Die Ehe auf Abbruch
Roman von Leni Behrendt
Die Morgensonne spiegelte sich in der Kristallvase, daß sie funkelte und ...
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Die Ehe auf Abbruch
Roman von Leni Behrendt
Die Morgensonne spiegelte sich in der Kristallvase, daß sie funkelte und sprühte, sie überflutete die Rosen, die in ihr dufteten, huschte über die Gedecke und schien überhaupt eifrig bemüht zu sein, das ganze Gemach mit ihren goldenen Strahlen zu durchdringen. Die beiden Menschen, die ihr Frühstück beendet hatten, griffen nun nach den Briefen, die der Diener neben die Gedecke gelegt hatte. Wohltuend empfanden sie dabei die Stille, die nur von dem geruhsamen Tick-Tack der Standuhr, dem Summen der Kaffeemaschine und den Schnarchtönen des Dackels Schalk, der auf einem weichen Sessel sein Schläfchen hielt, unterbrochen wurde. Lächelnd las Gräfin Liane den Brief, der von einer Freundin stammte. Man sah der Dame ihre fünfundfünfzig Jahre nicht an, obgleich das dunkelblonde Haar bereits von Silberfäden durchwoben war. Es machten wohl das feine, faltenlose Antlitz und die märchenhaft schlanke Figur, die diese Frau so jung und immer noch schön erscheinen ließen. Jedenfalls war Harro Regglin sehr stolz auf seine Stiefmutter, die es wiederum auf ihren großen Jungen sein konnte. Denn er verfügte über eine blendende Erscheinung, der er die Gunst der Damenwelt zu verdanken hatte. Trotz seiner spöttischen, arroganten Art himmelten Frauen und Mädchen ihn an, der gern mit ihnen flirtete, aber doch stets der vornehme, guterzogene Kavalier blieb, was mancher Weiblichkeit nicht immer recht war. Jedenfalls war Harro Regglin, dessen ungewöhnliche Persönlichkeit außerdem noch die Gloriole des Reichtums umwob, der begehrteste Mann im Umkreise. Mochte er die Bemühungen der Damenwelt um ihn auch noch so ironisch belächeln – gerade das machte ihn in ihren Augen so außerordentlich interessant. Auch jetzt, beim Lesen des Briefes, stand wieder das berühmte Lächeln in dem schmalen, rassigen Antlitz, über dessen linke Wange sich eine Säbelnarbe zog, die Feindeshand im heißen Ringen des ersten Weltkrieges ihm geschlagen hatte. Die Hand mit den beiden kostbaren
Ringen hielt das Briefblatt, mit der anderen fuhr er sich durch das blonde, leichtgewellte Haar. Dann sah er zu seiner Mutter hin. Es waren Augen von kaltem Grau, deren Blick nicht jeder Mensch ruhig ertragen konnte – hauptsächlich dann nicht, wenn sie Verachtung widerspiegelten wie eben jetzt. Die sonore Stimme des Mannes durchbrach die Stille: »Darf ich dich einmal stören, Mutti?« »Gewiß, mein Junge.« »Dann lies – und bleibe deiner Sinne Meister«, lächelte er ironisch und öffnete dann gleichmütig ein anderes Schreiben, während die Gräfin das ihr Gereichte hastig überflog. Erschrocken war der Blick, der dann zu dem Sohn hinging, der so interessiert seinen Brief las, als ginge der in der Mutter Händen ihn gar nichts an. »Harro!« »Nun, kleine Mama?« »Junge, ich begreife nicht, wie du so gelassen sein kannst.« Lächelnd legte er das Schreiben zur Seite und griff über den Tisch hinweg nach der Mutter Hand, die er zart mit den Lippen berührte. »Du zitterst ja förmlich vor Erregung, Mutti. Wie töricht! Wir wissen doch schon seit länger als einem Jahr, daß dieser Brief einmal kommen mußte, und haben uns mit dem, was darin von mir verlangt wird, abgefunden.« »Gewiß, mein Junge – und doch habe ich immer noch gehofft, daß Fräulein Bracht von ihrem Ansinnen Abstand nehmen würde. Was wirst du tun?« »Nach dem Seebad fahren, wie sie es verlangt.« »Und weiter?« »Den Dingen ihren Lauf lassen.« »Harro, deine Gelassenheit kann einen Menschen manchmal direkt peinigen. Fällt es dir denn gar nicht schwer, diese geschmacklose Komödie zu spielen?« »Im Gegenteil, ich finde das alles höchst interessant. Vom Schicksal die Frau in die Arme gelegt bekommen, ist gewiß nicht alltäglich und daher äußerst reizvoll für mich.«
»So leicht kannst du dich darüber hinwegsetzen, daß diese Krämerstochter Gräfin Regglin werden soll?« »Nur in einer Ehe auf Abbruch! Das darfst du nämlich nicht vergessen, Mutter. Ein Jahr – und ich bin von dieser Verpflichtung frei.« »Und wenn doch nicht alles so glatt geht, wie du es annimmst, mein Junge? Es ist verlockend genug, Gräfin Regglin zu werden. Und das erstrebt das Mädchen doch nur deshalb, weil es etwas ist, das es in seinem übersättigten Leben noch reizen kann. Denke es dir nicht so einfach, mit einem Menschen leben zu müssen, von dem man nicht einmal das Notwendigste weiß.« »Ist ja auch nicht erforderlich«, entgegnete er gleichmütig. »Du weißt doch, kleine Mama: Nie sollst du mich befragen. Daß ich die mir aufgedrängte Frau wieder los werde, das laß nur meine Sorge sein. Gräfin Regglin zu werden, das ist für dieses anspruchsvolle Fräulein unter solchen Umständen nicht schwer. Aber Gräfin Regglins sein…«, schloß er achselzuckend, und die Mutter sah ihn bekümmert an. »Und wenn sie sich in dich verliebt, Harro?« »Das ist ihre Privatangelegenheit«, tat er es gelassen ab. Sekundenlang herrschte Schweigen, bis die Gräfin leise fragte: »Und – Iris?« Verständnislos sah Harro die Mutter an. »Iris? Was hat sie damit zu tun!« »Sie betrachtet sich als deine Braut.« Nun trat der arrogante Zug in Regglins Gesicht, der ihn in den Augen der Weiblichkeit so interessant machte. Und arrogant war auch der Tonfall seiner Stimme, als er sagte: »Tut sie das? Wie nett. Doch meiner Ansicht nach hat sie absolut keine Veranlassung dazu.« »Du bist ein entsetzlicher Junge!« entrüstete die Mutter sich. »Nichts nimmst du ernst, spielst mit dem Leben wie ein Knabe. Daß du Iris jetzt nicht heiraten kannst, das weiß ich wohl. Aber du darfst dem Mädchen die Hoffnung nicht
nehmen, daß es später geschieht.« O doch, Graf Regglin konnte schon ernst sein, wenn er es für notwendig hielt. Er kniff ein wenig die Augen zusammen, was seinem Gesicht einen hochmütigen Ausdruck gab, und antwortete in einem Ton, den er sonst der geliebten Mutter gegenüber nicht hatte: »Da ich Iris nie Hoffnungen gemacht habe, kann ich sie ihr folglich auch nicht nehmen. Alles Weitere ist leeres Geschwätz, von dem ich verschont zu bleiben wünsche. Und nun mach nicht ein so betrübtes Gesicht, Mutti«, schwächte er seine scharfen Worte ab. »Wir wollen nicht weiter um Wenn und Aber herumreden, sondern alles auf uns zukommen lassen. Oder wäre es dir lieber, wenn ich um etwas plärren würde, was doch nicht zu ändern ist?« »Um Gott, mein Sohn«, sie hob abwehrend die Hände, »das dürfte dir schlecht anstehen.« »Na also!« Er lachte und griff nach dem Brief, um ihn zu Ende zu lesen, während die Mutter an vergangene Zeiten dachte und sich den Tag ins Gedächtnis zurückrief, an dem sie als Herrin in Regglinsgrund eingezogen war und als Mutter des damals fünfjährigen Harro, den sie sofort von ganzem Herzen lieb gewann. Zuerst stand das trotzige und sehr verwöhnte Kind der neuen Mutter wohl mißtrauisch gegenüber, doch bald kapitulierte es vor so viel rührender Liebe und Geduld. Die Mutter wurde fortan das Schönste und Köstlichste in seinem Leben. Die erste Ehe des Bodo Regglin war nicht glücklich gewesen. Er hatte die Gattin ja auch nicht aus Liebe erwählt, sondern um ihres Geldes willen, mit dem er das stark heruntergewirtschaftete Regglinsgrund sanieren wollte. Merkwürdig war es nur, daß dieser Reichtum zwei Tage vor der Hochzeit zusammenbrach. Trotzdem kam sie zustande, weil es Bodo ehrlos erschien, der Braut so kurz vor der Eheschließung den Laufpaß zu geben. So stand es denn weiter schlecht um die Regglinsgrunder Herrschaft, und die Ehe, die der Tod der Gräfin sechs Jahre später löste, wurde alles andere als harmonisch. Man
munkelte wohl, daß sie keines natürlichen Todes gestorben sei; doch niemand wußte darüber Genaues. Graf Bodo trauerte auch nicht lange um die Gattin; denn schon nach Jahresfrist hielt eine neue Herrin ihren Einzug in Regglinsgrund, die außer viel Geld auch die leidenschaftliche Liebe des Gatten besaß. So herrschte denn eine traute Harmonie in Regglinsgrund, an der allerdings nur wenige Außenstehende teilhaben durften. Denn Gräfin Liane war sehr zurückhaltend und liebte keinen großen Verkehr. Nur zwei Familien hatte sie sich näher angeschlossen, den Halldungen auf Hermeshöhe und den Illsunds auf Laubern. Gräfin Halldungen, eine Schwester der verstorbenen Gräfin Regglin, führte an der Seite ihres Gatten ein sorgenfreies, glückliches Leben. Die Illsunds jedoch verfügten zwar über einen alten, makellosen Namen, waren aber mit Glücksgütern nicht gesegnet. Der Graf wußte manchmal nicht, woher er das Geld nehmen sollte, um seine fünf Kinder standesgemäß erziehen zu können. So setzte er seine Hoffnung auf Iris, die älteste Tochter, die alle Aussichten hatte, die Herrin auf Regglinsgrund zu werden. Illsund hegte diese Zuversicht seit dem Tage, an dem das Ehepaar Regglin ihm zu verstehen gegeben hatte, daß Iris ihnen als Schwiegertochter sehr willkommen wäre. Seitdem galten Iris Illsund und Harro Regglin allgemein als heimlich Verlobte, zumal der Bräutigam in spe nichts dazu tat, um diesem Gerücht die Spitze abzubrechen. Daß er die Auserwählte immer noch nicht heimführte, begründete man damit, daß er sein Leben erst genießen wollte, bevor er sich ins Ehejoch spannte. So saß denn die schöne Iris Jahr um Jahr bei ihren Eltern und träumte vom kommenden Glück. Natürlich verlangte sie eine Ausnahmestellung in der Familie, was der vernarrte Vater auch für richtig hielt. Er umgab sein Lieblingskind trotz seiner schwierigen finanziellen Lage mit Luxus und ließ seine anderen Kinder darunter empfindlich leiden. Die drei noch nicht erwachsenen Söhne empfanden die
Zurücksetzung nicht als sehr bitter, doch um so mehr tat es die zweiundzwanzigjährige Adelheid, die zugunsten der älteren Schwester immer zurückstehen mußte. Sie war überhaupt das Aschenputtelchen der Familie, das mit allem zufrieden zu sein hatte. Davon ahnte man allerdings in Regglinsgrund nichts. Man lebte dort in so trauter Harmonie, daß man annahm, es mußte anderswo auch so sein. Zuerst hatte Bodo Regglin den Sohn oft ermuntert, ihm Iris als Töchterchen zu bringen, doch in den letzten Jahren schien er kein Verlangen mehr danach zu haben. Überhaupt hatte sich der sonst so frohgemute Mann verändert. Er schien unter Stimmungen zu leiden, die Liane beunruhigten. Daß ihn etwas quälte, war unverkennbar. Aber was war es? Das sollte sie erfahren, als eine tückische Krankheit den Gatten ganz plötzlich überfiel. Und als er sein Ende nahen fühlte, war es Zeit, über das zu sprechen, was ihm so schwer über die Lippen wollte. Müde war der Blick, der zu seinem Sohn hinging, der neben der Mutter am Krankenbett saß. Und unendlich müde klang auch die Stimme des Kranken, als er mit seiner Beichte begann: »Junge, um dir das zu sagen, was mich zwei Jahre lang so unendlich quälte, muß ich ein wenig zurückgreifen. Ich bin mit deiner Mutter nicht glücklich gewesen, weil wir beide die Liebe nicht aufbringen konnten, die zu einer harmonischen Ehe gehört. So konnte es kommen, daß die enttäuschte Frau ihr Herz an einen Mann hing, der den Posten eines Inspektors auf Regglinsgrund bekleidete. Als ich dann hinter das Herzensgeheimnis meiner Frau kam, jagte ich Herrn Bracht vom Hof – obgleich er schuldlos war, wie ich später erfuhr. Ich hörte fortan nichts mehr von ihm. Und hätte die feindliche Haltung deiner Mutter mich nicht stets an ihn erinnert, so hätte ich ihn wohl nach und nach vergessen. Mit Regglinsgrund ging es immer mehr bergab. Ich mußte Geld herbeischaffen um jeden Preis.
Also spielte ich und gewann eine große Summe, mit der ich mich hätte zufrieden geben müssen. Doch wie ein Fieber kam es über mich – ich wollte mehr haben – immer mehr! Ich spielte, bis das Glück sich abwandte und ich in einer Nacht Haus und Hof verspielte. Nun hätte ich mir ja eigentlich eine Kugel durch den Kopf schießen müssen. Aber vorher wollte ich mir noch den Mann ansehen, dem ich mein Hab und Gut verpfändet hatte. Es war Herr Bracht. Lächelnd erzählte er mir, daß er vor Jahren nach Amerika ausgewandert sei, um dort eine Erbschaft anzutreten. Geschäfte hätten ihn in die Heimat geführt – wo er eigentlich nur aus Zeitvertreib ein Spielchen riskiert hatte. Daher möchte er mich bitten, die unangenehme Geldgeschichte ruhen zu lassen. Als ich aufbrauste, erinnerte er mich an Weib und Kind, die ich nicht mit mir ins Verderben ziehen dürfte. Ich war nicht stark genug, um Brachts lockendem Angebot zu widerstehen, und wurde so der Schuldner des Mannes, den ich einst schuldlos von meinem Hof jagte, der nun von Rechts wegen ihm gehörte. Wie erbärmlich ich mir damals vorkam, kann ich euch unmöglich beschreiben. Ich drang in Bracht, doch irgendeinen Gegenwert meiner Schuld zu verlangen. Mit dem nachsichtigen Lächeln, das mich meine ganze Erbärmlichkeit immer stärker fühlen ließ, versprach er mir, sich zu melden, falls ihm etwas einfallen würde; und ich verpflichtete mich, jedem seiner Wünsche Rechnung zu tragen. Verpflichtete mich ehrenwörtlich, obgleich er keinen Wert darauf legte. Nach einem halben Jahr starb deine Mutter, Harro. Ich gewann bald darauf das Herz meiner Liane und wurde durch sie zum reichen Mann. Ich wollte meine Schuld an Herrn Bracht abtragen, zog über ihn Erkundigungen ein und erfuhr, daß er eine vermögende Witwe geheiratet hatte, deren Geld er in sein ohnehin schon erstklassiges
kaufmännisches Unternehmen steckte, so daß es nun an führender Stelle stand. Diese Nachricht entmutigte mich; denn Geld schien bei dem Finanzgenie keine Rolle zu spielen. Trotzdem bot ich ihm brieflich die Begleichung meiner Schuld an. Wie erwartet, antwortete er mir, daß er nach wie vor auf das Geld verzichte, mich jedoch benachrichtigen würde, wenn er einen Ausgleich dafür wüßte. Jahre vergingen – und in meinem Glück, das mir durch meinen geliebten Ehekameraden zuteil wurde, vergaß ich Herrn Bracht. Frohgemut und sorglos lebte ich dahin – bis ein Schreiben des Mannes mich vor zwei Jahren aufs grausamste dieser Sorglosigkeit entriß. Er verlangte als Begleichung der Schuld meinen Sohn als Gatten für seine damals achtzehnjährige Tochter – falls diese bis zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag nicht verheiratet sein sollte. Wenn er bis dahin nicht mehr lebt, würde ein Schreiben, das er bei einem Notar hinterlege, die Tochter von des Vaters Wunsch unterrichten. Nun hieß es weiter: ›Wird die Ehe unglücklich sein, kann sie nach einem Jahr geschieden werden – vorausgesetzt, daß beide Ehepartner damit einverstanden sind. Sonst muß sie bestehen bleiben.‹ Und Fräulein Bracht, ein hübsches, launenhaftes und sehr verzogenes Persönchen, wie ich aus Erkundigungen weiß, wird gegen eine Scheidung sein. Denn eine – Krämerstochter gibt die Stellung einer Gräfin Regglin bestimmt nicht auf. Somit wärest du, mein armer Junge, durch den Leichtsinn deines Vaters dazu verurteilt, zeitlebens an eine Frau gebunden zu sein, die deiner unwürdig ist. Kannst du mir das verzeihen?« Erst als der Sohn fest versprochen hatte, die Schuld des Vaters auf sich zu nehmen, wurde der gequälte Mann ruhiger. Er dämmerte in halber Bewußtlosigkeit dahin, bis er am nächsten Tag die Augen für immer schloß und eine verzweifelte Gattin und einen erschütterten Sohn zurückließ.
Das war vor mehr als einem Jahr gewesen – und heute traf der gefürchtete Brief ein, in dem Fräulein Bracht Harro Regglin ersuchte, zur Unterredung in ein nahegelegenes Ostseebad zu kommen. Was würde diese Unterredung dem geliebten Jungen bringen? Eine quälende Ehefessel oder vielleicht – vielleicht…? Die in peinigende Gedanken versunkene Mutter bemerkte nicht Harros Blick, der schon eine Weile lächelnd auf ihr ruhte. Erst als die schmerzlich seufzte, lachte er amüsiert auf. »Kleine Mama, ich muß feststellen, daß du gar keine richtige Schwiegermutter abgeben wirst. Du siehst nämlich so fabelhaft jung aus, daß du deine eigene Schwiegertochter sein könntest.« »Deine Sorglosigkeit möchte ich haben«, entgegnete sie kopfschüttelnd. »Wann wirst du reisen?« »Morgen; denn die Sehnsucht nach meiner Mary peinigt mein Herz.« Daß der Junge doch nichts ernst nahm! Selbst über die ernstesten Dinge spottete er. Verspottete auch die Liebe, die ihr Leben ausgefüllt hatte. Sorgenvoll sah sie zu ihm auf, der hoch und schlank, in seiner bekannt vornehm-nachlässigen Haltung vor ihr stand. Ein Prachtjunge, für den ihrem Mutterstolz keine Frau gut genug erschien. Und nun… Wieder seufzte sie schwer. »Ach, Junge! Du lachst – und ich…« »Muß für dich mitseufzen«, vollendete er neckend ihre stockende Rede. »Wo die Seufzer wohl alle hinfliegen mögen? Einer wahrscheinlich zu deinem späteren Sorgenkind Mary, mein verzagtes Muttilein. Doch nun beurlaube mich, damit ich an die Arbeit komme. Ich habe mich bereits über Gebühr verspätet.« Er zog ihre Hand an die Lippen und ging davon, während die Mutter weiter ihren unerquicklichen Gedanken nachhing, bis helles Lachen sie daraus aufschreckte. Gleich
darauf traten die beiden Illsund-Töchter ein. Iris blieb zögernd stehen; doch Adelheid, die reizende, sonnige Heidi, legte ihre Arme zärtlich um den Hals der Gräfin. »Guten Morgen, du liebstes Tantchen! Da unser Ritt uns an Regglinsgrund vorbeiführte, konnten wir nicht umhin einzukehren. Stören wir dich?« »Wie könnte das bei euch lieben Mädchen wohl möglich sein. Habt ihr Hunger?« »Sehr.« »Dann nehmt Platz. Von dem, was auf dem Tisch steht, dürftet ihr wohl satt werden.« Die Mädchen kamen der Aufforderung nach. Doch während Heidi es sich gut schmecken ließ, aß Iris kaum etwas. Sie tat immer sehr reserviert. Warum, das ließ sich kaum erklären; denn nötig hatte sie es in diesem befreundeten Haus gewiß nicht. Es lag wohl in ihrer Art, sich immer ein wenig sphinxhaft zu geben, um sich damit interessant zu machen. Während sie sich auch jetzt in Schweigen hüllte, schwatzte ihre Schwester frisch drauflos. Als sie dann nach Harro fragte, hielt die Gräfin es an der Zeit, den Mädchen das mitzuteilen, was ihr nur schwer über die Lippen wollte. »Harro hat in der Wirtschaft noch einiges zu erledigen, weil er morgen auf unbestimmte Zeit verreisen muß«, gab Liane mit gemachtem Gleichmut zur Antwort. »Er will nämlich seine – Braut besuchen.« So, nun war das Schwere gesagt – Gott sei Dank! Und die Wirkung ihrer Worte war auch so, wie sie es erwartet hatte. Iris erblaßte, und Heidi erschrak so heftig, daß Messer und Gabel ihren Händen entglitten und klirrend auf den Teller fielen. Nur mühsam formten die Lippen die Worte: »Harro – ist – verlobt?« »Ja, mit einer Deutschamerikanerin. Ich wollte euch mit dieser Nachricht überraschen. Und soweit ich es beurteilen kann, ist es mir auch glänzend gelungen.« Das konnte man wohl sagen! Allerdings wirkte die
Überraschung niederschmetternd auf die Mädchen. Aber da ihnen von Kindheit auf Selbstbeherrschung anerzogen worden war, so rissen sie sich gewaltsam zusammen. Es klang fast fröhlich, als Heidi sagte: »Dieser scheinheilige Mensch! Na, warte nur, mein lieber Harro! Du sollst bei unserer Verlobung auch erst vor die vollendete Tatsache gestellt werden. Nicht wahr, Iris?« Bang ging ihr Blick zur Schwester hin, die sich meisterhaft beherrschte. Nur blaß war sie, erschreckend blaß. Und der flackernde Blick ließ den Aufruhr in ihrem Herzen ahnen. Sie kam zu keiner Antwort, weil Harro eintrat – gleichmütig und sorglos, als gäbe es keine Bräute auf der Welt. »Du Heimtücker!« drohte Heidi ihm. »Verlobt sich dieser Mann, ohne vorher ein Wort darüber verlauten zu lassen. Ich werde aber feurige Kohlen auf dein Haupt sammeln, indem ich dir dennoch herzlich gratuliere.« Sie streckte ihm beide Hände entgegen, die er nacheinander küßte. »Entzückend bist du, Heidekind«, sagte er mit seiner dunklen, warmen Stimme, die mit ihrem bestrickenden Wohllaut in keinem Verhältnis zu seiner spöttischen Miene stand. »Woher hast du die erschütternde Neuigkeit? Hat meine kleine Mama etwa geplaudert?« »Erraten. Nun beichte, du Sünder, wann du heiraten willst.« »Bald. Häkele nur fleißig Pantoffel und Taschentuchbehälter für mich, damit du bei der Hochzeitsfeier würdig bestehen kannst.« Da lachte Heidi auf, frisch und froh. »O Harro! Du und gehäkelte Pantoffel!« »Warum nicht«, fiel er in ihr Lachen ein. »Zu einem Ehemann, wie ich es zu werden gedenke, gehören Pantoffel solidester Sorte. Willst du das etwa anzweifeln?« »Daß du treu und solide werden willst?« fragte sie mit blitzenden Augen zurück. »Keineswegs, da ich manchmal noch an – Märchen glaube.«
»Racker!« Er zog sie lachend am Ohrläppchen. »Unerhört finde ich es, meine guten Eigenschaften anzweifeln zu wollen, die allerdings erst in mir entstehen werden.« Dann suchte sein spöttischer Blick Iris, die mit gelangweilter Miene dabeisaß. »Nun, gnädigste Komteß sagen ja gar nichts. Haben Sie denn keinen Glückwunsch für mich bedauernswerten Mann?« Er duzte Iris nicht, da diese nach ihrer Rückkehr aus dem Pensionat das förmliche Sie für ihn gehabt hatte, während Heidi das traute Du nach wie vor beibehielt. Es klang sehr gnädig, als Iris antwortete: »Selbstverständlich wünsche ich Ihnen alles Glück zu Ihrer Verlobung, Graf. Nett von Ihnen, daß Sie von uns dreien den Anfang gemacht haben.« »Nicht wahr?« verbeugte er sich übertrieben höflich und streifte sie dabei mit einem Blick, unter dem sie unwillig errötete. Rasch mahnte sie die Schwester zum Aufbruch, verabschiedete sich flüchtig von der Gräfin und sehr kühl von Harro, der den Damen das Geleit gab, um ihnen in den Sattel zu helfen. Als er zur Mutter zurückkehrte, empfing diese ihn froh. »Junge, mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, nachdem ich den Mut gehabt habe, den Mädchen deine Verlobung beizubringen. Wie peinlich, wenn die Familie Illsund das erst von dritter Seite erfahren hätte. Wenn ich den lieben Menschen jetzt auch weh tun mußte, so hoffe ich, das übers Jahr wiedergutzumachen zu können.« »Inwiefern?« fragte er verwundert. »Daß nach der Ehe auf Abbruch…« »… die schöne Iris doch noch Chancen hat, meine Frau zu werden«, vollendete er, als sie unter seinem ironischen Lächeln verwirrt schwieg. »Wenn du nun schon so sehr darauf erpicht bist, eine Illsund als Schwiegertochter zu bekommen, kann es dann nicht die herzige Heidi sein? In der steckt doch wenigstens Leben und Geist, während die gnädige Komteß sich alle Mühe gibt, ein Bild ohne Gnade
zu markieren. Im übrigen geht die Bevorzugung für Iris entschieden zu weit. Adelheid läuft in einem Aufzug herum, der mehr als bescheiden ist, nur damit ihre Schwester sich wie eine große Dame putzen kann. Ist dir das noch nicht aufgefallen, Mutti?« »Eigentlich nicht, mein Junge«, entgegnete sie betroffen. »Heidi ist aber auch so ganz anders als Iris…« »Drum eben«, lachte er herzlich. »Und nun laß endlich deine Heiratspläne, Muttchen. Denke an unsere Mary, die uns bald mit ihrer Anwesenheit beglücken wird.« Die Schwestern ritten eine Weile stumm nebeneinander. Heidi wagte es nicht, Iris anzusprechen, weil das böse Licht in deren Augen nichts Gutes verhieß. Dann war es nämlich nicht ratsam, die Ältere zu reizen, die sich in ihrer Selbstherrlichkeit wie ein Gott vorkam, vor dem alles anbetend zu Füßen zu liegen hatte. Und was ihr heute angetan worden war, hätte gewiß auch bescheidenere Mädchen bis ins tiefste verletzt. Das konnte Heidi wohl verstehen. Auf dem Gutshof von Laubern kam ihnen der Vater entgegen, der mit seiner kräftigen Gestalt und dem sonnengebräunten, ein wenig derben Gesicht einen erfreulichen Anblick bot. Vergnügt blinzelte er den Töchtern zu. »Nun, Marjellchen, Station gemacht auf Regglinsgrund, hm? Was machen denn Seine Gnaden?« Verblüfft sah er den Mädchen nach, die rasch aus dem Sattel glitten und auf das Haus zueilten. Kopfschüttelnd folgte er ihnen und kam gerade dazu, als Iris sich in ihrem Zimmer auf den Diwan warf und in Tränen ausbrach. »Was hat sie denn?« fragte der Vater seine zweitgeborene Tochter, die neben der Mutter stand. »Hat man ihr etwa in Regglinsgrund etwas zuleide getan, Adelheid?« »Ja«, kam bedrückt die Antwort. »Wodurch? Antworte!« herrschte er die Tochter an. »Harro Regglin hat – hat – sich – verlobt«, sagte Heidi stotternd.
Zuerst starrte der Vater sie wie entgeistert an, dann brach es aus ihm heraus: »Du bist wohl verrückt geworden, wie?« Heidi war es zwar gewohnt, von den Eltern lange nicht so liebevoll behandelt zu werden wie der Abgott Iris, aber daß der Vater sie so anfuhr, obwohl sie schuldlos war, das machte sie aufsässig. Trotzig warf sie den Kopf in den Nacken und funkelte den Vater an. »Dann muß Tante Liane wohl verrückt sein, die mit der Neuigkeit aufwartete, daß Harro sich verlobt hat und morgen zu seiner Braut fährt.« Bums, flog die Tür nach dem Nebenzimmer zu, wo Heidis bescheidenes Reich war, das an dem der Schwester gemessen direkt ärmlich wirkte. Jedenfalls hätte die Zofe einer eleganten Frau es entrüstet abgelehnt, in einem solchen bescheidenen Zimmer zu hausen. Allein, für Aschenputtelchen Heidi war es gut genug. Nachdem Illsund sich über das ungebührliche Benehmen seiner Tochter Adelheid ausgepoltert hatte, sprach er mit seinem Abgott in einem Ton, an den dieser nicht gewöhnt war. »Himmeldonnerwetter, hör mit der Heulerei auf! Sag lieber, was dir geschehen ist, damit ich dir helfen kann.« »Was willst du von mir?!« fauchte Iris wie eine kleine Wildkatze auf. »Du hörtest doch schon von Heidi, was Tante Liane uns verraten hat. Harro ist verlobt und besucht morgen seine Braut. Aus.« Damit drückte sie das Gesicht in die Kissen und schluchzte aufs neue, während der Vater sich mit zwei Fingern in den Kragen fuhr, als wäre er ihm zu eng. Dann stieß er die Fäuste in die Hosentaschen und lachte grimmig auf. »Also haben Seine Gnaden genauso mit dir gespielt wie mit allen anderen, mein Kind. Während er uns alle in dem Glauben ließ, daß er dich dereinst heimführen würde, bereitete er in aller Heimlichkeit seine Verlobung vor. Da soll doch der Deubel dreinschlagen!«
Mit langen Schritten lief er in dem lauschigen Gemach auf und ab wie ein gefangenes Tier. Sein Gesicht war stark gerötet, die Brauen zogen sich finster zusammen, ein Zeichen, wie sehr Grimm und Groll in ihm tobten. Bang ging der Blick der Gattin zu dem Erregten hin. Die stille Frau, die sich dem herrischen Willen ihres Mannes beugen mußte und daher niemals wagte, ihre eigene Meinung kundzutun, zuckte erschrocken zusammen, als er plötzlich den Schritt vor ihr verhielt und sie anfuhr, als wäre alles ihre Schuld: »Was sagst du nun dazu, Frau?« »Ich weiß nicht, lieber Mann.« »Natürlich«, unterbrach er sie unwirsch, »wann wißt ihr Frauen überhaupt mal was. Ihr könnt nichts anderes als jammern und plärren. Jetzt sitzt du da mit deiner sechsundzwanzigjährigen Tochter, die du wie eine Prinzeß erzogen hast. Es ist, um auf die Akazien zu klettern!« Damit stürmte er hinaus, unzufrieden mit sich und der ganzen Welt. Das war ein buntes, vergnügtes Leben und Treiben in dem eleganten Seebad. Das Herz konnte einem aufgehen angesichts der vergnügten Sommergäste, die sich dort tummelten. Lachend tollten große und kleine Menschen in dem lauen Wasser umher, saßen auf drolligen Gummitieren, haschten nach riesigen Bällen, trieben allerlei Allotria und erfüllten alles ringsum mit ihrem Jubel. Andere lagen am Strand, wieder andere belebten die Promenade. Alles in allem boten sie ein herzerquickendes Bild sorgloser, ferienübermütiger Menschen. Harro Regglin saß auf einer Promenadenbank und nahm das frohe Bild belustigt in sich auf. Bei seiner nicht alltäglichen Erscheinung blieb er selbstverständlich nicht lange unbemerkt. Mit Vergnügen sah er die Blicke der schönen Frauen, und da er einem Flirt niemals abgeneigt war, ließ auch er seine Augen spielen. So stand er denn bald unter einem Kreuzfeuer von Blicken, das ihn hätte überwältigen müssen. Aber das passierte dem Schwerenöter
nicht so leicht, er konnte allerhand vertragen. Erst als die Sonne am Horizont verschwand und ein prächtiges Farbenspiel am Himmel zurückließ, erhob er sich und schlenderte dem Kurhotel zu, wo er für sich und seinen Diener Zimmer belegt hatte. Mit Vergnügen nahm er wahr, daß einige junge Mädchen ihm folgten, wahrscheinlich um herauszubekommen, wo er wohnte. Am Portal des Hotels wandte er sich um und winkte ihnen lächelnd zu, die darob verlegen kicherten. Als er sein Zimmer betrat, um sich zum Abendessen umzukleiden, erwartete der Diener ihn bereits. »Nun, Albert, haben Sie Bescheid von Fräulein Bracht?« »Sehr wohl. Das gnädige Fräulein wird morgen zwischen elf und zwölf Uhr für den Herrn Grafen zu sprechen sein.« »Na schön. Hat Ihnen das gnädige Fräulein das persönlich gesagt?« »Nein. Ich erhielt von der Zofe den Bescheid.« »Ausgezeichnet. Nun machen Sie mich so schön wie möglich, damit ich vor den süßen Mädelchen würdig bestehen kann.« Albert lächelte niemals; seiner Ansicht nach vertrug sich das nicht mit der Würde eines wohlgeschulten Dieners. Doch hätte er in diesem Augenblick gelächelt – es wäre vielsagend gewesen. In den vierzehn Jahren, da er seinen Herrn stets auf dessen Reisen begleitete, hatte er so manches gesehen und gehört. Daher schätzte er die Frauen nicht sonderlich. Als der Graf den großen Speisesaal betrat, amüsierte er sich über die vielen neugierigen Blicke, die ihn ganz unverhohlen musterten. Er setzte sich an einen kleinen Tisch, von dem aus er den Raum übersehen konnte. Schau an, da waren auch einige der Pusselchen, die ihm auf der Promenade so nett die Zeit vertrieben hatten. Sie drehten sich bald ihre reizenden Hälschen nach ihm aus. Exklusive Gesellschaft, stellte er abschätzend fest. Es gab nur wenige Ausnahmen, die extravagant gekleidet waren und es schön fanden, sich recht auffallend zu benehmen.
Jene Kleine dort, mit den dunklen, sehr kurzgeschnittenen Haaren und der mehr protzigen als geschmackvollen Aufmachung gehörte zu ihnen. Ihr standen Launenhaftigkeit und kapriziöse Einfälle schon auf der Stirn geschrieben. Damit schien sie auch jetzt die drei Herren, die mit ihr am Tisch saßen, in Atem zu halten. Die Dame entsprach so ganz der Vorstellung, die er sich von seiner Mary gemacht hatte. Also mußte sie es wohl auch sein. Als der Ober ihm das Essen brachte, fragte er ihn: »Die Dame dort in Gesellschaft der drei Herren – das ist doch wohl Fräulein Bracht?« »Sehr wohl, Herr Graf!« Also doch! Er beobachtete nun die junge Dame unausgesetzt, die es bald bemerkte und ihm kokette Blicke zuwarf. Ihr auffallendes Benehmen zog die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich, um deren Mund ein eigenartiges Lächeln spielte. Nur Harro Regglin lächelte nicht mehr. Zuerst wirst du dir deine Ungeniertheit abgewöhnen müssen, mein Kind, dachte er verbissen. Denn so wie du darf sich die Herrin von Regglinsgrund, die den ihr Untergebenen mit gutem Beispiel voranzugehen hat, nicht betragen! Unwillkürlich mußte er an seine Mutter denken, an die schöne, stolze Frau, der alles verhaßt war, was auffallend wirkte. Welche Zumutung, ihr diese Schwiegertochter ins Haus zu bringen! Harro wartete, bis sich die Gäste fast alle verzogen hatten und bis auch das extravagante Fräulein sich erhob. Sie verabschiedete ihre Verehrer und sah dann mit aufforderndem Blick zu dem Fremden hin, als sie langsam aus dem Saal schritt. Regglin folgte ihr – und schon ließ sie im Vestibül ihr Taschentuch fallen, nach dem er sich bückte und es ihr mit knapper Verbeugung überreichte. Einen koketten Blick, ein aufreizendes Lächeln erhielt er als Dank – und da hatte er
genug. Er ließ sie einfach stehen, ging davon und suchte sofort sein Zimmer auf, wo er sich trotz der frühen Abendstunde zu Bett legte. Und schon wußte der Diener Albert Bescheid! Sein Herr mußte wieder einmal etwas erlebt haben, das ihn so anekelte, daß er zu Bett ging, um nur nichts mehr hören und sehen zu müssen. Am nächsten Vormittag ging Harro Regglin nach dem Appartement, das Fräulein Bracht bewohnte. Sein Gesicht war hart, seine Gestalt wie von Eiseskälte umweht. So betrat er das Gemach seiner zukünftigen Braut, dessen Tür die Zofe ihm geöffnet hatte. Und dann stand er Fräulein Bracht gegenüber, Spott und Verachtung auf dem arroganten Gesicht. Aber was denn? Lag hier etwa ein Irrtum vor? Die junge Dame, die ihm so ruhig entgegensah, hatte mit der Kokotte von gestern abend ja gar nichts gemein! Er verbarg seine Überraschung meisterhaft und verbeugte sich in seiner vornehm-lässigen Art. »Miß Bracht?« fragte er gespannt, als müsse sich nun der Irrtum herausstellen. Doch sie neigte lächelnd den Kopf. »Die bin ich, Graf Regglin. Wollen wir Platz nehmen. Denn unsere Unterredung wird wohl eine gute Weile dauern.« Die Sache schien ja immer verwickelter zu werden. Er hatte eine Dame erwartet, die seine Muttersprache nur mangelhaft beherrschte – und nun sprach sie ein so reines Deutsch, dazu noch mit so ungemein wohllautender Stimme! Merkwürdig! Nachdem sie sich in einen Sessel geschmiegt hatte, nahm er ihr gegenüber Platz. Forschend hing sein Blick an der wundervollen Erscheinung. Alles war rassig an ihr, von dem entzückenden Lockenkopf bis zu den Füßen. Sie errötete unter seinem Blick und sagte mit leichter Befangenheit: »Ich habe Sie hergebeten, Herr Graf, um eine überaus unangenehme Sache aus der Welt zu schaffen. Vor einigen Tagen schrieb mir ein amerikanischer Rechtsanwalt, daß
mein Vater bei ihm einen Brief hinterlegt hätte, der mir an meinem einundzwanzigsten Geburtstag zugestellt werden sollte. In dem Schreiben stand, daß ich auf seinen Wunsch die Frau des Grafen Regglin auf Regglinsgrund werden müßte. Das kann selbstverständlich nur ein Irrtum sein, nicht wahr?« »Durchaus nicht, mein gnädiges Fräulein. Wir beide sollen tatsächlich auf Wunsch Ihres Herrn Vaters ein Paar werden. Das weiß ich bereits seit länger als einem Jahr von meinem Vater, der einen Tag nach dieser Eröffnung starb.« ’ Hilflos war der Blick, der ihn nun aus den tiefblauen Augen traf, hilflos und flehend zugleich. »Da verstehe ich zum erstenmal meinen gütigen Vater nicht.« »Ich um so besser.« »Ja, wollen Sie mir den Zusammenhang erklären?« fragte sie ratlos. »Sind Sie denn tatsächlich ganz ahnungslos, gnädiges Fräulein?« »Würde ich Sie sonst fragen? Ich weiß nur, daß ich Sie aus irgendeinem Grund, den mein Vater in dem Brief nicht genannt hat, heiraten soll. Weshalb, das werde ich erst in dem Schreiben erfahren, das mir nach einem Jahr, also an meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag, zugestellt werden wird.« »Und wenn Sie eine Ehe mit mir ablehnen?« fragte Harro interessiert. »Dann wird mir mein Vermögen bis auf einen geringen Teil entzogen. Allerdings könnte ich mich nach einem Jahr wieder scheiden lassen, hat mein Vater seinen unerklärlichen Wunsch ein wenig abgeschwächt. Er bat mich jedoch herzlich, wie stets seine gehorsame Tochter zu sein, aber ich habe absolut keine Lust, es zu tun. Können Sie das verstehen, Herr Graf?« »Ja, zumal Sie den Grund nicht kennen, der zu der Forderung Ihres Vaters führte. Merkwürdig, daß er Sie darüber im unklaren läßt. Vielleicht wollte er damit
meinen Vater schonen – allein, ich halte eine solche
Rücksichtnahme für unangebracht, weil sie Verwirrung
schafft. Wenn Sie genau Bescheid wissen, dann werden Sie
den Wunsch Ihres Vaters verständlich finden, und daher
wird es Ihnen nicht schwerfallen, ihn zu billigen.«
Er erzählte nun dem aufhorchenden Mädchen, was er von
seinem Vater erfahren hatte.
»Also werden Sie einsehen, daß die Forderung Ihres Vaters
zu Recht besteht«, schloß er, doch sie schüttelte den Kopf
mit einer unwilligen Gebärde.
»Das sehe ich ganz und gar nicht ein. Mein Vater hat doch
freiwillig verzichtet, somit war die Angelegenheit erledigt.«
»Mitnichten. Herr Bracht behielt sich eine Forderung vor,
zu der sich mein Vater ehrenwörtlich verpflichtete.«
»Das war nicht fair von meinem Vater gehandelt, einen
Unschuldigen büßen zu lassen. Sie als Träger eines alten
Namens können doch unmöglich ein Mädchen heiraten,
von dem Sie nichts mehr als seinen Namen wissen.«
»Nun, silberne Löffel werden Sie ja nicht gerade stehlen«,
spottete er, was ihm einen mißbilligenden Blick eintrug.
»Wie Sie über so schwerwiegende Dinge spotten können,
das ist mir unverständlich«, entgegnete sie hochmütig.
»Silberne Löffel stehle ich allerdings nicht, weil ich das
nicht nötig habe. Aber ich könnte sonstwie schlecht geartet
sein.«
»Hm, alles möglich«, sagte er ungerührt. »Aber wenn Sie
sich nun dem Gebot des Vaters nicht fügen und Ihnen
daraufhin das Vermögen entzogen wird, was dann?«
»Dann bleibt mir immer noch das Erbteil meiner Mutter,
das mir ein zwar nicht üppiges, aber doch ganz
angenehmes Leben gestattet.«
»Schön. Und doch wäre es töricht von Ihnen gehandelt,
wenn Sie einer Ehe auf Abbruch wegen auf das verzichten
wollten, was Ihnen zusteht. Die Ehe ist stets ein Glücksspiel
– ob so oder so. Zu Ihrer Beruhigung will ich Ihnen sagen,
daß ich es fabelhaft interessant finde, vom Schicksal
sozusagen meine Frau in die Arme gelegt zu bekommen.
Und Liebe? Über das Märchen dürften wir modernen Menschen doch wohl schon hinweg sein. Wie heißt es in dem zwar nicht so sehr geschmackvollen, doch treffenden Schlager? ›So was von Kitsch wie die Liebe‹. Also, mein gnädiges Fräulein, machen Sie sich da keine Gewissensbisse. Meiner Ansicht nach werden wir ein ideales Ehepaar werden. Denn je weniger wir uns kennen, und je weniger wir uns gegenseitig belästigen, um so zufriedener werden wir sein. Haben Sie noch etwas einzuwenden?« So etwas von Arroganz war dem weit- und menschenkundigen Fräulein Bracht denn doch noch nicht vorgekommen. Ihre wunderschönen Augen, die ihr tiefes, weiches Blau verloren hatten und nun fast grau wirkten wie Erz, sahen ihn hart an. Und so hart war auch ihre Stimme, als sie erwiderte: »Gewiß habe ich etwas einzuwenden, Herr Graf Regglin! Ich will nicht!« »Aber ich!« klirrte nun seine Stimme auf, als wenn Stahl auf Eisen schlägt. »Merken Sie sich, ein Regglin bleibt keinem etwas schuldig – am wenigsten einem Fräulein Bracht.« Sie zückte unter seinen schonungslosen Worten zusammen wie unter einem grausamen Hieb. Drohend war der Blick, der den ihren kreuzte, drohend und warnend zugleich. Da neigte sie wie gottergeben das lockige Haupt. Nein, dieser Mann ließ sich nichts schenken. Er würde die Schuld seines Vaters sühnen, und wenn er dabei Gewalt anwenden müßte. Also war es zwecklos, sich gegen seinen Willen aufzulehnen. »Also, meine liebe Mary…« Ihr erstaunter Blick ließ ihn innehalten… »Mary? Wie kommen Sie darauf, Herr Graf?« »Nicht? Dann Mabel – oder Maud. Auch vorbeigetippt? Ja, wie denn?« »Rotraut.« »Ah, wie heißt König Ringangs Töchterlein? Also, meine
liebe Rotraut, laß dir hiermit sagen, daß nichts auf der Welt mich davon abhalten wird, dem Willen deines Vaters gerecht zu werden und dich zu heiraten. Betrachte dich bitte als meine Braut. Den üblichen Verlobungsreif habe ich leider noch nicht erstanden, ergo mußt du solange mit diesem vorliebnehmen…« Er zog den Siegelring vom kleinen Finger und griff, ohne auf ihr Sträuben zu achten, nach ihrer linken Hand. »Schade, noch zu groß. Wenn man aber auch solche Liliputfingerchen hat, können meine Pranken natürlich nicht mithalten. So, der Ring wäre da, wenn er auch von der Schablone abweicht. Um so schablonenmäßiger soll der Verlobungskuß ausfallen.« Er beugte sich vor, um Rotraut an sich zu ziehen, doch blitzschnell sprang sie auf und stand nun vor ihm. Ihre Augen sprühten in verletztem Stolz. »Ich liebe keine Küsse, Herr Graf Regglin«, sagte sie hochmütig. »Denn ich bin derselben Ansicht wie Sie: ›So was von Kitsch wie Liebe‹.« Es zuckte in seinen Augenwinkeln, das war immer das Zeichen dafür, daß er verletzt war. Davon spürte das Mädchen allerdings nichts, als er spöttisch sagte: »Hast recht, mein Kind. Aber sag du zu mir. Oder willst du mich immer weiter mit Herr Graf Regglin anreden?« »Ich muß mich erst an das Du gewöhnen.« »Hoffentlich geht das schnell. Doch du schaust so unruhig auf deine Armbanduhr, hast du etwas Besonderes vor?« »Ja, eine Verabredung mit Freunden.« »So, ach! Bist du oft mit ihnen zusammen?« »Sehr oft.« »Liebe Rotraut, es tut mir leid, aber von dieser Gewohnheit wirst du lassen müssen. Was nämlich einem Fräulein Bracht gestattet ist, das darf eine Gräfin Regglin sich noch lange nicht erlauben.« Sie fuhr hastig auf, sah ihm in das arrogante Gesicht und unterließ dann achselzuckend die heftige Entgegnung. Es war ja doch zwecklos, mit diesem Mann zu streiten, der
einen Willen so hart wie Eisen zu haben schien. »Laß deinen Kavalieren also Bescheid zukommen, daß ich sie heute würdig vertreten werde«, sagte er in einem Ton, der keine Widerrede duldete. »Dann richte dich so ein, daß wir morgen nach Regglinsgrund fahren können, damit ich dich mit meiner Mutter bekannt machen kann.« »Was, eine Mutter haben Sie auch noch?« fragte sie so komisch entsetzt, daß er lachen mußte. »Du hast wohl schon an mir genug, Rotraut. Aber laß nur, meine Mutter ist bedeutend harmloser als ich. Sie wartet sehnsüchtig darauf, ihre Schwiegertochter in die Arme schließen zu können.« »Ihr Spott rührt mich gar nicht, Herr Graf. Ihre Mutter wird sich bis nach der Hochzeit gedulden müssen, meine Bekanntschaft zu machen. Denn früher komme ich nicht nach Regglinsgrund. Treffen Sie nach Ihrem Wunsch die Vorbereitungen, ich werde mich in alles fügen. Wenn diese geschmacklose Heirat nun einmal sein muß, so ist es mir gleichgültig, wie und wann die Komödie vor sich geht.« Harro kniff die Augen zusammen, in deren Winkeln es nervös zuckte. »Von welcher Komödie sprichst du denn?« »Die bei unserer Hochzeit in Szene gesetzt werden wird«, gab sie hochmütig zur Antwort. »Du scheinst ja eine merkwürdige Auffassung zu haben, mein Kind. Versuche nur nicht, dich bei der Komödie anders zu benehmen, als es der zukünftigen Gräfin Regglin zukommt.« »O weh«, sie lächelte ironisch. »Wie wird es mir da ergehen? Wäre es nicht ratsam, Herr Graf, wenn Sie mir eine schriftliche Anweisung zukommen lassen würden, wie ich mich als Gräfin Regglin zu verhalten habe?« Langsam erhob er sich von seinem Sitz, so daß auch sie unwillkürlich aufstand. Die Mundwinkel verächtlich geschürzt, in den Augen ein mitleidiges Lächeln, so hielt sie seinem Blick stand, der drohend auf sie gerichtet war. Als er sprach, klang seine Stimme hart und scharf.
»Zuerst laß einmal das alberne Herr Graf, mein Kind. Und dann wünsche ich, daß du so vor den Altar trittst, wie es bei uns üblich ist, denn jedes Land hat andere Sitten. Daher wird meine Mutter dich mit den unseren bekannt machen.« »Nicht erforderlich«, tat sie mit einem sonderbaren Lächeln ab. »Da ich seit fünf Jahren fast ausschließlich in Deutschland gelebt habe, sind mir Sitten und Gebräuche wohlbekannt.« In seinen Augen blitzte es überrascht auf. »So lange bist du schon von Amerika fort? Wo hast du denn gelebt?« »Wir hatten keinen ständigen Wohnsitz, da die Krankheit meines Vaters immer wieder Luftveränderung notwendig machte. Zwar fuhren wir im Jahr einige Male in die Heimat zurück, wo wir jedoch nicht lange bleiben konnten, weil Vater das dortige Klima nicht vertrug. Seit seinem Tode habe ich Deutschland nicht mehr verlassen, lebte mal hier, mal dort.« »So ohne jeden Schutz – bei deiner…« Er sprach das Wort: Schönheit nicht aus. Trotzdem hatte sie verstanden und lächelte hochmütig. »Wozu brauche ich einen Schutz? Ich bin viel zu selbständig erzogen, um mich beschützen zu lassen. Außerdem lebe ich unter der Obhut einer mütterlichen Dame, die dürfte doch wohl Schutz genug sein.« »Merkwürdig. Na, du kommst jetzt ja bald in geordnete Verhältnisse, denn die Hochzeit wird in vier bis fünf Wochen stattfinden. Und daher wäre es gut, wenn du mit mir nach Regglinsgrund kämst, damit du dir die Zimmer nach deinem Geschmack einrichten lassen kannst.« »Das ist doch so unwichtig«, meinte sie fast verächtlich. »Zum Hochzeitstag werde ich mich in Regglinsgrund einfinden, früher nicht.« Sie stand vor ihm in einer ungezwungenen Haltung, die ihrer Persönlichkeit ein so selbstsicheres Gepräge gab. Daher machte sie nicht den Eindruck, als würde sie sich
seinen Wünschen fügen – wenn sie es nicht aus Vernunftsgründen für erforderlich hielt. Harro betrachtete sie mit einem Lächeln, wie man es für widerspenstige Kinder hat. Unter diesem Blick stieg ihr langsam dunkle Röte ins Gesicht. Ihre blauen Augen wurden fast schwarz, die Nasenflügel bebten. Er schien es jedoch nicht zu bemerken. Doch als er sprach, klang in seiner Stimme ein Ton von Gereiztheit mit. »Du wirst dir deine Selbständigkeit abgewöhnen müssen, meine liebe Rotraut – ebenso dein freies, ungebundenes Leben. Da unsere Heirat aus dem gewöhnlichen Rahmen fällt, stehen wir mehr im Brennpunkt des Klatsches als andere Menschen. Im allgemeinen pflege ich mich ja wenig darum zu kümmern, aber wenn es sich um Regglinsgrund handelt, wo ich meinen Leuten mit gutem Beispiel voranzugehen habe, muß ich auf meinen guten Ruf bedacht sein. Und du als meine Frau bist genauso dazu verpflichtet.« Rotraut stand gegen einen Sessel gelehnt. Die Hand, die auf dessen Lehne lag, zitterte heftig. Mit einer Stimme, die ihr selber fremd vorkam, antwortete sie: »Ich habe verstanden. Und ich mache Sie noch einmal darauf aufmerksam, daß es gewagt ist, ein Mädchen zu heiraten, dessen Vergangenheit Ihnen unbekannt ist.« »Mir bleibt leider keine andere Wahl, mein Kind.« »Und wenn ich nun auf die Ehre, Gräfin Regglin zu werden, verzichte?« »Dann müßte ich dich dazu zwingen.« »Das würden Sie tun?« »Unbedingt. Nichts wird mich davon abbringen, mich dem Willen deines Vaters zu fügen und damit die Schuld des meinen zu sühnen, da ich ihm auf dem Sterbebett mein Wort gab. Du solltest einsichtsvoll genug sein, mich mit deiner Widerspenstigkeit nicht wortbrüchig zu machen.« »Ich bin aber keine Sklavin!« rief sie erbittert aus. »Ich will nicht in einer Ehe leben, die einem Kerker gleicht. Lassen Sie mich doch endlich in Frieden. Nehmen Sie das Geld,
das mein Vater…« »Halt!« unterbrach er sie eisig. »Nun verstehe ich. Du wolltest wie das Mädchen im Märchen in mein Leben treten und mich mit deinem Goldregen überschütten. Das war geschmacklos von dir. Denn zu deiner Beruhigung will ich dir sagen, daß ich dein Geld nicht brauche. Regglinsgrund steht finanziell so gut da, daß selbst die Inflation seine Grundfesten nicht erschüttern konnte.« »Dann verstehe ich meinen Vater immer weniger«, sagte sie fassungslos, und er lächelte ironisch. »Dafür verstehe ich ihn um so besser. Er wollte seine Tochter in einer Stellung sehen, die er ihr selbst mit seinem vielen Geld nicht erkaufen konnte. So kam es ihm sehr gelegen, daß mein Vater ihm ehrenwörtlich verpflichtet war, jedem seiner Wünsche Rechnung zu tragen.« Rotraut erblaßte tief. Das bezaubernde Köpfchen senkte sich, ein hartes Aufschluchzen ließ den schlanken Körper erbeben. »Pfui!« rang es sich dann von ihren entfärbten Lippen. Und noch einmal: »Pfui!« Sie hob auch nicht den Kopf, als er in wärmerem Ton weitersprach: »Wenn es dir so schwerfällt, mit mir nach Regglinsgrund zu kommen, dann will ich dich dazu nicht zwingen. Du mußt mir nur versprechen, daß du das tun willst, was ich von dir verlangen muß. Gibst du nun deinen Widerstand auf?« Sie nickte, ohne ihn dabei anzusehen. Im nächsten Augenblick schrak sie zusammen, als etwas gegen das geschlossene Fenster prallte. Hastig trat sie hinzu, öffnete es – und schon flog ihr eine Rose vor die Füße. Unten stand der Spender, ein Jüngling noch, rank und schlank gewachsen. Die Augen sprühten in dem sonnengebräunten Antlitz vor Lebensfreude. »Hallo, gnädiges Fräulein!« rief er lustig. »Nennen Sie das etwa pünktlich? Wir warten hier geduldig wie die Lämmer.« Bei seinem Anblick wurde Rotraut wieder froh. Etwas Schweres fiel von ihr ab, das sie zu erdrücken gedroht
hatte. »Gerade Sie kommen mir ganz wie ein Lamm vor«, rief sie ihm lachend zu. »Wird es Sie enttäuschen, wenn ich sage, daß ich den Ausflug nicht mitmachen kann, weil ich Besuch bekommen habe?« »Waaas – Besuch – ausgerechnet heute? Können Sie den nicht per Expreß auf den Blocksberg schicken?« »Frechdachs!« drohte sie. »Wir sprechen und noch.« Ehe sie das Fenster schloß, erreichte sie der Ruf: »Oder bringen Sie Ihren Besuch mit!« Durch die Scheibe winkte sie ihm zu und wandte sich dann ins Zimmer zurück. Noch lag ein Lachen auf ihrem Gesicht, das jedoch schwand, als sie die abweisende Haltung des Grafen sah. »Ich werde mich jetzt empfehlen und dich im Speisesaal erwarten«, sagte er kurz. Dann verließ er das Zimmer. Rotraut Bracht stand inmitten einer Gruppe von Damen und Herren, als Graf Regglin den Speisesaal betrat. Sie sprachen eifrig auf sie ein, was sie sich lächelnd gefallen ließ. Trotz aller Liebenswürdigkeit lag eine Reserviertheit in ihrem Wesen, die jede Vertraulichkeit ausschloß. Sie war jetzt ganz Dame, wie Harro befriedigt feststellte. Als er, von ihr unbemerkt, vorüberging, hörte er sie sagen: »Es geht wirklich nicht, meine Herrschaften. Ich kann meinen Gast nicht allein lassen, und begleiten mag er mich nicht. Also muß ich dem Ausflug fernbleiben.« »Dann schieben wir ihn eben auf«, bestimmte der junge Mann, der ihr die Rose ins Zimmer geworfen hatte. »Ohne Sie macht uns die Partie einfach keinen Spaß.« Damit waren alle einverstanden. Freundlich verabschiedete Rotraut sich und sah sich nach ihrem Gast um, den sie auch bald entdeckte. Als sie auf ihn zutrat, erhob er sich, rückte einen Sessel zurecht und nahm dann ihr gegenüber Platz. Das alles war von den anderen Gästen nicht unbemerkt geblieben. Man zerbrach sich den Kopf, wie Fräulein Bracht zu der Bekanntschaft dieses Mannes, dessen Namen man bereits diskret erforscht hatte, gekommen sein
könnte. Am meisten beschäftigte sich wohl die Dame
damit, die Harro gestern abend für Fräulein Bracht gehalten
hatte. Sie machte auch heute kein Hehl daraus, wie gut ihr
der interessante Mann gefiel, und suchte durch kokette
Blicke seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, was ihr
jedoch nicht gelang.
Harro hatte es wohl bemerkt, aber er war zu gut erzogen,
um mit einer Dame am Tisch zu sitzen und mit der
anderen zu flirten. Er beugte sich ein wenig vor und fragte
Rotraut leise:
»Kennst du die dunkle extravagante Frau am Nebentisch?«
»Ja«, gab sie ebenso leise zurück. »Es ist Fräulein Bach.
Mehr weiß ich nicht von ihr.«
»Interessiert mich auch nicht. Ich habe sie nämlich gestern
abend für dich gehalten.«
Erschrocken sah sie ihn an.
»Ein solches Bild haben Sie sich von mir gemacht? Dann
allerdings. Denn mit dieser Dame verwechselt zu werden,
ist alles andere als eine Schmeichelei.«
»Entschuldige, Rotraut. Man macht sich von einem
Menschen, den man kennenlernen soll, immer ein Bild.«
»Selbstverständlich«, lächelte sie spöttisch. »Und wenn
diese Dame nun ich gewesen wäre, wie hätten sich dann
die ihr eigenen Gewohnheiten mit der Stellung einer
Gräfin Regglin vertragen?«
»Ich hätte sie ihr abgewöhnt, verlaß dich drauf.«
O ja, sie glaubte es ihm. Er konnte unbarmherzig sein,
wenn er seinen Willen durchsetzen wollte.
Um dem Gespräch eine Wendung zu geben, fragte sie:
»Haben Sie schon einen Plan für heute nachmittag?«
»Nein.«
»Möchten Sie hierbleiben, ausfahren, wandern? Lieben Sie
einsame Orte oder solche, die von Menschen belebt sind?«
»Ich möchte an einen möglichst ruhigen Ort, und wenn es
geht, dorthin wandern.«
»Dann kenne ich eine idyllisch gelegene Waldschenke. Der
Weg ist nicht weit und führt durch den Wald. Ich gehe sehr
gern dorthin. Nur ist das Gasthaus primitiv. Hoffentlich schreckt Sie das nicht ab.« »Du scheinst mich ja für einen Snob zu halten. Bedenke, daß ich Jahre hindurch an der Front war. Da hat man uns im Schützengraben schon die feinen Allüren abgewöhnt. Einen Holzstuhl zum Sitzen wird es in der Schenke wohl geben und einen Topf mit Kaffee dazu. Mehr verlange ich nicht.« Nun mußte Rotraut lachen. Es war ein so herzfrohes, goldiges Lachen, das alle im Saal entzückt aufhorchen ließ. »Dann bin ich beruhigt.« Nach dem Essen suchten sie ihre Zimmer auf. Harro zog sich um und ging an den Strand. Zuerst schlenderte er umher und setzte sich dann auf eine Bank, die abseits auf einer kleinen Anhöhe stand. Von hier aus konnte er den Strand und einen Teil der Promenade übersehen, ohne selbst von dort aus gesehen zu werden. Die Aussicht war einzig schön, und die Augen des naturliebenden Mannes nahmen das Bild mit Entzücken in sich auf. Trotz der Mittagsstunde badeten einige Menschen. Eine Dame, deren rote Badekappe in der Ferne leuchtete, hatte sich zu weit hinausgewagt. Der Bademeister tutete so anhaltend, daß die Kühne sich zur Umkehr entschließen mußte. Harro verfolgte den Vorgang mit Interesse. Daß die Menschen doch immer und überall übertreiben mußten! Das Schwimmbad war so groß, daß man sich innerhalb seiner Grenzen nach Herzenslust austummeln konnte. Aber nein, man mußte etwas Besonderes haben, und wenn man damit auch sein Leben aufs Spiel setzte. Nun war die leichtsinnige junge Dame schon so nahe herangekommen, daß Harros scharfes Jägerauge in ihr Rotraut Bracht erkannte. Sie winkte dem Bademeister lachend zu, der sie gutmütig ausschalt. Doch er erreichte damit, daß die Schwimmerin nicht mehr über das Ziel hinausschoß. Zehn Minuten später kam sie aus dem Wasser und war gleich darauf Regglins Augen
entschwunden. Dieser war nicht wenig erstaunt, als sich bald danach Fräulein Bach zu ihm gesellte. »Ich habe Sie eifrig gesucht«, bekannte sie lachend und ohne jede Spur von Verlegenheit. »Lieben Sie immer solche Verstecke?« »Wenn ich vor Aufdringlichkeit sicher sein will, ja.« »Damit wollen Sie mich wohl loswerden? Das gelingt Ihnen nicht, Herr Graf. Ich bin froh, wenn ich mal einen Mann erwische, der von der Blödheit der anderen absticht.« »Tun Sie Ihre Ansicht immer so offen kund, mein Fräulein?« »Warum nicht? Sehen Sie mich nicht so mißbilligend an, ich bin nicht halb so schlimm, wie Sie denken. Ich langweile mich bloß. Und daran ist Fräulein Bracht schuld, die alle einigermaßen vernünftigen Männer anzieht wie das Licht die Motten. Obgleich sie über alle Begriffe hochmütig ist, ist die Männlichkeit in sie verliebt. Selbst das Hotelpersonal ist ganz verdreht. Ich zahle doch bestimmt keine geringeren Preise, gebe genauso gute Trinkgelder – und doch wird mit mir kein Aufhebens gemacht. Lächerlich!« Wer weiß, was sie Harro noch alles erzählt hätte, wenn sie nicht plötzlich abgerufen worden wäre. Und so plötzlich, wie sie aufgetaucht, war sie auch wieder verschwunden. Er kam nicht dazu, über das sonderbare Mädchen nachzudenken, weil in der Nähe Stimmen laut wurden. Eine davon erkannte er sofort als die Rotrauts. Sie war weich, melodisch und hatte einen leicht fremdländischen Klang. »Reden Sie doch nicht solchen Unsinn, Herr Larn«, hörte Harro sie sagen. Und darauf die Antwort: »Sie haben Schuld, wenn ich melancholisch werde, gnädiges Fräulein.« »Wie gräßlich«, neckte sie. »Auf so was soll die Natur beruhigend wirken. Bleiben Sie also stehen und schauen Sie hinunter. Wundervoll die Landschaft, nicht wahr?«
Sekundenlang war es still, dann sprach Larn wieder: »Gnädiges Fräulein?« »Nun?« »Ich habe mich doch so sehr auf den Ausflug in Ihrer Gesellschaft gefreut, und ausgerechnet heute müssen Sie verhindert sein. Können Sie Ihren feudalen Gast nicht mit dem nächsten Zug abschieben? Es gibt doch so viele Ausreden! Sagen Sie, Ihre Großmutter sei krank, oder Sie führen zu Ihrer Verlobung…« Rotraut unterbrach seine weiteren Vorschläge durch ein herzliches Lachen. »Nein, Herr Larn, so schwindeln kann ich nicht. Sie als wohlerzogener junger Mann sollten doch wissen, daß man einen Gast höflich und zuvorkommend behandeln muß. Aber seien Sie nicht gar zu betrübt, denn einen Trost kann ich Ihnen geben – er fährt morgen wieder ab.« »Das ist höchst vernünftig von dem Herrn. Und im übrigen haben Sie wie immer recht, gnädiges Fräulein. Also dann viel Vergnügen für heute. In Ihrer Haut möchte ich nicht stecken, weil ich nicht wüßte, was ich mit einem solchen feudalen Gast anfangen sollte. Mir würden Herz und Nieren einfrieren bei so viel Unnahbarkeit.« Mehr konnte Harro nicht hören, da das Paar langsam davongegangen war. Jetzt verließ auch er seinen Platz, denn es wurde langsam Zeit, sich zu dem verabredeten Spaziergang einzufinden. Rotraut war pünktlich zur Stelle. Sie trug ein weißes Kleid, das von ausgesuchter Eleganz war. Den Kopf zierte ein allerliebstes Mützchen, unter dem das flimmernde Lockenhaar keck hervorlugte. Leichtfüßig schritt sie an seiner Seite dahin und gab sich alle Mühe, ihren Gast zu unterhalten. Als er jedoch nur einsilbige Antworten gab, da schwieg sie auch. Verstohlen musterte sie den Mann, von dessen Existenz sie bis vor wenigen Tagen noch keine Ahnung gehabt hatte, und den sie nun heiraten sollte. Unmögliches Verlangen! Alles in ihr bäumte sich gegen das
harte Gebot des Vaters auf. Wenn sie den Mann an ihrer Seite bitten würde, so recht flehentlich bitten, diese Ehe auf Abbruch, wie er sie genannt hatte, gar nicht erst zustande kommen zu lassen vielleicht…? Doch da fielen ihr die Worte ein, die er ihr heute gesagt hatte: »Du solltest einsichtsvoll genug sein, nicht zu versuchen, mich mit deiner Widerspenstigkeit wortbrüchig zu machen.« Da neigte sie den Kopf, um die Tränen nicht sehen zu lassen, die ihr heiß in die Augen stiegen. Sie erschrak, als die sonore Stimme neben ihr aufklang. »Tränen, Rotraut? Wie töricht.« Also hatte er sie beobachtet, obwohl er wie gelangweilt neben ihr hergegangen war. Erleichtert atmete sie auf, als sie wenige Minuten später den Gasthausgarten betraten, wo ihnen der Wirt entgegenkam. »Guten Tag, gnädiges Fräulein«, grüßte er erfreut. »Ich habe Sie heute nicht erwartet. Zum Glück ist Ihr Lieblingsplatz noch frei. Womit darf ich den Herrschaften dienen?« »Mit Ihrer Spezialität«, entgegnete sie freundlich. »Mein Gast wird diese bestimmt zu würdigen wissen.« Der Mann eilte davon, und Rotraut schritt zu einem abgelegenen Platz, wo an einem runden Tisch zwei Korbsessel standen, die bunte Kissen sehr einladend machten. Als sie Platz genommen hatte, fragte sie zaghaft: »Gefällt es Ihnen hier?« »Sehr. Ein wirklich idyllisches Plätzchen, das du entdeckt hast. Bist du öfters hier?« »Zweimal in der Woche bestimmt. Ich liebe den Wald so sehr, daß ich mir immer gewünscht habe, eine Förstersfrau zu werden.« Sie sah dem Wirt entgegen, der sich mit einem vollbesetzten Tablett näherte. Frische Waffeln, goldgelbe Butter und Landbrot stellte er auf den Tisch. Dazu eine Kanne, der ein aromatischer Duft entstieg. »Ist’s recht so, gnädiges Fräulein?«
»Sehr recht, Herr Wirt. Sie wissen doch, daß ich bei Ihnen stets einen guten Appetit habe.« »Das freut mich, gnädiges Fräulein. Gestatten Sie, daß ich Ihnen zu Ihrem gestrigen Erfolg gratuliere. So ein schneidiges Spiel hat unser Bad schon lange nicht gesehen.« »So waren Sie gestern auch zum Tennisturnier?« fragte sie überrascht. »Ja. Ich habe Sie ehrlich bewundert, gnädiges Fräulein.« »Bei meinem mittelmäßigen Spiel?« lachte sie fröhlich. »Ich hatte Dusel, daß meine Gegenspieler so schlecht in Form waren, sonst hätte ich sie gewiß nicht schlagen können.« »Gestatten Sie, gnädiges Fräulein, daß ich anderer Ansicht bin«, lächelte der Wirt. Da er jedoch merkte, daß seinem Gast das Gespräch irgendwie unangenehm war, sprach er nur noch einige belanglose Worte und ging dann. Rotraut füllte nun die feinen Tassen, die sicherlich nicht für den Ausschankbetrieb bestimmt waren, und meinte dann: »Hoffentlich wird er Ihnen schmecken.« »Wahrscheinlich. – Ich bin nur neugierig, wie lange du noch das steife Sie beibehalten wirst.« »Ich werde schon noch umlernen«, entgegnete sie verlegen. »Es ist wirklich nicht leicht, einen fremden Menschen zu duzen.« »Ungeschickte Ausrede, mein Kind. Kenne ich dich etwa länger als du mich? Und mir fällt es durchaus nicht schwer, das Du zu gebrauchen. Im übrigen darf ich als dein Verlobter dir nicht fremd sein. Du scheinst das Verhältnis, in dem wir zueinander stehen, immer noch zu verkennen.« »Lassen wir das jetzt«, bat sie. »Wozu sollen wir uns die Kaffeestunde mit unerquicklichen Gesprächen verderben.« Harro sah sie drohend an, und drohend klang auch seine Stimme, als er sagte: »Wahrscheinlich ist es dir nicht bewußt, wie unhöflich du bist, meine liebe Rotraut. Wenn du auch nur gezwungenermaßen meine Braut geworden bist, so solltest du doch wenigstens so taktvoll sein, das mich nicht
andauernd empfinden zu lassen.« Langsam stieg ihr dunkle Röte ins Gesicht. Sie murmelte eine Entschuldigung und gab sich fortan Mühe, ihn angenehm zu unterhalten. Er blieb jedoch verstimmt, aß nur wenig und erhob sich sofort, als Rotraut zum Aufbruch mahnte. Regglin blieb auch auf dem Rückweg einsilbig, so daß sie erleichtert aufatmete, als das Kurhaus erreicht war. Nach dem Abendessen bat Rotraut, sich zurückziehen zu dürfen, weil sie müde sei. Ihre Entschuldigung trug ihr einen ironischen Blick ein. »Na schön. Sehe ich dich morgen noch vor meiner Abreise?« Ihm entging das überraschte Aufblitzen in ihren Augen nicht. Es klang jedoch harmlos, als sie fragte: »Wollen Sie denn morgen schon wieder fort?« »Bei deiner liebenswürdigen Behandlung bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Da ich annehme, daß du Langschläferin bist, möchte ich mich jetzt verabschieden. Gute Nacht, Rotraut – und auf Wiedersehen in Regglinsgrund.« Sie reichte ihm die Hand, die er höflich an die Lippen zog, und hastete dann die Treppe empor, von Herzen froh, diesen schwierigen Gast endlich los zu sein. Harro sah ihr spöttisch nach, steckte eine Zigarette in Brand und schlenderte dann zur Strandpromenade hinunter, die recht belebt war. Vor ihm ging eine Dame in Begleitung zweier Herren, mit denen sie sich laut unterhielt. Eben sagte einer der beiden: »Da bin ich doch neugierig, wer morgen den ersten Preis bekommen wird.« »Selbstverständlich Schön-Rotraut«, erwiderte die Dame. »So resigniert, mein gnädiges Fräulein? Wollen Sie denn gar nicht versuchen, wenigstens in Konkurrenz zu treten?« »Ich habe doch nicht den Größenwahn«, lachte sie vergnügt. »Mein Lieber, mit einem Fräulein Bracht konkurriert es sich nicht so leicht. Dazu fehlt den meisten
Festteilnehmerinnen das Geld und außerdem die zauberhafte Schönheit.« »Also kein bißchen neidisch?« »Sollte mir einfallen. Glücklicher und zufriedener, als ich es bin, kann auch das Fräulein Bracht nicht sein.« Da sie nun rascher ausschritten, konnte Harro von der weiteren Unterhaltung nichts mehr verstehen. Er schlenderte noch eine Weile dahin und kehrte dann zum Hotel zurück. Als er sein Zimmer erreicht hatte, rief er den Diener herbei: »Albert, versuchen Sie herauszubekommen, was für ein Fest morgen hier stattfindet.« Schon zehn Minuten später hatte er Bescheid. Ein Volksfest sollte steigen, zu dem Erwachsene sowie Kinder irgendeine Märchengestalt darzustellen hätten. »Großer Umzug, anschließend Ball und Prämierung der schönsten Gestalten«, schloß der Diener seinen Bericht. »Danke, Albert. Wir reisen erst übermorgen ab.« Als Harro Regglin am nächsten Morgen die Terrasse betrat, um dort sein Frühstück einzunehmen, waren erst wenige Gäste anwesend. Die meisten lagen wohl noch im tiefen Schlaf. Wie beiläufig fragte er den Ober, der ihm das Frühstück servierte: »Wann pflegt Fräulein Bracht zu frühstücken?« »Gewöhnlich um acht Uhr, Herr Graf. Doch heute geschah es bereits eine Stunde früher, weil das gnädige Fräulein in Begleitung einiger Herren und Damen eine Segelfahrt macht. Sie wird erst zum Mittagessen zurückerwartet.« Harro dankte für die Auskunft und verzehrte dann mit Appetit sein Frühstück. Am Nebentisch saß eine Dame, auf die ein reizender Backfisch zueilte. »Wie häßlich alle zu mir sind, Mutti«, klagte sie weinerlich. »Ich habe mich so sehr auf die Segelfahrt gefreut, und nun sind sie ohne mich fort. Warum hast du mich nicht geweckt?« »Tat ich, mein Herzchen, aber du warst einfach nicht wachzukriegen. Fräulein Bracht hat noch zehn Minuten
über die vereinbarte Zeit gewartet, doch da die anderen ungeduldig wurden, mußte sie mit ihnen gehen. Sei nicht traurig, mein Kind. Bist ja gestern ausgewesen.« »Und das war herrlich, Mutti! Es war schon nach Mitternacht, als wir aufbrachen, weil Fräulein Bracht nicht länger bleiben mochte. Sie hat sich meiner so lieb angenommen, ich mag sie schrecklich gern.« Während dieser Beteuerung biß sie mit ihren festen Zähnchen in das Schwarzbrot, das ihr so gut zu munden schien, daß sie darüber ihren Kummer vergaß. Als sie Harros ansichtig wurde, tuschelte sie zu ihrer Mutter hin, die ihr jedoch mit einem warnenden Blick Schweigen gebot. Harros Stimmung war alles andere als rosig, als er sich erhob und die Terrasse verließ. Kein Wunder, da ihn Rotraut gestern abend so früh verabschiedet hatte, um sich hinterher bis Mitternacht im Freundeskreis zu vergnügen. Er sagte Albert Bescheid, daß er einen Spaziergang machen wolle und zum Mittagessen nicht zurückzuerwarten sei. Während er dann langsam durch den Wald schritt, legte sich seine Verstimmung, so daß er bald die Naturschönheiten aus vollem Herzen genießen konnte. In einem Waldlokal machte er Rast, aß auch dort zu Mittag und trat dann langsam den Rückweg an. Als er den Kurort erreicht hatte, war der kaum wiederzuerkennen in seinem festlichen Schmuck. Es blieb Harro gerade noch genügend Zeit zum Umkleiden, dann meldete die Kurkapelle auch schon den Beginn des Umzugs. Harro sah von einem versteckten Platz aus auf das farbenprächtige3ild. Unendlich reich war die Phantasie der Menschen. Man fühlte sich wie ins Märchenland versetzt. Hier der Wagen mit dem Dornröschen und dem Prinzen, da Schneewittchen mit den allerliebsten Zwergen, dort König Drosselbart, der die lächerlich verkleidete Prinzessin mit sich führte. Dann Brüderchen und Schwesterchen, selbst das zahme Reh fehlte nicht. Aschenputtel, Hansel und Gretel, Frau Holle, Hans im Glück waren zu sehen.
Jede Figur war meisterhaft dargestellt. Die Preisrichter
würden abends schwere Arbeit haben, die schönsten der
schönen Gestalten herauszufinden. Und wie herzig die
lachenden Kinder waren, mit welchem Eifer sie ihre Rollen
verkörperten!
Schade, daß der lange Zug überhaupt ein Ende nahm. Die
Menschenmenge, die sich am Wege staute, wollte sich
bereits zerstreuen, als noch einmal heller Jubel ausbrach.
Ein Jagdhorn erschallte. Gleich darauf wurde ein weißes
Roß sichtbar, das eine wunderschöne Reiterin trug. Ihr zur
Seite ritt auf dunklem Pferd ein schlanker Page in
Samtwams und Federhut. Viel prächtigere Gestalten waren
vorübergezogen; aber diese beiden hatten etwas an sich,
daß man bei ihrem Anblick den Atem anhielt vor
Entzücken. Die zaubersüße Gestalt im schneeigen,
wallenden Kleide, mit dem funkelnden Diadem im
Lockenhaar und dem Rotdornzweig im goldenen Gürtel,
dazu der bildhübsche Page!
»Schön-Rotraut!« jubelten die entzückten Menschen.
Und es lächelte und winkte, des Königs Ringangs
Töchterlein, das da so poetisch verkörpert wurde. Der
schöne Page blies auf dem Jagdhorn das dazu passende
Lied, und diejenigen, die es kannten, sangen begeistert mit:
»Wie heißt König Ringangs Töchterlein?
Rotraut, Schön Rotraut!
Was tut sie denn den ganzen Tag,
da sie nicht weben und spinnen mag?
Tut reiten und jagen…«
Und dann klang es neckend zum Pagen hin:
»Schweig stille, mein Herz…«
Das Paar war so umringt, daß es sich nur mühsam durch
die Menschenmenge drängen konnte. Bis zum Festplatz
wurde es verfolgt, wo es ihm dann gelang, den Begeisterten
zu entfliehen.
Als sich am Abend die geschmückten Menschen im Festsaal
zusammenfanden, waren Rotraut und ihr Partner, Herr Larn, die einzigen, die ihre Kostüme nicht mehr trugen. Sie wurden von allen Seiten bestürmt, sich doch wieder mit den Märchengewändern zu schmücken, doch lachend lehnten sie ab. Trotzdem drückte man ihnen die Preisträgerkrone auf den Kopf, was sie sich resigniert gefallen lassen mußten. Und sie trugen die Auszeichnung mit Recht. Denn die Gestalten, die sich in ihren phantastischen Gewändern im Saal tummelten, hatten schon an Reiz verloren. Doch die beiden, die wie ein wunderschönes Traumbild an den begeisterten Menschen vorübergezogen waren, würden weiter in deren Erinnerung leben. Fräulein Bracht sah ja auch in ihrem zauberhaften Abendkleid nicht weiter sinnbetörend aus als im Festzug. Die Herren wetteiferten um einen Tanz mit ihr. Nur einer tat es nicht. Der suchte sich andere Tänzerinnen, mit denen er aufs charmanteste flirtete und dabei manches Köpfchen verdrehte. Als Rotraut ihn sah, wollte ihr fast das Herz stillstehen vor Schreck. Ja, wie denn? Hatte Regglin am Morgen nicht abreisen wollen? Und nun machte er hier nach Art eines routinierten Schwerenöters die Mädchenherzen rebellisch. Mochte er nur – was ging es sie an? Sie hatte ja nichts Unrechtes begangen. Und doch schien er dieser Meinung zu sein; sonst hätte er sie doch wenigstens begrüßt. Allein, er übersah sie vollständig, was sie so unangenehm berührte, daß sie bald das Fest verließ. Als sie sich aber am andern Morgen erkundigte, ob Graf Regglin noch in seinem Zimmer wäre, erfuhr sie, daß er vor einer Stunde mit seinem Diener abgereist sei. Gräfin Liane saß in ihrem Wohnzimmer, als der Sohn bei ihr eintraf. »Nanu, Junge, du bist schon zurück?« fragte sie erstaunt. »Das hört sich fast so an, als wäre dir mein Anblick unangenehm«, lachte er. »Doch zuerst mal guten
Tag, kleine Mama. Fabelhaft jung siehst du aus. Das merke ich erst so richtig, nachdem ich dich einige Tage nicht gesehen habe.« Er drückte seine Lippen auf ihr Haar, und sie umspannte dann zärtlich sein Gesicht mit beiden Händen. Dabei sah sie ihm in die Augen. Augenblickslang schmiegte er seine Wange an die der Mutter, dann richtete er sich auf, zog sich einen Stuhl heran und nahm vor ihr Platz. »Wie es war? Hochinteressant. Alles ging nach Vorschrift, und du siehst einen Bräutigam vor dir. Meine Braut ist persona grata in dem mondänen Bad. Siegt im Tennisturnier, schwimmt wagehalsig übers Ziel hinaus, erhält den ersten Preis bei Festlichkeiten, kurz und gut: sie ist überall die große Hauptperson. Im übrigen kannst du dir dein Urteil über sie bilden, wenn sie kurz vor der Hochzeit hier erscheint.« Damit war sein Bericht abgeschlossen, und der Mutter wurde das Herz schwer. Sie bildete sich ihr Urteil selbst, gewiß – und doch hätte sie jetzt gern mehr über Fräulein Bracht gehört. Harros Verschlossenheit verriet, daß seine Begegnung mit der jungen Dame durchaus unbefriedigend verlaufen war. Persona grata! Das paßte genau zu dem Bild, das sie sich von dem Mädchen machte, für das es eine Leichtigkeit war, möglichst extravagant zu sein. Geld hatte es ja genug. Entsetzlich diese Art! Was wird man da noch alles erleben müssen! Mit der harmonischen Ruhe in Regglinsgrund würde es wohl vorbei sein, solange dieses Fräulein Bracht in seinen Mauern weilte. Ärger und Verdruß würden zur Tagesordnung gehören. Wie schön wäre es, wenn sie während dieser Zeit auf Reisen gehen könnte. Aber sie durfte den Jungen nicht verlassen, der sie so liebte. Etwas wie Haß auf das Mädchen stieg in ihr auf. Wegen dieses Fräulein Bracht hatte es hier schon so viele unerquickliche
Stunden gegeben, und in Zukunft würden ihnen noch viele weitere folgen. Wie auf Verabredung sprach man über die zukünftige Frau und Schwiegertochter nicht mehr. Man erwähnte sie kaum, als nach Tagen schon ein junger Mann auftauchte, der angab, von Fräulein Bracht hergeschickt zu sein, um ihre Zimmer auszustatten. Nachdem er sich legitimiert und außerdem noch ein polizeiliches Beglaubigungsschreiben vorgelegt hatte, nahm man keine Notiz mehr von ihm, der sich noch einmal melden ließ, als seine Arbeit beendet war und er um Besichtigung der Räume bat. Also nahmen Mutter und Sohn sie in Augenschein. Wohn-, Schlaf- und Ankleidezimmer mit anschließendem Bad, alles war nicht luxuriös, aber sehr behaglich ausgestattet. Als die Gräfin sich lobend äußerte, winkte der junge Innenarchitekt bescheiden ab. »Ich habe nur ausgeführt, was Fräulein Bracht bis ins kleinste ausgearbeitet hat. Man kann tatsächlich von der jungen Dame lernen.« Gräfin Liane, die an dem Mann Gefallen fand, lud ihn zum Mittagessen ein. Doch er lehnte höflich aber entschieden ab, indem er weitere dringende Arbeit vorschützte. Er verabschiedete sich und verließ eine halbe Stunde später Regglinsgrund. Der Hochzeitstag des Herrn von Regglinsgrund war gekommen, die Vorbereitungen zur Feier hatten viel Unruhe gebracht. Adelheid hatte ihrer lieben Tante Liane in den letzten Tagen vor Harros Vermählung wacker zur Seite gestanden. Selbst Iris war öfter nach Regglinsgrund gekommen, um ihre Hilfe anzubieten, weil sie von dem Wahn befallen schien, besser als jede andere ein Fest arrangieren zu können. Liane ließ sie in dem Glauben. Denn sie war von Herzen froh, daß die leidige Geschichte das gute Einvernehmen mit den Illsunds nicht getrübt hatte. Liane schwieg sich über die Verlobung des Sohnes aus, auch den Halldungen gegenüber. Mochte man sich ruhig den Kopf zerbrechen.
Das war immer noch besser, als wenn man die Wahrheit wußte, durch die die Schuld Bodo Regglins bekannt wurde. Selbstverständlich blühte der Klatsch an allen Ecken und Enden, weil diese plötzliche Verlobung doch allzu merkwürdig war. Und vier Wochen später folgte bereits die Hochzeit?! O nein, etwas stimmte da nicht! Kein Wunder, daß man es kaum erwarten konnte, die Braut kennenzulernen. Das hofften die auswärtigen Gäste, die bereits in Regglinsgrund eingetroffen waren, schon am Vorabend der Vermählung. Und nun, einige Stunden vor der standesamtlichen Trauung, war sie überhaupt noch nicht da. Man tuschelte, mutmaßte und erregte sich. Unterdessen ging Harro im Wohnzimmer seiner Mutter auf und ab. Diese sah vom Fenster aus auf den geschmückten Schloßhof hinab. Sie sprachen beide nicht, schauten nur immer wieder nach der silbernen Uhr, die auf dem Kamin stand. Tiefe Stille herrschte im Schloß, das doch eigentlich von Frohsinn erfüllt sein müßte. Wie sonderbar das Leben doch mit den Menschen spielt, dachte Liane bedrückt. Schließlich müssen der Junge und ich noch froh sein, wenn die mißachtete Krämerstochter überhaupt erscheint. Tut sie es nicht, sind wir dem Spott der Gäste erbarmungslos ausgeliefert. – Käme es doch endlich, das kapriziöse Persönchen mit dem herausfordernden Wesen, wie es reiche, verwöhnte Mädchen so an sich haben, weil ihnen dank ihres Geldes die ganze Welt gehört. Wie es sich wohl ausnehmen wird neben der stolzen Erscheinung meines Jungen? Keine paßt so gut zu ihm wie Iris Illsund. »Wir werden wohl Hochzeit ohne Braut feiern müssen, mein Sohn«, beendete sie das bedrückende Schweigen. »Man könnte von Herzen gern auf ihre Anwesenheit verzichten, wenn nicht die Vorbereitungen getroffen und die Gäste bereits hier wären, wenigstens schon ein Teil von ihnen!« Harro blieb vor ihr stehen und sah sie tiefernst an.
»Es wäre nicht gut für mich, wenn sie fortbliebe, Mutter. Wie sollte ich dann wohl die Schuld des Vaters sühnen? Aber schau jetzt einmal durchs Fenster.« Vor dem Portal hielt ein eleganter Viersitzer, an dessen Steuer eine Dame saß. Eine weitere lehnte im Fond. Die erste ließ mit einem sonderbaren Lächeln die Augen über das geschmückte Schloß schweifen und sprach dann mit dem Diener, der herangetreten war und sich tief vor ihr verneigte. Das lag sonst gewiß nicht in des hochmütigen Albert Art. Nun stieg sie aus dem Auto und war gleich darauf den spähenden Augen entschwunden. In der Halle, die schon die ganze Pracht des Schlosses ahnen Heß, schoß es ihr unwillkürlich durch den Sinn, daß sie dessen Besitzer Geld angeboten hatte. Als sich niemand zu ihrer Begrüßung blicken ließ, wandte sie sich an den Diener, der in respektvoller Entfernung hinter ihr stand. »Fragen Sie die Frau Gräfin, wann ich ihr meine Aufwartung machen darf«, verlangte sie kurz, worauf er davoneilte, um sehr schnell zurückzukommen. »Frau Gräfin erwarten das gnädige Fräulein unverzüglich.« Rotraut musterte ihr Sportkostüm, zuckte dann die Achseln und folgte Albert. Als sie das Zimmer betrat, streifte ihr Blick flüchtig die hohe Gestalt des Verlobten. Dann eilte sie auf die Gräfin zu, die sich langsam von ihrem Sitz erhob. Sekundenlang hingen die Blicke ineinander. Der Rotrauts war weich und schmeichelnd, der Lianes kühl und abweisend. Ebenso klang auch ihre Stimme. »Sei mir willkommen – ah – tatsächlich – ich weiß noch nicht einmal deinen Vornamen.« »Rotraut.« Augenblickslang blitzte es überrascht in Lianes Augen auf, dann sagte sie in unverändert kühlem Ton: »Hoffentlich lebst du dich so gut in Regglinsgrund ein, wie ich es für dich wünsche. Und dann möchte ich dir sagen, daß ich dein Benehmen taktlos finde. Seit gestern wartet
das mit Gästen gefüllte Haus auf die Braut, die durch Abwesenheit glänzt. Ein derartiges Benehmen sind wir hier nicht gewohnt. Richte dich in Zukunft danach. In einer Stunde bereits findet die standesamtliche Trauung statt. Sieh zu, daß du bis dahin mit dem Umkleiden fertig bist.« Bei diesen scharfen Worten errötete und erblaßte Rotraut in jähem Wechsel. Sie kam zu keiner Antwort, da die Tür sich öffnete. »Tretet nur näher«, ermunterte Liane die Mädchen, die zögernd auf der Schwelle stehenblieben. Dann stellte sie vor: »Die Komtessen Iris und Adelheid Illsund – Fräulein Bracht.« Ein formelles Nicken hüben und drüben. Sie standen sich gegenüber – die Kaufmannstochter und die aus altadligem Geschlecht. Und obgleich die erstere im einfachen Sportkostüm war, konnte sie sich mit der elegant gekleideten Iris mühelos messen – auch was den Hochmut betraf, mit dem sie sich gegenseitig musterten. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Fräulein Bracht.« Mit einem weichen Lächeln nahm Rotraut die dargebotene Rechte. »Ich gewiß auch, Komteß Illsund. Haben Sie Dank für Ihr Entgegenkommen.« »Rotraut, es ist allerhöchste Zeit, daß du dich umkleidest«, mahnte die Gräfin – und schon wich das liebe Lächeln aus dem Mädchengesicht. Es nahm einen kühlen, ablehnenden Ausdruck an. »Ich bin bereit, Frau Gräfin. Wo finde ich meine Zimmer?« »Der Diener wird dich führen.« Als dieser auf ein Rufzeichen erschien, folgte Rotraut ihm. Mit bangen Augen schaute Adelheid auf die Tür, die sich soeben geschlossen hatte. Harros spöttische Stimme ließ sie zusammenschrecken. »Heidekind, du siehst ja aus, als müßtest du in nächster Minute in Tränen ausbrechen. Hat der Anblick meiner Braut dich denn so sehr erschüttert?«
Adelheid schüttelte den Kopf, als müsse sie sich gegen seinen Spott wehren. Dann senkte sie den Blick. »Sie ist so schön«, murmelte sie. »Viel zu schön – und auch zu schade.« »Du bist ja sehr liebenswürdig«, lachte Harro amüsiert, während Iris ihr einen so wütenden Blick zuwarf, daß sie von neuem erschrak. Auch die beiden Regglins hatten ihn bemerkt, und Liane empfand ihn außerordentlich befremdend. Fragend sah sie zum Sohn auf, der die Achsel zuckte. »Es ist nicht alles Gold, was glänzt«, blitzte es humorvoll in seinen Augen auf, zumal Heidi ihn verständnislos ansah. »Wie meinst du das, Harro?« »Vielleicht dachte ich dabei an meine Braut?« Jetzt amüsierte er sich über den empörten Blick der Mädchenaugen, die sich gleich darauf mit Tränen füllten. Da strich er mit weicher Hand über ihr Haar. »Bist du ein Schäfchen, Heidekind. Und nun entschuldigt mich; denn schließlich habe ich heute ja noch eine Kleinigkeit zu erledigen.« Damit ging er hinaus und ließ die Mutter in banger Sorge zurück. In der Schloßkapelle von Regglinsgrund warteten die Hochzeitsgäste ungeduldig auf das Brautpaar, um das ihre Phantasie ein ganzes Märchen geschlungen hatte. Etwas stimmte bei dieser Heirat nicht, sonst hätten Harro Regglin und seine Mutter sich darüber nicht in Stillschweigen gehüllt. Als das Paar dann endlich erschien, schüttelte man verblüfft den Kopf. Das also war die Braut? Sie sah ja wunderschön aus. Sie paßte ganz vorzüglich zu der distinguierten Erscheinung des Bräutigams. Frei und stolz schritt sie an seiner Seite zum Altar, wo der Pfarrer bereits ihrer harrte. Der Mann mit den gütigen Augen und der warmen Stimme sprach nicht viel. Doch was er sagte, ging zu Herzen und rührte an manche verhärtete Seele, die solche
eindringlichen Worte schon lange nicht mehr gehört hatte. Zuerst schaute Rotraut offen zu dem Pfarrer auf. Doch je länger er sprach, um so verwirrter wurde sie. Schließlich senkte sie tief den Kopf – wie schuldbeladen. Von Liebe und Treue, auf denen sich eine gute Ehe aufbauen soll, sprach der greise Mann. Von der Liebe, die der Mann an ihrer Seite spöttisch verlachte! Von der Treue, auf die sie keinen Anspruch hatte, weil sie sich in sein Leben drängte wie etwas Widerwärtiges, das er klanglos auf sich nahm, um damit den Leichtsinn seines Vaters zu büßen. Hart schluchzte sie auf – nur einmal – doch sie glaubte, das Herz müßte ihr dabei entzweispringen. Ihre ganze Not hätte sie den Menschen, die den Worten des Pfarrers wie gebannt lauschten, entgegenschreien mögen. Bei der standesamtlichen Trauung war es ihr leichtgefallen, die Komödie zu spielen. Doch bei den Worten des greisen Mannes, der ihr mit seinen gütigen Augen bis auf den Grund der Seele zu schauen schien, hatte sie das Gefühl, als beflecke sie durch die Duldung zu dieser Scheintrauung etwas Heiliges. Wenn der Graf doch barmherzig wäre und mit Nein die Frage beantworten wollte, die das Ehegelübde vorschrieb. Wenn er doch mit diesem Nein der scheinheiligen Lüge in das grinsende Gesicht schlagen würde! Doch klar und fest klang sein Ja durch die Stille der Kirche. Und als ihr die Frage vorgelegt wurde, bekam sie die Antwort nicht aus der wie zugeschnürten Kehle. Flehend sah sie zum Pfarrer auf, der ihr gütig zunickte – da war sie endlich dazu fähig, ihr Ja zu flüstern. Obgleich das alles nur wenige Sekunden währte, hatte es Unruhe unter die Menschen gebracht, die nun erleichtert aufatmeten, als der Pfarrer den Segen sprach. Dann führte Harro die junge Gattin seiner Mutter zu. Als diese sie an sich ziehen wollte, verhinderte Rotraut es, indem sie sich rasch über die Hand Lianes beugte, die sich
darob verletzt zurückzog. Nun brachten auch die anderen ihren Glückwunsch an, teils herzlich, teils gezwungen. Dann bewegte sich der lange Zug zum Schloß zurück, um sich dort an der festlich geschmückten Tafel niederzulassen. Wie das so üblich ist, wurden Reden gehalten, mit dem Brautpaar angestoßen, wobei es manch ein Kompliment zu hören bekam. Auch Iris näherte sich der jungen Frau mit dem gefüllten Glas. Die Gäste, die fast alle darum wußten, welche große Hoffnung der Komteß heute zerschlagen war, hielten vor Spannung den Atem an, als die beiden Frauen sich gegenüberstanden. Schön waren sie beide – und doch fehlte Iris der Zauber, der von Rotraut ausging. Und dann geschah etwas, das alle entsetzte. Iris hatte nämlich ihr Glas so heftig gegen das der jungen Frau gestoßen, daß es zersprang und der rote Wein sich über das Brautgewand ergoß. Wie Blut leuchtete der große Fleck, auf den das ungeschickte Mädchen mit flackernden Augen starrte. Ihren Mund umspielte ein höhnisches Lächeln. Bevor die Gäste sich von ihrem Schreck erholen konnten, umfaßte der junge Ehemann die Schulter seines zitternden, tieferblaßten Weibes. Verächtlich blickte er auf Iris, die es nicht einmal für nötig hielt, sich für ihre Ungeschicklichkeit zu entschuldigen. »Jeder benimmt sich so, wie er kann«, sprach er in die atembeklemmende Stille hinein. »Schade, daß so ein Mißklang in die Harmonie des Festes fallen mußte. Feiern Sie ruhig weiter, meine Herrschaften. Wir müssen uns leider empfehlen.« Er grüßte nach allen Seiten und zog Rotraut mit sich fort. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, zog er ihre Hand an die Lippen und sagte lächelnd: »Mach dir nichts draus, mein Kind. Jede Niedertracht fällt letzten Endes immer auf den Urheber zurück. Ziehe dich nun zur Reise um. In einer Stunde hole ich dich ab.« Als sie ihr Zimmer betrat, fuhr die Zofe erschrocken zusammen.
»Um Gott, Frau Gräfin, was ist denn geschehen?« »Nichts weiter, als daß Wein über mein Kleid geflossen ist.« »Aber das bedeutet doch Unglück!« »Wir wollen nicht abergläubisch sein, Dora. Haben Sie meine Reisegarderobe zurechtgelegt?« »Alles ist bereit, Frau Gräfin.« Eifrig half sie ihrer Herrin beim Umkleiden und bat dann gehen zu dürfen, weil sie die Koffer noch zu verschließen hatte. Rotraut setzte sich in einen Sessel, griff nach einer Zigarette und gab sich Gedanken hin, die gewiß nicht erfreulich waren. Sie erschrak heftig, als die Tür aufgerissen wurde und ein Mann auf sie zueilte. »Um Gottes willen, Bob – was willst du hier?« »Dich fragen, was der Irrsinn hier zu bedeuten hat«, brach es aus ihm heraus. »Bist du tatsächlich dem Grafen Regglin angetraut, Raute?« »Ja, Bob.« »Also bin ich doch zu spät gekommen«, stöhnte er so qualvoll auf, daß ihr die Tränen in die Augen traten. »So belohnst du meine treue Liebe. Es ist zum Wahnsinnigwerden!« »Bob, so beruhige dich doch«, bat sie eindringlich. »Die Ehe ist nur zum Schein geschlossen und wird nach einem Jahr bestimmt geschieden. Wie kannst du nur so leichtsinnig sein, hier einzudringen. Geh jetzt und grüße dein Mütterlein daheim.« »Ich gehe nicht früher, als bis ich den Grund zu dieser verrückten Ehe weiß.« »Den kann ich dir nicht sagen.« »Du bist schlecht, Raute.« »Und wenn auch! Aber geh jetzt endlich. Wenn der Graf dich hier sieht, gibt es bestimmt einen Skandal. Er läßt nicht mit sich spaßen, das kannst du mir schon glauben.« Ehe sie es verhindern konnte, fiel er vor ihr auf die Knie und flehte verzweifelt: »Hab’ doch Erbarmen mit mir, Raute! Ich liebe dich doch zu sehr.«
»Was geht denn hier vor?!« kam es von der Tür her, wo Harro neben seiner Mutter stand. Bob sprang auf und sah dem Grafen furchtlos entgegen, der nun näher kam, einen so drohenden Ausdruck in den Augen, daß Rotraut sich unwillkürlich vor den Kindheitsgespielen stellte. »Wer sind Sie, mein Herr?« fragte Harro eisig. »Wie können Sie es wagen, bei meiner Gattin einzudringen und ihr zu Füßen zu liegen? Sie werden mir Rechenschaft geben.« Rotraut hob flehend die verschlungenen Hände zu ihm empor. »Nicht so – bitte!« stammelte sie mit entfärbten Lippen, doch der gereizte Mann schob sie zur Seite. In seinen Augen wetterleuchtete es, langsam hob sich seine Hand. »Bob, bist du von Sinnen!« schrie Rotraut verzweifelt auf. »Willst du es durchaus bis zum Äußersten kommen lassen?! Denk doch an deine Mutter – und auch an mich. Geh doch endlich – bitte!« »Dann wäre ich ein Feigling, Raute.« »Ich weiß, daß du keiner bist, und diejenigen, die dich gleichfalls kennen, wissen es auch. Was liegt dir an dem Urteil fremder Menschen? Bob, ich flehe dich an…« Ein Zucken ging über das offene, hübsche Gesicht des jungen Mannes. Zärtlich streichelte seine Hand über die angstvollen Augen Rotrauts, dann verbeugte er sich spöttisch vor Harro. »Um dieser geliebten Frau willen empfehle ich mich, Herr Graf Regglin.« Blitzschnell sprang er durch das offene Fenster auf die Terrasse hinaus. Als Harro ihm nacheilen wollte, umklammerte Rotraut ihn so fest mit beiden Armen, daß er hätte Gewalt anwenden müssen, um sich aus der Umschließung zu lösen. Erst als man von unten her das Geräusch eines anfahrenden Autos vernahm, ließ sie aufatmend die Arme sinken. »Wer war der Mann?« fragte der Gatte herrisch, doch sie zuckte nur die Achseln und schwieg. Bob war ja in Sicherheit. Was nun kam, wollte sie schon auf sich
nehmen. »Hörst du nicht?« stieß er drohend hervor. Sie warf den Kopf in den Nacken, die Augen sprühten in dem blassen Gesicht. »Den Namen wirst du niemals erfahren.« Da stieg der Zorn in ihm hoch. Die Säbelnarbe leuchtete blutrot in dem sehr bleichen Antlitz. Er schüttelte die schlanke Gestalt, daß sie wankte. »Harro, du vergißt dich!« rief die Mutter entsetzt, und da kam er zur Besinnung. Er trat zurück, atmete einige Male tief und schwer, bevor er zu sprechen anhob: »Willst du nun wenigstens die Güte haben und für diese merkwürdige Angelegenheit eine Erklärung abgeben? Ich habe das Recht zu erfahren, wer der Mann ist, der meiner Gattin zu Füßen lag und für den diese so leidenschaftlich eintritt. Ich weiß von deiner Vergangenheit so wenig.« »Halt!« unterbrach sie ihn hochmütig. »Ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß es leichtsinnig ist, ein Mädchen zu heiraten, dessen Vergangenheit Ihnen unbekannt ist. Sie wollten sich jedoch nicht warnen lassen, wollten sich nichts schenken lassen von einem Fräulein Bracht. Trotzdem weiß ich, was ich Ihrem Namen schuldig bin. Doch für Vorfälle, an denen ich schuldlos bin, wünsche ich nicht verantwortlich gemacht zu werden.« »Also soll ich fortan ruhig mit ansehen, daß man sich meiner Gattin nähert wie einem x-beliebigen kleinen Mädchen?« Rotraut griff nach einer Sessellehne, an der sie sich krampfhaft festhielt. Deutlich konnte man sehen, daß sie dem Umsinken nahe war. Die Augen wirkten wie erloschen in dem todblassen Gesicht. »Bitte, lassen Sie mich allein«, sagte sie leise. Kopfschüttelnd betrachtete Harro sie, dann bat er seine Mutter, ihm zu folgen. Im Nebenzimmer sank er vor ihr in die Knie und legte den Kopf in ihren Schoß, wie er es als Knabe getan hatte, wenn er sich irgendwie nicht mehr zu helfen wußte. Aufs höchste erregt streichelten ihre weichen
Mutterhände den Kopf ihres großen Jungen, und sie sprach liebevoll auf ihn ein: »Das eine Jahr wird auch vergehen, Harro. Bleibe mit deiner Frau so lange auf Reisen, dann kannst du dich ihr vollkommen widmen und hast so die beste Kontrolle über sie. Wenn du dich dann von ihr trennst, muß sie unseren Namen ablegen. Dann kann sie tun und lassen, was sie will. Wie gefällt dir der Vorschlag, mein Junge?« Er drückte ihre Hände gegen seine brennenden Augen und erhob sich. Nun war er wieder ganz Harro Regglin, wie die Mutter befriedigt feststellte. Jetzt konnte sie ihn beruhigt ziehen lassen. Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Es wird Zeit, daß ich mich auf die Hochzeitsreise begebe«, lächelte er ironisch. »Also auf Wiedersehen, kleine Mama. Wann, das kann ich dir allerdings noch nicht sagen.« Das war zugleich die Antwort auf ihren Vorschlag. Sie trat auf ihn zu, zog seinen Kopf an sich und küßte seine Wange. »Alles Gute, mein geliebter Junge.« »Dir auch, Mutti. Mach nicht so ängstliche Augen, ich beiße mich schon durch.« Er zog ihre Hände an die Lippen, eine um die andere, strich zärtlich über ihre Wange – dann schloß sich die Tür hinter ihm. Rotraut schmiegte sich in das Polster des Autos, das sie in eine ihr unbekannte Ferne führte. Denn sie wußte tatsächlich nicht, wohin die Reise gehen sollte. Schließlich entschloß sie sich, ihren Mann, der schweigend an ihrer Seite saß, danach zu fragen. »Nach Italien«, war die gelassene Antwort. »Wenigstens in dieser Beziehung wollen wir als Hochzeitsreisende nicht aus dem Rahmen fallen. Hast du etwas dagegen einzuwenden?« »Durchaus nicht.« »Das beruhigt mich ungemein. Aber ich muß mich wundern, daß du auch jetzt noch mir gegenüber das Sie als
Anrede gebrauchst. Ich persönlich habe ja nichts dagegen. Doch da wir als Gatten reisen, wird man es überall höchst merkwürdig finden, daß du deinen Mann so förmlich ansprichst.« »Du hast recht«, entgegnete sie leise. »Es ist nur so entsetzlich schwer, einen fremden Menschen plötzlich zu duzen. Aber ich lerne es schon noch.« »Na schön.« Dann herrschte wieder Schweigen. Rotraut kuschelte sich in die Ecke und schloß die Augen. Eine süße Mattigkeit überkam sie, der sie sich nur zu gern hingab. Wie Schemen zogen die Ereignisse des heutigen Tages durch ihre Gedanken, die sich dann langsam verwirrten und endlich ganz Ruhe gaben. Der Traumgott nahte, führte das zerquälte Menschenkind hinüber in sein Reich, wo alles so märchenhaft schön war, wo es kein hartes Gebot des Vaters gab, keinen Harro Regglin, keine Ehe auf Abbruch und keine Angst vor der Zukunft. Das Motorengeräusch, das das Ohr der Träumenden unbewußt aufnahm, klang wie liebliche Musik. Der enge dunkle Wagenraum wurde zur sonnendurchfluteten Halle, der Mann an der Seite der Schlafenden zum strahlenden Prinzen, wie ihn sich jedes Mädchenherz erträumt. Keine Tränen gab es, nur lachenden Frohsinn in dem Traumparadies, aus dem dann die glückselige Schläferin gerissen wurde. Noch traumumfangen öffnete sie die Augen, hörte eine Stimme, die sie unsanft weckte, obgleich sie recht freundlich klang. »Nun werde endlich munter, Rotraut. Es hat mir zwar leid getan, dich zu wecken, aber es muß sein, weil wir unser heutiges Ziel erreicht haben.« »Verzeihen Sie – verzeih – ich habe – ich wollte…«, stotterte sie so verwirrt, daß er herzlich lachen mußte. »Nun rappele dich endlich auf, du Traumelinchen. Draußen steht bereits unser braver Albert, der darauf wartet, den Schlag öffnen zu dürfen.« Gleich darauf stand sie im Freien und schauerte in der kühlen Spätabendluft zusammen. Aber da war auch schon
Dora, die mit dem Zug vorgefahren war, zur Stelle. Fürsorglich legte sie der Herrin einen leichten Pelzmantel über die Schultern. An Harros Seite betrat Rotraut das Hotel, in dem Zimmer für sie bestellt waren. Der Gatte gab ihr bis zu dem ihren das Geleit und fragte dann: »Wollen wir hier oben essen oder unten im Speisesaal?« »Ich bin viel zu müde, um essen zu können.« »Na schön, dann geh schlafen. Gute Nacht, Rotraut, angenehme Ruhe.« Er zog ihre Hand an die Lippen und ging in das Nebenzimmer. Gleich drauf klopfte es, was Rotraut nervös zusammenzucken ließ. Als jedoch auf ihre Aufforderung zum Eintritt die Zofe erschien, atmete sie erleichtert auf. »Gut, daß Sie kommen, Dora. Ich bin entsetzlich müde und möchte gleich zu Bett gehen.« Eine halbe Stunde später streckte sie sich nach einem erfrischenden Bad in den weichen Kissen. Zwar war die Müdigkeit durch das laue Wasser verflogen, aber sie würde sich schon wieder einstellen. Das Licht der Nachttischlampe erhellte das Zimmer nur matt, so daß Rotraut dessen Einrichtung nur undeutlich erkennen konnte. Sie interessierte sie auch nicht, da ihr die typischen Hotelräume bekannt waren. Nebenan blieb alles still, also schien Harro nach unten gegangen zu sein. Wie schön, daß sie nicht mit ihm zusammen zu sein brauchte. Jetzt wollten die unerquicklichen Gedanken sie wieder überfallen. Doch energisch wehrte sie sich dagegen, löschte das Licht, duselte noch ein Weilchen vor sich hin und schlief dann fest ein. Es war noch früh, als sie am anderen Morgen erwachte. Sie lauschte angestrengt zum Nebenzimmer hin, wo sich nichts regte. Demnach schien Harro noch zu schlafen. Leise erhob sie sich, ging in das Badezimmer, duschte fast kalt und wurde dadurch frisch und munter. Dann entnahm sie dem Schrankkoffer die passende Garderobe, kleidete sich
an und schlich sich leise hinaus, um erst einmal einen Spaziergang zu machen. Wie erstaunte sie jedoch, als sie im Vestibül Harro entdeckte, der dort in einem tiefen Sessel saß und die Zeitung las. Jetzt hatte auch er sie erspäht, erhob sich und kam auf sie zu. »Guten Morgen, Rotraut.« Er zog ihre Hand an die Lippen. »Ich habe dich noch lange nicht erwartet. Aber recht so, um so früher können wir unsere Fahrt fortsetzen. Doch zuerst wollen wir einmal ausgiebig frühstücken. Oder hast du auch jetzt wieder keinen Hunger?« »Doch, großen sogar.« »Das freut mich. Denn Menschen, die nur an den Speisen nippen, sind entweder krank, oder sie drangsalieren ihren Körper auf schlanke Linie.« Als sie beim Frühstück saßen, fragte er, ob sie in bezug auf die Reise besondere Wünsche hätte, worauf sie kühl erwiderte: »Mir ist es gleichgültig, wohin wir fahren. Erstens kenne ich bereits ein gutes Stück von der Welt, und dann steht es mir bestimmt nicht an, dir mit irgendwelchen Wünschen lästig zu fallen.« Schon zuckte das Lächeln um seinen Mund, das sie immer so reizte. »So, ach! Demnach kann ich von Glück sagen, eine so bescheidene Frau erwischt zu haben. Ferner danke ich dir für das erste Du. Nur hätte es ein wenig liebenswürdiger deinen Lippen entschlüpfen dürfen.« Nach dem Frühstück fuhren sie weiter, dem Süden zu. An besonders schönen Orten blieben sie, machten Auflüge, besuchten Feste, jagten von einem Vergnügen zum anderen, bis es Rotraut endlich zu viel wurde und sie sich entschuldigte, nicht mehr mitmachen zu können. Da ging er denn ohne sie aus, was schließlich so oft geschah, daß sie sich meistens selbst überlassen blieb. Wenn sie ihn einmal begleitete, dann kümmerte er sich so wenig um sie, daß sie die spöttischen oder mitleidigen Blicke der Menschen, in deren Gesellschaft er seine Zeit
verbrachte, zu fürchten begann. Hauptsächlich die der Damen, mit denen er flirtete, als wäre er frei und ungebunden, kränkten sie. Warum aber sollte er sich nicht amüsieren? Er war gewiß nicht dazu verpflichtet, auf die Frau Rücksicht zu nehmen, die er nur gezwungenermaßen geheiratet hatte. Sie hätte es nicht dazu kommen lassen dürfen, hätte sich mit aller Energie dagegen wehren müssen. So begann sie sich denn mit Selbstvorwürfen zu quälen und dachte unablässig darüber nach, wie sie ihren Fehler gutmachen könnte. Endlich kam sie dann zu dem Entschluß, einfach abzureisen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Damit entband sie Harro jeder Verpflichtung. Nach einem Jahr wollte sie dann die Scheidung einreichen. Ja, so ging es. Ganz still wollte sie aus seinem Leben gehen, wofür er ihr gewiß nur dankbar sein würde. Nun galt es nur noch, die Gelegenheit zur Flucht abzupassen. Und die sollte sich schon einige Tage später finden. Harro hatte sich mit seinen Bekannten für einen Tagesausflug verabredet. Vergnügt war die Gesellschaft abgezogen, und Rotraut blieb Zeit genug, ihren Vorsatz auszuführen. Kurz entschlossen rief sie die Zofe herbei. »Dora, packen Sie sofort meine Sachen. Wir reisen noch heute ab.« Das Mädchen ließ sein Erstaunen nicht merken und führte den Befehl aus. Obgleich es sich beeilte, nahm das Packen jedoch mehr Zeit in Anspruch, als Rotraut erwartet hatte. Schließlich wurde sie so nervös, daß sie mithalf. Als die Arbeit dann endlich geschafft war, atmete sie erleichtert auf. Nun galt es nur noch… Ein kurzes Klopfen riß sie aus ihrer Überlegung – und dann stand plötzlich der Gatte vor ihr. »Ah, schon gepackt?« fragte er in einem Ton, als wüßte er um die bevorstehende Reise. »Leider können wir erst morgen fahren.« Dora, die so etwas wie dicke Luft spürte, verzog sich eilig, und das Ehepaar stand sich nun allein gegenüber. Rotraut
in trotziger, Harro in eisiger Haltung. »Also fahnenflüchtig willst du werden, mein Kind. Du bist im Bild: Deserteure holt man zurück. So viel müßtest du doch nun schon wissen, daß ich nicht mit mir spielen lasse.« Ihre Gestalt reckte sich, die Augen verdunkelten sich in leidenschaftlichem Zürnen, die feinen Nasenflügel bebten. »Auch ein Fräulein Bracht läßt nicht mit sich spielen, Graf Regglin! Es ist nämlich nicht daran gewöhnt, sich so behandeln zu lassen, daß die Menschen fast mit Fingern nach ihm zeigen. Nein – ich ertrage dieses Leben so nicht länger!« rief sie erbittert aus. »Ich will fort von Ihnen, damit ich wieder Mensch sein kann – keine Sklavin in unwürdiger Tyrannei! Ich brauche nicht zu warten, bis das Jahr um ist. Keiner kann mich dazu zwingen, diese lächerliche Komödie mitzumachen – auch Sie nicht!« Furchtlos hielt sie seinen Augen stand, in denen es wetterleuchtete. Der Mann war von einer eisigen Ruhe, hinter der jedoch flammender Zorn zu lodern schien. Augenblickslang biß er die Zähne zusammen, daß die Wangenmuskeln spielten, dann sagte er mit unheimlicher Gelassenheit: »Oho, meine liebe Rotraut, so leicht soll dir diese Ehe auf Abbruch denn doch nicht gemacht werden. Ein klein wenig Recht wird mir in dem Eheverhältnis denn doch zugebilligt sein. Und das nehme ich nun in Anspruch, indem ich dir jede eigenmächtige Handlung verbiete. Ich habe nichts dagegen, wenn du Wünsche äußerst, und werde mir alle Mühe geben, sie zu erfüllen – falls sie erfüllbar sein sollten. Wenn du reisen willst, bitte sehr. Aber du reist nicht ohne mich, mein schönes, böses Kind.« »So wollen Sie mich denn zwingen, bei Ihnen zu bleiben – nur um mich zu quälen und demütigen zu können?« fragte sie aufgebracht. »Das ist nicht fair gehandelt, Graf Regglin.« Er trat so dicht an sie heran, daß sein Körper fast den ihren berührte. Sein Atem ging schwer, seine Augen glitzerten in dem blassen Gesicht, in dem die Säbelnarbe leuchtete.
Furchtlos stand Rotraut vor ihm. Sie wich auch nicht zurück, als seine Hand sich langsam hob. »Schlagen Sie nur ruhig zu«, sagte sie mit einer Stimme, vor der sie selber erschrak. »Nach der Behandlung, die mir bisher zuteil geworden ist, könnte ich mich darüber kaum noch wundern.« Da trat er zurück. Fuhr sich einige Male hastig über die Stirn und Augen, stieß den Atem durch die Nase und fragte dann ruhig: »Du möchtest von hier fort?« »Ja.« »Schön, dann reisen wir morgen ab. Wohin möchtest du?« Sie hielt das blasse Gesicht gesenkt, Tränen liefen darüberhin. Flehend war der Blick, der sich dann zu ihm erhob. »Harro«, bat sie mit zuckenden Lippen. »Hab doch Erbarmen mit mir, und laß mich meiner Wege ziehen. Ich will sofort deinen Namen ablegen. Will mich irgendwo verkriechen, bis das Jahr um ist. Ist es nicht besser, wenn wir uns in Güte trennen, als uns gegenseitig das Leben schwer zu machen? Nicht wahr, Harro, du läßt mich gehen?« »Nein!« antwortete er hart. »Dein Vater hat gewünscht, daß wir ein Jahr lang zusammenleben, und keine Macht der Welt wird mich daran hindern, diesem Wunsch gerecht zu werden. Du solltest vernünftig genug sein, dir und mir nicht durch Widerspenstigkeit das Leben zu verbittern. Vielleicht denkst du darüber nach, wie du es wohl erträglicher gestalten könntest.« Damit ging er hinaus, und Rotraut sank auf einen der gepackten Koffer und weinte bitterlich. Sie fuhr zusammen, als sie ihre Schulter berührt fühlte. Als sie den Blick hob, sah sie Harro vor sich stehen, der mißbilligend auf sie schaute. »Das habe ich mir so ungefähr gedacht. Tränen, das ist bei euch Frauen immer der Weisheit letzter Schluß. Hast du Lust zu einer Spazierfahrt?«
»Ich möchte jetzt nicht unter Menschen sein.« »Ist auch nicht erforderlich. Nur meine Gesellschaft mußt du dir gefallen lassen.« Wenig später fuhren sie dann im Pferdewagen durch die herrliche Gegend. Die lachende Natur legte sich wie Balsam auf Rotrauts wundes Gemüt. Sie war Harro dankbar, daß er schweigend neben ihr verharrte. Am nächsten Tag fuhren sie ab. Venedig war ihr Ziel. Und hier änderte nun Rotraut ihre Lebensweise. Sie zog sich nicht mehr von den Vergnügungen zurück, sondern nahm sie eifrig wahr. Bald wurde sie zum Mittelpunkt jeder Veranstaltung. Sie ließ sich feiern, bewundern, ohne dabei aus ihrer kühlen Reserve herauszugehen. Leider fuhren sie auf Harros Wunsch nach zehn Tagen wieder weiter. Eine Unrast war über sie gekommen, die ihn fernerhin niemals länger als wenige Tage an einem Ort verweilen ließ. Und eines Nachmittags überraschte er seine Frau mit der Eröffnung, daß es nun endgültig nach Hause ginge. Gräfin Liane saß mit den Familien Halldungen und Illsund beim Nachmittagskaffee. Es war um so behaglicher in dem trauten Gemach, weil es draußen regnete. Man war recht vergnügt; denn wo Herma Halldungen weilte, konnte es zu keiner trüben Stimmung kommen. Dafür sorgte ihr unverwüstlicher Humor, den sie ihrem Sohn Eberhard vererbt hatte. Graf Halldungen war auch eine Frohnatur gewesen und hatte sich mit seiner viel jüngeren Frau sozusagen durchs Leben gelacht. Leider war er vor zwei Jahren gestorben, was Herma auch heute immer noch nicht verwinden konnte. Doch wenn sie die Traurigkeit überfiel, ließ sie ihre Umgebung davon nichts merken. Graf Eberhard hatte große Ähnlichkeit mit seinem Vetter Harro, allerdings war er zugänglicher als dieser. Obgleich Herma über die Heirat ihres Neffen auch nicht mehr wußte als andere, konnte sie sich doch manches zusammenreimen. Sie hatte Herrn Bracht gekannt und um die Liebe ihrer Schwester zu ihm gewußt. Sie wußte auch
um die schmähliche Entlassung des Mannes, der sich nichts hatte zuschulden kommen lassen. Und ausgerechnet dessen Tochter war nun Harros Frau geworden. Das mußte irgendwie einen Haken haben. Schon deshalb, weil Mutter und Sohn ein Geheimnis aus dieser Heirat machten. Nun, ihr kam es nicht zu, dieses zu erforschen. Aber sie konnte es kaum erwarten, das Kind des Mannes kennenzulernen, um dessentwillen ihre Schwester so früh aus dem Leben gegangen war. Und als sie dann Rotraut Bracht zum erstenmal sah – damals, als sie so stolz und frei zum Altar schritt – da war sie von der Schönheit des jungen Menschenkindes überwältigt. Das war doch etwas anderes als diese hochnäsige Iris Illsund. Ein Rätsel, wie die sonst so vernünftige Liane eine solche Vorliebe für das arrogante Balg haben konnte. Seitdem Harro sich auf der Hochzeitsreise befand, hatte sie sich in Regglinsgrund eingenistet. Das war auch tatsächlich der Fall. Iris fühlte sich ganz als Tochter des Hauses. Sie umgab Gräfin Liane mit einer Zärtlichkeit, die schon übertrieben wirkte, und maßte sich Rechte an, über die ein klardenkender Mensch nur den Kopf schütteln konnte. Die Eltern kamen fast täglich, um ihren Liebling, den sie zu Hause sehr vermißten, zu besuchen. Nur Adelheid erschien selten. Sie hatte sich sehr verändert. Ihre herzliche Offenheit Liane gegenüber war einer höflichen Zurückhaltung gewichen. Das gutherzige Mädchen, das im Verkehr mit der Schwester bisher immer die Nachgebende gewesen war, setzte ihr nun harten Widerstand entgegen, wenn sie im Unrecht war. Der Vater schalt auf Adelheid, wenn Iris sich bei ihm über die Schwester beklagte. Empörte sich über ihren verstockten Trotz – und konnte ihn doch nicht brechen. Heute hatte Adelheid ausnahmsweise die Eltern nach Regglinsgrund begleitet und sah nun spöttisch zu, wie Iris
das Haustöchterchen spielte. Dabei hatte diese immer noch Zeit, ein beredtes Augenspiel mit Eberhard Halldungen zu führen. Sie fühlte sich ganz als Hauptperson, nach deren Wünschen man sich zu richten hatte. Sie drängte sich immer wieder in die Unterhaltung der anderen, machte dabei ihre Scherze, über die der verliebte Vater am meisten lachte. Nach dem Kaffee ging man in das lauschige Wohngemach Lianes. Und kaum daß man Platz genommen hatte, erschien der Diener mit der Meldung: »Herr Graf und Frau Gräfin sind soeben von ihrer Reise zurückgekehrt.« Das gab nun ein Hallo! Das Gespräch drehte sich fortan nur noch um den Heimgekehrten. Daß er auch seine Frau mitgebracht hatte, schien man allgemein vergessen zu haben. Als Harro erschien, wurde er mit Jubel begrüßt. Als er die Mutter in die Arme schloß, sah sie ihm bang ins Gesicht. Auch Gräfin Halldungen betrachtete ihn forschend. »Bist etwas schmal geworden, doch sonst ganz der alte«, stellte sie fest, und er lachte amüsiert. »Teure Tante Herma, ich kann mich in den sechs Wochen meiner Abwesenheit doch nicht total verändert haben.« Als er Iris begrüßte, traf ihn ein so aufstrahlender Blick, daß ein spöttisches Lächeln seinen Mund umzuckte. Sie war von einer unnatürlichen Lebhaftigkeit, wollte viel von seiner Reise wissen und belegte ihn vollständig mit Beschlag. Lächelnd hörte er auf ihr Geplauder und sah dabei ab und zu nach der Armbanduhr, bis er sich erhob. »Entschuldigen Sie, meine Herrschaften, ich will nur mal sehen, wo meine Frau bleibt.« Als er dann mit ihr erschien, gab es eine formelle Begrüßung – nur bei Herma nicht, die das bezaubernde junge Menschenkind einfach in die Arme schloß. Rotraut sah zaghaft zu ihr auf. »Frau Gräfin?« »Ach was,« Herma gab sich Mühe, ihre Rührung zu
verbergen, »ich bin durch deine Heirat mit Harro deine Tante geworden, Trautchen.« Die junge Frau vergaß bei der herzlichen Begrüßung das ablehnende Verhalten der anderen und lachte hellauf. »Wie sagst du, Tante? Trautchen? Um alles, das paßt nicht zu mir. Ich bin weder traut noch lieb. Wenn du meinen Rufnamen abkürzen willst, dann nenne mich Raute, wie auch mein Vater mich nannte.« Da war wieder die Stimme, die sich in das Herz der Menschen zu schmeicheln pflegte, diese weiche, süße Stimme mit dem leichten fremden Klang. Herma ließ sich auf das Sofa sinken und zog die Nichte an ihre Seite. Und schon gesellte sich Eberhard zu ihnen. »Wenn meine Mutter so resolut ihre Tantenrechte betont, dann bin ich berechtigt, auch die des Vetters geltend zu machen. Auf gute Freund, liebe Base Raute.« Augenblickslang sah sie ihn prüfend an, dann zog ein sonniges Lächeln über ihr Gesicht. Sie reichte ihm beide Hände, die er nacheinander küßte. Zuerst war ihr seine Ähnlichkeit mit Harro groß erschienen, doch seine herzliche Art schwächte das ab. »Nun erzähle, kleine Schönheit«, forderte Herma auf. »Wie war die Hochzeitsreise? Hast du viel Schönes und Neues gesehen?« »Schönes ja, Neues nicht, da ich die Orte, in die uns unsere Reise führte, bereits alle kannte.« Immer mehr wollte Herma wissen, nur um die süße Stimme zu hören, dem goldigen Lachen lauschen zu können. Auch die anderen waren zuletzt wie gebannt. Nur Iris nicht. Sie war wütend, daß man über dieser Rotraut sie so ganz und gar vergessen konnte. Sie empfand es als Erlösung aus harter Pein, als der Diener meldete, daß das Abendessen serviert sei. An der Tafel führte sie dann die Unterhaltung. Das fiel ihr leicht, weil die anderen recht schweigsam waren. Harro, an den sie immer wieder das Wort richtete, antwortete nur, um nicht unhöflich zu sein. Als man nach dem Essen
wieder in das Wohnzimmer der Gräfin zurückging, näherte sich Adelheid der jungen Frau. »Mich haben Sie wohl ganz übersehen«, beklagte sie sich, worauf die Antwort kam: »Wie könnte ich denn so blind sein, Komteß? Aber in einem fremden Kreis muß man immer erst die Fühler ausstrecken – und zwar vorsichtig, damit man nicht eins draufbekommt.« »Von mir bestimmt nicht«, lachte Adelheid. »Wollen wir uns zusammensetzen, ja? Ich höre Sie doch so gern sprechen.« »Bescheidenes Gemüt«, neckte Rotraut. Sie nahmen auf der Couch Platz. Zuerst war Adelheid noch ein wenig befangen, doch Rautes entzückende Art ließ sie bald auftauen. Sie wurde nun ganz die sonnige Heidi, die es sich verbat, mit Komteß angesprochen zu werden. »Ich heiße Heidi«, erinnerte sie. »Heidi und du.« »Und ich Raute und du.« »So darf ich…?« »Natürlich, gleiches Recht für alle.« Nun waren sie erst recht vertraut. Sie plauschten und lachten wie alte Bekannte. Harro saß behaglich in seinem Sessel und stellte wieder einmal fest, daß es nirgends auf der Welt so schön sein kann wie zu Hause. Er beteiligte sich an keiner Unterhaltung, weder an der halblaut geführten der neuen Freundinnen noch an der lebhaften der anderen. Die dauernden Fragen Iris’ wurden ihm lästig. Sollte sie sich doch ein anderes Opfer aussuchen. Zum Beispiel Eberhard. Aber der machte es sich bei den Freundinnen gemütlich, die ihn bereitwillig in ihre Mitte genommen hatten. »Wie war es denn auf der Hochzeitsreise?« fragte Iris nun schon zum dritten Mal; denn Harro hatte es so einzurichten gewußt, daß er nicht direkt darauf zu antworten brauchte. Doch nun konnte er nicht ausweichen. »Wie es auf der Hochzeitsreise war, wollen Sie wissen,
gnädigste Komteß? Da der Geschmack verschieden ist,
möchte ich Ihnen den Rat geben, selber eine zu machen«,
antwortete er, ohne dabei seine Stimme zu dämpfen, wie
sie es vorhin getan hatte. Das Lachen der anderen reizte sie
so sehr, daß sie sich zu einer Unbesonnenheit hinreißen
ließ.
»Daß Sie doch immer spotten müssen«, sagte sie ärgerlich.
»Es wäre doch anzunehmen, daß Ihnen die Lust dazu in
der Ehe vergangen sein müßte.«
»Nanu, ist die Ehe denn eine Zwangsanstalt?« fragte er
lachend. »Dann würde ich Ihnen entschieden abraten zu
heiraten.«
Iris biß sich auf die Lippen, damit ihnen ja nicht bissige
Worte entschlüpften.
Gräfin Liane legte ihr den Arm um die Schulter.
»Mag er ruhig spotten, der ungalante Mann«,
beschwichtigte sie. »Du singst und spielst uns lieber etwas
vor.«
Das ließ Iris sich nicht zweimal sagen, denn auf ihr Können
war sie nicht wenig eingebildet. Ihr Vortrag wurde auch
wirklich ein Genuß, und sie konnte befriedigt feststellen,
daß sie diese Rotraut übertrumpft hatte.
Als man aufbrach, wollten die Eltern auch ihre älteste
Tochter nach Laubern mitnehmen, doch diese lächelte
nachsichtig:
»Was sollte Tante Liane wohl ohne mich anfangen? Sie
befindet sich in dem Alter, wo sie eine Gesellschafterin
braucht.«
Au Backe! hätte Eberhard am liebsten gesagt, verschluckte
es jedoch noch zur rechten Zeit. Er unterdrückte das Lachen
und wandte sich an Raute und Heidi, mit denen er vorhin
einen Morgenritt verabredet hatte.
»Wann darf ich die Damen erwarten?«
»Um neun Uhr«, gab Rotraut zur Antwort. »Wirst du auch
pünktlich sein, Heidi?«
»Selbstverständlich.«
»Und du, Eberhard?«
»Raute, ich bitte dich!«
»O wie schön«, lachte sie über seine Entrüstung. »Ich bin
nämlich selten pünktlich.«
Zuerst war er verdutzt, dann fiel er in ihr Lachen ein.
»Raute, du bist entzückend. Darf ich dich zum Abschied
küssen?«
»Bist du immer so anspruchsvoll?« fragte sie neckend. »Was
meinst du, Tante Herma, ob ich es ihm gestatte?«
»Wenn Harro nichts dagegen hat, ich bestimmt nicht.«
»Bitte sehr, ich bin nicht mißgünstig.«
»Aber großzügig«, lachte Eberhard. »Weißt du, ich habe
doch Angst vor meiner eigenen Courage.«
»Soll vorkommen«, meinte die Mutter trocken. »Wann läßt
du dich bei mir sehen, Rautendelein?«
»Morgen nach dem Ritt, Tante Herma. Und wenn du etwas
Gutes zu Mittag hast…«
»Versteht sich. Also dann morgen auf Wiedersehen.«
Der Aufbruch der Gäste erfolgte nun rasch. Iris machte
keine Anstalten, mit den Eltern zu fahren, womit diese
dann auch zufrieden waren.
Rotraut hatte das Gefühl, als hätten die drei ihr lieben
Menschen alle Wärme mit sich genommen. Sie schauerte
zusammen.
»Ist dir kalt?« fragte Harro.
»Nein, ich bin nur müde. Darf ich mich zurückziehen, Frau
Gräfin?«
»Bitte«, war die kühle Erwiderung. Rotraut beugte sich
höflich über Lianes Hand, ein hochmütiges Nicken zu Iris
hin, dann wandte sie sich an den Gatten.
»Gute Nacht, Harro.«
»Gute Nacht, Rotraut. Schlafe gut und träume etwas
Schönes. Hast du alles nach Wunsch vorgefunden? Es hat
sich hier alles nach dir zu richten. Du bist neben meiner
Mutter Herrin von Regglinsgrund, das ja nun deine Heimat
ist.«
»Ich danke dir, Harro. Nun habe ich auch den Mut, dich
um etwas zu bitten.«
»Nur immerzu, kleine Frau«, ermunterte er.
»Darf ich mir ein Pferd aussuchen?«
»Welch eine Frage, Rotraut! Daß du fest im Sattel sitzt,
habe ich ja bereits feststellen können, Rotraut, Schön-
Rotraut.«
Sie lachte verlegen und wandte sich zum Gehen. Da fing sie
einen haßerfüllten Blick von Iris auf, der sie erschreckte. Sie
hastete davon, um nicht noch länger solchen Blicken
ausgesetzt zu sein.
Die waren übrigens auch von den beiden Regglins bemerkt
worden. Sie sahen sich an, Liane betroffen, Harro ironisch.
Er blieb es auch, als Iris ihn in ein Gespräch verwickelte.
Deshalb zog sie sich bald ärgerlich zurück.
»Gott sei Dank!« Harro streckte sich lachend in seinem
Sessel. »Jetzt sind wir endlich allein. Ich verstehe dich
nicht, kleine Mama, wie du die tägliche Gesellschaft der
unangenehmen Iris aushältst.«
»Ich habe nun einmal eine Schwäche für das Mädchen. Es
hat sich verändert, das gebe ich zu, aber daran bist du
schuld, mein Junge. Du hättest Iris nicht ein Anrecht an
dich einräumen sollen.«
»Anrecht – inwiefern?« fragte er verwundert.
»Indem du ihr zu verstehen gegeben hast, daß du sie
liebst.«
»Woher weißt du das, Mutter?«
»Von Iris selbst.«
Nun fuhr er auf, flammenden Zorn in den Augen.
»Das ist gelogen!«
»Harro, du sprichst von einer Dame!«
»Daß ich nicht lache!« Er zwang sich zur Ruhe. »Lassen wir
das, Mutter, sprechen wir lieber von etwas Erfreulicherem.
Wie ist es dir in meiner Abwesenheit ergangen?«
»Gesehnt habe ich mich nach dir, du Schlingel. Und wie
erging es dir? Haben die Extravaganzen deiner Frau dir viel
zu schaffen gemacht?«
»Sie ist alles andere als extravagant, Mutter. Nur eigenwillig
und sehr stolz. In Herrengesellschaft, wo sie wegen ihrer
Schönheit angehimmelt wird, bleibt sie stets Dame. Sie wird gewiß nichts tun, worüber wir uns schämen müssen.« »Gott sei Dank, Harro, ich machte mir hier schon die schwärzesten Gedanken. Wird es schwerfallen, sie nach abgelaufener Frist zu einer Scheidung zu bewegen?« »Die scheint dir ja sehr am Herzen zu liegen, Mutter. Aber beruhige dich, sie wartet nur auf diesen Tag. Sie hatte sogar schon einmal alles zur Flucht vorbereitet, die ich jedoch vereiteln konnte. Denn ich ließ sie fast niemals aus den Augen, was sie freilich nicht wußte. Also keine Bange, kleine Mama, du wirst deine ungewünschte Schwiegertochter schon zur richtigen Zeit los – und ich habe mein Ehrenwort, das ich dem Vater gab, eingelöst.« Als Harro am anderen Morgen nach dem Stall ging, um für Rotraut ein passendes Pferd auszusuchen, meldete der Oberinspektor, daß Frau Gräfin das bereits vor mehr als einer Stunde selbst besorgt hätte. »An weichem Tier hat meine Frau Gefallen gefunden?« »An der Ira, Herr Graf.« »Aber Herr Seiler, wie können Sie den ungebärdigen Gaul einer Dame in die Hand geben?« »Keine Sorge, Herr Graf«, schmunzelte der biedere Beamte. »Sie hätten einmal sehen sollen, wie die Ira unter der kleinen Faust unserer Frau Gräfin wurde. Das Herz hat mir im Leibe gelacht.« »Haben Sie meine Frau wenigstens auf die Tücken des Pferdes aufmerksam gemacht?« »Dazu kam ich gar nicht. Frau Gräfin hatte Iras Fehler sofort erfaßt. Wie sie mir erzählte, hat sie bereits mit fünf Jahren im Sattel gesessen und später Turniere geritten. Das sagt doch wohl alles. Aber das werden der Herr Graf ja selber wissen.« O nein, er wußte es nicht. Und das hätte den braven Oberinspektor wohl baß erstaunt, hätte er es ihm erzählt. Harro sagte ihm noch einige freundliche Worte und ging dann nach der Terrasse, wo an diesem herrlichen Spätsommermorgen der Frühstückstisch gedeckt war. Die
Mutter erwartete ihn bereits. »Guten Morgen, kleine Mama, so allein? Wo ist denn deine Gesellschaftsdame, die schöne Iris?« »Du sollst nicht immer spotten, Junge«, erwiderte sie lachend. »Iris braucht viel Schlaf.« »Natürlich, um ihre Schönheit zu pflegen.« »Rotraut ist ja auch noch nicht auf.« »Ein Trugschluß, Muttchen. Die tummelt sich schon seit einer Stunde auf Ira.« »Auf der ungezogenen Stute?« fragte sie erschrocken. »Wie kannst du das dulden, Harro!« »Dulden ist gut«, lächelte er amüsiert. »Dazu müßte ich erst Gelegenheit haben.« »Du sprichst in Rätseln, mein Sohn.« »Die ich sofort lösen werde. Rotraut ist sozusagen vor Tag und Tau in den Stall gegangen, hat sich ein Pferd ausgesucht und ist mit ihm auf und davon.« »Das ist doch unerhört!« »Bei meiner Frau ist nichts unerhört, Muttchen. Das wirst du auch noch begreifen lernen.« »Und dann nennst du sie nicht extravagant?« »Nein, nur sehr eigenwillig.« Unterdes ritt Rotraut auf dem Gaul dahin, der so ganz nach ihrem Herzen war. Herrlich, so ein Traben in der herben Morgenluft. Sie vergaß darüber die Zeit, und als sie nach der Uhr sah, war es zu spät, um noch einmal nach Regglinsgrund zurückzukehren, bevor sie sich mit Heidi und Eberhard traf. Nun, man würde sie, den Eindringling, bestimmt doch nicht vermissen. Wenn sie etwas an ihr auszusetzen fanden, was ging sie das an? An der Meinung dieser hochmütigen Menschen war ihr gewiß nichts gelegen. Deshalb würde es ihr auch nicht schwerfallen, sich durchzusetzen. Um ihre Gunst betteln, das sollte ihr einfallen! Da kamen ihr bereits Heidi und Eberhard entgegen. Es gab ein fröhliches Reiten, wobei Rotraut all die Unerquicklichkeiten ihres jetzigen Lebens vergaß.
Frohgelaunt langte man in Hermeshöhe an, wo die Hausherrin sie mit Herzlichkeit begrüßte. »Das soll schon ein gemütlicher Tag werden mit euch wonnigen Gören«, lachte sie vergnügt. O ja, auf Hermeshöh fühlte Rotraut sich sofort heimisch. Warum konnte nicht Eberhard ihr Mann sein, Tante Herma nicht seine Mutter? Wie einfach wäre dann alles gewesen! Wenn sie doch immer bei den Halldungen bleiben könnte, nicht mehr nach dem zwar feudalen, aber eisigkalten Regglinsgrund zurückzukehren brauchte. Sie merkte nicht, daß Hermeshöh kaum weniger feudal war, daß die Menschen darin im Grunde genommen genauso waren wie die Regglins. Sie sah nur die Herzlichkeit, mit der man ihr entgegenkam. Als sie sich nach dem Mittagessen verabschieden wollte, winkte Herma ab. »Daraus wird nichts, mein Kind. Bleibe nur ruhig hier, die zu Hause vermissen dich ja doch nicht. Um der Form zu genügen, werde ich anrufen und sagen, daß du erst abends zurückkommst.« Rotraut ließ sich nur zu gern halten. Und als sie nach den vergnügten Stunden scheiden mußte, wurde ihr das Herz bitter schwer. Die Tante merkte, was in ihr vorging. Sie zog sie beim Abschied in die Arme und flüsterte ihr zu: »Hier findest du jederzeit Zuflucht, mein Rautendelein. Rücke aus, wenn sie es in Regglinsgrund gar zu arg treiben sollten.« Da mußte Rotraut lachen, und schon war alles nicht mehr so schwer. Eberhard gab den Damen das Geleit. Langsam ritten sie durch den wundervollen Abend. Der Himmel war mit Sternen übersät, am Weg leuchteten die Glühwürmchen geheimnisvoll. »Schade«, murmelte Heidi, als Laubern erreicht war. »Daß doch alles Schöne so rasch ein Ende nehmen muß.« Sie fand die Haustür verschlossen, und so laut sie auch klopfte, nichts rührte sich. Die Bewohner des Hauses schienen einen beneidenswert festen Schlaf zu haben.
Die drei Freunde standen ratlos, bis Rotraut vorschlug: »Komm mit nach Regglinsgrund, Heidi. Dort stehen wir bestimmt nicht vor verschlossenen Türen, weil Dora mich erwartet. Ich fürchte nur, daß deine Eltern sich um dich sorgen werden.« »Hätten sie dann einen so festen Schlaf?« erwiderte das Mädchen bitter. »Ja, wenn ich Iris wäre.« Sie tat den beiden anderen von Herzen leid, was diese jedoch nicht zeigten. Eberhard sorgte dafür, daß keine trübe Stimmung aufkommen konnte, und vergnügt kam man in Regglinsgrund an, wo man noch nicht so früh zur Ruhe gegangen war. Iris musizierte und hatte die beiden Regglins als Zuhörer. Die Angekommenen traten leise hinzu, winkten zu Mutter und Sohn hin, um die Sängerin nicht zu stören, die so saß, daß sie ihren Eintritt nicht bemerkte. Rotraut ließ sich in einen Sessel sinken, Adelheid setzte sich auf dessen Seitenlehne, Eberhard stützte sich auf die Rückenlehne, und so hörten sie andächtig zu, bis Iris ihre Klage hinausschrie: »Daß du mich nicht liebst, so wie ich dich, das ist meines Herzens Not…« Da konnte Eberhard es sich doch nicht verkneifen, sich tief zu Rotraut hinunterzubeugen und ihr zuzuflüstern: »Und wenn du nicht aufhörst, mein liebes Kind, sind wir bald mausetot.« Raute konnte mit Mühe das Lachen unterdrücken, doch Heidi, der diese Worte auch nicht entgangen waren, gelang das nicht. Silberhell perlte es über ihre Lippen – hinein in die jammervolle Klage, die plötzlich mit schrillem Ton abbrach. »Bravo!« Eberhard klatschte begeistert Beifall. -»Wie schön, daß wir noch leben dürfen.«
Rotraut und Adelheid, die ja nur allein den Sinn der Worte verstanden, lachten ein klingendes Duett. Harro hatte seine Frau noch niemals so fröhlich gesehen. Die Wangen waren von dem Ritt durch die frische Abendluft gerötet, die Augen strahlten. Iris, die selbstverständlich tief gekränkt war, daß man es gewagt hatte, mitten in ihrem Gesang zu lachen, trat langsam näher. Und da der Mensch ja oft nach einem Opfer zu suchen pflegt, an dem er seine Wut auslassen kann, so mußte die arme Adelheid herhalten. »Wo kommst du denn her?« kam es ungnädig von den rotgefärbten Lippen. »Du weißt, daß die Eltern es nicht lieben, wenn ihre Töchter sich in der Nacht herumtreiben.« Bevor die Angegriffene sich wehren konnte, meldete sich Eberhard, der zu gegebener Zeit genauso ironisch sein konnte wie sein Vetter Harro. »Aber meine Gnädigste, warum denn gleich so streng? Durch das Schlüsselloch konnte Ihr Schwesterlein nun wirklich nicht kriechen, obwohl es über ein entzückendes Sylphidenfigürchen verfügt. Und durch die Tür zu gehen, diese Selbstverständlichkeit blieb ihm leider versagt, weil man in Laubern den Schlaf des Gerechten schläft. Und da Rautendelein und ich die arme Obdachlose nicht auf der Haustürschwelle übernachten lassen wollten, haben wir sie hierhergebracht.« Harro und seine Mutter lachten amüsiert, was den Ärger der bösen Iris gewiß nicht milderte. »Wir haben hier aber kein Asyl für Obdachlose«, entfuhr es ihr unbedacht, worauf Adelheid das aussprach, was die anderen dachten. »Was hat du denn hier zu sagen? Ich wundere mich, daß Tante Liane – na ja – schweigen wir davon. Im übrigen bin ich Gast der Gräfin Rotraut, genügt dir das?« Man fürchtete, daß Iris im nächsten Augenblick platzen müßte, diesen Eindruck machte sie nämlich. Das Gesicht war rot vor unterdrückter Wut, die Augen funkelten wie die einer gereizten Katze. Es war gut, daß Dora eintrat, die
Rotraut unbemerkt von den anderen herbeigerufen hatte. »Wir haben einen Gast, Dora«, sagte ihre Herrin freundlich. »Bereiten Sie ein gutes Lager auf dem Diwan in meinem Schlafzimmer. Dann gehen Sie zur Ruhe.« Als das Mädchen sich zurückgezogen hatte, seufzte Eberhard: »Hat die Komteß es gut. Was wird nur aus mir? Trügerisch wie die Frauen war der Sternenhimmel, der bei dem Ritt vorhin über uns gefunkelt hat. Denn jetzt höre ich den Regen gegen die Fensterscheiben klopfen. Deshalb poche ich an dein gutes Herz, Tante Liane, und bitte um ein Plätzchen, wohin ich mein müdes Haupt legen kann.« »Schon gewährt, mein Schlingel«, lachte sie. »Und da ich soeben eine poetische Ader an dir entdeckt habe, so wollen wir diese gebührend feiern. Folglich wird der so malerisch hingegossene Hausherr sich um einen guten Tropfen bemühen müssen.« Dieser erhob sich schmunzelnd, ging hinaus und kam mit einigen Flaschen wieder. Es wurden vergnügte Stunden, die sich ausdehnten, bis das erste Frührot am Himmel leuchtete. Fröhlich trennte man sich, um sich einem kurzen aber festen Schlaf hinzugeben. Die Traulichkeit des Gemachs, in das Rotraut sie führte, umfing Adelheid wie mit linden Armen. Hier war es schön, hier konnte man sich geborgen fühlen. Das Lager mit seinen seidenen Kissen und Decken lockte. Sogar ein Nachtgewand, dem Wäscheschatz der Gräfin Rotraut entnommen, lag bereit. »Nun mache es dir bequem, Heidelein«, sagte Raute herzlich. »Ich gehe indes in das Badezimmer, das dann anschließend dir zur Verfügung steht.« Als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, war sie erstaunt, die Freundin bereits auf ihrem Lager zu finden. »Kannst du denn hexen, Heidi? Ich brauchte zu meiner Nachttoilette bestimmt mehr Zeit.« »Zwischen dir und mir besteht ja auch ein Unterschied.« »Und ein großer!« warf Rotraut spöttisch ein. »Du bist die
Komteß Illsund, und ich bin das Fräulein Bracht.« »Nein, du bist die Gräfin Regglin«, entgegnete das Mädchen heftig. »Hast du eine Ahnung, was das bedeutet? Die Regglin und die Halldungen stehen im weitesten Umkreis an führender Stelle. Und von allen Herrinnen, die ich kenne, bist du die schönste und stolzeste.« »Nimm deine rosenrote Brille ab«, lachte Rotraut herzlich. »Sie trübt dir nur den Blick. Du wirst meine Fehler schon noch kennenlernen.« »Die glaube ich dir nicht«, beharrte Adelheid eigensinnig. »Und nun will ich von dem Unsinn nichts mehr hören, sonst werde ich böse.« »Als wenn du es nicht jetzt schon wärst«, neckte Rotraut und setzte sich zu der Freundin, die sie schmeichelnd umfaßte. »Ich bin dir ja so dankbar, Raute.« »Warum denn?« »Weil du der erste Mensch bist, der mich meiner Schwester vorzieht. Ich habe bisher immer in ihrem Schatten leben müssen. Und das war manchmal nicht leicht.« »Das ist jetzt vorbei, Heidelein. Du mußt dir nur von mir helfen lassen. Willst du?« »Ja.« »Das freut mich. Und nun gute Nacht – oder besser: Guten Morgen, weil bereits die Sonne ins Zimmer lacht, die den Nachtregen vertrieben hat. Schlafen wir noch einige Stunden.« Es war noch verhältnismäßig früh, als sie erwachten. Trotz des kurzen Schlafes waren sie frisch und munter. Sie plauderten noch ein wenig, dann ging Rotraut ins Badezimmer, um zu duschen. Indes besah Adelheid ihre Kleider und wurde traurig. Sie war gewiß nicht eitel, auch nicht anspruchsvoll, aber ihre Sachen waren doch wirklich gar zu schäbig. Gestern noch hatte sie den Reitanzug bügeln lassen, aber nachdem sie ihn tagsüber angehabt hatte, trat seine Abgetragenheit wieder hervor. Hastig legte sie den Dreß zur Seite, als
Rotraut eintrat.
»So ein Duschbad erfrischt doch wunderbar«, sagte Raute
und tat, als wäre ihr die Kleidermusterung entgangen. »Nun
hopp, Heidelein, hinein in die kühle Flut!«
Als Heidi wiederkam, waren ihre Kleider verschwunden.
Dafür lagen andere bereit, bei deren Anblick dem Mädchen
dunkle Röte ins Gesicht schoß. Schon wollte sich der Mund
zum Protest öffnen, doch Rotraut legte warnend den Finger
auf die Lippen.
»Da hat dein Reitanzug gestern gehörig was abgekriegt«,
sprach sie so laut, daß Dora, die sich im Nebenzimmer
aufhielt, es hören konnte. »Außerdem kannst du in ihm
jetzt nicht beim Frühstück erscheinen. Also ziehe die
Sachen an, mit denen ich dir gern aushelfe. Kommen Sie,
Dora, helfen Sie der Komteß beim Ankleiden.«
Was blieb Heidi anderes übrig, als sich resigniert zu fügen?
Das bedingte schon die Anwesenheit der Zofe.
Später starrte sie dann erschrocken ihr Spiegelbild an.
Machte es die gefällige Frisur, die Doras geschickte Hände
ihr gelegt hatten, oder das Kleid?
Hilflos sah sie sich nach Rotraut um, die ihr lächelnd
zunickte. Sie schickte Dora mit einem Auftrag hinaus und
sagte dann herzlich:
»Nun bist du so, wie ich dich gern sehen möchte,
Heidelein. Gut sitzt das Kleid, du hast fast meine Figur. Wie
wäre es, wenn du fortan deine Garderobe aus dem
Modehaus beziehen würdest, das auch die meine liefert?«
Erschrocken wehrte Heidi ab.
»Raute, wo denkst du hin! Meine Eltern können mir nur
ein geringes Taschengeld geben, das nicht einmal für meine
bescheidenen Ansprüche reicht. Wir sind nicht reich,
Raute.«
»Du brauchst ja keine Modelle zu tragen«, beharrte diese.
»Es gibt in dem Atelier auch billige Sachen, die trotzdem
fesch sind. Soll ich dir einmal so ein Kleid bestellen?«
»Wenn du willst«, sagte Heidi zögernd. »Ich habe mir eine
kleine Summe erspart.«
»Von dem geringen Taschengeld?« unterbrach Rotraut sie ernst. »Ja. Ich brauche davon in manchen Monaten wenig, weil ich mir aus den abgelegten Sachen meiner Schwester noch immer einmal was zurechtschneidern kann.« So sieht es auch aus, wäre es Rotraut beinahe entschlüpft. Da nun Dora wieder eintrat, konnten sie das Gespräch nicht fortsetzen und gingen hinunter zur Terrasse, um dort das Frühstück einzunehmen. Die beiden Regglins und Eberhard Halldungen waren bereits damit beschäftigt. »Ei sieh da«, Eberhard begrüßte sie augenzwinkernd. »Schon so früh auf den Beinchen? Das nenne ich tapfer.« »Hältst du uns für Murmeltiere?« gab Rotraut lächelnd zurück. »Das soll uns mal einer vormachen, bei dem Sonnenschein länger als nötig im Bett zu bleiben.« Sie war entzückend, als sie vor dem Vetter stand, lachenden Schelm in den Augen. Als sie sich jedoch zur Begrüßung an Gräfin Liane und Harro wandte, verschwand ihre gewinnende Herzlichkeit und wich einer hochmutigen Kälte. Zu jäh war der Wechsel, als daß er für Zufall gehalten werden konnte. Doch dies fand weniger Beachtung, als es sonst der Fall gewesen wäre, weil aller Interesse Adelheid galt. »Raute war so lieb, mir mit einem Kleid auszuhelfen«, erklärte sie hastig, ehe die anderen noch zu Wort kommen konnten. Da sie die Verlegenheit des Mädchens sahen, stellten sie sich harmlos. Eberhard neckte Rotraut, die schlagfertige Antworten gab, und so blieb Heidi Zeit, ihre Verwirrung zu überwinden. Sie hatten ihr Frühstück noch nicht beendet, als Herma Halldungen erschien. »Na warte, du Schlingel!« drohte sie dem Sohn. »Du sitzt hier gemütlich und läßt deine arme Mutter sich zu Tode ängstigen.« Sie fand für ihre Entrüstung kein Verständnis, wurde ausgelacht, lachte liebenswürdig mit und ließ sich nicht lange nötigen, beim Frühstück mitzuhalten. Herma nahm
Platz und stutzte. »Heidelein, Sie sehen heute ja entzückend aus. Werden Sie doch nicht rot, Kind. Ich als alte Frau kann Ihnen das doch wohl sagen. Na so was!« Sie war so komisch in ihrer Verblüffung, daß die anderen herzlich lachten. Auch Heidi tat mit. Denn schließlich hört ja jedes Mädchen gern, daß es gut aussieht. Es kommt nur ganz darauf an, wie es gesagt wird. Wie Iris es tat, die nun auch geruhte zu erscheinen, mußte es verletzend wirken. Heidi stellte ihre schöne Schwester heute in den Schatten. Sie wirkte mit ihrer natürlichen Schönheit wie eine taufrische Blume neben einer verzärtelten Treibhauspflanze. Natürlich hatte Iris die Veränderung Heidis sofort erfaßt. »Wie siehst du denn aus?« fragte sie unfreundlich. »Genau wie ein Mensch«, kam die schlagfertige Antwort, die herzlich belacht wurde. Darüber war die Ältere selbstverständlich gekränkt. Jedoch niemand nahm davon Notiz. Man unterhielt sich lebhaft darüber, was man bei dem herrlichen Wetter wohl unternehmen könnte. Schließlich entschloß man sich zum Tennisspiel. Sofort besserte sich Iris’ Laune, denn im Tennis war sie nicht so leicht zu schlagen. Sie hielt es sogar nicht unter ihrer Würde, die Krämerstochter zu einer Partie aufzufordern. Was sie damit bezweckte, ließ sich unschwer erkennen. Die Dreßfrage war bald gelöst. Wer den seinen nicht bei der Hand hatte, bekam einen geliehen. Raketts waren genügend vorhanden, also stand dem Spiel nichts mehr im Wege. Samt und sonders zog man zum Tennisplatz, der an einer schattigen Stelle des Parkes lag. Und kaum, daß man ihn erreicht hatte, stand Iris auch schon spielbereit. Wahrscheinlich konnte sie die Niederlage ihrer Gegnerin kaum noch erwarten. Um so ruhiger war Rotraut. Lächelnd gab sie die Bälle zurück, ohne sich dabei anzustrengen, während Iris wie
wild umhersprang. In ihrem verbissenen Eifer spielte sie viel schlechter als gewöhnlich. Die Zuschauer hielten vor Spannung den Atem an. Gräfin Liane, die selbst eine vorzügliche Spielerin war, sagte kopfschüttelnd: »Was hat Iris nur heute? Sie spielt ja miserabel.« »Blinder Eifer schadet nur«, entgegnete der Sohn achselzuckend. Eberhard, der das Amt des Schiedsrichters inne hatte, klatschte plötzlich Beifall. »Bravo, Rautendelein!« Also war diese Siegerin. Langsam kam sie näher, während Iris an ihr vorüberhastete und sich neben Liane echauffiert auf die Bank fallen ließ. »Uff, das war ein interessantes Spiel«, tat sie begeistert. »Leider war ich heute nicht in Form. Schade!« Rotraut, die nun auch herangekommen war, mußte manche Schmeichelei über ihr Spiel einstecken. Als Harro sie fragte, ob sie es mit ihm versuchen wolle, war sie sofort einverstanden. Und dann standen sich zwei gleichwertige Spieler gegenüber. Es ging hart auf hart, bis auch diesmal Rotraut siegt, wenn auch knapp. Sie griff nach dem kühlen Trunk, den Gräfin Liane zur Erfrischung hatte kommen lassen und der nun so verlockend im Glas perlte. Doch Harro hielt ihre Hand fest. »Ich bin doch so durstig.« »Ich nicht weniger«, entgegnete er gelassen. »Nur daß ich vernünftiger bin als du. Kühle dich erst ab, dann kannst du deinen Durst stillen.« »Na, ein wenig freundlicher hättest du das auch sagen können, mein Jungchen«, meinte Gräfin Herma mißbilligend. »Mein Mann hätte mir nicht in diesem Ton kommen dürfen. Strafe ihn mit Nichtachtung, mein Kind.« »O weh, mein Muttchen hetzt«, lachte Eberhard so herzlich, daß die andern mitlachen mußten. Fürsorglich zog er der Base die Jacke fester um die Schulter, strich ihr
übers Gesicht und meinte dann gönnerhaft:
»Einige Schlucke seien dir gewährt.«
Er hielt ihr das Glas an die Lippen, und als es zur Hälfte
geleert war, zog er es fort.
»Erquickt?«
»Ja, danke. Nun bin ich wieder zu neuen Taten gerüstet.
Wie wäre es mit uns beiden, Heidelein?«
»Raute, was denkst du von mir!« rief diese ordentlich
entsetzt. »Wenn du schon Iris und Harro schlägst, dann bin
ich bestimmt nach den ersten Bällen erledigt. Aber lernen
möchte ich von dir.«
»Das Vergnügen sollst du haben. Und wie ist es mit dir,
Eberhard?«
»Ich fehle dir wohl noch zu deiner Siegersfreude, Bäschen?
Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Außerdem
hast du für heute genug.«
»Du springst ja gut mit mir um«, lachte sie. »Wenn ich nun
nicht gehorche?«
»Dann verprügele ich dich.«
»Schöne Aussichten. Du hast ja einen ganz rabiaten Sohn,
Tante Herma.«
»Das hat er von mir«, war die verblüffende Antwort, die
stürmische Heiterkeit hervorrief. Da es langsam Zeit wurde,
sich zur Mittagstafel umzukleiden, brach man auf. Rotraut
schob eine Hand unter Eberhards Arm, die andere unter
den Heidis, und so gingen sie davon, die anderen folgten.
Die Zeit verging, Tage reihten sich zu Wochen.
Rotraut hatte sich noch immer nicht in Regglinsgrund
eingelebt. Sie vertrieb sich die Zeit auf vergnügliche Art.
Ritt, schwamm, spielte Tennis, fuhr in ihrem Auto zur
Stadt, hielt sich viel in Hermeshöh auf, und Adelheid
machte fast immer alles mit.
In Regglinsgrund sah man Rotraut nur bei den Mahlzeiten,
wo sie sich höflich aber reserviert gab. Sie sprach ihre
Schwiegermutter immer noch formell an, den Gatten
notgedrungen mit seinem Vornamen und Iris, die nach wie
vor bei ihrem geliebten Tantchen weilte, überhaupt nicht.
Waren jedoch die Hermeshöher zugegen, dann gab Rotraut sich frei und unbeschwert. Sie zeigte deutlich, wie lieb sie die Tante hatte, und ließ sich von ihr bemuttern. Mit Eberhard war sie so vertraut wie mit einem Bruder, der sich manchmal mit dem Schwesterlein zankte. An einem Nachmittag kehrten die beiden Freundinnen von einem Ritt zurück. Da Gräfin Liane, Iris und Harro zur Stadt gefahren waren, tranken sie den Kaffee allein. Dann suchten sie Rotrauts kleines Reich auf. Heidi hatte noch nie den Wunsch geäußert, auf Rautes wundervollem Flügel zu spielen, doch heute liebäugelte sie damit. »Darf ich, Raute?« fragte sie verlegen. »Bitte sehr. Bist du denn überhaupt musikalisch?« »Nicht besonders, darum spiele ich auch nur, wenn ich allein bin. Aber du wirst sicherlich eine milde Kritikerin sein.« Als sie dann spielte, war Rotraut verblüfft. Na, so eine kleine Heimlichtuerin! Die konnte sich doch bestimmt hören lassen. Als Heidi dann pausierte und sich verlegen nach ihr umsah, schalt sie entrüstet: »Bescheidenheit ist wohl eine Zier, aber allzuviel davon ist Dummheit. Zur Strafe wirst du mit mir musizieren. Ich hole gleich meine Geige.« Es war das erste Mal seit langer Zeit, daß Rotraut das kostbare Instrument aus dem Kasten holte. Und dann begann ein Konzert, das die drei Menschen, die nach ihrer Rückkehr aus der Stadt auf der Terrasse Platz genommen hatten, verwundert aufhorchen ließ. Da die Fenster in der ersten Etage offenstanden, konnte man unten jeden Ton hören, jedes Wort verstehen, das während einer Musikpause gesprochen wurde. »Das war einzig schön«, sagte Heidi beglückt. »Du spielst aber auch ganz wunderbar, Raute.« »Na, na, nur keine Lobeshymnen, Heidelein. Bei den Stunden, die ich gehabt habe, ist es gewiß kein Kunststück zu spielen. Mein Vater war ein großer Musiknarr und daher sehr darauf bedacht, daß seine Tochter musikalisch
sorgfältig ausgebildet wurde. Allerdings nicht mehr, als es
für den Hausgebrauch notwendig ist.«
»Dann singst du auch?«
»Ich singe, wie der Vogel singt«, intonierte Rotraut
übermütig, worauf Adelheid bat:
»Willst du dieses Lied hier singen, zu dem ich soeben die
Noten entdeckt habe?«
Nachdem die junge Frau einen Blick auf das Blatt geworfen
hatte, lachte sie herzlich!
»Himmel, Heidi, für so sentimental habe ich dich
bestimmt nicht gehalten!«
»Du magst es nicht, Raute?«
»Da dir so viel daran zu liegen scheint, will ich dir gern den
Gefallen tun.«
Nach dem Vorspiel setzte die süße, warme Stimme ein:
»Wißt ihr, wo ich gerne weil’
in der Abendkühle?
In dem kleinen Tale geht
eine kleine Mühle.
Und ein kleiner Bach dabei,
ringsumher steh’n Bäume.
Oft weil’ ich da stundenlang,
schau umher und träume.
Selbst die Blumen in dem Grün
an zu sprechen fangen.
Und ein kleines Blümlein sagt:
›Sieh mein Köpfchen hangen.
Röslein mit dem Dornenkuß
hat mich so gestochen,
ach, das macht mich gar betrübt,
hat mein Herz gebrochen‹
Da naht sich ein Spinnlein weiß,
spricht: ›Sei doch zufrieden.
Einmal mußt du doch vergeh’n,
o ist es hienieden.
Besser, daß das Herz dir bricht
von dem Kuß der Rose, als du kennst die Liebe nicht und stirbst liebelose.‹« Heidi schwieg, ihre Hände glitten von den Tasten, das Gesicht senkte sich auf das Notenblatt – und dann schüttelte ein wehes Weinen den schlanken Mädchenkörper. Erschrocken beugte sich Rotraut über sie. »Heidelein, was ist dir geschehen? Hat dir jemand etwas zuleide getan?« Ein nur noch heftigeres Schluchzen war die Antwort auf die bange Frage. Ratlos stand die junge Frau neben Heide, bis der Mädchenkopf sich hob und zwei verweinte Augen sie flehend ansahen. »Verzeih’, Rautendelein, ich bin ein dummes Ding. Aber weißt du, deine süße Stimme hat so wundersam mein Herz berührt.« »Und deshalb weinst du so bitterlich? Das kann ich dir unmöglich glauben, Heidi. Aber ich will nicht in dich dringen.« Der Gong, der zum Abendessen rief, ließ Adelheid aufspringen. Sie warf der Freundin einen bittenden Blick zu, die ihr darob zärtlich die Wange streichelte. Dann zogen sie sich eiligst um und gingen in das Speisezimmer, wo sie die beiden Regglins und Iris bereits vorfanden. Letztere hatte mit gemischten Gefühlen Spiel und Gesang gelauscht. Wie konnte Heidi es wagen, sich mit dem ihren so hervorzutun. Gewiß, es war ganz passabel, aber doch nicht so, daß sie es vor andern hören lassen konnte. Heidi nahm sich in letzter Zeit überhaupt Frechheiten heraus, die jeder Beschreibung spotteten. Das kam wohl daher, daß sie diese unausstehliche Krämerstochter hinter sich hatte, die ja so tat, als wäre sie aus fürstlichem Geblüt. Und dann nach dem Spiel noch Heidis Heulerei. Man mußte sich ja der Schwester schämen! Als Iris Heidi zu Gesicht bekam, machte sie ihrem Ärger
Luft. »Deine Taktlosigkeit nimmt bestimmt schon Überhand, Heidi. Du darfst es dir ja noch nicht einmal zu Hause erlauben, auf dem Klavier herumzuklimpern, weil die Eltern es nicht ertragen können. Und hier, wo du doch nur ein Gast bist, tust du es stundenlang.« Rotraut hatte sich noch niemals gegen die Anmaßungen der Komteß gewehrt. Aber jetzt wurde es Zeit, daß sie ihr energisch entgegentrat. Ihr Gesicht nahm einen hochmütigen Ausdruck an, die Lippen schürzten sich spöttisch. »Gestatten Sie, daß ich Ihre Worte korrigiere. Heidi ist mein Gast, sie kann in meinen Zimmern machen, was sie will. Wir haben die Absicht, noch recht oft zu musizieren. Wem das nicht paßt, der braucht ja nicht zuzuhören. Außerdem ist meine Freundin musikalisch sehr begabt. Was an Technik noch fehlt, ersetzt der innige Ausdruck. Ich kann mir darüber schon ein Urteil erlauben, weil ich Gelegenheit hatte, hervorragende Künstler zu hören.« Iris war aus allen Wolken gefallen. Am liebsten hätte sie diese unverschämte Person in ihre Grenzen zurückgewiesen. Als sie jedoch die mißbilligenden Blicke Tante Lianes und die ironischen Harros bemerkte, schwieg sie verbissen. Es herrschte eine peinliche Stille, bis Adelheid hastig sagte: »Ich muß jetzt nach Hause – weil – du weißt doch, Raute…« »Ja, Heidelein. Ich bringe dich in meinem Auto sofort nach Laubern.« »Daraus wird nichts«, meldete sich Liane, so energisch wie selten. »Nach dem Essen kann der Chauffeur dich nach Hause fahren, Heidi. Du, Rotraut, bleibst hier. Du bist viel zu erregt, um das Steuer ruhig genug führen zu können. Du fährst überhaupt sehr leichtsinnig. Harro und ich können das nicht länger dulden. Deine letzte Fahrt mit Eberhard war direkt ein frevelhaftes Spiel mit dem Leben.« Rotraut sah die plötzlich so energisch gewordene Liane zuerst erstaunt an, dann zuckte sie lächelnd die Achseln.
»Ich weiß schon, wie ich zu fahren habe, Frau Gräfin. Noch
stets habe ich das Steuer in der Gewalt gehabt.«
Liane sah den Sohn an, der ihr beruhigend zulächelte.
»Nur keine Angst, Mutter, ich fahre mit.«
Das klang so bestimmt, daß Rotraut nichts darauf
erwiderte. So weit kannte sie ihren Mann nun schon, um
zu wissen, daß sie gegen seinen herrischen Willen nicht
aufkam.
Nach dem ungemütlichen und sehr schweigsam
verlaufenen Abendessen fuhr man zu dritt nach Laubern.
Auf der Hinfahrt fuhr Rotraut ein gemäßigtes Tempo, weil
Heidi ein wenig ängstlich war. Doch nachdem man die
Komteß abgesetzt hatte, flitzte der Wagen nur so dahin, bis
Harro seine Hand auf die der leichtsinnigen Fahrerin legte.
»Laß das«, sagte sie gereizt.
»Erst, wenn du vernünftig fährst.«
»Ich mag es aber nicht, wenn der Wagen wie eine Schnecke
dahinkriecht.«
»Und wenn du bei dem unsinnigen Tempo verunglückst?«
»Wenn schon – wem liegt was daran?«
Er musterte sie unter halbgeschlossenen Lidern, in den
Augenwinkeln zuckte es.
»Du hast ja eine merkwürdige Auffassung, mein Kind.«
»Jeder wie er kann«, entgegnete sie achselzuckend. »Sieh
nur, wie dunkel es schon ist. Man merkt, daß der Herbst
naht. Und der Winter…«
»Warum sprichst du nicht weiter?«
»Weil – ach, es hat doch keinen Zweck.«
»Doch es hat einen Zweck: mir zu sagen, daß du dich vor
dem Winter auf Regglinsgrund fürchtest. Stimmt’s?«
»Ja und nein.«
»Möchtest du den Winter über auf Reisen gehen?«
Sie schüttelte hastig den Kopf.
»Danke, nein. Diesen einen Winter halte ich es in
Regglinsgrund schon aus. Gerade dann kann man deine
Mutter nicht allein lassen.«
Er musterte sie mit einem Blick, unter dem sie den Kopf
unwillig zur Seite wandte. »Wie rücksichtsvoll du mit einem Mal bist. Aber lege dir nur keinen Zwang auf. Meine Mutter hätte so und so nichts von dir.« »Wer spricht denn von mir?« fragte sie abweisend. »Dich würde deine Mutter vermissen, der du mich auf der Reise wahrscheinlich begleiten würdest. Und deine letzten Worte, sollen die etwa ein Vorwurf sein?« »Nicht direkt. Aber lieb wäre es mir schon, wenn du meine Mutter nicht wie Luft behandeln würdest. Nimm dir ein Beispiel an Iris, die sehr viel zärtliche Aufopferung für ihr geliebtes Tantchen aufbringt.« »Darüber solltest du nicht spotten.« »Bitte sehr, ich bin nur des Lobes voll über so viel Liebesreichtum.« »Schäme dich. Harro!« unterbrach sie ihn empört. »Wie kannst du dich über ein Mädchen lustig machen, das dich so sehr liebt.« Überrascht blitzte es in seinen Augen auf, dann meinte er achselzuckend: »Mein liebes Kind, wenn ich auf die Gefühle all der Mädchen Rücksicht nehmen sollte, die mich zu lieben angeben, dann wäre ich ein bedauernswerter Mensch, der niemals seines Lebens froh werden könnte.« Der Wagen stand auf der Stelle wie festgewachsen. Sekundenlang kreuzten sich die Blicke der beiden Menschen wie scharfe Klingen. Achselzuckend wandte Rotraut sich ab und brachte den Wagen wieder in Gang. Eine eisige Abwehr ging von ihr aus, die jedoch den Mann durchaus nicht beeindruckte. Es klang ordentlich vorwurfsvoll, als er sagte: »Deine stolze Abwehr ist hier unangebracht. Du müßtest mich vielmehr bedauern, daß ich so viel Liebe nicht erwidern kann.« Und dann beugte er sich so weit vor, daß sein Mund fast ihr Ohr berührte, und sprach mit schmeichelnder Stimme: »Besser, daß das Herz dir bricht von dem Kuß der Rose, als
du kennst die Liebe nicht und stirbst liebelose.«
Ihr Kopf ruckte zur Seite, die Augen blitzten vor Empörung.
»Nun, Rotraut, du willst mich wohl mit deinem Blick
umbringen? Hast du mir nichts auf meinen Herzenserguß
zu antworten?«
»Ich habe dir nur zu sagen, daß es ein Unglück sein müßte
– dich zu lieben.« »Aber Rautendelein, wie kann man nur. Liebe? Ich werde dir morgen ein Märchenbuch schenken, mein Kind.« Um nur aus der Nähe dieses arroganten Menschen zu kommen, gab sie Gas. Der Wagen flitzte so schnell davon, daß Regglinsgrund in wenigen Minuten erreicht war. Als Rotraut sich in der Halle des Schlosses von ihrem Mann verabschieden wollte, sah er sie mit einem Blick an, vor dem sie errötend den Kopf senkte. »Es wird auch Zeit, daß du dich schämst«, meinte er gelassen. »Du bist klug genug, um zu wissen, wie unrecht du handelst, wenn du dich dem Familienleben fernhältst. Du kränkst meine Mutter damit, und das kann ich nicht länger dulden.« Schweigend ging Rotraut ihm voran nach dem kleinen Gemach, in dem die Hausherrin am Abend zu weilen pflegte. Sie hielt sich auch heute hier auf. Das gedämpfte Licht der Stehlampe gab dem Raum etwas Verträumtes. Im Nebenzimmer musizierte Iris. Sie spielte und sang heute besonders gut. Wahrscheinlich wollte sie beweisen, daß ihr musikalisches Können nicht zu übertreffen war. Rotraut ließ sich in einen Sessel sinken. Sie fühlte sich elend zum Vergehen. Müde legte sie den Kopf gegen die hohe Lehne. Daß Harro sich ihr gegenübersetzte, störte sie, aber sie konnte es ihm ja nicht verbieten. »Ist Heidi gut nach Hause gekommen? Und was machen Illsunds?« wollte die Mutter wissen. »Wir haben sie nicht gesprochen«, antwortete der Sohn. »Heidi verabschiedete sich am Parktor von uns.« Sekundenlanges Schweigen, dann wieder Lianes Stimme: »Wie benahm sich Rotraut am Steuer?«
»Unvernünftig wie gewöhnlich. Neunzig, hundert, das ist ihr Tempo.« »Das darfst du nicht länger gestatten, Harro.« »Darüber bin ich mir klar. Wenn sie nicht vernünftig wird, darf sie sich nicht mehr ans Steuer setzen.« Rotraut war zu müde, um zu widersprechen. Erbarmungslos hämmerte und bohrte es in ihrem Kopf. Mit geschlossenen Augen saß sie regungslos. Ab und zu zuckten die Lider, die Nasenflügel zitterten nervös. Sie schrak auch zusammen, wenn Iris ihren Sopran besonders hoch brachte. Und als nun gar das Lied aufklang, das sie vor einigen Stunden gesungen und dessen letzte Strophe Harro in so unerträglich spöttischer Art wiederholt hatte, da stöhnte sie leise auf. Sie fühlte ihre Hand ergriffen und hörte eine raunende Männerstimme, die ihr durch und durch ging: »Ist der Gesang dir unangenehm, Raute? Soll Iris damit aufhören? Sag es nur. Du brauchst in deinem Haus nichts zu dulden, das dir lästig ist.« Erschrocken öffnete sie die Augen und sah in die seinen hinein, die eine ungewohnte Weichheit widerspiegelten. »Bitte nicht«, wehrte sie hastig. »Ich mag Gesang so gern.« Jetzt trat auch Liane hinzu. Sie legte ihre kühle Hand auf den schmerzenden Kopf der Schwiegertochter und sagte gütig: »Du solltest dir mehr Ruhe gönnen, mein Kind. Gestern bist du wieder über eine Stunde im Wasser gewesen. Hast den See durchschwömmen, obwohl du weißt, daß es darin kalte Strudel gibt. Aber du läßt dir ja nichts sagen, willst immer mit deinem Trotzköpfchen durch die Wand.« »Hier herrscht ja ein auf die Nerven gehendes Dämmerlicht«, sagte Iris, die ins Zimmer getreten war, ungehalten. Und schon schaltete sie die Deckenbeleuchtung an, die nach dem Halbdunkel besonders grell wirkte. Rotraut bedeckte die schmerzenden Augen mit der Hand. »Laß das, Iris!« verwies Liane sie unwillig. »Raute hat
Kopfweh und kann das blendende Licht nicht vertragen.« Noch bevor sie zu Ende gesprochen, hatte Harro es bereits ausgeschaltet. Iris stand wie erstarrt. Was fiel den Regglins ein?! Vorhin hatte sie schon die Zurechtweisung der Krämerstochter hinnehmen müssen – und nun fingen Tante Liane und Harro auch noch damit an? An eine solche Behandlung war sie nun ganz und gar nicht gewöhnt. Leider! Und daran waren ihre Eltern doch schuld. Hätten sie der von Natur schon herrisch veranlagten Tochter nicht immer den Willen gelassen, dann hätte diese sich niemals zu einem so anmaßenden, selbstherrlichen Geschöpf entwickeln können, das sich sozusagen selbst anbetete. Ihrer Ansicht nach war keine so schön, keine so klug wie sie. Und daher konnte sie auch überall eine Sonderstellung verlangen. Also sollte diese hergelaufene Person sich hüten, ihr die Herrschaft in Regglinsgrund streitig zu machen. Der wollte sie schon beweisen, daß sie hier nichts zu bedeuten hatte. Gleichmütig, als wäre nichts gewesen, holte sie ein Fußkissen herbei und ließ sich zu Füßen Lianes nieder. Plauderte charmant und witzig, wie sie annahm, und war entzückt, als die Gräfin auf das Fest zu sprechen kam, das man nächstens geben wollte. Sie schmiedete Pläne, machte Vorschläge und benahm sich anmaßender denn je. Das tat sie auch, als das Fest kurz darauf stattfand. Als ob sie ganz zu den Gastgebern gehörte, stand sie in einer raffinierten Toilette neben diesen und begrüßte die Gäste, während die junge Gräfin sich im Hintergrund hielt. Und da es gottlob auch gerechtdenkende Menschen gibt, so empörten diese sich über die beiden Regglins, die so etwas duldeten. Ihre Sympathie gehörte fortan Rotraut. Man scharte sich um sie, zeichnete sie aus und ließ sich von ihrer entzückenden Art immer mehr gefangennehmen. Und was war mit dem Aschenputtelchen Heidi geschehen? Das hatte sich ja in ein Prinzeßlein verwandelt. Ob die bezaubernde junge Gräfin daran schuld war? Ob sie die elegante Toilette ihres Lieblings ausgewählt und gekauft
hatte? Nun, das ging ja keinen was an. Aber man freute sich, daß dieses bisher so im Verborgenen blühende Heideröslein dem Schatten entrückt und an ein sonniges Plätzchen verpflanzt worden war. Taufrisch und anmutig zeigte es sich jetzt den Augen der Menschen. Das störte und verdroß nun die schöne Iris ganz außerordentlich. Hauptsächlich deshalb, weil man sie kaum beachtete. Sie gesellte sich ihren Eltern zu, um diese gegen Heidi aufzuhetzen. Hätte sie jedoch die beiden Regglins bemerkt, die unweit standen und jedes Wort mit anhören konnten, dann wäre sie bestimmt vorsichtiger gewesen. »Seht nur, wie unmöglich Heidi sich benimmt«, begann sie ihr Gift zu verspritzen. »Die vergißt neuerdings vollständig ihre gute Kinderstube. Aber das ist kein Wunder. Sie hat ja an dieser Krämerstochter das denkbar schlechteste Beispiel. Wenn ihr eurer Tochter den Verkehr mit der hergelaufenen Person nicht bald verbietet, dann könnt ihr noch was erleben. Woher hat Heidi überhaupt das auffallende Kleid?« Da die Eltern ihr darauf keine Antwort geben konnten, fragte sie die Schwester danach, die eben mit Rotraut vorüberging. Heidi hob das feine Naschen und entgegnete schnippisch: »Gestohlen«, wandte sich ab und ging mit Rotraut, die ein amüsiertes Lachen kaum unterdrücken konnte, davon. Ja, da war nicht nur die sonst so zungenfertige Iris sprachlos, sondern auch ihr Vater. Und das war gut. Denn wäre ihm die Zunge augenblickslang nicht wie gelähmt gewesen, dann hätte sich über dem reizenden Haupt der kleinen Komteß ein Donnerwetter zusammengezogen, das in der illustren Gesellschaft bestimmt nicht am Platze war. Also schluckte der erboste Mann seinen Grimm hinunter, nahm sich allerlei vor, was seine Tochter Adelheid in Grund und Boden schmettern sollte und sah, nachdem sich sein Groll gelegt hatte, schmunzelnd zu, wie seine
Erstgeborene dem Grafen Halldungen schöne Augen machte. Warum auch nicht? Der Eberhard konnte sich mit seinem Vetter Harro bestimmt messen, und Hermeshöh war eine gewiß nicht weniger fette Pfründe als Regglinsgrund. Das hatte seine Tochter Iris schon längst erfaßt. Ihr schien es ratsam, zwei Eisen im Feuer zu haben. Wenn sich wider Erwarten ihre Hoffnung auf Harro Regglin zerschlagen sollte, dann blieb ihr immer noch Eberhard Halldungen, der, wie sie ganz genau zu wissen glaubte, Wachs in ihren Händen war. Als sie bei Tisch neben ihm saß, bot sie all ihren Scharm auf, um ihn zu betören. Er brannte dann auch bald lichterloh, wie sie befriedigt feststellte. Zwischendurch versuchte sie noch mit Harro zu kokettieren, der ihr gegenübersaß und sich mit seiner Tischdame unterhielt. »Was ist nur mit Iris Illsund?« fragte diese schließlich befremdet. »So unnatürlich habe ich sie noch nicht erlebt.« »Sie scheinen einen Schwips zu haben«, lächelte Harro. »Kein Wunder, da sie dem Wein so eifrig zuspricht.« »Trotzdem finde ich sie verändert und gewiß nicht zu ihrem Vorteil. Dafür hat sich die kleine Heidi erstaunlich herausgemacht. Wie sie jetzt ist, stellt sie ja ihre Schwester mühelos in den Schatten. Und Ihre Frau, Graf Regglin, die ist einfach bezaubernd«, sprach die distinguierte Dame mittleren Alters lebhaft weiter. »Schauen Sie nur, wie sie ihren Tischherrn, der sonst sehr schweigsam ist, zum Sprechen gebracht hat. Sie ist aber auch ein Rackerchen reizendster Art, das einem Mann das Herz schon warm machen kann«, schloß sie lachend. »Da haben Sie doch tatsächlich so lange gesucht, bis Sie die passende Frau gefunden haben, Sie Schwerenöter. Eine Herrin für Ihren Besitz und etwas Liebes für Ihr Herz.« Iris hatte die Worte der Dame, die allgemein beliebt und geachtet war, gehört, und ein böses Licht glomm in ihren Augen. Nach dem exquisiten Mahl begann dann der Tanz, dem
sich hauptsächlich die Jugend eifrig hingab. Aber auch die älteren Herrschaften machten vergnügt mit und freuten sich der Fröhlichkeit, die um sie herrschte. Rotraut und Adelheid ließen keinen Tanz aus, während Iris nicht so begehrt war. Am meisten tanzte sie mit Eberhard Halldungen, der sie so gut zu unterhalten schien, daß ihr lautes Lachen immer wieder aufklang. Und die Blicke, die sie dabei ihrem Partner schenkte, ließ die meisten Gäste mißbilligend den Kopf schütteln. Als dann eine Pause eintrat, in der Erfrischungen gereicht wurden, ging es in der Ecke, wo Raute und Heidi saßen, am fröhlichsten zu. Fast die gesamte Jugend war dort versammelt. Der junge Illsund, ein neugebackener Student, hatte sich in das betörende Rautendelein verliebt. Der reichlich genossene Sekt ließ ihn so keck werden, daß er die augenblickliche Königin seines Herzens impulsiv besang: »Wie heißt König Ringangs Töchterchen? Rotraut, SchönRotraut!« begann er übermütig, und ebenso stimmten die andern ein. Iris, die im Kreise der Gastgeber, ihrer Eltern und der Gräfin Halldungen saß, schürzte verächtlich die Lippen: »Die Leutchen sind ja regelrecht beschwipst. So etwas dürfte doch gar nicht vorkommen.« »Was Sie nicht sagen«, Herma kniff die Augen zusammen und besah sich die Sprecherin angelegentlich. »Warum sollten diese fröhlich singenden Leutchen’ wohl beschwipst sein? Nur, weil sie einem so entzückenden Geschöpf wie der jungen Herrin von Regglinsgrund huldigen? Ich täte es auch, wenn ich ein Mann wäre.« Illsund bekam einen roten Kopf; denn daß seine Tochter zurechtgewiesen wurde, wurmte ihn gewaltig. Nur mit Mühe konnte er eine heftige Erregung unterdrücken. Und der empörten Iris erging es genauso. Es war gut, daß Eberhard hinzutrat und durch seine frische Art die peinliche Situation überbrückte. Gleich darauf begann auch wieder der Tanz, und Harro trat
auf seine Frau zu. Obwohl sie ihm nur ungern folgte, ließ sie das nicht merken. Es war das erste Mal überhaupt, daß sie mit ihm tanzte. Er führte vorzüglich, sprach jedoch dabei kein Wort. Sein Gesicht war hart, die Narbe darin hatte sich gerötet. Das war das Zeichen, daß er sich in gereizter Stimmung befand, wie Rotraut längst schon wußte. Es wurde ihr unbehaglich, und sie atmete erleichtert auf, als der Tanz beendet war. Hoffentlich holte Harro sie nicht zu einem zweiten! Nein, er tat es nicht. Er hatte mit dem einen Tanz ja auch seiner Pflicht genügt, mehr schien er seiner Frau gegenüber nicht für erforderlich zu halten. Außerdem wurde sie von den Herren so umschwärmt, daß man sich beeilen mußte, um sich einen Tanz mit ihr zu sichern. Und um diesen Wettlauf mitzumachen, dazu verspürte Harro keine Lust. Der neue Tag war schon längst angebrochen, als man sich vergnügt trennte. Man beteuerte immer wieder, wie wunderschön die Stunden gewesen waren, die man in dem gastfreien Haus verlebt hatte. Man sagte den Gastgebern herzlichen Dank und ging zu den Wagen. Iris sträubte sich wie gewöhnlich, mit den Eltern nach Laubern zu fahren. Aber diesmal setzte sie ihren Willen nicht durch, weil der Vater ein ihr ungewohntes Machtwort sprach. Es kränkte ihn denn doch zu sehr, daß sein Abgott bei dem Fest nicht die Hauptperson gewesen war. Adelheid mußte natürlich auch mit. Wenn er sie erst zu Hause hätte, wollte er ihr die schnippische Art schon abgewöhnen. Doch so eifrig er Heidi auch suchte, sie schien wie vom Erdboden verschwunden zu sein, so daß er schließlich wutentbrannt ohne sie abfahren mußte. Na, die sollte was erleben! Nachdem auch diese letzten Gäste gegangen waren, traten Harro und seine Mutter auf die Terrasse hinaus, um sich erst ein wenig von dem Trubel zu erholen, bevor sie sich einige Stunden zum Schlaf niederlegten. Sie atmeten die herbe Morgenluft tief ein und genossen schweigend die
erwachende Natur. Die Sonne, die leuchtend am Horizont erschien, überstrahlte alles ringsum mit ihrem lodernden Schein. Vogelstimmen wurden mehr und mehr hörbar, eine Lerche schwang sich jubelnd empor. Sonst herrschte noch die erhabene Ruhe des frühen Morgens. Plötzlich schraken die beiden ins Schauen versunkenen Menschen zusammen, und ihr Blick flog zu den geöffneten Fenstern hin, hinter denen Rotraut sprach: »Hier bist du, Heidi? Noch vor einigen Minuten habe ich dich gesucht, weil deine Eltern nicht ohne dich nach Hause fahren wollten.« »Sind sie fort?« »Ja. Dein Vater war sehr ärgerlich. Wo hast du dich versteckt gehalten, daß man dich trotz eifrigen Suchens nicht finden konnte?« »In deinem Ankleideraum.« »Aber Heidi, warum denn. Wie siehst du überhaupt aus, hast ja ganz dick verweinte Augen.« »Raute, liebe Raute«, schluchzte das Mädchen heiß auf, indem es den Arm um den Hals der erschrockenen jungen Frau legte. »Darf ich bei dir bleiben? Bitte!« »Heidilein, du zitterst ja vor Erregung. Komm, setz dich zuerst einmal. So. Und nun erzähle mir, warum du so furchtbar weinst.« »Ach, Raute!« »Damit ist uns beiden nicht geholfen!« Rotraut wurde energisch. »Reiß dich doch zusammen. Hier, nimm eine Zigarette.« Einige Minuten herrschte Schweigen, dann stieß das Mädchen verbissen hervor: »Diese Schändlichkeit! Ich dulde sie nicht – nein, um alles nicht! Er darf nicht unglücklich werden!« »Wer denn, um alles in der Welt. Etwa Harro?« »Der doch nicht«, tat Heidi ungeduldig ab. »Der kann ja niemals unglücklich werden, weil er viel zu arrogant ist. Ich spreche von Eberhard, den Iris neuerdings auf eine Weise umgarnt, die ihm zum Verhängnis werden muß. Dabei hat
sie die Hoffnung auf Harro noch längst nicht aufgegeben. Ist das etwa nicht schändlich, Raute?« »Heidi, man soll mit Beschuldigungen vorsichtig sein.« »Ich habe aber gesehen, wie Iris sich von Eberhard küssen ließ«, fuhr das Mädchen heftig auf. »Ist das noch nicht Beweis genug?« »Allerdings«, entgegnete Rotraut betroffen. »Vielleicht gedenkt er deine Schwester zu heiraten.« »Das ist es ja, was ich befürchte«, weinte Heidi nun wieder. »Und dann wird er bestimmt unglücklich – und das darf er nicht. Ach, Raute, ich möchte sterben!« »Heidekind, wer wird denn so verzweifelt sein«, sagte die junge Frau erschüttert. »Doch nun eine Frage, die du mir ohne jede falsche Scham beantworten sollst: Liebst du Eberhard?« »Ja.« »Das habe ich mir gedacht. Aber laß nur, noch ist ja nichts spruchreif. Ich glaube nicht, daß Eberhard seiner Mutter eine Schwiegertochter ins Haus bringen wird, die ihr absolut nicht zusagt.« »Meinst du, Raute?« »Ja, Heidi. Und nun trockne deine Tränen, du Dummchen. Du hast bis jetzt noch keine Veranlassung, so verzweifelt zu sein.« »Wenn du doch recht hättest«, kam es noch immer tränenschwer zurück. »Schau mal, ich persönlich mache mir ja keine Hoffnungen auf Eberhard, weil ich weiß, daß er für mich nichts übrig hat. Aber er soll nicht unglücklich werden. Kannst du das verstehen, Raute?« »Voll und ganz, Heidi. Aber glaube mir, oft trügt der Schein. Und damit mußt du dich trösten.« »Ach, Raute.« »Ach, Heidi! Nur nicht wehleidig werden, damit verbitterst du dir nur dein Leben. Geh jetzt schlafen. Und damit du es wirklich kannst, werde ich dir einen Beruhigungstrank mischen. Morgen wirst du dann brav nach Hause fahren…« »Auf keinen Fall!« rief das Mädchen angstvoll. »Wenn du
mich nicht hierbehalten willst, dann gehe ich in den See.« »Wahrscheinlich zum Baden«, lachte Rotraut. Heidi war empört. »Du lachst, wenn mir das Herz vor Jammer brechen will? Das ist häßlich von dir!« »Na, soll ich über solchen Unsinn weinen? Ich behalte dich gern hier, das müßtest du wohl wissen. Ich fürchte nur, daß dein Vater dich gewaltsam nach Hause holen wird.« »Kann er nicht, weil ich mündig bin.« »Oh, über diesen Trotzkopf! Warten wir ab, das ist nämlich das beste, was wir tun können.« Als Rotraut am späten Morgen erwachte, schlief Adelheid noch so fest, daß die junge Gräfin sich leise anzog und dann hinunterging, um zu frühstücken. Harro und seine Mutter tranken bereits Kaffee. Nach einem kühlen Gruß nahm die Hinzugekommene ihren Platz ein und aß ohne jeden Appetit, weil ihr Mann recht verstimmt zu sein schien. Und daß diese Verstimmung mit ihr zusammenhing, merkte Rotraut bald. Was hatte sie nun schon wieder verbrochen? Sie konnte sich doch wahrhaftig so klein wie möglich machen, aber immer noch gab es etwas, woran der Herr Gemahl Anstoß nahm. Nun, was es diesmal war, das würde sie ja bald erfahren. Und sie erfuhr es, nachdem man das Frühstück beendet hatte und nach den bereitliegenden Postsachen griff. Harro schob ihr die Post, die für sie bestimmt war, zu und sagte ungehalten: »Wenn noch einmal Briefe für dich mit verkehrter Adresse eintreffen, dann lasse ich sie zurückgehen. Ein Fräulein Bracht existiert nämlich nicht in Regglinsgrund, wohl aber eine Gräfin Regglin.« »Soll ich das etwa sein?« fragte sie hochmütig, worauf er die Zähne zusammenbiß, einmal schwer atmete und dann sagte: »Liebe Rotraut, ich habe bisher eine Geduld mit dir gehabt, die mir selber nicht erklärbar ist. Laß es jedoch nicht etwa
darauf ankommen, daß sie mir reißt. Es ist ein Fehler von dir, daß du nur auf deine Gefühle Rücksicht nimmst und niemals auf die deiner Mitmenschen. Daß du mich durch dein sonderbares Benehmen lächerlich machst, davon will ich nicht sprechen. Wohl aber, daß auch meine Mutter davon betroffen wird. Wie die Dinge liegen, konntest du nicht von ihr verlangen, daß sie dir mit offenen Armen entgegenkam. Dann hat sie jedoch versucht, sich dir zu nähern, was du in beleidigender Weise zurückgewiesen hast. – So, das war eines, und das andere: Was soll wohl der Briefträger denken, der die Post bringt, die an Fräulein Bracht adressiert ist? Sorge also dafür, daß sie fortan die richtige Anschrift trägt.« Damit überreichte er ihr die für sie bestimmten Briefe und sah dann die seinen durch. Ebenso tat es seine Mutter. In Rotraut stritten Widerspenstigkeit und Einsicht. Ihr Trotz lehnte sich gegen den Tadel Harros auf, ihre Vernunft gab ihm recht. So saß sie minutenlang mit abweisendem Gesicht, bis sie sich dann entschloß, auch ihre Briefe zu öffnen. Es war nichts von Bedeutung dabei. Reklame, Angebote von Modehäusern und andere Drucksachen mehr. Nur ein Schreiben schien persönlicher Art zu sein. Und kaum hatte Rotraut es mit den Augen überflogen, als sie erblaßte. Scheu ging ihr Blick zu Harro und seiner Mutter hin. Doch die waren ins Lesen vertieft. Da erhob sie sich hastig. »Ich will mal rasch nach Heidi sehen, die jetzt bestimmt schon ausgeschlafen hat.« Sie raffte ihre Briefe zusammen und eilte davon. So bemerkte sie nicht die Blicke, die Mutter und Sohn tauschten. »Hast du ihr Erschrecken gesehen, Harro?« »Ja.« »Hast du eine Ahnung, von wem der Brief sein könnte?« »Nein, es stand kein Absender drauf. Zerbrechen wir uns nicht weiter den Kopf, Mutter, das ist zwecklos. Du weißt ja, daß Rotraut kein Vertrauen zu uns hat.«
»Leider. Vielleicht liegt das an dir, mein Junge?« »Möglich.« Seufzend wandte Liane sich wieder ihren Briefen zu. Wenn Harro so zugeknöpft war, dann bekam sie nichts aus ihm heraus. Das wußte sie schon längst aus Erfahrung. Inzwischen saß Rotraut in ihrem Wohnzimmer und las noch einmal den Brief, der sie so erschreckt hatte. Wie gut, daß Heidi noch nicht angekleidet war und ihr somit Zeit blieb, sich zu sammeln. Als die Freundin dann eintrat, wurde sie neckend empfangen: »Das nennt man schlafen, du Murmeltierchen! Die Mittagssonne muß dir doch bereits ins Bett geschienen haben.« »Das kann man wohl sagen«, entgegnete die andere verlegen. »Ich habe mich wohl sehr töricht benommen – na, du weißt ja.« »Das scheint mir auch so«, war die lachende Erwiderung. »Aber laß nur, nach einer durchfeierten Nacht pflegt hinterher der Katzenjammer zu kommen. Wie ist es mit dem Frühstück?« »Das hat mir Dora bereits ans Bett gebracht.« »Lieb von ihr. Da können wir uns gleich mit den Kleidern beschäftigen, die angekommen sind. Schau mal dieses fesche Kostüm. Ist das nicht für die kommenden Herbsttage wie geschaffen?« »Raute, ich kann doch nicht…« »Immer die gleiche Litanei. Du hast mir doch kürzlich eine ganz gute Summe zum Einkauf gegeben. Und da mein Vater schon immer sagte, daß ich ein kleines Rechengenie bin, so ist es mir möglich gewesen, neben dem Festkleid noch diese reizende Angelegenheit herauszuschlagen. Stürze dich also gleich hinein.« Wie angegossen saß das helle Kostüm mit der dazu passenden Bluse. Adelheid hätte kein Mädchen sein müssen, wenn ihr nicht die Freude aus den Augen gelacht hätte. Dafür lachte nun Rotraut in sich hinein. – Und so hatte jeder etwas davon.
Als sie dann später durch den Park schritten, spürte Heidi, daß die Freundin nicht so ausgeglichen war wie sonst. Raute hatte einen fremden Zug im Gesicht, die Augen hasteten unstet umher. Eine Weile sah sich Adelheid das schweigend an, dann fragte sie leise: »Rautendelein, dir fehlt doch etwas, willst du es mir nicht sagen? Vielleicht kann ich dir helfen?« Augenblickslang schwieg Rotraut wie überlegend, dann fragte sie mit tränendunkler Stimme: »Kann ich dir vertrauen, Heidi?« »Voll und ganz, Raute.« »Auch wenn ich dich vorläufig im unklaren lassen muß?« »Wäre es sonst ein volles Vertrauen, Rautendelein?« »Ich danke dir«, die junge Frau atmete erleichtert auf. »Ich habe nämlich eine Bitte, die du immer noch ablehnen kannst.« »Ich werde es nicht tun.« »Abwarten. Ich muß heute noch nach Königsberg, wo eine sehr schmerzliche Angelegenheit auf mich wartet. Da nun aber Harro angeordnet hat, daß ich nie ohne Begleitung im Auto fahren soll, so bitte ich dich, mit mir zu kommen. Willst du das?« »Selbstverständlich, Raute. Daß du nichts Unrechtes tun wirst, das weiß ich. Alles andere geht mich nichts an.« Rotraut erwiderte nichts darauf, weil ihr die Tränen in der Kehle saßen. Sie zog die treue Freundin an sich und küßte sie. Harro ritt nach dem Mittagessen aus, um in Begleitung des Verwalters auf einem Nebengut eine unangenehme Sache in Ordnung zu bringen. Denn der Gutsherr verbrachte seine Tage durchaus nicht im süßen Nichtstun, obgleich er sich das hätte leisten können, sondern er kümmerte sich als ausgezeichneter Landwirt sehr eingehend um seinen Besitz. Und da er über gute Mitarbeiter verfügte, so lief in dem Riesenbetrieb alles wie am Schnürchen. Und wenn sich in ihm hier und da auch einmal ein Knoten zeigte, so wurde er immer sofort beseitigt.
Um einen solchen zu entwirren, traf er denn auch auf dem Nebengut ein. Als er dann ohne den Verwalter, der anschließend auf einem Vorwerk noch nach dem Rechten sehen wollte, nach Hause ritt, war er müde und abgespannt. Man merkte, daß der September seinem Ende zuging. Die Luft war herb und frisch. Die Sonne hatte schon erheblich an Kraft verloren. Harro Regglin liebte seine Heimat wie kaum einer. Selbst dann erschien sie ihm herrlich, wenn der Sturm tobte und der Regen alles grau in grau erscheinen ließ. Zuerst auf dem Gaul dahinzutraben und bei anbrechender Dunkelheit ins warme Zimmer zu flüchten, wo die Mutter, unter deren kühler Ruhe sich ein so warmes Herz barg, auf ihn wartete, das war schön. Jedesmal empfand er dann von neuem den Reiz des Nachhausekommens. Heute regnete es zwar nicht, aber doch strebten Roß und Reiter ungeduldig Stall und warmer Stube zu. Daher waren sie beiden nicht erfreut, als der frischfröhliche Ritt unterbrochen werden mußte, weil Ihnen eine Reiterin entgegenkam. »Guten Abend, Harro«, grüßte sie schon von weitem. Dann hielt sie, wodurch Regglin gezwungen war, das gleiche zu tun. Mit einem verführerischen Lächeln reichte sie ihm die Hand, die er nicht wie sonst an seine Lippen zog, sondern nach kurzem Druck freigab. Das ärgerte die schöne Iris, obwohl sie es nicht merken ließ. Strahlend sah sie ihn an. »Wie gut, daß ich Sie treffe, Harro. Ich war nämlich bei Tante Liane eingekehrt, wo es so gemütlich war, daß ich mich über Gebühr verplauderte. Jetzt ist es schon fast dunkel, und daher freut es mich, in Ihnen einen Beschützer getroffen zu haben. Sie werden mich doch nach Laubern begleiten?« »Bitte sehr.« Er hatte Mühe, das Pferd zu wenden. Es dauerte eine ganze Weile, bis es neben seinem Artgenossen einigermaßen gutwillig dahintrabte. Um nur irgendeine Unterhaltung zu
beginnen, fragte Harro: »Wie ist Ihnen denn das gestrige Fest bekommen, Komteß?« »Danke, sehr gut. Aber Ihnen doch nicht minder, will ich meinen. Sie haben nach alter Art wieder einmal ganz nett geflirtet.« »Warum soll ich nicht«, lachte er. »Oder schickt sich das nicht für einen Musterehemann?« »Musterehemann!« Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten. »Sie sehen auch ganz danach aus. Aber schließlich haben Sie es ja nicht nötig, bei dieser Ehe den verliebten Gatten zu spielen.« Er sah sie unter halbgeschlossenen Lidern an. Und hatte diese spöttische Überlegenheit sie schon immer gereizt, heute tat sie es ganz besonders, da es sehr verächtlich klang, als er sagte: »Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht recht, Gnädigste!« »Ist auch nicht erforderlich.« »Ich rate aber nicht gern Rätsel.« »Aber Sie geben sie anderen auf.« Seine Art reizte sie immer mehr und versetzte sie dann langsam in Weißglut, als er belustigt fragte: »Und diese können Sie bei Ihrer Klugheit nicht lösen? Darüber muß ich mich doch sehr wundern.« Nun war es um den letzten Rest ihrer Beherrschung geschehen. Außer sich vor Wut schrie sie ihm entgegen: »Schon gelöst, mein Lieber, schon gelöst! Sie sind alle nicht dumm, die den Vater dieser Krämerstochter gekannt haben! Ihr Vater jagte ihn vom Hof, weil er mit Ihrer Mutter, mein stolzer Herr Graf, ein Techtelmechtel unterhielt. Alles andere läßt sich leicht zusammenreimen, wenn man nicht auf den Kopf gefallen ist!« Sie saß ihm gegenüber, jeder Haltung bar. Die Augen schillerten wie die einer bösen Katze. Nur zu deutlich spiegelte ihr hohnlachendes Gesicht wider, was sie bezweckte. Demütigen wollte sie ihn! Diese kalte Ruhe sollte noch von ihm abfallen. All der Groll, der sich in
ihrem Herzen aufgespeichert hatte, brach sich nun gleich einem Wildbach Bahn. Ihre Stimme schrillte, als sie von neuem fortfuhr: »Und wie sie sich gibt! Als wäre sie aus fürstlichem Geblüt! Sie weiß genau, wie man Männer an sich lockt. Geben Sie nur hübsch acht auf König Ringangs Töchterlein, damit es Ihnen nicht ganz unköniglich Hörner aufsetzt!« Hätte Iris sich sehen können, sie wäre über sich selbst entsetzt gewesen. Sie, die sich auf ihre vornehme Abstammung so ungeheuer viel einbildete, daß es schon an Größenwahn grenzte, glich jetzt einer Megäre. Der Mann vor ihr sah es mit Abscheu. Es dauerte sekundenlang, bis er sprechen konnte: »Es ist wohl besser, wenn Sie Ihren Weg allein fortsetzen. Laubern ist bereits in Sicht. Guten Abend.« Doch so leichten Kaufes sollte er nicht davonkommen. Sie drängte ihr Pferd so nah an das seine, daß er den Oberkörper nach hinten bog. Wie zwei schwarze Flecken brannten die Augen aus dem grünlichblassen Gesicht. Ihre Stimme überschlug sich: »Das ist der Dank dafür, daß ich so lange auf Sie gewartet habe, mir jede gute Partie entgehen ließ! Jetzt kann ich mich zur Belohnung dafür von einer Person verdrängen lassen, die wie aus einem rätselhaften Dunkel aufgetaucht ist. Die es versteht, die Menschen mit ihrem vornehmen Getue, ihrer gleißenden Larve an sich zu fesseln, und deren Launen sich sogar der selbstherrliche Graf Regglin beugen muß. Ich hasse Sie – hasse sie alle!« Wie gejagt hetzte sie auf ihrem Pferd davon. Harro war zutiefst angewidert. Das also blieb von der stolzen Iris Illsund übrig, wenn die Tünche der Erziehung von ihr abgefallen war. Pfui Teufel! So hätten sie nur ihre in sie vernarrten Eltern sehen sollen – und seine Mutter! Er fuhr sich über die Augen, als könne er damit das häßliche Bild verwischen, das die Megäre ihm gezeigt hatte. Und unwillkürlich schob sich ein reines, klares Antlitz dazwischen, er hörte nach der schrillen eine weiche, süße
Stimme.
Da trieb er sein Pferd zu einem Galopp an.
Er fand seine Mutter in ihrem Zimmer vor dem Kamin,
dem eine mollige Wärme entströmte. Die Ruhe und der
Friede, die das Gemach erfüllten, zu dessen Harmonie die
vornehme Erscheinung der Frau ein übriges beitrug, legten
sich wie Balsam auf die gereizten Nerven des Mannes. Voll
Dankbarkeit, daß es einen so friedlichen Hafen für ihn gab,
zog er die Hand der Mutter an die Lippen.
»Wie schön, daß ich wieder bei dir bin, kleine Mama.«
»Du hast lange auf dich warten lassen, mein Junge. Hast du
Iris unterwegs getroffen?«
Er ließ sich erschöpft in einen Sessel sinken.
»Nur ein Weilchen will ich mich verschnaufen, dann ziehe
ich mich um. Ja, ich begegnete der Komteß und brachte sie
fast bis Laubern.«
»Findest du auch, daß das Mädchen sich sehr verändert
hat?«
»Das kann man wohl sagen. Wir haben sie alle überschätzt,
Mutter. Doch wo ist Rotraut?«
»Sie ist mit Heidi im Auto fort.«
»In Begleitung des Chauffeurs?«
»Nein, sie fuhren allein.«
Die Falte des Unmuts grub sich zwischen seine Brauen. Es
klang recht vorwurfsvoll, als er sagte:
»Das hättest du nicht dulden dürfen, Mutter. In der
Dunkelheit ist ein Fahren auf der Landstraße in heutiger
Zeit nicht ungefährlich.«
»Ja, Junge, ich hatte keine Ahnung, daß Rotraut so lange
wegbleiben würde. Außerdem blieb mir keine Gelegenheit
zur Kontrolle. Denn ich erfuhr erst nach dem Mittagsschlaf,
daß sie fort ist. Durch Albert ließ sie sich entschuldigen.«
»Ohne das Ziel ihrer Fahrt angegeben zu haben?«
»Ja.«
Harro sprang auf, durchmaß das Zimmer einige Male mit
langen Schritten, dann blieb er vor der Mutter stehen, die
beunruhigt zu ihm aufsah.
»Da Rotrauts Eigenmächtigkeit Überhand zu nehmen beginnt, werden wir energisch dagegen vorgehen müssen, kleine Mama. Jetzt entschuldigst du mich wohl, damit ich mich umkleiden kann.« Zum Abendessen war Rotraut immer noch nicht zurück – auch Stunden später noch nicht. Mutter und Sohn saßen in dem kleinen Gemach neben dem Musikzimmer und versuchten zu lesen, während sie jedes Geräusch draußen aufhorchen ließ. »Vielleicht ist sie in Hermeshöh?« sprach Liane nach einer Weile bedrückenden Schweigens. »Das glaube ich nicht. Sonst hätte sie uns davon in Kenntnis gesetzt, wie sie es stets zu tun pflegte. Anrufen möchte ich nicht, um Tante Herma nicht zu beunruhigen.« Dann warteten sie – Stunde um Stunde. Immer wieder musterte die Mutter verstohlen den Sohn, der seine Unruhe durch Gleichmütigkeit zu verbergen suchte. Um Mitternacht erhob er sich. »Es hat keinen Zweck, noch länger zu warten. Gehen wir also zur Ruhe.« Als er sich über ihre Hand beugte, drückte sie ihr Gesicht in sein Haar. »Willst du deiner Mutter etwas vormachen, mein Junge?« fragte sie leise. »Es ist nicht die Unruhe allein, die dich quält…« Hastig richtete er sich auf, sein Blick verfinsterte sich. »Lassen wir das, Mutti. Gehen wir lieber schlafen. Gute Nacht.« Die Nacht wurde alles andere als gut. Schlaflos wälzte sich die Mutter auf ihrem Bett, während der Sohn es auf dem Diwan tat, auf den er sich angekleidet gestreckt hatte. Sie horchten in die Nacht hinaus, von der Nietzsche sagt, daß sie tiefer ist, als der Tag gedacht. ›O Mensch, hab acht, was spricht die tiefe Mitternacht? Und tiefer als der Tag gedacht, tief ist ihr Weh.‹ Übernächtigt fanden sie beiden Regglins sich am Frühstückstisch zusammen. Daß die Gräfin blaß und müde
aussah, war ja kein Wunder. Aber auch das sonst so straffe Antlitz Harros zeigte Spuren tiefster Erschöpfung. Schweigend tranken sie den Kaffee und ließen die Speisen fast unberührt. »Ob wir nicht einmal in Rotrauts Zimmer nachsehen?« fragte die Mutter leise. »Vielleicht finden wir dort etwas, das uns Aufschluß geben kann?« »Können wir machen, obwohl ich nicht gern die Zimmer betrete, die mir bisher verschlossen waren. Aber schließlich bin ich ja dazu gezwungen.« Als sie das behagliche Wohngemach betraten, blieb ihr Blick an dem Schreibtisch hängen, auf dem drei Bilder standen. Das erste stellte den jungen Mann dar, der am Hochzeitstag so plötzlich aufgetaucht und ebenso wieder verschwunden war. Das zweite zeigte eine Dame mittleren Alters mit einem herrischen, hochmütigen Gesicht und das dritte einen älteren Herrn, wahrscheinlich Rotrauts Vater, denn die Ähnlichkeit mit ihr war unverkennbar. Ein scharfgeschnittenes, ein wenig strenges Antlitz, das ein kluges Auge wunderbar belebte. Dann betraten sie das Schlafzimmer. Der feine Duft, der auch Rotraut eigen war, haftete darin. Vor dem Bett lag ein weißes Fell und halb von ihm verdeckt – ein Brief. Er mußte dorthin geflattert und nicht beachtet worden sein. Nach diesem Briefblatt bückte Harro sich. Las, was darin stand, und gab es dann an die Mutter weiter, die, nachdem sie es gelesen hatte, den Sohn hilflos ansah. »Was nun, Harro?« »Abwarten«, entgegnete er so hart, daß sie zusammenzuckte. Wenn Rotraut das alles mit angesehen hätte, hätte sich ihre Unruhe noch gesteigert. Als sie am Tag vorher nach dem Essen abgefahren war, hatte sie bestimmt damit gerechnet, daß sie am Abend wieder zurück sein würde. Da Gräfin Liane ihren Mittagsschlaf hielt, konnte sie diese von der Fahrt nicht in Kenntnis setzen und beauftragte den Diener, später die Herrin davon zu unterrichten. Die Begleitung des
Chauffeurs lehnte sie so entschieden ab, daß dieser sich fügen mußte. Rotraut fuhr so schnell, daß Königsberg nach einer Stunde erreicht war. Im Hotel stellte sie zuerst ihren Wagen unter, dann erkundigte sie sich beim Geschäftsführer nach Herrn Wayler. Ja, der Herr hätte hier ein Zimmer belegt, wäre jedoch augenblicklich nicht anwesend. Wenn die Damen im Gastraum warten wollten? Sie warteten – und zwar so lange, bis es dunkelte. Heidi gab sich alle Mühe, die Freundin zu unterhalten, deren Unruhe sich immer mehr steigerte. Endlich sagte Rotraut: »Wir werden heute nicht mehr zurückfahren können, Heidelein. Ich wäre dir dankbar, wenn du Regglinsgrund anrufen und Bescheid sagen würdest, daß sie uns erst morgen zurückerwarten können.« Dazu war Heidi gern bereit. Als sie wiederkam, meldete sie in frischem Ton: »Befehl ausgeführt. Meine Schwester, die gerade in Regglinsgrund war, hat das Gespräch entgegengenommen und versprochen, Tante Liane zu verständigen.« »Danke, Heidi. Das wäre also erledigt. Nun müssen wir noch versuchen, in diesem meist überfüllten Hotel ein Zimmer zu bekommen, in dem wir übernachten können.« Sie hatten Glück, ein kleines Zimmer war noch frei. Es hatte zwar nur ein Bett, aber auf dem breiten Diwan konnte man auch gut ruhen. Rotraut griff sofort zu. Nachdem sie den Raum bezogen hatten, säuberten sie sich erst einmal. Und kaum, daß sie damit fertig waren, wurde die Tür aufgerissen, und ein Herr eilte freudestrahlend auf Rotraut zu. »Raute, ich habe gewußt, daß du kommen würdest!« Stürmisch küßte er ihre Hände und erst, als sich seine Freude gelegt hatte, bemerkte er Adelheid, die wie erstarrt dabeistand. »Herr Wayler – Komteß Illsund«, stellte Rotraut hastig vor. »Eine liebe Freundin von mir, Bob.« »Dann sind Sie auch die meine, Komteß«, beteuerte er
strahlend und küßte galant die Hand der jungen Dame.
Nach dieser Begrüßung verließ Heidi das Zimmer.
Jetzt standen die Kindheitsgespielen sich allein gegenüber.
»Das war leichtsinnig von dir, Bob«, begann Rotraut erregt.
»Genauso leichtsinnig wie damals, als du in Regglinsgrund
in mein Zimmer eindrangst. Schon dabei sagte ich dir, daß
es Dinge gibt, in denen mein Mann keinen Spaß versteht.
Und heute wiederhole ich das. Wir wollen hoffen, daß er
von unserem jetzigen Treffen nichts erfährt.«
»Sei doch nicht so böse, Raute«, entgegnete er kleinlaut.
»Ich bin extra von Amerika herübergekommen…«
»Das hättest du dir ersparen können«, unterbrach sie ihn
vorwurfsvoll. »Was hofftest du damit zu erreichen?«
»Ich wollte dir sagen, wie sehr ich dich liebe.«
»Das sieht dir Tollkopf ähnlich!« Sie zwang sich zu einem
neckenden Ton, während ihr das Herz bis zum Hals herauf
klopfte. Jetzt nur tapfer durchhalten, nicht weich werden,
damit erwies sie ihm und sich keinen guten Dienst.
Lachend beutelte sie seinen vollen Haarschopf.
»Komische Einfälle hat der Mensch, kaum zu glauben! Was
du mir soeben gesagt hast, geschieht ja nicht das erste Mal.
Aber ich will dir noch einmal darauf Antwort geben: Auch
ich bin dir von Herzen zugetan – wie einem
Lieblingsbruder. Zufrieden?«
»Raute – ist – das – wahr?«
Sie hätte weinen mögen angesichts des Schmerzes, der in
seinen Augen stand. Aber sie durfte ihn ihr Mitleid nicht
fühlen lassen – auf keinen Fall! Sie zog ihn mit sich auf
den Diwan nieder und umspannte sein Gesicht mit ihren
Händen.
»Dummer Junge, über meine Gefühle zu dir müßtest du dir
doch längst klar sein. Wir sind wie Geschwister
aufgewachsen.«
»Raute, bitte, quäle mich nicht!« Aufstöhnend barg er
seinen Kopf in ihrem Schoß. »Du hast kein Herz…«
O doch, sie hatte eins – und das tat ihr bitter weh. Sie
schluckte an den Tränen, die ihr in der Kehle saßen. Und
erst, als sie sie heruntergewürgt hatte, war es ihr möglich,
zu sprechen:
»Du bist noch viel zu jung, Bob, um über dein Herz genau
Bescheid zu wissen. Was du mit deinen zwanzig Jahren für
mich empfindest, ist nichts weiter als Jugendschwärmerei,
wie sie ein jeder Jüngling hat. Das wirst du erst später
merken, wenn dich die wahre Liebe erfaßt. Dann wirst du
über dich selber nachsichtig lächeln. Und nun den Kopf
hoch, du dummer Bengel, der mir so viel zu schaffen
macht.«
Langsam richtete er sich auf, sah sie schmerzgequält an und
sagte mit zuckenden Lippen:
»Anscheinend weißt du nicht, wie grausam du bist, Raute.
Darum will ich dir keinen Vorwurf machen. Aber eine
Frage sollst du mir beantworten. Bist du glücklich in deiner
Ehe?«
Raute hatte das Gefühl, als müsse ihr das Herz stillstehen.
Sie allein wußte, welche große Beherrschung es erforderte,
seinem forschenden Blick standzuhalten und noch ein
Lächeln auf die Lippen zu zwingen.
»Aber selbstverständlich doch, Bob«, tat sie verwundert.
»Ich habe doch meinen Mann geheiratet, weil ich ihn liebe
– und er mich auch.« Sie spürte die Grausamkeit ihrer Worte, die ihr selber vielleicht weher taten als dem jungen Mann, der nun die Fäuste in die Augen drückte und minutenlang so verharrte. Seine Zähne bissen sich zusammen. Was er dann sprach, klang wohl rauh aber leidlich gefaßt: »Deine Antwort auf meine Frage wird mir das Vergessen leichter machen. Und nun will ich dich nicht länger quälen. Ich kehre jetzt in die Heimat zurück. Und später einmal – wenn ich ganz ruhig geworden bin – dann will ich dich besuchen, um mich an – deinem Glück – zu freuen. Leb wohl – und hab’ Dank für deine Aufrichtigkeit.« Die Tür fiel hinter ihm zu – und nun gaben ihre bis aufs äußerste gespannten Nerven nach. Sie drückte das Gesicht
in die Hände und weinte bitterlich. So fand Heidi sie, als sie zehn Minuten später das Zimmer betrat. Zaghaft berührte sie die Schulter der immer noch Weinenden, die daraufhin den Kopf hob. Ihr verstörter Blick blieb an den Rosen hängen, die das Mädchen ihr zögernd reichte. »Einen Gruß von Herrn Wayler, Raute. Er läßt dir sagen, daß du dich unbekümmert deines – Glückes – freuen möchtest, das er dir aus vollem Herzen gönnt. Er hat bereits das Hotel verlassen.« »Wo hat er dir das gesagt, Heidi?« »Unten im Gastzimmer, wohin ich gegangen war, um eure Unterredung nicht zu stören.« »Du bist weiß Gott eine gute Freundin«, sagte Rotraut mit einem Lächeln, das dem weichherzigen Mädchen die Tränen in die Augen trieb. Unschlüssig, wie es sich verhalten sollte, stand es da, bis Rotraut es zu sich auf den Diwan zog. Und dann bekam die aufhorchende Adelheid zu hören, was sie tief erschütterte. Rotraut sprach sich so recht das Herz frei. Sie begann dabei mit dem Tage, an dem ihr der Brief des verstorbenen Vaters durch den Rechtsanwalt zugestellt worden war und schloß mit den Erlebnissen des heutigen. Und Heidi weinte, als ob ihr das alles geschehen wäre. »Raute, wie schrecklich ist es doch! Wie mußtest du dem armen Wayler weh tun. Liebst du ihn wirklich nur wie einen Bruder?« »Ja. Und er mich nicht anders als eine geliebte Schwester.« »Glaubst du daran so fest?« »Unbedingt. Was er für mich empfindet, ist bestimmt nichts anderes als Jugendschwärmerei.« »Wenn du doch recht hättest. Nun ist mir alles klar, woran ich herumgerätselt habe. Zwar ist über deine Ehe eifrig geklatscht worden, aber gottlob ist die Ursache, weswegen sie geschlossen werden mußte, den Klatschmäulern unbekannt. Hab’ Dank für dein Vertrauen.«
»Nachdem du mir das deine auf dieser Fahrt bewiesen hast, Heidi, war ich dir dieses Bekenntnis schuldig.« Am nächsten Vormittag betraten Rotraut und Adelheid das Zimmer, in dem die beiden Regglins saßen. Und ehe noch die junge Gräfin ihre Entschuldigung vorbringen konnte, stand der Gatte schon vor ihr in einer Haltung, die nichts Gutes verhieß. »Wo warst du?!« herrschte er sie an. »In Königsberg.« »Was wolltest du dort?« »Eine Privatangelegenheit regeln.« Rotrauts Gelassenheit wirkte direkt beängstigend in der Atmosphäre, die wie geladen schien. Das Antlitz des Mannes wurde blaß vor unterdrücktem Zorn. Die Narbe über der Wange leuchtete wie ein blutroter Streifen. In den Augen lag ein unheimliches Drohen. »Über diese Privatangelegenheit werdet ihr mir Rechenschaft geben müssen, mein Kind«, klirrte seine Stimme auf, »du und dein hartnäckiger Verehrer. Wenn man nämlich so aufschlußreiche Briefe erhält, dann sollte man vorsichtig damit umgehen, damit sie nicht in unbefugte Hände fallen!« »Du hast spioniert?« unterbrach sie ihn empört. Er winkte herrisch ab und fuhr fort: »Vor allen Dingen dürfen sie nicht in die Hände der Dienerschaft kommen. Ich hatte es nicht nötig zu spionieren, weil der Brief allen Augen zugänglich auf dem Fußboden deines Schlafzimmers lag. Und dieses aufzusuchen, war mein Recht, da du einen halben Tag und eine Nacht spurlos verschwunden warst. Vielleicht hast du jetzt die Liebenswürdigkeit, mir den vollen Namen jenes Jünglings zu nennen. Zwar widerstrebt mir die Frage, die ich schon einmal an unserem Hochzeitstag stellte – aber mir widerstrebt ja manches. Also antworte.« Sie stand da, die Lippen zusammengepreßt. In den Augen funkelte der Trotz. Man sah, wie seine Hand sich langsam zur Faust ballte, und hörte, wie er den Atem durch die Nase
stieß. »Rotraut, ich warne dich. Bisher habe ich dir die Ehe leicht gemacht, habe dir deinen Willen gelassen bis zur Lächerlichkeit. Wenn du jedoch dabei so rücksichtslos wirst, dann muß ich dir verbieten, dich ohne mein und meiner Mutter Wissen von Regglinsgrund zu entfernen.« »Ja, sage einmal, bin ich denn deine Sklavin?« fragte sie mehr erstaunt als entrüstet. »Weißt du überhaupt, was du von mir verlangst? Über meine Person bin ich Gott sei Dank immer noch mein eigener Herr.« »Wenn du dich nur nicht irrst. Ich als Ehemann habe das Recht, die Abenteuerlust meiner Frau zu unterbinden, die einer Gräfin Regglin unwürdig ist.« »Aha, darauf habe ich nur gewartet«, lachte sie spöttisch auf. »Ich habe dir meines Wissens gestern noch klargemacht, daß ich auf die Ehre verzichte, eine Gräfin Regglin zu sein.« Es war erstaunlich, woher Rotraut den Mut nahm, den Mann, der sich nur mit Aufbietung aller Energie beherrschte, immer noch mehr zu reizen. Er trat in eisiger Ruhe näher an sie heran, so daß Heidi, die dem allen mit Entsetzen gefolgt war, schützend den Arm um die Freundin legte. Das brachte ihn zur Besinnung. Er atmete einige Male schwer, bevor er sprach: »Ob du verzichtest oder nicht, steht hier nicht zur Debatte. Du bist mir angetraut und wirst es bleiben.« »Das wollen wir einmal sehen!« Sie warf den Kopf trotzig in den Nacken. »Hast du vergessen, daß diese Ehe auf Abbruch…« »Schluß!« Regglin schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die anderen erschrocken zusammenfuhren. »Ich habe mir deinen Unsinn jetzt lange genüg angehört. Hüte dich, es bis zum Äußersten zu treiben – bei Gott, dann sollst du mich kennenlernen!« Langsam wich jeder Blutstropfen aus dem Antlitz der jungen Frau. Schweigend wandte sie sich ab und verließ das Zimmer.
»Großer Gott, Harro – wie kannst du nur – so hart – sein«, stammelte Heidi mit entfärbten Lippen. »Raute ist an einen solchen Ton gewiß nicht gewöhnt.« »Dann wird sie sich daran gewöhnen müssen. Oder glaubst du, ich ließe mir noch weiter von deiner vergötterten Raute auf der Nase herumtanzen?« Seine Linke, die die Zigarette hielt, zitterte heftig. Wie erschöpft warf er sich in einen Sessel und strich hastig über Stirn und Augen. Heidi näherte sich ihm langsam und fragte bang: »Harro, ist es denn wirklich so unverzeihlich, was Raute getan hat?« »Wie man’s nimmt!« Seine spöttische Art trat wieder hervor. »Wenn du das in Ordnung findest, daß sie auf vierundzwanzig Stunden spurlos verschwindet, dann hast du von deinem Idol schon viel gelernt.« »Spurlos?« fragte das Mädchen verwundert. »Du wußtest doch, wo sie sich aufhielt.« »Ach, sieh mal an, lügen kannst du auch schon.« »Ich verbitte mir das! Gestern abend habe ich persönlich Regglinsgrund angerufen und Bescheid gesagt, daß wir erst heute zurückkommen können.« Es blitzte überrascht in seinen Augen auf. »Mit wem hast du gesprochen, Heidi?« »Mit Iris. Hat sie denn nichts bestellt?« »Nicht, daß ich wüßte.« Adelheid wurde zuerst blaß und dann blutrot. »Iris wird es vergessen haben«, stammelte sie. Da lachte er hart auf. Und hastig fuhr er herum, als er seine Mutter leise weinen hörte. Sofort war er bei ihr und umfaßte ihre Schulter. »Mutti, nun mal ruhig. Ich kann deine Tränen nicht ertragen.« »Hast recht«, sie rieb sich die Augen. »Es war nur ein bißchen viel für mich.« »Kann ich mir denken. Nun, Heidi, was siehst du mich so ängstlich an? Hältst du mich immer noch für einen
Barbaren, der seine bedauernswerte Frau knechtet?« Sie schüttelte den Kopf und sagte leise: »Ihr müßt euch sehr geängstigt haben.« »Danke, uns hat es genügt, nicht wahr, Muttchen?« »O ja«, seufzte Liane. »Es tut mir nur leid, daß wir Rotraut in einer Beziehung unrecht getan haben.« »Und in der anderen auch«, sagte Heidi entschieden. »Wißt ihr überhaupt, wer Herr Wayler ist?« »Wenn du damit den Herrn meinst, der am Hochzeitstag meiner Frau zu Füßen lag? Aber davon weißt du ja nichts.« »Doch, seit gestern abend hat mich Rotraut in alles eingeweiht. Und ich bin stolz auf ihr Vertrauen.« »Soso. Dann wirst du uns auch sagen können, was es mit dem Herrn auf sich hat.« »Bitte nicht, Harro«, unterbrach sie ihn hastig. »Das kommt mir nicht zu. Nur darauf möchte ich dich aufmerksam machen, daß er und Raute wie Geschwister aufgewachsen sind, und daß sie ihn auch heute noch wie einen Bruder liebt. Das hat sie ihm auch bei der gestrigen Unterredung eindeutig gesagt. Es hat ihr zwar weh getan, aber wie sie mir später sagte, mußte es sein, um den jungen Mann von seiner Jugendschwärmerei zu heilen. Noch gestern hat er Abschied genommen und wird fortan Rotraut nicht mehr mit seinen Besuchen in Ungelegenheit bringen. Du brauchst also nicht mehr mißtrauisch zu sein. Übrigens hattest du auch vorher keine Ursache dazu. Denn soweit müßtest du doch Raute kennen, daß sie niemals etwas tun wird, was das Licht scheut. Dazu ist sie ein viel zu vornehmer Charakter. Und nun entschuldigt mich bitte, ich möchte nach ihr sehen. Denn deine Härte, Harro, wird ja nicht spurlos an ihr vorübergegangen sein.« Im Oktober hatte Gräfin Liane Geburtstag. Sie liebte es nicht, an diesem Tag viele Menschen um sich zu haben, daher ließ sie keine Einladungen ergehen. Wer sich auch ungeladen einstellte, blieb zu einer kleinen zwanglosen Feier. So fanden sich außer den Halldungen und den Illsund nur noch einige Familien ein.
Nachdem man Kaffee getrunken hatte, entschloß man sich zu einem Spaziergang durch den Wald; denn es war fast sommerlich warm. Glitzernd huschte die Sonne über das bunte Laub, über die letzten Herbstblumen und die Rasenflächen, die von ihrem saftigen Grün schon viel eingebüßt hatten. Der Wald schloß sich dem großen Park an, ein Flüßchen bildete zwischen ihnen die Grenze. Plaudernd schritt man an ihm entlang, bis man die Brücke erreichte, die zum Wald führte. Man hatte sich zwanglos gruppiert. Heidi hielt sich wie gewöhnlich an Rotrauts Seite. Harro gesellte sich zu ihnen, und bald fand sich auch Iris wie unbeabsichtigt dazu. Obgleich man sie wenig beachtete, hielt sie mit den anderen Schritt, die sich friedlich unterhielten. Da rief Gräfin Liane den Sohn zu sich. In Gesellschaft einiger Damen und Herren folgte sie in einigem Abstand. Sie war in einen lustigen Wettstreit verwickelt worden, und Harro sollte ihr zu Hilfe eilen. Iris sah ihm unentschlossen nach. Sollte sie ihm folgen oder die Gesellschaft Eberhards suchen? Aber der befand sich gleichfalls in der Gruppe der vergnügt Streitenden, deren Lachen auch die übrigen anzog, was Iris in ihrer humorlosen Art so albern fand, daß sie lieber dort blieb, wo sie war. Rotraut gab sich zuerst Mühe, ein belangloses Gespräch in Gang zu bringen, auf welches das übelgelaunte Mädchen jedoch nicht einging. Da schwieg die junge Gräfin, wie auch Adelheid es tat, die sich in ihren Arm gehängt hatte. Mit Entzücken ließen sie ihre Augen durch den herbstbunten Wald schweifen, den nur die Malerin Natur so prächtig zu färben imstande ist. Vergnügt schoben sie die Füße durch das raschelnde Laub, das den Boden bedeckte. Dabei lachten sie wie Kinder, die sich beim Spiel vergnügen. Das fand Iris natürlich albern, hauptsächlich deshalb, weil Rotraut es tat. Aber diese hätte das vollkommendste
Geschöpf unter der Sonne sein können, die überhebliche Komteß hätte an ihr immer noch etwas auszusetzen gehabt. Das machte der Haß, in den sie sich immer tiefer hineinsteigerte, weil die andere das besaß, was sie für sich selbst so heiß begehrte: den Mann und seinen alten Namen, Reichtum – und zuletzt noch eine zauberhafte Schönheit, die Iris allerdings nicht anerkannte, weil sie sich selbstverständlich für bedeutend schöner hielt. Aber daß die Krämerstochter ihr den Rang in der Gesellschaft streitig machte, das merkte sie denn doch. Selbst Tante Liane, die sich früher sozusagen von ihr um den Finger wickeln ließ, war jetzt ganz merkwürdig zu ihr. Besonders von dem Tag an, da sie das Telefongespräch mit Heidi unterschlagen hatte. Von Harro war sie in einer Art zur Rechenschaft gezogen worden, die an Verachtung nichts zu wünschen übrig ließ. Klipp und klar hatte er ihr auf den Kopf zugesagt, daß sie es absichtlich unterlassen hätte, die Bestellung auszurichten. Und das war ja auch tatsächlich der Fall. Was sie damit bezweckte, hatte sich jedoch nicht erfüllt. Nach wie vor blieb diese von ihr so gehaßte Krämerstochter in Regglinsgrund. Heidis entzückter Ruf ließ Iris aus ihren unerquicklichen Gedanken aufschrecken. »Sieh nur, Raute, dieser Strauch mit den flammendroten Beeren! Sind die nicht einzig schön? Da will ich mir doch gleich einen Strauß für die Vase pflücken.« Sie eilte ins Gebüsch, während Rotraut und Iris langsam weitergingen, bis ein Waldsee ihre Schritte hemmte. Die Bäume spiegelten sich in seiner tiefgrünen Fläche. Seerosen in ihrem zarten Weiß schwammen darauf. Ein Steg führte ungefähr zwei Meter in den See hinein. Er diente wohl als Anlegestelle des Bootes, das farblos und verwittert am Rande schaukelte. Fast unbewegt lag das Gewässer und wirkte daher noch geheimnisvoller. Rotraut betrat den Steg, um das romantische Bild besser in sich aufnehmen zu können. Sie merkte nicht, daß das morsche Brett sich unter ihrer leichten Last bog. Als hielte
der Wald den Atem an, eine solche beängstigende Stille herrschte ringsum. Die Spaziergänger mußten weiß entfernt sein; denn ihre Stimmen waren nicht zu hören. Rotraut schaute in das dunkle Wasser und erschauerte. Wer da hineinfällt, der kommt nicht wieder heraus, dachte sie. Der See ist bis obenhin verwachsen und macht daher ein Schwimmen fast unmöglich. Als sie sich bückte, um eine Wasserrose, die ganz in der Nähe lockte, zu erhaschen, knickte der Steg an der Stelle ein, wo er nicht mehr auf dem Erdboden auflag. Iris, die es bemerkte, wollte die leichtsinnige junge Frau warnen, die sich wieder aufrichtete, die Rose in der Hand. Durch die Bewegung erweiterte sich der Riß im Brett. »Vorsicht!« wollte Iris rufen – aber der Anblick der bezaubernden Gestalt, die sich in der romantischen Umgebung wie ein Märchenwesen ausnahm, ließ den Ruf in der Kehle ersticken. Der Haß gab Iris einen Gedanken ein, vor dem sie sich selber entsetzte. Aber er bohrte und wühlte, loderte auf, wie eine vom Sturm gepeitschte Flamme. Ein einziger harter Ruck genügte, um das morsche Brett brechen und die verhaßte Rivalin in der unheimlichen Tiefe verschwinden zu lassen. Und dann – und dann… Dann würde sich endlich der Traum erfüllen, den sie, Iris, jahrelang geträumt hatte. Dann war der Weg zum Reichtum und Glück für sie frei! Wer konnte ihr beweisen, daß sie da ein wenig nachgeholfen hatte? Es gab keinen Zeugen weit und breit. Wenn es geschehen war, wollte sie um Hilfe rufen. Iris hätte sich niemals Rechenschaft geben können über die Sekunden, in denen ihr Hirn von diesem furchtbaren Gedanken beherrscht wurde. Es brauste und dröhnte in ihrem Kopf, daß er schier zu bersten drohte. Ihr Gesicht verzerrte sich zur Fratze. Wie von einer bösen Macht getrieben, bückte sie sich, stemmte sich mit der ganzen Körperschwere gegen das Brett, wo es geknickt war.
In diesem Augenblick drehte die ahnungslose Rotraut sich um, sah das verzerrte Gesicht mit den irren Augen. Und ehe sie noch einen entsetzten Schrei aus der Kehle bekam, brach das Brett – und sie stürzte in den See. Da durchschnitt ein Schrei die andächtige Stille des Waldes – laut, gellend, wie in allerhöchster Not. Heidi rannte auf das Gewässer zu, wollte der Entschwundenen nachspringen, doch die Schwester hielt sie zurück. »Laß mich los, du – du – Mör…« Die beiden letzten Silben erstickte die Hand, die sich fest auf ihren Mund preßte. Mit der Kraft der Verzweiflung rang Heidi sich los und stieß dann Iris so hart von sich, daß diese gegen den Stamm einer Birke taumelte. Mit glasigen Augen stierte sie auf das dunkle Wasser. Wieder machte Heidi Anstalten, in den See zu springen. Doch nun wurde sie von dem Vater zurückgehalten, der gleich den anderen auf ihren furchtbaren Schrei hin herbeigeeilt war. Und ehe sie begriffen hatten, was geschehen war, tauchte der Kopf gespensterhaft aus dem Gewässer empor. Wasserpflanzen umschlangen Gesicht und Nacken, ringelten sich bis zu den Füßen hinab. Die Gestalt war bedeckt mit Morast und Schlamm. Wie ein unheilbringendes Wasserwesen entstieg sie der grausigen Tiefe – und Grausen packte auch die Menschen, die das alles mit ansahen. Sie standen wie erstarrt, bis Harro auf seine Frau zutaumelte. »Rotraut, was ist dir geschehen?!« schrie er so angstgefoltert auf, daß die anderen zusammenzuckten. Nur Rotraut blieb davon unberührt. Mit zitternder Hand schob sie die Algen aus dem Gesicht, sah sich langsam wie irr im Kreis um – bis ihr Blick an Iris haften blieb, die sie mit blödem Lächeln anstierte. Mit einer Bewegung, als wollte sie etwas Entsetzliches von sich abhalten, streckte sie die Arme aus, warf den Kopf zurück – und sank dann lautlos zu Boden. Und schon kniete Heidi laut aufweinend neben ihr, umklammerte die regungslose Gestalt mit beiden Armen. Auch Gräfin Liane taumelte auf sie zu, blaß wie eine Tote.
Fast gewaltsam mußte Harro sich den Weg zu der Ohnmächtigen bahnen, die er dann auf die Arme hob, um mit ihr, von der Mutter gefolgt, davonzueilen. Nun kam auch langsam wieder Leben in die wie erstarrten Menschen. Hilflos sahen sie sich an, während die Eltern zu Iris gingen, die noch immer am Baum lehnte und blöd lächelte. Die Mutter brach in fassungsloses Weinen aus. Aber der Vater, dem vor Angst um die Tochter die Kehle eng wurde, brachte doch noch so viel Kraft auf, um Heidi anzuherrschen: »Da siehst du nun, was du angerichtet hast! Das arme Kind ist über deine verrückte Idee, der Gräfin in das vermaledeite Wasser nachzuspringen, so erschrocken, daß die Nerven versagen!« Und dann wandte er sich in liebevollstem Ton an Iris: »Werde doch ruhig, mein Herzenskind, es ist ja nichts geschehen. Komm, ich bringe dich zum Schloß zurück, und dann fahren wir nach Hause. Stütze dich nur auf Mutter und mich.« Langsam gingen sie davon, und die anderen folgten. Wieder einmal hatten sie allen Grund, über das Ehepaar Illsund verwundert den Kopf zu schütteln. Während sie die eine Tochter mit liebevollster Fürsorge umgaben, kümmerten sie sich um die andere nicht. Der Vater schalt Heidi sogar noch aus, obschon er sehen mußte, wie verstört sie war. Hauptsächlich Gräfin Halldungen empörte sich über so viel Ungerechtigkeit. Liebevoll umfaßte sie die Schultern des Mädchens, das sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Das Gesicht, über das unaufhaltsam Tränen liefen, war erschreckend blaß. Als man Regglinsgrund erreicht hatte, sah sich der Vater nach seiner jüngeren Tochter um und sagte streng: »Du kommst mit nach Hause. Und wehe dir, wenn du nicht gehorchst! Dann kannst du etwas erleben!« »Vater, ich möchte erst wissen, wie es Rotraut geht«, bat sie flehend, doch er winkte unwirsch ab: »Was geht dich die leichtsinnige Gräfin an. Kümmere dich
lieber um deine Schwester. Aber deren jammervolles Aussehen erschüttert dich selbstverständlich nicht, du herzloses Geschöpf. Wird’s bald, oder soll ich dir Beine machen?« Mitleidsvolle Blicke sahen Heidi nach, die nun den Ihren zum Wagen folgte. Sie kauerte sich auf den Rücksitz, während Iris im Fond zwischen den Eltern saß und sich von ihnen bedauern ließ. Zu Hause wurde sie liebevoll in ihrem Zimmer auf den Diwan gebettet. »Nun versuche zu schlafen, mein armer Liebling«, redete der Vater gütig zu. »Am besten ist es, wenn wir den Arzt holen lassen.« »Bitte nicht«, wehrte Iris matt ab. »Ich brauche nur Ruhe. Geht nur, und laßt mich allein.« Da Gräfin Illsunds Nerven nun auch nachgaben, führte der Gatte sie hinaus, um sie erst einmal zu beruhigen. Heidi erhielt den barschen Befehl, zu Iris zu gehen und auf sie zu achten. Widerwillig suchte sie die Schwester auf, die sich schlafend stellte. Adelheid trat ans Fenster, drückte den schmerzenden Kopf gegen die kalte Scheibe und verharrte regungslos, bis ein Geräusch sie herumfahren ließ. Iris hatte eine Zigarette in Brand gesteckt und rauchte. Die Augen brannten in dem blassen Gesicht, um die Lippen zuckte es höhnisch. Heidi stand nun mit dem Rücken gegen das Fenster gelehnt, hielt die Arme über der Brust verschränkt und sah unverwandt zur Schwester hin, bis diese sie anfuhr: »Laß das Angestarre! Geh hinaus, du bist mir lästig.« »Das glaube ich dir. Denn ein wenig wirst du ja wohl auch von dem besitzen, was man Gewissen nennt.« »Halt den Mund und mach, daß du rauskommst. Du hast Rücksicht auf meine Nerven zu nehmen, verstehst du?« »Du darfst ja auch besondere Rücksichtnahme beanspruchen – ausgerechnet du. Ungezwungen suche ich deine Gesellschaft gewiß nicht, ich bin nur auf Befehl des Vaters hier.« »Dann werde ich den Eltern sagen, daß deine Gesellschaft
mir widerwärtig ist.« »Ach, sieh mal an. Vielleicht sage ich ihnen dann etwas anderes.« Iris fuhr auf, ließ sich dann aber wieder in die Kissen zurücksinken und lachte höhnisch. »Damit würdest du dich nur schädigen, mein liebes Kind. Denn ich würde ja dabei nicht schweigen. Und ich zweifle nicht einen Augenblick daran, wem die Eltern mehr Glauben schenken würden. Wollen wir es einmal auf einen Versuch ankommen lassen?« Heidi mußte an sich halten, um der Schwester nicht in das niederträchtig lächelnde Gesicht zu schlagen. Der Ekel würgte sie, als sie langsam sprach: »Dein Gewissen und deine Schamlosigkeit möchte ich nicht haben. Pfui Teufel! Ich werde den Eltern deine verbrecherische Handlungsweise nicht verraten. Aber nicht etwa um dich zu schonen, werde ich schweigen, sondern…« »Darauf lege ich auch absolut keinen Wert«, wurde sie hämisch unterbrochen. »Übrigens hat niemand außer dir gesehen…« »O doch – nämlich Rotraut.« »Na – wenn schon. Mit der nehme ich es noch auf.« »Wenn du dich nur nicht irrst. Sag’ mal, was hat die junge Gräfin dir eigentlich getan, daß du so – gewissenlos an ihr handeln konntest?« Jetzt war es mit Iris’ erkünstelter Ruhe vorbei. Sie richtete sich auf, ihr Körper zitterte vor Erregung, in den Augen funkelte Haß. »Was sie mir getan hat? Das fragst du noch?! Auf den Platz hat sie sich gedrängt, der mir zukommt. Mit ihrem scheinheiligen Getue umgarnt sie die Menschen. Ich will mich nicht wundern, wenn ihr das auch eines Tages bei Tante Liane und Harro gelingt.« »Hoffentlich«, entgegnete Heidi nachdrücklich. »Wenn dir nun aber deine schuftige Tat gelungen wäre, was hätte dir das genützt? Du nimmst doch nicht etwa an, daß Harro
dich dann geheiratet haben würde? Wenn seine Ehe sich auch zerschlagen sollte, so besäße er nie und nimmer die Geschmacklosigkeit, nach einer Rotraut eine – Iris zu wählen.« »So demütigst du deine Schwester um dieser hergelaufenen Person willen?!« schrie Iris, daß ihre Stimme sich überschlug. »Ich werde den Eltern sagen, daß sie dir den Verkehr mit ihr ganz energisch verbieten, weil sie dir nur ein schlechtes Beispiel gibt. Wie kommst du überhaupt dazu, diese Krämerstochter mit mir zu vergleichen!« »Du hast recht, es war geschmacklos von mir, diese wirklich vornehme Gräfin in einem Atemzug mit dir zu nennen«, erwiderte Heidi ruhig. Iris wollte auffahren, unterließ es jedoch und lächelte perfid. »Du bist ja nur neidisch, weil ich Chancen bei dem Grafen Halldungen habe – den du so liebst.« Sie freute sich, als sie bemerkte, daß die Schwester zusammenzuckte. »Ja, siehst du, ich komme hinter alles.« Der Trumpf, den sie soeben ausgespielt hatte, besänftigte Iris erheblich. Heidi lehnte noch immer am Fenster, aufs tiefste angewidert und unheimlich blaß. »Der Hieb sitzt, Schwesterlein, nicht wahr? Vielleicht kannst du dich bei deinem heimlich Angebeteten in Gunst setzen, wenn du ihm die interessante Begebenheit am Waldsee erzählst?« fragte Iris lauernd, und Adelheid schüttelte sich. »Wenn ich deinen Charakter und dein Gewissen hätte, dann täte ich es bestimmt. Pfui, Iris – pfui! Schämst du dich denn überhaupt nicht mehr? Packt dich nicht vor dir selber das Grauen? Du mußt krank sein – oder durch und durch schlecht. Und nun verlasse ich dich, denn ich kann dich nicht mehr sehen. Hetze die Eltern gegen mich auf, so viel du willst, das soll mich nicht kümmern.« Wie verfolgt eilte sie davon. Jetzt nur fort von hier – und wenn der Vater über ihren Ungehorsam auch noch so toben sollte.
Sie ging zum Stall, ließ sich ihr Pferd satteln und ritt nach Regglinsgrund. Rotraut lag erschöpft in ihrem Bett und dämmerte vor sich hin. Wie Marmor wirkte das schöne Antlitz, so kalt und weiß sah es aus. Die feuchten, straff zurückgekämmten Haare gaben ihm einen fremden Zug. Immer wieder legte Harro sein Ohr auf die Brust seines jungen Weibes, um festzustellen, ob das Herz überhaupt noch schlug. Jedesmal nickte er dann seiner Mutter beruhigend zu, die mit angstvollen Augen neben ihm stand. Nach einer Weile setzten sie sich auf das Bett, jeder auf eine Seite, und warteten auf den Arzt, der über Land zu einem Kranken gefahren war. Er würde sofort nach Regglinsgrund kommen, wenn er zurückgekehrt wäre, wurde Harro auf seinen Anruf hin versichert. Nun warteten Mutter und Sohn voll Ungeduld. Wenn er nicht bald erschien, mußte man einen anderen Arzt kommen lassen, so ungern man es auch tat. Rotraut begann sich zu verändern. Die Blässe des Gesichts wich einer dunklen Röte. Die Augen, die sie ab und zu öffnete, hatten keinen klaren Blick. Sie erkannte den Gatten nicht, der sich über sie beugte, und stieß ihn angstvoll von sich. »Bitte, ach bitte!« flehte sie. »Ich habe Ihnen doch nichts getan. Nicht das Brett heben – nein! Es ist lebendig da unten – Arme greifen nach mir – halten mich fest! Sie sollen den Harro ja haben – sagen Sie ihm nur, daß er mich freigibt. Aber nicht hineinstoßen in das grausige Wasser – haben Sie doch Erbarmen!« Harro legte seine Hand auf ihren Kopf, in dem es wie rasend hämmerte. »Raute, so beruhigte dich doch«, sprach er gütig auf sie ein. »Es darf dir ja niemand etwas tun. Ich bin doch bei dir. Erkennst du mich denn nicht?« Angstvoll schob sie seine Hand zur Seite – auch die der Mutter, die beruhigend über das heiße Gesicht streichelte. Der Körper zitterte und glühte. Der unstete, flimmernde
Blick irrte durch das Zimmer, als erwarte die Fiebernde von irgendwo Rettung. »Sie sollen mich in Ruhe lassen!« rief sie heftig. »Sie sind böse – Sie wollen mich in den See stoßen! Wenn Sie Harro lieben, brauchen Sie doch deshalb nicht schlecht zu werden. Sie sollen ihn ja haben – aber dazu muß ich doch nicht umkommen – in diesem furchtbaren Wasser! Hilfe!« Harro mußte alle Kraft aufwenden, um die Phantasierende im Bett zu halten. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren vor Anstrengung und Angst. Da machte der Eintritt Gräfin Halldungens der Pein ein Ende. »Großer Gott«, stammelte sie erschrocken, als sie vor dem Bett stand. Ihre zitternden Hände umfaßten den Kopf der Fiebernden, die sie zuerst mißtrauisch musterte, dann wie befreit aufatmete und sich in die Kissen zurücksinken ließ. »Ach du bist es, Vater – dann ist alles gut. Du wirst mich schützen, nicht wahr? Du wirst auch dem Grafen Regglin sagen, daß er mich freigeben soll. Du kennst ihn und seine Mutter ja nicht. Sie haben kein Herz – auch nicht die Komteß Illsund – die mich in das grausige Wasser stieß – um Harro zu bekommen. Sag es keinem, Vater«, flüsterte sie geheimnisvoll – »ich tu es auch nicht. Nimm mich fest in deine Arme – damit ich nicht mehr Angst zu haben brauche. Ach ja – so ist – es schön.« Voll Erbarmen umschloß Gräfin Herma den zitternden Körper, der sich zutraulich an sie schmiegte. In diesem Augenblick trat der Arzt ein. Er ließ sich den Vorfall am See erzählen und trat dann an das Bett. »Na, Frau Gräfin, Sie machen ja schöne Geschichten«, sagte er und zwang sich zu einem frischen Ton. »Kann mir denken, daß Ihnen der Schreck in die Glieder gefahren ist. Aber zu fiebern brauchen Sie dabei doch nicht gleich, Sie törichte kleine Frau. Nun, das wollen wir gleich haben.« Während er ihr eine Spritze gab, plauderte er vergnügt. Dann wartete er gespannt die Wirkung der Injektion ab und nickte zufrieden, als Rotraut nach einer Weile die
Augen aufschlug und ihn mit klarem Blick ansah. »Nanu, Herr Doktor, was wollen Sie denn hier?« »Eine leichtsinnige kleine Frau zur Räson bringen«, schmunzelte er. »Wenn Sie schon baden wollen, dann suchen Sie sich in Zukunft ein appetitlicheres Wasser aus. Sie können froh sein, daß Sie aus diesem verflixten Tümpel herausgekommen sind. Oder glauben Sie, sich dort unten einen Nixerich anlachen zu können?« »Warum nicht«, lächelte sie matt. »Vielleicht sind sie besser als die Männer hier oben.« »Olala«, lachte er herzlich. »Wenn wir schon so angriffslustig sind, dann geht es uns schon wieder ganz gut. Nun versuchen Sie zu schlafen, Frau Gräfin. Und wenn ich wiederkomme, dann bitte ich mir ein fröhliches Gesicht aus.« Er erhob sich und winkte dann den beiden Regglins, ihm zu folgen. Im Nebenzimmer sagte er: »Es ist kein Grund zu ernster Besorgnis. Das Fieber ist wohl nur eine Folge der furchtbaren Erregung. Die Spritze wird der Frau Gräfin zu einem langen Schlaf verhelfen. Wenn sie dann erwacht, wird ihr das grausige Erlebnis wie ein böser Traum erscheinen. Sollte sich jedoch ihr Zustand wider Erwarten verschlechtern, dann bitte, benachrichtigen Sie mich sofort davon.« Damit verabschiedete sich der vielbeschäftigte Arzt, und die beiden Regglins kehrten zur Rotraut zurück, auf deren Bett Gräfin Herma saß. Sie bemerkte die Eintretenden nicht, die abseits Platz nahmen. Wohl eine Minute lang war es still, dann sagte Raute müde: »Wie gut, daß du da bei mir bist, Tante Herma. Dann brauche ich mich nicht zu fürchten.« »Das hast du doch auch sonst nicht nötig, mein Rautendelein. Wovor fürchtest du dich überhaupt?« »Vor der Komteß Illsund. Aber du weißt ja nicht…« »Doch, mein Kind. Laß uns jetzt nicht darüber sprechen, versuche lieber zu schlafen. Harro wird dich fortan schon schützen, das darfst du mir glauben.«
»Ausgerechnet er«, wehrte sie müde ab. »Vielleicht wäre er
froh gewesen, mich auf so einfache Art loszuwerden.«
»Kind, ich bitte dich!« unterbrach die andere sie
erschrocken. »Was sind das für schwarze Gedanken! Wie
kommst du nur darauf?«
»Weil ich ihm lästig bin.«
»Davon habe ich noch nichts gemerkt, du kleines Schaf.
Schlafe jetzt, und quäle dich nicht mit Hirngespinsten ab.«
»Tante Herma, du hast mich doch lieb?«
»Sehr, mein Rautendelein.«
»Dann beweise es, indem du mich nach Hermeshöh
mitnimmst. Nur für die Zeit, bis diese – Ehe auf Abbruch –
beendet ist. Dann gehe ich sowieso meiner Wege. Bitte,
bitte, Tante Herma, sag nicht nein!«
Diese konnte den flehenden Blick nicht ertragen und
wandte das Gesicht ab. Das deutete Rotraut so falsch, daß
sie mißtrauisch wurde.
»Du willst nicht?«
»Ich kann nicht, Raute«, entgegnete sie gequält. »Harro
würde das niemals dulden.«
»Natürlich nicht«, lachte die junge Frau bitter auf. »Dann
kann er mich, die ich ihm aufgedrängt worden bin,
nämlich nicht mehr weiter demütigen. Aber ich habe auch
meinen Stolz – und nicht zu knapp.«
»Raute, ich bin entsetzt.«
»Glaube ich dir gern. Laß nur, ich weiß Bescheid.«
»Nichts weißt du, und ich will dir sagen…«
»Danke. Ich bin jetzt müde und möchte schlafen.«
Sie drehte sich auf die Seite, und bald verrieten regelmäßige
Atemzüge ihren festen Schlummer. Seufzend erhob Gräfin
Herma sich. Nun bemerkte sie auch Mutter und Sohn, auf
die sie leise zutrat.
»Ihr seid hier?« fragte sie flüsternd. »Dann wißt ihr ja, was
Raute von euch denkt. Ich glaube, wir können sie beruhigt
der treuen Dora überlassen. Sie wird sobald nicht
aufwachen.«
Nachdem die Zofe Verhaltungsmaßregeln erhalten hatte,
gingen die Regglins und Herma ins Wohnzimmer hinunter, wo ihnen Eberhard entgegenkam. »Wie geht es Raute?« fragte er bang. »Augenblicklich schläft sie«, entgegnete seine Mutter. »Armes Ding! Es ist wirklich so allerlei, womit sie sich herumquälen muß.« Tiefbekümmert ließ sie sich in einen Sessel sinken, und die anderen folgten ihrem Beispiel. Es war kein freundlicher Blick, der zu Harro hinging. »Nun, Tante Herma, willst du mich mit deinen Blicken erdolchen?« »Verdient hättest du es, mein Sohn. Denn du scheinst so manches auf dem Kerbholz zu haben.« »Na schön. Schweige ich und leide.« »O über diesen Spötter! Gibt es denn wirklich nichts, was du ernst nimmst? Um ein Haar wäre deine Frau…« »Bitte nicht, Herma«, unterbrach Liane sie hastig. »Ich werde dir erzählen, wie alles zusammenhängt. Dann wirst du dem Jungen bestimmt nicht allein die Schuld geben.« Als sie geendet hatte, schüttelte Herma verblüfft den Kopf. »Na so was! Kann es denn wirklich so viel Verbohrtheit geben, wie Herr Bracht sie an den Tag gelegt hat? Zwei Menschen in eine Ehe zu zwingen, dazu gehört schon was. Zwar habe ich etwas Ähnliches vermutet, aber die Einzelheiten des Gehörten erschüttern mich nun doch. Kein Wunder, daß Rotraut sich hier als Eindringling betrachtet. Ein Jahr hat schließlich dreihundertfünfundsechzig Tage, die einem Menschen zur Ewigkeit werden können. Du als Mann wirst das nicht so empfinden, Harro. Denn erstens bist du nicht so zart besaitet, und zweitens bist du der Herr hier. Aber für Rotraut muß es ein demütigendes Gefühl sein, sich nur geduldet zu wissen.« »Ich wüßte nicht, daß Mutter und ich sie das haben jemals spüren lassen. Wenn Rotraut sich hier unglücklich fühlt, dann liegt das an ihr.«
»Gewiß, Junge – und doch! Vor vier Monaten erst wurde eure Ehe geschlossen, acht müßt ihr sie noch laut Vertrag aufrechterhalten. Ich weiß wirklich nicht, was da werden soll.« »Nicht anders, als es bereits geworden ist, Tante Herma. Rotraut schmachtet durchaus nicht in einem Kerker; im Gegenteil, sie hat so viele Freiheiten wie selten eine Frau. Was sie sich da einbildet, sind weiter nichts als Hirngespinste.« »Das habe ich ihr vorhin ja auch gesagt. Wie wäre es, wenn ich sie zu mir nach Hermeshöh nähme?« »Das geht nicht, Tante Herma, weil das nicht im Sinne ihres Vaters wäre. Und dessen Wunsch muß ich Rechnung tragen bis zum letzten.« »Armer Kerl! Na ja, du wirst dich schon durchbeißen. Aber für Raute sehe ich schwarz. Jetzt fühlt sie sich gar noch bedroht.« »Unsinn!« »Sagst du! Doch gebranntes Kind scheut das Feuer. Wenn ich nur genau wüßte, ob Iris tatsächlich so gewissenlos…« In diesem Augenblick hastete Adelheid ins Zimmer und lief auf Gräfin Herma zu, sie sank vor ihr in die Knie und drückte weinend den Kopf in ihren Schoß. Erschrocken sahen die anderen sich an, und dann umschloß Herma den bebenden Mädchenkörper fest mit beiden Armen. »Na, nun mal ruhig, Kindchen, Wer wird denn so wild weinen. Wo drückt denn das Herzchen, wie?« »Iris – oh, wie kann die nur so schlecht sein«, kam es schluchzend heraus. »Wenn nun Raute… Gar nicht auszudenken wäre das!« »Dieses ist nun die Antwort auf meine Frage vorhin«, flüsterte die Gräfin den anderen zu. Dann sprach sie wieder zu Heidi: »Dummchen, unserer Raute geht es doch gut. Sie schläft jetzt friedlich, und wenn sie erwacht, wird der Schreck überwunden sein. Daß auch gerade Sie dazukommen mußten, als das arme Ding ins Wasser stürzte. Fast hätte es
sein Leichtsinn, den morschen Steg zu betreten, mit dem Leben büßen müssen. Ihre Schwester war ja auch ganz verstört, Kleines.« Heidi erschauerte. »Ich weiß es besser…« »Nichts wissen Sie, Kindchen – genauso wenig wie wir und Raute selbst. Und nun mal das Köpfchen hoch, die Tränen getrocknet! So. Jetzt ist Feierabend für die Nerven. Danken wir Gott, daß Raute lebt. Alles andere ist halb so wichtig.« Heidi erhob sich langsam und setzte sich auf die Sessellehne. Sie schmiegte sich an Herma, die ihr zärtlich über die verweinten Augen strich. »Es will mir fast scheinen, als wären wir dem Herrn Papa wieder ausgerückt, mein Herzchen, wie?« »Ja. Ich mag jetzt noch weniger zu Hause sein als früher«, kam es herb über die Mädchenlippen. »Zwar bin ich daran gewöhnt, daß Iris hauptsächlich von meinem Vater vergöttert wird, aber heute – nach alledem, was passiert ist – ging mir die Verhimmlung denn doch zu weit. Ich mag nichts mehr hören und sehen – und deshalb kam ich hierher. Es ist dir doch recht, Tante Liane?« »Selbstverständlich, mein Kind. Ich fürchte nur, daß dein Vater dich zurückholen wird. Du weißt doch, daß er dich nicht gern bei uns sieht.« »Bei euch schon, Tante Liane – aber nicht bei Raute. Er läßt sich von Iris immer wieder aufhetzen, die mir das warme Plätzchen hier nicht gönnt.« Der Fernsprecher schlug an, und Harro nahm den Hörer ab. »Ja, Heidi ist hier«, gab er der zornigen Stimme am anderen Ende der Leitung Antwort. Und schon nahm die Tante ihm den Hörer aus der Hand, sprach seelenruhig in den Apparat: »Na, nun mal langsam, mein lieber Graf! Sie brauchen mir mit Ihrer Donnerstimme nicht das Trommelfell zu zertrümmern. Ganz recht, hier spricht Herma Halldungen. Leider kann Ihre Tochter Adelheid jetzt nicht nach Hause
kommen, weil sie zusammengeklappt ist«, log sie freundlich. »Auf Anraten des Arztes muß sie unbedingte Ruhe haben. Zwei kranke Töchter, das ist, um auf die Akazien zu klettern? Stimmt. Daher will ich mich opfern und Ihnen eine Marjell abnehmen. Ich pflege das arme Seelchen in Hermeshöh schon wieder zurecht. Einverstanden?« Nach einem weiteren Hin und Her legte sie dann lachend den Hörer in die Gabel zurück. »Das muß man schon sagen, Heidekind, der Herr Papa kann ganz nett toben. Wie stehe ich nun da? Fein überlistet habe ich ihn, was? Fragt sich nur, Kleinchen, ob Sie mit der Eigenmächtigkeit, mit der ich über Sie verfügt habe, einverstanden sind.« »Von ganzem Herzen.« »Dann ist ja alles in schönster Ordnung. Habe ich Sie erst einmal in Hermeshöh, dann wird sich das Weitere finden. Schließlich brauche ich ja eine Gesellschafterin, nicht wahr?« Sie zwinkerte vergnügt den anderen zu. »Und daß ich diese bei meinen Besuchen hier mitbringe, das ist ja wohl selbstverständlich. Somit haben wir alle was von dem Mädchen, das jetzt hoffentlich die wehleidige Miene lassen wird.« »An uns wird Heidi wohl herzlich wenig liegen«, bemerkte Liane. »Das hat sie in letzter Zeit klar genug bewiesen. Zwar weiß ich nicht, was wir ihr getan haben…« »Aber Muttchen«, schaltete sich Harro spöttisch ein. »Da wir Barbaren ihr Idol doch so knechten…« »Nun hört euch bloß diesen Spötter an!« lachte die Tante. »Laßt mir das Kind in Ruhe, das schon wieder das Köpfchen hängt. Geben Sie ihm doch contra, Kleine.« Heidi, den Tränen nahe, sah zu Gräfin Liane hin, die sie lächelnd zu sich bat. Sie zog das Mädchen zu sich auf die Sessellehne, strich zart über das vor Verlegenheit gerötete Gesichtchen und sagte gütig: »Glaubst du wirklich, es sei allein unsere Schuld, daß Rotraut uns so feindlich gegenübersteht?«
»Nachdem ich alles weiß – nicht mehr«, entgegnete sie leise. »Es ist wohl Rautes unbändiger Stolz, der sie jedes Entgegenkommen schroff zurückweisen läßt. Sie kann so lieb sein, Tante Liane, glaube es mir.« »Davon haben wir bisher noch nichts zu spüren bekommen. Aber laß nur, wir haben uns daran gewöhnt, von ihr als Widersacher betrachtet zu werden. Es macht uns schon gar nichts mehr aus.« »Ach, Tante Liane, wie schön könnte alles sein, wenn…« »Ja – wenn! Gefühle lassen sich eben nicht erzwingen. Vertrauen könnte sie uns allerdings entgegenbringen, aber sie hält uns wohl dessen nicht wert genug. Wir wissen noch nicht einmal, ob ihre Mutter noch lebt, ob sie Geschwister hat.« »Die Mutter ist tot.« Adelheid wurde nun lebhaft. »Aus ihrer zweiten Ehe stammt nur Raute, zwei Söhne aus der ersten. Rotraut spricht nicht gern über ihre Mutter, die übrigens auch eine Deutsche war. Mit ihrem älteren Stiefbruder scheint sie sich nicht so gut zu verstehen, aber den jüngeren mag sie sehr gern. Den Bildern nach zu urteilen, die sie mir einmal zeigte, muß ihr elterlicher Besitz prächtig sein. Geld scheint bei ihnen keine Rolle gespielt zu haben. Mehr weiß ich auch nicht.« »Na, immerhin ist das schon etwas«, meinte Herma trocken. »Vielleicht öffnet sich der schweigende Mund einmal, wir müssen nur mit Geduld abwarten können. Und nun bin ich dafür, daß wir nach Hause fahren. Seid ihr damit einverstanden, meine Kinder, jetzt zwei an der Zahl?« Sie waren es. Beim Abschied schmiegte Heidi sich an Gräfin Liane und fragte leise: »Bist du mir noch böse?« »Kindchen, das bin ich niemals gewesen. Es hat mich nur gekränkt, daß du in letzter Zeit so unzugänglich warst. Aber jetzt soll wieder alles so werden, wie es war – wenn du willst.« »Und ob ich will, Tante Liane! Hab’ Dank für deine Güte.«
Als Gräfin Liane am anderen Morgen nach Rotraut sehen wollte, erhielt sie von der Zofe den Bescheid, daß die Herrin nicht zu sprechen sei. Es ginge ihr so gut, daß sie das Bett bereits verlassen hätte. An der Mittagstafel erschien Rotraut denn auch, wohl noch blaß, aber sonst ganz die alte. Sie begrüßte den Gatten und seine Mutter so gleichmütig, als wäre der gestrige Tag nicht gewesen. »Komm doch einmal her zu mir, Rotraut.« Widerwillig folgte sie der Aufforderung der Gräfin, die sie neben sich auf das Polster zog und sie kopfschüttelnd betrachtete, weil Rotraut die Augen beharrlich gesenkt hielt. »Was bist du doch für ein unbegreifliches Menschenkind, Rotraut. Nach dem, was gestern geschehen ist, müßtest du uns, die dir nahestehen sollten, doch etwas zu sagen haben.« »Ich wüßte nicht«, kam es so hochmütig zurück, daß ein tiefes Rot in Lianes Antlitz stieg. Da der Diener meldete, daß angerichtet sei, erhob sie sich schweigend. Und schweigend verlief auch das Mahl, bei dem Rotraut beinahe schlapp gemacht hätte. Einige Male mußte sie sich am Tisch festhalten, weil es ihr schwarz vor den Augen wurde. Sie sah die Blicke nicht, die Mutter und Sohn miteinander tauschten, und wankte nach Aufhebung der Tafel sofort aus dem Zimmer. Liane, die ihr besorgt folgen wollte, wurde von Harro zurückgehalten. Als Rotraut draußen war, sagte er unwillig: »Hat dir die Abfuhr, die du vorhin bekamst, noch nicht genügt, Mutter? Es ist unerhört, was du dir so alles bieten lassen mußt.« »Du wohl weniger, mein Junge?« fragte sie lächelnd, und er winkte gelassen ab. »Ich werde schon mit ihrem Eigenwillen fertig, aber du nicht, Muttchen. Daher möchte ich dir raten, ihr mit keinem Schritt mehr entgegenzukommen. Du hast dir schon gerade genug von ihr bieten lassen.«
»Sie war aber nahe am Zusammensinken, Harro. Es ist unsere Pflicht, auf sie zu achten. Willst du nicht nach ihr sehen?« »Um vor verschlossener Tür zu stehen? Danke! Dora wird sie schon betreuen.« Das tat das treue Mädchen auch. Es umsorgte seine Herrin, die völlig erschöpft auf den Diwan gesunken war, bis sie fest einschlief. Dann setzte es sich mit einer Handarbeit ins Nebenzimmer, um jedes Rufs gewärtig zu sein. Zur Kaffeezeit erwachte Rotraut. Sie rief nach Dora, doch statt dieser eilte Heidi auf sie zu, umfaßte sie mit beiden Armen und schmiegte ihre Wange an die der Freundin. »Ach, Raute, wie habe ich mich um dich geängstigt! Geht es dir jetzt wieder gut, ja?« »Wahrscheinlich besser als dir«, entgegnete Rotraut lächelnd. »Jedenfalls zittere ich nicht so wie du. Sitzt dir immer noch der Schreck in den Gliedern?« »Das ist es nicht allein. Glaube mir, Raute, meine Schwester war niemals schlecht. Sie hatte allerdings auch keine Gelegenheit, es zu sein, weil alles nach ihrem Willen ging. Daß man diesem entgegentrat, kam nicht vor. Erst als du auftauchtest und sie immer mehr und mehr verdrängtest…« »Na, Heidelein, seit wann übertreiben wir denn?« warf Rotraut ein. »Ich weiß nur nicht, warum du deine Schwester verteidigst? Ich habe sie doch gar nicht angegriffen. Sprechen wir nicht mehr davon. Dich peinigt das Gespräch, und mir ist es unangenehm. Bist du schon lange hier?« »Ungefähr eine halbe Stunde. Denke dir, Raute, ich bleibe jetzt vorläufig in Hermeshöh.« Sie erzählte von dem gestrigen Telefongespräch und merkte in ihrem Eifer gar nicht, wie ablehnend Rotraut sich verhielt. »Ich bin ja so von Herzen froh, daß ich von zu Hause fort bin«, erzählte sie weiter. »Jetzt Iris ständig vor Augen zu haben und die Vergötterung durch den Vater
mitanzusehen, das ginge einfach über meine Kraft. Ja, wenn sie ihre schändliche Tat wenigstens bereuen wollte, aber keine Spur.« »Heidi, du wolltest die unangenehme Sache doch ruhen lassen«, mahnte Rotraut. »Für das Tun deiner Schwester bist du doch wirklich nicht verantwortlich zu machen.« »Was würde aber geschehen, wenn du nicht so edelmütig wärest?« »Stop, Heidi, das klingt ja ganz nach Schwärmerei. Dazu bin ich ein ganz ungeeignetes Objekt. Edelmütig? Wer ist das überhaupt! Ich mit meinen vielen Fehlern bin es bestimmt nicht.« »Ich kenne keine – höchstens…« »Was denn?« forschte Rotraut, als Heidi verlegen schwieg. »Sprich nur ruhig weiter.« »Ja – muß ich wohl«, kam es kleinlaut heraus. »Schau mal, Raute, seitdem du mir dein Vertrauen geschenkt hast, bin ich in der Lage, so manches besser als vordem beurteilen zu können. Denn zuerst gab ich Tante Liane und Harro allein die Schuld an euerm befremdenden Verhalten. Die sonderbare Art Harros empörte mich ebenso wie Tante Lianes verletzendes Gebaren, mit dem sie dich am Hochzeitstag willkommen hieß. Ich stellte mich sofort auf deine Seite, hieß alles gut und richtig, was du tatest – aber jetzt… Ach, Raute, was will ich da viel reden? Ich bitte dich nur, sei doch nicht so unversöhnlich – und hochmütig.« »Also schon zwei Fehler, die du an mir entdeckst.« »Bitte nicht, Raute«, unterbrach Heidi sie hastig. »Dein spöttischer Blick tut mir weh. Ich merke schon, du bist mir böse.« »Nicht doch, Heidi. Ich weiß ja, wie gut du es meinst. Du wirfst mir Hochmut vor, schön. Aber sind die Regglins etwa weniger hochmütig als ich? Siehst du, darauf weißt du nichts zu erwidern. Ich bin nicht gewohnt zu betteln. Das verbietet mir nicht mein Hochmut, sondern mein – Stolz. Und nun mach’ nicht ein so verzagtes Gesicht, Heidi. Laß mich nur gewähren – und die anderen auch. Wir beißen
uns schon gegenseitig durch. Hörst du, es gongt. Also werden wir uns an der Kaffeetafel einfinden müssen. Mich würde man dabei wohl kaum vermissen, aber du würdest ihnen fehlen.« Sie erhob sich, zog rasch ein anderes Kleid an, erfrischte das Gesicht, bürstete das Haar und trat dann zu Heidi, die sie bittend ansah. »Raute, sei mir nicht böse…« »Dummchen! Nun komm schon.« Sie zog sie rasch mit sich fort, und sie gingen nach unten, wo man bereits mit dem Kaffee auf sie wartete. »Da ist ja unser Rautendelein!« Gräfin Herma zog Raute in die Arme. »Laß dich anschauen, Kind. Ein wenig blaß noch, aber sonst wieder die alte. Gott sei Dank, daß das schauerliche Erlebnis keine ernsten Folgen…« »Bitte, Tante Herma…« Rotraut löste sich aus der Umarmung. »Es ist genug über meine Ungeschicklichkeit gesprochen worden.« Rotraut wußte nicht, wie hochmütig sie wirkte. Sie schien auch den betroffenen Blick der Tante nicht zu sehen. Sie nahm mit den anderen am Tisch Platz, beteiligte sich jedoch nicht am Gespräch, das lebhaft geführt wurde. Und je länger sie verweilte, um so schwerer wurde ihr das Herz. Es fraß sich eine Bitterkeit in ihr fest, gegen die sie sich augenblicklich nicht wehren konnte. Jetzt waren ihr auch die beiden Menschen verloren, die sie auf ihrer Seite geglaubt hatte. Wie hätte sonst Tante Herma ihre flehende Bitte ablehnen können, ihr in Hermeshöh Obdach zu gewähren? Sie tat es ja bei Heidi – warum also bei ihr nicht? Ach, das war leicht zu erklären. Tante Herma war im Grunde genommen nicht anders als die Regglins. Auch Adelheid nicht, deren offene Meinung sie vorhin hatte hören dürfen. Mit ihrer Tante Liane war sie bereits wieder ein Herz und eine Seele. Nun ja, sie gehörten kraft ihrer jahrzehntelangen Freundschaft eben alle zusammen. Und sie, Rotraut, war und blieb ein Fremdling in dem
festgefügten Kreis. Ein Eindringling, den man je nach Veranlagung teils freundlich, teils ablehnend duldete – weil man ihn dulden mußte. Rotraut hatte keine Ahnung, daß ihre Verbitterung sie ungerecht werden ließ. Sie in ihrer hochmütig abweisenden Haltung machte es ja den anderen unmöglich, sie in das Gespräch zu ziehen. Denn schließlich läßt sich keiner gern seine frohe Laune verderben. Nachdem die andern zur Zigarette gegriffen hatten, erhob Rotraut sich. Hoch und schmal stand sie da. Abwehrend die Haltung und abwehrend der Blick. »Ich bitte, mich zurückziehen zu dürfen.« Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, lehnte sie sich gegen sie und drückte die Hand auf das hartklopfende Herz. Gottlob, es schien ihr niemand zu folgen. Trotzdem eilte sie wie gehetzt davon und machte erst in ihrem Schlafzimmer halt, wo die Zofe herumhantierte. »Dora«, sprach sie zu ihr in einem Ton, den sie sonst für das treue Mädchen nicht zu haben pflegte. »Ich erteile Ihnen den Befehl, niemand in meine Zimmer zu lassen. Sie können gehen.« Verstört schlich Dora hinaus. Was mochte der Herrin nur geschehen sein? Nun hörte sie diese gar noch weinen. Sie setzte sich in einen Sessel und behielt die Tür im Auge, durch die sie niemand gehen lassen durfte, wer es auch sei. Also mußte sie auch Adelheid abweisen, die einige Minuten später erschien. »Bitte, Komteß, ich habe von Frau Gräfin den strikten Befehl, keinen vorzulassen.« »Davon bin ich doch wohl ausgenommen, Dora.« »Nein, Komteß. Bitte! Es könnte meine Stellung kosten.« Nun, darauf wollte Heidi es nicht ankommen lassen. Also ging sie wieder nach unten, wo ihr drei Augenpaare gespannt entgegensahen. »Wie ich sehe, hast du nichts ausrichten können, mein
Kind«, fragte Gräfin Liane bekümmert, und ebenso bekümmert folgte die Antwort: »Nein, nichts. Dora darf keinen zu Raute lassen. Ich bin so entsetzlich unruhig. Harro, du mußt unbedingt nach Rotraut sehen.« »Na schön«, er erhob sich. »Ich tue es – selbst auf die Gefahr hin, gehörig abgeblitzt zu werden. Denn du scheinst dein Idol noch immer nicht zu kennen, meine liebe Heidi.« Unverzüglich suchte er das Wohnzimmer seiner Gattin auf, wo die Zofe aufsprang und sich mit dem Rücken gegen die Tür lehnte. Angsterfüllt stammelte sie: »Herr Graf – Frau Gräfin wünscht – ungestört zu sein.« »Nun, nun, nicht gar so furchtsam, Mädchen. Ihnen geschieht nichts, dafür werde ich sorgen.« Trotz der Freundlichkeit, mit der er es gesagt hatte, hörte Dora doch den herrischen Unterton heraus, der sie einschüchterte. Sie gab die Tür frei, öffnete und schloß sie gleich wieder hinter der hohen Gestalt, die dann an der Schwelle verharrte. Es bot sich dem Mann aber auch ein seltsames Bild. Am Boden kniete Rotraut und stopfte wahllos Kleidungsstücke in den Koffer. Obwohl er bereits gefüllt war, sollte immer noch mehr in ihn hinein – wahrscheinlich alles das, was verstreut auf dem Boden lag. Natürlich ging der Deckel nicht zu. Also wurde Verschiedenes wieder herausgezerrt, zwischendurch das Gesicht in die Hände gedrückt und bitterlich geweint – bis eine spöttische Stimme sie entsetzt herumfahren ließ. Sie sprang auf und stand nun dem Mann gegenüber, der, die Hände in den Hosentaschen, sie belustigt betrachtete. Wie ein gescholtenes kleines Mädchen stand sie da. Die in Unordnung geratenen Locken mit dem satten Goldton gaben dem zarten Antlitz etwas ungemein Süßes, Rührendes, zumal die Augen, an deren Wimpern noch die Tränen hingen, sehr hilflos dreinschauten. »Was bist du doch nur für ein törichtes kleines Mädchen«,
sprach er nun in fast väterlichem Ton. »Es gehört deine ganze Eigenwilligkeit dazu, nach dem ersten von mir vereitelten Fluchtversuch an einen zweiten zu denken. Diesmal glaubtest du schlauer vorzugehen, indem du die Zofe vor der Tür Posten stehen ließest. Halt, sprich jetzt nicht. Deinen Augen und dem trotzigen Mund nach zu schließen, willst du zum Angriff übergehen. Ich jedoch habe keine Lust, mit gleichen Waffen zurückzuschlagen, weil du mir in deiner jetzigen seelischen Verfassung keine ebenbürtige Gegnerin wärest. Wollen wir lieber gemeinsam das Chaos hier beseitigen, damit die Zofe keine dummen Vermutungen anstellt. Ich bin ohnehin schon das Gespött der Dienerschaft, die längst bemerkt hat, wie meine Frau mir auf der Nase herumtanzt. Vielleicht schreibst du dir hinter deine rosigen Ohren, was ich dir jetzt zum letztenmal sagen werde: Nach abgelaufener Frist kannst du Regglinsgrund ohne mich verlassen – eher nicht. Versuche nicht, das, was jetzt noch eine Bitte ist, verächtlich abzutun. Sonst müßte ich es in einen Befehl fassen – und das wäre unerquicklich für uns beide. Und nun werden wir uns an die Arbeit machen. Ich glaube fast, daß ich mich dabei geschickter anstellen werde als du. Kein Wunder, da ich als Soldat ja nicht immer einen Diener hinter mir haben konnte.« Rotraut ließ es geschehen, daß er die Kleidungsstücke aus dem Koffer nahm und sie an den ihnen zukommenden Platz legte. Zwar half sie nicht dabei, aber sie wehrte ihm auch nicht. Sie war viel zu müde dazu. Das Zimmer begann sich im Kreis zu drehen, so daß sie unwillkürlich nach einem Halt griff. Und schon war er an ihrer Seite. »Was eine so törichte kleine Frau einem Mann zu schaffen machen kann, das ist kaum zu glauben. Komm, lege dich jetzt einstweilen auf den Diwan.« Willenlos duldete sie es, daß er ihre Schulter umfaßte und sie führte. Sie streckte sich auf das Polster, drückte das Gesicht in die Kissen und weinte. Warum, hätte sie selbst nicht zu sagen vermocht. Augenblicklich war ihr alles ganz
gleichgültig. Auch daß Harro sie mit Hilfe der Zofe ins Bett brachte, ließ sie widerstandslos geschehen. Sie trank auch gehorsam von dem bitteren Zeug, das er ihr einflößte. Dann duselte sie vor sich hin und hörte trotzdem die weiche, tiefe Stimme dicht an ihrem Ohr. »Schlafe dich jetzt über all dein eingebildetes Leid hinweg, kleine Frau. Und wenn du dann erwachst, werden hoffentlich alle Hirngespinste zerstoben sein wie Spreu im Wind.« Sie hatte das Gefühl, als ob ihre Stirn von zwei Lippen gestreift wurde. Aber das war selbstverständlich nur Einbildung oder ein Traum – wie alles andere auch: die sonore Stimme, ganz ohne den gewohnten Spott, die Zartheit, mit der ihr der bittere Trank eingeflößt wurde. Ach ja, einen solchen Traum ließ sie sich schon gefallen. Wohlig streckte sie sich im Bett, kuschelte sich in die Kissen. Ihr wurde froh und leicht – wie seit langem nicht mehr. Nur die Lider waren ihr so schwer, daß sie sie nicht zu heben vermochte. Wenige Sekunden später trat Harro, der seine Frau gespannt beobachtet hatte, vom Bett zurück. Er wandte sich an die Zofe, die unweit von ihm stand. »Sie schläft«, sagte er leise. »Sorgen Sie dafür, daß dieser Schlaf durch nichts gestört wird. Jede kleinste Veränderung teilen Sie mir sofort mit.« Von Liane wurde er unten schon mit Ungeduld erwartet. »Junge, du bliebst ja so lange fort«, fragte die Mutter vorwurfsvoll. »Geht es Rotraut nicht gut? Du machst ein so ernstes Gesicht.« Er ließ sich in einen Sessel sinken und fuhr sich einige Male über Stirn und Augen. Dann zündete er eine Zigarette an, legte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Nein, es ging ihr nicht besonders gut«, beantwortete er die Frage der Mutter. »Die Nerven sind überreizt, was nach dem gestrigen Erlebnis ja kein Wunder ist. Ihr fehlt ein langer, tiefer Schlaf, zu dem ihr der Trunk, den ich ihr gab, hoffentlich verhelfen wird. Wir können nichts weiter tun
als abwarten.« Der Schlaftrunk mußte wohl eine besondere Wirkung haben; denn Rotraut schlief Stunde um Stunde. Regelmäßig ging der Atem, auf dem entspannten Antlitz lag ein Zug von betörender Reinheit und Süße. Sie merkte nicht, was um sie her geschah, so fest hielt der Schlummer sie umfangen – wußte nicht, wie treu er bewacht wurde von den beiden Menschen, denen sie fast feindlich gegenüberstand. Immer wieder traten sie an das Bett der Schläferin, und erst um Mitternacht streckte Harro sich angekleidet auf den Diwan, um sofort zur Stelle zu sein, wenn es notwendig sein sollte. Er brauchte sich dabei nicht künstlich wachzuhalten, weil er sich auf sein im Krieg geschärftes Ohr verlassen konnte, das jedes Geräusch auch im Schlaf wahrnahm. Er schlief dann länger, als er gewollt hatte. Leise erhob er sich danach und trat an das Bett, in dem Rotraut nach wie vor friedlich schlief. Dann sagte er Dora, die bereits im Nebenzimmer wartete, daß sie auf ihre Herrin achtzugeben hätte, nahm ein kühles Duschbad, zog den Reitanzug an und ging in den Stall. Kurz darauf ritt er davon. Tief atmete er die herbe Morgenluft ein. Der Tag würde schön werden; denn die Sonne brach sich durch den Nebel sieghaft Bahn. Der diesjährige Herbst hatte bisher überhaupt viel Sonnenschein gebracht. Geruhsam konnten die Landwirte die Hackfrüchte trocken bergen, was ja immer ein großer Vorteil ist. Auch das Pflügen der Felder wurde durch das günstige Wetter erheblich erleichtert, also konnte man schon zufrieden sein und beruhigt dem Winter entgegensehen, der auf dem Lande seine Reize hatte. Freilich nur für den, der mit seiner Scholle so verwachsen war wie der Landmann. Harro von Regglin wurde deshalb das Herz weit, als er langsam dahinritt. Ringsum lag sein von den Vätern ererbtes Land, das zu hüten seine heiligste Pflicht bedeutete. Zwar hatte sein Vater das einmal vergessen, eine
einzige leichtsinnige Stunde lang. Und was darauf folgte…! Die Stirn des Reiters umdüsterte sich. Er atmete tief und schwer, dann gab er seinem Pferd die Sporen. Hei, so ein frisch-fröhliches Reiten schafft klaren Kopf und klares Herz! Der Wind, der um die Ohren saust, lüftet sozusagen das Hirn mit aus. Was ist schwer? Nichts ist schwer! Schließlich ist man doch ein Mann, kein sentimentales kleines Mädchen, das weinerlich alles über sich ergehen läßt, ohne sich zu wehren. Wozu ist man denn Jäger? Nur frisch das Leben angepackt! Herrlich erfrischt, innerlich und äußerlich, langte er wieder zu Hause an und begrüßte seine Mutter herzlich, die im Frühstückszimmer bereits auf ihn wartete. »Guten Morgen, kleine Mama, gut geschlafen?« »Es ging. Und du?« »Ganz prächtig. Rotraut hat mich nicht einmal gestört. Hast du schon nach ihr gesehen?« »Ja – sie schläft immer noch. Das kam mir so unheimlich vor, daß ich den Arzt anrief…« »Und?« »Er lachte mich aus.« »Geschieht dir recht, Muttchen. Wenn ein Mensch so friedlich schläft wie Rotraut, dann schläft er sich gesund. Und nun wollen wir frühstücken, denn ich habe einen Mordshunger.« Danach sah Harro wie jeden Morgen draußen nach dem Rechten. Er ritt zur Oberförsterei, um auch dort einiges zu regeln. Kurz vor Mittag war er wieder zu Hause. Er zog sich um und ging dann nach dem Schlafzimmer seiner Frau, wo die Mutter am Fenster saß und an einer feinen Handarbeit stichelte. »Schläft Rotraut immer noch?« fragte er halblaut. »Ja. Ist das nicht merkwürdig?« Er zuckte die Achseln, trat an das Bett und sah prüfend in das schlafheiße Gesicht. »Wie ein Murmeltierchen«, lachte er verhalten. Und dieses Lachen drang in Rotrauts tiefen Schlaf. Schon wollte sie die
Augen öffnen, besann sich dann jedoch eines anderen. Noch wollte sie ein wenig vor sich hin duseln. Mit Befriedigung bemerkte sie, daß der Gatte zurücktrat und sich zu seiner Mutter setzte. Sie sprachen halblaut miteinander. Was, das konnte Rotraut nicht verstehen, wollte es auch nicht. Behaglich streckte sie sich im Bett. So wohl hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt – so frisch, so frei, so froh! Alles, was ihr bisher das Leben verbittert hatte, kam ihr plötzlich fast lächerlich vor. Sie hatte sich selber wohl zu wichtig genommen. In krassem Egoismus hatte sie nur an sich gedacht und anspruchsvoll das für sich verlangt, was sie anderen hochmütig versagte. Ja, hochmütig! – Heidi hatte sie schon richtig eingeschätzt. Wie töricht war es, sich mit hartnäckiger Verbissenheit gegen etwas zu wehren, das sie doch nicht ändern konnte. Wie dumm, sich das Leben zu vergällen. Das Leben, das fast schon zu Ende gewesen – und das trotz allem so schön war. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, mußte also erst das grausige Erlebnis kommen und sie aufrütteln! Ein Spruch fiel ihr ein: ›Hast du etwas falsch gemacht, beharre nicht dabei, denke lieber gründlich nach, Wie’s gutzumachen sei.‹ Nach diesen Versen wollte sie sich richten und fortan alles hinnehmen, was auch kam. Sie wollte ihren wahren Charakter nicht mehr knechten und knebeln, sondern sich geben, wie sie wirklich war – unbekümmert und frohgemut. Jedoch innerlich sollte nichts an sie herankommen. Sie wollte keinem hier ihr Herz erschließen – auch Tante Herma und Heidi nicht mehr. Dann hatte sie keine neue Enttäuschung zu fürchten. So weit war Rotraut mit ihren Vorsätzen und Entschlüssen gekommen, als sie Gräfin Liane sagen hörte: »Ob wir nicht doch den Arzt herbitten, Harro?« Rotraut lachte in sich hinein. Einen Arzt? Nein, den brauchte sie jetzt nicht mehr. Noch nicht einmal einen Seelenarzt! Sie streckte sich, gähnte herzhaft – und schon
beugte sich Harro über sie.
»Nun, Murmeltierchen, endlich wieder munter? Schau nur,
Mutter, was für blanke Augen sie hat. Wie mit Blitzblank
geputzt! Da brauche ich gar nicht zu fragen, wie es dir geht,
was, kleine Frau?«
»Prächtig! Wie lange habe ich geschlafen?«
»So ungefähr zweimal um die Uhr.«
»Dürfte genügen.« Sie lächelte zu ihm auf, daß es ihm heiß
in die Stirn stieg. Zwar kannte er dieses süßschelmische
Lächeln, doch für ihn hatte sie es noch niemals gehabt.
»Ich möchte jetzt aufstehen.«
»Fühlst du dich dazu auch frisch genug?«
»So frisch, daß ich am liebsten in meinem Auto
dahinbrausen oder auf Ira über die Felder rasen möchte.«
»Dann allerdings!« lachte er. »Wenn du dich beeilst, dann
kommst du noch zur Mittagstafel zurecht.«
Dazu erschien sie denn auch, entzückend anzuschauen in
ihrem hellen Kleid aus weichem Wollstoff. Wie glänzende,
feingesponnene Seide umbauschte das Lockenhaar ihr
zartes, stolzgeschnittenes Gesichtchen, aus dem die
tiefblauen Augen herauslachten. Und auch das Lächeln,
mit dem sie schon so manchen Menschen betört hatte, lag
um den Mund.
Ein so gemütliches Mahl hatte man schon lange nicht mehr
in Regglinsgrund erlebt. Nicht wie sonst hielt sich Rotraut
zurück, sondern sie beteiligte sich an dem Gespräch, das
lebhaft geführt wurde.
Nach dem Essen fragte Harro:
»Wie ist es, Rautendelein, hast du noch Lust, auf Ira nicht
dahinzujagen, sondern zu reiten?«
»O ja.«
»Auch in meiner Gesellschaft?«
»Bitte sehr.«
Man konnte es dem Mann nicht verdenken, daß er über die
Veränderung seiner Frau erstaunt war, zumal sie so
plötzlich kam. Gestern noch wollte sie heimlich von hier
fort – und heute? Ja, da mußte man abwarten, was nach
dieser Laune – denn um etwas anderes konnte es sich wohl kaum handeln – kommen würde. Bei dem Ritt war auch Gräfin Liane dabei. Sie machte im Damensitz eine ausgezeichnete Figur. Lächelnd schaute sie auf Rotraut, die einige Kapriolen nicht unterlassen konnte, sonst aber das von Harro angegebene Tempo gutwillig einhielt. Der Mund lachte, die Augen blitzten nur so vor Lebensfreude. Gar nicht wiederzuerkennen war sie in ihrer betörenden Art. Welches war nun die echte Rotraut – diese oder die andere, die kühle, abweisende, hochmütige? Was hatte dieser plötzliche Umschwung zu bedeuten? Mußten Mutter und Sohn auf der Hut sein? Es war eine Lust, durch den herbstbunten Wald zu reiten. Der Himmel spannte sich wie blaue Seide über die Erde. Und doch rauschte in den Laubbäumen das wehmütige Lied vom Scheiden. Bald würde der Novembersturm die Blätter durcheinanderwirbeln. Wo es jetzt vom hellsten Gelb bis zum tiefsten Rot leuchtete, würden bald kahle Äste wie stumme Ankläger ragen. Nur im Nadelholz würde es unvergänglich grünen. Aber vorläufig war es ja noch nicht soweit. Noch hielt das lachende Herbstwetter stand, und das mußte man ausnutzen – so, wie die drei Menschen es taten, die geruhsam dahinritten und mit frohen Augen das herrliche Waldbild in sich aufnahmen. Was danach kam, war auch schön. Fern hinterm Waldesrand sah man rote Ziegeldächer. Die untergehende Sonne spiegelte sich in den Fensterscheiben, daß sie golden blitzten. Dort lag Hermeshöh wie eine trutzige Feste. »Wie ist es?« fragte Harro. »Wollen wir Tante Herma in die Kaffeekanne fallen? Ja? Dann gebt den Pferden den Kopf frei – aber nicht zu frei. Das gilt hauptsächlich dir, Rotraut.« »Jawohl, Herr Unteroffizier!« meldete sie stramm, blieb jedoch gehorsam. Und die beiden anderen hatten wieder einmal Ursache, sich zu wundern. In Hermeshöh empfing man sie freudig und staunte über
Raute, die so frisch und froh vor ihnen stand. »Ja, Mädchen, was ist denn mit dir geschehen?« Gräfin Herma schüttelte den Kopf. »Du siehst ja aus wie frisch gewaschen und geplättet. Ist etwa das Seewasser daran schuld?« »Wahrscheinlich«, lachte Raute. »So ein unfreiwilliges Bad und das Wasser, das man dabei geschluckt hat, sollen manchmal Wunder wirken. Wenn man hinterher wieder Luft schöpfen kann, dann weiß man erst, wie gut das tut.« »Du sprichst zwar in Rätseln, mein Kind, aber es hört sich ganz vernünftig an. Nehmt Platz, ihr Lieben. Ein guter Einfall, uns zu überrumpeln.« Man gruppierte sich zwanglos, unterhielt sich angeregt und wunderte sich immer wieder über Rotraut, die sich sozusagen über Nacht in ihrem Wesen vollständig verändert hatte. Da man sie früher nicht gekannt hatte, konnte man nicht wissen, daß man jetzt die echte Rotraut vor sich sah, die zu sich selbst zurückgefunden hatte. Nun war auch der November mit seinem Regen, Sturm und Nebel gekommen. Doch Harro und seine Frau ließen sich nicht davon abhalten, sich im Freien zu tummeln. Herrlich war es dann, ins warme Zimmer zu kommen und sich von der Traulichkeit umfangen zu lassen. Denn traulich war es jetzt in Regglinsgrund, seitdem Rotraut nicht mehr Anlaß zu einem Mißklang gab. Friedlich lebte sie neben Mutter und Sohn und zeigte sich verträglich und aufgeschlossen. Und doch war da noch etwas, das sie wie ein Wall umgab. Doch war es nur für den spürbar, der ein feines Empfinden hatte. Selbst Iris, die eine Woche nach der Begebenheit am Waldsee wieder wie selbstverständlich in Regglinsgrund auftauchte, wurde von Rotraut so freundlich behandelt, daß die Komteß fast davon überzeugt war, Rotraut wisse um ihre Tat nicht. Das gab Iris nun ihre ganze Sicherheit wieder. Anmaßend wie zuvor versuchte sie ihren Platz in Regglinsgrund zu behaupten. Sie merkte nicht oder wollte in ihrer
Dickfelligkeit nicht merken, wie ablehnend Gräfin Liane und ihr Sohn sich ihr gegenüber verhielten. Auch in Hermeshöh nistete Iris sich immer mehr ein. Mit Eberhard schien sie ein Herz und eine Seele zu sein. Er sagte ihr sogar im Beisein anderer Schmeicheleien über ihr Aussehen, das sich in den letzten Wochen gewandelt hatte. Ihr Haar war heller geworden, platinblond, raffiniert frisiert. Das Gesicht diskret angemalt, die Kleidung mondän. Ihr Augenaufschlag war nach ihrer Meinung unnachahmlich. Er sollte nach ihrer Meinung ein Mittelding von Herzinnigkeit und lockender Koketterie bedeuten. Am häufigsten trafen diese Blicke Eberhard. Die Regglins amüsierten sich darüber, Herma beunruhigten sie – und Heidi bereiteten sie bitteres Herzweh. Sie war nicht so froh, wie sie es bei ihrem jetzigen Leben hätte sein müssen; denn in Hermeshöh führte sie ein herrliches Dasein. Sie hielt sich auch oft in Regglinsgrund auf, wo man sie mit Herzlichkeit umgab. Dort wußte man ja, worum das Mädchen litt, konnte ihm jedoch nicht helfen. Denn Eberhard schien tatsächlich mit Blindheit geschlagen zu sein, sonst hätte er sich von Iris nicht so umgarnen lassen. Graf Illsund war nach wie vor vernarrt in seine älteste Tochter. Mit behaglichem Schmunzeln verfolgte er, was sich zwischen ihr und Eberhard anspann. Den Besitzer von Hermeshöh als Schwiegersohn zu haben, war bestimmt nicht zu verachten. Da mochte der Harro, dieser arrogante Bengel, mit seiner Krämerstochter seinetwegen selig werden! In der rosigen Stimmung, in der er sich jetzt immer befand, ließ er sogar bei seiner jüngeren Tochter Nachsicht walten. Ganz recht war es ihm ja nicht, daß sie sich so viel in Hermeshöh aufhielt, aber schließlich konnte man da schon ein Auge zudrücken. Selbst die Krämerstochter ließ er jetzt gelten, seitdem sie seiner Iris keine Rivalin mehr war. Wenn er vor sich selber ganz ehrlich gewesen wäre, dann hätte er sie sogar
bezaubernd finden müssen. Aber soweit ging seine Objektivität denn doch nicht. Nun, um so ehrlicher begeistert waren die anderen, mit denen Rotraut zusammenkam. Überall schmeichelte sie sich mit ihrer entzückenden Art in die Herzen der Menschen. Unbekümmert nahm sie an Freundschaft entgegen, was ihr geboten wurde. Freilich, so aufgeschlossen sie zwar auch gegen den Gatten und seine Mutter jetzt war, die Herzlichkeit fehlte. Von Innigkeit war schon gar nicht zu sprechen. An einem Abend Ende November, als man in Regglinsgrund am mollig warmen Kamin saß, bot Harro seiner Frau an, mit ihm auf Reisen zu gehen. »Warum?« fragte sie erstaunt. »Gefällt es dir hier nicht? Mir gefällt es.« »Nun, wenn das nicht ein freimütiges Bekenntnis ist«, lachte er herzlich, und die Mutter lachte auch. »Meinetwegen habe ich den Vorschlag gar nicht gemacht, sondern deinetwegen. Du mußt dich hier auf dem Lande doch langweilen – noch dazu bei dem scheußlichen Wetter. Hör nur, wie der Wind heult und der Regen gegen die Fenster klatscht.« »Meinst du, anderswo regnet und stürmt es nicht?« Sie lachte ihn freundlich an. »Ob ich dort oder hier im Zimmer sitze, das bleibt sich ja doch einerlei. Außerdem sorgst du so reichlich für Abwechslung, daß ich bestimmt keine Langeweile habe. Reiten, Autofahren, Gesellschaften, Theater, Kino, Konzerte«, zählte sie spitzbübisch an den Fingern ab. »Im Winter kommt noch das Skilaufen, Rodeln, Schlittenfahren dazu – das dürfte doch wohl genügen. Nebenbei muß ich mich noch mit dir herumärgern.« »Na, so ein Schelm!« Er drohte ihr lachend. »Da haben wir uns ja was Gutes auf den Hals geladen, Muttchen. Sieh nur, wie süßlächelnd sie dich anschaut, die kleine Circe. Hast dich gut ausgewachsen, mein Kind, das kann man wohl sagen.« »Ich bin ja so froh, daß Raute hierbleiben will«, sagte die
Mutter lächelnd. »Ich wäre mir ohne euch recht einsam vorgekommen.« »Wir hätten dich mitgenommen, Muttchen. Nicht wahr, Raute?« »Selbstverständlich. Aber fahrt man lieber ohne mich, ich bleibe hier und bewache das Haus.« Also unterblieb die Reise. Herbst und Winter vergingen schnell, und eh man’s gedacht, war es März geworden. Der Frühling schickte schon seine Vorboten. Als ersten davon die Schneeglöckchen, mit denen Rotraut eines Morgens an den Frühstückstisch trat. Selber wie der Frühling anzuschauen in ihrer herzerfrischenden Schönheit, legte sie der Schwiegermutter die Blümchen neben den Teller. »Es sind die ersten«, berichtete sie, indem sie Platz nahm. »Einige steckten noch im Schnee.« Während sie aß, plauderte sie vergnügt. Als sie dann gesättigt war und sich im Stuhl zurücklegte, begegnete sie des Gatten forschendem Blick. »Was hast du denn, Harro?« fragte sie unbehaglich. »Bist du satt?« »Natürlich.« »Freut mich. Denn was ich dir hier gebe, würde dir den Appetit genommen haben.« Er reichte ihr einen Brief, den sie rasch überflog. Das Schreiben war an Harro gerichtet und stammte von dem Rechtsanwalt, der Rotraut im Mai vergangenen Jahres den Brief des verstorbenen Vaters hatte zugehen lassen – jenen Brief, der so schwerwiegend in ihr Leben eingegriffen hatte. Der Rechtsanwalt bat den Grafen Regglin, die Interessen seiner Frau wahrzunehmen und dafür zu sorgen, daß deren Erbschaftsangelegenheit endlich geregelt würde. Sie selbst hätte er dazu noch nicht bewegen können. Ihre beiden Stiefbrüder wären sehr wohl in der Lage, ihr das Muttererbe auszuzahlen. »Was der Mensch nur will«, sagte sie nach dem Lesen des Schreibens hochmütig. »Dem kann es doch gleich sein, was
mit dem Geld geschieht.« »Ganz Rotraut«, lächelte der Gatte nachsichtig. »In Geldsachen unbekümmert wie ein Kind. Welche Veranlassung hast du denn, deinen Brüdern diese mehr als ansehnliche Summte zu schenken?« Sie preßte trotzig die Lippen zusammen und schwieg. Es war nicht zu verkennen, daß sie sich von dem Gatten in ihre eigenste Angelegenheit nicht dreinreden lassen wollte. Eine Weile war es still, dann sagte er gelassen: »Ja, Rotraut, da hilft dir nichts. Du wirst mich in deine Familienverhältnisse nun wohl oder übel doch einweihen müssen.« »Ich mag dich damit nicht belästigen«, entgegnete sie abweisend. »Du bist mir gegenüber zu nichts verpflichtet.« Um seinen Mund zuckte es. »Das war zwar recht deutlich, mein Kind, aber trotzdem lasse ich nicht locker. Wenn du durchaus nicht sprechen willst, werde ich von dem Rechtsanwalt erfahren, was ich wissen muß.« Ein so erschrockener Blick traf ihn, daß er ein Lächeln kaum verbergen konnte. Mit einer hilflosen Gebärde hob sie die Hand. »Bitte nicht, Harro…« »Ja, Rotraut, wenn du mich aber dazu zwingst…« Sie senkte in peinlichster Verlegenheit den Kopf, schluckte einige Male und begann dann leise: »Nun, dann hör zu. Meine Mutter, eine geborene Gräfin Kardesberg, heiratete einen Großindustriellen, der später nach Amerika ging. Zwei Söhne wurden in der Ehe geboren. Nachdem sie Witwe geworden war, lernte sie einen Mann kennen, den sie so leidenschaftlich liebte, daß sie keinen anderen in seiner Nähe dulden wollte. Sie ging in ihrer egoistischen Liebe soweit, daß sie sogar auf seine Arbeit eifersüchtig war, ihn immer wieder davon fortholte. Auf die Dauer ließ er sich das nicht gefallen – und es kam mehr und mehr zu bösem Streit und Unfrieden. Noch ärger wurde es, als ich geboren wurde. Ich glaube, meine Mutter
hat mich gehaßt, weil sie mir die Liebe des Vaters mißgönnte. Je ärger sie es trieb, um so mehr schloß er sich an mich an. Sie litt ja selbst unter ihrer krankhaften Liebe – und ihr Mann mit ihr. So war meine Kindheit alles andere als rosig. Das heißt, allzusehr habe ich nicht darunter gelitten, weil eine Nachbarin, Bobs Mutter, mich erbarmungsvoll an ihr Herz nahm, was meinen Vater unsagbar beglückte. Nun wußte er sein Kind immer gut aufgehoben. So bin ich denn mit Bob zusammen aufgewachsen. Oft war mein um sechs Jahre älterer Stiefbruder der Dritte im Bunde. Ihn mochte ich gern, den älteren nicht. Als mein Vater zu kränkeln begann und daher das aufregende Leben im Haus nicht mehr ertragen konnte, ging er nach Deutschland und nahm mich mit. Wir schlossen uns so innig aneinander an, wie es bei Vater und Tochter nur möglich ist. Selbstverständlich fuhren wir auch einige Male im Jahr nach Hause, aber schon nach wenigen Wochen flüchteten wir wieder. Langsam wickelte mein Vater seine Geschäfte ab, übergab das Unternehmen seinem ältesten Stiefsohn, und als seine Frau starb, war er ganz frei. Leider konnte er diese Freiheit aber nur noch zwei Jahre genießen, dann starb auch er. Kurz vor seinem Tode sprach er viel von einer Frau, die er geliebt hatte, die er jedoch aus irgendeinem Grund nicht heiraten konnte. Diese Liebe muß ihm viel zu schaffen gemacht haben; denn er war immer sehr traurig, wenn er sich in Erinnerungen an sie verlor. Das ist alles, Harro.« Nachdem sie geendet hatte, blieb es einige Herzschläge lang still. Dann sagte der Gatte rauh und gepreßt: »Weißt du denn auch, wer diese Frau war, Raute?« Seltsam berührt sah sie ihm in das blasse Gesicht, schüttelte ratlos den Kopf. »Nein, Harro, den Namen hat mein Vater mir nicht genannt.« »Es war meine Mutter, Raute.« Sie erblaßte bis in die Lippen. Ihr verstörter Blick ging zu Gräfin Liane hin, die ihr beruhigend zulächelte.
»Nicht mich, mein Kind, sondern Harros leibliche Mutter hat dein Vater geliebt.« Rotraut hatte das Gefühl, als presse ihr eine harte Faust das Herz zusammen. Glitzernd sprangen ihr die Tränen von den Wimpern. Es war ihr nicht möglich, an ihrem Platz zu bleiben. Hastig stand sie auf. »Verzeihung – ihr müßt verstehen – begreifen – es kam so plötzlich.« Wie gehetzt eilte sie davon. Weiter, immer weiter, bis sie am Stall haltmachte. Dahinstürmen durch den frühlingsduftenden Wald – dabei die Gedanken ordnen, die hinter der Stirn flatterten wie aufgescheuchte Vögel – das war im Augenblick ihr sehnlichster Wunsch. Harro Regglin stand am Fenster und starrte auf den Hof hinunter. In seinem Gesicht zuckte es von verhaltenem Schmerz. Er merkte wohl, daß die Mutter zu ihm trat, rührte sich jedoch nicht. Sie sahen beide, daß unten der Gutsverwalter Rotraut in den Sattel half. Er strahlte dabei über das ganze Gesicht. Und nun sprach Harro – es klang so unendlich bitter, daß sich das Herz der Mutter zusammenzog. »Sogar unseren borstigen Alten hat sie ganz und gar betört. Schau nur, wie verliebt er sie betrachtet und wie süß sie ihn anlächelt. Ich werde nicht klug aus dieser Frau; sie gibt mir Rätsel über Rätsel auf. Eben tat sie zutiefst erschüttert – und jetzt scherzt sie herum, als wäre nichts geschehen. Oft denke ich, daß nichts Wertvolles in ihr steckt. Dann wieder vermute ich bei ihr unerschöpflichen Herzensreichtum. So zugänglich und aufgeschlossen sie jetzt auch scheint – wenn man sie richtig fassen will, dann entwindet sie sich mit dem verflixten Nixenlächeln, das einen rasend machen kann. Sie nimmt alles, was ihr anvertraut ist, in die Hände wie ein verspieltes Kind. Gewinnt die Menschen mit ihrer unwiderstehlichen Art, und wenn sie sie hat, wohin sie sie haben will, wendet sie sich süßlächelnd ab, diese Circe. Heidi zum Beispiel war für Raute ein verlockendes Spielzeug, mit dem sich abzugeben es sich schon lohnte. Es
wurde umgeformt, verfeinert, verschönert – und dann überdrüssig in die Ecke getan. Nicht offensichtlich, bewahre! Aber die arme Heidi spürt es schon. Und ich? Na, schweigen wir darüber. Mit dieser Ehe auf Abbruch habe ich mich verrechnet wie niemals zuvor. Zuerst stand ich dieser Heirat durchaus ablehnend gegenüber. Doch als ich das Fräulein Bracht sah, das mir aufgedrängt werden sollte, begann mich die Sache zu reizen. Da wollte ich mit ihr spielen – und jetzt spielt sie mit mir. Nun, das geschieht mir recht. Warum war ich auch so leichtsinnig, das Schicksal herauszufordern? Jetzt hat es mir gezeigt, wie es ist, wenn man sich mit den eigenen Waffen schlägt.« In banger Sorge war die Mutter seinen verbitterten Worten gefolgt. Das hatte sie denn doch nicht erwartet. Ihren sonst so nüchtern denkenden Jungen, der über die Liebe so oft gespottet, hatte die Leidenschaft gepackt in ihrer ganzen Stärke. Das war das Schlimmste, das ihm in dieser Ehe passieren konnte. Denn auf Gegenliebe hatte er bei seiner Frau bestimmt nicht zu rechnen. Erbarmend umfaßte sie sein blasses Gesicht mit den Händen, dabei liefen ihr die hellen Tränen über die Wangen. »Mein geliebter Junge«, sagte sie mit schwankender Stimme. »Das hätte nicht kommen dürfen – das nicht!« »Ich bin ein Esel«, entgegnete er, nun schon wieder gelassen. »Wie konnte ich nur so schwatzhaft werden und dir dein Herz beschweren. Man macht doch manchmal Dummheiten, über die man sich hinterher ohrfeigen könnte. Du kennst doch deinen Jungen, kleine Mama. Der läßt sich nicht so leicht unterkriegen – schon gar nicht von der vielgepriesenen Liebe. Schließlich bin ich doch ein Mann, kein sentimentales kleines Mädchen.« »Und doch ist mir so bang, mein Junge.« »Das wäre gelacht. Komm, küssen wir die dummen Tränen fort. So. Nun wird nicht mehr geweint, hörst du?« »Nein, ich bin ja schon vernünftig«, sie lächelte ihm zu, und er atmete erleichtert auf.
»Bist doch die Beste von allen, mein treuester und zuverlässigster Kamerad. Leider muß ich jetzt gehen, und wenn ich wiederkomme, dann sind wir wieder frohgemut.« Er nickte ihr herzlich zu und verließ das Zimmer. Die Mutter gab sich ihren trüben Gedanken hin, in die sich immer wieder ein zaghaftes ›Vielleicht‹? schob. Währenddessen ritt Rotraut dahin. Die erhabene Ruhe des Waldes legte sich allmählich wie Balsam auf Herz und Gemüt. Plötzlich hatte sie Sehnsucht nach Tante Herma – nach der Schwester der Frau, die ihr Vater geliebt hatte. Deshalb also war sie ihr gleich so vertraut gewesen. Vielleicht konnte die Gräfin ihr manches sagen, wonach sie den Gatten oder seine Mutter nicht fragen mochte. Sie ermunterte das Pferd zur schnelleren Gangart und ritt nach Hermeshöh, wo sie jedoch nur Eberhard antraf, der sie freudig begrüßte. »Lieb von dir, Rautendelein, mir Gesellschaft leisten zu wollen.« »Bist du denn allein zu Hause?« »Ja. Mutter ist in der Stadt, und die kleine Heidi ist ausnahmsweise in Laubern. Auf strikten Befehl des Vaters mußte sie hin, um bei den Vorbereitungen zu seiner Geburtstagsfeier zu helfen. Die soll groß begangen werden, weil es Illsunds sechzigster Geburtstag ist. Komm nur weiter, damit ich dir eine Erfrischung anbieten kann.« Sie nahmen in dem kleinen Gemach Platz, in dem die Familie mit Vorliebe weilte. Das heißt, nur Rotraut setzte sich; denn Eberhard war noch beschäftigt. Er holte Wein herbei, Zigaretten, Konfitüren, so daß Raute lachend Einhalt gebot. »Nun komm schon und setze dich, du eifriger Hausherr. Erzähle mir lieber etwas Nettes.« »Dann sage ich zuerst: Prosit.« Er ließ sein Glas an das ihre klingen. »Wie geht es zu Hause?« »Danke, wie üblich. Aber da ich dich einmal so ganz für mich allein habe, möchte ich eine Gewissensfrage an dich stellen. Gedenkst du Iris zu heiraten?«
Er hustete, weil er sich vor Schreck am Wein verschluckt hatte. Nun stellte er das Glas auf den Tisch und sah Raute verdutzt an. »Das muß man sagen, Rautendelein, fackeln tust du nicht lange. Wie du gefragt hast, das nennt man nämlich mit der Tür ins Haus fallen. Aber um auf deine Frage zurückzukommen – ich möchte sie mit einer Gegenfrage beantworten. Für wie geschmacklos hältst du mich eigentlich?« »Ja, mein lieber Eberhard, so wie du der Komteß den Hof gemacht hast, muß man schon solche Schlüsse ziehen.« »Verflixt, da habe ich mich ja ganz gehörig in die Nesseln gesetzt!« Er biß sich auf die Lippen. »Was macht man da nun, Raute?« »Du sprichst in Rätseln, mein Sohn.« »Hast recht.« Er lachte verlegen. »Sieh mal, das ist so: ich wollte mit dem Flirten eine andere herausfordern.« »Aha, jetzt kommt langsam Licht in das Dunkel.« »Sei doch nicht so eklig, Raute. Deiner Miene sehe ich doch an, daß du bereits im Bilde bist. Du glaubst gar nicht, wie entsetzlich dämlich ich mir vorkomme.« »O doch«, lachte sie hellauf. »Friß mich nur nicht gleich. Fasse dich nur lieber an die Stirn, ob dir da nicht am Ende schon…« »Raute, du hast manchmal eine verflixt spitze Zunge. Wenn du mich so verspottest, sage ich kein Wort mehr.« »Na schön, dann werde ich reden. Anständig war es nun wirklich nicht von dir, ein solches Spiel zu treiben. Iris hast du Hoffnungen gemacht und diese Hoffnungen damit der kleinen Heidi genommen.« Zuerst starrte er sie fassungslos an, doch dann meinte er anerkennend: »Bist doch ein kluges Frauenzimmerchen, Rautendelein. Hut ab vor dir! Doch kannst du mir vielleicht einen Rat geben, was ich nun machen soll? Schau mal, ich bin sonst gewiß nicht zaghaft, aber bei der abweisenden Art der kleinen Heidi fürchtete ich doch, mir einen Riesenkorb zu
holen.«
»Den du auch verdient hättest, du abscheulicher Mensch.
Zur Strafe müßtest du eigentlich an deinem Flirt
hängenbleiben, aber da ich Barmherzigkeit üben will, rate
ich dir, Heidi ganz einfach in die Arme zu nehmen.«
»Würde sie sich das gefallen lassen?« fragte er atemlos.
»Versuche es nur.«
»Raute!« schrie er auf, daß sie erschrocken
zusammenzuckte. »Komm, ich muß dir einen Kuß geben,
du kleiner getreuer Kamerad. So – das hat gutgetan. Schon
ein Vorgeschmack. Wie spät haben wir es? Nach elf Uhr.
Wenn ich mich beeile – also, Rautendelein, ich muß dich
leider hinauswerfen.«
»Ich gehe ja schon von selber, du verdrehter Kerl«, lachte
sie amüsiert.
Fort war sie und er auch. Als er gerade im Ankleidezimmer
den Zylinder probierte, trat unerwartet seine Mutter ein,
der vor Verblüffung der Mund offenstehen blieb.
»Na, nun schlägt’s dreizehn. Wo willst du denn hin, mein
Sohn?«
»Auf die Freite, verehrte Mutti.«
»Hm – darf man erfahren, wohin?«
»Nach Lauben.«
»Soso. Weißt du, so etwas künstlich Platinblondes dürfte
nicht ganz nach meinem Geschmack sein, mein Sohn.«
»Nach meinem auch nicht. Ich schwärme nicht für
angekränkelte Treibhauspflänzchen, Heideröslein sind mir
lieber.«
»Dein Glück!« Sie atmete auf, und er lachte.
»Ich hörte ordentlich den berühmten Stein von deinem
Herzen fallen, Mutti. Gib deinem Sohn den Segen und laß
ihn ziehen.«
»Verrückter Bengel.« Sie lachte gerührt. »Wann ist dir denn
die Erleuchtung gekommen?«
»Vor einer halben Stunde. Und zwar hat unser
Rautendelein, das zu eben dieser Zeit hier war, mir
nachdrücklich dazu verholfen.«
»Sieh mal an, die Raute. Na ja, die ist gewiß nicht auf den Kopf gefallen. Nun geh mit Gott, mein langer Schlingel. Und bring mir das Kind gleich mit; denn es würde in seinem trauten Vaterhaus nichts zu lachen haben.« In Laubern empfing der Hausherr den Freiersmann, dessen Besuch nach seiner Ansicht schon längst fällig war, ohne jede Überraschung. Die Bewerbung um die Tochter des Hauses wurde ihm daher leicht gemacht. »Ja, mein lieber Freund, daß Sie mir als Sohn herzlich willkommen sind, brauche ich ja nicht erst zu beteuern«, schmunzelte der alte Herr. »Wir kennen uns genügend, um zu wissen, woran wir sind. Da werden Sie auch im Bilde sein, daß ich meiner Tochter nichts mitgeben kann. Doch sonst besitzt sie Eigenschaften, die einen Mann beglücken müssen. Sie ist mir so fest ans Herz gewachsen, daß es mir schwerfällt, sie aus dem Haus zu geben. Aber Ihnen vertraue ich meinen Liebling gern an.« Eberhard hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. Nun, wenn der ein wenig schwerhörige Vater den Vornamen der Tochter, um die er sich bewarb, nicht verstanden hatte, ihm sollte es schon recht sein. Der Reinfall, den der eitle Mann bald erleben würde, war ihm zu gönnen; denn er hatte ihn wirklich verdient. Wohlgefällig hörte Illsund dann, was Eberhard ihm klarlegte. Die Halldungen standen ja also noch glänzender da, als er angenommen hatte. Da brauchte man dem Harro, diesem arroganten Bengel, nicht nachzutrauern. Ordentlich jovial sagte er: »Dann wären wir wohl einig, mein lieber Eberhard. Ich werde meine Tochter sofort rufen.« »Hoffentlich kommt es unserer kleinen Heidi nicht zu überraschend.« Der Freier betonte laut und nachdrücklich den Vornamen der Komteß. Und nun wurde er verstanden. Das Gesicht des Hausherrn rötete sich, die Hand hob sich, als müsse sie im nächsten Augenblick auf den Tisch schlagen. Doch Illsund besann sich noch rechtzeitig und Heß es bleiben, den wilden Mann zu spielen. Das fehlte
gerade noch, dem scheinheiligen Bengel seine Empörung zu zeigen. So klang es denn auch einigermaßen freundlich, als er sagte: »Nun, so ahnungslos wird die Kleine ja nicht sein. Ich werde sie sofort verständigen.« Er ging und Eberhard konnte an sich selber feststellen, daß Schadenfreude nun einmal die reinste Freude ist. Sein Erscheinen war von den anderen im Hause nicht unbemerkt geblieben. Warum er gekommen war, ließ sich anhand seines feierlichen Anzugs leicht erklären. Iris wurde von einem Gefühl beherrscht, das schon an Größenwahn grenzte. Er kam zwar noch ein wenig früh, der gute Junge, aber wer weiß, wozu das gut war. Mit Harro schien die Sache sich doch länger hinzuziehen. Na, abwarten. Eine Verlobung konnte man ja immer noch aufheben. »Siehst du, jetzt wirst du eine Tochter los«, meinte sie gönnerhaft zu der unscheinbaren Mutter, mit der sie zusammensaß. »Nun müßt ihr nur noch zusehen, daß auch Heidi einen Mann bekommt.« Der Hieb galt der Schwester, die sich im Zimmer befand und nun den Kopf tief über ihre Stickarbeit senkte. Die zitternde Hand konnte die Nadel kaum halten, die tränenumflorten Augen das Muster nicht erkennen. Sie hätte laut aufschreien mögen, so weh tat ihr das Herz. Nun also war der Augenblick da, vor dem sie sich unsagbar gefürchtet hatte. Wenn Iris doch mit ihrem prahlerischen Gerede aufhören wollte, bei dem jeder Satz begann: »Wenn ich erst Gräfin Halldungen bin…« Als Iris dann endlich verschwand, um sich »schön« zu machen, wie sie mit einem niederträchtigen Seitenblick auf die Schwester betonte, schwelgte die Mutter weiter in Zukunftsplänen. Endlich würde nun auch für sie ein besseres Leben kommen, und das hatte sie dann ihrer Iris zu verdanken. Man sagt zwar, daß Mutteraugen scharf sehen, aber Frau Illsund bildete wohl eine Ausnahme. Denn sie sah nicht die Not ihres Kindes, das unweit von ihr saß. Allerdings war die schüchterne Frau so sehr die Sklavin
ihres Mannes, daß sie nur mit seinen Augen sah, mit seinem Herzen fühlte. Sie hatte niemals ihre eigene Meinung und durfte sie auch nicht haben unter der Fuchtel des herrischen Gatten. Dann trat Iris wieder ein – aufgeputzt, als ginge es zum Ball. Heidi merkte wohl, daß sie sie ausstechen wollte, aber das war ihr gleichgültig. Sie kleidete sich nach Rotrauts Vorbild, und dabei hatte sie noch keinen Fehlgriff gemacht. Denn die junge Regglinsgrunder Gräfin war ja für ihre vornehme Eleganz allgemein bekannt. »Wo der Vater nur blieb?« Iris wurde ungeduldig. »Soviel gibt es doch gar nicht zu besprechen. Die glänzenden Verhältnisse in Hermeshöh sind uns ja bekannt. Und wenn ich erst Gräfin Halldungen bin…« Endlich erschien der Vater. Iris lief ihm entgegen, doch er schob sie zur Seite. »Du nicht, mein Kind.« Er lachte grimmig auf. »Mit dir hat dieser niederträchtige Bursche nur geflirtet – aber zur Frau begehrt er deine Schwester Adelheid.« Erst schnappte Iris einige Male nach Luft, dann lachte sie überlaut. »Das Gänschen? Da kennst du den Grafen Halldungen schlecht! Du hast dich bestimmt verhört, Papa.« Ehe er sie zurückhalten konnte, war sie schon hinausgelaufen. Gleich darauf stand sie vor Eberhard, in dessen Augen es spöttisch aufblitzte. In diesem Moment glich er mehr denn je seinem Vetter Harro. »Wie nett Komteß, daß Sie mir Gesellschaft leisten wollen, bis unser Heideröslein erscheint«, sagte er harmlos. Der Hieb saß – und er freute sich darüber. Das war eine kleine Rache für die Unbill, die seinem geliebten Mädchen durch diese boshafte Schwester widerfahren war. Krach! Die Tür flog hinter Iris zu. Wie eine Furie stürmte sie ins Zimmer, wo Eltern und Schwester ihrer harrten. »Geh!« schrie sie wütend. »Er will tatsächlich dich, du intrigante Person!« Wie schuldbeladen schlich Adelheid davon, als ginge sie
einen unrechten Weg. Als sie vor dem Grafen stand, wagte sie ihn nicht anzusehen. Sie wußte nicht, wie entzückend sie in ihrer Zaghaftigkeit wirkte. Dem Mann wurde das Herz weit. »Heidi, mein Heideröslein«, sprach er verhalten. »Ich möchte eines nur wissen: Hast du mich lieb?« Keine Antwort, nur ein schluchzender Laut – und schon fühlte er ihre zitternden Hände an seinem Nacken. Fest umschloß er den bebenden Körper, wobei ein Glücksgefühl ohnegleichen ihn durchflutete. Zaghaft hob sich das Gesichtchen, die Augen sahen flehend zu ihm auf. »Nimm mich mit, Eberhard, bitte! Ich fürchte mich hier – so allein.« »Die müssen es ja arg genug getrieben haben.« Ihm stieg die Zornesröte ins Gesicht. »Geh, mein armes Liebstes, hol deinen Mantel. Ich warte hier auf dich.« Heidi eilte zu den Eltern zurück, um ihnen Bescheid zu geben. Doch kaum daß sie das Zimmer betrat, schrie der Vater sie an: »Schämst du dich denn gar nicht, Adelheid! Steh nur noch da, als ob du kein Wässerchen trüben könntest!« »Was habe ich denn getan, Papa?« »Das fragst du noch, du scheinheiliges Ding! Eben hat Iris mir erzählt, daß du sie bei Halldungen verleumdet und dich selbst ihm an den Hals geworfen hast!« »Laß das jetzt Papa«, fuhr Iris dazwischen. »Es hat ja doch keinen Zweck mehr.« »Nein, es hat wirklich keinen Zweck, daß Sie so erbärmlich weiterlügen!« ließ eine zornige Männerstimme sich vernehmen. Alle zuckten zusammen. Auf der Schwelle stand Eberhard, die Augen wetterleuchteten in dem zorngeröteten Gesicht. »Meine Braut ist viel zu anständig, um sich einem Mann an den Hals zu werfen. Wer eine solche Niedertracht wie Sie auf dem Gewissen hat, der sollte sich hüten, unschuldige Menschen zu beleidigen.« »Herr, ich verbitte mir…!« tobte Illsund los, doch Halldungen schnitt ihm herrisch das Wort ab.
»Sehen Sie sich Ihren Liebling nur an. Wenn er noch alle Sinne beisammen hat, dann sollte es mich wundern.« Tatsächlich machte Iris jetzt den Eindruck einer Irren. Die Augen flackerten. Das Gesicht verzerrte sich. Aber was sie nun sprach, klang durchaus nicht wirr, sondern haßerfüllt. »Warum sollen meine Eltern nicht wissen, daß ich ein wenig Vorsehung spielte, als euer schönes Rautendelein in den Waldsee stürzte?« »Iris!!!« Die Mutter war einer Ohnmacht nahe, und der Vater wurde leichenblaß. »Mädchen, du bist ja nicht bei Sinnen. Laß dir doch nichts einreden von dem Menschen da…« »Halt!« fuhr Eberhard drohend auf. »Hüten Sie Ihre Zunge, Herr Graf. Ich hätte nicht über das gesprochen, was außer mir nur noch Heidi, meine Mutter und die drei Regglins wissen. Aber die Art, wie Sie meine Braut vorhin behandelten, forderte mich heraus. Denn die Affenliebe, die Sie für die eine, und die Schmähungen, die Sie für die andere Tochter haben, schreit ja wirklich schon zum Himmel! Adelheid steht jetzt unter meinem Schutz! Und wehe, wenn die böse Zunge ihrer Schwester sie noch einmal kränkt! So, das wäre nun klargestellt«, sprach er ruhig weiter. »Es bleibt Ihnen überlassen, ob Sie heute nachmittag in Hermeshöh erscheinen wollen, wo eine kleine Verlobungsfeier stattfinden wird. Meine Braut nehme ich gleich mit, weil sie hier sonst schutzlos Ihrer Willkür ausgesetzt wäre.« Ohne weiter auf das verstörte Ehepaar zu achten, zog er Heidi mit sich fort. Als sie im Auto saßen, schmiegte sie sich an ihn und weinte bitterlich. »Aber, mein Röslein, Tränen am Verlobungstag?« fragte er mit zärtlichem Vorwurf. »Sei mir nicht böse, daß ich mit deinem Vater so hart verfuhr. Aber als ich brüllen hörte, da hielt ich es für ratsam, dir zur Hilfe zu eilen. Es schadet ihm gar nichts, wenn er über seinen Herzensliebling einmal aufgeklärt wird. Diese Affenliebe muß endlich ein
Ende nehmen.«
Rotraut legte den Telefonhörer auf die Gabel und trat
lächelnd zu dem Gatten und seiner Mutter, die im
Wohnzimmer saßen.
»Eberhard hat sich verlobt.«
Diese Neuigkeit rief nicht die Freude hervor, wie es bei
Verlobungen üblich zu sein pflegt. Harro murmelte etwas,
das ganz danach klang wie: »Die Dummen werden nicht
alle.« Und Gräfin Liane meinte bekümmert:
»Armer Junge, ich hätte ihm eine andere Frau gewünscht.«
»Warum denn?« tat Rotraut harmlos. »Heidi ist doch wohl
ein liebenswertes Menschenkind.«
Nun horchten Mutter und Sohn auf.
»Heidi?« fragte Harro, als habe er sich verhört.
»Ganz recht – Heidi.«
»Das ändert allerdings die Sache erheblich. Du strahlst ja
über das ganze Gesicht, Muttchen.«
»Dazu habe ich auch allen Grund. Kinder, was bin ich
froh! Da hat der Schlingel uns ja gut an der Nase
herumgeführt. Wann wird die Verlobung gefeiert?«
»Heute, man erwartet uns dazu in einer Stunde.«
Das war in Hermeshöh ein frohes Begrüßen! Heidi, die vor
Glück nur so strahlte, sagte lachend:
»Eberhard hat mir erzählt, wie energisch du ihn auf die
Freite geschickt hast, Raute. Laß dir danken, du Gute.«
Stürmisch wurde sie umarmt und dann leise gefragt:
»Bist du mir jetzt wieder ganz gut, Rautendelein?«
»Heidi, ich bitte dich, das war ich doch immer. Du bist mir
die liebste Freundin, genügt dir das?«
»Jetzt ja.«
Später erschienen die Eltern und die Schwester der Braut.
Die Mutter war scheu und bedrückt, der Vater irgendwie
verbittert. Nur Iris tat sich hervor wie gewöhnlich. Doch
niemand beachtete sie. Aber den Brauteltern machte man
es leicht, sich in dem fröhlichen Kreis zurechtzufinden.
Heidi war recht lieb zu ihnen, und Eberhard tat, als wäre
die Auseinandersetzung am Vormittag nicht gewesen.
Nach dem Kaffee gruppierte man sich zwanglos. Rotraut saß mit dem Brautpaar vergnügt plaudernd in einer Sesselecke. Als Harro einmal vorüberging, hielt Eberhard ihn am Rock fest. »Komm, teurer Vetter, leiste uns Gesellschaft.« »Habe kein Verlangen danach. So ein verliebtes Brautpaar wirkt auf vernünftige Leute immer ein wenig lächerlich.« »Na warte!« Eberhard drohte ihm entrüstet. »Das reibe ich dir schon noch einmal unter die Nase. Nun komm, sei kein Spielverderber, du unverbesserlicher Spötter.« Also nahm Harro Platz. Schweigend hörte er auf das frohe Geplauder. Sein Sessel stand dem Rotrauts so nahe, daß ihr Haar sein Gesicht streifte, wenn sie sich zurückbog. Und wenn sie den Kopf wandte, sah sie ihm gerade in die Augen hinein, in denen ein Ausdruck lag, den sie nicht zu deuten wußte. Jedenfalls beunruhigte er sie, und daher war sie froh, als Heidi sie um ein Lied bat. »Gern, Heidi. Doch was soll ich singen? Etwa das vom Kuß der Rose? Aber jetzt brauchst du ja nicht mehr lieblose zu sterben.« »Na, du hast bei deinem Eheliebsten das Spotten ja schon ganz nett gelernt«, lachte Eberhard. »Ärgere mir meine Braut nicht, dann kann ich nämlich zum brüllenden Löwen werden. Wie ist es, darf auch ich mir ein Lied wünschen?« »Dir als Bräutigam steht das gleiche Recht zu.« »Dann dieses hier.« Er sang einige Takte des gewünschten Liedes so falsch, daß Rotraut sich vor Lachen ausschütten wollte. »O Eberhard, du singst so schön«, trällerte sie übermütig. »Wer singt, darf in den Himmel seh’n. Du wirst mit deinem Singen zum Paradies dringen.« »So ein Balg!« Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Nun geh schon.« Als sie am Flügel Platz nahm, fiel Iris plötzlich in Ohnmacht. Das gab nun das übliche Erschrockensein – hauptsächlich bei den Eltern, die mit der Tochter nach
Hause fuhren, sobald sie sich erholt hatte. Und das geschah
sonderbarerweise erstaunlich schnell. Kaum daß sie fort
waren, legte der empörte Eberhard los:
»Sogar die Verlobung muß einem diese angetuschte Katze
stören!«
»Eberhard, benimm dich!«
»Ist doch wahr, Muttchen«, brummte er. »Weil es ihr nicht
gelang, die Hauptperson zu sein, mußte sie wenigstens eine
Ohnmacht fingieren. Oder glaubt ihr etwa daran?«
Nein, das taten sie alle nicht. Es war bei Iris mehr eine
ohnmächtige Wut gewesen, daß man Rotraut und nicht sie
aufgefordert hatte zu singen. Um das zu verhindern und
außerdem noch aus dem Kreis zu kommen, in dem es ihr
nicht behagte, inszenierte sie eine Ohnmacht.
Ȇbrigens habe ich euch noch nicht die Begebenheit des
Vormittags erzählt«, sprach Eberhard weiter. »Du gestattest
doch, Heidi?«
»Bitte sehr. Vor den Regglins brauchen wir bestimmt keine
Geheimnisse zuhaben.«
Nachdem er geendet hatte, fragte Rotraut unangenehm
berührt:
»Ja, woher wißt ihr denn das vom Waldsee?«
»Aus deinen Fieberphantasien«, entgegnete Tante Herma
trocken. »Und nun genug der unangenehmen Gespräche,
die bei einer Verlobungsfeier gewiß nicht am Platze sind.
Raute wird jetzt singen, und wir werden dabei bestimmt
nicht in Ohnmacht fallen.«
»Na, wer weiß«, lachte diese. »Wenn es mit meinem Gesang
nicht mehr zum Aushalten ist…«
Als sie zum Flügel schritt, trat erwartungsvolle Stille ein, die
Eberhard noch einmal unterbrach.
»Ich werde dir die Noten geben, Rotraut.«
»Danke, es geht ohne.«
Nach dem Vorspiel setzte dann die Stimme ein.
Glockenklar und ungemein süß schmeichelte sie sich in die
Herzen der Zuhörer.
»Wach’ auf, du goldnes Morgenrot, und grüße meine Braut,
daß sie des Himmels Seligkeit in Rosenwölkchen schaut. Ihr Frühlingsrosen, geht zu ihr, ihr Engelsköpfchen, fliegt, daß ihr die Welt, wenn sie erwacht, in Rosenschimmer liegt. Auch du, mein Herz, flieg hin zu ihr, sag’ ihr in diesem Lied, wie all mein Glück an diesem Tag in Rosen aufgeblüht.« Hauchhaft zart verklang der Ton. Man hatte das innige Lied schon öfters gehört, doch so herzwarm war es noch niemals vorgetragen worden. Gleich als Raute begann, war der besorgte Blick Lianes zu dem Sohn hingegangen. Wie schmerzlich mußte die zärtliche Weise sein wundes Herz berühren. Äußerlich war ihm nichts anzumerken, er konnte sich ja so beherrschen, der geliebte Junge. Ach, daß er doch an dem jungen Menschenkind etwas auszusetzen fände, vielleicht hätte das seine Liebe vermindert. Aber wie ein holdseliges Traumbild saß es da, schmeichelte sich mit der lieblichen Stimme immer tiefer in die Herzen der Menschen hinein. Armer Junge! »Na, wenn das nicht schön war«, sagte Herma in betonter Frische. »Eigentlich hättest du ja deiner Braut das Ständchen bringen müssen, mein Schlingel.« »Erbarm dich, Muttchen!« Er hob lachend die Hände. »Bei dem rauhen Gekrächze wäre mein Heideröslein wohl bang erzittert. Aber du kannst was, Rautendelein, das muß der Neid dir lassen. Warum hörte ich dich heute zum ersten Male singen?« »Weil du mich vorher noch nicht dazu aufgefordert hast.« Sie lächelte ihn so lieblich an, daß er warnend die Finger hob. »Du, laß dein Nixenlächeln, ich bin verlobt! Du könntest die Dornen meines Rösleins zu spüren bekommen.« Man lachte herzlich über seine komische Entrüstung, und damit war die rührselige Stimmung überbrückt. Und daß eine solche an diesem Tag nicht mehr aufkommen konnte, dafür sorgten schon die Gastgeber mit ihrem köstlichen
Humor. Sechs Wochen später fand in Hermeshöh die Hochzeit statt, die glänzend gefeiert wurde. Man wunderte sich zuerst, daß Iris nicht erschienen war; als man jedoch hörte, daß die Komteß einen Nervenzusammenbruch gehabt hätte und nun zur Erholung in einem Bad weilte, da lächelte man verständnisvoll. »Hm«, meinte ein Gast zu einem anderen, »bei dem, was die Dame auf dem Kerbholz hat, dürften ihr schon die Nerven brechen. Die Begebenheit am Waldsee kommt so manchem nicht geheuer vor. Und dann später, nachdem der Regglin ihr durch die Lappen gegangen, die Jagd nach dem Halldungen, der es wagte, das Aschenputtelchen der intriganten Prinzeß vorzuziehen – das kann einem schon die Galle ins Blut ärgern. Der Halldungen kann lachen. Schauen Sie sich mal die holdselige Braut an, die muß einem Mann ja das Herz heiß machen. Die Eltern waren rein wie mit Blindheit geschlagen, daß sie die kleine Kanaille dem liebwerten Menschenkind vorzogen.« Es war Vater Illsunds persönliches Pech, daß er das Urteil über seinen bisher so vergötterten Liebling mit anhören mußte. Vielleicht ließ ihn das ein wenig in sich gehen. Die Feier verlief in beschwingter Fröhlichkeit, was angesichts des glückstrahlenden Brautpaares auch nicht anders möglich war. Viele gute Wünsche gingen mit ihm, als es sich auf die Hochzeitsreise begab. Drei Tage danach wurde Rotraut zweiundzwanzig Jahre alt. Ein Maientag zog herauf, wie er köstlicher nicht zu denken war. Früher als sonst fanden sich in Regglinsgrund Mutter und Sohn am Frühstückstisch zusammen. Sie wollten die Postsachen erst durchsehen, bevor das Geburtstagskind erschien. Unter Rotrauts Post befanden sich auch drei mit ausländischen Marken. Und solche Marke trug auch der Brief, den Harro soeben öffnete. Während er ihn las, wechselten auf seinem Gesicht Überraschung und Betroffenheit, so daß die Mutter unruhig wurde. Nachdem er den Brief gelesen hatte, reichte er ihn ihr schweigend.
Und sie vertiefte sich darein. Harro, lieber Junge! Laß Dich ein einziges Mal so von mir nennen. Was dem Lebenden nicht gestattet war, sei dem Toten verziehen. Denn dieser Brief wird erst in Deine Hände gelangen, wenn ich nicht mehr auf der Erde weile. Daß Du keine gute Meinung von mir hast, darüber bin ich mir klar. Man achtet einen Mann nicht, der sein Kind verkauft um des Titels willen. Denn daß dieses das Motiv meines Willens ist, meine Tochter mit Dir zu vereinen, mußt Du fest annehmen. Allein, es ist ein anderer Grund, der mich so handeln läßt. Daß ich Deine Mutter liebte, wirst Du ja bereits erfahren haben. Und warum ich die Spielschuld Deines Vaters strich, wirst Du Dir jetzt denken können. Sein Ehrenwort mußte ich annehmen, wenn ich ihm die Achtung vor sich selbst nicht ganz nehmen wollte. Daß ich nicht davon Gebrauch machen würde, war damals mein fester Entschluß. Aber dann wurde meine Tochter geboren, die ich von ihrem ersten Schrei an über alles liebte. Je älter sie wurde, um so heißer stieg das Verlangen in mir auf, daß sie einmal dem Sohn der schmerzlich geliebten Frau angehören sollte. Ein leichtsinniges Spiel mit dem Schicksal, ich gebe es zu, aber vielleicht ist es barmherzig und läßt es zum Segen werden – für Dich und für mein Kind. Du bist mir kein Fremder, mein Junge. Ich habe Deinen Werdegang verfolgt und Dich auch öfter heimlich gesehen. Wo, das spielt hier keine Rolle. Ich kenne Deinen ehrenwerten Charakter und weiß, daß meine herzliebste kleine Raute bei Dir gut aufgehoben sein wird. Und nun zu ihr. Sie wird es nicht begreifen, daß ihr Paps dazu fähig sein konnte, ein so ungeheuerliches Ansinnen an sie zu stellen. Sie wird sich gedemütigt, in ihrem Stolz verletzt fühlen – und sie wird sich Dir gegenüber hinter diesem Stolz verschanzen, meine süße, törichte Kleine. Das Jahr, das ich für Eure Ehe zur Bedingung stelle und das Ihr nach Erhalt der Briefe – Raute wird zu gleicher Zeit einer zugestellt – bald hinter Euch habt, wird gewiß kein leichtes für Euch gewesen
sein. Ihr werdet Stolz gegen Stolz setzen, der entweder siegen oder – brechen wird. Ist ersteres bei Raute der Fall, dann halte sie nicht, mein geliebter Junge. Das gäbe für Euch beide kein Glück. Liebt sie Dich jedoch und liebst Du sie, was ich aus tiefstem Herzensgrund hoffe und wünsche – dann alles Glück der Erde Euch, geliebte Kinder. Albrecht Bracht . »Harro, wie sehr haben wir dem Mann unrecht getan«, sagte Liane verstört, als sie den Brief sinken ließ. »Jetzt kann ich Rotraut erst so richtig verstehen.« In diesem Moment trat die junge Gräfin ein. Schön wie der Maientag, der draußen lachte. Als sie sich zum Morgengruß über Lianes Hand neigte, küßte die Mutter sie auf die blütenzarte Wange. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein liebes Kind«, sagte sie bewegt. »Möge Gott Glück geben, dir und auch uns.« »Du weißt?« fragte Raute überrascht. Ganz unbewußt hatte sich das Du über ihre Lippen gedrängt, was Liane beglückt empfand. Dann trat Harro hinzu. »Nimm auch meinen herzlichen Glückwunsch entgegen.« Er beugte sich über ihre Hand. Seine Worte klangen kühl und legten sich wie Rauhreif auf ihre Freude. Doch gewohnt, sich zu beherrschen, blieb sie äußerlich froh und nahm die Geschenke entgegen wie ein glückliches Kind. Nach dem Frühstück griff sie zu den Briefen, die neben ihrem Teller lagen, und sah sie durch. Bei dem einen erblaßte sie, legte ihn rasch zu den anderen und begann ein nichtssagendes Gespräch. Sie empfand es als eine Wohltat ohnegleichen, als der Diener erschien und meldete, daß sie von der Gräfin Halldungen am Fernsprecher gewünscht würde. Hastig raffte sie die Briefe zusammen und eilte davon. »Sie hat kein Vertrauen zu uns«, sagte Liane leise, »und das ist das allerschlimmste, mein Junge.« Die nächsten Wochen wurden für Rotraut zur Leidenszeit.
Tagsüber war sie gezwungen, sich zu beherrschen – doch in der Nacht kamen die peinigenden Gedanken, denen sie schutzlos ausgeliefert war. Sie verlor darüber ihr blühendes Aussehen, wurde müde und blaß. Es lag überhaupt eine unbeschreibliche Atmosphäre über dem Regglinsgrunder Schloß. So erdrückend traurig wie die Vorwehen eines kommenden Leides, eines qualvollen Trennungswehs. Und dann war der Tag da, vor dem Rotraut sich unsagbar gefürchtet hatte. Draußen regnete es, und der Wind fuhr durch die Bäume. Erschauernd ging es Rotraut durch den Sinn: Zum Abschiednehmen just das rechte Wetter, grau wie der Himmel liegt vor mir die Welt. – Dazu sang noch im Rundfunk eine Männerstimme ein Lied, das ans Herz griff: Nicht jeder Mund spricht die Wahrheit, nicht jedes Wort bringt uns Klarheit, jeder Traum geht zu Ende, auch diese Liebeslegende… Wie ein Seufzer verklang der letzte Ton. Rotraut hätte aufschreien mögen vor Herzensnot. War das Lied nicht wie für sie gedungen? Liebeslegende würde er bleiben, der Traum – der jetzt endete. Wie gut, daß Harro den Apparat ausschaltete. Aber die bedrückende Stille, die jetzt im Raum herrschte, war kaum weniger zu ertragen. Ihr Blick ging zu ihrem Mann und seiner Mutter hin. Beide lasen in einem Buch. Daß sie das jetzt konnten! Nun ja, warum nicht? In ihrem Herzen war ja auch nicht so ein entsetzlicher Aufruhr. Aber etwas mußte doch geschehen, der Tag begann sich bald zu neigen. »Harro«, würgte sie endlich hervor. Er ließ das Buch sinken und sah sie fragend an. »Du wünschest, Rotraut?« »Vor einem Jahr war unser Hochzeitstag.« »Ich weiß es.« Warum kam er ihr denn nicht zur Hilfe, warum ließ er sie allein sprechen! Es ging ihn doch alles ebensoviel an wie sie. Hatte sie sich noch nicht genug gedemütigt? Was
erwartete er nun noch von ihr? Wahrscheinlich das, daß sie gehen sollte. – Er hatte jetzt ja seine Pflicht getan. »Ich möchte noch heute Regglinsgrund verlassen.« Hatte sie diese Worte wirklich ausgesprochen? Ihr kam die eigene Stimme vor, als hätte sie keinen Teil daran, als gehöre sie einer Fremden. Nun legte er endlich das Buch aus der Hand. Vielleicht – ach, vielleicht! »Du mußt wissen, was du tust, Rotraut. Ich habe dich wohl zweimal zurückgehalten, als du von mir gehen wolltest, doch damals hatte ich ein Recht dazu, weil der Wille deines Vaters noch nicht erfüllt war. Jetzt kommt mir das Recht nicht mehr zu. Wenn dich nichts an Regglinsgrund bindet, kann und will ich dich nicht halten.« War es möglich, daß einem Menschen so grenzenlos zumute sein konnte! Sie hatte in der letzten Zeit geglaubt, alles an Schmerz empfunden zu haben, was ein Menschenherz zu tragen imstande ist. Doch das, was jetzt darin bohrte und brannte, war neu – grausam neu. Nur jetzt noch einige Minuten durchhalten – dann war wohl das Schlimmste vorüber! Aber es gab doch noch ein Allerschlimmstes für sie! Es kam mit dem Abschied. Da stand sie nun vor dem Mann, in dessen Heim sie ein Jahr lang als Eindringling gelebt hatte. Blaß war sein Gesicht, blaß und hart, blutrot die Narbe darin. Sprechen, nein, das konnte Rotraut jetzt nicht. Sie vermochte nur ihm die Hand zu reichen, die er höflich an die Lippen zog. Nun noch von Gräfin Liane Abschied genommen – ganz flüchtig, ganz schnell! Dann war wirklich alles vorüber. Nur der heiße, qualvolle Schmerz im Herzen, der blieb. Als wäre alle Sonne daraus gewichen, so düster erschien fortan das Regglinsgrunde Schloß. Aus allen Ecken schien es zu klagen – um einen Traum, der zu Ende ging, um eine Liebeslegende. Harro war schroff und unzugänglich in diesen Tagen, und
die Mutter weinte heimlich bittere Tränen um ihren Jungen, der sich so verändert hatte. Um sich zu betäuben, arbeitete er mehr denn je. Kam kaum tagsüber aus dem Sattel und saß dann am Schreibtisch bis tief in die Nacht. Eben betrat er das Zimmer und reichte der Mutter einen Brief. »Da lies – und dann sage noch, daß sie keine Circe ist.« Hastig überflog Liane, was Rotraut schrieb. Sie bat Harro, die Scheidung einzureichen, gab ihm jede Vollmacht. Unter das Schreiben hatte sie ihren Mädchennamen gesetzt. »Junge, vielleicht versuchst du noch mal, mit ihr zu sprechen«, begann sie zaghaft, doch er winkte kurz ab. »Damit sie mit mir wieder spielen kann, wie?« Er trat ans Fenster, drückte die Stirn gegen die Scheibe und verharrte regungslos. Der Mutter zog sich vor Mitleid das Herz zusammen. Armer Junge, daß ihn die Liebe auch so heftig packen mußte! Wenn sie ihm nur helfen könnte? Aber wie? Sollte sie an Rotraut schreiben und ihr alles klarlegen? Vielleicht kehrte sie zurück, ließ sich vielleicht aus Mitleid dazu bewegen. Und was dann? Dann würde alles ja noch viel schlimmer sein. Liebe verlangte Harro, um wahrhaft glücklich sein zu können. Kein Almosen vom Mitleid zugeworfen. Rotraut – und immer wieder Rotraut! Um sie drehten sich die Gedanken von Mutter und Sohn. Und Rotraut selbst? Die quälte sich genauso mit ihrem Herzweh. Mit fieberhafter Ungeduld erwartete sie Harros Antwort auf ihren Brief mit der Scheidungsvollmacht. Als er dann endlich eintraf, starrte sie wie entgeistert auf die Anschrift. Fräulein Rotraut Bracht – stand da in fester Schrift. Ja, was wollte sie denn eigentlich? Hatte sie nicht ihren Mädchennamen unter den Brief gesetzt? Lebte sie nicht unter diesem Namen in dem Hotel? Warum weinte sie denn, als müßte ihr das Herz in Stücke brechen?
Vielleicht – weinte das Herz mit – vielleicht hättest du doch in Regglinsgrund bleiben sollen! Ihn bitten… Doch da bäumte sich der Stolz auf. Ich mag keine Almosen, ich will Liebe gegen Liebe. Stolz und Herz standen sich gegenüber in harter Fehde. Und Rotraut wußte zuletzt nicht mehr aus noch ein. Bis ein Brief dem allen ein Ende machte. Ein Brief von so schicksalsschwerer Bedeutung. Rotraut öffnete ihn mit zitternden Händen, las: Raute, gestern sind wir von der Hochzeitsreise zurückgekehrt. Ich bin erschüttert über die Zustände in Regglinsgrund. Komm zurück, Raute. Harro liebt Dich über alles und leidet wahnsinnig um seine Liebe. Und Du liebst ihn auch, nur Dein Stolz will das nicht zugeben. Wenn Du nicht kommst, dann hole ich Dich. Heidi. Holen, o nein, holen ließ Rotraut sich nicht.
Zwei Stunden später saß sie im Auto und raste so schnell
Regglinsgrund zu, daß die neben ihr sitzende Dora ein
Vaterunser nach dem andern betete.
Weitere zwei Stunden später lief Rotraut durch das Portal,
durch die Halle, an dem erschrockenen Diener vorbei, und
landete vor den Füßen der Gräfin Liane, die in ihrem
Zimmer ein Dämmerstündchen hielt.
»Mutti, ich konnte es ja nicht mehr vor Sehnsucht
aushalten. Muttilein, da bin ich! – Oh, so ist es schön.«
Zufrieden kuschelte sie ihren Kopf in den Schoß der Frau,
der die hellen Tränen über das Gesicht liefen. Fest
umschloß sie den schlanken Körper mit beiden Armen und
fragte dann behutsam:
»Liebst du ihn, mein Kind?«
»4a, Mutti – ja! Wäre ich sonst gekommen?«
»Raute, unser Rautendelein, daß wir dich endlich wieder
bei uns haben. Kein Leben war das ohne dich, du böses,
stolzes Kind. Der Junge hat ja so sehr um seine Liebe
gelitten – klaglos, weil er es anders für einen Mann
unwürdig findet. Du wirst ihm deine Liebe schon zeigen
müssen, sonst glaubt er sie dir nicht.«
Ein fester Schritt ließ sie verstummen.
»Bist du hier, kleine Mama?« fragte Harro in die Dunkelheit
hinein.
»Ja, mein Junge.«
Licht flammte auf – und dann verharrte er wie erstarrt.
Vor ihm stand Rotraut, sah ihn flehend an. Da stieg
siedender Zorn in ihm auf. Alles, was er um diese Frau
erduldet hatte, machte sich in herrischen Worten Luft:
»Was suchst du hier? Willst du weiter mit mir spielen, du
gefährliche Circe?«
Weiter kam er nicht, weil zwei Arme ihn umfaßten, eine
weiche Wange sich an die seine schmiegte. Ein Mund
sprach dicht an seinem Ohr: »Dich suche ich hier – dich
und deine Liebe.«
»Raute, wenn du jetzt noch ein niederträchtiges Spiel mit
mir treibst…«
»Mutti, so hilf mir doch! Er will mir doch nicht glauben!«
»Dann sag’s ihm doch.«
»Ich habe Angst.«
»So ist’s richtig«, lachte die Mutter nun herzlich. »Nimm sie
schon in den Arm, Junge, du bist doch sonst nicht so
zaghaft.«
Mißtrauisch sah er in Rautes Augen, die ihn anstrahlten wie
zwei Sonnen. Wie ein Hauch drang es an sein Ohr, dieses
beseligende: »Ich habe dich lieb.«
Und schon waren die Lippen von den seinen versiegelt.
Leise schlich sich die Mutter hinaus; und als sie wiederkam,
da wurde ihr das Herz ganz weit vor glückseliger Freude.
Raute schmiegte sich an sie, sah mit dem ihr eigenen
Lächeln zu ihr auf.
»Nun, mich brauchst du ja nicht zu betören«, lachte Liane.
»Hast es ja schon zur Genüge getan. Daß ich außer meinem
Jungen jemals einen Menschen so liebhaben könnte wie
dich, das hätte ich mir auch nicht träumen lassen.«
Als sie dann nach dem Abendessen im trauten Gespräch beisammensaßen, sagte Rotraut: »Übrigens habe ich in dem Bad, in dem ich mich bisher aufhielt, Iris Illsund mit ihrer Mutter getroffen. Die Komteß ließ sich viel mit einem Herrn sehen, der bestimmt doppelt so alt ist wie sie. Aber er soll sehr reich sein.« »Hauptsache für sie«, lächelte Harro ironisch. »Die Verlobung hat bereits stattgefunden. Ich glaube, die Eltern sind froh, die Tochter loszuwerden. Aber es ist zweifelhaft, ob Iris auf ihre Kosten kommen wird. Denn der Herr soll recht zugeknöpfte Taschen haben.« »O weh, arme Iris«, lachte Rotraut. »Nun, vielleicht sieht alles schlimmer aus als es ist. Was reichst du mir denn da, Harro?« »Einen Brief, der für dich bestimmt ist.« Nachdem sie das Schreiben ihres Vaters an Harro gelesen hatte, traten ihr die Tränen in die Augen. »Mein guter Paps! Trotz allem habe ich daran geglaubt, daß er mit der mir zudiktierten Ehe mein Bestes im Auge hatte. Das steht ja auch in dem Brief, den ich an meinem Geburtstag erhielt. Seine ganze Liebe zu mir spricht aus jeder Zeile. Auch wenn ich die Ehe auf Abbruch«, ein schelmischer Seitenblick traf Harro, »nicht eingegangen wäre, hätte ich mein Vermögen erhalten. Das mit der sogenannten Enterbung sollte nur eine Einschüchterung sein. Morgen könnt ihr den Brief lesen. Nicht wahr, nun denkt ihr nicht mehr schlecht von meinem Vater?« Die Mutter schüttelte stumm den Kopf, und Harro küßte die flehenden Augen seines jungen Weibes. »Ich wünschte, daß ich ihm sagen könnte, wie sehr ich ihn verehre. Zufrieden, mein Rautendelein?« »O ja, jetzt bin ich restlos glücklich. Ich danke dir auch, daß du die Angelegenheit mit meinem mütterlichen Erbteil so wunderbar geregelt hast, du liebster Mann. Da ist ja noch viel mehr herausgekommen, als ich erwartet habe. Der Bescheid erreichte mich vorgestern.« Der Fernsprecher schlug an, und Harro nahm das Gespräch
entgegen.
»Nein, Heidi, heute können wir nicht kommen. Wir haben
Besuch. Wie meinst du, lieben Besuch? Gar kein Ausdruck!
Den allerliebsten der ganzen Welt. Er hat und das Glück
und die Liebe ins Haus gebracht Jawohl, recht geraten –
unser Rautendelein.«
Er reichte ihr den Hörer hin.
»Komm, mein Liebes, Heidi möchte dich begrüßen.«
»Ja, Heidilein, ich bin da. Morgen besuche ich dich.«
Dann lauschte sie angestrengt auf das, was die Stimme am
anderen Ende so leise sagte, daß sie kaum zu verstehen
war:
»Nichts von meinem Brief erwähnen, Raute, hörst du?
Harro soll des Glaubens sein, daß du freiwillig zu ihm
zurückgekehrt bist. Dann erst ist sein Glück vollkommen.«
Aufatmend legte Rotraut den Hörer auf die Gabel und
schmiegte sich an den Gatten, der neckend fragte:
»Was wurde dir da für ein Geheimnis zugeflüstert, meine
liebste Frau?«
»Das Geheimnis der Liebe«, entgegnete sie leise. »Denn
Heidi liebt ihren Eberhard genauso wie ich meinen Harro.«
Behutsam legte er seine Lippen auf die ihren, als ob er
etwas Heiliges berührte. Dann flüsterte er ihr etwas ins
Ohr, worauf sie lachend erwiderte:
»Nun, deine Braut bin ich ja nun gerade nicht, aber das
Lied sollst du hören.«
Dann saß sie am Flügel, und jubelnd klang es durch das
Gemach:
»Wach auf, du goldnes Morgenrot, und grüße meine
Braut…«
Er stand neben ihr, hatte die Wange an die ihre gelegt und
sog die süßen, zärtlichen Töne förmlich in sich ein. Der
Mutter wurden die Augen feucht, so rührte sie das
wundervolle Bild. Herz hatte sich zu Herz gefunden, was
konnte es Schöneres im Leben geben?
Es war spät, als man sich trennte. Oben, in Rotrauts
Wohngemach, zog Harro seine Frau in die Arme.
»Hab Dank, daß du gekommen bist, du liebste Frau.
Freiwillig zu mir gekommen. Deshalb liebe ich dich um so
mehr.«
»Liebe?« In ihren Augen blitzte es schelmisch auf. »Mir ist
so, als wenn ein Graf Regglin einmal zu einem Fräulein
Bracht gesagt hätte: ›So was von Kitsch wie die Liebe!‹«
Aber schon war ihr Mund verschlossen.
-ENDE