Band 47 der Fernseh-Serie Raumpatrouille
Hans Kneifel
Die Hypnobasis Seit ihrer Rückkehr vom Kreuzweg der Dimensionen...
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Band 47 der Fernseh-Serie Raumpatrouille
Hans Kneifel
Die Hypnobasis Seit ihrer Rückkehr vom Kreuzweg der Dimensionen, bei der die ORION-Crew 66 Erdjahre „übersprungen" hat, sind Cliff Alistair McLane und seine Freunde kaum aus ihren Raumkombinationen herausgekommen. Immer wieder wurden rätselhafte Hinterlassenschaften der beiden kosmischen Urmächte aktiv, die zwar selbst ausgeschaltet sind, die aber in ihren Erben und hinterlassenen Werkzeugen Nachkommen gefunden haben, die auch heute noch das bekannte Universum in ein Chaos stürzen können. Jedesmal, wenn Hinterlassenschaften des Kosmischen Infernos im Sonnensystem aktiv wurden, mußten die Raumfahrer der ORION „Feuerwehr" spielen. Oftmals verstießen sie dabei gegen eindeutige Befehle ihrer Vorgesetzten, aber jedesmal gab der Erfolg ihnen recht. Genauso war es, als der KRISTALL DES TODES im Sonnensystem materialisierte. Admiral Mahavira, Kommandeur der 4. Strategischen Raumflotte der Erde und Stellvertreter des Oberbefehlshabers der Terrestrischen Raumstreitkräfte, schaltete sich ein und setzte den „wiedergeborenen" Galaktischen SicherheitsDienst matt - und damit die ORION-Crew, die vorübergehend dem GSD unterstellt war. Die Folgen für die Erde waren katastrophal, und sie drohten noch katastrophaler zu werden, denn die vom Todeskristall ausgesandten Impulse ließen nicht nur die davon getroffenen Menschen in kristalline Erstarrung verfallen, sondern drohten auch die Erde in einen gigantischen Kondensator mit der Atmosphäre als Dielektrikum zu verwandeln, was mit einer Vernichtung alles irdischen Lebens geendet hätte. In diesem Stadium setzte die ORION-Crew, diesmal mit Billigung der Erdregierung, wieder einmal alles auf eine Karte. Sie ließ sich vom Todeskristall einfangen und nahm den Kampf mit dem darin hausenden Monstrum auf, das sie durch parapsychische Impulse dazu zwingen wollte, sich gegenseitig umzubringen. Der Kampf endete mit einem Sieg der ORION-Mannschaft. Doch bevor der Todeskristall sich auflöste, sandte er noch einen starken Hyperimpuls aus. Bei der Suche nach dem Bestimmungsort des Hyperimpulses gerät die ORION-Crew in DIE HYPNOBASIS...
1.
gehabt hatte, seine Bezüge als Commander auszugeben, verfügte über genügend Cliffs Lungen füllten sich mit der würMittel, diesen Turm zu mieten. Dies war zigen Seeluft. Hier oben war das Geräusch der einfachere Teil gewesen - die Suche der Brandung sehr leise und beruhigend. hatte drei Tage lang gedauert, allerdings Das Panorama war überwältigend: jeweils nur ein paar Stunden. dreihundertsechzig Grad Felsen, Meer, „Meinst du nicht, daß es etwas zu abgeSandstrand, Brandung, Uferwald, Meer, legen ist?" Wolken und die ferne Silhouette einer moArlene, die mit hinreißendem Erfolg dernen, kleinen Siedlung. Darüber der versucht hatte, Anteil an der neuen Mode herrliche Himmel des Carpentariagolfs mit zu nehmen, trug einen zitronengelben Hoeinem Streifen senanzug von sehr kleiner, watteweikühnem Zuschnitt. Die Hauptpersonen des Romans: ßer Wolken. Aus Der Seewind beCliff Mclane — Der ORION-Komman-dant dieser Synthese der wegte die Krempe fliegt mit seiner Crew ins Dreilandschaftlichen eines riesigen Hutes sonnensystem. Schönheit dieses von gleicher Farbe. Tunaka Katsuro — Der Direktor des GaUferstreifens auf Arlene lehnte sich laktischen Sicherheitsdienstes gibt ein Arnhemland, dem an Cliffs Schulter. Fest. westlichen Strand „Wir werden hier des riesigen nicht sehr lange Han Tsu-Gol — Regierungschef der Erde. Carpentariagolfs, wohnen. Ich meine, Arlene Mayogah — Die dunkelhäutige erhob sich ein wir haben — wie Schönheit rettet einen Planeten. merkwürdiges früher — nur Bauwerk. Auf der zwischen einzelnen obersten Plattform standen Arlene Einsätzen Zeit, uns zu erholen. Und dafür Mayogah und Cliff Alistair McLane. ist dies der beste aller nur denkbaren „Ich bin sicher, daß ich Sonderlinge Plätze. Einverstanden?" mag. Besonders diejenigen, die Türme an „Mit einigen Umbauten und nach einer Stränden, hoch über der Brandung, teilweise geänderten Innenausstattung ... erbauen lassen. Luxustürme, wohlgemir gefällt es!" stimmte sie zu. merkt!" Die Tage, die unmittelbar hinter ihnen Vor Jahrhunderten mochte hier ein lagen, wirkten in ihnen nach. Erst jetzt Leuchtturm gestanden haben. Jetzt erhob begriffen sie langsam die ganze Tragweite sich aus dem Ausläufer des dunkelgrünen, der Erlebnisse und der Konsequenzen des uralten Uferwaldes und aus dem gepflegunendlich lange zurückliegenden Kosmiten Rasen des kleinen Parks ein mehr als schen Infernos. Und was sie besonders tief zwanzig Meter hoher Turm, schneeweiß traf, war die immer wieder neue und und glatt, mit vielen großen Panoramatrotzdem melancholisch stimmende Fenstern und kleinen Terrassen, mit einer Erkenntnis, daß auch die Crew der ORION breiten Treppe hinunter zum Anfang des IX nichts anderes war als eine Handvoll großen, fast immer einsamen Strandes, der Figuren auf dem Spielbrett ungleich sich seicht und halbmondförmig, aus mächtigerer Protagonisten im Kosmos. weißem Muschelsand bestehend, nach „In zwanzig Minuten können wir in der Süden fortsetzte. Es war in jeder Hinsicht Basis 104 sein", sagte der Commander und ein Luxusturm. Cliff, der fast sieben beobachtete ein startendes Schiff, das sich Jahrzehnte lang nicht einmal eine Chance am Horizont aus dem Wasserwirbel erhob
und zu einem funkelnden Pünktchen wurde. „Das ist schnell genug!" Der Kristall des Todes war unschädlich gemacht worden, aber die Furcht, daß er ein so starkes Hypersignal ausgestrahlt hatte, daß einer der merkwürdigen Erben des Rudraja aufmerksam geworden war, war auch während der Wohnungssuche nicht gewichen. Han Tsu-Gol hatte ihnen allen drei Tage absolutes Beschäftigungsverbot diktiert. Dieser wohlgemeinte Rat ermöglichte, daß nicht nur Arlene und Cliff einige Stunden bei der halbrobotischen Wohnraumvermittlung verbrachten: Dort führte man ihnen in einer phantastischen Multimediaschau die verschiedenen Angebote vor. Zuletzt waren noch drei Möglichkeiten geblieben. Eine Terrassenwohnung auf einer der halb schwimmenden Inseln, ein Stockwerk in einem der Wohntürme, die Cliff einmal bewohnt hatte, und dieser einsame Turm hier. Selbstverständlich war dieses skurrile, aber sehr gemütliche Bauwerk mit sämtlichen Segnungen der Technik versehen, und auch mit den Nachteilen dieses Jahrhunderts: Eine Bildschirmanlage verband den Commander mit T.R.A.V., mit Han privat und sogar mit dem neu gegründeten GSD. Aber damit fanden sich Cliff und seine dunkelhäutige Freundin ab. „Der Turm ist eine Ausnahme. Er steht mitten in der Natur. Er ist weder überdacht noch an Massenverkehrsmittel angeschlossen. Nicht, daß ich meine, wir hätten echte Schwierigkeiten mit der neu vorgefunden Welt...", meinte Arlene. Bis zur nächsten Station der Robottransportmittel mußten sie einen eigenen Turbinenwagen benutzen. Selbstverständlich besaß der Turm eine solch profane Einrichtung wie eine Garage und, unterhalb der Klippen, auch einen Anlegesteg mit Bootshaus. „Deswegen gefällt er mir so gut", erwi-
derte der Commander. „Ich habe nicht vor, mich hundertprozentig anzupassen." „Nein." Arlene lachte. „Das gelingt dir nur bei Aktivitäten im Weltraum." Sie hatten Menschen sterben sehen; jene Unglücklichen, die sich im Zustand der kristallinen Erstarrung befanden und hätten gerettet werden können, wenn man sie in die Wirkungssphäre des riesigen Kristalls gebracht hätte. Weder Cliff noch ein anderer Angehöriger der Crew waren im Augenblick daran interessiert, sich irgendwie zu entspannen oder die Zeit mit lächerlichen Vergnügungen totzuschlagen. Cliff hatte mit Erfolg versucht, eine Wohnung zu finden, und auch die anderen waren damit oder mit ähnlichen Versuchen beschäftigt. „Wir werden, denke ich, noch eine ganze Menge solcher Aktivitäten erleben", murmelte der Kommandant. „Gehen wir nach unten, sehen wir uns die Räume noch einmal genauer an. Später kommt der Innenarchitekt, und da sollten wir wissen, was geändert werden muß." „Abermals einverstanden. Du rechnest damit, daß der Hyperimpuls irgendwo schlafende Wölfe geweckt hat?" „Ja", sagte Cliff. „Wir alle rechnen damit, und keiner spricht es deutlich aus. Außerdem hat uns Katsuro eingeladen." „Wann?" „Heute abend. In die Driftende Kugel, was immer das sein mag." „Gehst du hin?" „Wir gehen hin, Liebste", erwiderte er und sah sich ein letztes Mal um. Das Panorama hatte sich nicht geändert. Die Terrasse war mit einem gerasterten weißen Kunststoffbelag versehen, eine großzügige Treppe führte jenseits eines gläsernen Windfangs nach unten in den obersten Raum des Turmes, eine Art Mischung zwischen Bibliothek, Arbeitszimmer und Studio. Cliff war der Raum zu dunkel; es fehlten ihm die Heiterkeit und Ruhe, die eine besondere Art der Einrichtung aus-
strahlen konnten. Er zog einen winzigen Rekorder aus der Tasche seiner Uniform. Cliff sprach seine Beobachtungen auf Band, dann betraten sie einen Stock tiefer den großen, kreisrunden Wohnraum, der sogar einen Kamin besaß, der mit normalem Holz befeuert wurde; allerdings sorgte eine aufwendige Anlage dafür, daß die Abgase fast steril waren. Auch hier gab es Änderungswünsche. „Cliff! Das wird ein mittlerer Umbau! Kennst du die Preise von Innenarchitekten und deren Spezialhandwerkern?" „Ich kann sie mir sogar leisten. Dein Schlafzimmer wirst du selbst bezahlen dürfen", wich Cliff aus. „Schließlich verdienst du nicht so viel weniger als ich." Sie nickte und erwiderte im Ton tiefster Enttäuschung: „Wie meine Mutter immer sagte: ,Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad'. Ich bin zu sehr an dich gewöhnt, um heute noch einen großzügigen Lebensgefährten zu suchen." „Aus dir spricht die Verbitterung einer fast Hundertjährigen!" Sie dachte kurz nach; die Rechnung ging auf. Siebenundsechzig Jahre waren vergangen, seit Projekt Perseiden in seine entscheidende Phase ging. „Das ist relativ. Du hast recht. Aber du bist noch älter mein Lieber!" Cliff drehte sich um. „Sagen wir, ich bin weiser geworden. Früher war ich ein arger Springinsfeld, heute diktiert die gemessene Ruhe des Alters meine Taten." Sie kicherte kurz. Es war eine glatte Lüge gewesen, denn McLane war wagemutig wie eh und je, und auch früher war er alles andere als leichtfertig gewesen. „Das einzige, was diktiert, ist nach wie vor der Drang, der beste und bekannteste Commander der Erde zu sein und sich aufgrund dieser Position alle nur denkbaren Freiheiten und Undiszipliniertheiten herauszunehmen. Außerdem genießt du
diesen Status schon jetzt. Ich brauche nur daran zu denken, wie wir die ehemaligen Orcasten und jetzt Minister am laufenden Band verunsichern, dann erkenne ich sogar Scheich Alish Muq-Lachni wieder, den Sklaventauscher des Todesmarsches!" Cliff grinste breit und zog Arlene an sich. „Du hast recht. Ich denke nicht daran, als Kadett neu anzufangen. Wir werden es ihnen allen schon zeigen. Das gilt für T.R.A.V. ebenso wie für den GSD, und auch die Erben des Rudraja werden es früher oder später merken. Schließlich sind wir die Hüter der Erde und die Erschaffer der Neuen Harmonischen Kosmischen Beziehungen." „Du bist ein Angeber!" sagte sie leise, aber zärtlich. „Aber ich kann es mir leisten. Bis jetzt haben wir seit der Vernichtung des Sternenschiffs nicht gerade wenig getan. Oder irre ich?" Es war reiner Sarkasmus, als Arlene antwortete: „Wie könnte der große McLane je einmal irren. Aber, im Ernst und ohne Ironie ... Was erwartest du für die nächste Zeit?" „Ich erwarte, daß der Impuls des Kristalls etwas ausgelöst hat. Die Untersuchungen über die Richtung der Hyperbotschaft sind im Gang, aber erfahrungsgemäß dauert so etwas ziemlich lange. Ich bin sicher, daß zwischen den Verschwundenen und Gekidnappten des BermudaDreiecks und unseren letzten Erlebnissen ein sehr dichter, wenn nicht zwingender Zusammenhang besteht. Wie gesagt: eine Vermutung, keinerlei Sicherheit. Heute abend treffen wir uns alle bei Tunaka Katsuro. Ich bin gespannt, was er uns zu berichten hat. Er ist unsicher. Im Gegensatz zum unvergessenen Obristen Henryk Villa ist er noch nicht in sein Amt hineingewachsen. Seine Leute sind nicht
ausgebildet, es fehlt ihnen die Erfahrung. Er wird kooperativ sein und uns mehr erzählen als andere." Sie sahen sich an und tranken. „Und unser Regierungschef?" Cliff hob die Schultern. „Keine Ahnung. Han Tsu-Gol scheint eine Denkpause nötig zu haben. Sonst hätte er uns nicht zweiundsiebzig Stunden auf Wohnungssuche gehetzt. Vermutlich will er uns nicht sehen. Er schweigt wie ein zugelöteter Buddha." „Vielleicht mag er deine Frechheiten nicht. Und was ziehe ich heute abend an?" Cliff deutete in etwa die Richtung, in der sich seiner flüchtigen Schätzung nach die Ladenstraßen befinden mußten, vollführte eine Geste der Verachtung und sagte: „Nimm deinen Kreditausweis oder wie man das Ding heute nennt, lächle einen Verkäufer an und lasse dir etwas verkaufen. Seit der Steinzeit verstehen es die Frauen, sich anzuziehen. Als Tochter mächtiger Häuptlinge solltest du auf Messingringe nicht verzichten, in der Nase, in den Ohren, um Hals und Fußknöchel. Letzteres wäre bedeutend und erregt möglicherweise Aufmerksamkeit." „Ich bin sicher, es auch ohne Schmucknarben zu schaffen", erwiderte sie. Aber das Florettgefecht ihres schnellen Dialogs täuschte keinen von ihnen darüber hinweg, daß nicht nur ihre Lage, sondern darüber hinaus die der Erde und, vom Zentrum der 900-Parsek-Raumkugel abhängend, auch die Lage der vielen Sternkolonien kritisch werden konnte. Der wieder aufflammende Kampf zwischen den Erben der Mächte, die ein Kosmisches Inferno erzeugt hatten, konnte den Effekt zweier Mühlsteine haben, von denen das lächerlich unbedeutende Imperium Terras (in Relation zur Größe der Milchstraße) spielend und ohne das geringste Knirschen zermalmt wurde. Cliff McLane schüttelte sich und sagte: „Sicher. Auch ohne Schmucknarben. Wenn ich dich bei rechtem Licht betrach-
te, so bist und, hoffentlich, bleibst du auch eines der schönsten Mädchen, die ich je gekannt habe." Sie schenkte ihm ein warmes, strahlendes Lächeln. „Du hast den Tag gerettet. Ein schönes Kompliment, denn ich weiß, daß es wahr ist." „Danke, gleichfalls. Wollen wir gehen?" „Nicht ohne den Rest des Turmes gebührend betrachtet zu haben." - Sie verbrachten zwei weitere Stunden damit, den Turm bis hinunter zum Bootshaus zu besichtigen und die Änderungen auf Band zu sprechen. Je länger sie sich mit ihrer neuen Heimat beschäftigten, desto mehr gewannen sie die kuriose Behausung lieb. Schließlich nahmen sie den kleinen Turbinen-Wagen, fuhren nach Point Villa, der nahen Siedlung, und stiegen dort um. Fünfzehn Minuten später befanden sie sich unweit der Basis 104 in ihren alten Unterkünften. * Rigel, das ist der rechte Fußstern im Sternbild des Orion, des Himmelsjägers. ORION - der Stern hatte dem Raumschiff seinen Namen gegeben, und alle Schiffe dieses Namens hatten die Tradition dieses mythologischen Jägers fortgeführt. Neben Rigel beginnt, rein optisch und verschieden weit von Terra entfernt, ein System von Sternen. Es trägt den merkwürdigen Namen Fluß Eridanus. Theta Eridani, der Orion-nächste Stern, ist der erste Stern dieses Bildes, das sich vom Orion in die irdische Südpolgegend hinunterwindet. Dreißig Sterne ergeben das Bild, das einem Blitz gleicht oder eben diesem Fluß. Der letzte Stern ist Achernar, Alpha Eridani, der neunthellste Stern in den Refraktoren der alten Astronomen. Theta Eridani war, alten Quellen zufolge, ebenfalls einst so hell wie Achernar.
Dieser Stern, auch Acamar, „der Letzte im Fluß" genannt (mit dem Fluß ist der Acheron gemeint, in der griechischen Mythologie der Fluß der Unterwelt, des Hades), ist einer der interessantesten Sterne der bekannten Milchstraße. Astronomen wollen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beobachtet haben, daß der Hauptstern von einem Weißen Zwerg begleitet wird. Dieser Begleiter hat einen Trabanten, einen großen Roten Zwerg. Einer der profiliertesten Schriftsteller des phantastisch-sachlichen Genres, unter der Regierung Orcanas ein Bestsellerautor, schrieb eine spannende und höchst spekulative Geschichte um ein Planetenvolk, das in diesem System lebt. Er sollte erfahren, daß seine Phantasie, verglichen mit der Wirklichkeit, geradezu beschämend trocken war; ein herbes Schicksal, das nicht nur in diesem Jahrhundert vielen Künstlern beschieden war... * Die Driftende Kugel war die logische, bis ins Gigantische extrapolierte Weiterentwicklung eines Taucheranzugs. Wie der Name treffend sagte, eine Kugel. Eine gläserne Kugel, von zahllosen Lichtquellen im Innern und in der Schale erhellt. In der Kugel befanden sich eine komplette Anlage zur Luftversorgung, Luftreinigung und Ersatztanks. Es gab Platz für eine Tanzfläche, eine Anzahl Bars in verschiedenen Abstufungen der Helligkeit bis hinunter zur Anlage mit phosphoreszierenden Tischen. Ferner war eine Diskothek vorhanden, die drei verschiedene Programme fuhr. Kleine Säle dienten geselligen Zusammenkünften oder Geheimsitzungen; auch Hochzeitsfeiern waren hier schon zelebriert worden. Man aß hervorragend. Hier wurde nicht gekocht, sondern nur aufbereitet. Dies aber von Meistern der Pfanne und
des Grills, wahren Virtuosen der Soßen und Beilagen. Die Driftende Kugel faßte, Roboter und Personal inbegriffen, hundertfünfzig Personen. Mit dieser Besetzung konnte sie sich zweiundsiebzig Stunden unter Wasser aufhalten, was selten geschah - die Mehrzahl der Driften dauerte kaum länger als sieben bis zwölf Stunden. Nur eine Delegation von einem Farmplaneten, stämmige und leicht zufriedenzustellende Naturen, jene Farmer, hatte den Rekord von einundzwanzig Stunden inne. Dann ging die Kugel nicht aus Sauerstoff- oder Wassermangel zurück an die Submarinschleuse, sondern aus echtem Mangel an Alkohol und Essen. Diese Daten, meist mit heiteren Kommentaren versehen, erfuhren Cliff und Arlene während ihres Einkaufs. Cliff versuchte, einen Mittelweg zwischen „seiner" und der heute herrschenden Mode zu finden. Schließlich, nach einer qualvollen Runde durch die betreffenden Geschäfte, war sein Haar mit einer dunklen Flüssigkeit getränkt und eng an den Kopf gelegt. Es duftete nach Wiesen, Wald und Großwildjäger. Das jedenfalls versicherte derjenige, der Cliffs Mähne stylte. Das Haar war wie mit einem kleinen Rechen bearbeitet und ergab interessante Muster. Cliffs Gesicht, dunkelbraun getönt, überraschte mit goldenen Augenverzierungen. Er trug ein weißes Hemd mit langen Spitzenmanschetten, einem breiten Rüschenband am Hals und verschlungenen barocken Verzierungen im Stoff, die wie goldene Schnüre aussahen. Dazu trug er eng anliegende Hosen, die sich unterhalb des Knies ausbauchten und in weichen Stiefeln aus einem zerknitterten, lederartigen Material verschwanden. Eine breite Schärpe mit einer Art Gürtelschnalle in violetter Farbe teilte Cliff in zwei verwirrende Hälften. Er fühlte sich wie auf der Bühne oder
wie geschminkt für einen Fernsehauftritt. „Es wird oft und gern getragen, besonders von den Herren Ministern, Exorcasten und Sekretären", erwiderte der Verkäufer geschmeidig und stemmte die Hand in seine Hüfte. „Auch das werde ich überstehen", sagte Cliff trocken, beglich die nicht gelinge Rechnung mit seinen Krediteinheiten und verließ das letzte Geschäft. Er benutzte eines der verwirrenden Verkehrsmittel und erreichte sieben Minuten nach acht Uhr abends die Schleuse, von der aus die Driftende Kugel startete. Auf diese Weise vermied er es, sowohl der erste wie auch der letzte zu sein. Er fiel überhaupt nicht auf. Arlene hingegen fiel auf. Helga Legrelle nicht weniger. Etwa hundert Menschen befanden sich in der Kugel, und Cliff hielt vergebens Ausschau nach Tunaka Katsuro.
2. Ein untersetzter Mann nahm neben Cliff auf dem Barhocker Platz und sagte zu seiner silberhaarigen Begleitung: „Wenn ich heutzutage erröten will, dann mache ich einen Handstand. Allerdings sähe es niemand in dieser herrlich diffusen Beleuchtung." Der Klang der Stimme kam McLane bekannt vor. Er drehte sich halb herum, das Sektglas in der Hand - und erkannte endlich den Direktor des Galaktischen Sicherheitsdiensts. „Bisher war immer ich für sarkastische Bemerkungen verantwortlich", murmelte er. „Wer schildert meine Überraschung, endlich den Gastgeber zu entdecken." Katsuro lachte dröhnend. Er war asiatischer Abstammung, und heute abend sah er aus wie ein Phantasie-Samurai. Der glattrasierte Schädel des etwa fünfunddreißigjährigen Mannes glänzte. Er trug
ein Hemd aus lauter winzigen goldenen Kunststoffringen, das aussah wie ein antikes Kettenhemd. Die verschiedenen Gelenke waren von weichen Polstern geschützt; die echten Samurais hatten blechbeschlagene Bambuspanzerchen umgeschnallt. Ein höfliches Lächeln traf McLane. „Ich beobachte Sie und Ihre Mannschaft schon seit einer Stunde. Sie haben keine Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden?" Cliff strich mit den Handrücken über sein Kostüm. „In diesem Aufzug? Ein Narr mehr auf einem Narrenschiff", sagte er. „Ich bin überrascht, daß sich der GSD-Chef für einen solchen Mummenschanz hergibt. Sie luden uns ein, also bleibe ich höflich. Wer ist diese entzückende Dame neben Ihnen, Katsuro-san?" „Meine Assistentin. Schön und verschwiegen, stets höflich, aber kühl wie die Sonnenfernen Seiten der Monde." „Trefflich", meinte Cliff. „Und wann finden die Enthüllungen des Abends statt?" „Später! Nehmen Sie doch noch etwas Champagner, Cliff!" „Mit Vergnügen." Aus einer Luke vor dem Schleusenrohr hatte Cliff vor mehr als sechzig Minuten die Driftende Kugel zum erstenmal gesehen. Sie wirkte wie ein Juwel, rundgeschliffen, wie eine Perle, hinter deren Schale sich Farben und Lichter bewegten. Er war, nachdem er seinen Namen als Sesam-öffne-dich benutzt hatte, an Bord gegangen. Unheimlich viele Menschen, von denen er keinen kannte. Allerdings, so überlegte er, auf einem Hocker der Schleusenbar sitzend und die ankommenden Gäste musternd, würde er nicht einmal Arlene erkennen, wenn sie ähnlich ausgestattet war wie er. Tatsächlich suchte er sie eine Stunde später noch immer. Nicht einmal Hasso fand er in diesem Gewühl.
Dann legte die Kugel ab, sank schräg in die Tiefe des Carpentaria-golfs und lockte noch mehr Fische und Meerestiere an. Sie bewegte sich langsam und driftete mit der Strömung durch das zauberhafte Reich der Unterwasserregion. Fischschwärme und seltsame, bleiche Wesen aus der Tiefsee, alle denkbaren Korallenformen, Eßbares und Giftiges, Bizarres, Farbiges und Farbloses ... Immer wieder leuchteten die Scheinwerfer neue Welten dieser Zone aus. Verglichen mit der bekannten Umgebung des ehemaligen Starlight-Casinos war dies die wahre Wunderwelt der warmen Wasserwirbel. Nachdem er schweigend diesem lautlosen Reigen zugesehen hatte, stürzte sieh der Commander in den Lärm der kleinen Restaurants, der kalten Büffets, der Bar und der Musikanlage. Er sah Frauen und Männer, an die er sich zu erinnern glaubte, und solche, die er niemals in seinem Leben gesehen hatte. Er ahnte, daß diejenigen, die er nicht kannte, gerade die waren, die er hätte leicht erkennen sollen. Keineswegs fürchtete sich Cliff vor großen gesellschaftlichen Ereignissen, aber hier und heute war er tatsächlich verwirrt. Er hielt einen silbernen Champagnerpokal in der Hand, der meist leer war, und schlenderte umher. Und ausgerechnet jetzt stieß er auf einen seiner wenigen Vorgesetzten, von dem er noch nicht wußte, ob er ihn willig oder unwillig akzeptieren sollte. Vermutlich ging es Katsuro nicht viel anders, und daher diese Einladung ... „Nun schön", sagte Cliff, „warum haben Sie uns eingeladen, Meister der Sicherheit?" Die Augen Katsuros waren groß, dunkel und schienen Ehrlichkeit auszudrücken. Sie richteten sich auf Cliff wie zwei Bündel Röntgenstrahlen. „Um Sie und Ihre fabelhaften Partner persönlich kennenzulernen."
„Dies kann unmöglich der einzige Grund gewesen sein", meinte Cliff. Das Mädchen neben dem Salonsamurai lachte laut. „Ich sagte es Ihnen ja, Chef, daß Cliff ein harter Brocken ist, der keineswegs in die Reusen Ihres Charmes hineindriftet." „Ich drifte überhaupt selten, außer, wenn ich noch mehr von diesem herrlichen Sekt trinke", erklärte Cliff und fügte, etwas ernster, hinzu: „Die namenlose Person mit den gesponnenen Fäden aus Sternensilber auf dem Schädel neben Ihnen, Katsuro, ahnt die Wahrheit. Warum also sonst?" „Ich bin Marcka DaLeonard", antwortete die Silberhaarige. „Wir nennen sie Kamikaze-Marcka!" betonte Katsuro. „Sie ist äußerst scharfsinnig!" „Wer ist das nicht?" mutmaßte der Commander. „Heraus mit den Geheimnissen, Chef." Wieder lachte der GSD-Chef. „Kennenlernen ist tatsächlich der wichtige Grund. Ich werde mit Ihnen arbeiten, sicher sehr lange und sehr eng, und es ist kaum denkbar, daß wir uns mit unwichtigen Dingen beschäftigen. Das würde Sie langweilen, und mein Amt samt dem gewaltigen Aufwand unserer Kadettenausbildung beziehungsweise der Assistenten-Auswahl wäre sinnlos. Je besser ich die ORION-Crew kenne, desto besser läßt sich arbeiten. Zufrieden?" Cliff nickte und bemerkte trotz der gedrosselten Beleuchtung in der Bar, daß Kamikaze-Marcka ausnehmend hübsch war. Das scharf geschnittene Gesicht dieses etwa fünfundzwanzigjährigen Mädchens war lebendig und wach und ließ Klugheit und Phantasie erkennen. Cliff, der seinen eigenen Beobachtungen stets mißtraute, sah den Sektpegel in seinem Pokal an und entschied, daß er noch nüchtern war. „Einigermaßen zufrieden. Und der andere Grund, der sekundär wichtige?
Oder wollen Sie Ihr Samuraischwert an mir ausprobieren? Achtung, ich bin ein guter Degen- und Säbelfechter." „Ich weiß, ich las Ihr Dossier. Es fand sich in TECOMs Speichern. Nein. Wir haben die Finalanalyse der Überwachungssatelliten des Sonnensystems." Cliff schwieg und setzte sich starr hin. Der Hyperimpuls des Todeskristalls! Also doch. Den ganzen Tag waren seine Gedanken um dieses Thema gekreist. „Ja?" „Der Hyperimpuls war gerichtet und schärfer als ein Laserstrahl gebündelt. Der kurze, aber überaus starke Impuls zielte nicht auf einen Planeten oder Mond unseres Systems!" Cliff verstand und murmelte: „Sondern auf einen Stern oder einen Planeten unserer Neunhundert-ParsekKugel?" „Auch nicht. Er griff weiter hinaus. Er jagte genau auf den Raumsektor zu, in dem sich das Dreifachsystem Null Zwei Eridanus befindet. Sie kennen das betreffende Kapitel aus dem Raumfahreratlas?" Cliff winkte ab. „Auswendig. Ein weißer Zwergstern umkreist den Hauptstern und wird seinerseits in rund zweihundertachtundvierzig Jahren einmal von einem großen Roten Zwerg umkreist. Der Weiße Zwerg, doppelt so groß wie die Erde, besitzt eine ungeheure Materiedichte. Richtig?" „Gut gelernt. Richtig, absolut richtig. Für uns und für Sie eine neue Spur. Der Todeskristall funkt Eridanus an, genauer, eine bestimmte Sonnengruppe. Alles, was Sie jetzt denken, dachten wir auch. Han Tsu-Gol verlor fast die Contenance, als er erfuhr, wohin sich der Impuls richtete. Mir scheint, die Gefahren nehmen zu." „Mir scheint", bemerkte Cliff säuerlich, „daß Sie mir den Abend verdorben haben. Während hier die Basis hundertvier tanzt, kocht der Kosmos einen tödlichen Sud für die Erde."
Katsuro hob die Hände. „Halt. Lassen Sie sich nicht die Laune verderben. Wir stehen natürlich in Verbindung mit allen wichtigen Stellen. Wenn etwas geschieht, werden wir hier benachrichtigt. Genießen Sie das Fest, Cliff." Cliff zuckte die Schultern und hob den Pokal. „Leicht gesagt, schwer getan." Marcka glitt vom Hocker und blieb vor Cliff stehen. „Kommen Sie, Commander. Ich kenne hier jeden, schließlich habe ich die Drift organisiert. Ich zeige Ihnen, wer für Ihre berufliche Karriere von Wichtigkeit ist." Cliff dachte an seine Erlebnisse während der zurückliegenden zwölf oder fünfzehn Jahre — reale Zeit! — und lächelte. „Danke", sagte er schließlich. „Sie sind sehr liebenswürdig, Kamikaze." Er sehnte sich plötzlich danach, seine Crew zu sehen und mit den Mädchen und Männern zu diskutieren. Ein Hyperimpuls, der durch den Kosmos jagte und dort draußen irgendwelche Dinge einschaltete, aktivierte oder in Gang setzte ... das konnten sie alle so dringend brauchen wie eine Virusepidemie. Nichts ist einfacher! Hinfliegen, nachsehen und die Sache regeln! wisperte ein böser Teufel in seinem Hirn. „Meist bin ich es. Übrigens - Ihre entzückende Freundin ist auf der Tanzfläche. Sie entwickelt sich zur Sensation des Abends. Warum sind Sie nicht an ihrer Seite?" „Weil", erklärte Cliff, „wir uns kennen, lieben und vertrauen. Bin ich der Wachhund meiner Freundinnen?" „Ihre Einstellung ehrt Sie. Dort steht Hasso Sigbjörnson. Aber wir sollten ihn besser nicht stören. Die Dame, ich weiß es, interessiert sich ernsthaft für ihn." „Das freut mich außerordentlich", bekannte Cliff ehrlich. Er kannte Hassos Dilemma und seine echte Verzweiflung.
Eine kluge Frau konnte ihn viel schneller und nachhaltiger daraus herausreißen als das Team. „Gut. Lassen wir ihn flirten. Wann landen wir wieder an?" Marcka legte den Kopf schräg und sah ihn erstaunt an. „Schlechte Laune? Überfordert? Gefällt es Ihnen nicht?" Er blieb stehen und ergriff sie am Handgelenk. „In unserer langen Karriere, die uns außerordentlich weit ins Universum hinausführte, haben wir alle ein sehr ausgeprägtes Gefühl für drohende Gefahren entwickelt. Und ich kann nicht mich gleichzeitig hier amüsieren und ständig darüber nachdenken, was dort im Sternbild Eridanus geschieht, wie weit auch der betreffende Stern entfernt sein mag." „Verständlich. Aber heute können Sie kaum hinfliegen und wieder eines Ihrer Bravourstückchen vollbringen. Abschalten, McLane, einfach abschalten." „Ich gebe mir Mühe." Sie begannen einen langen und langsamen Rundgang. Schließlich kamen sie über eine leuchtende Treppe an den Rand der Tanzfläche. „Wie ein Meteoritenschauer im Magnetfeld", sagte Cliff erstaunt. Das auffallende Paar, das auf virtuose Weise die Tanzfläche beherrschte, bestand aus Mario und Arlene, Mario trug eine uniformähnliche Kleidung, die durch ihre absolute Schmucklosigkeit auffiel. Cliff begann sich seines auffälligen Prunks zu schämen, verdrängte diese Überlegung aber wieder, als er Arlene genauer ansah. „An der Stelle, da ein Fest am heitersten ist, erfolgt gewöhnlich ein Drama", murmelte er sauertöpfisch, weil er sich selbst über seinen eigenen Mangel an Heiterkeit ärgerte. „In diesem Fall ein Wassereinbruch oder eine Austernvergiftung, um nur harmlose Dinge zu erwähnen."
„Spielverderber!" zischte Marcka DaLeonard. „Stimmt. Ich bin doch zu alt und zu weise." „Ich glaube Ihnen nur die Hälfte, Commander!" sagte sie und hängte sich bei ihm ein. Er lachte grimmig. „Aber Sie wissen nicht, welche Hälfte, wie?" „Das ist das Dilemma." Arlenes Haut glänzte in einer Mischung von Gold und Phosphor. Sie trug ein dunkles, bodenlanges Kleid mit einem kühnen Dekollete. Dazu waren Handgelenke, Fußgelenke, Ohren und Hals mit breiten Ringen verziert. Schon immer hatte Cliff gewußt, daß Arlene ihren Körper absolut beherrschte, aber sie tanzte schnell, virtuos und in einer geglückten Mischung zwischen natürlicher Hemmungslosigkeit und künstlerischer Disziplin. Binnen kurzer Zeit versammelten sich Dutzende von Bewunderern. Und Mario de Monti, der Chefkybernetiker und Erste Offizier der ORION, stand ihr nur wenig nach. Was den Tanz betraf, waren sie ein fast vollkommenes Paar. Cliff war hingerissen und merkte, wie seine gute Laune langsam zurückkam. „Sie ist hinreißend!" rief Marcka. „Wem sagen Sie das", meinte er. „Ist das ein beabsichtigter Effekt?" In ihren zierlichen Ohren trug Marcka DeLeonard große, runde Schmuckkugeln. Eine davon, die am rechten Ohrläppchen, leuchtete rhythmisch auf. „Wie? Was?" Cliff deutete auf die Kugel und tippte daran. Ein schriller, protestierender Pfeifton ertönte. McLane zuckte zurück, als habe ihn ein Schlag getroffen. „Oh! Verdammt! Eine wichtige Meldung. Das ist mein Kommunikationsgerät. Die Stimme des Herrn, wissen Sie!" Marcka drehte sich zu Cliff herum, sah in seine Augen und drückte die Kugel
näher an die Ohrmuschel heran. Etwa zwanzig Sekunden lang hörte sie schweigend zu, während sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Gespannte Konzentration zeichnete sich ab. Schließlich ließ sie die Kugel los, die nicht mehr leuchtend pulsierte. Marcka sagte zu Cliff, leise, aber in einem Tonfall, der höchste Dringlichkeit erkennen ließ : „Han Tsu-Gol. Wichtige Meldung. Bitte, gehen Sie zum Chefsteward an der Bar und sagen Sie ihm das Kodewort. Charontes. Er wird Sie in den Maschinenraum bringen. Dort wartet bereits Tunaka Katsuro vor einem Bildschirm. Es ist sehr wichtig. Ich hole inzwischen die anderen Angehörigen der Crew und werde selbst dabeisein." Cliff wußte, daß sie sich keinen Scherz erlaubte. Er ahnte, was er zu hören bekommen würde. Also hatte er mit seinem unangebrachten Pessimismus leider doch recht gehabt. Inzwischen kannte er den Weg zur großen Bar. Er berührte flüchtig in einer kameradschaftlichen Geste die Wange des Mädchens und wußte nicht, daß er sich durch diese einfache, ehrliche Berührung ihre Freundschaft für ein Jahrzehnt gesichert hatte, dann wandte er sich schweigend um und ging. Fünf Minuten später deutete der schweigende Samurai auf einen Schemel des Maschinenleitstands. Sein Gesicht wurde vom Störungsflackern des Bildschirms erhellt. „Hören Sie schweigend zu. Sie schalten gerade durch." „Han?" fragte Ciiff. „Ja. Es geht über Zerhacker. Muß sehr wichtig sein." Hasso kam, Cliff bedeutete ihm, schweigend außerhalb des Erfassungsbereichs der Linsen zu bleiben. Dann folgten leicht schwitzend und sich anstrahlend, Arlene und Mario. Schließlich Atan, dann Helga und nach drei Minuten Pause, gerade, als die Sendung begann,
schoben sich Hasso und Marcka Kamikaze in den Raum. Leise glitt das Sicherheitsschott zu. Ein Schalterdruck machte drei Wände des Leitstands undurchsichtig. „Sie sind wirklich auf alles gefaßt!" meinte Cliff verwundert, als Katsuro aus dem Seidengürtel seines Kostüms einen stiftartigen Schlüssel zog und ihn in eine Öffnung des Videophongeräts schob. Dieser Impulsgeber setzte den Dekoder in Tätigkeit, so daß der GSD-Chef hier Klartext empfangen konnte. „Katsuro... ah, ich sehe Sie. Ich habe die Meldung hochwertig kodieren lassen. Sie empfangen klar?" meldete sich der vorübergehend als Ministerpräsident amtierende Exorcast. „Ja, natürlich. Was ist so geheimnisvoll an dieser Meldung? Ich bin gerade dabei, Ihr Starteam kennenzulernen, wobei mir Marcka hilft. Sie kennen Marcka? Natürlich kennen Sie Marcka. Jeder kennt sie. Was ist los, Herr Kollege?" Der heitere Tonfall täuschte. Auch Katsuro ahnte, daß die Meldung von äußerster Wichtigkeit sein mußte, sonst hätte ihn Han Tsu-Gol hier nicht gestört. Han sagte leise: „Die Erde ist vor rund elf Minuten zwei Sekunden lang von einem Schauer aus Hyperimpulsen getroffen worden! Es war zweifellos eine Kodegruppe, denn wir glauben, daß sonst nicht genügend Informationen hätten gesendet werden können. Natürlich arbeiten wir daran, die Hyperimpulse zu entschlüsseln, aber das dauert Wochen und Monate, wenn es nicht gänzlich unmöglich ist. Aber die Satelliten und die radioastronomischen Teleskope haben einwandfrei den Ausgangsort der Sendung festgestellt." „Null Zwei Eridanus?" flüsterte Katsuro entgeistert. Sein Sarnuraigesicht wechselte die Farbe. „Genau getroffen. Von dorther kamen die Signale. Ich bin etwas unschlüssig, was
wir tun können. Einen Flottenverband hin jagen ... die Wegaflotte ist ja in der Nähe und mit Sicherheit auch teilweise für einen Alarmstart gerüstet? Ich weiß es nicht genau." Cliff bedeutete seinen Leuten, die ihn gespannt anblickten, sich nicht zu rühren. Dann sprang er auf und stellte sich neben Katsuro vor die Linsen der Bilderfassung. „Sie werden mich nur an der Stimme erkennen", sagte er hart, Han winkte kühl ab. „Ich erkenne den Tiger am Geruch und den Elefanten an der Farbe", sagte er. „Wie kommen ausgerechnet Sie in diesen Raum?" „Ich habe mich im Getränkeschrank versteckt", erklärte Cliff. „Dieser Aufzug hier entspricht der Mode, also lachen Sie nicht. Oder besser, lachen Sie, Han. Was wollen Sie aufgrund dieser erstaunlichen, aber nicht unerwarteten Hypersache unternehmen? Ihnen und mir ist klar, daß der Todeskristall eine Basis oder Truppe oder meinetwegen Flotte dort in Eridanus alarmiert hat." „Zweifellos. Ich werde ihnen einen massierten Einsatz entgegenschicken." Cliff sagte hartnäckig und mit deutlicher Ironie: „Damit haben Sie allerdings die beste Methode gewählt, um die Kraft des Rudraja endgültig und unwiderruflich auf die Existenz der Erde und der Raumkugel aufmerksam zu machen. Selten überlebt das angebundene Lamm den Angriff des Tigers." „Die Stärke des Lammes ist die Tarnung!" meinte Han philosophisch. „Im Dschungel? Mit dem weißen Fell? Ihr Vorschlag ist ein Todesurteil für die Erde." Mit atemloser Spannung hörten alle Anwesenden zu. Noch blieb Han ruhig und gemessen. Aber sein Gesicht verfinsterte sich zusehends. „Ich entnehme Ihren Worten, daß Sie
mir anbieten, wieder einen Ihrer Wahnsinnseinsätze zu fliegen? Sind Sie mitsamt Ihrer Crew eigentlich lebensmüde?" Ungerührt gab Cliff zurück: „Wo ich heute endlich ein winziges Heim gefunden habe, in einem düsteren Winkel der Altstadt? Weit gefehlt, Ministerpräsident! Aber ein Wolf unter Wölfen wird sehr spät als Hund entlarvt." „Sie und Ihre dummen Sinnsprüche. Haben Sie auch Konfuzius gelernt?" „Jawohl", sagte Cliff kaltlächelnd. „Ich kenne nämlich alle australischen Poeten." Han Tsu-Gol wußte nicht, ob er es ernst meinte oder sich über ihn lustig machte. Mit Recht vermutete er letzteres. Er preßte die Lippen aufeinander und bezwang seinen Ärger. Dann sagte er langsam: „Abgesehen von meiner Absicht, ein Expeditionskorps zu entsenden, um nicht schon wieder den Admiral Mahavira zu verärgern - was bietet Ihrer Ansicht nach ein ORION-Neun-Einsatz für Vorteile für uns?" Cliff sagte: „Wir sind allein, raffiniert und gewitzt. Und ein Schiff zu verlieren, schmerzt weniger als eine verlorene Flotte. Außerdem haben wir nicht die massiven Möglichkeiten einer Flotte. Wir müssen uns in jedem Fall darauf beschränken, wie Pfadfinder oder Spurensucher vorzugehen. Und in dieser Disziplin, Lordkanzler, stellen wir jeden anderen Mann der Flotte klar in den Schatten. Das wissen Sie so gut wie ich." Er schwieg und starrte Han Tsu-Gol herausfordernd an. Katsuro schien mit Cliffs Vorstellungen zu sympathisieren, denn er schwieg ebenfalls und machte keinen Versuch, in die Auseinandersetzung einzugreifen. Schließlich antwortete Han Tsu-Gol leise und mit heiserer Stimme, als ahnte er, daß er die Crew in den Tod schicken würde: „Fliegen Sie! Bleiben Sie noch einige
Stunden auf dem Fest, dann starten Sie nach Null Zwei. Sehen Sie sich dort um, versuchen Sie, die Quelle der Hyperstrahlen festzustellen. Ich warne und bitte Sie, Cliff: Unternehmen Sie nichts, verständigen Sie T.R.A.V. mit Lichtspruch von den Funden und warten Sie weitere Anordnungen ab. Ich bitte, keinerlei eigenmächtige Angriffe oder Versuche. Ich schicke einige Schiffe hinter Ihnen her; sie werden mit Spezialisten bemannt. Und ich bitte, mich ständig auf dem laufenden zu halten. Wir müssen alles wissen, ehe wir reagieren können. Versprechen Sie mir das?" Cliff nickte kaum merklich. Dann hob er die Hand und sah zu, wie Han Tsu-Gol die Kodierung ausschaltete. Der Ministerpräsident wandte sich an Katsuro und erklärte: „Bringen Sie die Crew bitte heil zurück an die Submarinschleuse. Wie lange ist die Kugel noch unterwegs?" „Noch vier Stunden, wenn wir gleich umkehren." „Tun Sie das bitte, Kollege", schloß Han Tsu-Gol. „Cliff McLane wird seine Ungeduld kaum mehr bezähmen können. Denken Sie daran, Cliff. Den letzten beißen die Hunde." „Deswegen", entgegnete Cliff mit seinem breitesten Lächeln, „gibt es auf dieser Welt so viele Vorletzte!" Verwirrt schaltete Han Tsu-Gol ab. Fast bewundernd fragte Kamikaze: „Endlich weiß ich, was man tun muß, um sich überall Freunde fürs Leben zu schaffen. Einfach so sein wie Cliff McLane." „So nett, so tüchtig und so klug", grinste Katsuro. Er hatte sich eindeutig auf die Seite der Crew geschlagen. Cliffs Stimmung besserte sich augenblicklich. Die, Entscheidung war gefallen, er konnte handeln, und er hatte ein klares Ziel. So mochte er es. Das Fest ging weiter; niemand ahnte etwas von der Drohung der
Kode-Hyperimpulse. Sechs Stunden später stand Cliff unter der Dusche und verwandelte sich, wie er es ausdrückte, wieder in einen normalen Menschen. In diesem Augenblick faßte er allerdings den Plan, sich eine neue Bordkombination schneidern zu lassen. Aber das verschob er bis nach der Rückkehr.
3. Vor Jahren hatte Mario de Monti sich an das Problem gewagt, sechs Mann der Schiffsbesatzung, jeweils acht Stunden Wache und sechzehn Stunden Freizeit, beides möglichst in einem Stück, dazu genügend Überwachungsmöglichkeiten von Funkpult, Astrogation und Steuerung, mit Hilfe seines Computers so durchzurechnen, daß es Überlappungszonen gab, in denen sich die ganze Mannschaft, ausgeschlafen wohlgemerkt, in der Steuerkanzel befand. Im Lauf der Zeit der Rechner hatte dieses StundenplanProblem natürlich in Sekunden gelöst, aber eine kalt-abstrakte Lösung geliefert - war aus dieser Berechnung ein vernünftiges und verwendbares System geworden. Es ließ auch Variationen zu und eignete sich besonders gut für die langen Zeitspannen von Fernraumflügen. Also eignete es sich für diese EridanusMission. Im Augenblick hatte sich für fünf Stunden eine Überlappungszone ergeben. Arlene hatte einen riesigen Krug Kaffee gekocht und einige Rationspackungen feinstes Gebäck geöffnet. „Wir haben direkten Kurs auf dieses Dreifach-System. Noch vier Tage, dann werden wir den gordischen Knoten aus Sonnen- und womöglich aus Planetenbahnen vor uns haben", sagte der Commander. „Stark der Kaffee, lecker das Gebäck, und vor uns die Gefahr." Arlene balancierte ihre Tasse auf dem
Knie. „Wie du immer sagst: eine aparte Kombination. Selbst mir als NonProfi ist es jetzt klar, daß halb zufällig das Datum unseres Erscheinens auf der wirklichen Erde mit dem Wiederaufflackern der Auseinandersetzung zwischen der Erbengemeinschaft von Rudraja und Varunja zusammenfiel." Hasso Sigbjörnson stützte sich auf die Armlehnen seines Sessels, beugte sich vor und deutete auf den Commander. „Wir müssen unsere bisherige Ansicht jedenfalls radikal ändern, Cliff." „Welche unserer vielen Ansichten?" „Jene, wonach wir meinten, die Menschheit und also auch wir, die ORION-Crew, müßten auf alle Fälle versuchen, uns aus dem Streit zwischen den Mächten des Kosmischen Infernos herauszuhalten." „Zuletzt laut geäußert während des Abenteuers rund um Ganymed!" rief Atan und hob die Tasse. Ein wohltuender Duft nach Kaffee durchzog die Kabine. „Wir sind nämlich", schaltete sich de Monti ein, „in dieser Auseinandersetzung mitten drin. Die Erde wird unentrinnbar in einen wilden Strudel von Ereignissen gerissen, die den Untergang der Menschheit bedeuten können." Nachdenklich nickte der Kommandant. „So ist es wohl. Ich glaube auch, daß wir uns bereits in einer Art Vorpostenkampf befinden. Aber wir, die Mädchen und Männer der ORION, sind nicht in der Lage, einen ernsthaften Kampf zu gewinnen." „Nein. Unsere Stärke ist, wie du Han Tsu-Gol richtig erklärt hast, der kleine, schnelle, listenreiche Einsatz. Wir sind Pfadfinder der Erde. Wie wir es schaffen sollen, zu Hütern der Erde zu werden, ist schleierhaft. Wenigstens mir", erklärte die Funkerin. „Eben dadurch. Je weniger schematisch wir handeln, desto wichtiger werden wir in
dieser Auseinandersetzung. Wir müssen schlimme Dinge verhüten, bevor sie ausbrechen. Unsere Waffen sind die des Fuchses, der listenreichen Schlange, der klugen Eule ... und so fort." Arlene lachte auf und deutete auf Cliff s dunkle Augenringe. „Du zumindest siehst bereits aus wie eine Eule. Was haben die Studien von Atan und Cliff ergeben?" Sie hatten sich sämtliche Informationen aus den Speichern von TECOM besorgt, die über das Dreifachsystem vorlagen. Aber es gab keinen einzigen Bericht vom Tatort selbst. Sämtliche Informationen stammten aus Unterlagen der Astronomen. Die Analyse mit Hilfe des Bordcumputers ergab auch keine aufregenden Neuigkeiten. Eine Sonne, die sich - wie der irdische Mond um die Erde - um einen anderen Stern drehte, der seinerseits wie ein Planet um seine Systemsonne um einen dritten Stern kreiste. Natürlich vermutete man eine Reihe von Planeten, deren Bahnberechnungen sich auf dem dreidimensionalen Bildschirm reichlich wirr ausnahmen und kosmische Kuriositäten darstellten. „Nicht viel. Es wird sicher sehr interessant, wenn wir aus dem Hyperraum auftauchen", versprach Atan Shubashi. „Ganz bestimmt. Dort macht sich gerade etwas fertig, die Erde anzugreifen. So oder ähnlich identifiziere ich die Bedrohung." Helga nickte mit Bestimmtheit. „Dir wird nach dem Eintauchen in den normalen Raum die erste wichtige Aufgabe zufallen. Du mußt die ORION an die Quelle der Hyperfunkimpulse heranführen, Helga!" schloß der Commander. „Mit Vergnügen, wenn ich es kann. Und wie intensiv soll die Information für T.R.A.V. ausfallen?" Sie lachten kurz; sie verstanden sich auch in dieser Beziehung. „Du bist Spezialistin für unidentifizierbare Störungen des Funkverkehrs,
und dies auf allen Frequenzen." „So ist es." Die ORION Neun raste weiter durch die konturlose graue Wildnis des Hyperraums. Die Mannschaft versuchte sich vorzubereiten, aber auch sie hatte, trotz reicher Phantasie, keine Vorstellung von den Dingen, die sie in diesem bizarren Dreisonnensystem erwartete. * Und schließlich kam der entscheidende Moment. Das Schiff schlüpfte aus dem Hyperraum. Alle konzentrierten sich auf ihre Aufgaben. Cliff hielt die Finger über den Hebeln und Schaltern der Steuerung. „Mario, Schutzschirm ein!" „Ausgeführt, Cliff." Um das Diskusschiff projizierten die Maschinen den durchsichtigen Schirm. Mit Lichtgeschwindigkeit schien die ORION sich auf die Sterne zu stürzen und auf die drei scharfen, großen Lichtpunkte voraus, direkt im Kurs. „Funkantennen schalten. Alle Kanäle." „Ich bin auf Empfang. Keinerlei Normalfunk im Augenblick!" „Danke", sagte Cliff, „Hasso, Maschinenleitstand - ich bremse auf Normalgeschwindigkeit ab." „Alles klar. Ich schalte die Maschinen." , „Verstanden. Atan - Totalaufnahme der stellaren Situation!" Die ORION war, der optischen Größe des Hauptsterns vor ihnen nach zu urteilen, in relativ großer Nähe des Dreisonnensystems herausgekommen. Sämtliche Geräte arbeiteten mit ihren charakteristischen Geräuschen. Das Team schwieg und hantierte schnell an den Apparaturen. Die erste Analyse, ausgeführt von Atans Ortungsgeräten und dem Computer, huschte über die Monitoren. „Wir sind an Ort und Stelle heraus-
gekommen. Der Stern genau vor uns ist der Hauptstern des Systems." Etwa eineinhalb Lichtminuten - eine genaue Messung würde später vorliegen vom Hauptstern entfernt tauchte der weiße Zwergstern auf, jener Stern mit der zusammengebrochenen Atomstruktur, von der eine Handvoll mehrere zehn Tonnen wog. Und jetzt schob sich auch von oben der Rote Zwerg ins Bild, halb so groß wie die Sonne der Erde und mit einer Materiedichte, die ihrerseits dem dritten Planeten entsprach. „In der Reihenfolge des Auftauchens", sagte Cliff und verlangsamte den Flug abermals. Zeiger schlugen aus und wiesen auf die hohen Massen der beiden kleineren Sterne hin, „Eridanus Null Zwei Alpha, Beta und Delta. Delta ist der Rote Zwerg." „Einverstanden. Definitionen werden gespeichert!" gab Mario zurück. Schließlich hielt das Schiff an. Auf dem großen runden Bildschirm vor Cliff erschienen deutlich vor dem flirrenden Hintergrund aus Myriaden Sternen die drei Sonnen. Die Analogprojektion spiegelte die errechneten Bahnen ein und kleine Schriftblöcke von Daten. „Polwinkel einhundertfünf Grad, dreiundachtzig Lichtsekunden entfernt, das ist Beta zu Alpha. Delta umkreist den Stern Beta in zweihundertachtundvierzig Jahren. Wir untersuchen gerade die Sternspektren und alles übliche", sagte Atan. Einige Sekunden lang betrachteten sie schweigend die Bilder auf dem Rundschirm. Dadurch, daß die Bahnen als fadendünne Linien wiedergegeben waren, erhielten die Lichtpunkte eine faszinierende, augenfällige Beziehung zueinander. Mitten in dieser Phase sagte Helga plötzlich alarmiert: „Achtung! Impulse!" Sie beugte sich vor und beobachtete, gleichzeitig ein halbes Dutzend Schalter drückend und einige Regler bedienend,
einen Oszillographen. Eine Uhr hatte bereits vor Helgas Ruf zu arbeiten begonnen. Dann summte der Tischrechner Helgas auf und warf eine Mitteilung aus, die gleichzeitig auf Testschirmen erschien. „Hyperfunksignale!" sagte sie. „Wir haben jede Menge Glück gehabt. Wir stehen genau im Brennpunkt des gerichteten Strahles." „Du hast alles aufgefangen?" fragte Cliff elektrisiert. „Ja. Alles. Ich habe auch die Quelle lokalisiert. Wir müssen demnach genau auf der gedachten Linie Sender zur Erde schweben. Ein Zufall." Cliff grinste breit. Sie waren ganz unerwartet einen riesigen Schritt vorangekommen. Sie hatten den Sender lokalisiert, und das war weitaus mehr, als sie sich erträumt hatten. „Kein Zufall", sagte er nachdenklich. „Sondern das sprichwörtliche Glück der ORION!" Helga spielte die aufgefangenen Hyperfunksprüche, nachdem sie die Impulse durch Umkopieren und Filtern hör- und sichtbar gemacht hatte, der Mannschaft vor. Es waren eindeutig kodierte Gruppen von Impulsen, die selbst der Computer nicht würde entschlüsseln können. Die gesamte Sendung dauerte exakt zwei Sekunden und eine hundertstel Sekunde. „Moduliert. Also technisch hergestellt, keine Sternstrahlung!" brummte Atan, der inzwischen versuchte, Helgas Peilergebnisse ins astrogatorische Niveau umzusetzen. Schließlich tippte er eine zusätzliche Information in den Computer, der seinerseits sowohl einen Lichtpunkt als auch eine hypothetische Bahnellipse auf den Rundbildschirm zeichnete. Cliff stieß überrascht die Luft zwischen den Zähnen hindurch. „Stimmt das? Delta, der Rote Zwerg, hat einen Satelliten? Oder einen Planeten?" „Nach Massenanalyse ist es klar ein Planet."
„Seid ihr dabei, ihn euch näher anzusehen?" Cliff brauchte dazu Helga, Atan und Mario als Computerspezialisten. Die Geräte der Fernbeobachtung richteten sich nach den Zielangaben des Instruments aus, das die Masse eines Planeten lokalisiert hatte. Einige Minuten vergingen. Cliff nützte die Zeit und beschleunigte mit dem Diskusschiff wieder, dann schlug er einen riesigen Bogen nach rechts ein, der ihn um die Sonne Delta herumbrachte und das Schiff langsam in die Nähe des Planeten driften ließ. Die größere Nähe des kosmischen Körpers verbesserte die Anzeigen der Ortungsinstrumente. „Wir sollten diesem Planeten auch einen Namen geben, obwohl wir ihn nicht kennen", schlug Arlene vor. Der Planet umlief in hundertachtundvierzig Tagen und sieben Stunden, vierzig Minuten den Roten Zwerg. Cliff hatte aus unerfindlichen Gründen etwas gegen die Bezeichnung Gamma, und erfreute sich diebisch darüber, daß er durch die Priorität der Namensgebung die Wissenschaftler zu Beschimpfungen über einen unlogischen Raumfahrer hinreißen würde. Mit dem Roten Zwerg zusammen umrundete der Planet auch den Weißen Zwerg, der seinerseits jenen Riesen der Spektralklasse K-Null umkreiste. Ein interessantes mathematisches Problem. „Warum nennen wir ihn nicht nach Arlene oder mir! Arlenes Planet, Legrelles Planet...", schlug Helga vor. „Mit Vergnügen", meinte Cliff. „Stimmen wir ab. Ich bin aus Gründen des Betriebsfriedens für ,Legrelles Planet'. Wer stimmt dagegen?" Es hob sich keine Hand, und so bekam der laut Massenanalyse etwa erdgroße Planet diesen Namen. „Geht es noch näher heran?" fragte Atan, der ununterbrochen arbeitete, um Bilder, Daten und Vergrößerungen
hereinzubekommen. Die Maschinen an seinem Pult arbeiteten und warfen einen Strom von Daten aus, die der Computer verarbeitete und zu einer Analyse formulierte. „Nein. Lieber nicht. Wir haben Han TsuGol versprochen, ihn rechtzeitig zu informieren. Helga ... eine Verbindung zu T.R.A.V." „Richtig. Je weiter wir von dem Lehmkloß entfernt sind, desto schlechter sind die Aussichten unserer RudrajaVerwandtschaft, unsere Anwesenheit festzustellen. Wir senden nämlich mit ziemlich hoher Kapazität", erklärte die Funkerin. „Ich traue den Leuten von ,meinem Planeten' alles Schlechte zu." Binnen einer halben Minute stand die Funkverbindung mit T.R.A.V. Nicht ganz deutlich und unverkennbar zweidimensional flimmerte das Bild Han Tsu-Gols auf dem Bildschirm. Cliff grüßte kurz und sagte langsam und deutlich : „Der schlaue Fuchs grüßt das Kleinod auf der Lotosblüte. Wir haben einen Planeten entdeckt, der eindeutig als Ausgangspunkt für die Hyperimpulse in Frage kommt. Wir nannten ihn ,Legrelles Planet'. Auf der Erde wurde vor genau zwei Stunden und elf Minuten wieder ein solches Signal angemessen, ja?" „Einen Planeten? Und ist es tatsächlich ein Dreikörpersystem?" fragte Han erregt. „Ja. Der Planet dreht sich um einen Roten Zwerg. Der Rote Zwerg dreht sich um einen ungeheuer dichten Weißen Zwerg. Dieser zieht eine Bahn um einen Spektralriesen von K Null. Ich bin sicher, daß der Planet kein reines Paradies ist. Wir werden versuchen..." Helga produzierte unbewegten Gesichts eine perfekte und absolut glaubwürdige Bildstörung. Han Tsu-Gols Oberkörper wurde breit, überflutete den Schirm, zog sich zusammen und verwandelte sich in einen senkrechten Strich. In den Lautsprechern ertönten dramatisches Knistern,
Knacken und Heulen. „ ... aus absolut sicherer Entfernung mehr Informationen einzuholen ..." (Pause) „ ... melden uns wieder ... sehr gestört ... überlappende Frequenzen ... Ende." Helga schaltete ab. „Versteckt zwischen den Sternen", murmelte Atan. „Unerreichbar für die Stimme der Terranischen Raumaufklärungsverbände." „Aber das schlechte Gewissen flog mit uns", schränkte Hasso fröhlich ein. „Wann landen wir?" „Es fliegt mit uns näher heran, aber es landet noch lange nicht", versicherte Cliff grimmig. Er setzte die Maschinen ein und dirigierte die ORION in die Richtung des Planeten, der mit dem bloßen Auge noch nicht zu sehen war. Aber die Instrumente zeigten ihn als Pünktchen mit relativ hoher Albedo, für einen Planeten. Unhörbar floß ein breiter Strom der verschiedenen astronomischen und astrophysikalischen Informationen in die Speicher des Computers. Je mehr sie über die drei Sonnen und den Planeten erfuhren, desto mehr wuchs die Nervenanspannung unter den sechs Menschen, die sich so weit ins All hinausgewagt hatten.
4. Die ORION wandte, als sie sich dem Planeten näherte, einen vergleichsweise uralten Trick an, der den Vorteil hatte, fast immer zu wirken. Cliff dirigierte das Schiff eine Lichtminute von der Sonne entfernt auf einen Kurs, der entlang einer Linie führte. Mit der Sonne und dem Strahlenbombardement im Rücken, mit dem Licht des Roten Zwerges driftend, schlich das Diskusschiff auf Legrelles Planeten zu. Stündlich gab es mehr Informationen.
Eine war wichtiger und interessanter als die andere. In etwas mehr als siebzehneinhalb Stunden drehte sich der Planet einmal um seine Achse. Die Pole waren aufgrund dieser vergleichsweise rasenden Drehung abgeplattet, so stark, daß die Crew es jetzt schon mit dem bloßen Auge sehen konnte. „Aber er wirkt trotzdem recht erdähnlich. Blaue Meere, drei große Kontinente, darüber weiße Wolkenstrukturen." Auf der zentralen Bildplatte befand sich das Abbild des Planeten, voll im Sonnenlicht von Delta liegend. Cliff zuckte die Schultern und erwiderte: „Jeder Sauerstoffplanet wirkt mehr oder weniger erdähnlich. Aber wir werden schwer atmen, wenn wir gelandet sind. Vierzehn Hundertstel mehr Oberflächenschwerebeschleunigung." „Wir schwitzen auch wegen der hohen Durchschnittstemperatur!" gab Arlene zu bedenken. „Legrelles Planet ist alles andere als ein Paradiesgarten." Verglichen mit der guten alten und gefährdeten Erde besaß dieser Planet fast ein Fünftel mehr Masse, genau neunzehn Prozent. Aber die abgeplatteten Pole, die größere Masse und die schnellere Rotation waren nicht die einzigen sensationellen Unterschiede. „Hier, diese Vergrößerung! Seht sie genau an. Es sind interessante Einzelheiten zu erkennen", rief Atan. Sie sahen einen der Großkontinente im ganzen von allen Seiten vom Wasser umgeben. Aber dies war nicht das Entscheidende. Rund dreißig Prozent dieses Kontinents waren vom Wasser bedeckt, beziehungsweise bestanden sie aus Watt und Ebbefeldern, die trocken gefallen waren. „Flutwellen? Natürlich!" sagte Mario. „Die hohe Eigenrotation und die Schwerkrafteinflüsse von drei solchen Sonnen — wir merken es selbst. Ununterbrochen muß der Kurs vom Autopilot korrigiert werden. Einer der Sterne zerrt immer an uns."
Aber dort unten rasten gewaltige Flutwellen über das Land. Mario führte eine Rechnung durch, nachdem er die verschiedenen Entfernungen genau gemessen hatte. Dann pfiff er schrill. „Ein nasses Inferno. Ebbe und Flut kommen im Siebenundzwanzig-TageRhythmus. Knapp ein Drittel des Landes ist also dieselbe Zeit lang überflutet oder trocken. Ich habe den Unterschied an zehn Stellen ausrechnen lassen." „Und?" Die Vision von Fluten, die ununterbrochen heranrasten und sich erst nach so langer Zeit wieder zurückzogen deutlich waren die Hochflutmarken zu erkennen, die seit Jahrhunderttausenden vom wilden Wasser gewaschen worden waren -, riefen Schauder bei der Crew hervor. Mario machte ein unzufriedenes Gesicht. „Zwischen Höchstwasser und tiefster Ebbe beträgt der Unterschied im Mittel fünfundsechzig Meter und einunddreißig Zentimeter, wobei mir dieser letzte Zentimeter viel sagt. Der Computer hat's so gerechnet." Durchaus vorstellbar, dachte der Commander und konnte seine Augen nicht von dem Bild reißen. Das Klima schien tropisch zu sein, fast überall auf den Kontinenten, denn deutlich waren Dschungelwälder ebenso wie ausgedehnte Wüsten aus Gestein und Sand zu erkennen. Die Schwerkrafteinflüsse der Sonnen ließen nicht nur riesige Flutwellen entstehen, sondern die drei Sonnen erzeugten auch gewaltige Nordlichterscheinungen. „Das Magnetfeld jedenfalls ist viereinhalbfach stärker als das der Erde. Es ist ein wahrer Panzer gegen die Strahlenfluten aus drei Sonnenspektren“, erklärte Atan Shubashi. „Falls wir landen, ziehen wir auf alle Fälle schon deswegen die Schutzanzüge an“, ordnete Cliff an.
Die Tagestemperatur betrug im inzwischen ermittelten Durchschnitt sechsunddreißig Grad Celsius, die Temperatur in den Nächten, besonders wohl über den Wüstengebieten, lag um vierundzwanzig Grad tiefer. Ein Planet der schroffen Gegensätze! „Und dort sitzen jene, die uns anfunkten, um wieder irgendeine Teufelei einzuschalten." „Ja. Aber wir haben sie noch nicht entdeckt." Langsam drehte und schob sich das Bild unter der näher kommenden ORION hinweg nach Osten. Jetzt waren die riesigen Flutwellen und die der zurückströmenden Ebbe zu erkennen. Auf einigen vereinzelten Berggipfeln, die neuntausend Meter erreichten und in einigen Fällen noch höher waren, glänzten die roten Sonnenstrahlen auf dem Eis ewiger Gletscher. Tatsächlich entsprach die Gashülle des Planeten derjenigen Terras; die hochempfindlichen Geräte, die eine Atmosphären-Schichten-Untersuchung vornahmen, entdeckten in der Zone bis zu zweitausend Metern über Normalnull eine fast identische Luftzusammensetzung. „Wenigstens müssen wir nicht tagelang mit geschlossenen Helmen herumlaufen", sagte der Astrogator zufrieden. „Und dann wird es von Sauriern oder noch ungezogeneren Tieren wimmeln, und von Rieseninsekten, langen Schlangen und ähnlichem widerlichen Zeug." Nacheinander zauberte Atan die Wolkenbildung eines kleinen Tornados auf den Schirm, eine Inselkette, die eben aus dem Wasser auftauchte, ein riesiges Stück sturmgepeitschtes Meer, dann eine Zone ohne jede Luft- und Wasserbewegung und schließlich die Ufer und Strände des nächsten Kontinents. „Die Flut Phantastisch!" flüsterte Helga. Die gestochen scharfe Vergrößerung zeigte, wie die Flut von der gesamten
Uferzone des Kontinents Besitz ergriff. Riesige Flächen waren ohne jedes Leben. Es gab keine Bäume, keine Flußmündungen, sondern nur eine Zone voller vielfarbig schillernden Schlammes. Das riesige Wattgebiet, das sich stellenweise bis zu hundert Kilometer weit ins flache Land erstreckte, bot den Anblick einer ganz besonderen Art von Wüste. Langsam wanderte auch dieses Bild über die Schirme und verschwand hinter der Krümmung des Planeten. Mario fragte leise : „Hältst du dich an Han Tsu-Gols Direktiven? Oder wann landen wir?" Cliff schüttelte nachdrücklich den Kopf und erwiderte ernst : „Wir haben keine Impulse mehr aufgefangen. Man scheint uns nicht entdeckt zu haben, oder aber sie warten, bis wir sicher in der Falle sitzen. Ich warte noch." „Kein Testflug durch die Stratosphäre?" erkundigte sich Arlene. „Nein. Noch nicht. Wir warten in einer Höhe von hundert Kilometern mit eingeschalteten Schirmen und laufenden Maschinen und sehen uns alles erst einmal ganz genau an. Ich suche jene Station. Ein solcher Hyperfunkspruch muß von einer großen Spezialantenne abgestrahlt werden, und diese kann man nicht unterirdisch verstecken. Einverstanden, werte Crew?" „Natürlich. Außerdem ist laut Dienstplan ein Abendessen fällig." Cliff wandte sich an Helga. „Irgendwelche Funksprüche von Terra? Ich rechne damit, daß Han versucht, über geschriebenen Richtfunk durchzukommen, wenn der Bildsprechfunk gestört ist, was er ja ist, wie wir wissen." „Nein. Nichts, bisher." Obwohl eine Unmenge von Routinearbeiten ununterbrochen abliefen, wanderten die Augen der sechs Besatzungsmitglieder immer wieder zu den Bildern, die wechselnde Ansichten des Planeten Legrelle zeigten. Die Bahn dieses
Planeten verlief durch den Schwerkraftsog keineswegs gleichmäßig, und die Folge waren mit einiger Sicherheit tektonische Bewegungen größeren Ausmaßes, die an den Rändern der Kontinente weitere Verwüstungen anrichteten. Schließlich sagte Cliff: „Ich kann mir nur schwer vorstellen, daß sich auf diesem geschüttelten, unruhigen und ungewöhnlichen Planeten Leben entwickeln konnte. Aber da es Pflanzen gibt, wird es auch Tiere und vielleicht sogar höhere Primaten geben. Das ist ein unumstößliches Evolutionsgesetz, das sicher auch hier gilt. Warten wir es ab - niemand hetzt uns." Schließlich, als ihm die Augen bereits tränten, entdeckte Cliff auf einer Vergrößerung das Kreuz, das die drei Ringe durchschnitt. Graugelbe Formationen in der grünen Umgebung eines Waldgebiets. Eine lebende Stadt? Er versuchte, die Vergrößerung zu steigern und schob nacheinander sechs verschiedene Filter vor die lichtstarken Objektive. Er sah nicht mehr. Aber er hatte das sichere Empfinden, daß er hier, fast in der Mitte des Kontinents, eine gewaltige Ruinenstadt entdeckt hatte. Und das stieß einen großen Teil seiner klugen Überlegungen über den Haufen. Er dachte noch immer zu tief in den Kategorien der Logik. Hier aber hatte er es mit den einst aktiv gewesenen Riesengewalten zu tun, und da galt eine andere Art von Logik. Nicht die von Rithaa, der Ordnung des Harmonischen Kosmos ... * Cliffs Blicke gingen vom Bildschirm hinüber zu einem raumsicheren Fach zwischen dem Steuerstand und Helgas Pult. Dort lag, von einer Klammer gehalten, das V'acora, das schmuckähnliche Armband der Schlafenden Göttin, der
toten V'aco. Cliff gehorchte einem unwillkürlichen Impuls; er wußte nicht, warum er gerade jetzt dieses geheimnisvolle Schaltgerät anblickte, warum er nicht länger versuchte, die Einzelheiten dieser Stadtanlage zu entschlüsseln. Er sah, wie das Bild langsam über den Rand der Bildplatte hinauswanderte und rief leise: „Atan?" Shubashi hatte eben seine Aufnahmen von genau diesem Bild abgeschlossen und drehte den Kopf. „Herr Schiffsführer? Was belieben?" „Ich bin halb dazu entschlossen, in die Atmosphäre hinunterzutauchen und dort aus geringer Höhe zu beobachten, was sich hier auf den Schirmen zeigt." „Warum nicht? Du kennst das Risiko ebenso wie ich", war die Antwort. „Ich kenne das Risiko. Gerade deswegen zögere ich. Nicht wegen des Befehls von Han Tsu-Gol." „Und was ist die Alternative?" fragte Helga rhetorisch. „Weiter warten, bis die angedrohte Flotte erscheint und den Gegner auf uns aufmerksam macht? Ich bin dafür, intensiver nachzusehen." „Ich auch!" brummte der Erste Offizier. „Eigentlich bin ich es auch", meinte Cliff ernst. „Ich wollte nur wissen, was ihr darüber denkt. Auf alle Fälle ist Legrelles Planet eine sehr interessante Welt." „Ich schlage vor, wir leiten einen schnellen Flug in geringer Höhe ein. Mit eingeschalteten Schutzschirmen und besetztem Werferstand. Dann sind wir erstens schwer zu orten und zweitens alles andere als hilflos. Und nach einigen Stunden besitzen wir einen akzeptablen Überblick." Arlene schaltete sich ein und fügte hinzu: „Außerdem haben wir mit Sicherheit die Basis gefunden, die jene modulierten Hyperfunkimpulse ausgestrahlt hat Das sozusagen als Zusatznutzen."
„Einverstanden", sagte Cliff hart. „In dreißig Minuten starten wir zu einem Atmosphärenflug." * Das silbern glänzende Diskusschiff, das jetzt in Äquatorialhöhe über dem Planeten schwebte, kippte nach vorn und leitete einen rasend schnellen Sturzflug ein. Die ersten Spuren der Lufthülle tauchten auf. Kondenserscheinungen bildeten sich außerhalb des Energieschirms, der den Diskus wie eine unsichtbare Blase umgab. Die sechs Besatzungsmitglieder saßen angeschnallt in ihren Sitzen. Alle Geräte, die der Nahaufklärung dienen konnten, waren eingeschaltet. Cliff beugte sich leicht vor und dirigierte den Sturz des Raumschiffs mit den Fingerspitzen. Die Landschaft schien auf der runden Hauptbildplatte auf ihn zuzustürzen, wurde an den Rändern undeutlich und immer schärfer und deutlicher im Zentrum. In einer Höhe von fünfzehnhundert Metern über Grund fing Cliff den Sturz ab und leitete die Bewegung in eine starke Kurve um. Dann justierte er den mit dem Höhenmesser gekoppelten SekundärAutopiloten und überließ die Höhensteuerung der ORI0N der Rechenmaschine. Das Schiff bewegte sich jetzt in nordöstlicher Richtung über eine Savanne. Bäume, die aufgespannten und zerrupften Schirmen ähnlich sahen, warfen diffuse Schattenmuster auf einen gelben, ausgetrockneten Boden. „Wir sind siebenhundert Kilometer schnell", erklärte Cliff. Von außen drang nur ein fahles, hohes Sausen in die Steuerkanzel. Zwölf Augen sahen die Oberfläche des ersten Kontinents. Cliff setzte die Geschwindigkeit herauf und verringerte sie wieder, als die ORION nach Überfliegen eines Gebirgszuges in eine gänzlich andere Gegend kam. Ein Fluß wand sich durch den Wald.
Zwischen den Dschungelbäumen stiegen riesige Vögel mit weißen und rosa Schwingen auf und schienen den nutzlosen Versuch unternehmen zu wollen, die ORION zu verfolgen. Eine Herde büffelartiger Tiere mit zottigen Pelzen und langen, weißen, bis zum Rücken gekrümmten Hörnern ließ sich weder durch das sausende Fahrtgeräusch noch durch den Schatten des Schiffes stören. Der dichte Wald ging in eine grüne Savanne über, die aus kleinen, ebenen Flächen bestand und aus runden, von Gebüsch und Bäumen gekrönten Hügeln. Das rötlichgelbe Licht der Sonne erzeugte einen Himmel von einem seltsam stählernen Blau. Diese unwirkliche, fast bühnenähnliche Beleuchtung ließ alle Gegenstände scharf und hart hervortreten und erzeugte auf jeder glatten Fläche, auf dem Gehörn der Tiere ebenso wie auf den einzelnen Blättern der Pflanzen, winzige Lichtreflexe. Aber es gab trotz der zwei Sonnen keine zwei deutlich unterscheidbare Schatten. Zumindest nicht jetzt, um diese relative Tageszeit, denn die ORION bewegte sich zur Zeit des höchsten Sonnenstands über das Land. In der Ferne tauchten uralte Zeugenberge auf, die wie auch auf Terra riesige Plateaus trugen, völlig kahl und glattgeschliffen von den Stürmen der Jahrtausende. „Bis jetzt fanden wir nichts als einen völlig normalen Planeten. Nicht einmal verborgene Metalladern konnten die Instrumente entdecken", maulte Atan. Er schien über das Nichtvorhandensein des Gegners enttäuscht zu sein. „Das ist keineswegs beruhigend, sondern im Gegenteil höchst verdächtig", erklärte der Commander und drosselte zum sechstenmal die Geschwindigkeit, um eine Kurve um das riesige Hochplateau zu fliegen. „Es bedeutet, daß der Gegner sich perfekt verborgen hält." „In dieser trostlosen Umgebung? Ausge-
rechnet!" murmelte Arlene. Zwischen einem natürlichen Portal aus zwei hohen, sehr schlanken Basaltstümpfen, deren Basis von Erosionsgeröll bedeckt und von Grün bewachsen war, schwebte die ORION hindurch und auf die nahezu senkrechte Flanke des nahen Berges zu. Schlangengleich wanden sich riesige Ranken durch die Schrunde und Spalten des Abhangs nach oben. Der Berg war wie von einer gewaltigen dunkelgrünen Mauer umgeben. Abermals ging Cliff tiefer und bremste ab. Zuerst sah er nur den Schatten ... Dann stieß er in erschrockenem Unglauben hervor: „Das ... das muß irgendeine Halluzination sein! Atan, Arlene - dort, in der Mitte der Hochfläche ...!" Er riß das Schiff herum, flog eine gefährlich enge Kurve und steuerte das Zentrum der Hochfläche an. Atan keuchte auf, als er auf seinen Schirmen die Vergrößerung des unglaublichen Gegenstands sah. Dreihundert Meter über Grund und fünfhundert Meter vor der Galeone hielt die ORION an. „Es ist unglaublich... aber ich ahne einen Zusammenhang!" sagte Mario hinter ihm. „Nicht nur du. Langsam schleicht sich ein phantastischer Aspekt in dieses Abenteuer ein. Ein Bild des reinen Surrealismus." Die annähernd ovale Oberfläche des Bergrests war gelblichgrau; Sand und Geröll bildeten eine fast mathematisch exakte Ebene. Fast im Zentrum der Fläche stand, bis zu den untersten Planken in diesen Sand eingesunken, eine Galeone, ein riesiges Schiff mit drei hohen Masten. Das Achterkastell besaß noch sämtliche Glasscheiben und die prunkvollen Schnitzereien, die teilweise vergoldet und mit herrlichen Farben bedeckt waren. Rahen und Tauwerk schienen in Ordnung zu sein, sonst hätten die Stürme sie schon längst vermodern lassen und weggerissen. Aus
den Geschützpforten ragten die Rohre der Geschütze hervor. Die Beiboote waren an Deck festgezurrt. Die Holzteile schienen ebenso gut erhalten zu sein wie die Konstruktion der Jakobsleiter, die von der geöffneten Reling bis zum Boden schwang. „Eine unfaßbare Sache. Ich würde jeden Eid darauf ablegen und jede Wette halten, daß dieses Schiff einmal die irdischen Meere befahren hat", sagte Cliff und schlug mit dem Diskusschiff einen Kreiskurs um den rätselhaften Fund ein. Das Schiff war natürlich unbemannt und sicherlich auch leer. „Ich hingegen bin sicher, daß seine letzte Kaperfahrt innerhalb des BermudaDreiecks stattgefunden hat. Mit Mann und Maus respektive Schiffsratte dort entführt und hier, schönste Helga, auf deinem Planeten abgesetzt. Ich glaube, ich werde verrückt!" sagte Mario, halb bewundernd, halb verblüfft. Die ORION schwebte am Bug entlang. Arlene las laut vor: „THE GOLDEN SLAVE." Ein altes Schiff aus den Tagen von Sir Francis Drake, der Großen Spanischen Armada, Lord Nelson oder einer Epoche in diesen Zeiten. Niemand von ihnen erkannte die genauen Merkmale, um eine klare Zuordnung treffen zu können. Jedenfalls ein englisches Schiff. „Rule, Britannia, the waves...", summte Mario. „Sie haben eine lange Reise hinter sich, und ein solches Hochplateau ist ein gar merkwürdiger Hafen." Die Aufnahmegeräte summten und bannten dieses Bild auf Magnetband. Noch einmal zog das Diskusschiff eine Runde um diesen Fund. Alle Zweifel waren gewichen: Der goldene Sklave stammte von der Erde, aus einem längst im Nebel der Vergangenheit verschwundenen Jahrhundert und war verlassen. Der ausgefahrenen Jakobsleiter nach zu urteilen, war die Mannschaft von Bord
gegangen oder getrieben worden. Es gab keinerlei Spuren der Zerstörung. Selbst die Segel waren an den Rahen festgezurrt und angebändselt. „Die Folgerungen aus dieser vermutlich ersten Beobachtung sind klar?" fragte Cliff unruhig. „Ja. Gekidnappt wie Stratojets, Robotfrachter und unzählige andere Objekte im Bereich des Dreiecks." Cliff lächelte kalt. Der Zusammenhang zwischen Legrelles Planet und der Erde war hergestellt. Die Aussichten, die sich eröffneten, ließen ihn schwindeln. Er schwieg eine Weile, brachte die ORION auf einen neuen Kurs und ließ sie höher klettern. Dann sagte er tief nachdenklich: „Dies war der erste Fund. Wir werden andere Funde machen, ohne Zweifel. Von allein ist das Schiff sicher nicht hierher gesegelt. Also stecken diejenigen dahinter, die wir zu kennen glauben. Und noch etwas: Die Rudraja wirkten schon in der Vergangenheit. Die Anlagen oder die energetischen Tricks, mit denen sie dieses Schiff entführten, waren damals dieselben wie heute. Ich bin sicher, daß wir ganze Serien solcher Schiffe und Flugzeuge finden werden."
5. Der Flug ging weiter, aber nach genau sieben Minuten hielt Cliff die ORION schon wieder an. Er hatte gerade Zeit gehabt, seine Beobachtung auf das elektronische Bordbuch zu sprechen, als jenseits der Zone dieser ehemaligen Lavadurchbrüche ein Meer aus blaugrünen Graspflanzen auftauchte. Ein Meer deshalb, weil im Gras rund ein halbes Hundert verschiedener Boote in verschiedenen Größen lag. „Ein Hafen mitten im Kontinent, wo garantiert keine Flut herkommt", sagte
Atan kopfschüttelnd. „Dies ist weniger ein Hafen als schon fast ein Schiffahrtsmuseum!" konterte Hasso Sigbjörnson verwundert. „Alle möglichen Typen." Wieder schwebte die ORION Neun tiefer. Rund fünfzig Schiffe! Hier ein grün angestrichenes, von den Spuren langer, harter Jahre auf See gezeichnetes Fischerboot. Dort ein Küstenwachboot aus einem historischen Krieg, mit einem Schlot, der eindeutig auf Dampfmaschinenantrieb hindeutete. Mehrere schneeweiße Jachten aus verschiedenen Herstellungsjahren zwischen 1950 und 2000. Kleiner, größer, luxuriöser oder professionell für Fischereizwecke ausgestattet. Ein Seenotrettungskreuzer mit Tochterboot, wie sie noch heute im Dienst waren, mit geringfügigen Änderungen. Ein stattlicher Frachter, die EMPRESS CALAGRANU, mit einer gewaltigen Decksladung von geschälten und sauber gestapelten Teakholzstämmen. Ein offensichtlich leerer Rohöltanker. Er fuhr unter der unbekannten Flagge eines Kleinstaats am Persischen Golf. Wieder eine Serie verschieden großer Fischkutter unterschiedlicher Baumuster und ebenso verschiedener Nationalität. Alle jene Fahrzeuge waren offensichtlich sehr behutsam hier abgesetzt worden. Ihre Kiele hatten sich in den weichen Untergrund gedrückt, so daß die Boote ohne Ausnahme waagrecht standen. Hassos Hände lagen auf dem breiten Sicherheitsrahmen, der sich um die zentrale Bildplatte zog. Zusammen mit den Freunden starrte der Bordingenieur dieses absolut einmalige Bild an. „Welch gewaltige Macht liegt hier Versteckt", sagte er ernsthaft. „Schiffe mit ihren Mannschaften und Frachten, zu allen Zeiten geraubt und dann behutsam hier eingebettet." „Vergiß nicht, daß allein in den letzten
Wochen und Monaten auch eine Unmenge von hochmodernen Schiffen, Robotcargos und Stratojets geraubt wurden. Und dazu vermutlich kleinere Einheiten, die noch niemand vermißt!" gab der Commander zu bedenken. „Richtig. Aber bisher kennen wir nur einen winzigen Ausschnitt aus dem Zentrum eines der drei Kontinente", erwiderte Hasso. „Was erst werden wir auf den anderen Kontinenten finden?" „Vermutlich mehr Schiffe", meinte Mario sarkastisch. „Vielleicht haben sie einen Markt für gebrauchte Zubehörteile und Trockenfisch aufgemacht." „Euch werden die Spaße noch vergehen", prophezeite Helga. „Davon sind wir überzeugt", sagte Arlene, und so meinte sie es auch. Die Boote und Schiffe standen allerdings nicht in einer Reihe oder so, wie sie vielleicht in einem Hafen festgemacht hätten, sondern kreuz und quer. Als die ORION zögernd in fünfzig Metern Höhe darüber hinwegflog, entdeckte die Crew noch mehr Typen und Arten. Wieder drehte Cliff ab, ließ das Schiff höher steigen und raste davon, diesmal nach Osten. Mit durchaus gemischten Gefühlen dachte die Besatzung darüber nach, was sie gesehen hatte und welche Folgerungen sich daraus ergaben. „Eine Frage, Cliff!" meinte de Monti nach einer längeren Weile. „Ja?" „Du weißt, daß es für uns riskant wird, je länger diese merkwürdige Suche dauert. Sollten wir nicht lieber eine fernsteuerbare Sonde auswerfen und deren Beobachtungen abwarten?" Cliff biß auf seine Unterlippe und entgegnete schließlich: „Nein. Die Idee ist gut, wir sollten vielleicht später darauf zurückkommen. Aber im Augenblick sehe ich noch keine Gefährdung. Sehen wir uns die nächsten Funde noch direkt an, ohne Umweg."
Die rote Lichtscheibe der ersten Sonne des Planeten, der weniger weit entfernten, wanderte langsam nach Nordwesten. Die kleinere, aber gelb weiß stechende Lichtquelle des Weißen Zwerges entfernte sich nach Südsüdwest. Der Hauptstern des Systems war von hier aus nicht zu sehen; vielleicht würde er in der Nacht leuchten wie ein skurril strahlender Mond. Das Licht änderte sich ein wenig, als es „Nachmittag" wurde und die ORION weiterraste. Wieder gab es einen Streifen leeres Land, nur von Tieren und Pflanzen bevölkert. Der Einschnitt des Meeres in der Mitte dieses ersten Kontinents, den die Crew bereits aus dem Weltraum heraus beobachtet hatte, tauchte auf. Das Diskusschiff huschte über die teils trocknende, teilweise überflutete Wattzone hinweg und über die Verwüstungen entlang der felsigen Ufer. Immer wieder bahnte sich ein Fluß seinen Weg durch das angeschwemmte und abgelagerte Bett aus Schlick und Schlamm. Eine Hügelkette. Ein Dschungelstreifen. Eine Zone, in der ein rasendes Gewitter nach Norden zog. Wieder eine Savanne. Dann, hinter einem natürlichen Wall aus konischen Basaltkegeln, begann eine Wüste. Sie bestand aus Geröllflächen, die immer wieder von breiten Streifen wandernder Dünen unterbrochen wurde. „Starke Ansammlungen von Metall direkt voraus!“ meldete Shubashi. „Der nächste Schiffsfriedhof!" kommentierte Helga. „Was werden wir jetzt wohl finden?" „Vermutlich", erklärte Mario, der nach einem bestimmten logischen Zusammenhang gesucht zu haben schien, „finden wir hier modernere Ausgaben der Gekidnappten. Ich meine, daß unsere Rudraja-Erbengemeinschaft aus logisch-einsichtigen Gründen jeweils die Gekidnappten einer Zeitperiode an einer Stelle absetzen würde oder abgesetzt hat."
„Wobei", unterstützte ihn Atan, „wir nicht wissen, wie lange eine solche Periode war. Ein Jahr oder ein Jahrtausend." „Verstanden", meinte der Commander. Als die ORION die Barriere aus Felsen überflogen hatte, sahen sie in der Wüste den nächsten Schrottplatz. Etwa hundert Einheiten, eher mehr als weniger. Alle abgestellten Boote, Frachter, Flugzeuge oder Unterseeboote überragte der angeblich im Jahr 2021 untergegangene Flugzeugträger, den man allerdings in ein Super-Luxus-Kreuzfahrtschiff umgebaut und umgerüstet hatte. Hasso Sigbjörnson, der sich wieder an das uralte Buch zu erinnern begann, sagte aufgeregt: „Dort steht sie, die HAPPY PINK PLAYMATE! Angeblich auf der vierten Karibikreise mit weit über eineinhalbtausend Passagieren untergegangen. Also ebenfalls: geraubt!" „Das wird uns wieder niemand glauben", sagte Cliff und lachte verzweifelt. Es war grandios, verrückt, abwegig. Im Zickzack und so nahe wie möglich überflog die ORION diese Szene. Hier stand mit ausgefahrenem Fahrwerk ein Stratojet. Dort lagen zufällig fast parallel nebeneinander drei der modernsten Unterseeboote. Allen Fahrzeugen beziehungsweise Flugobjekten war gemeinsam, daß ihre Luken und Einstiege offen waren, keineswegs aber die Notausgänge. Auch fehlten dramatische Akzente wie aufgeblasene Rettungsinseln oder Notrutschen, verstreute RettungsEinigeoder der ähnliches. verschwundenen Rowesten botfrachter schienen sich in den Sandwogen zu bewegen. Nur die Laderäume standen offen. Andere Flugzeuge wieder lagen wie tote Vögel da, ihre Tragflächen berührten den Boden, das Fahrgestell war eingeklinkt. Ein meteorologisches Forschungsschiff mit gerichteten Antennen
und einem Bojenleger im Heck, eine schwimmende Fischfabrik, mehrere Trawler, dazwischen zweisitzige Düsenjäger und Jagdflugzeuge. „Alle Fahrzeuge sind unbeschädigt, das steht fest", unterbrach Atan die Stille. „Sie haben es also auf die Menschen abgesehen", fügte Arlene hinzu. „Helga, hast du nichts feststellen können?" „Nicht die geringste Funkaktivität bisher. Weder Hyperfunkwellen noch normale Verkehrsfrequenzen." Die ORION schwebte hoch über dem Zentrum der vielen verschiedenen „Fundstücke". Langsam machte sich die Überzeugung breit, daß eine große Menge verwirrter Menschen, die nicht einmal wußten, wo sie sich befanden, hier lebte und auf Rettung wartete. Als Cliff gerade wieder in die Steuerung eingreifen wollte, sah er die breiten Spuren. Sie endeten oder begannen unterhalb des ausladenden Landehecks der PINK PLAYMATE. Sie führten in einigen leichten Kurven über das feine Geröll in die Richtung der nächsten Grünzone, die vielleicht fünfzig Kilometer weit entfernt war. Der Kommandant machte seine Freunde auf diese Beobachtung aufmerksam und entschied dann: „Jetzt wird's spannend, meine Lieben. Wir sehen uns die Sache an, aber nicht aus der Nähe." Er schaltete augenblicklich. Das Diskusschiff glitt leise auf summend wie ein Lift senkrecht in die Höhe. In zehntausend Metern Höhe hielt Cliff das Raumschiff an und begann an der Sichtplatte zu hantieren. Endlich stand die Ausschnittvergrößerung. Die Crew scharte sich um Cliff, bis auf Atan Shubashi, der Aufnahmen machte und sich die Teile dieses Bildes in seiner Spezialoptik ansah, einem Doppelrohr mit schweren Gummimuffen daran.
„Hier, die Spur", sagte Cliff und deutete auf einen harten Streifen, Hier war der Untergrund durch häufige Belastung verdichtet worden. Besonders deutlich zeigte es sich im Gebiet vor der Waldzone und im Wald. In der Doppelspur wuchsen kaum Pflanzen. „Die Spur führte zu einem Lager. Das Lager ist teilweise unter Baumkronen verborgen. Nicht doch noch eine Sonde, Cliff?" erkundigte sich Mario voller Tatendrang. Cliff hob die Hand. „Noch nicht. Gründliches Überlegen erspart oft schweißtreibende Tätigkeiten." Die Ausschnitte zeigten eine kleine Lichtung im Wald. In einem unordentlichen Kreis standen die Gebäude eines Camps zwischen den Bäumen. Deutlich war das Glitzern zweier Sonnen auf den kleinen Wellen eines Baches zu sehen, der weitab des Camps zu einem Minisee aufgestaut wurde. Die Gebäude waren teils kastenförmig, teils bestanden sie aus Fertigteilkuppeln. Dies waren unwiderrufliche Beobachtungen. „Fertigbauteile? Das kann nicht ganz stimmen", meinte Arlene zweifelnd, „Du denkst, daß außer vielleicht dem Flugzeugträger sicher keines der Boote solche Teile oder Anlagen zu deren Herstellung bei sich hatte?" „Das denke ich, Cliff." Die Überlegung eröffnete eine neue Perspektive. Diejenigen, die dieses Camp bevölkerten oder bewohnten, waren vielleicht nicht so sehr auf Rettung angewiesen. Hatten sie das Camp hergestellt und aufgebaut, oder hatte „man" es für sie errichtet? „Hier! Sieh!" Hasso deutete auf eine winzige Staubfahne. Sie wurde von einem Fahrzeug hochgewirbelt, das eben den optischen Schutz des Waldes verließ und auf dem bewußten Weg in Richtung Wüste und Schiffsfriedhof fuhr.
„Es ist ein Gleiskettenfahrzeug. Sieht etwa aus wie ein Lasten- oder Mannschaftstransporter. Ein etwas ungebräuchliches Modell", flüsterte Cliff, als könnten ihn die Leute, die zehn Kilometer weit entfernt durch die Wüste ratterten, deutlich hören. „Sicher ist, daß keines der entführten Wracks einen solchen Transporter bei sich hatte“, warf Hasso nachdrücklich in die Debatte. Cliff kratzte sich ratlos im Nacken. „Seht euch's an, freut euch dran", reimte er endlich. „Unsere verschwundenen Mitbürger leben also noch. Zusatzfrage eins: Wie leben sie?" „Motorisiert." De Monti kicherte. Cliff verschob die Linseneinstellung. Langsam wanderte das Bild, noch immer dreidimensional, weiter in das Waldgebiet hinein. Nach geduldiger Suche und längerem Vergleichen entdeckte Cliff die erste Gerade des Kreuzes aus Mauern oder ähnlichen Bauwerken, die er schon einmal aus größerer Höhe gesehen hatte. „Und das hier ist eine alte Stadt!" sagte er, als sei er sicher. Die Vergrößerung zeigte einen dreifachen Kreis um ein zentrales, rundes Gebäude. Zwischen den Bauten, von denen nur steinerne Dächer zu sehen waren, trümmerübersäte Treppen und Rampen, wuchsen Pflanzen. Aber dieser Bewuchs war in unregelmäßigen Abständen von runden Flecken unterbrochen, die wie Meteorkrater aussahen. Die vier Straßen gingen in die vier Himmelsrichtungen dieses Planeten und schienen von Torbögen überspannt zu sein. Nach einigen hundert Metern verlor sich mit einer Ausnahme jede Straße im wuchernden Dschungel. Die Ausnahme führte zurück in Richtung auf das Camp. Die nächsthöhere Vergrößerung, reichlich unscharf, zeigte eine Gruppe von Männern, die mit unkenntlichen Geräten
auf den Schultern in fast militärischer Ordnung vom Camp her auf die Ruinenstadt zumarschierten. Legrelles Planet wurde immer geheimnisvoller.
6. Mit großer Verwunderung starrten sich Mario de Monti und Hasso Sigbjörnson an. „Die geraubten Einheiten sind menschenleer und unbeschädigt. Die Überlebenden sind in Camps konzentriert und scheinen mit militärischem Gerät zu hantieren. Das sieht nicht nach verzweifeltem Warten auf Rettung aus." Cliff breitete die Arme aus und winkte ab. „Was wir bisher gesehen haben, berechtigt noch nicht zu einer klaren Aussage, denn wir brauchen noch mehr Informationen." „Du willst doch nicht etwa landen?" fragte Arlene. „Nein, noch nicht. Möchtest du bitte eine Sonde klarmachen, Mario?" „Endlich! Ja, bin in ein paar Minuten fertig." Mario verließ die Steuerkanzel, um aus dem Magazin die Sonde zu holen und abwurffertig zu machen. Der Rest der Crew beobachtete weiterhin das erstaunliche Geschehen. Die Männer gingen geradeaus weiter, auf jener alten, aus Steinquadern bestehenden Straße. Als sie etwa zweihundert Meter von dem äußersten Gebäudering entfernt waren, kam mit rasend schlenkernden Ketten eines der schweren Fahrzeuge aus dem Wald heraus und hielt neben der Gruppe an. Die Männer verluden ihre Werkzeuge oder Waffen auf das Fahrzeug, schwangen sich entschlossen in die Sitze und auf die Ladefläche und fuhren mit dem schweren Gerät in die
Ruinenstadt hinein. „Vermutlich haben die Überlebenden das, was sie zum Leben brauchen, aus dieser Stadt geholt!" rätselte Cliff. „Und natürlich auch aus den Schiffen, Unterseebooten, Frachtern und Flugzeugen", schaltete sich Atan ein. „Sonde fertig zum Abwurf!" meldete der Erste Offizier. Cliff nickte. „In einigen Stunden ist hier Nacht", sagte er leise. „Wir sind noch ausgeruht, also schlage ich vor, wir untersuchen den Kontinent, auf dem jetzt gerade der Tag beginnt." „Das halte ich für einen guten Vorschlag", meinte Hasso. „Außerdem sollten wir T.R.A.V. informieren. Wir wissen noch nicht, was genau wir beobachtet haben, aber um diese Menschen wegzutransportieren, genügt die ORION sicher nicht." „Ich bereite alles vor", pflichtete Helga bei. Die Crew war verwirrt. Sie hatte so viele verschiedene und verwirrende Dinge gesehen, und nichts paßte zusammen. Die vielen Mosaiksteinchen ergaben alles andere als ein Bild. Was geschah hier auf Legrelles Planet? „Außerdem müssen wir die Beobachtungen bald abbrechen", sagte Cliff und deutete auf einen Monitor, „denn eine starke Gewitterfront näherte sich vom Meer. In etwa einer Stunde wird jede weitere Beobachtung unmöglich sein." Das Fahrzeug mit den Männern und den Werkzeugen war verschwunden. Es bewegte sich irgendwo in den Ruinen oder war angehalten worden. Die Überlebenden schienen kaum besondere Not zu leiden, aber woher stammten diese Spezialfahrzeuge? Und was bedeutete diese rätselhafte Aktivität in der alten Stadt, wer erbaute einst diese Ruinen? Und ganz plötzlich, ohne jede Ankündigung, änderte sich wieder die Szene. Im Bereich des
zweiten Ruinenrings erschienen plötzlich suchend weiße, kleine Feuerbälle. Gestein, Mauerbrocken und Schutt spritzten und flogen nach allen Seiten. Cliff packte Hasso am Arm, wirbelte ihn herum und zeigte auf den Bildschirm. „Hast du das gesehen?" Hasso schüttelte energisch den Kopf. „Nein. Was?" „Die Leute dort unten betreiben eine Art Krieg! Jedenfalls feuern sie aufeinander! Oder jemand schießt auf sie. Hier, schon wieder!" Inmitten der trichterförmigen Löcher, in denen zum Teil Wasser funkelte, entstand in einer Fontäne aus Staub und Gestein ein neuer Einschlagkrater. Balken oder Träger und Quadern stürzten lautlos in die Tiefe. Quer durch das Bild zuckten jetzt Feuerstrahlen und setzten dort, wo sie einschlugen, die Pflanzen abschnitten und in Fetzen auseinanderwirbelten, die Grünzone in Brand. Etwa fünf Minuten lang passierte absolut nichts. Dann entstand an einem anderen Teil des Bildes wieder eine plötzliche Bewegung. Das Kettenfahrzeug rauchte auf. Die Männer, die darauf saßen, schienen zu flüchten, jedenfalls deutete ihre Haltung darauf hin und der Umstand, daß sie sich nach hinten feuernd zurückzogen. Schlingernd und in langgezogenen Kurven raste der Wagen in die Richtung des Camps. Die Linsen folgten ihm, aber nach einem kurzen Schwenk erfaßten sie die näher kommende Gewitterwolke. Pechschwarz und von einem Schauer langer Blitze durchbrochen, kam sie näher. Cliff brauchte nicht lange, um sich zu entscheiden. „Mario! Justiere den fliegenden Beobachter und richte ihn so aus, daß er das Camp und die Ruinen hier gleichermaßen erfaßt. Wir brauchen alles, was hier vorgeht. Je mehr scharfe, abrufbare
Einstellungen, desto besser. „Verstanden." Kurz darauf schwebte eine etwa kopfgroße Kugel aus der Unterschale des Diskus hervor und wurde von Mario mit Hilfe einer einfachen Steuerung auf einen Punkt fixiert, der zwischen Camp und Ruine lag. Mit Hilfe der Fernsteuerung konnten sie aus großer Entfernung die Linsensätze bewegen und Vergrößerungsschaltungen vornehmen. In rund neun Stunden würde hier wieder genügend Licht herrschen, um hervorragende Aufnahmen machen zu können. Der Minisatellit besaß Energie für fünf Tage ununterbrochenen Einsatzes. Inzwischen war das Gewitter näher gekommen, und Cliff zog die ORION hoch. Sie hätten zwar die Landschaft unter ihnen mit Hilfe von Spezialfiltern untersuchen können, aber sie brauchten Informationen aus dem Normaloptik-Bereich. Am besten wäre es gewesen, wenn sie sich unerkannt unter die Menschen dort unten gemischt und Fragen gestellt hätten. Aber dies entsprach einem glatten Selbstmordversuch. „Wir ziehen uns diskret zurück", sagte Cliff und gähnte. Die Gewitterwolke bedeckte nicht nur die Wüste mit den Schiffen und Flugzeugen, sondern auch das Camp und die Ruinen. Das Gewitter entlud sich mit ungeheurer Wucht. Pausenlos zuckten Blitze in die Wolken hinauf und erhellten kurz die Umgebung. Ein wasserfallartiger Regen stürzte herunter, als die ORION in Richtung auf das Südpolargebiet des Planeten davonraste. „Müde?" „Müde und hungrig", gab Cliff zu und nickte. Arlene streichelte seine Schulter. „Wir haben nur noch eine unangenehme Sache vor uns, dann können wir in Ruheposition gehen." „Ich weiß. T.R.A.V. anrufen." Das Diskusschiff schraubte sich durch
die Atmosphäre in den freien Raum hinauf und bezog dort eine Position, die es über dem nächsten Großkontinent in einer unveränderten Lage festhielt. Aus dem Schiff war ein Satellit geworden. Helga bereitete das Bildfunkgespräch vor, und Minuten später sagte sie: „Cliff, wir sind durchgekommen. Diesmal sind die Störungen nicht nur echt, sondern auch beträchtlich." Das Bordbuch lief mit, als Cliff den Kopf hob und in den Funkmonitor hinaufsah, der das Gesicht Han Tsu-Gols zeigte. „Minister", sagte Cliff laut und grüßte kurz, „wir haben einen sehr merkwürdigen Planeten gefunden ..." Er schilderte, was sie entdeckt hatten, nicht sehr umfassend, aber der Fachmann verstand, welche Dinge hinter den kurzen Sätzen versteckt waren. Dann rief Han laut: „Weisen Sie bitte Legrelle an, keine Funkstörungen zu produzieren! Ich weiß, daß dies Ihr bewährtes Mittel ist, unangenehmen Dingen aus dem Weg zu gehen. Aber wir können hier kaum etwas verstehen!" Helga kicherte anzüglich im Hintergrund. „Sie können die Diagramme ansehen. Bordbuch schneidet mit", schrie Cliff. „Wir haben hier ein gigantisches Magnetfeld und die herunterhämmernden Strahlungen von drei energiereichen Sternen. Meinen Sie, die Sonnen produzieren Watte oder Sinnsprüche?" „Jetzt verstehe ich Sie endlich deutlicher!" brüllte das Bild Hans, das sich immer wieder auflöste und in ständig wechselnden Farben neu aufbaute. Cliff sprach weiter und schilderte die Beobachtungen, die sie bis eben gemacht hatten. Schließlich kam er zum Ende und sagte: „Eine gute Rede soll das Thema erschöpfen, aber nicht den Zuhörer. Sie sehen, wir haben uns strengstens an Ihre
Befehle gehalten und sind nicht gelandet." Diesmal dauerten die echten Störungen länger, und keiner der Männer verstand den anderen. Schließlich erschien Han wieder und brüllte; er versuchte, durch langsames und lautes Sprechen die Ausfälle gering zu halten. „Bleiben Sie... weiter beobachten ... keine unüberlegten Handlungen ... daran denken, daß geheime Station ... Gegner." „Richtig. Sehr aufschlußreich", murmelte der Commander schlechtgelaunt und rief dann zurück. „ORION gehorcht... keine Gefahren ... Station unentdeckt... Ruhepause dringend, Erholung geplant." Er hob abschiednehmend die Hand, und Helga ließ die Verbindung zusammenfallen. Stille breitete sich in der Steuerkanzel aus. Cliff regelte den Durchsatz der Klima- und Aufbereitungsanlage, fügte mehr Sauerstoff hinzu und eine Spur Duftstoff, der die Schleimhäute betäubte und ihnen „Frische" suggerierte. Dann gähnte Cliff abermals mit Hingabe und sagte: „Wer hat heute turnusmäßig Wache? Atan, glaube ich." „Ja. Ich." „Dann kannst du, während wir den Schlaf des Gefechten auf uns nehmen, an den Linsen herumspielen. Vielleicht entdeckst du die Geheimstation, die zusammen mit Ganymed diese Tausende von Objekten hierhergebracht hat." Atan sah bekümmert drein und meinte kopfschüttelnd: „Ich glaube nicht, daß ich etwas finde. Ich ahne, daß es nicht einfach eine kompakte Station gibt, die wir finden und mit Overkill beschießen können. Aber ich werde mein Bestes tun, wie immer. Gute Nacht!" „Ebenso", murmelte Cliff und schnallte sich los. Die Mannschaft nahm ein reichhaltiges,
aber hastiges Essen zu sich, diskutierte noch ein bißchen über die erstaunlichen Vorgänge und Funde, dann suchten sie nacheinander ihre Kabinen auf. Schließlich, nachdem Cliff heiß und anschließend eiskalt geduscht hatte, lag er in seinem Bett, die Hände hinter dem Nacken verschränkt, ein halbvolles Glas Whisky auf der Ablage. Neben seinem Kopf leuchtete eine heruntergedimmte Leselampe. Das Schott schwang auf, und Arlene kam in den kleinen, schmalen Raum. Sie setzte sich zu Cliff auf die Liege und trank einen Schluck aus seinem Glas. „Schmeckt's?" fragte er müde und fühlte, wie sich seine aufgeregten Gedanken langsam beruhigten. „Nun ja, mittlerer Kommandantenwhisky", sagte sie und strahlte ihn an. Aber auch ihre großen, dunklen Augen zeigten, daß sie verwirrt war und sich aus der Summe der bisherigen Informationen keinen Reim machen konnte. „Bist du gekommen, um mit mir zu diskutieren? Oder willst du mich nur mit deiner Anwesenheit bezaubern?" fragte er leise. „Das eine schließt das andere nicht aus. Beides also. Was haben Ihre Majestät für morgen vor?" Cliff nahm ihr das Glas weg und trank ebenfalls einen Schluck. Er stopfte das Kissen zwischen seinen Rücken und die Wand und lehnte sich zurück. „Ich denke, wir suchen uns einen garantiert gefahrlosen Punkt und landen." „Um den bedauernswerten Entführten zu helfen?" fragte sie und rückte näher. „Keineswegs. Ich halte sie nicht für bedauernswert. Diejenigen, die wir sehen konnten, bewegten sich wie gut genährte, trainierte Menschen." „Sondern?" „Wir suchen diesen Landepunkt im Zentrum des zweiten Kontinents. Atan wird die in Frage kommenden Landepunk-
te heute nacht herausfinden. Dann sehen wir uns um. Wir greifen erst ein, wenn wir sicher sind." „Und der Hyperfunksender?" „Wenn wir nach ihm suchen, sind wir in einigen Monaten noch hier. Ich rechne mit einem Zufall. Falls sich Flottenschiffe hier postiert haben, werden sie die Quelle viel genauer ausmessen können als wir, während wir aus dem Hyperraum auftauchten." „Klingt logisch. Also dann, noch einen Schluck auf die morgige Landung. Irgendwie freue ich mich auf den ersten Kontakt mit diesem wilden, unberechenbaren Planeten." Cliff erwiderte ernst, während er ihr das fast leere Glas reichte: „Freue dich nicht zu früh. Nichts von dem, was mit den Nachfahren des Rudraja zusammenhängt, ist leicht, einfach oder ungefährlich. Aber wir kennen schon so viel aus der Rüstkammer dieser Macht und werden uns wehren können." Sie legte ihre Arme um Cliffs Hals und zog ihn zu sich herunter. „Ich hoffe, du wehrst dich nicht auch gegen mich, Häuptling McLane." „Warum sollte ich?" murmelte er und küßte sie. * Atan hatte die erste, Helga die zweite Wache gehabt. Nacheinander kamen die ausgeschlafenen Angehörigen der Crew, ein ausgedehntes Frühstück hinter sich, in die Steuerkanzel zurück. „Keine besonderen Vorkommnisse", erklärte die Funkerin. »Abgesehen davon, daß Atan wie ein Wilder gearbeitet hat. Hier liegt die Ausbeute." Mit Hilfe des spezialisierten Zusatzgeräts und der gespeicherten Photos hatte der Astrogator eine Planetenkarte in Mercatorprojektion hergestellt. Sie zeigte in vier Farben die Kontinente, die Teile
der Pole und die Meere, ebenso die wenigen Inseln. Für die geringe Menge an Informationen war sie erstaunlich aussagekräftig. Die Folie lag quer über dem Kartentisch. Sämtliche bisher entdeckten Fundorte waren eingetragen, ebenso die Ruinenstädte aller drei Kontinente. Cliff tippte mit dem Finger darauf und sagte: „Sie liegen tatsächlich fast im Zentrum der Landmassen. Und darum gruppieren sich die abgesetzten Objekte." Deutlich zeigte es die Karte, neben der ein Stapel durchnumerierter Photos lag, die einzelnen Nummern standen auch auf den entsprechenden Stellen der großen Karte. Die bisher durch Fernortung festgestellten und jene, die sie selbst angeflogen hatten - alle Fundorte lagen in einem höchst unregelmäßigen Kreisgebiet um die drei Ruinenstädte. „Außerdem hat er etwa dreißigmal den schwebenden Beobachter abgefragt. Aber er fand nichts heraus, das uns weiterhelfen würde", erklärte Helga. Die ORION schwebte unverändert hoch über dem Planeten. Die Stellung der drei Sonnen zueinander hatte sich stark verändert. Auf dem größten und irgendwie am interessantesten Kontinent begann soeben der Morgen. Die Crew sichtete die Aufnahmen, diskutierte ihr Vorgehen, dann entschlossen sie sich, Cliffs Vorhaben durchzuführen. Sie alle waren viel zu ungeduldig und angesichts der neuen Informationen zu aufgeregt, um länger warten zu wollen. „Ich schlage vor, wir suchen den mittleren der drei Kontinente auf. Natürlich ist jeder irgendwie der mittlere", sagte Arlene. „Ich meine den hier, der auf Atans Karte in der Mitte ist." „Entzückend! Diese wissenschaftlich korrekte Diktion", bemerkte Mario und grinste Arlene an. „Trotzdem schließe ich mich deinem Wunsch an. Auf dem sogenannten Zentralkontinent sehe ich die
größte Massierung der gestohlenen Objekte. Vermutlich finden sich dort auch die entführten Raumschiffe." „Deswegen hauptsächlich werden wir dort landen. Auf die Plätze, bitte", schloß der Commander. Sie nahmen Platz, schnallten sich an und aktivierten die wichtigen Instrumente. Die ORION verließ ihre Position, beschleunigte und flog, wieder mit der Sonne fast im Rücken, auf das Zentrum des größten Kontinents von Legrelles Planet zu. Ununterbrochen suchte die Crew nach anderen Anzeichen, nach der vermuteten Station, dem Sender, anderen Bauwerken ... aber die Detektoren schlugen nicht aus. Wenn es die gesuchten Einrichtungen wirklich gab, dann waren sie hervorragend versteckt. Je näher sie dem Erdboden kamen - im Augenblick herrschte in dieser Gegend ein wolkenloser, purpurfarbener Morgen -, desto mehr bremste Cliff. Sie schwebten schräg auf die Ruinenstadt zu, die aus fünf konzentrischen Gebäude- oder Ruinenringen bestand und ebenfalls die größte geschichtete Anlage war. Im Osten befand sich die erste, nächstliegende Konzentration von geraubten Objekten. Cliff hob den Arm und winkte de Monti zu sich her. Gemeinsam starrten sie auf die Bildplatte. „Hier möchte ich landen. Zwischen den beiden Robotfrachtern und dem Atomunterseeboot. Die Maschinen bilden ein V, und somit sind sie ein ideales Versteck." „Nicht zu weit entfernt?" fragte Mario zweifelnd und spreizte die Finger, um die Entfernung zwischen Ruinen und diesem Friedhof auszumessen. „Mindestens dreißig Kilometer." Cliff erwiderte: „Nein. Sicherheitsabstand! Nötigenfalls nehmen wir eine LANCET. Ich bin sicher, es gibt irgendein Fortbewegungsmittel." „Hoffentlich. Wie du meinst." Die ORION sank leise summend tiefer.
Die Schiffe und Flugzeuge wurden größer und deutlicher. Dieses Feld geraubter Objekte befand sich auf einer großen Kiesebene, die von einigen seichten Bächen durchzogen wurde. In einem erstaunlich gleichmäßigen Abstand wuchsen große, runde Büsche mit hellgelben Blüten, hellgrünen Blättern und faustgroßen dunkelroten Früchten. In hundert Metern Höhe schwebte das Diskusschiff ein, schlich zwischen den Aufbauten der Schiffe hindurch und den Seitenleitwerken der Stratojets, sprang über den langgestreckten Rumpf des großen Unterseeboots und verharrte dann über der Stelle, die Cliff ausgesucht hatte. „Weit und breit keine Bewegung. Nichts zu sehen!" kommentierte Atan der inzwischen in die Kanzel gekommen war. „Wir landen." Der Diskus sank die letzten Meter und blieb dann auf seinen Antigravitationsstützen stehen. Systematisch schaltete Cliff die Maschinen aus, aktivierte Schutzeinrichtungen und löste schließlich „Ich Gurt. schlage vor, daß Atan hierbleibt den und ein wenig aufpaßt", sagte Cliff nachdenklich und musterte die Bildschirme, die über Kopfhöhe angebracht waren und ein Rundumbild lieferten. Es wirkte ein wenig so, als zöge sich ein durchsichtiges Band zwischen den beiden Schalenhälften um die ORION-Kanzel. „Und die anderen?" „Wir bilden zwei Gruppen. Die zweite Gruppe sichert die erste. Zunächst sehen wir uns in leichten Raumanzügen, bewaffnet und mit den Armbandkommunikatoren ausgerüstet, in der Nähe um. Wir suchen Beförderungsmittel, denkt daran." „Einverstanden." Noch einmal sicherten sie die Umgebung. Ihre Augen und die weitreichenden Geräte untersuchten jeden Fleck, der ihnen als Versteck erschien. Aber hier gab es wirklich niemanden, der auf sie lauerte.
„In Ordnung", sagte der Commander schließlich. „Wir gehen hinaus. Denkt an die größere Oberflächenschwerebeschleunigung von LegrellesWelt." „Natürlich." Sie zogen so schnell wie möglich, aber unter Beachtung aller Checklistenregeln, die leichten Raumanzüge an. Diese Anzüge waren dafür gedacht, auf Planeten mit nur geringen Unterschieden der Gashülle eingesetzt zu werden. Die Crew steckte alle notwendigen Geräte ein, bewaffnete sich, nahm Getränke und Nahrungsmittelkonzentrate mit und prüfte die spangenförmigen Armbandfunkgeräte. Dann fuhren sie in Gruppen mit dem Lift nach unten. Frische, gesunde Luft, ein eigentümlich narkotisierender Geruch und die erhöhte Schwerkraft dieses rätselhaften Planeten empfingen sie. Cliff, Arlene und Hasso bildeten die erste Gruppe. Nach kurzer Verständigung gingen sie in die Richtung des ersten, leeren Robottransporters. Vor ihnen entfaltete sich ein denkwürdiges Bild. Erst jetzt sahen sie alle jene kleinen, aber wichtigen Einzelheiten, die ihnen weder eine wochenlange Beobachtung vom Schiff aus noch die besten Geräte und die schärfsten Vergrößerungen zeigen konnten.
7. Die tragflächenähnlichen Stelzen mit den breiten, seitlichen Stützflächen waren eingefahren. Das etwa vierhundert Fuß lange Boot ruhte auf dem Kiel, beziehungsweise war einen Meter tief eingesunken. Deutlich waren die schmutzigen und bewachsenen Teile des Unterschiffs zu sehen, die Schrammen und Beulen der vielen robotgesteuerten Anlegemanöver. Da das Schiff keine menschliche Besatzung gehabt hatte, gab es auch keine
Jakobsleiter, die zum Boden ausgeklinkt war. Aber an mehreren Stellen des Rumpfes verliefen Reihen ausgefahrener Stahlbügel. „Wollen wir entern?" fragte Arlene. Sie hatte, wie alle anderen Mitglieder der Crew, den Raumhelm nach hinten geklappt. „Wir müssen. Es wäre märchenhaft, wenn dieser Frachter etwas geladen hätte, aus dem sich fahrbare Dinge herstellen, zusammenstecken oder ineinanderschrauben ließen", meinte Cliff. Das Gehen bereitete ihnen keine Schwierigkeiten, aber sie merkten die Schwerkraft. Vermutlich würden sie nach einem halben Tag einen hervorragenden Muskelkater haben. „Dann nichts wie hinauf. Ich hoffe, in dem Raum der Robotik liegen Frachtpapiere herum." „Rechne nicht damit", murmelte Arlene, näherte sich der Reihe von Kletterbügeln und begann den Aufstieg auf das kleine Kommandodeck des Schiffes, das wie ein langer, flachgedrückter Torpedo auf Stelzen aussah. Regen und Wind hatten Sandspuren hinterlassen. In einigen Ecken oder Vertiefungen wuchs silberfarbenes Moos. Hasso und Cliff folgten ihr, während Helga und Marion einen anderen Weg nahmen. Es herrschte eine trügerische Stille. Jeder Schritt knirschte erschreckend laut im Kies. Der Geruch in der Luft, die von einem kaum wahrnehmbaren Wind aus Westen bewegt wurde, schien sich verloren zu haben; jedenfalls fiel er keinem der fünf von der ORION auf. Arlene und Cliff gingen hinter Hasso auf das stromlinienförmige, von Linsen, Antennen, Peilstäben, Scheinwerfern, Radarprojektoren und anderen Elementen starrende Brückendeck zu, das die einzige Erhebung auf dem sonst glatten Schiffskörper bildete. Hasso entriegelte die große Inspektionsöffnung, schwenkte das stählerne Schott auf und sagte:
„Es riecht noch nach original TerraSeewasser." Cliff und Arlene warteten. Hasso, für den es nur wenige technische Probleme gab, schaltete einen Bildschirm ein, tippte in rasender Geschwindigkeit einige Befehle und wartete nur eine Sekunde. Dann geschahen zwei Dinge fast gleichzeitig. Auf dem Bildschirm schrieb der Steuerrobot die Frachtliste aus. Und eine der Luken, in denen die Ladung in wuchtigen Containern verstaut wurde, hob sich hydraulisch um einen Meter. Cliff stand ungünstig, zwei Sonnen spiegelten sich im Bildschirm. Er konnte nichts lesen und fragte: „Was haben sie geladen?" „Alles nur Erdenkliche. Völlig unwichtig für uns. Aber in dem Container, der dort erscheint, sind zwei Dutzend Amphibienfahrzeuge. Sie waren für die Sümpfe Floridas bestimmt, laut Frachtliste." „Sonst nichts?" „Stoffe, Konserven, Lesespulen, allerlei modisches Zeug - und vierundzwanzig Amphibienfahrzeuge. Hier sind die Typenbezeichnungen, aber sie sagen mir nichts. Ich lasse ausladen, ja?" Cliff und Arlene lachten kurz; die Vorstellung, mit irgendwelchen skurrilen Gefährten hier durch die Landschaft zu kurven, war einige Sekunden lang belustigend. „Lädt der Frachter selbst aus?" rief Arlene aufgeregt. „Ja. Wir müssen nur den Container aufbrechen. Er wird automatisch abgesetzt. Okay?", „Natürlich. Wir haben keine Zeit, hier nach einem Jeep zu suchen oder einem ähnlichen Gerät. Bring das Ding nach unten, ja?" „Ist schon auf dem Weg." Die Technik des geraubten Schiffes
funktionierte noch. Der wuchtige Container hob sich aus dem Schacht des Schiffsbauchs hoch. Eine Hydraulik ergriff ihn und setzte ihn rund zehn Meter tiefer, vier Meter von der Bordwand entfernt, in den Kies. Hasso machte eine einladende Handbewegung und sagte, nicht einmal schlecht gelaunt: „Das war's. Ich hoffe nur, die Maschinen haben auch Energiezellen beziehungsweise Betriebsstoff dabei. Sonst wird es schwierig." „Vergewissern wir uns", meinte Cliff und sah, wie Hasso Sigbjörnson die Anlage ausschaltete. Der Bordingenieur folgte ihnen über das Deck und kletterte hinter ihnen zu Boden. Sie umrundeten den Schiffskörper und standen dann vor dem verschlossenen Riesencontainer. „Dies alles erfreut natürlich das Herz eines alten Technikers", sagte Hasso. „Terranische Einfachelektronik, terranische Spitzentechnik, sie funktionieren selbst noch hier auf Legrelles Welt in Null Zwo Eridani. Verblüffend." „Verblüffend wäre auch, wenn du uns noch demonstrieren könntest, wie man diesen Container knacken kann, ohne ihn in die würzige Luft zu sprengen", sagte Arlene und suchte an den Ecken nach einem Verschluß. Hasso machte einen schnellen Rundgang um den Behälter aus kunststoffbeschichtetem Spezialstahl, entdeckte einen vertieften, abgedeckten Schaltkasten und hantierte daran. Plötzlich rief er: „Achtung. Geht zurück! Mindestens fünf Meter!" Die Seitenwände falteten sich knirschend nach außen, und eingehängte Federn schoben die vierundzwanzig Fahrzeuge auseinander. Jetzt erst erkannten sie die Form dieser Gefährte. Eine große, nach innen gewölbte Schale trug an der Unterseite sechs riesige Niederdruckreifen mit einem gewaltigen Profil.
Allerlei Zusatzgeräte waren hochklappbar angebracht. Das Ganze steckte in einer milchigen Kunststoffolie. Cliff rief über das Armbandgerät Mario und Helga herbei, dann machten sie sich an die Arbeit, einige der Geräte auszupacken. Sie waren rund zwei Meter breit, vier Meter lang und etwa eineinhalb Meter hoch. Cliff schwang sich in den Fahrersitz dieses Fahrzeugs, drückte auf Knöpfe, drehte einen Zündschlüssel, der vertrauensvoll klimperte, und plötzlich erwachte das schwarzgelbe Monstrum zu brummendem Leben. „Fabelhaft!" schrie Hasso, als er merkte, wie diese Fahrzeuge angetrieben wurden. „Wasserstoffantrieb. Und dazu ein Ansaugtrichter, das kann nur bedeuten ..." Cliff gab zurück: „Ja. Ich lese es auf dem Armaturenbrett. Bei laufender Maschine wird ein Teil des Treibstoffs selbst erzeugt. Der Motor allerdings wird mit flüssigem Kohlenwasserstoffen gestartet." Drei Personen fanden in einem Fahrzeug Platz. Cliff entschied, die Crew sollte mit vier Wagen losfahren. Binnen einer Stunde hatten sie aus acht anderen Amphibienfahrzeugen die Ersatztanksysteme ausgebaut und auf die vier Transportmittel verteilt. Schließlich, als sie fertig waren, kam auch Atan aus dem Schiff und schrie : „Ich habe die Schleuse geschlossen. Kodezahl sechsunddreißig." Eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme. Die Wahl der falschen Zahl löste eine Serie von Warn- und Abwehrmechanismen aus. Niemand vermochte den nach unten ausgefahrenen Lift zu öffnen, ohne die Zahl eingestellt zu haben. Hin und wieder drehten sich die Raumfahrer um; es war eine merkwürdige Szene, die sie erlebten. Mitten in der Geröllwüste, umgeben von stählernen Schiffen und Flugzeugen, vollkommen allein, von zwei weit auseinanderstehenden Sonnen beschienen, machten sie die
hochbordigen, wasserdicht gebauten Fahrzeuge fahrbereit. „Wohin geht es, Cliff?" rief Mario aus dem Fahrersitz des leise vibrierenden Wagens, den er langsam aus der Gruppe herausfuhr und dann anhielt. „Wir suchen zuerst den Pfad. Er muß irgendwo dort hinten bei dem PANOACClipper sein. Dann auf dem Pfad nach Westen." „Richtung Ruinenstadt?" „Exakt!" rief Cliff. Mario und Helga, er und Arlene saßen in jeweils einem Fahrzeug, Atan und Hasso steuerten allein die beiden anderen Amphibiengeräte. De Monti zog mit brummendem Motor und durchmahlenden Riesenreifen an ihnen vorbei und setzte sich an die Spitze der kleinen Karawane. Cliff ließ Hasso und Atan passieren und bildete den Schluß. Sie umrundeten das angerostete Bugteil des Frachters, fuhren schleudernd in einem Tropfenregen durch den ersten seichten Bach und dann auf das Seitenleitwerk des Stratojets zu. Arlene hielt sich mit der rechten Hand an einem federnden Griff neben dem einfachen Armaturenbrett fest und sah zu, wie Cliff ziemlich geschickt die Steuerung handhabte. Sie bestand aus zwei Stäben mit Griffkugeln darauf. Je weiter sie vorgeschoben wurden, desto schneller lief der Wagen. Richtungsänderungen wurden durch Verzögern oder Anhalten von jeweils drei Rädern einer Seite durchgeführt. „Wir sind völlig unbehelligt gelandet. Niemand griff uns an. Wir entdeckten auch kein Zeichen dafür, daß man uns beobachtet!" sagte sie nachdrücklich. „Trotzdem habe ich ein ungutes Gefühl, Cliff." „Ich nicht minder", sagte er und drehte suchend den Kopf. Sie fuhren noch immer in leichten Schlangenlinien durch den Schiffs- und Flugzeugfriedhof. „Wir haben die entführten Raumschiffe
gesehen. Denkst du, daß die Besatzungen weniger wehrlos waren?" Cliffs Gesicht wirkte verschlossen. Der Commander beschäftigte sich mit einem schwierigen Problem. Sie suchten Kontakt mit den beobachteten Menschen, die alle von der Erde stammten. Aber es gab zu viele Geheimnisse und Unsicherheiten, und deswegen war dies alles andere als eine einfache Rettungsaktion beziehungsweise deren Einleitung. Cliff versuchte, unter Einsatz aller Erfahrungen mögliche Pannen, Gefährdungen und Hinterhalte auszuschalten. „Sie sind nach meiner Meinung nicht mehr und nicht weniger wehrlos als alle anderen hier. Ich sehe bestenfalls einen großen Nebel, aber ich habe keine konkreten Vorstellungen. Wieder einmal stelle ich fest, daß ich dumm, phantasielos und ohne Ahnung bin." Sie lächelte milde und korrigierte: „Du untertreibst, Cliff!" „Nur unwesentlich. Rechnet mit allem. Legrelles Planet ist per saldo ebenso gefährlich wie Ganymed oder der Todeskristall. Ohne Scherz, teuerste Freundin." Er stand kurz von seinem Sessel auf und spähte über den Rand der großen, federnden Windschutzscheibe, nach vorn. Mario steuerte sein Fahrzeug mit Höchstgeschwindigkeit zwischen einem Fischerboot und irgendeiner Luxusjacht hindurch, raste mit durchdrehenden Reifen durch einen anderen Bach. Kiesel hagelten in hohem Bogen nach hinten, und Atan drückte wütend mehrmals auf das Hörn seines Fahrzeugs. Der Laut erzeugte in der Stille der Umgebung ein störendes, völlig unpassendes Geräusch. „Du Wahnsinniger!" schrie Atan, als Mario in verwegenem Tempo zwischen einem zerbrochenen Rettungsboot und einem halbautomatischen Hummerfischboot auf den schwach erkennbaren Weg hinausratterte, „mußt du uns mit deinen Kieselsteinen bewerfen? Halte an dich!"
„Gehe in Deckung, Astrogatorknecht!" brüllte der Erste gut gelaunt zurück und erzeugte, als die Reifen sich trockengeschleudert hatten, eine gelbe Staubwolke, die Atan und Hasso einhüllte. Cliff grinste kurz und zog die beiden Hebel langsam nach hinten. Der Abstand zwischen Hasso und ihm vergrößerte sich. Sowohl Cliff als auch Arlene spähten nach allen Seiten. Ihre Waffen lagen entsichert auf ihren Knien. Sie fuhren jetzt auf dem Weg, der immer deutlicher wurde, je mehr die Landschaft aus der lichtflirrenden Kiesebene in Grasflächen, Gebüsch und schütteren Wald überging. Etwa dreißigtausend Meter voraus, in genau westlicher Richtung, lagen das halbverdeckte Camp und die riesige, mehrfach kreisringförmige Ruinenstadt. Eine halbe Stunde lang folgten die vier Wagen dem Pfad. Je länger der erste Sichtkontakt mit den Entführten auf sich warten ließ, desto mehr stieg die Spannung. Selbst Mario, der jetzt seine übermütige Phase beendet zu haben schien, wurde langsamer und fuhr nicht direkt auf den Fahrspuren, sondern suchte die Deckung. Die Crew wartete auf einen Hinterhalt, auf einen Überfall, auf eine Aktion der Unbekannten und wurde instinktiv langsamer. Keiner von ihnen sprach, als sie endlich die Waldregion erreicht hatten. Es gab Schatten, obwohl die rote Sonne schnell höher geklettert war. Die Baumkronen vereinigten sich immer wieder über dem Pfad, der nichts anderes war als der berühmte Weg des geringsten Widerstands: Derjenige, der ihn zum erstenmal benutzt hatte, war sorgsam allen Wurzeln, Baumstämmen und Tümpeln ausgewichen. Nicht ein einziger Baum war gefällt worden. Cliff erinnerte sich plötzlich und winkelte den linken Arm an. Er drückte mit dem Kinn die Sprechtaste und rief leise:
„Mario! Bitte melden." Sofort blinkte das Gerät, der Lautsprecher brummte auf. „Hier Mario. Was gibt es, Chef?" „Ich kann mich erinnern, daß der Pfad, gut einsehbar von oben, an einer Lichtung vorbeiführt. Gib acht, hörst du?" „Natürlich. Ich bin kurz davor. Ich sehe schon Licht zwischen den Stämmen." „Melde, wenn es etwas gibt, ja?" sagte Cliff. „Selbstverständlich." Cliff schob beide Hebel nach vorn, schloß zu Hassos Fahrzeug auf und steuerte dann wieder in eine der vielen engen Zickzackkurven. Der Wald vermittelte den sechs Menschen einen willkommenen und irgendwie vertrauten Eindruck. Es gab kleine Tiere oder Vögel, die Laute ausstießen, wie sie Vögel von sich zu geben pflegen. Insekten, größer und farbiger als auf der Erde, summten wie bösartige Geschosse um die Menschen. Im Unterholz knackte es unaufhörlich. „Wo verstecken sich die geraubten Menschen eigentlich?" flüsterte Arlene und versuchte unentwegt, irgendwelche Spuren zu entdecken. „Keine Ahnung. Aber zwischen unserem Standort und der Ruinenstadt müssen sie sich aufhalten", gab Cliff zurück. Gerade die teilweise sehr große Ähnlichkeit mit Gebieten unberührter Wildnis auf der Erde ließ diesen Planeten so unwirklich und gefährlich wirken. Jetzt nahm der narkotische Geruch der Luft wieder zu. Ab und zu ertönte der Donner eines fernen Gewitters. Bedingt durch die eigentümliche Situation des Planeten mußte es ununterbrochen über allen Zonen dieser Welt Gewitter geben. Und in den Nächten spielten Nordlichterscheinungen über den gesamten Himmel. Plötzlich summte das Armbandgerät. Mario sagte mit leiser, scharfer Stimme: „Mario an alle. Ich habe soeben eine Gruppe Menschen entdeckt. Sie sehen
mich, aber sie kümmern sich nicht um mich. Kommt bitte alle hierher." „Verstanden", sagte Cliff und schob die Geschwindigkeitshebel nach vorn. Die drei Amphibienfahrzeuge rasten weiter und bremsten dann in einer Reihe neben Marios Gefährt. Mario kauerte hinter der Schutzscheibe und deutete auf den gegenüberliegenden Rand der großen Lichtung. Dort bewegten sich drei, vier Dutzend Menschen in merkwürdiger Kleidung, einer Mischung zwischen den Kleidungsstücken, die sie von der Erde mitgebracht hatten, und anderen Teilen, die sehr fremd wirkten. Zwei Minuten lang starrten die ORIONLeute hinüber, dann erkannten sie undeutlich, was dort geschah. Männer schwangen sich an Lianen oder Seilen von den Bäumen, stürzten sich auf andere, die versuchten, ungesehen und geduckt die Lichtung zu überqueren. Mit Energiewaffen, die sie aber nicht abfeuerten, wehrten sich die Männer. Sie kämpften mit langen Holzstangen gegeneinander und waren schnell und konzentriert. Hin und wieder warf einer von ihnen einen kurzen Blick hinüber zu den sechs Fremden, aber sonst geschah nichts. Dann ratterte knarrend eines der bekannten Kettenfahrzeuge zwischen den Stämmen hervor. Ein Geschützprojektor richtete sich auf eine der angreifenden Gruppen. Der Schütze an Bord der Maschine feuerte auf die Männer, aber der Projektor gab nur einen langen Blitz, ein furchtbares, nachhallendes Krachen und eine farbige Rauch- oder Dampfwolke von sich. Immer wieder sammelten sich die Angreifer und Verteidiger in mehreren Gruppen. Sie wichen aus und versteckten sich, dann tauchten sie plötzlich zwischen hohen Gräsern und Büschen auf und versuchten, das Kettenfahrzeug zu entern. „Sie spielen Dschungelkrieg", murmelte der Commander verblüfft. „Sie kümmern
sich gar nicht um uns." Hinter seinen Schläfen begann ein feiner, stechender Schmerz zu bohren, aber als Cliff zusah, wie einige Nebelgranaten platzten, den offenen Panzerwagen einhüllten, vergaß er den Schmerz wieder. „Tatsächlich. Sie üben den Umgang mit Waffen und Geräten. Und sie scheinen schon lange zu üben", gab Arlene zurück. „Was mich verblüfft", flüsterte der Bordingenieur, „ist der Umstand, daß sie sich nicht auf uns, die fremden Eindringlinge, stürzen." Er hob herausfordernd seinen schweren Lähmungsstrahler. „Es sind scheinbar sinnlose Tätigkeiten", sagte Mario laut. „Ich habe den berechtigten Eindruck, daß die Gekidnappten sich zu Soldaten oder Agenten ausbilden. Wozu?" Für Menschen, die größtenteils noch unter der stark abklingenden Wirkung des Fluidums Pax stehen mußten, eine erstaunliche Wandlung. Hinter der Rauchwolke krachte und fauchte es. Kurze, heisere Kommandos wurden gebellt. Dann heulte die schwere Maschine des Kettenfahrzeugs auf, und der Mechanismus schob sich rückwärts aus der tarnenden Wolke hervor. Als wieder einer der Kämpfenden herübersah, hoben gleichzeitig Mario und Cliff die Arme hoch und winkten. Ein langer, ausdrucksloser Blick traf die Crew in ihren auffallenden Wagen. „Hallo!" rief Helga schwach. Aber auch dieser Versuch schlug fehl. Die Menschen waren nicht ansprechbar. Und jetzt rafften sie ihre Waffen zusammen und verschwanden hinter dem Kettenfahrzeug zwischen den Baumstämmen in der Dämmerung des Waldes. Cliff sah ihnen kopfschüttelnd nach und horchte auf den verklingenden Lärm und die leiser werdenen Kommandos. „Fahren wir weiter. Das war nur eine erste Gruppe. Wir werden andere finden,
die zugänglicher sein werden", ordnete der Commander an. Atan zog skeptisch die Schultern hoch und entgegnete: „Hoffentlich täuschen wir uns nicht in dieser Annahme?" „Die Möglichkeit ist gegeben", schränkte Cliff ein. „Trotzdem, der Tag ist jung, versuchen wir's weiter." Die vier Maschinen brummten auf, als die Crew wieder auf den Pfad zurückfuhr und weiter in die Richtung auf die Ruinenstadt vorstieß. Eines hatten die Mädchen und Männer der ORION begriffen: Diese Gekidnappten schienen keineswegs verzweifelt zu sein und auf möglichst schnelle Rettung zu warten. „Es wird immer gespenstischer", meldete sich Atan über Funk. „Ich kann mir nicht im entferntesten denken, daß alle diese Leute sich freiwillig solchen kriegerischen Tätigkeiten hingeben." Cliff zuckte zusammen und rief leise ins Mikrophon: „Das könnte ein Stichwort sein, Atan. Wir sollten darauf achten, daß die Menschen vielleicht unter Druck oder Zwang so handeln und sich so verhalten müssen. Weiter, Freunde - Richtung Ruinenstadt oder das, was wir dafür halten." Vorsichtig, und schweigend, aber ziemlich schnell fuhren sie hintereinander weiter. Die Entfernung mochte rund dreißig Kilometer betragen, aber lediglich in der Luftlinie. Auf dem Pfad schien sie sich zu vervielfachen. Nach einigen Metern Fahrt hörten die Geräusche der Scheinkämpfe auf, und die Umgebung des dichten Waldes wirkte wieder auf die ORION-Crew ein. Die vier schaukelnden Maschinen folgten der Linie des Pfades, der durch tiefe Schlammpfützen führte, durch einige Zonen voller hochstehender Gräser, über kleine, vermodernde Baumstämme, die von weißen Insekten wimmelten. Der Donner, der immer lauter wurde und häufiger aufeinanderfolgte, zeigte an, daß
sich ein Gewitter näherte. Trotz des Schattens nahm die Hitze zu. Der kurze Sonnentag des schnell rotierenden Planeten ging seinem mittäglichen Höhepunkt entgegen. Es wurde schwül; Insektenschwärme belästigten die sechs Raumfahrer. Aber ehe sie die Helme nach vorn klappen konnten, verschwanden die Schwärme wieder. Als der erste Blitz aus dem blauschwarzen Himmel zuckte und in unmittelbarer Nähe einschlug, wurde der Pfad breiter, aus Schlamm und Pflanzen wuchsen große, recht eckige Quader, und jenseits einiger schräg über dem Weg hängender Baumstämme sah Mario den ersten, halb zerfallenen Torbogen der Ruinenstadt. „Ein sehr romantischer, aber gefährlicher Anblick", rief der Erste Offizier leise in sein Gerat. „Trotzdem sollten wir versuchen, ein Gewölbe zu erreichen", gab Cliff zurück. „In wenigen Minuten wird sich die Landschaft hier in eine Art Wasserfall verwandeln." „Ich bin gerade dabei, einen Unterschlupf zu suchen", rief de Monti. Sie befanden sich in der am meisten kritischen Zone. Hier traf die völlig unbekannte Vergangenheit des Planeten mit der Gegenwart zusammen. Die Ruinen und die Aktivitäten der Entführten. Erste schwere Regentropfen schlugen wie kleine Steine auf die Blätter und erzeugten hämmernde Geräusche. Das Licht änderte sich rasend schnell. Aus dem stahlblauen, leicht purpurfarbenen Himmel wurde eine blauschwarze stumpfe Wand. Wütende Donnerschläge machten jeden Versuch der Unterhaltung zunichte. Marios Gefährt bog nach links ab, brummte unter einem von Lianen bewachsenen Gewölbe hindurch und hielt nach etwa dreißig Metern Fahrt an. Die anderen schlossen auf. Sie befanden sich in höchst fragwürdigem Schutz eines halben, frei im Raum hängenden und teilweise durchlö-
cherten Gewölbes. Das Gewitter brach los, erfüllte die Ruinen mit Lärm und weißen, aufflackernden Blitzen und wirbelte gewaltige Massen von Regen herunter. Nur wenige Tropfen trafen Cliff und seine Freunde. Der Commander sprang aus dem Sessel, hangelte sich zu Boden und ging zwischen Reifen und Bordwänden auf den Durchbruch zwischen zwei rechteckigen, aus großen, glatten Quadern zu. Arlene wartete und setzte sich auf die Bordwand. Cliff sah; daß sie sich an einem ganz bestimmten Punkt der alten Anlage befanden. Hier berührte eine der vier Straßen den äußersten Ring der Gebäude. Zwischen der nächsten ringförmigen Baumasse und Cliffs Standort gab es einen freien Raum von etwa hundertfünfzig Metern. Er war voller Pflanzen und Gras. „Wonach suchst du?" schrie Hasso vom nächsten Wagen herunter. Cliff hob die Schultern; er wußte es selbst nicht. Aber genau zu dem Zeitpunkt, als die Wucht des vorbeirasenden Gewitters ihren Höhepunkt erreicht hatte, als es aussah, als wäre die Nacht hereingebrochen, zuckten lange Bündel von Feuerstrahlen durch den freien Raum zwischen den nassen Gebäudefronten. Cliff duckte sich sofort und hob warnend die Hand. Sein Kopfschmerz war stärker geworden. Jetzt sahen die Raumfahrer, daß sie in ein zweites Gebiet der Scheinkämpfe geraten waren. Mitten in den herabstürzenden Regenmassen kämpften und trainierten die Menschen von der Erde. Hier, an dieser Stelle, erkannte der Commander, daß die Geraubten sie keineswegs brauchten. Die etwa hundert Frauen und Männer, letztere in der Überzahl, waren gut genährt, rannten, sprangen und krochen durch das nasse Gras, schossen aufeinander, ohne sich gegenseitig zu verletzen, versteckten sich und machten den unbezweifelbaren Ein-
druck, auf dieser Welt zu Elitekämpfern herangezogen worden zu sein. Mit den Instrumenten der Raumbeobachtung hatten die ORION-Leute festgestellt, daß die geraubten Menschen sich ohne Zwang bewegen konnten. Jetzt, mit eigenen Augen, sahen sie, daß sie wie Marionetten handelten. Krachend schlug ein Blitz ins Dach gegenüber, löste eine Reihe Quadern aus dem Verband und warf sie in die Büsche. Cliff McLane zuckte zusammen.
8. In einem rasenden, blitzenden und krachenden Wirbel zog das Gewitter über die Ruinenstadt hinweg. Der Himmel klärte sich in derselben Geschwindigkeit auf und wurde wieder hell. Die sengende Sonnenhitze erzeugte Dampf und verwandelte den Bereich zwischen den Mauern in eine Sauna. Cliff drehte den Kopf und sah in Hassos Augen. „Sie sind Marionetten, nicht wahr?" fragte er ein wenig hilflos. Er wischte sich Schweiß und Regentropfen von der Stirn. „Genauso sieht es aus", gab Mario zu. „Aber wer dirigiert sie?" „Keine Ahnung", sagte der Bordingenieur. Der Kampf vor ihnen ging weiter und wirkte weitaus überzeugender als der beste Film. Die Kämpfenden benutzten leere Fensterhöhlen, Durchgänge und Treppen, die sich auflösten, als Kulisse für ihre rasend schnellen Stellungswechsel. Ununterbrochen heulten und fauchten die Strahlwaffen auf und brannten tiefe Löcher in die Mauern. Quadern und Steine zerplatzten. Atan Shubashi schwang sich aus dem Fahrersitz, griff zunächst zögernd, dann immer entschlossener nach den Haltebügeln und kletterte zwischen den riesigen Reifen zu Boden. Er warf die langläufige schwere Betäu-
bungswaffe über die Schulter und rannte plötzlich los. Er spurtete in weiten Sprüngen durch das nasse Gras und wirbelte kurz darauf die Waffe durch die Luft, brachte sie in Anschlag und begann auf die schemenhaft auftauchenden Gestalten zu feuern. Er traf mehrmals und verschwand dann in einem zerfallenen Treppenhaus. Ohne daß es jemand sah, verließ Hasso Sigbjörnson seinen Sitz, pirschte sich entlang einer leicht kreisförmig geschwungenen Innenmauer, sprang und kletterte über heruntergefallene und teilweise überwucherte Steine, dann schwenkte er nach rechts und begann ebenfalls, besessen wie einer der terranischen Söldner dort drüben, in die Trainingskämpfe einzugreifen. Bisher hatte der Kampf noch nicht auf diesen Teil des ersten Gebäuderings übergegriffen. Cliff erinnerte sich an seine Kopfschmerzen und fand, daß sie verschwunden waren". .. Er drehte sich herum und kletterte wieder zurück in den Fahrersitz seines Amphibienfahrzeugs. Er deutete nach rechts und sagte : „Die geraubten Menschen gehorchen einem fremden Willen. Atan und Hasso sind ebenfalls unter diesen fremden Willen gezwungen worden." Arlene blickte ihn ernst an und versicherte: „Und ich auch. Ich weiß, daß wir dort vorn eine Trainingsgruppe herauszuhauen haben. Los! Wirf den Motor an!" „Freiwillig übt keiner von uns allen diese Tätigkeit aus", sagte Cliff, fühlte einerseits den unentrinnbaren Zwang, dasselbe zu tun wie die Soldaten und Agenten, andererseits erkannte er seine Lage und die der anderen ORIONRaumfahrer in erschreckender Deutlichkeit. Aber er gehorchte dem Zwang und schaltete das Triebwerk des Wagens ein. Als er an Mario vorbeifuhr, ruckte auch dieser Wagen an und bog hinter dem
nächsten Pfeiler in das Kampfgebiet ein. „Wir sind zu Gefangenen des Planeten geworden", rief Mario. „Aber es ist zu hoffen, daß wir gegen die inneren Befehle eine größere Widerstandskraft haben." „Hoffentlich!" Was mit den anderen geschah, kümmerte sie in diesem Augenblick nicht. Sie verließen das Gewölbe und bahnten sich schnell einen Weg durch die wuchernde Pflanzenwelt. Sie feuerten auf alle Angehörigen der Gruppe, die blaue Helme trugen und blaue Streifen an den Ärmeln der improvisierten Uniformen. Einer nach dem anderen sackte zusammen und blieb im nassen Gras liegen. Die zwei Wagen mit den vier Mann Besatzung rasten zwischen der konkav und der konvex gekrümmten Mauer voller steinerner Kanzeln, Treppen, Fenster und Bogengänge entlang und näherten sich mehr und mehr der Quelle der Kampfgeräusche. Wir hätten sofort starten und Hilfe herbeiholen oder wenigstens abwarten sollen, dachte Cliff. In der Nähe der Ruinenstädte gibt es ein Feld, das stärkste hypnosuggestive Kräfte ausstrahlt. Arlene hob die Waffe und sagte, während sie das Visier einstellte: „Wir sind unter den Willen der Rudraja gezwungen worden. Das ist die Auflösung des Rätsels. Oder denkst du an Rettung?" „Nicht im Augenblick", sagte Cliff wütend und lachte hilflos. „Jetzt haben wir dieselben Tätigkeiten auszuführen wie alle die anderen. Wir sind zu einem ganz bestimmten Zweck hier." Obwohl sie unter Zwang handelten, ahnten sie, daß sie eine Ausnahmestellung innehatten. Die vielen anderen Terraner mußten blind gehorchen, und das seit einer ziemlich langen Zeit. Ihre Ausrüstung hatten sie wohl aus unterirdischen Arsenalen der Ruinen geholt, und vermutlich gab es auch Stellen, die sie mit Nahrung versorgten. Aber sie, die sechs Raumfahrer, besaßen noch die Möglichkeit, über
ihre Lage miteinander zu sprechen. Die ORION-Crew wußte genau, was mit ihr vorging. Die beiden Wagen erreichten einen kleinen Platz zwischen den zwei Straßen. Hier tobte ein wütender Scheinkampf, der mit simulierten Energietreffern und ansonsten mit den Händen und mit Knüppeln ausgefochten wurde. Etwa zweihundert Menschen tobten sich hier aus. Es ging darum, daß es einer Gruppe gelungen war, einige Wagen mit Walzenrädern zu beladen. Beim Versuch des Abtransports schienen sie von den Verteidigern der Ruinen überrascht worden zu sein. Beide Gruppen versuchten, ihr Ziel zu erreichen. Die Männer mit den grünen Helmen und Binden waren die Verteidiger. Die Crew hatte den unausgesprochenen Auftrag, die Verteidiger zurückzutreiben, um mit der lebensnotwendigen Beute das Camp erreichen zu können. Mario, Helga, Arlene und Cliff duckten sich hinter das Armaturenbrett und feuerten mit dem Schockstrahler auf die Verteidiger. „Wir müssen zurück zum Schiff!" schrie Cliff, als er einmal mitten im Geschehen merkte, daß sich die furchtbare geistige Fessel lockerte. „Sie werden uns nicht fortlassen", rief Arlene zurück. Jetzt erst kam es ihnen voll zu Bewußtsein, was eigentlich geschehen war. „Wir müssen es immer wieder versuchen. Bis zu einem bestimmten Punkt sind wir immun gegen die Beeinflussung!" brüllte Mario aus dem anderen Fahrzeug herüber und feuerte in Sekundenabständen drei Schüsse ab. Drei Verteidiger sackten zusammen und blieben betäubt liegen. An mehreren Stellen brannte das Gestrüpp; schon vom Raum und aus der, Atmosphäre hatten sie vereinzelte kleine Brandherde in den Zentren der Kontinente
beobachtet Jetzt erkannten sie den wahren Grund dieser kurzen Feuer und der schwarzen Rauchsäulen. „Wo liegt dieser Punkt?" murmelte der Commander verzweifelt. Sie waren offenen Auges und guter Laune in die weit geöffnete Falle hineinspaziert und hatten es gar nicht eilig genug haben können. Niemand gab ihm eine Antwort. Der fremde Wille, der Hunderte, womöglich Tausende dazu zwang, sich mit aller Kraft und Ausdauer auf eine zukünftige Schlacht vorzubereiten, gehörte in das Reich des furchtbaren Erbteils aus der Zeit des Kosmischen Infernos. Die RudrajaTechnik oder ein anderer Effekt dieser negativen Machtkonzentration strahlte das Diktat des Gehorsams aus. Und nur ein winziger Unterschied in der Widerstandsfähigkeit ermöglichte es der Crew, ihre Lage klar zu erkennen. Woran lag es? Was war die Ursache für diesen verblüffenden Effekt? Womit hing es zusammen? Auch die anderen Kämpfer hier waren den unhörbaren Befehlen ausgesetzt wie die Crew, und sie hatten sich nicht wie Cliff und die anderen wehren können. Cliff zielte auf zwei Verteidiger, die eine Gruppe unter Feuer nahmen, die gerade versuchte, die drei schwerbeladenen Beutewagen an das Kettenfahrzeug anzukoppeln. Pfeifend und dröhnend lösten sich zwei Schüsse. Ein zufälliger Energietreffer schlug in den Reifen von Cliffs Amphibienfahrzeug und zerfetzte ihn. „Wir müssen alle unsere Willenskraft aufbieten!" sagte Cliff. „Unbedingt zum Schiff." Warum dachte er gerade jetzt an das strahlende Armband der Schlafenden Göttin, das V'acora? Er richtete sich auf und schwang sich tief geduckt in den Fahrersitz. Dann zog er beide Fahrthebel zu sich heran, über den Neutralpunkt hinweg. Die fünf intakten
Reifenprofile griffen und zogen das Fahrzeug zwanzig Meter weit zurück auf die andere Mauerfront zu. An drei verschiedenen Stellen brannten dort Büsche, die im Lauf der Jahre in Mauerritzen gewachsen waren. Arlene ließ ihre Waffe fallen, richtete sich auf und riß an den Hebeln. Sie zischte Cliff wütend an: „Bist du wahnsinnig? Denke an die armen Kerle, die ihre Beute im Stich lassen müssen ...", dann sagte sie mit völlig veränderter Stimme und ebensolchem Gesichtsausdruck: „Schnell, weiter! Wir schaffen es vielleicht!" Cliff bemerkte, daß der Tag nicht mehr lange dauern konnte. Vielleicht noch drei oder vier Stunden lang würde es hell sein. Er brachte die Hebel in eine andere Stellung, drehte den Wagen und beschleunigte ihn wieder. Die Alternative war grauenerregend: Auch die sechs Leute der Crew und zumindest sehr viele Angehörige der Vorausflotte würden zu willigen Kampf Sklaven des Rudraja werden müssen. Und die Falle würde mehr und mehr Opfer finden, denn die gelandeten und leeren Raumschiffe, ohne Spuren von Überfällen, Kämpfen oder Gewaltanwendungen, würden ein hervorragendes Lockmittel abgeben. Bis zum nächsten Pfeiler rollte der Wagen unbehindert dahin. Dann schrie Arlene auf. Sie hatte bisher bleich und schweigend im Nebensitz gekauert und versucht, sich den inneren Befehlen zu widersetzen. Jetzt tauchte hinter dem Pfeiler Hasso auf, richtete die Waffe auf Cliff und schrie gequält auf: „Halt! Keinen Meter weiter. Wir müssen die Verteidiger zurückschlagen. Das ist ein Befehl, Cliff - es tut mir leid." Cliff duckte sich und schob beide Hebel nach vorn. Zuerst bäumte sich das Fahrzeug auf, dann machte es einen schräg verlaufenden Satz und rammte mit einem
Reifen den Pfeiler. Steine knirschten protestierend und lockerten sich. Hasso sprang zur Seite. Cliff hob den Kopf, schwang den langen Lauf der Waffe herum und schoß einen Lähmstrahl von kürzestmöglicher Dauer in Hassos Schulter. Die Waffe Hassos polterte ins Geröll. Der Commander fluchte und fuhr weiter, so schnell wie möglich. Im großen Rückspiegel sah er, wie Hasso im Schock dastand, sich das Schultergelenk hielt und sich dann an den Pfeiler lehnte. Zwanzig Meter, bevor der Wagen in rasender, schlingernder Fahrt durch Rauchsäulen und aufstiebende Aschefahnen die Straße erreichte, überschwemmte eine neue, starke Welle des fremden Willens den Commander und seine Freundin. Ihr Sträuben war erfolglos geblieben. Cliff und Arlene dachten nur daran, die Ruinenstadt so schnell wie möglich zu verlassen und am Camp vorbei zum Schiff zurückzukehren. Dort angekommen, würden sie Mittel und Wege finden, der Beeinflussung zu entgehen. Sie wußten, daß diese Flucht schwierig werden würde, aber durchaus im Bereich des Möglichen lag. Im Augenblick stand der Wagen still, vor ihnen lag die gepflasterte Straße. Der Kampflärm war noch schwach weit hinter ihnen zu vernehmen. Während die beiden in Gedanken die Flucht planten und vollzogen, wurden ihre Bewegungen gesteuert. Beziehungsweise wurde es ihnen durch den dominierenden Befehl unmöglich gemacht, sich überhaupt zu rühren. Cliff spürte, wie eiskalter Schweiß seine Haut zu bedecken begann. Furcht kroch in ihm hoch, obwohl keine sichtbare Gefahr auf ihn zukam. Arlene flüsterte plötzlich: „Es ist gespenstisch, Cliff. Ich fühle, daß es uns nur in vielen einzelnen Etappen gelingen wird." „Und zwischen den Fluchtetappen
müssen wir alle unsere Energie aufwenden, um den Befehlen nicht folgen zu müssen, sondern stillzuhalten." „Ja. So denke ich es mir auch." ^Sie blieben noch sitzen und versuchten, etwas zu ändern. Aber der Zwang war über ihnen. Cliff merkte, wie eine Art von gesteuerten Nervenimpulsen seine Armmuskeln zu bewegen begann. Helles Entsetzen packte ihn. Wieder wanderten seine Hände nach vorn. Mit einem Griff verstaute er die Waffe links neben sich zwischen Sitz und Bordwand. Dann schob er beide Fahrthebel nach vorn und steuerte langsam den gelben, schaukelnden Amphibienwagen auf den steinernen Weg hinaus. Langsam, zuerst undeutlich und sehr verschwommen, entstand aus den zahlreichen Steuerimpulsen, die seinen Verstand manipulierten und seine MuskelGrobmotorik, ein eindeutiger Befehl. Er sollte auf dem Pfad geradeaus fahren und sich im Camp bei einem bestimmten Mann melden, der ihm einen Platz zuweisen würde. Er begriff und mußte gehorchen. Während er schweigend und verbissen einen Weg suchte, um von diesem Befehl abweichen zu können, bewegten sich seine Hände automatisch und steuerten den Wagen genau entlang des befohlenen Weges. Brummend und knackend drehten sich die Achsen und walzten die Räder vorwärts. Arlene saß starr und hoch aufgerichtet im Nebensitz. Cliff sah davon ab, sie anzusprechen - es wäre nutzlos gewesen. Sie stand ebenso unter der Versklavung des Fremden. Einige Minuten vergingen, während sich das Fahrzeug im schwindenden Licht beider Sonnen den Weg suchte. Die Ruinen verschwanden nach zwei Kurven hinter dem grünen Vorhang des Waldes. Schließlich hielten Cliffs selbständig gewordene Hände das Fahrzeug an. Er drehte den Kopf nach rechts und sah,
daß unmittelbar neben dem Pfad von dem riesigen Ast eines uralten, bemoosten und von Schmarotzern bewachsenen Baumes ein wahrer Vorhang senkrecht pendelnder Lianen und Schlinggewächse herunterging. Als der Commander sich nach vorn beugte und schräg neben der Scheibe vorbeispähte, sah er die abweichenden Spuren von Kettengliedern und Stiefelprofilen. Er nickte, verfluchte lautlos seine Hilflosigkeit und fuhr auf den lebenden Vorhang zu. Die Lianen bauschten sich vor dem breiten Bug des Fahrzeugs und den Scheinwerfern, dann teilten sie sich nach beiden Seiten. Blattfetzen und Ungeziefer regneten auf Cliff herunter, aber er fuhr geradeaus weiter und sah sich nach wenigen Radumdrehungen einem breiten Sandweg gegenüber an dessen Ende sich ein runder Platz mit einem einzelnen, mächtigen Baum in der Mitte befand. „Wir sind da. Jetzt werden sie uns auch zu Soldaten in der Grundausbildung machen", meinte Cliff leise, aber als er versuchte, die Fahrthebel zurückzuziehen, wurde ihm dies nicht gestattet. Derjenige, der hier die Kommandos gab, schien jede seiner Bewegungen zu sehen und sogar vorauszuahnen. Arlene gab keine Antwort. Cliff drehte sich herum und erschrak wieder einmal bis ins Mark. Der Sitz neben ihm war leer. Arlene war verschwunden, ebenso ihre Waffe. Es mußte vor der Durchquerung des Pflanzen Vorhangs geschehen sein, denn auf dem Sitz lagen abgerissene Blätter und Ästchen; einige Tiere krochen auf der gelben Sitzschale herum, darunter eine lange, ekelerregend aussehende weiße Raupe mit langen Fühlern. Jeder Reflex des Commanders wurde verboten. Er wollte anhalten und umdrehen, er wollte Arlenes Namen herausschreien, wollte abspringen und nach ihr suchen. Aber er mußte weiterfahren, auf
den Hof des Camps zu. Niemand schien sein Kommen zu bemerken, aber er sah, daß sich eine Menge Frauen und noch viel mehr Männer dort befanden. Sie alle waren Gefangene - und er gehörte jetzt zu ihnen!
9. Vermutlich war es eine Illusion, die sie rettete. Das wenigstens dachte Arlene, als sie die Liane und zerfetzte Blätter zwischen ihren Fingern hindurchgleiten fühlte. In dem Augenblick, als das Amphibienfahrzeug durch den grünen Vorhang hindurchfuhr, versuchte sie zu handeln, unabhängig von den drängenden Befehlen. Sie hatte zu entdecken geglaubt, daß die fremden Willensäußerungen in Wellen kamen und auch gingen. Genau in diesem Augenblick aber vermochte sie das zu tun, was sie selbst wollte. Nur ganz kurze Zeit, aber das genügte ihr. Sie hatte die Waffe aus dem Wagen geworfen, sprang jetzt nach einem abschiednehmenden Blick auf Cliff, der steif und starr neben ihr saß und steuerte, auf den Sitz und ergriff die Liane. Arlene hielt sich krampfhaft fest, stieß sich ab und wurde durch die Eigenbewegung des Wagens schräg nach hinten aus dem Sitz gerissen. Langsam glitt sie an der Liane herab zu Boden. Das Heck des Amphibienwagens fuhr an ihr vorbei, hinter dem breiten, federnden Stoßblatt schlossen sich die herunterhängenden seilartigen Teile der Absperrung. Arlene suchte ihre Waffe und fand sie im hohen Gras abseits des Pfades. Sie hatte keineswegs die Absicht, zu Fuß zum Raumschiff zurückzukehren. Sie war der festen Überzeugung, daß die Schlafende Göttin V'aco ihr helfen würde - nicht persönlich, sondern durch das Gerät, das alle möglichen Dinge ein- und aus-
schaltete. Also auch den lautlosen Terror der Versklavung auf Legrelles Welt. Wie hatten die besessenen Terraner in der Ruine immer wieder geschrieen? Wir sind die Kämpfer von Vyamar! Konnte dies der Name, der richtige Name von „Legrelles Planet" sein? Vielleicht. Zögernd wandte sich Arlene nach rechts und ging langsam den Pfad entlang. Sie würde versuchen, eines der beiden Fahrzeuge zu entern, die von Hasso beziehungsweise von Atan Shubashi verlassen worden waren. Arlene hoffte, daß ihre Illusion zutreffen würde. Sie war der Ansicht, daß einzelne Wesen, im Dschungel versteckt, den fremden Impulsen entgehen könnten. Es war, wie sich nach etwa fünfhundert Metern langsamen Laufens herausstellte, die falsche Ansicht. Als Freundin und zeitweilige Lebensgefährtin Cliff McLanes wußte sie, daß es wichtig war, einen starken Willen zu haben. Sie hatte ihn. Aber jetzt, in der Mitte der Distanz zwischen Campeingang und Ruinenstadt, zweifelte sie daran. Die nächste Welle der unheimlichen Befehle überfiel sie. Der Impuls war einigermaßen klar. Sie sollte zurück zur Ruine und versuchen, den Abtransport der geraubten Güter zu sichern. Die Verteidiger mit den blauen Kennzeichnungen waren noch zu zahlreich und zu stark. Sie wagte innerliche Belustigung zu zeigen - für die nächste Phase kam ihr dieser Befehl sehr gelegen. Sie verdoppelte ihre Anstrengungen und ihre Schnelligkeit. Warum verfügte die ORION-Crew über diese Widerstandskraft? Kam es daher, daß sie alle sehr lange Zeit der Wirkung des armbandähnlichen Vacora ausgesetzt waren? Und wann würde der Druck der Befehle von ihnen weichen? „Hoffentlich bald!" murmelte sie.
Inzwischen war so etwas wie eine zweifarbige Dämmerung eingetreten. Dort, wo sich der freie Himmel zeigte, erschienen schwach die ersten Sterne. Überall waren Schatten. Es würde nicht mehr lange Tageslicht geben. Blitzschnell huschte die Überlegung durch ihre Gedanken: Kämpften beziehungsweise trainierten die unfreiwilligen Söldner auch nachts? Sie erreichte, vom Schwung der Befehle vorangepeitscht, die Stelle, an der sich Weg und Ruinenanlage kreuzten. Hier stand verlassen einer der Wagen. „Hasso oder Atan? Oder sogar Mario mit Helga?" fragte sie sich leise und blieb vor dem Wagen stehen. Noch war die Befehlswelle nicht abgeebbt, Arlene klammerte sich schluchzend und vor Aufregung schwitzend an eines der wuchtigen Räder. Sie wurde geschüttelt und hielt sich krampfhaft fest. Langsam ließ der fremde Einfluß nach. Sie war keineswegs immun, aber die Waagschale senkte sich zu ihren Gunsten. „Verdammt! Ich kann nicht mehr!" wimmerte sie. Der Kampf, der sich im Inneren ihres Verstandes und, von dort ausgehend, in ihrem Körper abspielte, erschöpfte sie vollkommen. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie fühlte die Schweißausbrüche. Hitze und Kälte suchten sie heim. Außerdem war sie durstig und hatte starken Hunger, und sie vermochte keines der Fächer des Gürtels zu öffnen, um von dort einen Konzentratwürfel herauszuholen und zwischen die Lippen zu schieben. Endlich, nach einer relativ kurzen Zeit, die Arlene aber wie eine halbe Ewigkeit vorkam, ließ der Druck nach. Sie fühlte eine bodenlose Erleichterung und wußte, daß sie um ihre Freiheit und die der Freunde zu kämpfen hatte. Mit rasender Eile ergriff sie die Haltebügel und schwang sich über die weit auskrängende Bordwand in den hochlehnigen Fahrersitz.
Dann erhaschte sie den Zündschlüssel, startete nach drei fruchtlosen Versuchen die Maschine und fuhr sofort los. Arlene versuchte, sich um nichts mehr zu kümmern. Sie schaffte es, fast sämtliche Gedanken an die Freunde zurückzudrängen und wieder die Kreuzung zwischen Pfad und Ruinengewölbe zu erreichen. Allerdings fuhr sie wirre Kurven und Schlangenlinien, aber sie sagte sich, daß es besser sei, schlecht gefahren als hervorragend gelaufen zu sein. Die hereinbrechende Dunkelheit überraschte sie etwa zweihundertfünfzig Meter vom letzten Gewölbebogen entfernt. Inzwischen erkannte sie das Maß der Gefahren, in denen sie alle schwebten. Für jede Marionette konnte es tödlich sein, die Fäden kappen und selbständig werden zu wollen. Arlene schob die beiden Fahrthebel so weit nach vorn, wie es gerade noch möglich war. Das Fahrzeug mit seinen sechs riesigen Niederdruckreifen schlingerte und schleuderte durch die Kurven. Zweige peitschten ins Cockpit und in Arlenes Gesicht. Die fremde Macht gab ihr ziemlich genau zehn Minuten Zeit und Freiheit. Gerade in dem Augenblick, als Arlene nach vorn griff, um die Scheinwerfer zu aktivieren, schlug der unerklärliche Befehlshaber wiederum zu. Der neue Befehl, der ihren gesamten Körper in ein Bündel eigenständiger Muskeln, Nerven und Zellen verwandelte, befahl ihr, das Camp aufzusuchen und dort auszuruhen bis zum Trainingsbeginn des nächsten Tages. Gleichzeitig operierte der Fremde mit Vorstellungen von reichhaltigem Essen, prickelnden Getränken und einem tiefen, erholsamen Schlaf. Arlene schaffte es gerade noch, den Befehl zu neutralisieren. Sie warf sich nach vorn, riß die beiden Hebel in die Neutral-Stellung, dann lehnte sie sich nach hinten und riß die Augen
weit auf. Sie versuchte, sich mit allen Mitteln, über die sie noch verfügen konnte, abzulenken. Sie starrte die nachtschwärmenden Insekten an, die das kreideweiße, starke Licht der sechs Scheinwerfer magisch anzog, sie versuchte, die Blätter eines herunterhängenden Zweiges zu zählen, sie betrachtete die Zahlen auf den Uhren und Skalen des Armaturenbretts, und sie dachte an die warme, vertraute Geborgenheit an Bord der ORION Neun. Immer wieder zwang sie sich, an Dinge zu denken, die weit außerhalb des Spektrums oder der Skala dessen lagen, was die fremden Befehle ihr. suggerieren wollten. Ihr Verstand machte bei diesen Versuchen willig mit, aber nicht ihr Körper. Ihre Muskeln spannten sich an, als sie versuchte, genau das nicht zu tun, was ihr befohlen wurde. Wieder begann Arlene zu zittern. Kalter Schweiß bedeckte ihre Haut, sie vergaß den Mangel an Schlaf, den Durst und den Hunger. Sie kämpfte lautlos und besessen. Mehrmals versuchte ihr Organismus, durch eine Ohnmacht sich selbst auszuschalten. Für Sekunden schlief sie ein oder wurde bewußtlos, aber als sie wieder erwachte, war es so schlimm wie vorher. „Nein! Cliff, hilf mir!" stöhnte sie. Aber es gab niemand, der ihr helfen konnte. Cliff befand sich irgendwo im Camp und wurde festgehalten, und die Freunde kämpften wohl noch in der Ruinenstadt. Arlene vergaß die Zeit. Sie wußte nicht, wie lange sie verkrampft im Sitz hockte und sich wehrte. Aber irgendwann hörte das alles auf. Sie war wieder – bedingt - frei. Lange Jahre als Angehörige der Crew hatten sie gelehrt, schnell zu handeln, wenn die Möglichkeit zum Handeln überhaupt bestand. Arlene streckte die Hände aus und schob die Hebel wieder nach vorn. Gehorsam reagierte der schwere Mechanismus der Maschine, Das Gefährt ruckte an, begann zu fahren und
wurde immer schneller. Die nächste Illusion, die Arlene als Verteidigungswaffe benutzte, war diejenige, daß eine größere Entfernung vom Zentrum der Ruinenstadt auch eine größere Freiheit mit sich brachte. Die Chance dafür, daß Arlene recht hatte, betrug vierzig zu sechzig - zu ihren Ungunsten. Die Maschine lief leise, aber der dahinrasende und schleudernde Wagen, den das hübsche, dunkelhäutige Mädchen immer kurz vor einem drohenden Zusammenstoß mit einem Baum oder Felsen herumriß oder abbremste, knirschte, pfiff und winselte mit durchdrehenden Reifen. Kämpfte Hasso, aus der Fessel von Cliffs Lähmungsschuß befreit, noch immer gegen die Verteidiger der Ruine mit ihren unterirdischen und offensichtlich ergiebigen Magazinen? Wo befanden sich Helga und Mario, die zuletzt mit dem Wagen auf die Angreifer losgefahren waren? Wie erging es inzwischen Atan Shubashi? Lebte er überhaupt noch? Oder kämpfte er in der Dunkelheit der Nacht gegen die hochtrainierten Soldaten wider Willen? Und was tat Cliff inzwischen im Camp? Würde er sich ebenso wie sie vorübergehend von dem fremden Einfluß freimachen können? Arlene kämpfte sozusagen um jede Sekunde, in der sie ihren eigenen Willen benutzen konnte. Immer wieder steuerte sie den Wagen, der für langsame Fahrt durch schwieriges Gelände gebaut war, in einem halsbrecherisch schnellen Tempo über den nachtschwarzen Pfad. Die vier Strahlenbündel der starr eingebauten Scheinwerfer und die breiten Strahlen der Richtungsscheinwerfer badeten das Gelände rund fünfzig Meter vor Arlene in ein hartes, schattenwerfendes Licht. Als Arlene die Lichtung erreichte, auf der sie heute schon einmal die kämpfenden Erdmenschen beobachtet hatten, hob sie
kurz den Kopf. „Nordlichter!" stieß sie hervor. Der Himmel über ihr, zumindest wenigstens der runde Ausschnitt der Lichtung, zeigte pechschwarzen Hintergrund und davor die wirbelnden, auf- und absteigenden Schleier von mehrfarbigen Nordlichtern. Riesige Vorhänge, breite Linien, die sich bewegten, brodelnde und sich ständig verändernde Lichtinseln trieben dort ein verwirrendes Spiel. Hin und wieder blitzte es zwischen den purpurnen, gelben, feuerroten und eisblauen Wänden und Wellen auf. Es war, als zögen dort kurzlebige Meteoriten ihre Spuren. Die Fahrt ging weiter. Arlene schien recht zu behalten. Die Pause zwischen zwei Impulswellen war dieses Mal besonders lang. Sie endete in dem Augenblick, als der Wagen aus der letzten Zickzackkurve herausschoß und sich das Scheinwerferlicht in der Weite der Kiesfläche verlor. Anhalten. Umdrehen. Zurückkehren. Das Camp suchen. Dort nach Cliff suchen. Essen. Trinken. Schlafen. Ausruhen, um morgen wieder topfit für das nächste Training zu sein. An nichts anderes denken. Den Befehlen gehorchen. Alle Müdigkeit vergessen. Anhalten und den Wagen umdrehen... „Ich ... will... nicht...", sagte Arlene laut. Ihre Worte wurden von der Weite der Kiesebene geschluckt. Die lodernden, aufund abschwellenden Lichterscheinungen am dunklen, nur von wenig Sternen besetzten Himmel spiegelten sich in den Flanken und Wölbungen der verschiedenen Schiffe und Flugzeuge links vom Standort des Fahrzeugs. Arlene war völlig am Ende. Sie war einer Ohnmacht nahe und wußte nicht, wie lange sie dieses teuflische Spiel noch mitmachen konnte, aber erleichtert registrierte sie, daß der Druck weniger intensiv war. Sie stemmte sich dagegen und versuchte, weiterzufahren.
Zum erstenmal gelang es. Einigermaßen hilflos fuhr Arlene zwischen den Fischerbooten, den Unterseebooten und den Flugzeugen entlang. Sie suchte immer wieder nach den schwachen Spuren, die sie heute morgen hinterlassen hatten. Zweimal, nachdem sie eine schwarze, die Nordlichtbänder spiegelnde Wasserfläche durchfahren hatte, suchte sie die Spur vergebens und fand sie nur ganz zufällig wieder. Schließlich sah sie vor sich den Haufen von Verpackungsmaterialien und den weit geöffneten Container. Jetzt würde sie den restlichen Weg leicht finden. Sie bog um den Bug des Robotfrachters und sah - die ORION. „Endlich!" murmelte sie und hielt darauf zu. Erregung packte sie. Die schwach von einigen Notlampen erhallte Schleusentür war wie eine magische Verheißung. Hinter den stählernen Wänden würde alles vorbei sein, würde sie die Freiheit wieder haben. Knirschend und Kies vor sich her schiebend wurde das Fahrzeug abgebremst. Wie lautete die Kodezahl? „Dreiundsechzig?" murmelte sie, drehte den Zündschlüssel und kletterte in fieberhafter Eile hinunter in den Kies. Alle Handlungen vollzogen sich jetzt in totaler Hektik. Arlene rannte los und erreichte die kühle, dunkle Wand des stählernen Tubus. Nein! Nicht dreiundsechzig. Sie erinnerte sich jetzt: 36 „Sechsunddreißig, ja, natürlich!" Arlene stellte die Kennziffern ein, drückte einen selbstleuchtenden Schalter und wartete, zitternd vor Schwäche und Ungeduld, bis die konvex gekrümmte Platte vor ihr zurückfuhr. Dann sprang das Mädchen förmlich mit einem gewaltigen Satz ins Innere, prallte gegen die gegenüberliegende Wandung und fuhr herum. Ein zweiter Kontakt wurde geschlossen; die äußere Schleusenpforte glitt zu, und sofort zog sich der Lift nach oben ins Schiff
hinein. Wieder eine Tür, Voller Freude, aber unfähig, diese Freude auch wirklich zu empfinden und auszukosten, roch Arlene den unverkennbaren Geruch des Schiffes. Sie lief ein Stück des Ringkorridors entlang und nahm den kleinen Lift in die Steuerkanzel. Dort, schräg über der Zentralen Bildplatte, war das V'acora festgeklemmt. Arlene hob den Arm und riß das breite Armband mit den vielen Schaltern und den leuchtenden Signalfeldern aus der Halterung. Drei der Felder glühten sanft, eines blinkte kaum merklich. Arlene Mayogah hielt sich nicht damit auf, über dieses Blinken nachzudenken. Sie hatte diesen Effekt bei der Annäherung des Schiffes auf Legrelles Planet oder nach der Landung nicht wahrgenommen; vielleicht lag es daran, daß die blinkenden und leuchtenden Felder ins Innere des Faches gestrahlt hatten und deswegen nicht bemerkt worden waren. Arlene hielt sich für gerettet. Trotzdem schob sie das Armband über ihr Handgelenk und drückte zuerst den Schalter unterhalb des blinkenden Feldes, dann berührte sie die Sensorfelder unterhalb der leuchtenden Teile des V'acora. Hunger, Durst, Erschöpfung und der Zusammenbruch nach all den Anstrengungen bewirkten, daß die Bilder vor ihren Augen verschwammen und sich zu drehen begannen. Ein rasendes Schwindelgefühl erfaßte sie. Die Schäche lähmte alle ihre Glieder und Muskeln. Erschrocken schnappte sie nach Luft, keuchte und begann zu schwanken. Sie hielt sich an der Lehne von Cliffs Sessel fest, aber dann packte sie ein schwarzer Wirbel. Sie wurde bewußtlos und schlug langsam auf den Boden der Steuerkanzel. Regungslos schwebte die ORION mit eingezogener Bodenschleuse über der Kiesebene. Auf den silberglänzenden Flächen spiegelten sich noch immer die
lodernden Feuer der Nordlichter und anderer stratosphärischer Lichterscheinungen von Legrelles Planet. Oder von Vyamar, wie die Gefangenen den Planeten nannten.
10. Hasso Sigbjörnson war von einem zweiten Schuß getroffen und gelähmt worden. Bei vollem Bewußtsein, aber unfähig, auch nur den kleinen Finger zu bewegen, lag er in einem Winkel zwischen Rasen und Mauer, Rings um ihn hatte der Kampf getobt, bis es den Angreifern gelungen war, endlich den Transport zusammenzukoppeln und mit ihm davonzufahren. Die stärksten und schwächsten Phasen der Beeinflussung waren über ihn hinweggegangen, aber er, zur völligen Passivität verurteilt, konnte ihnen weder gehorchen, noch vermochte er, sich gegen die Impulse zu wehren. Schließlich, nach Mitternacht, mußte er bewußtlos geworden sein. Er sah auf die Uhr. Dadurch merkte er, daß er sich bewegen konnte. Sein erster Gedanke galt Cliff und den Freunden. Mühsam erhob er sich und gähnte, dann dehnte er seinen schmerzenden Brustkorb und atmete tief ein und aus. Er winkelte den Arm an und sprach in das Mikrophon des Armbandgeräts: „Hasso hier. Ich rufe die Überlebenden der Crew! Melden, sofort melden!" In quälender Langsamkeit vergingen die Sekunden. Schließlich sagte eine rauhe, tiefe Stimme, die Hasso erst zu spät als die von Mario erkannte: „Hier Mario mit Helga. Wir suchen gerade Cliff, Atan und Arlene. Irgend etwas ist passiert." „Ja", sagte der Bordingenieur müde. „Im Augenblick scheinen wir frei von irgendwelchen dubiosen Befehlen zu sein. Ich wurde bewußtlos, mitten in der Nacht.
Und ihr?" „Dasselbe", antwortete der Erste Offizier. „Wo sind die anderen?" Hasso lachte trocken. „Ich sah Cliff und Arlene, nachdem mich der Chef voll in die Schulter geschossen hatte, wie die Verrückten in Richtung ORION rasen." „Und wo bist du?" „Dicht neben der Straße, auf der wir gekommen sind. Was ist mit Atan? Meldet, wenn ihr ihn gefunden habt." „Sofort." Dann hörte Hasso über den Lautsprecher die Geräusche eines wendenden Amphibienfahrzeugs. Vermutlich hatten auch Cliff und Arlene den Ruf gehört, denn alle Geräte sprachen bei dieser Schaltung gleichzeitig an. Aber sie antworteten nicht. Hasso fühlte sich hervorragend, abgesehen von Hunger und Durst. Nach seiner Bewußtlosigkeit hatte er zwar auf harter Unterlage, aber immerhin sehr tief und erholsam geschlafen. Was war der Grund für die plötzliche, schlagartige Bewußtlosigkeit gewesen? Er öffnete die Spezialtaschen des Raumanzugs, nahm einige Konzentratwürfel und eine Saftpakkung heraus, trank und aß langsam und sah sich um. Die Spuren der Kämpfe des vergangenen Tages waren unverkennbar. Hasso erinnerte sich an die verschiedenen Szenen, die er angesehen und in die er eingegriffen hatte. Jetzt war alles vorüber; Vögel flogen zwischen den rußgeschwärzten und geborstenen Mauern hin und her. Das Fahrtgeräusch des Wagens kam näher, und schließlich tauchte es diesseits der Mauerkrümmung auf. Helga und Mario winkten erleichtert und übertrieben in Hassos Richtung. Er aß ruhig und wartete, ebenfalls erleichtert und noch immer verwundert über die Änderung ihres Zustands, bis der Wagen dicht neben ihm anhielt Sowohl das Fahrzeug als auch die Anzüge und
Gesichter der Insassen trugen die Spuren der vergangenen Stunden. „Drei haben sich gefunden. Die Hälfte der Crew", sagte er und ließ den Saftbehälter fallen. „Wo sind die anderen drei?" Mario sprang neben ihm ins taufeuchte Gras. Über ihnen spannte sich wieder der wolkenlose, leicht purpurne Himmel. Mindestens eine Sonne mußte schon aufgegangen sein. „Ehe wir eine planlose Suche anfangen, eine Frage: Ihr wurdet vor Mitternacht ebenfalls ganz plötzlich bewußtlos? So wie ich?" fragte Hasso und versuchte, das widerspenstige weiße Haar zurückzuschieben. „Ja", bekannte Mario. „Ich habe mich mit Helga schon unterhalten. Jemand oder etwas muß diese Befehlszentrale abgeschaltet haben. Oder neutralisiert. Wir scheinen frei zu sein." „Was für uns gilt, die wir nicht so sehr unter der Ausstrahlung litten, das sollte auch für die geraubten und gedanklich versklavten Menschen gelten", bemerkte Hasso leise. „Im Moment gleichgültig. Suchen wir Arlene, Cliff und Atan. Atan hält sich vielleicht noch hier auf, irgendwo zwischen den Ruinen." Mario deutete in das Gewölbe, über dem sich große und anscheinend leere Räume befanden. Inzwischen hatten sie erkannt, daß diese Ruine den Charakter einer Stadt gehabt hatte. Die Wohnungen von längst vergessenen Bewohnern waren nicht in einzelnen Häusern, sondern in diesen ringförmigen Anlagen zusammengefaßt. „Dort steht noch ein unbesetzter Geländewagen. Nimmst du den?" „Alles klar", erwiderte Hasso und kletterte in den Fahrersitz des Wagens, mit dem er auch hierhergekommen war. Sie fuhren langsam in zwei verschiedenen Richtungen davon, hielten immer wieder an, riefen über die Armbandfunkgeräte und mit lauten Stimmen nach Shubashi. Es war eine ermüdende, langwierige Suche.
* Als Cliff erwachte, hatte er starke Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Er stellte zuerst fest, daß er auf einer harten Unterlage geschlafen hatte. Dann bemerkte er, daß er offensichtlich nicht mehr unter dem schweigenden Druck fremder Befehle stand. Er öffnete die Augen noch nicht und dachte nach. Langsam und konzentriert ließ er die letzten Ereignisse an sich vorübergleiten und überlegte, was nun eigentlich wirklich geschehen war. Er war frei, befand sich im Camp der Söldner, er trug weder Raumanzug noch Funkgerät, auch sah er, als er sich aufrichtete und um sich blickte, seine Waffen nicht. Er stand auf, schloß einige Reißverschlüsse seines dünnen Overalls und fand sich in einer würfelförmigen Hütte mit rund einem Dutzend über- und nebeneinander stehender Betten, einer spartanischen Waschgelegenheit mit Papierhandtüchern wieder. Außer ihm befand sich niemand mehr im Raum. Durch durchsichtige Kuppeln in der Decke und schmale Fensteröffnungen schien die rote Sonne herein. Ihr Licht hatte ihn geweckt. Cliff wusch sich flüchtig, trocknete sich ab und ging hinaus. Der sandige Platz vor den Hütten und Kuppeln war voller Menschen. Hunderte von Menschen in verschiedenen Altersstufen. Cliff sah kaum Kinder und nur wenige ganz junge Leute - es hing mit der Natur der geraubten Objekte zusammen. „Sie scheinen alle frei von dem fremden Willen zu sein", sagte Cliff staunend zu sich selbst und suchte mit den Augen jemand, der wie ein Anführer aussah oder wie einer der Männer, die ihn gestern abend in Empfang genommen und entwaffnet hatten. „He, Kumpel", sagte er gespielt leutselig zu einem breitschultrigen Mann mit langem, schwarzem Bart. „Was ist los?
Warum trainiert ihr nicht für den stellaren Sieg über irgendjemand?" Der andere zwinkerte überrascht und meinte: „Du weißt es auch noch nicht. Wir alle wurden gestern nacht, kaum daß wir dich ins Haus gebracht hatten, bewußtlos. Vermutlich hast du's verschlafen." „Gut vorstellbar", entgegnete der Commander. Sie hatten ihn bemerkt, und jetzt scharte sich eine Gruppe von weniger verblüfft aussehenden Menschen um ihn. Sie schienen zu erkennen, daß der Mann hier Raumfahrer war. „Bewußtlos, verstehst du? Ich habe dich vorher noch nicht gesehen. Woher kommst du, wo haben sie dein Schiff abgeworfen?" Cliff verstand jetzt einen Teil der Zusammenhänge. Er grinste kurz und antwortete; „Mein Schiff ist ein Raumschiff, und zwar die ORION Neun. Wir wurden nicht abgeworfen, sondern haben euch gesucht und gefunden. Wir sind dort drüben bei dem Schiffsfriedhof gelandet und fielen, so wie ihr alle, unter den Einfluß des fremden Willens." „Das ist das wahre Geheimnis von Vyamar. Der Befehl, der uns geschunden hat. Einige von uns sind seit Jahrzehnten hier." Cliff blickte in die Runde und sah einige Männer davongehen. Sie kamen nach kurzer Zeit mit seiner Ausrüstung zurück. Cliff griff nach dem Funkgerät und steckte es auf den linken Unterarm. „Hat von euch jemand eine Erklärung, weswegen wir plötzlich frei geworden sind?" erkundigte er sich ruhig. Die Menge der Menschen glaubte noch nicht, daß es keine lautlosen Befehle mehr gab. Sie waren mißtrauisch, befürchteten einen Rückfall und blieben bedrückt und schweigsam. „Nein. Keine Erklärung", war die Antwort. Cliff drückte einen Kontakt, rief nach-
einander die Namen der Crew und hörte dann den Chor der Antworten. „Hier Hasso mit Helga und Mario. Wir haben soeben Atan gefunden ... eine wirre Geschichte ..." „Glaube ihm kein Wort. Atan hier. Zerbeult, aber bei klarem Verstand ..." „Arlene spricht. Wo bist du, Cliff ... ich habe dich gesucht wie eine Verzweifelte. Du ... ich habe am V'acora geschaltet, wurde plötzlich bewußtlos, und bis jetzt hatte ich keinen Rückfall." Cliff erstarrte. Das konnte die endgültige Lösung sein! Das Vermächtnis der Schlafenden Göttin V'aco! Er sagte langsam und fordernd: „Wiederhole noch einmal, was du eben gesagt hast, bitte. Es ist ungeheuer wichtig für uns alle. Übrigens, ich bin im Camp aufgewacht." Arlene berichtete knapp, wie sie aus dem Fahrzeug gesprungen, zurückgerannt, mit einem anderen Wagen zum Schiff gefahren und unterwegs gegen die Befehle gekämpft hatte. Dann, während Cliff ungeduldig wartete, schilderte sie die Schaltungen an den Knöpfen des seltsamen Armbands. „So wie es uns im Jupitermond geholfen hat, so löste auch hier eine Schaltung die Änderung aus." „Tadellos!" sagte Cliff. „Du hast den Planeten gerettet, Arlene. Cliff an alle: Wir treffen uns - meinetwegen zu einem Siegesfrühstück - in der guten neuen ORION." Der Rest der Crew antwortete, daß man in diesem Augenblick zu diesem Ziel aufbräche. Cliff verabschiedete sich von seinen unfreiwilligen Gastgebern und ließ das Funkgerät da. „Ich melde mich, sobald wir Verbindung mit der Erde oder mit der nachrückenden Flotte haben!" versprach er. Minuten später saß er in dem Amphibienfahrzeug und fuhr so schnell er konnte in die Richtung des Raumschiffs.
Als erstes stellte Helga Legrelle fest, daß vor wenigen Minuten ein Funkspruch eingegangen und gespeichert worden war. Sie rief den Text ab, und Cliff kommentierte ihn für das Bordbuch. „...T.R.A.V. an ORION-Neun ... flottenverband aus dem hyperraum ausgetreten ... nähern uns dem planeten ... bitten dringend um positionsmeldung und antwort... spezialistengruppen werden Untersuchungen anstellen..." Cliff wartete, bis die Verbindung zu der nachfolgenden Flotte hergestellt war. Han Tsu-Gol hatte bereits von diesem kleinen Pulk Raumschiffe gesprochen. Vielleicht genügten sie, um die Entführten abzutransportieren. Als die Verbindung stand, sagte er: „Hier spricht Cliff McLane von Bord der ORION Neun. Wir nahmen Kontakt mit den Entführten auf. Wir befinden uns in der Mitte des größten der drei Kontinente. Es gibt genügend Landegelegenheiten. Wir bauen ein Peilstrahl auf, an dem Sie sich heruntertasten können. Die Flotte und vermutlich noch eine zweite wird gebraucht, um einige Tausend Entführte zur Erde zurück-zutransportieren. Wir, die ORION-Crew, haben hier nur noch die Aufgabe, nach dem technischen Zentrum einer hochkomplizierten Sendeanlage zu suchen. Wir warten auf Sie. Ende." Er deutete auf die Bandspule und sagte: „Sende ihnen das, Helga. Und schalte zurück auf Empfang. Wir brauchen einen halben Tag Ruhe." „Nicht nur wir. Auch die Entführten. Übrigens - hast du Menschen sehen können, die aus der Zeit der Piratensegler und Sklavenschiffe stammen könnten?" Cliff schüttelte den Kopf. „Nein. Übrigens bin ich mit Hasso und Arlene einer Ansicht, nämlich der, daß die Menschen aus dieser Zeit logischerweise längst gestorben sind. Einer sagte mir im Camp, er sei zweiundzwanzig Jahre lang hier, und er wisse, daß er einer der ältesten
sei. Die meisten aber stammen aus der letzten, von uns beobachteten Serie der Entführungen." Hasso und Helga sprachen fast gleichzeitig. „Angenommen, wir finden diesen Sender und schalten ihn ganz ab oder zerstören ihn. Arlene hat mit V'acos Werkzeug die erste Schaltung durchgeführt. Aber der Sender hatte doch wohl die Aufgabe, die unglücklichen Entführten zu beeinflussen. Wir litten selbst darunter und waren wohl durch den dauernden Kontakt mit dem V'acora mehr immun als die anderen Sie wurden trainiert, kämpften mit Waffen und lernten Taktik. Ohne jeden Zweck geschah das wohl nicht, wie? Vielleicht wurde dieser Zweck auch erreicht? Ohne ein bestimmtes Ziel der Rudraja-Erben hätte doch dieser Aufwand gar nicht erst stattzufinden brauchen. Vielleicht denken wir einmal darüber nach, ja?" „Verdammt", sagte Cliff. „Das bedeutet, daß wir noch eine Unmenge Arbeit hier auf Legrelles Planet alias' Vyamar haben werden." „Zuerst allerdings genießen wir unseren kürzesten Urlaub von fünf Stunden und warten die Landung der Flotte ab." „So werden wir es machen!" Natürlich kam wieder alles anders, als Cliff und die Freunde dachten. * Zuerst landete ein Voraus-Raumschiff. Der Kommandant überbrachte an Cliff einen ausdrücklichen Befehl Han TsuGols, sich umgehend bei ihm zu melden. Cliffs schlechtes Gewissen dem Ministerpräsidenten gegenüber würde wohl einen baldigen Start sichern. Ohne daß es jemand ahnte, schlossen sich einige der geraubten Raumfahrer zusammen, versammelten bewaffnete Söldner um sich und stürmten den Kern
der Ruinenstadt. Dort entdeckten sie eine riesige Anlage. Ein Sender war mit einem Elektronengehirn verbunden, und diese Kombination entpuppte sich als die Quelle der lautlosen Befehle. Mit einiger Sicherheit würde man auch in den beiden anderen Ruinenstädten solche Aggregate finden. Dann landete ein Schiff nach dem anderen, insgesamt dreißig Kreuzer und Transporter. Die Besatzungen würden nicht viel mehr zu tun haben, als die Entführten zu sammeln und zur Erde zurückzubringen. Andere Spezialisten würden das Ereignis dokumentieren. Die Spezialisten der Flotte sollten vorläufig hierbleiben und eine Station gründen. Ihre Aufgabe: Sie sollten den Hyperfunksender suchen, der die Impulse des Todeskristalls aufgefangen hatte und die Kodegruppen abgestrahlt haben mußte. Vielleicht fanden sie auch die Station, die jene gewaltigen Versetzungskräfte manipulierte. Cliff hörte sich alles an, dann lehnte er sich zurück und sagte: „Wo wir sind, ist das Abenteuer. Also starten wir. Richtung Erde - es ist zu erwarten, daß wir dort ebenfalls aufregende Erlebnisse haben werden. Mario, programmierst du den Kurs?" De Monti lächelte kurz und brummte: „Programm ist bereits im Autopiloten. Wann ist Start?" „In einer Stunde." Was jetzt folgte, war reine Routine, also keine Aufgabe für die kosmischen Pioniere, wie sich die ORION-Crew nannte. Auch der Start war routinemäßig. Nur langsam würde die Erregung während des langen Rückflugs abklingen. Aber eine Frage, nicht laut ausgesprochen, blieb unbeantwortet; Vyamar wahrte dieses Geheimnis noch eine Weile. Wozu wurden die Entführten mit dieser Konsequenz ausgebildet und trainiert? Und, falls das Elektronengehirn ent-
schied, daß die Ausbildung beendet sei, an welchem Ort und zu welchem Zweck würden die Entführten, diese unbewußten Söldner, eingesetzt? Eine Marionettentruppe des Rudraja? Zu dem Zeitpunkt, als sich der sil-
berglänzende Diskus zwischen den Sternen und im letzten Lichtschimmer der drei umeinanderwirbelnden Sonnen verlor, konnte keine der bohrenden Fragen beantwortet werden.
ENDE Als die Raumfahrer der ORION IX - wieder einmal sehr eigenmächtig — auf dem Planeten Vyamar landeten, gerieten sie selbst in die Gewalt der Hypnobasis. Wieder einmal setzen sie das V'acora als rettendes Instrument ein. Sie entdecken die Befehlszentrale der Hypnobasis und können sie ausschalten. Aber sie entdecken noch mehr — und sie ziehen ihre Schlüsse daraus. Doch rechnen sie nicht damit, daß es im Zusammenhang mit der Hypnobasis eine akute Gefahr für die Erde gibt. Wie diese Gefahr auftaucht und wie sie in einem hochdramatischen Geistesduell gipfelt, das erzählt H. G. Francis im ORION-Roman der nächsten Woche mit dem Titel DUELL DER KÖRPERLOSEN