Heinz G. Konsalik
Die grünen Augen von Finchley
Kriminalroman
Genehmigte Sonderausgabe für den Carl Habel Verlag Gmb...
18 downloads
478 Views
310KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Heinz G. Konsalik
Die grünen Augen von Finchley
Kriminalroman
Genehmigte Sonderausgabe für den Carl Habel Verlag GmbH, Königswinter © by Autor und AVA - Autoren- und Verlags-Agentur GmbH, München-Breitbrunn Gesamtherstellung: Carl Habel Verlag GmbH, Königswinter eBook:
Printed in Germany
1
E
s war kurz vor Mitternacht. Der 21. März 1983… Trotz der späten Stunde saß Rechtsanwalt Dr. Pat Woodrof noch an seinem Schreibtisch und bearbeitete Prozeßakten, die er am nächsten Tag für einen Termin brauchte. Tief hatte er seinen Kopf über die Papiere gebeugt. Er war so versunken in seine Arbeit, daß die Umwelt für ihn nicht existierte. So entging ihm auch, daß sich die Gardine plötzlich bewegte. Ein großer, unheimlicher Schatten huschte über die Terrasse, verharrte vor der angelehnten Tür, und behutsam schob sich eine breite Hand durch den Vorhang. In diesem Moment tastete Woodrof, ohne von seiner Arbeit aufzusehen, zur rechts von ihm stehenden Cognacflasche, um sein Glas zu füllen. Da durchzuckte ihn panisches Entsetzen. Statt der Flasche hatte er eine fremde Hand berührt, die ihm nun auch noch den Cognac entzog. Der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken. Fassungslos starrte er den Mann an, der im Halbdunkel des Zimmers stand, einen gurgelnden Schluck aus der Flasche nahm und anzüglich lachte: »Es ist nicht gut, wenn du soviel trinkst, Pat. Du konntest es schon als Student nicht vertragen!«
1
Entgeistert sank Dr. Woodrof in den Schreibtischsessel zurück. Seine Augen drückten totale Ratlosigkeit aus. »Jonny!« flüsterte er schließlich. »Jonny - du bist es wirklich?« Jonny Woodrof setzte sich auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch. Der Schein der Lampe fiel auf sein Gesicht und zeigte die verblüffende Ähnlichkeit mit seinem Bruder. Er hatte die gleichen grünen Augen, das breite Gesicht, die hohe Gestalt. »Ja…«, meinte er zynisch grinsend. »Ich hatte halt Sehnsucht nach meinem Zwillingsbrüderchen. Weißt du, in Indien ist es jetzt zu heiß. So an die fünfundvierzig Grad, Pat.« Ungeduldig winkte der Anwalt ab. »Erzähl mir bitte keine Märchen! Was suchst du hier in London?« »Bin ich nicht hier geboren? Gehöre ich nicht hierher?« »Wohl kaum… Brauchst du Geld?« »Das auch…« »Und du glaubst, ich gebe es dir?« »Das nehme ich als sicher an… In Indien hatte ich kein leichtes Leben. Ich war Ingenieur, Steineklopfer, Wahrsager, Fakir und zuletzt Hoteldiener.« Der Anwalt schob mit einer energischen Bewegung seine Akten zur Seite. »Komm mir nicht mit diesen Dingen! - All das wäre nicht nötig gewesen, wenn du hier vor drei Jahren deine Finger von fremden Geldern gelassen hättest! Wem also willst du für dein Leben in Indien Vorwürfe machen? Mir etwa? - Hast du vergessen, daß ich dir damals zur Flucht verholfen und dich vorm Gefängnis bewahrt habe?« Jonnys Gesicht verzerrte sich zu einer bösartigen Fratze. »Laß gefälligst diese uralten Kamellen«, knurrte er gereizt. Pat konnte sich nur mühsam beherrschen. »Du allein hast sie mit deinem Besuch wieder aufleben lassen. - Wie kannst du es wagen, einfach nach London zurückzukommen? Ohne 2
Rücksicht darauf, daß meine Praxis, mein Leben und alles, was ich mir trotz deiner damaligen Schurkerei aufgebaut habe, durch deine Anwesenheit wieder zerstört werden kann!« »Ich verschwinde sofort, wenn du mir Geld gibst. Diesmal nach Südamerika…« »Um in drei Jahren wiederzukommen, wie?« »Das hängt ganz von der Summe ab, die du für mich locker machen wirst!« »Also nichts als gemeine Erpressung!« Pat Woodrof griff mit entschlossenem Gesicht in die Schublade seines Schreibtisches und legte einen geladenen Revolver vor sich hin. »Zur Sicherheit…«, meinte er mit eiskalter Stimme. »Auch unter Brüdern gibt es Momente, wo wenig gesprochen, aber um so mehr gehandelt wird. Hör genau zu: Allein an dir liegt es, ob dieser Fall eintritt oder nicht!« Jonny lümmelte sich spöttisch lächelnd auf seinem Stuhl und steckte die Hände in die Taschen des grauen, lässigeleganten Mantels, den er nicht abgelegt hatte. Die Drohung Pats schien einfach an ihm abgeperlt zu sein. Ein Foto, das an ein Aktenstück geheftet war, hatte sein höchstes Interesse geweckt. Es zeigte ein schmales, rassiges Mädchengesicht, mit langen blonden Locken… Er beugte sich weit vor und stieß einen gedehnten Pfiff aus. Dann wendete er sich an Pat: »Verdammt! Wer ist denn diese schöne Lady?« »Das geht dich gar nichts an!« Der Rechtsanwalt klappte die Akte zu. »Es ist die Tochter Sir John Marshalls, eines meiner wichtigsten Klienten.« »Was? Das ist die Tochter des alten Marshall? - Junge, hab' ich da einen Geschmack entwickelt!« Pat betrachtete seinen Bruder, als ob er einen Geisteskranken vor sich hätte. »Was redest du da für dummes Zeug? 3
Was hat Miß Marshall mit deinem Geschmack zu tun? Du hast wohl einen Tropenkoller?« »Absolut nicht!« Jonny rieb sich vergnügt die Hände. »Ich habe diese bildhübsche junge Dame heute auf der Straße angesprochen.« »Hast du ihr etwa deinen Namen genannt?« fuhr Pat ihn schockiert an. »Nein, vorläufig beliebte ich anonym zu bleiben. Die Vorstellung kommt noch…« »Sie wird nicht kommen!« zischte Pat mit wutverzerrtem Gesicht. »Umgehend wirst du wieder von hier verschwinden! Hörst du? Umgehend! Ich setze unter keinen Umständen noch einmal meine Karriere deinetwegen aufs Spiel. Im übrigen, damit du es weißt: Man hält dich in meinen Kreisen für tot…« »Das ist ja reizend«, warf Jonny ein, und in seinen Augen glomm ein wildes Feuer auf. »Ja, und ich habe es auch schon bewiesen.« Pat lehnte sich über die Schreibtischplatte. »Ich habe aus Indien tatsächlich deine Sterbeurkunde erhalten. Nach ihr bist du im vergangenen Jahr im bengalischen Dschungel am Gelben Fieber gestorben. Ein armer Landarzt von dort hat mir die gewünschte Bescheinigung ausgestellt. Es hat mich über hundert Pfund gekostet.« Jonny erhob sich. Ruhig, mit stechenden Augen fixierte er den Anwalt: »Dein bürgerlich-ängstliches Gequassel wird mir allmählich unerträglich. Machen wir es kurz: Was ist dir deine Existenz wert?« »Fünftausend Pfund.« »Sagen wir zehntausend!« Pat schüttelte es vor Wut und Ekel. Er umklammerte den Griff seines Revolvers. »Du schmutziger Erpresser! Am lieb4
sten möchte ich dich auf der Stelle niederknallen! Du bist und bleibst ein Lump!« Jonny ging um den Schreibtisch herum auf seinen Bruder zu: »Diese unflätigen Beschimpfungen berechne ich mit tausend Pfund extra… Wann stehen also elftausend Pfund zu meiner Verfügung?« In diesem Augenblick verlor Pat den Kopf. Er sprang auf, und seine Stimme klang heiser vor Haß: »Niemals! Du Strolch, du Verbrecher!« Seine Worte kamen wie Peitschenschläge, und sie trafen genau ins Schwarze. Jonnys Gesicht verfärbte sich vor Jähzorn. Blitzschnell griff er in seine Brusttasche, schwang einen blinkenden Gegenstand in der Faust und stürzte sich auf seinen Bruder. Pat wich entsetzt ein paar Schritte zurück und riß den Revolver hoch…
2
W
oodrofs Diener hatte seinen dienstfreien Tag in der Stadt verlebt und kam gegen null Uhr nach Hause. Deshalb war er auch noch wach, als er verwundert registrierte, daß sein Herr gegen ein Uhr morgens durch die Halle des Hauses ging und die Seitentür zur Garage aufschloß. Hastig warf er sich einen Mantel über und rannte dem Anwalt nach. »Ist noch etwas, Herr Doktor?« 5
Erschrocken fuhr Woodrof beim Klang der Stimme zusammen. Aus verstörten Augen sah er den Diener an und schüttelte den Kopf. »Gehen Sie ruhig wieder schlafen. Ich muß nur noch einmal in die Stadt, weil ich eine wichtige Akte im Büro liegengelassen habe.« In seinem Zimmer hörte der Diener wenig später, wie in der Garage der Motor der Limousine ansprang und etwa zehn Minuten im Leerlauf brummte. Dann entfernte sich der Wagen mit hoher Geschwindigkeit. Die ersten Morgenstunden des 22. März waren bereits angebrochen. Inspektor Corner, der Leiter der Abteilung III/ Mordkommission von Scotland Yard, blickte mißmutig auf. Das Schrillen des Telefons hatte ihn aus dem Studium eines nächtlichen Vernehmungsprotokolls gerissen. Unwillig griff er den Hörer und knurrte in den Apparat: »Hier Corner, Scotland Yard…« Vom anderen Ende der Leitung drang eine erregte Stimme. »Sergeant Smith, Posten fünf des zweiundzwanzigsten Reviers. Ich habe eine wichtige Meldung zu machen …« Corner nahm den Hörer in die linke Hand, angelte sich mit der rechten einen Bleistift und schob den vor ihm liegenden Notizblock zurecht. »Na, dann schießen Sie mal los!« Smith räusperte sich. »Als ich so gegen vier Uhr morgens auf meiner üblichen Runde am Ausgang von Finchley den Weg nach Southgate kreuzte, sah ich am Boden eine zusammengekrümmte Gestalt. Bei der näheren Untersuchung stellte ich fest, daß da ein Mann mit eingeschlagenem Schädel in einer großen Blutlache lag. Berührt habe ich ihn nicht. Der Spuren wegen, Herr Inspektor.« 6
Corner ließ den Bleistift sinken. »Gut, Smith, wir kommen sofort.« Finchley ist ein abgelegener Vorort Londons. Ländlich und einsam. Im dichten Nebel dieses trüben Märzmorgens aber schien es der trostloseste Platz der Welt zu sein. Der durch den nächtlichen Regen aufgeweichte Weg nach Southgate führte anscheinend direkt ins Tal der Tränen und allen Jammers. Nur langsam kam die Wagenkolonne der Mordkommission vorwärts. Inspektor Corner saß im Fond seines Autos neben Doktor Horn, dem Polizeiarzt, der mit seiner dicken Brille den Eindruck eines Halbblinden machte und mit schwankendem Kopf vor sich hindöste. Neben dem Fahrer hockte der spindeldürre Sergeant Battle, Inspektor Corners Assistent. Auch er schlief noch halb und lauschte griesgrämig dem Aufspritzen der tiefen Pfützen. Die Wagen rumpelten weiter, bis sich plötzlich aus den wallenden Schwaden drei Uniformierte herausschälten. Die Autos stoppten, und einer der Polizisten stattete seine Meldung bei Inspektor Corner ab. »Sergeant Smith. - Es ist alles abgesperrt!« »Sehr schön…« Corner reichte ihm die Hand und patschte voll in eine Wasserlache, als er ausstieg. Einen saftigen Fluch konnte er gerade noch unterdrücken. Er bahnte sich mißgestimmt seinen Weg zu der Leiche und betrachtete sie hochinteressiert. »Fällt Ihnen nichts auf, Battle?« »Keine Fußspuren«, brummte der Sergeant. »Ja, keine Fußspuren. Und das bei dem Wetter! Bei diesem weichen Boden! Nur die Abdrücke unserer eigenen Schuhe 7
sind zu sehen. Blicken Sie mal zurück… Unsere Fußspuren sind so klar, daß es für einen Kriminalisten eine Wonne wäre, sie auszugießen. Aber hier, neben und an der Leiche, nichts! Das ist sehr merkwürdig!« Der Inspektor neigte sich über die niedergestreckte Gestalt am Boden. Vorsichtig drehte er sie herum - und fuhr entsetzt zurück. Auch Battle, der einen starken Handscheinwerfer hielt und den Toten anleuchtete, wandte sich erschrocken ab. Ein grauenhafter Anblick bot sich ihnen: Ein Mensch ohne Gesicht… Ein Mensch mit einem Kopf, der nur noch eine formlose Masse war, ohne Nase, Mund, Ohren und Augen. Sogar die Zähne fehlten und Teile der Kiefer. Corner sah Dr. Horn an, der hinter ihm stand und sich gerade mit der Hand über die Augen fuhr. Langsam richtete er sich auf. »Hier ist ein Mord von seltener Brutalität verübt worden. Ein kalter, überlegter Mord! Der Täter muß eine menschliche Bestie sein! Er hat die geringste Kleinigkeit berücksichtigt, um sich zu schützen. Er hat seinem Opfer sogar die Zähne herausgebrochen, damit die Identität des Ermordeten noch nicht einmal am Gebiß festgestellt werden kann.« Inzwischen hatte der Polizeiarzt mit der Untersuchung des Ermordeten begonnen. Als er den Arm des Toten zur Seite schob, fuhr er herum. »Corner! Kommen Sie doch mal her! Das ist ja toll!« Dann zeigte er ihm die Hände des Toten. »Hier sehen Sie! Alle Fingerspitzen sind weggebrannt. Mit einer Lötlampe oder dergleichen hat der Mörder die Hautleistenbilder vernichtet. Mein Gott, muß dieses Ungeheuer Nerven haben…« 8
Still und routiniert arbeitete der polizeiliche Ermittlungsapparat. Die Ausbeute war entmutigend. Keine Fußspur. Kein Anzeichen eines Kampfes. Nichts… Henry Corner hatte sich auf das Trittbrett seines Autos gesetzt und starrte in den Nebel. Wütend stieß er hervor: »Ein Mann kann nicht aus der Luft heraus getötet und derart verstümmelt werden! Es müssen doch Spuren da sein! Die Spuren des Ermordeten und des Mörders! Wie lange wird denn dieser arme Kerl hier schon tot sein, Doktor?« »Soviel ich jetzt feststellen kann, etwa fünf bis acht Stunden.« Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Na also, fünf bis acht Stunden. In dieser Zeit können die Regenfeuchtigkeit und der Nebel die Spuren doch nicht völlig verwischt haben, die der fraglos stattgefundene Kampf zwischen dem Täter und seinem, wie man sieht, recht kräftigen Opfer verursacht haben muß. Vor allen Dingen aber erscheint es mir unmöglich, daß diese widerliche, grausige Schlachterarbeit der Verstümmelungen keine Zeichen hinterlassen haben soll. Ich stehe vor einem Rätsel.« Unschlüssig sah Sergeant Battle Inspektor Corner an. Dann meinte er hüstelnd: »Vielleicht ist der Fall gar nicht so rätselhaft. Wie wär's mit einem Flugzeug?« Überrascht fuhr Corner herum: »Tatsächlich! Das ist eine Möglichkeit! - Warum soll der Tote nicht aus einem Flugzeug geworfen worden sein?!« Polizeiarzt Dr. Horn machte ein zweifelndes Gesicht. »Schlagen Sie sich eine solch einfache Lösung aus dem Kopf, Corner. Auch wenn ein Mensch in verhältnismäßig geringer Höhe aus einem Flugzeug geworfen wird, bricht er sich alle Knochen. Bei diesem Toten aber sind alle Knochen heil. Nichts ist gebrochen. Bis auf die Schädelbasis. Und die ist 9
durch Schläge mit einem stumpfen Gegenstand zertrümmert worden.« Das Zimmer 96 der Abteilung III/M. lag in dem großen Gebäude von Scotland Yard in der ersten Etage am Ende eines langen Korridors. Es war ein typischer Büroraum, der nur eine Besonderheit aufwies: Innerhalb des Fensters konnte eine starke eiserne Jalousie heruntergelassen werden, die das Zimmer völlig verdunkelte. Inspektor Corner und sein Assistent Battle waren aus Finchley zurückgekommen und hatten die Sachen des Ermordeten in Empfang genommen. Nun saßen sie vor dem Bündel Kleider, und der Sergeant notierte, was der Inspektor ihm ansagte: »Ein grauer Mantel aus Wollstoff, einfarbig. Brauner Gabardine-Anzug, hellbraune Schuhe, braunsilberne Socken. Ein brauner Hut in Camberform, rosa Hemd mit einer roten Wollkrawatte. Ein seidener, gemusterter Schal, hellgelbe, fast neue Schweinslederhandschuhe, ein schwergoldener Ring mit einem eingravierten Buddha auf einer Onyxplatte…« Hier machte Corner eine Pause und drehte nachdenklich den Ring in seiner Hand. Dann sagte er laut: »Ein Wunder, daß der Mörder seinem Opfer den Ring gelassen hat. Dabei kann dieses Schmuckstück den Toten doch leicht verraten. Ein Ring mit einem Buddha? - Das ist auffällig. Vergessen hat er ihn auf keinen Fall. Er muß ihn zumindest gesehen haben, als er die Fingerspitzen abbrannte.« Der Inspektor drehte den Ring hin und her: »Er muß etwas damit bezwecken! Er hat ihn absichtlich am Finger des Ermordeten gelassen. Alles andere fehlt doch: Brieftasche, Schlüssel, überhaupt jede Kleinigkeit, die ein Mann für ge10
wöhnlich bei sich trägt. Nur der Ring ist geblieben… Soll er vielleicht für uns eine Falle sein? Sollen wir durch ihn auf eine falsche Spur gelockt werden?« Battle legte seinen Bleistift hin und sah sich nun gleichfalls den blinkenden Goldreif an. »Indische Arbeit…«, meinte er. »Ganz richtig… In den Kolonien kostet so ein Ring etwa dreihundert Rupien und ist ein beliebter Andenkenartikel. Der Tote muß also in Indien gewesen sein… Oder der Mörder! Oder der, auf den der Verdacht fallen soll. Aber das ist auch alles, was wir wissen, Battle. - Zunächst müssen wir klären, wie es ein Mensch fertigbringt, in einer Regennacht bei völlig aufgelöstem Boden spurenlos zu morden. Das ist in meiner Praxis wirklich einmalig!« Der Sergeant blinzelte listig. »Vielleicht ist es gar nicht der Tatort, an dem wir vorhin standen.« Corner warf ihm einen ironischen Blick zu: »Sie haben Ideen, Mann! - Erst die Sache mit dem Flugzeug und jetzt der Zweifel am Tatort… Und die große Blutlache? - Ja, meinen Sie denn allen Ernstes, ein Mörder bringt einen Toten mit und dazu einen Kübel Blut, den er dann um den zertrümmerten Schädel seines Opfers auf den Boden gießt?« »Das wäre mal etwas wirklich Neues, Chef.« Battle verzog angewidert das Gesicht. Da schlug sich Corner mit der flachen Hand auf die Stirn. »Battle…«, rief er begeistert, »das ist möglich! Der Mörder kann die Blutlache künstlich erzeugt haben. Wir müssen sofort wieder nach Finchley…!«
11
3
E
s war zehn Uhr vormittags, als Evelyn Marshall, die einzige Tochter des Großindustriellen Sir John Marshall, in der Bibliothek ihres Vaters saß und die Privatpost sichtete, die sie ihm ins Büro bringen wollte. Ein leises Pochen an der Tür ließ sie aufblicken. Gleich darauf trat der Diener ein und überreichte ihr ein umfangreiches Paket. »Für das gnädige Fräulein«, sagte er steif. »Man hat es soeben abgegeben. Sie wüßten Bescheid, meinte der Bote. Es sei alles erledigt.« »Für mich?« Evelyn erhob sich und trug das Paket zum Fenster, wo sie es auf einen Tisch legte und öffnete. Verständnislos starrte sie auf den Inhalt: Es war ein selten schöner Blaufuchsmantel. Im selben Moment fiel ihr eine unangenehme Begegnung ein, die sie am Tag zuvor gehabt hatte: Als sie gegen fünf Uhr nachmittags im Verlauf eines Stadtbummels vor den Auslagen eines Pelzgeschäftes stehengeblieben war, erklang plötzlich eine tiefe Männerstimme hinter ihr: »Der Blaufuchs würde wunderbar zu Ihren blonden Locken passen!« Empört darüber, daß man sie auf der Straße anzusprechen wagte, hatte sie sich umgedreht und in ein breites Gesicht gesehen, das von zwei merkwürdig kalten, grünen Augen beherrscht wurde. Und wieder dröhnte die Stimme: »Sie halten gewiß nicht viel von Männern, die sich Schaufenster angucken.« 12
Ganz von oben herab hatte sie zurückgegeben: »Ich halte absolut nichts von Männern, die eine Dame ansprechen!« Der Fremde zog darauf seinen dunkelbraunen Hut und verbeugte sich leicht: »Nun, das kann sich ändern… In jedem Fall werden Sie noch von mir hören.« Es hatte wie eine Drohung geklungen… Erst als der Unbekannte sich nach diesen merkwürdigen Worten zum Gehen gewandt hatte, hatte Evelyn Marshall mit einem kurzen Blick sein Äußeres gestreift. Er war groß und schlank. Sein grauer Mantel wirkte elegant und schien von einem erstklassigen Schneider angefertigt worden zu sein. Der hellbraun gemusterte Seidenschal bauschte sich unter einem energischen Kinn, und während er seinen Hut wieder aufsetzte, leuchteten hellgelbe Handschuhe auf. Eine etwas auffällige Eleganz, dachte das junge Mädchen. Typ eines Neureichen oder eines Dandy, der Abenteuer sucht. Das war der Verlauf dieser unerfreulichen Begegnung gewesen. Und nun hatte jener dreiste Mensch sich erlaubt, ihr den Blaufuchs zuzusenden. Wie aufdringlich und geschmacklos! So näherte man sich vielleicht einer Kokotte, keinesfalls aber einer Dame! Plötzlich stutzte Evelyn Marshall: Woher wußte er überhaupt ihren Namen und ihre Adresse? Wütend ging sie zum Telefon und rief das Pelzgeschäft an. Der Inhaber wußte aber nicht viel zu sagen. Ein Herr hätte sich gestern abend den Fuchs zurücklegen lassen. Heute morgen, unmittelbar nach Geschäftsbeginn, sei er wieder erschienen, habe die Rechnung beglichen und darum gebeten, den Mantel an Fräulein Marshall zu senden. Das war alles.
13
Als Evelyn das Büro ihres Vaters betrat, bemerkte sie zu ihrer Enttäuschung, daß er nicht allein war. Ein Mann stand vor seinem Schreibtisch - mit dem Rücken zur Tür - und sprach eindringlich auf Sir John ein. Sie nickte ihrem Vater zu: »Störe ich sehr?« Bei diesen Worten drehte der Mann sich um. Evelyn glaubte zu erstarren. Die grünen Augen, das breite Gesicht, die auffällige Figur … Das war doch der Mensch, der sie gestern auf der Straße belästigt hatte! Brüsk wandte sie ihre Augen von ihm ab, eilte auf ihren Vater zu und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. »Das ist Dr. Woodrof, Ev«, sagte er. »Das juristische Gehirn deines Vaters. Ein Mann, den ich oft auf den Mond schießen möchte, ohne den ich jedoch nicht sein kann.« Und an Woodrof gerichtet: »Das ist Evelyn, meine einzige Tochter, die bis vor drei Tagen in einem Schweizer Pensionat gelebt hat und ihren Vater jahrelang mutterseelenallein ließ. Ich erzählte Ihnen ja oft von ihr…« Der Anwalt verbeugte sich leicht. Evelyn aber blitzte ihn an. »Kennen wir uns nicht schon, Herr Doktor?« »Leider nein, gnädiges Fräulein. Ich habe zwar Ihr Bild in meinen Akten - aber das ist auch alles.« Erstaunt blickte Woodrof das Mädchen an. Auch Sir John war aufs höchste verwundert und wandte kein Auge von seiner Tochter. Evelyn ließ jedoch nicht locker. Sie warf den Kopf in den Nacken und trat dicht an Woodrof heran: »Sie haben mir also heute morgen keinen Pelz geschickt?« Der Anwalt zuckte mit den Schultern: »Was für einen Pelz denn, um Gottes willen?« 14
»Nun, den Blaufuchs, den Sie mir gestern so sehr empfohlen haben.« »Ich verstehe Sie wirklich nicht, gnädiges Fräulein.« Das junge Mädchen war nun ernstlich empört. »Sie haben mich doch gestern nachmittag auf der Straße angesprochen! Sie wollen das nur nicht in Gegenwart meines Vaters zugeben!« Woodrof sah Marshall an. Ratlosigkeit schien aus seinen Augen zu sprechen. »Ich begreife das alles nicht… Ich war gestern gar nicht in der Stadt.« Verwirrt trat Evelyn zurück. »Sie waren nicht in der Stadt? Und Sie haben mir heute morgen nicht den Pelzmantel geschickt?« Ihre Stimme wurde immer leiser, bis sie nur noch hilflos die Schultern zuckte. »Verzeih, Paps, ich bin ganz durcheinander…« Woodrof hob beide Arme: »Ich kenne Sie seit fünf Minuten persönlich. So gut Ihnen ein Blaufuchs stehen mag, ich habe ihn bestimmt nicht gekauft! Glauben Sie mir!« »Brrr…«, machte Evelyn und fuhr sich mit beiden Händen durch ihre Locken. »Dann haben Sie aber einen verblüffend ähnlichen Doppelgänger, Dr. Woodrof«, sagte sie schwach. »Bitte, entschuldigen Sie meine Schroffheit. Dieser Kerl hat mich jedoch mit seiner Aufdringlichkeit zu sehr geärgert.« »Er wird es nicht mehr wagen, gnädiges Fräulein.« Der Anwalt verbeugte sich galant. »Wenn Sir John nichts dagegen einzuwenden hat, möchte ich mich Ihnen zur Verfügung stellen. Ich kann Sie als Jurist und als Mensch vor solchen Elementen schützen!« Als Evelyn das Zimmer verlassen hatte, klopfte Marshall seinem Rechtsbeistand anerkennend auf den Rücken. »Ich bin Ihnen für dieses freundliche Angebot sehr dankbar. Aber 15
nun zu unseren Geschäften. Es geht um ein neues Projekt. Ich will in Indien eine Filiale gründen.« Woodrof sah den Industriellen groß an. »In Indien?« »Ja, in Indien. Und Sie werden die Verhandlungen juristisch führen und die Verträge vorbereiten.« »Selbstverständlich, Sir.«
4
Z
ur selben Zeit kniete Inspektor Corner an der Fundstelle der Leiche auf dem Weg von Finchley nach Southgate. Vorsichtig hob er mit einer kleinen Schaufel Proben der inzwischen eingetrockneten Blutlache ab und schüttete sie in einen Leinensack. Umgehend sollte eine Untersuchung der blutgetränkten Erdkrumen im Labor von Scotland Yard vorgenommen werden. Neben ihm standen Battle und der Streifenpolizist Smith. Phlegmatisch meldete dieser sich zu Wort: »Herr Inspektor, ich wollte noch melden, daß man in der Nacht in der hiesigen Gegend eine fremde Limousine gesehen hat.« Erregt sprang Corner auf. »Was? - Und das sagen Sie mir erst jetzt? Mann, das ist doch eine äußerst wichtige Spur!« Ungerührt starrte der Streifenpolizist den Inspektor an, der immer noch unwillig den Kopf schüttelte. Doch Smith brummte behaglich: »Ich glaube nicht, Herr Inspektor, daß dies eine ernst zu nehmende Aussage ist.« 16
»Wieso nicht?« »Weil jener Mann, der davon berichtete, ein ortsbekannter Trunkenbold ist und des öfteren schon gesponnen hat.« Gereizt winkte Corner ab: »Einerlei. In einem solchen Fall läßt man keinen Hinweis unbeachtet! Sagen Sie mir, was Sie gehört haben!« Der Streifenpolizist räusperte sich nun beleidigt. »Es handelt sich um einen gewissen Ben Farmer. Ich traf ihn im Morgengrauen - er konnte vor Suff kaum stehen -, und da erzählte er mir folgendes: Als er vorhin von einer seiner üblichen Touren kam, wollte er den Heimweg abschneiden und übers Feld gehen. Wie er nun so dahinstolperte, will er plötzlich eine große Limousine gesehen haben, die unbeleuchtet und leer auf der Landstraße stand. Verwundert, daß um diese Zeit und in dieser gottverlassenen Gegend ein Auto parkte, hätte er ›He!‹ gerufen und ›Wer ist da?‹, aber niemand hätte geantwortet. Da wäre er weitergegangen…« Corner wippte nervös auf den Zehenspitzen: »War der Mann wirklich so blau, oder tat er nur so?« »Nein, Herr Inspektor, der war tatsächlich restlos hinüber.« »Hat er die Farbe des Autos erkannt?« Der Polizist lächelte überlegen: »Bei dem Nebel? - Und dazu noch sinnlos betrunken? - Nee, das ist denn doch etwas zuviel verlangt!« Der Inspektor überhörte den Spott: »Aber den Autotyp wird er doch festgestellt haben…« »Auch nicht. Die Limousine war breit und lang, hat er gemeint. Fast wie'n amerikanischer Straßenkreuzer.« Corner pfiff vor sich hin. Nachdenklich sagte er: »Also ein Auto…« Er stierte auf den dunklen eingesickerten Blutfleck. »Das würde manches erklären… Demnach könnte die Tat sich folgendermaßen abgespielt haben: Der Mörder hat sein 17
Opfer kurz vor dem Feldweg nach Southgate im Wagen durch einen Würgegriff oder Schlag betäubt. Dann hat er den Bewußtlosen an diese einsame, gottverlassene Stelle geschleppt und viehisch abgeschlachtet. Beweis: die ausgedehnte Blutlache… Besonders verlockend an dieser Theorie ist, daß wir uns damit endlich das völlige Fehlen von Bodenspuren erklären können: Das Opfer wurde getragen, und da es besinnungslos war, hat am eigentlichen Tatort auch kein Kampf stattgefunden. Der Verbrecher brauchte also nichts weiter zu tun, als nach verrichteter Blutarbeit seine eigenen Fußspuren - vorsichtig rückwärts gehend - mit einer schweren Matte oder einem Brett einzuebnen. Der anhaltende Regen hat den Rest besorgt…« »Und das Motiv dieser bestialischen Metzelei? - Haben Sie dafür auch schon eine Erklärung?« knurrte der Sergeant. »Das Motiv? - Um das zu finden, müssen wir erst wissen, wer der Tote ist. Dann sollte es nicht schwerfallen. Jeder Mensch hat Bekannte. Und wenn man erst mal in seinen Lebenskreis eingedrungen ist, finden sich genug Anhaltspunkte.« Mit einer resignierenden Handbewegung schob er seinen Hut aus der Stirn, denn die Mittagssonne, die den Nebel aufgelöst hatte, war schon recht warm. »Besuchen wir erst mal den guten Farmer!« Smith konnte sich nicht enthalten, herausfordernd zu grinsen: »Hoffentlich ist er schon wach.« Corner ließ ein beruhigendes Knurren verlauten: »Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Battle hat schon ganz andere aus den Betten gekriegt!« Als sie unter Smiths Führung vor der Hütte des Ben Farmer angelangt waren, wurde ihnen auf ihr Klopfen hin nicht geöffnet. 18
»Wenn der einen Rausch hat, schläft er zwei Tage hintereinander wie ein Bär«, meinte Smith mit Kennermiene. Aber Battle zog nur die Augenbrauen zusammen, trat gegen die Tür und sprengte sie aus ihren verrotteten Angeln. Drinnen stank es betäubend nach Fusel und Schweiß. Da die Fensterläden dicht geschlossen waren und auch die offene Tür nicht genug Licht hergab, schaltete Corner seine Taschenlampe ein und ließ ihren Lichtkegel durch den Raum gleiten. Die Polizeibeamten erkannten einen gemauerten Herd, einen armseligen Tisch, drei Stühle, eine Hobelbank und ein schmuddeliges Bett. Darin lag Farmer. Man sah seinen Haarschopf wirr unter den Decken hervorragen. Er schlief auf der Seite. Mit dem Rücken zur Tür. Leise trat der Inspektor an das Lager und beugte sich über den Schlafenden. Jäh richtete er sich wieder auf und blickte zu Battle und Smith, die an der Tür stehengeblieben waren. »Der trinkt keinen Whisky mehr…«, flüsterte er. »Glatter Einschuß in die Stirn. Er muß sofort tot gewesen sein. Der Mörder hat sich an sein Bett geschlichen, ihm den Revolverlauf an die Stirn gehalten und abgedrückt. Die Einschußöffnung ist total verbrannt. Dieser arme Kerl mußte sterben, weil er die Limousine gesehen und sich durch sein Rufen dem Verbrecher verraten hat…« Die Beamten machten sich sogleich an die Aufnahme des Tatbestandes. Jedes Möbel in der ärmlichen Hütte wurde umgedreht und genau untersucht. Aber auch in diesem Falle hatte der Täter nicht die geringste Spur hinterlassen. Enttäuscht schüttelte Corner den Kopf. »Wir wissen nicht einmal, wie der Mörder ins Haus gekommen ist. Die Tür war von innen verriegelt. Wir haben sie erst aufbrechen müssen. Die Fensterläden waren verschlossen - der eiserne 19
Riegel lag ordnungsgemäß auf der Schiene. Und einen anderen Eingang gibt es nicht. Es sei denn, er ist vom Dach aus eingestiegen… Jetzt haben wir zwei Morde ohne Täter und ich fürchte, die Bestie wird weiterreißen.«
5
W
oodrof nahm sein Versprechen, sich um Evelyn kümmern zu wollen, sehr ernst. Schon am Nachmittag erschien er in Sir John Marshalls Villa und ließ sich der Tochter des Hauses melden. Als die beiden etwas später beim Tee saßen, betrat der Diener den Raum und teilte Evelyn mit, daß ein gewisser Inspektor Corner von Scotland Yard darum bäte, sie für einige Minuten sprechen zu dürfen. Respektvoll begrüßte Corner die Tochter des Industriellen und den bekannten Londoner Anwalt. Dann wandte er sich an das junge Mädchen, das ihm eine Tasse Tee reichte. »Verzeihen Sie, daß ich Sie zu dieser Stunde aufsuche. Es handelt sich jedoch um eine dringende Angelegenheit: In der vergangenen Nacht ist bei Finchley ein scheußliches Verbrechen verübt worden. Ein Mann wurde ermordet, dessen Identität uns leider noch unbekannt ist.« »Mein Gott…«, unterbrach Evelyn erschrocken. »Das ist ja furchtbar! Aber was habe ich damit zu tun?« 20
»Aufgrund von Berichten, die in den Mittagsblättern erschienen sind und die Kleidungsstücke des Ermordeten beschrieben, hat ein Pelzhändler der Innenstadt uns folgendes mitgeteilt: Gestern abend sei ein Mann in seinen Laden gekommen, dessen Kleidung genau der Zeitungsmeldung entsprach, und hätte sich einen Blaufuchs zurücklegen lassen. Und heute morgen hat er dann die Rechnung beglichen und die Weisung gegeben, den Pelz an Sie zu schicken… Ich wäre Ihnen nun sehr verbunden, gnädiges Fräulein, wenn Sie mir etwas darüber sagen würden.« Bereitwillig erzählte Evelyn von der Begegnung, die sie so sehr empört hatte, und zeigte dem Inspektor den ominösen Pelzmantel. Corner strich mit der Hand über das seidig schimmernde Fell: »Wirklich - ein herrliches Stück. Geschenke solcher Art kann nur jemand aus gutsituierten Kreisen machen. Sie wissen bestimmt nichts Näheres über diesen Mann?« Sinnend blickte Evelyn vor sich hin: »Nein, nicht mehr, als ich Ihnen bereits gesagt habe…« Plötzlich lachte sie amüsiert auf: »Höchstens vergaß ich, Ihnen zu erzählen, daß er fast genauso aussah wie Doktor Woodrof. Vielleicht war er etwas jünger…« Corner blickte den Anwalt an: »Sie vertreten die Interessen Sir John Marshalls?« »Ja…« Schmunzelnd fügte Woodrof hinzu: »Und im Augenblick beschütze ich außerdem noch Fräulein Evelyn vor meinem unheimlichen Doppelgänger, den ich übrigens gern einmal kennenlernen möchte.« Corner wurde ernst: »Ich fürchte, das wird nicht mehr möglich sein, Herr Doktor.« Dann fragte er Evelyn: »Wie war der Fremde gekleidet?« 21
Sie dachte einen Augenblick nach, bevor sie die Sachen aufzuzählen begann, die sie in Erinnerung behalten hatte: »Grauer Mantel, brauner Hut, braune Schuhe, grauer oder brauner Anzug, ein Seidenschal…« Der Inspektor unterbrach sie: »Und auffallend hellgelbe Schweinslederhandschuhe ?« »Ja, recht auffallende…« »Na also…«, Corner trank seinen Tee in einem Zuge aus. »Da haben wir ihn ja…« »Den Mörder?« Woodrof fuhr von seinem Sessel auf. »Nein, den Ermordeten!« Evelyn schloß eine Sekunde lang die Augen: »Ist er wirklich ermordet worden?« Der Inspektor nickte: »Leider scheint kein Zweifel daran zu bestehen. So wie die Sache sich mir bisher zeigt, muß der unbekannte Tote von Finchley derselbe Mann sein, der Sie gestern auf der Straße angesprochen hat. Nur hat man sein Gesicht unkenntlich gemacht und sogar an seinem Körper derartige Verstümmelungen vorgenommen, daß eine Identifizierung unmöglich ist. Und das ist wichtig, denn…«, er stockte einen Augenblick, »der Mensch, der heute morgen endgültig den Pelz erwarb und Ihnen den Fuchs schicken ließ, ist nicht der Mann, der Sie ansprach.« Verblüfft schaute Evelyn Corner an. »Das ist doch unmöglich! - Wie sollte denn ein anderer wissen, was wir gestern nachmittag gesprochen haben?« »Auch mir ist das vorläufig noch ein Rätsel! … Fest steht jedoch: Der Pelz wurde heute morgen gekauft. Um diese Zeit aber war die Leiche schon aufgefunden und von uns unter Bewachung gestellt worden. Der Pelzhändler glaubt allerdings, beschwören zu können, daß der Mann, der heute morgen in seinem Laden erschien, derselbe ist, der gestern 22
abend den Fuchs zurücklegen ließ. Zwar war er heute anders gekleidet, doch soll er wieder diese auffallend hellen Handschuhe getragen haben.« In diesem Augenblick lachte Woodrof ironisch auf: »Sie entwickeln da recht gewagte Theorien, mein lieber Corner…« Der Inspektor ließ den Einwurf unbeachtet. Wort für Wort betonend, fuhr er fort: »Seelenruhig kaufte der Mörder für Sie den Fuchs, nachdem er kurz vorher einen Unbekannten und noch einen anderen armen Kerl ermordete. Denn - das habe ich Ihnen bisher nicht gesagt - er brachte auch einen gewissen Ben Farmer um. Damit löschte er den einzigen Zeugen aus, der seinen Wagen in der Nähe des Tatorts gesehen hatte.« Woodrof wiederholte lächelnd: »Gewagte Thesen, Herr Inspektor… Erstens: Warum soll der Mann, der Fräulein Marshall gestern ansprach, ermordet worden sein? Ebenso kann es sich bei ihm um den Mörder handeln. Es ist doch möglich, daß er dem Opfer seine Sachen angezogen hat, wie? Vielleicht hatten sie beide die gleiche Figur… Außerdem klammern Sie sich an die hellen Schweinslederhandschuhe… Wenn's darum geht, können Sie mich gleich verhaften, denn ich habe auch solche Dinger! Und ich möchte nicht nachzählen, wie viele Londoner sich gleichfalls ähnlicher Handschuhe erfreuen!« Stirnrunzelnd blickte Corner ihn an. Kurz darauf verabschiedete er sich.
23
6
J
erry Scherk war eine jener Gestalten, die in den Abgründen einer Großstadt leben und - wenn sie nicht gerade hinter ›Schwedischen Gardinen‹ sitzen - von großen und kleinen Raubzügen existieren. Am Abend des Tages, an dem in Finchley zwei Morde entdeckt wurden, lag er in seiner jämmerlichen Bude auf einem zerschlissenen Sofa und starrte gegen die trüben Scheiben in den nicht zu erkennenden, nebelverhangenen Himmel. Plötzlich fuhr er zusammen: Die Tür hinter ihm hatte leise geklappt, und schon in der nächsten Sekunde stand eine hohe Gestalt in der Dunkelheit des Zimmers. Eine schwarze Maske verdeckte das Gesicht des Eindringlings, und sein unmoderner, langer Regenmantel reichte fast bis auf die Schuhe. In der Hand hielt er eine mattschimmernde Pistole, deren Lauf er nun Zentimeter um Zentimeter Jerrys Stirn näherbrachte. Gelähmt vor Angst, konnte Jerry nur röchelnd flüstern: »Was wollen Sie?« »Das kommt ganz darauf an, wie Sie sich benehmen«, sagte der Maskierte mit hörbar verstellter Stimme. »Sind Sie vernünftig, erhalten Sie einhundert Pfund.« Jerry richtete sich vorsichtig auf. »Hundert Pfund? Das ist ja ein Vermögen!« Der Maskierte lachte leise: »Allerdings… Sind Sie aber unvernünftig, dann heißt es unverzüglich Abschied nehmen 24
von dieser Welt. - Man wird uns nicht hören. Wie Sie sehen, besitzt meine Pistole einen Schalldämpfer. Es macht nur ganz kurz ›plomp‹… und Sie sind nicht mehr. Sehen Sie sich's genau an. Ich ziele auf Ihre Stirn!« »Natürlich bin ich vernünftig«, stotterte Jerry. »Was soll ich denn tun?« »Kennen Sie Henry Corner?« »Den Kneipenwirt in Westham?« »Nein, den Inspektor von Scotland Yard.« »Den kenne ich nicht.« »Ist egal… Auf jeden Fall muß er verschwinden. Am besten ist, man findet ihn irgendwo als Wasserleiche. - Ist das nichts für Sie, Jerry?« Scherk wich auf die äußerste Ecke des Sofas zurück. »Morden tu' ich nicht. Auf keinen Fall. Wie kommen Sie gerade auf mich? - Überhaupt, woher kennen Sie mich?« Wieder kam ein leises, böses Lachen unter der Maske hervor: »Hast du schon einmal etwas von Jonny Woodrof gehört?« Abwehrend hob Jerry seinen linken Arm vor das Gesicht, denn er sah, wie der Pistolenlauf nun direkt auf die schmale Stelle zwischen seinen Augen gerichtet war. Zitternd fragte er: »Was soll das?« Der unheimliche Gast räusperte sich. »Dieser Jonny hat vor drei Jahren einige Gelder unterschlagen… Er konnte aber fliehen. Ein gewisser Scherk verschaffte ihm damals falsche Papiere, nachdem er ihm vorher bereits bei den falschen Buchungen geholfen hatte. Darauf steht bei Jerrys Vorstrafen gewiß Zuchthaus, wie?« »Woher wissen Sie das?« stöhnte Jerry. »Jonny ist doch tot!« »Ja - seit gestern.« 25
»Was?!!!« Scherk schnellte vor, aber schon bannte ihn eine unmißverständliche Bewegung der Pistole auf seinen Platz. »Jonny ist doch in Indien gestorben, wie mir sein Bruder sagte.« Der Maskierte schnaubte verächtlich. »Papperlapapp - sein Bruder! - Jonny ist gestern auf der Landstraße zwischen Finchley und Southgate erschlagen aufgefunden worden. Allerdings hat ihn noch keiner erkannt. Man hat ihn nämlich dabei ziemlich übel zugerichtet. - Dich aber dürfte hierbei interessieren, daß ich der Mörder bin!« Scherk schnaubte vor Entsetzen und kauerte sich noch tiefer in die Sofaecke. Ungerührt sprach die verstellte Stimme weiter: »Und nun paß gut auf: Dir geht es genauso, wenn du dich nicht meinen Wünschen fügst und statt dessen zur Polizei läufst, um mich zu verpfeifen!« »Ich soll also diesen Inspektor umlegen?« »Morgen um diese Zeit muß Corner so oder so verschwunden sein! Und wehe, mein Junge, es klappt nicht, oder du machst sonst irgendwelche Dummheiten. In jedem Fall werde ich dich kriegen, und wenn du bis zum Nordpol fliehst!« Als Inspektor Corner nach seinem Besuch bei Evelyn Marshall wieder sein Dienstzimmer in Scotland Yard betrat, erwartete ihn dort eine Sensation. Eine gewisse Frau Mabel Pach, die in der Nähe des Regent-Parks eine kleine Pension betrieb, machte eine äußerst bemerkenswerte Aussage. »Bei mir wohnte einer, der genauso aussah, wie es in der Zeitung steht. Groß, elegant und mit hellgelben Handschuhen.« 26
Corner war wie elektrisiert. »Unter welchem Namen hat er sich eingetragen?« Die Frau hatte das Buch mitgebracht. »Hier«, sie deutete auf die Seite. »Er steht da… Ein merkwürdiger Name: ›Rao Putrana, Lahore, Indien‹. Ein Inder also. Ich kam in eine nicht geringe Verlegenheit. Denn ich wußte ja nicht, was so ein Mensch zu essen wünscht. Nun, ich habe ihm zum Abend eine große Schüssel Reis gekocht, aber dann ist er nicht mal gekommen.« Corner betrachtete die Eintragung in dem Gästebuch und kratzte sich am Kopf. Typische Buchstaben, wie sie an englischen Schulen gelehrt werden… Sollte dieser Rao Putrana eine britische Schule besucht haben? - Wenn dies der Fall war, mußte es sich um einen gebildeten und wohlhabenden Inder handeln. Ein solcher wäre jedoch wohl kaum in der nicht gerade erstklassigen Pension von Frau Pach abgestiegen. Nachdenklich legte er das Gästebuch auf die Seite: »Wann ist dieser Herr Putrana bei Ihnen angekommen?« »Vorgestern… So gegen zwölf Uhr mittags.« »Sah er wie ein echter Inder aus?« »Aber ja… Er war recht auffällig gekleidet, so wie das häufig bei Ausländern der Fall ist.« Der Inspektor nahm aus einem Aktenstück ein paar Fotografien. »Ist das Ihr Mieter?« fragte er. Frau Pach warf einen neugierigen Blick auf die Fotos und schrie erschüttert auf: »Um Gottes willen! Der hat ja gar kein Gesicht mehr!« »Allerdings. Der Mörder hat es mit bestialischer Roheit unkenntlich gemacht.«
27
Schreckensbleich stotterte die vollbusige Pensionsinhaberin: »So kann ich ihn natürlich nicht mehr erkennen«, und schloß von Grauen geschüttelt die Augen. Corner steckte die Bilder wieder in die Akten zurück und ließ der völlig verstörten Frau einen Kaffee bringen. Beide ahnten in diesem Moment nicht, daß bald auch schon das Foto der Pensionsinhaberin Pach in derselben Akte liegen würde…
7
D
ie Nacht vom 22. zum 23. März 1983 war angebrochen… Inspektor Corner saß in seiner Wohnung am Schreibtisch und brütete über einem Blatt Papier, auf dem er in Stichwörtern den Verlauf des Doppelmordes von Finchley zusammengefaßt hatte. Vielleicht gelang es ihm auf diese Art, einen logischen Aufbau in das bisherige Durcheinander zu bringen und eventuell sogar für ihn noch verborgene Hinweise auf den vermutlichen Täter zu erhalten. Immer wieder starrte er auf seine Notizen: In den Mittagsstunden des 21. März stieg ein Inder namens Rao Putrana in einer mittelmäßigen Pension ab. Der von mehreren Zeugen wiedererkannten Bekleidung nach wurde dieser Putrana in der Nacht vom 21. zum 22. März vermutlich ermordet. 28
Der ›Tote‹ (genaue und bereits bekannte Personenbeschreibung des Pelzhändlers) kaufte aber am Morgen des 22. März einen Blaufuchs, den er sich am Abend vorher bereits zurücklegen ließ. Also kann die Leiche von Finchley nicht Rao Putrana sein. Da sie jedoch dessen Sachen trug, muß der Inder einen Unbekannten ermordet haben, dem er seine Kleider angezogen hat. Der ›Unbekannte‹ war bereits tot, als man ihn auf den Feldweg legte. Woher kam dann aber die große Blutlache? Denn dort kann die Leiche nicht umgezogen worden sein. Völliges Fehlen von Spuren einer solch umständlichen und schwierigen Arbeit am Tatort! Rechtsanwalt Dr. Woodrof soll dem Mann, der Evelyn Marshall auf der Straße angesprochen hat, verblüffend ähnlich sehen. (Aussage der Tochter Marshalls.) Wo war Dr. Woodrof in der fraglichen Nacht? - Zu Hause. - Sein Diener hat es bestätigt. Er hat jedoch auch berichtet, daß sein Herr gegen ein Uhr früh nochmals in die Stadt gefahren ist. Um diese Zeit war der Unbekannte nach ärztlichem Befund höchstwahrscheinlich schon tot. Ben Farmer wurde in den ersten Morgenstunden ermordet. Motiv klar: Beseitigung eines Zeugen. Je mehr Corner über diese Punkte nachdachte, desto nachdenklicher wurde ihm zumute: Weiß Gott, bei klarer Überlegung wirkte die Gestalt des Anwalts im Ablauf des grauenvollen Verbrechens mindestens ebenso verschwommen wie die des Inders von Frau Pach… Aber das war ja absurd! Das war doch heller Wahnsinn! Auf keinen Fall konnte doch dieser Dr. Woodrof, das Hätschelkind der Londoner Gesellschaft, die juristische ›Kanone‹ 29
verschiedener industrieller Großunternehmungen, mit jenem bestialischen Doppelmord etwas zu tun haben. Nur durch diese Aufstellung war er auf eine derart verrückte Idee gekommen! Und doch - durch die Aussage Evelyns… Immerhin, auch dieser Möglichkeit mußte nachgegangen werden… Der Inspektor versank in tiefes Nachdenken. Führte dieser selbstsichere Anwalt etwa ein Doppelleben? - Verbarg er sich auf der dunklen, rätselvollen Seite seiner Existenz vielleicht hinter jenem Rao Putrana? Sind in der Kriminalistik nicht immer wieder solche Fälle vorgekommen? - Hatte es nicht einen ›Jack the Ripper‹ gegeben, jenen hochangesehenen Londoner Arzt, der jahrelang eine schauerliche Doppelrolle als Frauenmörder spielte? Voller Zweifel ging Corner schließlich ans Telefon und rief den Nachtdienst seiner Abteilung an: »Wenn ich morgen früh in den Yard komme, möchte ich eine umfassende Auskunft über Dr. Pat Woodrof haben…« Mißmutig legte er den Hörer auf die Gabel zurück. Diese verrückte Idee hält mich bestimmt nur auf, dachte er. Woodrof wird tatsächlich einen Doppelgänger haben, der in seiner Mordraserei uns alle durcheinanderbringt… Langsam trat er ans Fenster, das zu einem kleinen Vorgarten hinausführte, der das Haus von der Straße trennte. Plötzlich - gerade als er die Gardine ein wenig zurückschob - hörte er einen leisen Knall… Das Fensterglas neben ihm zersprang, und eine Kugel pfiff haarscharf an seinem Kopf vorbei. Noch ehe er reagieren konnte, heulte ein starker Motor auf, und ein großes, dunkles Auto brauste ohne Licht die Straße hinab und verschwand um die nächste Ecke. 30
Blaß geworden, trat der Inspektor in den Raum zurück. Mit fahrigen Händen strich er sich durch die Haare. Plötzlich blitzte ein Gedanke in ihm auf: War es schon soweit, daß er dem Mörder gefährlich wurde? Wie sollte er dieses Attentat sonst erklären? Man schießt doch nicht auf einen Mann, der ungefährlich ist… Das Schrillen des Telefons ließ ihn zusammenzucken. Doktor Horn, der Polizeiarzt, war am Apparat. Trotz der späten Stunde klang seine Stimme hellwach: »Inspektor! Halten Sie sich fest! Ich habe eine Sensation für Sie…« Corner lächelte schwach. »Ich auch für Sie, lieber Doktor. Eben ist auf mich geschossen worden. Durchs Fenster. Von der Straße her…« »Toll, Inspektor«, entgegnete der Arzt ungerührt. »Aber was ich für Sie habe, ist noch viel toller… Das Blut bei dem verstümmelten Toten von Finchley stammt von einem Ochsen!« »Was?!« Corner, der sich ermattet in einen Sessel hatte fallen lassen, richtete sich kerzengerade auf. »Ochsenblut? Der Mörder hat die große Lache durch Tierblut verursacht? Sind Sie sich dessen ganz sicher, Doktor Horn?« »Aber ja… Soeben wurde mir das Ergebnis der Analyse vorgelegt. Im übrigen starb der Unbekannte, wie die Obduktion ergeben hat, an einem Dolchstoß in die Herzkammer. Und wohl erst eine Stunde später hat der Mörder den Toten auf die Landstraße geschafft…« Der Inspektor war außer sich. »Hören Sie, Doktor, mir ist bei der ganzen Sache unbegreiflich, wie ein Mensch mitten in der Nacht zu Ochsenblut kommen kann. - Das wird ja immer verwickelter! - Haben Sie sonst an der Leiche irgendwelche Merkmale feststellen können?« 31
Die Stimme am anderen Ende der Leitung trompetete fröhlich: »Klar! - Und zwar eine Kleinigkeit, die den Mörder an den Strick bringen kann. Der Tote hat nämlich eine Narbe von einer Gallenblasenoperation! Der Eingriff dürfte nicht sehr lange zurückliegen. Nach dem Zustand der Vernarbung schätze ich so auf etwa zwei Jahre. Später auf keinen Fall…« »Kann diese Operation in Indien vorgenommen worden sein?« Horn zögerte mit der Antwort. »Das ist schwer zu sagen … Dann müßte ein sehr guter Chirurg ihn unter dem Messer gehabt haben. Vielleicht in irgendeinem Militärhospital … Wenn ich aber alles bedenke, neige ich doch zu der Annahme, daß diese Operation nicht in Indien ausgeführt wurde. Überhaupt - und darauf möchte ich meine Nase verwetten erscheint mir der Tote viel zu europäisch, um als Inder gelten zu können.« Bei diesen Worten stutzte Corner. Von der Straße her näherte sich das tiefe Gebrumm eines starken Motors. Blitzschnell knipste er das Licht aus und duckte sich. »Bleiben Sie am Apparat, Doktor Horn«, rief Corner ins Telefon. »Ich glaube, das Auto dieses schießwütigen Kerls fährt noch einmal an meinem Haus vorbei. Warten Sie, ich melde mich sofort wieder…« Er legte den Hörer - aus dem noch ein fernes »Na, hoffen wir das Beste« dröhnte - auf die Schreibtischplatte und schlich ans Fenster. Jetzt glitt der Wagen um die Ecke. Die Umrisse seiner Motorhaube waren nur undeutlich zu erkennen. Die Straße war dunkel, und das Auto fuhr unbeleuchtet. 32
Da vergaß Corner die primitivsten Vorsichtsmaßregeln. Er riß das Fenster auf und beugte sich weit vor. Um jeden Preis wollte er den Wagen möglichst genau sehen. Im selben Moment traf ihn die volle Lichtflut eines starken Scheinwerfers. Geblendet taumelte er zurück und ließ sich instinktiv auf den Boden fallen. Im letzten Augenblick, noch im Fallen, hörte er das durchdringende Pfeifen eines Geschosses und den Einschlag im aufspritzenden Mörtel der Mauerverkleidung. Bevor er sich wieder aufgerappelt hatte, war das mörderische Geisterauto längst vorüber. Deprimiert angelte er sich den Telefonhörer. »Horn? Gut, daß Sie noch da sind. Attentat Nummer zwei wurde eben gestartet. Um ein Haar hätte ich einen sauberen Kopfschuß weggehabt. Leider durch eigene Unvorsichtigkeit. Wie bitte? Warum ich keine Streifenwagen auf ihn hetze? Ach, wissen Sie, ich nehme an, der Fuchs hat seinen Bau ganz in der Nähe und ist längst vom Erdboden verschluckt. Den könnten die Männer lange suchen…« Am nächsten Morgen lief alles wie am Schnürchen. Schon die erste Nachfrage beim Dezernat ›Einbruch und Diebstahl‹ ergab, daß in der fraglichen Nacht einem Bauern in der Nähe von Teddington ein Stück Vieh getötet worden war. Wenig später stand der Inspektor am Tatort. Der Landwirt schien vor Grimm zu bersten. »Dieser Kerl hat meinen besten Ochsen abgestochen und einfach liegen gelassen! Wenn ich schon so ein Tier schlachte, nehme ich doch das Fleisch mit. Und wenn es nur die besten Stücke sind…« 33
»Gewiß, gewiß«, brummte Corner. Mit seinen Gedanken war er jedoch ganz woanders. Ihm kam alles so unwahrscheinlich vor, was mit der Bluttat von Finchley zusammenhing. Zum x-tenmale versuchte er, das Verbrechen zu rekonstruieren. Angenommen, der Mörder und sein Opfer trafen sich an jenem verhängnisvollen Tag zu irgendeinem Zeitpunkt in der Stadt. Von diesem Treffpunkt aus mußten die beiden an einen anderen Ort gefahren sein, wo der Unbekannte ohne Gefahr für den Mörder getötet, verstümmelt und umgezogen werden konnte. Es war immer denkbar, daß die Dinge sich bis zu diesem Punkt so abgespielt hatten. Nun aber begann das Unsinnige: Mit der Leiche neben oder hinter sich im Wagen fährt der Verbrecher nach Teddington, um einen Ochsen abzustechen, dessen Blut er zur Irreführung der Polizei benutzen will. Daraufhin geht es wieder quer durch London - der Tote befindet sich immer noch im Auto! - nach Finchley, wo der Mörder den Erschlagenen auf einem Feldweg unweit der Landstraße niederlegt - möglicherweise ihn auch erst hier verstümmelt - und mit Ochsenblut überschüttet… Noch aber denkt dieses Untier nicht daran, sich in Sicherheit zu bringen! Mit unvorstellbarer Kaltblütigkeit dringt der Verbrecher in das Haus des Arbeiters Ben Farmer ein und erschießt den Schlafenden… Verzweifelt schüttelte Corner den Kopf. Es war doch völlig undenkbar, daß ein auch nur halbwegs normaler Mensch mit der seelischen Belastung eines eben begangenen Mordes stundenlang hin und her fährt, mit dem Getöteten im Auto! Wenn dieser Versuch einer Rekonstruktion des Verbrechens den Tatsachen entsprach, konnte es sich bei dem Täter nur 34
um einen Irrsinnigen handeln - oder aber um eine teuflische Bestie, die in der Gefahr höchsten Rausch empfindet…
8
D
r. Pat Woodrof saß in seiner Villa in Croydon und bearbeitete ein umfangreiches Aktenstück, als ihm der Diener den Besuch eines Herrn von Scotland Yard meldete. Sofort wußte er, daß es sich nur um ›diesen Corner‹ handeln konnte. Trotzdem ging er ihm wie einem alten, ganz besonders lieben Bekannten mit ausgestreckten Händen entgegen: »Sind Sie gekommen, um mir eine Spur von meinem Doppelgänger zu bringen, der Evelyn Marshall so ungebührlich belästigt hat?« Mit jungenhafter Unbeschwertheit schritt er an die Hausbar und servierte seinem Gast Whisky und Soda. »Von Ihrem Doppelgänger?« wunderte sich der Inspektor. »Der scheint doch ermordet worden zu sein…« »Ach ja - der arme Kerl…«, murmelte Woodrof. Plötzlich stutzte er. »Wieso scheint? - Weiß man das immer noch nicht genau?« Corner zuckte mit den Schultern. »Leider nicht, Herr Doktor. Wir tappen nach wie vor im dunkeln. Der Tote trug die Kleidung Ihres Doppelgängers, das steht fest. Ob er es jedoch auch wirklich ist, können wir nicht sagen, denn der Mörder hat sein Gesicht ja bis zur Unkenntlichkeit zer35
stört! Aber angenommen, es wäre der Fall… Dann ergibt sich ein geradezu sensationelles Moment: Während der Ermordete - also Ihr Doppelgänger - auf dem Feldweg von Finchley liegt, erscheint in der Londoner City ein Mann auf der Bildfläche, der ihm ähnelt wie ein Ei dem anderen, und kauft den Blaufuchs für Fräulein Marshall. Wie soll man sich dieses Phänomen erklären? Darauf gibt es nur einen Vers: Sie müssen zwei Doppelgänger haben!« Woodrof lächelte verkniffen: »Machen Sie doch keine Scherze! So etwas gibt's ja gar nicht!« »Anscheinend schon… Und ich möchte sogar annehmen, daß Ihr zweiter Doppelgänger der Mörder ist. Also nicht der erste, der sich Rao Putrana nannte und nach Aussage einer gewissen Frau Mabel Pach am Mittag des 21. März in ihrer Pension abgestiegen ist.« Bei der Nennung dieser beiden Namen schien der Anwalt nervös zusammenzufahren. Dann winkte er überlegen ab. Seine Worte klangen beinahe schnoddrig: »Ach du liebe Güte, das ist wieder mal eine Ihrer gewagten Theorien, verehrter Herr. Sie scheinen solche zu bevorzugen…« Corner erstarrte in eisiger Ablehnung. Ruckartig beugte er sich vor: »Wohin sind Sie eigentlich gestern nacht gefahren, Herr Doktor?« Betroffen blickte Woodrof auf. Dann überflutete Zornesröte sein Gesicht: »Was geht Sie das an?! Das klingt ja wie der Beginn eines Verhörs! In diesem Fall müßte ich Sie bitten, augenblicklich mein Haus zu verlassen! Haben Sie verstanden? Augenblicklich!« An der heftigen Reaktion Woodrofs bemerkte Corner mit Bestürzung, daß er zu weit gegangen war. Er hatte sich durch die unbekümmerte Ausdrucksweise des Anwalts hinreißen lassen. Sofort lenkte er ein: »Oh, jetzt bin ich aber ins 36
Fettnäpfchen getreten! Ich bitte Sie wirklich sehr um Verzeihung! Meine Frage war nur von oberflächlichem Interesse. Sie entsprang lediglich meiner privaten Neugier.« Aus halbgeschlossenen Augen fixierte Woodrof den Inspektor. Dieser Mann gefiel ihm nicht. Absolut nicht… Aber auch er zog es vor, das Gespräch nicht auf die Spitze zu treiben. Er machte eine gleichgültige Handbewegung. »Im übrigen dürfen Sie ruhig wissen, daß ich gestern nacht überhaupt nicht fortgefahren bin. Ich habe Arbeit genug, die mich in meinen vier Wänden festhält. Deshalb war ich vorgestern ja so verärgert, als ich mitten in der Nacht nochmals in die Stadt mußte. Ich hatte eine Akte vergessen, die ich unbedingt brauchte. Bei dieser Gelegenheit habe ich mich das fällt mir eben ein - mit einem Streifenpolizisten der Wachgesellschaft unterhalten. Es war ein gewisser Herr Hall, der gerade mein Stadtbüro kontrollieren wollte. Ich war ganz erstaunt, wie wenig Geld diese Leute für ihren schweren Dienst erhalten…« Nachdenklich betrachtete der Inspektor seine Fingernägel. Er beschloß, auf diese Erklärung nicht weiter einzugehen. Ein Themenwechsel erschien ihm angebrachter: »Sie haben viel zu tun, Dr. Woodrof?« »Ja, es wächst mir fast über den Kopf. Zu allem Überfluß ist jetzt noch die Angelegenheit mit der indischen Zweigniederlassung von Sir Marshall dazwischengekommen.« Plötzlich schoß der Inspektor eine Frage ab, die sein Gastgeber in diesem Moment am allerwenigsten erwartet hatte: »Haben Sie nicht einen Bruder dort?« Der Anwalt wich aus: »Wo? - In dem geplanten indischen Geschäft? - Wie soll ich das verstehen?« Corners Augen hielten ihn fest: »Ganz einfach… Ich meinte, ob Sie nicht einen Bruder in Indien haben?« 37
»Ja, gewiß, das heißt, ich hatte ihn…« »Er ist nicht mehr drüben?« »Er ist tot. Gestorben an Gelbfieber. Ich erhielt seinerzeit von einem indischen Arzt den Totenschein und die Reste der Hinterlassenschaft meines Bruders zugesandt.« Woodrof ging an einen kleinen Wandschrank, schloß ihn auf und entnahm ihm eine flache Mappe. Aus ihr zog er den Totenschein, einen unansehnlichen Ring, eine Geldbörse und ein paar verrostete Schlüssel. »Das ist alles, was von dem guten Jonny übriggeblieben ist.« Aufmerksam las der Inspektor den Totenschein durch. Er machte ein unbeteiligtes Gesicht: »Können Sie das Papier eventuell einige Tage entbehren, Doktor Woodrof ?« Erstaunt blickte ihn der Anwalt an. »Aber ja… Glauben Sie, daß Jonny nicht tot ist?« »Wie könnte ich daran zweifeln? Es geht hier nur um eine rein technische Angelegenheit. Sie erhalten das Dokument in spätestens acht Tagen zurück.« Corner schob sein Glas zurück und zündete sich eine Zigarette an. »Verzeihen Sie, wenn ich etwas neugierig bin, aber dieser Junge war wohl das schwarze Schaf der Familie? Er wurde doch damals wegen Unterschlagungen in Abwesenheit zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Wie mag ihm damals seine Flucht gelungen sein? Wissen Sie etwas Näheres darüber?« »Nein.« Woodrof schüttelte den Kopf. Aber seine Hand zitterte ein wenig, als er die Gläser nachfüllte. »Nach Bekanntwerden seiner Straftaten habe ich mich sofort von ihm losgesagt. Ich konnte es mir in meiner Stellung keineswegs erlauben, einen vorbestraften Gauner zum Bruder zu haben. Daß er später in Indien starb, ist - so roh es klingen mag - die beste Lösung für ihn gewesen. Er hätte sich ja sowieso nie an ein ehrliches, bürgerliches Leben gewöhnt.« 38
»Und Sie haben nie wieder etwas von ihm gehört?« »Nie.« Kurz darauf verabschiedete sich der Inspektor. An der Tür der stillen, vornehmen Villa reichte er Woodrof die Hand. »Ach richtig… ich vergaß, Ihnen zu erzählen, daß man in der vergangenen Nacht zwei Mordanschläge auf mich verübt hat. Durchs Fenster meines Arbeitszimmers. Der Kerl muß ein miserabler Schütze sein. Na, wir werden den Burschen schon noch schnappen…« Der Anwalt tat naiv interessiert: »Bekommen Sie eigentlich alle Verbrecher, die Sie suchen?« Corner nickte. »Fast neunzig Prozent gehen uns in die Falle. Sie wissen ja: Jeder Verbrecher macht einen Fehler. Den perfekten Verbrecher gibt es eben nicht, und es wird ihn auch nie geben.« »Und Sie glauben, daß dieser Mörder, nach dem Sie augenblicklich fahnden, auch einen Fehler machen wird?« »Das hat er schon…« Der Inspektor lächelte abschiednehmend. »Indem er auf mich geschossen hat oder schießen ließ…«
9
E
s war gegen zehn Uhr abends. Frau Pach saß in dem kleinen Büro ihrer Pension und blickte gedankenverloren auf das Schlüsselbrett. Ausnahmsweise waren sämtliche Gä39
ste schon im Haus und hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Eigentlich konnte sie nun selbst auch mal früher als sonst zu Bett gehen. Das Schrillen des Telefons riß sie aus ihren schläfrigen Betrachtungen. Scotland Yard war am Apparat und bat sie, sofort nach Ealing zu kommen. Die Pensionswirtin war zwar verwirrt, doch antwortete sie: »Gut, ich komme. Und wohin, bitte?« »South Gate Street. An der Ecke wird Sie ein Wagen der Polizei erwarten.« Mit einem merkwürdig dumpfen Gefühl von Furcht machte Frau Pach sich auf den Weg. Sie nahm ein Taxi und ließ sich hinaus nach Ealing fahren. In der Nähe der South Gate Street stieg sie aus und spähte suchend durch den Nebel die einsame Straße entlang, bis sie an der Ecke einen großen, dunklen Wagen stehen sah. »Hier bin ich, Herr Inspektor!« winkte sie schon von weitem, denn nun hatte sie wirklich Angst. Der Nebel, die fahle Straßenbeleuchtung, die ganze trostlose Gegend. Wie gut, daß die Polizei in der Nähe war… Und nochmals rief sie. Nochmals klang ihre atemlos klingende Stimme durch die Nacht. Langsam trat der Mann, der bisher am Auto gestanden und eine Zigarette geraucht hatte, vor. Er trug einen seltsam langen Regenmantel, der fast bis auf die Schuhe reichte. Als Frau Pach den großen, dunklen Wagen erreicht hatte, brummte der Mann einen mürrischen Gruß. Er ging zum Fahrersitz, startete und ließ den Motor mehrfach aufheulen.
40
Dann stieg er wieder aus und forderte die Pensionswirtin mit einer stummen Handbewegung auf, im Fond des Autos Platz zu nehmen. Einen kurzen Moment lang zögerte die Frau… Es kam ihr alles so unheimlich vor: die nächtlich einsame Straße, der unbeleuchtete Wagen, der schweigsame Polizeibeamte mit den herrischen Gesten… Plötzlich begann ihr Herz wie verrückt zu pochen. Eine grauenhafte Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie wandte sich zu dem Mann um und sah in zwei gnadenlose, eiskalte Augen. »Was ist eigentlich hier los?« waren ihre letzten Worte. Ein brutaler Stoß warf sie rückwärts in das Wageninnere. Schreiend schlug sie um sich. Im gleichen Augenblick wurde ihr ein Sack über den Kopf gezogen, und ein wuchtiger Hieb traf ihre Schläfe. Halbbetäubt fuhr sie noch einmal hoch. Da erhielt sie einen zweiten furchtbaren Schlag. Sie seufzte schmerzvoll auf und verlor die Besinnung … Mit höchster Geschwindigkeit raste das Auto durch die dunklen Straßen. Niemand sah es. Die Gegend schien wie ausgestorben. Am Ausgang eines ländlichen Villenvororts stoppte der Wagen. Der große, kräftige Mann stieg aus, ergriff die ohnmächtige Frau, warf sie sich über die Schulter und stapfte mit ihr in den Nebel und in die Nacht hinein. Dr. Pat Woodrof war einem Anruf von Evelyn Marshall gefolgt, die ihn dringend zu sich gebeten hatte. Schon in der Empfangshalle der reich ausgestatteten Villa kam ihm das junge Mädchen entgegen. »Doktor, das geht über meine Nervenkraft, sehen Sie hier.« Sie reichte ihm einen Brief. »Ein Toter schreibt Liebesbriefe!« 41
Umständlich klemmte der Anwalt sein Einglas ein und überflog die wenigen Zeilen. Dann lachte er schallend auf. »Das ist ja die Höhe! Der Kerl scheint nicht bei Trost zu sein…« Plötzlich aber wurde er ernst. »Wir müssen umgehend Inspektor Corner von diesem reizenden Briefchen unterrichten. Für ihn wird es unter Umständen ein wertvolles Beweisstück bedeuten.« Etwa zwanzig Minuten später traf Corner ein. Aufmerksam las er den Brief: »Verehrtes Fräulein Evelyn! Ich verehre Sie wirklich… Daß Sie den Pelz nicht als ein Geschenk von mir angenommen haben, verzeihe ich Ihnen. Daß Sie sich aber ausgerechnet diesen Dr. Woodrof zum Beschützer auserkoren haben, verzeihe ich Ihnen nie. Nun soll dieser überhebliche Dummkopf zusehen, wie er seine Rolle mit heiler Haut überlebt. Sie jedoch liebe ich, und ich glaube trotz aller Hoffnungslosigkeit, die momentan alles überschattet, Sie doch noch einmal die Meine nennen zu dürfen… Ihr R. P.« Gespannt blickten Evelyn und Woodrof auf den Lesenden. Dessen Gesicht blieb unbewegt. Er zog ein flaches Buch aus der Tasche und verglich irgendwelche Schriften. Wortlos studierte er dann durch eine Lupe den Poststempel, den Umschlag und das Papier und zum Schluß auch die Tinte. Schließlich nickte er und steckte das Schreiben ein: »Es ist tatsächlich dieselbe Schrift. Der Absender muß also dieser Rao Putrana sein. Also ist er nicht tot. Der Ermordete ist ein Fremder, dem der Mörder seine Kleidung angezogen hat. Aber warum schreibt Putrana diesen Brief, der ihn unweigerlich verrät und uns auf seine Spur führt?« 42
Obwohl Corner sich eisern zu beherrschen suchte, konnte er doch nicht verhindern, daß bei diesen Worten seine linke Augenbraue verräterisch hochzuckte. Doch der Anwalt war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um das zu bemerken. »Sie müssen schon meinen Unwillen verstehen… Nicht nur, daß Fräulein Marshall weiter belästigt wird - jetzt werde sogar auch ich von diesem Mörder-Phantom bedroht!« »Das ist eine große Dummheit von ihm«, meinte der Inspektor sinnend. »Wieso?« Woodrof schien verblüfft. »Weil er damit beweist, daß er Angst hat, entdeckt zu werden.« Ironisch verzog der Anwalt die Lippen. »Ist das etwa der berüchtigte Fehler, den Ihrer und Ihrer Kollegen Ansicht nach jeder Verbrecher begeht?« Corner ging nicht darauf ein. Er verneigte sich vor Evelyn: »Ich muß sofort in den Yard zurück, denn ich erwarte heute noch eine wichtige Mitteilung. Es steht nämlich fest, daß der Mörder bei der Ausführung seines Verbrechens einen groben Fehler gemacht hat. Wohl zerstörte er mit kaltblütiger Grausamkeit das Gesicht und die Haut der Fingerspitzen seines Opfers. Bei seinem bestialischen Tun entging ihm jedoch, daß der Tote noch ein anderes unverwechselbares Kennzeichen am Körper trug. Und dieses Kennzeichen spricht jetzt gegen ihn und wird uns den Namen des Erschlagenen nennen.« In Scotland Yard erwartete Sergeant Battle den Inspektor mit einer langen Liste. 43
Corner warf zunächst nur einen flüchtigen Blick auf die Namensreihen und stöhnte: »Ich hätte nie gedacht, daß so viele Londoner kranke Gallen haben. In zwei Jahren vierhundertzweiundsechzig Operationen, davon dreihundertneununddreißig Entfernungen der Gallenblase!« Beruhigend sah Battle seinen Chef an: »Sie brauchen die vielen Namen nicht durchzulesen. Das habe ich schon getan und dabei eine sonderbare Entdeckung gemacht: Nummer zweihundertneunundfünfzig, September 1981, Gallenblasenentfernung bei Dr. Pat Woodrof, Croydon.« Dr. Woodrof… Unmöglich war der Ermordete der Anwalt Pat Woodrof… Der hatte ihm doch vor wenigen Minuten noch bei Evelyn Marshall gegenübergesessen… Es kam Corner vor, als ob er sich immer tiefer und hoffnungsloser in einem Irrgarten verlaufen würde. Im Moment wußte er weder aus noch ein. Zwei Ereignisse rissen ihn jedoch schon bald aus seinen fruchtlosen Grübeleien.
10
Z
unächst wurde die von ihm geleitete Mordkommission alarmiert: Leichenfund in einem ländlichen Villenvorort: Eine korpulente alte Frau, Mord auf der Straße, Tod durch Erdrosseln… 44
Wenige Minuten nach Eingang der Meldung jagten die Limousine des Inspektors, ein Spurensicherungswagen und das Krankenauto der Abteilung III/M. von Scotland Yard zum Tatort. Ahnungsvoll lehnte Corner im Fond seines Wagens. Für ihn war es klar - gleich würde er vor einem neuen Opfer der ›Bestie von Finchley‹ stehen… Nun bog die Autokolonne in die gemeldete Straße ein. Schon von weitem bot sich den Beamten das übliche Bild: absperrende Polizisten, etliche neugierig-lüsterne Menschen und am Boden - in der Mitte der Szenerie - ein seltsam verkrümmter Körper, von einer Zeltplane bedeckt. Als Corner den feucht-steifen Stoff etwas anhob, sah er in das einst so gütige und lebhafte Gesicht der Pensionsinhaberin Mabel Pach… Nach dem Ende des trinkfreudigen Ben Farmer war sie der zweite Zeuge, den der kaltblütige Mörder innerhalb weniger Stunden aus dem Weg geräumt hatte. Das zweite Ereignis hatte ein kleines Vorspiel: Nach den mißlungenen Mordanschlägen auf den Inspektor lebte der von dem Maskierten gedungene Meuchelmörder Jerry Scherk in panischer Angst vor der Rache seines Auftraggebers. Er hatte sein Zimmer wie eine Festung verbarrikadiert, und wenn er mal das Haus verließ, tat er das nur in Begleitung von fünf Freunden, die die Hände in den Hosentaschen vergraben hatten und dort den Finger am Abzug ihrer Pistolen hielten. Die erste Nacht nach den fehlgegangenen Mordschüssen verlief ruhig. Während seine Freunde in den Nebenräumen 45
auf der Lauer lagen, hatte Jerry sich in seinem Bett ausgestreckt. In der Hand hielt er eine entsicherte Pistole, um sofort zu schießen, falls der Maskierte noch einmal auftauchen sollte. Daß in dieser Nacht alles ruhig blieb, verstärkte in Jerry den Verdacht, einen Gegner vor sich zu haben, der seine Vergeltung kalt und methodisch vorbereitete. Dieses Gefühl raubte ihm vor Furcht fast den Verstand. Er aß nicht, aus Angst, daß die Speisen vergiftet sein könnten, und trank direkt aus der Wasserleitung. Den ganzen Tag saß er nur herum und rauchte Unmengen von Zigaretten. Wer war nur der maskierte Gast gewesen? grübelte er ununterbrochen. Woher hatte er den Vorfall mit Jonny Woodrof gekannt? Stimmte es, daß Jonny nicht in Indien gestorben, sondern der unbekannte Tote von Finchley war, von dem auch in den Zeitungen stand? In seiner Verzweiflung und lähmenden Angst kam Jerry plötzlich eine Idee: Man müßte der Polizei mitteilen, daß der Tote Jonny Woodrof ist! Sicher würde sie den Täter dann bald verhaften, und er, Jerry, wäre seinen Bedroher für alle Zeiten los. Der Gedanke setzte sich in ihm fest. Das war seine Rettung! Schließlich klopfte er an die Wand des Nebenzimmers. Eine dunkle Stimme fragte: »Was ist los, Jerry?« »Einer von euch muß beim ›Yard‹ anrufen. Ich habe der Polente eine wichtige Sache zu melden!« »Beim ›Yard‹ anrufen? Du bist wohl verrückt geworden!« Jerry schrie fast vor Erregung: »Mensch, es geht doch um meinen Kopf! Wenn die Polizei weiß, wer der unbekannte Tote ist, schnappt sie bestimmt den Mörder. Und mir kann er dann nichts mehr tun! Los, einer muß sofort von einer öf46
fentlichen Fernsprechzelle aus anrufen - ohne seinen Namen zu nennen, natürlich…« So kam es, daß Corner, nachdem er sich um die Überführung der toten Mabel Pach in die Leichenhalle von Scotland Yard gekümmert hatte, auf seinem Schreibtisch eine inhaltsschwere Meldung vorfand: ›Telefonanruf, anonym, von einer öffentlichen Zelle am Hyde Park: Der Tote, der in Finchley gefunden wurde und den man nicht erkannt hat, ist Jonny Woodrof, der Bruder des Rechtsanwalts Dr. Pat Woodrof. Er ist nicht in Indien gestorben, sondern von einem Unbekannten erst vor drei Tagen in London ermordet worden. Der Mörder hat es selbst zugegeben. Wir haben mit ihm gesprochen. Jonny mußte wegen Unterschlagungen flüchten. Einen kleinen Einbruch hatte er damals auch noch auf dem Gewissen. Ist niemals bekannt geworden. Die Beute hat er seinerzeit an den Hehler Clark Narving verscheuert. Glauben wir wenigstens. Schluß.‹ Jonny Woodrof? Der Inspektor nahm aus den Akten den Totenschein, den ihm der Anwalt für einige Tage überlassen hatte. Mit größter Sorgfalt untersuchte er nochmals das rätselhafte Dokument. Trotzdem konnte er keine Fälschung entdecken. Aber es brachte ihn auf einen Einfall: Man mußte bei den betreffenden Stellen in Indien nachfragen, wie es sich damals mit dem Tod des Bruders von Dr. Pat Woodrof verhalten hatte. Sicher, das war der einzig richtige Weg! Überdies konnte man so auch am besten feststellen, ob es sich bei dieser anonymen telefonischen Anzeige nicht etwa um eine raffinierte Täuschung handelte. Und schon wenige Minuten später gingen die nötigen Fernschreiben nach Indien. 47
Den nächsten Tag, den Abend und die ersten Nachtstunden verbrachten Corner und sein Assistent Battle in fieberhafter Erwartung der Antwort aus Indien. Ein Zwischenbescheid hatte besagt, daß man sich bereits an die Aufklärung des Falles gemacht hätte und sogar eine eventuelle Exhumierung des angeblich am Gelben Fieber verstorbenen Jonny Woodrof in Erwägung ziehe. Seit dieser Nachricht war - so schien es wenigstens den beiden - eine unendlich lange Zeit vergangen. Jetzt zerfloß bereits das Dunkel vor den Fenstern, und ein erstes fahles Morgenlicht zog auf. Endlich meldete die Funkzentrale den Eingang eines Funkspruchs aus Indien. Kurz darauf lag ein geradezu sensationelles Telegramm auf Corners Schreibtisch: ›ausgrabung eben beendet - stop - sarg mit leiche eines eingeborenen gehoben - stop - von einem woodrof keine spur - stop - totenschein muß gefälscht sein - stop - oder falsch ausgestellt stop - damaliger arzt nicht mehr auffindbar - stop - soll kurz nach woodrofs angeblichem tod wohlhabend gewesen sein stop - aufnahmen von sarg und leiche folgen per luftpost stop - leutnant barnes, bombay.‹ Corner las die Meldung mehrmals durch. Plötzlich sprang er auf: »Kommen Sie, wir fahren zu Woodrof.« Battle hob zweifelnd die Schultern: »Jetzt? Bestimmt schläft der noch…« »Eben drum…«
48
11
D
as Haus in Croydon lag wie erwartet noch in tiefster Ruhe. Die Fensterläden waren abweisend geschlossen, und der Nebel trieb in zerfetzten Schleiern um die Mauern und durch den weiten Garten. Erst nach mehrfachem Schellen öffnete der Diener. Er war sichtlich verärgert, daß der Inspektor und ›noch so ein anderer‹ zu dieser unmöglichen Zeit erschienen. Mürrisch führte er die beiden Beamten in die Halle der Villa und schlurfte die breite Treppe zum ersten Stock hinauf, wo das Zimmer des Anwalts lag. Während Battle an der Treppe Wache hielt, huschte Corner in die Bibliothek und untersuchte sie schnell. Auch in dem daneben liegenden kleinen Aktenraum verweilte er einen Augenblick, eilte dann auf die Terrasse und kroch auf allen vieren über die breiten Steinplatten. Ein geräuschvolles Hüsteln Battles warnte ihn. Er rannte zurück und warf sich gerade noch rechtzeitig in einen der herumstehenden Sessel. Als Dr. Woodrof langsam und völlig verschlafen die Treppe herunterkam, sah er einen gelangweilten Inspektor und den mißmutig dreinblickenden Sergeanten. Er ahnte nicht, daß seine Arbeitsräume soeben von zwei scharfen und geschulten Augen untersucht worden waren. »So früh?« fragte er erstaunt. »Ist etwas mit Fräulein Evelyn? - Oder ist etwa gar mein Doppelgänger wieder aufgetaucht?« 49
»Nicht ganz - nur zur Hälfte«, scherzte Corner und zündete sich eine lange Zigarre an. Woodrof gähnte herzhaft und lümmelte sich dem Inspektor gegenüber in einen Sessel. Aus kalten, uninteressierten Augen sah er den Kriminalbeamten an: »So sprechen Sie immer, wenn Sie witzig und geistreich erscheinen wollen. So krampfhaft originell… Na ja, vielleicht gehört das zu den Gepflogenheiten mancher Berufsarten.« Lässig schlug er die Beine übereinander und betrachtete einen Augenblick seine länglichen, gepflegten Fingernägel. Erst als er bemerkte, daß sein Gegenüber keine Anstalten machte, mehr von sich zu geben, fragte er, nochmals gähnend: »Was heißt zur Hälfte? Wie kann ein Mensch zur Hälfte auftauchen?« Corner schnippte etwas Asche in einen Aschenbecher: »Nun, sagen wir - er war begraben…« »Begraben? - Wer?« »Ja…«, und ohne jeden Übergang setzte der Inspektor hinzu: »Hatten Sie vor vier Tagen nicht einen überraschenden Besuch, Dr. Woodrof ? Und zwar mitten in der Nacht?« »Wie kommen Sie denn darauf, Corner? Galoppiert da nicht wieder Ihre Phantasie mit Ihnen durch? - Außerdem kann ich Sie beruhigen. Ich hatte keinen Besuch!« »Ich meine die Nacht, in der Sie noch um ein Uhr morgens in die Stadt gefahren sind, um in Ihrem Büro ein vergessenes Aktenstück zu holen. - Übrigens stimmt das - wir haben uns überzeugt.« »Das beruhigt mich außerordentlich«, spöttelte Woodrof. »Nein, wie mich das von einem inneren Druck befreit!« Er lachte meckernd. »Wer soll denn der Besuch gewesen sein, Herr Inspektor? - Haben Sie auch dafür Zeugen?« »Im Augenblick nicht… War wirklich niemand hier, Herr Dr. Woodrof?« 50
»Nein!« »Kein Mann? - Groß und auffällig gekleidet?« Der Anwalt wurde ärgerlich. »Wenn ich einmal eine Frage verneint habe, dann bleibt es dabei. Es war niemand hier. Genügt Ihnen das endlich?« »Gewiß…« Corner blies den Rauch seiner Zigarre an die Decke und sah ihm sinnend nach. »Es ist schade, daß niemand hier war. Es würde uns vieles erleichtern… auch in der Mordsache von Finchley.« Er unterbrach sich und machte eine bedeutungsvolle Pause. Dann beugte er sich so weit nach vorn, als ob er dem Anwalt etwas ins Ohr flüstern wollte. »Wir haben heute ein Telegramm aus Indien bekommen… Man hat Ihren Bruder ausgegraben!« Woodrofs Gesicht verfärbte sich. Er wurde aschfahl. Empört fuhr er hoch: »Sind Sie ganz und gar verrückt geworden? Wie können Sie sich erlauben, die Ruhe eines Toten zu stören? Ich bitte um sofortige Aufklärung.« Der Inspektor machte eine beschwichtigende Handbewegung: »Sie vergessen, daß Ihr Bruder gesucht wird und noch eine Strafe zu verbüßen hat, zu der er in Abwesenheit verurteilt worden ist. Wir sind also durchaus berechtigt, die Angaben seines Todes in Indien nachzuprüfen. Und…«, Corner sah aufmerksam den gespannt zuhörenden Anwalt an, »…es war gut so, Herr Dr. Woodrof.« »Ich verstehe Sie nicht…« »Nun, in dem Sarg lag nicht Ihr Bruder Jonny, sondern ein Eingeborener, der an Malaria gestorben ist!« »Das kann nicht stimmen! Ich habe doch den Totenschein…« »Schon richtig. - Aber dieser Schein ist wissentlich falsch ausgestellt worden. Der Arzt, der ihn damals unterschrieb, ist inzwischen spurlos verschwunden. Er soll übrigens gleich 51
nach der Ausstellung des Dokuments auf großem Fuß gelebt haben. Wir vermuten, daß man ihm eine reichliche Bestechungssumme für die ›kleine Gefälligkeit‹ zukommen ließ…« »Toll!« Woodrof sprang auf. Er bebte vor Entrüstung. »Dann bin ja auch ich geprellt worden. Man hat meinen Bruder für tot erklärt. Ich wünsche, daß dieser Fall eingehend untersucht wird.« »Wir sind schon dabei«, säuselte Corner sanft, »und vieles weist darauf hin, daß Ihr Bruder in den letzten Tagen hier in London war…« Woodrof schien fassungslos. »Jonny? Hier?« »Ja, und wir nahmen verständlicherweise an, daß er sich irgendwann auch bei Ihnen gemeldet haben würde. Leider ist das, wie Sie sagen, nicht der Fall gewesen. Wirklich schade, wir hätten in vielem klarer gesehen…« »Er ist bei mir nicht aufgetaucht«, sagte Dr. Woodrof leise. So etwas wie Bedauern schwang in seiner Stimme. Der Inspektor erhob sich und löschte seine Zigarre. »Dar wäre alles, Herr Doktor. Entschuldigen Sie, daß wir Sie so früh gestört haben.« Corner war schon die drei Vorstufen der Villa hinuntergegangen, als er sich plötzlich umwandte und unvermittelt fragte: »Wie geht es übrigens Ihrer Gallennarbe, Herr Doktor?« Woodrof zuckte zusammen. »Gut…«, meinte er dann, »sogar sehr gut.« »Und Sie können den rechten Arm wieder frei bewegen?« »Aber ja«, lächelte der Anwalt. »Es war ja nur ein kleiner Unfall!«
52
Als Corner wieder hinter dem Steuer seines Wagens saß, konnte er vor Spannung kaum atmen. War ihm die Überrumplung geglückt? Schweigend fuhren sie durch die morgendlichen Straßen Londons. Schließlich konnte Battle nicht mehr an sich halten: »Warum fragten Sie Woodrof, ob er seinen rechten Arm wieder frei bewegen könne? Ich denke, er hat nur eine Gallenblasenoperation hinter sich.« »Das war lediglich ein kleiner, aufschlußreicher Trick«, lächelte Corner, ohne daß sein Gesicht sich dabei entspannte. »Ich habe aber noch ein ganz anderes Experiment mit dem Herrn Anwalt vor. Und zwar wird sich dabei folgendes abspielen…« Die beiden Beamten sprachen angeregt miteinander, bis sie wieder in Scotland Yard eintrafen. Bald darauf fuhr ein Privatwagen nach Croydon zurück. In ihm befanden sich drei Beamte, die als Bäckerjunge, Telefonarbeiter und Luftwaffensoldat verkleidet waren.
12
D
ie Abendblätter hatten eine Bombensensation. Mit gellenden, sich überschlagenden Stimmen riefen die Zeitungsverkäufer die Schlagzeile aus: »Überfall auf Londons bekanntesten Rechtsanwalt! - Ein Mann wird am hellichten Tage entführt! - Dr. Pat Woodrof unverletzt! - Drei Stunden 53
besinnungslos! - Verschleppt nach Bromley! -Wer ist der Täter?« Der Leiter des Dezernats für Überfälle und Inspektor Corner saßen am Nachmittag dieses ereignisreichen Tages in Dr. Woodrofs Bibliothek. Mit lebhaftem Interesse lauschten sie dem Bericht des erschöpften und vollkommen verstörten Anwalts. Er saß in einem großen Lehnstuhl, den Körper mit Decken umwickelt, trank heißen Tee und war sehr blaß. »Ich verließ mein Haus«, erzählte er mit bebender Stimme, »und ging in den Garten. Das tue ich jeden Morgen, um mich auf meine Tagesarbeit zu konzentrieren. Als ich nun in die Nähe der Laube kam, wurde mir plötzlich von hinten ein Sack über den Kopf geworfen…« »Wie der ermordeten Frau Pach«, murmelte der Inspektor. Woodrof zuckte zusammen. »Glauben Sie, daß es ein Mörder war?« stammelte er. »Aber warum hat er mich dann nicht umgebracht?« »Vielleicht ist er bei seinem Vorhaben im letzten Moment gestört worden«, meinte Corner. Woodrof wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Er warf mir also den Sack über den Kopf, und dann fühlte ich einen dumpfen, schmerzhaften Schlag. Ich verlor die Besinnung, und als ich wieder aufwachte, lag ich an der Straße nach Bromley in einer feuchten Ackerfurche.« »Wie der ermordete Unbekannte in Finchley«, flüsterte Corner vor sich hin. Woodrof schien es nicht gehört zu haben. Mit brüchiger Stimme fuhr er fort: »Ich weiß nicht, ob der Kerl Helfer hatte. Ich habe nichts bemerkt. Der Sack fiel wie aus heiterem 54
Himmel über mich. Dann war es aus. Auffallend seltsam ist bei der ganzen Sache eins, meine Herren. Als ich in Bromley wieder zu mir kam, stellte ich zu meiner grenzenlosen Überraschung fest, daß mir nichts fehlte. Die Brieftasche mit über einhundert Pfund, meine schwergoldene Uhr, die Ringe alles hatte ich noch bei mir!« Er hob beide Arme und ließ sie wieder sinken. »Ich möchte wissen, was der Täter eigentlich von mir wollte. Vielleicht hat er mich mit einem anderen verwechselt…« »Etwa mit Ihrem Bruder?« Woodrof starrte Corner an: »Mit meinem Bruder?« Der Inspektor ergriff seinen Arm und schüttelte ihn leicht. »Natürlich, Dr. Woodrof, das ist möglich… Jonny soll doch in London sein…« Der Anwalt schloß die Augen, ließ sich in seinen Lehnstuhl zurückfallen und flüsterte kaum hörbar: »Ja, das wäre möglich…« Und nach einer kleinen Pause: »Wenn Jonny tatsächlich noch am Leben ist und - wie Sie mir erzählten sich augenblicklich in London aufhält. Aber ich kann das nicht recht glauben…« Der Inspektor beachtete seine Zweifel nicht. Er schien wild entschlossen, der Existenz des Bruders auf die Spur zu kommen. »Ich halte es für das beste, wir gehen der Sache nach und suchen Ihren Bruder! - Soviel mir von gut unterrichteter Seite mitgeteilt wurde, unterhält Jonny hier in London ein Versteck, in das er vor Jahren seine Beute gebracht hat. Damals wurde nichts gefunden, aber die unterschlagenen Geldbeträge kamen nie wieder zum Vorschein. Jetzt erst wissen wir etwas mehr über ihren Verbleib…« In plötzlicher Erregung beugte Woodrof sich vor: »Woher wissen Sie das?« 55
Corner tat geheimnisvoll. Jedem Wort gab er eine besondere Bedeutung. »Der alte Hehler Narving hat geplaudert. Hat gesungen, wie man das in der Ganovensprache nennt. Nun, heute nacht werden wir in das Nest dieses seltsamen Vogels steigen und es ausräumen. Ich hoffe, daß uns dieses Unternehmen weiterbringt.« »Ich wünsche es Ihnen und uns allen«, murmelte Woodrof und sank wieder in seinen Lehnstuhl zurück. Gleich darauf verabschiedete man sich. Der Anwalt hatte seines Zustandes wegen um Beendigung des Gesprächs gebeten. Bedeutungsvoll schüttelte der Inspektor ihm die Hand. Er hatte noch etwas auf dem Herzen. »Wenn Ihr Bruder ausgerechnet heute zu Ihnen kommen sollte, sagen Sie ihm bitte nicht, daß wir auf seiner Spur sind…« Mit verzerrtem Lächeln sah Woodrof ihm nach. Dann sprang er auf und traf in aller Eile gewisse Vorbereitungen. Er sah eine Gefahr auf sich zukommen, der er begegnen mußte… Clark Narving war schon ein alter Mann, als er zum Hehler wurde. In der Zeit einer schweren Geschäftskrise erschien eines Tages ein Mittelsmann in seinem Laden und bot ihm ein paar kostbare Ringe zu einem Spottpreis an. Obwohl der Juwelier sich genau entsinnen konnte, daß die Stücke drei Tage vorher in der Presse als gestohlen gemeldet waren, konnte er in seiner Not der Versuchung nicht widerstehen und schloß den krummen Handel ab. Von dem Tage an ging es ihm wieder gut, denn es gab danach noch viele solcher einträglichen Käufe. An diesem trüben Märzabend wunderte sich der Juwelier allerdings, daß sein Geschäft so auffällig von Polizisten be56
wacht wurde. Anders konnte er sich die Tatsache nicht erklären, daß bei Einbruch der Dunkelheit die seinem Laden gegenüberliegende Straßenseite von Männern in Uniform besetzt wurde. Der Hehler lachte leise vor sich hin. Seinetwegen sollte die Polente ruhig ihr Vergnügen haben. Er hatte ein gutes Gewissen. Bei ihm war nichts zu finden, falls die Herren einen Besuch vorhatten oder gar seinen Laden durchsuchen wollten. Sie sind schon so oft gekommen, dachte er grimmig, und immer wieder gegangen, ohne mir etwas nachweisen zu können. Sollte es heute anders sein? Und selbst, wenn gerade jetzt jemand zu ihm käme, um Ware abzuliefern - die Polizisten würden ihn nicht entdecken. Denn unter Narvings Haus führte ein geheimer Gang durch mehrere Keller zu einer anderen Straße, wo er im Untergeschoß eines seriösen Gebäudes mündete. Trotz dieser beruhigenden Erwägungen verdroß der Anblick der verhaßten Uniformen den alten Mann immer heftiger, und endlich wurde er ihm geradezu unerträglich. Mit donnerndem Getöse ließ er die Rolläden vor den Schaufenstern herab und schaltete das Licht aus. So, mochten die Polizeiknechte ins Dunkle starren, ihm konnte es egal sein… Gemächlich stieg er in seine Wohnung hinauf, setzte sich gemütlich in einen Sessel und nahm sich die Abendzeitung vor. Interessiert las er den Bericht von dem Überfall auf Rechtsanwalt Dr. Pat Woodrof. Woodrof…? Verschwommen entsann er sich eines gewissen Jonny Woodrof, der vor drei Jahren einmal bei ihm war, um einige Schmuckstücke zu verkaufen. Vielleicht war es der Bruder dieses verschleppten Anwalts. Na ja, der eine stiehlt, der an57
dere wird bestohlen - das ist so eine Art ausgleichender Gerechtigkeit. Auf der Straße lehnten Inspektor Corner, Sergeant Battle und drei andere Beamte in einem Hauseingang. Unentwegt beobachteten sie das erleuchtete Fenster der Juwelierswohnung. Auf dem Hof des Gebäudes, in dem sich Narvings Geschäft befand, standen ebenfalls drei Polizisten, und weitere hatten den ganzen Häuserblock abgeriegelt. Es handelte sich um eine Großaktion der Polizei, als deren Krönung Corner sich die Verhaftung des dreifachen Mörders auf frischer Tat vorstellte. Bisher sah es allerdings nicht danach aus. Alles blieb ruhig. Nichts rührte sich. Der Inspektor blickte auf seine Armbanduhr. »Dreiundzwanzig Uhr! Wir können anscheinend bis zum Morgen warten…« »Schöne Aussicht«, brummte Battle. »Und wenn er gar nicht kommt?« »Er wird kommen!« »Das sagen Sie so sicher, Chef.« Corner nickte: »Ich war mir nie sicherer!« »Was soll er denn ausgerechnet heute bei dem alten Hehler wollen?« meinte zweifelnd einer der Beamten. »Wollen? - Nichts Besonderes… Aber seine Angst wird ihn zu Narving treiben. Seine quälende, würgende Angst. Er hat Farmer erschossen und die gute Frau Pach erwürgt. Er wird versuchen, auch den Juwelier umzubringen, weil er sich von ihm verraten glaubt. Das ist alles…«
58
So standen sie Stunde um Stunde im feuchten Nebel der Nacht und starrten hinauf zu dem hellen Fenster in der ersten Etage des großen, ansonsten dunklen Hauses. War der Alte dort oben eingeschlafen, oder saß er über einem besonders interessanten Buch? Corner wurde von einer immer stärkeren Unruhe erfaßt. Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen. Schließlich sah er wieder auf die Uhr: drei Uhr morgens! Er gab noch eine Viertelstunde zu. Dann war er am Ende seiner Geduld. »Meine Herren, hier stimmt etwas nicht! Wenn Narving sein Geschäft um acht Uhr öffnen will, liest er doch nicht bis drei Uhr morgens! Er kann höchstens bei Licht eingeschlafen sein. Das werden wir aber feststellen. Los, gehen wir zu ihm hinauf.« Die Haustür war verschlossen und mußte erst mit einem Dietrich geöffnet werden. Leise ging es über die wenigen Stufen bis zur ersten Etage. Hier lag die Wohnungstür des Juweliers. In der Stille des schlafenden Hauses hörte man gedämpfte Radiomusik. Zweifellos drang sie aus Narvings Räumen. »Er ist tatsächlich noch auf!« flüsterte der Inspektor und griff nach der Klinke der Wohnungstür. Millimeter um Millimeter drückte er sie hinunter. Lautlos schwang die Tür auf. »Merkwürdig… er hat nicht abgeschlossen«, raunte Corner. Auf Zehenspitzen betraten sie den unbeleuchteten Flur. Gebannt blickten sie dabei auf den schwachen Lichtschein, der unter einer Tür hervorschimmerte. Einige Sekunden voller Ratlosigkeit folgten. Die Beamten standen in dem fremden Korridor und wußten nicht recht, wie sie sich weiter verhalten sollten. Konnten sie so einfach 59
in das Zimmer des Juweliers eindringen? Würde der Alte nicht zu Tode erschrecken? Wenn nur die verdammte Musik nicht gewesen wäre. Bei dem Gedudel war kein anderer Laut aus dem Zimmer zu hören… Corner preßte sein Ohr auf die Tür - eine, zwei Minuten … Plötzlich straffte sich seine Gestalt. Mit einer knappen Kopfbewegung gab er seinen Leuten einen Wink. Dann stieß er die Tür auf. Vor ihnen lag ein großer, auffallend elegant möblierter Raum. Die Deckenbeleuchtung war eingeschaltet und auch die Stehlampe. In ihrem Schein saß Clark Narving in einem Sessel, hatte eine Tabakspfeife in der Hand und sah den Eintretenden starr entgegen. Er sah sie zu starr an… Neben ihm - breit über die Sessellehne geflossen und auf dem Teppich eine matt spiegelnde Lache bildend - war Blut… »Zu spät…«, flüsterte Corner. »Wieder zu spät! Es ist zum Heulen!« Nach einer kurzen Untersuchung wandte er sich an die anderen: »Erstochen! - Ein genau gezielter Stoß ins Herz! Er muß sofort tot gewesen sein.« »Wie ist der Mörder hier hereingekommen?« fragte Battle mit zusammengebissenen Zähnen. »Wir haben doch sämtliche Eingänge und überhaupt jeden Winkel bewacht.« Corner nickte voller Grimm. »Das ist es, was meine Annahme bestätigt. Diese Bestie in Menschengestalt kennt sich überall genau aus. Er kennt alle Schliche, er kennt alle Geheimgänge, er ist mit allen Personen, die er umbringt, vertraut… leider aber auch mit sämtlichen Maßnahmen, die wir 60
planen und durchführen! Das aber bricht ihm das Genick. So wahr ich hier stehe!« Doch Clark Narving konnte das nicht mehr lebendig machen. Er mußte seinen Mörder gut gekannt und nichts Böses von ihm erwartet haben. Denn alles deutete darauf hin, daß zwischen dem Verbrecher und dem Opfer kein Kampf stattgefunden hatte. Erbittert stand Inspektor Corner mit seinen Leuten vor dem Toten. Trotz aller Bemühungen, trotz einer Großaktion hatte er das Leben des Juweliers nicht retten können. »Weiß Gott, er ist ein zu vollkommener Mörder!« knirschte der Inspektor, und sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn. »Nun wird er triumphieren: Ein Mord vor den Augen der Polizei! Doch vor lauter Triumph wird er übersehen, daß er sich mit dieser Tat endgültig die Schlinge um den Hals gelegt hat. Denn jetzt kenne ich den Täter!« Und leiser fügte Corner hinzu: »Ich wußte, daß das Leben dieses alten Mannes aufs höchste gefährdet ist, und tat alles, um eine neue Bluttat des Verbrechers zu verhindern. Anscheinend jedoch gibt es einen geheimen Weg in diese Wohnung.« Battle fuhr auf: »Wenn Sie den Täter kennen, warum verhaften Sie ihn dann nicht?« »Weil ich diesem abgefeimten Burschen seine Untaten noch nicht schlüssig beweisen kann. Noch sind die Indizien zu dünn - wenn sie auch stimmen! Ich muß ihn auf frischer Tat ertappen!« »Im ungünstigsten Fall kann das aber noch weitere Menschenleben kosten, Chef!« »Nein. Jetzt wird er nicht mehr morden. Er hat mit seinen Bekanntschaften gründlich aufgeräumt. Nun wird er nur noch in die Falle gehen, die ich ihm stellen werde.« 61
»Und wenn er es nicht tut?« »Er wird hineinrennen. Dieser Mörder ist nicht nur feige, er ist auch dumm, obwohl er sich klug vorkommt und seine Verbrechen mit geradezu teuflischem Raffinement ausführt. Verlassen Sie sich darauf, meine Herren, es gibt auf der ganzen Welt keine im üblichen Sinne intelligenten Verbrecher. Wenn überhaupt, dann sind sie zu klug, und dieses Zuviel wird in der Praxis stets zu einem Zuwenig.«
13
N
ach einer sorgfältigen Durchsuchung des Hauses wurde im Keller unter einem Berg von alten Kartons die Tür zu einem Geheimgang entdeckt. Dunkel, feucht und modrig lag er vor den Beamten. Mit starken Handscheinwerfern krochen Corner und Battle hinein. Der Gang war so eng und niedrig, daß sie nur geduckt vorwärtskamen. »Wenn am Ende dieses Schlauches einer auf uns wartet, kann er uns abknallen wie Luftballons auf einem Volksfest«, keuchte der Sergeant. »Es wird keiner warten.« Corner lächelte. »Ich sagte Ihnen ja schon, unser Mörder ist im Grunde genommen die personifizierte Feigheit!« Der Inspektor behielt recht. Hinter der Heizungsanlage des Häuserblocks in der Nebenstraße endete der Geheimgang. 62
Unbehelligt verließen ihn die beiden und eilten die Treppe zum Kellerausgang hinauf. Die offenstehende Tür bewies, daß der Mörder erst vor kurzer Zeit denselben Weg gegangen sein mußte. Auf der Straße tupfte Corner sich den Schweiß von der Stirn und lief zur nächsten Ecke, wo ein Polizist bedächtig hin und her ging und sein Revier bewachte. Der Inspektor rief ihn an: »Ist hier ungefähr vor einer Viertelstunde ein Auto vorbeigefahren?« »Jawohl!« nickte eifrig der Polizist. »Vor etwa fünfundzwanzig Minuten. Eine schwarze Rover-Limousine. Sie fuhr ganz langsam, und ein großer Herr saß am Steuer. Er hat mir freundlich zugewinkt…« »Wie nett!« Corner brüllte vor Wut. »Der freundliche Herr ist ein vierfacher Mörder!« Nachdem in der Wohnung des ermordeten Juweliers die in solchen Fällen üblichen polizeilichen Maßnahmen eingeleitet worden waren, fuhr Corner mit hoher Geschwindigkeit durch die noch leeren Straßen aus der City hinaus in Richtung Richmond. Sein Assistent Battle begleitete ihn, wenn er sich auch nicht zusammenreimen konnte, warum Corner ausgerechnet um diese Zeit zu Sir John Marshall wollte. Kurz vor Marshalls Haus hielt Corner an, befahl Battle, im Wagen zu warten, und ging das letzte Stück zu Fuß. Als er an der Villa angelangt war, kletterte er über den Zaun und schlich durch den Park an das Haus heran. Er umging es, wandte sich dem Nebengebäude zu und verhielt kaum atmend - vor der Garage. 63
Ohne das geringste Geräusch zu machen, drückte er die Klinke herunter. Die Garage war jedoch verschlossen. Mit einem Dietrich öffnete er das Schloß, zog einen Revolver und stieß die Tür mit dem Fuß auf. Nichts rührte sich in dem dunklen Raum. Vorsichtig schob er die Türflügel wieder an den Rahmen und ließ seine Taschenlampe aufblitzen. Suchend huschte ihr Schein über die abgestellten Wagen: ein großer, dunkelroter Jaguar, der helle Sportwagen Evelyns und der breite, schwarze Rover. An Rädern und Kotflügeln klebte frischer Straßenschmutz. Langsam streckte der Inspektor seine Hand zur Kühlerhaube aus… Gleich darauf vergaß er seine Umgebung und pfiff begeistert durch die Zähne: Der Kühler war noch warm! Der Wagen mußte vor kurzer Zeit noch gefahren worden sein! »Na also, mein Lieber«, murmelte er, als er die Garage verließ. »Jetzt können wir endlich eine andere Sprache miteinander sprechen!« Lautlos ging er durch den Park zurück. In der Nähe des Zaunes blieb er plötzlich stehen. Hatte da nicht dicht neben ihm ein Zweig geknackt? Mit einem Schwung warf er den Körper herum und riß den Revolver hoch. Doch es war zu spät. Er sah einen großen Schatten zwischen den Bäumen stehen, sah das helle Mündungsfeuer eines Schusses aufflammen, hörte eine dumpfe Detonation - Schalldämpfer! dachte er noch, dann fühlte er einen rasenden Schmerz und stürzte besinnungslos zu Boden.
64
In den Mittagsblättern erschien an unauffälliger Stelle eine kurze Notiz: »Inspektor Henry Corner von Scotland Yard wurde heute in den frühen Morgenstunden bei der Verfolgung eines Verbrechers auf dem Grundstück des Großindustriellen Sir John Marshall erschossen. Die Fahndung nach dem Täter ist aufgenommen worden.« Ohne besondere Anteilnahme überflog man die wenigen Zeilen. Gewiß, der arme Kerl konnte einem leid tun, aber wer einen solchen Beruf ergreift, muß halt mit dieser bitteren Möglichkeit rechnen… Kurz nach dem Erscheinen der Zeitungen tauchte Dr. Pat Woodrof in der Villa von Sir John Marshall auf. Der Anwalt war über den tragischen Vorgang in der unmittelbaren Umgebung seines Klienten aufs höchste erregt. Voller Mitgefühl lauschte er den Worten Evelyns, die bei seinem Anblick in Tränen ausbrach: »Es ist schrecklich, Doktor, erst stiehlt man uns den Rover, um mit ihm zu einem Mord zu fahren, und dann wird in unserem Park der gute Corner erschossen. Mein Vater ist ganz krank vor Aufregung und fühlt sich unfähig, ins Büro zu gehen. Wollen Sie mit ihm sprechen?« »Es wäre mir sehr recht, gnädiges Fräulein.« Sir John saß in seinem Schlafzimmer in dicke Decken gehüllt. Sein Gesicht war eingefallen, und seine Hände zitterten, als er den Anwalt begrüßte. »Auf meinem Haus scheint neuerdings ein Fluch zu lasten«, sagte er mit schwacher Stimme. »Es ist zuviel für mich. Ich beginne zu resignieren.« Woodrof ereiferte sich in seiner Anteilnahme: »Aber Sir John! Bloß das nicht!« Beschwörend hob er die Hände. »Sie brauchen Ruhe, nichts als Ruhe, um diesen Schock zu überwinden! Fahren Sie doch für ein paar Tage nach Schottland. 65
Dort werden Sie bald wieder auf andere Gedanken kommen und Ihre alte Kraft zurückgewinnen.« Mit ehrlich besorgten Augen sah er den sonst so vitalen Mann an. Plötzlich schien ihm eine Idee gekommen zu sein: »Gern erkläre ich mich bereit, für die kurze Zeit Ihrer Abwesenheit Ihre Geschäfte zu führen. Heute abend kommen doch die Herren aus Indien. Da ich in Ihre Pläne eingeweiht bin, kann ich die nötigen Besprechungen ohne weiteres allein führen. Die Verhandlungen werden so verlaufen, als ob Sie selbst hinter Ihrem Schreibtisch säßen…« Überrascht horchte Marshall auf. Der Vorschlag hatte etwas Verlockendes. Er sah auf seine Hände, die schmal, aber sehnig in seinem Schoß lagen. Als Woodrof wieder zu sprechen begann, klang seine Stimme gedämpft und bebte leicht: »Schade um den armen Corner, ich habe ihn gern gemocht. Er war ein lebensbejahender Mensch und lachte so gern…« »Sie sind ein guter Freund«, sagte Sir John und schien gerührt. »Ich habe mir Ihren Vorschlag überlegt und nehme ihn an. Sie haben recht, ich werde ein paar Tage ausspannen und Sie für diese Zeit mit meiner Vertretung beauftragen.« Ehrerbietig drückte Woodrof die Hand des vom Schicksal so Getroffenen. »Sie werden diesen Beschluß nicht zu bereuen haben, Sir.«
66
14
I
n Scotland Yard saß Inspektor Corner unterdessen sehr lebendig an seinem Arbeitstisch und sichtete eingegangene Meldungen. Den linken Arm trug er in einer Binde. Ab und zu griff er nach der Schulter, in der es äußerst schmerzhaft rumorte. Der Schuß des Unbekannten hatte gesessen. Aber nicht genau genug, um Corners Leben auszulöschen. Immerhin sollte der Verbrecher das glauben und sich in Sicherheit vor seinem Verfolger wiegen. Zu diesem Zweck war auch die Notiz von dem Tod des Kriminalinspektors in die Presse lanciert worden. Daß er nicht verblutet war, hatte er Battle zu verdanken, der nach kurzer Zeit unruhig geworden war und ihn gesucht hatte. Er war es auch gewesen, der ihn unauffällig ins Krankenhaus geschafft hatte, wo Corner wieder zusammengeflickt worden war. Jetzt unterbrach Corner seine Arbeit. »Sehen Sie mal auf die Uhr, Battle, wie spät ist es?« »Genau fünfzehn Uhr vierundzwanzig, Chef!« Nachdenklich zog Corner an seiner Zigarette. Ein paar tiefe Lungenzüge taten bei den bohrenden Schmerzen in dem frisch operierten Arm gut. »Hm…«, brummte er endlich, »fünfzehn Uhr vierundzwanzig… Passen Sie auf, Sergeant: Morgen früh, spätestens um sieben Uhr, haben wir den Mörder von Finchley hier im Yard oder sonst irgendwo zu unseren Füßen…« 67
Wenig später fuhr der große Einsatzwagen von Scotland Yard mit Corner, Battle und sechs Polizisten durch London. Die Straßen lagen wie ausgestorben, denn ein scheußlicher Regen ergoß sich aus grauen, sich jagenden Wolken. Die mürrische Stimme des Fahrers unterbrach das mißmutige Schweigen: »Wo geht es denn eigentlich hin, Herr Inspektor? Sie haben mir noch keine genauen Anweisungen gegeben.« Corner tauchte aus seinen Gedanken auf. »Fahren Sie bis Sutton zur Polizeiwache. Dort werden wir warten…« Gegen siebzehn Uhr erfuhr Corner von Scotland Yard, daß Evelyn Marshall dort angerufen und den Nachfolger von ihm hatte sprechen wollen. Sofort wählte er die Nummer der Villa. Das junge Mädchen war selbst am Apparat. Corner meldete sich als Sergeant Battle. Evelyn wollte im Namen ihres Vaters wissen, wann das Begräbnis des erschossenen Inspektors stattfinden würde. Corner zögerte mit der Antwort. Dann sagte er mit getragener Stimme: »Er wird nicht vor nächster Woche begraben werden. Erst müssen wir seinen Mörder finden. So lange bleibt der Inspektor über der Erde.« Evelyn schien mit den Tränen zu kämpfen. Schwach klang es aus dem Hörer: »Dann kann mein Vater an der Beisetzung teilnehmen… Augenblicklich ist er krank und wird für einige Tage London verlassen.« Corner stutzte. Instinktiv kam seine Frage: »Wer vertritt dann Ihren Herrn Vater während seiner Abwesenheit?« »Sein Rechtsbeistand, Dr. Woodrof…« Mit hochgezogenen Augenbrauen und einem anerkennenden Lächeln auf den Lippen legte der Inspektor den Hörer auf die Gabel zurück. 68
Die erste Besprechung mit den Herren aus Indien hatte in den Abendstunden ihr Ende gefunden. Dr. Woodrof war mit dem Verlauf der Verhandlungen sehr zufrieden. In bester Laune saß er im Büro Sir John Marshalls und dachte an den morgigen Tag. Das Schrillen des Telefons riß ihn aus seinen spekulativen Gedanken. Einen Moment lang war er verwirrt. Das Telefon? Die Zentrale mußte doch wissen, daß Sir John nicht im Büro war und er nur als sein Vertreter hier am Schreibtisch saß. Warum legte man also noch zu dieser Stunde ein Gespräch auf den Chefapparat? Wieder schrillte die Glocke. Lang und anhaltend… Plötzlich schlug der Anwalt sich mit der flachen Hand an die Stirn: Wie konnte er nur so nervös sein! Natürlich, die indischen Verhandlungspartner würden noch eine Rückfrage haben! Rasch griff er zum Hörer und meldete sich unter dem Namen der Firma. Aus der Leitung ertönte eine schwere, rauhe Stimme: »Herr Dr. Woodrof?« Der Anwalt horchte mißtrauisch auf. Diese kehlige Stimme gefiel ihm nicht. Zurückhaltend fragte er: »Am Apparat… Was wünschen Sie?« Nach kurzer Pause dröhnte dieses hart rollende Organ erneut an sein Ohr: »Hier Sergeant Battle von Scotland Yard. Herr Doktor, Sie haben doch ein Interesse daran, daß der Mörder gefaßt wird?« Stirnrunzelnd sah Woodrof an die Decke und nickte mechanisch. »Aber ja, das wissen Sie doch«, sagte er langsam. »Haben Sie ihn denn endlich geschnappt?«
69
»Noch nicht!« Battle zögerte einen Augenblick, dann stellte er dem Anwalt eine merkwürdige Frage: »Wollen Sie nicht die Verteidigung des Mörders übernehmen?« Woodrofs Gesicht erstarrte. Verblüffung spiegelte sich in seiner Miene, und in seiner Stimme schwang Unsicherheit: »Ich die Verteidigung? - Wie kommen Sie auf solch eine Idee?« »Ich nicht… Unser oberster Chef wollte es wissen.« »Hm… Soweit sind Sie also schon. Fühlt man sich im Yard der Sache wirklich so sicher?« »Sehr sicher sogar, Herr Doktor. Ihnen kann ich es ja sagen…«, die Stimme Battles wurde so leise, daß Woodrof sie kaum noch verstand. »Morgen, spätestens gegen sieben Uhr früh, wollen wir den Schlupfwinkel des Verbrechers ausheben. Das ist so ein Versteck, wo er seinen ganzen Kram hingepackt hat. Beutegut und so, verstehen Sie? Jedenfalls Material genug, um ihn eindeutig zu überführen.« Und wieder lauter werdend: »Na, Herr Doktor, wie ist es ? - Wollen Sie bei dieser Gelegenheit den Mörder kennenlernen?« »Natürlich - wollte ich ja schon immer.« »Dann nehmen Sie doch teil an der Razzia.« Woodrof folgte dem Gespräch nur noch oberflächlich. Was dieser Kerl doch für eine widerliche, knotige Stimme hat, mußte er immer wieder denken. Und: Wie er sich bläht und spreizt, dieser subalterne Polizeiknecht… »Hallo, hallo…«, röhrte es ungeduldig aus der Leitung. »Sind Sie noch am Apparat, Herr Doktor?« Nervös konzentrierte Woodrof sich: »Selbstverständlich ich habe nur Ihre letzten Worte nicht verstanden.« Battle räusperte sich vernehmlich: »Ich fragte, ob Sie morgen nicht bei der Razzia mitmachen wollen.« 70
»Vielleicht«, murmelte Woodrof, »ich will sehen. Ich rufe Sie noch an, Sergeant.« Als er den Hörer wieder aufgelegt hatte, saß der Anwalt lange Zeit mit geschlossenen Augen bewegungslos in seinem Sessel. In dem matten Schein der Schreibtischlampe glich sein Gesicht einer Maske, die merkwürdig belebt wurde durch das leise Zucken seiner zusammengekniffenen Lippen. Es schien, als ob dieser Mund sich immer wieder verzerrte wie der eines Kindes, das mit einem schmerzvollen Aufweinen kämpft. Auf einmal aber kam Leben in seinen Körper. Mit einer entschlossenen Geste sprang er auf, nahm seinen Mantel und Hut aus dem Garderobenschrank und verließ mit schnellen Schritten den Raum. Auf der Straße stieg er in seinen Wagen und verließ mit hoher Geschwindigkeit die Innenstadt.
15
E
s war gegen zwei Uhr morgens, als das Telefon in der Wachstube von Sutton schellte. Corner, der auf einem Feldbett lag, sprang wie elektrisiert auf. Battle war jedoch schneller und griff nach dem Hörer. »Hier Sergeant Battle«, meldete er sich mit heiserer Stimme.
71
Der Inspektor hatte inzwischen den zweiten Hörer ergriffen und lauschte erregt der dienstlich-nüchternen Meldung eines seiner Polizeiposten. »Er hat eben das Haus verlassen und geht zu Fuß. Der Mann ist folgendermaßen bekleidet: langer, fast bis auf die Erde reichender Regenmantel, brauner Hut mit breitem Rand, tief ins Gesicht gedrückt. Er trägt Gummischuhe. Sergeant Serk meldete eben, daß er ihn passiert hat in Richtung Friedhof von Croydon. Er wird weiter beobachtet von Sergeant Burker. Ende…« »Danke«, sagte Battle und hängte ein. Dann sah er seinen Chef groß und verständnislos an: »Wer ist ›er‹, Chef?« »Der Mörder, Battle…« »Und den lassen Sie so einfach durch die Gegend spazieren?« Corner nickte und zog sich ohne Hast den Mantel an: »Warum denn nicht? Keine Sorge… Noch einmal soll er uns nicht an der Nase herumführen. Jetzt fassen wir ihn!« Er blickte auf die Uhr. »Wir haben noch ungefähr fünfundzwanzig Minuten Zeit… Nur, daß er zu Fuß geht, gefällt mir nicht…« Langsam trat er an den Tisch und setzte sich auf dessen Kante. Wie geistesabwesend sah er auf das Telefon. Dabei nahm er aus der Manteltasche eine Pistole und lud sie durch. Der linke Arm schmerzte höllisch bei dieser Bewegung, er ließ sich jedoch nichts anmerken und steckte die Waffe wieder ein. Battle folgte jeder seiner Bewegungen. Gespannt stieß sein Kopf vor: »Wird's knallen, Chef?« »Damit können wir mit einiger Bestimmtheit rechnen, Sergeant…« 72
In der nächsten Sekunde ließ das erneute Schrillen des Telefons beide zusammenfahren. Sergeant Burker war am Apparat und meldete: »Eben hat er den Friedhof betreten und ist im Bereich der Familiengrüfte verschwunden. Wir haben das Gebiet sofort abgeriegelt. Die Scheinwerfer sind in Stellung gebracht. Was sollen wir tun?« »Abwarten!« befahl der Inspektor mit ruhiger Stimme. »Wir kommen sofort…« Die Nacht war dunkel und voll Regen. Unaufhörlich rauschte er aus den tiefhängenden Wolken, und die Finsternis war fast undurchdringlich. Der große Einsatzwagen von Scotland Yard glitt in schneller Fahrt durch aufspritzende Wasserlachen und hielt in fünfhundert Meter Entfernung vom Friedhof in Croydon an. Die Polizisten stiegen aus und gruppierten sich um den Inspektor, der die letzten Anweisungen gab: »Der Friedhof hat die Form eines Rechtecks… An jeder kurzen Seite steht ein starker Scheinwerfer. Battle und drei Mann kommen mit mir. Die anderen halten das Gelände von außen unter Beobachtung. Battle, Sie nehmen die Maschinenpistole, und Sie…«, er zeigte auf zwei Polizisten, »schnappen sich die Tränengasbomben, und Sie folgen uns mit den zusätzlichen Scheinwerfern. Burker leitet den Einsatz der Geländescheinwerfer. Und dann: Wenn Schüsse zu hören sind, kümmern die Bewacher der äußeren Linie sich nicht darum! Erst wenn sie einen Flüchtenden sehen, dürfen sie eingreifen… So, und nun los, meine Herren!« Lautlos verteilten sich die Polizisten über den Friedhof.
73
Durch die stummen Reihen der Grabkreuze huschte ein Mann. Wenn er sich bückte, um den vor Nässe tropfenden Büschen und Baumzweigen auszuweichen, schleifte sein langer Mantel über den lehmigen, aufgeweichten Boden. Er achtete nicht darauf und rannte in fliegender Hast weiter. Erst vor einem Grabmal in der Form eines Tempels blieb er stehen. Gehetzt sah er sich nach allen Seiten um und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Es war jedoch nichts zu hören. Nur das stoßweise Keuchen seines eigenen Atems und das gleichmäßige Trommeln des Regens auf das Blechdach des Grabtempels. Nun kam wieder Bewegung in die schattenhafte Gestalt des Mannes. Er ließ seine Taschenlampe kurz aufblitzen und tastete sich zu der kleinen, verrosteten Tür, die in die ausgemauerte alte Gruft führte. Langsam stieg er die verwitterten, glitschigen Steinstufen zur Gruft hinab und ließ den Schein seiner Lampe kreisen. Drei verstaubte Särge standen auf dem feuchten Boden. Es roch nach Moder, Verwesung und Erde… Aufatmend setzte er sich auf den Deckel des einen Sarges und wischte die Regentropfen aus seinem Gesicht. »Geschafft!« murmelte er. »Jetzt noch die Sachen geholt, und das Spiel ist gewonnen!« Er knöpfte den Mantel auf und begann, die Schrauben des einen Sarges, der in der Nähe der Treppe stand, zu lösen. Sorgfältig legte er sie auf die Erde, klemmte die Taschenlampe in einen Mauerriß und arbeitete weiter. Als alle Schrauben entfernt waren, hob er mit einer Eisenstange, die in der Ecke lag, den schweren Sargdeckel hoch. Der Schrein war leer… Die Leiche, die darin gelegen hatte, mußte schon vor längerer Zeit entfernt worden sein, 74
denn die Papiere und Kleider, die sich im Sarginneren häuften, waren bereits angeschimmelt. Oben auf dem Friedhof schlichen von allen Seiten die Polizisten an den Tempel heran. Corner stand dicht am Eingang, und als der Ring geschlossen war, hob er die Hand… In derselben Sekunde flammten vier starke Scheinwerfer auf und tauchten das Grabmal in gleißendes Licht. Die Pistole in der Hand des Inspektors blitzte. Er beugte sich weit vor und schrie mit lauter Stimme: »Kommen Sie herauf! - Das Spiel ist aus!« Der Mann hatte sich gerade wieder erhoben und seinen Mantel zugeknöpft, als plötzlich dieser taghelle Schein über die Treppe in die Gruft fiel. Fluchend sprang er an die Mauer und zertrümmerte mit einem Hieb die Taschenlampe. Dann riß er eine Pistole aus der Tasche… Beim Klang der Stimme Corners brach der Schweiß aus seinen Poren, und eine wahnsinnige Angst drohte ihn zu lähmen. Sein Gesicht wurde fahl, und er schien zusammenzufallen. Wieder dröhnte diese fürchterliche Stimme durch das Gewölbe der Gruft: »Kommen Sie augenblicklich herauf! Oder soll ich Sie holen?« Sekunden später hörte der Mann Schritte auf der Treppe. Da hob er die Hand und drückte ab. Der Schuß krachte donnerartig und zerriß ihm fast das Trommelfell. Steinsplitter surrten durch die Luft. Die Schritte eilten zurück. »Lassen Sie den Blödsinn!« brüllte der Inspektor. »Ich räuchere Sie sonst ein wie einen Schinken!« 75
»Holen Sie mich doch, Sie verdammter Kerl!« tobte der Mann. Rasend vor Wut sprang er vor und schoß in die Helligkeit hinein. Eine Garbe aus der Maschinenpistole war Battles Antwort. Sofort stoppte der Inspektor die Schießerei. Seelenruhig setzte er sich auf einen Stein neben den Eingang des Tempels und machte eine beruhigende Handbewegung. »Nur nicht in Unkosten stürzen, meine Herren. Oder wollen Sie sich von dem Kerl die Knochen zerschießen lassen? - Wir haben Zeit - aber der Knabe da unten nicht! Und nun, Sergeant Serk, geben Sie mir mal die Tränengasbombe!« Einen Augenblick lang wog Corner die kleine gläserne Flasche in der Hand… Dann beugte er sich vor und warf sie in die Gruft. Klirrend zerschellte sie auf dem Steinboden. Ätzend stiegen weiße Schwaden die Treppe empor. Der Mann im Regenmantel war weit zurückgewichen, als die Flasche zerbarst. Das Gas trieb ihn zur Raserei. »Ihr Bluthunde!« heulte er. »Trotzdem bekommt ihr mich nicht!« Er zerrte ein Taschentuch aus dem Mantel, tunkte es in eine Pfütze am Boden und drückte es gegen Mund und Nase. Stöhnend warf er sich hin und kroch zur Treppe, wo ein frischer Luftstrom das Gas in Bewegung hielt. Als sich ein Schatten im Scheinwerferlicht zeigte, schoß er sofort. Es war Battle, an dem die Kugel um Millimeter vorbeipfiff. In der gleichen Sekunde zersplitterte eine neue Tränengasbombe neben dem Verbrecher. Ächzend wälzte er sich auf den Rücken und schnappte gierig nach Luft. Dabei fiel der Schein der starken Lampe voll auf sein lehmverschmiertes Gesicht. Es war verzerrt vor Angst und Grauen, blau angelaufen und fast unkenntlich. Und dennoch erkannte Battle mit einem schnellen Blick dieses Gesicht. Er 76
starrte es an und wollte einen Namen rufen. Doch vor erschrecktem Staunen brachte er keine Silbe über die Lippen… Der Anblick lähmte Battle. Diese momentane Fassungslosigkeit mußte er teuer bezahlen. Ein Schuß krachte, und wie vom Blitz getroffen stürzte der Sergeant zu Boden. Diesmal hatte der Verbrecher besser gezielt. Ungeachtet der Gefahr sprang der Inspektor mitten ins Scheinwerferlicht und zerrte den Verwundeten in die schützende Dunkelheit. »Mensch, Battle, was machen Sie für Dummheiten!« polterte er mit bewegter Stimme und nahm den Kopf seines Sergeanten in beide Hände. Der aber schien ihn gar nicht zu hören. Grenzenlose Überraschung stand in seinen weit aufgerissenen Augen, als er mit röchelnder Stimme sagte: »Dort unten, Chef… Das ist ja der Anwalt Dr. Woodrof!« »Nein, Battle, er ist es nicht«, flüsterte der Inspektor ganz dicht am Ohr des Sterbenden, »das ist Jonny, sein Bruder… Der Tote von Finchley, der Mensch ohne Gesicht, war Dr. Pat Woodrof!« Das war das letzte, was Sergeant Battle auf dieser Erde hörte. Sein Kopf sank kraftlos zur Seite. Erschüttert verharrte Corner noch einen Augenblick an der Leiche seines treuen Assistenten, dann richtete er sich wieder auf. Finstere Entschlossenheit und maßlose Erbitterung standen in seinem Gesicht, als er sich vorsichtig dem Tempeleingang näherte. Es war merkwürdig still. Nur der keuchende, rasselnde Atem des Mörders drang aus der Gruft. Auf einen Wink des Inspektors verlöschten schlagartig sämtliche Scheinwerfer. Im Schutz der Dunkelheit beugte 77
Corner sich weit vor und rief mit durchdringender Schärfe: »Jonny Woodrof, Ihr fünftes Opfer klagt Sie an! - Das letzte Mal: Kommen Sie herauf und stellen Sie sich!« Ein gurgelnder Aufschrei war die Antwort: »Lieber hier sterben als durch den Henker!« Im gleichen Moment hörte man schwere, taumelnde Schritte die Treppe hinaufstolpern. »Scheinwerfer an!« brüllte Corner und schnellte zur Seite. Das Licht sprang in die Dunkelheit und tauchte den Tempelausgang in Tageshelle, in dem unversehens die Riesengestalt des wild um sich schießenden Mörders erschien. »Deckung!« kommandierte der Inspektor, aber schon schrien zwei getroffene Polizisten auf. Sekunden nur dauerte der Kugelwechsel. Plötzlich streckte der Mann im langen Mantel mit einer fast theatralischen Geste die Arme ins Licht, drehte sich im Zeitlupentempo herum und stürzte dumpf aufschlagend zu Boden. Wie versteinert stand der Inspektor eine Weile vor dem leblosen Körper Jonny Woodrofs. Dann wandte er sich an einen der Polizisten: »Rufen Sie Scotland Yard an und melden Sie: Die Bestie von Finchley ist tot!«
16
E
inige Tage nach dem blutigen nächtlichen Kampf auf dem Friedhof von Croydon saßen Corner, Evelyn und Sir John Marshall sich am Teetisch gegenüber. 78
Der Inspektor hatte die erste sich bietende Gelegenheit benutzt, um sich den beiden als ›doch noch lebend‹ vorzustellen und ihnen Sinn und Zweck der lancierten Pressemeldung über seinen Tod zu erklären. Dabei kam das Gespräch nochmals auf das tragische Ende des Rechtsanwalts Dr. Pat Woodrof durch die Hand seines Bruders. Evelyn schüttelte ungläubig den Kopf: »Nie hätte ich diesen vermeintlichen Doktor Woodrof für einen - wie man so sagt - geborenen Verbrecher gehalten, für einen in seiner Hemmungslosigkeit und Grausamkeit beispiellosen Massenmörder…« »Ich kann das verstehen«, nickte der Inspektor, »und ich bin auch davon überzeugt, daß er in jener Nacht keinesfalls mit einer festen Mordabsicht zu Pat gekommen ist. Durch einen Streit muß er plötzlich jede Kontrolle über sich verloren haben. Und erst nach dem Brudermord wurde er dann zu einem bedenkenlos tötenden Ungeheuer. Zweifellos aus panikartiger Angst vor der Entdeckung seines schauerlichen Verbrechens.« Interessiert beugte Sir John sich vor: »Wie sind Sie eigentlich auf seine Spur gekommen?« »Das ist schnell erzählt: Nach der Aussage Ihrer Tochter, die von einer verblüffenden Ähnlichkeit zwischen dem angeblichen Dr. Pat Woodrof und dem Käufer des Blaufuchses gesprochen hatte, war ich natürlich auf die Persönlichkeit Woodrofs aufmerksam geworden. Zunächst allerdings nur im Unterbewußtsein. Denn wer sollte schon auf die Idee kommen, daß dieser angesehene Mann tatsächlich mit diesen grausamen Verbrechen in Verbindung stand? - Aus diesem flüchtigen Interesse an Woodrof aber wurde ein handfester Verdacht, als mir der ›Anwalt‹ erzählte, daß sein Bruder in 79
Indien gestorben sei, und wir den Grabbetrug feststellten. Wie das so ist: Nun reihte sich eine Belastung an die andere… Ich entdeckte zum Beispiel bei einer oberflächlichen Untersuchung seiner Wohnung Blutspuren zwischen den Steinen auf der Terrasse. Viel schwerer aber wog die Sache mit der Narbe. - Da hatte das Schicksal dem Mörder einen verhängnisvollen Streich gespielt. Jonny Woodrof konnte nicht wissen, daß sein Bruder eine Gallenblasenoperation durchgemacht hatte. Die Operationsnarbe ließ aber vermuten, wer der Tote war. Jetzt tastete ich mich an Jonny heran… Ich fragte ihn nach einer Armverletzung, die Pat nie hatte, und prompt fiel er darauf herein. Aber noch hatte ich keine hieb- und stichfeste Gewißheit. Ich mußte daher zu einem Gewaltakt schreiten: Jonny wurde in meinem Auftrag von Polizeibeamten überfallen und entführt. Im Yard ließ ich den Betäubten ausziehen und fotografieren. Nun war der Fall klar: Der angebliche Dr. Woodrof hatte keine Operationsnarbe!« »Inspektor, Inspektor«, lächelte Sir John, »Sie überfallen Menschen und lassen Aktaufnahmen von ihnen machen. Dürfen Sie denn das?« »Um Gottes willen«, wehrte Corner ab. »Natürlich nicht! Aber im Kampf gegen diesen gefährlichen Verbrecher war mir jedes Mittel recht, um seine Mordserie zu beenden. Anders konnte ich ihn nicht überführen. Bei späteren nochmaligen Untersuchungen stellte sich auch heraus, wie er in das Haus seines zweiten Opfers, Ben Farmer, eindrang. Er benutzte tatsächlich das niedrige, baufällige Dach als Ein- und Ausstieg, wobei er jeweils die Spuren sorgfältig verwischte. Bei dem Dreck in der Hütte fiel das sowieso nicht weiter auf.« Corner schüttelte bekümmert den Kopf. »Nach dem tragischen Ende von Frau Pach war mir klar, daß der Täter 80
von unseren Maßnahmen genau unterrichtet sein mußte. Die Aussage der Pensionswirtin hatte ich nur dem angeblichen Anwalt erzählt. Ich ahnte natürlich nicht, daß dies das Todesurteil für die Ärmste bedeutete … Doch nach diesem schrecklichen Ereignis wußte ich, wie ich ihn endgültig stellen konnte. Ich erwähnte in einem Gespräch den Namen des Hehlers Narving, den er von früher her kannte, und war überzeugt davon, daß er versuchen würde, auch diesen Zeugen zum Schweigen zu bringen. Wir taten alles, um das Leben des Juweliers zu schützen. Leider war uns jedoch unbekannt, daß zu seinem Haus ein Geheimgang führte… Wir fanden ein viertes Opfer vor. Aber er machte noch einen groben Fehler, den er vermutlich als besonders intelligent einstufte. Bei den ersten Mordunternehmungen fuhr er seinen eigenen Wagen, für den Mord an dem Juwelier ›stahl‹ er Ihr Auto, um eventuelle Verdachtsmomente in die falsche Richtung zu lenken. Damit hatte das Monstrum sich selbst zur Strecke gebracht, auch wenn ich beinahe in Ihrem Garten hätte dran glauben müssen. Bei allem dürfen wir jedoch nicht übersehen, daß es vielleicht niemals gelungen wäre, den Mörder zu stellen, wenn er nicht bereits vor der Tat den größten Fehler gemacht hätte. Und dieser Fehler bestand darin, daß er Fräulein Evelyn auf der Straße angesprochen und am nächsten Tag den Blaufuchs für sie gekauft hatte. Dadurch öffnete er seinem düsteren Schicksal weit die Tür…«
81