Das muss einer der Fahrstühle sein, die direkt auf die Bühne führen!, schoss es ihr durch den Kopf. Wenn sie es mit diesem Ding nach oben schaffte, würde sie danach in null Komma nichts aus dem Gebäude herausfinden. Doch wo waren die Bedienknöpfe? So etwas wie ein Paneel fehlte, doch sie entdeckte ein dickes schwarzes Elektrokabel, das unter der Plattform in einem Schacht verschwand. Sydney ging auf die Knie und kroch hinein. Der Kabelschacht war stockdunkel und dreckig, und als sie sich stückweise voranschob, scheuerten ihre Ellbogen gegen scharfe Kanten und harte Metallträger. Endlich fand sie das Ende der dicken Versorgungsleitung, die in ein kleines schwarzes Kästchen mündete. Ausgezeichnet. Alles, was sie nun tun musste, war, den Kontakt zu aktivieren, während sie selbst auf der Plattform stand, und zu hoffen, dass der Aufzug sie direkt auf die Bühne brachte. Rasch klemmte sie sich Sandovals Dolch zwischen die Zähne und zerrte das Kästchen samt Kabel aus dem Schacht heraus. Sie hatte es fast geschafft, als sie aus den Augenwinkeln einen schwarzen Schatten wahrnahm. »Ich sagte, hier gibt es keinen Weg raus«, zischte Sandoval hinter ihr. Sydney ließ das Kontrollkästchen fallen und hielt den Dolch drohend vor sich. Sandoval kicherte leise. Dann griff er abermals in seinen Stiefel und zog einen kleinen Revolver hervor. »Du - 158 -
glaubst, du kannst mich aufhalten?«, fragte er. Er lehnte sich lässig gegen einen Stahlträger und hielt die Waffe direkt auf sie gerichtet. »Das möchte ich sehen.« Wie gebannt starrte Sydney in die Mündung der glänzenden Pistole. Eine 9mm-Ruger, wie sie vermutete. In den letzten Monaten hatte sie alles über Waffen gelernt, kannte jeden Typ, jedes Modell bis ins Detail. Sie wusste, wie man sie lud, wie man mit ihnen schoss und wie man sie reinigte. Ja, sie wusste sogar, wie man sie für Außenstehende unsichtbar am Körper trug. Was sie von Pilar indes nicht gelernt hatte, war, wie es ist, wenn so ein Ding direkt auf einen gerichtet war. Wie von ferne hörte sie Sandoval etwas murmeln, doch sie konnte nicht aufhören, die Waffe anzustarren. Irgendwann in der letzten halben Stunde hatte sie ihre Furcht einfach weggedrückt und nur noch wie im Rausch agiert, ohne sich die immense Gefahr, in der sie sich befand, zu vergegenwärtigen. War dies nun ihr Ende? In den Monaten ihrer Ausbildung hatte sie viel Erfahrung gesammelt. Insofern sollte sich auch aus dieser Lage irgendein Ausweg finden. Doch da sackte die Furcht, die ihr die Kehle zusammengeschnürt hatte, hinab in den Magen, wo sie sich als kalter, harter Klumpen manifestierte und sie daran hinderte, sich zu bewegen, zu sprechen, ja, zu atmen. Und dann war da nur noch ein Gedanke in ihrem Kopf, der sie als lautloses Echo wieder und wieder ansprang: ICH BIN NEUNZEHN JAHRE ALT, UND ICH WERDE JETZT STERBEN ... »Und jetzt«, sagte Sandoval, während er die Mündung seiner Pistole noch einmal ausrichtete, »wirst du mir sagen, wer dich hat geschickt... oder sterben.« Und dann war es, als ob sich vor ihren Augen ein Nebel lichtete. Sie riss ihren Blick von der Waffe los und starrte - 159 -
Sandoval direkt ins Gesicht. Ihre Hand mit dem Dolch war immer noch erhoben. Blitzschnell fuhr ihr Arm herum, und die scharfe Klinge durchtrennte das Hauptkabel des Sicherungskastens. Ein brennender Schmerz flammte in ihrer Hand auf, aber irgendwie schaffte sie es, das knisternde Ende des Kabels zu packen und gegen den Stahlträger zu schleudern, an dem Sandoval lehnte. Es folgte eine Explosion mit Blitz und Rauch, und ein Geräusch, als ob Papier zerriss, erfüllte die Luft. Sydney krümmte sich zusammen und schützte ihren Kopf instinktiv mit der schmerzenden Hand. Und dann war plötzlich alles still. Als sie wieder aufsah, bekam sie gerade noch mit, wie Sandoval auf dem Zementboden zusammenbrach. An seinem Rücken stiegen kleine Qualmwölkchen auf, und ein widerlicher Geruch nach verbranntem Fleisch erfüllte die Luft. Sydney stolperte rückwärts und keuchte so stark, dass ihr Körper erbebte. Und auf einmal wurde sie von der Erkenntnis überrollt wie von einem heranrasenden Zug. Sie hatte soeben jemanden getötet. Und sie hatte keine andere Wahl gehabt. Lange saß sie einfach nur da und starrte in einer Mischung aus Horror und Erleichterung auf Sandovals Leiche. Das freiliegende Ende des durchschnittenen Stromkabels peitschte noch ein paar Mal durch die Luft wie eine sich im Todeskampf windende Schlange. Schließlich rieb sie sich die Augen und kam unsicher wieder auf die Beine. Sie suchte und fand die nächste Hebebühne und schaffte es tatsächlich, sie in Betrieb zu setzen. Surrend fuhr die Plattform nach oben, und dann stand sie mitten auf der Bühne mit Blick auf den dunklen, wie ausgestorbenen Zuschauerraum der Arena. Sie war frei. - 160 -
KAPITEL 12 Zehn Minuten später rannte Sydney wie der Teufel auf dem Gehweg vor der Konzerthalle davon. Sie musste unbedingt jemanden anrufen. Doch wen? Sie war noch viel zu aufgewühlt, um sich mit Francie in Verbindung zu setzen. Und Wilson wollte sie auch nicht kontaktieren. Offensichtlich war der SD-6 nicht sonderlich an ihr interessiert, wenn man bereit gewesen war, sie ohne Vorwarnung diesem Sandoval zum Fraß vorzuwerfen. Vielleicht sollte sie die Polizei verständigen? Doch wenn sie das tat, musste sie den Beamten auch von ihrem Doppelleben erzählen und riss damit wahrscheinlich den ganzen Dienst mit in den Abgrund. Im besten Falle würde man ihr die Geschichte glauben, im schlechtesten würde man sie des Mordes an einem berühmten Popstar bezichtigen. Weil ich ihn ermordet habe, fügte sie im Geiste hinzu, während sich ihr Magen bei der Vorstellung zusammenkrampfte. Mein Gott, ich habe tatsächlich jemanden ermordet! Oder etwa nicht? Was, wenn Sandoval nur schwer verletzt war? Sie hatte seinen Puls nicht überprüft. Insofern konnte er noch am Leben sein. Ob er nun ein Wahnsinniger war oder nicht, sie sollte ihm zumindest Hilfe zuteil werden lassen... richtig? Sie bog um eine Ecke und hastete die breiten Stufen zum Parkplatz hinunter. In einiger Entfernung konnte sie im Licht der Straßenlaternen eine Reihe öffentlicher Fernsprecher erkennen. Sie hoffte, sie würde wissen, wen sie anrufen konnte, wenn sie die Telefonzellen erreicht hatte. Als sie den Bürgersteig hinter sich ließ, kam im Schatten einer dunklen Gasse Leben in einen kleinen Lieferwagen. - 161 -
Sydney blieb keine Zeit, sich nach dem Wer, Was oder Warum zu fragen. Sie legte einen Zahn zu und brachte sich im Schutz einiger nahe gelegener Bäume in Deckung. Mit quietschenden Reifen kam der Wagen direkt hinter ihr zum Stehen. Dann hörte sie Laufgeräusche, und nur wenige Sekunden später lag sie mit dem Gesicht auf dem Rasen. Panisch trat und schlug sie um sich, doch man hielt sie unerbittlich fest. Schließlich gab sie ihre Gegenwehr auf, als sie erkannte, dass das alles zu nichts führte. Hilflos musste sie miterleben, wie zwei Männer mit Skimasken sie zu dem Kleintransporter trugen und kurzerhand auf den Rücksitz warfen. Einer von ihnen schloss die Doppeltüren und rutschte auf den Beifahrersitz. »Wir haben sie. Los jetzt!«, bellte er die Person hinterm Steuer an. Der andere Angreifer kniete sich unterdessen auf Sydneys Oberschenkel und hielt ihre Hände fest. Mit einem ärgerlichen Grunzen versuchte sie vergeblich, dem Kerl mit ihrer Stirn das Nasenbein zu zertrümmern. »Hey, beruhigen Sie sich«, sagte der Mann. »Wir sind's!« Mit einer Hand zog er sich die Skimaske vom Kopf. Und dann fand sich Sydney Auge in Auge mit ihrem namenlosen Schwarm vom SD-6. »Du liebe Güte! Was ist denn mit Ihnen passiert?«, fragte der junge Mann, als sein Blick über Sydneys zerschundenes Gesicht, ihre verbrannten Finger und ihre schmutzstarrenden nackten Füße wanderte. Einen Moment lang verschlug es Sydney die Sprache. Doch dann explodierte sie. »Was meinen Sie mit >was ist passiert«, schrie sie außer sich und rappelte sich in dem schaukelnden Van auf. »Man hat mich entführt, gefesselt und mit einer Knarre bedroht. Ich war in der Gewalt eines komplett - 162 -
Geistesgestörten! Eines Geistesgestörten, dem ihr mich ausgeliefert habt, verdammt noch mal!« Schweigend sah sie der junge Mann eine Weile an. Sein Blick verriet ... ja was? Sorge? Ärger? Aus irgendeinem Grund konnte Sydney nicht im Geringsten erahnen, was er in diesem Moment denken mochte. Plötzlich griff er nach ihr und zog das Armband von ihrem Handgelenk. »Aha«, sagte er, als er das Schmuckstück hin und her drehte. »Das erklärt einiges.« »Was?«, zischte Sydney. »Eure kostbaren Fotos sind noch da, falls es das ist, was euch interessiert.« Das Selbstmitleid in ihrer Stimme war unüberhörbar. Sie konnte sich nicht helfen, aber sie fühlte sich verletzt. Verletzt und enttäuscht darüber, dass man um die Bilder von einem halbseidenen Rockstar besorgter zu sein schien, als an ihrem Wohlergehen. Sie hatte geglaubt, dass man sie schätzte. Ja, mehr noch, sie hatte geglaubt, dass man sich um sie sorgte. Der junge Mann seufzte laut und vernehmlich. Für einige Sekunden saß er einfach nur da und nickte langsam, als ob er angestrengt nachdachte. »Okay, hören Sie mir mal zu«, sagte er schließlich. »Wir fahren jetzt zum SD-6, um Bericht zu erstatten. Unterdessen werde ich Sie darüber ins Bild setzen, was heute Abend eigentlich geschehen ist. Ich finde, Sie haben ein paar Antworten verdient.« »Das finde ich allerdings auch«, schnappte sie und hob trotzig das Kinn. Der Typ setzte sich neben sie und fuhr sich mit der Hand durch seine zerzausten Locken. »In Wahrheit«, begann er, »war das Konzert mitnichten nur eine nette Geste des SD-6, wie man Sie hat glauben lassen.« »Wer hätte das gedacht«, entfuhr es ihr. Ihr war klar, dass sie sich wie ein schmollendes Kleinkind benahm, und - 163 -
es war ihr scheißegal. Ihre Hand brannte wie Feuer, ihr Kopf schmerzte, und der Rest ihres Körpers fühlte sich an, als hätte man ihn durch die Mangel gedreht. Alles, was sie verlangte, war eine Erklärung. Eine gute Erklärung. Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht. »Genauer gesagt war die ganze Sache«, murmelte er, als er sich zu ihr vorbeugte, »nur ein Test.« »Ein Test?« Er nickte. »Ein Test, um zu prüfen, wie belastbar Sie im Falle eines Einsatzes wirklich sind. Und ich muss sagen«, fügte er hinzu, »Sie haben diesen Test mit Bravour bestanden.« Sydney presste ihre Finger gegen die Stirn. »Moment mal. Ich verstehe nicht. Wollen Sie damit sagen, das ist alles gar nicht wirklich passiert?« »Oh doch, das alles ist wirklich passiert. Wir wussten seit einiger Zeit, dass Sandoval Informationen verhökert, indem er seinen Weltstar-Status nutzt, der es ihm erlaubt, in alle Herren Länder zu reisen. Leider wurde er rund um die Uhr auf Schärfste bewacht, sodass niemand von uns ihm nahe kommen konnte. Aber wir wussten, der Kerl hat eine Schwäche - Frauen.« »Ich verstehe, dann haben Sie mich also ... als Köder benutzt?«, fragte Sydney erbost. »Nicht wirklich«, erwiderte der junge Agent und stellte einen Fuß auf den Radkasten. »Alles, was der SD-6 wollte, war, dass Sie es irgendwie schaffen, an Sandoval ranzukommen und ein paar Informationen zusammenzutragen. Dass man Ihnen im Vorfeld nichts davon erzählt hat, liegt daran, dass Sie noch keinen vollwertigen Agentenstatus besitzen. Man befürchtete, dass Sie sich womöglich verraten und ihn misstrauisch machen könnten. Der erste Einsatz ist meist der härteste.« - 164 -
»Was Sie nicht sagen!«, zischte sie. »Vielen Dank für die Information. Mein erster Einsatz hätte mich fast das Leben gekostet, Mann!« Sie schloss die Augen und seufzte. »Ist Sandoval tot?« Er verzog das Gesicht. »Das finden wir noch früh genug raus. Und wenn es so ist, dann ist es kein großer Verlust, glauben Sie mir.« »Warum hat man nicht wenigstens ein paar Personen abgestellt, die mich im Ernstfall hätten beschützen können?«, fragte Sydney leise. Er hob die Augenbrauen. »Aber das hat man. In der ganzen Halle waren unsere Leute präsent. Sie haben unter anderem beobachtet, wie Sie backstage gegangen sind. Und draußen im Van hatten wir ständig eine elektronische Überwachung laufen mit dem Ziel, Sie danach wieder einzusammeln. Aber irgendwann haben wir das Signal dann verloren.« »Das Signal?«, wiederholte sie verständnislos. Er hielt das Armband in die Höhe und zeigte auf die leere Fassung, in der sich einmal der grüne Stein befunden hatte. »Der Empfänger, den wir eingebaut hatten, muss irgendwann während der Show herausgefallen und in die Tasche einer anderen Konzertbesucherin geplumpst sein. Wir haben das Malheur erst bemerkt, nachdem wir bald vierzig Minuten lang ein ahnungsloses Pärchen durchs Valley verfolgt hatten.« Sydney klappte die Kinnlade herunter. Ihr Blick flog hin und her infolge der vielen Gedanken und Emotionen, die auf sie einstürmten. Also hatte man sie doch im Auge behalten. Also war man doch um sie besorgt gewesen ... »Ich heiße übrigens Noah«, sagte der junge Mann und reichte ihr die Hand. »Noah Hicks.« »Sydney Bristow«, erwiderte sie wie in Trance. Als sie seine Rechte ergriff, schrie sie vor Schmerz laut auf. - 165 -
»Sorry«, sagte er und entließ sie rasch aus seinem Griff. Er nahm ihre rechte Hand und bog vorsichtig die Finger zurück. »Auweia, das sieht aber gar nicht gut aus. Wie ist das denn passiert?« »Das ist 'ne lange Geschichte«, gab sie matt zurück. Sie betrachtete sein Gesicht, als er sich über ihre Verletzung beugte. Zum ersten Mal sah sie ihren geheimnisvollen Schwarm aus der Nähe. Eine widerspenstige Locke hing ihm in die in Falten gelegte Stirn. Seine hohen, fein geschwungenen Wangenknochen bewegten sich unmerklich, als er die Lippen schürzte. Seine Nase wies einen leichten Knick auf, und Sydney fragte sich, wie oft sie schon gebrochen und bei welchen Gelegenheiten das geschehen war. Plötzlich schmerzte ihre Hand nicht mehr ganz so schlimm. »Machen Sie sich keine Sorgen.« Er sah ihr direkt in die Augen. »Wir kümmern uns darum.« Dann beugte er sich nach vorn zum Fahrer und fragte: »Wie weit sind wir noch vom Hauptquartier entfernt?« »Wir fahren gerade in Richtung Tiefgarage«, kam es zurück. »Alles wird gut«, sagte Noah, als er sich wieder zu ihr umdrehte. »Der SD-6 hat rund um die Uhr Bereitschaftsärzte im Einsatz.« Er hob die Hand und schob ihr sanft das Haar aus dem Gesicht. Sydney stockte der Atem. Ein undefinierbares, wenngleich heftiges Gefühl bemächtigte sich ihrer. »Sieht aus, als ob Sie einen hässlichen Schlag gegen den Kopf erhalten haben«, meinte er, als er stirnrunzelnd ihre Schläfe inspizierte. Sydney entspannte sich wieder ein wenig und kam sich unglaublich albern vor. Hör endlich auf zu spinnen!, schalt sie sich in Gedanken. Der Typ macht nur seinen Job. Das hat doch überhaupt nichts zu sagen, Herrgott noch mal! - 166 -
Oder hatte es womöglich doch etwas zu sagen? Hatte das »Handbuch der Körpersprache« nicht darauf hingewiesen, wie bedeutsam das Berühren von Gesicht und Händen war?
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KAPITEL 13 »Okay, mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe«, resümierte Francie, »die Zigarre von Sigmund Freud hat die Pelzstola von Marilyn Monroe in Brand gesteckt, und du hast dir das lodernde Ding mit bloßen Händen geschnappt und in den Pool geschmissen?« Ihre Augen wurden groß und rund vor Erstaunen. »Und trotzdem behauptest du, du wärest stocknüchtern gewesen?« Sydney zuckte resigniert die Achseln. »Ich weiß, ich weiß, war 'ne saudumme Idee.« Wie die ganze Geschichte, die sie sich ausgedacht hatte. Aber eine plausiblere Erklärung war ihr vor dem Hintergrund der erfundenen Themenparty einfach nicht eingefallen. Immerhin hatte sie begründen müssen, warum sie bandagiert, völlig erschöpft und erst zwanzig Stunden, nachdem sie das Haus verlassen hatte, wieder im Wohnheim aufgekreuzt war. Francie war außer sich gewesen vor Sorge, als sie endlich heimgekommen war. »Mann, muss ja 'ne heiße Party gewesen sein - im wahrsten Sinne des Wortes«, meinte Francie kopfschüttelnd. »Was für ein Tag: Terwilliger lässt mich früher gehen, und du stirbst fast den Heldentod. Du liebe Güte, sind das die ersten Vorzeichen für den Weltuntergang, oder was?« Schweigend schlürfte Sydney ihren Dr.-Pepper-Drink und verkniff sich eine Antwort. »Und was ist mit dem Typen, den du ein bisschen unter die Lupe nehmen wolltest?«, fragte Francie wieder in ihrer gewohnt frivolen Art. »Wie lief's denn mit dem?« »Oh, ähm ... der war 'ne ziemliche Pleite«, log Sydney. »Es stellte sich raus, dass er ein ziemlicher Schleimer war.« Francie sah sie mitfühlend an. »Wie schade.« - 168 -
Später unternahmen Francie und sie einen gemütlichen Bummel durch Westwood Viliage, quatschten über Gott und die Welt, kauften sich auf dem Weg etwas zu trinken und genossen die frische spätherbstliche Luft. Trotz des gelegentlichen Pochens und Brennens unter ihrem Verband fühlte sich Sydney irgendwie gut. Unglaublich gut, um die Wahrheit zu sagen. Der Bericht, den sie dem SD-6 erstatten musste, hatte ihr geholfen, die traumatischen Erlebnisse nach dem Konzert zu verarbeiten. Und je öfter sie jetzt daran zurückdachte, umso stolzer war sie, dass sie es geschafft hatte, sich aus eigener Kraft aus dem Dilemma zu befreien. Während sie so durch die Gegend schlenderten, erinnerte sich Sydney noch einmal an die vergangene Nacht. Während des Reports hatte der SD-6 nicht gerade mit Erklärungen und Informationen um sich geworfen, aber das hatte sie nicht besonders gewundert. Und im Grunde war es ihr auch egal. Es war vorbei, sie hatte überlebt, und sie hatte ihrem Land einen großen Dienst erwiesen. In der Firma schien man äußerst zufrieden mit ihrer Arbeit zu sein, besonders über die von ihr aufgedeckte Verbindung von Sandoval zu Levski. Auch Wilson war außerordentlich beeindruckt gewesen. Und obwohl er es nicht explizit gesagt hatte, so wusste sie doch, dass er erleichtert war, sie wohlbehalten wiederzuhaben. Er hatte sich sogar dafür entschuldigt, dass er ihr nicht die Wahrheit hatte sagen können, und sie hatte ihm verziehen. Er hat nur seine Arbeit getan. Das wusste sie jetzt. »Ich habe wirklich eine Tochter namens Claire«, hatte er gesagt und ihr das Bild eines lächelnden rothaarigen Mädchens gezeigt, das er in seiner Brieftasche trug. Und Sydney hatte ihn angesehen und gesagt: »Daran hab ich nie gezweifelt.« - 169 -
Sie und Francie blieben vor dem Schaufenster einer Bäckerei stehen. Als sie die bunten Leckereien in der Auslage betrachteten, erhaschte sie einen Blick auf ihr Spiegelbild. Ihr langes braunes Haar, ausnahmsweise mal nicht mit unzähligen Clips gebändigt, sah aus wie immer. In ihrem einfachen Top und den Caprihosen, die sie trug, wirkte sie so schlicht wie eh und je. Und doch hatte sich etwas an ihrer Erscheinung geändert. Irgendwie sah sie heute größer aus, und ihre Bewegungen wirkten sicherer. Und dann entdeckte sie zu ihrer großen Überraschung ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie hatte es gar nicht bemerkt. Konnte es sein, dass sie ... glücklich war? »Ich halte das nicht mehr länger aus!«, jammerte Francie neben ihr. »Ich gehe da jetzt rein und hole mir ein paar dieser Macadamia-Nusskekse. Willst du auch was?« »Nein, mir geht's bestens«, erwiderte Sydney. »Ich warte draußen auf dich.« Als Francie im Laden verschwunden war, wanderte Sydney gemächlich um das Haus herum. Die Rückwand des Gebäudes aus Ziegel und Stuck diente auch als inoffizielles schwarzes Brett für die Stundenten der UCLA und war das ganze Jahr übersät mit Ankündigungen aller Art, Jobangeboten, Suchanzeigen und MitbewohnerGesuchen. Sydney trank den letzten Rest ihres Dr. Pepper und studierte die schrillen Konzertplakate. Eine Band namens The Numbers spielte heute Abend in einem ziemlich trendigen Club am Hafen. Eine andere, die Bordersnakes, trat demnächst im Lion's Den auf, und Sydney hatte schon viel Positives über die Jungs gehört. Vielleicht sollten sie und Francie sich heute Abend einen guten Live-Gig ansehen? Es kam ihr vor, als wären sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr ausgegangen. Sie konnten Todd mitnehmen und dann so richtig auf die Sahne hauen. - 170 -
Auf einmal hatte Sydney das unbestimmte Gefühl, beobachtet zu werden. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie einen blonden jungen Mann herankommen. Als er neben ihr stehen blieb, tat er so, als studiere er die Poster und Ankündigungen an der Hauswand. Man musste allerdings kein Geheimagent sein, um zu merken, dass er es auf sie abgesehen hatte. Es war Dean Carothers. Seine großen grünen Augen und sein Grübchenkinn waren so anziehend wie immer, und Sydney fand, er sah sogar noch gebräunter und durchtrainierter aus als früher. Plötzlich drehte er den Kopf und lächelte sie an. Sydney rechnete damit, dass sie nun einer Panikattacke, einem Herzkasper oder etwas Ähnlichem zum Opfer fallen würde, doch stattdessen fühlte sie ... nichts. Nicht die leiseste emotionale Regung. Es war, als ob ihr das grauenvolle, schweißtreibende Erlebnis im letzten September nie widerfahren wäre. »Hab gehört, die Bordersnakes haben 'ne neue CD rausgebracht«, bemerkte Dean und nickte in Richtung des funky Promoplakates. »Yepp«, gab sie zurück und fragte sich, warum er sie überhaupt ansprach. Brauchte er womöglich wieder Hilfe bei der Vorbereitung irgendeiner Examensarbeit? »Magst du die Band?«, fragte er und kam einen Schritt näher. »Ich hab sie ehrlich gesagt noch nie live gesehen«, erwiderte sie ruhig. »Aber was ich im Radio gehört habe, hat mir gefallen.« Er grinste sie breit an und lehnte sich lässig gegen die Wand. »Du solltest dir die Show wirklich ansehen«, meinte er. »Die Jungs sind gigantisch.« »Ja.« - 171 -
Sie spielte mit dem Strohhalm ihrer Getränkedose und wartete darauf, dass er einen Schreibblock zückte und sie über die Vorlesungen des kommenden Sommersemesters ausfragte. Stattdessen reichte er ihr die Hand und sagte: »Ich heiße übrigens Dean. Dean Carothers.« Sydney hob fassungslos die Augenbrauen. Hatte er sich etwa gerade bei ihr vorgestellt? Lieber Gott, schoss es ihr durch den Kopf. Er erinnert sich überhaupt nicht mehr an mich! »Ich ... ahm ...« Sie deutete auf ihre bandagierte Rechte. »Ich kann dir nicht die Hand geben.« »Oh, 'tschuldigung.« Sein Lächeln erlosch. Er zog seine Hand zurück und schob sie in die Hosentasche. »Was ist passiert?« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist eine lange Geschichte.« »Nun ... warum erzählst du sie mir nicht am Samstag im Club?«, fragte er und hob leicht die Schultern. Auch senkte er ein wenig den Blick, wie um ihr seine Schokoladenseite zu präsentieren. »Du hast gesagt, du hättest die Snakes noch nie gesehen. Wir war's, wenn wir zusammen dort hingingen?« Für einen Moment schwieg Sydney. »Tut mir Leid«, sagte sie schließlich. »Aber ich bin schon mit jemand anderem verabredet.« »Oh«, kam es zurück, und Deans Sonntagsgesicht fiel in sich zusammen wie Hefeteig in einem kühlen Luftzug. »Ja«, meinte sie. »Ich weiß zwar noch nicht mit wem, aber definitiv mit jemand anderem.« Mit einem unergründlichen Lächeln schlenderte sie gemächlich an Dean Carothers' wie versteinerter Gestalt vorbei und spazierte um die Ecke, bis sie wieder beim Schaufenster der Bäckerei angelangt war. Auf einer nahe gelegenen Bank war ein Mann in die Los Angeles Register vertieft. In fetten Lettern sprang ihr die - 172 -
Schlagzeile des Tages ins Auge: Rockmusiker vermisst! Polizei vermutet Verbrechen. Sydney warf die leere Mineralwasserdose in einen Abfallbehälter und beobachtete eine Weile das geschäftige Treiben um sich herum. Francie hatte Recht. Alles war anders. Nur dass der Weltuntergang noch lange nicht bevorstand. Es fing gerade erst an.
Es war ein langer Weg von der verängstigten, verletzlichen jungen Frau, die ich noch letzten Herbst war, bis heute. Nun bin ich stark. Und mächtig. Und ich habe ein Ziel. Nun bin ich bereit für mehr. Ich möchte eine Herausforderung. Ich will die Welt retten. Und ich habe endlich einen Weg gefunden, wie ich das bewerkstelligen kann. Als Agentin für den SD-6.
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