Das Buch Der Zeitreisende Alex, der sich als Krieger vor Robert Bruce beweisen konnte, bekommt den Auftrag, den sc...
9 downloads
555 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Das Buch Der Zeitreisende Alex, der sich als Krieger vor Robert Bruce beweisen konnte, bekommt den Auftrag, den schottischen König im Feldzug gegen Irland zu unterstützen. Doch bevor er aufbricht, wird seine Burg völlig unerwartet vom magischen Elfenvolk der Danaan angegriffen und seine Ehefrau Lindsey vom Elfen An Reubair entführt. Alex und sein Sohn Trefor, der wie seine Mutter magisches Blut in sich trägt, begeben sich auf die Suche in das Verborgene Land hinter den Nebeln, um den Entführer zu stellen. Dieser bedient sich jedoch einer magischen List, um Lindsey, die er zur Braut nehmen will, gefügig zu machen: Er belegt sie mit einem Liebeszauber. Als Alex seine Frau endlich findet, kann sie sich kaum noch gegen An Reubairs Magie auflehnen. Ihr ungestümer Sohn Trefor, der in eine geheime Verschwörung verwickelt ist, plant jedoch nicht nur, sich am Entführer seiner Mutter zu rächen, sondern sogar den König der Danaan umzubringen. Die Autorin Julianne Lee war Schauspielerin in Hollywood, ehe sie sich dem Schreiben zuwandte. Sie arbeitete als Journalistin und Gerichtsreporterin. Ihre Kurzgeschichten wurden mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrer Familie in Hendersonville, Tennessee. Von Julianne Lee liegt im Wilhelm Heyne Verlag bereits die große Fantasy‐Saga »Das Schwert der Zeit« (Vogelfrei Die Verbannung Die Rettung Die Erfüllung) vor. Der neue Fantasy‐Zyklus »Ritter der Zeit« umfasst derzeit die Bücher: Der Elfenkönig Das Elfenkind Die Elfenhöhle.
Julianne Lee DIE ELFENHÖHLE RITTER DER ZEIT Roman
Erscheinungstermin des Originals KNIGHT TENEBRAE 3, KNIGHT'S LADY, 2008
ERSTES KAPITEL
Eine Trompetenfanfare riss Lady Lindsay MacNeil aus dem Schlaf. Sie fuhr mit einem Ruck hoch, ihr Herz begann wild zu hämmern, dann umspielte ein leises Lächeln ihre Lippen und breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als die dünnen, blechernen Laute, die die Ankunft eines Bootes ankündigten, er‐ neut vom Seewind zu ihr hochgetragen wurden. Er war wieder da. Alasdair An Dubhar MacNeil, Earl of Cruachan und Laird von Eilean Aonarach, war zurückgekehrt, wie die Burgwache, die ihn anhand des Wappens auf seinem Segel erkannt hatte, soeben meldete. Wie hatte sie das erste Signal überhören können? Sie hätte die Trompeten schon viel früher hören müssen. Lindsay setzte sich in dem mächtigen, von einem Seidenbaldachin überspannten Bett auf und blinzelte zu dem Fenster am anderen Ende der Kammer hinüber. Die kleinen rechteckigen Glasscheiben schimmerten bläulich im Licht des sich unmerklich verfärbenden Himmels. Vielleicht hatte der Wachposten das Boot im Dunkeln nicht gleich entdeckt, oder es hatte Nebel geherrscht, oder der Mann war eingenickt und hatte vergessen, die Trompete zu blasen. Oder sie selbst hatte so fest geschlafen, dass sie die erste Fanfare nicht gehört hatte. Der Gedanke trieb ihr die Schamröte in die Wangen. Sie schlug die schwere Decke zurück, stieg aus dem Bett, schürte das Feuer und legte ein weiteres Holzscheit auf die Glut, dann zupfte sie eine kleine gelbe Frühjahrswildblume aus 2 dem in Lila, Weiß und Gelb gehaltenen Gesteck auf dem Tisch neben dem Fenster, beugte sich über das steinerne Sims, stieß die Scheibe auf und spähte hinaus. Die raue Steinkante bohrte sich kalt in ihren bloßen Bauch und jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Aber ihre Augen leuchteten beim
Anblick des Außenwerks und des darunter gelegenen Kais auf, und sie erschauerte erneut, diesmal vor Freude. Die Schiffe ihres Mannes lagen bereits am Kai; die Männer hatten schon begonnen, die Pferde an Land zu bringen. Zwei große schwarze Hunde, ungebärdige Jungtiere, die der Rasse ähnelten, die eines Tages als schottischer Wolfshund bekannt sein würde, rannten mit wedelndem Schweif auf die zum Bergfried führenden Stufen zu. Sie waren Wurfgeschwister, im letzten Sommer zur Welt gekommen, und hingen sehr an Alex. Der Earl hatte sie nach seinen Brüdern Carl und Pete genannt; sie folgten ihm auf Schritt und Tritt, hatten ihn auch nach Cruachan begleitet und kündigten seine Rückkehr jetzt mit lautem Gebell und Gehechel an. Alex rief ihnen etwas zu, aber trotz ihrer Größe waren sie im Herzen noch übermütige Welpen und schenkten dem Befehl ihres Herrn keine Beachtung. Lindsays Blick fiel auf Alex, der anhand seiner Statur und seines leichtfüßigen Ganges leicht zu erkennen war. Er eilte auf den Turm zu, und sie ließ die Blume in ihrer Hand genau im richtigen Moment fallen, sodass sie sacht vor ihm zu Boden schwebte und vor seinen Füßen landete. Alex blieb stehen, um sie aufzuheben, schlug seinen Kopfschutz aus Kettengeflecht zurück, der sich wie ein metallenes Band um seinen Hals legte, grinste zu ihr hoch und hielt die kleine Blüte an seine Nase. Sein Haar war zerzaust, dunkle Bartstoppeln bedeckten das Kinn, aber seine Wangen leuchteten rosig und gesund. Er schien während seiner Abwesenheit weder krank gewesen noch verwundet worden zu sein, was Lindsay mit einem erleichterten Seufzer registrierte. Dann verschwand er mit 3
wehendem Überwurf und klirrenden Sporen im Turm. Lindsay trat einen Schritt zurück, schloss das Fenster und drehte sich um, um ihren Mann zu erwarten. Er musste jeden Moment bei ihr sein. Kurz darauf betrat Alex die Kammer. Seine Hunde folgten ihm, sausten durch den Raum, beschnupperten alles und jenes und ließen sich dann auf ihrem gewohnten Platz auf einem Schaffell am Kamin nieder. Pete hob den Kopf und hechelte, Carl rollte sich sofort zum Schlafen zusammen. Alex verriegelte die Tür hinter sich. Er war vom schnellen Laufen und der steilen Treppe außer Atem, aber seine Lippen krümmten sich zu einem breiten Grinsen, und seine Augen funkelten vor Freude, seine Frau wiederzusehen ‐ was vermutlich daran lag, dass sie nicht einen Faden am Leib trug und sie sich seit zwei Monaten, seit er zu seiner anderen Insel Cruachan aufgebrochen war, nicht mehr gesehen hatten. Einen Moment betrachtete er sie schweigend, dann sagte er in modernem Englisch, das die Dienstboten in der Vorkammer nicht beherrschten: »Soll das ein unmoralisches Angebot sein?« Lindsay fand seinen amerikanischen Akzent unwiderstehlich, geradezu exotisch, und sie wusste ihn umso mehr zu schätzen, weil sie die Einzige war, mit der er sich in dieser Sprache unterhielt, denn sie war die einzige Person in der Burg ‐ und fast die Einzige in diesem Jahrhundert ‐, die sie verstehen konnte. Sie unterdrückte ihrerseits ein Grinsen und riss mit gespielter Unschuld die Augen auf. »O kühner Ritter, Ihr tut mir unrecht. Ich bin nur ein armes Mädchen, das sich nicht in kostbare Kleider hüllen kann ...« »In überhaupt keine Kleider, wie es aussieht.« »In der Tat.« Sie senkte den Kopf, als würde ihre Blöße sie in Verlegenheit stürzen, dann blickte sie mit flatternden Wimpern zu ihm auf und fuhr fort: »Ich überlasse mich Eurer Barmherzigkeit und flehe Euch an, nicht zu grob zu mir zu sein.« Sie stützte 3 die Hände ins Kreuz und schob die Schultern zurück, sodass ihre Brüste sanft zu wogen begannen. Alex' Blick blieb daran hängen, sein Grinsen wurde breiter, und er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, während er sie begehrlich musterte. Sie rückte näher an ihn heran. »Bitte geht sanft mit mir um. Ihr seid so groß und stark, und ich bin klein und schwach.« Die letzten Worte entlockten ihm ein belustigtes Schnauben, denn sie wussten beide, dass Lindsay es im Kampf mit jedem Mann aufnehmen konnte und vielleicht sogar imstande war, ihn selbst zu besiegen. Lindsay hatte Mühe, ein prustendes Lachen zurückzuhalten. Alex löste seinen Schwertgurt und lehnte die Waffe gegen die Seite des Kamins, dann schleuderte er mit theatralischer Geste seine mit Eisenplättchen besetzten ledernen Handschuhe von sich und nestelte an seinem Überwurf herum, bis das Kleidungsstück als Haufen rotschwarzer Seide zu Boden glitt. Lindsay trat zu ihm und schlang ihm die Arme um den Hals, um ihn zu küssen. Das Kettenhemd presste sich kalt gegen ihre Haut, doch in der Halsberge steckte ein warmer, lebendiger und atmender Mensch aus Fleisch und Blut ‐ ihr Mann, den sie in den vergangenen Wochen so schmerzlich vermisst hatte. Er drückte sie so eng an
sich, dass sich die Metallringe in ihren Körper gruben und sie in sein Ohr flüsterte: »Nicht so stürmisch, mein edler Ritter.« »Verzeiht mir, holde Maid, aber es fällt mir schwer, mein Verlangen zu zügeln.« Sein Atem ging schwer, und er vergrub die Lippen an ihrem Hals. »Wollt Ihr mich gegen meinen Willen nehmen?« »Wollt Ihr mich erst in Glut versetzen und dann den Brand nicht löschen lassen?« Er senkte die Lider, seine Lippen glitten über ihre Stirn, während sie ihm half, sich seines Kettenhemdes zu entledigen und es zu Boden fallen zu lassen. Er streifte Stiefel und Sporen ab, und endlich löste er den Gürtel, der seine Hose hielt, sodass sie samt seiner Leibwäsche gleichfalls raschelnd 4 zu Boden glitt und er nur mit seinem langen Hemd bekleidet vor ihr stand. Er nahm sie in die Arme, und sie schmiegte sich an ihn, kostete seine Wärme aus. Er war am Leben und unversehrt, doch jedes Mal, wenn er die Insel verließ, jedes Mal, wenn sie an seiner Seite kämpfte, stand sie Todesängste um ihn aus und betete unaufhörlich für seine Sicherheit. Heute war er gesund und unverletzt zu ihr zurückgekehrt, und das war wohl ein Grund für ein Dankgebet. Und ein Grund zum Feiern. Sie schlang ein Bein um seine Taille und stellte sich auf die Zehenspitzen, woraufhin er sie aufhob und zum Bett trug. Lindsay ließ sich in die Kissen zurücksinken. Alex legte sich neben sie und küsste sie voller Leidenschaft, bis sie es kaum noch erwarten konnte, ihn in sich zu spüren. Doch er ließ sich Zeit, stachelte ihre Begierde an, wie er es manchmal tat, damit sie ihn anflehte, sie nicht länger zu quälen. Sein Gesicht lag auf ihrer Brust, seine Bartstoppeln kratzten über ihre Haut. Lindsay rang erstickt nach Luft; ein leises Stöhnen entrang sich ihrer Kehle. Da sie fürchtete, ihre Stimme würde ihr nicht gehorchen, bot sie all ihre Willenskraft auf und erwiderte: »Mein kühner Held, ich habe mich Euch versprochen, und ich gehöre Euch. Aber ich erzittere unter Eurer Berührung.« Sie presste die Lippen gegen seinen Bauch. »Ich erbebe unter Eurem Blick.« Wieder sog sie scharf den Atem ein. »Ich fürchte, Ihr werdet wie ein Sturm über mich hinwegfegen.« Ihre Finger krallten sich in sein Haar. »Überwältigt mich. Ruiniert mich für jeden anderen Mann.« Ihr Mund suchte den seinen, und sie zog ihn voller Sehnsucht enger an sich. Alex hob den Kopf und sah sie an. »Ich werde Euch jetzt nehmen, o holde, sittsame Maid, und um es Euch leichter zu machen, rate ich Euch, haltet still, schließt die Augen ...« Er kicherte leise, ehe er fortfuhr: »Und denkt an England.« Dann drang er in sie ein und war wieder zu Hause. Und England war das Letzte, woran Lindsay jetzt dachte. 4 Trefor MacNeil starrte zu dem Loch in der Decke aus Erde und Wurzelgeflecht über ihm empor. Ein kleiner Lichtkreis inmitten der Schatten, die die Flammen der Feuer durch diese Höhle tanzen ließen. Daraus tropfte etwas zu Boden, wobei es sich, wie Trefor vermutete, nur um Regen aus der Oberwelt handeln konnte. Es kam ihm so vor, als befände er sich schon eine halbe Ewigkeit hier unten. Da hier keine Sonne schien, anhand derer er den Lauf der Zeit verfolgen konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich nach den Zyklen von Müdigkeit und Ruhe, Hunger und Sättigung zu richten. Und seinem Verlangen nach Morag, das nie gestillt wurde. Wenn sie irgendwo in der Nähe war, hielt sie sich von ihm fern. Oder die Feen hielten sie von ihm fern. Aber sie war eine von ihnen. In gewisser Weise zu‐ mindest, aber sie schien sich ihnen zugehörig genug zu fühlen, um mit ihnen unter einer Decke zu stecken, was sich, wie ihm allmählich dämmerte, nicht unbedingt zu seinem Vorteil erweisen mochte. Nachdenklich betrachtete er das Loch in der Decke, das er, seit er vor wer weiß wie vielen Monaten ‐ oder Jahren oder Jahrhunderten ‐ in die Tiefe gestürzt war, zum ersten Mal wieder sah. Er kannte das Feenvolk gut genug, um zu wissen, dass Zeit keine Bedeutung für sie hatte und dass er, falls es ihm gelang, sich durch diese Öffnung zu zwängen, nicht ahnen konnte, ob er dort oben auf Dinosaurier oder Raumschiffe stieß. Diese Erkenntnis bremste seinen Fluchtdrang ein wenig. Trotzdem stand er auf und starrte nach oben; unfähig, den Blick von dem Lichtkreis abzuwenden. Er war erst vor einem Moment ‐ oder der Zeitspanne, die er für einen Moment hielt ‐ sichtbar geworden und schien ihn jetzt zu verhöhnen, als wäre er schon immer da gewesen und mit ihm, Trefor, müsse etwas nicht stimmen, weil er ihn nicht schon früher bemerkt hatte. Obwohl er danach Ausschau gehalten, geradezu verzweifelt danach gesucht hatte. Die ganze verdammte Feenhöhle hatte er Tag für 4
Tag nach einer Fluchtmöglichkeit abgesucht. Und da war sie, zudem rankten sich in den Wänden und der Decke genug knorrige, gewundene Baumwurzeln entlang, an denen er hochklettern konnte. Wenn er den Mut dazu aufbrachte. Brochan kam herein, sprang über Wurzeln und Erdanhäufungen hinweg und zwinkerte ihm verschmitzt zu. »Betest du, mein Freund?«, krähte er fröhlich. Mit seinem zottigen Haar und der zerlumpten Tunika glich er in keinster Weise dem, der er war ‐ dem König dieses unterirdischen Reiches. Trefor nahm an, dass dies für die meisten irischen Vasallenkönige galt, aber er wusste, dass Brochan und sein Volk ihren Ursprung fast bis in prähistorische Zeiten zurückverfolgen konnten. Er fixierte Brochan mit einem kalten Blick und fragte zum tausendsten ‐ oder millionsten ‐ Mal: »Wo ist Morag?« Obwohl er ungefähr ein Dutzend Sprachen, darunter mittelalterliches Gälisch und Mittelenglisch fließend beherrschte, bediente er sich des modernen Englisch, weil er wusste, dass dies den kleinen Feenmann ärgerte. »Sie wird kommen, wenn du bereit bist.« Diese Antwort gab Brochan immer. »Und wenn sie selbst bereit ist.« Auch das sagte er jedes Mal. Trefor kratzte an einem Insektenstich an seinem Schenkel herum und zupfte dann an der Tunika, die man ihm gegeben hatte. Sie war zu kurz, und er trug keine Hose darunter, also musste er ständig darauf achten, dass gewisse Teile seines Körpers bedeckt waren ‐ dabei kam er sich vor, als würde er in einem Krankenhaushemd stecken. Einem schmutzigen, aus rauem, schlecht gewebtem Leinen gefertigten noch dazu, das ekelhaft kratzte. »Und wann werde ich deiner Meinung nach bereit sein?« »Jetzt. Ich weiß nicht, wo deine Freundin steckt. Sie sollte eigentlich hier sein.« Er blickte sich um, tat so, als suche er 5
nach Morag. »Aber ich denke, du wirst auch ohne sie von hier fortgehen wollen.« Es dauerte einen Moment, bis die Worte in Trefors Bewusstsein einsickerten, und als er den Sinn vollständig erfasst hatte, überkam ihn ein leichtes Schwindelgefühl. Das war einfach zu schön, um wahr zu sein. »Fortgehen? Ich bin hier fertig?« »Prinz Trefor von den Brochan ist bereit, der Welt wieder entgegenzutreten. Wenn er den Wunsch dazu verspürt.« »Kein Training mehr? Kein Beschwören der maucht, keine Gespräche mit den Baumgeistern?« »Bist du jetzt enttäuscht?« Wohl kaum. All dieser Unsinn langweilte ihn zu Tode. Aber er hatte willig gelernt, weil er gehofft hatte, eines Tages wieder freigelassen zu werden. Er hegte keine sonderliche Liebe für die kleinen Leute, mit Ausnahme von Morag, in deren Adern mehr menschliches als Feenblut floss. Und ihm lag nichts an den Künsten der Magie, weil er immer einen hohen Preis zahlen musste, wenn er sie ausübte. Obwohl ihn seine spitzen Ohren als teilweisen Abkömmling der Feen auswiesen und seine Mutter entfernt von den Tuatha De Danann abstammte, floss das Blut dieses Volkes nur dünn in ihm, und er war im Tennessee des 21. Jahrhunderts aufgewachsen, weit weg von diesen durchgeknallten Bhrochan, die ihn »Prinz« titulierten. Was immer diese Anrede auch bedeuten mochte. Für ihn hieß es, dass das, was er hier gelernt hatte, ihm das Leben etwas leichter machte. Die Magie war ihm kein solches Mysterium mehr wie früher, und die psychotischen Kobolde, in deren Gewalt er sich befand, konnten ihm immer seltener unliebsame Überraschungen bereiten. Also hatte er seine Zeit hier nicht komplett verschwendet. Auch die Kopfschmerzen stellten sich nicht mehr ein, und es kostete ihn weniger Kraft und Qualen als früher, sich der magischen Mächte zu bedienen. »Ich werde mein altes Leben wieder aufnehmen, wenn du mich nicht mehr brauchst.«
5 »Ich habe dich nie gebraucht. Morag wollte, dass wir dich bei uns aufnehmen.« »Wo ist sie denn? Was geht hier eigentlich vor?« »Willst du das wirklich wissen? Interessiert es dich, was sie mit dir vorhat?« Trefor zögerte mit der Antwort. Er hatte sich daran gewöhnt, dass Brochan in Rätseln sprach, wusste aber, dass mehr dahintersteckte als nur wirres Gerede. Der Feenmann versuchte ihm etwas mitzuteilen, und er täte wahrscheinlich gut daran, herauszufinden, was das war. »Es interessiert mich allerdings«, gab er zu. Morag hatte ihn hierhergelockt, hatte ihn so weit wie möglich von Tennessee und dem 21. Jahrhundert fortgelotst und ihn dann auf Gnade und Barmherzigkeit diesem verrückten Feenkönig ausgeliefert, der ein entfernter Verwandter von ihr war. Einst hatte er gedacht, er würde
sie lieben, aber in den letzten Monaten waren ihm Zweifel an seinen ‐ und ihren ‐ Gefühlen gekommen. Würde ihr wirklich etwas an ihm liegen, wäre sie jetzt hier. Brochan hakte die Daumen in seinen Gürtel und setzte sich auf eine von vielen Feenhinterteilen blank polierte bequeme Baumwurzel. »Hast du viel darüber nachgedacht, wo sie wohl sein könnte?« »Yeah«, knurrte Trefor. »Es hat dir zu denken gegeben, dass sie sich nicht hat blicken lassen, nicht wahr?« »Allerdings.« »Glaubst du, sie hat sich von dir abgewandt?« »Ich weiß es nicht.« »Meinst du, sie hat dich aus einem bestimmten Grund hierhergebracht?« »Das behauptest du doch andauernd. Seit Monaten redest du mir ein, ich sei dazu bestimmt, der Prinz eures Reiches zu werden.« Er blickte sich naserümpfend um und wusste mit
6 einem Mal mit Sicherheit, dass er mit diesem feuchten Erdloch und seinen Bewohnern nichts mehr zu schaffen haben wollte. »Ich soll anwenden, was ich hier gelernt habe, und irgendeine Mission übernehmen. Ist dieser ganze Unsinn auf Morags Mist gewachsen?« »Dieser Unsinn, wie du dich auszudrücken beliebst, ist dein Schicksal. Du bist dazu ausersehen, gewisse Dinge zu vollbringen, und wir haben dir zu den notwendigen Voraussetzungen verholfen. Was würde es uns nutzen, dich ohne das nötige Wissen als Rüstzeug in den Kampf zu schicken? Du könntest ihn niemals gewinnen.« »Kampf?« »Ja. Darauf läuft es letztendlich hinaus. Ich sehe Bedenken in deinen Augen aufblitzen. Hast du etwa Angst?« Trefor zwinkerte, dann schloss er die Augen, damit dieser unheimliche Geselle, der ohnehin immer viel zu viel zu wissen schien, nicht darin lesen konnte. »Nein. Ich fürchte mich vor gar nichts.« Zumindest seit langer Zeit nicht mehr. Schon als Kind hatte er jegliches Gefühl von Sicherheit verloren, und da er sonst nicht mehr viel zu verlieren hatte, gab es auch kaum noch etwas, wovor er wirklich Angst hatte. Morag zu verlieren war diesem Gefühl einmal sehr nahe gekommen, aber auch in diesem Punkt war er sich nicht mehr sicher. Er schlug die Augen auf und sah Brochan fest an. »Dann verrate mir doch, was mir die Zukunft bringen wird. Wie sieht mein Schicksal aus?« Der kleine Mann lachte; ein schrilles, koboldhaftes Kichern, das Trefor durch Mark und Bein ging. »Wenn ich dir das enthüllen würde, könnte es nicht mehr so eintreffen. Das Schicksal verlangt es, dass du am eigenen Leibe erfährst, was geschehen wird.« »Spielst du auf meinen freien Willen an?« »So frei ist dein Wille nicht.« 6
»Aber das ergibt doch keinen Sinn.« »Das wird es. Glaub mir, das wird es.« Trefor schnaubte abfällig, blickte sich abermals in der Höhle um und verlagerte sein Gewicht ungeduldig von einem Bein auf das andere. »Okay, wie wäre es dann mit einer kleinen Andeutung? Wenn ich aus diesem Loch herausklettere, wo finde ich mich dann wieder? Welche Richtung muss ich einschlagen? Ist mein Vater noch irgendwo dort draußen, oder ist er inzwischen an Altersschwäche gestorben? Vielleicht schon lange zu Staub zerfallen?« Brochan lachte erneut auf. »Nein, die Zeit ist für dich nicht so schnell verflogen, wie es der Fall hätte sein können, denn du gehörst nicht nur zu den Danann, sondern bist auch noch in die Geheimnisse der kleinen Leute eingeweiht. Alasdair An Dubhar ist noch dort oben.« Er hob warnend einen Finger. »Aber nicht so nah, wie du denkst.« »Er ist also nicht gealtert?« Viel wichtiger noch ‐ war seine Mutter gealtert? Als er seine Eltern, die ihn nicht selbst großgezogen hatten, zum ersten Mal gesehen hatte, waren sie noch nicht einmal fünf Jahre älter als er selbst gewesen, und seine Mutter hatte ihn deswegen strikt abgelehnt und nichts mit ihm zu schaffen haben wollen. Der Schmerz über diese Zurückweisung fraß immer noch mit glühenden Zähnen an ihm und hielt ihn manchmal nachts wach. Auch das hatte er Feen zu verdanken, denn die Bhrochan hatten ihn als Kind verschleppt und erst vor einiger Zeit in dieses Jahrhundert gebracht ‐ ungefähr drei Jahrzehnte zu früh, wie sich herausgestellt hatte. »Sie sind beide nicht mehr gealtert als du, junger Trefor.« Das war eine herbe Enttäuschung für ihn. »Und was erwartet ihr von mir, wenn ich euch verlasse? Ich kann mir nicht vorstellen, dass du mir all deine magischen Tricks nur so zum Spaß beigebracht hast.« »Och, weshalb denn sonst? Wenn du noch nicht gemerkt
7 hast, dass wir alles, was wir tun, nur aus Spaß tun, dann kennst du mich immer noch nicht sehr gut.« »Du verfolgst ein bestimmtes Ziel, hast deine ganz eigenen Pläne, also mach mir nicht weis, dass du nicht aus purer Berechnung handelst.« Brochan kicherte erneut in sich hinein, ehe er feststellte: »Wärst du mein Sohn, könnte ich nicht stolzer auf dich sein, mein junger Freund, auch wenn du zu den Danann gehörst. Aye, ich muss gestehen, dass ich einen Wunsch hege. Und alles, was ich zu diesem Thema zu sagen habe, ist Folgendes: Mach dich auf die Suche nach König Dagda Mor von den Tuatha De Danann.« »Und was dann?« »Das wirst du schon sehen, junger Freund.« »Kein kleiner Hinweis?« »Ich habe dir schon zu viel verraten.« »Du hast mir überhaupt nichts gesagt.« »Finde den König, dann wird sich der Nebel lichten.« »Und wenn ich beschließe, ihn gar nicht erst zu suchen?« In Brochans Augen begann ein tückischer Funke zu tanzen. »So etwas wie freien Willen gibt es nicht, Trefor MacNeil. Nicht wirklich. Du kannst dich nicht weigern, ihn zu suchen. Es ist dir vorherbestimmt.« »Wart's nur ab!« »Och, aye, das werde ich. Ich kann es kaum erwarten.« Trefor presste die Lippen zusammen. »Na schön. Was schert mich das?« Wieder blickte er zu dem Loch hoch. Höchste Zeit, von hier zu verschwinden ‐ je eher, desto besser. Seine Hand schloss sich um eine dicke Baumwurzel. »Man sieht sich.« Brochan winkte ihm zu. »Hasta la vista, Baby.« Trefor starrte den Feenmann mit gerunzelter Stirn an. Wieder einmal wunderte er sich darüber, dass diese Geschöpfe überhaupt keinen Sinn für Zeit zu haben schienen, obwohl er 7
sich mittlerweile daran gewöhnt haben sollte. Dann schickte er sich langsam an, das Feenreich zu verlassen und in die reale Welt zurückzukehren, die sich, wenn er Brochan Glauben schenken durfte, während seiner Abwesenheit kaum verändert hatte. Aber nur ein hirnloser Idiot würde sich auf das Wort dieses durchgedrehten Spinners verlassen. Alex lag neben Lindsay und sann einmal mehr darüber nach, wieso es ihm so leichtfiel, den Reizen anderer Frauen zu widerstehen. Nun ja, leicht nicht unbedingt, aber der Mühe wert. Die Antwort lag auf der Hand. Er war ganz einfach vernarrt in seine Frau und musste sich auch nach zweijähriger Ehe noch von James Douglas und Hector MacNeil spöttische Bemerkungen über Männer anhören, die dumm genug waren, einer Frau ihr ganzes Herz zu schenken. Keiner der beiden würde sich je zu so einer Narretei hinreißen lassen. Aber ihre Meinung zu diesem Thema kümmerte Alex wenig. Die beiden kannten Lindsay eben nicht und würden nie begreifen, welche Erfüllung die Verbindung mit einer starken Frau einem Mann bringen konnte. Als Angehörige dieser mittelalterlichen Kultur, in der die gesellschaftliche Stellung alles galt und Liebe als zweitrangig abgetan wurde, hatten sich vermutlich weder James noch Hector je im Leben ernsthaft verliebt. Eigentlich konnten sie ihm leidtun. Sie wussten ja nicht, was ihnen da entging. Obwohl im Kamin ein helles Feuer prasselte, begann er zu frösteln und zog die warme Daunendecke über sich und seine Frau. Die neu angefachten Flammen verbreiteten zwar eine zaghafte Wärme im Raum, aber die Burg war zugig, und die kühle Frühlingsluft strich über seine Haut. Obwohl er von seiner Reise ‐ ganz zu schweigen von der Begrüßung, die ihm soeben zuteil geworden war ‐ erschöpft war, rollte er sich nicht auf die 7 Seite, um zu schlafen, sondern blieb mit Lindsay in den Armen still liegen, um ihre Atemzüge zu spüren. Das regelmäßige Heben und Senken ihrer Brüste übte eine seltsam beruhigende Wirkung auf ihn aus, die er während der vergangenen Wochen vermisst hatte. Normalerweise hätte sie ihn begleitet, um im Notfall an seiner Seite zu kämpfen, aber diese Reise nach Cruachan hatte nur dazu gedient, verwaltungstechnische Fragen zu klären, und sie war auf Eilean Aonarach gebraucht worden, um die Ritter zu beaufsichtigen, die er zum Schutz der Burg auf der Insel zurückgelassen hatte. Es war
das erste Mal gewesen, dass sie die Truppen ohne Sir Henry Eliot an ihrer Seite befehligt hatte, und er war gespannt, wie sie diese Aufgabe bewältigt hatte. Doch die Wärme ihres Körpers und der Rhythmus ihres Atems lullten ihn ein, und seine Lider wurden schwer. Gerade als er eindöste, schlüpfte Lindsay unter der Decke hervor, zog einen Schlafrock an und ging in die Vorkammer, um sich um ihr Frühstück zu kümmern. Wie aus weiter Ferne vernahm Alex das leise Gemurmel ihrer Zofe, die ihr mitteilte, das Fleisch sei fast gar und die Burgbewohner würden sich gleich in der über den Gemächern des Lairds gelegenen großen Halle einfinden. Der Herr könne dort speisen oder sich eine Mahlzeit in seine Kammer bringen lassen, wenn ihm das lieber sei. Lindsay hob die Stimme, um die Frage weiterzugeben. »Was meinst du, Alex? Glaubst du, deine Höflinge lechzen jetzt schon nach der Gesellschaft ihres Earls?« »Nein«, erwiderte Alex schläfrig. »Lass mir mein Frühstück hier servieren und den anderen ausrichten, ich wäre vollauf damit beschäftigt, meine Frau durch meine Schlafkammer zu jagen. Das dürfte ihnen mehr Vergnügen bereiten, als mir beim Essen zuzusehen.« Lindsay kicherte leise, dann trug sie der Zofe auf, ihnen Fleisch und Brot zu holen, kehrte in die Kammer zurück und schürte das Feuer erneut. Tätigkeiten wie diese gehörten eigent 8 lieh zu den Pflichten der Dienerschaft, aber das hätte bedeutet, auf ihre Privatsphäre zu verzichten und den Dienern Zugang zu ihren Räumen zu gewähren, also erledigten sie derlei Dinge lieber selbst. Die Einheimischen, vor allem jene, die auf diesen so fern vom Festland gelegenen Inseln lebten, sowie die Angehörigen der schottischen Oberklasse rümpften über diese Einstellung die Nase; sie lehnten alles ab, was ihnen neu und fremd war. In der Burg wurde viel darüber getuschelt, dass der Earl und seine Gräfin von ihren Dienstboten verlangten, in der Vorkammer zu schlafen, anzuklopfen, bevor sie ihr Schlafgemach betraten, und den Raum nur zu säubern, wenn sich niemand darin aufhielt. »Merkwürdige Sitten«, raunten sie einander zu. »Nun ja, sie stammen ja aus Ungarn. Ich würde um nichts in der Welt in den östlichen Bergen leben wollen, da wäre es mir viel zu einsam, und man wird schrullig und sonderbar.« Alex wusste, dass sie noch viel entsetzter wären, wenn sie die Wahrheit über seine Herkunft wüssten: dass er und Lindsay aus dem 21. Jahrhundert kamen. Als US‐Jagdbomberpilot hatte er einst über genug Feuerkraft verfügt, um jeden Bauernhof auf dieser Insel innerhalb weniger Minuten in Schutt und Asche zu legen, und in die Nähe der »östlichen Berge« war er nur im Rahmen von Patrouilleflügen über den Kosovo gekommen, wo er nach Abschussrampen für Boden‐Luft‐Lenkwaffen gesucht hatte. Er rollte sich auf die Seite und beobachtete Lindsay, die mit dem Schürhaken im Feuer herumstocherte. Sie bewegte sich so anmutig und geschmeidig wie ein Panter, und er wusste, dass sie für ihre Feinde eine ebenso tödliche Gefahr darstellte wie diese große Raubkatze. Dieses Wissen erregte ihn auf eine Weise, die er nie zuvor für möglich gehalten hatte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Lindsay einen Mann in einem fairen Kampf besiegt und ihm die Genitalien abgeschnitten, noch ehe er tot war ‐ eine einerseits in ihrer Kaltblütigkeit abstoßende Tat,
8 aber wenn Alex eingehend darüber nachdachte, kam er stets zu dem Schluss, dass eine Frau, mit der er sein Leben teilen wollte, genau so und nicht anders sein sollte, und er war stolz darauf, ihr Mann zu sein. Sogar jetzt flammte sein Verlangen nach ihr erneut auf, obwohl er zu nichts anderem mehr fähig war, als sich an ihrem Anblick zu weiden. »Warum hast du dir etwas übergezogen?« »Das weißt du ganz genau.« Er blickte vielsagend zur Vorkammer hinüber. »Ihnen ist das egal.« »Aber mir nicht. Außerdem ist es kalt.« »Dann komm her und lass dich aufwärmen.« Er hob einladend die Bettdecke, ließ sie aber wieder sinken, als Lindsay sich lediglich zu ihm auf die Kante der Matratze setzte. »Glaubst du, wir werden diesen Sommer im Grenzgebiet benötigt?«, fragte sie. »Ich denke, wir müssen mit einem Ruf zu den Waffen rechnen: Entweder werden wir zu Douglas an die Grenze befohlen, oder wir stoßen zu Robert in Irland. Wenn ich die Wahl hätte, ginge ich lieber nach Irland. Robert hat mich schon entschieden zu lange nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ich möchte nicht, dass er vergisst, warum er mir einen Earlstitel verliehen hat.« »Er hat dich zum Earl ernannt, weil James Douglas dich mag. Der Himmel weiß, warum; du behandelst ihn, als wäre er mit einer ansteckenden Krankheit behaftet.«
Alex musterte sie aus schmalen Augen. Sie wusste genau, warum er Douglas nicht ausstehen konnte. Der Mann war ein unverbesserlicher Schürzenjäger, der entschieden zu viel Interesse an Lindsay zeigte. Schon bevor sie sich als Frau zu erkennen gegeben hatte, hatte James ihr allzu freundschaftli‐ che Gefühle entgegengebracht. Alex wollte ihn nicht in ihrer Nähe wissen. Da zog er es vor, sich Robert anzuschließen, der 9 zwar genauso lüstern war wie Douglas, aber Edelfrauen von höherem Rang und konventionellerer Schönheit als Lindsay bevorzugte. Bei Robert konnte Alex sicher sein, dass er seiner bürgerlichen ungarischen Ehefrau nicht nachstellen würde. Lindsay wartete auf eine Antwort von ihm, aber er schwieg beharrlich. Sie hatten schon häufiger über James Douglas gesprochen, folglich erübrigte sich eine weitere Diskussion. Sie wechselte das Thema. »Wie ist deine Reise verlaufen?« »Henry Eliot kommt jetzt gut zurecht. Du weißt ja, dass er hier meine rechte Hand war. Ich verliere ihn nur ungern, aber ich brauche auf Cruachan einen Verwalter, und er ist der Einzige, dem ich voll und ganz vertrauen kann.« Einen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen. Alex wusste, dass sie beide dasselbe dachten. Trefor hätte diesen Verwalterposten übernehmen sollen. Endlich fragte Alex: »Hast du Nachricht von dem Jungen?« »Ein Junge ist er nun wirklich nicht mehr.« »Das sollte er aber sein. Ein Baby.« Alex versuchte ohne Erfolg, die Bitterkeit, die sich in seine Stimme geschlichen hatte, durch ein Hüsteln zu vertuschen. »Wenn ich richtig rechne, sollte er jetzt sechs oder sieben Monate alt sein, gestillt werden und Windeln tragen.« »In diesem Fall wäre er dir auf Cruachan keine große Hilfe.« Lindsay strich ihm eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. Alex ließ sich mit einem undefinierbaren Grunzen in die Kissen zurücksinken, dann blickte er forschend zu ihr auf. Als sie die Frage in seinen Augen las, die er ihr jeden Monat wortlos stellte, schüttelte sie langsam den Kopf. »Nein. Nichts.« Kein Anzeichen für eine weitere Schwangerschaft, obwohl sie schon seit letztem Sommer versuchten, noch ein Kind zu bekommen. Er grunzte erneut und blickte an ihr vorbei zum Fenster hi 9 nüber. »Ich dachte, er wäre ganz wild darauf, es hier zu etwas zu bringen. Er wollte doch unbedingt ein Mitglied meines Gefolges werden, sich als mein Vetter ausgeben und mich dazu bewegen, ihm die Verantwortung für Cruachan zu übertragen. Wo steckt er denn nur?« »Das fragen sich seine Männer auch.« »Haben schon welche von ihnen Eilean Aonarach verlassen, um sich nach saftigeren Weiden und einem weniger unberechenbaren Herrn umzusehen?« »Er könnte tot sein, Alex. Wir haben keine Ahnung, was mit ihm passiert ist.« Aus irgendeinem Grund traf Alex dieser Gedanke wie ein glühender Pfeil ins Herz; so, als hätte er Trefors gesamte siebenundzwanzig Lebensjahre miterlebt und ihn großgezogen, wie er es getan hätte, wenn sein Sohn nicht aus seiner Wiege entführt worden wäre. »Er ist nicht tot!« Lindsay erwiderte nichts darauf, und Alex fragte sich, ob sie Trefors Schicksal wirklich völlig kalt ließ. »Wie dem auch sei, Sir Henry wird sich auf Cruachan bewähren, und du wirst einen neuen Stellvertreter finden«, sagte sie schließlich. »Wie wäre es mit mir?« »Du weißt, dass das nicht möglich ist.« »Ich weiß nichts dergleichen.« »Sieh der Wahrheit ins Auge, Lin. Die Männer dulden deine Anwesenheit auf einem Schlachtfeld nur äußerst widerwillig. Sie würden im Kampf niemals Befehle von dir entgegennehmen.« Ihre Züge verhärteten sich, was bedeutete, dass er mit Argumenten nicht mehr zu ihr durchdrang. Es war sinnlos, dieses Gespräch fortzuführen, das wusste sie, trotzdem ließ sie nicht locker. »Während des letzten Monats haben sie meine Anweisungen widerspruchslos befolgt.« »Ist die Burg angegriffen worden?« 9 »Nein, das sagte ich doch schon.«
»Dann hast du deine Feuerprobe noch nicht bestanden. Für diese Burschen zählt nichts außer Kämpfen.« »Sie wissen, dass ich Eliot während des MacLeod‐Breton‐Aufstands Befehle erteilt habe, und sie akzeptieren das.« Alex setzte sich auf und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Ja, aber nur, weil keine Fehler gemacht wurden. Außerdem gehen sie davon aus, dass nur deshalb keine Fehler gemacht wurden, weil Eliot dabei war. Und da kein Mensch hundertprozentig perfekt ist, auch du nicht, brauchst du im Umgang mit den Männern einen Mittelsmann. Ich kann dich nicht zu meinem Stellvertreter machen. Du kannst kämpfen, aber du kannst die Männer nicht anführen, weil sie dir nicht gehorchen würden. Also vergiss es.« »Es ist erniedrigend, hinter den Knappen reiten zu müssen!« Er musste kichern, denn sie klang genauso wie die anderen Ritter, die lieber gestorben wären, als in einer Schlacht ganz hinten zu kämpfen. Sie hatte mit den Männern mehr gemeinsam, als sie dachte. »So läuft das nun mal hier, das weißt du. Ich kann nichts daran ändern.« »Würdest du das denn, wenn du es könntest?« Alex zwinkerte verwirrt, während er überlegte, was diese Bemerkung zu bedeuten hatte. »Bildest du dir ein, ich hätte Angst vor dir? Und würde dir keine Verantwortung übertragen, weil ich dich als Rivalen fürchte? Meinst du im Ernst, ich wolle dich deshalb ans Haus fesseln?« Ihre Antwort bestand in einem finsteren Stirnrunzeln, was er als »Ja« wertete. »Denk nach, Lindsay!« Er hob den Kopf und sah sie eindringlich an. »Denk nur einen Moment lang eingehend über unser Leben nach. In dieser Zeit, dieser Kultur hängt deine Position einzig und allein von der meinen ab. Solange ich lebe, kannst 10 du meinen Platz nicht einnehmen. Warum sollte ich dir dann absichtlich Steine in den Weg legen?« Ihre Augen verdunkelten sich vor Zorn. Sie hasste ihre untergeordnete Stellung, das wusste er, aber er wünschte, sie würde sich endlich in ihr Schicksal fügen. Keiner von ihnen konnte die Zeit ändern, in der sie lebten, und sie konnten dieser Zeit auch nicht entfliehen. Nicht mehr. »Du nimmst mich genauso wenig ernst wie deine Männer.« »Ich weiß immer noch nicht, warum du unbedingt kämpfen willst.« »Das haben wir doch oft genug diskutiert. Du weißt, warum. Ich will aus demselben Grund kämpfen, aus dem du es tust.« »Es ist mein Job, und ich bin gut darin.« »Ich auch.« »Aber Kämpfen ist nicht dein Job. Deine Aufgabe besteht darin, dich um die Burg zu kümmern.« Er schielte zu ihrem Bauch und wandte den Blick sofort wieder ab, aber es war zu spät, um zu leugnen, dass ihm beinahe entschlüpft wäre, es gehöre auch zu ihren Aufgaben, Kinder in die Welt zu setzen. Was hier zugegebenermaßen schwieriger und gefährlicher war als im 21. Jahrhundert, in dem Trefor geboren worden war. Er stellte sich oft vor, wie Lindsay im Sattel eines Schiachtrosses saß und ihr Schwert schwang, während sich unter ihrem Kettenhemd ein Babybauch vorwölbte ‐ ein Bild, das ihn abstieß. Außerdem würde sie unter diesen Umständen jedes Kind, das sie vielleicht empfing, sofort wieder verlieren, ohne überhaupt zu merken, dass sie schwanger gewesen war. Lindsays Zorn schlug ihm nun in fast greifbaren Wellen entgegen. Sie erhob sich und nahm auf dem Stuhl Platz. »Hör auf, mich so zu behandeln, wie An Reubair es getan hat.« Jetzt war es an ihm, wütend zu werden. »Ich dulde es nicht, dass sein Name in diesem Haus laut ausgesprochen wird.« Burg. Dies hier war seine Burg. 10
Sie sah ihn von der Seite an. »Er wollte auch unbedingt, dass ich ihn heirate und ihm Kinder schenke. Genau wie du.« »Ich sagte doch, ich will nichts mehr hören!« »Natürlich nicht. Du willst nie etwas hören, was dich ärgert oder ein schlechtes Licht auf dich wirft. Jeder soll nur den Ruhm des großen Kriegers Alasdair An Dubhar MacNeil verbreiten. Und wehe dem, der es wagt, auch nur ansatzweise Kritik zu äußern.« In dem Bemühen, so zu tun, als berührten ihre Worte ihn überhaupt nicht, widerstand er dem Drang, aus dem Bett zu springen, und unterdrückte seine aufflammende Wut. Die Hand auf seinem Knie ballte sich zur Faust, er grub die Nägel in seine Handfläche. »Ich will kein Wort mehr über diesen Da‐ nann‐Dreckskerl hören.« Seine Stimme verriet, was in ihm vorging, da war er sicher. Selbst er erkannte den ungebärdigen Zorn, der darin mitschwang.
Lindsay verstummte ‐ vermutlich, weil sie bezüglich des Feenritters nichts mehr zu sagen hatte. Das hoffte er zumindest. In ihren Adern floss auch Danann‐Blut, aber sie war mehr Mensch als Fee und hatte erst vor sechs Monaten von ihrer Abstammung erfahren. Er baute auf ihre Loyalität. An Reubair war ein arrogantes Schwein, ein Grenzräuber wie Douglas. Alex musste darauf vertrauen, dass Lindsay ihn durchschaute; ihn so sah, wie er wirklich war. Aber es fiel ihm zunehmend schwerer, dieses Vertrauen aufzubringen. 11
ZWEITES KAPITEL
Es war März, der Winter begann dem Frühling zu weichen, und das Wetter wurde milder. Die Arbeiten am Badehaus hatten kurz vor Alex' Abreise begonnen, und heute verbrachte er den Tag damit, die Fortschritte zu überwachen. Insgeheim hielt er die Annehmlichkeiten einer solchen Einrichtung die Kosten und den Aufwand nicht wert. Wozu gab es schließlich Dienstboten, die die kleine Eisenwanne füllten und leerten, die in seiner Kammer stand und von ihm und Lindsay benutzt wurde? Aber ihm gefiel die Vorstellung, eine Wanne sein Eigen zu nennen, die ihnen beiden zugleich Platz bot. Schon die kleine Eisenwanne hatte Unsummen von Materialkosten verschlungen, ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten, die es ihm bereitet hatte, dem Dorfschmied zu erklären, wie er sie anfertigen sollte. Eine größere kam nicht infrage. Die neue Holzkonstruktion war immer noch der beste Ersatz für einen Whirlpool daheim in den Staaten. Alex hatte eine Ecke der großen Halle als Platz dafür ausgewählt und ließ die Arbeiter nun eine Höhle in das natürliche Felsgestein meißeln, das diese Mauer bildete. Hier waren derartige Bauarbeiten nicht mit Maschinenlärm, Staub und Geröll verbunden. Die Meißel klickten leise, während die Männer unendlich langsam, wie es Alex vorkam, das harte Gestein aushöhlten. Ab und an trug einer der Arbeiter einen Eimer mit Steinen zum Dorf vor den Toren der Burg hinunter, wo der Schutt weiter zermahlen und als Schotter benutzt 11 wurde. Alex' Vasallen hatten für alles Verwendung. Gegen Mittag klaffte lediglich eine kleine Lücke in der Wand. Es würde ewig dauern, bis das Badehaus fertig war. Die Wanne sollte nicht übermäßig groß werden, musste aber unter den Zisternen auf dem Dach der Halle gebaut werden. Zwar wusste Alex, wie er Wasser herbeileiten und erhitzen konnte, aber es würde sich als äußerst schwierig erweisen, die notwendigen Materialien und Werkzeuge zu beschaffen. In diesen Zeiten verfügten nur Angehörige des Königshauses über fließendes Wasser, und er war nichts als ein kleiner Earl, der auf einer Insel am Ende der Welt lebte. Schon das Abwasserrohr, das er letzten Herbst durch das untere Außenwerk hatte legen lassen, war nahezu unerschwinglich gewesen. Die Ausgabe hatte sich aber gelohnt, jetzt dampfte keine mit menschlichen Exkrementen gefüllte Kloake mehr direkt unter seinem Schlafkammerfenster, aber das Rohr, das per Schiff aus Glasgow herbeigeschafft worden war, sowie der Lohn für die Arbeiter hatten ihn fast sein gesamtes Vermögen gekostet. Dieses Badehaus würde ihn ähnlich teuer zu stehen kommen und war darüber hinaus längst nicht so dringend notwendig, aber er hatte den Bau trotzdem in Auftrag gegeben, um Lindsay eine Freude zu machen. Die Arbeit weckte auch das Interesse anderer Burgbewohner und der Dienstboten, die mit ihren Tätigkeiten innehielten und den Steinmetzen neugierig über die Schulter schauten. Die meisten konnten sich nicht vorstellen, wie ein Badehaus aussehen sollte. Ertappte Alex jemanden beim Trödeln, erinnerte er den Betreffenden mit einem scharfen Blick daran, dass er Besseres zu tun hatte, als hier herumzustehen und Maulaffen feilzuhalten wie ein Gaffer bei einem Autounfall. Nur Vater Patrick lehnte sich mit vor dem Bauch gefalteten Händen müßig in dem gepolsterten Stuhl zurück, den er sich vom Kopfende der Tafel herangezogen hatte, streckte die Bei 11 ne aus und schlug die Knöchel übereinander. Seine sich ständig krümmenden und streckenden bloßen, schmutzigen Zehen zeugten von nur mühsam unterdrückter Energie. Patrick war noch sehr jung, kaum Anfang zwanzig, und Alex wunderte sich immer wieder darüber, wie sich ein so junger Mann dermaßen mit Leib und Seele der Kirche verschreiben konnte, dass er beschloss, Priester zu werden. Und er war, soweit Alex das beurteilen konnte, ein sehr guter Priester. Manche Männer übten das Priesteramt lediglich aus, weil sie nicht wussten, was sie sonst mit ihrem Leben anfangen sollten, aber bei Patrick handelte es sich wohl um eine echte Berufung. Überdies war er ein hervorragender und begeisterter Kämpfer, und es war Alex ein ewiges Rätsel, wo der Priester gelernt hatte, ein
Schwert genauso geschickt zu handhaben wie er selbst ‐ wenn nicht noch besser, denn Alex hatte eine solche Waffe bis vor drei Jahren noch nie in der Hand gehabt. Wenn Patrick nicht mehr religiösen Eifer gezeigt hätte als die meisten anderen Priester nördlich des Kanals, hätte Alex ihn für einen Ritter gehalten, der sich als Geistlicher ausgab. »Habt Ihr so etwas schon ein Mal gesehen?«, wandte er sich an den jungen Mann. »Ein Loch in einer Felswand? Aye, und zwar mehr als einmal.« Der Priester grinste spitzbübisch. Alex schnaubte unwillig. »Ich meine ein Badehaus. Habt Ihr schon mal ein Badehaus gesehen?« »Nein. Aber ich habe während meines Studiums in Frankreich von einem gehört. Ich hätte es mir ja gerne angesehen, aber der Besuch dort hätte meine damaligen Mittel überstiegen.« Sein Ton ließ durchblicken, dass er Alex' Vorhaben gleichfalls als unerhörten Luxus betrachtete. Alex nahm an, dass genau dies Patricks Neugier geweckt hatte. Er wollte herausbringen, warum so viel Geld für etwas so Überflüssiges ausgegeben wurde, und es würde schwierig 12 werden, ihm das klarzumachen. Das einzige Alex bekannte mittelenglische Wort, das dem Begriff »Hygiene« nahekam, war »Reinlichkeit«. Er versuchte sich so einfach wie möglich auszudrücken. »Es ist gut für die Gesundheit, wenn man sich sauber hält.« »Das geht auch mit Waschschüssel und Wasserkrug, denke ich, und ist entschieden billiger. Außerdem gibt es Flüsse und Seen, in denen man baden kann.« »Aber in meinem Badehaus wird das Wasser erhitzt«, trumpfte Alex auf. Patricks Augen wurden groß. »Warmes Wasser, sagt Ihr? Eine noch schändlichere Verschwendung. Und ungesund dazu. Sich mit heißem Wasser zu waschen schwächt die Kräfte eines Mannes. Gott wird Euch zweifellos dafür zur Rechenschaft ziehen.« Keine Spur von Humor schwang in seiner Stimme mit. Er meinte seine Worte eindeutig ernst, und er machte aus seiner Verärgerung kein Hehl. »Und Euch werden die Mittel für andere, dringender notwendige Anschaffungen fehlen.« »Spare in der Zeit, so hast du in der Not, meint Ihr?« »So ist es.« Patrick pflegte in Alex' Gegenwart kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Zwar äußerte er sich weniger freimütig als die Lehnsleute auf der Insel ‐ einfache schottische Bauern, die sich weder untereinander noch ihrem Laird gegenüber scheuten, ihre Meinung zu sagen ‐, aber er sprach wesentlich offener als die Ritter in der Burg, bei denen es sich zum größten Teil um wortkarge, verschlossene Edelleute zumeist normannischer Abstammung handelte. Der Earl hörte sich die Ansichten des Priesters ruhig an, ging aber nicht weiter darauf ein. Patrick war der geistliche Hirte seiner Herde, nicht Alex' Finanzberater. Aber der Priester hatte sich in Fahrt geredet. »Da wir gerade beim Thema Verschwendung sind ... ist Euch klar, dass Ihr dadurch, dass Ihr Euren Unrat ungenutzt abfließen lasst, statt ihn zu sammeln, Eure Lehnsleute ermuntert, ihn zu stehlen?« 12 Alex runzelte verständnislos die Stirn. »Stehlen? Unrat?« »Ich spreche von Euren neuen Rohren, die den Inhalt der Abtritte durch das Außen werk ins Meer einleiten. Ihr nutzt ihn nicht selbst und führt so das Volk in Versuchung, ihn zu stehlen.« Alex hätte zu gern gewusst, warum jemand menschliche Exkremente stehlen sollte, bezwang sich aber und fragte stattdessen: »Vater, Ihr habt doch wohl nicht gerade ein Beichtgeheimnis verletzt?« Patricks Augen blitzten erbost und gekränkt auf. »Ganz sicher nicht! Ihr solltet Euch schämen, mir so etwas zuzutrauen! Der Diebstahl ist im ganzen Dorf bekannt, und ein paar Bauern, die von Zeit zu Zeit die Unratreste zusammenkratzen, die sich unterhalb der Rohröffnung auf dem Felsen am Kai ansammeln, sind deshalb schon in Streit geraten. Außerdem wurde die Frage aufgeworfen, ob man einen größeren Eimer unter dem Rohr aufstellen soll, wenn die Abtritte gereinigt werden. Einige be‐ trachten das ‐ im Gegensatz zum Sammeln der Reste ‐ als Diebstahl, andere nicht. Eure Dorfbewohner können sich in diesem Punkt nicht einig werden. Ihr tätet gut daran, diesem Zank ein Ende zu bereiten, bevor jemand ernsthaft zu Schaden kommt.« Alex rümpfte die Nase. Natürlich, Dünger. Er wusste, dass die Bauern menschliche Exkremente nutzten, um ihre Felder damit zu düngen, aber er wäre nie auf die Idee gekommen, sie könnten sich darum streiten oder das Sammeln dieses Düngers als Diebstahl ansehen. »Ich werde mit Donnchadh darüber sprechen. Er soll dafür sorgen, dass das Zeug an Putztagen gerecht unter den Leuten verteilt wird.« »Und Ihr werdet eine Gebühr dafür verlangen?«
»Nein. Keine Gebühr.« »Dafür werden sie Euch weder respektieren noch es Euch danken. Ihr solltet doch wissen, dass Eure Lehnsleute zu stolz sind, um Almosen anzunehmen.« Alex dachte einen Moment darüber nach, dann schüttelte 13 er nachdrücklich den Kopf. Ihm missfiel die Vorstellung, Menschen, die den Inhalt der Burgtoiletten entsorgten, auch noch Geld dafür abzunehmen, auch wenn ihnen dieses Düngemittel als äußert wertvoll erschien. »Nein. Der Dünger ist eine Belohnung für meine Vasallen, die dieses Jahr im Kampf gegen die MacDonalds von Cruachan und davor gegen die verräterischen Bretons so treu an meiner Seite gekämpft haben.« Patrick nickte. Er verstand, worauf Alex hinauswollte, und stimmte ihm zu. »Ihr seid wahrlich ein weiser Laird, dem das Seelenheil seiner Untertanen am Herzen liegt, denn obwohl Ihr deutlich unter Beweis gestellt habt, dass Euch an dem Unrat nichts liegt, betrachten sie ihr Vorgehen trotzdem als Diebstahl und somit als Sünde.« »Und trotzdem können sie der Versuchung, Scheiße zu sammeln, einfach nicht widerstehen?« »Würdet Ihr ein Schaf auf der Wiese vor den Burgmauern anbinden und es dort Wind und Wetter aussetzen, ohne damit zu rechnen, dass jemand kommt und es mit zu sich nach Hause nimmt? Oder Gold? Würdet Ihr einen Beutel mit Gold auf den Pfad fallen lassen, der durch das Dorf führt, und nicht erwarten, dass sich sofort jemand darauf stürzt?« »Die meisten würden einen solchen Beutel liegen lassen oder ihn in die Burg bringen, denn sie könnten sich ja denken, dass er mir gehört.« Und der Betreffende konnte sich überdies darauf verlassen, dass sich die Nachricht eines solchen Fundes wie ein Lauffeuer auf ganz Eilean Aonarach verbreiten würde. Auf einer nur von ein paar hundert Menschen bewohnten Insel ließ sich nichts geheim halten. »Es würde immer Leute geben, die versuchen würden, das Gold für sich zu behalten. Und die darum kämpfen würden.« »Ist das mein Problem?« »Aye, allerdings, denn Ihr seid der Laird dieser Menschen. Ihr Vorbild. Sie vertrauen Euch.« 13 Alex grunzte. Früher war er sich seiner Verantwortung durchaus bewusst gewesen, jetzt fragte er sich, warum er sich von dem Priester daran hatte erinnern lassen müssen. »Schon verstanden, Vater.« Die darauf folgende Stille wurde nur vom Klicken der Meißel unterbrochen. Endlich erkundigte sich Patrick: »Gibt es Neuigkeiten aus Irland?« Alex überlegte einen Moment, worauf der Priester hinauswollte, dann fiel ihm alles wieder ein. »Von Robert?« »Aye. Hat er die irischen Häuptlinge, die Edward von England die Treue halten, auf seine Seite ziehen können?« »Ich habe seit Juli nichts mehr von ihm gehört.« Er hatte dem irischen Feldzug des Königs auch kaum Beachtung geschenkt; allein Lindsay hatte damals seine Gedanken beherrscht, außerdem hatte er sich weit von Irland entfernt im Grenzgebiet aufgehalten. Erst jetzt fiel ihm auf, wie wenig er über Robert und das, was momentan in Irland geschah, eigentlich wusste. Lindsay, die über bessere Geschichtskenntnisse verfügte als er, hatte ihm erzählt, der Bruder des Königs würde dort in Kürze ums Leben kommen, und der Feldzug würde letztendlich mit einer Niederlage enden, aber sie konnte sich an keinerlei Einzelheiten erinnern. »Glaubt Ihr, dass er siegen wird?« Alex musterte den jungen Priester, der sich entspannt in seinem Stuhl zurückgelehnt hatte und aussah, als ob ihn das alles wenig berührte. Aber der Schein trog. Niemandem lag das Geschick seiner Mitmenschen so am Herzen wie Patrick. Zur Antwort hob er lediglich die Schultern. »Das werde ich herausfinden, wenn Seine Majestät mich zu sich befiehlt, damit ich mit meinen Rittern an seiner Seite kämpfe.« Er würde sehr viel lieber ins Grenzgebiet zurückkehren, statt nach Irland zu gehen, aber er wusste, dass er sich Robert oder seinem Bruder Edward anschließen musste, wenn er seinen Status als 13 königlicher Vasall festigen wollte. Er war verpflichtet, seinem Lehnsherrn vierzig Tage im Jahr militärische Dienste zu leisten ‐ ein gutes Geschäft, das ihm als Gegenleistung die Herrschaft über
zwei Inseln, den daraus resultierenden Wohlstand sowie das Privileg einer Mitgliedschaft im Parlament eingetragen hatte. Verglichen damit hatte ihm die US‐Navy, für die er viel häufiger sein Leben riskiert hatte, nur einen Hungerlohn gezahlt. Außerdem war es ratsam, sich dem König wieder in Erinnerung zu bringen, sonst lief er Gefahr, vergessen oder ‐ schlimmer noch ‐ von einem Rivalen ausgebootet zu werden. Er musste sehen, dass er einen Fuß in der Tür behielt. Lindsay stand auf dem Dach der großen Halle und blickte auf das Meer hinaus. Es war ein schöner, wenngleich ein wenig kühler Tag mit klarer Sicht. Obwohl die Frühlingssonne warm auf ihr Gesicht fiel, schlang sie ihren Umhang zum Schutz vor dem Wind enger um sich, während sie über ihre Zukunft nachdachte. Jeder Monat warf die Frage auf, ob sie ein weiteres Kind haben würde, und jeden Monat grübelte sie darüber nach, ob sie darauf hoffen oder sich davor fürchten sollte. Lohnte sich das Risiko? Über eine Wahl zwischen Familie und Karriere brauchte sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen; in diesem Land, in dieser Zeit gab es für sie keine Chance, wirklich Karriere zu machen, sie hatte sich lediglich das Recht erstritten, an der Seite ihres Mannes kämpfen zu dürfen, wenn dieser in die Schlacht zog. Viel weiter würde sie es nicht bringen. Aber noch ein Kind? Trefor, der Sohn, den sie bereits hatte, war ihr nur wenige Tage nach seiner Geburt von Feen geraubt worden. Er war fern von ihr in Amerika bei Pflegefamilien aufgewachsen. Noch nicht einmal einen Namen hatte sie ihm geben können, das hatten völlig Fremde an ihrer Stelle getan. Jetzt war er ein erwachsener Mann, von dem sie so gut wie gar nichts wusste. 14 Sie hatte Angst, sich auf ein weiteres Kind einzulassen, nur um es dann gleichfalls zu verlieren. Ihr Blick blieb an einem Punkt hängen, der am Horizont auftauchte. Ein Boot. Als es näher kam, sah sie auf dem Segel etwas Goldenes aufblitzen. Rot und Gold, die Farben des königlichen Wappens. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Ein Boot aus der Flotte des Königs. Nur eines, also war Robert nicht selbst an Bord, sondern hatte einen Boten geschickt. Sie wandte sich ab, um dem Wachposten Bescheid zu geben, aber der Mann hatte das Segel schon erkannt und hob die Trompete an die Lippen, um die Ankunft des Boten anzukündigen. Lindsay drehte sich wieder um, um das Einlaufen des Schiffes zu verfolgen. Einen Moment später erklangen hinter ihr Schritte. Alex trat an die zinnenbewehrte Brustwehr und sah über das Wasser hinweg. Der Wind spielte mit seinen dunklen Locken und blies sie ihm in die Stirn. Er seufzte leise. »Ich hatte gehofft, das Badehaus fertigstellen zu können, bevor ich abberufen werde.« »Vor unserer Rückkehr brauchen wir es doch gar nicht.« Er drehte sich um und musterte sie argwöhnisch. »Wir?« »Du weißt genau, dass ich dich begleite.« Alex schnaubte unwillig und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Boot draußen auf dem Meer ‐ um ein Blickduell mit ihr zu vermeiden, wie sie annahm. Nicht, dass es ihm etwas nützen würde. Er konnte so viele Einwände erheben, wie er wollte, aber er würde sie nicht daran hindern, mit ihm zu gehen. »Betrachte es doch einmal von dieser Warte aus ‐ die Wahrscheinlichkeit, dass du deinen ersehnten Erben bekommst, ist viel größer, wenn wir uns nicht trennen müssen. Nimm dir Robert als Beispiel. Wir wissen beide, dass er erst kurz vor seinem Tod einen Sohn bekommen wird, weil seine Königin in England festgehalten wird.« »Ich sollte dich auch einsperren!« 14 »Das würde ich dir nicht raten.« »Wenn eine Möglichkeit bestünde, dich dazu zu bringen, hierzubleiben, wenn ich ...« »Keine Chance. Es gibt zwar einige Dinge, vor denen ich mich fürchte, aber von einem Schwert niedergestreckt zu werden, zählt nicht dazu.« Da er ihr keine Beachtung schenkte, fügte sie scharf hinzu: »Noch ein Kind zu bekommen dagegen schon.« Als er sie daraufhin fragend ansah, fuhr sie fort: »Du möchtest, dass ich dir noch mehr Kinder schenke, aber du begreifst nicht, welchen Schrecken mir dieser Gedanke einjagt. Es ist wie eine Wunde, die sich nie schließen wird. Wenn ich schon um Trefor Angst ausstehe, den ich erst als erwachsenen Mann kennengelernt habe, wie muss ich mich dann bei einem Kind fühlen, das ich selbst habe groß werden sehen?« »Genau das ist eine Erfahrung, die ich sehr gern machen würde.«
»O nein. Du möchtest einen Erben.« Er zuckte die Achseln, dann nickte er. »Das auch. Warum auch nicht? Wir haben immerhin ein stattliches Vermächtnis zu hinterlassen ...« »Du hast ein Vermächtnis zu hinterlassen. Ich habe nur einen Uterus.« »Hör auf damit.« Lindsay presste die Lippen zusammen. Endlich sagte sie: »Ich weiß, dass du das herrschende System nicht ändern kannst. Es ist nicht deine Schuld, dass ich nicht so leben kann, wie ich gerne möchte. Trotzdem habe ich recht, und das weißt du.« »Stimmt. Aber wir können nichts dagegen tun.« Er heftete den Blick wieder auf das sich rasch nähernde Boot. »Also gut, du kommst mit mir. Ausreden kann ich dir diese fixe Idee ohnehin nicht.« »Und wir werden versuchen, noch ein Kind zu bekommen. Das werde ich dir wohl nicht ausreden können.« 15 Alex seufzte nur und schüttelte den Kopf. Lindsay trat zu ihm und griff nach seiner Hand; einer großen, kräftigen, vom Führen eines Schwertes schwieligen Hand mit trockener, harter Handfläche und breiten Fingern, und schloss sie um ihre eigene, die er leicht drückte. Alex beugte sich vor und küsste Lindsay zur Versöhnung leicht auf den Mund. Sie stritten häufig, aber er liebte sie trotzdem und wünschte sich nichts sehnlicher, als sie glücklich zu sehen. Sie glücklich zu machen. Ihr zu erlauben, durch das Land zu streifen und Menschen zu töten, das war nicht der richtige Weg zu diesem Ziel, das wusste er, weil auch er darin nicht den Sinn seines Lebens sah. Nachdenklich betrachtete er das Schiff auf dem Wasser und überlegte, ob sich wohl der König selbst an Bord befinden mochte. Ein erregender Gedanke. Doch die prickelnde Erregung verflog, als ihm klar wurde, dass es sich nur um ein einziges, noch dazu kleines Schiff handelte. Selbst wenn Robert geruhen würde, dieser abgelegenen Insel ohne Vorankündigung einen Besuch abzustatten, würde er sicherlich nicht mit einem so kleinen Gefolge reisen. Demnach hatte er vermutlich nur einen Boten geschickt, der Alex die Aufforderung, zu Roberts Truppen zu stoßen, überbringen sollte. Anscheinend musste er jetzt seinen vierzigtägigen Jah‐ resdienst ableisten ‐ und dem König die vereinbarten fünfzig Männer stellen. Er sog scharf den Atem ein und ließ ihn langsam wieder entweichen. Verdammt. Mit einem unterdrückten Fluch wandte er sich ab und ging in seine Kammer, um sich rasch zu waschen und umzukleiden, bevor das Schiff anlegte. Bei dem Besucher mochte es sich lediglich um einen Boten handeln, aber er war ein Bote des Königs und daher ein Mann von Stand, der vielleicht einen höheren Rang bekleidete als Alex selbst, also musste er sich von seiner 15 besten Seite zeigen. Leider konnte er am Zustand der großen Halle nichts ändern, dort herrschte Chaos, was auch auf absehbare Zeit so bleiben würde. Er beschloss, den Mann in dem kleineren, ein Stockwerk tiefer gelegenen Versammlungsraum zu empfangen. Flankiert von seinen beiden jungen Hunden stand er vor dem Kamin des Raums, der von manchen Burgbewohnern auch als »Audienzsaal« bezeichnet wurde, und begrüßte seinen Gast förmlich. John Rothbury of Morpeth war ein Earl aus den Lowlands, den Alex nur dem Namen nach kannte. Nach dem Austausch der üblichen Floskeln nahmen sie an einer Ecke der langen Tafel Platz, um mit der Besprechung zu beginnen. Zwei von Morpeth' Knappen stellten sich hinter dem Stuhl ihres Herrn auf; bereit, jedweden Befehl unverzüglich auszuführen. Alex hatte zu seiner Aufwartung nur seinen achtjährigen Ziehsohn Gregor, der neben der Treppe wartete. Lindsay rauschte in den Raum. Sie trug eines ihrer besten Gewänder, dazu das Halsband, das er ihr zu ihrer Hochzeit geschenkt hatte ‐ in Gold gefasste Rubine, die aus der Beute eines seiner ersten Raubzüge stammten und die er eigens für sie aufgehoben hatte, obwohl er sich das damals kaum hatte leisten können. Lindsay hatte den Schmuck angelegt, um Morpeth zu beeindrucken, was ihr dem Gesichtsausdruck des Earls nach zu urteilen auch gelang. Sie durchquerte mit ihrem Korb voller Näharbeiten am Arm die Halle und nahm auf einem kleinen, aber bequemen Stuhl in der Nähe des Kamins Platz. Hier konnte sie alles verstehen, was am Tisch besprochen wurde, ohne aufdringlich zu wirken. Der mit Schnitzereien verzierte Stuhl mit dem weichen, mit Daunen gefüllten Sitzkissen war eigens für sie angefertigt worden; hier saß sie immer,
wenn sie unauffällig etwas mit anhören wollte, was eigentlich nicht für ihre Ohren bestimmt war. »Achtet gar nicht auf mich«, flötete sie süß. »Ich muss eine Stickarbeit been
16 den, und ich lausche dabei so gerne Männerstimmen.« Dann begann sie an einem Stück Stoff herumzusticheln und tat so, als interessiere das Gespräch am Tisch sie überhaupt nicht, aber Alex durchschaute das Spiel. Er hatte sie einmal scherzen hören, Männerstimmen würden sie in den Schlaf lullen, doch er wusste, dass sie jedes Wort gierig in sich aufsog. Er warf ihr einen warnenden Blick zu. Morpeth achtete nicht mehr auf sie. Bei einer leichten, aus grünem Käse, frischem Brot und geräuchertem Fisch bestehenden Mahlzeit erhielt Alex seine offiziellen Befehle von Robert. Sie bargen keinerlei Überraschung für ihn; er wusste, mit welchen Pflichten sein Titel verbunden war. Danach lenkte der Abgesandte des Königs das Gespräch in andere Bahnen und begann dem neuesten Mitglied des schottischen Hochadels auf den Zahn zu fühlen. Alex wusste, dass er einer Prüfung unterzogen wurde. Obwohl sein Besucher sich umgänglich und freundlich gab, waren die gezielten Fragen, die dazu dienten, Licht in Bereiche von Alex' Leben zu bringen, über die er sich sonst in Schweigen hüllte, nicht misszuverstehen. Morpeth interessierte sich besonders für seine Vergangenheit; ein Thema, bei dem Alex sich auf dünnem Eis bewegte, weil er sich als Ausländer ausgab. Jedermann wusste, dass er nicht in Schottland geboren war, aber je ausführlicher er auf seine Abstammung einging, desto größer wurde die Gefahr, sich in einem Lügennetz zu verstricken. Gab er jedoch allzu ausweichende Antworten, so konnte dies Argwohn erwecken, also erzählte er lediglich, dass er in Ungarn aufgewachsen und statt von seinem angeblichen schottischen Vater, dem kürzlich verstorbenen MacNeil von Barra, von einem Vetter seiner Mutter großgezogen worden war. Alles Lügen, aber zugleich Schlussfolgerungen, die Robert selbst gezogen hatte, also blieb Alex nichts anderes übrig, als so wenig wie möglich dazuzuerfinden und sich weitgehend an das zu halten, was bereits allgemein bekannt war. 16 Morpeth schien Gefallen an dem neuen Peer zu finden, obwohl man nie wissen konnte, was im Kopf eines Höflings wirklich vorging. Verschleierte Augen und das liebenswürdige Lächeln eines Gentlemans verbargen die wahren Gefühle eines Mannes sehr gut, und Alex war sicher, heute nicht der einzige glattzüngige Lügner im Raum zu sein. Er tat sein Bestes, um das Gespräch auf seinen Ruf als Schotte zu bringen, den er nach seiner Ankunft in diesem Jahrhundert in der Schlacht von Bannockburn erworben hatte, und hob seine guten Beziehungen zu James Douglas, Earl of Douglas, und Hector MacNeil, dem Laird von Barra, hervor. Die Geschichte, wie er zum Ritter geschlagen worden und von Robert höchstpersönlich den Spitznamen »An Dubhar« erhalten hatte, schmückte er besonders blumig aus. Der gälische Name, der so viel wie »Schatten des Todes« bedeutete, verfehlte seine Wirkung auf den Besucher nicht. Er meinte, Alex könne sein schottisches Blut nicht verleugnen, was dieser als Kompliment wertete. Nachdem das Verhör zu Ende war, lud Alex seinen Gast ein, die Nacht in seinen eigenen Gemächern zu verbringen. Der Earl schien es als selbstverständlich hinzunehmen, dass Alex ihm sein Bett abtrat ‐ was es auch war, denn die Räume des Lairds stellten die einzige Unterkunft im Turm dar, in der Mor‐ peth und seine Diener halbwegs standesgemäß untergebracht werden konnten. Nach einem so üppigen Mahl, wie es die zu dieser Jahreszeit recht kargen Vorräte erlaubten, würden Alex und Lindsay die Nacht in der fensterlosen Kammer unterhalb der großen Halle verbringen, die ihnen bei solchen Anlässen als Ausweichquartier diente. Die Nachricht von seinem bevorstehenden Aufbruch nach Irland verbreitete sich in Windeseile im Dorf und auf den entlegeneren Höfen der Insel und würde von dort am nächsten Tag mit Fischerbooten nach Cruachan gelangen. Alex war sicher, dass er die vom König verlangte fünfzig Mann starke Truppe mü 16 helos würde zusammenziehen können ‐ unter den MacNeils und MacConnells, die seinem Befehl unterstanden, gab es zahlreiche junge Männer, die nicht an der Niederschlagung des Bre‐ ton‐Aufstands teilgenommen hatten und die Gelegenheit, nach Irland zu segeln und sich dort im Kampf gegen einen würdigeren Gegner zu beweisen, begierig beim Schopf packen würden. Aber der Kampf, nach dem sie lechzten, nahte schneller, als sie gedacht hatten. Und fand unter gänzlich anderen Umständen statt.
Als an diesem Abend die Dämmerung hereinbrach, die Inselelite am Tisch der großen Halle saß und die Dienstboten sich anschickten, das Essen aufzutragen, erklang auf der zur Landseite gelegenen Burgmauer eine Fanfare. Alex und Lindsay, die zusammen mit ihrem hochwohlgeborenen, wohlhabenden und einflussreichen Gast am Kopfende der Tafel residierten, blickten kurz auf, schenkten dem Signal aber keine weitere Beachtung. Niemand dachte sich etwas dabei, vermutlich wollte nur einer der Dorfbewohner um eine Audienz beim Laird ersuchen. Alle Anwesenden widmeten sich wieder ihrer Mahlzeit und warteten darauf, dass ein MacConnell oder ein MacNeil in die Halle geführt wurde, um sein Anliegen vorzubringen. Vermutlich handelte es sich bei dem Bittsteller wieder einmal um Donnchadh MacConnell, der sich über irgendetwas beschweren wollte. Alex seufzte und wappnete sich innerlich für eine Auseinandersetzung mit seinem streitbarsten Lehnsmann. Donnchadh war ein guter, loyaler Vasall, ging Alex aber häufig mit unerfüllbaren Forderungen auf die Nerven. Alle Köpfe fuhren hoch, als eine zweite Fanfare ertönte, diesmal ein Alarmsignal, gefolgt von einem Kriegsruf aus zahlreichen Kehlen; nah genug, um vom Burghof zu kommen. Alex' erster Gedanke galt einem neuerlichen Aufstand, vielleicht seitens der MacDonalds von Cruachan, aber der Ruf klang fremd in seinen Ohren, und die Stimmen gehörten nicht den MacDo 17 nalds, die er kannte. Trefor? Alex' Magen krampfte sich vor Entsetzen zusammen, als er aufsprang und Gregor anwies, ihm sein Schwert zu bringen. Der Lärm kam näher, tobte zweifellos im Burghof, und Alex spürte, wie heiße Wut in ihm aufstieg. Da ihm keine Zeit blieb, seine Rüstung anzulegen, griff er nur nach seinen Waffen und seinem Schild und stürmte aus der Halle in den Hof hinaus. Sein Gast war vergessen. Unterhalb des leicht geneigten Hofes sah er eine Horde Ritter durch das weit geöffnete Tor strömen. Sie ritten langsam, wie im Zeitlupentempo den zwischen den Nebengebäuden hindurchführenden Pfad empor und streckten dabei jeden nieder, der sich ihnen in den Weg stellte. »Wer sind diese Burschen?« Er konnte sich nicht erinnern, die Angreifer je gesehen zu haben. Die Männer trugen seltsame Rüstungen; noch fremdartiger als jene, die später in diesem Jahrhundert vom Kontinent zu ihnen gelangen würden. Ihre Kettenhemden glänzten, als wären sie nicht nur aus purem Silber gefertigt, sondern auch kurz vor dem Angriff noch poliert worden, was beides bei gewöhnlichen Rittern keinesfalls der Fall sein konnte. Auch das Fell ihrer kräftigen, gut genährten Pferde glänzte wie frisch gestriegelt, ihre seidigen Mähnen wehten im Wind. Alex' Krieger kamen mit gezückten Schwertern aus der großen Halle gestürzt. Auch Rothbury hatte sich ihnen mitsamt seinem Gefolge angeschlossen; bereit, sich gegen die unbekannten Gegner erbittert zur Wehr zu setzen. Lindsay rannte an Alex vorbei in den Burghof. In einer Hand hielt sie ihr Schwert, mit der anderen raffte sie ihre Röcke. Mordlust glitzerte in ihren Augen. Alex hörte auf, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wer die Angreifer wohl sein könnten, stieß einen durchdringenden Kriegsschrei aus und stürzte sich in das Kampfgetümmel. Zu Fuß befanden er und seine Männer sich den berittenen Gegnern gegenüber im Nachteil, außer wenn sie ihnen Hinder 17 nisse in den Weg legen konnten. Da es auf diesem beengten Raum schwierig war, die Feinde direkt anzugreifen, zielten sie zunächst auf die Pferde. Alex durchtrennte zwei Schlachtrössern die Sehnen, dann drang er auf einen der Reiter ein, der sich mit seinem hell aufblitzenden Schwert verteidigte. Ein roter Wutschleier legte sich vor Alex' Augen. Er war gezwungen, in seinem eigenen Heim, auf seinem Grund und Boden einen Kampf auszutragen! Ein unvorstellbares Sakrileg! Er trieb seinen Gegner mit seinem Schild zurück, versetzte ihm einen Tritt gegen den Kopf und durchbohrte seinen Hals mit der Klinge, dann hielt er nach dem nächsten Eindringling Ausschau, während der sterbende Mann langsam an seinem eigenen Blut erstickte. Alex ging auf den nächsten Gegner los, holte mit seinem Schwert zum tödlichen Hieb aus und erhaschte dabei einen Blick auf ein spitz zulaufendes Ohr. Also doch Trefor? Alex hielt kurz inne, musterte seinen Widersacher scharf und erkannte, dass es sich tatsächlich um einen Feenkrieger handelte, aber nicht um Trefor. Verwirrt und somit verwundbar parierte er den Angriff und wurde von seinem Gegner zur Seite gedrängt. Ein flüchtiger Blick in die Runde bestätigte ihm, dass alle feindlichen Krieger Feen waren. Was ging hier vor? Danann. Es waren alles Danann.
Der Feenritter griff ihn erneut an, Alex wehrte den Hieb ab, taumelte einen Schritt zurück, stolperte über eine Stufe und fiel rücklings zu Boden. Sein Widersacher holte fast lässig zum tödlichen Stoß aus. Alex versuchte, sich zur Seite zu rollen, war aber zu langsam; das schimmernde Feenschwert traf ihn in die Magengrube, die Spitze drang mühelos durch sein Kettenhemd. Ein sengender Schmerz schoss durch seinen Körper, und ihm entfuhr ein gellender Schrei. Der feindliche Krieger zog sein Schwert zurück, betrachtete ihn einen Moment aus schmalen Augen und wandte sich dann ab. Sein zufriedener 18 Gesichtsausdruck besagte deutlich, dass Alex für ihn schon so gut wie tot war. Alex' Hand schloss sich um sein Schwert, das ihm entglitten war und neben ihm auf dem steinernen Pfad lag. Er versuchte, sich auf die Füße zu ziehen und dem Gegner nachzusetzen, aber der glühende Schmerz in seiner Magengegend machte jede Bewegung zur Qual. Stöhnend presste er eine Hand gegen seinen Bauch, weil er fürchtete, die Eingeweide könnten herausquellen. Rotes, klebriges Blut ergoss sich über seine Finger, schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, und wieder schien das Kampfgewühl ringsum stark verlangsamt abzulaufen. Er sah, wie die Angreifer in jede Ecke seines Hauses vordrangen, seine Ritter niedermetzelten und seine Dienstboten abschlachteten. Er war sicher, jetzt sterben zu müssen, und fragte sich in dumpfem Staunen, wie dieses Schicksal letztendlich auch ihn hatte ereilen können. Lindsay. Wo war Lindsay? Er suchte im Getümmel nach ihr, konnte sie jedoch nirgendwo entdecken. So laut es ihm möglich war, rief er ihren Namen, erhielt aber keine Antwort. Nur das Klirren der Schwerter und der harte Aufprall der Klingen auf den Holzschilden erfüllte die Luft. Dann zogen sich die Angreifer mit einem Mal so rasch zurück, wie sie gekommen waren, ließen von den MacNeil‐Rit‐tern ab, jagten aus dem Burghof heraus und hielten auf das Inselinnere zu. Einige von Alex' Männern nahmen die Verfolgung auf, aber sie waren nicht beritten und verloren rasch den Mut, als die feindlichen Ritter Anstalten machten, erneut auf sie einzudringen. Tatenlos sahen sie zu, wie die Feenkrieger im Wald verschwanden. Der Burghof begann sich vor Alex' Augen zu drehen. Er sank auf ein Knie, als in seinen Ohren ein lautes Dröhnen einsetzte. Noch einmal rief er Lindsays Namen, dann wurde die Welt dunkel um ihn.
18
DRITTES KAPITEL
Trefor zwängte sich mit einiger Mühe durch das Loch in der Höhlendecke. Er war größer als die Bhrochan; die Lücke war nicht für seine Statur gemacht. Ächzend wand und schlängelte er sich hindurch, bis er sich vorkam wie ein Klecks Zahnpasta, der aus einer Tube auf die Lichtung gequetscht wurde, auf der er vor sechs Monaten auf das Loch im Gras gestoßen war. Einen Moment lang blieb er auf dem Boden liegen, um Atem zu schöpfen. Er war nicht mehr in Form, er hatte zu lange müßig bei dem Feenvolk herumgelungert. Es wurde Zeit, dass er in das wirkliche Leben zurückkehrte. Nachdem sein Herzschlag sich wieder beruhigt hatte, richtete er sich auf und sah sich um. Am besten machte er sich gleich auf den Weg zur Burg. Er rappelte sich hoch, setzte sich in Bewegung und hielt mit einer Hand den Saum seiner Tunika fest, wenn der Wind ihn zu lüpfen drohte. Bei jedem Schritt spürte er, dass er nicht allein war, und auf dem Pfad, den er einschlug, entdeckte er die Hufabdrücke einer ganzen Anzahl großer Pferde ‐ Schlachtrösser, nicht die kleinen Pferdchen der hiesigen Bauern. Eine bewaffnete Truppe war hier vorbeigekommen und in Richtung der westlichen Küste geritten, genau dorthin, wo er herkam. Alex' Ritter auf einer Patrouille? Ein Manöver vielleicht? Das war die logischste Schlussfolgerung, aber seine Sinne sagten ihm etwas anderes. Er witterte Gewalt und Angst. Blut lag in der Luft, auch wenn
18 auf dem Boden keines zu sehen war. Irgendetwas Furchtbares musste vor Kurzem hier geschehen sein. Die negative Energie jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Da er die Quelle dieser Energie so schnell wie möglich weit hinter sich lassen wollte, legte er einen Teil des Weges zur Burg seines Vaters im Laufschritt zurück und erreichte nach kurzer Zeit die landwärts gelegene Mauer. Bis dorthin waren es nur ein paar Meilen. Erleichtert, wieder daheim zu
sein, trabte er über die Weide vor der Burg auf das Fallgitter zu, wo er dem Wachposten befehlen würde, ihn einzulassen. Doch statt das Böse hinter sich zurückzulassen, musste er feststellen, dass er geradewegs darauf zugerannt war. Ein Pfeilhagel ergoss sich rings um ihn auf das Gras. Trefor blieb wie angewurzelt stehen. »Hey!« Zum Zeichen, dass er unbewaffnet war, hob er beide Hände. Eine dunkle Linie Bewaffneter zog sich auf der Brustwehr entlang. Die meisten Männer luden ihre Armbrüste nach und legten Pfeile an die Sehnen ihrer Bogen, aber ein Teil von ihnen hatte ihre Waffen noch gar nicht abge‐ feuert und zielte nun auf ihn, sodass äußerste Vorsicht geboten war. Trefor wagte nicht, sich vom Fleck zu rühren. »Heda, Männer! Ich bin es! Sir Trefor Pawlowski! Was fällt euch ein, auf mich zu schießen?« Die Ritter über ihm ließen ihre Waffen sinken. Einer richtete das Wort an ihn. »Trefor Pawlowski? Für einen Ritter seid Ihr aber eigenartig gekleidet.« »Lasst mich ein. Ihr wisst genau, wer ich bin.« Wenn einer dieser Burschen zu seinen eigenen Leuten gehörte, würde er ihn grün und blau schlagen. Der Sprecher erkannte ihn, denn er zählte tatsächlich zu Trefors Männern, und das Tor wurde augenblicklich geöffnet. Aber niemand schien sich dafür zu interessieren, wo Trefor gewesen war, und niemand schenkte ihm weiter Beachtung. Als Trefor sich umsah, verrauchte sein Zorn über den 19 feindseligen Empfang sofort, denn ihm wurde klar, dass die Burg angegriffen worden war. Blut rann über das steinerne Pflaster des Burghofes und bildete kleine Pfützen, in denen Trefors bloße Füße ausglitten. Neben den Ställen lagen ein paar blutüberströmte Leichen, von denen einige spitze Ohren aufwiesen und die unnatürlich schimmernden Rüstungen der Tuatha De Danann trugen. Aus alter Gewohnheit heraus berührte Trefor sein Haar, um sich zu vergewissern, dass es seine Feenohren bedeckte. Irgendetwas Unheimliches hatte sich hier ereignet, aber ehe er herausfinden konnte, was das war, musste er sich erst einmal anständige Kleidung beschaffen. Er bemühte sich, nicht ständig an seiner Tunika herumzuzupfen, während er dem gewundenen Pfad durch den Burghof zum Turm folgte und sich fragte, ob seine Sachen überhaupt noch da waren. Die große Halle lag verlassen da, alle Burgbewohner schienen anderweitig beschäftigt zu sein. Auch in dem darunter gelegenen Empfangsraum fand er niemanden vor, also ging er zu der Kammer, die er während seines Aufenthalts hier bewohnt hatte. Sie war größer als die meisten anderen Schlafkammern im Turm, aber fensterlos und erinnerte ihn an eine Höhle; ähnlich dem Erdloch, in dem er die letzten Monate verbracht hatte. Plötzlich aufkeimende Platzangst schnürte ihm den Brustkorb zu, und er musste mehrmals tief durchatmen. Seine Habseligkeiten waren in einer Ecke des Quartiers aufgestapelt, das er vor sechs Monaten bezogen hatte. Es sah aus, als wäre der Raum einem anderen Bewohner zugewiesen worden, auf den Betten lagen frische Leinenlaken und Decken, und auf dem Tisch stand ein Krug mit sauberem Wasser. Nirgendwo war ein Stäubchen zu sehen. Trefor streifte seine schmutzige Tunika ab und goss Wasser in die Waschschüssel, um sich gründlich zu waschen. Die Kammerzofe seiner Mutter, eine stämmige Frau aus dem 19 Dorf, die ihn nicht sonderlich mochte, stürzte in den kleinen Raum, blieb stehen und sah ihn überrascht an. Ihr Gesicht war mit Blut und Tränen verschmiert. »Was tut Ihr denn hier?« Trefor achtete nicht auf sie, sondern fuhr fort, sich zu säubern. Sie wartete sichtlich ungeduldig auf eine Antwort, aber er schwieg beharrlich. Endlich konnte sie die Stille nicht länger ertragen. »Diese Kammer ist für den Herrn hergerichtet worden.« »Was ist dort draußen passiert?« »Eure Leute haben uns angegriffen, das ist passiert.« Seine Leute? »Meine Leute sind hier.« Sie funkelte ihn finster an und presste die Lippen störrisch zusammen. Trefor erkannte, dass er aus ihr nichts herausbringen würde, und das nur, weil er wie ein Angehöriger des Feenvolkes und somit wie ein Fremder aussah. Trotzdem hakte er nach: »Wieso schläft mein Vetter, der Earl, hier in meiner Kammer?« Dann griff er nach einem Leinentuch, um sich das Gesicht abzutrocknen. »Und nicht in seinen eigenen Gemächern?«
»Dort wurde ein Gast untergebracht. Ein wichtiger Gast.« Die Betonung dieses Wortes sollte ihm zu verstehen geben, dass er selbst nicht wichtig war. Auch darauf ging er nicht ein. »Und wo steckt unser furchtloser Anführer?« Mary zwinkerte, dann stammelte sie: »Der Herr ist ... er ist unpässlich.« Trefor blickte sich um. »Wo ist er?« »Er liegt in seinem eigenen Bett. Er ist verwundet, und er fragt sich sicher, wo Ihr die letzten Monate gewesen seid.« »Hier und dort. Überall.« Trefor wollte sich seine Besorgnis über seinen verletzten Vater nicht anmerken lassen, dennoch fragte er erschrocken: »Wie schlimm steht es denn um ihn? Was zur Hölle war hier los?« »Ich wüsste zwar nicht, was es Euch angeht, aber der Earl wurde bei der Verteidigung seiner Burg verletzt.« 20 Das war wohl eine glatte Abfuhr. Trotzdem bohrte Trefor weiter: »Verteidigt? Gegen wen?« »Niemand weiß, wer die Angreifer waren. Aber sie haben unsere Lady entführt. Seit dem Kampf wird sie vermisst. Niemand hat sie mehr gesehen, und auch ihre Leiche wurde nicht gefunden.« Eine eisige Faust schloss sich um Trefors Herz, und er hatte Mühe, sein Entsetzen zu verbergen. Seine Mutter hatte ihn nie als ihren Sohn akzeptiert. Sie hatte ihn genauso abgelehnt, wie Mary es tat, und während der kurzen Zeit zwischen ihrer Rückkehr aus dem Grenzgebiet im letzten Sommer und seiner Gefangenschaft im Reich der Bhrochan hatte Alex ihm sogar verboten, mit ihr zu sprechen. Trotzdem war sie allein aufgrund der wenigen Tage, die er nach seiner Geburt bei ihr verbracht hatte, mehr eine Mutter für ihn als alle Frauen der Pflegefamilien, bei denen die Waisenfürsorge Tennessees ihn abgeladen hatte. Seine Stimme nahm einen schneidenden Klang an, als er fragte: »Was genau hat sich hier abgespielt?« Marys Augen schwammen jetzt in Tränen. »Das weiß niemand genau. Die Feen sind durch das Tor gebrochen und in den Burghof eingedrungen. Der Earl hat uns mit seinem Leben beschützt, und deswegen ringt er jetzt selbst mit dem Tod.« Ohne ein weiteres Wort griff sich Trefor ein Hemd, eine Hose und einen Gürtel von dem Haufen an der Wand und zog sich hastig an. Dann eilte er zu Alex' Gemach, wo er seinen Vater von einer Schar Menschen umringt auf der Kante seines Bettes sitzend vorfand. Alex blickte auf, als Trefor in den Raum stürmte und bei seinem Anblick erschrocken stehen blieb. Das Gesicht des Earls war aschfahl, ein blutgetränkter Verband wand sich um seine Körpermitte, und auch seine Kleider starrten vor Blut. Ein paar Diener hielten sich mit sauberen Leinentüchern, Wasser und Nähutensilien bereit, um seine Wunde zu versorgen. Neben 20 dem Bett stand ein vornehm gekleideter Fremder, offenbar der »wichtige Gast«, von dem Mary gesprochen hatte. Er und Alex waren die Einzigen im Raum, die einen halbwegs gefassten Eindruck machten, alle anderen hatten verweinte Augen und schienen vor Angst zu schlottern. Alex musterte Trefor scharf. »Nett, dass du auch schon zu uns stößt.« Sarkastisch wie immer, dachte Trefor grollend. »Wo bist du die ganze Zeit gewesen?« Der Schmerz trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn, trotzdem verzog er keine Miene. Trefor presste die Lippen zusammen. Er vermied es wohlweislich, die Frage zu beantworten, denn er wusste nicht, was er hätte sagen sollen. Alex wusste zwar über die Bhrochan Bescheid, aber in der Gegenwart des gut gekleideten Unbekannten wollte Trefor nicht über sie sprechen. Sogar in diesem Jahrhundert, wo der Glaube an Feen weit verbreitet war und nicht wie in seiner eigenen Zeit als dummer Aberglaube abgetan wurde, hielt er seine Ohren nicht ohne Grund bedeckt und achtete sorgsam darauf, seine Abstammung keinem Fremden zu enthüllen. »Was ist passiert?« »Ich bin verletzt, wie du siehst.« Trefor wartete ungeduldig auf nähere Auskünfte, die ihm der Besucher an Alex' Stelle gab. »Die Burg wurde angegriffen. Wir wissen nicht, wer hinter dem Überfall steckt. Seitdem ist die Gräfin verschwunden. Die Feinde müssen es auf sie abgesehen haben, denn sie haben den Kampf ganz plötzlich abgebrochen und sich zurückgezogen, und ihre Leiche wurde nicht gefunden.«
»Habt ihr die gesamte Burg durchsucht? Jeden Winkel des Burghofes?« Trefor wusste, dass seine Mutter das Herz eines Kriegers hatte. Sie hätte sich keinem Feind kampflos ergeben, also konnte sie überall sein ‐ verwundet oder vielleicht im Sterben liegend. Oder gar schon tot. 21 Blut. Gewalt. Angst. Er hatte es auf dem Weg hierher gespürt. »Wir haben keine Spuren von ihr gefunden. Außer ihr fehlt niemand.« Vor Schmerz nach Atem ringend, unterbrach Alex: »Trefor Pawlowski, dieser Mann ist John Rothbury, Earl of Morpeth, ein Abgesandter des Königs.« Trefor und Morpeth nickten einander zum Gruß zu, wobei Trefor den Kopf so tief senkte, dass es fast einer Verneigung gleichkam. Er lebte lange genug in diesem Jahrhundert, um die Rangordnung zu kennen, und hielt sich für gewöhnlich an das Protokoll. Dann wandte er sich an Alex und schlug, um ihn zu verstimmen, einen herablassenden, verächtlichen Ton an. »Erzähl mir jetzt nicht, dass du sie schon wieder verloren hast.« Alex warf ihm einen giftigen Blick zu, dem Trefor ungerührt standhielt. Obwohl seine Wunde noch blutete, holte Alex ein paarmal tief Atem, dann begann er sich auf die Füße zu ziehen. Mary war sofort an seiner Seite; jammerte, er müsse sich wieder hinlegen, er sei nicht in der Verfassung, jetzt aufzustehen, aber Alex befahl ihr unwirsch, ihn in Ruhe zu lassen, und erhob sich mühsam. Alle im Raum Anwesenden erstarrten und machten sich bereit, ihn zu stützen, falls er das Gleichgewicht verlieren würde, aber obwohl er vor Anstrengung zitterte, gelang es ihm, sich ohne fremde Hilfe auf den Beinen zu halten. »Ich fürchte, Ihr werdet dem König jetzt von keinem großen Nutzen mehr sein«, meinte Morpeth. Seine mitfühlende Miene besagte, dass er der festen Überzeugung war, Alex werde sterben. Wieder durchzuckte Trefor ein eisiger Schreck, und er biss die Zähne zusammen. »Unsinn«, fuhr Alex auf. »Kehrt zu Robert zurück und richtet ihm aus, meine Männer und ich werden ihn wie vereinbart in 21 Irland treffen.« Schweiß rann ihm von der Stirn über die Wangen, und der letzte Rest von Farbe wich aus seinem Gesicht. »Das kann ich nicht.« Der Abgesandte des Königs sprach freundlich, aber bestimmt. Was er dachte, stand ihm auf der Stirn geschrieben. Er glaubte nicht, dass Alex lange genug leben würde, um sein Versprechen einzuhalten. Trefor hegte ähnliche Befürchtungen, sah aber die Gelegenheit, die sich ihm hier bot, und nutzte sie augenblicklich. »Ich werde an seiner Stelle gehen.« Alle im Raum drehten sich zu ihm um. Er hasste die Wellen ungläubiger Überraschung, die ihm entgegenschlugen. Sie hielten ihn nur für einen entfernten Vetter von Alex und zweifelten daher an seiner bedingungslosen Loyalität. Niemand außer Alex und Lindsay wusste, dass er in Wirklichkeit Alex' Sohn war. Niemand hier akzeptierte ihn als MacNeil, und das nagte fast ebenso sehr an ihm wie die Zurückweisung seitens seiner Eltern. »Keine Sorge, ich bin bald wieder auf den Beinen«, versicherte Alex ihm hastig. »Natürlich bist du das, Vetter. Aber es gibt andere Dinge, um die du dich kümmern musst, wichtigere Anliegen als der Krieg in Irland.« Alex warf Morpeth einen verstohlenen Blick zu. Dieser hob angesichts der Andeutung, Roberts Befehle könnten für ihn nicht oberste Priorität haben, stumm die Brauen, also bemühte er sich, Trefors Schnitzer wieder wettzumachen. »Die Verteidigung Schottlands hat vor allem anderen Vorrang, Trefor. Ich bin entsetzt, dass du anderer Ansicht zu sein scheinst.« »Was ist mit deiner Frau? Wenn du am Leben bleibst, wird sie dich brauchen.« »Die Gräfin ist für Euch verloren«, sagte Morpeth leise. »Findet Euch damit ab.« Der geschniegelte Bursche konnte den Earl of Cruachan 21 nicht gut kennen, wenn er dachte, Alex würde den Verlust seiner Frau tatenlos hinnehmen, vermutete Trefor. Wenn auch nur die kleinste Chance bestand, dass Lindsay noch am Leben war, würde er sie finden und zu sich zurückholen, daran hegte er keinen Zweifel, und er machte sich diesen Umstand sofort zunutze. »Morpeth, Ihr könnt doch nicht von Cruachan verlangen, dass er seine Frau in den Verliesen seiner Feinde schmachten lässt.«
»Robert lässt seine Frau ja auch im Kerker des englischen Königs schmachten.« Das war Trefor neu. Er runzelte verwirrt die Stirn und sah Alex an, der ihm mit einem leichten Nicken bestätigte, dass die Königin von Schottland tatsächlich derzeit in England gefangen gehalten wurde. Dennoch beharrte er: »Die Angreifer waren Danann. Du weißt, dass An Reubair hinter dem Überfall stecken muss.« Der Name traf Alex wie ein Schlag. Er zuckte zusammen und durchbohrte Trefor mit einem finsteren Blick, dem der junge Mann gleichmütig standhielt. Er hatte mit seinem Verdacht ins Schwarze getroffen, das wussten sie beide. Die toten Feenritter draußen im Hof waren der Beweis dafür. Welcher Danann außer ihm hätte sonst ein Motiv gehabt? An Reubair ‐ der Räuber. Der Anführer eines Rittertrupps, der Lindsay einst als Söldner angeheuert hatte. Alex' Augen flammten zornig auf, was Trefor voller Genugtuung registrierte. Er war schon so gut wie auf dem Weg nach Irland, wo er an Alex' Stelle die Aufmerksamkeit des Königs auf sich lenken und seine Gunst gewinnen konnte. Ein kleiner Ausgleich für das Erbteil, das er nie erhalten würde. Er wandte sich an Morpeth, um auf seine Zustimmung zu warten. Morpeth war kein Narr. Ihm konnte es egal sein, wer sich Roberts Truppen anschloss, solange nur die verlangte Anzahl 22 Männer gestellt wurde. Also nickte er Trefor zu. »Der König wird sich freuen, Euch und die Männer von Eilean Aonarach innerhalb von zwei Wochen in Irland zu sehen.« Dann wandte er sich mit einer Miene, die tiefen und aufrichtigen Kummer über den bevorstehenden Verlust eines Peers ausdrückte, an Alex. »Gott sei mit Euch, Cruachan.« Alle im Raum wussten, dass Morpeth überzeugt war, Alex würde die nächsten Tage nicht überleben, und die meisten teilten seine Befürchtung. Mit diesen Worten verließ der Abgesandte des Königs die Kammer. Seine Mission war beendet. Sowie er außer Hörweite war, ließ sich Alex wieder auf die Bettkante sinken und zischte Trefor in modernem Englisch zu: »Du kleiner Scheißer!« »Wie meinst du das, verehrter Vater?« Trefors Augen verdunkelten sich vor Ärger. Er war fast so alt wie Alex und hasste es, »klein« genannt zu werden. Von der anderen Bezeichnung ganz zu schweigen. »Du weißt genau, wie ich das meine. Wenn du bei Robert gegen mich intrigierst, lasse ich mir deinen Kopf auf dem Silbertablett servieren.« »Sollte ich das wirklich tun, stünde es nicht mehr in deiner Macht, meinen Kopf zu verlangen.« »Sei vorsichtig!« »Vertrau mir doch einfach.« Daraufhin verstummte Alex, seine Wut schien zu verrauchen, und er sah aus, als würde er angestrengt nachdenken. Die Möglichkeit zu erwägen, dass Trefor ihn tatsächlich nicht hintergehen würde. Aber er sagte nichts, sondern legte sich nur rücklings aufs Bett und presste einen Arm gegen seine Wunde. Dann schloss er die Augen und rührte sich nicht mehr, sodass Trefor einen Moment lang dachte, er sei tot. Doch dann hob und senkte sich seine Brust wieder, und gegen seinen Willen verspürte Trefor einen Anflug von Erleichterung ‐ warum, 22 wusste er selber nicht. Alles wäre für ihn selbst so viel einfacher, wenn Alex hier und jetzt sein Leben aushauchen würde. Dann würde Lindsay in den Fängen ihres Feenkumpans bleiben, und er könnte versuchen, sich bei Robert einzuschmeicheln, um am Ende Alex' Platz einzunehmen. Aber sein Vater atmete noch, und Trefor kam sich vor wie ein Monster, weil ein Teil von ihm wünschte, dem wäre nicht so. Alex schlief. Als er erwachte, war der Raum dunkel und schien leer zu sein. Er rief nach Vater Patrick. Die Anstrengung, seine Stimme zu mehr als einem bloßen Flüstern zu erheben, jagte einen glühenden Schmerz durch seinen Leib. In der Kammer erhob sich ein Murmeln, doch er konnte nicht erkennen, wer bei ihm war. Er sammelte all seine Kraft, um denen, die an seinem Bett wachten, zu versichern, dass er nicht im Sterben lag, schien aber niemanden überzeugen zu können, denn der Priester kam aus der Vorkammer, in der er offenbar gewartet hatte, trat an Alex' Bett, griff nach seinem Rosenkranz und stimmte ein Gebet an. Alex packte seine Hand, zog ihn zu sich hinunter und flüsterte so leise, dass nur Patrick ihn verstehen konnte: »Hört auf. Ich brauche keine Letzte Ölung, ich muss so schnell wie möglich hier weg.« »Weg?« Auch der Priester dämpfte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern, aber vermutlich war er einfach nur starr vor Staunen.
»Setzt mich in ein Fischerboot und bringt mich dorthin, wo An Reubair ist ‐ wo immer das auch sein mag.« »Wenn Ihr auf diese Reise besteht, werdet Ihr sterben.« »Kein Gedanke. Die Eingeweide sind nicht verletzt, das würde man riechen, und wenn ich bislang noch nicht verblutet bin, dürfte auch diese Gefahr gebannt sein.« »Aber die Anstrengung ...« »Die Wunde wird heilen, ich werde wieder gesund werden.« 23 Natürlich konnte es immer noch zu einer Bauchfellentzündung kommen, aber da der Darm nicht angeritzt worden war, war er ziemlich sicher, eine Infektion durch schiere Willenskraft verhindern zu können. Er durfte jetzt nicht sterben. Lindsay brauchte ihn. Ihm blieb keine andere Wahl, als unverzüglich aufzubrechen. »Schafft mich hier fort. Die Wunde wird unterwegs schon verheilen. Ihr werdet mich begleiten. Sucht noch vier weitere Männer aus. Nur Ritter, nicht auch ihre Knappen. Unser Ziel ist das Grenzgebiet, in dem An Reubair sein Unwesen treibt. Er ist ein ...ein Mann, der...« »Er ist ein Feenritter.« Alex verstummte erstaunt. Er wusste, dass Patrick an die Existenz von Feen glaubte, hatte aber nicht geahnt, dass der Priester genauere Kenntnisse über die kleinen Leute besaß. Patrick entging seine Überraschung nicht. »Keiner der getöteten Feinde unten im Hof ist ein Mensch. Man muss nicht übermäßig scharfsinnig sein, um darauf zu kommen, dass ihr Anführer auch zum Feenvolk gehört.« Alex grunzte zustimmend, dann fuhr er fort: »Reubair ist ein Feenlord, ein Vasall des Elfenkönigs Nemed, und er befehligt eine Söldnertruppe, die im Grenzgebiet Überfälle verübt. Wir müssen ihn finden, wenn wir Lindsay zurückholen wollen. Weder Morpeth noch Trefor dürfen von unserem Vorhaben erfahren, bevor wir fort sind. Wir brechen noch heute Nacht auf.« Patrick nickte, presste die Lippen aber noch immer grimmig zusammen. »Die Reise wird Euch umbringen.« »Ich könnte auch sterben, wenn ich hier liegen bleibe.« »Das halte ich für weniger wahrscheinlich.« »Holt jetzt die Männer, Patrick. Die vier besten Schwertkämpfer. Und einen Fischer, der uns übersetzen soll«, beendete Alex den Wortwechsel entschieden. Der junge Priester dachte einen Moment nach, nickte noch einmal und verließ dann die Kammer. Alex legte sich mit 23 geschlossenen Augen zurück, um sich so lange wie möglich auszuruhen. Mary kam, um die Wunde zu säubern und neu zu verbinden. Wenig später schickte er nach seinem Knappen, und als Gregor den Raum betrat, winkte er ihn zu sich. Gregors Augen schimmerten feucht von mühsam zurückgehaltenen Tränen, von denen ihm eine über die Wange rollte, als er zwinkerte. Der achtjährige Blondschopf beugte sich über seinen Ziehva‐ ter und lauschte dessen Instruktionen. »Ich muss fort, Gregor, aber du bleibst diesmal hier. Kümmere dich um die Hunde. Wenn ich nicht zurückkomme, gehören sie dir.« Der Junge erfasste den Ernst der Situation sofort, das verriet der besorgte Ausdruck in seinen Augen. Die Kinder dieser Zeit kamen Alex übermäßig reif für ihr Alter vor, was ihn immer wieder in Erstaunen setzte. Gregor wirkte oft mehr wie ein erwachsener Mann als wie ein kleiner Junge. »Ihr wollt die Hunde hierlassen?« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Und mich auch?« »Ich kann nur ein paar Männer mitnehmen. Wir müssen schnell vorankommen, also verzichten wir auf Karren und Diener und beschränken uns auf Waffen und Bettzeug. Und ausgelassene junge Hunde kann ich auch nicht brauchen. Du bist alt genug, um das zu begreifen.« »Aye, Mylord.« »Guter Junge. Und sag niemandem, was wir heute Nacht vorhaben. Geh ins Bett, und wenn die anderen unser Fehlen bemerken, erzählst du ihnen, du wärst zu Bett geschickt worden und hättest uns nicht aufbrechen sehen. Was ja auch der Wahrheit entspricht.« »Aye, Mylord.« Mit vor Aufregung funkelnden Augen verneigte sich Gregor und verließ den Raum. Das Feuer war heruntergebrannt und die Nacht tiefschwarz hereingebrochen, als Patrick kam, um Alex aus dem Bett zu helfen. Seine Wunde brannte und schmerzte bei jeder Bewegung, 23 1
bis er kaum noch atmen konnte. Er musste sich auf den Priester stützen, weil seine Beine unter ihm nachzugeben drohten. Die Stufen zur großen Halle ragten so unbezwingbar vor ihm auf wie der Mount Everest. Am Fuß der Treppe blieb er stehen, um kurz zu verschnaufen, ehe er sich an den langen Aufstieg wagte. Oben auf dem Treppenabsatz saß Trefor mit angezogenen Knien unter einer großen, flackernden Fackel in einem Wandhalter und starrte zu Alex und Patrick hinunter. »Macht ihr einen Ausflug?« Alex gab keine Antwort. Patrick sah ihn fragend an. »Du brauchst dich nicht halb umzubringen, nur um mir etwas zu beweisen«, knurrte Trefor. »Es kümmert mich einen Dreck, was du denkst.« Trefors Gesichtsausdruck besagte, dass er die Lüge mühelos durchschaute. »Tot nützt du ihr überhaupt nichts mehr.« »Wenn ich hilflos hier liege, nütze ich auch nichts.« »Wo du recht hast, hast du recht.« Trefor zuckte die Achseln, als sei es ihm völlig egal, was Alex tat ‐ gleichfalls eine leicht zu durchschauende Lüge. »Aber keine Angst, ich habe nicht vor, dir in den Rücken zu fallen«, fuhr Trefor fort. »Ich werde deine Interessen bei Robert gut vertreten und mich um deine Männer kümmern.« Alex konnte nicht umhin, seinem Misstrauen durch ein leichtes Neigen des Kopfes Ausdruck zu verleihen. Je eindringlicher Trefor beteuerte, keine Ränke spinnen zu wollen, desto weniger glaubte er ihm. Aber alles, was er sagte, war: »Gut. Wir sind uns also einig.« »Wirklich?« »Versuch irgendwelche Tricks, und du wirst es bereuen. Dann komme ich höchstpersönlich mit einer Armbrust hinter dir her.« »Alex ...« 24 »Es ist mein Ernst.« Trefor schwieg und kniff die Lippen zusammen. Endlich sagte er: »Aye, Mylord«, erhob sich und ging davon. Alex und Patrick stiegen die Stufen empor, traten in das Außenwerk hinaus und gesellten sich zu den anderen drei Männern, die sie auf das Festland begleiten würden, um Lindsay zu suchen. Lindsay setzte sich während des gesamten Ritts, wo auch immer er hinführen mochte, erbittert gegen ihre Häscher zur Wehr. Zuerst hatten die Männer sich damit begnügt, ihr lediglich die Hände zu fesseln, aber bei der ersten sich bietenden Gelegenheit war sie davongelaufen, und sie hatten sie im westlichen Wald von Eilean Aonarach wieder einfangen müssen. Zwar hatte sie lauthals um Hilfe gerufen, aber die Bauernhöfe waren zu weit weg gewesen, niemand hatte sie gehört. Dann fesselten die Ritter ihre Füße, doch sowie sie über den Rücken eines Pferdes geworfen wurde, strampelte sie sich frei. Stricke wurden um ihre Röcke gewickelt, trotzdem wand sie sich, bäumte sich auf, fluchte und schrie aus Leibeskräften um Hilfe. Endlich wurde sie mit einem Knebel zum Schweigen gebracht, und als sie den Strand erreichten, wurde sie wie ein Sack Getreide in ein Boot geworfen. Die Ritter sprangen unsanfter mit ihr um, als es nötig gewesen wäre; ihre Widerspenstigkeit verärgerte sie sichtlich. Beim Ablegen tuschelten sie in ihrer alten Feensprache miteinander, und ihr Ton besagte deutlich, dass sie Lindsays Widerstand mit allen Mitteln brechen würden. Die Reise dauerte zwei Tage, und am zweiten Tag ließen sie sie gefesselt und geknebelt auf einer Bank sitzen. Der Himmel mochte wissen, wer sie hier draußen auf dem Wasser hören konnte, aber ihr Mund blieb Tag und Nacht mit diesem schmierigen Lumpen verstopft, den die Ritter nur entfernten, wenn sie ihr zu essen gaben. Lindsay fiel auf, dass sich die Feenkrieger nicht die Mühe machten, ihre spitz zulaufenden Ohren zu 24 verbergen; im Gegenteil, sie trugen diese Danann‐Ohren und ihre schimmernden verwunschenen Rüstungen, die niemals rosteten oder anliefen, wie Ehrenabzeichen zur Schau. Sie pflegten sich ausschließlich in ihrer alten Sprache zu unterhalten, die Lindsay nicht verstand, und schenkten ihr abgesehen davon, dass sie darauf achteten, dass sie nicht über Bord sprang, keinerlei Beachtung. Auf Mittelenglisch sprachen sie sie nur an, wenn sie ihr Anweisungen erteilten. Zu essen erhielt sie reichlich, doch sie gewann rasch den Eindruck, dass die Ritter ihr ihre Rationen nur widerwillig zuteilten; so, als hätten sie Befehl erhalten, dafür zu sorgen, dass sie bei Kräften blieb und sich nichts antat. Sie aß, schlief und tat, was ihr gesagt wurde, und wartete auf eine Gelegenheit zur Flucht. Als
ihre Wächter ihr endlich den Knebel abnahmen, begriff sie, dass sie weit weg von Eilean Aonarach sein musste, und ihre Hoffnung schwand. Eine Fluchtmöglichkeit bot sich ihr nie. Als das Boot an einer felsigen Küste anlegte, brachten die Ritter Pferde herbei, und sie ritten in westlicher Richtung weiter. Das Land leuchtete sattgrün, intensiver als auf den schottischen Inseln, und war lange nicht so hügelig. Immer wieder erblickte sie in der Ferne Nebelschwaden, die rasch näher kamen, sich verdichteten und die kleine Reisegruppe umschlossen, bis Lindsay kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Die Hügel verwandelten sich in bedrohliche Schatten, Felsvorsprünge aus grauem Granit in wabernde Gespenster, die vor ihr auftauchten und wieder verschwanden, während die Pferde unbeirrt dem schmalen Pfad folgten, den sie eingeschlagen hatten. Bäume ragten vor ihnen auf und wurden hinter ihnen vom Nebel verschluckt, als seien sie nie da gewesen. Doch dann ließen sie den Nebel unversehens hinter sich und ritten in hellen Sonnenschein hinaus. Lindsay drehte sich im Sattel um. Hinter ihr lag eine graue, undurchdringliche, 25 absolut ebenmäßige Nebelbank, die sich wie eine zweite Chinesische Mauer von Horizont zu Horizont erstreckte. Lindsay spürte, wie ihr ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Dies war kein Naturphänomen, es roch so stark nach Magie ‐machtvoller Magie ‐, dass sie es mit der Angst zu tun bekam. Feen, die über eine solche Macht verfügten, war sie nicht gewachsen; es schien ratsam, sich nicht mit ihnen anzulegen. Vermutlich war noch nicht einmal Danu, die Königin der Tuatha De Da‐ nann, heute noch so mächtig. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn, als sie an die unausweichliche Begegnung mit ihrem Entführer dachte ‐ und daran, was ihr noch bevorstehen mochte. 25
VIERTES KAPITEL
Nach einem weiteren Tag im Sattel bezweifelte Lindsay, dass ihr jetzt noch die Flucht gelingen würde, selbst wenn sie sich von ihren Fesseln befreien konnte. Ihre Handgelenke waren aufgescheuert und bluteten; jeder Muskel ihres Körpers schmerzte, ihre Schultern waren verspannt. In der unnatürlichen Haltung zu reiten, zu der ihre Fesseln sie zwangen, war ein Albtraum; es kostete sie all ihre Kraft und ihr Geschick, sich im Sattel zu halten, denn wenn sie vom Pferd fiel, würden diese Feen sie vermutlich wieder wie einen Sack Mehl über den Rücken des Tieres werfen und ihren Weg fortsetzen, ohne sich groß um sie zu kümmern. Also hielt sie durch und hoffte, bald von dieser Tortur erlöst zu werden. Diese Erlösung nahte, als sie eine Burg erreichten, eine weitläufige Steinkonstruktion, die sie an Bilder der Burg Camelot denken ließ. Die grauen, mit glitzernden Splittern durchsetzten Steine schimmerten wie Metall und fingen sogar an diesem wolkenverhangenen Tag die schwachen Sonnenstrahlen auf. »Wo sind wir?« Die Feenritter gaben keine Antwort, würdigten sie keines Blickes. Seufzend betrachtete sie die Burg, auf die sie zuritten. Verglichen mit ihrem eigenen Schlösschen auf Eilean Aonarach, dessen Bergfried nur einige wenige Räume umfasste, wirkte dieser Gebäudekomplex riesig, er schien sich über das gesamte Tal zu erstrecken. Zahlreiche Türme ragten in der Mitte auf. 25 Alle Gebäude waren in hervorragendem Zustand, sie sahen aus wie neu erbaut. Lindsay fragte sich, ob sie sich vielleicht in Wales befanden, wo Edward I. in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Festungen hatte errichten lassen. Aber eine von Edward gebaute, intakte Burg würde bedeuten, dass dies hier englisches Gebiet war, denn Robert hatte die meisten Garnisonen, die er in den letzten Jahren eingenommen hatte, dem Erdboden gleichmachen lassen. Noch nicht einmal Edinburgh und Stirling waren verschont geblieben, denn Robert hatte um jeden Preis verhindern wollen, dass Edward sie vielleicht eines Tages zurückerobern und als Basis für Feldzüge gegen ihn einsetzen könnte. Aber diese Burg wirkte nicht typisch englisch. Sie war zu glatt. Zu perfekt. Zu . . . schimmernd. Sie passte zu den glänzenden Rüstungen der Ritter, die sie gefangen genommen hatten. Edward hatte sie bestimmt nicht erbaut. Kein menschliches Wesen hätte so ein Bauwerk erschaffen können. Nicht in diesem Jahrhundert.
Dann kam ihr die Erleuchtung. Sie erinnerte sich an ein Gespräch mit An Reubair, in dessen Verlauf er sie gebeten hatte, ihn zu heiraten, und ihr von seinen Ländereien in Irland erzählt hatte; geheimen Orten, die auf keiner von Menschen angefertigten Karte verzeichnet waren. Er hatte gesagt, Irland sei viel größer, als irgendjemand ahnte, weil es dort Gebiete gab, die von den kleinen Leuten beherrscht wurden. Wo er herrschte. Übelkeit stieg in ihr auf, als ihr zu dämmern begann, wer hinter ihrer Entführung steckte. Die Reiter passierten das Tor und gelangten in die Straßen der Stadt, in der offenbar das gemeine Volk lebte. Einige Schaulustige begrüßten die Neuankömmlinge mit einer Vertrautheit, die darauf schließen ließ, dass es sich um Freunde oder Verwandte handelte. Andere hielten sich im Hintergrund und sahen der Gruppe nachdenklich hinterher, die auf den Bergfried 26 zuhielt, der sich über den dicht gedrängten Läden, Werkstätten und Häusern erhob. Kurz darauf ritten die Krieger mit ihrer Gefangenen in den Burghof vor dem Turm ein. Lindsay wurde vom Pferd gezerrt und auf eine kleine Tür zugestoßen. Sie stolperte über den Saum ihrer Röcke, was ihr einen neuerlichen Stoß eintrug. Als sie das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte, machte keiner der Männer Anstalten, ihr aufzuhelfen; sie musste sich alleine wieder hochrappeln. Die Ritter warteten schweigend, versetzten ihr aber keinen weiteren Stoß mehr. Vermutlich waren sie es leid, auf sie warten zu müssen. Sie betraten den Turm, stiegen ein paar Stufen hinunter und kamen in eine kleine, feuchte, modrige Kammer, die man in dieser prächtigen Burg schwerlich vermutet hätte. Anscheinend erstreckte sich die Vorliebe der Danann für Glanz und Reinlichkeit nicht auf ihre Verliese. Sie durchquerten ein Labyrinth aus ähnlich muffigen Kammern und traten durch eine Tür nach der anderen, bis Lindsay jegliche Orientierung verloren hatte. Die Kammern beherbergten keine Insassen, aber in einigen standen Tische, die mit Werkzeugen übersät waren, die sich Lindsay lieber nicht genauer ansehen wollte, denn sie bezweifelte stark, dass es sich dabei um Küchenutensilien handelte. Endlich gelangten sie in einen Raum von der Größe einer öffentlichen Londoner Bedürfnisanstalt; eine fensterlose Zelle mit einem eisenvergitterten Guckloch in der Tür. Einer der Feenritter packte Lindsay und schnitt ihre Handfesseln durch. Dann rissen seine Kameraden ihr ohne jegliche Vorwarnung die Kleider vom Leib. »Hey!« Sie versuchte sich loszumachen, doch der Ritter, der sie festhielt, verstärkte seinen Griff noch, und es schien ihn wenig zu kümmern, ob die Dolchklingen seiner Kumpane Stoff oder Haut aufschlitzten. Ihre Peiniger nahmen ihr Kleid, Hemd, Unterwäsche und ihre Haube sowie ihren gesamten Schmuck
26 ab, auch ihren Ehering und das Rubinhalsband, das sie angelegt hatte, um den Abgesandten des Königs zu beeindrucken. Endlich wurde sie so nackt wie am Tag ihrer Geburt in eine Ecke des winzigen Kerkers gestoßen, und ihre Entführer ließen sie allein. Die Tür fiel zu, ein Schlüssel drehte sich von außen mit metallischem Klirren im Schloss. Lindsay presste eine Handfläche auf die Stelle, wo eben noch ihr Halsband gewesen war. Sie wusste, dass sie den Schmuck nie wiedersehen würde. Er war ein ganz besonderes Geschenk von Alex gewesen, ein Teil einer Belohnung, die er von Robert erhalten hatte, und er hatte es ihr zu einer Zeit überreicht, wo er sich ein so kostspieliges Geschenk kaum hatte leisten können. Sogar jetzt noch war es ein ungeheurer Luxus; der Verkauf der Kette hätte genug eingebracht, um die gesamten Haushalts‐ kosten für mehrere Jahre zu decken. Nun war sie fort. Wie ihr Ring. Geistesabwesend rieb sie über ihren Ringfinger, der ihr noch nackter vorkam als der Rest ihres Körpers. Sie hatte den Ring nie abgelegt, auch dann nicht, wenn sie mit Alex alleine war. Besonders dann nicht. Und jetzt... sie unterdrückte einen traurigen Seufzer. In der Zelle herrschte tiefe Finsternis. Im Raum vor den Verliesen brannte keine Fackel, und das Guckloch in der Tür war so dunkel wie die Wände ringsum. Außerdem war es kalt, denn es gab kein Stroh, noch nicht einmal faulige Binsen auf dem Boden. Sie saß in einem Steinloch, das ebenso nackt war wie sie selbst. Ohne große Hoffnung tastete sie die Wände ab, und als sie keine Lücke fand, setzte sie sich auf den Boden, um abzuwarten, was mit ihr geschehen würde. Plötzlich schoss ihr der Ge‐ danke durch den Kopf, sie könne hier zurückgelassen worden sein, um in dieser Zelle langsam zu verrotten, doch sie kämpfte die aufkeimende Panik sofort entschlossen nieder. Man hatte sie aus
einem bestimmten Grund hierhergebracht, sonst wäre sie schon auf Eilean Aonarach getötet worden. Stattdessen hat 27 ten ihre Entführer ihr regelmäßig zu essen gegeben und dafür gesorgt, dass sie in halbwegs guter körperlicher Verfassung hier ankam. Sie hatten irgendetwas mit ihr vor, und deshalb würden sie sie am Leben lassen. Also betupfte sie behutsam ihre wunden Handgelenke, fasste sich in Geduld und wartete weiter. Endlich döste sie ein. Sie wusste nicht, wie lange sie in der Zelle ausgeharrt hatte, sie konnte die Zeitspanne nur anhand ihres knurrenden Magens abschätzen. Lange genug, um entsetzlich hungrig zu werden, aber nicht so lange, dass der Hunger zur Qual wurde. Stunden vielleicht, aber keine Tage. Die Kälte fraß sich bis in ihre Knochen, und als sie endlich das Rasseln von Schlüsseln hörte, zitterte sie wie Espenlaub. Die Tür wurde aufgestoßen. Lindsay zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie, um sich zumindest notdürftig zu bedecken. Sie blinzelte in das Licht einer Fackel, legte eine Hand vor die Augen und sah eine hochgewachsene Silhouette über sich aufragen. Der Mann hielt die Fackel in die Zelle, und Lindsay erkannte endlich, wer ihr Entführer war. Ihr Verdacht hatte sich bestätigt. »An Reubair.« »Lady Lindsay.« Seine Stimme klang flach. Völlig ausdruckslos. »Willkommen auf der Burg Finias.« Lindsay lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und blickte zu ihm auf, ohne sich die Mühe zu machen, sich zu erheben. Eine Flut von Fragen brannte ihr auf der Zunge, aber sie stellte ihm keine einzige, denn sie ahnte, dass ihr die Antworten ganz und gar nicht gefallen würden. Lange herrschte Schweigen, das An Reubair schließlich als Erster brach. »Haben meine Männer Euch anständig behandelt?« »Wenn Ihr damit meint, dass sie mich von meiner Burg und meinem Mann weggeschleppt, mich wie ein Stück Wild gejagt und mich gefesselt haben, bis ich blutete, mir die Kleider vom 27 Leib gerissen und mich hier in diesem Loch Kälte und Hunger überlassen haben, ja, dann kann ich wirklich nicht klagen.« »Haben sie Euch zu essen gegeben?« Einen Moment erwog sie, ihm keine Antwort zu geben, doch dann wurde ihr klar, dass sie bei ihm nichts erreichen würde, wenn sie sich verstockt zeigte. »Verhungert bin ich nicht.« »Seid Ihr ernsthaft verletzt?« »Nein.« »Dann wurdet Ihr auch anständig behandelt.« Reubair stellte das mit der kühlen, überheblichen Überzeugung eines Mannes fest, der sich wenig um die Meinung anderer schert. »Na schön, Reubair. Warum bin ich hier?« »Weil ich Euch hier haben wollte.« »Das ist mir schon klar. Was wollt Ihr von mir? Abgesehen von Kindern, meine ich. Das Thema hatten wir ja schon.« »Ich will sonst nichts von Euch. Mir geht es nur darum, Kinder mit Euch zu haben.« »Also läuft es auf eine Vergewaltigung hinaus. Vielleicht erinnert Ihr Euch noch daran, dass die Manneszierde des letzten Burschen, der mir Gewalt angetan hat, in einem Feuer verbrutzelt ist.« »Jenkins war ein Narr. Wir beide werden heiraten, denn meine Kinder müssen ehelich geboren werden.« Lindsay stutzte einen Moment, dann fiel ihr wieder ein, dass Reubair ein Christ war. Er trug eine schwere Goldkette um den Hals, an der ein goldenes Kreuz hing. Es stieß ihr seltsam auf, dass eine Fee demselben Glauben angehören konnte wie ein Mensch, aber das war letztendlich nicht ihre Sache. Aber Reubair wusste auch, dass sie bereits mit Alex verheiratet und somit nicht frei für ihn war, was sein Verhalten umso unbegreiflicher machte. »Darüber haben wir doch schon einmal gesprochen. Ich dachte, die Angelegenheit wäre geklärt. Ich habe bereits einen Mann.« 27 »An Dubhar ist tot.« Eine eisige Kälte ergriff plötzlich von Lindsay Besitz. Sie begann zu zittern und mühsam nach Atem zu ringen. »Nein. Er kann nicht tot sein.« Das war unmöglich. Undenkbar. »Er ist tot. Und sowie ich die Bestätigung von seinem Tod erhalten habe, werden wir getraut werden.«
Lindsays Augen wurden schmal. Er klang, als wäre er felsenfest davon überzeugt, dass sie letztendlich nachgeben und ihn heiraten würde und dass allein Alex zwischen ihnen stand. »Vergesst es. Ich werde niemals Eure Frau werden, Reubair.« »O doch, das werdet Ihr.« »Niemals, egal, was geschieht. Also lasst mir jetzt Kleider bringen und gebt mir ein Pferd, dann seid Ihr mich los. Ich werde niemals einwilligen, Euch zu heiraten.« An Reubair schnaubte. »Das ist mir durchaus bewusst. Ich erwarte gar nicht von Euch, dass Ihr einwilligt, aber das ist auch unerheblich. Mein Priester wird die Trauung vollziehen, und dann seid Ihr meine Frau, ob Ihr wollt oder nicht.« Er ging nicht weiter darauf ein. Nähere Erklärungen schien er für überflüssig zu halten. Lindsays Unbehagen wuchs. »Ohne meine Zustimmung findet keine Trauung statt.« Er runzelte sichtlich verwirrt die Stirn. »Eure Zustimmung ist nicht erforderlich.« »Eine solche Ehe wäre ungültig.« »Ganz und gar nicht. Nach der Trauung seid Ihr meine Frau, und als solche ist es dann Eure Pflicht, mir Kinder zu schenken. Einen Erben.« Lindsay hatte es die Sprache verschlagen. Ihr kam etwas in den Sinn, was Alex einmal zu ihr gesagt hatte ‐ dass er sie zur Heirat zwingen konnte. Ehe sie sich aus freien Stücken einverstanden erklärt hatte, hatte er gemeint, Hector hätte ihn gedrängt, sie zu zwingen, ihn zu heiraten. Sie hatte ihm damals nicht geglaubt ‐ hatte gedacht, er triebe einen üblen Schaber 28 nack mit ihr‐, aber jetzt hörte sie genau dasselbe aus Reubairs Mund. »Eine erzwungene Heirat?« »Aye. Sie ist vor Gott genauso >gültig<, wie Ihr sagt, wie jede andere Ehe auch.« Was in dieser Zeit, in der das weltliche Leben so eng mit dem religiösen verbunden war, nichts anderes hieß, als dass das Gesetz sie billigte. Die Wände der winzigen Zelle schienen sich noch enger um Lindsay zu schließen. In ihrem Kopf drehte sich alles. Ein Schrei drängte sich ihr über die Lippen, aber sie schluckte ihn hinunter und begann noch stärker zu zittern. Es kostete sie all ihre Kraft, sich zu beherrschen. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte Reubair die Augen ausgekratzt. Ihre Nägel gruben sich in ihre Handflächen, ihre Gedanken überschlugen sich, während sie fieberhaft nach einem Ausweg suchte, und ihre Miene hellte sich auf, als sie auf einen stieß. »König Robert würde eine solche Vorgehensweise niemals dulden. Wenn Alex tot ist ...« Sie schloss einen Moment lang die Augen, um das entsetzliche Bild auszublenden. »Wenn er tot ist, dann fällt all sein Besitz und somit auch die Verantwortung für meine Person an den König zurück. Er allein entscheidet dann, ob und wen ich heirate.« »Er wird einverstanden sein, vor allem schon deshalb, weil er erst davon erfahren wird, wenn alles vorbei ist. Daran hege ich nicht den geringsten Zweifel. Ihr seid nicht reich genug und verfügt auch über keine so guten Beziehungen, dass sich Seine Majestät nach An Dubhars Tod große Gedanken über Euer Schicksal machen müsste. Solange ich keine Mitgift verlange, wird er Euch bereitwillig in meine Hände geben. Seine Schatztruhen waren noch nie gut gefüllt, und seine Feldzüge verschlingen viel Geld.« Lindsays Mut sank. Reubair hatte recht, außer Alex hatte sie in diesem Jahrhundert keine Familie, und da sie angeblich aus Ungarn stammte, auch keine Eltern, keine Mitgift und kei 28 nen Einfluss. Sie war zu unbedeutend, als dass Robert sich die Mühe machen würde, sich für sie einzusetzen, und Reubair war wohlhabend genug, um den ständig in Geldnöten steckenden König im Gegenzug für ihre Hand eine größere Summe Gold zukommen zu lassen. Ihre Lage war hoffnungslos. Sie konnte nichts anderes tun, als die Arme um die Knie zu schlingen und den Feenritter grimmig anzustarren. Reubair musterte sie wie eine Kuh, von der er sich eine Schar Kälber erhoffte, dann spielte ein leises Lächeln um seine Lippen. »Wenn die Ehe erst einmal vollzogen ist, wird sich Eure Feindseligkeit mir gegenüber sicherlich legen.« »Rechnet lieber nicht damit.« »Wir werden sehen.« Er gab dem Kerkermeister die Fackel zurück und verließ die Zelle. Der Wärter schloss die Tür und drehte den Schlüssel um. Schritte verklangen, und Lindsay blieb allein mit sich und dem Entsetzen, in das sie Reubairs Worte versetzt hatten, im Dunkeln zurück.
Ein plötzlicher Temperaturabfall bewirkte, dass sie die nächsten Tage am ganzen Leibe zitternd und mit eng an die Brust gezogenen Knien in einer Ecke der Zelle verbrachte. Zum ersten Mal dachte sie über ihren möglichen Tod nach und wusste, dass sie ihn als Erlösung willkommen heißen würde. Sie vermied es, an Alex zu denken, denn wenn sie es tat, schnürte sich ihre Brust vor Kummer zusammen, bis sie kaum noch atmen konnte. Der Schmerz war unerträglich, also verdrängte sie ihr Heim und ih‐ ren Mann aus ihren Gedanken und konzentrierte sich auf ihre missliche Lage. Vermutlich saß sie jetzt schon mehrere Tage in diesem elenden Loch. Die genaue Zeitspanne zu bestimmen erwies sich als unmöglich, denn sie erhielt ihre Mahlzeiten in unregelmäßigen Abständen und schlief oft aus purer Langeweile heraus. Die Kälte hielt an. Von Zeit und Zeit stand sie auf, streckte sich und drehte in ihrer Zelle kleine Kreise, dabei strich sie mit 29 den Fingern leicht über die Steinmauer, um nicht dagegen zu stoßen. Es war ein kurzer Rundgang, und in dem Raum war es so dunkel, dass sie sich anfangs nur anhand der hölzernen Tür orientieren konnte. Nach einigen Tagen war sie jedoch mit der Oberflächenbeschaffenheit der grob behauenen Steine in Höhe ihrer Schultern wohlvertraut. An der linken Wand gab es eine Stelle, wo der Mörtel sehr dünn und die Fugen zwischen den Steinen schmal waren, und in der hinteren Mauer wölbte sich ein großer Stein leicht vor. Nur ein Schritt lag zwischen ihm und der Zellenecke. Dieser Stein wurde bald für sie zu einem Gefährten; einem freundlichen Gesicht, das einem vielleicht über Jahre hinweg Tag für Tag an einer Bushaltestelle begegnete. Zu essen erhielt sie reichlich, und wenn die Speisen auch ziemlich fad schmeckten, waren sie vermutlich um einiges besser als das, was andere Gefangene erhielten. Reubair wollte sie eindeutig bei Kräften halten. Also verweigerte sie fortan die Nahrung. Das Gitterfenster in der Tür war zwar klein, dennoch gelang es ihr, sich der Fleisch‐ und Brotstücke, die ihre Rationen darstellten, zu entledigen, indem sie sie durch die Lücken zwischen den Stäben hindurchschob. Als der Wärter dazu überging, ihr stattdessen Eintopf und Suppe zu bringen, die sie schlecht durch das Gitter kippen konnte, schüttete sie ihr Essen einfach in den Eimer, in den sie sich erleichterte. Außer Wasser nahm sie nichts zu sich. Wie lange das so ging, konnte sie nicht sagen. Sie sah keinen Sonnenaufgang, keinen Sonnenuntergang, und der Hunger nagte unaufhörlich mit scharfen Zähnen an ihr, bis er schließlich einen harten Klumpen in ihrem Magen zu bilden schien. Benommen kauerte sie auf dem Boden ihrer Zelle, döste ein und schrak wieder hoch. Irgendwann einmal kam ihr der Gedanke, Reubair könne sie tatsächlich hier unten vermodern lassen, und nach einer Weile begann sie zu hoffen, der Tod werde sie bald erlösen. 29 Die Einsamkeit setzte ihr genauso zu wie die Kälte, und wenn der Wärter mit ihrem Essen kam, versuchte sie ihn in ein Gespräch zu verwickeln, erhielt aber nie eine Antwort. Jeder Versuch, einem von Reubairs Handlangern ein Wort zu entlocken, schlug fehl, genauso gut hätte sie mit der Wand reden können. Was sie ab und an auch tat, und manchmal murmelte sie leise und verzagt ein Gebet vor sich hin, dann schloss sie wieder die Augen und versank in ihren trüben Gedanken. Die Dunkelheit umschloss sie wie ein kaltes Leichentuch. Schon bald meinte sie, seit einer Ewigkeit kein Licht mehr gesehen zu haben und vermutlich nie wieder welches zu sehen. Sie wehrte sich nicht gegen diese Illusion, denn sie konnte an ihrer Lage nichts ändern. Manchmal, wenn die Stille unerträglich wurde, summte sie yor sich hin, aber gegen die ewige Finsternis konnte sie nichts ausrichten. Als Reubair dann erneut zu ihr kam, erschien er ihr wie ein Wesen aus einer anderen Welt, denn ihre Welt bestand nur noch aus Kälte und Einsamkeit und schloss ihn nicht ein. Die Tür wurde aufgestoßen. Lindsay blickte auf, schützte ihre Augen mit einer Hand vor dem grellen Licht von Reubairs Fackel und verkniff sich eine sarkastische Bemerkung der Art, es sei nett von ihm, wieder einmal vorbeizuschauen. Da sie nicht wusste, was er mit seinem Besuch bezweckte, empfahl es sich, auf der Hut zu sein. »Ihr müsst um eine Scheidung ersuchen«, sagte Reubair unvermutet. »In Ordnung. Ich verklage Euch auch nicht auf Unterhalt.« Lindsay kicherte, obwohl die Antwort nicht besonders witzig war und er sie vermutlich gar nicht verstehen konnte. Aber es tat gut, lachen zu können. »Ich habe hier einen Brief, den Ihr unterzeichnen müsst. Darin bittet Ihr den Papst, Eure Ehe mit Cruachan zu annullieren. Sie ist ungültig.«
30 »Das ist sie nicht.« »O doch. Die vorgeschriebene Verlöbnisfrist wurde nicht eingehalten.« »Das stimmt nicht. Und woher wollt Ihr das überhaupt wissen? Ihr wart ja nicht dabei. Damals kannte ich Euch noch gar nicht ‐ dem Himmel sei Dank.« Dann kam ihr die Erkenntnis, und sie meinte, eine Zentnerlast werde von ihr genommen. »Alex ist noch am Leben. Ihr habt Nachricht von ihm, und er lebt noch.« Schweigen schlug ihr entgegen. Reubair weigerte sich, ihr zu antworten, und das war so gut wie ein Ja. Lindsays Augen füllten sich gegen ihren Willen mit Tränen. Alex war am Leben! Rasch murmelte sie ein leises Dankgebet. »Ihr werdet dieses Schreiben unterzeichnen«, beharrte Reubair. »Das werde ich nicht tun.« »Ihr werdet unterschreiben oder hier unten verrotten.« »Na schön.« Ein triumphierender Ausdruck trat auf An Reubairs Gesicht, doch dann fügte sie hinzu: »Dann werde ich eben weiter hier verrotten. Seid so gut und schließt die Tür hinter Euch, wenn Ihr geht.« Der Triumph verflog, seine Miene verfinsterte sich. »Warum besteht Ihr eigentlich darauf, dass ich dieses Schreiben unterzeichne?«, erkundigte sich Lindsay neugierig. »Die meisten Männer in Eurer Position würden einfach meine Unterschrift fälschen, und damit hätte es sich.« »Das verstieße gegen das Gesetz, und damit wäre die Eheannullierung nichtig.« »Aber das wüsste doch niemand.« »Gott würde es wissen.« Lindsay öffnete den Mund, um ihn zu fragen, ob er wirklich glaubte, Gott würde eine unter Zwang unterschriebene Erklärung eher gelten lassen, besann sich dann aber. Eine Dis 30 kussion über dieses Thema war von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Sie hatte in den letzten Jahren in mehrfacher Hinsicht mit einem schweren Kulturschock zu kämpfen gehabt und sich nicht nur an ein Leben ohne jeglichen modernen Komfort, sondern auch an ein Rechtssystem gewöhnen müssen, in dem kaum ein Unterschied zwischen kirchlichem und weltlichem Recht bestand. Reubair wollte eine Annullierung ihrer bestehenden Ehe und den Segen des Papstes für seine geplante erzwungene Eheschließung mit ihr. Wie er dazu kam, war ihm egal; Hauptsache, er zog nicht Gottes Zorn auf sich. Anscheinend war es nur die Zeremonie als solche, die zählte, und es galt nicht als illegal, eine Frau zur Heirat zu zwingen oder ihre Unterschrift unter einem Dokument zu erpressen. Nachdem sie tief Atem geholt hatte, herrschte sie Reubair an: »Geht mir aus den Augen! Ich werde Euren Brief nicht unterzeichnen! Eher sterbe ich!« »Diese Möglichkeit besteht leider.« Keine düstere Drohung schwang in der Stimme des Feenritters mit, nur ein Anflug von Bedauern. »Aber vorher gibt es noch andere Methoden, um Euch davon zu überzeugen, dass Ihr gut daran tätet, Euch meinen Wünschen zu fügen. Wollt Ihr es wirklich darauf ankommen lassen?« »Wenn Ihr mich kräftig und gesund genug erhalten wollt, um Euch Kinder zu gebären, solltet Ihr mich lieber nicht in die Hände Eurer Folterknechte geben.« »Es gibt verschiedene Arten von Folter. Wir Danann sind da äußerst erfinderisch, und wir kennen die Schwächen von euch Sterblichen.« Lindsay erschauerte. Sie konnte nur hoffen, dass er es im Dämmerlicht nicht bemerkt hatte. »Dann tut Euch keinen Zwang an.« Reubair erwiderte nichts darauf, sondern sah sie nur einen 30 Moment stumm an, dann verließ er die Zelle. Die schwere Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Wieder wurde Lindsay von schwarzer, undurchdringlicher Finsternis umfangen. Doch schon wenige Minuten später kam der Wärter zurück. »Steht auf«, befahl er ihr. Eine eiserne Kette baumelte an seiner Hand. Lindsay erhob sich langsam. Der Mann kniete sich hin, befestigte die Kette an ihrem Fußknöchel und drückte ihr das andere Ende in die Hand. »Kommt mit.«
Die Neugier siegte über ihre Angst. Was um alles in der Welt hatte er mit ihr vor? Sie folgte ihm widerstandslos aus der Zelle heraus. Er führte sie mehrere Treppen empor und durch unzählige dunkle Kammern, bis Lindsay den Rückweg zu ihrer Zelle nicht mehr gefunden hätte, selbst wenn sie das gewollt hätte. In den Räumen im oberen Stock prasselten helle Feuer in den Kaminen. Ihre vor Kälte erstarrten Gliedmaßen begannen zu prickeln, als die Blutzirkulation langsam wieder in Gang kam. Endlich gelangten sie in einen Raum, bei dem es sich um die große Halle handeln musste. Da jetzt keine Essenszeit war, hielt sich nur eine kleine Anzahl auffallend gut gekleideter Leute in dem weitläufigen Saal auf. Alle blickten auf, als der Wärter Lindsay durch den Raum führte, und ihr wurde plötzlich peinlich bewusst, dass sie keinen Faden am Leib trug. Eine brennende Röte breitete sich auf ihrem Gesicht aus, dunkelrote Flecken begannen auf Brust und Armen zu lodern, was sie als noch erniedrigender empfand, als hier splitternackt zur Schau gestellt zu werden. Sie überkreuzte die Arme und bedeckte mit einem notdürftig ihre Brust, den anderen presste sie vor ihre Leistengegend. Davon abgesehen bot sie all ihre Kraft auf, um sich einen letzten Rest von Würde zu bewahren. Es fiel ihr schwer, aber es gelang ihr, die gaffenden Männer im Raum ihrerseits anzustarren, 7.4 ohne mit der Wimper zu zucken, und sie bemerkte, dass es sich ausnahmslos um Feen handelte. Außer Danu, der sie vor einigen Jahren einmal kurz begegnet war, hatte sie noch nie Danann gesehen, die ganz offensichtlich der Oberschicht angehörten. Zu ihrem Missvergnügen erkannte sie in einem der Ritter einen Räuber namens Iain wieder, der ihrem Erzfeind Jenkins damals geholfen hatte, sie zu vergewaltigen. Er war jetzt aufwändiger und kostspieliger gekleidet als zu der Zeit, wo er zusammen mit ihr und An Reubairs Truppe englische Dörfer im Grenzgebiet überfallen hatte. Bei seinem Anblick verengten sich ihre Augen zu schmalen, bösen Schlitzen, doch seine einzige Reaktion bestand darin, dass er den Blick von ihr abwandte. Der Wärter brachte sie in den Burghof hinaus und blieb vor einem Felsen stehen, der in der Nähe einer hohen Gartenmauer aus dem Boden ragte. Er nahm ihr das Kettenende aus der Hand, kniete sich erneut hin, schob einen eisernen Dorn durch das letzte Kettenglied, zog einen Hammer aus seinem Gürtel und trieb den Dorn in das harte Gestein. Lindsay blickte sich benommen um, dann dämmerte ihr, was mit ihr geschah. Sie wurde an diesen Felsen gekettet, mitten auf dem Burghof, auf dem es von Menschen wimmelte wie auf einer belebten Straße, und sie war ihren gierigen Blicken hilflos ausgesetzt. Der Wärter richtete sich auf und ging ohne ein weiteres Wort davon. »Wartet!«, rief Lindsay ihm nach. »Was soll das? Wie lange ...« Der Mann gab keine Antwort, und Lindsay wurde klar, wie lange sie hier würde ausharren müssen. Bis sie diesen verwünschten Brief unterschrieb. Sie blickte zu den hohen Fenstern der oberen Stockwerke des Turms empor. Reubair ließ wirklich nichts unversucht, um sie zu zermürben. Dieser Narr. Bei ihr würde er damit auf Granit beißen. 31 Sie konnte nur versuchen, ihr Schamgefühl zu verdrängen und zu hoffen, dass er möglichst bald klein beigab. Einmal mehr blieb ihr nichts anderes übrig, als sich in ihr Los zu fügen. Sie war nackt an einen Felsen gekettet, und daran würde sich auch nichts ändern, wenn sie schrie oder an ihrer Kette zerrte, sie würde nur noch mehr unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich lenken, als sie es ohnehin schon tat. Also prüfte sie, wie viel Spielraum ihr die Kette ließ. Der Stein, an den sie gefesselt war, reichte ihr nur bis zum Knie, und die Kette erlaubte es ihr gerade, auf die andere Seite zu klettern. Zwischen Fels und Gartenmauer war der Boden flach, und wenn sie ein Bein oder einen Arm ausstreckte, konnte sie die glitzernden Steine fast berühren. Noch einmal musterte sie ihre Umgebung, dann seufzte sie. »Wirklich eine fürstliche Unterkunft.« Auf der zum Burghof gewandten Seite des Felsens reichte die Kette fast bis zur Mitte zwischen Turm und Stall, und abgesehen von der Graniterhebung bestand der Untergrund innerhalb ihrer Reichweite aus festgetretener Erde und ein paar Steinplatten. Sie setzte sich auf den Felsen, zog die Knie an die Brust und ignorierte die neugierigen Blicke der Burgbewohner und Dienstboten stoisch, obwohl sie sich am liebsten in einem Loch verkrochen hätte. Manche Gaffer senkten daraufhin betreten den Kopf und hasteten weiter, andere grinsten nur spöttisch. Kurz darauf wurde ihr Essen gebracht, das sie sofort so weit von sich schleuderte, wie es ihr möglich war, und dann zusah, wie sich ein paar hungrige Hunde darauf stürzten. Wenn Reubair dachte, sie
würde ihren Hungerstreik angesichts ihrer neuen misslichen Lage abbrechen, dann irrte er sich gewaltig. Sie trank einen Schluck Wasser, nahm aber keinerlei feste Nahrung zu sich. Nach einer Weile musste sie urinieren. Da sie den Boden nicht beschmutzen wollte, hielt sie den Harndrang zurück, obwohl 32 sie sicher war, dass man ihr keinen Eimer bringen würde. Und sie behielt recht. Als die Sonne unterging, zwickte ihre Blase so sehr, dass sie es kaum noch ertragen konnte. Sie musste Wasser lassen, sonst würde der Urin irgendwann unkontrolliert an ihren Beinen herunterrinnen, was ungleich schlimmer wäre. So ging sie bis zum äußersten Ende ihrer Kette und hockte sich zwischen Fels und Gartenmauer. Der warme Strom benetzte ihren Fuß, und sie dachte sarkastisch, dass sie sich glücklich schätzen konnte, keine Kleider zu tragen, die jetzt unweigerlich auf widerwärtige Weise besudelt worden wären. Nachdem sie sich erleichtert hatte, richtete sie sich auf, schob mit dem Fuß etwas Erde über den nassen Fleck und kehrte zu ihrem Platz auf dem Felsen zurück, wo sie die Arme um den Oberkörper schlang und fröstelnd ausharrte, bis die Sonne unterging. So ging es tagelang weiter. Lindsay setzte ihren Hungerstreik unbeirrt fort, und ihre Kräfte begannen zu schwinden. Je schwächer sie wurde, desto mehr schlief sie und störte sich immer weniger an den Blicken der Vorübergehenden. Die Ecke, in der sie ihre Notdurft verrichtete, begann zu stinken wie ein Abtritt, aber auch das kümmerte sie nicht mehr. Immer wenn das Entsetzen über ihre Situation sie zu überwältigen drohte, konzentrierte sie ihre Gedanken auf Alex. Ihr Mann war noch am Leben. Nichts sonst zählte. Als der Wärter ihr eines Tages wortlos ein paar Kleidungsstücke hinwarf, hob sie sie auf und starrte sie benommen an ‐ ein schweres seidenes Überkleid mit überlangen Ärmeln, Unterkleider aus leichterer Seide und Schuhe mit über die Zehen gebogenen Kappen; eine bei Feen beliebte Mode, die auch in der Welt der Menschen immer mehr Einzug hielt. Der Mann zog sich sofort wieder zurück, ehe sie fragen konnte, was das zu bedeuten hatte. Lindsay erhob sich langsam und wurde sofort von einem heftigen Schwindelgefühl übermannt. Sie taumelte ein paar 32 Schritte vor, richtete sich dann auf, hielt das Kleid in die Höhe und betastete es. Nachdem sie sich so lange Zeit noch nicht einmal in eine Decke hatte hüllen können, erschien ihr dieses Gewand als unerhörter Luxus. Abgesehen davon, dass sie endlich ihre Blöße bedecken konnte, spendete das Kleid auch eine willkommene Wärme. Rasch streifte sie die Sachen über, so gut es ihr ohne eine Zofe, die ihr beim Schließen der Knöpfe und Schnüren der Bänder behilflich war, möglich war. Unterwäsche fehlte, aber sie hätte sie ohnehin nicht über ihre Fußfessel ziehen können. Gerade als sie sich fragte, warum ihr die Ärmel des Kleides fast bis zu den Fingerspitzen reichten, kam der Wärter zurück und befreite sie von dem Felsen. »Hier entlang«, sagte er, dabei deutete er auf den Bergfried. Wieder durchquerten sie die große Halle und ein Labyrinth von Gängen. An jeder Kreuzung wies ihr Bewacher ihr mit einem stummen Nicken die Richtung, in die sie gehen sollte. Während sie eine schmale Wendeltreppe emporstieg, strich sie ihr Kleid glatt und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Unter der teuren Seide war sie noch immer so schmutzig, wie man nur sein konnte, und sie spürte Ungeziefer auf ihrer Kopfhaut herumkrabbeln. Ein Bad wäre sicherlich zu viel verlangt, aber sie hätte viel für eine ungestörte halbe Stunde an einem Feuer gegeben, um sich von den lästigen Parasiten zu befreien. Sie kratzte sich am Kopf und fragte sich müßig, wohin der Wärter sie wohl brachte. Nachdem sie verschiedene Räume passiert und zahlreiche Türen hinter sich geschlossen hatten, fand sich Lindsay in einer Kammer wieder, die keinen zweiten Ausgang hatte ‐ offensichtlich ein Schlafgemach, denn es enthielt ein riesiges Bett mit Samtvorhängen und ein wesentlich kleineres Schrankbett mit geschnitzten Holztüren. Gegenüber vom Kamin hing ein kostbarer bunter Wandbehang, der einen Schwärm geflügelter Feen bei der Jagd auf einen Drachen zeigte, und an einem Ende 32 des Raumes stand ein schwerer Tisch, der vier Personen Platz bot. Obwohl er nur für zwei gedeckt war, bog er sich fast unter unzähligen Platten mit Speisen, die für eine ganze Kompanie Soldaten ausgereicht hätten. Der würzige Duft gebratenen Fleisches stieg Lindsay in die Nase und ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ihr Magen krampfte sich zusammen, ihr Herz begann zu
hämmern, und sie musste sich bezwingen, um sich nicht auf das Essen zu stürzen und sich die Bissen mit beiden Händen in den Mund zu stopfen. Ihre Beine schienen sich in Wasser zu verwandeln. Noch nicht einmal die Mahlzeiten auf Eilean Aonarach hatten so verlockend geduftet, und der Hunger schärfte ihre Sinne noch. Vor einem Gedeck saß An Reubair lässig zurückgelehnt auf einem Stuhl und stützte einen Arm auf die Lehne. Sein langes blondes Haar fiel ihm lose auf die Schultern, als er den Kopf neigte und sie mit undurchdringlicher Miene musterte. Lindsay fühlte sich mit einem Mal so abstoßend schmierig, dass sie ihn kaum anzusehen wagte, aber sie zwang sich, seinen Blick kühl und abschätzend zu erwidern. Sie erschauerte kurz, dann ließ das Frösteln, das ihren Körper schüttelte, nach, und eine zaghafte Wärme breitete sich in ihr aus. Wie Iain war auch Reubair in eine makellos saubere Tunika gekleidet. Seine Hosen wiesen nicht den kleinsten Fleck oder irgendeine Knitterfalte auf. Seine Finger waren mit Ringen geschmückt, und um seinen Hals lag ein Kragen aus schweren goldenen, teilweise emaillierten Gliedern in Form von Kreuzen und Rosen. Sie hatte einmal gehört, er wäre unermesslich reich, was sie damals allerdings nicht geglaubt hatte. Vielleicht hätte sie den Geschichten über die sagenhaften Schätze des Feenvolkes doch nicht einfach als an den Haaren herbeigezogen abtun sollen. Reubair rümpfte leicht die Nase. »Ihr riecht ziemlich streng«, stellte er sachlich fest. »Und Ihr seid ein widerlicher Mistkerl. Ich kann ein Bad neh 33 men, und das Problem ist vom Tisch. Euch dagegen ist leider nicht zu helfen.« Er lächelte; ein belustigter Funke begann in seinen Augen zu tanzen. Gott schütze sie vor Männern, die sie für witzig und geistreich hielten, dachte Lindsay entnervt. »Setzt Euch doch und bedient Euch«, forderte Reubair sie auf. Er nickte zu den Speisen auf dem Tisch hinüber: geröstetes Fleisch und Ge‐ flügel, gebackene, mit Nüssen gefüllte und mit süßer Sauce überzogene Früchte und Konfekt aus gesponnenem Zucker, so perfekt geformt, dass sie wusste, dass Magie dabei im Spiel gewesen sein musste. Als sie nicht reagierte, sondern nur dumpf zu Boden starrte, drängte er: »Greift nur zu. Ihr habt nichts zu befürchten.« Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Wenn er sie eigens darauf hinwies, war mit Sicherheit etwas faul. Sie wagte keinen Muskel zu rühren; sie befürchtete, dann endgültig die Kontrolle über sich zu verlieren. »Jetzt ziert Euch doch nicht so.« Unüberhörbare Gereiztheit, gepaart mit Ungeduld, schwang in seiner Stimme mit. »Ihr habt gewonnen. Ich habe Euch die Kette abnehmen lassen. Jetzt solltet Ihr doch eigentlich zufrieden sein.« »Ich möchte endlich nach Hause zurück. Und ich will meinen Ehering wiederhaben.« »Seid doch dankbar, dass ich Euch von diesem Felsen befreit habe!« »Auch das hier ...«, Lindsay blickte sich vielsagend im Raum um, » ... ist und bleibt Gefangenschaft.« »Mit Eurem langsamen Selbstmord erreicht Ihr doch nichts.« »O doch. Wenn ich tot bin, bin ich bei Alex.« Sie funkelte ihn herausfordernd an. »Oder auch nicht.« Das brachte Reubair einen Moment lang zum Schweigen. Nachdem er eine Weile überlegt hatte, schlug er vor: »Dann 33 lasst uns reden. Mit vernünftigen Argumenten könnt Ihr mir vielleicht erklären, welche Fehler ich gemacht habe. Aber esst erst etwas, denn ich bin sicher, dass Ihr vor Hunger kaum noch klar denken könnt.« Wie sehr er mit dieser Vermutung ins Schwarze getroffen hatte, zeigte sich schon daran, dass sie ernsthaft erwog, sich auf eine Diskussion mit ihm einzulassen. Als sie die Platten auf dem Tisch betrachtete, musste sie hart schlucken, wodurch sich ihr erlahmender Widerstand verriet. »Bitte esst jetzt. Wenn Ihr dann immer noch darauf besteht, werde ich Euch in Eure Zelle zurückbringen lassen, und Ihr könnt Euren Protest fortsetzen, bis Ihr dort unten verschimmelt und verrottet.« Das gab den Ausschlag. Ihr Überlebenswille trug den Sieg über ihre Vorsätze davon, und ihr Körper reagierte, ohne den Befehl dazu von ihrem Gehirn erhalten zu haben. Sie ließ sich auf den Stuhl links von Reubair nieder, griff nach einem Stück Fleisch und schlang es gierig hinunter. Es war das Köstlichste, was sie je gegessen hatte, so zart, dass es auf der Zunge zerging. Fett rann ihr über das Kinn und tropfte auf ihre Brust. In Ermangelung einer Serviette tupfte sie sich das Gesicht mit einer Ecke des Tischtuchs ab. Während sie aß, nahm Reubair sich gleichfalls
einen großen Batzen Fleisch, biss ein Stück davon ab und kaute langsam, ohne dabei den Blick von ihr zu wenden. Lindsay senkte den Kopf, als er den silbernen Kelch an ihrem Platz mit etwas füllte, das wie gewürzter Met aussah. Dann nippte er an seinem eigenen Kelch. Er enthielt gewöhnlichen Traubenwein, und sie fragte sich, warum er ihr nichts davon angeboten hatte. Allerdings wusste er, dass sie englischen Wein genauso sehr verabscheute wie Met, also machte es letztendlich keinen Unterschied. Sie kaute, schluckte das Fleisch so hastig wie möglich hinunter und biss erneut in ihr Bratenstück. Dann beharrte sie mit vollem Mund: 34 »Ich werde Euch trotzdem nicht heiraten. Macht Euch also keine falschen Hoffnungen.« »Ihr werdet mich heiraten. Und ich denke, wenn es so weit ist, werdet Ihr aus freien Stücken dazu bereit sein. Nicht, dass es auf Eure Zustimmung ankäme, wie ich Euch schon einmal erklärt habe. Ihr werdet meine Frau, ob Ihr wollt oder nicht.« »Lieber sterbe ich!« »Warum so verstockt? Ich bin ein reicher Mann, ich kann Euch alles geben, was Ihr Euch wünscht. Warum fügt Ihr Euch nicht in Euer Schicksal und macht das Beste daraus?« »Ihr könnt mir nichts geben, worauf ich Wert lege. Ihr liebt mich nicht, und Ihr respektiert mich nicht. Und da ich bereits einen Sohn habe, kommt Ihr auch zu spät, um mir zum Mutterglück zu verhelfen.« Das wusste Reubair bereits, aber er wusste nicht, dass Trefor in einem anderen Jahrhundert zu einem erwachsenen Mann herangereift war, genauso wenig wie er ahnte, dass sie selbst nicht aus dieser Zeit stammte. Aber diese Informationen gedachte sie für sich zu behalten. Sie fuhr fort: »Mit Reichtum könnt Ihr mich nicht beeindrucken. Eure Fertigkeiten als Schwertkämpfer sind nicht so überragend, dass sie mich dahinschmelzen lassen würden, und Eure magischen Kräfte, so Ihr denn über welche verfügt, lassen mich kalt. Kurz gesagt, habt Ihr mir überhaupt nichts zu bieten.« »Dann muss ich Euren Widerstand eben mit Gewalt brechen.« »Was, wie ich schon sagte, leichter gesagt als getan ist. Ich werde mich nicht nur gegen Euch zur Wehr setzen, sondern auch alles tun, was in meiner Macht steht, damit ein von Euch gezeugtes Kind gar nicht erst zur Welt kommt.« »Auch das ist leichter gesagt als getan. Ihr könntet sehr leicht bei dem Versuch sterben.« Lindsay bekräftigte dies durch ein leichtes Nicken, worauf 34 hin er die Brauen hob und sie, wie sie meinte, mit einem Anflug von Hochachtung ansah. »Ich kann Euch in Fesseln legen lassen, um zu verhindern, dass Ihr Euch oder meinem Kind etwas antut.« »Nur zu.« »Seid doch vernünftig.« Er beugte sich vor und fixierte sie mit einem eindringlichen Blick. Seine Stimme klang fast flehend. Lindsay lachte humorlos auf. »Mit Vernunft kommen wir hier schwerlich weiter.« Sie trank einen Schluck Met und fuhr fort: »Die Vorstellung, ich könnte mich freiwillig von meinem Mann trennen, um den Rest meines Lebens mit jemandem zu verbringen, der in mir lediglich eine Zuchtstute sieht, ist absolut lächerlich. Absurd. Aberwitzig. Ihr habt Euch da in etwas verrannt, was nie wahr werden wird, Reubair. Seht das doch endlich ein.« Er lehnte sich seufzend in seinem Stuhl zurück. »Vielleicht habt Ihr recht, und ich bin von uns beiden derjenige, der den Sinn für die Realität verloren hat.« Sein plötzlicher Rückzieher gab ihr zu denken. Sie musterte ihn argwöhnisch und fragte sich, was er im Schilde führte. Er schwieg eine Weile, dann meinte er leise: »Ich hoffe, Ihr werdet wenigstens über meine Worte nachdenken. Sowie ich die offizielle Bestätigung von An Dubhars Tod habe, werden sich Eure Gefühle mir gegenüber ändern, hoffe ich. Eine allein auf sich gestellte Frau ist sehr verwundbar.« »Ich bin nicht wie die meisten Frauen, das wisst Ihr sehr gut.« »Selbst Ihr müsst doch begreifen, dass ein Leben als meine Frau für Euch sehr viel vorteilhafter ist als jenes als Cruachans Witwe.« »Als seine reiche, angesehene und freie Witwe.« »Nur so lange, bis Robert Euch wieder verheiratet.« 34 »Solange er mich nicht mit Euch verheiratet, soll es mir recht sein.«
Wieder seufzte Reubair ungeduldig. »Seht Ihr, Lindsay, genau da liegt Ihr falsch, davon versuche ich Euch ja die ganze Zeit zu überzeugen. Nehmt lieber mich zum Mann. Ein anderer könnte Euch schlagen, um Euch gefügig zu machen.« »Das tut er nur ein Mal, das versichere ich Euch.« »Dann wärt Ihr wieder Witwe, nur diesmal nicht lange, denn Ihr würdet am Galgen aufgeknüpft oder als Gattenmörderin verbrannt werden. Wollt Ihr wirklich auf dem Scheiterhaufen enden?« »Wohl kaum. Genauso wenig, wie ich mit Euch verheiratet sein möchte. Ich kann wirklich nicht sagen, was das geringere Übel wäre.« Darauf fiel Reubair keine Antwort ein, nur seine Augen begannen böse zu glitzern. Lindsay blickte sich im Raum um, dann betrachtete sie ihren leeren Teller und die Essensreste auf dem Tisch. Leider passte in ihren geschrumpften Magen kein Bissen mehr hinein. »Ich kann nicht mehr. Besteht eine Möglichkeit, mich zu waschen, bevor Ihr mich in den Burghof zurückbringt und mir die Kleider wieder fortnehmt?« Reubair presste gereizt die Lippen zusammen und griff nach einer Glocke, die auf dem Tisch stand. Auf sein Läuten hin kam augenblicklich ein Diener in den Raum gehuscht. Lindsay fiel auf, dass der Domestike ein Mensch war. Normalsterbliche schienen in Reubairs Reich einen untergeordneten Rang zu bekleiden, und sie fragte sich, ob er wohl deshalb so auf sie fixiert war, weil er sie sich vollkommen Untertan machen wollte. Ohne zu zögern gab Reubair Anweisung, ihr vor dem Kamin ein Bad vorzubereiten. Lindsays Herz machte unwillkürlich einen kleinen Satz. Ein Bad! Nicht nur Wasserkrug und Wasch‐ 35 Schüssel, sondern ausgiebiges Aalen in heißem Wasser. Wie es aussah, besaß Reubair eine Wanne und gestattete ihr, sie zu benutzen. Sie streckte eine Hand aus, brach eine Zuckerrose von dem süßen Kunstwerk vor ihr ab und lutschte nachdenklich daran. Für ein heißes Bad nahm sie es sogar in Kauf, sich vor ihm ausziehen zu müssen. Nach all den Tagen in Kälte und Dunkelheit kam das Bad ihr vor wie ein Geschenk des Himmels. Heißes Wasser umspülte ihren Körper, während sie sich Flöhe aus dem Haar zupfte, sie träge in das Feuer schnippte und hoffte, er würde sie in der Wanne sitzen lassen, bis sie aussah wie eine Dörrpflaume. Reubair saß zurückgelehnt am Tisch und beobachtete sie schweigend. Da kein Badeschaum die Wasseroberfläche bedeckte, bekam er so ziemlich alles von ihr zu sehen, was er wollte, aber sie achtete nicht auf ihn und begann den Schmutz unter ihren Nägeln wegzukratzen. Sie wollte diese Minuten im Wasser auskosten, falls er sie wirklich wieder in das Verlies zurückbringen oder im Burghof anketten ließ. Sollte er sie doch anstarren, bis er schwarz wurde. Sie hatte keine Angst vor ihm. Sollte er versuchen, sie anzurühren, würde er es bedauern, und das wusste er. Es klopfte an der Tür. Auf Reubairs Aufforderung betrat ein atemloser Feenritter die Kammer. Sogar für einen Danann war er auffallend blass, und ein feiner Schweißfilm glitzerte auf seiner Stirn. »Ich habe schlechte Neuigkeiten, Sir.« Reubair verzog unwillig das Gesicht, sagte aber: »Lass hören.« Der Ritter stierte die in der Wanne planschende Lindsay mit großen Augen an. »Sieh gefälligst mich an, wenn du mit mir sprichst«, befahl Reubair schroff. Der Ritter wandte hastig den Blick von der Wanne ab. »Neuigkeiten aus Schottland, von Eilean Aonarach. Cruachan hat sich aufgemacht, um Euch zu suchen.« 35
Lindsay erstarrte im Wasser. Eine Welle der Erleichterung schlug über ihr zusammen, Tränen brannten in ihren Augen, und sie widerstand dem Drang, die Hände vor das Gesicht zu schlagen. Alex war auf dem Weg zu ihr, wollte sie befreien. Ihr Mann war noch am Leben, war immer noch ihr Mann, und es gab nichts, was Reubair dagegen tun konnte. Sie betrachtete angelegentlich ihre Zehen und beachtete ihren Entführer nicht mehr. Alex würde ihr zu Hilfe kommen, und bald würde sie wieder frei sein. »Wann müssen wir mit ihm rechnen?« Der Bote hob die Schultern. »Das lässt sich nicht sagen. Als ich von seinem Vorhaben erfuhr, hatte er die Insel bereits verlassen. Ich hatte schon fast damit gerechnet, dass er vor mir hier eintrifft. Er hat niemandem gesagt, wo er hinwill; er kann schon ganz in der Nähe oder noch Meilen weit weg sein. Wir müssen mit allem rechnen.« »Ist es ihm möglich, den Weg durch den Nebel zu finden?«
»Gerüchten zufolge kann er auf die Hilfe keiner Geringeren als Danu selber bauen.« Reubair biss sich auf die Lippe, während er einen Moment über diese Nachricht nachdachte. Dann entließ er den Boten und wandte sich an Lindsay. »Euer Mann scheint meine Pläne unbedingt durchkreuzen zu wollen.« Lindsay gab keine Antwort, sondern fuhr fort, sich zu waschen. Sie rechnete fest damit, gleich in ihre Zelle zurückgeschickt zu werden. Doch stattdessen wies Reubair sie an: »Steigt jetzt aus der Wanne, trocknet Euch ab und kleidet Euch wieder an. Ihr schlaft im Dienstbotenbett. Legt Euch jetzt hin.« Sie sah erst ihn an, dann das Schrankbett in der Ecke des Raumes. Hier schlafen? Aber nicht in seinem Bett? Das hörte sich gut an. Sie wartete auf eine Erklärung, die jedoch ausblieb. Reubair richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die 36 Speisen auf dem Tisch, nahm sich eine gefüllte Birne und knabberte daran. Mit auf die Tischplatte gestützten Ellbogen starrte er blicklos ins Leere, während er angestrengt nachdachte. Lindsay fragte sich, was er als Nächstes vorhatte. 36
FÜNFTES KAPITEL
Als Alex mit seinem Gefolge das Festland erreichte, war er ziemlich sicher, dass er nicht an seiner Verletzung sterben würde. Nicht direkt jedenfalls, und auch nicht in den nächsten Tagen. Die Gefahr einer Infektion bestand immer noch, denn die Wundränder hatten sich noch nicht vollständig geschlossen. Mary hatte ihn wie ein zerrissenes T‐Shirt mit einer säuberlichen schwarzen Naht zusammengeflickt, und er spürte bei jeder Bewegung, wie die Fäden an seiner Haut zerrten. Als sie sich der englischen Grenze näherten und sich Richtung Carlisle wandten, wo ihren Informationen zufolge räuberische Ritter die umliegenden Dörfer ausplündern sollten, musste Alex sich eingestehen, dass seine Genesung längst nicht so rasche Fortschritte machte, wie er gehofft hatte. Noch immer konnte er keine Anzeichen für eine Infektion feststellen, aber er erholte sich wesentlich langsamer, als es bei früheren Verwundungen der Fall gewesen war. Seine Kräfte wollten einfach nicht zurückkehren, und die Möglichkeit innerer Verletzungen ragte noch immer drohend vor ihm auf. Bei Stichwunden richtete die Klinge manchmal kaum Schaden an, manchmal durchbohrte sie aber auch eine ganze Reihe lebenswichtiger Organe. Wenn sich der Blutverlust in Grenzen hielt, konnte sich der Todeskampf über Wochen hinziehen, selbst wenn der Darm angeritzt worden war. Oder noch länger, wenn der Infektionsherd klein war und die Entzündung sich nur langsam ausbreitete. 36 Er hatte keine Ahnung, welches Chaos in seinen Eingeweiden tobte, und nur die Zeit würde erweisen, wie groß seine Überlebenschance war. Er hatte schon häufiger Stichwunden davongetragen, sogar in der Magengegend, aber diesmal war alles anders. Diesmal war sein Bauchfell verletzt, und sein Körper gab deutlich Alarm. Alex wusste, dass er in Gefahr schwebte. Er hatte das Gefühl, seine Innereien müssten ihm jeden Moment aus dem Leib quellen, und er presste beim Reiten immer einen Arm gegen die Wunde. Immer wieder brach ihm kalter Schweiß aus. Jeder Schritt seines Pferdes sandte glühende Schmerzwellen durch seinen Körper, und manchmal vergaß er darüber sogar zu atmen. Stunde um Stunde folgten sie dem Pfad, der südlich in das Grenzgebiet führte, und es dauerte nicht lange, bis Alex kraftlos im Sattel zusammensackte. Mehr als je zuvor in seinem Leben sehnte er sich nach der Zeit zurück, wo er diese Strecke mit Mach-3‐Geschwindigkeit hatte zurücklegen können. Der Zeit, wo eine Infektion nicht einem Todesurteil gleichgekommen war. Er musterte die Ritter in seiner Begleitung unauffällig. Jeder von ihnen wies zahlreiche Kampfnarben auf, und bei einem oder zweien hatte er auch nässende Wunden gesehen, die auf eine langsam fortschreitende Infektion hindeuteten, obwohl die Männer sich alle Mühe gaben, sie zu verbergen. Offene Wunden galten als sicheres Zeichen für Aussatz. Vielleicht litten auch noch mehr seiner Leute an diesen Schwären, Alex konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Da er aus einer Zeit stammte, wo schon Aknepickel als unverzeihlicher Makel galten, hatte er etwas Vergleichbares noch nie gesehen, bis er in dieses Jahrhundert gekommen war. Hier achtete niemand auf Akne, sie galt als harmlos, und
an Pickeln und Pusteln störte sich niemand. Pockennarben wurden sogar als gutes Zeichen angesehen, bewiesen sie doch, dass der Betroffene die schwere 37 Krankheit überlebt hatte. Offene Wunden und nässende Schwären waren unter dem gemeinen Volk weiter verbreitet als unter den Angehörigen des Ritterstands und des Adels, und der Umstand, dass auch Letztere häufig genug darunter litten, rief Alex immer wieder ins Gedächtnis, dass es in dieser Zeit keine Hilfe gab, wenn sich eine Infektion erst einmal festgesetzt hatte. Keine Antibiotika. Keine entzündungshemmenden Mittel. Nichts, was seinem Körper half, sich gegen eine Infektion zu wehren, wenn sich widerliche kleine Bakterien in seinem Inneren eingenistet hatten. Jedes Mal, wenn seine Gedanken in diese Richtung wanderten, schnürte sich seine Kehle zusammen, sodass er kaum noch Luft bekam. Vater Patrick lenkte sein Pferd an das von Alex heran, um eine Weile an seiner Seite zu reiten. »Sollen wir versuchen, bei einem Bauernhof einen Karren für Euch aufzutreiben, Mylord?« Alex nahm sich zusammen, straffte sich, holte tief Atem und stieß ihn dann langsam wieder aus. »Nicht nötig. Mir geht es gut.« »Ihr wisst doch, dass man einen Priester nicht anlügen darf.« Alex rang sich ein gequältes Grinsen ab. »Vermutlich habt Ihr Gott einiges über meine Verfehlungen zu berichten, nicht wahr?« »Wenn Er mir sein Ohr leiht, was zugegebenermaßen seltener vorkommt, als mir lieb ist.« Alex hätte am liebsten schallend gelacht, bezwang sich aber und presste stattdessen seinen Arm fester gegen seine Seite. »Ist Eure Wunde immer noch rot?« Der Earl nickte. Die Rötung verstärkte sich sogar zusehends. Er hatte in den letzten Tagen sorgsam nach roten Streifen oder gelben Flecken auf seinem Bauch Ausschau gehalten, obwohl er abgesehen davon, dass er etwaige Pusteln öffnen und säu
37 bern konnte, keine Ahnung hatte, was er darüber hinaus noch tun sollte. Destillierter Alkohol war noch nicht erfunden, und er wusste auch nicht, wie man ihn herstellte. Er wusste nur, dass er fest entschlossen war, nicht zu sterben, bevor er Lindsay gefunden hatte. Patrick ritt schweigend neben ihm her. Alex hatte das Gefühl, er würde ein stummes Gebet sprechen. Wenn sie den Informationen, die sie in Lochaber zusammengetragen hatten, Glauben schenken durften, waren sie Reubairs Truppe dicht auf den Fersen, und Alex begann sich zu fragen, wie sie Lindsay aus ihren Klauen befreien sollten. Ein offener Kampf kam nicht infrage ‐ er hatte ja nur fünf Männer bei sich ‐, also musste er sich einer List bedienen. Er schickte einen Kundschafter aus, um nach einem Lager zu suchen, und hoffte, dass die Feenkrieger, so sie sie denn fanden, Lindsay nicht allzu scharf bewachten. Feen. Das stand für Magie. Alex hasste Magie, weil er nicht wusste, wie er dagegen ankämpfen sollte. Der Himmel mochte wissen, mit welchen zauberischen Mitteln diese Burschen ihr Lager schützten. Lindsay wurde ganz offensichtlich von An Reubair festgehalten und hatte noch keine Fluchtmöglichkeit gefunden. Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Was, wenn sie bereits entkommen und auf dem Weg nach Hause war? Dann konnte er den ganzen Sommer nach ihr suchen, ohne sie zu finden. Er mochte sein Leben für nichts und wieder nichts aufs Spiel setzen, aber dieses Risiko musste er eingehen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich auf die Fährte dieser Räuberbande zu heften und zu hoffen, dass er einige Antworten von ihr bekommen würde, wenn er sie eingeholt hatte. In dieser Nacht lag er hellwach neben dem herunterbrennenden Lagerfeuer, während die anderen Ritter schliefen. Einer schnarchte so laut, dass Alex sich wunderte, warum sie 37
nicht schon längst entdeckt worden waren. Er sollte zu ihm hinübergehen und ihm einen leichten Tritt versetzen, um ihn zum Schweigen zu bringen, aber dazu musste er aufstehen, und er wusste nicht, ob ihm das gelingen würde. Also blieb er still liegen und lauschte auf die Geräusche etwaiger sich nähernder Feinde. Im schwachen Feuerschein sah er Vater Patrick auf seinem Bettzeug knien. Der Priester ließ seinen Rosenkranz zwischen den Fingern hindurchgleiten, während seine Lippen rasche, fast atemlose Worte formten. Alex beobachtete ihn nachdenklich. Er wurde aus dem Mann einfach nicht schlau.
Patrick war jünger als Trefor, handhabte seine Waffe so geschickt wie Alex' bester Schwertkämpfer, vibrierte vor innerer Energie und strahlte zugleich eine Abgeklärtheit aus, die man zumeist nur bei sehr alten Männern fand. Sein Glaube und sein Gottvertrauen schienen unerschütterlich zu sein, und das war etwas, was Alex nie begreifen würde. Nachdem Patrick seine Gebete beendet und sich den Rosenkranz wieder um den Hals gehängt hatte, fragte Alex leise: »Habt Ihr auch für mich gebetet?« Patrick drehte sich zu ihm um und lächelte. »Das tue ich jeden Tag, Mylord.« »Habt Ihr Angst, ich könnte sonst in die Hölle kommen?« »Das werdet Ihr nicht, das weiß ich. Ich habe Eure Beichte gehört, und ich glaube, dass Ihr Eure Sünden aufrichtig bereut.« »Und trotzdem betet Ihr für mich?« Patrick zuckte die Achseln. »Ein Gebet kann nie schaden. Ich bin für Euer Seelenheil verantwortlich, und indem ich für Euch bete, hoffe ich, Euch besser kennenzulernen.« Alex hegte da seine Zweifel. Er starrte ins Feuer und wünschte, der Schmerz in seinem Inneren würde endlich nachlassen. In den letzten Tagen hatte er zu viel damit zu tun gehabt, die Schmerzen in diesem Leben zu ertragen, um sich 38 noch große Gedanken um das nächste zu machen. Doch da Patrick offensichtlich auf eine Antwort wartete, platzte er heraus: »Was macht Euch eigentlich so sicher, dass es überhaupt einen Gott gibt?« Patricks Augen weiteten sich entgeistert. »So etwas dürft Ihr nicht sagen!« »Bin ich Euch zu nahe getreten?« Der Blick des Priesters schweifte voller Besorgnis über die schlafenden Ritter hinweg, und als er erneut das Wort ergriff, verriet sein Tonfall deutlich seine Verwunderung darüber, eine Erklärung abgeben zu müssen. »Ich fürchte um Euer Leben. Ein Feind ‐ oder sogar ein ergebener Freund ‐ könnte Euch auf den Scheiterhaufen bringen, wenn er gehört hätte, was Ihr soeben gesagt habt.« Dass er überall Feinde vermutete, brauchte er nicht eigens zu betonen, denn seine Augen ruhten argwöh‐ nisch auf Alex' vier Gefolgsleuten, die hoffentlich wirklich fest schliefen und nicht ihrem Gespräch lauschten. Alex lachte trocken auf. »Aye, ich verstehe. Was würdet Ihr denn tun, wenn man mich wegen Ketzerei hinrichten würde?« Patrick schob das Kinn vor. »Gott weiterhin dienen, nur nicht mehr auf Eilean Aonarach. Obwohl ich zugeben muss, dass mir diese Insel ans Herz gewachsen ist, denn sie wird von einem guten Laird regiert. Also hört auf meinen Rat und behaltet Eure Zweifel in Zukunft für Euch.« »Ihr seid mein Beichtvater; Ihr werdet mit niemandem über das sprechen, was ich Euch anvertraue, da bin ich mir ganz sicher.« »Und das ist Eure Rettung, Mylord.« »Ernsthaft, Patrick ... selbst Euch müssen doch manchmal Zweifel überkommen.« »Selten, und nur unter besonderen Umständen. Aber kein Mensch ist vollkommen, Mylord.« 38 »Wie schafft Ihr es nur, Euch Eure Hoffnung zu bewahren? Wie könnt Ihr Euch einreden, auf dieser Welt stünde alles zum Besten, wenn ständig so viele furchtbare Dinge geschehen?« Alex hätte ihn gern gefragt, wie er so aufreizend ruhig und gelassen bleiben konnte, wenn die Welt ringsum in Blut und Chaos versank; ein Zustand, der, wie Alex wusste, noch mindestens sieben Jahrhunderte andauern würde, falls überhaupt ein Ende in Sicht war. Dieses Wissen belastete ihn schwer. Patrick hob die Schultern. »Durch meinen Glauben.« »So?« Der Priester lächelte. »Gottlosigkeit hieße ständige Zweifel und Ängste. Angst zerfrisst die Seele und verursacht nichts als Kummer und Leid. Vertraut auf Euren Glauben, dann wird das Leid von Euch genommen, und die Angst verfliegt.« »Also empfehlt Ihr mir, mich absichtlich blind zu stellen?« »Durchaus nicht. Gewisse Dinge zu übersehen ist nicht dasselbe, wie an etwas zu glauben, wofür es keinerlei Beweise gibt. Was man sehen, berühren und hören kann, kann man nicht leugnen, und man muss keine innere Kraft aufbringen, um es zu verstehen. Das, was man nur mit dem Herzen erahnen kann, nur das fällt in den Bereich des Glaubens.«
Alex dachte einen Moment über diese Worte nach, dann fragte Patrick behutsam: »Sagt mir eines, Mylord ... sprechen wir über Gott oder vielleicht über ein eher irdisches Geschöpf?« Trefor? Oder gar Lindsay? Alex starrte den Priester einen Augenblick lang an, dann erwiderte er: »Es ist nicht weiter schwer, sich einzureden, ein wohlwollender Gott würde schon alles zum Besten wenden, aber wenn man einem Menschen vertraut, erlebt man nur allzu oft eine Enttäuschung.« »Ich gebe zu, dass es schwieriger ist, sich auf einen mit Makeln und Fehlern behafteten Menschen zu verlassen als auf einen allwissenden Gott. Aber oft kann Euer Glaube und Euer 39
Einfluss ‐ die Kraft Eures Willens ‐ diesen Menschen dazu bringen, die richtige Wahl zu treffen.« Alex kicherte freudlos, woraufhin ihn ein glühender Schmerz durchzuckte. Er schloss gequält die Augen. »Wenn ich an Trefor glaube, wird er dann beginnen, mich zu akzeptieren und sich bemühen, sich mein Wohlwollen zu verdienen?« »Wenn Ihr an ihn glaubt, wird er an sich selber glauben, und das verleiht ihm Kraft. Er wird ein besserer Mensch werden, wodurch unweigerlich Eure Achtung vor ihm steigen wird.« Alex blickte in Patricks todernstes Gesicht, während er über die Worte des Priesters nachdachte. Dann sagte Patrick etwas, was ihn vor Schreck zusammenfahren ließ. »Ihr seid schließlich mit ihm verwandt. Er scheint mir Euch manchmal näher zu stehen als ein entfernter Vetter.« Alex' Augen wurden schmal. Was wusste Patrick? Was hatte er über Trefor gehört? Doch Patrick fuhr fort: »Man merkt ihm deutlich an, dass er sich eine engere Beziehung zu Euch wünscht und Euch mehr als Bruder denn als Vetter betrachtet.« Bruder. Damit konnte Alex leben. Zum Glück hatte Patrick nicht »Sohn« gesagt. »Das lässt er sich aber nicht unbedingt anmerken«, knurrte er. »Im Gegenteil, er schreit es förmlich heraus. Ihr müsst nur genau hinhören.« Alex blinzelte erstaunt, dann begriff er, dass der Priester recht hatte. Er rollte sich auf den Rücken und starrte zu dem Geflecht aus Zweigen über ihm empor, während Patrick sein Bettzeug ausbreitete, um sich schlafen zu legen. Kurz vor Carlisle schlug das Wetter plötzlich um, es wurde kalt, und ein leichter Schneeregen setzte ein. Am Abend traf Alex' Kundschafter in dem kleinen Lager ein. Sein Pferd dampfte vor Schweiß, er selbst war völlig außer Atem. Seine Augen leuchteten vor Erregung, als er Alex Bericht erstattete. »Ich 9 5 habe sie gefunden. Ein Trupp Feenritter lagert nicht weit von hier.« Alex erhob sich mühsam, den Arm gegen seine Wunde gepresst. »Hast du ihre Ohren gesehen?« »Aye. Und ich habe sie gerochen.« Der Kundschafter nickte nachdrücklich, wobei ihm sein strähniges braunes Haar in die Augen fiel. Als er es zurückstrich, erinnerte sein dümmliches Grinsen Alex an einen der Beatles, aber er kam nicht darauf, an welchen. Er runzelte die Stirn. »Gerochen?« »Ja. Wusstet Ihr nicht, dass Feen einen ganz bestimmten Geruch verströmen, vor allem, wenn sie in so großer Anzahl auftreten wie hier ‐ sie riechen ähnlich wie ein frisch umgepflügter Acker. Egal, wie lange sie sich an der Erdoberfläche aufhalten, der Geruch ihrer Höhlen haftet ihnen immer an. Wie umgegrabene Erde oder ausgestochenes Moos.« Das war Alex neu und weckte sein Interesse, aber er ging nicht weiter darauf ein, sondern begnügte sich mit einem unbestimmten Grunzen. »Hast du die Gräfin gesehen?« Der Ritter senkte den Blick. »Nein, aber sie muss dort sein, Mylord. Ich habe viele Zelte gezählt, konnte sie mir aber nicht näher ansehen.« Alex nahm an, dass Lindsay in einem der Zelte festgehalten wurde. »Beschreib mir den Aufbau des Lagers. Haben sie Wachposten aufgestellt?« Er rief nach Patrick und den anderen Rittern. Die sechs Männer setzten sich am Feuer zusammen, um zu erörtern, wie sie sich am besten an das Lager he‐ ranpirschen konnten. Sie mussten äußerste Vorsicht walten lassen, wenn sie Lindsay ausfindig machen und befreien wollten, ohne die schlafenden Feinde zu stören. Mit etwas Glück würden die Feen den Überfall erst bemerken, wenn Lindsay am nächsten Morgen vermisst wurde. Schneeflocken umtanzten die kleine Gruppe und landeten zischend im Feuer, als die 39 Ritter sich in ihr Bettzeug rollten, um noch ein paar Stunden zu schlafen.
Einige Zeit vor dem Morgengrauen, als der Mond hinter Wolken verschwunden war, schneite es noch immer. Alex und sein Gefolge schlichen zu Fuß auf das Lager von Reubairs Rittern zu; schweigend und von der vom Wind abgekehrten Seite her, denn das Gehör und der Geruchssinn der Feen waren fast so ausgeprägt wie die Sinne wilder Tieren. Dieses Unternehmen glich dem Heranschleichen an ein Wolfsrudel und war mindestens ebenso gefährlich. Alex machte auf einer Anhöhe halt, von der aus er die Gesamtheit der Zelte und die in Decken gehüllten Männer, die unter freiem Himmel schlafen mussten, gut überblicken konnte. Lindsay war sicherlich nicht unter ihnen; nicht, wenn Reubair ein persönliches Interesse an ihr hatte. Sie würde bei ihm in einem der Zelte sein und vermutlich unter Bewachung stehen. Die Frage war nur, welches der Zelte seines war. Alex und seine Männer hatten nur eine einzige Chance, sie mussten gleich beim ersten Versuch das richtige Zelt treffen. Das große in der Mitte. Das musste dem Anführer gehören, und das wiederum dürfte Reubair sein. Wenn sich Lindsay in diesem Lager befand, dann war sie bei ihm in diesem Zelt, wo Reubair sie im Auge behalten konnte, daran hegte Alex keinen Zweifel. Jegliche Nachlässigkeit im Umgang mit Lindsay pflegte sich unweigerlich zu rächen, was auch Reubair bekannt sein musste. Ein Bild von ihr in Ketten stieg vor ihm auf und wurde von einem roten Wutschleier überlagert. Alex beschloss, An Reubair zu töten, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass er Lindsay gut behandelt hatte. Er würde diesen Hurensohn schon aus Prinzip nicht am Leben lassen. Er deutete auf das große grüne Zelt neben einem heruntergebrannten Lagerfeuer und bedeutete seinen Männern, ihm mit gezogenem Schwert zu folgen. 40 Seine Nackenhaare richteten sich auf, als er seine Ritter zwischen den mit Schnee bestäubten schlafenden Feenkriegern hindurch zum Herzen des Lagers führte. Die Räuberbande hatte keine Wachposten aufgestellt, sie schien sich sicher zu fühlen. Eines hatte Alex über die Ritter dieses Jahrhunderts rasch gelernt ‐ sie neigten zur Selbstüberschätzung und infolgedessen zu an Unvernunft grenzender Sorglosigkeit und waren auch noch stolz darauf. Sicherheitsvorkehrungen und bedachtsames Vorgehen betrachteten sie häufig als Form von Feigheit, was sie zu leichten Opfern von Überraschungsangriffen machte. Sie würden im Laufe der Zeit einiges dazulernen, aber noch war Alex diesen Soldaten des Mittelalters um sieben Jahrhunderte voraus und gedachte diesen Vorteil zu nutzen. Rasch und lautlos drang er in das Lager vor; ein Manöver, das seine Gegner als ehrlos und unfair bezeichnet hätten, hätten sie denn etwas davon mitbekommen. Trotzdem erreichte er das anvisierte Zelt nicht. Er war schon fast bis an das Lagerfeuer herangelangt, als plötzlich ein stiefelbewehrter Fuß unter einer Decke hervorschoss und ihn mit voller Wucht am Schienbein traf. Alex stolperte, fing sich aber wieder. Ein greller Schmerz durchzuckte seine Magengegend. Vater Patrick, der sich dicht hinter ihm gehalten hatte, kam ihm zu Hilfe und streckte den Feenritter mit einem Schwertstreich nieder, doch dem sterbenden Verwundeten gelang es noch, einen gurgelnden Warnruf auszustoßen. Reubairs Männer erwachten, sprangen auf und zogen ihre Schwerter. Kriegsschreie erschollen, und Alex erkannte, dass er und seine Leute so gut wie verloren waren. Trotzdem setzte sich die kleine Gruppe erbittert gegen die Übermacht zur Wehr. Es war besser, im Kampf zu fallen, als gefangen genommen zu werden. Feen ließen sich nicht mit normalen Sterblichen vergleichen, und wer konnte schon sagen, was sie mit menschlichen Gefangenen anstellen würden? Alex 40 fuhr herum, um Patrick beizustehen, aber der Priester hatte sich schon einem anderen Widersacher zugewandt, und Alex wurde im nächsten Moment von zwei weiteren Feenkriegern angegriffen. Er parierte ihre Hiebe, so gut es im schwachen Licht ging, und taumelte zurück, als einer der beiden ihm einen derben Stoß versetzte. Seine linke Schulter wurde taub, war vermutlich gebrochen. Er holte erneut mit seinem Schwert aus, aber da traf ihn ein Streitkolben am Kopf, er sank auf die Knie, und die Welt wurde schwarz um ihn. Schmerzen tobten wie ein Feuersturm durch Alex' gesamten Körper, als er allmählich das Bewusstsein zurückerlangte und sich sofort wünschte, wieder in einer gnädigen Ohnmacht versinken zu können. Nach und nach registrierte er, dass er vornübergebeugt und mit einem Strick an den Sattel gebunden auf einem Pferd saß. Der Strick schnitt wie Eisendraht in seine Nieren, und als er sich aufrichten wollte, stellte er fest, dass seine Handgelenke gleichfalls mit einem dünnen Seil gefesselt waren, das um den Hals des Pferdes verlief. Vermutlich tat er ohnehin gut daran, in seiner halb
liegenden Stellung zu verharren, denn er hatte in seiner linken Schulter kein Gefühl mehr. Nur wenn er sie bewegte, schien sich ein glühender Pfeil in sein Fleisch zu bohren. Irgendetwas war mit seiner alten Wunde passiert, aber er wusste nicht, was. Obwohl die Luft eisig kalt war und Schneeflocken vor seinem Gesicht umherwirbelten, traten ihm Schweißperlen auf die Stirn und tropften in die Mähne seines Pferdes. Er empfand mit einem Mal eine unbestimmte Enttäuschung darüber, noch am Leben zu sein, und fragte sich, was wohl mit ihm geschehen würde. Ein zweites Pferd wurde neben das seine gelenkt, und der Reiter sprach ihn an. »Ihr seid also endlich wach.« Alex versuchte ohne Erfolg, den Kopf weit genug zu drehen, um zu dem Mann hochschielen zu können. Blut spritzte von 41 seinen Lippen auf seinen Ärmel, als er krächzte: »An Reubair?« »Nein. Wer seid Ihr, und was wollt Ihr von meinem Herrn?« Ein leiser Hoffnungsschimmer flackerte in Alex auf. Sie wussten nicht, wer er war; sie hielten ihn vielleicht für einen unbedeutenden landlosen Söldner, was hieß, dass eine geringe Chance bestand, wieder freigelassen zu werden. »Wir brauchen Geld. Wir sind umherziehende Ritter auf der Suche nach Gold und Silber, wie so viele andere auch.« Er bediente sich bewusst eines schroffen Tonfalls, um anzudeuten, dass er selten eine dümmere Frage gehört hatte. »Und statt Gold und Silber zu erbeuten, seid Ihr von uns überwältigt worden. Nicht sehr klug von Euch, ausgerechnet uns überfallen zu wollen, findet Ihr nicht?« »Das ist mir auch schon klar geworden.« Das Eingeständnis sollte als Beschwichtigung dienen, entsprach aber nichtsdestotrotz der Wahrheit, wie Alex insgeheim zugeben musste. »Woher wisst Ihr, dass An Reubair unser Lehnsherr ist?« »Weil Ihr ganz offensichtlich zum Volk der Feen gehört.« Der Ritter schnaubte verächtlich, und Alex wünschte, er könnte sein Gesicht sehen. »Das hat nichts zu besagen. Viele Ritter kämpfen auch unter dem Banner von Dagda, mehr noch als unter dem von An Reubair.« Dagda. Alex hatte den Namen schon gehört. Der König der Tuatha De Danann. »Aber Ihr gehört zu Reubairs Männern?«, vergewisserte er sich vorsichtig. »Das ist richtig.« Der Feenritter verfiel in einen Plauderton. Er schien sich auf eine längere Unterhaltung einzustellen. »Aber wir führen sein Banner nicht, auch nicht, wenn er bei uns ist. Was nicht der Fall ist.« Reubair befand sich nicht bei seiner Truppe? Alex hob erneut den Kopf, aber die Bewegung löste Übelkeit in ihm aus, und er hatte wieder das Gefühl, seine Eingeweide würden sich 41
durch seine Wunde ins Freie drängen. Wenn Reubair nicht hier war, dann durfte er kaum damit rechnen, Lindsay bald zu finden. Er schloss die Augen. Seine Hoffnung erlosch. Er hatte keine Ahnung, wo er seine Frau suchen sollte. Doch sein geschwätziger Weggefährte fuhr fort: »Auf jeden Fall werdet Ihr den Überfall auf unser Lager bitter bereuen. Da wir für Euch wohl schwerlich Lösegeld bekommen, bringen wir Euch nach Irland.« Alex runzelte die Stirn und versuchte krampfhaft, seine wirren Gedanken zu ordnen. Alles, was ihm im Zusammenhang mit Irland einfiel, waren Roberts Bemühungen, die Gefahr auszuschalten, die Schottland seitens der englandtreuen irischen Adeligen drohte. »Wieso nach Irland?« »Dort befinden sich Reubairs Ländereien und seine Burg. Finias.« »Er kämpft auf Roberts Seite?« Der Feenritter lachte. »Reubair kämpft immer nur auf seiner eigenen Seite. Und Robert, gewöhnlicher Sterblicher, der er ist, hat keine Ahnung von der Existenz dieser Ländereien, sie fallen für ihn in den Bereich der Sagen und Legenden. Reubair macht sich mehr Gedanken über sein Verhältnis zu Nemed und Dagda als über das zu irgendwelchen Menschen.« Das letzte Wort wurde mit unüberhörbarer Geringschätzung geäußert. Alex hatte Mühe, die über ihn hereinbrechende Flut von Informationen zu verarbeiten. »Was hat Dagda denn mit Reubair zu schaffen?« »Nun, er will natürlich den Tribut einfordern, der ihm aus den Ländereien von Finias zusteht.« »Und Reubair macht sich seinetwegen Sorgen? Kommen sie denn nicht miteinander aus?«
»Nemed ist ein Elf, Reubair ein Christ, Dagda ein Danann. Wie groß ist Eurer Meinung nach die Wahrscheinlichkeit, dass die drei in gutem Einvernehmen zueinander stehen?« 42
Da er nicht wusste, wie sich die Danann zu Elfen stellten, war Alex um eine Antwort verlegen. Aber da sie sich aus Menschen ohnehin nicht viel machten, verstieg er sich zu einer Vermutung. »Nicht sehr groß, nehme ich an.« »In der Tat. Dagda sieht es nicht gern, dass sich ein Elf zwischen einen Feenkönig und seinen Vasallen stellt. Nemed ist ein Dorn in seinem Fleisch.« Nemed herrschte über Gebiete, die rechtmäßig Dagda gehörten? Das passte ins Gesamtbild. Alex kannte Nemed als hinterhältigen, verbitterten, von Hass zerfressenen Zeitgenossen, und es würde ihn nicht wundern, wenn sich der elende Hurensohn mit jedem einzelnen Danann auf dieser Erde angelegt hätte. Vermutlich sogar mit Reubair, aber wenn man diesem Ritter Glauben schenken durfte, kochte Reubair stets sein eigenes Süppchen. Eine Welle der Übelkeit schlug über ihm zusammen, sein Magen hob sich, und er spie einen Strahl grüner Galle auf den Boden. Der Schmerz ließ ihn fast wünschen, er wäre letzte Nacht im Kampf gefallen, aber er klammerte sich auch an einen winzigen Hoffnungsschimmer. Die Feenritter brachten ihn zu Reubair, und wo Reubair war, da würde er auch Lindsay finden. Diese Überzeugung hielt ihn am Leben. Vorerst jedenfalls. 42
SECHSTES KAPITEL
Trefor hatte mit den unter seinem Befehl stehenden Männern des Earls Eilean Aonarach verlassen und verbrachte die erste Nacht der Reise auf der Insel Tiree. Dort nahm er die Gastfreundschaft eines König Robert treu ergebenen Landbesitzers an, der an einem Ort namens Ciachan Mör am Nordende der Insel lebte. Er und seine Männer wurden freundlich aufgenommen und in Quartieren untergebracht, die Trefor geradezu luxuriös erschienen. Er merkte rasch, dass sein Gastgeber ein glühender Anhänger Roberts war, denn er sprach über kaum etwas anderes als über dessen Kampf gegen den englischen König. Sein Name lautete MacLean, und obwohl er nur den schottischen Titel »Laird« führte, herrschte er über einen großen Clan und war offensichtlich sehr wohlhabend. Seine Burg war solide gebaut, in gutem Zustand, üppig möbliert und wesentlich komfortabler als die auf Eilean Aonarach. Außerdem schien er den Normannen in seiner Nachbarschaft einiges abgeschaut zu haben, denn in seinem Haushalt herrschten ebenso gute Umgangsformen wie in den Häusern der Edelleute auf dem Festland, die Trefor besucht hatte. An modernen Maßstäben gemessen, hieß das natürlich nicht viel ‐ sogar die rudimentären Manieren, die ihm im Rahmen des staatlichen Fürsorgesystems von Tennessee beigebracht worden waren, waren besser als die der Leute dieser Zeit ‐ aber die Bewohner dieser Burg 42
sprangen weit weniger grob miteinander um als die Highlander, die Trefor bislang kennengelernt hatte. Er bekam einen Ehrenplatz nahe dem Kopfende der Tafel in der großen Halle zugewiesen und betrachtete die Wappen an der Wand voller Ehrfurcht. Wie es aussah, war MacLean mit einigen sehr einflussreichen Familien verwandt ‐ unter anderem mit den Ross und den Buchanans, alles bekannte Namen. Trefor erkannte auch das Wappen von James Douglas' Vater und fragte sich, wie eng MacLean mit dem ersten Earl of Douglas wohl verwandt war. Manchmal kam es ihm so vor, als wären fast alle Schotten irgendwie miteinander verwandt, denn die Clans führten über sämtliche Bündnisse durch Eheschließungen genau Buch, aber MacLeans Stammbaum hob ihn aus der Masse hervor. Und Trefor beneidete ihn deswegen glühend. Während er seinen Gedanken nachhing, kamen vier junge Mädchen, die sich wegen irgendetwas, was eine von ihnen gerade gesagt hatte, vor Lachen schier ausschütten wollten, in die Halle, verstummten aber beim Anblick der Gäste sofort. Alle vier waren auffallend hübsch, kostbar gekleidet, mit Juwelen geschmückt und glitzerten wie Schneeflocken in der Sonne. »Deirbhile!«, rief MacLean vom Kopf der Tafel aus, woraufhin sich das hübscheste Mädchen zu dem Laird umdrehte und lächelte. Sie hatte einen langen, schlanken Hals, ihre Wangen schimmerten rosig,
und große, helle, runde Augen leuchteten in ihrem herzförmigen Gesicht. »Komm her und setz dich! Dein Essen wird kalt!« Jer~viluh. Der ungewöhnliche Name fesselte Trefor, und er formte ihn stumm mit den Lippen. Deirbhile. Der Klang gefiel ihm. Eines, was er den Leuten hier zugestehen musste, war ihr Talent, treffende, blumige Namen für Orte und Menschen zu finden. »Eilean Aonarach« ‐ einsame Insel. »An Reubair« ‐ der 43
Räuber. »Cruachan« ‐ Berggipfel. Er mochte es auch, dass das »F« in seinem Namen hier deutlich ausgesprochen wurde, wohingegen er daheim in Tennessee einfach nur »Trevor« genannt worden war. Verstohlen musterte er Deirbhile. Das Mädchen faszinierte ihn stärker, als er sich eingestehen mochte. Sie lächelte erneut, wobei sich Grübchen in ihren Wangen bildeten, knickste wie ein normannisches Edelfräulein und nahm dann einen leeren Platz ganz in Trefors Nähe ein, während eine ihrer Zofen hinter ihren Stuhl trat, um ihre junge Herrin zu bedienen. Deirbhile war zweifellos ein Familienmit‐ glied, vermutlich die Tochter des Lairds. Sie und MacLean sahen einander sehr ähnlich, und MacLeans kleiner Sohn und Erbe, der zur Rechten des Lairds saß, hatte dieselben Farben wie sie. Schokoladebraunes Haar lugte unter ihrer Haube hervor, und ihre Augen funkelten in einem sehr hellen Blau, das Trefor fast unheimlich fand. Als sie in seine Richtung blickte, richtete er seine Aufmerksamkeit rasch auf die Platte mit Fleisch vor ihm, von der er kleine Stücke aufpickte und sie sich geistesabwesend in den Mund schob. Wenn sie wirklich die Tochter des Lairds war, empfahl es sich nicht, sie allzu auffällig anzustarren. Die Unterhaltung bei Tisch drehte sich hauptsächlich um das Wetter, denn ein Sturm zog auf, und alle fragten sich, mit welcher Wucht er wohl über die Insel hinwegfegen würde. Trefor hoffte, das Unwetter würde noch eine Weile auf sich warten lassen, denn er musste seine Reise am nächsten Morgen fortsetzen. Dank seiner Kenntnisse auf dem Gebiet der Magie wäre es ihm ein Leichtes, dafür zu sorgen, dass der Sturm erst nach seiner Abreise losbrach, aber er wollte die Anstrengung nicht auf sich nehmen, wenn es nicht unbedingt sein musste. Das Ausüben von Magie kostete ihn nicht mehr so viel Kraft wie früher, barg aber immer noch Risiken, die er nicht unnötig eingehen wollte. Wie bei allen Dingen zog auch hier jede Aktion 43
eine Reaktion nach sich, aber wie sie ausfiel, ließ sich nicht vorhersagen. Doch gerade als der Laird seiner Hoffnung, das klare Wetter würde noch einige Zeit anhalten, Ausdruck verlieh, ertönte ein so lauter Donnerschlag, dass die schweren Deckenbalken zu erzittern schienen. Alle Köpfe fuhren hoch. Regen trommelte gegen die schmalen Glasfenster der Halle. Das Wetter war rascher umgeschlagen als befürchtet, und die Männer im Raum konnten nur noch hoffen, dass der Sturm schnell vorüberziehen und der Himmel morgen früh wieder aufklaren würde. Doch diese Hoffnung wurde am nächsten Morgen zunichtegemacht. Als Trefor erwachte, sich ankleidete und zur nächsten Schießscharte lief, um nach draußen zu spähen, stellte er fest, dass es während der gesamten Nacht geschneit hatte und wohl auch noch einige Zeit weiterschneien würde. Die umliegenden Hügel waren mit einer weißen Decke überzogen. Auf der Brustwehr hatten sich kniehohe Schneewehen gebildet, und dicke, nasse Flocken fielen unaufhörlich vom bleigrauen Himmel herab. Trefor eilte eine Wendeltreppe zu einer anderen Schießscharte empor, von der aus er seine Schiffe im Hafen sehen konnte. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, schloss sich eine eisige Faust um sein Herz. Zwei Schiffe waren im aufgewühlten Wasser gegeneinander geprallt, und obwohl er den genauen Schaden aus dieser Entfernung nicht abschätzen konnte, bestand kein Zweifel daran, dass die Takelage zerfetzt und zumindest ein Mast abgebrochen war. Trefors Magen krampfte sich zusammen, als er bemerkte, dass ein Rumpf überdies ein wenig tiefer im Wasser zu liegen schien als sonst. Er wandte sich ab, stürmte in den Burghof hinaus, rief nach seinem Pferd und befahl einem seiner Männer, ihn zum Hafen zu begleiten. Dort stellte er fest, dass der Schaden sogar noch größer war, als er befürchtet hatte. Das Schiff mit dem gebrochenen Mast 43
hatte ein Leck in die Seite des Nachbarboots gerissen. Zwei von Trefors drei Schiffen waren nicht mehr seetüchtig, und eines lief so schnell voll Wasser, dass es innerhalb eines Tages sinken konnte. Noch immer schlugen die hölzernen Rümpfe mit einem dumpfen Krachen gegeneinander. Das
Geräusch jagte Trefor einen Schauer über den Rücken. Einige Besatzungsmitglieder waren bereits eifrig damit beschäftigt, das Wasser auszuschöpfen, um zu verhindern, dass sie das Schiff ganz verloren. Sie riefen sich gegenseitig Schadensmeldungen zu, während sie ihre Eimer über die Bordwand leerten und nach weiteren Lecks suchten. »Verdammt!« Trefor überlegte fieberhaft, was jetzt zu tun war. Sein Blick fiel auf einen von Alex' Rittern, der die Arbeiten überwachte. »Du da! George!« Der Ritter, der sich an dem abgebrochenen Mast festhielt, um auf den schwankenden Planken nicht das Gleichgewicht zu verlieren, drehte sich zu ihm um und wartete auf seine Befehle. »Lass ein paar Männer die Waffen und Vorräte ausladen, während die anderen das Wasser ausschöpfen. Wir müssen retten, was zu retten ist, falls das Schiff sinkt!« »Aye, Sir«, erwiderte George, dann wandte er sich ab, um ein paar Leute für diese Aufgabe abzustellen. MacLean kam in Begleitung einiger Diener zum Hafen hinuntergeritten und sprang von seinem Pferd. »So ein Pech, Pawlowski.« Sein Ton verriet aufrichtige Anteilnahme, als liefe eines seiner eigenen Schiffe Gefahr zu sinken. Tiefe Furchen traten auf seine Stirn, und er warf Trefor einen schwer zu deu‐ tenden Blick zu, ehe er am Kai entlangschritt. Seine Schiffe und die im Hafen ankernden Fischerboote schienen unversehrt geblieben zu sein, obwohl auch sie von Eis eingeschlossen waren. Trefors Schiffe waren die einzigen, die ernsten Schaden genommen hatten. Trefor folgte dem Laird verzagt. Er wusste nicht, was er jetzt
44 tun sollte, denn außer diesen Schiffen und den Männern, die er bei sich hatte, verfügte er über keinerlei Mittel. Er hatte darauf gebaut, zu Gold und Handelswaren zu kommen, sobald er bei Robert in Irland war. Nun hatte er nicht nur kein Geld, um die Reparaturarbeiten bezahlen zu können, sondern auch noch schlechte Aussichten, sich welches zu beschaffen, falls er dieses Schiff verlor. MacLean wies einige seiner Männer an, ein paar kleinere Boote mit Seilen an Trefors Schiff zu binden, um es über Wasser zu halten, bis das Leck repariert war. »Bringt Pech zum Kochen!«, brüllte er dann hörbar verärgert darüber, dass nicht schon längst ein Kessel mit Dichtungsmasse über einem Feuer am Strand brodelte. »Lachlan! Lauf zum Zimmermann! Er soll herkommen und Bretter mitbringen, um das Leck zuzunageln. Beeil dich, Junge!« Ein junger Mann löste sich aus der Gruppe von Schaulustigen am Kai und rannte in Richtung der Burg davon. Abgrundtiefe Erleichterung durchströmte Trefor, und er war endlich in der Lage, seine eigenen Männer anzuweisen, weiterzuschöpfen, bis der Zimmermann eintraf. Das Leck würde mit Brettern verschlossen und mit heißem Pech versiegelt werden, und das Schiff war gerettet. »Es wird ein paar Tage dauern, bis Ihr wieder in See stechen könnt, mein Freund«, meinte MacLean. Er blickte zum Himmel empor, dann über das Meer zum Horizont hinüber und fügte hinzu: »Ganz zu schweigen davon, dass das stürmische Wetter ein Auslaufen in nächster Zeit ohnehin unmöglich macht. Die Eisschollen blockieren die Hafeneinfahrt. Wenn der Sturm nicht abflaut, sitzt Ihr hier fest, bis Tauwetter einsetzt, fürchte ich.« Er seufzte so bedrückt, wie Trefor sich fühlte. »Es tut mir leid, aber Ihr müsst noch einige Zeit auf meiner armseligen Insel ausharren.« Trefor verspürte nicht die geringste Lust, länger als nötig auf 44
Tiree zu bleiben; er brannte darauf, zum König nach Irland zu stoßen, aber das behielt er wohlweislich für sich. Stattdessen sagte er: »Wenn es Euch nichts ausmacht, uns Eure Gastfreund‐ schaft noch ein paar Tage länger zu gewähren, werde ich gerne hier >ausharren<, wie Ihr es nennt.« Der Laird lachte, während er die herumwuselnden Arbeiter beobachtete. »Fühlt Euch in meiner Burg ganz wie daheim, mein Freund, und bleibt, so lange Ihr wollt. Meine Auslagen für die Reparatur Eurer Schiffe könnt Ihr mir erstatten, wenn Ihr Euch in Irland bei Robert Eure erste Belohnung verdient habt. Ich freue mich immer über die Gesellschaft eines königstreuen Mannes, vor allem, wenn er mit den MacNeils von Bar‐ra und Cruachan verwandt ist. Also macht das Beste aus Eurem Aufenthalt hier.« Der kalte Wind nahm an Stärke zu, zerzauste das Haar der Männer und verwandelte die Schneeflocken in scharfe, auf der Haut brennende Eisnadeln. Trefor rückte seinen Hut zurecht und überprüfte, ob das grüne Seidentuch, das er sich darunter um den Kopf gebunden hatte ‐ vorgeblich, um sich zu wärmen, in Wahrheit aber, um seine Ohren zu verbergen ‐, verrutscht war. Dann schlang er seinen Mantel enger um sich und unterdrückte ein resigniertes Seufzen. Robert würde über diese
Verzögerung genauso wenig erfreut sein, wie er es war. Er spürte förmlich, wie ihm seine Chancen beim König mit jeder Minute, die verstrich, unter den Fingern zerrannen. Die Reparaturarbeiten brauchten nicht vorangetrieben zu werden, denn das Wetter besserte sich an diesem Tag nicht, sondern verschlechterte sich sogar noch, und so fand sich Trefor an diesem Abend am Feuer in der großen Halle wieder, wo er halbherzig dem hiesigen Barden lauschte, der ruhmreiche Abenteuer des Clans MacLean vortrug. Die Geschichten in diesem Jahrhundert schienen sich alle zu gleichen, wo auch immer er sie zu hören bekam; die älteren handelten häufig von 45
magischen Ereignissen, die neueren von kürzlich ausgetragenen Kämpfen und errungenen Siegen. Ein guter Barde konnte eine alte Geschichte immer so abwandeln, dass sie die Zuhörer aufs Neue fesselte, und dieser hier hatte ein besonderes Talent dafür. Mit ausdrucksvoller Stimme und beredten Gesten erzählte er von einem Seeungeheuer, das viele Jahrhunderte im Meer sein Unwesen getrieben hatte, bis es von einem MacLean zur Strecke gebracht worden war. Trefor grinste in sich hinein. Er hatte diese Geschichte schon mal gehört, nur war sie ihm da als angebliche MacNeil‐Heldentat verkauft worden. Unruhig trommelte er mit den Fingern auf seinen Knien herum und ließ den Blick müßig durch die Halle schweifen, obwohl sich der Barde größte Mühe gab, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Die Frauen saßen ein Stück von den Männern entfernt; eine Sitte, die Trefor unbegreiflich blieb, hieß diese Sitzordnung doch, dass sie nicht in den vollen Genuss der Wärme des Kaminfeuers kamen ‐ eine wenig ritterliche Art, Frauen zu behandeln, wie er fand, aber diese Burschen hier waren der Ansicht, die besten Plätze gebührten ausschließlich den hochrangigsten Männern, und er würde sich hüten, dagegen Einwände zu erheben. Er konnte es sich nicht leisten, seinen Gastgeber gegen sich aufzubringen. Die meisten Frauen waren mit Näharbeiten beschäftigt und tuschelten leise miteinander, aber einige lauschten auch dem Vortrag des Barden. Trefor bemerkte, dass die Tochter des Lairds von den Geschichten fasziniert war. Ihr Mund war leicht geöffnet, die Lippen bildeten ein kleines 0, und ihm entging nicht, wie rot sie leuchteten. In diesem Land und dieser Zeit waren rote Lippen ein Zeichen von Gesundheit. Make‐up gab es nicht, rosige Wangen rührten nicht von Rouge her, und es bestand keine Möglichkeit, einen schlechten Teint durch Puder und Schminke zu verdecken. Dieses Mädchen war wirklich hübsch. Trefor konnte nicht anders, er starrte sie wie gebannt an. 45
Als der Barde seinen Vortrag unterbrach und an seiner Leier zupfte, sah das Mädchen zu den Männern hinüber und ertappte Trefor dabei, wie er sie mit den Augen verschlang. Er wandte sich hastig ab, weil er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg, und versuchte, sich wieder auf den Barden zu konzentrieren und Deirbhile aus seinen Gedanken zu verdrängen. Entschlossen schob er das Kinn vor, verschränkte die Arme vor der Brust und schenkte dem Mädchen keine Beachtung mehr. Jedenfalls eine Weile lang. Die Stimme des Barden verklang zu einem leisen Hintergrundgeräusch, während Trefor dem Drang widerstand, erneut zu den Frauen hinüberzuschielen. Aber je stärker er sich bemühte, Deirbhile zu ignorieren, desto brennender wurde der Wunsch, sie anzuschauen. Sein Blick wurde wie magnetisch von ihr angezogen, bis er es nicht länger aushielt und in ihre Richtung sah. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass sie ihn beobachtete. Er blinzelte verwirrt und senkte den Kopf. Sah sie ihn schon lange so an? Konnte sie ihm angemerkt haben, welche Anstrengung es ihn kostete, so zu tun, als wäre sie gar nicht da? Wieder begannen seine Wangen zu brennen. Seit seiner Highschoolzeit war er nicht mehr so heftig errötet, und er wand sich innerlich vor Verlegenheit. Aber da er jetzt nicht mehr viel zu verlieren hatte, blinzelte er wieder zu Deirbhile hinüber. Ihr Blick ruhte noch immer auf ihm, und jetzt tanzten auch wieder Grübchen auf ihren Wangen. Ihre Zähne waren groß und die hellsten, die er bislang in diesem Jahrhundert gesehen hatte. Was nicht viel zu sagen hatte, aber zumindest waren ihre Schneidezähne nicht so stumpf grau wie die der meisten Leute hier, und sie pflegte ihr Gebiss, was gleichfalls nicht selbstverständlich war. Ihre blauen Augen funkelten vor unterdrücktem Lachen. Trefor wusste nicht, ob er lächeln oder den Blick abwenden sollte. Das war kein Spaß mehr; sie brachte ihn dazu, sich wieder wie III ein kleiner Junge zu fühlen ‐ eine Zeit seines Lebens, an die er ungern zurückdachte. Missmutig betrachtete er seine Hände. Am liebsten hätte er den Raum verlassen, aber das wäre äußerst unhöflich gewesen. Er saß in der Falle.
Ein weiterer verstohlener Blick in Deirbhiles Richtung verriet ihm, dass sie ihn noch immer ansah. Doch die Grübchen waren verschwunden. Seufzend richtete Trefor seine Aufmerksamkeit wieder auf den Barden. Was auch immer gerade geschehen sein mochte, er war sicher, irgendetwas zwischen ihnen zerstört zu haben. Nur was das war, konnte er nicht sagen. Der Sturm steigerte sich zu einem Blizzard, der die Nordspitze von Tiree mit einer Eisschicht überzog. Die Arbeiten an den Schiffen mussten ruhen, und die Bewohner der Burg und des Dorfes beteten inständig, dass der Feuerholzvorrat vorhielt, bis Tauwetter einsetzte. Das Eis im Hafen bedrohte sowohl Trefors als auch MacLeans Schiffe, und die Arbeiter waren unermüdlich damit beschäftigt, dünne Eisschollen zu zerhacken und brennende Holzscheite auf die dickeren zu werfen. Die Gefahr, dass eines der Schiffe dabei in Brand geriet, war groß, daher stellte Trefor an den Schießscharten der Burg Wachposten auf, die den Kai im Auge behalten sollten. Dass Alex' Schiffe in Flammen aufgingen, war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte. Er wollte auf keinen Fall Hilfe von Eilean Aonarach an‐ fordern und somit zugeben müssen, dass er noch nicht einmal imstande war, nach Irland zu reisen, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Der Blizzard tobte zwei Tage, und am zweiten Abend zog sich Trefor verdrossen in seine Kammer zurück. Er hatte den ganzen Tag nichts Sinnvolles getan, nur herumgesessen, den Prahlereien seines Gastgebers über vergangene Ruhmestaten gelauscht und sich dabei zu Tode gelangweilt. Er hatte nicht geahnt, wie viel Kraft und Energie Nichtstun kostete. Er rollte die Schultern, um die verspannten Muskeln zu lockern, dann 46
streifte er vor dem Feuer seine Kleider ab, hängte sie über das Trockengestell, obwohl er gar nicht im Freien gewesen war, und huschte durch den kalten Raum, um in sein Bett zu kriechen. Irgendetwas bewegte sich neben ihm unter der Decke; etwas, was er für ein Kissen gehalten hatte. Trefor sprang mit einem Satz hoch und tastete nach seinem Gürtel, an dem sein Dolch hing, doch eine vertraute Stimme hielt ihn zurück. »Trefor, ich bin es doch nur.« Trefor richtete sich mit einem erleichterten Seufzer wieder auf. »Morag?« Der Schatten im Bett bewegte sich erneut, und jetzt erkannte er die Umrisse eines Menschen unter der Wolldecke. »Aye.« Morag setzte sich auf und rieb sich die Augen. Sie hatte fest geschlafen und sah ihn jetzt benommen an. »Wo kommst du her? Wo bist du gewesen?« Dann schoss ihm die naheliegendste Frage durch den Kopf. »Wie in Gottes Namen bist du hierhergekommen?« Seit zwei Tagen hatte nichts und niemand die Insel mehr verlassen oder betreten. War sie schon die ganze Zeit hier gewesen, oder war sie auf einem Besenstiel hergeflogen? »Ich habe gewisse Möglichkeiten, dorthin zu gelangen, wo ich hinwill, wie du weißt.« Sie hörte auf, ihre Augen zu reiben, und versuchte ihre roten Locken zu ordnen, die ihr wirr über die Schulter fielen. Das wusste er allerdings. Sie verfügte über Fähigkeiten, von denen er nur träumen konnte. Ein Gedanke nahm in seinem Kopf Gestalt an. »Du kannst die Insel verlassen, wenn du das willst, nicht wahr?« »Aye.« »Dann hilf mir, von hier wegzukommen. Ich muss unbedingt zu Bruce' Armee in Irland stoßen.« Ihre Augen wurden schmal, und er begriff, wie töricht seine Bitte war, noch ehe sie zu einer Antwort ansetzte. »Möchtest 46
nur du hier weg, oder willst du deine Ritter mitnehmen? Was willst du denn ohne deine Männer in Irland anfangen?« Trefors wieder aufgeflammte Hoffnung erlosch erneut. Morag mochte in der Lage sein, ihn an einen anderen Ort zu schicken, aber ganz sicher war er sich in diesem Punkt nicht. Er wusste nur, dass es nicht in ihrer Macht stand, eine ganze Armee von hier fortzuschaffen, und selbst wenn sie dazu fähig und bereit wäre, ihm seinen Wunsch zu erfüllen, würde er hinterher einige Erklärungen abgeben müssen, und dazu verspürte er wenig Lust. Die Aussicht, auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden, erschien ihm nicht sehr verlockend. Seufzend legte er den Dolch beiseite und schlüpfte zu ihr in das warme Bett. Was er an Morag besonders mochte, war der Umstand, dass sich ihre Körper perfekt ergänzten. Sie konnte in vieler Hinsicht eine fürchterliche Nervensäge sein, aber im Bett passte keine Frau besser zu ihm als sie. Er
legte sich neben sie, zog sie an sich und küsste sie, und sie verschmolz mit ihm, als wäre sie seine andere Hälfte. Erst jetzt merkte er, wie sehr er sie vermisst hatte. Seine Lenden begannen zu pochen, und das auflodernde Verlangen nach ihr löschte alle anderen Gedanken aus. Er rollte sich über sie, drang in sie ein und zögerte das Liebesspiel hinaus, bis sie vor Wonne zu wimmern begann. Die Bhrochan hatten ihn neben vielen anderen Dingen auch gelernt, Kontrolle über seinen Körper auszuüben, was ihm jetzt von Nutzen war. Endlich kam er mit einen erstickten Stöhnen zum Höhepunkt, stützte sich nach Atem ringend auf die Ellbogen und grinste auf sie hinab. Am liebsten hätte er gleich weitergemacht. Es war so lange her, und er hatte noch so viel, was er ihr geben wollte. »Wo bist du gewesen, Morag?« »Hier und dort.« »Warum hast du mich in diesem elenden Erdloch zurückgelassen?« Warum hatte sie ihn überhaupt erst dorthin gelockt? 47
»Kannst du abstreiten, dass du die Dinge brauchst, die sie dir dort beigebracht haben?« »Du wolltest, dass ich die Kunst der Magie erlerne?« Er kicherte leise. »Oder eher das hier?« Wieder drängte er sich zwischen ihre Schenkel. Morag gluckste leise. »Nicht nur das. Mir Vergnügen zu bereiten hätte ich dir auch ohne die Hilfe meiner Feenverwandten beibringen können.« »Was dann?« »Du wirst es eines Tages erfahren. Unausweichlich.« Aha. »Schicksal, nicht wahr? Meine Bestimmung.« »So ist es. Brochan hat dich ja darüber aufgeklärt.« »Er hat ... gewisse Dinge erwähnt. Aber ich glaube ihm nicht.« Sie erwiderte nichts darauf, sondern sah ihn nur an und summte nachdenklich vor sich hin. Trefor rollte sich auf die Seite und stützte den Kopf auf seinen Ellbogen. »Viel hat er mir nicht gerade verraten.« »Was gibt es dann zu glauben oder nicht zu glauben?« »Zum Beispiel glaube ich nicht, dass es so etwas wie ein unausweichliches Schicksal gibt. Ich glaube an meinen freien Willen. Niemand kann mir weismachen, dass alles, was ich tue, vorherbestimmt ist und ich keine Kontrolle über meine Entscheidungen habe.« »Aber wer kann denn sagen, ob das, was du tust, dir nicht vom Schicksal vorgegeben ist?« »Ich sage das, denn ich allein entscheide, was ich tue.« Seine Stimme klang merklich gereizt. Morag schwieg und sah ihn im flackernden Schein des herunterbrennenden Feuers stumm an. Trefor zog sie an sich und küsste sie erneut. Sie reagierte so leidenschaftlich wie immer auf ihn, doch dann murmelte sie: »Wenn du doch nur das wahre Ausmaß der Macht erfassen würdest, Liebster.« 47
Trefor begriff nicht, was sie damit meinte, verspürte aber kein Verlangen, das Thema weiter zu verfolgen. Er war der alleinige Herr seines Schicksals, mehr gab es dazu nicht zu sagen. Er presste Morag enger an sich und liebte sie ein zweites Mal. Es interessierte ihn nicht, wo sie gewesen war und was sie getrieben hatte. Jetzt war sie hier bei ihm, und das gedachte er weidlich auszunutzen. Am nächsten Morgen war sie verschwunden. Es war ein gespenstisches Gefühl, in dem Wissen zu erwachen, dass die Burg von Schneemassen umschlossen war und Morag nirgendwo zu finden war. Sorgsam darauf bedacht, nicht den Anschein zu erwecken, als suche er jemanden, der nach menschlichem Ermessen gar nicht hier sein konnte, streifte er durch die ganze Burg, konnte Morag jedoch nirgendwo entdecken, und eigentlich hatte er damit auch gar nicht gerechnet. Dennoch machte er sich so seine Gedanken. Auf dem Weg zu einem Aussichtspunkt, von dem aus er seine Schiffe beobachten konnte, stieß er auf Deirbhile, die in einer Kammer hoch oben im Turm stand und aus dem Fenster blickte. Trefor war überrascht, sie hier vorzufinden, zumal sie allein war ‐ Mädchen wie sie umgaben sich gewöhnlich mit einer Schar Freundinnen oder Kammerfrauen, mit denen sie schwatzen konnten. Er sah sich um. Nein, sie war eindeutig alleine hier oben, sie hatte noch nicht einmal eine Anstandsdame bei sich. Mit einem Mal war er sich nicht sicher, ob er eine Entschuldigung murmeln und so schnell wie möglich wieder das Weite suchen oder ob er bleiben und versuchen sollte, mehr über dieses Mädchen in Erfahrung zu bringen. Irgendwie musste er sich die Langeweile ja vertreiben, und da Morag nicht aufzufinden war, konnte er sich genauso gut an die Tochter des Lairds halten. Er lächelte und verneigte sich leicht. »Guten Tag, Mylady.« »Auch Euch einen guten Tag ... Sir Trefor Pawlowski, nicht wahr?«
48 Sie kannte also seinen Namen. Das gefiel ihm. »Aye. Pawlowski.« Gut, das war der Mädchenname seiner Mutter, nicht sein eigener, aber er hatte ihn annehmen müssen, weil hierzulande niemand wissen durfte, wer seine Eltern waren. »Was für ein exotischer Name. Er klingt fast melodisch. Ich bin Deirbhile MacLean, mein Vater ist Euer Gastgeber.« Das war Trefor bekannt, trotzdem nickte er bestätigend. Sie fuhr fort: »Ihr befindet Euch in einer sehr unangenehmen Lage, wie es scheint.« Obwohl er ihr da insgeheim nur zustimmen konnte, wehrte er sofort ab: »Im Gegenteil, meine Männer und ich können uns glücklich schätzen, von Eurem Vater so freundlich aufgenommen worden zu sein. Überdies hat er auch meine Schiffe vor größerem Schaden bewahrt. Ich bin ihm zu größter Dankbar‐ keit verpflichtet.« Ein kleiner Funke tanzte in ihren Augen. »Nichtsdestotrotz könnt Ihr es gar nicht erwarten, wieder aufzubrechen.« Man merkte ihm seine Ungeduld also an. Verdammt. »Ich werde in Irland erwartet. Der König selbst hat mich dorthin bestellt; ich muss seinem Befehl Folge leisten.« »Aber da Ihr doch wisst, dass Ihr das Wetter nicht ändern könnt, wäre es gewiss klüger, Ihr würdet Euch entspannen und Euren Aufenthalt hier genießen.« Trefor verschränkte die Hände hinter dem Rücken und streckte sich, um aus dem offenen Fenster zu blicken. Im Raum war es eiskalt, obwohl im Kamin ein helles Feuer prasselte, und der Wind, der von draußen hereinwehte, fraß sich in seine Wangen und ließ seine Nase gefühllos werden. Ringsum war alles weiß, soweit das Auge reichte. Die Häuser des Dorfes versanken fast im Schnee, und ein Ende dieses plötzlichen Wintereinbruchs war nicht abzusehen. »Meine Pflichten gegenüber Robert drängen mich zur Eile. Es wäre mir unerträglich, meinen König im Stich zu lassen.« 48
»Eine noble Einstellung, trotzdem sehe ich keinen Sinn darin, dass Ihr Euch unaufhörlich den Kopf über etwas zerbrecht, was Ihr nicht ändern könnt.« Trefors Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. Er hatte in seinem Leben nur sehr wenige Dinge zu ändern vermocht, und ihm schien, als wäre jeder Versuch, den er in dieser Hinsicht unternommen hatte, von vorneherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Wenn diese wetterbedingte Verzögerung an seinen Nerven zerrte, dann deshalb, weil von dieser Reise so viel abhing. Und er hatte schon so viel Zeit bei den Bhrochan vergeudet. Langsam musste er anfangen, etwas aus seinem Leben zu machen. »Merkt man mir das an?« »Man könnte leicht auf den Gedanken kommen, dass Ihr meinem Vater nicht sonderlich dankbar für seine Hilfe seid und Euch unsere Gesellschaft missfällt.« »Das dürft Ihr nicht denken«, beeilte sich Trefor ihr zu versichern. »Ich fühle mich im Gegenteil in Eurer Gesellschaft und der Eures Vaters sehr wohl.« Zumindest Ersteres entsprach voll und ganz der Wahrheit. Wieder erschienen die Grübchen auf ihren Wangen. Trefor kam es so vor, als freue sie sich mehr über seine Antwort, als man es von einem Mädchen erwarten würde, das ihn kaum kannte oder nicht mochte. Er folgerte daraus, dass sie wohl Gefallen an ihm fand, was in seinem Magen eine wohlige Wärme auslöste. Deirbhile musterte ihn einen Moment nachdenklich, dann sagte sie: »Wenn ich sehe, wie Ihr Eure Schiffe anstarrt, dann gewinne ich immer den Eindruck, Ihr würdet versuchen, das Eis im Hafen durch bloße Willenskraft zum Schmelzen zu bringen.« Er hätte ihr erklären können, dass er zwar kraft seines Willens bestimmte Ereignisse herbeiführen oder verhindern, nicht jedoch bereits Geschehenes rückgängig machen konnte, schwieg jedoch aus Furcht, sie könne daraus schließen, dass 48
in seinen Adern nicht nur menschliches Blut floss. Aus demselben Grund achtete er auch immer sorgfältig darauf, dass sein Haar stets seine Ohren bedeckte. Er sprach nicht gern mit irgendjemandem über seine Abstammung, auch nicht mit denen, die Bescheid wussten. Dazu kam, dass seine Mutter eine Nachfahrin von Königin Danu persönlich war, was als Prahlerei gewertet werden konnte, wenn er es erwähnte. Man konnte nie wissen, wie Fremde auf derartige Geständnisse reagierten, deswegen hielt er es für besser, dieses Thema gar nicht erst anzuschneiden. Seufzend erwiderte er: »Vielleicht habt Ihr recht. Ich mache mir zu viele Gedanken um etwas, worauf ich keinen Einfluss habe, und sollte mich lieber an Eurer Gesellschaft erfreuen.«
»Wogegen ich nicht das Geringste einzuwenden hätte.« Trefor musste lächeln. Aus dem Mund eines Mädchens ihres Alters und ihrer Erziehung hätte er eine so kühne Antwort nicht erwartet. Flirtete sie mit ihm? Hatte sie es bewusst so eingerichtet, ihn hier alleine, ohne Anstandsdame anzutreffen? »Dann erzählt mir doch mehr über die Gesellschaft, in der ich mich gerade befinde. Womit vertreibt Ihr Euch denn hier die Zeit?« »Mit nichts, was auch nur annähernd so aufregend wäre, wie gegen irische Edelleute zu kämpfen.« Trefor grinste, und sie kicherte über ihren eigenen Scherz. »Ich beschäftige mich mit meinen Stickarbeiten, ich habe meine Freundinnen, und nächstes Jahr habe ich dann genug mit meinem Mann und seinem Haushalt zu tun, um mich nicht zu langweilen.« Trefor verbarg seine Betroffenheit hinter einem breiten Lächeln. Sie war also verlobt. Er wandte sich wieder zum Fenster, dabei fragte er sich, warum sie ihm Avancen machte, wenn sie bereits in festen Händen war. »Ihr habt einen Bräutigam?« »Natürlich. Wir wurden einander schon als Kinder versprochen. Ich bin mit Geoffrey verlobt, seit ich denken kann.« 49
Er musterte sie forschend. »Die Ehe wurde von Euren Eltern arrangiert?« »Wird das nicht jede Ehe? Jede, die für beide Seiten von Vorteil ist, meine ich?« Trefor wurde bewusst, dass arrangierte Ehen hier an der Tagesordnung waren, aber er hätte nie gedacht, dass eine solche Braut ihr Los so klaglos hinnehmen würde. »Nein. Bei meinen Eltern war das nicht der Fall.« Allerdings stammten weder Alex noch Lindsay aus diesem Kulturkreis. Obwohl er sich im Laufe des letzten Jahres recht gut an die Sitten und Gebräuche dieser Zeit angepasst hatte, konnte er sich mit den mittelalterlichen Ansichten bezüglich Liebe und Ehe nicht abfinden. »Sie haben aus Liebe geheiratet. Und sie lieben sich immer noch. Keiner von beiden wurde zu dieser Ehe genötigt.« Das Lächeln, das daraufhin um Deirbhiles Lippen spielte, empfand er als etwas herablassend. »Ihr kommt aus Ungarn. Ich denke, auf dem Kontinent handhabt man derlei Dinge weniger streng.« Ihr Ton verriet, dass sie von dieser Art von Nachsichtigkeit nicht viel hielt. »Schon möglich. Trotzdem würde ich nicht gern mein ganzes Leben mit einer Frau verbringen, für die ich mich nicht aus freien Stücken entschieden habe.« Er würde nie zulassen, dass Alex oder Lindsay eine Braut für ihn auswählten. Mit Sicherheit nicht. Das Mädchen lachte leise. »Das glaube ich Euch gern. Aber ich sehe das anders.« »Seht Ihr Euch schon als glückliche Ehefrau?« »Ich wüsste nichts, was dagegen spricht. Mein zukünftiger Mann ist Schotte, und er ist reich. Mehr kann ich nicht verlangen.« »Wie wäre es zum Beispiel mit Respekt?« »Er wird mich respektieren, weil ich die Tochter meines Va‐ ters bin. Der MacLean ist ein angesehener Mann, und ich bin
49 sehr stolz auf ihn.« Trefor merkte ihr deutlich an, dass sie all diese Dinge als selbstverständlich betrachtete und sich wunderte, ihm etwas erklären zu müssen, was schon immer so gewesen war und, was sie betraf, immer so bleiben würde. In der Hoffnung, endlich zu ergründen, was sie dazu trieb, sich allein mit ihm in einer abgelegenen Ecke der Burg zu unterhalten, wo sie kaum gestört werden würden, beschloss er, ein Risiko einzugehen und ihr eine heikle Frage zu stellen. »Und was ist mit dem ehelichen Schlafgemach? Meint Ihr, mit einem Mann, den Ihr Euch nicht selbst ausgesucht habt, auch dort Euer Glück zu finden?« »Tut das überhaupt jemand?« »Ich würde es zumindest erwarten.« Verwirrung spiegelte sich auf ihrem Gesicht wider. »Mit Eurer Frau?« »Mit wem sonst?« Einen Moment lang sah es so aus, als wollte sie etwas darauf sagen, dann änderte sie ihre Meinung, trat zum Fenster und blickte hinaus. Dachte nach. Er wartete geduldig darauf, dass sie weitersprach. Endlich wandte sie sich wieder zu ihm um. »Ihr habt viel Vertrauen in Eure Zukunft.« Jetzt war es an ihm, verdutzt die Stirn zu runzeln. »Wie kommt Ihr darauf?« »Weil Ihr so sicher seid, dass die Frau, die Ihr heiraten werdet, in jeder Hinsicht perfekt zu Euch passen und sich nie ändern wird. Aber Ihr werdet Euch in einer Falle wiederfinden, sobald Ihr
erkennen müsst, dass sie nicht die ist, für die Ihr sie gehalten habt. Kein Mensch ist so durchschaubar, dass man vorhersagen kann, wie er sich entwickelt.« »Ein Grund mehr, sich seinen Ehepartner sehr sorgfältig auszusuchen.« »Ein Grund mehr, seinen Traum von Liebe nicht in der Ehe verwirklichen zu wollen.«
50 »Demnach befürwortet Ihr also Untreue?« Sie hob leicht die Schultern. »Ich werde mich damit abfinden müssen, ob es mir gefällt oder nicht. Wenn ich von meinem Mann absolute Treue erwarte, werde ich mit Sicherheit eine herbe Enttäuschung erleben. Und mit dem wachsenden Reichtum und Einfluss eines Mannes steigt unweigerlich auch die Zahl seiner Mätressen, das ist allgemein bekannt.« Trefor zögerte, die Frage auszusprechen, die ihm auf der Zunge lag, tat es dann aber doch. »Und wie steht es mit Euch selbst?« Auch sie antwortete nicht gleich, sondern überlegte kurz, ehe sie bedächtig erwiderte: »Ich bringe nicht dasselbe Vertrauen in meine Zukunft auf wie Ihr. Ich kann es wirklich nicht sagen.« Trefor gab einen unbestimmten Grunzlaut von sich, während er sie nachdenklich betrachtete. Sie war sehr viel abgeklärter und machte sich weit weniger Illusionen als die meisten gleichaltrigen Mädchen in seinem eigenen Jahrhundert. »Die Vorstellung, einem anderen Menschen mein ganzes Herz zu schenken, ihm eine solche Macht über mich zu verleihen, erschreckt mich«, fuhr sie fort. »Ich glaube nicht, dass ich das könnte.« »Die Kunst in einer guten Ehe besteht darin, zu versuchen, immer denselben Weg im Leben einzuschlagen«, erwiderte Trefor langsam. »Und wer von beiden gibt diesen Weg vor?« Trefor musste grinsen. Plötzlich klang sie ganz wie die Mädchen in seiner Heimat. »Da muss man sich eben einigen. Kompromisse eingehen.« »Ich bezweifle, dass das möglich ist. Welcher Mann würde wohl seiner Frau zuliebe Zugeständnisse machen, die ihm nicht behagen?« »Ich. Wenn ich sie genug lieben würde.« 50
Ein unterdrücktes Lächeln zuckte um ihre Lippen. Er konnte nicht sagen, ob sie von diesem doch sehr persönlichen Geständnis beeindruckt war oder ob sie es für eine Lüge hielt. Sie erwiderte sachlich, ohne eine Spur von Bitterkeit oder Schärfe in der Stimme: »Männer lieben Frauen nicht. Sie begehren sie, respektieren sie. Aber sie zu lieben ist ihnen nicht gegeben, auch wenn sie das abstreiten. Sagt mir, Sir Trefor ... wart Ihr schon einmal wirklich verliebt?« Trefor dachte an Morag und war einen Moment lang versucht, die Frage zu bejahen, aber dann war er mit einem Mal nicht mehr so sicher. Manchmal kreisten alle seine Gedanken wie ein verzehrendes Feuer allein um die Bhrochan‐Fee, dann wieder dachte er überhaupt nicht an sie. Wie jetzt. Es gelang ihm mühelos, Morag aus seinem Gedächtnis zu tilgen und sich nur auf dieses Mädchen zu konzentrieren. Und wie verhielt es sich mit Lindsay? Seine Mutter, nur ein Jahr älter als er, war ein weiterer glühender Stachel in seinem Fleisch. Seine Gefühle für Morag verblassten oft neben seinem verzweifelten Wunsch, Lindsay möge ihn als ihren Sohn akzeptieren, was sie, wie er genau wusste, nie tun würde. So gesehen war er nicht nur nie verliebt gewesen, sondern hatte noch nie einen anderen Menschen aufrichtig geliebt. Diese Erkenntnis schnürte ihm die Kehle zu, und er musste sich räuspern. Seine Antwort lautete: »Nein. Ich habe noch nicht die richtige Frau gefunden.« »Viel Glück bei Eurer Suche. Ich hoffe nur, dass Eure zweite Hälfte nicht in Ungarn lebt, sonst könnte es passieren, dass Ihr ihr nie begegnet.« »Wer sagt denn, dass sie sich nicht gerade jetzt hier in dieser Burg befindet?« Trefor presste die Lippen zusammen. Er wusste selber nicht, warum ihm diese Bemerkung entschlüpft war. Zu seiner Erleichterung lachte sie glockenhell auf, was hieß,
50 dass sie seine Worte als koketten Scherz auffasste. »Wenn es vom Schicksal so bestimmt ist, vielleicht.« Wenn ich es so bestimme. »Wir werden sehen.«
Ein paar Stockwerke unter ihnen erklangen Stimmen. Deirbhile raffte hastig ihre Röcke. Mit einem raschen Knicks sagte sie: »Es war mir ein Vergnügen, mit Euch zu plaudern, Sir Trefor, aber ich fürchte, ich muss jetzt anderweitigen Verpflichtungen nachkommen.« Trefor verneigte sich förmlich. »Und ich muss jetzt die Arbeiten an meinen Schiffen überwachen. Gott mit Euch, Mylady.« »Und mit Euch, Sir.« Mit diesen Worten eilte sie die Wendeltreppe hinunter, auf das Stimmengewirr zu. Trefor sah ihr nach, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf das geschäftige Treiben im Hafen, wo seine Männer den zerbrochenen Mast reparierten. Als die Stimmen verklangen, sah er kurz zur Treppe hinüber und überlegte, was für ein seltsames Mädchen Deirbhile doch war. So jung und hübsch und scheinbar unschuldig, aber im Herzen eine Zynikerin. Er fragte sich, ob alle Mädchen dieses Jahrhunderts so waren. Er hatte schon eine ganze Reihe von Huren und auch viele Feenfrauen kennengelernt, aber heute zum ersten Mal mit einem Mädchen von Deirbhiles Rang gesprochen. Sie war so ganz anders, als er sich die verwöhnte, behütete Tochter eines wohlhabenden Lairds vorgestellt hatte. Sein Blick schweifte erneut zur Treppe hinüber, und ihm wurde warm ums Herz.
51
SIEBTES KAPITEL
Obwohl Lindsay die Nacht in Reubairs Kammer verbrachte, wurde sie nicht behelligt. Sie schrak ständig hoch, weil sie sicher war, das Knarren der Schrankbetttür gehört zu haben, und wartete darauf, dass ihr Entführer kam, um sich zu nehmen, was ihm seiner Meinung nach rechtmäßig zustand. Aber die Tür blieb geschlossen, und die Nacht verlief ruhig. Seltsamerweise verspürte sie einen vagen Anflug von Enttäuschung, als ihr klar wurde, dass er nicht kam, doch sie schüttelte ihn energisch ab. Sie musste verrückt sein, wenn sie es als kränkend empfand, dass er nicht versuchte, ihr Gewalt anzutun. Der Mann hatte sie verschleppt und in eine Zelle gesperrt, dann hatte er sie nackt an einen Felsen gekettet, wo jeder Vorübergehende sie anstarren konnte. Sie hasste ihn. Gemocht hatte sie ihn noch nie, aber jetzt verabscheute sie ihn aus tiefster Seele und wollte ihn nur noch tot sehen. Ihn am liebsten eigenhändig umbringen. Blieb der Umstand, dass er sie nicht angerührt hatte. Er hatte sie noch nie angerührt, noch nicht einmal den leisesten Versuch dazu unternommen. Irgendwann waren ihre Lider schwer geworden, sie schlief bis weit in den nächsten Morgen hinein, und als sie endlich die Tür ihres Verschlags öffnete, stellte sie fest, dass es bereits auf Mittag zuging. Reubair befand sich nicht in der Kammer, war aber mit Sicherheit irgendwo in der Nähe. Sie blickte sich 51
wachsam im Raum um, ehe sie aus dem Bett kletterte und die Tür hinter sich schloss, dann vergewisserte sie sich, dass sich das Band, das ihr Hemd am Hals zusammenhielt, nicht gelöst hatte. Der Tisch war für zwei Personen gedeckt, aber Speisen waren noch nicht aufgetragen worden. Über einem Gestell am Feuer hingen mehrere Kleidungsstücke, die sie neugierig betrachtete. Das Kleid war aufwändiger gearbeitet als jenes, das sie am Abend zuvor getragen hatte, und die seidene Unterwä‐ sche duftete frisch und sauber. Beim näheren Hinsehen stellte sie fest, dass die Stücke noch nie getragen worden waren. Ehe sie sie überstreifte, wusch sie sich an der Waschschüssel und trocknete sich mit einem weichen Leinentuch ab. Sie hatte immer gedacht, im Vergleich zu vielen anderen Menschen dieser Zeit einigermaßen komfortabel zu leben, aber Reubairs Burg bewies ihr, dass man nicht dem Königshaus angehören musste, um ungeheuren Luxus sein Eigen zu nennen. Was die Frage aufwarf, warum Reubair sich die Mühe machte, ärmliche kleine Dörfer im Grenzgebiet zu überfallen und auszuplündern. Aus Spaß? Reiche Beute machte er dabei jedenfalls nicht, bei Weitem nicht genug, um sich seinen aufwendigen Lebensstil leisten zu können. Vielleicht war hier dieselbe Magie im Spiel, auf die sie auch die glänzenden Rüstungen und die makellos saubere Erscheinung der Ritter zurückführte, die sie hierhergebracht hatten. Sie musste sich ja nur Iain ansehen. Als er letzten Sommer mit Reubairs Räubertruppe im Norden Englands umhergestreift war, hatte er sich kaum von seinen zerlumpten menschlichen Kameraden ‐ sie selbst mit eingeschlossen ‐ unterschieden. Aber hier in Reubairs irischer Burg trug er kostbare Kleider, die nicht den kleinsten
Schmutzfleck aufwiesen, und seine Rüstung schimmerte wie aus reinem Silber gefertigt. Auch Reubair hatte sich verändert; er schien jetzt geradezu von den magischen Kräften durchdrungen zu sein,
52 die er in England so vehement geleugnet hatte. Lindsay fragte sich, ob er diese Veränderung absichtlich herbeigeführt hatte, oder ob sie sich von selber einstellte, wenn er sich hier aufhielt. Gerade als sie einhändig mit den Knöpfen am Ärmel des Kleides kämpfte, trat Reubair in die Kammer. Sie drehte sich zu ihm, öffnete den Mund, um ihren Gefühlen Luft zu machen, änderte dann aber ihre Meinung und wartete stumm darauf, dass er als Erster das Wort ergriff. Er neigte den Kopf und sah sie an, dann trat er zu ihr und ergriff ihren Arm, um ihr mit den Knöpfen zu helfen. Lindsays erster Impuls bestand darin, sich angewidert loszumachen, doch sie entschied sich dagegen. Hätte man sie gefragt, hätte sie den Grund dafür nicht nennen können; es erschien ihr einfach nicht richtig. Sie sah zu, wie er geschickt mit den Knöpfen hantierte, und zum ersten Mal fiel ihr auf, wie lang, schmal und kräftig seine Hände waren. Eine Schwiele verunzierte den Knöchel seines rechten Zeigefingers; sie rührte vom Griff seines Schwertes her, Lindsay hatte sich selbst dort oft genug Blasen eingehandelt, um Bescheid zu wissen. Ihre Schwielen bereiteten ihr oft Schmerzen, aber seine wirkten so hart und fest, als hätte er sie bereits seit seiner Kindheit. Doch dann wurde ihr mit einem Mal bewusst, dass sie ihn anstarrte. Peinlich berührt wandte sie den Blick ab und dankte ihm leise für seine Hilfe. »Das Mittagsmahl wird bald serviert werden. Ihr habt das Frühstück verschlafen«, teilte er ihr mit. »Ich habe keinen großen Hunger.« »Das wird sich ändern, wenn Ihr den Duft der Speisen riecht, die ich habe zubereiten lassen. Meine Köche zählen zu den besten dieses Landes, und sogar die schlechtesten hier übertreffen die der Menschen bei Weitem.« Er bedeutete ihr mit einer Handbewegung, am Feuer Platz zu nehmen. 52
Offenbar war sie durch den Kleiderwechsel von einer Gefangenen zum persönlichen Gast des Burgherrn aufgestiegen. Es störte Lindsay nicht, mit Reubair allein zu sein; sie konnte auf sich aufpassen und fürchtete nicht um ihren Ruf oder ihre Person. Nicht nach dem, was Jenkins ihr angetan und wie sie sich dafür an ihm gerächt hatte. Sie saß Reubair jetzt als Gräfin von Cruachan, Gemahlin des Alasdair An Dubhar MacNeil und Ritter des schottischen Königreiches gegenüber, und das wusste er. Als sie sich zurücklehnte, bemerkte sie, wie sein blondes Haar im flackernden Feuerschein glänzte. War ihr das jemals zuvor aufgefallen? Früher war es ihr nie anders als stumpf und ungepflegt erschienen. Heute schimmerte es fast weiß, und die langen Enden wehten sacht im Luftzug des Feuers. Die Spitzen seiner Ohren ragten kaum merklich aus den feinen Strähnen hervor und schienen sich nach vorn zu krümmen, wie um sich keines ihrer Worte entgehen zu lassen. Auch das gefiel ihr. Reubair gab seine Bemühungen, ein Gespräch in Gang zu bringen, bald auf, da sie überhaupt nicht zuhörte. Endlich schrak sie aus ihren Tagträumen hoch und sah ihn an. »Was geht Euch gerade im Kopf herum?«, erkundigte er sich freundlich. Ihre Lippen verzogen sich zu einem humorlosen Lächeln. »Vielleicht mein eigenes Heim? Wo ich jetzt sein sollte und wo ich nicht bin?« Woran sie ständig hätte denken sollen und es nicht getan hatte, wie sie beschämt erkannte. Was war nur mit ihr los? Ihre Wangen begannen zu brennen. »Finias ist jetzt Euer Heim.« »Mein Mann ist nach wie vor am Leben. Ich bin dort daheim, wo er ist.« Die Sehnsucht nach Alex drohte sie mit einem Mal zu überwältigen und trieb ihr Tränen in die Augen, doch sie hielt sie eisern zurück. Reubair hatte sie noch nie weinen sehen, und sie würde es auch nie dazu kommen lassen. 52
Sein Gesicht umwölkte sich vor Ärger, und seine Stimme nahm einen schneidenden, giftigen Klang an. »Ihr werdet bald Witwe sein, das schwöre ich Euch.« »Ihr sagt das so, als müsste ich mich darauf freuen.« »Das solltet Ihr, denn Ihr könnt es nicht verhindern. Außerdem solltet Ihr einmal an all die Vorteile denken, die eine Verbindung mit mir mit sich bringt.« Er blickte sich vielsagend im Raum um. »Das Leben auf Eurer armseligen kleinen Insel lässt sich wohl kaum mit dem vergleichen, was ich Euch bieten kann.« Lindsay konnte nicht umhin, ihm in diesem Punkt zuzustimmen. So hoch Alex in der Gunst des Königs auch noch steigen mochte, der Lebensstil auf Eilean Aonarach und Cruachan würde niemals an den
hiesigen heranreichen. Außerdem konnte Reubair ihr, wenn sie dementsprechende Andeutungen fallen ließ, dank seiner magischen Kräfte sicherlich zu einigen Annehmlichkeiten des 21. Jahrhunderts verhelfen‐heißen Duschen, Zentralheizung, konservierten Lebensmitteln ... hier war dies durchaus möglich. Lindsay schloss die Augen und verdrängte die verlockende Vorstellung voller Scham. Die Treue, die sie Alex schuldete, sollte Vorrang vor ihren eigenen Wünschen haben. Der menschliche Diener, den sie gestern schon gesehen hatte, erschien mit einer großen Platte mit Bratenscheiben und Brot, stellte sie auf den Tisch und zog sich ohne ein Wort oder einen Blick in ihre Richtung wieder zurück. Das Fleisch duftete köstlich, und außer dem frisch gebackenen Brot gab es auch noch eine Art Früchtekuchen, der einen scharfen, säuerlichen Geruch verströmte, den sie nicht einordnen konnte. Sie und Reubair nahmen zum Essen am Tisch Platz und unterbrachen ihr Gespräch, während er ihren Teller füllte. Lindsay probierte den Kuchen, konnte aber immer noch nicht sagen, welche Früchte darin verarbeitet worden waren. Irgendeine Beeren 53
art, größer als alle, die sie kannte, glatt wie Blaubeeren, aber längst nicht so süß. Als wäre sie mit einer tropischen Frucht gekreuzt worden, Ananas vielleicht oder Mango. Aber das war unmöglich. »Dieser Kuchen schmeckt wundervoll.«Sie musste sich nachdrücklich ins Gedächtnis rufen, wie sehr sie ihren Entführer hasste und ablehnte. Der köstlichste Kuchen der Welt konnte daran nichts ändern. »Was sind das für Früchte?« »Ich glaube kaum, dass Ihr sie kennt. Sie wachsen nur hier.« Lindsay fiel auf, dass er sich nur Fleisch auf seinen Teller gelegt hatte. »Ihr nehmt nichts davon?« »Ich bin kein Freund von Süßem, aber ich weiß, dass Ihr Eure Mahlzeiten gern mit etwas Honig oder Früchten abrundet.« Lindsay verbot sich energisch, sich geschmeichelt zu fühlen, nur weil er sich Mühe gab, ihre Vorlieben zu berücksichtigen. Er hatte also Kuchen auftragen lassen, weil sie gern Süßigkeiten aß. Na und? Stumm verzehrte sie ihr Stück und tat so, als kümmere es sie nicht, was er dachte. Was ihr nicht schwerfiel. Es war ihr tatsächlich gleichgültig. »Ich habe Anweisung gegeben, dass Ihr Euch innerhalb der Burg frei bewegen dürft«, sagte Reubair unvermittelt. Sie hob den Kopf. »Frei bewegen?«, wiederholte sie. »Ihr könnt gehen, wohin Ihr wollt.« »Nur nicht nach Hause.« »Ihr seid zu Hause.« Lindsay schnaubte verächtlich und widmete sich wieder ihrer Mahlzeit. Schweigend aßen sie weiter. Sowie sie fertig war, erhob sie sich vom Tisch und verkündete, ausreiten zu wollen. Reubair erhob weder Einwände noch warnte er sie vor einem Fluchtversuch, sondern musterte sie nur ausdruckslos, als sie ihn herausfordernd anfunkelte. Er
53 sagte auch nichts, als sie zur Tür ging. Sie schlang sich einen Umhang um die Schultern, der an einem Haken an der Wand hing, und verließ den Raum, ohne auch nur ein einziges Wort des Protestes von ihm zu hören. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Sie fand den Stall auf Anhieb, er lag ganz in der Nähe des Turmeinganges. Dort wurde sie bereits von einem Knappen mit einem gesattelten Pferd erwartet. Auch ein schlechtes Zeichen. Sie wusste nicht, ob An Reubair über irgendein Kommunikationssystem verfügte, von dem sie noch nichts bemerkt hatte, oder ob er einfach nur in weiser Voraussicht ein Pferd für sie hatte satteln lassen. Der Knappe stellte sich taub, als sie ihn auszufragen versuchte, also fand sie sich damit ab, dass sie die Wahrheit wohl nie erfahren würde. Sie schwang sich in den Sattel und ritt in Richtung des Fallgitters. Es überraschte sie wenig, dass sie es nie fand. Obwohl sie sich genau zu erinnern meinte, welchen Weg sie nehmen musste und manchmal auch die Tortürme in der Ferne sah, erreichte sie sie nie. Jedes Mal, wenn sie um eine Ecke bog und damit rechnete, in den äußeren Burghof zu gelangen, fand sie sich stattdessen irgendwo anders wieder; in einer Gasse oder auf dem Rückweg zur Hauptstraße. Bald hatte sie jegliche Orientierung verloren und fragte sich verzagt, ob sie überhaupt zum Stall zurückfinden würde. Doch kaum war ihr dieser Gedanke gekommen, da sah sie die Stallungen schon vor sich ‐ als sei ihr eine unausgesprochene Bitte erfüllt worden. Man konnte Technologie und Magie nicht nur
durcheinanderbringen, sondern auch durchaus miteinander vergleichen, und sie überlegte, ob die Kommunikationstechnologie ihres eigenen Jahrhunderts nicht im Vergleich zu dem, was sie im Feenreich dieser Zeit erlebte, reichlich primitiv wirken würde. Reubair musste sie für entsetzlich begriffsstutzig halten, und im Moment war sie geneigt, ihm recht zu geben. 54
Nicht dass es sie kümmerte oder je kümmern würde, was Reubair von ihr dachte. Wieder machte sie sich auf die Suche nach dem Fallgitter, und einmal mehr musste sie einsehen, wie hoffnungslos dieses Unterfangen war. Sie würde das Tor nie finden. »Ihr hättet wissen müssen, dass es kein Entkommen gibt.« Lindsay schrak zusammen, drehte sich um und sah Reubair rechts von ihr auf seinem Pferd sitzen. Sie hatte ihn nicht kommen hören und konnte sich nicht erklären, wie es ihm gelungen war, sich unbemerkt an sie heranzupirschen. »Ihr habt recht, ich hätte es mir denken können.« »Ihr werdet schon noch lernen, wie es hier zugeht.« Seine Worte jagten ihr einen Schauer über den Rücken. Nein, sie würde hier gar nichts lernen. Entweder würde ihr die Flucht gelingen, oder sie würde immer wieder zu fliehen versuchen oder bei dem Versuch umkommen. In der Ferne erscholl lautes Stimmengewirr; es schien aus der Richtung zu kommen, in der Lindsay das Fallgitter vermutete. Irgendjemand ‐ eine größere Gruppe, wie es schien ‐ war in der Burg eingetroffen. Reubair hob lauschend den Kopf, als das Fallgitter klirrend hochgezogen wurde, und lenkte sein Pferd in die entsprechende Richtung. »Wenn ich Euch begleite, werdet Ihr dann auch immer im Kreis reiten, ohne das Tor zu erreichen?« »Kommt mit und findet es selbst heraus.« Lindsay leistete seiner Aufforderung Folge. Sie war gespannt, ob er sie wirklich zum Tor bringen würde. Er blickte sich zu ihr um und verlangsamte sein Tempo, und da begriff sie, dass sie nicht in die Nähe des Tores kommen würde, nicht mit und nicht ohne seine Hilfe. Sie begriff auch, was er ihr damit sagen wollte. Wenn er mit ihr zum Tor geritten wäre, hätte sich ihr dort vielleicht eine Gelegenheit zur Flucht geboten. Das war etwas, worüber man nachdenken musste. Irgendwie musste sie
54 ihn durch eine List dazu bringen, sie dorthin zu führen. Dann würde sie weitersehen. Die Stimmen in der Ferne klangen freudig erregt, einige gingen aber auch in jammervolle Klagelaute über, woraus Lindsay schloss, dass es sich bei den Neuankömmlingen um heimkehrende Ritter handelte, die lange Zeit fort gewesen waren. Das Wehklagen der Verwandten und Freunde der Gefallenen und Vermissten hallte gespenstisch, kaum menschlich in ihren Ohren wider und ließ sie an Banshees denken, obwohl sie auch Stimmen männlicher Feen heraushörte. Am liebsten hätte sie auf der Stelle kehrtgemacht, aber sie bezwang sich und ritt von wachsendem Unbehagen erfüllt weiter. Vor einer Reihe von Läden machte Reubair halt und wartete, während die Stimmen immer näher kamen. Auch die Dorfbewohner strömten jetzt aus ihren Häusern und säumten die Gassen, um zu sehen, wer da kam. Ein Rittertrupp ritt langsam durch die schmalen Straßen. Lindsay erkannte in vielen der Männer Angehörige der Räuberhorde wieder, der sie sich letztes Jahr als Söldnerin angeschlossen hatte. Aber diese Schar war zahlenmäßig wesentlich größer, und unter den Männern befanden sich viel mehr sidhe als damals. Wie die Mitglieder der Gruppe, der Lindsay angehört hatte, verkleideten sich auch diese Feenritter als Menschen; sie starrten vor Schmutz und bedeckten ihre Ohren mit Helmen oder ihrem Haar. Als sie Reubair auf seinem Pferd sahen, nahmen sie ihre Kopfbedeckungen ab und salutierten, was er mit einem leichten Nicken quittierte. Doch dann fiel Lindsays Blick auf ein paar Männer, die auf ihren Pferden festgebunden waren. Zwei hingen vornübergebeugt im Sattel; Stricke schlangen sich um ihre Taille und ihre Handgelenke. Einer lag fast auf dem Hals seines Reittieres, er wirkte mehr tot als lebendig. Er trug keinen Helm und keine Waffen, sein Kettenhemd war schwarz von geronnenem Blut, und sein schwarzroter Überwurf hing ihm in Fetzen am Leib. 54
Nacktes Entsetzen bemächtigte sich Lindsays, als sie in dem Mann Alex erkannte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle, und sie hatte Mühe, die aufsteigenden Tränen niederzukämpfen.
Sie schielte zu Reubair hinüber, der seine Truppe mit unbewegter Miene musterte. Hatte er Alex erkannt? Lindsay konnte nur beten, dass das nicht der Fall war. Schwer zu sagen, ob er wirklich nicht wusste, welcher Fisch ihm da ins Netz gegangen war, oder ob er es sich nur nicht anmerken ließ. Sie klammerte sich an den Gedanken, dass Reubair unverzüglich Alex' Hinrichtung befohlen hätte, wenn er ihn erkannt hätte. Er würde sicherlich nicht zögern, den einzigen Mann, der zwischen ihm und der Frau stand, die er zur Ehe zwingen wollte, so schnell wie möglich zu beseitigen. Oder nicht? Lindsay zwang sich, nicht nochmals zu Alex hinüberzuspähen, sie riskierte noch nicht einmal einen flüchtigen Blick, um zu sehen, wer ihn gefangen genommen hatte. Stattdessen starrte sie betont gelangweilt zu Boden, dabei berührte sie mit einem Finger leicht ihren Augenwinkel, um unauffällig eine kleine Träne fortzuwischen. Dann sah sie Reubair an, dessen Aufmerksamkeit noch immer von der Parade gefesselt wurde. Er schenkte den Gefangenen keine Beachtung, kein triumphierender Funke glühte in seinen Augen auf. So weit, so gut. Ohne ein weiteres Wort wendete sie ihr Pferd und kehrte zum Stall zurück. Alex zitterte am ganzen Leib, aber nicht vor Kälte; es war ein heftiger Fieberanfall, der ihn schüttelte, und er wünschte sich nichts mehr, als wieder in gnädiger Bewusstlosigkeit zu versinken. Schlafen. Er wollte nur schlafen, und im Moment war es ihm gleichgültig, ob er je wieder erwachte. 55
Eine Stimme erklang aus dem Nichts, ein schwaches, nahezu unhörbares Flüstern. »Sie ist hier, Mylor ...Sir.« Wer war hier? Aber er brachte nicht die Kraft auf, die Worte laut auszusprechen. »Seid Ihr wach, Sir? Könnt Ihr mich hören?« Keine Stimme aus dem Nichts. Vater Patrick. Der Tod griff also schon nach ihm. Man hatte nach dem Priester geschickt, weil er im Sterben lag. Welche Erlösung. »Sir, sie ist hier. Ich habe sie gesehen.« Wieso nannte Patrick ihn so? Sir? Was war denn mit seinem Titel geschehen? Alex schlug mühsam die Augen auf. Sie? Welche sie? Erneut versuchte er zu sprechen, aber seine Lippen schienen sich zu weigern, das Wort zu formen. »Waaa...« »Die Gräfin. Eure Frau. Sie ist hier.« Lindsay? Hier? Wo war »hier«? Er bot all seine Willenskraft auf, um ihren Namen zu krächzen. »Lindsay ...« »Sie ist hier in der Burg.« »Lindsay zu Hause.« Gut. Lindsay war in Sicherheit. Wieder daheim. Alles war wieder gut. »Gott sei Dank.« Alex schloss die Augen und überließ sich erneut der schwarzen Finsternis, die ihn umschlang. Nachdem Lindsay dem Stallburschen die Zügel ihres Pferdes übergeben hatte, kehrte sie in Reubairs Schlafkammer im Turm zurück, sah aus dem Fenster und beobachtete, wie in der Burg wieder der übliche Alltagstrott einkehrte. Einzeln oder in kleinen Gruppen gingen die Dorfbewohner, die Ritter und ihre menschlichen Diener wieder zu ihrem Tagewerk über und plauderten dabei über die Männer, die zurückgekehrt und jene, die in irgendeinem Kampf gefallen waren. Der Burgherr stand vor den Ställen, Lindsay konnte seinen blonden Schopf in der Menge deutlich ausmachen. Sie fasste sich in Geduld, obwohl sie darauf brannte, zu den 55
Verliesen zu laufen. Aber wenn Alex' Identität bekannt wurde, würde Reubair ihn töten. Wenn er auch nur den leisesten Verdacht hegte, wen er da in seiner Gewalt hatte, war das Leben ihres Mannes verwirkt, und sie, Lindsay, würde nichts tun können, um ihn zu retten. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie sehnte sich verzweifelt danach, ihn zu sehen; sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, wie es ihm ging, war sich aber der damit verbundenen Gefahr nur allzu deutlich bewusst. So starrte sie aus dem Fenster, während die Sonne gen Westen wanderte, und hoffte inständig, Reubair würde noch eine Weile ausbleiben. Wenn er sie zitternd und in Schweiß gebadet hier vorfand, würde das gleichfalls seinen Argwohn wecken. Aber noch ehe so viel Zeit verstrichen war, dass sie es hätte wagen können, unbemerkt in die dunkleren Winkel des Turms zu huschen, kehrte er in seine Kammer zurück und blieb wie erstarrt auf der Schwelle stehen, als er sie am Fenster stehen sah. Einen Moment schien er mit sich zu ringen, ob er etwas sagen sollte ‐ er wirkte sichtlich erstaunt, sie hier zu finden ‐, doch dann schloss er die Tür hinter sich und trat zum Feuer. Lindsay beobachtete, wie er die Hände über die Flammen hielt, um sie zu wärmen, dann blickte sie wieder aus dem Fenster. Die Sonne leuchtete goldrot am Himmel, und sie
fragte sich ohne wirkliches Interesse, ob es sich um dieselbe Sonne handelte, die sie aus der Welt der Menschen kannte. Das Schweigen im Raum wurde allmählich erdrückend. Endlich sagte er: »Ihr nutzt Eure Freiheit nicht aus?« »Welche Freiheit?« »Ihr seid nicht in diesem Raum eingesperrt. Demnach haltet Ihr Euch wohl freiwillig in meiner Schlafkammer auf.« Sie fixierte ihn mit einem eisigen Blick. »Lieber würde ich in Euren Verliesen schmachten.« Ihr ging auf, dass hinter diesen Worten mehr Wahrheit steckte, als sie Reubair weismachen wollte. 56
»Das lässt sich einrichten.« Mit einem abfälligen Grunzen wandte sie sich vom Fenster ab und verschränkte die Arme vor der Brust. »Na schön«, knurrte sie. »Dann werde ich von der Freiheit, die Ihr mir so großzügig gewährt, Gebrauch machen und einen kleinen Spaziergang unternehmen.« Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Mit wild klopfendem Herzen stieg sie betont gemächlich die Wendeltreppe zum Burghof hinunter. Da es noch nicht annähernd dunkel genug war, konnte sie nicht direkt zu den Verliesen gehen. Sie hatte keine Ahnung, ob nicht jede ihrer Bewegungen irgendwie überwacht wurde ‐ das war ein Risiko, das sie eingehen musste. Sowie die Nacht hereinbrach, würde sie in den Turm zurückgehen und sich zu den Gewölben schleichen. Die Sonne schien einfach nicht untergehen zu wollen. Es war zu hell; überall viel zu hell. Sie schlenderte durch die Gassen, dabei hielt sie halbherzig nach dem Fallgitter Ausschau, obwohl sie wusste, dass sie es nicht finden würde. Vielleicht gelangte sie ja bei ihrer ziellosen Wanderung unbeabsichtigt zu den Verliesen. Ihr ging auf, dass sich ihr hier eine ausgezeichnete Ausrede bot. Wenn Reubair von ihr wissen wollte, was sie dort zu suchen gehabt hatte, würde sie ihm erklären, sein Verwirrungszauber wäre wohl zu mächtig gewesen und hätte sie auf direktem Weg zu ihrer einstigen Zelle zurückgeführt. Als die Straßen endlich im Dämmerlicht dalagen und nur ab und an Kerzenschein in den Fenstern aufflackerte, ging sie langsam zum Bergfried zurück und stieg in die steinernen Gewölbe hinab, wo die Wände immer feucht und die Zellen kalt und klamm genug waren, um gesundheitlich ohnehin schon angeschlagene Insassen noch mehr zu schwächen. Lindsay dachte an das Blut auf Alex' Kettenhemd und sein totenblasses Gesicht
56 und wusste, dass er in großer Gefahr schwebte. Ihr Herz hämmerte schmerzhaft gegen ihre Rippen, während sie fieberhaft überlegte, was sie zu einem Wärter sagen sollte, wenn ihr einer über den Weg lief. »Halt! Was sucht Ihr hier?« Da war er schon, ein großer, ungeschlachter Klotz, dessen Gesicht von Aknepusteln und alten Narben entstellt war und dessen Nase einer kleinen Kartoffel glich. Ein Mensch, dem ersten Blick nach zu urteilen jedenfalls. Zumindest hatte er runde Ohren, aber Lindsay war selbst zum Teil eine Danann und wusste, dass runde Ohren manchmal überhaupt nichts zu besagen hatten. Sie wusste nicht, ob sie diesen Burschen schon mal gesehen hatte; die Wärter hier un‐ ten schienen sich alle zu gleichen, und in ihrer Zelle war es stockfinster gewesen. »Die Gefangenen, die heute gebracht worden sind... An Reubair hat mich geschickt, um herauszufinden, wer sie sind.« Ein argwöhnischer Funke glomm in den Augen des Mannes auf. »Ich habe doch schon Andre beauftragt, ihm Bericht zu erstatten.« Lindsay öffnete den Mund, um zu protestieren, dass Andre sich noch nicht hatte blicken lassen und sie deshalb hier war, doch der Wärter, der entweder von Natur aus geschwätzig war oder sich vorsichtshalber absichern wollte, fuhr schon fort: »Der Räubertrupp hat vier Gefangene gemacht ‐ einen Priester, zwei Knappen und einen Ritter. Die Knappen stammen aus Carlisle, und der Priester und der Ritter wurden bei dem Versuch überrumpelt, die Räuber um ihr Gold zu erleichtern.« Er lachte so schallend, als habe er noch nie einen besseren Witz gehört. »Die zwei dachten allen Ernstes, sie könnten sich in das Lager von An Reubairs Männern schleichen und sich mit den mühsam erbeuteten Schätzen davonmachen.« Auch Lindsay lachte, aber aus Erleichterung darüber, dass Alex noch nicht einmal als Earl, geschweige denn als Earl of 56
Cruachan identifiziert worden war. Hoffentlich hörte diese stumpfsinnige Knollennase nicht den falschen Unterton aus ihrer Stimme heraus. Alex hatte sich mit Sicherheit nicht auf einem Raubzug befunden, sondern war auf der Suche nach ihr gewesen. Der Priester in seiner Begleitung konnte kein anderer als Vater Patrick sein. Gott sei Dank war er gleichfalls noch am Leben. Sie bemühte sich, einen verächtlichen Tonfall anzuschlagen. »Für diese Dummheit werden sie wohl teuer bezahlen müssen.« »Och, aye, Mylady.« »Wo sind sie? Reubair möchte bestimmt einmal einen Blick auf sie werfen.« Der Wärter nickte zu der Tür rechts von ihr hinüber. »Da drin. Bislang habe ich noch kein Sterbenswort aus ihnen herausgebracht ‐ der eine ist verwundet und sehr schwach, und der Priester schweigt auch beharrlich. Vermutlich hat er ein Gelübde abgelegt, aber den bringe ich schon noch zum Reden.« Lindsay kannte Patrick und hätte dem Mann in beiden Punkten widersprechen können, aber sie sagte nichts und lächelte nur. »Ich möchte sie gar zu gern sehen, ich bin ja so neugierig auf sie. Wo kommen sie her?« Als der Wärter sich nicht von der Stelle rührte, deutete sie auf den Schlüsselring an seinem Gürtel. »Öffne die Zelle. Ich will sie fragen, wer sie sind. Vielleicht verraten sie mir, was sie dir verschweigen.« Der Wärter plusterte sich gekränkt auf. Rote Flecken malten sich auf seinem Gesicht ab. »Och, sie werden beide bald singen wie die Vögelchen. Morgen früh nehme ich mir den Priester vor, und glaubt mir, er wird mir alles sagen, was ich wissen will.« Er zeigte auf eine Wand, an der sein schauriges Handwerkszeug hing: Zangen, Ketten, Peitschen und einige teuflisch aussehende Gerätschaften, nach deren Zweck sich Lindsay lieber nicht näher erkundigen wollte. Ihr Magen zog sich zusammen. Der Wärter fuhr fort: »Der andere muss warten, bis
57 er sich etwas erholt hat, sonst stirbt er mir unter den Händen weg, ehe ich sein Lied gehört habe.« Die Panik, die bei diesen Worten von Lindsay Besitz ergriff, trieb sie dazu, aus einem Instinkt heraus zu handeln, den sie nie bei sich vermutet hätte. Sie ging zur Zellentür, um durch das Guckloch zu spähen, obwohl sie wusste, dass die eigentliche Zelle hinter mehreren weiteren Türen lag, und ihre Stimme nahm einen quengelnden, kleinmädchenhaften Klang an. »Ich möchte so gerne sehen, wie sie aussehen. Ich habe gehört, sie hätten Hörner.« »Hörner?« Lindsay drehte sich mit großen Augen zu ihm um. »Ja. Niedliche kleine Hörner, die auf ihrer Stirn sprießen. So ungefähr.« Sie hielt sich zwei Finger an die Stirn, um die Größe von Ziegenhörnern anzudeuten. »Wie Dämonen?« Die Vorstellung, seine Gefangenen könnten Hörner tragen, faszinierte den Mann sichtlich. Lindsay rang in gespieltem Schreck nach Atem. »Könnten sie tatsächlich Dämonen sein?« »Sie haben keine Hörner.« »Bist du sicher?« »Ich habe nichts bemerkt, als ich sie in die Zelle gebracht habe.« »Können wir nicht mal nachsehen?« Der Wärter runzelte die Stirn, während er angestrengt nachdachte. Lindsay biss sich auf die Lippen, um sich ein Lachen zu verkneifen. Sie konnte förmlich sehen, wie sich die Räder im Schädel dieses Burschen drehten. Er versuchte sich tatsächlich zu erinnern, ob er Hörner auf Patricks Stirn gesehen hatte. Endlich griff er nach seinem Schlüsselbund und öffnete die Tür. »Bringt mir die Fackel.« Er deutete auf eine Pechfackel in einem Wandhalter. Lindsay griff danach und folgte ihm in die nächste Kammer, wo er die Tür zu der eigentlichen Zelle aufschloss. Sie 57
blickte sich um, entdeckte einen weiteren Halter an der Wand und steckte die Fackel hinein. Im hinteren Teil der Zelle erkannte sie zwei Gestalten auf dem nackten Boden vor der Wand. Beiden hatte man Rüstungen und Umhänge abgenommen; sie waren lediglich mit Hemden und Hosen bekleidet. Patrick rührte sich, setzte sich auf und hob eine Hand vor die Augen, um sie vor dem unge‐ wohnten Licht zu schützen. Alex lag zusammengekrümmt und regungslos da, er glich einem Lumpenhaufen auf dem Boden. Bei dem Gedanken, er könne vielleicht gar nicht mehr atmen, setzte Lindsays Herzschlag einen Moment lang aus. Sie bohrte die zu Fäusten geballten Hände fest in ihre
Schenkel und widerstand dem überwältigenden Drang, zu ihm zu eilen und ihn in die Arme zu schließen. Der Wärter seufzte erleichtert. »Seht Ihr? Keine Hörner.« »Sehr gut, demnach haben wir es also nicht mit Dämonen zu tun. Ich möchte mit ihnen sprechen.« Ein missbilligendes Stirnrunzeln ging der erwarteten Ablehnung voraus. »Ich kann einer Lady schwerlich erlauben, sich allein an einem Ort aufzuhalten, wo ihr Gefahr drohen könnte.« Lindsay musterte ihn scharf. Sie war jetzt sicher, ihn während ihrer Zeit hier nie gesehen zu haben; er konnte sie also nicht wiedererkennen. Mit einer boshaften Wonne, die sie ganz und gar nicht empfand, zischte sie: »Ich will ihnen schildern, was sie bei Sonnenaufgang erwartet, dann können sie sich die ganze Nacht lang darauf freuen.« Als Folterknecht mit Leib und Seele wusste dieser Mann zweifellos, dass es sich als lohnend erweisen mochte, seinen Opfern vor dem Verhör noch zusätzlich Angst einzujagen. Er dachte einen Moment nach, dann nickte er. »Nun gut. Ruft mich, wenn Ihr meint, Euren Zweck erreicht zu haben.« Sie lächelte ihm zu und salutierte leicht. Der Wärter warf sich erneut in die Brust, dann beugte er sich 58 vor und raunte Patrick zu: »Und wehe, einer von euch Galgenvögeln tritt der Frau irgendwie zu nahe. Sonst wird Reubair dafür sorgen, dass ihr es bitter bereut. Habt ihr mich verstanden?« Patrick nickte für sich und Alex. Keiner von ihnen war in der Lage oder geneigt, Ärger zu machen. Der Mann verzog grimmig das Gesicht, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, dann verließ er die Zelle. »Euch steht Furchtbares bevor, Priester«, sagte Lindsay so laut, dass der Wärter es hören musste, doch sowie die äußere Tür zugefallen war, kniete sie sich neben Alex auf den Boden und zog seinen Kopf in ihren Schoß. »Alex«, flüsterte sie. »Oh, Alex, bitte sag etwas. Du darfst nicht sterben!« Zu ihrer abgrundtiefen Erleichterung sah sie, dass sich seine Brust schwach hob und senkte und seine Lider flatterten. Seine Temperatur war zu hoch, seine Haut fühlte sich heiß und trocken an. Sein Hemd war über dem Bauch hochgerutscht, und sie schrak zusammen, als ihr Blick auf eine leuchtend rote, um eine Reihe schwarzer Stiche herum stark angeschwollene Wunde fiel. »Patrick, was ist passiert?« Der Priester starrte die Wunde aus großen Augen an. Ganz offensichtlich hatte er sich bereits mit Alex' sicherem Tod abgefunden. »Bei dem Überfall, bei dem Ihr verschleppt wurdet, ist er schwer verletzt worden, und jetzt glüht er vor Fieber. Ich fürchte, viel Zeit auf dieser Welt bleibt ihm nicht mehr. Ich hätte nie gedacht, dass er überhaupt so lange durchhält.« »Warum hat er in seinem Zustand eine so gefährliche Reise auf sich genommen?« Patrick blinzelte sie an; sichtlich überrascht, dass sie die Antwort nicht bereits kannte. »Weil er nicht anders handeln konnte. Und ich kann ihn sehr gut verstehen.« »Aber dieses riskante Unternehmen kann sein Tod sein!« »Immer noch besser, als zu sterben, ohne irgendetwas getan zu haben.« 58
Lindsay konnte sich nicht länger beherrschen, sie brach in Tränen aus. Alex stöhnte leise. Wieder flatterten seine Lider. »Lindsay?« Seine Stimme klang heiser und verzerrt. »Ich bin hier, Alex.« »Lindsay? Verlass mich nicht.« »Nein, Alex, niemals.« Sie hielt ihn fest, wiegte ihn sacht und presste ihre Wange gegen seine heiße Stirn. »Halte durch, Alex. Bleib am Leben, damit wir von hier fliehen können.« »Lindsay? Bist du das wirklich?« Tränen rannen über ihre Wangen. »Ich bin hier, Alex.« »Lass mich nicht allein.« »Niemals.« Die Kälte ging ihm durch Mark und Bein. Alex fror erbärmlich, dann wurde er plötzlich von einer Hitzewelle erfasst. Er begann zu zittern. Schmerz. Seine ganze Welt bestand nur aus Schmerz. Ein durchdringendes Geheul erhob sich in der Ferne, schwoll an, kam näher und näher. Unmenschlich. Aber auch keine Feenlaute. Gespenstisch und verloren. Der Schrei der Todesfee. Er schien aus der Dunkelheit zu kommen. Verschmolz mit der Dunkelheit. Umhüllte ihn wie ein Leichentuch. Er war allein. Ganz allein, gefangen in ewiger Finsternis. Alex rang mühsam nach Atem und stieß ihn keuchend wieder aus. Das Geheul brach ab, Schweigen umgab ihn. Alles war dunkel, doch in der
Dunkelheit ertönte ein Wispern. Patricks Stimme. Ganz in seiner Nähe, dann wie aus weiter Ferne. Dann Stille. Wieder drangen Worte an sein Ohr. Sie ergaben keinen Sinn, ein zusammenhangloses Gebrabbel, aber trotzdem bildeten sie eine Schnur, dann ein Seil, das ihn mit dem Leben verband. Dann war da eine andere Stimme. Die einer Frau. Lindsay? Konnte sie das sein? War das Glück ihm so wohlgesinnt? Durfte er überhaupt wagen, dieses Geschenk anzunehmen? Für zu großes Glück musste man immer einen hohen Preis zahlen. Aber 59
er würde alles geben, um Lindsays Stimme zu hören. »Lindsay? Geh nicht fort.« Er würde sterben. Von allen Wunden, die er im Lauf der Jahre davongetragen hatte, war dies jene, die ihn zur Strecke bringen würde. Dann waren die Arme, die ihn eben noch umschlungen hatten, verschwunden. Als wären sie nie da gewesen. Wieder tat sich der Abgrund auf, gähnte schwarz und bodenlos vor ihm. Hitze und Schmerz. Schmerz und Hitze. Eisige, unerbittliche Kälte. Wieder Arme, die ihn hielten. Müde, er war so müde. Wollte nur noch schlafen. Dem Schmerz entfliehen. Patricks Stimme. Sie rief ihn von dem klaffenden Abgrund zurück. Der Schatten des Todes. Hielt ihn davon ab, im Vergessen zu versinken. Alex versuchte zu sprechen, doch seine Zunge lag wie ein dicker Klumpen in seinem Mund, und seine Stimme klang brüchig, gehorchte ihm kaum. »Lindsay?« »Sie war hier.« »Kein Trugbild? War sie das wirklich?« »Aye, My... ich meine, Sir.« »Wie ... wie kommt sie ...« »Reubair hat sie entführen lassen. Wir sind auf seine Männer gestoßen, und sie haben uns zu ihm gebracht. Schlaft jetzt. Schlaft und sammelt neue Kraft. Wir haben die Gräfin gefunden und sie uns.« Alex schloss die Augen. Nein, er würde nicht sterben. Jetzt nicht mehr. Er durfte nicht sterben. Lindsay brauchte ihn. Er musste sie von hier fortbringen. Nachdem sie den Kerker verlassen hatte, machte sich Lindsay auf die Suche nach der Burgküche und entdeckte sie auf der anderen Seite der Gasse vor dem Turm. Vielleicht hätte sie sie nie gefunden, wenn sie nicht zufällig Reubairs Diener mit einem Tablett aus der Tür treten und im Nachbargebäude ver
59 schwinden gesehen hätte. Er schwankte fast unter der Last der Speisen, die er zweifellos in Reubairs Kammer schleppte, und schrak heftig zusammen, als er Lindsay sah, sprach jedoch kein Wort mit ihr, sondern setzte unbeirrt seinen Weg fort. Der Geruch nach Brot und verbranntem Fett verriet ihr, wohin sie sich von der Tür aus wenden musste, und sie gelangte in eine heiße, rauchige, lärmerfüllte Küche, in der schwitzende Köche und Küchenjungen damit beschäftigt waren, Hunderte, wenn nicht Tausende von Menschen mit drei Mahlzeiten pro Tag zu versorgen. Schweine‐, Lamm‐ und Rinderhälften hingen an den Deckenbalken; Arbeitsplatten bogen sich unter den Hühnern und Gänsen, die darauf warteten, gerupft und ausgenommen zu werden. Ein Koch eilte mit einem Blech voller backfertiger Brotlaibe an ihr vorbei. Lindsay sah sich um, dann hielt sie einen Küchenjungen auf, der mit einem Sack Mehl auf der Schulter durch den Raum schlurfte. »Auf ein Wort, Junge ...« Der junge Bursche blieb stehen und wartete auf eine Anweisung, denn ihre Kleidung wies sie als Edelfrau aus, die berechtigt war, ihm Befehle zu erteilen. »Aye, Mylady?« »Ich möchte, dass du einigen Gefangenen im Kerker Essen und Wein bringst.« Die Augen des Jungen weiteten sich ungläubig. »Den Gefangenen?« »Ja. Dem Ritter und dem Priester, die sich eine Zelle teilen. Ich bin Christin, musst du wissen, und betrachte es als meine Pflicht, anderen Dienern Gottes in einer Notlage beizustehen.« Der Junge sah sie an, als hätte sie einen Scherz gemacht, über den später gelacht werden würde. Als er begriff, dass sie es ernst meinte, wuchtete er den Sack höher auf seine Schulter, blinzelte und stammelte: »Das ... das geht nicht, Mylady.« »Warum nicht?«
59 »Bei allem Respekt ... wenn ich tun würde, was Ihr von mir verlangt, würde ich streng bestraft werden. Es ist strikt verboten, auch nur einen Kanten Brot in den Kerker zu schicken.« Lindsay unterdrückte ein Stöhnen. Das würde schwieriger werden, als sie gedacht hatte. »Ich werde schweigen wie ein Grab, das verspreche ich dir.«
Die Züge des Jungen verzerrten sich vor Furcht, und trotz seiner Last verneigte er sich tief. »Nein, Mylady, den Gefallen kann ich Euch nicht tun. Die Gefangenen bekommen nur Abfälle oder verdorbenes Fleisch, sonst nichts. Befehl des Herrn. So wird es schon gehalten, seit ich in dieser Burg bin, und ich habe fast mein ganzes Leben hier verbracht. Bitte drängt mich nicht weiter, denn mir bleibt nichts anderes übrig, als Euch Eure Bitte abzuschlagen.« Ehrliches Bedauern schwang in seiner Stimme mit. Lindsay gewann den Eindruck, dass er ihr gerne geholfen hätte, wenn er nicht mit Strafmaßnahmen rechnen müsste. »Ich verstehe. Nun gut. Dann will ich dich nicht länger von deiner Arbeit abhalten.« Erleichtert, so glimpflich davonzukommen, ergriff der Junge eilig die Flucht. Lindsay seufzte. Sie würde einen anderen Weg finden müssen, um Essen in Alex' und Patricks Zelle zu schmuggeln. Sie ging zu Reubairs Schlafgemach zurück, wo sie ihn vor seiner Mahlzeit sitzen sah. Von der Platte an ihrem Platz stieg noch Dampf auf, doch sie begann nicht gleich zu essen, sondern trank nur einen Schluck von ihrem Met. Dann fragte sie so beiläufig, als sei ihr der Gedanke eben erst gekommen: »Diese beiden Gefangenen, die Eure Männer gebracht haben ... wisst Ihr, wer sie sind?« »Welche Gefangenen?« Er zeigte keinerlei Argwohn; er schien sich gar nicht daran zu erinnern, dass seine Ritter Gefangene gemacht hatten. 60
»Der Priester und der Ritter. Der, der Schwarz und Rot trägt. Ich nehme an, sie werden ein stattliches Lösegeld einbringen.« »Ach, die beiden.« Reubair lehnte sich zurück und schüttelte fast bedauernd den Kopf. »Nein, ich fürchte, die sind für uns wertlos. Für die zwei aus Carlisle können wir Lösegeld verlangen, aber der Priester und sein Gefährte werden vermutlich noch nicht einmal das Verhör überleben. Vor allem um den Ritter steht es schlecht; wie ich hörte, wird er aller Voraussicht nach schon bald vor seinen Schöpfer treten. Sie sind umherziehende Räuber, so wie ich, nur nicht annähernd so erfolgreich.« Er kicherte über seinen eigenen Scherz, und Lindsay senkte die Lider, damit er den Ausdruck ihrer Augen nicht sah. »Es wundert mich, dass Ihr denkt, Ihre Leute würden sie nicht freikaufen wollen«, wandte sie ein. »Mir schienen sie recht wohlhabend zu sein. Oder haben Eure Männer sie mit Pferden und Kleidern versehen?« Reubair lachte schallend auf. »Ganz sicher nicht.« »Dann frage ich mich, warum Ihr sie für wertlos haltet.« »Soweit mir bekannt ist, gibt es niemanden, der für sie zahlen würde.« Natürlich dachte er das. Patrick würde niemals verraten, wer Alex wirklich war. »Vielleicht tätet Ihr gut daran, sie so lange am Leben zu lassen, bis Ihr Euch selbst ein Bild von ihrer finanziellen Lage gemacht habt.« Reubair grunzte. Er schien ernsthaft über ihre Worte nachzudenken. Doch dann fragte er: »Was kümmert es Euch, ob die beiden leben oder sterben?« Lindsay hob die Schultern, griff nach einem Stück Fleisch und knabberte daran. Kauend sagte sie: »Es sind Menschen. Ich weiß, wie gering wir hier geachtet werden, und es würde mich sehr bedrücken, wenn sie allein deswegen sterben müssten.« Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch und
60 sah sie eindringlich an. »Weist Ihr mich deshalb zurück? Weil Ihr denkt, ich würde Euer Volk verachten und unterjochen?« Lindsay, die mit dieser Wendung des Gesprächs nicht gerechnet hatte, fiel nicht gleich eine Antwort darauf ein. Hatte er immer noch nicht begriffen, dass sie ihn zurückweisen würde, so lange sie lebte, weil sie ihn aus tiefster Seele verabscheute? Fieberhaft überlegte sie, was sie erwidern konnte, ohne Alex' Identität preiszugeben. Endlich sagte sie: »Ich weise Euch zurück, weil ich wenig Lust verspüre, von Euch für den Rest meines Lebens in einem goldenen Käfig gehalten zu werden, und ich möchte, dass Ihr das Leben dieser Männer verschont, weil es mir missfällt, Menschen grundlos sterben zu sehen. Sie haben nichts, was Ihr für Euch wollt, und sie sind nicht Eure Feinde. Warum lasst Ihr sie nicht gehen? Als Akt christlicher Nächstenliebe?« »Weil sie eben doch meine Feinde sind. Sie haben versucht, mich zu bestehlen, und sie haben einige meiner Ritter getötet. Dafür werden sie büßen, das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist. Vielleicht
werden sie sogar ihr Leben lassen müssen, ich weiß noch nicht genau, was ich mit ihnen anfange. Aber sie müssen nicht sterben, nur weil sie Menschen sind. Deswegen hege ich keinen Groll gegen sie, das müsst Ihr mir glauben.« Lindsay fragte sich, wie er darauf kam, dass diese Beteuerung etwas an ihrer Einstellung ihm gegenüber ändern könnte, beschloss aber, das Thema nicht weiter zu vertiefen. Sie durfte keinesfalls zu großes Interesse an den Gefangenen zeigen. Also gestand sie ihre Niederlage mit einem Achselzucken ein und widmete sich wieder ihrer Mahlzeit. »Wie Ihr meint. Aber wenn die beiden sterben und Ihr später herausfindet, dass Ihr für sie doch ein hohes Lösegeld hättet verlangen können, dann sagt nicht, ich hätte Euch nicht gewarnt.« Er lehnte sich mit einem leisen Lachen zurück. »Ich denke, damit kann ich leben.« 61
Hier kam sie nicht weiter. Sie würde einen anderen Weg finden müssen, um Alex zu helfen. Lindsay ließ den Blick über den Tisch schweifen; überlegte, ob sie vielleicht ein paar Stücke Brot und Fleisch in ein Tuch wickeln und unter ihrem Kleid verbergen konnte, und hoffte, Reubair würde den Raum verlassen, ehe der Diener kam, um die Platten abzuräumen.
61
ACHTES KAPITEL
Am späten Abend seines dritten Tages auf Tiree betrat Trefor seine Schlafkammer und fand Morag erneut vor. Sie räkelte sich auf ein paar Kissen vor dem Kamin und trug nur ein loses Hemd aus besticktem Leinen, dessen weiche Falten ihren Körper umschmeichelten. Es war warm im Raum, denn das Feuer brannte hell, und unter dem dünnen Stoff glitzerte ein Schweißfilm auf ihrer Haut. Ihre Brustwarzen schimmerten rosig. Sie nahm keinerlei Notiz von ihm, sondern starrte in die Flammen, als versuche sie, etwas aus ihnen herauszulesen. Trefor blieb auf der Schwelle stehen und betrachtete sie einen Moment lang, ehe er wortlos die schwere Tür hinter sich schloss und den Riegel vorschob. »Wer weiß, dass du hier bist?« Sie wandte sich zu ihm und blinzelte ihn schläfrig an. »Niemand.« »Ist keiner der Diener hier hereingekommen, um das Feuer zu schüren?« »Nein.« »Wie kommt das?« Sie zog die Brauen zusammen. »Es hat sich eben keiner blicken lassen.« Er grunzte zweifelnd, setzte sich aber auf den Stuhl neben ihr, um sich am Kamin aufzuwärmen. »Was tust du eigentlich hier?« 61
Sie rollte sich zu ihm herum, wobei der Ausschnitt ihres Hemdes verrutschte. Trefor ertappte sich dabei, wie er sie mit den Augen verschlang, obwohl er jeden Zentimeter ihres Körpers kannte und nur das Hemd hochzuschieben brauchte, um sich daran zu weiden. Aber er bezwang sich. Sie verfolgte eine bestimmte Absicht, sonst wäre sie nicht hier. »Ich habe dich vermisst«, schnurrte sie. »Ich liege nicht gern allein in meinem Bett.« »Du hast den ganzen langen Weg auf dich genommen, nur um aufs Kreuz gelegt zu werden?« Morag lachte. »Deine Ausdrucksweise ist wirklich blumig, Liebster. Aber es stimmt, ich bin genau deswegen gekommen. Die letzte Nacht war unvergesslich und jede Mühe wert.« Er hätte nur allzu gerne geglaubt, dass sie ihn für einen meisterhaften Liebhaber hielt und die Reise nach Tiree nur unternommen hatte, um in sein Bett zu hüpfen, aber er hörte die Lüge deutlich aus ihrer Stimme heraus, und ihm fehlte die Geduld für ihre Spielchen. »Warum bist du wirklich hier?« Sie stieß einen ärgerlichen Seufzer aus und maß ihn mit einem abschätzenden Blick. »Wegen deines Schicksals, Trefor. Du weißt genau, dass du ihm nicht entrinnen kannst.« So viele Frauen interessierten sich neuerdings für seine Zukunft. Eigentlich sollte er sich geschmeichelt fühlen. Er konnte sich nur allzu gut an die Zeit erinnern, wo kein Mädchen einen Gedanken an seine Zukunftsaussichten verschwendet hätte, weil niemand geglaubt hatte, dass er welche hatte. »Ich habe dir schon wiederholt gesagt, dass es so etwas wie ein unentrinnbares Schicksal nicht gibt.«
»O doch. So ist es dir vom Schicksal vorherbestimmt, die Herrschaft über das Königreich der Bhrochan zu übernehmen.« Trefor musste lachen. »Der Bhrochan, so, so. Und was geschieht mit dem alten Brochan, damit ich sein Reich erben kann?« 62
»Das kann ich dir nicht sagen, weil ich es nicht weiß.« »Aber du weißt, dass ich ihr König werden soll.« »Prinz.« »Aha. So etwas hat Brochan auch schon angedeutet. Und ich habe ihm nicht geglaubt und glaube ihm auch jetzt nicht.« Seine Geduld war am Ende. Jetzt wünschte er, sie wäre wirklich nur wegen einer heißen Nummer gekommen. Sie zog sich auf die Knie und beugte sich vor, um ihn zu küssen. »Glaub es nur, Liebster. Wenn die Zeit reif ist, wirst du genau so handeln, wie Brochan es vorhergesagt hat.« »Und was genau werde ich dann tun?« »Wie ich schon sagte ‐ ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass du mehr Ruhm und Reichtümer erlangen wirst, als du dir je erträumt hast.« »Wohlfeile Worte.« Sie zuckte die Achseln. »Es ist die Wahrheit. Du wirst schon sehen.« Die Vorstellung, reich und mächtig zu werden, gefiel Trefor. Wenn das Schicksal das alles für ihn bereithielt, hatte er nichts dagegen einzuwenden. Er zog Morag in die Arme und sank mit ihr auf die Kissen vor dem Feuer, wo er sie zu entkleiden begann. Sowie er ihr Hemd und seine eigenen Kleider abgestreift hatte und mit den Lippen über ihre weichen Brüste strich, murmelte sie: »Gefallen sie dir besser als die der törichten Sterblichen, deren Vater hier der Laird ist?« Trefor hielt mit seinem Tun inne und forschte in ihrem Gesicht nach dem Grund für diese Frage. Morag schien sie nicht im Scherz gestellt zu haben. Er schmiegte die Wange an ihre glatte Haut, dann erwiderte er: »Woher soll ich wissen, wie ihre aussehen?« »Sie sind nicht so voll wie meine.« »Nicht so verfügbar.« 62
»Ist das alles, worauf du Wert legst?« Trefor stützte sich auf eine Hand und sah sie an. Der Schein des Feuers tanzte über ihr Gesicht und ließ ihr Haar auflodern, als stünde es in Flammen. Einen flüchtigen Augenblick lang musste er an Höllenfeuer denken. Unwirsch schüttelte er diesen Gedanken ab. »Wie kommst du darauf, ich könnte Interesse an Deirbhile haben?« »Sie ist hübsch.« »Yeah. Glaubst du, du hättest ein Monopol darauf?« Als Morag verwirrt die Stirn runzelte, erklärte er: »Bildest du dir ein, du wärst die einzige hübsche Frau in Schottland? Oder auch nur auf Tiree?« »Nein. Aber ich dachte eigentlich, ich wäre die einzige hübsche Frau, mit der du dir die Zeit vertreibst.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich nie mit anderen gut aussehenden Männern unterhältst.« Oder mit ihnen ins Bett gehst. Aber das wollte er gar nicht wissen. Sie konnte schlafen, mit wem sie wollte, das war ihr gutes Recht, nur wollte er nichts davon hören. »Ich bin schließlich nicht dein Mann.« »Nein, das bist du allerdings nicht. Und es ist mir herzlich gleichgültig, ob die Brüste dieses blassen kleinen Mädchens schöner sind als meine. Aber ich möchte doch wissen, ob du noch Wert auf meine Anwesenheit legst, oder ob ich gehen und nie wiederkommen soll. Willst du sie dir ins Bett holen?« Trefor wusste nicht, ob er sich über diese impertinente Frage ärgern oder die Vorstellung, Deirbhile zu verführen, genüsslich auskosten sollte. Schroffer als beabsichtigt entgegnete er: »Nein. Sie ist die Tochter meines Gastgebers, und sie ist verlobt. Sobald ich diesen elenden Felsen verlassen kann, mache ich mich auf den Weg nach Irland und werde schwerlich hierher zurückkommen. Was glaubst du wohl, wie schnell sie mich vergessen hat?« 62
»Sobald du ein Prinz bist, wird sie Jagd auf dich machen.« Er schnaubte abfällig und vergrub das Gesicht in ihrer Halsbeuge. Sobald er ein Prinz war. Richtig. Und er hegte den Verdacht, dass Morag weit mehr daran lag als ihm. Er hasste es, von ihr manipuliert
zu werden, wollte sie aber zunächst in dem Glauben lassen, er sei zu dumm, um sie und ihre Pläne zu durchschauen. Jetzt wollte er ihr erst einmal geben, weswegen sie angeblich gekommen war. Er rollte sich auf sie und begann sie zu lieben, danach schlief er in ihren Armen vor dem Feuer ein. Trefor hatte keine Ahnung, was Morag trieb, wenn sie nicht bei ihm war, und heute kümmerte ihn das auch nicht. Wenn die Dienstboten sie in seiner Kammer entdecken würden, würde er sich rasch eine glaubhafte Erklärung einfallen lassen müssen, aber er vermutete, dass Morag sie mittels eines Zauberbanns fernhielt. Es kostete sie sicher keine große Mühe, dafür zu sorgen, dass die Diener vergaßen, Holz im Kamin nachzulegen oder das Bett in der Gästekammer zu machen. Er verbrachte den Tag in der großen Halle, wo er sich mit seinem Gastgeber unterhielt, während seine Männer die Schiffe im Hafen reparierten. Es hatte aufgehört zu schneien, aber das Hafenbecken war noch immer vereist. Es konnte Tage oder gar Wochen dauern, bis die Temperatur genug anstieg, um das Eis zum Schmelzen zu bringen. Trefors Unmut wuchs. Er gab sich ziemlich wortkarg, saß nur da und hörte zu, wie die anderen über Roberts Fortschritte in Irland debattierten. Da die Verbindung zur Außenwelt abgeschnitten war und keine neuen Informationen zu ihnen gelangten, drehte sich das Gespräch im Kreis. Trefor konnte nur von hilfloser Wut erfüllt mit den Zähnen knirschen. Er wollte in Irland kämpfen, statt sich auf diesem öden Felsen in wilden Spekulationen über Schlachten und Siege zu ergehen.
63 An diesem Tag saß Deirbhile bei Tisch neben ihm. Trefors Herz machte einen freudigen Satz, aber er ließ sich seine Gefühle nicht anmerken, wie er es in Gegenwart von Mädchen, die einer anderen Schicht angehörten als er, schon immer getan hatte. Diese Mädchen studierten ihn immer wie ein Wissenschaftler eine Laborratte; sie gaben sich nur mit ihm ab, um zu sehen, wie er reagierte; sie erwarteten, dass er vor Verlegenheit rot anlief und zu stottern begann, und waren enttäuscht oder überrascht, wenn er sich nicht aus der Fassung bringen ließ. Daher gab er sich während des Mittagsmahls kühl und zurückhaltend, was Deirbhile nicht entging. »Ihr seid heute ungewöhnlich schweigsam«, stellte sie fest. Trefor war nicht geneigt, irgendwelche Erklärungen abzugeben, er knurrte lediglich: »Wenn ich nichts zu sagen habe, halte ich lieber den Mund. Woran sich manch einer ein Beispiel nehmen sollte.« »Habt Ihr über unsere gestrige Unterhaltung nachgedacht?« Es dauerte einen Moment, bis ihm wieder einfiel, worauf sie anspielte. »Über die Ehe?« »Über die Liebe.« Sie hob die Schultern. »Und über die Ehe. Und darüber, wie sich beides vereinen lässt.« Trefor musste lächeln. Ehefrau und Geliebte als Patentrezept für Glück. So einfach war das Leben leider nicht. »Man kann nicht alles haben, denke ich.« Deirbhile grinste. »Warum nicht? Ich würde sagen, wenn man seinen Angetrauten liebt und erwartet, dass diese Liebe erwidert wird, dann hat man doch alles, was man sich wünschen kann.« Trefor nagte an seiner Unterlippe. Er wurde aus diesem Mädchen einfach nicht schlau. Was hatte sie eigentlich vor? Wieder einmal hegte er den Verdacht, dass sie sich an ihn heranmachte. Gestern hatte er ihr Verhalten als naive Koketterie
63 eines Blaustrumpfs abgetan, aber heute war er sich da nicht mehr so sicher. Er sagte nichts, sondern musterte sie nur forschend; suchte in ihrem Gesicht nach Antworten auf seine Fragen. Sie hielt seinem Blick unverwandt stand, was ihn nervös machte. Dieses Mädchen wirkte nicht wie ein Teenager, sondern wie eine reife, erfahrene Frau, und was er gerade erlebte, war ein eindeutiger Annäherungsversuch. Er musste auf der Hut sein, sonst geriet er in ernsthafte Schwierigkeiten. »Warum heiraten Menschen dann überhaupt?« »Nun, um Kinder zu bekommen, natürlich. Legitime Erben. Und um ein angenehmeres Leben zu führen. Eine gute Partie, eine Verbindung mit einem Mann, der einen hohen Rang bekleidet, zählt weit mehr als Liebe.« Trefor runzelte die Stirn. Er brauchte einen Moment, um voll und ganz zu erfassen, was sie meinte. Für ihn bedeutete eine »gute Partie« immer eine Frau, die er liebte. Aber sie sprach von Geld. Und Einfluss. Für sie diente eine Ehe allein dem gesellschaftlichen Aufstieg. »Ihr würdet auch einen Mann heiraten, den Ihr abstoßend findet, wenn er nur reich genug ist?«
»Wenn er reich genug ist und nicht so abstoßend, dass er mir Albträume beschert. Und wenn er imstande ist, sich beim König für meinen Vater einzusetzen. Zwischen meinem Vater und Robert herrscht zwar gutes Einvernehmen, aber einen Fürsprecher kann man immer brauchen.« »Und Euer Verlobter erfüllt diese Bedingungen?« »Geoffrey ist sehr reich, sein Vater verfügt über große Macht, aber ob mir auch sein Äußeres gefällt, muss sich noch herausstellen. Ich bin ihm noch nie begegnet und weiß nicht, wie er aussieht.« »Habt Ihr Euch denn nie danach erkundigt?« »Man hat mir gesagt, er wäre ein sehr attraktiver Mann, aber das hätten sie auch behauptet, wenn er ein buckliger Zwerg
64 mit Triefnase und zahnlosem Mund wäre, damit ich mich der Heirat nicht widersetze. Aber ich werde die Wahrheit bald erfahren.« »Und Ihr werdet ihm legitime Erben schenken.« »Natürlich. Ich denke nicht, dass ich mir einen Geliebten nehme, bevor meine Kinder erwachsen sind. Wenn ich Glück habe, überlebe ich meinen Gatten sogar, aber ich rechne nicht damit, denn er ist nicht viel älter als ich.« Trefor hatte sich immer eingebildet, in seinem Leben schon mit vielen abgebrühten Frauen zu tun gehabt zu haben, aber Deirbhiles Kaltschnäuzigkeit verschlug ihm die Sprache. Außerdem ärgerte es ihn, dass er sich bezüglich ihrer Flirtabsichten wohl geirrt hatte ‐ sie legte es schwerlich auf eine Affäre mit ihm an, wenn sie jetzt schon die nächsten zwanzig Jahre in die Zukunft plante, bis ihre ehelich geborenen Kinder erwachsen sein würden. Er öffnete den Mund, um eine bissige Bemerkung darüber zu machen, besann sich dann aber und verfiel in verdrossenes Schweigen. Zum Glück wandte sich jetzt der Vater des Mädchens an ihn. »Sir Trefor! Wenn Ihr in Irland seid, grüßt das Feenvolk von mir!« Augenblicklich begannen Trefors Alarmglocken zu schrillen. Er warf MacLeod einen scharfen Blick zu. Was wusste der Mann über die kleinen Leute, und wie kam er darauf, dass er, Trefor, etwas mit ihnen zu schaffen haben könnte? Hatte jemand seine Ohren gesehen? Unauffällig berührte er das Tuch, das er sich um den Kopf gebunden hatte. Nein, seine Ohrenspitzen waren vollständig bedeckt, und das Gelächter der anderen am Tisch verriet ihm, dass sich sein Gastgeber einen Scherz erlaubt hatte. Er stimmte in das Lachen mit ein, obwohl ihm nicht danach zumute war. »Das Feenvolk?« »Aye, junger Freund. Wenn Ihr Euch im Nebel verirrt und auf Angehörige der kleinen Leute stoßt, entbietet ihnen meine
64
Grüße und sagt ihnen, ich könnte ein bisschen Glück gut gebrauchen. Oder Gold, wenn sie etwas entbehren können.« Über Feen und Glück wusste Trefor alles, was es zu wissen gab, und der Gedanke, wie erstaunt MacLeod wäre, wenn er ihm verraten würde, über welche Fähigkeiten er auf diesem Gebiet verfügte, entlockte ihm ein Schmunzeln. Aber er ging nicht näher darauf ein, sondern fragte nur: »Im Nebel? Was ist denn dort?« »Verborgene Feenreiche. Gebiete, die auf keiner Karte verzeichnet sind, weil kein menschliches Auge sie je erblickt hat.« Ein anderer von MacLeods Gästen warf ein: »Und die, die dieses Land gesehen haben, sind nie zurückgekehrt, um darüber zu berichten. Geraubte Babys zum Beispiel.« Trefor erbleichte. Geraubte Babys. MacLeod nickte nachdrücklich. »Diese Kinder sind so gut wie tot. Keines ist je zurückgekommen, um von seinem Schicksal zu erzählen.« »Woher weiß man dann, dass sie überhaupt existieren?« MacLeod schnaubte. »Das sagt einem doch der gesunde Menschenverstand. Wer nie wieder zu den Seinen zurückkehrt, muss schließlich irgendwo sein.« Trefor hätte zu diesem Thema einiges zu sagen gehabt, hütete sich aber, näher darauf einzugehen. Vorsichtig fragte er: »Habt Ihr ... Geschichten über diese geheimen Länder gehört?« »Natürlich. Jeder weiß, dass man in Irland auf der Hut davor sein muss, vom Nebel verschluckt zu werden; es könnte passieren, dass man nie wieder herausfindet. Dort herrschen die kleinen Leute, und sie schützen ihr Reich durch Magie.« »So?« »Kein Mensch weiß, was dort vor sich geht.«
Trefor dachte, dass er das in Erfahrung bringen könnte. Er 65
wusste vieles, was anderen Menschen verborgen blieb. Seine Neugier war geweckt. Er hatte schon gesehen, wo Feen lebten. Die Bhrochan hausten unter der Erde. Warum? Besaßen sie kein Land über der Erde? Zu gerne hätte er MacLeod danach gefragt, aber er ahnte, dass er keine zufriedenstellende Antwort bekommen würde. Selbst wenn der Laird über derlei Dinge Bescheid wusste, würden Trefors Fragen seinen Argwohn wecken. Zeigte er zu große Vertrautheit mit den Gepflogenheiten der kleinen Leute, konnte es passieren, dass er von der Insel gejagt oder gar im Torhaus eingesperrt wurde. Er griff zu einem lahmen Scherz. »Dann verzichte ich dankend darauf, sie aufzusuchen, um sie von Euch zu grüßen.« MacLeod lachte. »Dazu würde ich Euch allerdings auch raten, junger Freund.« Trefor fiel etwas gezwungen in sein Lachen mit ein. Dieser Bursche hatte keine Ahnung, wovon er redete, und das Gespräch kam Dingen, die er in Gegenwart anderer Menschen lieber nicht erörterte, gefährlich nahe. »Ihr wusstet nichts von dem Feenreich?«, erkundigte sich Deirbhile. »Bis jetzt nicht.« »Das überrascht mich. Ihr wirkt auf mich wie jemand, der in alle Geheimnisse der kleinen Leute eingeweiht ist.« Wieder fuhr Trefor der Schreck in die Glieder. Was sah sie in ihm? »Wie meint Ihr das?« Sie musterte ihn aus schmalen Augen abschätzend. »Ihr... ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll ... Ihr habt irgendetwas an Euch, was mich an Magie denken lässt. Eine ganz besondere Ausstrahlung.« »Hoffentlich nichts, was Ihr als abstoßend empfindet.« Das Herz schlug ihm jetzt bis zum Hals. Stand er kurz davor, als Danann enttarnt zu werden? Lachfältchen legten sich um Deirbhiles Augen. »Ganz im 65
Gegenteil, ich fühle mich unwiderstehlich davon angezogen.« Was er darauf antworten sollte, wusste er wirklich nicht, also schwieg er. Dieses Mädchen berührte Saiten in ihm, von deren Existenz er bislang nichts geahnt hatte. Er rutschte so unruhig auf seinem Stuhl hin und her, als fürchte er, gleich werde jemand mit dem Finger auf ihn zeigen. Sein Unbehagen wuchs mit jeder Sekunde. Das Klügste wäre es, sich unter irgendeinem Vorwand von der Tafel zu entfernen, aber etwas hinderte ihn daran. Er wollte herausfinden, was für ein Spiel sie mit ihm trieb, und so zwang er sich dazu, ihr fest in die Augen zu blicken, um zu ergründen, was sie im Schilde führte, falls sie nicht wirklich nur einfach mit ihm flirtete. Doch alles, was er in diesen hellen Augen las, war aufrichtiges Interesse. Und eine Spur Neugier vielleicht. Der Wunsch, ihn näher kennenzulernen. Das gefiel ihm. Ein Lächeln spielte um seine Lippen, das sie sofort erwiderte. Aus Angst, jemand könnte denken, er wolle mit ihr anbändeln, beugte er sich tief über seine Platte und machte sich über seine Mahlzeit her, als sei er am Verhungern. Das Zittern, das ihn schüttelte, schien kein Ende nehmen zu wollen. Alex konzentrierte sich darauf, mühsam nach Atem zu ringen; zu mehr brachte er nicht die Kraft auf. Arme umschlossen ihn, doch er spürte die Berührung kaum. Diese Arme waren nicht wärmer als seine eigene kalte Haut, und sie gehörten nicht Lindsay. Seine Frau war nicht hier, aber sie war irgendwo in der Nähe. Ganz in der Nähe, und das war alles, was für ihn zählte. Allein deswegen kämpfte er um jeden Atemzug. Lindsay war hier, und sie wollte, dass er am Leben blieb. Also durfte er nicht aufgeben. Eine Stimme drang an sein Ohr. Eine Männerstimme, und einen Moment lang dachte er, er wäre schon gestorben. Wer 65
war dieser Mann? Wo war er? Dann fiel ihm alles wieder ein. An Reubair. Er befand sich in Reubairs Reich, in seinem Kerker, und Patrick war bei ihm. Er war es, der ihn hielt und mit ihm sprach, und er tauchte aus den Tiefen seiner Bewusstlosigkeit auf, um ihm zuzuhören. Schmerzen und Kälte fielen über ihn her. Es wäre eine Gnade gewesen, wieder in die Ohnmacht zurückzusinken, auf die vielleicht der Tod folgte, aber er kämpfte dagegen an. Kämpfte sich durch den Nebel des Schmerzes ins Leben zurück. »Patrick.« Sein Mund fühlte sich staubtrocken an. Seine Lippen klebten aneinander, und er schürzte sie, um sie voneinander zu lösen.
»Ich bin hier.« Jetzt sah er Licht; das Licht einer vor ihm auf dem Boden liegenden Fackel, die eine schüchterne Wärme verströmte. Sie war fast heruntergebrannt, spendete aber noch so viel Helligkeit, dass er die Wände der kleinen Zelle erkennen konnte. »Werde ich sterben?« Patricks unmerkliches Zögern verriet Alex, was der Priester wirklich dachte, aber er erwiderte klar und deutlich: »Nein, das werdet Ihr nicht.« »Lügner.« Patrick kicherte leise und zog Alex enger an sich, um ihn so warm wie möglich zu halten. »Lindsay ist hier«, krächzte Alex. »Sie war hier.« »Wo ist sie jetzt?« »Nicht mehr in der Zelle. Sie musste gehen.« »Sie haben sie herausgelassen?« Jedes Wort kostete ihn eine nahezu übermenschliche Anstrengung. »Wie ist sie überhaupt hier hereingekommen?« »Der Wärter hat sie eingelassen.« Alex verstummte, während die Implikationen dieser Ant 66
wort langsam in seinen fiebervernebelten Verstand einsickerten. »Warum?« »Das weiß ich nicht.« »Sie ist keine Gefangene.« »Mit Sicherheit doch. Ihr solltet sie besser kennen.« Die alten Zweifel begannen wieder an Alex zu nagen, doch er unterdrückte sie sofort. Natürlich kannte er Lindsay besser; sie war seine Frau, und er musste ihr vertrauen. Trotzdem vergewisserte er sich: »Seid Ihr sicher?« »Niemand hier weiß, wer wir sind. Sie ist die Einzige, die uns kennt. Hätte sie uns verraten, wären wir nicht mehr am Leben.« »Geht es um Lösegeld?« »Nein, Mylord. Für mich werden sie schwerlich welches verlangen, und was Euch betrifft... würde Reubair herausfinden, wer Ihr seid, würde er Euch augenblicklich hinrichten lassen. Die Gräfin hat mir erzählt, welche Pläne er nach Eurem Tod mit ihr hat.« Alex wartete ungeduldig darauf, dass Patrick weitersprach, und als der Priester schwieg, drängte er: »Sagt es mir.« Patrick rang einen Moment lang mit sich. Endlich erwiderte er: »Reubair würde Euch beseitigen lassen, um den Weg für eine Zwangsehe freizumachen.« Alex drehte sich um, um Patrick ins Gesicht sehen zu können. Heiße Wut stieg in ihm auf, ihm wurde übel, sein Magen hob sich, und er begann erneut zu zittern. Ehe? Reubair wollte Lindsay heiraten? »Nur über meine Lei...« Genau das war der Plan. Alex sackte in sich zusammen wie ein Ballon, aus dem sämtliche Luft entwichen war. Seine Augen fielen zu, und der Schmerz drohte ihn von Neuem zu überwältigen. Widerstandslos trieb er der friedvollen Dunkelheit entgegen. »Nein, Mylord! Gebt nicht auf! Bleibt hier!«
66 Alex holte tief Atem, schlug aber die Augen nicht wieder auf. Er wollte weder Patrick noch die Zellenwände sehen. »Lasst nicht zu, dass er seine Absichten wirklich ausführt«, beschwor der Priester ihn. »Er kann sie nur für sich behalten, wenn Ihr sterbt. Deswegen müsst Ihr leben und nach Eilean Aonarach zurückkehren. Ihr müsst sie vor ihm retten. Sie beschützt Euch, indem sie Schweigen bewahrt. Wenn An Reubair erfährt, wer ihm da in die Hände gefallen ist, ist Euer Leben verwirkt.« Patrick hatte recht. Aber irgendetwas passte nicht ins Bild, erkannte Alex benommen. »Wieso will er sie zur Heirat zwingen?« »Weil sie niemals aus freien Stücken seine Frau werden würde.« Alex schüttelte den Kopf. Die Welt drehte sich um ihn. »Kein Geld. Keine Mitgift.« Lindsay besaß kein eigenes Vermögen, würde nichts von ihm erben, denn in Ermangelung eines Sohnes fielen sein Land und sein Titel nach seinem Tod wieder an die Krone zurück, und die Macht, über die sie verfügte, war untrennbar an die Person ihres Ehemannes geknüpft. Reubair hatte durch eine solche Zwangsehe, die nur rein formal gesehen legal war, nichts zu gewinnen.
Wieder zögerte Patrick mit der Antwort, dann erklärte er: »Er will einen Sohn, Mylord. Einen legitimen Erben.« Alex' Benommenheit schwand schlagartig. »Er ist ein gottverdammter Feenkrieger, er schert sich nicht um Legitimität. Menschliche Gesetze gelten für ihn nicht!« »Er ist ein Christ, und er will ein Kind, das in den Augen Gottes legitim ist.« Dieser Narr. »Warum hat er sich gerade Lindsay ausgesucht?« »Das weiß ich nicht. Darauf ist sie nicht näher eingegangen.«
67 Die Vorstellung, Reubair könne Hand an Lindsay legen, brachte Alex zur Weißglut. »Ich bringe den Kerl um!« Er holte tief und gequält Atem, dann hustete er und atmete noch einmal schwer. »Euch wird gar nichts anderes übrig bleiben, schätze ich. Je eher Ihr ihn tötet, desto besser, wenn Ihr nicht riskieren wollt, einen Bastard in Eurem Heim großzuziehen. Seht zu, dass Ihr rasch wieder zu Kräften kommt, Mylord.« Patricks Stimme klang aufreizend selbstzufrieden, als er sich, die Arme noch immer um Alex geschlungen, zurücklehnte. Die Fackel erlosch und tauchte sie beide in tiefe Dunkelheit. 67
NEUNTES KAPITEL
In dieser Nacht kam Morag erneut in Trefors Kammer. Er hatte es schon aufgegeben, auf sie zu warten, und sich zum Schlafen auf die Seite gerollt, als ein warmer Körper zu ihm unter die Decke schlüpfte. Die Kammertür hatte nicht geknarrt, fiel ihm auf. Morag schlang einen Arm um seine Taille und schmiegte sich an seinen Rücken. Er nahm ihre Hand und küsste sie, dann drehte er sich zu ihr, um sie anzusehen. Sie barg ihr Gesicht an seiner Brust und kuschelte sich in seine Armbeuge. In Momenten wie diesem dachte er oft, gar nicht genug von ihr bekommen zu können. Eine wohlige Wärme durchglühte ihn, und er wünschte, sie für immer so halten zu können. Aber heute wollte er noch etwas anderes von ihr. »Erzähl mir von dem Feenreich in Irland«, bat er. »Dem Land hinter dem Nebel.« Sie lehnte sich zurück und musterte ihn in dem schwachen Licht aufmerksam. »Du meinst Finias? Das Bhrochan‐Reich, das von den Danann beherrscht wird?« »Gehört das Land wirklich den Bhrochan? Diese Burschen nehmen es mit der Wahrheit nicht so genau; ich weiß nie, was ich ihnen glauben soll und was nicht.« »Achte darauf, was du sagst, Liebster, denn ich gehöre auch zu diesem Clan, wie du wohl weißt.« Wenn sie nur endlich aufhören würde, ihn so zu nennen! Sie liebte ihn nicht, das wusste er genau. »Du bist kaum mehr 67
Bhrochan als ich Danann. Du siehst aus wie ein Mensch und solltest dich auch als solchen bezeichnen.« Ihre Antwort bestand lediglich aus einem undeutbaren Brummen. »Erzähl mir von diesem Land«, wiederholte Trefor. »Was hat es damit auf sich?« »Es gehörte einst meinem Volk, und dann haben wir es verloren.« »Und wer herrscht jetzt dort?« »Der Danann‐Ritter. An Reubair.« Trefor küsste Morag auf die Stirn, um seine Verwirrung zu überspielen. »Ich kann dir einfach nicht widerstehen«, murmelte er. »Dazu besteht auch überhaupt kein Grund.« Sie erwiderte seinen Kuss voller Leidenschaft. Aber er wollte so viel wie möglich über dieses geheimnisvolle Land in Erfahrung bringen, denn ihm dämmerte, dass Alex Lindsay am falschen Ort suchte. An Reubair hielt sich nicht im Grenzgebiet auf; er hatte die Gräfin zweifellos nach Irland gebracht, um sie dort zu verbergen, wo der sterbliche Alex sie nicht finden konnte. »An Reubair?«, drängte er. »Also ist das verborgene Land tatsächlich Danann‐Gebiet?« »König Nemed ist Reubairs Lehnsherr.« Das überraschte Trefor. »Nemed gehört weder zu den Danann noch zu den Bhrochan. Er ist ein Elf. Der einzige Überlebende seiner Art, soweit ich weiß.« Alex und Lindsay hatten schon mit Nemed zu tun gehabt; Trefor waren da einige sehr unerfreuliche Geschichten zu Ohren gekommen.
»Das stimmt, er ist ein Elf, der zwischen Feen und Menschen lebt, und daher hat er sich mit dem Danann‐König Dagda verbündet, um seine Herrschaft über sein Land zu festigen.« Trefor spitzte die Ohren, als Dagdas Name fiel. Sein Pulsschlag beschleunigte sich. Das war keine gute Nachricht. 68
»Wie kommt es dann, dass Nemed dort herrscht und nicht Dagda?« »Nemed hat das Land den Bhrochan abgejagt.« »Wie das?« »Mittels einer List.« Trefor lachte. »Natürlich. Diese gerissene kleine Feenratte hat sich austricksen lassen. Wie hat Nemed es wirklich angestellt?« »Es stimmt, was ich dir gesagt habe. Nemed wollte seine Tochter mit Brochan vermählen. Das Land sollte ihre Mitgift sein.« »Ich nehme an, die Hochzeit fand nie statt.« »Doch, in Stellvertretung, als das Mädchen noch ein Kind war. Aber die Ehe wurde nie vollzogen.« »Warum nicht?« »Weil sie im Fomorenkrieg getötet wurde, in dem der größte Teil von Nemeds Untertanen umkam. Das war zu der Zeit, als die Danann nach Irland kamen.« Trefor war lediglich bekannt, dass es sich bei den Fomoren um grässliche, wilde Kreaturen gehandelt hatte, die die Erde vor allen anderen Lebewesen besiedelt hatten. Flüchtig überlegte er, ob »Fomoren« das irische Äquivalent für »Neandertaler« war, verfolgte diesen Gedanken aber nicht weiter. Für ihn zählte nur, dass sowohl Brochan als auch Nemed Anspruch auf das Land im Nebel erhoben und Nemed diesen Kampf gewonnen zu haben schien. »Also hat der gute alte Brochan das Mädchen nie bekommen?« Morag dämpfte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Es gibt Gerüchte, denen zufolge Nemed seine eigene Tochter geopfert hat, um diese Ehe zu verhindern.« »Nicht möglich!« »0 doch. So haben die Danann das Land an sich gebracht. Nemed hat ihnen große Teile der Insel, die jetzt außerhalb des
68 Nebels liegen und von Menschen besiedelt werden, abgetreten. Sein Bündnis mit den Danann ist für ihn weit wertvoller als das, das er angeblich mit den Bhrochan hatte schließen wollen.« »Aber das ist doch verrückt. Niemand würde das Leben seiner eigenen Tochter opfern, nur um eine Eheschließung zu verhindern.« »Nun, für das Mädchen wäre es natürlich besser gewesen, wenn es so rasch wie möglich mit einem Danann‐Prinzen oder mit Dagda selbst vermählt worden wäre, aber Nemed ist noch nie zimperlich gewesen, und ich glaube, er genießt es, andere zu schockieren.« Die beiläufige Art, wie sie das sagte, gab Trefor zu denken. »Ich traue diesem Elf ja einiges zu, aber so etwas nun doch nicht.« Die furchtbaren Geschichten, die er über Nemed gehört hatte, entsprachen vermutlich weitgehend der Wahrheit, aber seine eigene Tochter umzubringen ... »Glaub, was du willst. Aber du kannst nicht leugnen, dass er sein Versprechen gegenüber Brochan gebrochen und uns um das Land betrogen hat. Er hat es An Reubair als Lehen gegeben, der es zum Vorteil von König Dagda und den Danann verwaltet. Und natürlich zu seinem eigenen.« »Aber wenn die Hochzeit nie stattgefunden hat...« »Die Ehe ist gültig, auch wenn sie nie vollzogen wurde. Das Land gehört uns. Dass das Mädchen tot ist, ist unerheblich, der Kontrakt wurde unterzeichnet, und nur das zählt.« »Warum sollte Nemed die Bhrochan betrügen wollen?« »Warum nicht?« »Was hat er dabei gewonnen? Das Land hatte er doch schon.« »Was und ob er etwas dabei gewonnen hat, kümmert mich nicht. Er hat uns betrogen, und wir wollen unser Land zurück.«
68 Trefor ließ das Thema fallen. Morag hatte die irritierende Angewohnheit, wie eine Bhrochan zu denken ‐ sie legte sich die Fakten so zurecht, wie es ihr gerade in den Kram passte. Wenn sie der Meinung war, ihr König habe Anspruch auf Nemeds Land, würde er sie nicht vom Gegenteil überzeugen können. Doch dann sagte sie: »Der Elf hatte guten Grund, den Danann den Vorzug vor uns zu geben. Sein Bündnis mit Dagda bringt ihm weitaus mehr Vorteile, als es eines mit Brochan getan hätte. Die
Danann, die oft als Menschen durchgehen, sind sehr viel wohlhabender als wir und verfügen in der Welt der Sterblichen über weit mehr Einfluss. Und es ist nun einmal so, dass die Welt heute von den Menschen beherrscht wird.« »Klingt für mich, als hätte Nemed mit den Bhrochan ein schlechtes Geschäft gemacht. Woher hat er denn damals schon gewusst, dass die Menschen eines Tages auf der Erde herrschen würden?« »Warum ist Brochan so sicher, dass du An Reubairs Burg aufsuchen wirst, um Dagda dort zu treffen?« Schicksal. »Okay, wenn er es wusste, warum hat er sich dann überhaupt erst auf diesen Handel eingelassen?« »Eine Fehleinschätzung der Entwicklung der Dinge?« »Oder ein Bhrochan‐Zauber?« Morag lachte. »Nein, niemand, weder Mensch noch Fee, hat solche Macht über den Elfenkönig. Ich habe keine Ahnung, warum Nemed seine Tochter mit Brochan vermählen wollte. Ich weiß nur, dass er seine Meinung geändert hat.« »Oder die Tochter wurde in einem Kampf getötet, den er nicht verhindern konnte, und danach fühlte er sich nicht mehr verpflichtet, seine letzten Gebiete in Irland den kleinen Leuten zu überlassen.« Morag schnaubte ungehalten und änderte ihren Kurs. »Du musst zu An Reubairs Burg reiten.«
69 »Warum?« »Um deine Bestimmung zu erfüllen.« »Fang nicht schon wieder damit an. So etwas wie Schicksal gibt es nicht.« »Dagda wird auch dort sein.« »So?« »Und deshalb musst du dorthin gehen.« »Das werde ich mit Sicherheit nicht tun, denn ich lenke mein Schicksal selbst und werde es dir beweisen.« »Du wirst gehen.« »Wieso bist du da so sicher?« »Weil«, erwiderte sie hörbar gereizt, »es dir vom Schicksal so bestimmt ist.« »Wenn sich das Wetter nicht bessert, komme ich wahrscheinlich gar nicht erst bis nach Irland.« Morag schielte zur Tür, als wollte sie hinausspähen. »Och, der Sturm wird abflauen. Und du wirst nach Irland gelangen, den Nebel suchen, ihn durchdringen und zu An Reubairs Burg reiten. Und dort wirst du den Danann‐König Dagda treffen.« »Woher weißt du das alles?« Sie sagte nichts darauf, sondern sah ihn nur an. »Richtig. Mein Schicksal.« Hmm. Trefor zog sie an sich, küsste sie und rollte sich dann auf sie. Diese Gespräche begannen gefährlich an seinen Nerven zu zerren. Er hielt es für das Beste, sie zu lieben, bis sie vor Erschöpfung einschlief und er endlich seine Ruhe hatte. Danach zog er die Decke über sie beide und schloss gleichfalls die Augen, schrak aber sofort wieder hoch, denn ein eisiger Schreck fuhr ihm in die Glieder. Er hatte etwas äußerst Wichtiges übersehen. Alex suchte im Grenzgebiet nach An Reubair. Vergeblich, wie Trefor jetzt wusste. Diesmal würde Dad seine Mom nicht retten können. Wenn sich Lindsay in Ir 69
land befand, im Nebel verborgen, dann musste er selbst ihr zu Hilfe eilen. Wie es aussah, behielt Morag recht. Trefor blieb keine andere Wahl, als sich zu An Reubairs Burg zu begeben. Am nächsten Morgen ging er zum Fenster der Turmkammer, um einen Blick auf seine Schiffe zu werfen. Später würde er ohnehin zum Hafen hinuntergehen, aber jetzt musste er sich unbedingt davon überzeugen, dass alles in Ordnung war. Was er sah, ließ ihn neuen Mut schöpfen. Es schneite nicht mehr, und ein plötzlicher Temperaturanstieg hatte das Eis im Hafenbecken schon teilweise zum Schmelzen gebracht. Die Schneedecke aufwiesen und Feldern bekam erste Risse. Morag hatte recht, er würde bald nach Irland aufbrechen können. Einerseits empfand er bei diesem Gedanken abgrundtiefe Erleichterung, andererseits fürchtete er sich davor, Irland zu erreichen und sich dann entscheiden zu müssen, in welche Richtung er seine Männer führte: zu Robert oder zu An Reubairs Burg, um dort nach Lindsay zu suchen. Unten auf der Treppe erklangen Schritte, die leichten Schritte einer Frau. Sein Pulsschlag beschleunigte sich, woraufhin er sich sofort einen Narren schalt. Zu großes Interesse an Deirbhile zu zeigen konnte fatale Folgen haben, und vielleicht waren es ja gar nicht ihre Schritte gewesen. Trefor zwang sich zur Ruhe, blickte aus dem Fenster und wartete ab. Doch sie war es. Sie trat in die Kammer, blieb stehen, als sie ihn am Fenster stehen sah, täuschte Verlegenheit vor, die sie mit Sicherheit nicht empfand, trat zu ihm und schaute gleichfalls nach
draußen, als sei sie nur wegen der Aussicht gekommen. Aber er merkte ihr deutlich an, dass sie seinetwegen hier war. Sie wusste, dass er jeden Morgen hierherkam, um seine Schiffe zu beobachten. Ihre Überraschung war eindeutig gespielt. Doch er tat so, als ahnte er nicht, dass sie ihn bewusst hier abgepasst hatte. 70 »Wie es aussieht, können Eure Schiffe in ein oder zwei Tagen den Hafen verlassen.« »Das glaube ich auch. Der Schnee ist schon zu Matsch geschmolzen und wird bald ganz weggetaut sein.« »Das ist im Frühling hier oft so; das Wetter kann ganz plötzlich umschlagen. Wir haben uns sehr über Eure Gesellschaft gefreut. Ihr solltet im nächsten Winter wiederkommen und dann länger als nur ein paar Tage hier verweilen.« Trefor kicherte leise, dann blickte er wieder zu seinen Schiffen hinüber. »Das wäre mir ein Vergnügen.« Eine Lüge. Würde er nach Tiree zurückkehren und dort auf unbestimmte Zeit festsitzen, wäre das für ihn eine einzige Qual. Nächsten Winter würde sie mit diesem Geoffrey verheiratet sein und irgendwo anders leben, auf dem Festland vermutlich, und er, Trefor, würde sich ständig danach sehnen, sie wiederzusehen. Nein, es kam überhaupt nicht infrage, dass er nächsten Winter wiederkam. Doch dann platzte er plötzlich heraus: »Sagt mir eines ... wenn Ihr zwischen Eurer Pflicht gegenüber Eurem König oder gegenüber Eurer Mutter wählen müsstet, wie würdet Ihr Euch entscheiden?« Sie überlegte einen Moment, dann entgegnete sie: »Das kommt darauf an. Würde es den Zukunftsaussichten meines Vaters beim König dienen, wenn ich meine Pflicht ihm gegenüber erfülle, oder würde es ihnen schaden, wenn ich mich für meine Mutter entscheiden würde?« »Ist das das Wichtigste für Euch? Die Zukunftsaussichten Eures Vaters?« »Ihr habt mir eine unklare Frage gestellt, und ich gebe Euch eine unbestimmte Antwort. Ihr müsstet schon etwas deutlicher werden.« Trefor zermarterte sich das Hirn nach einer Frage, die nicht zu viel von der Situation preisgeben würde, in der er sich befand. »Nun gut. Was wäre Euch wichtiger ‐ Eure Verpflichtung
70 gegenüber Eurem König oder der Wunsch, Eure Mutter vor körperlichem Schaden zu bewahren?« »Könnte der König meine Mutter aus ihrer misslichen Lage befreien?« Trefor lächelte. Dieses Mädchen lotete wirklich alle Möglichkeiten aus. »Nein. Der König dürfte noch nicht einmal davon erfahren.« Deirbhile dachte angestrengt nach. »Es gäbe demnach keine Entschuldigung dafür, dass Ihr den König im Stich lasst. Er würde nicht viel Verständnis zeigen.« »Sicher nicht.« Nicht er war es, der dem König seinen Tribut entrichten musste, sondern Alex, aber Trefor wollte die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, die sich ihm bot. Er musste unbedingt Roberts Aufmerksamkeit auf sich lenken, wenn er es in diesem Land und in dieser Zeit zu etwas bringen wollte, und er brannte darauf, sich der königlichen Armee anzuschließen. Doch Deirbhile meinte: »Ich würde die Wahl treffen, die meiner Familie zum Vorteil gereicht, und meine Pflicht gegenüber meinem König erfüllen.« »Ihr würdet Eure Mutter opfern?« »Sie würde es verstehen.« »Was? Dass Euch Eure eigene Haut lieber ist als ihre?« Deirbhile schüttelte den Kopf. Seine Begriffsstutzigkeit schien sie zu ärgern. »Nicht nur meine, sondern die des gesamten Clans. Ich müsste an meinen Vater, meine Brüder, meine Onkel und meine Vettern denken. An jeden, der hier auf der Insel lebt. Meine Mutter würde verstehen, dass das Wohl vieler wichtiger ist als ihr Leben.« »Das würde aber ein geraumes Maß an Selbstlosigkeit erfordern.« Sie musterte ihn flüchtig und lächelte. »Ich hielte es eher für eine Selbstverständlichkeit. Die Familie kommt immer an ers 70
ter Stelle. Mein Vater führt diesen Clan an, er ist für das Wohlergehen seiner Leute verantwortlich. Die Familie bedeutet uns alles.« »Aber der König ist kein Mitglied meiner Familie. Wie lässt sich der Gehorsam, den ich ihm schulde, mit meinen Pflichten gegenüber meiner Familie vereinbaren?«
»Ihr müsst auf lange Sicht denken, Sir Trefor. Wir sind von der Gunst des Königs abhängig. Ist er uns wohlgesinnt, geht es uns gut. Entzieht er uns seine Gunst, verschlechtert sich unser Leben. Das dürfen wir nicht um eines Menschenlebens willen aufs Spiel setzen. Sogar mein Leben wäre verwirkt, wenn so ein heikler Fall einträte, wie Ihr ihn beschreibt ‐ und ich würde das verstehen und akzeptieren. Meine Pflicht ist es, meinem Clan zu dienen, ihn zu schützen und alles dafür zu tun, dass er blüht und gedeiht.« »Und deswegen ist es Euch auch gleichgültig, wen Ihr heiratet?« »Natürlich.« Ihr Ton besagte, dass sie ihn für einfältig hielt, weil sie ihm Dinge begreiflich machen musste, die sich von selbst verstanden. »Warum fragt Ihr mich das alles? Hat niemand Euch beigebracht, dass man seiner Familie bedingungslose Loyalität schuldet, als Ihr ein Junge wart?« Trefor verbiss sich ein bitteres Lachen. Da er nie eine Familie gehabt hatte, hatte ihm auch kaum jemand etwas beigebracht, als er ein Kind gewesen war. Familienloyalität war ein Fremdwort für ihn. »Loyalität? Findet Ihr es sehr loyal Eurer Familie gegenüber, Eure Mutter den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen?« »Ihr zu helfen statt dem König zu dienen wäre der Gipfel der Eigensucht. Ihr würdet dadurch den gesamten Clan >den Wölfen zum Fraß vorwerfen<, wie Ihr es nennt, und das nur um der Liebe zu Eurer Mutter willen. Sehr selbstsüchtig, wenn Ihr mich fragt.«
71 Trefor starrte sie an, während er über ihre Worte nachdachte. Selbstsüchtig? Sie schien aufrichtig besorgt zu sein, weil er nicht begriff, worauf sie hinauswollte. Eigentlich hatte er mit blankem Zynismus gerechnet, doch stattdessen hatte sie ganz offensichtlich Angst um ihn. Mit weicher Stimme fragte sie: »Was ist Eurer Mutter zugestoßen?« »Ich spreche nur rein hypothetisch.« Als sie daraufhin unwillig die Lippen zusammenpresste, erkannte er, dass sie ihm nicht glaubte. Sie wartete geduldig darauf, dass er weitersprach. »Na schön«, seufzte er. »Ich habe erfahren, dass sie entführt worden ist.« Zu seinem Verdruss atmete sie erleichtert auf. »Na, dann zahlt doch einfach das geforderte Lösegeld, und schon habt Ihr sie zurück.« »Der Entführer will kein Lösegeld.« Jetzt runzelte Deirbhile die Stirn. »Was sollte ein Entführer denn sonst wollen? Das ist doch ...« Dann kam ihr ein Gedanke. »Ach herrje. Könnten sie zusammen durchgebrannt sein?« »Nein. Mein Vater ist noch am Leben.« Kaum noch, aber als Trefor ihn zum letzten Mal gesehen hatte, hatte Alex zumindest noch geatmet. »Dann sollte er sich auf die Suche nach ihr machen.« Die Lüge, die Trefor augenblicklich etwas zu glatt über die Lippen kam, entsprach vielleicht Wunschdenken. »Er ist ein sehr alter Mann.« »Also was dann?« »Ich weiß es nicht.« »Vielleicht wollte sie seine Mätresse werden?« Bei der Vorstellung erstarrte Trefor das Blut in den Adern. Lindsay freiwillig bei An Reubair? Aber das ergab keinen Sinn, dazu hatte sie sich letztes Jahr allzu rasch und bereitwillig von
71 der Feenräubertruppe getrennt. Und seither waren sie und Alex unzertrennlich gewesen, hatten bei jeder sich bietenden Gelegenheit Händchen gehalten, miteinander getuschelt und sich verschwörerisch angelächelt. Manchmal war Trefor fast übel dabei geworden. Lindsay würde nicht aus freien Stücken zu Reubairs Truppe zurückkehren, da war er sich ganz sicher. »Das glaube ich nicht.« »Als guter Sohn solltet Ihr das auch nicht glauben.« »Ich kenne sie gut genug. So ist sie nicht.« »Ein wahres Rätsel.« Er dachte, sie würde es dabei belassen, aber dann fragte sie: »Würdet Ihr denn nach Ungarn zurückkehren, um die Situation zu klären? Wenn Ihr dort ankommt, hat sich das Problem vielleicht schon von selbst gelöst.« Deirbhile wollte damit sagen, dass seine Mutter bereits tot sein konnte. Aber Trefor wusste, dass Lindsay sich nicht in Ungarn befand und höchstwahrscheinlich auch nicht von An Reubair getötet worden war. Noch nicht jedenfalls. »Nein. Ich glaube nicht, dass er sie
umgebracht hat. Wäre das seine Absicht gewesen, dann wäre sie schon bei dem Überfall gestorben. Mein Vater hätte den Angriff beinahe nicht überlebt.« »Weiß der Entführer, dass Euer Vater noch am Leben ist?« Trefor setzte zu einer Antwort an, dann schloss er den Mund wieder und musterte Deirbhile verblüfft. Sie war scharfsinnig genug, die vielleicht alles entscheidende Frage zu stellen, die ihm selbst gar nicht in den Sinn gekommen war. »Ich weiß es nicht.« »Wenn Euer Vater den Überfall, bei dem Eure Mutter verschleppt worden ist, eigentlich nicht überleben sollte, dann beabsichtigt der Entführer vielleicht, sie zu heiraten.« »Aber sie würde nie aus freien Stücken ...« »Natürlich nicht.« Aus ihrem Ton schloss er, dass sie ihn nur beschwichtigen wollte; dass sie es für möglich hielt, seine Mutter könne mit Reubair gemeinsame Sache gemacht haben, 72
aber dann fuhr sie fort: »Ich spreche von einer Zwangsehe, Sir Trefor.« Jetzt verstand Trefor überhaupt nichts mehr. »Wie bitte?« »Vielleicht hat der Mann, der Eure Mutter entführt hat, sie gezwungen, ihn zu heiraten.« »So etwas könnte er tun?« »Selbstverständlich. Es käme fast einer Vergewaltigung gleich, und wenn es sich nicht um ein abgekartetes Spiel handelt, sind solche Ehen meist von kurzer Dauer, aber manchmal kommt so etwas eben doch vor. Und wenn Eure Mutter dieses Schicksal erlitten hat, dann müsst Ihr sofort Vergeltung üben ‐Ihr und Euer Vater. Ihr müsst sie befreien und ihren Entführer für das büßen lassen, was er ihr angetan hat.« Das war eine rasche Abkehr von der Ansicht, die Rettung seiner Mutter wäre ein eigensüchtiger Akt. »Habt Ihr mir nicht eben noch geraten, lieber meine Pflicht gegenüber dem König zu erfüllen, statt ihr zu helfen?« »Och, aber eine solche Schmach dürft Ihr nicht tatenlos hinnehmen. Der Entführer hat nicht nur Euch und Euren Vater verhöhnt, sondern auch Eure gesamte Familie und Euren Clan. Es wäre eine Schande, ihn ungestraft davonkommen zu lassen. Ihr könntet keinem anderen Mann je wieder ins Gesicht sehen, wenn Ihr den Mann am Leben ließet, der sich Eurer Mutter aufgezwungen hat.« Irgendetwas tief in Trefors Innerem stimmte ihr nicht nur zu, sondern drängte ihn auch, unverzüglich nach Irland aufzubrechen ‐ noch heute und notfalls auch ohne seine Männer und seine Schiffe. Das Bild Lindsays in den Armen eines Fremden stieg vor ihm auf, und ein roter Wutschleier legte sich vor seine Augen. »Ich denke, Ihr habt recht«, knurrte er. »Ich muss Tiree so schnell wie möglich verlassen.« »Wollt Ihr nach Ungarn?« »Nein. Sie ist hier, im Norden. Sie wurde von Eilean 72
Aonarach verschleppt und befindet sich jetzt wahrscheinlich in Irland.« »Ist Euer Vater auch dort?« »Er sucht auf dem Festland nach ihr, wenn er nicht inzwischen seinen Verletzungen erlegen ist. Aber ich habe kürzlich etwas erfahren, was er nicht weiß.« »Och«, entfuhr es Deirbhile. »Ich muss mich selbst auf die Suche nach ihr machen.« »Dann beeilt Euch. Je mehr Zeit Ihr vertut, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass Euch nicht gefallen wird, was Ihr in Irland vorfindet.« Trefor seufzte und setzte sich auf das Fenstersims, um sein erhitztes Gesicht im Winterwind zu kühlen. Sie hatte recht ‐ genau wie Morag.
72
ZEHNTES KAPITEL
Einmal mehr kämpfte sich Alex aus den Tiefen der Dunkelheit ins Licht zurück. Wie lange er die Welt verlassen hatte, konnte er nicht sagen. Finsternis und Kälte waren nur auf Kälte zusam‐ mengeschmolzen. Er konnte die Fackel spüren, die in der Zelle brannte; die Wärme, die sie verbreitete, lockte ihn ins Leben zurück. Er wollte sie umarmen, sich vom Feuer verzehren lassen. Alles war besser, als die ewige erbarmungslose Kälte zu ertragen.
Lindsay war bei ihm. Ihr Duft erfüllte seinen Kopf und sein Herz; ein erdiger Duft, den er liebte, seit er ihr zum ersten Mal nahe genug gekommen war, um ihn wahrzunehmen. Sie kniete neben ihm. Er versuchte den Kopf zu heben, und sie zog ihn in die Arme und drückte ihn an sich. Ihre Hände strichen sacht über sein Gesicht und wischten den kalten Schweiß fort. Überall, wo sie ihn berührte, ließ der Schmerz nach. Ein seltsames Wohlbehagen überkam ihn. Himmel. Er war im Himmel, und Lindsay war bei ihm. Es kümmerte ihn noch nicht einmal, dass sie tot sein musste, um dort zu sein. Sie waren zusammen, nur das zählte. Etwas Nasses benetzte seine Lippen, rann zu seinen Mundwinkeln, und er leckte es ab. Suppe. Nahrung. Er schluckte gierig. Ja, er war im Himmel. Wider alle Logik war er irgendwie dorthin gelangt. Da war ein Löffel, von dem Fleischbrühe in seinen Mund tropfte. Köstliche Brühe. Lindsays Stimme drang an sein Ohr. 73
»Alex, halt durch.« Durchhalten? Warum? Alles war gut. Er hatte alles, was er brauchte. Sie war hier, was sollte er mehr wollen? Er schluckte und spürte, wie sich die Wärme in seinem Magen ausbreitete und das fürchterliche Zittern, das ihn schüttelte, allmählich abebbte. Wortfetzen hallten durch den Raum, aber er brachte nicht die Kraft auf, ihnen zu folgen. Sie interessierten ihn auch nicht. Lindsay war hier bei ihm, alles andere kümmerte ihn nicht. Sein erhitzter Körper erbebte, und er schluckte erneut. »Er fragt nach Euch, wenn Ihr nicht hier seid«, sagte Patrick. Lindsay unterdrückte die aufsteigenden Tränen und griff nach dem kleinen Kupfertopf, um Alex einen weiteren Löffel lauwarmer Brühe einzuflößen. Die Fackel brannte hell auf dem Steinfußboden, so nah bei Alex, wie sie es wagte, um ihm die größtmögliche Wärme zu spenden. Sie hob seinen Kopf in ihren Schoß und achtete darauf, keinen Tropfen Suppe zu verschütten. »Er weiß, dass Ihr hier seid.« Der Priester biss in den Kanten Brot, den sie für ihn mitgebracht hatte. Er war sichtlich ausgehungert, und sie wünschte, sie könnte jeden Tag kommen und ihnen Essen bringen. Aber es war schwierig genug gewesen, dem knollennasigen Wärter eine glaubhafte Ausrede aufzutischen und Suppe und Brot in die Zelle zu schmuggeln. Wenn Reubair davon erfuhr, stellte er vielleicht eingehendere Nachforschungen über seine Gefangenen an. Sie würde wahrscheinlich nicht mit dem Tod bestraft werden, Alex und Patrick sicherlich. Sie hatte keine Ahnung, wann sie die beiden Männer das nächste Mal würde besuchen können. »Er muss am Leben bleiben«, flüsterte sie. »Lasst ihn nicht sterben. Lasst nicht zu, dass Gott ihn zu sich nimmt. Wenn er nicht lebt, kann ich es auch nicht.« 73
Patrick setzte sich mit einem Ruck auf. Tiefe Besorgnis spiegelte sich auf seinem Gesicht wider. »Ihr würdet Euch doch nichts antun, nicht wahr?« Lindsay seufzte. Wieder brannten heiße Tränen in ihren Augen. »Es gibt Selbstmord, Patrick, und es gibt erloschenen Lebenswillen. Ohne Alex ist es mir gleichgültig, ob ich Reubair so erzürne, dass er mich tötet.« Es bewusst darauf anlegen, sich von einem anderen Menschen töten zu lassen. Das war in ihrer eigenen Zeit nichts Ungewöhnliches, und hier war es ein Leichtes, einen überlegenen Gegner zu einem Kampf herauszufordern, den man nicht gewinnen konnte. »Wenn Alex stirbt und Reubair mich zu einem Priester schleppt, dann wird es zu einem Kampf kommen, in dem einer von uns sein Leben lässt. Oder beide.« »Der Earl wird am Leben bleiben. Jedes Mal, wenn Ihr kommt, geht es ihm besser. Fieber hat er auch keines mehr.« Patrick übertrieb. Alex' Gesundheitszustand hatte sich nur insoweit verbessert, dass seine Temperatur leicht gesunken war. Noch immer war er nur halb bei Bewusstsein, seine Haut war fahl und fühlte sich klamm an, und sein Atem kam in kurzen, abgehackten Zügen. Ohne ausreichende Nahrung würde er wahrscheinlich sterben, und Lindsay war sich nicht sicher, wie oft sie sich noch in den Kerker schleichen konnte, ohne dass Reubair Verdacht schöpfte. »Ich kann nicht mehr oft wiederkommen. Vielleicht überhaupt nicht mehr.« »Er wird leben. Für Euch.« Lindsay hatte diesen Satz schon früher gehört, aber die meisten Menschen hatten keine Ahnung, was er wirklich bedeutete. Patrick wusste es, und sie wusste, dass er jedes Wort ernst meinte. Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle, und einen Moment lang konnte sie kaum atmen; sie drohte an ihrer Angst um diesen Mann, dessen ganzer Lebensinhalt sie war, fast zu 73
ersticken. »Betet für ihn.« Sie nickte Patrick zu. »Fangt gleich an«, sollte das heißen.
Patrick begriff, zog sich auf die Knie, faltete die Hände, senkte den Kopf und begann Gott auf Latein zu bitten, Alex' Leben zu verschonen, bis er seine Aufgabe auf dieser Erde als Lindsays Mann, Vater ihrer ungeborenen Kinder und Laird seines Clans erfüllt hatte. Lindsay empfand die gemurmelten Worte als seltsam beruhigend und fuhr fort, Alex Suppe einzuflößen, während ihr Tränen über die Wangen rannen. Später, nachdem sie den kleinen Topf und den Holzlöffel wieder in ihrem Kopfputz versteckt und die Zelle verlassen hatte, musste sie sich in eine dunkle Ecke der Vorkammer des Verlieses zurückziehen, um ihre Fassung zurückzugewinnen, ehe sie die Stufen emporstieg. Doch statt sich zu beruhigen, brach sie wie ein hysterischer Teenager in Tränen aus, wofür sie sich selbst verachtete. Entnervt lehnte sie sich gegen die Wand. Sie hatte normalerweise nicht so nah am Wasser gebaut und ver‐ mochte sich nicht zu erklären, warum sie einfach nicht aufhören konnte zu weinen. Ein so unmännliches Verhalten ziemte sich nicht für jemanden, der am Vorabend einer bedeutenden Schlacht vom König persönlich den Ritterschlag empfangen hatte. Jahrelang hatte sie sich als harter, kampferprobter Krieger in einer Welt von Männern behauptet, die stolz darauf waren, im Angesicht des Todes keinerlei Furcht zu zeigen. Sie sollte genug Kraft und Beherrschung aufbringen, um diese Krise durchzustehen, ohne die Nerven zu verlieren. Trotzdem gelang es ihr nicht, den Tränen Einhalt zu gebieten. Dann traf eine unerwünschte Erkenntnis sie wie ein glühender Pfeil mitten ins Herz. Was, wenn sie schwanger war? Was, wenn ihre Hormone verrückt spielten? Verzweifelt versuchte sie, die Tage zurückzuverfolgen, musste aber bald einsehen, dass dies nicht möglich war. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie in der Zelle ausgeharrt hatte, wo sie nie Sonnenlicht
74 gesehen hatte. Es konnten Tage oder auch Wochen gewesen sein, sie wusste es nicht. Erstickt nach Atem ringend blickte sie sich in der dämmrigen Kammer um, als würde die Antwort auf ihre Frage sie jeden Moment aus einer schattigen Ecke heraus anspringen. Was würde Reubair tun, wenn sie tatsächlich schwanger war? Würde er das Kind töten? Oder sie selbst? Sollte sie sich ihm hingeben und ihm dann weismachen, das Baby wäre von ihm? Bei dem letzten Gedanken färbten sich ihre Wangen schamrot, trotzdem erschien er ihr weniger abstoßend, je länger er ihr im Kopf herumging. Überleben. Sie musste alles daransetzen, zu überleben. Wieder strömten heiße Tränen über ihre Wangen; sie rutschte an der Wand hinunter und kauerte sich auf den kalten Boden. Sie durfte einfach nicht schwanger sein. Sie konnte nicht ausgerechnet hier Alex' Kind zur Welt bringen, die Vorstellung war unerträglich. Lindsay schlang die Arme um ihren Oberkörper und wiegte sich hin und her, während sie von heftigem Schluchzen geschüttelt wurde. Es kostete sie viel Zeit und Kraft, sich so weit zusammenzunehmen, dass sie den Kerker verlassen konnte. Noch nicht einmal die Furcht vor Entdeckung dämmte die Tränenflut ein, obwohl sie auf keinen Fall in Alex' Nähe tränenüberströmt ertappt werden wollte, weil sie fürchtete, jemand könnte die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Endlich richtete sie sich mühsam auf und wischte sich mit dem Ärmel ihres Gewandes über die Augen. Dann eilte sie durch die schmalen Gänge zur Küche zurück, wo sie sich kaltes Wasser aus der Zisterne ins Gesicht spritzte. Ihre Augen und ihre Nase waren rot und geschwollen, sie musste furchtbar aussehen. Köche und Küchenjungen starrten sie an, einige verstohlen, andere ganz offen. Lindsay schenkte ihnen keinerlei Beachtung. Bei einigen von ihnen handelte es sich um Menschen, und obgleich sie ihnen nicht traute, wusste sie, dass 74
Menschen hier nicht ernst genommen wurden und nur wenige je ein Wort mit Reubair oder einem seiner hochrangigen Offiziere wechselten. Sie kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten, und keiner von ihnen würde in Hörweite einer Fee Mutmaßungen darüber anstellen, warum die Gräfin von Cruachan wohl geweint hatte. Sie dankte ihnen für das Wasser und machte sich dann zu einem kleinen Spaziergang auf. Als sie in den Turm zurückkehrte und Reubairs Schlafkammer betrat, saß er schon beim Essen. Er hatte ohne sie mit seiner Mahlzeit begonnen, war in der Tat schon fertig und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, als er sie sah. Sie fürchtete, er könnte erzürnt sein, weil sie sich verspätet hatte, aber zu ihrer Erleichterung lächelte er nur. »Warum essen wir eigentlich nie in der großen Halle mit den anderen?«, fragte sie.
Sein Lächeln wurde breiter. »Ich lege keinen Wert darauf, Euch mit irgendjemandem zu teilen, schon gar nicht mit einem so großen Publikum.« Das war vermutlich als Kompliment gemeint, aber sie kam sich nur so vor, als würde sich die Falle, in der sie saß, enger um sie schließen. Sie setzte sich an den Tisch, und er schob ihr wortlos eine Platte mit Fleisch zu. Es war noch immer warm und so würzig, als wäre es eben erst aufgetragen worden, obwohl Reubairs Teller bis auf einen säuberlich abgenagten Knochen leer war. Die Mahlzeit hatte schon einige Zeit auf dem Tisch gestanden. Die Köche mochten zwar Menschen sein, aber sie kannten offenbar einige Zaubersprüche, mittels derer sie die Speisen warmhalten konnten. Sie trank einen großen Schluck aus ihrem Becher, der bereits gefüllt für sie be‐ reitstand. Der gewürzte Met löste eine wohlige Wärme in ihrer Magengegend aus. Als sie Reubair wieder anzusehen wagte, war das klaustrophobische Gefühl verflogen. Er saß auf seinem Stuhl, einen Ellbogen auf die Lehne gestützt, und sah ihr beim Essen zu. Sein 75
freundliches Lächeln wärmte ihr Herz, und mit einem Mal erschien ihr die Vorstellung, mit ihm zu schlafen, gar nicht mehr so abstoßend. Eine eisige Faust schloss sich um ihre Kehle, und sie blickte betreten auf ihren Teller. Nein. So durfte sie nicht denken. Reubair war nicht ihr Freund, er verfolgte nur seine eigenen Ziele, und sie fühlte sich in keinster Weise zu ihm hingezogen. Sie war mit Alex verheiratet und würde seine Frau bleiben, bis einer von ihnen starb. Und hoffentlich war sie diejenige, die als Erste gehen musste. Doch eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf flüsterte ihr böse zu, dass das Wunschdenken war; dass Alex vermutlich schon innerhalb weniger Tage sterben würde. Oder innerhalb weniger Stunden. Zu ihrem Entsetzen kam ihr bei diesem Gedanken nicht eine einzige Träne. Jetzt fürchtete sie sich davor, Reubair anzusehen. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Was war nur mit ihr los, dass sie solche Gedanken hegte? Sie kaute einen Bissen Fleisch, dann trank sie noch einen Schluck Met. Das Entsetzen verflog ‐ eine willkommene Erleichterung, und sie leerte ihren Becher mit Honigwein in einem Zug. Normalerweise vertrug sie entschieden mehr Alkohol, aber jetzt hieß sie die dumpfe Benommenheit willkommen, die der Met in ihr auslöste. Sie schielte zu Reubair hinüber, und der Glanz in seinen Augen entlockte ihr ein Lächeln ‐ kein aufgesetztes Lächeln, sondern einen Ausdruck puren Wohlbehagens. Verlegen konzentrierte sie sich wieder auf ihre Mahlzeit und schlang das Fleisch gieriger hinunter, als sie es unter anderen Umständen getan haben würde. Dann griff sie nach einem Stück Brot, tunkte damit den Bratensaft auf ihrem Teller auf und sagte dann dasselbe, was sie bei jeder Mahlzeit sagte. »Ich möchte meinen Ehering zurückhaben.« Er gab keine Antwort. Das tat er nie. Doch heute langte er
75 in seine Tunika und zog etwas Goldenes hervor. Ihr Rubinhalsband. Er warf es lässig auf den Tisch. »Hier.« »Den Ring bitte.« »Ich kann nicht dulden, dass Ihr ihn tragt, das wisst Ihr genau.« »Ich muss ihn tragen, das bin ich meinem Status als Frau von Alasdair An Dubhar MacNeil, des Earls of Cruachan, schuldig.« »Ihr seid halsstarrig wie ein Maulesel.« »Den Ring bitte.« »Nehmt die Kette. Ich kann es mir leisten, darauf zu verzichten.« Was hieß, dass er so reich war, dass er nicht darauf angewiesen war, dieses überaus kostbare Schmuckstück zu verkaufen. Und was auch hieß, dass er sehr wohl wusste, mit welcher emotionalen Bedeutung das Symbol ihrer Ehe für sie verbunden war. Aber er ahnte nicht, wie sehr sie an dieser Kette hing, die Alex ihr geschenkt hatte, als ein solches Geschenk seine Mittel noch bei Weitem überschritten hatte. Sie griff nach dem Halsband, dem noch An Reubairs Körperwärme anhaftete. Wenn sie sie zurücknahm, würde sie den Ring nie wiedersehen. Aber vermutlich war er ohnehin für sie verloren. Sie nahm die Kette und legte sie sich um den Hals. Der Ring ließ sich ersetzen. Das weitaus kostbarere Halsband stellte ein genauso wichtiges Symbol ihrer Ehe dar. Noch einmal dachte sie über die Möglichkeit einer Schwangerschaft nach und beschloss, dass es am besten wäre, in Reubairs Bett zu schlüpfen, sobald sie Gewissheit hatte, um ihn glauben zu machen, das Kind wäre von ihm. Sie musterte ihn verstohlen. Sein Lächeln wirkte heute besonders anziehend, seine klaren Züge und sein helles Haar waren angenehm anzusehen. Früher hatte sie ihn nie eingehender betrachtet; sie hatte ihn verabscheut. Heute war das anders. Er wirkte geradezu aristokratisch, noch nicht einmal seine Ohren stießen sie mehr ab.
76
Einen kurzen Moment lang hoffte sie, es würde sich als notwendig erweisen, mit ihm zu schlafen. Doch dann lief sie flammend rot an. »Entschuldigt mich«, murmelte sie, tupfte ihre fettige Unterlippe mit dem Saum des Tischtuchs ab, wischte sich die Finger ab und erhob sich. »Ich bin müde; ich denke, ich werde mich heute früh zurückziehen.« Während sie zu ihrem Schrankbett hinüberging, tastete sie nach den Bändern, mit denen ihr Kleid am Rücken geschnürt war, konnte sie aber nicht finden. Ungeschickt nestelte sie an dem Stoff herum. Sie wollte ihn um keinen Preis um Hilfe bitten, und sie wäre vollständig angekleidet in ihr Bett gekrochen, wenn er nicht aufgestanden und zu ihr getreten wäre. »Kommt, lasst mich das machen«, sagte er weich. Lindsay wollte ihm eine schroffe Abfuhr erteilen, aber der Klang seiner Stimme hypnotisierte sie geradezu, und sie ließ widerstandslos zu, dass er sich an ihrem Kleid zu schaffen machte. Seine Berührung löste eine kribbelnde Erregung in ihr aus. Ein Teil von ihr wollte sich angewidert von ihm losmachen, ein anderer sehnte sich danach, dass er ihr auch noch das Hemd abstreifte. Eine seiner Hände ruhte auf ihrer Hüfte, und sie war versucht, ihre eigene darüberzulegen, um zu verhindern, dass er die Hand wegzog, doch sie bezwang sich eisern. Reubair zog ihr das Kleid über den Kopf und breitete es über das Trockengestell am Kamin. Lindsay schleuderte hastig ihre Schuhe von sich und schlüpfte ins Bett. Die Tür fiel hinter ihr zu, und sie ließ sich im Dunkeln zu Boden sinken, lehnte sich gegen die hölzerne Wand, presste die Wange dagegen und brach erneut in Tränen aus. Sie begriff einfach nicht, was mit ihr vorging, und hasste sich für den Gefühlsaufruhr, der in ihrem Inneren tobte. Was war gerade eben geschehen? Wie hatte sie auf diese Weise an Reubair denken können? Spielten ihre Hormone ihr einen üblen Streich, sodass sie nicht mehr unterscheiden 76
konnte, was richtig und was falsch war? Wie kam sie dazu, beinahe zu vergessen, wer sie war und welchen Platz sie in dieser Welt einnahm? Sie war schon einmal schwanger gewesen, aber da war sie nicht dermaßen aus dem Häuschen geraten. Das waren keine Schwangerschaftssymptome. Das war ... etwas ganz anderes. Übelkeit breitete sich wie ein schleichendes Gift in ihrer Magengrube aus. Einen Moment lang war sie tatsächlich bereit gewesen, Alex zu betrügen. In diesem Moment hatte sie gehofft, Reubair werde ihr einfach das Hemd vom Leib reißen, und die Intensität dieses Wunsches erschreckte sie. Und was ihr noch mehr Angst einjagte, war, dass ihr Widerstand mehr und mehr erlahmte, je länger sie über diese Vorstellung nachdachte. Bislang hatte für sie nie der geringste Zweifel daran bestanden, dass Alex der Mittelpunkt ihres Lebens war. Jetzt war alles anders. Sie war anders, und sie konnte sich nicht erklären, warum. Sie wünschte, sie wäre wieder zu Hause, dann wäre alles viel einfacher. Wenn Reubair sie doch nur gehen ließe! Aber wie sollte sie Alex dann aus dem Verlies befreien?
76
ELFTES KAPITEL
Beim Frühstück vermied Trefor es angelegentlich, Deirbhile anzusehen, und sprach nur mit seinem links von ihm sitzenden Stellvertreter George. Sie klärten einige Fragen bezüglich ihrer Reise, und Trefor ertappte sich dabei, dass er zu ergründen versuchte, ob der Ritter fähig war, die Männer allein zu Robert zu führen, sobald sie in Irland angelangt waren. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er sich innerlich schon entschieden hatte, sich auf die Suche nach seiner Mutter zu begeben, und er versuchte sich erschrocken einzureden, er könne ja immer noch mit den Bruces in den Krieg ziehen. Im Feenland erwarteten ihn Dagda und Brochans Vorhersage seines Schicksals, und Trefor hasste den Gedanken, die kleine Ratte könne recht behalten. Er stand vor einer schwierigen Entscheidung, selbst wenn er Deirbhiles Rat berücksichtigte. Von der zum Kai gelegenen Seite der Burg erscholl eine Fanfare. Alle Köpfe am Tisch fuhren hoch. Trefor runzelte die Stirn. Kurz zuvor hatte er einen Blick auf den Hafen geworfen und festgestellt, dass das Eis noch nicht weit genug geschmolzen war, um einem Schiff Durchlass zu gewähren. Wenn ein Besucher von der Seeseite kam, interessierte es ihn ungemein, um wen es sich handelte und wie ihm dieses Kunststück gelungen war.
Nachdem das Boot angelegt hatte und die Neuankömmlinge mit großem Jubel begrüßt worden waren, betrat ein Mann, der
77 ungefähr so alt wie Trefor sein mochte, mitsamt seinem Gefolge die Halle ‐ ein Lowlander, wie es aussah, mit einem gehörigen Schuss normannischen Blutes. Trefor ahnte plötzlich, wer das sein musste, und sein Verdacht bestätigte sich sofort. »Geoffrey!«, hieß MacLean den Besucher mit offenkundiger Freude und einem kameradschaftlichen Schlag auf den Rücken willkommen. »Macfie, was für eine Überraschung!« Geoffrey? Der Geoffrey? Trefor sah zu Deirbhile hinüber. Sie saß wie zu Stein erstarrt da und starrte den unerwarteten Gast stumm an. Bei diesem musste es sich wohl um ihren zukünftigen Mann handeln, dem sie noch nie begegnet war. Hmm. Der Mann zwinkerte verwirrt. »Ich habe Euch doch von meinem bevorstehenden Besuch benachrichtigen lassen. Ist der Bote nicht bei Euch eingetroffen?« »Och, seit Tagen ist niemand mehr nach Tiree gekommen oder hat die Insel verlassen können. Die Überraschung besteht weniger darin, dass ich keine Nachricht von Euch erhalten habe, sondern dass Ihr es überhaupt bis hierher geschafft habt. Was führt Euch denn so früh im Jahr zu uns?« Immer noch ein wenig aus der Fassung gebracht, erwiderte Macfie: »Ich habe einfach das Bedürfnis verspürt, mich auf eine Reise zu begeben, mein Freund, und mich dann hier wiedergefunden. Eher zufällig, würde ich sagen, aber es war ein glücklicher Zufall.« Glück. Trefor war sicher, es besser zu wissen, und er fragte sich, wo Morag wohl gerade stecken mochte. Beobachtete sie ihn? Und schüttete sich dabei aus vor Lachen? Er blickte sich um, konnte sie jedoch nirgendwo entdecken. Wenn sie sich an seiner Reaktion auf Geoffreys Besuch weiden wollte, tat sie es von einer Stelle aus, wo er sie nicht sehen konnte. Seine Augen wurden schmal, und er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Neuankömmling. »Kommt«, sagte MacLean zu seinem Gast. »Es ist schon spät
77 am Morgen, aber Ihr seid sicher hungrig. Setzt Euch zu uns und esst mit uns.« Er geleitete Mache und seine Begleiter zum Tisch, schaffte für sie Platz am Kopfende, und alle ließen sich auf den ihnen zugewiesenen Stühlen nieder und warteten darauf, dass eine Mahlzeit aufgetragen wurde. Diejenigen, die bereits mit dem Essen fertig waren, darunter auch Trefor, lehnten sich zurück, um zu hören, welche Nachrichten von der Außenwelt Mache wohl mitbrachte. Nach so vielen Tagen der Abge‐ schiedenheit war jede Abwechslung willkommen. Deirbhile, die in der Nähe ihres Vaters saß, schien kaum zu atmen und wirkte wie vor den Kopf geschlagen. Trefor empfand es als unnötig grausam von MacLean, seiner Tochter ihren Verlobten nicht formell vorzustellen. Nach so vielen Jahren der Ungewissheit musste sie jetzt einen regelrechten Schock erlitten haben und konnte vermutlich ihre Neugier noch weniger bezähmen als der Rest der Burgbewohner. Trefor nicht ausgenommen. Wie alle anderen versuchte er sich ein Bild von dem am Kopf der Tafel sitzenden Geoffrey zu machen, doch im Gegensatz zu allen anderen hasste er ihn schon jetzt mit einer Intensität, die ihn selber erschreckte. Er versuchte, das Gefühl abzuschütteln wie einen unerwünschten Zauberbann, aber es gelang ihm nicht. Diese Empfindung kam tief aus seinem Herzen, und er vermochte nichts dagegen auszurichten. Er hüstelte, kniff die Augen zusammen und fragte sich, warum er sich überhaupt einen Deut um diesen Burschen scherte. Obwohl Trefor die Attraktivität anderer Männer nur schwer beurteilen konnte, musste er sich eingestehen, dass Mache ausgesprochen gut aussah. Deirbhiles Zukünftiger bewegte sich mit der unbewussten Anmut, die Angehörigen der privilegierten Klassen zu eigen war, hatte die kräftigen Schultern und die breite Brust eines Kämpfers und eine tiefe, klangvolle Stimme. Wäre Geoffrey ein moderner Amerikaner gewesen, 77
hätte er zu den Schülern in der Highschool gehört, die sich in allen Fächern hervortun. Er wäre der Schulsprecher gewesen, die Sportskanone, die ständig Preise gewinnt, der Typ, dem die Mädchen verzückte Blicke zuwarfen, wenn er an ihnen vorbeiging. Er hätte zu den Jungen gehört, über die Trefor und seine Freunde abfällige Bemerkungen gemacht hätten; wohl wissend, dass ihm nie zu Ohren kommen würde, wie sie über ihn herzogen, weil er sich in ganz anderen Kreisen bewegte als Trefor und dieser praktisch unsichtbar für ihn war. Genau so kam Trefor sich auch jetzt vor.
Geoffreys sonore, von großem Selbstbewusstsein kündende Stimme hallte in der großen Halle wider, während er mit seinem Gastgeber sprach. Alle Anwesenden im Raum lauschten der Unterhaltung so gebannt, als verfolgten sie eine eigens für sie inszenierte Theateraufführung. Der Vergleich erschien Trefor gar nicht so abwegig. Vermutlich galt die Show vor allem Deirbhile, die sich kein Wort entgehen ließ. Dann wandte sich MacLean an alle Ritter im Raum, und in Trefor wallten Neid und Abneigung auf, als der Laird seinen zukünftigen Schwiegersohn in höchsten Tönen zu preisen begann. »Geoffrey hat sein Geschick bei der Jagd schon häufig unter Beweis gestellt«, dröhnte Deirbhiles Vater. »An mich reicht er natürlich nicht heran, wie ihr euch sicher denken könnt, aber er hat bereits eigenhändig einen Keiler erlegt, ohne auch nur einen einzigen Kratzer davonzutragen.« »Er hat einen Keiler zur Strecke gebracht? Ganz alleine?« Trefor hatte bislang nur Hirsche und Rehe gejagt, keine Keiler, aber er wusste, wie bösartig und verschlagen diese Tiere waren. Er musste es Macfie zugutehalten, dass er selbst keine Antwort darauf gab, sondern sich nur mit einem höflichen Lächeln zurücklehnte und MacLean für sich sprechen ließ. Allerdings glaubte Trefor nicht einen Moment, dass der Mann aus Bescheidenheit schwieg. Er kannte die Schotten dieses Jahrhunderts 78
gut genug, um zu wissen, dass Macfie sein Abenteuer unter Garantie selbst zum Besten gegeben hätte, hätte MacLean es nicht an seiner Stelle getan. Aber wenn ein anderer bereit war, Loblieder auf ihn zu singen, erhöhte das die Glaubwürdigkeit seiner Geschichte noch. »Aye«, erwiderte MacLean so stolz, wie Trefor noch nie jemanden über ein zukünftiges Familienmitglied hatte sprechen hören. »Das war vor einigen Jahren, bei einer Jagd auf den Län‐ dereien seines Vaters auf dem Festland; in einem dichten Wald, weit entfernt von irgendwelchen Bauernhöfen. Er war auf einen Hirsch aus, müsst Ihr wissen, und für eine Begegnung mit einem wütenden Keiler denkbar schlecht gerüstet.« Seine Stimme nahm einen dramatischen Klang an. Die gebannte Aufmerksamkeit seiner Zuhörer ermutigte ihn offensichtlich, dick aufzutragen. »Er traf rein zufällig auf die Bestie, die ihn sofort angriff. Da stand er nun, nur mit einem Schwert bewaffnet, um sich des Ungeheuers zu erwehren. Die Flucht zu ergreifen hätte sein Ende bedeutet, also zog er blitzschnell seine Waffe, drang auf den Keiler ein und durchbohrte ihn mit einem einzigen Streich.« MacLean fuchtelte mit einem imaginären Schwert durch die Luft, um seine Worte zu unterstreichen. »Traf ihn direkt zwischen Schulter und Kehle, und die Klinge grub sich so sicher in sein Herz, als hätte Gott sie gelenkt. Die Bestie war auf der Stelle tot ‐ zum Glück, denn hätte sie auch nur eine Sekunde länger gelebt, hätte sie den jungen Geoffrey mit ihren gewaltigen Hauern aufgespießt.« Trefor überlegte unwillkürlich, ob es ihm selbst wohl auch gelungen wäre, diesen Keiler zu erlegen. Er war noch nie ohne die richtigen Waffen auf eine Jagd gegangen und hatte erst recht noch keinem so gefährlichen Tier nur mit einem Schwert in der Hand gegenübergestanden. Aber er kam zu dem Schluss, dass dies auch nicht viel schwieriger sein konnte, als Feinde im Kampf zu töten, was er schon häufig getan hatte. Menschen 78
waren sicherlich weit wilder und grausamer als ein hirnloses Schwein. Aber statt die Fähigkeiten dieses offensichtlich sehr geschätzten Gastes anzuzweifeln und seine eigenen herauszustellen, sagte er nur: »Was für eine Leistung.« MacLean fuhr fort: »Er trägt die Hauer an einer Lederschnur um den Hals. Es heißt, er würde sie niemals ablegen.« Er wandte sich zu Macfie und sah ihn an. Geoffrey folgte der stummen Aufforderung, griff in seine Tunika und zog ein Lederband heraus, an dem die berühmten Hauer hingen ‐ gelblich mit braunen Streifen und mit Goldkappen versehen, waren sie ein paar Zentimeter voneinander entfernt an dem Leder befestigt. Dazwischen hing ein silbernes Medaillon mit einem Kreuz darauf. Trefor wartete gespannt ab, ob Geoffrey die Schnur wieder in seine Tunika zurückschieben würde, und bemerkte mit einem leichten Grinsen, dass er das nicht tat. Die Trophäe blieb dort, wo jeder sie sehen konnte, und daran würde sich vermutlich während seines gesamten Aufenthalts nichts ändern. »Warten wir einmal ab, ob er sie nächstes Jahr nicht doch ablegt«, warf Deirbhile ein. MacLean lachte schallend auf. »Aye, und du denkst schon wie eine richtige Ehefrau!« Alle im Raum kicherten, sogar Trefor. Er betrachtete Deirbhile, deren Augen vor Belustigung funkelten. Sie wirkte nicht wie ein Mädchen, das zur Ehe gezwungen wird; sie machte eher den Eindruck, als freue sie sich auf die Hochzeit und darauf, das Bett mit diesem Großwildjäger zu teilen, von dem sich ihr Vater so beeindruckt zeigte. Das
verriet ihr gesamtes Gebaren, die leuchtenden Augen, der Klang ihrer Stimme. Wenn sie auch jetzt noch nicht in ihren Verlobten verliebt war, rechnete sie zweifellos damit, es bald zu sein. Trefor dachte über seine eigenen Zukunftsaussichten nach. Er war ein Krieger, ein Ritter, und er würde sich im Kampf einen Namen machen. In Irland. Er jagte keine Keiler, seine Gegner 79
waren Menschen. Als die Mahlzeit beendet war, war er einmal mehr zu dem Schluss gelangt, dass es das Beste wäre, sich mit seinen Männern Robert anzuschließen. Doch später an diesem Tag fing Deirbhile ihn ab, als er zu seiner Kammer zurückging, um das Zusammenpacken seiner persönlichen Habe zu überwachen. In der Vorkammer vor seiner Tür in die Enge getrieben, blieb ihm nichts anderes übrig, als mit ihr zu sprechen. »Werdet Ihr uns auf Eurem Rückweg nach Eilean Aonarach erneut einen Besuch abstatten?« Er schüttelte abwehrend den Kopf, doch sie fuhr fort: »Mein Vater hat Gefallen an Euch gefunden. Er würde sich freuen, wenn Ihr Euch öfter hier blicken lassen würdet.« Obwohl Trefor enttäuscht war, dass sie nicht gesagt hatte, sie würde sich freuen, ihn öfter zu sehen, begriff er doch, dass sie ihm einen Gefallen erwies, indem sie ihm eine Tür öffnete. Es hatte nichts mit ihren Gefühlen für ihn zu tun; sie schien ihm zu verstehen geben zu wollen, dass sie Freunde bleiben sollten. Er wünschte, sie würde wirklich etwas für ihn empfinden, und es schmerzte ihn, dass dies offenbar nicht der Fall war. Als sie lächelnd zu ihm aufblickte und die Grübchen in ihren Wangen erschienen, überkam ihn plötzlich das Verlangen, sie mit einem Zauberbann zu belegen ‐ einem, der sie dazu bringen würde, auf ihn zu warten, und der sie davon abhielt, diesen Geoffrey zu heiraten, bevor er, Trefor, sich einen Namen gemacht hatte, zu Macht und Wohlstand gelangt und nach Tiree zurückgekehrt war, um ihr diesen Burschen auszureden. Wenn er sie doch nur auf dem Rückweg von Irland kennengelernt hätte, reichlich mit Gold versehen und des Wohlwollens des Königs gewiss. Vermutlich hätte sie, wenn er wohlhabend und einflussreich gewesen wäre, alles darangesetzt, ihn für sich zu gewinnen. Wogegen er nicht das Geringste einzuwenden gehabt hätte. 79
»Ihr habt recht, Euer Vater ist ein bedeutender Mann, und sehr scharfsinnig dazu. Sagt ihm, ich kehre zurück, sobald es mir möglich ist.« Er würde ihretwegen zurückkehren; was sie ihrem Vater erzählte, interessierte ihn nicht. Wenn sie wirklich etwas für ihn übrig hatte, würde sie die Hochzeit vielleicht aufschieben. Man durfte ja noch träumen ... »Ich wünsche Euch bei der Suche nach Eurer Mutter viel Glück. Ihr werdet es brauchen.« Er öffnete schon den Mund, um ihr zu sagen, dass er sich den Bruces anschließen würde, besann sich dann aber und erwiderte stattdessen: »Ich denke, ich werde sie sehr bald finden.« Wenn sie dachte, er würde nur eine kurze Fehde gegen irgendeinen Großgrundbesitzer führen, war sie vielleicht eher geneigt, auf ihn zu warten. Der Krieg würde wesentlich länger dauern, und sie würde ihn dann schneller vergessen. Der Drang, einen Liebeszauber über sie zu verhängen, wurde nahezu übermächtig. Ein kleines persönliches Geschenk, ein Krug Wein oder ein paar ausgesuchte Köstlichkeiten würden diesen Zweck erfüllen. Getrocknete Früchte vielleicht, nicht zu viele, um sicherzugehen, dass nur sie davon aß. »Die Familie kommt vor allem anderen«, betonte sie noch einmal. »Es ist Eure Pflicht gegenüber Eurem Vater und Eurem Clan, dieses Unrecht zu sühnen.« Trefor verstand zwar immer noch nicht ganz genau, weshalb sie ihn immer wieder auf diesen Punkt hinwies, aber tief in seinem Inneren stimmte er ihr zu ‐ seine Mutter war wichtiger als alles andere auf der Welt. Sein Gewissen mahnte ihn eindringlich, seine Männer nicht in die Schlacht zu führen, obwohl er es für den Ausdruck höchster Feigheit hielt, seinen Schwur, für den König zu kämpfen, zu brechen. Vermutlich würden seine Männer genauso denken. Als ihr Anführer sollte er ihnen mit gutem Beispiel vorangehen. Ein Liebeszauber, und Deirbhile würde auf ihn warten. Die 79
Vorstellung erschien ihm immer verlockender. Dann konnte er zu den Bruces stoßen. Aber was wurde dann aus Lindsay? Allein bei dem Gedanken, was dieser schmierige Feenritter vielleicht mit ihr anstellte, stieg heiße Wut in ihm auf. Schlimm genug, dass die Frau von Alex so besessen war, aber der Earl war wenigstens sein Vater, ohne den es ihn, Trefor, jetzt nicht gäbe. Doch Reubair hatte sie gegen ihren Willen von Eilean Aonarach verschleppt. Sie war ihm unmöglich freiwillig gefolgt. Für diese Tat sollte er mit dem Tod büßen, und wenn er ihr auch noch Gewalt angetan hatte, würde Trefor ihn massakrieren. Auf einmal wollte er nur noch einen Boten zu Robert
senden, sich beim König entschuldigen und sich auf die Suche nach dem Reich der Danann machen. Zwischen widersprüchlichen Gefühlen hin‐ und hergerissen, nickte er nur stumm. Doch dann stellte sich Deirbhile auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. »Gott möge Euch behüten, Sir Trefor. Ich sehe eine Güte in Euch, die man bei Männern selten findet. Ihr steht vor schwierigen Entscheidungen und bemüht Euch, den richtigen Weg einzuschlagen. Ich wünsche Euch, dass Ihr Euer Ziel erreicht.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab, raffte ihre Röcke und verließ den Raum. Er sah ihr nach und wusste in diesem Moment, dass er den Zauber nie verhängen würde. Es wäre nicht richtig; ein Verrat an all dem Guten, das dieses Mädchen mit dem großen Herzen in ihm sah. Die Reise nach Irland dauerte ein paar Tage, während derer Trefor eingehend darüber nachdachte, was er tun sollte. Allmählich gelangte er zu der Überzeugung, dass er unabhängig davon, was andere dachten oder was die in dieser Zeit herrschenden Ansichten von ihm verlangten, seinem eigenen Her‐ zen folgen musste, denn er war derjenige, der sich vielleicht für den Rest seines Lebens mit Selbstvorwürfen plagen würde. 80
Deirbhile hatte recht, die Familie kam vor allem anderen, aber nicht aus den Gründen, die sie angab. Wirtschaftliche Belange zählten lange nicht so viel wie die persönliche Ehre. Trefor war nur ein Jahr jünger als Lindsay, und sie hatte ihn nicht großgezogen, aber dennoch war und blieb sie seine Mutter. Er verdankte ihr sein Leben und war es ihr schuldig, ihr Leben mit dem seinen zu verteidigen. Am Ende kam er zu dem Schluss, dass ihm keine andere Wahl blieb, als seine Männer mit George zu Bruce zu schicken und in den Nebeln von Irland nach seiner Mutter zu suchen. Zwar war sie Alex' Frau, und somit war der Earl für sie verantwortlich, aber soweit er wusste, konnte der gute alte Alasdair An Dubhar jetzt schon tot sein. Nun lag die Last der Verantwortung allein auf seinen Schultern. Als sie in Irland eintrafen, hatte er seine Entscheidung getroffen. Während die Männer die Pferde und Waffen an Land brachten, nahm Trefor George beiseite, um ihm Anweisungen zu geben. »Ich möchte, dass du mit den Männern voranreitest. Folge dem Pfad in südwestlicher Richtung und frag in den Städten, wo sich Edward Bruces Armee befindet. Soweit ich weiß, ist dieses Gebiet hier in schottischer Hand, also pass auf, dass du nicht in die Landstriche gerätst, die von Anhängern des englischen Königs kontrolliert werden.« Verwirrung, gepaart mit leichten Zweifeln, malten sich auf Georges Gesicht ab. »Wo wollt Ihr denn hin, Sir?« »Ich habe anderswo Pflichten zu erfüllen, denen ich unbedingt nachkommen muss.« »Was gibt es Wichtigeres als den Gehorsam, den Ihr dem König schuldet?« Trefor reckte das Kinn vor, denn diese Bemerkung grenzte an Unverschämtheit. »Ich schulde dem König gar nichts. Es ist mein Vetter, der Earl, der den Tribut zu entrichten hat.« George neigte zustimmend den Kopf, sagte aber: »Trotzdem 80
habt Ihr ein Versprechen einzuhalten. Zumindest dem Earl gegenüber.« »Nicht dass es dich etwas anginge, George, aber meine Aufgabe erfülle ich an Stelle meines Vetters, der in diesem Sommer nicht dazu in der Lage ist, wie du wohl weißt. Ich würde sehr viel lieber zu den Truppen des Königs stoßen, und ich möchte dich bitten, Edward dies ausdrücklich auszurichten, wenn du mit ihm sprichst, aber ich muss erst versuchen, die Gräfin zu befreien. Ich werde mich der schottischen Armee anschließen, sobald ich dazu in der Lage bin. Sag das Edward bitte gleichfalls.« »Aye, Sir.« »Gib gut auf die Männer meines Vetters acht, dann wirst du angemessen dafür belohnt werden.« George nickte. Er wusste, dass Trefor sein Wort zu halten pflegte. »Gott mit Euch, Sir.« »Und mit dir.« Trefor sah zu, wie George mit dem Entladen der Schiffe fortfuhr, dann holte er sein Pferd und den Maulesel mit dem Gepäck. Robert würde die Gründe für seinen Entschluss verstehen. Vor allem, weil er trotzdem fast alle geforderten fünfzig Männer bekam. Er hegte keinen Zweifel daran, dass es ihm gelingen würde, das Feenreich zu finden, obwohl es sicherlich durch verschiedene mächtige Zaubersprüche vor menschlichen Eindringlingen geschützt wurde. Aber selbst der stärkste Zauber barg Schwachstellen, denn die kleinen Leute selbst mussten in der Lage sein, ihn zu brechen. Und er gehörte zu diesem Volk, wenngleich das Feenblut dünner durch seine Adern floss, aber er war in die Künste der Magie eingeweiht. Womit er schon halb gewonnen hatte.
Trefor verließ den Kai und die kleine Stadt, die sich ringsum erstreckte, und ritt zu einem nahe gelegenen Wald, um eine dicht mit Bäumen bewachsene Stelle zu suchen ‐ keinen 81
geografischen Mittelpunkt, auch kein Versteck, sondern lediglich einen Ort, wo die Energieströme stark flössen. Er fand diese Stelle auf einem kleinen Hügel, weit entfernt von fließendem Wasser und von einem Ginsterdickicht umgeben. Dort, zwischen dicht beieinanderstehenden Eichen und Birken, war das Unterholz dünn, und er wählte einen Platz auf dem Gipfel einer niedrigen Anhöhe aus, wo das Gras nur spärlich wuchs und der Boden mit Laub bedeckt war. Er stieg ab, band sein Pferd an und blieb unter einem Holunderstrauch stehen. Einige Zweige davon kamen ihm bei dem, was er vorhatte, wie gerufen. Er erklomm die Anhöhe, dann blieb er stehen, um zu lauschen. Das Gezwitscher der Vögel war verstummt, kein Lüftchen bewegte die Blätter. Ein tiefer Frieden erfüllte ihn; der Aufruhr, der in ihm tobte, ebbte ab, und Trefor schloss die Augen, um tief durchzuatmen. Einen Vorteil brachte die ihm aufgezwungene Ausbildung mit sich ‐ er war jetzt in der Lage, den Zorn unter Kontrolle zu halten, der ihn sein ganzes Leben lang beherrscht hatte. Wut trieb ihn immer zu unüberlegten Handlungen; ein Charakterzug, den er an sich nur zu gut kannte, aber heute wusste er damit umzugehen. Meistens jedenfalls. Er sog die süße, klare Luft in tiefen Zügen in sich hinein und wusste, dass sein Zauber heute Wirkung zeigen würde. Er kniete sich hin, schob einen Teil des feuchten Laubs beiseite und schichtete ein paar dürre Äste auf, um ein Feuer zu entfachen. Holunderholz bewirkte, dass er sah, was er nicht sehen sollte. Vor allem Feen. Er hätte das Feuer mit einem Fingerschnippen entzünden können, aber das hätte einen un‐ nötigen Kraftaufwand erfordert, und er hatte Feuerstein und Stahl in dem Beutel an seinem Gürtel, also setzte er ein paar trockene Blätter in Brand und blies darauf, um die Flammen anzufachen. Und dann kam der Teil, den er manchmal mochte und manch
81 mal verabscheute. Heute hasste er ihn, denn die Luft war kühl, und das Feuer brannte nur niedrig. Er zog sich aus und schichtete seine Kleider und Waffen zu einem säuberlichen Stapel auf. Himmel, war das kalt heute! Trefor erschauerte, eine Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen, und seine Hoden zogen sich schmerzhaft zusammen. Er beeilte sich, zu tun, weshalb er gekommen war, um möglichst bald wieder in seine Kleider schlüpfen zu können. Er war in Tennessee aufgewachsen, und die Kälte in diesem Land setzte ihm immer noch schwer zu. Endlich griff er nach seinem Wasserschlauch und nahm einen kleinen Spiegel, den er eigens für diese Zwecke erworben hatte, aus seiner Satteltasche. Er war nicht größer als eine kleine Brosche und bestand aus an der Rückseite und den Rändern schwarz bemaltem Glas. Ein wollener Beutel schützte ihn vor Kratzern, denn die Farbe war empfindlich und rieb sehr schnell ab. Trefor kniete neben dem Feuer nieder. Was er im Sinn hatte, würde schneller vonstatten gehen, wenn Morag hier wäre ‐ je mehr Beteiligte, desto stärker die maucht ‐, aber als er den Blick über die umliegenden Bäume schweifen ließ, konnte er sie nirgendwo entdecken. Es sah nicht so aus, als würde sie gerade zur rechten Zeit hier auftauchen, obwohl er sicher war, dass sie sich blicken lassen würde, wenn es ihren Absichten diente. Er fragte sich, was sie wohl mit ihm im Sinn hatte, fand aber keine Antwort darauf. Nur eines stand fest ‐ sie tat nichts ohne Berechnung. Der Zauber nahm weder viel Zeit in Anspruch, noch war er schwierig durchzuführen. Trefor sammelte einfach seine ganze Energie und konzentrierte sich darauf, das Bild vor seinem geistigen Auge entstehen zu lassen, das er zu sehen wünschte; etwas, was er auf Geheiß der Bhrochan schon hundertmal zuvor getan hatte. Er hatte die Ausbildung ebenso gehasst wie das Auswendiglernen des Einmaleins im dritten Schuljahr, und die Aufgabe, die er sich heute gestellt hatte, war ungefähr genauso
81 einfach. Heute erschauerte er, als er in den Spiegel blickte, und registrierte erleichtert, dass sich das Abbild der dunklen Bäume ringsum in eine irische Landschaft verwandelte. Weitere Bilder nahmen Gestalt an. Orientierungspunkte. Während er die Bilder anstarrte, spürte er, wie ihn etwas tief in seinem Inneren in eine unbestimmte, verschwommene Richtung zog, und er begriff, dass er dieses innere Auge für den Rest der Reise nicht würde schließen dürfen, sonst würde er sich die ganze Zeit im Kreis drehen. Das Feenland hinter dem Nebel zu finden würde sich als komplizierter erweisen, als eine Karte zu lesen oder der Beschreibung eines Ortskundigen zu folgen ‐ es war eher so, als arbeitete in seinem
Kopf ein Navigationssystem, das ihm sagte, welche Nebelschwade ihn wohin führen würde und wann er seine maucht einsetzen musste, um die magischen Barrieren zu überwinden. Nicht ganz leicht zu bewerkstelligen. Es war mit einem großen Kraftaufwand verbunden, und er fragte sich, ob seine Fähigkeiten wirklich dazu ausreichten. Es gab nur einen Weg, das herauszufinden ‐ er musste jetzt zu Ende bringen, was er begonnen hatte. Hastig, weil er bereits spürte, dass der Zauber an seinen Kräften zehrte, kleidete er sich wieder an. Die seidenen, leinenen und ledernen Kleidungsstücke hatten die Feuchtigkeit des Bodens aufgesogen, die klamme Kälte drang ihm durch Mark und Bein. Er begann mit den Zähnen zu klappern, gab einen ärgerlichen Grunzlaut von sich, rieb sich die Arme und hüpfte von einem Fuß auf den anderen, um sich aufzuwärmen. Vor einiger Zeit hatte er ein paar Schotten nur mit einer Tunika, leichten Schuhen und einem wollenen Plaid bekleidet, das sie vor dem Wind schützte, durch den Schnee stapfen sehen und sich entgeistert gefragt, wieso sie sich keine Frostbeulen holten. Sowie das Zittern abgeebbt war, löschte er das Feuer, verstaute den Spiegel in seiner Satteltasche, stieg auf sein Pferd,
82 nahm das Packtier am Zügel und schlug die Richtung ein, die ihm sein Feennavigationssystem gewiesen hatte. Irland erschien ihm lange nicht so grün, wie er immer gehört hatte. Der Frühling hatte gerade erst Einzug gehalten, der Farn war noch winterlich braun, der Schnee geschmolzen, und alles wirkte nass und matschig. Überall zwischen den Hügeln und Wäldern waberten Nebelschwaden, aber Trefor spürte, dass sich dahinter nicht das verbarg, was er suchte. Erst als er zum zweiten Mal zum selben Dickicht gelangte, wusste er, dass er seinem Ziel nahe sein musste. Statt den Weg zurückzureiten, den er gekommen war, wie es jeder Mensch getan hätte, der sich verirrt hatte, trieb er sein Pferd weiter und lauschte auf seine innere Stimme. Sein Instinkt und das geschärfte Wahrnehmungsvermögen, das er bei den Bhrochan entwickelt hatte, ersetzten ihm jeden Kompass. Er ließ sein Pferd jetzt im Schritt gehen; lenkte es in genau die entgegengesetzte Richtung, in die es sie beide zog. Der Nebel ringsum wurde dichter und dichter, der Weg unsicher, und die Tiere begannen zu schnauben und zu scheuen. Ihre Unruhe war ein gutes Zeichen. Trefor trieb sie weiter. Langsam bahnten sie sich einen Weg durch den nebligen Wald. Es war so feucht, dass sein Haar im Gesicht klebte. Er hatte jetzt völlig die Orientierung verloren und ließ sich nur von seinem immer stärker werdenden Drang, schnellstmöglich umzukehren, leiten. Dann wurde die Welt mit einem Mal wieder klar. Sein Pferd trat auf eine Wiese hinaus und ließ eine absolut perfekte, glatte Nebelwand hinter sich, die wie eine bis zum Himmel aufragende Steinmauer aussah. Sie war so hoch wie ein Wolkenkratzer, und Trefor bestaunte sie so ehrfürchtig wie ein Tourist das Empire State Building. Er hatte es geschafft, er hatte das Feenreich erreicht, das von Nemed beherrscht wurde und auf das die Bhrochan Anspruch erhoben. Es war noch früh am Morgen, die Sonne stand niedrig am Himmel, und Tau glitzerte auf 82
dem Gras, obwohl es später Nachmittag gewesen war, als sich der Nebel um ihn geschlossen hatte. War er die ganze Nacht durchgeritten? Ihm kam es so vor, als wären seither nur ein paar Stunden verstrichen. Eigentlich sollte es jetzt dunkel sein. Auch im Nebel war es dämmrig gewesen, jedoch nicht so stockfinster wie in tiefster Nacht. Aber das hatte keine Bedeutung, wahrscheinlich beruhte dieses Phänomen auf derselben Magie, die Sterbliche vom Feenreich fernhalten sollte. Trefor entspannte sich ein wenig und spürte erst jetzt, wie erschöpft er war. Ein leichter, aber hartnäckiger Schmerz pochte in seinem Hinterkopf. Er rieb mit den Fingern über die Stelle und rollte die Schultern. Der Pfad, dem er bislang nur anhand seines durch den Zauber geschärften Instinktes gefolgt war, lag jetzt klar und deutlich sichtbar vor ihm, und das Pferd und das Maultier hatten sich wieder beruhigt. Trefor ließ sein Pferd in einen leichten Trab fallen. Sein Blick schweifte über die verlassene Landschaft. Die Gegend unterschied sich von den von Menschen bewohnten Gebieten Irlands nur dadurch, dass sie weniger dicht besiedelt war. Trefor sah nirgendwo ein Gehöft, keinen Rauch von einem Lagerfeuer, und er konnte auch keinerlei Anzeichen dafür entdecken, dass irgendwo Vieh gehalten wurde. Der einzige Hinweis auf die Bewohner dieses Landes bestand in den zahlreichen Hufspuren auf dem Pfad, der so breit war, dass er schon fast einer Straße glich. Viele Pferde waren hier entlang‐ gekommen, und die frischeren Spuren führten alle in die Richtung, der auch er folgte.
Schon bald stieß er auf einen Wegweiser, eigentlich nur einen dünnen, in die Erde gerammten Pfahl, der überhaupt nicht wie ein Hinweisschild aussah. Trefor erkannte es nur als solches, weil er das Ockham‐Alphabet gelernt hatte und die in das Holz eingeritzten Zeichen lesen konnte. Seine Kenntnisse der alten Sprache, die die Bhrochan ihm beigebracht hatten, 83
waren zwar eher dürftig, aber er sah, dass auf dem Pfahl nur ein einziges Wort stand. Finias. Der Pfad führte direkt durch ein Tal; die Hügel, die es säumten, stiegen zu Bergen an. Dann beschrieb er eine Biegung, und dort, auf der Talsohle, erblickte Trefor eine Burg, die so perfekt war, dass sie nur mit Hilfe magischer Kräfte erbaut worden sein konnte. Er war am Ziel. 83
ZWÖLFTES KAPITEL
Lindsay und Reubair saßen beim Frühstück, als ein Feenritter die Kammer betrat, um die Ankunft eines einzelnen Reiters am Tor anzukündigen. »Wie lautet sein Name?« »Sir Trefor Pawlowski.« Reubair warf Lindsay, die sich bemühte, eine unbeteiligte Miene zu wahren, einen scharfen Blick zu. Lindsay erschauerte innerlich. Trefor. Sie konnte sich denken, was ihn hergeführt hatte, aber warum er sich so offen zeigte und auch noch seinen richtigen Namen nannte, war ihr ein Rätsel. Das konnte kein gutes Zeichen sein. Dieser Mann schien immer irgendetwas im Schilde zu führen und hatte weder für sie noch für Alex viel übrig. Lindsay fragte sich, was er diesmal vorhatte. Es beunruhigte sie, dass er ausgerechnet jetzt, wo Alex so verwundbar war, hier auftauchte. »Ein Verwandter von Euch?«, erkundigte sich Reubair. »Nur ein entfernter Vetter.« Die Verwandtschaft zu leugnen wäre zwecklos gewesen, den polnischen Nachnamen gab es in diesem Land nur ein Mal. »Ich möchte zu gern wissen, was er von mir will. Und wie er mich überhaupt gefunden hat.« Eine Spur von Schärfe schlich sich in Reubairs Stimme. Lindsay zuckte die Achseln, als habe sie keine Antwort auf diese Fragen und würde auch nie welche finden.
83 »Er trägt das Zeichen der Feen«, warf der Bote ein. Reubairs Brauen schössen in die Höhe. »Tatsächlich?« Er berührte mit den Fingerspitzen seine eigenen Ohren und sah Lindsay forschend an. Die Botschaft war unmissverständlich ‐ wie konnte sie diesen Vetter haben und nicht wissen, dass auch in ihren Adern Feenblut floss? Sie täuschte gleichfalls Verwirrung vor, obwohl sie nur allzu gut wusste, von wem Trefor seine Ohren geerbt hatte. »Feenohren, meint Ihr? Die Spitzen können nicht allzu ausgeprägt sein. Ich kann zwar nicht behaupten, dass ich meinen Vetter sehr gut kenne, ich bin ihm nur ein oder zwei Mal begegnet, aber ein so offensichtliches Zeichen für Feenblut hätte ich sofort erkannt.« »Es verhält sich aber so, Mylady«, erwiderte der Ritter. »Auch wenn er seine Ohren früher verborgen haben mag ... jetzt stellt er sie offen zur Schau.« Er schob seine eigenen Locken zurück, um zu zeigen, wie Trefor sein Haar hinter seine Ohren gestrichen hatte. »Ah«, machte Reubair. »Er hat sie im Land der Menschen immer verdeckt.« Er schien diese Theorie mit einer gewissen Erleichterung zu akzeptieren und froh zu sein, Lindsay nicht weiter ins Kreuzverhör nehmen zu müssen. »Was will er denn hier?« »Mit Euch sprechen, sagt er. Eine Bitte vorbringen.« »Was für eine Bitte?« »Ich muss gestehen, Herr, dass es mir nicht gelungen ist, mehr aus ihm herauszubringen.« Reubair schnaubte. »Bring ihn her.« Lindsays Herz begann zu hämmern, und sie ging fieberhaft verschiedene Gründe für Trefors Besuch durch. Wie hatte er diese Burg gefunden? Wusste er, dass Alex hier war? Wusste er überhaupt, dass sie selbst hier war? Was würde er zu Reubair sagen, wenn er sie sah? Aber die wichtigste Frage lautete, was er wirklich hier wollte. 83
Fast eine halbe Stunde später wurde Reubair mitgeteilt, sein Besucher warte in einem der Vorräume auf ihn. Der Feenlord erhob sich und wandte sich an Lindsay. »Kommt mit mir.« Es war keine Frage, noch nicht einmal eine Aufforderung, sondern ein Befehl, dem Lindsay widerspruchslos gehorchte.
Trefor stand neben dem Kamin und drehte sich um, als Reubair und Lindsay den Raum betraten. Sein Begrüßungslächeln drückte nichts als pure Höflichkeit aus und änderte sich auch bei ihrem Anblick nicht. Vermutlich hatte er also doch gewusst, dass sie sich hier befand. Gut. Vielleicht würde die Situation nicht außer Kontrolle geraten. Oder es war alles schon verloren. Trefor verneigte sich vor Reubair, woraufhin der Feenlord knapp nickte. Dann wandte er sich Lindsay zu. »Was für eine schöne Überraschung, meine Base hier zu treffen. Es freut mich, Euch wiederzusehen, Lady Cruachan.« Vor Erleichterung wurden Lindsays Knie weich, aber sie presste sie fest gegeneinander, um zu verhindern, dass ihre Beine zu zittern begannen, als sie ihrem Sohn eine Hand hinstreckte. Er ergriff sie. Es war das erste Mal, dass sie ihn berührte, seit ... seit er ein Baby gewesen war. Seine Hand wies vom Reiten und Führen eines Schwertes zahlreiche Schwielen auf, und über einen Knöchel verlief eine Narbe, die aussah, als hätte sie genäht werden müssen, was aber unterblieben war. Ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, und sie wünschte, er würde fortgehen, damit sie sich nicht länger so hilflos und ohnmächtig fühlte. »Wie geht es Euch, Sir Trefor? Hattet Ihr eine angenehme Reise?« »Es ging, danke. Und wie ist es Euch ergangen?« Seine Augen verdunkelten sich, und er senkte die Lider, wie um sie zu verschleiern. Lindsay hatte Zorn darin aufflammen sehen, und sie fragte sich, was er wohl dachte. Sie brannte darauf, unter vier Augen mit ihm zu sprechen. Ihm eine Erklärung abzuge
84 ben, da er die Situation offensichtlich völlig falsch deutete. Aber diese Gelegenheit würde sich vorerst nicht bieten, und sie wusste ohnehin nicht, wie viel sie ihm verraten durfte, ohne sich und Alex in Gefahr zu bringen. Ihr Leben hing davon ab, was und wie viel Trefor über ihre Lage wusste, und das konnte alles oder nichts sein. Oh, sie wünschte, er wäre nie hierhergekommen. Und darunter lauerte der geheime dunkle Wunsch, er wäre nie geboren worden. Trefor war erstaunt, Lindsay an Reubairs Seite vorzufinden. Sie trug kostbare Kleider und Geschmeide, das noch nicht einmal Alex ihr hätte schenken können, und wirkte so ruhig und gefasst, als wäre sie die Herrin der Burg. Das Rubinhalsband um ihren Hals war so wertvoll, dass er sich fragte, was sie wohl getan hatte, um es sich zu verdienen. Verrat und Betrug waren immer Bestandteile seines Lebens gewesen, und seine Eltern waren, was ihn betraf, nicht gerade ein Ausbund an Loyalität, aber an ihren Gefühlen füreinander hatte er nie Zweifel gehegt. Der Earl war vernarrt in seine Frau, was ihn verwundbar und leicht zu manipulieren machte, und Trefor hätte es sich nie träumen lassen, dass die Gräfin ihren Mann auf diese Weise hintergehen würde. Es war einfach abstoßend. Er erwog, sein Vorhaben, sie zu befreien, fallen zu lassen, und formulierte in seinem Kopf bereits eine glaubhafte Ausrede, die es ihm ermöglichen würde, am nächsten Morgen wieder aufzubrechen und sich auf den Weg zu seinen Männern und König Robert zu machen. Aber er war von der langen Reise und dem Zauber, den er ausgeübt hatte, erschöpft und wusste, dass er im Moment nicht klar denken konnte. Ein Kribbeln in seiner Nackengegend veranlasste ihn, seinen Entschluss nochmals zu überdenken. Irgendetwas stimmte hier nicht. Obwohl Lindsays Verhalten in seinen Augen besagte, dass sie Alex betrogen und ein Verhält 84
nis mit Reubair angefangen hatte, benahm sich Reubair selbst reichlich merkwürdig. Dazu kam, dass in dieser Burg Energieströme flössen, die ihm noch weniger gefielen. In jeder Burg gab es Ecken und Winkel, die von Unheil und Tod zeugten, aber diese Energie war anders; sie schien ihm zu sagen, dass er, wenn er sie ignorierte, nicht mehr der Mann sein würde, für den er sich gehalten hatte. Was das bedeuten sollte, wusste Trefor nicht; er wusste nur, dass er herausfinden musste, was hier wirklich vor sich ging. Also verfolgte er seinen ursprünglichen Plan weiter. »Ich möchte mit Dagda sprechen, um ihm den Treueeid zu leisten«, sagte er. »Wie ich hörte, wird er hier erwartet.« Reubair schien verblüfft darüber, dass Trefor so gut informiert war. »Das stimmt, aber woher wisst Ihr das? Und warum wollt Ihr sein Gefolgsmann werden?« »Ich habe es zufällig von der Göttin Danu erfahren, als ich meine Suche nach dem König begann. Ich möchte mich den Danann anschließen, was mein gutes Recht ist, wie Ihr seht. Ich habe genug von den Torheiten der Sterblichen und will fortan im Feenreich leben.« Reubairs Augen wurden schmal. »Viel habt Ihr von den Danann nicht mitbekommen.«
»Genug, glaubt mir. Nicht nur meine Ohren, sondern auch mein Herz, und das sollte ja wohl reichen.« Der Feenlord bestätigte dies mit einem unverbindlichen Grunzen. »Nun, Eure Informationen sind korrekt, Dagda wird in Kürze hier eintreffen. Wir haben schon vor zwei Tagen mit seiner Ankunft gerechnet. Aber er reist vom Kontinent hierher und könnte aufgehalten worden sein ‐ durch widriges Wetter vielleicht, oder es haben sich unerwartete Probleme ergeben.« Trefor warf Lindsay einen Blick zu. Ihr Gesicht spiegelte milde Überraschung wider. Wie es aussah, hatte sie von diesem bevor‐ stehenden Besuch nichts gewusst. Wenn sie tatsächlich hier 85
die Burgherrin war, dann traute man ihr anscheinend nicht, wenn ihr so wichtige Neuigkeiten verschwiegen wurden. Doch dann wechselten sie und Reubair einen bedeutungsvollen Blick, und erst jetzt änderte der Herr der Burg Finias sein Verhalten unmerklich und fuhr fort: »Bleibt bis zu seiner Ankunft bei uns, dann könnt Ihr um eine Audienz ersuchen.« Trefor sah von ihm zu Lindsay. Wieder wusste er nicht, was er von alldem halten sollte. Der Teufel sollte ihn holen, wenn die beiden sich nicht wie ein Ehepaar benahmen! »Danke, Sir«, erwiderte er. Reubair winkte einen seiner menschlichen Diener herbei. »Bring unseren Gast in eine der Turmkammern und sorg dafür, dass es ihm an nichts fehlt.« »Aye, Sir.« Der Mann, der Reubairs Livree trug, nickte seinem Schutzbefohlenen zu und bedeutete ihm, ihm zu folgen. Trefor maß Lindsay mit einem forschenden Blick, als er den Raum verließ, und wünschte, die anderen würden sich für eine Weile in Luft auflösen, damit er ihr ein paar Fragen stellen konnte. Aber er musste sich an die Etikette halten und würde so bald keine Gelegenheit erhalten, mit ihr zu sprechen. Und jetzt, da sie wusste, dass er hier war, würde sie ihm mit Sicherheit aus dem Weg gehen; vermutlich schämte sie sich, zugeben zu müssen, dass sie mit Reubair das Bett teilte. Er würde sie später zur Rede stellen und ein paar Erklärungen verlangen. O ja, seine Mutter hatte ihm einiges zu erklären. Während er dem Diener folgte, konzentrierte er sich im Geist auf das Böse, das er innerhalb der Mauern dieser Festung spürte. Es war wie ein Knoten in seinem Bewusstsein, von dem er hoffte, dass er sich bald lösen und sein Geheimnis preisgeben würde. Er versuchte, eine Vision heraufzubeschwören, aber nichts geschah. Irgendetwas war hier faul, das war alles, was er mit Sicherheit wusste. Er musste unbedingt herausfinden, was das war. 85
Lindsay verflocht ihre Finger und presste die Knöchel gegeneinander, damit Reubair nicht bemerkte, dass ihre Hände zitterten. Dann rang sie sich ein möglichst unbefangenes Lächeln ab und sah zu, wie Trefor sich mit dem Diener zurückzog. »Es hat mich aufrichtig gefreut, Sir Trefor wiederzusehen«, unternahm sie einen vorsichtigen Vorstoß. »Ein bemerkenswerter Zufall, nicht wahr?« Jetzt lächelte sie Reubair an, der sie mit gefurchter Stirn betrachtete, und legte milde Verwunderung in ihre Stimme. »So groß ist der Zufall gar nicht, finde ich. Mein Vetter weiß offensichtlich von seinem Danann‐Blut, und Ihr habt mich ja auch wegen dieses Bluts hierhergebracht, also war es vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis wir beide hier aufkreuzen. Der einzige Zufall besteht darin, dass wir uns jetzt hier begegnet sind.« Sie seufzte, fuhr dann aber hastig fort: »Ich wusste zwar, dass er sich im Norden aufhält, hatte aber keine Ahnung, dass er sich den Danann anschließen wollte. Das letzte Mal, als ich ihn sah, wusste ich noch gar nicht, dass dieses Volk existiert, geschweige denn, dass er zu ihnen gehört.« Reubairs einzige Antwort bestand in einem fast liebevollen Lächeln, das sie einhüllte wie ... wie eine warme Decke. Das Vergnügen, das ihr diese Vorstellung bereitete, erschreckte sie. Es war falsch. Ein furchtbarer Fehler. Die wohlige Wärme, die sich in ihrem Körper ausbreitete, war das spürbare Böse, dem sie unbedingt widerstehen musste. Lindsay holte tief Atem und sah zum Fenster hinüber; in Richtung des Fallgitters, des Tores zur Freiheit. Flucht stand außer Frage. Sie musste Alex von hier fortschaffen, ehe Trefor sie beide verraten konnte. Gott verhüte, dass Trefor auf seinen Vater stieß, bevor sie einen Weg aus dieser Burg heraus gefunden hatte. Zwischen Vater und Sohn herrschte keine Liebe. Trefor würde Alex mit Freuden an den Mann ausliefern, der ihn töten würde, und dafür noch Reubairs Gunst und die seines Königs gewinnen. Tre
85
for konnte bei diesem Spiel gar nicht verlieren. Nach einem weiteren tiefen Atemzug sagte sie: »Ich würde heute gerne ausreifen.« »Warum tut Ihr es dann nicht?« »Weil es mir mehr Spaß machen würde, durch den Wald statt immer nur durch die Gassen und Höfe zu reiten.« Reubairs Augen verengten sich. »Das glaube ich Euch gern.« Sie wartete darauf, dass er ihr eine Lösung des Problems anbot, doch er schwieg und sah sie nur unverwandt an. Endlich sagte er: »Ich würde Euch ja begleiten, um Euch von Eurer Langeweile zu erlösen, aber ich habe in den Verliesen zu tun.« Lindsay brach der kalte Schweiß aus. Sie bemühte sich, sich ihre Panik nicht anmerken zu lassen, während sie fieberhaft nach einem Weg suchte, ihn vom Kerker fernzuhalten. Ihn zu bitten, doch lieber mit ihr auszureiten, hatte keinen Zweck, er hatte ja bereits abgelehnt. So schlug sie stattdessen vor: »Vielleicht würdet Ihr Euch gern ein wenig im Gebrauch Eurer Waffen üben? Ich hatte in der letzten Zeit wenig Gelegenheit zum Trainieren.« Sie drehte sich um, um ihm ins Gesicht zu sehen. Er gluckste leise. »Erwartet Ihr wirklich von mir, dass ich Euch ein Schwert in die Hand gebe?« »Jagt Euch der Gedanke Angst ein?« »Ich habe Euch kämpfen sehen; ich weiß, was Ihr einem Mann antun könnt. Ich habe Übungskämpfe mit Euch ausgetragen und Euch sogar noch das eine oder andere beigebracht, also habe ich guten Grund, Euch nicht zu unterschätzen.« In seiner Stimme schwang so viel aufrichtiger Respekt mit, dass sie geschmeichelt lächelte. Ihre Antwort klang schon fast kokett. »Würdet Ihr meine Herausforderung denn annehmen, wenn ich ein Mann wäre?« »Das hinge davon ab, ob dringendere Angelegenheiten auf 86
mich warten. Und ich muss mich um einige Dinge in den Verliesen kümmern.« »Sind sie wirklich so dringend, dass Ihr nicht ein wenig Zeit für mich erübrigen könnt?« Sie spielte die Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte, ohne Gewissensbisse gegen ihn aus. Ein billiger Trick, aber wenn es darum ging, ihren Mann zu schützen, war alles erlaubt. Alles. Sie biss sich auf die Lippe, ihr Lächeln wurde strahlender. Na los, komm schon. Vergiss die Verliese. In seinem Gesicht regte sich nichts, aber sie spürte, wie seine innere Anspannung wuchs. Sie sah ihn fest an. Diesmal würde sie ihn nicht so leicht davonkommen lassen, und er kannte sie gut genug, um das zu begreifen. Schließlich nickte er. »Nun gut.« Er rief seinen Leibdiener, befahl ihm, Schwerter im Burghoffür sie bereitzuhalten, und erhob sich dann. »Kommt mit.« Auffordernd hielt er ihr eine Hand hin. »Ich brauche passendes Rüstzeug.« Er presste die Lippen zusammen; unterdrückte offenbar ein gereiztes Schnauben, sah dann aber ein, dass sie einen Sparringskampf nicht in ihren weiten Röcken bestreiten konnte; sie würde sich sofort in den Stoffbahnen verheddern. »Wenn Ihr meint.« Er nickte zu einer großen Truhe in einer Ecke hinüber. »Borgt Euch etwas von mir aus.« Lindsay wandte sich ab, klappte den Deckel der Truhe auf und begann, darin herumzuwühlen. Die Trefor zugewiesene Kammer war klein, aber mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet. Da er ohne Gefolge reiste, benötigte er keinen größeren Raum, und es war fraglich, ob er überhaupt einen erhalten hätte. Die Kammer enthielt ein großes Bett mit einer weichen Matratze und einem riesigen Überwurf aus mit Gold‐ und Silberfäden besticktem Samt. In einer Ecke stand eine Pritsche für einen Diener mit einer zusammengerollten Matratze am Fußende; ein Möbelstück, das er nicht benöti 86
gen würde. Neben dem Kamin stand ein kleiner, auf Hochglanz polierter Tisch nebst zwei Stühlen; an den Wänden hingen bunte Behänge. Ein Fenster gab es nicht, noch nicht einmal eine Schießscharte, aber das störte Trefor nicht. Kein Fenster hieß, dass niemand hereinschauen konnte. Er legte seinen Reisesack und den Beutel, den er am Gürtel trug, auf das Bett und legte seine Waffen ab. Er brauchte dringend ein paar Stunden Schlaf, aber er musste auch unbedingt sein Schwert reinigen, obwohl er es seit dem vorigen Sommer nicht mehr benutzt hatte. Sein Dolch dagegen bedurfte immer einer Reinigung, denn er diente ihm beim Essen als Messer und Gabel zugleich, und es reichte nicht aus, ihn hinterher nur kurz am Tischtuch abzuwischen. Er zog ein Tuch und einen Wetzstein aus seiner Tasche, griff nach seinen Waffen und setzte sich ans Feuer. Dann legte er sich das Schwert über die Knie und fuhr mit dem Stein behutsam über die Klinge. Diese Tätigkeit übte stets eine ungemein beruhigende Wirkung auf ihn aus; das Geräusch des über den Stahl
gleitenden Steines klang fast melodisch. Trefors Gedanken wandten sich seinem Vater zu. Alex war es gewesen, der ihm geraten hatte, dieses Schwert zu kaufen. Die Waffe, die er gleich nach seiner Ankunft in diesem Jahrhundert erstanden hatte, war zu groß und zu unhandlich für ihn gewesen, das hatte er inzwischen eingesehen, aber damals hatte er sich von Alex bevormundet gefühlt. Er hatte das größere Schwert gemocht; er hatte gedacht, etwaige Feinde damit beeindrucken zu können, aber mittlerweile hatte er begriffen, dass Alex recht gehabt hatte. Wenn er ganz ehrlich war, musste er sogar zugeben, dass dieser Rat ihm vielleicht das Leben gerettet hatte. Zumindest hatte er ihn davor bewahrt, mehr Stahl als nötig mit sich herumzuschleppen. Und sein neues Schwert war auf seine Art genauso beeindruckend wie seine alte Waffe ‐ kleiner und leichter, aber der Griff bestand aus Gold, und in die Klinge war ein lateinischer Gebetsspruch eingraviert: Do
87 mim, dirige nos. Herr, leite uns. Nicht unbedingt das, was er selbst gewählt hätte, aber denen, die den Spruch lasen, schien er zu gefallen. Seine Hand fuhr mit gleichmäßigen Zügen über die Klinge. Während seiner Zeit bei den Bhrochan hatte er keine Waffe angerührt, aber im letzten Sommer viel im Grenzgebiet gekämpft. Alex hatte ihm einiges über den richtigen Umgang mit einem Schwert beigebracht, obgleich Trefor sich eingebildet hatte, alles darüber zu wissen. Nichts hatte er gewusst. Jedenfalls nicht annähernd genug, um im Kampf zu überleben. Wieder fragte er sich, ob Alex ihn durch seinen Fechtunterricht vor einem vorzeitigen Tod bewahrt hatte. Alex. Bilder von seinem Vater wirbelten in seinem Kopf durcheinander. Er richtete sich auf und blickte sich um. Seine Gedanken schienen von den Wänden widerzuhallen. Er sprach den Namen laut aus und hörte förmlich, wie die Steine zu vibrieren begannen. Einen Moment lang erwachten sie zum Leben, dann kehrte wieder Stille ein ‐ so, als habe jemand an einer Gitarrensaite gezupft. Etwas Derartiges hatte Trefor noch nie erlebt. Dieser Ort hatte irgendetwas mit Alex zu tun, aber er konnte nicht erfassen, was das war. Vielleicht lag es einfach nur an Lindsays Gegenwart. So nah, wie die beiden sich standen, hielt Trefor es für durchaus möglich, dass Alex' Seelenenergie sie hierherbegleitet hatte. Vielleicht irrte sogar sein Geist hier umher, während sein Körper irgendwo am Rand der Straße ins Grenzgebiet vermoderte. Aber nein, Alex war noch am Leben. Die Alternative war undenkbar, und Trefor war sicher, dass er es spüren würde, wenn Alex tot wäre. Hier witterte er nicht Tod, sondern Leiden. Sehnsucht. Schmerz. Dinge, die mit dem Leben zusammenhingen. Also lebte Alex noch, und Lindsay umgab ein Teil seiner Aura. Trefor fragte sich, ob Alex, wo auch immer er sein mochte, ahnte, was seine Frau vorhatte. 87
Es klopfte an der Tür, und ein Diener betrat unaufgefordert die Kammer. Er hielt ein Tablett mit einer Fleischplatte, einem kleinen Brotlaib und einem bis zum Rand gefüllten Zinnkrug mit Met in den Händen, das er wortlos auf den Tisch stellte, ehe er sich wieder zurückzog. Trefor, der erst jetzt merkte, wie hungrig er war, schob sich ein fetttriefendes Stück Fleisch in den Mund und kaute nachdenklich, während er mit seiner Arbeit fortfuhr. Tief in Gedanken versunken konzentrierte er sich wieder auf die unheilvolle Atmosphäre dieser Burg, die er schon bei seiner Ankunft gespürt hatte. Sie hatte einen Mittelpunkt, von dem aus sie in die Kammern und Nischen des Bergfrieds kroch. Er konnte sie förmlich schmecken; wie Säure, die in seiner Kehle hochstieg und Sodbrennen und Übelkeit ankündigte. Schmerzen. Krankheit. Während seiner Zeit bei den Bhrochan hatte man ihn gelehrt, dass nicht nur Feen über diese Art von Sensi‐ bilität verfügten, sondern auch viele Menschen. Bei Angehörigen des Feenvolkes war sie stärker ausgeprägt, aber Menschen konnten lernen, diesen Sinn zu schärfen. In modernen Zeiten hätte man von einem sechsten Sinn, einem Bauchgefühl oder dem zweiten Gesicht gesprochen und diejenigen, die auf diese innere Stimme hörten, als abergläubisch verspottet, aber Trefor hatte sich stets auf seine Vorahnungen verlassen; sie hatten ihn schon als Kind mehr als einmal vor Schwierigkeiten bewahrt. Inzwischen wusste er auch, wie er diese Fähigkeit gezielt einsetzen konnte. Jetzt konzentrierte er sich auf das Prickeln in seinem Hinterkopf und lauschte auf die Informationen, die dort Gestalt annahmen. Er hielt mit seiner Arbeit inne, legte die Waffe zur Seite, stützte die Hände auf die Knie, schloss die Augen und stellte sich vor, wie er die Kammer verließ und den Vorraum betrat, der zur Treppe führte. Ganz deutlich sah er jede Unebenheit der steinernen Wände und des hölzernen Fußbodens vor sich, 87
jede Faser der Wandbehänge, die auf dem Boden verstreuten Binsen. Dann stieg er im Geist die Stufen hinunter, vorbei an verschiedenen Türen, gelangte zum Durchgang zum Burghof und blieb dort stehen, um sich zu orientieren. Etwas zog ihn weiter, hin zu ... Halt. Da waren Lindsay und Reubair. Vor seinem geistigen Auge sah er seine Mutter in Männerkleidung in der großen Halle, wo einer von Reubairs Dienern ihr soeben ein Schwert reichte. Sie war also Reubairs Gefangene? Aber sicher doch! Die beiden kamen auf dem Weg zum Burghof an ihm vorbei, in eine scheinbar kameradschaftliche Unterhaltung verstrickt, und Trefor folgte ihnen. »Springt nicht zu hart mit mir um«, bat Reubair ‐ im Scherz natürlich. Für eine Frau war Lindsay eine gute Kämpferin, aber sie war und blieb eben doch eine Frau. Sie konnte Reubair keine ebenbürtige Gegnerin sein, noch nicht einmal in einem Sparringskampf, wo sie davon ausgehen konnte, dass er sie nicht verletzen würde. Lindsay erwiderte nichts darauf, sondern schritt zur Mitte des Burghofes, drehte sich um und nahm Fechtstellung ein. Sie forderte einen Angriff geradezu heraus, und Reubair ging mit einem leisen Lächeln ohne zu zögern darauf ein. Natürlich wurde sie in die Defensive gedrängt; er trieb sie mit einer Reihe rasch aufeinanderfolgender Hiebe ein gutes Stück zurück. Doch dann duckte sie sich und holte aus, um ihm von der Seite her einen kräftigen Schlag mit der flachen Klinge ihres Schwerts zu versetzen. Lachend trat er einen Schritt zurück. Ein paar Männer im Burghof blieben stehen und starrten die Frau in Männerkleidern mit offenem Mund an. »Gut gemacht, meine schöne Dame.« »Nennt mich nicht so!« »Ihr seid doch eine Gräfin, oder?« Es war ein Ablenkungsmanöver; Trefor sah Reubair an, dass er nach einer Lücke in ihrer
88 Deckung suchte, obwohl es den Anschein hatte, als hätte er den Kampf für einen Moment unterbrochen. Aber Lindsay fiel nicht darauf herein und hielt ihr Schwert weiterhin vor sich, als rechne sie mit einem neuerlichen Angriff. Gut. Trefor war nicht hundertprozentig sicher, ob Reubair sie nicht doch versehentlich ‐ oder mit Absicht ‐ verwunden würde. Hoppla, tut mir leid, Süße, das wollte ich wirklich nicht. »Ich bin eine Gräfin, aber keine Dame, wenn ich ein Schwert in der Hand halte, das solltet Ihr eigentlich wissen. Also bildet Euch nicht ein, ich würde wie ein kleines Mädchen kämpfen.« »Das würde mir nicht einmal im Traum einfallen.« »Dann hört mit diesem Gesülze auf und macht weiter!« Angesichts ihrer eigenartigen Wortwahl flackerte ein verwirrtes Licht in seinen Augen auf, erlosch wieder, dann sagte er: »Wie Ihr wünscht«, schwang sein Schwert über den Kopf und griff blitzschnell an. Aber sie parierte geschickt und ging zum Gegenangriff über. Er konnte sie nicht in die Enge treiben, und als sie sich diesmal trennten, rang er nach Atem. Trefor lächelte. Sie war seine Mutter. Natürlich setzte sie Reubair gehörig zu. Jetzt drang sie unvermittelt auf ihren Gegner ein und überrumpelte ihn völlig. Er wehrte ihre Hiebe nur mit Mühe ab, wich zurück und beschrieb einen Bogen, aber sie sprang zur Seite, ehe die Sonne ihr in die Augen schien und sie blendete. Ein rascher Satz nach links, und sie befand sich erneut im Vor‐ teil. Reubair presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Sein Atem ging schwer. Erneut blitzte seine Klinge auf, und er trieb sie zu einer felsigen Erhebung in der Nähe einer hohen Gartenmauer zurück. Doch zu Trefors Überraschung bewegte sich Lindsay auf dem unebenen Gelände vollkommen sicher, ohne auch nur ein einziges Mal nach unten schauen zu müssen. Sie lachte bitter auf. »Ich befinde mich hier im Heimvorteil, 88
schon vergessen? Immerhin habt Ihr mich tagelang an diesen Felsen gekettet. Kann es sein, dass Ihr das jetzt bereut?« Als Reubair nichts darauf erwiderte, runzelte Trefor die Stirn. Was hatte sie nur mit dieser Bemerkung gemeint? Angekettet? An diesen Felsen? Doch ihm blieb keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn der Kampf nahm seinen Fortgang. Lindsay gewann allmählich die Oberhand; sie nutzte das höhere Gelände, tanzte auf dem Felsen herum wie eine Fee auf ihrem Hügel. Reubair griff an und versuchte sie am Knie zu treffen, aber sie war zu schnell für ihn, wich aus und begann ihn aus‐
zulachen. Je lauter sie lachte, desto wütender wurde er. Es dauerte nicht lange, bis ihm deshalb Fehler unterliefen. Und seine Kräfte ließen nach. Und dann versuchte Lindsay, ihn ernsthaft zu verletzen. Mitten im Gefecht holte sie aus und zielte mit ihrem Schwert direkt auf seinen Solarplexus. Es gelang ihm nur um Haaresbreite, den Angriff abzuwehren und zu verhindern, dass er von der Klinge durchbohrt wurde. »Ho!« Überraschung und Schreck trieben ihm das Blut ins Gesicht. »Was sollte das denn?« Auch in Lindsays Augen flammte Zorn auf. »Tut mir leid. Ich vermute, ich werde langsam müde, und mein Schwert ist abgerutscht.« Was nicht stimmte. Sie hatte sich vollkommen unter Kontrolle gehabt, und Reubairs Gesicht verriet deutlich, dass er das wusste. Wortlos trat er zu Lindsay, nahm ihr das Schwert ab und reichte es seinem Diener. Nachdem er dem Mann auch sein eigenes Schwert ausgehändigt hatte, warf er Lindsay einen finsteren Blick zu und kehrte zum Turm zurück. Trefor fragte sich, was er eigentlich von Lindsay erwartet hatte, wenn sie wirklich seine Gefangene war. An einen Felsen angekettet? Hier im Burghof? Nichts von alledem ergab irgendeinen Sinn.
89 Lindsay sah Reubair nach. Trefor hätte zu gerne gewusst, was sie jetzt dachte, aber ihre Miene blieb vollkommen ausdruckslos. Lindsay ließ Reubair vorangehen. Nach dem, was sie gerade getan hatte, traute sie ihm nicht. Er brauchte Zeit, bis seine Wut verraucht war. Ihre Gedanken wanderten zu Trefor. Seine Anwesenheit hier bereitete ihr Sorgen. Der Himmel mochte wissen, was er Alex antun würde, wenn er ihn fand. Sie musste unbedingt mit ihrem Sohn allein sprechen, und das so schnell wie möglich, auch wenn Reubair vermutlich Spione auf sie angesetzt hatte, die jeden ihrer Schritte überwachten. Dagegen konnte sie nichts unternehmen, sie musste das Risiko eben eingehen. Am besten brachte sie das Gespräch gleich hinter sich. Sowie sie sicher war, dass Reubair sich in sein Schlafgemach zurückgezogen hatte, ging sie gleichfalls zum Turm zurück. Trefor war augenblicklich hinter ihr, um zu sehen, wo sie hinwollte und vielleicht eine Auseinandersetzung zwischen ihr und Reubair zu belauschen, falls sie zu ihm ging. Aber sie stieg nur eine Treppe empor, betrat den Vorraum auf diesem Stockwerk und klopfte an die Tür seiner eigenen Kammer. Das Klopfen, das auch im Inneren des Raumes zu hören war, beförderte Trefor mit einem Ruck in seinen Körper zurück. Ein stechender Schmerz schoss durch seinen Kopf und entlockte ihm ein Stöhnen. 0 Mann, er hasste es, wenn das passierte! Er fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und griff nach seinem Wetzstein. »Herein!« Lindsay betrat den Raum. Sehr zu Trefors Missvergnügen begann sein Herz bei ihrem Anblick zu hämmern. Seit dem Tag, an dem er als Erwachsener statt als Baby zu ihr zurückgekehrt war, hatte sie kaum je ein Wort an ihn gerichtet, geschweige
89 denn ihn von sich aus aufgesucht. Dass sie es jetzt tat, brachte ihn aus der Fassung. Sogar mit hochroten Wangen, in Schweiß gebadet und in eine Männertunika und Hosen gekleidet ‐ oder vielleicht gerade deswegen ‐, berührte ihre Schönheit ihn stärker, als ihm lieb war. Er hatte soeben mit angesehen, wie sie in einem Sparringskampf einen größeren, erfahreneren und vor allem männlichen Gegner besiegt hatte, und zwar, indem sie entschlossener und skrupelloser vorgegangen war als er. Sie war die einzige Frau, die ihm aufrichtige Bewunderung abnötigte. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Sie stand mit vor der Brust verschränkten Armen in der Nähe der Tür, wirkte selbst in den geliehenen Männerkleidern noch merkwürdig feminin und lächelte ihn auf eine Art an, nach der er sich sein ganzes Leben lang gesehnt hatte ‐ die perfekte Mutter, von der er als kleiner Junge immer geträumt hatte, nur war er jetzt kein kleiner Junge mehr. Widersprüchliche Gefühle rangen in seinem Inneren miteinander, und er musste sich räuspern, weil er fürchtete, seine Stimme würde ihm nicht gehorchen. »Setz dich doch.« Er nickte zu dem zweiten Stuhl neben dem Tisch hinüber. Lindsay zog den Stuhl zu sich heran und nahm ein bisschen weiter von Trefor entfernt als nötig Platz. Sie wirkte anmutig, gefasst und aristokratisch, strahlte dabei aber eine innere Kraft aus, die ihn faszinierte. Er war stolz darauf, diese Eigenschaft von ihr geerbt zu haben. Ein Rubinhalsband blitzte im Ausschnitt ihrer Tunika auf. Trefor konnte den Blick kaum von ihr abwenden, obwohl er sich bemühte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Es empfahl sich nicht, sie merken zu lassen, welche
Gefühle sie in ihm auslöste; das machte ihn verwundbar. Er beobachtete sie unauffällig, während er mit dem Stein über die Klinge fuhr, und dachte daran, wie vertraut sie mit Reubair umging. Und wie abstoßend er das fand. »Was kann ich für dich tun?«
90 »Das ist eine ausgezeichnete Frage. Warum bist du hier?« Ihr Ton schien zu besagen, dass sie ihn nicht hier haben wollte, und er erwiderte ebenso scharf: »Noch eine ausgezeichnete Frage. Ich habe gehört, dass du entführt worden bist, und bin gekommen, um dich vor dem großen bösen Wolf zu retten, aber wie es aussieht, brauchst du gar keine Hilfe.« Lindsay beugte sich vor. »Und ob ich die brauche.« Sie hatte ihre Stimme zu einem nahezu unhörbaren Flüstern gedämpft. Trefor blickte nachdenklich zur Tür hinüber. Sie benahm sich, als fürchtete sie sich vor etwaigen Lauschern. Trefor blieb skeptisch. Vielleicht war das nur eine List. »Dann lass uns von hier verschwinden. Jetzt sofort. Wir holen meine Pferde aus dem Stall, und dann nichts wie weg hier.« Wieder verspürte er einen Stich der Enttäuschung, als sie zögerte. Scheinbar lag er mit seinem Verdacht richtig. Sie wollte gar nicht von hier fort. »Ich kann nicht«, erwiderte sie verzagt. »Er hat einen Zauber über mich verhängt, der verhindert, dass ich durch das Tor reiten kann. Immer wenn ich mich dem Fallgitter nähere, werde ich in eine andere Richtung gelenkt.« »Nur du, oder haben alle anderen hier dieselben Probleme?« »Nur ich, soweit ich weiß.« Trefor zuckte die Achseln. »So ein Zauber ist leicht zu überwinden, sogar ohne Magie. Ich brauche dich nur zu führen ...« »Ich sagte doch, ich kann hier nicht weg. Er hält mich mit magischen Kräften hier fest, ich kann die Burg nicht verlassen.« Verzweiflung schwang in ihrer Stimme mit. Sie litt offensichtlich sehr unter ihrer Situation, auch wenn sie es sich ihm gegenüber nicht anmerken lassen wollte. Was für ein Spiel wurde hier gespielt? »Was hat er sonst noch gegen dich in der Hand? Es kann doch nicht nur ein einziger lächerlicher Zauberbann sein.« Wieder zögerte sie. Wenn sie ihm doch nur endlich verraten
90 würde, was hier wirklich vorsich ging! Trefor hasste es, belogen zu werden, und allmählich verlor er die Geduld. Da er merkte, wie Wut in ihm aufstieg, legte er sein Schwert zur Seite, um nicht in Versuchung zu kommen, eine Dummheit zu begehen. Sie war seine Mutter, und er würde ihr kein Haar krümmen, selbst wenn sie es mit diesem Feenmistkerl trieb und ihm verschwieg, warum sie Finias nicht verlassen konnte oder wollte. »Es ist ein sehr wirkungsvoller Zauber. Reubair verfügt über größere Macht als die meisten anderen Feen. Du wärst ihm hoffnungslos unterlegen.« Trefor schob gekränkt das Kinn vor. »Ich habe Studien betrieben und viel dazugelernt. Du würdest dich wundern, wenn du wüsstest, was ich alles bewirken kann.« Ihre Stimme nahm einen drängenden Klang an, Furcht flackerte in ihren Augen auf. »Es hat keinen Zweck, glaub mir doch. Ich muss warten, bis sich mir eine bessere Gelegenheit zur Flucht bietet.« Trefor musterte sie forschend; versuchte ihre wahren Absichten zu ergründen. Aber ihr Gesicht verriet nicht, was in ihr vorging, und es hatte wenig Sinn, noch weiter in sie zu dringen. Also gab er vor, ihr ihre Geschichte abzukaufen. »Na schön. Was sollen wir dann tun?« »Den richtigen Zeitpunkt abwarten.« »Wie lange?« Die Frage schien ihr nicht zu behagen. Sie zauderte, dann sagte sie leise: »Ich weiß es nicht.« Hoffte sie auf eine Chance, ihn loszuwerden? Oder ihn bei Reubair anzuschwärzen? Hatte sie überhaupt begriffen, dass er in Wirklichkeit gar nicht hier war, um Dagda den Treueeid zu leisten? Was um alles in der Welt hielt sie hier? Welche Macht hatte Reubair über sie? »Wir sollten von hier verschwinden, ehe Dagda eintrifft. Ich hoffe, du erwartest nicht von mir, dass ich ihm tatsächlich die Treue schwöre. Wir müssen machen, 90
dass wir wegkommen. Kein Herumtrödeln mehr. Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren.« Er wollte Dagda auf keinen Fall begegnen, um zu vermeiden, dass sich Brochans Vorhersage bezüglich seines Schicksals doch noch erfüllte. Nur kein Risiko eingehen.
Lindsays Augen verdunkelten sich ‐ nur einen Moment lang, aber es entging ihm nicht. Auch sie traute ihm scheinbar nicht, und das wunderte ihn. Er fragte sich, warum sie glaubte, er wollte sich wirklich einem gottverdammten Feenkönig anschließen. Sein Verdacht bestätigte sich prompt, als sie fragte: »Warum willst du denn den Eid nicht leisten? Schließlich bist du ein Danann.« »Das bin ich nicht«, fuhr er empört auf. »Ich bin mehr Mensch als du. Mein Vater gehört nicht zum Feenvolk.« »Aber bei dir schlägt das Feenblut stärker durch. Du trägst das Zeichen, und du verfügst über Gaben, die ich nicht habe.« Was heißen sollte, dass er in ihren Augen so etwas wie ein lebender Atavismus war. Sie sprach es nicht aus, aber so offen hatte sie ihre Gefühle ihm gegenüber noch nie gezeigt. Erneut wallte Zorn in ihm auf. »Ich habe nicht darum gebeten.« Die Worte sprudelten förmlich aus ihm heraus. »Ich wollte mit Magie nie etwas zu tun haben, aber die Bhrochan haben mich gefangen gehalten und mich gezwungen, ihre Künste zu erlernen.« Er ging ohne Vorwarnung zu dem Punkt über, der ihm am meisten am Herzen lag und den anzusprechen er bislang noch nie eine Gelegenheit gehabt hatte. »Im Grunde genommen ist mein ganzes Leben ein einziger großer Bhrochan‐Witz.« Lindsays Stimme nahm einen schneidenden Klang an. »Weshalb du dich wohl auch ausgerechnet mit dieser Bhrochan‐Hexe Morag zusammengetan hast, was?« »Sie steht hier nicht zur Debatte.« »O doch, wenn es dir wirklich ernst mit ihr ist.« 91
Trefor stieß ein freudloses Lachen aus. »Gesprochen wie eine wahre Mutter!« Lindsays Gesicht verzerrte sich vor Qual. Trefor wusste, dass er unnötig grausam mit ihr umsprang, aber es tat ihm nicht leid. Sie hatte sich jeder elterlichen Verantwortung entzogen, indem sie ihn gleich bei ihrer ersten Begegnung zurückgewiesen hatte, und wie er sein Leben führte, ging sie nichts an. Morag war kein Thema, das er mit ihr oder sonst jemandem diskutieren wollte. Lindsay sagte nichts mehr. Auf ihrem Gesicht breitete sich eine brennende Röte aus und zog sich langsam an ihrem Hals hinunter. Sie presste die Lippen zusammen; ihre Augen füllten sich mit Tränen. Mit einem Mal bedauerte Trefor seine höhnischen Worte, aber sie ließen sich nicht mehr zurücknehmen, also widmete er sich wieder dem Schärfen seines Schwertes und zog den Stein mit kurzen, kräftigen Strichen über die Klinge. Als seine Mutter aufsprang, um den Raum zu verlassen, blickte er nicht auf und versuchte auch nicht, sie zurückzuhalten. Lindsay schloss die Tür zu Trefors Kammer hinter sich und brach fast im selben Augenblick in Tränen aus. Eine Hand vor den Mund gepresst, eilte sie die Treppe hoch, um nach einem leeren Raum Ausschau zu halten, wo sie sich in einer dunklen Ecke verkriechen konnte, bis sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte. Ihr Baby war fort, für immer verloren. Trefor war nicht ihr Sohn. Sie konnte in ihm nicht das Kind sehen, das sie vor einem Jahr zur Welt gebracht hatte. Zwischen ihnen bestand lediglich eine genetische Verbindung, und ganz offensichtlich hasste er sie deswegen. Und es wollte ihr nicht gelingen, sich einzureden, dass ihr das nichts ausmachte. Sie litt unter diesem Hass, obwohl sie sich nicht erklären konnte, warum. 91
Außerdem dachte er jetzt, sie würde Alex mit Reubair betrügen. Sie konnte Finias nicht ohne ihren Mann verlassen, aber sie konnte ihr Geheimnis auch nicht mit jemandem teilen, dem sie nicht trauen konnte. Trefor würde seinen Eltern nie verzeihen, dass sie zugelassen hatten, dass die Bhrochan ihn entführten, obgleich sie gar keine Schuld daran traf. Und deswegen war Alex' Schicksal besiegelt, wenn Trefor erfuhr, dass er hier war. Dazu kam, dass sie ihm jetzt auch Grund zu der Vermutung gegeben hatte, sie hätte ein Verhältnis mit Reubair. Verzweifelt grub sie die Nägel in ihre Handflächen und verwünschte ihre Dummheit. Sie hätte dieses Gespräch mit Trefor nie führen dürfen. Auf der Treppe erklangen Schritte. Sie blickte auf und sah Reubair auf der Schwelle stehen. Auch wenn sie sich zusammennahm, konnte sie kaum vor ihm verbergen, wie aufgewühlt sie war ‐ und dass sie geweint hatte. »Was ist geschehen? Warum weint Ihr denn?« Es klang, als sei er entsetzt, sie in Tränen aufgelöst vorzufinden.
Lindsay richtete sich auf und trocknete sich mit dem zu langen Ärmel der geliehenen Tunika die Augen. »Ich werde hier gefangen gehalten. Das sollte wohl ausreichen, um einem Menschen aufs Gemüt zu drücken.« Er dachte einen Moment darüber nach, was sie unbegreiflich fand. Doch dann dämmerte ihr, dass er, was Gefühle betraf, genauso unsensibel war wie zahlreiche ihrer früheren Freunde. Männer waren offenbar alle gleich, ob sie nun runde oder spitze Ohren hatten. Dann sagte er: »Es tut mir leid, dass Ihr so empfindet.« Sie runzelte die Stirn. Was dachte er denn, was sie empfand? Aber seine Stimme klang weich. Er schien über ihren Kummer aufrichtig betrübt zu sein. Als er auf sie zutrat, warf der Feuerschein dunkle Schatten auf sein Gesicht. In seinen Augen spiegelte sich Sorge um sie wider, die sie als seltsam tröstlich 92
empfand. Sicher meinte er seine Worte ernst; er wollte sie nicht traurig sehen. Ein hoffnungsvoller Funke glomm in ihrem Herzen auf. »Dann lasst mich doch gehen.« »Das kann ich nicht.« »Warum nicht?« »Weil Ihr Finias dann auf der Stelle verlassen würdet, und das könnte ich nicht ertragen.« »Unsinn. Ihr liebt mich nicht, und versucht nicht, mir das Gegenteil einreden zu wollen.« »Wieso meint Ihr, so sicher zu wissen, was ich denke oder fühle? Ich bin nicht der Mann, für den Ihr mich anscheinend haltet.« Er beugte sich zu ihr. Sein Gesicht war dem ihren ganz nah, und sie wusste nicht, ob sie zurückweichen oder still stehen bleiben sollte. Sie entschied sich für Letzteres. »Überhaupt kein Mann, würde ich sagen.« »Das ist nur deshalb eine Beleidigung, weil mir Eure Meinung über mich wichtig ist.« Sie konnte nicht anders, sie musste unwillkürlich lächeln. Reubair dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern. »Ich wünschte, Ihr würdet mich aus freien Stücken zum Mann nehmen. Lasst Euch von Cruachan scheiden und heiratet mich.« »Das käme Euch wohl sehr gelegen, denn dann müsstet Ihr ihn nicht aufspüren und töten, nicht wahr?« Ein Schatten flog über sein Gesicht, verschwand aber sofort wieder. »Wie wahr. Aber darum geht es nicht. Ich möchte eine glückliche Frau haben.« »Weil sie sich Euren Wünschen eher fügt?« »Nein, weil ich niemandem gern Kummer bereite. Ich bin trotz allem ein Christ und fürchte um meine unsterbliche Seele.« »Von Eurem unsterblichen Körper ganz zu schweigen.«
92
»Wir Danann leben lange, aber wir sind nicht unsterblich. Ich weiß, wie es ist, wenn die Jahrhunderte stetig vorüberziehen. Das ist ein kleiner Blick in die Ewigkeit, und ich habe Angst, mein unendliches Leben nach dem Tod in der Hölle zu verbringen. Ich möchte Euch nicht wehtun, es ist allein Ver‐ zweiflung, die mich dazu treibt, zu so extremen Maßnahmen zu greifen und Euch hier festzuhalten ‐ eine Verzweiflung, die starken und aufrichtigen Gefühlen entspringt.« Lindsay konnte sich kaum vorstellen, dass Reubair fähig war, jemanden zu lieben, oder dass er sich vor etwas fürchtete, wobei es sich nicht um eine Schwertspitze an seiner Kehle handelte. Doch als sie ihn jetzt ansah, wirkte er vollkommen ernst. Er blickte ihr tief in die Augen. Sie hielt seinem Blick einen Moment lang stand, dann merkte sie, was sie tat, und wandte sich hastig ab. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Am liebsten hätte sie die Flucht ergriffen, aber sie blieb, wo sie war, starrte in das Feuer, ohne es bewusst wahrzunehmen, und wünschte, er würde entweder fortgehen oder... Gott möge ihr beistehen, sie wünschte, er würde sie küssen. Ihr brach der kalte Schweiß aus, sie drehte sich um, kehrte ihm den Rücken zu und atmete tief durch, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Nach ein paar reinigenden Atemzügen begriff sie plötzlich, was mit ihr geschehen war: ein schwacher Moment, in dem sie sich mit ihrem Entführer identifiziert hatte. Das Stockholm‐Syndrom. Sie musste diesen Drang, gut mit Reubair auszukommen, überwinden und gegen seine Verführungsversuche ankämpfen. Neue Kraft durchflutete sie. Jetzt, da sie den Grund für ihre durcheinandergeratenen Gefühle kannte, würde es ihr leichter fallen, damit umzugehen, und dieser Gedanke verlieh ihr neuen Mut. Sie drehte sich wieder zu Reubair um, doch als sie zu ihm aufblickte, wurde ihr erneut warm ums Herz. Egal, was sie sich
93 einzureden versuchte ‐ er übte eine starke Anziehungskraft auf sie aus, und sie hasste sich dafür. Hasste sich für ihre Schwäche. Sie begann zu zittern, und dennoch konnte sie den Blick nicht von ihm abwenden. Seine Stimme wurde weich. »Wehrt Euch doch nicht dagegen.« Lindsay schrak zusammen. Er wusste Bescheid. Er wusste, welchen Kampf sie mit sich ausfocht. Aber sie widersprach sofort: »Wogegen soll ich mich nicht wehren?« »Das wisst Ihr genau. Ich kann es in Euren Augen lesen.« »Ihr wisst überhaupt nichts über mich. Ihr haltet mich für schwach, und Ihr glaubt, Essen, Kleidung und ein gewinnendes Lächeln reichen aus, um mich dazu zu bringen, den Mann zu betrügen, dem ich ewige Treue geschworen habe.« Reubair kicherte leise. »Nein, das glaube ich ganz und gar nicht. Ich weiß, dass dem nicht so ist. Eure Willenskraft ist der Hauptgrund dafür, dass ich Euch zu meiner Frau und Mutter meiner Erben machen möchte.« »Meine Willenskraft ist der Hauptgrund dafür, dass Euch das niemals gelingen wird.« »O doch, sobald ich Euren Mann gefunden und aus dem Weg geräumt habe.« »Er wird mit Euch kämpfen und die Welt ein für alle Mal von Euch befreien.« »So ist das Leben. Aber ich finde, der Preis ist das Risiko wert.« »Passt auf, dass Ihr das Risiko nicht unterschätzt.« »Das wäre ebenso töricht, wie den Preis zu hoch zu bewerten.« Sie merkte ihm an, dass ihm die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, missfiel, denn ein Hauch von Schärfe hatte sich in seine Stimme geschlichen. Doch dann legte er zwei Finger unter ihr Kinn, und sie musste dem Drang widerstehen, sich gegen ihn zu lehnen. Seine Berührung traf sie wie ein
93 elektrischer Schlag. Lindsay schloss die Augen und presste die Lippen zusammen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Gedanken an Alex wirbelten in ihrem Kopf durcheinander, zerbarsten dann wie große, schillernde Seifenblasen und machten Bildern ganz anderer Natur von Reubair Platz. Ihr blieb nur eines ‐ unverzüglich die Flucht zu ergreifen, also fuhr sie herum und stürzte aus dem Raum. Aber sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte. In der großen Halle wimmelte es jetzt von Rittern, die ihr Mittagsmahl einnahmen, und in den Straßen des Dorfes würde sie von neugierigen Feen angegafft werden. Die Schlafkammer im Turm stellte ihre einzige Zuflucht da, und dorthin trugen sie ihre Füße, ohne dass sie bewusst darüber nachdachte. Mitten im Raum blieb sie stehen und suchte nach einem Ort, wo sie sich vor ihm verbergen konnte, obwohl sie wusste, dass es in der ganzen Burg keinen Winkel gab, wo sie vor ihm sicher war. Sie streifte ihre Stiefel ab und schlüpfte in ihr kleines Schrankbett. Die Tür fiel hinter ihr zu, und sie blieb in der Hoffnung, er würde denken, sie hätte plötzlich beschlossen, ein Schläfchen zu halten, mit untergeschlagenen Beinen im Dunkeln sitzen. Die Tür zur Schlafkammer öffnete sich knarrend und wurde wieder geschlossen. Dann herrschte Stille. Er war ihr gefolgt. Lindsay schloss die Augen, als könne er es sehen und würde annehmen, sie schliefe tief und fest. Im Raum außerhalb des Bettes waren Schritte zu hören, dann ein leises Seufzen. »Lady Lindsay, darf ich das als Einladung verstehen?« Sie riss erschrocken die Augen auf. »Wagt es nicht, mir zu nahe zu kommen!« Eine Weile herrschte Schweigen, dann sagte er: »Ihr macht einen Fehler. Ihr würdet feststellen, dass ich ein ausgezeichneter Liebhaber bin.« Wieder spielte ihre Fantasie ihr einen Streich und gaukelte ihr Bilder vor, die sie zugleich abstießen und erregten und ihr 93
ein ersticktes Keuchen entlockten. Doch sie fauchte: »Eher würde ich es mit einem Schwein treiben!« »Das ließe sich arrangieren.« »Tut Euch keinen Zwang an!« Wieder trat lange Zeit Stille ein, dann knarrte die Kammertür erneut und fiel schwer ins Schloss. Sowie sie sich endlich allein wusste, fiel Lindsay das Atmen leichter. Tränen brannten in ihren Augen, und sie begann in der dunklen Sicherheit ihres Bettes leise zu schluchzen. 93
DREIZEHNTES KAPITEL
Nachdem er gegessen und seine Waffen gereinigt hatte, streckte sich Trefor auf dem Bett aus, um ein bisschen zu dösen. Er grübelte darüber nach, ob er Lindsay entführen, nach Eilean Aonarach zurückbringen und sie Alex wie eine Trophäe präsentieren sollte, beschloss aber, dass der Triumph den Aufwand, sie während der Reise ständig beaufsichtigen zu müssen, nicht wert war. Selbst wenn sie zu Alex zurückkehren wollte, woran Trefor noch immer Zweifel hegte ... irgendetwas hielt sie hier fest, und ehe er nicht wusste, was das war, würde er größte Schwierigkeiten mit ihr haben. Er würde sich wohl oder übel ihren Wünschen fügen und abwarten müssen, bis sie ihm von sich aus verriet, was hier vorging. Am frühen Nachmittag riss ihn ein Fanfarensignal vom Tor aus einem leichten Schlummer. In dem fensterlosen Raum drang es wie aus weiter Ferne an sein Ohr. Er richtete sich auf und lauschte. Irgendjemand war in Finias eingetroffen; den Fanfarenklängen und den hastigen Schritten draußen vor seiner Tür nach zu urteilen, ein wichtiger Gast. Trefor rieb sich die Augen, stand vom Bett auf, befestigte seine Waffen wieder an seinem Gürtel und verließ dann die Kammer, um zu sehen, wer da gekommen war. Unten ihm Burghof hatte sich bereits eine Menge Schaulustiger versammelt. Feen und ein paar Menschen strömten neugierig herbei; alle schienen genau zu wissen, was sich hier 94
abspielte. Trefor gesellte sich zu einer Gruppe von Reubairs Rittern, von denen einer das Banner seines Lords trug. Außer während seiner Zeit bei den Bhrochan hatte er noch nie so viele Feen an einem Ort gesehen, und bei diesen handelte es sich beileibe nicht um »kleine Leute«. Reinblütige Bhrochan waren abstoßende Geschöpfe: kleinwüchsige, in Lumpen gehüllte Kreaturen, in deren Augen der Irrsinn flackerte. Alex bezeichnete sie immer als Kobolde, womit er Trefors Meinung nach den Nagel auf den Kopf traf, auch wenn die Bhrochan selbst keine Ahnung hatten, was dieser Ausdruck bedeutete. Bei den hiesigen Feen handelte es sich weder um Kobolde noch um kleine, geflügelte, durch die Luft schwirrende Tinker‐bells, sondern um Danann, die dieselbe Statur hatten wie Menschen und sich von diesen nur durch ihre Ohren unterschieden. Trefor konnte nicht anders, er starrte sie mit großen Augen an. Obwohl ein Danann zu seinen Vorfahren zählte, hatte er noch nie einen reinblütigen Angehörigen dieses Volkes zu Gesicht bekommen, ehe er in das Reich hinter dem Nebel gekommen war, wo es Tausende zu geben schien. Er hörte Hufgetrommel, das sich vom Tor her näherte, und die Zuschauer ringsum stellten sich auf Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Ein barfüßiger, mit Mehl bestäubter Junge hüpfte auf und ab, um über die Köpfe der Erwachsenen hinweg einen Blick zu erhaschen. Vermutlich war er ein Küchenjunge, der sich davongestohlen hatte, um sich das Spektakel im Burghof nicht entgehen zu lassen. Da er mit seinem Gehüpfe nichts erreichte, kletterte er auf eine Regentonne und klammerte sich wie ein Äffchen an dem Rohr fest, das das Wasser in die Tonne leitete. Seine Augen weiteten sich angesichts des Anblicks, der sich ihm bot, was Trefors Neugier noch steigerte; vor allem, als ein Raunen durch die Menge lief, dass es sich bei dem Besucher um den Feenkönig persönlich handelte. Um Dagda. Verdammt. Jetzt war es zu spät, ein Zusammentreffen zu vermeiden, und
94 Trefor, dessen Interesse plötzlich geweckt war, fragte sich, ob er das überhaupt noch wollte. Die Prozession bog um eine Ecke und kam in Sicht. Dagda war tatsächlich eingetroffen. Trefor schlug das Herz bis zum Hals. Auch er stellte sich auf die Zehenspitzen und verrenkte sich den Hals, bis er merkte, was er da tat, und sich wieder auf die Füße sinken ließ. Die berittene Vorhut bot ein prächtiges Bild. Sie füllte die ganze Straße aus; die Pferde schimmerten tiefschwarz und ähnelten sich wie ein Ei dem anderen. Die Feenritter in ihren auf Hochglanz polierten Rüstungen und silbern und golden blitzenden Waffen trugen Banner, die im Wind flatterten, und ließen die Blicke stolz über die Menge schweifen. Auf Trefor wirkten sie reichlich selbstgefällig. Ihre kostbaren Kleider und Rüstungen wiesen sie als hochrangige Ritter aus, was Trefor zu der Frage führte, wie die Hierarchie innerhalb der Danann wohl strukturiert war. Die Bhrochan waren eine undisziplinierte Horde verrückter Zwerge, die es wahllos miteinander trieben und sich ständig wegen
irgendwelcher Nichtigkeiten in die Haare gerieten. Die Danann erschienen ihm weitaus zivilisierter. Vielleicht sogar zivilisierter als die Menschen. Jubel brandete auf, und Trefor verrenkte sich erneut den Hals, denn er konnte nicht widerstehen, einen Blick auf den Mann zu werfen, der angeblich sein Schicksal war. Dagda bog mit ein paar Gefährten um die Ecke. Die versammelten Dorfbewohner jubelten ihm erneut zu, Mützen flogen in die Luft, und jeder versuchte, einen möglichst guten Blick auf den König zu erhaschen. Dagda saß auf einem mächtigen weißen, nervös tänzelnden und schnaubenden Schlachtross, das er jedoch mühelos unter Kontrolle zu halten schien, und nahm den Beifall seiner Untertanen mit einem Kopfnicken und einem breiten, strahlend weiße Zähne entblößenden Lächeln entgegen. Ein Goldreif in Form von ineinander verschlunge
95 nen Blättern, die so kunstvoll gearbeitet waren, dass sie fast echt wirkten, wand sich um seine Stirn. Er trug einen fließenden weißgoldenen Überwurf, einen goldenen Gürtel, ein aus feinstem Eisengeflecht gefertigtes Kettenhemd und Stiefel und Handschuhe aus weißem Leder ‐ reinem, gleißendem Weiß, das die Macht des Königs widerzuspiegeln schien. Das Schauspiel war in der Tat beeindruckend. Als der König näher kam, sah Trefor die Feenohren unter der prächtigen Krone hervorlugen; sie waren ebenso anmutig geformt wie die goldenen Blätter, die Spitzen wirkten geradezu aristokratisch. Trefor berührte seine eigenen Ohren, derer er sich als Junge so geschämt hatte, und mit einem Mal schien sich ein Knoten in seinem Magen aufzulösen. Beim Anblick von Dagda auf seinem herrlichen Schlachtross, der von Hunderten seiner Untertanen begeistert empfangen wurde, wäre er am liebsten selbst in Jubelgeschrei ausgebrochen. Trefor beobachtete den vorüberreitenden König und erkannte plötzlich, dass er sein ganzes Leben lang einem Irrtum erlegen war. Er war nicht der, als den die Menschen ihn immer verhöhnt hatten. Er war kein Freak. Keine Missgeburt. Er war auch keine Fee, und er gehörte schon gar nicht zu den »kleinen« Leuten. Er war ein Danann. Flüchtig überlegte er, ob er endlich seinen Platz im Leben gefunden hatte. Die Prozession machte vor dem Bergfried halt, und Dagda stieg von seinem Pferd. Dann drehte er sich mit ausgestreckter Hand zu seiner Begleiterin um, und erst jetzt konnte Trefor die Frau, die neben dem König geritten war, deutlich sehen. Vor Schreck sperrte er den Mund auf, und beinahe hätte sich ihm ein erstickter Aufschrei entrungen. Es war Morag. Sie trug ein prachtvolles taubengraues, mit Hermelin gesäumtes Gewand; ihre roten Locken umtanzten ihr Gesicht und flössen über ihren Rücken. Eine eisige Hand schloss sich
95 um Trefors Herz; ihm stockte der Atem. Morag lächelte den König an, der ihre Hand ergriff und sie zum Eingang des Turms geleitete. Trefor sah ihr nach. Er fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Ihn hatte sie nie mit so einem Lächeln bedacht. Er war ja auch kein König. Obwohl er sich einredete, nicht wirklich in sie verliebt zu sein, hatte ihm ihr Anblick einen schweren Schlag versetzt. Er lehnte sich gegen den Pfahl hinter ihm, weil er fürchtete, seine Beine könnten unter ihm nachgeben. Morag und Dagda. Was führte sie im Schilde? Weshalb hatte sie sein »Schicksal« mit dem Feenkönig verknüpft? Dem anderen Mann, mit dem sie schlief. Sie war ganz offensichtlich Dagdas Geliebte. Wie lange schon? Länger als die eine Woche, die er sie nicht gesehen hatte? Länger, als er sie überhaupt kannte? War sie während der sechs Monate, die er in der Gewalt der Bhrochan verbracht hatte, bei ihm gewesen? Unzählige Fragen gingen Trefor im Kopf herum, während er allmählich die Fassung zurückgewann. Wusste Dagda, dass Morag zum Teil eine Bhrochan war? Oder gab sie sich als Mensch aus? Wusste er, dass sie es auch mit anderen Männern trieb? Die Bhrochan gingen mit Sex lockerer um als Menschen, lockerer sogar als die Menschen seines eigenen aufgeklärten Jahrhunderts, und jetzt fragte sich Trefor, welche Einstellung die Danann wohl dazu hatten. Erwartete Dagda Treue von Morag, oder interessierte es ihn nicht, was sie mit anderen Männern anstellte? Sollte es ihn selbst interessieren? Vermutlich wäre es das Beste, sich nichts daraus zu machen, aber er wusste, wie schwer es ihm fiel, jegliches Gefühl in sich abzutöten. Sein Magen brannte, und er sehnte sich nach einem guten alten Antazidum des 21. Jahrhunderts. Inmitten der jubelnden Menge, die sich allmählich zerstreute, stand er da und grübelte angestrengt nach. Wut würgte ihn in der Kehle; so heftig, dass er kaum noch Luft bekam. Die Stra‐
96 Ken leerten sich langsam, bis nur noch die üblichen Passanten durch die Gassen schlenderten oder in ihre Häuser zurückkehrten. Endlich löste sich auch Trefor aus seiner Erstarrung, ging zum Turm zurück und betrat seine Kammer. Es war bald Essenszeit. Er entkleidete sich bis auf sein Unterzeug und ging zu seiner Waschschüssel. Das Wasser im Krug war kalt, aber es trieb wenigstens kein Schmutz darin, was in diesem Jahrhundert nicht selbstverständlich war. Einer der Gründe, warum Mary ihn nicht sonderlich mochte, war, dass er sich stets beklagte, wenn Blätter oder Moosfetzen in seiner Waschschüssel schwammen. Trefor hatte seinerseits für die Frau auch nicht viel übrig. Sie erhitzte bereitwillig jeden Abend das Wasser für den Earl, und er sah nicht ein, warum sie nicht auch dafür sorgen konnte, dass sein eigenes Waschwasser wenigstens sauber war. Beim Gedanken an Alex wurden die Farben im Raum plötzlich heller und intensiver. Trefor blickte sich um. Wasser tropfte von seinem Gesicht auf sein Hemd. Was mm Teufel . . . Wahrscheinlich hatte seine Fantasie ihm einen Streich gespielt. Als er versuchte, an eine lila Kuh zu denken, wurden die Farben wieder stumpf. Wieder Alex. Helle Farben. Hmm. Er wischte sich einen Tropfen vom Kinn, dann trocknete er sich das Gesicht mit einem Leinentuch ab. Merkwürdig ... Nachdem er sich mit den Fingern durch das Haar gefahren war, band er es mit dem Tuch zurück, doch im Gegensatz zu früher ließ er seine Ohren jetzt unbedeckt. Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er, er hätte einen Spiegel, um sie eingehend betrachten zu können. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie sie aussahen, und jetzt fragte er sich, ob sie so ansprechend geformt waren wie jene von Dagda und An Reubair. Vorsichtig betastete er die Spitzen; versuchte herauszufinden, ob sie gerade in die Höhe ragten oder sich zu seinem Kopf neigten. Mit wild klopfendem Herzen zog er Tunika, Hosen und 96
Stiefel an und ging nach unten, um am Abendessen in der großen Halle teilzunehmen. Als uneingeladenem und unbedeutendem Gast hatte man ihm an diesem wichtigen Tag einen Platz fast ganz am Fußende der langen Tafel zugewiesen, zum Glück in der Nähe eines kleinen Kamins, der so viel Wärme spendete, dass er nicht ständig fröstelte. Himmel, wie er diese ewige Kälte hasste! Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und beobachtete Dagda, Morag und Reubair. Von seinem Platz aus konnte er fast die gesamte Halle überblicken, er musste den Kopf nur ein wenig zur Seite drehen. Er begann den Ritter zu seiner Linken in eine unverfängliche Unterhaltung zu verstricken, dabei musterte er Reubair, der zwischen Lindsay und dem König saß, immer wieder verstohlen. Zwar bemühte er sich nach Kräften, Morag nicht zu beachten, aber ihr rotes Haar glich einem Warnlicht an einem Armaturenbrett ‐ es war nicht nur unmöglich zu übersehen, sondern es empfahl sich nicht, es einfach zu ignorieren. Ihm entging nicht, dass Dagda weit mehr Interesse an Reubair als an seiner Mätresse an den Tag legte, und er schöpfte neue Hoffnung. Vielleicht maß er dieser Affäre ja zu viel Bedeutung bei. Was Lindsay betraf, so gab sie sich so würdevoll und unnahbar wie immer. Dieses Verhalten war typisch für sie, dachte er. Sie nahm ihren Platz mit der ruhigen Anmut ein, die Trefor so an ihr bewunderte. Soweit er es beurteilen konnte, gab es nur sehr wenig, was diese Frau aus der Fassung brachte. Sie ähnelte einer Festung; war so majestätisch und eindrucksvoll wie das Bauwerk, in dem sie sich gerade befanden. Ein Diener stellte eine Platte und einen Becher vor sie hin, aus dem sie sofort einen großen Schluck trank. Trefor probierte das Fleisch auf seinem eigenen Teller. Es war Wild. Der strenge Geschmack sagte ihm nicht sonderlich zu, aber wenigstens war es frisch. Reubair war ein lebhafter ‐ und lauter ‐ Gastgeber, der den König und die meisten anderen Anwesenden im Raum mit 96
Geschichten von seinen Raubzügen im Grenzgebiet unterhielt, wo er unselige Sterbliche ausgeplündert hatte, um den Reichtum der Feen zu mehren. Er hielt einen aus Silber und Gold gefertigten Trinkbecher in der Hand, der überschwappte, als er damit gestikulierte, als wolle er seinen Gästen zu verstehen geben, er könne es sich leisten, teuren Wein achtlos zu verschütten. Was vermutlich auch zutraf. Hier herrschte ein unvorstellbarer Luxus. Trefor hatte noch nie eine so große und üppig ausgestattete Burg gesehen. Sogar der Bergfried war drei oder vier Mal so groß wie der von Eilean Aonarach. Fast konnte er verstehen, wieso Lindsay womöglich hierbleiben wollte. Reubair versuchte gerade, sie in das Gespräch mit einzubeziehen. Auf seinem Gesicht lag ein lüsternes
Grinsen, das Trefor am liebsten mit einer kräftigen Ohrfeige weggewischt hätte. Lindsay antwortete mit einem warmen Lächeln, das ihm noch weniger gefiel, auch wenn es nur aufgesetzt war. Sie sollte ihn überhaupt nicht anlächeln. Trefor nippte an seinem Met, starrte vor sich hin und hörte nur mit halbem Ohr zu, als der Mann zu seiner Linken, einer von Dagdas Feenrittern, auf ihn einzureden begann. Er bediente sich der alten Sprache, der Trefor ohnehin nur schwer folgen konnte, und er verspürte wenig Lust, sich damit abzuplagen. Doch dann sagte der Mann etwas, was sein Interesse weckte. »Wir können nur hoffen, dass wir noch zur rechten Zeit gekommen sind.« Trefor wandte sich zu ihm. »Zur rechten Zeit? Wozu?« Was war der wahre Grund für Dagdas Besuch? »Um den Räuber davon abzuhalten, die Herrschaft über unser Land an sich zu reißen.« Der Ton des Ritters in der schimmernden Rüstung besagte, dass Trefor das eigentlich hätte wissen müssen. Er schien nicht gerade eine Geistesgröße zu sein, also beschloss Trefor, noch ein paar Informationen aus ihm herauszuholen.
97 »Die Gefahr besteht«, meinte er obenhin. »Er verbringt viel zu viel Zeit mit diesem Nemed.« »Einem Elf kann man nicht trauen.« »Nur ein toter Elf ist ein guter Elf.« Der Ritter prustete vor Lachen und nickte bekräftigend. »Aye, das ist richtig. Nemeds Loyalität gilt einzig und allein ihm selbst.« »Tatsächlich?« »Nun ja, und seinem Volk vermutlich. Aber davon ist niemand mehr übrig.« Der Ritter sprach mit ihm wie mit einem minderbemittelten Kind, und Trefor ließ ihn in dem Glauben, einen ahnungslosen Trottel vor sich zu haben. Auf diese Weise würde er den Burschen leichter aushorchen können. Wissen war Macht. »Er hat seine Untertanen sehr geliebt, aber es ist ihnen nicht gut bekommen«, fuhr der Mann fort. »Ich meine, hat man jemals von einem König gehört, der sein gesamtes Volk verloren hat? Jeden Mann, jede Frau, jedes Kind? Sie wurden ausgelöscht, alle miteinander.« »Von den Fomoren?« »Und von den Menschen. Er konnte sich auf Dauer nicht gegen die Menschen behaupten, sie haben ihm im Lauf der Jahrhunderte zahlreiche verheerende Niederlagen zugefügt, und jetzt ist er der Letzte seiner Rasse. Sogar auf seine Verbündeten kann er sich nicht mehr blind verlassen.« »Die Danann?« Der Ritter nickte. »Deswegen sind wir hier. Wir wollen uns vergewissern, dass Reubair auf der Seite seiner eigenen Leute steht, nicht auf der dieses wankelmütigen Elfs.« »Hegt Dagda denn Zweifel an Reubairs Loyalität? Ich meine, besteht ein triftiger Grund zu der Annahme, dass er den König verraten wird?« Die Augen des Ritters begannen zu flackern, und Trefor fürchtete schon, zu weit gegangen zu sein, doch nach kurzer Über
97 legung beugte sich Dagdas Gefolgsmann zu ihm und raunte ihm zu: »Uns sind Gerüchte über einen bevorstehenden Aufstand zu Ohren gekommen.« Trefor runzelte die Stirn. »Ein Aufstand? Gegen wen?« »Gegen Dagda. Reubair und Nemed planen, ihn zu entmachten.« Trefor lehnte sich in seinem Stuhl zurück und dachte fieberhaft nach. Das Gesicht des Ritters spiegelte absolute Aufrichtigkeit wider. Unter seinem offenkundigen Zorn verbarg sich kein »Hab ich dich wieder reingelegt«‐Grinsen. »Ist das Euer Ernst?« »Aye, und ich wundere mich, dass Ihr Dagda noch nie darüber sprechen gehört habt.« Jetzt zog Trefor die Brauen zusammen. »Was glaubt Ihr denn, wer ich bin?« Der Ritter wirkte sichtlich verwirrt. »Gehört Ihr denn nicht zu Morags Leibwache?« Als ihm dämmerte, dass er vielleicht einem von Reubairs Gefolgsleuten all diese Dinge anvertraut hatte, wurde er bleich. »Ja, ich bin einer von Morags Rittern«, beruhigte Trefor ihn rasch. »Aber ich stehe noch nicht lange in ihren Diensten und hatte noch nicht oft Gelegenheit, Gespräche des Königs mit anzuhören.« Der Ritter entspannte sich merklich, holte tief Atem, und die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück, soweit das bei einem Feenkrieger möglich war. Er rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. »Seid in den Gemächern des Königs stets auf der Hut. Macht Euch so gut wie unsichtbar, wenn Ihr
Euch in seiner Nähe befindet. Die Frau wird sicher nichts unversucht lassen, um Euch zu verführen ‐ sie hatte so ziemlich jeden Mann aus ihrem Gefolge in ihrem Bett ‐, aber der König ist gefährlich.« »Hat sie Euch auch verführt?« Ein wehmütiges Lächeln flog über das Gesicht des Ritters, 98
und seine Stimme wurde weich. »Aye, und es war eine unvergessliche Nacht. Wenn sie sich Euch anbietet, ergreift die Gelegenheit, denn so eine Frau habt Ihr bestimmt noch nie gehabt. Sie frisst Euch bei lebendigem Leibe auf.« Trefor zuckte zusammen. Er wusste, was der andere Mann meinte. Er hatte sich nach einer Liebesnacht mit Morag auch immer ausgebrannt und innerlich leer gefühlt. Mit einem Lächeln verdeckte er seinen Schmerz. »Der König ist also hier, um sich zu vergewissern, dass Reubair ihm die Treue hält, sagt Ihr. Und um einen möglichen Aufstand zu verhindern.« »Bislang handelt es sich lediglich um Gerüchte. Es heißt, Reubair und Nemed würden gemeinsame Sache machen, und seine Loyalität gegenüber Dagda ließe zu wünschen übrig. Aber die Leute hier stehen unter Nemeds Herrschaft, solange sie denken können.« Und das war eine lange Zeit für Leute, die so lange lebten wie die Danann. Trefor hob die Brauen. »Sie haben nie einen anderen Herrscher als Nemed gekannt?« »Nein. Ihre Vorfahren kamen nach dem Fomorenkrieg hierher. Seit Jahrhunderten herrscht hier im Reich im Nebel Frieden, und die Leute hier wollen, dass das auch so bleibt. Sie fürchten, Dagda könnte diesen Frieden gefährden.« »Aber sie sind doch Danann.« »Das schon, aber sie unterscheiden sich von den Danann, die unter den Menschen leben. Besonders diejenigen, die Nemed direkt unterstehen, sind anders. Sie meinen, sie stünden über den gewöhnlichen Danann. Dagda ist hier, um sie eines Besseren zu belehren.« »Und wie will er das anstellen?« »Mit Waffengewalt.« Wieder schien der Ritter der Meinung zu sein, die Antwort auf diese Frage liege ja wohl auf der Hand. »Hat Nemed denn kein Anrecht auf dieses Land? Er herrscht doch schon lange genug darüber.« 98
»Ein Herrscher, der sein Land nicht halten kann, verdient es, dieses zu verlieren. Er ist ja nicht imstande, sein Volk vor den Übergriffen anderer Rassen zu schützen.« Darin lag eine gewisse widersinnige Logik, obwohl Trefors neuzeitlicher Verstand sich weigerte, es zuzugeben. Und ihm fiel keine Antwort ein, die nicht so klingen würde, als wäre er Nemeds Spion, also lenkte er von dem heiklen Thema ab. »Nun, es sieht jedenfalls so aus, als sei der König noch rechtzei‐ tig gekommen, um einen Aufstand zu verhindern.« »Das wird sich zeigen.« Trefor grunzte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Mahlzeit und seine Mutter. Lindsay trank von ihrem Met oder was immer den am Kopf der Tafel Sitzenden serviert worden war. Vielleicht war es ja auch Wein. Sie stocherte nur in ihrem Essen herum, nahm aber immer wieder große Schlucke aus ihrem Becher, während sie Reubair und dem König zuhörte. Dann, mitten während der Mahlzeit, warf sie Reubair einen Blick zu, der Trefor stutzig machte; einen langen, fast liebevollen Blick. Das Licht in ihren Augen war eindeutig, unverkennbare Zuneigung stand darin zu lesen. Keine Begierde, nein, echte Zuneigung. Ihre Augen hingen förmlich an Reubair; wer sie nicht kannte, hätte denken können, die beiden wären verheiratet. Trefor drehte sich fast der Magen um. Am liebsten hätte er laut herausgeschrien, dass sie eine Hure war, eine Verräterin, die es nicht verdiente, dieselbe Luft zu atmen wie anständige Menschen. Sie und Morag. Zwei vom gleichen Schlag. Es widerte ihn an. Doch dann flog ein Schatten über Lindsays Gesicht, und zu seiner Verwunderung wandte sie sich verlegen ab. Ihre Verwirrung stimmte ihn nachdenklich. Was ging hier vor? Ihre Wangen liefen rot an, und ihr Blick schweifte durch den Raum; suchte etwas, worauf er sich richten konnte, um Reubair nicht 98
ansehen zu müssen. Nicht den König; Dagda saß auf der anderen Seite von Reubair. Ein Fenster. Sie starrte mit gesenktem Kopf auf ein Fenster, durch das ein schwaches, trübes Licht fiel, als gäbe es nichts Faszinierenderes auf der Welt als den wolkenverhangenen Himmel draußen. Trefor wusste nicht, was er davon halten sollte. Er beobachtete sie, ohne den Feenritter zu seiner Linken noch
weiter zu beachten, bis Lindsay sich mit einem tiefen Atemzug zusammennahm und ihre Aufmerksamkeit wieder auf Reubair richtete, aber jetzt war ihre Miene wieder so ausdruckslos wie zu Beginn der Mahlzeit. Irgendetwas lag hier in der Luft. Trefor hatte keine Ahnung, was das sein konnte, aber es war offensichtlich, dass sich zwischen Lindsay und Reubair etwas abspielte. Nicht unbedingt eine Romanze; so wie Trefor die Feen kannte, war hier Magie im Spiel. Er schielte zu Dagda hinüber, um zu ergründen, ob der König darin verwickelt war, aber er schien von der seltsamen Spannung zwischen den beiden genauso wenig zu bemerken wie alle anderen im Raum. Trefor verzehrte sein Fleisch und fuhr fort, seine Mutter nachdenklich zu betrachten. Sowie der König sein Mahl beendet hatte, erhoben er, Reubair und die beiden Frauen sich vom Tisch. Alle anderen Anwesenden in der Halle taten es ihnen in der Erwartung, Dagda werde sich jetzt in seine Gemächer zurückziehen, nach. Doch stattdessen mischte er sich unter den in der Halle versammelten Feenadel. Nacheinander traten Reubairs Vasallen vor, um sich vor dem König zu verneigen, und er plauderte mit jedem so herzlich, als wären sie die besten Freunde. Trefor musterte ihn unauffällig. Er bewunderte die unbefangene Art, mit der Dagda mit seinen Untertanen umging. Er sah jedem fest in die Augen; seine Stimme klang, als meine er jedes Wort ernst, das er sagte, und so gelang es ihm, die Männer augenblicklich für sich einzunehmen. Dann beugte sich Reubair vor und flüsterte Dagda etwas 99
ins Ohr, dabei blickte er in Trefors Richtung. Der König sah zu ihm hinüber, zuerst mit milder Neugier, dann lächelte er und sagte etwas, was Trefor nicht verstehen konnte, woraufhin Reubair zu kichern begann. Weder Lindsay noch Morag zeigten irgendeine Reaktion, aber Trefor spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Dagda hatte irgendeine Bemerkung über ihn gemacht; vermutlich keine sonderlich freundliche. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Reubair bedeutete ihm, zum König hi‐ nüberzukommen, und Trefor gehorchte. Dagdas Gesicht glühte vor Macht. Trefor dachte, wenn er die Hand ausstreckte, um seine Haut zu berühren, könnte er sich die Finger verbrennen. Es fiel ihm schwer, der Versuchung zu widerstehen. Dagda schenkte ihm ein warmes Lächeln, wobei er strahlend weiße Zähne entblößte. »Gerade eben sagte ich zu An Reubair, Ihr würdet mich an meinen jüngsten Bruder erinnern, aber ich würde Euch das nicht zum Vorwurf machen.« Trefor lächelte; erleichtert, dass es sich bei der Bemerkung nicht um die spöttische Herabsetzung gehandelt hatte, mit der er schon fast aus Gewohnheit stets rechnete. »Man sagt, ich sähe aus wie der Bruder meines Vaters. Er ist ein Mensch, und ich hoffe, Ihr macht mir auch das nicht zum Vorwurf.« Das entlockte dem König ein belustigtes Grinsen, und Trefor fuhr fort: »Aber zumindest habe ich die Ohren der Danann.« Er sah kurz zu Morag, die mehr Feenblut in sich hatte als er, aber mehr wie ein Mensch aussah. Sie blickte ihn genauso ausdruckslos an wie Lindsay Reubair. Als würde sie ihn nicht kennen. Trefor spürte erneut, wie seine Wangen glühten. Dagda und Reubair kicherten leise, dann erhob der König die Stimme, damit jeder in der großen Halle ihn hören konnte. »Ihr seid zweifellos ein Abkömmling von Danu, und zu meiner großen Freude hat Reubair mir eben gesagt, dass Ihr mir den Treueeid leisten wollt. Ich bin jetzt bereit, Euch anzuhören.« O nein. Trefor hatte den Schwur nicht wirklich leisten wol
99 len; er hielt nichts davon, Versprechen abzugeben, die er nicht halten konnte oder wollte, und diese ganze Treueeidgeschichte war ein Morast aus Regeln und Verpflichtungen, mit dem er sich nicht näher befassen wollte. Er war nur Lindsays wegen hier und wollte die Burg bei der ersten sich bietenden Gelegenheit verlassen, um zu Roberts Armee zu stoßen. Aber der Feenkönig sah ihn mit einem Ausdruck an, der deutlich besagte, dass er darauf wartete, dass er auf der Stelle vor ihm auf die Knie sank und den vermaledeiten Eid schwor. Er schielte zu Morag, deren Lippen sich zu einem leichten Lächeln krümmten, das sofort wieder verschwand. Dann blickte er zu Lindsay, und ihm kam der Gedanke, dass er jetzt nicht in dieser Zwickmühle stecken würde, wenn sie sich nicht geweigert hätte, gleich mit ihm zu fliehen. Und auch jetzt war sie ihm keine Hilfe. Sie wandte sich von ihm ab und schaute den König an. Nun war es allein an ihm zu entscheiden, was er nun tun sollte.
Nur hatte er im Grunde genommen überhaupt keine Wahl. Es gab keinen Ausweg; er musste die Flucht nach vorn antreten. Zögerte er jetzt, warf das ein schlechtes Licht auf ihn, und das konnte er sich angesichts der nur widerwillig gewährten Gastfreundschaft Reubairs und Lindsays ungewissen Status in der Burg nicht erlauben. Es würde dazu führen, dass ihn die mächtigsten Krieger im Feenreich schief ansahen, was seine Pläne sehr leicht vereiteln konnte. Und es ließ sich nicht vor‐ hersehen, was Morag tun oder sagen würde, wenn er ihr einen Grund und eine Gelegenheit bot, ihm eins auszuwischen. Also kniete er in der Hoffnung, dass niemand sein unmerkliches Zögern bemerkt hatte, vor dem König nieder und sagte so fest und bestimmt, wie es ihm unter diesen Umständen möglich war: »Dann gestattet mir, Euch hier auf der Stelle die Treue zu schwören, Majestät. Ich schwöre bei meiner Seele, Euch ein loyaler, ergebener Vasall zu sein. Sollte ich diesen Schwur je brechen, so möge ich nie einen Sohn haben, und das Glück 100
möge mich für immer verlassen.« Er widerstand dem Drang, Morag einen verstohlenen Blick zuzuwerfen, und als er den Kopf hob, sah er, dass der König lächelte. »Kurz und bündig«, wandte sich Dagda an Reubair. »Ich mag Männer, die sofort auf das Wesentliche zu sprechen kommen.« »Mein Vetter ist sehr sprachbegabt«, warf Lindsay unvermittelt ein. »Er beherrscht zehn oder zwölf Sprachen, davon einige, die Ihr noch nie gehört habt.« Reubair zeigte sich davon wenig beeindruckt. »Ihr wart demnach im Heiligen Land?« Sein Ton besagte deutlich: Na und? »Ich kenne viele Männer, die der Sprachen des Islams mächtig sind.« Trefor erhob sich auf ein Zeichen des Königs und erwiderte: »Sie meint die Sprachen der Länder, die noch weiter im Osten liegen. Ich spreche auch ein paar des Orients.« Da er das moderne Farsi fließend beherrschte, nahm er an, sich auch mit den Muslimen der Kreuzzugszeit einigermaßen verständigen zu können. Dagda nickte. »Das ist gut zu wissen, falls wir Danann uns einmal in menschliche Torheiten einmischen müssen.« Er warf Reubair einen vielsagenden Blick zu, doch dessen Gesicht zeigte keine Regung. Trefor entging die unterschwellige feindselige Stimmung zwischen den beiden nicht. Wie es aussah, gab es zwischen Dagda und Reubair einiges zu klären. »Ich habe an keiner der Schlachten im Osten teilgenommen«, stellte Trefor klar. »Ich bin nämlich überhaupt noch nie in dieser Gegend gewesen.« »Wie habt Ihr dann so viele Sprachen erlernt?«, wollte Reubair wissen. »Sprecht Ihr sie wirklich alle fließend?« »Alle, Mylord. Ich habe ein Talent dafür, und ein entschlossener Mann, der noch dazu über die Gaben der Feen verfügt, kann sich leicht so manches aneignen.« Reubair würde denken, er
100 hätte damit sagen wollen, er habe seine magischen Kräfte eingesetzt, um die Sprachen zu lernen. Was nicht stimmte, aber Magie war für diese Feen ein verständlicherer Begriff als Com‐ putersprachprogramme und Wörterbücher. »So heiße ich Euch denn in den Reihen der Danann willkommen, Sir Trefor«, dröhnte der König. »Ich bin sicher, Ihr werdet für uns bald unentbehrlich sein.« Trotz seines ursprünglichen Widerstands schwoll Trefors Herz angesichts dieser Worte vor Freude, denn in seinem bisherigen Leben war er sehr selten irgendwo willkommen geheißen worden. Es war ein schönes Gefühl. Er neigte den Kopf und dankte dem König, dabei dachte er bei sich, dass es vielleicht doch keine so schlechte Idee gewesen war, den Eid zu leisten. Immerhin war er ja wirklich ein Danann, und es bestand kein Grund, warum er sich nicht mit dem Feenkönig zusammentun sollte. Sein Vater hatte ihn jedenfalls bei seiner Ankunft in dieser Zeit lange nicht so freundlich aufgenommen, und Lindsay schon gar nicht. Reubair, der König, Lindsay und Morag wandten sich dem nächsten Bittsteller zu, und Trefor begriff, dass er entlassen war. Er sah den vieren noch ein paar Minuten zu, wobei Morag ihn erneut bewusst ignorierte, dann zog er sich in seine Kammer zurück, um über das nachzudenken, was soeben geschehen war. Er setzte sich vor das Feuer, starrte in die aufzüngelnden Flammen und ließ die Gesichter Reubairs und der anderen Ritter in der Halle an sich vorüberziehen; rief sich jede Geste, jede Veränderung des Tonfalls der Stimmen ins Gedächtnis. Aber es war zu viel, was da auf ihn einstürmte. Obgleich er sich den Kopf zermarterte, wollten die einzelnen Teile kein stimmiges
Gesamtbild ergeben. Aber er war von der Reise und den Ereignissen dieses Tages erschöpft, also gab er auf, streckte sich auf dem Bett aus und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.
101 Alex war bei ihr. In dem Schrankbett. Lindsays Herz machte einen Satz, obwohl sie wusste, dass es sich um einen Traum handeln musste, denn ihr Mann konnte gar nicht hier sein. Doch der Traum erschien ihr merkwürdig real. Sie nahm den Duft seiner Haut wahr, spürte seinen Körper im Dunkeln. Sie hatte ihn so furchtbar vermisst. Freudig überließ sie sich dem Traum; lauschte seinen geflüsterten Liebesworten. Dann küsste er sie lange und leidenschaftlich. Seine Hand glitt unter ihr Hemd, zwischen ihre Schenkel, und sie schlang die Arme um ihn, zog ihn an sich, in sich. Zuerst bewegte er sich langsam in ihr, kostete jeden Moment aus. Sie bog ihm die Hüften entgegen, nahm ihn so tief wie möglich in sich auf und wünschte, sie könnte ihn für immer so halten, warm und sicher. Unter ihren Händen spürte sie seine angespannten Muskeln, seine breiten Schultern, den flachen, straffen Bauch. Sie spürte ... Einen anderen. Im Dunkeln verwandelte sich der Mann in ihr in einen anderen. Nicht Alex. Größer. Schlanker. Er stieß jetzt hastig, fast mechanisch in sie hinein, als versuche er, so schnell wie möglich den Höhepunkt zu erreichen. »Nein!« Lindsay riss sich mit einem Ruck aus dem Schlaf, und der Traum verschwand. Der Mann löste sich in Luft auf, als sei er nie da gewesen. Sie setzte sich im Bett auf und rief noch einmal laut: »Nein!« Ein anderer, schmerzlicher Schrei ertönte draußen vor dem Bett. In der Kammer. Ein eisiger Schauer rann über Lindsays Rücken. Vorsichtig öffnete sie die Tür des Bettes einen Spaltbreit und spähte hinaus. Reubair saß nach Atem ringend nackt auf seinem Bett. Im schwachen Licht der Glut im Kamin konnte sie seine finstere, frustrierte Miene erkennen. Er starrte blicklos in die dunkle Kammer. Schweiß glänzte auf seinen Schultern und den langen, schlanken Armen ‐ Armen wie jene, die sie noch vor einem Moment umschlungen hatten. Er sah zu ihrem Bett hinüber. Eine stumme Anklage lag in 101
seinem Blick. Lindsay schloss die Tür leise wieder, ließ sich auf die Matratze sinken, schloss die Augen und fragte sich, was wohl geschehen wäre, wenn sie zugelassen hätte, dass der Traum seinen Fortgang nahm. 101
VIERZEHNTES KAPITEL
Irgendetwas weckte Trefor mitten in der Nacht auf. Irgendetwas, was sich nicht in seiner Kammer befand. Obwohl das Feuer im Kamin heruntergebrannt war, wusste er, dass sich niemand in dem Raum aufhielt. Aber er spürte etwas; eine Gegenwart, so verschwommen wie ein leichter Duft in einem Luftzug. Es war derselbe unbestimmte Energiestrom, dem er schon einmal zu folgen versucht hatte, aber jetzt war er stärker. Intensiver. Irgendwie ... gesünder, obwohl das keinen Sinn ergab. Aber heute hatte vieles keinen Sinn ergeben, und dies war dann wohl der krönende Abschluss. »Wer ist da?«, flüsterte er, bekam aber keine Antwort. Er setzte sich im Bett auf und begann augenblicklich vor Kälte zu frösteln. Erst jetzt erkannte er, dass die seltsame Präsenz kein ganzheitliches Gebilde war, sondern eine Spur, ein roter Faden, der ihn irgendwo hinführte. Wie eine Rauchschwade waberte er unter der Tür hindurch in den Vorraum. Trefor ließ sich in sein Kissen zurücksinken, schloss die Augen, verließ seinen Körper und folgte der Spur. Seine Seele glitt mühelos unter der Tür hindurch, wand sich die Wendeltreppe hinunter, vorbei am Eingang des Turms, tiefer und tiefer in die dunklen, modrigen Verliese unter der Erde hinab. Hier spendeten nur ein paar Fackeln an der Wand ein gespenstisches Licht. In einem mit metallenen Werkzeugen und eigenartigen Gerätschaften vollgestopften Raum saß ein zer
101 lumpter Mann ‐ ein Mensch ‐ schlafend auf einem gegen die Wand gelehnten Stuhl. Sein Kopf ruhte auf seiner Brust, und die Schnarchlaute aus seiner Knollennase klangen, als würde er langsam ersticken. Ein Ring mit zahlreichen riesigen Eisenschlüsseln hing an seinem Gürtel, aber Trefor benötigte die Schlüssel nicht. Er folgte der Spur, die ihn leitete, unter einer weiteren Tür hindurch in die nächste Kammer.
Dort lagen zwei schattenhafte Gestalten auf dem Boden; zwei Männer, entweder schlafend oder tot, Trefor konnte es nicht sagen. Ohne Zweifel Gefangene. Trefor, dessen Körper sich noch immer in der Kammer hoch oben im Turm befand, sammelte seine Kräfte, konzentrierte sich und rief ein schwaches glühendes Licht hervor, um besser sehen zu können. Viel gab es nicht zu sehen. Die beiden Männer atmeten noch; sie lagen tief schlafend auf dem Steinfußboden einer Gefängniszelle, die bis auf sie beide und einen Unrateimer in einer Ecke leer war. Er fragte sich, was sie mit ihm zu tun hatten und warum sie mit ihm Kontakt aufgenommen hatten. Dann betrachtete er die beiden eingehender. Einer war ein Priester. Auf seiner Tonsur spross bereits wieder ein feiner Haarflaum, und ein einige Wochen alter Bart bedeckte sein Gesicht, aber es handelte sich eindeutig um einen Geistlichen. Und plötzlich fuhr Trefor ein eisiger Schreck in die Glieder, denn er erkannte den Mann. Es war der Priester von Eilean Aonarach. Vater Patrick. Sein Herz machte einen Satz und begann so heftig zu hämmern, dass sich seine umherwandernde Seele beinahe ganz von seinem Körper gelöst hätte. Oben in seiner Kammer keuchte er erstickt auf und kämpfte mit aller Kraft darum, zu verhindern, dass die Lebensschnur zwischen Körper und Seele riss, denn sonst würde er nie wieder in seine sterbliche Hülle zurückkehren können. Allmählich erlangte er die Kontrolle über sich selbst zurück, und sowie er sich etwas beruhigt hatte, 102
glitt er auf die beiden Gestalten zu, um dem anderen Mann ins Gesicht zu sehen. Aber er wusste bereits, wen er da vor sich hatte, denn jetzt erkannte er auch den »Rauch«. Es war Alex' Aura, seine Lebensenergie. Unter Aufbietung all seiner Macht, sich fest an die Verbindungsschnur klammernd, betrachtete er die Züge seines auf dem Boden schlafenden Vaters. Alex war kaum wiederzuerkennen; er war hager und ausgemergelt und sah aus wie ein alter Mann. Die bittere Ironie, die in dieser Tatsache lag, entging Trefor nicht, denn Alex hatte ihn einmal in einem Wutanfall daraufhin gewiesen, dass er nie Trefors »alter Herr« sein würde, weil Trefor im gleichen Maße altern würde wie er selbst. Aber die schwere Verletzung und die Kerkerhaft hatten Alex gezeichnet, und angesichts des Umstands, dass er von seinem ärgsten Feind gefangen gehalten wurde, wunderte sich Trefor, wieso er überhaupt noch am Leben war. Er hätte auf Eilean Aonarach sterben oder gleich nach seiner Ankunft in dieser Burg hingerichtet werden müssen. Der Priester regte sich und blickte auf; so rasch, dass Trefor keine Gelegenheit blieb, sich unbemerkt zu entfernen. Patricks Augen wurden groß. »Sir Trefor!« »Schschtt.« »Wie ...« »Sagt jetzt nichts.« »Wie seid Ihr hierhergekommen? Was seid Ihr?« »Nichts. Ich bin nichts.« »Ein Traum?« Ausgezeichnet. Das war eine Erklärung, die Patrick akzeptieren würde. »Ja, ich bin ein Traum. Gott hat mich in einem Traum zu Euch geschickt.« Der Priester schloss die Augen und murmelte ein Dankgebet. »Wisst Ihr, wo Ihr seid?«, fragte Trefor. Wieder sah Patrick zu ihm auf. »In An Reubairs Burg.«
102 »Wie seid Ihr hierhergekommen?« »Wir sind im Grenzgebiet auf einen seiner Räubertrupps gestoßen, doch sie haben uns überwältigt, unsere Gefährten getötet und uns hierher verschleppt.« »Habt Ihr Lindsay gefunden?« Patrick zögerte, aber nur einen Moment lang, denn immerhin sprach er ja mit einem Boten Gottes. »Ja«, erwiderte er. »Sie ist hier.« »Weiß sie, dass ihr Mann im Kerker sitzt?« »Aye. Sie bringt uns Essen und Arzneien, um sein Fieber zu senken.« Das ergab keinen Sinn. Warum brachte sie Reubair nicht einfach dazu, Alex aus dem Kerker zu holen, wenn ihr so viel an ihm lag? Oder ließ ihn sterben, wenn das nicht der Fall war? Wichtiger noch ‐ warum hatte Reubair ihn überhaupt am Leben gelassen? Aber ihm blieb keine Zeit, den Priester weiter auszufragen, denn er spürte schon, dass seine Kräfte nahezu aufgezehrt waren. Wenn er nicht zusah, dass er hier wegkam, würde die Verbindung zu seinem Körper für immer abreißen. Ohne ein weiteres Wort ließ er das Licht erlöschen und tauchte
den Raum wieder in Dunkelheit, dann schwebte er aus der Zelle und flog mit der Geschwindigkeit eines von einer Schleuder abgeschossenen Steins die Treppe empor und in seine Kammer zurück. »Autsch!« Er hatte es zu eilig gehabt; er hätte es besser wissen müssen. Wieder in seinen Körper zurückgekehrt, lag er erschöpft und nach Atem ringend auf seinem Bett und grübelte über das nach, was er soeben erfahren hatte. Die ganze Angelegenheit wurde immer unheimlicher. Alex erwachte und fröstelte in der Kälte. Das Fieber war abgeklungen, aber er war zu schwach, um sich zu bewegen. Fast zu schwach zum Atmen. Und verwirrt. Einen Moment lang hatte
103 er Mühe, sich daran zu erinnern, wo er sich befand, denn es kam ihm so vor, als läge er in einer Schlafkammer, in deren Kamin ein helles Feuer brannte. Aber die Kälte verriet ihm, dass er einer Illusion erlegen sein musste, und statt Binsen und einem wärmenden Holzboden spürte er harte Steine unter sich. Und einen Augenblick lang meinte er, Trefors Stimme gehört zu haben. »Patrick«, murmelte er. »Ich bin hier, Mylord.« Etwas raschelte, und Alex spürte, wie sich Patrick neben ihm auf den Boden setzte. Er hatte seine Stimme zu einem so leisen Flüstern gedämpft, dass seine Worte sogar in der Stille der Nacht kaum zu vernehmen waren. »Ihr seid das.« Alex tastete nach Patricks Hand, ergriff sie, hob den Kopf und blinzelte ins Dunkel, aber es war unmöglich, in der stockfinsteren Zelle irgendetwas zu erkennen. Erschöpft sackte er wieder auf dem Boden zusammen. Ihm war, als hätte er die Sonne seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen. Seit Tagen? Wochen? Jahren? Nein, nicht seit Jahren, dazu war sein Bart nicht lang genug. »Patrick, war Lindsay hier?« Er hatte verschwommene, unzusammenhängende Erinnerungen an Lindsays Besuch. Sie war irgendwo hier in der Nähe. Wo auch immer »hier in der Nähe« sein mochte. Reubair. Reubair... »Heute Morgen. Die Gräfin war heute Morgen hier.« Alex seufzte. Eine schüchterne Wärme breitete sich in ihm aus. Wenn die Hoffnung bestand, Lindsay wiederzusehen, würde er sich an das Leben klammern. Aber dann sprach Patrick weiter. »Euer Vetter ist mir im Traum erschienen.« Vetter? Welcher Vetter? Dann ging ihm auf, dass er Trefor meinte. »Trefor war hier?« »Nur im Geiste.« Im Geiste. Das konnte alles Mögliche bedeuten, wenn man Patricks religiöse Überzeugungen und Trefors Fähigkeiten berück
103 sichtigte. Er stellte die Frage, die ihm am meisten am Herzen lag. »Er weiß also, dass wir hier sind?« »Vermutlich. Auf jeden Fall weiß Gott es. Ob ich Trefor oder Gott mit seinem Gesicht gesehen habe, kann ich nicht sagen.« Alex fühlte sich zu elend, um sich darum zu scheren, ob Patrick Gott, Trefor oder Trefor, der Gott spielte, oder sonst irgend‐wen gesehen hatte. »Wie sah diese Erscheinung denn aus?« »Es war Euer Vetter, von einem Licht umgeben, das die Zelle in ein gespenstisches Leuchten tauchte. Er wirkte auf mich selbst wie ein Geist.« »Trefor ist tot?« Eisiges Entsetzen ergriff von Alex Besitz. Er versuchte erneut, den Kopf zu heben, um Patrick ins Gesicht zu sehen. Es gelang ihm nicht, und er tröstete sich damit, dass er die Züge des Priesters im Dunkeln ohnehin nicht hätte erkennen können. Patrick zögerte mit der Antwort, dann erwiderte er: »Ich hoffe nicht, Mylord. Jedenfalls hat er gefragt, ob die Gräfin weiß, dass Ihr hier seid.« »Und Ihr habt es ihm gesagt?« »Aye.« »Warum habt Ihr mich nicht geweckt?« »Er war nicht lange hier. Wäre er länger geblieben, wärt Ihr sicher von selbst aufgewacht.« Alex grunzte, schloss die Augen und versuchte wieder einzuschlafen, aber er genas allmählich und benötigte nicht mehr so viel Schlaf. Hellwach lag er in seiner Zelle, starrte in die Dunkelheit und fragte sich, warum Gott Trefor zu ihnen schicken sollte, um eine so unwichtige Frage zu stellen ‐ eine Frage, auf die Er sicher ohnehin die Antwort wissen würde. Es musste Trefor selbst gewesen sein, also wusste er wahrscheinlich, wo sie waren, wo immer er auch gerade stecken mochte.
103
An diesem Morgen nahmen sie das Frühstück wieder in An Reubairs Schlafkammer ein. Zu Lindsays Überraschung leistete ihnen Dagda Gesellschaft ‐ gottlob ohne seine rothaarige Mätresse mit dem verschlagenen Blick. Lindsay wusste nicht, welche Ziele Morag verfolgte, aber sie hatte Trefors Feen‐ freundin noch nie über den Weg getraut. Niemand auf Eilean Aonarach hatte ihr getraut, und jetzt zeigte sich, wie berechtigt dieses Misstrauen gewesen war. Dagda setzte sich mit Reubair zusammen, während Lindsay an ihrem Met nippte und Brot und Fleisch verzehrte. Die beiden Männer waren in ein privates Gespräch vertieft, das nicht für die Ohren der Höflinge und Dienstboten bestimmt war, und achteten nicht auf sie, weil sie ihr ohnehin keinen Funken Verstand zubilligten. Zu den wenigen Vorteilen, in dieser Zeit eine Frau zu sein, zählte es, Zugang zu wichtigen Informationen zu bekommen. Der größte Nachteil bestand darin, dass sie mit diesen Informationen kaum etwas anfangen konnte. An diesem Morgen jedoch verfolgte sie das Gespräch wie gebannt, denn der Name Nemed war gefallen. Wie es aussah, weigerte sich der Elf, den Danann den fälligen Tribut zu entrichten. Dagda lehnte sich zurück und stützte einen Ellbogen auf die Lehne seines Stuhls. »Nemed ist ein Elf«, betonte er, als erklärte das alles. »Er führt eine Danann‐Armee an.« Das hörte Lindsay zum ersten Mal. Bislang hatte sie gedacht, Nemed stünde ganz allein auf der Welt und käme über den Verlust der letzten Angehörigen seines Volkes nicht hinweg. Eine Armee hatte sie weder gesehen noch je davon gehört, es sei denn, Reubair meinte seine eigenen Truppen. In diesem Fall hinterging er Dagda, indem er ihm das Ausmaß seiner Loyalität gegenüber Nemed verschwieg. Lindsay fand all das ungemein interessant und spitzte die Ohren, um sich kein Wort entgehen zu lassen. 104
Dagda schien von Nemeds Armee zu wissen, oder falls er überrascht war, davon zu hören, zeigte er es nicht. »Wenn er Danann‐Ritter befehligt ‐ und ich bin weit davon entfernt, das zu glauben ‐, dann sind sie Verräter«, erwiderte er. »Alle miteinander.« »Nemed hat Euch die Treue geschworen, Majestät. Alle, die ihm folgen, handeln somit in Eurem Sinn.« »Das mag ja sein. Aber...« Dagda beschrieb eine ärgerliche Geste, die besagte, dass er es leid war, sich ständig wiederholen zu müssen. »Er ist ein Elf. Er gehört nicht zu uns, und wir müssen davon ausgehen, dass er bei allem, was er tut, ausschließlich auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist.« »Er ist der Letzte seiner Art.« »Er hat nichts zu verlieren.« »Dann täten wir gut daran, ihm etwas zu geben, was er behalten und schützen will. So wie das Land.« »Oder wir nehmen ihm alles und lassen ihm nur sein Leben.« Reubair presste die Lippen zusammen, während er über eine Antwort nachdachte. »Warum wollt Ihr ihm sein Leben lassen? Man könnte ihn doch einfach beseitigen!« In seiner Stimme schwang eine deutliche Herausforderung mit. Reubair war sichtlich entrüstet. Lindsay konnte sich nicht erklären, warum, und sie hatte auch keine Ahnung, was Reubair eigentlich von Dagda wollte. »Ich würde mich gern von diesem Stachel in meinem Fleisch befreien. Aber ich bin kein Mörder.« »Bedenkt, dass Nemed mächtig und verschlagen ist.« »Das weiß ich. Wenn es einen Weg gäbe, ihn von unserem Land zu vertreiben ...« Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen, beobachtete Reubair lauernd und wartete auf dessen Reaktion. Diese blieb jedoch aus. Reubair verzog keine Miene, viel
104 mehr betrachtete er den Becher in seiner Hand, als habe er gar nicht zugehört. Lange herrschte drückende Stille, dann sagte er: »Ich habe ein Anrecht auf die Hälfte dieses Landes.« »Und Ihr stellt ihm die Hälfte Eurer bewaffneten Krieger.« Das war die Bestätigung. Dagda wusste Bescheid. »Die Euch alle treu ergeben sind, genau wie ich.« Reubair schien sich nach Kräften zu bemühen, Dagda seine Loyalität zu beteuern. Er trug entschieden zu dick auf. »So? Seid Ihr das?« Lindsay hörte deutliche Zweifel aus Dagdas Stimme heraus. »Das wundert mich sehr. Wie könnt Ihr Eurem Danann‐König und einem Elf zugleich die Treue halten? Wenn er einen Aufstand anzetteln wollte, würde er das mit Hilfe Eurer Männer tun. Er könnte Krieg gegen mich führen und sich dabei der Mittel bedienen, die ihm mein eigenes Land liefert. Und der Männer meiner eigenen Rasse.«
»Wie kommt Ihr darauf, dass er einen Aufstand vorbereiten könnte?« »Er ist ein Elf«, gab Dagda nun merklich gereizt zurück. »Und mächtig und verschlagen noch dazu, wie Ihr ganz richtig festgestellt habt.« Er beugte sich vor, um seinen nächsten Worten Nachdruck zu verleihen. »Und er ist ein Elf!« Reubair musterte Dagda aus schmalen Augen. Er war sichtlich verstimmt, aber nicht willens, weiter über diesen Punkt zu diskutieren. Stattdessen meinte er: »Wollt Ihr damit andeuten, dass ich mich gegen meinen Lehnsherrn erheben soll, weil er vielleicht ‐ nur vielleicht ‐ die Absicht hat, sich gegen Euch zu erheben?« »An dieser Absicht besteht kein Zweifel. Früher oder später wird sich diese Kreatur nicht länger unter das Joch der Danann beugen wollen und alles daransetzen, sich davon zu befreien.« »Zusammen mit anderen Danann?« 105
»Natürlich. Er will sich zum König unseres Volkes ausrufen lassen. Über uns herrschen. Und behaupten können, dass Elfen besser sind als Danann.« Lindsay kam es so vor, als gelte Dagdas Interesse in erster Linie der Rettung seiner eigenen Haut und nicht dem Schicksal seiner Feen. Da es kein Elfenvolk mehr gab, das den Platz der Danann hätte einnehmen können, würden diese fortan unter Nemeds Herrschaft weiterleben. Doch Dagda selbst lief Gefahr, einem Anschlag zum Opfer zu fallen. Und dem Glitzern in Reubairs Augen nach zu urteilen, hielt Lindsay es für durchaus möglich, dass dieser selbst das todbringende Messer führen würde. »Ich habe einen Schwur geleistet. Bei meiner unsterblichen Seele.« Er starrte den Feenkönig mit kaum verhohlenem Abscheu an. »Pah!« Dagda winkte verächtlich ab. »Seele! Lasst mich mit Eurer Religion in Ruhe!« Reubair lief vor Zorn rot an, schwieg aber. »Eure Leute schlagen sich auf die Seite desjenigen, den sie für den Stärkeren halten«, fuhr Dagda aufgebracht fort. »Also versucht nicht, mir weiszumachen, Ihr fühltet Euch an Euren bedeutungslosen Eid gebunden.« Lindsay blickte zur Tür und überlegte, ob sie den Raum verlassen sollte, bevor zwischen den beiden Männern ein Kampf ausbrach. Sie hegte keinen Zweifel daran, dass Reubair den König jetzt töten würde. Er war ein Dieb und ein Mörder, aber niemand durfte sich ungestraft abfällig über seinen Glauben äußern. Doch Reubair holte nur tief Atem, ehe er ruhig erwiderte: »Es gibt viele, die ihre geleisteten Eide brechen und dafür in der Hölle schmoren werden. Ich lege darauf keinen Wert, und deshalb werde ich mich nicht gegen Nemed erheben.« Dagda machte Anstalten, Einwände zu erheben, aber Reubair schnitt ihm das Wort ab. »Doch wie dem auch sei ‐ ich 105
schwöre auch Euch bei meiner unsterblichen Seele, dass ich mich, wenn Nemed seinen Eid Euch gegenüber bricht, ihm nicht länger verpflichtet fühle und zusammen mit meinen Männern meinen König verteidigen werde.« Er hielt inne und sah Dagda eindringlich an, um seine Worte zu unterstreichen. »Meinen König und mein Volk, dessen Blut auch das meine ist.« Dieser Nachsatz schien Dagda zu beschwichtigen, er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, während Reubair fortfuhr: »Niemand kann mir vorwerfen, mein Wort gebrochen zu haben oder vom Weg des Herrn abgewichen zu sein.« Lindsay blinzelte und hüstelte, um das abfällige Schnauben zu übertönen, das sie bei dieser letzten Bemerkung nicht hatte unterdrücken können. Doch Reubair sprach schon weiter. »Ich schwöre bei meinem Leben und dem meiner zukünftigen Kinder, dass meine Loyalität allein meinem König gilt und Ihr auf meine Unterstützung zählen könnt, falls Nemed je den Eid bricht, den er Euch geleistet hat.« Lindsay sah, dass sich Dagda noch immer nicht sonderlich beeindruckt von einem Eid zeigte, den ein Christ bei einem jüdisch‐christlichen Gott schwor, aber er wusste, dass er von Reubair nicht mehr zu erwarten hatte. Dennoch schien er davon überzeugt, dass dieser zu seinem Wort stehen würde. Er nickte knapp, und das Gespräch wandte sich unverfänglicheren Themen zu. Lindsays Blick ruhte nachdenklich auf den beiden Männern, während sie das soeben Gehörte in ihrem Gedächtnis speicherte. Vielleicht war es ihr später einmal von Nutzen. So war das also ... Alex wurde von Reubair gefangen gehalten. Trefor dachte beim Frühstück, das Morag ohne Dagda an ihrer Seite einnahm, eingehend über das Ausmaß der Bedeutung dessen nach,
was er in der Nacht in Erfahrung gebracht hatte. Alex war sicherlich der Grund, der Lindsay in Finias festhielt, 106
aber er konnte nicht sagen, ob sie ihn retten oder am Ende hinrichten lassen wollte. Wenn sie seinen Tod wünschte, warum bat sie Reubair dann nicht einfach, ihn umzubringen? Er würde ihr diese Bitte sicherlich mit Freuden erfüllen. Und warum tat sie alles, damit er wieder zu Kräften kam? Wollte sie Lösegeld für ihn erpressen? Von Robert? Soweit Trefor wusste, war Reubair bei seinen Raubzügen im Grenzgebiet auf die Billigung des Königs oder zumindest auf dessen stillschweigende Duldung angewiesen. Vermutlich würde er um jeden Preis verhindern wollen, dass Robert jemals erfuhr, dass sich der Earl of Cruachan in seiner Gewalt befand. Ein Grund mehr, Alex so schnell und unauffällig wie möglich zu beseitigen. Spielte Lindsay ihr eigenes Spiel? Trefor verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Nein, er konnte sich nicht vorstellen, aus welchem Grund sie Reubair gegenüber vorgeben sollte, ihren Mann zu lieben, wenn dies nicht wirklich der Fall war. Sie versuchte tatsächlich, Alex mit allen Mitteln zu schützen. Diese Erkenntnis beruhigte Trefor ein wenig. Er stocherte in seinem Frühstück herum, ohne zu merken, was er aß. Aber dennoch ... was tat sie dann hier? Warum hatte Reubair sie hierher verschleppt, wenn er sie nicht gefangen halten und ein Lösegeld für sie fordern wollte? Warum durfte sie ihren Mann besuchen? Das sprach doch eher dafür, dass sie sich aus freien Stücken in der Burg aufhielt. Wenn Reubair sie an seiner Seite haben wollte, was er eindeutig tat, denn sie war ja bei ihm, warum hatte er Alex dann nicht schon längst aus dem Weg räumen lassen? Jeder Gedankengang führte zu dieser Frage zurück: Warum war Alex noch am Leben? Doch dann wandten sich Trefors Überlegungen in eine andere Richtung. Wenn Lindsay die Rolle der Burgherrin einnahm, erfüllte sie vielleicht auch alle anderen Aufgaben einer Ehefrau und fühlte sich auch wie eine solche. Vielleicht hatte 106
es gar keinen zwingenden Grund gegeben, Alex umzubringen. Aufgrund seiner Erfahrungen im Kampf wusste er, wie schwer es war, einen Menschen zu töten, und sich zu einem kaltblütigen Mord durchzuringen erforderte vermutlich eine noch größere Überwindung. Da war es doch viel einfacher, Alex in eine Zelle zu sperren und zu hoffen, dass er an seiner Verletzung starb. Es war durchaus möglich, dass Alex nur deshalb noch lebte, weil sich niemand die Hände hatte schmutzig machen wollen. Aber dagegen sprach, dass Patrick gesagt hatte, Lindsay würde ihn mit Nahrung und Arzneien versorgen. Nur warum pflegte sie ihn dort unten in diesem feuchten Loch? Warum verlegte sie ihn nicht in einen Raum mit einem Kamin und einem Bett? Wenn sie um ihres Mannes willen mit Reubair gemeinsame Sache machte, hätte sich das doch sicher bewerkstelligen lassen. Trefor wusste, dass ihm ein entscheidendes Teil des Puzzles fehlte, aber er kam nicht darauf, welches das war. Also beschloss er, die nächste sich bietende Gelegenheit zu einem Gespräch mit Reubair zu nutzen und zu versuchen, ihm ein paar Informationen zu entlocken. Es erwies sich als schwierig, den Feenlord allein anzutreffen. Er schien nirgendwo ohne Lindsay hinzugehen und war überdies eifrig damit beschäftigt, dem König seinen Aufenthalt so angenehm und abwechslungsreich wie möglich zu gestalten. Nach zwei Tagen war Trefors Geduld am Ende, und er ersuchte formell um eine Audienz. Er würde sein Anliegen in Gegenwart von Lindsay und Reubairs Dienern vortragen und seine Worte daher mit äußerster Sorgfalt wählen müssen. Zu seiner Überraschung wurde er an diesem Morgen in Reubairs Privatgemach gebeten. Als er den Raum betrat, kam Reubairs Priester gerade zur Tür heraus, und der Feenlord schob seinen Rosenkranz und seine Bibel zur Seite. Trefor hatte zwar 106
gehört, Reubair sei ein Christ, es bis zu diesem Moment jedoch nicht geglaubt. Und jetzt wusste er nicht, ob er erstaunt sein sollte oder ob dies ein paar Dinge erklärte. Als Reubair ihn sah, nahm er auf einem Stuhl am Tisch Platz und deutete auffordernd auf einen zweiten. Lindsay saß bereits am Feuer und sah ihn mit jenem ausdruckslosen Blick an, den sie sich in der letzten Zeit zu eigen gemacht hatte. Als gäbe es nichts auf der Welt, was sie auch nur im Geringsten interessierte. Er selbst schon gar nicht. Das zu glauben fiel ihm nicht schwer. Er ließ sich auf den ihm zugewiesenen Stuhl sinken.
»Verläuft Euer Aufenthalt hier angenehm?«, erkundigte sich Reubair. »Werden Eure Wünsche zu Eurer Zufriedenheit erfüllt?« »Eure Gastfreundschaft ist unübertroffen, Mylord.« Reubair nickte, als verstehe sich das von selbst. Trefor sah, dass er in dieser Burg kein gern gesehener Gast war und sein Gastgeber von ihm erwartete, dass er nun, da er Dagda seinen Eid geleistet hatte, wieder seiner Wege ging. Also musste er sich etwas Neues einfallen lassen. »Nachdem ich jetzt ein Bündnis mit den Danann geschlossen habe, halte ich es für angebracht, über meine Zukunft in Eurem Reich nachzudenken.« Reubair grunzte zustimmend, sagte aber nichts. Die Sache würde schwierig werden. »Ich hätte gern eine Fee zur Frau«, fuhr Trefor fort. Lindsay wandte den Kopf leicht in seine Richtung. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Trefor, dass sich Überraschung auf ihrem Gesicht abmalte. Gut. Sie zeigte also doch wenigstens einen Anflug von Interesse an seinem Leben. »Ihr besitzt kein Land«, erwiderte Reubair. »Und Ihr habt kaum Zukunftsaussichten.« »Ganz im Gegenteil. Ich habe Verwandte in Schottland, die hoch in der Gunst des Königs stehen. Meine Base ist eine 107
Gräfin.« Trefor nickte zu Lindsay hinüber. Jetzt würde sich zeigen, wie sich Reubair zu seiner Verwandtschaft mit Alex stellte. Reubair zögerte mit der Antwort. Endlich fragte er: »Habt Ihr in der letzten Zeit etwas von Eurem Vetter, dem Earl, gehört?« »Nein. Ich muss gestehen, dass ich ihn im letzten Sommer zum letzten Mal besucht habe.« Sowohl Reubair als auch Lindsay reagierten enttäuscht. Reubair presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und musterte seine Fingernägel. Lindsay wandte sich ab und starrte ins Feuer. Trefor begriff nicht, warum Reubair ihm diese Frage gestellt hatte, wo doch Alex in seinem Kerker dahinsiechte. Und warum hatte Lindsay überhaupt eine Reaktion gezeigt? Was hatte sie denn gedacht, wie seine Antwort ausfallen würde? Hatte sie angenommen, dass er mit der Wahrheit he‐ rausplatzen würde? Dass Alex ihn geschickt hatte, um sie von hier fortzuholen? Für so dumm konnte sie ihn doch gar nicht halten. Dann kam ihm die Erkenntnis. Das fehlende Puzzleteil fügte sich mit einem fast hörbaren Klicken in das Gesamtbild ein, und plötzlich ergab alles einen Sinn. Reubair wusste nicht, dass sich Alex in seinem Kerker befand. Irgendwie waren Alex und Patrick von seiner Räuberbande gefangen genommen worden, ohne dass Reubair erfahren hatte, wen er da in seiner Gewalt hatte. Trefor stockte der Atem, als ihm aufging, welche Macht er mit einem Mal in den Händen hielt. Lindsay schützte Alex, sorgte dafür, dass seine Identität nicht bekannt wurde. Wahrscheinlich dachte sie, Reubair würde ihn auf der Stelle töten, wenn er erfuhr, wer sein Gefangener war. Womit sie genau richtig liegen dürfte. Trefor blickte zu Lindsay hinüber. Täuschte sie Reubair bewusst? Spielte seine willige Gefährtin? Oder stand sie wirklich unter dem Einfluss eines Zauberbanns? Er wandte sich an
107 Reubair. »Was meine zukünftige Frau betrifft, so will ich ganz ehrlich zu Euch sein. Ich bin nicht an einer hohen Mitgift interessiert, sondern nur daran, dass sie eine reinblütige Danann ist. Da ich weiß, dass Ihr Cruachan nicht besonders mögt...« »Ich habe für Menschen im Allgemeinen nicht viel übrig. Enttäuschende Geschöpfe, wenn Ihr mich fragt.« Trefor schielte zu Lindsay. Er schluckte den Zorn hinunter, der angesichts dieser Kränkung in ihm aufwallte, und stammelte: »Nun ... ja. Ich verstehe, dass mir meine menschliche Abstammung zum Nachteil gereicht und mir meine Verwandtschaft mit dem Earl auch nicht von Nutzen ist, wenn man einmal davon absieht, dass er beim schottischen König hoch angesehen ist.« »Das ist richtig. Alasdair An Dubhar verfügt über Macht und Einfluss, wird von den Danann aber nicht sehr geschätzt.« Trefors Augen weiteten sich in gespielter Überraschung. »Gilt das für alle Danann? Ich meine gehört zu haben, er wäre ein enger Vertrauter der Göttin Danu selbst. Seine Frau besitzt einen Psalter, den sie ihr geschenkt haben soll.«
Reubair sah zu Lindsay hinüber, die bestätigend nickte. Trefor registrierte erleichtert, dass sie anscheinend nicht beabsichtigte, ihm in den Rücken zu fallen. »Die Gräfin ist eine direkte Nachfahrin der Göttin«, erwiderte Reubair. »Trotzdem bin ich sicher, dass es Danu völlig egal ist, mit wem sie verheiratet ist.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Genau wie mir.« Die Spur von Schärfe in Reubairs Stimme brachte Trefor auf einen Gedanken, der ihm bislang noch gar nicht gekommen war ‐ dass Reubair versucht hatte, Lindsay zu verführen, aber ohne Erfolg. In diesem Fall stellte sich die Frage, warum dem so war. Trefor blickte von Reubair zu Lindsay und erwog die Möglichkeiten, die sich ihm boten. Alex war Reubairs Gefangener, und Reubair wollte ihn nicht nur tot sehen, sondern er würde ihn eigenhändig umbringen, wenn Alex' Identität bekannt
108 wurde. Trefor hatte dem Feenkönig den Treueeid geleistet und täte gut daran, sich das Wohlwollen dieses mächtigen Danann zu sichern. Was hatte denn Alex je für ihn getan? Nichts, und er würde auch in Zukunft nichts für ihn tun. Angesichts dieser Gedankengänge begann Trefors Herz zu hämmern. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und setzte ein unbefangenes Lächeln auf. Gerade jetzt durfte er sich unter keinen Umständen anmerken lassen, was ihm durch den Kopf ging. 108
FÜNFZEHNTES KAPITEL
Als er in dieser Nacht in sein Bett kroch, wusste Trefor, dass er von negativer Energie erfüllt war. Sie strömte aus all seinen Poren, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Was er heute erfahren hatte, Wies ihn in zu viele verschiedene Richtungen. Es gab zu viel, was er mit diesem Wissen anfangen konnte. Lange lag er schlaflos unter seiner wollenen Decke und starrte zum Kamin hinüber, bis ihm endlich die Augen zufielen. Wenig später wurde er von einem warmen Körper geweckt, der sich an ihn schmiegte. Morag. Er erkannte sie an ihren vertrauten Formen und der Gewohnheit, eine Hand zwischen seine Schenkel gleiten und dort ruhen zu lassen. Doch heute drehte er sich nicht zu ihr, sondern ergriff ihre Hand und hielt sie fest, ehe sie sich auf Wanderschaft begeben konnte. »Stimmt etwas nicht, Liebster?« Sie küsste seine Schulter, als sei zwischen ihnen noch alles wie früher. »Das weißt du ganz genau.« »Och.« Aus ihrem Mund klang das schroffe Geräusch weich und verlockend. »Du meinst den König? Er mag mich, weil ich wie ein Mensch aussehe, aber nicht ganz Mensch bin, und er führt mich gern wie ein kostbares Besitzstück vor. Um seine Macht zu demonstrieren.« »Weiß er, dass Brochan dich zu ihm geschickt hat?« »Ich begehe nicht den Fehler, ihn zu unterschätzen. Vielleicht weiß er es, vielleicht auch nicht. Aber das ist auch gar >
108
nicht von Belang, denn ich habe keinen Einfluss auf seine politischen Entscheidungen.« Sie löste ihre Hand aus der seinen und strich über seinen Unterarm. Glättete die feinen Härchen darauf. »Aber du heftest dich wie ein Bluthund an seine Fersen.« »Ich tue was?« »Du hältst dich darüber auf dem Laufenden, wo er ist und was er vorhat. Und alles, was du in Erfahrung bringst, gibst du an Brochan weiter.« »Und wenn ich das tue, ist das allein Dagdas Problem, oder?« Das musste Trefor zugeben, aber da er dem Feenkönig die Treue geschworen hatte, blieb ein ungutes Gefühl in seinem Inneren zurück. Er schüttelte es ab und wechselte das Thema. »Warum bist du hier?« »Das hast du doch gerade gesagt. Um Dagda wie ein ... Bluthund? ... auf den Fersen zu bleiben.« »Ich meine, was tust du hier in meiner Kammer? In meinem Bett?« »Ich wollte dich sehen. Ich habe dich vermisst. Ist das nicht Grund genug?« Sie ließ ihren Worten Taten folgen, indem sie erneut einen Arm um ihn schlang und mit den Fingernägeln über seinen Bauch fuhr. Ein Schauer lief durch seinen Körper, ebbte aber sofort ab, als ein Bild von Morag und Dagda vor seinem geistigen Auge Gestalt annahm. Wieder hielt er ihre Hand fest.
»Ich glaube dir kein Wort. Du kannst mir nichts vormachen; ich weiß, dass du irgendetwas im Schilde führst.« »Und wenn dem so wäre? Wäre das ein Grund, mich zurückzuweisen?« »Allerdings.« Wieder gab sie einen ungehaltenen Laut von sich, dann erhob sie sich auf Händen und Knien über ihm. »Es ist nur 109
ein Vorschlag, eine Bitte, keine Forderung, wie du vielleicht denkst.« »Komm endlich zur Sache. Was willst du von mir?« Sie küsste ihn, und er ließ es zu, ohne sie von sich zu schieben. Dann flüsterte sie: »Ich möchte, dass du Dagda tötest.« Einen Moment lang wurde Trefor von dem glühenden Wunsch überwältigt, seinem Rivalen den Hals umzudrehen, aber dann tat er die Vorstellung als aberwitzig ab. So viel lag ihm an dieser rothaarigen Hexe nicht. Wirklich nicht. Und einen Mord würde er ihretwegen schon gar nicht begehen. Aber sie wusste, dass er körperliches Verlangen nach ihr verspürte, und hatte scheinbar genau diesen Augenblick gewählt, um ihm ihren Vorschlag zu unterbreiten, weil sie dachte, er würde vor Eifersucht kochen. Sie manipulierte ihn schon wieder, was seine Begierde ein wenig abkühlen ließ. Doch als sie ihn erneut küsste, wehrte er sich nicht. Ihre Lippen pressten sich heiß auf die seinen, ihre Zunge erforschte seinen Mund, ihre Hände wanderten über seinen Körper und fanden alle empfindlichen Stellen, bis er vor Wonne erschauerte. Je länger sie sich so mit ihm befasste, desto stärker begann sein Widerstand zu erlahmen, bis er sich schließlich fragte, was eigentlich dagegen sprach, Dagda zu töten. Schwer atmend rollte er sich über sie. »Warum?« Wenn er ihrem Wunsch entsprach, wollte er wenigstens wissen, welche Ziele sie verfolgte. Morag spreizte die Beine und schlang sie um seine Taille, um ihn in sich aufzunehmen. »Gib mir eine Antwort«, drängte er, während er sich langsam in ihr zu bewegen begann. »Er verdient den Tod.« »Das reicht mir nicht.« »Es geht um das Land. Die Bhrochan wollen ihr Land zurück.«
109 Also ging es schon wieder um das Feenland. »Ich soll Dagda wegen des Landes töten? Warum ich?« »Dagda ist Reubairs Gast, und der wiederum ist Nemeds Vasall.« »Und ich bin ...« »Ein Danann.« Trefor erstarrte. Das also war der wahre Grund. Die Bhrochan brauchten einen Sündenbock. Sie wollten, dass er Dagda tötete, denn wenn ein Bhrochan ‐ auch einer, der zum größten Teil Mensch war ‐ den Mord beging, würde das einen Krieg auslösen. Einen Krieg, den die Bhrochan nicht gewinnen konnten. »Wenn ein Danann ihn tötet, kommt es nur zu internen Kämpfen und nicht zu einer Fehde zwischen den beiden Feenvölkern. Und ich werde wegen Mordes hingerichtet. Und wegen Hochverrat.« Sein Verlangen erlosch schlagartig, er glitt aus ihr, wälzte sich auf die Seite und stützte sich auf einen Ellbogen. Doch sie bedrängte ihn weiter. Erregung schwang in ihrer heiseren Stimme mit. »Nur wenn du auf frischer Tat ertappt wirst. Sieh zu, dass das nicht geschieht, dann wird man An Reubair die Schuld zuschieben, weil er seinen Gast nicht beschützt hat.« Wenn sich das Ziel der Bhrochan auf diese Weise erreichen ließe, dann wäre der König schon vor Tagen gestorben, und zwar von Morags Hand und mit Reubairs Billigung, und Morag hätte sich längst in Sicherheit gebracht, daran hegte Trefor keinen Zweifel. »Du willst mir wirklich einreden, dass wegen einer Verletzung der Gastgeberpflichten gleich ein Bürgerkrieg ausbrechen würde?« »Och, aye. Das weißt du so gut wie ich.« »Und warum legt Brochan es darauf an?« »Wegen des Landes, Trefor! Des Feenreiches, das rechtmäßig den Bhrochan gehört. In den Wirren eines solchen Krieges könnten wir es wieder an uns bringen!«
109 Trefor hielt es für unwahrscheinlich, dass sich dieser Plan in die Tat umsetzen ließ. Ein Zwist wegen eines Zwischenfalls im Rahmen eines Besuches würde schwerlich zu einem so massiven Aufstand führen. Für ihn stand fest, dass Morag, sollte er den Mord tatsächlich begehen, dafür sorgen würde,
dass er überführt und angeklagt wurde, damit keinerlei Zweifel daran bestand, dass ein Danann der Schuldige war. Und sie würde es so aussehen lassen, als steckte er mit An Reubair unter einer Decke. Lindsays Gegenwart und die offensichtliche Anziehungskraft, die sie auf den Feenritter ausübte, kamen ihr dabei vermutlich sehr gelegen. Einen Moment lang fragte er sich, ob Morag wusste, dass sich Alex im Verlies der Burg befand, verdrängte den Gedanken aber sofort wieder, damit diese Hexe nicht davon erfuhr, denn sie konnte in ihm lesen wie in einem Buch. »Du willst, dass es zu einem bewaffneten Aufstand der Danann gegen Nemed kommt?« »Aye.« »Dagda ist ohnehin schon nicht gut auf Nemed zu sprechen. Weil er ein Elf ist.« »Aber der König wird ihn niemals angreifen. Ihm ist klar, was die Bhrochan auch begriffen haben ‐ er kann das Land alleine nicht halten. Aber wenn er sterben würde, und besonders dann, wenn er von einem von Nemeds Anhängern ermordet würde, dann bliebe den Danann nichts anderes übrig, als zu handeln. Ohne Dagda könnten die Danann Nemed das Land entreißen, aber sie können es nicht halten.« »Warum nicht, wenn Reubair aus dem Weg geschafft ist? Er befehligt Nemeds Armee. Sind die Anhänger des Königs denn ein so undisziplinierter Haufen?« »Sie sind unzuverlässig und unberechenbar. Abgesehen davon, dass die Danann von Finias sich für etwas Besseres halten als jene, die in Höhlen oder in der Welt der Menschen leben, hat der König auch keinen geeigneten Erben, der seine Nach 110
folge antreten könnte. Unter seinen Söhnen ist keiner, der die Danann zusammenhalten und ihr Land gegen Nemed verteidigen könnte, der außer Reubair viele Verbündete unter den Angehörigen des Adels hat. Brochan würde Anspruch auf das Land als seinen rechtmäßigen Besitz erheben und auf den damals unterzeichneten Ehekontrakt pochen, und er würde es ohne große Schwierigkeiten überschrieben bekommen ‐ als diplomatischer Schachzug, um die Bhrochan zu beschwichtigen, damit sie den Danann nicht noch zusätzliche Scherereien bereiten. Alles ginge glatt und reibungslos vonstatten. Ohne Kampf. Kein Blut würde fließen.« »Nur Dagdas. Und Reubairs.« Und meines. »Zwei, die dieses Schicksal verdienen.« Schicksal. Da war das Wort wieder. Trefor wusste, dass sie meinte, auch sein Schicksal lenken zu können, und das missfiel ihm gewaltig. Doch dann sagte Morag etwas, was ihm den Atem verschlug und seine Gedanken eine Kehrtwende beschreiben ließ. »Und wenn das Land wieder uns gehört, wirst du dort unser Prinz sein.« Trefor zwinkerte. »Wie bitte?« Prinz. So war er von den Bhrochan unzählige Male genannt worden, ohne zu wissen, warum. »Wenn du den Anschlag ausführst und ungeschoren davonkommst, wirst du als Herrscher dieser Burg und des Landes hierher zurückkehren. Du wirst als den Bhrochan verpflichteter Danann‐Prinz für Frieden zwischen den Danann und den Bhrochan sorgen, die sich hier niederlassen wollen, und das Land zu unser aller Vorteil verwalten. Und ich werde dir als deine Gefährtin dabei zur Seite stehen.« Sie presste ihre Hüften gegen die seinen und grinste. Was sie sagte, klang tatsächlich einleuchtend, und ihre Worte verschleierten seine bis dahin klare Sicht der Lage. Konnte es sein, dass das, was die Bhrochan ihm ständig eingetrichtert 110
hatten, die Wahrheit war? Sollte er wirklich über das Feenreich in Irland herrschen? Die Aussicht war verlockend. Sein Pulsschlag beschleunigte sich. »Ist das dein Ernst?« »Natürlich. Habe ich dich jemals belogen?« »Allerdings.« »Niemals. Ich habe dir immer nur zu dem geraten, was am besten für dich war. Und ich habe dich immer geliebt, Trefor, und daran wird sich auch nichts ändern. Du kannst mir vertrauen. Alles, was ich dir sage, entspricht der Wahrheit. Du musst Dagda töten, dann wirst du zu Macht und Reichtum gelangen. Und ich werde all dies mit dir teilen, denn mein Platz ist an deiner Seite.« Sie blickte zu ihm auf. Tiefer Ernst stand in ihren Augen zu lesen. Trefor wurde zwischen dem Wunsch, ihr zu glauben, und dem Wissen, dass gerade ihm ein solches Glück sicher nicht beschieden war, hin‐ und hergerissen. Schon früh im Leben hatte er gelernt, dass alles, was zu schön war, um wahr zu sein, bloße Illusion war. Aber was Morag sagte, klang glaubwürdig, und er meinte, den Gang der Dinge hinreichend beeinflussen zu können, um ihre Vorhersage zu verwirklichen. Wenn er es
geschickt anstellte, würde ihn niemand mit dem Mord in Verbindung bringen, und er könnte die Position einnehmen, die Morag ihm in Aussicht gestellt hatte. Er könnte seine kühnsten Träume verwirklichen, und diese Vorstellung erschreckte und erregte ihn im gleichen Maße. Er zog Morag an sich und küsste sie. Er fühlte sich so gut wie nie zuvor. Zum ersten Mal in seinem Leben meinte er, die Dinge im Griff zu haben. Er verfügte jetzt über weitaus mehr Macht als vor seiner Zeit bei den Bhrochan. Vielleicht ging sein Plan ja auf. Alex wusste, dass es draußen hell war. Woher er das wusste, konnte er nicht sagen, aber die Dunkelheit erschien ihm weni
111 ger undurchdringlich als zuvor. Vielleicht brannte zwei Zellen weiter einfach nur eine zusätzliche Fackel, aber eine zusätzliche Fackel bedeutete, dass sich mehr Wärter im Verlies aufhielten, und das hieß Tageslicht. Er holte tief Atem, rief leise Patricks Namen und stieß den Atem erschöpft wieder aus. »Aye, Sir?« Es war Tag. Auch Patrick wusste das, denn er nannte Alex nur »Mylord«, wenn er sicher war, dass niemand ihn hören konnte. »Patrick, betet Ihr noch immer für mich?« »Jeden Tag, Sir.« »Und für Euch selbst?« »Genauso oft.« »Wann war Lindsay zum letzten Mal hier?« »Das kann ich nicht sagen, fürchte ich. Es lässt sich schwer abschätzen, wie die Zeit verstreicht.« Alex wusste selbst, wie dehnbar die Zeit war; er wünschte, er wäre imstande, sie zu beeinflussen, wie die Feen es konnten. »Glaubt Ihr, sie wird bald zurückkommen?« Patrick schüttelte den Kopf. Alex konnte es nicht sehen; er meinte nur, ein nahezu unhörbares Rascheln des Kragens des Priesters vernommen zu haben. Dieser schwieg eine Weile, dann sagte er plötzlich: »Ihr habt Euch gar nicht nach Eurem Vetter erkundigt.« Sein »Vetter« kümmerte Alex wenig, er wollte wissen, wie es Lindsay ging. Er wollte bei ihr sein, wo immer sie auch sein mochte. »Was geht hier vor? Was stellt dieser Feenbastard mit ihr an?« »An Reubair?« »Wer sonst? Wenn er ihr etwas zuleide getan hat, bringe ich ihn um!« »Es scheint ihr gut zu gehen. Mir kommt es so vor, als würde er sie eher wie einen Gast als wie eine Gefangene behandeln.« Das beruhigte Alex ein wenig. An Reubair behandelte sie 111
also gut. Er fragte sich nur, warum. Und er fragte sich, warum er und Patrick immer noch am Leben waren. Dann fiel ihm wieder ein, dass Reubair nicht wusste, wer sie waren. Patrick schien seine Zweifel zu spüren, denn er sagte: »Ihr wisst doch, dass sie Euch mehr liebt als ihr Leben.« »Das ist unmöglich.« »Ihr haltet es für unmöglich, dass sich ein Mensch für einen anderen opfert? Ich glaube, das ist sehr wohl möglich. Unser gesamter Glaube beruht darauf.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lindsay sich für mich opfern würde.« »Natürlich würde sie das tun. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.« »Ich sagte, ich kann mir das nicht vorstellen, und ich will es auch gar nicht. Wenn sie es täte, müsste ich ohne sie weiterleben, und der Gedanke ist mir unerträglich.« Patrick brummte leise, während er darüber nachdachte. »Dann würdet Ihr lieber Euer Leben für das ihre geben? Euch wünschen, an ihrer Stelle getötet zu werden?« »Ich habe den Tod noch nie gefürchtet, Patrick. Ohne sie möchte ich auch nicht mehr leben, schon gar nicht mit dem Wissen, dass ich sie vielleicht hätte retten können.« »Aber wenn sie genauso empfindet, würdet Ihr ihren Wunsch nicht respektieren«, stellte Patrick sachlich fest. »Nein. Sie soll leben. Ende der Diskussion.« »Ihr seid derjenige, der jetzt um sein Leben kämpfen muss, Sir. Ihr seid der Grund, der sie davon abhält, sich Reubairs Wünschen zu fügen. Wenn Ihr aufgebt, tut sie es auch.« Das Bild des blonden Feenritters entstand vor ihm und löste in Alex' Innerem einen sengenden Schmerz aus. Hass und Zorn nagten mit glühenden Zähnen an ihm. Er versuchte sich aufzusetzen,
brachte aber nicht die Kraft dazu auf. Also rollte er sich auf dem kalten Boden auf den Rücken und biss sich voll 112
hilfloser Wut auf die Lippe. »Dieser Hurensohn wird für alles bezahlen, was er uns angetan hat. Ich werde selbst dafür sorgen, dass er einen langsamen und qualvollen Tod erleidet.« »Um ihn töten zu können, müsst Ihr am Leben bleiben, Sir.« »Keine Angst, das werde ich.« Patrick seufzte erleichtert. »Gut. Weiter so.« Lindsay saß an der Tafel der großen Halle und wünschte, der Danann‐König würde seine Reise endlich fortsetzen, damit sie ihre Mahlzeiten wieder allein mit Reubair in dessen Schlafgemach einnehmen konnte. Sie hasste es, vor Reubairs Höflingen zur Schau gestellt zu werden, so tun zu müssen, als sei alles in schönster Ordnung, und die Ritter in dem Glauben zu wiegen, sie sei aus freien Stücken hier. Um die Kopfschmerzen zu lindern, die sie neuerdings jeden Tag plagten, trank sie einen großen Schluck Met. Das Getränk schien den Schmerz zu betäuben, und wie in den alten Witzen über Singlebars konnte sie sich Reubair auf diese Weise fast schöntrinken. Manchmal empfand sie es als Erleichterung, ihn attraktiv zu finden, denn sie wusste, dass er nach wie vor darauf abzielte, sie in sein Bett zu bekommen, und sein Ziel irgendwann auch einmal erreichen würde. Tag für Tag quälte diese Vorstellung sie, denn sie konnte nicht ahnen, wann er die Geduld verlieren und vielleicht Gewalt anwenden würde. Unter der betäubenden Wirkung des Alkohols ließ sich ihre verzweifelte Lage leichter ertragen. Es gab sogar Tage, an denen sie vor dem Feuer saß, gelangweilt in die Flammen starrte und sich Fantasien über ihren Entführer hingab; in Bildern schwelgte, bei denen ihr der Schweiß ausbrach, sie sich nach Erlösung sehnte und wünschte, Alex wäre bei ihr ‐ gesund und unversehrt. Am Tag, an dem sie festgestellt hatte, dass sie nicht schwanger war, hatte sie einen Stich von Enttäuschung darüber verspürt, dass
112
sie nun nicht freiwillig mit Reubair schlafen musste, um ihm das Kind unterschieben zu können, und ihr war vor Scham das Blut in die Wangen gestiegen. Diesen Tag hatte sie in ihrem Schrankbett versteckt verbracht, um Reubair nicht sehen zu müssen. Wieder kam sie zu dem Schluss, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmen konnte, sonst würde sie nicht auf diese Weise an ihren ärgsten Feind denken. Auch heute trank sie reichlich Met, und ihre Stimmung hob sich. Wenn sie Reubair ansah und ihn lachen hörte, wurde ihr warm ums Herz. Und als er ihr einen durchbohrenden Blick zuwarf, wünschte sie einen Moment lang, tatsächlich von ihm schwanger zu sein. Das Gefühl verflog, aber diesmal schämte sie sich nicht dafür. Sie war es leid, ständig Widerstand leisten zu müssen. Am liebsten hätte sie seinem Drängen nachgegeben und es endlich hinter sich gebracht. Während sie ihre Mahlzeit verzehrte, sah sie immer wieder zu Reubair hinüber. Lange würde sie nicht mehr durchhalten können; sie war mit ihrer Kraft am Ende. Wenn es ihr doch nur gelingen würde, Alex aus seinem Kerker zu befreien und von hier fortzubringen ... Nach dem Essen brach sie zu einem Spaziergang in dem von einer hohen Mauer umgebenen Garten zwischen Turm und Ställen auf. Er war nicht groß, bot ihr aber die Möglichkeit, sich etwas Bewegung zu verschaffen, ohne von neugierigen Feen angegafft zu werden. Der Frühling hielt allmählich Einzug. Blumen wuchsen hier nirgendwo; sie schlenderte zwischen knorrigen Kiefern und moosüberwucherten Eichen umher. Eigentlich war dieser Garten nichts anderes als ein eingefriedetes Stück Wald, die Bäume standen eng beieinander, und das Unterholz war so dicht, dass man die Gartenmauer erst sah, wenn man dicht davorstand. Auch Trefor sah sie erst, als sie fast mit ihm zusammengeprallt wäre. 112
»Lindsay.« Er sprang von der Astgabel einer mächtigen Eiche, in der er sich verborgen hatte, und versperrte ihr den Weg. Lindsay schrak zusammen. Das Herz schlug ihr plötzlich vor Furcht bis zum Hals. Sie war unbewaffnet; ein Zustand, der ihr immer Unbehagen bereitete, weshalb ihre Nerven in letzter Zeit ziemlich gelitten hatten. Reubair gestattete ihr nur bei den Mahlzeiten, ein Messer zur Hand zu nehmen. Sie hatte den Gedanken, sich ihre Freiheit mit Gewalt zu erkämpfen, längst aufgegeben, aber sie hätte gerne eine Waffe gehabt, um sich notfalls vor anderen schützen zu können. »Trefor«, stieß sie mühsam hervor. »Was willst du?« »Mit dir reden.«
Lindsay blickte sich um. Sie waren allein. Vermutlich hatte Trefor deshalb den Garten für dieses Gespräch gewählt, kaum jemand verirrte sich je hierher, was auch der Grund war, weshalb sie selbst so gern hier spazieren ging. Sie blieb vor ihm stehen, straffte sich und bemühte sich, sich ihre Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Aber das fiel ihr schwer, denn wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie Angst vor ihm hatte. Im Gegensatz zu fast allen anderen Männern dieses Jahr‐ hunderts war er größer als sie; so groß wie sein Vater und genauso kräftig, und sie wusste, dass er sie ablehnte. Er verübelte es ihnen beiden, dass sie ihn im Stich gelassen hatten, obwohl das nicht zutraf. Er konnte einfach nicht begreifen, dass sie die Entführung genauso wenig hätten verhindern können wie er selbst. Ihr Magen krampfte sich zusammen, sie ballte unwillkürlich die Fäuste, sagte aber kühl: »Nur zu. Was hast du auf dem Herzen?« »Warum hast du nicht versucht, Alex von hier fortzubringen?« Übelkeit stieg in ihr auf, und ihr Kopf fühlte sich mit einem Mal ganz leicht an. Trefor wusste Bescheid. Er hatte irgendwie
113 herausgefunden, dass Alex hier war. Noch ehe sie etwas darauf erwidern konnte, gebot er ihr mit erhobener Hand Schweigen. »Versuch gar nicht erst, es zu leugnen. Ich habe ihn im Kerker gesehen. Ihn und Patrick. Und jetzt erzähl mir nicht, du hättest davon keine Ahnung. Patrick hat mir erzählt, dass du sie dort unten regelmäßig besuchst.« »Das ist das Einzige, was ich für sie tun kann. Ich kann sie nicht befreien, weil es mir nicht möglich ist, das Tor zu erreichen. Reubairs Zauber verhindert das, das habe ich dir doch schon gesagt. Ich kann die Burg nicht verlassen, weder mit noch ohne Alex!« »Und ich habe dir gesagt, dass dieser Zauber allein nicht ausreicht, um dich hier festzuhalten. Da ist noch etwas anderes, und ich glaube, ich weiß auch, was.« Lindsay sah ihn abweisend an. »Wovon redest du?« »Ich habe dich an der Tafel beobachtet. Ich glaube, du stehst unter einem ganz anderen Bann. Reubair gibt dir irgendein Mittel ein. Du stehst unter einem Liebeszauber.« Lindsay schnaubte abfällig und legte den Kopf schief. »Unsinn. Ich verabscheue Reubair aus tiefster Seele.« »Ich weiß. Deswegen erschien mir dein Benehmen auch so seltsam. Einen Moment lang starrst du ihn an wie ein verliebter Backfisch, und im nächsten siehst du aus, als würdest du verzweifelt nach einem Fluchtweg suchen. Ich habe eine Weile gebraucht, um mir das alles zusammenzureimen. Es passiert immer während der Mahlzeiten. Beim Essen machst du ihm schöne Augen, und am Nachmittag und Abend weichst du ihm aus. Er mischt dir irgendetwas in dein Essen oder in deinen Becher. Esst ihr immer von derselben Platte oder aus denselben Schüsseln? Trinkt ihr dasselbe?« Lindsay rief sich die letzten Wochen ins Gedächtnis. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Reubair nie dasselbe trank wie sie. 113
Ihm wurde stets Wein serviert, ihr der gewürzte Met. »Nein«, erwiderte sie tonlos. »Und dir kommen Gedanken, für die du dich schämst. Ich kann sie dir vom Gesicht ablesen, wenn du ihn ansiehst.« Lindsay nickte. Das ließ sich nicht leugnen. Trefor seufzte. »Weißt du, in gewisser Weise ist das eine Erleichterung für mich. Zuerst habe ich gedacht, du hättest Alex wegen dieses Widerlings den Laufpass gegeben.« »Das könnte ich nicht. Niemals. Auch nicht unter dem Einfluss des stärksten Zauberbanns.« Theoretisch jedenfalls nicht. Rote Flecken brannten auf ihren Wangen, als sie daran dachte, wie nahe sie in einem schwachen Moment gewesen war, sich Reubair hinzugeben, und sie dankte Gott dafür, die Kraft aufgebracht zu haben, ihm zu widerstehen. »Genau deswegen ist Alex vermutlich noch am Leben.« »Ich habe viel riskiert, um ihn zu schützen.« Trefor scharrte ungeduldig mit den Füßen und verschränkte die Arme vor der Brust. »So groß war das Risiko wohl nicht. Reubair hätte nicht dich getötet, sondern Alex. Soweit ich das beurteilen kann, ist er die einzige Waffe, die du gegen Reubair in der Hand hast.« »Wie dem auch sei ‐ mein Mann ist am Leben, weil ich ihn beschützt habe.«
»Und jetzt, wo du weißt, was dieser Feenmistkerl mit dir anstellt, erhebt sich die Frage, was du dagegen zu unternehmen gedenkst.« Lindsay blinzelte. Was konnte sie dagegen tun? »Ich werde keinen Met mehr trinken.« Trefor nickte. »Guter Anfang. Aber du musst auch so schnell wie möglich von hier fliehen.« Einen Moment lang wurde Lindsay von dem verzweifelten Wunsch beherrscht, hierbleiben zu können. Die Vorstellung, Reubair zu verlassen, erschien ihr unerträglich, und ihr Herz 114
zog sich bei dem Gedanken, dass sie ihn nie wiedersehen würde, schmerzhaft zusammen. »Hör auf damit.« Trefor sah sie eindringlich an. »Du stehst unter dem Einfluss seiner Magie. Er hat dich zu etwas gemacht, was du nicht bist.« Zorn flammte in ihr auf. »Du hast keine Ahnung, was und wie ich bin!« »Du bist eine Kämpfernatur, Lindsay. Ich kenne dich nicht sehr gut, aber ich weiß, dass du dich mit allen Mitteln gegen diesen Kerl zur Wehr setzen würdest, wenn er dich nicht mittels magischer Kräfte gefügig machen würde. Ich weiß auch, dass deine Liebe zu Alex so groß ist, dass nur ein sehr mäch‐ tiger Zauber dich dazu bringen könnte, einen anderen Mann anzusehen.« Zum ersten Mal, seit sie Trefor begegnet war, sah Lindsay ihm direkt in die Augen. Woher wusste er so viel über sie? Wieso war er sich seiner Sache so sicher, und wie hatte er den Nagel so exakt auf den Kopf treffen können? Was hatte er während jenes letzten Jahres als der Sohn, den sie nie akzeptiert hatte, von ihr gedacht? Wie es aussah, wusste er weit mehr über sie, als ihr lieb war, und das machte sie verwundbar. Sie traute ihm nicht. Er war ein erwachsener Mann, von fremden Menschen aufgezogen worden ‐ ein Fremder. Sie kannte ihn wesentlich schlechter als er sie, und sie hatte nicht den geringsten Grund zu der Annahme, dass er in ihrem oder Alex' Interesse handelte. Trotzdem hatte er in ihr gelesen wie in einem Buch. Trefor beugte sich zu ihr, um ihr in die Augen zu sehen, und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie tief in Gedanken versunken zu Boden starrte. Sie hob den Kopf, und er sagte: »Du musst den Zauber brechen.« »Aber wie?« Er wusste es genau, aber wie sollte er ihr das begreiflich ma 114
chen? Seine Ausbildung hatte Monate gedauert, und er stand immer noch am Anfang. Nach kurzer Überlegung erwiderte er: »Meditiere. Konzentriere dich auf das, was in dir ist und was du auslöschen willst, dann lass ein Bild davon in dir entstehen und stell dir vor, wie du es zerstörst.« »Ist das alles?« »Ich meine es ernst. Wenn ich über größere Macht verfügen würde und davon überzeugt wäre, ihn überlisten zu können, würde ich versuchen, dich von diesem Zauber zu befreien. Aber da beides nicht der Fall ist, brauche ich mir die Mühe erst gar nicht zu machen. Er würde nur Verdacht schöpfen, und dann hätten wir ein Problem.« »Ich glaube nicht, dass ich das hinbringe.« Weil sie es im Grunde ihres Herzens gar nicht wollte. Wie eine Übergewichtige, die weiß, dass sie keine Schokolade essen sollte, es aber trotzdem tut, wusste sie, dass sie es nie über sich bringen würde, Reubair zu verlassen. Dieses Wissen lag wie ein Schleier über ihrer Überzeugung, dass sie auch Alex nie im Stich lassen würde. Beides traf zu, und ihr von magischen Kräften umnebelter Verstand gaukelte ihr vor, dass beides zugleich auch möglich war. »Du musst. Du musst tief in dich hineinhorchen und die Kraft aufbringen, dich von Reubair zu lösen. Du musst das tun, von dem du weißt, dass es das Richtige ist.« »Ich brauche Hilfe.« Ein Schatten flog über Trefors Gesicht, und ihr Misstrauen flackerte schlagartig wieder auf. Irgendetwas war hier nicht ganz koscher. Was, konnte sie nicht sagen, aber sein Verhalten hatte sich kaum merklich geändert, und das verhieß nichts Gutes. »Tu es einfach. Hol Alex aus dem Kerker, und setz ihn auf ein Pferd. Reite mit ihm zum Tor. Aber halte dich hinter ihm; reite auf keinen Fall voraus, sonst lenkt dich der Zauber in eine andere Richtung, und ihr werdet getrennt. Aber wenn du ihm 114
zum Tor folgst, könnt ihr es ungehindert passieren und von hier verschwinden.« »Ich kann nicht.« »Du musst. Ich kann es nicht für dich tun, und ich kann dich auch nicht begleiten.« »Du meinst, du willst nicht.« Er runzelte ungeduldig die Stirn. »Na schön, ich will nicht. Glaub, was du willst. Entscheidend ist, dass du allein zurechtkommen musst. Alles hängt jetzt von dir ab. Wie viel bedeutet er dir?«
Einen benommenen Moment lang dachte sie, er meinte Reubair, dann begriff sie, dass er von Alex sprach. Plötzlich überfiel Lindsay eine abgrundtiefe Erschöpfung. Sie war so müde, so ausgebrannt und mit den Nerven am Ende, dass sie sich am liebsten ins Gras gelegt und geschlafen hätte. Und am besten nie wieder aufgewacht wäre. Das alles war zu viel für sie. Es zehrte zu stark an ihren Kräften. Sie rieb sich mit den Fingern über die Brauen. Nein, sie war nicht stark genug, um das zu vollbringen, was Trefor von ihr verlangte. Ihre Augen füllten sich mit heißen Tränen. Wenn sie jemanden grün und blau schlagen sollte, bereitete ihr das nicht das geringste Problem. Aber wenn sie ihrem Herzen Befehle erteilen sollte, kämpfte sie auf verlorenem Posten. Trefor verschränkte erneut die Hände vor der Brust. »Hör auf. Hör auf zu weinen. Das bist nicht du selbst. Du löst deine Probleme auf andere Art. Du bist keine Heulsuse, Lindsay, das weiß ich genau.« Er hatte recht. Es lag nicht in ihrem Naturell, bei jeder Widrigkeit schluchzend zusammenzubrechen. Aber jetzt wollte sie ihrem ganzen Elend nur noch in einer Tränenflut Luft machen. Sie senkte den Kopf und presste die Hände vor die Augen. Trefor fasste sie bei der Schulter. Seine Finger gruben sich in ihr Fleisch. »Ich sagte, hör auf damit. Befreie dich von dem 115
verdammten Zauber. Lass nicht zu, dass Reubair am Ende der Sieger bleibt. Hol Alex und mach, dass du hier wegkommst. Rette deinen Mann und dich selbst. Du kannst es, das weiß ich. Du bist meine Mom, und seit ich ein kleiner Junge war, wusste ich schon, dass du alles fertigbringst, was du willst.« Lindsay schrak zusammen und starrte ihn an. Was für ein Bild mochte er sich nur von ihr gemacht haben, als er ein kleiner Junge gewesen war? Er schien ihre Gedanken gelesen zu haben, denn seine Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln, ehe er sagte: »Ich habe ständig an dich gedacht. In meiner Fantasie habe ich immer eine bildhübsche, warmherzige, liebevolle Frau vor mir gesehen, die immer lächelt, aber einfach alles kann. Ich wusste, dass du mich vor den Leuten beschützt hättest, die mir wehgetan haben. Und nachdem ich dich kennengelernt habe, habe ich festgestellt, dass ich mich gründlich geirrt hatte. Du lächelst nicht oft, und du würdest dir nie die Mühe machen, mich vor irgendjemandem zu beschützen.« Ihre Augen weiteten sich angesichts der ungeschminkten Wahrheit, die er offen aussprach, und er fuhr hastig fort: »Aber ich glaube immer noch, dass du mit allen Schwierigkeiten fertig wirst. Und du kannst deinen Mann retten, weil ich weiß, dass du ihn mehr liebst als irgendetwas sonst auf der Welt.« Trefor hatte recht. Wieder einmal. Woher er das alles wusste, war ihr ein Rätsel, aber er hatte recht. »Und damit darfst du nicht länger warten.« Lindsay schüttelte den Kopf. »Alex ist zu schwach.« »Ihr dürft auf keinen Fall noch länger hierbleiben.« »Warum nicht?« Alex' »Widersprich‐mir‐nicht‐immer«‐Ausdruck trat in Trefor MacNeils Augen. Eine eisige Hand schloss sich um ihr Herz. »Glaub mir, ich weiß, was ich sage. Nach dem morgigen Tag möchtest du bestimmt nicht mehr hier sein.«
115 »Und wo bist du dann?« »Mach dir um mich keine Gedanken.« »Trefor ...« »Tu es einfach. Hol ihn heute Nacht aus dem Kerker. Seht zu, dass ihr vor Tagesanbruch von hier verschwunden seid. Nehmt meine Pferde.« »Und du kommst nach? Wann?« »Sobald es mir möglich ist.« »Was geht hier vor, Trefor?« Seine Augen verdunkelten sich vor Misstrauen. Die ihren ebenfalls. Plötzlich war sie nicht mehr sicher, ob all das, was er ihr gesagt hatte, auch wirklich der Wahrheit entsprach oder ob er sie in eine Falle locken wollte. »Vertrau mir«, bat er schlicht. »Aber du vertraust mir nicht. Du verschweigst mir irgendetwas.« »Wenn du nicht unter Reubairs Zauberbann stündest, würde ich es dir vielleicht erzählen. Im Augenblick halte ich es für klüger, dir nicht zu sehr zu vertrauen.«
»Eine gute Ausrede.« »Keine Ausrede.« Er wartete auf ein zustimmendes Nicken, und als das ausblieb, holte er tief Atem. »Okay, glaub mir oder lass es bleiben. Du musst selbst entscheiden, was du heute Nacht tun wirst. Bring ihn von hier fort oder geh das Risiko ein, dass Reubair ihn vor deinen Augen hinrichten lässt, sobald er erfährt, wer er ist.« Lindsays Magen krampfte sich zusammen, denn sie wusste, dass Reubair genau das tun würde. Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte Trefor sich um und ging zum Turm zurück. Lindsay sah ihm nach. Obwohl sie sich gerne in ihre Kammer zurückgezogen hätte, setzte sie ihren Spaziergang fort, damit kein zufälliger Beobachter auf die Idee kommen konnte, sie würde ihm folgen. 116
SECHZEHNTES KAPITEL
Alex stand aufrecht, mühsam zwar und mit zitternden Knien, aber zumindest stand er auf seinen Füßen, statt wie ein Käfer auf dem Rücken zu liegen, und sein Bauch fühlte sich nicht länger an, als würden seine Eingeweide herausquellen, sobald er die Hand von der Wunde nahm. Die Fäden, mit denen Mary sie genäht hatte, hatte Patrick mit den Zähnen aus seiner Haut gezogen, sowie sie nicht mehr benötigt wurden. Alex vermutete, dass er ohne sie ohnehin besser dran gewesen wäre; sie waren wahrscheinlich die Ursache des Fiebers, an dem er beinahe gestorben wäre. So sehr Lindsay und er auch immer darauf drangen, dass die Diener Nadel und Faden auskochten, ehe sie eine Wunde nähten ‐ meistens machten sie sich diese Mühe nicht, und da Lindsay nicht da gewesen war, um ein Auge auf Mary zu haben, hatte sie vermutlich auch noch auf den Faden gespuckt, um ihn besser einfädeln zu können. Hygiene und Sterilität waren noch ein ferner Traum, und Alex war sicher, in diesem Jahrhundert nicht lange genug zu überleben, um der Pest zum Opfer fallen zu können, die in ein paar Jahrzehnten das Land heimsuchen würde. Aber im Moment lebte er noch und war fest entschlossen, so lange am Leben zu bleiben wie irgend möglich. Er stand breitbeinig, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, im Dunkeln und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. Jemand hatte im Nebenraum eine Fackel angezündet; ein schwacher 116
Lichtschimmer fiel durch die vergitterte Öffnung in der Tür. Abgesehen von den Fackeln, die Lindsay ihnen in die Zelle geschmuggelt hatte, war es das erste Licht, das sie seit Beginn ihrer Kerkerhaft sahen. Erst jetzt erkannte er, wie winzig ihre Zelle war; kaum groß genug, dass sie beide darin nebeneinander auf dem Boden liegen konnten. Patrick saß, gegen die Wand neben der Tür gelehnt, in einer Ecke und stützte die Ellbogen auf die Knie. Die Kälte hatte ein wenig nachgelassen. Obwohl der Raum nicht gerade als wohltemperiert zu bezeichnen war, schlotterten Patrick und er nicht mehr andauernd, außer tief in der Nacht, wenn die eisigen Steine ihnen die Lebenswärme aus den Knochen sogen. »Wie viele Wärter sind da draußen?« Patrick blickte zur Zellentür. »Schwer zu sagen, aber ich glaube, nie mehr als zwei. Meistens sogar nur einer.« »Ein Soldat oder ein Weichei?« Patrick grinste. Alex' eigenwillige Ausdrucksweise trug häufig zur Belustigung der Menschen dieses Jahrhunderts bei. »Ein Weichei, wie Ihr es nennt«, erwiderte er. »Der Kerkermeister ist ein Mensch, keine Fee, und er verrichtet seine Arbeit nicht gerade sorgfältig. Ich habe ihn natürlich nie dabei ertappt, wie Ihr Euch denken könnt, aber ich glaube, er schläft andauernd. Lady Cruachan bezeichnet ihn als >Wichser<. Ich bin ziemlich sicher, dass ich sie besser nicht frage, was das zu bedeuten hat.« Auch Alex grinste, wobei er das Gefühl hatte, seine Haut müsse Risse bekommen. Sie war völlig ausgetrocknet und juckte höllisch. Aber mehr noch als nach einem Bad sehnte er sich nach einem Schluck Trinkwasser. Und etwas zu essen. Ein winziges Stück fettiges Fleisch wäre der Himmel auf Erden. »Wo ist Lindsay? Wann war sie zum letzten Mal hier?« »Gestern. Sie kann nicht jeden Tag kommen. Aber sie wird 116
sich freuen, wenn sie hört, dass Ihr wieder auf Euren Beinen steht.«
Alex grunzte und verlagerte sein Gewicht, um einen Schritt vorwärts zu gehen. Seine Beine zitterten vor Anstrengung, aber es gelang ihm, einen Fuß ein kleines Stück über den Boden zu schieben. Dann verlagerte er sein Gewicht erneut und zog den anderen Fuß nach. Völlig außer Atem musste er sich an einem vorspringenden Stein in der Mauer festhalten. Zwar wäre er lieber heute als morgen von diesem Ort geflüchtet, aber er bezweifelte, dass er es in seinem geschwächten Zustand weiter als bis zur Nachbarzelle schaffen würde, selbst wenn die Tür ihres Verlieses weit offen stünde. Es sog die feuchte, modrige Luft tief in seine Lungen, hustete und wappnete sich für den nächsten Schritt. Babyschritte. Einen nach dem anderen. Er musste seine Kräfte so schnell wie möglich zurückgewinnen, damit er bereit war, wenn sich tatsächlich eine Möglichkeit zur Flucht bot, und so fuhr er fort, langsam einen Fuß vor den anderen zu setzen, und träumte dabei von Essen. Während des Mittagsmahls fingerte Trefor ständig an seinem Dolch herum und ließ Dagda, der am Kopfende der Tafel saß, nicht einen Moment aus den Augen. Er hatte Morag gegenüber kein Wort über seine Pläne verlauten lassen, damit sie ihn nicht verraten konnte, falls das in ihrer Absicht lag. Voller Ingrimm beobachtete er den König, der sich angeregt mit seiner neben ihm sitzenden Mätresse unterhielt. Morag ihrerseits schien seine Gesellschaft zu genießen und sich keinen Deut darum zu scheren, was Trefor bei diesem Geturtel empfand. Ihre offenkundige gute Laune ärgerte ihn dermaßen, dass er kaum einen Bissen herunterbrachte. Sein Zorn auf den Feenkönig wuchs mit jeder Minute. Dagda verdiente den Tod, schon allein, weil er die Finger nicht von Morag lassen konnte. Und nachdem er den König aus dem Weg geräumt hatte, 117
würde er hier herrschen ‐ mit Morag an seiner Seite. Sie würde seine Gefährtin sein, so wie sie es gesagt hatte. Die Aussicht war berauschend. Ihm winkten mehr Macht und Reichtum, als sogar Alex es sich je erträumt hätte. Und er würde sowohl den Danann als auch den Bhrochan einen Gefallen erweisen, wenn er sie zugleich auch von Nemed befreite, denn der Elf gehörte keinem der beiden Feenvölker an und hatte somit keinen rechtmäßigen Anspruch auf ihr Land. Er war ein König ohne Volk und verfügte daher über keinerlei Herrschaftsrecht. Dagda war ein Narr; er hätte den Elf schon längst zum Teufel jagen sollen. Nein, der Feenkönig musste sterben. Er würde ihn erstechen. Mit Magie konnte er gegen eine so mächtige Fee nichts ausrichten, selbst wenn er über größeres Wissen und mehr Erfahrung verfügt hätte. Dagda würde seine Absichten sofort durchschauen. Eine Pistole käme ihm sehr gelegen, aber Handfeuerwaffen waren noch nicht erfunden, und die Waffenkunde war noch längst nicht weit genug fortgeschritten, als dass er sich selbst eine Schusswaffe hätte zusammenbasteln können, die nicht in seiner Hand explodieren würde. Soweit er wusste, war man hier sogar noch einige Jahre von der ersten riesigen, unhandlichen Kanone entfernt. Gift wäre eine andere Möglichkeit, aber Trefor wusste nicht, wie er sich welches beschaffen konnte, und er hatte auch keine Ahnung, welches Gift eine Fee töten würde. Wandte er Gift an und erreichte damit nur, dass Dagda krank wurde, aber nicht starb, waren seine Tage gezählt. Nein, ein Dolch war die geeignetste Waffe, um sein Vorhaben durchzuführen. Fast alle Anschläge der Art, wie er ihn plante, wurden mit einer Stichwaffe ausgeführt. Ein solcher Mord ging schnell vonstatten, erforderte kaum Vorbereitungen, und vor allem brauchte man keine lästigen Mitwisser einzuweihen. Dagda lachte über einen Scherz, den Morag gemacht hatte, und küsste sie schmatzend auf den Mund, ohne auf die missbil 117
ligenden Blicke der anderen Feenritter an der Tafel zu achten. Doch, Trefor freute sich schon darauf, dem König seine Klinge ins Herz zu stoßen. Während der gesamten Mittagsmahlzeit dachte Lindsay über das nach, was Trefor zu ihr gesagt hatte. Ein Liebeszauber. Sie rührte ihren Met nicht an, sondern gab nur vor, gelegentlich an ihrem Becher zu nippen. Ab und an trank sie einen Schluck von Reubairs Wein, um ihren Durst zu stillen. Wie lange würde es wohl dauern, bis der Trank, den sie im Lauf der vergangenen Wochen regelmäßig zu sich genommen hatte, seine Wirkung verlor? Vermutlich dauerte es eine ganze Weile, denn heute geriet ihr Blut immer noch in Wallung, wenn sie Reubair ansah. In gewisser Weise stellte die Erkenntnis, dass die ungebetenen Gedanken bezüglich seiner Person ihr nur suggeriert worden waren, eine Erleichterung dar, sie trug aber nicht dazu bei, Reubairs Bann zu brechen. Sie tat ihr Bestes, um ihn wegen dem, was er Alex und ihr angetan hatte, zu hassen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Noch immer begannen bei seinem Anblick Schmetterlinge in ihrem Bauch zu tanzen, heute noch dazu stärker denn je. Sie brauchte nur an ihn zu denken, und schon reagierte ihr
Körper. Seine ebenmäßigen Züge, seine anmutigen Bewegungen und seine tiefe, klangvolle Stimme lösten in ihr Empfindungen aus, die ihr fast körperliche Schmerzen bereiteten ‐ als würde das Verlangen nach ihm sie langsam innerlich verzehren, wenn es nicht bald befriedigt wurde. Nach dem Essen folgte Reubair ihr in seine Schlafkammer. Normalerweise berief er um diese Zeit Besprechungen mit seinen Höflingen ein, aber heute schien er nicht in der Stimmung dafür zu sein, was vielleicht daran lag, dass er zu viel Wein getrunken hatte. Während der Mahlzeit hatten er und Dagda zotige Witze über Ehefrauen und Mätressen ausgetauscht, die sich Lindsay schweigend, mit einem aufgesetzten Lächeln an 118
gehört hatte. Sie war sicher, den Eindruck erweckt zu haben, als fände sie diese lächerlichen Doppeldeutigkeiten ungemein amüsant. Dagda nahm zweifellos an, sie würde das Bett mit Reubair teilen; ein Gedanke, der ihr so widerwärtig war, dass sie kaum einen Bissen herunterbrachte. Aber wenn ihr eine ihrer üblichen spitzen Bemerkungen entschlüpft wäre, hätte das eine scharfe Antwort Reubairs oder noch Schlimmeres nach sich gezogen, und sie durfte nicht riskieren, sein Misstrauen zu wecken, bis sie einen Weg gefunden hatte, Alex aus dem Kerker zu befreien. Und wenn sie Trefors Worten Glauben schenken durfte, musste dies sehr bald geschehen. Heute Nacht noch. Sie musterte ihren Entführer forschend. Er streifte gerade seine Stiefel ab. Das war kein gutes Zeichen, für gewöhnlich pflegte er sich erst auszukleiden, wenn er zu Bett gehen wollte, und dazu war es noch entschieden zu früh. Sie nahm ihren Umhang vom Haken und schickte sich an, den Raum zu verlassen, doch als sie die Tür öffnen wollte, fragte er sie, wo sie hinwollte. In seiner Stimme schwang ein schneidender Unterton mit, der ihr nicht gefiel. Sie spürte, dass er sie heute nicht so einfach gehen lassen würde. »Ich möchte einen Spaziergang machen. Der Garten ist zu dieser Jahreszeit wunderschön.« »Der Frühling ist noch lange nicht vorbei, und der Garten ist auch morgen noch da. Und jeden weiteren Tag bis zum Winter, würde ich sagen.« Er lehnte sich gegen einen Bettpfosten und betrachtete sie aus schmalen Augen. »Ich brauche frische Luft.« »Davon gibt es in diesem Raum mehr als genug, das Fenster steht offen. Ihr bleibt hier.« Das war eindeutig ein Befehl. Sie saß in der Falle. Mit einem unterdrückten Seufzer hängte sie ihren Umhang wieder an den Haken und ging dann zu ihrem Schrankbett. »Nein. Bleibt hier bei mir.« Wieder schlich sich diese Schärfe 118
in seine Stimme, die ihr verriet, dass irgendetwas in der Luft lag. Er würde nicht dulden, dass sie sich in ihr Versteck zurückzog. Trotzdem trat sie einen weiteren Schritt auf das Bett zu. Er stieß sich von dem Pfosten ab und vertrat ihr den Weg. »Ihr sollt bleiben, habe ich gesagt.« Seine Finger gruben sich schmerzhaft in ihren Oberarm. Sie starrte seine Hand an und blickte dann stirnrunzelnd zu ihm auf, bis er seinen Griff lockerte. Aber er gab sie nicht frei. Lindsay seufzte erneut. Wenn er ihr doch nur endlich sagen würde, was er eigentlich wollte! Der Wein verlieh Reubairs Augen einen unnatürlichen Glanz, und sie konnte ihn in seiner Stimme hören, die jetzt einen samtweichen Klang annahm. »Kommt, setzt Euch zu mir. Unterhaltet Euch ein wenig mit mir. Ich möchte Eure Gesellschaft genießen.« »Mehr als meine Gesellschaft habe ich Euch auch nicht zu bieten. Ich fürchte nur, Ihr werdet heute wenig Gefallen daran finden.« »Aber nein. Ihr könnt äußerst charmant sein, wenn Ihr wollt.« Er ließ ihren Arm los. »Und Ihr wisst ja, dass ich begierig nach allem greife, was Ihr mir überhaupt anbietet. Nein, heute werdet Ihr Euch nicht am helllichten Tag in Eurem Bett verkriechen.« Lindsay verschränkte die Arme vor der Brust. »So? Dann seid so gut und lasst mich wissen, wann Ihr mir gestattet, mich zurückzuziehen.« Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. »Warum seid Ihr nur immer so widerborstig?« »Es ist nun einmal mein Naturell.« »Und genau deswegen bete ich Euch an.« Lindsay kniff die Augen zusammen. Solche Worte hatte er noch nie gebraucht, und sie berührten sie an einer Stelle tief in ihrem Inneren, die eigentlich Alex vorbehalten war. Sie rief sich energisch ins Gedächtnis, dass Reubair einen Zauber über 118
sie verhängt hatte ‐ einen Liebeszauber, das Feenäquivalent eines Aphrodisiakums, der sie dazu bewegen sollte, willig in sein Bett zu schlüpfen. Und nachdem die erhoffte Wirkung bislang ausgeblieben war, verlegte er sich auf eine konventionellere Verführungsmethode; eine, derer sich menschliche Männer häufig zu bedienen pflegten: Schmeichelei und Lügen. Doch ihr unter Reubairs Bann stehender Körper verriet sie. Ihr Herz begann zu hämmern, zwischen den Schenkeln setzte ein heftiges Pochen ein, das rasch fast unerträglich wurde, und sie musste tief Atem holen, um ein leises Stöhnen zu unterdrücken. Sie ging zu einem Stuhl am Kamin hinüber, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Reubairs Bett zu schaffen, setzte sich, faltete die Hände im Schoß, presste die Knie gegeneinander und maß ihn mit einem ausdruckslosen Blick. Das Blut rauschte heiß durch ihre Adern und dröhnte in ihren Ohren, aber sie war fest entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. Ihre Mundwinkel hoben sich leicht, ihre Atemzüge gingen ruhig und gleichmäßig. Er konnte ihr unmöglich ansehen, was in ihr vorging. Seine weißen Zähne blitzten auf, als sich seine Lippen zu einem breiten Grinsen verzogen. »Deine Augen sind ganz dunkel geworden, mein Liebling. Du kannst mir nicht weismachen, dass du die Vorstellung, mit mir zu schlafen, nicht reizvoll findest.« Verdammt! Lindsay schloss die verräterischen Augen und bemühte sich, ihrer Stimme einen betont gleichmütigen, leicht herablassenden Klang zu verleihen. »Wenn Ihr Euch einbildet, ich würde für jeden Mann, den ich auch nur halbwegs reizvoll finde, die Beine breit machen, müsst Ihr verrückt sein. Aber das seid Ihr ja sowieso.« Er schlenderte lässig auf sie zu. »Mag sein. Aber du musst zugeben, dass ich deinen Panzer endlich durchbrochen habe. Ich habe irgendeine Saite tief in deinem Inneren berührt.« 119
»Ihr habt nichts dergleichen getan.« »Das ist eine Lüge. Ich kann dein Herz schlagen hören.« Er kniete neben ihrem Stuhl nieder. »Und es schlägt für mich.« »Es schlägt, weil ich sterben würde, wenn es damit aufhört.« »Du bist eine starke Frau. Ich glaube, in ganz Irland, Schottland und England gibt es keine stärkere, und ich bin sicher, ich könnte sogar bis Jerusalem reisen, ohne eine passendere Frau für mich zu finden.« »Solange Alasdair An Dubhar am Leben ist, werdet Ihr mich nie zur Frau bekommen!« »Keine Sorge, ich werde ihn finden, und dann ist sein Schicksal besiegelt.« Lindsays Lachen grenzte an Hysterie. »Ihr lasst wieder einmal Euren ganzen Charme spielen! Am liebsten würde ich mir auf der Stelle die Kleider vom Leib reißen!« Er seufzte, als sei er solcher Bemerkungen überdrüssig, dann nahm er ihre Hände in die seinen. »Ich bin gar nicht so erpicht darauf, ihn zu töten, wie du vielleicht meinst. Du solltest wirklich ernsthaft über eine Scheidung nachdenken; sie würde sein Leben retten.« Er beugte sich vor, um einen Kuss auf ihre Hände zu hauchen, während sie einen Moment über seine Worte nachdachte. Oberflächlich betrachtet schien sein Vorschlag die beste Lösung ihrer Probleme zu sein, aber dann schaltete sich ihr gesunder Menschenverstand wieder ein. »Mich freizulassen würde Euer Leben retten.« Der Gefühlsaufruhr, der in ihrem Inneren tobte, strafte ihre Worte Lügen. Seine Lippen, die zart ihre Haut streiften, jagten einen Schauer durch ihren Körper, der bewirkte, dass sie sich tatsächlich am liebsten die Kleider vom Leib gerissen hätte. Ihr Atem ging schneller, als ihr lieb war, und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Reubair zog sie auf die Füße und küsste sie auf den Mund. 119
Gegen ihren Willen öffneten sich ihre Lippen fast wie von selbst unter den seinen, gleichzeitig schien ein Teil von ihr neben sich selbst zu stehen und sie beide zu beobachten wie ein Liebespaar auf einer Filmleinwand. Sie hasste sich für das, was sie tat, war jedoch unfähig, sich aus seiner Umarmung zu lösen. Er schien sie in sich aufsaugen zu wollen; er erforschte ihren Mund so gierig, als sei er am Verdursten und sie der rettende Schluck Wasser. Sie erwiderte seinen Kuss voller Leidenschaft. Ihr ganzer Körper schien in Flammen zu stehen, und sie fand nicht die Kraft, diesen Brand zu löschen. Alex. Sie konzentrierte sich auf Alex; stellte sich vor, er würde erfahren, was sie getan hatte, woraufhin ihre Erregung so weit abflaute, dass sie imstande war, sich von Reubair loszumachen. Sie wandte sich von ihm ab, starrte zu Boden, um seinem Blick auszuweichen, und rang keuchend nach Atem. »Du willst mich also doch«, stellte er mit leiser, gepresster Stimme fest.
»Ich will alleine sein. Und ich will nach Hause zurück.« Oder zu Alex in den unterirdischen Kerker. Sie würde eher dort unten gemeinsam mit ihm sterben, als Reubair zu Willen zu sein. »Das stimmt nicht. Du empfindest etwas für mich.« »Ja. Abscheu!« »Das lässt sich nicht leugnen. Trotzdem begehrst du mich, auch wenn dir diese Begierde falsch und verderbt erscheint.. .so wie der gute Christ, der seines Nachbarn Weib begehrt. Auch wenn du dich noch so sehr dagegen sträubst, du kannst nicht dagegen an.« Jedes seiner Worte entsprach der Wahrheit. Ein leises Wimmern entrang sich ihrer Kehle, und sie erstarrte, als er ihr sanft ihre Haube abnahm, sie zu Boden fallen und ihr Haar zwischen seinen Fingern hindurchgleiten ließ. »Du hast wundervolles Haar. So dicht und dunkel. Wie fruchtbare Erde.« Seine Stimme wurde immer leiser, bis sie kaum 120
noch zu vernehmen war. »Wie der Duft, den du verströmst. Dunkel und erdig. Bereit, Samen zu empfangen.« Erregt und abgestoßen zugleich schloss Lindsay die Augen, um ihn nicht länger sehen zu müssen. Seine Hände waren groß und kräftig, sein Körper warm, und sie konnte jeden seiner Atemzüge hören. Er roch nach Leder, Wolle, Wintergrün und ganz schwach nach Erde; moosig und feucht wie eine Höhle zwischen Baumwurzeln, in der sich Tiere verkrochen, um neues Leben zu zeugen. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie erneut. Der Raum begann sich um sie zu drehen. Es gelang ihr nicht, sich von ihm zu lösen, obwohl sie genau wusste, dass sie in wenigen Momenten mit ihm auf dem Bett liegen würde, und dann war alles verloren ... Alex. Sie musste sich auf Alex konzentrieren. Wenn er wüsste, was sie gerade tat, würde er Reubair eigenhändig die Kehle zudrücken. Die Vorstellung verlieh ihr neue Kraft, sie stieß Reubair von sich und wich einen Schritt zurück. »Dafür wird Alex Euch umbringen!« »Dieses Risiko gehe ich ein.« Er trat auf sie zu und presste die Lippen auf ihre Stirn. »Aber vergiss nicht, dass er mich erst einmal finden muss.« Lindsay lachte schrill, fast panikerfüllt auf. »So groß ist Euer Turm nun auch wieder ...« Ihre Stimme versagte, und ihr brach der kalte Schweiß aus, als ihr bewusst wurde, was ihr da gerade entfahren war. Wie erstarrt blieb sie vor ihm stehen. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass er ihre Entgleisung nicht bemerkt hatte. »Mein Turm?« Erdrückendes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, während er in ihrem Gesicht forschte. Lindsay konnte förmlich hören, wie sich die Puzzleteilchen in Reubairs Kopf zusammenfügten. Ihre häufigen Abwesenheiten. Die geheimnisvollen Männer unten im Kerker. Er hatte Alex nur ein Mal gesehen, im letzten Sommer, wo sie sich als Gegner im 120
Kampf gegenübergestanden hatten, und die Gefangenen lediglich bei ihrer Ankunft, aber er stellte sofort die richtige Verbindung her. Er trat zurück und hielt Lindsay auf Armeslänge von sich ab. Seine Augen verdunkelten sich vor Zorn. »Er ist hier. Ich sehe es Euch an.« Einen Moment später zog er den nächsten logischen Schluss. »Er ist auch der Grund dafür, dass Euer Vetter so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht ist.« Er schnaubte grimmig. »Und seinetwegen habt Ihr mit aller Macht versucht, mich vom Kerker fernzuhalten!« Lindsay erwiderte nichts darauf. Das Verlangen nach Reubair, gepaart mit der Angst um Alex, drohten sie zu überwältigen. Sie hätte keinen Ton herausgebracht, selbst dann nicht, wenn ihr etwas eingefallen wäre, was sie hätte sagen können, um Alex zu retten. Reubair holte aus und schlug ihr hart ins Gesicht. Sie taumelte zurück und prallte gegen den hinter ihr stehenden Stuhl. Vor ihren Augen tanzten Sterne, als sie versuchte, wieder auf die Füße zu gelangen, die sich in ihren Röcken verheddert hatten. Reubair fuhr in seine Stiefel und stürmte aus dem Raum. »Reubair!« Lindsay rannte ihm nach, sprang ihn an und verkrallte sich in seinem Rücken. Er schüttelte sie ab wie ein lästiges Insekt, und sie wurde von den beiden Wächtern gepackt, die immer vor der Kammer standen. »Reubair, wenn Ihr ihn tötet, werde ich niemals aus freien Stücken bei Euch bleiben!« Er drehte sich zu ihr. »Das würdet Ihr sowieso niemals tun!«, herrschte er sie an. »Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als Euch doch mit Gewalt zu nehmen; Ihr habt mir ja unmissverständlich klargemacht, dass ich nur so bekomme, was ich haben will.« »Dann bringe ich mich um!«
»Versucht das nur.« Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und eilte die Treppe hinunter. Lindsay befreite sich mit einem Ruck aus dem Griff der Wachposten und folgte ihm. 121
Trefor blieb während des gesamten Nachmittags in Dagdas Nähe. Er wollte wissen, was der König mit seiner Zeit anfing. Wie seine Standesgenossen in menschlichen Adelskreisen verbrachte auch An Reubair viel Zeit in seiner Kapelle, aber er bildete unter den Danann eine Ausnahme, und Dagda hatte mit Reubairs Religion nichts im Sinn. Der Feenkönig hatte anderes zu tun, während Reubair betete. Heute erlebte Trefor eine Enttäuschung. Dagda lungerte in der großen Halle herum und schien nicht die Absicht zu haben, irgendwohin zu gehen. Reubairs Höflinge scharten sich um ihn, versuchten ihn in eine oberflächliche, zwanglose Unterhaltung zu verstricken, aber Trefor wusste nur zu gut, dass diese Burschen nichts ohne Berechnung taten. Sie wollten sich beim König einschmeicheln, während ihr Lehnsherr oben damit beschäftigt war, die Gräfin Cruachan in sein Bett zu locken. Trefor schien es, als nutze Dagda seinerseits Reubairs Abwesenheit, um den Feenrittern der Burg ein bisschen auf den Zahn zu fühlen. Trefor saß ein Stück von der Gruppe am Kopf der Tafel entfernt in seinem Stuhl und ließ sich kein Wort des Gesprächs entgehen. Kaum jemand schenkte ihm Beachtung, denn er war nur ein unbedeutender Gast an diesem Hof, und außerdem setzte er seine maucht ein, um sich nahezu unsichtbar zu machen. Aber etwas wirklich Wichtiges vermochte er nicht in Erfahrung zu bringen. Abgesehen von ein paar Fangfragen seitens des Königs fiel kaum ein Wort, das nicht jeder hätte hören dürfen. Ab und an stellte Dagda eine Frage, die sich eindeutig auf Reubairs Privatleben bezog, doch sowie seine Neugier gestillt war, schnitt er ein anderes Thema an. Trefor erkannte, dass Dagda und Reubair allen Grund hatten, einander zu misstrauen. Dann erhob sich Dagda und verkündete, sich in sein königliches Schlafgemach zurückziehen zu wollen, und die Gruppe am Tisch löste sich auf. Auch Trefor stand auf und sah zum 121
König hinüber, der sich anschickte, die Halle zu verlassen. Gerade so laut, dass Trefor es hören konnte, sagte Morag zu ihm: »Eure Majestät, ich muss Euch bitten, eine Weile auf meine Gesellschaft zu verzichten.« Ein Anflug von Enttäuschung flog über das Gesicht des Königs. Anscheinend hatte er sich den Verlauf des Nachmittags anders vorgestellt. »Warum denn? Du weißt doch, dass ich nicht gern allein in meinem Bett liege.« Trefor unterdrückte ein abschätziges Schnauben. Morag lächelte süß. »Ich bin so schnell wieder bei Euch, wie es mir möglich ist.« »Ich sehe schon, wie wichtig ich dir bin.« »Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass mir im Moment irgendetwas wichtiger ist als das, was ich vorhabe. Auch Ihr nicht. Ich weiß, dass Ihr absolute Aufrichtigkeit zu schätzen wisst.« »Du willst doch wohl nicht beten, oder? So wie dieser Pfaffenknecht da oben?« »Ganz sicher nicht. Aber ich will einen kleinen Tanz vollführen. Habt Geduld, dann tanze ich später auch für Euch. Ich weiß, wie gerne Ihr mir beim Tanzen zuseht, und hinterher harren Eurer noch ganz andere Freuden, das verspreche ich Euch.« Die Aussicht entlockte Dagda ein lüsternes Lächeln. »Dann lass dir nicht zu lange Zeit.« »Das Warten wird sich lohnen, glaubt mir.« Dagda lachte und küsste sie. »Na schön. Komm zu mir, wenn du der Göttin deine Reverenz erwiesen hast. Und leg bei ihr ein gutes Wort für mich ein.« Morag grinste, und als sie sich abwandte, zwinkerte sie Trefor zu. Ein kalter Schauer rann über seinen Rücken. Hier bot sich ihm eine nie wiederkehrende Gelegenheit. Der König würde allein sein. Zwar würden Wachposten vor seiner Kammer 121
stehen, aber die würde er leicht überwältigen können. Kein Herrscher war jemals so sicher, wie seine Beschützer glaubten. Es war für ihn ein Leichtes, Dagdas Leibwächter unter irgendeinem Vorwand fortzulocken oder unschädlich zu machen. Als Dagda und seine Wächter zur Treppe gingen und Morag die Halle durch eine Seitentür verließ, die ins Freie führte, schlich Trefor langsam, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, auf die Stufen zu. Er lauschte den sich entfernenden Schritten; wartete, bis Dagda das Stockwerk erreicht hatte, auf dem seine Kammer lag, ehe er selbst begann, die schmale Treppe emporzusteigen.
Doch er hatte kaum ein paar Stufen erklommen, als über ihm ein Schrei ertönte. Es war Lindsays Stimme, die Reubair anflehte, irgendjemanden nicht zu töten. Töten? Wen? Dann drohte sie, sich selbst umzubringen, und da wusste Trefor Bescheid. Reubair hatte herausgefunden, dass sich Alex in der Burg befand. Nacktes Entsetzen überfiel ihn. Reubair würde sowohl Alex als auch Lindsay töten, wenn er den Earl und den Priester in dem Verlies entdeckte. Oben erklangen hastige Schritte. Wieder schrie Lindsay etwas, woraus Trefor schloss, dass Reubair auf dem Weg nach unten sein musste. Seine Gedanken überschlugen sich, als er begriff, dass seine Chancen jetzt noch besser standen. Hier brach gerade die Hölle los, und in diesem Chaos konnte dem König alles Mögliche zustoßen. Trefor konnte leicht unbemerkt in Dagdas Schlafgemach schlüpfen, während die Aufmerksamkeit aller anderen Turmbewohner von dem Tumult unten im Kerker abgelenkt wurde. Aber Alex und Lindsay würden sein Vorhaben mit dem Leben bezahlen müssen. Seine Eltern. Deirbhiles mahnende Worte schlugen wie eine Welle über ihm zusammen, die alle anderen Gedanken mit sich fortriss. Sie hatte gesagt, die Familie komme vor allem anderen; sei wichtiger als das eigene Le 122
ben. Sie selbst hatte auf eine Liebesheirat verzichtet, um ihrem Vater Vorteile zu verschaffen. Trefors Mutter war der Grund, warum er überhaupt erst in das Feenreich gekommen war. Der Gedanke, seine Eltern zu opfern, um den König zu ermorden, erfüllte ihn plötzlich mit tiefer Scham. Und in diesem Moment erkannte er mit absoluter Gewissheit, was er zu tun hatte. Als Reubair die Treppe hinuntergestürmt kam und versuchte, ihn zur Seite zu stoßen, legte Trefor ihm eine Hand auf die Brust und murmelte: »Der Mann, den Ihr töten wollt, ist oben.« Er ließ das Bild von König Dagda vor sich entstehen und übertrug es mittels der maucht, die er im Lauf der letzten Stunde aufgebaut hatte, auf Reubair. Die Energie, die der Feenlord ausstrahlte, ließ sich lächerlich leicht umlenken; Reubair war so wütend, dass er keine Kontrolle mehr darüber hatte. Er blieb wie angewurzelt stehen, krallte die Finger in die rauen Steine der Wand und keuchte vor Zorn und Verwirrung. Seine Augen wurden stumpf, dann begannen sie wieder zu funkeln. Trefor wiederholte den Zauber. »Er ist oben. Tötet ihn.« Reubair blickte die Treppe hinauf. Ein undefinierbarer Laut entrang sich seiner Kehle, dann krächzte er: »Dieser Bastard! Er hat sein Leben verwirkt!«, und Trefor wusste, dass er den König meinte. Reubair fuhr herum, um die Stufen wieder hoch‐zujagen, und Trefor folgte ihm. 122
SIEBZEHNTES KAPITEL
»Reubair!« Lindsay stand oben auf dem Treppenabsatz, als sie hörte, wie die Schritte zurückkamen. Erleichterung durchströmte sie. Er ging nicht zum Kerker hinunter. Doch dann machten die Schritte ein Stockwerk unter ihr halt. Dort lagen die Gästekammern. Das Gemach des Königs. Sie raffte ihre Röcke und eilte hinunter. Dort, wo der Treppenabsatz in den ersten Vorraum mündete, stieß sie auf Trefor, der sich an ihr vorbeidrängen wollte. Sie packte den Ärmel seiner Tunika und hielt ihn fest. »Was ist passiert?«, fragte sie. »Vielleicht kannst du mir das sagen.« Er war vom schnellen Laufen außer Atem, seine Augen blickten leicht glasig. »Reubair weiß, dass Alex unten im Kerker ist. Er wird ihn und Patrick umbringen.« Panik wallte in ihr auf, und sie schluckte hart. »Das wird er nicht tun. Aber du musst die beiden von hier fortbringen. Ihr müsst alle drei sofort von hier verschwinden. Nein, keine Widerrede. Holt meine Pferde aus dem Stall und macht, dass ihr weggkommt.« »Und wie willst du ohne Pferd von hier...« »Ich stehle eines«, unterbrach er sie sichtlich entnervt. Sie seufzte und nickte. Natürlich, was sonst. »Ich kann euch Reubair nicht lange vom Hals halten«, fuhr Trefor fort. »Sowie er merkt, was geschehen ist, wird er vor 122
Wut schäumen. Du musst Alex und Patrick aus dem Kerker befreien. Jetzt sofort!«
»Wie soll ich das denn anstellen?« Sie sah keine Möglichkeit, das in die Tat umzusetzen, was Trefor von ihr verlangte. »Tu es einfach. Schüttele diesen verwünschten Zauber ab, dann weißt du, was du zu tun hast. Achte nur darauf, dass du die beiden anderen nicht zum Tor führst. Halte dich hinter Alex, lass Patrick voranreiten, dann kannst du das Tor passieren. Danach hat Reubairs Magie keine Macht mehr über dich.« »Was wird aus dir?« Ein Schleier legte sich vor seine Augen, was in ihr den Wunsch auslöste, ihn mit einem Haufen weiterer Fragen zu überschütten. Doch er erwiderte nur: »Mach dir um mich keine Gedanken. Ich komme später nach.« Lindsay hegte diesbezüglich einige Zweifel, aber ihr blieb keine Zeit, sich auf eine Diskussion mit ihm einzulassen. Also nickte sie nur und ließ ihn in der Kammer zurück. Er würde schon mit Reubair fertig werden. Ihre langen Röcke behinderten sie beim Laufen, und in der großen Halle hatte sie endgültig genug von der Stolperei. Sie zog einen Dolch, der mitsamt den Waffen aller anderen Ritter, die zu Besuch in der Burg weilten, neben der Tür an der Wand hing, aus der Scheide, kürzte den Rock ihres Überkleides mit einem raschen Schnitt auf Tunikalänge und riss das untere Ende ihres Hemdes ab, sodass auch dieses ihr nur noch bis zum Knie reichte. Ihre bloßen Beine waren jetzt feindlichen Klingen schutzlos ausgesetzt, aber sie konnte sich wenigstens nicht mehr in den Stoffbahnen verfangen, stolpern und so ein leichtes Opfer für einen Gegner werden. Mit dem Dolch in der Hand drang sie in die unteren Regionen des Turms vor. Vor Erregung schwer atmend huschte sie die Stufen hinunter. Sie empfand es als geradezu belebend, die Dinge endlich wieder selbst in die Hand nehmen zu können, und fühlte sich so hell 123
wach und frisch wie kurz vor einer Schlacht. Es war möglich, dass sie heute den Tod fand, aber statt sich davor zu fürchten, nahm sie diese Möglichkeit als gegeben hin. Ihre einzige Angst bestand darin, dass es ihr vielleicht nicht gelang, Alex zu befreien; nichts sonst zählte für sie. Konzentriere dich, befahl sie sich energisch. Befreie erst einmal dich selbst von diesem Zauber. Am Fuß der Treppe angelangt eilte sie durch die von Fackeln erleuchteten Kammern, dabei hielt sie den Dolch hinter ihrem rechten Oberschenkel verborgen, damit er nicht gleich gesehen werden konnte. Der Wärter im Vorraum hörte auf, sich hingebungsvoll zu kratzen, und blickte auf, als sie eintrat. Seine Augen weiteten sich angesichts ihrer ungewöhnlichen Aufmachung, und er zog die Hand von seiner Hose weg. »Seid Ihr gekommen, um wieder einmal ein bisschen Spaß zu haben, Mylady?« Er wirkte verwirrt, als er von seinem Stuhl aufsprang, aber in seinen Augen glitzerte die leise Hoffnung, sie könne diesmal gekommen sein, um ihm selbst ein wenig Vergnügen zu verschaffen. »Öffne die Zelle des Priesters.« Sie deutete mit dem Kinn zu der schweren, eisenbeschlagenen Holztür hinüber. »Ist etwas nicht in Ordnung, Mylady? Ich muss gestehen ...« »Nimm einfach den Schlüssel und schließ die Tür auf.« Seine Lider flatterten misstrauisch. Er war kein Geistesriese, aber auch nicht so beschränkt, um nicht zu merken, dass irgendetwas nicht stimmte. Und sie hatte keine Zeit, ihm eine glaubhafte Lügengeschichte aufzutischen. Er schüttelte den Kopf. »Ich denke, heute hole ich lieber die Erlaubnis des Herrn ein.« Lindsay hob drohend den Dolch. »Mach ... die ... Tür ... auf!« »Legt das Messer weg und kommt mit jemandem wieder, der befugt ist, mir Befehle zu geben.« 123
Verdammt. Sie würde diesem Idioten beweisen müssen, dass sie es bitterernst meinte. Blitzschnell holte sie mit dem Dolch aus und ritzte ihm mit der Spitze die Haut am Kinn auf. Sein Kopf flog nach hinten, seine Augen quollen aus den Höhlen, er sprang zurück und tastete nach der Wunde. Als er das Blut an seinen Fingern sah, rang er erstickt nach Atem. »Ihr habt mich verletzt!« »Ich werde dich töten, wenn du nicht endlich die verdammte Tür öffnest!« »Ich blute!« Er schien über den Schock, einen kleinen Kratzer davongetragen zu haben, gar nicht hinwegzukommen. »Tür auf, habe ich gesagt!« Endlich nahm er sie wieder bewusst zur Kenntnis. Seine Miene verfinsterte sich. »Elende Hure!«
Lindsay seufzte. Warum fiel Männern nie etwas anderes ein, wenn sie eine Frau beleidigen wollten? Wieder hob sie den Dolch und trat einen Schritt auf den Wärter zu. »Tu, was ich dir sage, oder bereite dich auf dein Ende vor.« Sie würde ihn verschonen, wenn er nur endlich gehorchte. Aber begriffsstutzig, wie er war, erkannte er nicht, dass sie weitaus gefährlicher war als er. Er holte aus, um ihr einen Fausthieb zu versetzen. Lindsay wich geschickt aus und rammte ihm den Dolch bis zum Heft in den Leib. Der Wärter schrie vor Schmerz gellend auf, umklammerte seinen Bauch, sowie sie die Klinge wieder herausgerissen hatte, taumelte zurück und begann krampfhaft zu würgen; ein ekelerregendes Geräusch, das ihr Übelkeit verursachte. »Du hirnloser Idiot! Warum musstest du mich zwingen, dich zu töten?« Der widerliche Gestank, der sich im Raum ausbreitete, verriet ihr, dass sie ihm die Eingeweide aufgeschlitzt hatte. Der Mann würde an seiner Wunde sterben, vielleicht nicht sofort, aber in absehbarer Zeit. Auch ihm war klar, dass seine Stunden gezählt waren; sie sah diese entsetzliche Erkenntnis 124
in seinen Augen aufflackern, ehe er sich erneut auf sie stürzte. Wohl wissend, dass der Tod für ihn eine Erlösung darstellen würde, hob sie den Dolch und trieb ihm die Klinge mit aller Kraft ins Herz. Ein Blutschwall ergoss sich über ihre Hand und durchtränkte den Ärmel ihres Kleides. Der Wärter brüllte vor Qual auf, dann sackte er auf dem Boden zusammen. Ein letztes Zucken lief durch seinen Körper, dann rührte er sich nicht mehr. Lindsay starrte voller Abscheu auf ihn hinab und versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, dass der Mann seinen Tod selbst herausgefordert hatte. Dann wischte sie das Blut von ihrem Dolch und ihrem Arm ab, so gut es ging, löste den Schlüsselring vom Gürtel des Wärters und lief zu den Zellen. Alex schlug mühsam die Augen auf. Ein Tumult draußen vor der Zelle hatte ihn aus einem unruhigen Schlummer gerissen. Er hörte Lindsays Stimme; sie drohte jemandem, ihn zu töten. Er hob den Kopf, und Patrick tat es ihm nach. »Was ist da los?« Patrick lauschte kurz. »Irgendjemand hat sich das Missfallen der Gräfin zugezogen«, erwiderte er dann. Alex kicherte leise. »Armer Teufel.« Auch Patrick lachte, aber es klang matt und kraftlos. Seit Lindsays letztem Besuch hatten sie keinen Bissen mehr gegessen und in der Nacht zuvor den letzten Tropfen Wasser verbraucht. Ein Schlüssel rasselte im Schloss, die Tür wurde aufgestoßen, und der Schein der Fackel im Nebenraum fiel in die Zelle. Patrick und Alex schauten verwundert auf, als Lindsay in das winzige Verlies stürmte. »Alex, steh auf. Patrick, helft mir, ihn auf die Beine zu stellen.« »Das schaffe ich schon alleine«, protestierte Alex, obwohl seine Ellbogen zitterten, als er versuchte, sich vom Boden hoch 124
zustemmen. Patrick und Lindsay ergriffen seine Arme und zerrten ihn hoch, bis er auf wackeligen Beinen aufrecht stand und sichtlich Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten. »Was ist passiert?« Mit tränenden Augen blinzelte er in das ungewohnte Licht. »Wir müssen hier weg. Reubair weiß, dass du hier bist. Er will dich umbringen!« »Wo ist er jetzt?« »Keine Ahnung. Trefor hält ihn uns mit irgendwelchen Mitteln vom Leib, aber ich weiß nicht, wie lange ihm das gelingt.« Lindsay legte einen Arm um Alex' Schulter und bedeutete Patrick, dasselbe zu tun. Alex musterte Lindsay fragend. »Trefor ist wirklich hier?« Also hatte Patrick doch nicht nur geträumt. »Ja. Er ist hergekommen, nachdem er erfahren hat, dass Reubair mich hierher verschleppt hat. Aber dann ist irgendetwas geschehen ‐ was, weiß ich nicht. Er hat nur gesagt, wir sollen seine Pferde aus dem Stall holen und verschwinden.« »Trefor ist hier?«, wiederholte Alex benommen. Trefor war tatsächlich gekommen, um ihnen zu helfen. »Ja. Jetzt komm, wir müssen machen, dass wir hier wegkommen.« Alex atmete tief durch und begann einen Fuß vor den anderen zu setzen. Patrick und Lindsay stützten ihn, denn seine Knie zitterten, aber die Aussicht auf baldige Freiheit verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Doch dann blieb er plötzlich stehen und sah Lindsay an. Seine Frau. »Was ist denn?«, fragte sie leise. Unüberhörbare Ungeduld schwang in ihrer Stimme mit, und er stellte mit einem Mal fest, wie sehr er diesen Tonfall liebte. Er liebte alles an ihr, sogar das zerlumpte, blutverschmierte Kleid, das sie trug. Auf Patrick gestützt, einen Arm um Lindsays Schulter gelegt, beugte er sich vor und suchte ihre Lippen. Sie erwiderte sei 124
nen Kuss, dabei strich sie mit einer Hand über seine bärtige Wange. Und dann sah sie ihm tief in die Augen, sagte aber nichts, denn sie verstanden sich auch ohne Worte. Einen Moment später verließen sie die Zelle und stolperten durch die Kammern des unterirdischen Verlieses. Alex' Zuversicht sank, als er eine lange, steile Treppe vor sich aufragen sah. Die steinernen Wände schienen sich wie ein Mausoleum um ihn zu schließen, und der einzige Ausweg führte diese Stufen empor. Er holte tief Luft und wappnete sich für den Aufstieg, dann begann er sich die Treppe hochzuquälen; bewältigte eine Stufe nach der anderen, ohne sich eine Verschnaufpause zu gönnen. Er wusste, dass ihrer aller Leben verwirkt war, wenn sie nicht so schnell wie möglich aus der Burg flohen. Als sie die große Halle erreichten, war er mit seinen Kräften am Ende, rang erstickt nach Luft und kämpfte gegen einen würgenden Brechreiz an. Jede Faser seines Körpers schmerzte, der Schweiß rann in Strömen über sein Gesicht und seinen Hals. Jeder Schritt bedeutete eine neue Herausforderung. Die Tortur schien kein Ende nehmen zu wollen. Lindsay und Patrick schleiften ihn unerbittlich weiter. Ihm blieb keine Zeit, eine kleine Pause einzulegen, um neue Kräfte zu sammeln. Sie mussten weiter, so rasch wie möglich von hier fort. Die große Halle war leer. Eigenartig. Normalerweise wimmelte es in diesen Hallen stets von Rittern und Höflingen. Irgendwo ertönte Geschrei; von wo es kam, konnte Alex nicht sagen, und er dachte auch nicht weiter darüber nach, sondern stützte sich so schwer auf Lindsay und Patrick, wie er es wagte, und trat mit ihnen in den Burghof hinaus. Das helle Tageslicht blendete ihn, er kniff die Augen zusammen und blickte sich blinzelnd um. Der Hof lag verlassen da, keine Menschenseele war zu sehen. Lindsay führte die beiden Männer zu den Ställen. Sie waren ebenfalls leer, was ihm noch merkwürdiger vor 125
kam, denn er hatte damit gerechnet, hier zumindest ein paar Stallburschen vorzufinden, die die Pferde versorgten. Alle Burgbewohner sowie sämtliche Bedienstete schienen anderswo beschäftigt zu sein. Glück für ihn, Pech für Reubair. Er schöpfte neuen Mut, und seine Lebensgeister hoben sich wieder. Lindsay blieb stehen und lauschte dem Tumult in der Ferne. »Der Aufruhr hat mit Dagda zu tun«, sagte sie dann. »Irgendetwas Furchtbares spielt sich da ab. Ich höre Trefor und Reubair.« Sie gab Alex frei, der schwer gegen Patrick sackte. »Ich muss ...« »Mylady«, beschwor Patrick sie drängend. »Wir müssen hier weg.« Alex fragte sich, wem Lindsay zu Hilfe eilen wollte ‐ Trefor oder Reubair. »Bitte, Mylady.« »Trefor ...« »Ihm wird nichts geschehen. Gott hält seine schützende Hand über ihn.« Lindsay zögerte kurz, dann legte sie sich ohne ein weiteres Wort wieder Alex' Arm um die Schulter. Sie schritten durch den Stall und hielten nach geeigneten Pferden Ausschau. »Hier«, meinte Lindsay. »Die Tiere kommen mir bekannt vor, sie müssen Trefor gehören.« »Es sind meine.« Alex rang nach Atem. Das Sprechen strengte ihn an. Er erkannte sein Lieblingsschlachtross, den Hengst mit den schlanken Fesselgelenken. »Auf dem hier bin ich her‐ geritten.« »Gut. Dann wissen wir ja, dass es sich lohnt, ihn zu stehlen.« Alex streckte sich mit einem leisen Stöhnen und krallte eine Hand in die Mähne des Hengstes. Sein ganzer Körper schien nur aus Schmerzen zu bestehen. Im Stall war es warm. Er hatte 125
fast vergessen, wie Wärme sich anfühlte, und er verspürte den geradezu überwältigenden Drang, sich auf einen Strohhaufen fallen zu lassen und zu schlafen. Lindsays Finger gruben sich in seine Schulter, und sie wies ihn scharf an, auf das Pferd zu steigen. Es trug weder Sattel noch Steigbügel. Normalerweise hätte ihm das keine Probleme bereitet, aber heute bezweifelte er, dass er sich in seinem angeschlagenen Zustand aus eigener Kraft auf einem galoppierenden Pferd halten konnte. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich brauche einen Sattel.« Aber es war kein Sattel zu finden. Auch kein Zaumzeug. Er würde das Pferd mit Hilfe des Riemens lenken müssen, den Patrick ihm um den Kopf schlang. »Es muss ohne Sattel gehen«, entschied Lindsay. »Steig hinter mir auf und halt dich an mir fest.« Sie trat auf einen Schemel und schwang sich auf den Rücken des Pferdes, dann riss sie ihr Hemd bis zum Oberschenkel auf, um sich die nötige Beinfreiheit zu verschaffen. Patrick half Alex, hinter ihr aufzu‐ sitzen, dann stieg er auf sein eigenes Pferd. Alex presste die Knie gegen den Rumpf des Schiachtrosses, schlang einen Arm um Lindsays Taille und krallte die andere Hand in die Mähne des
Tieres. Obwohl er aufgrund seiner Krankheit viel Gewicht verloren hatte, war er immer noch schwerer als Lindsay. Wenn er nicht mithalf, würde sie ihn allein nicht auf dem Pferd halten können. Er schluckte hart, und Patrick trieb sein Pferd an, um voranzureiten. Sie galoppierten aus dem Stall heraus und die Straßen von Finias entlang. Eine Menge Schaulustiger hatte sich im Hof versammelt, um den am Eingang zum Garten ausgebrochenen Tumult neugierig zu verfolgen. Einige starrten die Flüchtenden an, aber keiner sah sich genötigt, einen Versuch zu unternehmen, sie aufzuhalten. Was geht mich das an?, schien die allgemeine Devise zu lauten. Sollte sich doch jemand anderes des Problems annehmen. Lindsay stellte aufatmend fest, dass ih 126
nen niemand besondere Beachtung schenkte. Mit etwas Glück würde es ihnen gelingen, unbemerkt zu entkommen. Aber nein, dieses Glück war ihnen nicht beschieden. Ein Wachposten im Burghof sah sie, schlug Alarm und rannte zu den Ställen. Alex drehte sich um und sah eine Gruppe von Rittern zu ihren Pferden eilen. Die Hetzjagd hatte begonnen. Alex wandte sich wieder nach vorn. Mit einem Mal meinte er, zwei Straßen vor sich zu sehen, wie auf einem doppelt belichteten Foto. Er zwinkerte verwirrt. Lindsay schrie Patrick zu, langsamer zu reiten. Der Abstand zwischen ihnen durfte nicht zu groß werden, sonst würde Reubairs Zauber sie von dem Priester trennen, und sie würde das Tor nie erreichen. Patrick wartete, bis sie ihn eingeholt hatten, dann ritten sie weiter auf das Fallgitter zu. Der Wächter dort hatte den Alarm gehört, das Gitter wurde bereits langsam heruntergelassen. Lindsay fluchte gotteslästerlich und trieb das Schlachtross zu einem noch schnelleren Galopp an. »Vorwärts, Patrick! Achtet darauf, dass ich Euch nicht überhole!« Auch Patrick stieß seinem Pferd die Fersen in die Flanken, und die drei Flüchtlinge jagten in einem wahnwitzigen Tempo auf das Tor zu. Als sie sich unter dem sich herabsenkenden Gitter hinwegduckten, streiften Alex und Lindsay einen der eisernen Dornen, gelangten aber trotzdem unversehrt auf die andere Seite. Patricks Pferd geriet ins Straucheln, fing sich jedoch wieder und galoppierte mit trommelnden Hufen weiter. Als das Gitter den Boden berührte, hatten sie Finias bereits ein Stück hinter sich gelassen. Hinter ihnen brandete Gebrüll auf; ihre Verfolger befahlen dem Torwächter, das Fallgitter augenblicklich wieder hochzuziehen und ihnen Durchlass zu gewähren. Lindsay blickte sich noch einmal kurz um. Sie hatten einen kleinen Vorsprung. Einen sehr kleinen. 126
Trefor stürzte in das Schlafgemach des Königs und fand es verlassen vor. Das Bett war aufgedeckt, aber niemand hatte darin geschlafen. Wie es aussah, war Dagda an seinem Nickerchen gehindert worden, von Reubair vermutlich. Aber wohin war der Feenlord verschwunden? Verwirrt drehte Trefor sich langsam um die eigene Achse. Hätte Reubair die Kammer durch die Tür verlassen, hätte er ihm auf der Treppe begegnen müssen. Einen Moment lang fragte sich Trefor, ob der Kerl sich seiner magischen Kräfte bedient hatte, um sich in Luft aufzulösen. Für unmöglich hielt er das nicht. Ein Stöhnen hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken. Er folgte dem Geräusch und sah einen verwundeten Feenkrieger auf dem Boden hinter dem Bett liegen. Reubair war demnach hier gewesen, und Dagda anscheinend ebenfalls, denn der Ritter gehörte zu seinen Leibwächtern; es war der Mann, mit dem sich Trefor beim Essen so angeregt unterhalten hatte. Sein Gesicht war mit Schnittwunden übersät, ein Bein von einer Klinge aufgeschlitzt worden, aber er würde am Leben bleiben, der Blutverlust war nicht allzu groß. Trefor trat über den Ritter, dessen Gesicht sich vor Angst und Schmerz zu einer Fratze verzerrt hatte, hinweg und zog einen Gobelin zur Seite, der an der Wand auf der anderen Seite des Raumes hing. Aha. Er verdeckte eine Öffnung in der Mauer. Trefor schob den Kopf hinein. Pechschwarze Finsternis umfing ihn. Er ging in die Kammer zurück, nahm eine brennende Kerze vom Tisch neben dem Bett und zwängte sich dann in den Gang hinter dem Wandbehang. Der Gang führte steil nach unten; er bestand teils aus groben Stufen, teils aus glitschigem Stein, und Trefor begriff, dass er in das natürliche Felsgestein neben dem Bergfried gehauen worden war. Nach einiger Zeit endete der Tunnel abrupt. Sackgasse. Trefor konnte nirgendwo einen Ausgang entdecken, bis er die Ker 126
ze über seinen Kopf hielt und nach oben blickte. In den Stein eingemeißelte Sprossen wiesen darauf hin, dass der Weg direkt in das Dunkel über ihm führte. Trefor fragte sich, wie tiefer sich wohl unter der Erde befand und wie weit er vom Turm entfernt war. Mit der tropfenden Kerze in der linken Hand erklomm er die Sprossen und stieß auf eine Eisentür. Sie war so flach und rund wie ein Schachtdeckel. Und schwer. Er stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Der Deckel öffnete sich knirschend, ein Schauer aus Sand und feinem Schmutz ergoss sich über ihn. Er spie kräftig aus, dann stieß er den Deckel ganz auf, schob ihn zur Seite und hangelte sich ins Freie. Er fand sich im Garten zwischen dem Turm und den Ställen wieder. Der Tunneleingang war mit Gestrüpp überwuchert und kaum zu erkennen, obwohl Trefor direkt daneben stand. Nachdem er den Deckel wieder an seinen Platz geschoben und etwas Laub darauf verteilt hatte, war er nahezu unsichtbar geworden. Trefor blies die Kerze aus und hielt nach Reubair Ausschau. »Zu Hilfe!« Das war eindeutig Dagda. Trefor drehte sich um und lauschte, um festzustellen, woher die Stimme kam. »Mord! Feiger Mord!« »Reubair!« Trefor rannte in die Richtung der Stimme, konnte aber niemanden sehen, bis er über einen weiteren Feenritter stolperte. Dieser war tot, sein Schwert lag neben ihm. Wie es aussah, hatte Reubair Trefors Rat beherzigt. Er beabsichtigte, den König zu töten. Im Dickicht zu Trefors Linken raschelte etwas. Er lief weiter, dabei rief er erneut Reubairs Namen. Er wusste nicht, ob er ihn ermutigen oder von seinem Tun abhalten sollte. Noch vor einigen Minuten war er selbst entschlossen gewesen, Dagda eigenhändig zu töten, aber inzwischen hatten ihn leise Zweifel beschlichen. Jetzt fragte er sich, ob Morag ihn lediglich für ihre 127
eigenen Pläne einspannen wollte und er am Ende der Dumme sein würde. Das sähe ihr ähnlich, und sie verstand sich darauf, ihn zu manipulieren, ohne dass er es merkte. Er kämpfte sich durch ein Dornengestrüpp und stieß endlich auf Reubair, der Dagda im Dickicht vor der Gartenmauer in die Enge getrieben hatte. Der König war unbewaffnet, blutete aus zahlreichen Wunden, und seine Augen flackerten vor Entsetzen. Er streckte eine Hand mit nach außen gekehrter Handfläche vor ‐ ein Abwehrzauber ‐, aber seine Ellbogen zitterten bereits vor Anstrengung. Reubair spielte mit ihm wie eine Katze mit einer Maus; er kostete seine Macht über den Feenkönig in vollen Zügen aus. Aus den Schnitten an Dagdas Unterarmen rann Blut über seine Hände, er rang mühsam nach Atem, und die Farbe wich langsam aus seinem Gesicht; ein sicheres Zeichen dafür, dass seine Kräfte nachließen. Als er Trefor sah, war seine Erleichterung fast greifbar zu spüren. Reubair fuhr herum, als er merkte, dass jemand hinter ihm stand, und ging blitzschnell auf Trefor los, der seinen eigenen Dolch aus dem Gürtel riss, um sich zu verteidigen. Er wehrte Reubairs Angriff ab und versetzte ihm gleichzeitig einen harten Schlag auf den Mund. Reubair gab keinen Laut von sich, obwohl seine Lippe aufplatzte und das herausquellende Blut seine Zähne rötlich verfärbte. Er schüttelte nur mit einem unmutigen Knurren den Kopf, sodass die Blutstropfen in alle Richtungen flogen. Trefor drang erneut mit seinem Dolch auf ihn ein. Reubair parierte den Angriff und wich ein paar Schritte zurück. Trefor folgte ihm; trieb ihn auf die Mauer zu, gegen die er kurz zuvor Dagda gedrängt hatte. Der König hielt mit einer Hand die Ränder einer tiefen Schnittwunde zusammen. Er rief noch immer lauthals um Hilfe. Im Burghof hinter dem Zugang zum Garten erhob sich Stimmengewirr; Männer kamen angerannt, darunter zahlreiche Ritter, von denen einige zu Reubair, andere zu Dagda gehörten. 127
»Ergreift ihn!«, donnerte der König, doch die Männer, die nicht wussten, wen sie packen sollten und die nur einen fairen Kampf sahen, zögerten, dem Befehl Folge zu leisten. Sie zogen zwar ihre Waffen, verhielten sich aber zunächst abwartend. Reubair griff erneut an. Trefor sprang zurück und wehrte den Hieb ab. Er wünschte, statt des Dolches ein Schwert in der Hand zu halten. Die Dolchklinge war nicht annähernd lang genug. Aber er führte eine Reihe rascher, gezielter Stöße gegen seinen Gegner, und es gelang ihm, Reubairs Hemdsärmel aufzuschlitzen. Die Seide verfärbte sich rot. Ein Funke von Angst glomm in Reubairs Augen auf. Trefor stieß einen verächtlichen Grunzlaut aus. Feigling. Er dachte daran, was der Feenlord seiner Mutter angetan und was er noch mit ihr vorgehabt hatte. Heiße Mordlust wallte in ihm auf; er holte wieder mit dem Dolch aus und traf seinen Gegner diesmal am Oberarm. Ein Blutstrom quoll aus der Wunde, was Trefor mit kaltem Triumph erfüllte. Reubair wich mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück. »Ich ergebe mich!« Seine Furcht vor Trefor hatte ihn den Sieg gekostet. Er hob die Hände, senkte den Kopf und wirkte mit einem Mal verwirrt, als
begreife er nicht, was ihm soeben widerfahren war. Kein Ton kam über seine Lippen, aber er wurde aschfahl, und sein Mund öffnete sich leicht. Er gab sein Spiel offenbar verloren. »Lass den Dolch fallen!« Reubair tat, wie ihm geheißen. Sein Kopf sank noch tiefer auf seine Brust. Auf Dagdas Befehl fassten zwei seiner Ritter den entwaffneten Feenkrieger bei den Armen. Reubairs Männer schienen nicht recht zu wissen, wie sie sich jetzt verhalten sollten. Zwei von ihnen packten Trefor, doch Dagda herrschte sie an: »An Reubair hat mich verraten. Gebt Sir Trefor augenblicklich frei.« Reubair wies die beiden scharf an, Trefor gehen zu lassen. 128
Trefor registrierte, dass sie ihrem Anführer noch immer widerspruchslos gehorchten. Kein gutes Zeichen. Die verwirrten, den Rittern des Königs zahlenmäßig unterlegenen Krieger traten ein Stück zurück. Dann blickte Reubair zu Trefor hinüber. Eine furchtbare Erkenntnis blitzte in seinen Augen auf. Trefor erschauerte. Reubair wusste, was auf der Treppe geschehen war. Er war jetzt ein gefährlicher Gegner, der aber mit etwas Glück nicht mehr lange genug leben würde, um sich an ihm rächen zu können. Die Leibwächter des Königs schleiften ihn aus dem Garten; vermutlich, um ihn unverzüglich als Verräter hinzurichten. Dagdas restliche Ritter scharten sich um den König, um ihn zur Burg zurückzugeleiten. Trefor blieb mit einer Schar Schaulustiger, die darauf warteten, was wohl als Nächstes geschehen würde, im Garten zurück. Er fragte sich, ob seinen Eltern inzwischen die Flucht gelungen war. Lindsay, die sich jetzt an die Spitze der kleinen Gruppe gesetzt hatte, zügelte das Schlachtross und ließ es im Schritt gehen. Da es doppelte Last zu tragen hatte, ließen seine Kräfte rasch nach, und sie mussten es schonen, damit es durchhielt. Es wurde Zeit, den Pfad zu verlassen und sich einen Weg durch den Wald zu bahnen. Sie würden äußerste Vorsicht walten lassen müssen, sonst liefen sie Gefahr, sich zu verirren und die Nebelwand, hinter der jener von Menschen bewohnte Teil Irlands lag, nie wiederzufinden. Im Wald war es dämmrig, obwohl die Sonne noch hoch am Himmel stand. Lindsay drehte sich um; sie hielt nach Orientierungspunkten Ausschau, die ihr vertraut erschienen. Sie war ziemlich sicher, dass sie auf dem Hinweg hier entlanggekommen war. Nach einem Blick zu den umliegenden Hügeln lenkte sie ihr Pferd in den Wald. Wenn sie großes Glück hatten, würden sie auf felsigen Untergrund oder einen seichten Bach 128
stoßen, und ihre Verfolger würden ihre Spur verlieren. Ihr Vorsprung war viel zu gering, und Lindsay hoffte wider besseres Wissen, Reubairs Männer würden die Stelle, wo sie vom Pfad abgebogen waren, nicht finden. Das Blut an ihren Händen begann einzutrocknen und bildete nun eine dünne Kruste. Sie versuchte, einen Teil davon an ihrem Kleid abzuwischen, aber es klebte zu fest an ihrer Haut. Beim Reiten zupfte sie immer wieder kleine Flöckchen von ihren Fingern. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie sich die Hände gründlich schrubben und ihre Nägel mit einem Holzspan säubern musste, wenn sie das Blut wegbekommen wollte. Im dichten Unterholz kamen sie nur langsam voran und hinterließen überdies noch eine nicht zu übersehende Spur. Endlich stießen sie auf einen kleinen Fluss in einem steinigen Bett und ritten eine Weile flussabwärts, obwohl sie die entgegengesetzte Richtung einschlagen mussten, aber es war wichtiger, ihre Verfolger in die Irre zu führen. Als die Dämmerung hereinbrach, beschloss Lindsay, hier irgendwo über Nacht zu rasten. Zu behaupten, sie würden ein Lager aufschlagen, wäre übertrieben gewesen. Sie hatten keinen Proviant dabei und keine Möglichkeit, ein Feuer zu entfachen, selbst wenn sie es gewagt hätten. Patrick war schweigsam und bewegte sich schwerfällig; seine Energie schien sich erschöpft zu haben. Alex kniete auf dem Boden, dann hockte er sich auf die Fersen und ließ den Kopf auf die Brust sinken. Seine Blässe jagte Lindsay Angst ein. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, und er presste einen Arm gegen seinen Magen, quer über die Wunde. Er sah aus, als würde er jeden Moment das Bewusstsein verlieren. Sie ging zu ihm hinüber und zog sein Hemd hoch. Die Wunde leuchtete flammend rot, das umliegende Gewebe war entzündet, aber sie sah nicht mehr ganz so schlimm aus wie noch einige Tage zuvor. An einem Ende hatte sich eine Eiterpustel gebildet. Lindsay bat ihn, sich auf den Rücken zu legen, damit 128
sie sie aufstechen konnte. Er stöhnte gequält, gehorchte aber, und sie öffnete die Pustel behutsam, sodass der Eiter abfließen konnte. Leider hatte sie keinen Alkohol zum Desinfizieren zur Hand, und sie wusste auch nicht, was man für die Umschläge verwenden musste, die die Frauen in der Burg in solchen Fällen auflegten. Alex würde aus eigener Kraft genesen müssen. Sie legten sich dicht nebeneinander auf dem Gras zum Schlafen nieder, um einander die größtmögliche Wärme zu spenden. Lindsay fiel jedoch lediglich in einen leichten Schlummer, denn sie lauschte mit einem Ohr ins Dunkel und schrak bei jedem Geräusch der Pferde sofort hoch. Die Kälte breitete sich langsam in ihrem ganzen Körper aus. Die Nacht zog sich dahin, und nach einiger Zeit schmiegten sie sich alle drei zitternd aneinander. Lindsay hätte nie gedacht, dass sie in Alex' Armen jemals vor Kälte schlottern könnte, und sie tastete immer wieder mit einer Hand nach seiner Brust, um sich zu vergewissern, dass er noch atmete. Wenn sie eindöste, plagten sie schlimme Albträume, in denen sie in den kalten, starren Armen eines Toten erwachte. Kurz vor Tagesanbruch begriff sie, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war. Aber Alex schlief tief und fest, sein leises Schnarchen hallte beruhigend durch die stille Dunkelheit. »Patrick?« Zu Alex' anderer Seite erwiderte der Priester mit einer Stimme, die verriet, dass er schon seit einer geraumen Weile hellwach war: »Ja?« »Wir müssen weiter.« »Wir sollten ihn schlafen lassen. Er braucht Ruhe.« Lindsay setzte sich seufzend auf. Ihr Haar hing ihr in wirren Locken ins Gesicht, ihre Kleider waren klamm und feucht, ihr Körper steif vor Kälte. Obwohl es noch immer dunkel war, fuhr sie mit einer Hand durch die Luft. »Vielleicht befinden wir uns schon näher bei der Nebelwand, als wir denken.« »Es wäre besser, wenn wir uns näher bei irgendeiner be 129
wohnten Behausung befinden würden, als wir denken. Ich glaube, der Earl und ich haben seit über zwei Tagen keinen Bissen mehr gegessen.« Auch Lindsay war hungrig, obwohl sie längst nicht so lange ohne Essen hatte ausharren müssen. Sie mussten sich dringend Nahrung beschaffen. Jetzt wünschte sie, die Dämmerung würde anbrechen, damit sie sich auf die Suche nach etwas Essbarem begeben konnte, aber noch zeigte sich nicht der leiseste Schimmer am Horizont. Wenn sie jetzt aufbrachen, würden sie sich hoffnungslos verirren. Sie fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, um es notdürftig zu entwirren, gab die Bemühungen aber bald auf, da es ihr nicht gelang, ihre zottige Mähne zu glätten. Dann betrachtete sie Alex' dunkle Umrisse am Boden und lauschte seinen Atemzügen. »Was für ein wundervolles Geräusch«, flüsterte sie. »Was denn?« »Alex' Atem.« Sie hörte Patricks Stimme an, dass er lächelte. »Er lebt für Euch.« »Manchmal denke ich das auch, und manchmal kann ich es kaum glauben.« »Ich muss gestehen, Mylady, dass mir ein Paar wie Ihr und der Earl noch nie begegnet ist. Noch nicht einmal König Robert, der in unseren Augen ein Held ist, hätte für seine Königin so viel auf sich genommen, wie es Euer Mann Euretwegen getan hat.« »Entweder liebt Robert seine Frau weniger, oder er war klüger als Alex.« Patrick gluckste leise. »So kann man es auch sehen.« In einem nahe gelegenen Farnbusch erklang ein leises Kichern. Lindsay schrak zusammen und blinzelte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, sah aber nur wabernde 129
Schatten und Tautropfen auf den Farnwedeln, die im Mondlicht glitzerten. Keine Bewegung. Kein weiterer Laut. Hmm. Auch Patrick starrte in das Unterholz; er hatte das Kichern gleichfalls gehört. Lindsay lief ein Schauer über den Rücken. »Was war das?«, wisperte sie. Patrick hob die Schultern, und sie fuhren fort, angestrengt ins Dunkel zu spähen. Dann ertönte ein Rascheln, eine leise Bewegung der Farnblätter, wie von einem kleinen Tier oder einem Windzug ausgelöst, aber es ging kein Wind, und das Rascheln wiederholte sich nicht. Obwohl sie lauschend sitzen blieben, bis die Sonne aufging und es hell genug zum Weiterreiten wurde, erklang das Geräusch kein zweites Mal. Trotzdem hinterließ es bei Lindsay ein seltsames Unbehagen. An diesem Tag kamen sie im dichten Wald noch langsamer voran als am Tag zuvor, denn sie wollten nicht auf den Pfad zurückkehren. Sich im Unterholz zurechtzufinden war mehr als mühsam, sie
konnten sich nur anhand der spärlichen Sonnenstrahlen orientieren, aber sie wagten nicht, den schützenden Wald zu verlassen. Gegen Mittag begann Alex im Sattel zu schwanken. Patrick sah Lindsay an. Sein Gesicht spiegelte tiefe Besorgnis wider. »Er muss etwas Handfesteres als Wasser in den Magen bekommen, sonst wird er sterben.« Lindsay wusste, dass auch Patrick ohne Essen nicht mehr lange durchhalten würde. Auch ihr eigener Magen grollte vor Hunger, ein Stadium, das die beiden Männer schon lange hinter sich hatten. Sie hielt nach Anzeichen dafür Ausschau, dass hier in der Gegend irgendjemand lebte, fand aber keine. Dann huschte im Unterholz ein Schatten vorbei. Lindsay hatte ihn nur aus den Augenwinkeln heraus wahrgenommen und war sich nicht sicher, ob sie nicht einer Sinnestäuschung erlegen war. Sie zügelte ihr Pferd, starrte die Stelle an und wartete. Nichts rührte sich.
130 Dann richteten sich mit einem Mal alle Härchen auf ihren Armen auf, als sie begriff, was sie da anstarrte. Obwohl sich noch immer nichts bewegte und sich ihr Sichtfeld auch nicht verändert hatte, erkannte sie inmitten der Farnblätter plötzlich ein kleines Gesicht, dessen Blick auf sie gerichtet war. Und es war schon die ganze Zeit dort gewesen. Hätte man sie gefragt, wäre sie versucht gewesen, dieses Gesicht als braun zu bezeichnen, obwohl es in Wirklichkeit nur etwas dunkler als ihr eigenes war. Die Augen schimmerten ebenfalls bräunlich, und der wirre Haarschopf wies einen etwas helleren Farbton auf. Sie konnte nicht sagen, ob die Züge männlich oder weiblich waren; sie wusste nur, dass dieses Geschöpf keinem Angehörigen der Feenvölker glich, die sie bislang gesehen hatte. Die Danann, die Bhrochan und sogar der Elf Nemed waren alle durchscheinend blass, nur auf ihren Wangen lag ein rosiger Hauch. Lindsay war in diesem Jahrhundert noch niemandem mit so dunkler Haut begegnet. Außerdem verhielt sich die seltsame Kreatur unnatürlich ruhig. Die Feen waren ständig in Bewegung; vor allem die Bhrochan wirkten immer hektisch und überdreht. »Hallo?« Das Gesicht zeigte keine Regung, nur die Augen weiteten sich kaum merklich. Auch Patrick starrte die Erscheinung stumm an. »Wer bist du?« Lindsay konnte ihre Neugier kaum bezähmen, mahnte sich aber, dass es als Erstes herauszufinden galt, ob sie von diesem Wesen etwas zu essen bekommen konnten. Sie erhielt keine Antwort. »Kannst du uns helfen?« »Wer verfolgt euch?« Die Stimme klang hoch, zwitschernd und abgehackt. Wie in den alten Zeichentrickfilmen mit den singenden Backenhörnchen wurden die Vokale leicht in die Länge gezogen und nach jedem Wort eine kleine Pause einge 130
legt; so, als sei Mittelenglisch nicht seine oder ihre Muttersprache und die Aussprache mit Schwierigkeiten verbunden. Lindsay überlegte, ob sie die Frage beantworten sollte, sie wusste ja nicht, auf welcher Seite dieses Geschöpf stand. Aber sie brauchte Hilfe, und entweder bekam sie sie jetzt oder gar nicht. »An Reubair, der Herr der Burg Finias«, erwiderte sie. »Wir waren seine Gefangenen, konnten aber entkommen und suchen jetzt den Rückweg in die Welt der Menschen.« »Menschen.« Der Ton drückte dieselbe Abscheu aus, die Lindsay oft bei den kleinen Leuten beobachtet hatte, wenn es um die menschliche Rasse ging. »Mir ist unbegreiflich, warum sich jemand die Mühe machen sollte, Menschen wieder einzufangen. Ein schmutziges, stinkendes, verschlagenes, gefährliches Pack.« »Ich bin ...« Lindsay schluckte das, was ihr beinahe herausgerutscht wäre, hinunter und sagte stattdessen: »Mein Mann ist ein Mensch.« Sie wandte leicht den Kopf und deutete auf den hinter ihr sitzenden Alex, der halb bewusstlos den Kopf an ihre Schulter lehnte. Die Kreatur musterte ihn scharf. »Das ist er. Aber du nicht. Du bist ...« »Eine Danann, ja.« »Und auf der Flucht vor Seiner Gnaden?« »Reubair ist kein guter Mann.« Die Antwort darauf bestand in einem harschen, verächtlichen Lachen, das ihr alles sagte, was sie wissen musste.
»Aber Alex ist ein guter Mann. Ich möchte, dass er am Leben bleibt, und wenn du ihm hilfst, wird er dich reich dafür belohnen.« »Das sagt sich so leicht.« »Es gibt viele, die ihm alleine deshalb helfen würden, weil sie es als ihre Pflicht betrachten.« 131
»Willst du damit andeuten, ich hätte kein Herz? Und kein Pflichtgefühl?« »Ich erinnere dich lediglich an deine Manieren, Wir sind dringend auf deine Hilfe angewiesen. Weist du uns ab, wird er sterben. Wenn du dich aber an die Gebote der Gastfreundschaft hältst, rettest du ihm das Leben. Er ist ein guter Mann, wie ich schon sagte, und verdient es, am Leben zu bleiben.« »Dir liegt offenbar viel an ihm.« »Ohne ihn bin ich nichts.« Die Kreatur grinste, dabei entblößte sie eine Reihe kleiner, scharfer weißer Zähne. »Dann müssen wir ihn retten, damit er dich retten kann. Immerhin bist du eine Danann.« Sie nickte nach rechts. »Wendet euch in diese Richtung. Es sind nur ein paar Schritte. Dort werdet ihr finden, was ihr braucht.« »Danke.« »Ihr tätet gut daran, sofort weiterzureiten, nachdem ihr euren Hunger gestillt habt.« »Keine Sorge, wir bleiben nicht länger in deinem Reich als unbedingt nötig.« Wieder gab das Wesen ein kehliges, geringschätziges Geräusch von sich. »Meinetwegen könnt ihr so lange bleiben, wie es euch beliebt, aber wenn ihr eure Haut retten wollt, solltet ihr sehen, dass ihr weiterkommt, denn eure Verfolger sind euch dicht auf den Fersen und werden euch hier finden, wenn ihr euch nicht beeilt.« Lindsay blinzelte. Furcht kroch in ihr hoch. »Nochmals vielen Dank. Wir werden deine Warnung beherzigen.« Ohne ein weiteres Wort zog sich das Gesicht zurück und verschwand. Es raschelte leise im Unterholz, dann trat Stille ein. Lindsay lauschte einen Moment, um zu hören, ob sich noch mehr dieser Geschöpfe in der Nähe aufhielten, aber sie hielt es nicht für ratsam, lange herumzutrödeln. Sie trieb ihr Pferd in die angegebene Richtung. Patrick folgte ihr. 131
Ein paar Schritte, hatte das Wesen gesagt. Aber nach ein paar Schritten gelangten sie zu einer Stelle, die sich durch nichts von der unterschied, an der sie eben gestanden hatten. Büsche. Stacheliges Ginstergestrüpp, fedrige Farne, kleine weiße und gelbe Blumen, ab und an auch eine violette. Lindsay kam sich wie eine Idiotin vor. Wie hatte sie nur ernsthaft glauben können, dieses seltsame Geschöpf hätte ihnen wirklich helfen wollen? »Ich bin eine Närrin.« »Seid Ihr da sicher?« Sie maß den Priester mit einem schwer zu deutenden Blick. »Allerdings. Lasst uns weiterreiten, bevor Reubairs Männer uns einholen.« Doch Patrick schüttelte den Kopf. »Nein. Wartet. Denkt einen Moment nach. Glaubt Ihr wirklich, dass dieses Wesen gelogen hat?« »Ich sehe hier weit und breit nichts Essbares.« »Wirklich nicht?« »Seht Ihr etwas?« Patrick blickte sich um. Seine Augen wurden schmal, ein Zeichen dafür, dass er angestrengt nachdachte. »Auf den ersten Blick nicht. Aber geht einmal davon aus, dass Ihr nicht belogen wurdet und dieses Geschöpf uns tatsächlich helfen wollte. Zu welchem Schluss kommt Ihr dann?« Lindsay seufzte. Angenommen, das Wesen hatte die Wahrheit gesagt. Das würde heißen, dass es hier irgendwo etwas Essbares gab, sie musste es nur finden. Sie sah sich suchend um. Ihr Blick schweifte über Bäume, Gras und Blumen. Hunderte und Aberhunderte kleiner weißer Blüten auf kurzen Stängeln. Sie bedeckten den ganzen Boden. »Was sind das für Blumen, Patrick?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte der Priester. »Ich habe sie schon einmal gesehen, aber ich kenne mich in der hiesigen Pflanzenwelt nicht gut aus. Ich bin in einer Stadt aufgewach 131
sen und habe später auf dem Kontinent studiert, wie Ihr wisst.« Als moderne Londonerin hatte Lindsay vermutlich noch weniger Ahnung von der irischen Flora als Patrick. Sie löste sich von Alex, der sich der Länge nach auf den Pferderücken sinken ließ, glitt von dem Schlachtross und kniete sich neben einem Blumenbüschel auf den Boden. Dann pflückte sie einen Stängel ab und schnupperte daran. Absolut geruchlos. Sie zwickte eine Blüte ab und legte sie sich auf die Zunge. Sie schmeckte gallebitter. Angewidert spuckte Lindsay sie wieder aus. »Un‐
genießbar, selbst für jemanden, der solchen Hunger hat wie ich.« Doch dann betrachtete sie nachdenklich die Erde, zog den Dolch aus ihrem Gürtel und begann die Wurzel auszugraben. Sie zerbrach mit einem leisen Knacken in zwei Teile, doch Lindsay grub beharrlich weiter, bis sie eine kleine, runde weiße Knolle zutage förderte. Patricks Augen weiteten sich verwundert. »Das ist ja eine Erdkastanie.« »Was soll das sein?« »Hier gibt es Erdkastanien.« Er sprang gleichfalls von seinem Pferd und nahm ihr die Knolle aus der Hand. Nachdem er die daran haftende Erde abgewischt hatte, schob er sich die Kastanie in den Mund, kaute vorsichtig, nickte und grinste. »Aye, Erdkastanien. Ich habe sie schon einmal gegessen, meine Gemeindemitglieder haben mir welche gebracht. Hier, probiert sie doch mal.« Lindsay grub eine weitere Knolle aus, säuberte sie und steckte sie in den Mund. Sie schmeckte leicht erdig, aber sie war so hungrig, dass sie sich nicht daran störte. Es war Nahrung, nur das zählte. Patrick griff nach dem Dolch und grub noch mehr Kastanien aus, während Lindsay Alex aus seinem Halbschlaf rüttelte und ihm half, vom Pferd zu steigen. Die gesamte Umgebung war mit Büscheln kleiner weißer Blumen übersät. Wenn 132
sie sich beeilten, konnten sie genug Proviant sammeln, um damit bis nach Irland zu kommen. Später an diesem Tag erreichten sie die Nebelwand und ritten hinein. Sie hatten ihre Verfolger abgeschüttelt, und bald würden sie an die Küste gelangen, um von dort aus den Heimweg anzutreten.
132
ACHTZEHNTES KAPITEL
Dagda befahl Trefor zu einer Audienz. Trefor war gerade in seiner Schlafkammer damit beschäftigt gewesen, seine Sachen zu packen, um nach Irland aufzubrechen und dort zu Alex' und seinen eigenen Männern zu stoßen, doch gerade als er zum Stall gehen wollte, um seine Pferde ‐ oder die eines anderen Ritters, falls seine eigenen ver‐ schwunden sein sollten ‐ zu satteln, klopfte einer von Dagdas Knappen an seine Tür und teilte ihm mit, dass der König ihn zu sehen wünschte. »Rattenscheiße«, murmelte er hinter dem Rücken des Boten. Der Feenknappe sah sich suchend um, konnte keine Ratte entdecken und huschte verwirrt davon. Trefor schnallte sich seinen Schwertgurt um, um dem Befehl Folge zu leisten, obwohl er ernsthaft erwog, sich heimlich aus dem Staub zu machen. Er wollte mit den Folgen dieses ganzen Schlamassels nichts zu tun haben. Vor allem wollte er nicht An Reubairs Hinrichtung beiwohnen müssen, denn obwohl Reubair den Tod verdient hatte, plagten Trefor leise Schuldgefühle, weil er auf eine so grausame Weise sterben würde. Die Burgbewohner tuschelten schon unablässig über eine neue Hinrichtungsmethode, die die Danann vor etwas mehr als zehn Jahren dem englischen König abgeschaut hatten. Reubair und die mit ihm verbündeten Edelleute, die gleichfalls im Lauf des Nachmittags verhaftet worden waren, würden als Verräter aufgehängt und bei leben
132 digem Leibe aufgeschlitzt werden und dann mit ansehen müssen, wie ihre Eingeweide vor ihren Augen verbrannt wurden. Trefors Magen drohte sich umzudrehen, wenn er nur daran dachte, deshalb wollte er die Burg so schnell wie möglich verlassen. Aber jetzt saß er in der Falle. Flüchtete er, erregte er vielleicht Verdacht und hatte dann Dagdas Ritter im Nacken. Dieses Risiko wollte er nicht eingehen. Er fand den König in Reubairs Audienzsaal und stellte bei sich fest, dass Dagda nicht lange gebraucht hatte, um sich in der Burg häuslich einzurichten. Warum auch nicht, ihm gehörte ja das ganze Land ringsum; vielleicht fühlte er sich deshalb überall wie selbstverständlich daheim. Im Raum wimmelte es von Feenkriegern, lauter getreuen Anhängern Dagdas, denn Reubairs Höflinge waren entweder eingekerkert worden oder geflüchtet, um ihr Leben zu retten. Trefor registrierte, dass der Glanz der Rüstungen von Dagdas Rittern den von Reubairs Kriegern sogar noch überstrahlte. Die Männer machten ihm Platz, als er den Saal betrat, auf das Podest zuschritt und mit gesenktem Kopf vor dem König auf ein Knie sank. »Eure Majestät.« Alle Augen ruhten auf ihm. Keiner der Ritter lächelte, und plötzlich fragte er sich, ob er gleich als Held gefeiert oder als Sündenbock verdammt werden würde.
Der König saß lässig zurückgelehnt in Reubairs thronähnlichem Stuhl; eine Pose, die ihn einiges an Selbstbeherrschung kosten musste, denn eine Feenfrau war gerade dabei, seine Wunden zu nähen. Auf dem Boden zu seinen Füßen stand eine große, mit rötlich verfärbtem Wasser gefüllte Silberschüs‐ sel. Die Frau befasste sich gerade mit einem Arm, den Dagda auf die Stuhllehne gelegt hatte. Blut tropfte auf die Steine und klebte an den Fingern der Fee, die die Nadel langsam und sorgfältig durch Dagdas Haut zog. Bei jedem Stich blähten sich seine Nasenflügel, aber ansonsten verzog er keine Miene.
133 Mit einer Handbewegung befahl er Trefor, sich zu erheben. Er schien den Schock, den er nach dem fehlgeschlagenen Mordanschlag erlitten hatte, schon wieder überwunden zu haben, doch Trefor ließ sich nicht täuschen. Der König durfte nach außen hin niemals Schwäche zeigen, egal, was ihm wider‐ fuhr, sonst lief er Gefahr, die Hochachtung seiner Untertanen zu verlieren, und das durfte sich in diesem Jahrhundert kein Herrscher erlauben. So gelassen, wie er auf dem Stuhl saß, der noch wenige Stunden zuvor Reubairs Platz gewesen war, erweckte er den Eindruck, über Nerven aus Stahl und die Ruhe eines Sommertages zu verfügen. Er nickte Trefor freundlich zu. »Ich verdanke Euch mein Leben, Sir Trefor.« Erleichterung durchströmte Trefor. Also doch Held und nicht Sündenbock. Er unterdrückte ein Lächeln und erwiderte mit fester Stimme: »Ich bin Euer Vasall, Majestät, und habe als solcher nur meine Pflicht getan, nichts weiter.« »Ihr habt Euch als treuer Gefolgsmann erwiesen, Sir Trefor. Bewährt Euch auch weiterhin so gut, dann werde ich Euch reich belohnen.« Trefor holte tief Atem. Mit einem Mal musste er an Robert denken. Er hatte ursprünglich darauf abgezielt, die Aufmerksamkeit des menschlichen Königs auf sich zu lenken und sein Wohlwollen zu erringen, so wie es sein Vater vor ihm getan hatte. Die Erkenntnis, dass ihm genau das nun beim König der Danann gelungen war, weckte widerstreitende Gefühle in ihm. So zwiespältig sein Verhältnis zum Feenvolk auch sein mochte, er konnte nicht länger leugnen, dass er einer der ihren war. »Folgt Ihr aber dem Beispiel An Reubairs, werdet Ihr dasselbe Schicksal erleiden wie er«, fuhr Dagda fort. »Ich dulde es nicht, dass sich jemand gegen mich stellt. Oder gegen Danu.« Als der Name der Göttin fiel, lief Trefor ein Schauer über den Rücken. Seine Gedanken wandten sich unwillkürlich Lindsay zu. Einen flüchtigen Moment fragte er sich, ob sie jetzt wohl 133
stolz auf ihn wäre, aber dann sagte er sich, dass ihre Meinung über ihn jetzt nicht mehr von Belang war. Eine Sekunde später brach die Hölle los. Alle Köpfe fuhren hoch, als an der Tür eine Stimme erscholl. »Majestät! Majestät, An Reubair ist entkommen!« Der Bote bahnte sich hastig einen Weg durch die Menge. »Er hat seine Bewacher getötet und ist geflüchtet, und er hat alle anderen Gefangenen mitgenommen!« Dagda blieb ruhig sitzen, belegte aber den Namen An Reubairs und aller seiner Nachkommen bis zur siebten Generation mit übelsten Flüchen. »In welche Richtung ist er geritten?« »Er hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass er bei Nemed Zuflucht suchen will«, stieß der Bote atemlos hervor. »Er ist schnurstracks Richtung Norden geflohen.« Dagda sah Trefor an. »Nun, Sir Trefor, hier bietet sich Euch eine gute Gelegenheit, Eure Fähigkeiten einmal mehr unter Beweis zu stellen. Bringt mir diesen Verräter zurück!« Trefor unterdrückte eine böse Verwünschung. Er verspürte nicht die geringste Lust, Reubairs Verfolgung aufzunehmen, wusste aber nicht, wie er sich aus dieser Zwickmühle herauswinden sollte. »Ich habe keine Männer bei mir, sie kämpfen alle anderswo.« Außerdem war seine Truppe noch dazu beklagenswert klein. »Nehmt ein paar von meinen mit.« Der König deutete auf fünf in der Nähe stehende Ritter und wies sie an, sich mit ihren Knappen bereitzuhalten. Dann wandte er sich wieder an Trefor. »Zusammen mit den Knappen stehen Euch dreißig bewaffnete Männer zur Verfügung, das sollte reichen. Führt sie auf direktem Weg zu Nemeds Ländereien. Wenn Ihr Glück habt, versucht Reubair, seine Spuren zu verwischen und verliert so Zeit, aber das halte ich für eher unwahrscheinlich. Er wird das Letzte aus seinem Pferd herausholen, um so schnell wie möglich zu Nemed zu gelangen.« 133
Nemed. Trefor hatte schon viel von dem Elf gehört, und niemals etwas Gutes. Aber er zuckte mit keiner Wimper. Ihm war klar, dass er jetzt nicht zögern und zu Ausflüchten greifen durfte, sonst würde der König ihm seine Gunst sofort wieder entziehen. Also nickte er knapp. »Aye, Majestät. Euer Vertrauen ehrt mich.« Dagda entließ ihn mit einem Winken, und Trefor verließ den Raum. Seine Miene spiegelte eine Zuversicht wider, die er ganz und gar nicht empfand. Sich auf Reubairs Fährte zu heften war nicht schwierig. Der Feenlord hatte offen zugegeben, welche Richtung er einschlagen wollte, baute vermutlich auf seinen Vorsprung und setzte auf Schnelligkeit. Trefor jagte ihm mit seinen Rittern im schärfsten Galopp hinterher. Vielleicht gelang es ihm ja doch, die Flüchtlinge einzuholen. Aber nachdem sie einige Stunden geritten waren und die Furt eines Flusses, den Trefor nicht kannte, durchquert hatten, beschlich Trefor ein merkwürdiges Unbehagen, das ihn bewog, sein Pferd zu zügeln und kurz haltzumachen. Er gebot seinen Männern mit erhobener Hand Schweigen, dann schnupperte er in die Luft, wo er den Hauch eines üblen Geruchs wahrnahm, den er nicht identifizieren konnte. Er sprang aus dem Sattel und betastete den Boden, dem gleichfalls eine schwache giftige Ausdünstung entströmte. Der Elf war ganz in der Nähe, Trefor konnte die böse Aura spüren, die ihn wie eine Pestwolke umgab. Obwohl er Nemed noch nie begegnet war, wusste er genug über ihn, um zu begreifen, was es mit dem Zorn, dem Hass und der abgrundtiefen Bosheit auf sich hatte, die er hier witterte. »Kehrt um«, befahl er seinen Rittern, nachdem er wieder auf sein Pferd gestiegen war. »Wir sind zu spät gekommen. Reubair hat sein Ziel erreicht.« Die Männer wandten sich ab, winkten ihre Knappen zu sich und ritten wieder zur Furt hinunter. 134
In einem kleinen, hügelaufwärts im Norden gelegenen Wäldchen brandeten plötzlich Gebrüll und Gejohle auf. Trefor riss sein Pferd herum und sah sich einigen Hundert Danann‐ und Menschenkriegern gegenüber, die auf ihn zugerannt kamen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und plötzlich wusste er mit absoluter Gewissheit, dass der Tag seines Todes gekommen war. Trotzdem zog er sein Schwert und befahl seinen Männern mit weithin hallender Stimme, zum Angriff überzugehen. Sie saßen dort unten am Fluss in einer tödlichen Falle; wenn sie die Furt durchquerten, was nur im Schritttempo möglich war, mussten sie ihren Gegnern dabei den Rücken zukehren und würden von diesen niedergemetzelt werden wie Schlachtvieh. Es war besser, sie fanden im Kampf statt auf der Flucht den Tod, und wenn sein eigenes Leben verwirkt war, würde er alles daransetzen, um vorher noch mit Reubair abzurechnen. Die Gegner drangen erbittert aufeinander ein; Feenschwerter blitzten auf und fraßen sich wie Kettensägen aus poliertem Silber ineinander. Trefor hielt im Kampfgetümmel nach seinem Erzfeind Ausschau, sah den hochgewachsenen blonden Feenritter auf sich zukommen, trieb sein Pferd an und holte mit seinem Schwert zu einem machtvollen Hieb aus. Reubair parierte im Vorbei jagen mit seiner Klinge, riss sein Pferd herum und stürmte erneut auf Trefor zu. Trefor begann, immer engere Kreise um seinen Gegner zu ziehen, und versuchte, ihn aus dem Sattel zu stoßen, damit er ihn mit seinem Schwert durchbohren konnte, wenn er hilflos am Boden lag. Doch plötzlich ergriff Reubair die Flucht und galoppierte auf die Bäume zu. Trefor setzte ihm blindlings nach. Unbändige Wut hatte ihn erfasst, er konnte nur noch daran denken, was dieser Hurensohn mit seiner Mutter angestellt hatte und was er ihr noch angetan hätte, wenn sie ihm nicht entkommen wäre. Was ihn betraf, so war Reubair schon so gut wie tot. Mitten im Wald lag eine mit struppigem Gras bewachsene
134 und mit Felsbrocken gesprenkelte große Lichtung. In der Mitte dieser Lichtung zügelte Reubair sein Pferd und wendete es, um Trefor hämisch anzufunkeln. Auch Trefor brachte sein Pferd mit einem Ruck zum Stehen, als er sah, wer hinter dem mit einem Mal von neuem Mut erfüllten Reubair stand. Es war das personifizierte Böse. Nemed, daran bestand für ihn kein Zweifel. Rote Augen glühten unter der hochgeschlagenen Kapuze eines dunklen Umhangs. Der Elf saß auf einem mächtigen schwarzen Hengst, der stocksteif dastand, aber dennoch wie eine sprungbereite Katze auf einen Befehl seines Herrn zu warten schien. Der Gifthauch in der Luft war hier so stark, dass Trefor kaum zu atmen vermochte, und einen Moment lang verspürte er den nahezu übermächtigen Drang, sein Pferd
herumzureißen und zu machen, dass er hier wegkam. Aber er bezwang sich und richtete den Blick fest auf Nemed und Reubair. »Du Narr«, zischte der Feenritter. »Ich bin nicht derjenige, der gerade sein gesamtes Lehen verloren hat.« Reubair wurde weiß vor Wut, presste die Lippen zusammen, gab seinem Pferd die Sporen und drang mit erhobenem Schwert auf ihn ein. Trefor parierte, wendete sein Pferd, um Reubair ins Gesicht sehen zu können, und beschrieb dann eine weitere Vierteldrehung, damit er zugleich Nemed im Auge behalten konnte. »Ich werde dich töten!« Reubair spie die Worte hasserfüllt aus. »Er wird mich töten.« Trefor deutete mit einer Kopfbewegung auf Nemed. »Aber erst, nachdem ich dir die Kehle durchgeschnitten habe.« Das Flackern in Reubairs Augen besagte deutlich, dass seine Gedanken in eine ähnliche Richtung gingen. Er trug keine Rüstung und war nur unzulänglich bewaffnet, Trefor dagegen hatte seine volle Rüstung und alle seine Waffen angelegt. Er 135
zwinkerte einen Schweißtropfen fort, der an seiner Wimper hing, und fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn, dann fragte er: »Was treibt Euch eigentlich zu Eurem Tun? Was versprecht Ihr Euch davon? Was habt Ihr zu gewinnen?« »Du hättest die Finger von Lindsay lassen sollen!« Trefor schwang sein Schwert drohend über dem Kopf. Reubair schüttelte verwirrt den Kopf, dann trat ein Ausdruck milder Verachtung auf sein Gesicht, und er straffte sich im Sattel. »Es geht also um Eure Base? Euch ist doch sicher klar, dass Ihr den heutigen Tag nicht überleben werdet, nicht wahr? Ihr opfert Euch wegen einer Frau, was schon alleine unbegreiflich ist, aber noch dazu um einer Frau willen, mit der Euch nur eine entfernte Verwandtschaft ver...« »Sie ist seine Mutter.« Reubair sah Nemed ungläubig an. »Sie ist was?« Die Stimme des Elfs durchschnitt die Luft auf der Lichtung wie die Klinge eines Zweihänders. »Lindsay MacNeil ist seine Mutter.« Reubair schien die Welt nicht mehr zu verstehen. »Das ... das ist unmöglich!« »Der Mann, den Ihr vor Euch seht, wurde vor weniger als zwei Jahren gezeugt und siebenhundert Jahre von unserer Zeit entfernt in der Zukunft geboren.« Reubair schnaubte gereizt. »Unsinn. Ihr redet wie ein Bhroch...« Dann dämmerte ihm, worauf der Elf hinauswollte. »Ah. Ein Wechselbalg kehrt zu seiner Familie zurück und findet nicht das vor, womit er gerechnet hat. Ich verstehe.« Seine Lippen krümmten sich zu einem boshaften Grinsen, das in Trefor den Wunsch erweckte, ihm auf der Stelle den Kopf abzuschlagen. Der blonde Feenkrieger fuhr mit vor Hohn triefender Stimme fort: »Stammt Eure Mutter auch aus dieser anderen Zeit? Und Euer Vater? Das würde allerdings manches erklären.« 135
Zur Antwort hob Trefor sein Schwert und stieß seinem Pferd die Fersen in die Flanken. Doch noch bevor das Tier losgaloppieren konnte, hob Nemed eine Hand, und Trefor meinte, zu Eis zu erstarren. Ein sengender Schmerz schoss durch seinen Körper, er schrie laut auf, aber der Schrei drang nicht über seine Lippen, sondern blieb in seiner Brust stecken und schüttelte ihn, bis seine Knochen zu zerbersten drohten. Reubair lachte schallend auf, dann ließ er seine Klinge aufblitzen und holte mit einer fast nachlässig anmutenden Bewegung aus, um Trefor den Todesstreich zu versetzen. Doch im nächsten Moment entglitt das Schwert seiner behandschuhten Hand und landete im Gras, und sein Arm sank schlaff herab. Aus den Augenwinkeln heraus sah Trefor eine schimmernde Gestalt die Lichtung betreten; eine Frau mit hellem Haar, die ein hellblaues Kleid im alten Stil trug. Eine Hand hielt sie in einer warnenden Geste erhoben. Trefor ahnte, was sie beabsichtigte. Sie drohte Reubair und Nemed mit einem Zauber. Das Zittern, das durch ihren Arm lief, verriet ihm, dass sie schon viel von ihrer Macht darauf verwandt hatte, Reubairs Schwertarm zu lähmen. »Haltet ein!«, befahl sie scharf. »Verlass augenblicklich diesen Ort, Danu.« Nemed sprach mit ihr wie mit einem ungehorsamen Kind. »Ich werde nicht zulassen, dass du ihn tötest.« Grimmige Entschlossenheit blitzte in den Augen der Göttin auf. »Er gehört jetzt mir, und ich kann mit ihm machen, was mir beliebt.«
»Er hat dir nie gehört und wird dir nie gehören, Nemed!« »Er befindet sich auf meinem Land ...« »Und er ist von meinem Blut!« Ihre zornerfüllte Stimme hallte jetzt über die ganze Lichtung. »Von meinem Blut, du Abschaum! Rühr ihn nicht an und behellige ihn nie wieder, sonst werde ich dafür sorgen, dass du und jegliche Erinnerung an die 136
deinen aus der Geschichte der Menschheit getilgt werden. Es wird so sein, als hättet ihr nie existiert, und ich kann mir nicht vorstellen, dass dir das gefällt!« »Bildest du dir wirklich ein, du könntest mich ...« »Dir ist doch sonst nichts geblieben, Nemed. Etwas Land und das Wissen, dass die Menschen deinen Namen voller Furcht aussprechen, weil du zeitlebens nur Angst und Schrecken verbreitet hast. Und wenn dir das nicht auch noch genommen werden soll, empfehle ich dir, auf der Stelle von hier zu verschwinden. Und nimm deine Handlanger mit. Sie verpesten die Luft.« Danu nickte zu Reubair hinüber, der auf seinem Pferd saß; unfähig, die Arme zu bewegen, solange ihr Zauber wirkte. »Ich besitze mehr Land als ...« »Du sollst verschwinden, habe ich gesagt! Du hast dir mehr Ärger eingehandelt, als du ahnst, Nemed. Mehr Ärger, als du verkraften kannst. Ich kenne dich, du bist träge und feige dazu; zu feige, um mit dem fertig zu werden, was dir bevorsteht, wenn du nicht tust, was ich dir sage!« Lange herrschte Schweigen, während Nemed über ihre Worte nachdachte. Während Reubair ihn gespannt beobachtete, verfinsterte sich seine Miene. Er sah Trefor an, der immer noch in Nemeds Zauber gefangen war. Doch plötzlich ebbte der Schmerz ab, und Trefor sackte über dem Hals seines Pferdes zusammen. Bittere Galle stieg ihm in die Kehle, er schluckte hart und hielt den Atem an, bis der Übelkeitsanfall verging. Dann rang er nach Luft und zwinkerte, bis er wieder klar sehen konnte. Sein Körper fühlte sich an, als sei er von einer riesigen Hand in zwei Hälften gerissen worden. Reubair blickte zu Boden, dann zu Danu. »Was ist mit meinem Schwert?« »Das kannst du dir später holen. Geht jetzt und lasst Trefor und seine überlebenden Männer unbehelligt nagh Hause reiten.«
136
Reubair betrachtete sein Schwert, als überlege er, ob er trotzdem versuchen sollte, es an sich zu bringen, dann warf er Danu einen finsteren Blick zu, packte die Zügel seines Pferdes, trieb es auf Nemed zu und ritt an ihm vorbei in den Wald hinein. Nemed starrte Danu einen Moment lang ausdruckslos an, ehe er seinem ehemaligen Vasallen folgte. Trefor richtete sich im Sattel auf, um der Göttin zu danken, stellte jedoch fest, dass sie gleichfalls verschwunden war. Er blickte sich suchend auf der Lichtung um, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Wieder rebellierte sein Magen, und diesmal übergab er sich heftig in das Gras neben seinem Pferd. Dann schob er sein Schwert in seinen Gürtel zurück, spie kräftig aus und kehrte zu seinen Männern zurück. Früh am Morgen des nächsten Tages stolperte Dagdas erschöpfte und dezimierte Rittertruppe durch das Tor von Finias. Die Männer übergaben ihre Pferde den Stallburschen und zogen sich dann je nach Rang in die Baracken oder in den Turm zurück. Trefor begab sich zum Audienzsaal, obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte, als in sein Bett kriechen und endlich schlafen zu können. Er hatte noch nicht einmal Hunger, er war viel zu müde, um etwas essen zu können. Dagda erwartete ihn nicht in dem Saal, aber der diensthabende Wachposten hatte Befehl, ihm sofort Bescheid zu geben, sobald Trefor zurück war, und geleitete ihn zu Dagdas Schlafkammer weiter oben im Turm. Dort empfing ihn Dagda nur mit einer seidenen Tunika bekleidet und mit schlafverquollenen Augen. Die Verbände an seinen Armen waren mit Blutflecken übersät. Er stand neben seiner Waschschüssel und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Einer seiner Kammerdiener hielt ihm ein leinenes Tuch hin. »Es ist Euch nicht gelungen, An Reubair einzufangen?« »Er hat sich zu Nemed geflüchtet, der uns mit seinem Heer 136
angegriffen hat.« Die Auseinandersetzung zwischen Danu und Nemed unterschlug er wohlweislich. »Wie hoch sind Eure Verluste?« »Acht Männer sind gefallen, drei liegen im Sterben, sieben sind verwundet, werden aber am Leben bleiben.« Dagda grunzte, dann nickte er. »Dreißig gegen Hunderte. Die Männer haben tapfer gekämpft.«
»Ich habe einen taktischen Fehler begangen, ich habe es versäumt, einen Kundschafter über die Furt zu schicken, um die Lage zu sondieren. Ich hätte die Falle wittern müssen, aber ich wurde nur von dem Wunsch beherrscht, Reubair einzuholen.« Dagda überlegte einen Moment, dann nickte er erneut. »Mag sein. Aber wenn Ihr Euch mehr Zeit gelassen hättet, wäre er ebenfalls entkommen.« Trefor konnte nicht umhin, dem zuzustimmen. »Wie dem auch sei«, fuhr Dagda fort, »ich pflege Tapferkeit und Loyalität stets zu belohnen. Andere Männer können sich an Euch ein Beispiel nehmen.« Sein Blick schweifte über die steinernen Wände des Raumes, ehe er hinzufügte: »Außerdem besitze ich Land, für das ich jetzt keinen Lehensmann mehr habe ‐ ein abgelegenes Gebiet, weit entfernt von der Gegend, wo ich mich bevorzugt aufhalte.« Das Feenreich? »Ihr wollt Nemed Finias wegnehmen? Das Land beschlagnahmen?« Dagdas Augen umwölkten sich. »Wie sich gezeigt hat, war der Elf eine denkbar schlechte Wahl für diesen Posten. Ich gedenke, ihm die Hälfte des Landes zu entziehen. Diese Hälfte überlasse ich Euch als Belohnung für Eure Dienste.« Trefor sperrte unwillkürlich den Mund auf, schloss ihn aber hastig wieder. Dann öffnete er ihn, um etwas zu sagen, aber ihm wollte nichts Passendes einfallen, also presste er erneut die Lippen zusammen. Dagda beobachtete ihn lächelnd. 137
»Hört auf, wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft zu japsen. Wenn Ihr der Herr über dieses Reich werden wollt, müsst Ihr lernen, Euch auch wie ein solcher zu benehmen.« »Aye, Majestät.« »Heute Abend werde ich meine Entscheidung in der großen Halle offiziell bekannt geben. Ihr werdet beim anschließenden Festmahl mein Ehrengast sein. Morgen werdet Ihr dann mit dem Aufbau Eurer Garnison beginnen und sie mit Euren Rittern bemannen. Mindestens hundert, besser zweihundert, wenn Euer Einkommen das zulässt.« Trefor zögerte unschlüssig, denn er hatte nie mehr als Alex' fünfzig und seine eigenen zehn Männer befehligt. »Aye, Majestät«, wiederholte er endlich. »Und jetzt richtet Euch in Eurer neuen Unterkunft ein.« Dagda deutete zur Decke, wo sich Reubairs Privatgemach befand; der einzige Raum im Turm, der über seinem eigenen lag. »Seht zu, dass Ihr ein bisschen Schlaf bekommt. Ich sehe Euch dann beim Essen.« Alles, was Trefor hervorbrachte, war ein gestammeltes: »Danke, Majestät.« »Ach was. Ich erwarte, dass Ihr Euch als treuer, pflichtbewusster Vasall erweist.« Die leise Drohung in seiner Stimme sollte Trefor davor warnen, was ihm bevorstand, wenn er die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllte. Trefor nickte und zog sich ohne ein weiteres Wort zurück. Erschöpft, hungrig und benommen angesichts der glücklichen Wendung, die sein Leben so unverhofft genommen hatte, begab sich Trefor zu der Kammer, die Reubair mit seiner Mutter bewohnt hatte. Das Bett roch nach Reubair, er konnte nur hoffen, dort nicht auch noch Lindsays Duft wahrzunehmen. Sein Blick fiel auf das Schrankbett in einer Ecke des Raumes. Er öffnete die Tür und stellte fest, dass jemand darin geschlafen hatte. Seine Befürchtungen bestätigten sich also nicht. Gut. Wäh 137
rend er seine Waffen auf dem Tisch aufstapelte und begann, Handschuhe, Überwurf und Rüstung abzulegen, wandten sich seine Gedanken, die bislang unaufhörlich um sein Versagen bei der Ergreifung des Feenlords gekreist waren, Lindsay und Alex zu. Ob ihnen die Flucht gelungen war? Bislang hatte er noch nichts von ihnen gehört, und er ging davon aus, dass keine Neuigkeiten gute Neuigkeiten waren. Je länger es dauerte, bis Reubairs Feenritter, die die Verfolgung der Flüchtigen aufgenommen hatten, zurückkehrten und feststellen mussten, dass Reubair nicht länger der Herr der Burg war, desto größer war die Chance, dass seine Eltern den von Menschen besiedelten Teil Irlands erreicht hatten und sich in Sicherheit befanden. Es klopfte an der Tür, und bevor Trefor öffnen konnte, betrat ein Diener die Kammer und verneigte sich tief. Es war Reubairs menschlicher Leibdiener. Als er zu Trefor aufblickte, stand eine unausgesprochene Frage in seinen Augen, die Trefor sofort beantwortete. »Wenn du deine Arbeit gut verrichtest, nehme ich dich in meine Dienste.« Er war noch nicht gewillt, Angehörigen des Feenvolkes freien Zugang zu seinem Privatgemach zu gewähren, da kam es ihm sehr gelegen, dass der Mann bei ihm bleiben wollte. Mit einem erleichterten Seufzer verbeugte sich der Diener noch einmal. »Danke, Sir.« Dann richtete er sich auf und verkündete: »Jemand wünscht Euch zu sprechen, Sir.«
»Wer denn?« »Lady Morag, Sir.« Lady. Ein schlechter Witz. Aber Trefor sagte nur: »Führ sie herein.« Morag trat in den Raum. Sie war in eines der kostbaren Gewänder gekleidet, die sie vor Kurzem noch für Dagda getragen hatte. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Ihre Schönheit berührte ihn schmerzlich, da er nur zu gut wusste, dass sich 138
dahinter eine eiskalte, nur auf ihren Vorteil bedachte, berechnende Hure verbarg. »Haben dich deine magischen Kräfte verlassen?«, spöttelte er. »Früher bist du einfach aus dem Nichts aufgetaucht und genauso unbemerkt wieder verschwunden.« Das Leuchten in ihren Augen erlosch, aber sie lächelte immer noch. »Ich hielt es für angemessener, mich formell bei dir melden zu lassen.« »Darf man fragen, warum?« »Weil ich offiziell meinen Platz als deine Gefährtin an deiner Seite einnehmen möchte. Du weißt doch, dass ich immer dafür bin, die Dinge beim Namen zu nennen.« »O ja, so bist du. Klar und aufrichtig wie der junge Tag. Kommst immer ohne Umschweife zur Sache.« Der unüberhörbare Sarkasmus in seiner Stimme verfehlte seine Wirkung auf sie nicht. Ihr Lächeln erstarb. »Bist du nicht der Meinung, dass ich zu dir gehöre?« »Nein, dieser Meinung bin ich ganz und gar nicht.« Er fuhr fort, es sich bequem zu machen; streifte sein Kettenhemd über den Kopf und ließ es klirrend zu Boden fallen, dann fügte er hinzu: »Ich bin nämlich gleichfalls dafür, die Dinge beim Namen zu nennen.« Morags Augen flammten zornig auf. »Woher kommt denn dieser plötzliche Sinneswandel?« Auch Trefor zog ärgerlich die Brauen zusammen und wies mit einem Nicken auf die unter ihnen befindliche Kammer. »Weiß Seine Majestät, dass du hier bist? Oder laufe ich Gefahr, als Verräter abgeführt zu werden, weil ich die Mätresse des Königs vögele?« »Wir sind nicht verheiratet, das habe ich dir schon einmal gesagt. Dagda kümmert sich nicht darum, wen ich >vögele<, wie du es ausdrückst. Es ist ja nicht so, als würde er ein Kind von mir zu seinem Erben einsetzen.« 138
Er beäugte sie einen Moment lang, dann meinte er gedehnt: »Es ist nicht so, als würdest du überhaupt jemals ein Kind haben, denke ich.« »Von dir hätte ich schon gerne eines.« »Und ich müsste als Erstes einen DNA‐Test durchführen lassen.« Morag runzelte verwirrt die Stirn, aber er ging ohne weitere Erklärung über die Bemerkung hinweg. Flüchtig erwog er, zu einer Lüge zu greifen, die ihren Stolz nicht verletzen und es ihm leichter machen würde, sie loszuwerden, aber der perverse Wunsch, ihr wehzutun, bewog ihn, sie mit der unverblümten Wahrheit zu konfrontieren. »Ich traue dir nicht, Morag. Schon sehr lange nicht mehr. Ich glaube nämlich, du hast mich von Anfang an geleimt.« »Geleimt?« »Mir etwas vorgemacht. Mich in die Richtung gelenkt, die deinen Plänen am dienlichsten war.« »Ich habe dir immer den Weg gewiesen, der zu deinem Besten war. Du solltest mir dankbar sein, statt dich zu beklagen. Du bist doch jetzt zu Ansehen, Wohlstand und Macht gelangt, nicht wahr?« »Warum eigentlich gerade ich?« »Wer sonst außer dir?« »Mich meintest du nach Belieben formen zu können, das war der Grund.« »Dein Weg war dir vorherbestimmt.« »Glaubst du diesen Humbug wirklich?« »Natürlich. Du siehst ja selbst, dass alles eingetroffen ist, was Brochan vorhergesagt hat.« »Du hast mich belogen, mir immer nur gesagt, was ich deiner Meinung nach hören wollte. Du hast mich manipuliert, damit ich für dich einen Mord begehe. Aber ich habe dich durchschaut, und das hat mich davon abgehalten, den König zu töten.« Er
138 schlug sich immer noch mit Selbstvorwürfen herum, weil er wegen dieser Hexe beinahe zum Mörder geworden wäre. »Du solltest ihn ja nie töten.«
Trefors Augen weiteten sich erstaunt. »Was sollte denn dann dieses ganze >Er‐verdient‐den‐Tod<‐Theater?« Sie lächelte, als spräche sie mit einem begriffsstutzigen Kind. »Es lag nie in deiner Bestimmung, Dagda zu töten. Wir alle wissen das.« »Aber Brochan hat doch gesagt...« »Brochan hat nur gesagt, dass dein Schicksal mit dem von Dagda verknüpft ist. Es war nie die Rede davon, dass du ihn töten sollst.« Trefor runzelte die Stirn, während er sich die Gespräche mit Brochan wieder ins Gedächtnis rief. Er sah ein, dass Morag recht hatte. Über Mord hatte Brochan kein Wort verloren. »Aber du hast mich unmissverständlich gebeten, ihn umzubringen.« »Weil ich wollte, dass du die Welt von ihm befreist. Ich bin immer noch der Meinung, er müsse unschädlich gemacht werden, und eines Tages wirst du bereuen, ihn am Leben gelassen zu haben. Ob es dein Schicksal war oder noch ist, ihn zu töten, steht auf einem ganz anderen Blatt.« »Wenn ich Dagda getötet hätte, hätte ich Finias nie bekommen.« »Natürlich hättest du das. Es war dir vom Schicksal vorherbestimmt, und das habe ich dir immer wieder klarzumachen versucht. Was auch immer du getan und wen auch immer du getötet hättest, die Burg wäre auf jeden Fall dir zugefallen. Und vergiss nicht ‐ ich habe nie ausdrücklich gesagt, dass es dein Schicksal war, den König gestern umzubringen. Also hast du doch getan, was dir bestimmt war.« »Ich habe getan, was ich für richtig hielt.« »Das kommt auf dasselbe hinaus. Du bist zu einem kaltblütigen Mord nicht fähig, das liegt nicht in deiner Natur.« 139
»Das hätte ich dir vorher sagen können.« Eine glatte Lüge, er hatte erst gemerkt, dass er dazu nicht fähig war, als er den Mord hatte ausführen wollen. Morag musterte ihn einen Moment nachdenklich. »Möglich. Auf jeden Fall bist du deiner Bestimmung gefolgt, auch wenn sie anders aussah, als du gedacht hast.« Trefor machte Anstalten, hitzige Einwände zu erheben, aber ihm fiel kein triftiges Gegenargument ein. Nichts von all dem, was er getan hatte, stand in Widerspruch zu Brochans Vorhersagen. Soweit er es beurteilen konnte, waren seine Prophezeiungen eingetroffen. Trefor meinte plötzlich, keine Luft mehr zu bekommen. Wenn sein ganzes Leben schon vorher festgelegt war, wozu sollte er es dann überhaupt noch leben? Er kehrte Morag den Rücken zu und gab vor, seine neue Unterkunft zu inspizieren. »Um es noch einmal klar und deutlich zu sagen ... ich möchte dich nicht hier haben.« Er nahm einen silbernen Kerzenleuchter mit einem heruntergebrannten Wachsstummel in die Hand und drehte ihn hin und her. »Ich habe gesagt, ich traue dir nicht, und das war mein Ernst.« »Vertraust du Deirbhile mehr?« Trefor warf ihr einen scharfen Blick zu. Seit er Tiree verlassen hatte, hatte er nicht mehr an Deirbhile gedacht, aber als ihr Name fiel, breitete sich eine angenehme Wärme in seinem Inneren aus. Deirbhile. Zu gerne würde er ihr hübsches Gesicht wiedersehen. »Aye«, flüsterte Morag zu sich selbst. »Er ist verliebt.« »Das ist doch lächerlich.« »Lächerlich, ja, allerdings. Eine Dirne, die jetzt schon plant, ihrem zukünftigen Mann Hörner aufzusetzen, ist wirklich überaus vertrauenswürdig. Da fragt man sich doch, ob irgendeines ihrer Kinder ihm ähnlich sehen wird.« »Ganz im Gegenteil, sie hat gesagt, sie will ausschließlich seine Kinder zur Welt bringen.« 139
»Leichter gesagt als getan, das kannst du jemandem glauben, der weiß, wie man unerwünschte Schwangerschaften verhindert.« Trefor zuckte die Achseln. Die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, behagte ihm nicht. »Wie dem auch sei, ich will nichts von ihr. Sie ist verlobt, und damit ist die Sache für mich erledigt.« »Und du bist nicht Manns genug, sie ihrem Verlobten abspenstig zu machen, obwohl sie ihn nicht liebt?« »Sie kann lernen, ihn zu lieben.« »Warum sollte sie, wenn sie das nicht nur für unmöglich, sondern darüber hinaus auch noch für überflüssig hält?« »Was kümmert es dich eigentlich, wie sie ihr Leben führen will? Und ich meines, wo wir schon beim Thema sind.«
»Du glaubst mir also nicht, dass ich dich liebe?« »Nein.« »Dann wäre es reine Zeitverschwendung, dich vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Trotzdem kann ich nicht tatenlos zusehen, wie du dir einredest, du wärst fertig mit dem Mädchen.« »Ich bin fertig mit ihr!« »Das bist du nicht, das versichere ich dir.« Trefor dachte einen Moment darüber nach. Kam hier schon wieder das Schicksal ins Spiel? Oder zog sie nur aus seinem Verhalten die entsprechenden Schlüsse? »Ist das jetzt deine ehrliche Meinung oder wieder eine von Brochans wirren Prophezeiungen?« Jetzt lächelte sie; ein verschlagenes Lächeln, das er verabscheute. »Freier Wille, erinnerst du dich? Wenn du so hartnäckig daran glaubst, dein Schicksal selbst lenken zu können, was kümmern dich dann Brochans Vorhersagen?« Trefor presste erbittert die Lippen zusammen. Neunmalkluges Miststück! 140
»Ich schlage vor, du besuchst sie und findest heraus, wie du wirklich zu ihr stehst«, fuhr Morag fort. »Mehr als einen oder zwei Monate dürftest du nicht benötigen, um dir über deine Gefühle klar zu werden. Hier werden sich die Dinge auch eine Weile ohne dich regeln lassen, denke ich.« Er sah sie lange an, während sich die Gedanken in seinem Kopf überschlugen. Versuchte sie schon wieder, ihn zu manipulieren? Natürlich tat sie das. Aber in welche Richtung wollte sie ihn lenken? Wollte sie, dass er zu Deirbhile reiste oder dass er hierblieb? Er konnte es beim besten Willen nicht sagen. Dann ging ihm auf, dass es genau in ihrer Absicht lag, ihn dazu zu bringen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, in welche Richtung sie ihn stoßen wollte. Also versuchte er stattdessen zu ergründen, was er selbst wollte. Das war es, was zählte. Und er wollte nach Tiree segeln. Er wollte Deirbhile wiedersehen, solange sie noch nicht verheiratet war. Er beschloss, am nächsten Morgen aufzubrechen. Lindsay empfand es immer noch als seltsam, Eilean Aonarach als ihre Heimat zu betrachten. Während der letzten Jahre war die Insel für sie nur ein Ort gewesen, an dem sie zwangsweise leben musste, wenn sie bei Alex bleiben wollte. Doch beim Anblick der Granitmauer, die sich an den hohen Klippen oberhalb der Burg entlangzog, hatte sie zum ersten Mal, seit sie ihr Heim im 21. Jahrhundert verlassen hatte, ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit verspürt. Sie befand sich mit Alex in der ins Felsgestein gehauenen Schlafkammer des Lairds. Alex saß in seinem großen, geschnitzten Holzstuhl am Feuer. Seit er jeden Tag ausreichend zu essen bekam, kehrten seine Kräfte allmählich zurück. Seine Wangen hatten wieder Farbe bekommen, und bei seiner Ankunft auf der Insel war er bereits in der Lage gewesen, die Stufen vom Außenwerk emporzusteigen. Langsam zwar, aber ohne fremde 140
Hilfe, und das war ein großer Fortschritt. Jetzt sah er ins Feuer und hing seinen Gedanken nach, während Lindsay in einem kleinen Kessel, der an einem Haken im Kamin hing, gewürzten Wein erwärmte. Sie hatte Angst, sich auf ein vertrauliches Gespräch mit ihm einzulassen. Ihre Gedanken kreisten um Reubair; um das, was sie getan hatte; das, was sie beinahe getan hätte und das, was sie zu ihrer großen Scham noch immer empfand. Alex durfte nie davon erfahren. Er konnte ruhig wissen, dass Jenkins sie vergewaltigt hatte; das war eine rein körperliche Angelegenheit gewesen, und noch dazu eine, die ihr aufgezwungen worden war. Aber er durfte nie erfahren, dass sie Reubair begehrt hatte. Niemals. Sie sah zu ihrem Mann hinüber, dessen Augen im Schein der Flammen glühten wie die Holzkohle im Kamin. »Woran denkst du?«, fragte sie leise. Er sah sie an, dann blickte er wieder ins Feuer. Sie war nicht sicher, ob sie eine Antwort bekommen würde. Doch dann sagte er: »Trefor ist uns ins Feenreich gefolgt.« Sie nickte. »Ja.« »Warum hat er das getan? Er wollte sich Roberts Armee anschließen. Jetzt hat er sich alle Chancen beim König verspielt.« »Verübelst du es ihm, dass er sein Versprechen, dich bei Robert zu vertreten, nicht gehalten hat?«
Er warf ihr einen verblüfften Blick zu. »Nein, wie käme ich dazu? Er hat uns die Flucht ermöglicht, und er ist deswegen dort zurückgeblieben. Der Himmel weiß, was mit ihm passiert ist. Er hätte uns schon längst einholen müssen. Vielleicht haben sie ihn getötet.« »Das glaube ich nicht.« Lindsay hatte selbst gesehen, wie gut sich Trefor gegen die Feenkrieger behauptet hatte. Und wie gut er mit den meisten von ihnen ausgekommen war. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass er sich allein von selbstlosen Motiven 141
hatte leiten lassen. »Aber wenn er am Leben ist und nicht hierherkommt, wo ist er dann? Hat er sich mit einem der Feenritter zusammengetan? Oder mit Nemed?« Er war ihr Sohn, aber sie hatte ihn nicht großgezogen. Nur Gott allein wusste, ob Trefor wirklich zu trauen war. Und Alex durfte nie erfahren, was Trefor in ihr gesehen hatte. »Er hat uns das Leben gerettet. Damit hat er ja wohl bewiesen, auf wessen Seite er steht.« »Wir werden sehen.« Lindsay strich Alex eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. Er schloss erschöpft die Augen. »Sollen wir ihm erst dann unser Vertrauen schenken, wenn er tot ist?« »Wir wissen, dass wir ihm trauen können, wenn er zu uns zurückkehrt und seinen Platz als Ritter in deinem Gefolge einnimmt.« Was Gott verhüten möge. Alex brummte unverbindlich. »Ich nehme an, es wird eine Weile dauern, bis du wieder in eine Schlacht ziehst.« Wieder brummte Alex und fuhr fort, ins Feuer zu starren. »Du brauchst jemanden, der hier die Zügel in die Hand nimmst, bis du wieder gesund bist.« »Du redest ja, als würde ich auf dem Sterbebett liegen!« »Du weißt, dass du dich auf keinen Fall übernehmen darfst. Du musst dich schonen, wenn du wieder auf die Beine kommen willst.« »Ich sagte, ich bin nicht todkrank, und die meisten meiner Männer sind noch in Irland. Ohne mich.« »Wenn die Ritter zurückkehren, könnte ich das Kommando über sie übernehmen. Du weißt, dass ich dazu fähig bin. Ich habe dich und Patrick aus Finias befreit. Jetzt kann ich ja wohl verlangen, endlich ernst genommen zu werden.« Alex blickte zu ihr hinüber, dann wieder in die Flammen. Ein langer Seufzer kam über seine Lippen. »Erzähl die ganze Ge‐ 141
schichte heute Abend am Feuer, und schmücke sie ordentlich aus. Übertreib ruhig ein bisschen, das tun alle anderen auch, und das wird sogar erwartet. Wenn du nicht mit deinen Heldentaten prahlst, glauben sie, du hättest kein Selbstvertrauen.« »Ich weiß, wie der Hase läuft. Schließlich habe ich oft genug nach einer Schlacht mit den Männern zusammengesessen.« Alex sah sie ernst an. »Damals hattest du dich aber als Mann verkleidet. Jetzt trägst du ein Kleid, das macht einen gewaltigen Unterschied aus. Du bewegst dich auf unbekanntem Gelände, und du musst besser als gut sein. Perfekt. Dir darf nicht der geringste Fehler unterlaufen, sonst gehst du unter, und ich mit dir.« »Soll das heißen, dass du mir den Posten deines Stellvertreters überträgst?« »Aye. Ich weiß, dass ich es bitter bereuen werde, aber eine andere Antwort würdest du ja wohl kaum akzeptieren, nicht wahr?« Lindsay küsste ihn, dann spielte ein Lächeln um ihre Lippen, denn sie wussten beide, dass er recht hatte.