Kelter-Verlag
Die Feuerinsel
W. A. Hary
Geister-Thriller Nr. 18 V 1.0 by Dumme Pute
Ich wußte verdammt genau, daß ...
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Kelter-Verlag
Die Feuerinsel
W. A. Hary
Geister-Thriller Nr. 18 V 1.0 by Dumme Pute
Ich wußte verdammt genau, daß ich im Bett lag, aber ich sah mich dort nicht. Ich sah mich in einer kahlen, heißen Wildnis. Die Felsen, die hier herumlagen, als hätten Riesenkinder damit gespielt, wirkten bedrohlich. Ein Geräusch! Ich wandte den Kopf und sah das Meer. Es begann fünf Schritte hinter mir, war pechschwarz und schickte Wellen zu mir hin, die mich nie erreichen würden. Mancherorts tauchten weiße Wogenkämme auf, aber sie wirkten wie die Rücken weißer Monster, die sich in den schwarzen Fluten versteckten. Das Meer schreckte mich. Deshalb rückte ich davon ab. Doch der Abstand verkleinerte sich um keinen Millimeter! Je weiter ich mich entfernen wollte, desto mehr schoben sich die nach eilenden Wellen wieder zu mir her. Ich schluckte schwer. Ja, verdammt - ich lag doch in Wirklichkeit im Bett! Träumte ich das vielleicht alles? Herrjeh, und wer garantierte mir das? Wer garantierte mir, daß dies alles ein Alptraum war, aus dem man erwachen konnte, wenn es zu ungemütlich wur de? Es gab keine Garantie. Deshalb lief ich schneller. Ich hätte mehr auf die Felsen achten müssen, denn ihnen kam ich immer näher. Erst als ich einmal meinen Blick vom Meer
wegnahm, fiel es mir auf. Aus der Nähe betrachtet wirkten die Felsbrocken gar nicht mehr wie Felsen. Das braune Gestein war pelzig. Das waren unbewegliche Kolosse, die nur darauf warteten, daß sie jemand aus dem ewigen Schlaf weckte! Was würde dann passieren? Würden sie sich aufrollen wie erwachende Igel? Am liebsten hätte ich aufgeschrien, weil die Angst meine Kehle austrocknete und sich wie ein eiserner Ring um den Brustkorb legte. Aber ich wagte es nicht. Ich floh vor den Wellenausläufern des schwarzen Wassers zwischen die Fels brocken. Sobald ich dieses Reich in den Felsen betreten hatte, herrschte Stille. Ich hörte nicht einmal die rauschende Bran dung des schwarzen Meeres. Ich hörte gar nichts, außer mei nem keuchenden Atem. Ich bin doch im Bett! versuchte ich mich zu beruhigen, aber dieses Argument zog nicht mehr. Ich war hier, irgendwie - auf gespenstische Weise. Ich befand mich in Gefahr! Das war logisch. Das brauchte man mir nicht extra zu sagen. Auch wenn ich die Gefahr nicht kannte, die auf mich lauerte. Die Umgebung aufmerksam im Auge behaltend, schlich ich weiter. Und dann war auch der Felsenhain zu Ende! Vor mit entstand das brüllende Donnern der Hölle, die ihr Maul aufreißt, um mich zu verschlingen. Ich konnte die Hände gegen die Ohren pressen, wie ich wollte. Das Donnern blieb, und ich schaute genau hinein in den Höllenschlund. Ich stand an seinem Rand. Zu meinen Füßen öffnete sich der Erdspalt. Tief im Innern kochte flüssige Lava. Ruckartig öffnete sich der Erdspalt weiter. Ich wollte wieder zurückfliehen, denn die unheimlichen Flu ten des schwarzen Meeres waren mir doch noch lieber als dieser Anblick.
Aber das Höllenmaul war schneller! Es holte mich ein und schnappte nach mir. Ich fiel in den Schlund hinein, spürte die schreckliche Hitze, die im Nu meine Kleider versengte, meine Haut verbrannte, sich in mein Fleisch fraß, um es von den Knochen zu nagen. Die Hölle hatte mich in ihrem Griff . Endlich! Sie war ganz scharf auf mich gewesen und hatte nun gesiegt. Es war mein letzter Gedanke, ehe es ganz aus war . Mit einem gellenden Schrei auf den Lippen fuhr ich aus den Kissen hoch. »He!« rief May schlaftrunken an meiner Seite, »willst du das ganze Haus aufwecken?« Ich tastete nach meinem Amulett. Es war da: Der Schavall hing an der Silberkette vor meiner Brust, wo er hingehörte. Er war nicht aktiviert, also hatte keine Schwarze Macht etwas mit meinem Traum zu tun gehabt. Ich sank in die Kissen zurück und murmelte: »Nun, wieso sollte ein GeisterKiller nicht auch mal träumen - wie jeder normale Mensch auch? Es muß schließlich nicht immer etwas mit seinem Auftrag zu tun haben!« Ich schaute May in dem Halbdunkel an. Der Silbermond zeichnete düstere Schatten im Hotelzimmer. Sie schreckten mich nicht. Mays Gesicht war ein heller Fleck auf dem braunen Kissen. »Ich träumte vom Meer, von einer kargen, beängstigenden Felsenlandschaft. Die Felsen wirkten wie pelzige Kolosse, die nur schliefen. Ich floh vor dem schwarzen, unheimlichen Was ser und gelangte zu einem Erdspalt, der sich genau in diesem Augenblick öffnete, um mich zu verschlingen. Ich fiel hinein - und erwachte.« May griff nach mir, zog mich zu sich und küßte mich. Sie streichelte meinen Nacken. »Ja, ein Traum - nichts weiter, Mark. Sonst hätte der Scha
vall darauf reagiert, nicht wahr?« Ich legte mich auf den Rücken und starrte zur Decke. Ein Traum? Ich dachte daran, daß dreihundert Kilometer von hier noch vor Wochen eine Insel gewesen war. Ihre Bewohner hatten sie Tomaro genannt. Dann war sie untergegangen: Sie war regelrecht explodiert, nachdem ihr Vulkan wieder tätig geworden war. Die Bewohner hatten mit magischen Mitteln nach mir geru fen, denn mit ihnen hatte es eine Besonderheit: Auf Tomaro war vor vielen tausend Jahren der Gott des Feuers VULCANOS vernichtet worden - von den Goriten, die einst das Gute auf die Welt brachten, als die noch ausschließlich vom Bösen regiert worden war. Aber die Goriten waren nicht ganz sicher gewesen, daß es ihnen auch wirklich gelungen war, den furchtbaren Gott des Feuers für alle Zeiten zu vernichten. Deshalb setzten sie die Tomaren ein - Menschen, die aus einer anderen Welt stamm ten, nicht von der Erde. Ihre Heimat, ihr Ursprung war die Welt der Magie mit Namen ORAN. Dorthin flohen sie, nachdem sie mich in Kenntnis gesetzt hatten. Und aus dem Schoß der Erde, aus dem glutflüssigen Innern stieg VULCANOS empor - wie es die Goriten einst befürch tet hatten. In der ewigen Glut des Erdinnern hatte er die Zeiten überdauert, während nur noch sein Name in den Mythen der Menschen weitergelebt hatte. Nach ihm benannten die Men schen sogar die Stellen, wo die Glut der Erde zum Vorschein kam: VULKAN! VULCANOS war wieder da. Die Wächter hatten mich recht zeitig gewarnt, denn ich war der einzige Erbe der längst ver schwundenen Goriten: Ich, Mark Tate! Aus ORAN schickten sie mir meinen alten Freund Don Co oper zur Unterstützung. Mit ihrer Hilfe hatte er es geschafft, wieder ganz der zu werden, den er vor seinem Verschwinden
nach ORAN gewesen war. Denn in ORAN hatte Don Cooper sich mit dem Geist eines sagenhaften Helden namens SonarEn verbunden. Beide waren schier untrennbar aufeinander ange wiesen gewesen. Die Tomaren hatten die Trennung trotzdem vollzogen. Seitdem war der gute alte Don Cooper wieder bei uns - und SonarEn blieb in ORAN zurück und führte den Weg weiter, den er vorher gemeinsam mit Don beschritten hatte. Für ihn hatte sich praktisch nichts geändert! Don, Lord Frank Burgess, meine Lebensgefährtin May Harris und ich hatten den Kampf gegen VULCANOS aufgenommen. Nicht so erfolgreich, wie wir es uns gewünscht hatten: ein Unentschieden! Unter dramatischen Umständen war es uns ge lungen, dem Zugriff von VULCANOS zu entgehen, aber die Probleme waren geblieben. Sie waren sogar noch gewachsen - gleichzeitig mit der Feuerinsel, die draußen im Meer ent stand und allmählich zu einem wahren Kontinent zu werden drohte. Die Vernichtung der Insel Tomaro hatte Platz geschaffen für die Feuerinsel. Ständig erzeugten Seebeben weitere Eruptio nen. Immer mehr glutflüssige Erde kam aus dem Erdinnern, kochte das Meer und erstarrte zu neuer Erde. Die Feuerinsel hatte mindestens schon einen Durchmesser von fünfzig Kilometern. Und wir befanden uns auf der Insel Oroia, rund dreihundert Kilometer vom Zentrum der Feuerinsel entfernt. Eine schier unüberwindliche Strecke, denn die fünfte USFlotte ankerte dort draußen und verhinderte es, daß irgend einer der Feuerinsel zu nahe kam. Die zuständigen Militärs wußten, daß es VULCANOS gab, aber sie glaubten nicht an den Feuergott, sondern eher an eine Gruppe von terroristischen Wahnsinnigen, die unbekannte Möglichkeiten besaßen. Sie hatten sogar schon mit Atomwaffen versucht, Herr der Lage zu werden. Dabei wären wir beinahe umgekommen.
Der Kampf mit technischen Mitteln war aussichtslos - und uns waren die Hände gebunden. Ich schaute nach May und murmelte leise: »Kein Wunder, wenn ich in einer solchen Situation so ein Zeug träume!« May hörte es nicht mehr. Sie schlief den Schlaf der Gerech ten. Das hatte sie sich redlich verdient. Ich mir zwar auch, aber ich war im Moment hellwach. Deshalb schaute ich wieder zur Decke. Draußen im Park hinter dem Hotel standen hohe Palmen, de ren Wipfel sanft im Nachtwind wiegten. Es herrschte eine sehr milde Temperatur, wie in der Südsee um diese Jahreszeit üb lich. Die sich bewegenden Palmwipfel veränderten den Mond schein. Die düsteren Schatten an der weißen Decke schienen zu leben. Sie bewegten sich, formten sich, krochen ineinander, krochen hin und her, bekamen Gesichter von Toten, in einem Zustand zwischen Wachen und Träumen. Ich war überzeugt davon, daß dies zu einem neuen Traum gehörte. Deshalb wehrte ich mich nicht dagegen. Die Schatten mit den Totengesichtern wichen beiseite. Sie winkten mir, damit ich meine Aufmerksamkeit der Lücke zwischen ihnen zuwandte. Die Lücke war etwas heller als die Umgebung. Die Schatten mit den Totengesichtern hörten nicht auf zu winken. Mir war, als hörte ich ein fernes Wispern, wie aus einer anderen Welt. Ich konnte es sogar verstehen: »Mark Tate, sieh her! Sieh her!« Ich sehe ja schon! wollte ich aufbegehren, aber ich brachte keinen Ton über die Lippen. »Sieh her!« wisperten die Schatten mit den Totengesichtern. Der helle Fleck kam auf mich zu und füllte mein gesamtes Gesichtsfeld aus. Ich schaute in das Nichts. Aber in diesem Nichts entstand etwas. Ich konnte es nicht sehen, höchsten ahnen. Dieses etwas blieb unfaßbar. Auf meiner Brust glühte eine ungeheure Hitze. Ich dachte
flüchtig an den Schavall. Gehörte dies auch zum Traum? Träumte ich, daß der Schavall auf die Vorgänge reagierte? Das ungreifbare und unfaßbare Etwas wich zur Seite. Es schien meinen Blick weitergehen lassen zu wollen. Mein Blick erfaßte die Feuerinsel. Sie blieb ein diffuser Schatten, in dem es grollte, röhrte, brodelte und zischte. Die Hitze auf meiner Brust nahm sprunghaft zu. Sie konnte sich kaum noch steigern. Wenn ja, dann wurde der Schavall vollends aktiv. In dem Brodeln, Grollen und Zischen war ein Schatten. Eine Fratze! Ihre Augen glühten. Sie war schwarz mit einem roten Widerschein wie vom Feuer. Eine Teufelsfratze, die mich anstarrte und das Maul öffnete. Darin sah ich einen tätigen Vulkan, der auf mich zuschoß wie in meinem Traum zuvor: Um mich zu verschlingen. Aber das war die Hitze auf meiner Brust. Sie war anders ge artet und bekämpfte die zerstörerische Hitze von VULCANOS, in dessen Antlitz ich geschaut hatte. Die Hitze des Schavalls war positiver Natur. Sie diente zur Reinigung, zur Läuterung von dem Bösen. Sie hatte mich vor dem Zugriff von VULCANOS bewahrt, denn die Macht von VULCANOS wirkte auf diese Entfernung, wenn er es wollte. Ich schloß die Augen, um den hellen Fleck nicht mehr sehen zu müssen, in dem es dieses unfaßbare Etwas immer noch gab. Verdammt, ich träumte doch, oder? Nein, diesmal schien es kein Traum zu sein, sondern ein magisches Erlebnis. Was bedeutete es? Was bedeuteten die winkenden Schatten, die mich gelockt hatten? Was war das für ein unfaßbares Et was, das ich eigentlich nur erahnte? Meine Linke umklammerte den Schavall auf meiner Brust. Irgendwie fühlte ich keinen Kontakt mehr mit dem Hotelbett. Ich öffnete die Augen wieder und schaute, zum Fenster. Es
war geschlossen. Irgendwo in der Ecke war ein Luftschacht, der lautlos Luft absaugte und an anderer Stelle wieder saubere Luft hineinließ. Es gab keinen spürbaren Luftzug. Trotzdem wehten die Gardinen. Draußen herrschte ein seltsames Licht, das unmöglich vom Mond stammen konnte. Mich interessierte das Licht, obwohl ich meinen Körper gar nicht mehr richtig spürte. Ich erhob mich vom Bett, und es fiel ungeheuer leicht. Ich schwebte mehr als daß ich ging, berührte flüchtig die geschlos sene Fensterscheibe und glitt einfach hindurch, als wäre sie kein Widerstand. Sie zerbrach nicht dabei. Irgendwie erzeugte es in mir leise Panik. Hier ging etwas vor mit mir, auf das ich keine richtigen Einfluß hatte. Haargenau wie in einem Traum, der sich vor einem abspulte. Man wußte ganz genau, daß man träumte, aber man war diesem Traum wehrlos ausgeliefert. Und jetzt kam die Tatsache hinzu, daß ich ganz real den hei ßen Schavall, dieses sagenhafte Amulett in der Form eines Auges, in der linken Hand hielt. In mir war eine pulsierende Kraft, die sich mit dem Schavall verbunden hatte. Sie schaltete meinen Willen weitgehend aus. Ich schwebte in das seltsame Licht hinein, das über dem Park lag. Zwischen den Bäumen wandelten Schatten. Sie schauten zu mir herüber. Es waren die Schatten mit den hohlen Totengesichtern. Alle schienen ein einziges Ziel zu haben. Genauso wie ich! Deshalb folgte ich ihnen. Ich ging aus dem Park hinaus auf die Hauptstraße. Sie lag wie ausgestorben da. Autos standen am Straßenrand. Sie schie nen gar nicht hierher zu gehören, als stammten sie aus einer ganz anderen Welt. Es ging die Hauptstraße entlang bis außerhalb des Ortes. Im mer schneller schwebte ich dahin, mit dem glühenden Schavall
in meiner Linken. Nicht die Schatten hatten einen Einfluß auf mein Tun, son dern nur die Magie, die in mir hockte und die sich mit dem Schavall verbunden hatte. Es war die Magie, die mir helfen sollte, VULCANOS zu ver nichten - diesmal endgültig! Es war die Magie, die von den Tomaren über Jahrtausende hinweg, während sie als Wächter fungiert hatten, bewahrt worden war. Es war die Magie der Goriten, die die Tomaren auf mich übertrugen, damit ich diese Aufgabe erfüllen konnte: gegen VULCANOS. Und außerhalb der Stadt spürte ich wieder die Anwesenheit des Unfaßbaren. Er war ganz in meiner Nähe, aber er schirmte sich so sehr ab, daß ich ihn nicht direkt wahrnehmen konnte. Ich ahnte es auch diesmal mehr als daß ich ihn sah. Er hatte auf mich gewartet. Er hatte gewollt, daß ich zu ihm kam. Deshalb hatten die Schatten mich geführt. Jetzt waren die Schatten verschwunden. Sie hatten ihre Schuldigkeit getan. »Kein Traum, Mark Tate!« klang eine Stimme in mir auf. »Komm zum Felsenhain und erkenne die Symbolik. Ich schickte dir eine Vision, aber sie durfte nicht zu deutlich wer den, sonst hätte der Schavall mich vernichtet. Ich bin das Böse und will mit dir, Mark Tate, einen Pakt schließen!« Einen Pakt mit dem Bösen? hämmerten meine Gedanken. Das war wie der berüchtigte Pakt mit dem Satan. Das brachte nur scheinbar Vorteile. »Ich weiß, daß du ablehnen wirst, Mark Tate - aber laß mich dir erst zeigen, warum ich dir diesen Vorschlag mache!« Die Schatten mit den Totengesichtern waren wieder da. Sie liefen um mich herum. Der Unfaßbare war weg. Die Schatten waren mit mir allein. Es schien sich um eine Art Hilfsgeister zu handeln, nur dazu
da, mich zu führen. Ich folgte ihnen, aus purer Neugierde. Es ging in einen dichten Dschungel hinein, der sich im Nor den der Insel Oroia ausbreitete, seine Ausläufer über den Nordosten und auch über das Zentrum der Insel schickte. Die Stadt Oroia lag am Rand dieser Ausläufer. Auf der anderen Seite der Stadt war das Land karger. Im Westen und Südwesten herrschte unfruchtbares, von der Sonne ausgedörrtes Land vor. Es ging in Richtung Zentrum, das war mir jetzt klar. Die Insel Oroia war nicht sonderlich groß. Wir hatten das Zentrum bald erreicht. Und hier befand sich der Felsenhain aus meinem ersten Traum! Es sah haargenau so aus wie beim ersten Mal. Nur wirkten die Felsen nicht wie pelzige Kolosse, sondern wie echte Felsen. Dafür waren sie allerdings nicht weniger bedroh lich. Es war eine unheimliche Umgebung. »Jetzt fehlt nur noch das schwarze Meer!« beschwerte ich mich. Die Stimme von vorhin klang wieder auf, und sie erzeugte eine dicke Gänsehaut auf meinem Rücken. Seltsam, hier spürte ich meinen Körper wieder sehr viel rea ler. Ja, war ich denn körperlich hier? Waren es nicht vielmehr meine Gedanken, die von der mich beherrschenden Magie entführt worden waren? Diese Magie verhielt sich gegenüber dem Unbegreiflichen neutral. Noch! Ich hatte nichts dagegen. Es ging ganz von allein so. Wahrscheinlich deshalb, weil dieses Wesen, das von sich behauptet hatte, das Böse zu sein, sich genügend vom Schavall abkapselte. Es operierte sehr vorsichtig und ließ nur eine ganz vage Verbindung zu. »Du meinst das Meer des Grauens!« sagte die Stimme. Ich hörte es hinter meinem Rücken rauschen und drehte mich um.
Über die karge Landschaft schob sich ein Bild - das Bild vom schwarzen Meer. Wie in meinem Traum. »Das Meer des Grauens ist das Meer von VULCANOS. Er ist der Gott des Feuers und frißt das natürliche Meer. Der größte Feind des Feuers ist das Wasser. Sie vertragen sich nicht. Aber das Meer des Grauens besteht nicht aus Wasser.« »Aus was sonst?« fragte ich unwillkürlich und beobachtete die Schaumkämme der Wogen. Wie beim ersten Mal: Sie wirkten wie die nackten weißen Rücken von aufgedunsenen Monstern, die sich in der schwar zen Tiefe versteckten. Mich schauderte. Das Bild des schwarzen Meeres verblaßte. Die Stimme ging nicht auf meine Frage ein. Statt dessen ließ sie einige ihrer Schatten wieder auftauchen. Sie bedeuteten mir, daß ich durch den Felsenhain gehen sollte. Ich gelangte an die Stelle, wo die Felsen ringsherum ange ordnet waren und eine kleine kahle Lichtung ließen. »Das absolute Zentrum!« sagte die Stimme geheimnisvoll. Kaum hatte sie das ausgesprochen, als es tief in der Erde zu grollen begann. Ich ahnte es schon: Die Erde würde sich öffnen: Ein Vul kanausbruch! Hatte VULCANOS wirklich selbst seine Klauen im Spiel? War es nicht eher so, daß Oroia durch die Nähe der Feuerinsel von vornherein gefährdet war? Ich fand es an der Zeit, die Bevölkerung zu warnen. Die Insel mußte evakuiert werden, so schnell wie möglich. Wieso erkannte das noch niemand? War es, weil sich kein Mensch vorstellen konnte, daß die Feuerinsel sämtliche Inseln der Südsee verschlingen wollte? Daß sie den Pazifik ausfüllen wollte, wobei sie so viel Landmasse bildete wie sämtliche Kontinente und Länder der Erde zusammen und noch mehr?
Sämtliches Land würde versinken. Es würde am Ende nur noch der Feuerkontinent auf der veränderten Erde bestehen. Jetzt war mir klar, wie sich VULCANOS wirklich seine Zu kunft vorstellte: Die Menschen würden nicht einfach mit ihren Ländern und Städten untergehen, sondern sie würden zu fliehen versuchen. Wo anders konnten sie denn Zuflucht finden als auf dem Feuerkontinent? Sie würden alle in den direkten Herrschaftsbereich von VULCANOS flüchten und würden sich ihm freiwillig auslie fern - einfach, um zu überleben. Man konnte es ihnen nicht verdenken. VULCANOS würde die ganze Welt beherrschen, weil die ganze Welt nur noch aus seinem Feuerkontinent bestehen würde. Das war der Plan. Deshalb war er gar nicht daran interessiert gewesen, mir au ßerhalb seines direkten Herrschaftsbereiches nachzustellen. Wir waren Todfeinde, weil ich der Todfeind von allem Bösen war. Aber VULCANOS saß am längeren Hebel, denn die Zeit war auf seiner Seite. Er brauchte nur geduldig auf seiner Insel auszuharren. Die Menschen würden freiwillig in seine Sklave rei fliehen. Aber was war mit dem Schwarzen Adel? Diese Gemeinschaft von Geistern und Dämonen war die Ge meinschaft des Bösen auf der Welt. Der Schwarze Adel hatte VULCANOS aus dem tausendjährigen Schlaf geweckt. Ganz offensichtlich mit dem Motiv, daß er mich mitsamt meiner Gruppe vernichten sollte. Man wollte die Macht von VULCANOS mißbrauchen, um mich endlich los zu sein. Aber an VULCANOS hatten sich sogar die Goriten einst die Zähne ausgebissen. Sonst wäre er jetzt nicht hier. Der Schwar ze Adel hatte sich gründlich verschätzt. Und jetzt war dem Bösen in dieser Welt klar, das in
VULCANOS eine tödliche Konkurrenz entstanden war. Er brauchte nicht einmal gegen sie anzutreten. Er brauchte nur auf seiner Insel bleiben, brauchte seinen Machtbereich nicht um einen Meter zu überschreiten. Dem Schwarzen Adel würde haargenau der Bereich der Erde bleiben, den sie schon jetzt heimsuchten. Aber das Böse lebte vom Wirken des Menschen. Ohne den Menschen gab es das Gute und das Böse überhaupt nicht, denn es setzte Intelligenz und Entscheidungsfähigkeit voraus. Tiere und Pflanzen konn ten niemals gut oder böse sein. Sie folgten einfach ihrer Natur. Sonst nichts! Und wenn der Machtbereich des Schwarzen Adels men schenleer wurde, dann waren sie nichts. Sie, die sie keine lebendigen Wesen waren, sondern nur negative Energien, die körperlich geworden waren, würden jeglichen Sinn verlieren. Am Ende würde es nur noch VULCANOS geben. Kampflos würde er siegen. Und ich entschied mich, denn ich zweifelte nicht mehr an der Identität meines Verhandlungspartners: Dies war eine Abord nung des Schwarzen Adels! Mich, den sie hatten vernichten wollen, versuchten sie jetzt als Werkzeug gegen VULCANOS zu mißbrauchen. »Nein!« sagte ich hart. »Keinen Pakt!« »Du weißt, was das bedeutet, Mark Tate?« »Ich weiß, daß ihr VULCANOS nicht vernichten könnt. Sonst hättet ihr mir dieses Angebot niemals unterbreitet. Es genügt mir. Euch weine ich keine Träne nach. Mir ist sogar lieber, wenn ich nur noch einen einzigen Gegner habe: VULCANOS!« »Wehe dir, Mark Tate, du machst einen schlimmen Fehler! Ich habe dir gezeigt, wie es weitergeht. Bald schon wird das Böse die Welt beherrschen.« »Aber dann ohne euch!« sagte ich sarkastisch und wandte mich ab.
»Wehe dir, Mark Tate! Ich habe dir Partnerschaft vorgeschla gen, aber du antwortest mit Feindschaft. In dieser schweren Stunde sollten wir zusammenhalten. Als nächstes wird VUL CANOS diese Insel hier verschlingen - noch ehe du in das Hotel zurückgekehrt bist!« Das genügte mir. Ich hatte eigentlich gehen wollen, aber jetzt packte ich den Schavall noch fester und blieb stehen. Langsam drehte ich mich um. Ich hatte den Waffenstillstand aus Neugierde geduldet. Ich hatte sehen wollen, was die Schwarzadeligen mir vorzuschla gen hatten. Die Kraft der Goriten pulsierte in mir. Sie hatten sie mir über die Jahrtausende hinweg verliehen, um VULCANOS den Rest zu geben, aber der Gott des Feuers war mächtiger denn je wenn er sogar solchermaßen seine Schwarzen Brüder und Schwestern auf den Plan rief. Die KRAFT würde auch gut sein gegen meine »alten« Geg ner. Ich würde sie wirkungsvoller denn je bekämpfen können. Und der Waffenstillstand wurde hiermit von mir als null und nichtig erklärt! Und doch: Die Stimme lachte! Es war ein humorloses, ein grausames Lachen. »Du hast die Konsequenzen zu tragen, Mark Tate. Alles, was jetzt folgt, hast du dir selber zuzuschreiben. Du hattest eine Chance, VULCANOS zu besiegen. Diese Chance ist nunmehr vergeben. Wisse, Mark Tate, daß du uns nunmehr eher im Weg bist. Du stehst zwischen uns und unserem Rivalen. Deshalb wirst du zwischen uns zerrieben!« Ich streckte den Schavall vor. Ein gleißendes Licht brach aus dem glühenden Auge und überstrahlte die Umgebung. Es war, als würden sich die Felsen ducken. Es war, als würde die Dunkelheit heulend und zähneknirschend fliehen, um dem Licht des Schavalls Platz zu machen. Das Licht drang in jeden Winkel und gebot dem Grollen tief
in der Erde Ruhe. Der Höllenschlund würde sich nicht öffnen. Der Angriff von VULCANOS auf die Insel Oroia fand nicht statt. »Dies ist meine Antwort!« rief ich den fliehenden Schatten nach. Sie wagten es nicht mehr, ihre Totengesichter umzuwen den, damit sie nicht das Licht des Schavalls verbrannte. Und doch ereilte einige von ihnen das Schicksal, denn der Schavall sah sie alle. Nur der Unbegreifliche, der sich mir als DAS BÖSE vorge stellt hatte, konnte vom Schavall nicht gegriffen werden: Er hatte sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht! Das Licht erlosch. Ich stand in der Nacht unter einem strah lenden Sternenhimmel. Die Umgebung wirkte nicht mehr länger gespenstisch. Ich konzentrierte mich auf die KRAFT in meinem Innern, auch auf den Schavall. Der Schavall war erkaltet und wirkte jetzt wie ein kitschiges Amulett. Die KRAFT in meinem Innern schwieg. Denn es gab keine Konfrontation mit dem Bösen mehr. Seufzend machte ich mich auf den Weg. Mir stand ein kilo meterweiter Fußmarsch durch die Wildnis bevor. Mir standen die Haare zu Berg, wenn ich daran dachte. Denn ich steckte in einem leichten Schlafanzug und war bar fuß! Vor mir waren Dschungel, Savanne und Steinwüste. Außerdem herrschte Nacht! Aber was blieb mir anderes übrig? Die KRAFT ließ sich nicht zu »privaten« Zwecken mißbrauchen. Sie war dem Kampf gegen das Böse geweiht und nicht der Bequemlichkeit eines Menschen namens Mark Tate. Auch wenn man diesen den GeisterKiller nannte! Allmählich wurde es mir doch mulmig. Immer wieder tauch ten vor meinem geistigen Auge Horrorbilder von Spinnen,
Insekten, Ameisen und anderem Getier auf, das sich an meinen nackten Füßen festbiß. Ich dachte auch an Schlangen. Eine Steigerung dieser Befürchtungen gab es, als ich eine dichte Dschungelwand vor mir sah. Die Tropenwälder der Südseeinseln unterschieden sich von den Tropenwäldern auf den Kontinenten: Hier gab es praktisch keine Raubtiere. Die überaus üppige Pflanzenwelt wurde größtenteils von Insekten und Schlangen bevölkert - Lebewe sen, die im Laufe der Jahrmillionen über das Wasser hierher gelangt waren. Ansonsten gab es auch die von Menschen eingeführten Tiere. Unter anderem Ratten und Mäuse! Wirklich keine angenehmen Gedanken, weshalb ich stehen blieb und nach meinen nackten Füßen schielte. Schließlich war ich kein Dschungelbewohner, der es gewohnt war, ohne Schuhwerk herumzulaufen. Im blassen Sternenlicht machte ich mich auf die Suche nach einem geeigneten Ersatz. Die üppige Pflanzenwelt bot viele Möglichkeiten zur Abhilfe. Ich entdeckte große, fleischige Blätter und schnurähnliche Lianen. Damit schuf ich Ersatzschuhe, indem ich die Blätter um die ungeschützten Füße wickelte und mit den dünnen Lia nen ausreichend festband. Ich war einigermaßen stolz auf mein Werk. Jetzt hatte ich zwar keine geeignete Tropenkleidung, aber einen vernünftigen Ersatz. Ich drang in den Dschungel ein. Das Dickicht war so dicht, daß ich nur wenige Meter weit kam. Dann ging es einfach nicht weiter. Ich hätte über Büsche, Sträucher und Farne hinwegsteigen müssen. Außerdem war es hier stockdunkel, denn das dichte Blätterdach über meinem Kopf ließ schon tagsüber wenig Licht durch, geschweige denn nachts, wenn das einzige Licht von den Sternen und vom Mond stammte.
Zähneknirschend zog ich mich zurück. Mein angeborener Orientierungssinn half mir, mich nicht zu verlaufen und zum Ausgangspunkt zurückzukommen. Vielleicht wäre es angebracht gewesen, bis zum Tagesan bruch zu warten, um es dann erneut zu versuchen, aber ich hatte dazu keine Geduld. Ich wollte es hinter mich bringen. Die paar Kilometer bis zurück zum Hotel in der kleinen Stadt Oroia konnten schließlich nicht unüberwindlich sein. Ich schritt am Rande des Tropenwaldes entlang und suchte nach einer Lücke. Dabei näherte ich mich dem Meer. Mein Orientierungssinn ließ mich nicht im Stich. Es hatte allerdings einen Nachteil: In dieser Richtung wurde der Dschungel bald wieder dichter. Ich kannte die Insel Oroia nicht ausreichend genug. Denn ich war nur einmal kurz mit dem Hubschrauber darüber hinwegge flogen und das auch noch auf der anderen Seite der Insel. Ich verhielt im Schritt. Durch das Dschungelgebiet wäre es ohne Zweifel näher bis zur Stadt gewesen, aber wenn ich jetzt weiterging, lief ich in eine Sackgasse. Es wäre besser, ich würde wieder umkehren und mich der anderen Seite der Insel zuwenden. Dort gab es weniger Dschungel, dafür gefährliche Felsspalten und eine karge Landschaft. Aber immer noch bes ser dort als hier. Auch wenn ich einen Umweg von vielen Kilometern machen mußte. Ich kehrte also wieder zurück. Die bisherige Zeit war vertan. Das hatte ich mir auch besser vorgestellt. Vor allem hatte ich nicht gewußt, daß die Ausläufer des Dschungels hier noch so dicht sein konnten. Ich passierte die Stelle, wo ich mir mein Ersatzschuhwerk geschaffen hatte. Es ging leicht bergan. Da entstand weit über mir ein Licht! Erst dachte ich, das Licht wäre am Himmel, wo manchmal noch Wolkenfetzen entlangtrieben, die zweifelsfrei von den ständigen Vulkan
ausbrüchen auf der Feuerinsel stammten. Gottlob stand zur Zeit der Wind günstig, so daß der Himmel hier noch einigermaßen frei blieb. Das Licht war nicht am Himmel, sondern im Zentrum der Insel! Die Erde erbebte. Ich schrak heftig zusammen. Mir war klar, was das bedeutete: VULCANOS meldete sich wieder! Die Konfrontation mit der unbrechbaren Macht des Schavalls genügte ihm offenbar als Warnung noch nicht. Es war ein gespenstisches Leuchten im Felsenhain. Ich beschleunigte meine Schritte. Mein Atem ging keuchend. Ich griff nach dem Schavall, doch der reagierte noch nicht auf das neuerliche Schauspiel. Ich war noch zu weit entfernt. Der nächste Erdstoß war schon kräftiger. Beim Felsenhain entstand ein Grollen. Ich würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Das wußte ich jetzt, und ich hatte Angst davor, weil die Folgen eines Vul kanausbruches auf Oroia noch nicht abzuschätzen waren. Jetzt begann ich zu rennen. Ich keuchte den sanft ansteigen den Hügel empor. Das Licht leuchtete heller. Es beherrschte den ganzen Hain und ließ die Felsen erglühen. Der dritte Erdstoß war so stark, daß er mich umwarf. Ich stürzte zu Boden, landete jedoch in einer geschickten Rolle vorwärts. So tat ich mir nichts. Und dann blieb ich stehen und schaute empor. Es hatte keinen Sinn weiterzurennen. Ich kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, run zelte, die Stirn, denn mir war ein Gedanke gekommen. Wieso konnte sich VULCANOS so speziell dem Felsenhain widmen? Wieso hatte mich der Unbegreifliche ausgerechnet hierher geführt? Gab es hier einen Anknüpfungspunkt an das Wirken von VULCANOS?
Ich kam ins Grübeln. Wie alt war Oroia eigentlich? Auf Oroia gab es nicht die geringsten Merkmale für vulkani sche Tätigkeiten in den letzten tausend Jahren. Es gab keine großen Erhebungen. Der Wind langer Zeiten hatte Berge abge tragen und bizarre Formen entstehen lassen, falls Pflanzenwur zeln die Felsen nicht gesprengt hatten. Eine uralte Insel! Vielleicht sogar so alt wie die Insel Tomaro, ehe der erwachende VULCANOS sie hinweggefegt hatte? Aber eine Insel, auf der es praktisch keine Ureinwohner gab wie auf den meisten anderen Südseeinseln dieser Größenord nung. Oroia war so bedeutungslos, daß sie auf kaum einer Karte verzeichnet war. Eine unberührte Insel. Und doch dachte ich an meinen ersten Vergleich, als ich die Felsen vom Felsenhain zuerst gesehen hatte: Als hätten Rie senkinder damit gespielt und sie dann achtlos liegengelassen! Dieser Vergleich wollte mir nicht mehr aus dem Sinn gehen. Nein, es mußten nicht unbedingt Riesenkinder gewesen sein, aber der Felsenhain war nicht natürlich und auch nicht zufällig entstanden. Er unterschied sich zu sehr von allen anderen Strukturen der Insellandschaft. Ich gratulierte mir zu dem Entschluß, doch wieder zurückzu kehren. Ich starrte hinauf und versuchte, die Zusammenhänge zu be greifen. Vor allem wollte ich jetzt wissen, was das alles für Konsequenzen nach sich zog. Ich hatte eine Lösung: Der Felsenhain war eine magische Anordnung! Die Felsen waren so groß und wuchtig, daß man sich zwischen ihnen wie ein Zwerg vorkam. Ein riesiger Steingarten, bei dem die Details nicht so wichtig waren wie die Gesamtordnung. Die magische Bedeutung des Felsenhains auf Oroia schien offen zu sein gegenüber der Schwarzen Magie, denn offen
sichtlich war sie vom Unbegreiflichen genauso genutzt worden wie jetzt von VULCANOS. Ja, ich neigte sogar zu der Ansicht, daß jener Unbegreifliche sich über den Felsenhain mit mir in Verbindung gesetzt hatte, denn die relative Neutralität des Hains garantierte ihm, daß der Schavall nicht tödlich auf ihn reagierte. Der Felsenhain war in seiner magischen Bedeutung wie ein technisches Gerät, das der Kommunikation diente: Ein Emp fänger und ein Verstärker. Auch ein Sender? Ich schluckte schwer. Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle. Ich dachte unwillkürlich an die Bemerkung des Unbegreifli chen, daß ich eine wichtige Chance vertan hätte, als ich mit ihm nicht zusammenarbeiten wollte. Wollte er mich darauf hinweisen, daß ich den Felsenhain nut zen konnte gegen VULCANOS? Jetzt war die Erkenntnis zu spät gekommen, denn VULCANOS bediente sich schon des riesigen Steingartens. Er schickte seine vernichtenden Kräfte herüber, verstärkte sie und würde damit die Funktion des Felsenhains aufheben. Er würde dieses magische Werkzeug zerstören, damit ich es nicht gegen ihn benutzen konnte! Kaum waren meine Gedanken zu diesem Schluß gekommen, als der nächste Erdstoß kam, unvergleichlich heftiger als die vorangegangenen. Die Erde tat sich auf, genau im Zentrum des Felsenhains. Ein unglaubliches Grollen stieg empor und entpuppte sich als ein weißglühender Lavapfropfen, der sich löste wie der Korken einer Sektflasche. Nur größer, heißer und damit gefährlicher! Der Lavapfropfen raste empor, begleitet von einem Feuer strahl. Er detonierte mit ohrenbetäubendem Krachen und brei tete sich zu einem feurigen Aschenregen aus. Die Glut erreichte den dichten Dschungel und steckte diesen
vielerorts in Brand. Das Kreischen von Vögeln klang herüber, als sie schleunigst ihr Heil in der Flucht suchten. Rechts und links von mir prasselte die Glut nieder. Die Erde tat sich auf, um einen neuen Vulkan auf Oroia ent stehen zu lassen, und ich stand ganz in der Nähe. Ich erinnerte mich an ein Beispiel aus der Weltliteratur, in dem vom »Ritt auf einem Vulkan« erzählt wurde. So kam ich mir jetzt auch vor .
May Harris schrak hoch, als die Erde zu grollen begann. Sie dachte sofort an die Feuerinsel und auch an VULCANOS, den Gott des Feuers. Ging es jetzt auch auf Oroia los? Sie tastete nach dem Lichtschalter und ließ das Licht auf flammen. Das Bett neben ihr war leer! Eisiger Schreck befiel May. Sie sprang aus dem Bett und zog sich rasch etwas über. Dann lief sie zur Tür. Der Schlüssel steckte von innen - und es war abgesperrt! Ratlos hielt May inne. Der nächste Erdstoß! Sie hatte selten in ihrem Leben ein Erdbeben erlebt, aber jetzt wußte sie, welche Angst dies erzeugen konnte, wenn der an scheinend so feste Boden zu wackeln begann. Sie zwang sich zur Ruhe. Die Tür von innen abgeschlossen? Aber wie war Mark dann aus dem Zimmer gekommen? Aus dem Fenster? Sie überzeugte sich davon: unmöglich! Eigentlich war nicht einmal die Decke des Bettes zurückge schlagen. Als hätte sich Mark Tate schlicht und einfach in Nichts aufgelöst. Aber der Schavall war auch nicht mehr da. May Harris hatte als Lebensgefährtin von Mark Tate schon
einiges erlebt. Solche Dinge waren gar nicht mal so selten im Leben neben dem GeisterKiller. Und doch war es diesmal anders als sonst. May hielt sich nicht länger auf, sondern lief zum Nachbar zimmer. Als hätte es ein verabredetes Zeichen gegeben, wurde dort geöffnet. Don Cooper streckte den Kopf in den Flur hinaus. Er machte eine ernste Miene. »Geht jetzt der Tanz auch auf Oroia los?« May nickte. »Sieht so aus, Don.« Sie drängte den Freund in das Zimmer zurück, denn hier draußen auf dem Flur konnten sie sich nicht gut über diese Dinge unterhalten. Es brauchte schließlich nicht jeder mitzubekommen. Im Hotel wurde es jetzt unruhig. Das Erdbeben hatte die Menschen geweckt. Die meisten waren Journalisten, die wegen der Feuerinsel da waren. Auch ein Fernsehteam war in diesem einzigen Hotel am Ort abgestiegen. Von außen sah es recht schäbig aus, aber die einzelnen Zimmer waren ganz passabel. Don schloß hinter May die Tür und deutete auf das Bett. Lord Frank Burgess, der Magier von Schloß Pannymoore, lag darin. Er lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen, die Hände vor der Brust gefaltet. Als wäre er tot! »Ich habe es versucht«, murmelte Don, »aber er ist nicht wachzukriegen.« »Was ist los mit ihm?« »Keine Ahnung!« bekannte Don. »Ich weiß nicht mal, ob er noch lebt oder nicht.« Er zuckte die Achseln. May sah ihm an, wie sehr sich Don beherrschen mußte. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft. Was den einen betraf, betraf im gleichen Maße auch alle anderen. May ging auf das Bett zu. Gleichzeitig konzentrierte sie sich auf die Gedanken des Lords. Sie rief nach ihm. Normalerweise fiel es ihnen leicht, ihre Gedanken miteinan
der zu verbinden. »Frank!« dachte sie intensiv. Keine Resonanz. Als wäre Frank nicht hier, als wäre sein Geist ins Jenseits abgetreten. May stieß mit den Beinen gegen das Bett. Ihre Gedanken drangen in den Körper des Lords ein. Sie untersuchten ihn. Kein Herzschlag, keinerlei Lebensfunktionen - nur diese totenähnliche Starre. Und doch war May überzeugt davon, daß der Lord lebte. Denn Lord Frank Burgess durfte nicht mit normalen Maßstä ben gemessen werden. Er war kein normaler Mensch, sondern ein Gestaltswandler. Er konnte jede beliebige Gestalt anneh men, mit geringen Einschränkungen: Erstens mußte er die Gestalt dessen, den er kopieren wollte, genau erforschen. Es geschah dies auf magischem Wege. Dann konnte er in die andere Rolle perfekt hineinschlüpfen. Weder mit magischen noch mit »weltlichen« Mitteln war dann noch ein Unterschied festzustellen. Es gab dabei nur eine positive Ausnahme: Er konnte auch die Gestalt eines Menschen oder eines Tieres annehmen, die er schon einmal innegehabt hatte: Dann konnte er aus seinem Gedächtnis schöpfen. Zweite Einschränkung: Die Gestalt durfte nicht zu groß und nicht zu klein sein. Außerdem mußte es sich um ein LEBENDIGES Lebewesen handeln mit intakten Nervenfunk tionen, also weder um ein Fabelwesen, das nicht von dieser Welt stammte, noch um eine Pflanze. May sah Don Cooper an. »Ich glaube, daß Frank lebt. Mehr kann ich nicht herausfin den. Seit wann ist er in diesem Zustand?« »Seit ich wach bin jedenfalls! Vorher .« Er zuckte wieder mit den Achseln. »Vorher, das weiß ich leider nicht zu sagen.« Don Cooper hatte die Figur eines durchtrainierten »Mr. Uni versum«. Er war in sämtlichen Sportarten zu Hause und hatte
eine wahrhaft artistische Körperbeherrschung. Außerdem hatte er ausgeprägte Kenntnisse in magischen Dingen. Aber er hatte keinerlei magische Fähigkeiten. Trotzdem war er ein wichtiger Mitstreiter im Team um den GeisterKiller Mark Tate! »Mark ist verschwunden!« platzte May heraus. »Was? rief Don Cooper erschüttert. »Seit wann?« »Ich habe es beim Erwachen bemerkt.« »Ob es da einen Zusammenhang gibt?« Don deutete auf den reglosen Körper von Frank. Den nächsten Erdstoß ignorierten sie. Sie sorgten sich um die Gefährten. »Hoffentlich nicht!« »Du denkst an VULCANOS, May?« »Ja, Don!« »Aber wie kann er es geschafft haben? Er hat einen Heiden respekt vor dem Schavall, sonst wären wir längst nicht mehr am Leben. Als wir auf der Feuerinsel waren, hat uns nur der Schavall vor dem direkten Zugriff bewahrt.« May wandte sich ab und betrachtete den reglosen Körper von Frank. Don sah, wie sie sich erneut konzentrierte. Sie rief diesmal nicht allein nach dem Lord, sondern auch nach dem Geister Killer Mark Tate. Das war selten genug von Erfolg gekrönt. Deshalb hatte sie das nicht sofort versucht. Sie und ihr Lebensgefährte konnten ihre Gedanken nur vereinen, wenn sie sich nahe waren. Anson sten war das stark eingeschränkt bis unmöglich. Sie rief nach Mark Tate, während sich Don Cooper zum Fen ster wandte und in die Nacht starrte. Da brach der neue Vulkan auf Oroia aus! Er konnte es deutlich sehen: Über der Insel entstand leuch tendes Feuer. Die Insel schien im Zentrum lichterloh zu bren nen. Darüber wölbte sich das Dach eines Rauchpilzes.
Oroia schien sich ebenfalls in eine Feuerinsel verwandeln zu wollen. Gleichzeitig mit der Eruption stieß Frank einen gellenden Schrei aus. Er fuhr in seinem Bett auf. May Harris griff sofort nach ihm. Sie wollte ihn stützen. Frank zitterte wie im Fieber. Er stammelte sinnlose Worte. Auf seiner Stirn erschienen dicke Schweißtropfen. Er schrie erneut, während ein Erdstoß nach dem anderen die Insel erschütterte. Wenn das so weiterging, mußten sie das Hotel verlassen, sonst stürzte es in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Auch sonstwo im Hotel wurde geschrien: Die Menschen bra chen in Panik aus. Verständlich! Aber Frank hatte offensichtlich einen ganz anderen Grund. Oder stand es doch irgendwie im Zusammenhang mit dem Vulkanausbruch? Er blinzelte May verwirrt an. Aber dann wurde sein Blick klar. »Dort oben ist die Hölle los!« sagte Don Cooper mit belegter Stimme. Er konnte nicht den Blick vom Himmel wenden. Ein grandioses Schauspiel, wenn man es daheim im Fernse hen sah - aber nicht, wenn man mitten auf einer Insel hockte, wo es geschah! »Mark!« murmelte Frank. Seine Hand klammerte sich um den Arm von May. »Was ist mir Mark?« fragte May Harris ahnungsvoll. »Er - er steht mitten auf dem Vulkan!« Dons Kopf flog herum. »Was?« »Auf dem ausbrechenden Vulkan!« bestätigte Lord Frank Burgess. Alle schauten hinaus. Jetzt schien der ganze Himmel zu brennen. Die Insel schüttelte sich wie der Rücken eines fieber kranken Riesen. Die Mauern des Hotels würden das nicht mehr
lange aushalten. Aber die drei waren unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Sie blieben stehen und starrten aus dem Fenster. Sie dachten an den GeisterKiller Mark Tate .
Mit knappen Worten erzählte der Lord, was mit ihm gesche hen war: Er war zufällig wach gewesen, als das Böse Mark Tate heimgesucht hatte. Er hatte sich darauf konzentriert, hatte gewissermaßen den Lauscher an der Wand gespielt. Dabei hatte er nur einen Teil mitbekommen. Seine Gedanken waren dabei gewesen auf dem Weg über die Insel. Er hatte teilweise auch die Zusammenhänge am Felsen hain mitbekommen. Allmählich waren die Eindrücke verblaßt. Die Kräfte hatten ihn verlassen. Und dann hatte er mit Erschrecken festgestellt, daß es für ihn keine Rückkehr mehr gab! Als wäre sein Geist vom Körper für immer getrennt. Dabei war das gar nicht mal beabsichtigt gewesen. Es war eine Art Randeffekt, anscheinend hatte der Unbegreifliche Frank gar nicht wahrgenommen, weil seine ganze Sorge dem Schavall galt - und auch der Hoffnung, daß Mark Tate sich auf den Handel einlassen würde. Frank hatte sich danach nicht einmal Mark Tate bemerkbar machen können. Er war in den Zustand von tiefer Bewußtlo sigkeit hinübergeglitten, ohne Bezug mehr zur Wirklichkeit. Bis zu seinem Erwachen beim Vulkanausbruch. Die magi schen Vorgänge, die den Ausbruch bewirkt hatten, waren dafür Auslöser gewesen. Ebenfalls nur ein Nebeneffekt, wie er fand, nur diesmal zu seinem Vorteil und nicht mehr zu seinem Nachteil. »Mark ist noch dort!« bekräftigte er überzeugt. May musterte ihn. »Wie fühlst du dich, Frank? Hast du dich schon einigermaßen erholt?« Was wie eine Unverschämtheit klang, hatte seinen triftigen
Grund: May wollte wissen, ob Frank soweit wieder fit war, daß sie gemeinsam nach dem GeisterKiller Mark Tate rufen konnten. Frank nickte ihr zu. »Es geht, May. Du weißt, daß ich mich schnell erhole.« Das stimmte. Manchmal brauchte er nur Minuten, wenn es gerade noch ausgesehen hatte, als wäre er völlig am Ende. Das hatten sie schon bei ihm erlebt. May zögerte nicht mehr länger. Ihre und seine Gedanken ver banden sich zu einer magischen Einheit. Don Cooper stand daneben. Er konnte nichts tun. Er konnte nur auf die beiden leblosen Körper schauen, die nebeneinander quer über das Bett ausgestreckt lagen, als hätte sie der Blitz getroffen. Er ging zum Fenster und hoffte, daß die Wände des Hotels noch länger die Erdstöße aushalten würden. Noch einen letzten Blick zum Bett zurück. Da war es, als würde er einen zweistimmigen Schrei hören. May und Frank! Ein ferner, verwehender Schrei, obwohl sie dabei nicht den Mund geöffnet hatten. Erging es ihnen jetzt gemeinsam so wie vorher nur Frank? Besorgt lief Don hinüber. Ein wenig hilflos schaute er auf die beiden hinab. Was konnte er tun? »Nichts!« murmelte er vor sich hin. Er ging wieder zum Fen ster. Im Park liefen Menschen umher. Sie schrien durcheinan der. Die ganze Insel schien Kopf zu stehen. Nur Don Cooper blieb äußerlich ruhig. Er beobachtete den Ausbruch im Zentrum der Insel. »Irgendwie ist es anders als bei einem gewöhnlichen Vul kanausbruch«, sagte er leise. Er mußte es wissen. Don Cooper hatte die Welt gesehen. Es gab kaum einen Quadratmeter, den seine Füße nicht irgend
wann berührt hatten. Es war gewiß nicht sein erster Vulkanausbruch. Dieser hier konzentrierte sich auf einen ganz bestimmten Punkt. Immer wieder wurden Lavamassen und brennende Asche emporgeschleudert, aber der Höllenschlund erweiterte sich nicht. Das war es, was Don Cooper feststellte. Wieso fiel es ihm jetzt erst auf? War er zu sehr mit May und Frank beschäftigt gewesen? Er konnte denen nicht helfen. Deshalb konzentrierte er sich auf dieses Problem hier. Vielleicht befanden sich ihre Geister auch längst dort oben bei Mark Tate? »Du lebst, Mark! Du bist dem eruptiven Zentrum sehr nahe, aber nicht tödlich nahe, denn die Erde öffnete sich nicht weiter. Die direkte Umgebung bleibt vielmehr verschont, allen Natur gesetzen anscheinend zum Trotz. Der Vulkan ist geeignet, die Menschen in Panik zu versetzen und die Insel in ihren Grundfesten zu erschüttern, aber er wird die Insel nicht verschlingen können. Oroia wird es überleben, so lange dieser Vulkan magische Ursachen hat.« Er dachte an den Feuergott VULCANOS. Und da hörte er ein grollendes Lachen in der Stadt. Es schien aus jedem Winkel gleichzeitig zu kommen und schürte die Panik der Menschen. Wie ein Erdbeben, das plötzlich zu diesem Lachen geworden war. Grollen und Lachen bildeten in der Tat eine Einheit. Sie ver banden sich zusätzlich mit Donnern, mit denen die Lavamassen und die glühende und rauchende Asche in den Himmel ge schleudert wurden. Der erste Ascheregen ging auf die kleine Stadt nieder und zwang die Menschen in die Häuser zurück - trotz der Gefahr, daß diese bald einstürzten.
Das Lachen war überall, und es trieb auch Dons Haare zu Berg. Denn es war unzweifelhaft das Lachen von VULCANOS. Er genoß seinen Triumph. Über Mark Tate? Jetzt wäre Don gern bei dem Gefährten gewesen. Trotz der Gefahr beim Vulkan. Er wollte wissen, was dort geschah!
Plötzlich waren May und Frank bei mir! Ich spürte sie sehr deutlich, während ich auf den Felsenhain zulief. Ich hatte etwas entdeckt: Die Felsen blieben vom Ascheregen verschont, während die Wälder schon an vielen Stellen brann ten. Der Brand breitete sich aus, so lange er immer wieder Nachschub von oben bekam. Obwohl die Pflanzen voll im Saft standen. Beim Felsenhain würde ich sicher sein. Und das war ich auch. Keuchend blieb ich zwischen den Felsen stehen. May und Frank schien die Nähe der Felsen nicht zu bekom men. Ich hörte ihre furchtbaren Schreie und konnte nicht be greifen, was mit ihnen geschah. Ich konzentrierte mich auf sie. Schon spürte ich DIE KRAFT in mir pochen. Es war die Kraft der Goriten, die von den Toma ren über die Jahrtausende hinweg bewahrt worden war. Für mich, der ich den Kampf gegen VULCANOS führen mußte! Mit dieser Kraft gelang mir die Verbindung mit dem Scha vall. Ich nahm ihn in die Linke. May und Frank waren flatternde Schatten, die sofort wieder verwehen wollten. Ich hielt sie mit meinen Gedanken fest und nahm das Grauen von ihnen. »VULCANOS ist hier!« sagten die beiden. »Der Felsenhain ist ein Tor zur Feuerinsel. Das Zentrum von Oroia wird durch
dieses Tor gleichzeitig das Zentrum der Feuerinsel. VUL CANOS hat das bewirkt.« Ich sah, wie sehr sie diese Mitteilung schwächte. Ich erkannte auch, daß sie aus eigener Kraft nicht mehr zurückkehren konnten. Dazu mußte ich ihnen helfen. Ich tat es - und es gelang. Sekundenlang sah ich das Hotel zimmer mit ihren leblosen Körpern. Jetzt kehrte wieder Leben in sie zurück. Ich sah auch Don Cooper, der am Fenster stand und mich nicht bemerkte. Ich konnte mich ihm auch nicht bemerkbar machen, denn ich unterbrach den Kontakt und wandte mich grimmig dem Zentrum des Felsenhains zu. Jetzt sahen die Felsen wieder aus wie pelzige Kolosse. Wer hatte den riesigen Steingarten geschaffen? Und warum? Stand es mit dem Untergang von VULCANOS in Verbin dung? Oder mit den Tomaren? Es gab keine Antworten auf diese Fragen. Vorläufig jeden falls nicht. Ich wußte noch nicht einmal, ob VULCANOS von Anfang an die Bedeutung des Hains erkannt hatte oder ob er zufällig darauf gestoßen war. Und der Schwarze Adel? Ich blieb unwillkürlich stehen. Die hatten durchaus die Be deutung des Hains erkannt. Sie hatten es bereits gewußt, BEVOR sie VULCANOS zu meiner Vernichtung geweckt hatten. Vielleicht war der Felsenhain sogar ihre Rückversicherung dafür gewesen, den Gott des Feuers, in seine Schranken zu verweisen, falls er ihnen zu übermütig werden sollte. Ich hatte die Chance vertan, den Hain gegen VULCANOS wirksam einzusetzen. Aber die Schuld lag auch bei dem Schwarzen Adel selber, denn er hatte viel zu lange gezögert. Jetzt war es zu spät! Trotzdem ging ich weiter.
Ich spürte die Hitze des Bösen, die von der Hitze des Guten zurückgedrängt wurde. Der Schavall glühte, als hätte ich ihn gerade erst aus dem Hochofen genommen. Aber es schadete mir nichts. Ich konnte ihn ruhig in der Hand lassen. Ich durchquerte den Felsenhain. Die Luft zwischen den Fels brocken flimmerte, als wäre sie von Milliarden schwachleuch tender Glühwürmchen erfüllt. Es war ein Flimmern und Quir len. Seltsame Strukturen! Eine ganz verzerrte Optik entstand. Ich spürte einen unbeschreiblichen Einfluß auf meine Seele und auf meinen Körper. Es war kein schädlicher Einfluß, denn er blieb neutral, weil er nichts Konkretes bewirkte. Deshalb wehrte sich auch der Schavall nicht dagegen. Ich strebte dem Zentrum zu - aber je näher ich ihm kam, desto deutlicher wurden die verwirrenden Eindrücke. Die Umgebung verschwamm. Kam Leben in die geduckten Kolos se? Zitterte bereits ihr Fell? Ein Zirpen entstand - ein fernes Singen und Klagen, das niemals von dieser Welt stammen konnte. Ich schritt weiter. Längst war nichts mehr von dem tosenden Donnern des Ausbruchs zu hören. Selbst das Grollen des Erd bebens war verstummt. Dafür spürte ich plötzlich die Nähe von VULCANOS. Von ihm persönlich - ihm, dem Gott des Feuers und der Vernich tung! Er war da, in unmittelbarer Nähe! Noch drei Schritte, und ich war bei ihm! Vor mir stand die Erde offen. Der Höllenschlund! Und was da donnernd zum Vorschein trat und mächtig in den Himmel über Oroia strebte, war der Feuergott selber! Er war glutflüssige Lava, brennende Asche, beizender Qualm, gleichermaßen wie die Verkörperung des Bösen. Selbst das Grollen des Erdbebens war er, sonst hätte sich dieses Grollen jetzt nicht wie sein tri umphierendes Lachen angehört.
Ich war hautnah bei ihm und tat den entscheidenden Schritt mitten in die Hölle hinein. Ich geriet mit dem ganzen Körper in die emporschießende Lava. Es war so heiß, daß Gestein sofort flüssig wurde. Selbst Granit wäre dieser Hitze gewichen, um sich in ein brennendes Rinnsal zu verwandeln. Ich hatte diesen entscheidenden Schritt nicht aus freiem Wil len getan. Die Magie, die mich beherrschte, hatte mich dazu gebracht. Darum kannte ich weder Furcht noch Entsetzen. Ich schwebte inmitten dem Vulkanausbruch. Jetzt klang das Grollen der Erde nicht mehr wie das triumphierende Lachen von VULCANOS, denn er hatte nichts mehr zu lachen. Es wimmerten und wehklagten die Winde über der Insel. Es fauchte der Sturm durch die Straßen von Oroia wie ein einziger Schrei. Es schrie die ganze Insel. Wo das Feuer ausgebrochen war, verschwand es plötzlich mit einem lauten Knall. Wo der Qualm wie eine schwarze, drohende Wolke über der Insel hing, ballte er sich zusammen wie zu einer Riesenfaust nur um eine Fratze zu bilden, die panikerfüllt hinunterstarrte. Der Sturm wurde auch hier oben so stark, daß er heulend in den Qualm fuhr und ihn zerfetzte. Lichtfetzen wirbelten über den Sternenhimmel und flohen nach allen Richtungen. Die Nacht war voller Entsetzen, das sich nicht nur auf der Insel ausbreitete, sondern darüber hinaus auch über dem Meer. Es hatte eine bestimmte Richtung: Feuerinsel! Es tobte über die Kriegsschiffe der fünften USFlotte hinweg, die zwischen Oroia und Feuerinsel ankerte; verwandelte jeden Mariner in Sekundenschnelle in ein wimmerndes Nervenbündel, raste weiter, trieb haushohe Wellenberge vor sich her, die gegen die kochende Küste der Feuerinsel brausten, und erreichte endlich das Ziel. Doch ich war dabei!
Und ich tat einen nächsten Schritt, um mitten auf der Feuer insel zu stehen. Hier wollte ich das Entsetzen erwarten, denn es war der Rest von VULCANOS, nachdem der Schavall seine größte Macht gebrochen hatte. VULCANOS war zwar immer noch mächtig und schrecklich, aber nur noch ein Schatten gegenüber vorher. Er hatte mich unterschätzt. Er hatte auch den Felsenhain falsch eingeschätzt, sonst hätte er nicht so gehandelt. Er hatte das Tor mißbrauchen wollen, um Oroia zu verschlingen. Mit seiner Magie hatte er den Vulkanausbruch begonnen. Er hätte den tosenden Naturgewalten freien Lauf gelassen. Diese hätten mich vernichten können, ohne daß der Schavall etwas dagegen getan hätte. Statt dessen war ein Sog entstanden und hatte ihn ganz her übergezogen. Er hatte die Feuerinsel verlassen und war durch das magische Tor nach Oroia gekommen. Und so hatte ich ihn beinahe vernichten können. Beinahe! Ich hätte nur eine Sekunde früher da sein müssen. Aber wie hätte ich das ahnen können? VULCANOS war zum größten Teil schon auf Oroia gewesen. Als die Berührung mit dem Schavall erfolgt war, hatte VULCANOS den größten Teil von sich selbst aufgeben müssen. Aber damit hatte er den Rest gerettet. Jetzt war er auf seine Feuerinsel geflohen, die immer noch wuchs. Ich wartete auf ihn. Doch er hütete sich, mir zu nahe zu kommen. Statt dessen verschwand er von der Bildfläche, als würde er in den Schoß der Erde zurückkehren, wo er vor Wo chen erwacht war. Ich spürte, wie DIE KRAFT in mir wie eine flackernde Kerze im Wind zu erlöschen begann. Das erfüllte mich mit Entsetzen. Ich dachte an das erste Mal und daran, daß ich dann hier auf der Feuerinsel gefangen sein würde.
Deshalb konzentrierte ich mich auf den Felsenhain. DIE KRAFT flackerte wieder auf. Ich kehrte zurück nach Oroia. Im Zentrum des Hains kam ich zu mir. Ja, es war, als wäre ich aus einem Alptraum erwacht. Die Felsbrocken glühten nicht mehr. Es gab keinen Vul kanausbruch mehr. Ja, nicht einmal die direkten Folgen waren mehr zu erkennen. Als wäre alles nicht geschehen. Ich stand im Zentrum auf festem Boden, dem anscheinend niemals jemand auch nur einen Kratzer zugefügt hatte. Der Schavall war erkaltet. »Im Grunde bin ich soweit wie vorher!« murrte ich. Aber das stimmte nicht, denn ich wußte jetzt, wer diesen Fel senhain errichtet hatte: Der Steingarten war ein Werk der Goriten! Ich selber war einst ein Gorite gewesen. Als ich starb, gab es eine Wiedergeburt - als Mensch! Ich hatte tausend Leben inzwischen gelebt, bis ich in der Gegenwart als Mark Tate das Licht der Weit erblickt hatte. Jetzt war ich Mark Tate und ich konnte mich selten an Ver gangenes erinnern. Tausend Leben - das war mehr, als ein Mensch verkraften konnte. Ich wäre von der Flut der Erinne rungen zerquetscht worden. Nur wenn die Umstände es verlangten, wurden Erinnerungen an frühere Leben frei. So wie jetzt. Eine Erinnerung an mein ERSTES Leben. Ich war ein Gorite. Es öffnete sich für mich ein winziges Guckloch, durch das ich einen Blick über die Jahrtausende zurückwerfen konnte. Ich erkannte durch dieses »Guckloch«, daß ich selber einer von den Goriten gewesen war, die diesen Felsenhain errichtet hatten!
Über die Jahrtausende hinweg war seine Funktion unbekannt geblieben. Die Goriten hatten VULCANOS mit Hilfe des Steingartens vernichtet. Ein durchaus ähnlicher Vorgang wie soeben erst abgelaufen. Anscheinend hatte VULCANOS die Erinnerung an damals verloren. Jetzt war sie auf drastische Weise wiedergekehrt. Mit dem Unterschied, daß der Schaden für ihn diesmal nicht ganz so groß war wie damals, dann VULCANOS war nicht wieder für Jahrtausende verbannt, sondern hatte sich nur vor übergehend verkrochen. Es war abzusehen, daß er bald wieder auftauchte. Möglicherweise gestärkt und genauso furchtbar und mächtig wie zuvor! Ich hatte auch dafür eine Erklärung: Der Schwarze Adel mußte irgendwann die Funktion des Steingartens enträtselt haben - als einziger! Nachdem wir damals den Gott des Feuers als vernichtet an gesehen hatten, war der Steingarten bedeutungslos geworden. Der Schwarze Adel hatte ihn wieder zum Funktionieren ge bracht. Deshalb hatte er auch nicht so reibungslos geklappt. Deshalb waren seine magischen Energien eher neutral erschie nen. Der Schwarze Adel hatte den Steingarten so verändern müs sen, sonst wäre er zu einer tödlichen Gefahr für die Geister und Dämonen geworden. Jetzt war das wieder korrigiert: durch mich! Aber es nutzte nichts mehr, denn VULCANOS würde kein drittes Mal in diese Falle tappen. Er war für alle Zeiten ge warnt. Ich ging zwischen den Felsen hindurch und bedauerte es, daß ich nicht mehr von meinem ersten Leben gesehen hatte. Ei gentlich war es doch nur ein vager Hinweis auf meine erste Identität. Wirklich bedauerlich, denn meine erste Identität als Gorite hatte schließlich sämtliche tausend Leben bis in die
Gegenwart bestimmt. Ohne die spezielle Fähigkeit der See lenwanderung wäre ich nicht hier gewesen. Es hätte keinen GeisterKiller Mark Tate gegeben .
Don Cooper spürte die Veränderung der beiden regungslosen Körper, aber May Harris und der Lord schafften es nicht, wie der ganz in die Wirklichkeit zurückzukehren. Sie bewegten sich stöhnend. Sie verdrehten die Augen. Es nutzte auch nichts, als Don sie rüttelte. Da spürte Don Cooper ihre Gedanken. Sie waren verworren und zusammenhanglos. Konnten May und Frank ihre Gedanken denn nicht mehr steuern? Wie waren sie in diesen seltsamen Zustand gekom men? Sie hatten auch ihre Fähigkeit verloren, ihre magischen Fä higkeiten zu steuern, wie es schien! Sie produzierten magisch wirksame Gedanken und trieben den erschrockenen Don Cooper zurück. Er wurde von den magischen Gedanken bombardiert, die in seinen Schädel ein drangen, als wollten sie ihn in den Wahnsinn treiben. Er stieß mit dem Rücken gegen die Wand und preßte schrei end die Hände gegen die Ohren, um es nicht mehr zu hören. Es nutzte nichts: Die Luft war erfüllt von Schwirren und Sau sen, als würden tausend Stimmen im raschen Stakkato gleich zeitig auf ihn einreden. Auch das Schreien nutzte nichts. Blind und orientierungslos taumelte Don durch den Raum. Er ordnete seine eigenen Gedanken. Es gelang ihm nur zum Teil. Wie in einem wallenden Nebel sah er die Tür nach draußen. Das Licht war beeinträchtigt. Er sah die Körper von May und Frank. Was geschah mit ihnen? War es ein Trugbild oder bäumten sie sich wirklich auf? Bei ihnen war etwas, oder jemand. Er war nicht zu sehen, nur zu spüren. Er war unbegreiflich und
beutelte die beiden Wehrlosen. Warum tut er das? fragte Don sich gequält. Er hätte ihnen so gern geholfen, aber das war ihm unmöglich. Er mußte raus hier, sonst wurde er wirklich noch wahnsinnig. Er hielt es ein fach nicht mehr aus. Obwohl der Unbegreifliche sich gar nicht seiner annahm. Don schien für ihn unwichtig zu sein. Er hatte es nur auf den Magier und auf die Weiße Hexe abgesehen. Don prallte gegen die Tür. Er schrie wieder. Da breiteten sich die Gedanken von May und Frank explosi onsartig aus, von dem Unbegreiflichen angeheizt. Sie ver strömten all ihre magische Kraft auf einmal, ineinanderverkeilt, unentwirrbar miteinander vereint. Es hatte direkte Folgen, auch für Don. Es zerstörte die Möblierung. Er fetzte das Fenster aus dem Rahmen und ließ es in tausend Scherben in den Park regnen, wie ein Sprühnebel. Es trieb Don Cooper durch die geschlossene Tür nach drau ßen. Einen Mann mit schlechterer körperlicher Kondition hätte das getötet. Er hätte niemals eine solche Macht in May und Frank ver mutet. Jetzt war sie mit einmal sinnlos vertan. Was hatte es für Folgen für die beiden? Don krachte gegen die gegenüberliegende Gangwand. Er nahm die Hände herunter und stierte in den Raum, der jetzt offen vor ihm lag. Das war ein seltsames Licht, ein gespensti sches Leuchten. Schatten trieben über die Wände, wie die Schatten von unsichtbaren Monstrositäten. Die Gedanken von May und Frank waren erloschen. Für immer? Waren die beiden - tot? Don Cooper ließ die Arme sinken. Eine hilflose Geste. Da kam der Unbegreifliche auf die offene Tür zu. Er näherte
sich Don. Don Cooper spürte sein Kommen. Allein das schon erzeugte unendliches Grauen in Don Cooper. Er wußte: Das hatte nichts mit VULCANOS zu tun. Das hier war ein anderer, eine andere Macht. Ein Konkurrent von VULCANOS? Dann war er nicht besser als der Gott des Feuers. Er kämpfte nur mit anderen Mitteln. Mit den Mitteln des Grauens im Gegensatz zu den Mitteln des Feuers. Aber vernichtend wirkte beides. Don Cooper konnte nicht anders: Trotz seiner Sorgen für May und Frank trieb ihn das Grauen in die Flucht. Er rannte den Gang entlang wie von Furien gehetzt. Das Grauen folgte ihm; brachte lautlose Schatten mit, ein Irrlichtern in den Wänden, im Boden, in der Gangecke. Vor Don flog eine Tür auf. Don wagte es nicht, den Blick über die Schulter zu wenden. Der Mann, der das Zimmer verließ, war weniger vorsichtig. Dieser Mann hatte nicht in Panik reagiert, als das Erdbeben die Stadt heimgesucht hatte. Jetzt war das Erdbeben verebbt. Es gab auch keinen Vulkanausbruch mehr, nicht einmal Spuren davon. Als hätte es so etwas auf Oroia niemals gegeben. Dem Mann hatte das bestätigt, daß es besser gewesen war, die Nerven zu bewahren. Er hatte sich bewundernswert verhalten - bis jetzt. Und jetzt schaute er ins Angesicht des Unbegreiflichen. Don sah das kalkweiße Gesicht des Mannes. Und dann geschah das Schreckliche: Der Mann alterte inner halb von Sekundenbruchteilen, als wäre da etwas, was all seine Lebensenergie, seine gesamte Vitalität wegsaugen würde. Ein Vorgang, der in der nächsten Sekunde schon abgeschlos sen war. Etwas anderes schloß sich an: Der Tod!
Der Mann sank als uralter, gebeugter, vertrockneter Greis zu Boden. Noch bevor er den Boden berührte, löste er sich auf in in alten Staub, den der leichte Luftzug, den Don beim Vorbei laufen verursachte, auseinandertrieb. Und Don wußte in diesem Augenblick, daß er seine Freunde nicht im Stich gelassen hatte: Er hätte sowieso nichts für sie tun können. Der Instinkt, die Angst hatten ihn zur Flucht ge trieben. Das war besser so gewesen. Er jagte die Treppe hinunter und ließ das Grauen über sich zurück. Er erreichte das Erdgeschoß und spürte noch immer den Un begreiflichen, der sich anscheinend im Hotel ausbreitete, der durch die knackenden Wände in die Räume drang, auch wenn sich dort niemand aufhielt, der gewiß auch andere Menschen heimsuchte, sofern sie nicht rechtzeitig geflohen waren, der das Hotel in Besitz nahm. Bisher hatte das Licht in der Halle gebrannt, trotz Vulkanaus bruch und trotz Erdbeben. Jetzt flackerte das Licht bedenklich. Die Menschen, die sich im Keller verkrochen hatten, stiegen herauf und begegneten Don. »Flieht!« schrie Don ihnen zu. »Im Hotel geht der Tod um!« Sie spürten es selber. Aber einige wollten nicht hören. Sie rannten die Treppe hinauf, genau dem Unbegreiflichen entge gen. Don hörte Sekunden später schon grauenvolle Schreie. Einer der Unvorsichtigen kam zurück, totenbleich, wankend. Er brach am Fuße der Treppe zusammen, alternd. Es ging diesmal viel langsamer. War es, weil er nur einen ganz kurzen Blick auf den Unbe greiflichen geworfen hatte? Don Cooper wußte genug. Er verließ mit anderen das Hotel. Sie rannten schweigend die Straße entlang, ohne Ziel, nur mit einem einzigen Wunsch: Bloß weg!
Ich hatte den Felsenhain hinter mir gelassen und orientierte mich kurz. Mein angeborener Orientierungsinstinkt sagte mir genau, in welche Richtung ich mich wenden mußte. Ich hatte immer noch die improvisierten »Schuhe« an den Füßen und einen Schlafanzug an. Ein denkbar schlechter Auf zug für den bevorstehenden Fußmarsch. Ich hatte mir vorgenommen, den Umweg zu wagen. Vielleicht wäre es angebracht gewesen, mich näher mit dem magischen Steingarten zu beschäftigen und seine Möglichkei ten in der Gegenwart auszuloten, aber eine unerklärliche Scheu hielt mich davon ab. Ich schob es einfach auf später, ohne mich im Zeitpunkt fest zulegen. Einmal wandte ich den Blick zurück. Ich hatte mich ungefähr einen Kilometer entfernt. Es ging über unwegsames Gelände, das vom Mondlicht unzureichend beleuchtet wurde. Der Himmel war wie leergefegt. Es gab keine Wolken mehr. Anscheinend hatte die vulkanische Tätigkeit auf der Feuerinsel ebenfalls aufgehört, denn auch der Horizont war frei. Über dem Felsenhain herrschte ein seltsames Irrlicht, wie von Sternen hervorgerufen. Wie wenn das bleiche Sternenlicht, vermischt mit dem Mondlicht, sich auf einer spiegelnden Oberfläche eines Moor tümpels brach - wenn sich sanfte Wellen auf dem Tümpel bildeten. Ein verwirrender Eindruck, der auf mich wirkte, obwohl ich es nicht wollte. Ich blinzelte überrascht und schüttelte den Kopf, um den Eindruck loszuwerden. Aber das gelang mir erst, als ich den Blick abwendete. Was ging neuerlich im Steingarten vor? Ich schwor mir, mich nicht mehr darum zu kümmern. Es gab vielleicht eine einleuchtende Erklärung, die auch meine uner klärliche Scheu beleuchtete, deretwegen ich mich nicht mehr näher um den magischen Steingarten gekümmert hatte: Der
Steingarten fand zu seiner alten Magie wieder zurück. Dieser Hort des Okkulten hatte seine alte Bestimmung verloren, aber das der Schwarze Adel ihn aktiviert und ich moduliert hatte, mußte er alles dies verarbeiten. Wie ein lebendiges und denkendes Wesen. Ich blieb unwillkürlich stehen - wurden mir doch auf einmal Zusammenhänge klar. Ich erinnerte mich meiner Begegnung mit Donar, dem Don nergott. Dies war in Deutschland gewesen. Im Schwarzen Adel nannte man Donar allerdings »Sohn Donars«. Ich hatte ihn darauf angesprochen. Er hatte es mir so begründet; daß er zwar aus der »göttlichen« Familie entstammte, aber daß er sich von seinem Vater Donar befreit hätte. Ich hatte ihn daraufhin auch gefragt, was unter den »Göttern« zu verstehen sei. Seine Antwort, wie ich es noch im Gedächtnis hatte: »Die Götter sind nicht das, was die Menschen sich unter ihnen vorstellen!« Ich wußte nicht, ob ich jemals mit so etwas wie einem »Gott« im Laufe meiner tausend Leben konfrontiert worden war. Es hätte mich schon interessiert. Ich wußte nur eines: Ein Dämon, ein böser Geist also, war kein lebendiges Wesen, sondern lediglich eine Zu sammenballung negativer Energien, Schwarze Magie genannt. Lediglich? Ich fand, es war mehr als genug. Diese negativen Energien erschienen wie ein denkendes Geschöpf, weil sie in einer bestimmten Weise ihren Platz innerhalb der Naturgesetze gefunden hatten. Denn schwarzmagische Kräfte, Dämon oder Geist genannt, bog an der Stelle, wo sie sich befand, die Fäden auseinander. Damit veränderte sie ihre Wirksamkeit nicht, denn der Dämon war ein zusätzlicher Faktor und kein aufhebender. Von seinem Platz aus konnte er jedoch auf die Natur wirken negativ, wie es seiner Natur entsprach. Um dies jedoch zu tun, mußte er sich dem Verlauf der Fäden anpassen. Er mußte also eine Gestalt annehmen.
Meistens bedienten sich die Geister einer menschlichen Ge stalt, falls sie die Kraft dazu hatten. Einmal festgelegt, waren sie an diese Gestalt gebunden. Auch wenn sie durch Trugbilder meistens ganz anders erschienen, blieben sie in Wirklichkeit unverändert. Andere, die nicht so viel Macht wie die Dämonen, als stärk ste aller Geister, hatten, waren gezwungen, in Personen, Tiere und Dinge einzufahren, diese zu besetzen. Wenn sie auf eine starke Persönlichkeit stießen, die sie nicht beherrschen konn ten, hatten sie Pech. Sie waren an diese Persönlichkeit gebun den, bis dieser Mensch starb. Dann mußten sie auf einen an deren Wirtskörper übergehen. Ich kannte das aus Erfahrung. Ich hatte es auch schon erlebt, daß bei einem solchen Über gang ein Geist beispielsweise in einen toten Stein einfuhr. Nur unter ganz bestimmten Umständen konnte er diesen erst wieder verlassen. Es war einfach so, um beim Beispiel der Fäden zu bleiben, daß sich dieser Geist in einer zu neutralen und zu wenig flexiblen Umgebung befand. Das war gleichbedeutend damit, daß er sich selber für unbestimmbare Dauer abgekapselt und damit neutralisiert hatte. Alles dies ging mir jetzt durch den Kopf. Noch einmal: Geister und Dämonen sind Zusammenballun gen negativer Energien - SCHÄDLICHER Energien! Und sogenannte »Götter«? Sofern sie keine Pseudogötter waren wie Donar, der auch nichts anderes als ein Dämon war, den ich zwar nicht hatte vernichten können, aber den ich in seine Schranken verwiesen hatte, oder wie VULCANOS, der sogenannte »Gott« des Feu ers - was waren sie sonst? Nicht wie Götter, wie sie in der Vorstellung der Menschen lebten, also nicht allwissend und allmächtig, denn dies war nur das Universum selbst. Es bestimmte selber die Gesetze und seine Ordnung. Jedes Ding, jeder Umstand war ein Bestandteil
des Ganzen, ob Mensch oder Dämon oder Tier oder Stein. Das Universum war alles und bestimmte letztlich alles. Auch die Götter! Die Götter konnten nur eines sein: Zusammenballung von POSITIVER Energie! Wie ich sie vom Schavall her kannte, denn der Schavall war ebenfalls eine solche Zusammenballung. Aber war der Schavall nicht einfach nur ein Amulett, ein weißmagisches Hilfsmittel, auch wenn in ihm Kräfte gespei chert waren, die die Welt aus den Angeln heben konnten? Oftmals reagierte der Schavall wie ein selbständiges Wesen. Hatte es nicht geheißen, die Goriten hätten den Schavall ge schaffen, indem sie einen mächtigen Geist in einem Amulett gebannt hätten? Dieser Geist hatte Schavall geheißen. Deshalb hieß das Amulett ebenso. Und seitdem mußte der Geist einer komplizierten und daher für jeden Mensch unverständlichen und unnachvollziehbaren Gesetzesmäßigkeit folgen. War dieser Geist ein - »Gott« gewesen? Ich schüttelte den Kopf, weil ich ahnte, daß irgendwo ein Fehler eingebaut war. Meine Überlegungen gingen von einer falschen Voraussetzung aus. Ich schaute zurück auf den Steingarten. Die Irrlichter hatten sich zwischen die Felsen gesenkt. Ich sah es so deutlich, als stünde ich direkt davor - trotz der Entfernung. Und da begriff ich vollends den Unterschied zwischen einem Dämon und einem sogenannten Gott, wie ihn die Menschen nicht kannten: Negative Energien hatten deshalb Gestalt und wirkten deshalb augenscheinlich, weil sie den geordneten, weil natürlichen Ablauf der Dinge störten, weil sie eben negativ und damit schädlich waren. Positive Energien in ihrer Zusammenballung hatten keine sichtbare Gestalt und wirkten auch nicht augenscheinlich, denn da sie positiv waren, unterstützten sie den natürlichen Ablauf der Dinge: Sie neutralisierten die schädlichen Auswirkungen
und lösten vielleicht sogar solche Inseln des Bösen, wie Dämo nen sie darstellten, einfach auf. Positive Energien glätteten und ebneten dort, wo es schädliche Einflüsse gab; Einflüsse NICHT natürlicher Art. Deshalb wurden sie niemals direkt sichtbar, sondern höch stens indirekt, indem lediglich augenscheinlich wurde, daß sie sichtbare und spürbare NEGATIVE Energien neutralisierten. Mein Atem ging keuchend, mein Herzschlag hatte sich enorm beschleunigt. Ich dachte wieder an Donar, der »Sohn Donars« genannt wurde. Was geschah, wenn positive Energien auf negative Energien trafen und sich NICHT gegenseitig neutralisierten? Wenn sie auf absonderliche Weise miteinander verschmolzen? Es wurde ein Ding daraus, das weder positiv noch negativ war, bis es sich für eine der beiden Richtungen entschieden hatte. Donar hatte sich für das Negative entschieden, doch das Positive wohnte noch in ihm, wie in einem bösen Menschen, bei dem einfach das Negative überwog, das Positive aber nicht ganz ausgelöscht war. So konnte man wirklich sagen: Donars Sohn! Nämlich der Sohn aus einem Zusammenwirken von positiven und negativen Kräften, das Produkt daraus. Als die Welt entstand, war Feuer ein wichtiger Faktor gewe sen. Die Erde war nur Feuer und Glut gewesen, ehe die Ober fläche erstarrte, Landmassen und sogar Leben sich bildete. So gehörten VULCANOS zu den ältesten Göttern überhaupt. Vielleicht war er sogar DER älteste? Doch das Feuer hatte sich irgendwann selbständig gemacht, als ein im Rahmen der Naturgesetze beschreibbares Ding. Wo es positiv wirkte, folgte es den beschreibbaren Naturgesetzen. Wo es ungezügelt, unbeherrscht, zerstörerisch, absichtlich negativ wirkte - war es möglicherweise ein Produkt von VULCANOS! So nannte man ihn zwar immer noch »Gott des Feuers«, aber man hätte ihn besser »Dämon des Feuers« ge
nannt. Und ich war deshalb niemals auf einen »Gott« gestoßen, weil man einen solchen nur an seinen Auswirkungen auf das Nega tive erkannte, also indirekt. Deshalb starrte ich wie gebannt auf das, was im Steingarten vorging, und ich hatte die Vorstellung, daß dort ein Gott am Wirken war, der die negative Beeinflussung des Steingartens durch den Schwarzen Adel wieder ausmerzte, nachdem ich dazu einen Anfang gemacht hatte. Meine Linke umklammerte den Schavall. Es war wirklich besser gewesen, den Felsenhain zu verlassen. Ich als Mensch hätte nur gestört, denn in jedem Menschen wohnte das Gute und das Böse nebeneinander. Auch in mir. Deshalb war es auch schon vorgekommen, daß sich der Scha vall sogar gegen mich selbst gewandt hatte. Er war kein selbständiges Wesen. Er war kein Gott. Denn die Kräfte, die in ihm gespeichert waren und die Gestalt eines Auges angenommen hatten, dienten wirklich nur als Werkzeug. Einem Menschen wie mir! Ich war als GeisterKiller ein Bindeglied zwischen Gut und Böse. Wo ich das Böse direkt bekämpfte, ebnete ich dem Posi tiven eine Bahn, damit es wirken konnte. Ohne Hilfsmittel wäre ich zu schwach und zu angreifbar ge wesen. Der Schavall war für mich bestimmt gewesen, weil ich der rechtmäßige Erbe der Goriten war, nachdem es die Goriten seit Jahrtausenden nicht mehr gab. Als Mark Tate hatte ich endlich den Schavall gefunden, wäh rend ich in all den tausend Leben nicht einmal etwas davon geahnt hatte. Deshalb hatte ich als Mark Tate endlich meine eigentliche Bestimmung gefunden. Als GeisterKiller. Ich wandte mich ab und ging weiter in Richtung OroiaStadt.
Ein eiskalter Hauch fuhr durch die Straßen von OroiaStadt. Er griff in die Haare von Don Cooper wie eine Geisterhand, riß und zerrte in seinen Kleidern. Don Cooper ließ die anderen Fliehenden allein weiterrennen, denn auf einmal wußte er, daß es niemand schaffte, dem Grau en zu entrinnen. Man mußte sich ihm stellen, durfte nicht kopflos herumlau fen. Nur so hatte man wenigstens den Hauch einer Chance. Schließlich war Don der einzige bisher, der es geschafft hatte, sich dem Unbegreiflichen und seinem schlimmen Einfluß zu entziehen. Er war mit dem Unbegreiflichen in einem Raum gewesen und lebte noch! Don Cooper trotzte dem eisigen Wind, der an Stärke zuge nommen hatte, bot ihm die Stirn. Die Menschen wußten nicht mehr, in welche Richtung sie eigentlich laufen sollten. Hilflos und verzweifelt schreiend rannten sie durcheinander. Viele verließen ihre Häuser, die ih nen nicht mehr ausreichend Schutz boten. Don Cooper sah Menschen aller Schattierungen. Es gab keine Ureinwohner von Oroia. Die Insel war völlig unbewohnt gewe sen, als die ersten Siedler vor wenigen Jahren gekommen waren. Erst waren es Touristen gewesen, die auf Oroia ein exklusives Angebot fanden, an unberührter Küste, an leeren, wunderschönen Stränden, in beinahe unberührter Natur. Inzwi schen wohnten viele Menschen hier. Es gab eine speziell sich entwickelnde Industrie, ohne die üblichen Umweltverschmut zungen. Die Menschen hatten auf Oroia ihr Glück gefunden. Und jetzt erwies sich Oroia als ein Hort des Entsetzens. Der Ort wurde zum Zentrum des Bösen, das die Menschen peinigte, erschreckte, in den Wahnsinn treiben wollte. Don Cooper ging mitten auf der Straße. Er ging in die Rich tung, aus der er gekommen war. Und er spürte in diesem Augenblick, daß der Unbegreifliche
das Hotel verließ. Er brachte Kälte und Angst mit. Don Cooper riß den Arm hoch und schützte seine Augen. Er wollte dem Unbegreiflichen nicht ins Antlitz sehen. Er hatte die Wirkung gesehen. Das genügte ihm. Aber diesmal floh Don Cooper nicht, sondern schritt unbeirrt weiter. Und dann erhob er die Stimme: »Schaut zu mir!« forderte er die Menschen auf, ehe es zu spät war. »Schaut nicht zum Hotel hinüber. Sonst müßt ihr sterben. Denkt an den Untergang von Sodom und Gomorrah. Jeder, der sich umschaute, war des Todes. Das Böse will Oroia regieren. Trotzt ihm, aber nicht durch Unvorsicht, sondern durch Stärke. Wisset, daß nur derje nige Stärke beweist, der über sich selbst siegt. Denn nur derje nige kann den Gefahren trotzen, die vom Bösen rühren!« Theatralische Worte, theatralisch ausgesprochen. Gerade des halb blieben sie nicht ohne Wirkung auf die Menschen. Sie spürten das Grauen genauso wie Don. Zwei folgten seinem Rat nicht. Sie schauten den Unbegreifli chen - und vergingen. Das sahen die anderen. Es zeigte ihnen drastisch, daß Don recht hatte. »Geht weg!« rief Don aus. Er hatte das Hotel erreicht und drehte dem Unbegreiflichen den Rücken zu. Der Unbegreifliche war wenige Schritte hinter ihm, irgendwo am Haupteingang des Hotels. Die eisigen Winde, die durch die Straßen und Gassen fuhren, waren wie seine Diener, die er dirigierte. Don sah einen flatternden Schatten an der gegenüberliegen den Hauswand, wie die Projektion des Bösen, das vom Unbe greiflichen ausging. Die Menschen hatten Angst, aber die Worte von Don hatten ihnen ein Stück Zuversicht zurückgegeben. Sie kannten Don Cooper nicht, aber seine beeindruckende Erscheinung sprach für sich.
Sie gingen gemessenen Schrittes die Straße hinunter und ent fernten sich so vom Hotel. Don hörte hinter sich ein grausames Lachen. Der Unbegreif liche kam näher. Don hörte keine Schritte, keinen Atem. Nur das leise Lachen, das ihm die Nackenhaare zu Berg trieb und ihm namenlose Furcht einflößte. Aber Don Cooper besiegte sich selbst und damit seine Furcht. Er blieb stehen. »Einer von Mark Tates Gefährten? Sehr tapfer!« Der Unbe greifliche befand sich unmittelbar hinter Don. So spürte Don Cooper die Kälte, die an seinen Knochen nagte. Sie ließ ihn zittern. Die Glieder wurden klamm. »Du bist unwichtig und ungefährlich, Don Cooper. Deshalb lebst du noch.« »Was hast du mit May und Frank gemacht?« fragte Don Co oper hart. Seine Muskeln hatten sich verkrampft. Er bekämpfte es, ge nauso wie die Kälte. Nur mit mäßigem Erfolg! »Auch sie leben, Don Cooper - aber so, wie ich es will!« »Wie meinst du das?« Der Unbegreifliche war nicht gewillt, darauf eine Antwort zu geben. »Du hast versucht, die Menschen vor mir zu retten, Don Co oper. Es war sinnlos. Ich will die Menschen nicht töten. Ich habe anderes im Sinn. Ich bin hier, um das Grauen über Oroia zu bringen, doch das folgt einem ganz bestimmten Zweck.« »Wer bist du?« »Das Böse!« Für Don Cooper war das keine Antwort. Deshalb schüttelte er den Kopf. Die Kälte war zurückgegangen, obwohl sich der Unbegreifli che keinen Millimeter von ihm entfernt hatte. Dons Muskeln lockerten sich allmählich.
Ruhe kehrte in ihn zurück. Und seine alte Stärke. Diese Stär ke war nicht allein körperlicher Natur. Es war Dons ungebrochener Wille. Langsam drehte sich Don Cooper herum. Jetzt schien in sei nen Augen ein Feuer zu brennen. Ein Gegner wäre vor ihm zurückgeschreckt. Der Unbegreifliche kicherte bösartig. Don Cooper drehte sich halb um die eigene Achse, stand An gesicht zu Angesicht dem Unbegreiflichen gegenüber. Ohne daß ihm das widerfuhr, was den Unglücklichen vorher geschehen war! Nichts geschah, denn Dons Wille war wach. Das hatte nichts mit magischen Kenntnissen zu tun. Das war Stärke im wahr sten Sinne des Wortes. Don knirschte mit den Zähnen. Der Unbegreifliche war nichts anderes als ein lodernder Schatten. Wie eine schwarze, manns hohe Flamme. Sie schluckte alles Licht in der Nähe. Sie schluckte auch alle Wärme. Und sie saugte Lebensenergie in unersättlicher Gier auf. Deshalb hatten alle sterben müssen, die es gewagt hatten, sich der schwarzen Flamme zuzuwenden. Der Unbegreifliche war still. Kannte er so etwas wie Ver wunderung? Wunderte ihn, daß Don nicht unterlag? Da schwebte die schwarze Flamme vor. Für Sekundenbruch teile war es Don, als wäre in der Flamme eine menschliche Gestalt. Im nächsten Augenblick hatte ihn die Schwärze be rührt. In seinem Gehirn schien es eine Detonation zu geben. Ein greller Blitz blendete ihn. Es kam die Kälte des Todes, die sich schlagartig in seinem Körper ausbreitete, um alles Leben wegzusaugen. Don schaffte es trotzdem, aufrecht stehenzubleiben. Dies hier war ein Kräftemessen ohnegleichen. Der starke Wille eines ungewöhnlichen Menschen gegen das personifizierte Böse mit all seiner Macht.
Und Don widerstand! Er konnte dieses Böse nicht besiegen. Dazu fehlte ihm die Kraft. Aber er unterlag auch nicht. Das Böse verließ ihn, blieb hinter ihm zurück. Don Cooper fühlte sich innerlich leer und ausgelaugt. Aber er lebte. Auch wenn er schwankend wie ein Schilfhalm im Wind dastand. Langsam breitete er die Arme aus. Er streckte sie schräg zum Himmel hinauf, schöpfte tief Atem und drehte sich dann um sich selbst. Der Unbegreifliche war nicht mehr zu sehen. Aber er war noch da, denn seine negativen Energien wirkten noch in Oroia. »Trotzt der Schwarzen Macht!« rief Don Cooper den Men schen zu. Sie wurden auf ihn aufmerksam, blieben stehen, schauten auf ihn. Gerade hatten sie alle Hoffnung aufgegeben. Die Angst hatte Wahnsinn in ihnen erzeugt. Jetzt wurde neue Hoffnung geweckt - durch Don Cooper. Aber nicht bei jedem. Einer fletschte die Zähne und kam näher. Er ballte die Hände zu Fäusten. Don Cooper sah ihm entgegen. Es war ein kräftiger Bursche - breitschultrig, ein wenig zu fett, aber nicht unbeholfen. »Seht, wie der sich aufplustert. Habt ihr nicht gespürt, daß das Böse von hier ausging? Er war in ihm und sucht jetzt unse re Stadt heim. Er ist das Zentrum des Bösen. Auf ihn!« Niemand rührte sich von der Stelle. Die neue Hoffnung kämpfte mit der Möglichkeit, daß Don Cooper der eigentliche Verursacher des Bösen war. Don hatte die Hoffnung schüren wollen und damit den inne ren Widerstand. Es hätte etwas genutzt. Davon war er über zeugt. Wenn alle Menschen Stärke behalten hätten, wäre die Wirkung des Bösen lange nicht so stark gewesen.
Jetzt schien alles umsonst zu sein. Der kräftige Bursche hatte ihn erreicht. Ansatzlos stürzte er sich auf Don Cooper. Aber er hatte seinen Gegner unterschätzt. Der Unbegreifliche hatte gesagt, Don Cooper wäre für ihn ungefährlich. Nur deshalb würde er Don Cooper am Leben lassen. Vielleicht gab es auch einen anderen Grund dafür? Wichtig war einzig und allein: Don Cooper war ein Mitglied des Teams der GeisterKiller. All sein Sinn und Streben galt der Bekämpfung des Bösen. Das schloß auch ein, daß er den Men schen half, gegen das Böse zu bestehen. Er würde sich nicht von einem so unvernünftigen Burschen von seiner Aufgabe abbringen lassen! Blitzschnell wich Don Cooper zur Seite hin aus. Der Schlag des Kräftigen ging ins Leere. Von der Wucht des eigenen Schlages vorwärts getrieben, taumelte er an Don Cooper vor bei. Don wartete, bis der Gegner auf gleicher Höhe war. Dann stieß er mit dem Ellenbogen zu. Doch der Kräftige hatte damit gerechnet. Er drehte sich halb um, so daß der Ellenbogenstoß nur noch halbe Wirkung hatte. Dons Ellenbogen hatte stahlharte Muskeln getroffen. Unter der Fettschicht befand sich enorme Kraft. Don Cooper hatte einen würdigen Gegner vor sich. Und dennoch versuchte Don, den Kräftigen zu beschwichti gen. Er streckte die Hände aus und winkte ab. »Hör auf!« bat er. »Nicht ich bin dein Gegner, sondern .« Er konnte nicht ausreden. Menschen eilten herbei und scharten sich um die beiden Gegner. Sie hatten etwas, was sie von ihrer Angst ablenkte. Aus den Augenwinkeln sah Don Cooper, daß sich der Him mel verdunkelte. Schwarze Schatten senkten sich in die Stra ßen, obwohl die Beleuchtung nach wie vor gut funktionierte.
Die Menschen bemerkten es gar nicht. »Ich habe dich noch nicht hier gesehen!« knurrte der Kräfti ge. »Vorher war alles in Ordnung. Jetzt nicht mehr.« Er wurde lauter: »Auf ihn, Leute! Von ihm geht alles aus!« Auch diesmal folgte ihm niemand. Die Menschen warteten ab. »Nun gut!« knurrte der Kräftige und ballte die Hände. »Dann werde ich es selber tun. Ich brauche keine Unterstützung. So wahr ich Peter O'Connors heiße!« Er stürzte vor. Doch dies war nur eine Finte. Eine Täuschungsaktion, die Don Cooper nicht bei Peter O'Connors erwartet hätte. Deshalb fiel er auch prompt darauf herein. Don wandte sich zur falschen Seite hin und konnte dem Schlag nicht mehr ausweichen. Die Faust von O'Connors traf ihn im Magen und ließ ihn zu sammenklappen. Zischend entwich die Luft aus seiner Lunge. Don hatte rechtzeitig die Bauchmuskeln angespannt. So konnte der Schlag trotz seiner Wucht keinen Schaden anrich ten. Schon flog die andere Faust herbei. Aus Dons Blickwinkel erschien die Faust so groß wie ein Kinderkopf. Sie raste genau auf seine Nase zu. Don nahm den Kopf beiseite. Die Faust streifte sein rechtes Ohr und ließ es brennen, als hätte jemand Feuer darübergegos sen. Don ließ sich seitlich umkippen, nutzte den dabei entstehen den Beinschwung und trat mit beiden Füßen gleichzeitig zu. Auch er traf. Seine Füße krachten gegen den Bauch des Geg ners, der ebenfalls nach vorn zuammenklappte. Don federte vom Boden auf. Ein Ruf des Erstaunens ging durch die Menge. Sie hatten wohl gedacht, der eine Treffer hätte für Don schon genügt. Die Arme von O'Connors gingen auseinander, um den näch
sten Schlag Dons abzuwehren. Doch Don hatte diesen Schlag nur angetäuscht, und als die Deckung des Gegners jetzt offen war, schlug er wirklich zu. Seine Faust landete genau an O'Connors Kinnspitze. Das hob O'Connors regelrecht aus. Er kippte rücklings zu Boden und rührte sich nicht mehr. Don Cooper richtete sich auf und schaute um sich. »Werdet ihr jetzt endlich vernünftig?« schrie er die Menschen an. Doch die Angst kehrte in ihre Gemüter wieder zurück. Schreiend wandten sie sich um und flohen vor ihm. Jetzt zweifelte keiner mehr daran, daß alles Böse von ihm ausging! Peter O'Connors rührte sich stöhnend. Dons Zorn auf den Mann war so groß, daß er am liebsten wieder zugeschlagen hätte. Aber er beherrschte sich. Breitbeinig stellte er sich über den Stöhnenden. O'Connors schüttelte den Kopf und massierte sein Kinn. Er wollte etwas sagen, doch es wurde nur ein Lallen daraus. Er verdrehte die Augen. »Du verdammter Narr!« knurrte Don ihn an. »Hast du über haupt eine Ahnung, was du angerichtet hast in deiner Unver nunft? Ich hätte es vielleicht, geschafft, die Menschen zu füh ren, ihnen klarzumachen, daß ihre Angst die Sache nur noch schlimmer macht. Jetzt ist alles vorbei, hörst du? Sie haben keine Chance mehr.« Er packte O'Connors am Kragen und zerrte ihn hoch. Dabei sah es so aus, als wollten seine Bizeps die Hemdsärmel zum Platzen bringen. Er schüttelte Peter O'Connors. »Es wäre kein Wunder - ich würde dich windelweich klop fen, Bursche!« O'Connors winkte erschrocken ab. Er war noch nicht wach genug, um seine Bewegungen genau
kontrollieren zu können. Er hätte jetzt gegen Don Cooper erst recht keine Chance gehabt. Aber es reichte durchaus bei ihm, um vor Don Cooper Respekt zu haben. Er lallte etwas. Don ließ ihn los und gab ihm einen Stoß. Peter O'Connors taumelte rückwärts davon und wäre beinahe wieder zu Boden gegangen. Don hörte Schritte hinter sich. Er erwartete einen erneuten Angriff und fuhr herum. Ein uraltes Weib, das sich ihm kichernd näherte. Sie stützte sich auf einen knorrigen Stock. Das Gesicht bestand nur das Runzeln. Die Augen waren wäßrig, der Mund zahnlos. Als sie heran war, öffnete sie den Mund und lachte Don Coo per an. Don sah keine Zunge in ihrem Mund, sondern eigentlich war der Mund nur ein schwarzes Loch. Er ahnte etwas. Die Alte hob ihren Stock. Unten war eine metallisch glän zende Spitze. Damit stieß sie nach Dons Augen. Don wich aus. Sie kicherte und stieß wieder zu. Don griff nach den Stock und wollte ihn der Alten entreißen. Doch die Alte war stärker. Mit einer Hand hielt sie den Stock fest, mit der anderen Hand packte sie nach Dons Rockauf schlag. Eine einzige Bewegung genügte, um Don durch die Luft zu schleudern. Geistesgegenwärtig krümmte er sich zusammen. In einer ge schickten Rolle kam er am Boden auf. Die Alte war heran, als Don auf dem Rücken liegenblieb. Sie stand über Don und stieß mit dem spitzen Stock nach seinem Gesicht. Auch diesmal konnte Don dank seiner guten Reaktions schnelligkeit ausweichen.
»O Mann!« stöhnte Peter O'Connors. Er wurde Zeuge des Ereignisses und konnte es dennoch nicht begreifen. Gewiß hatte er noch niemals zuvor eine alte Frau gesehen, die solche Möglichkeiten besaß. Vor allem keine, die so bösartig war! Er kam überhaupt nicht auf den Gedanken, daß es sich um eine Hexe handelte - eine, die sich im Gefolge des Unbe greiflichen befand. Er hatte sein Gefolge in der Stadt verteilt. Don Cooper hatte keine Ahnung, warum sich der Unbegreifliche so intensiv mit Oroia beschäftigte. Er hatte behauptet, einen Grund dafür zu haben. Im Moment war das Don Cooper völlig gleichgültig: Er sah, daß er gegen die Hexe keine Chance hatte. Aber Peter O'Connors war auch noch da. Gerade noch war er Don Coopers Todfeind gewesen. Er hatte gegen Don Cooper verloren, hatte ihn darum noch mehr gehaßt als vorher. Jetzt sah er, daß Don Coopers Leben bedroht war - von ei ner alten Frau, die ungeheuerliche Möglichkeiten hatte, die sogar Don Cooper überlegen war. Das ließ ihn ganz instinktiv im Sinne von Don Cooper han deln. Peter O'Connors, trotz seiner Unvernunft, entschied sich für den Unterlegenen. Ganz automatisch! Er stürmte heran. Dabei tat er ganz so, als hätte es vorher überhaupt keine Kampf gegeben, als hätte er sich nicht erst von seiner Niederlage erholen müssen. Mit voller Wucht stieß er gegen die Schwarze Hexe. Das war die Wucht einer Dampflokomotive. Dem war auch die Hexe nicht gewachsen! Sie wurde hinweggeschleudert, verlor ihren Stock, flatterte kreischend mit den Armen, strampelte mit den Beinen, wäh rend sie durch die Luft flog, sich mehrmals überschlagend.
Und dabei begann sie sich in einen schwarzen Schatten zu verwandeln, der nicht zur Erde zurückkehrte, sondern immer noch kreischend davonflatterte. Zwischen den Häuserzeilen verschwand der schwarze Schat ten. »O Gott, steh mir bei!« murmelte Peter O'Connors fas sungslos. Er spähte nach dem entschwundenen Schatten, aber selbst das Kreischen war nicht mehr zu hören. Don Cooper erhob sich und klopfte Staub aus seinem Anzug. »He, was war das?« fauchte O'Connors ihn an. Don sah ihn gar nicht an. Er klopfte weiter, als wäre das jetzt viel wichtiger. »Ich war's diesmal ganz gewiß nicht«, sagte er hart. »Das meine ich nicht, Fremder. Dieses - Biest .« Don schaute ihn voll an. »Eine Schwarze Hexe!« »Wie?« Don fand, daß O'Connors diesmal ein überdurchschnittlich dämliches Gesicht machte. Er klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Nimm's leicht, mein Junge. Du kennst gewiß das Sprichwort: Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die . und so weiter. In diesem Sinne: Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Ich habe dir bereits gesagt, das Böse herrscht in Oroia - und das hier war nur eine kleine Kostprobe.« O'Connors hieb ihm auf den Rücken, daß es krachte. »Verdammt noch eins, Fremder, ich glaube fast, ich habe ei nen Fehler gemacht, was dich betrifft.« Don verzog sein Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse. »Das befürchte ich allerdings auch!« Peter O'Connors Augenbrauen rutschten zusammen. »Was nun?« Eine einfache Frage. Don schaute den bulligen Mann über rascht an. Ein offenes, ehrliches Gesicht.
O'Connors hatte sich geirrt, was Don betraf. Er hatte diesen Irrtum eingesehen, aber er konnte es nicht mehr rückgängig machen. Deshalb legte er den Fall zu den Akten und tat ganz so, als wäre es nicht passiert. »Was nun?« echote Don. Dieser O'Connors schien kein übler Bursche zu sein. Nur war er manchmal in der Wahl seiner Feinde nicht wählerisch genug. Außerdem ließen seine Me thoden zu wünschen übrig. Aber hatte er Don nicht auch geholfen - gegen die Schwar ze Hexe? Don Cooper reichte ihm spontan die Hand. Peter O'Connors ergriff sie. Er hätte sie wahrscheinlich zerquetscht, aber es war die Hand von Don Cooper, und die zerquetschte niemand! Don winkte mit dem Kopf. Er lief zum Hotel hinüber. Peter O'Connors stellte keine Fragen mehr, sondern folgte Don. Nur als sie den Haupteingang zum Hotel erreichten, erkun digte er sich nach Dons Namen. Der sagte es ihm knapp. Es genügte. Sie drangen in das Hotel ein. Das Licht brannte in der Halle, Draußen entstand Tumult. Die beiden hatten keine Ahnung, was schon wieder auf der Haupt straße los war. Don durfte sich nicht dafür interessieren, denn er sorgte sich um May und Frank. Als sie den Haupteingang verließen und tiefer in die Ein gangshalle hineingingen, kam von oben ein Stöhnen. Es trieb die Haare zu Berg. Don merkte, daß O'Connors zögerte, weiterzugehen. In sei nem Gesicht arbeitete es. Der bullige Mann hatte Angst. Don auch, aber er überwand sie besser. Deshalb schritt er weiter. In diesem Augenblick drang ein Grollen aus der Erde. Erst erschien es fern, wie vom anderen Ende des Globus kommend.
Er raste heran, erfaßte das Gebäude, erschütterte es in den Grundfesten, weitete sich zu einem neuen Erdbeben aus. Und dann erscholl eine Stimme in der Stadt, die alles andere übertönte, selbst die Schreckensschreie der Menschen: »Ich bin das Böse. Ich herrsche über OroiaStadt. Dies ist meine Bastion gegen den Gott des Feuers. Werdet meine Sklaven! Ihr müßt sterben - für mich, das Böse. Ich brauche eure Seelen für den Kampf.« Das Grollen und die Stimme vereinten sich. Die ersten Risse zeigten sich in Wänden und Decke. Von oben hörten sie wieder das Stöhnen. Don Cooper dachte nur noch an seine Gefährten, und deshalb stürmte er die Treppe hinauf .
Ich schritt durch die Wildnis. Den Steingarten hatte ich längst aus den Augen verloren. Um mich herum waren zerklüftete Felsen. Hier wuchs nichts, nicht einmal ein Grashalm. Die Felsen waren schwarz: erloschene Lava. Fast erschien es mir, als wäre ich in Wirklichkeit auf der Feuerinsel, aber auch Oroia war einmal so etwas gewesen: eine Feuerinsel! Nur lag das bereits Jahrtausende zurück. Eine Wolke schob sich vor den Mond und ließ es schlagartig dunkler werden. Ich legte den Kopf in den Nacken und suchte den Himmel ab. Es gab nur diese einzige Wolke, und auf einmal hatte ich das Gefühl, von dort beobachtet zu werden. Als wäre diese Wolke ein lebendiges Wesen, das absichtlich den Mond verfinsterte. Warum? Galt es mir? Ich schüttelte benommen den Kopf. Es war wie ein Alpdruck, den ich damit los werden wollte. Gewiß machte ich mir was vor. Gab es denn lebendige Wol ken, die vor den Mond schweben konnten, um es auf der Erde
noch finsterer werden zu lassen. Ich schritt weiter. Dabei hatte ich alle Mühe, den Weg noch zu erkennen. Es war vorher schon schwer gewesen. Es war ein schmaler Weg zwischen mehr oder weniger steil aufragenden Felswänden. Linker Hand befand sich der Ausläu fer einer Geröllhalde. Einige der Brocken waren so groß wie Häuser. Weiter hinten hing ein Brocken genau über dem Weg. Vielleicht schon seit Jahrhunderten oder noch länger. Trotzdem hatte ich beim Vorbeigehen befürchtet, ein fester Tritt könnte ihn vollends auf den Weg plumpsen lassen. Ich war froh gewesen, daß ich ihn hinter mir gelassen hatte. Unwillkürlich warf ich einen Blick zurück. Dies war ein Fehler. Ich hätte besser auf den Weg geachtet, denn von hinten drohte mir keine Gefahr. Mein Fuß trat ins Leere. Ich schrie unwillkürlich auf. Meine Hände flogen vor, um den Sturz aufzuhalten. Vergeblich! Unter mir war ein dunkler Fleck. Aber es war nicht nur ein fach ein Fleck, wie ich in einigen Schritten Entfernung ange nommen hatte, sondern ein Loch. Es saugte mich an wie das Maul eines gierigen Ungeheuers. Ich konnte nichts dagegen tun. Meine wedelnden Hände fanden keinen Widerstand. Sie konnten den gegenüberliegenden Rand des Loches nicht er reichen. Ich stürzte in die Tiefe, schreiend. Meine Schreie halten von den Wänden wider. Ich krümmte meinen Körper zusammen und erwartete den harten Aufprall. Er erfolgte nicht! War dies denn ein unendlicher Abgrund? War es denn ein Loch, das direkt in die Hölle führte? Ich vergaß zu schreien. Der Wind riß mir den Atem weg. Die Öffnung, die mich geschluckt hatte, war nur noch ein verwa
schener Fleck, der in der Ferne verschwand. Und da kam der furchtbare Aufprall! Eine weiche, schräge Ebene. Dreck spritzte mir um die Oh ren, ins Gesicht, setzte sich in den Nasenlöchern fest, drang mir auch in den Mund. Ich hustete, während eine rasende Abwärtsfahrt begann. Die schräge Ebene war nichts anderes als eine Aufschüttung von Staub und Dreck, wie sie sich in den Jahrtausenden ange sammelt hatten. Ich rutschte abwärts bis zum Fußende, und das lag offen sichtlich in einer unterirdischen Höhle. Ich befand mit im Innern der Erde unter Oroia und stand hu stend auf. Ich war in meiner Unachtsamkeit in ein dunkles Loch ge stürzt, aber stand dahinter nicht eine Absicht? Von wem? Wer hatte mich in diese Falle gelockt? Gab es denn von hier keinen Ausweg mehr? Nun, nicht nach oben - in die Richtung, aus der ich gekom men war. Das war unmöglich. Ich mußte es anders versuchen. Aber die unterirdische Höhle war so finster, daß ich über haupt nichts sehen konnte, ich war völlig blind und wartete, daß das Rieseln und Rauschen und Poltern aufhörte. Als sich der Abhang beruhigt hatte, erlosch jedes Geräusch. Nichts! Und die Stille war schlimmer als der schlimmste Lärm . Don hetzte die Treppe hinauf. O'Connors versuchte ihm zu folgen, was kläglich mißlang. »He, nicht so eilig!« rief er Don nach, aber der hörte nicht darauf, sondern rannte weiter. Das Treppenhaus war hell erleuchtet. Don hatte keine Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Er sah Staubwolken, die träge in der Luft schwebten. Lang
sam verteilten sie sich. Dabei spürte Don eine Gänsehaut. Waren das Tote? Er erreichte das richtige Stockwerk und blieb wie angewur zelt stehen. Vor ihm lag eine halbnackte Frau am Boden, auf dem Bauch. Ihr Nachthemd war hochgerutscht und zeigte makellose Beine bis hoch zum knappen Seidenhöschen. Jetzt hob die Frau den Kopf. Sie starrte Don mit leerem Blick an. Ihr Geist schien im Nirgendwo zu weilen und nur noch ganz vage Verbindung mit dem Körper zu halten. Sie stöhnte auf. Es war das Stöhnen, das Don und O'Connors unten schon gehört hatten. Nur klang es hier oben ganz normal. Der Wider hall im leeren Treppenhaus hatte es so unheimlich klingen lassen. O'Connors keuchte heran. »Kümmere dich um sie!« befahl Don. Mit einem einzigen Satz sprang er über die hilflose Frau hinweg. War sie dem Unbegreiflichen begegnet und hatte dies über lebt? Sie war ein Gast in diesem Hotel. Das war sicher. In diesen Tagen war das Hotel ausgebucht. Es war das einzige Hotel am Platz - das als einziges nach dem Touristenboom vor Jahren übriggeblieben war. Don schätzte das Hotel auf mindestens zweihundert Betten. Das waren insgesamt zweihundert Fremde. Die meisten dürften wohl nicht zufällig hier weilen: Journalisten, die sich für die Feuerinsel interessierten, um ihre Story anschließend in alle Welt zu verkaufen. Aber im Moment war die Feuerinsel gar nicht mehr so inter essant, schien Don. Er sah noch, daß die Frau beide Hände O'Connors entgegen streckte - mit ihrem leeren Blick. Sie schien O'Connors wahrgenommen zu haben, aber nichts begreifen zu können. Sie stöhnte wieder, und Don erreichte das Zimmer, das er mit
dem Lord teilte. Hier hatte er den Lord mit May zurückgelassen - auf seiner zwangsläufigen Flucht vor dem Unbegreiflichen. Und hier waren sie auch noch. Sie lagen unverändert auf dem Bett. Die Möbel waren zerstört, außer diesem Bett. Das Fenster war mitsamt dem Rahmen nach draußen gefetzt worden. Die Tür lebte auch nicht mehr. Don sprang zu seinen Gefährten hin und tastete nach dem Puls. Bei May: ganz schwach! Beim Lord: nichts mehr! War denn der Lord tot? Don betrachtete ihn. Frank hatte ein bleiches Gesicht - to tenbleich sogar. Er wirkte tatsächlich wie ein Toter. Aber der Lord war ein Gestaltswandler. Don hatte schon erlebt, was passierte, wenn Frank von aller Lebensenergie verlassen wur de: Er wurde zu einer formlosen Biomasse. Im Verlauf der Jahre hatte er sich darein gewandelt, und er nahm immer die Gestalt an, die seinem Willen unterlag. Wenn dieser Wille gänzlich fehlte, konnte er die Gestalt nicht mehr behalten. Er verwandelte sich in die »Grundsubstanz« zurück. Ein Wesen, das jede Gestalt annehmen konnte, die seinem Willen unterlag, konnte nicht mehr wie ein Mensch aussehen. Es konnte nur wie ein Mensch sein, wenn es menschliche Gestalt annahm. Der Lord lebte - auch ohne Pulsschlag. Das war sicher. Sonst hätte er nicht so ausgesehen. Oder hatte ihn die Begegnung mit dem Unbegreiflichen versteinern lassen? Don tastete über den Brustkorb des Freundes. Fühlte sich alles ganz normal an. Er hob den schlaffen Arm von Frank Nicht einmal die be kannte Totenstarre. Beide lebten, und deshalb atmete Don Cooper auf.
Peter O'Connors schob sich mit seinem breiten Kreuz herein - rückwärts. Als er den leeren Türrahmen passiert hatte, drehte er sich herum. O'Connors hielt die Unbekannte auf den Armen. Don deutete mit dem Kinn auf das zweite Bett. Wortlos brachte Peter O'Connors die Fremde hin. Sie hatte die Augen geschlossen, wie zum Schlafen. Don sah, daß sich ihr Brustkorb gleichmäßig hob und senkte. »Was ist mir ihr?« fragte er O'Connors. »Ich habe ihr 'n paar gelangt«, antwortete der Bulle. »Das wirkt manchmal Wunder. Diesmal auch!« Don hielt ihn für einen Iren, obwohl er amerikanischen Slang sprach. Vielleicht ein Amerikaner irischer Abstammung? Der Ire legte seine Last vorsichtig ab und zog eine Decke über den halbnackten Körper. Don trat näher. Tatsächlich, die Frau schlief friedlich. Die derbe Behandlung des Iren hatte den Schock gelöst. »Möchte wissen, was sie erlebt hat.« O'Connors winkte mit beiden Händen ab. »Bloß nicht, Don. Wenn du sie fragst, ist sie wieder hinüber. Muß ja ein ganz besonderer Schock gewesen sein.« Don schaute ihn offen an. »Im gewissen Sinne hattest du recht, Peter: Von hier ging die Gefahr für Oroia aus, von die sem Zimmer. Und ich war in dem Zimmer, als der Tanz be gann.« Er deutete auf May und den Lord. »Diese waren die ersten Opfer!« »Von wem?« »Vom Bösen! Du hast die Stimme ja auch gehört. Ich bin ihm zweimal begegnet und habe es überlebt.« »Gehören die beiden zu dir?« »Ja, es sind May Harris und Lord Frank Burgess.« »Ein echter Lord?« »Gewiß!«
»Ah, wirklich interessant!« Als wäre das jetzt wichtig! dachte Don Cooper respektlos. Eigentlich hatte er auch seinen Freund Mark Tate erwähnen wollen, aber das unterließ er. Es hätte O'Connors sicherlich nur unnötig verwirrt. »Ich erzähle es dir, damit du dich nicht wunderst, Peter.« Der Ire schüttelte den Kopf. »Glaube kaum, daß mich jetzt überhaupt noch etwas überraschen kann.« »Vielleicht doch?« orakelte Don und widmete sich wieder den beiden Bewußtlosen. Was konnte er für sie tun? Der Unbegreifliche hätte die beiden sicherlich töten können. Er hatte es nicht getan. Aus welchem Grund nicht? Weil er damit unnötig viel Energie verloren hätte? Nein, das konnte nicht der Grund sein. Er verlor viel Energie, indem er den Terror in Oroia entstehen ließ. Aber tat er das wirklich? Don zweifelte auf einmal daran. »Das Böse kam nach Oroia, um gegen seinen Konkurrenten VULCANOS anzutreten. VULCANOS hat sich verkrochen, wie mir scheint. Aber wo das Böse ist, hat es immer das Grau en im Geleit. Vor allem, wenn das Böse so mächtig ist wie hier.« Er wandte sich zum Fenster und starrte nach draußen. Irrlichter waren in der Nacht. Die Schreie von Menschen. Sie schienen näher zu kommen. »Der Unbegreifliche ist das Böse, und er wirkt auf die Stadt, ohne es vielleicht steuern zu können. Sonst würde er es lassen und seine Kräfte besser für den bevorstehenden Kampf sam meln. Dann wäre es nicht notwendig, die Menschen umzubrin gen, um mit ihrer Lebensenergie neue Kraft zu schöpfen.« Das Grauen regierte in Oroia, und Don sah nur einen einzigen Weg, das zu beenden: Indem sich dem Unbegreiflichen endlich der eigentliche Gegner anbot: VULCANOS! Don ahnte nicht, daß es Mark Tate gelungen war, den Gott
des Feuers vorübergehend zu verbannen, so daß die Feuerinsel in dieser Zeit nicht mehr wuchs und jede vulkanische Tätigkeit auf der Feuerinsel unterbrochen war. Für den Unbegreiflichen gab es keinen direkten Gegner mehr. Aber warum war er dann überhaupt noch hier? Warum ging er nicht hinüber zur Feuerinsel, um auf die Rückkehr seines Gegners zu lauern und VULCANOS zu greifen, wenn dieser noch geschwächt war? Dafür gab es nur eine Erklärung: Weil der Unbegreifliche dies nicht konnte! Eine Erklärung, die auch Don Cooper fand - für die Dinge, die in Oroia geschahen: Sie passierten, weil der Unbegreifliche nicht anders konnte. Aber warum war das so? Diese Frage fand Don keine Antwort. Dafür hätte er viel leicht magische Fähigkeiten haben müssen. Es war May und Frank vorbehalten, doch diese waren ausge schaltet worden. »Wo bleibt Mark?« fragte er sich laut. »Was faselst du da für Zeug?« fragte der Ire lauernd. Don winkte ab. Er trat vom Fenster zurück und wandte sich an den Lord. Wenn einer wieder ins Leben zurückgerufen werden konnte, dann er. Früher war er ein ganz normaler Mensch gewesen - ähnlich wie Don Cooper. Don wußte es genau, denn er hatte Frank damals gut gekannt. Dann hatte der Lord eine VoodooHexe kennengelernt, aus den Fängen eines mächtigen Priesters be freit und zu seiner Frau gemacht: Lady Ann! Damals hatte er den besonderen Fluch von Schloß Panny moore total unterschätzt, denn dieser Fluch kam nur zustande, wenn ein echter Burgess es wagte, eine »Unwürdige«, also »nicht standesgemäß«, zu heiraten. Dann war diese zum Tode verurteilt und der Burgess, der sol
chermaßen gehandelt hatte, zum Wahnsinn. Lady Ann starb im Kindbett. Aber sie war keine gewöhnliche Frau, sondern hatte immer noch die Hexenkräfte in sich schlummern. Deshalb wurde ihr Geist von den Geistern des Fluches anders aufgenommen: Er behielt eine gewisse Selb ständigkeit vom Fluch. Lady Ann versuchte als Geist, dem Lord zu helfen. Doch dies gelang ihr nicht. Und als Mark Tate den Fluch endlich mit seinen Mitteln brach und die schaurigen Kräfte zum Guten umpolte, daß Schloß Pannymoore zu einer für Schwarze Magie uneinnehm baren Bastion wurde, wurden sämtliche Geister verbannt außer Lady Ann! Sie fuhr im letzten Augenblick in den Körper von Frank Burgess ein. Niemand bemerkte es, auch Mark Tate nicht. Bis der Lord sich zu verändern begann. Da wurde es offen sichtlich: In seinem Körper wohnten nunmehr zwei Seelen: Seine eigene und die seiner verstorbenen Frau. Sie waren un trennbar miteinander vereint, aber wenn der Lord schlimmes widerfuhr, konnte es Lady Ann gelingen, sich teilweise aus dem Verbund zu lösen und selbständig zu handeln. Wenn es im vorliegenden Fall geschehen war, dann war Lady Ann immerhin ebenso geschwächt, daß sie sich nicht bemerk bar machen konnte. Aber wenn Don jetzt nachhalf? Er war zwar kein Magier und hatte in dieser Hinsicht auch gewiß keine Fähigkeiten, aber er kannte sich mit Magie aus. Schließlich war er seit Jahren Mitglied im erfolgreichen Gei sterKillerTeam - dem erfolgreichsten der Welt! »Wie schon gesagt, Peter O'Connors, du sollst dich nicht immerzu wundern!« sagte er zähneknirschend. Dann schaute er sich kurz um. Das Badezimmer war nebenan. Auch diese Tür war zerstört, wie die meisten Einrichtungen im Badezimmer. Dafür waren die Leitungen in Ordnung geblieben.
Don ging zum halb aus der Wand gebrochenen Spülbecken und suchte den Boden ab. Ein Stück Seife! Er hob es auf, nahm einen großen Splitter vom auseinander geplatzten Spülbecken und rieb an der Seife herum, bis feiner Seifenstaub entstand. Diesen nahm er in die Hand und kehrte zum Bett zurück. Mit den Seifenkrümeln schüttete er um den Kopf des Lords einen Kreis. »Du hast überlebt - dank Lady Ann. Oder hatte der Unbe greifliche noch etwas mit euch beiden vor?« murmelte Don vor sich hin. Dann konzentrierte er sich voll auf seine Aufgabe. Peter O'Connors schaute fassungslos zu. Er begriff nichts. Wie auch? Als Don fertig war, stierte er auf den Kreis, als wollte er sich die Augen aus den Höhlen drücken. Er murmelte geheimnis volle Worte. Es waren Worte aus der Sprache der Goriten. Er hatte sie von Mark Tate gelernt. Sie taten auch ihre Wirkung, wenn ein Nichtmagier wie Don sie sprach. Es kam nur auf ihren Sinn und auf den Willen an, der hinter ihnen stand. »Soma ke orbitam orph!« Soma stand für: »Weiche!« Ke orbitam war sinngemäß: »Das Umgeben de!« Orph schließlich bedeutete: »Das Böse!« Frei übersetzt: »Weiches, Böses, das du uns umgibst!« Und: »Soma Don Cooper orbitam orph!« - »Weiche, Böses, das du Don Cooper in deiner Gewalt hast!« Es war eine sehr komplizierte Sprache, in der die gleichen Worte mit anderer Betonung in anderem Zusammenhang mit unter die umgekehrte Bedeutung hatten. In anderer Beziehung war sie einfacher, denn man konnte mit weniger Worten viel mehr ausdrücken. Es gab keine Sprachlücken, die mit um ständlichen Umschreibungen geschlossen werden mußten. Und die Sprache der Goriten war eine von Weißen Magiern
geschaffene Sprache. Deshalb war sie weißmagisch wirksam - auch heute noch. Denn die Goriten, dieser einstige Zusammenschluß aller Weißen Magier der Erde, hatten das Gute auf die Welt ge bracht. Ihre Sprache hatte anfänglich nur zur Verständigung ge dient, weil sie keine einheitliche Sprache gekannt hatten. Sie war erst später zur magischen Sprache gereift. Auf dem Höhepunkt des Kampfes zwischen Gut und Böse, den das Gute damals gewann. Die einmalige Chance für die Menschheit hatte begonnen, denn nunmehr konnten die normalen Menschen selber zwi schen Gut und Böse in ihrem Leben entscheiden. Leider mehr und mehr zu Gunsten des Bösen, weshalb es mit der Zeit wieder an Macht gewann . Don Cooper fügte noch ein paar Formeln hinzu, und da schlug der Lord auf einmal die Augen auf. Der Blick war völlig klar und der Lord schien unbeeinträch tigt zu sein. Langsam richtete er sich auf. Peter O'Connors stieß einen erstickten Laut aus. Jetzt wunderte er sich doch! »Du kannst Frank nicht aus der Bewußtlosigkeit wecken«, sagte der Lord mit weiblicher Stimme. »Mir gelingt es eben falls nicht. Im Gegenteil: Als ich es versuchte, traf es mich sel ber.« »Lady Ann?« fragte Don Cooper. Der Lord nickte, und die weibliche Stimme sage: »Ja, Don! Ich beherrsche diesen Körper jetzt allein.« »Warum hat der Unbegreifliche dich und May verschont? Warum hat er euch nicht gleich richtig vernichtet? Die Macht hätte er dazu gehabt.« »Weil er uns als Druckmittel gegen Mark Tate benutzen will!« führte Lady Ann aus. »Ich fürchte, Mark Tate geht es im Moment nicht gut. Vielleicht lebt auch er nur noch, weil ihn der
Unbegreifliche noch braucht?«
Zu diesem Zeitpunkt wußte ich nichts über die Dinge, die in Oroia vorfielen: Ja, ich lebte noch! Und ich war mir darüber im klaren, daß hinter allem der Unbegreifliche steckte. Obwohl er sich bis jetzt nicht gezeigt hatte. Anfänglich hatte ich angenommen, der Unbegreifliche hätte sich vollends zurückgezogen. Dies war nicht der Fall. Er war auf der Insel zurückgeblieben. Wie und warum? Wieso wid mete er sich nicht der Feuerinsel, sondern eher mir, wo doch VULCANOS geschwächt war wie nie zuvor? Fragen ohne Antwort, und ich stand in der absoluten Finster nis und lauschte meinem eigenen Atem. Vorsichtig tastete ich mich mit den Fußspitzen vor. Meine Arme tasteten in der leeren Luft herum. Wenn ich nur eine Ahnung gehabt hätte, wie groß die Höhle war und was in der Dunkelheit auf mich lauerte. Ich setzte Fuß vor Fuß und kam so viel zu langsam voran. Aber ich war achtsam. Ich war jetzt einmal in einen Abgrund gestürzt. Dabei hätte ich mir gut und gern das Genick brechen können. Ich hatte in dieser Hinsicht Glück gehabt, aber man sollte das Glück niemals überstrapazieren. Sonst ließ es einen im Stich. Kurz faßte ich an den Schavall. Er blieb neutral: Keine schwarzmagischen Kräfte herrschten hier unten. In der Höhle schien keine böse Macht auf mich zu warten. Aber es beruhigte mich nicht. Ich wußte, daß sich ein mäch tiger Dämon ausreichend abschirmen konnte. Er mußte nicht unbedingt die Reaktion des Schavalls beschwören. Insofern war auf den Schavall keineswegs hundertprozentig Verlaß. Ich hatte mich mehrere Meter vom Abhang entfernt. Mein angeborener Orientierungssinn half mir, daß ich mich nicht im Kreis bewegte, sondern geradlinig vom Abhang entfernte.
Noch ein paar Meter. Der Boden war rauh und rissig. Felsbo den. Dies hier war irgendwann ein Gaseinschluß gewesen damals, als die Insel Oria entstanden war. Drumherum war dann später die Lava und die heiße Asche erstarrt. Später war das Gas entwichen. Oder hatte der Unbegreifliche erst dafür gesorgt, daß der Zu gang oben entstand? Um für mich eine Falle zu haben? Es war nicht auszuschließen. Schließlich wußte ich so gut wie nichts über die Möglichkeiten des Unbegreiflichen. Noch weitere zehn Meter. Ich machte mir keine Gedanken mehr über die Entstehungsgeschichte der Höhle, sondern nur noch darum, was nun werden sollte. Was hatte der Unbegreifliche vor? Hatte er mich mit dieser Maßnahme nur auf Eis legen wollen. Für wie lange? Der Höhlenboden war ganz leicht abschüssig. Ich erreichte den tiefsten Punkt. Hier war der Boden porös. Er knirschte unter meinen Füßen. Ich bückte mich und tastete darüber. Vulkanasche, uralt. Aber sie war absolut trocken. Ich tastete umher. Es gab nirgendwo eine Öffnung. Für mich der Beweis, daß eventuell sich ansammelndes Wasser nicht abfließen konnte. Zumindest hätte es Spuren hinterlassen müs sen, die sich entsprechend deuten ließen. Es gab nur den einen Schluß: Hier hatte es niemals Wasser gegeben, weil es niemals einen Zugang gegeben hatte! Eine unterirdische Höhle, in die der Unbegreifliche einen Zugang geschaffen hatte, der für mich unerreichbar war. Ich war hier gefangen, wie man sicherer gar nicht gefangen sein konnte. Für immer, wenn man mich nicht von außen befreite. Es fiel mir schwer, jetzt noch die Nerven zu bewahren. Wie der ein Griff nach dem Schavall. Kalt. Ich ging weiter. Diesmal war ich weniger vorsichtig. Es ge
schah schneller als vorher. Irgendwann erreichte ich die gegenüberliegende Wand. An verschiedenen Stellen fühlte sie sich an wie glasiert. Ich beugte mich vor und schnupperte daran. Ein eigenartiger Geruch. Spuren von dem einstigen Gasein schluß? Nun, es war kaum anzunehmen, daß der Luftaustausch vom Unbegreiflichen vorgenommen worden war. Ich nahm eher an, daß die Höhle zwar wasserdicht aber durchaus nicht luftdicht gewesen war. Das Gas war gewiß schon vor Jahrtausenden ent wichen. Normale, atembare Luft war eingedrungen. Es roch nicht einmal modrig hier, weil die Höhle stets trocken geblie ben war. Ich ging an der Wand entlang, bis ich den Abhang erreichte. Am Ende hockte ich mich mitten in die Höhle. In meinem Kopf hatte sich ein ungefähres Bild der Höhle festgesetzt. Ich würde jetzt ohne Schwierigkeiten die Wand erreichen können. Wie ein Blinder, der sich auf andere Sinne als ein Sehvermögen verlassen mußte. Die Höhle hatte einen Durchmesser von fünfzig Metern! Ich hockte hier und dachte an die Trockenheit. In meiner Kehle entstand prompt ein Durstgefühl. Die Gefangenschaft hier unten würde nicht sehr lange dauern, denn ich würde vor der Zeit verdursten. Ich legte mich lang auf den Boden und breitete die Arme aus. Dann, solchermaßen entspannt, schloß ich die Augen und konzentrierte mich. Ich fiel in eine tiefe Trance. Dabei schien mein Geist den Körper zu verlassen. Nur ein kleines Stückchen. Die Verbin dung blieb, aber ich war als Geist jetzt weitgehend unabhängig von den Funktionen des Körpers. Erfahrungsgemäß wußte ich, daß sich jetzt Körpertemperatur und Stoffwechsel erheblich senken würden. Der Puls wurde so schwach wie bei einem Toten.
In diesem Zustand konnte ich unbeeinträchtigt von Gefühlen und Emotionen versuchen, nach May und Frank zu rufen. Das tat ich dann auch. Der Erfolg blieb zu hundert Prozent aus, so sehr ich mich auch bemühte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung, warum .
Peter O'Connors hatte Pech: Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, obwohl er es umgekehrt prophezeit hatte. Der Grund: Noch während Frank aufstand, begann er sich zu verwandeln. Es ging nicht so schnell wie sonst. Lady Ann bereitete es offensichtlich Schwierigkeiten. Sie war sehr ge schwächt. Sie war die andere Hälfte von Lord Frank Burgess. Es war logisch, daß das Wesen, zu dem der Lord seit der Verbindung mit der Seele seiner verstorbenen Frau geworden war, stark beeinträchtig war. Trotzdem schaffte sie es, ihre eigene Gestalt zu formen, wie sie zu Lebzeiten gewesen war: Eine dunkelhäutige, karibische Schönheit mit langem pechschwarzem Haar und einem Kleid aus weichem, fließendem Stoff entstand. Sie lächelte Don knapp zu und lief zum Fenster. »Das Grauen breitet sich in Oroia aus«, sagte sie mit ihrer angenehmen Stimme. Lady Ann hatte einen leichten Akzent. Sie sprach das R in wenig gerollt, was im Englischen absolut nicht üblich war. Don Cooper war hingerissen. Aber dann besann er sich, schüttelte den Kopf und trat neben Lady Ann. »Uff!« machte Peter O'Connors. Er hatte schon wieder Pech: Kein Mensch achtete auf ihn. Sie taten ganz so, als sei er nicht vorhanden. Weil es Wichtigeres zu tun gab. »Es sind praktisch nur Nebenwirkungen, weil der Unbegreif liche auf der Insel weilt.«
»Wer ist der Unbegreifliche?« Lady Ann lächelte verkrampft. »Wenn ich das wüßte, wäre er nicht mehr der Unbegreifliche!« belehrte sie charmant. Sie schauten hinunter. Sie erschraken: Gestalten taumelten zwischen den Palmen umher. Im Park brannten Lichter. Ein paar der Gestalten kamen in den Kegel einer Lampe. Und da sahen die beiden, was das für Gestalten waren: Tote! Bei dem Beben, das noch einmal Oroia heimgesucht hatte, kurz bevor die grollende Stimme des Unbegreiflichen aufgeklungen war, hatte sich die Erde des Friedhofs geöffnet. Sie sahen schlimm aus in ihren vermoderten Gewändern. Erdkrumen klebten noch an ihnen. Manche waren schon seit Jahren begraben gewesen, und jetzt hatte eine unheimliche Macht sie zu seinem unnatürlichen Leben erweckt. Sie taumelten umher. Und da begegneten ihnen Menschen! Es war eine Gruppe von jungen Leuten. Aus unerfindlichen Gründen befanden sie sich im Park. Wahrscheinlich, weil alles kopflos war. Kein Mensch wußte sich zu helfen, bei allem, was in Oroia geschah. Wie Lady Ann es schon sagte: Das Grauen ging um! Stocksteif vor Entsetzen blieben die Menschen stehen. Einer der lebenden Toten prallte gegen sie. Mit ungelenken Bewegungen wollte er sie packen. Sie schrien auf und wichen dem Zugriff aus. Der Zombie verlor das Interesse an ihnen und tappte weiter. Es war reiner Zufall, daß er mit den anderen Zombies zusam menblieb. Keine Absicht steckte dahinter. Alles geschah ungesteuert als eine Art Abfallprodukt dafür, daß das Böse auf Oroia weilte. Lady Ann wandte sich vom Fenster ab. »Sie sind keine direkte Gefahr!« behauptete sie. »Sie sind nur
unappetitlich und erschrecken die Menschen. Ich glaube, es gibt andere Gefahren - und es ist an der Zeit, sich denen zu widmen.« Sie ging zum Bett zurück. »Was ist mit May?« fragte Don Cooper. • Lady Ann schüttelte den Kopf. »Ich muß versuchen, mit Mark Verbindung aufzunehmen.« Sie legte sich dorthin, wo sie gelegen hatte - als Lord Frank Burgess - und schloß die Augen. Sofort verfiel sie in Trance. »Uff!« machte Peter O'Connors wieder. Jetzt erst erinnerte sich Don seiner. »Wie geht es der Frau?« »Schläft!« knurrte O'Connors. Er deutete mit dem Kinn auf Lady Ann. »Was - was war das?« »Lady Ann!« antwortete Don knapp. »Aber - das war doch vorher ein - ein Mann! Ge schlechtsumwandlung - eh?« Don Cooper mußte grinsen. »Nein, natürlich nicht: Unser Freund Lord Frank Burgess ist kein Mensch mehr. Er ist ein Weißer Magier. Aber keine Angst, Peter, er steht auf unserer Seite. Er hat also dieselben Gegner wie wir, und diese Gegner sind draußen und bereiten den Men schen auf Oroia die Hölle auf Erden. Du hast die Stimme des Unbegreiflichen gehört: ER IST DAS BÖSE! Und das gilt es zu bekämpfen.« »Aha!« machte Peter O'Connors, obwohl er nicht das gering ste begriff. Da schlug die Schlafende die Augen auf. Ihr Blick war starr. Ein neuer Schock? Don Cooper kam näher. Er bat O'Connors: »Geh mal bitte zur Seite. Vielleicht kann ich besser mit Frauen umgehen als du?« Peter O'Connors gehorchte tatsächlich. Don Cooper setzte sich auf den Bettrand und legte seine
Hand auf die Hand der Fremden. Sie fuhr zusammen und blinzelte verwirrt. Don Cooper lächelte sie an. Als wäre drumherum alles in bester Ordnung und man brauchte sich nicht die geringsten Sorgen zu machen. »Wer - wer sind sie?« murmelte die Frau. »Don Cooper«, sagte er bereitwillig, »aber meine Freunde sagen schlicht und einfach Don!« Er verstärkte sein Lächeln. Erfahrungsgemäß schmolzen da bei die Frauenherzen nur so dahin. Dieses hier nicht so sehr. Sie blinzelte wieder. Plötzlich fuhr sie hoch. »Mein Mann!« Don drückte sie sanft in die Kissen zurück. »Was ist denn mit Ihrem Mann?« Plötzlich schössen ihr Tränen in die Augen. »Wir waren auf unserem Zimmer, wollten uns nicht um den Tumult kümmern. Aber dann ging mein Mann nachsehen, auf den Flur hinaus. Ich - ich sah, wie er alterte. Was sah er im Gang? Ich konnte nicht folgen. Ich sah nur ihn. Er alterte, brach zusammen, starb, zerfiel zu Staub .« Sie preßte die Faust gegen den zitternden Mund. »Mein Gott!« Hemmungslos begann sie zu weinen. Don tätschelte ihre Hand. Lady Ann kam wieder zu sich. Sie richtete sich auf und schaute nach Don. »Es hat keinen Zweck«, berichtete sie ernst. »Ich bekomme keine Verbindung mit Mark.« »Verbindung?« echote O'Connors verblüfft. »Wie mit 'nem Funkgerät oder so?« Lady Ann schien ihn jetzt erst wahrzunehmen. »Ja, wie mit einem Funkgerät«, sagte sie knapp und stand vom Bett auf. Kurz beugte sie sich über May und untersuchte
sie. Die Fremde weinte noch immer. Lady Ann kam herüber und streichelte ihr kurz über den Kopf, damit sie auf Lady Ann aufmerksam wurde. Die Weinende hob den Blick, begegnete dem Blick von Lady Ann. Ein Zucken durchlief ihren Körper. Dann sank die Weinende schlaff in sich zusammen. Nur für eine Sekunde. Die Tränen versiegten. Die Frau schrie gellend auf. Lady Ann hob den Kopf. »Der Schock ist überwunden«, sagte sie. »Ellen Carson hat ihren Mann sterben sehen. Sie lebten in Scheidung. Hier woll ten sie sich versöhnen - aus finanziellen Gründen. Jetzt hat sie alles geerbt. Aber vielleicht hat sie gar nichts davon? Schließlich muß sie erst einmal von hier lebend wegkommen.« Lady Ann ist anders als Frank! konstatierte Don im stillen. Aber sie weiß zu handeln - genauso wie Frank. »In Scheidung?« fragte O'Connors dümmlich. »Wieso .?« Lady Ann tippte sich an die Stirn. »Das Funkgerät, Peter, verstehst du? War diesmal auf Empfang geschaltet.« »Aha!« machte der Ire. In seinen Augen war ein eigenartiger Glanz. Wie jemand, der kurz vor dem Überschnappen stand. Lady Ann wandte sich an Don Cooper. »Ihr Mann war übri gens ein Schwein. Er hat sie finanziell erpreßt. Nur deshalb hat sie sich auf den Handel eingelassen. Er hätte sie sonst ver nichtet - nicht nur, daß sie kein Geld von ihm bekommen hätte. Ihr Schock rührte von den Umständen, nicht vom Verlust ihres Mannes!« Don schluckte schwer. Er betrachtete das Gesicht von Ellen Carson. Sie war eine Schönheit. Das stand unzweifelhaft fest. In ihren Augen stand so etwas wie Bewunderung für Lady Ann. Von einem Schock war nichts mehr zu spüren.
Mit einer trotzigen Bewegung wischte sie sich die Tränen weg. Don streichelte ihr über den Kopf. Einfach so. Sie hob den Blick zu ihm auf und erwiderte sein Lächeln. »Danke!« sagte sie. Don stand auf. Du solltest dich anziehen, Ellen. So kannst du nicht auf die Straße.« Sie nickte und warf die Decke beiseite. Wegen ihres Aufzugs schämte sie sich nicht. Mit noch etwas unsicheren Schritten verließ sie den Raum. Sie wußte noch nicht, wie schlimm es wirklich um Oroia stand. Aber das würde sie noch früh genug erfahren. Peter O'Connors, Don Cooper und Lady Ann sahen sich an. Eine stumme Frage: »Was soll werden?« Don sprach die Antwort aus: »Wir verlassen das Hotel!« »Und May?« gab Lady Ann zu bedenken. Don runzelte die Stirn. »Aber wir können doch hier nicht hockenbleiben, während draußen Chaos herrscht. Wir müssen alles tun, um dieses Chaos einzudämmen.« Lady Ann nickte. »Du hast recht, Don, denn May ist nicht gefährdet. Sie ist hier im Gegenteil gut aufgehoben, denn der Unbegreifliche braucht sie. Außerdem können wir nichts für sie tun.« »Was ist mir dir, Ann? Wird der Unbegreifliche nicht merken, daß du nicht mehr in seiner Gewalt bist?« »Du irrst dich, Don: Da gibt es nichts zu merken, denn er hatte mich niemals in der Gewalt: Frank war sein Opfer!« Ich glaube, das verstehe ich selber niemals, dachte Don Co oper. Zwei Geister in einem Körper, der kein menschlicher Körper mehr war, sondern formbare Biomasse. Und jetzt das hier als Begründung, daß . Don gab es auf. Es war besser, die Dinge zu akzeptieren wie sie waren, als sich unnötig den Kopf darüber zu zerbrechen. Das war seine Meinung.
Ellen kehrte zurück. Sie hatte Jeans an und ein TShirt. Der BH fehlte. Don sah es. Prompt wurde ihm heiß. Ellen konnte es sich leisten. Sie hatte die typische knackige Figur, mit der eine Frau kaum jemals von der Natur ausgestat tet wurde: Sie mußte eine Menge dafür tun. Beispielsweise FrauenBodybuilding. Und Bodybuilding an sich war Don ja nicht so fremd. Seine Grundfitness, die ihn zu einem As in allen Sportarten machte, verdankte er allein Bodybuilding, denn das wurde übersetzt mit: Körperertüchtigung! Obwohl es Don niemals darauf an gelegt hatte, irgendwann einmal auf eine Bühne zu klettern und sich im Muskelspiel mit anderen zu messen. Das war nicht sei ne Angelegenheit. Er verstand sich als Bodybuilder im eigent lichen Sinne und nicht als ein WettkampfBodybuilder. Für ihn war das Training Selbstzweck und das ideale Mittel, so zu sein wie er war: körperlich überlegen! Don lächelte Ellen an, und dieses Lächeln wurde nun schon zum zweiten Mal erwidert. Da bahnt sich was an, Don! sagte er sich. Sei vorsichtig! Und er wußte gleichzeitig, daß er das überhaupt nicht mehr sein konnte: vorsichtig! In der Luft war ein hämisches Lachen, das von den Höhlen wänden widerhallte. »Gib's auf, Mark Tate!« sagte eine Stimme, die ich nur allzu gut kannte: der Unbegreifliche! Ich tauchte aus der Trance auf. Ja, das erschien mir jetzt auch als angebracht: aufzugeben. Aber nur meine Bemühungen, nach May und Frank zu rufen. »Was soll das Spiel?« fragte ich. »Ich dachte, du hättest dich vollends zurückgezogen?« »Wollte ich ja auch«, gab der Unbegreifliche zu. »Aber du hast es blockiert.« »Ich?«
»Indem du den Steingarten verändert hast. Er schwang gleich mit mir. Er war mein Tor nach Oroia. Er wäre auch mein Tor zur Feuerinsel gewesen. Jetzt könnte ich es benutzen und VULCANOS für immer besiegen. Aber durch deine Maßnah men bin ich ein Gefangener von Oroia!« »Wie bitte?« Ich sprang vom Boden auf. »Du hast schon richtig gehört.« »Für einen Dämon klingt das ja sehr ehrlich. Aber ich kenne keinen Dämon, der dabei keinen bösen Hintergedanken hat.« »Stimmt, Mark Tate. Dir kann ich nichts vormachen.« »Hoffentlich vergißt du das nicht einmal!« »Ich kann es mir leisten, ehrlich zu sein, Mark Tate, denn du sitzt in der Falle - unentrinnbar!« Ein schauerliches Lachen schloß sich an. Ich wartete ab und sagte kein Wort mehr. »Ich kann nicht mehr von der Insel weg, weil du es ungewollt geschafft hast, mich auf Oroia zu bannen. Aber das tut den Menschen der Insel nicht wohl, glaube mir. Ich habe das Grau en im Geleit. Es sind einige Menschen in der Stadt zu Tode gekommen. Ich bin auch Don Cooper begegnet. Er hat einen ungeheuer starken Willen, aber wenn ich ihn wirklich hätte töten wollen, wäre er nicht mehr. Ich wollte es nicht, weil ich etwas anderes im Sinn habe, Mark Tate.« »Schieß los!« forderte ich ihn auf. »Ich schlage dir noch einmal einen Pakt vor!« »Den Steingarten kannst du ja nicht mehr benutzen. Also wendest du dich an mich?« »Genau, Mark Tate. Es ist nicht so wichtig, ob ich von der Insel weg kann oder nicht. Das würde sich mit der Zeit allein lösen, dieses Problem. Ich brauche nur abzuwarten, bis keiner mehr lebt. Ich schlucke die Seelen der Verstorbenen und stärke mich damit. Meine Macht wächst. Und wenn es kein Leben mehr auf der Insel gibt, werde ich weg können.« »Dein Vorschlag!« erinnerte ich ihn.
»Entweder du verbündest dich mit mir gegen VULCANOS, damit wir ihm den Rest geben .« »Oder?« »Ich habe es schon angedeutet, Mark Tate: Es werden alle sterben, auch deine Gefährten. Oder was glaubst du, warum es dir unmöglich ist, mit ihnen Kontakt aufzunehmen? Sie befin den sich in meiner Gewalt - genauso wie du. Was willst du gegen mich unternehmen, Mark Tate? Seit VULCANOS wie der verbannt ist, sind die zusätzlichen Kräfte in dir erloschen. Erst wenn der Kampf wieder notwendig wird, erwachen diese Kräfte, damit du überhaupt eine Chance gegen ihn hast.« »Und gegen dich!« Er lachte, daß es von den Wänden dröhnte. Ich widerstand dem Impuls, meine Ohren zuzuhalten, damit mir nicht die Trommelfelle platzten. Statt dessen griff ich nach dem Schavall. Jetzt war er stark erwärmt, aber noch nicht so aktiviert, daß er als Kampfmittel gegen den Dämon hätte dienen können. Der Dämon war vorsichtig. Ich hatte keine Chance gegen ihn, und das sagte er mir auch: »Wie würdest du das anstellen, Mark Tate? Ich brauche nichts gegen dich zu tun. Ich brauche mich nur wieder zurückzuziehen. Du wirst dort unten krepieren - elendiglich. Und auf deine Gefährten kannst du nicht hof fen. Die behalte ich so lange zurück, wie es noch Lebende gibt. Sie werden als letzte sterben - dann, wenn ich keine Chance mehr für einen Pakt sehe.« Ich überlegte kurz. Dann: »Wie würde ein solcher Pakt aus sehen?« »Wir beiden gegen VULCANOS! Ich bringe dich auf die Feuerinsel, wenn du mir versprichst, dabei nicht den Schavall gegen mich einzusetzen.« »Und anschließend?« »Dein Schavall wird den Bann brechen. Ich kann von der Insel weg. Das ist wichtig für mich. Es ist das, was du eigent
lich für mich tun mußt.« »Und was habe ich davon?« »Du weißt, daß ich dir nichts anhaben kann, so lange du im Besitz des Schavalls bist. Du brauchst also nichts zu befürch ten.« »Ich rede nicht von möglichen Gefahren, sondern von Vor teilen!« sagte ich hart. »Das liegt klar auf der Hand«, behauptete der Unbegreifliche. »Du weißt inzwischen, welche Möglichkeiten ich besitze. Diese im Kampf gegen VULCANOS! Du hast selber gesehen, daß du mit dem Schavall allein nicht wirksam genug gegen ihn kämpfen kannst. Auch der Steingarten hat nicht ausgereicht.« »Klingt alles einleuchtend«, sagte ich gedehnt. »Aber?« rief er alarmiert. Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann den Handel nicht mir dir eingehen. Ich muß daran denken, daß du auf der Insel gefangen bist.« »Das wirst du bereuen!« »Moment mal!« rief ich hastig, »ich bin noch nicht fertig, Dämon. Du hast mir einen Handel vorgeschlagen, den ich so nicht akzeptieren kann. Höre nun meinen Vorschlag.« »Ein Handel, den du mir vorschlägst?« »Genau dieses, Dämon!« sagte ich ruhig. »Nur zu!« Er kicherte bösartig. »Ich will alles tun, wie du es gewollt hast, aber nur unter ei ner Bedingung.« »Die wäre?« »Ehe ich den Pakt besiegle, möchte ich die Höhle verlassen!« Der Dämon schwieg. Ich dachte schon, er hätte sich zurück gezogen, aber da meldete er sich wieder: »Schlau ausgedacht, Mark Tate, aber ich traue dir nicht.« »Das beruht ja wohl auf Gegenseitigkeit!« »Es gibt für dich nur zwei Möglichkeiten, Mark Tate: Entwe der Tod für dich und deine Gefährten und damit VULCANOS,
der erneut erwacht und seine Feuerinsel mit Beschlag belegt, oder der Pakt mit dir.« »Nein, noch eine dritte: Laß mich aus dieser Falle, damit ich nachprüfen kann, was du mir sagst. Ich brauche dich nicht, um auf die Feuerinsel zu kommen. Ich nehme den Steingarten. Den werde ich so steuern, daß du die Insel verlassen kannst!« Er lachte hart. »So siehst du aus, Mark Tate: Sobald du hier draußen bist, wirst du den Steingarten nur gegen mich steu ern!« Jetzt lachte ich: »Soll das heißen, damit kann man dir gefähr lich werden?« Ein schauriges Heulen entstand über meinem Kopf. Es brau ste durch die Höhle, brach sich an der gewölbten Decke. Die ersten Brocken kamen herunter. Sie donnerten unweit von mir auf den Boden. Es heulte weiter dort oben. Ich hatte den mächtigen Zorn des Unbegreiflichen erregt. Jetzt tobte er diesen Zorn aus. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, so vorzugehen, aber es war wichtiger, den Gegner herauszufordern, als sich ihm zu beugen. Ich würde mich niemals diesem Dämon unterordnen, denn selbst wenn ich hier umkam, hatte ich immer noch die Genug tuung, daß auch der Dämon verloren war. Er hatte es selber gesagt. Im nächsten Augenblick platzte die Decke auseinander. Ich war schon unterwegs. Ich rannte um mein Leben. Ziel war der Abhang, den ich heruntergekommen war. Die Höhle stürzte ein! Ich versuchte, den Abhang zu erklettern, aber meine Füße sanken in den Staub. Damit konnte ich ihn nur aufwirbeln. Er drang in meine Atemwege und ließ mich husten. Felsmassen stürzten herab. Ein Brocken traf meine Schulter und warf mich zu Boden.
Als ich meine Schulter betastete, quoll es warm und klebrig zwischen meinen Fingern hervor: Blut! Ich wälzte mich zur Seite. Das Heulen über meinem Kopf hatte aufgehört. Der Unbegreifliche hatte sich zurückgezogen, aber die Vernichtung hatte begonnen und setzte sich auch ohne ihn fort. Weitere Felsmassen kamen. Dicke Brocken kullerten von der Stelle weg, wo sie auftrafen. Einer dieser Brocken rollte über mich hinweg, daß meine Rippen krachten. Ich wollte aufstehen, aber da traf mich ein harter Schlag in den Rücken. Ein grausamer Schmerz fraß sich meine Wirbel säule entlang. Der nächste Stein traf mich am Kopf und löschte mein Be wußtsein. Verschüttet! Das war mein letzter Gedanke - und es schien mir, als sei dies mein allerletzter .
Sie wollten gemeinsam das Hotelzimmer verlassen und May vorläufig zurücklassen, weil sie der Meinung waren, daß sie nicht gefährdet war. Es blieb bei der Absicht. Gerade wollten sie sich zur Tür wenden, als es geschah: Ein eiskalter Sturm brauste durch das Zimmer - mit einer Gewalt, daß die drei gegen die Wand getrieben wurden. Der Sturm erfaßte die bewußtlose May Harris und riß sie vom Bett. Sie schwebte frei in der Luft. Ihre Glieder wirkten seltsam ver renkt, als wäre sie nicht mehr am Leben und als wären ihr sämtliche Knochen im Leib gebrochen. Der Sturm zerfetzte das Bett. Es regnete Daunen und Stoffet zen. Die drei duckten sich unwillkürlich, um nicht von den herumfliegenden Holzsplittern getroffen zu werden. Der heulende Sturm wurde zu einem dumpfen Grollen, das sich in den Wänden fortpflanzte und Risse in ihnen erzeugte. Verputz rieselte von der Decke.
Längst war die Lampe geplatzt, die die ganze Zeit über noch Licht gespendet hatte, aber der Sturm leuchtete in sich. Es war ein gespenstisches Licht, denn der Sturm wurde von einer schwarzen Flamme entfacht, die an dem schlaffen Körper von May leckte, wie um sie zu verbrennen. Doch dies geschah nicht. Unwillkürlich schauten Don, Peter O'Connors und Ellen Car son nach Lady Ann. Ja, sie waren nur noch zu dritt! Das wurde ihnen erst jetzt bewußt. Wo war Lady Ann? Dort lag sie, auf der anderen Seite des Zimmers, hingestreckt wie von einem Fausthieb. Aber nein, das war nicht Lady Ann. Zur Hälfte hatte sie sich zurückverwandelt - in den Lord. Die schwarze Flamme zuckte und flackerte. Sie huschte zu Frank hinüber, berührte ihn kurz. Sein Körper bäumte sich auf. Für einen qualvollen Moment sah es so aus, als würde die schwarze Flamme den Lord zerrei ßen, aber dann ließ sie ihn wieder zu Boden plumpsen und fuhr aus dem Zimmer hinaus. Der Körper von May Harris schwebte hinterher, von unsicht baren Händen getragen. Noch eine Minute nach diesem grausigen Geschehen wagten es die drei nicht, sich zu rühren. Durch das geborstene Fenster drang genügend Licht, um ihre unnatürlich bleichen Gesichter zu beleuchten. »Was war das?« stotterte Ellen Carson. »Das Böse!« sagte Don verkniffen und lief zu Frank hinüber. Der Freund regte sich stöhnend. Wie durch ein Wunder hatte er die Prozedur überstanden. Doch das hatte einen Grund: Er war wieder Lady Ann! Sie schlug die Augen auf und blinzelte zu Don hinauf. Don Cooper bückte sich nach ihr wollte ihr auf die Beine helfen.
»Nein«, wehrte sie mit schwacher Stimme ab, »laß mich ei nen Moment noch liegen, Don.« »Hat - hat er etwas gemerkt?« fragte Don bang. »Nein, Don, er hat nichts gemerkt. Ich habe rechtzeitig rea giert und zog mich zurück. Für einen Augenblick flammte sein Mißtrauen auf, weil ich mich nur zum Teil zurückverwandeln konnte. Aber ein Dämon urteilt nicht nach optischen Gesichts punkten. Er untersuchte mich kurz und verlor dabei sein Miß trauen.« Don konnte sich nicht mehr beherrschen: »Was hat er mit May vor?« schrie er. Lady Ann sah ihn ruhig an. »Wir können es nicht ändern, Don!« »Was können wir nicht ändern?« »Der Unbegreifliche hat May mitgenommen, wegen Mark Tate.« Sie richtete sich auf. Hatte sie sich von dem Schock der Be gegnung schon soweit erholt, daß sie von allein aufstehen konnte? »Ich weiß nicht, was vorgefallen ist, aber der Zorn des Unbe greiflichen ist erregt. Ein teuflischer Zorn. Es ist mit allem zu rechnen. Vor allem wird sich die Lage der Insel dadurch erheb lich verschlechtern. Wir sind jetzt schon abgeschnitten von der Welt. Diese Information ist bei der Berührung des Unbegreifli chen zu mir herübergesickert. Das Unerklärliche dabei ist: Er ist selber Gefangener dieser Insel! Deshalb ist es ja auch so schlimm. All die negativen Energien, aus denen er besteht, toben innerhalb dieser Sphäre. Dadurch wird die Insel zu einer eigenen Welt.« »Für wie lange?« »Bis Mark Tate es ändert - oder für immer!« »Für immer?« »Ja, wenn Mark Tate es nicht ändern kann - aus welchem Grund auch. Denn ich weiß nicht, was im Moment mit ihm ist.
Ich kann nur für ihn hoffen - genauso wie für May!« Sie stand auf und winkte den anderen zu. »Gehen wir. Hier haben wir nichts mehr verloren. Ganz im Gegenteil: Nach Lage der Dinge wird das Hotel. das Zentrum des Bösen. Sehr bald schon. Wenn der Unbegreifliche zu rückkehrt nämlich. Im Moment hat er etwas zu erledigen. Es hat mit Mark Tate zu tun .«
Ich tauchte aus dem Nebel des Vergessens auf. Dies geschah sehr langsam. Zunächst spürte ich nur den grausamen Schmerz, der sich in meinen Körper fraß. Ich wollte mich bewegen, doch das war nicht möglich. Mein Bewußtsein drohte wieder zu schwinden, allein schon vom Schmerz. Oder hatte ich zuviel Blut verloren? Ich fühlte mich mehr tot als lebendig. In diesem Zustand konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Ich blieb in der schmalen Zone zwischen Wachsein und Bewußtlosigkeit. Des halb flüchtete ich mich in Trance. Hier war ich allein und unbeeinträchtigt. Es gab keine Ge fühle, keine Emotionen, keine Bedürfnisse. Ich war ich scheinbar ohne Körper. Aber die Verbindung zum Körper war geblieben. Sie würde so lange bleiben, wie ich lebte. Ohne diesen Körper konnte ich nicht in die Wirklichkeit zu rückkehren. Deshalb mußte ich mich um ihn sorgen. Ich streckte meine Fühler aus und »ortete« die Schmerzquel len. Ich analysierte sie: Beide Beine gebrochen. Beckenbruch. Wirbelsäule an mehreren Stellen gebrochen. Rippen gebrochen. Innere Blutungen. Erschrocken griff ich ein. Ich stillte die inneren Blutungen, sofern es mein Wille vermochte. Es war ein Aufschub, denn ich war verloren: Ich war zum Tode verurteilt!
Daran führte kein Weg vorbei. Da half kein Hadern mit dem Schicksal. Da half auch kein Haß gegen den Unbegreiflichen. Ich lag unter den Felstrümmern vergraben - und wenn ich nicht an den inneren Blutungen verendete, so doch deshalb, weil ich unter den Felsmassen erstickte. Und selbst wenn man mich jetzt gefunden und befreit hätte: Die Verletzungen waren einfach zu schwer. Emotionslos und gefühllos wie ich im Zustand der Trance war, betrachtete ich die Situation ganz nüchtern. Warum hatte der Unbegreifliche es darauf ankommen lassen? Aus Unbeherrschtheit? Weil er ein Exempel statuieren wollte, um mir zu zeigen, zu was er in der Lage war? Hätte ich denn den Pakt mit ihm schließen sollen? Ich war immer noch der Auffassung: Nein! Selbst wenn ich hier zu Tode kam. Selbst wenn alle Menschen auf Oroia zum Tode verurteilt waren und damit mein Schicksal teilten: Der Unbegreifliche würde letztlich selber verenden! Als letzter zwar, aber auch daran führte kein Weg vorbei. Ich war seine einzige Hoffnung, hier herauszukommen. Und wenn er es schaffte, waren nicht nur die Menschen von Oroia gefährdet, sondern die gesamte Menschheit. Ungeachtet dessen, woher der Unbegreifliche überhaupt kam, wo er vorher geweilt hatte, was er vorher getan hatte. Er würde es sich überlegen müssen, ob er seine eigene, vor programmierte Vernichtung in Kauf nehmen wollte. Es war mein einziges Argument gegen ihn! Und ich würde an diesem Argument so lange festhalten, wie ich es konnte: So lange ich noch lebte! Auch wenn das nach Lage der Dinge nur noch eine sehr kur ze Zeit war. In Trance verharrte ich, bis sich der Unbegreifliche wieder melden würde, denn das würde wohl kaum ausbleiben. ' Ich hatte keinen rechten Zeitbegriff, weshalb ich nicht wußte, wieviel Zeit vergangen war, als ich ein grausames Lachen
durch die Felsmassen dringen hörte: Der Unbegreifliche! Nicht mit den Ohren hörte ich es, sondern direkt in meiner Seele. Es erzeugte Eiseskälte, trotz der Trance. Ich kapselte mich sofort davon ab, aber nur kurz, denn mir wurde bewußt, daß ich dabei nicht in der Lage war aufzuneh men, was er mit mitzuteilen hatte. Und er hatte tatsächlich etwas mitzuteilen: »Deine Lebensge fährtin May Harris ist in meiner Gewalt!« Ich antwortete mit meinen Gedanken: »Das ist mir nicht neu, Dämon!« »Du mißverstehst mich, Mark Tate: May Harris ist hier! Willst du sie sehen?« »Wie könnte ich das - in diesem Zustand?« »Eine gute Frage, Mark Tate. Aber es ist ganz leicht. Du brauchst das Bild nur zu dir hineinzulassen. Du brauchst dich nur ein wenig zu öffnen.« Ich tat es, unendlich vorsichtig. Dabei dachte ich: Was ist mit dem Schavall? Hängt er überhaupt noch an der Silberkette? Ich konnte es beim besten Willen nicht feststellen. Es war durchaus möglich, daß der Schavall abgerissen war. Das wäre fatal, denn dann würde er mich nicht mehr gegen den Unbe greiflichen schützen. Es war dann nur noch eine Frage der Zeit, bis der Unbegreif liche das herausfand und - nutzte! Er würde mich auf der Stelle auslöschen. Erst danach würde er sich Gedanken darüber machen, wie er den Schavall indirekt zu seiner Befreiung nutzen konnte. Das versprochene Bild kam. Ich sah plötzlich die karge Land schaft über der zusammengestürzten Höhle. Alles war in diffu ses Licht getaucht. Ich sah den Höhleneingang - verschlos sen! Der Boden war hier ein Stück abgesackt. Zwischen mir und der Oberfläche waren schätzungsweise zehn Meter oder mehr Gesteinsmassen. Zehn Meter! Wahrlich unüberwindlich. Falls man versucht
hätte, mich auszugraben, hätte man mindestens eine Woche benötigt. Man hätte mit Spezialwerkzeug arbeiten müssen, denn einige Brocken waren so schwer, daß sie mit Menschen hand nicht zu bewältigen waren. Ich war so und so verloren. Genauso wie May! Sie schwebte frei in der Luft. Nein, nicht frei, sondern getragen von einer schwarzen Flamme. Die Flamme des Bösen! Der Unbegreifliche! »In meiner Gewalt!« sagte er hämisch. »Ich werde sie ver nichten - vor deinen Augen. Ich werde sie unendlich lange quälen - ebenfalls vor deinen Augen. Wie es mir beliebt. Du wirst es mit ansehen müssen.« »Nein!« sagte ich knapp. »Ich werde gar nichts müssen. In diesem Zustand kenne ich keine Gefühle, sondern nur Notwen digkeiten. Ich bin völlig sachlich und nüchtern, unbe einträchtigt von menschlichen Instinkten und Beweggründen. Du unterschätzt mich gewaltig, Dämon. Hattest du wirklich geglaubt, mich so doch noch erpressen zu können? Ich werde mich jetzt zurückziehen, Dämon - um zu sterben. Bitte störe mich nur noch, wenn es wirklich wichtig ist.« »Das ist nicht wahr!« kreischte die schwarze Flamme und flackerte unruhig. Der schlaffe Körper von May wurde hin und her geschleudert. »Ja, du wirst sterben, aber vorher wird deine Lebensgefährtin . Macht dir das denn überhaupt nichts aus?« »Ich habe es dir erklärt. Das war genug. Mehr kannst du nicht von mir verlangen. Ich habe dir gesagt, du sollst mich aus der Falle lassen. Du bist auf diesen Vorschlag nicht eingegangen. Also mußt du die Konsequenzen selber tragen. Genauso wie ich! Wo es keine Einigung gibt, werden die Fronten nur noch härter!«
Ich zog mich tatsächlich zurück - nicht so weit, um nicht das furchtbare Heulen und Zetern des Dämons zu hören. »Komm zurück!« befahl er. Ich tat ihm diesen Gefallen nicht. Ich blieb verschlossen und nahm die Bilder, die er mir schickte, einfach nicht an. Ich hörte ihn fauchen: »Dann krepiere!« Heulend wie der Sturmwind zog er davon. Was hatte er mit May getan? Hatte er sie mitgenommen? Ich glaubte es nicht. Ich nahm etwas anderes an: Er hatte sie getötet, weil sie ihm nichts mehr nutzte! Sie liefen auf die Straße hinaus. Ja, hier war es noch schlimmer geworden. Ein halbzerfressener Untoter wankte auf sie zu. Ein scheußli cher Anblick! Sein Ziel hieß Ellen Carson. Aber ein einziger Bannblick von Lady Ann genügte: Der Zombie brach zu sammen. Das unnatürliche Leben in ihm erlosch. Aber es war nicht alles. Schlimmer als Zombies und sonstige Ungeheuer der Hölle konnten manchmal MENSCHEN sein. Dann, wenn sie nicht mehr bei Verstand waren. Dann, wenn sie sich in den Wahnsinn geflüchtet hatten, weil sie die Dinge um sich herum nicht mehr ertrugen. Wahnsinn oder Tod: Die da vorn hatten sich entschieden! Wahnsinn für sich selbst und Tod für alle anderen! Sie waren mit Knüppeln bewaffnet und jagten Menschen. Jetzt erblickten sie die Gruppe um Don. Mit Fauchen und Knurren wie bösartige Bestien - mit ver zerrten Mienen, die wie die Fratzen der Hölle anmuteten, mit blutunterlaufenen Augen griffen sie an. Sie schwangen ihre Knüppel. Es waren Männer und Frauen von unterschiedlichem Alter. Don schätzte ihre Zahl auf über ein Dutzend. Eine blutrünstige Horde, die unterwegs war, um zu zerstören und zu töten. Und
wenn keiner mehr lebte und wenn kein Stein mehr auf dem anderen saß, dann fielen sie übereinander her und töteten sich gegenseitig. Bis keiner mehr übrig war. Bis das Böse gesiegt hatte! Selbst wenn es laut der Aussage von Lady Ann nur ein Scheinsieg sein würde, weil das Böse am Ende selber vergehen mußte, sobald es niemanden mehr gab, den es heimsuchen konnte. Da war mir die Feuerinsel und VULCANOS fast lieber! dachte Don Cooper zerknirscht. Und dann griff er seinerseits an! Er handelte nach der Regel: Angriff ist die beste Verteidi gung. Don stürzte sich mitten in die Angreifer hinein, auch wenn er unbewaffnet war. Sein Ziel war der größte und kräftigste. Neben sich hörte er ein wütendes Schnauben, dann einen Schrei, Schläge klatschten. Don brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen: Da war niemand anders als der brave Peter O'Connors am Werk! Don handelte selber. Sein Gegner wollte ihm den Knüppel auf den Schädel donnern lassen. Don ließ ihn schlagen. Er unterlief den Schlag nicht einmal. Der Knüppel war so schwer, daß man seine Richtung nicht mehr umbestimmen konnte, hatte man ihn einmal auf die Reise geschickt. Man konnte sich nur noch daran festhalten und hoffen, daß er auch traf. In diesem speziellen Fall ging er weit genug daneben, denn Don wich im letzten Augenblick aus. Der Gegner taumelte an ihm vorbei. Don half mit einem kräftigen Nackenschlag nach und schickte den Mann zu Boden. Aber kaum dort angelangt, rappelte dieser sich sofort wieder auf. Nein, so einfach war der nicht auszuschalten. Er schien meh rere Leben zu besitzen. Der Wahnsinn ließ seine Kräfte um ein
Mehrfaches anwachsen. Er griff erneut an - mit der Wut eines tollwütigen Stieres. Zur gleichen Zeit war Don mit drei weiteren Angreifern be schäftigt. Der eine geriet mit dem Kopf in Konflikt, mit der Faust von Peter O'Connors. Der Ire hatte lediglich ausgeholt und war sich gar nicht darüber im klaren, daß er dabei einen von Dons Gegnern ins Reich der Träume schickte. Don Cooper sprang senkrecht in die Luft und trat mit beiden Beinen zu. Da nutzte den Gegnern das Schwingen der Knüppel nichts. Beide Füße trafen ins Ziel: Don trat ihnen mit voller Wucht vor die Brust und ließ sie zurücktaumeln. Damit behinderten sie weitere Angreifer. Eine winzige Verschnaufpause für Don. Jetzt konnte er sich wieder dem ersten Angreifer widmen. Der schlug diesmal von unten herauf zu. Der Knüppel zielte auf Dons Körpermitte. Und Don konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen. Der Knüppel würde ihn in den Bauch treffen. Don krümmte sich leicht zusammen. Seine Bauchmuskeln spannten sich zu dicken, stahlharten Strängen. Das sah aus wie ein Waschbrett. Der Knüppel traf mit einem dumpfen Laut, daß man meinen mochte, Don Cooper müßte mitten durchbrechen. Das tat er natürlich nicht. Der Knüppel wurde zurückgeprellt und entglitt beinahe den Händen des Angreifers. Don ließ ihm keine Verschnaufpause. Er schlug diesmal mit der Handkante zu und traf den Hals des Gegners. Das genügte: Der Angreifer fiel um, wie vom Blitz gefällt. Don ahnte, daß die anderen Angreifer wieder soweit waren. Er spürte förmlich, daß schon die Knüppel durch die Luft zischten, um ihn zu erschlagen. Er sah es nicht, weil es hinter ihm geschah.
Don ließ sich rückwärts fallen und stieß sich gleichzeitig mit aller Kraft vom Boden ab. Er breitete die Arme ruckartig aus. Und er hatte richtig kalkuliert: Er prallte mit voller Wucht gegen die Angreifer - frontal! Ihre Knüppel zischten ins Leere. Sie entglitten ihrem Zugriff. Die Gegner verloren den Boden unter den Füßen. Don rappelte sich als erster auf. Ihm geriet ein Knüppel in die Hände. Und nun schlug er zu! Er drosch drauflos, als gelte es, damit einen Wettbewerb zu gewinnen. Bis der Knüppel beinahe auf dem Kopf von Peter O'Connors landete! Da erst bemerkten die beiden, daß sie gesiegt hatten. Eine Sekunde lang schauten sie sich verdutzt an. Dann ließ Don den Knüppel fallen. Sie fielen sich in die Arme und lach ten miteinander. Dann kehrten sie zu den Frauen zurück. Aber sie konnten sich nicht lange über den Sieg freuen. Man gönnte ihnen nicht einmal eine winzige Atempause, die sie wirklich dringend benötigt hätten. Denn die beiden Frauen waren nicht mehr allein. Don kannte die Hexe bereits, ebenso wie der Ire. Sie war zu rückgekehrt und stieß gerade mit ihrem spitzen Stock nach dem Gesicht von Ellen Carson. Ellen wich nicht einmal aus, denn die Hexe hatte sie mit ih rem Blick gebannt. Ellen war wie gelähmt. Don trat nach der Hexe und traf sie an der Hüfte. Der Stich wurde damit abgelenkt und verfehlte das schöne Gesicht von Ellen Carson. Don warf einen Blick auf Lady Ann. Er wollte wissen, war um sie Ellen nicht verteidigt hatte - mit ihren Weißen Hexen kräften. Lady Ann konnte gar nicht, denn auf ihrem Kopf hockte ein schwarzer Schatten! Ein Geist! O'Connors hatte einen Knüppel mitgebracht und schmetterte
ihn auf den Schädel der Hexe, daß es laut krachte. Aber damit konnte er der Hexe nichts anhaben. Sie fauchte wütend und wandte sich katzengleich dem Iren zu. Der schlug abermals zu. Mit dem Ergebnis, daß die Hexe ein paar Schritte davonsegelte und den Boden unter den Füßen verlor. Aber sie war nicht einmal verletzt. Sie sprang sofort wieder auf und griff an. Sie wollte mit dem spitzen Stock zustechen. Der Ire lenkte den Stich mit dem Knüppel ab. Die Hexe gab nicht auf, während Ellen Carson dastand und sich nicht rührte. Ihr Blick war starr nach vorn gerichtet, als wäre sie gar nicht mehr am Leben. Niemand konnte ihr helfen. Der Ire war mit der alten Hexe beschäftigt und Don mit dem Geist, der auf dem Kopf von Lady Ann hockte. Lady Anns Gesicht war angespannt. Sie kämpfte mit ihren magischen Mitteln gegen den Schwarzen Geist. Sie wollte ihn bezwingen, aber die Ereignisse der letzten Stunden hatten sie so sehr geschwächt, daß sie dazu nicht mehr in der Lage war. Eine Pattsituation war entstanden, ein Unentschieden. Der Kampf lief unsichtbar ab, aber es war für Lady Ann ein Kampf auf Leben und Tod. Don griff mit beiden Händen in den schwarzen Schatten hin ein und zitierte den Bannspruch der Goriten. Das war ausschlaggebend! Damit konnte Don dem Geist zwar nichts anhaben, aber er konnte die Situation insoweit verändern, daß Lady Ann für einen winzigen Augenblick die Oberhand gewann. Ein irres Kreischen entstand in der scheinbar leeren Luft. Ein greller Lichtblitz, mit dem sich der schwarze Schatten auflöste. Es blieb nichts übrig. Lady Ann blinzelte verwirrt. Da sah sie die Schwarze Hexe, die O'Connors attackierte. Der Arme hatte nicht die geringste Chance gegen sie. Er
keuchte wie ein Walroß und war anscheinend schon am Ende seiner Kräfte, aber die Schwarze Hexe kannte keine Müdigkeit. Sie lachte ihn aus und spielte mit ihm Katz und Maus. Don hielt sich zurück. Dies hier war der Part von Lady Ann. Wenn jemand gegen die Schwarze Hexe eine Chance hatte, dann nur sie. Lady Ann stellte sich zwischen den Iren und die Schwarze Hexe. O'Connors blieb schwer atmend stehen. Der Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht. Seine Arme hingen schlaff herab. Er wankte wie ein Schilfhalm im Wind. Er war tatsächlich am Ende seiner Kräfte - dieser bullige Mann, der es spielend mit fünf normalen Gegnern aufnehmen konnte. Gegen eine Hexe war selbst er zu schwach. Die Schwarze Hexe ließ sich von Lady Ann nicht beirren. Sofort stieß sie wieder mit dem Stock zu. Sie zielte in das Gesicht von Lady Ann und - traf sogar! Don Cooper sah es deutlich. Er vergaß zu atmen. Es sah zu schrecklich aus. Lady Ann zuckte mit keiner Wimper. Der Stock ging durch sie hindurch und kam auf der anderen Seite wieder heraus. Die Schwarze Hexe stieß einen erstickten Laut aus und tau melte weiter - gegen Lady Ann. Sie verlor den Stock, der scheppernd zu Boden fiel. Kein Tropfen Blut klebte an ihm! Lady Ann war völlig un verletzt geblieben. Wie war das möglich? Die Berührung mit Lady Ann bekam der Schwarzen Hexe nicht. Sie schrie gellend und wollte sich befreien. Lady Ann tat überhaupt nichts. Wenigstens nichts, was sicht bar gewesen wäre. Sie stand einfach da. Trotzdem konnte sich die Schwarze Hexe nicht mehr von ihr lösen. Sie klebte regelrecht fest.
Das runzlige Gesicht wirkte jetzt mehr denn je wie eine Frat zenmaske. Jetzt begann diese Maske zu schmelzen! Sie verformte sich, als wäre sie aus Wachs und wäre großer Hitze ausgesetzt. Dicke Tropfen bildeten sich und flössen träge hinunter. Der ganze Körper der Schwarzen Hexe begann zu schmelzen. Ein letzter, glucksender Laut drang aus der dampfenden Masse. Mehr und mehr schmolz diese Masse zusammen, bis am Boden nur noch eine zischende und brodelnde Pfütze war, die all mählich verdampfte. Auch der spitze Stock war nicht mehr da. Jetzt perlten die Schweißtropfen auch auf der Stirn von Lady Ann. Als sie sich nach den beiden Männern umsah, hatte sie tiefe Ringe unter den Augen. Sie hatte gesiegt, genauso wie die Männer. Ellen Carson blinzelte überrascht. Sie schaute sich um, als könnte sie im Moment überhaupt nicht begreifen, wo sie sich befand. Sie wirkte irgendwie hilf und schutzlos. Jedenfalls empfand Don Cooper es so. Deshalb ging er zu ihr und nahm sie wortlos in die Arme. Sie wehrte sich nicht, sondern klammerte sich an ihm fest. Ellen Carson zitterte an Armen und Beinen. »Was - was ist eigentlich passiert?« fragte sie erstickt. Don drückte sie beruhigend. Er roch den Duft ihres Haares. Das berauschte ihn. Beinahe vergaß er die Situation, in der sie sich alle befanden. »Es ist vorbei - vorläufig jedenfalls.« Sie riß sich spontan los. »Vorläufig?« Don gab keine Antwort. Er schaute sie nur ruhig an. Da erinnerte sie sich endlich wieder an alles. Auch an die Schwarze Hexe, die sie attackiert hatte. Ellen Carson flog wieder in die Arme von Don. Es war nicht
mehr klar, ob sie das tat, um Zuflucht zu finden oder weil . Weiter wagte Don Cooper gar nicht zu hoffen. Doch als er ihr unter das Kinn.faßte und ihr Gesicht hob, bis sich ihre Blicke kreuzten, wußte er genau, daß ihn die Hoff nung nicht betrog. Er las es deutlich in ihren Augen. Er küßte sie. Ein kurzer, leidenschaftlicher Kuß, der von ihr mit derselben Leidenschaft beantwortet wurde. Sie lächelten sich an und trennten sich wieder voneinander nur körperlich, denn in Gedanken blieben sie beisammen. Auch Lady Ann und Peter O'Connors lächelten. Sie fanden beide, daß Don Cooper und Ellen Carson ein wunderschönes Pärchen waren. Um sie herum war so viel Schrecken, daß es eine Wohltat war, auch einmal etwas Schönes sehen zu dürfen. Auch wenn die Freude nur von ganz kurzer Dauer sein konnte .
Wenn May das Bewußtsein verlor, war das anders als bei ei nem normalen Menschen, denn May Harris war eine ausge reifte Weiße Hexe. Während der tiefsten Bewußtlosigkeit, dem Tod nicht unähnlich, blieb ein winziger Teil ihrer Selbst wach. Dieser winzige Teil war nicht in der Lage zu handeln. Er war so winzig, daß er sich gar nicht einmal bewußt war. Scheinbar schlummerte dieser winzige Teil ebenfalls, hilflos, ohnmächtig. Aber diesem Teil entging nichts, auch nicht das geringste. Dieser Teil registrierte alles, was in unmittelbarem Zusam menhang mit May geschah. Völlig reaktionslos und darum auch vom mächtigsten Dämon überhaupt nicht festzustellen. Eigentlich geschah also gar nichts, wenn May ohne Bewußt sein war. Genausowenig wie bei einem normalen Menschen. So lange dieser Zustand anhielt! Aber wenn May Harris erwachte - wußte sie im gleichen Augenblick haargenau, was während der ganzen Zeit mit ihr
passiert war. Dank dieses winzigen, wachsamen Teils ihrer Selbst! Und so war es auch jetzt! May Harris war noch nicht völlig ins Reich der Lebenden zurückgekehrt, da war ihr zweierlei klar: Ihr Lebensgefährte Mark Tate war zum Tode verurteilt, weil er unrettbar unter gewaltigen Massen begraben lag. Dabei war er noch so schwer verletzt, daß ihn selbst die sofortige Rettung nicht vor dem Tode bewahrt hätte. Zweitens: Auf Oroia war im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle los. Zwar konnte May ungefähr die Zeit schätzen, seit sie ge meinsam mit Frank in Bewußtlosigkeit war, aber sie hatte den Eindruck, als hätte Zeit in dieser Sphäre keine rechte Bedeu tung mehr. Oder war es, weil so viel geschehen war, daß sie glaubte, schon eine Ewigkeit würde der gegenwärtige Zustand andau ern? »Mark!« flüsterte sie schwach. Sie fühlte sich in einem elenden Zustand, mehr tot als leben dig. Insofern ging es ihr kaum besser als ihrem Le bensgefährten. Aber ihre Chancen waren größer, denn schon spürte sie, daß sie sich zu erholen begann. Es ging sogar sehr schnell. May nutzte die Zeit, in der sie noch zur Bewegungsunfähig keit verdammt blieb, um über das Problem nachzudenken. Sie wußte vom Gespräch zwischen Mark Tate und dem Dä mon, daß offenbar der Steingarten des Unbegreiflichen auf Oroia bannte und zwar unentrinnbar. Und Mark Tate schien die Möglichkeit zu haben, etwas dagegen zu tun. Es war ein Pakt angesprochen worden. Wollte der Unbegreif liche Mark Tate gegen seinen Rivalen VULCANOS helfen für den Preis, daß Mark Tate den Unbegreiflichen aus der Sphäre auf Oroia entließ?
Für May war das eigentlich unerheblich, denn etwas ganz anderes erschien ihr viel wichtiger: Wenn das Böse des Unbe greiflichen solchen Schaden in OroiaStadt anrichten konnte, dann mußte der Gegenpol des Guten, der den Unbegreiflichen hier festhielt, entsprechend stark sein. Kein Wunder, daß der Unbegreifliche nicht auf Mark Tates Angebot eingegangen war! Pol des Guten schien nach wie vor der Steingarten im Zen trum der Insel zu sein. Aber müßte dieser zentrale Pol nicht mächtiger sein als der Pol des Bösen in OroiaStadt? Die Ereignisse im Hotel wurden von May genauso interpre tiert wie von Lady Ann: Das Hotel drohte mehr und mehr zum Zentrum des Bösen zu werden, denn von hier hatte es zu wir ken begonnen. Genauer: Von ihrem Hotelzimmer aus. Am Ende dieser Überlegungen angelangt, kontrollierte May zunächst ihre Körperfunktionen. Es war erstaunlich. Sie fühlte sich irgendwie frisch, als hätte sie sich einmal gründlich ausgeruht. Wenn sie noch Geduld bewahrte und noch eine kleine Weile wartete, wurde es immer besser, bis sie sich völlig unbeeinträchtigt fühlte. Als wäre nichts geschehen! Es war ein Phänomen für sich, das ebenfalls noch auf Klä rung harrte. May Harris schrieb es der relativen Nähe des Steingarten zu. Denn sie war diesem wesentlich näher als der Stadt, auf das sich das Böse in erster Linie konzentrierte. May Harris wartete jetzt nicht mehr länger, sondern richtete sich auf. Der Unbegreifliche hatte sie achtlos liegenlassen, nachdem der Erpressungsversuch schiefgegangen war. Für den Unbe greiflichen war May Harris bedeutungslos geworden. Aber er hatte sich verschätzt. In seinem blinden Zorn hatte er es gar nicht für möglich gehalten, daß May sich hier erholen konnte, was in der Stadt unmöglich gewesen wäre.
Somit hatte der Unbegreifliche May einen großen Gefallen getan, als er sie hierhergebracht hatte. Mays Herz schlug unwillkürlich ein paar Takte schneller. Jetzt durfte sie keinen Fehler machen. Vielleicht war der Fehler des Unbegreiflichen ihre einmalige Chance, doch noch alles zum Guten zu wenden? Aber wie? Zunächst ging Mark Tate vor. Das war klar. Sie konzentrierte sich kurz. Ihre Gedanken riefen nach Mark Tate. May Harris war eine begabte Telepathin. Sie konnte über weite Strecken hinweg die Gedanken anderer Menschen belau schen. Bei Mark Tate klappte das nur, wenn er nichts dagegen hatte, denn er hatte die Gabe, sich vollkommen abzuschirmen. Als wäre sein Kopf leer und ohne Gedanken. Deshalb konnte May normalerweise nur mit ihm sich telepa thisch »unterhalten«, wenn sie Sichtkontakt hatten. Jetzt bot sie alle Kraft auf, um es auch so zu ermöglichen. Sie mußte mit ihren Gedanken durch die Felsmasse zwischen ihr und Mark Tate dringen. Sie mußte nach ihm suchen, mußte ihn finden, ihn auf sich aufmerksam machen. May mußte Mark Tate fragen, wie sie vorgehen mußte, um diese einmalige Chance nicht leichtfertig zu vertun. Denn wenn sie den geringsten Fehler mache, konnte es sein, daß der Unbegreifliche auf sie aufmerksam wurde. Der beherrschte längst die Insel, obwohl er selber ihr Gefan gener war. Nur ein einziger Bereich blieb bei seiner Herrschaft ausgespart: Der Steingarten. Mark Tate antwortete nicht. Die Gedanken von May Harris forschten vergebens. Keinerlei Lebenszeichen. Als wäre Mark Tate nicht mehr am Leben. »Mark!« rief May laut, als würde das was nützen. Und wenn
sie sich die Kehle wund schrie: Mark Tate würde sie nicht hören können. Dafür war zuviel Felsmasse dazwischen. Außerdem befand er sich in tiefer Trance, sonst hätte er längst nicht mehr gelebt. Er verzögerte das Ende, obwohl es fraglich blieb, ob das et was nutzte. May spürte, wie ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen. Sie fühlte sich so schrecklich hilflos. Dabei wollte sie doch alles tun, um ihren Lebensgefährten zu retten. Nur zehn Meter zwischen ihnen, aber diese zehn Meter blie ben unüberwindlich. May konzentrierte sich erneut, ballt die Hände zu Fäusten, dachte an Mark Tate, sah ihn so deutlich und plastisch vor sich, als wäre er wirklich da. Sie rief nach ihm, ja, sie schrie seinen Namen. Es blieb vergeblich. Deshalb entspannte sie sich wieder. May Harris öffnete die Augen und schaute über die kargen Felsformationen. Wie auf dem Mond sah es hier aus. Und in dieser Richtung lag der Steingarten. Sie wußte es, weil sie schon einmal im Geiste dort gewesen war. Hier hatte sie nichts mehr verloren. Sie mußte sich die Stelle nur unbedingt merken. May Harris schritt davon. Marionettenhaft tat sie das, wie jemand, der in einem ihm fremden Körper steckte. Weil sie es eigentlich gar nicht tun wollte. Es kam ihr vor wie Verrat an ihrem Lebensgefährten Mark Tate. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als diesen Weg zu be schreiten, ehe der Unbegreifliche wieder auftauchte und ihr Vorhaben vereitelte. Sie ging zum Steingarten - in der vagen Hoffnung, dort eine Möglichkeit zu finden, Mark Tate zu retten .
Peter O'Connors deutete mit ausgestrecktem Arm zum Hori zont. »Seht!« rief er aus. Die Sonne ging auf! Erst war sie nur ein schmaler Streifen blutroter Schein über dem Meer. Von hier aus konnte man zwar das Meer selber nicht sehen, weil zu viele Häuser dazwischen standen, aber man konnte den Sonnenaufgang bewundern. Es war der herrlichste Sonnenaufgang, den sie jemals erlebt hatten, denn es war ein Sonnenaufgang, der eine ungeheure Wirkung hatte. In den Lüften war ein Rauschen und Kreischen. Schatten schwirrten umher. Sie verdunkelten den Himmel. Sie flatterten zum Horizont, um das Morgenrot zu verfinstern. Teilweise gelang das sogar. Jemand schrie gellend. Aus einem der Häuser stürzte eine junge Frau, die Hände gegen den Kopf gepreßt, als müßte sie befürchten, er würde zerspringen. Sie rannte quer über die Straße, stoppte, fiel auf die Knie und rang schreiend die Hände. Total durchgedreht! Sie war nicht die einzige. In die Männer und Frauen kam Bewegung, die in der Nacht gegen Don Cooper und den Iren gekämpft hatten. Sie rührten sich stöhnend. Eine der Frauen raufte sich immerfort die Haare und verdrehte die Augen, daß man nur noch das Weiße sehen konnte. Ein Mann brüllte wie ein Wahnsinniger. Das war er ja auch: wahnsinnig! Aber etwas begann ihn zu verändern. Lag es am Morgenrot? Verlor der Unbegreifliche beim Tagesbeginn an Macht? Don Cooper spürte, daß sein Herz bis zum Hals schlug. Er wollte es nicht fassen. Würde tagsüber ein einigermaßen normaler Zustand einkeh ren? Es wäre zu phantastisch gewesen. Deshalb weigerte sich sein
Verstand dagegen. Don Cooper war Realist. Er akzeptierte nur, was zweifelsfrei erkennbar war oder die logische Folge davon. Hier war die logische Konsequenz lediglich, daß der Tag eine erhebliche Erleichterung brachte. Das Böse würde sich zurück ziehen. Zum Teil wenigstens. Aber man durfte keine Wunder erwarten. Vor allem: Es würde wiederkommen: Spätestens heute abend! Er legte den Arm um Ellen. Sie drängte sich gegen ihn. Ge meinsam beobachteten sie den Himmel, wo immer noch die kreischenden Schatten umherschwirrten. Zufällig warf Don einen Blick auf das Hotel. Die Mauern schienen von innen heraus zu glühen. Die Fen ster wirkten auf einmal wie Augen, die alles genau beobachte ten, ja, die sogar direkt in die Seele zu blicken vermochten. Don Cooper spürte auf einmal das Verlangen, das Hotel zu betreten. Es schien ungeheuer wichtig für ihn zu sein, den Tag im Hotel zu verbringen und nicht hier draußen auf der Straße. Don konnte sich erfolgreich dagegen wehren. Genauso wie Ellen Carson. Auch der Ire fiel nicht darauf herein, denn er ahnte, daß dies wieder nur eine Falle des Unbegreiflichen war. Das Böse lockte die Menschen zu sich, damit sie den Tag in seiner Gewalt verbrachten. Am Abend würden die Wahnsinni gen wieder ausschwärmen, um zu rauben, zu morden, zu brandschatzen. Dann würde die vergangene Nacht erst der klägliche Anfang sein. Schlimmeres würde folgen. Schon setzten sich die ersten in Bewegung. Die Männer und Frauen der Wahnsinnsgruppe rappelten sich vom Boden auf. Der Mann hörte auf herumzubrüllen. Alle zeigten entrückte Mienen. Sie torkelten auf das Hotel zu. Dort hatte sich der Haupteingang geöffnet. Zum Vorschein kam eine goldene Gestalt. Sogar die Haut glänzte wie Gold. Sie
sah weise und väterlich aus, mit gütigen, verzeihenden Augen. Sie winkte mit beiden Armen ihre Opfer herbei. Und sie kamen in Scharen. Sie strömten bereits die Straßen entlang. Wurde der magische Ruf überall vernommen? Es sah so aus, als wäre ganz Oroia auf den Beinen - diejeni gen, die diese Nacht lebend überstanden hatten. Die Schatten am Himmel kreischten und flatterten zum Mor genrot. Jetzt gelang es ihnen kaum noch, es zu verdunkeln. Es war stärker und vertrieb sie wieder. Einige stürzten sich herab, direkt auf die Menschen. Wo sie auf die Menschen trafen, gab es stumme Kämpfe. Danach waren die Schatten verschwunden und die betroffenen Men schen schritten noch schneller aus, als könnten sie es gar nicht mehr erwarten, zum Goldenen zu gelangen. Der Goldene winkte - und alle kamen, außer Don Cooper und seine Gefährten. Und außer Lady Ann, die den Bann brach, indem sie sagte: »Wir müssen etwas unternehmen!« Ohne eine Entgegnung abzuwarten, setzte sie sich in Bewe gung. Sie schritt rascher aus, begann zu rennen. Es war nicht weit bis zum Hotel. Don, Ellen und Peter folgten ihr auf dem Fuße. Sie erreichten das Ziel vor den anderen. Die goldene Gestalt wurde auf sie aufmerksam. Sie schaute ihnen entgegen, vergaß dabei jedoch nicht, weiterzuwinken. Wie ein Guru, der seine Jünger rief. Es schien ihnen egal zu sein, was sie erwartete, denn er hatte Macht über sie. Fast hätten sie den Goldenen erreicht, als sie ein Blitz aus seinen Augen löste und Lady Ann voll traf. Lady Ann wurde mehrere Meter durch die Luft geschleudert und stürzte zu Boden. Aber dort blieb sie keinen Sekundenbruchteil liegen. Sie sprang auf, als wäre nichts geschehen.
»Don, ablenken!« zischte sie. Don Cooper überlegte nicht lange. Er schnappte sich einen Burschen, der als erster das Hotel erreichte, stemmte ihn über den Kopf und warf ihn den anderen entgegen. Der Bursche prallte gegen sie und warf sie um, die sich so wieso schlecht auf den Beinen halten konnten. Es gab eine Kettenreaktion; bis zwanzig Meter vom Hotel weg stürzten die Menschen zu Boden. Breitbeinig stellte sich Don Cooper hin. »Wer hat jetzt noch Lust?« Es war zwar nicht immer seine Methode, Gewalt anzuwen den, aber jetzt blieb ihm nichts anderes übrig. Kurz wandte er den Kopf. Der Goldene sah jetzt ihn an. Doch bevor sich ein Blitz aus seinen Augen lösen konnte, warf Lady Ann sich auf ihn. Sie streckte ihre Hände vor, die sich wie eiserne Klammern um seine Kehle legten. Mit aller Kraft drückte sie zu. Sie schaute ihm ins Gesicht. Der Goldene stöhnte laut. Man konnte es weit über die Straße hören. Und dann zerbröckelte er unter dem Griff von Lady Ann. Die Brocken zerfielen rasch zu Staub, den der Wind davonpustete. Die Prozession aus allen Teilen von Oroia geriet ins Stocken. Die Menschen schauten sich verständnislos an. Jetzt hockte das Böse nur noch im Hotel, denn auch der Himmel war wie leergefegt. Es war überstanden - diese Nacht zumindest. Und über den Horizont erhob sich ein mächtiger Feuerball: die Sonne! So freudig hatte Don sie wirklich noch nie begrüßt . - ENDE -