Das neue Abenteuer 456
Mark Twain
Die Dreißigtausend-Dollar-Erbschaft
Verlag Neues Leben, Berlin V 1.0 by Dumme Put...
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Das neue Abenteuer 456
Mark Twain
Die Dreißigtausend-Dollar-Erbschaft
Verlag Neues Leben, Berlin V 1.0 by Dumme Pute
Ins Deutsche übertragen von Karl Heinrich Mit Illustrationen von Karl Fischer © Verlag Neues Leben, Berlin 1984 Lizenz Nr. 303 (305/89/84) LSV 7723 Umschlag: Karl Fischer Typografie: Walter Leipold Schrift: 9 p Times Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 643 678 2 00025
I Lakeside war ein freundliches und, soweit sich das von den Städten des fernen Westens sagen läßt, auch ziemlich hübsches Städtchen von fünf- bis sechstausend Einwohnern. Seine Kirchen und Gemeindesäle boten Platz für fünfunddreißigtausend Menschen, was im fernen Westen und Süden, wo jedermann fromm ist und wo alle protestantischen Sekten vertreten sind und ein eigenes Bethaus haben, keine Seltenheit ist. Standesdünkel war in Lakeside unbekannt - jedenfalls bekannte sich keiner in der Öffentlichkeit dazu. Jeder kannte jeden, und es herrschte eine Atmosphäre geselliger Freundlichkeit. Saladin Foster war Buchhalter im ersten Kaufhaus am Platze und der einzige hochbezahlte Mensch seines Berufs in Lakeside. Er war jetzt fünfunddreißig Jahre alt; seit vierzehn Jahren diente er seinem Prinzipal; mit vierhundert Dollar im Jahr hatte er in der Woche seiner Eheschließung angefangen, dann war sein Gehalt vier Jahre hintereinander um jährlich hundert Dollar gestiegen; seitdem war es bei achthundert geblieben - eine hübsche Summe in der Tat, und jeder gab zu, daß er ihrer würdig war. Seine Frau Elektra war ihm eine tüchtige Gehilfin, wenn auch - wie er selber - eine verträumte und schwärmerische Seele. Die erste Tat nach ihrer Hochzeit - obgleich sie mit ihren neunzehn Jahren noch fast ein Kind war bestand darin, daß sie einen Morgen Ackerland am Stadtrand kaufte und ihn bar bezahlte - fünfundzwanzig Dollar, ihr ganzes Vermögen. Saladin hatte noch weniger, etwa fünfzehn Dollar. Sie legte dort einen Gemüsegarten an, ließ ihn vom nächsten Nachbarn anteilig bewirt-
schaften und holte im Jahr einen hundertprozentigen Gewinn heraus. Von Saladins erstem Jahresgehalt brachte sie dreißig Dollar auf die Sparkasse, sechzig vom zweiten, hundert vom dritten, hundertfünfzig vom vierten. Damals betrug sein Gehalt achthundert Dollar im Jahr, und inzwischen waren zwei Kinder angekommen und erhöhten die Ausgaben; trotzdem zahlte sie auch weiterhin in jedem Jahr zweihundert Dollar von dem Jahresgehalt ein. Als sie sieben Jahre verheiratet war, ließ sie sich mitten auf ihrem Gartengrundstück ein hübsches und behagliches Zweitausenddollarhaus bauen und einrichten, bezahlte die Hälfte des Preises in bar und zog mit ihrer Familie ein. Sieben Jahre später war sie schuldenfrei und hatte noch mehrere hundert Dollar von ihren Einnahmen gespart. Gespart durch das Ansteigen der Bodenpreise; denn sie hatte vor längerer Zeit zwei weitere Morgen Land gekauft und zum größten Teil gewinnbringend an Baulustige weiterverkauft, die für sie und ihre wachsende Familie gute Nachbarn und angenehme Kameraden zu werden versprachen. Sie hatte aus den Spareinlagen ein eigenes Einkommen von etwa hundert Dollar im Jahr. Ihre Kinder wuchsen zu anmutigen Mädchen heran, und sie war eine glückliche und zufriedene Frau. Glücklich über ihren Mann, glücklich über ihre Kinder, und der Mann und die Kinder waren glücklich über sie. An diesem Punkt beginnt diese Geschichte. Das jüngste Mädchen, Klytämnestra - kurz Klytie genannt -, war elf; ihre Schwester, Gwendolin - kurz Gwen genannt -, war dreizehn; hübsche, anmutige Mädchen. Die Namen verraten die verborgene Neigung des elterlichen Blutes zu romantischer Schwärmerei, und die Namen der Eltern deuten darauf hin, daß sich diese Nei-
gung in der Familie vererbt hatte. Es war eine liebevolle Familie, daher hatten alle vier Mitglieder Kosenamen. Saladins war merkwürdigerweise ein weiblicher - Sally, und Elektras ein männlicher - Aleck. Den ganzen Tag über war Sally ein tüchtiger und fleißiger Buchhalter und Verkäufer; den ganzen Tag über war Aleck eine gute und treusorgende Mutter und Hausfrau. Aber wenn sie abends in dem traulichen Wohnzimmer saßen, schoben sie die Welt der Mühen beiseite und lebten in einer anderen und schöneren Welt, lasen sich gegenseitig Rittergeschichten vor und überließen sich ihren Träumen, in denen sie mit Königen und Fürsten, mit vornehmen Lords und Damen in prunkvollen Palästen und grimmigen alten Burgen verkehrten.
II
Nun kam ungewöhnliche Nachricht! Verblüffende Nachricht - frohe Botschaft, in der Tat. Sie kam aus einem benachbarten Staat, wo der einzige noch überlebende Verwandte der Familie wohnte. Es war Sallys Verwandter - irgendein entfernter Onkel oder Vetter zweiten oder dritten Grades, Tilbury Foster mit Namen, siebzig und Junggeselle, angeblich wohlhabend und dementsprechend mürrisch und griesgrämig. Vor langer Zeit hatte Sally einmal versucht, brieflich mit ihm in Verbindung zu treten, aber diesen Fehler hatte er nicht wieder begangen. Jetzt schrieb Tilbury an Sally und teilte ihm mit, daß er über kurz oder lang sterben werde und ihm dreißigtausend Dollar bares Geld hinterlasse; nicht aus Liebe, sondern weil das Geld ihm die meisten Sorgen und Ärgernisse bereitet habe und weil er den Wunsch habe, es einem
Menschen zu vermachen, bei dem die begründete Hoffnung bestehe, daß es an ihm sein boshaftes Werk fortsetzen werde. Der Wortlaut des Vermächtnisses werde in seinem Testament stehen und das Geld nach seinem Tode ausgezahlt werden. Vorausgesetzt, daß Sally den Testamentsvollstreckern beweisen könne, daß er der Schenkung zu Lebzeiten des Erblassers weder mündlich noch schriftlich Beachtung geschenkt, über den Zustand des Todkranken vor dessen Heimgang in die seligen Gefilde keinerlei Erkundigungen angestellt und nicht dem Begräbnis beigewohnt habe.
Sobald sich Aleck von der furchtbaren Erregung, die durch den Brief ausgelöst worden war, einigermaßen erholt hatte, schrieb sie an das Gemeindeamt des Wohnorts des Verwandten und abonnierte die Lokalzeitung. Mann und Frau schlossen nunmehr einen feierlichen Pakt, die große Neuigkeit keinem Menschen gegenüber zu
erwähnen, solange der Verwandte lebe, damit nicht irgendeine unwissende Person die Tatsache entstellt an das Sterbebett trage und so sichtbar werden lasse, daß sie für das Vermächtnis mit Ungehorsam dankten; denn ebensogut hätten sie die Sache trotz des Verbots an die große Glocke hängen können. Für den Rest des Tages war Sally im Geschäft nicht mehr zu gebrauchen, und auch Aleck konnte sich nicht auf ihre Haushaltsdinge konzentrieren, ja, sie konnte nicht einmal einen Blumentopf, ein Buch oder ein Stück Holz in die Hand nehmen, ohne daß sie sogleich vergaß, was sie damit anfangen wollte. Sie träumten alle beide. Dreißigtausend Dollar! Den ganzen Tag erklang die Musik dieser erhebenden Worte in ihren Köpfen. Von ihrem Hochzeitstage an hatte Aleck die Hand fest auf der Haushaltskasse, und nur selten hatte Sally das Vorrecht erfahren, ein Zehncentstück für überflüssige Dinge zu verschwenden. Dreißigtausend Dollar! klang es fort und fort. Eine ungeheure Summe, eine unvorstellbare Summe! Den ganzen Tag schmiedete Aleck Pläne, wie man eine solche Summe nutzbringend anlegen, Sally, wie man sie ausgeben könne. An jenem Abend wurde aus keinem Ritterroman vorgelesen. Die Kinder gingen von selber früh schlafen, denn die Eltern waren schweigsam, zerfahren und merkwürdig unzugänglich. Die Gutenachtküsse hätten ebensogut ins Leere gegeben werden können, so gering war der Widerhall, den sie fanden. Die Eltern nahmen die Küsse gar nicht wahr, die Kinder waren schon eine Stunde fort, ehe ihre Abwesenheit überhaupt bemerkt wurde. Während
dieser Stunde hatten zwei Bleistifte fleißig Notizen gemacht und Pläne aufgestellt. Schließlich brach Sally das Schweigen. Er sagte mit frohlockender Stimme: "Ach, Aleck, es wird großartig werden! Von dem ersten Tausender kaufen wir ein Pferd und einen Einspänner für den Sommer und einen Schlitten und eine Pelzdecke für den Winter." Aleck antwortete mit Entschlossenheit und Gemütsruhe: "Vom Kapital? Nichts dergleichen. Auch nicht, wenn es eine Million wäre!" Sally war tief enttäuscht; die Röte schwand aus seinem Gesicht. "Aber Aleck!" sagte er vorwurfsvoll. "Wir haben immer nur geschuftet und geknausert, und jetzt, da wir reich sind, scheint es mir doch ." Er beendete den Satz nicht, denn er sah einen milderen Glanz in ihren Augen; seine demütige Bitte hatte sie gerührt. Sie sagte mit freundlicher Überredungskunst: "Wir dürfen das Kapital nicht ausgeben, Schatz, das wäre unklug. Von den Zinsen können wir meinetwegen ." "Das reicht, das reicht, Aleck! Wie lieb und gut du bist! Wir werden hohe Zinsen bekommen, und wenn wir die ausgeben können ." "Nicht alle, Schatz, nicht alle, aber einen Teil davon kannst du ausgeben. Das heißt einen annehmbaren Teil. Das Kapital dürfen wir nicht angreifen - keinen Penny -, das müssen wir für uns arbeiten lassen. Ich hoffe, du siehst das ein, oder?" "Nun ja. Ja natürlich. Aber wir werden so lange warten müssen. Sechs Monate, bevor die ersten Zinsen anfallen." "Ja - vielleicht noch länger." "Noch länger, Aleck? Warum? Werden die Zinsen denn
nicht halbjährlich ausgezahlt?" "Bei dieser Art Kapitalsanlage - ja; aber ich werde das Geld so nicht anlegen." "Wie denn sonst?" "Gegen hohe Rückvergütung!" "Hohe Rückvergütung. Das ist gut. Sprich weiter, Aleck. Worin?" "In Kohle. Die neuen Gruben. Kannelkohle. Ich will zehntausend in Aktien anlegen. In Grund und Boden. Wenn wir klug zu Werke gehen, können wir dreifache Gewinne erzielen." "Bei Gott, das klingt wie Musik, Aleck! Dann sind die Aktien wieviel wert? Und wann?" "Etwa in einem Jahr. Sie zahlen zehn Prozent halbjährlich, dann sind unsere Aktien dreißigtausend wert. Ich kenne mich genau aus, die Anzeige steht hier in der Cincinnati-Zeitung." "Himmel, dreißigtausend für zehntausend - in einem Jahr! Laß uns doch das ganze Kapital dort anlegen, dann erzielen wir neunzigtausend! Ich werde sofort hinschreiben und die Aktien kaufen - morgen kann es schon zu spät sein." Er flog zum Schreibpult, aber Aleck hielt ihn zurück und drückte ihn wieder in seinen Sessel. Sie sagte: "Verlier nicht gleich den Kopf. Erst müssen wir das Geld doch haben. Hast du das vergessen?" Sallys Erregung kühlte sich um einige Grade ab, aber ganz beruhigt hatte er sich noch nicht. "Aber Aleck, wir bekommen es doch - und schon bald. Wahrscheinlich ist er schon aller Sorgen ledig, ja, ich möchte hundert gegen eins wetten, daß der Leibhaftige ihn in dieser Minute holt. Deshalb meine ich ." Aleck
schauderte. Sie entgegnete: "Wie kannst du nur, Sally! Sprich nicht so schändlich." "Oh, spiel dich nur als Heilige auf, wenn es dir Spaß macht. Mir ist es gleich, wer ihn holt. Ich habe das doch nur so hingesagt. Darf man denn nicht mal mehr einen Scherz machen?" "Aber warum mußt du denn so furchtbare Scherze machen? Wie würde es dir gefallen, wenn die Leute so über dich sprächen, ehe du kalt bist?" "Ich hoffe, ich bleibe noch ein Weilchen hier, vor allem jetzt. Auch wird mein letzter Akt wohl nicht darin bestehen, daß ich mein Geld weggebe, um einem anderen Menschen damit Böses zuzufügen. Doch mach dir keine Gedanken um Tilbury, Aleck, laß uns von weltlicheren Dingen reden. Mir scheint, diese Grube ist doch der richtige Ort für die ganzen dreißigtausend. Was hast du dagegen einzuwenden?" "Daß man nicht alles auf eine Karte setzen soll - das habe ich einzuwenden." "Na gut, wenn du meinst. Was wird aus den übrigen zwanzigtausend? Was hast du für weitere Absichten?" "Das eilt ja nicht. Ich will mich erst mal umsehen, bevor ich darüber entscheide." "Na schön, wie du willst", seufzte Sally. Er saß eine Weile gedankenverloren da, dann sagte er: "Übers Jahr werden wir also zwanzigtausend Dollar Gewinn von den zehntausend haben. Die können wir dann aber ausgeben, nicht wahr, Aleck?" Aleck schüttelte den Kopf. "Nein, Schatz", sagte sie. "Nicht eher, als bis wir die erste halbjährliche Dividende ausgezahlt bekommen. Davon kannst du dann einen Teil ausgeben."
"Verdammt, nur das - und ein ganzes Jahr warten! Der Teufel soll die Dividende holen! Ich will ." "Oh, sei doch geduldig! Vielleicht gibt es sie schon nach einem Vierteljahr - es ist durchaus im Bereich der Möglichkeiten." "Au fein! Danke!" sagte Sally, sprang auf und küßte seine Frau voller Dankbarkeit. "Das sind dreißigtausend ganze dreißigtausend! Wieviel können wir davon ausgeben, Aleck! Sei großzügig - bitte, Schatz, sei nett." Aleck war es zufrieden, so zufrieden, daß sie dem Drängen nachgab und eine Summe zugestand, die nach ihrem Urteil gradezu sträflicher Leichtsinn war - eintausend Dollar. Sally küßte sie ein halbes dutzendmal, doch vermochte er all seine Freude und Dankbarkeit nicht einmal auf diese Weise auszudrücken. Dieser erneute Ausbruch von Dankbarkeit und Zuneigung ließ Aleck alle Vorsicht vergessen, und bevor sie an sich halten konnte, hatte sie ihrem Liebling ein weiteres Zugeständnis gemacht - ein paar tausend von den fünfzig- oder sechzigtausend, die sie innerhalb eines Jahres aus den restlichen zwanzigtausend der Erbschaft herauszuholen beabsichtigte. Tränen des Glücks traten in Sallys Augen, und er sagte: "Oh, ich möchte dich umarmen!", und er tat es. Dann suchte er seine Notizen hervor, setzte sich und begann nachzurechnen - die ersten Käufe, die Luxusartikel, die er als erste sicherzustellen wünschte. "Pferd, Einspänner, Schlitten, Pelzdecke, Lackschuhe, Hund, Zylinderhut, Kirchenstuhl, Remontoiruhr, neue Zähne - hör mal, Aleck!" "Ja?" "Rechnest du noch? Recht so. Hast du die zwanzigtausend schon angelegt?" "Nein, das eilt noch nicht. Ich muß mich erst umsehen
und nachdenken." "Aber du rechnest doch. Was rechnest du denn?" "Nun, ich muß doch für die dreißigtausend, die aus der Kohle kommen, Arbeit finden, nicht wahr?" "Gott, was für ein kluges Köpfchen du hast! Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Kommst du gut voran? Wie weit bist du gekommen?" "Nicht sehr weit - zwei oder drei Jahre. Ich habe alles zweimal genau durchgerechnet, einmal in Öl und einmal in Weizen." "Wunderbar, Aleck! Was hast du rausbekommen?" "Ich glaube - rund gerechnet -, etwa hundertachtzigtausend, wahrscheinlich aber noch mehr." "Himmel! Ist das nicht wundervoll? Großer Gott! Das Glück ist endlich zu uns gekommen, endlich, nach all den Jahren der Mühsal. Aleck!" "Ja?" "Ich werde rund dreihundert Dollar der Missionsschule schenken - wir brauchen ja nicht mehr auf den Cent zu sehen!" "Etwas Edelmütigeres könntest du nicht tun, Schatz. Deine großzügige Natur, du selbstloser Junge." Dieses Lob machte Sally unbändig glücklich, aber er war ehrlich und gerecht genug, zu sagen, es gebühre von Rechts wegen eher Aleck als ihm selber, da er ja ohne, sie niemals soviel Geld gehabt hätte. Dann gingen sie zu Bett, und in ihrem glückseligen Wahn vergaßen sie, im Wohnzimmer die Kerze zu löschen. Sie erinnerten sich erst daran, als sie ausgezogen waren. Sally war dafür, sie brennen zu lassen; er meinte, das könnten sie sich jetzt leisten, und wenn sie tausend Dollar koste. Aber Aleck ging noch einmal nach unten und
drückte sie aus. Und das war gut so, denn auf dem Rückweg ins Schlafzimmer hatte sie einen glücklichen Einfall, der die hundertachtzigtausend Dollar im Handumdrehen in eine halbe Million verwandelte.
III
Die kleine Zeitung, die Aleck bestellt hatte, erschien jeden Donnerstag. Sie würde die fünfhundert Meilen lange Reise aus Tilburys Dorf in zwei Tagen zurücklegen und am Samstag eintreffen. Tilburys Brief war am Freitag abgegangen, mehr als einen Tag zu spät, um dem Wohltäter eine Frist zum Sterben und der Todesanzeige Gelegenheit zum Erscheinen in jener Wochenausgabe zu geben, immerhin aber früh genug für die Bekanntgabe in der nächsten Ausgabe. So mußten die Fosters fast eine volle Woche warten, ehe sie mit einer befriedigenden Auskunft rechnen konnten. Es war eine lange, lange Woche, und schwer lastete die Spannung auf ihnen. Die beiden hätten sie wohl kaum ertragen können, wäre ihnen nicht der Trost auf eine gesunde Zerstreuung geblieben. Daß es ihnen daran nicht fehlte, haben wir bereits gesehen. Die Frau häufte unausgesetzt Vermögen an, der Mann gab es aus gab zumindest all das aus, was ihm seine Frau überließ. Schließlich kam der Samstag, und der "Weekly Sagamore" traf ein. Mrs. Eversly Bennett war zugegen. Sie war die Frau des presbyterianischen Pfarrers, sie bearbeitete die Fosters gerade wegen eines Scherfleins für die Kirche. Plötzlich erstarb die Unterhaltung auf seiten der Fosters. Mrs. Bennett entdeckte, daß ihre Gastgeber kein Wort von dem
hörten, was sie sagte; so stand sie auf, verwundert und entrüstet, und ging fort. Kaum war sie aus dem Hause, da riß Aleck begierig das Kreuzband von der Zeitung, und ihre und Sallys Augen überflogen die Spalten nach den Todesanzeigen. Enttäuschung! Tilbury war nirgends erwähnt. Aleck war eine gute Christin von Kindesbeinen an, und das Pflichtgefühl und die Macht der Gewohnheit forderten von ihr, daß sie Haltung bewahrte. Sie riß sich zusammen und sagte mit frommer, zwei Prozent geschäftsmäßiger Fröhlichkeit:
"Laß uns in aller Demut dafür dankbar sein, daß er verschont worden ist. Und ." "Der Teufel soll seine verräterische Haut holen, ich wünschte ." "Sally! Schäm dich!" "Ach was!" entgegnete der ärgerliche Mann. "Du fühlst doch genauso, und wenn du nicht so unmoralisch fromm
wärst, würdest du ehrlich sein und dasselbe sagen." Aleck antwortete in verletzter Würde: "Ich möchte nur wissen, wie du so unfreundliche und ungerechte Dinge sagen kannst. Unmoralische Frömmigkeit, so etwas gibt es überhaupt nicht." Sally fühlte einen Stich, versuchte aber, sein Unbehagen hinter dem lahmen Bemühen zu verbergen, seine Sache dadurch zu retten, daß er einen anderen Ton anschlug. Als ob er damit die Kennerin täuschen konnte, die er zu besänftigen trachtete. Er sagte: "So schlimm war es ja nicht gemeint, Aleck. Unmoralische Frömmigkeit wollte ich wirklich nicht sagen, ich wollte sagen ., ich meinte ., nun, eben konventionelle Frömmigkeit, weißt du; äääh - geschäftsmäßige Frömmigkeit; die ., die ., ach, du weißt schon, was ich meine, Aleck ., die, nun ja, eben, wo man Dublee für gediegenes Gold ausgibt, ohne die Absicht, etwas Unlauteres zu tun, nur so aus alter Geschäftsgewohnheit, aus alter Politik und uraltem Brauch, aus Anhänglichkeit gegen ., gegen ., hol's der Teufel, ich kann die rechten Worte nicht finden, aber du weißt schon, was ich meine, Aleck, und auch, daß es nicht böse gemeint war. Ich will's noch einmal versuchen. Also, die Sache ist so. Wenn jemand ." "Du hast genug gesagt", erwiderte Aleck kühl. "Lassen wir das Thema fallen." "Ganz meiner Meinung", entgegnete Sally eifrig und wischte sich den Schweiß von der Stirn, wobei er die Dankbarkeit, für die er keine Worte fand, in seinen Blick legte. Dann entschuldigte er sich nachdenklich bei sich selbst. Ich hatte es wirklich dreiviertel geschafft - ich weiß es bestimmt -, aber dann versuchte ich es in Worte zu kleiden, und dabei versagte ich. Gerade daran hapert es
so oft bei mir. Wenn ich drauf bestanden hätte - aber ich hab's ja nicht. Ich kneife immer. Ich weiß eben nicht genug. Eingestandenermaßen besiegt, war er jetzt besonders zahm und unterwürfig. Aleck verzieh ihm mit den Augen. Das große Interesse, das höchste Interesse stand sofort wieder obenan; es ließ sich nicht für längere Zeit in den Hintergrund drängen. Das Paar rätselte hin und her, warum Tilburys Todesanzeige nicht in der Zeitung stand. Sie erörterten dieses Rätsel auf jede erdenkliche Weise, mehr oder weniger hoffnungsvoll, aber am Schluß waren sie nicht klüger als zuvor und mußten zugeben, daß die einzig plausible Erklärung die Abwesenheit der Anzeige vermutlich die sein müsse - und zweifellos auch war -, ,daß Tilbury nicht tot war. Das war gewiß ziemlich betrüblich, sogar ein wenig unfair vielleicht, aber was half es, man mußte sich damit abfinden. Darin stimmten sie beide überein. Sally erblickte eine seltsam rätselhafte Fügung des Schicksals darin; rätselhafter als sonst, dachte er, eine der rätselhaftesten, an die er sich überhaupt erinnern konnte - und so äußerte er sich auch mit Erregung; aber wenn er hoffte, daß Aleck ihm zustimmte, so irrte er sich; sie hielt mit ihrer Meinung zurück, falls sie sich eine darüber gebildet hatte; sie hatte nicht die Gewohnheit, unbesonnene Wagnisse einzugehen, weder auf weltlichem noch auf irgendeinem anderen Gebiet. Das Paar mußte auf die Zeitung in der nächsten Woche warten - Tilbury hatte die Angelegenheit offenbar verschoben. So dachten und urteilten sie übereinstimmend. Damit legten sie das Thema beiseite und gingen wieder ihren Geschäften nach, so gut sie es vermochten.
Wenn sie gewußt hätten, daß sie Tilbury die ganze Zeit unrecht getan hatten! Tilbury hatte Wort gehalten, seine Zusage buchstäblich erfüllt. Er war tot, er war termingemäß gestorben. Er war seit mehr als vier Tagen tot und bereits daran gewöhnt, gänzlich tot, vollkommen tot, so tot, wie nur ein neuer Toter auf dem Friedhof sein kann. Auch war er früh genug gestorben, um im "Sagamore" jener Woche Aufnahme zu finden, und nur durch einen Zufall ausgeschlossen worden, durch einen jener Zufälle, wie er einer Großstadtzeitung nicht zustoßen konnte, wohl aber einem so armseligen Dorfblättchen wie dem "Sagamore" leicht zustoßen kann. Gerade als die Seite mit dem Leitartikel umbrochen wurde, traf aus Hostetters Eisdiele eine Gratissendung Himbeerwassereis ein, und der ziemlich frostige Nachruf auf Tilburys Hinscheiden wurde herausgenommen, um der begeisterten Danksagung des Redakteurs Platz zu machen. Auf dem Weg in die Setzerei gerieten dann die Lettern von Tilburys Nachruf durcheinander. Sonst wäre er bestimmt in einer der folgenden Nummern erschienen, denn die "Weekly Sagamores" lassen sich keine "wichtige" Meldung entgehen, und in ihren Setzereien sind "wichtige" Meldungen unsterblich, wenn nicht gerade ein Unglücksfall mit den Lettern dazwischenkommt. Aber eine Nachricht, deren Lettern durcheinandergeraten, ist tot, und für sie gibt es keine Auferstehung; ihre Aussicht, jemals Druckerschwärze zu sehen, ist ein für allemal vorbei. Und so kam es, daß die Nachricht von Tilburys Tod, gleichviel, ob es dem Verstorbenen nun paßte oder nicht, ob er deswegen tobte und sich in seinem Grabe umdrehte, niemals im "Weekly Sagamore" das Licht der Welt erblickte.
IV Fünf Wochen schleppten sich träge hin. Der "Samagore" traf regelmäßig jeden Samstag ein, aber niemals enthielt er eine Erwähnung von Tilbury Foster. Schließlich riß Sally die Geduld, und er sagte ärgerlich: "Verdammt noch mal, ich glaube, der ist unsterblich!" Aleck wies ihn sehr scharf zurecht und setzte mit eisiger Feierlichkeit hinzu: "Wie würde dir zumute sein, wenn du plötzlich abberufen würdest, gerade nachdem dir eine so entsetzliche Bemerkung entfahren wäre?" "Ich wäre glücklich, daß sie mir nicht im Halse steckenblieb", entgegnete Sally ohne viel Überlegung. Der Hochmut hatte ihn gezwungen, irgend etwas zu sagen, und da ihm keine vernünftige Antwort einfallen wollte, schleuderte er diese hinaus. Dann machte er sich "dünne" - wie er es nannte -, das heißt, er stahl sich von dannen, um zu vermeiden, daß er in dem Diskussionsmörser seiner Frau zermahlen würde. Sechs Monate kamen und gingen. Der "Sagamore" schwieg sich noch immer über Tilbury aus. Inzwischen hatte Sally mehrmals einen Fühler ausgestreckt, das heißt, er hatte eine Andeutung gemacht, daß er gern Näheres erfahren würde. Aleck hatte diese Andeutungen überhört. Nun beschloß Sally, sich aufzuraffen und zu einem Frontalangriff überzugehen. So schlug er allen Ernstes vor, sich zu verkleiden und in Tilburys Dorf zu fahren, um heimlich festzustellen, wie es um ihre Aussichten stand. Aleck widersetzte sich diesem gefährlichen Plan mit aller Tatkraft und Bestimmtheit. Sie sagte: "Was denkst du dir nur dabei? Wenn ich nicht dauernd
auf dich aufpasse! Du bist wie ein kleines Kind, das man bei der Hand halten muß, damit es nicht ins offene Feuer hineinläuft. Du bleibst, wo du bist!" "Aber Aleck, ich bin gewiß, ich könnte es tun, ohne entdeckt zu werden." "Sally Foster, ist dir nicht klar, daß du dich überall erkundigen müßtest?" "Natürlich, aber was macht das schon? Niemand würde ahnen, wer ich bin." "Oh, hör sich einer diesen Mann an! Eines Tages wirst du den Testamentsvollstreckern beweisen müssen, daß du keine Erkundigungen eingezogen hast. Was dann?" Das hatte er vergessen. Er gab keine Antwort; darauf ließ sich nichts erwidern. Aleck fuhr fort: "Also, schlag dir das aus dem Kopf und komm nie wieder darauf zurück. Tilbury hat dir diese Falle gestellt. Weißt du nicht, daß es eine Falle ist? Er liegt auf der Lauer und wartet nur auf den Augenblick, da du hineinstolperst. Aber er soll eine Enttäuschung erleben - wenigstens solange ich auf Deck bin, Sally!" "Ja?" "Solange du lebst, und solltest du hundert Jahre alt werden, stelle nie eine Erkundigung an. Versprich es mir." "Einverstanden." Er seufzte widerstrebend. Dann wurde Aleck sanfter und sagte: "Sei nicht ungeduldig. Es geht uns gut, wir können warten, wir haben es nicht eilig. Unser kleines, uns mit Gewißheit zufallendes Einkommen vermehrt sich laufend, und was die zukünftigen betrifft, so habe ich bis jetzt keinen Fehler gemacht - die künftigen Einkommen steigen um Tausende und Zehntausende. Keine andere Familie im ganzen Staat hat solche Aussichten wie wir.
Schon beginnen wir im Geld zu schwimmen. Das weißt du doch, nicht wahr?" "Ja, Aleck, es ist gewiß so." "Dann sei dankbar für das, was Gott für uns tut, und hör auf zu quengeln. Oder glaubst du etwa, wir hätten diese wunderbaren Erfolge ohne seine besondere Hilfe und Führung erzielen können?" Zögernd entgegnete er: "N - nein, vermutlich nicht." Dann mit Gefühl und Bewunderung: "Und doch, wenn es darauf ankäme, ein Vermögen klug zu verwässern oder Wallstreet das Fell über die Ohren zu ziehen, ich stehe nicht an zu erklären, daß du dazu keine Hilfe von außen brauchtest. Deshalb wünsche ich ." "Oh, sei still! Ich weiß, du meinst es weder kränkend noch unehrerbietig, du Ärmster, aber anscheinend kannst du den Mund nicht auftun, ohne Dinge herauszulassen, die einen schaudern machen. Ich lebe in ständiger Furcht. Um dich und um uns alle. Früher fürchtete ich mich nicht vor Donner und Blitz, aber wenn ich es jetzt donnern höre ." Ihre Stimme brach, und sie begann zu weinen und konnte nicht aufhören. Dieser Anblick griff Sally ans Herz. Er nahm sie in seine Arme und streichelte sie und tröstete sie und gelobte Besserung; er tadelte sich und bat reumütig um Vergebung. Es war ihm ernst damit. Es reute ihn, was er getan hatte, und er war zu jedem Opfer bereit, um sein Vergehen wiedergutzumachen. Und so dachte er im geheimen lange und gründlich darüber nach und beschloß, sein möglichstes zu tun. Es war leicht, Besserung zu geloben; das hatte er in der Tat schon öfter getan. Aber würde es wirklich etwas nützen, auf die Dauer nützen? Nein, es würde nur vorübergehend sein -
er kannte seine Schwäche und gestand sie sich sorgenvoll ein - er konnte sein Versprechen nicht halten. Es mußte ihm etwas Sicheres und Besseres einfallen, und es fiel ihm etwas ein. Von dem kostbaren Geld, das er in langer Zeit Schilling für Schilling gespart hatte, kaufte er einen Blitzableiter für das Haus. In absehbarer Zeit wurde er wieder rückfällig.
Was für Wunder kann die Gewohnheit vollbringen! Und wie rasch und wie leicht werden Gewohnheiten erworben - sowohl belanglose als auch solche, die uns grundlegend verändern. Wenn wir zufällig ein paar Nächte hintereinander um zwei Uhr morgens erwachen, sind wir mit Recht beunruhigt, denn eine weitere Wiederholung kann der Zufall in eine Gewohnheit verwandeln, und wer einen Monat täglich nur Whisky trinkt, der - aber solche Ge-
meinplätze sind uns allen bekannt. Die Gewohnheit, Luftschlösser zu bauen und am Tage zu träumen - wie schnell breitet sie sich aus, welch ein Bedürfnis wird sie! Wie fliegen wir in jedem müßigen Augenblick ihren Verzauberungen in die Arme, wie schwelgen wir in ihnen, tauchen unsere Seele hinein, berauschen uns an ihren verlockenden Gaukeleien - o ja, und wie bald und wie leicht verschmelzen unser Traumleben und unser Alltagsleben so völlig miteinander, daß wir hinfort kaum noch zu unterscheiden vermögen, was Traum und was Wirklichkeit ist. Später abonnierte Aleck eine Chicagoer Tageszeitung und den Wallstreet Börsenanzeiger. Mit unbestechlichem Blick für Finanzfragen studierte sie diese Blätter an allen Wochentagen ebenso eifrig wie sonntags ihre Bibel. Sally stellte mit tiefer Bewunderung fest, wie raschen und sicheren Schrittes ihr Genius und Urteil sich entwickelten und in die Vorhersage und Handhabung der weltlichen und geistlichen Wertpapiere eindrangen. Er war stolz auf ihren Schneid und Wagemut, die weltlichen Kapitalmärkte auszubeuten, und nicht minder stolz war er auf ihre am Hergebrachten festhaltende Behutsamkeit im Betreiben ihrer geistlichen Geschäfte. Er stellte fest, daß sie niemals den Kopf verlor, daß sie oft mit glänzendem Mut weltliche Termingeschäfte in Angriff nahm, aber doch behutsam die Grenze zog und bei den anderen immer von großer Langmut war. Ihre Taktik war vernünftig und einfach, wie sie ihm auseinandersetzte: Was sie in irdische Termingeschäfte steckte, galt der Spekulation; was sie in geistliche Termingeschäfte steckte, galt der Kapitalsanlage; sie war bereit, bei den ersteren aufs Ganze zu gehen und alle Chancen wahrzunehmen; aber im Falle der anderen ging
sie kein Wagnis ein - dort wollte sie hundertprozentige Gewißheit, baren Geldeswert und das Kapital in die Bücher überwiesen wissen. Es dauerte nur sehr wenige Monate, bis Alecks und Sallys Phantasie geschult war. Die tägliche Übung vergrößerte allmählich das Arbeitspensum und den Wirkungsbereich der beiden Maschinen. Infolgedessen machte Aleck in ihrer Einbildung viel schneller Geld, als sie es sich zuerst hatte träumen lassen, und Sallys Fähigkeit, diesen Überschuß auszugeben, hielt durchaus damit Schritt. Anfänglich hatte Aleck der Spekulation in Kohle ein ganzes Jahr zugemessen, damit sie sichtbaren Gewinn daraus schlagen konnte, und sie war abgeneigt, einzuräumen, daß diese Frist möglicherweise auf neun Monate verkürzt werden könnte. Aber das war ein schwächlicher Anfang, sozusagen die Erstlingsarbeit einer finanziellen Laune, die noch keine Erfahrung gesammelt, keine Lehrzeit und keine Praxis durchgemacht hatte. Diese Hilfen kamen bald, die neunmonatige Frist schwand dahin, und die in der Einbildung gemachte Zehntausenddollaranlage kam im Geschwindschritt mit dreihundert Prozent Gewinn auf dem Rücken heim! Es war ein Freudentag für die Fosters. Sie waren sprachlos vor Freude. Sprachlos auch aus einem anderen Grund: Nachdem Aleck den Geldmarkt lange beobachtet hatte, hatte sie kürzlich mit Furcht und Zittern zum erstenmal einen Zeitkauf an der Börse getätigt und dabei die restlichen zwanzigtausend der Erbschaft in dieses Wagnis gesteckt. Im Geiste hatte sie die Kurse Punkt um Punkt in die Höhe klettern sehen, stets verbunden mit der Gefahr eines Zusammenbruchs des Marktes, bis ihre Angst schließlich zu groß war für ihre Geduld - sie war ja ein
Neuling im Börsengeschäft und noch nicht abgebrüht genug - und sie ihrem imaginären Makler telegrafisch den imaginären Auftrag gab zu verkaufen. Sie erklärte, vierzigtausend Dollar Gewinn seien genug. Der Verkauf erfolgte an dem selben Tag, an dem das Kohlewagnis mit seiner reichen Fracht heimkehrte. Wie bereits gesagt, das Paar war sprachlos. Benommen und glückselig saßen sie an jenem Abend beisammen und versuchten, die ungeheure Tatsache, die überwältigende Tatsache zu begreifen, daß sie nunmehr hunderttausend Dollar in blanker, imaginärer Münze ihr eigen nannten. Und doch war es so. Es war das letztemal, daß Aleck sich vor einem Börsencoup fürchtete, zumindest fürchtete sie sich nicht mehr in dem Maße, daß der Schlaf sie floh und sie mit bleichen Wangen umherlief, wie es bei diesem ersten Versuch, der Fall war. Es war in der Tat ein denkwürdiger Abend. Allmählich senkte sich die Erkenntnis, daß sie reich waren, mit unumstößlicher Gewißheit in ihre Seelen, und dann begannen die beiden das Geld anzulegen. Wäre es uns vergönnt gewesen, mit den Augen dieser Träumer zu schauen, dann hätten wir ihr sauberes Holzhäuschen verschwinden sehen und an seiner Stelle einen zweistöckigen Backsteinbau mit einem gußeisernen Gitter davor erblickt; wir hätten einen dreiflammigen Gaskronleuchter aus der Wohnzimmerdecke wachsen sehen; wir hätten erlebt, daß der einfache Flickenteppich sich in einen echten Brüsseler verwandelte, anderthalb Dollar je Yard im Wert; wir hätten gesehen, daß der einfache Herd einem vornehmen großen Füllofen mit Fischleimfenstern Platz machte, der ringsum Ehrfurcht verbreitete. Und wir hätten auch noch andere Dinge erblicken können, unter ihnen den Einspänner, die Pelzdek-
ke, den Zylinderhut und so weiter. Fortan lebten Aleck und Sally in einem zweistöckigen Backsteinhaus, obgleich die Töchter und die Nachbarn nach wie vor dasselbe alte Holzhaus sahen, und es verging kein Abend, an dem Aleck nicht über die nur in ihrer Vorstellung existierenden Gasrechnungen stöhnte, worauf Sally in seiner unbekümmerten Art nichts Tröstenderes zu antworten wußte als: "Was macht das schon? Wir können es uns doch leisten." Bevor das Ehepaar an jenem ersten Abend seines Reichtums zu Bett ging, hatte es beschlossen, das Ereignis zu feiern. Sie mußten eine Gesellschaft geben - das war ihr Gedanke. Aber wie sollten sie es den Töchtern und Nachbarn erklären? Sie konnten doch nicht die Tatsache preisgeben, daß sie reich waren. Sally wollte es, wenn auch schweren Herzens, tun; aber Aleck widersetzte sich und erlaubte es nicht. Sie erklärte, es sei ratsamer, damit zu warten, bis das Geld tatsächlich eingetroffen wäre, obwohl es natürlich so gut wie da sei. An diesem Standpunkt hielt sie fest und rückte keinen Fingerbreit davon ab. Das große Geheimnis müsse gewahrt bleiben, sagte sie vor den Töchtern und vor allen anderen. Die beiden Ehegatten zerbrachen sich den Kopf. Gefeiert sollte werden. Das stand für sie fest. Aber was konnten sie feiern, da das Geheimnis doch gewahrt bleiben mußte? Ein Geburtstag stand für die nächsten drei Monate nicht bevor. Auf Tilbury war auch kein Verlaß, anscheinend wolle er ewig leben. Was, zum Teufel, konnten sie also feiern? So stellte Sally seine Überlegungen an, und langsam wurde er ungeduldig und gereizt. Aber schließlich traf er das Richtige - eine prächtige Eingebung, wie ihm schien -, und all ihre Sorgen waren im Nu verschwun-
den. Sie würden die Entdeckung Amerikas feiern. Ein glänzender Einfall! Aleck war fast zu stolz auf Sally, um Worte zu finden. Sie meinte, darauf wäre sie nie gekommen. Obwohl Sally vor Freude über dieses Kompliment platzte und voll Bewunderung zu sich selbst aufblickte, ließ er sich nichts anmerken und erklärte, das wäre doch nichts weiter, darauf hätte jeder kommen können. Worauf Aleck mit einem stolzen Kopfnicken sagte: "O gewiß! Jeder - bestimmt jeder! Hosannah Dilkins zum Beispiel? Oder vielleicht Adelbert Peanut. Himmel - ja! Die möchte ich dabei sehen. Ich glaube, die könnten nicht mal an die Entdeckung einer vierzig Morgen großen Insel denken, und nun erst einen ganzen Kontinent, nein, Sally Foster, du weißt genau, die könnten sich anstrengen, bis ihnen der Kopf raucht, dann würde ihnen doch nichts einfallen!" Die liebe Frau, sie wußte, daß er Talent hatte, und wenn die Liebe sie verführte, diese Begabung ein wenig zu überschätzen, dann war das gewiß ein süßes und freundliches und um seines Ursprungs willen verzeihliches Verbrechen.
V
Die Feier verlief großartig. Die Freunde waren vollzählig erschienen, die Jungen wie die Alten. Unter den Jungen sah man Flossie und Gracie Peanut und ihren Bruder Adelbert, der ein aufstrebender Klempnergeselle war, auch Hosannah Dilkins junior, ein Stukkateur, der gerade seine Lehrzeit beendet hatte. Seit vielen Monaten hatten Adelbert und Hosannah für Gwendolin und Klytämnestra
Foster Interesse gezeigt, und die Eltern der Mädchen hatten dies mit heimlicher Genugtuung vermerkt. Aber jetzt erkannten sie plötzlich, daß dieses Wohlwollen geschwunden war. Sie erkannten, daß die veränderte finanzielle Lage eine soziale Schranke zwischen ihren Töchtern und den jungen Handwerkern errichtet hatte. Die Töchter konnten und mußten jetzt höher blicken. Ja, mußten. Sie durften keinen unter einem Rechtsanwalt oder einem Kaufmann heiraten, Papa und Mama würden dafür sorgen; es durfte keine "Mesalliancen" geben. Diese Überlegungen und Pläne waren indessen geheim, sie traten nicht an die Oberfläche und warfen daher keinen Schatten auf das Fest. Zutage trat vielmehr eine heitere und erhabene Zufriedenheit, ein würdiges Verhalten und feierlichernstes Auftreten, das die Bewunderung und auch die Verwunderung der Gesellschaft erzwang. Alle bemerkten es, alle erörterten es, aber keiner war imstande, das Geheimnis, das dahintersteckte, zu erraten. Es war ein Wunder und ein tiefes Geheimnis. Drei verschiedene Personen bemerkten, ohne zu ahnen, wie sehr sie den Nagel auf den Kopf trafen: "Es ist, als seien sie plötzlich wohlhabend geworden." Das war ja in der Tat der Fall. Die meisten Mütter hätten die Eheangelegenheit gewiß in der alten bevormundeten Art betrieben; sie hätten die Mädchen ins Gebet genommen, ein wenig feierlich und taktlos, hätten ihnen eine wohlberechnete Lektion erteilt und damit deren Zwecke zunichte gemacht; Tränen wären geflossen, und es wäre zu einer heimlichen Rebellion gekommen, und besagte Mütter hätten das Geschäft ferner dadurch beeinträchtigt, daß sie die jungen Handwerker ersucht hätten, von ihrem Werben abzulassen. Aber diese
Mutter war anders. Sie dachte nüchtern. Sie sagte nichts zu den betreffenden jungen Leuten, sie sprach überhaupt mit niemandem darüber, außer mit Sally. Er hörte ihr zu und verstand, verstand und bewunderte. Er sagte: "Ich verstehe. Anstatt die ausgestellten Muster zu kritisieren und dadurch Gefühle zu verletzen und den Handel grundlos zu erschweren, bietest du ganz einfach Waren einer höheren Güteklasse für das Geld an und läßt der Natur ihren Lauf. Das ist weise, Aleck, sehr weise und wohldurchdacht. Wer ist der Fisch? Hast du ihn schon ernannt!" Nein, das hatte sie nicht. Sie mußten gemeinsam überlegen - was sie auch taten. Zu Beginn erwogen und erörterten sie Bradish, einen aufstrebenden jungen Rechtsanwalt, und Fulton, einen aufstrebenden jungen Dentisten. Sally mußte sie zum Essen einladen. Aber nicht gleich, es sei keine Eile, sagte Aleck. "Halte ein Auge auf die beiden und warte ab; es schadet nichts, wenn wir in einer so bedeutenden Angelegenheit langsam vorangehen." Es stellte sich heraus, daß auch dies weise war; denn binnen drei Wochen gelang Aleck ein wundervoller Coup, der ihre imaginären hunderttausend in vierhunderttausend umwandelte. An diesem Abend waren sie und Sally im siebenten Himmel. Zum erstenmal gab es Champagner zum Essen. Nicht echten Champagner, aber immerhin echt genug für die Menge Phantasie, die sie darauf verwendeten. Es war Sallys Vorschlag, und Aleck unterwarf sich nachsichtig. Im Grunde waren sie beide verwirrt und beschämt; denn er war ein eingefleischter Guttempler und trug bei Beerdigungen einen Schurz, den kein Hund anblicken konnte, ohne darüber den Verstand zu verlieren, und sie war eine waschechte Blaukreuzlerin von uner-
schütterlicher Tugendhaftigkeit und unerträglicher Helligkeit. Aber das war es gerade; der Stolz auf den Reichtum begann sein zerstörendes Werk. Sie hatten gelebt, um einmal mehr eine traurige Wahrheit zu beweisen, die schon viele Male zuvor auf der Welt bewiesen worden war: daß nämlich die Armut ein sechsmal größerer und edlerer Schutz gegen die Prunksucht und die entwürdigenden Eitelkeiten und Laster ist als der beste Grundsatz. Mehr als vierhunderttausend Dollar besaßen sie! Sie nahmen die Eheangelegenheit wieder in Angriff. Weder der Dentist noch der Rechtsanwalt fanden Erwähnung - es bot sich keine Gelegenheit dazu, sie waren nicht mehr im Rennen. Disqualifiziert. Sie erörterten den Sohn des Schweinezüchters und den Sohn des Dorfbankiers. Aber schließlich kamen sie, wie in dem früheren Fall, zu dem Schluß, zu warten und sich alles genau zu überlegen und vorsichtig zu Werke zu gehen. Abermals war das Glück ihnen hold. Die stets wachsame Aleck erkannte eine große, wenn auch riskante Chance und ergriff sie wagemutig. Es folgte eine Zeit des Bangens und Zagens, des Zweifels und schrecklicher innerer Unruhe; denn Mißerfolg bedeutete nichts weniger als völligen Ruin. Dann kam das Ergebnis, und Aleck, ohnmächtig vor Freude, konnte kaum ihre Stimme zügeln, als sie sagte: "Die Spannung ist vorüber, Sally. Wir sind jetzt eine runde Million wert! Sally weinte vor Dankbarkeit und rief aus: "O Elektra! Du Juwel unter den Frauen, du Stern meines Herzens, endlich haben wir es geschafft, wir schwimmen im Geld, wir brauchen uns nie wieder zu quälen. Es ist ein Fall für die Witwe Cliquot!" Damit goß er sich ein Glas Sprossenbier ein und brachte ein Opfer. Er sagte: "Ver-
dammt, diese Ausgabe!" und sie wies ihm freundlich, mit vorwurfsvollen, aber feucht schimmernden und glücklichen Augen zurecht. Sie warfen den Sohn des Schweinezüchters und den Sohn des Bankiers zum alten Eisen und setzten sich nieder, um den Sohn des Gouverneurs und den Sohn des Kongreßabgeordneten in Erwägung zu ziehen.
VI
Es wäre allzu ermüdend, wollten wir all die kleinen und großen Sprünge, die die erdichteten Finanzen der Fosters fortan machten, ausführlich verfolgen. Es war wunderbar, schwindelerregend und betäubend. Alles, was Aleck berührte, verwandelte sich in märchenhaftes Gold und türmte sich glitzernd bis an das Firmament. Millionen über Millionen strömten herein, und noch immer floß der mächtige Strom mit Donnergetöse dahin, noch immer schwoll er an. Fünf Millionen - zehn Millionen - zwanzig dreißig - und noch immer war kein Ende abzusehen. Zwei Jahre jagten in einem rasenden Tempo vorüber. Die berauschten Fosters merkten kaum die Flucht der Zeit. Nun waren sie schon dreihundert Millionen Dollar schwer; sie saßen in jedem Aufsichtsrat aller führenden Trusts des Landes, und im Laufe der Zeit wuchsen die Millionenstapel weiter an, einmal fünf, ein andermal zehn, fast ebenso rasch, wie sie zählen konnten. Die dreihundert Millionen verdoppelten sich - dann verdoppelten sie sich noch einmal - und noch einmal. Zwei Milliarden vierhundert Millionen! Die Geschäfte wurden ein wenig unübersichtlich. Es war nötig, ein Verzeichnis aller Kapitalien anzulegen und sie in
Ordnung zu bringen. Die Fosters wußten es, sie fühlten es, sie sahen ein, daß es unbedingt notwendig war; aber sie wußten auch, daß diese Aufgabe, wenn sie einmal in Angriff genommen wurde, ohne Unterbrechung bis zu Ende durchgeführt werden mußte. Eine zehnstündige Arbeit, und wo sollten sie zehn Mußestunden auf einmal hernehmen? Sally verkaufte den ganzen Tag und jeden Tag Nadeln und Zucker und Kaliko; Aleck kochte und spülte Geschirr und fegte aus und machte Betten den ganzen Tag und jeden Tag, ohne eine Hilfe zu haben, denn die Töchter, die in die oberen Zehntausend aufsteigen sollten, wurden geschont. Die Fosters wußten, daß es eine und nur eine Möglichkeit gab, die zehn Stunden zu finden. Sie schämten sich beide, sie beim Namen zu nennen. Jeder wartete, daß der andere es täte: Schließlich sagte Sally. "Einer muß nachgeben. Es ist an mir. In Anbetracht der Tatsache, daß ich sie bereits beim Namen genannt habe, mach dir nichts daraus, sie auch laut auszusprechen." Aleck verfärbte sich, aber sie war dankbar. Ohne weitere Bemerkung strauchelten sie. Strauchelten und - brachen den Sabbat. Denn dies war der einzige Tag, an dem sie zehn Stunden hintereinander für sich Zeit hatten. Damit war ein weiterer Schritt auf dem Pfad in die Tiefe getan. Andere würden folgen. Unermeßlicher Reichtum birgt Verlockungen in sich, die die Moral der nicht an seinen Besitz gewöhnten Menschen mit Gewißheit in unheilvoller Weise untergraben. Sie ließen die Jalousien herunter und brachen den Sabbat. In harter und geduldiger Arbeit überprüften sie ihren Aktienbesitz und hielten ihn auf einer Liste fest. Und es war eine lange Prozession hochtrabender Namen! Beginnend mit den Railway Systems, Steamer Lines, Standard
Oil, Ocean Cables, Diluted Telegraph und allen übrigen bis zu Klondike, De Beers, Tammany Graft und Shady Privileges der Oberpostverwaltung. Zwei Milliarden vierhundert Millionen, alles in mündelsicheren Wertpapieren angelegt und hohe Zinsen tragend. Einkommen: hundertzwanzig Millionen Dollar im Jahr. Aleck ließ ein langgezogenes, wonneseliges Schnurren hören und sagte:
"Ist das genug?" "Ja, Aleck." "Was sollen wir tun?" "Mit dem Erreichten zufrieden sein." "Uns von den Geschäften zurückziehen?" "So ist es." "Ich bin einverstanden. Das Werk ist getan. Wir wollen uns zur Ruhe setzen und uns an dem Geld freuen."
"Gut. Aleck!" "Ja, Schatz?" "Wieviel können wir von dem Einkommen ausgeben?" "Alles." Es schien ihrem Mann, als fiele ihm eine Zentnerlast vom Herzen. Er sagte kein Wort; er war über alle Mäßen glücklich. Von nun an brachen sie auch alle folgenden Ruhetage des Herrn, nur der erste Schritt vom Wege verursacht Herzklopfen. Sie erfanden jetzt jeden Sonntag nach dem Morgengottesdienst neue Möglichkeiten, das Geld auszugeben. Diese ergötzliche Zerstreuung setzten sie gewöhnlich bis nach Mitternacht fort, und bei jeder Sitzung verschwendete Aleck Millionen für große Werke der Nächstenliebe und fromme Unternehmungen, und Sally vergeudete ähnliche Summen für Dinge, denen er (anfangs) bestimmte Namen gab. Nur zuerst. Später verloren die Namen allmählich an Schärfe, und schließlich lösten sie sich in "Diverses" auf und wurden so gänzlich, aber sicher unfaßbar. Denn Sally geriet auf die schiefe Ebene. Die Unterbringung all dieser Millionen erhöhte ernstlich und höchst fühlbar die Ausgaben der Familie - für Talgkerzen. Eine Zeitlang war Aleck bekümmert. Aber schon nach kurzer Zeit hörte sie auf, sich Gedanken zu machen, denn es bestand kein Anlaß mehr dazu. Sie härmte sich, sie grämte sich, sie schämte sich; aber sie sagte nichts und trat in den Hintergrund. Sally stahl Kerzen im Geschäft. So geht es immer. Unermeßlicher Reichtum wird dem Menschen, der nicht an ihn gewöhnt ist, zum Verderben; er frißt sich wie Gift immer tiefer in das Mark seiner sittlichen Anschauungen ein. Als die Fosters arm waren, hätte man ihnen ungezählte Kerzen anvertrauen können.
Jetzt dagegen . Doch verweilen wir nicht länger dabei. Von Kerzen zu Äpfeln ist nur ein Schritt: Sally fing an, Äpfel zu stehlen, dann Seife, dann Ahornzucker, dann Konserven, dann Steingutgeschirr. Wie leicht geht es mit uns bergab, wenn wir einmal die schiefe Bahn betreten haben! Inzwischen hatten neue Erfolge weitere Meilensteine an dem steilen Weg des glänzenden Finanzmarsches der Fosters errichtet. Der fiktive Backsteinbau hatte einem imaginären Granitbau mit einem schachbrettartigen Mansardendach Platz gemacht; nach einer Weile verschwand auch dieser und machte einem noch stattlicheren Hause Platz - und so ging es weiter und weiter. Ein Herrenhaus nach dem anderen aus Luft gebaut, erhob sich, höher, größer, vornehmer als das vorige, und jedes verschwand wieder zu seiner Zeit, bis unsere Träumer jetzt, in diesen erregenden Tagen, in einer fernen Gegend in einem prunkvollen Palast wohnten, der sich auf einem waldreichen Berggipfel erhob, von dem der Blick weithin über liebliche Täler und Flüsse schweifte bis zu den in der Ferne verschwimmenden Bergkämmen. Und all dies Privatbesitz, alles Eigentum der Träumer, ein Palast, in dem es von livrierten Dienern wimmelte und in dem berühmte und mächtige Gäste aus allen Hauptstädten der Welt ein und aus gingen. Dieser Palast lag weit, weit gegen Sonnenaufgang, in unermeßlicher Ferne, in astronomischer Ferne, in Newport, Rhode Island, dem Heiligen Land der oberen Zehntausend, in der unaussprechlichen Domäne der amerikanischen Geldaristokratie. In der Regel verbrachten sie jeden Sabbat einige Stunden - gleich nach dem Frühgottesdienst - in diesem prächtigen Heim, die übrigen Stunden in Europa oder auf ihrer Privatjacht auf dem Meer.
Sechs Tage lang nüchterner Alltag und rauhe Wirklichkeit am Rande von Lakeside, wo sie sich nach der Decke strecken mußten, aber den siebenten verbrachten sie im Märchenland - so war es ihnen zur Gewohnheit geworden. In ihrem streng geregelten Alltagsleben blieben sie wie früher arbeitsame, fleißige, bedachtsame, nüchterne und sparsame Leute. Sie standen treu zu der kleinen presbyterianischen Kirche, setzten sich für deren Interessen ein und hielten mit all ihren seelischen und geistigen Fähigkeiten an ihren hohen und schwierigen Lehren fest. Aber in ihrem Traumleben folgten sie den Weisungen ihrer schweifenden Phantasie, wie immer sie geartet waren und wie oft sie auch wechseln mochten. Alecks Launen waren nicht sehr sprunghaft und nicht häufig; aber Sally vergeudete mit den seinen viel Geld. Aleck trat in ihrem Traumleben in das Lager der Episkopalkirche über, vor allem hatten es ihr die klingenden Titel angetan; dann wurde sie ein Glied der Hochkirche, wegen der Kerzen und des Schaugepränges, und schließlich trat sie natürlich zum Katholizismus über, wo es Kardinale und noch mehr Kerzen gab. Aber diese Abstecher waren nichts im Vergleich zu Sallys. Sein Traumleben war eine glühende, fortgesetzte und nachhaltige Erregung, und er hielt jeden Teil davon durch häufige Wechsel frisch und funkelnd, den religiösen Teil und alles übrige. Er strapazierte seine Religionen und wechselte sie wie sein Hemd. Die großzügigen Aufwendungen der Fosters für die Einfalle ihrer Phantasie begannen früh, kaum daß sie zu Wohlstand gelangt waren, und sie nahmen mit ihrem fortschreitenden Reichtum Schritt für Schritt verschwenderische Ausmaße an. Allmählich verschlangen sie ge-
waltige Summen. Aleck baute jeden Sonntag ein, zwei Universitäten, ferner ein, zwei Hospitäler, ferner ein oder mehrere Rowton-Hotels und unzählige Kirchen, hin und wieder eine Kathedrale - und einmal sagte Sally mit unpassender und ungeziemter Ausgelassenheit: "Es war ein kalter Tag, wenn sie keine Schiffsladung Missionare in das ferne China sandte, um die gedankenlosen Chinesen zum Tausch ihres vierundzwanzigkarätigen Konfuzianismus [Weltanschauung und Soziallehre des chinesischen Philosophen und Staatsmannes Konfutse] gegen das falsche Christentum zu überreden." Diese rohe und gefühllose Sprache verletzte Aleck im Innersten, und sie lief weinend aus dem Zimmer. Dieser Anblick traf wiederum Sally mitten ins Herz, und in seiner Qual und Scham hätte er alles dafür hingegeben, jene unfreundlichen Worte zurückzunehmen. Sie hatte keine Silbe des Vorwurfs geäußert - und das schnitt ihm ins Herz. Keinen einzigen Hinweis, daß er sich um seine eigene Vergangenheit kümmern sollte - und dabei hätte sie so viele und so giftige machen können! Ihr großmütiges Schweigen brachte eine schnelle Rache, denn es wandte seine Gedanken gegen ihn selber, es ließ eine gespensterhafte Prozession an ihm vorüberziehen, eine bewegende Vision seines Lebens, wie er es in den vergangenen Jahren grenzenlosen Reichtums geführt hatte, und während er dort saß und darauf zurückblickte, brannten seine Wangen, und seine Seele versank in Erniedrigung. Er blickte auf ihr Leben - wie schön es war, und stets strebte es aufwärts. Und dann blickte er wieder auf sein eigenes - wie wertlos, wie leer und eitel, wie selbstsüchtig, wie schändlich! Und sein Streben - niemals aufwärts, sondern abwärts, immer abwärts!
Er stellte Vergleiche zwischen ihrer und seiner eigenen Vergangenheit an. Er hatte sie kritisiert, so überlegte er er! Und was konnte er für sich anführen? Was hatte er getan, als sie ihre erste Kirche erbaute? Er hatte andere blasierte Multimillionäre in einem Pokerklub gesammelt; damit schändete er seinen eigenen Palast; er verspielte Hunderttausende bei jeder Zusammenkunft und brüstete sich obendrein noch albern damit und sonnte sich in seinem Ruhm. Was hatte er getan, als sie ihre erste Universität errichtete? Er besudelte sich durch ein heimliches Leben in Saus und Braus in Gesellschaft anderer Leichtfüße, Multimillionäre und charakterloser Gesellen. Was hatte er getan, als sie ihr erstes Findelhaus erbaute? Ach! Was hatte er getan, als sie ihre edle Gesellschaft zur Läuterung der Geschlechtsbeziehungen plante? Ach, was, was? Was hatte er getan, als sie und die Damen vom Blaukreuzverein und die Frau mit der Axt unaufhaltsam vorrückten und die verhängnisvolle Flasche an Land fischten? Dreimal am Tag hatte er sich betrunken. Und was hatte er getan, als sie, die Erbauerin von hundert Kathedralen, im päpstlichen Rom dankbar willkommen geheißen und gesegnet und mit der Goldenen Rose ausgezeichnet wurde, die sie ehrlich verdient hatte? Er hatte die Bank von Monte Carlo gesprengt. Er hielt inne. Er konnte nicht weiter; er konnte das übrige nicht ertragen. Er stand auf, eine große Entschlossenheit auf den Lippen: Sein heimliches Leben sollte enthüllt und gebeichtet werden. Nicht länger wollte er es heimlich leben; er wollte hingehen und ihr alles erzählen. Und das tat er. Er erzählte ihr alles und weinte an ihrem Herzen; er weinte und stöhnte und bettelte um Vergebung. Es war ein schwerer Schlag für sie, und sie taumelte, aber
er war ihr ein und alles, die Freude ihres Herzens, ihre Augenweide; sie konnte ihm nichts abschlagen, und so verzieh sie ihm. Sie fühlte, daß er ihr nie wieder ganz das sein würde, was er ihr vorher gewesen war. Sie wußte, daß er nur bereuen, nicht aber sich bessern konnte; doch so tiefer auch moralisch gesunken und verkommen war, war er nicht ihr eigen, ihr ein und alles, der Abgott ihrer unsterblichen Verehrung? Sie nannte sich seine Magd, seine Sklavin, und sie öffnete ihr verlangendes Herz und nahm ihn wieder an.
VII
Kurze Zeit darauf segelten sie eines Sonntagnachmittags auf ihrer Traumjacht über die sommerlichen Meere und rekelten sich faul unter dem Sonnensegel des Achterdecks. Es herrschte Schweigen, denn jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Seit kurzem machten sich diese Perioden des Schweigens unmerklich immer häufiger zwischen ihnen breit; die alte Nähe und Herzlichkeit war im Schwinden. Sallys schreckliche Enthüllung hatte ihr Werk getan. Aleck hatte immer wieder versucht, die Erinnerung daran aus ihrem Bewußtsein zu löschen, aber es wollte ihr nicht gelingen, und Scham und Bitterkeit vergifteten ihr anmutiges Traumleben. Jetzt (an den Sonntagen) erkannte sie, daß ihr Mann ein aufgeblasener und abstoßender Geselle war. Sie konnte ihre Augen nicht verschließen, und in diesen Tagen, an den Sonntagen, blickte sie nicht länger zu ihm hin, wenn es nicht unbedingt sein mußte. Aber sie - war sie selber ohne Makel? Ach, sie wußte, daß sie es nicht war. Sie verbarg ein Geheimnis vor ihm, sie handelte schimpflich an ihm, und es kostete sie man-
chen Gewissensbiß. Sie brach den Pakt und hielt es vor ihm geheim. Die Verlockung war allzu groß gewesen, und so war sie hinter seinem Rücken wieder ins Geschäft gestiegen; sie hatte ihr gesamtes Vermögen für den Ankauf aller Eisenbahnlinien und Kohle- und Stahlgesellschaften des Landes riskiert, und nun zitterte sie in jeder Stunde des Sabbats, daß er es durch irgendein unbedachtes Wort von ihrer Seite herausbekommen könnte. In ihrer Not und Reue über diesen Verrat konnte sie nicht verhindern, daß ihr Herz sich ihm in Mitleid auf tat; Gewissensbisse quälten sie, wenn sie ihn dort betrunken und zufrieden und ohne Argwohl - ihr vollkommen und rückhaltlos vertrauend - liegen sah, während es an einem seidenen Faden hing, ob sie einen möglichen Zusammenbruch von so vernichtenden Ausmaßen heraufbeschworen hatte . "Hör mal, Aleck!" Die Unterbrechung brachte sie plötzlich wieder zu sich selber. Sie war froh, diesen sie peinigenden Gegenstand für einen Augenblick los zu sein, und sie antwortete mit fast ebensoviel Zärtlichkeit in ihrer Stimme wie einst: "Ja, Schatz?" "Weißt du, Aleck, ich glaube, wir machen einen Fehler - das heißt, du machst ihn. Ich meine in der Heiratsangelegenheit." Er setzte sich auf, fett und froschäugig und wohlwollend wie ein Buddha aus Bronze, und wurde ernst: "Bedenk doch - das geht nun schon mehr als fünf Jahre so. Du hast von Anfang an die gleiche Taktik verfolgt: Mit jedem Steigen der Aktien gehst du fünf Punkte höher. Immer wenn ich denke, jetzt werden wir eine Hochzeit haben, siehst du wieder eine größere Sache vor dir, und ich erlebe eine neue Enttäuschung. Ich finde, du bist zu anspruchsvoll. Eines Tages läßt man uns links
liegen. Zuerst wiesen wir den Dentisten und den Rechtsanwalt ab. Das war auch richtig so - es war vernünftig. Danach wiesen wir den Bankierssohn und den Erben des Schweinezüchters ab - was wiederum richtig und vernünftig war. Dann wiesen wir den Sohn des Kongreßabgeordneten und den Sohn des Gouverneurs ab. Auch dagegen läßt sich nichts sagen, das gebe ich zu. Dann den Sohn des Senators und den Sohn des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten - vollkommen richtig, solche Ämter sind nicht von Dauer. Dann hatte es dir die Aristokratie angetan, und ich dachte, wir wären endlich am Ziel - ja. Ich dachte, wir würden uns auf die vierhundert stürzen und zu irgendeinem alten, ehrwürdigen, heiligen, unaussprechlichen Geschlecht mit einem hundertfünfzig Jahre alten Namen Verbindung aufnehmen, zu einem Geschlecht, dessen Vorfahren nach Stockfisch und Rohfellen rochen und das sich seitdem durch tägliche Arbeit davon gereinigt hat, und dann, nun ja, dann natürlich die Hochzeiten! Aber nein, schon kommen zwei echte Aristokraten aus Europa, und sofort wirfst du die Halbbürtigen über Bord. Es war schrecklich entmutigend, Aleck! Und was für eine Prozession seither! Du lehntest die Baronets zugunsten zweier Barone ab; du lehntest die Barone zugunsten zweier Viscounts ab, die Viscounts zugunsten zweier Grafen, die Grafen zugunsten zweier Marquis, die Marquis zugunsten zweier Herzöge. Jetzt, Aleck, mach Schluß! Alles hat seine Grenzen. Du hast vier Herzöge unter dem Hammer, aus vier verschiedenen Nationen, alle gesund an Seele und Gliedern und Stammbaum, alle bankrott und bis über die Ohren verschuldet. Sie kommen uns teuer zu stehen, aber wir können es uns ja leisten. Zögere nicht länger, Aleck, nimm die Spannung von uns. Laß sie alle vier erscheinen
und die Mädchen ihre Wahl treffen." Aleck hatte während dieser langen Anklagerede gegen ihre Heiratspolitik gütig und zufrieden gelächelt; in ihre Augen trat ein freundliches, gleichsam triumphierendes Leuchten, vielleicht von einer leisen Überraschung gemildert, und sie sagte, so ruhig sie konnte: "Sally, was würdest du zu einem - Prinzen aus königlichem Geblüt sagen?"
Wunderbar! Der Ärmste, es warf ihn glattweg um, er fiel über den Kielgang und schlug mit dem Schienbein gegen den Kranbalken. Er war für einen Augenblick betäubt, dann richtete er sich mühsam auf und humpelte voran und setzte sich neben seine Frau und strahlte sie mit einer früheren Bewunderung und Zuneigung aus seinen plierigen Augen an. "Bei Gott!" sagte er inbrünstig. "Aleck, du bist großartig - du bist die großartigste Frau auf der ganzen Erde! Ich
lerne bei dir nie aus. Ich kenne die unergründlichen Tiefen deines Innern noch immer nicht. Und dabei habe ich mich für berechtigt gehalten, an deinem Spiel Kritik zu üben. Ich! Wenn ich länger nachgedacht hätte, wäre ich dahintergekommen, daß du noch einen besonderen Plan in petto hattest. Ich brenne vor Ungeduld, geliebtes Herz, erzähle mir alles!" Die geschmeichelte, glückliche Frau legte ihre Lippen an sein Ohr und flüsterte einen fürstlichen Namen. Da hielt er den Atem an, und sein Gesicht leuchtete vor Frohlocken. "Himmel!" sagte er. "Das ist eine glänzende Partie! Er besitzt eine Spielhölle und einen Friedhof und einen Bischof und eine Kathedrale - alles sein Eigentum. Und lauter mündelsichere Aktien, die fünfhundert Prozent abwerfen. Das sauberste kleine Besitztum in Europa. Und der Friedhof ist der vornehmste auf der Welt: nur Selbstmörder werden dort zugelassen; jawohl, und die Freiliste wird immer länger. Viel Land gehört freilich nicht zu dem Fürstentum, aber es genügt: achthundert Morgen der Friedhof und zweiundvierzig außerhalb. Es ist ein Herrschaftsgebiet - das ist die Hauptsache. Land ist nicht so wichtig, Land gibt es genug, die ganze Sahara ist voll davon." Aleck errötete; sie war unsagbar glücklich. Sie sagte: "Denk doch nur, Sally - es ist eine Familie, die niemals außerhalb der europäischen Königs- und Kaiserhäuser geheiratet hat. Unsere Enkel werden auf Thronen sitzen!" "Gewiß, Aleck, und Zepter tragen, und sie werden so natürlich und nachlässig damit umgehen wie ich mit einem Spazierstock. Es ist ein großartiger Fang, Aleck. Hast du ihn an der Kette? Kann er uns auch nicht mehr entwischen? Ist er auch kein unsicherer Kantonist?"
"Nein. Du kannst dich ganz auf mich verlassen. Er zählt nicht zu den Passiva, er zählt zu den Aktiva. Der andere übrigens auch." "Wer ist es, Aleck?" "Seine Königliche Hoheit Prinz Siegismus Siegfried Lauenfeld-Dinkelspiel-Schwartzenberg-Blutwurst, Erblicher Großherzog von Katzenjammer." "Nein! Ist das wirklich dein Ernst?" "Aber ja! So wahr ich hier sitze, ich gebe dir mein Wort", antwortete sie. Das war zuviel, er drückte sie vor Entzücken an sein Herz und sagte: "Wie wunderbar das alles klingt, wie schön! Es ist eins der ältesten und edelsten der dreihundertvierundsechzig ehemaligen deutschen Duodezfürstentümer und eins der wenigen, denen gestattet wurde, ihren Fürstenrang beizubehalten, als Bismarck daranging, mit eisernem Besen unter ihnen aufzuräumen. Ich kenne die Farm, ich bin selber dagewesen. Sie besitzt eine Reeperbahn und eine Kerzenfabrik und ein Heer. Ein stehendes Heer. Infanterie und Kavallerie. Drei Soldaten und ein Pferd. Aleck, es hat lange gedauert, und die lange Wartezeit hat mir viel Herzeleid bereitet und manche Hoffnung zerstört; aber weiß Gott, jetzt bin ich glücklich. Glücklich und dankbar, dir dankbar, mein Lieb, die du das alles getan hast. Wann ist es soweit?" "Nächsten Sonntag." "Gut. Und wir wollen diese Hochzeiten in dem allerköniglichsten Stil ausrichten. Das sind wir schon dem königlichen Rang des ersten Freiers schuldig. Meiner Meinung nach gibt es nur eine Art Ehe, die königlichen Herrschaften heilig ist, die ausschließlich königlichen Herrschaften zusteht: das ist die morganatische [Ehe zur linken Hand]."
"Weshalb nennt man sie so, Sally?" "Ich weiß nicht, aber jedenfalls ist sie königlich und nur königlich." "Dann wollen wir darauf bestehen. Mehr noch - ich werde sie erzwingen. Es wird eine morganatische Ehe sein oder gar keine." "Das entscheidet die Sache!" sagte Sally und rieb sich vor Freude die Hände. "Und es wird die allererste in Amerika sein, Aleck, Newport wird vor Neid erblassen." Dann verstummten sie und trieben auf ihren Traumschwingen in die entlegensten Gebiete der Erde, um alle gekrönten Haupter samt ihren Familien einzuladen. Die Reisekosten gingen natürlich auf ihre Rechnung.
VIII
Drei Tage lang waren sie im siebenten Himmel. Sie schwebten in höheren Regionen, sie nahmen ihre Umgebung kaum noch wahr und sahen alle Dinge verschwommen, wie durch einen Schleier; sie waren in Träumen versunken; oft hörten sie nicht, wenn man sie ansprach, oft verstanden sie nicht, wenn sie hörten; sie antworteten verworren oder aufs Geratewohl. Sally verkaufte Sirup nach Litern, Zucker nach Yard und legte Seife auf den Tisch, wenn Kerzen verlangt wurden, und Aleck legte die Katze in den Waschzuber und fütterte die schmutzige Wäsche mit Milch. Jeder war entsetzt und erstaunt und murmelte: "Was ist bloß mit den Fosters los?" Drei Tage. Dann traten neue Ereignisse ein! Die Dinge hatten eine glückliche Wendung genommen, und achtundvierzig Stunden lang erlebte Alecks imaginäres Riesengeschäft eine atemberaubende Hausse. Aufwärts - aufwärts immer weiter aufwärts! Fünf Punkte Überpreis - dann
zehn - fünfzehn - zwanzig! Zwanzig Punkte runder Profit bei dem gewagten Spekulationsunternehmen, und Alecks imaginäre Makler riefen wie besessen über imaginäre Fernsprecher: "Verkaufen! Verkaufen! Um Himmels willen verkaufen!" Sie teilte Sally die glänzende Nachricht mit, und auch er sagte: "Verkaufe! Verkaufe! Oh, mach jetzt keinen Fehler, und dir gehört die Erde! Verkaufe, verkaufe!" Aber sie setzte ihren eisernen Willen durch und sagte, fünf Punkte wolle sie noch abwarten, und sollte es ihr das Leben kosten. Es war ein verhängnisvoller Entschluß. Schon am nächsten Tag kam es zu dem historischen Krach, dem Riesenkrach, dem verheerenden Börsenkrach, als Wallstreet den Boden unter den Füßen verlor und die gesamten mündelsicheren Aktien innerhalb von fünf Stünden um fünfundneunzig Punkte fielen und man den Millionär in Bowery Street um sein Brot betteln sehen konnte. Aleck ließ nicht locker und bot an, solange sie konnte, aber schließlich kam ein Fernruf, auf den sich nichts mehr erwidern ließ, und ihre imaginären Makler räumten. Dann erst und keinen Augenblick früher war der Mann in ihr besiegt, und die Frau in ihr kam wieder zum Vorschein. Sie schlang die Arme um den Nacken ihres Mannes und weinte. "Mich allein trifft die Schuld, verzeih mir nicht, ich kann es nicht ertragen. Wir sind bettelarm! Bettelarm und ich bin so unglücklich. Die Hochzeiten werden nie stattfinden, all das gehört der Vergangenheit an. Jetzt könnten wir nicht einmal mehr den Dentisten kaufen." Ein bitterer Vorwurf kam auf Sallys Zunge: Ich bat dich doch, zu verkaufen, aber du -! Doch er sprach ihn nicht aus; er brachte es nicht übers Herz, dieser gebrochenen
und reuigen Seele neues Leid zuzufügen. Ein edlerer Gedanke kam ihm, und er sagte: "Kopf hoch, Aleck! Es ist nicht alles verloren! In Wirklichkeit hast du noch keinen Penny von der Erbschaft meines Onkels angelegt, sondern nur mit ihren künftigen Zinsen spekuliert. Was wir verloren, war nur der Mehrertrag, den wir dank deinem unvergleichlichen finanziellen Urteil und Scharfblick aus jenen künftigen Zinsen herausgeholt haben. Laß den Kopf nicht hängen, verbanne den Kummer! Die dreißigtausend sind noch unangetastet. Denk doch nur, was du auf Grund der gewonnenen Erfahrung in ein paar Jahren daraus wirst machen können! Die Hochzeiten sind nicht aufgehoben, sie sind nur aufgeschoben." Dies waren beglückende Worte. Aleck erkannte, wie wahr sie waren, und ihr Einfluß wirkte elektrisierend; ihre Tränen hörten auf zu fließen, und ihr großer Geist setzte bereits wieder zum Höhenflug an. Mit blitzendem Auge und dankbarem Herzen, die Hand zum Schwur und zur Prophezeiung erhoben, erklärte sie: "Jetzt und hier verkünde ich ." Aber da wurde sie von einem Besucher unterbrochen. Es war der Redakteur und Eigentümer des "Sagamore". Er war nach Lakeside gekommen, um seiner fast vergessenen Großmutter, die sich dem Ende ihrer irdischen Pilgerfahrt näherte, einen Pflichtbesuch abzustatten, und in der Absicht, das Geschäftliche mit dem Kummer zu verbinden, war er bei den Fosters aufgetaucht, die in den vergangenen vier Jahren so ausschließlich mit anderen Dingen beschäftigt gewesen waren, daß sie darüber vergessen hatten, ihr Abonnement zu bezahlen. Sechs Dollar genau. Kein Besucher hätte willkommener sein können. Er würde alles über
Onkel Tilbury wissen, wie es um seine Übersiedlung auf den Friedhof stand. Sie konnten natürlich keine Fragen stellen, denn das hätte gegen die Bestimmung im Vermächtnis verstoßen, aber sie konnten sich vorsichtig an den Gegenstand herantasten und Ergebnisse erhoffen. Der Plan funktionierte nicht. Der schwerfällige Zeitungsmann merkte nicht, worauf sie hinauswollten; doch schließlich vollbrachte der Zufall, was Schlauheit nicht vermocht hatte. Zur Erläuterung eines bestimmten Punktes des Gesprächs, der die Hilfe eines Vergleichs erforderlich machte, sagte der Redakteur: "Himmel, das ist so zäh wie Tilbury Foster! - wie wir sagen." Es kam ganz plötzlich und ließ die Fosters auffahren. Der Redakteur bemerkte es und sagte versöhnlich:
"Es war nicht böse gemeint, ich schwöre Ihnen. Es ist nur so eine Redensart, ein Scherz, wissen Sie - ohne Hintergedanken. Ein Verwandter von Ihnen?"
Sally unterdrückte seine brennende Ungeduld und entgegnete mit möglichster Gleichgültigkeit: "Ich ., nicht daß ich wüßte, aber wir haben schon von ihm gehört." Der Redakteur war erfreut und erlangte seine Fassung wieder. Sally fügte hinzu: "Geht es ., geht es ihm gut?" "Gut? Hol's der Kuckuck, er ist seit fünf Jahren unter der Erde!" Die Fosters zitterten vor Kummer, obgleich es eher wie Freude aussah. Sally sagte zurückhaltend - und versuchsweise: "Ja, ja, so ist das Leben. Keiner kann dem Tod entrinnen - nicht einmal die Reichen werden verschont." Der Redakteur lachte. "Wenn Sie Tilbury meinen sollten", sagte er, "so trifft das nicht zu. Er war arm wie eine Kirchenmaus; die Gemeinde mußte ihn begraben." Die Fosters saßen zwei Minuten wie versteinert da, versteinert und kalt. Dann fragte Sally mit schwacher Stimme, und sein Gesicht war totenbleich: "Ist das wahr? Wissen Sie es ganz bestimmt?" "Und ob das wahr ist! Ich war einer der Testamentsvollstrecker. Er hinterließ nichts als eine Schubkarre, und die vermachte er mir. Sie hatte kein Rad mehr und war zu nichts mehr nütze. Immerhin, es war doch etwas, und so schrieb ich, um mich erkenntlich zu zeigen, einen kurzen Nachruf auf ihn, der aber wegen Platzmangels nicht veröffentlicht wurde." Die Fosters hörten nicht mehr zu - das Maß war voll, es ging nichts mehr hinein. Sie saßen mit gesenkten Köpfen da, unempfindlich gegen alles, außer dem Schmerz in ihren Herzen.
Eine Stunde später. Sie saßen noch immer dort, gebeugt, regungslos, schweigend. Der Besucher war lange fort, sie hatten es nicht bemerkt. Dann rührten sie sich, hoben müde die Köpfe und blickten einander nachdenklich, verträumt, benommen an; plötzlich begannen sie sinnloses, kindisches Zeug zu plappern. Hin und wieder fielen sie in Schweigen, ließen einen Satz unbeendet, ohne sich anscheinend dessen bewußt zu werden, oder verloren den Faden. Manchmal, wenn sie aus solchem Schweigen erwachten, hatten sie eine verschwommene und flüchtige Empfindung, daß ihren Gemütern etwas zugestoßen sei; dann streichelten sie einander in dumpfer und sehnsüchtiger Besorgtheit sanft die Hände, wie um sich gegenseitig zu bemitleiden und zu trösten, als wollten sie sagen: Ich bin bei dir, ich lasse dich nicht im Stich. Wir wollen es gemeinsam tragen. Irgendwo ist Erlösung und Vergessen, irgendwo ist ein Grab und Friede; sei geduldig, es dauert nicht mehr lange. Zwei Jahre lebten sie noch, geistig umnachtet, immer dumpf vor sich hin brütend, in reuevolle und schwermütige Träumereien versunken, niemals sprechend. Dann wurden sie beide an demselben Tag erlöst. Als das Ende nahte, hob sich für einen Augenblick die Dunkelheit von Sallys verwirrtem Gemüt, und er sagte: "Großer Reichtum, plötzlich und mit verderblichen Mitteln erworben, ist eine Fallgrube. Er hat uns nichts Gutes gebracht, flüchtig waren seine fiebrigen Freuden; dennoch haben wir ihm zuliebe unser köstliches und einfaches und glückliches Leben weggeworfen. Möge es anderen als warnendes Beispiel dienen!" Er lag eine Weile mit geschlossenen Augen da und
schwieg; dann, als die Todeskälte nach seinem Herzen kroch und das Bewußtsein ihm schwand, flüsterte er: "Das Geld hatte ihn ins Elend gestürzt, und er rächte sich an uns, die wir ihm kein Leid getan hatten. Er hatte nur den einen Wunsch, uns mit gemeiner und arglistiger Berechnung bloß dreißigtausend zu hinterlassen, weil er wußte, daß wir versuchen würden, sie zu vermehren, und so unser Leben ruinieren und unsere Herzen verstocken mußten. Ohne Mehrkosten hätte er uns weit mehr vermachen können, so daß wir nie das Verlangen gehabt hätten, immer reicher zu werden, nie der Verlockung verfallen wären zu spekulieren. So hätte eine gütigere Seele gehandelt; aber in ihm war keine edelmütige Seele, kein Mitleid, kein ."
Heft 457 Boris Nikolski Das Risiko
Eines Tages erscheint Julia nicht wie sonst zum Treffen. Wo immer Erik auch nachfragt, er erhält keine Antwort. Schließlich erfährt er, daß sie sich für einen Einsatz im Kosmos gemeldet hat. Doch in der Schleusenzone ist eine Panne passiert, der Kontakt zu Julias Team ist unterbrochen, die Menschen sind in Lebensgefahr, und der technische Prozeß ist nicht mehr aufzuhalten. Trotz des Verbots dringt Erik in die Gefahrenzone vor.