Die barmherzige Lüge
Roman von Leni Behrendt
Sengend heiß brütete die Sonne über dem weiten ostpreußischen Land. Es ...
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Die barmherzige Lüge
Roman von Leni Behrendt
Sengend heiß brütete die Sonne über dem weiten ostpreußischen Land. Es war eine Schwüle, die den Wunschtraum steigerte, ständig im Wasser zu liegen und etwas Eiskaltes zu trinken. Für die Landbewohner jedoch bedeutete dieser harmlose Traum Luxus, denn für sie gab es trotz der Gluthitze harte, schwere Arbeit. Die Roggenernte neigte sich ihrem Ende entgegen, und um diese köstliche Gabe gut und trocken unter Dach und Fach zu bekommen, mußten sich die Menschen tüchtig tummeln. Daher ging der Blick des schlanken Reiters, der schon seit Tagen von früh bis spät bei seinen Leuten auf dem Felde weilte, immer wieder zum Himmel hin, dessen leuchtende Bläue sich zu trüben begann. Hie und da ballten sich Wölkchen zusammen, dick und bauschig wie schmutzige Watte, und von der See her kam immer häufiger ein Luftzug, der die emsig Schaffenden wohl aufatmen ließ, im allgemeinen jedoch nichts Gutes verhieß. In kurzer Zeit mußte ein Gewitter aufziehen, was Mensch und Tier erquickt hätte, den knistertrockenen goldgelben Garben jedoch nicht zuträglich sein konnte. Denn mit dem Gewitter pflegt auch Hagelschlag einzusetzen, und der würde die Körner aus den Ähren zu Boden peitschen. Also mußten die letzten Fuhren unbedingt noch geborgen werden. Daher ritt Jobst von Götterun unermüdlich von Wagen zu Wagen, sprach hier einen Arbeiter an, gab da einen Rat. Einmal sprang er ab, ließ den Gaul laufen und stakte die Garben zu dem lachenden Mädchen hoch oben auf dem goldenen Berg. Ruckzuck – ruckzuck ging es unermüdlich fort und fort, und die Leute wurden zu noch emsigerer Arbeit angespornt. Wagen um Wagen schwankte schwerbeladen davon, leere fuhren an ihre Stelle. Es gab auf dem großen Gutshof wohl kein Pferd, kein einigermaßen brauchbares Gefährt, das nicht eingespannt war. Auch der alte Oberinspektor, auf Uhlener Herrschaft geboren und in ihren Diensten ergraut, legte Hand an, wo
es nottat. Seine Augen schweiften immer wieder besorgt zu der Stelle hin, wo sich die Wolken zusammenballten. Eben schwankten wieder drei Wagen davon, acht weitere harrten noch ihrer Fuhre. Wenn es noch gelang, sie trocken unter Dach und Fach zu bekommen, dann konnte man von Glück sprechen. Dann war für dieses Jahr der Roggen trocken geborgen. Am fernen Horizont blitzte es schon ab und zu auf. Eben rollte die letzte Fuhre knarrend vom Feld. Das aufmunternde »Hüh – hüh – hüh« der Wagenlenker klang zu den Leuten zurück, die erschöpft bis zum letzten, aber auch restlos zufrieden waren. Götterun wischte sich mit dem Taschentuch über das Gesicht, ordnete den blonden Scheitel, reichte dann sein wohlgefülltes Zigarettenetui herum und versorgte die Rauchlustigen mit Feuer. »Nun aber schnell, Leute, nach Hause, bevor ihr pudelnaß werdet«, ermunterte er die Menschen, die ihn umstanden. »Heute abend kommt der Lohn für den Fleiß. Oder seid ihr zu müde zum Feiern?« »Nein, Herr Baron«, kam es lachend von allen Seiten. »Dazu sind wir nie zu müde.« »Aber auch zur Arbeit nicht, ihr Getreuen, das habt ihr wieder einmal bewiesen.« Als Götterun auf den Hof kam, sah er gerade die letzte Fuhre auf der Tenne verschwinden. Das Scheunentor flog zu. Der Mann atmete tief auf. Das war gerade noch so geglückt. Nicht viel später hätte es getan werden dürfen, dann wäre soviel köstliche Frucht dahingewesen und mit ihr das Geld, das das Gut Uhlen doch so nötig brauchte. Der Oberinspektor kam ihm entgegen. »Herr Baron, soviel ich weiß, muß Fräulein Jödeborg um diese Zeit eintreffen.« »Donnerwetter, ja, Herr Habermann, das hatte ich im Eifer ganz vergessen.« Einen Blick auf die Armbanduhr und einen zum Himmel.
»Schöne Bescherung! Der Zug muß längst da sein, und jeden Augenblick kann das Unwetter losbrechen. Dazu ausgerechnet heute das Auto in Reparatur, die Gäule von der schweren Arbeit ziemlich ausgepumpt. Da hilft also nichts, Hussa muß heran. Sorgen Sie doch bitte dafür, Habermann, daß er schleunigst in den Dogcart gespannt wird.« Damit eilte er dem Schlosse zu, sprang in langen Sätzen die Freitreppe hinauf und wäre in der Halle beinahe mit der Repräsentantin des Hauses zusammengeprallt. »Hoppla, Frau Fröse, das war stürmisch!« »Herr Baron, Fräulein Jödeborg muß längst auf dem Bahnhof sein.« »Ja, leider hatte ich die Kleine total vergessen.« »Aber bald wird das Gewitter über uns sein, da können Sie doch unmöglich fahren, Herr Baron!« »Ich muß, Frau Fröse. Das kleine Mädchen graut sich ja zu Tode. Denn mögen die jungen Damen auch noch so couragiert tun, vor Gewitter fürchten sie sich mehr oder weniger alle.« Eiligst hatte er den Wettermantel angezogen und die Mütze ins Gesicht gedrückt. Er eilte davon, den Ställen zu, wo Hussa gerade eingespannt wurde. Es kostete Mühe, ihn zwischen die Deichsel zu bekommen. Denn erstens ging er höchst ungern im Gespann, und dann hatte er sich auf die wohlgefüllte Futterkrippe gefreut. Er schäumte im Gebiß, scharrte unwillig den Boden, und kaum, daß sein Herr die Leine ergriff, preschte er auch schon davon, daß die Hufe kaum noch den Boden berührten. Fast ununterbrochen raste er dahin, und so konnte es geschehen, daß der Bahnhof in kurzer Zeit erreicht war. An der Wetterseite standen die blauschwarzen Wolken dicht wie eine Wand. Es grollte und blitzte unausgesetzt. Götterun sprang vom Wagen, band den nervösen Gaul fest und stürmte dem Bahnhofsgebäude zu. Im Eingang bemerkte er eine weibliche Gestalt, die auf der
Treppenstufe hockte und vor sich hin schluchzte. Sie war so in ihrem Jammer versunken, daß sie den Mann erst bemerkte, als er vor ihr stand. Erschrocken fuhr das Mädchen zusammen und starrte ihn an. Der Wettermantel verhüllte die hochgewachsene Gestalt, der Kragen war bis zu den Ohren hochgeschlagen und die Mütze so tief heruntergezogen, daß sie das Gesicht halb verdeckte. »Onkel Jobst -?« kam es leise fragend. »Der bin ich, kleine Sölve – « Da sprang das Mädchen auf. Zwei zitternde Hände umfaßten seinen Nacken, zwei heiße, zuckende Lippen preßten sich auf die seinen. »Onkel Jobst, wie gut, daß du da bist«, stammelte es außer sich vor Erregung. »Ich dachte schon – ich glaubte schon du wolltest mich nicht haben. Aber daß du nun doch gekommen bist – daß du mich nicht im Stich gelassen hast - das, das will ich dir danken!« schluchzte es an seinem Halse. »Aber, aber, Sölve, mein kleines Mädchen, wie kannst du dich nur so erregen«, versuchte er zu beschwichtigen, während er die bebende Gestalt umfaßte. »Ich dich im Stich lassen? Wie kommst du auf die absurde Idee?« »Jetzt ist ja alles gut – ich bin ja so froh – «, lachte und weinte sie nun durcheinander. »Na, siehst du. Aber jetzt müssen wir eilen, damit wir noch trocken nach Hause kommen. Ist das dein ganzes Gepäck?« »Nein, das habe ich aufgegeben. Viel ist es aber trotzdem nicht.« »Wir lassen es morgen holen.« Er nahm ihr das Köfferchen aus der Hand, umfaßte mit der freien Rechten ihre Schulter und zog sie fort, zum Wagen hin. Besorgt prüfte sein Blick den Himmel. Sie mußten es schaffen! Denn blieben sie hier, konnten sie stundenlang warten, bis sich das Gewitter ausgetobt hatte. »Rasch, Sölve, steig ein – «, ermunterte er. Dann nahm er ebenfalls Platz, und Hussa, den heimatlichen Stall Witternd und das aufziehende Wetter fürchtend, jagte davon.
Als hätte das Gewitter nur auf diesen Augenblick gewartet, brach es nun los. Und zwar mit einer Wucht, daß selbst dem Manne angst und bange wurde. Sinnlos vor Furcht raste Hussa dahin, daß die Insassen des Wagens hin und her geschleudert wurden. Sölve schrie laut auf. »Halte dich an mir fest!« rief er ihr durch den Sturm entgegen; denn er hatte beide Hände nötig, um den rasenden Hussa zu zügeln. Blitz auf Blitz durchzuckte den schwarzen Himmel, der Donner knatterte und dröhnte fast ohne Pause, der Regen prasselte hernieder, daß die beiden Menschen trotz ihrer Wettermäntel in wenigen Minuten durchnäßt waren. Sölve hielt den Onkel mit beiden Armen umklammert und ihr Gesicht an seine Schulter gedrückt, um die grellen Blitze nicht sehen zu müssen. Bei jedem Donnerschlag zuckte sie zusammen, und die Blicke Götteruns gingen immer wieder besorgt zu ihr hin. Er machte sich heftige Vorwürfe, daß er das Gewitter nicht doch abgewartet hatte. Kurz bevor sie von der Chaussee in die Allee einbogen, die zum Schloß führte, ließ die feste Umklammerung des Mädchens nach. Der Kopf rutschte von Götteruns Schulter und schlug hart auf die Seitenlehne des Wagens. »Sölve, Kind, was hast du denn?« rief er erschrocken, packte die Zügel mit einer Hand und umfaßte das Mädchen, das vom Sitz zu fallen drohte, mit dem freien Arm. So fuhren sie vor das Portal, wo Frau Fröse sie schon erwartete. Vom Hof her kam ein Stallbursche gelaufen, der das Gefährt in Empfang nahm. Das Unwetter hatte nachgelassen, war aber immer noch arg genug, um die Menschen nicht eine Sekunde länger als nötig im Freien verweilen zu lassen. Darum versuchte Götterun erst gar nicht festzustellen, warum seine Begleiterin so plötzlich in sich zusammengesunken war, sondern hob die verhüllte Gestalt auf die Arme und trug sie an der erschrockenen Hausdame vorbei in die Halle. Dort schob er die Kapuze von Sölves Gesicht und sah in ein
totenbleiches Antlitz. »Großer Gott, sie ist ja ohnmächtig! Armes Ding. Ich könnte mich ohrfeigen, daß ich sie dem rasenden Wetter aussetzte. Bitte, Frau Fröse, Sie nehmen sich wohl ihrer an ?« »Selbstverständlich. Herr Baron. Vielleicht bringen Sie die junge Dame in das für sie bestimmte Zimmer.« Schweigend stieg der Schloßherr mit seiner Last die breite teppichbelegte Marmortreppe hinauf, durchquerte ein Vorzimmer und öffnete die Tür zu einem Gemach, in dem alles licht und traut war. Auf das weiße flauschige Fell, das den Diwan bedeckte, legte er die stille Gestalt, zog die Kapuze von Gesicht und Kopf und erschrak von neuem über die Blässe des verhärmten Antlitzes. Er nahm schweigend die starkriechende Essenz, die Frau Fröse ihm reichte, und rieb der Ohnmächtigen damit Stirn und Schläfen. Sein Bemühen wurde auch bald belohnt. Sie schlug die Augen auf, ließ sie angstvoll umherschweifen und erschauerte. »Wo bin ich -?« »Zu Hause, kleine Sölve!« »Ach ja – zu Hause – bei dir – Onkel Jobst – wie schön«, stammelte sie, schlang die Arme wieder um seinen Hals und drückte ihre Lippen auf die seinen. »Onkel Jobst, daß ich zu dir kommen durfte -« Mit einem tiefen Seufzer ließ sie die Arme sinken und kuschelte sich in das Kissen. Behutsam griff Götterun nach ihrem Puls, richtete sich dann auf und sah seiner Hausdame in das bekümmerte Gesicht. »Der Puls geht schwach, aber regelmäßig. Zuerst muß sie aus den nassen Kleidern und ins Bett. In der Zeit werde auch ich mich umziehen.« Als er eine halbe Stunde später gebadet und frisch gekleidet wieder erschien, schlief Sölve in ihrem Bett mit den
duftigen Spitzen vorhängen in tiefster Erschöpfung. In den schneeweißen Kissen und der zartgrünen Daunendecke trat die Blässe ihres Antlitzes noch schärfer hervor. Und hätte der leise Atem das Spitzengeriesel des Nachtkleides über der Brust nicht erzittern lassen, so hätte man diese bleiche, regungslose Gestalt für tot halten müssen. Lange sah Jobst von Götterun auf das Mädchen nieder. »Hat sie etwas gegessen?« fragte er die danebenstehende Hausdame flüsternd. »Nein, Herr Baron, sie ist nicht wieder erwacht. Es ist wohl auch am besten, wenn wir sie schlafen lassen. Ich habe Anna schon Bescheid gesagt. Sie kann, während ich zu Abend esse, bei ihr wachen. Zur Nacht schlage ich mein Lager auf dem Diwan auf.« »Wird das nicht Ihre Nachtruhe stören, Frau Fröse?« »Durchaus nicht, Herr Baron. Und wenn schon – es geschieht ja für Ihren Gast.« Darauf erwiderte der Mann nichts. Er ergriff die feine Frauenhand und drückte sie voll Verehrung an die Lippen. Ein ‘ junges, adrettes Mädchen trat ein, dem die Hausdame Verhaltensmaßregeln gab. Dann ging sie in Begleitung des Schloßherrn ins Speisezimmer. Der alte Diener Michael ebenso wie der Oberinspektor und viele andere Angestellte auf Uhlen geboren und im Dienste derer von Götterun ergraut, stand schon wartend an der Anrichte. Während des Mahles wurde nicht viel gesprochen. Doch als man in dem Teezimmerchen saß, tief in die bequemen Sessel geschmiegt, den Mokka trank, den niemand so köstlich zuzubereiten verstand wie Frau Fröse, Zigaretten rauchte, Obst und Konfekt naschte, wie der Baron es nach den Hauptmahlzeiten liebte, da kam man auf Sölve Jödeborg zu sprechen. »Da scheint uns der Gewittersturm ja ein arg zerzaustes Vöglein ins Haus geweht zu haben«, sagte die Hausdame zu Götterun, der gedankenverloren seine Zigarette rauchte.
»Ich muß schon sagen, daß ich in meinem Leben kaum jemanden in einer so jammervollen Verfassung gesehen habe wie dieses arme Menschenkind. Wie alt ist die junge Dame eigentlich?« »Sölve – wie alt? Warten Sie mal – achtzehn oder neunzehn muß sie sein. Und jammervoll sagen Sie, Frau Fröse?« »Mehr als das, Herr Baron. Man kann auch sagen: halb verhungert. Was mag dem armen Kinde geschehen sein?« Jobst von Götterun gehörte nicht zu den Menschen, die ihr Herz sozusagen auf der Zunge tragen. Aber sprach er doch einmal über das, was ihn quälte, dann geschah es zu der schlanken weißhaarigen Frau, dem guten Geist seines Hauses, wie er sie nannte. Seit fast zehn Jahren im Hause, hatte sie sich immer wieder bewährt und stets ihre Aufopferung und Treue bewiesen. Aus diesem Grunde war sie dem Schloßherrn ans Herz gewachsen wie etwas, das man nie mehr missen will. Sein Vertrauen und seine Verehrung für die Frau waren groß, sein Gefühl für sie so warm, daß man es schon mit Sohnesliebe bezeichnen konnte. »Ja – was mag dem armen Kinde geschehen sein – «, wiederholte er ihren letzten Satz. »Ich weiß es nicht, Frau Fröse. Sie ist die Tochter der Frau, der meine erste schwärmerische Liebe galt.« In den Augen der Frau blitzte es überrascht auf. Doch nur augenblicklich, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. Und doch war es von ihm bemerkt worden. »Sie wissen darum, Frau Fröse?« »Ja, Herr Baron. Allerdings nur vom Hörensagen. Als ich nach Uhlen kam, waren Sie über die schmerzliche Angelegenheit wohl gerade hinweg.« »Hinweg? Nein, Frau Fröse, das war ich noch lange nicht – ich bin es wohl überhaupt nie gewesen. Ich lernte Frau Elga Jödeborg nebst Gatten und Töchterchen in Ägypten kennen, wohin mich ein Bummel durch die Welt führte. Ich hatte damals gerade mein Abitur hinter mir, und die Reise war ein Geschenk meines Vaters. Neunzehnjährig,
lebensfroh und voller himmelsstürmender Ideale nahm ich schönheitstrunken in mir auf, was die Welt darbot. In dieser Jugendseligkeit kam mir Frau Elga in den Weg und nahm mein leicht entflammtes Herz sofort gefangen. Ich liebte diese Frau mit der ganzen Stärke meines Gefühls. Der Gatte, ein echter Friese, ließ sich meine Vergötterung für seine Frau nachsichtig lächelnd gefallen. Er nahm den jungen Fant wohl nicht ernst. Obgleich er sehr viel älter war als sie, war die Ehe gut, und das damals sechsjährige Töchterchen das Glück und die Freude der Eltern. Auch ich liebte das Kind, weil es das der vergötterten Frau war, liebte überhaupt alles, was zu diesem bezaubernden Geschöpf gehörte. Ich wich nicht mehr von ihrer Seite, und länger als ein Jahr bummelten wir durch die Welt. Nur der ausbrechende Krieg zwang uns, in die Heimat zurückzukehren. Kurze Zeit darauf hörte ich, daß Herr Jödeborg einem Herzschlag erlegen wäre. Er hatte wohl selbst nicht gewußt, wie herzkrank er war. Ich habe mich während des Trauerjahres fern von ihr gehalten. Doch als das vorüber war und ich nach einer Verwundung in die Heimat beurlaubt wurde, eilte ich zu ihr und begehrte sie stürmisch zur Gattin. Was machten die sechs Jahre Altersunterschied zwischen uns? Mir waren sie kein Hindernis, zumal die Frau in ihrer Zartheit stets so rührend jung wirkte. Ich werde nie den entsetzten Blick vergessen, mit dem sie meine ungestüme Werbung, verbunden mit einer noch stürmischeren Liebeserklärung, aufnahm. Sie besaß wohl nicht den Mut, den törichten Burschen abzuweisen, der ihre Güte und Herzlichkeit, die sie ihm entgegenbrachte, für Liebe gehalten hatte. Sie bat sich Bedenkzeit aus – und nahm wenige Tage später den anderen. Einen Jugendfreund, der sie schon seit langen Jahren liebte. Später heiratete ich die Frau, die meine Familie mir aussuchte. Alles andere wissen Sie ja.« Nach diesen Worten war es sekundenlang totenstill. Der Mann schien ganz gelassen, doch an der zitternden Hand,
mit der er eine Zigarette in Brand steckte, merkte die Frau, daß er nicht so ruhig war, wie er vorgab. Dann legte er sich tiefer in den Sessel zurück. »Ich habe nichts mehr von Frau Elga gehört«, sprach er dann sachlich weiter. »Um so mehr überraschte mich der Brief, den ich vor ungefähr zwei Wochen erhielt. Ihre Tochter schrieb mir, daß sie in Not sei und ich der einzige Mensch wäre, der ihr helfen könnte. Dem Schreiben lag ein Brief ihrer Mutter bei. Der sollte nur dann in meine Hände gelangen, wenn Sölve in einer Bedrängnis nicht mehr aus noch ein wüßte. Darauf antwortete ich ihr, daß sie herkommen solle!« »Ist Frau Elga denn tot?« »Ja.« »Und wie waren Ihre finanziellen Verhältnisse?« »Die denkbar besten. Sie führte zu Lebzeiten ihres Mannes, ein Leben im großen Stil. Frau Elga hat sich nie einen Wunsch versagen brauchen, ihr Gatte war ein echter Globetrotter, und das Kind wurde wie eine Prinzessin erzogen.« »Dann wundere ich mich, wie Fräulein Jödeborg so – ich will es beim richtigen Namen nennen – so herunterkommen konnte.« »Ja, das ist merkwürdig. Darauf wird sie uns Antwort geben können – sofern sie mag.« Er erhob sich und trat ans Fenster. »Der Regen hat aufgehört, da will ich noch einen kleinen Bummel durch die Wirtschaft machen. Also gute Nacht, Frau Fröse!« Was mir das Schicksal gab,
ich mußte zahlen
für jeden Tag voll Glück,
das mir beschert.
Nun hab’ ich nichts,
womit ich könnte prahlen,
nichts mehr, was mir gehört.
Die Sonnenstrahlen, die am nächsten Morgen wieder das Land überfluteten, drangen auch durch die Jalousien, die an zwei Fenstern des Schlosses herabgelassen waren, umtanzten die Schläferin, die nun schon Stunde um Stunde in ihrem daunenweichen Bett fast regungslos ruhte. Sie gab nicht eher Ruhe, bis ihr hellgoldener Schein den tiefen Schlaf löste. Blinzelnd öffnete Sölve die Augen, sah zuerst verständnislos auf die fremde Umgebung, bis sie sich auf die letzten Geschehnisse besann. Sie wußte nur noch, daß sie halb sinnlos vor Angst an Onkel Jobsts Seite im Wagen gesessen hatte, dann hatte sie irgendwo mollig und warm gelegen, und ein Männerantlitz hatte sich über sie gebeugt. Wie sie jedoch in dieses wundervoll weiche Bett gekommen war, das wußte sie nicht. Wahrscheinlich war sie in Schloß Uhlen, der Sehnsucht ihrer Träume. Sie ließ die Augen umherschweifen, und was sie in dem grünen Dämmerlicht sah, war wunderschön. Ein entzückendes Gemach, so recht geschaffen für den Geschmack verwöhnter Menschen. Nun entdeckte sie auch die Dame, die in einem Sessel am Fenster saß und an etwas leuchtend Buntem strickte. Wie heimelig, wie traut das alles war! Ganz wie einst zu Hause. Tief und schmerzlich seufzte sie auf, und da hob die Dame den Kopf. »Ich bin wach – «, sagte Sölve zögernd. »Na endlich, Sie kleines Murmeltier«, sagte Frau Fröse lächelnd, indem sie an das Bett trat. »Sie haben etwa eineinhalbmal um die Uhr geschlafen. Und nun werden wir das Dämmerlicht verscheuchen und die liebe Sonne hereinlassen. Oder stört es Sie?« »Nein.« Gleich darauf flutete es golden ins Zimmer, und Sölve mußte einen Augenblick die Augen schließen, so blendete sie das Sonnenlicht. Aber dann ging es wie Erschrecken über ihr Gesicht, und sie öffnete die Augen weit. »Ich bin doch in Uhlen -?« stieß sie angstvoll hervor.
»Ja, das sind Sie«, klang da eine weiche Stimme auf, die das geängstigte Herz so wunderbar besänftigte. »Sie sind in Uhlen – und damit in guter Hut. Und ich bin Frau Fröse und werde Sie nach Herzenslust tyrannisieren.« »Oh; wie schön – «, seufzte Sölve. Forschend sah sie in das gütige vornehme Frauenantlitz unter dem weißen Haar. Ihr Herz flog ihr sogleich entgegen. »Freuen Sie sich nicht zu früh – «, lachte die Dame amüsiert. Es war ein so herzfrohes Lachen, daß Sölve immer mehr von dieser Frau entzückt war. »Ich kann nämlich gräßlich hartnäckig sein. Eine Probe werden Sie sofort erhalten. Ich gedenke Ihnen nämlich ein ausgiebiges Frühstück aufzudrängen.« »Ich habe gar keinen Hunger.« »Dacht’ ich’s doch. Aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen.« Auf ihr Klingelzeichen erschien Anna mit einem leichten Frühstück, wovon Sölve auch gehorsam eine Kleinigkeit aß. Sie sah dabei jedoch Frau Fröse flehend an, daß diese sie nicht weiter quälte. »Für den Anfang bin ich zufrieden. Es wird schon noch besser werden. Und nun erheben Sie sich aus Ihrem weichen Pfühl, damit Sie den Onkel empfangen können. Er wartet nämlich schon darauf, seinen Gast zu begrüßen.« Obgleich Sölve noch sehr müde war, fügte sie sich widerstandslos. Sie wehrte auch nicht ab, als Frau Fröse ihr beim Ankleiden half; denn sie konnte sich kaum auf den Füßen halten. Die Dame sah sehr wohl, wie es um den jungen Gast stand. Sie hatte Mühe, ihr Entsetzen über den erbarmungswürdigen Körperzustand dieses armen Menschenkindes zu unterdrücken – und über dessen ärmliche Kleidung. Ihr Herz öffnete sich vor Erbarmen weit. »Jetzt kann ich aber wirklich nicht mehr – «, bat Sölve gequält, als sie angekleidet dastand. »Brauchen Sie auch nicht. Sie legen sich auf den Diwan.«
Wohlig streckte sich das Mädchen auf das weiche Fell »Ach, so schön. Ich bin doch noch immer verflixt schlapp.« »Sind Sie denn krank gewesen, Fräulein Jödeborg?« fragte Frau Fröse, sich zu ihr auf den Diwan setzend. »Ja. Aber sagen Sie doch bitte Sölve zu mir.« Es klopfte kurz, und Götterun trat ein. »Ah, kleine Sölve, schon angekleidet? Das ist sehr brav. Ich muß um Verzeihung bitten, daß ich dich gestern dem schlimmen Wetter aussetzte. Ja, was hast du denn, kleines Mädchen?« unterbrach er sich erstaunt, als er ihren entsetzten Blick sah. »Du – du bist Onkel Jobst?« fragte sie fassungslos, ihn dabei furchtsam anstarrend. Sie sah die hohe Gestalt, das harte, rassige Antlitz mit den blauen, blitzenden Augen darin, das blonde Haar und die nervigen Hände, mit den beiden schweren Ringen an der Linken – und stöhnte dann auf, das Gesicht dabei in das Kissen drückend. Götterun sah Frau Fröse an, die den Blick ebenso verständnislos zurückgab. »Verstehen Sie das -?« fragte er leise, und sie zuckte hilflos die Schultern. Er setzte sich zu dem rätselhaften Mädchen auf den Diwan und wollte dessen Gesicht behutsam herumdrehen, doch sie streifte seine Hände ab, richtete sich halb auf, ihn dabei ansehend, als müsse sie sich sein Bild für alle Zeit einprägen! »Sag, daß du nicht Onkel Jobst bist -!« verlangte sie fast drohend. »Aber, liebes Kind, ich kann mich doch nicht selbst verleugnen.« Da fiel sie wieder in die Kissen zurück, und ein hartes Schluchzen erschütterte den elenden Körper. »Wie kannst – du – mein Onkel sein -?« kam es mühsam hervor. »Du bist ja noch – so – jung und ich habe dich geküßt.« »Ach das ist es?« atmete er auf, faßte die Hände, die unruhig umhertasteten, und behielt sie in den seinen. Das schien sie zu beruhigen; denn das stoßende Weinen ließ
langsam nach. »Ich schäme mich doch so sehr – «, schluchzte sie zuletzt noch auf, das Gesicht wieder in die Kissen drückend. »Sölve, nun höre mich bitte einmal an – «, sprach der Mann behutsam. »Ich kenne dich schon seit deinem sechsten Lebensjahr.« Nun fuhr der Kopf herum. »Aber wenn du – oder Sie – oder Herr Baron – Ach, ich weiß ja gar nicht mehr, wie ich sagen soll«, seufzte sie verzweifelt, und er lachte. »Du törichtes kleines Mädchen! Natürlich bin und bleibe ich der Onkel Jobst für dich – wer denn sonst? Wenn du womöglich Herr Baron< sagst, dann muß ich dich mit >gnädiges Fräulein< ansprechen. Wie scheußlich. Wie alt bist du eigentlich?« »Neunzehn – « »Na, siehst du, dann bin ich ja dreizehn Jahre älter. Also, bitte, Respekt vor meinem Alter! Auf den Onkeltitel verzichte ich auf keinen Fall.« Wieder ein herzbanger zitternder Seufzer. »Wie kommt es eigentlich, Onkel, daß du – wo du jetzt noch so jung bist, vor so vielen Jahren meine Mutter – geliebt hast? Sie muß doch viel älter gewesen sein als du.« Ein Zucken ging über das harte Männerantlitz, die Zähne bissen sich zusammen wie im Schmerz »Sechs Jahre waren es, Sölve-« »Bleiben Sie doch bitte hier, Frau Fröse«, rief Sölve der Hausdame flehend nach, die taktvoll das Zimmer verlassen wollte. Sie wechselte mit dem Baron einen Blick, in dem lächelnde Zustimmung lag. So setzte sie sich still auf den nächsten Stuhl, und ihre Augen hingen an der jammervollen Gestalt, die so unruhig auf dem Diwan lag. Der Körper schien nur aus hautüberzogenen Knochen zu bestehen, das Gesicht war mager und entsetzlich bleich. Die glanzlosen Augen lagen tief in den Höhlen, und das farblose Haar war so dünn, daß überall die Kopfhaut hervorschimmerte.
»Sechs Jahre also – «, wiederholte Sölve. Ihre Augen blickten wie in weite Ferne, als spräche sie zu sich selbst. »Nun ja, meine Mutti war ja immer so jung – bis zuletzt noch – « Als müsse nun alles ganz schnell herunter vom Herzen, was sie so lange gepeinigt und gequält hatte, hasteten die Worte über die blutleeren Lippen. Sie hatte den Oberkörper halb erhoben, die Augen flackerten wie im Fieber, und die Hände, die sie aus denen des Mannes befreite, fuchtelten umher »Sie war so strahlend schön, meine Mutti, und so jung, daß man sie immer auslachte, wenn sie mich als ihre Tochter vorstellte. Sie war ja auch erst neunzehn Jahre alt, als ich geboren wurde. So alt, wie ich jetzt bin. Mein Stiefvater liebte sie sehr und mich auch. Wir hatten bei ihm ein herrliches Leben. Kein Wunsch wurde uns versagt. Aber er lebte ganz seinen Neigungen, und die waren so kostspieliger Art, daß sie mit der Zeit auch das größte Vermögen verschlingen mußten. Meine Mutter besaß ein großes Vermögen, als sie zum zweiten Male heiratete, aber bei dem verschwenderischen Leben, das wir alle führten, schmolz es langsam dahin. Ich habe meine schöne Mutti immer strahlend glücklich gesehen, bis zu meinem sechzehnten Jahre – da sah ich sie öfter weinen. Und immer dann, wenn mein Stiefvater schroff zu ihr war, was mehr und mehr vorkam. Zuweilen flüchtete sie mit mir an ein stilles Plätzchen und sprach von dir, Onkel Jobst. Von dir, deiner schönen Heimat, deiner verehrungsvollen Liebe zu ihr – und von dem Schmerz, den sie dir angetan hatte. So voller Sehnsucht sprach sie von dem allen, daß auch mich die Sehnsucht packte und ich sie bestürmte, doch zu dir zu fahren. Aber dann wurde sie ziemlich traurig und bekannte, daß du nichts mehr von ihr wissen wolltest. Ich will nicht sagen, daß die Ehe unglücklich war, aber es kam immer öfter zu Streitigkeiten zwischen ihnen. Vielleicht wäre sie nach und nach doch zur Tragödie geworden, wenn mein Stiefvater nicht plötzlich aus dem
Leben geschieden wäre. Herzschlag, hieß es. Allein, Mutti schien nicht daran zu glauben. Sie war dem allen nicht gewachsen und siechte langsam dahin. Zu ihrer Freude erlebte sie noch, daß ich mich mit Gert Oven verlobte. Er galt für reich, und das war wohl ausschlaggebend für Mutti. Einige Monate danach starb sie. Ich war sinnlos vor Schmerz. Und dann kam alles Schlag auf Schlag. Es war, als wollte das Schicksal rasch nachholen, womit es mich so lange verschont hatte. Kaum war meine Mutter beigesetzt, da mußte ich erfahren, daß unser Leben in den letzten zwei Jahren nur auf Schulden aufgebaut gewesen war. Die Gläubiger fuhren wie die Hyänen über mich her, und ich gab alles hin, um ihren Beschimpfungen endlich zu entgehen. Unser Haus in Kiel, unser Haus an der Ostsee, Autos, Pferde und Wagen, meinen Schmuck, meine Pelze, meine Kleider – alles – alles. Ich behielt nur so viel, um nicht unbekleidet zu sein. Vom Geld blieben mir rund hundert Mark. Dabei war ich froh, den Verpflichtungen restlos nachgekommen zu sein. Und bei allem stand ich ganz allein. Es fand sich von all unseren Freunden nicht ein Mensch, der mir zur Seite gestanden hätte. Mein Vormund gab zu allem, was ich vorschlug, seine Einwilligung. Er wollte mit der unangenehmen Sache möglichst wenig zu tun haben – und Gert Oven, der mich für reich gehalten hatte, gab mir mit dürren Worten den Abschied. Im Nachlaß meiner Mutter fand ich einen Brief mit der Aufschrift: >Nur in großer Not zu öffnen.< Nun, so groß wähnte ich meine Not noch lange nicht. Ich war ja jung, gesund und konnte daher arbeiten, wie Millionen Mädchen es müssen. Als ich jedoch damit begann, versagte ich überall. Ich war Gesellschafterin, Kinderfräulein, Haustochter und Verkäuferin. Doch überall mußte man mich gleich wieder entlassen, da ich meinen Verpflichtungen nicht nachkommen konnte. So ging es länger als ein Jahr, dann brach ich zusammen. Man brachte mich mit einem heftigen Nervenfieber ins
Krankenhaus, wo ich sechs Monate blieb. Und was nun? Da fiel mir Mutters Brief ein. War ich berechtigt, ihn zu öffnen? Aber welcher Mensch befand sich in noch größerer Not als ich? Noch immer nicht ganz gesund und daher arbeitsunfähig, ohne Geld, ohne Bleibe. Da öffnete ich den Brief, den meine Mutter kurz vor ihrem Tode geschrieben hatte. Sie wies mich darauf hin, daß ich mich an dich wenden sollte, wenn ich jemals der Hilfe bedürftig wäre. Aber nicht etwa wegen eines Streites mit dem Gatten, eines versagten Wunsches und kleinlicher Dinge mehr. Den an dich adressierten Brief sollte ich dir aushändigen. So schrieb ich denn an dich. Du antwortetest sofort und ließest mich zu dir kommen. Ich wußte, daß du einsam wärest, daß viel Tragik dein Leben umdüstert hatte. Wußte es durch Mutti, die deinen Lebensweg verfolgt hatte. Glaubte dich alt und verbittert – und wollte dich umsorgen und umhegen wie eine liebevolle Tochter. Und nun bist du ein junger Mann – « Ihre Stimme war immer leiser geworden, immer zerquälter und mutloser, bis sie dann ganz schwieg. Auch schien das Sprechen das Mädchen sehr angestrengt zu haben, denn es lag nun total erschöpft da. Da beugte sich der Baron voll Erbarmen nieder: »Sölve, kleines Mädchen, das letzte wäre nicht nötig gewesen«, sprach er behutsam. »Schon als alles über dir zusammenbrach, hättest du den Weg zu mir finden müssen. Hörst du mich überhaupt, Sölve?« Da schlug sie die Augen auf. Ihr Blick war jedoch abwesend, als suche er etwas in weiter Ferne. – »Ja, Onkel Jobst. Ich dürfte ja nicht bei dir bleiben – weil du mich – nicht - brauchst. Aber wohin soll ich? Ich – habe ja keine Heimat mehr.« Ihr Kopf sank zur Seite. Sie war wieder ohnmächtig geworden. Mach dir das Leben nicht so schwer
mit Sorg und Plagen und eingebildetem Leid.
Wenn du gebüßt hast, wirst du klagen um fernes Glück und seine Blütenzeit. Fünf Kilometer von Uhlen entfernt lag das stattliche Gut Kaimucken, das dem Herrn Julius von Ragnitz gehörte. Wenn es auch nicht so groß und feudal war wie das herrliche Uhlen, so konnte sein Besitzer wohl damit zufrieden sein. Er hätte es auch von Herzen gern sein mögen, wenn nur nicht die argen Sorgen gewesen wären; denn es gab weit und breit wohl keinen so genügsamen und gemütlichen Menschen wie den Herrn Julius. Wenn er auch noch so auf Posten war, so kam er seit Jahren schon nicht mehr auf einen grünen Zweig, denn die Einnahmen wollten sich mit den Ausgaben kaum noch decken. Zumal seine sieben Kinder, je größer sie wurden, auch größere Kosten verursachten. Auch seine Frau Franziska regierte so gut in Küche und Keller wie kaum eine andere Hausfrau, und ihre Töchter mußten ihr dabei tüchtig zur Hand gehen. Doch während die achtzehnjährige Walburga dem gern nachkam, weil ihr das Wirtschaften von der Mutter her im Blut lag, fügte sich die siebzehnjährige Ricarda immer nur höchst widerwillig. Es gab auch keinen größeren Gegensatz, als die beiden Schwestern. Während Walburga die Walkürengestalt ihrer Mutter geerbt hatte und ihr resolutes Wesen dazu war Ricarda brünett und zierlich, weichmütig und verträumt. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte sie möglichen Künste getrieben: Musik, Tanz, Malerei – nur die Kunst des Wirtschaftens nicht. Ehe sie sich in Haus und Garten betätigte, lag sie lieber an einem verschwiegenen Plätzchen in der Hängematte lesend oder vor sich hinträumend. Oder sie tummelte sich in Wald und Feld, war einem frisch-fröhlichen Ritt nie abgeneigt. Sie bedeutete ein Sorgenkind für die Mutter. Nach Ricarda kamen die sechzehnjährigen Zwillinge Monika und Veronika. Zwei ewig kichernde Backfische, mit
molligen Gestalten, Gesichtlein wie Apfelblüten und langen blonden Hängezöpfen. Sie waren sehr phlegmatisch und huldigten dem Sprichwort: Wer Arbeit kennt und sich nicht drückt, der… Aber dafür fanden sie bei der resoluten Frau Mama absolut kein Verständnis. Sie fackelte nicht viel, sondern teilte den schmollenden oder gar laut protestierenden Faultierchen seelenruhig ihre Arbeit zu. Roderich hieß der Nächstgeborene. Er war dreizehn Jahre alt, der einzige Sohn und Stolz der Familie. Nach den vier Töchtern mit Ungeduld herbeigesehnt und mit Jubel begrüßt, machte er vom ersten Atemzuge an seine Daseinsberechtigung kräftig geltend, was man allgemein als selbstverständlich fand. So wuchs dieses Bürschchen heran, von sich und seiner Bedeutung sehr durchdrungen. Und als er später noch als Ahnerbe Uhlens galt, da sah man in diesem eingebildeten kleinen Bengel fast einen Gott. Dann waren da noch zwei Mädchen: Die siebenjährige Elwira, ein rassiges kleines Teufelchen, und das Nesthäkchen Hildegund, das lieb und artig war, solange man ihm den Willen tat. Julius von Ragnitz, ein kugelrundes Männchen mit einem gutmütigen Gesicht und Glatze, besaß also eine große Familie. Denn noch sahen seine verschmitzten Äuglein vergnügt in die Welt, und seine kräftige rote Nase zeugte davon, daß er einem guten Tropfen huldigte. Er sagte selbst, daß in seinem Hause seine wackere Ehehälfte die Hosen anhätte, und er machte nie den Versuch, ihr dieselben auszuziehen. Er ließ sie schalten und walten, zumal er wußte, daß alles bei ihr in den besten Händen lag. Nur in seinen Angelegenheiten ließ er sich von ihr nicht dreinreden. Dann konnte der wild werden. Und da Frau Franziska das aus Erfahrung wußte, ließ sie es bleiben. Heute saß die ganze Familie beim einfachen Mittagsmahl. Das Gespräch drehte sich ausschließlich um den Roggen,
der auch hier noch kurz vor dem gestrigen Gewitter unter
Dach und Fach gebracht werden konnte.
Die kräftige Gemüsesuppe mit Hammelfleisch war fast
verzehrt, als die Hausfrau lebhaft auffuhr.
»Ach ja, fast hätte ich es vergessen, der Arzt soll heute in
Uhlen gewesen sein.«
»Na und -?« fragte der Hausherr, gleichmütig seine Suppe
löffelnd. »Ist das etwas Besonderes?«
»Natürlich. Jobst war doch gestern früh noch gesund.«
»Uhlen besteht ja nicht aus Jobst allein!«
»Das nicht. Aber ich bin unruhig und muß unbedingt
einmal nachsehen-«
Er sah sie an, kniff dabei ein Auge zu, was sie vor Ärger rot
anlaufen ließ.
»Ich meine, daß man sich um Jobst kümmern muß. Wir
sind seine einzigen Verwandten und sogar verpflichtet
dazu«, trumpfte sie auf.
»Natürlich, Fränze – «
»Ach, mit dir ist ja nicht zu reden. Du hast gleich
Hintergedanken, von Neugierde und so.«
Nun lachte er sein dröhnendes, fideles Lachen: »Kinder,
habe ich schon etwas von Neugierde gesagt?«
»Nein -!« klang es lachend zurück.
»Ihr haltet den Mund -!«
schnitt die Mutter weitere Erläuterungen ab. »Moni und
Vroni, ihr pflückt Bohnen – «
»Können wir nicht, Mama – «, protestierten die Zwillinge
wie aus einem Munde. »Wir haben zu lernen. Nicht wahr,
Fräulein Gluck?«
Das galt der Erzieherin der Töchter, hinter ihrem Rücken
von ihnen schlechtweg »Kluckchen« genannt. Und
tatsächlich zeigte das liebe ältliche Fräulein auch etwas
Gluckenhaftes in seiner mütterlichen Betulichkeit. Es lebte
schon seit zwölf Jahren im Hause.
Jetzt sah sie mit ihren verschmitzten Äuglein gemütlich zu
den Zwillingen hin, während sich ihr glattes, wie
gewichstes Vollmondgesicht zu breitem Lachen verzog.
»Das ist nicht viel, was ihr aufhabt, Herzchen, das könnt
ihr nach dem Bohnenpflücken noch spielend bewältigen.«
»Ach, Fräulein Gluck, wie Sie manchmal sind – «,
schmollte Monika. »Wenn wir uns mit den Schularbeiten
überhasten, dann sind Sie morgen ungehalten.«
»Und mit Recht, Kindchen«, war die seelenruhige
Erwiderung.
»Also, ihr wißt Bescheid,« schnitt die Mutter jeden weiteren
Kommentar ab. »Und du, Ricarda, wirst die Bohnen
schnippeln.«
»Das gibt doch so schmutzige Hände, Mama – «
»Na, ist so was erhört -!« entrüstete sich diese.
»Bist du etwa eine Prinzessin, die Audienz geben muß? Ich
kann ja auch nicht danach fragen, ob ich meine Hände
beschmutze. Was sagst du bloß dazu, Julius?«
»Ach laß sie doch, Fränze – «
»Na, ich sage ja, immer wieder nimmst du diesen Kolibri in
Schutz. Es ist schon ein rechtes Kreuz mit euch beiden.
Und du, Ira«, wandte sie sich an ihre zweitjüngste Tochter,
»du kletterst nicht wieder auf die Bäume wie ein kleiner
Affe. Du wirst mit deinen Wuschelhaaren noch einmal
daran hängenbleiben. Warum hast du dein Haar wieder
nicht in Zöpfe geflochten?«
»Ach, Mama, die geh’n immer wieder auf.«
»Wenn du auch ständig herumwirbelst wie eine Wilde.
Julius, befiehl ihr, daß sie fortan Zöpfe zu tragen hat -!«
»Laß ihr doch die Haare, wie sie sind«, beschwichtigte er,
und sein Blick suchte zärtlich die schwarzbraunen
prächtigen Locken seines Kindes, die das süße Gesicht
umflirrten und über die Schultern in entzückender
Natürlichkeit fielen. Diese Pracht in Zöpfe zu zwängen,
wäre direkt ein Verbrechen an der Natur gewesen, die dem
Kinde die Schönheit gegeben.
»Hätte ich mir denken können – «, seufzte die bekümmerte
Ehehälfte. »Aber warte nur, deine ewige Nachsicht wird dir
noch einmal leid tun. Der Fratz geht dir einmal als
Zirkusreiterin auf und davon -!«
»Herrlich -!« jubelte der kleine Unband, doch der
strengverweisende Blick der Mutter ließ ihn schweigen.
»Dir, mein Kind, brauche ich, Gott sei Dank, nicht zu
sagen, was du zu tun hast.«
Das galt der Ältesten, die wie das verkörperte blühende
Leben dasaß. Mit Stolz ruhten die Augen der Mutter auf
dieser Tochter, die so ganz nach ihrem Herzen war.
»Gewiß nicht, Muttchen. Ich werde nachmittag Bohnen
einwecken. Die Mädchen müssen den Zwillingen beim
Pflücken helfen und später Ricarda beim Schnippeln.«
»Recht so, mein Kind, auf dich ist doch noch Verlaß. An dir
wird dein zukünftiger Mann seine helle Freude haben,
während die von Ricarda und Ira noch ihr blaues Wunder
erleben werden. An den Bettelstab werden diese Firlefänze
sie bringen. Möchte bloß wissen, woher ich diese Töchter
habe.«
Nun wanderte ihr Blick zum Sohn des Hauses hin. »Hast
du schon deine Schulaufgaben gemacht, mein Junge?«
»Natürlich, Mama! Längst alles erledigt – «
»Dann kannst du mich nach Uhlen fahren.«
»Ich will auch mit -!« meldete sich nun das Nesthäkchen,
das daran gewöhnt war, seinen Willen durchzusetzen.
Doch heute stieß es bei der Mutter auf Widerstand.
»Nein, Gundel, du bleibst hier.«
Es war um die Kaffeestunde, als Frau Fränze in den schon
ein wenig altersschwachen Wagen stieg, vor den ein
ebensolcher Brauner gespannt war. Luxuspferde gab es auf
Kalmücken nicht.
Roderich kutschierte und kam sich dabei sehr wichtig vor.
Er sprach mit seiner Mutter wie ein erfahrener Landwirt,
was ihr Herz vor Stolz hochaufschwellen ließ.
Steh nicht zu fest auf hoher Warte, denk nicht allein nur gut, was je durch dich geschah. Setz alles nicht auf eine Kaffe, sonst stehst du bald mit
leeren Händen da. Der Diener Michael führte Frau von Ragnitz auf die Terrasse, wo Frau Fröse saß und strickte. »Frau von Ragnitz und Sohn Roderich«, meldete er feierlich, worauf sich Frau Fröse erhob, um die Gäste zu begrüßen. »Ist mein Schwager nicht hier?« fragte Frau Fränze enttäuscht. »Nein, gnädige Frau. Der Herr Baron ist wie stets um diese Zeit, auf dem Felde.« »Sonst gewiß«, entgegnete sie mißmutig, während sie sich in einen der bequemen Korbsessel fallen ließ. »Aber ist er nicht krank?« »Der Herr Baron? Nein – «, kam es verwundert zurück. »Und weshalb war denn der Arzt heute vormittag hier?« Ein Lächeln huschte blitzartig über das feine Antlitz der Hausdame. »Der Arzt kam zu unserem Gast, gnädige Frau – « Diese richtete sich kerzengerade in ihrem Sessel auf, als rüste sie sich zum Kampf. »Einen Gast? Davon weiß ich ja noch gar nichts«, bemerkte sie höchst ungnädig, als müßte sie von allem, was hier passierte, sofort in Kenntnis gesetzt werden. »Seit wann ist denn der Herr hier?« »Es ist eine Dame, gnädige Frau.« »Auch das noch! Und die kommt einfach hierher, legt sich ins Bett, der Gastgeber muß den Arzt holen und wahrscheinlich noch bezahlen. Das muß ja eine merkwürdige Dame sein. Wo liegt sie?« »Im grünen Fremdenzimmer. Aber sie darf nicht gestört werden.« »Machen Sie doch nicht so ein Theater, so schlimm wird es bestimmt nicht sein«, winkte die resolute Dame ab, indem sie nach dem bezeichneten Zimmer schritt, ohne sich von Frau Fröse abhalten zu lassen. Als sie jedoch vor dem Bett stand, in dem Sölve schlief, sah
sie doch betroffen drein.
»Mein Gott, lebt die überhaupt noch?« flüsterte sie entsetzt.
»Die sieht ja erbärmlich aus.«
Fast fluchtartig verließ sie das Zimmer. Auf der Treppe kam
ihnen Götterun entgegen.
»Na, da hast du dir ja was Gutes auf den Hals geladen -!«
platzte Frau Fränze heraus, bevor sie den Schwager begrüßt
hatte. »Der kannst du bestimmt heute noch die Augen
zudrücken. Wo hast du die bloß aufgegabelt?«
»Zuerst komm einmal von hier fort, denn es ist nicht nötig,
daß das arme Ding deine taktlosen Bemerkungen hört«,
sagte er unwillig. »Wie kommst du überhaupt in das
Zimmer, Fränze? Der Arzt hat doch Weisung gegeben, daß
es außer Frau Fröse und mir niemand betreten darf.«
»Wie konnte ich ahnen, daß du da oben eine Halbtote
beherbergst«, entschuldigte sie sich, während sie mit den
anderen der Terrasse wieder zuschritt, wo schon der
Kaffeetisch gedeckt war.
»Sag bloß, Jobst, wer ist dieser arme Wurm?«
»Eine Bekannte von mir – «, entgegnete er kurz.
Frau Fröse füllte aus der Maschine den Kaffee in die
hauchdünnen Schalen, tat dem Hausherrn Sahne und
Zucker in die seine, strich ihm ein Brot mit der köstlichen,
frischen, goldgelben Butter und träufelte Honig darauf.
Frau Fränze sah das alles mit stillem Grimm. Sah das
kostbare Porzellan, die silberne Kaffeemaschine, Brot und
Butter, Honig und Marmelade, alles gefällig und appetitlich
angerichtet. In Kaimucken konnte man sich das alles nicht
leisten.
»Haben Sie denn keinen Kuchen?« erkundigte sie sich
ungnädig.
»Nur von dem, der Ihnen letztens nicht schmeckte.«
»Na, vielleicht ist er diesmal besser geraten. Probieren
könnte man ihn schon.«
Daraufhin brachte Michael einen Teller mit Kuchen, den
Frau Fränze mit der Miene einer Kennerin versuchte.
»Hm, es geht. Er könnte aber besser sein.«
»Vielleicht hörst du mit deinen Taktlosigkeiten bald auf, Fränze«, drohte die scharfe Stimme des Schloßherrn, und die tiefe Falte zwischen den Augen mahnte selbst diese Frau zur Vorsicht, die sich in diesem Hause Rechte anmaßte, die weit über jede Höflichkeit gingen. Roderich verdrückte Stücke davon, als müßte er den reichbelegten Kuchenteller unbedingt leer kriegen. Und da seine Mutter nun schwieg, ergriff er das Wort. Er sprach langsam und bedächtig, schien immer erst jedes Wort zu überlegen, das er dann wohlgefällig hervorbrachte. Man glaubte bei seinen Ansichten und Beurteilungen einen erfahrenen Menschen vor sich zu haben, keinen dreizehnjährigen Knaben. Sein Wissen betreffs der Landwirtschaft setzte wirklich in Erstaunen, und in der Schule ging er stets als Primus durch die Klassen. Also war Roderich der reinste Wunderknabe, und seine Mutter wußte sich vor Stolz über diesen Sohn kaum noch zu lassen. Stundenlang konnte sie über ihn reden und Zukunftspläne schmieden. Sie ging in ihrer Verblendung sogar soweit, überall eine Ausnahmestellung für ihn zu verlangen. Hauptsächlich in Uhlen, wo er später der Herr sein würde. Und das verlangte Roderich auch. Er fühlte sich hier schon ganz als Herr. Die Hausdame behandelte er mit Herablassung, was diese jedoch nicht tragisch nahm und nicht davon abhielt, diesen selbstherrlichen jungen Mann genau so zu nehmen, wie es seinem Alter entsprach. Schließlich fiel Frau Fränze wieder Uhlens Gast ein. »Wer ist denn das eigentlich da oben?« zeigte sie mit dem Finger zur Decke, wobei ihr die Neugierde förmlich aus den Augen sprang. »Eine Bekannte«, war seine knappe Antwort. »Hast du sie eingeladen?« »Natürlich – « »Und dann wird sie hier gleich krank? Da mußt du doch zusehen, daß du sie auf gute Art bald wieder los wirst.« »Im Gegenteil, liebe Fränze. Ich gedenke, die junge Dame
recht lange in Uhlen zu behalten.« »Als was?« »Vorläufig als Gast.« Nun sah die Gute ihren Schwager an, als zweifele sie an seinem Verstand. Man konnte nicht gerade sagen, daß sie herzlos war, sie verfügte sogar über eine gewisse Gutmütigkeit. Aber daß man sich so etwas wie dieses Mädchen freiwillig auf den Hals lädt, das war ihr unbegreiflich. Als dann Roderich erschien, rüstete sie zum Aufbruch. »Ich bleibe hier, Mama – «, entschied das Söhnchen kurz und bündig, und die resolute Fränze wagte nicht zu widersprechen. »Wie kommst du dann aber nach Hause, mein Junge?« gab sie besorgt zu bedenken, worauf er nachlässig abwinkte. »Ich bleibe hier und fahre morgen früh von hier aus zur Schule.« Ratlos sah Fränze zu dem Schloßherrn hin, in dessen Augen es amüsiert aufblitzte. »Bist du damit einverstanden, Jobst?« »Was habe ich da zu sagen – «, entgegnete er in einer Art, die Frau Fränze immer auf die Nerven ging. »Roderich ist doch mein Gast. Da wäre es ja ungastlich, wenn ich Widerreden sollte.« Nun war die Frau Mama hilflos wie ein kleines Kind. »Rodichen, so komm doch mit – «, verlegte sie sich aufs Bitten. Doch der kleine Despot ließ sie gar nicht ausreden. »Gib dir keine Mühe, Mama. Ich bleibe hier. Was ich mir vorgenommen habe, führe ich auch durch.« »Richtig – «, warf Götterun mit einem Lächeln ein, das Frau Fränze über alle Maßen niederträchtig fand. »Du könntest lieber auf den Jungen einwirken, daß er nicht so halsstarrig ist – «, verlangte sie ärgerlich. »Aber es sieht fast so aus, als wolltest du seinen Dickkopf noch bestärken und so meine Autorität untergraben.« »Aber, liebe Fränze – wie könnte das wohl möglich sein.« »Ach, mit dir ist ja nicht zu reden. Du kannst weiter nichts
als ironisieren – und das aus dem Effeff. Roderich, kommst du mit -?« »Mama, ich bleibe hier! Mir ist nämlich in der Wirtschaft manches aufgefallen, worauf ich Onkel Jobst aufmerksam machen muß.« »So, so – «, amüsierte sich der Baron köstlich. »Aber meinst du nicht auch, daß ich auch ohne deine gütige Hilfe hinter diese Unstimmigkeiten kommen werde?« »Das glaube ich nicht, weil du dir von dem Oberinspektor zu viel vormachen läßt.« »Oha, mein Söhnchen, geht da deine Einmischung nicht etwas zu weit? Und nun genug gescherzt. Fahre nur ruhig mit deiner Mutter nach Hause. Uhlen wird deshalb nicht koppheister gehen.« Wenn der Onkel Jobst mit dieser kalten Ruhe sprach, wobei es in seinen Augen so eigentümlich aufblitzte, dann war es wohl am besten, sich seinen Wünschen zu fügen. Maulend zwar, doch ohne Widerspruch, ging er mit der Mutter. Götterun gab ihnen bis zum Portal das Geleit und ging dann seiner Beschäftigung nach, während sich Frau Fröse zu ihrem Pflegling begab. Seid nicht so gut zu mir,
ich kann es euch nicht lohnen,
was ihr an Lieb und Güte mir beschert.
Ich möchte hin, wo Ruh und Frieden wohnen,
wo Himmelslicht das Leid in Freude klärt.
Da sich Frau Fröse nicht ausschließlich mit Sölve beschäftigen konnte, diese aber noch viel Aufsicht brauchte, hatte man eine Frau aus dem Dorfe kommen lassen, die viel von der Krankenpflege verstand und von den Bewohnern der Umgebung gern dazu genommen wurde. Ohne viel zu fragen, hatte diese ihren Pflegling unter ihre Obhut genommen, und da das »Hascherchen« sie dauerte,
es sogleich in ihr Herz geschlossen. Viel Arbeit gab es nicht bei der Rekonvaleszentin. Sie war geduldig und gehorsam. Nur wenn man sie mit dem Essen quälte, dann begehrte sie manchmal auf, was ihr jedoch nicht viel half. In diesem Kampf trug die Pflegerin Minchen stets den Sieg davon. Eben betrat Frau Fröse mit einem Teller voll köstlicher Pfirsiche das Zimmer. Sie setzte sich auf den Diwan, auf dem das Mädchen angekleidet lag. »Einen Gruß vom Herrn Baron, Sölvelein. Er hat die Pfirsiche eigenhändig gepflückt und wünscht guten Appetit. Also müssen Sie essen.« »Wird sie schon«, nickte Minchen zuversichtlich, indem sie eifrig an einem Strumpf strickte. Klein und verhutzelt saß das Fräulein da, in dem doch so viel Energie steckt. Es klopfte, und der Baron erschien. Minchen erhob sich und versank in einen regelrechten Courknicks, wobei der Herr lächelnd abwinkte. »Behalten Sie doch Platz, Minchen. Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?« Eilfertig schob sie einen Sessel an den Diwan, in den sich Götterun setzte. Dann erst kehrte sie zu ihrem Strumpf zurück. Der Mann ergriff behutsam die durchsichtig zarte Hand Sölves, die er jedoch gleich wieder losließ, weil sie in der seinen flatterte und bebte. Es war kein Zweifel, das Mädchen hatte eine unüberwindliche Scheu vor ihm. Während sie allen anderen ruhig und klar in die Augen sah, wich sie seinen beharrlich aus. Es hatte überhaupt den Anschein, als wäre ihr seine Gegenwart quälend, so daß er seine Besuche aufs äußerste einschränkte. Natürlich war ihm ihr Verhalten unverständlich, aber um sie deshalb zur Rede zu stellen, dazu war sie viel zu elend und matt. Sölve schloß wie in tödlicher Erschöpfung die Augen, und über ihr elendes Antlitz huschte ein Ausdruck von Qual, der die andern betroffen machte. Bekümmert ruhte Frau Fröses Blick auf ihrem Pflegling,
und wie schon so oft dachte sie auch jetzt, daß dieses Mädchen wohl nie mehr gesund werden würde. Vier Wochen hindurch wurde ihm schon die sorgsamste Pflege zuteil, allein, es schien immer schlechter zu werden statt besser. Wahrscheinlich fraß an dem armen Seelchen ein unstillbares Leid, das es langsam zugrunde richtete. Wieder klopfte es, und diesmal schob sich die kleine Elwira von Ragnitz vorsichtig ins Zimmer. An ihre Brust gedrückt hielt sie ein Körbchen von leuchtendbuntem Bast. »Nun, Rosenrot, komm nur näher«, ermunterte der Baron das Mädchen, das ängstlich an der Tür stehen blieb. »Was trägst du denn da so zärtlich?« »Darf ich näherkommen, schläft Fräulein Sölve nicht?« »Nein, ich schlafe nicht«, ermunterte nun auch diese, worauf die Kleine zu ihr trat und behutsam den Deckel des Körbchens lüftete. Darin lag auf einem flauschigen Deckchen ein schneeweißes Angorakätzlein friedlich schlafend. Eine hellblaue Seidenschleife schmückte den Hals des winzigen Tierchens. »Nicht wahr, Fräulein Sölve, ich darf es Ihnen doch schenken?« bettelten die wunderschönen Kinderaugen mit dem roten Mündlein um die Wette, und Sölve hätte ein Herz von Stein haben müssen, wenn sie dieses mit so viel Liebe dargebrachte Geschenk zurückweisen wollte. »Natürlich, Iralein, wie lieb von dir. Wie heißt es denn?« »Schneeweißchen!« »Ah, wohl als Gegenstück zu dir, du Schmeichelkätzchen Rosenrot«, lachte Götterun erheitert, worauf ihn die Kleine vorwurfsvoll ansah. »Deswegen doch nicht, Onkel Jobst. Doch bloß, weil es so schneeweiß ist. Es ist sogar ein Kater.« Über diesen Trumpf mußten alle lachen, was die Kleine außerordentlich entzückte. Nun erst wußte sie, daß ihr Geschenk angebracht war, das Sölve nun aus dem Körbchen nahm und zärtlich liebkoste. »Es ist von meiner Muschi«, plauderte sie zutraulich. »Ganz heimlich habe ich es hergebracht.«
»Da bin ich nur neugierig, wie sich unsere Hunde, hauptsächlich der schwarze Tintenwischer und der freche Dackel Fink, zu diesem Zuwachs stellen werden«, gab der Baron amüsiert zu bedenken. »Sie werden ihn wahrscheinlich als Eindringling betrachten und danach behandeln.« »O nein«, widersprach Elwira eifrig. »Unsere Hunde benahmen sich direkt ritterlich zu dem Kätzlein.« »Dann bin ich überzeugt, daß sich unsere Hunderitter nicht beschämen lassen werden«, lachte er herzlich mit den andern. »Aber nun eine Gewissensfrage, Klein Rosenrot: Auf welchem Wege bist du hierher gekommen?« Nun überzog sich das Gesichtlein mit heißer Glut. Ein Füßchen trat das andere in ratloser Verlegenheit. »Zu Fuß, Onkel Jobst!« »Heimlich?« Ein beschämtes Nicken. Entzückt ruhten die Augen aller auf dem reizenden Kinde, auf das jede Mutter stolz sein mußte, wenn sie nicht die Verbohrtheit Frau Fränzes besaß, die gerade ihre beiden schönsten Kinder für entartet hielt, weil sie ihr wesensfremd waren. »Nun, da muß der gute Onkel Jobst denn doch wieder einmal helfen, wie?« fragte er lächelnd. »Ich muß sowieso über Kaimucken reiten, da werde ich so ein wenig Prinz spielen und das Prinzeßlein Rosenrot auf mein Roß nehmen.« »O du lieber guter Onkel Jobst!« Er wurde stürmisch umhalst und geküßt, bis er sie lachend von sich schob. »Höre einmal, du kleiner Unband, an deiner Stelle würde ich die heimlichen Streifzüge doch lieber unterlassen. Wenn die Mama nun dahinterkommt, dann möchte ich nicht in deinem rosigen Fellchen stecken.« »Ach, Onkel Jobst, artig bin ich ja sowieso nicht – « »Schöne Selbsterkenntnis. Aber nun komm, damit der Schleichpfad nicht doch noch entdeckt wird.«
»Einen Augenblick noch, Herr Baron«, meldete sich nun Minchen, die über die Brille hinweg die kleine Elwira kritisch musterte. Die wußte genau, was das zu bedeuten hatte und schlich beschämt zu ihr hin, die ihren Strumpf weglegte, wortlos dem Kinde das rosenrote Röcklein auszog und hurtig die Risse darin zu stopfen begann. Das tat sie nicht zum ersten Male. Kaum einer kannte die Verhältnisse in Kalmücken so gut wie Minchen und wußte daher, daß sie mit diesem Liebesdienst der Kleinen die Prügel von der Mutterhand ersparte. Ira kauerte sich nun vor den Diwan und sah mit ihren strahlenden Augen unentwegt zu Sölve hin. Alle aus Kaimucken waren schon gekommen, um sich den Zuwachs in Uhlen anzuschauen. Herr Julius hatte nur wenige Minuten bei Sölve verbracht und draußen, bekümmert über so viel Erbarmungswürdigkeit, den Kopf geschüttelt. Walburga brachte eingekochte Früchte mit, fest davon überzeugt, daß nur die von ihr behandelten essenswert wären. Sie hatte mit Sölve wie mit einer Todkranken gesprochen, der man noch am selben Tage die Augen zudrücken würde. »So, komm her, nun ist das Röcklein wieder ganz«, meinte Minchen befriedigt, in dem sie dem Kinde das Kleid überzog. »Nun werde ich dich noch kämmen.« Tiefste Besorgnis in den Augen, verließen Frau Fröse und Götterun, der das Kind an der Hand führte, leise das Zimmer. Du willst von hinnen ziehen
und läßt mich hier allein?
Dann geh ich auch – denn ohne dich
mag ich hier nimmer sein.
An einem regennassen Oktobertag saß Sölve in Frau Fröses Gesellschaft in dem Teezimmerchen im Schaukelstuhl. Dem brennenden Kamin entströmte mollige Wärme. Es war so recht behaglich.
Frau Fröse, die lesend am Kamin saß, sah immer wieder verstohlen zu Sölve hin, die, wortkarg wie gewöhnlich, hin und herschaukelte. Den Kopf hatte sie zurückgelegt, die Augen geschlossen. Die Hände, die die Seitenlehnen des Stuhles umklammert hielten, zuckten nervös. Die Dame konnte nur schwer einen Seufzer unterdrücken. Was gab sie sich mit diesem Mädchen für Mühe – aber alles war umsonst. Da mußte man mutlos werden. Ihre unerquicklichen Gedanken wurden durch den Eintritt des Schloßherrn unterbrochen. Forschend ging sein Blick zu Sölve hin, die wohl die Augen öffnete, in ihrer Stellung jedoch verharrte. Er sprach sie nicht an, sondern ließ sich Frau Fröse gegenüber in einen Sessel sinken und zündete eine Zigarette an. Er war gelassen wie immer. Doch die Hausdame, die diesen Mann ja so genau kannte, merkte, daß ihn etwas stark bewegte. Dann drückte er den Rest seiner Zigarette in die Aschenschale, strich sich einige Male ruckartig über Augen und Stirn und lächelte. »Ja, Frau Fröse, Sie haben recht, wenn Sie annehmen, daß ich etwas auf dem Herzen habe. Aber Sie brauchen deshalb nicht so angstvolle Augen zu machen, der Grund ist erfreulicher Art. Ich habe nämlich geerbt.« »Aber das ist ja wunderbar!« rief sie erfreut. »Ist es viel?« »Ich glaube doch. Die Farm mit allem Drum und Dran meines Onkels in Afrika, der vor einigen Wochen gestorben ist, und der mich zum Universalerben eingesetzt hat.« »Dann werden Sie am Ende auswandern, Herr Baron?« »Kein Gedanke, meine Getreue. Ich habe ja Uhlen, an dem ich mit ganzem Herzen hänge. Aber das Geld, das diese Erbschaft einbringen wird, kann ich gut gebrauchen. Ich werde die Farm verkaufen. Wie mir der Testamentsvollstrecker mitteilt, hat er bereits einen Käufer an der Hand. Aber dazu muß ich dorthin. Und da die Ernte so gut wie geborgen ist, bin ich abkömmlich und werde die Sache
nicht auf die lange Bank schieben. Mit dem nächsten Schiff reise ich.« Nach diesen Worten war es zuerst eine Weile beklemmend still. Dann fragte die Hausdame leise: »Ist diese Reise nicht gefährlich, Herr Baron?« »Ja, ganz einfach wird sie nicht sein, da ich ja ganz fremd dorthin komme. Aber da mein Onkel jahrzehntelang dort gelebt hat und eines natürlichen Todes gestorben ist, werde ich auch nicht umkommen. Der Onkel war nämlich das berühmte schwarze Schaf der Familie, das nach dem Ausland abgeschoben wurde. Mein Vater hat ihm als einziger der Sippe die Treue gehalten, ist auch stets mit ihm in Verbindung geblieben. Ich ernte nun die Früchte dieser Treue. Und was sagt unsere Sölve dazu?« wandte er sich an das Mädchen, die das Schaukeln eingestellt hatte und nun regungslos im Stuhl lag. Ein Erschrecken ging über Götteruns Gesicht. Hastig erhob er sich und trat an den Schaukelstuhl. »Sölve, dir ist doch bestimmt nicht gut – « »Ganz wohl ist mir. So wohl, daß ich mir eine Stellung suchen werde.« »Rede doch nicht so einen blühenden Unsinn, mein kleines Mädchen. Um das zu können, mußt du aus ganz anderen Augen schauen.« »Ich will euch aber nicht länger zur Last fallen!« begehrte sie auf. »Ich bin doch nur ein Eindringling hier – ein – ein –«
Laut aufweinend, warf sie sich in den Schaukelstuhl zurück,
der ob dieser Erschütterung auf und nieder wippte. Ein
stoßendes Schluchzen durchschüttelte den elenden Körper,
das Antlitz zuckte und bebte.
»Kind, in welchen Gedanken hast du dich da verfangen«,
entgegnete er kopfschüttelnd und fing die ruhelosen Hände
ein, die sie ihm wieder entziehen wollte, was ihr diesmal
jedoch nicht gelang.
»Nun mal ruhig, Sölve, hörst du -?« verlangte er in einem
Ton, mit dem er sonst nicht zu ihr zu sprechen pflegte. »Du
hast absolut keinen Grund, dich so unerhört zu erregen.
Warum willst du fort? Hast du über irgend etwas Klage zu
führen?«
»Um Gottes willen!« wehrte sie erschrocken. »Mir geht es
so gut, wie es mir wohl nie gehen wird – wenn ich hier fort
bin – «
»Und warum willst du das?
Es ist doch ausgemacht, daß du in Uhlen eine Heimat
finden sollst.«
»Ja – aber – «
»Was aber? Nun sei mal ehrlich, Sölve, und sage endlich
was dich quält.«
»Ich bin hier so unnütz, lebe keinem zuliebe, nur allen zur
Last. Denke nur daran, was Frau Fröse schon allein mit mir
Plage hat. Ach, Onkel Jobst – ich möchte sterben!«
»Natürlich, das ist immer der Weisheit letzter Schluß.
Trägst du denn ein so großes unstillbares Leid, das diesen
Lebensüberdruß rechtfertigen könnte?«
»Ich bin krank – «
»Dann werde gesund! Das ist nämlich allein in deine Hand
gegeben.
Und nun Schluß mit dem Unsinn! Ich sage dir noch
einmal, daß Uhlen deine Heimat ist und du bleiben
kannst, so lange du magst.«
»Dann wirst du mich nie mehr los, Onkel Jobst.«
»Na also, das ist doch ein vernünftiges Wort. Nun mache
mir auch Freude und werde rasch gesund. Dann wirst du
alles mit anderen Augen ansehen.
So – nun werde ich alle Hebel in Bewegung setzen, damit
ich auf die Reise gehen kann. Je früher ich wegkomme,
desto früher bin ich wieder hier.«
Gütiges Herz, was quälst du dich,
Wann läßt eine Mutter ihr Kind im Stich?
Kannst du mich missen?
Ich dich nicht!
Gütiges Herze, besinne dich. Herbststürme über der Ostsee! Oft erlebt und oft erschaut –
und doch immer wieder neu. Der Mensch kommt sich
plötzlich so klein vor, spürt angesichts der Naturgewalten,
wie winzig klein doch sein Leben ist, das er so unendlich
wichtig nimmt. Er wird demütig und fromm und ist
seinem Herrgott so nahe wie in keiner anderen Stunde.
Das empfand auch Frau Fröse, die im Teezimmer saß und
auf das Toben draußen hörte. Wie liebte sie diesen Sturm!
Zehn Jahre hatte sie ihm lauschen dürfen – zehn lange
Jahre – und vielleicht – Zehn Jahre hatte sie hier gelebt und
gewirkt. Zehn Jahre hindurch Leid und Freud mit den
Schloßbewohnern geteilt.
Langsam ließ sie ihre Blicke über das vertraute und so sehr
geliebte Bild schweifen, und ihr Herz zog sich schmerzend
zusammen.
Liebes, vertrautes Bild, liebes, kleines Gemach, mit deiner
anheimelnden Traulichkeit. Prächtiges Uhlen, mit allem,
was darin lebt.
Liebe, vertraute Käuzchen, ihr Glücksvögel von Uhlen,
auch euch gehört mein Herz. Auch euer Rufen muß tönen
in dem Schlummerlied – von Wald – und Meer und Wind.
Liebes geliebtes Uhlen – liebe geliebte Heimat.
»Guten Abend, Frau Fröse – schlafen Sie?«
Sie schrak auf und sah den Baron verstört an.
»Habe ich Sie erschreckt, meine Getreue?«
»Ein wenig wohl«, raffte sie sich gewaltsam auf. »Sie sind
wohl hereingeschwebt wie eine Sylphide?«
»Na, ich danke – so mit Schuhgröße dreiundvierzig. Ist das
hier bei Ihnen ein wundervolles Nachhausekommen! Nach
diesen stillen Stunden zu zweit werde ich mich in Afrika
kranksehnen. Mich packt schon das Heimweh, bevor ich
fort bin.«
Michael brachte Speckeier und Röstkartoffeln. Ein Gericht,
das Götterun zu jeder Tages- und Nachtzeit essen konnte,
wie er immer behauptete. Dann eine Platte mit Aufschnitt,
Butter und Brot. »Also, Frau Fröse, in einer Woche geht die Reise los. Es hat alles gut geklappt, und wenn es im heißen Afrika ebenso sein sollte, dann kann ich im Frühjahr schon wieder zurück sein. Wenn es mir nicht um das Geld zu tun wäre, dann würde ich gar nicht fahren, sondern den Rechtsberater dort beauftragen, die Farm zu verkaufen. Aber so muß ich Wert auf jede Mark legen, die Uhlen so bitter nötig hat. Und schließlich bekomme ich auf der Reise wieder ein schönes Stück von der Welt zu sehen. Damit muß ich mich trösten. Hier weiß ich alles in besten Händen, und so kann ich meine Geschäfte in Ruhe abwickeln.« »Darüber möchte ich noch mit ihnen sprechen, Herr Baron«, entgegnete sie hastig und mußte all ihre Selbstbeherrschung aufbieten, um unter seinem erstaunten Blick ruhig zu bleiben. »Es ist nämlich meine Überzeugung, Herr Baron, daß ich während Ihrer Abwesenheit hier über bin. Der ganze Zuschnitt des Hauses wird ja dann ein anderer werden. Da gibt es also nichts mehr für mich zu tun. Und die Wirtschaftsführung liegt sowieso in den bewährten Händen der Mamsell – ich wüßte also nicht, was ich hier anfangen sollte.« »So – und haben Sie Sölve vergessen? Sind Sie Ihres Samariterwerkes bereits überdrüssig? Oder wie soll ich sonst Ihre sonderbare Eröffnung verstehen -?« fragte er so eigentümlich, daß es ihr das Blut ins Gesicht trieb. »Sölve nehme ich mit mir. Ich habe von meinem verstorbenen Bruder eine Summe geerbt, die es mir ermöglicht, eine Zeitlang ein angenehmes Leben zu führen. Wenn Sie dann wieder zurück sind, Herr Baron, kann Sölve wiederkehren und ich mit, falls es erwünscht sein sollte – « »Wenn ich Sie nicht so genau kennen würde, Frau Fröse, dann würde ich Ihre Worte als Kränkung auffassen. Also, Frau Fröse, ich möchte den wahren Grund wissen. Das Recht habe ich dazu, kraft unserer zehnjährigen Zusammengehörigkeit. Ich habe zu vielen Malen von
Ihnen gehört, daß Ihnen Uhlen eine wahre Heimat ist. Warum wollen Sie die nun verlassen?« »Herr Baron, es gibt Dinge, die lieber ungesagt bleiben.« »Dacht’ ich mir’s doch – «, warf er aufatmend ein. »Nun Farbe bekannt, anders kommen Sie nicht davon. Ist es Sölve, die Sie in die Flucht schlägt?« »Um Gottes willen, Herr Baron, dieses arme brave Seelchen! Sie hörten doch, daß ich sie mit mir nehmen will. Weshalb ich von hier fort möchte, ist, daß ich mich dem allen, was auf mich einstürmen würde, nicht gewachsen fühle.« »Nanu, zehn Jahre lang ging es doch? Man hat uns allgemein um die Repräsentantin unseres Hauses beneidet. Und als meine Angehörigen noch lebten, war eine Repräsentation doch weit schwieriger als jetzt. Aber ich weiß nun den Grund: Frau Fränze – « Sie zuckte erschrocken zusammen, und er lächelte. »Ihrem Erschrecken sehe ich an, daß ich den Nagel auf den Kopf getroffen habe.« Er weidete sich an ihrer Verlegenheit, die immer größer wurde. »Herr Baron, Sie quälen mich -!« »Schadet nichts, das haben Sie verdient, meine ungetreue Getreue.« »Es ist nicht meinetwegen allein – hier geht es auch noch um Sölve. Frau von Ragnitz sowie ihr Sohn, der sich hier schon als Herr fühlt, betrachten das Mädchen als Eindringling und würden es danach behandeln. Und Sölves Sensibilität ist Ihnen ja nicht unbekannt. Kurz und gut: Um allen Kränkungen, Demütigungen und allen Schikanen zu entgehen, räumen wir beide freiwillig das Feld.« »Also kneifen wollen Sie – ganz einfach kneifen«, schüttelte er mißbilligend den Kopf. »Ist das etwa fair? Und nun werde ich Ihnen mal etwas sagen, meine Liebe: Ehe ich Sie von Uhlen lasse, breche ich lieber mit der
Verwandtschaft und verbiete ihnen das Haus.« »Großer Gott, nur das nicht-!« wehrte sie entsetzt. »Das will ich nicht auf mein Gewissen laden.« »Können Sie ruhig! Mir würde das Herz dabei nicht brechen. Denn ich weiß ganz genau, was ich von Frau Fränze und ihrem Wunderknaben zu halten habe. Oder nehmen Sie an, daß ich mit verbundenen Augen und Ohren durch meine Tage gegangen bin? Und nun werde ich Ihnen eine zwar derbe, aber wirkungsvolle Vollmacht geben, der zufolge Sie die Herrschaften an die frische Luft befördern können, wenn sie zu unverschämt werden. Als Zugabe dürfen Sie dem anmaßenden Wunderknaben noch eine herunterhauen.« Nun mußte sie herzlich lachen. »Das würde wenig nützen – sie würden trotzdem wiederkommen.« »Recht haben Sie, denn deren Unverfrorenheit ist auch mir nicht unbekannt. Aber wiederholen Sie diese Prozedur so lange, bis sie endlich merken, was die Glocke geschlagen hat. Wie kommt der Bengel überhaupt darauf, sich hier schon so als Herr zu fühlen? Mir hat die pedantische, altkluge Art des Bürschchens immer großen Spaß gemacht, und ich habe daher vieles durchgehen lassen, was ich hätte rügen müssen. Aber daß er hier den Herrn herauskehrt, ist denn doch die Höhe. Mit welchem Recht, möchte ich bloß wissen -?« »Haben Sie nicht testamentarisch festgelegt, daß Roderich Uhlens Erbe ist?« fragte sie gespannt. »Wie kommen Sie denn darauf, Frau Fröse?« fragte er verwundert. »Ich habe wohl einmal bei meinen Verwandten erwähnt, daß Roderich eventuell als mein Erbe in Frage käme – das ist aber auch alles.« »Und Heike, Herr Baron?« Ein Zucken ging über sein Gesicht. »Mein kleines Mädchen werde ich nach meiner Rückkehr nicht mehr wiedersehen.« Frau Fröse fühlte erbarmendes Mitleid mit dem Mann, dem
das Schicksal so hart zusetzte. Was sollte sie sagen – wie sollte sie trösten? Jedes Wort wäre eine Wunde, die jede Berührung scheute. »Ich habe heute schon von ihr Abschied genommen, da ich nicht weiß, was die letzten Tage noch an Scherereien bringen könnten, und mir noch Zeit bleibt, das Kind noch einmal zu sehen. Und wozu auch? Es ist ja doch immer dasselbe – immer dasselbe! – Auf meine Frage ein bedauerndes Achselzucken der Ärzte und das Phrasenhafte: Solange noch Leben ist, ist Hoffnung. Worauf soll ich denn noch hoffen? Auf ein Wunder vielleicht? Das darf ich doch nicht ausgerechnet ich -!« schloß er, und es klang unendlich bitter. Die Frau konnte nicht anders, sie mußte sanft und lind über die Augen streicheln, in denen soviel hoffnungslose Resignation lag. Da stöhnte er auf – nur einmal – dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Schon um meines kleinen Mädchens willen dürfen Sie nicht von hier gehen, Frau Fröse. Vielleicht lebt es doch noch eine Zeit. Und wer sollte sich denn um es kümmern? Doch nicht gar Frau Fränze. Die wartet ja nur auf des Würmchens Tod. Auch an Sölve müssen Sie Ihr Samariterwerk vollenden, meine Getreue. Auch die werde ich wohl nicht wiedersehen.« »Also, sie bleiben – « »Ja, Herr Baron – ich bleibe – «, entgegnete sie fest. Da packte er die gütigen Frauenhände und sagte leise: »Nicht mehr, Herr Baron - Sie Liebe, Sie Gute! Einfach nur Jobst. Denn diese Stunde hat uns ganz nahegebracht.« Und hüte deine Zunge wohl!
Ein Wort in Unbedacht gesagt,
kann stechen wie des Schwertes Spitze,
schafft Leid und Ungemach.
Sölve lag in ihrem Zimmer auf dem Diwan. Spielerisch glitten ihre Finger über das seidenweiche Fell des Kätzleins, das zusammengerollt in ihrem Arm schlief und vor Wohlbehagen schnurrte. Es wich kaum noch von ihrer Seite, zumal es die Hunde fürchtete. Auch jetzt lauerten sie wieder vor der Tür. Das vornehme Windspiel Fasold, das immer so hochnäsig tat, Harras, der Jagdhund, der das Privileg hatte, Herrchen immer begleiten zu dürfen, der schwarze »Tintenwischer« Tiwi und der freche Dackel Fink, der seinen Namen weghatte, weil er dem Finken des Hauses, dem Liebling aller, mit Vorliebe das Futter wegfraß. Aber da nahte die Rettung in Gestalt Frau Fränzes, die sie wohl nicht gern mochten, als Erlöserin jedoch gelten ließen. Und als diese die Tür zu Sölves Zimmer öffnete, schossen Tiwi und Fink ihr durch die Beine, daß sie um ein Haar die Balance verloren hätte. Es gelang ihr noch mit knapper Not, sich am Türpfosten festzuhalten. »Was ist das hier bloß für eine verrückte Zucht!« schalt sie hochrot vor Ärger. »Sich so viele Hunde zu halten, bekommt doch nur mein Schwager fertig. Alles unnütze Fresser! Wollt ihr wohl, ihr Gesindel!« Nach rechts und links Schläge austeilend, wollte sie sich zum Diwan hinpirschen, was ihr jedoch erst gelang, als Sölve die Hunde zur Ordnung gerufen hatte. »Ihr seid meine braven Hundchen«, begütigte das Mädchen, die stürmischen Gesellen zärtlich streichelnd. »Aber ihr müßt brav sein und euch legen, sonst müßt ihr hinaus.« Das Wort war ihnen sehr geläufig. Mit hängenden Ohren und hängender Rute streckten sie sich seufzend nieder, aufmerksam beobachtend, was um sie herum vorging. »Na, endlich -!« schnappte Frau Fränze nach Luft. »Bei dem Höllenspektakel kann man ja verrückt werden. Guten Tag, Fräulein, was haben Sie denn da? Ist das etwa ein Junges von unserer Angorakatze?« »Ja, gnädige Frau, das hat mir Ihr Töchterchen geschenkt.«
»Die Ira? Sieht diesem Firlefanz ähnlich! Die ist ja der reinste Tiernarr. Möchte sich am liebsten eine ganze Menagerie halten. Und mein Mann unterstützt sie noch bei diesem Unfug. Aber, was ich fragen wollte: Wo ist mein Schwager?« »Ich weiß es nicht, gnädige Frau.« »Auch Frau Fröse ist nirgends zu finden, man kann unten alles in Ruhe wegtragen. Wie geht es Ihnen?« »Danke, gnädige Frau, ganz gut.« »Na, Kunststück, bei dem Theater, das man mit Ihnen macht. Er kann nämlich auch sehr rücksichtsvoll sein, mein Schwager, wenn meine arme Schwester auch nichts davon zu spüren bekommen hat. Daher hat sie auch früh ins Grab müssen. Aber zeigen Sie doch mal, was haben Sie da für eine elegante Decke?« zeigte sie auf die zartgrüne Decke aus Seidenflausch, die über Sölve gebreitet war. »Hat die nicht meiner Schwester gehört? Ich will doch nicht annehmen, Fräulein, daß Sie sich dieses elegante Stück angeeignet haben?« Bei dieser impertinenten Frage wich jeder Blutstropfen aus dem Antlitz des Mädchens. Ihre Augen hasteten hilflos umher und blieben dann an der Tür haften, in der Frau Fröse sichtbar wurde. Da sank sie aufatmend in die Kissen zurück. In dem todblassen Gesicht zuckte und arbeitete es, der Körper flatterte und bebte. »Mein Gott, Sölve -!« stieß Frau Fröse angstvoll hervor. »Kind, so erregen Sie sich doch nicht so -!« Sie reichte ihr die Tropfen, die bei solchen Fällen immer wirkten. Und schon Sekunden später wurde Sölve tatsächlich ruhiger. »Ja, was hat sie denn?« fragte Frau Fränze recht verblüfft, und die Hausdame sah sie kalt an. »Wenn Sie das nicht wissen, tun Sie mir leid.« »Etwa wegen der Decke da?« dämmerte es bei ihr. »Mein Himmel, ich habe doch wohl das Recht, danach zu fragen, wie die Decke meiner Schwester hierher kommt.«
»Der Ton macht die Musik, gnädige Frau – « »Ach was, ich kann mir doch diesem Fräulein zuliebe keinen anderen Ton angewöhnen. Meine Familie ist mit dem sehr zufrieden, und ich auch. Ich möchte die Decke mitnehmen. Denn Sie wissen, daß mir mein Schwager den gesamten Nachlaß meiner Schwester abgetreten hat.« »Die Decke gehörte nicht Ihrer verstorbenen Schwester – sondern der Baroneß Konstanze.« »Aber, meine liebe Frau Fröse, Sie wollen mir doch nicht weismachen – « Ihr Redestrom versiegte, als ihr die Dame die Decke entgegenhielt, in deren Ecke ein Monogramm prangte. »K. G. – Konstanze Götterun – «, entzifferte sie recht mühelos. »Tatsächlich! Aber meine Schwester hat doch genauso eine Decke gehabt.« »Die der Frau Baronin war rosa – « »Ach ja – nun besinne ich mich – «, war sie nun doch verlegen. »Ich habe die Sachen gleich zu Walburgas Aussteuer gepackt und daher nicht alles so genau in Erinnerung. Aber, wie kommt es, daß mein Schwager duldet, daß dieses Fräulein die Sachen seiner vergötterten Schwester benutzt? Meine Schwester hat oft von den Sachen haben wollen, die ja nur vermotten und verkommen, aber er hat es ihr immer wieder abgeschlagen. Ist ihm denn dieses Fräulein etwa mehr als seine Frau ihm war -?« »Was steht denn hier zur Debatte -?« kam es von der Tür her, durch die der Baron schritt. Einen Blick auf die verstörte Sölve »Was ist vorgefallen, Frau Fröse -?« Sie wich seinen Blicken aus – und langsam ließ er die seinen von einem zum andern wandern. »Ich irre wohl nicht, Fränze, wenn ich annehme, daß du wieder einmal eine deiner Taktlosigkeiten begangen hast ?« fragte er drohend. »Na, erlaube mal -!« wollte sie auffahren. »Schweige –!« Das Wort durchschnitt wie ein Peitschenhieb
das Zimmer, so daß selbst die Hunde erschrocken zusammenfuhren. »Gehen wir.« Wortlos folgte ihm Frau Fränze, was bei ihr schon allerlei zu bedeuten hatte. Aber dieser Jobst hatte auch manchmal eine Art, die einem das Blut gefrieren machen konnte. »Du bist mir wohl eine Erklärung schuldig?« fragte er, als sie sein Zimmer erreicht hatten. »Mein Himmel, wie theatralisch -?« lachte sie gezwungen. »Ich wollte dich sprechen, fand dich unten nicht vor und ging nach oben, wo ich Frau Fröse zu finden hoffte, weil sie ja ständig bei dieser Sölve sitzt. Zuerst hatte ich das übliche Theater mit den Kötern, dann sprach ich das Fräulein und glaubte in einer Decke die Bettinas zu erkennen – « »Und hast dem Mädchen auf den Kopf gesagt, daß es die Decke gestohlen hat – «, unterbrach er sie hart. »Für was für einen Banausen hältst du mich denn überhaupt – «, begehrte sie empört auf. »Es ist lächerlich, aus dieser harmlosen Angelegenheit einen Staatsakt zu machen, nur weil so ein dummes Mädchen überempfindlich ist. Ich sage meinen Töchtern noch ganz was anderes.« »Was du mit deinen Töchtern machst, geht mich nichts an«, erklärte er scharf. »Aber für dieses Mädchen bin ich verantwortlich und kann daher nicht dulden, daß es an seiner Gesundheit Schaden nimmt.« »Ach, herrjeh, was ist das denn für eine Prinzeß, daß man nicht wie mit Gewöhnlichen zu ihr sprechen darf -?« lief sie rot vor Ärger an. »Die scheint ja hier das ganze Haus zu beherrschen. Wenn du ihr sogar die Sachen deiner Schwester Konstanze gibst, die du bisher wie ein Heiligtum gehütet hast – « »Das dürfte doch wohl allein meine Angelegenheit sein.« »Ja, natürlich. Aber meine Schwester, die dich oft genug um die Sachen angebettelt hat, der hast du sie stets versagt. Du hast ihr überhaupt jeden Wunsch abgeschlagen – « »Schweig jetzt, Fränze!« Aber sie tat es nicht. Sie war heute wie blind und taub.
»Du hast Bettina immer lieblos behandelt, so daß ihr das Herz darüber brach und sie ins frühe Grab mußte – «, beschuldigte sie ihn weiter, hörte dann aber auf, als sie sein Gesicht sah, in dem die Wangenmuskeln spielten und die Augen wie grünliches Eis glitzerten. Da wollte sie ihre beleidigenden Worte abschwächen, aber er winkte ab. »Beenden wir die Unterredung – «, sagte er in einem Ton, der ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Tief gekränkt entfernte sie sich und stieg draußen in den altersschwachen Wagen. Das war wieder einmal ganz Jobst. Machte ein Trara mit diesem verkümmerten Mädchen, so daß sich dieses leisten konnte, das ganze Haus mit seiner Krankheit zu tyrannisieren. Ihr waren kranke Menschen ein Greuel. Wer nicht gesund werden konnte, der sollte eben sterben. Dann war er am besten aufgehoben und fiel seinen Mitmenschen nicht auf die Nerven. Sie wäre auch kaum erschüttert gewesen, wenn sie gesehen haben würde, was sie mit ihren unbedachten Worten angerichtet hatte. Sölve, von Natur schon äußerst sensibel veranlagt, war durch ihre Krankheit und die Demütigungen der letzten Jahre noch empfindlicher geworden. Sie bildete sich ein, jedem eine Last zu sein, die er gern abschütteln wollte, und zergrübelte und zerquälte sich ihren armen kranken Kopf mit Hirngespinsten. Die Unbedachtsamkeit Frau Fränzes hatte ihr nun den Rest gegeben. Alles, was sie bisher ängstlich in sich verschlossen hatte, schrie sie nun in wahnsinniger Erregung hinaus. Frau Fröse und Götterun vernahmen mit Entsetzen, was das arme Kind sich alles zusammengesponnen hatte. »Ich muß fort-!« jammerte sie. »Ich darf ja nicht hier bleiben, wenn Onkel Jobst fort ist. Seine Verwandten neiden mir hier den Platz – und sie haben recht. Sie werden mich hinausjagen, wenn er nicht hier ist. Da will ich lieber freiwillig gehen, will hier nicht länger das Gnadenbrot essen und allen mit meiner Krankheit zur Last fallen -!«
Ehe es Frau Fröse verhindern konnte, war sie von dem Diwan geglitten, tat einige Schritte – und sank dann zusammen. Es gelang Götterun noch rasch, hinzuzuspringen und sie in seinen Armen aufzufangen. Er legte sie auf den Diwan zurück und sah voll tiefster Sorge in das kalkweiße Gesicht, in dem die Augenlider und Lippen blau anliefen. Jetzt wurde gar ein Röcheln hörbar. »Großer Gott – sie stirbt -!« schrie Frau Fröse entsetzt auf. »Sekt -!« stieß der Baron zwischen den Zähnen hervor, und so schnell war die Frau wohl noch nie gelaufen, wie in den Minuten heißer Herzensangst. In unwahrscheinlich kurzer Zeit kehrte sie mit einem gefüllten Sektglas zurück. Ihre Hände zitterten so, daß sie es kaum halten konnte. Es war ein schweres Stück Arbeit, dem Mädchen den Sekt einzuflößen. Aber es gelang, und die Wirkung stellte sich ein. Der Sekt belebte das Herz, das schon seine Tätigkeit einstellen wollte, und das Antlitz bekam langsam Farbe. »Frau Fröse, ich werde versuchen, Doktor Fels herzubekommen«, flüsterte er ihr zu. »Haben Sie gut acht, und flößen Sie ihr, wenn es nötig sein sollte, wieder Sekt ein. Ich bin so schnell wie möglich zurück.« Er hatte Glück, denn er konnte den vielbeschäftigten Arzt sprechen. Kurze Zeit darauf war er in Uhlen. Und wenn jemand der Kranken noch helfen konnte, so war es dieser Mann, der eine Kapazität auf seinem Gebiet war. »Tja, mein lieber Baron, was soll ich Ihnen sagen«, meinte er, als er an des Schloßherrn Seite zu seinem Auto schritt. »Steht Ihnen die Kleine nahe?« »Nahe genug, um ihren Tod zu fürchten.« »Dann tun Sie mir leid. Das ganze Nervensystem ist in einem schauderhaften Zustand, und das Herz scheint nicht mehr mitmachen zu wollen. Dieses Leben können wir nur noch dem lieben Gott überlassen.« »Vielleicht wäre es gut, wenn wir sie in Ihre Klinik brächten?« »Reißen Sie das arme Ding nicht aus seiner gewohnten
Umgebung, es könnte das Ende beschleunigen. Ich werde mich aber um die Kleine kümmern, weil mich der Fall interessiert.« Nimm an dein Herze mich,
da ruh ich weich und warm.
Komm, küsse mich,
dann bin ich nicht mehr arm.
Am nächsten Vormittag betrat Götterun das Zimmer Sölves, die, wie immer, angekleidet auf dem Diwan lag. Sie sah ihm aus matten Augen entgegen und ließ es geschehen, daß er ihre Hand nahm. »Werden der Herr Baron länger bleiben?« erkundigte sich Minchen. »Ja, Minchen. Sie können ruhig einen kurzen Spaziergang machen.« Dann saß er bei Sölve, hielt ihre Hände und wußte nicht so recht, was er sagen sollte, was ihm, dem weltgewandten Mann, selten genug geschehen mochte. Es war aber auch schwer, unter diesen großaufgeschlagenen Augen, in denen sich schon ein Licht aus einer andern Welt zu spiegeln schien, zu sprechen. Voll Erbarmen sah er auf sie nieder, sah das leichenblasse, eingefallene Gesicht, die bläulichen Lippen und das farblose Haar, das man auf dem Kopf einzeln zählen konnte. Ein heißer Wunsch stieg in ihm auf, diesem armen Menschenkind etwas Liebes zu tun, seine letzte Lebenszeit zu verschönen und es in guter, sicherer Hut zurückzulassen. Nach seiner Rückkehr sah er es ja doch nicht mehr. »Sölve!« begann er behutsam. »Sölve, hörst du mich?« »Ich schlafe nicht, Onkel Jobst.« »Sölve, mein kleines Mädchen, möchtest du immer in Uhlen bleiben?« »O, wie gern-!« »Dann werde meine Frau!«
Die Wirkung seiner Worte war nicht so, wie er erwarten konnte. Sie erschrak nicht, schrie auch nicht auf – sie sah ihn nur groß an. Vielleicht hatte sie seine Worte gar nicht gehört? »Du hast mich doch verstanden -?« forschte er unruhig. »Ich werde doch verstehen und begreifen, was für mich höchste Seligkeit wäre«, flüsterte sie. »Immer in Uhlen bleiben dürfen, von niemandem fortgejagt werden können - auch von Frau Ragnitz nicht - oh, das wäre schön.« Doch dann richtete sie ihren Blick auf ihn, sah ihn an, als müsse sie ihm auf den Grund seiner Seele schauen. »Und warum bietest du mir das an, Onkel Jobst? Weil ich krank bin und bald sterben werde -?« Er zuckte unter ihren Worten zusammen wie unter einem Hieb. Nur jetzt ganz ruhig bleiben – diesen suchenden, forschenden Blicken standhalten. »Du Närrchen«, sagte er lächelnd. »Seit wann macht man einer Todeskandidatin einen Heiratsantrag? Kannst du dir gar nicht denken, warum ich dich zur Frau haben möchte?« »Doch nicht etwa – weil du mich liebst?« Götterun war es, als müsse ihm das Herz stillstehen vor Schreck, als sie nun das aussprach, wovor er sich fürchtete. Sollte er diesem armen Mädchen die Wahrheit sagen? Sollte er sagen, daß diese Werbung nur einen Akt der Barmherzigkeit darstellte? Damit würde er sie ja töten! Er sah das schöne Antlitz Frau Elgas vor sich, sah ihre bettelnden, flehenden Augen, hörte ihre beschwörende Stimme: »Jobst, sei barmherzig, laß meinem Kinde den Glauben an deine Liebe, mache ihm das Sterben leicht. Es ist doch mein Kind, Jobst – und du hast mich doch einmal geliebt. Mache es nur für ein paar armselige Tage glücklich – scheue diese barmherzige Lüge nicht!« Da schloß er Sölve fest in seine Arme. Ganz leise fuhr sie über sein Antlitz, in dem es nun zuckte und bebte. Die Lippen streiften seine Hand. »Onkel Jobst, ich danke dir«, seufzte sie wie befreit auf.
»Jetzt will ich auch noch einmal gesund werden. Ich wollte
ja nur sterben, weil ich so verlassen war weil ich
niemanden hatte, der mich brauchte. Aber jetzt will ich
gesund werden, für dich – und schön – so schön, wie
meine Mutti war.«
»So gefällst du mir, Sölvelein«, lobte er mit einer Stimme,
die nicht ganz klar klang. »Und jetzt werde ich in die Stadt
fahren und unsere Hochzeit in die Wege leiten. Denn du
sollst ja noch mein Frauchen werden, bevor ich abreise.
Willst du das?«
»Alles, was du willst, Onkel Jobst.«
»Nun, den Onkel wollen wir ja nun streichen, meine kleine
Braut. Jobst allein ist ja auch viel schöner.
Und nun auf Wiedersehen! Versuche zu schlafen, und
träume etwas Schönes, bis ich wieder bei dir bin.«
Er drückte einen Kuß auf ihren Mund ganz behutsam und
leise – und da warf sie die Arme um seinen Hals.
»Ach, Jobst – ist es auch wahr, daß du mich liebst? Oder
liebst du in mir nur meine Mutti?«
»Nein, du mißtrauisches kleines Wesen«, log er tapfer. »Das
fällt mir gar nicht ein.«
»Weißt du, ich habe dich geliebt vom ersten Augenblick an,
da ich dich sah. Aber nie habe ich zu hoffen gewagt, daß
du mich wiederlieben könntest.«
Schmeichelnd kuschelte sie ihr Gesicht in seine Hand.
»Jetzt möchte ich schlafen – glücklich sein macht so
müde.«
Wenige Minuten später schlief sie fest.
Nimm mir die Myrte vom Kleide,
sieh in mein qualvolles Gesicht,
die Braut im Leide
begehrt sie nicht.
Einige Tage später fand in Uhlen eine Hochzeit statt, wie diese jahrhundertealte Schloßkapelle nie eine geschaut hatte.
Die marmorblasse Braut und der tiefernste Mann an ihrer Seite sahen gewiß nicht wie Hochzeiter aus. Und die Menschen, die den Altar umstanden, glichen eher Leidtragenden einer Begräbnisfeier. Selbst das gedämpfte Orgelspiel, die Worte des Pfarrers – alles klang so unsagbar traurig, so daß die kleine Gundel, die auf Geheiß der Mutter Blumen streute, entfernt werden mußte, weil sie aus Angst vor etwas Unbegreiflichem zu schreien begann. Und als der Pfarrer die Worte sprach: »Bis daß der Tod euch scheide«, da zuckten alle schmerzlich zusammen. Beim Ringwechsel setzte von der Empore eine Stimme ein, die allen die Tränen in die Augen trieb. Weich und süß klang die Stimme der jungen Ricarda. Niemand hatte gewußt, daß sie so singen konnte, sie selbst wohl auch nicht. Es war auch keines der üblichen Trauungslieder, das sie sang, aber es paßte zu dieser Stunde wie kein zweites Lied. Als die Trauung beendet war und sich das junge Paar zum Gehen wandte, trat die kleine Elwira vor, heute ganz besonders liebreizend anzuschauen in ihrem Festkleidchen. Auch sie hatte Blumen streuen dürfen wie das Schwesterchen Gundel. Nun nahm sie die übriggebliebenen Rosen aus dem Körbchen und schüttete sie über die Braut. Einige der tiefroten Blüten blieben an dem Schleier haften und hingen nun schwer herab wie Blutstropfen. Atemlos betrachtete die Kleine ihr spontanes Werk, bis sie dann aufweinte und zum Vater flüchtete. Langsam führte der Baron seine junge Gattin aus der Kapelle, immer wieder besorgt nach ihr schauend. Sie hatte sich tapfer gehalten. Jetzt war sogar eine leichte Röte in dem Antlitz. Die Augen leuchteten zum Gatten hin, der auffallend blaß war. Im Schloß stand schon eine Festtafel gedeckt, an der sich die Gäste niederließen. Es waren nur wenige. Die Familie Ragnitz – die allerdings vollzählig –, der Pfarrer, der Oberinspektor mit seiner Gattin und der beste Freund des
Schloßherrn, der Weltenbummler Dr. Jörn von Jührich. Gerade heute war er wieder einmal aufgetaucht und hatte es sich nicht nehmen lassen, bei des Intimus Hochzeit dabei zu sein. Frau Fränze benahm sich heute untadelig. Die Kunde von der Hochzeit des Schwagers empörte sie natürlich bis in die tiefsten Tiefen. Aber sie hatte ja einige Tage Zeit gehabt, sich mit dem Unabänderlichen abzufinden. Sie waren dem armen Herrn Julius nebst Kindern arg genug gewesen, aber nun atmeten sie alle auf, daß sie hier wenigstens Ruhe hatten. Mächtig schien sie der überaus kostbare Ring an Sölves Hand zu wurmen. Der glatte Goldreif an der Rechten interessierte sie nicht, der gehörte ja dem Theater, das der unberechenbare Jobst wieder einmal in Szene setzen mußte. Aber der andere, der bestimmt ein Vermögen wert war. So einen hatte ihre arme Schwester niemals besessen. Nein, jetzt nur nicht nachdenken sonst - Die Hochzeit hatte eigentlich schon am Tage vorher stattfinden sollen, war dann aber ausgerechnet auf den Reisetag Götteruns festgelegt worden. So zog er sich gleich nach dem Essen zurück, um die letzte Stunde vor der Abreise seiner jungen Frau zu widmen. Sölve war sehr erschöpft. Sie schaffte es kaum, die Treppe hinaufzugehen. So nahm er sie auf den Arm, trug sie nach ihrem Zimmer und legte sie dort auf den Diwan. Wie in einer Wolke aus Schnee, so lag sie in dem duftigen Schleier. Unter der Myrtenkrone sah durchsichtig blaß das Gesichtchen hervor, aber die Augen strahlten glückselig zu ihm auf. »Jobst, ist es auch wirklich wahr, daß ich nun die Herrin hier bin? Ich kann es noch immer nicht fassen.« »Natürlich, schönste Schloßherrin. Alles, was hier im Schlosse lebt, muß deinem leisesten Wink gehorchen.« »Und daß es so ist, das danke ich dir, du gütiger Mann. Mein Mann – wie sich das anhört. Schön! Wirst du mir auch oft schreiben?«
»Sooft ich kann. Wenn jedoch eine Nachricht mal länger ausbleiben sollte, dann beunruhige dich nicht, sondern denke daran, daß der Postverkehr dort nicht so geregelt ist wie hier.« »Wirst du auch zurückkehren, sobald du kannst?« »Ehrenwort, meine kleine Frau.« »Nun setze dich zu mir und erzähle was Schönes. Ich bin zu faul zum Sprechen.« So erzählte er dann leise, wie es sein würde, wenn er wiederkäme. Sie ließ sich von dieser verhaltenen Stimme eindämmern, und die Augen fielen ihr zu. Und das war gut; denn es war höchste Zeit, daß er sie verließ. Wenn sie erwachte, war er längst fort – und ihr blieb die bittere Abschiedsstunde erspart. Er beugte sich zu ihr nieder – sah ihr lange ins Gesicht. Dann schritt er schnell davon. Als er sich im Ankleidezimmer zur Reise umzog, trat sein Freund Jörn von Jührich ein. »Nur herein, alter Junge. Leider kann ich mich dir nicht widmen. In spätestens einer halben Stunde muß ich fort. Nimm also hier Platz.« Jührich ließ sich in einem Sessel nieder und streckte seine langen Beine behaglich von sich. Er erzählte, daß er vor einigen Tagen von einer Expedition zurückgekehrt sei. Als er erst deutschen Boden betreten, da habe ihn das Heimweh derart gepackt, daß er nicht schnell genug nach Hause kommen konnte. Mittlerweile war der Baron angekleidet. »Begleite mich nach meinem Arbeitszimmer, Jörn, wo ich auch noch eine Kleinigkeit zu ordnen habe. Für eine Zigarettenlänge wird es noch reichen.« Als sie dann bei der Zigarette saßen, kam Jührich darauf zu sprechen, was ihm am Herzen lag. »Sag mal, Jobst, was hast du dir eigentlich dabei gedacht, als du – eine Halbtote heiratetest?« sprach der sonst so ruhige Mann heftig. »Ist dein Leben noch nicht genug verpfuscht, muß es immer noch mehr werden? Ich kann
mir denken, daß du es aus Mitleid getan hast, um Elgas Tochter eine Heimat zu geben. Aber das Gefühl, aus dem heraus du dieses Elendsbündel zu deiner Frau machtest, ist nicht Mitleid, sondern Dummheit. Konntest du ihr hier nicht auf andere Weise Heimatrechte verschaffen?« »Nein, das wäre doch nichts Ganzes geworden. Die kurze Zeit, die sie noch zu leben hat, soll sie hier Herrin sein. Eine richtige Ehe käme für mich sowieso nicht in Frage.« »Wie hast du deine Werbung eigentlich motiviert. Glaubt sie etwa, daß du sie liebst?« »Was denn sonst?« »Ach, du lieber Gott, du bleibst doch ein unveränderlicher Idealist.« Die Worte verklangen, denn die Herren hatten das Zimmer schon verlassen. Sölve, die in der Tür stand und alles mithören mußte, blieb ungesehen. Sie war erwacht und nach dem Zimmer des Gatten geeilt, um Abschied von ihm zu nehmen. Nun stand sie da – die Hände in die Portiere gekrallt, in den Augen ein qualvolles Grauen. Mit einem dumpfen Stöhnen sank sie zusammen, während sich ihr Gatte von den Gästen verabschiedete. Und als man sie vermißte und voller Angst das Schloß durchsuchte, da fand man sie. Und ebenso schneeweiß wie Hochzeitskleid und Schleier war ihr qualverzerrtes Gesicht. Nirvana, du Land der Versessenheit,
bring du mir Frieden, das Glück.
Mein Herz ist so müd’
es findet nicht mehr
zu den Freuden der Erde zurück.
Die Gäste waren fort. Nur Doktor Jührich blieb. Er trug die leblose Gestalt nach ihrem Zimmer und legte sie dort auf das Bett. Wie eine Tote lag sie da, die man mit Brautgewand und Schleier geschmückt. Als Sölve entkleidet dalag und er sie untersuchte, schüttelte
er betroffen den Kopf. Er stellte dieselbe Diagnose wie später Doktor Fels, den man herbeigerufen hatte: Nervenfieber, das sich um so schlimmer auswirken würde, da es ein Rückfall war und die Kranke völlig entkräftet wäre. Sie warf sich in ihrem Bett herum und jammerte laut heraus, was sich in ihrem kranken Hirn herumwälzte. »Nein, laß mich los, ich will nicht!« wehrte sie sich verzweifelt gegen etwas, von dem sie Grauen zu empfinden schien. »Ich will nicht aus -Mitleid – geheiratet sein – ich will nicht! Sag deinem Freund eine Halbtote – heiratet man nicht! Pfui, seid ihr schlecht! Eine Halbtote heiratet man doch nicht! Seid doch barmherzig und laß mich los! Ich liebe dich doch so sehr – und du – hast mich belogen!« plagte sie sich ab, den Kopf im Kissen hin und herwerfend. Doktor Fels hatte sich tief zu ihr niedergebeugt und lauschte fast atemlos den abgehackten Worten, die er gut verstehen konnte. Er fuhr erschrocken herum, als sich Jührich plötzlich in einen Sessel fallen ließ und aufstöhnend sein Gesicht in den Händen barg. »Was ist denn mit dir los?« fragte Fels den früheren Korpsbruder, mit dem er so manche fidele Stunde verlebt hatte und dem er auch den Durchzieher auf der Wange verdankte. »Willst du dich etwa nebenbeilegen, alter Freund? Das laß nur bleiben; denn die kleine Baronin hier macht mir gerade genug zu schaffen!« »Edgar, weißt du, was ein Kamel mit Hörnern ist?« fragte er verzweifelt, und der andere sah ihn verblüfft an. »Was ist denn das für eine Kuriosität?« »Sieh mich an, dann hast du eins. Ich sprach mit Jobst kurz vor seiner Abfahrt über seine Heirat, habe ihn sozusagen zur Rede gestellt. Das arme Kind muß dazugekommen sein und alles heimlich mitgehört haben.« »Ach, du heiliger Bimbam! Dann brauchst du mir nichts zu sagen. Jetzt hilf mir hier retten, was noch zu retten ist!« Die beiden Ärzte, Frau Fröse und Minchen – diese vier Menschen kämpften um dieses entfliehende Leben mit
allem, was ihnen nur zu Gebote stand. Jührich war überhaupt noch nicht in seine Wohnung gekommen und hatte sich im Uhlener Schloß einquartiert. Die Kranke war ihm in den Wochen der Angst und Sorge so recht ans Herz gewachsen, und auch Doktor Fels kam nicht nur deshalb, weil ihn der Krankheitsfall interessierte. Götterun wußte nicht, was sich in Uhlen abspielte; denn es bestand ein Übereinkommen, ihm nichts davon mitzuteilen. Er wäre dann sofort nach Hause zurückgekehrt – und das wollte man vermeiden. Als man nach einem halben Jahr die Kranke nach unendlicher Mühe soweit hatte, daß auf Gesundung zu hoffen war, da kam eine Mitteilung vom Konsulat, daß man den Baron von Götterun, der sich bereits auf der Heimreise befunden habe, ermordet aufgefunden hätte. Das Motiv zur Tat wäre unbekannt. Um einen Raubmord könnte es sich nicht handeln, da die Wertsachen und die Brieftasche mit Geld, die man bei dem Toten gefunden habe, unangetastet seien. Oh, wähne dich nicht, du Menschenkind, gefeit vor des Schicksals Macht. Der Schlag, den es dir zugedacht, kommt über Nacht Der Mensch wird schnell vergessen. Das ist der Lauf der Welt. So erging es auch Jobst von Götterun, dessen tragischer Tod zuerst so viel Teilnahme erweckt hatte. »Nun höre doch endlich damit auf, Julius! Es ist ja traurig, daß Jobst tot ist, aber zu ändern gibt es doch daran nichts mehr. Dem ist wohl, der möchte nicht mit uns tauschen. Zu wünschen wäre, daß Heike ihm bald folgt, dann wäre das verkrüppelte Würmchen gut aufgehoben. Denn von der Stiefmutter hat es ja nichts zu erwarten, die hat ja selber kaum das Leben. Auch für die wäre ein schneller, friedlicher Tod die beste Lösung. Wie lange hält sie schon mit dem Auf und Nieder dieser unheilbaren Krankheit ihre
Umgebung in Atem. Und was kostet die Behandlung der Ärzte. Ja, wenn es nicht hinausgeworfenes Geld wäre – « »Das mir verloren geht – «, schaltete sich der Sohn mißmutig ein. »Was könnte man dafür in Uhlen alles verbessern! Der Onkel Jobst hätte auch mehr an mich denken können und nicht diese Sölve heiraten sollen«, schloß er mit einer Gehässigkeit, die selbst die verblendete Mutter betroffen aufhorchen ließ. Den Vater packte jedoch eine derartige Wut, daß er dem hoffnungsvollen Früchtchen rechts und links eine Ohrfeige versetzte. Nun wandte sich Herr Julius der Gattin zu. »Sieh dir nur gründlich das Produkt deiner Erziehung an«, höhnte er. »Aber Julius, wie kannst du den Jungen nur so unerhört behandeln?« fand Frau Fränze nun endlich die Sprache. »Er hat uns bisher doch immer nur Freude bereitet. Was er da sagte, geschah nur aus seinem kindlichen Unverstand heraus.« »Ach, sieh mal an, mit einem Male ist es kindlicher Unverstand«, lachte er voll Hohn. »Aber sonst verlangst du für deinen Wunderknaben eine ehrfürchtige Behandlung wie für einen Übermenschen. Siehst ruhig mit an, wie er das ganze Haus tyrannisiert, seine Geschwister unterjocht, sich in Uhlen Herrenrechte anmaßt, die zum Himmel schreien. Aber vorläufig stehen noch Sölve und Heike zwischen eurer Begierde, die so weit geht, den armen Menschenkindern den Tod zu wünschen. Freut euch nicht zu früh. Noch steht die Testamentseröffnung aus – und eine solche hat schon manchem Menschen Überraschungen gebracht.« »Davor habe ich gar keine Angst«, winkte sie geringschätzig ab. »Wer soll Uhlen denn erben? Sölve etwa, die Jobst nur aus Erbarmen geheiratet hat? Oder Heike, die, wenn sie auch aufwachsen sollte, immer nur ein armer Krüppel bleiben wird? Wenn jemand dazu berufen ist, Uhlen gut bewirtschaften zu können, dann ist es unser Sohn – «, schloß sie großartig.
»Natürlich, setze diesem anmaßenden Burschen nur immer weiter Raupen in den Kopf«, grollte der Gatte, den der Grimm fast erstickte. »Du wirst die Quittung für deine Affenliebe eines Tages schon erhalten. Und sprich nur immer weiter so über das Kind deiner Schwester und über ein so bedauernswertes Menschenkind wie Sölve. Es gibt eine Nemesis, meine liebe Fränze, die jeder Mensch achten sollte.« Einige Wochen später mußte Frau Fränze die Erfahrung machen, daß Menschenwille sehr klein ist gegen des Schicksals Gewalt. Sie glaubte, ihr Leben auf festen Grund aufgebaut zu haben, glaubte es gegen Unglück gefeit. Aber ungeahnt schnell drang es in ihr festgefügtes Reich ein und holte sich als Tribut die kleine Gundel. Von heute auf morgen war sie tot – einfach tot. Gestern noch vergnügt und guter Dinge, klagte sie am Abend über Halsschmerzen, die niemand so recht beachtete – und nach einer noch nicht einmal unruhigen Nacht war sie morgens tot. Man stand vor einem Rätsel und konnte nicht fassen, daß dieses kleine blühende Leben dahin sein sollte, als wäre es nie gewesen. Frau Fränze benahm sich wie die meisten Menschen, die das erste wirkliche Leid erfahren. Sie klagte Gott an, daß er ihr blühendes Kind geholt hatte und nicht das Krüppelchen Heike. Drei Tage tobte sie, drei Tage jammerte sie – und ging dann langsam zur Tagesordnung über. Wach auf, Frau Sölve,
es ruft nach dir eine heilige Pflicht,
Raffe dich auf und verträume dein Leben nicht.
Nach langer Zeit lag Sölve wieder einmal in dem kleinen Teezimmer im Schaukelstuhl. Das Feuer prasselte im Kamin, und zuckend huschte der Flammen Schein durch die Dämmerung. Es war so still, so traulich in dem kleinen
Gemach, und diese Ruhe legte sich wie Balsam auf das
immer noch wunde Gemüt der jungen Frau.
Träumerisch glitt ihr Blick über den Ring an ihrer Linken,
in dessen Steinen sich der zuckende Flammenschein brach.
Wie Feuergarben sprühte es auf, so daß sie vor dem
funkelnden Glanz die müden Augen schloß.
Dieser Ring und der glatte Reif an ihrer rechten Hand
waren das einzige Andenken an Jobst – der sie aus
Erbarmen geheiratet hatte.
Frau Fröse kam ins Zimmer. »Frau Fränze und ihr Sohn
eignen sich immer wieder Dinge an, die Uhlen gehören«,
sagte sie empört.
»Mögen sie doch – was geht mich das an?« winkte Sölve
unendlich müde ab.
»Aber Kind, sei doch nicht so gleichgültig«, bemerkte sie
vorwurfsvoll. »Hier geht es doch nicht um dich allein,
sondern auch um deine kleine Tochter, um das
Vermächtnis deines Gatten!«
»Kleine Tochter – Vermächtnis meines Gatten – «,
wiederholte sie, als horche sie in sich hinein. »Wer ist das?«
»Sölve, was hast du?« fragte Frau Fröse erschrocken und
fühlte den Puls der jungen Frau. – »Redest du etwa irre?«
Sie streichelte zärtlich das Gesicht der besorgten Frau.
»Keine Angst, Tante Marga, ich bin ganz gesund. Ich weiß
wirklich nicht, wer meine kleine Tochter ist.«
Kopfschüttelnd rückte Frau Fröse einen Sessel an den
Schaukelstuhl.
»Hast du denn noch nie den Namen Heike gehört?«
forschte sie mißtrauisch.
»Heike? Ja. Aber du weißt ja, daß mich alles nicht
interessiert.«
»So hat dir dein Gatte bei seiner Werbung nichts von seiner
Vergangenheit erzählt?«
Sölve stöhnte leise auf und bedeckte die Augen mit der
Hand.
»Kind, ich will dir nicht wehe tun, denn du weißt, wie sehr
du mir ans Herz gewachsen bist. Und man tut nicht
wissentlich weh«, begann sie behutsam, fest entschlossen, heute zur Sprache zu bringen, was längst hätte geschehen müssen. »Es ist alles unendlich schwer für dich, mein Liebstes, ich weiß es. Aber einmal mußt du dich aus deiner Lethargie aufraffen und wie ein normaler Mensch zu leben beginnen. Du kannst doch nicht immer ein Schattendasein führen.« »Warum, Tante Marga? Es ist doch wunderschön, so dahinzuduseln und nichts mehr vom Leben zu verlangen noch zu erwarten.« »Und das sagt man mit zwanzig Jahren? Willst du mir nicht sagen, was damals war – an deinem Hochzeitstag, ehe du zusammenbrachst? Hast du die Unterredung deines Gatten mit seinem Freund mitangehört?« »Ja – alles.« »Das dachten wir uns; denn du hast in deinen Fieberphantasien ja so viel ausgeplaudert. Willst du dir nicht dein Leid vom Herzen sprechen, mein Kind? Glaube mir, du wirst dich freier fühlen. Außerdem steht die Beantwortung meiner Frage noch aus: Was weißt du von der Vergangenheit deines Gatten?« »Tante Marga, du quälst mich maßlos!« stöhnte sie verzweifelt. »Wie soll ich darüber sprechen, was mir das Herz gebrochen hat? Es tut alles noch so entsetzlich weh.« »Nur ein einziges Mal sprich darüber, was dich quält – dann will ich nie mehr daran rühren.« »Es ist so schwer – « »Schadet nichts. Ich werde fragen, und du wirst antworten. Was weißt du von Jobsts Vergangenheit?« »Was Mutti mir erzählte. Daß er von seiner Frau geschieden war, die dann mit dem Söhnchen verunglückte – und daß er dann eine zweite Frau nahm. Und da er mich heiraten konnte, so muß er wieder geschieden oder verwitwet gewesen sein. Das ist alles.« »So hat er dir bei seiner Werbung nichts davon gesagt?« »Nein, Tante Marga, er warb ja mit einer barmherzigen Lüge um eine Halbtote!«
»Sölve!« rief Frau Fröse erschrocken: »Was hast du dir da alles zusammengereimt! Diese >Halbtote< hat in deinen Fieberphantasien schon eine ungeheure Rolle gespielt. Was hat das zu bedeuten?« »Herr von Jührich machte Jobst ziemliche Vorhaltungen, daß er eine >Halbtote< geheiratet hat!« »Sprich nicht weiter, Kind. Jetzt höre mich bitte an: Wenn du über alles nachdenkst und gerecht bleibst, dann mußt du dir selbst sagen, daß du damals tatsächlich eine Todgeweihte warst. Du hast in deinen Fieberphantasien immer so verzweifelt herausgeschrien: Er liebt mich nicht, er hat mich belogen! Ja, Sölve, sollte er dir sagen, daß er dich nur darum heiratete, um dir eine Heimat zu geben, damit du wenigstens in Ruhe sterben könntest? Da mußte er schon auf deine Frage, ob er dich liebt, zu der barmherzigen Lüge greifen und dich in dem Glauben lassen. Er wußte genau, was dir blühen würde, wenn er wegging und dir nicht unantastbare Rechte hier verschaffte. Diesem Mann müßtest du dankbar sein, mein Kind, und nicht in Groll an ihn denken. Was wäre, wenn er dich nicht geheiratet hätte? Dann würdest du hier nicht so weich und warm sitzen, würdest hier nicht die Herrin sein. Verrenne dich nicht in ein Leid, das keines ist. Ich will dir erzählen, was richtiges Leid bedeutet und wie aufrecht die Menschen es getragen haben: Nachdem Jobst durch deine Mutter so bitteres Herzeleid erfahren, war er gleichgültig geworden und nahm die Frau, die ihm seine Eltern aussuchten. Da sein ältester Bruder gefallen war, wurde er Uhlens Erbherr und dadurch zur Heirat verpflichtet. Die Frau war eine junge Gräfin – blutjung, kultiviert, verzogen und launenhaft, unberechenbar und kapriziös wie eine Primadonna. So ein rechtes Sprühteufelchen, reizend und gutherzig wie ein Kind, sofern man ihr den Willen tat. Stieß sie jedoch auf Widerstand, dann konnte sie toben wie eine kleine Wildkatze.
Nach einem Ehejahr wurde der kleine Erbherr geboren, und die Zeit bis zu seiner Geburt war arg genug für uns alle. Aber wir sahen dem unbeherrschten Geschöpf alles nach, weil es wirklich zu leiden hatte. Und als der kleine Erbe dann endlich geboren wurde – war es ein Krüppel, mit verkümmerten Beinchen. Das kleine Kerlchen war ein liebes Kind, herzfroh wie ein Vögelein, daß es bald der Liebling aller wurde. Und sonderbarerweise hing die junge Mutter sehr an ihm, wie man es bei dieser flatterhaften, verspielten Frau nicht hätte vermuten dürfen. Doch der Leidenskelch der schicksalsgeschlagenen Familie war noch immer nicht geleert. Sie mußte erleben, wie die junge Baronin auf Abwege geriet, wie es zur Scheidung kam – und wie sie den damals dreijährigen Jungen, der vom Gericht dem Vater zugesprochen worden war, heimlich fortholte und ihn und sich bei der halsbrecherischen Flucht mit dem Auto in den Tod fuhr. Obgleich man sich sagen mußte, daß es für den kleinen Krüppel so am besten war, gab es viel Trauer um ihn, und in Uhlen verstummte das Lachen, das überhaupt schon eine Seltenheit geworden war. Nach einem Jahr heiratete der junge Baron wieder. Diesmal hatte er das ganze Gegenteil erwählt: Ein Mädchen, wirtschaftlich erzogen und von robuster-, blühender Gesundheit. Nach menschlichem Ermessen mußte man mit einem solchen Menschenkind eine gute Ehe führen können Allein, sie wurde noch schlechter als die erste. Nun, sie war ja nicht umsonst die Schwester Frau Fränzes und die Tante Walburgas, die ihr getreues Ebenbild ist. Nach eineinhalb Jahren wurde ein Töchterchen geboren, noch elender und hilfloser, als der kleine Knabe es gewesen war. Der konnte wenigstens die Glieder, außer den Beinchen bewegen. Doch dieses Würmchen ist vollständig hilflos, weil das Rückgrat nicht in Ordnung sein soll. Daß die junge Mutter gleich nach der Geburt starb, ging keinem
nahe. Das kleine Geschöpf rief wieder unsagbaren Jammer hervor. Man stand vor einem Rätsel, wie eine so blühende, gesunde Frau so ein armseliges Kind gebären konnte. Also mußte die Schuld bei dem Vater zu suchen sein. Denn es kann schon vorkommen, daß ein verkrüppeltes Kind von erbgesunden Eltern zur Welt kommt – Aber zwei derartige Kinder von zwei verschiedenen Frauen? Dieser Gedanke nahm von Jobst immer mehr Besitz, so daß er sich fest entschloß, nicht noch einmal zu heiraten. Mochte das jahrhundertealte Geschlecht lieber aussterben, als solch kümmerliche Blüten treiben. Mochte Uhlen also an einen gesunden und Intelligenten Erben kommen, damit ein neues, erbgesundes Geschlecht heranwüchse. So verfiel er wohl auf den Sohn seines Vetters Ragnitz. Aber daß er alle Hoffnungen, die Jobst auf ihn gesetzt hat, erfüllen wird, ist eigentlich ausgeschlossen. Und wenn er wirklich der Erbe Uhlens sein sollte, dann gnade uns allen Gott. Mit Schrecken denke ich an die Testamentseröffnung, die ein Jahr nach dem Tode Jobsts, also in sechs Monaten, stattfinden soll.« Nach dieser Erzählung war es minutenlang totenstill. Sölve lag regungslos. Nur die Augen schienen in diesem marmorweißen Antlitz zu leben. Dann warf sie sich plötzlich herum und weinte auf – heiß, leidenschaftlich, hemmungslos, als müßten diese Tränen alles hinwegspülen, was ihr das Leben so lange zur Qual gemacht hatte. Du treues Vermächtnis, wie liebe ich dich, wie will ich dich hegen und pflegen. Und erbitte für dich und auch für mich dazu des Himmels Segen. Von dem Tage an machte die Genesung Sölves rapide Fortschritte. Es war, als hätten die heißen Tränen wirklich alles hinweggespült, was ihrer Gesundung bisher
hemmend im Wege gestanden hatte. Nach einigen Wochen hatte sie sich schon so gut erholt, daß alle, die kamen, um sich von dem Wunder zu überzeugen, wie vor einem Rätsel standen. Und doch war das Rätsel so leicht zu lösen: Sölve wollte jetzt leben. Auch die beiden Ärzte, die sich mit der Kranken so große Mühe gegeben hatten, sahen die so wunderbar veränderte junge Frau mit fachmännischer Neugier an. Und als Frau Fräse erzählte, was diese Veränderung bewirkt habe, schüttelte Doktor Fels verblüfft den Kopf. »Gnädige Frau, Sie können mehr als ich!« In Kaimucken hatte die Veränderung Sölves gemischte Gefühle hervorgerufen. Der Hausherr freute sich ehrlich, Ricarda und Elwira jubelten, Walburga war es gleichgültig, die Zwillinge hatten Grund, eine Stunde lang darüber aufgeregt zu schwatzen – und Frau Fränze und ihr Wunderknabe hatten ihre eignen Gedanken. Sölve hatte, als sie von Heikes Existenz hörte, sofort zu ihr eilen wollen. Allein die Ärzte, sowie auch Frau Fröse, hielten es für ratsam, ihr das auszureden. Da mußte sie erst soweit gekräftigt sein, um der Erschütterung, die ihr der Anblick des kleinen Wesens bringen mußte, tapfer standhalten zu können. Es kam aber auch der Tag, an dem Sölve neben Frau Fröse im Auto saß und der Kinderklinik zufuhr, wo Heike seit länger als zwei Jahren weilte. Sölve war so erregt, daß Frau Marga wieder einmal tiefe Sorge empfand. »Sölve, wenn du dich so unerhört aufregst, dann lasse ich sofort wenden – « »Aber Tante Marga, du siehst wieder einmal Gespenster«, zwang sie sich zu einem Lachen. »Ich bin ja ganz ruhig – « Sie riß sich nun tapfer zusammen, während die Gedanken in ihrem Hirn wie flatternde Vögel kreisten. Sollte sie doch nun endlich das Kind sehen, das Vermächtnis des Gatten, das zu lieben sie verpflichtet war. Als sie vor dem Bettchen des Kindes stand, flog diesem ihr
Herz sofort zu. Es war aber auch so ganz anders, als sie erwartet hatte. Aus einem durchsichtig zarten Gesichtlein schauten sie zwei tiefblaue Augen mit dem Ernst eines Erwachsenen an, der viel Leid erfahren hatte. Auf dem Köpfchen ringelten sich goldige Löcklein. Von einer geradezu überirdischen Schönheit war dieses engelgleiche kleine Geschöpf. »Heike-«, stammelte Sölve, erschüttert bis ins tiefste Herz. »Heike – du Süßes du -!« War es nicht, als wollte sich das Gesichtlein bei der zärtlichen Stimme zu einem Lächeln verziehn? Doch wohl nicht. Denn dieses Dinglein konnte ja nicht einmal lächeln, auch nicht die puppenkleinen Händchen bewegen. Es lag schon zwei Jahre regungslos da. Schon so lange, wie sein Leben währte. Sölve sah sich in dem Zimmer um, das vor Sauberkeit blitzte. Sah das Kind in seinem peinlich reinen Bettchen – und sah auch die Schwester, die gewiß die beste Kinderpflegerin der Klinik war. Sah aber auch deren kühle Augen. Da griff sie wie hilfesuchend nach der Hand Frau Fröses, die neben ihr stand und sie mit fast atemloser Spannung betrachtete. »Tante Marga – «, flehte Sölve. »Tante Marga, du bist doch ihr Vormund. Bitte, wir nehmen sie mit -!« Letzteres klang wie ein Schluchzen, und beruhigend streichelten die Hände der Frau über das heiße Gesicht des erregten Menschenkindes. Ein Aufatmen dehnte ihre Brust Gott sei Dank, nun war es geschafft. »Ich habe es von dir nicht anders erwartet, mein liebes Kind – «, entgegnete sie tief bewegt und wandte sich dann dem leitenden Arzt der Anstalt zu, der soeben eintrat. »Herr Doktor, wir nehmen das Kind mit. Das hat die Mutter des Kindes soeben bestimmt. Und daß es mein Wunsch ist, das wissen Sie ja.« Sie machte ihn mit Sölve bekannt, die ihn erwartungsvoll ansah.
»Wie Sie wollen, meine Damen. Aber ich weiß nicht, ob es im Sinne des Herrn Barons wäre, das Kind aus den gewohnten Verhältnissen zu reißen. Wenn Sie jedoch die Verantwortung übernehmen wollen – «, schloß er achselzuckend. »Die übernehmen wir – «, bemerkte Sölve kühl. »Das Kind kann doch hier nicht sein ganzes Leben verbringen.« »Das Leben wird nicht mehr lange währen – «, lächelte der Mann nachsichtig. »Gut, so mag das Kind in seinem Elternhaus dahingehen«, entschied sie fest, und Frau Marga sah sie wie gebannt an. War das ihre Sölve, ihre vor einigen Wochen noch so hilflose teilnahmslose Sölve, die hier sprach? Ein Glücksgefühl ohnegleichen erfüllte ihr Herz. Du reitest noch auf hohem Roß,
führst Habgier, Mißgunst, Streit in deinem Troß.
Gib acht, das Schicksal reitet dir zur Seit,
in des’ Gefolg gibt’s Gram und Herzeleid.
Der Einzug des kleinen Schloßfräuleins brachte alles in Aufruhr. Helle Freude stand auf allen Gesichtern, und man war sofort bereit, das kleine Mädchen ins Herz zu schließen und ihm alles zuliebe zu tun. Zuerst mußte das Problem der Unterbringung gelöst und für eine Kinderpflegerin gesorgt werden. Wie gewöhnlich fand Tante Marga auch hier guten Rat. »Die ehelichen Gemächer stehen leer, Sölve. Dahin siedelst du nun endlich über. Neben dem Wohnzimmer liegt das Zimmer des kleinen Adalbert, das Heike mit Beschlag belegen kann. Ein schöner Raum für die Kinderschwester ist nebenan.« »Soll ich etwa die Räume meiner Vorgängerin bewohnen?« fragte Sölve ablehnend. Frau Fröse schüttelte den Kopf. »Wo denkst du hin, mein Herz! Die Möbel ihrer verstorbenen Schwester besitzt Frau Fränze längst. Hat sie für Walburgas Aussteuer bestimmt.
Gleich, nachdem sie entfernt waren, ließ Jobst die seiner Schwester Konstanze hineinstellen.« »Er soll sie doch aber gehütet haben wie ein Heiligtum.« »Das schon. Aber dir würde er sie gern überlassen«, tat sie zuversichtlich ab. »Und nun zur Schwesternfrage. Ich habe eine Schwester in der Klinik kennengelernt, die Heike eine kurze Zeit betreute. Die andere brachte sie durch allerlei Intrigen hinaus, weil sie den leichten und gutbezahlten Posten für sich haben wollte. In ihrer Empörung deckte erstere so allerlei Mißstände auf, worauf sie fristlos entlassen wurde. Nun kann sie keine Stellung finden, weil die Auskunft, die von der Klinik eingeholt wird, fragwürdig ist. Die holen wir uns, Sölve, die ist gut.« Nach einigen Tagen war alles geregelt, und Heike lag in dem Bettchen des Brüderchens, betreut von der jungen, frohen Schwester, die lange Zeit in einer Kinderklinik gearbeitet hatte und daher die nötige Erfahrung besaß. Sölve hatte die ehelichen Gemächer bezogen. Nebenan lagen die Zimmer des Gatten, die sie zuerst voller Scheu mied. Und als sie sich dazu zwang, sie eines Tages zu betreten, glaubte sie, das Herz müsse ihr brechen. – Hier hatte er gelebt, hier gewohnt – und nun – und nun – Bitterlich weinend, ließ sie sich am Schreibtisch nieder. So fand sie Frau Fröse. »Ich sage ja, man kann dich nicht eine Stunde allein lassen«, schalt sie zärtlich. »Komm, ich mache dir einen Vorschlag: Wir lassen den Kamin heizen und nehmen hier gemütlich unsern Kaffee. Die Tür zum Schlafzimmer lassen wir offen – und langsam wirst du dich an die Zimmer gewöhnen.« Sölve trocknete die Tränen. »Ach, Tante Marga, wenn ich dich nicht hätte! Ich müßte ja versinken in Kummer und Not-!« Die beiden Frauen hatten es sich am Kamin gemütlich gemacht. Über den runden Tisch mit der wertvollen Einlegearbeit, ein Geschenk Jührichs an den Freund, mitgebracht aus fernen Landen, war eine Kaffeedecke
gebreitet. Kuchen, Brot, Butter, Honig und Marmelade standen darauf und ein Schälchen mit Schlagsahne, die Sölve so gern aß. In der Kaffeemaschine brodelte es. Frau Fröse plauderte munter und humorvoll, um nur nicht die Traurigkeit gar zu sehr in Sölve aufkommen zu lassen. »Weißt du, Sölvelein, worüber ich mich wundere?« fragte sie jetzt. »Daß Frau Fränze noch keinen Wind von der Anwesenheit unseres Prinzeßleins bekommen hat, sonst wäre sie doch längst hier – « »Sie naht bereits«, unterbrach Sölve sie trocken. »Ich höre sie mit unserm Erzengel Michael die Einlaßformel wechseln.« So kam es, daß Frau Fränze, die sich über die würdige Art des Dieners wie gewöhnlich hochrot geärgert hatte, nun noch über die lachenden Damen wüten mußte. »Ihr sitzt hier und lacht – «, schalt sie verdrießlich, »während ich mich mit diesem bornierten Kerl von Diener herumschlagen muß. Ob der Mensch denn nie begreifen wird, daß ich zur Familie gehöre? Und wie kommt es, daß Ihr in Jobsts Zimmer sitzt? Sind diese Räume schon mit Beschlag belegt? Ich meine, man müßte erst die Testamentseröffnung abwarten. Meiner Ansicht nach gehören die Zimmer des Schloßherrn stets dem Erben.« »Und ich meine, daß es die Gemächer meines Gatten sind«, gab Sölve so freundlich zurück, daß Frau Fröse nur mit Mühe ein Lachen unterdrücken konnte. »Ihr trinkt doch eine Tasse Kaffee mit uns? Tante Marga, sei so lieb und klingle nach Michael.« Der Diener trat sofort ein und brachte zwei Gedecke und von den Eßwaren, die auf dem Tisch standen, eine beträchtliche Menge dazu. Er kannte ja den Riesenappetit dieser Gäste. Während sie aßen und tranken, waren sie verhältnismäßig ruhig. Doch nachdem sich Frau Fränze gesättigt hatte, war ihre Zunge wieder klar zum Gefecht. Hurtig ließ sie ihre scharfen Augen im Zimmer umherschweifen und kuschelte
sich dann behaglich in den bequemen Klubsessel. »Ja, um noch einmal darauf zurückzukommen, liebe Sölve. Du meinst also im Recht zu sein, wenn du diese Zimmer hier bewohnst?« eröffnete sie kampfbereit. »Und wenn sie Jobst in seinem Testament dem Erben zugesprochen hat?« »Dann soll er sie haben«, kam es gelassen zurück. »Aber vorläufig hat sie mir Tante Marga zugesprochen, die das Zwischentestament ja zur Verwalterin bestimmt hat. Das heißt, ich halte mich hier nur gern auf. Meine Zimmer sind nebenan, in dem die Möbel meiner Schwägerin Konstanzestehen.« »Was, sogar diese kostbare Einrichtung hast du dir angeeignet -?« rang Frau Fränze nach Luft. »Halt, keine Beleidigungen, liebe Fränze – «, unterbrach Sölve sie hochmütig. »Sonst wüßte ich als Herrin von meinem Recht Gebrauch zu machen. Damit du weißt, woran du bist, wollen wir den Verkehrston zwischen uns gleich festlegen: Wirst du unverschämt, so bin ich es auch – «, Sie schloß mit einer Harmlosigkeit, die Frau Fröse rasch das Taschentuch gebrauchen ließ. »Ach ja, was ich noch fragen wollte«, sagte Frau Fränze dann: »Stimmte es, daß du Heike aus der Klinik hierhergeholt hast?« »Ja, es stimmt. Ich gedenke sie auch hier zu behalten, wohin sie als Tochter des Hauses gehört.« »Das würde Jobst gewiß nicht billigen. Und ich auch nicht, da es sich um das Kind meiner Schwester handelt.« »Und ich bin die Mutter, Fränze – und für das Wohl meines Kindes verantwortlich.« »Deines Kindes? Mach dich nicht lächerlich, Sölve, das sind Phrasen, weiter nichts. Mich verbinden mit dem Kinde die Bande des Blutes.« »Mit einem Mal? Sonst erklärst du doch immer, daß es das kranke Blut seines Vaters hat.« Frau Fränze mußte sich geschlagen geben, was ihr wohl nicht oft geschah. Mit dem Gesicht einer gekränkten Königin erhob sie sich.
»Ich möchte das Kind meiner Schwester sehen.« Als sie vor dem Bettchen stand, schüttelte sie mißbilligend den Kopf. »Lieber Himmel, so ein kümmerlicher Wurm. Das könnte der liebe Gott doch endlich zu sich nehmen. Aber das läßt er natürlich leben, während er mein blühendes Kind, meine Gundel – « Ein paar Tränchen wurden zerdrückt, dann ging es weiter. »Und das ist nun das Kind meiner kerngesunden Schwester. Von uns hat es keinen Tropfen Blut in den Adern.« »Gott sei Dank – «, hätte Sölve fast erwidert, verschluckte es jedoch noch zur rechten Zeit. Und da Frau Fränze nun die Neugierde gestillt und festgestellt hatte, daß Heike wirklich in Uhlen war, rüstete sie zum Aufbruch. Roderich, der sich langweilte weil er sich bei den »Weibern« nicht wichtig machen konnte, zog maulend hintendrein. Als Sölve, die den Gästen das Geleit gegeben hatte, zurückkehrte, trat ihr Frau Fröse mit ausgestreckten Armen entgegen. »Komm, Mädel, ich muß dir einen Kuß geben! Du entwickelst dich ja fabelhaft. In dir findet die liebe Frau Fränze bestimmt noch ihren Meister«, schloß sie mit herzlichem Lachen. Freund, deine Schuld, die kenne ich kaum, gib ihr nicht Platz in des Herzens Raum. Nimm meine Hand, sieh mein Gesicht ich zürne dir nicht. Doktor von Jührich bewohnte ein entzückendes Schlößchen hoch über den Dünen. Er gehörte zu den beneidenswerten Menschen, die das Schicksal in eine goldene Wiege gelegt hat. Er verfügte dazu noch über hervorragende Geistesgaben, so daß er spielend leicht lernte und schon mit achtzehn Jahren die Universität
bezog. Er wurde Schiffsarzt und war an fremdländischen Hospitälern tätig, schloß sich Expeditionen an und lebte nach Lust und Neigung. Wenn das Heimweh zu arg wurde, kehrte er in die Heimat zurück, um einige Monate später seine Fernsehnsucht wieder zu stillen. Bei der letzten Heimkehr wäre es wohl wieder so gekommen, wenn ihm nicht Sölves Krankheit Fesseln auferlegt hätte, die Freundestreue, Barmherzigkeit, und Schuldgefühl geschmiedet hatten. Von diesem kam er nicht los, weil es seine feste Überzeugung war, daß die Unterredung mit dem Freund, die er heraufbeschworen, diese hartnäckige Krankheit verursacht hatte. Unermüdlich war er um die Kranke tätig, machte im Verein mit seinem Paukbruder Fels fast Unmögliches möglich. Wich nicht von Sölves Seite und zog sich erst zurück, als sie emporzublühen begann. Da erst war er restlos zufrieden aber das Schuldgefühl blieb. Er hatte nicht den Mut, der gesunden Sölve unter die Augen zu treten. An einem Dezembertage, als die helle Wintersonne den Schnee überfunkelte und jedes Schneesternchen einzeln in glitzernde Diamanten zu verwandeln schien, saß Jörn von Jührich in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch, wo er mit einer Reiseschilderung beschäftigt war. Sein Diener trat ein, den er sich von der Reise mitgebracht hatte und der in ergebener Treue an ihm hing. Ein junger Deutschamerikaner, klug und taktvoll. »Nun, Dick, was gibt’s?« »Frau Baronin von Götterun möchte Herrn Doktor sprechen.« Jührich blieb wie festgewurzelt stehen »Dick, du täuschst dich auch nicht?« »Wo wird er – «, meldete sich Sölve, die dem Diener gefolgt war. Augen lachten ihm entgegen, in denen sich des Himmels Bläue verfangen zu haben schien. Jührich stand mitten im Zimmer und rührte sich nicht. »Frau Sölve, Sie kommen zu mir wirklich zu mir-?« rang er sich endlich von seinen Lippen.
»Natürlich – «, lachte sie fröhlich. »Wenn Sie es nicht tun, dann muß ich doch damit anfangen. Wollen Sie mir nicht die Hand geben?« Jetzt bemerkte er erst die ausgestreckte Rechte, über die er sich nun voll Verehrung beugte. Er nahm ihr den eleganten Pelz ab, unter dem sie einen Pullover aus flauschiger Angorawolle trug und der so blau war wie ihre Augen. Sie zog das dazu passende Mützchen vom Kopf, auf dem sich ein Haar bauschte und wellte, hell und klar wie köstlicher Bernstein. Der Mann schaute sie wie gebannt an. »Frau Sölve – Sie sind ja schön – wunderschön – « »Ach, Sie meinen diesen Schopf hier?« schnitt sie eine Grimasse. »Der hat mir schon Kummer genug bereitet. Bernsteinhexe nannte man mich deshalb. Galantere sagten Möwe – « Möwe, ja – das konnte stimmen. So köstlich rein und frisch wehte es von ihr aus, wie der Atem des Meeres. Und Bernsteinhexe auch – weil ihre Augen so zauberschön waren und sie mit diesem sinnverwirrenden Lächeln die Menschen in ihren Bann zog. »Nehmen Sie bitte, Platz, Frau Sölve«, raffte er sich endlich auf. »Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?« »Natürlich! Kaffee mit allem Drum und Dran – und hinterher eine Zigarette.« Sie ließ sich in einen Sessel am Kamin nieder, und stumm nahm er ihr gegenüber Platz. Wie ein Kätzchen schmiegte sie ihren gertenschlanken, geschmeidigen Körper in das Polster, die schönen Beine bequem übereinanderschlagend. Da er selbstvergessen vor sich hinsah, konnte sie ihn in Muße betrachten. Auf dem hohen schlanken Körper, der nicht ein Lot zuviel hatte, saß ein rassiger Kopf mit einem klugen, vornehmen Gesicht. Die Augen waren blau und ein wenig schwermütig und verträumt, das Haar strahlendblond. Und Hände hatte der Mann, wunderbare Hände. Jetzt war sein Antlitz überschattet von Trauer.
»Warum sind Sie so traurig?« fragte sie leise. Er fuhr zusammen und strich sich über Augen und Stirn. »Das wissen Sie doch, Frau Sölve. Die eine unbedachte Stunde macht mir das Leben schwer.« »Unsinn – «, winkte sie ab. »Damals hatte ich die Sensibilität einer Kranken heute gebe ich Ihnen recht. Hier haben Sie meine Hand, schlagen Sie ein, Freund Jörn. Ich weiß von keiner Schuld nur noch von Freundesrecht.« Überwältigt ergriff er ihre Hand und drückte seine Lippen darauf - »Was sind Sie doch für ein tapferes, warmherziges Menschenkind«, sagte er leise, und sie lachte hellauf. »Haben Sie eine Ahnung!« Dick trat ein und zauberte in seiner gewandten, geräuschlosen Art einen Kaffeetisch herbei und verließ dann ebenso geräuschlos das trauliche Gemach. Sölve aß mit dem Appetit eines gesunden Menschen, und er konnte seinen Blick nicht von ihr wenden. »Frau Sölve, ich kann Ihre wunderbare Veränderung kaum fassen.« Sie griff nach einer Zigarette, er reichte ihr sein Feuerzeug herüber, und sie kuschelte sich wieder in ihren Sessel zurück. »Verändert habe ich mich gar nicht«, entgegnete sie lebhaft. »Ich habe nur wieder zu mir zurückgefunden. Ich verdanke es allen, die mir dazu verholfen haben. Und das gibt mir Mut zu meiner Bitte. Sie wissen, daß ich Heike in Uhlen habe?« »Ja. Und Ihre tapfere Entschiedenheit hat Bewunderung in mir erregt.« »Keine Bewunderung für eine Selbstverständlichkeit«, wehrte sie errötend ab. »Ich bin einfach dazu verpflichtet, Jobsts Kind an mein Herz zu nehmen. Nun hat Heike in der jungen Kinderschwester wohl eine vorzügliche Betreuerin, aber ohne ärztliche Aufsicht kann sie nicht bleiben. Der Doktor der Klinik, den ich bat, das Kind in Uhlen weiter zu behandeln, hat mir meine Bitte schroff abgelehnt. Da sind Sie nun der einzige, der helfen
kann. Wollen Sie, Jörn?« »Das können Sie noch fragen, Frau Sölve? Ich bin mit tausend Freuden der Ihre.« »O wie schön -!« lachte sie befreit auf. »Nun weiß ich unser Kleinchen in guter Flut. Kommen Sie gleich mit, damit ich Sie mit meinem Tausendschönchen bekannt machen kann?« »Tausendschönchen -? Wie reizend«, lächelte er weich. Und: »Tausendschönchen – «, sagte er auch, als er sich über das Kind beugte, ergriffen bis ins tiefste Herz hinein. Was in Menschenkräften stand, das wurde nun für das Kind getan. Doktor Fels und der tüchtige Landarzt Schlimm mußten heran mit ihrem Rat, Kapazitäten wurden an das Spitzenbettchen der kleinen Heike gerufen. Jeden Hinweis, jeden Rat nahm Doktor Jührich eifrig in sich auf. Studierte alle in Frage kommenden Bücher und war auch sonst unermüdlich um das Kind bemüht. Und es war, als ob seine fast übermenschliche Mühe nicht unbelohnt bleiben sollte. Denn eines Morgens, als er das Kinderzimmer betrat, kam ihm Sölve freudestrahlend entgegen. »Sie hat gelacht, Jörn – sie hat gelacht -!« jubelte sie zwischen Lachen und Weinen. Skeptisch trat er an das Bettchen, und schaute mit atemloser Spannung auf das Kind, dessen übergroße, unergründliche Augen zu Sölve emporstrahlten, die einen ulkigen Hampelmann tanzen ließ, der bei jeder Bewegung ein fideles Quietschen von sich gab. »Heikelein, schau mal, was die Mami hat«, kam es in unendlicher Zärtlichkeit von den roten Lippen. »Hin und her, auf und ab, zappelt unser Hannepapp«, sang sie lustig dazu. Und tatsächlich, das Kind verzog das Gesichtlein. »Haben Sie gesehen, wie sie gelacht hat?« fragte sie atemlos vor Freude. »Gelacht?« mußte er ihre herzzitternde Freude dämpfen.
»Gelacht ist zuviel gesagt. Aber es war immerhin ein schattenhaftes Lächeln.« »O Sie Wortklauber!« schalt Sölve entrüstet. »Heikelein, strafe seine Worte Lügen. Lach einmal – lach einmal richtig.« Als wolle das Geschöpfchen ihr zu ihrem Recht verhelfen, lächelte es diesmal stärker – und da war selbst der skeptische Onkel Doktor zufrieden. Nun ging es langsam bergauf. Unendlich mühsam war dieser Aufstieg, der oft genug einen Stillstand brachte. Aber ein Rückgang war nie zu verzeichnen. Es kam auch der Tag, an dem das kleine Wesen das winzige Händlein hob. Ein wenig nur, aber es rief unbeschreibliche Freude hervor. Die Händchen faßten zu, die Beinchen lagen nicht mehr so starr und steif auf dem Kissen, und das Köpflein bewegte sich hin und her. Jetzt galt es, das kleine Kreuz zu kräftigen. Das war nun die Aufgabe, die der unermüdliche Jörn sich gestellt hatte. Und auch das gelang. Immer größere Fortschritte waren zu verzeichnen. Bald schrie das kleine Mädchen durch das Schloß und verlangte energisch seinen Willen, den es auch immer bekam. »Jetzt pflegen wir sie – später erziehen wir sie – «, lachte der Arzt, der ja so froh war – fast so froh wie Sölve. Du trotziges Kind, du jung wildes Blut, du kannst dir dein Glück nicht erzwingen, halte fein still, dann tust du gut, dein Fatum weiß schon, was er tut, überlaß ihm ein gutes Gelingen. Ricarda kam ebenso gern nach Uhlen wie ihr Schwesterchen Elwira. Wenn sie nur von zu Hause fortkommen konnte, dann scheute sie kein Wetter, machte sich freudig auf den Weg, um einige frohe Stunden bei ihrer geliebten Sölve zu verbringen. Doch seit einiger Zeit kam sie so oft, daß Sölve sie lachend
fragte, welche List sie denn immer anwende, um dem
mütterlichen Gewahrsam zu entfliehen.
Da senkte Ricarda das reizende Köpfchen und schwieg.
Verschwieg der Freundin die Auftritte, die es wegen ihrer
Heimlichkeiten zu Hause gab. Doch sie war taub und blind
dagegen, ging sogar zum offenen Widerstand über, so daß
die Mutter ganz ratlos war.
An einem Sonntag war Ricarda schon am frühen
Nachmittag nach Uhlen gekommen und weit über die
übliche Zeit geblieben, so daß Sölve sie nach dem
Abendessen nach Hause fahren ließ.
Ungefähr zwei Stunden später war sie wieder da –
blaugefroren, zitternd vor Kälte und mit einer
dickgeschwollenen Nase.
Die drei Menschen, die recht gemütlich zusammensaßen,
sprangen erschrocken auf und starrten auf das Mädchen,
das mit hängendem Kopf und hängenden Armen mitten
im Zimmer stand.
Frau Fröse erholte sich zuerst von ihrem Schreck.
»Ricarda, was ist Ihnen geschehen? Sind Sie gefallen?«
»Nein – «, kam es über die zusammengepreßten Lippen.
»Meine Mutter hat mich geschlagen.«
»Ricarda!« rief Sölve erschrocken und umfaßte die Schulter
des Mädchens, das noch immer steif dastand, den
trotzfunkelnden Blick ins Weite gerichtet. »Komm, setz
dich, und erzähle, was es zu Hause gegeben hat.«
»Ich darf bei dir bleiben, Sölve?«
»Wenn es deine Eltern gestatten – «
»Das glaube ich nicht – «, winkte sie gleichmütig ab und
setzte sich in die Runde der anderen.
Sölve klingelte Michael und bestellte Glühwein, der bald in
den Gläsern dampfte.
»Trink, Ricarda, damit du warm wirst«, redete sie gütlich
zu. »Du bist doch sicherlich durch die klirrende Kälte
gelaufen, ohne genügend bekleidet zu sein?«
»Ja – das bin ich. Zum Ankleiden war keine Zeit. Dann
hätte mich meine Mutter vielleicht totgeschlagen«, kam es
verbissen von den zuckenden Lippen. Sie kamen zu keiner Antwort, denn der Fernsprecher schlug an. Sölve nahm das Gespräch entgegen. »Ja, Julius, sie ist hier – «, hörte man sie sagen. »Natürlich kann sie hier bleiben. Du kommst her? Gut, ich erwarte dich.« Damit hängte sie ab und ging zu ihrem Platz zurück. »Dein Vater kommt her, Ricarda. War er dabei, als dich deine Mutter schlug?« »Nein, sonst wäre es nicht zu dieser Brutalität gekommen. Es ist ja nicht das erste Mal, daß sie mich schlug, sofern sie mein heimliches Fortgehen nach hier entdeckte. Aber heute hatte sie einen Kochlöffel in der Hand – « Die Lippen preßten sich wieder in Trotz und Grimm zusammen. Man fragte nicht weiter, ließ sie gewähren, die regungslos in ihrem Sessel saß und verbissen vor sich hinstarrte. Schneller als erwartet erschien dann Herr von Ragnitz. Von seiner Hand löste sich Elwira. »Sölve, ich bleibe bei dir!« erzählte sie aufgeregt, die junge Frau stürmisch umhalsend. »Wenn Sölve dich haben will«, setzte der Vater hinzu. Dann ging sein Blick zu Ricarda hin. »Siehst ja lieblich aus«, brummte er. »Von Rechts wegen müßte ich dir auch noch eine herunterhauen, du freches Gör. Du mußt dich ja nett betragen haben, daß die Mama so außer sich geraten konnte. Was du dir so eigentlich denkst, das möchte ich gern wissen. Läufst einfach von der Arbeit fort – « »Das ist nicht wahr!« unterbrach Ricarda mit trotzfunkelnden Augen. »Ich hatte, bevor ich fortging, meine Arbeiten alle erledigt, die reichlich genug bemessen waren.« »Na schön, da hilft alles Reden nichts, die Sache ist sowieso verfahren. Aber daß du die Hand gegen Mama erhoben hast – « »Das ist gelogen!« fuhr sie nun auf. Doch eine gebieterische
Handbewegung des Vaters ließ sie schweigen. »Hüte deine Zunge, Ricarda, und mach die vertrackte Geschichte nicht noch schlimmer, als sie ohnehin ist. Jedenfalls darfst du der Mama nicht mehr unter die Augen treten. Ihr Widerwillen gegen dich ist so groß, daß sie ihn sogar auf Elwira übertragen hat, die ja dein verjüngtes Ebenbild ist.« »Dann bleibe ich halt hier – « »Du glaubst wohl, daß Sölve ein Asyl für ungeratene Töchter hat?« brauste der Vater aber nun auf. »Nein, mein Kind, ich werde dich in eine Pension stecken!« »Nein!« schrie Ricarda auf. Ihre abwehrende Rechte stieß an die mißhandelte Nase, aus der das Blut zu rinnen begann. Jührich sprang auf, eilte in sein Zimmer und kam sehr bald mit einem blutstillenden Mittel zurück. Mit behutsamen Händen löste er das Taschentuch, das Ricarda gegen die Nase hielt, und behandelte das geschundene Ohr mit seinen geübten Arzthänden. Und Ricarda, die die Mißhandlung durch die Mutter, die Flucht durch den eiskalten Winterabend, die Vorwürfe des Vaters ohne Tränen hingenommen hatte, brach bei der zärtlichen Berührung des Mannes in bitterliches Weinen aus. Das zerschundene Gesichtchen auf seine Hände pressend, schluchzte sie so jammervoll, daß die andern davon ergriffen wurden. Und ihnen kam eine Ahnung, warum das junge Kind jede Stunde abgestohlen hatte, um hier sein zu können. Warum es Vorwürfe, Schelte und gar Schläge von Mutterhand auf sich genommen hatte wie eine kleine Heldin. Nur der, den es anging, schien nichts zu merken. Wie es ja in den meisten Fällen so ist. Er war jetzt ganz Arzt. Legte das Köpfchen rückwärts auf die Sessellehne, damit das fließende Blut zum Stillstand käme und hielt einen beruhigenden Trank an die Lippen. Sölve jedoch trat herbei und beugte sich voll Erbarmen über das Mädchen, das ihr ans Herz gewachsen war.
»Weine nicht, Ricalein«, beruhigte sie. »Ich behalte beide hier, die große und die kleine Rosenrot, da mag der Papa noch so viel reden.« Da ging ein Auftatmen durch den jungen Körper. Das Schluchzen ließ nach, und ein dankbarer Blick traf die liebste Freundin. »Na ja, ich sehe schon, da kann ich nichts mehr machen«, polterte der Vater, um seine Rührung zu verbergen. »Halst dir was Gutes auf, Sölve.« »Wenn ich die beiden lieben Menschen hier behalte?« lachte sie froh. »Damit tue ich mir den größten Gefallen.« Nun begann für die beiden Schwestern, die sich so sehr ähnlich waren, eine wonnevolle Zeit. Von herzlicher Liebe umhegt, konnten sie ihre Zeit herumbringen, wie sie immer ersehnt hatten. Elwira jubelte wie eine kleine Lerche durch das Haus. Am liebsten war sie bei der kleinen Heike und war glückselig, wenn das Kind ihr lachend die Ärmchen entgegenstreckte. Allein Ricarda blieb still und bedrückt. Sie schien das Lachen verlernt zu haben. Nur wenn sie mit Sölve musizierte, dann wurde sie froher. Süß und klar klang ihre Stimme auf und schlug die Zuhörer in ihren Bann. »Ich weiß nicht, welche schöner ist«, sprach Jörn von Jührich eines Tages zu Frau Fröse, mit der er sich dem musikalischen Genuß hingab. »Die bezaubernde Bernsteinhexe oder die süße Rosenrot. Beide sind so wunderbare Rassegeschöpfe. Man weiß wirklich nicht, welcher man den Vorzug geben soll.« Da klang die volle Stimme Sölves auf. Sie sang selten, ließ lieber die Freundin singen, deren Stimme sie so gern hörte. »Sie war doch sonst ein wildes Blut, jetzt geht sie tief in Sinnen«, klang es herzbetörend auf. »Hält in der Hand den Sommerhut und duldet still der Sonne Glut und weiß nicht, was beginnen – « Frau Fröse sah besorgt auf den Mann, der selbstvergessen auf die Sängerin schaute. Armer Freund – dachte sie traurig. Und arme Rosenrot.
Muß es erst immer Kämpfe geben, bevor alles wird, wie es gut ist? Sie sah auch, wie Ricarda das Köpfchen senkte und still das Zimmer verließ. Der Mann bemerkte es nicht. Er schrak erst aus seinen schmerzlichen Sinnen auf, als Sölve den Gesang abbrach und Ricarda nachging. Diese hatte sich über das Bett geworfen und weinte, als müsse sie sich das Herz aus dem Leibe schluchzen. »Rosenrot, was ist das für ein Unsinn, einfach davonzulaufen und hier zu weinen!« schalt Sölve zärtlich. Da richtete sich das Mädchen auf und warf in leidenschaftlicher Heftigkeit ihre Arme um die junge Frau. »Sölve, du liebst ihn ja nicht - Sölve, nimm ihn mir doch nicht fort!« jammerte und flehte sie, nicht mehr aus noch ein wissend in ihrer Not. »Dir ist er nicht mehr als ein Freund - und ich – ich liebe ihn doch so sehr!« »Ricarda, nun höre mal auf zu weinen«, gebot Sölve energisch. »Das sind doch alles nur Hirngespinste, mit denen du dir das Leben schwer machst.« »Er liebt dich doch«, wehrte Ricarda verzweifelt. »Wer sagt dir das? Unser Jörn ist viel zu klug, um nicht zu wissen, daß er mir nur ein guter Freund sein kann. Und nun trockne die Tränen, die dich nur häßlich machen. Und du willst ihn doch mit deiner Schönheit bezaubern.« »Sölve, du lachst – und mir will – Herz brechen – « »So leicht bricht kein Herz, du süßes Schaf! Und nun komm! Bezaubere ihn mit deinem Sirenengesang, dem er so gern lauscht. Der liebt dich schon mehr, als er ahnt. Du mußt nur Geduld haben.« Wenn du auf etwas fest gehofft, und es wird dir zerschlagen, dann hast du Grund zu klagen. Im April hatte Frau Fränze Testamentseröffnung stand bevor.
große
Sorgen:
die
Ein Jahr nach dem Tode des Herrn von Uhlen sollten seine Bestimmungen zur Kenntnis gebracht werden. So hatte Jobst von Götterun bestimmt. Und dieser Tag war der fünfte April. Sie wäre fast zusammengebrochen, als der große Tag vorüber war. Enttäuscht, verbittert, neid- und haßerfüllt mußte sie ihn, um den sich jahrelang ihr Sinnen und Trachten gewoben hatte, beschließen. »Was wir geerbt haben, ist ein Dreck!« schrie sie dem Gatten verbissen entgegen, der sie trösten wollte. »Nimm doch ein wenig Rücksicht auf die Kinder«, mahnte er, auf die kleine Schar deutend, die verschüchtert im Wohnzimmer saß. Und Elwira und Ricarda waren wieder dabei. »Wer nimmt denn auf mich Rücksicht?« schrie sie unbeherrscht. »Wenn ich daran denke, daß diese hergelaufene Sölve – Ach, es ist zum Wahnsinnigwerden«, weinte sie nun laut und warf sich in den nächsten Sessel. Wie ein verwöhntes Kind, dem einmal nicht der Wille getan wurde, heulte sie. Der Gatte ließ sie gewähren. Vielleicht überwand sie ihre Enttäuschung so schneller. Als sie jedoch Verwünschungen ausstieß, die Sölve, Heike – und vor allem das dem toten Jobst galten, da wurde es ihm zuviel. »Nun hör endlich auf!« herrschte er sie an. »Was willst du eigentlich? Ich finde, daß Jobst großherzig genug gewesen ist. Fünfzigtausend Mark für Kaimucken, je zehntausend Mark als Aussteuer für die Mädchen – Frau, ist das noch nicht genug? Weißt du, was ersteres für uns bedeutet? Endlich ein sorgloses Wirtschaften nach der Mühsal vergangener Jahre. Nicht mehr fürchten zu müssen, nächstes Jahr zu Ende zu sein und von der Heimat vertrieben zu werden. Auch einmal eine Mark ausgeben dürfen, die nicht genau abgezählt ist. Den Mädchen kannst du eine Aussteuer mitgeben!« »Mein armer, armer Roderich – mein armer betrogener Sohn!« heulte sie dazwischen, so daß ihm die Geduld
vollends riß und er mit der Faust auf den Tisch schlug, daß Frau Fränze nun doch für ratsam hielt, sich endlich zu beherrschen. »Hör mit dem fürchterlichen Geheule auf – oder, bei Gott, ich werfe dich zum Hause hinaus!« donnerte er. »Benimmst dich wie ein ungezogenes Gör, nicht wie eine Frau von fast fünfzig Jahren und Mutter von sieben Kindern. Ich finde, daß Roderich glänzend bedacht ist. Erziehungsgeld, freies Studium, später das schöne Gut – « »Was ist das alles gegen Uhlen!« jammerte sie nun wieder. »Das besitzt nun diese Sölve und später der kleine Idiot, den der liebe Gott mir zum Possen bestimmt hat und leben läßt. Auch diese Sölve, die doch schon halbtot war – so was bleibt natürlich leben, während meine arme Gundel Verrückt kann man werden, wenn man über alles nachdenkt! Wenn die beiden in Uhlen doch bald der – « »Fränze!« schrie Herr von Ragnitz auf und umklammerte das Handgelenk seiner Frau, die sich unter diesem harten Griff wimmernd wand. Sein Antlitz war aschfahl. »Weib, kennt deine Habgier denn keine Grenzen?« stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Zwei unschuldigen Menschen den Tod zu wünschen, damit du und dein Abgott eure Herrschsucht in Uhlen befriedigen könnt. Und dabei ist einer davon das Kind deiner Schwester und das Kind des Mannes, der uns mit seinem Vermächtnis ein ruhiges, sorgenfreies Leben verschaffte. Ich habe dir schon einmal mit der Nemesis gedroht – und tue es heute wieder. Sieh in die entsetzten Augen deiner Kinder und schäme dich!« Die Tür knallte hinter ihm zu. Und so endete der Tag, von dem Frau Fränze alle sieben Seligkeiten erwartet hatte. Greif nicht nach den Sternen, das hat noch niemals Glück gebracht. Such dein Glück im Erdenrund, dann kommt es über Nacht.
Hatte das Testament Jobst von Götteruns in Kaimucken so höllischen Aufruhr entfacht, so brachte es nach Uhlen Frieden und Freude. Es war bis ins kleinste durchdacht und jede Möglichkeit in Erwägung gezogen worden. Sölve und Heike waren zu gleichen Teilen die Haupterbinnen. Sollte sich jedoch Sölve wieder verheiraten, so wäre Heike die Alleinerbin Uhlens, und Sölve erhielt eine Abfindung von hunderttausend Mark und das größte der Nebengüter. Sollte eine der Haupterbinnen bei der Testamentseröffnung jedoch nicht mehr am Leben sein, so falle das Erbe ungeteilt an den Überlebenden. Falls jedoch beide Erbinnen tot sein sollten, dann erbe Roderich von Ragnitz die Herrschaft Uhlen, wenn er von der Kommission, bestehend aus Julius von Ragnitz, Jörn von Jührich, Franz Habermann oder deren von ihnen bestimmten Stellvertretern für würdig befunden sei. Sonst würde Uhlen Fideikommiß. Frau Marga Fröse blieb bis zu ihrem Tode Schloßverwalterin, wozu das Zwischentestament sie bereits bestimmt hatte. Zu Lebzeiten der Erbinnen hätten diese sie als Mutter zu ehren und ihr den Platz einer solchen in Uhlen zu belassen. Ihr stehe ein Nadelgeld von jährlich sechstausend Mark zu. Oberinspektor Franz Habermann bleibe der uneingeschränkte Verwalter Uhlens bis zu seinem Tode. Er hätte auch seinen Nachfolger zu bestimmen. Die Treue dieses aufrechten Mannes wäre immer wieder erprobt; es bestünde daher kein Zweifel, daß er eine gute Wahl treffen würde, die außerdem von schon genannter Kommission zu begutachten wäre. Das Gehalt des Herrn Habermann sei auf das Doppelte zu erhöhen. Ferner sei er zum Vormund Roderich von Ragnitz bestimmt, falls ihm Uhlen zufallen sollte. Bestimmungsberechtigt sei er erst nach dem Tode des Verwalters. Seinem Vetter Julius von Ragnitz fielen fünfzigtausend
Mark zu, und seinen Töchtern je zehntausend Mark Aussteuergeld. Seinem Sohn Erziehungsgeld, freies Studium und bis zu seiner Volljährigkeit das kleinste Nebengut, das auch sein Eigentum bliebe, falls sich die andere Erbschaft zerschlagen sollte. Dann folgten noch Legate für treue Gutsbeamte und Arbeiter, und damit war das Testament abgeschlossen. Über das sprachen nun Sölve und Jörn von Jührich. »Ich habe nicht gewußt, daß die Erbschaft so groß war, die Jobst gemacht hatten.« sagte er traurig. »Armer, lieber Freund, daß du nichts mehr davon haben durftest. Ich kann seinen Tod einfach nicht überwinden.« »Nein, das kann man nicht«, entgegnete Sölve mit einer Stimme, in der die Tränen saßen. »Darum sind Sie mir ja so lieb, Jörn, weil Sie auch Schmerz um Jobst tragen.« »Nur deshalb, Frau Sölve?« fragte er mit so trauriger Stimme, daß ihr das Herz weh tat. »Natürlich nicht nur deshalb allein, Jörn«, zwang sie sich zu einem harmlosen Ton. »Oder soll ich Ihnen all Ihre Vorzüge aufzählen?« »Um Gottes willen – nicht«, wehrte er müde ab. »Wollen Sie mich denn gar nicht verstehen?« »Nein«, erwiderte sie klar und fest. »Ich will nicht – und ich darf nicht. Jeder Mensch hat nur ein Herz, Freund Jörn und das meine nahm Jobst mit ins Grab. Und was der Mensch nicht mehr besitzt, das kann er nicht geben.« »Frau Sölve, wissen Sie, daß Sie mir soeben jede Hoffnung genommen haben?« sagte er bitter, und sie gab sich Mühe, seinem schwermütigen Blick standzuhalten. »Freund Jörn, lassen Sie uns einmal offen reden«, sagte sie weich. »Was würde es Ihnen nützen, wenn ich Ihren Hoffnungen Gehör schenkte? Ich sagte Ihnen doch eben, wer mein Herz besitzt. Wollen Sie sich mit Almosen zufriedengeben?« »Nur das nicht!« stieß er hervor. »Wenn es so ist, dann lieber – verzichten.« Er erhob sich so brüsk, daß Sölve erschrak. Mit einem
Schmerzgefühl ohnegleichen sah sie ihm nach, wie er rasch das Zimmer verließ. Frau Fränze, schließe die Tore zu,
es naht ein unheimlicher Gast
Schließ die Pforten fein
und laß ihn nicht ein,
wenn du es nicht tust,
wirst du traurig sein,
wirst du klagen ohn’ Ruh und Rast.
Die verlorene Erbschaft hatte Frau Fränze so schwer getroffen, daß sie sich nicht mehr zurechtfinden konnte. Sie jammerte und weinte, härmte und sorgte sich, nörgelte und schalt und machte ihren Angehörigen daß Leben bitter schwer. Dies alles nahm Frau Fränze so gefangen, daß ihr für die Töchter wenig Zeit blieb. Sie war zufrieden, daß Ricarda willig ihre Arbeit tat. Sah nicht, wie das Mädchen mit jedem Tag elender wurde. Doch der Vater sah es – und das Herz tat ihm weh. Er wußte wohl, woran sein Kind krankte, aber er vermochte ihm ja nicht zu helfen. Er zerbrach sich den Kopf, wie er seinem Liebling eine kleine Freude bereiten könnte. Endlich schien er etwas gefunden zu haben. »Ich muß heute noch nach Uhlen, wo ich mir einen Rat Habermanns einholen möchte«, erklärte er eines Tages bei Tisch, und da fuhr Frau Fränze auf. »Nach Uhlen willst du? Schämst du dich gar nicht?« »Nun schlägt’s dreizehn!« lachte er amüsiert. »Warum soll ich mich schämen, wenn ich die Absicht habe, nach Uhlen zu fahren?« »Weil das dort unsere Feinde sind. Ich habe den Kindern verboten, das Haus zu betreten.« »Schlimm genug«, unterbrach er sie in dem energischen Ton, den er jetzt oft für sie hatte. »Ich wünsche aber, daß die Kinder den Verkehr mit den mir lieben Menschen
aufrechthalten. Sie werden jeden Sonntag hinfahren. Und wenn es irgend geht, auch einmal in der Woche. Du brauchst die Mädchen jetzt nicht mehr so einspannen, hast nun Geld, um dir noch eine Hilfe zu halten.« Für diese energische Bestimmung waren ihm seine Kinder von Herzen dankbar. Hauptsächlich Ricarda. Jede Woche wenigstens einmal den Mann sehen zu dürfen, den sie doch so schmerzlich liebte, war schon ein Glück für sie. Am Tage nach der Unterredung mit Sölve hatte Jörn so ganz nebenbei erklärt, daß er nun wieder reisen werde. Heike sei gottlob so weit, daß sie auch ohne ihn vorankommen würde. Er begann seine Pläne kundzutun und schwieg dann plötzlich, als er dem schmerzzitternden Blick Sölves begegnete. Beschämt senkte er das Haupt. Frau Fröse war stumm hinausgegangen. »Frau Sölve – ich kann Ihren Blick nicht ertragen, bitte, nicht so – « »Jörn, ist es eines Mannes würdig, so feige zu kneifen?« hatte sie traurig gefragt. »Denken Sie denn gar nicht daran, wie mir zumute sein muß, wenn ich Sie von hier verjage? Jörn, seien Sie doch nicht so entsetzlich blind! Wollen Sie denn gar nicht sehen, ein wie heißes Herz hier für Sie schlägt, wie es sich in Gram und Leid fast verzehrt und – « »Aha, das berühmte Pflaster – «, war er unwillig dazwischengefahren. »Ich hätte anderes von Ihnen erwartet –« »Und ich von Ihnen. Sie könnten unerhört glücklich werden, wenn Sie nur wollten. Machen Sie die Augen auf, schauen Sie hellen Blickes um sich – mehr will ich Ihnen nicht sagen – « Damit war sie hinausgegangen, weil ihr jämmerlich zumute war. Aber ihre eindringlichen Worte verhallten nicht ungehört. Zu ihrer Freude konnte sie feststellen, daß er nun wirklich um sich schaute. Wie seine Augen immer mehr aufleuchteten, wenn er Ricarda sah, mit welchem Genuß er
ihrem Gesang lauschte… Ricarda kam wieder oft nach Uhlen. Auch die Zwillinge stellten sich regelmäßig ein. Nur Burga und Roderich ließen sich selten sehen. Erstere, weil sie keinen Kontakt mit den Uhlenern finden konnte, letzterer, weil es ihm zu langweilig war. Mit Frau Fränze wurde es immer ärger. Sie stachelte den Ehrgeiz des Jungen mehr und mehr auf und beugte sich demütig vor ihrem Wunderknaben wie vor einem Heiligtum. Man fragte sich in Kalmücken wie in Uhlen“, was daraus noch werden sollte. Das Schicksal gab die Antwort darauf. Eines Tages brachte man Frau Fränze ihren Abgott – tot. Er war bei einer halsbrecherischen Turnübung gestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. War ein Opfer seines fanatischen Ehrgeizes geworden. Von dem Lehrer war ihm immer wieder untersagt worden, diese schwere Übung auszuführen, und da hatte er sich heimlich in die Turnhalle geschlichen. Er wollte doch mal sehen, ob er unmöglich Scheinendes nicht möglich machen könnte. Und das war sein Ende gewesen. Es gab kaum einen, der den tragischen Tod des hochbegabten Knaben nicht tief bedauert hätte. Der Vater trug Schmerz genug um seinen einzigen Sohn – doch am meisten war natürlich Frau Fränze getroffen. Zuerst stand sie diesem Furchtbaren fassungslos gegenüber, aber dann setzte ein Toben ein, daß man für ihren Verstand fürchten mußte. Es war unheimlich still im Zimmer. Bis Ricarda laut aufschluchzte. Sie eilte zur Mutter, sank vor ihr in die Knie und umfaßte sie mit beiden Armen. »Mama, liebe, liebe Mama - sei doch nicht so traurig -!« flehte sie in heißer Herzensangst. »Du hast ja noch uns – wir haben dich alle so lieb -!« Der Blick der Frau sah auf sie nieder, wanderte dann weiter über die anderen Kinder hinweg – bis er an Elwira haften blieb - »Ihr beide – ihr lebt natürlich – «, stieß sie in
unheimlicher Ruhe zwischen den Zähnen hervor.
Da barg Herr Ragnitz mit dumpfem Stöhnen sein Haupt in
beide Hände, während Ricarda mit einem Wehlaut die
Arme sinken ließ. Ihr Kopf schlug vorwärts auf den Boden.
Jörn von Jührich eilte zu Hilfe, und Sölve folgte ihm. Auf
sie heftete sich nun Frau Fränzes stierer Blick. »Hinaus -!«
schrie sie, daß ihr die Stimme überschlug. »Du bist schuld
an seinem Tode – du hast ihm sein Erbe gestohlen -! Das
hat er nie überwinden können…«
Damit sank sie ohnmächtig zusammen.
Ich nehme dich auf voll Barmherzigkeit,
bei mir kühlst du all dein brennendes Leid,
du verirrtes Herze du.
Meine Welle, die wieget fein sacht dich ein,
wie ein banges, schlafmüdes Kindelein,
zur süßen, seligen Ruh.
Man mußte wohl sagen, daß Frau Fränze nicht nur starke Nerven, sondern auch ein starkes Herz hatte. Schon zwei Wochen nach dem Tode ihres Sohnes war sie wieder in Haus und Küche tätig und führte ein strenges Regiment. Nach den vier abwesenden Töchtern fragte sie nie, schien nur noch ein Kind zu besitzen, mit dem sie fast die gleiche Abgötterei trieb, wie es bei Roderich der Fall gewesen war. Ihr ganzes Sinnen und Trachten ging darauf hinaus, Walburga mit dem jungen Eutel zu verheiraten. Wohl sah sie, daß das früher so blühende Mädchengesicht unheimlich blaß aussah, daß um Augen und Mund ein herber Schmerzenszug lag. Sie machte sich jedoch keine Gedanken darüber, sondern schob es auf Blutarmut, die bald behoben sein würde. An einem Nachmittag saß sie mit Burga im Wohnzimmer. Stolz hielt sie den gestickten Überzug eines Sofakissens in die Höhe. »Schau mal, Burgalein, ist mir die Arbeit nicht gut gelungen?« fragte sie eifrig. »Dieser Überzug kommt auf das
Kissen, das das kleine Sofa zieren soll. Ist doch gut, daß ich Tante Bettinas Nachlaß verlangte, nun wird er dir gute Dienste leisten. Übrigens hat Papa mit Sölve des Gutes wegen gesprochen, das unserm armen Roderich gehörte. Nun sollst du es haben. Da kann der Eutel lachen, der macht eine gute Partie.« Walburga, die an einer feinen Handarbeit stichelte, hob den Kopf. »Muß es Eutel sein, Mama – kann es nicht auch ein anderer sein?« fragte sie leise, und Frau Fränze fiel aus allen Wolken. »Aber Kind, was ist das für eine Frage! Du warst doch für eine Verbindung mit Eutel Feuer und Flamme.« »Zuerst wohl, Mama – aber später nicht mehr. Ich liebe ihn nicht. Ich liebe einen andern.« Bei dieser unerwarteten Eröffnung war Frau Fränze zuerst fassungslos, doch dann stieg tiefe Empörung in ihr auf. »Na, das ist ja noch schöner! Wer ist es überhaupt?« »Achim Garzer.« »Was -?« schrie Frau Fränze so schrill auf, daß die Tochter schmerzlich zusammenzuckte. »Diesen Fixfax, diesen Bettelmatz -!« Sie schien keine weiteren Worte der Verleumdung zu finden. Mußte erst verschnaufen, ehe sie weiter schalt. »Dieser Luftikus! Und du, meine Burga, mein schönstes und stolzestes Kind, für das ich meine Hand ins Feuer gelegt hätte, fällst auf diesen Kerl herein! Na, Gott sei Dank, daß man diese geschmacklose Verirrung noch im Keime ersticken kann. Mein Gott, mein Gott, was habe ich bloß verbrochen, daß ich solche Kinder haben muß.« »Mama, ist es denn so schlimm, daß ich den Achim liebe?« fragte Burga bang. »Er ist doch aus guter Familie, und ganz arm ist er auch nicht. Wenn wir das Gut bekommen, dann sitzen wir doch gleich im warmen Nest.« Diese Erwähnung ließ Frau Fränze auffahren, als habe sie durch und durch ein Stich getroffen.
»Natürlich, damit es diesem Hungerleider ja recht bequem gemacht wird -!« schrie sie krebsrot vor Wut. »Sich ins warme Nest setzen, mit einer Ragnitztochter, das könnte ihm so passen. Und das zu erreichen, hat er dir wohl blauen Dunst vorgemacht -?!« »Mama, nicht so -!« flehte das Mädchen verzweifelt. »Bitte, liebe Mama nicht so -!« Aber sie hörte nicht die Herzensnot ihres Kindes, war taub und blind. »Ich will dir mal was sagen, Burga: Ehe ich zugebe, daß du diesen Garzer heiratest, eher werfe ich dich eigenhändig ins Meer-!« »Mama, ich muß ihn doch heiraten ich muß -!« schrie sie in Qual und Not und da sauste ihr auch schon die Hand der Mutter ins Gesicht. Wie Wahnsinn flackerte es in den Augen der tiefgereizten Frau. »Ich werde dich lehren, was du mußt! Hinaus – und tritt mir nicht mehr unter die Augen – nie mehr! Oder, bei Gott, ich schlage dich tot – «, brüllte sie in höchster Not. Und da stürzte das von Grauen geschüttelte Mädchen hinaus. Vollkommen erledigt fiel Frau Fränze in den nächsten Sessel. Stierte mit glasigen Augen vor sich hin. Und ging fünf Minuten später mit verbissenem Eifer an die Arbeit. Zum Abendessen saß sie dann allein mit dem Gatten an dem langen Tisch, wo einst soviel lachendes Leben mit Appetit geschmaust hatte. Es war so unheimlich still, daß der Mann nervös wurde. »Wo ist Burga?« fragte er gereizt. »Die bockt, weil ich ihr eine gelangt habe.« »Nanu, kommt das bei unserm ehrbaren Fräulein auch mal vor?« spottete er gutmütig. »Ehrbar, von wegen – «, lachte sie verärgert. »Solche Kinder haben andere Leute. Wir haben nur solche, über die wir uns grün und blau ärgern müssen.« »Nanu, hat sie die Suppe anbrennen lassen, Milch zuwenig
angeschrieben oder einen Teller vom Staatsgeschirr zerschlagen -?« »Höhne nur, es wird dir schon vergehen, wenn du hören wirst, daß sich ausgerechnet Burga in den Garzer vergafft hat. Man kann sich tatsächlich die Galle ins Blut ärgern.« Der Hausherr sah überrascht auf. »Was du nicht sagst«, schmunzelte er. »Schau dir einmal unsere Burga an. Ausgerechnet den flotten Garzer sucht sie sich aus. Na ja, Gegensätze ziehen sich bekanntlich an. Sind sie denn schon einig?« »Einig? Meine Tochter Burga hinter meinem Rücken mit einem Mann einig?« fragte sie aufgebracht. »Daran ist zu sehen, wie wenig du das Mädchen kennst. Sie faselte wohl, daß sie heiraten muß, aber die Ohrfeige wird ihr schon beibringen, wer hier zu müssen hat.« Herr Julius ließ Messer und Gabel sinken und sah der Gattin in das verärgerte Gesicht. »Wo ist sie?« fragte er kurz. »Weiß ich’s? Wahrscheinlich in ihrem Zimmer.« Er stand auf, ging hinaus. Kam schon einige Minuten später wieder – schleppenden Schrittes, wie gebrochen. Das Gesicht war aschfahl, die Augen flackerten wie im Fieber »Lies – «, würgte er hervor, ihr einen kleinen Zettel hinhaltend. »Weib – lies, lies laut und dann brülle deine Schandtat hinaus -!« Nun bekam Frau Fränze doch Angst vor dem merkwürdigen Gatten. Zitternd ergriff sie das weiße Blatt. »Ich weiß nicht mehr ein noch aus. Ich weiß nur, daß Mama mich totschlägt, wenn sie erst alles weiß. Ich bin auch so sehr müde – die See wird barmherzig sein – Burga.« Er hörte nicht ihr jammerndes Schreien, stürzte hinaus und kam nach Stunden wieder, einen Schal Burgas in der Hand. – »Weib, du bringst mir meine Kinder um – Stück für Stück – «, lallte er wie ein Trunkener und stierte auf die Frau, die voll zitternder Angst bis in die äußerste Ecke zurückwich. Er ging ihr nach taumelnd – schwankend – mit
blutunterlaufenen Augen – die Fäuste nach ihr geballt. »Hilfe -!« schrie sie gellend auf. Da brach er mit einem dumpfen Stöhnen zusammen. Vom Schicksal bleibt dir nichts geschenkt, es legt einem jeden sein Schuldbuch vor. Und wenn du glaubtest, du bliebest verschont, dann bist du ein eitler, verblendeter Tor. Entsetzt starrten die Menschen, die in Uhlen beim Frühstück saßen, auf den Mann, der taumelnd das Zimmer betrat. Mit einem ächzenden Laut sank er auf den nächsten Stuhl, stierte seine Kinder der Reihe nach an: »Eins – zwei – drei vier – «, zählte er dumpf. »Vier von sieben. Ihr kennt doch wohl den Vers: Es ist eine alte Geschichte, und ist doch ewig neu. Und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei -? So eine alte neue Geschichte will ich euch jetzt erzählen – « Und zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß er sein gestriges Erlebnis hervor. »Ja, so war es«, sprach er dann mit unendlich müder Stimme weiter. »Und als ich heute zum Garzer ging, um ihn windelweich zu prügeln, sank meine Faust herab, als ich sein verständnisloses Gesicht sah. Was ich denn von ihm wolle? Er könnte doch wirklich nichts dafür, daß Burga die Nerven verloren hätte. Als er hörte, daß ihr unerlaubter Verkehr nicht ohne Folgen geblieben sei, habe er Burga anheimgestellt, die Sache mit ihren Eltern zu regeln, wonach er sie heiraten würde. Mehr könne man nicht von ihm verlangen, zumal Burga ihm nachgelaufen sei und keine Ruhe gab. Schon in Kaimucken wäre sie zu ihm ins Zimmer gekommen. Bis hierher sei er verfolgt worden… Das alles sagte er mir in seiner freimütigen Art – und was sollte ich darauf antworten? Die Sache würde normal verlaufen sein, hätte Burga bei ihrer Mutter Verständnis gefunden – nicht Drohung und Ohrfeigen. Diese Ehe wäre
nicht schlechter geworden als viele andere. Und nun – nun ist alles aus – « Er barg sein vergrämtes Antlitz in den Händen. Laut schluchzend umringten ihn seine Kinder, und auch Frau Fröse, Fräulein Gluck, Sölve und Jührich liefen die Tränen übers Gesicht. Der Vater weinte bitterlich um sein verirrtes Kind. Ricarda sank vor ihm in die Knie und umfaßte ihn mit beiden Armen. Ihr Körper zitterte und bebte vor Schluchzen. »Warum müssen die andern sterben die Gundel – der Roderich – und nun auch die Burga -?« klagte sie jammervoll. »Und ich bin doch auch so müde – ich möchte auch so gerne sterben.« Das riß den Vater endlich aus seiner Verzweiflung. Er umfaßte sein Kind in heißer Herzensangst. »Wir beide reisen irgendwohin, mein Kind. Wir beide ganz allein. Hörst du?« So geschah es auch. Sie fuhren nach Berlin, um sich im Trubel der Großstadt abzulenken. Nach zwei Wochen trafen sie wieder ein. Genauso müde und zerquält, wie sie gegangen waren. Der Vater lieferte sein Kind in Uhlen ab und kehrte nach Hause zurück. Am nächsten Tage kam er wieder, um seine Kinder zu holen. »Jammert nicht, das hat keinen Zweck«, sagte er energisch, als ein großes Wehklagen begann. »Ich halte es zu Hause ohne euch nicht aus. Das ist ja, als ob ich gezwungen wäre, in einer Totengruft zu kampieren. Ich muß jetzt zur Stadt. In einer Stunde hole ich euch.« Diesem Befehl wagten sie sich nicht zu widersetzen. Bedrückt zogen sie von dannen, um ihre Habseligkeiten zusammenzusuchen. Alles das lag vereint in dem Blick, den sie zu dem Mann hinübersandte. Ein stummes qualvolles Abschiednehmen! Den Kopf tief gesenkt, die Schultern vornübergebeugt, als trüge sie eine Last, die ihr viel zu schwer war, ging sie mit schleppenden Schritten davon. Es war ein Jammer, was die
Zeit voll Herzweh aus diesem Sprühteufelchen gemacht hatte. Unter den Zurückbleibenden herrschte eine fast atemlose Stille. Die Augen der beiden Frauen hingen an dem Mann, der mit einem Entschluß zu kämpfen schien und sich dann erhob. Und nun war es sein Blick, der mit schmerzlichem Abschiednehmen auf Sölve ruhte. Dann ging er rasch davon, als könnte er seinen Entschluß bereuen. »Es ist Zeit, daß die arme Rosenrot nun endlich aus ihrer Qual erlöst wird«, sagte Frau Fröse leise. »Gebe Gott dem Mann die Kraft, sie so glücklich zu machen, wie sie es verdient-« Frau Norne, rühre die Spindel geschwind,
tu frischen Flachs auf den Rocken.
Was du dann spinnst, soll ein Hochzeitskleid sein,
für ein Kind so rein wie Schnee auf dem Firn,
drück du ihm voll Liebe den Kranz auf die Stirn,
auf die dunklen, seidigen Locken.
Ricarda suchte ihr Zimmer auf, wo sie sich in den Lehnstuhl am Fenster setzte und müde in den Park hinunterstarrte. Eigentlich hätte sie jetzt weinen müssen, heiß und heftig, wie sie schon so oft an diesem Platz getan. Aber auch diese Erleichterung war ihr heute versagt. Sie hatte keine Tränen mehr. Aufstöhnend barg sie das Antlitz in den Händen und überhörte so das Klopfen an der Tür. Erst als sie sich angerufen hörte, schrak sie auf und sah entsetzt auf den Mann, der vor ihr stand. Sie hatte keinen Tropfen Blut in dem zuckenden Gesicht, als sie nun aufsprang und die bebenden Finger in die Lehne des Sessels krallte. So stand sie Jörn von Jührich gegenüber, der langsam die Arme nach ihr hob. »Komm – «, sagte er leise und erschüttert. Doch sie rührte sich nicht. Sah ihn mit feindseligen Blicken an. »Willst du nicht mehr, mein kleines Mädchen?« fragte er
mit der zärtlichen Stimme, die ihr Herz von Anfang an gefangen hatte. »Nein – «, entgegnete sie trotzig. »Gehen Sie doch zu Sölve, die Sie so sehr lieben.« »Sie will mich nicht, kleine Rosenrot-.« »So – und da bin ich als Lückenbüßerin gerade gut genug ?« »Nein, dazu wärest du mir zu schade«, erwiderte er tiefernst. »Du bist mir lieb und wert. Und wenn ich nicht die Kraft in mir fühlte, dich glücklich zu machen, stünde ich nicht hier. Und es wird an dir liegen, ob sich mein Herz restlos von der andern löst, daß es dir allein gehört. Wenn dir das gelingt, dann sollst du ein Leben haben, wie kaum eine Frau im weiten Erdenrund. Wenn nicht – ja, dann werden wir wohl beide unglücklich…« Da flüchtete sie in seine Arme und legte ihren Kopf an seine Schulter wie ein müde-geweintes Kind. Als sie unten ankamen, sah ihm Sölve bang entgegen. Da beugte er sich tief über ihre Hand. – »Nicht so traurige Augen haben, Frau Sölve«, sagte er gütig. »Ich weiß, daß nun alles gut werden kann.« Sie atmete befreit auf. Als der Vater kam, um seine Kinder zu holen, stand er einer Tatsache gegenüber, mit der er nicht mehr gerechnet hatte. Aber zufrieden war er, im tiefsten Herzen zufrieden. Er nahm die Hand des Mannes mit warmem Druck. Bei dem wußte er sein Kind gut aufgehoben. Voll Kummer dachte er an Walburga, die jetzt ebenso glücklich sein könnte wie Ricarda, wenn die Mutter mehr Verständnis für ihr Kind gehabt hätte. Der Gedanke ließ ihn zu keinem wahren Frieden kommen – noch lange, lange nicht. Was war mit den Zwillingen los? »Was habt ihr denn?« erkundigte er sich besorgt. »Warum schaut ihr drein wie verregnete Puttehühnchen?« Da flossen die Tränen aus beider Augen. Und daß es keine Freudentränen über das Glück der Schwester waren, ließ
sich leicht feststellen.
»Hört auf!« gebot der Vater energisch. »Was ist geschehen?«
»Wir lieben auch – «, kam das Geständnis gar kläglich,
eifrig bekräftigt vom andern Zwilling.
Der Vater war nun doch verblüfft, während die anderen
Mühe hatten, ein Lachen zu unterdrücken, das angesichts
so großen Jammers taktlos genug gewesen wäre.
»Das ist ja eine schöne Bescherung!« polterte der Vater los,
während ein Lachen in seinen Augen glimmte. »Ihr Küken
tragt ja noch die Eierschalen hinter den Ohren. Wer sind
denn die beiden Unbegreiflichen, die sich in euch
Grünzeug vergafft haben? Gehen sie etwa noch zur
Schule?«
»Pfui, Papa -!« klang es entrüstet aus beider Mund.
»Oder ist die Liebe gar einseitig?« examinierte er ungerührt
weiter.
»Nein, gar nicht – wir sind uns längst einig – «, wurde
empört bestritten.
Da sah sie der Vater voll Angst an. Einig war auch Burga
mit ihrem Liebsten hinter dem Rücken der Eltern gewesen
und hatte diese Einigkeit mit dem Leben bezahlt. Aber da
sah er in die unschuldigen Gesichter seiner Kinder – und
atmete befreit auf.
»So, so – also einig seid ihr. Da habt ihr euch wohl freiweg
hinter dem Rücken der Eltern getroffen?«
»Nein, Papa – so doch nicht.«
Und: »Nein, Papa – so doch nicht – «, echote es.
»Nicht einmal einen Kuß haben sie uns gegeben. Sie
wollten dich erst sprechen.«
»Vernünftige Jungen. Wenn ich nun noch ihre Namen
erfahren dürfte?«
Die Unzertrennlichen glühten wie die Pfingstrosen, zogen
an den Fingern, daß die Gelenke knackten, knüllten ihre
Taschentücher -
»Nun mal raus mit der Sprache -!«
»Herbert Holdereit – «
Und: »Helmut Holdereit – «, echote das Zweigespann.
»Nicht wahr, Papa, du tust ihnen nichts? Wir haben wahr und wahrhaftig nichts Böses getan.« Nun konnten die anderen das Lachen kaum zurückhalten. »Also die Kadetten sind es«, schmunzelte Herr Julius. »Ihr habt keinen schlechten Geschmack! Wenn es mir auch unbegreiflich ist, wie diese ruhigen, zielbewußten Männer auf euch Gänschen verfallen konnten. Aber wo die Liebe hinfällt – « »Wir dürfen, Papa – « »Nichts dürft ihr vorläufig«, dämpfte er ihren Freudenschrei. »Wie alt seid ihr eigentlich? Siebzehn?« »Bald achtzehn, Papa.« »Und die Herrlichkeiten?« »Herbert siebenundzwanzig.« »Helmut neunundzwanzig.« »Schön. Aber wie ist das, ihr wolltet doch nur Zwillinge heiraten, die in einem Topf kochen und aus einem Teller essen? Nun sind es nur Vettern, mit Altersunterschied, deren Güter nur aneinandergrenzen.« »Es ist wohl nicht alles so im Leben, wie man es sich wünscht – «, sprach Monika kleinlaut ein wahres Wort – und da mußte der Vater sich geschlagen geben. »Nun paßt mal auf – «, sprach er gütig. »Ich werde morgen die Vettern besuchen. Und wenn sich alles so verhält, wie ihr sagtet – « »Ganz wahrhaftig, Papa -!« »Gut. Dann werde ich meine Bedingungen stellen: Ihr kommt auf ein Jahr in ein Pensionat, wo ihr weder Briefe an die Vettern schreiben noch von ihnen empfangen werdet. Das Ehrenwort werde ich ihnen abverlangen. Kommt ihr dann zurück, und seid ihr vier noch derselben Ansicht, dann mag in Gottes Namen Verlobung und hinterher gleich Hochzeit sein.« Wohl senkten die Zwillinge enttäuscht die Köpfe – doch nur einen Augenblick, dann hatte der Vater sie rechts und links am Halse. »Das tun wir, Papa – ganz bestimmt, das tun wir – «, kam
es wie ein Gelöbnis aus beider Mund.
»Recht so. Nun bleibt mir nur noch übrig, festzustellen,
daß ich meine Töchter wie die warmen Semmeln los werde
–« »Euer Gezwitscher wird mir allerdings sehr fehlen, ihr muntern Vögel – « Da fühlte er seinen Hals rückwärts umfaßt, und sich umwendend, sah er in die strahlenden Augen seiner Jüngsten. »Du hast doch mich, Papa. Ich bleibe bei dir.« »Richtig, Klein Rosenrot, wie konnte ich dich vergessen«, sagte er gerührt. »Und die andere Rosenrot?« »Die möchte ich Ihnen bald entführen, lieber Schwiegerpapa«, entgegnete Jörn an ihrer Stelle. »Wir wollen so schnell wie möglich heiraten, um noch vor Weihnachten von der Hochzeitsreise zurückzukehren. Es braucht ja keine geräuschvolle Hochzeit sein. Nur ein stilles Zusammengehen. Das heißt, wenn es der Frau Mama recht ist – « Ein harter, verbissener Ausdruck trat nun in Herrn von Ragnitz’ Gesicht. Und hart war auch seine Stimme, als er sagte: »Die wird erst gar nicht gefragt. Jetzt werde ich das Glück meiner Kinder, die mir noch geblieben sind, überwachen.« Frau Fränze schien auch keinen Wert darauf zu legen, gefragt zu werden. Ihr starrer Blick streifte über die Mädchen und deren Vater hin, als gingen sie alle sie nichts an. Auch als Ricarda vier Wochen später vor den Altar schritt, starrten der Mutter Augen über sie hinweg. Sie nahm auch keine Notiz davon, als die Zwillinge kurz nach Ricardas Hochzeit in die Pension kamen. Sie schien für nichts anderes mehr Interesse zu haben als für ihre Wirtschaft. Natürlich war das Leben in Kaimucken alles andere als harmonisch. Die kleine Rosenrot tat dem Vater von Herzen leid, und er redete ihr zu, wieder nach Uhlen überzusiedeln.
Doch das lehnte die Kleine entschieden ab. Sie hatte von Jührich ein entzückendes Ponygespann als Geschenk erhalten, mit dem sie nun täglich nach Uhlen kutschierte. Das »Kluckchen« ihr zur Seite, an das sich das Kind innig angeschlossen hatte, worüber das alte Fräulein sehr beglückt war. Wenn jedoch die Zeit kam, wo der Vater von seiner Arbeit ins Haus zurückkehrte, dann ließ sich Ira nicht in Uhlen halten. So wurde das Kind sein Abgott. Wenn es auf seinem Schoß saß und mit zärtlicher Stimme plauderte, dann konnte er seine drei verlorenen Kinder auf kurze Zeit vergessen. Das Kind war sein Alles; denn mit seiner Frau verband ihn nichts mehr. Sie gingen sich aus dem Wege wie Fremde. Manchmal nahm er schon an, daß ihre Sinne verwirrt wären. Wenn er sie dann jedoch im Hause schalten sah, dann kam er von dem Gedanken ab. Was sie dachte und fühlte? Ja, das konnte kein Mensch ergründen. Es war fraglich, ob sie überhaupt Schmerz um ihre toten Kinder litt, ob sie sich Schuld an Burgas jähem Ende gab? Sie schien jetzt so wortkarg und verschlossen, wie sie früher redselig und offenherzig gewesen war. Wer bist du, Kind?
Ich kenne dich nicht
mit Locken so golden wie Sonnenlicht,
mit Augen so blau wie des Meeres Well’,
mit Gliedern so schlank wie die scheue Gazell.
Der Herbststurm durchbrauste wieder einmal das Land und hatte strömenden, peitschenden Regen im Gefolge. Es war die Zeit, wo man am knisternden Kamin dem tosenden Lied mit Behagen lauschte, wo man die schöne Heimat an Wald und See lieber und lieber gewann. Sölve saß im Zimmer des Gatten, tief in den weichen Sessel geschmiegt. Frau Fröse hatte sich schon zur Ruhe begeben, und so war
Sölve allein. Den Kopf in die aufgestützte Rechte gelegt, sann sie vor sich hin und lauschte dem Sturmgesang da draußen. Traurig waren ihre Gedanken, die hinter der weißen Stirn hasteten und bohrten – sehr, sehr traurig. Jetzt war sie allein, konnte die Maske fallen lassen, die sie stets im Beisein der Menschen trug. Wenn sie auch liebe Menschen um sich hatte, was bedeutete das alles, wenn der Eine fehlte – der Einzige, von dem ihr Herz bis zum Rande erfüllt war? Sie war einsam. Wer Sölve nicht näher kannte, der glaubte sie frei von Trauer um den toten Gatten, was ja auch ganz natürlich erschien. Sie hatte ihn nur kurz gekannt, war seine Frau im wahren Sinne ja nie gewesen. Aber wer sie liebte, wie Frau Marga, der wußte, wie es in ihr aussah. So phantastisch Sölves Hoffen und Sehnen auch war, wie sehr sich der Verstand auch dagegen sträubte, ihr Herz glaubte nicht an Jobsts Tod. Es wartete und wartete. Ungemein traulich war es in dem Gemach. Das gedämpfte Licht der Ständerlampe durchflutete es mit warmem Leuchten. Mollig warm war es, anheimelnd und traut. Das Empfinden hatte auch der Mann, der nun schon minutenlang dastand und auf die regungslose Gestalt im Sessel schaute. Wer war dieses wundervolle Geschöpf? Dieses Haar, hell und goldig, wie aus Sonnenstrahlen gewoben, klar und glitzernd wie köstlicher Bernstein im Meeresgrund – hatte er ähnliches überhaupt je gesehen? Klein und schmal die Hand, in die der Kopf gestützt war, mit rosig verlaufenden Fingerspitzen, die Gestalt gazellenhaft weich und biegsam, hochbeinig, mit zierlichen Fesseln – alles so rassig, so ungemein vornehm. Was wollte dieses Menschenkind in seinem Zimmer war Uhlen etwa verkauft -? Das gab einen Stich ins Herz, bei dem er aufstöhnen mußte. Da hob Sölve den Kopf, sprang auf »Elga -!« stammelte der Mann überwältigt, der in diesem Augenblick vergessen hatte, daß die einst so schmerzlich
Geliebte ja längst tot war. Wie gebannt sah er in die großen
Augen hinein, in denen zuerst helles Entsetzen stand, das
dann langsam einem Glücksleuchten Platz machte.
»Jobst-!« jubelte es dann durch das Gemach. »Jobst – du
lebst – mein Herz hat mich nicht – betrogen!«
Lachend und weinend zugleich hing sie an dem Manne,
der stocksteif dastand und sich streicheln und küssen ließ.
Er konnte das alles nicht fassen. Das konnte doch
unmöglich Sölve sein, die armselige, reizlose Sölve.
»Nun seht einer bloß diesen Mann an! Läßt sich küssen wie
ein gutgelaunter Pascha von seiner Lieblingsfrau.«
»Du bist – Sölve?« rang es sich da endlich von seinen
Lippen.
»Na, wer denn sonst -!« lachte sie hellauf. »Aber nun gib
erst mal deinen Hut her, der trieft ja vor Nässe. Bist du etwa
durch den strömenden Regen gekommen?«
Er strich sich mit hastiger Bewegung über Augen und Stirn.
»Ja, das bin ich – «, antwortete er, noch immer abwesend
mit seinen Gedanken. »Es war schön, dieses
Nachhausekommen durch Regen und Sturm. Und daß ich
dich hier vorfinden würde – Sölve, das habe ich nicht
erwartet.«
»Das scheint dir gar leid zu tun? Ich will dich nun nicht mit
Fragen aufhalten, du mußt zuerst aus den triefenden
Kleidern. Du findest alles vor, wie du es verlassen hast.«
»Ja, du hast recht – «, raffte er sich nun gewaltsam auf.
»Aber dann mußt du mir erzählen, wie du dich so
wundersam verändern konntest.«
»Aber mit dem größten Vergnügen«, lachte sie glücklich.
»Weiß jemand, daß du hier bist?«
»Nein, nur der Nachtwächter, dem ich Schweigen gebot!«
»Das wird ja dann morgen ein Jubel ohnegleichen sein.
Aber nun geh, damit du ein Bad nimmst und in trockene
Kleider kommst. Soll ich Michael wecken, damit er dir
behilflich ist?«
»Nein, laß – «, wehrte er ab. »Ich finde mich allein
zurecht.«
Während er das nebenanliegende Schlafzimmer aufsuchte, huschte Sölve in das großmächtige Reich der Mamsell. Wie gut, daß sie da oft hineingeschaut hatte. Nun fand sie sich gut zurecht und konnte dem Heimgekehrten ein Mahl bereiten. In stillen, weihevollen Stunden hatte ihr Tante Marga seine Gewohnheiten verraten müssen. Bis ins kleinste waren sie ihr bekannt. Hurtig huschte sie umher. Hatte jetzt keine Zeit, sich über die Heimkehr des Totgeglaubten Gedanken zu machen. Nur ihr Herz war selig. Als der müde, hungrige Heimkehrer wieder sein Zimmer betrat, gebadet, erfrischt, da fand er ein reichhaltiges Mahl. Auf dem Tischchen nebenan brodelte die Kaffeemaschine. Konfekt stand darauf. Obst, Zigaretten – ganz so, wie er es liebte. Und im Sessel saß Sölve, die so wunderbar veränderte Sölve – und lachte ihm entgegen! »Sag mal, Kind, wie hast du das alles nur so schnell zuwege gebracht?« fragte er überwältigt. »Das war keine Hexerei«, lachte sie fröhlich. »Du hast zu deiner Toilette Zeit genug gebraucht. Aber nun stecke die Beine unter deinen Tisch!« gebot sie übermütig, und er konnte den Blick nicht wenden von ihr, die er längst tot geglaubt hatte. Während er aß, tat sie keine Frage, bediente ihn aufmerksam, füllte immer wieder das Glas mit dem Wein, vom dem sie wußte, daß er ihn gern trank. Doch als sie die Speisereste ins Nebenzimmer getragen, ihn mit Kaffee und Zigaretten versorgt und sich selbst eine in Brand gesteckt hatte, da fragte sie leise, wie er zu der Narbe gekommen sei. »Ja, Kind, das ist nicht mit einigen Worten gesagt«, entgegnete er, sich in seinem Sessel bequem zurücklegend. »Dazu muß ich vorgreifen, um dir alles verständlich zu machen. Nach mehr als sechswöchiger Reise erreichte ich ohne nennenswerte Schwierigkeiten die Farm. Wie mir der Rechtsvertreter geschrieben hatte, war bereits ein Käufer für
den Riesenbesitz vorhanden. In diesem Fall eine Käuferin, ein Mischblut, die fast alle Farmen ringsum aufgekauft hatte und wie eine Königin in ihrem Reich herrschte. Wir wurden bald handelseinig, wobei ich glänzend abschnitt, wie mir der Rechtsberater verriet. Obgleich es mich förmlich nach Hause zog, entschloß ich mich, noch einige Wochen zu bleiben und in ortskundiger Gesellschaft die Gegend zu durchstreifen; denn diese Gelegenheit kam ja gewiß nie wieder. So geschah es denn auch. Die schöne Carmen wurde meine Führerin. Obgleich wir von einem ganzen Troß begleitet wurden, gelang es ihr stets, uns beide zu isolieren. Vier Wochen streiften wir so umher, und ich muß zugeben, daß es wundervolle Wochen waren. Zur Farm zurückgekehrt, wollte ich dann zur Heimreise rüsten. Da erklärte sie mir in ihrer bestimmten, herrischen Art, daß sie mich zu heiraten wünsche. Erst war ich verblüfft, dann lachte ich sie aus – und das hätte ich nicht tun dürfen. Es flammte gefährlich in ihren nachtschwarzen Augen auf; denn ich hatte sie aufs tödlichste beleidigt. Sie sprach weiter kein Wort, sondern handelte. Ehe ich so recht zur Besinnung kam, war ich ihr Gefangener. Durch ihren Sekretär ließ sie mir sagen, daß ich in dem Augenblick von der Haft frei sein, in dem ich mich bereit erklärte, ihr Gatte zu werden. Dieser Sekretär war ein Deutscher und sah mir ähnlich. Wie ich später erfuhr, soll er, bevor ich kam, der Geliebte der Herrin gewesen sein. Er kam zu mir als guter Freund und machte mir allerlei Vorschläge betreffs der Flucht. Doch ich traute ihm nicht, etwas in mir mahnte zur Vorsicht. Nun, so leicht ergab ich mich nicht, obgleich ich von vielen glühend beneidet wurde. Denn der Mann der wirklich schönen, unermeßlich reichen Carmen zu werden, galt für Hunderte Männer als Märchenglück. Meine Gefangenschaft war gar nicht übel. Alle Wünsche wurden erfüllt, bevor sie noch richtig ausgesprochen waren. Auch wurde mir die Zeit nicht lang, da mich Carmen mehr
besuchte, als mir lieb war. Nur, daß die Freiheit fehlte; denn ich wurde streng bewacht. Und zwar von Kreaturen, die der gestrengen Herrin teils aus Angst, teils aus Hörigkeit dienten. Ich machte immer wieder der temperamentvollen Donna klar, daß ich verheirate sei und sie daher gar nicht ehelichen könnte. Das tat sie jedoch mit verächtlichem Lächeln ab. Sie würde schon Mittel und Wege finden, um mich von dieser Ehe zu befreien. Vergeblich zermarterte ich mein Hirn, wie ich entfliehen könnte, aber das war für mich, der ich ja vollkommen landfremd war, ein Ding der Unmöglichkeit. Da erhielt ich eines Tages auf abenteuerliche Art einen Brief. Er war auf geschickte Weise unter dem breiten Halsband des Hundes verborgen, der sich fest an mich angeschlossen hatte und mit kurzen Unterbrechungen meine Haft freiwillig teilte. Das kluge Tier kratzte und schüttelte sich so lange, bis der Zettel auf die Erde fiel. Er stammte von Pedro, einen intelligenten, bildschönen Burschen, der als treuer Diener meines Onkels seine Ergebenheit nun auf mich übertrug. Er beschwor mich, der Herrin den leidenschaftlichen Liebhaber vorzumimen, sonst fürchte er für mein Leben. Sie habe ihren abgebauten Liebsten mit einer fürstlichen Abfindung nach Deutschland zurückgeschickt, ein Zeichen, daß sie sich immer mehr in Liebe zu mir verrenne. Und daß sie dann jedes Hindernis rücksichtslos beseitigen würde, das wisse er aus Erfahrung. Ich solle nur seinem Rat folgen, dann könne alles gut werden. In dem Sinne war das Schreiben in zwar schlechtem, aber verständlichem Deutsch abgefaßt. Es blieb mir nun keine andere Wahl, als dem Rat Pedros zu folgen und mich scheinbar zu ergeben. Das fiel mir auch gar nicht schwer, denn diese dämonisch schöne Frau konnte einem Mann schon die Sinne verwirren. Ich muß wohl meine Rolle glänzend gespielt haben, denn ihr anfängliches Mißtrauen schlief langsam ein. In ihrer Selbstherrlichkeit nahm sie
auch gar nicht an, daß es auf dem Erdenrund einen Mann gäbe, der ihren Reizen widerstehen könnte. Obgleich ich von allen Ecken und Enden bespitzelt wurde, gelang es Pedro immer wieder, mir auf raffinierteste Art Nachricht zukommen zu lassen – und so kam es eines Nachts zur Flucht. Pedro, seine Frau, einige ergebene Leute, die Abenteuer geradezu suchten und nicht Tod noch Teufel fürchteten, und ich machten uns bei günstiger Gelegenheit auf und davon. Nun wäre diese Flucht glänzend gelungen, wenn sich uns nicht ein Hindernis in den Weg gestellt hätte, mit der selbst der schlaue Pedro nicht rechnete. Denn der um meinetwillen fortgeschickte Liebhaber Carmens, den glühende Rachsucht erfüllte, hatte sich nur scheinbar zur nächsten Hafenstadt begeben. Er war jedoch, als er sich vor Spähern sicher fühlte, wieder zurückgekehrt, umlauerte1 die Farm, um bei passender Gelegenheit seinen glühend gehaßten und beneideten Nebenbuhler heimlich zu erledigen. Diesem Spürhund fiel ich dann auch tatsächlich in die Hände. Wir waren erst eine kurze Strecke von der Farm entfernt, als ich rücklings niedergeschlagen wurde und vom Pferd sank. Mehr weiß ich nicht. Wußte überhaupt lange Monate hindurch nichts mehr von mir. Als ich dann nach schwerer Krankheit und noch längerem halbbewußtlosen Dahindämmern endlich zu voller Klarheit erwachte, befand ich mich in einer kleinen Hütte, von Pedro und seiner Frau aufs aufopfernde betreut. Da erfuhr ich folgendes: Nachdem mich mein vor Eifersucht blindwütiger Landsmann niedergeschlagen hatte, mußte er diese unselige Tat mit seinem Leben büßen. Einer meiner Begleiter versetzte ihm einen schweren Schlag, der sein Gesicht zerschmetterte und diese traurige Tatsache nutzte der schlaue Pedro zu meinen Gunsten aus. Er zog dem Toten meine Kleider an, tat Uhr und Brieftasche dazu,
steckte ihm meine Ringe an die Finger, und da der Unglückliche meine Statur besaß, sogar die Farbe meines Haares, so konnte er ohne weiteres für meine Person angesehen werden, zumal ja das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen war. Und so war es auch. Carmen, die sich an der Verfolgung beteiligte, zweifelte keinen Augenblick daran, mich in dem Toten vor sich zu sehen. Sie meldete den Mord der Behörde, die dann alles Weitere veranlaßte. Daß der Tote ihr ehemaliger Liebhaber sein könnte, darauf kam sie nicht, da sie ihn längst auf der Fahrt nach Deutschland glaubte. Mich jedoch, der ich durch die gefährliche Kopfwunde natürlich besinnungslos war, brachten meine Getreuen an einen versteckten Ort, der selbst ortskundigen Leuten unbekannt war, schlugen dort eine kleine Hütte auf, tarnten sie meisterhaft und pflegten mich unter größter Mühsal gesund. Es muß jedesmal ein gefährliches Spiel mit dem Leben gewesen sein, wenn sich mein treuer Pedro aufmachte, um Lebensmittel und Medikamente aus dem nächsten Ort zu holen, der immerhin eine Tagesreise entfernt lag. Es würde zu weit führen, wollte ich jede Einzelheit genau schildern. Kurz und gut: Ich genas zur hellen Freude meiner Betreuer, die ja nur aus Pedro und seiner Frau bestanden, da die andern sich verkrümelt hatten. Als ich mich kräftig genug fühlte, begann der beschwerliche und gefahrvolle Weg zum nächsten Ort und von da aus zur nächsten Hafenstadt. Dort schiffte ich mich ein und gelangte ohne Hindernisse hierher. – Das ist alles.« Mit immer größerem Entsetzen war Sölve seinem Bericht gefolgt. Nun saß sie da, blaß bis in die Lippen. »Mein Gott – Jobst!« stieß sie endlich hervor. »Wie schrecklich ist das alles! Wie Furchtbares hast du hinter dir – und wir haben dich hier als tot beweint, weil ja die Todeserklärung von maßgebender Seite kam. Das heißt, ich und – mein Herz – ich habe nie daran glauben können – «, schloß sie leise.
»Ja, Sölve, recht war es nicht, was Pedro getan hatte.« »Das meine ich nicht«, warf sie heftig ein. »Deinem Pedro bin ich von Herzen dankbar. Was ist aus ihm und seiner Frau geworden?« »Die sind nach ihrem Heimatort in Argentinien zurückgekehrt, wo sie ein behaglicheres Leben führen können. Mein Onkel hat in seinem Testament Pedro ganz nett bedacht, und ich habe ein übriges dazugetan.« »Hattest du denn Geld?« »Natürlich. Das hatte Pedro bis auf einen ganz kleinen Rest meiner Brieftasche entnommen, bevor er sie zu dem Toten steckte. Die Hauptsumme hatte ich mit Carmens Hilfe über das Konsulat hierhergehen lassen. Hast du es nicht erhalten?« »Ja, es traf in mehreren Raten ein.« »Dann hat ja alles geklappt. Und nun die bange Frage: Was ist aus – Heike geworden?« »Die lebt, Jobst!« »Gott sei Dank«, atmete er erlöst auf. »Und nun erzähle du.« Das tat Sölve denn auch, und er bekam alles zu hören, was sich in den zwei Jahren seiner Abwesenheit hier zugetragen hatte. Von ihrer schweren Krankheit, von dem Tode der drei Ragnitzschen Kinder – alles erzählte sie bis ins kleinste. »Das sind ja trostlose Nachrichten«, sagte er erschüttert, als Sölve geendet hatte. »Ich glaubte Roderich als Herrn von Uhlen; denn mit dir und Heike habe ich ja nicht mehr gerechnet. Ich glaubte euch beide – tot. Wie ist es nur möglich, daß du so gesunden konntest? An dir hat sich ein wahres Wunder vollzogen.« »Ganz und gar nicht, Jobst. Ich bin nur wieder die geworden, die ich vor Muttis Tode war. Die Sölve, die du kennenlerntest, war nur ein kümmerliches Scheinwesen. Aber ich hätte auch nicht mehr zum Leben zurückgefunden, wenn nicht ein Etwas gewesen wäre, das mich dazu zwang. Komm, ich werde es dir zeigen.«
»Da bin ich aber neugierig!« »Kannst du auch«, lachte sie fröhlich. Sie führte ihn durch sein Schlafzimmer in ihr Reich, dann weiter, bis sie vor dem spitzenverhangenen Babybettchen standen. Mit ungläubigem Staunen schaute der Mann auf das süße kleine Menschenwunder, das so friedlich schlummerte. »Das ist doch nicht etwa - Heike?« fragte er atemlos. »Wer denn sonst?« lachte sie leise. »Du bist ein guter Gatte und Vater. Zuerst erkennst du nicht deine Frau – und dann nicht dein Kind.« »Ja – aber Sölve, die Ärzte hatten sie doch längst aufgegeben?« »Mich auch, Jobst – mich auch. Aber wie du siehst, leben wir ihnen zum Trotz. Und wie wir leben!« Das Kind regte sich, öffnete die verträumten Augen. »Ma – mi – «, lallte es noch unbeholfen, steckte dann das Däumchen in den Mund und schlief weiter. Eine ganze Weile sah der Vater noch auf sein so verändertes Kind, wobei es in seinem Antlitz zuckte und bebte. Dann kehrte er an Sölves Seite in sein Zimmer zurück. »Sölve, wie soll ich dir danken, daß ich mein Kind wiedersehen darf?« »Ach, Jobst, mir gebührt der wenigste Dank«, wehrte sie verlegen. »Sicherlich würde Heike auch noch leben, wenn sie in der Klinik geblieben wäre. Dank gebührt in erster Linie unserer prachtvollen Tante Marga. Würde sie mich nicht zur Zeit aufgerüttelt haben, dann wäre ich wohl hinübergeduselt ins Schattenreich. Aber ein rechtes Wort zur rechten Zeit hat bei mir Wunder gewirkt. Sie gab mir zu bedenken, daß ich Pflichten hätte gegen dein Kind, das ein heiliges Anrecht auf meine Liebe haben dürfte. Stellte mir vor, daß ich noch lange nicht so bedauernswert sei, wie ich annähme, und erzählte mir das Schicksal deiner Familie. Rüttelte mich damit so auf, daß ich wieder Lust zum Leben bekam. Kurz entschlossen holte ich Heike aus der Klinik hierher, machte Jörn mobil, der sich den schneidigen
Doktor Fels und unseren braven Doktor Schlimm zur Hilfe holte. Eine tüchtige Kinderschwester war die Vierte im Bunde. – So gelang es mit vieler Mühe, unser Kleinchen so weit zu bringen, wie es jetzt ist. Wohl ist es noch längst nicht so, wie es seinem Alter entspricht – aber das wird bestimmt auch noch werden.« »Also der gute Jörn hat sich auch an dem Wettstreit beteiligt?« lächelte er. »Und wie, Jobst! Er in erster Linie. Er hat seine Meinung über mich, als ich erst ich selbst geworden war, sehr ändern müssen.« »Wie soll ich das verstehen?« »Ganz einfach. Ich hatte nämlich sein vernichtendes Urteil, das er kurz vor deiner Abreise über mich fällte, mitgehört.« »Sölve, du unglückseliges Kind! Dann hast du -?« »Jawohl – ich habe – «, nickte sie mutwillig. »Ich wollte mich von dir verabschieden, der du mich schnöde im Stich ließest, als ich eingeschlafen war. Ihr wart so vertieft, daß ihr mich gar nicht bemerktet, als ich an der Tür stand. Umkehren konnte ich nicht, da mir einfach die Kraft dazu fehlte – und so habe ich jedes Wort mitgehört. Na, das hat mich dann umgeschmissen.« »Das ist ja entsetzlich. Weiß Jörn davon?« »Selbstverständlich. Ich habe in meinen Fieberphantasien ja alles deutlich genug verraten. Der arme Mensch war so zerknirscht, daß er mich zu meiden begann, als ich meiner Sinne wieder mächtig war. Da ging ich einfach zu ihm und legte ihm Heikes Wohl in die Hände.« »Und nun?« fragte er gespannt. »Nun sind wir die besten Freunde«, entgegnete sie, so harmlos sie konnte. Es ließ sich jedoch nicht verhindern, daß ihr das Blut heiß ins Gesicht schoß, daß sie unter seinem forschenden Blick die Augen senkte. »So, so«, meinte er, indem er mit einer Sorgfalt die Zigarettenasche in die Schale strich, als hinge wer weiß was davon ab. »Und nun hat er die große Rosenrot geheiratet?« »Ja«, atmete sie auf. »Sie sind sehr glücklich. Ricarda ist
aber auch ein ganz entzückendes Menschenkind
geworden.«
»Das war sie schon immer. Und nun wollen wir uns zur
Ruhe begeben, ich bin wirklich müde.«
Vor ihrer Schlafzimmertür zog er ihre Hände an die Lippen.
»Hab’ Dank, Sölve – heißen, ewigen Dank!«
Dann fiel die Glastür hinter seinem Schlafzimmer zu.
Nimm fest dein Herz in beide Hände,
halt tapfer aus.
Es fand manch Leid ein glücklich Ende,
manch Herz, es fand nach Haus.
Es gab einen Jubel ohne Ende, als man am anderen Morgen den Totgeglaubten gesund und munter vorfand. Das erschütternde Wiedersehen zwischen Frau Fröse und Jobst riß die letzte Schranke nieder. »Nun bist du auch meine Tante Marga?« fragte er bewegt, und sie lachte glücklich dazu. »Jobst, ich habe nie an deinen Tod geglaubt!« »Ich auch nicht, Tante Marga. Ich habe meine Hoffnung nie laut werden lassen, weil ich deine mitleidigen Blicke fürchtete.« »Und ich nicht, weil ich keine Hoffnungen in dir erwecken wollte, die verstandesgemäß töricht waren.« Dann wurde dem Vater sein Kind gebracht. Mit dem süßen Lächeln, das diesem Geschöpfchen eigen war, musterte es mit den immer noch übernatürlich großen Augen den fremden Mann. Erschüttert sah er auf das kleine Wesen, das in seiner Engelhaftigkeit überirdisch wirkte. Es hatte sich in den zwei Jahren, da er es nicht gesehen hatte, fabelhaft herausgemacht. Und doch! Es konnte mit seinen drei Jahren noch nicht einmal allein sitzen. Es konnte wohl die Gliederchen bewegen und schon einige Worte stammeln, schien auch geistig normal zu sein. Aber was nützte das alles? Es würde
immer ein Treibhauspflänzchen bleiben, das überängstlich gehütet werden mußte und dem die Kinderfreuden versagt wären. An Heiraten war schon gar nicht zu denken. Wenn es sich nun später verlieben würde… Das Herz tat ihm weh. Er war lange nicht so beglückt, wie man erwartet hatte. Es kostete Mühe, die Enttäuschung darüber hinunterzuwürgen. Und das mußte Sölve noch oft; denn das Verhalten des Gatten legte sich wie ein Reif auf ihre Glückseligkeit. Sie mußte erkennen, daß er ihr heißes Herz, das sie ihm in schrankenloser Liebe entgegenbrachte, gar nicht wollte. Diesem Ungeahnten stand Sölve zuerst fassungslos gegenüber, bis sie dann langsam begriff. Was wollte sie überhaupt? Er hatte sie doch aus einer barmherzigen Lüge heraus zu seiner Frau gemacht, die er nun bereute. Sie mußte ihr Herz immer wieder fest in beide Hände nehmen, um das Leid, das nun neu in ihr Leben getreten war, ertragen zu können. Die wundersame Heimkehr des Totgeglaubten wurde überall im Fluge bekannt. Wie groß war die Freude des Herrn Julius! Er konnte sich gar nicht genug tun, dem Heimkehrer zu bekunden, wie glücklich er sei. Von Jörn und Ricarda kamen herzliche Glückwunschtelegramme, von den Zwillingen jubelnde Briefe. Klein Rosenrot konnte sich kaum lassen vor Freude. >Kluckchen< weinte, als wäre ihr ein Leid geschehen. Nur Frau Fränze schwieg. Und als Jobst sie besuchte, verharrte sie in derselben starren Ruhe, die ihr nun zur Natur geworden war. Es gibt welche, die behaupten, daß Leid den Menschen veredelt. Das sind wohl die, die wirkliches Leid nie erfahren haben, die gedankenlos nachreden, was sie hörten oder lasen! In Wirklichkeit macht Leid schlecht. Es verbittert und zerquält, schafft Neid und Mißgunst auf die Menschen, die
das besitzen, was man hat hergeben müssen. So konnte man auch von Frau Fränze nicht verlangen, daß ihr Leid sie veredelt hätte, und Jobst von Götterun packte tiefstes Mitgefühl, als er diese so sehr veränderte Frau wiedersah. Wenn die Frau doch weinen könnte, so recht von Herzen weinen, dachte er erschüttert. Aber diese Wohltat war ihr wohl versagt. An einem Tage, als er mit Tante Marga und Sölve beisammen saß, sprach er mit ihnen über Frau Fränze. Bat sie, sich um diese bedauernswerte Frau mehr zu kümmern, worauf sie seinem Wunsch nachkamen. Schon am nächsten Tag fuhren sie zu ihr und kehrten niedergeschlagen zurück. Die Lust zu weiteren Besuchen war ihnen vergangen. Sölve hatte auch mit sich genug zu tun, denn ihr Kummer über die Unzugänglichkeit des Gatten wurde immer größer. Nicht, daß er sie etwa vernachlässigt hätte. Im Gegenteil, er war aufmerksam und ritterlich zu ihr, verwöhnte sie mit Geschenken, tat alles, was er ihr nur an den Augen ablesen konnte – nur seine Person umgab er mit einem Wall, der nichts an sie heranließ. Sölve, die wahnsinnig darunter litt, wollte so manches Mal mutlos werden. Und da war es die erfahrene Tante, die sie immer wieder aufrichtete. Die kluge Frau wußte längst, warum er sich so verschloß, und litt mit den ihr liebsten Menschen. Die Angelegenheit war so überaus zart, daß man sie nicht in Worte fassen durfte, wollte man nicht alles noch schlimmer machen, als es ohnehin schon war. An einem sonnigen Wintertag stand Götterun in seinem Arbeitszimmer am Fenster und schaute auf die Anlagen hinunter, die das Schloß von dem riesengroßen Wirtschaftshof trennten. Da sah er Sölve kommen. Sie war im Reitdreß. Wie das lachende sprühende Leben, so kam sie daher – rassig, gertenschlank, die Hände in den Hosentaschen und das Mützchen verwegen auf dem
schönen Haar.
Rechts und links trabten die beiden großen Hunde,
während die beiden kleinen Bösewichter laut kläffend
voranjagten. Sölves frisches Lachen, mit dem sie ihnen
wehrte, klang bis zu ihm herauf.
Es war ein erfreuliches Bild, das sich seinen Augen bot –
und doch stöhnte der Mann auf und drückte seine Augen
in die Hände, die den Fensterknauf umspannten.
Am Abend saß Sölve wie so oft am Flügel, spielte und sang.
Sie war stets dazu bereit, weil sie wußte, wie sehr Jobst ihre
musikalischen Darbietungen liebte. Sie waren beide allein;
denn Frau Fröse hatte sich bereits zurückgezogen.
Der Mann lauschte regungslos.
Es entging Sölve nicht, daß er immer wieder die Zähne wie
in jähem Schmerz zusammenbiß. Schließlich brach sie ab
und trat zu ihm, seine Schulter umfassend.
»Jobst, quält dich etwas?« fragte sie leise.
Er streifte ihre Hand ab – und da straffte sie sich hoch. All
der Stolz, den sie immer wieder tapfer niedergezwungen
hatte, ließ sich bei dieser schroffen Abweisung nicht mehr
beschwichtigen. Heiß flammte er zu voller Größe auf. Er
sprühte in ihren Augen, machte das Antlitz eisig und starr.
»Jobst, was habe ich dir getan, daß du mich stets
zurückweist? Weißt du denn gar nicht, wie mich deine
ganze Art demütigen muß? Ich möchte nun endlich einmal
klarsehen, möchte wissen, was du gegen mich hast.«
»Setz dich, Sölve.«
»Nein!«
Betroffen sah er in ihre blitzenden Augen hinein – dann
winkte er müde ab.
»Sölve, seit wann bist du trotzig? So kenne ich dich ja gar
nicht.«
»Nein, leider! Du bist gewohnt, mich nach jedem Fußtritt
gleich wieder wie einen treuen Hund zu deinen Füßen zu
sehen.«
Er sprang auf, wollte ihre Schulter umfassen und sie in den
hinter ihr stehenden Sessel drücken, doch sie wehrte ab.
»Laß mich – du -! Wenn ich dich nicht berühren darf, dann darfst du es auch nicht.« Er ließ sich in seinen Sessel zurücksinken, und sie nahm nun doch ihm gegenüber Platz. »Sölve, laß es uns kurz machen: denn was ich dir sagen muß, wird mir zur Qual. Weißt du, warum ich nicht mehr heiraten wollte?« »Ja.« »Du weißt auch, warum du meine Frau wurdest?« »Ja.« »Sölve, muß ich wirklich weiter sprechen?« »Ja«, verlangte sie kalt. »Ich habe mir ja schon so vieles anhören müssen, warum nicht das noch?« »Es wäre ein Unglück. Für mich und auch für – dich.« Todblaß saß sie vor ihm. Die blauen Augen erschienen fast schwarz vor Erregung. »Du willst, – daß – ich – gehe?« rang es sich mühsam von den zuckenden Lippen. »Sölve, du darfst mich doch nicht mißverstehen«, entgegnete er gequält. »Sieh, Kind, du bist ein so wundervolles Geschöpf, das dazu geschaffen ist, glücklich zu machen und glücklich zu sein. All diese Gaben hat dir die Natur in verschwenderischem Maße mitgegeben. Und ich – Sölve – ich habe dir nichts zu bieten. Ich habe daher kein Recht, dich zu halten. Das wäre ein sträflicher Egoismus. Ja, die andere Sölve, die elende, kranke, die hätte ich bei mir behalten dürfen. Mit gutem Recht. Aber diese Sölve nein -!« Es war, als hätte sie gar nicht auf seine Erklärungen gehört. Nur ein Gedanke schien in ihrem Hirn zu kreisen, den sie nun aussprach: »Du liebst – mich – nicht -?« »Nein!« sagte er hart, und sie zuckte wie unter einem Hieb zusammen. Sekundenlang saß sie unbeweglich, den Kopf gesenkt, die Hände in die Seitenlehnen des Sessels gekrallt. »So«, sagte sie endlich ganz tief und rauh. »So! Du willst
mir also die Heimat nehmen, nur weil ich gesund bin? Bin ich dir nicht von Anfang an nachgelaufen wie ein Hund? Lasse ich mich nicht von dir quälen und demütigen, ohne mich zu beklagen? Habe ich meinen Stolz nicht immer wieder niedergerungen, so sehr, daß es meiner schon unwürdig ist? Und alles, damit ich nur bei dir bleiben darf.« »Mein Gott, Sölve – so ist es doch nicht – so doch nicht -!« Er war ebenso blaß wie sie. Saß in seinem Sessel wie sprungbereit und wagte doch nicht, sich ihr zu nähern. »Wenn du bleiben willst – ich wäre ja so froh! Aber glaube mir, es wird die Zeit kommen, wo du von selbst von mir gehen willst.« »Ach, laß – ich verstehe dich ja – «, wehrte sie mit einem Lächeln, das weh genug ausfiel. »Aber mich wegschicken, nein, das darfst du nicht. Das wäre mein Tod.« Langsam erhob sie sich und ging davon. Warf sich in ihrem Schlafzimmer über das Bett und weinte, weinte – wie nur ein Mensch weinen kann, der maßlos gedemütigt wurde – und dem das Herz so bitter weh tut. Frau Sölve, rufe die Ross’ herbei,
es gibt ein fröhliches Reiten.
Und das Herz wird dein,
das Herz allein,
um das es sich lohnet zu streiten.
Sölve stand in ihrem Ankleidezimmer vor dem Spiegel. Entzückend sah sie aus in dem Jagddreß. Wie angegossen saßen der rote Frack, die schwarze Hose, die glänzenden Lackstiefelchen. Keck saß die schwarze Samtmütze auf den bernsteinhellen Locken, die hie und da neugierig hervorlugten. Diesen Anzug hatte sie am Morgen nach der qualvollen Aussprache in ihrem Wohnzimmer gefunden. An den Aufschlag des Fracks geheftet, prangte ein funkelnder Armreif, durch den eine rote Rose gesteckt war. Auch ein Brief lag dabei, dessen Inhalt sich ihrem Herzen
eingegraben hatte. »Vergib mir, süße kleine Sölve, ich bitte Dich! Ich gebe Dir mit diesem Geschenk etwas Köstliches, das einst Konstanze gehörte. Trage es zu Deinem Fest, das in vier Tagen stattfinden soll, Du, die Herrin von Uhlen – die Du sein sollst, solange Du willst, Jobst.« Da hatte ihr müdes, zerrissenes Herz wieder aufgejubelt.
Und nun stand sie hier und trug das wertvolle Geschenk,
das nach kleinen Änderungen so wunderbar paßte. Ihre
Augen lachten und blitzten.
»Frau Sölve, rufe die Ross’ herbei,
es gibt ein fröhliches Reiten«,
sang sie übermütig.
»Und das Herz wird dein,
das Herz allein,
um das es sich lohnet zu streiten.«
Jawohl, ein Streiten mit allen Waffen. War sie nicht eine
echte Eva, ausgestattet mit allen Reizen, die einen Mann
betören können? Sollte sie diese Waffen brach liegen lassen
und sich damit um das Köstliche bringen: um den
heißgeliebten Mann?
Warte nur, du sollst schon noch in den Apfel beißen, den
dir deine Eva reicht.
Es klopfte, und der Gatte trat ein. Genauso gekleidet wie
sie.
»Donnerwetter!« entfuhr es ihm.
»Gefalle ich dir?«
»Gefallen ist gar kein Ausdruck. Ich fürchte nur – «
»Was denn?«
»Die Antwort würde dich zu klug machen, mein kecker
Page. Aber schau einmal zum Fenster hinaus. Vielleicht
gefällt dir, was du da erblicken wirst.« Unten stand ein Pferd, ein Goldfuchs. »Für mich -?« fragte sie atemlos. »Für dich. Und weißt du auch, wie es heißt?« Sie sah ihn fragend an. »Bernsteinhexe.« »Meinen Namen!« jubelte sie hinaus. »Ist gut, daß du mich an den erinnerst.« »Nun ist es an mir, neugierig zu sein – « »Und an mir, mit derselben Antwort aufzuwarten wie du vorhin.« »Du scheinst deinen Namen nicht umsonst zu tragen – « »Das walte Gott – «, war die mysteriöse Antwort. Unten klang das Jagdhorn auf, da reichte er ihr den Arm: »Auf, auf, Herrin – frischauf zum fröhlichen Jagen!« In der Halle trafen sie Frau Fröse, die auch im Jagddreß war. Als Gattin eines Offiziers hatte sie früher viel Jagden mitgeritten und nun nach langer Zeit den Dreß wieder hervorgeholt. Nur trug sie statt der Hose einen Reitrock. »Tante Marga!« jubelte Sölve. »Du bist ja so schön – und so jung!« »Danke, du Ungestüm«, lachte sie, dem Anprall auf ihre Person tapfer standhaltend. »Das Kompliment kann ich dir zurückgeben. Ihr Jäger, nehmt euer Herz in acht.« Die ersten Gäste erschienen, und es gab ein frohes Begrüßen. Immer mehr kamen herbei, so daß zuletzt eine stattliche Anzahl beisammen war. War es doch das erste größere Fest, das man nach der Heimkehr des Herrn in Uhlen gab, da wollte keiner der Geladenen fehlen. Die Jagd begann, und Sölve, die ihr neues Roß bald gut und sicher unter der Faust hatte, jagte wie ein kleiner Kobold umher. Man fand sie bezaubernd, berückend und beglückwünschte den Jagdherrn zu dieser Frau. Nur er schien das nicht zu sehen. Seine düstere Miene wollte nicht zu diesem Fest passen. Natürlich fanden sich Herren genug, die dieser Herrin auf Leben und Tod den Hof machten. Und siehe da, es stellte
sich heraus, daß diese ihre ohnehin gefährlichen Augen recht gut zu gebrauchen verstand. Das schien tatsächlich eine Bernsteinhexe zu sein. Nach der Jagd kam das »Kesseltreiben«, das Einnehmen der obligaten Erbsensuppe, und abends folgte der Ball. Als Sölve ihr Ankleidezimmer betrat, um sich für den Ball umzukleiden, wartete ihrer eine Überraschung. Eine märchenhafte Toilette mit passendem Schmuck lag bereit. Mit so großer Freude schlüpfte sie hinein, wie Aschenbrödel es getan haben mochte. Wieder stand sie vor dem Spiegel und betrachtete kritisch ihr Bild. Schön wollte sie sein – schön und noch schöner! Schön wie Aschenbrödel. Als der Gatte sie holen kam, hob sie schüttelnd die Arme. »Bäumchen, rüttle dich und schüttle dich, wirf Gold und Silber über mich – «, sang sie übermütig und versank dann vor ihm in einem Knicks. »Dein Aschenbrödel wartet, mein Prinz.« Voll heimlichen Entzückens ruhte ihr Blick auf seiner distinguierten Gestalt in Jagduniform, die er zu Ehren des Festes trug. Nur seine Augen blickten so finster, daß sich ihr eben noch so freuderfülltes Herz schmerzend zusammenzog. »Mißfalle ich dir?« fragte sie beklommen. »Mißfallen tut mir dein gefährliches Flirten.« »Aber, Jobst, das ist doch so harmlos.« »Von dir aus, ja. Aber die Männer fassen das anders auf. Du verstehst deine Augen nämlich zu gebrauchen, daß ihnen angst und bange werden muß. Und dann und überhaupt – ein solches Kokettieren paßt nicht zu einer Baronin Götterun.« Das hätte er nicht sagen sollen, denn es verletzte sie tief. Und wenn sie verletzt war, dann wurde sie trotzig, ganz unvernünftig trotzig. So war es bei ihr von Kindheit an gewesen. Ja, wenn er sie würde gebeten haben so ganz klein wenig nur. Aber dieser unverdiente Vorwurf, der wie ein Schlag
ins Gesicht war – nein, der hätte nicht kommen dürfen. Sie sah ihn mit einem Blick an, in dem Trotz, Schmerz und tief verletztes Empfinden zu lesen stand – drehte sich um und verließ das Zimmer. Alle Freude war dahin, und doch war sie die Lustigste auf dem Ball. Sie benahm sich tadellos, das mußte auch der kritischste Beobachter feststellen. Und doch wurde die Miene des Gatten immer finsterer. Er kümmerte sich überhaupt nicht um sie. Noch nicht einmal getanzt hatte er mit ihr, was in dem Trubel allerdings nicht auffiel. Sie konnte das alles kaum noch ertragen. Ihr Mund lachte, während das Herz weinte. Als die Feststimmung ihren Höhepunkt erreichte, wählte man den Jagdherrn und seine Gattin zu Jagdkönig und Jagdkönigin. Seines Sträubens nicht achtend, wurde ihm die Krone aufs Haupt gedrückt, was sich Sölve lachend gefallen ließ. Unter den Klängen des Jägermarsches stellte man sich zur Polonaise auf, die Gekrönten vorweg. Dazu sang man eifrig den Text mit: »Ich schieß den Hirsch im wilden Forst, im tiefen Tal das Reh – « Wie eine Elfe schwebte Sölve am Arm des ernsten, stillen Mannes dahin. Es fiel ihm gar nicht ein, ihre Hand, deren Fingerspitzen kaum fühlbar auf dem Ärmel seiner grünen Joppe lagen, fester an sich zu ziehen. Korrekt, wie ein Fremder, schritt er neben ihr her. Und korrekt tat er auch den anschließenden Tanz ab. Seine heute so hartglitzernden Augen schweiften über ihr Haupt hinweg. Sölve hätte aufschreien mögen, so tat ihr das Herz weh. Aber gottlob geht ja alles einmal vorüber. So auch dieses Fest, das für Sölve zur Qual wurde. Endlich war sie im Bett, löschte das Licht und weinte sich müde und matt. Die brennenden Augen in die Kissen gedrückt, schlief sie endlich ein. Und Frau Nornes Spinnrad sang lind und tröstend in diesen Schlaf… Das Herz wird dein, das Herz allein, um das es sich lohnet
zu streiten.
Da stahl sich ein zaghaftes Lächeln um die Lippen des
zerquälten jungen Weibes.
Prinz Karneval, rühre die Trommel zum Tanz, es gilt heute mehr als ein Mummenschanz, es gilt, zwei Herzen, die bitter weinen, noch heut zu vereinen. Am nächsten Morgen war alles wieder wie immer. Man fand sich, wenn auch verspätet, zum Frühstück zusammen, plauderte froh und angeregt. Und doch herrschte eine Spannung, wenn auch kaum fühlbar. Es schien zwischen den Gatten eine Mauer emporzuwachsen, die zur unüberwindlichen Höhe steigen mußte, wenn man sie nicht rechtzeitig niederriß. Ein Satz nur hatte den Grundstein zu dieser Mauer gelegt, im warnenden Ton gesagt, im stolzverletzenden Sinne aufgefaßt. Ein erklärendes Wort wurde hier nicht gesprochen, dort nicht verlangt – und es hätte doch so viel Kummer verhüten können. Sölve litt unsagbar unter dem allen. Ob er es auch tat? Ja, das war nicht zu ergründen. Ruhig und ernst ging er durch seine Tage, verändert. Vielleicht war sein Gesicht noch härter geworden, seine Art noch ein wenig schroffer, aber das war auch alles. Er verwöhnte seine Frau noch mehr als sonst, überschüttete sie mit Geschenken. Sorgte für Theaterund Kinokarten, nahm Einladungen an, arrangierte Schlittenfahrten mit anschließendem Tanz, sorgte jedenfalls für Abwechslung aller Art. Und das alles hätte Sölve hingegeben für ein herzliches, liebevolles Wort von ihm. Als Jörn und Ricarda endlich von ihrer Hochzeitsreise zurückkehrten, da wurde es für Sölve noch schlimmer. Das Glück strahlte den beiden nur so aus den Augen. Es war eine Freude, mit anzusehen, wie eins im anderen aufging. Das war Glück, reines, volles Glück. So glücklich würde sie,
Sölve, niemals sein. Und warum? Weil der Mann, den sie so unsagbar liebte, Hirngespinsten nachjagte und einer Einbildung lebte, die ihm jede Lebensfreude nehmen mußte. Wenn er sie geliebt hätte, dann wäre dieser starre Grundsatz vielleicht zunichte geworden. Aber ihre ganze Art sagte ihm wohl nicht zu. Sie war ja nicht einmal wert, Baronin Götterun zu sein, die Trägerin seines alten, untadeligen Namens. Ins Schlößchen mochte sie gar nicht gehen. Sie konnte das Glück der Gatten dort nicht sehen. »Was fehlt Ihnen, Frau Sölve?« fragte Jührich, als er sie einmal allein antraf. »Sie sind jetzt immer so blaß und still.« »Ach, das haben Ihre Augen bemerkt?« spottete sie bitter. »Nicht so, Frau Sölve«, bat er leise. »So liebesselige Augen haben Ricarda und ich nicht, um Ihre Veränderung nicht zu sehen.« »Sind Sie glücklich, lieber Freund?« wich sie hastig vom Thema ab. »Ja, Freundin Sölve, ich bin es – aber Sie nicht«, beharrte er hartnäckig. »Ich liebe meine süße Rosenrot aus tiefstem Herzengrund. Sie macht mich unsagbar glücklich. Daher möchte ich auch Sie glücklich sehen.« »Nicht – «, wehrte sie gequält ab. »Ich weiß, Sie meinen es gut – aber lassen Sie mich nur.« Damit mußte er sich zufriedengeben. Am Tage nach dem Rosenmontag sollte in der naheliegenden Stadt ein Maskenball steigen, zu dem alles, was einen Namen hatte, geladen war. Sölve wollte nicht mitmachen, doch Ricarda ließ nicht eher nach, bis sie sie dazu überredet hatte. »Das ist recht, mein Kind«, lobte Frau Fröse, als sie von Sölves Entschluß hörte. »Es wird eine gute Aufheiterung für dich sein.« »Eigentlich tut es mir jetzt schon wieder leid, Ricardas Drängen nachgegeben zu haben«, seufzte sie. »Was soll ich unter fröhlichen Menschen?«
»Sag mal, wie alt bist du eigentlich, du leidverklärte Greisin? Da sollte man doch wirklich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen bei solch einem Getue!« »Schilt nicht, Tante Marga. Wenn ich nun schon mitmachen muß, so laß uns beraten, welche Kostüme wir wählen sollen.« »Wir -?« kam es befremdet zurück. »Natürlich. Oder willst du etwa nicht mitkommen?« »Sölve, sei doch vernünftig. Was soll ich alte Frau auf einem Maskenball? Da möchten ja die Möwen lachen.« »Du und alt? Darüber lachen höchstens die Möwen. Du mit deiner jugendlichen Gestalt – « »Und dem Runzelgesicht – «, warf sie lachend ein. »Hast du ja gar nicht. Komm mit, Tante Marga – mir zuliebe.« »Aber, herzliebstes Kind, brauchst du denn eine Kinderfrau?« »Pfui, Tante Marga! Ohne dich macht mir das Fest überhaupt keine Freude.« »Na schön, du Quälgeist. Ich bitte mir aber aus, daß du dann lustig und vergnügt bist. Deine Trauermiene in den letzten Wochen war schon gar nicht mehr mitanzusehen.« »Du weißt ja warum, Tante Marga.« »Nein, das weiß ich nicht. Du bist doch sonst so tapfer, mein Kind. Und hier, wo es um dein Lebensglück geht und das des geliebten Mannes, da versagst du. Ja, sieh mich nur groß an, es ist schon so, wie ich sage. Mit Trotz und verletztem Stolz erreichst du bei diesem Mann gar nichts. Höchstens, daß er sein Herz immer mehr verschließt. Seinen starren Grundsatz kann nur Liebe, immer nur Liebe erschüttern. Die Liebe ist die stärkste Waffe der Frau, das solltest du dir merken.« »Da soll die Liebe standhalten, wenn man hören muß, daß man nicht würdig ist, eine Baronin Götterun zu sein?« »Ach, du süßes, kleines Schaf -!« lachte Frau Fröse und küßte sie herzlich. »Fang womöglich noch zu heulen an über deine Unvernunft. Hast recht, laß uns beraten, mit
welchem Mummenschanz wir Prinz Karneval imponieren wollen.« Das rüttelte Sölve auf. In ihrem Eifer wurde sie fast so fröhlich wie früher. Der Gatte sah das alles lächelnd mit an und öffnete seine Börse weit. Endlich war der ersehnte Abend da. Das Auto brachte die drei Uhlener rasch und sicher an die Stätte, wo der Narrenprinz sein Zepter schwang. Jobst kannte die Kostüme seiner Damen nicht. Er trug einen seidenglänzenden Domino über dem Frack, dessen Aufschlag eine Riesenchrysantheme schmückte. Ein rundes Seidenmützchen mit einer ellenlangen, schillernden Feder zierte den rassigen Kopf. Er sah so elegant und apart aus, daß er gleich bei seinem Eintritt in dem Festsaal von Masken aller Art umringt wurde. Längst verschüttete Lebensfreude wagte sich langsam hervor, und bald war er von der jauchzenden Lust, die ihn umbrauste, so eingesponnen, daß er sich zuerst mitreißen ließ und dann allmählich fröhlich mitmachte. Als die umringenden Masken ihn ein wenig freigaben, spähte er nach den Seinen aus. Tante Marga glaubte er bald in der pompösen Tracht der Madame Pompadour erkannt zu haben. Schmunzelnd sah er ihre Erfolge. Aber wo war Sölve? Das herauszufinden, war nicht so einfach. Dieses entzückende rotseidene Teufelchen war Ricarda, und der Freund verkörperte das Gegenstück. Lachend tollten sie durch die Menge. »Kleine Möwe, flieg nach Helgoland – «, klang es da auf. Sich umwendend, bemerkte er eine Maske, die unverkennbar eine Möwe darstellte. Weißschimmernd wie frisch gefallener Schnee gleißte das Gewand, das einem Möwengefieder gar ähnlich war. Die Möwenflügel streckten sich auf dem weißhaarigen Köpfchen, und lachend blau blitzten die Augen durch die Löcher der weißen Seidenmaske. Mein stolzer Vogel, dich werde ich schon fangen, dachte er übermütig. Und wirklich gelang es ihm, sich nach vielen
Hindernissen zu ihr durchzuschlängeln, die sehr umringt war. Unzählige weiße Arme mußte er von seinem Nacken lösen, bis er endlich frei war. Dann stand er vor ihr und nahm sie ganz einfach einem Raben aus dem Arm, der zwar wundervoll zu ihr paßte, nun aber traurig davonflattern mußte. Denn mit diesem großen Domino anzubändeln, das schien dem Männlein nicht ratsam. »Nun, meine weiße Möwe, amüsierst du dich?« fragte er lachend und merkte, wie sie in seinem Arm zusammenfuhr. »Ja, mein Kind, da hättest du schon eine andere Maske wählen müssen, wenn du unerkannt bleiben willst. Dein Wahrzeichen zu verkörpern, ist leichtsinnig. Komm, mein Schatz, und küsse mich, küß mich auf den Mund. Schaden kann’s gewisse nicht, denn küssen ist gesund – «, sang er den Text des Schlagers mit und drückte zur Bekräftigung seine Lippen auf den Mund, der blutrot zu ihm emporleuchtete. »Jobst, was ist dir?« fragte sie zaghaft. »Bist du etwa berauscht?« »Jawohl, von der Freude ringsum. Laß sie uns bis zur Neige auskosten, mein stolzer, schneeweißer Vogel. Denn heut ist heut, der Abglanz des Rosenmontags und morgen ist Aschermittwoch. Doch der liegt so fern, so weltfern. Heut sind noch die Stunden der Rosen!« Eben klang die Barkarole aus »Hoffmanns Erzählungen« auf. Leise und betörend sang er ihr die Worte ins Ohr, sie so fest an sich pressend, daß sie sein Herz fühlte. Wie im Traum schwebte sie in seinem Arm dahin, der sie so elegant und sicher durch die schwankende Menge führte, ganz der vornehme Weltmann, der sich auf dem spiegelblanken Parkett zu Hause fühlt. Und wenn das Herz der silberweißen Möwe diesem halb ritterlichen, halb arroganten Domino nicht längst gehört hätte, so wäre es ihm heute restlos verfallen. Unermüdlich tanzten sie. Hatten wohl beide den gleichen
Wunsch, für alle Zeit so dahinzuschweben. Sich die Sinne verwirren zu lassen von der Narrenwelt ringsum, dahinzuträumen bei der zärtlichen Tanzweise, ohne an ein Morgen zu denken, dem Heute wie verzaubert. Jung fühlte er sich heute, köstlich jung. Wie damals, da er, die entzückende Elga im Arm, dahingeschwebt war. Was dazwischenlag, war ausgelöscht. Dann wurde die Möwe vom Teufel geholt, der höhnisch lachend mit seiner Beute davonflitzte. Dafür schmiegte sich die grazile Teufelin in seinen Arm. Auch gut, dachte er und drückte sie fest an das heute so närrische Herz. »Komm, mein Teufel, kleiner Teufel, süßer rosenroter Teufel«, sang er seinen eigenen Text nach der einschmeichelnden Melodie. Schwenkte die Höllenbewohnerin voll Grazie und Schneid umher. Und warum leuchteten die jungroten Lippen so verführerisch zu ihm empor? Da mußte er sie eben küssen. »Baron von Götterun – ich glaube, Sie benehmen sich – « »Hol ihn, Teufel, kleiner Teufel, süßer rosenroter Teufel, hol das arg verrückte Huhn, hol den Jobst von Götterun – «, sang er unentwegt weiter. Und: »Laß ihn sausen, laß ihn brausen, ihn in seiner Klause hausen, dich hole ich am Ultimo, mein eleganter Domino – «, kam die lachende Antwort. »Nun sehen Sie sich bloß die beiden an«, sagte die Möwe zum Teufel, mit dem sie sich lustig drehte. »Sie singen und lachen wie die Kinder. Jetzt tanzen sie sogar einen Galopp zur Walzermelodie, durchfegen den Saal von einer Ecke zur andern. Was ist bloß in Jobst gefahren? Bei dem plötzlichen Umschwung kann einem ja angst und bange werden.« »Er ist zu köstlich in seinem Faschingstaumel«, lachte der Teufel. »So war er einst immer, kleine Möwe, bevor ihn das Schicksal duckte und trat. Aber Sie wollen zu diesem Schwerenöter im Domino gar nicht passen, wenn Ihre Gewandung in ihrer unantastbaren Weiße auch
bezaubernd ist.« »Da haben Sie recht. Aber wie konnte ich auch ahnen, daß der schwerfällige Jobst sich so bedingungslos dem Zepter des Narrenprinzen unterwerfen würde? Das hat jedoch unsere hellseherische Tante Marga gewußt und wieder einmal vorgesorgt. Sehen Sie, jetzt hat er unsere Madame Pompadour erwischt. Wie er sich vor ihr verneigt im höfischen Zeremoniell. Und was hat er nun vor -?« »Kapelle, ein Menuett -!« forderte seine herrische Stimme. Schon klang eine galante Weise auf und der Domino tanzte mit Madame ein graziöses Menuett. »Wer schließt sich dem Ehrenreigen der Pompadour an?« wurde man höflich aufgefordert – und schon traten die Paare zierlich und kokett in die Reihe. Sölve wollte sich ausschütten vor Lachen, was sich da alles zusammenfand und ernst und feierlich dahinschritt. Selbst ein Storch stolzierte umher, ein Kakadu, eine Maus, ein Schornsteinfeger, Don Quichotte, Landsknecht und Teufel, Bacchantin und Nonne, alles machte todernst mit. Die rotseidene Teufelin wurde vom Götterknaben Amor geführt – und vorweg in vorbildlicher Grazie Madame Pompadour
und der galante Domino.
»O du goldige Tante Marga!« jubelte Sölve. »Ist sie nicht
köstlich?«
»Das ist sie – «, wurde inbrünstig bestätigt.
Nun gab es eine neue Sensation, und das Menuett versank
wie ein Schemen. Der Domino ging auf weitere Abenteuer
aus, während Sölve aus dem Saal schlüpfte.
Bald darauf ertönte wieder ein Hallo, die Musik spielte
einen Tusch – und durch den Saal fegte auf
silberglänzendem Besen mit langem Stiel eine glitzernde,
gleißende Maske.
»Bernsteinhexe – «, jubelte es ringsum. Und tatsächlich war
diese in berückender Weise verkörpert. Bernsteinübersät
war das Kleidchen aus meerblauer bauschiger Gaze.
Bernsteinfunkelnd die Schuhe, die Strümpfe.
Bernsteinketten klirrten an den Gelenken, schlangen sich um den Nacken, selbst die Atlasmaske zeigte die Farbe des Meergoldes. Und die Haare. »O du mein kleines, süßes, raffiniertes Hexlein«, schmunzelte Götterun vergnügt. Rücksichtslos bahnte er sich den Weg durch die Menschenmenge, ergriff sein lachendes Hexchen und tanzte mit ihm davon, bis sie beide außer Atem waren. Sekt wollte es trinken, was gern gewährt wurde. »Es lebe Prinz Karneval und die Maskenfreiheit -!« ließ er sein Glas behutsam an das ihre klingen, holte sich den Champagnersold von ihren süßen Lippen. »Domino, nimm dich in acht, das Hexengold verbrennt dein Herz -!« drohte sie unheimlich, doch er lachte leichtsinnig und tanzte mit ihr aufs neue davon. »Hexlein, o wie irrst du dich, dies Panzerherz verbrennst du nicht – «, sang er seine alte Tour. Tanzte weiter, immer weiter, als hätte er die Tanzschuhe des Mädchens aus dem Märchen an den Füßen. Wenn sich Sölve verschnaufen mußte, holte er sich andere Masken. Wahllos. Viel zu schnell gingen die schönsten Stunden vorüber, und als sich der Zeiger der Uhr der Mitternacht näherte, dachten die drei Uhlener an die Vereinbarung, vor der Demaskierung zu verschwinden. Und als ein Fanfarenstoß diese verkündete, fuhr das Auto von Uhlen unten an. Aber noch war für sie der Mummenschanz nicht zu Ende. Starr vor Staunen stand Götterun in dem kleinen Festsaal des Schlosses, der ein närrisches Aussehen hatte. Jubelnd eilten die Gäste, die außer den Jührichschen Gatten noch aus fünf weiteren Ehepaaren bestanden, dem Gastgeber entgegen. Für die Madame war sogar der Ludwig gefunden. »Madame, Sie haben sich heute wieder einmal selbst übertroffen«, verbeugte sich der Domino galant. »Das Amt einer Hofmarschallin im Hexenreich versehen Sie mit Grazie. Ich lege Ihnen mein Herz zu Füßen.« »Das begehre ich nicht, o Domino«, tat sie hoheitsvoll ab. »Wenn ich all die Rendezvous besuchen wollte, zu denen
man mich heute bestellt, dann könnte ich für die nächste Zeit meinen Sitz an der Normaluhr des Marktplatzes aufschlagen.« Jubelnd wurde sie umringt. Doch mit majestätischer Bewegung scheuchte Ludwig die Aufdringlichen zurück. »Ihr Pöbel, belästigt meine Geliebte nicht. Sie hat euch etwas zu verkünden.« »Das Hexenreich beherbergt seine Gäste bis zum grauen Aschermittwoch. Und dann – husch, husch ins Körbchen!« Das gab dann noch eine jubelnde Fröhlichkeit bis in den frühen Morgen. Dann lag der Saal plötzlich schwarz und totenstill da. Wie mit Zauberschlag war aller Mummenschanz dahin. Frau Marga schlich leise davon, und die Gatten standen sich allein gegenüber. Da zog er sie wieder in seine Arme, tanzte mit ihr davon, in die anstoßenden Räume hinein. Im Vorübergleiten löste er den Knopf des Rundfunks, und von irgendwo tönte ihnen Tanzmusik entgegen. Zärtlich klangen die Weisen, in ihrem Takt wiegte sich das Tänzerpaar, Auge in Auge, Herz an Herz. Die blutroten Lippen halb geöffnet, um Augen und Mund ein verheißungsvolles Lächeln, so schwebte es, von seinem Arm fest umschlungen, dahin, das bernsteinfunkelnde Hexlein, das in der dämmernden Beleuchtung überirdisch schön aussah. »Laßt uns heute glücklich sein, heut ist heut, zum Trübsalblasen, liebe Leut, ist morgen Zeit, morgen Zeit – «, sang sie leise den Text des Schlagers mit. Sie befand sich wie in einem Traum, aus dem sie nie mehr erwachen wollte. »Heut ist heut – «, lockte es zu dem Mann empor, in dessen Augen es heiß flimmerte. »Hexlein, ich warne dich – «, raunte er. »Mach deine Augen zu. Sie brennen mir ins Herz wie eine blaue Flamme. Deine Haare schimmern wie Hexengold, deine Zähne schimmern wie Perlen auf dem Meeresgrund. Deine Arme wie die der Nixen, die den Wanderer hinunter ins Verderben ziehen.
Nixlein, ich warne dich -!«
»Wer das Glück nicht halten mag, der klage nicht und
jammere nicht danach, wer den rechten Augenblick
versäumt, hat ausgeträumt – «, lockte es im Rundfunk
weiter.
Da preßte er seine Lippen heiß auf ihren Mund.
Herz, weine nicht, sei still, wir sind jetzt beide müd,
was wir erleiden müssen, das ist das alte Lied.
Ein altes Lied, von Lieb und Leid,
ein altes Lied, voll Traurigkeit.
Wenn manches Herz dabei auch bricht,
du darfst es nicht.
Am Vormittag durchflutete strahlende Wintersonne das Gemach, in dem Sölve sanft schlummerte. Die Strahlen umtanzten die Schläferin, bis sie blinzelnd die Lider hob, hellwach wurde und den großen Rosenstrauß entdeckte, der auf der meerfarbenen Daunendecke lag. »Jobst – «, lächelte sie glücklich, indem sie nach dem Brief griff, der in den Blumen steckte. Doch kaum hatte sie die wenigen Zeilen gelesen, da verlor das heißerglühte Gesicht alle Farbe. Es war ja auch erschreckend genug, was da stand: »Aschermittwoch ist’s, meine weiße Möwe, Aschermittwoch für mich. Dir laß die Rosen ihn durchduften wie einen Rosenmontag, ich büße für uns beide. Ich komme wieder, wenn ich kann. Jobst.« Fort ist er, fort – das war alles, was Sölve zuerst denken konnte. Er ist weggegangen von mir – nach dieser Stunde. Nun sei still, du armes Herz, und weine nicht, sei ganz still. Denn Tränen dürfen wir nicht haben für diesen Mann, hörst du? Aber wann hört das Herz danach, was man ihm sagt? Vorläufig tat es wieder einmal so erbärmlich weh, daß sich die Tränen ungewollt einstellten. Aufstöhnend drückte sie das Gesicht in die Kissen und merkte daher nicht, wie Frau Fröse das Zimmer betrat. Erst
als diese sie anrief, hob sie den Kopf. »Tante Marga – «, schluchzte sie so verzweifelt, daß sich diese zu ihr auf das Bett setzte und den zuckenden Körper in ihre Arme nahm. »Weine nicht, mein Liebstes, es wird bestimmt noch alles gut«, versuchte sie zu trösten. »Nichts – wird – gut – «, kam es unter heftigen Herzstößen. »Du weißt ja nicht, was geschehen ist. Lies den Brief – « Frau Marga überflog die Zeilen. »Er wird wiederkommen, Sölve – « »Und was wird dann? Ich habe schuld, Tante Marga – ich allein.« »Rede dir das doch nicht ein, mein Kind. Es mußte einmal so kommen, das habe ich längst vorausgesehen.« »Und jetzt – jetzt schenkt er mir Rosen – wie einer verabschiedeten Geliebten – « »Pfui, Sölve, das war häßlich. Was meinst du wohl, mit welchen Gewissensbissen sich nun der arme Mann herumplagt? Die machen ihm bestimmt das Leben zur Hölle. Deine Not ist winzig klein, gemessen an der seinen.« »Tante Marga – ich muß fort – « Nun nahm Frau Marga das heißgeweinte Gesicht in ihre Hände und hob es zu sich empor. »Sölve, du willst dich feige den Konsequenzen entziehen?« fragte sie tiefernst. »Hast du nicht selbst gesagt, daß du die Hauptschuld trägst?« »Das ja – «, gab sie niedergeschlagen zu. »Er wird aber erwarten, daß ich gehe.« »Den Unsinn mußt du dir nicht einreden. Soweit ich ihn kenne, wird er es als seine einfachste Pflicht ansehen, dich unter allen Umständen zu halten. Außerdem hat er dich viel zu lieb, um dich noch von sich lassen zu können. Wir wollen daher gar nichts unternehmen, sondern geduldig warten, bis er wiederkommt. Er hat stets einen Ausweg gefunden, und es wird ihm jetzt wieder gelingen. Und du vergräme dir nicht deine Tage, sondern laß sie dir von den Rosen durchduften, wie er es im Brief verlangt. Bist du nun
wieder mein liebes, tapferes Kind?«
»Wie gern möchte ich das sein. Wenn ich dich nicht hätte,
du Gute, dann würde manche Dummheit gemacht
werden.«
»Ist nur gut, daß du das einsiehst. Und nun hopp, aus den
Federn. Unsere kleine Heike schaut sich schon nach ihrer
Mami die Gucker aus. Außerdem hat Ricarda angerufen
und erwartet uns im Schlößchen zur Nachfeier.«
»Ich gehe nicht hin.«
»Du gehst doch hin.«
»Tante Marga, du hast überhaupt keine Ehrfurcht vor
meinem Leid.«
»Vor deinem nicht, mein Herzchen, weil es gar keines ist«,
tat sie trocken ab.
So hatte die kluge, erfahrene Frau wieder einmal ein
verfahrenes Schifflein flottgemacht. Das heißt, so einfach,
wie sie es Sölve hingestellt, würde die Zukunft der ihr
lieben Menschen nicht werden. Wer weiß, was ihnen noch
alles bevorstand.
Und es kam tatsächlich noch mehr Kummer für Sölve.
Frau Fröse stürzte eines Tages so unglücklich eine Treppe
hinab, daß sie sich den Oberschenkel brach.
Fassungslos vor Jammer stand Sölve diesem neuen Schlag
gegenüber.
Jörn von Jührich, der herbeigerufen wurde, setzte sich mit
einem Spezialarzt in Verbindung, und der verlangte
Überführung der Verletzten in seine Klinik, wenn er für
gute und schnelle Heilung garantieren sollte.
Sölve sträubte sich zuerst dagegen, die liebe Frau aus dem
Hause zu geben, mußte sich dann aber fügen.
Stundenlang saß sie in der Klinik an dem Bett der Kranken,
die ganz vergnügt war, weil sie verhältnismäßig wenig
Schmerzen hatte. Sölve wußte kaum, was sie ihr zuliebe
alles tun sollte. Sie schleppte immer wieder Leckereien
herbei, so daß Tante Marga eines Tages lachend behauptet,
nun ein Delikatessengeschäft eröffnen zu können.
Wenn Sölve dann nach Hause zurückkehrte, kam es ihr öde
und traurig darin vor. Nun merkte man, daß die gütige, vornehme Frau wirklich der gute Geist des Hauses gewesen war. Öfter als sonst fuhr Sölve nach Kaimucken, saß still bei Frau Fränze, die langsam zum Leben zurückzufinden schien. Es schien, als sähe sie die junge Frau gern. Nur daß sich Jobst noch immer nicht gemeldet hatte, machte sie traurig. »Wird schon wieder werden«, tröstete sie der Hausherr, als seine Frau mit ihm über Jobst beängstigendes Schweigen sprach. »So was überwindet sich nicht von heute auf morgen. Das braucht seine Zeit.« Was jedoch Sölves trübe Tage erhellte, das waren die Fortschritte, die Heike machte. Als müsse die Natur auf schnellstem Wege nachholen, was sie so lange versäumt, so rasch ging sie nun vor. Es gab fast keinen Tag, der nicht etwas Neues brachte. So verging ein Vierteljahr, da kam die erste Nachricht von Jobst. Und zwar zeigte er seine Ankunft in den nächsten Tagen telegraphisch an. »Ich muß fort – sobald als möglich fort – «, begann Sölve wieder ihr altes Lied, und da niemand da war, der sie zurückhielt, nahm ihr Plan feste Formen an. Tante Marga konnte sie jetzt mit ihrer Not nicht kommen, die durfte nicht erregt werden, also vertraute sie sich der Kinderschwester an. »Ich bin Ihrer Meinung, Frau Baronin«, sagte das kluge ernste Mädchen einfach. »Ich würde an Ihrer Stelle genauso handeln.« Da atmete Sölve auf. An diesem Mädchen würde sie eine starke Stütze haben. Nun mußte ein neuer Wohnort gesucht werden, und Sölve fiel ein kleiner romantisch gelegener Badeort ein, den sie einmal mit ihren Eltern besucht hatte. Sicherlich würden sie da leicht eine Wohnung finden, vielleicht ein kleines Haus mieten können. Während sie eifrig mit der Schwester sprach, legten sich
zwei Hundeköpfe rechts und links auf ihre Knie, und zwei Paar Hundeaugen sahen sie traurig an. »Natürlich, ihr Kerle, ihr kommt mit«, lachte Sölve. »Erstens mal seid ihr ein Stück Heimat, und außerdem noch ein zuverlässiger Schutz. Die kleinen Strolche nebst Schneeweißchen werden ja unglücklich sein, daß sie hierbleiben müssen, aber die würden doch zu viel Unruhe bringen.« So kam es denn, daß schon einige Stunden später das große vollgepackte Auto Uhlen verließ. Sölve hätte aufschreien mögen vor Schmerz, als ihr tränenumflorter Blick die Fassade des Schlosses streifte. Da legte sich eine Hand leise auf die ihre, zwei treue Augen sahen sie tröstend an. »Nicht traurig sein, Frau Baronin. So weh der Abschied jetzt tut, so groß wird die Freude des Wiederkehrens sein.« Wo bist du geblieben, du Kind mit den Locken, hellsonnig wie Flachs auf Freyas Rocken? Du hältst mein Herz auf Wacht, Tag und Nacht. Komm, küsse mich wieder und sing deine Lieder, die mich so unsagbar glücklich gemacht. Starr blickten die Augen Jobst von Götteruns auf das Briefblatt in seiner Hand: »Jobst! Zürne mir nicht, ich kann nicht anders handeln. Heike, die Schwester und die beiden großen Hunde nehme ich mit mir. Tu mir die Liebe und forsche mir nicht nach. Wenn es Zeit ist, melde ich mich. Sölve.« Ja, hatte er denn etwas anderes erwartet? Etwa, daß sie ihm freudig um den Hals fallen würde? Das konnte er nach dem, was er ihr angetan hatte, wohl schwerlich verlangen. Eine heiße Sehnsucht nach Tante Marga packte ihn. Eine Aussprache mit ihr würde die quälende Unruhe in seinem Herzen sicherlich besänftigen. Doch da mußte er erfahren, daß diese schon seit acht Wochen in der Klinik lag und eine Stunde später trat er zu
ihr, die ihm vom Lehnstuhl entgegenlachte »Tante Marga, so weit bist du schon? Wie schön!« »Gottlob, mein Junge. Komm, nimm Platz«, begrüßte sie ihn herzlich. Und wieder einmal war er dem Schicksal von Herzen dankbar, daß es ihm diese prächtige Frau zur Seite gestellt hatte. Wenn man in ihre gütigen Augen sah, dann wurde man sofort ruhiger. »Weißt du, daß Sölve fort ist, Tante Marga?« »Ja, sie hat es mir brieflich mitgeteilt. Auch daß du in diesen Tagen heimkehren würdest.« »Hat sie auch dir nicht gesagt, wohin sie sich wenden wollte?« »Nein. Und wir müssen ihren Wunsch berücksichtigen und ihr nicht nachforschen.« »Ob sie Geld genug hat?« »Ganz bestimmt. Mit dem, was sie auf ihrem Konto hat, kann sie jahrelang leben. Und wie ist es mit dir, mein Junge? Ich fürchte fast, daß du genauso zerquält wiedergekommen bist?« »Da hast du recht, Tante Marga.« »Dann ist es ja ein wahrer Segen, daß Sölve fort ist. Sonst würde die Quälerei da wieder anfangen, wo sie aufgehört hat. Und nun werde ich mit dir nach Hause kommen.« »Tante Marga, das wäre sträflicher Leichtsinn.« »Laß nur«, winkte sie ab. »Ich habe mit dem Professor gesprochen. Er hat nichts dagegen, wenn ich mit dir komme. Jörn soll mich dann weiter behandeln.« So fuhr sie denn mit ihm, und die beiden Menschen lebten wieder so, wie sie vor seiner Verheiratung gelebt hatten. Es war alles so wie sonst. Und doch so anders. Die Weite des Schlosses hatte sie sonst nicht gestört, doch jetzt schien es ihnen so unendlich groß zu sein – und leer. Unmöglich konnte es der eine Mensch sein, der diese gähnende Leere gefüllt hatte; denn die kleine Heike hatte ja noch nicht gezählt. Also war es tatsächlich so, dieser eine, einzige Mensch fehlte. Es fehlte das goldige, klingende Lachen, die zärtliche
Stimme, die auch dem schlichtesten Lied Innigkeit zu geben verstand, es fehlte das Spiel – kurz, es fehlte die ganze Sölve an allen Ecken und Enden. Wohl kamen die große und die kleine Rosenrot fast täglich und brachten lachendes Leben mit. Es kam Herr Julius, kamen liebe Bekannte – aber niemand konnte Sölve ersetzen. Wenigstens Frau Marga nicht, die sich, auf einen Stock gestützt, nur mühsam fortbewegen konnte. Jeden Abend, wenn sie zu Bett ging, dachte sie voll Inbrunst: Wird der morgige Tag eine Nachricht bringen? Aber Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat verging, ohne ein Lebenszeichen von Sölve gebracht zu haben. Längst durchschritt Frau Marga wieder mit ihrem raschen, leichten Schritt das Schloß. Frühling und Sommer waren vergangen, der Herbst war da – und immer noch schwieg Sölve. Der November brachte die Doppelhochzeit von Monika und Veronika, und dieser stand Frau Fränze nicht mehr so starr gegenüber, wie damals der Ricardas. Es wurde eine Feier mit allem Drum und Dran, wie es auf dem Lande üblich ist. Es leuchtete wie Mutterstolz in den Augen Frau Fränzes auf, als ihr Blick über die Bräute und ihre stattlichen Männer ging. Und noch heller wurde der Blick, wenn er auf der reizenden Ricarda ruhte. Es war rührend mit anzusehen, wie sie ihren Mann vergötterte, und auch er gewann diesen prächtigen Lebenskameraden mit jedem Tag lieber. Die Ehe der Zwillinge mußte nach menschlichem Ermessen gut werden. Und wenn die jungen Ehemänner auch keine Mitgiftjäger waren, sondern ihre Frauen aus Liebe erwählt hatten, so war ihnen der Scheck nicht unangenehm, den Götterun den Zwillingen bei der Hochzeit überreichte. Der machte die beiden Paare noch zufriedener. Dann kamen wieder stille. Wochen. Draußen lag der Dezemberschnee dick und flauschig wie Watte. Die Zeit war da, wo die brutzelnden Bratäpfel sehr begehrt waren,
ebenso der dampfende Grog, der in keinem Landhaus fehlen durfte. Für die Damen der aus Rotwein, für die Herren der aus Rum. Es gab auch Fälle, wo es andersherum ging, aber in Uhlen war es vorschriftsmäßig. Mitten auf dem runden Tisch stand ein Knabberteller, ein Vorgeschmack der Weihnachtsgenüsse. Die kleinen Hunde schnarchten zu Frauchens und Herrchens Füßen, Schneeweißchen lag zusammengerollt in einem Sessel und schnurrte wie ein Spinnrad. Michael näherte sich in seiner lautlosen Art und stellte zu dem Knabberteller einen andern, auf dem die Bratäpfel goldgelb und knusperig brutzelten. Zischend lief der dickflüssige Saft aus den Rissen und vermischte sich mit dem des Zuckers, der auf den Äpfeln glitzerte. Ein lieblicher Duft durchzog das Gemach, der sogar bis in die Träume der Hunde drang. Schnuppernd hoben sie die Nasen, ließen sie jedoch gleich wieder sinken, weil das da oben für sie doch nicht das Richtige war. Es schien ungemein traulich in dem Gemach – und doch waren die Menschen darin nicht so froh, wie sie es hätten sein müssen. Immer wieder gingen Frau Margas Augen bekümmert zu dem Mann hin, der heute auffallend blaß aussah. Sie hatte Angst vor Weihnachten, das in einer Woche gefeiert wurde. Wenn sich Sölve bis dahin nicht gemeldet hatte, dann wußte sie nicht, was werden sollte. Sieben Monate war sie nun schon fort – und noch immer hatten sie kein Lebenszeichen von ihr erhalten. Man wußte wirklich nicht mehr, was man denken sollte. Wenn sich der Mann doch nur ein einziges Mal seine Not vom Herzen reden wollte! Aber kein Wort kam über seine Lippen. Sie fürchtete, Sölve überhaupt zu erwähnen, um nicht an die tiefe Herzenswunde zu rühren. Plötzlich hob er den Kopf und lauschte wie gebannt. »Wer das Glück nicht halten mag, der klage nicht und jammere danach. Wer den Augenblick versäumt, hat ausgeträumt, ausgeträumt – «, klang aus dem Rundfunk
eine Männerstimme – und aufstöhnend barg Jobst von
Götterun das Gesicht in den Händen.
»Jobst, was hast du?« rief Frau Marga erschrocken.
»Ausgeträumt – ich habe ausgeträumt – «, klang es
höhnisch durch den Raum.
»Tante Marga, stelle, bitte, den Rundfunk ab – «
Nun war es still, ganz still. Und doch war es dem Mann, als
höhnte die Stimme immer weiter. Er packte ihre Hände
und drückte seine Augen darauf.
»Tante Marga, dieses Lied hat sie gesungen, am letzten
Abend noch – so glücklich, so voll süßseliger Schelmerei.
Und nun – wo mag sie sein? Warum meldet sie sich nicht?
Tante Marga, ich halte dieses entsetzliche Warten nicht
mehr aus.«
»Das sollst du auch nicht, mein Junge. Und daher werden
wir auch nicht länger warten, sondern handeln. Wenn sie
sich zwei Tage vor Weihnachten immer noch nicht
gemeldet hat, dann hole ich sie. Und dann wirst du nicht
mehr grübeln und klügeln, sondern wirst sie an dein Herz
nehmen und glücklich sein.«
»Und wenn sie nichts mehr von mir wissen will?«
»Da kennst du Sölve schlecht! Sicherlich wartet sie darauf,
daß du sie, trotz ihres Verbotes, holst. Zerquält sich ihr
Herz dort, wie du dir das deine hier.«
»Wir wissen ja gar nicht, wo sie sich aufhält.«
»Das kriege ich schon heraus. Du hast weiter nichts zu tun,
als vernünftig zu sein und dich und sie mit deinen
Hirngespinsten nicht so unerhört zu quälen. Sonst mache
ich nämlich nicht mit.«
Der Fernsprecher schlug an, hell und schmetternd wie eine
Fanfare.
Frau Marga nahm das Gespräch entgegen.
»Was, Fräulein«, hörte er sie ungläubig fragen.
»Wiederholen Sie, bitte – «
»Also wirklich«, lachte sie fröhlich.
»Jetzt wiederhole ich: Ein Telegramm an den Herrn Baron.
Aufgegeben in Seehausen. Inhalt: Komm, dein
Weihnachtsgeschenk wartet. Sölve.«
Da war er schon bei ihr, nahm ihr den Hörer aus der Hand
»Fräulein, das muß ein Irrtum sein-!«
Aber sein Ohr vernahm genau dasselbe. Sie sahen sich
beide an. Ihre Augen lachten ebenso wie ihre Herzen.
»Wann fahren wir, Tante Marga?«
»Doch nicht womöglich jetzt, am späten Abend? Wenn du
sieben Monate warten konntest, dann schaffst du es auch
noch ein paar Stunden.«
Komm, bei mir wartet das Glück,
du sorgenkranker Gesell.
Komm, bei mir wartet die Liebe,
komm schnell
.
Leise summend glitt der schnittige Wagen über den festgefahrenen Schnee. Wie ein Traumland erschien der Wald in seiner Winterherrlichkeit. Der Rauhreif glitzerte und blitzte, als hätte man die Tannen mit Christbaumschnee bestreut. Aber so kunstvoll konnte das keine Menschenhand. Das konnte nur der große Künstler Winter zuwege bringen. Entzückt schauten Frau Marga und Jobst in dieses Märchenland hinaus. Sie konnten sich mit Behagen dem Genuß hingeben; denn im Auto war es mollig warm, da spürte man nichts von der klirrenden Kälte da draußen. Aber in ihren Herzen war es noch wärmer. Ging es doch nun endlich zu ihrer Bernsteinhexe, zu ihrer weißen Möwe. Als man dem Chauffeur gesagt hatte, wohin er fahren sollte, war ein Lachen über sein Gesicht gegangen. »Zur Frau Baronin? Das wird aber eine frohe Fahrt.« »Wissen Sie denn, wo sie sich aufhält, Walter?« »Jawohl, Herr Baron. Ich habe die Frau Baronin doch vor sieben Monaten nach Seehausen gefahren.« War das die Möglichkeit! Da hatte man sich das Hirn zergrübelt, wo Sölve wohl weilen könnte, während dieser Mann, den man täglich sprach, es ganz genau wußte. Doch
der treue Mensch hielt es für seine selbstverständliche Ehrenpflicht, zu schweigen. Nach einer guten Stunde hielt man vor einem kleinen Haus, das wie in Watte versenkt stand. Zuerst kamen ihnen die beiden Hunde entgegen, die vor Freude laut jaulten. Und was tapste da durch die kleine, wohlig durchwärmte Diele? Heike, das kleine Tausendschönchen, mit einem Riesenstrauß in den dicken Patschen. »Mädchen, du Süßes, du -!« rief der Mann überwältigt und hob sein Kind an sein Herz. »Papi – die Oma aber auch.« Sie sprach, wenn auch noch etwas unbeholfen, aber sie sprach. Mit dem dicken Ärmchen den Hals des Papis umfassend, reichte sie den Strauß Frau Marga hin. »Da, Oma – weil du so lieb bist – «, sagte sie einfach, und das zweite Ärmchen umfaßte ihren Hals. »Oh, bitte sehr, hier wohnen auch noch Leute – und was für welche – «, klang eine zu bekannte Stimme hinter ihnen. Die Köpfe fuhren herum. – Da stand Sölve lachend, strahlend – schöner denn je. »Sölve -!« schrie der Mann auf, doch sie winkte ab. »Später, mein Lieber erst kommt dein Weihnachtsgeschenk.« Sie betraten ein Zimmer, das mit Möbeln ausgestattet war, wie es in einem bewohnten Hause üblich ist. Aber davon sahen sie nichts. Sie sahen nur das spitzenverhangene Babybettchen. Und darin - »Dein Sohn – «, erklärte Sölve mit dunkler Stimme – und der Mann starrte gebannt auf das kleine rosige Wesen, das da so friedlich schlief. Aber dann hatte er begriffen. »Sölve, du gibst mir das Leben wieder«, stöhnte er, und dann wurde es ganz still in dem Raum. Sölve unterbrach dann das Schweigen nach einer Weile. »Sieh dir den Bengel nur an, ein kleiner Staatskerl ist’s.« Ja, das war er, und der beglückte Vater konnte sich nicht sattsehen an dem kleinen Wunder. Sein Sohn – sein Erbe, nicht anders, als ein gesundes, gutgepflegtes Kind von drei
Wochen sein kann. Doch dem Mann, der schon vor zwei anderen Kindern gestanden hatte, erschien dieses wie ein kleines Wunderwesen. Dazu war es ein Götterun durch und durch. Die Ähnlichkeit war bei dem winzigen Geschöpfchen frappierend. Und das kleine Mädchen war auch sein Kind, das er schon aufgegeben oder durchs Leben vegetierend geglaubt hatte. Nun stand es neben ihm, zart und rosig und hielt seine Hand. Nein, das alles mußte erst sehr langsam begriffen werden, daß er plötzlich ein glücklicher Mensch sein sollte, wie viele andere Menschen auch. Das faßte er nicht so schnell in seiner schwerfälligen Art. Während er noch immer dastand und weltvergessen auf seine Kinder schaute, umfaßte Sölve die glückliche Frau Marga. »Nun, Oma, wie gefallen dir deine Enkelkinder?« »O du Heimtückerin, so was Ähnliches habe ich geahnt. Und wenn der Junge anders gewesen wäre?« »Dann hätte ich ihn Jobst unterschlagen«, erklärte sie fest. »Aber damit rechnete ich nur in trüben Stunden, die anderen war ich zuversichtlich und voll froher Erwartung. Ich bin stolz darauf, daß ich dem alten Stamm ein Reislein schenken durfte. Und daß es mir beschieden ist, Heike so munter vor mir zu sehen.« Da wandte sich der Mann um »Sölve, jedes Dankeswort wäre hier banal – «, sagte er ganz tief und rauh. »Aber – « »Laß nur«, winkte sie lachend ab. »Dank gebührt der selbstlosen prächtigen Schwester, die mir in den Monaten des Hangens und Bangens eine liebe Freundin geworden ist. Und dann Freund Jörn, der sich aufopfernd um mich bemüht hat.« »Standest du denn mit ihm in Verbindung?« »Natürlich. Einen mußte ich doch haben, der mich mit Rat und Tat unterstützte, wobei ihm Ricarda wacker geholfen hat.«
»Na, diese Verschwörer. Laß sie nur kommen – « »Da sind sie schon – «, kam es lachend von der Tür her, wo Jörn und Ricarda standen. »Wie gefällt Ihnen denn Ihr Sohn, Herr Baron von Götterun? Würdiger Geschlechtsträger, was?« Es gab eine Begrüßung voll großer Freude. Schon morgen wollte man nach Uhlen übersiedeln, um dort das Weihnachtsfest zu verleben. Und am zweiten Feiertag sollte der Erbe getauft werden. Nun habt ihr euch gebangt und gequält,
habt geweint und gelitten,
dabei war alles doch so verfehlt,
worum ihr gekämpft und gestritten.
Denn, während ihr gegrübelt, gesonnen,
hat Frau Norne an eurem Schicksal gesponnen
Das Tauffest des kleinen Götterun wurde ein richtiges Freudenfest, bei dem auch nicht einer der geladenen Gäste fehlte. Die Geburt des kleinen Knaben hatte überall größte Überraschung hervorgerufen, und man kam herbei, um die Eltern zu beglückwünschen. »Wie soll denn der kleine Wicht mit der großen Bedeutung heißen?« wurde vor der Tauffeierlichkeit hie und da gefragt. Und es fand sich immer einer, der die Antwort darauf gab. »Wie denn anders als Jobst? Sehen Sie sich doch die verkleinerte Ausgabe unseres lieben Götterun genau an.« Auch über das kleine Baroneßchen, das die meisten heute erst zu Gesicht bekamen, hub großes Wundern an. Wie denn, sollte es nicht ein kleiner Kretin sein? Und nun dieses reizende Kind, wohl noch ein wenig zart, aber sonst gesund! Und da fand sich wieder jemand, der die Erklärung gab. Wie es geschehen konnte, daß die kleine Heike hier so quietschvergnügt zwischen den Gästen herumwirbelte. Na, dann war diese entzückende Frau mit dem sonnenhellen Haar ja ein Juwel. Man freute sich und
gönnte diesem charmanten Elternpaar seine schönen Kinder von Herzen. Auch eine war unter den Gästen, die man zuerst voll ehrfürchtiger Scheu betrachtete, ihr dann jedoch mit besonderer Herzlichkeit entgegenkam. Frau Fränze hatte sich zuerst energisch dagegen gewehrt, das Fest zu besuchen. Aber da hatte sie Jobst als Patin bestimmt und sie so zum Kommen gezwungen. Scheu wich sie zuerst den Menschen aus, die ihr fremd geworden waren. Doch langsam fand sie sich zurecht und fand den Trubel ganz erträglich. Mitfreuen konnte sie sich allerdings nicht – noch nicht. Vielleicht würde ihr das Kind wieder zur Freude verhelfen, das im Mai seinen Einzug im Schlößchen halten sollte. Und vielleicht zappelte es auch bald in den bereitgehaltenen Wiegen, die in den Herrenhäusern standen, wo die Zwillinge ihr Zepter schwangen. Zuerst hielt sie den Uhlener Erben mit fast großmütterlichem Stolz. Das war allerdings ein Prachtkerlchen. Und tapfer unterdrückte sie das bittere Gefühl, das in ihr aufsteigen wollte, als sie an ihren Jungen dachte. Aber es war ja der Sohn von Jobst, der soviel Verständnis gehabt hatte für ihr Leid – das größte Verständnis von allen. Jobst war es auch, der sich zu ihr setzte und immer wieder ihren Champagnerkelch füllte, auf seinen Jungen anzustoßen. Mit heimlichem Vergnügen bemerkte er, daß ihre Blicke freundlicher wurden, wie sich ein zaghaftes Lächeln um ihre Lippen wagte. »Nanu, ihr seid ja ganz heimliche Schwelger«, trat Jörn hinzu, die lachende Ricarda im Arm. »Du siehst ja schon ganz gemütlich aus, verehrte Schwiegermama. Dürfen wir an dieser Tränke bleiben?« »Man zu«, lachte Jobst und füllte zwei weitere Kelche. »Du bekommst nicht so viel, Ricarda.« »Warum denn nicht?« fragte sie erstaunt. »Weil dein Junge dann eine rote Nase bekommt«, lachte er
übermütig, und sie erglühte wie eine Pfingstrose. »Jobst hat recht«, meldete sich Frau Fränze, und ein Zipfelchen ihrer alten Energie lugte wieder hervor, was allen ein Schmunzeln abnötigte. »Du darfst ihr nicht so den Willen lassen, Jörn, wohin soll das führen.« Als sich Herr Julius kreuzfidel näherte und sie ihn mit den Worten empfing: »Du scheinst ja wieder kein Maß zu kennen, Julius«, da konnten sie nicht mehr das Lachen zurückhalten, das ihnen allen von Herzen kam. »Na, Muttchen, das sind ja längst verwehte Klänge«, schmunzelte er vergnügt. »Darauf müssen wir noch einen trinken.« Immer mehr fanden sich in der fidelen Ecke ein: Frau Marga, Sölve, die Kinderschwester, selbst »Kluckchen«, mit der hüpfenden Ira am Arm. »Du trinkst doch nicht etwa Sekt, Rosenrot?« erkundigte sich die Mama, und alle blinzelten sich zu, als sie den einst so verpönten Namen nun so selbstverständlich aussprach. Na ja, es wird schon wieder werden, dachte Julius froh. Mochte sie lieber ihre alte Energie wiederfinden, als so stumm und starr ihre Tage verbringen. Auch die Zwillinge mit ihren Männern kamen herbei. Man amüsierte sich köstlich über ihre junge Frauenwürde, die sie mit so großem Ernst herauskehrten. Allerliebst waren sie, und man konnte die Gatten verstehen, daß sie voll Stolz auf ihre Frauchen schauten. Dann war das Fest zu Ende. Und oben, in ihrer Kemenate, zog der Schloßherr seine Herrin an sein Herz. »Sölve, wenn ich ein Dichter wäre, so würde ich ein Loblied nach dem andern zu deinem Ruhm erschallen lassen«, begann er, und sie lachte ihn übermütig aus. »Dann ist es ja nur gut, daß du ein ganz gewöhnlicher Stoppelhopser bist -!« »Na warte, du Racker -!« bekam er sie bei den rosigen Öhrchen. »Aber in allem Ernst, Sölve – « »Sei doch still, Jobst. Was ist mir Dank? Nichts. Aber deine Liebe, die ist mir alles. Sie ist für mich das Leben.«
»Wenn es danach geht, meine weiße Möwe, dann kannst du tausend Jahre leben.« -ENDE
LENI BEHRENDT wurde am 5. März 1894 als Tochter der Eheleute Blasinsky in Insterburg/Ostpreußen geboren. Ihr Vater war selbständiger Schneidermeister. Nach dem frühen Tod ihrer Eltern lebte sie bei Verwandten, die ihr auch die Ausbildung als Lehrerin ermöglichten. Als Privatlehrerin auf verschiedenen großen Gütern gewann Leni Behrendt einen tiefen Einblick in die adelige Gesellschaft. Sie hat oft davon erzählt, und in ihren Romanen spiegeln sich die Bilder jener Zeit wider. Aus diesen Erlebnissen stammen ganz sicher auch der Reichtum ihrer Anschauungen und die Glaubwürdigkeit ihrer moralischen Welt. Wie sie Land und Leute charakterisiert, beweist ihr großes Einfühlungsvermögen, und wie sie den Zauber der Liebe enthüllt, macht deutlich, mit welcher sittlichen Einstellung sie ihre Helden schuf. Stolze, aufrichtige, pflichtbewußte Menschen begegnen uns in ihren Romanen. Schon als junges Mädchen fabulierte Leni Behrendt. In kleinen Geschichten und Gedichten übte sie sich, bis ihr der erste große Roman »Warum quälst du mich?« gelang, der gedruckt wurde. Dieses große Erlebnis war der Anfang ihrer schriftstellerischen Laufbahn, aber ihre Berufung empfand sie als Mutter. Nach ihrer Verheiratung mit dem Bankdirektor Paul Gero Behrendt erlebte sie mit ihren beiden Kindern (Sohn und Tochter) das wahre Glück einer Mutter. Das Schicksal hat sie am Ende des Krieges Furchtbares erleben lassen. Beide Kinder verlor sie, und auf der Flucht von Ostpreußen in eine unbekannte Zukunft fand sie die Kraft, nicht gegen das Schicksal, sondern mit ihm zu leben. Auf sich allein gestellt, wünschte sie sich einen Stall, eine Kiste, auf der sie sitzen konnte, Bleistift und Papier, um schreiben zu können. Ihre erste Unterkunft nach der Flucht war dann auch nur eine kalte Kammer. Sie schrieb darin den köstlichen Roman »Sieben Töchter und kein Geld«. Als sie wieder Verbindung mit ihrem Mann bekam, der als Offizier im Krieg war, begann ein neues
Leben in einer kleinen, einfachen Wohnung im Lippischen Land. Wer sie dort erlebte, kann bescheinigen, wie diese beiden wertvollen Menschen an ihrer Zukunft zimmerten und in der Bescheidenheit das höchste Glück erkannten. Trotz der großen Erfolge ihrer Romane blieb Leni Behrendt die einfache, schlichte und anspruchslose Frau, die ihren geraden Weg nie verließ. Sie hätte lieber trockenes Brot gegessen, als Schulden zu machen. Um so glücklicher war sie, als sie sich dann durch die Erfolge ihrer Romane ein kleines Waldhaus in der Nähe von Köln kaufen konnte, in dem sie noch viele frohe Jahre bis zu ihrem Tod am 2. November 1968 verleben konnte. Ihr Wunsch, mit ihren Romanen ein bißchen Freude in einsame Stunden zu bringen, kann von Millionen Lesern bestätigt werden, die ihre Romane mit heller Begeisterung lesen.