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»Das Dunkel des Salons ist schattig wie ein Kaisergrab: Die schwarzen Lackmöbel atmen einen schweren Duft, die Risse in der Mauer zeichnen geheimnisvolle Fresken. Das Bett unter der purpurroten, goldbestickten Seide ist ein ewiges Flammenmeer. Ich muß hinaus auf den Platz der Tausend Winde. Der Unbekannte erwartet mich schon, unsere Partie fortzusetzen.« Mandschurei 1937: In den Wirren der japanischen Invasion widersetzt sich eine junge aristokratische Chinesin dem traditionellen Weg, der ihr von der Familie vorgegeben ist, und schließt sich einer Gruppe chinesischer Rebellen an. Während sie auf ihren großen Einsatz wartet, perfektioniert das junge Mädchen ihre Fähigkeit zu Konzentration und Kalkül beim täglichen Go-Spiel. Bis sich ein als Mandarin verkleideter japanischer Leutnant – ein Spion – unter die Go-Spieler mischt und mit ihr ein leidenschaftliches, besessenes Duell aufnimmt – in das sich beide über Wochen und Monate immer tiefer verstricken. Ein Duell, das in einer Tragödie gipfelt, wie sie nur auf eine große Liebe folgen kann. Shan Sa, geboren 1972 in Peking, wo sie mit acht Jahren ihren ersten Gedichtband veröffentlicht und zum »Aufsteigenden Stern Pekings« gekürt wird. Nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz 1989 emigriert sie nach Paris, wo sie sich mit der Tochter des Malers Balthus anfreundet und in dessen Haus kalligraphiert, malt, schreibt. »Die Go-Spielerin« ist ihr dritter Roman; er wurde mit dem Prix Goncourt des Lycéens ausgezeichnet und stand monatelang auf den französischen Bestsellerlisten.
Shan Sa
Die Go-Spielerin Roman
Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke
Piper München Zürich
Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »La joyeuse de go« bei Grasset in Paris.
ISBN 3-492-04442-5 © Éditions Grasset & Fasquelle, 2001 © der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2002 Gesetzt aus der Sabon Antiqua Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany www.piper.de
Meinen Eltern Meinem Bruder und Wendy Meinen Großeltern Sie waren die Seele der neuen Mandschurei.
Die mit * bezeichneten Begriffe werden in einem Glossar am Ende des Romans erklärt.
1 Die Spieler auf dem Platz der Tausend Winde sehen aus wie Schneemänner, so sind sie vom Reif bedeckt. Weißer Dunst steigt aus den Nasen und den Mündern. An den Krempen ihrer Mützen wachsen Eisnadeln, ihre Spitzen zeigen auf die Erde. Der Himmel ist perlmuttgrau, die purpurrote Sonne fällt und fällt. Wo liegt das Grab der Sonne? Seit wann mag dies der Treffpunkt der Go-Liebhaber sein? Ich weiß es nicht. Nach den Tausenden von Partien sind die Spielbretter, die in die granitenen Tische eingeritzt sind, zu Gesichtern geworden, zu Gedanken, Gebeten. Ich umklammere einen bronzenen Handwärmer in meinem Muff und schlage mit dem Fuß auf den Boden, damit mein Blut auftaut. Mein Gegner ist ein Fremder, er kommt direkt vom Bahnhof. Als der Kampf heftiger wird, durchdringt mich eine wohlige Wärme. Das Tageslicht verblaßt, die Spielsteine sind kaum mehr zu unterscheiden. Plötzlich streicht jemand ein Zündholz an. Eine Kerze scheint in der linken Hand meines Gegners auf. Die anderen Spieler sind gegangen. Ich weiß, Mutter wird krank sein vor Angst, wenn ihre Tochter erst so spät nach Hause kommt. Die Nacht ist vom Himmel herabgesunken, und mit ihr kommt der Wind auf. Um die Flamme zu schützen, hält der Mann seine Finger im Handschuh darüber. Ich ziehe eine kleine 7
Flasche klaren Alkohol aus der Tasche, er brennt mir in der Kehle. Ich halte sie dem Unbekannten unter die Nase. Ungläubig sieht er sie an. Sein Gesicht ist von einem Bart bedeckt, sein Alter kann man nicht erkennen. Eine lange Narbe zieht sich von seiner Braue bis über das rechte Auge, das er geschlossen hält. Er verzieht das Gesicht und leert die Flasche auf einen Zug. Der Mond bleibt diese Nacht verborgen, der Wind jammert wie ein Neugeborenes. Da oben fordert ein Gott eine Göttin heraus und stößt die Sterne zur Seite. Der Mann zählt wieder und wieder die Spielsteine. Um 18 Punkte geschlagen, er seufzt und reicht mir seine Kerze. Er steht auf, faltet seine Riesenhaftigkeit auf, er sammelt sein Gepäck zusammen und geht, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich räume die Spielsteine in ihre Holzschalen. Ich höre, wie sie unter meinen Fingern aneinander reiben. Ich bin allein mit meinen Soldaten, mein Stolz ist befriedigt. Heute feiere ich meinen hundertsten Sieg.
2 Klein ist Mutter, sie reicht mir bis an die Brust. Die lange Trauer um ihren Gatten hat ihren Körper ausgetrocknet. Als ich ihr von meinem Einsatz in der Mandschurei erzähle, wird sie blaß. »Mutter, ich bitte Euch, es ist Zeit, daß Euer Sohn sein Schicksal als Soldat vollendet.« Ohne ein Wort zieht sie sich in ihr Zimmer zurück. 8
Den ganzen Abend über ist ihr gebeugter Schatten auf der Wand aus weißem Papier zu sehen. Sie betet. Heute morgen ist über Tokyo der erste Schnee gefallen. Kniend, die Hände flach auf der Tatami, verneige ich mich vor dem Altar der Vorfahren. Als ich mich wieder aufrichte, trifft mein Blick auf das Bildnis des verehrten Vaters. Der Mann lächelt mich an. Der Raum ist erfüllt von seiner Gegenwart. Wenn ich doch einen Teil von ihm bis nach China mitnehmen könnte! Im Salon erwartet mich meine Familie. Alle hocken auf den Fersen, es herrscht feierliches Schweigen. Ich grüße zuerst Mutter, wie damals, als ich noch ein Kind war und sie verließ, um zur Schule zu gehen. Ich knie nieder und sage zu ihr: Okasama, ich werde jetzt gehen. Sie neigt sich in einem tiefen Gegengruß. Ich ziehe die Schiebetür zu und trete in den Garten. Mutter, Kleiner Bruder und Kleine Schwester folgen mir wortlos. Ich drehe mich um und verneige mich bis zur Erde. Mutter weint. Der dunkle Stoff des Kimonos raschelt, als auch sie sich vorbeugt. Ich laufe los. Ihre Gefaßtheit verläßt sie, durch den Schnee stürzt sie hinter mir her. Ich bleibe stehen. Sie auch. Weil sie fürchtet, ich könnte mich in ihre Arme werfen, tritt sie einen Schritt zurück. »Die Mandschurei ist ein Bruderland«, stößt sie hervor. »Zu unserem Unglück suchen die Terroristen die Freundschaft unserer Kaiser zu zerrütten. Deine Pflicht besteht darin, einen schwierigen Frieden zu überwachen. Zwischen dem Tod und der Feigheit wähle ohne Zögern den Tod!« Beim Einschiffen erklingt der Lärm der Fanfaren. 9
Die Familien der Soldaten drängen sich auf dem Kai, um uns Bänder, Blumen, Hochrufe zuzuwerfen, die den salzigen Geschmack der Tränen haben. Das Ufer entfernt sich, und mit ihm das Gebrumm des Hafens. Der Horizont wird weit, wir versinken in der Endlosigkeit. Wir gehen in Pusan in Korea an Land. In einen Zug gedrängt rollen wir in Richtung Norden. In der Dämmerung des dritten Morgens bleibt der Konvoi stehen. Wir springen freudig hinunter, um uns die Beine zu vertreten und zu pinkeln. Ich erleichtere mich und pfeife dabei vor mich hin. Oben über meinem Kopf ziehen Vögel im Himmel ihre Kreise. Plötzlich höre ich einen erstickten Schrei. Männer fliehen in ein Gehölz. Zehn Schritt vor mir liegt Tadayuki, ein frischgebakkener Absolvent der Militärschule, flach auf dem Boden. Das Blut quillt in einem ununterbrochenen Schwall aus seiner Kehle. Seine Augen stehen noch offen. Zurück im Zug habe ich noch lange sein junges Gesicht vor Augen, wie es sich im Ausdruck des Erstaunens verzogen hat. Sterben, ist das denn genauso leicht wie Staunen? Der Zug erreicht mitten in der Nacht einen Bahnhof in der Mandschurei. Der Boden ist vom Reif bedeckt und glitzert im Scheinwerferlicht. In der Ferne heulen die Hunde.
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3 Cousin Lu hat mir das Go-Spiel beigebracht. Ich war gerade vier, er doppelt so alt. Die langen Stunden der Meditation vor dem Spielbrett waren ein Martyrium, aber der Wunsch zu siegen nagelte mich reglos auf meinem Platz fest. Zehn Jahre später galt Lu als exzellenter Spieler. In der Neuen Hauptstadt war seine Go-Hand so bekannt, daß der Kaiser der unabhängigen Mandschurei* ihn an seinem Hof empfing. Er hat mir nie dafür gedankt, daß ich ihn zum Ruhm geleitet habe. Ich bin zu seinem Schatten geworden, zu seinem Geheimnis, seinem besten Gegner. Mit seinen zwanzig Jahren ist Lu schon ein Greis. Weiße Strähnen fallen ihm in die Stirn. Er bewegt sich in kleinen Schritten, mit gefalteten Händen und gebeugtem Rücken. Die ersten Stoppeln zeigen sich auf seinem Kinn, das Bärtchen eines Hundertjährigen. Vor einer Woche habe ich einen Brief von ihm bekommen: »Ich komme um Deinetwillen, kleine Cousine. Ich habe mich entschlossen, mit Dir über unsere Zukunft zu sprechen …« Der Rest des Briefes ist ein unlesbares Geständnis. Dieser so zurückhaltende Cousin hat seinen Pinsel in abgeschmackte Tinte getaucht. Die kursiven Bildzeichen schlängeln sich zwischen den erhabenen Stellen im Papier wie weiße Kraniche, die durch den Nebel fliegen. Endlos, nicht zu entziffern ist sein Brief, auf ein längliches Reisblatt geschrieben, er versetzt mich in Rage.
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4 Es fallen Unmengen von Schnee, wir müssen unsere Übung abbrechen. Wir sind umzingelt von Frost, Kälte und Wind, unsere Tage verbringen wir beim Kartenspiel in unseren Stuben. Man sagt, daß die chinesischen Landbewohner in der nördlichen Mandschurei sich nie waschen und sich gegen die Kälte schützen, indem sie sich mit Fischfett einreiben. In der Kaserne wurde auf unsere Proteste hin eine Waschbaracke aufgestellt, vor der Soldaten und Offiziere jetzt Schlange stehen. In der Hütte herrscht wegen des Dampfs Dunkelheit, und die Wände schwitzen. Auf dem Kaminfeuer kocht der Schnee in einem riesigen Kessel. In einem gesprungenen Eimer schöpft jeder seine Ration. Ich kleide mich aus und reinige mich mit einem Badetuch, das ich in die trübe Flüssigkeit getaucht habe. Nicht weit von mir hat sich ein Kreis gebildet. Die Offiziere reiben sich gegenseitig den Rücken ab und kommentieren zugleich das Tagesgeschehen. Als ich näher trete, erkenne ich den Mann, der eben das Wort ergreift: Hauptmann Mori, einer der Veteranen, die schon für die Unabhängigkeit der Mandschurei gekämpft haben. Die Morgenzeitung berichtet, daß Marschall Zhang Xueliang in der Stadt Xi’an, wo er und seine Armee sich seit sechs Jahren im Exil befinden*, Chiang Kaishek als Geisel genommen hat. Im Gegenzug für seine Freilassung fordert er vom Generalstabschef, daß die Guomindang sich mit der Kommunistischen Partei versöhnen soll, damit beide gemeinsam die Rückeroberung der Mandschurei angehen können. 12
»Zhang Xueliang ist ein unwürdiger Sohn, und dazu ein Schürzenjäger«, witzelt Hauptmann Mori. »Als unsere Armee am Tag nach dem 18. September 1931 die Stadt Shenyang umzingelt hielt, wo er sein Hauptquartier hatte, ist dieser Weichling ohne jeden Widerstand geflohen. Und was Chiang Kai-shek betrifft, der ist ein begnadeter Lügner. Er wird sein Versprechen nicht halten. Er wird die Kommunisten umarmen, um sie nachher um so besser ersticken zu können.« »Keine chinesische Armee kann uns je herausfordern«, ruft ein Offizier, der sich von seiner Ordonnanz heftig den Rücken rubbeln läßt. »Der Bürgerkrieg hat China ruiniert. Eines Tages besetzen wir ihr ganzes Staatsgebiet, so wie wir es mit Korea gemacht haben.* Ihr werdet schon sehen, unsere Armee wird entlang der Eisenbahnlinie hinunterziehen, die Südchina an den Norden bindet. In drei Tagen werden wir Peking einnehmen, sechs Tage später ziehen wir durch die Straßen von Nangking, und acht Tage später schlafen wir in Hongkong, das uns das Tor nach Südostasien öffnen wird.« Dieses Geplauder bestätigt die Gerüchte, die auch schon in Japan in unserer Infanterie zu hören sind. Trotz der Zurückhaltung unserer Regierung wird die Eroberung Chinas von Tag zu Tag unvermeidlicher. An diesem Abend schlafe ich entspannt und glücklich über meine Sauberkeit ein. Das Rascheln von Stoffbahnen holt mich aus dem Schlaf. Ich liege in meinem Zimmer, und nebenan sitzt Vater, fest eingehüllt in seinen Yukuta aus dunkelblauer Baumwolle. Mutter schreitet auf und ab. Der Saum ihres grau-violetten Kimonos öffnet und schließt 13
sich über einem blaßrosa Unterkimono. Ihr Gesicht ist das einer jungen Frau. Rund um ihre mandelförmigen Augen gibt es keine einzige Falte. Sie verströmt einen Geruch nach Frühling. Das Parfüm, das Vater aus Paris hat kommen lassen! Plötzlich erinnere ich mich, daß sie seit Vaters Tod dieses Parfumfläschchen nie mehr angerührt hat. Mein Traum verflüchtigt sich, es bleiben nur Schmerz und Heimweh.
5 Cousin Lu macht einen Buckel. Er nimmt die Haltung eines blasierten Mannes ein. Der Blick in seinem ausgemergelten Gesicht verfolgt mich aus einer beängstigenden Tiefe. Als ich ihm in die Augen sehe und ihn frage: »Was ist los mit dir, Cousin Lu?«, schweigt er. Ich fordere ihn zu einer Partie Go auf. Er wird blaß und rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Seine Spielsteine verraten, wie sehr er dem Wechsel seiner Stimmungen ausgesetzt ist. Auf dem Spielbrett ist das Gebiet, das er besetzt, entweder zu klein oder zu groß angelegt. Sein Genie reduziert sich auf ein paar seltsame und kaum erfolgreiche Figuren. Ich ahne, daß er wieder einmal alte Go-Abhandlungen gelesen hat, die ihm sein Nachbar, der Antiquar, liefert, ein Fälscher allerersten Ranges. Wenn mein Cousin weiter in diesen Handschriften liest, denen man göttlichen Ur14
sprung zuspricht, mit allen diesen taoistischen Mysterien und tragischen Anekdoten, dann frage ich mich sogar, ob er nicht enden wird wie jene berühmten Spieler, die eines Tages dem Wahnsinn verfielen. »Mein Cousin«, sage ich zu ihm, als er, statt über seinen Steinen zu brüten, beim Anblick meines Zopfes ins Träumen gerät, »du bist seltsam geworden. Warum?« Schlagartig errötet Lu, als hätte ich sein Geheimnis durchschaut. Er hüstelt und wirkt plötzlich wie ein Tattergreis. Ich bin mit meiner Geduld am Ende und mache mich über ihn lustig: »Was hast du nur in deinen Büchern entdeckt, mein Cousin? Etwa die Unsterblichkeit? Du gleichst mehr und mehr den mekkernden Alchimisten, die das Geheimnis des Zinnoberrots hüten.« Er hört mir nicht zu. Sein Blick weicht meinem aus und wandert zu seinem letzten Brief, den ich offen auf dem Tisch habe liegen lassen. Der Junge hat seit seiner Ankunft meine Antwort auf seine unleserlichen Fragen erwartet. Ich hatte beschlossen, kein einziges Wort darüber zu verlieren. Er fährt zurück in die Hauptstadt, mit verzerrtem Gesicht und ganz niedergeschlagen. Als ich seinen Zug in einem Wirbel von Schnee verschwinden sehe, empfinde ich eine seltsame Erleichterung.
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6 Endlich, mein erster Einsatz! Unsere Einheit hat den Befehl erhalten, eine Gruppe von Terroristen zu verfolgen, die unsere Hoheit über den Boden der Mandschurei in Frage stellen. Sie haben sich als japanische Soldaten verkleidet und eine Reservestation überfallen, um sich Waffen und Munition zu beschaffen. Vier Tage lang folgen wir dem Lauf eines Flüßchens, das im Eis erstarrt ist. Der Wind bläst unserer Kolonne entgegen. Der frisch gefallene Schnee umschnürt mir die Knie. Trotz meines neuen Mantels durchdringt mich die Kälte schärfer als ein Säbel. Ich spüre weder Füße noch Hände mehr. Das Marschieren macht mich ganz leer, vertreibt jeden Gedanken. Ich schleppe wie ein Ochse, den Kopf tief in den Kragen meiner Uniform gezogen, und ich käue die Hoffnung wieder, mich an einem Lagerfeuer aufwärmen zu können. Am Fuße eines Hügels fallen plötzlich Schüsse. Vor mir stürzen mehrere Soldaten wie vom Blitz geschlagen nieder. Ich werfe mich zu Boden. Wir sind in einen Hinterhalt geraten! Der Feind sitzt auf den Höhen und feuert auf uns, ohne daß wir zurückschießen könnten. In einem heftigen Schmerz zieht sich mein Bauch zusammen. Ich bin verletzt! – ich sterbe. Mit einer Hand taste ich nach. Keine Verletzung: nichts als ein Krampf, den die Angst hervorgerufen hat. Diese Erkenntnis läßt mich vor Scham vergehen. Ich hebe den Kopf und wische mir den Schnee aus den Augenwinkeln: Unsere erfahreneren Soldaten haben sich auf den gefrorenen Fluß geworfen. Aus dem Schutz der Ufer16
böschung geben sie Gegenfeuer. In einem Sprung komme ich hoch und laufe los. Tausend Male hätte ich getroffen werden können, aber im Krieg hängen Leben und Tod von einem undurchschaubaren Glücksspiel ab. Unsere Maschinengewehre eröffnen das Feuer. In der Deckung dieser mächtigen Schüsse gehen wir in die Attacke. Um meine Feigheit von eben wiedergutzumachen, werfe ich mich mit gezücktem Säbel an die Spitze der Truppe. Nach meiner Erziehung in einer Welt der Ehre, wo ich weder Verbrechen noch Armut oder Verrat zu sehen bekam, schmecke ich jetzt zum erstenmal, was Haß ist: ein erhabenes Gefühl, Durst nach Gerechtigkeit und nach Vergeltung. Der Himmel hängt voller Schnee, er droht in sich zusammenzustürzen. Riesige Felsen bieten den Banditen Schutz, aber der Rauch, der von den Waffen aufsteigt, verrät, wo sie stehen. Ich werfe zwei Handgranaten. Sie explodieren. Beine, Arme, Fetzen von Fleisch wirbeln in einem Gestiebe von Schnee und Flammen. Dieses höllische Spektakel macht mir Freude. Ich stoße ein Geheul aus. In einem Sprung säbele ich einen Überlebenden nieder, der auf mich zielte. Sein Kopf rollt durch den Schnee. Endlich kann ich meinen Ahnen gerade in die Augen sehen. Indem sie mir ihre Klinge vermachten, haben sie mir auch ihren Kampfesmut mitgegeben. Ich habe ihren Namen nicht befleckt. Die Schlacht bringt uns in einen unwirklichen Zustand. Der Anblick des Blutes stachelt uns auf, wir peitschen Gefangene, um sie zum Geständnis zu brin17
gen. Aber die Chinesen sind härter als der Felsen, sie geben kein Stück nach. Dieses Spielchen ermüdet uns, wir schießen sie nieder. Zwei Kugeln in den Kopf. Die Dämmerung bricht herein. Wir fürchten einen neuen Hinterhalt, beschließen, hier vor Ort zu kampieren. Unsere Verwundeten wimmern. Stöhnen dringt aus allen Richtungen, dann verebbt es. Die Kälte überreift ihre Lippen, sie werden nicht überleben. Wir tragen die Leichen unserer Soldaten zusammen. Die Erde ist so hart, daß wir nicht einmal einen Graben herausschlagen können. Morgen werden die ausgehungerten Tiere das Feld säubern. Wir decken uns mit allem zu, was wir irgend finden können: die Kleider der Toten, herumliegende Decken, Äste von den Bäumen, Schnee. Wir drängen uns aneinander wie die Schafe und bleiben wachsam. Ich schlafe ein, nachdem ich ausführlich die melancholische Lust des Siegers ausgekostet habe. Dumpfes Knacken reißt mich jäh aus dem Schlaf. Die Wölfe haben nicht erst gewartet, bis wir uns verzogen haben, sie haben sich schon über die Leichen hergemacht.
7 Zum Neujahrsfest kommt Cousin Lu wieder. Auf dem Jahrmarkt am Tempel des Weißen Pferdes verlieren wir uns in der Menge, unsere Freunde sind verschwunden, wir sind plötzlich allein. Er fleht mich an, nicht so schnell zu gehen, und greift nach meiner 18
Hand. Ich ziehe sie angewidert zurück. Ich habe es eilig, die anderen einzuholen, beginne zu laufen. Er folgt mir wie ein Schatten und mahnt mich, stehenzubleiben. Da bricht mein Zorn aus. Ich bestimme, daß wir auf der Stelle nach Hause gehen. Er tut so, als würde er nicht hören. Vor einem Pavillon, unter dem schrägen Dach, von dem lange Eiszapfen herabhängen, verstellt er mir den Weg. Seine Augen glänzen, seine Wangen sind in der Kälte zwei Stücke purpurfarbenen Stoffes geworden, die jemand ausgeschnitten und auf sein bleiches Gesicht geklebt hat. Zwischen seinen Brauen und seiner Fuchsschwanzmütze glitzert eine dicke Reifschicht. Sein schmerzvoller Gesichtsausdruck stößt mich ab. Ich laufe davon. Er wirft sich hinter mir her und schlägt mir vor, die Laternen bewundern zu gehen, die man ins Eis gehauen hat. Ich lege noch einen Schritt zu. Lu läuft mit langen Beinen hinter mir und fleht mich an, ihm zuzuhören. Seine Stimme zittert, und bald ist sie von Schluchzen unterbrochen. Ich halte mir die Ohren zu. Aber auch wenn sie jetzt schwächer zu hören ist, verfolgt mich seine Stimme. »Was denkst du über meinen Brief?« schreit er. Zornentbrannt bleibe ich stehen. Er ist so eingeschüchtert, daß er nicht näher zu treten wagt. »Hast du ihn denn gelesen?« bohrt er nach. Ich lache böse auf. »Ich habe ihn zerrissen.« Ich drehe ihm den Rücken zu. Er wirft sich auf 19
mich und erstickt mich in seinen Armen: »Hör mich an!« Ich schiebe ihn weg. »Cousin Lu, laß uns eine Partie Go spielen. Wenn du gewinnst, nehme ich deine Vorschläge an. Wenn du verlierst, sehen wir uns nie wieder.«
8 Die Terroristen gehen uns dauernd durch die Lappen, und wir haben das Neujahrsfest in Gesellschaft der Wölfe und Füchse verbracht. Der Schnee von heute überdeckt den von gestern. Wir jagen den Feind, bis er Proviant und Munition aufgebraucht hat. Wie soll man die Strenge des Winters in Nordchina beschreiben? Hier heult der Wind, und die Bäume brechen unter der Last des Eises zusammen. Die Tannen gleichen den Grabsteinen, mit schwarzer und weißer Farbe bestrichen. Manchmal sieht man flüchtig einen Hirsch oder ein geflecktes Reh. Erstaunt starren sie uns an, dann ziehen sie ab. Wir marschieren. Nach einer Stunde ist die Anstrengung so groß, daß wir vor Hitze ersticken. Wir nehmen uns kaum die Zeit, zu Atem zu kommen, denn schon dringt die Kälte in unsere Mäntel und bringt unsere Glieder zum Erstarren. Der Feind mit seiner List und seiner Kenntnis des Geländes greift uns unvermutet an und zieht sich 20
gleich zurück. Trotz unserer Verluste halten wir in diesem Härtetest weiter durch. Wer von uns der Erschöpfung widersteht, wird aus dieser Jagd als Sieger hervorgehen.
9 Das Spiel beginnt im Morgengrauen, in einer Ecke des Salons, noch vor dem Aufgang der Sonne. Lu hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Mit blutunterlaufenen Augen und wirrem Haar trinkt er eine Tasse Tee nach der anderen, um wach zu bleiben, und stößt tiefe Seufzer aus. Nachdem sie zwei Tage Glückwunschbesuche in der Stadt gemacht haben, empfangen meine Eltern heute selbst, sie tragen dafür die traditionelle Tracht. Wir haben uns in meinem Zimmer eingesperrt, aber wir können dem Tumult der Begrüßungen nicht entkommen. Ständig kommt man uns holen. Bei den einen muß man niederknien und ein gutes Jahr, Glück und Wohlstand wünschen. Bei den anderen genügt schon eine kurze Verbeugung. Die Erwachsenen sind immer gierig auf Komplimente. Wenn sie sich geschmeichelt fühlen, stecken sie uns Geld in roten Umschlägen zu und sagen in den immer gleichen Worten: »Kinder, kauft euch ein paar Bonbons.« Zurück am Spielbrett wirft Lu seine Umschläge verächtlich auf einen Tisch. Um ihn zu ärgern, öffne ich meine sorgfältig, zähle die Scheine und gebe Kommentare dazu ab. 21
»Hör auf«, knurrt er. »Du bist kein Kind mehr.« Ich antworte ihm mit einer Grimasse. »Du bist bald sechzehn Jahre alt«, murmelt er verzweifelt. »Das ist das Alter, in dem die Frauen heiraten und Kinder bekommen.« »Ja und, willst du mich etwa heiraten?« Ich lache laut auf. Lus Blick verdüstert sich. Um zwölf Uhr lassen Pauken, Trompeten und Knaller die Erde erzittern. Durch die Fenster kann ich jenseits der Mauer Tänzer und Tänzerinnen in roten Kleidern sehen, die auf ihren hohen Stelzen im Himmel zwischen den Bäumen umherlaufen. Lu hält sich die Ohren zu. Statt mich abzulenken, schärft diese volkstümliche Musik noch meine Konzentration. Das winterliche Licht färbt sich an der Fröhlichkeit der Straße und spielt auf dem Go-Brett. Die Feiern schotten mich vom Rest der Welt ab. Meine Einsamkeit ist wie eine Rolle karmesinroter Seide, die auf dem Boden einer Truhe versperrt liegt. Nach dem Essen verliert sich mein Cousin in formlosen Meditationen. Er wischt sich ein paar vereinzelte Tränen aus den Augenwinkeln. Ich kann nicht so tun, als wäre nichts, und schweige. Eine Stille wie ein Teller kalter, fader Nudeln breitet sich über das Spielbrett. Verstört stützt mein Cousin den Kopf in die Hand und hört nicht auf zu seufzen. Gegen neunzehn Uhr begeht er einen Fehler. Ohne noch das Ende des Spiels abzuwarten, weise ich ihn im Lauf des Abends darauf hin, daß er schon verloren hat, daß wir unsere Wette einlösen müssen. Er stößt seinen Stuhl zurück und steht auf. 22
Am nächsten Morgen berichtet man mir, daß er gegangen ist. Sein Zug fährt um neun Uhr. Ich schaffe es noch, ihn einzuholen. Am Bahnhof erwartet er, daß ich ihm meine Reue ausdrücke. Soll er doch weiter hoffen. Ich werde ihn nicht anflehen. Das würde ihn in seiner Dummheit nur unterstützen. Er hat mich beleidigt, jetzt muß er sich der Strafe unterziehen. Später einmal werde ich ihm schreiben, werde ich ihn zu mir zurückrufen, wenn seine unreinen Begierden erst der Demut des Verlierers gewichen sind.
10 Unsere Einheit umstellt ein Dorf, das im Schnee versinkt. Die Frauen, Kinder, Männer haben von unserer Ankunft erfahren, sie sind geflohen. Übrig bleiben allein ein paar Greise, sie kauern in den Hütten, die unter dem dürftigen Schmuck zum Neujahrsfest noch armseliger wirken. Wir versammeln sie in der Mitte des Dorfes. Fast unbekleidet verbergen sie ihre spindeldürren Körper in geflickten Decken und ihren dümmlichen Blick unter ihren Mützen. Sie zittern, jammern, versuchen unser Mitleid zu erwecken. Ich versuche vergebens, auf Mandarin mit ihnen zu sprechen, sie verstehen nichts und antworten mir in einem unverständlichen Dialekt. Sie bringen mich zur Verzweiflung, ich bedrohe sie mit meiner Pistole. Plötzlich werfen sich drei von ihnen mir zu Füßen, klammern sich an meine Beine und be23
teuern in einem perfekten Mandarin ihre Unschuld. Angewidert versuche ich mich mit Schlägen meines Kolbens aus ihrer Umarmung zu befreien. Aber sie umschlingen mich noch heftiger und schlagen mit ihren Köpfen gegen meinen Unterleib. Meine Verlegenheit löst bei den Soldaten Heiterkeit aus. Ich wende mich an einen von ihnen: »Blödmann, komm mir helfen.« Sein Lachen verzieht sich zu einer Grimasse. Mit einer raschen Bewegung nimmt er sein Gewehr von der Schulter und stößt einem der Greise das Bajonett ins Bein. Heulend vor Schmerz wälzt sich der Verletzte auf der Erde. Seine beiden Gefährten fallen entsetzt rückwärts um. Als ich mich von meinem ersten Schreck erholt habe, brülle ich den Soldaten an: »Du Idiot, du hättest mich verletzen können!« Wieder durchläuft unbändiges Lachen die Zuschauer. Die Grausamkeit unserer Militärs schöpft ihre Quelle aus der Härte unserer Erziehung. Ohrfeigen, Faustschläge, Beschimpfungen sind alltägliche Einschüchterung für die Kinder. Bei der Armee erreichen die Offiziere Untergebenheit und Demut, indem sie die Kameraden niederen Ranges und die einfachen Soldaten bis aufs Blut schlagen oder ihre Wangen mit einem Bambusstab aufschlitzen, der zu diesem Zweck eigens geschärft wird. Unschuldige zu quälen, finde ich abstoßend. Ich habe Mitleid mit diesen chinesischen Bauern, die in Unkenntnis, Armut und Schmutz leben. Sie sind so friedliebend, daß sie einem Mandschu-Kaiser genauso 24
gehorchen wie einem chinesischen Kriegsherren oder dem japanischen Kaiser, wenn nur ihr Magen jeden Tag voll wird. Ich befehle meinen Soldaten, den Verletzten zu verbinden und die Greise nach Hause zu bringen. Wir durchsuchen ihre Häuser und beschlagnahmen ihre Vorräte bis auf das letzte Mehlkorn. Ich verspreche, alles zu ersetzen, wenn sie uns das Versteck der Terroristen zeigen. Am nächsten Morgen kommt uns vor Tagesanbruch jemand wecken. Der Hunger hat ihm die Zunge gelöst. Wir warten nicht, bis es hell wird, um uns hinaus in den Schneesturm zu werfen.
11 Zehn Tage später bekomme ich einen Brief von Lu. Er sagt mir, daß er einen Paß für die inneren Gebiete* erhalten hat und daß er zu dem Zeitpunkt, an dem ich von ihm lese, bereits auf dem Weg nach Peking sein wird. Während ich seine Worte entziffere, spüre ich einen seltsamen Kummer. Ich gehe auf den Platz der Tausend Winde, wo die Go-Spieler sich unbeirrbar ihrer Leidenschaft hingeben. Als kleines Mädchen ging ich meinem Cousin überallhin nach, wo er spielte. Einmal raffte ihn ein Fieberanfall nieder, und er fiel bewußtlos über das Spielbrett 25
hin. Ich gewann das Turnier an seiner Stelle. Dieser Sieg machte mich zur einzigen Frau, die in dem geschlossenen Kreis der Passionierten zugelassen wird. Jahre sind vergangen, und bangend betrachte ich die Abenddämmerung meiner Kindheit, die hereinbricht, um nie wieder aufzugehen. Lu hat mich nicht verstanden. Er möchte, daß ich zu ihm in die Welt der Erwachsenen komme, aber er weiß nicht, daß diese Welt mit ihrer Tristesse und Eitelkeit mir angst macht.
12 Wir erhalten einen neuen Befehl. Um die Terroristen von jedem möglichen Nachschub abzuschneiden, müssen wir in allen Dörfern die Kornspeicher niederbrennen. Nach der Plünderung ist der Weiler düster wie ein Grab. Das Heulen des Windes mischt sich unter das Weinen der Bauern, die sich vor den rötlichen Flammen und dem schwarzen Qualm der Scheiterhaufen auf die Erde geworfen haben. Seit drei Monaten trennt uns der verschneite Wald völlig von der Außenwelt ab. Die Gewalt unter meinen Soldaten hört nicht auf zu wachsen, sie betrinken sich und zanken. Das Weiß, das Grau, die Spiegelungen, das unendliche Marschieren führt uns langsam in den Wahnsinn. Vorgestern hat ein Gefreiter sich ausgezogen und lief auf und davon. Er wurde bewußtlos in 26
einer Felsschlucht aufgefunden. Wir sind gezwungen, ihn zu fesseln und ihn mit einem Seil um den Hals hinter uns her zu schleppen. Unter dem gleichmäßigen Klang seiner Flüche und seines schrillen Lachens merke ich, wie mir immer wieder dieselben Gedanken kommen und wie ein Kehrreim durch meinen Kopf surren. So lange, bis uns der Wahnsinn zerfrißt, müssen wir weiter marschieren, im Schnee, zum Schnee.
13 In der Mädchenschule langweile ich mich. Das staatliche Erziehungssystem bildet uns zu lächerlichen höheren Töchtern aus, und meine Kameradinnen werden eines Tages perfekte Frauen von Welt sein. Huong, die hübscheste von allen, hat so sorgsam ausgezupfte Augenbrauen, daß sie wie zwei Mondsicheln über ihren Augen stehen. Sie kräuselt sie, legt sie in Falten, entspannt sie. Ihre aufgesetzte Fröhlichkeit, ihr affektiertes Lachen kann die Unbehaglichkeit der Pubertät nicht überspielen. Zhou, die häßlichste, hat immerhin die längsten Haare der Klasse. Dank der fehlenden Anmut ihres Gesichts kann sie sich mit Verachtung und Bitterkeit ausdrücken. Genau da liegt ihr Charme. Es heißt, ihre Mutter, die Tochter eines Feldmarschalls, die so dick ist wie ein mongolischer Kämpfer, konnte sich in der Hauptstadt dank ihrer Massigkeit durchsetzen. 27
Zwischen den Stunden reden die Mädchen über Filmstars, Kleider, Schmuck, Hochzeiten, die geheimen Verhältnisse der Kaiserin. Niemand liest die neue Literatur und deren giftige Kritik an der verkommenen Gesellschaft; niemand erwähnt die aktuelle politische Lage, die von Tag zu Tag erschütternder wird. Von Hand zu Hand gehen statt dessen Liebesromane, die billige Tränen hervorrufen. Die unabhängige Mandschurei trennt uns vom restlichen China. Es ist eine Fabrik der Sanftheit, wo die Seidenraupen ihre feinen Kokons spinnen, bevor sie in einem siedenden Bad verscheiden. Nach der Schule gehe ich auf den Platz der Tausend Winde. Das Go-Spiel treibt mich voran in ein Universum der Bewegung. Die Figuren, die sich ständig neu ergeben, lassen mich die Plattheit des Alltags vergessen. In der Schule nennen die Mädchen mich die Fremde. Sie finden, meine Leidenschaft für das Go ist eine exotische Laune. Die Spieler dagegen üben sich lieber in lobenswerter Nachsicht und tolerieren die Extravaganz eines kleinen Mädchens. Vor zwanzig Jahren, nach seiner Hochzeit, überredete Vater Großvater, ihn zum Studium nach England zu schicken. Bei seiner Rückkehr ein Jahr später forderte Vater unter dem Einfluß der Verwestlichung die Tradition heraus. Er überließ meine Schwester Perle des Mondes der Pflege seiner Mutter und zog mit seiner Gattin in den abenteuerlichen Westen. Der Skandal machte die Runde in Peking, wo die beiden Familien lebten. Großvater mütterlicherseits, ein vom Hof zurückgezogener Würdenträger, brach mit Großvater vä28
terlicherseits, der dort noch immer eine ehrbare Stellung bekleidete. Ich bin im Londoner Nebel geboren. Das Übel dieser deplazierten Geburt zeigte sich prompt in den bösen Launen meiner verstörten Seele. An diese früheste Kindheit habe ich leider nicht die geringste Erinnerung. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs versöhnten sich die beiden Greise, sie waren vereint im Haß gegen die Republikaner. Sie starben beinahe gleichzeitig. Meine Eltern kehrten heim, um die Trauer zu tragen, und folgten der Anweisung meiner Großmutter; so verließen wir Peking und zogen in diese Stadt, wo meine Vorfahren ihr Jagdhaus erbaut hatten. Großmutter, die vom Frieden träumte, starb am Tag nach dem Zwischenfall vom 18. September 1931. Fünf Tage nach ihrer Niederlage nahmen die chinesischen Soldaten Zuflucht in unserer Stadt. Sie traten unsere Tür ein, besetzten das Haus und brachten dort ihre Verletzten unter. Die Japaner belagerten uns. Das Trommelfeuer hielt drei Tage lang an. Eine Bombe ging auf unser Haus nieder und ein Großteil unserer wertvollen Möbel ging in den Freudenfeuern auf. Die chinesische Armee kapitulierte. Ihre Soldaten bekam man nie wieder zu sehen. Es geht das Gerücht um, daß dreitausend Mann vor der Stadt erschossen wurden. Nach Großmutters Tod nahm unser Leben allmählich wieder seinen Lauf. Die Japaner setzten einen neuen Bürgermeister ein. Die Barrikaden verschwanden. Die Flaggen des Feindes wehten auf den Dächern. Händler aus Nippon machten Geschäfte auf, und in den Restaurants verschwand der traditionelle Türvor29
hang aus weißer Baumwolle zugunsten von Stoffen, die mit japanischen Schriftzeichen bedruckt waren. Grüppchen von Japanerinnen mit hoch aufgestecktem Haarknoten spazierten durch die Straßen. Weil ihr Kimono so eng war, trippelten sie in kleinen Schritten, ihre hölzernen Geta klapperten auf unserem Pflaster. Wir mußten ein neues Haus bauen. Die Inflation hatte uns zu armen Leuten gemacht. Mutter entließ ihre Zimmerfrauen und behielt nur die Köchin und eine Haushälterin. An die Stelle der ruinierten Aristokratie traten die Neureichen, die eine prunkvolle Fröhlichkeit in die Stadt brachten. Hotels, Luxusgeschäfte, elegante Restaurants machten auf. Niemals hatten unsere Avenuen solchen Reichtum gekannt. Meine Eltern fanden beide ein Mittel, um der Realität zu entfliehen. Vater mühte sich damit ab, eine Anthologie englischer Dichtung zu verfassen. Mutter beschäftigte sich damit, sein Manuskript abzuschreiben, und sorgsam kalligraphierte sie seine allzu schnell hingeworfenen Worte. Mutter hat ihre Erinnerungen an die Zeit jenseits des Ozeans in einer Truhe versiegelt. Ich nutze die Zeit, wenn sie nicht da ist, und stehle den Schlüssel aus seinem Versteck in einer Vase. Fotos, Kleider, Briefe, bedruckte Stoffe mit außergewöhnlichen Mustern verbreiten einen berauschenden Duft. Nicht Moschus noch Zeder, nicht Sandelholz, nicht Blumen aus unseren Gärten, noch Bäume aus unseren Städten, dieses Parfüm läßt mich in eine andere Welt eintauchen. Das Träumen verstärkt noch meine Melancholie.
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14 Endlich! Nach einem Monat verbissener Jagd in den Bergen haben wir den Terroristen einen Hinterhalt gelegt. Wir haben sie am Rande eines Abgrunds umzingelt, sie können uns allenfalls mit Flügelschlägen entkommen. Längst haben wir den Großteil unserer Vorräte aufgebraucht. Bis der Nachschub eintrifft, haben wir die Lebensmittel untereinander aufgeteilt. Inzwischen kann jeder seine Ration Kekse an den Fingern einer Hand abzählen, dazu essen wir Schnee. Gestern mittag ist unsere Munition ausgegangen, und wir haben beschlossen, mit aufgesteckten Bajonetten auf die Chinesen zu stürmen. Heute morgen herrscht über den Bergen eine seltsame Stille. Kein einziger Windstoß. Vor diesem Schweigen allein das Schreien der Fasane. Ich verfasse mein Testament. Die Abschiedsworte beruhigen meine Nerven. Langsam ziehe ich den Säbel aus seiner Scheide. Mit meinem Taschentuch wische ich die Klinge ab. Noch nie ist mir dieser Stahl, der Anfang des 16. Jahrhunderts geschmiedet wurde, so blank vorgekommen. Seit er einst im Dienst meiner Vorfahren stand, hat er unzählige Köpfe abgetrennt. Heute ist er der Spiegel, der die bedrohliche Reinheit des Todes zurückwirft. Plötzlich der Klang des Horns. Mit einem einzigen Sprung gelange ich aus dem Graben und stürze mit Kriegsgeheul auf den Lippen in Richtung Feind. Am Gipfel des Berges bewegt sich nichts. Kein Schatten, kein Mensch. Die Terroristen sind auf und davon! Am 31
Rand des Abgrunds winkt ein Soldat uns zu. Etwa hundert Meter tiefer sieht man Leichen auf dem Weiß des Schnees. Bevor die Banditen sich den Felsen hinuntergestürzt haben, haben sie ihre Waffen, ihre Toten und ihre Verletzten hinabgeworfen. Jetzt verstehe ich, warum gestern nach einem heftigen Gefecht ihre Waffen schwiegen. Die Munition war beiden Lagern gleichzeitig ausgegangen, und keiner wußte vom Engpaß des anderen. Wir standen alle kurz vor dem Zusammenbruch. Die Japaner hatten sich entschieden, glorreich im Handeln zu sein, und die Chinesen glorreich im Tod. Die pathetische Größe ihres gemeinschaftlichen Selbstmords ist von einer traurigen Ironie befleckt. Wer sich zu früh tötet, kapituliert in Schande. Die chinesische Zivilisation mit ihrer jahrtausendealten Kultur hat unzählige Philosophen hervorgebracht, Denker, Dichter. Aber keiner unter ihnen hat begriffen, wie unverzichtbar die Energie ist, die der Tod birgt. Allein unsere Zivilisation, obwohl sie bescheidener bleibt, ist bis zum Wesentlichen vorgestoßen: Handeln ist Sterben; Sterben ist Handeln.
15 Der Brauch ist aus dem Westen zu uns gelangt: Das Neujahrsfest eröffnet die Zeit der Bälle. Meine Schwester zieht mir eines ihrer europäischen Kleider an. Nachdem sie mir auf der Seite einen Schei32
tel gezogen hat, reibt sie meine Haare mit Wachs ein. Dann öffnet sie ihren Schminkkoffer. Eine Stunde später erkenne ich mich selbst nicht wieder. Mein Gesicht ist weiß wie ein Stück Stoff, das man zu stark gebleicht hat. Meine Lider sind dunkler als die Flügel eines Nachtfalters. Das leichte Beben der falschen Wimpern läßt mich rührselig wirken. Auf dem Rathausplatz wetteifern die Girlanden mit den Sternen. Kutschen, Autos rutschen über den Schnee, dann speien sie elegante Herren aus, die mit ihren goldbeschlagenen Spazierstöcken spielen, Damen im Pelz, mit gelockten Haaren, eine Zigarette auf einem Mundstück nachlässig zwischen den Lippen haltend. Ein Tannenwald trennt das Hotel Imperial vom Rest der Welt. Ein Weg, der am frühen Abend geräumt worden ist, schlängelt sich durch die zitternden Schatten und Flammen der Fackeln. Auf den Baumwipfeln leuchtet der Schnee. Die Silhouette der Hotelpagen mit ihren roten Capes zeichnet sich vor der eisigen Helligkeit der Fenster ab. Eine Drehtür schleudert mich in einen riesigen Saal. Rot lackierte Säulen schwingen sich zu einer Kuppel empor, an der Kristalleuchter hängen wie Sträuße von Feuerwerk. Auf den Wänden wogen Berge, Wälder und Meere; die Sonne betrachtet den Mond, und daneben fliegen Kraniche zu den Wolken auf. Meine Schwester zieht mich an einen Tisch, wo sie mir einen Milchkaffee bestellt, ein Modegetränk, das man an Orten wie diesem trinkt. Das Orchester begleitet eine Sängerin in einem funkelnden, mit Pailletten besetzten Kleid. Ihr Körper windet sich wie eine 33
Schlange unter der Beschwörung. Aus ihrer milchweißen Kehle dringt eine weinerliche Stimme. Bald fordert mein Schwager meine Schwester auf, und das Paar schwingt sich auf die Tanzfläche. Auge in Auge, Hand in Hand, schön und vornehm bewegen sie sich vorwärts, rückwärts, drehen und drehen sich im Kreis. Die Musik wird schneller. Lächelnd, errötend läßt meine Schwester sich von dem Wirbel davontragen. Der Walzer endet in lautem Beifall. Mein Schwager küßt sie zärtlich auf die Schulter. Mein Herz zieht sich zusammen. Wer könnte ahnen, daß er ihr so viel Leid antut? Mein Blick streift über die Tische und trifft auf Huong, die mich seit einiger Zeit beobachtet. Mit einem Kopfnicken grüßt mich meine Klassenkameradin. Ich hätte im Boden versinken mögen, um meine furchtbare Aufmachung zu verstecken. Was wird sie wohl morgen erzählen? Ich werde zum Gespött aller werden. Zu allem Überfluß macht sie mir ein Zeichen, ich solle zu ihr an den Tisch kommen. Langsam stehe ich auf. Als ich näher komme, erkenne ich die dicke Schminke auf ihren Wangen. Sie trägt ein Kleid, das ihren Rücken völlig nackt läßt. Diese Extravaganz beruhigt mich. Ich bin nicht die einzige, die aussieht wie eine Karikatur. Ein Mann überläßt mir seinen Platz und geht einen Stuhl holen. Huong stellt mir ihre Freunde vor, die mir alle recht alt vorkommen. Sie spricht in herzlichem Ton mit mir. Zum erstenmal finde ich ihre gesuchten Wendungen elegant. Als die erste Abneigung vergangen ist, gestehe ich ihr, wie sehr mich diese scheinheilige, aufgesetzte Gesellschaft anwidert. 34
Sie sieht mich lange an und hält mir ihr Glas entgegen. »Du mußt trinken. Sonst bleibst du immer eine Fremde.« Der Champagner perlt in meiner Kehle, und ich muß husten. Fröhlichkeit überkommt mich. Huong redet mir gut zu, ich wage aufzusehen und den Blicken der Männer standzuhalten. Ein Mann fordert mich zum Tanz auf. Ich tapse in seinen Armen wie eine Bärin. Ich komme zu Huong zurück, und gemeinsam brechen wir in einen Lachkrampf aus. Dieses Mädchen, das ich nie mochte, wird plötzlich meine Komplizin. Als wir das Hotel verlassen, bin ich noch immer betrunken, ich bestehe darauf, daß wir zu Fuß zum Wagen laufen. Meine Schwester schimpft, aber bald gefällt ihr die Idee. Ich muß ein bißchen nüchterner werden, bevor wir nach Hause kommen. Ein Schatten hebt sich vor dem tieferen Wald ab. Eine nackte Leiche, die Arme auf dem Bauch, starrt in den Himmel. Letzten Sommer hat die Einheitsfront die Konvois der Feinde angegriffen. Daraufhin haben die Japaner die Felder entlang der Eisenbahnstrecke niedergebrannt. Seither irren ganze Horden von verarmten Bauern durch unsere Stadt, um ein paar Körner Reis zu erbetteln. Der Ärmste hier ist einer von ihnen, wahrscheinlich ist er vor Hunger gestorben. Leichen können sich nicht verteidigen. Die anderen Bettler werden ihm alle seine Kleider gestohlen haben.
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16 Welch eine Freude, als ich meine ersten Briefe erhalte! Verehrte Mutter berichtet in allen Einzelheiten vom Ablauf des Neujahrsfestes. Von Kleiner Schwester erfahre ich, was sie lieber verschwiegen hat. Seit meiner Abreise verbringt Mutter jeden Tag Stunden im Tempel beim Gebet. Und Kleine Schwester selbst hat geträumt, daß Buddha mich unter seinen Schutz genommen hat. Der Brief von Kleinem Bruder ist knapp. Wie immer spart er, ganz Doktor klassischer Literatur, mit den Worten und den Gefühlen. Er gesteht ein, daß das Vaterland in diesen Zeiten Soldaten nötiger braucht als Dichter. Als ich diesen Brief lese, steigen mir die Tränen in die Augen. Seine Botschaft ist eindeutig, er bittet mich um Verzeihung dafür, daß er mich so lange mißverstanden hat. In meiner Jugend, nach Vaters Tod, empfand ich für meinen Bruder eine so bange Liebe, daß ich beschloß, eine enge Beziehung zu ihm zu pflegen, eine Verbindung, wie der Sohn sie zum Vater hat, der Athlet zu seinem Trainer, der Soldat zu seinem Offizier. Um ihn auf die Höhe meiner Anforderungen zu bringen, erlegte ich ihm genau die Disziplinen auf, in denen ich selbst glänzte. Kleiner Bruder schien mir zu gehorchen und lauerte geduldig auf eine Gelegenheit zur Rebellion. Eines Tages war es so weit. Die Natur hat es so eingerichtet, daß an einem ganz bestimmten Punkt des Lebens die Älteren ihre Überlegenheit über die Jüngeren 36
einbüßen. Mit sechzehn Jahren war Kleiner Bruder genauso groß wie ich. Er war zu einem jungen Mann mit hervorspringenden Muskeln und kräftiger Statur herangewachsen. Im Kendo-Club forderte er mich eines Tages feierlich heraus. Im Handumdrehen bekam ich einen Schlag seines Bambus-Fechtstocks mitten auf die Gesichtsmaske. So mächtig war sein Hieb, daß ich ins Wanken geriet. Als ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, verbeugte sich der Sieger und dankte mir, den Kampf angenommen zu haben. Er nahm seine Maske ab. Sein schweißglänzendes Gesicht verriet geheime Genugtuung. Nach einem respektvollen Gruß verließ er den Dojo in voller Kampfausrüstung. Später wollte der Kleine Schriftsteller werden und schrieb sich an der Universität von Tokyo ein. Von diesem Tag an führten unsere Wege auseinander. In der Hochschule kam er mit linken Studenten zusammen und wurde streitlustig und verächtlich. Unter dem Einfluß anarchistischer Schriftsteller nahm er gegenüber den Militärs eine feindliche Haltung ein. Er bezichtigte sie der Einmischung in die Angelegenheiten der Regierung und nannte sie die Mörder der Freiheit. Ich hatte damals weder die Zeit noch die Geduld, meinen Bruder wieder auf den rechten Weg zu bringen. Ohnehin verschwand er von zu Hause, wenn ich dort war. Für mich war Kleiner Bruder verloren, überrollt von der mächtigen roten Welle. Warum diese Kehrtwende? Hatte er Streit mit seinen Freunden? Wer hat ihm aufgezeigt, wie sinnlos der Marxismus ist und wie lächerlich seine Utopie? Ich antworte ihm mit einem ebenso kurzen Brief wie der seine es war: »Mein Bruder, nach meiner ersten 37
Schlacht verehre ich nur noch die Sonne. Dieser Stern verkörpert die Allgegenwärtigkeit des Todes. Sei vorsichtig mit dem Mond, dem Spiegel dieser Welt der Schönheit. Seine Scheibe wächst, nimmt ab, sie ist verräterisch und vergänglich. Wir werden eines Tages alle sterben. Allein die Nation bleibt ewig. Tausende Generationen von Patrioten werden die ewige Größe Japans verkörpern.«
17 In meinem Alter löscht eine Freundschaft eine andere aus, flammt auf, erlischt, niemals von Dauer, immer voller Glut. Ich lade Huong nach Hause zum Essen ein und eröffne ihr damit mein Universum. Sie trägt ein blaues, wattiertes chinesisches Kleid, die Haare in zwei Zöpfen aufgesteckt, und ihr braves, ruhiges Schulmädchengesicht gefällt meinen Eltern. Nach dem Essen bringe ich ihr Tee und öffne ihr die Tür zu meinem Zimmer. Sie tritt über die Schwelle mit der Scheu derer, die in einen Traum gelangen. Um ihr die Magie dieses alten Zimmers vorzuführen – es ist eines der wenigen, die den Bomben entgangen sind –, lösche ich die Lampen und zünde Kerzen an. Rollen mit Kalligraphien und Gemälden heben sich in der Dunkelheit ab und vermischen sich langsam mit den farbigen Fresken auf den vier Wänden. Ein Regal voller Bücher steht da in seiner Majestät. Auf meinem 38
lackierten Tisch hüpfen gemalte Vögel durch das Blattwerk. Zwei Schalen mit Go-Steinen thronen ganz oben auf einem geschnitzten Schrank und halten Wacht über meine Nächte. Huong greift nach einem Go-Lehrbuch und blättert darin. Sie nimmt eine der langen, silberverzierten und mit Federn besetzten Haarnadeln aus meiner Sammlung in die Hand. Mit den Fingerspitzen berührt sie sanft die Perlen. Es vergeht ein langer Moment des Schweigens. Auf der Bettkante sitzend schüttet sie mir ihr Herz aus. Sie ist auf dem Land geboren, verlor mit acht Jahren ihre Mutter. Ihr Vater heiratete wieder und ließ sich platt drücken unter der Mächtigkeit seiner neuen Frau, die allmorgendlich mit einer Pfeife im Mund loszog, um die Arbeit auf den Feldern anzuleiten. Die Stiefmutter haßte sie. Bald darauf wurden zwei Halbbrüder geboren, und die Zwillinge entzogen ihr die Zuneigung des Vaters. Sie war seither nichts mehr als ein Abschaum. Als sie größer wurden, machten die Jungen sich einen Spaß daraus, sie zu schikanieren. Sie quälten sie wie zwei junge Katzen, die mit einem verletzten Spatzen spielen. Sie mußte sich von der Stiefmutter beschimpfen lassen, die die Gabe des Fluchens besaß. In ihrem abgelegenen Dienstbotenzimmer zählte sie nachts die Regentropfen auf dem Dach. Unversiegbar waren sie, endlos wie ihre Not. Mit zwölf Jahren schickte man sie ins Internat. Die Stiefmutter war endlich den Dorn in ihrem Auge los, und Huong entdeckte die Freiheit. Leidenschaftlich und entschlossen trainierte sie sich ihren Akzent ab und wandelte sich zu einem jungen 39
Mädchen aus der Stadt. Binnen kurzer Zeit hatte sie begriffen, nach welchen Gesetzen die Städter funktionierten, und wußte sie für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Mit ein paar Münzen, die sie der Hausmeisterin im Internat in die Tasche gleiten ließ, und zwei, drei Flaschen Wein am Jahresende bekam sie die Erlaubnis auszugehen, so lange sie wollte. Sie teilte ihr Zimmer mit älteren Mädchen, und so entdeckte sie Champagner, Schokolade und Walzer. Sie schaute ihnen ab, wie man sich schminkte, mit seinem Alter schummelte und sich zum Ball einladen lassen konnte. Männer kamen im Auto, um sie abzuholen, murmelten ihr Zärtlichkeiten ins Ohr und machten ihr Komplimente für ihre Schönheit. Seither sind die Ferien für sie eine Qual. Da draußen ist das Haus feucht, dunkel, beim Geruch der Zugtiere wird einem übel. Der Vater spuckt auf den Boden, die Mutter kläfft sie an. Statt sich an den Tisch zu setzen, hocken die beiden Brüder sich auf ihre Stühle, um ihr Essen besser verschlingen zu können. Die Nacht ist vorgerückt, ich biete Huong mein Bett an. Sie kuschelt sich in die Ecke, drückt sich gegen die Wand. Sie redet so lange, bis ihre Worte durcheinandergeraten und ihre Stimme versagt. Lange Zeit kann ich nicht einschlafen. Meine Freundin ist siebzehn. Ihr Vater sucht einen Verlobten für sie. Das wird das Ende eines Festes, das drei Jahre lang angehalten hat. Wird sie eines Tages einen Mann treffen, der ihr Schicksal verändern kann?
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18 Es gibt Tage, an denen ich einen frischen Willen verspüre und dem Tod mit Freude und Gelassenheit ins Auge blicke. Der Hilferuf meines Landes treibt mich an, blind erfülle ich das Schicksal eines kaiserlichen Soldaten. Freilich ist der Weg eines Helden nicht so geradlinig, wie man meinen könnte. Er schlängelt sich durch das steile Gebirge der zu bringenden Opfer. Als ich heute morgen aufwache, liege ich mit dem Bauch auf einer Erde, die von der Sonne ausgetrocknet ist. Die Wärme steigt aus der Tiefe des Bodens herauf, macht mich schläfrig. Ich brauche lange, bis ich meine vom Schlaf noch schweren Augen öffne, und erkenne einen Grabstein, der wenige Zentimeter vor meinem Gesicht aufragt. Ich liege auf dem Grab meiner Mutter. Ich ersticke einen Angstschrei und werde diesmal wirklich wach. Die Wintersonne ist noch nicht aufgegangen. Das Zimmer bei den Bauern, wo wir uns einquartiert haben, ist schon eher eine Höhle. Im Dunkeln schnarchen meine Soldaten. Wer könnte mir den Schlüssel zu meinem Traum geben? Wie soll ich wissen, ob dieser Traum nicht eine Vorahnung war? Sollte er eine Botschaft sein, die Mutter mir geschickt hat, bevor sie diese Welt verläßt? Wer könnte mir das sagen, hier und jetzt, Tausende Kilometer von Tokyo entfernt? Ist Mutter am Leben und gesund? Seit Jahren denke ich so viel an meinen Tod, daß er mir so leicht geworden ist wie eine Feder. Auf den Tod meiner Mutter habe ich mich niemals vorbereitet, ich könnte seine Last unmöglich ertragen. 41
Man kann Vaterland und Familie nicht miteinander aussöhnen. Ein Soldat ist jemand, der das Glück der Seinen totschlägt. Wenn mein Leben nützlich war, so verdankt die Nation das der Entsagung einer Frau. Im Dunkeln taste ich nach einem Stück Papier und einem Stift. Obwohl ich nicht sehen kann, was ich schreibe, verfasse ich einen kurzen Brief, in dem ich Mutter mein Bedauern ausdrücke. Ich habe sie so lange vernachlässigt! Zweimal gefaltet schiebe ich ihn unter mein Kopfkissen. Wie viele Tage werden wir noch durchhalten müssen, bevor wir wieder Kontakt zur Welt bekommen?
19 Huong macht mir ein seltsames Geständnis: »Mein Vater ist sehr reich, aber ich bin seine Bettlerin. Er wird zornig, wenn ich ihn um Geld bitte, und am Ende wirft er die Hälfte dessen, was ich brauche, auf den Tisch.« Sie spricht weiter: »Ich werde einen alten Mann heiraten, der mich verwöhnen kann.« Ein paar Tage darauf läßt sie mich wissen, daß sie sich zu jemandem hingezogen fühlt. »Ein Mann, verstehst du, ist etwas anderes als diese schnurrbärtigen Jungen, die um die Schule streichen. Er errät deine Gedanken, weiß im voraus von deiner Lust. An seiner Seite bist du kein Mädchen mehr, son42
dern eine Göttin, eine Weise, eine alte Seele, die alle Zeitalter erlebt hat und die er mit der aufmerksamen Neugier eines Neugeborenen betrachtet.« Auch wenn Huong zu meiner besten Freundin geworden ist, begreife ich nie ganz und gar den Sinn ihrer Worte. Ihre verworrene Seele wankt zwischen Schatten und Licht. Ihr Leben zwischen Exzentrik und Zurückhaltung ist voller Geheimnisse, trotz ihrer Geständnisse. An diesem Montagmorgen ist sie beim Schulbeginn zugleich erregt und erschöpft. Ihren Zöpfen kann man ansehen, daß sie gekräuselt und wieder geglättet wurden. Trunken von einer Freude, deren Grund nur sie allein kennt, sagt sie mir: »Der beste Liebesbeweis, den ein Mann dir geben kann, ist seine Geduld, eine Jungfrau heranreifen zu sehen.« Ich erröte, ohne ein Wort herauszubringen. Es geniert sie überhaupt nicht, von diesen intimen Dingen zu sprechen. Und dabei finde ich in ihren schamlosen Bekenntnissen echte Größe. Es gibt einen Teil der Welt, der mir völlig fremd ist. Nun frage ich Huong: »Wie soll man nur herauskommen aus dem Dunkel, das uns umgibt?« Sie tut so, als verstünde sie nicht. »Wie soll man nur zur Frau werden?« Sie reißt die Augen auf: »Du bist verrückt«, schreit sie. »So spät wie möglich!«
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20 Zurück in der zivilisierten Welt. Die Stadt Harbin liegt im äußersten Norden der Mandschurei, ein strategischer Posten im Konflikt zwischen China und Rußland. Auf dem kilometerbreiten Fluß Sungari kreuzen unsere Kriegsschiffe ostentativ vor den Augen der russischen Marine. Wenn die Dämmerung auf diese lärmende Stadt herabsteigt, heben sich die Kuppeln der Moscheen, die Kreuze und Madonnen der Kirchen, die schrägen Dächer der buddhistischen Tempel vor dem blutroten Himmel ab. In dieser weltoffenen Metropole leben alle zusammen, Russen, Juden, Japaner, Koreaner, Chinesen, Engländer, Deutsche, Amerikaner. Jedes Volk hat seine Landschaft mitgebracht und lebt in seiner eigenen Kultur. Gestern noch lag ich auf Strohballen, wurde in den Schlaf gewiegt vom Heulen der Wölfe und dem Jammern des Windes. Ich trank geschmolzenen Schnee. Ich trug eine zerlöcherte Uniform, angesengt war sie, durchtränkt von Schweiß und Schlamm. Heute entdecke ich das Bett wieder, eine Wolldecke, ein geheiztes Zimmer, eine neue Uniform. Mit ein paar Offizieren laufe ich zu den Mädchen. Ich verprasse meine Ersparnisse und leiste mir eine Japanerin. Masayo, eine junge Prostituierte aus Toyama, schenkt mir ein. Ihre mittelmäßige Schminke, ihr langweiliges Parfüm, ihr grellfarbiger Kimono, wie linkisch sie die Weinflasche hält – und doch bin ich hingerissen. Ich greife nach ihrer Hand. Die Haut einer Frau zu berühren, wirkt auf mich wie ein elektrischer Schlag. Ich 44
ziehe sie heftig an mich, und sie fällt in meine Arme. Ich öffne ihren halb übereinandergeschlagenen Kimono und zerreiße ihr die Wäsche. Zwei weiße Brüste quellen heraus. Das Rosa ihrer Brustwarzen bringt mich um den Verstand. Nach Monaten der Einsamkeit will ich im Körper einer Frau aufgehen. Ich knete sie mit meinen Händen durch. Ich besteige sie trotz ihres Sträubens. Mein Geschlecht findet das ihre. Kaum bin ich eingedrungen, als mich ein genußvoller Schmerz erfaßt und mich langsam zurücksinken läßt. Auf dem Heimweg laufe ich munter, zugleich erschöpft und voller neuer Kraft. Dieses Flittchen hat mir eben die menschliche Wärme wieder eingeflößt, die ich verloren hatte.
21 Der Rathausplatz ist völlig überlaufen. Mit einem Korb am Arm ziehe ich Perle des Mondes hinter mir her. Sie beschwert sich, daß sie angerempelt wird, daß das Getreide so teuer ist, das Wild so rar. Wankelmütig und gereizt ist sie, hat an allen unseren Einkäufen etwas auszusetzen. Ich verliere die Geduld bei ihrem Gejammer, habe es eilig, sie loszuwerden. Seit drei Jahren ist ihr Leben zu einem Strom der Verzweiflung geworden. Wie ich diese lustige Schwester vermisse, ihr schwarzes Haar war in zwei Zöpfen aufgesteckt, die sie mit flammend roten Bändern befe45
stigte. Sie lief umher, drehte sich, setzte sich hin, nur um gleich wieder aufzuspringen. Sie verfolgte uns mit ihrem schallenden Lachen. Heute verirren sich ein paar gewellte Strähnen aus ihrer Kapuze heraus und tanzen träge auf ihren bleichen Wangen. Ihre Haare haben jeden Glanz verloren, so wie die Frau selbst. Ich schüttele sie am Arm: »Dann laß dich doch scheiden!« Sie sieht mich mit aufgerissenen Augen an, ihren schönen geschwungenen Augen. Tränen überschwemmen ihr Gesicht. »Kleine Schwester, er hat mich geliebt! … Er hat mir geschworen, daß ich die einzige Frau in seinem Leben sein werde! … Ich glaube nicht, daß er sein Versprechen vergessen hat. Es ist einfach stärker als er … Gestern abend bin ich ihm gefolgt … Er ist mit einer Halbseidenen ins Theater gegangen, mit einer Gefallenen, die sich in der Loge hat liebkosen lassen …« Ich weiß nicht, was ich ihr antworten soll. Im Zuge der neuen Sitten wurde die Polygamie abgeschafft, aber die Männer bleiben unstet und die Frauen sind nicht erlöst von ihrem Leiden. Meine Eltern sind sehr aufgeklärte Leute. In diesen Zeiten der Zerrissenheit zwischen Tradition und Moderne haben sie meiner Schwester zugeredet, den Mann zu heiraten, den sie wollte. Diese Liebesheirat wurde ein großes Unglück. Die Leute drehen sich um und beäugen uns neugierig. Perle des Mondes wird von Schluchzern geschüttelt, sie merkt gar nicht, wie lächerlich sie wirkt. Zum 46
Glück kommt eine Rikscha vorbei. Ich halte sie an, setze meine Schwester auf die Bank und trage dem Mann auf, sie nach Hause zu bringen. Trunken vom Schmerz läßt sie sich wegbringen. Ich mache mit den Einkäufen weiter, die Mutter mir aufgetragen hat. Jeden Sonntagmorgen sind hier pünktlich die Bauern und die Jäger aus dem Umland zu finden. Sie kommen über Nacht aus ihren Dörfern und warten schlotternd am Fuß der Stadt, bis die Tore geöffnet werden. Ich bin mit meinen Besorgungen fertig, als die Sonne fast im Zenit steht. Heute morgen ist der Schnee getaut, man läuft durch eiskalten Matsch. Ich gehe auf einen Teesalon zu. Vor der Tür hat man einen Kohleofen aufgebaut. Ich setze mich vor den Marktstand und bestelle einen Tee mit Mandeln und Nüssen. Eifrig macht der Kellner sich an meine Bestellung: Ein Strahl kochendheißes Wasser quillt aus der Tülle eines enormen, mit Drachen verzierten Kessels und ergießt sich in eine Schale, die einen Meter entfernt steht. Hinter mir beginnt jemand zu singen: »Mein Dorf im Tal des Flusses Sungari Am Rande eines Tannenmeers Wie könnte ich diese Schönheit vergessen Meine Mutter, meine Schwestern, Wie könnte ich sie den Besatzern lassen?« Ein Zittern durchläuft die Menge. Dieses Lied hat man verboten. Wer wagt, es auch nur zu summen, riskiert damit Gefängnis. Ich kreuze erstaunte Blicke, sehe erbleichende Gesichter. Zehn Schritte von mir beginnt der Waghalsige von neuem, und andere Stimmen set47
zen mit ein. Mehr und mehr Menschen stimmen in den Chor ein, der Gesang breitet sich auf dem ganzen Markt aus. Polizisten pfeifen Alarm. Schüsse fallen. Auf dieses Zeichen hin steht ein Bauer, der vor seinem Korb mit Eiern hockte, auf, er hält eine Pistole in der Hand. Ein Stück weiter zieht ein anderer unter ein paar Strohballen Gewehre hervor und verteilt sie. Die bewaffneten Männer gehen auf das Rathaus zu, stoßen die Passanten zur Seite. Der Teestand kracht mit ohrenbetäubendem Lärm in sich zusammen. Die Menge trägt mich mit. Die Menschen weinen, schreien, faseln. Man kann nicht mehr unterscheiden, wer vorwärts strebt, um die Regierungsgarden anzugreifen, und wer zurückdrängt, um sich in Sicherheit zu bringen. Die Menschenwoge reißt mich zum Zaun des Rathauses mit, wo das Feuergefecht immer intensiver wird. Ich schlage um mich. Aber die außer sich geratenen Männer kümmern sich kein bißchen darum. Ich stolpere über einen Menschen und falle zu Boden. Meine Hände streichen über eine kalte, nasse Jacke. Ein erdolchter Polizist starrt mich aus seinen verdrehten Augen an. Ich stehe auf. Ein Bauer, der mit seinem Gewehr zielt, stößt mich mit dem Ellenbogen, und wieder falle ich auf den Kadaver. Ich schreie auf. Ein junger Mann beugt sich zu mir und hält mir die Hand hin. Er zieht mich zu sich hinauf. Der Student mit der dunklen Haut lächelt mir zu. »Kommen Sie«, sagt er. Auf ein Kopfnicken hin erscheint ein zweiter Student. Er bedenkt mich mit einem hochnäsigen Blick 48
und greift mir dann unter den anderen Arm. Zu zweit stützen sie mich und bahnen sich einen Weg durch die Menge. Auf den Straßen tobt das Gefecht. Die beiden Studenten schlängeln sich hindurch, ziehen mich mit in ihrem Lauf. Als würden sie schon vorher wissen, welche Polizeistationen die Rebellen angreifen, umgehen sie die blutigen Stellen und machen schließlich am Eingang eines weitläufigen Geländes halt. Einer der beiden öffnet die Tür. Vor ihm liegt ein verlassener Garten, in dem die Krokusse durch den Schnee gebrochen sind. Das Haus ist im europäischen Stil gehalten, es gibt halbmondförmige Bögen, Fenster in Rautenform. »Wir sind hier bei Jing«, erklärt mir der Student mit der dunklen Haut und zeigt auf seinen Freund. »Und ich heiße Min.« Min erklärt, daß die Besitzerin, eine Tante von Jing, die Stadt verlassen hat, um nach Nangking zu gehen. Jing hat gerne die Rolle des Hausmeisters übernommen. Seine junge, tiefe Stimme ähnelt der des Sängers von eben. »Und du?« Ich sage meinen Namen und frage ihn, ob ich telefonieren kann. Jing meint mit Ungeduld in der Stimme: »Die Widerständler haben sicherlich die Anschlüsse besetzt.« Als er die Verzweiflung auf meinem Gesicht sieht, bietet Min an, es für mich zu versuchen. Im Salon sieht man auf den weißen Wänden noch die Spur von Bildern, und auf dem rot lackierten Par49
kettboden die Streifen von herausgetragenen Möbeln. In der Bibliothek stehen noch Hunderte von Büchern auf den Regalen, während andere in einem wilden Durcheinander auf den Boden geworfen wurden. Auf den niedrigen Tischen überquellende Aschenbecher, schmutzige Teller und Tassen, zerknitterte Zeitungen. Als hätte hier letzte Nacht eine Versammlung stattgefunden. Min öffnet eine Tür, es erscheint das Schlafzimmer und ein Bett mit einem purpurroten, mit Chrysanthemen bestickten Seidenüberwurf. Er greift zum Telefon, das auf einem runden Tischchen steht, aber er bekommt keinen Anschluß. »Ich bringe dich nach Hause, wenn alles sich beruhigt hat«, sagt er in seinem herzlichen Ton. »Hier bist du in Sicherheit. Hast du Hunger? Komm, hilf mir beim Kochen.« Während Min die Nudeln zubereitet, das Gemüse schält, das Fleisch kleinschneidet, sitzt Jing auf einem Hocker am Fenster und horcht, was sich draußen tut. In unregelmäßigen Abständen hört man Schüsse. Bei jedem Knall erscheint an seinem Mundwinkel ein spöttisches Lächeln. Ich weiß nicht, was aus meiner Stadt werden wird. Ich denke, daß diese falschen Bauern Mitglieder der Einheitsfront gegen die japanische Armee sind. In den Zeitungen heißt es, daß diese Banditen plündern, Feuer legen, Städter als Geiseln nehmen und mit dem Lösegeld von den Russen Waffen kaufen. Ich bin in Sorge um meine Eltern, um Perle des Mondes, die auf ihrer Rikscha irgendwo durch die Straßen irrt, ich setze mich, springe auf, laufe unruhig hin und her, blättere in ein paar Bü50
chern, lasse mich schließlich Jing gegenüber auf einen Hocker fallen. Wie er lauere ich auf jedes Geräusch. Nur Min scheint ganz ruhig zu sein. Er pfeift eine Opernmelodie vor sich hin. Ein verlockender Duft steigt aus dem Topf. Bald darauf reicht mir Min voller Stolz eine riesige Schale süßsaurer Nudeln mit Rind und Kohl. Er gibt mir ein Paar Stäbchen. Da fällt mir ein, daß ich zu Hause erwartet werde, um meinen sechzehnten Geburtstag zu feiern.
22 In Harbin vergewaltigt die Sonne einem den Blick. Im Frühling herrscht ein endloses Grummeln, gewaltige Eisbrocken schieben sich vorwärts, kommen hoch und verschwinden wieder in den schäumenden Wirbeln des Flusses Sungari. Ein reicher Händler hat kürzlich im Stadtzentrum einen Lottostand aufgestellt. Auf einer erhöhten Balustrade wird das Ergebnis der Ziehung verkündet. Neben den Herrschaften im Pelzmantel klappern kaum bekleidete Bettler. Die ganze Stadt ist da, Diebe, Schlitzohren, Militärs, Studenten, gutbürgerliche Damen und Prostituierte, und alle sind voll ungeduldiger Erwartung. Plötzlich die Ankündigung, und das Gejammer und die Freudenschreie der Menge. Es kommt zu Rempeleien. Da sind Männer, die ihre Frauen schla51
gen, weil sie ihnen die Zahlen verändert haben, und die, die eben ihre letzten Groschen gewettet haben und jetzt drohen, sich umzubringen. Da sind auch die Gläubiger, die ihre Schulden einfordern, und die Gewinner, die ihren Schein nicht mehr finden können. Nirgends habe ich so eine Stadt gesehen, wo die Begüterten sich derartig wenig auf ihren Reichtum verlassen, während die Armen so verzweifelt gegen das Elend ankämpfen. Die Untätigkeit dieses Volkes bestätigt meine Ansicht: Das chinesische Kaiserreich ist unwiederbringlich dem Chaos verfallen. Diese uralte Zivilisation ist unter der Herrschaft der Mandschus implodiert, die die Öffnung, die Wissenschaft und die Moderne ablehnten. Heute ist sie die liebste Beute für die westlichen Mächte, und sie kann nur überleben, indem sie ihren Boden und ihre Selbständigkeit aufgibt. Niemand außer den Japanern, den Erben einer vor jeder Vermischung rein erhaltenen chinesischen Kultur*, ist dazu berufen, sie vom europäischen Joch zu befreien. Wir werden ihrem Volk Frieden und Würde zurückgeben. Wir sind ihre Retter.
23 Jing ist sich umhören gegangen, er erzählt uns, daß die Rebellen das Rathaus besetzt haben und die Leiche des Bürgermeisters vom Balkon herabgeworfen haben. Innerhalb von ein paar Stunden hat der Haß auf die 52
ganze Stadt übergegriffen, das Volk hat sich vom Blut aufpeitschen lassen und massakriert Kollaborateure und japanische Immigranten. Chinesische Soldaten in der Armee der Mandschurei haben sich gegen die Japaner erhoben und kreisen die feindlichen Divisionen in ihren Kasernen ein. Min stellt eine Leiter gegen die Mauer, wir klettern auf das Dach. Die Stadt breitet unter unseren Augen endlose Reihen von Hausdächern aus, Schuppen von grauen Fischen mit silbrigen Reflexen. Die gewundenen Straßen graben tiefe Furchen. Die nackten Platanen pinseln karge Schriftzeichen. Säulen von schwarzem Rauch steigen aus dem Stadtzentrum und stechen in den gelblich-violetten Himmel. Tausende von Spatzen drehen aufgeregt ihre Runden. Wir hören, wie Schüsse sich unter die Schreie mischen, unter die Hochrufe und den festlichen Trommelwirbel. Manche Viertel sind verlassen und düster, andere lebendig und fröhlich. In der Ferne schlängelt sich die Stadtmauer durch einen dicken Nebel. Werden sie genug Kraft haben, um der japanischen Verstärkung Widerstand zu leisten?
24 Nach ein paar kurzen Höflichkeitsfloskeln erfahre ich, daß Madame Violette, Masayos Wirtin, ebenfalls aus Tokyo stammt. In der Fremde eine Landsmännin zu treffen, ruft in mir eine melancholische Freude hervor, 53
aus Unbekannten werden gleich Vertraute. Sofort bietet sie mir Sake an und stellt mir tausend Fragen über mein Leben. Ich für meinen Teil frage sie über ihre Familie aus. Sie sagt, ihr Mann und ihre Kinder seien im Erdbeben umgekommen. Aus dem Ärmel ihres Kimonos zieht sie eine winzige Kindersandale, die einzige Erinnerung, die ihr von ihrem Sohn geblieben ist. Vierzehn Jahre sind seitdem vergangen, und mir ist es gelungen, die Bilder von dieser Erschütterung in die hinterste Ecke meines Gedächtnisses abzuschieben. Madame Violettes Tränen rufen diese mörderischen Tage wieder in mir wach. Die Katastrophe ereignete sich um zwölf Uhr. Eben läutete die Glocke, die uns aus dem Vormittagsunterricht entließ. Plötzlich kippten die Stühle um, Kreide flog durch die Luft. Ich glaubte an einen Streich meiner Mitschüler, lachte und klatschte Beifall, bis mit einem Schlag die schwarze Tafel umfiel und Splitter mehrere Schüler verletzten. Die Wände zitterten. Die Schulbänke aus massivem Holz begannen, wie auf Schlittschuhen von einem Ende des Klassenzimmers ans andere zu gleiten. Ein Junge wurde unter den Tischen eingeklemmt und heulte laut auf. Wir hatten ihn kaum befreit, als ein Kalkregen auf uns herabrieselte. Ganz vom weißen Staub bedeckt, lief unsere Lehrerin ans Fenster, öffnete es und befahl uns zu springen. Ich war der erste, der sich in die Tiefe stürzte. Unser Klassenzimmer lag im zweiten Stock. Ich landete auf allen vieren im Gras, ohne mich zu verletzen. Andere kamen nach. Einige Jungen hatten sich aus den darüberliegenden Stockwerken gestürzt und sich den Knöchel verstaucht, wir zogen sie unter den Achseln in 54
den Garten. Die Fassade unseres Gebäudes wankte. Die drei Haupteingänge spien Schüler aus. Ohne Mützen, mit zerrissenen Uniformen und blutigen Hemden, sie hatten sich geprügelt, um an den Ausgang zu gelangen. Plötzlich gab das Gebäude von der Mitte her in einer langsamen, aber unaufhaltbaren Bewegung nach und zog die beiden Seitenflügel mit in seinen Fall. Der Garten war völlig überlaufen. Die Leute schrien, jammerten, rannten, krochen umher. Die Erde bäumte sich auf. Die gepflasterten Wege, die meine Füße Tausende Male betreten hatten, wellten sich wie ein Stoffband. Die Bäume, an denen wir uns festhielten, bogen sich, schaukelten und warfen uns schließlich zu Boden. Wir umklammerten vergebens die Gräser, die Wurzeln des Gebüschs. Ein unheimliches Grummeln stieg aus dem Inneren der Erde, ein Wirbel von Kieseln, der spröde Klang von reißender Seide. Die Stöße ließen nach. Die Lehrer und die Aufsicht teilten uns in Gruppen und ließen uns im Kreis auf dem Sportplatz hinsetzen. Sie verboten uns aufzustehen und fingen an, sich um die Verletzten zu kümmern, die Vermißten zu zählen. Von weitem erspähte ich meinen jüngeren Bruder. Vor Freude kamen mir die Tränen. Mitten in der Menge begann ein Junge zu weinen, und bald taten sämtliche Schüler es ihm gleich. Man verbot uns, zu den Trümmern zu gehen und nach Überlebenden zu suchen: wir sollten geduldig auf die Rettungsdienste warten. Aber um fünf Uhr nachmittags war immer noch niemand gekommen. Der Wind wehte stärker und stärker. Aus einem Gebäude schlugen Flammen, und eine schwarze Rauchsäule, vom Taifun umgelenkt, drohte uns zu ersticken. Ich 55
nutzte die allgemeine Verwirrung und entwischte über die eingestürzte Mauer auf die Straße. Was mich draußen erwartete, war eine Höllenlandschaft. Tokyo war wie vom Erdboden verschwunden. Vereinzelte Hochhäuser standen noch, stützten sich gegenseitig, aber die Straßen waren wie ausradiert unter einer dicken Schicht von Ziegeln, Holz, Glas. Familien versuchten sich wiederzufinden. Vergeblich wurden Namen gerufen. Ein Verrückter irrte laut lachend durch die Straßen. Drei Missionsschwestern hockten auf den Ruinen einer Kirche, gruben mit bloßen Händen und hofften, noch lebende Seelen zu finden. Die Häuser brannten. Der Wind half nach, so daß die Flammen sich noch weiter ausbreiteten. Es war sechs Uhr abends, Asche wirbelte im Himmel und ließ es Nacht werden. Meine Erinnerung sagt nicht mehr, wie es weiterging. Ich sehe mich in einer alles erstikkenden Dunkelheit tastend vorwärts streben. Die Straße war voller Steine, voller Flüchtlinge, Leichen. Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich es an die Schwelle unseres Hauses geschafft habe. Ich sehe meine Mutter auf einem Baumstumpf sitzen, vor ihr die Habseligkeiten, die sie hatte retten können. Kleine Schwester hockte ihr zu Füßen und hatte die Arme um ihre Beine geschlungen. Der Klang meiner Schritte riß sie aus ihren Gedanken, mit einem Ruck drehte sie den Kopf zu mir um. An der Art, wie sie mir entgegenstürzte, merkte ich, daß ein großes Unglück mich treffen würde wie ein Pfeil. »Gerade ist Papa gegangen.« Die ganze Nacht über wachte ich über den zerschundenen Leichnam meines Vaters. Sein Gesicht trug den 56
friedlichen Ausdruck dessen, der das Paradies schaut, und seine Hände die eisige Kälte der Schattenwelt. Von Zeit zu Zeit stand ich auf und ging ans Ende des Gartens, von wo aus man die Stadt mit einem Blick übersehen konnte. Tokyo brannte, ein einziger riesiger Scheiterhaufen. Nach der Legende ist Japan eine schwimmende Insel auf dem Rücken eines Katzenfisches, dessen Bewegungen Erdbeben auslösen. Ich versuchte mir das ungeheuerliche Aussehen dieser Wasserkatze vorzustellen. Vor Schmerz, der wie ein Fieber war, begann ich zu phantasieren. Da wir den Gott nun einmal nicht töten konnten, mußten wir eben den Kontinent überfallen. China, endlos und unverrückbar, lag in Reichweite vor uns. Dort würden wir unseren Kindern eine sichere Zukunft aufbauen. Als Masayo eintritt, reißt sie mich aus einer Unterhaltung, die längst nicht mehr erträglich ist. Sie verneigt sich bis zur Erde vor ihrer Wirtin, die im stillen weint. Sie faßt mich am Ärmel, zieht mich in ihr Zimmer.
25 Die Partisanen der Einheitsfront haben sich vor Anbruch der Nacht in die Berge zurückgezogen. Die aufständischen Soldaten sind mit ihnen gegangen. Im Laufe eines Abends hat sich das patriotische Fieber in der Stadt wieder gelegt. 57
Schon früh am nächsten Morgen patrouillieren japanische Truppen in den Straßen. Es wurde eine vorläufige Regierung eingesetzt, die die Rebellen laut tönend verfolgt. Weil sie die eigentlichen Aufständischen nicht ausfindig machen, nehmen sie sich die Diebe und die Bettler vor. Der neue Bürgermeister beschließt, die Freundschaftsbande zwischen Japan und der Mandschurei wieder enger zu knüpfen, und kündigt intensiven kulturellen Austausch an. Da ihr in aller Öffentlichkeit von der Mandschu-Obrigkeit geschmeichelt wird, gewährt die japanische Armee ihre Vergebung und geruht das Geschehene zu vergessen. Die Rückkehr zum Alltag vollzieht sich so unmerklich wie ein Wimpernschlag. Der April beschenkt uns mit seiner Klarheit. In der Schule wurde der Japanischunterricht wieder aufgenommen. Heute morgen habe ich verschlafen. Mein Kuli rennt atemlos, damit ich rechtzeitig in die Schule komme. Der Schweiß läuft ihm den Rücken hinab, dicke blaue Adern ziehen sich über seine Arme. Ich schäme mich, bitte ihn, langsamer zu laufen. Atemlos schnauft er: »Mein Fräulein, machen Sie sich keine Sorgen. Ein ordentlicher Lauf am Morgen ist das Geheimnis der Unsterblichkeit.« Vor dem Tempel des Weißen Pferdes sehe ich Min, der mir auf seinem Fahrrad entgegenkommt. Ich bin so erstaunt, daß ich vergesse, ihn zu begrüßen. Wir begegnen uns, und genauso schnell entfernen wir uns wieder.
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26 Der Befehl zum Aufbruch ist ergangen. Ich hatte nicht einmal Zeit, Madame Violette und Masayo zu verabschieden. Unsere Truppe verläßt die Kaserne und zieht zum Bahnhof. Auf dem Bahnsteig schrillen überall die Pfeifen. Mehrere Kompanien drängen sich vor den Türen des Zuges, der mit Panzern und Munition beladen ist. Wir müssen uns hindurchschlängeln und schaffen es schließlich in einen Doppelstockwagen. Bei der Frische des noch vorsichtig stolpernden Frühlings kann ich nicht schlafen. Ich lege meine Hand auf die Jackentasche, in die ich vor der Abfahrt meine beiden letzten Briefe gesteckt habe. Sie sind noch da. Mutters feine Schrift hat mich bezüglich ihrer Gesundheit beruhigt und mich vorläufig von meinen Ängsten befreit. Wer weiß wie hat Akiko meine Adresse ausfindig gemacht und mir einen langen Brief geschrieben. Vor meiner Abfahrt war die junge Frau gekommen, um mir Adieu zu sagen. Ich habe mich absichtlich versteckt, damit sie Grund hat, mich abscheulich zu finden. Sie ist die beste Freundin meiner kleinen Schwester, und nachdem sie ihre Brüder und Schwestern im Erdbeben verloren hatte, hatte sie mich in ihr Herz geschlossen. Ihre Familie ist verwandt mit dem Shogun Tokugawa*, und ihre bescheidene Eleganz hatte Mutter gefallen, so daß sie insgeheim unsere Verbindung wünschte. Von ihren eigenen Eltern ermutigt, glaubte die Kleine bereits, sie sei mir versprochen. Als ich nach Beendigung der Militärschule meinen Posten in einem Vorort von Tokyo antrat, begann sie, mir in die Kaserne zu schreiben. Ich antwortete ihr auf jeden vierten 59
Brief. In Begleitung meiner Schwester kam sie zu mir nach Hause, wenn ich nicht da war. Ihr Lächeln und ihre Verbeugungen hatten meine Hauswirtin verführt, sie ließ sie gerne hinein. Meine schmutzige Wäsche wurde gewaschen, gebügelt, meine Strümpfe gestopft. Wie die meisten guterzogenen Frauen hat Akiko nie ein Wort über ihre Gefühle verloren. Diese Zurückhaltung hinderte mich nicht daran, sie auf ihren Platz zu verweisen: Sie war eine Schwester, nichts weiter. Ein paar Worte von Mademoiselle Lumière würden mir gewiß mehr Vergnügen bereiten als Akikos endlose Sendung. Ich weiß, die Geisha wird mir nicht schreiben. Das Leben, das sie gewählt hat, ist ein Reigen aus Feiern, Festmahlen, aus Lachen und Musik. Wann sollte sie einen ruhigen Moment finden, um an mich zu denken? Ich bin durch ihr Leben gegangen. Es war eine Reise ohne Wiederkehr.
27 Jahrelang bin ich Morgen für Morgen vor dem Tempel des Weißen Pferdes vorbeigekommen, und Min hat denselben Weg genommen, in der anderen Richtung. Wir haben uns nie gesehen. Seit einer Woche taucht er auf, sobald die Glocken des Heiligtums läuten. Bevor ich aus dem Haus gehe, schleiche ich in Mutters Zimmer vor den ovalen Spiegel, in dem ich mich von Kopf bis Fuß sehen kann. Mein Pony kommt mir 60
plötzlich kindisch vor. Mit Hilfe von zwei mit winzigen Perlen besetzten Haarnadeln, die ich unter Seufzen meiner Schwester abgebettelt habe, stecke ich ihn hoch und lege meine Stirn frei. Wenn ich an die Kreuzung komme, schlägt mein Herz, so daß es mir den Atem raubt, und ich halte angstvoll nach Mins Fahrrad Ausschau. Endlich erspähe ich ihn, wie er den Hang heraufkommt. Oben angekommen bleibt er stehen und winkt mir zu. Seine Silhouette fügt sich in den Himmel. Der Wind bläst durch die Zweige voller Vögel, lustige Notenzeilen. Taoistische Mönchlein in grauen Überwürfen ziehen mit gesenktem Blick vorbei. Ein fahrender Händler facht sein Feuer an. Sein frittiertes Fladenbrot dampft und verströmt herrlichen Duft. In der Schule höre ich nicht den Lehrern zu, sondern lasse im Geiste tausendmal das Bild von Min auf dem Fahrrad vorüberziehen. Ich erinnere mich an seine glänzenden Augen unter seinem Hut, an die Art, wie er den Arm hebt, mit den Büchern in der Hand. Meine Wangen glühen. Ich kann mir nicht verkneifen, wie blöd die schwarze Tafel anzugrinsen, denn ich meine ihn zu sehen, wie er seine Geschicklichkeit unter Beweis stellt, sich zwischen den Wörtern und den Zahlen hindurchschlängelt.
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28 Nach dem Erdbeben begann ich, Abscheu und Faszination für den Tod zu empfinden. Er verfolgte mich Tag und Nacht: urplötzlich packte mich die Angst. Ich hatte Herzrasen. Ohne jeden Grund weinte ich. Als ich zum erstenmal ein Gewehr berührte, gab der kalte Stahl seine Kraft an mich weiter. Meine erste Schießstunde fand im Freien statt, auf einer weiten, leeren Fläche. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Ich war erfüllt von einer mächtigen Furcht, als wäre ich ein Pilger, der sich anschickt, einer Gottheit die Füße zu küssen. Vom ersten Schuß an begann es in meinen Ohren zu brummen. Beim Rückstoß versetzte mir die Waffe einen heftigen Schlag. An jenem Abend tat mir beim Einschlafen die Schulter weh, aber ich war tief befriedigt. Jeder Mensch muß sterben. Das Nichts zu wählen ist die einzige Möglichkeit, darüber zu triumphieren. Mit sechzehn Jahren fing mein Leben neu an. Ich hörte auf, von der Flutwelle oder von den verwüsteten Wäldern zu träumen. Die Armee war für mich eine riesige Arche, in der Lage, allen Stürmen die Stirn zu bieten. In der Kadettenschule wurde ich schon im ersten Jahr in die Fleischeslust eingeführt, und ich entdeckte die Sinnenfreude, die es bedeutete, mich in einer Frau auszulöschen. Dann lernte ich, die Lust der Pflicht zu opfern. Das Buch Hagakure* wurde mein Leuchtfeuer, das mir auf dieser Überfahrt von der Jugend in die Reife den Weg wies. Ich habe mich auf den Tod vorbereitet. Warum sollte ich heiraten? Die Frau eines Samurai tötet sich, wenn 62
ihr Gatte gefallen ist. Warum sollte ich ein weiteres Leben in den Abgrund reißen? Ich bin ein großer Freund der Kinder, das Fortleben einer Rasse, Hoffnung eines Volkes. Aber ich bin nicht in der Lage, Kinder zu haben. Die Kleinen müssen unter dem Schutz eines Vaters aufwachsen, sicher vor dem Tod. Freudenmädchen sind von vergänglicher Frische, sie gleichen dem morgendlichen Tau. In ihrer Abgeklärtheit sind sie Seelenschwestern der Soldaten. Daß ihre Gefühle so lau sind, tut unseren empfindlichen Herzen gut. Sie kommen aus dem Elend, sie fürchten das Glück. Verdammt sind sie, wagen an die Ewigkeit nicht zu denken. Sie hängen an uns wie Schiffbrüchige am treibenden Holz. In unseren Umarmungen liegt eine heilige Keuschheit. Nach der Schule durften unsere Zerstreuungen sich endlich im Tageslicht zeigen. Die hochrangigen Offiziere unterhielten ganz offen Geishas, während die Unteroffiziere sich mit einem kurzen Tête-à-tête begnügten. Mademoiselle Lumière lernte ich im Juni 1931 kennen. Wir feierten in einem Teehaus die Beförderung unseres Hauptmanns. Geräuschlos glitten die Wände zur Seite, ließen immer mehr Geishas ein. Die einen traten ein, die anderen verschwanden in der Dunkelheit. Es war dunkel geworden über dem Sumida. Die Schiffe mit ihren Laternen fuhren langsam den Fluß hinab. Ich hatte getrunken. In meinem Kopf drehte es sich. Ein Soldat wurde abgefüllt, er verlor im Spiel. Ich kugelte mich vor Lachen. Eben wollte ich hinausstürzen, um mich zu übergeben, als ich eine Geisha in der Ausbildung erblickte*, die einen blauen, mit Lilien be63
druckten Kimono mit fließenden Ärmeln trug. Sie grüßte uns in einer tiefen Verneigung. Ihre Gesten waren getragen und voller Vornehmheit. Trotz der weißen Schminke, die ihre Wangen bedeckte, gab ihr der Schönheitsfleck auf ihrem Kinn einen melancholischen Zug. Sie nahm eine Shamisen aus ihrem Kasten, griff zu ihrem elfenbeinernen Plektron, stimmte das Instrument. Mit einer sicheren Geste brachte sie die Saiten zum Klingen. Es war wie ein Donnerschlag in einem Sommerhimmel. Der Wind blies, bog die Bäume nieder, zerriß die tintenfarbigen Wolken. Die dumpfen Töne des Plektrons zogen Blitze nach sich, die von den Bergen herabrollten. Rinnsale wurden zu Sturzbächen, die Flüsse schwollen an, das Meer wurde unter den Böen aufgepeitscht und auf den Strand geworfen, wo der Schaum dahinkroch. Da erhob sich eine rauhe Stimme. Sie sang von enttäuschter Liebe, von Verlassenheit, vom Dunkel. Ich war ergriffen von der Trostlosigkeit, der lustige Trinker manchmal erliegen, zu Tränen gerührt vom Elend der Leidenschaft, das sie mir zu hören gab. Mit einem Schlag, so als würde eine Vase zerspringen, brach die Musik ab, schwieg die Stimme. Rund um mich hielten die Offiziere den Atem an, schauten sprachlos um sich. Nach einem Gruß räumte die Geisha ihre Shamisen ein, verneigte sich und verschwand unter dem Rascheln ihres Kimonos.
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29 Perle des Mondes fleht meine Eltern an: Sie will, daß ich sie zum Geburtstag des neuen Bürgermeisters begleite. Sie ist überzeugt, daß ihr Mann mit seiner Mätresse dort ist, will ihn auf frischer Tat ertappen. Mutter hat ihren Tränen nicht widerstehen können. Die Eifersucht meiner Schwester empört mich, aber ich habe Lust, unter Leute zu kommen. Und vielleicht ist ja auch Min auf dem Fest. »Meine Dame, mein Fräulein …« Die Lakaien am Fuße der Treppen grüßen uns mit tiefen Verneigungen. Einer von ihnen geht uns voran und lädt uns ein, über die Schwelle einer rot lackierten Tür zu treten. Wir durchqueren nacheinander drei Innenhöfe. Da Perle des Mondes nicht möchte, daß ihr Mann uns sieht, kommen wir erst, als es schon dunkel ist. Man führt uns in einen ausladenden Garten, wo rund hundert Tische unter den Bäumen stehen, erhellt von Laternen des langen Lebens. Eine Gruppe von Musikern im Smoking versucht verzweifelt, einen Walzer gegen das Tamtam einer Operntruppe durchzuhalten, die aus voller Kehle singt. Wir schlängeln uns an einen Tisch im Schutze einer ausladenden Pinie und setzen uns wie zwei Jäger auf der Pirsch. Um die Abendkühle des beginnenden Frühlings zu vertreiben, hat unser Gastgeber Kohlebecken und Fackeln anzünden lassen. Kaum sitzen wir, beklagt sich meine Schwester: Die Flammen blenden sie, so daß sie den Untreuen nicht erkennen kann. Ich mustere die Umgebung auf der Suche nach meinem 65
Schwager. Plötzlich entdecke ich Jing, in einem europäischen Anzug, allein an einem Tisch abseits von der Menge. Der Junge beobachtet mich. Ich gehe zu ihm. »Ein bißchen gelben Schnaps?« fragt er mich. »Nein danke, das verabscheue ich.« Auf ein Handzeichen von Jing tritt ein Diener heran und übersät den Tisch mit Dutzenden von Tellern. Mit einem Paar Stäbchen serviert er mir in einer Schale einige Scheiben durchscheinendes Fleisch. »Probiere das einmal«, meint er. »Das sind Bärentatzen.« Das Fleisch, äußerst geschätzt von den Aristokraten in der Mandschurei, glitscht über meine Zunge. Es hat keinerlei Geschmack. »Hier«, sagt er, »das ist Kamelfußfleisch, fünf Jahre lang in Wein eingelegt. Und hier der Fisch mit dem Namen Schwarzer Drachen, gefischt im Fluß Amur.« Statt das Essen zu kosten, frage ich ihn, ob Min da ist. »Nein«, antwortet er. Um meine Enttäuschung zu verbergen, gestehe ich, daß ich mich von meiner Schwester auf diesen Abend habe mitschleppen lassen, daß ich nicht einmal das Gesicht des neuen Bürgermeisters kenne, unseres Gastgebers. Er zeigt mit dem Finger auf einen Mann von etwa fünfzig Jahren, klein und fett, bekleidet mit einem brokatenen Kaftan. »Woher kennst du ihn?« »Er ist mein Vater.« »Dein Vater!« 66
»Erstaunlich, nicht wahr?« sagt Jing mit einem kalten Lachen. »Vor dem Angriff der Rebellen war er Berater des alten Bürgermeisters. Wenn die einen sterben, profitieren davon die anderen. Sogar in der Hölle würde mein Vater es noch schaffen, sich befördern zu lassen!« Ich bin betroffen von diesem Geständnis, weiß nicht, wie ich mich aus der Affäre ziehen soll. »Sieh mal, da ist eine meiner Stiefmütter«, sagt Jing und zeigt offen auf eine Frau, die die Gäste begrüßt, so wie ein Schmetterling von Blume zu Blume schwirrt. Zu ihrer exzessiven Schminke trägt sie einen reich bestickten Kaftan mit Pelzfutter und eine fächerförmige Haube, besetzt mit Perlen, Korallen und MusselinBlumen, eine antike Kostbarkeit, die heutzutage äußerst rar ist. »Sie war eine Dirne, bevor sie die Konkubine meines Vaters wurde«, kommentiert Jing spöttisch. »Jetzt schläft sie mit einem japanischen Oberst. Weißt du, warum sie sich als kaiserliche Ehrendame verkleidet? Sie hat immer behauptet, sie stamme aus einer verarmten Familie aus dem Strahlend Gelben Banner* … Hier kommt meine Mutter. Wie kann sie in ihrem Haus nur so eine Schlampe dulden?« Als ich Jings Blick folge, sehe ich den Schatten einer älteren Dame. Hinter ihr entdecke ich plötzlich meinen Schwager, mit Pomade im Haar, gekleidet in einen Anzug von schreiender Eleganz. Ich frage Jing, ob er ihn kennt. Ein Lächeln erscheint in seinem Mundwinkel. »Das ist dein Schwager? Der Denunziant?« »Warum Denunziant? Mein Schwager ist ein anerkannter Journalist!« 67
Jing antwortet nicht. Er gießt sich ein großes Glas Wein ein und leert es in einem Zug. Mins Freund ruft in mir eine Mischung von Abscheu und Bewunderung hervor. Als ich ihn verlasse, finde ich vor lauter Verwirrung den Tisch meiner Schwester nicht mehr.
30 Meine Freunde dichteten mir eine Leidenschaft für die lernende Geisha an und luden sie so oft wie möglich zu den Banketten. Ich errötete bei ihren Auftritten. Das Zublinzeln, das erstickte Kichern meiner Kameraden ärgerte mich, und zugleich verschafften sie mir auch ein gewisses Gefühl von Stolz und Glück. Lumière war so schüchtern, daß sie uns überstürzt verließ, sobald sie fertig gesungen hatte. Mit der Zeit war sie auch bereit, zu servieren und mit uns zu trinken. Sie hatte winzige Hände. Ihre Fingernägel glichen antiken Perlen. Wenn sie das Glas an die Lippen führte, glitt der Ärmel ihres Kimonos an ihrem Unterarm hinunter und gab ein blendend weißes Handgelenk frei. Mochte ihr nackter Körper wohl ein Schneefeld sein? Zu dieser Zeit erlaubte mir mein Sold gerade einmal, von Zeit zu Zeit ein Bankett auszurichten, und ich war weit davon entfernt, eine Geisha unterhalten zu können. Die Zeit verging, meine Glut erlosch. Ich brauchte weniger ferne Frauen, die ein allzu enthaltsames Soldatenleben zerstreuen konnten. 68
Die politische Landschaft dieses Jahres glich einem bleigrauen Himmel. Wir träumten von einem Sturm, um die Sonne wieder strahlen zu sehen. Als Soldaten konnten wir weder nachgeben noch uns entziehen. Einige Leutnants wählten den Weg des Martyriums.* Die Attentate wurden häufiger. Die jungen Mörder lieferten sich der Obrigkeit aus, um ihre Loyalität unter Beweis zu stellen. Aber weder Terror noch Freitod änderten etwas an der Trägheit unserer Minister. Sie fürchteten, die Kamakura-Zeit* könnte wiederkehren, und waren nur darauf bedacht, die Militärs von der Macht fernzuhalten. Die Stunde des Opfers war herangerückt. Um die Welt zu erobern, mußten wir die Brücke aus unserem Blut und Fleisch überschreiten. Der Seppuku* kam wieder in Mode. Die Noblesse dieses rituellen Selbstmords erforderte eine lange innerliche Vorbereitung, die meine Gedanken von der jungen Geisha ablenkte. Eines Frühlingsmorgens erhielt ich ein rätselhaftes Billett, dessen hübsche Schrift eine sorgfältige Erziehung verriet. Eine unbekannte Frau bat mich, sie in einem Teehaus an der Weidenbrücke aufzusuchen. Verwundert ging ich hin. Es war schon dämmerig. Von weitem hörte ich die Musik und das Lachen. Von jenseits der Tür verriet das Rascheln von Seide, daß mehrere Geishas vorübergingen. Ein Spalt öffnete sich in der Wand. Eine Frau von vierzig Jahren begrüßte mich. Sie trug einen Kimono aus grau-rosa Seide, unter dessen Ausschnitt man einen zweiten, olivgrünen Kimono herausschauen sah. Ein blühender Kirschbaum, von Hand gemalt, breitete darauf seine Blütenblätter bis an den Saum der Ärmel. 69
Sie stellte sich vor als die Mutter von Lumière und hieß mich willkommen. Ich hatte sagen hören, daß sie als ehemalige Geisha ein großes Teehaus besaß. Sie eröffnete mir, daß sie meinen Vater gekannt hatte. Ich wußte, daß er in eine Geisha verliebt gewesen war, und fragte mich, ob es wohl sie war. Sie musterte mich einige Sekunden aufmerksam, dann schlug sie die Augen nieder. »Sie haben meine Tochter getroffen?« fragte sie. »Waren die Abende in ihrer Begleitung angenehm?« Ich gab zurück, daß ich ihr musikalisches Talent sehr bewunderte. »Meine Tochter ist siebzehn Jahre alt. Letztes Jahr schon hätte sie als Geisha anerkannt werden sollen. Sie wissen sicherlich, daß in unserem Beruf eine werdende Geisha den Künstlerstatus nur dann erhalten kann, wenn sie die Zeremonie des Mizuage durchlaufen hat. Für mich selbst war das seinerzeit ein Alptraum. Ich habe beschlossen, meiner Tochter dieses Drama zu ersparen. Ich habe ihr aufgetragen, ihren Mann zu erwählen. Sie hat Sie genannt. Ich habe mir erlaubt, mich zu erkundigen. Man hat mir über Sie sehr löbliche Dinge berichtet. Eine aussichtsreiche militärische Karriere steht Ihnen bevor. Sie sind jung, und Sie könnten die Summe, die für die Zeremonie nötig ist, niemals aufbringen. Egal, ich habe für meine Tochter eine glückliche Zukunft gewählt, und ich biete Ihnen ihren Körper. Wenn Sie diese bescheidene Bitte annehmen, werde ich Ihnen ewig dankbar sein.« Verblüfft von dem, was ich soeben vernommen hatte, schwieg ich still. 70
Sie sank vor mir auf die Knie und verneigte sich. »Ich flehe Sie an, denken Sie darüber nach. Um die finanziellen Details machen Sie sich keine Gedanken, ich kümmere mich um alles. Denken Sie nach, ich bitte Sie …« Sie erhob sich und verschwand hinter den Schiebewänden. Die Dunkelheit im Raum lastete auf mir. Die Tradition verlangt, daß eine junge Geisha sich von einem reichen Unbekannten entjungfern läßt. Diese Initiation ist teuer, aber für einen Mann von Welt ist es die Krönung seines Prestiges. Niemals hat eine junge Geisha ihren Vergewaltiger wählen können, und soeben hatte man mich gebeten, die Sitte in skandalöser Weise zu übertreten. Beklommen zögerte ich meine Antwort hinaus.
31 Gestern habe ich Min nicht getroffen, und tausendmal habe ich mich gefragt, ob er wohl krank war oder ob er mich nicht mehr sehen wollte. Vielleicht ist er, wie viele Studenten in seinem Alter, bereits verlobt? Warum sollte er sich denn für ein Schulmädchen interessieren? Auch heute morgen ist er nicht an der Kreuzung. Verletzt und traurig beschließe ich, ihn zu vergessen. Lang anhaltendes Klingeln läßt mich plötzlich aufhorchen. Ich blicke auf. Min radelt auf mich zu. Er ruft herüber: »Was machst du heute nachmittag?« 71
Ohne es zu wollen, antworte ich: »Ich spiele Go, auf dem Platz der Tausend Winde.« »Das machst du ein andermal. Ich lade dich zum Essen ein.« Ohne mir die Zeit zu lassen, seinen Vorschlag abzulehnen, fährt er fort: »Ich warte vor der Schule auf dich.« Bevor er uns überholt, wirft er mir einen Geldschein zu. »Für den Kuli«, meint er. »Damit er den Mund hält.« Mittags verlasse ich die Schule als letzte. Mit gesenktem Blick gehe ich an der Mauer entlang. Min ist nicht an der Tür, ich seufze vor Erleichterung auf und steige in eine Rikscha. Wie ein Gespenst taucht Min plötzlich auf. Er läßt sein Fahrrad stehen und schiebt sich auf meine Sitzbank, bevor noch ein überraschter Schrei über meine Lippen gekommen wäre. Er legt mir einen Arm um die Schultern und läßt mit dem anderen die Gardine der Rikscha herunter, die uns bis an die Knie verhüllt. Dann trägt er dem Kuli auf, uns zum Hügel der Sieben Ruinen zu bringen. Die Rikscha fährt durch enge Gassen. Von fremden Blicken geschützt durch den weißen Vorhang, der unter der Sonne vergilbt ist, wird Mins Atem schwer. Seine Finger streifen meinen Hals, dann tauchen sie in mein Haar ein und massieren meinen Nacken. Ich bin steif vor Schreck und von einem ungekannten Wohlsein, und halte den Atem an. Am unteren Rand des Vorhangs schwingen die Beine des Kulis in einer 72
gleichmäßigen Bewegung. Links und rechts ziehen Gehwege vorbei, Hunde, Kinder, Passanten. Ich wünschte mir, diese einförmige Landschaft würde niemals enden. Auf Mins Anweisung hin hält die Rikscha vor einem Restaurant. Min setzt sich, als wäre er hier zu Hause, und bestellt Nudeln. Der winzige Raum füllt sich sofort mit Küchendüften, die sich unter das Parfüm der ersten Blumen mischt. Der Wirt bedient uns und geht wieder hinter seinem Tresen dösen. Durch die offene Tür fällt die Mittagssonne herein. Stumm konzentriere ich mich auf das Essen, während Min eine Rede über den Klassenkampf hält. Dann bemerkt er, daß er noch nie ein Mädchen hat schlingen sehen wie mich. Ich antworte nichts auf seine Neckerei. Es ist zum Verzweifeln. Dieser junge Mann hat Erfahrung mit solchen Rendezvous, aber ich habe keine Ahnung, wie sich eine Geliebte zu verhalten hat. Min befreit mich von meiner Verlegenheit, er schlägt einen Spaziergang auf den Hügel der Sieben Ruinen vor. Wir beginnen unseren Aufstieg auf einem schattigen Weg, wo das Gelb des Löwenzahns und das Purpur der Glockenblumen miteinander wetteifern. Junges Gras wächst in dichten Büscheln am Fuß von verkohlten Granitblöcken, Überreste eines Palastes, der den Flammen zum Opfer gefallen ist. Min bittet mich, auf einer Lotusblume Platz zu nehmen, die in den Marmor gehauen ist, und betrachtet mich. Dieses Schweigen ist mir unangenehm. Mit gesenktem Kopf spiele ich mit meiner Schuhspitze mit einer Butterblume. Ich weiß nicht, was ich tun soll. In den Romanen aus der Schule, Mandarinenten und Wilde Schmetterlinge, 73
ist die Beschreibung eines jungen Mannes und einer jungen Frau in einem Garten immer die beeindrukkendste Szene einer Liebesgeschichte: Sie haben sich unendlich viel zu sagen, aber ihre Scham verbietet ihnen, sich zu erklären. Je weiter ich uns mit den Figuren der Bahnhofsliteratur vergleiche, desto lächerlicher finde ich uns. Was erwartet Min von mir? Und ich von ihm? Ich empfinde nichts, was der Spannung unseres ersten Treffens gleichen würde, dem Schauer, den ich jeden Morgen auf dem Schulweg spürte, als Min einfach nur vorbeikam. Ist unsere Geschichte schon zu Ende, und gibt es die Liebe nur in der Einsamkeit meiner Phantasie? Plötzlich legt Min mir die Hand auf die Schulter. Ich fahre zusammen. Ich will mich fast schon aus seiner Umarmung lösen, als er mit den Fingerspitzen über meine Brauen streicht, über meine Lider, meine Stirn, mein Kinn. Bei jeder seiner Bewegungen durchläuft mich ein Schauer. Meine Wangen glühen. Ich schäme mich, ich habe Angst, daß man uns durch das Laub hindurch sehen kann. Ich habe nicht die Kraft zu widerstehen. Er zieht meinen Kopf an seinen. Zentimeter um Zentimeter kommt sein Gesicht näher. Ich erkenne die Sommersprossen auf seinen Wangen, seinen sprießenden Bart, die Skrupel in seinen Augen. Ich bin zu stolz, um meine Furcht zu zeigen, und statt mich zu wehren, falle ich plump in seine Arme. Seine Lippen streifen die meinen. Sie sind trocken, aber seine Zunge ist feucht. Ich bin verblüfft, als ich spüre, wie er sie in meinen Mund schiebt. Ein Strom von Wasser bricht über mich her. 74
Ich möchte weinen, aber es kommen keine Tränen. Meine Fingernägel krallen sich in seinen Rücken, er stöhnt auf. Mit gesenkten Lidern, flammenden Wangen, bläulichen Ringen unter den Augen küßt Min mich mit der Trunkenheit eines Studenten, der ein seltenes Buch verschlingt. Jenseits der Baumwipfel verliert die Stadt sich in einem leichten Dunst. Mein Schweigen kann den jungen Mann nicht entmutigen. Er nimmt mich mit in das Kloster auf dem Gipfel des Hügels. Dort bestellt er bei einem Mönchlein Tee. Nachdem er meine Tasse vollgeschenkt hat, schält er Kürbiskerne und blickt pfeifend in die Landschaft. Ich weiche seinem Blick genauso aus wie dem der Mönche, die mich anstarren, trinke meine Tasse Tee, stehe auf, glätte meinen zerknitterten Rock und springe in großen Schritten die Treppe hinab. Die Sonne, eine Maske aus rotem Lack, ist im Sinken. Hinter den Mauern der Stadt legt der schmelzende Schnee verbrannte Erde frei. Die Dörfer sind von den schwarzen Äckern nicht mehr zu unterscheiden. Die Bäume werden platt, verschwinden in den Falten des Mantels der Dämmerung. Am Abend träume ich von Cousin Lu, der in mein Zimmer stürzt. Er kommt zu mir, nimmt meine Hand und drückt sie gegen seine Brust. Voller Abscheu versuche ich, ihn loszuwerden. Aber seine Finger geben nicht nach, übertragen mir ihre Wärme. Ich bin befallen von einer seltsamen Wehmut. Ganz außer mir erwache ich, in Schweiß gebadet.
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32 Zu Beginn des Herbstes bekam ich ein Billett von einer Frau, die mich in einem Park treffen wollte. Ich war sicher, daß sie geschickt wurde, um meinen Entschluß betreffs der jungen Geisha zu erfahren. Um zehn Uhr morgens kam ich an die Stelle, die im Brief angegeben war, ich war entschlossen abzulehnen. Eine Frau saß auf einer steinernen Bank, auf der rötliche Flechten Muster bildeten, unter einem flammenden Ahorn. Das Haar in einem einfachen Knoten aufgesteckt, trug sie einen indigoblauen Kimono, der in der Taille von einem orangenen Gürtel zusammengehalten wurde. Ich glaubte meinen Augen nicht. Ohne Schminke, mit kaum rosigen Lippen, sah Lumière aus wie ein Kind von zehn Jahren. Sie stand auf und verneigte sich, um mich zu begrüßen. »Danke, daß Sie gekommen sind.« Wir setzten uns an die beiden Enden der Bank. Sie drehte mir halb den Rücken zu und blieb stumm. Ich fand keine Worte. Nach einer langen Zeit der Stille forderte ich sie auf, mit mir durch den Park zu spazieren. Sie ging hinter mir, trippelte in kleinen Schritten. Alle Ahorne standen in Flammen, die Gingkos strahlten in kräftigem Gelb. Der Herbstwind blies das feurige Laub auf uns herab. Wir gingen über eine Holzbrücke, umrundeten einen Teich mit türkisfarbenem Wasser und einem Gürtel von Chrysanthemen, und blieben in einem offenen Pavillon stehen, von dem aus wir den wolkenlosen Himmel betrachten konnten und den Schotter, durch den 76
sich der Efeu wand. Das Rascheln ihres Kimonos verwob sich mit den Vogelschreien. Ich war außer Stande, unser stummes Einverständnis zu durchbrechen. Am Ausgang des Parks verneigte sie sich tief und entfernte sich.
33 Auf dem Platz der Tausend Winde spiele ich gegen Wu, den Antiquar, nachdem ich ihn acht Vorgabesteine habe setzen lassen. Endgültig geschlagen, verschwindet er unter Seufzen. Eine einfache Partie Go bringt die meisten Spieler zur Erschöpfung. Sie müssen essen und schlafen, um wieder zu den gewohnten Kräften zu finden. Meine Reaktion ist anders. Von Beginn an schürt das Spiel mich innerlich auf. Die Konzentration trägt mich an den Gipfel der Erregung. Wenn das Spiel vorbei ist, weiß ich noch stundenlang nicht, wohin mit der Kraft, die sich im Lauf des Spiels aufgestaut hat, ich suche nach etwas, das mich beruhigt. Vergeblich. Wie an den anderen Tagen mache ich mich auch heute mit großen Schritten auf den Weg nach Hause. Die verrücktesten Träumereien gehen mir durch den Kopf. Ich glaube mich aus dem Kreis der Sterblichen herausgehoben, ich sehe mich zu den Göttern gelangen. Ein Mann ruft mir etwas zu. Ich blicke auf: Jing überquert mit seinem Fahrrad die Straße. Ein Vogelkä77
fig unter einem blauen Tuch steht auf seinem Gepäckträger. Er bremst. »Was machst du da mit diesem Käfig?« Er reißt den Stoff herunter und zeigt mir voller Stolz zwei Rotkehlchen. »Diese Vögel lieben es, unterwegs zu sein. Normalerweise wiegen die Liebhaber sie bei einem kleinen Morgenspaziergang im Rhythmus ihrer Schritte. Aber wenn ich laufe wie die Alten, langweile ich mich zu Tode. Das hier ist meine neueste Erfindung.« Ich lache. Der Junge schlägt vor, mich heimzubegleiten. Es ist dunkel geworden, die Gesichter der Passanten sind nicht mehr zu erkennen. Ich kann auf sein Fahrrad klettern, ganz ohne aufzufallen. Mit meinem linken Arm halte ich den Käfig fest, den anderen schlinge ich um Jings Hüften. Er fährt los. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, klammere ich mich an seine Weste. Meine Finger gleiten über die Seide und den Pelz, bleiben auf seinem Bauch stehen. Unter der gefütterten Weste trägt Jing einen baumwollenen Kittel. Durch das Gewebe hindurch brennt die Hitze seiner Haut auf meiner Hand. Bei jeder Bewegung seiner Beine ziehen sich unter meinen Fingern die Muskeln zusammen und entspannen sich. Verwirrt nehme ich meinen Arm zurück, bis Jing sich in einer Kurve zur Seite neigt und mich zwingt, mich enger an ihn zu schmiegen. Ich bitte ihn, vor der Hintertür unseres Hauses stehen zu bleiben. Zwischen den hohen Mauern ist die Straße von einer einsamen Laterne nur schwach erleuchtet. Jings Wangen leuchten wie zwei Glutnester. Er keucht und sucht nach seinem Taschentuch. 78
Ich drücke ihm meines auf die Stirn. Er dankt mir und wischt sein schweißüberströmtes Gesicht ab. Mein Blick ist ihm peinlich, er dreht sich zur Mauer, um seinen Kittel aufzuknöpfen und sich mit dem Taschentuch über die Brust zu fahren. Ich frage ihn, ob er Neuigkeiten von Min hat. »Ich sehe ihn morgen in der Uni …« Ich halte ihm den Käfig hin. Er umschließt ihn mit seinen Armen und murmelt: »Riecht gut, dein Taschentuch …« Ein lautes Krachen läßt uns aufschrecken. Das Fahrrad war flüchtig gegen einen Baum gelehnt, es ist eben umgefallen. Jing beugt sich hinunter, hebt es wieder auf und flieht wie ein gejagtes Kaninchen.
34 Mit einem Ruck hält der Zug an. Ich werde aus dem Schlaf gerüttelt und höre, wie der Befehl zum Losmarschieren erteilt wird. Als ich aus dem Wagen steige, nimmt mich das Morgengrauen in seine eisigen Arme. Unter einem kaum blaßlila gefärbten Himmel zieht sich ohne Ende verbranntes Land hin, der Blick trifft auf keinerlei Bebauung, auf keinen Baum. Der Zug fährt wieder los. Wir beneiden unsere Kameraden, die bis ins innere China Weiterreisen. Unsere Einheit hat die Aufgabe, in einer kleinen Stadt im Süden der Mandschurei über die Sicherheit zu wachen. Der Ort trägt den seltsamen Namen Tausend Winde. 79
Den Hals tief in die Uniform hineingezogen, lasse ich mich von der Gleichmäßigkeit der Schritte dahintragen und döse weiter. Binnen weniger Monate habe ich gelernt, beim Marschieren zu schlafen. Das Schwingen der Beine macht mir warm und wiegt mich zugleich. Die Hochzeitsnacht fand in einem Gartenpavillon statt, mitten in dem Park, in den Lumière mich schon einmal bestellt hatte. Nach der Mahlzeit führte mich eine junge Dienerin in ein Schlafzimmer. Dort hatte man einen Futon aufgeklappt. Sie half mir, mich zu entkleiden, einen Yukata überzuziehen. Ich lag auf dem Rücken, mit verschränkten Armen, und versuchte, meine wandernden Gedanken zu sammeln. Es mußte schon spät sein, aber ich wußte nicht, wieviel Uhr es war. Die Stille machte mir zu schaffen. Es war heiß. Ich stand auf und zog die Schiebewände zur Veranda auf. Der Mond war von dunklen Wolken umgeben. In der Dunkelheit antwortete das Quaken der Frösche dem Zirpen der Grillen. Ich schloß die Türen und warf mich wieder auf mein Lager. Meine Benommenheit verschwand im selben Maße, in dem meine Ungeduld zunahm. Ich, der ich noch nie Jungfräulichkeit erlebt hatte, was hatte ich zu tun? Bei einem kaum hörbaren Geräusch richtete ich mich auf. Am Eingang stand Lumière, in einen weißen Kimono gehüllt, sie verneigte sich. Ihr bemaltes Gesicht, eine prachtvolle Maske, machte sie noch unnahbarer. Gleich einem Geist schritt sie schweigend durch den Raum und schloß sich im Nachbarzimmer ein. Als sie wieder heraustrat, hatte sie ihren zeremoniel80
len Kimono abgelegt, war jetzt in einen purpurnen Yukata gehüllt. Ihre pechschwarzen Haare hoben sich von der feurigen Seide ab. Sie war nichts als ein kleines Mädchen. Lange Zeit blieb sie sitzen, die Hände auf den Knien, den Blick ins Unsichtbare gerichtet. Plötzlich durchbrach sie das Schweigen. »Umarmen Sie mich, bitte.« Unbeholfen nahm ich sie in die Arme. Ich legte meine Wange an die ihre. Aus dem Kragen ihres Yukata drang ein Duft zu mir. Mein Herz machte einen Sprung. Sie hielt die Arme dicht am Körper, blieb steif wie ein Stock. Als ich ihre Beine spreizte, umklammerte sie mich plötzlich mit aller Kraft. Ich mußte kämpfen gegen ihre Schenkel, die sie zusammenpreßte wie einen Schraubstock. Ihr Geschlecht war eiskalt. Der Schweiß rann mir herab und vermischte sich mit ihrem, grub auf ihrer weißen Schminke schwarze Furchen. Ihre durchnäßten Haare schlängelten sich auf ihren Wangen und drangen manchmal in meinen Mund ein. Sie war außer Stande, einen Ton der Klage zu äußern, sie wirkte wie ein erwürgtes Tier. Ich hätte sie gerne geküßt, aber ihre Lippen mit der kräftig roten Schminke stießen mich ab. Ich liebkoste ihren Körper unter der Hülle ihres Yukata. Er war klamm, fiebrig, und wo immer meine Finger ihn berührten, bedeckte er sich mit Gänsehaut. Plötzlich konnte ich auf dem Grund ihrer schwarzen Pupillen dieselbe furchtbare Angst lesen, die ich aus den Augen von Todeskandidaten kannte, kurz bevor sie hingerichtet wurden. Mich befiel unendliche Niedergeschlagenheit. Ich 81
ließ von ihrem Körper ab und kniete mich hin. Mit zitternder Stimme fragte sie: »Was haben Sie?« »Verzeihen Sie mir.« Sie begann zu schluchzen: »Aber ich bitte Sie.« Ihre Verzweiflung machte mich vollends hilflos. Ich glaubte die Frauen zu kennen, aber mit meinen zwanzig Jahren wußte ich nicht, daß der Mensch jenseits der Lust eine Welt des Schattens durchläuft, in der die Würde sich verliert, wo man sich bewegt wie im Nô, maskiert, trostlos in der Seele. Ich beschloß, ihr Gesicht mit dem Laken zu bedecken, auf dem wir lagen, und hob den Saum ihres Yukata an. Im Licht der Lampe wirkten ihre Beine totenbleich. Ihr Geschlecht, ein länglicher Spalt, war bedeckt wie von einem Otternfell. Ich versuchte mir vorzustellen, daß sie nur eine einfache Nutte war, die ich auf der Straße aufgesammelt hatte. Ich konnte sie unmöglich als eine Höhle ansehen, in deren Rundung der Phallus in einer Explosion triumphieren würde. Ich streichelte mich selbst. Mein Geschlecht reagierte nicht. Plötzlich bemerkte ich, daß das Mädchen völlig regungslos dalag, ich dachte, sie sei erstickt. Ich hob das Laken an. Lumière weinte. Um das Gesicht zu wahren, ritzte ich mit einem Dolch meinen Arm auf und ließ mein Blut auf den Streifen weißer Seide tropfen, den das der Jungfrau hätte färben sollen. Kurz vor dem Morgengrauen half ich dem Mädchen, ihr Gesicht wieder zu pudern. Mit der blutigen Stoffrolle in ihrem Ärmel ging sie fort.
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35 Nach der Schule kommt Huong mit zu mir nach Hause. Wir essen mit meinen Eltern zu Abend, dann schließen wir uns in meinem Zimmer ein, um eine Partie Schach zu spielen. »Ich werde heiraten«, verkündet sie mir und rückt ihren Springer vor. »Ach, was für eine gute Nachricht«, gebe ich zurück, überzeugt, daß sie nur Spaß macht. »Wer ist der glückliche Auserwählte? Kenne ich ihn?« Sie antwortet nicht. Ich hebe den Kopf. Sie hält einen Bauern in den Fingern, die Wange in die linke Hand gestützt. Die Lampe fällt auf zwei Tränenstreifen, die an ihrer Nase entlang laufen. Betroffen flehe ich sie an, zu erzählen. Sie beginnt zu schluchzen. Ich sehe sie an, mich drückt das Gewissen. Seit ich Min und Jing kennengelernt habe, ist Huong in meinem Leben nicht mehr so wichtig. Es macht mir kein Vergnügen mehr, auf Bälle zu gehen, und ich schlage alle ihre Einladungen aus. Wenn sie mich nach der Schule zu Fuß nach Hause begleitet, bin ich in Gedanken abwesend und höre ihrem Geplapper kaum zu. »Ich bin verlobt.« »Mit wem?« Sie sieht mich lange an: »Mit dem jüngsten Sohn des Bürgermeisters in unserem Dorf.« Ich kann nicht umhin zu lachen: »Aber wo kommt der denn plötzlich her? Davon hast du mir noch nie erzählt. Warum hast du ihn mir verheimlicht? Ist das 83
also dein Verliebter? Als Kinder habt ihr zusammen mit grünen Pflaumen gespielt und mit Bambuspferdchen. Und dann habt ihr euch in der Stadt wieder getroffen. Wo studiert er? Ist er schön? Ich hoffe doch, daß ihr hier wohnen werdet. Also, ich verstehe gar nicht, warum du so weinst. Stimmt irgend etwas nicht?« »Ich habe ihn noch nie gesehen. Mein Vater und meine Stiefmutter haben für mich entschieden. Ich muß Ende Juli zurück aufs Land.« »Du willst mir doch nicht sagen, daß man dich zu dieser Hochzeit mit einem Unbekannten zwingt!« Huong weint jetzt erst recht. »Das ist doch nicht möglich. Wie kannst du so einen Unsinn akzeptieren? Die Zeiten haben sich geändert. Heute ist ein junges Mädchen seinen Eltern nicht mehr mit Leib und Seele ausgeliefert.« »Mein Vater hat mir geschrieben … Wenn ich mich weigere, streicht er mir … den … Unterhalt …« »So eine Gemeinheit! Du bist doch keine Handelsware, kein Tauschobjekt! Du bist gerade den Klauen deiner Stiefmutter entkommen, da wirst du doch nicht wieder unter den Löffel einer Landfurie geraten, die Pfeife raucht, sich mit Opium berauscht, dich beneidet um deine Jugend und deine Bildung. Sie wird dich demütigen, dich erniedrigen, so lange, bis du selbst so geworden bist wie sie, frustriert, trübsinnig und böse. Du wirst vielleicht einen dickbäuchigen Schwiegervater haben, der seine Abende bei den Nutten verbringt und, wenn er stockbesoffen nach Hause kommt, seine Frau anschnauzt. Dein Mann wird dich verlassen. Dann lebst du in einem riesigen Haushalt mit den an84
deren Frauen: Dienerinnen, Köchinnen, Konkubinen deines Schwiegervaters, Schwägerinnen, Schwestern und Mütter der Schwägerinnen, jede einzelne wird Ränke schmieden, um den Männern zu gefallen und dich aus dem Weg zu räumen. Und er wird dir Kinder machen. Wenn du einen Sohn bekommst, wirst du respektiert. Wenn es eine Tochter ist, behandeln sie dich wie ihre Hunde oder ihre Schweine. Eines Tages wirst du verstoßen, mit einem einfachen Brief, und du wirst zur Schande deiner Familie …« »Hör auf, ich bitte dich …« Huong ringt nach Atem. Ich fühle mich verantwortlich für ihre Qual, ich gehe ein feuchtes Handtuch holen. Ich zwinge sie, sich das Gesicht abzuwischen und eine Tasse Tee zu trinken. Allmählich beruhigt sie sich. »Ich weiß, daß es schwierig ist, seinem Vater zu widersprechen. Früher war mangelnde Untergebenheit ein Verbrechen. Heute ist es das einzige Mittel, um sein Glück zu schützen. Wenn dein Vater dir den Unterhalt streicht, werden meine Eltern dir helfen. Wir gehen zusammen an die Universität. Komm.« Ich ziehe Huong an der Hand vor den kleinen, rotlackierten Schrank, in dem meine Schätze versperrt sind. Ich öffne das Schloß. Zwischen den Büchern, den Rollen mit Kalligraphien, den Tuschesteinen in ihrem Holzetui, finde ich schließlich mein Täschchen aus bestickter Seide. Ich öffne es im Licht der Lampe und zeige Huong meinen Schmuck: »Das können wir verkaufen, es reicht, daß wir davon studieren können.« Sofort fließen ihre Tränen von neuem: »Meine Mut85
ter hatte mir ihren vermacht. Mein Vater hat ihn mir vom Leib gerissen und seiner neuen Frau geschenkt.« »Hör auf zu heulen. Zwischen Geld und Freiheit darf man nicht eine Sekunde zögern. Jetzt wisch dir die Tränen ab. Alles, was mir gehört, gehört dir, hör auf, dich zu quälen.« Die Nacht rückt vor. Neben mir ist Huong in einen unruhigen Schlaf gefallen. Ich höre, wie der Wind und die Katzen über dem Dach toben. Das Bild meiner Schwester Perle des Mondes steht mir vor Augen: Ihre Beine sind geschmeidig wie Bambusstangen. Stolz zeigt sie mir das Versöhnungsgeschenk meines Schwagers, ein Paar Satinschuhe in einem milchigen Weiß, auf die winzige Schmetterlinge aufgestickt sind. Ihr nackter Fuß inmitten dieses Glitzerns ist ebenso schön wie ihre Hand im Seidenhandschuh, mit einem Ring aus rosigen Korallen. Dann, plötzlich, verschwindet die Fröhlichkeit aus ihrem Gesicht. Ich sehe sie bleich, mit aufgelösten Haaren. Schwarze Ringe stehen ihr unter den Augen, an ihren Schläfen spannen sich Falten. Ihre Augen haben keinen Glanz, ihr lebloser Blick verliert sich im Unendlichen. Sie zählt die Stunden und betet darum, daß ihr Mann vor Mitternacht nach Hause kommt. Etwas Furchtbares geht von diesem Körper aus, den Alter und Unansehnlichkeit schon vertrocknen lassen. Für mich ist Perle des Mondes keine Frau, sondern eine welkende Blume. Auch meine Mutter ist keine Frau. Sie gehört zu den Geopferten. Ich sehe sie Vaters Manuskript abschreiben und ihm seine Unterlagen herbeischaffen. Ihre 86
Augen werden schlechter, sie leidet an Rückenschmerzen. Sie müht sich ab für Werke, die niemals ihren Namen tragen werden. Wenn Vater von seinen neidischen Kollegen verhöhnt und verfolgt wird, tröstet und verteidigt sie ihn. Als er vor drei Jahren einer Studentin ein Kind gemacht hat, hat sie ihren Schmerz verheimlicht. Sie hat die junge Mutter weggeschickt, die eines Morgens mit dem Säugling in den Armen vor unserer Tür stand, nachdem sie ihr ihr ganzes Vermögen gegeben hatte. Sie hat den Frieden in diesem Haus erkauft, und dafür ihre Seele verkauft. Niemals hat sie geweint. Aber wer verdient denn den schönen Namen Frau?
36 Ich ging wieder zu den Prostituierten, die mir meine Sicherheit zurückgaben und meine Potenz. Lumière ging mir nicht aus dem Sinn, meine Lust blieb schmerzhaft. Die Geisha hatte inzwischen einen Bankier, der sie unterhielt. Sie begann, sich einen guten Namen zu machen. Bald schon frequentierte sie nur noch die hohen Kreise der Gesellschaft, und ich verlor ihre Spur. Zwei Jahre später traf ich sie wieder, an einem nebligen Abend. Auf der anderen Seite der Straße entdeckte ich sie, wie sie in eine Rikscha stieg. Sie trug eine schwere, muschelförmige Haube und einen prächtigen Mantel. Sie sah mich, tat so, als würde sie mich nicht wieder87
erkennen und fuhr in der Dunkelheit davon wie eine Göttin auf dem Heimweg in den Himmel. Als ich von meinem Einsatz in der Mandschurei wußte, stellte ich mich bei ihr zu Hause vor, und ihre Mutter empfing mich. Ich wartete lange in einem abgelegenen Raum und trank Sake. Spät am Abend kam sie von einem offiziellen Empfang zurück. Sie trug einen schwarzen Kimono, an dessen Saum goldene Wellen auf einen handgemalten Ozean gestickt waren. Ihre Haare waren naß vom feinen, eiskalten Regen. Sie tupfte sie mit ihrem Taschentuch ab. Seit Jahren hatte ich sie nicht wiedergesehen. Ihre Wangen fielen leicht nach innen ein, sie unterstrichen die Härte ihres Blicks. Sie sah erschöpft aus. Als ich ihr Gesicht musterte, das jetzt das einer Frau geworden war, fühlte ich mich verraten. Sie setzte sich mir gegenüber, mit gesenktem Blick, die Hände auf den Knien. Ihre Schüchternheit erinnerte mich an unseren Spaziergang im Park. Lange Zeit schwiegen wir. Zwischen ihr und mir lag ein Fluß, den zu überqueren wir nicht die Kraft hatten. »Ich gehe in die Mandschurei.« Sie blieb unerschütterlich, zuckte mit keiner Wimper. »Ich werde Sie niemals vergessen«, sagte sie mir. Dieses Wort genügte mir. Ich verneigte mich tief vor ihr und erhob mich. Sie blieb unbeweglich sitzen. Keine Träne, kein Seufzer begleitete diesen Abschied, der bitter war, und befreiend.
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37 Nach Schulschluß sehe ich Min, der an einem Baum lehnt. Unsere Blicke begegnen sich. Ich senke den Kopf und gehe weiter. Er kommt hinter mir her: »Kann ich dich einen Moment begleiten?« Ich antworte nicht. Ungeniert läuft er mir nach und erzählt mir belanglose Dinge. Eigentlich mißfällt es mir nicht, ihn an meiner Seite zu haben. Min ist zwei Köpfe größer als ich. Der sanfte Schwall seiner Worte wiegt mich. Er erzählt mir von seiner Lektüre, seiner Jagd, seinen revolutionären Träumereien. Er schlägt mir vor, mich am Sonntag mit zum Angeln zu nehmen, mir zu zeigen, wie man verliebte Fische erkennt. Wir kommen an der Straße vorbei, in der Jings Haus liegt. »Komm«, sagt er und zieht mich hinter sich her. »Ich habe einen Schlüssel.« Sobald wir über die Schwelle getreten sind, dreht er sich um und mustert mich von Kopf bis Fuß. Seine Kühnheit entwaffnet mich. Ich schmiege mich an die Tür, bin völlig machtlos. Er beginnt mein Gesicht zu liebkosen, meinen Hals, seine Finger streifen meine Schultern. Ich lasse mich von einer seltsamen Wehmut befallen. Mit purpurroten Wangen und halb geschlossenen Augen schnuppert Min an meiner Haut. Wo immer seine Lippen hingleiten, hinterlassen sie eine fiebrige Furche. Als sie sich auf mein Kinn legen, öffne ich, ohne es zu wollen, meinen Mund, und Mins Zunge schiebt sich hinein. Seine Hand gleitet hinunter auf meine Brust. Seine Liebko89
sungen werden ungestümer, ich ersticke unter der Hitze seiner Umarmung. Ich sage ihm, er soll den Kragen meines Kleides öffnen. Min scheint erstaunt, aber er gehorcht. Seine zitternden Finger können die aufgesetzten Knöpfe nicht lösen. Ich reiße sie beinahe ab. Mins Gesicht erstarrt in einem Ausdruck der Bewunderung. Er kniet sich nieder und preßt seine Lippen auf meine Brüste, reibt daran seinen jungen Bart. Seine Stirn ist ein glühend heißes Bügeleisen. Ich winde mich mit geballten Fäusten. Ein Knirschen im Türschloß überrascht uns. Hastig stoße ich Min von mir. Kaum habe ich mein Kleid zugeknöpft, als die Tür sich öffnet. Jing kommt herein, seinen Vogelkäfig in der Hand. Als er uns sieht, verdüstert sich sein Blick. Er starrt mich mißmutig an und begrüßt Min mit einem Knurren. Ich hebe meine Tasche auf, schiebe Jing zur Seite und entfliehe auf die Straße. Niemals habe ich mich von einer so großen Traurigkeit erfaßt gefühlt. Die Raben ziehen krächzend über einen Himmel, in dem Lila und Orange sich langsam in das Schwarz der Wolken mischen. Die Luft ist von frischem Duft erfüllt. Jetzt wo der Mai da ist, fallen die Pappelblüten, bräunliche Regenwürmer, von den Ästen. Als Kind warf ich sie in den offenen Ausschnitt meiner Schwester, die vor Schreck laut aufschrie. Min hat meine Brüste so geknetet, daß sie mir weh tun. Unter einem Baum bleibe ich stehen, bringe meine Haare in Ordnung, glätte mein Kleid mit etwas Spucke auf meinen hohlen Händen. Ich betrachte mich in einem kleinen Spiegel: Mein Mund ist leicht geschwollen, als hätte ich eben lange geschlafen. Meine schar90
lachroten Wangen verraten das Geheimnis der verbotenen Träume, meine Stirn strahlt, mir ist, als würde ich Mins Küsse darauf erkennen, sichtbar allein für mich.
38 Wir haben unsere Waffen poliert und unsere zerknitterten Uniformen in Ordnung gebracht, bevor wir uns wieder auf den Weg machen. Bald erhebt sich am Horizont eine uralte Stadt, die von Mauern umgeben ist. Pappeln säumen den Wassergraben. Auf der Straße schwenken Chinesen unsere Sonnenflagge. Sobald wir das Haupttor durchschritten haben, breitet die Stadt der Tausend Winde ihren Wohlstand vor uns aus: zahllose Ziegeldächer, breite Straßen mit einem Gewimmel von Händlern, ohrenbetäubender Verkehrslärm, appetitliche Düfte aus den Restaurants. Ein Oberst der Garnison kommt auf uns zu, neben ihm Offiziere, hinter ihm der Bürgermeister, ein schnurrbärtiger, dicklicher Mandschu, der selbst wiederum von den Repräsentanten der örtlichen Bourgeoisie begleitet wird. Uns gehen die Augen über. Auf dem Gehsteig winken uns drei Dutzend junge Prostituierte in Kimonos zu. Sie schubsen sich gegenseitig zur Seite, lachen und erröten. Die schüchternsten verbergen ihr Gesicht, kommentieren untereinander, wie wir aussehen. Die kühnsten werfen uns auf japanisch ein paar zusammenhangslose Brocken zu: »Wie schön er ist!«, 91
»Kommen Sie zu mir in den Goldenen Lotus«, »Ich liebe Sie.« Die Müdigkeit des Marsches ist vergessen, wir erheben stolz die Häupter und atmen tief ein, um unsere Brust herauszustrecken. Die Kaserne liegt im Westen der Stadt, am Eingang Barrikaden und Maschinengewehre, Stacheldraht auf den hohen Mauern. Die Reservetruppe empfängt uns, zu vier Quadraten formiert, auf dem Übungsgelände. Nach der Begrüßungszeremonie ist es Zeit für die warme Mahlzeit. Kaum sind die Reden beendet, stürzen wir uns in der Kantine auf die Seetangsuppe und das scharfe Rindfleisch; wir streiten uns um fette Karpfen, Rehkeulen, Fasanenbrust. Gierig verschlingen wir Reiskugeln, geschmortes Gemüse, Tofu, den rohen Fisch, der sorgsam auf den Tellern angerichtet ist. Mit einem Bauch dick wie ein Luftballon kaue ich den verfliegenden Wohlgeschmack wieder, schleppe mich bis auf mein Zimmer und breche auf dem Bett zusammen.
39 Min setzt eine geheimnistuerische Miene auf und behauptet, Bücher zu besitzen, die unsere Regierung verboten hat: So versucht er mich zu Jing zu locken. Allein der Gedanke an dieses Haus läßt mich schwindlig werden. Und doch muß ich mich entscheiden. Es ist unmöglich, umzukehren. Ich bin kein einfaches Schulmädchen mehr und will mich nicht mehr mit Träume92
reien zufriedengeben. Ich muß handeln, ins Leere springen. In dem Moment, in dem das Unumkehrbare beginnt, werde ich endlich wissen, wer ich bin, warum ich lebe. In der Bibliothek gräbt Min seine ›gefährlichen‹ Bücher aus, die unter einem Stapel alter Schriften verborgen liegen. Ich blättere darin und verschlinge die Worte mit den Augen. Min nützt die Gelegenheit, mich von hinten zu umarmen. Seine Hände wandern unter mein Kleid und greifen nach meinen Brüsten. Er entkleidet mich, so wie man eine Frucht schält. Ich behalte meinen Schlüpfer an, stehe mit verschränkten Armen, und befehle ihm, meinen Rock, ohne ihn zu zerknittern, auf einen Kleiderbügel zu hängen. Dann zieht er sich aus und schleudert seine Kleider in alle Ecken des Zimmers. Er behält seine Unterhose an, wirft sich auf mich und reibt seine Brust gegen meine. Meine Augen sind geschlossen, ich versuche, gegen das Gewicht seines Körpers anzukommen. Min zieht mich mit Gewalt in die Mitte des Zimmers und legt mich auf einen Schreibtisch. Langsam spreizt er meine Beine. Ich strecke die Hände vor, um mich zu bedekken. Min umfaßt meine Arme. Ich winde mich, ich stöhne. Um mich in meiner Verzweiflung zu beruhigen, küßt er mir die Brustwarze, saugt daran. Ich schreie vor Schmerz auf. Wie ein Dämon richtet er sich in seiner ganzen Länge auf. Sein Kopf scheint bis an die Decke zu reichen. Sein verzerrtes Gesicht hebt sich vor einem quadratischen Stück Himmel ab, das ins Fenster eingelassen ist. Sein Bauch ist zwischen meinen Schenkeln, plötzlich kommt er näher. Die Legende erzählt, daß es eine der beliebtesten 93
Qualen der Teufel in der Hölle ist, die Verdammten in zwei Hälften zu zersägen: Diese volkstümliche Vorstellung schöpft ihren Ursprung wahrscheinlich aus dem ersten Zusammentreffen zwischen einem Mann und einer Frau. »Tut es weh?« Ich beiße mir auf die Unterlippe und verweigere die Antwort. Min betrachtet mich einen Augenblick, dann zieht er sich an und wischt mein Gesicht mit einem Taschentuch ab. Er blickt mir tief in die Augen und sagt: »Ich muß dich heiraten.« »Trag mich ins Bett.« Min schließt die Türen, zieht die Vorhänge zu und läßt das Moskitonetz herab, das rund um das Bett hängt. Wir wickeln uns in eine seidene Decke mit Baumwollfutter. Im Halbdunkel lähmt mich ein Geruch nach faulem Holz. Er tröstet mich: »Beim ersten Mal fühlt man sich immer ein bißchen seltsam.« »Du mußt ja Erfahrung haben, so wie du redest!« Er verstummt. Seine Hände gleiten über meinen Hals, meine Schultern, meine Arme, meinen Bauch. Draußen hört man die ersten Grillen zirpen. Min ist wieder über mir. Er tut mir weh. Aber diesmal ist die Operation erträglich. Ich zittere, ringe nach Luft. In meinem Kopf geraten die Gedanken durcheinander, die Bilder vermischen sich. Ich sehe Jings Gesicht auftauchen, dann das von Cousin Lu. Plötzlich sieht Min mich mit einem zugleich grausamen und ängstlichen Blick an. Mehrmals dringt heiseres Stöhnen aus seiner Kehle. Er kämpft gegen 94
eine unsichtbare Macht, dann fällt er reglos über mich hin. Er schläft unverzüglich ein, seine Arme erschöpft um meine Taille gelegt. Sein Kopf ruht an meiner Halsbeuge. Bei jeder meiner Bewegungen streichelt er mich instinktiv und zieht mich näher an sich heran. Ich muß wieder in die Schule, aber ich habe keine Lust, aufzustehen. Morgen wird mir die Lüge zu Hilfe kommen. Meine Gedanken ziehen umher, so wie die Wolken, die über den Himmel unserer Stadt gleiten und hinter den Bergen stranden werden, nördlich der MandschuEbene. Ich habe sagen hören, daß Jungfrauen viel Blut verlieren. Ich habe überhaupt nicht geblutet. Die Götter haben mir diese Gewalt erspart, die die Frauen so entsetzt. Ich fühle mich nicht schuldig. Ich bin zufrieden. Das Leben ist mir nie so leicht erschienen, so voller Licht. Am späten Nachmittag kehren wir in die Außenwelt zurück. Die Nacht bricht schon herein, aber noch treibt der Tag darauf, ein Nachen auf der Suche nach seinem Hafen. Die Klavierstunde fällt mir ein, ich suche eine Entschuldigung, von der meine Mutter sich täuschen läßt. Ich gehe langsam. Etwas, was schon immer im Labyrinth meines Wesens versteckt lag, ist jetzt ausgegraben, wie ein Laken, das man aus der Truhe holt und an die Sonne bringt. Meine Jungfräulichkeit ist nichts mehr als eine Wunde. Mein Körper ist gespalten in zwei Teile, steht offen, die Brise geht durch mich hindurch. Min holt mich aus meinen Gedanken: »Sobald wir die Japaner verjagt haben, heirate ich dich.« »Ich habe keine Lust zu heiraten. Kümmere du dich um deine Revolution.« 95
Der Junge bleibt stehen und richtet seinen verletzten Blick auf mich. Seine Lippen zittern. Wie schön er ist! »Meine Familie stammt aus dem Strahlend Gelben Banner. Ihre Ländereien reichen von den Mauern unserer Stadt bis an die mongolische Steppe. Meine Mutter ist tot und ich will mein Erbe der Freiheit meines Volkes weihen. Ich werde ein armer Mann sein, und ich werde gefährlich leben. Wenn du mich nicht verachtest, schließlich hast du mir deinen wertvollsten Besitz geschenkt, dann wirst du meine Frau.« Ich beginne zu lachen. In der Rikscha hebe ich zum Abschied einen Arm. Auf dem Gehsteig wird Mins Silhouette ein Fleck, dann ein Strich, der in der Dämmerung der Stadt verschwindet.
40 Als Kind brachte mich das geheimnisvolle Reich der Mitte zum Träumen. Gerne zeichnete ich die Pavillons der Mandarine, Tatarenschlösser und kaiserliche Krieger. Später verschlang ich seine klassische Literatur. Bis gestern kannte ich von China nur Harbin, die riesige Metropole am Ufer des Flusses Sungari. Diese moderne, bunt gemischte Stadt ist heute mein Maßstab. Ich höre nicht auf, sie mit der Stadt der Tausend Winde zu vergleichen. Obwohl die kleine Festung zur unabhängigen Mandschurei gehört, erkennt man in ihr sofort einen kleinen Teil des ewigen Chinas. 96
Hier gibt es weniger Autos als in Harbin. Keine Straßenbahn. Hunderte von Rikschakulis wechseln sich Tag und Nacht ab. Bei den Studenten aus reichen Familien sind Fahrräder sehr beliebt. Anders als die Bevölkerung von Harbin, Nachkommen von Vertriebenen und Verurteilten mit recht plumpen Zügen, sind die Einheimischen hier von zarter Statur. Man sagt, daß ihre Vorfahren die Bastarde der Prinzen sind, daß in ihren Adern eine fein abgestimmte Mischung aus dem Blut von Mandschus, Mongolen und Chinesen fließt. Ihre Antlitze scheinen aus längst vergangenen Jahrhunderten zu stammen. Ihre Gesichtszüge sind klar. Die Männer sind hochgewachsen mit dunkler Haut, die Schlitzaugen reichen bis an die Schläfen. Die Frauen haben die Blässe der Hofdamen geerbt, die hohen Wangenknochen, die mandelförmigen Augen und den winzigen Mund. Schon am Tag nach unserer Ankunft nehmen uns die Reserveoffiziere mit in das Straßengewirr des Vergnügungsviertels, das direkt neben der Kaserne liegt. Ich bin überzeugt, daß die Prostitution für die Militärs erfunden wurde und daß die erste Nutte der Geschichte eine Frau war, die einen Soldaten liebte. Hier wie in Japan versucht man uns unseren Sold mit schmeichelndem Lächeln abzunehmen. Die Chinesinnen stammeln ein rudimentäres Japanisch, aber es reicht für die Verhandlungen. Einzelne Bordelle werden von unserer Armee unterhalten, dort sind Japanerinnen und Koreanerinnen angestellt, alle unendlich teuer. Da ich mir eine Landsmännin nicht leisten kann, lasse ich mich von den Kennern leiten. Man führt mich in ein Haus mit bescheidener Fassade, das den Namen 97
Jadeflöte trägt. In der Mitte des Hofes streckt sich ein Baum in den Himmel. Im oberen Stockwerk kann man Uniformen sehen, üppige Haare, schillernde Kleider. Die Wirtin, eine Frau mit dem schwerfälligen Akzent der Provinz Shandong, läßt ihre Mädchen vor uns defilieren. Ich entscheide mich für Orchidée. Ihre Augen sind geschlitzt wie die einer Wölfin. Ihr Mund ist eine zerdrückte Heidelbeere. Zigarette zwischen den Fingerspitzen, Fuchsschwanz auf der Schulter, bloße Füße in hohen Stöckelschuhen, steigt sie mit schwingenden Hüften die Treppe hinauf. Bei den ersten Liebkosungen erklärt sie mir in tiefem Ernst, daß sie eine reine Mandschu ist und man sie nicht mit einer Chinesin verwechseln darf. Anders als die japanischen Prostituierten, die schummeln und sich zurückhalten, läßt Orchidée, die Frau vom Kaiserbanner, sich gehen und stößt Schreie aus. Es ist selten, daß man bei einer Prostituierten einen Orgasmus erlebt. Dieses Mädchen erliegt dem Spiel mit entwaffnender Einfachheit und schlichtem Glück. Als ich sie verlasse, sieht die Frau mit dem muskulösen Hintern mir nach, in den Türrahmen gelehnt, ihr grünes, zerknittertes Taschentuch zwischen den Fingern.
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41 Am nächsten Morgen lasse ich in der Schule stolz meinen Blick über die Mitschülerinnen gleiten. Der Schmerz von gestern ist noch immer in meinem Körper. Er brennt in mir, frißt mich von innen auf. Er ist mein Stolz. Ich bin in dasselbe blaue Kleid gehüllt wie die anderen, und doch weiß ich, daß ich von jetzt an verschieden bin. Nach der Schule mache ich einen Umweg und sehe bei meiner Schwester vorbei. Sie sitzt am Fenster und strickt. Ich räkele mich ihr gegenüber auf einem Weidensofa. Die Schwester ihres Mannes ist neuerdings schwanger, und Perle des Mondes klagt, daß ihr Bauch noch immer leer ist. Um sie von ihrer fixen Idee abzulenken, frage ich sie: »Wie weiß man, ob man verliebt ist?« Sie wischt ihre Tränen ab und bricht in lautes Lachen aus. »Aha, ist da etwa ein Junge, der dir gefällt? Warum fragst du mich das?« Ich gebe mich beleidigt: »Wenn du mir nicht antworten willst, dann gehe ich.« »Bist du böse? Willst du ein Stück Honigkuchen mit Akazienblüten?« Perle des Mondes klingelt nach dem Diener und nimmt ihr Strickzeug wieder auf. »Was willst du wissen?« Ich verberge mein Gesicht in einem Kissen. »Wie weiß man, ob man verliebt ist? Was fühlt man da?« »Zuerst vergißt du die Welt um dich herum. Deine 99
Familie, die Freunde werden unsichtbar. Tag und Nacht denkst du nur an einen Mann. Wenn du ihn siehst, erfüllt er deine Augen mit Licht. Wenn du ihn nicht siehst, zerfrißt sein Bild dir das Herz. Jeden Augenblick fragst du dich, was er macht, wo er ist. Du erfindest ihm ein neues Leben, du lebst an seiner Stelle: Deine Augen schauen für ihn, deine Ohren hören für ihn …« Perle des Mondes nimmt einen Schluck Tee und spricht weiter: »Bei dieser ersten Etappe wissen beide nichts vom Gefühl des anderen. Das ist die ergreifendste Zeit. Dann öffnen sie sich ihre Herzen und erleben einen Augenblick lang sinnloses Glück.« Meine Schwester läßt von ihrer Handarbeit ab, ihre Augen verlieren sich im Nichts. »Auf das schöne Wetter folgt der Sturm. Unvermittelt stürzen die Verliebten in die Finsternis. Sie tasten sich mühsam vorwärts, kriechen am Boden. Sie werden alt. Du wirst es sehen, Kleine Schwester. Wenn du geliebt wirst und wenn du liebst, dann wirst du entdecken, was für eine Qual es ist, auf einem glühend heißen Grill zu leben. Du wirst dir nie mehr einer Sache sicher sein.« Die Lippen meiner Schwester sind aufgesprungen wie vertrocknete Erde. Ihr haßerfüllter Blick sucht im Unsichtbaren nach Schuldigen für ihr Unglück. Sie fährt fort: »Du wirst es einmal besser haben. Du bist stärker als ich. Du wirst es schaffen, das Leiden durchzustehen und den Zorn der Götter zu besänftigen, denn sie sind neidisch auf unsere Liebe.« »Und warum heiratet man dann?« »Die Hochzeit?« fragt sie lachend. »Das ist etwas 100
Kaltes, etwas Langweiliges, eine Zeremonie, die man für die Eltern abhält. Jetzt bin ich nur noch der Schatten meiner selbst. Die Familie, die ich gegründet habe, macht mir zu schaffen. Es gibt Tage, an denen ich am liebsten nur ein Möbelstück wäre. Ohne Gedanken, ohne Gefühle, dann könnte ich ihn erwarten, ihm dienen, seinen Lebensraum ausschmücken, seine Ahnen trösten.« Perle des Mondes steht auf. Sie pflückt eine Glyzinienblüte und zerdrückt sie mit ihren zitternden Fingern: »Ich werde dir die Wahrheit sagen. Ich habe meinen Mann geliebt. Ich habe ihm alles gegeben. Wie eine Seidenraupe habe ich aus meinen Eingeweiden das Wertvollste hervorgewürgt, das ich besaß. Ich bin nichts mehr als eine unfruchtbare Hülle. Ich weiß, was mir zu tun bleibt. Ich werde ihm mein Leben schenken. Damit er lebe, damit ich sterbe!« Mich überkommt Übelkeit. Mit irgendeiner Ausrede verabschiede ich mich von ihr. Auf der Straße beginne ich zu laufen. Ich muß das Leben atmen, die Bäume, die Wärme meiner Stadt. Ich werde es schaffen, mein Schicksal zu zwingen und mich glücklich zu machen. Das Glück ist eine Umzingelungsschlacht, eine Partie Go. Ich werde den Schmerz umarmen und ihn so töten.
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42 Die Hitze ist für die Übungen hinderlich. Hinter den Mauern der Stadt wird die schwarze Erde zu einem brennendheißen Backblech. Unter der Aufsicht der Offiziere marschieren die Soldaten, springen, laufen, kriechen, schießen, stoßen tausendmal den Strohpuppen ihre Bajonette in die Eingeweide. Wer ohnmächtig wird, bekommt einen Eimer Wasser und ein Paar Ohrfeigen. Den chinesischen Rekruten blühen strengere Strafen. Die Leute sind wie ein Stück Stahl, das man schlagen muß, damit es zur Waffe wird. Vom ersten Tag an hat die Sonne mein Gesicht gezeichnet, meine Lippen haben sich geschält. Vom vielen Befehleschreien ist meine Stimme heiser, meine Kehle brennt. Der Reis, den ich verschlinge, kommt mir vor wie Sand. Nachts fällt die Temperatur weit ab, aber der Körper speichert noch das Feuer des Tages. Kälte und Hitze quälen mich, ich werfe mich auf dem Lager hin und her, ohne Schlaf zu finden. Und dennoch bin ich gerne hier. Die Kaserne ist eine verbotene Stadt mit ihren Bars, Restaurants, ihrer Bibliothek, ihren verführerischen Krankenschwestern, ihren Badezimmern mit echten Holzzubern. Kleine Schwester und Akiko haben mir Bücher und literarische Zeitschriften geschickt. Mutter verwöhnt mich mit einem Säckchen voller Schokolade, rotem Bohnengelee, mit neuen Strümpfen und Wäsche. Die Pornohefte, die herumgereicht werden, schaffen eine kumpelhafte Jovialität. Abends hört man aus verschiedenen Zimmern, wie rauhe Stimmen unsere 102
Volkslieder malträtieren. Hie und da finden sich Kartenrunden, wo um Geld gespielt wird. Zum Ärger der Soldaten haben die Offiziere das Vorrecht des freien Ausgangs. Es haben sich kleine Gruppen von Nachtschwärmern gebildet. Von Sonnenuntergang an betrinken wir uns in der Stadt und gehen dann auf einen Verdauungsspaziergang zu den Mädchen. Da ich ihre Sprache spreche, entwickeln sich meine Beziehungen zu den einheimischen Frauen zu etwas ganz Besonderem. Miteinander zu sprechen, bringt noch die Unnahbarsten plötzlich zur Zärtlichkeit. Orchidée hat mich ins Herz geschlossen. Mein Körper hat sie gezähmt. Sie widmet mir fortan eine rückhaltlose Leidenschaft. Ihre Phantasie macht das banale Aufeinandertreffen des Soldaten mit der Dirne zu einer Liebesgeschichte. Sie behauptet, sie habe mich schon am Tag unserer Ankunft bemerkt. Unter all den Soldaten, die vorüberzogen, habe allein mein Blick sie fasziniert. Da ich so oft höre, daß sie mich liebt, bleibe ich ihr treu. Sie begeistert mich mit ihrer Glut und ihrer Freimütigkeit, die unseren Kurtisanen fremd ist. Sie schenkt mir ihre Taschentücher, ihre Strümpfe, Strähnen ihrer Haare und ein kleines Satinkissen mit erotischen Stickereien. Diese bescheidenen Geschenke entzücken mich und schmeicheln mir genauso wie ihre ungehemmte Lust.
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43 In meinem Land ist der Mai, voll Sanftheit und Licht, noch flüchtiger, als wenn ein Frosch ins Wasser springt. Schon kommt der Sommer. Nach dem Essen läßt die erste Hitze meine Eltern in einen schweren Mittagsschlaf sinken. Ich schleiche auf Zehenspitzen durch das Haus, gleite in den Garten und verlasse ihn durch die Hintertür. Ich folge den gewundenen Straßen, wo die Bäume fleckenweise Schatten spenden. Die Sonne läßt ihre goldenen Ströme in meinen Kopf fließen. Heiß ist mir, ich denke an nichts. Bei Jing betäubt der Flieder uns mit seinem Duft. Min erwartet mich im Bett. Er hat sich von Kopf bis Fuß mit Wasser aus dem Brunnen bespritzt. Er ist kalt wie ein Kiesel, den man eben aus dem Fluß geholt hat. Ich werfe mich auf ihn. Meine brennende Haut dampft beinahe, als sie seine berührt. Je länger ich, Zentimeter für Zentimeter, Mins Körper entdecke, wird er mir zu grenzenlosem Gelände. Ich erforsche ihn, ich höre auf die Atemzüge seiner Haut, ich lese die Karte seiner Adern. Wir erfinden raffinierte Spiele. Mit der Zungenspitze male ich Schriftzeichen auf seine Brust, die er erraten muß. Ich biete meinen Bauch seinem Mund dar, meine Brust seiner Stirn. Min kriecht in Gebetshaltung über mich, bei jeder Bewegung muß er ein Gedicht aufsagen. Seine Haare kitzeln mich, bringen mich zum Lachen. Um mich für meine Neckerei zu bestrafen, dringt er unerwartet in mich ein. Der Moment, in dem die Welt zerreißt. Mein Blick trübt sich, meine Ohren brummen. 104
Ich tauche mit den Fingern in meine Haare, ich beiße auf den Rand des Lakens. Vor meinen geschlossenen Augen sehe ich im Dunkel die kräftigen Farben von riesigen schwingenden Fahnen. Konturen formen sich und zerrinnen, Figuren treten auf und verschwinden. Ich werde sterben. Plötzlich habe ich das Gefühl, doppelt zu existieren. Ein Teil meiner selbst verläßt mich und treibt durch die Luft. Er betrachtet mich, hört mich jammern, röcheln. Dann steigt er auf, verschwindet in ungekannten Höhen, ein Vogel, der über einen Bergpaß fliegt. Ich kann ihn nicht mehr sehen. Min sinkt nieder und schläft ein, seinen Arm auf meiner Brust. Er hat auf meinem Bauch ein paar weiße Tropfen hinterlassen. Sie sind warm und winden sich um meine Finger wie seidene Fäden. Die Männer sind Spinnen, stellen den Frauen Fallen, die sie aus ihrem Samen weben. Vorsichtig stehe ich auf. Ich bin erfüllt von neuer Kraft, bereit für eine Partie Go. Im Garten döst unter einem Baum Jing auf einem Liegestuhl, einen Strohhut auf dem Gesicht. Ich weiß nicht, wann er gekommen ist, ob er uns beobachtet hat, wie wir herumtollten. Ich bin fast verschwunden, als er plötzlich seinen Hut hochhebt und mir in die Augen schaut. Ich empfinde heimliches Vergnügen, als ich die Verzweiflung und die Verachtung auf seinem Gesicht lese. Ich fordere ihn heraus, halte seinem Blick stand. Sein Lippen zittern, kein Laut kommt aus seiner Kehle. Der langgezogene Ruf eines Obsthändlers dringt zu uns herüber. »Ich hätte gerne ein paar Pfirsiche«, sage ich. Jing schlägt mit der Faust auf die Stuhllehne. Er steht 105
auf, läuft fort, kommt mit einem Korb von Früchten wieder. Er putzt sie am Brunnen und wählt mir die prallste aus. Ohne ein Wort verspeisen wir die Pfirsiche. Aus Jings Mund spritzt Saft und tropft auf sein Hemd. Die Grillen singen in schrillen Schreien. Der Geruch der sonnenverbrannten Blätter vermischt sich mit dem Duft meiner Haare. In einem Tonbottich, der als Aquarium dient, zieht ein Karpfen seine Kreise.
44 Unter den neuen Gesichtern in der Kaserne sticht Hauptmann Nakamura hervor, der Geheimdienstoffizier, ganz anders als alle unsere nach Frauen lechzenden Kameraden führt er ein einsames Leben. Trotz seines Ranges fordert er unbewußt zu den kühnsten Neckereien heraus und übernimmt es gerne, das Kyôgen* zu spielen. Im Restaurant kippt er zwanzig Flaschen Sake auf einen Zug und schläft dann laut schnarchend ein. Eines Tages beschließen wir, uns für diesen lauthalsen Schlaf zu rächen. Ich stoße ihn mit dem Ellenbogen in die Seite und wecke ihn. Wie ein Zen-Meister, der seinen Schüler prüft, frage ich ihn: »Essen, trinken, Mädchen treffen sind die Eitelkeiten der Sinne. Hauptmann, was ist die Eitelkeit der Seele?« Er erhebt sich wie ein Geist aus seinem Grab, und unbeeindruckt von unserem Gelächter psalmodiert er: 106
»›Vor dem Schrei der Insekten, immer schwächer, ausgelaugt vom Herbst, der vergeht: voller Sehnsucht nach Flucht, noch vor ihm werd ich verlöschen …‹ Ja, die Eitelkeit der Seele ist der Tod!« Ich überspiele mein Grinsen und verhöre ihn: »Hauptmann, was ist die Eitelkeit der Eitelkeit?« Sprachlos kratzt er sich am Kopf: »›Die Welt, in der wir leben, hat so viel Existenz nicht als der Strahl des Mondes, der sich spiegelt im Wasser, geschöpft mit der hohlen Hand …‹* Die Eitelkeit der Eitelkeit … die Eitelkeit der Eitelkeit ist …« Um ihn noch mehr zu quälen, betone ich jede einzelne meiner Silben: »Die Eitelkeit ist eitel, die Eitelkeit der Eitelkeit ist doppelt eitel. Freilich heben sich Eitelkeit und Eitelkeit gegenseitig auf. Die Eitelkeit der Seele ist der Tod, die Eitelkeit der Eitelkeit der Seele ist das Leben. Und zwischen Leben und Tod, wo sind da wir?« Er betrachtet mich aufmerksam. Die Verblüffung auf seinem Gesicht löst rund um uns lautes Lachen aus. Eines Nachmittags bin ich bei ihm zu Besuch, und mein Blick fällt auf einen Goban. Ohne lange zu zögern, beginnen wir eine Partie Go. Zu meinem großen Erstaunen ist der Hauptmann, normalerweise wirr und tolpatschig, ein geschickter, lässiger Spieler. In der 107
Kaserne hatte er schnell den Ruf eines Verrückten erworben: Überall sieht er Verschwörungen. Auf dem Spielbrett verwandelt sich diese Besessenheit in aufs äußerste geschärfte Vorsicht. Als er geschlagen ist, lädt der Hauptmann mich zum Essen ein. Ein paar Becher Sake reichen, um uns zu allerbesten Freunden zu machen. Wir diskutieren über chinesische Literatur. Er staunt, daß ich Mandarin spreche. Das Go-Spiel macht die Spieler auf dem Brett zu Gegnern, aber im Leben gibt es ihnen gegenseitiges Vertrauen. Ohne zu zögern, schütte ich ihm mein Herz aus: Eine Pekingerin war ihrem Mann gefolgt, der in Tokyo studierte. Der Mann starb an Krebs, hinterließ sie mit einem Neugeborenen allein in der weiten Welt. Mit ein paar Brocken Japanisch, ohne Geld, klopfte sie an allen Türen, bat um Arbeit. Mutter stellte sie als Amme an. Das war ein Geschenk des Buddha. Meine Eltern hatten mich wie alle Eltern Japans mit unnachgiebiger Strenge erzogen. Beim geringsten Vergehen wurde ich geohrfeigt. Mit flammenden Wangen, Tränen in den Augen und wehem Herzen stürzte ich mich in die Arme meiner Chinesin, die sich meines Kummers erbarmte. Um den Schmerz zu lindern, umarmte sie mich und erzählte mir die Sagen ihres Landes. Chinesisch wurde mir die Sprache der Träume und des Trostes. Später brachte sie mir bei, die Dichtung der TangDynastie zu rezitieren und zu schreiben. Sie lehrte mich die Gespräche des Konfuzius und eröffnete mir den Traum der roten Kammer. Wenn ich diese Texte laut vorlas, rührte mein reiner Pekinger Akzent sie zu Freudentränen. Sie stillte meinen Bruder und meine 108
Schwester, berauschte uns mit ihrer Zärtlichkeit. Eines Morgens dann entschwand sie. Ein Jahr später machte Mutter meine Hoffnungen zunichte: Sie war in ihr Land zurückgekehrt und sollte niemals wiederkommen. Mein Geständnis läßt den Hauptmann aufseufzen. Er leert ein Schälchen Sake, steht auf. Er ahmt die Gestik eines Nô-Schauspielers nach, mit einem Stock als Fächer singt er: »›Lebte er noch nichts wäre verloren, doch einmal verschwunden wozu ihn noch überleben wenn gleich dem Besenbaum sein Bild meinen Augen bald erscheint, bald verwischt Ungewiß ist nach dem Gang dieser Welt armselig des Menschen Leben Gleich der Blume in ihrem Glanz im Sturm der Unstetigkeit der lange Nächte wütet des Lebens und des Tods Bedeckend mit den Wolken das Mondlicht ungewiß In Wirklichkeit unter meinen Augen das Elend der Welt …‹*« Tief ergriffen applaudiere ich. Der Hauptmann verneigt sich, nimmt eine weitere Schale. Er wechselt das Thema: »Wissen Sie, daß es im Zentrum der Stadt einen Platz gibt, auf dem die Chinesen sich zum Go-Spiel versammeln? Ein außergewöhnli109
ches Schauspiel. Die Spieler sitzen an Tischen, in die die Spielbretter graviert sind, und warten, bis jemand sie herausfordert. Wo Sie mit einem lupenreinen Pekinger Akzent chinesisch sprechen, sollten Sie sich als Zivilist verkleiden und dort eine Partie spielen gehen.« Er gießt eine weitere Schale Sake hinunter und fährt fort: »Seit langem schon interessiert mich ihr Spiel, aber ich habe mich nie näher hingetraut. Meine Informanten versichern mir zwar, daß das alles harmlose Gestalten sind, aber ich bin überzeugt vom Gegenteil. Seit die Terroristen sich in die Stadt geschummelt haben, behalte ich alle im Auge. Diese Leute da schmieden Ränke, um uns zu verdammen. Das Go-Spiel ist nur Tarnung: Genau auf diesem Platz treffen sich die Leute, geben vor, sie würden Krieg spielen, und entwickeln ihre verzwickten Pläne.« Mit hochrotem Kopf versinkt der Hauptmann in einer Phantasiewelt. Ich heuchle Interesse: »Aber wie könnte ich mich denn verkleiden? Soll ich in einem Hotel ein Zimmer mieten, um mich umzuziehen?« Er nimmt meine Frage ernst: »Alles das bleibt unter uns. Ich decke Sie. Gleich morgen gehen Sie zu einem meiner Männer, er betreibt das Restaurant Chidori. Er wird Ihnen die Kostümteile leihen. Er wird Ihnen erklären, wie man das Mißtrauen der Chinesen täuscht. Wenn die Terroristen sich auch aus der Stadt zurückgezogen haben, ihre Agenten stecken überall. Sie ziehen die Fäden für eine neue Rebellion. Aber diesmal werde ich sie kriegen. Danke, daß Sie mir im Dienste des Vaterlandes Ihre Freizeit opfern. Kommen Sie, Leutnant, trinken wir auf den Ruhm des Kaisers.« 110
Jetzt verstehe ich, daß das hier kein Scherz ist. Es ist zu spät, um abzulehnen. Ich leere meinen Becher und besiegele unser Bündnis. In Wirklichkeit ist der Hauptmann ein cleverer Kerl, und seine Absonderlichkeit ist nur ein Köder. In dem Moment schon, als ich sein Zimmer betrat, wußte er, daß er mich zu seinem Spion machen würde. Beim Go-Spiel hat er die Netze gesponnen, die mich jetzt gefangen halten: Ich bin gezwungen, mich in die Haut eines Chinesen zu versetzen.
45 Min hat nichts fürs Spielen übrig, er hält das für Zeitverschwendung. Heute nachmittag bringe ich ihn nach langem Zuspruch dazu, seine Meinung zu ändern. Er willigt in ein Kartenspiel ein, mit der Bedingung, daß wir im Bett spielen und daß mein Bauch uns als Tisch dient. Bei ihm fällt alles Glück des Lebens in der erotischen Lust zusammen. Er ist unfähig, die Strategie seines Gegners zu durchschauen, glorreich verliert er und macht sich schnellstens daran, zwischen meinen Brüsten die Karten zu mischen. Seine Faulheit, sein Leichtsinn ärgern mich. Um ihn zu strafen, verlasse ich unter irgendeinem Vorwand das Zimmer und renne von dort aus bis zum Platz der Tausend Winde. Die Spieler meditieren und dösen. Ich finde keinen Partner, setze mich an einen Tisch und warte, daß ein Liebhaber vorbeikommt. Den Kopf zwischen die Hände gestützt, stelle ich die Steine auf und beginne 111
eine imaginäre Partie gegen Min. Ein Schatten fällt auf mich. Ich blicke auf. Ein Unbekannter, den breiten Rand seines Panamahuts bis über die Hornbrille gezogen, beugt sich zu mir. Ich antworte mit einem Kopfnicken und weise auf seinen Sitz. Der Unbekannte scheint mich nicht zu verstehen und schickt sich an zu gehen. Ich rufe ihn zurück: »Können Sie Go spielen?« Er bleibt sprachlos. »Los, Sie sehen mir doch aus wie ein Kenner. Setzen Sie sich, spielen wir eine Partie.« »Was ist Ihre Spielstärke, bitte?« fragt er mich in einem scheußlichen Pekinger Akzent. »Ich weiß nicht.« »Ich kann nicht spielen, wenn ich nicht weiß, welche Vorgaben Ihnen zustehen.« »Spielen wir eine Partie. Ich werde Ihnen eine kleine Kostprobe geben!« Er zögert einen Moment und setzt sich schließlich mir gegenüber. Es besteht kein Zweifel, dieser Fremde kennt meinen Ruf nicht. Wie so viele Dummköpfe hat er sich von meinem Äußeren täuschen lassen. Laut klappernd schiebe ich ihm die schwarzen Steine hin. »Sie sind dran.«* Er setzt seinen Stein auf den nordwestlichen Eckpunkt. Seine Anmaßung von eben ärgert mich noch immer, und ich beschließe, ihm übel mitzuspielen. Ich kontere, indem ich einen weißen Stein direkt an seine Flanke setze. Niemals begibt man sich am Anfang einer Partie in einen direkten Nahkampf. Das ist eine goldene Regel. 112
Verunsichert sieht er mich an und versinkt in tiefer Nachdenklichkeit. Auf dem quadratischen Spielbrett streiten die Steine beim Go um die 361 Schnittpunkte, die aus neunzehn horizontalen und neunzehn vertikalen Linien gebildet werden. Die beiden Spieler teilen also das freie Feld unter sich auf und vergleichen am Ende, wieviel Gebiet jeder von ihnen gemacht hat. Ich mag Go lieber als Schach, weil dort mehr Freiheit herrscht. In einem Schachspiel stehen die beiden Reiche mit ihren geharnischten Kriegern sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Go-Soldaten dagegen wirbeln gelenkig umher, stellen sich ihre Fallen in kreisenden Spiralen: Kühnheit und Einfallsreichtum sind da die Tugenden, die zum Sieg führen. Statt meine Linien aufzufädeln, greife ich meinen Gegner frontal an. Meine weiße Nummer 4 fordert ihn zum Duell heraus. Wieder denkt er nach. Meine Nummer 6 blockiert seine schwarze Nummer 5, verbindet sich mit den anderen, um die 1 zu umzingeln. Er antwortet im letzten Moment, setzt seine 7. Ich lächele. Vorbei mit dem Spaß, ich baue mein Spiel auf. Der Unbekannte spielt unendlich langsam. Seine Gedankengänge überraschen mich. Jeder seiner Züge weist auf ein Streben nach Harmonie mit dem Ganzen. Der Vormarsch seiner Steine ist von luftiger, subtiler Leichtigkeit, wie der Tanz der Kraniche. Ich wußte nicht, daß es in Peking eine Schule gibt, wo die Eleganz über die Gewalt obsiegt. Meinerseits perplex lasse ich mich in seinen Rhythmus hineinziehen. 113
Der Unbekannte unterbricht plötzlich das Spiel, als es gerade spannend wurde. »Ich habe eine Verabredung«, meint er mürrisch. Ich ärgere mich, will die Partie so schnell wie möglich wieder aufnehmen. »Kommen Sie am Sonntag wieder, morgens um zehn Uhr.« Der Blick hinter seinen Brillengläsern zeigt keinerlei Zustimmung. »Na gut, dann nicht.« Ich stehe auf. »In Ordnung.« Endlich entscheidet er sich. Ich notiere die Stellung der Steine auf einem Blatt Papier und belohne den Unbekannten mit einem Lächeln. Schließlich habe ich es bei Cousin Lu, Min und Jing erprobt, ich kenne meine Waffe. In der Tat senkt er den Blick.
46 Die Wahl der Verkleidung: Leinenkittel, Panamahut, ein mit Schriftzeichen verzierter Fächer, verleiht der Figur, die ich spiele, die Feierlichkeit der kaiserlichen Mandarine. Mit einer Brille wirke ich dann wie ein Universitätsgelehrter. Mein Rikschakuli bemerkt plötzlich, daß ich nicht von hier bin, und beschließt, mich auszutricksen. Statt direkt zum Platz der Tausend Winde zu laufen, macht er einen weiten Umweg in der Stadt. 114
In abgehackten Stößen erzählt er die Geschichte seiner Heimat. Vor vierhundert Jahren entdeckten die höfischen Herren die umliegenden Wälder und ließen in der Gegend prächtige Paläste bauen. Jahrhundertelang blieben sie diesem Land verbunden, das so reich war an Jagdwild und an schönen Frauen. Tausend Winde, anfangs ein kleines Dorf, wurde zu einer Stadt, in der Handel und Handwerk florierten. Die Festung, eine minutiöse Kopie Pekings, übernahm von der Hauptstadt die rechteckige Anlage. Nach dem Sturz des Mandschu-Reiches folgte ein Teil der Pekinger Aristokratie dem Kaiser in die Neue Hauptstadt. Andere nahmen hier Zuflucht. Man erkennt sie an der Eleganz ihrer Armut: In ihren altmodischen Kleidern lehnen sie sich gegen die Moderne auf, indem sie die langen Fingernägel beibehalten – das Zeichen des Müßiggangs –, den rasierten Kopf und den traditionellen Zopf. Nachdem er lange der Stadtmauer gefolgt ist, wo Bettler, Feuerschlucker, Affendompteure sich durcheinander drängeln, nachdem er mir den Rathausplatz mit seinen altmodischen großen Stadthäusern gezeigt hat, hält er schließlich am Rand eines mit Bäumen bewachsenen Platzes an. »Hier ist der Platz der Tausend Winde.« Dann fragt er geheimnisvoll: »Spielen Sie auch?« Ich antworte ihm nicht. Im Garten sitzen die Spieler sich an den niedrigen Tischen im schweigenden Duell gegenüber. Nach ihrer Kleidung zu schließen, stammen sie aus allen Schichten. Wäre ich nicht hierher gekommen, hätte ich nie gedacht, daß es einen Ort gibt, wo das Go-Spiel einfach 115
den Passanten offensteht. Für mich ist eine Partie Go ausschließlich der Elite vorbehalten, eine Zeremonie, die mit allerhöchstem Respekt zelebriert wird. Aber dieses Phänomen erstaunt mich nicht. Nach der Legende hat China das Spiel vor viertausend Jahren erfunden. Im Laufe seiner allzu langen Geschichte hat seine Kultur sich erschöpft, und das Go-Spiel hat seine Raffinesse verloren, die Reinheit seiner Anfänge. Seit es vor ein paar hundert Jahren in Japan eingeführt wurde, wo es weitergedacht wurde, ausgefeilt, ist es dort eine göttliche Kunst geworden. Wieder einmal hat mein Land seine Überlegenheit über China bewiesen. In der Ferne eine junge Frau im Spiel gegen sich selbst. Bei uns wäre es undenkbar, daß eine Frau sich allein an einem Ort aufhält, wo Männer verkehren. Ich werde neugierig, gehe auf sie zu. Sie ist jünger, als ich dachte, trägt das Kleid eines Schulmädchens. Sie hat den Kopf in die Hand gestützt, ist tief in ihren Gedanken versunken. Die Steine auf dem Spielbrett sind mit Geschick gesetzt, sie reizen mich, genauer hinzusehen. Sie hebt den Kopf, eine breite Stirn, geschlitzte Augen wie zwei sorgfältig gezeichnete Weidenblätter. Ich meine, Lumière mit ihren sechzehn Jahren wiederzusehen. Doch die Illusion ist gleich wieder dahin. Die junge Geisha war von einer schüchternen Schönheit, in sich zusammengekauert. Die kleine Chinesin mustert mich, ohne zu erröten. Bei uns herrscht blasse Vornehmheit, die Frauen meiden die Sonne. Vom Spielen im Freien strahlt das Gesicht dieses Mädchens einen eigenartigen Charme aus. Ihr Blick trifft in meine Augen, bevor ich sie senken kann. 116
Sie fordert mich zu einer Partie Go auf. Ich lasse mich bitten, um meine Rolle glaubhafter zu machen. Bevor ich das Restaurant Chidori verlassen habe, hat Hauptmann Nakamuras Verbindungsmann mir ein paar Instruktionen gegeben: In den letzten zehn Jahren ist unser Land für ganz Asien zum Aushängeschild des Westens geworden. Wenn ich vorgebe, wie so viele chinesische Studenten lange Zeit in Tokyo gelebt zu haben, kann ich damit mein Auftreten rechtfertigen, meinen Akzent, mein Unwissen in bestimmten aktuellen Belangen. Die Chinesin ist nicht gesprächig. Sie stellt mir keine einzige Frage und drängt mich anzufangen. Von ihrem ersten Zug an zwingt sie mir ein perverses, ein extravagantes Spiel auf. Noch nie habe ich mit einer Frau Go gespielt. Noch nie bin ich einer Frau so nahe gewesen, abgesehen von meiner Mutter, meiner Schwester, Akiko, den Geishas und den Prostituierten. Obwohl das Spielbrett mich von meiner Gegnerin trennt, fühle ich mich bei ihrem Mädchengeruch unwohl. Sie ist ganz in ihren Gedanken aufgegangen, hält den Kopf geneigt, scheint zu träumen. Die Sanftheit ihres Gesichtes steht im Gegensatz zur Härte ihrer Hand. Sie macht mich neugierig. Wie alt mag sie sein? Sechzehn? Siebzehn? Mit ihrer flachen Brust und den zu zwei Zöpfen geflochtenen Haaren ist sie ein Abbild dieser Doppeldeutigkeit der Jugend, die Mädchen zu verkleideten Jungen macht. Und doch bricht in ihr die erste Fraulichkeit durch, wie das Schneeglöckchen in einem verfrühten Frühling: Ihre Unterarme sind von einer trägen Rundlichkeit. 117
Sehr schnell wird es dunkel. Ich muß zurück in die Kaserne. Sie fordert mich auf wiederzukommen. Ein solcher Vorschlag hätte bei jeder anderen Frau einen Anflug von Schamlosigkeit. Das junge Mädchen weiß ihre Unschuld auszuspielen. Ich antworte nicht. Sie räumt die Steine klappernd in die Schale. Dieses Lärmen ist ein Protest gegen meine Gleichgültigkeit. Ich lache mir ins Fäustchen. Sie wird es zu einer großen Spielerin bringen, wenn sie ihre Aggressivität zügelt und sich auf eine geistige Bahn begibt. »Am Sonntag wieder, morgens um zehn Uhr«, sagt sie. Diese Hartnäckigkeit gefällt mir. Ich kann ihr nicht länger widerstehen und stimme mit einem Kopfnicken zu. Bei uns verstecken die Frauen, wenn sie lachen, ihr Gesicht hinter dem Ärmel ihres Kimonos. Die Chinesin lacht ohne jede Scham und ohne Künstlichkeit. Ihr Mund öffnet sich, als würde ein Granatapfel platzen. Ich wende meinen Blick zur Seite.
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47 Eine Gruppe von Pilgern geht eine endlose Mauer entlang. Durch eine Bresche steigen sie in die Umfriedung. Da stehen Tausende von Bäumen um einen schillernden See. In einem verfallenen Pavillon läßt ein kleiner Junge einen Drachen steigen. Schelmisch grinst er sie an und heißt sie willkommen. Sein Drachen, erklärt er, kann die Zukunft lesen. Der Älteste in der Gruppe spricht ihn an: »Weiß er, wohin wir gehen?« Der Drachen steigt auf, fliegt zu einer Ecke der Dekke, wechselt die Richtung, stürzt sich in die entgegengesetzte Ecke. Wie ein Vogel in der Falle peitscht er die Mauern mit seinen Flügeln, schlägt gegen die Fenster, fällt plötzlich steil zu Boden. »Zu den Schatten!« Ich wache auf. An diesem Morgen holt Min meine Rikscha mit dem Fahrrad ein und drückt mir hastig ein Buch in die Hand. Als ich es durchblättere, finde ich ein doppelt gefaltetes Blatt Papier. Er lädt mich ein, gegen Abend zu Jing zu kommen, um dessen zwanzigsten Geburtstag zu feiern. Ich beschließe, Jing Huong vorzustellen. Daß er sie kennenlernt, wird mein Geburtstagsgeschenk. Bei Jing im Garten stehen rauchende Studenten, sie trinken, diskutieren. Einen weißen Seidenschal um den Hals, mimen die Jungen die verdammten Dichter. Die Mädchen sind mit ihren flachen Schuhen und kurzen Haaren männlicher als ihre Kameraden. In der Mitte des Kreises hält eine Studentin ihren Freunden eine fei119
erliche Ansprache. Min lehnt an einem Baum und hört ihr aufmerksam zu. Von Zeit zu Zeit streicht sein Blick über die Runde, ohne mich dabei zu sehen. Jing tritt aus dem Haus und stellt ein Teetablett auf einen Schemel. Ich stelle ihm Huong vor, die die jungen Revolutionäre neugierig macht. Sie beginnen eine lebhafte Unterhaltung. Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen. Um mich über die Langeweile hinwegzutäuschen, schäle ich gesalzene Sonnenblumenkerne und beobachte dabei die redende Studentin. Ich bin überrascht, daß ich sie schön finde, trotz ihrer Roheit. Diese zwanzigjährige Rednerin weiß den Tonfall ihrer Stimme zu modulieren und die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer einzufangen. Bei jedem ihrer Worte erfaßt mich Bewunderung, die mich zunichte macht. »… Japan ist in voller militärischer Expansion, sie werden sich nicht damit begnügen, die Mandschurei zu einer Kolonie zu machen, ihr nächster Schritt wird Peking sein, dann Schanghai, Kanton. Chinas Souveränität ist in Gefahr! Bald werden wir Diener sein, Sklaven, streunende Hunde! Die Kriegsherren, die provisorischen Regierungen, die Militärs haben unseren Kontinent gespalten. Allein der Patriotismus vereinigt Kraft und Hoffnung. Lehnen wir uns auf, vertreiben wir die Invasoren, machen wir den bestechlichen Militärs den Garaus, die sich am Blut des Volkes satt trinken! Geben wir den Bauern das Land wieder und den Leibeigenen ihre Würde. Auf den Ruinen eines halb feudalistischen, halb kolonisierten Landes wollen wir ein neues China bauen, in dem die Demokratie die Herrschaft hat. Ohne Bestechung, ohne Elend, ohne 120
Gewalt. Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit soll unsere Devise sein. Jeder Bürger wird gemäß seinen Bedürfnissen arbeiten. Das Volk wird der Herr sein, die Regierung wird ihm dienen. An diesem Tag werden wieder Frieden und Glück einkehren!« Sie bekommt lauten Beifall. Sie dankt ihren Bewunderern und wendet sich Min zu. In ihrem Blick weicht die Härte sanfter Zärtlichkeit. Er antwortet ihr mit einem Lächeln. Ich stehe auf und geselle mich zu Jing und Huong. Meine Freundin ist dabei, an Jing ihr Talent als Charmeuse zu erproben. Sie spricht von ihrer Familie, von ihrer arrangierten Heirat. Sie sieht ihrem Gegenüber unerträglich intensiv in die Augen. Er ist fasziniert, wendet keinen Moment den Blick von ihr. Sein Gesicht zeugt abwechselnd von Neugier und von Mitleid. Daß ich dabeistehe, ist ihm unangenehm. Ab und an schaut er kurz zu mir herüber. Wenn unsere Blicke sich kreuzen, sieht er zu Boden, hüstelt und nimmt wieder seine aufrechte Haltung ein. Ich irre durch den Garten, aber ich werde die Not nicht los, die mich bedrückt. Rote Libellen setzen sich auf die Blumenstiele, dann fliegen sie in den letzten Sonnenstrahlen auf. Durch das Fenster sehe ich das Bett, wo ich noch gestern lag, darüber derselbe purpurrote Überwurf mit den aufgestickten Chrysanthemen. Dieser Anblick tut mir weh. Min winkt mir zu. Endlich. Vor seinen Kameraden behandelt er mich wie eine kleine Schwester und erzählt lachend, wie er mir das Leben gerettet hat. Ich lasse ihn krächzen. Er schämt sich meiner. Jing beginnt, kleine Geburtstagskuchen auszuteilen. 121
Als ich an der Reihe bin, hält er mir nicht den Teller hin, sondern bleibt stehen und zupft ein Haar aus meinen Haaren. Jemand tippt ihn auf die Schulter: »Stell mir doch deine Freundin vor.« Ich erkenne die Prophetin von eben wieder. Ohne noch auf Jings Reaktion zu warten, wendet sie sich direkt an mich: »Ich heiße Tang, und Sie?« Sie stellt mir tausend Fragen. Ihre Begeisterung schüchtert mich ein. Sie will alles wissen: meine Schule, mein Haus, wie viele Geschwister ich habe. Dann läßt sie mich ganz zwanglos wissen, sie kenne meinen Liebhaber von Geburt an. Ihre Mutter dient in Mins Familie. Sie kritzelt ihre Adresse auf ein Stück Papier und lädt mich ein, sie zu besuchen. Ich gebe vor, ich würde zu Hause erwartet, überlasse Huong Jings Fürsorglichkeit und verlasse die Feier. Jing holt mich auf der Schwelle ein. Die Hände in den Türrahmen gestemmt, versperrt er mir den Weg und dankt mir, daß ich gekommen bin. Ich sage ihm: »Huong ist ein sehr nettes Mädchen. Sie ist ein bißchen verloren. Ich hoffe, du wirst ihr helfen, ihren Weg wiederzufinden.« Jings Gesicht läuft plötzlich purpurrot an. Ich begreife, daß Huong ihm gefallen hat. Eine seltsame Laune überkommt mich: »Geh zurück zum Fest. Man wartet auf dich.« Ich hole das Taschentuch heraus, mit dem er sich am Tag, als er mich mit dem Fahrrad heimbrachte, die Stirn abgewischt hat. Ich habe es gewaschen und dann seinen Namen hineingestickt. »Hier, ein bescheidenes Geschenk.« 122
Jing betrachtet das Taschentuch und stottert: »Ich bin sehr glücklich, daß ich dich kennengelernt habe. Du bist ein ganz besonderes, interessantes Mädchen. Min hat dich nicht verdient …« Ich frage ihn, warum. Er sieht mich starr an und beißt sich auf die Unterlippe. Ich bleibe hartnäckig. Er wird ärgerlich, stampft mit dem Fuß auf und dreht mir den Rücken zu. Auf der Straße herrscht eine feuchte Hitze. Die Bäume glänzen, und das Grün tropft von den Blattspitzen. Die Schaufenster der Geschäfte werfen ab und an einen Funken müde Sonne zurück. Halbnackte Kinder laufen auf den Gehwegen entlang und halten Zeitungen feil. Um die Kunden anzulocken, rufen sie im Chor: »Frau tötet ihren Liebhaber! Leiche von einem Bonzen entdeckt!« Kurz bevor ich zu Hause ankomme, taucht Min auf und hält mich am Arm fest, so daß ich stehenbleiben muß. »Jing ist verrückt geworden! Was hat er dir eben erzählt?« »Nichts.« »Was hat er dir über mich gesagt?« »Nichts.« Trotzdem ist Min nicht beruhigt. Er mustert mein Gesicht. »Er liebt dich. Eben hat er es mir gesagt.« Dieser Satz sticht mir ins Herz. »Laß mich.« »Du mußt zwischen uns wählen.« »Laß uns doch kein Theater spielen!« 123
»Du kannst mich nicht verraten. Dein Körper gehört mir!« »Ich bin frei. Ich gebe meinen Körper, wem ich will, und wenn es der Teufel wäre!« »Warum sagst du mir das? Warum läßt du mich leiden? Du liebst mich nicht!« »Laß mich. Meine Schwester erwartet mich zu Hause, ich rede mit dir, wenn du dich beruhigt hast. Morgen spiele ich auf dem Platz der Tausend Winde eine Partie Go, komm mich um fünf Uhr abholen.« Ich habe Min noch nie in so einem Zustand gesehen. Er zittert am ganzen Körper. Ich renne davon.
48 Nach dem Abendessen erhalten wir den Befehl, bekleidet schlafen zu gehen, die Waffe immer in Reichweite. Um Mitternacht holt uns das Kreischen der Pfeifen aus dem Schlaf. Ich stürze mich ins Freie. Unsere Truppe steigt in mehrere Abteilungen gruppiert in Lastwagen. Man erklärt uns das Ziel der Operation: die Festnahme von Terroristen, die heute abend in der Stadt versammelt sind. Es heißt, der berühmte Oberst Li sei unter ihnen. Es herrscht eine feuchte Schwüle. Unter den Scheinwerfern flattern die Nachtfalter. Im gutbürgerlichen Stadtviertel erleuchten die Gaslaternen imposante Tor124
einfahrten. Plötzlich fallen Schüsse. Die Terroristen haben den Hinterhalt gewittert und versuchen zu fliehen. Unsere Aufklärer haben das Feuer eröffnet. In einer Nachbarstraße explodiert eine Granate. Der Geruch des Pulvers läßt mich erzittern. Seit Monaten schon habe ich an keiner Schlacht teilgenommen. Der Tod hat mir gefehlt. Wir umstellen ein weitläufiges Anwesen. Die Rebellen verstecken sich unter den Fenstern, sie leisten unseren Angriffen Widerstand und werfen Handgranaten. Wo die Geschosse niedergegangen sind, brennen die Bäume. Die Fenster mit den zerbrochenen Scheiben sind schwarz wie Höhlen. Dank der Vorstöße unserer Abteilung ist es einem unserer Kommandos gelungen, auf das Dach zu steigen, wo sie eine Öffnung finden. Der Kampf war zu kurz. Kaum bin ich warm geworden, muß ich meine Waffe schon wieder senken. Die Terroristen haben fünf Leichen und fünf Verletzte zurückgelassen. Der berühmte Rebellenoberst war so schlau, sich selbst zu töten, bevor wir eindrangen. Wir machen reiche Beute: Im Keller stapeln sich Gewehre, Munitionskisten, bündelweise chinesische Banknoten, die die Banditen nicht mehr rechtzeitig in die Mandschu-Währung haben umtauschen können. Wir sind im richtigen Moment gekommen. Bald schon hätte ein neuer Aufstand ausbrechen sollen. Ich zähle unsere Verluste: Vier Soldaten und ein Offizier haben für den japanischen Kaiser ihr Leben gelassen. Am Eingang eines Nachbarhauses bewegt sich ein Schatten. Ein Soldat, von einer Granate getroffen, kriecht unter endlosem Röcheln über den Gehweg. Ich 125
laufe zu ihm und untersuche seine Verletzungen. Sein Körper ist nichts als ein Haufen zerhacktes Fleisch, unter das sich die Fetzen seiner Kleider mischen. Aus seinem offenen Bauch hängen die Gedärme heraus. Plötzlich klammert er sich an meine Schultern: »Los, töte mich!« Ich weiß, daß es um ihn geschehen ist. Ich weiß, daß dies allen Soldaten blüht. Aber ich schaffe es nicht, meine Pistole aus dem Futteral zu ziehen. »Töte mich! Du Idiot, warum zögerst du?« Mir fehlt der Mut. Ich habe die Hand auf der Waffe, mir wird schwindlig. Die Sanitäter kommen gelaufen und transportieren den Verletzten auf einer Trage weg, während er weiter schreit: »Tötet mich! Ich bitte euch! Tötet mich!« In der Kaserne falle ich auf das Bett, ohne mich auszuziehen. Die Ärmel meiner Uniform sind noch feucht vom Blut dieses Unbekannten, der noch tagelang im Lazarett mit dem Tode ringen wird. Seine Verzweiflung verfolgt mich. Ich war unfähig, ihm die Gnade des Todes zu erteilen, ich war feige. Der Buddha hätte dieses befreiende Verbrechen begangen. Das Mitleid ist mit den starken Seelen. Die Worte meiner Mutter klingen in meinen Ohren: »Zwischen dem Tod und der Feigheit wähle ohne Zögern den Tod.«
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49 Durch das Fenster und die Bäume im Hof hindurch betrachte ich den Mond. Jings Schatten tritt erneut vor meine Augen. Die Hände im Türrahmen, den Blick erfüllt von einem verschwommenen Licht, hatte er mir gedankt, daß ich gekommen war. Lange Zeit hatte der Junge sich hochnäsig und grob gegeben. Nicht einmal habe ich ihn geneckt, ohne seine üblen Launen zu fürchten. Nach dem Geständnis, das Min mir überbracht hat, fürchte ich seinen verächtlichen Blick nicht mehr. Von jetzt an ist er ein offenes Buch, dessen Grammatik ich bestimmen werde. Warum hat Jing gesagt, daß Min mich nicht verdient? Wie sind die beiden Männer sich gegenübergetreten? Was hat Jing dazu gebracht, plötzlich ein Geständnis abzulegen? Haben sie sich gestritten? Haben sie sich geschlagen? Min sagt, daß er mich heiraten will. Aber ich habe Angst, daß er eines Tages meinem Vater gleichen wird, meinem Schwager. Die Leidenschaft der Männer versiegt schneller als die Schönheit der Frauen. Er hat von mir verlangt zu wählen. Wie könnte ich darauf verzichten, Jing wiederzusehen, der doch meine Zuneigung zu Min nährt? Ich werde Min nicht betrügen. Er hat mich zur Frau gemacht. Die Dankbarkeit läßt mich treu sein, nicht seine Eifersucht. Meine Beziehung zu Jing ist subtiler als der Überschwang der Körper. Enthaltung bedeutet die Lust der Seele. Ich weiß, daß Jing uns beobachtet, daß er die verblüffende 127
Entdeckung des Fleisches mit mir erlebt. Mein Blick erstickt seinen Groll. Wenn ich mich ihm zuwende, findet sein bleiches Gesicht wieder zu den Farben des Lebens. Jing ist mein Kind, mein Bruder, mit dem jede Berührung verboten ist. Diese Reinheit ist der Beginn einer haltlosen, einer wehrlosen Zuneigung, die ich Min verweigere. Ohne Jing würden meine Umarmungen mit seinem Rivalen gewöhnlich werden. Ohne Min existiert Jing nicht mehr. Im Kontrast zum Leichtsinn meines Liebhabers erscheint seine ruppige Art ernst und geheimnisvoll. Wenn ich einen erwähle, verzichte ich auf den anderen und verliere sie alle beide. In einer solchen Situation setzt man beim Go auf eine andere Lösung: Man greift den Gegner da an, wo er es am wenigsten erwartet. Wenn Min mich morgen auf dem Platz der Tausend Winde abholen kommt, werde ich so tun, als sähe ich ihn nicht. Wenn die Partie vorbei ist, werde ich die Steine zählen. Ich werde meinen Gegner grüßen und ihn mit dem Blick so lange begleiten, bis er verschwunden ist. Ich werde erschöpft auf das Spielbrett starren. Und ich werde fragen: »Min, wer ist Tang?« Er wird mir seine Treue schwören. Ich werde vorgeben, zornig zu sein. Ich werde mit den Füßen stampfen, werde laut aufseufzen. Ich habe mir die Anfälle von Perle des Mondes so gut gemerkt, daß ich perfektes Theater werde spielen können. Um mich zu beruhigen, wird er mich zu Jing mitnehmen. Ich werde seine Küsse annehmen, er wird über mich kommen. Unsere nackten Körper werden sich in das Laken rollen wie zwei Pinien, die der Efeu umwin128
det. Das Bett wird eine Sänfte sein, es wird uns in eine andere Welt bringen. Ein ohrenbetäubender Lärm reißt mich aus meinen Träumereien. Durch das Fenster erkenne ich meine Eltern, die im Nachthemd mitten auf dem Hof stehen. Die Köchin kommt aufgeregt aus ihrem Zimmer, eine Kerze in der Hand. »Löschen Sie sie aus!« befiehlt mein Vater ihr mit erstickter Stimme. »Hoffentlich ist das nur eine Militärübung«, sagt Mutter. Vater seufzt. Wieder hört man Explosionen, sie klingen wie die Kracher am Frühlingsfest. Unsere Stadt setzt diesem Lärm ein hartnäckiges Schweigen entgegen, keinen Schritt kann man mehr hören, kein Murmeln, kein Geheul. Dann kehrt sich alles wieder zur Ordnung einer sternklaren Nacht. Meine Eltern gehen wieder in ihr Zimmer, die Köchin schließt die Tür. Reglos betrachtet uns der Mond.
50 Vom Morgengrauen an laufen wir unermüdlich die drei Kilometer lange Strecke an der Kasernenmauer entlang. Unser rhythmisches Traben wirbelt Wolken von Staub auf, die vaterländischen Gesänge hallen zwischen Himmel und Erde wider. Die gemeinsame 129
Begeisterung hält das Herz warm und verscheucht die Alpträume. Letzte Nacht bin ich nach dem Erdbeben durch die Ruinen geirrt. Der Himmel war schwarz von Rauch. Meine Ohren hatten sich an das Gejammer gewöhnt, konnten eine Wehklage vom Brummen der Insekten nicht mehr unterscheiden. Erschöpft wäre ich am liebsten stehengeblieben. Aber überall hatte das Blut die Erde durchtränkt. Ich stolperte bei jedem Schritt, verdammte die Götter, heulte Verwünschungen, die mir noch im Ohr klangen, als ich schon wieder wach war. Im Waschraum verbringen meine Kameraden Stunden vor den Spiegeln und rasieren ihren abgezirkelten Schnurrbart. Ich besprenge mir das Gesicht mit eiskaltem Wasser und stelle mich vor einen Spiegel. Als mein Bild hervortritt, blicke ich wie von selbst zur Seite. Ist auf der anderen Seite eine Wahrheit, vor der man davonläuft? Mit angehaltenem Atem sehe ich mich an, die kurzgeschorenen Haare, die buschigen Augenbrauen. Vom unruhigen Schlaf sind purpurrote Flecken in das Weiß meiner Augen getreten. Ich mustere meinen nackten Oberkörper: Meine Haut ist nach dem Laufen rot und dampft; dicke Adern zeichnen sich auf dem Hals ab; die Muskeln an meinen Armen springen hervor; eine Narbe zieht sich über die linke Schulter, eine Erinnerung an eine Übung mit Bajonetten, bei der ich verletzt wurde. Die vierundzwanzig Jahre meines Lebens sind an mir vorbeigezogen. Wer bin ich? Ich finde keine Antwort. Aber wenigstens weiß ich, warum ich lebe: Mein Fleisch, das gereift ist, mein Gehirn, das gezweifelt hat, geliebt, geglaubt, zusammen werden sie eine 130
Feuerwerksgarbe als Geschenk an die Heimat sein. In der Nacht des Sieges werde ich explodieren. Um Viertel vor zehn klopfe ich an die Tür des Restaurants Chidori. Der Wirt läßt mir die Verkleidung bringen. Als Mandarin gleite ich durch einen geheimen Ausgang auf die Straße. Von der Rikscha aus gesehen bleibt die Stadt erstaunlich ruhig. Auf den Gehwegen steht die Sorglosigkeit der Chinesen im Kontrast zu der Behendigkeit unserer Soldaten, die zu Quadraten formiert marschieren. Die Geschäfte haben ihre Türen geöffnet, die Marktleute ihre Stände aufgebaut. Unermüdlich stimmen die fahrenden Händler ihre Litanei an. Ich frage den Kuli, ob er von dem Gefecht letzte Nacht wach geworden ist. Er tut so, als würde er mich nicht hören. Auf dem Platz der Tausend Winde haben die Liebhaber ihrer Gewohnheit gemäß mit dem Spiel begonnen. Ich spitze die Ohren nach ihren Gesprächen. Sie machen den Mund nur auf, um das Go-Spiel zu kommentieren. Die Chinesin erscheint am Rand des Wäldchens und läuft zu unserem Tisch, ein federleichter Vogel. Der Schweiß steht ihr auf der Stirn. »Entschuldigen Sie«, sagt sie, als sie sich setzt. Sie entknotet ein blaues Baumwollbündel und hält mir die schwarz lackierte Schale mit den schwarzen Steinen hin: »Also los. Sie sind dran.« Die Gleichgültigkeit dieser Leute gegenüber dem Vorfall von gestern macht mich perplex.
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51 Als ich heute morgen aufwache, steht die Sonne schon am Wipfel des Pfirsichbaumes. An allen Zweigen sehen die Büschel von jungen Blättern aus wie aufgeblühte Blumen. Ich bin glücklich. Dieses Glück hat seinen Ursprung nicht in innerem Frieden, sondern nährt sich aus widersprüchlichen Gefühlen. Die Grillen, genaue Kenner des Geheimnisses meiner Seele, zirpen fröhlich. Durch den Schlitz im Bettvorhang dringt ein blasser Himmel herein. Ich stelle mir vor, daß meine Stadt, ganz der Sonne ausgesetzt, eine nackte Frau ist, die die Umarmungen ihres Geliebten erwartet. Mutter ist mit meiner Schwester auf den Markt gegangen. Vater hat sich in der Bibliothek eingeschlossen, wo er einen erbitterten Kampf führt, um Shakespeares Englisch zu bändigen. Das Haus ist ruhig und kühl. Bei geöffneten Türen und Fenstern vermischt sich der Geruch nach frischem Laub mit dem Weihrauchduft des Jasmins, der die Zimmer erfüllt. Im Salon ist Wang Ma, die Putzfrau, mit einem Staubwedel beschäftigt. Vor sechs Monaten hat die Ärmste ihren Sohn durch Tuberkulose verloren. Seither redet sie pausenlos von ihren Erinnerungen, und der tote Junge wird lebendiger als je zuvor. Vater hört ihr zu und denkt dabei an seine Bücher, er tröstet sie mit einem ganz sinnlosen Satz: »Nur Mut, mein Kind.« Bei Mutter und Perle des Mondes kann sie ihren Schmerz besser loswerden. Ihre endlosen Erzählungen bringen die beiden zum Seufzen und manchmal zu Tränen. 132
Heute morgen ist mein Mitgefühl einem Unbehagen gewichen. Ich trage mein Glück im Bauch wie eine schwangere Frau, will es mir um keinen Preis von Wang Mas Gejammer verderben lassen. Bevor sie noch den Mund aufmachen kann, springe ich nach draußen: »Ich gehe auf den Platz der Tausend Winde. Ich komme bald wieder.« Der Unbekannte erwartet mich schon. Sein Gesicht hinter der Maske seiner Brille ist unbeweglich, ganz wie sein Körper. Aufrecht auf seinem Schemel sitzend, gleicht er dem Höllenwächter der alten Tempel. Wir stellen unsere Soldaten wieder auf die Schnittpunkte. Der Unbekannte markiert seine Gebiete am Rand des Spielbretts mit ungeheurer Genauigkeit und Sparsamkeit. Das Go-Spiel ist ein Spiegel der Seele. Seine ist von peinlicher Präzision und Kälte. Meine Großzügigkeit, ihn zuerst ziehen zu lassen, gibt ihm einen Vorteil. Er ist mir dabei voraus, die strategischen Punkte zu besetzen. Sie ihm streitig zu machen, vergrößert meinen Abstand auf ihn. Ich gehe das Risiko ein. Mit dem Rückhalt meiner Basis im Nordosten mache ich mich an die Eroberung des Zentrums. Es ist heiß. Vergeblich schwenke ich meinen Fächer. Mein Gegner mir gegenüber beeindruckt mich. Er sitzt in der Sonne, läßt sich ohne jedes Zeichen von Ärger verbrennen. Sein Gesicht trieft von Schweiß, die Hände auf den Knien, den geschlossenen Fächer zwischen den Fingern, hält er sich völlig reglos. Die Sonne nähert sich dem Zenit. Ich bitte um eine Pause, um zu essen, notiere die Stellung der Steine auf einem Stück Papier. Wir vereinbaren, uns nach der Pause wiederzutreffen. 133
52 Während die Chinesin zum Mittagessen nach Hause gegangen ist, wähle ich ein koreanisches Restaurant aus, in dem nur wenige Gäste sitzen. Ich bestelle kalte Nudeln. Von meinem Platz in einer Ecke des leeren Raumes aus habe ich ein Auge auf das Hin und Her der Bedienungen, zugleich setze ich einen Brief an meine Mutter auf. Ich gebe ihr an, was ich brauche: Seife, Handtücher, Zeitungen, Bücher, rotes Bohnengelee. Die Jahre in der Kadettenschule hatten mich zum Mann gemacht. Die Entfernung von der Heimat verwandelt mich wieder in ein launiges Kind. Ich fordere eine ganz bestimmte Sorte einer Ware an, lasse mich über die Farbe aus, den Geruch. Zwanzigmal schreibe ich die Liste neu, und allmählich verschwindet das rasende Heimweh. Wie geht es den Blumen im Garten? Wie ergeht es Kleinem Bruder, der zum Heer eingezogen wurde? Kommt er einmal im Monat nach Hause? Bekommt er dann eine gute Mahlzeit und warmen Sake? Was macht meine kleine Schwester in dem Moment, wo ich diese Gedanken an sie hege? Wie ist das Wetter in Tokyo? Jedermann weiß, daß die Post eventuell abgefangen und kontrolliert wird. Aus Angst, sie könnten die für die Verteidigung wichtigen Geheimnisse verraten, richten unsere Soldaten an ihre Familien extrem banale Worte. Die Antworten lauten genauso. Wenn wir einmal nicht mehr sind, wird dann diese fehlende Klage, die mangelnde Unruhe von uns das Bild von furchtlosen Helden hinterlassen? 134
Ich zerlege sorgsam jeden Satz, der mich aus Japan erreicht, während meine Familie meine Zeilen auf ihre Art und Weise interpretiert. Mutter fürchtet, meine Entschlossenheit zu schwächen, nie hat sie mir geschrieben, ich würde ihr fehlen. Um sie nicht zum Weinen zu bringen, habe ich ihr nie gesagt, wie leidvoll es für mich ist, von der Heimat entfernt zu sein. Allein zwischen ihr und mir ist das Wort vom Tod zulässig. Sie schreibt mir: »Stirb ohne Zögern für die Ehre des Kaisers, das ist der Weg deines Schicksals.« Ich antworte ihr: »Welche Freude, mich für meine geliebte Heimat zu opfern.« Ich werde ihr nicht sagen, daß ich auch für ihren eigenen Ruhm sterben werde. Nie wird sie zugeben, daß mein Tod sie vernichten wird. Ich beende meinen Brief mit diesen Worten: »Konfuzius schreibt: ›Ein Mensch voller Menschlichkeit wird nie hinnehmen, sein Leben zum Nachteil dieses seines Menschseins zu verlängern.‹ Diese Tugend ist der Schlüssel meines Lebens geworden. Betet, verehrte Mutter, ich bitte Euch, damit ich dieses Ideal bald erreichen möge.«
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53 Zu Hause ist das Essen im großen Zimmer angerichtet, dessen Fensterläden geschlossen wurden, um die morgendliche Kühle zu bewahren. Meine Schwester, zurück vom Markt, packt aus, was für Gerüchte sie aufgeschnappt hat. Sie sagt uns, daß letzte Nacht die japanische Armee Mitglieder der Einheitsfront verhaftet hat, die insgeheim einen Aufstand vorbereiteten. Die Schüsse, die man hören konnte, kamen nicht von einer Übung, sondern von einem regelrechten Blutbad. Ich höre ihren Bericht zerstreut an. Ein Go-Spiel stürzt mich in einen Taumel, der mich vom Rest der Welt abschneidet. Das Dunkel des Salons erinnert mich an das Schlafzimmer bei Jing, schattig wie ein Kaisergrab: Die schwarzen Lackmöbel atmen einen schweren Duft, die Risse in der Mauer zeichnen geheimnisvolle Fresken. Das Bett unter der purpurroten, goldbestickten Seide ist ein ewiges Flammenmeer. »Ein Aufstand«, sagt meine Schwester. »Stellt euch das nur vor! Wie dumm von ihnen!« Dann spricht sie weiter: »Wißt ihr, wo die Aufständischen verhaftet wurden? Haltet euch fest: Der Sohn des Bürgermeisters höchstpersönlich hatte sie in einem seiner Häuser versammelt. Seht mich nicht an, als würde ich phantasieren. Angeblich wurden im Keller Gewehre gefunden, kistenweise Munition. Wie bitte? Natürlich haben sie ihn verhaftet.« Das Hühnerfleisch, das ich esse, verliert jeden Geschmack. Um es hinunterzubekommen, stopfe ich den Mund voller Reis, den ich nicht schlucken kann. 136
»Heute morgen im Morgengrauen«, fällt die Köchin ein, die gerade den Tee serviert, »haben die Japaner Doktor Li verhaftet. Er war bei dem Komplott dabei.« Bedächtig ergreift Vater das Wort: »Ich habe den Bürgermeister gut gekannt. Unsere Väter haben gemeinsam am Hof der Kaiserinwitwe gedient. In unserer Jugend haben wir uns oft getroffen. Er wollte in England studieren. Aber seine Familie war dagegen. Er hat das auf ewig bedauert. Neulich hat er mich nach meinem Vortrag begrüßt. Mit seinen fünfundfünfzig Jahren sieht er aus wie sein Vater und es fehlen ihm bloß noch der Hut mit der Pfauenfeder, die Korallenketten und der brokatene Kaftan. Als er mir die Hand schüttelte, sagte er mir, sein älterer Bruder, ein enger Berater des Kaisers der Mandschurei, habe ihm einen Posten am Hof in der Neuen Hauptstadt verschafft. Aber jetzt ist seine Karriere gescheitert. Ich mache mir Sorgen um sein Leben und um die Zukunft seiner Familie.« »Wie kannst du mit diesem Menschen Mitleid haben«, gibt Mutter zurück. »Er verabscheut uns. Als er Berater des Bürgermeisters war, hat er Ränke geschmiedet, um deine Stundenzahl an der Universität zu verringern. Ich verdächtige ihn sogar, daß er deine Übersetzungen verbieten wollte. Ich habe nichts vergessen. Jetzt ist mir sein Unglück egal.« Ich wußte nicht, daß meine Eltern Jings Vater kennen. Ihre Worte geben mir das Letzte. Da sitzen sie im Halbdunkel um den Tisch und kommentieren das Ereignis, als ginge es um die Verhaftung einer Bande Krimineller. Plötzlich ruft meine Schwester: »Warum schaust du mich so an?« 137
»Ich habe Bauchschmerzen.« »Du siehst nicht gut aus. Leg dich ins Bett«, trägt meine Mutter mir auf. »Ich lasse dir Tee bringen.« Als ich auf dem Bett liege, bedecke ich meinen Bauch mit den eiskalten Händen. Wo ist Jing? Ist Min bei ihm? Ich lasse jeden Spalt, jedes Möbel, jede Nippesfigur in ihrem Haus vor meinen Augen vorüberziehen. Ich sehe sie, abgenutzt, friedlich, ohne jede Spur von Aufstand. Und doch haben meine Freunde mich betrogen. Während Min mich umarmte und mich ins Zimmer zog, war unten im Keller ihr Geheimnis. Wenn Jing im Garten mit mir sprach und dabei eifersüchtig Min nachspionierte, war er zugleich durch ein Band mit seinem Freund verbunden, das stärker ist als Liebe. Warum haben sie mir die Wahrheit verheimlicht? Ich hätte ihren Patriotismus geteilt, ich wäre ins Gefängnis gegangen, ich wäre an ihrer Seite gestorben. Warum haben sie mich erst verführt, um mich doch gleich wieder auszuschließen? Meine Schwester bringt mir eine Tasse Tee. Ich drehe mich von der Bettkante weg und gebe vor zu schlafen. Wieder sehe ich unsere erste Begegnung. Auf dem Markt hatten die Widerständler zum Ansturm auf das Rathaus gerufen. Im Drängen der Menge fiel ich hin. Ein Junge mit dunkler Haut hielt mir die Hand hin. Er hatte das schöne, kantige Gesicht der MandschuAristokratie. Dann kam Jing, kalt und hochnäsig. Die beiden Anführer des Aufstands waren soeben in mein Leben getreten. Ich drehe mich um. Nach ein paar Schlucken Tee finde ich wieder Ruhe. Als Min mir von der Revolu138
tion erzählte, glaubte ich, er würde träumen. Als er sagte, sein Leben sei gefährlich, machte ich mich über seinen Abenteuerdurst lustig. Ich erinnere mich an Tang, die Studentin auf Jings Geburtstagsfeier. Jetzt begreife ich den Sinn ihrer Worte: Das Sklavenmädchen hat aus dem kommunistischen Ideal ihre Kraft und ihr Vertrauen geschöpft. Die japanische Invasion hat unsere unerschütterlichen Hierarchien aufgebrochen, Tang hat Min, dem Gutsherrensohn, den Traum vom Aufbau einer neuen Gesellschaft weitergegeben, in der alle Menschen gleich sein sollten. Sie hat ihn dazu gebracht, zur Waffe zu greifen und in der Einheitsfront mitzuarbeiten. Und Min hat Jing hineingezogen. Alle drei werden sie erschossen werden! Ich schleiche mich nach draußen. Der Kuli zieht meine Rikscha an Jings Haus vorbei. Die Straße wird von Polizeistreifen abgesperrt. Auf dem Platz der Tausend Winde stelle ich nach dem Notizblatt die Steine auf. Ich starre auf das Spielbrett, zähle die Schnittpunkte, ich tauche ein in die Abgründe der Mathematik.
54 Nach dem Essen ist das Gesicht der Chinesin bleich. Ihre Züge sind verändert. Als sie nach einem Spielstein greift, zittert ihre Hand. Durch ihr Schweigen verbietet sie mir, sie zu trösten. 139
Ich spiele Gleichgültigkeit, um sie nicht zu verärgern. Frauen hassen Mitleid. Innerhalb von ein paar Stunden ist das Mädchen um Jahre gealtert. Ihre Wangenknochen wirken höher durch die Schatten, die ihre Wangen graben. Ihr Gesicht sieht länger aus, ihr Kinn kantiger. Für einen Wimpernschlag erkenne ich den schrecklichen Blick eines Kindes, das in seinem Stolz verletzt ist. Hat sie sich mit einem Bruder zerstritten? Hat sie mit einer Freundin gezankt? Sie wird ihren Kummer wieder vergessen. Ich sollte mir keine Gedanken machen. Kinderlaunen schwanken schnell. Sie wird ihr Lächeln wiederfinden. Bei unserem vorigen Treffen hatte ich von ihr den Eindruck einer schnellen, spontanen Spielerin. Heute denkt sie stundenlang nach. Mit ihrem gesenkten Blick, die Lippen aufeinandergepreßt, dem verhärteten Mund, könnte sie für die Nô-Maske einer Geisterfrau Modell stehen. Sie stützt die Ellenbogen auf den Rand des Spielbretts, den Kopf in den Händen, sie wirkt erschöpft. Ich frage mich, ob sie in Gedanken wirklich beim Spiel ist. Der Spielstein verrät das Denken. Einen Punkt weiter im Osten wäre ihr Zug solider gewesen. Mein schwarzer Stein vertritt ihr den Weg. Durch meinen Kampfgeist hoffe ich, ihre Wachsamkeit zu erregen. Sie blickt auf. Ich dachte, sie würde weinen, aber sie lächelt mir zu. »Ein guter Zug! Treffen wir uns morgen nachmittag wieder.« Ich hätte jetzt gerne weitergespielt. Aber ich weigere mich aus Prinzip, mit einer Frau zu diskutieren. 140
Sie notiert die hinzugekommenen Züge auf ihrem Zettel. Bei Turnieren in Japan nimmt der Schiedsrichter bei jeder Unterbrechung die Stellung der Steine auf und legt die Gedächtnisstütze vor der Öffentlichkeit in einen Tresor. »Wollen Sie ihn?« fragt sie mich. »Nein, behalten Sie ihn nur.« Sie sieht mich lange an und räumt ihre Steine fort.
55 Am Ende der Straße steht Mins Silhouette wie ausgeschnitten vor dem Himmel. Er kommt auf die Kreuzung zu, wo ich seit Stunden warte, von seinem Fahrrad aus grüßt er mich mit einem Kopfnicken. Ich verschlinge ihn mit den Augen. Sein Gesicht ist glatt und ohne jede Spur von Leiden. Der Schweiß glitzert auf seiner Stirn. Er lächelt mir zu, bevor er wegfährt. Ich muß Jing finden! Ich durchquere die Absperrung der japanischen Soldaten und dringe in sein Grundstück ein. Innerhalb der eingestürzten Mauern steht das im Kugelhagel zerschossene Haus. Im Garten haben nur die purpurnen Dahlien noch immer den Kopf erhoben. Jing liegt auf einer Gartenliege, spielt mit seinem Vogel. »Ich dachte, du wärest im Gefängnis.« Er hebt den Kopf. Seine Augen sprühen vor Haß und Begehren. »Mein Gefängnis bist du.« 141
Ich wache auf. Seit Morgengrauen ist die Kreuzung am Tempel voller Händler, Spaziergänger, taoistischer Mönche. Ich stelle mich an einen Stand und zwinge mich, eine Raviolisuppe zu essen. Durch den Dampf aus dem siedenden Kessel hindurch halte ich nach Min Ausschau. Passanten spazieren vorbei, Kulis mühen sich mit Rikschas ab. Wohin gehen sie? Haben sie einen Sohn, einen Bruder, der ein Gefangener der Japaner ist? Ich beneide die taoistischen Mönche um ihre Ruhe, die Kinder in den Armen ihrer Mütter um ihre Unwissenheit, die Bettler um ihre friedliche Armut. Als am Horizont ein Fahrrad auftaucht, stehe ich ängstlich auf. Zum ersten Mal verstehe ich, was es heißt, »sich die Augen aus dem Kopf zu gucken«. Bald schon ist die Sonne über drei Viertel des Himmelsgewölbes gewandert. Ich lasse mich unter eine Weide gleiten. Japanische Soldaten überqueren die Kreuzung, die Flagge an den Spitzen ihrer Bajonette. Ich erkenne unter den Helmen junge, grausame Gesichter. Mit ihrer Gedrungenheit, den Schlitzaugen, der platten Nase über einem Schnurrbart, verkörpern sie dieses Inselvolk, das nach der Legende von unserem abstammen soll. Sie widern mich an. Um elf Uhr beschließe ich, in die Schule zu gehen. Huong sagt mir, der Literaturlehrer habe bemerkt, daß ich fehle, und meinen Namen notiert. »Warum kommst du so spät?« fragt sie mich. Ich erkläre ihr die Situation. Sie denkt nach: »Du solltest eine Zeitlang verschwinden. Du hattest Kontakt zu Min und Jing. Die Japaner könnten sich für dich interessieren.« 142
Ich muß lachen. »Wenn sie mich holen kommen, ergebe ich mich gerne. Wo sollte ich mich verstecken? Wenn ich fliehe, würden an meiner Stelle meine Eltern eingesperrt. Sollen sie mich doch festnehmen, wenn ihnen danach ist!« Huong fleht mich an, nichts Unbedachtes zu tun. »Ich werde gar nichts tun. Ich bin so vernünftig, so feige. Niemals würde ich die japanische Kaserne in Flammen setzen, um meine Freunde zu retten. Sie sind echte Helden. Sie wissen, wie man mit der Pistole schießt, Granaten wirft, mit Dynamit sprengt. Sie wissen, wie man sein Leben für eine große Sache aufs Spiel setzt. Ich habe noch nie eine Waffe berührt. Ich weiß nicht, wie schwer sie sind, wie sie funktionieren. Ich war nicht fähig, einen Widerständler zu erkennen. Ich bin ein gewöhnliches Mädchen.«
56 Hauptmann Nakamura sieht überall Spione, sogar innerhalb unserer eigenen Armee. Weil er an der Zuverlässigkeit unserer chinesischen Dolmetscher zweifelt, bittet er mich, beim Verhör der neuen Gefangenen dabeizusein. Der Kerker befindet sich im Herzen der Kaserne in einem Hof, der unter hohen Platanen versteckt liegt. Kaum bin ich über die Schwelle getreten, als mich derselbe Gestank übermannt wie auf einem Schlachtfeld am Tag nach dem Kampf. 143
Leutnant Oka, den Hauptmann Nakamura mir bei einem Essen in der Stadt vorgestellt hatte, nimmt mich mit offenen Armen in Empfang. Maßgeschneiderte Uniform, einwandfreier Schnurrbart, er pflegt sein Äußeres bis ins Detail. Er führt mich in einen zweiten Hof: Da hängt ein Chinese mit den Füßen an einem Baumast. Sein nackter Körper ist von schwarzen Striemen überzogen. Als wir herantreten, schwärmt eine Wolke Fliegen auf und legt sein Fleisch bloß, das aussieht wie ein gepflügter Acker. »Nach dem Auspeitschen habe ich ihm das glühende Eisen auferlegt«, kommentiert der Leutnant. Innerhalb des Gebäudes wird der Geruch nach Fäulnis stärker. Leutnant Oka bleibt unerschütterlich, und ich bemühe mich, es ihm gleichzutun. Er lädt mich zu einer Führung ein. In einem langen, düsteren Korridor zeigt er mir mit der Selbstgefälligkeit eines Arztes, der voller Stolz sein mustergültiges Krankenhaus vorführt, die Zellen. Durch die Stäbe hindurch erkenne ich die zusammengepferchten, verstümmelten Körper. Der Leutnant erklärt mir, die ersten Maßnahmen, die er bei seiner Ankunft ergriffen habe, hätten darin bestanden, die Decken niedriger zu hängen, damit die Verbrecher nicht aufrecht stehen könnten, und die Nahrungsrationen zu verringern. Der Gestank der Exkremente, vermischt mit dem des Blutes, nimmt mir den Atem. Mein Fremdenführer bemerkt mein Unwohlsein, im Ton des gewissenhaften Beamten sagt er: »Tut mir leid, Leutnant, wenn man diesen Schweinen mit dem Stock eines überzieht, kriegen sie Dünnpfiff.« 144
Beim Anblick dieser Menschen, die mit dem Tode ringen, läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Aber das heitere, aufmerksame Gesicht des Leutnants zwingt mich, meinen Ekel zu überwinden. Ich darf seiner Arbeit nicht respektlos gegenüberstehen. Weil ich fürchte, er könnte sich über meine schwachen Nerven lustig machen, schlucke ich den bitteren Geschmack hinunter, der mir aus dem Magen aufsteigt, und sage ihm ein paar lobende Worte. Zufrieden lacht er, schüchtern. Die Folterkammern liegen am Ende des Korridors. Der Leutnant hat die Stelle so gewählt, daß die Schreie der Gefolterten im ganzen Gefängnis zu hören sind. Weil er mir seinen Sachverstand demonstrieren will, weist er seinen Adjutanten an, ein Verhör wieder aufzunehmen. Die Schreie einer Frau lassen mir die Haare zu Berge stehen. »Eben hat man Salz in die Wunde der Kommunistin gestreut«, erklärt mir der Leutnant. Dann fügt er hinzu: »Während meiner Schulung pflegte unser Ausbilder zu sagen: Unter Tortur halten Frauen mehr aus als Männer. Diese hier ist besonders dickköpfig.« Er stößt eine Tür auf. In der Mitte des Zimmers brennt in einem Bronzebecken ein Feuer, die Schürhaken werden zum Glühen gebracht. Die Hitze ist unerträglich. Zwei Folterknechte mit behaarten Armen schütten einen Eimer Wasser über einer nackten Frau aus, die am Boden liegt. Der chinesische Dolmetscher beugt sich über sie. »Rede!« schreit er. »Wenn du redest, läßt dir die Kaiserliche Armee das Leben.« 145
Zwischen dem Stöhnen glaube ich zu verstehen: »Ihr teuflischen Hunde von Japanern.« »Was sagt sie?« »Sie beleidigt die Herren der Kaiserlichen Armee.« »Sag ihr, daß ihre Kameraden gestanden haben. Sie ist die einzige, die nicht mit uns zusammenarbeitet. Wozu will sie noch weiter widerstehen?« Sie rappelt sich auf den Bauch. Ich sehe ihren blutigen Rücken zittern, auf den ihr die Hände gebunden sind. Der Leutnant gibt ihr einen Fußtritt. Sie kippt auf die Seite, legt ihr blaugeschwollenes Gesicht frei. Er steigt ihr mit dem Stiefel auf den Kopf und grinst: »Sag ihr, wenn sie nicht redet, ramme ich ihr diesen Schürhaken in den Hintern.« Der Dolmetscher beeilt sich zu gehorchen. Das Stöhnen verebbt. Alle starren auf den reglosen Körper. Der Leutnant gibt dem Dolmetscher ein Zeichen, Stift und Papier zur Hand zu nehmen. Plötzlich, wie eine Furie, die aus der Hölle auffährt, richtet die Frau sich auf und brüllt: »Töte mich! Töte mich! Verdammt seid ihr alle …« Der Leutnant wartet nicht erst auf den Dolmetscher, um den Sinn dieses Satzes zu verstehen. Auf einen einfachen Wink mit den Augen werfen die beiden Folterknechte sich auf sie und halten sie an den Schultern fest. Der Leutnant greift nach dem glühenden Eisen. Schwindelerregender Rauch erhebt sich im selben Moment wie der Schrei der Gemarterten. Ich wende die Augen ab. Der Leutnant legt das Eisen in die Glut zurück und sieht mich mit einem rätselhaften Lächeln an: »Pause. Wir machen später weiter.« 146
Er zieht mich weiter, um andere Kammern zu besichtigen, zeigt mir Haken, Peitschen, Stöcke, Nadeln, siedendes Öl, pfefferscharfe Flüssigkeiten, alles mit der Gründlichkeit eines passionierten Wissenschaftlers. Dann lädt er mich zu einer Schale Sake in sein Büro. »Ich trinke niemals tagsüber, entschuldigen Sie.« Er lacht laut auf: »Jedes Gefängnis ist ein Königreich für sich. Wir haben hier unsere eigenen Gesetze. Sake bringt das Gehirn auf Touren. Ohne ihn erschöpft sich unsere Phantasie und wir erliegen schnell der Müdigkeit.« Ich verabschiede mich, gebe vor, ein dringendes Gespräch führen zu müssen. Auf der Schwelle fragt er mich: »Sie kommen doch bald wieder, nicht wahr?« Ich nicke ihm undeutlich zu. Auf meinem Zimmer schreibe ich einen Bericht an Hauptmann Nakamura, in dem ich Leutnant Oka in vollen Tönen lobe: »Er ist ein gewissenhafter Mann, dem Kaiser völlig ergeben. Er soll in aller Freiheit und mit der alleinigen Unterstützung seiner Mitarbeiter weiterwirken. Ein Außenstehender würde die Sorgfalt seiner Arbeit durcheinanderbringen und den Ablauf der Verhöre nur stören. Was mich betrifft, so bitte ich Sie, Hauptmann, mich nicht mehr dorthin zu schicken. Dieser Besuch hat meine Überzeugung gefestigt: Nie darf man lebend in die Hand des Feindes fallen.« Drei Tage später überbringt ein Soldat mir eine Nachricht von Leutnant Oka, der mich in einer Angelegenheit zu informieren wünsche. Ich begebe mich auf der Stelle zu ihm. Trotz der Hitze trägt der Offizier über seinem Hemd eine neue Uniformjacke und ein Paar Stiefel, das in der Sonne blinkt. 147
Er empfängt mich mit einem Lächeln auf den Lippen: »Ich habe eine gute Neuigkeit für Sie. Der Mann, den Sie im Hof haben hängen sehen, hat aufgegeben. Bei unserer letzten Razzia haben wir einen fünfzehnjährigen Jungen gefangen genommen. Das Verhör wird heute nacht stattfinden. Wollen Sie dabeisein?« Das Wort »Verhör« läßt mir schwindlig werden. Ich versichere ihn der Kompetenz seines Dolmetschers und erkläre, daß meine Anwesenheit unnütz wäre. Ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, hakt er weiter nach und sieht mir gerade in die Augen: »Wollen Sie wirklich nicht kommen? Wie schade. Der Junge ist sehr niedlich, und ich habe schon mehrere robuste Männer ausgewählt, um ihn die ganze Nacht über zum Reden zu bringen. Es wird großartig.« Es herrschen fünfunddreißig Grad im Schatten, aber die Worte des Leutnants lassen mich erschauern. Als Antwort murmele ich, daß mich solche Spektakel nicht interessieren. Er wundert sich: »Ich dachte, Sie würden so etwas lieben.« »Leutnant, Sie haben eine schwierige Aufgabe, die wichtig ist für die Expansion Japans und für den Glanz des Kaisers. Ich will Sie davon nicht ablenken. Erlauben Sie mir, Ihre freundliche Einladung abzulehnen.« Die Enttäuschung ist ihm ins Gesicht geschrieben. Traurig blickt er mich an. Leutnant Oka ist so exakt rasiert, daß der kleine Bart über der Oberlippe aussieht, als würde er sich von der Haut lösen, um gleich abzuheben. 148
»In Ordnung, Leutnant«, sage ich und schlage ihm auf die Schulter. »Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit. Es geht um den Ruhm des Kaiserreichs.«
57 Eine ganze Woche lang habe ich an der Kreuzung auf Min gewartet. Nachmittags schlich ich über den Akademienring, der vor den Toren der Universität entlangführt, hoffte vergebens, ein bekanntes Gesicht zu erkennen. Ich finde die Adresse wieder, die Tang mir gegeben hat. Vor einem heruntergekommenen Haus im Arbeiterviertel laufen schreiende Kinder umher. Eine alte Frau klopft müde ihre Laken. Eine Nachbarin taucht auf. »Ich will Tang ein Buch zurückgeben.« »Sie ist verhaftet worden.« Der Terror macht sich in meiner Stadt breit. Die Japaner sind entschlossen, alle die festzusetzen, die ihre Herrschaft mißbilligen. Ich wundere mich, daß ich noch immer frei bin. Nachts horche ich nach dem rhythmischen Schritt der Soldaten, dem Bellen der Hunde, dem dumpfen Klang einer Faust, die an unsere Tür schlägt. Die Stille ist schrecklicher als der Aufruhr. Ich starre an die Decke, auf die Frisierkommode mit ihrem in blauer Seide gerahmten Spiegel, den Schreibtisch, wo ein Rosenstrauß sich in der Dunkelheit abhebt. Alle diese Dinge werden vielleicht zerschlagen werden, zer149
spalten, verbrannt. Wie Jings Haus wird auch unseres nichts mehr sein als ein verkohltes Skelett. Wieder sehe ich Min auf der Straße. Er war gerannt, hatte unordentliche Haare, er wußte noch nicht, daß ihn das Gefängnis erwartete. Er sagte mir: »Jing liebt dich. Eben hat er es mir gesagt … Du mußt zwischen uns wählen.« Das hatte mich geärgert. Dieser Befehl verletzte meinen Stolz. »Laß uns doch kein Theater spielen!« war meine einzige Antwort, und das waren die letzten Worte, die ich an ihn richtete. Jing fehlt mir genauso wie Min. Jetzt erscheint mir seine Übellaunigkeit, seine Steifheit so liebenswürdig. Wie kann ich die beiden retten? Wie kann ich zur Einheitsfront Kontakt aufnehmen? Wie kann ich sie im Gefängnis besuchen? Zu ihrem Unglück sind sie reich geboren. Der Unterschied zwischen ihrem Schlafzimmer und dem feuchten Kerker muß unerträglich sein. Sicher werden sie krank werden. Angeblich kann man Kerkermeister mit Geldgeschenken milde stimmen. Ich werde alles geben. Schüsse auf der Straße. Ein Hund heult auf. Dann fällt die Stadt gleich wieder ins Schweigen zurück, wie ein Stein, den man in einen grundlosen Brunnen wirft. Mir ist heiß, und ich habe Hunger. Ich habe Angst. Aber der Haß gibt mir Kraft. Ich öffne die Schublade der Kommode. Aus einem Etui mit Nähzeug, einem der Geschenke zu meinem sechzehnten Geburtstag, ziehe ich eine Schere mit goldenen Griffen und scharfer Spitze. Die kostbare Waffe auf meinem Gesicht ist kälter als ein Eiszapfen. Ich warte. 150
58 Uniform und Zivil machen mich zu zwei verschiedenen Menschen. Der erste sieht über die Stadt mit dem Stolz des Siegers, der zweite läßt sich von ihrer Schönheit besiegen. Der Chinese bin ich. Verblüfft beobachte ich, wie er den Akzent annimmt, seine Haltung ändert, ein Bild von sich selbst erfindet. Wenn ich mich verkleide, verliere ich meine Anhaltspunkte und distanziere mich von mir selbst. Damit bin ich beinahe ein freier Mann geworden, der nichts weiß vom militärischen Engagement. Als kleiner Junge hatte ich oft denselben Traum: In der Kluft eines Ninja* kletterte ich über die Dächer einer schlafenden Stadt. Die Nacht lag mir zu Füßen, und hie und da glitzerten Lichter wie die Laternen der Schiffe auf einem nächtlichen Ozean. Diese Stadt war nicht Tokyo. Sie war mir fremd, und die Angst stieg in mir hoch. In einer engen, menschenleeren Straße wiegten die Laternen ihr bedrohliches Licht unter ihren Windfängen. Auf leisen Sohlen ging ich über jeden einzelnen Ziegel bis an das Ende der Dächer. Plötzlich warf ich mich ins Leere. Ich bin böse auf Hauptmann Nakamura, er läßt mich eine üble Rolle spielen. Ich habe nicht den Spürsinn, nicht den Zynismus und nicht die Paranoia eines Spions, und mir fehlt der Blick des Profis, der auf einem dunklen Papier den schwarzen Fleck erkennt. Statt dessen fühle ich mich selbst beobachtet. Trotz der Junihitze trage ich einen dicken Leinenkittel, der es mir erlaubt, an meinem Gürtel eine Pistole zu verstecken. 151
Wenn ich vor dem Spielbrett sitze, lege ich die Hände flach auf die Knie und mein rechter Ellenbogen versteckt die Waffe, die sich den Falten meines Gewands nicht fügen will. Wenn ich die rechte Hand hebe, um einen Stein zu setzen, streiche ich über den Stahl. Die Waffe ist meine Kraft und meine Schwäche. Obgleich meinen Salven alles offensteht, kann mir genauso gut eine Kugel zum Verhängnis werden, die ein chinesischer Widerständler in meinem Rücken abfeuert. In Japan habe ich gelernt, die Regeln des Go-Spiels strikt zu befolgen. Ich habe dort schweigend gespielt, inmitten der sanften Natur. Entspannt war der Körper, beim Einatmen strömte die Energie in den Bauch, das Ausatmen führte den Gedanken, und meine Seele trat zaghaft in die Zweiheit der Welt. Der begonnenen Partie von heute fehlt jede Spiritualität. Der Sommer in der Mandschurei ist genauso unerbittlich wie der Winter. Wer Verbranntsein und Blendung nicht kennt, versteht nicht die Macht dieser schwarzen Erde. Nach einer schonungslosen Übung, bei der der Körper austrocknet und sich völlig verausgabt, bedeutet ein Go-Spiel mit der Chinesin einen Ausbruch ins Land der Dämonen. Die Junihitze durchdringt meine entspannten Adern und schärft mir die Sinne. Ein Nichts bringt mich zur Erektion: ihr nackter Arm, der zerknitterte Saum ihres Kleides, die Wellenbewegung ihrer Schenkel unter dem seidigen Stoff, eine Fliege, die vorbeisummt. Es ist eine Qual, meiner Gegnerin gegenüber würdevoll zu bleiben. Seit einer Woche ist ihr Gesicht braun wie eine Weinbeere. Sie trägt ärmellose Kleider. Mit 152
ihrem eng anliegenden Schnitt machen diese Mandschu-Kleider die Frauen aufreizender, als wenn sie nackt wären. Über dem Spielbrett stoßen unsere Köpfe beinahe aneinander. Ich kämpfe gegen meine Triebe mit dem Willen, den jahrelanger Militärdienst gestählt hat, ich quäle mich beim Spiel. Dank meinem Einsatz in China habe ich die Größe und die Not des Soldaten verstanden. Er folgt dem Befehl, zieht umher, ohne zu wissen, wohin ihn sein Weg führt und warum. Ein Spielstein unter anderen. Er lebt und stirbt, namenlos, für den Sieg des Ganzen. Das Go-Spiel macht mich zum Feldherren, der seine Männer kalt berechnend einsetzt. Die Spielfiguren gehen vorwärts. Viele sind dazu verurteilt, in der Umzingelung zu sterben, als Opfer im Namen einer Strategie. Ihr Tod verschwimmt mit dem meiner Kameraden.
59 Huong spinnt Intrigen, um an Neuigkeiten zu kommen, die von Tag zu Tag furchtbarer werden. Als sie mir berichtet, daß Jings Vater bei den japanischen Behörden die Todesstrafe für seinen Sohn gefordert hat, weil er ein öffentliches Beispiel geben möchte, hasse ich sie dafür. Die Gleichgültigkeit meiner Eltern läßt mich verzweifeln. Perle des Mondes meint, ich bin verliebt, und versucht mir alles aus der Nase zu ziehen. 153
In süßlichem Tonfall fragt sie mich: »Meine Schwester, hast du Kummer?« »Habe ich nicht, Perle des Mondes. Die Hitze macht mich krank.« Die monotonen Klagen der Dienerin Wang Ma gehen mir auf die Nerven, und schließlich breche ich in Lachen aus. Meine Eltern sehen sich an. Mein skandalöses Verhalten geht über ihren Verstand, sie wissen nicht, wie sie mich strafen sollen. Wang Ma läuft schluchzend davon. Mutter ohrfeigt mich. Es ist das erste Mal, daß sie mich schlägt. Meine Wange brennt, mein Kopf brummt. Mutter hält ihre Hand vor die Augen, sieht sie zitternd an und verschwindet ebenfalls. Auf dem Platz der Tausend Winde entspanne ich mich vor einem Unbekannten. Er ist pünktlich und beschwert sich nie über mein Zuspätkommen. Nur selten spricht er. Keinerlei Ausdruck zieht über sein Gesicht. Er hält der Sonne stand, dem Wind, meinen Provokationen. Diese innere Kraft muß ihm wohl viele weltliche Qualen ersparen. Ich bin hier, um mich zu vergessen. Hier spricht niemand von den Verhaftungen genauso wenig wie von der japanischen Besatzung. Die Nachrichten aus der Außenwelt erreichen uns nicht. Nur dem Schmerz gelingt es, mich zu überraschen. Ein Vogel, ein Schmetterling, ein Passant, eine einfache Geste, alles wirft mich zurück auf Min und auf Jing. Ich stehe auf und gehe einmal um den Platz. Die Spieler, die unter den Bäumen verteilt sitzen, sind wie Tonfiguren, die die Ewigkeit zufällig verstreut hat. Immense Mutlosigkeit überkommt mich. Meine 154
Beine zittern, mein Kopf wird schwindlig. Ein grauer Vorhang fällt vom Himmel. Ich unterbreche die Partie. Mein Gegner hebt den Kopf und mustert mich hinter seiner Brille. Er sagt nichts, wird nicht böse. Er spielt, ohne Fragen zu stellen. Als ich den Spieltisch verlasse, folgt er mir mit den Blicken, bis er mich nicht mehr sieht. Mein Unglück scheint sich zu poetischer Größe auszuwachsen. Ich wandle mich zu einer tragischen Schauspielerin, mit einem einzigen Zuschauer, einem Unbekannten.
60 Der Platz der Tausend Winde hat mich mit seinen Gerüchen durchzogen, ich kenne inzwischen jeden seiner Bäume, jedes Spielbrett, jeden Sonnenstrahl. Die Alten, eingefleischte Go-Liebhaber, verbringen ihre Tage dort. Den Fächer in der einen Hand, die Teekanne in der anderen, dazu ihren Vogelkäfig an einem Zweig, kommen sie beim Morgengrauen an und gehen am hellen Nachmittag. Wenn ihre beiden Schalen mit den Spielsteinen offen dastehen, heißt das, sie erwarten einen Mitspieler; wenn sie geschlossen sind, sind sie frei und fordern zum Duell. Ich hatte Angst, mit der Zeit würden sie einen falschen Chinesen von einem echten unterscheiden können. Diese Unruhe ist wie weggeblasen. Hier gibt das Wort seinen ganzen Einfluß auf, es überläßt seine Vormacht dem Klappern der Spielsteine. 155
Man hat mir eine falsche Identität erfunden. Ich habe sie nie gebraucht. Die Spielerin fragt mich nicht einmal nach meinem Namen, ein unbedeutendes Detail in einer Partie Go. Sicher meint sie, der Fisch habe angebissen, sie bemüht sich nicht mehr, mich zu betören. Das Lächeln, die schalkhaften Worte behält sie jetzt für den nächsten Spieler zurück, den sie in ihre Netze ziehen wird. Aus einem Grund, den ich nicht kenne, schneidet sie mich. Sie hat die herzlichen Begrüßungen vom Anfang gegen ein kurzes Nicken vertauscht, und sie taucht nur aus dem Schweigen, um am Ende der Begegnung ein neues Treffen zu vereinbaren. In den ersten Tagen habe ich in ihr Lumière gesehen. Heute gleicht sie der Geisha, dieser raffinierten, ausgeklügelten Frau, weder von weitem noch von nahem. Ihre Gesten sind müde, ihre Haare schlecht geflochten, unter ihren Fingernägeln stehen schwarze Ränder. Daß sie sich so gehen läßt, verrät ihre tiefe Verachtung für mich. Pickel wachsen ihr auf der Stirn, ihr Gesicht hat die Anmut verloren, die mich zuerst fasziniert hatte. Aus dem Weiß ihrer Augen ist das schöne bläuliche Schimmern gewichen, ihr Blick ist trübe geworden. Ihre Lippen schälen sich, ihre einfallenden Wangen lassen sie kantig wirken. Die Chinesin wird zum Chinesen! Ich räche mich für meine Enttäuschung, indem ich den ersten direkten Kampf gewinne. Von allen Seiten enger und enger umschlossen, verkümmern die Weißen im Süden des Spielbretts. Unbeeindruckt von diesem Verlust notiert sie die Stellung der Steine und läuft eilig fort. 156
61 Meine Schwester flüstert: »Ich bin vielleicht schwanger.« Nach dem Essen folgt sie mir in mein Zimmer, ich fühle mich verpflichtet, ihr zu gratulieren. Ich frage sie, wann sie bei unserem Hausarzt war. Sie zögert einen Moment und sagt errötend: »Ich bin noch nicht beim Arzt gewesen. Ich habe Angst …« »Aber wie weißt du es dann?« »Ich warte seit zehn Tagen auf meine Regel.« Mein Herz macht einen Sprung. Auch ich warte seit zehn Tagen auf meine Regel. »Bist du sicher?« Perle des Mondes ergreift meine Hände. »Hör zu, meine Regel ist sehr pünktlich. Diesmal stimmt es wirklich! Wenn ich mich abends hinlege, ist mir schwindlig. Morgens ist mir schlecht. Ich habe Appetit auf sauer eingelegtes Gemüse. Man sagt, wer das Saure mag, wird einen Sohn bekommen. Glaubst du, ich werde einen Sohn haben?« Gleichgültig über die Freude meiner Schwester rate ich ihr, zum Arzt zu gehen. »Ich habe Angst. Die Vorstellung, man könnte mir sagen, daß ich nicht schwanger bin, macht mich bangen. Ich habe es noch niemandem erzählt. Es ist ein Geheimnis, ich teile es allein mit dir. Oh, meine Schwester, heute morgen habe ich mich mit dem Glück versöhnt! Als ich meinen Bauch mit meinen Händen bedeckt habe, habe ich schon das Kind gespürt, das sich von meinem Fleisch nährt. Mit ihm kann ich der Untreue die Stirn bieten, der Verlassenheit, der Lüge. Mit ihm fange ich ein neues Leben an!« 157
Meine Schwester läßt mich mit ihrem Überschwang erstarren. Wenn sie sich auch sehnlichst ein Kind wünscht, für mich würde eine Schwangerschaft den Tod bedeuten. Als Perle des Mondes gegangen ist, stelle ich mich vor meinen Kalligraphietisch. Mit einem Pinsel in der Hand ziehe ich schwarze Striche auf das Reispapier, zähle wieder und wieder die Zeit meiner Regel ab. Sie hätte vor genau neun Tagen eintreten müssen. Ich lasse mich auf das Bett fallen. Mein Kopf brummt. Ich weiß nicht, wie lange dieser Schwindel dauert. Als ich wieder zu mir komme, schlägt die Standuhr Mitternacht. Ich ziehe mich aus und krieche ins Bett. In der Dunkelheit finde ich nicht zum Schlaf. Wie seltsam es ist zu wissen, daß da ein Leben in einem anderen keimt, daß mein Körper eine Frucht hervorbringen wird! Er wird Mins geschlitzte Augen erben. Ein Junge wird ein Verführer, fröhlich wie er, weise und ernst wie sein Vater. Ein Mädchen bekommt das Rot meiner Lippen, die Glattheit meiner Haut. Sie wird meiner Schwester ihre Ansprüche nehmen, ihre Eifersucht, und meiner Mutter ihre majestätische Haltung. Jing wird das Kind spazieren fahren, stolz und noch immer verbittert. Auf dem Platz der Tausend Winde wird es Go spielen und mich eines Tages zu besiegen wissen. Meine Hände streicheln über meinen Bauch, ich komme zurück in die Wirklichkeit. Min ist ein Gefangener der Japaner, wann wird er freikommen? Ich kenne seine Familie nicht. Wenn ich 158
mich bei ihnen vorstelle, wird man mich fortjagen. In der Schule wird mein Name ausgehängt, ich werde geächtet werden, weil ich den Ruf des Hauses beschmutzt habe. Der Skandal wird in der ganzen Stadt die Runde machen. Selbst wenn ich die Demütigung annehmen würde, meine Eltern könnten die Verachtung in den Blicken niemals ertragen, die Kommentare, das Geflüster. Die Kinder werden mit Kieselsteinen auf Perle des Mondes werfen und dazu singen: Deine Schwester ist eine Nutte! Ich mache das Licht an. Mein Bauch ist flach, vom Nabel aus führt eine flaumige Linie hinunter bis an das Schamhaar. Als ich ein Kind war und meine Amme mich wusch, sagte sie wegen dieses Flaums, ich würde einen Sohn bekommen. Ich werde mich vor meinen Eltern auf die Knie werfen. Ich werde mit meinem Kopf auf den Boden schlagen, um ihre Milde zu erwirken. Ich werde ans Ende der Welt ziehen, dort gebären und warten, bis Min und Jing freigelassen werden. Dieser Tag des Glücks wird kommen: Zwei männliche Gestalten ziehen durch die weite Steppe zu einem verlorenen Haus. Die Tür geht auf.
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62 Am 7. Juli verliert nach einer nächtlichen Übung das Regiment in Fengtai einen Soldaten. Die chinesische Armee weigert sich, uns die Stadt Wanping zur Durchsuchung zu öffnen. Zwischen den beiden Truppen kommt es zu ersten Schießereien. Am 8. Juli gibt es weitere Gefechte an der MarcoPolo-Brücke. Am 9. Juli erteilt der Generalstab den Regimentern, die in der Peking-Ebene in Garnison liegen, den Befehl zur Mobilmachung. In Tokyo entscheidet sich die Regierung angesichts des internationalen Drucks, die Sache abzuwiegeln: »Wir dürfen die Lage nicht verschärfen, das Problem muß vor Ort gelöst werden.« Der Generalstab schlägt einen Waffenstillstand unter vier Bedingungen vor: Die Chinesen müssen ihre Garnisonen rund um die Marco-Polo-Brücke abziehen, die Sicherheit unserer Männer garantieren, die Terroristen ausliefern und sich offiziell entschuldigen. Die Chinesen weisen die Forderungen samt und sonders zurück. Am 10. Juli ziehen die Truppen Chiang Kai-sheks in Richtung Peking. Der erste Nachschub aus unseren Mandschu-Regimentern überschreitet die Chinesische Mauer. Am 11. Juli gibt die Tokyoter Regierung der Dringlichkeit der Situation endlich nach. Sie beschließt, unsere koreanischen Bataillone zur Verstärkung zu schicken. Lautes Brummen läßt die Erde erzittern. Die erste Bomberstaffel fliegt über das chinesische Binnenland. 160
Auf ihren Seiten erblicken wir voller Stolz unsere Flagge: eine purpurne Sonne auf makellosem Schnee. Rufe ertönen: Auf Peking! Auf Peking!
63 Der japanische Propagandaapparat hat sich in Gang gesetzt. Der Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke beherrscht alle Schlagzeilen. Die Leitartikler stellen die chinesischen Generäle an den Pranger, die so offen ihre Unterstützung für die terroristischen Bewegungen erklären und die Friedensabkommen verletzen. Sie sollen die vollständige Verantwortung für diese Krise übernehmen und den japanischen Kaiser öffentlich um Verzeihung bitten. Mutter ist seit ihrer Kindheit an die endlosen militärischen Konflikte gewöhnt, sie vertraut dem allgemeinen Überdruß und der amerikanischen Vermittlung, die die Kriegstreiber schon zu bändigen wüßten. Vater seufzt: Wieder einmal werden die Japaner finanzielle Wiedergutmachung herausschlagen. Die öffentliche Meinung jubiliert: der Kaiser der Mandschurei hält sein Land aus dem Konflikt heraus. Der JapanischChinesische Krieg bleibt für diese feigen Untertanen ein Brand, der auf dem anderen Ufer des Flusses wütet: ein Spektakel zum Zeitvertreib. Das Weiß ist Schwarz geworden, die Patrioten werden mit den Vergewaltigern und den Mördern eingesperrt, die ausländische Armee defiliert in unseren 161
Straßen, wir danken ihnen noch dafür, daß sie den Frieden schützen. Sollte etwa diese äußere Unordnung mein Leben durcheinandergebracht haben? Von Tag zu Tag blüht meine Schwester auf. Auf ihrem Gesicht steht keine Spur von Melancholie mehr. Sie besucht uns in neu geschneiderten Kleidern, die an ihrem geschmeidigen Körper anliegen. Mutter hat von der guten Neuigkeit erfahren. Sie drängt Wang Ma, die Ausstattung für den Säugling zusammenzustellen. Die Schönheit meiner Schwester macht mich regelrecht benommen. Jedesmal, wenn sie lächelt, spüre ich einen Stich in der Brust. Ihr Sohn wird eines Tages die Freude des Hauses sein, sei’s drum, wenn meiner verdammt wird. In sechs Nächten hat Wang Ma eine Decke für meinen zukünftigen Neffen geschneidert. Auf zinnoberroter Seide hat sie mit feinen Stichen Lotusblumen gestickt, Pflaumen- und Pfirsichbäume, Pfingstrosen in einem himmlischen Garten, durch den sich grünes Laub und silberne Nebelschleier ziehen. Bei dieser herrlichen Arbeit muß ich lächeln: Mein Sohn wird in alte Wäsche gewickelt, aber er wird das schönste Kind der Welt sein.
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64 Einen riesigen Hut auf dem Kopf, mit einem im gelassenen Wiegen der Hüften changierenden Kleid, läuft da eine Frau. Ich habe keine Zeit zu überlegen, wer sie ist, sie setzt sich mir gegenüber, ganz außer Atem. Die Sonne verschleiert durch die Maschen ihres Hutes hindurch das Gesicht mit einem geheimnisvollen Ausdruck. Eine feine Ader zieht sich über die linke Schläfe und verschwindet in ihrem Haar. Aus ihrer gebräunten Haut sind Sommersprossen hervorgetreten. Winzig sind sie, in der Form von Tränen. Ein trockenes Klappern. Das Mädchen hat gesetzt. Einen Moment bleibt ihre Hand auf dem Spielbrett liegen. Die Fingernägel sind sauber, orange lackiert. Ich achte immer auf das Geräusch der Spielsteine. Es verrät den Gedanken des Gegners. Zu Beginn unserer Begegnung schlug die Chinesin, den Stein zwischen Zeige- und Mittelfinger, mit einem fröhlichen Klacken auf das Spielbrett. Dann wurde der Ton dumpf, verriet mir die trübe Stimmung der Spielerin. Heute klang das Geräusch kurz und kristallklar. Sie hat ihr Selbstvertrauen und ihre Lebhaftigkeit wiedergefunden! Tatsächlich ist sie zu einem sehr geschickten Gegenangriff übergegangen. Während sie im Wäldchen spazieren geht, brüte ich nach meiner speziellen Methode über dem Spiel. Wenn mehr als hundertmal gezogen wurde, höre ich auf zu rechnen und betrachte das Spielbrett wie ein Maler ein unfertiges Gemälde. Meine Steine sind wie Tintentupfer, mit denen ich die Auf- und Abstriche 163
zeichne. Im Go-Spiel führt allein perfekte Ästhetik zum Sieg. Die Chinesin kommt zurück. Als sie sich setzt, streicht der Schatten ihres Hutes über meine Brust. Das Band, mit dem er geschmückt ist, schlägt im Wind im selben schnellen Rhythmus wie mein Herz. Es ist mir unmöglich zu erraten, warum sie sich als Erwachsene verkleidet. Ich kenne nicht ihren Namen, ihr Alter, ihren Alltag. Sie gleicht einem Berg, der sich vor einem bewölkten Himmel abhebt, um so besser im Nebel zu verschwimmen. Motorenbrummen unterbricht meine Gedanken. Unsere Flugzeuge, mit Bomben unter ihren stählernen Flügeln, fliegen über unsere Köpfe hinweg. Aus dem Augenwinkel beobachte ich meine Gegnerin. Sie hält den Blick gesenkt. Meine Kameraden haben es leichter, China zu überfliegen, als ich, in die Gedanken der Go-Spielerin einzudringen.
65 Jemand tritt in mein Zimmer und schüttelt mich kräftig. Ist das Perle des Mondes, die mich für den Sonntagsmarkt aufwecken will? Ich drehe ihr den Rücken zu. Statt zu gehen, setzt sie sich auf mein Bett. Sie rüttelt an meiner Schulter und beginnt zu schluchzen. Verärgert richte ich mich abrupt auf und öffne die 164
Augen. Anstelle meiner Schwester sehe ich Huong, tränenüberströmt. »Komm schnell! Die Widerständler sollen heute erschossen werden.« Mir stockt der Atem. »Wer hat dir das gesagt?« »Die Hausmeisterin im Schlafsaal. Angeblich ziehen sie durch das Nördliche Tor. Zieh dich an! Ich habe Angst, daß es schon zu spät ist!« Ich ziehe das erstbeste Kleid über. Meine Finger zittern so sehr, daß ich es kaum zuknöpfen kann. Ich verlasse mein Zimmer, während ich noch meine Haare zum Knoten aufstecke. »Wohin gehst du?« fragt mein Vater. Ich fasse mir ein Herz und lüge ihn an. »Ich habe eine Go-Verabredung. Ich bin spät dran!« Am anderen Ende des Gartens stoße ich auf meine Schwester, die eben durch das Tor tritt. Sie packt mich am Arm. »Wohin gehst du?« »Laß mich. Ich komme heute nicht mit zum Markt.« Sie blickt Huong feindselig an und nimmt mich zur Seite: »Ich muß mit dir reden.« Ich erschauere. Weiß sie etwas von Min und Jing? »Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen …« »Sag schon! Bitte. Ich habe es eilig!« Sie fährt fort: »Gestern war ich bei Doktor Zhang. Ich bin nicht schwanger. Es war eine Scheinschwangerschaft.« Sie zerfließt in einem Schwall von Tränen. Um sie loszuwerden, sage ich: »Geh zu jemand anderem. Ärzte können sich auch täuschen.« 165
Sie wendet mir ihr verzerrtes Gesicht zu: »Heute morgen habe ich meine Regel bekommen!« Perle des Mondes läßt sich mit ihrem vollen Gewicht in meine Arme fallen. Ich schleppe sie bis ans Haus. Wang Ma und die Köchin eilen mir zu Hilfe. Ich nutze das Durcheinander und verschwinde. Am Nördlichen Tor drängen sich Hunderte von Menschen an der Stadtmauer. Die japanischen Soldaten treiben die Menge mit Kolbenschlägen zurück. Mir wird klar, daß etwas Schreckliches sich unter meinen Augen ereignen wird. Hinter mir schwatzt ein Alter: »Früher haben die Verdammten, bevor sie starben, besoffen lauthals gesungen. Dann fiel der Säbel des Henkers wie ein Blitz vom Himmel. Oft genug blieb der Körper noch aufrecht stehen, während der Kopf schon über den Boden rollte. Der Blutschwall, der aus dem klaffenden Hals strömte, konnte zwei Meter hoch spritzen!« Seine Zuhörer schnalzen mit der Zunge. Diese Leute kommen, um bei der Hinrichtung die äußerste Zerstreuung zu finden. Empört trete ich dem alten Schwein auf den Fuß, er jault auf. Ein Kind schreit: »Sie kommen, sie kommen!« Auf den Zehenspitzen stehend entdecke ich einen schwarzen Ochsen, der einen Karren zieht, auf dem man einen Käfig mit drei Männern festgebunden hat. Aus ihren blutigen Mündern lallen sie Unverständliches. Ich höre, wie jemand murmelt: »Sie haben ihnen die Zungen abgeschnitten.« Mein Herz zieht sich zusammen. Nachdem man sie fast zu Tode gefoltert hat, sehen die Verdammten alle 166
gleich aus: blutiges Fleisch, das doch immer noch atmet. Die Wagen rollen langsam durch das Nördliche Tor. Huong sagt mir, daß sie es nicht mehr aushält. Sie wird in der Stadt auf mich warten. Ich spüre eine wilde Kraft, ich will ihnen bis zum Ende folgen. Ich muß wissen, ob Min und Jing sterben werden. Der Zug hält am Rand eines leeren Geländes. Die Soldaten öffnen die Käfige und treiben die Gefangenen mit Schlägen ihrer Bajonette heraus. Einer von ihnen ist beinahe tot. Zwei Soldaten schleppen ihn wie einen schlaffen Mehlsack. Schreie erheben sich. Eine kostbar gekleidete Frau, gestützt von zwei kräftigen Dienerinnen, teilt die Menge, die ihr im Weg steht, und gelangt bis an den Haufen der Soldaten. »Min, mein Sohn!« Dort hinten dreht ein Mann sich um. Er fällt auf die Knie und verbeugt sich dreimal in unserer Richtung. Mein Herz hört auf zu schlagen. Die Soldaten werfen sich auf ihn und schlagen ihn. Die Verdammten knien alle auf einer Linie. Ein Soldat hebt die Fahne, alle legen ihre Waffe an. Mins Mutter ist ohnmächtig geworden. Min sieht mich nicht an. Er sieht niemanden an. Nichts existiert mehr als das Rascheln des Grases, der leise Schrei der Insekten, der Wind, der über seinen Nacken bläst. Bin ich in seinen Gedanken, ich, die ich seinen Nachwuchs trage? Die Soldaten laden ihre Gewehre. Min dreht den Kopf. Er verzehrt mit den Augen ei167
nen Verdammten zu seiner Linken. Ich erkenne schließlich Tang! Sie lächeln sich an. Min beugt sich mühsam herüber und schafft es zuletzt, der jungen Frau seine Lippen auf die Wange zu legen. Die Schüsse knallen. Meine Ohren brummen. Ich nehme den Geruch von Rost wahr, vermischt mit dem nach Schweiß. Ist es das, der Geruch des Todes? Tiefer Ekel läßt mich erschauern. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich beuge mich vor und übergebe mich.
66 Zusammengesunken sitzt Orchidée auf ihrem Stuhl, sie schmollt. »Sie haben sich verändert«, sagt mir das MandschuMädchen. Ich strecke mich auf dem Lager aus. Statt mich wie gewöhnlich auszuziehen, zerknittert sie ihr Taschentuch zwischen den Fingern. »Früher kamen Sie mich alle zwei oder drei Tage besuchen. Jetzt waren Sie fast zwei Wochen nicht mehr da. Haben Sie ein anderes Mädchen kennengelernt?« Ich versuche ihr gut zuzureden: »Seit ich in dieser Stadt stationiert bin, habe ich nur dich getroffen. Du hast überhaupt keinen Grund, eifersüchtig zu sein.« In Wirklichkeit kann mich seit einiger Zeit ihr Charme nicht mehr locken. Ich finde ihre Haut rauh, 168
ihre Muskeln schlaff. Unser ewig gleiches Herumtollen langweilt mich. Ihre Augen füllen sich mit Tränen: »Ich glaube Ihnen nicht. Ich liebe Sie, und Sie lieben eine andere.« »Du redest Unsinn. Morgen schon könnte ich fortgehen und nie mehr in diese Stadt zurückkommen. Eines Tages werde ich umkommen. Warum liebst du mich? Du darfst dich nicht an jemand Vorübergehenden wie mich binden. Liebe jemanden, der dich heiraten kann. Vergiß mich.« Sie schluchzt um so mehr. Ihre Tränen erregen mich. Ich stoße sie aufs Bett und ziehe ihr das Kleid aus. Unter meinem Körper läuft Orchidées Gesicht purpurrot an. Unter zwei Schluchzern wird sie von Atemnot geschüttelt. Ich komme. Längst ist mein Orgasmus nicht mehr so lustvoll wie früher. Neben mir ausgestreckt raucht Orchidée eine Zigarette. Mit ihrer freien Hand schwenkt sie einen Fächer. Auch ich zünde mir eine Zigarette an. »Woran denken Sie?« fragt sie mich finster. Ich antworte ihr nicht. Der weiße Rauch des Tabaks wird zerstoben durch das Schlagen des Fächers, steigt in mehreren Schleifen langsam zur Decke auf. »Ist sie Chinesin oder Japanerin?« hakt sie nach. Unvermittelt stehe ich auf.
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67 Ich irre durch die Straßen, fühle mich ganz steif. »Geh nach Hause«, sagt mir Huong. »Laß mich in Ruhe.« »Ich bitte dich, geh nach Hause.« »Ich hasse mein Zuhause.« »Dann weine. Wein dich so richtig aus, ich flehe dich an.« »Ich habe keine Tränen.« Sie kauft einem fahrenden Händler gefüllte Teigtaschen ab. »Dann iß etwas!« »Riechen abscheulich, deine Taschen.« »Warum sagst du das? Sie riechen gut.« »Sie sind verfault. Merkst du nicht, wie sauer das Gemüse riecht? Beinahe wie Blut. Wirf sie weg, bitte, sonst …« Mein Magen verrenkt sich, ich übergebe mich. Erschüttert wirft Huong die Teigtaschen den Katzen hin, die um uns herschleichen. Ich kauere mich am Boden zusammen. Huong sagt mir: »Jing ist am Leben!« Aber dieses Glück allein ist mir nicht genug: »Ich bin schwanger von einem Toten. Ich muß mich töten.« »Du bist verrückt geworden!« Huong schüttelt mich an den Schultern: »Du bist verrückt! Sag mir, daß du das erfindest!« Ich antworte nicht. Sie schlägt ihre Hände vors Gesicht: »Dann häng dich auf! Niemand kann dich mehr retten.« Nach einem langen Schweigen fragt sie: »Bist du 170
bei einem Arzt gewesen? Vielleicht hast du gar nichts.« »Ich vertraue niemandem mehr.« »Ich werde einen Arzt für dich finden.« »Wozu denn? Min hat mich verraten. Ich muß sterben.«
68 Die Chinesin ist vor mir da gewesen. Sie hat die Steine auf dem Spielbrett verteilt. Um ihre geschwollenen Augen stehen schattige Ringe. Sie hat sich nicht die Haare gekämmt. Ganz durcheinander sind sie einfach zu einem Knoten aufgesteckt. An den Füßen trägt sie ein Paar Pantoffeln. Sie sieht aus wie eine Kranke, die gerade aus einem Hospital abgehauen ist. Während ich spiele, fixiert sie die Zweige einer Weide. Ihr Blick beunruhigt mich. Als würde ihr plötzlich übel, zieht sie auf einmal ein Taschentuch heraus, bedeckt sich damit Nase und Mund. Für mich, den Sauberkeitsbesessenen, ist es eine Qual, mir vorzustellen, ich könnte stinken und sie damit belästigen. Ich atme tief ein: Allein der Geruch nach faulendem Gras ist da, er kündigt an, daß der Regen kommt. Hat sie an mir Orchidées Düfte gerochen? Das Mädchen parfümiert ihren Körper und ihre Kleider übertrieben ein. In ihrer Besitzgier, ihrer Eifersucht versucht sie auf mir ihre Spuren zu hinterlassen. 171
Der Himmel hat sich verdunkelt, ein klammer Wind läßt die Blätter tanzen. Die Spieler sammeln klappernd ihre Steine ein. Die Chinesin ist versunken in ihren Gedanken, bewegt sich nicht. Ich mache sie darauf aufmerksam, daß wir als einzige auf dem Platz zurückgeblieben sind. Sie sagt nichts, schreibt die neuen Ergebnisse auf ihren Zettel, zieht sich zurück, ohne mich zu grüßen. Dieses seltsame Verhalten erweckt mein Mißtrauen. Auch ich stehe auf, winke eine Rikscha heran. Ich verstecke mich unter der Plane, befehle dem Kuli, ihr zu folgen. Das junge Mädchen taucht zu Fuß in die Handelsstraßen ein, wo große Betriebsamkeit herrscht: Die Händler bauen ihre Stände ab, die Frauen holen ihre Wäsche herein, die Fußgänger rempeln sich gegenseitig an. Mehrmals habe ich sie beinahe verloren. Unter den Vordächern stoßen die Schwalben Angstschreie aus. Der Himmel ist schwarz, dicke Regentropfen beginnen zu fallen. Bald geht ein Regenguß auf uns nieder, begleitet von lauten Donnerschlägen. Die Chinesin bleibt am Rand eines Haines stehen. Ich steige von der Rikscha und verstecke mich hinter einem Baum. Sie läuft in einen grünlichen Nebel. Blitze erhellen ihre schmale Gestalt. Ein silbernes Band schlängelt sich durch die Bäume. Ein Fluß fließt Richtung Osten, im Regen angeschwollen, mit winzigen Wirbeln und leisem Funkeln. Am Horizont wird er zu einer breiten schwarzen Fläche, die sich in den Spalt des Himmels ergießt. Die Chinesin schiebt sich bis an diese durchgesieb172
ten Fluten. Ich springe los. Plötzlich bleibt sie stehen. Ich bremse meinen Lauf und werfe mich auf den Boden. Die Unbeweglichkeit des Mädchens kontrastiert mit dem Schäumen des Flusses. Ein Dutzend Donnerschläge folgt kurz aufeinander. Die Bäume biegen sich unter dem Wind. Ein Ast bricht ab und reißt im Fallen den Stamm entzwei. Ich erinnere mich an das Erdbeben.
69 Der Geruch des Blutes ist mir in den Körper gekrochen. Er dringt mir unter die Zunge, steigt mir in die Nase. Er verfolgt mich bis in mein Zimmer. Ich wasche mich in einer Wanne. Ich seife mein Gesicht ein, meinen Hals, meine Hände, die nach dem widerlichen Tod stinken. Der Regen fällt. Warum vergießen die Götter so viele Tränen über unsere Erde? Beweinen sie mein Unglück? Warum waschen diese Himmelsergüsse nicht unser Leiden fort, unsere Unreinheit? Ich lasse mich ins Bett fallen. Der Wind gleicht mit seinen unregelmäßigen Böen dem Murmeln der Geister, die sich erheben, sich wieder beruhigen. Ist das Min, begleitet von Tang, der da lauthals lacht? War er mit ihr in derselben Zelle eingesperrt? Hielten sie sich bei den Händen, als sie sahen, wie das Leben gleich einem Fluß dahinfloß, um sich ins Nichts zu 173
ergießen? Hatten sie sich schon geküßt, bevor ich Min traf? Haben sie miteinander geschlafen? In der Freiheit hatte sie sich ihm wohl verweigert. Aber letzte Nacht, haben sie sich da nicht unter den Augen des Henkers gepaart, Wange an Wange, Stirn an Stirn, Wunde an Wunde? Sie hat ihn in ihrem Bauch empfangen, in ihrer Seele. Er ist in sie eingedrungen, auf Knien, als Büßer. Er hat sie mit aller seiner Kraft umarmt. Sein Samen ist geflossen, ihr Blut hat sich vermischt. Sie hat sich hingegeben, er hat sie losgegeben. Ich springe aus dem Bett. Min hat mich verraten. Ich muß mich töten.
70 Die Chinesin dreht sich um. Wie ein Gespenst entfernt sie sich vom Fluß, verläßt das Wäldchen. Draußen unter dem Regen sehen alle Straßen gleich aus, sind alle Straßen verlassen. Im Dunkeln zieht mich das Mädchen, bald ein Strich, bald ein Bogen, weg in eine andere Welt. Plötzlich verschwindet sie: Ich laufe los, sie zu finden. Vergeblich. Eine Rikscha, die aus dem Regen auftaucht, ist bereit, mich ins Restaurant Chidori zu bringen. Hauptmann Nakamura erwartet mich in einem Nebenzimmer. Er fordert mich auf, auf den Ruhm des Kaisers anzustoßen. Nach drei Schalen Sake und ein 174
paar Bissen rohem Fisch verneige ich mich tief vor ihm: »Hauptmann, ich bin gescheitert mit der Mission, die Sie mir anvertraut haben. Ich bitte Sie um schwere Bestrafung.« Ein Lächeln erscheint in seinem Mundwinkel. »Ich bin nicht in der Lage, einen Spion von einem friedlichen Bürger zu unterscheiden, Hauptmann. Auf dem Platz der Tausend Winde vergesse ich meine Pflicht, ich verbringe meine Zeit damit, Go zu spielen.« Er leert seinen Sakebecher. Er sieht mir in die Augen und betont jedes seiner Worte: »Zhuangzi* sagt: ›Wenn ihr ein Pferd verliert, wißt ihr nie, ob es gut oder schlecht ist.‹ Ein intelligenter Mann vergeudet niemals seine Zeit.« Dann fügt er hinzu: »Wissen Sie, Leutnant, daß ich früher einmal in eine Chinesin verliebt war?« Ich erröte. Warum dieses seltsame Geständnis? »Ich kam vor fünfzehn Jahren nach China. In Tianjin fand ich eine Stelle in einem japanischen Restaurant, die Besitzer waren ein Paar aus Kobe. Als Tellerwäscher, Putzfrau, Hilfskellner bekam ich Kost und Logis in einem winzigen Kämmerchen. In meinen seltenen Ruhepausen setzte ich mich ans Fenster. Auf der anderen Straßenseite lag ein chinesisches Restaurant, das für seine gefüllten Teigtaschen berühmt war. Ein junges Mädchen ging im Morgengrauen mit einem Essenspaket hinein und kam am dunklen Abend mit den Abfalleimern in der Hand heraus. Weil ich kurzsichtig war, erkannte ich nur vage ihre feine Gestalt und den langen Zopf auf ihrem Rücken. In ihren roten Kleidern war sie wie laufendes Feuer. Wenn sie stehenblieb, war mir, als würde sie den Kopf heben und mich betrach175
ten. In meinem unscharfen Blick meinte ich sie lächeln zu sehen, und mein Herz klopfte.« Der Hauptmann hält inne, er gießt mir eine neue Schale Sake ein und trinkt seine mit einem Zug aus. Sein Gesicht wird purpurrot. »Eines Tages nahm ich meinen Mut zusammen und trat über die Schwelle des Restaurants, vorgeblich, um eine Spezialität zu bestellen. Sie stand hinter der Kasse. Als ich auf sie zuging, entdeckte ich Zug für Zug ihr Gesicht. Sie hatte dichte Brauen, schwarze Augen. Ich bestellte gefüllte Teigtaschen. Weil sie kein Japanisch verstand, zeichnete ich auf ein Blatt Papier. Sie beugte sich über meine Schulter, um etwas zu sehen. Ihr Zopf rutschte zur Seite, strich über meine Wange.« Eine neue Flasche wird gebracht. Es ist die fünfte, die ich mit dem Hauptmann trinke. Draußen hat der Wind sich beruhigt, der Donner schweigt. Man hört das gleichmäßige Rauschen des Regens. »Sie konnte mir nicht einmal ihren Namen auf chinesisch aufschreiben. Wir hatten keinerlei Möglichkeit, miteinander zu sprechen. Wir verbrachten Tage damit, uns über die allzu breite Straße hinweg schöne Augen zu machen, ohne jemals dessen müde zu werden. Ich sah nichts als das Rot ihrer Kleider und das Schwarz ihres Zopfes. Ich setzte ihr Gesicht wieder zusammen, das ich kaum gesehen hatte. Ich war arm, meine einzigen Geschenke waren kleine Wiesenblumensträuße, die ich am Straßenrand pflückte. Ich warf sie unter das Fenster ihres Restaurants. Wenn es dunkel war, gab sie mir gefüllte Teigtaschen, die eben aus dem Ofen kamen. Ich konnte unmöglich hineinbeißen in diese Köstlichkeiten, die ihre Hände ge176
formt hatten, ich bewahrte sie auf, bis sie verschimmelten. Eines Tages hatte es wie heute den ganzen Nachmittag geregnet. Zahlreiche Kunden hatten sich in unser Restaurant geflüchtet, um heiße Nudeln zu essen. Nach Mitternacht ging ich hinaus, als sich mir plötzlich jemand an den Hals warf. Sie war es. Die Chinesin hatte unendlich lange in einer dunklen Ecke auf mich gewartet. Ihr Gesicht war eiskalt, ihre Lippen auch. Sie zitterte am ganzen Leib und bei dem Regen konnte ich nicht erkennen, ob sie weinte oder lachte. Ihr Gewicht zog mich nach unten, ich setzte mich an die Mauer. Wir küßten uns und flüsterten uns, jeder in seiner Sprache, Liebesworte zu. Der Regen überdeckte unsere Stimmen. Ich vergaß die Kälte, die Nacht, den Regen.« Der Hauptmann verliert sich in einem langen Schweigen. Dann wird er plötzlich wütend und verlangt eine weitere Flasche. Er füllt uns die Schalen, seine Hand zittert. Sake tropft ihm auf die Kleider, aber er merkt nichts. Das Blut klopft mir heftig in den Schläfen. Ich folge der Erzählung mit der ungeteilten Aufmerksamkeit des Betrunkenen. Er findet kaum mehr seine Worte. Was für ein tragisches Ereignis hat diesen Mann getroffen, der heute so einsam ist? »Am nächsten Tag betrat ich mit allen meinen Ersparnissen in der Tasche ein japanisches Geschäft. Ich hatte nicht genug Geld, um einen Kimono zu kaufen. Ein schöner Obi-Gürtel mußte reichen. Dieses Geschenk war das Gift, das ich ahnungslos in den Honig meiner Liebe goß. Bald kam unsere Verbindung heraus. Einen Monat später verschwand die Chinesin, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen.« 177
Ein fürchterliches Schweigen bricht über unseren Tisch herein. »Später, als ich schon bei der Armee war, habe ich mich nach ihrem Schicksal erkundigt. Das Restaurant hatte bereits vor Jahren geschlossen. Die Besitzer, chinesische Spione, hatten sich in nichts aufgelöst. Nachdem sie aufgedeckt hatten, daß ihre Dienerin ein Verhältnis zu einem Japaner hatte, hatten sie sie getötet …« »Der Mond ist dahin Der Lenz ist dahin Der Frühling von einst! Ich allein bin noch der, der damals ich war!«* Der Mann schluchzt auf. Morgen sind wir Staub und Erde. Wer wird sich an die Liebe eines Soldaten erinnern?
71 Nach Schulschluß zieht Huong mich in eine Ecke des Klassenzimmers. »Ich habe einen Arzt für dich gefunden. Komm mit.« »Wer ist er? Wie hast du ihn gefunden?« Sie sieht sich um. Der Raum hat sich geleert. Wir sind die letzten. Sie flüstert mir ins Ohr: »Erinnerst du dich an die 178
Hausmeisterin im Schlafsaal, bei der ich mich immer abseilen konnte? Gestern habe ich ihr gesagt, daß ich schwanger bin und einen Arzt brauche.« »Du bist wahnsinnig! Wenn sie anfängt zu plaudern, wirst du von der Schule gejagt und dein Vater läßt dir den Kopf rasieren und schickt dich in den Tempel!« »Keine Sorge. Ich habe nämlich dazugesagt: ›Wenn Sie reden, zeige ich Sie wegen Kuppelei an. Dann sage ich der Polizei, daß Sie es auf das Geld der Schülerinnen abgesehen haben und sie zur Prostitution anhalten. Das wird Sie nicht nur Ihren Posten kosten, sondern Sie werden verurteilt und öffentlich gehenkt werden.‹ Ich habe der Alten so einen Schreck eingejagt, daß sie sich beeilt hat, mir einen Arzt von der verschwiegensten Sorte zu suchen.« Ich folge Huong bis zu ihrem Schlafsaal, und sie verpaßt mir eine Verkleidung, so wie sie sich eine dreißigjährige Frau vorstellt. Die Rikscha fährt durch den Flohmarkt. Entlang den Gehwegen haufenweise Möbel, Geschirr, Stoffe, Nippes, Paradegewänder, Bildrollen, die ganz gelb sind, verschimmelt, angefressen. Die Verkäufer, in Lumpen gekleidete Mandschu-Adelige, wandern zwischen diesen Trümmern einer vergangenen Zeit umher, versuchen eine Jadetabatiere, eine antike Vase einzutauschen gegen eine Stunde Freiheit in einem Opiumcafé. Nur ein paar japanische Offiziere begutachten auf ihrem Spaziergang begehrlich die ausgestellten Waren. Vorsichtshalber läßt Huong die Rikscha am Eingang der Straße halten. Zweihundert Meter weiter klettern wir auf einen halbverfallenen Gehsteig und bahnen 179
uns einen Weg durch ein Labyrinth von Laken, Hosen, Windeln, die an den Leinen trocknen. Der Geruch nach Urin und faulen Eiern setzt mir zu, ich klappe zusammen und übergebe mich. Am Ende des Wäschegangs erahnen wir Zimmer, die sich unter ein schräges Dach zwängen. Jede Familie hat draußen ihren Ofen aufgebaut. Die Fliegen schwirren umher. Huong ruft laut aus: »Entschuldigung, wir suchen Doktor Huang Pu!« Eine zerzauste Frau erscheint auf der Schwelle. Sie wirft uns einen verächtlichen Blick zu. »Da hinten, ganz am Ende rechts.« Auf der Tür ein Schild in verblaßter Tinte: »Arzt, dessen Ruhm über die vier Meere reicht, göttliche Hand zur Wiederkehr des Frühlings, Spezialist für Schanker, Syphilis, Tripper.« Wir klopfen. Eine Frau mit Dauerwellen, ihr Gesicht von der Schminke ganz entstellt, tritt heraus, mustert uns und geht mit klappernden Absätzen wieder weg. Huong stößt mich vorwärts, ich stolpere in ein dunkles Zimmer. Ein Mädchen kauert in einem Winkel. Sie sieht aus, als wäre sie tot. Neben ihr ein rauchender Mann. Er sieht uns prüfend an: »Welches Haus?« Wir flüchten uns in eine Ecke. Der bittere Geruch nach medizinischen Aufgüssen und unbeschreiblich stinkenden Substanzen fällt über mich her. Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, als ich an der Reihe bin, mich in der Praxis vorzustellen. Bei seinen wenigen weißen Haaren hat Doktor Huang Pu 180
doch einen Mandschuzopf in seinem Rücken hängen, so dünn wie ein Schweineschwänzchen. Er sitzt hinter einem schwarzen Tisch vor einem gähnend leeren Bücherschrank und streicht sich den Bart: »Welches Haus?« Huong antwortet an meiner Stelle: »Unabhängig.« »Wie alt?« »Zwanzig«, sagt sie. »Was ist ihr Problem?« »Meine Freundin wartet seit drei Wochen auf ihre Regel.« »Ah, in Ordnung. Öffnen Sie den Mund, strecken Sie die Zunge heraus. Gut, ziehen Sie sich aus.« »Ziehen Sie sich aus«, wiederholt er. Huong schaut zur Seite. Ich hasse mich. Mit Tränen in den Augen knöpfe ich mein Kleid auf. »Legen Sie sich da hin.« Er zeigt auf ein Brett, das mit einem schmutzigen Laken bedeckt ist. »Spreizen Sie die Beine.« Ich meine, ich würde sterben. Ich balle die Fäuste, um nicht zu weinen. Mit der Lampe in der Hand kommt der Alte näher. Er schaut, tastet ab, zögert. »Gut«, sagt er und richtet sich auf. »Keine Verwachsung. Ziehen Sie sich an.« Er sagt mir, ich soll die rechte Hand auf den Tisch legen, und berührt mit seinem Zeige- und Mittelfinger mein Handgelenk. Seine gelben, über fünf Zentimeter langen Fingernägel sind am Ende eingebogen. »Der Puls ist völlig durcheinander. Man spürt darin den Klang der Fruchtbarkeit. Sie sind schwanger!« 181
Ich höre mich mit schwacher Stimme fragen: »Sind Sie sicher, Doktor?« »Sicher«, meint er und prüft den Puls an der linken Hand. Hinter mir steht Huong auf: »Doktor, Sie haben sicher etwas dagegen.« Der Alte schüttelt den Kopf: »Verboten, verboten.« Huong lacht hämisch auf. »Schreiben Sie uns ein Rezept!« sagt sie und wirft das dicke, goldene Armband auf den Tisch, das sie am Handgelenk trägt. Der alte Mandschu beäugt das Schmuckstück eine Weile und denkt nach, dann greift er nach seinem Pinsel. Huong begleitet mich nach Hause. »Morgen abend nach der Schule komme ich wieder, mit den Aufgüssen, und alles ist vergessen«, sagt sie mir. »Mach dir doch nicht diese Mühe. Nur der Tod kann mir meine Ehre wiedergeben. Hier, nimm dieses Jadearmband. Ich will nicht, daß du für mich bezahlst. Das habe ich nicht verdient.« Sie legt den Schmuck wieder um mein Handgelenk. »Wozu sollen mir diese Sachen jetzt noch von Nutzen sein? Morgen trinkst du den Aufguß und du wirst von deiner Last befreit. In einem Jahr werde ich heiraten und von einem Fremden vergewaltigt.«
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72 Am Morgen nach dem Gewitter ein strahlender Himmel. Zu dieser Jahreszeit belästigen die kleinen Jasminverkäufer die Passanten. Ich bin unfähig, ihrem Flehen zu widerstehen, ich kaufe ein Blumenarmband, denke an das gebräunte Handgelenk meiner Chinesin. Als ich sie auf dem Platz der Tausend Winde finde, sehe ich wieder ihre seltsame Gestalt von gestern vor mir, im Regen am Ufer des Flusses. Was machte sie da? Woran dachte sie? Gestern irrte sie mit Pantoffeln an den Füßen durch die Stadt wie eine Verrückte, heute wird sie, mit freier Stirn, die Haare geglättet und zu einem schweren Zopf geflochten, wieder zu einer kaltblütigen, scharfsinnigen Spielerin. Irgend etwas hat sich bei ihr in den letzten vierundzwanzig Stunden verändert. Oder bin ich es, der sie nicht mehr mit denselben Augen sieht? Unter dem Kleid in seinem tristen Farbton sind ihre Brüste angeschwollen. Ihr Körper hat die kindliche Steifheit aufgegeben und zeigt eine kraftvolle Weichheit. Trotz ihres harten Blicks und ihrer gekräuselten Brauen ist ihr zarter rosa Mund begehrenswert. Düster, nervös spielt sie mit dem Ende ihres Zopfes. Als würde sie leiden an dem Leben, das sich in ihr breitmacht. Sie setzt einen Spielstein. »Ein guter Zug!« kommentiert ein Mann, der an unseren Tisch tritt. Auf dem Platz der Tausend Winde kommen Leute vorbei, schauen zu, erlauben sich manchmal einen Ratschlag. Dieser hier, kaum zwanzigjährig, mit ge183
wachsten Haaren und übermäßig parfümiert, ärgert mich. Ich spiele den Gegenzug. Der Grünschnabel ruft aus: »Was für ein Fehler! Hierher hätte der Stein gehört!« Er zeigt auf das Spielbrett, einen weißen Jadering am Finger, eine feine, rosige Hand. Dann wendet er sich direkt an die Chinesin: »Ich bin ein Freund von Lu. Ich komme aus der Neuen Hauptstadt.« Sie blickt auf. Nach ein paar Höflichkeitsfloskeln zieht sie ihn vom Spielfeld weg. Der Wind trägt die Worte der beiden jungen Leute bis zu mir herüber. Schnell sind sie ganz vertraut geworden. Schon duzen sie sich. Das Chinesische besitzt fünf Worttöne, die Sprache ist Musik und ihre Unterhaltung eine unerträgliche Oper. Verbittert zerdrücke ich die Jasminblüten in meiner Tasche. Seit ich auf den Platz der Tausend Winde gehe, läßt mich das Go-Spiel vergessen, daß ich Japaner bin. Ich dachte, ich wäre einer von ihnen. Jetzt muß ich mir ins Gedächtnis rufen, daß die Chinesen eine eigene Rasse sind, und aus einer anderen Welt. Tausend Jahre Geschichte trennen uns. 1880 wirkte mein Großvater bei der Meijireform mit, während ihre Vorfahren der Kaiserinwitwe Cixi dienten. 1600 schnitten meine, wenn sie eine Schlacht verloren hatten, ihren eigenen Bauch auf, ihre übernahmen die Macht in Peking. Im Mittelalter, als die Frauen meiner Familie sich in Kimonos mit langer Schleppe kleideten, sich die Augenbrauen auszupften und ihre Zähne schwarz färbten, faßten ihre Mütter, 184
ihre Schwestern ihre Haare in hohen Knoten zusammen. Schon damals banden sie sich die Füße. Ein Chinese und eine Chinesin verstehen sich, noch bevor sie den Mund aufmachen. Sie sind Träger derselben Kultur, sie ziehen einander an wie zwei Magneten. Wie sollten ein Japaner und eine Chinesin sich lieben können? Sie haben nichts gemeinsam. Die Spielerin bleibt lange fort. Durch die Bäume hindurch, mit denen sie fast verschwimmt, sehe ich ihr grünliches Kleid, eben noch schien es so viel Bitterkeit auszudrücken, jetzt atmet es plötzliche Frische. Ist das das Bild von China, der Gegenstand meiner Leidenschaft und meines Hasses? In ihrer Nähe enttäuscht mich ihr Elend. Fern von ihr schlägt ihr Charme mich in seinen Bann. Sie wirft nicht einen Blick in meine Richtung. Ich verlasse den Platz.
73 Chen sagt mir, daß Cousin Lu in Peking Go unterrichtet. »Übrigens hat er geheiratet.« Er beobachtet mich genau. Diese Nachricht läßt mich kalt. Chen lebt in der Neuen Hauptstadt. Er behauptet, er sei der beste Freund meines Cousins. Er war es, sagt er, der Lu dem Kaiser vorgestellt hat. Wenn man ihn hört, könnte man meinen, er sei der mächtigste Mann der ganzen Mandschurei. 185
Ich beneide diesen Ministersohn um seine Sorglosigkeit, so selbstzufrieden, vergnügt mit seinem Leben ist er. In Fetzen kommt mir die Vergangenheit wieder ins Gedächtnis. Es ist hundert Jahre her. Das Leben war süß. Wir waren wie er, mein Cousin und ich. Wir hielten uns für die besten Spieler der Welt. Meine Schwester war noch nicht verheiratet. Beide waren wir noch Jungfrauen. Sie kam unsere Go-Partien stören, brachte uns Tee, Gebäck. Ohne Eile webte die Dämmerung im Himmel ihr purpurnes Netz. Ich wußte nichts von Verrat. Chen bricht noch am selben Tag in die Neue Hauptstadt auf. Er läßt mir eine parfümierte Karte da, auf der die neue Adresse von Cousin Lu steht, und er schwört, bald wiederzukommen, mich im Go herauszufordern. Ich komme wieder an meinen Platz. Der Tisch ist verlassen, mein Gegner ist verschwunden, ohne eine Notiz zu hinterlassen. Ich bin am Ende meiner Kräfte, werde nicht einmal mehr böse. Die Menschen kommen und gehen auf dieser Erde. Jeder zu seiner Zeit. Ich räume die Steine auf. Im Westen steht noch die Sonne. Wolken, lange geschwungene Striche, zeichnen sich am Himmel ab. Wer kann diese Worte lesen, die mein Schicksal weissagen? Ich nehme einen schwarzen Stein zwischen meine Finger. Seine glatte Oberfläche wirft das Tageslicht zurück. Ich beneide ihn um sein empfindungsloses Herz, seine eisige Reinheit. Cousin Lu ist vor seiner Enttäuschung in eine neue Liebe geflohen, und ich freue mich, daß er sein Glück so schnell wiedergefunden hat. Der Unbekannte hat 186
das Spiel verlassen. Für ihn bleibt Go ein Zeitvertreib. Männer leben nicht für die Leidenschaft. Die Wirbel der Gefühle durchschreiten sie ganz unbekümmert. Min hat mir das Beispiel gegeben. Der Mittelpunkt ihres Lebens liegt anderswo. Meine Rikscha hält abrupt an. Mitten auf der Straße verneigt ein Mann sich bis auf die Erde. Es ist der Unbekannte. Er bittet mich, ihn zu entschuldigen, und fleht mich an, die Partie morgen nachmittag fortzusetzen. Ich nicke ihm undeutlich zu und befehle dem Kuli weiterzulaufen. Ich muß ihn da stehenlassen. Auf seinem Weg.
74 »Die Welt durchwandern auf dem Dach der Hölle, Blumen betrachtend.«* Allein der Anblick der Schönheit bringt einen Soldaten von seiner Standhaftigkeit ab. Die Blumen aber kümmern sich nicht um ihre Bewunderer. Sie blühen für das Flüchtige, für den Tod. Die letzten Depeschen haben die Kaserne zum Sieden gebracht. Unsere Divisionen haben der chinesischen Armee eine Folge von Niederlagen beigebracht, jetzt sind sie bis in die Vororte Pekings vorgestoßen. Isoliert und mittellos hat die Armee von Song Zheyuan und Zhang Zizhong mehr Angst vor Chiang Kai-shek 187
als vor den Japanern. Sie befürchten, er könnte mit seinen Truppen nach Norden vorrücken und ihre Gebiete besetzen, und so lehnen die Generäle chinesischen Nachschub ab und plädieren für den Frieden. Im Restaurant Chidori schaukelt sich von Tisch zu Tisch der Zorn hoch. Die Kriegslüsternen unter den Offizieren fordern die Eroberung von Peking. Die Vorsichtigeren fürchten, die Sowjetunion könnte eingreifen, und dringen vor allem auf die Verstärkung der japanischen Truppen in der Mandschurei. Heute habe ich Orchidée nicht besucht. Mein Körper ist noch voller Frische und Geschmeidigkeit. Ich habe wenig gegessen, fühle mich leicht und glockenrein. Ich lasse mich vom Fieber der Diskussion nicht einfangen und versuche vergeblich, meine Kameraden davon abzuhalten, sich die Köpfe einzuschlagen. Der Lärm hält am Abend lange an, setzt sich noch in den Stuben fort. Einige überschwengliche Leutnants reißen ihr Hemd auf und schwören, Seppuku zu begehen, wenn die Kaiserliche Armee mit Peking über den Frieden verhandelt. Als von Blut die Rede ist, sind unsere Männer endgültig entflammt. Ich schiebe mich nach draußen. Mitten auf dem Trainingsgelände bläst der Wind den leisen Duft von Blumen in der Nacht auf mein Gesicht. Ich bin gerührt, zu einer uneigennützigen Generation zu gehören, die einem edlen Ziel zustrebt. In uns, durch uns wird der Geist der Samurai neu geboren, den die modernen Zeiten vernichtet hatten. Wir gehen durch eine Zeit der Unsicherheit. Die Größe von morgen läßt uns an der Wartezeit verzweifeln. Eine bittere Klage zerreißt die Stille, der klare Klang 188
einer Flöte dringt mir in die Ohren. Im Zimmer von Hauptmann Nakamura habe ich eine Shakuhachi gesehen. Ist er es, der da in melancholischer Trunkenheit sein Instrument malträtiert? Ton um Ton wird der Klang tiefer und ist kaum mehr zu hören. Plötzlich dringt eine pfeifende Böe durch die Lüfte. Die Luft durchdringt mich wie ein Mondstrahl auf dem dunklen Ozean. Heute lebe ich, morgen an der Front werde ich sterben. Mein vergängliches Glück ist heftiger als ewige Seligkeit. Die Flöte verklingt in einem endlosen Seufzen, schließlich verstummt sie. Rund um mich regen sich die Blätter. Mein Blick legt sich auf eine Grille, die an einem Baum hängt. Ihr Kokon öffnet sich in einem langen Spalt, aus dem ein durchscheinender Körper heraustritt. Erschüttert von heftigem Zittern breitet dieses neue Leben sich aus, streckt sich, dreht sich, sucht ein Gleichgewicht. Ich warte, bis sie sich von ihrer Hülle trennt, und lasse sie auf meinen Finger krabbeln. Im hellen Schein des Mondes ist die weiche Grille wie eine Jadefigur, die ein geschickter Handwerker geschnitzt hat. Ihre Flügel strecken sich über seidiges Fleisch, wie zwei Tautropfen, die gleich herunterfallen. Ich berühre sie am Ende ihres Rumpfes. Kaum habe ich sie gestreift, lösen ihre Adern sich auf, trübt sich ihre Durchsichtigkeit. Das Insekt scheidet eine tuscheartige Flüssigkeit aus. Sein Körper sackt zusammen. Einer seiner Flügel schwillt an, platzt und zerfließt in schwarzen Tränen. Ich denke an die Chinesin, an China, wir werden es zermalmen müssen. 189
75 »Hier ist der Aufguß«, sagt Huong und packt eine Teekanne aus, die sie in ein Stück dicken Stoff gewikkelt und auf dem Boden ihrer Tasche verstaut hatte. »Ich habe dir auch Watte mitgebracht. Es soll wohl ziemlich bluten. Versteck das alles. Der Aufguß riecht stark? Ich mußte damit drohen, ich würde mich umbringen, damit die Hausmeisterin mich alles bei ihr zu Hause hat aufkochen lassen. Trink das, bevor du ins Bett gehst, und dann leg dich hin und warte. Eigentlich nimmt man das Mittel heiß. Aber kalt muß es auch gehen. Nur schmeckt es dann bitterer. Ich gehe gleich wieder, sonst werden deine Eltern sich etwas denken. Nur Mut! Morgen früh bist du diesen üblen Schicksalsschlag los!« Mutter verläßt uns vor dem Abendessen. Bis morgen früh wird sie bei meiner Schwester wachen, die seit mehreren Tagen im Bett liegt. Ich esse allein mit Vater. Wie immer bringt seine Stimme mich zur Ruhe. Ich stelle ihm Fragen zu seinen Übersetzungen. Sein Blick hellt sich auf. Er rezitiert mir ein paar Sonette. Ich bemerke betroffen seine silbrigen Schläfen. Warum werden die Eltern alt? Das Leben ist ein Lügenschloß, das mit der Zeit in sich zusammenfällt. Es tut mir leid, daß ich die Meinen nie lange genug betrachtet habe. Vater fragt mich, was ich von seinen Gedichten halte. »Sie sind sehr schön, aber ich mag lieber unsere alten Verse:
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›Wenn die Frühlingsblumen welken und der Herbstmond, wie kommt mir da die Erinnerung!*‹ Oder diese: ›Wieviel Kummer im kurzen Leben. Morgen geh ich fort, mit wehendem Haar hoch am Bug eines Nachens.‹*« Vater wird zornig. Er kann es nicht ertragen, daß ich fremden Kulturen gegenüber so gleichgültig bin. Er meint, daß diese kulturelle Egozentrik China ins Verderben stürzen wird. Ich gerate außer mir: »Ich hasse die Engländer, die zweimal gegen uns Krieg geführt haben, damit sie uns das Opium verkaufen können, das sie bei sich selbst verboten haben. Ich verabscheue die Franzosen, die geplündert, gewütet und gebrandschatzt haben im Sommerpalast, der Perle unserer Kultur. Seit in der Mandschurei auf unserem Boden Japan das Gesetz macht, ruft alle Welt nach dem Fortschritt, nach wirtschaftlichem Wachstum. Ich hasse die Japaner! Bald schon werden sie den ganzen Kontinent besetzt haben, und ihr werdet erleichtert sein, wenn China ausgelöscht ist und sich endlich nicht mehr gegen die Aufklärung sperrt.« Er ist verletzt durch meine Worte, er steht auf, wünscht mir eine gute Nacht und zieht sich in sein Zimmer zurück. Ich verlasse das Eßzimmer mit schleppenden Schritten. Es war falsch, meinen Vater anzuklagen. Er lebt nur für die Poesie. 191
Ich verriegele meine Tür und ziehe die Vorhänge vor. Ich sitze auf dem Bett, betrachte die Teekanne auf der Mitte des Tisches. Aus meinen Schals und Taschentüchern drehe ich ein festes Seil. Unter dem Fenster steigt der graue Nebel des Weihrauchs, der die Fliegen betäubt, langsam nach oben. Sterben ist so einfach. Ein kurzer Schmerz. In einem Wimpernschlag ist man durch die Tür. Man tritt in eine andere Welt. Kein Leid mehr, keine Bedrängnis. Dort drüben schläft man so gut. Sterben ist Schnee gegen Schnee zu reiben, einen Winter von Reif und Eis anzuzünden. Ich nehme das Seil und binde die beiden Enden an die Bögen des Himmelbetts. Der Knoten sitzt so unverrückbar wie ein Baum, der vor tausend Jahren da gewachsen ist. Ich sitze auf den Fersen, betrachte ihn, bis mir die Augen weh tun. Ich höre kein Geräusch. Ich stehe auf, um zu prüfen, wie fest die Schlinge ist. Ich stecke den Kopf hindurch. Das Seil stört mich unter dem Kinn. Was ich will, ist Leere, der Sturz in den Abgrund. Meine Lust macht mir angst: Ich bin hier und dort; ich bin ich und bin zugleich nicht mehr! Bin ich denn schon tot? Ich ziehe meinen Kopf aus der Schlinge und setze mich wieder auf das Bett. Ich kleide mich aus, schweißgebadet. Mit einem Tuch, das ich in die Schüssel tauche, wasche ich mich. Bei der Kälte des Wassers erschauere ich. Ich greife nach der Teekanne. Das Gebräu ist so bitter, daß ich 192
mehrmals absetze, um Luft zu holen. Ich lege die mit Watte gefütterte Binde zwischen meine Beine, knote die Schlinge auf, das Seil, lege mich aufs Bett, die Hände auf dem Bauch. Ich warte, bei brennendem Licht. Seit Mins Tod kann ich nicht mehr im Dunklen einschlafen. Ich habe Angst vor seinem Geist. Ich fliehe vor ihm. Ich träume von einem Wald, wo durch die Bäume strahlendes Sonnenlicht dringt, ein herrliches Tier spaziert umher. Es hat ein kurzes, goldenes Fell, trägt eine Löwenmähne. Sein Körper ist so mager und geschwungen wie bei einem Rassehund. Ich bin wütend, daß es in mein Gebiet vordringt. Auf meinen Ruf hin taucht ein Leopard auf und wirft sich auf den Eindringling. Plötzlich werde ich selbst zu dem verletzten Tier. Der Leopard zerfetzt meinen Bauch und durchpflügt meine Eingeweide mit seinen Zähnen. Ich wache von meinem eigenen Stöhnen auf. Ein unerträglicher Schmerz strahlt aus meinem angeschwollenen Bauch in die Schenkel aus, dann läßt er plötzlich nach. Ich stehe mühsam auf und gehe zur Waschschüssel, um mein Gesicht einzutauchen. Ich schleppe mich bis in die Küche, wo zehn Kellen Wasser endlich meinen Durst löschen. Später unterbricht wieder der Schmerz meinen Schlaf. Ich falle aus dem Bett, ziehe in meinem Sturz die Decken mit, die Kissen. Auf dem Boden klammere ich mich an die Tischbeine und kämpfe vergebens gegen einen unerträglichen Krampf an. Als der Schmerz sich beruhigt, kauere ich mich hin und sehe nach, ob das Blut zwischen meine Beine ge193
treten ist. Die Stoffbinde bleibt makellos, und in diesem Weiß sehe ich, wie Min spottet. Ich spüre nicht mehr das Gewicht meiner Glieder. Nach dieser Qual steigt eine Wärmewelle von den Zehen her in meinem Körper auf. Statt mir angenehm zu sein, läßt diese Wohligkeit mich erschauern. Ich liege auf dem Boden ausgestreckt, betrachte gleichgültig die Unordnung in meinem Zimmer. Eine erneute Krampfwelle, dann noch eine. Die Nacht erscheint mir kurz, ich habe Angst, sie könnte zu Ende gehen und jemand könnte mich in diesem elenden Zustand sehen. Ich hätte mich doch töten sollen. Schon hat das Morgengrauen die Vorhänge weiß gefärbt. Das Gezwitscher der Vögel kündet vom Kommen des Tages. Ich höre die Köchin den Hof fegen. Gleich wird man mich entdecken. Gleich wird mein Blick den meines Vaters kreuzen, und ich werde vor Scham sterben. Ich raffe meine letzten Kräfte zusammen und stehe auf. Meine Arme zittern. Würde ich eine Feder hochnehmen, sie würde mir zehntausend Kilo wiegen. Langsam bringe ich mein Zimmer ein wenig in Ordnung. Die Morgensonne läßt die Fensterscheiben erstrahlen. Ich habe furchtbare Kreuzschmerzen. Ob aufrecht oder liegend, ich werde das Gefühl nicht los, ich würde gleich eine bleierne Kugel gebären. Ich setze mich vor den Spiegel, der mir ein aufgelöstes Gesicht vorführt. Ich pudere mich und schminke mich leicht. Das Blut kommt während des Frühstücks, als ich nicht mehr daran denke, als nichts mehr durch meinen 194
Sinn geht. Ein glühend heißer Strom, der zwischen meinen Beinen fließt. Ich stürze auf die Toilette. Auf der Binde sehe ich eine schwarze, schaumige Flüssigkeit. Ich fühle weder Freude noch Trauer. Nichts kann mich von jetzt an mehr berühren. Es ist Zeit, in die Schule zu gehen. Um die Schande eines befleckten Kleides zu vermeiden, bastele ich eine Binde, die ich mit allem fülle, was ich finden kann, Watte, Stoffe, Papier, ich ziehe zwei Schlüpfer übereinander und wähle ein altes Leinenkleid meiner Schwester, das ich nie mochte, wegen der tristen Farbe und dem weiten Schnitt. Ich flechte meine Haare zu einem einzelnen Zopf und binde ihn mit einem Tuch hoch. Ich steige aus der Rikscha und gehe in kleinen Schritten auf die Schule zu. Um mich herum rennen die Schulmädchen. Am Morgen lärmt die Jugend wie ein Schwarm Spatzen, der sich in den Himmel schwingt. Eine Klassenkameradin tippt mir auf die Schulter: »He, du siehst aus wie eine Alte mit dreißig Jahren!«
76 Seit einer Stunde warte ich auf die Chinesin. Als ich noch ein einfacher Soldat war, liebte ich die Wachdienste. Ich preßte die Waffe gegen meine Brust und verbrachte die Nacht damit, auf jeglichen Laut zu horchen. Wenn es regnete, schnitt mich mein Umhang vom Rest der Welt ab und ich wurde zu einem Fötus, der sich in seine eigenen Gedanken verkroch. Wenn es 195
schneite, fielen dicke, kreisende Flocken wie Tausende Silben vom Himmel, weiße Tinte auf dem schwarzen Papier. Reglos stand ich mit aufgerissenen Augen, mir war, als würde ich zum Vogel, zum Baum. Ich vergaß meinen Körper, meinen Ursprung. Ich war ein Teil der unerschütterlichen Natur. Endlich kommt die Chinesin. Als Gruß lächelt sie mir undeutlich zu. Ich stehe auf, verneige mich. Sie beugt sich leicht vor. Es ist, als hätte ein schwerer Schlaf ihre Lider anschwellen lassen, ihr Gesicht aufgeweicht. Zwei Furchen stehen an ihren Mundwinkeln. Sie hat ein paar Strähnen hinter die Ohren gestrichen, die sich aus dem Zopf gelöst haben. Abwesend, träumerisch ist sie, ihr Gesicht gleicht dem meiner Mutter, wenn sie meine Kimonos zusammenlegte. Sie fordert mich auf zu beginnen. Nach dem zweihundertsten Zug bilden die schwarzen und weißen Steine ineinander verschlungene Fallen, wo die Umzingelungen selbst wieder umzingelt werden. Wir kämpfen um enge Korridore, winzige Räume. Die Chinesin setzt nach wenigen Minuten. Ihr Stein klingt wie eine Nadel, die in einem lautlosen Zimmer zu Boden fällt. Daß sie sich nur so kurze Zeit zum Nachdenken nimmt, erstaunt mich. Die Nervosität, die ich bei unserem letzten Treffen an den Tag gelegt habe, bleibt mir in so schlechter Erinnerung, daß ich mir vorgenommen habe, jedem äußeren Einfluß zu widerstehen. Ich meditiere eine halbe Stunde, bis ich ihr antworte. Drei Minuten später ist der weiße Stein gesetzt. Ich wundere mich über diese Brutalität, hebe den Blick. Sie blickt abrupt in eine andere Richtung und gibt vor, über meine Schulter hinweg die anderen Spieler zu 196
beobachten. Mein Herz schlägt schneller. Ich senke den Blick und versuche mich zu konzentrieren. Unglaublich, ich sehe auf dem Spielbrett, mit weißen und mit schwarzen Strichen, das Abbild ihres Gesichtes! Kaum habe ich einen schwarzen Stein gesetzt, belegt ihr weißer den Schnittpunkt daneben. Noch nie hat sie so schnell reagiert. Und doch ist dieser Spielzug tadellos. Wieder hebe ich die Augen. Mein Blick begegnet ihrem, sie sieht mich an. Ich zittere. Um meine Unsicherheit zu überspielen, gebe ich vor nachzudenken. Sie sieht mich weiter an. Ich spüre, wie meine Stirn unter ihrem Blick brennt. Plötzlich erklingt ihre Stimme: »Würden Sie mir einen Dienst erweisen?« Mein Herz schlägt zum Zerspringen. »… Ja.« Nach einem Moment des Schweigens murmelt sie: »Ich verlasse mich auf Sie.« »Womit kann ich Ihnen dienen?« »Gehen wir weg von hier, ich erkläre es Ihnen.« Ich helfe ihr, die Aufstellung des Spieles zu notieren und die Steine in ihre Schalen zu räumen. Sie verstaut alles in ihrer Tasche und bittet mich, ihr zu folgen. Das junge Mädchen geht voraus. Ich hinter ihr. Ein paar Strähnen ihrer Haare flattern im Wind. Sie läuft mit kleinen Schritten. Mit bangem Herzen spüre ich, wie mich eine seltsame Bedrängnis befällt. Wohin führt sie mich? Die Bäume neigen sich vor ihrer schmalen Gestalt zu Seite, drängen sich hinter mir wieder zusammen. Die Straßen verflechten sich zu einem weitläufigen Labyrinth. Ich verliere mich. Manchmal dreht sie sich um und lächelt. Die Kälte 197
ist aus ihrem Blick gewichen. Sie hebt den Arm, hält eine Rikscha an, läßt mich neben ihr Platz nehmen. »Zum Hügel der Sieben Ruinen, bitte.« Durch die heruntergelassene Gardine umfängt das Tageslicht ihr Gesicht mit einem goldenen Schleier. Feiner Staub, beinahe nur ein Glitzern, fällt tanzend vom Überdach und legt sich auf die Spitzen ihrer Wimpern. Verzweifelt dränge ich mich an das andere Ende der engen Sitzbank, es ist vergeblich. In einer Straßenbiegung streift mein Arm den ihren. Ihre eiskalte Haut hinterläßt auf meiner den Abdruck eines Bisses. Sie spielt die Gleichgültige. Ihr Nacken atmet einen Mädchenduft, den Geruch von grünem Tee und Seife. Die Rikscha fährt über einen Stein, meine Wade drückt gegen ihre. Erregung und Scham nehmen mir den Atem. Ich sterbe vor Lust, sie zu umarmen! Wenn ich schon nicht meinen Arm um ihre Schulter legen und ihren Kopf an meine Brust betten kann, wäre ich doch selig, wenn ich einfach nur ihre Finger streifen könnte. Aus dem Augenwinkel mustere ich ihr Gesicht, bereit, mich wie ein Nachtfalter in die Flamme zu stürzen. Aber die Züge der Chinesin bleiben verschlossen. Mit gekräuselten Brauen starrt sie auf den Rücken des laufenden Kulis. Ich halte meine Hände fest auf meinen Knien. Die Rikscha hält an und wir steigen ab. Ich lege den Kopf in den Nacken, klettere mit den Augen einen bewaldeten Hügel hinauf. Auf dem Gipfel, der in der Sonne badet, erkenne ich undeutlich eine Pagode, die die überschwengliche Vegetation überragt. Vor uns schlängelt sich ein mit Schiefer ausgelegter 198
Weg durch die blühenden Büsche, das hohe Gras, und verliert sich weiter oben am Hügel im Schatten der Bäume und des Schilfs.
77 Während der Schule reicht Huong mir unter der Bank einen gefalteten Zettel herüber: »Und?« Ich reiße ein Stück Papier ab und antworte ihr: »!« Ein paar Minuten später erreicht mich ein weiteres Briefchen. Sie hat beim Schreiben so stark aufgedrückt, daß stellenweise das Papier durchstoßen ist: »Heute früh ist mein Vater angekommen. Er nimmt mich am Ende des Schuljahres mit. Ich bin verloren!« Die Schule hört diese Woche auf. Der Gedanke, daß Huong den Sohn irgendeines Provinzwürdenträgers heiraten soll, bringt mich zur Verzweiflung. Unter dieser Emotion zieht sich wieder mein Bauch zusammen. Sobald die Glocke erklingt, grüße ich den Lehrer und stürze mich mit meiner Tasche voller Binden in die Toiletten. Huong ist mir gefolgt und wartet an der Tür. Ihre Lippen zittern, sie kann kaum deutlich sprechen. Ich ziehe sie von den anderen weg und breche in Tränen aus. Mir tut der Bauch weh. Huong wirft sich in meine Arme, damit hindert sie mich, mich vorzubeugen, um den Krampf besser zu ertragen. Ich drücke sie an mich. Mein Schweiß mischt sich mit ihrem Weinen. Sie soll mit ihrem Vater zu Mittag essen und fleht 199
mich an, mit ihr zu kommen. Sie will ein Jahr Aufschub heraushandeln. Im seidenen Kaftan und mit der Uhr an einer goldenen Kette ist der Vater meiner armen Freundin ein Bauer im Gewand eines Edelmanns. Er nimmt uns in ein Luxusrestaurant mit. Kaum sitzen wir, zählt er die Schulgebühren auf, all dieses Geld, das er im Schweiße seines Angesichts verdient. »Endlich«, sagt er und schlägt mit der Hand auf den Tisch, »endlich hat diese Dummheit ein Ende. Du packst deine Sachen.« Seine gelben Zähne stoßen mich ab. Huong ist bleich wie Schnee, sie wagt nicht, den Mund aufzumachen. Ich fühle mich schlecht. Hin und wieder wird das Klappern der Teller und das Gemurmel der Gespräche zu einem ohrenbetäubenden Brummen. Die Stäbchen gleiten mir aus den Fingern. Ich beuge mich hinunter, um sie aufzuheben. Huong neigt sich herüber und flüstert mir ins Ohr: »Los! Rede!« Was soll ich sagen? Womit soll ich anfangen? Meine Freundin läßt auf mir das ganze Gewicht ihres Glückes lasten. Um gegen den stechenden Schmerz anzukämpfen, leere ich auf einen Zug drei Tassen Tee. Ich bin wieder etwas belebter, ich versuche dem alten Banditen zu erklären, daß seine Tochter ihre Ausbildung beenden und einen Abschluß machen muß. Der Mann trompetet mir ins Gesicht: »Ein Abschluß, wieviel ist das wert? Ich kann nicht lesen, und mir geht’s bestens! Ich hab es satt, in diesen Nachttopf zu investieren, jetzt soll sie endlich was für mich ab200
werfen! Und Sie, Fräulein Besserwisserin, denken Sie an Ihre eigene Zukunft. Sie sind gar nicht mal so häßlich, Ihre Eltern sollten sich beeilen, Ihnen eine gute Partie zu suchen.« Ich stehe vom Tisch auf und verlasse das Restaurant. Hinter mir höre ich noch den Alten kläffen: »Das ist deine beste Freundin? So ein Luder. Ich reiß dir die Augen aus, wenn du sie noch mal triffst. Jetzt iß lieber, statt zu heulen. Nach dem Essen gehen wir Kleider kaufen. Du wirst sehen, du bekommst die schönste Aussteuer unserer Gegend.« Ich halte auf der Straße eine Rikscha an. Seit mittags blute ich weniger stark. Aber ich bin erschöpft. Ich träume davon, in einen tiefen Schlaf zu sinken. Zu Hause ist Mutter. Wenn ich jetzt heimkomme, setze ich mich ihren Blicken aus. Mich hinzulegen würde bedeuten zuzugeben, daß ich krank bin. Den Grund dafür würden sie herausbekommen. In der Rikscha döse ich vor mich hin. Nachdem ich den Kuli lange kreuz und quer geschickt habe, fällt mir meine Go-Verabredung ein. Sofort eile ich nach Hause. An der Tür verstecke ich mich in der Rikscha und schicke den Kuli, er soll die Putzfrau um meine beiden Schalen mit den Spielsteinen bitten. Auf dem Platz der Tausend Winde ist die Tonfigur schon da. Unsere Partie geht langsam in die letzte Phase. Auf dem Spielfeld finde ich meine Energie wieder, meine Würde. Aber die Zeit spielt gegen mich. Während mein Gegner lange meditiert, blendet mich die Sonne. Ich schließe die Augen. Dumpfe Geräusche, endlose Wellen klingen mir in den Ohren. Eine weite Lichtung 201
breitet sich vor meinen Füßen aus. Ich lege mich ins Gras. Das Klappern eines Spielsteins weckt mich auf. Mein Gegner hat eben gesetzt. Unsere Blicke begegnen sich. »Würden Sie mir einen Dienst erweisen?« Kaum hat die Frage in meinem Kopf Gestalt angenommen, ist sie auch schon aus meinem Mund geschlüpft. Er kennt noch nicht einmal meinen Namen. Ich stehe auf, fiebrig, den Schmerz in meinem Bauch. Ich muß fliehen vor den Spielern, dem Go, fliehen aus meiner Stadt. Ich steige in eine Rikscha. Mein Gegner setzt sich neben mich. Seine Muskeln sind kräftiger, seine Schultern breiter als die von Min. Die Sitzbank wird ganz schmal davon. Ich lasse mich wiegen vom Schaukeln des Wagens, mir ist, als würde ich auf eine weite Reise gehen. Ich bin nicht mehr ich selbst. Ich treibe dahin. Die Rikscha hält am Fuß des Hügels. Ich beginne mit dem Anstieg. Der Unbekannte folgt mir, noch immer wortlos. Der Wind bläst in leichten Böen den bitteren Duft der wilden Blumen umher. Meine Beine zittern. Ich kann nur mit Mühe atmen. Zum Glück schwitze ich, und das Fieber scheint nachzulassen. Ich warte auf den Unbekannten, der langsam läuft, die Hände im Rücken gefaltet. Er hebt den Kopf, senkt dann sofort den Blick. Wer ist er? Woher kommt er? Muß man Fragen stellen, deren Antworten die Wesen auslöschen, die fremden und die vertrauten, die verwirrenden und die flüchtigen, die durch unsere Träume gehen? Wir kommen an dem Weg vorbei, wo ich auf einer 202
angeschlagenen Marmorblume Min gegenübersaß und auf meine ersten Küsse wartete. Nach dem eingestürzten Palast betrete ich einen Kiefernwald. Da ist der Weg zu Ende. Man hört Insekten schwirren. Der Wind hört auf zu beben. Ein paar Sonnenstrahlen fließen in vereinzelten Kaskaden herein. Eine Lichtung. Zu meinen Füßen ist die Liebe unter dem Laub vergraben, für immer vergraben. Ich strecke mich auf der Erde aus, lege den Kopf auf die Tasche. Das Gras kitzelt mich an den Armen, die ich im Nacken gefaltet habe. Ich will schlafen.
78 In der Mitte der Lichtung beugt sie sich hinab: »Wachen Sie über mir. Wecken Sie mich nicht auf, wenn ich einschlafe.« Unter einem Baum legt sie sich ins Gras, den Kopf auf ihrer Schultasche. Ich bin verdattert, weiß nicht, was ich tun soll. Ich verstehe alles und verstehe nichts. Sie will, daß ich unter diesem Baum zu ihr komme. Sie, die die Gefahren der Umzingelung kennt, sie, die zehn Züge im voraus berechnet, um ihnen zu entgehen, eben ist sie in das Netz der menschlichen Gefühle getreten, um sich zu meiner Gefangenen zu machen. Ich berühre die Pistole, die unter meinem Kittel ver203
steckt ist. Sollte sie herausgefunden haben, wer ich bin? Sollte sie mir etwa eine Falle stellen? Rund um mich bilden die Bäume und Büsche einen bedrohlichen Kreis. Ich spitze die Ohren. Nichts, außer dem Gezwitscher eines Vogels, dem eintönigen Gesang der Grillen, dem Murmeln einer Quelle. Ich trete zu der Chinesin. Mit geschlossenen Augen und leicht gebeugten Beinen hat sie sich auf die linke Seite gekuschelt. Mit einem Fächerschlag verjage ich eine Biene, die den feinen Flaum ihres Gesichts mit dem Fruchtknoten einer Blume verwechselt hat. Sie reagiert nicht, ich beuge mich über sie. Ihre Brust hebt und senkt sich im gleichmäßigen Rhythmus ihres Atems. Sie ist eingeschlafen! Ich setze mich an den Baum, der uns mit seinem Schatten bedeckt. Der tiefe Schlaf des Mädchens rührt mich. Ich beschließe zu warten, bis sie aufwacht, und lasse mich vom Frieden eines Schläfchens im Schutz vor der Hitze einfangen. Meine Lider werden schwer. Die Insekten summen ein monotones Wiegenlied, ich schließe die Augen. Wie hat diese Geschichte begonnen? Ich wohnte in Japan, sie in der Mandschurei. Eines verschneiten Morgens ist unsere Division Richtung Kontinent ins Meer gestochen. Von der Brücke aus sah man das schäumende Meer unter dem Spuk des Wellenschlags. Das chinesische Land war unsichtbar, für mich blieb es eine abstrakte Idee. Aus dieser grauen Reglosigkeit stiegen dann die Eisenbahn, die Wälder, Flüsse, Städte. Die gewundenen Wege des Schicksals haben mich auf den Platz der Tausend Winde geführt, wo das junge Mädchen auf mich wartete. 204
Ich erinnere mich nicht an meine erste Partie Go. Es ist mehr als fünfzehn Jahre her, daß ich das Spiel gelernt habe. Später wurde ich nicht müde, die Erwachsenen herauszufordern, die mir gnädig Vorgaben gewährten. Man machte sich über meine ersten Versuche von Taktik lustig. Meine Belagerungen waren so schwer wie eine Mahlzeit, die einem Verhungernden im Magen liegt. Zu dieser Zeit meines Lebens hatte ich keine Vorstellung von der Zukunft, genausowenig wie von der Vergangenheit. Das Go-Spiel sollte noch Jahre brauchen, bis es mir beigebracht hatte, mich frei zwischen gestern, heute und morgen zu bewegen. Von Stein zu Stein, von Schwarz zu Weiß, bauen die Millionen von Steinen schließlich eine Brücke, die in Chinas Unendlichkeit hinüberragt. Ich öffne wieder die Augen. Im Himmel türmt sich ein Wolkengebirge mit tiefen Tälern, es gibt der Lichtung eine seltsame Prägung. Das Gras, die Zweige, die Blumen, die im ungetrübten Licht nicht zu sehen waren, nehmen eine deutliche Form an, als wären sie eben geschnitzt worden. Der Wind läßt die Bäume rauschen. Die Chinesin schläft inmitten dieses Konzerts von Kotos, Flöten und Shamisens. Ihr Kleid reicht ihr bis an die Knöchel. Das trockene Laub, das auf sie gefallen ist, macht den blau-violetten Stoff, der den Wölbungen ihres Körpers folgt, zu einem prächtigen Gepränge, voller Falten, Furchen, heranrollenden Wellen. Wird sie gleich aufstehen und auf dieser Bühne tanzen, die bestimmt ist für die Götter und die Träumer? Die Sonne tritt hinter einer Wolke hervor. Sie übergießt das Gesicht der Schlafenden mit einer Maske aus Gold. Sie seufzt, dreht sich auf die rechte Seite, die 205
linke Wange zeigt die Abdrücke des Reisigs. Ich klappe lautlos meinen Fächer auf und halte ihn offen über ihrem Kopf. Ihre gekräuselten Brauen entspannen sich. Ein undeutliches Lächeln erscheint auf ihren Lippen. Langsam liebkose ich ihren Körper mit diesem künstlichen Schatten. Eine unhaltbare Lust überkommt mich. Mit einem Ruck schließe ich den Fächer. Wie konnte ich die Zurückhaltung mit Gleichgültigkeit verwechseln und für ihre Botschaften taub bleiben? Sie hat mich schon geliebt, als ich sie noch als kleines Mädchen behandelt habe. Die Macht dieser lange versteckten Leidenschaft also hat sie zur Frau werden lassen. Heute bietet sie sich mir mit unerhörter Kühnheit an. Ihr gegenüber wirke ich wie ein Feigling, der eben noch eine Falle gefürchtet hat, der zögerte, in ihre Arme zu kommen, weil er sein Leben schützen wollte. Es wird zum Krieg kommen. Morgen muß ich an die Front und werde sie allein lassen. Wie könnte ich ruhigen Herzens ihre Unschuld mißbrauchen? Ein Soldat verdient den Tod, nicht die Liebe. Ich will meine Klarsicht wieder erlangen, schließe die Augen. Ich stelle dieser sonnigen Lichtung das Bild eines Schneefelds entgegen, mit Gräben, die in die gefrorene Erde gegraben sind, mit sich zersetzenden Kadavern. Etwas schlägt mir gegen die Beine. Die Chinesin krümmt sich zusammen. Sie sieht aus, als hätte sie Schmerzen. Ist ihr kalt? Es ist nicht gut für ein behütetes Kind wie sie, zu lange auf der bloßen Erde zu schlafen. Sanft schüttele ich sie. Statt aufzuwachen, erschauert sie und versinkt wieder in ihrem Alptraum. 206
Ich greife nach ihren Händen und lege sie mir auf die Knie. Sie scheint sich zu beruhigen. Ich meine, zwischen ihren geschlossenen Lidern ein Leuchten von Glück zu erkennen.
79 Ich muß zu Perle des Mondes ans andere Ende der Stadt. Mutter fürchtet, ich könnte zum Abendessen nicht wieder da sein, sie hält mich zurück. Ich pfeife auf ihre Besorgnis: »Seht her!« Ich stampfe mit dem Fuß auf und springe hoch. Statt wieder herunterzukommen, hebe ich mich in die Lüfte und schlage mit den Flügeln. Unser Haus wird ein Ziegelstein, dann ein Sandkorn, das sich im Garten der Stadt verliert. Vor mir ist keine Wolke, kein Vogel. Ich lasse mich vom Wind tragen, ich gleite, drehe mich. In weiten Kreisen steige ich in die unendliche Höhe. Plötzlich ewige Nacht, kalt und tiefschwarz. Die Sterne sind gedankenvolle Blicke, sie flackern nicht. Ihr regloser Glanz zieht mich an, ich will eben bis zu ihnen hinfliegen, als der Schmerz mir durch den Unterleib schießt. Gelähmt von den Krämpfen stürze ich nach unten. Ich schlage mit den Händen, den Füßen, den Flügeln, aber nichts stützt mich, nichts trägt mich. In einem Nu falle ich durch meine Stadt, mein Haus, und immer weiter geht mein Sturz in den Abgrund. 207
Mein Körper wird glutrot. Schwindel erfaßt mich. Ich schreie auf vor Angst. Jemand ergreift meinen Körper im Fall. Wer hat Arme, die lang genug sind, mich vom Grund des Ozeans zu fischen? Ich bewege mich nicht mehr. Ich darf mich nicht bewegen, damit er mich aus dem Dunkel ziehen kann. Sicher und sanft holt er mich wieder nach oben, ins Leben, wie eine Hebamme, die einem Kind bei seiner Geburt den Weg weist. Die Wärme seiner Hände durchdringt meine Haut und breitet sich in mir aus. Ich bin nackt, verknittert, rot, kauernd. Das Licht schüchtert mich ein, die Geräusche der Welt. Ich zittere vor Lust. Als ich die Augen öffne, begegnet mein Blick dem eines Unbekannten. Ich erschrecke, springe auf. Auch er richtet sich auf. Ich nehme meine Tasche und mache mich davon. Der Sonnenuntergang hat seinen purpurnen Mantel auf die Hügel geworfen. Gestern noch konnte ich das Scharlachrot der Dämmerung nicht ansehen. Es erinnerte mich an die rote Sonne, die am Morgen der Hinrichtung im Nebel hing. Jetzt kann ich ihm die Stirn bieten. Lange suche ich nach einer Rikscha. Die Sonne versinkt am Horizont, und in der bleichen Dunkelheit schwingen sich die Raben auf. Bald schon überspült mich die Nacht. Die Straße führt durch ein weites Weizenfeld, über dem die Glühwürmchen tanzen. Der Mond im Himmel gleicht einem Kreidestrich. Der Unbekannte folgt mir. Der Klang seiner Schritte macht mir angst und macht mich glücklich zugleich. Ob er mich wohl einholen wird? 208
Ich habe keine Angst mehr vor den Geistern. Heute nacht sind Min und Tang wieder in ihre Gräber gesunken. Mögen sie dort in Frieden schlafen! Ich bin eine andere Frau und trage meinen Namen in mir wie die Grille die Erinnerung an die Erde, in der sie schlummerte, bevor sie sich verwandelte. Ich habe vor nichts mehr Angst. Dieses Leben ist nur eine Partie Go! Der Mann behält seinen Abstand bei. Eine Rikscha kommt vorüber. Ich steige allein ein. Der Kuli läuft los. »Warten Sie!« Mit einer Handbewegung hält der Unbekannte den Wagen an. »Warten Sie!« wiederholt er mit zitternder Stimme. Wie er da unter einer Laterne steht, kommt er mir unendlich groß und einsam vor. Sein Blick liebkost mein Gesicht. Ich senke den Blick und starre auf den Rücken des Kulis. Die Rikscha fährt an. Hinter mir wird die Stimme leiser: »Sie kommen doch morgen nachmittag spielen, nicht wahr?« Ich blicke auf. Tränen rinnen über meine Wangen, brennen auf der Haut. Durch diesen Nebel hindurch verschlinge ich die schwarze Landschaft. Ich muß diese absurden Tränen trocknen. Die Schatten der Passanten stolpern über den Gehweg, die Häuser sind erleuchtet. Hunderte von Leben ziehen hinter den Fenstern vorbei.
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80 In meiner Erschöpfung beschließe ich, ohne Abendessen schlafen zu gehen. Auf meinem Bett finde ich die Post von heute nachmittag. Mutter hat mit der Beredsamkeit und der Ruhe einer gebildeten Frau das Ereignis des Monats niedergeschrieben: Kleiner Bruder ist nach China unterwegs. »Am Anfang wunderte ich mich über die Stille dieses Hauses«, schreibt sie. »Damit ich nicht denke, wir wären alle getrennt, habe ich mich ans Aufräumen gemacht. Ordnung zu machen hilft mir, Eure Abwesenheit zu vergessen. Wenn ich auf Eure Kinderkimonos stoße, kann ich kaum glauben, daß Ihr so schnell groß geworden seid, daß Ihr schon beide für den Kaiser kämpft.« Kleiner Bruder bittet mich in seinem Brief um Verzeihung. Er hatte keine Zeit, mich um die Erlaubnis zu ersuchen, unsere Mutter zu verlassen. »Bald sehen wir uns in China, an der Front. Endlich wirst du stolz auf mich sein!« Seine Naivität läßt mich aufseufzen. Ich hätte mir gewünscht, daß er beschützt bliebe vor der Grausamkeit des Krieges. Aber wie könnte ich ihm verbieten, das Vaterland dem Leben vorzuziehen? Als Kind war ich sein Idol. Nach Papas Tod hat er gegen meine Autorität aufbegehrt. Heute bin ich wieder sein Vorbild. Mutter tut mir leid. Ihre Männer haben sie verlassen, und die Götter verdammen sie, allein zu leben. Wie groß wird erst ihr Schmerz sein, wenn sie zwei Urnen erhält, mit der Asche ihrer Söhne! Im Nachbarzimmer ist ein Kartenspiel in vollem 210
Gange. Man hört die Schreie durch die Mauer: »Ich verdoppele den Einsatz!« »Ich auch.« Jeder Soldat fordert die Zukunft auf seine Art heraus. Ich denke an meine Mutter, an ihre schmale Gestalt, die in den Witwenkimono gehüllt ist. Zu diesem betrüblichen Bild fügt sich das der Chinesin, die sich ins Gras schmiegt. Trotz ihres Unterschieds im Alter und der Herkunft teilen sie ein gemeinsames Schicksal: den grenzenlosen Kummer einer unmöglichen Liebe. Die Frauen sind unsere Opfergaben an die wüste Welt.
81 Zu Hause fragt mich Mutter streng: »Wo warst du? Warum kommst du so spät nach Hause?« Ich lüge schlecht. Merkwürdigerweise tut sie so, als würde sie mir glauben. Vater liest auf dem Sofa Zeitung, ein rätselhaftes Lächeln auf den Lippen. Er richtet den ganzen Abend über kein einziges Wort an mich. In der Küche mache ich mich über die Reste her. Der Appetit ist wiedergekommen. Seit zwei Tagen kann ich Gerüche wieder besser aushalten. Mutter kommt still herein und setzt sich mir gegenüber. Im Halbdunkel sieht der rot lackierte Tisch fast schwarz aus. Die Köchin hat ihn sorgfältig gewachst, er ist glatt wie ein Spiegel. Ich weiß nicht, wie ich 211
ihrem Blick ausweichen soll, zähle die Reiskörner, die ich zwischen meinen Stäbchen halte. Mutter stammt aus altem chinesischem Adel, deren Frauen die Mandschu-Kaiser gestillt haben, sie hat den Zusammenbruch des Prunks erlebt, und ihr Herz hat sich verhärtet. Sie versperrt ihre Erinnerungen in Truhen, und den Niedergang der Welt beobachtet sie fortan mit der kalten Würde einer verletzten Frau. Der Englandaufenthalt hat ihr China entfremdet. Meine Schwester hat mir oft erzählt, daß meine Mutter, hätte mein Vater nicht darauf bestanden, niemals heimgekehrt wäre. Anders als die meisten Chinesinnen, bei denen die mütterliche Liebe ständig überbordet, verharrt Mutter uns gegenüber in einer höflichen Zurückhaltung, die jede Zärtlichkeit verbietet. Wenn sie zornig ist, dann immer wegen unbedeutender Kleinigkeiten: weil man zu spät kam, gegen eine Regel des Anstands verstoßen hat, ein Buch zerknittert hat … »Du bist dünn geworden«, sagt Mutter mir. Ich spüre einen Druck in der Brust. Worauf will sie hinaus? »Du siehst nicht gut aus. Gib mir deinen Puls.« Langsam strecke ich ihr meinen linken Arm hin. Mit der Rechten esse ich weiter. Sollte sie etwa gerade hinter mein Geheimnis kommen? »Schwach und unregelmäßig«, sagt sie, nachdem sie auf mein Handgelenk gedrückt hat. »Ich muß dich zu meinem Arzt mitnehmen. Deine Gesundheit macht mir Sorgen. In deinem Alter geraten junge Mädchen wegen der Entwicklung ihres Körpers aus dem Gleichgewicht. Deshalb haben die Alten sie sehr früh verheiratet, um ihnen Halt zu geben.« 212
Ich wage nicht, ihr zu widersprechen. Sie steht auf: »Du wirst Schwalbennestersuppe essen. Das wärmt das Blut und die Gedärme, bringt Harmonie für das An- und Abschwellen der Energie. Morgen gehen wir zum alten Meister Liu. Er wird uns noch weitere medizinische Aufgüsse empfehlen. Und dann nehme ich dich mit ins amerikanische Krankenhaus. Die westliche Medizin kann unsere Lücken füllen. Ende der Woche beginnen die Ferien. Du wirst aufhören, auf dem Platz der Tausend Winde Go zu spielen. Deine Schwester kommt nach Hause zurück. Ich behalte euch beide unter meinem Dach und werde mich um so besser um euch kümmern.« Ich habe überhaupt keine Lust, mich untersuchen zu lassen, ich sage ihr, daß ich morgen keine Zeit habe, zum Arzt zu gehen. »Du hast morgen nachmittag keine Schule«, antwortet sie. »Ich muß meine Partie Go beenden. Sie ist sehr wichtig.« Mutter ist zornig, aber ihre Stimme bleibt ruhig: »Ich habe dir und deiner Schwester zu viel Freiheit gelassen. Das ist nicht gut für euch. Sag deine Partie Go ab.« Auf der Schwelle der Küchentür dreht sie sich um: »Du kleidest dich im Augenblick sehr schlecht. Dieses Kleid gehört deiner Schwester. Es ist zu lang für dich, und die Farbe paßt nicht zu deinem Teint. Wo sind die Kleider, die ich dir vor zwei Monaten habe nähen lassen?« In meinem Zimmer lasse ich mich auf das Bett fallen. Während der Nacht verliere ich weniger Blut. 213
Trotzdem schlafe ich unruhig. Huong, in Rot gekleidet und über und über mit Stickereien und Juwelen übersät, grüßt einen Mann von furchterregender Häßlichkeit. Sie ist in Tränen aufgelöst, sie gleicht einer Göttin, die aus dem Himmel verbannt wurde und im Schmutz ihre Strafe verbüßt. Ein Unbekannter bemerkt meine Traurigkeit. Er nimmt meine Hand. Seine Finger sind rauh wie ein Bimsstein, sie reiben über meine empfindlichen Nerven. Hinter ihm erkenne ich Min unter einem Baum vor dem Tempel des Weißen Pferdes. Er lächelt mir zu und verschwindet in der Menge. Als ich am Morgen aufwache, sind meine Glieder müde, meine Haut ausgetrocknet. Ich will meiner Mutter eine Freude machen, ziehe ein neues Kleid an. Der Stoff ist steif, das verstimmt mich. Auf der Kreuzung am Tempel werfe ich einen Blick auf den Baum, unter dem in meinem Traum Min saß. An derselben Stelle hockt ein Mann am Boden. Sein Blick läßt mir das Blut in den Adern gefrieren. Es ist Jing! Ich springe von der Rikscha. Er hat zehn Kilo abgenommen. Ein Hut verdeckt sein Gesicht, das von einem schwarzen Bart verdeckt wird, er ist von Narben entstellt. Als ich auf ihn zukomme, weicht er zurück. Lange Zeit sagt er kein Wort. Seine Augen starren auf die Ameisen, die einen Baum hinaufklettern, eine ununterbrochene Reihe. »Ich habe Verrat geübt.« Seine düstere Stimme läßt mich erschauern. »Sie haben ihre Leichen in ein Massengrab geworfen. Ich konnte mich nicht einmal an ihrem Grab sam214
meln. Gestern war Min noch da, lebendig, und fröhlich.« Jing stößt seinen Kopf gegen den Stamm. Ich greife nach seinem Arm. Er schüttelt mich ab: »Faß mich nicht an. Ich bin ein Feigling, ein lebendiger Toter. Ich habe alles gestanden, alles gesagt. Es war so einfach wie zu pinkeln. Ich habe mich nicht geschämt. Ich habe an niemanden gedacht. Die Worte kamen aus mir heraus, quollen über. Es war berauschend, alles zu zerstören …« Jing lacht auf und schüttelt heftig den Kopf: »Du bist die einzige, die mich nicht anzusehen scheint wie ein Ungeheuer. Mein Vater hat meinen Tod verlangt und meiner Mutter verboten, mich zu treffen. Ich trage fortan das Mal des Bösen auf der Stirn.« Er schlägt mit der Faust gegen den Baumstamm, so heftig, daß er sich die Hand aufschürft. Ich reiche ihm ein Taschentuch. Er murmelt: »Ich kann nicht mehr zurück an die Universität. Ich schäme mich. Ich lebe wie eine Ratte. Ich meide die Freunde, und ich mache den Kindern auf der Straße angst. Nachts schlafe ich nicht mehr. Ich warte, daß die Einheitsfront ihre Killer schickt. Sie werden mich auf den Boden zerren, ihre Waffen auf mich richten. Sie werden sagen: ›Du hast unser Vertrauen verraten, du hast deine Würde verkauft; im Namen des Widerstands, im Namen des chinesischen Volkes, im Namen der Opfer und ihrer Familien schicken wir dich in die Hölle …‹ Du wirst meine Leiche auf der Straße finden, genau hier, mitten auf der Kreuzung, und um meinen Hals ein Schild: ›Er hat verraten, er hat bezahlt!‹« 215
Was Jing da sagt, erregt mein Mitleid. Aber ich finde keine Worte, um ihn zu trösten. Er durchforscht mein Gesicht, springt plötzlich zu mir heran und drückt meine Hände so fest, daß er mir weh tut. »Du mußt die Wahrheit wissen. Min hat im Gefängnis Tang geheiratet, damit er vor dem Tod mit ihr vereinigt ist. Ich habe immer nur dich geliebt. Von uns beiden hat Min als erster verraten. Er hat dich betrogen, und das hat mich empört. Für dich habe ich mich geweigert, ihm zu folgen. Ich wollte dich heiraten, ich wollte dich schützen, ich wollte dich sehen, bevor ich sterbe, und dir sagen, wie sehr ich dich liebe. Ich habe die Entehrung eingetauscht gegen die Liebe. Versteh mich! Sag mir, daß du mich nicht verachtest!« Schwindel erfaßt mich, ich versuche, mich aus Jings Umarmung zu befreien. Er sieht mir in die Augen: »Ich habe zwei Pässe für das innere China. Komm mit mir. Wir gehen nach Peking. Dort studieren wir weiter. Ich werde arbeiten, um dich zu ernähren, um dich glücklich zu machen. Ich werde Kuli, wenn es sein muß. Morgen früh, der Zug fährt um acht Uhr. Ich habe schon zwei Fahrkarten gekauft. Komm mit mir!« Ich schüttele ihn ab: »Laß mich!« Er seufzt: »Du verabscheust mich. Wie dumm ich doch war zu denken, daß man einen jämmerlichen Menschen wie mich lieben könnte. Leb wohl, paß auf dich auf und vergiß mich.« Er zuckt mit den Schultern, senkt den Kopf, mit gebeugtem Rücken geht er langsam weg, die Hände in den Taschen. 216
»Warte! Ich muß nachdenken. Treffen wir uns morgen früh hier.« Er dreht sich um und sieht mich verzweifelt an. »Morgen oder nie!« Verbittert und von der Angst bedrängt geht Jing im Schatten der Tempelmauer davon. Mir fällt auf, daß er humpelt, sein linkes Bein schleppt er mit wie einen faulen Ast. Dieser Anblick tut mir weh. Ich stütze meine Stirn gegen den Baum und schließe die Augen. Durch die Rinde spüre ich die schwache Wärme der Morgensonne. Mir ist, als wäre Min da, neben mir. »Ich hasse dich.« Er lächelt mir zu und antwortet nicht.
82 Eine Frau badet in einer heißen Quelle. Unter dem Wasser glitzert ihr nackter Körper, zerfließt, windet sich wie ein langes Blatt. Neben der Badestelle hängt ein blauer Baumwollkimono an einem Baumast. Sanft streichelt ihn der Wind. Der scharfe Klang des Signalhorns unterbricht meinen Traum. Mechanisch greife ich nach meinen Kleidern, die gefaltet am Fußende des Bettes liegen, darunter die Schuhe. Ich schnalle den Tornister auf den Rücken und eile nach draußen. Laut schrillen die Pfeifen zum Appell. Das Regiment setzt sich in Gang. Der Befehl kommt von den ersten Reihen des Zuges. Wir laufen los. Die Tore schwingen 217
auf, die Wachhabenden grüßen uns. Dann öffnen sich als nächstes die Tore der Stadt, und die frische, düstere Landluft peitscht mir ins Gesicht. Ich bin schweißgebadet. Statt wie bei den bisherigen Übungen in den Wald zu schwenken, marschieren wir auf dem Hauptweg weiter. Eine Befürchtung schnürt mir die Luft ab: Wir machen uns auf den Weg nach Peking. Als die Sonne am Horizont auftaucht, sind wir schon weit vor der Stadt. Ich bemühe mich, die Rolle des Soldaten anzunehmen, der bereit ist zum Angriff, ich rufe den Tod an. Seltsam, statt mich mit Kraft zu erfüllen und mich zu beruhigen wie sonst, macht mich dieses Gebet noch ängstlicher. Die Monate der Annehmlichkeiten, die ich während der Garnison gekannt habe, verfliegen in einem Augenblick. Hat es die Stadt der Tausend Winde denn wirklich gegeben? Und die Go-Spielerin, die Heldin einer Verzauberung? Das Leben ist ein Teufelskreis, vorgestern fügt sich an heute und schließt das Gestern aus. Wir meinen, wir gingen in der Zeit voran, doch sind wir immer Gefangene der Vergangenheit. Weggehen. Gut ist das. Auf dem Platz der Tausend Winde hätte ich mich von den hartnäckigsten Instinkten zerstören lassen: lieben, leben, zeugen. Ich höre das Pfeifensignal zum Stoppen der Kolonne. Wie ein Akkordeon schließen unsere Truppen auf und atmen durch. Ich schnalle meine Feldflasche ab und begieße meine Kehle mit dem Wasser, das die Sonne lau hat werden lassen. Ein neuer Befehl erreicht uns: Umdrehen, das Ende des Zuges wird zum Anfang. Wir kehren zurück in die Stadt. 218
Freudenrufe werden laut. Unter dem Ansporn der Offiziere machen die Soldaten sich auf den Weg. Ich lasse mich mittragen von dieser Welle des Glücks.
83 Während der Schule scharrt Huong nervös mit den Fingernägeln über den Tisch. Ich reiße ein Stück Papier ab und schreibe ihr: »Hör auf! Du machst mich verrückt mit diesem Kratzen!« Sie antwortet: »Sei nachsichtig mit mir, bitte. Ich habe diese Nacht kein Auge zugetan.« »Jing hat mir vorgeschlagen, mit ihm nach Peking zu gehen. Komm doch mit uns! Er wird dir einen Paß verschaffen und eine Fahrkarte. Dort sind wir frei!« »Auf einen Feigling ist nie Verlaß. Man sollte ihn bemitleiden, aber nicht mit ihm gehen.« »Jing ist anders als die anderen.« »Alle Verräter sind gleich, sei vorsichtig!« »Wenn du mit deinem Vater zurück aufs Land gehst und einen Unbekannten heiratest, verrätst du dich selbst, dann wirst du wissen, was für eine Qual die Feigheit ist.« »Laß mich in Ruhe. Ich habe meine Wahl getroffen. Ich lasse mich nicht mit dir auf ein Abenteuer in Peking ein. Ich will nicht aus der Wirklichkeit fliehen und dafür dem Leben entsagen. Bleib hier! In China wird der Krieg ausbrechen. Niemand kann seinem Schrecken entgehen.« 219
»Du redest wie eine verheiratete Frau. War das dein Vater, hat er dir das Gehirn gewaschen?« »Ich habe nachgedacht. Ich will einen Mann in meinem Leben. Das ist alles, was ich mir wünsche.« »Huong, du bist heute komisch.« »Die Romane haben uns verdorben. Leidenschaft ist nur ein Trugbild der Schriftsteller. Warum sollte ich von Freiheit träumen, wenn der Weg zu ihr nicht die Liebe ist? Da es keine Liebe gibt, bin ich bereit, mich zur Gefangenen des Lebens zu machen. Ich will mein Leiden wettmachen durch die Freuden von Kleidern, Schmuck und leichter Freude.« »Bist du auf den Kopf gefallen? Warum erzählst du mir all diesen Blödsinn?« Huong braucht lange, bis sie mir antwortet. Ihre Feder kratzt über das Papier. »Ich habe es dir nie erzählt. Ich habe vor zwei Jahren einen Bankier kennengelernt. Gestern bin ich seine Geliebte geworden. Nachher kommt er mich von der Schule abholen und bringt mich in eines seiner Häuser. Er wird meinem Vater eine bedeutende Summe Geld geben und der Alte wird sich nicht mehr blicken lassen.« Ich frage mich, wer von uns beiden verrückt ist. Die Glocke unterbricht unseren Briefwechsel. Ich räume meine Sachen in die Tasche. Ohne ein Wort zu Huong verlasse ich den Raum. Sie holt mich auf der Straße ein. »Du schämst dich für mich!« Ich schüttele den Kopf und laufe in großen Schritten. Huong wirft sich auf mich: »Ich flehe dich an. Laß mich nicht allein! Geh nicht nach Peking! Ich fühle es, 220
ein großes Unglück wartet dort auf dich. Schwör mir, daß du Jing nicht wiedersiehst. Schwör mir, daß du bleibst! Ich sage es deinen Eltern. Sie werden dich einsperren …« Ich stoße sie zur Seite. Sie stolpert und fällt. Sofort bereue ich meine Geste, aber ich schaffe es nicht, ihr die Hand zu reichen, und laufe davon.
84 Orchidée hat nicht mit mir gerechnet, ich merke es an ihrer unverhohlenen Freude. Im Nu entledigt sie sich ihres Kleides und schält mich aus meiner Uniform. Ich lasse sie gewähren. Ihre Nacktheit macht mich geil. Ich dringe in sie ein. Die Lust, die ich empfinde, ist so chaotisch wie der letzte halbe Tag. Das MandschuMädchen heult auf, bei ihren Schreien bekomme ich Kopfweh. Plötzlich macht sie ihre Arme frei und versucht mich von sich wegzustoßen. Ich trenne mich erst von ihr, nachdem ich zu einem gewaltigen Orgasmus gekommen bin. Sie windet sich auf dem Bett, bedeckt ihr Geschlecht mit beiden Händen. Ihr Stöhnen bringt mich zur Weißglut. Diese Verrückte ist schon wieder eifersüchtig! Ich kippe eine Tasse Tee hinunter und setze mich auf einen Stuhl. Da sie nicht aufhört zu schluchzen, wasche ich mich sorgfältig und ziehe mich an, um zu gehen. »Hau ab!« schreit sie mit ihrer heiseren Stimme. »Geh, und komm mir niemals wieder!« 221
Ich trete zur Tür. Da wirft sie sich auf mich und badet meine Stiefel mit ihren Tränen: »Verzeih mir. Laß mich nicht allein …« Ich schiebe sie mit dem Fuß zur Seite. Auf dem Weg zum Platz der Tausend Winde wird mir klar, daß ich der armseligste Mann der Welt bin. Etwas in mir ist zerbrochen. Ich bin wieder in dem Zustand wie als Kind nach dem Erdbeben: Leere, Ausweglosigkeit, ein andauerndes Brummen. Die Vernunft befiehlt mir, nicht mehr an das Spielbrett zurückzukehren. Und meine Beine tragen mich dahin. Ich will vor meinem Verderben fliehen und laufe mitten in den Untergang. Die Chinesin ist schon da, heute in einem neuen Kleid. Der steife Kragen, von zwei aufgesetzten Knöpfen eng verschlossen, verleiht ihrer Gestalt eine tragische Würde. Mein Herz schlägt zum Zerspringen. Das Gesicht brennt mir. Ich starre auf die Spielsteine, grüße sie und setze mich. Auf dem Spielfeld ein Gemisch von zerwühltem Ozean, schwarzen Wellen, weißen Wellen, die sich verfolgen und aufeinanderprallen. An den vier Ufern rollen sie zurück, wirbeln auf, werfen sich in den Himmel. Sie vermischen sich, zerdrücken sich, um sich nur noch tiefer ineinander zu verschlingen. Wie gewohnt sagt sie kein Wort. Ihr Schweigen, das undurchschaubare Geheimnis der Frauen, schnürt mir die Luft ab. Woran denkt sie? Warum sagt sie nichts? Es heißt, die Frauen hätten kein Gedächtnis. Hat sie schon alles vergessen? Sicher, gestern auf dem Heimweg fehlte mir der Mut, sie in meine Arme zu nehmen. Sie erwartete von 222
mir die Liebe, die ein Chinese für eine Chinesin hegt. Wie soll ich ihr mein Herz ausschütten, ohne meine Heimat zu verraten? Wie soll ich ihr sagen, daß ein Spiegel uns trennt, daß wir in zwei verfeindeten Welten um einander kreisen? Ihre Steine haben sich in die Luft geschwungen. Ihre Züge werden schneller und schneller. Sie wird immer listiger. Was für eine Spielerin! Plötzlich läßt ihr Rhythmus nach.
85 Jeder Spielstein ist eine Stufe weiter im Abstieg der Seele. Ich habe das Go-Spiel für seine Labyrinthe geliebt. Die Stellung eines Steines entwickelt sich je nachdem, wie die anderen zu ihm liegen. Ihr Verhältnis wird immer komplexer, wandelt sich und entspricht nie ganz genau dem, was man vorher gedacht hat. Das Go pfeift auf die Berechnung, brüskiert die Phantasie. Es ist unvorhersehbar wie die Alchimie der Wolken, jede neue Formierung ist ein Verrat. Nie einen Moment der Ruhe, immer in Alarmbereitschaft, immer schneller, hin zum Geschicktesten in uns, zum Freisten, aber auch zum Kältesten, Genauesten, zum Mörderischsten. Go ist das Spiel der Lüge. Man umzingelt den Feind mit Trugbildern, man zielt auf die einzig echte Wahrheit, den Tod. Statt nach Hause zu gehen, wo Mutter wartet, um 223
mit mir zum Arzt zu gehen, habe ich mich entschlossen, gegen ihre Autorität aufzubegehren. Ich bin da, vor dem Spielbrett und meinem Unbekannten. Mit seinem leicht altmodischen Kittel, dem Hut und der Brille sieht er völlig normal aus. Trotzdem verrät irgend etwas in ihm sein Anderssein. Obwohl er sich sorgfältig rasiert, gibt sein starker Bartwuchs seinen sonnengebräunten Wangen einen bläulichen Schimmer. Zwischen seinen schwarzen, dichten Wimpern glitzern zwei Diamanten. Zwei violette Ringe spannen sich unter seinen Augen. Mir fällt ein, daß Mins Augen so gezeichnet waren, nachdem er in mir seine Lust ausgekostet hatte. Peinlich berührt sehe ich zur Seite. Auf dem Platz der Tausend Winde sind alle Tische leer, die Spieler sind gegangen. Ich erinnere mich an meine zahllosen GoSpiele. Unbekannte Gesichter verschwimmen in der Maske, die mein Gegner trägt. Er besitzt die Noblesse derer, die die verschlungenen Wege des Geistes der Barbarei des Lebens vorziehen. Mit Jing wegzugehen würde bedeuten, ihm mein neues Leben anzuvertrauen. Aber er wirkt nicht mehr anziehend auf mich. Früher brachte sein dunkles Gesicht meine Phantasie in Wallung. Seine Eifersucht berauschte mich. Meine Fingerspitzen erinnerten sich noch an seine straffe, glatte Haut an dem Tag, als er mich auf seinem Fahrrad mitgenommen hatte. Heute ist er nichts mehr als ein Bettler, der mich belästigt. Der verschlungene Zauber, der Min, Jing und mich miteinander verband, ist verblaßt. Mich hatte ein doppelter Held in seinen Bann geschlagen. Jing ist nichts 224
mehr ohne Min. Min hätte ohne Jing auch nicht gezählt. Die Liebe eines einzelnen Überlebenden würde mich mit ihrem Gewicht ersticken. Wie soll ich ihm erklären, daß alles, was noch zwischen uns bleibt, das Heimweh nach einem zerbrochenen Glück ist und ein liebevolles Mitleid? Und dennoch, wenn ich nicht heute noch fliehe, wird meine Mutter mich mit Gewalt zum Arzt schleppen. Sie werden das Geheimnis meiner Krankheit aufdekken. Huong hat sich lieber selbst verkauft. Ich weigere mich, sie so zu sehen, prächtig gekleidet, ein liebenswürdiges Lächeln auf den Lippen. Min ist tot und Jing für immer am Boden zerschlagen. Diese Stadt ist ein Friedhof. Warum soll ich bleiben? Wer hält mich noch? Vor mir verneigt sich mein Gegner und murmelt: »Verzeihen Sie, ich muß gehen. Können wir uns morgen wieder treffen?« Dieser so gewöhnliche Satz wirft mich aus der Bahn. Beim Go habe ich es geschafft, den Schmerz zu besiegen. Stein für Stein bin ich ins Leben zurückgekehrt. Das Spiel jetzt aufzugeben würde bedeuten, den einzigen Menschen zu verraten, der mir treu geblieben ist.
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86 Die Dämmerung bricht herein, sie erinnert mich an die Kaserne und an meine Verabredung mit Hauptmann Nakamura. Die Chinesin spielt auch im Dunklen weiter. Ich bin schon zu spät dran. Aber die Aussicht, mit ihr unter dem Sternenhimmel allein zu sein, macht mich unbekümmert. Tut mir leid, Hauptmann, Sie werden ein bißchen warten müssen. Schließlich machen mir Gewissen und Pflichtbewußtsein Beine, ich beschließe aufzubrechen. Sie hält mich zurück: »Warten Sie, bitte.« Langsam senkt sie die Augen. Ihre Lider zittern. Im Rhythmus ihres Atems scheinen ihre Sommersprossen, Falter in der Nacht, mit den Flügeln zu schlagen. Sie sagt: »Wir sind jetzt allein. Niemand kann uns hören, es sei denn der Wind. Jetzt schließe ich die Augen, ich bin bei Ihnen, in der Nacht. Ich wage es, Ihnen eine Frage zu stellen, die zu stellen ich mit offenen Augen nicht wagen würde. Sagen Sie mir, wer sind Sie?« Die Frage der Chinesin läßt mir das Blut in den Schläfen schlagen. Mir ist, als würde ich seit einer Ewigkeit auf diese Erlösung warten. Hat sie mein Geheimnis durchschaut? Will sie einfach nur meinen Namen wissen und mich kennenlernen? Die Erregung schnürt mir die Kehle zu, ich finde keine Worte. Sie spricht weiter: »Ich habe mich noch nie gefragt, wer mein Gegner ist. Die Männer, die da auf Ihrem Platz saßen, verschwammen miteinander, allein die Go-Figuren unterschieden sie voneinander. Gestern habe ich Sie auf diesem Hügel zum ersten Mal gesehen. 226
Durch Ihre Augen hindurch habe ich das Land gesehen, aus dem Sie kommen: Auf einem Boden, der vom ewigen Schnee bedeckt ist, brennen die Bäume, und die Flammen blühen im Wind. Die Glut des Schnees und des Feuers hat Sie zu einem wandernden Magier gemacht. Sie heilen die Menschen, indem Sie ihre Hände in den Ihren halten. Sie lassen sie die Kälte vergessen, den Hunger, die Krankheit und den Krieg.« Ich schließe die Augen. Ich bin im Körper meiner Chinesin, und ich bin so weit von ihr. Ich werde geschüttelt von rasender Traurigkeit. Diese Liebe verdiene ich nicht. Ich bin ein Spion, ein Mörder! Sie sagt nichts. In der Stille geht der Mond auf. Ich höre die Bäume weinen, und dazu meine eisige Stimme: »Sie täuschen sich, mein Fräulein, ich bin nur ein Durchreisender, verführt von Ihrer Klugheit. Ich gleiche allen diesen Männern, die sich an Ihrem Spielbrett zeigen, um eines Tages zu verschwinden. Verzeihen Sie mir, wenn ich mich gestern nachmittag habe gehen lassen. Ich verspreche Ihnen, es war das erste Mal, und es wird das letzte Mal bleiben. Ich respektiere Sie, mein Fräulein. Vergessen Sie, was Sie eben gesagt haben. Sie sind zu jung, um über Unbekannte zu urteilen.« Ihr spöttisches Lächeln überrascht mich. »Am Anfang unserer Partie erschien mir Ihre GoHand fremd. Sie hat mich so neugierig gemacht, daß ich beschlossen habe, in Ihre Gedanken einzudringen. Mit dem Blatt Papier, auf dem ich den Spielstand festhielt, habe ich geschummelt. Auf dem Heimweg in der Rikscha habe ich sie wieder und wieder durchgelesen. Nicht, um Sie zu besiegen, ich wollte Sie entdecken. Ich 227
bin durch Ihre Seele gewandelt, ich habe Stellen berührt, von denen Sie nichts wissen, ich bin Sie geworden und ich habe begriffen, daß Sie nicht ganz Sie selbst sind.« Ich seufze auf. Vor ein paar Tagen habe ich schon erraten, was sie mir jetzt gesteht. Seither war der Sieg nicht mehr wichtig. Das Spiel ist ein Vorwand geworden, um die Gegnerin wiederzusehen, eine Lüge, die meine Schwachheit rechtfertigt. Sie hat recht. Ich kann nicht ich selbst sein. Ich bin nur eine Folge von Masken. »Jetzt, wo Sie mein Vergehen kennen«, sagt sie, »können Sie das Spiel abbrechen. Sie können mich verachten, mich nie mehr wiedersehen. Sie können mich auch zu einem neuen Spiel herausfordern. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.« »Bei mir?« »Ich werde tun, was Sie wünschen.« Sprachlos öffne ich die Augen. Die Go-Spielerin sieht mich unverwandt an, und ihr angstgeweiteter Blick erinnert mich an den von Lumière, als sie mich aufforderte, sie zu entjungfern. Ich ersticke vor Hitze. Ich bekomme kaum Luft. »Ich werde bald in das innere China aufbrechen, Sie können nicht mehr mit mir rechnen.« Ihre Stimme zittert: »Auch ich muß die Stadt verlassen. Ich will nach Peking gehen. Helfen Sie mir!« Ich muß mich entscheiden. Sie fordert von mir, das Unmögliche zu versuchen. Und dabei wären einfache Gesten schon genug. Ich würde meine Arme öffnen, ihre Hände nehmen und sie an mich ziehen. Wir würden weggehen. 228
Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, ich bleibe auf meinem Platz sitzen wie gelähmt. Die Nacht ist so dunkel, daß ich davon blind werde. Diese Dunkelheit löscht die Scham aus und reizt zum Wahn, aber ich habe nicht den Mut, unser Schicksal zu zwingen. Ich höre mich sprechen. Meine Stimme ist hart und rauh. Der Klang der Worte zersprengt mir die Brust: »Verzeihen Sie. Ich kann nicht.« Lange Zeit danach das Rascheln ihres Kleides: Sie steht auf und geht.
87 Seltsam ist es, sein Zimmer zu überblicken und sich zu fragen, welches die wertvollsten Gegenstände im eigenen Leben sind. Mit meinen sechzehn Jahren besitze ich Pinsel, Papier, Tuschesteine von ausgesuchter Qualität, Geschenke meiner Großmutter. Alljährlich ließen meine Eltern mir vier Kleider schneidern. Ich habe auch Mäntel, Überwürfe, Muffs, bestickte Schuhe, Lacklederschuhe, Armbänder, Ohrringe, Broschen, Halsketten. Ich habe Schuluniformen, Sportkleidung, Bleistiftschachteln, Stifte, Radiergummis. Ich habe Spielzeug, Marionetten, Schattenspielfiguren, Tierfiguren aus Porzellan, derentwegen ich in Tränen ausbrach, wenn ich sie verlegte; und Bücher, die ich mit ins Grab hätte nehmen wollen. Da sind wertvolle Möbel mit Perlmuttintarsien, ein Wandschirm aus bestickter Seide, ein altes Bett mit 229
Vorhängen, ein Bonsai, den mir Cousin Lu geschenkt hat. Da sind Spiegel, Schatullen, Toilettenutensilien, antike Vasen, die Kalligraphien der Vorfahren. Da sind die Nadeln, die farbigen Fäden, die Teedosen, die Gläser mit den Abdrücken meiner Lippen, die Laken, die meinen Geruch tragen, die Kissen, die meine Gedanken umhüllt haben. Da sind die Bänke meiner Fenster, auf die ich mich gestützt habe, die Pflanzen des Gartens, über die mein Blick hinwegstrich. Perle des Mondes kommt, um mir zu sagen, daß das Abendessen angerichtet ist. Meine Schwester ist mager geworden. Ihr Gesicht hat jeden Ausdruck verloren. Ich bitte sie, ein bißchen in meinem Zimmer zu bleiben. Wortlos setzt sie sich vor die Frisierkommode, und die Tränen beginnen zu rinnen. Mein letztes Abendessen, eine traurige Mahlzeit, läßt nichts Gutes ahnen. Alle sind stumm. Meine Eltern essen, ohne sich anzusehen. Der Zustand von Perle des Mondes macht sie schuldig. Die Köchin ist hilflos, sie läßt ein Paar Stäbchen fallen. Das Geräusch ruft bei meiner Schwester die Tränen wach, die eben schlummerten. Sie schluchzt. Es ist nicht schwer, mir die Abende nach meinem Weggang vorzustellen: ein düsterer Tisch, wo man weiterhin für mich decken wird, angeblich bringt das die Abwesenden zurück; das Essen, das niemand anfaßt; das Schweigen meiner Eltern; meine Schwester in ihren Tränen aufgelöst. Ich packe meine Tasche mit ein paar Juwelen zum Verkaufen, zwei Kleidern, und Binden, um das Blut aufzufangen, das noch immer zwischen meinen Beinen fließt. Auf meinen Tisch lege ich die beiden Schalen mit 230
den Spielsteinen. Ich will einen weißen Stein, einen schwarzen Stein mitnehmen. Dann beschließe ich, mich nicht von der Erinnerung übermannen zu lassen.
88 Ich gehe wieder auf den Platz der Tausend Winde. Ich esse beinahe nichts mehr. Ich zwinge meinem Körper ein überaus hartes Training auf, und doch hält er der Erschöpfung stand. Seit Tagen ist kein Tropfen Regen gefallen, und die bronzene Sonne bringt meine Vernunft ans Ende. Meine Liebe hat sich in tierisches Verlangen gewandelt. In meinen langen schlaflosen Nächten ist mir manchmal wie einem Verdurstenden, der sich an eingebildeten Quellen labt, als würde ich ihre Haut berühren, so sehr stelle ich sie mir vor. Unermüdlich zeichne ich ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Schultern, ihre Hände, und ich erfinde ihre Brüste, Hüften, den Hintern, die geöffneten Schenkel. Ich stelle mir die tausend Stellungen der Umarmung vor, eine wilder als die andere. Ich streichele mich. Aber mein Geschlecht bleibt gleichgültig gegenüber meinem Verlangen. Es weigert sich, mir zur Lust zu verhelfen, meinen Schmerz zu lindern. Bald greift der Wahn der Nacht über auf den Tag. Beim Laufen bekomme ich einen Ständer. Wenn ich meine Befehle an die Soldaten brülle, bricht mir die Stimme. Der Riß tief in meiner Kehle läßt mich die Lust erahnen, die die Chinesin mir gegeben hätte. Ihr 231
enges Geschlecht hätte meines aufgebrochen, und dieser Schmerz hätte die gewaltigste Ekstase bedeutet, die ich je gekannt hätte. Eines Morgens, als ich keinerlei Ruhe finden kann, gehe ich in Uniform auf den Platz der Tausend Winde. Es ist fünf Uhr. Geschüttelt von einer starken Brise, flüstern die Bäume miteinander. Es ist, als hätten sich tausend Lüfte hier verabredet, um auf das Morgengrauen zu warten. Der erste Spieler taucht auf, einen Vogelkäfig in der Hand. Während er noch den Tisch abwischt und die Schalen mit den Steinen aufstellt, kommt ein weiterer auf ihn zu und setzt sich ihm gegenüber. Mein Herz zieht sich zusammen. Am Abend betrinke ich mich mit dem Hauptmann, dann klopfe ich an Orchidées Tür. Schon hat sie ihren Groll vergessen, und in ein paar Sekunden entledigt sie sich ihres Kleides. Lange schon habe ich keine Frau mehr angerührt. Durch ihre Nacktheit hindurch sehe ich die der Chinesin, und ich explodiere in ihr, so wie man eine Patrone entlädt. Ich irre durch die Straßen in der Hoffnung, sie zufällig zu treffen. Enttäuscht trete ich über die Schwelle eines neuen Bordells. Keines der Mädchen, die sich anbieten, gefällt mir. Trotzdem steige ich mit in das Zimmer von Päonia, die beim Lächeln einen Goldzahn freilegt. Ihr Körper ist fett und weiß. Sie schreit völlig ungehemmt. Um vier Uhr morgens erklärt sich eine Weißrussin bereit, daß ich sie beim Besteigen schlage. Die Schnalle meines Gürtels hinterläßt auf ihrem Rücken violette Striemen. 232
Der Morgen graut. Ein neuer Tag zieht auf, er gleicht den vorigen. Ich schüttele einen dösenden Rikschakuli wach. Er bringt mich an den Fuß des Hügels der Sieben Ruinen. Da oben steht in seinem purpurnen Strahlenkleid der Baum, unter dem sie lag, meinem Gedächtnis treu. Der Rest der Landschaft hat seinen Zauber verloren. In der Mitte der Lichtung beginnen die allzu hohen Gräser zu vertrocknen. In der Kaserne kann ich nicht mehr zu meinen Soldaten reden, kann ich mich weder aufrecht halten noch hinsetzen. Meine Gedanken sind anderswo, nirgends. In dieser Nacht wecken mich schrillende Pfeifen. Ich öffne die Augen. Die Stunde meiner Erlösung ist da. Auf dem Bahnsteig spuckt die Lokomotive dichte Dampfsäulen. Ich treibe meine Soldaten vorwärts, schreie, daß wir uns beeilen müssen. Ich steige ein und ziehe hinter mir die Wagentür zu. Plötzlich fällt mir ein, daß ich vergessen habe, mich von Hauptmann Nakamura zu verabschieden.
89 Peking, Stadt des Staubes. Jing kommt mit den Zeitungen unter dem Arm nach Hause. Sein Gesicht wird jeden Tag noch düsterer. Die Verhandlungen mit der japanischen Armee sind gescheitert. Der Krieg ist nahe. Die Zentralregierung Chiang Kai-sheks ruft das Volk zum Widerstand gegen die feindliche Invasion auf. Auf den Straßen hat die 233
Flucht begonnen. Tausende von Pekingern, ihre Bündel auf dem Rücken, strömen Richtung Süden. Seit unserer Ankunft verbietet Jing mir, das Hotel zu verlassen. Wenn er da ist, weigere ich mich aufzustehen. Er wirft sich vor, mich in den Tod geschleppt zu haben, und diese Schuldgefühle machen ihn reizbar. Er wird abstoßend. Von Tag zu Tag ist er häßlicher. Seine Haare sind zu lang. Er kaut an den Fingernägeln. Beim Essen sabbert er. Ich bin eingehüllt in ein Laken, das so weiß ist wie ein Leichentuch, und streite mich wegen jeder Kleinigkeit mit ihm: eine Schale zu lauer Nudeln, zu bitterer Tee, die Mücken. Die Hitze bringt mich dazu, eine Flut von Klagen über ihn auszugießen. Meistens antwortet er mir mit verächtlichem Schweigen. Manchmal wird er wütend. Vom Zorn geschüttelt läuft sein Gesicht scharlachrot an, sein Körper zittert, er wirft sich auf mich und versucht mich zu erwürgen. Ich brülle: »Los, töte mich! So wie du deine Freunde getötet hast!« Sein Gesicht verzerrt sich. In seinen Augen sehe ich Mins Gespenst vorüberhuschen. Schließlich gebe ich ihm die Adresse meines Cousins und sage ihm, er soll ihn zu mir holen. Jing wird zuerst ärgerlich. Als er dann hört, daß Lu verheiratet ist, macht er sich fröhlich auf die Suche nach ihm. Als er geht, atme ich endlich auf. Ohne Jing wird unser Zimmer weit und hell. Ich stehe auf, wasche mir das Gesicht, dann kämme ich mir am offenen Fenster die Haare. Unser Hotel in Peking ist ein flaches Gebäude. Die Zimmer liegen rund um einen quadratischen Hof mit 234
einem Jujubabaum in der Mitte. Auf der Straße jenseits der Mauer plappern Kinder in reinstem Pekingdialekt. Ich horche im Klang ihrer Stimmen auf den Akzent des Go-Spielers. Er klang etwas anders. Statt beim ›r‹ die Zunge nach hinten zu biegen, bildete er es weiter vorne. Ich sehe uns wieder auf dem Hügel der Sieben Ruinen, wo er über meinen Schlaf wachte. Auf dem Platz der Tausend Winde klappte er manchmal seinen Fächer auf. Nicht, weil er sich Luft zufächeln wollte. Er schwang ihn so, daß der Luftzug sanft in mein Gesicht blies. Diese Erinnerung tut mir im Herzen weh. Ich habe seine Abweisung noch immer nicht verstanden. Warum will, wer sein Glück erkannt hat, vor ihm fliehen? Flugzeuge ziehen über den Himmel, dann höre ich undeutliches Grummeln. Die Leute auf der Straße schreien, daß die Japaner damit drohen, die Stadt auszulöschen. In Peking ist die Luft trockener als in unseren Mandschu-Städten. Unter der grellen Sonne leuchtet alles, strahlt, verblaßt dann zu Aschgrau. Kaum bin ich aufgestanden, bin ich schon wieder schläfrig. Peking, die Stadt meiner Vorfahren, ist ein Traum, aus dem ich nicht erwachen kann. Ich lege mich wieder ins Bett, döse. Die Gesichter meiner Eltern erscheinen mir, bedrücken mich. Dann gehe ich langsam auf den Platz der Tausend Winde, zu meinem Spielbrett. Wie glücklich ich bin, die eisigen Steine zwischen meine Finger zu nehmen. Der Unbekannte sitzt vor mir, eine ruhige Tonfigur. Unser Spiel geht weiter. Es wandelt auf einem gewundenen Weg, der in das Reine Land führt. 235
Nachts horcht Jing auf den Tumult der Schießereien. Gegen die Mauer gelehnt schläft er ein. Plötzlich holen mich seine Angstschreie aus dem Schlaf. Er hält die Hände auf dem Kopf, schlägt um sich wie ein Besessener. Ich springe aus dem Bett und nehme ihn in die Arme. Wie könnte ich ihn allein lassen? Im Morgengrauen schüttelt er mich. Sein Entschluß steht, lieber den Tod unter den Bomben riskieren und Richtung Süden ziehen als auf das Massaker warten. Ich bereue, daß ich meinem Gefühl gefolgt bin. Ich wollte die Freiheit erringen und finde mich als Jings Gefangene wieder. »Ich muß mit meinem Cousin reden. Er ist hier mein einziger Verwandter. Such weiter. Finden wir ihn. Gehen wir mit ihm.« Jings Blick wird böse. »Ich habe dich vorhin belogen, als ich sagte, daß er umgezogen ist. Ich habe seine Frau getroffen. Sie ist fast wahnsinnig. Lu hat sie verlassen. Er hat sich in der Armee verdingt. Vielleicht ist er jetzt schon tot.« »Du lügst! Gib mir die Adresse meines Cousins zurück!« »Da hast du sie, du wirst schon selbst sehen.« Ich weiß, daß Jing die Wahrheit sagt. Verzweifelt brülle ich: »Ich will zurück in die Mandschurei. Unsere Wege trennen sich hier. Ich werde nach Hause gehen, ich werde meine Partie Go wieder aufnehmen.« »Es ist zu spät dafür. Es gibt keine Verbindung mehr. Alle Züge sind von der japanischen Armee beschlagnahmt worden. Du hast keine Wahl. Du mußt mit mir kommen.« »Du bist eifersüchtig auf Min. Du hast mich aus 236
meiner Stadt weggeholt, um ihn aus meinem Gedächtnis zu streichen.« »Min hat zu seinem Spaß mit dir geschlafen. Vergiß nicht, daß Tang seine große Schwester war, seine Lehrerin und seine Frau!« Jing meint, er würde mir weh tun, aber ich lache laut auf. »Du täuschst dich. Mit Min ist es längst vorbei! Ich habe in meinem Herzen ein Grab ausgehoben und ihn beerdigt. Im übrigen habe ich ihn nie geliebt. Wir waren schön. Diese Schönheit hat mir geschmeichelt. Ich mochte es, euch beide so eifersüchtig zu sehen. Jetzt habe ich begriffen, daß alles das nur Eitelkeit war. Hörst du, die Eitelkeit, zur Frau zu werden.« Jings Gesicht läuft dunkel an. Er durchbohrt mich mit eisigem Blick. »Du hast mit meinen Gefühlen gespielt, ich verzeihe dir. Dein Körper ist beschmutzt, und niemand wird ein entjungfertes Mädchen heiraten. In dieser weiten Welt bin ich der einzige, der dich liebt, und ich nehme die Frau, die mein bester Freund befleckt hat! Du hast nur mich! Du gehörst mir!« Min hatte gesagt, mein Körper würde ihm gehören. Er hatte sein ausschließliches Recht auf meinen Körper eingefordert und gab sich zugleich einer anderen Frau hin. Ganz offensichtlich ist Jing wie er. Unter der Erregung steigen mir die Tränen in die Augen: »Jemand liebt mich, und gerade habe ich begriffen, daß ich ihn, ohne es zu wissen, auch geliebt habe. Für ihn gehe ich zurück in die Stadt der Tausend Winde. Er erwartet mich.« »Du lügst. Wer ist er? Woher kommt er? Dürfte ich bitte sehr seinen Namen erfahren? Sag es mir.« 237
Plötzlich merke ich, daß ich noch nicht einmal seinen Namen weiß. Ich kenne nichts von ihm, bis auf seine Seele. Als er mich zögern sieht, beruhigt sich Jing. Er nimmt mich in die Arme. Ich ohrfeige ihn, aber er schafft es, seine Lippen auf meine Stirn zu legen: »Komm mit mir! Spiel jetzt nicht das kleine Mädchen. In Nanking werden wir ein neues Leben beginnen.«
90 Wolken von Fliegen schwärmen auf. In der Ebene haben die Minen tiefe Krater gegraben. Die Felder wurden verwüstet. Überall stößt man auf Leichen. Manche haben noch wachsige Gesichter, mit offenen Mündern. Andere sind nur noch ein Haufen Fleisch mitten im Schlamm. Unsere Truppe zieht langsam durch diesen wüsten Friedhof. Ich erfahre, daß die Soldaten, die der Feind in den Hinterhalt gelockt hat, bis zum letzten Mann Widerstand geleistet haben. Unter der Sonne packt mich der Schwindel. Eben begreife ich, daß unser Kampf gegen die Terroristen in der Mandschurei nichts als ein Versteckspiel war. Die Weite und die Grausamkeit des Krieges waren mir bisher entgangen. Mitten in einem verlassenen Dorf geraten wir in einen Sturm von Explosionen. Ich werfe mich zu Boden. Ein Kugelregen geht auf den in der Trockenheit ausgebleichten Boden nieder. Nach mehreren Schuß238
wechseln wird uns klar, daß die Truppe, die uns da angreift, nur aus ein paar Wagemutigen besteht, die hiergeblieben sind, um unseren Vormarsch zu behindern. Das Horn bläst zum Angriff. Die Chinesen rennen davon wie die Kaninchen, die beim Schießtraining als Zielscheibe dienen. Ich ziele auf den schnellsten Mann, fast schon hat er den Waldrand erreicht, ich drücke auf den Abzug. Er sinkt am Fuße eines Baums zu Boden. Mittags wieder ein heftiger Angriff. Die Chinesen sind berauscht von ihrer Verzweiflung, werden zu wilden Tieren. Ich lege mich auf einen Abhang. Der Boden ist brennend heiß. Ich rieche einen süßen Duft, der mich an die Go-Spielerin erinnert. Vor mir wälzt sich ein Soldat, von einer Kugel getroffen, heulend auf der Erde. Ich erkenne einen meiner Männer, den, der mir am nächsten steht. Eben haben wir seinen neunzehnten Geburtstag gefeiert. Ich wollte den Jungen nach dem Kampf unbedingt begraben. Aber der Marschbefehl ist ergangen, ich muß seine Leiche der Fürsorge des nachfolgenden Regiments überlassen. Die Ungleichheit verfolgt uns bis nach dem Tod. Die glücklichsten werden auf dem Schlachtfeld verbrannt, die anderen in ein Massengrab geworfen. Die am meisten Pech haben, fallen den Chinesen in die Hände, die ihnen die Köpfe abschneiden und sie auf Spießen herumtragen. Dieser erste Kriegstag ist nur ein einziger Traum. Nichts berührt mich, weder die grausamen Kämpfe noch der ermüdende Marsch, der Tod meiner Soldaten. Ich wandele durch eine gepolsterte Welt, wo Leben und Tod mir gleich verächtlich erscheinen. Zum ersten Mal hat das Abenteuer des Soldaten aufgehört, 239
mich zu begeistern: Wir begegnen unserem Schicksal, wie die Lachse die Flüsse hinaufschwimmen. In dieser Leistung liegt keine Schönheit, keine Größe. Am Abend findet der Stabsarzt mich mürrisch und gedankenverloren, er diagnostiziert einen Sonnenstich. Ich lasse mir von meinen Männern ein kaltes Tuch auf die Stirn legen. Ich liege auf einem Strohballen, starre auf die dunkle Decke der beschlagnahmten Hütte. Ich ekele mich vor mir selbst. Im Morgengrauen werden wir von Pfeifen und Explosionen geweckt. Wir geben mit Granatfeuer zurück. Danach folgen die Maschinengewehre. Plötzlich erkennen wir im Lärm das Signal, das zum Kampf bläst. Die Division, die uns eben angreift, gehört zur japanischen Armee. Dieses Mißverständnis hat uns das Leben mehrerer Soldaten gekostet.
91 Ein Lagerfeuer knistert. Jing schnarcht. Rund um mich sind Hunderte von Flüchtlingen ebenfalls eingeschlafen. Menschen auf der Flucht sind wie Herden von Hirschen, die vor der Trockenheit fliehen. Sie sind mager, krank. Ihr Schlaf ist nicht weniger tief als ihre Bedrängnis. Ich hole eine Schere aus meinem Sack und schneide meine Haare so kurz, wie die Kraft in meinen Armen 240
es mir erlaubt. Ich binde meine beiden Zöpfe mit einem Band zusammen und lege sie neben Jing, steige über ein Dutzend Körper und stürze mich in die Dunkelheit. In einem Gehölz werde ich mein Kleid los und ziehe die Kleider an, die ich Jing gestohlen habe. Hinter den Bäumen erhellt das bleiche Morgenlicht die Ebene von Peking. Ich laufe gegen den Strom der Flüchtlinge, die seit dem Morgengrauen unterwegs sind. Die Frauen schleppen ihre Bündel, ziehen an einer Hand die Kinder, an der anderen die Ziegen. Man hört, wie Neugeborene brüllen. Männer tragen ihre Alten auf dem Rücken, andere, Glücklichere, haben sie in eine Rikscha gesetzt. Eine Alte, beinahe hundertjährig, umklammert ein Huhn in ihren Armen. Auf ihren gebundenen Füßen schwankt sie bei jedem Schritt. Seit unserer Flucht aus Peking haben diese alltäglichen Szenen mir das Herz gebrochen. Ich bereue es nicht, Jing auf seinem abenteuerlichen Weg gefolgt zu sein. Ihm verdanke ich es, daß ich die Stärke eines Volkes gesehen habe, das von seinem Land vertrieben wird. Die Hartnäckigkeit dieses Marsches in den Süden ist ein stummes Aufbegehren gegen den Tod. Diese Männer und Frauen bilden eine Welle, vereinen Haß und Hoffnung. Von jetzt an bis ans Ende meiner Einsamkeit wird diese Wut mich begleiten. Wie sie, sehne ich mich nach dem Leben. Ich will in die Mandschurei zurück, mein Haus wiedersehen, mein Spielbrett. Auf dem Platz der Tausend Winde werde ich auf den unbekannten Spieler warten. Ich weiß, daß er zu mir kommen wird, eines Nachmittags, wie beim ersten Mal. 241
Mittags sitze ich auf einem Baum am Wegrand, esse Krümel für Krümel ein drei Tage altes Stück Brot. Das Dröhnen der Flugzeuge, entfernte Explosionen heben sich vom Schweigen der Menge ab, die vorwärts zieht. In diesem menschlichen Strom sieht man die ersten chinesischen Soldaten. Die Uniform mit Blut befleckt, das Gesicht geschwärzt, erinnern sie mich an die Männer, die 1931 in unser Haus eindrangen, nachdem sie vor den Japanern geflohen waren: Ihre Augen zeugen von der Erschöpfung und der Härte von Männern, die die Ihren dem Gemetzel überlassen haben. »Peking ist gefallen! Beeilt euch, flieht!« »Die Japaner kommen! Die Dämonen kommen!« Schreien, Heulen kommt auf. Plötzlich sehe ich Jing, der im Laufschritt gegen den Flüchtlingsstrom stolpert. Ich verstecke mich hinter einem Baum. Er geht fünf Schritte weit an mir vorbei, fragt eine Frau, ob sie ein junges Mädchen gesehen hat, mit kurzgeschorenen Haaren und in Jungenkleidern. Seine Stimme ist gebrochen. Meine Zöpfe in der Hand, spuckt er auf den Boden und ruft mich, verflucht mich dabei. Seine Schreie reißen mich entzwei: Du bist ein Ungeheuer, mich zu quälen, der ich aus der Hölle zurückgekehrt bin! Schließlich entfernt er sich. Plötzlich läßt ein Flugzeug, das seit einiger Zeit über uns kreist, eine Bombe los, dann eine weitere. Die Explosionen reißen mich zu Boden. Ich verliere das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir komme, rennt die Menge durcheinander wie ein Zug von Ameisen, die ein Fußgänger gestört hat. Ich stehe auf. Mein Arm blutet. Im Himmel wird das 242
Brummen der Motoren immer drohender. Noch mehr Flugzeuge kommen heran! Ich stürze mich in eine Wiese. Die Japaner bombardieren die Straße. Ich irre über das Land, weiß nicht, wo ich mich verstecken soll. Mein Arm wird mir schwer. Wann nur wache ich aus diesem Alptraum auf? Noch vor der Nacht erkenne ich am Horizont ein Dorf. Ich beeile mich. Eine seltsame Stille herrscht dort. In der Dunkelheit stehen die Türen offen, zerborstene Möbel säumen die Straßen. Weiter hinten entdecke ich Leichen: vier Bauern, von Bajonetten durchstoßen. In den Häusern kein lebendes Tier, kein einziges Reiskorn, kein Strohhalm in den Öfen. Nach dem Massaker hat die japanische Armee alles leer geräumt. Ich habe nicht mehr die Kraft, meinen Weg fortzusetzen. Ich trete in eine leere Hütte. Ich erinnere mich an ein altes Rezept, von dem meine Mutter sprach, bedecke meine Wunde mit kalter Asche und wickele ein Stück Stoff darum, ein Fetzen meines Hemdes. Ich schmiege mich gegen den kalten Ofen und breche in Tränen aus. Am Morgen erwache ich von einem furchtbaren Krachen. Ich höre Männerstimmen in einer unverständlichen Sprache herumbrüllen. Ich öffne die Augen. Soldaten richten ihre Waffen auf mich.
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92 Peking ist erobert. Wir haben den Befehl erhalten, das Land nach chinesischen Spionen und verletzten Soldaten durchzukämmen. Sie sollen alle hingerichtet werden. Heute morgen spüren meine Leute ein verdächtiges Geschöpf auf. Sie fesseln ihm die Hände auf den Rükken und schleppen es in die Mitte des Dorfes. Es ist ein junger Spion mit struppigen Haaren, einer Verletzung am Arm. Zu große Studentenkleider schlottern um seinen Körper. Er hält hartnäckig den Kopf gesenkt und verharrt in dickköpfigem Schweigen. Die Soldaten laden ihre Gewehre. Mit einer Handbewegung unterbricht sie Leutnant Hayashi, der die Operation mit mir gemeinsam leitet. Er zieht seinen Säbel und sagt zu mir: »Sie haben immer Ihren Familiensäbel aus dem 16. Jahrhundert gerühmt. Meiner wurde hundert Jahre später geschmiedet. Aber seinerzeit nannte man ihn den ›Köpfemäher‹. Ich werde Ihnen eine kleine Vorführung geben.« Die Soldaten sind erregt von der Aussicht auf das Spektakel, sie schnalzen mit den Zungen und rufen sich Bemerkungen zu. In der Haltung des Samurai, die er von alten Holzschnitten kennt, mit gespreizten Beinen und gebeugten Knien, hebt Hayashi den Säbel hoch über seinen Kopf. Langsam hebt der Gefangene die Augen. Mich überkommt ein Schwindel. »Warten Sie!« Ich stürze auf den jungen Mann zu und wische sein Gesicht ab, das von Schlamm und Ruß geschwärzt ist. 244
Darunter entdecke ich tränenförmige Sommersprossen. »Fassen Sie mich nicht an«, brüllt sie. »Eine Frau«, schreit Hayashi auf und steckt den Säbel zurück in die Scheide. Er stößt mich zur Seite, reißt den Gefangenen zu Boden und steckt die Hand in seine Hose. Mein Herz erstarrt zu Eis. Sie ist es! Was macht sie hier, in diesem Dorf? Wann hat sie die Mandschurei verlassen? »Eine Frau!« bestätigt Hayashi aufgeregt. Das Mädchen schlägt um sich und stößt schrille Schreie aus. Er gibt ihr zwei Ohrfeigen, zieht ihr die Schuhe aus und reißt ihre Hose herunter. Dann öffnet er seinen eigenen Gürtel. Gefesselt glotzend bilden die Soldaten einen Kreis um ihn. »Weg da! Jeder kommt dran!« befiehlt er. »Ihr Idioten!« Ich werfe mich auf den Leutnant. Zornig wendet er mir sein Gesicht zu. Als er meine Pistole sieht, die auf seine Stirn gerichtet ist, beginnt er aus vollem Herzen zu lachen: »In Ordnung, Sie sind der erste. Schließlich ist es Ihre Entdeckung.« Ich antworte nicht. Er meint zu verstehen und flüstert mir ins Ohr: »Das ist das erste Mal, oder? Wenn es Ihnen peinlich ist, so in der Öffentlichkeit, gehen Sie doch in diesen Tempel da, ich halte Wache an der Tür.« Hayashi zieht mich zum gegenüberliegenden Tempel. Zwei Soldaten tragen das Mädchen und werfen sie auf den Boden. Kichernd schließen sie die Tür. Sie zittert am ganzen Körper. Ich ziehe meine Jacke aus, um ihr die nackten Beine zu bedecken. 245
»Haben Sie keine Angst«, sage ich auf chinesisch. Meine Stimme verwirrt sie. Sie reißt die Augen auf und mustert mich. Unaussprechliches Leid verzerrt ihre Züge. Plötzlich spuckt sie mich an und wälzt sich schluchzend am Boden: »Töte mich! Töte mich!« Hayashi klopft an die Tür, ich höre ihn höhnisch lachen: »Leutnant, beeilen Sie sich. Meine Soldaten können nicht mehr!« Ich schließe meine Chinesin in die Arme. Sie beißt mir in die Schulter. Trotz des Schmerzes lege ich meine Wange an die ihre. Tränen dringen aus meinen Augen. Ich flüstere: »Vergib mir, vergib mir …« Sie antwortet mit hysterischen Schreien: »Töte mich, ich bitte dich. Töte mich! Laß mich nicht am Leben!« Hinter der Tür schreit Hayashi: »Leutnant, Sie nehmen sich ein bißchen viel Zeit. Beeilen Sie sich. Seien Sie nicht so egoistisch.« Ich nehme meine Pistole in die Faust und drücke sie der Chinesin an die Schläfe, sie hebt den Kopf. Die Furcht ist aus ihren Augen gewichen. Sie betrachtet mich jetzt mit der Gleichgültigkeit, mit der sie stets einem Unbekannten begegnete. Ich erschaudere und verstärke den Druck mit der Waffe: »Erkennen Sie mich wieder?« Sie schließt die Augen. »Ich weiß, daß Sie mich hassen, ich weiß, daß Sie mir nicht vergeben werden. Jetzt ist mir Ihre Verachtung egal. Ich werde Sie töten, und mich selbst danach. Für Sie verzichte ich auf diesen Krieg, verrate ich mein Vaterland. Für Sie werde ich ein unwürdiger Sohn, ein 246
Nachkomme, der die Reihe seiner Vorfahren befleckt. Niemals wird mein Name im Tempel der Helden stehen. Er wird verdammt sein.« Ich bedecke das Mädchen mit Küssen. Tränen rinnen über ihre Wangen. Sie läßt mich gewähren, ohne sich zu wehren. Der Boden zittert unter den Schlägen von Gewehrkolben. »Leutnant, sind Sie jetzt fertig? Ich zähle bis drei, und dann komme ich! Eins …« Ich habe keine Zeit mehr, sie zu fragen, warum sie ihre Heimat verlassen hat, warum sie ihre schönen Haare abgeschnitten hat. Ich habe tausend Fragen an sie, und ich werde nicht eine aussprechen. Nie habe ich ihr Liebesworte sagen können. »Zwei …« Ich flüstere ihr ins Ohr: »Haben Sie keine Angst. Ich komme nach. Ich beschütze Sie dort bei den Schatten.« Sie öffnet die Augen und sieht mich an: »Ich heiße Gesang der Nacht.« Aber schon habe ich auf den Abzug gedrückt. Ihre schwarzen Augen flackern, die Pupillen weiten sich. Das Blut spritzt aus ihren Schläfen. Mit aufgerissenen Augen stürzt sie auf den Hinterkopf. Die Tür geht auf. Ich höre Schritte hinter mir. Verzweifelt merke ich, daß ich nicht einmal die Zeit habe, mir wie ein würdiger Samurai den Bauch aufzuschlitzen. Ich stecke die Waffe, mit ihrem Blut befleckt, in meinen Mund. Ein Knall, das Erdbeben. Ich falle über die Go-Spielerin. Ihr Gesicht erscheint 247
mir rosiger als eben. Sie lächelt. Ich weiß, daß unser Spiel da oben weitergeht. Um meine Geliebte zu betrachten, strenge ich mich an und halte die Augen geöffnet.
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Glossar Seite 11 Puyi, der letzte chinesische Kaiser. In der Geburtsstunde der chinesischen Demokratie 1909 wurde er weitgehend entmachtet. 1932 floh er mit japanischer Unterstützung aus Tianjin, wo er unter Bewachung residierte. Um die japanische Besatzung Nordchinas seit dem 18. September 1931 zu legalisieren, setzten die Japaner ihn in der »Neuen Hauptstadt« Xinjing (heute Changchun) auf den Thron der Mandschurei, die sie im März 1932 für unabhängig erklärten. Seite 12 Am 18. September 1931 hatte die japanische Armee die Truppen von Zhang Xueliang geschlagen und die Kontrolle über die Mandschurei übernommen. Im sog. Xi’an-Zwischenfall nahm Zhang Xueliang am 12. Dezember 1936 seinen Rivalen Chiang Kai-shek als Geisel. Er ließ ihn am 25. Dezember wieder frei und begleitete ihn nach Nangking, wo die chinesische Nationale Volkspartei Guomindang an der Macht war. Als sie das Flugzeug verließen, riß Chiang ihr Abkommen in Stücke und ließ Zhang jahrzehntelang einsperren. Seite 13 Von 1905 bis 1910 gelang Japan die Niederschlagung der russischen und chinesischen Truppen in Korea. Daraufhin wurde die Halbinsel kolonialisiert, 249
indem man ihr die japanische Sprache und eine kulturelle Assimilationspolitik aufzwang. Seite 25 Da die Mandschurei auch als »das Land außerhalb der Großen Mauer« bezeichnet wird, heißt der Teil innerhalb der Großen Mauer auch »die inneren Gebiete«. Mit der Unabhängigkeit der Mandschurei führten die Japaner 1932 ein Paßsystem ein, um den Verkehr zwischen ihrem Einflußgebiet und dem übrigen China besser zu kontrollieren. Seite 52 Seit dem 6. Jahrhundert waren Buddhismus und chinesische Kultur an den Hof von Yamato gelangt. Prinz Shôtoku entsendete 604 eine offizielle Botschaft an den chinesischen Hof in Chang’an (heute Xi’an). 645 beschloß der Hof von Yamato, Japan zu einer Kopie des Chinas der Tang-Dynastie zu machen. Die japanische Schrift übernahm die chinesischen Bildzeichen. Während der politischen Wirren am Hof der Tang und der Invasion der Tataren beschlossen die Japaner 838, ihre Botschafter zurückzurufen. Seither entwickelte sich die japanische Kultur ohne Kontakt zum Festland. Seite 59 Aus dem Haus Tokugawa stammten fünfzehn Shogune, die von Anfang des 17. bis Ende des 19. Jahrhunderts in Japan herrschten. Seite 62 Hagakure, der Weg des Samurai von Yamamoto Tsunetomo (1659–1719) ist ein Verhaltenskodex für Samurais.
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Seite 63 Während ihrer Ausbildungszeit trägt eine junge Geisha in Japan Kimonos mit weiten Ärmeln. Wenn sie fertige Geisha ist, trägt sie einen Kimono mit engen Ärmeln. Seite 67 In der Mandschu-Hierarchie, die nach Bannern gestaffelt ist, ist das Strahlende Gelb die Farbe des Banners, aus dem die kaiserliche Dynastie stammt. Seite 69 Am 15. Mai 1932 drangen neun Offiziere in die Amtsräume des Ministerpräsidenten Inukai Tsuyoshi ein und ermordeten ihn, um sich daraufhin der Polizei auszuliefern. Seite 69 Kamakura-Zeit ( 1192–1333): Während der Kaiser in Tokyo einen symbolischen Hof unterhielt, übte der Shogun von Kamakura die Herrschaft über das ganze Land aus. Seite 69 Der Seppuku, auch Harakiri, ist den Samurai vorbehalten, das heißt den Männern. Das Ritual ist genau festgelegt: Man tötet sich, indem man sich mit einem kleinen Säbel den Bauch aufschlitzt. Seite 106 Im Nô-Theater stand das Kyôgen als Zwischenspiel zwischen zwei Akten. Seite 107 Beide Gedichte stammen aus dem Heikemonogatari, einem japanischen Roman des 13. Jahrhunderts.
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Seite 109 Auszug aus dem Nô-Spiel Gold-Insel von Zeami (1363–1444). Seite 112 Beim Go-Spiel beginnt der Spieler mit den schwarzen Steinen, aber er muß beim Zählen dem weißen fünfeinhalb Kompensationspunkte Vorsprung geben. Seite 151 Mitglied eines Geheimbundes, das speziell für Spionage und Mordanschläge ausgebildet wurde; die Gruppierung wurde angeblich am Ende der HeianZeit im Bergland um Kyoto gegründet. Seite 175 Chinesischer Philosoph, ca. 360–280 v. Chr., Begründer des taoistischen Gedankenguts. Seite 178 Dieses Gedicht stammt aus dem Ise-monogatari, Erzählung aus der Provinz Ise, 10. Jahrhundert. Seite 187 Haiku von Issa, japanischer Dichter des 17. Jahrhunderts. Seite 191 Gedicht von Li Yu, China 10. Jahrhundert. Seite 191 Gedicht von Li Po, China 8. Jahrhundert.
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