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Die Idee des Nationalismus
Hans Kohn
Die Idee des Nationalismus Ursprung und Geschichte bis zur F...
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Die Idee des Nationalismus
Hans Kohn
Die Idee des Nationalismus Ursprung und Geschichte bis zur Französischen Revolution
S. Fischer Verlag 1962
Titel der Originalausgabe: The Idea of Nationalism, A Study in its Origins and Background Übersetzt von Günther Nast-Kölb
Cppyright 1944 in the United States of Am erica by Hans Kohn A lle Rechte dieser Ausgabe d a r * den S. Fischer V erlag, Frankfurt/Main Umschlagentwurf: W olf D. Zimmermann Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg Printed in Germany
Vorwort
Das Zeitalter des Nationalismus ist die erste Epoche mit einer universalen Geschichte. Was diesem Zeitalter vorausging, war die lange Ära der geson derten Kulturen und Kontinente, zwischen denen nur ein geringer, und zum Teil sogar überhaupt kein Austausch und Verkehr stattgefunden hatte. Erst im achtzehnten Jahrhundert begann ein immer schneller und weiter umsichgreifender Prozeß der kulturellen Erschließung, des Güteraustausches und der Verkehrsintensivierung, so daß schließlich im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert jede bedeutende Bewegung weltweiten Charakter annehmen konnte. Dieser Prozeß hatte seine Ursache im gleichzeitigen A u f treten von Nationalismus, Demokratie und Industrialismus, drei Erschei nungen, die sowohl ihrem Ursprünge nach als auch durch fortwährendes Ineinanderwirken eng miteinander verquickt sind. Der Nationalismus, der im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts in Westeuropa in Erscheinung getreten ist, ist bis in die entferntesten W inkel unserer Erde vorgedrungen, und wohin auch immer er gelangte, hat er das menschliche Denken und die menschliche Gesellschaft nach seinem Bilde geformt. Weltweit sind die Manifestationen des Zeitalters des Nationalismus, und wenn auch der Natio nalismus nur eine der Kräfte ist, welche das Gesicht dieses Zeitalters geprägt haben, so rechtfertigen doch seine Gestaltungskraft und seine umfassende Natur die Bezeichnung jener Epoche, die mit Rousseau und Herder, mit den Revolutionen in Amerika und Frankreich ihren Anfang genommen hat, als das Zeitalter des Nationalismus. Man kann die Weltgeschichte dieser hundertundfiinfzig Jahre unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung und der Auswirkungen des Nationalismus betrachten. Nationalismus, Industrialismus und Demokratie treten als geschichtsbe stimmende Faktoren wohl erst im achtzehnten Jahrhundert in Erscheinung, ihre Wurzeln aber reichen weit in die Vergangenheit zurück. Das vorlie-
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gende Buch befaßt sich mit den Ursprüngen des modernen Nationalismus mit der langen Inkubationsperiode, die von der Antike bis zum Ausbruch det Französischen Revolution reicht. Schon seit vielen Jahren hat der Nationalismus als geschichtlich-politische·. Problem den Verfasser in seinen Bann gezogen; sein Geburtsort lag in Bereich der Habsburgischen Monarchie, die sowohl ihrer Idee als auch ihrei Struktur nach wesentlich älter war als das Zeitalter des Nationalismus um zum großen Gärbottich und Reaktionsfeld der vom Nationalismus herauf beschworenen Konflikte wurde; seine Jugend verbrachte er in Prag, den kraftvoll pulsierenden Herzen des tschechischen Nationalismus, in jene\ alten Stadt, die jahrhundertelang die klassische Stätte war, an der dit Auseinandersetzungen zwischen Deutschtum und Slawentum ausgetrager worden waren, und wo alle Lebensäußerungen, alte Bauten und neue Monu mente, Volksbräuche und Theater, die alten Erinnerungen stets lebendig er hielten und sie mit den Leiden und Siegen der lebenden Generationen ver schmolzen. Die Teilnahme an der zionistischen Studentenbewegung um die Einflüsse, welche er von dem neo-romantischen Nationalismus der deut schen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg empfing, haben den Ver fasser seinerzeit veranlaßt, sich dem Studium nationalistischer ldeologier zu widmen. Der Krieg verschlug ihn dann in den asiatischen Teil Rußlands wo die Berührung mit der russischen Kultur und dem Nationalitätenpro blem des aus vielen Völkern und Rassen zusammengesetzten Reiches seit Interesse am Nationalismus vertiefte. Nach 19 20 schloß sich an einige ir Paris und London verbrachte Jahre ein langer Aufenthalt in Jerusalem, vor wo aus er den Nahen Osten bereiste und die nationalen Bewegungen in westlichen und südlichen Asien, ihre Probleme und Konflikte, studierte 1922 erschien unter dem Titel >Nationalismus< das erste Buch desVerfassers und seit jener Zeit hat er noch mehrere Bücher veröffentlicht, die sich m l den verschiedenen Seiten des Nationalismus befassen. Man muß jene Büche1 als das betrachten, was sie tatsächlich auch waren, nämlich als Vorarbeiter für das vorliegende Buch; das letzte Kapitel meines Buches >Nationalismus< das vor mehr als zwanzig Jahren geschrieben wurde, enthält bereits in gro ßen Zügen einige der wichtigsten Schlüsse, zu denen der Verfasser in >Die Idee des Nationalismus< gelangt. Im Verlaufe der letzten zehn Jahre hat de1 Verfasser diese Probleme auch mit seinen Schülern in Seminaren und Vor lesungen, u. a. im Smith College und in der Harvard University, diskutiert Diese in enger Zusammenarbeit mit der akademischen Jugend Amerikas ver brachten Jahre sind wohl die schönsten, die der Verfasser bei der Arbeit ar seinem Thema erleben durfte.
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Geschichte als Entwicklung des menschlichen Geistes und der mensch lichen Gesellschaftsordnung ist wohl das faszinierendste aller geisteswissen schaftlichen Gebiete, und speziell der Nationalismus hat auf den Verfasser eine besondere Anziehungskraft ausgeübt, w eil seine enge Berührung mit nationalen Bewegungen und die Sympathie, die er ihren Bestrebungen ent gegenbrachte, ihn in die Lage versetzt hatten, einer Erscheinung, in der alle Probleme der neuen Geschichte und der Welt unserer Tage w ie in einem Brennpunkt Zusammentreffen, mit Verständnis gegenüber treten zu können. Viele Menschen unserer Generation, deren Leben sich in einer der geschichtsentscheidenden Perioden abspielt, haben sich aus eigenem Erlebnis heraus zu einer neuen Sicht auf die Vergangenheit und auf den Nationalismus durch gerungen. Diese Generation genießt den Vorzug, Geschichte in einem noch nie dagewesenen Maße zu erleben. Sie hat bereits viel gelernt und wird noch viel mehr lernen, und sie hat für ihre Erfahrungen auch bezahlen müssen. »Welchen Preis müssen w ir für Erfahrung bezahlen?« fragte Blake. »Kön nen die Menschen sie für ein Lied kaufen, oder die Weisheit für einen Tanz auf der Straße? Nein, sie wird erworben um den Preis all' dessen, was der Mensch besitzt.« In diesem Buche liegt das Hauptgewicht nicht auf einer Aufzählung ge schichtlicher Tatsachen — diese sind zum größten Teil ja wohlbekannt —, sondern auf ihrer Interpretation und Auswertung innerhalb des Gesamt bildes unserer Geschichte. In der unendlichen Zahl der Ereignisse, in der endlosen Komplexität des Ineinandergreifens von Ursachen und Wirkun gen, von Persönlichkeiten und Bedingtheiten, von Leidenschaften und Zu fällen, kann man viele Strömungen und Richtungen feststellen, welche die Geschichte zu einem verständlichen Ganzen ordnen. Der Nationalismus ist nur eines dieser Elemente. Keine Geschichtsschreibung kann die Tülle des l.ebens erschöpfend darstellen, und wenn sie gar versucht, einen einzelnen der großen Entwicklungszüge zu verfolgen, so kann sie das noch viel weni ger. Aber wenn dieser Entwicklungszug für das eigene Zeitalter von maß geblicher Bedeutung ist, so kann er dazu dienen, die Vergangenheit und auch die Gegenwart mit dem Lichte zu beleuchten, in dessen Schein viele l'.inzelzüge in dem reichen Muster des Teppichs unseres geschichtlichen Le bens Sinn und Geschlossenheit gewinnen. In der neuesten Zeit überschreitet das Muster alle nationalen oder geographischen Begrenzungen. Die Unterluchung des Nationalismus muß sich daher einer vergleichenden Methode bedienen; es geht nicht an, daß man sich auf die Betrachtung einer einzel nen seiner vielen Erscheinungsformen beschränkt. Nur durch einen Ver gleich der verschiedenen Nationalismen auf der ganzen Erde kann der Unter-
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suchende erkennen, was ihnen alles gemeinsam ist und was in jedem Falle besondere Eigenheiten sind, um auf diese Art zu einer richtigen Beurtei lung zu gelangen. Verstehen kann man den Nationalismus nur auf dem Umweg über eine Weltgeschichte im Zeitalter des Nationalismus. Im Verlaufe der letzten zwanzig fahre haben sich in vielen Ländern der Erde mehr und mehr Wissenschaftler dem Studium des Nationalismus zu gewendet. Viele wertvolle Monographien sind aus dieser Arbeit entstanden, und der Verfasser ist seinen Kollegen für die große Hilfe, die ihm da durch geworden ist, äußerst dankbar. Viel Material ist schon zutage geför dert worden, aber es bleibt noch viel auf diesem Gebiete zu tun. Die hier vorliegende Arbeit ist vielleicht der erste Versuch zu einer eingehenden Darstellung der Frühgeschichte des Nationalismus, der in irgendeiner Sprache unternommen worden ist; sie ist in diesem Sinne nur ein Glied in der lan gen Kette der Bemühungen um diesen Gegenstand, und ihre Grenzen sind durch den gegenwärtigen Stand der Forschung und durch das Verständnis des Verfassers gegeben. »Nur kurz ist das Leben, doch lang ist die Lehrzeit im Handwerk.« Andere werden die Arbeit fortsetzen, sie erweitern, Fehler ausmerzen und das Bild vervollkommnen; künftige Generationen sehen das Zeitalter des Nationalismus vielleicht in einem anderen Licht. Schließlich möchte der Verfasser noch seinen Dank allen jenen Schülern und Kollegen aussprechen, mit denen er in zahllosen Diskussionen die Er scheinungen und Probleme des Nationalismus erörtert hat, und die durch ihre Anregungen und wertvolle Unterstützung am Zustandekommen die ses Buches beteiligt sind. Denn eine Arbeit dieser Art kann niemals ein Monolog sein — sie ist ein ununterbrochenes Zwiegespräch, sowohl mit den Menschen der Vergangenheit, in deren Gedankengänge w ir einzudringen versuchen, als auch mit denjenigen, deren Aufgabe es ist, die Zukunft aus dem Erbe der Vergangenheit zu bauen. Und dieses Zwiegespräch geht w ei ter, auch nachdem die Arbeit fertiggestellt und selbst wieder zu einem Teil der Vergangenheit geworden ist. H. K.
l . K apitel
Einleitung Das Wesen des Nationalismus
1 Der moderne Nationalismus hat seinen Ursprung in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Seine erste große Offenbarung war die Franzö sische Revolution, sie gab der neuen Bewegung verstärkte Antriebskräfte. Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts trat dann der Nationalismus in einer ganzen Reihe von weit auseinanderliegenden europäischen Ländern beinahe gleichzeitig in Erscheinung. Seine Zeit in der Entwicklung der Menschheit war gekommen. Aber die Französische Revolution bezeichnet nicht den Zeitpunkt seiner Entstehung, sie war nur einer der mächtigsten Umstände, die zu seiner Verdichtung und Ausbreitung beitrugen. Gleich allen anderen Strömungen in der Geschichte ist auch der Nationalismus tief in der Vergangenheit verwurzelt. Die Voraussetzungen, die sein Erscheinen ermöglichten, waren durch die Jahrhunderte gewachsen und gereift, bevor sie sich zu seiner Gestaltung zusammenfügten. Die Entwicklungszeit dieser politischen, wirtschaftlichen und geistigen Elemente war eine lange, und in den verschiedenen Ländern waren ihre Fortschritte sehr unterschiedlich. Es ist auch nicht möglich, sie etwa nach dem Maße ihrer Bedeutung einzustu fen und sie in bestimmte Beziehungen gegenseitiger Abhängigkeit zu setzen. Alle sind sie engstens untereinander verknüpft und beeinflussen sich gegen seitig, ihre Entwicklung kann man wohl getrennt zurückverfolgen, aber ihre Auswirkungen und Folgen können ausschließlich in der wissenschaft lichen Analyse voneinander gesondert werden; in der Wirklichkeit des Le bens sind sie unlösbar verflochten. Nationalismus ist undenkbar ohne die Voraussetzung der Idee der Volks souveränität, ohne eine grundsätzliche Überprüfung der Stellung von Herr scher und Beherrschten, von Klassen und Kasten. Mit Hilfe einer neuen Naturwissenschaft und eines neuen Naturrechts, wie Grotius und Locke es vertraten, mußte die herrschende Anschauung über Welt und Gesellschaft
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verweltlicht werden. Das Auftreten des Dritten Standes lenkte die Aufmerk samkeit von den Fürstenhöfen und deren Zivilisation auf das Leben, die Sprache und das Geistesschaffen des Volkes. Dieser neue Stand fühlte sich durch Traditionen weniger gebunden als Adel und Klerus; er verkörperte eine neue Kraft, die nach neuen Zielen strebte; er war bereit, mit der Ver gangenheit zu brechen, und er setzte sich in seinen Theorien in weit höhe rem Maße über die Tradition hinweg, als er es in der Praxis tat. Bei seiner Konstituierung nahm er für sich in Anspruch, der Vertreter des gesamten Volkes und nicht nur eines einzelnen Standes und seiner Interessen zu sein. Dort, wo im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts der Dritte Stand zu Kräften gelangte — wie in Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten — drückte sich der Nationalismus vorwiegend, jedoch nicht aus schließlich, in Veränderungen des politischen und wirtschaftlichen Gefüges aus. Dort hingegen, wo sich der Dritte Stand noch zu Beginn des neun zehnten Jahrhunderts in einem schwachen Anfangsstadium befand, etwa in Deutschland, Italien und den slawischen Ländern, fand der Nationalismus seinen stärksten Ausdruck auf kulturellem Gebiet. Bei diesen Völkern rich tete sich in seinem Anfangsstadium der Nationalgedanke weniger auf einen Nationalstaat als vielmehr auf den Volksgeist und seine Offenbarungen in Literatur, in Märchen, Sagen und Sprichwörtern, in der Muttersprache und in der Geschichte. Als im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts der Dritte Stand an Bedeutung zunahm und der politische und kulturelle Wille der Massen erwachte, wandelte sich dieser kulturelle Nationalismus sehr bald in das Verlangen nach der Gestaltung eines Nationalstaates. Nationalismus verlangt die Zusammenfassung der Masse der Bevölke rung in einer gemeinsamen politischen Form. Deshalb ist das Bestehen! einer zentralisierten Regierungsform über ein weites und eindeutig be stimmtes Landgebiet, sei dieses nun als Tatsache verwirklicht oder erst als Ideal erstrebt, eine unerläßliche Voraussetzung für das Dasein des Natio nalismus. Diese Regierungsform wurde durch das absolute Fürstentum, den Schrittmacher des modernen Nationalismus, geschaffen. Die Franzö sische Revolution übernahm die auf Zentralisierung gerichteten Bestrebun gen der Fürsten und führte sie fort; gleichzeitig erfüllte sie den zentralisti schen Apparat mit einem neuen Geist und verlieh ihm eine bislang unbe kannte Kraft des Zusammenschlusses. Nationalismus ist undenkbar vor dem zwischen dem sechzehnten und achtzehnten Jahrhundert entwickelten modernen Staat; er übernahm seine Form, aber er verwandelte sie, indem er sie mit einem neuartigen Lebensgefühl und mit einer neuartigen beinahe religiösen Inbrunst belebte. 10
Einige der Elemente, aus denen sich der Nationalismus aufbaut, gehören zu den ältesten und ursprünglichsten Gefühlen des Menschen; Gefühle, die man überall in der Geschichte als wichtige Faktoren bei der Bildung gesell schaftlicher Gruppen feststellen kann. Der Mensch hat die natürliche Ver anlagung, seinen Geburtsort oder den Ort, an dem er seine Kindheit zuge bracht hat, dessen Umgebung, sein Klima, die Züge seiner Hügel und Täler, Flüsse und Bäume zu lieben. (Wir empfinden sie als >natürlich<, nachdem sie seit unvordenklichen Zeiten durch die Umstände des geselligen Lebens in uns hervorgerufen wurde.) Der ungeheuren Macht der Gewohnheit sind wir alle untertan, und selbst wenn wir in einem fortgeschrittenen Entwick lungsstadium durch das Unbekannte und den Wechsel angezogen werden, so ist die Rückkehr und die innere Ruhe beim Anblick des Vertrauten doch immer wieder beglückend. Der Mensch hat eine leicht erklärbare Vorliebe für seine Muttersprache, da sie meist die einzige ist, die er wirklich ver steht und beherrscht. Einheimische Sitten und Speisen zieht er den frem den vor, weil diese ihm unverständlich und unverdaulich erscheinen. Und wenn er verreist, so wird er mit einem Gefühl der Entspannung zum eig nen Tisch und Stuhl zurückkehren; die Tatsache, daß er wieder zu Hause ist, erlöst von den Anstrengungen, die der Aufenthalt in fremden Ländern und der Verkehr mit fremden Völkern mit sich bringen, wird in ihm ein erhebendes Gefühl der Freude auslösen. Kein Wunder, daß er auf die einhei mische Lebensart stolz ist, und daß er gerne von deren Überlegenheit über zeugt ist. Da diese scheinbar die einzige ist, unter der sich zivilisierte Men schen seinesgleichen wohl fühlen, ist sie dann nicht auch die einzige, die für menschliche Wesen überhaupt in Frage kommt? Andererseits erweckt in ihm auch die Berührung mit fremdländischen Menschen und Sitten, die ihm unbekannt und fremd und deshalb auch furchterregend sind, Miß trauen gegen alles Ausländische. Und durch dieses Bewußtsein des Anders artigen werden in ihm Überlegenheitsgefühle, ja manchmal sogar offene Feindseligkeit erweckt. Je primitiver die Menschen sind, desto stärker wird ihr eigenes Gruppenzugehörigkeitsgefühl und ihr Mißtrauen gegenüber Fremdlingen sein. In dem Gedicht >Der Fremdling< hat Rudyard Kipling diesem allgemein verbreiteten Gefühl stärksten Ausdruck verliehen:
The Stranger within my gate, He may be true or kind, But he does not talk my talk — I cannot feel his mind. I see the face and the eyes and the mouth, But not the soul behind.
The men of my own stock They may do ill or well, But they tell the lies I am wonted to, They are used to the lies I tell; And we do not need interpreters When we go to buy and sell. The Stranger within my gates, He may be evil or good, But I cannot tell what powers control — What reasons sway his mood; Nor when the Gods of his far-off land May repossess his blood. Diese Gefühle haben von jeher bestanden. Sie bilden die natürlichen Grund elemente des Nationalismus; der Nationalismus selbst aber ist keine >natürliche< Erscheinung, er ist nicht das Ergebnis >ewiger< oder »natürlichen Gesetze; er ist das Ergebnis des Entwicklungszustandes gesellschaftlicher und geistiger Elemente zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte. Bis zu einem gewissen Grade war Nationalgefühl bereits vor der Entste hung des modernen Nationalismus vorhanden — ein Gefühl, dessen H äu-1 figkeit und Stärke mit den Zeiten wechselte: in einigen Epochen war es fast gänzlich erloschen, in anderen wieder mehr oder weniger deutlich w ah r-: nehmbar. Aber größtenteils war es unbewußt und unbetont. Es übte kei-i nen tiefen und allesdurchdringenden Einfluß auf die Gedanken und Hand lungen der Menschen aus. Deutlich in Erscheinung trat es nur gelegentlich in Einzelpersonen, bei Gruppen nur in Zeiten der Not und Herausforderung. A uf die Dauer vermochte es nicht, ihre Absichten und Handlungen zu beein flussen. Es war kein zweckbewußter Wille, der die einzelnen Menschen zu einer Einheit der Gefühle, Gedanken und der Handlungsweise zusammen- ! schweißte. Vor dem Zeitalter des Nationalismus waren sich die breiten Schichten der Bevölkerung selten der Tatsache bewußt, daß die gleiche Sprache über große Landgebiete hinweg gesprochen wurde. Und es war auch tatsächlich nicht die gleiche Sprache; mehrere Dialekte bestanden nebeneinander, in man chen Fällen so verschieden, daß der Bewohner der einen Provinz den der benachbarten schon nicht mehr verstand. Die Umgangssprache wurde als eine von der Natur gegebene Tatsache hingenommen. Sie wurde in keiner Weise als ein politischer oder kultureller Faktor aufgefaßt und noch viel weniger zum Gegenstand politischen oder kulturellen Streites gemacht. Im Mittelalter folgerten die Menschen aus der Bibel, daß die Verschiedenheit 12
der Sprachen das Ergebnis der Sündhaftigkeit des Menschen und Gottes Strafe für den Turmbau zu Babylon sei. Ein Sprachbewußtsein wurde nur auf Kriegszügen und bei Reisen oder in den Grenzgebieten erweckt. Hier bei wurde der andersartige Charakter der fremdsprachigen Gruppen emp funden, und viele nationale Gruppen wurden erst von Anderssprechenden in ihrer Eigenart erkannt und benannt. Das griechische Wort barbaros, welches >ungewöhnlich< oder >fremd< und folglich >ungesittet< und >unwissend< bedeutete, rührte wahrscheinlich von der Vorstellung des Stammelns oder der Unfähigkeit, sich verständlich zu machen, her, — es ist verwandt mit dem barbara des Sanskrit, welches >stammeln< oder >nichtarisch< bedeu tete. Die Slawen nannten die Germanen, mit denen sie in Berührung kamen, niemci, die >Stummen<, Menschen, die sich nicht verständlich machen kön nen. Wer eine unverständliche Sprache redete, schien außerhalb des Z ivi lisationsbereiches zu stehen. Die Slawen, wie auch andere Völker, faßten die Sprache als eine von Natur gegebene Tatsache und nicht als kulturelles Erbe auf. Die Sprache, in der die Schätze der Kultur bewahrt und überlie fert wurden, war — im mittelalterlichen Europa wie im Islam, in Indien und in China — gewöhnlich nicht die Umgangssprache des Volkes: es war eine Gelehrtensprache, zu der nur die gebildeten Stände Zugang hatten. Und selbst wenn diese Sprache nicht anderer Herkunft war, so war sie doch der art altertümlich und durchsetzt mit klassisch-literarischen Ideenverbindun gen, daß sie lediglich einer kleinen Minderheit verständlich war. Vor der Entstehung des Nationalismus wurde die Sprache nur in ganz seltenen Fällen als ein Umstand hervorgehoben, auf dem das Ansehen und der Machtbereich einer Gruppe beruhen. Bis in die jüngste Zeit hinein blie ben Fremdsprachen als Amtssprachen, als wissenschaftliche Sprachen und als Verkehrssprache der oberen Stände im Gebrauch. Um nur ein Beispiel für viele zu nennen, sei erwähnt, daß die bretonischen Stände, die eifer süchtig über ihre Unabhängigkeit wachten, dennodi französisch sprachen, und in der Union zur Verteidigung der Freiheiten der Bretagne von 17 1 9 führte der bretonische Wortführer keine Beschwerde in Hinblick auf den Sprachgebrauch. In den protestantischen Ländern wurde die Bibel nicht aus nationalen Motiven übersetzt, sondern rein zur Verbreitung des wahren Glaubens. Die Königin Elisabeth von England ließ Bibel und Liturgie ins Walisische übersetzen und den Gottesdienst in walisischer Sprache zelebrie ren, um die Waliser aus der »Beschränktheit des Pfaffentums« zu erlösen. Während der Entwicklung des Nationalismus in den folgenden Jahrhunder ten, noch überragt durch die Religion, aber die Keime der neuen Frucht be reits in sich tragend, haben die Bibelübersetzungen sicherlich zur Erwek13
kung von Nationalgefühlen beigetragen, indem der Nationalsprache eine neue Bedeutung zukam. Durch die Ausbreitung der Volksbildung und den erweiterten Gebrauch der Druckerpresse nahm ihre Bedeutung als kulturel ler Faktor in fortschreitendem Maße zu. Die Sprache wurde einheitlich, die Lokaldialekte wurden ausgelöscht oder zurückgedrängt, und sie errang un bestrittene Gültigkeit in größeren Landgebieten. Als Ergebnis eines langwierigen und schwierigen Werdeganges wurde dieses Landgebiet zum Gegenstand der Liebe seiner Bewohner. Diese Liebe zum Heimatland, die als die Seele des Patriotismus gilt, ist keineswegs eine natürliche Erscheinung; sie ist durchaus das künstliche Erzeugnis einer geschichtlichen und geistigen Entwicklung. Die Heimat, die man von Natur aus liebt, ist das Dorf, das Tal oder die Stadt, wo man geboren wurde; ein eng begrenztes Gebiet, das man in allen seinen Einzelheiten kennt, reich an persönlichen Erinnerungen, ein Bereich, in dem man im allgemeinen sein ganzes Leben zubringt. Das gesamte Landgebiet, das, wie wir heute sagen würden, von einer Nation bewohnt wird — ein Gebiet, das sich oft durch große landschaftliche und klimatische Unterschiede auszeichnet — war dem Durchschnittsmenschen tatsächlich unbekannt; man konnte es auch nur durch Unterrichtung oder Reisen kennenlernen. Beides war vor dem Zeitalter des Nationalismus nur einer kleinen Minderheit zugängig. Vol taire, der vor diesem Zeitalter lebte, wies darauf hin, daß »plus cette patrie devient grande, moins on l'aime, car l'amour partagé s'affaiblit. Il est impossible d'aimer tendrement une famille trop nombreuse qu'on connaît à peine.« Nationalismus ist nicht, wie einige Gelehrte, beeinflußt durch Aristoteles, behaupten, ein harmonisch angelegtes, natürliches Gewächs, qualitativ iden tisch mit der Liebe zur Familie und Heimat. Es wird oft angenommen, daß sich die menschliche Liebe stufenweise auf zunehmende Größenordnungen erstrecke: Familie, Dorf, Stamm oder Sippschaft, Nation — und schließlich auf die gesamte Menschheit und das höchste göttliche Wesen. Aber Hei mat- und Familienliebe ist ein konkretes Gefühl, das jedermann im täg lichen Leben empfinden kann, während Nationalismus und noch viel mehr Kosmopolitismus höchst kompliziert zusammengesetzte Gefüge und ur sprünglich abstrakte Gefühle sind. Die Wärme der auf etwas Gegenständ liches gerichteten Liebe gewinnen sie erst durch die Ergebnisse einer histo rischen Entwicklung, welche durch Erziehung, durch gegenseitige wirtschaft liche Abhängigkeit und durch entsprechende politische und gesellschaftliche Einrichtungen die Zusammenfassung der Massen herbeiführt und sie mit einer Gesellschaftsgruppe identifiziert, die wegen ihrer übermäßigen Größe 14
unmöglich noch gegenständlich erlebt werden kann. Nationalismus — das heißt unser Einssein mit dem Leben und Streben von ungezählten M illi onen, die wir niemals kennenlemen werden, mit einem Landgebiet, das wir niemals in seiner Gesamtheit bereisen werden — ist qualitativ von der Liebe zur Familie oder zur engeren Heimat verschieden. In seinen Eigen schaften ist er der Liebe zur Menschheit oder der Liebe zur gesamten Welt verwandt. Beides gehört in die Kategorie von Nietzsches Fernstenliebe (Also sprach Zarathustra), die er der Nächstenliebe gegenüberstellte. Das gemeinschaftliche Leben innerhalb eines Landgebietes, das den glei chen Einwirkungen von Natur und, in einem erheblichen, wenn auch etwas geringeren Maße, von Geschichte und Rechtsformen unterworfen ist, prägt eine gewisse gemeinsame Haltung und gemeinschaftliche Merkmale aus. Diese werden oft als Nationalcharakter bezeichnet. Durch die ganze Geschichte hindurch finden wir in der Literatur sämtlicher Völker häufig Charakter beschreibungen nationaler Gruppen, wie der Gallier oder der Griechen, der Deutschen oder der Engländer. Einige dieser Merkmale scheinen sich durch lange Zeiten zu erhalten; sie werden von Beobachtern aus verschiedenen Jahrhunderten berichtet. Andere Merkmale scheinen sich im Zuge der ge schichtlichen Entwicklung zu wandeln. Es sind Fälle bekannt, in denen Merkmale, die man zu bestimmten Zeiten für die hervorstechendste Eigen schaft einer Nation hielt, einer Wandlung innerhalb eines Zeitraumes we niger Jahrzehnte unterlagen. Voltaire schrieb zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts, als man die Engländer für eine Nation mit starker Neigung zu Umstürzen und Veränderungen hielt, während man den Franzosen einen beständigen und schwerfälligen Charakter zuschrieb: »Die Franzo sen sind der Ansicht, daß das Regiment auf dieser Insel stürmischer ist als das Meer, das sie umgibt, was auch durchaus den Tatsachen entspricht.« Hundert Jahre später herrschte allgemein die genau gegenteilige Ansicht über Engländer und Franzosen. Die Engländer wurden damals und werden auch heute noch in eigener und fremder Beurteilung für eine schwerfällige Nation gehalten, die stolz ist auf ihre Abneigung gegen gewaltsamen Um sturz; die Franzosen hingegen beschrieb man als ein Volk, das sich dem gewaltsamen Aufruhr leicht und mit Vergnügen hingab. In ähnlicher Weise wandelte sich die Ansicht über die Deutschen. Vor hundert Jahren noch hielt man sie für ein äußerst liebenswertes, dem prak tischen Leben gegenüber recht unbeholfenes Volk, dem Philosophie, Musik und Dichtung wohl anstanden, nicht aber das moderne Industrie- und Geschäftswesen. Gegenwärtig jedoch bringen die Deutschen kaum, wenn überhaupt, nennenswerte Denker, Musiker oder Dichter hervor; dafür sind *5
sie erfolgreiche Draufgänger und zähe, tüchtige Meister des modernen In dustrie· und Geschäftswesens geworden. Die Mongolen waren unter Dschingis-Chan ein für seine Kampfführung bekanntes Kriegervolk, das ganz Asien und halb Europa unter sein Joch gezwungen hatte. Durch die An nahme des lamaistischen Buddhismus im sechzehnten Jahrhundert wurde ihr alter Kampfgeist gänzlich gebrochen; sie wurden zu friedfertigen, from men Männern. Unter dem Einfluß des Sowjetstaates und seiner revolutio nären Propaganda sind die alten Rasseninstinkte wieder erwacht; ein neues und andersartiges Lebensbewußtsein hat nun begonnen, das mongolische Volk zu beleben und seine durch die Religion auferlegten Hemmungen zu überwinden. Die Urteile der Beobachter des Charakters nationaler Gruppen sind je nach den politischen Erfordernissen der Situation und der gefühlsmäßigen Einstellung der einzelnen Berichter verschieden gefärbt. Die Pole dieses Spielraumes der Beurteilungsmöglichkeiten können durch folgende zwei Beispiele veranschaulicht werden: Henry Morley sagt, daß »wir in der Lite ratur eines jeden Volkes trotz aller Gegensätze der Form, verursacht durch wechselnde gesellschaftliche Einflüsse, den einen gültigen Nationalcharak ter durchweg erkennen«. Das Gegenteil behauptet J. M. Robertson, indem er sagt, daß »die Nation als ein stetiger und personifizierter Organismus im weitesten Sinne eine metaphysische Spekulation ist«. Zwischen diesen beiden Extremen können wir uns dem Standpunkt von Sir Francis Galton anschließen. Er sagt: »Die verschiedenen Ansichten von den mannigfaltigen Charakteren der Menschen entsprechen den verschiedenen Anforderungen, die von außen an sie herangetragen werden. Dasselbe Individuum und vielmehr noch dieselbe Rasse können sich in verschiedenen Epochen ver schieden verhalten.« Der Mensch und sein Charakter ist aus einer Unzahl von Komponenten zusammengesetzt; je weiter er von seinem ursprüng lichen Stadium entfernt ist, in desto höherem Maße trifft dieses zu. Es gilt noch mehr für eine komplexe Gemeinschaft wie die Nation. Sie setzt sich aus einer überaus großen Anzahl verschiedener Individualitäten zu sammen, und während ihrer Lebenszeit wird sie durch die unterschiedlich sten Einwirkungen geprägt und umgestaltet. Denn die Gesetze, unter denen alle historischen Erscheinungen stehen, heißen: Wachstum und Wandlung.
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Der Nationalismus ist in erster Linie und vor allen anderen Dingen eine Geisteshaltung, eine Bewußtheit, die seit der Französischen Revolution in steigendem Maße Allgemeingut der Menschheit geworden ist. Im geistigen Leben des Menschen herrschen gleichermaßen ein Ichbewußtsein und ein Gruppenbewußtsein. Beides sind geistige Vorstellungsgruppen, zu denen wir durch das Erlebnis der Unterscheidung und des Gegensatzes zwischen dem Ich und der Umwelt, zwischen der Wir-Gruppe und den Außenste henden gelangen. Das Kollektiv- oder Gruppenbewußtsein kann sich auf gänzlich verschiedene Gruppen beziehen, von denen einige — die Familie, die Klasse, die Sippe, die Kaste, das Dorf, die Sekte oder Religion und so weiter — von relativer Beständigkeit sind, während andere, wie zum Bei spiel Schulkameraden, eine Fußballmannschaft, die Passagiere eines Schiffes, vorübergehender Natur sind. Bis auf einen gewissen Unterschied hinsicht lich der Dauer wird in jedem dieser Fälle das Gruppenbewußtsein bestrebt sein, eine Übereinstimmung und ein Gleichgesinntsein, die eine gemein same Handlungsweise erst ermöglichen, herbeizuführen. In diesem Sinne können wir von einem Gruppengeist und von einer Gruppenhaltung spre chen. Man kann von einem katholischen Geist und von einer katholischen Haltung, von einem englischen Geist und einer englischen Haltung spre chen; genau so kann man aber auch von einem ländlichen und von einem städtischen Geist, von der Haltung einer Landbevölkerung und von der Haltung einer Stadtbevölkerung sprechen. Alle diese Gruppen entwickeln einen eigenen Charakter. Der Charakter von Berufsgruppen, wie zum Bei spiel von Bauern, Soldaten oder Beamten kann gerade so genau bezeichnet werden und ist genau so beständig wie der Charakter irgendeiner nationalen Gruppe. Jede Gruppe schafft sich ihre eigenen Symbole und gesellschaft lichen Spielregeln und steht unter dem beherrschenden Einfluß von gesell schaftlichen Überlieferungen, die sich in der öffentlichen Meinung der be treffenden Gruppe äußern. Ein Gruppenbewußtsein ist niemals ausschließlich. Die Menschen leben gleichzeitig in mehreren Gruppen. Mit steigender Komplexität der Zivi lisation nimmt allgemein die Anzahl der Gruppen, denen ein Mensch an gehören muß, zu. Diese Gruppen sind keine starren Gebilde; ihre Gren zen und ihre Bedeutung sind veränderlich. Innerhalb dieser Vielzahl von manchmal zu einander in Widerspruch stehenden Arten von Gruppenbe wußtsein ist im allgemeinen eines, welches der Einzelne als das oberste und wichtigste anerkennt. Diesem schuldet er deshalb, in Fällen fraglicher Ent17
Scheidung, in erster Linie seine Loyalität. Er erklärt sich eins mit der Gruppe und ihrer Existenz, und dieses oft nicht nur für die Zeit seines Lebens, son dern auch noch über den Tod hinaus. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen dem Einzelnen und der Gruppe mag in manchen Fällen bis zum völligen Aufgehen des Individuums in der Gruppe gehen. Die gesamte Er ziehung der Mitglieder einer Gruppe ist darauf gerichtet, eine gemeinsame geistige Bereitschaft zu gemeinsamer Haltung und gemeinsamer Handlung zu erwecken. Wir können feststellen, daß in verschiedenen Stadien der geschichtlichen Entwicklung sowie in verschiedenen Zivilisationsbereichen diese höchste Loyalität unterschiedlichen Gruppen gewidmet wird. Die moderne Ge schichtsepoche, beginnend mit der Französischen Revolution, ist dadurch gekennzeichnet, daß in diesem Zeitabschnitt, und zwar nur in diesem Zeit abschnitt, die Nation die höchste Loyalität des Menschen fordert; daß alle Menschen, nicht nur ein gewisser Kreis von Einzelpersonen oder Klassen, von dieser allgemeinen Loyalitätsforderung erfaßt werden. Von jenem Zeit punkt an werden alle Zivilisationen, die bis zum Anbruch der modernen Epoche ihre eigenen, meist reichlich unterschiedlichen Wege gingen, mehr und mehr von diesem einen höchsten Gruppenbewußtsein, dem Nationalis mus, beherrscht. Es ist schon oft bemerkt worden, daß Nationalismus und nationaler Par tikularismus ausgerechnet zu jener Zeit entstanden sind, als die zwischen staatlichen Beziehungen, Handel und Verbindungen sich in einer A rt und Weise entfalteten wie nie zuvor. Die Landessprachen wurden zu literari schen und Kultursprachen erhoben, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem es am meisten angebracht gewesen wäre, alle Sprachunterschiede durch die Verbreitung von einigen Weltsprachen in den Hintergrund zu drängen. Doch dieser Standpunkt übersieht den Umstand, daß gerade die weltweite Entstehung des Nationalismus mit der Erweckung der Bevölkerungsmassen zur Teilnahme am politischen und kulturellen Leben den Weg für eine engere kulturelle Berührung sämtlicher Zivilisationen der Menschheit — die jetzt zum ersten Male auf einen gemeinsamen Nenner gebracht wurden — bereitet hat, indem er sie zur gleichen Zeit sonderte und vereinigte. Deshalb ist der Nationalismus als ein Gruppenbewußtsein eine psycho logische und soziologische Erscheinung, aber jeglicher Versuch einer psy chologischen oder soziologischen Erklärung dieser Erscheinung ist unzu reichend. Ein amerikanischer Psychologe hat die Nation folgendermaßen de finiert: »Eine Gruppe von Individuen, die sich als eine Einheit empfindet, die — innerhalb bestimmter Grenzen — bereit ist, das Individuelle zugun 18
sten des GruppenVorteils aufzugeben, die als Ganzes gedeiht, in der einige Gefühlskomplexe gemeinsam empfunden werden, wo jedes einzelne Glied mit dem Fortschritt der Gruppe gedeiht und unter ihren Verlusten leidet. . . Nationalgefühl ist eine geistige Verfassung und eine gemeinsame Haltung.« Diese Definition ist nicht nur für den Begriff der Nation gültig, sondern auch für jede andere übergeordnete Gruppe, der der Mensch Loyalität er weist und mit der er sich eins erklärt. Sie reicht deshalb nicht hin, um die nationale Gruppe von anderen Gruppen ähnlicher Bedeutung und Bestän digkeit zu unterscheiden. Die Nationalitäten sind das Ergebnis der Entwicklung der Gesellschaft im Verlaufe der Geschichte. Sie sind nicht identisch mit Sippen, Stämmen oder Volksgruppen — das heißt mit Gruppen von Menschen, die eine tat sächliche oder angenommene gemeinsame Abstammung oder eine gemein same Heimat verbindet. Solche ethnographischen Gruppen bestanden schon seit Anbeginn der Geschichte, und dennoch bilden sie keine Nationalitäten; sie sind lediglich ein »ethnographischer Rohstoff, aus dem unter gewissen Umständen Nationen erwachsen können. Und selbst wenn eine Nation er wächst, so kann sie doch wieder verschwinden, indem sie von einer größe ren oder neuen Nation aufgesogen wird. Die Nationen sind das Wirkungs ergebnis geschichtsbildender Kräfte. Sie sind deshalb in ständigem Wandel begriffen und niemals starr. Die Nationen sind Gruppen neuerer Entste hung und deshalb von vielseitiger Zusammensetzung. Ihre genaue begriff liche Bestimmung ist unmöglich. Die Nationalität ist ein historischer und politischer Begriff, und die Worte >Nation< und »Nationalität haben schon manchen Bedeutungswandel erlebt. Erst in der neuesten Zeit hat der Mensch begonnen, die Nation in den Mittelpunkt seines politischen und kulturellen Wirkens zu stellen. Nationalität besteht nicht an und für sich, und der größte Fehler, der für die meisten Auswüchse der Gegenwart verant wortlich ist, war, daß man sie zu einem Absoluten, zu einem a priori Seienden erhob und sie zur Quelle allen politischen und kulturellen Lebens machte. Durch zwei fiktive Vorstellungen, denen man realen Inhalt zusprach, wurde die Nation zu einem Absolutum erhoben. Die eine besagt, daß Blut beziehungsweise Rasse die Grundlage der Nationalität sei, daß sie Ewig keitswert besitze und ein unveränderliches Erbgut in sich trage; die andere sieht im Volksgeist den ewig sprudelnden Quell der Nationalität und ihrer Offenbarung. Aber diese Theorien bieten keine begründete Erklärung für die Entstehung und die Rolle der Nation in der Geschichte: sie verweisen uns lediglich auf mythische, prähistorische Pseudo-Realitäten; man sollte
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sie eher als ein für das Zeitalter des Nationalismus typisches Gedankengut auffassen und sie der Analyse durch den Historiker des Nationalismus unterwerfen.
3 Nationalitäten entstehen nur, wenn Gemeinschaftsgruppen durch bestimmte gegenständliche Merkmale von einander abgesondert werden. Im allgemei nen verfügen Nationalitäten über mehrere derartige Merkmale, aber nur wenige über alle. Die häufigsten sind: gemeinsame Abstammung, Sprache, Landschaft, politisches Wesen, Sitten, Traditionen und Religion. Schon eine kurze Erörterung wird genügen, um zu zeigen, daß keines von diesen Merk malen an sich für den Bestand oder die begriffliche Bestimmung der Nation wesentlich ist. Die gemeinsame Abstammung war für den primitiven Menschen, dem Geburt und Tod gleich große Mysterien waren, von großer Bedeutung; deshalb waren sie der Gegenstand von Legenden und abergläubischen Vor stellungen. Aber die modernen Nationalitäten sind ein Gemisch aus ver schiedenen und manchmal sehr unterschiedlichen Rassen. Die Völkerwan derungen unserer Geschichte und die Beweglichkeit des neuzeitlichen Lebens haben überall zu Vermischungen geführt. Wenn überhaupt, so können ge genwärtig nur ganz vereinzelte Nationen eine gemeinsame Abstammung für sich in Anspruch nehmen. Die Bedeutung der Sprache für die Entstehung und das Leben einer Nation haben Herder und Fichte betont. Aber es gibt viele Nationen, die keine eigenen Sprachen besitzen. So sprechen zum Beispiel die Schweizer vier verschiedene Sprachen, und alle latein-amerikanischen Nationen spre chen spanisch oder portugiesisch. Die englisch-sprechenden wie die spa nisch-sprechenden Nationen sind teilweise ähnlicher Abstammung; sie spre chen die gleichen Sprachen, und bis vor nicht allzu langer Zeit hatten sie eine gemeinsame geschichtliche Vergangenheit, und ihre Traditionen und Sitten waren nahe verwandt. Dennoch sind es verschiedene Nationen mit oft einander entgegengesetzten Zielen. Ein anderes Beispiel dafür, daß die gegenständlichen Merkmale für die Entstehung und Fortdauer verschiede ner Nationalitäten von verhältnismäßig geringer Bedeutung sind, bietet sich in Norwegen und Dänemark: hier ist die Bevölkerung gleicher Rasse, j und in beiden Ländern wird beinahe die gleiche Sprache gesprochen. Und trotzdem betrachten sie sich als zwei verschiedene Nationen; die Norweger j 20
konstituierten eine eigene Sprache nur aus dem Grunde, weil sie eine selb ständige Nation geworden waren. Die Bedeutung der Sitten und Traditionen für die Nationalität hat zu erst Rousseau hervorgehoben. Zweifellos hat jede Nation ihre eigenen Sit ten, Überlieferungen und Einrichtungen; aber diese zeigen oft schon große Unterschiede innerhalb einzelner lokaler Bereiche, und andererseits neigen sie dazu, sich in unseren Zeiten über die ganze Welt hin, oder doch min destens innerhalb sehr großer Bereiche, gegenseitig anzugleichen. Heutzu tage ändern sich Sitten und Gebräuche oft innerhalb sehr kurzer Fristen. Vor der Entstehung des Nationalismus in der Neuzeit war die Religion die große, das politische und kulturelle Leben beherrschende Kraft; dieses trifft für das westliche wie für das östliche Christentum, für den Islam wie für Indien zu. Die Trennungslinien entsprachen nicht den nationalen Gren zen, sondern denen der religiösen Kulturbereiche. Deshalb wurde die Ent stehung der Nationalitäten und des Nationalismus von einer Wandlung der religiösen Einstellung des Menschen begleitet, und in vielen Hinsichten übte die Religion einen teils fördernden, teils hemmenden Einfluß auf das Werden der Nationen aus. Manchmal haben religiöse Auseinandersetzungen Nationen aufgespalten oder geschwächt, oder sie haben sogar, wie im Falle der katholischen Kroaten und der orthodoxen Serben, zur Entstehung neuer Nationen beigetragen. Andererseits waren Nationalkirchen bedeutende Pfle gestätten des Nationalgedankens; und wenn bei Auseinandersetzungen zwischen den Nationen Religionsunterschiede vorhanden waren, dann hat die Religion oft eine bedeutende Rolle im Verteidigungsapparat der schwä cheren Nation gespielt, wie zum Beispiel der Katholizismus in Irland und in preußisch Polen. Der wichtigste äußerliche Faktor, der zur Bildung einer Nationalität bei trägt, ist das Vorhandensein eines gemeinsamen Landgebietes oder viel mehr der Staat. Politische Grenzen begünstigen die Gründung von Natio nalitäten. Viele der neuen Nationen, wie die kanadische, entwickelten sich lediglich auf Grund der Tatsache, daß sie eine politische und geographische Einheit bildeten. Allgemein kann man aus Gründen, die später erörtert werden sollen, sagen, daß der Zustand der staatlichen Einheit oder der nationalen Einheit (im Sinne einer gemeinsamen Bürgerschaft unter einer territorialen Regierung) ein wesentliches Aufbauelement im Leben einer Nation ist. Der Zustand der staatlichen Einheit braucht nicht unbedingt bei der Entstehung der Nation bereits gegeben zu sein; aber in diesem Falle (wie bei den Tschechen im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert) ist es immer die Erinnerung an einen vergangenen Staat und das Streben nach
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staatlichem Dasein, was eine Nation im Zeitalter des Nationalismus aus zeichnet. Obgleich einige dieser sachlichen Faktoren von großer Bedeutung für die Bildung von Nationalitäten sind, so ist das Wichtigste doch ein lebendiger und reger Gemeinschaftswille. Durch den Entschluß zur nationalen Einheit entsteht die Nation. So wurde die französische Nation in der enthusiasti schen Willenskundgebung von 178 9 geboren. Ein französisches Volk, die Bevölkerung des französischen Königreiches, bestand auch schon vorher, genau so wie einige andere der zur Gründung einer Nation erforderlichen sachlichen Voraussetzungen. Erst das Bewußtsein und der Wille, beide neu erweckt, belebten diese Elemente und machten sie wirksam, verschmolzen sie zu einer Quelle von ungeheurer nach innen strebender Kraft und be gabten sie mit neuem Wert und neuem Sinn. Die englische und die ame rikanische Nation wurden durch gegenseitiges Übereinkommen, durch freie Willenserklärung konstituiert, und die Französische Revolution ent wickelte die Volksabstimmung. Hiernach wurde die Zugehörigkeit zu einer Nation nicht durch dingliche Merkmale, sondern durch eine Willenskund gebung bestimmt. Die Gründung der Schweizer Nation wurde durch Fried rich v. Schiller auf Grund einer Legende im >Wilhelm Teil· im berühmten Rütli-Schwur dramatisiert: »Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern«. Diese mythische Erklärung wurde bei der Geburt jeder Nation ausgespro chen, sei es, daß sich die Geburt nach einer langen Schwangerschaftszeit im Enthusiasmus einer Revolution vollzog oder daß die Massen erst durch viele Jahre unausgesetzter Propaganda erweckt werden konnten. Als Völ ker, als ethnographischer Rohstoff« als >pragmatische< und >zufällige< Faktoren haben die Nationen schon sehr lange in der Geschichte bestanden. Aber erst durch die Entstehung des Nationalbewußtseins wurden sie zu willensfähigen und absoluten Faktoren der Geschichte. Der umfassende Ge brauch des Wortes >Nationalität< darf uns nicht den Blick dafür verschlie ßen, daß dieses Moment der freiwilligen Entscheidung das ist, was die Na tionen der Gegenwart von dem, was man vor der Zeit der Entstehung des modernen Nationalismus manchmal als Nation bezeichnete, grundlegend unterscheidet. Die Nation auf gegenständliche Faktoren wie Rasse und so weiter zu begründen, bedeutet einen Rückfall in das primitive Stadium des Stammes-Systems. In der Neuzeit haben die den Ideen innewohnenden Kräfte die Nationen geformt und nicht die Stimme des Blutes. Die Nationen bilden sich aus ethnographischen und politischen Elementen, wenn der Nationalismus die von den vorausgegangenen Jahrhunderten überlieferten Formen mit Leben erfüllt. Demgemäß stehen Nationalismus 22
und Nation in enger Wechselbeziehung. Nationalismus ist eine Geisteshal tung, von der die Mehrheit der Bevölkerung ergriffen ist und die den A n spruch erhebt, die Gesamtheit der Bevölkerung erfassen zu können; sie er kennt den Nationalstaat als die ideale Gestalt der politischen Ordnung und die Nation als die Quelle aller schöpferischen Kulturkräfte und des wirt schaftlichen Wohlstandes. Deshalb, weil sein individuelles Leben angenom menermaßen in ihrer Wohlfahrt wurzelt und durch diese ermöglicht wird, schuldet der Mensch seiner Nation die höchste Loyalität. Eine kurze Unter suchung der in dieser Definition enthaltenen Elemente wird den Sachver halt klären. Die Geisteshaltung der Mehrheit der Bevölkerung: Wir können feststel len, daß sogar schon vor dem Zeitalter des Nationalismus einzelne Men schen Empfindungen ausgesprochen haben, die dem Nationalismus sehr ähn lich sind. Aber diese Gefühle empfanden nur vereinzelte Individuen; die Masse der Bevölkerung empfand das eigene Leben in kultureller, politischer sowie wirtschaftlicher Hinsicht nicht als von den Geschicken der nationalen Gruppe abhängig. Zeiten der Unterdrückung oder der äußeren Drohung können in der Bevölkerung sehr wohl Nationalgefühle erwecken, so wie das während der Perserkriege in Griechenland und während des Hundert jährigen Krieges in Frankreich geschah. Doch solche Gefühle sind bald wie der versiegt. In der Regel haben die Kriege vor der Französischen Revolu tion keine tieferen Nationalgefühle erweckt. In religiösen wie in dynasti schen Kriegen haben Deutsche gegen Deutsche und Italiener gegen Italiener gekämpft, ohne sich der Tatsache des >Brudermordes<, der in solcher Hand lung beschlossen liegt, bewußt gewesen zu sein. Soldaten wie Zivilisten sind bei >ausländischen< Herrschern in Dienst getreten und haben ihnen oft mit einer Loyalität und Treue gedient, die das Fehlen jeglichen National gefühles beweisen. Der Nationalstaat als die ideale Gestalt der politischen Ordnung: die Forderung, daß die politischen Grenzen mit den ethnographischen und Sprachgrenzen übereinstimmen sollen, ist eine Forderung, die erst in jüngster Zeit erhoben wurde. Früher galt die Stadt, das Leben oder ein vielsprachiges, durch dynastische Bande verknüpftes Staatsgebilde als die allgemein anerkannte Gestalt der politischen Ordnung und wurde häufig als die >natürliche< oder >ideale< Form erachtet. Zu anderen Zeiten wie der glaubten die gebildeten Schichten sowie die Menge der Bevölkerung an das Ideal des universalen Weltstaates, obwohl dieses Ideal wegen der praktischen und geographischen Voraussetzungen niemals in Erfüllung ging.
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Die Nationalität als Quelle des kulturellen Lebens: Während der längsten Zeit unserer Geschichte wurde die Religion als die wahre Quelle des kultu rellen Lebens erachtet. Man nahm an, daß durch tiefe Versenkung in die Traditionen des religiösen Glaubens und durch die Hingabe an den Urquell allen Seins der Mensch schöpferisch würde. Zu anderen Zeiten wieder war die menschliche Bildung in der Kultur eines Standes befangen, die über alle völkischen Grenzen hinausreichte, wie zum Beispiel die ritterliche Kultur des mittelalterlichen Europas, oder die Zivilisation des französischen Hofes währenddes siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Während und nach der Renaissance wurzelte die Bildung des Menschen im Boden der klassi schen Kultur. Erziehung und Gelehrsamkeit, die Bildung des menschlichen Geistes und Charakters, waren durch keinerlei nationale Grenzen beschränkt. Die Nationalität als Quelle des wirtschaftlichen Wohlstandes: diese, wie auch die politische Entwicklung des Nationalismus wurde durch das Zeit alter der absoluten Monarchie mit seinem Merkantilismus vorbereitet. Aber der Merkantilismus war niemals mehr als ein von oben auferlegtes Schema, der Versuch, eine nationale Einheit zu erzeugen, der in seiner Ausführung auch nicht annähernd das gesteckte Ziel erreichte. In vieler Hinsicht wurden die Unordnung und Zerrissenheit des mittelalterlichen Wirtschaftslebens beibehalten und die Provinzen, Städte und Dörfer als Zentren der Produk tion belassen. Der Zweck des Merkantilismus war, den Staat und seine Macht für die internationale Politik zu stärken. Das System, welches auf den Merkantilismus folgte, die Periode des Laissez-faire, hatte die Förde rung des individuellen Wohlstandes zum Ziele. Der Nationalismus hat im Wirtschaftsleben einen Neo-Merkantilismus hervorgerufen, wobei er, wie auch im Falle des zentralisierten Staates, die von den Monarchen errichtete Wirtschaftsform übernahm und mit neuem Leben erfüllte. Diese Entwick lung in der Wirtschaft war wesentlich jünger als das Eindringen des Natio nalismus in Politik und Kultur, und sie behauptete, daß der Wohlstand des Individuums nur durch die nationalwirtschaftliche Macht gesichert werden kann. Die Identifizierung des Individuums mit dem politischen und kulturel len Leben einer Nation vollzog sich an der Schwelle des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts; auf wirtschaftlichem Gebiet wurde dieser Schritt erst im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert vollzogen. Die der Nationalität geschuldete höchste Loyalität: Die österreichische Monarchie wurde so lange anerkannt, als die oberste Loyalität des Men schen den rechtmäßigen Königen zukam. Ihr Bestand wurde fraglich, als sich das Loyalitätsgefühl von der Dynastie auf die Nationalität verlagerte.
Es ist nur wenige Jahrhunderte her, seit der Mensch die oberste Loyalität noch seiner Kirche oder seiner Religion schuldete ; damals wurde ein Ketzer genau so aus der Gesellschaft ausgestoßen wie heute ein >Verräter< seiner Nation. Die Verlagerung der obersten Loyalität auf die Nation bezeichnet den Anfang des Zeitalters des Nationalismus.
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Der Nationalismus ist eine Geisteshaltung. Die Geschichtsentwicklung kann als eine Folge von Veränderungen der Psychologie des Gemeinschaftssinnes, der Einstellung des Menschen gegenüber allen Äußerungen des individuel len und gesellschaftlichen Lebens, aufgefaßt werden. Mit einer Änderung der Psychologie des Gemeinschaftssinnes verändert sich auch die Wertstel lung solcher Faktoren wie Sprache, Landgebiet, Tradition — und solcher Ge fühle wie Liebe zur Heimat, zu Familie und Sippe. Der Nationalismus ist eine Idee, eine Idée-force, die des Menschen Geist und Herz mit neuen Ge danken und neuen Gefühlen erfüllt, und die den Menschen dazu zwingt, seine Bewußtheit in geordnete Tat umzusetzen. Deshalb ist eine Nation nicht nur eine Gruppe, die durch ein gemeinsames Bewußtsein zusammengehalten und belebt wird; sie ist außerdem eine Gruppe, die das Verlangen hat, sich in dem auszudrücken, was sie für die höchste Form der geordneten Wirk samkeit hält, im souveränen Staat. Solange eine Nation dieses Endziel nicht erreichen kann, begnügt sie sich mit irgendeiner Form von Autonomie oder vor-staatlicher Ordnung, mit der ständigen Tendenz, sich in einem gege benen Augenblick, >dem Zeitpunkt der Befreiung<, in einen souveränen Staat zu entwickeln. Der Nationalismus fordert den Nationalstaat; die Schöpfung des Nationalstaates stärkt den Nationalismus. Hier, wie überall in der Ge schichte, finden wir fortlaufende Wechselbeziehungen undWechselwirkungen. »Die Nationalität ist eine geistige Haltung, die einem politischen Sachver halt entspricht«, oder die bestrebt ist, einem politischen Sachverhalt zu ent sprechen. Diese Definition spiegelt die Entstehung des Nationalismus und der modernen Nation wider, die aus der Verschmelzung einer bestimmten Geisteshaltung mit einer gegebenen politischen Form entstanden ist. Die gei stige Haltung, die Idee des Nationalismus, erfüllte die Form mit neuem In halt und neuem Sinn; die Form gestattete der Idee, ihre Äußerungen und Bestrebungen in gestalteter Ordnung zum Ausdruck zu bringen. Beides, sowohl die Idee als auch die Form des Nationalismus, haben sich vor dem Zeitalter des Nationalismus entwickelt. Die Idee geht auf die Hebräer und 25
Griechen des Altertums zurück und wurde in Europa im Zeitalter der Renaissance und Reformation zu neuem Leben erweckt. Während der Re naissance haben die Gelehrten den griechisch-römischen Patriotismus wie derentdeckt; aber diese neue Geisteshaltung ist nicht bis zu den breiten Schichten der Bevölkerung durchgedrungen, und ihre Diesseitsfreudigkeit wurde gar bald durch die erneute Theologisierung Europas in Reformation und Gegenreformation hinweggefegt. Aber die Reformation, besonders der Calvinismus, hat den alttestamentlichen Nationalismus zu neuem Leben er weckt. Unter den in England herrschenden günstigen Voraussetzungen wurde das englische Volk während der Revolution des siebzehnten Jahr hunderts von einem neuen Nationalbewußtsein, das von Gott auserwählte Volk zu sein, ergriffen. Mittlerweile hatte im Westen eine neue politische Macht — das absolute Königtum — eine neue politische Form entwickelt: den modernen zentralen, souveränen Staat. Dieser war die politische Form, in die sich während der Französischen Revolution die Idee des Nationalismus ergoß und sie mit einer neuen Bewußtheit erfüllte, an der jeder Bürger teil haben konnte und die den politischen und kulturellen Zusammenschluß der Bevölkerungsteile zur Einheit der Nation ermöglichte. Mit dem Aufkom men des Nationalismus waren die Massen der Bevölkerung nicht mehr le diglich ein Teil einer Nation, sondern die Nation selbst. Sie identifizierten sich selbst mit der Nation, ihre Kultur mit nationaler Kultur, ihr Leben und ihre Existenz mit dem Leben und der Existenz der Nation. Hinfort be stimmte der Nationalismus die Triebkräfte und die Geisteshaltung der Be völkerung, und gleichzeitig diente er zur Rechtfertigung der Staatsautori tät und zu ihrer Legitimierung bei der Ausübung ihrer Gewalt, sowohl nach innen als auch nach außen. Die Souveränität fyat eine zweifache Bedeutung: Sie erstreckt sich einer seits auf die Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Bürgern und an dererseits auf die zwischenstaatlichen Beziehungen. Dementsprechend hat auch das Nationalgefühl zwei Wirkungsseiten. Im innerstaatlichen Leben führt es zur lebendigen Übereinstimmung aller Bürger innerhalb der glei chen Nation; im zwischenstaatlichen Leben führt es zu Gleichgültigkeit, ! Mißtrauen oder gar zu Haß zwischen Menschen verschiedener Nationen. Die innerstaatlichen Beziehungen von Mensch zu Mensch werden nicht nur durch eine angenommene, innere Gemeinsamkeit der Interessen bestimmt, sondern auch durch Sympathiegefühle, Verehrung und sogar Selbstaufopferung. Die zwischenstaatlichen Beziehungen werden durch scheinbaren Mangel an ständig vorhandenen gemeinsamen Interessen zwischen den Staaten, sowie durch Gefühle, die von gänzlicher Gleichgültigkeit bis zur heftigsten Ab26
neigung reichen und innerhalb dieses Bereiches plötzlichen Veränderungen unterworfen sind, bestimmt. Die Nation, die nur ein Bruchteil der Mensch heit ist, ist bestrebt, sich als ein in sich abgeschlossenes Ganzes zu kon stituieren. Im allgemeinen kommt es nicht zu dieser letzten Konsequenz, denn Ideen, die älter sind als das Zeitalter des Nationalismus, üben weiter hin ihren Einfluß auf die Menschheit aus. Diese Ideen machen das Wesen der westlichen Zivilisation — des Christentums wie des aufgeklärten Ratio nalismus — aus: der Glaube an die Einheit der Menschheit und an die Grundwerte des Individuums. Einzig der Faschismus, der unnachsichtige Feind der westlichen Zivilisation, hat den Nationalismus auf die äußerste Spitze getrieben, hat ihn zu einem totalitären Nationalismus erhoben, in dem Menschheit und Individuum verschwinden und nur die Nation als das Einzige und zugleich das Ganze übrigbleibt.
5 Bezeichnend für bedeutende Geschichtsabschnitte ist der Umfang des Be reiches, auf den sich menschliche Sympathie erstreckt. Die Grenzen dieses Bereiches sind weder festliegend noch beständig, und ihre Verlagerungen werden von großen geschichtlichen Krisen begleitet. Im Mittelalter empfand die Bevölkerung der Ile de France heftige Abneigung und Verachtung ge genüber Aquitaniern und Burgundern. Noch vor sehr kurzer Zeit herrschte in Ägypten das gleiche Verhältnis zwischen den Mohammedanern und den eingeborenen Christen, den Kopten. Im Altertum haßten und verachteten die Athener die Spartaner. Fast unüberwindbare Hindernisse schieden die A n hänger rivalisierender religiöser Sekten innerhalb gleicher Glaubensgemein schaften. Bis in die allerjüngste Zeit hinein galt in China die Familie als der abgegrenzte Bereich der Sympathie, und einer größeren gesellschaftlichen Gruppe oder der Nation brachte man so gut wie gar keine Loyalität entgegen. Im Okzident mit dem neunzehnten Jahrhundert und im Orient mit dem zwanzigsten Jahrhundert beginnend, verlagerte sich die Grenze dieses Be reiches auf die Nation. In vielen Fällen wurden durch diese Veränderungen neue Trennungslinien errichtet. Diese Umgruppierung von Menschen in neue Organisationsformen und ihre Vereinigung um neue Symbole führte zu einer in früheren Zeiten unbekannten Kraftentfaltung. Der ungeheure Bevölkerungsaufschwung, die Ausbreitung der Bildung, der gesteigerte Einfluß der Bevölkerungsmassen, die neuen Techniken, die zur Verbreitung von Nachrichten und Propaganda entwickelt wurden: alles dies gab dem
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neuen Nationalgefühl eine anhaltende Intensität, die es bald als etwas >Natürliches< erscheinen ließ, als etwas, das von jeher bestanden hat und immer bestehen wird. Aber der Bereich der Sympathieäußerungen braucht nicht immer innerhalb seiner gegenwärtigen Grenzen zu verharren. Durch die Wandlungen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur, durch die zunehmende gegenseitige Abhängigkeit aller Nationen auf einer enger werdenden Erde, durch neu gesteckte Erziehungs- und Bildungsziele könnte sich dieser Bereich sehr wohl erweitern und Sphären übernationaler Inter essen und Sympathien einbeschließen. Sollte eine derartige Erweiterung der Solidarität wirklich eintreten, so wird sich dieses nur in der Folge eines Kampfes von noch niemals dage wesenen Ausmaßen ereignen; denn der Nationalismus vertritt >althergebrachte< politische, geistige und ideelle Interessen von derartiger Intensi tät und solchem Ausmaß, wie das noch bei keiner der vorausgegangenen Ideen der Fall gewesen ist. Angesichts der Allmacht des Nationalismus er scheint >die Menschheit« als ein weit entferntes, blutloses Ideal, als eine blasse Theorie oder als ein dichterisches Traumgebilde. Im Augenblick ist es auch so. Aber in der Geschichte waren auch einstmals die deutsche und die französische Nation nur ein fernes Ideal. Geschichtliche Wirkungskräfte haben unter langanhaltenden großen Kämpfen und Erschütterungen diese Ideen verwirklicht. Im achtzehnten Jahrhundert war eine gemeinsame Ord nung der Menschheit eine Utopie; damals war der Entwicklungsstand des Staates und der Wirtschaft, der Technik und des Verkehrs- und Nach richtenwesens in keiner Weise dieser Aufgabe gewachsen. Das ist heute anders. Gegenwärtig sieht es so aus, als ob der Nationalismus — der an fangs eine große Eingebung war und die menschliche Einsicht, die eigen ständige Würde der Masse, vertiefte — nicht mehr in der Lage sei, in politi scher und gefühlsmäßiger Hinsicht mit der neuen Situation fertig zu wer den. Einst hat er die individuelle Freiheit und das individuelle Glück ver mehrt; heute untergräbt er beides und unterwirft sie der durch seinen Fort bestand gegebenen Notlage, ein Zustand, der nicht mehr zu rechtfertigen ist. Einst war er eine große, Leben fördernde Kraft, ein Ansporn für die Ent wicklung des Menschen; heute kann er zu einem Ballast für die fortschrei tende Entwicklung der Menschheit werden. Anders ist es nur in den unter entwickelten« Ländern; dort ist der Nationalismus, wie er es früher im Westen war, ein Element menschlichen Fortschritts. Weder die deutsche noch die französische Nation sind eine durch die Natur prädestinierte Wesenheit, genau so wenig wie die amerikanische Na tion. Sie alle wurden, wie auch das Nationalbewußtsein, das sie beseelt, 28
durch geschichtliche Wirkungskräfte geschaffen. Die Entstehung des deut schen Nationalbewußtseins und die Gestaltwerdung des deutschen Natio nalstaates stießen auf unzählige Widerstände und gerieten immer wieder in die Gefahr, an den Klippen althergebrachter, politischer Sonderinter essen, an dem Beharrungsvermögen altehrwürdiger und hochgehaltener Traditionen und des Partikularismus Schiffbruch zu erleiden. Aber der Nationalismus, der die Herzen der Menschen mit großer Hoffnung auf eine neue Freiheit und auf bessere und menschlichere Beziehungen zwischen den Völkern erfüllte, setzte sich schließlich doch durch. Das hat sich nun geändert. »Unter den gegenwärtigen Bedingungen steht der Nationalismus in Widerspruch zu den Haupttendenzen der zwischenmenschlichen Bezie hungen, welche sich von der Isolierung weg zur gegenseitigen Abhängig keit hin entwickeln. Seine Ziele sind nicht der Dienst an der Allgemeinheit und die Zusammenarbeit, sondern Ausschließlichkeit und Alleinherrschaft.« Heute muß zumindest im Westen die individuelle Freiheit des Menschen auf einer übernationalen Basis organisiert werden. Demokratie und Indu strialismus, die beiden Kräfte, welche gleichzeitig mit dem Nationalismus gewachsen sind und sich über die Welt hin ausgebreitet haben, sind heute beide über die nationale Bindung hinausgewachsen. Aber der »Dreißigjährige Krieg« unseres Jahrhunderts hat gezeigt, wie stark die Stellungen sind, die der Nationalismus gegenwärtig bezogen hat. Der Nationalstaat ist tiefer in den Gefühlen der Massen verankert als irgendeine frühere Staatsform. Das Werden des Nationalismus hat die Ge schichtsschreibung und die Geschichtsphilosophie beeinflußt, und jede Na tion hat eine eigene Deutung der Geschichte entwickelt. Diese verleiht der Nation nicht nur das Gefühl der Verschiedenheit von allen anderen Na tionen, sondern schreibt dieser Unterschiedlichkeit einen grundsätzlichen, ja sogar metaphysischen Sinn zu. Die Nation fühlt, daß sie für eine beson dere Mission auserwählt ist, und daß die Erfüllung dieser Mission für den Fortgang der Geschichte, ja sogar für die Erlösung des Menschengeschlech tes wesentlich ist. Durch die Identifizierung von Nation und Staat, wofür Rousseau die Grundlagen bereitet hat, wurde das kulturelle und gefühls mäßige Leben der Massen eng mit dem politischen Leben verbunden. Jede Veränderung in den Grundsätzen der politischen Ordnung wird deshalb auf stärksten Widerstand stoßen, der sich gegenüber allen Argumenten der Vernunft und des Allgemeinwohles auf tief verwurzelte Überlieferungen berufen wird. Soziologen haben auf die nahe Artverwandtschaft zwischen nationaler und Glaubensbewegung hingewiesen. Beide tragen sie den Stempel der gött29
liehen Eingebung und der Glaubenserweckung. »Beides sind in tiefstem Grunde kulturelle Bewegungen mit den dazu gehörigen politischen Folge erscheinungen.« Diese Folgeerscheinungen sind jedoch nicht zufällig, sie sind vielmehr durch den Stand der geschichtlichen Entwicklung bestimmt. Die Religion, eine ihrem Wesen nach geistige Bewegung, führte zu gege benem Zeitpunkt in der Geschichte zu grundlegenden und wesentlichen politischen Folgerungen. Sie beherrschte und gestaltete Politik und Gesell schaft. Gegenwärtig trifft das für den Nationalismus zu. Als das Wohler gehen der Menschheit und der Kultur durch unausgesetzte blutige Religi onskriege bedroht war, hat die Aufklärung, jene rationalistische Bewegung, die um 1680 einsetzte und das achtzehnte Jahrhundert erfüllte, zur Ent politisierung der Religion geführt. Bei diesem Vorgang hat die Religion nichts von ihrer wahren Würde eingebüßt. Sie blieb eine jener großen gei stigen Kräfte, welche die menschliche Seele erquickten und erhoben. Aber sie büßte das Element des Zwanges, das durch viele Jahrhunderte hini durch so »natürlich« an ihr gewesen war, ein. Ihre Verbindung mit dem Staat, mit der politischen Autorität, wurde gelöst. Die Religion zog sich auf die Innerlichkeit und den freien Antrieb der Seele des Einzelnen zurück. Zwei Jahrhunderte mußten seit dem von Roger Williams 1644 veröffent lichten >The Bloudy Tenent of Persecution for Cause of Conscience Discussed in a Conference Between Truth and Peace< verstreichen, ehe seine Ursache, wenigstens im westlichen Europa, allgemein erkannt wurde. Die Anzeichen für eine ähnliche Entpolitisierung des Nationalismus machen sich bemerkbar. Es ist denkbar, daß sich seine Verquickung mit der politi schen Organisation löst, und daß auch er als ein wesentliches und bewe gendes Gefühl fortbestehen wird. Wenn einmal dieser Tag eintreten sollte, so wird das Zeitalter des Nationalismus in dem hier beschriebenen Sinne abgeschlossen sein.
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2. K apitel
Israel und Hellas Vom Stammessystem zum Universalism us
1 Durch das Christentum und die römische Überlieferung reichen die Wur zeln der modernen europäischen Kultur bis in das alte Judäa und das alte Hellas zurück. Die Geschichte dieser beiden kleinen Länder kann nur im umfassenden Rahmen der antiken Welt verstanden werden. Doch im euro päischen Bewußtsein war dieser Gesamtrahmen lediglich ein ferner und undeutlicher Hintergrund, von dem sich um so deutlicher die beiden Haupt figuren der antiken Geschichte, Israel und Hellas, abhoben. Sämtliche anderen geschichtlichen Einflüsse wurden nur wahrgenommen, soweit sie von diesen beiden Zivilisationen, den einzigen, die in der Antike einige für die moderne Idee des Nationalismus gültige Züge entwickelten, aufge nommen und einverwandelt wurden. Durch sie wurde das natürliche Gruppengefühl der Stammeszugehörig keit — welches den Vorfahren der Juden und Griechen wie auch allen ande ren ethnischen Gruppen gemein war — zu einem Hauptfaktor der geistigen Entwicklung. Es erfüllt jedes einzelne Glied der Gruppe mit einem neuen Missionsbewußtsein, welches seine Gruppe vor sämtlichen anderen Völkern auszeichnete. Diese Bewußtheit, die jedem einzelnen Gliede eigen war, erhob den Einzelnen zu einer neuen, persönlichen Würde und bereitete so den geistigen Boden für demokratisches Empfinden. Bei anderen Völkern war das Bewußtsein einer eigentümlichen Würde und Mission auf die Herrscher — Könige oder Priester — beschränkt und stattete diese mit göttlicher Ab kunft oder mit besonderer Weisheit und Ehre aus, wodurch sie über alle anderen Angehörigen ihres Volkes erhoben wurden. Herrscher dieser Art gab es in Griechenland und Israel nicht. Die Verach tung der Griechen für die Despoten-Könige der Barbaren ist ja bekannt, lind die Einstellung gegenüber Königtum und Königsmacht ist einer der charakteristischen Züge der Bibel. Die Wurzel der späteren Demokratie lie-
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gen hier im Gefühl der Gleichheit und der Schicksalsgemeinschaft des ge samten Volkes, ein Gefühl, das zunächst auf die Angehörigen der Gruppe beschränkt war und von dem Außenstehende, Barbaren und Heiden, ausge schlossen waren. Die Athener waren während der Hochzeit ihrer Geschichte von unermeßlichem Stolz auf ihre Demokratie erfüllt. Bei den Juden ging dieses demokratische Gefühl noch viel tiefer; es erfüllte die ganze soziale Gesetzgebung der Bibel mit der beständigen Rücksichtnahme auf die Würde jedes einzelnen Volksangehörigen und die Sorge um die Wahrung gegen seitiger brüderlicher Beziehungen. Für die Griechen und Juden waren die anderen Völkerschaften Massen ohne individuelle Würde die, ohne an der nationalen Mission teilzuhaben, dem Willen ihrer despotischen Herrscher unterworfen waren und keinen tätigen Anteil an dem kulturellen Leben, das der Priesterklasse Vorbehalten war, hatten. Griechen und Juden hingegen einten nicht nur blutsmäßige Bindungen, sondern darüber hinaus ihre na tionale Idee und ein allen gemeinsames kulturelles Bewußtsein. Anderseits waren politische Bande, die geeignet gewesen wären, einen Zusammenhalt zu gewähren, nur sehr schwach oder überhaupt nicht vorhanden. Bei anderen Völkern der Antike haben nur die Herrscher oder die Herr schaftsgewalt irgendwelche Spuren in der Geschichte hinterlassen. Bei den Griechen und den Juden hingegen waren es der nationale Charakter und die geistige schöpferische Kraft, welche die Zeiten überdauert haben. Weil sich ihre kulturelle Kontinuität als beständiger erwiesen hat als politische, geographische und rassische Kontinuität, sind sie heute noch lebendig. Die Fellachen der Gegenwart sind rassisch sowie geographisch identisch mit den Erbauern der Pyramiden und mit jenen Künstlern, die die einzigartigen Werke, die uns in ägyptischen Gräbern erhalten sind, geschaffen haben. Und dennoch haben sie kein historisches und kulturelles Kontinuitätsbe wußtsein: die alte ägyptische Kultur, eine Kultur von Königen und Prie stern, war für sie genau so tot wie für den Europäer bis zu ihrer kürzlichen Entdeckung durch europäische Wissenschaftler. Die Juden und die Griechen andererseits haben weder den rassischen noch den politischen Zu sammenhang bewahrt — die Juden haben sogar den geographischen Zu sammenhang verloren; aber ihr kulturelles Erbe ist weiterhin lebendig. Die nationale Idee, die den beiden Stammes-Konföderationen der Hebräer und Griechen Einheitlichkeit verlieh, wurde zum Herzblut ihrer Existenz. Der moderne Nationalismus, dessen Ideal der Nationalstaat ist, war ihnen unbe kannt; aber die Idee des Nationalismus, ihr ideologischer Gehalt, wurzelt in diesen beiden Völkern der Antike und in ihrem kulturellen Missions bewußtsein.
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Die Juden und die Griechen sind die einzigen Völker der vorrömischen Antike, deren nationale Eigenarten klar hervortreten. Ist es schon schwer, ein einzelnes Individuum genau zu charakterisieren, so ist es natürlich noch erheblich schwerer, den Charakter eines Volkes, einer derart komplexen Er scheinung, eindeutig zu bestimmen. In beiden Fällen spielt die Erbmasse eine bestimmte, wenn auch nicht allzu hoch zu veranschlagende Rolle; ge schichtliche Umstände, Umwelt und Erziehung, Klima und gesellschaftliche Bedingungen wirken und gestalten am ererbten Charakter. Bis zu einem gewissen Grade bestimmt der Charakter des Menschen Schicksal, aber gleich zeitig unterliegt jener wiederum den verändernden Einwirkungen des Lebens schicksals. Die Geschichte einer Nation gestaltet sich gemäß ihrem Charakter, zugleich ist aber auch der Charakter einer Nation ein Wirkungsergebnis ihrer Geschichte. Eine nationale Kultur ist eine Lebensäußerung des nationalen Typus, sie ist seine Objektivierung und Darstellung, aber gleichzeitig ist das nationale Leben eine Gestaltwerdung des Kulturwillens. Obgleich wir nie mals den Charakter von Individuen oder Völkern erschöpfend beschreiben können, finden wir doch einige, deren scharf gezeichnete Charakterzüge uns immer wieder zum Anlaß werden, nicht nur die geschichtliche Folge ihres äußeren Lebens zu beschreiben, sondern auch den Versuch zu unternehmen, durch Deutung den inneren Rhythmus ihres Lebens zu begreifen. Es gibt farblose Individuen und farblose Völker, deren Lebensweg keine ausgeprägten Merkmale aufweist; kaum bemerkt, gleiten sie, ohne Beson deres zu wirken, durch Leben und Geschichte. Ihre menschlichen Eigenarten sind so schwach oder so allgemein, daß nichts an ihnen geeignet ist, unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Ihr Anteil an der geistigen Wesenheit der Geschichte ist gering. Bei anderen Individuen und Völkern hingegen sind gewisse Charakterzüge in hervorragendem Maße entwickelt, gewöhnlich auf Kosten anderer Eigenschaften. Solche Völker sind, genau wie Individuen, die auf irgendeinem Gebiet über den Durchschnitt hervorragen, eine Trieb kraft und werden als außergewöhnlich empfunden; sie wirken als Ansporn zu neuen Möglichkeiten und prägen anderen ihren Stempel auf. In einem ausgesprochen individualistischen Zeitalter nimmt die Zahl derartiger Indi viduen zu — die Zahl solcher Völker wächst in einem nationalistischen Zeit alter. Unter den Völkern der Antike besaßen nur die Juden und die Grie chen solche ausgeprägten Wesenszüge. Das Wesen eines Volkes wie das eines Individuums kann durch eine Analyse seiner verschiedenen Einzelzüge weder verstanden noch erschöp-
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fend beschrieben werden. An das Mysterium des individuum ineffabile kann man nur mit Vorsicht und annäherungsweise herantreten. In dem zeitlichen Vorgang, welchen wir Geschichte nennen, offenbaren sich uns Einblicke in die Weite und die Entwicklung seines inneren Lebens. Im ge schichtlichen Leben der Menschheit entsteht und entwickelt sich eine beson dere geistige Welt, in der der Mensch als willens- und zweckbewußtes We sen steht. In diesem geschichtlichen Leben, dessen innerstes Wesen ein Stre ben nach Wachstum ist, gibt es keine auf räumlicher Koexistenz beruhende Gesetzmäßigkeit, die man den Naturgesetzen vergleichen könnte, sondern Tendenzrichtungen, Strömungen, die den zeitgegebenen, fließenden und zeitlich aufeinanderfolgenden Ausgangspunkten von Entwicklungen ent sprechen. Hier tritt die Übereinstimmung der Tendenzen an die Stelle der Übereinstimmung der Gesetze. Diese Strömungen sind nichts Feststehendes oder Vollständiges, sie sind Spannung und Wachstum; stets lassen sie die Möglichkeit zu neuen Strömungen und zu neuem Beginnen offen. Keines Volkes Charakter ist ein für allemal festgelegt. Jedes Volk nimmt an dem Erfolg der Geisteswelt der gesamten Menschheit teil. Keinem Volke fehlt J irgendeiner der vielen menschlichen Charakterzüge, doch sind die verschie denen Eigenschaften, Fähigkeiten und Neigungen bei den einzelnen Völ kern unterschiedlich betont. Nicht in dem Besitz bestimmter Eigenschaften liegt die eindeutige Definition eines Volkes, sondern in der Tendenz, ein zelne Eigenschaften hervorzukehren. Wie bei allen lebenden Wesen und ihren Gemeinschaften gibt es auch hier keine eindeutig bestimmten oder festgelegten Grenzen. Die vorherrschenden Tendenzen eines Volkes stehen in Wechselwirkung mit anderen Tendenzen, und sie sind versucht, in der Auseinandersetzung die Oberhand zu gewinnen. Alles ist Versuch und Prü fung, und dementsprechend steht auch immer die Möglichkeit zu neuen Ent wicklungen und Wegen offen. Niemals hat dieser Weg ein Ende; er kann niemals als ein Ganzes übersehen und eindeutig definiert werden.
3 Bei den Juden und Griechen war die Idee des Nationalismus das Entwick lungsergebnis unterschiedlicher, ja sogar gegensätzlicher Nationalcharak tere. Die Griechen des Altertums waren das Volk, das mit dem Auge lebte, das Volk mit dem Sinn für Raum und Plastik. Jacob Burckhardt hat sie »das Auge der Welt« genannt. Sie wußten zu sehen, und darin lag ihre ge schichtliche Bedeutung; Schau und Erkenntnis (nicht nur im abgeleiteten
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Sinn von οϊδα) war bei ihnen eins. Ihre Kunst war plastisch, raumbeherrschend, raumbildend, gleich als versuchten sie die fließenden, flüchtigen, immer gegenseitig bezogenen Elemente des Lebens in Ruhe, Raum und Be grenzung umzusetzen und dem Formlosen Gestalt zu verleihen. In ihrer klassischen Zeit war auch ihre Philosophie in ähnlicher Weise plastisch, ihr Werkzeug war der Meißel der eindeutigen Bestimmung. Im Griechischen bedeutet das gleiche Wort, όρίζειν, zugleich: begrenzen und Begriffe for mulieren; Gedanken wurden zu plastischen Bildern. Platos Ideen waren ursprüngliche, bildliche Vorstellungen, eine von den Wachstumsschlacken gereinigte Welt, die auf den reinen Grundelementen des Seins aufbaut. Der Grieche verwandelte alles in Gestalt und Marmor in dem Bemühen, die Welt von der Flüchtigkeit der Zeiterscheinung zu befreien. Er beschenkte die Welt mit den Werkzeugen des wissenschaftlichen Denkens und bändigte den dionysischen Lebensüberschwang in die Klarheit der appollinischen Ord nung. Für den Griechen war der Stein, mit dem er bildete, ein Symbol des Raumes und Seins. Für den Juden war der Strom, in den er tauchte, das Sinnbild von Zeit und Werden. Denn während der Grieche den plastischen Sinn bis zur Vollkommenheit entwickelte, nahm der Jude nicht so sehr mit dem Auge als vielmehr mit dem Ohre wahr; er lebte in der Zeit. M it sei nen Sinnen erfaßte er nicht die Umrißlinien: sie waren mehr auf den inne ren Fluß gerichtet. Sein ausgeprägtestes Sinnesorgan war das Ohr. Seine Geschichtsschreiber haben den Sinn des Schicksals des Volkes in dem gött lichen Anruf und in der Reaktion des Volkes auf diesen Anruf gesehen. Dem Juden war es nicht gegönnt, wie der Grieche zu der Gelassenheit der Betrachtung, θεωρία, zu gelangen und völlig in der Schau aufzugehen; seine Gotteserfahrung berief ihn zum rastlosen Sprachrohr und Künder. Die Botschaft, die Gott dem Propheten auftrug, heißt auf hebräisch massa, die Last. Unter dem Gewicht dieser Last klagte Moses: »Ich kann dieses ganze Volk nicht alleine tragen, denn es ist zu schwer für mich. Und wenn du so an mir handelst, so bitte ich dich, töte mich, wenn du mir gnädig bist.« Ähnlich fluchte Jeremias in tiefen, erschütternden Worten: »Herr, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen, du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott gewor den täglich, und jedermann verlacht mich . . . Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren . . . Daß du mich doch nicht getötet hast im Mutterleibe, daß meine Mutter mein Grab gewesen .. . ! « Gott hat sich den Juden nicht in einem Abbild, sondern im Worte offen bart. In jüdischen Gebeten und in der jüdischen Literatur klingt immer wie-
der das »höret!« Als Elias Gott wahrnahm, vernahm er nur eine ruhige, dünne Stimme. Aus diesem Grunde machten die Juden niemals ein Bild von ihrem Gotte. Das Wort, logos, war den Juden das Medium zwischen der Unendlichkeit und den Menschen; das schwingende Wort enthielt mehr von der Unendlichkeit als die starre Form des Abbildes. Von Anfang an war Gottes Wort die schöpferische Kraft, und in den jüdischen Legenden wird der Heilige und Wirker der Wunder als »Meister des guten Namens« bezeichnet, denn Gottes Namen war das größte Mysterium und die größte Macht. Beschwörend und schöpferisch waren der Name und der Klang, nicht das Abbild. Das Gesicht ist der Sinn des Raumes, das Gehör der Sinn der Zeit. Der Grieche gestaltete den Raum; seine Gedanken wurden in Dimensionen des begrenzten Raumes objektiviert. Für ihn war nur das eindeutig Bestimmte und das Endliche schön und vollkommen. Plato leitete das Schöne von der Wirkung des Begrenzten im Unbegrenzten, vom Maß und von der Sym metrie her. Der Stoff strebt nach Gestalt, nach Begrenzung im Endlichen. So war dem Griechen der Kreis die vollkommenste Gestalt, die vollkom menste Bewegung die kreisförmige, die Bewegung des Himmels und der Himmelskörper. Wie dem Griechen im Bereich des Ästhetischen die Schön heit die vollkommene Harmonie diametral gegensätzlicher Kräfte in der ab geschlossenen Raumgestalt war, so war ihm im Bereich des Ethischen das Gute das ausgewogene Verhältnis, oder wie Aristoteles sagte, das Mittel zwischen Freuden und Leiden. Das Unendliche war für Plato das Nichts. Nur durch quantitatives Ordnen gelangte die Philosophie zur Existenz. Der Jude Philo war der erste, der in der griechischen Philosophie dem Unend lichen einen höheren Wert beimaß als dem Wohlverhältnis des Endlichen. Der Raum ist eine Form unserer Entwicklung zur Vielheit; die Zeit bin det unsere Entwicklung in den Fluß der Einheit. Das Auge erzeugt Ab stände,Vielheit und setzt angrenzende Bereiche in wechselseitige Beziehung. Die Griechen waren nicht nur Meister der plastischen Kunst, sie haben auch aus dem Chaos überschwenglicher Musik das Drama geschöpft. Aber es fehlte ihnen, wie Jacob Burckhardt sagt, der Einzelgesang. Demgegenüber war der Psalm die für die Juden typische Form der Dichtung. Selbst bis auf den heutigen Tag ist der Jude ein Lyriker geblieben, ein Meister dieser anspruchslosesten und subjektiven Kunst, die dem fließenden Strom am nächsten und der Herbheit des Marmors am fernsten steht. Der Jude lebte mehr im Reich der Zeit als im Reich des Raumes. Die Welt der Zeit kennt keine Aufteilung in eine Vielheit von Dimensionen. Sie ist eindimensional; sie weist nach der Vergangenheit und schwingt in die
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Zukunft und überwindet die Spannungen zwischen verschiedenen Richtun gen in der kraftvollen Einheit ihres Stromes. Die Welt als Zeit ist eine polare Welt, die zwischen zwei Polen in Spannung gehalten wird. Sie ist mit der Überlieferung der Vergangenheit belastet, und der Drang nach vorwärts treibt sie in eine unbestimmte Zukunft. Sie kennt nicht das Gleichgewicht der Kräfte, die sich benachbart und harmonisch entwickeln. Sie selbst ist Kraft, einseitig, nach Extremen strebend, Kompromisse meidend, nach dem Unendlichen strebend und alle Form zerschmetternd. Dieses Leben — in Spannung und ständiger Anrufung, kennt nicht die Harmonie der Schön heit und der künstlerischen Schau, mit der der griechische Genius die Menschheit beschenkt hat. Der Mensch, der in dieser Spannung lebt und mit ihr belastet ist, ver langt mehr denn jeder andere danach, sie zu meistern, er sehnt sich nach einer Einheit, die eine Aufhebung der Gegensätze, ein Ziel und eine A uf gabe für sein Leben ist. »Mache mein Herz eins«, betet der Psalmist. Den luden war Gott dieses Eine, der Garant und Erfüller der Einheit, das Ziel der Vereinigung der Menschheit. »Finis unitas est ad quem omnes sunt dirigendae«, sagt Spinoza. Im täglichen jüdischen Abendgebet heißt es, »unser Gott, mache deinen Namen Eins und errichte dein Reich«. In dem täglichen Hauptgebet, bereits im Deuteronomium 6, 4—5 vorkommend, und von Jesus als das vornehmste Gebot in der Bibel hervorgehoben (Markus 12 , 29—30), wird dem Volke die Einheit Gottes in einem feierlichen Anruf ver kündet. A uf die Verkündigung folgt die Aufforderung, daß der Mensch ungeteilt, eins, vollständig und ganz sein solle, daß er seine vielen wider sprechenden Veranlagungen und Neigungen mit ganzem Herzen, mit gan zer Seele und mit seiner ganzen Kraft zur Einheit zusammenfassen soll. Gott ist die Aussöhnung der Vielheit in der Einheit. Die Griechen ge langten zu diesem Ausgleich durch die Betrachtung und durch die Lehre vom Maße; sie zweifelten niemals daran, daß alle Menschen die Tugend lieben würden, wenn sie sie nur durch Betrachtung erfaßten. Die Juden fanden den Ausgleich nicht in der geistigen Betrachtung, sondern in der Erfüllung des göttlichen Willens. Ihr Weg der Tat führte sie durch eine ununterbrochene Folge von Entscheidungen. Das Entscheiden erschien als die Pflicht, die Verantwortlichkeit und der Adel des Menschen. Entschei dung bedeutet Mühsal, Mut und Gefahr. Aus Überdruß, Interesselosig keit, Trägheit und Feigheit geht man der Entscheidung aus dem Wege; und das ist, nach jüdischer Ansicht, eine Sünde. Der einige Gott verlangt, daß der unteilbare Mensch ganz in dieser Aufgabe aufgehe.
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Die Juden und die Griechen waren die mit einem Geschichtssinn begabten Völker des Altertums. Obwohl die Juden die Geschichte niemals zu einer Wissenschaft entwickelt haben, gingen sie in der Hervorhebung der grund sätzlichen Bedeutung der Geschichte noch weiter als die Griechen und be tonten erstmals deren Einheit. Mit ihrem Zeitsinn und mit ihrem Streben nach Einheit haben sie als erste eine zusammenhängende Geschichtsphilo sophie entwickelt. Für die jüdischen Denker lag das Gewicht nicht bei der Natur, sondern bei dem Menschen und seinen Taten. Der Mensch brachte Einheit in den Fluß der Zeit, das heißt in den rinnenden, fließenden und Neues gebärenden Ablauf der Geschehnisse. Der jüdische Gott war nicht in erster Linie ein Gott der Natur, sondern ein Gott der Geschichte. Als Er sich Selbst feierlich offenbarte, tat Er das als der Gott der geschicht lichen Tat: »Ich bin der Herr euer Gott, der euch aus dem Land Ägypten, ] aus dem Hause der Knechtschaft geführt hat.« Die jüdische Sozialethik war nicht das Ergebnis rationaler Überlegungen, sondern historisch begründet. »Ihr sollt den Fremden nicht unterjochen, denn ihr kennt das Herz des Fremden, denn auch ihr wart als Fremde im Lande Ägypten.« Nirgends sonst war das generationenverbindende, ge schichtliche Bewußtsein so betont hervorgehoben wie in den fünf Büchern Moses. »Nur achte auf dich selbst und bewahre eine fleißige Seele, auf daß du nicht die Dinge vergessest, die deine Augen gesehen haben, und für die Tage deines Lebens aus dem Herzen entschwinden: aber lehre sie deine Söhne und deiner Söhne Söhne.« »Wenn dein Sohn dich einmal fragt und sagt, was bedeuten die Gesetze, die Satzungen und die Urteile, die dir vom Herrn unserem Gott auferlegt sind, dann sollst du deinem Sohne zur Ant wort geben: Wir waren des Pharaos Knechte in Ägypten: doch der Herr führte uns heraus aus Ägypten mit mächtiger Hand.« Dieses nationale, ge schichtliche Bewußtsein verlieh dem Volke eine einzigartige Kontinuität und Sicherheit. Hier war die Geschichte nicht mehr die Aufzählung einzel- j ner Taten; jede Tat des Menschen in der Geschichte hatte einen Sinn und einen neuen Wert. Sie wurden zu Gott und-dem letzten Sinn des Lebens in Beziehung gesetzt. Die Geschichte wurde zum Ausdruck des göttlichen Willens. So entstand erstmalig bei den Juden die grundlegende Voraussetzung für eine nationale Bewußtheit: ein gemeinsamer Schatz aus den Erinnerungen der Vergangenheit und Hoffnungen für die Zukunft, welcher das gesamte Volk erfüllte und seine Ansichten wie seine Absichten bestimmte. Das ge38
schichtliche Bewußtsein der Juden begriff die Zeitgeschehnisse als Einheit und verwob sie zu einer nationalen Geschichte. Seit Amos trat in der hebräi schen Literatur mehr und mehr die Auffassung einer Universalgeschichte als ein Gesamtheitsvorgang, mit einer besonders ausgeprägten Rolle der Juden in seinem Kern, hervor. Seit der Besiegelung des Bundes unter Moses war der Beruf des Menschen als ein moralischer und handelnder Träger der Geschichte — zunächst der Nationalgeschichte, und später der Nationalge schichte im Rahmen der Universalgeschichte — Gewißheit geworden und er hielt in den Worten der Propheten seinen endgültigen Ausdruck. Die Ge schichte, die nationale wie die universale — doch letztere immer mit der na tionalen Geschichte als Kern — war Einheit im Anfang, in ihrem Fortschrei ten und in ihrem Ende. Der Gang der Geschichte war ein Weg zu ihrem Endziel, dem Reich Gottes. Hier wurde zum ersten Male der Messianismus, nationaler wie universaler Prägung — aber auch wieder mit dem nationalen Gedanken als Kern — ausgesprochen. Jüdische und griechische Kultur und Gedankenwelt waren beide »dies seitige Ihre Aufnahme in Europa zu Beginn der modernen Kulturepoche bereitete die neue Weltlichkeit der Renaissance und des achtzehnten Jahr hunderts. Die Unsterblichkeit begriff der alte Hebräer nur als ein Element in der Kontinuität des nationalen Lebens. Der Glaube an die Unsterblichkeit der individuellen Seele entwickelte sich erst später unter fremden Einflüssen. Gleicher Art wurde die künftige Welt, das Reich Gottes, nicht als etwas Jenseitiges, sondern als ein Entwicklungsstadium innerhalb geschichtlicher Zeiten begriffen. Im prophetischen Messianismus war die künftige Welt eine Zeit der dreifachen Vereinigung hier auf Erden: Die Vereinigung in jedem Menschen, der — in sich selbst eins — mit seinem ganzen Herzen sich Gott darbringen würde; die Vereinigung aller Menschen in einem Bruder bund; und die Vereinigung der gesamten Natur zu einem Leben in Frieden. Zu Beginn beruhten der jüdische und griechische Nationalgedanke aus schließlich auf der gemeinsamen Abstammung der jeweiligen Völker. Die Auffassung einer auserwählten Rasse — die Auffassung, daß die von Gott gebotene Reinhaltung des Blutes von größtem Wert für das Individuum, für die Gemeinschaft und für die Geschichte sei — erfüllte das natürliche Stammesbewußtsein mit religiöser Inbrunst. In einem weniger über schwenglichen Maße, da er nicht mit Religion und dem letzten Sinne des Le bens verquickt war, war der Rassengedanke auch die Grundlage des griechi schen Nationalismus. Jedoch führte die Entwicklung der Geschichte die Ju den wie die Griechen von dieser primitiven rassischen und materialistischen Auffassung des Nationalismus zu einer geistigeren und kultivierteren A n
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schauung. Durch die Entwicklung der menschlichen Individualität und der Humanität, durch die Intensivierung des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens erlebte das spätere Altertum den Fortschritt von einer objektiven ' materialistischen zu einer subjektiven und geistigen Auffassung der Natio nalität. Noch vor dem Ausgang der Antike entwickelten jüdischer und grie chischer Geist eine universale und humanitäre Anschauungsweise, die über alle Unterschiede der Rassen und der nationalen Kulturen hinauswuchs und den Einzelnen, ungeachtet seiner Herkunft, als ein Glied der Menschheit pries. Es ist bezeichnend, daß in der Antike nur die beiden nationalbewuß- I ten Völker einen bewußten Kosmopolitismus und Universalismus entwik- § kelt haben.
Drei wesentliche Züge des Nationalismus sind uns von den Juden überkom men: die Idee der Auserwähltheit eines Volkes, das Bewußtsein einer natio nalen Geschichte und der nationale Messianismus. Der Vorgang der Volkwerdung und zugleich die Erkürung zum >auserwählten< Volke ereignete sich am Anfang der jüdischen Geschichte. Erst durch den Bund wurden die Juden als Volk konstituiert. Ohne die Kenntnis von dieser grundlegenden Tatsache wäre der ganze Verlauf der jüdischen Geschichte unverständlich. Gott erwählte sich dieses Volk und wirkte durch es in der Geschichte: das Volk empfing den Auftrag, in der Geschichte nach Gottes Willen zu leben und zu wirken. Gesta Dei per Judaeos. »Denn du bist ein heiliges Volk dei nem Gott; und der Herr hat dich auserwählt, daß du sein Eigentum seist,· aus allen Völkern, die auf Erden sind« (Deuteronomium 14 , 2). »Und ich w ill aufrichten meinen Bund zwischen dir und mir und deinem Samen nach dir, bei ihren Nachkommen, daß es ein ewiger Bund sei, also daß ich dein Gott sei und deines Samens nach dir« (Genesis 17 , 7). Durch sein Wirken in der Geschichte hat Gott das auserwählte Volk erlesen. Gott versprach ihi die Erfüllung in der Geschichte, die Eroberung eines Landes, die Vernich tung seiner Bewohner. Die Feinde des auserwählten Volkes wurden zu Fein den Gottes. Sie mußten mit Stumpf und Stiel und ohne Gnade ausgerotti werden (I Samuel, 15 , 3). Im 10 5. Psalm wird Gott für seine großen ge* schichtlichen Taten gepriesen, die er um der Auserwählten willen vollbracht hat. Gleichzeitig führte die Idee von der Reinerhaltung der Rasse so weit, daß zur Zeit der nationalen Wiedergeburt unter Esra und Nehemia von den Juden verlangt wurde, die Frauen, die sie von fremden Stämmen genommen 40
und die Kinder, die diese ihnen geboren hatten, zu verstoßen (Esra 10 ; Nehemia 10 , 30). Doch dieser leidenschaftliche Nationalismus wurde von vornherein durch ethische Erwägungen, die immer humaner und universaler wurden, gemä ßigt. Schon vom eigentlichen Anfang an bestimmte nicht ausschließlich die Rasse die Zugehörigkeit zum auserwählten Volk. Nicht durch die Geburt, Bondern durch die Beschneidung fand man Aufnahme in den Bund Abraliams. Ruth, die Mutter des Königshauses David, war eine Moabiterin, trotz des strengen Verbotes der Mischehe mit Amonitern und Moabitern (Deute ronomium 23, 3 ); ihre Worte machten alle Rassentrennung und Exklusivi tät zunichte: »Dein Volk soll sein mein Volk und dein Gott mein Gott.« Denn trotz ihres augenscheinlichen Rassismus wurden die Juden nicht durch ihr Blut, sondern durch einen Willensakt, durch eine geistige Entscheidung, zur Nation. Der zwischen Gott und dem Volke Israel geschlossene Bund bildet den Anfang ihrer Geschichte, eine symbolische Handlung von größter Trag weite, die drei Jahrtausende später als die Wurzel des modernen Nationalis mus und der Demokratie wieder auflebte. Denn der Bund wurde nicht zwi schen Gott und den Königen oder Fürsten des Volkes, sondern zwischen Gott und der Gesamtheit des Volkes geschlossen, wobei alle Angehörigen des Volkes gleichberechtigt waren. Er erfüllte die Herzen des Volkes, das Ierz jedes einzelnen Gliedes, mit dem nationalen Ideal und Ziel, und zwar nicht durch eine autoritative Auflage, sondern als eine freiwillige Wahl. Eine jüdische Legende berichtet, daß Gott seinen Bund allen Völkern ange tragen habe, doch daß diese ihn zurückgewiesen hätten, bis schließlich Israel sich bereit gefunden habe, ihn anzunehmen. Gott hat Israel nicht von Anbe ginn an auserwählt und es aus allen Völkern der Erde erlesen; doch Israel allein war dazu bereit, die Verpflichtungen eines Bundes auf sich zu nehmen. Die Beziehung, die durch den Bund geschaffen wurde, enthält den Keim eines exaltiert nationalen Eigendünkels, gleichzeitig aber auch die Saat zu einer moralischen Wandlung des Nationalismus. A uf Grund des Bundes fühlten sich die Juden von sämtlichen anderen Völkern verschieden. Die Menschheit war in zwei Teile gespalten: die Auserwählten und die Irr gläubigen. Im täglichen Frühgebet dankten die Juden Gott dafür, daß »Er uns nicht geschaffen hat wie die Völker der Länder, daß Er uns nicht machte wie die Rassen der Erde noch uns ihren Glauben gegeben hat«. In dem Wissen um ein besonderes Band, das Gott mit seinem Volke verbindet, liegt die Gefahr der möglichen Rechtfertigung jeglicher Arroganz und eines angeinaßten Führungsanspruches über andere Völker beschlossen. Gott wird Sein
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Volk über alle anderen erheben. Wenn Sein Volk kämpft, wird Er mit ihm kämpfen; Sein Volk kämpft für Ihn. Nationale Größe und Ausbreitung werden zu einer Pflicht gegenüber Gott und zur Erhöhung Seines Ruhmes angestrebt. Alle diese späteren Ideen eines gottgewollten nationalen Impe rialismus entspringen einer der möglichen Auslegungen des jüdischen Natio nalismus. Von Anfang an umfaßte der Bund mehrere Möglichkeiten. Der nach der Flucht aus Ägypten geschlossene Bund ist nicht der einzige, der in der Bibel erwähnt wird. Den ersten Bund schloß Gott mit Noah und all seinen Nach kommen — das heißt mit sämtlichen Völkern der Erde — und nicht nur mit diesem, sondern auch »mit jedwedem Lebewesen, das mit dir ist, den Vö geln, den Rindern und jedem Tier, das du bei dir hast«. Es war ein »ewiger ] Bund< zwischen Gott und jedwedem Lebewesen aus Fleisch und Blut. Das Wesen dieses Bundes war ein moralisches Gebot, nämlich das Gebot, kein menschliches Blut zu vergießen »denn Gott hat den Menschen nach seinem Abbild geschaffen«. Der Zweck des Bundes war die Erlösung: keine neue Sintflut sollte nochmals alles Leben vernichten. Spezifischer und nationaler war der zweite, mit Abraham geschlossene Bund. Abraham wurde geboten, sein Land und seine Leute zu verlassen, ein neues Volk zu begründen und in einem neuen Land zu siedeln. Der wichtigste Bund war der dritte, der zwischen Gott und dem gesamten Volk Israel geschlossen wurde. Bei der Besiegelung dieses Bundes legte Gott seine Forderungen dar: »ihr sollt mir ein priesterlich Königreich und ein heiliges Volk sein«, und »werdet ihr nun meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern, denn die ganze Erde ist mein«. Das Volk nahm den Bund als freiwillige Verpflichtung an. »Moses kam und rief nach den Ältesten des Volkes und trug ihnen vor die Worte, die der Herr ihm gebot, und alle antworteten zusammen und sprachen: alles, was uns der Herr geboten, wollen wir erfüllen, und Moses berichtete dem Herrn die Worte des Volkes.« Eine außergewöhnliche Idee steht im Anfang der natio nalen Existenz des Volkes Israel. Die Propheten erweiterten sie zu einer neuen dynamischen Deutung der Geschichte als die Suche nach Gerechtig keit. Nach Auffassung der Propheten war Gerechtigkeit nicht wie bei Plato eine Harmonie der normalen Tugenden, sondern ein intensives Streben nach dem Absoluten, nicht eine duldsame Hinnahme der überkommenen Ordnung, sondern eine fortwährende Überprüfung der bestehenden Ord nung, gemessen an göttlichem Maßstabe. »Durch einen freiwilligen Bund mit Gott« wurde die Grundlage für eine gerechte Gemeinschaft, die auf ge genseitiger Hilfe ohne Rücksicht auf Person und Stand beruhte, gelegt.
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Durch diesen Bund wurde das jüdische Volk konstituiert. Die Elemente seiner Struktur waren: ein Gott, ein Gesetz und ein Volk. Kein irdischer Herrscher trat zwischen Gott und Volk. In Zeiten der Not wurden von Gott charismatische Führer >erweckt<, die das Volk während seiner Bedrängnis führten. Gleichwohl forderten unter Samuel die Israeliten einen König >wie alle Völker< ihn hatten. Jahve selbst erklärte Samuel den Sinn dieser Forde rung: »höre auf die Stimme des Volkes in allem, was es zu dir sagt; denn sie haben nicht dich, sondern mich verworfen, daß ich nicht König über sie sein soll«. A uf Gottes Gebot hin warnte Samuel das Volk, das ihn als König verlangte, und sagte ihm, daß Königtum Krieg und Unterdrückung bedeute. Trotzdem beharrten die Israeliten darauf »daß ein König über uns herrsche, auf daß wir den anderen Völkern gleich sind«. Bald begannen die Propheten gegen das Königtum aufzutreten. Dieser Streit steht einzigartig in der Geschichte da. A uf der einen Seite standen die >Realisten<, die Könige und ihre Ratgeber, die einen Staat wie andere Staa ten wünschten, mächtig und glücklich, mit Reichen und Armen, das Wirken von menschlichen Instinkten und Unzulänglichkeiten, mit edlen und tapfe ren, habgierigen und unzuverlässigen Menschen, nicht besser und nicht schlechter als alle anderen Staaten auf Erden. Es gab glückliche und sieg reiche Zeiten wie auch Zeiten der Niederlage. Aber die Schläge des Schick sals spornten den nationalen Willen nur um so stärker an, wieder nach einem Sieg und nach einer Zeit der Fülle zu streben. Einige Könige waren klug, andere waren Narren. Aber die Höhen und Tiefen im normalen Leben eines Staates unterscheiden sich bei Israel oder Juda in nichts vom Schicksal anderer Staaten. In dieses >nomiale< Leben hinein tönten die Stimmen der Männer, die uns als die Propheten überliefert sind. Sie verwarfen diesen Staat, eben weil er ein Staat wie alle anderen Staaten war. Gegenüber den natürlichen und na tionalen Instinkten betonten sie den Willen Gottes. Sie widersprachen dem Volk, seinem Staat, seinen Königen und seinen Führern. Außergewöhnlich an dieser Sache ist nicht der Umstand, daß die Propheten zu Lebzeiten als Verräter oder als Sonderlinge verfolgt wurden, sondern daß nach ihrem Tode ihre Worte in Ehrfurcht bewahrt wurden und daß jene Männer, denen das Volk einst zugejubelt hatte, die weisen und edlen Ratgeber der Krone, Hpäterhin als falsche Propheten bezeichnet wurden. Innerhalb des jüdischen Volkes und der gesamten Menschheit haben die Propheten mit einer Umwer tung aller Werte begonnen. Diese Neubewertung wurde weder von den Ju den noch von der übrigen Menschheit angenommen, aber sie hat als Gä rungsstoff in der Geschichte fortgewirkt. Die Propheten von Amos bis Jere-
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mias haben die Idee des Menschen und der Humanität entdeckt, und sie waren tiefer in ihr Wesen eingedrungen als je ein griechischer Philosoph vor der Stoa. Sie haben die Würde des Menschen an sich, in Absehung seiner Klasse, seiner Herkunft und seiner Fähigkeiten, entdeckt. Jedes Tun und jedes Leiden erhielt Bedeutung und Sinn; der Rahmen einer weltumspan nenden Geschichte als ein Prozeß, der Generationen und Völker zusammen faßte, wurde für den menschlichen Geist gewonnen. Amos trat während einer glänzenden Zeit im Königreich Israel auf. Ein mächtiger und erfolgreicher Fürst stand an dessen Spitze. Im Volke herrschte eine Stimmung sieggewohnter Zufriedenheit. Es war der Gnade Gottes, die sich in Sieg und Wohlstand ausdrückte, teilhaftig. War es denn nicht be kannt, daß Gott die Juden unter allen Völkern auserwählt hatte? War der strahlende Aufstieg nicht eine Folge ihres Bundes mit Gott? Da verkündete Amos plötzlich auf eine Art, die seinen Zuhörern als eine paradoxe Blasphemie erschien, einen anderen Sinn des Bundes: »Aus allen Geschlechtern der Erde habe ich allein euch erkannt; darum will ich auch euch heimsuchen in all eurer Missetat.« Die Propheten lehrten, daß der Bund kein Privileg, keine Garantie für nationale Erfolge, sondern eine schwere Last, eine Forderung nach erhöhtem Ernst ist. Amos ging noch weiter. Für ihn war Gott nicht nur der Gott Israels, der sich in der jüdischen Geschichte offenbarte, sondern der Gott aller Völ ker und der gesamten Geschichte. Er hat Israel aus Ägypten geführt, und Amos hielt den Juden diese Tat immer als seinen größten Anspruch auf Anerkennung und Gehorsam vor. Aber dasselbe hat Er für andere Völker gewirkt und tat es auch weiterhin. »Seid ihr Kinder Israels mir nicht wie die Mohren? spricht der Herr. Habe ich nicht Israel aus Ägypten geführt, und die Philister aus Kaphthor, und die Syrer aus Kir?« Seine geschichtlichen Wunder hat er nicht nur für Israel gewirkt, sondern für alle Völker, sogar für die Feinde Israels, die Philister. Dem Gott der Geschichte waren alle Völker gleichermaßen Werkzeuge im großen Plan der Erlösung. In dieser Überzeugung warnten Amos und die Propheten Israel, sich nicht auf Gottes Gunst zu verlassen. Israel sollte wissen, daß Gott ein Gott der absoluten Gerechtigkeit für alle war: auserwählt zu sein, bedeutete nicht den Genuß von größerem Schutz oder Vorrechten, sondern stärkere Verpflichtung und härtere Strafen. So gewann die ganze Geschichte des jüdischen Volkes einen neuen Sinn: die Heimsuchung durch einen mächtigen Feind, die Unterwerfung und Vernichtung Israels war nicht mehr eine Niederlage seines Gottes, denn Er war nicht wie die Götzen, ein Wächter über das Wohl seines Volkes. Die Unterwerfung und Zerstörung Israels erwies sich als der wahre
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Triumph seines Gottes, dem Sieger und Besiegte nicht mehr waren als dem Töpfer der Ton in seinen Händen, der nur eines verlangte, ein gerechtes Leben, und nur ein Kriterium kannte, Gerechtigkeit. Amos sagte: »Suchet das Gute und nicht das Böse, auf daß ihr lebet. . . Hasset das Böse und liebet das Gute; bestellet das Recht im Tor, so wird der Herr, der Gott Zebaoth, den Übrigen in Joseph gnädig sein.« Die Propheten wurden es nicht müde, dem Volk einzuprägen, daß der einzige gottgefällige Weg der Verzicht auf äußeren Glanz und Erfolg und die Konzentration auf die Schaffung einer inneren gerechten Gemeinschaft sei. Wenn das geschehe, dann brauche man weder den Mut zu verlieren noch in ständiger Angst zu leben. Jesaia widersprach aufs heftigste den Bemü hungen, die nationale Unabhängigkeit wieder herzustellen und das assy rische Joch mit Hilfe von anderen Mächten abzuschütteln. »Wehe denen, die sich nach Ägypten um Hilfe wenden, die auf Pferde und Streitwagen bauen, weil ihrer viele sind, und auf Reiter, weil sie an Kraft überlegen sind.« Jeremias war gleichen Sinnes. Er riet wiederholt dazu, Reformen im Inneren durchzuführen, anstatt die äußere Unabhängigkeit anzustreben. Wegen seiner >verräterischen< Handlungsweise und Reden wurde er einge kerkert und mit dem Tode bedroht; die Feldherren beschuldigten ihn, das Volk und das Heer entmutigt zu haben. Jesaias und Jeremias waren beide von einem tiefen Mißtrauen gegen Gewalt und Macht erfüllt. Diese Auffassung führte sie zu einer Neube wertung des Lebens der Armen und Geringen, die viel weiter ging als die mosaischen Gesetze über den Schutz der Fremden, der Sklaven, der Witwen und Waisen. Aristoteles erachtete die Sklaven als »lebende Werkzeugen aber in Hiob 3 1 , 1 3 —15 lesen w ir: »Habe ich verachtet das Recht meines Knechtes oder meiner Magd, wenn sie eine Sache wider mich hatten? Was wollte ich tun, wenn Gott sich aufmachte, und was wollte ich antworten, wenn er heimsuchte? Hat ihn nicht auch der gemacht, der mich im Mutter leibe machte, und hat ihn im Schöße nicht ebenso wohl bereitet?« Die Pro pheten und die Psalmisten anerkannten die bestehende Ordnung nicht. Ihre unruhestiftenden Ideen durchbrachen das Kastensystem und erhoben die Frage nach einer Rechtfertigung der Leiden der Gerechten, der Knechtschaft ganzer Klassen. Ihnen war der Arme der gerechte Mann, der für die Un gerechtigkeit anderer leiden mußte. Bald wurde das Geschick des jüdischen Volkes als ein Symbol für diese persönliche Leidenserfahrung gesehen. Persönliches und nationales Leiden fand seine Rechtfertigung im Endziel aller Geschichte, in der neuen Ordnung im Reiche Gottes.
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Der Messianismus als ein religiöser Glaube an das Kommen des Erlösers, der die bestehende Ordnung der Dinge aufheben wird, um eine neue und bessere an ihre Stelle zu setzen, scheint dem in der Menschheit allgemein verbreiteten Wunsch nach einer Welt, die frei ist von den Leiden und Un zulänglichkeiten der gegenwärtigen Welt, zu entsprechen. In verschiedenem Gewände und unter verschiedenen Namen sind Messianische Ideen in weit auseinanderliegenden Gebieten entstanden. Nur dem jüdischen Messias glauben ist es gelungen, dank dem Geschichtssinn der Hebräer, das universale religiöse Gedankengut und späterhin auch weltliche Strömungen zu beein flussen. Im Reiche Gottes sollte das Drama der universalen Geschichte ihren sühnenden Abschluß und die Idee des Bundes schließlich ihre Erfüllung finden. Für die Juden war der Messianismus eine Geschichtsphilosophie und eine Theodizee, die den Willen Gottes verdeutlichte. Als solche ging der Messianis mus in das Gedankengut der westlichen Menschheit über. Er trat als Begleit erscheinung beim Ringen heretischer Sekten und unterdrückter Klassen um die Verwirklichung ihrer Träume und Ziele auf; er verlieh seine Formen und Sym bole den verborgenen Wünschen von Millionen, um dann schließlich im Ge wände rationalistischer Philosophie und moderner Sozialwissenschaft in Er scheinung zu treten. Als eine weltliche Idee des Fortschrittes und der neuen Ordnung beherrscht er, seiner religiösen Formen, nicht aber seiner religiösen Inbrust entkleidet, manche moderne politische und soziale Bestrebungen. Die Juden haben zwei Arten des Messianismus entwickelt. Oft war er nur der Ausdruck eines engen Gruppenbewußtseins, welches lediglich auf eine grundlegende Besserung der nationalen Lebensbedingungen abzielte; in anderen Fällen war er universaler und geistiger. Dann bedeutete er Gerechtigkeit für alle, ein Aufblühen des geistigen Lebens und ein Leben in Brüderlichkeit und Frieden. Manchmal trafen beide Spielarten zusammen in dem Sinne, daß die Erlösung der Gruppe die Voraussetzung zur Erlö sung der Gesamtheit bildete. Diese Vermischung von nationalem Ehrgeiz, religiösem Gedankengut und Universalismus, übte einen tiefen Einfluß auf spätere nationale Bewegungen aus. Nationale politische Hoffnungen ver tieften sich in dem Glauben, daß ihre Erfüllung ein Akt der göttlichen Ge rechtigkeit sei und daß auf Gottes Geheiß um ihre Verwirklichung gerun gen werden muß. Die einzelne Nation, als das zur Aufnahme des gött lichen Willens erwählte Gefäß, sah in ihrem politischen Triumph die Hand Gottes in der Geschichte, und in vielen Fällen hielt sie sich selbst für Gottes Werkzeug zur Erfüllung des Schicksals der Menschheit. 46
Wörtlich bedeutet Messias, die hellenisierte Form des hebräischen mashiah, >der Gesalbtem Im frühen Judentum war der Messianismus, im Sinne der Leibwerdung des Erlösers in der Gestalt eines Gesalbten, vor der apokalyptischen Literatur im zweiten vorchristlichen Jahrhundert unbe kannt. In der Bibel war Messianismus die Erwartung des Reiches Gottes, die aus der Überlieferung der früheren Gottesherrschaft in Israel, als Gott noch alleiniger König über Israel war und die Israeliten, Sein Auserwähl tes Volk, freiwillig das Joch Seines Königtums auf sich genommen hatten, genährt wurde. Seine Erfüllung dachte man sich als die Wiederkehr der Herrschaft Davids, des letzten charismatischen und gesalbten Königs. Das künftige Königreich war niemals als etwas Jenseitiges, im Himmel seiendes gedacht, sondern immer als ein Stadium der menschlichen Geschichte, dessen Schauplatz diese, wenn auch manchmal verklärt gedachte Erde mit einem gereinigten und geklärten, aber immer noch menschlichen Leben sein sollte. Der frühe Messianismus enthielt keine Elemente der individuellen Erlö sung. Er war ein Zustand in der nationalen oder universalen Geschichte. »Die Erlösung des Einzelnen ist untrennbar mit der Erlösung des gesamten Volkes verbunden und da, nach der Lehre der Propheten, diese von der Rechtschaffenheit und der Reue des Volkes als Gesamtheit abhängig war, betrafen Lebenswandel und Art des Einzelnen nicht nur ihn selbst, sondern die Gesamtheit des jüdischen Volkes.« In späteren Zeiten glaubte man oft, daß sich das Reich Gottes auf Israel beschränke. Da Gott zur Zeit des Bundes das Volk Israel aus dem Lande der Knechtschaft in das Gelobte Land geführt habe, so würde er auch in der Zeit der Erfüllung durch ein noch größeres Wunder Israel im Gelobten Land wieder zusammenführen und es wieder mit einem gesegneten Regi ment beglücken. Dann würde Israel nicht mehr von anderen Völkern be droht werden. Das Schicksal dieser fremden Völker stellte man sich anders vor: sie sollten unterjocht, zersplittert oder vernichtet werden. In diesem Sinne war der Messianismus als »der Wille, beherrschend und herrlich als ein rückgeführtes Volk in seiner nationalen Heimat zu leben« für das jüdi sche Volk die große, nationale Vision, die es durch die Jahrhunderte der Verfolgung und Erniedrigung hindurch aufrecht erhalten hatte. Täglich be teten die Juden um die messianische Erlösung: in dieser Hoffnung trugen sie geduldig das schwere Joch des Judentums: mit Tausenden von Märty rern lobten und priesen sie ihren Gott, der ihnen gelobt hatte, das Volk in seinem alten Ruhme wieder herzustellen und Sein Reich durch die freude bringende Rückführung der Stämme in ihre Heimat für die Ewigkeit einzu leiten. So wurde für Israel mashiah, der Messias, zu menahem, der Tröster,
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der ihnen geulah, die nationale Erlösung bringen wird. In keinem der wich tigen Gebete fehlte der Ausdruck der Hoffnung auf ein baldiges Kommen des Reiches Gottes, »denn wir warten auf deine Erlösung alle Tage«. Seite an Seite mit diesem nationalistischen Messianismus entwickelte sich von Anfang an die Überlieferung des universalen Messianismus. Obgleich der Judaismus eine nationale Religion blieb, führte der Monotheismus der Propheten zu der Erkenntnis, daß »der Herr König sein soll über die ganze Erde; an dem Tage wird der Herr Einer sein und sein Name Einer«. In diesem späten Monotheismus waren nationale und universale Elemente eng verknüpft; die jüdische Religion galt als die universale, und Jerusalem als der geistige Mittelpunkt der Welt. So erwartete Jesaia (2, 2—3) eine Zeit, in der »der Berg, da des Herren Haus ist« in Jerusalem »feststehen wird, höher denn alle Berge, über alle Hügel erhaben«, wo alle Völker herzu laufen werden und von Zion das Gesetz ausgehen wird. Gleichzeitig wurde dieses Reich Gottes, das sich um das jüdische Volk als Mittelpunkt konsti tuieren sollte, als eine ethische und religiöse Erlösung der Menschheit, als ein universales Reich des Friedens und der Gerechtigkeit gedacht. In dem oben erwähnten Abschnitt führte Jesaia weiter aus, daß dann die Menschen ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen werden. Kein Volk wird wider das andere das Schwert ziehen, und sie werden hin fort nicht mehr kriegen lernen. Das Streben nach Einheit fand in der Ausweitung des ursprünglich na tionalen Bundes in einen Bund zwischen dem Einen Gott und der geeinten Menschheit seinen Ausdruck. Dieses Gefühl drückt das 'alenu-Gebet aus, das wahrscheinlich im zweiten Jahrhundert nach Christus entstanden ist, aber einer alten Überlieferung zufolge Josua zugeschrieben wird, der es anläß lich des Betretens des Bodens von Kanaan gesprochen haben soll. »Wir hoffen auf dich, Herr unser Gott, daß wir bald des Glanzes deiner Macht ansichtig werden, wenn du die Sünden von der Erde vertilgst. . . wenn die Erde im Reiche des Allmächtigen sich vollendet, wenn alles Fleisch deinen Namen nennen wird, wenn du alle Sündhaftigkeit der Erde zu dir zurück nehmen wirst. Laß alle Bewohner der Welt das Joch deines Reiches auf sich nehmen, und ergieße dein Reich über sie, bald und für alle Ewigkeit. Denn dein ist das Reich.« Selbst die Feinde des jüdischen Volkes waren zu sammen mit Israel in dem Segen einbegriffen, den Jahve durch den Mund Jesaias (19, 25) aussprach: »Gesegnet bist du, Ägypten, mein Volk, und du, Assur, meiner Hände Werk, und du, Israel, mein Erbe!« Aus diesem zukünftigen universalen Reich des Friedens und der Gerech tigkeit werden die Erzfeinde der Menschheit, Furcht und Not, verbannt
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sein. Die Armen und Verfolgten werden in der prophetischen Umwertung aller Werte die wahrhaft Frommen sein. Ursprünglich stellte man sich den Gesalbten als einen gerechten König, der »gerecht über die Armen und De mütigen sprechen wird«, vor. In der Vision eines späteren Propheten wird er zum Erlöser aller Leidenden werden und selber die Gestalt eines armen Mannes annehmen zum Symbol der ganzen leidenden Menschheit. Er wird auf einem Esel einherreiten, dem verachteten Tier der Armen. Er ist nicht Herr, sondern niedrigen Standes; Er wird zum Knecht Gottes, 'ebed Jahve, »er hatte weder die Gestalt noch die Anmut, welche die Blicke auf sich zogen, noch war er schön, daß man sich an seinem Anblick erfreute. Die Menschen verachteten ihn und wiesen ihn von sich. Er war ein Schmerzensmann und Leid gewöhnt.« In ihm, »der keinen Grashalm knicken und keinen glim menden Docht ausdrücken wird«, werden alle die Niedrigen und Verachte ten der Erde erhöht werden. Im zweiten Teil des Buches identifizierte der Prophet Jesaia Israel mit dem Knecht Gottes. Als solche würden die Juden das Gesetz des allgemeinen Friedens verbreiten. »Es ist ein Geringes, daß du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten Is raels wiederzubringen; sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, daß du seist mein Heil bis an der Welt Ende.« Israels nationale Geschlossenheit und sein Erwähltsein durch Gott wurden nicht als ein Zweck an sich verkündet, sondern als ein Mittel zu einem größeren, universaleren Ziel. Der Nationalismus wurde relativiert und einem Ziele, das die ganze Menschheit umfaßt, untergeordnet; doch bei den Juden behielt er das Über gewicht und bestimmte sogar ihre universalistischen Anschauungen. Einige der nachbiblischen Lehrer erachteten den Krieg und den Zwist als an sich böse und den Gebrauch von Waffen als ein Zeichen von geistiger Schwäche. Sie lehnten die nationale Unabhängigkeit ab und verurteilten alle auf die Wiedererrichtung des jüdischen Staates gerichteten Bemühungen. Der Bearbeiter der Mischna, Jehuda I. (etwa 13 5 —220 nach Christus), einer der verehrungswürdigsten Lehrer des jüdischen Glaubens, wollte sogar den jährlichen Fastentag am neunten Tage des Monats Ab dem Tage der Zer störung Jerusalems, welcher ein großer nationaler und religiöser Gedächt nistag war, abschaffen, um alle Erinnerungen an die jüdische Unabhängig keit zu vernichten; aber solche Lehren waren nur Ausnahmefälle. Allgemein gesehen kam in den späteren Zeiten bei den Juden durch den Messiasglau ben eine mehr exklusive Seite des nationalen Strebens zum Ausdruck.
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Zweifellos entwickelte sich der jüdische Nationalismus von einer primitiven und exklusiven Auffassung zu einer geistigeren und universaleren, wie sie in den Schriften der Propheten ihren stärksten Niederschlag gefunden hat. Auch Jesus lehrte in diesem Sinne. Seine Lehren waren in Worte gefaßt, die von allen Juden seiner Zeit, die fieberhaft die Ankunft des Messias er warteten, verstanden wurden. Das Christentum, so wie Jesus es predigte und seine ersten Anhänger es lebten, war reiner jüdischer Messiasglaube. Der Name Christos ist die Übersetzung des hebräischen Wortes mashiah in der griechischen Septuaginta. Abgesehen von der Einmaligkeit der Per sönlichkeit, wie sie uns in den Evangelien entgegen tritt, war Jesu Lehre von der jüdischen Tradition bestimmt. Er forderte die Tat und die Entscheidung. Mit unnachgiebiger Strenge wies er jede Art von Kompromiß von sich. Wo es galt, den Willen Gottes zu erfüllen, verlangte er die Preisgabe aller na türlichen Bindungen. Die Armen und ihre Rechtfertigung waren in seiner Lehre genau so enthalten wie bei den Propheten und in den Psalmen. Gleich diesen forderte er eine Religion des Herzens und verwarf die äußerlichen Formen des Opfers und religiöser Observanzen. Wie alle Lehrer der ge schriebenen Überlieferung, »das Gesetz und die Propheten«, wollte er, daß das geschriebene Wort durch mündliche Lehre erweitert werde, um den tie feren Sinn der Vergangenheit zu verdeutlichen. Er kam »nicht um das Ge setz oder die Propheten zu stürzen, sondern um sie zu erfüllen«. Wie alle messianischen Prediger hat er die auferlegten Gebote weder widerrufen noch gemildert: im Gegenteil, er predigte die Erschwerung der Pflichten im Hinblick auf das Nahen von Gottes Reich. Je näher das Reich war, um so notwendiger waren Reue und rechtschaffenes Leben, um sich auf sein Erscheinen vorzubereiten und sein Kommen zu erzwingen. Sein Gebet erklang in den uralten Worten »Geheiligt sei dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe.« Er glaubte nicht von Anfang an, daß er der Messias sei, aber es wurde ihm zur Gewißheit, daß er bald als der Messias wieder kehren würde, um das Reich Gottes einzuleiten. Er und seine Anhänger waren davon überzeugt, daß dieses unmittelbar bevorstehe. Seine ethischen Lehren waren eine Zwischenzeitethik, die auf das kurze Zwischenreich zwi schen dem vormessianischen und dem Neuen Reich abgestimmt war. Für Jesus wie für die Propheten nahm Israel eine zentrale Stellung im Reiche Gottes ein. Seine Predigten richteten sich nur an Israel, das für ihn der Träger des kommenden messianischen Zeitalters war (Matth. 10 , 5—6; 10 , 23).
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Die Geschichte des Christentums begann mit dem Nichterscheinen von Gottes Reich innerhalb der erwarteten kurzen Frist. Damit traten Jesu Tod und Auferstehung als bleibende Zeugen des herankommenden himm lischen Reiches, in den Vordergrund. Selbst Paulus erwähnt kaum die Lehren desjenigen, den er niemals gehört hat. In diesem Punkte brach das Christentum endgültig mit der jüdischen Religion. Von der jüdischen Religion übernahm es die Auffassung der Geschichte als ein planvolles Fort schreiten zur Erlösung, als eine Entwicklung in der Zeit; aber nachdem das entscheidende Ereignis in der Geschichte bereits eingetreten war (nur seine Wiederholung stand noch aus), entrückte es die Erlösung aus dem Zeitlichen, welches für das Christentum zum Begriff des Irdischen wurde. Alles Zeitliche war nur noch eine Zwischenzeit zwischen Jesus und seiner Wiederkehr. Für die kommenden Generationen blieb nichts als das Beispiel übrig. Der andere endgültige Bruch mit der jüdischen Überlieferung lag in der ökumenischen Auffassung des Christentums. In den Lehren Jesu war dieser Universalismus noch nicht zu spüren; er äußerte sich erst in den Briefen des Apostels Paulus, und auch da nur zögernd. In den berühmten Kapiteln 9—1 1 des Römerbriefes setzt sich Paulus mit dem Verhältnis zwischen Ju den und Heiden, die er in einer hellenistischen Welt Griechen nennt, aus einander. Die Auseinandersetzung erfolgt gemäß jüdischer Überlieferung in fortwährendem Hinweis auf die jüdischen Schriften und durch deren Ausle gung. Der Angelpunkt liegt dort, wo Paulus im Widerspruch zu Jesu Lehre sagt: »denn Christus ist des Gesetzes Ende«, und anstelle der Jesus-Lehre setzt er die neue Christuslehre: »denn so du mit deinem Munde bekennest Jesum, daß er der Herr sei, und glaubst in deinem Herzen, daß ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du selig«. Paulus wußte, daß nur Israel »gehört die Kindschaft und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen; und die Väter, aus wel chen Christus herkommt nach dem Fleisch. Nicht daß Gottes Wort aus sei, denn es sind nicht alle Israeliter, die von Israel sind, auch nicht alle, die Abrahams Same sind, sind darum auch Kinder. . . das ist: nicht sind Gottes Kinder, die nach dem Fleisch Kinder sind; sondern die Kinder der Verheißung werden für Samen gerechnet.« Hier findet eine Verlagerung in den Grundlagen statt, von blutsmäßiger Bindung zu geistiger Sohnschaft. So ist denn schließlich »kein Unterschied zwischen Juden und Griechen«. Aber selbst der Heidenapostel gemahnt diese daran, daß sie nur ein auf den jüdischen Olivenbaum gepfropftes Reis seien. Nicht sie tragen die Wurzel, sondern sie werden von der Wurzel getragen. 51
Paulus verkündete die Macht Gottes, alle Gläubigen zu erlösen, vor nehmlich die Juden, aber auch die Griechen (Römerbrief 1 , 16 ; 2 , 1 0 ; 2, 25; 2, 28—29; / ; / 1 2 —16). Die Unterteilung der Menschen beruht nicht mehr auf unveränderlichen physischen Elementen, sondern auf der indivi duellen Entscheidung. Die große Zweiteilung der Menschheit in Juden und Heiden wurde durch die Aufteilung in Christen und Heiden ersetzt, eine Unterscheidung, die später die Anschauung des Mittelalters beherrschen sollte. Der Nationalismus wurde durch einen potentiellen Universalismus ersetzt. Dieser Universalismus beruhte aber nicht ausschließlich auf jüdi schen Quellen und auf deren Abkömmling, dem Christentum; er war eben sosehr das Ergebnis einer ähnlichen Entwicklung von rassegebundenem Nationalismus über kulturellen Nationalismus zu geistigem Universalis mus, wie sie in der Entwicklung der griechischen und der griechisch-römi schen Geistesgeschichte beobachtet werden kann.
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8 Die Griechen der Antike waren sich des Gruppenunterschiedes und ihrer Überlegenheit gegenüber allen anderen Völkern genau so deutlich bewußt wie die alten Hebräer. Diese Bewußtheit war nicht von Anbeginn ihrer Ge schichte an vorhanden: sie wuchs mit ihrer geschichtlichen Entfaltung heran. Das Ereignis, das am Anfang der griechischen Geschichte steht, der Troja nische Krieg, als ein gemeinsames Unternehmen aller griechischen Stämme, zeigt in der Darstellung Homers keinerlei Bewußtsein einer scharfen Tren nung zwischen Griechen und Barbaren. Dieses Bewußtsein entstand wahr scheinlich erst um 600 vor Christus. In der Zeit der Perserkriege wurde der Gegensatz zwischen Griechen und Barbaren auf die Vergangenheit zurück projiziert; jetzt erschien der Trojanische Krieg als der erste große Zusammen stoß zwischen zwei Welten, die rassisch und kulturell verschieden waren, wo bei die Welt der Griechen weit über der der Barbaren stand. Ein gemeinsamer Name für die Gesamtheit der Griechen, dem Gemeinschaftsbewußtsein ent sprechend, scheint sich erst später als die Bezeichnung >Barbaren< für alle Nichtgriechen gebildet zu haben. Die Namen >Hellenen< und >Hellas< die die gesamte Nation bezeichnen, findet man nicht vor 700 vor Christus. Auch hier scheint erst der Gegensatz zu etwas außerhalb der Gruppe Stehendem, zur Wahrnehmung der eigenen Zusammengehörigkeit geführt zu haben. Soweit die vorhandene Literatur einen Vergleich zuläßt, scheint es, daß die griechische Aufteilung der Menschheit in Griechen und Barbaren grund-
sätzlic'ner war als die entsprechende hebräische Aufteilung in Juden und Heiden. Die griechische Idee des auserwählten Volkes ermangelte der reli giösen Inbrunst, die der jüdischen Idee eigen war, aber es fehlte ihr auch das in der jüdischen Religion enthaltene mäßigende Element, nämlich der Glaube, daß alle Menschen von einem Gott erschaffen sind, und daß Gott den Menschen nach Seinem Ebenbild geschaffen hat. Deshalb erscheint die Verachtung, die die Griechen für die Barbaren empfunden haben, grausa mer als die jüdische Abstandsbetonung gegenüber den Heiden. Genau wie bei den Juden erfüllte auch bei den Griechen dieses Unter schiedsbewußtsein sämtliche Volksangehörigen. Es wurde bei ihnen zu einem wahren Nationalgefühl, das in keiner Weise auf die edleren Geschlechter oder auf die Gebildeten beschränkt war. So waren alle Griechen freie Men schen und nicht wie alle Barbaren Untertanen eines tyrannischen Herschers. Die rassische Unterscheidung ging weiter als bei den Juden: sie um schloß Elemente, die den Hebräern unbekannt waren, wie zum Beispiel starke physische Abweichungen (allgemein wurden die Barbaren als absto ßend und ungestalt dargestellt) und weitgehende geistige und kulturelle Unterschiede (denen zufolge die Fähigkeit zu vernünftigem Denken sowie zu ethischem Handeln den Griechen allein Vorbehalten war). In manchen Fällen zeigten die Griechen eine Verachtung, die die chauvinistischen Er scheinungen des modernen Nationalismus übertraf. In der Zeit der großen griechischen Philosophen und Dramatiker betrachtete man die ständigen Kriege und Feindseligkeiten mit den Barbaren als etwas Natürliches und vollauf Gerechtfertigtes. Voll Abscheu wandten sich Platos Gedanken von dem inter-hellenischen Peloponnesischen Krieg ab und dem Ruhme des Krieges zwischen Barbaren und Griechen zu. Im fünften Buche der Politeia erhob Sokrates Einspruch gegen den Krieg unter Griechen, gegen die Ver sklavung von Griechen durch andere Griechen (Politeia, 469b—471c). Er unterschied den Kampf unter Griechen vom Kampf zwischen Griechen und Barbaren sogar durch das Wort: den inter-hellenischen Kampf nannte er στάσις, das heißt Zw ist; den Kampf zwischen Griechen und Barbaren aber πόλεμος, den richtigen Krieg. »Die Hellenen führen also mit den Barbaren Krieg, ebenso die Barbaren mit den Hellenen, wenn Kämpfe zwischen beiden stattfinden. Sie befinden sich von Natur im Kriegszustände (φύσει πολέμιοι) und ihre Feindschaft verdient den Namen Krieg. Finden aber Kämpfe der Hellenen untereinander statt, so muß man sagen: sie sind von Natur Freunde, aber Hellas ist erkrankt und mit sich verfallen. Ihre Feindschaft verdient den Namen Zwist.« Sokrates empfahl, daß in Fällen derartiger Zwiste jeder Versuch unternommen werden solle, um zu einer Einigung zu
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gelangen und die Vernichtung des Gegners zu verhüten, während bei wirk lichen Kriegen, das heißt in Kriegen zwischen Hellenen und Barbaren, die Unterwerfung der Feinde bis zur Entführung in die Sklaverei und zur völ ligen Vernichtung erlaubt und ratsam sei. Von dieser platonischen Bestim mung der Beziehung zwischen Hellenen und Barbaren war es nur noch ein kurzer Schritt zum ewigwährenden Kriege, den später sowohl Isokrates als auch Livius als notwendig erklärten. Aristoteles ging sogar noch weiter, indem er den Worten >Hellenen< und >Freie< einerseits und >Barbaren< und >Sklaven< andererseits jeweils gleiche Bedeutung beimaß. Außerdem behauptete er, daß diese Unterscheidung durch die Natur für ewig festgelegt sei. Zustimmend zitierte er die Verse der Iphigenie in Aulis des Euripides: »Hellas sei der Fremdling untertan, doch, Mutter, nie frone Hellas' Volk den Fremden; Knechte sind sie, Freie wir!« Und er sagte weiterhin, daß dieses bedeute, daß Barbar und Sklave von Natur aus das gleiche sei. »Doch gibt es irgend jemanden, der von Natur aus dazu bestimmt ist, Sklave zu sein, für den dieser Zustand nütz lich oder richtig ist? Oder ist nicht gar jede Sklaverei eine Verletzung der Natur? Es ist nicht schwer, hierauf die Antwort zu finden, sowohl durch vernünftige Überlegung als auch auf Grund der Tatsachen.« Freilich hat Aristoteles keine wirklichen Beweise, weder Vemunftgründe noch Tat sachen, zur Widerlegung der sophistischen These der natürlichen Gleichbe rechtigung aller Menschen beigebracht, aber er machte geltend, daß »von der Stunde ihrer Geburt an einige als Unterworfene, andere als Herrscher gezeichnet sind . . . Die Niedrigen sind Sklaven von Natur, und es ist besser für sie wie für alle Tieferstehenden, daß sie unter dem Befehl eines Herren stehen . . . Es ist also einleuchtend, daß von Natur aus einige Menschen Freie sind und andere Sklaven, und daß für die Letztgenannten die Sklaverei nützlich und richtig ist.« Aristoteles begünstigte eine moralische Rechtfer tigung des hellenischen Weltimperialismus, indem er die Versklavung der Barbaren als in ihrem eigenen Interesse liegend darstellte. Er meinte, Hel las könne wohl, wenn es zu staatlicher Einheit gelange, die Last auf sich nehmen, die ganze Menschheit zu beherrschen. Ein geeintes Griechenland, stark genug, um die Menschheit zu beherr schen, ist niemals zustandegekommen. Trotz ihrer leidenschaftlichen natio nalen Ideologie haben sich die Griechen niemals zu einer Nation im moder nen Sinne entwickelt. Der Wunsch nach einem griechischen Nationalstaat wurde niemals zu einer treibenden Kraft in ihrer Geschichte. Wohl waren sie sich ihrer kulturellen und rassischen Einheit bewußt, doch nur in äußerst seltenen Fällen zogen sie hieraus die politischen Schlußfolgerungen. Hero-
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dot sprach von der »Verwandtschaft aller Hellenen in Blut und Sprache, und die Heiligtümer der Götter und die Opfer, die wir gemeinsam haben, und die Ähnlichkeit unseres Lebenswandels«, in einem Abschnitt, in dem die Athener den Lakedämoniern versicherten, daß sie mit den Persern keinen Bund gegen Sparta schließen würden — wobei sie darauf hinwiesen, daß »es wohl menschlich wäre, wenn die Lakedämonier befürchten, daß wir mit den Fremden Übereinkommen«. Die Verwandtschaft der Rasse und der Kultur wurde angerufen, um zu erklären, warum die Athener sich nicht mit den Persern gegen Sparta verbinden würden, obgleich man von den Spartanern nicht annehmen konnte, daß sie den gleichen Standpunkt ein nehmen würden. Doch ist es bezeichnend, daß sogar hier die Verwandt schaft nur als zweiter Grund aufgeführt wurde, während der »erste und hauptsächlichste Grund« das Rachegefühl war, das die Athener gegen die Perser wegen der Einäscherung und Zerstörung der Tempel der griechischen Götter hegten. So blieb den Hellenen ein politischer Nationalismus unbe kannt; ihre oberste Loyalität galt ihrem Stadtstaat, der sich oft in heftig stem Zwist mit anderen griechischen Stadtstaaten befand, und der sich mit Nichthellenen gegen Hellenen verbündete oder sich mindestens mit solcher Absicht trug. Wohl gab es einen starken patriotischen Zug der Liebe zum heimatlichen Boden, der besonders bei Euripides zum Ausdruck kommt; aber es war der Heimatboden der Stadt, und es war der Stadtstaat, dem diese Liebe galt. Immerhin gelangte zur Zeit der Perserkriege Griechenland unter der Drohung der gemeinsamen Gefahr beinahe zu einer Einheit zum Zwecke der Verteidigung. Dieser Patriotismus der Perserkriege, vordatiert in einer Neudeutung des Trojanischen Krieges, klingt in Euripides' >Iphigenie in Aulis< auf, wo Iphigenie dem Agamemnon, der sie für Hellas' Freiheit opfern will, antwortet:
Hellas geb ich meinen Leib zum Opfer hin. Tötet mich, verwüstet Troja! Denn ein Denkmal ist mir dies ewig, das sind meine Kinder, mir dies meine Hochzeit und mein Ruhm! Jedoch dieses allgemeine patriotische Gefühl der Perserkriege schwand bald wieder dahin, und unmittelbar darauf folgten Zwiespalt und wachsender Haß zwischen den hellenischen Städten.
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Die sachliche Basis des griechischen Nationalgefühls war nur sehr schmal. Sie bestand in der Hauptsache in der delphischen Amphiktyonie und in den Olympischen Spielen. Delphi war für die Griechen der Nabel der Welt, und zu der um das delphische Heiligtum versammelten Gemeinschaft ge hörten auch verhältnismäßig weitabgelegene Stadtschaften, aber niemals das gesamte Hellas. Delphi war ein religiöses, panhellenisches Symbol; aber Seite an Seite mit ihm bestanden ungeschmälert die partikularistischen Religionen und Heiligtümer. Vielleicht waren die Olympischen Spiele ein noch wirkungsvolleres panhellenisches Symbol. Während der athletischen Wettkämpfe, der Darbietungen von griechischer Dichtung, Musik, Tänzen, Dramen und Bildwerken, erwuchs alle vier Jahre das oft vergessene panhellenische Gefühl, auf die Dauer einer Woche, zu neuer Stärke. Bis in späte Zeiten hinein waren nur Griechen zu den Olympischen Spielen zuge lassen. Die Empfindung gemeinsamen Erbes griechischer Kultur überwand in Olympia den starken Partikularismus, der normalerweise das griechische Leben beherrschte und überlebte in den Olympischen Spielen sogar den Verlust der griechischen Selbständigkeit. Anzahl und Wirkungskraft solcher Kundgebungen einer gemeinsamen Nationalität waren jedenfalls gering. Das griechische zwischenstaatliche Recht war weit weniger entwickelt als heute das internationale Recht. Es mangelte sogar an Zusammenarbeit zwischen den griechischen Stadtstaaten in solch wichtigen Angelegenheiten wie zum Beispiel dem Bau guter Stra ßen, der Aufrechterhaltung der Verkehrssicherheit zwischen benachbarten Städten und der Vereinbarung eines gemeinsamen Kalenders. Die Städte zählten ihre Jahre nach den eigenen Verwaltungskörperschaften und began nen das Jahr zu verschiedenen Zeiten, wodurch »ein entsetzliches Durchein ander« entstand. Die »schwerfällige Zeitrechnung nach Olympiaden« wurde nach 264 vor Christus durch Timaeus aus Tauromenium vorgeschlagen, jedoch niemals allgemein eingeführt. Ein Grieche galt in jeder anderen Stadt außerhalb seiner eigenen als Ausländer, und nur durch besondere Über einkunft in jedem einzelnen Falle konnten besondere Rechte, Immunität sowie Bürgerrecht gewährt werden. Selbst das Verwandtschaftsgefühl war keineswegs allgemein, und für lange Zeiten war es von einem Gefühl der Entfremdung und der bitteren Feindschaft verdrängt. Im allgemeinen bestand keine Neigung, die bestehenden Verhältnisse zu än dern. Ein Nationalismus im modernen Sinne blieb den Hellenen unbe kannt.
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Für die Athener war schon jeder nichtattische Dialekt barbarisch. Sie wa ren von dem stolzen Glauben erfüllt, daß in ihren Adern keinerlei Bei mischung von barbarischem oder nicht athenischem Blute flließe. Wenn Thukydides, Euripides oder Isokrates von den Athenern besonders ruhm voll sprechen wollten, so nannten sie sie autochthon. Man sagte von ihnen, daß sie nicht nach Attika eingewandert seien, daß dieses Land niemals er obert und von anderen Menschen als von Athenern bewohnt gewesen sei; der Sage nach sollen die Athener dem dortigen Boden entsprungen sein. In der Gedenkrede auf die Gefallenen läßt Thukydides Perikies sagen: »Denn sie haben das Land ununterbrochen bewohnt und es in der Aufeinander folge der Geschlechter uns bis auf den heutigen Tag durch ihre Tüchtigkeit als freies Erbe hinterlassen.« In seiner >Verfassung von Athen< XLII, stellte Aristoteles fest, daß politische Rechte nur demjenigen zustehen, des sen beide Eltern Bürger waren. Ein altes Gesetz hatte das Bürgerrecht auf solche beschränkt, die sowohl von des Vaters als auch von der Mutter Seite aus Attika stammten. Ehen waren nur gültig, wenn sie zwischen Söhnen und Töchtern von Bürgern geschlossen wurden. Während der Perserkriege war man von diesem Grundsatz abgewichen. Unter Perikies (451 vor Chri stus) wurde es wieder eingeführt, um den »familienartigen Charakter« des Stadtstaates zu bewahren. Das Bürgerrecht aller Bürger wurde untersucht, und laut einem Bericht wurden von 14 000 Bürgern, die in einem Notjahr um eine Kornzuteilung gebeten hatten, nicht weniger als 4750 aus den Bürgerlisten gestrichen. Der Verachtung, die die Athener für die Barbaren empfanden, war ihr Haß gegenüber den Spartanern zumindest gleich. Der Chor in den >Acharnern< des Aristophanes drückte die allgemein herrschende Meinung aus, wenn er gegen Dikaiopolis ausrief:
Nein, und aber nein! Ich höre nicht auf langes Wortgeplänkel! Der du mit Sparta Frieden schlossest, Rache will ich an dir, du Schlingel. Was! Du sprichst noch von gescheit und machst mit denen Frieden gar, Denen weder Treu noch Glaube, weder Eid gilt noch Altar? Dik.: Glaub' mir, diese Spartaner, denen wir zu sehr sind Groll und Gift, Haben auch nicht Schuld zuletzt an allem Unglück, das uns trifft! Chorführer: Nicht an allem? Erzhalunke du! Und mir ins Gesicht hinein Wagst du, wagst du das zu sagen! Was noch schon' ich länger dein? 57
r Genau so rachgierig und pathetisch war Andromaches Ausruf gegen die Spartaner:
Weh euch, ihr aller Sterblichen verhaßteste Bewohner Lakedämons, falschen Rates voll, Der Lügen Meister, Mißgeschick ersinnende, Geschmeidige, unwahrhafte, doppelzüngige Unholde! Fälschlich ehret euch das Griechenvolk: Denn wessen seid ihr rein? Befleckt nicht Mord auf Mord, Nicht schändlicher Gewinn euch? Sprach nicht anders stets Die Zung, und anders dachte das Verräterherz? Verderbet!
Im gleichen Drama spricht Peleus den Spartanern wenigstens soldatische Tapferkeit zu:
Traun! mangelte Euch Bürgern Lakedämons auch Kriegesruhm, W ärt ihr besser nicht denn Andere.
Aber Thukydides zweifelte sogar ihren Kampfeseifer an, wenn er die Athe ner sagen läßt »und Gefahren fordern die Lakedämonier allgemein so wenig als möglich heraus«. Der erste Protest gegen die griechische, engsichtige rassische Voreingenom menheit gegenüber den Barbaren wurde im fünften Jahrhundert vor Chri stus laut. Die Sophisten verkündeten, daß alle Menschen von Natur aus gleichberechtigt seien. Nach ihrer Ansicht waren Gewalt und Gewohnheit für die Einteilung der Menschen in Freie und Sklaven verantwortlich. Nie mand war von Natur aus ein Sklave, alle Menschen waren gleichberechtigt, nur die individuelle Tüchtigkeit sollte über den Stand des Menschen ent scheiden. Plato und Aristoteles wandten sich schärfstens gegen dieses in Griechenland aufkommende humanitäre Gefühl. Platos Politeia lehrte den absoluten Vorrang des Staates gegenüber dem Individuum und die scharfe Unterteilung der Bevölkerung in Stände, die sich nur in der gemeinsamen Hingabe an das Wohl des Staates vereinigen. Diesen Staat, der die Ideali sierung eines geschlossenen und autoritären Staates war, könnte man, trotz seiner ethischen und rationalen Begründung, eine Militärdespotie nennen. Aristoteles widerspricht direkt den Sophisten in dem angeführten Satz, in dem er sagt, daß Griechen und Barbaren von Natur aus verschieden seien und daß die Sklaverei eine von der Natur geschaffene unabänderliche und wohltätige Einrichtung sei. Bis zum vierten Jahrhundert vor Christus blie ben die griechischen politischen Ideen der führenden Philosophen als auch die der breiten Öffentlichkeit, weit entfernt von humanitären Idealen.
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Kompromißloser als je zuvor haben Plato und Aristoteles den alten griechischen Stadtstaat-Patriotismus und den hellenischen Rassennationa lismus zusammengefaßt. Noch einmal leuchtete das Ideal hellenischen poli tischen Lebens in einer strahlenden Flamme sieghaften Glanzes auf. Aber es war ein letztes Aufleuchten. Wie so oft in der Geschichte hielten die letzten und größten Repräsentanten eines aussterbenden Ideals umso in brünstiger an diesem fest in dem Bewußtsein, daß es durch die veränderte Wirklichkeit bereits untergraben sei. Seit den Perserkriegen hatte sich der geistige Horizont der Griechen durch die Ausdehnung des Handels, durch zunehmende Reiseerleichterungen und durch den engeren Kontakt mit den barbarischen Völkern geweitet. Die durch die Sophisten verbreitete A uf klärung hatte die Emanzipation des Individuums aus Familien- und Stam mestraditionen sowie die Lockerung der Bande der Stadtgemeinschaft in die Wege geleitet. Sie hatte den Boden für eine Gemeinschaft bereitet, die durch geistige anstatt durch stammesmäßige und lokale Bande geeint wurde. Plato und Aristoteles stimmten den Schwanengesang der Polis und der Exklusivität in dem Augenblick an, in dem sich die Polis ihrem Ende nä herte. Aristoteles war der Lehrer Alexanders gewesen, der in seiner kur zen, außergewöhnlichen Laufbahn die Unabhängigkeit der hellenischen Stadtstaaten, die rassische Exklusivität der Hellenen sowie die willkürliche Distanziertheit der hellenischen Kultur zerstört hat.
10 Im Frühjahr 334 vor Christus setzte Alexander der Große nach Kleinasien über. Er zog aus, erfüllt von der traditionellen griechischen Kultur. A n der Stätte Trojas ergriff er den Schild des Achilleus und opferte der Athene von Ilion. Als er elf Jahre danach starb, hinterließ er eine veränderte Welt, in der die überlieferte griechische Kultur eine gänzlich neue Stellung einnahm. Das griechische politische Ideengut schien unlösbar dem Stadtstaat verhaf tet. Unbegrenzte Ausdehnung schien in Widerspruch zu den griechischen Ideen der Form und der Begrenzung zu stehen. Alexanders Traum von einem Weltreich war seinem Ursprung nach ungriechisch. Doch ebnete es die Wege für eine Überwindung der scharfen Trennung zwischen Griechen und Barbaren in einem ökumenischen Universalismus. Schon Isokrates hatte Philipp nicht nur zu einer Vereinigung aller Grie chen, sondern auch zur Ausbreitung der griechischen Kultur durch Erobe rung der barbarischen Länder gedrängt. »Ich sage nämlich, du müssest der
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Wohltäter der Griechen, der König der Makedonier und der Gebieter so vieler Barbaren als möglich sein. Denn wenn du dieses tust, so werden wir alle Dank wissen, die Griechen für das, was ihnen Gutes widerfährt, die Makedonier, wenn du wie ein König und nicht wie ein Gewaltherrscher sie regierst, und die übrigen, die zum Stamme der Barbaren gehören, wenn sie durch dich von der unumschränkten Herrschaft der Barbaren befreit die sorgsame Leitung der Griechen erfahren.« Als Alexander zwölf Jahre spä ter nach Kleinasien zog, tat er das als Erfüller der panhellenischen Idee, als ein sagenhafter Nachkomme des Achilleus. Doch bald wuchs er über die panhellenische Mission hinaus. Der Überlieferung nach wurde er von der Idee der Weltherrschaft ergriffen, als er den gordischen Knoten durchschlug, und einige Jahre später, in Ekbatana, gehörte der panhellenische Feldzug bereits der Vergangenheit an. Die Eroberung der Welt hätte ebenfalls nur eine vorübergehende Bedeutung gehabt, wäre Alexander der Große nicht von einer neuen Menschheitsidee erfüllt gewesen, die nicht nur die panhel lenische Grundlage seines Feldzuges, sondern auch die gesamte überlieferte griechische Auffassung vom Nationalismus überholt hätte. Ein neuer Sinn der Worte >Hellene< und >Barbare< schien aus dem Passus des Panegyrikus zu klingen, in dem Isokrates zum Ruhme der Athener sagt: »Soweit aber hat unsere Stadt in Rücksicht auf das Denken und Re den und die Beredsamkeit alle anderen Menschen hinter sich zurückgelas sen, daß ihre Schüler der Anderen Lehrer geworden sind, und daß sie be wirkt hat, daß der Name der Griechen nicht mehr die Bezeichnung des Stammes, sondern des Geistes zu sein scheint, und mehr diejenigen Grie chen genannt werden, welche unsere Bildung, als die, welche unsere ge meinschaftliche Abstammung mit uns teilen.« Viele haben in diesem Satz eine Befürwortung der Zulassung der Barbaren in eine neue kulturelle Ge meinschaft, die nicht mehr auf blutsmäßigen Banden beruht, gesehen. Julius Jüthner hat richtig darauf hingewiesen, daß eine solche Auslegung in W i derspruch zu der an anderen Stellen ausgesprochenen Ansicht des Isokrates stehe. Er wollte nicht, daß alle Barbaren, welche die griechische Kultur an genommen hatten, als den Hellenen gleichstehend anerkannt würden: er brachte zum ersten Male vor, daß der Besitz griechischer oder, besser ge sagt, attischer Kultur die unerläßliche Voraussetzung dafür sei, daß jemand sich als Grieche bezeichne. Ein ungebildeter Grieche war wie ein Barbar. Das Band des Blutes war nicht aufgehoben. Aber das kulturelle Element war als dem rassischen mindestens gleichwertig betont. Für Isokrates war dieses gleichbedeutend mit der Forderung, daß ganz Hellas die kulturelle Hegemonie Athens anerkennen solle. Die neue Betonung der kulturellen
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Grundlage des griechischen Nationalismus eröffnete jedenfalls nicht nur die Möglichkeit, den ungebildeten Griechen als Barbaren einzuschätzen, sondern auch den gebildeten Barbaren als Griechen anzusprechen, besonders, wenn er die attische Kultur in ihrer ganzen Fülle angenommen und assimiliert batte. Dieser Schluß lag weit außerhalb Isokrates' eigener Möglichkeiten; man gelangte zu ihm erst, nachdem Alexander den Osten erobert hatte. Der Überlieferung nach hat sich Alexander, seines Lehrers Aristoteles nichtachtend, in Asien zu einem neuen imperialen Ziele entschlossen: die Menschen der Erde unter einer neuen Friedensordnung zu vereinigen, die nicht auf den Banden des Blutes, sondern auf einer geistig-kulturellen Ge meinschaft beruhen sollte. Wie Plutarch in De fortuna Alexandri berichtet, hat Alexander den Boden für die neue universalistische Philosophie der Stoa bereitet: »Und in der Tat läßt sich die vielbewunderte Verfassung des Gründers der stoischen Schule, Zenon, in diesem einen Satz zusammen fassen, daß wir nicht mehr nach Städten und Völkern getrennt wohnen sollen, geschieden von einander durch die verschiedenen Rechte, vielmehr sollen w ir alle Menschen als unsere Mitbürger und Landsleute ansehen, und überall soll dieselbe Lebensart und Ordnung herrschen, wie unter den Scha fen einer Herde, die gemeinsam an einer Stelle weiden. Als Zenon diesen Standpunkt in seinen Schriften niederlegte, hatte er sie sich nur als Traum oder Abbild einer nach philosophischen Gründen wohlgeordneten, auf die Gesetze gebauten Verfassung vorgestellt. Alexander aber hat das Wort in die Tat umgesetzt. Er kümmerte sich nicht um Aristoteles' Rat, über die Griechen als Heerführer, f)Y£[iovixajg, über die Barbaren als unumschränkter Gebieter, S e a ito T ixco ;, zu herrschen und die einen wie vertraute Freunde, die anderen wie Tiere und Pflanzen zu behandeln; denn dadurch hätte er sein Reich ohne Zweifel mit inneren Kämpfen, mit Landesverweisungen und heimlichen Verschwörungen erfüllt. Er trug vielmehr das Bewußtsein in sich, von den Göttern gekommen zu sein als Ordner und Friedensstifter für die Welt. Führte er sie nicht durch sein Wort zur Einheit, so zwang er Hie zusammen und versuchte, die Völker aus aller Welt in einem einzigen Staate zu vereinigen, als wenn er gleichsam in einem Becher der Freundnchaft alle Lebensarten und Sitten, alle Hochzeitsbräuche und Gewohnheiten untereinander mischte. Nach seinem Befehl sollten alle die Erde als ihr Va terland, sein Lager als ihre Burg und ihre Residenz, die Guten und Anstän digen als ihre Verwandten, aber die Schurken als Fremdstämmige ansehen. I r verbot, Griechen und Barbarenvölker nach Kriegsmantel und Lederschild, nach Dolch und Obergewand zu unterscheiden, denn an der Tugend er kenne man die Griechen, die Barbaren an ihrer Verworfenheit; Kleidung, 61
Kost, Ehe und Gebräuche aber sollten sich nicht unterscheiden, weil alles dies durch das Blut und die Kinder vermischt sei.« A ls Ergebnis von Alexan ders Verhalten hatte die universalistische Philosophie der Stoiker ein prak tisches Beispiel vor sich, und die Verbreitung einer allgemein gültigen Kul tur in der damals bekannten Welt wurde hierdurch ermöglicht. Der kulturelle Austausch mit den philosophischen und religiösen Lehren Ägyptens und des Orients führte zu einer Neubewertung der Barbaren, vergleichbar der Entdeckung der »Weisen Chinas< im achtzehnten Jahrhun dert. Die Kultur der Griechen wurde bei ihrer Ausbreitung über den ganzen Orient hin nicht mehr als die Eigentümlichkeit einer Rasse, sondern als ein universales Gut erachtet. Jeder, der die griechische Kultur in sich aufgenommen hatte, wurde nunmehr als >Grieche< betrachtet. A uf solchem Boden konnte die stoische Philosophie sich entfalten und lehren, daß alle gebilde ten und würdigen Menschen Glieder einer weltumspannenden Gemeinschaft seien. Griechisch wurde überall zur Sprache der Gebildeten, so daß Cicero sagen konnte: »Graeca leguntur in omnibus fere gentibus.« Die griechische Kultur wurde als vernunftgemäß und menschenwürdig erachtet, als eine Kultur, die dem menschlichen Geiste entsprach, unbeschadet der Herkunft und der Traditionen des Einzelnen. Der Schwerpunkt hatte sich vom Ras senbewußtsein auf das Kulturbewußtsein verlagert, ähnlich dem Verlauf, den die Entwicklung der Dinge bei den Juden, wenn auch auf verschiedenem Wege, genommen hatte. Wie bei den Juden blieb auch hier der ethnische ; Charakter der Gruppe gewahrt; doch griechischer und hebräischer Geist wurden in erster Linie in ihrer universalistischen Form für die Weltge schichte bedeutsam. A uf ihnen begründete sich die abendländische Kultur: Sie lebten im römischen Imperium, im Christentum und im Islam fort. Alle großen Wendepunkte in der Geschichte der abendländischen Menschheit be gannen mit und äußerten sich in einer Neudeutung des hellenischen und jüdischen Erbes. Die beiden ethnischen Gruppen — rassisch sich mit vielen fremden Gruppen vermischend — fuhren fort zu bestehen, und sie erlebten im Zeitalter des Nationalismus eine Wandlung ihres eigenen Nationalbe wußtseins. Für die Entwicklung der Menschheit wurden sie aber von grund legender Bedeutung, weil sie ihren alten engen Nationalismus in ihrer uni- j versalistischen Botschaft, deren Sinn nicht mehr Jude oder Heide, Grieche oder Barbar, sondern Mensch und Menschheit war, überwunden hatten.
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j . K apitel
Rom und das Mittelalter Die universale Überlieferung
1 Als das römische Imperium das Erbe von Alexanders Weltherrschaftsidee antrat, wurde die hellenische Kultur die Grundlage der neuen politischen Einheit. Der Genius Griechenlands vereinte sich mit dem Genius Latiums, und ihre Synthese bereitete den Weg für ihre Ausbreitung und letztlich für ihre Verschmelzung mit dem Genius Israels in seiner universalistischen Form. Jedoch überlebte die griechisch-latinische Einheit nicht das frühe Mit telalter; beide blieben christlich, aber ihre Entwicklung verlief auf gänzlich verschiedenen Wegen. Im Westen führte Roma Aeterna, in einer neuen Latinität unter der Herrschaft der Päpste, die Überlieferung des imperialen Roms fort; im Osten fand Konstantinopel, das neue Rom der Kaiser und in vieler Hinsicht die Erbin der römischen Staats- und Rechtsauffassung, seine Grundlage im hellenischen Erbe. Trotz ihrer ungeheuren kulturellen Inten sität verfügten die Griechen doch niemals über die gleichen politischen Ge staltungskräfte wie die Römer. Sie waren nicht in der Lage, den Völkern, die sie mit ihrer Kultur durchdrangen, auch ihre Sprache aufzuzwingen, während die Römer die Völkerschaften Galliens, der iberischen Halbinsel und Nordafrikas assimilierten; ein Vorgang, der nur noch den überraschend schnellen Eroberungen durch die Araber im siebenten Jahrhundert ver gleichbar ist, die den aufnahmewilligen Völkern Syriens, Ägyptens und Nordafrikas ihren Glauben und ihre Sprache vermittelten. Der Stadtstaat Rom, der im dritten vorchristlichen Jahrhundert seine Vorherrschaft über ganz Italien errichtet hatte, begann, sich im zweiten Jahrhundert vor Christus zu einer Weltmacht auszuweiten. Im Jahre 146 zerstörte Scipio Aemilianus Africanus Minor Karthago, und Afrika wurde zur römischen Provinz; im gleichen Jahre fielen Korinth und ganz Griechen land an Rom. Griechenland wurde zu einem Schutzgebiet der Provinz Ma kedonien gemacht, welche im Jahre 148, zwanzig Jahre nachdem das make 63
donische Königreich durch den Sieg bei Pydna gestürzt worden war, ge gründet wurde. Der siegreiche Feldherr dieser Schlacht war der Vater des Scipio Africanus Minor, der selber als junger Mann an ihr teilgenommen hatte. Durch diesen Sieg wurde Rom Erbin der griechischen und semitischen Macht im Mittelmeer. Im folgenden Jahrhundert, in dessen zweiter Hälfte Caesar Ägypten eroberte und die römischen Provinzen Korinth und Kar- ; thago gründete, wurde das römische Leben von der Kultur der griechischen und semitischen Welt durchdrungen und umgestaltet. Während Rom Grie chenland und den semitischen, hellenisierten Osten politisch überwältigte, wurde es selber durch die späte universalistische Gestalt dieser beiden älte ren Zivilisationen kulturell erobert. Es war gerade zu jener Zeit und im Kreis um Scipio Africanus Minor, als zum ersten Mal griechische Philosophie und Wissenschaft von der ge bildeten Jugend Roms begeistert aufgenommen wurde. Durch Männer wie Panaetius und Polybius gelangte die griechische Gelehrsamkeit in ihrer stoi schen Form nach Rom. Die Stoiker waren von Anbeginn an kosmopolitisch eingestellt. »Die politische Theorie der frühen Stoa stimmte mit Aristoteles in der Überzeugung überein, daß der Mensch ein zoon politicon sei und daß seine Tätigkeit auf das Wohl der gesellschaftlichen Gruppe, zu der er gehört, ausgerichtet werden muß. Aber die Stoa verließ vollständig den Stadtstaat und wandte sich einem Weltstaat zu, in dem alle Menschen Mit bürger waren. >Wir leben nicht in abgesonderten Städten oder Gebieten, J jede Gruppe für sich innerhalb der Schranken ihrer eigenen Gesetze; wir glauben hingegen, daß alle Menschen Landsleute und Mitbürger sind, und daß das Leben Eines ist und das Universum Eines< (von Arnim, Stoicorum veterum frag. I. no. 262). Dem Zenon erschien Platos reformierte Polis dach haft*.« Cicero berichtet uns, daß in jener Zeit das griechische Bildungssy stem, und das heißt das stoische, zu einem äußerst wirksamen Element für die Geistesbildung der römischen Jugend der gehobenen Stände wurde. I »Denn es war tatsächlich nicht nur ein schmaler Fluß, sondern ein breiter Strom von Kultur und Gelehrsamkeit, der sich da aus Griechenland in unsere Stadt ergoß.« Cicero hat das, was durch die griechischen Stoiker nach Rom gebracht | worden ist, mit humanitas bezeichnet. "Die Römer nahmen griechische Gelehrsamkeit und die griechische Sprache auf, und sie entwickelten hierdurch eine Wesensart, die typisch römisch und zugleich universal war. Sie formten das Griechische ein in die plastische Gestaltungsfähigkeit der latei- j nischen Sprache, die durch den schöpferischen Genius Catulls, Ciceros und Lucretius zu Caesars Zeit und durch Horaz, Ovid und Virgil in der augu-*
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steischen Ära entwickelt wurde. Das Wort humanitas selbst war in seiner neuen Bedeutung ein eigenes, römisches Wort, dem in der griechischen Sprache kein entsprechendes zur Seite stand. In Rom erlangte es die Bedeu tung des griechischen paideia, Kultur im Sinne des Isokrates, Bildung, die wohlwollende Haltung, das gepflegte Gefühl für das Schöne, welches den Griechen vom Barbaren unterschied. Diese Bedeutung wurde mit der des griechischen Wortes philanthropeia, der Menschenliebe, vereint, so daß humanitas schließlich die Bedeutung einer Verbindung von Menschlichkeit lind Menschenfreundlichkeit erlangte, das ist das, was den Menschen erst zum Menschen macht, »quidditas qua homo est quod est«. Unter stoischen Einflüssen wurde es gleichzeitig zu einer Norm für das Individuum, daß es zu einem wirklichen Menschen sich entwickeln möge, das in ihm liegende Humane pflege, und zu einer universalistischen Norm, das heißt die Be wußtheit der menschlichen Qualität, die allen Menschen gemein ist, der Gleichheit der Menschheit. Dieser neue Sinn von humanitas fand sichtbaren Ausdruck in jenem römischen Imperium, welches Caesar in Erneuerung der alexandrinischen Idee errichtet hat. Caesars Zug nach dem Westen entsprach Alexanders Zug nach dem Osten. In Ägypten, Alexanders westlichster und Caesars östlich ster Triumphstätte, trafen sich ihre Eroberungsbahnen. Weder Caesar noch Alexander machten Unterschiede zwischen Rassen; Gehorsam hatte gerechte und gleiche Behandlung zur Folge. Das Jahrhundert Caesars, erfüllt von den Schrecken des Bürgerkrieges, war für alle Länder des Mittelmeerkreises, die rücksichtslos und brutal durch Rom ausgebeutet wurden, eine Zeit des Leidens und des Chaos. Rom selbst und seine Kultur schienen zum Untergang verurteilt zu sein. Der Wunsch, sich aus der Welt zurückzuziehen, die Erwartung einer bevor stehenden Katastrophe und die Hoffnung auf das Wunder der messianiechen Erlösung fanden im gesamten Bereich des Mittelmeeres weiteste Ver breitung. In seiner sechzehnten Epode klagte Horaz über das eherne Zeit alter, welches nun angebrochen sei und in dessen Verlauf die Stätte Roms wieder in Öde und Verlassenheit zurückfallen müsse. Er forderte die Men schen auf, Heim und Herd zu verlassen, um nach den Seligen Inseln jen seits des Ozeans zu fliehen und nicht zurückzukehren, ehe alle Ordnung geändert sei. Virgil antwortete ihm in seiner berühmten vierten Ekloge, in der er dem Bilde der Verwüstung die Hoffnung auf ein neues, herrliches Zeitalter gegenüberstellt, in dem der Herrscher über eine Welt, der die Tu genden seines Vaters den Frieden gebracht haben, regieren wird. »Sehet, wie alle Dinge frohlocken in dem Zeitalter, das uns nahe bevorsteht!« 65
Im Januar des Jahres 29 vor Christus wurde der Janustempel in Rom zum ersten Male seit zweihundert Jahren geschlossen. Gaius Octavianus, dem zwei Jahre später der Senat den Titel Augustus verlieh, hatte den Frie den wieder hergestellt. Eine neue Zeit der Ruhe und der Ordnung war für das Mittelmeer angebrochen. Kein Wunder, daß Augustus in den östlichen Ländern des Mittelmeers als der Erretter der Menschheit begrüßt wurde — wie es eine Inschrift zu Halikarnassos ausdrückt: σωτήρ του κοινού των άν&ρώπων γένους. In jenen Tagen begann Diodorus von Sizilien mit der Abfassung der ersten Weltgeschichte, die »Geschehnisse der ganzen Welt bis auf seine Tage« zu beschreiben. »Unter der Vorherrschaft Roms schien die stoische Idee einer cosmopolis auf dem Wege zur Verwirklichung zu sein. Die gesamte Menschheit schien eine allgemeine und gemeinsame< Zivilisa tion zu werden, eine >allgemeine< Gesellschaft, und Diodorus konnte von einem gemeinsamen Leben< sprechen in dem Sinne, daß nunmehr die ge samte Welt des Mittelmeers an den gleichen Dingen interessiert war und das, was einem Volke zum Guten gereichte, ein gemeinsamer Vorteil für alle war. Die enge Begrenztheit des Stadtstaat-Begriffes, wonach man in jeder anderen Stadt außer seiner Geburtsstadt ein Fremder war, war für immer überwunden.« Der Universalismus, die Idee der Einheit der Menschheit, war der domi nante Ton des ersten Jahrhunderts des römischen Imperiums. Mit Cicero wuchs das Bewußtsein einer societas generis humani und führte zur Ent wicklung eines Rechtes, welches für alle Menschen innerhalb dieser Gemein schaft, die mit einer unendlich großen Stadt verglichen wurde, gleiche Gel tung hatte. Dieses Recht gründete auf der Vernunft, die nicht nur von Natur aus allen Menschen gemeinsam war, sondern auch eine Gemeinschaft zwi schen Gott und den Menschen herstellte. »Ut iam universus hic mundus sit una civitas communis deorum atque hominum existimanda.« Die Menschen sollten sich das Universum als ein Gemeinwesen vorstellen, an dem Menschen wie Götter teilhaben. Aus dieser Voraussetzung folgte die Gleichheit aller Menschen. »Wir alle entstammen der gleichen Quelle, sind gleichen Ur sprungs, kein Mensch ist vornehmer als der andere, mit der Einschränkung, | daß ein Mensch von Natur aus aufrechter und zu guten Taten fähiger veran lagtsein kann als der andere.« »Wir haben alle die gleiche Zahl von Vorfah ren gehabt; es gibt keinen Menschen, dessen erster Ursprung nicht jenseits der Erinnerung liege. Der Flug der Zeit und seine Wechselfälle haben alle diese Dinge bunt vermengt, und Fortuna hat die Lose geschüttelt.« Das römische Imperium hat unter Augustus den Menschen den Frieden gebracht. Der Imperator wurde zum Symbol der neuen Weltzivilisation, die, nach dem Zeugnis ihrer Philosophen, auf Frieden und Gerechtigkeit
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beruhte. Die Römer waren stolz auf Roms Mission. Plinius nannte Rom »durch die Vorsehung der Götter ausersehen, selbst den Himmel glänzender erstrahlen zu lassen, die weit verstreuten Reiche der Erde zu vereinigen, die Sitten der Menschen zu verfeinern, die mißtönenden und rauhen Dialekte der verschiedenen Völker zu vereinen, die Menschen mit den Freuden der Rede und der Kultur zu beschenken, kurzum, die Mutter aller Erdenvölker zu werden.« Beredter noch als Virgils berühmte Verse über die >Künste< der Römer war der kurze und klare Ausspruch, den Tacitus mehr als hundert Jahre später tat: »Nam pulsis, quod dei prohibeant, Romanis quid aliud quam bella omnium inter se gentium existent?« Wenn die Römer vertrie ben würden, so fragte er, was könnte dann anderes folgen als das Chaos und allgemeiner Krieg? Das römische Imperium hatte den orbis terrarum in eine einzige Stadt verwandelt mit einer gemeinsamen Geschichte, an der alle teilnahmen, mit einer gemeinsamen Kultur, an der alle teilhatten und zu der alle beitrugen, mit einem gemeinsamen Recht, in dem sich römische, griechische und orien talische Einflüsse vereinigten. Die großen Juristen des zweiten und dritten Jahrhunderts, Papinian, Ulpian, Paulus, waren von der stoischen Philosophie tief durchdrungen. In ihren Urteilen und Erörterungen paßten sie das alte barbarische und parochiale römische Recht den veränderten Ansprüchen eines Weltgemeinwesens an. Sie kannten dessen Bedürfnisse und Eigen gesetze auf Grund ihrer eigenen Herkunft aus abgelegenen Gebieten des Mittelmeerraumes. Gleichzeitig wurde das römische Recht humanisiert und mit einem universalen Charakter begabt. Die Sklaverei wurde nicht mehr, wie bei Aristoteles, als eine natürliche, sondern als eine unnatürliche Einrichtung angesehen. »Servitus est constitutio iuris gentium qua quis dominio alieno contra naturam subicitur.« Die großen Rechtsgelehrten entwickelten ein Naturrecht, das auf Vernunft und Gleichberechtigung be ruhte. Es war von größter Bedeutung, daß in den Tagen des römischen Zer falls unter Kaiser J ustinian die Kodifizierung des römischen Rechts zurück griff »auf die ältere Theorie, wonach die Gewalt des Herrschers vom Volke ausgeht, alle freien Menschen gleich sind vor dem Gesetz und das Recht die Wissenschaft von der Gerechtigkeit ist. Damit wurde es zu einem der stärk sten Faktoren der Entwicklung des modernen Liberalismus.« Das Vernunft recht hatte die Stammesbräuche ersetzt. So wurden die römischen Kaiser, die in ihren besten Vertretern nach Frie den und Gerechtigkeit strebten, die >Väter der Menschheit^ Die Herkunft der Kaiser und Senatoren war nun nicht mehr auf Rom oder Italien beschränkt; sie stammten aus allen Teilen des Imperiums. Der schrittweise sich vollzie 67
hende Prozeß der Ausbreitung der römischen Bürgerrechte kam mit der Constitutio Antoniniana des Kaisers Caracalla im Jahre 2 12 , die das Bürgerrecht allen freien Einwohnern des Imperiums zuerkannte, und als Diocletian am Ende des Jahrhunderts die Vorrechte Italiens aufhob und die Gleichberechtigung sämtlicher Teile des Imperiums herstellte, zum Ab schluß. Dio Cassius, der seine Geschichte Roms in den Tagen Caracallas schrieb, berichtet, daß Maecenas dem Augustus geraten habe, sämtlichen unterworfenen Völkern die Bürgerrechte zu verleihen, so daß sie, die volle Gleichberechtigung genießend, zu treuen Verbündeten würden; so würden sie, mit den Römern zusammen sozusagen im gleichen Stadtstaate lebend, ihren eigenen Stadtstaat im Range nicht über ihre Felder oder Dörfer hinausstellen. Ein gemeinsames Vaterland, ein gemeinsames Loyalitätsgefühl sollte die Menschheit vereinen. Die Ideen der Stoiker schienen sich zu verwirklichen. .'i 'i
2 Die Ursache für den Zerfall und den Untergang des römischen Imperiums liegt in der unvollkommenen Verwirklichung der Ideen der Stoa. Zweifach entsprach das Imperium nicht dem Ideal eines Weltstaates auf der Grundläge der Gleichberechtigung. War es einerseits nicht groß genug, so war es in anderer Hinsicht wiederum zu groß. Weder umfaßte und zivilisierte es die Barbaren an seinen Grenzen, wodurch es ständig unter ihren Einfällen zu leiden hatte, noch war es dazu in der Lage, die Massen innerhalb des römischen Imperiums wirklich zu zivilisieren und zu einer Einheit zusammenzufassen. Ein Weg, der es ermöglicht hätte, jene als freie Bürger an der Regierung ihres Imperiums teilhaben zu lassen war nicht gefunden worden. Die Bürgerrechte und die Gleichberechtigung waren ihnen zu einem Zeitpunkt zugestanden worden, in dem diese wegen der zunehmenden Allein herrschaft der Kaiser und der Aufteilung der Bürger in honestiores und humiliores keine große Bedeutung mehr hatten. Die geistige Blüte Roms unter Cicero und Seneca hätte durch die Verkündung der humanitas den rechten Weg weisen können; aber die Organisationskräfte der Antike und der Stand der technischen Entwicklung waren nicht ausreichend, um diese Ideale zu verwirklichen. Die Kultur des römischen Reiches, die den Anspruch erhob, den orbis terrarum zu umfassen, konnte nicht mehr als nur einen Teil hiervon durch dringen. Die Demokratie, in kleinen Stadtstaaten entstanden, konnte nicht der Weite des Imperiums angepaßt werden. Erst in unseren Tagen hat der 68
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technische Fortschritt die sachlichen Voraussetzungen für eine Vereinigung der Menschheit geschaffen, die keine Barbaren an ihren Grenzen oder außerhalb ihres Bereiches beläßt. Erst nach den Erfahrungen und Experi menten mit Demokratie und Föderationen, die im achtzehnten Jahrhun dert begonnen haben, konnte die Menschheit erhoffen, ein durch neue Er findungen engmaschig verwobenes, weltumspannendes Regierungssystem zu errichten, welches die tätige Teilnahme und Gleichberechtigung aller in friedlichem Zusammenleben sicherstellen würde, eben jenes Ideal der pax et iustitia zu verwirklichen, welches das römische Imperium in der kurzen Zeit seiner Blüte in nur so unvollkommener Weise darstellen konnte. Nichtsdestoweniger blieb das römische Imperium, dank seiner universa len Botschaft, eine große Verheißung. Tacitus' prophetische Worte, daß das Chaos eintreten würde, wenn die Römer, was die Götter verhindern mögen, einst verschwinden sollten, wurden Wirklichkeit. Selbst zu Beginn des fünften Jahrhunderts, als der Verfall des Imperiums in vollem Gange war, sang ein römischer Dichter aus dem südlichen Gallien, Claudius Rutilius Namatianus, das Lob des sterbenden Imperiums in unvergeßlichen Versen. Nach all den Bürgerkriegen, nach der Eroberung Roms durch Alarich und durch die Goten, behielt der Dichter seinen Glauben an die Wie dererstehung Roms und jener heidnischen griechisch-römischen Kultur, ge gen die die christlichen Kaiser von Konstantinopel aus Edikt auf Edikt er ließen.
Exaudi, regina tui pulcherrima mundi, Inter sidereos Roma recepta polos! Exaudi, genitrix hominum genitrixque deorum, Non procul a caelo per tua templa sumus. Te canimus, semperque, sinent dum fata, canemus; Sospes nemo potest immemor esse tu i. . . Fecisti patriam diversis gentibus unam; Profuit iniustis te dominante capi. Dumque offers victis proprii consortia iuris, Urbem fecisti quod prius orbis e ra t. . . Tu quoque, legiferis mundum complexa triumphis, Foedere communi vivere cuncta facis . .. Omnia perpetuos quae servant sidera motus Nullum viderunt pulchrius imperium.
Das ganze >finstere Mittelalter< hindurch blieb die Erinnerung an die kurze Blüte des römischen Imperiums, an seine Herrschaft des Friedens und der Ge rechtigkeit, das Licht und die Hoffnung der Menschen, bis dann an der Schwelle zu einer neuen Epoche Dante in einer Schau auf Vergangenheit 69
und Zukunft noch einmal das Preislied des Imperiums sang (II Convivio, IV 5, 3 ): »Ne 1' mondo non fu m ai ne sarä si perfettamente disposto, come allora che alla voce d'un solo principe del roman popolo e comelandatore fu
ordinato, siccome testimonia Luca Evangelista. E perö pace universale era per tutto, che mai piü non fu n& fia: ehe la nave della umana compagnia dirittamente per dolce cammino a debito porto correa.« Nie war die Welt so wohl geordnet, niemals fuhr das Schiff der Menschheit so ruhig und sicher seinem Hafen entgegen als zu der Zeit, da unter Augustus' Herr schaft Christus geboren ward.
3 Der Universalismus des Imperiums, der in der hellenistischen Kultur wur zelte, der frei war von der Exklusivität des griechischen Staates, bereitete den Boden für den Universalismus des Christentums, das seinerseits in der jüdischen Religion wurzelte, ohne jedoch mit ihrer Exklusivität behaftet zu sein. Die Christen hielten sich selbst für die Fortsetzung Israels, des aus erwählten Volkes, als die wahre Erfüllung der Geschichte Israels und gleich zeitig für ein neues Volk, einen neuen Stamm. Sie wandten auf sich selbst die Worte >Volk<, >Nation< und >Stamm< an, doch lag in diesen Begriffen keinerlei nationalistische Bedeutung mehr. In seinem ersten Briefe spricht Petrus (2, 9) die Christen an als »das auserwählte Geschlecht, das könig liche Priestertum, das heilige Volk, das Volk des Eigentums«. Eusebius hat erklärt, daß, »als vor nicht langer Zeit unser Erlöser, Jesus Christus, er schienen war und seinen Glanz über alle Menschen ergoß, da ist fürwahr ein neues Volk in solcher Zahl erstanden, in Übereinstimmung mit den heiligen Prophezeiungen des Tages, und es wird von allen durch den Na men Christi geehrt, aber es ist weder gering noch schwach, noch in irgend einem abgelegenen Winkel der Erde entstanden, sondern es ist das an Men schen reichste aller Völker und das frömmste vor Gott, gleich unschuldig und unbesiegbar, da es auf die immerwährende Hilfe Gottes bauen kann«. So war das christliche Volk von dem von den Juden ererbten Vertrauen auf Gottes Hilfe beseelt. Doch, da es zu der an Menschen reichsten allei Nationen wurde, gab es sich nicht damit zufrieden, ein Volk unter anderen, eine Religion unter den zahlreichen anderen Kulten im Imperium zu sein, Es war sich eines universalistischen Auftrages bewußt: der messianischen Botschaft des Judentums, die durch das Leben und den Tod Christi bezeugt und bekräftigt war, die sich bei Seiner Wiederkehr allen, die rechten Glau70
bens sind, erfüllen wird. Deshalb war es bestrebt, den orbis terrarum zu erfüllen, das römische Imperium zu durchdringen und schließlich an dessen Stelle zu treten. Lukas begann seine Geschichte der Geburt Jesu mit einem Hinweis auf den Kaiser Augustus und stellte auf diese Art eine Verbindung zwischen den beiden universalen Reichen her. Mit Augustus brach ein neues Zeitalter für die Menschheit an, und er, der als Erlöser gefeiert wurde, brachte gerade in dem Augenblick der gequälten Menschheit den Frieden, als der himmlische Erlöser erschien, um sein Friedensevangelium und ein neues Zeitalter zu verkünden. Diese universale Glaubensgemeinschaft, die sich oft als >gens< oder >natio< bezeichnete und auch von anderen so bezeichnet wurde, deren Ge meinschaft rein geistig war — ein Hirte und eine Herde (Joh. 10 ,1 6 ) — führte zu einer Dreiteilung der Welt in Juden, Christen und Heiden bzw. Hellenen. Vor der Entstehung des Christentums hatte es nur Juden und Hellenen gegeben. Zur Zeit der Makkabäer hatten die Juden die starken Hellenisierungstendenzen in ihrer Mitte unterdrückt und hatten eine jüdi sche Gemeinde errichtet, die exklusiver war denn je zuvor. Im Anfang wa ren sich die Christen ihrer engen rassischen und religiösen Verbundenheit mit den Juden bewußt; doch mit der Ausdehnung der Missionstätigkeit unter den Heiden wuchs, rassisch gesehen, das griechische Element über das jüdische hinaus. In ihrem Bewußtsein trat nun neben das jüdische auch noch das hellenische Erbe. Der Name >Hellenen< verlor nicht allein seine rassische, sondern auch seine sprachliche und kulturelle Bedeutung. Sein Sinn wurde rein religiös und aus den Hellenen wurden die Heiden. Diese Dreiteilung konnte nicht von langer Dauer sein. Das Christentum erhob einen exklusiven universalistischen Anspruch, der notwendigerweise mit dem auf hellenischer Grundlage beruhenden Universalismus des römi schen Imperiums in Konflikt geriet. In der Rückschau ist es offensichtlich, daß die Zeit des Zerfalles des römischen Imperiums mit dem Kampf zweier universalistischer Ansprüche — Imperium und Kirche — erfüllt war. Zu nächst bestanden diese beiden Ansprüche nebeneinander, der eine anschei nend nur politisch, der andere anscheinend nur geistig, und keiner von bei den rassisch oder nationalistisch. Viele der frühen Christen waren unpoli tisch oder sogar antipolitisch eingestellt. Tertullians Worte über die Christen in der >Apologie< sind bekannt: den Christen »nec ulla magis res aliena quam publica. Unam omnium publicam agnoscimus, mundum.« (Nichts ist den Christen fremder als der Staat. Wir kennen nur einen Staat, die Welt.) Die Beziehungen zwischen den beiden universalen Gewalten fanden unterschiedlichen Ausdruck. Einige Christen befürworteten eine freund 71
schaftliche Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat. So sagte Melito, Bischof von Sardis, am Ende des zweiten Jahrhunderts: »Alle Philosophie I erwuchs bei den Barbaren, aber ihre Blüte erlangte sie in deinem Volke während der glanzvollen Regierung deines Vorfahren Augustus, und sie wurde ein Omen des Guten für dein Reich, denn von dort ab erwuchs die Macht der Römer zu Größe und Glanz. Du bist nun sein glücklicher Nach- s folger und wirst es noch in deinem Sohne sein, wenn du die Philosophie, die in deinem Reiche erwuchs und mit Augustus begann, beschützest.« ' Diese Bitte um das Wohlwollen des Kaisers, die Harmlosigkeit des Christentums betonend, vertritt eine Einstellung, die scheinbar seltener war als I die des scharfen Gegensatzes zwischen den beiden rivalisierenden Kräften, I denn das Christentum erhob den Anspruch, der Erbe des römischen Impe- I riums zu sein. »Denn unser Herr wurde im zweiundvierzigsten Jahre des I Kaisers Augustus geboren, als das römische Imperium sich entfaltete, als der Herr alle Völker und Sprachen durch die Apostel rief und die gläubigen Christen zu einem Volke bildete, das Volk des Herren und das Volk der Menschen, die einen neuen Namen führen — so wurde all dieses dem Buchstaben getreu erfüllt durch das Reich jener Tage, das >gemäß dem Wirken des Satans regiertem denn auch jenes Reich sammelte die Edelsten jedes Volkes und indem es sie zu Römern ernannte, rüstete es sich zum Kampfe. | Und dieses ist der Grund dafür, daß die erste Schätzung unter Augustus § stattfand, zu der Zeit, da der Herr in Bethlehem geboren ward; dieses ge schah, um die Menschen, die zu unserem irdischen König sich bekannten, 1 zu Römern zu ernennen, während jene, die an den König des Himmels § glaubten, Christen genannt wurden, und auf ihrer Stirne das Zeichen des Sieges über den Tod trugen.« Während hier das römische Imperium als ein satanisches Plagiat der Kirche verurteilt wurde, sah in ihm Origines, auf eine philosophischere und versöhnendere Weise, eine Vorbereitung auf ein noch umfassenderes ! universales Reich. In den Zeiten Jesu, einsetzend mit dem Tag seiner Ge burt, erwuchsen Rechtschaffenheit und Frieden. Aber Gott bereitete die Völ ker auf seine Lehre vor, indem er den römischen Kaiser veranlaßte, über | die ganze Welt zu herrschen; es gab nicht mehr die Vielheit der Reiche, sonst wären die Völker einander fremd gewesen und es wäre den Aposteln schwerer gefallen, den Auftrag zu erfüllen, den Jesus ihnen gegeben hatte, | [ als er sagte: »Gehet hin und lehret alle Völker.« Aus der Auseinandersetzung zwischen den beiden universalen Ansprü chen ging das Christentum als Sieger über das Imperium hervor. Die Ur sachen dieses Sieges sind anscheinend eng verknüpft, einerseits mit dem
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Zerfall des römischen Imperiums, mit seiner Unfähigkeit, das eigene Ver sprechen der >pax et iustitia< zu erfüllen, und andererseits mit dem vom Judentum ererbten eigentümlichen Charakter der Kirche. Man könnte sa gen, daß der Sieg der Kirche über das Imperium ein Sieg Israels über Hellas war, aber der Sieg eines Israels, das seine ursprüngliche Exklusivi tät aufgegeben hatte, das durch die Berührung mit dem Hellenismus huma nisiert worden war und das seinen Sieg nur in einer Synthese zwischen den beiden Traditionen und Kräften erringen konnte. Nietzsche hat das Christentum als die Revolte einer Paria-Ethik gegen die Ideale der herrschaftlichen Aristokratie der griechisch-römischen Welt be zeichnet. Diese Diagnose scheint, obgleich sie zweifellos die Dinge zu sehr vereinfacht, der Sache doch gerechter zu werden als die späteren Versuche, den Sozialrevolutionären Charakter des frühen Christentums wegzuleug nen. Jesus selbst war nicht nur ein wandernder Handwerker; seine Worte waren eine Herausforderung der Ideale des Adels und der Schönheit der herrschenden Kultur. Er rechtfertigte und erhöhte die Armen, so wie dieses schon durch die Propheten und in den Psalmen geschehen war. Sein Wort war eine Verheißung für die leidenden Massen in Zeiten der Auflösung und Not. Im römischen Imperium blieb das Christentum nicht einer der vielen Kulte, die aus dem Wunsch nach persönlicher Wiedergeburt, aus dem Glau ben an magische Kräfte und an messianische Wunder entstanden waren. Denn das Christentum übernahm von seinem jüdischen Mutterboden den Anspruch auf Einzigartigkeit und Einmaligkeit. Es war der Träger des dynamischen Universalismus in der Geschichte; die Menschheit hatte nicht nur einen Ursprung und einen Rang, wie es die Stoa lehrte, sondern auch ein gemeinsames Ziel. Der Anspruch des Christentums auf Einzigartigkeit war universal aggressiv. »Wer nicht für mich ist, ist wider mich.« Der Gott der Christen war der eifersüchtige Gott der Juden: »Du sollst keine ande ren Götter haben neben mir.« Aber dieses >Du< richtete sich nun nicht mehr nur an Juden, sondern an jedes menschliche Wesen. Ein derart exklusiver Anspruch war den zahlreichen Kulten und Mysterienglauben der Mittel meerwelt und des klassischen Altertums unbekannt. Er beruhte letzten Endes auf dem Bunde, der solch ein exklusives Verhältnis zwischen Gott und Seinem Partner begründet hatte.
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Ähnlich wie im ersten vorchristlichen Jahrhundert erfüllten auch im drit ten und vierten nachchristlichen Jahrhundert anhaltende Kriege, soziale Unterdrückung und wirtschaftliche Not die Herzen der Menschen mit Ver zweiflung. Die Philosophie jener Zeit, die letzte Blüte des Neuplatonismus unter Plotin und das asketische Mönchtum der Christen bezeugen diesen Pessimismus. Der Schwerpunkt des Imperiums verlagerte sich nach dem Orient. Die Einfälle der Goten untergruben die Lebenskraft der griechischen Kultur. Unter diesen Umständen erwies sich die militante christliche Bot schaft als ein der griechisch-römischen Welt überlegener Gegner. Gleich zeitig hatte das Christentum durch Origines und andere Kirchenväter die griechische Philosophie in sich aufgenommen und sich solcher Art auf den Kompromiß vorbereitet, der sich unter Konstantin in der Vereinigung von Sacerdotium und Imperium vollziehen sollte. A uf Seiten des Imperiums war der Grund zu dieser Vereinigung der Wunsch, das Christentum dazu zu benutzen, der leeren Hülle des Impe riums einen neuen Inhalt zu geben und solchermaßen die Verbindung zwi schen den Völkern und dem Staat wiederherzustellen. Doch war es hierzu bereits zu spät. Nicht nur, daß damals der Zerfall des Imperiums bereits zu weit fortgeschritten war; auch das Christentum hatte seinen ursprüng lichen Enthusiasmus verloren, und eine weitere Schwächung war durch seine Verbindung mit dem Imperium unvermeidlich. Während zweihundert Jahren hatte die Kirche als etwas Unbegreifliches, Seltsames und Bearg wöhntes in der Welt bestanden: ein Paradoxon, eine Herausforderung und eine Hoffnung. Jetzt war sie zu einem Glied der römischen Welt geworden, und der starke Arm des Staates stand ihr zur Verfügung; sie nahm an Herrschaft und Unterdrückung teil und wurde nicht mehr selber unter drückt. Aber trotz und gerade wegen all der offensichtlich unvollkommenen Erfüllungen der Botschaft beseelte die christliche Verheißung — wie auch das Imperium selbst, nur in einem anderen Sinne — durch die Jahrhunderte hindurch die Menschen, ihre geistigen und politischen Bewegungen. Es ist möglich, daß Konstantin, als er im Jahre 326 die Verlegung der Hauptstadt von Rom nach Byzanz beschloß, von dem Gedanken beein flußt war, daß es leichter sei, das Imperium von seiner neuen Hauptstadt aus zu christianisieren als von dem mit starken heidnischen Überliefe rungen erfüllten Rom. A uf neu erwähltem Grund errichtet, wurde Kon stantinopel 330 von christlichen Priestern der heiligen Jungfrau geweiht. Zugleich mit dem Versuch, das Imperium zu christianisieren, führte Kon-
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stantin den Geist eines neuen autoritären Despotismus ein, der an die Stelle des von Augustus errichteten Prinzipates trat. Durch die Christiani sierung wurde die diesseitige Zivilisation der Freiheit durch eine jenseitige Zivilisation der Autorität ersetzt. Solange das römische Imperium in Byzanz Bestand hatte, ordneten sich die Beziehungen zwischen Staat und Kirche gemäß der antiken Auffassung, wonach alle religiösen Körperschaften ihre Existenz vom Staate herleiteten. So wie der Kaiser im Römischen Imperium der Pontifex Maximus gewesen war, fuhren auch Konstantin und seine Nachfolger fort, sich als die Her ren der Kirche zu betrachten. Die Kirche wurde die geistige Seite des Impe riums, wobei beide Seiten dem gleichen Willen, dem des Kaisers, unterwor fen waren. Der Kaiser berief die ökumenischen Synoden, er ernannte die verantwortlichen Kommissionen, führte, häufig durch kaiserliche Kom missare vertreten, den Vorsitz und behielt sich das Recht vor, die Beschlüsse der Synoden zu bestätigen oder zu verwerfen. Die ersten sieben ökumenischen Konzile, beginnend mit dem zu Nizäa, welches Konstantin selbst im Jahre 325 angeordnet hatte, wurden von der gesamten Kirche, im Osten wie im Westen, anerkannt. Erst 1 1 2 3 hat der Papst ein ökumenisches Konzil einberufen, die erste Lateransynode, und den gleichen Anspruch auf absolute Autorität wie der römische Kaiser erhoben. Während der Konflikt zwischen Staat und Kirche, der durch viele Jahrhun derte hindurch die Geschichte des westlichen Europa bestimmte, im Osten nicht auftrat, trat im Westen die Kirche in das Vakuum ein, welches dort durch den Zusammenbruch des Imperiums entstanden war. Das neue west liche Imperium, durch die Kirche gegründet, sowie sein Verhältnis zur Kirche, beruhte auf den neuen, von Augustinus geschaffenen Grundlagen.
5 Der Bischof von Hippo hatte, bevor er sich zum Christentum bekannte, in seinem eigenen Leben alle Einflüsse der alten Kultur, Cicero, Neuplatonis mus, Manichäismus und den Skeptizismus, erfahren. Er war Zeuge des Zu sammenbruches der Autorität des römischen Imperiums im Westen gewe sen. Die Eroberung Roms durch Alarich (410) hatte die Völker des Westens zutiefst erschüttert, wenige nur blieben ihrem Glauben treu wie Claudius Rutilius Namatianus; die meisten Zeitgenossen gerieten in äußerste Ver zweiflung. Augustin unternahm es, in seinem Hauptwerk >De Civitate Dei< (428), einer bestürzten und verworrenen Generation den Zusammen
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bruch des römischen Imperiums als eine geschichtliche Erscheinung zu er klären. Seiner Überzeugung nach gehörte das Römische Imperium zur >civitas terrena<, dem weltlichen Reiche, während die Kirche der sichtbare Teil der >civitas Dei<, des göttlichen Reiches sei, »civitas celestis vel potius pars eius qua in hac mortalitate peregrinatur«. So anerkannte Augustinus beide, den Staat wie die Kirche. Vollkommene Gerechtigkeit und vollkom mener Friede waren nur im himmlischen Reiche zu erwarten. Der Staat beruhte auf dem Umstand, daß der Mensch sündig ist. Der Bibel zufolge hat Kain und nicht Abel den Staat gegründet. Jedoch der Staat, der wegen der Ursünde des Menschen bestand, konnte, je mehr er sich dem himm lischen Reiche näherte, Gerechtigkeit und Frieden bis zu einem gewissen Grade verwirklichen. Deswegen stand die Kirche in freundschaftlichem Ver hältnis zu guten Staaten, die den Versuch unternahmen, unter ihrem Ein fluß und unter ihrer Führung das Ideal soweit als möglich zu verwirk lichen. Das Römische Imperium war früher weit besser regiert worden als im fünften Jahrhundert. Doch wahre Gerechtigkeit hat es auch während der besten Zeit des Römischen Imperiums nicht gegeben. »Vera autem iustitia non est nisi in ea re publica, cuius conditor rectorque Christus est, si et ipsam rem publicam placet dicere, quoniam eam rem populi esse negare non possumus.« Obgleich Augustin die Existenz des irdischen Staates zu rechtfertigen suchte, war das himmlische Reich dem irdischen Staate grund sätzlich überlegen. »Dem irdischen Staat sind die Bürger durch die von der Sünde verderbte Natur verfallen. In das himmlische Reich aber werden sie auf genommen durch die Gnade, die die Natur von der Sünde erlöst; wäh rend man das erstere die Gefäße des Zornes nennt, nennt man das letztere die Gefäße der Gnade.« Solcher Art begründete Augustin den höheren Rang, den die Kirche dem Staate gegenüber bekleidete, und schuf damit der westlichen Welt ein Problem, welches der Osten nicht kannte, einen Konflikt, der niemals gelöst wurde, bis er schließlich durch die Verwelt lichung des geistigen und gesellschaftlichen Lebens in Europa seine entschei dende und alles beherrschende Bedeutung verlor. Durch Augustins Synthese von Christentum und römischer Kultur wurde das Erbe der antiken Philosophie zu einem wesentlichen Bestandteil der westlichen Überlieferung gemacht. »Sein Werk über die Civitas Dei kenn zeichnet den Übergang des Christentums vom Jugendstadium zur Reife.« Das himmlische Reich war fest auf Erden gegründet. Es paßte sich den irdischen Verhältnissen an und baute sie in seine eigene Organisation ein. Diese Verhältnisse umfaßten Unterschiede der Sprachen und Sitten sowie 76
solche des gesellschaftlichen Ranges und des wirtschaftlichen Wohlstandes. Die Zeiten, in denen man das Ende des irdischen Reiches unmittelbar be vorstehen sah, wo noch reiche junge Leute ihr Hab und Gut aufgeben muß ten, um Aufnahme im Reiche Gottes zu finden, waren vorüber. Obwohl Augustin wußte, daß weder von Natur aus, noch durch Gottes Wille ein Mensch über den anderen Gewalt haben sollte, anerkannte er die Sklaverei im irdischen Reiche. »Von Natur aus, so wie Gott uns geschaffen hat, ist kein Mensch ein Sklave, weder eines Menschen, noch der Sünde. Diese Knechtschaft aber ist eine Strafe und sie wird durch jenes Gesetz, welches die Erhaltung der natürlichen Ordnung besorgt und ihre Störung verbie tet, bestimmt; denn wenn nichts geschehen wäre, um dieses Gesetz zu ver letzen, so hätte auch nichts durch solche Knechtschaft bestraft werden müs sen, und deshalb ermahnt der Apostel die Sklaven, sich ihren Herren zu fügen, ihnen von Herzen und guten Willens zu dienen, so daß sie, wenn sie von ihren Herren nicht befreit werden können, sie sich selbst in ge wisser Weise die Knechtschaft frei gestalten, indem sie nicht in unterwür figer Angst, sondern in treuer Ergebenheit dienen, bis alle Ungerechtigkeit von hier genommen wird und jeder Vorrang und jede menschliche Gewalt zunichte wird und Gott Alles in Allem ist.« Dieses waren die Grundlagen, auf denen während der kritischen Jahre, als die antike Kultur unter dem Angriff barbarischer Eroberer zusammen zustürzen drohte und die zivilisierte Gesellschaft sowie die Humanität nur mehr als schwache Erinnerungsbilder an eine große Vergangenheit erschie nen, der Bau der westlichen Kirche errichtet wurde. In den östlichen Mittel meerländern wurde die antike Zivilisation und Ordnung im byzantinischen und bald auch im islamischen Reiche fortgesetzt. Im Westen mit seinen ger manischen Königreichen herrschte das Chaos. Es war das bleibende Ver dienst der römischen Kirche, diesem Chaos die Disziplin der Zivilisation und des Universalismus aufgezwungen zu haben. Da der Westen endgültig aus dem Imperium Romanum herausgelöst war, war es eine begreifliche Forderung, daß das Römische Reich im Westen neu errichtet werde. Am Weihnachtstage des Jahres 800 krönte Papst Leo III. in Rom den mächtig sten der germanischen Könige, Karl den Großen, als Nachfolger der römi schen Kaiser.
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6 Im Mittelalter, dem Zeitalter des vom Papsttum geschaffenen weströmi schen Reiches, bildete der Nationalismus im heutigen Sinne des Wortes kei nen wesentlichen Bestandteil der Staatsauffassung. Natürlich gab es ein ursprüngliches und natürliches Gefühl für Sprach- und Landgemeinschaf ten im späten Mittelalter, und eine Stammesgemeinschaft im frühen Mittel alter. Aber die Dezentralisation und die Differenzierung innerhalb jener Einheiten, aus denen späterhin die Nationen hervorgehen sollten, gestat teten nicht die Entstehung jener politischen und gefühlsmäßigen Einheit, die die Grundlage des modernen Nationalismus bildet. Das Wirtschaftsleben war auf die praktisch autarken, großen Grundherrschaften und Städte be schränkt. Es gab weder ein einheitliches Recht noch eine einheitliche Recht sprechung, die dem Entstehen eines gemeinsamen Nationalgefühles förder lich gewesen wären. Das gesamte Gefühls- und Geistesleben des Menschen sowie das poli tische und gesellschaftliche Denken waren durch religiöse Begriffe und Nor men bestimmt. A uf eine uns kaum vorstellbare Weise färbten und be stimmten diese die Gedanken und Gefühle in jeder Minute des Lebens, bei Arbeit und Spiel, in der Öffentlichkeit wie in der Einsamkeit, in jeder Sorge und in jeder Freude, in Furcht und Hoffnung, bei Künstlern wie bei Bauern. Diese Religion war universal. Ihre Herrschaft ließ keinen Raum für irgendwelche wesentlichen nationalen Strömungen. Praktisch lagen alle Bildung und das Schrifttum in den Händen des Klerus, der sich einer uni versalen Sprache, des Lateins, bediente. Die Menschen betrachteten alles unter dem Gesichtspunkt der Religion und nicht vom Standpunkt ihrer >Nationalität< oder ihres >Stammes<. Die Menschheit teilte sich nicht in Ger manen, Franken, Slawen, Italiker, sondern in Christen und Ungläubige, und innerhalb der Christenheit in treue Kinder der Kirche und in Häretiker. Gegen Ende des Mittelalters begannen sich die ersten nationalen Staaten abzuzeichnen, und die ersten Grundlagen für die künftige Entwicklung des Nationalismus wurden gelegt. Eine geringe Anzahl einzelner Menschen schrieb und handelte in einem Sinne, der es wohl rechtfertigen würde, wenn man sie als Urheber des Nationalismus in Anspruch nehmen würde. Aber sie waren nur Einzelerscheinungen, die wohl als Vorläufer unsere Aufmerksamkeit erwecken können, doch hatten sie keinen unmittelbaren Einfluß auf ihre Völker und auf ihre Zeit. Man würde auf einen falschen Weg gelangen, wollte man Worte und Handlungen des späten Mittelalters oder der frühen Neuzeit unter dem Aspekt des modernen Nationalismus
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r «uslegen, anstatt zu versuchen, sie im Rahmen ihrer eigenen Umwelt zu begreifen. Einige Beispiele, die als Beweis für das Bestehen des Nationalis mus im späten Mittelalter angeführt werden, erlauben, wenn man sie in ihrem eigenen Zusammenhang sieht, eine gänzlich verschiedene Deutung. Hierher gehörige sehr interessante Äußerungen mögen sich in den Quellen gerade deshalb erhalten haben, weil sie Auffassungen zum Ausdruck brach ten, die für ihre Zeit ungewöhnlich waren. Der Staatsgedanke des Mittelalters war durch die Überzeugung gekenn zeichnet, daß die Menschheit eins ist und folglich eine einzige Gemeinschaft bilden muß. Das neue Römische Reich ist als ein Werkzeug des religiösen Universalismus errichtet worden. »Ad fidem in gentibus propagandam, prout ad predicationem evangeli sacrum Romanum imperium preparavit.« Da im Mittelalter das Christentum die gleiche Ausbreitung hatte wie die Menschheit — wenigstens wurde das als Ziel gefordert —, wurde die Menschheit als ein Volk betrachtet, als eine >res publica generis humani<, eine >ecclesia universalis<, mit einem Recht und einer Regierung. Der haupt sächlichste Zwiespalt des Mittelalters lag nicht im Universalismus einer seits und dem Wunsche nach Aufsplitterung andererseits, sondern in den zwei Formen des Universalismus, dem Sacerdotium und dem Imperium, ein Zwiespalt, den die östliche Kirche und der Islam, wo sich der univer sale Anspruch als Realität wesentlich länger erhalten konnte als in der westlichen Christenheit, nicht kannten. Zwar trat auch beim Islam sehr bald eine Aufsplitterung in verschiedene Königreiche, die sich oft untereinander bekriegten, ein; aber, wie inner halb der spätmittelalterlichen Christenheit, beruhte auch die Aufspaltung innerhalb des Islams auf den Dynastien und den Taten erfolgreicher Herr scher, manchmal auch auf geographischen oder ethnographischen Um ständen, niemals aber auf nationalen Gefühlsäußerungen. Bis zum Aus gang des neunzehnten Jahrhunderts wurde das private und das öffentliche Leben aller islamischen Länder von der Religion, die das Denken, das gesell schaftliche Leben und sämtliche Anschauungen einheitlich beeinflußte, be herrscht. Die Universitäten des Islams haben bis weit in das neunzehnte Jahrhundert hinein ihren mittelalterlichen Charakter bewahrt, und die Ein heitlichkeit der Literatur und der Erziehung in allen islamischen Ländern war ein starkes Band des Zusammenhaltes für alle gebildeten Schichten. Hätte man im neunzehnten Jahrhundert einen Mohammedaner um seine persönliche Auffassung und seine Loyalität befragt, so hätte er bestimmt geantwortet, daß er ein Mohammedaner sei und daß er seine Loyalität dem Islam sowie seinem Fürsten, der ja auch Mohammedaner ist, schulde.
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1 Im spätmittelalterlichen Europa hätte ein Christ eine ähnliche Antwort er· teilt. Dieser Umstand erklärt es auch, warum im späten Mittelalter die westliche Christenheit und der Islam, die sich als unversöhnliche Feinde mit ähnlichen Missionsansprüchen als universale Religionen gegenüber standen, einander gewachsen waren. Damals hatten sie nicht nur gemein same Grundanschauungen, sondern, in ihren Bildungsschichten, auch Wis senschaft und Philosophie, Rittertum und Dichtung gemein. Erst seit dem Zusammenbruch des mittelalterlichen Christentums, von der frühsten Neu zeit an bis herauf in die jüngsten Tage, stehen sich die christlichen Völker und die islamischen Länder nicht mehr ebenbürtig gegenüber. Der Islam verharrte in mittelalterlichem Lebensstil, während die westliche Christen heit sich seiner entledigte, zum Teil in der Renaissance, und dann schließ lich im achtzehnten Jahrhundert. In der östlichen Kirche war die Lage anders. Dort blieb das Sacerdotium dem Imperium untergeordnet. Staat und Kirche bildeten, wie Leib und Seele, ein Ganzes. Die Kirche war wohl der Idee nach universal, aber nicht in ihrem Aufbau. Organisatorisch entsprach ihr Umfang dem des Staates, und manchmal erfüllte sie sogar, in Fällen, wo im Verlaufe der geschicht lichen Wechselfälle der Staat aufgehört hatte zu existieren, als eine geson derte Organisation gewisse Funktionen, die sonst der Staat ausgeübt hätte. Da sie über keine universale Organisation verfügte, konnte sich die öst liche Kirche weit besser den bestehenden ethnographisch und geschichtlich bedingten Untergliederungen anpassen. Ihre Rolle in der Geschichte des Nationalismus war grundsätzlich verschieden von der der westlichen Kirche. Der universale Anspruch des Römischen Imperiums lebte im Westen, bei Papsttum und Kaisertum gleichermaßen, in weit stärkerem Maße fort als in Byzanz, dessen Monarchen und Patriarchen von Konstantinopel ja eigentlich die rechtmäßigen Erben des Römischen Imperiums waren. Im Westen stellte sich die Kirche über die nationalen Unterscheidungen, und folglich vollzog sich auch die Herausbildung der Nationen vom dreizehn ten bis zum achtzehnten Jahrhundert in fortwährender Auseinandersetzung mit der Kirche. Im Osten vollzog sich im allgemeinen die Bildung natio naler Gruppen Hand in Hand mit der Bildung nationaler Kirchen. Aus eben diesem Grunde trat dort auch keine Kirchenspaltung ein. Anstelle der starren monarchischen Einheit der westlichen Kirche entstand dort die Auf fassung einer zusammengefügten Einheit, das Bewußtsein der Einheitlich keit in der Vielfalt der Formen, ein lebendiges Zusammengehörigkeits gefühl, verbunden mit dem Bestehen autonomer Kirchen in jedem einzel nen Staate.
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Enger noch als in der katholischen Kirche des Westens war in den häre tischen Kirchen des Ostens die Verbindung zwischen der Kirche und den ethnographischen und geschichtsbedingten Untereinheiten. Im Mittelalter drückte sich das geschichtliche Bewußtsein der Ägypter, Assyrer oder Mesopotamier — wenn überhaupt — in theologischen Sätzen und Disputationen aus. Doch wie wenig lebenskräftig diese Art von Nationalbewußtsein war, wie weit es von einem modernen Ganzheitsstreben entfernt war, zeigt die Tatsache, daß diese Kirchen zerronnen sind und heute nur noch einige tausend Anhänger zählen. Einige von ihnen — wie zum Beispiel die maro nitische Kirche — haben zur ethnographischen Erhaltung ihrer Anhänger beigetragen, hierin durch die geographische Gestaltung ihres Landes, durch hohe Gebirgszüge und abgelegene Täler, sowie durch Verkehrsschwierigkei ten unterstützt. Alle diese Kirchen unterliegen seit dem zwanzigsten Jahr hundert, als Ergebnis des eindringenden modernen Nationalismus, einer tiefgreifenden Wandlung. Die Kirchen des Ostens haben, wie der Islam, bis zur Schwelle der Gegenwart ihre mittelalterliche Gestalt bewahrt. Wie der Islam sind auch sie seit Beginn der Neuzeit durch eine tiefe Kluft von der westlichen Kirche getrennt gewesen. Die Kreuzfahrer des Westens haben Konstantinopel und seine Kirchen im Jahre 12 0 4 mit größerer Grausam keit und mit größerer Verachtung für die Heiligtümer geplündert, als es je mals die Türken getan haben.
7 Dem universalen Anspruch der Päpste und dem Reiche Karls des Großen war es gelungen, im westlichen Europa aus dem durch die germanischen Stämme verursachten Chaos heraus eine neue Zivilisation zu bilden: >Europa< oder die abendländische Christenheit«. Dieser Neubau erfolgte auf der Grundlage des spätrömischen Universalitätsanspruches: es war eine >renovatio< oder »restitutio«. Durch viele Jahrhunderte hindurch war das westliche Europa hiervon beherrscht, bis neue Kräfte, die selber wiederum eine Renaissance waren, den Grund für die spätere Entstehung des Natio nalismus legten. Staat und Kirche, Reich und Christenheit waren untrenn bar miteinander verbunden. Beherrschend war die Erkenntnis, daß ein uni versales Reich bestehen mußte, und dieses Reich war notwendigerweise christlich und römisch zugleich. In keinem Schritt, den das Leben tat, gab es eine Trennung des Weltlichen und Zeitlichen vom Ewigen, welches zu gleich das Kirchliche war. Das gesamte irdische Leben war durch ein anderes, 81
nämlich durch das ewige Leben überdacht, und die Jahre auf Erden waren nur eine Vorbereitung auf das Leben in der Ewigkeit. Das alltägliche Leben des Menschen und den Aufstieg und Untergang von Reichen sah man >sub specie aeternitatis<. Eine derart in einer übernatürlichen und unanfechtbaren Offenbarung verankerte Ordnung erweckte ein Gefühl der Sicherheit und der Beständig keit, wie es in den auf die Renaissance folgenden Zeiten nicht mehr bekannt war. Sie war auch für jede Fragestellung des täglichen Lebens, für politische wie für philosophische Fragen, eine unerschütterliche und unversiegbare Quelle von Richtlinien, die das gemeinsame Gut aller einfachen und aller gelehrten Menschen war. Die Normen, Methoden und Gebräuche waren überall gleich und durch eine Überlieferung gefestigt, deren Grundlage in allen Ländern der westlichen Christenheit die gleiche war. Das gesamte Kulturleben lag in den Händen des Klerus, der nicht eine besondere Kaste bildete, sondern eine vom Laientum grundverschiedene Körperschaft war. Er allein war berechtigt, dem Menschen, der in ständiger Furcht vor Ver dammnis und Hölle lebte, die Heiligen Sakramente, die die Erfüllung des Lebenssinnes und die Erlösung verbürgten, zu erteilen oder zu verweigern. So hatte der Klerus Gewalt über ewiges Leben oder ewigen Tod. Dieser Klerus breitete sich wie ein einheitliches und engmaschiges Netz über die gesamte westliche Christenheit. Latein, die Sprache der Liturgie (die Bibel wurde damals nur in der lateinischen Übersetzung, der Vulgata, benutzt), wurde die Sprache der Diplomatie, der Verwaltung, der Literatur und des Unterrichts. In Charakter und Vorrechten war der Klerus von der Laienschaft gänzlich getrennt, doch wurde er durch den Zustrom aus ihren Reihen ständig erneuert. Der Klerus bot den Begabten der unteren Laien stände nicht nur Zugang zu Bildung und geistigem Leben, er bot ihnen auch die Gelegenheit, über ihren ursprünglichen gesellschaftlichen Stand hinaus emporzusteigen. Die Kirche hätte der westlichen Christenheit eine einzigartige, wohlerprobte Führerschicht schenken können, wenn nicht der Klerus selbst immer wieder durch Machtgier, durch Weltlichkeit und Sinn lichkeit verdorben worden wäre. Die offizielle Lehre der mittelalterlichen Kirche war die der Weltentsagung, der Askese und der Demut. Diese Idee stand nicht im Widerspruch zu der Errichtung der Herrschaft der Kirche über die Welt. Wenn die Welt des Jen seits das Ziel des Menschenlebens war, so hatte die Institution, die autori tativ über das Sakrament der Erlösung verfügte, die Verpflichtung, das irdische Leben im Hinblick auf das kommende Leben zu ordnen. Die Kirche drängte den ungebrochenen Instinkten primitiver Barbaren — ihrer Gier 82
nach irdischer Macht und irdischen Gütern, ihrer Freude an Kampf und Fehde, an Kraft und List — die strengen Forderungen einer asketischen De mut und höhere Begriffe von Nächstenliebe und Selbstdisziplin auf. Aber das Verlangen nach Gewalttätigkeit behauptete sich gegen das auferlegte geistige Joch; Rittertum und Kreuzzüge boten hier der Kirche eine Mög lichkeit, den Hang zu Gewalttätigkeit in Schranken zu halten und zu lenken. Innerhalb der Kirche selbst versuchten die Reformbewegungen den Geist Christi wiederzubeleben im Sinne des Wortes (Matth. 10 , 7—10 ): »Geht aber und predigt und sprecht: das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Macht die Kranken gesund, reinigt die Aussätzigen, weckt die Toten auf, treibt die Teufel aus. Umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebt es auch. Ihr sollt nicht Gold noch Silber noch Erz in euren Gürteln haben. Auch keine Tasche zur Wegfahrt, auch nicht zwei Röcke, keine Schuhe, auch kei nen Stecken. Denn ein Arbeiter ist seine Speise wert.« Diese Bewegungen, in deren Mittelpunkt das Mönchtum stand, gingen aus individueller Schwärmerei, als Protest gegen die Weltlichkeit der Kirche hervor. Aber diese Bewegungen selbst wurden auch bald nachlässig, und manchmal ende ten sie in noch schlimmeren Zuständen als jene es waren, die sie bekämpfen wollten. Dann wurde die Gestalt des Mönches zu einer Zielscheibe des Spottes und der Verachtung. Doch immer wieder entstanden neue Reform bewegungen, inspiriert durch den ursprünglichen Auftrag der Selbsthin gabe, der Armut und des Dienstes. Den großen Anfang hatte Monte Cassino (529) gemacht, ihm waren Cluny im zehnten Jahrhundert und die Grün dung des Bernhard von Clairvaux zu Beginn des zwölften Jahrhunderts gefolgt. Schließlich, im Anfang des dreizehnten Jahrhunderts, als das Mittelalter einen Höhepunkt erreicht hatte, der notwendigerweise bereits den Keim der Auflösung und die ersten Anzeichen eines neuen Zeitalters in sich barg, gipfelte die Reformbewegung in der Gestalt des heiligen Franziskus, der die Armut zu neuer Würde erhob und dessen Nachfolger sich gänzlich der Aufgabe widmeten, das Elend der Armen in den italienischen Städten zu erleichtern. Dieses war die erste christliche Bewegung, die als Antwort auf die neue urbane Zivilisation mit ihrem Proletariat entstanden war. Aus den Reihen der Franziskaner (den grauen Brüdern) und der Dominikaner (den schwarzen Brüdern) erwuchs der Höhepunkt der mittelalterlichen Ge lehrsamkeit, als Antwort auf das Anschwellen jener Wissenschaft und Philosophie, die dem Abendland von Arabern und Juden aus den noch unversiegten Quellen des Hellenismus im nahen Osten vermittelt wurden. Albertus Magnus war in Schwaben geboren, Thomas von Aquin in der
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Nähe von Neapel, William Occam in Surrey; alle drei hatten sie in Italien, Frankreich und Deutschland gelebt und studiert; sie waren ihrer Herkunft und ihrem Leben nach, in ihren Versuchen, durch eine Synthese aller Wis senschaften in der >sapientia Christiana< eine Einheit für das gesamte west liche Christentum herbeizuführen, Repräsentanten des mittelalterlichen Universalismus. Neben diesem alles-umfassenden und alles-beherrschenden Universalis mus gedieh ein reichhaltiges und vielseitiges lokales Leben, ein verwirren des und verwickeltes Nebeneinander, Durcheinander, Über- und Unterge ordnetsein von Satzungen, Rechtsprechungen, Körperschaften, welche alle in hohem Maße selbständig waren. Viele dieser Vereinigungen waren frei willig, nach Brauch und Verträgen geregelt. Die Folge hiervon war eine Aufgliederung der Bevölkerung in viele Stände, Kasten und Orden, die nur wenige gemeinsame Berührungspunkte hatten. Viele Zwischeneinrichtun gen und Organe hielten jede zentrale Macht in Schranken und verhinderten so die Entwicklung der modernen Souveränität. Der Universalismus von oben und das System der lokalen und berufsständischen Autonomien von unten machten einen Nationalismus unmöglich. Erst nachdem der Univer salismus des Mittelalters endgültig durchbrochen war und nachdem die zu nehmende Macht der Könige den vielfältigen und verwickelten Treuever hältnissen die Anerkennung der obersten Loyalität dem Staate gegenüber aufgezwungen hatte und damit eine, zwar noch begrenzte, Einheit ge schaffen wurde, konnte sich der Nationalismus entwickeln.
8 Für die mittelalterliche Auffassung hatte sich das wichtigste Ereignis in der Geschichte bereits ereignet: die Inkarnation von Gottes Sohn und sein Leiden und Sterben für die Erlösung der Menschheit. Die Zukunft konnte nur noch ein bedeutsames Ereignis bringen: die Wiederkunft Christi. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet war die erste Schöpfung eines mächti gen Reiches in Europa nach dem Zusammenbruch des Römischen Imperi ums eine Erneuerung der Vergangenheit, eine Erneuerung des Imperium Romanum. Den Franken war es gelungen, sich in Gallien, wohl der kulti viertesten und bestorganisierten römischen Provinz, seßhaft zu machen. Und der mächtigste Frankenkönig machte aus ihr ein Reich, dessen Grenzen er nach Osten weit in die barbarische Wildnis hineintrieb, und dessen Süd grenze er mit Erfolg gegen die Rivalität des Islams verteidigte. Die Erschei 84
nung Karls des Großen war derart eindrucksvoll, daß sein Name, wie der Name Caesars, zu einem Begriff wurde: viele slawische Völker und die Magyaren nahmen den Namen Carol als Bezeichnung für >König< in ihre Sprachen auf. Karl der Große gründete in Aachen ein neues Rom, eine hei lige Stadt; er bemühte sich darum, die klassische Bildung zu erlernen und seine Biographen wandten auf sein Leben Kategorien an, die aus den Bio graphien der antiken Kaiser entlehnt waren. Ein deutscher Historiker hat in der Zerstörung des römischen Impe riums durch die germanischen Völker die Wiedereinführung des nationalen Prinzips in die Weltgeschichte gesehen. Aber das Einströmen der Barbaren in das römische Imperium geschah nicht namens einer neuen Idee; auch waren sie nicht die Träger irgendwelcher neuen Ideale. Sie brachen das Im perium in Einzelstaaten auf, von denen viele nicht mehr waren als vor übergehende Niederlassungen wandernder Stämme, und keiner von ihnen zeichnete sich durch nationales Bewußtsein und durch nationale Prinzipien aus. Diese barbarischen Horden wurden durch Kriegs- und Eroberungssucht getrieben, aber sie waren nicht in der Lage, dauerhafte Gebilde zu schaffen, cs sei denn, daß sie selber die römische Kultur annahmen. Von Athaulf, dem Westgotenkönig, der nach dem Tode seines Schwagers Alarich 4 12 die Goten durch Gallien nach Spanien führte, wird berichtet, daß er »als Erster den heißen Wunsch hatte, den römischen Namen auszulöschen, das ge samte römische Territorium der Tatsache und dem Namen nach zu einem gotischen Reiche zu machen, so daß, um den allgemeinen Ausdruck zu ge brauchen, Cothia an die Stelle von Romania treten sollte und er, Athaulf selber, all das werden wollte, was Caesar Augustus einst gewesen war. Da er aus Erfahrung wußte, daß die Goten wegen ihres ungezügelten Barba rentums unfähig waren, Gesetzen Folge zu leisten, er aber davon überzeugt war, daß ein Staat nicht ohne jene Gesetze, welche den Staat erst zum Staate machen, existieren kann, versuchte er, wenigstens für sich selber den Ruhm zu erlangen, den Glanz des römischen Namens durch die Macht der Goten wiederhergestellt und vermehrt zu haben; da er das Imperium Romanum nicht wandeln konnte, wollte er von der Nachwelt wenigstens als dessen Wiederhersteller gefeiert werden.« Die germanischen Völker, von den Goten bis zu Karl dem Großen, konnten nur durch Übernahme des Erbes des römischen Universalismus den Weg in die Zivilisation finden. Zu Beginn des Mittelalters gab es kein germanisches National- oder Ras senbewußtsein. Die Goten verachteten die Germanen des Westens und wa ren auf ihre höhere Kultur und auf ihre Verbindung mit Rom, die Theoderich als König von Italien unterhielt, stolz. Die Franken verbündeten sich
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mit Byzanz gegen die Goten und die Langobarden. Mit zunehmender Macht begannen die Franken sich, wie einst die Römer, als die Nachkom men der Trojaner zu betrachten. In der neuen deutschen Geschichtsschrei bung wurde heftig darum gestritten, ob Karl der Große oder sein Gegner, der Sachsenherzog Widukind, die germanische Nation bzw. den germani schen Nationalismus repräsentiert hätten; aber dieses traf für keinen von den beiden zu. Karl der Große hat keine französischen oder deutschen Kriege geführt, er hat, in der Art der barbarischen Tradition, aus der er selber hervorgegan gen war, im Namen der Christenheit gekämpft. Die Quelle, aus der sein Geist gespeist wurde, war das römische Christentum und die Erinnerung an ein zivilisiertes und geeintes Europa, so wie diese in Gallien noch fortlebte. Er hat die Mitte Europas für die Kultur erschlossen, aber Deutschland blieb während vieler folgender Jahrhunderte in kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht ein Grenzland. Das Verlangen nach Kultur hat die Germanen über die Alpen nach Italien getrieben, in das Land, das eine ältere und reichere Kultur besaß, das über eine sichere und verwurzelte Bildungs- und Kunst tradition verfügte. Auch war dort der materielle Wohlstand jener Zeit zu finden, und vor allen Dingen schien die Würde des Imperiums unlösbar an Rom gekettet zu sein. Vor dem neunten Jahrhundert war Konstantinopel der Sitz des Imperi ums gewesen. 797 entthronte eine ehrgeizige Frau, Irene, während eines theologischen Konfliktes ihren Sohn Konstantin VI. und setzte sich selber auf die Dauer von fünf Jahren auf den Thron der Kaiser. Dieser Umstand hat einem ehrsüchtigen Papste, der des Meineides, der Unzucht und der Simonie beschuldigt war, sowie einem ehrgeizigen Könige die große Chance geboten. Es wird berichtet, daß Karl der Große schwere Bedenken gegen seine Krönung durch den Papst gehabt habe, daß er es lieber gesehen hätte, wenn das römische Volk seine Wahl bestätigt hätte, daß er brennend eine Legitimation seiner kaiserlichen Würde durch die Kaiser in Konstan tinopel wünschte und daß er sogar daran gedacht habe, sich mit Irene zu vermählen. Das Imperium in Konstantinopel blieb bestehen, und während vieler folgender Jahrhunderte war es zivilisierter und mächtiger als die Neuschöpfungen im Westen. Das Jahr 800 hat die Macht Karls des Großen nicht erhöht, und sein Ansehen hat damals wahrscheinlich nur in geringem Maße gewonnen. Seine großen Siege hatte er vor jenem Tage errungen. Nach seinem Tode spaltete sich sein Reich auf und nichts blieb davon übrig als ein Name, eine Über lieferung und eine Legende. Aber das Jahr 800 hat eine endgültige und
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bleibende Spaltung in Europa hervorgerufen und hat dem Westen den Kampf zwischen Papsttum und Kaisertum hinterlassen, dessen tiefe Spuren selbst heute noch spürbar sind. Nur im Westen hat der Papst als der Statt halter Christi auf Erden den Vorrang vor dem Staat und die Macht, auf Erden wie im Himmel zu lösen und zu binden, beansprucht. Gregor VII. benutzte diese Macht und diesen Anspruch, um 10 76 Kaiser Heinrich IV. abzusetzen. »Mihi tua (Petri) gratia est potestas a Deo data ligandi atque solvendi in coelo et in terra.« Innocenz III. (119 8 —12 16 ) verglich die päpstliche Autorität mit der Sonne und die königliche Macht mit dem Monde, und genau so wie jener viel geringer an Rang und Umfang war als die Sonne und sein Licht von ihr bezog, so war auch der Staat von der Kirche abhängig. Gregor IX. (1227 — 12 4 1) begründete seinen Anspruch auf das>imperium mundi< auf die angebliche Konstantinische Schenkung, der zufolge der Kaiser Konstan tin dem Papste Sylvester und allen seinen Nachfolgern nicht nur die geist liche Oberherrschaft über die Christenheit, sondern auch die weltliche Herr schaft über Rom, Italien und den westlichen Teil des Imperiums zugesagt hat. Aus dieser Schenkung, die im Mittelalter von Freund und Feind glei chermaßen anerkannt wurde, schloß Innocenz IV. (1243—1254), daß Chri stus »in apostolica sede non solum pontificalem sed et regalem constituit monarchatum«. Den Höhepunkt erreichten die päpstlichen Herrschaftsansprüche unter dem Pontifikat Bonifaz VIII. (1294—130 3), der in der Bulle >Unam Sanctam< proklamiert hatte, daß die Kirche Alles in Einem sei. »Diese eine und einzige Kirche hat einen Leib und einen Kopf — und nicht zwei Köpfe wie ein Ungeheuer — nämlich Christus und Christi Statthalter Petrus, wie der Herr selber zu Petrus sprach: Geh hin und füttere meine Schafe.« Die Ge schichte (Luk. 22, 38) von den Jüngern, die dem Herrn zwei Schwerter zeigten, wurde zur Rechtfertigung für die Behauptung, daß beide Schwerter der Kirche übertragen worden seien, benutzt. Denn der Herr habe nicht ge sagt, »zwei sind zu viel«, sondern »es ist genug«. Das geistige Schwert solle die Kirche handhaben, das andere der König — aber nach dem Geheiß und mit Duldung der Kirche. Das Wort des Apostels Paulus (Röm. Brief 1 3 , 1 ) , »denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet«, ordnet die weltliche der geistlichen Macht unter. So sollte die Prophezeiung des Jeremias ( 1,1 0 ) erfüllt werden: »Sieh, ich setze dich heute dieses Tages über Völker und Königreiche . . .« Wenn sie uueh vom Menschen gehandhabt wurde, so war es doch eine göttliche Ge walt, die Petrus und seinen Nachfolgern übertragen worden war.
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Was Wunder, daß einer der Anhänger des Papstes, Arnold de Villa I nova, erklärt hat, die Gegner der päpstlichen Forderungen seien die Vor läufer des Antichrist. Doch diese Steigerung der päpstlichen Ansprüche, diese Radikalisierung der universalistischen Lehre und der Vorrangstellung der Kirche äußerte sich in dem Augenblick, in dem die Macht der Kirche j, über die weltlichen Angelegenheiten bereits im Nachlassen war. Bonifaz VIII. selbst war gegen Ende seines Pontifikats bereits machtlos. Neue Mächte waren im Kommen. Als ob er es gefühlt hätte, daß unter den veränderten i Verhältnissen die Grundlagen der alten Ordnung erschüttert würden, f wünschte Bonifaz, seine Ansprüche durch einen neuen und triumphalen Akzent zu stärken. Doch zwei Jahre nach seinem Tode begann die Babylo nische Gefangenschaft. Clemens V. (130 5—13 14 ) residierte bis zu seinem Tode in Avignon, ohne ein einziges Mal die Ewige Stadt betreten zu haben. ( Innerhalb der Kirche wuchs der Widerstand gegen das Papsttum. Ein neuer Tag brach an, und sein Kommen konnte auch nicht durch den leuchtenden Nachglanz des päpstlichen Universalismus unter Bonifaz VIII. aufgehalten werden.
9 Eng verknüpft mit dem Schicksal des Papsttums war das Geschick seines Gegenspielers, des Reiches mit seinen gleichlaufenden und widerstreitenden Ansprüchen. Seit 962, als Papst Johannes XII. den deutschen König Otto I. in Rom zum römischen Kaiser gekrönt hatte, war es allgemein anerkannt, daß der Anspruch auf das Reich bei den deutschen Königen lag. Unter den Hohenstaufen und besonders unter dem hervorragendsten und in vieler Hinsicht eigenartigsten Sproß dieser schwäbischen Herrscherfamilie, Fried rich II. ( 1 2 1 1 —1250 ), hat dieser Anspruch seinen Höhepunkt erreicht. Be einflußt von arabischer Kultur, die er wegen der Großzügigkeit und Weite ihrer geistigen Atmosphäre schätzte und bewunderte, wies Friedrich II. einige i Züge auf, die moderner waren als die üblichen Anschauungen seiner Zeit. Er war in mancher Beziehung skeptisch; er zeigte Ansichten und savoirfaire eines Mannes mit Weitblick; in seinem geliebten Sizilien hatte er die Grundlagen einer verbesserten Verwaltung eingeführt. Aber seine ganze Weltanschauung war mittelalterlich. Seine leitende Idee war die der alttestamentlichen Theokratie: Die Salbung durch den Papst verleiht dem Kaiser sakralen Charakter; er ist König und Priester zugleich, in direkter und un mittelbarer Beziehung zu Gott, ohne des Papstes als Mittler zu bedürfen.
Sein Vorbild war das Königreich Davids. So wie David einst Gottes Statt halter gewesen war, war der Kaiser jetzt der Statthalter Christi. Da Chri stus das Reich Davids geerbt hatte, herrschten die Kaiser als dessen Nachfol ger. Friedrich II. hat sich oft auf »noster predecessor David, rex inclitus Israel« berufen. Friedrich II. war sich seiner kaiserlichen Stellung eher noch stärker be wußt als Friedrich I., der dem Bischof von Brixen geschrieben hatte: »Cumque unus Deus, unus papa, unus imperator sufficiat«. Friedrich I. ( 115 2 — 119 0 ) erschienen alle Könige neben dem Kaiser nur als >reguli<, oder wie sich Walther von der Vogelweide, einer der großen Minnesänger des römi schen Reiches der deutschen Könige, ausdrückte, »armer künec«. Friedrich II. beanspruchte für das Kaisertum die Oberhoheit nicht nur über alle Könige, sondern sogar auch über den Papst. Der Kaiser hat den göttlichen Auftrag, die in Sünde verfallene Menschheit wieder zur göttlichen und natürlichen Ordnung zurückzuführen und als Richter über die uneinige Menschheit, den Willen Gottes zu erfüllen. Friedrich II. fühlte sich beinahe als eine Re'inkamation Davids, der, so wie auch er es war, der Gesalbte des Herrn und König von Jerusalem gewesen war. Neben der Bibel war auch das antike Rom für Friedrich II. eine Quelle, aus der er schöpfte. Er prägte Münzen nach dem Vorbild Augustus'; wie jener hatte er den Wunsch, als ein rex iustus ein goldenes Zeitalter für alle Menschen herbeizuführen. Das durch die Universität in Bologna wieder entdeckte und neu ausgelegte römische Recht erinnerte an die Stellung des antiken Kaisers als die oberste Spitze der Menschheit, wonach niemand außer Gott selbst über den Kaiser richten konnte. Nur in rein religiösen A n gelegenheiten unterstand er dem Richterspruch des Papstes. Friedrich II. be diente sich der Sprache der römischen Kaiser, und er wiederholte ihre stol zen Ansprüche auf ein Reich, das nur durch die Grenzen der Erde beschränkt sei. Da in der Philosophie des Mittelalters die Ordnung der Welt von der Vielheit ausgehend, durch mehr und mehr universale Kreise aufsteigend, schließlich zu einer letzten Einheit aufstieg und alle Vielheit ihr Licht von dieser letzten Einheit empfing — so war eine universale Monarchie not wendig, um die natürliche Ordnung zu erfüllen. Der Kaiser war wieder der >soter<, der Erlöser, das Licht der Menschheit, der Einer und Herr der Natur. Hier war die Vorstellung einer >summa<, die genau so großartig und von der antiken Überlieferung inspiriert, der mittelalterlichen Welt angepaßt und auf sie übertragen war wie die >Bumma< der großen Kirchenväter, nur daß diese nicht mehr um Papst und Kirche, sondern um Kaiser und Staat als Mittelpunkt gruppiert war. Doch 89
ging Friedrichs II. Hoffnung genau so wenig in Erfüllung wie die der Päpste Innocenz III. oder Bonifaz VIII. So wie auf Bonifaz die Gefangen schaft in Avignon folgte, folgte auf Friedrichs II. Tod das schmähliche Ende seines Hauses und das Interregnum. Als Heinrich VII. (1308—13 13 ) noch einmal den Versuch unternahm, ein »Romanum imperium in cuius tranquillitate totius orbis regularitas requiescit« zu errichten und sich auf die »divina precepta, quibus iubetur, quod omnis anima Romano principi sit subiecta« berief, wurden seine Ansprü che als veraltert bestritten. »Loquendo moderno tempore de potestate et auctoritate imperatoris est quodammodo sermo abusivus, quoniam ipse omnia habere dicitur et quasi nihil possidet.« Diese Stimmen traten noch vereinzelt auf. Der größte Mann jener Zeit verhalf der Idee des Universalismus zu einem hoheitsvollen und ewig gültigen Ausdruck. Vielleicht fühlte Dante, daß das Gebäude, das so fest auf Gottes Wort und auf den Überlieferungen der Alten gegründet war, dem kritischen Auge bedrohliche Risse enthüllte. In seinem Werke liegt bereits ein schwacher Schein einer neuen Epoche, aber die ganze Kraft seines Genies war darauf gerichtet, der Nachwelt den hehrsten Ausdruck der mittelalterlichen Welt zu überliefern. In der >Monarchia< legte Dante dar, daß die Ordnung der Menschheit auf »drei Säulen« beruht. Die dritte Säule bildet die Macht des Kaisers, die direkt von Gott und nicht vom Papste kommt. Die zweite ist der Glaube an die Rechtmäßigkeit des Reiches, das durch das römische Volk, welches durch Natur und Adel hierfür bestimmt war, geschaffen worden ist; diese beiden Säulen tragen die erste, nämlich den Glauben, daß die »civilitas humani generis« ein gemeinschaftliches Ziel hat, nämlich den Einsatz aller Geistesgaben für ein gerechteres Leben, welches nur in einer universalen Ordnung, die Dante in der Weltmonarchie, im Kaiser personifiziert sah, verwirklicht werden konnte. Dante war kein Nationalist. Weder ihm noch seinen Zeitgenossen ist der Gedanke an eine politische Einheit Italiens in den Sinn gekommen. Her mann Grimm hat einmal gesagt, daß die Einheit, so wie sie heute besteht, zu Dantes Zeiten unvorstellbar gewesen wäre. Genua, Venedig, Pisa, Flo renz, Rom, Neapel, von Grund auf bis zur Spitze vollständig getrennt“ Staaten, in einem einzigen Königreich mit einer zentralen Regierung ver einigt, wäre in jener Zeit unmöglicher erschienen als heutzutage die Vor stellung von einer Weltregierung. Dante liebte Italien. Er hat das erste große Gedicht in italienischer Sprache verfaßt, und in seiner >De Vulgari Eloquentia< hat er der Sprache des Volkes die Ehrung des liebenden und des schöpferischen Genies erwiesen. Doch, wie weit er vom Nationalismus 90
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entfernt war, zeigt wohl am besten jener Abschnitt ( / ), in dem er auf die Frage nach der Sprache des ersten Menschen einging. Deutsche Natio nalisten der Renaissance haben die Frage in dem Sinne beantwortet, daß Adam Deutsch gesprochen habe. Dante aber war davon überzeugt, daß I lebräisch die Sprache des ersten Menschen und auch die Sprache Christi gewesen sei. »Denn, wer auch immer solch' niedere Meinung hat, daß er deinen Geburtsort für den schönsten unter der Sonne hält, der wird auch die Sprache seines Volkes, das heißt seine Muttersprache, vorziehen vor allen anderen: und folglich wird er auch glauben, daß seine Sprache auch Adams Sprache gewesen sei. W ir aber, deren Vaterland die Welt ist, wie die See das Vaterland der Fische, die wir das Wasser des Arno getrunken haben schon bevor wir Zähne hatten, die wir Florenz so sehr lieben, daß wir darum ungerechte Verbannung erleiden müssen, wünschen unser Ur teil mehr auf Vernunft als auf Gefühl zu gründen. Obwohl es auf der Welt zu unserer Freude oder für die Erquickung unserer Seele keine schönere Stadt gibt als Florenz, haben wir die Bücher der Dichter und anderer Auto ren, in denen die Welt im allgemeinen und im besonderen beschrieben ist, wieder und wieder geprüft, und wir haben nachgedacht über die verschiede nen Orte der Welt, an beiden Polen und rund um den Äquator, und wir haben festgestellt, daß es viele Orte und Städte gibt, von denen wir überzeugt sind, daß sie edler und schöner sind als Toscanien und Florenz, wo ich her stamme und dessen Bürger ich bin; desgleichen daß viele Völker schönere und brauchbarere Sprachen haben als die Italiener.« Wir finden in Dante keine Spur von Nationalismus. Er empfand ledig lich die dem Menschen angeborene Liebe für seinen Geburtsort und seine Muttersprache, was bei ihm noch durch das traurige Schicksal von Florenz lind durch seine Verbannung sowie durch die Liebe, die der Dichter für sein Instrument empfand, gesteigert wurde. Als Dante, vielleicht zum ersten Male, von Italien als von einem gemeinsamen Vaterlande sprechen wollte, fand er keinen anderen Ausdruck als die wundervollen und schlichten Wor te »del bei paese lä, dove il si suona« (Inferno, 3 3, 80). Dante sah Italien und die Welt in mörderische Kämpfe verstrickt. Das Ziel seiner Wünsche war nicht die politische Einheit Italiens, sondern der Friede in Italien und der Friede der Menschheit in einer einigen Welt. Er sehnte sich nicht, wie später Machiavelli, nach einem italienischen Fürsten, der Italien einigen sollte. Er wartete, daß der deutsche König als Kaiser komme, um den Frieden Italiens und den Frieden der Menschheit wiederlicrzustellen. In einem Briefe hat er die Fürsten, Städte und Bürger Italiens aufgefordert, Heinrich VII. mit offenen Armen zu empfangen: »Die
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Zeit, in der die Zeichen der Einigkeit und des Friedens erstehen, ist gekom- j j men. Ein neuer Tag bestrahlt und erhellt schon die Schatten des langwäh- | renden Elends. . . Freue dich, Italien, das jetzt sogar von den Sarazenen bedauert wird, bald wird der Erdkreis voll Neid auf dich schauen, denn dein Bräutigam, die Sonne der Welt und der Glanz deiner Völker, der allergnädigste Heinrich, von Gottes Gnaden König, Augustus und Caesar, eilt zur Vermählung.« In Convivio< (IV, 4) stellte er dar, daß das Ziel der menschlichen Gesellschaftsordnung das glückliche Leben sei. »Die ganze Welt, soweit sie den Menschen als Besitz gegeben ist, sollte unter einem Fürsten stehen d e r. . . die Könige im Bereich ihrer Reiche zufrieden halten würde, so daß sie unter einander in einem Frieden leben, in dem die Städte ruhen können und in dieser Ruhe die Nachbarn sich lieben können, und in dieser Liebe könnten die Familien ihre Wünsche befriedigen; wenn dies einmal so sein wird, dann lebt der Mensch im Glück; dieses ist der Zweck, ’ zu dem er geboren ist.« Mit dieser Betonung der >vita felice< wandte sich Dante vom Pessimismus des mittelalterlichen Christentums weg, einer neuen freudigen Bejahung des ] menschlichen Gemeinwesens zu. Hierin folgten ihm die Renaissance und die Neuzeit, aber was sie nicht begriffen hatten, war seine universale Bot schaft und sein Anruf an die >humana civilitas<. »O Menschengeschlecht, wie viele Stürme müssen dich noch schütteln, welche Verluste mußt du noch erdulden und wie oft wird dein Schiff noch steuerlos auf den sturmgepeitsch ten Wogen treiben, solange du noch, wie ein vielköpfiges Ungeheuer, nach Dingen strebst, die sich nicht vereinbaren lassen. An beiderlei Erkenntnis fehlt es dir, und auch an Gemüt. Unwiderlegbare Vernunftgründe verhelfen dir nicht zur höheren Einsicht, und selbst die augenscheinliche Erfahrung hilft dir nicht zur Erkenntnis. Auch dein Gemüt empfindet nicht die Süße göttlicher Belehrung, wenn dir die wundervollen Klänge des Heiligen Gei- j stes in die Seele klingen: Seht, Brüder, wie gut und schön es ist, wenn man in Einigkeit zusammensteht.«
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10 Im späten Mittelalter drückte sich jeder nationale Partikularismus als ein Teil des Universalismus des Reiches aus. Ein von dieser Bindung losgelöstes, von der Reichsidee gesondertes Nationalbewußtsein war unvorstellbar. Walther von der Vogelweide sprach von »das roemische riche« und »diu tiusche zunge«, ohne eindeutig zu unterscheiden oder darin einen Wider92
Spruch zu sehen. »Denn noch gab es keinen deutschen, sondern nur einen römischen Geist, der die Germanen bildete, und noch war es keine deutsche, sondern eine römische Form, welche die Nordländer einte und einander an glich, und nur das Blut hatten die Stämme gemein, das aber sprach als Ge meinsames selten genug, fast nur in dem Rausch weniger Gnadenstunden und gerade in solchen Augenblicken der höchsten Feier, wenn sie wirklich eins waren oder sich zu Kreuzzug oder Romfahrt rüsteten oder auf anderen Höhenstufen die eigene Welthaltigkeit ganz unmittelbar begriffen: in sol chem Aufglühen des äußersten Stolzes fühlten alle, die Sachsen und Fran ken, Schwaben und Bayern das Gemeinsame nicht als das Deutsche, son dern wußten sich dem Römertum nahe als Erben des Caesarenreiches, wähnten sich selbst als Sprossen der Trojer und nannten sich geradezu >Römer<. >Deutsche< durften vielleicht erst wir heute sagen.« Bezeichnend hierfür waren die Worte des Privilegs des Deutschen Ordens, der durch seine Eroberungen deutsche Herrschaft und Kolonisation weit über den Osten und Nordosten hin ausgebreitet hat. »Zu solchem Zweck hat Gott unser Reich erhaben über den Königen des Erdenrundes errichtet und die Grenzen unserer Macht über die verschiedenen Gebiete der Welt hin ausgebreitet, daß sich unser Mühen und Sorgen auf die Mehrung seines Na mens in dieser Welt und auf die Verbreitung unseres Glaubens unter den Völkern richte, da Er zur Predigt des Evangeliums das römische Reich be stimmt hat: daß wir also auf Unterdrückung nicht minder als auf Bekeh rung der Heidenvölker unseren Sinn lenken mögen . . .« Das Wort Deutsch wurde zuerst im achten und neunten Jahrhundert zur Bezeichnung der deutschen Sprache angewandt. Erst im elften Jahrhundert begann es auch die Menschen, die sich dieser Sprache bedienen, sowie ihr l.and zu bezeichnen. Sein Gebrauch bedeutete noch nicht das Vorhanden sein eines politischen, nationalen Bewußtseins. Das erste Aufflackern eines deutschen Nationalbewußtseins im Volke, der deutsche Bauernaufstand, wurde von Fürsten und Adel schnell und gründlich ausgelöscht. Das Natio nalbewußtsein, das der deutsche Humanismus aus literarischen Quellen »chöpfte, übte weder einen tiefgehenden Einfluß auf den Adel aus noch drang es bis ins Volk hinein. Obgleich ein Bewußtsein der Verschiedenheit von anderen Gruppen in Sprache und Wesen vorhanden war, blieb deut sches politisches wie kulturelles Denken bis ins siebzehnte Jahrhundert hin ein in der Vorstellung der universalen Reichsidee befangen. Mit dem Dahinsiechen der päpstlichen Macht lösten sich die deutschen politischen Vorstellungen aus ihrer Gebundenheit an das örtliche Rom und konzentrierten sich auf deutschen Boden. 13 3 8 erklärte Ludwig der Bayer,
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daß die Wahl der Kurfürsten allein schon zur Übertragung der Kaiser würde genüge. Karl IV., Enkel Heinrichs VII., ein Monarch der politisch klug und wirklichkeitsnahe dachte, wandte sich von der Überschwenglich keit seines Großvaters ab und widmete seine ganzen Kräfte seinem eigenen Territorium, dem Königreich Böhmen, das er durch die Einführung des Humanismus aus Italien und Frankreich zum fortschrittlichsten Lande Mit teleuropas machte. Im vierzehnten Jahrhundert löste sich die Reichsidee von ihren beiden >transzendenten< Brennpunkten, Rom und Jerusalem. Die Kreuzzüge nach dem Gelobten Land hörten auf. Die Reichsidee verband sich jetzt mit ganz bestimmten Territorien: mit Deutschland für die Deutschen, Frankreich für die Franzosen, Italien und Rom für die Italiener. Spanien war noch vollauf mit der >reconquista< beschäftigt, und das durch die See isolierte England entwickelte schon früh ein Bewußtsein für seine territoriale Einheit. Beiden brachte erst das sechzehnte Jahrhundert ihre Reichsidee, die aber dann* nicht mehr statisch, sondern dynamisch war, nicht der Vergangenheit, son- | dern der Zukunft und dem Unbekannten zugewandt. Doch in den Winden, die über den ungeheuern Ozean wehten, die zu Fahrten nach fremden und abenteuerlichen Ländern reizten und lockten, lag für die Engländer wie für die Spanier die Witterung eines neuen Jerusalem und eines ewigen Rom. j Ohne diese Witterung wäre das imperiale Wagnis den Völkern der west lichen Christenheit sinnlos erschienen, selbst lange nach dem Ende des Mit telalters. Im östlichen Christentum war die Stellung des byzantinischen Reiches durch das Vordringen des Islams, des Erben des hellenistischen Ostens, » äußerst gefährdet. Als der Islam 14 5 3 Konstantinopel eroberte, erhoben die Fürsten von Moskau, die durch religiöse und Familienbande mit dem Kai serhause verbunden waren, einen neuen Reichsanspruch. Jetzt wurde Mos kau zum »Dritten Rom< erklärt; seine Fürsten übernahmen den zweiköpfigen Reichsadler und führten den Caesarentitel. So wie seinerzeit die germa-* nischen Barbaren durch die Aussicht auf höhere Zivilisation, größere Reichtümer, auf freundlichere und üppigere Natur nach Rom gelockt worden waren, so wurden jetzt die Barbaren der kalten sarmatischen Ebenen durch ähnliche Aussichten nach Konstantinopel gelockt. Wie das Reich Karls des Großen nach dem Besitz von Rom, der großen urbs, gestrebt hatte, so ver langten die slawischen Nachfolger der Kaiser nach dem neuen Rom, der gro ßen Polis, Czarigrad, dem traditionellen Sitz der Kaiser. Konstantinopel blieb der umkämpfte Kernpunkt einer imperialen Idee, noch lange nachdem Rom in politischer Hinsicht zu rein örtlicher Bedeutung herabgesunken war.
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Andererseits blieb aber Rom der lebendige Mittelpunkt des geistigen Rei ches der Päpste, ohne auch nur einen einzigen seiner universalen Ansprüche aufzugeben, während von Konstantinopel wie von Jerusalem in geistiger Hinsicht nicht mehr als eine Hoffnung und eine Erinnerung übriggeblieben sind.
11 Dante betonte die enge Verbindung zwischen der Reichsidee und dem römi schen Volk. An Hand der Aeneis wies er nach, daß sich das Blut der edel sten Völker Asiens, Afrikas und Europas im Ahnherrn des römischen Vol kes vereint hatte, »und somit war dieses Volk das edelste unter dem Him mel; oder wem bleibt bei jenem doppelten Einstrom des Blutes aus jeg lichem Weltteil in den einen Mann die göttliche Vorbestimmung verborgen?« Ohne die Mitwirkung von Wundern hätte das römische Reich nicht errich tet werden können, es war deshalb von Gott gewollt, »et per consequens de iure fuit et est«. Durch die Unterwerfung der Welt hat das römische Volk nur im Sinne des allgemeinen Wohles und des allgemeinen Friedens gehandelt. Ja, es sei sogar so weit gegangen, den eigenen Vorteil zugunsten der Menschheit zu vernachlässigen. Er führte Zeugnis um Zeugnis dafür an, daß das römische Volk das Imperium mit Gottes Hilfe und durch ge rechte Kriege geschaffen habe. Nachdem er eine große Anzahl vernunftmäßigen Argumente aufgezählt hatte, führte Dante schließlich auch noch Argumente aus der christlichen Lehre an. »So mögen sie denn, die angeb lichen Söhne der Kirche, endlich aufhören, das römische Kaisertum schlecht zu machen, wenn sie sehen, daß ihr Bräutigam Christus es also zum Ein gang und Ausgang seines Heldenlebens gutgeheißen hat. Und endlich, dünkt mich, ist zur Genüge offenbart, daß das römische Volk sich zu Recht das Weltkaisertum beigelegt hat.« Der Zusammenhang dieser >nationalistischen< Beweisführung, die das zweite Buch der Monarchia, der eindringlichsten Verteidigung des Univeroalismus ausmacht, zeigt deutlich, daß Dante, obwohl er den universalen Auftrag mit dem römischen Volke verband, er diesen doch noch keines wegs räumlich begrenzte und in einer Weise einengte, die irgendwie einem Nationalismus gleichkäme. Fünfzig Jahre später hat Francesco Petrarca (1304—1374) dieses getan. Er wurde als der erste italienische Patriot gefei ert, dessen Liebe zu >Italia Mia< aus der ersten Stanze des berühmten Ge il ichtes klingt:
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O mein Italien, ob kein Wort auch heile Die Wunden, die ich offen An deinem schönen Leib in Menge sehe, Dennoch, wie Tiber, Arno, Po es hoffen, An dem ich schmerzvoll weile, Will ich in Seufzern kündigen mein Wehe. — O Himmelsfürst, ich flehe, Daß Mitleid dich und deinem schönen Lande, Dem teuren, wie vordem zur Erde lade! Da sieh, o Herr, voll Gnade, Wie grimmer Streit erwuchs aus kleinem Brande. Die Herzen, die in Bande Mars schlägt und stählt die blinden, O löse, Vater, sie! dem Hochmut wehre! Laß meine Zunge künden, Wer ich auch sei, hier deiner Wahrheit Lehre! Petrarca war einer der Wegbereiter der Renaissance. Aber bei all seinem Interesse für die Antike und all seinem lebhaften Empfinden für die irdi schen Werte des menschlichen Lebens, was ihn so betont von Dante unter schied, war Petrarca der Repräsentant einer Übergangsperiode. Das Reich, auf das Dante so gehofft hatte, war aus dem Mittelpunkt des Weltgesche hens genau so zurückgetreten wie das Papsttum, das sich in Avignon in der Gefangenschaft befand. Petrarca glaubte und hoffte noch auf diese beiden Träger des universalen Gedankens — aber ihre Schwäche bekehrte ihn dazu, sich geistigen Trost und geistige Nahrung aus den Quellen der Antike zu schöpfen. Doch war auch Petrarcas Patriotismus, wie später in der Renais sance, rein literarischer Natur, und er vermochte noch nicht einmal jenen Widerhall im Kreise der Gebildeten zu erwecken, den dann später die Schriftsteller der Renaissance immerhin erregen konnten. Kein Staatsmann richtete sich nach seinen Träumen und Hoffnungen, die Wirklichkeit blieb unverändert, Petrarcas Stimme verhallte wie die Stimme des Rufers in der Wüste. »Dante, der inmitten der Bevormundung durch Staatsparteien auf gewachsen war, erschien das Reich als die einzige, Ordnung wahrende, welt liche Gewalt und Italien lediglich als ein geographischer Begriff. Petrarca aber — der von Kindheit auf im Exil gelebt hatte — trat in einer noch un deutlichen Vision die werdende Nation entgegen; die Grenzen der Stadt staaten verwischten sich, und ihre Herrscher erschienen ihm als die Träger der Verantwortung für die ganze stumme Masse der Bevölkerung, so wie die Hirten für ihre Herden verantwortlich waren. Mit dem Blicke des entrückten Betrachters schaute er auf die gärende Masse des italienischen 96
Zwistes; wie ein Schwacher, der nach einem Halt greift, suchte er nach einer von innen heraus wirkenden einigenden Kraft, die stark genug gewesen wäre, die Fremden vom heiligen Boden zu vertreiben und die himmlische Gabe des Friedens wieder in ihre Rechte einzusetzen. Wohl hat er, wie Dante, von einer Erneuerung aus der Vergangenheit geträumt — aus der Neube lebung des Ruhmes des republikanischen oder des kaiserlichen Roms. Doch schien dieser Traum für immer entschwunden zu sein.« Nur ein einziger Versuch zur Verwirklichung dieser unbestimmten und unklaren Hoffnungen wurde unternommen. Es war nur ein erstes, kurzes Aufflackern dessen, was erst in späteren Jahrhunderten zu heller Flamme auflodern konnte. Cola di Rienzo unternahm den Versuch, ganz Italien unter der Vorherrschaft Roms zu einen. Im Jahre 13 4 7 legte er sich den Titel >Libertatis, Pacis Iustitiaeque Tribunus, et Sacrae Romanae Rei l’ublicae Liberator< bei. Petrarca feierte ihn in seinem berühmten Gesang »Spirito gentil che quelle membra reggi«, als die Rexnkarnation des Geistes der Klassik. Aber, obgleich der beginnenden Wiederentdeckung der Antike verpflichtet, war Rienzo doch noch wesentlich tiefer in mittelalterlichem Ge dankengut und Mythos, in mittelalterlicher Allegorie und Magie befangen. Seine Erscheinung war noch mittelalterlich, und seine Welt beruhte, wie diejenige Dantes und Petrarcas, auf den beiden universalen Grundlagen der Epoche, auf Kirche und Reich. Beide waren in seiner Anschauung in Rom lokalisiert. Die geographische Identität Roms gewann für ihn einen neuen Sinn, weil die Päpste Rom verlassen hatten, wenige Jahre nachdem die Ewige Stadt zum Mittelpunkt einer weltweiten Wallfahrtsbewegung (1300) gemacht worden war, und auch weil die Päpste von Avignon aus verkündet hatten: »Ubi Papa, ibi Roma«. Die Römer protestierten hiergegen und for derten die Rückkehr des Papstes zu »hanc sanctissimam gentem et urbem Komanam, quam Christus ipse in gentem sanctam, genus electum, regale sacerdotium et populum acquisitionis incommutabiliter elegit«. Scheinbar glaubte Rienzo, daß die Einigung der Menschheit nur von den Hügeln Roms ausgehen könne und daß eine universale Kirche unmöglich sei, wenn nicht Rom in ihrer Mitte stehe. Rienzo fand Rom in einem Tiefpunkt der I rniedrigung vor; in einer Art, die mehr an das dreizehnte Jahrhundert als m die Renaissance erinnert, wollte Rienzo Rom wieder aufrichten und die Stadt zur >magistra mundi< erheben. Rienzo und Petrarca gehörten beide zu jener Generation, die durch das Werden einer neuen Epoche inspiriert wurde. Sie waren weniger die Vor läufer des modernen Nationalismus als die ersten Schrittmacher der Renais sance, die durch die Wiedererweckung des antiken Patriotismus notwen97
digerweise auch nationalen Ideen, wenn auch zunächst nur im Kreise von Literaten, zu neuem Leben verhalf. In der Mitte des vierzehnten Jahrhun derts zeigte Boccaccio in seinen Erzählungen eine Geisteshaltung, die von der des Mittelalters grundverschieden war: eine Bejahung der natürlichen Lebensfreude und unbeschwerter Heiterkeit. Seine italienische Prosa war beispielhaft für eine neue Lebensgewandtheit und Lebensbewußtheit. Zu einer Zeit, in der das Studium der antiken Literatur auf einen sehr tiefen Stand gesunken war, sammelte und kopierte er Manuskripte und wirkte richtunggebend durch die Errichtung des ersten Lehrstuhles für griechische Sprache und Literatur in Italien. Petrarca teilte Boccaccios Bewunderung für die klassischen Schriftsteller, aber, wie die meisten gebildeten Italiener seiner Zeit, war er nicht in der Lage, die griechischen Autoren in der Ur sprache zu lesen. Die gleiche Begeisterung, die Petrarca und Boccaccio erfüllte, beherrschte auch Rienzo. A uf Grund der Proklamationen, in denen er die Souveränität des römischen Volkes und die Einheit Italiens erklärte, sowie auf Grund sei nes Kampfes für das gewöhnliche Volk gegen die Korruptions- und Unter drückungsmaßnahmen der Aristokratie kann man Rienzo als einen der ersten betrachten, der es versucht hat, die noch unbestimmten nationalen und demokratischen Ideen, so wie sie im vierzehnten Jahrhundert auf tauch ten, zu verwirklichen. Und doch war sein starkes Verlangen nach einem neuen Leben und nach einer neuen Welt, nach einer >renovatio<, mehr durch den Geist der Mystiker und Mönche der Vergangenheit beseelt, als eine klare Vorausschau der in der unmittelbaren Zukunft zu erwartenden neuen Wirklichkeiten. Der Zusammenbruch seiner Bestrebungen kann nicht durch die persönliche Unzulänglichkeit erklärt werden, er war bedingt durch die gänzliche Verständnislosigkeit, mit der Volk und Aristokratie in Italien seine Botschaft aufnahmen. Während der wenigen Monate, in denen Cola di Rienzo Tribun des römischen Volkes war, hat er nicht nur Rom zum >caput orbis< und zur Grundfeste der christlichen Glaubensgemeinde, sondern auch sämtliche Italiener zu römischen Bürgern erklärt, und solcher Art den Begriff >populus Romanus« mit einem neuen Sinn erfüllt. Ursprünglich war das Bürgerrecht auf die Einwohner der Stadt begrenzt gewesen, doch spätere Theorien be trachteten die gesamte Einwohnerschaft des Imperiums als >populus Romanus<. Nun hatte Rienzo das Bürgerrecht zum ersten Male im Sinne eines italienischen Nationalismus ausgelegt. Das italienische Volk sollte den Kai ser wählen; das Reich sollte nach Rom und nach Italien zurückkehren und so dem mörderischen Kampf zwischen Guelfen und Ghibellinen ein Ende 98
r bereiten. Rienzo, der sich »liberator urbis, zelator Italiae, amator orbis« nannte und sich für einen illegitimen Sohn Heinrichs VII. hielt, sah in sich selbst schon den künftigen Kaiser. Für Rienzo, der selber keinen Anspruch auf rein römische Abkunft machte, war jeglicher engherzige Nationalismus fremd; der Gedanke an die Her auslösung des römischen oder italienischen Nationalismus aus der univer salen Ordnung lag seiner Zeit fern. »Wann, frage ich, gab es je solchen Frieden, solche Ruhe und solche Gerechtigkeit? Wann stand die Ehrlich keit so hoch im Wert, wann wurden die Guten so reichlich belohnt und die Schlechten so hart bestraft? Wann anders waren die Angelegenheiten der Menschen so gut verwaltet als damals, als die Welt nur ein Haupt hatte! Und dieses Haupt war Rom! Wann hat sich Gott dazu herabgelassen, die Erde aufzusuchen, und von der Heiligen Jungfrau geboren zu werden? Je des Lebewesen hat nur einen Kopf; und die Welt, die der Dichter einen großen Leib nennt, sollte sich mit einem einzigen weltlichen Haupte begnü gen. Für jedes Lebewesen wäre es unnatürlich und ungeheuerlich, zwei Häupter zu haben. Um wievieles ungeheuerlicher ist dann ein Lebewesen mit tausend Köpfen, die sich gegenseitig beißen und zerreißen? . . . Wit haben zahllose Beispiele sowie die Autorität der Gelehrten dafür, daß so-' wohl im Himmel wie auf Erden die Einherrschaft immer den größten Vor teil bringt. Gott der Allmächtige hat auf viele Arten seinen Willen kund getan, daß niemand anders als Rom das Haupt sein solle. Er hat Rom durch Ruhmestaten in Frieden und Krieg geadelt, er hat aus ihr ein makel loses Wunder gemacht, das an Tugend alles überragt.«
12 Ein halbes Jahrhundert vor den Italienern hatten bereits die Franzosen den Anspruch, die Führer der Menschheit in einer universalen Ordnung zu sein, erhoben. Italien war zersplittert, und es bestand nicht einmal die Spur einer Nation — lediglich in der Vision einiger Dichter. In Deutschland war die Nationwerdung durch fortschreitende Schwächung der Königsmacht ver hindert. In Frankreich aber war die Macht des Königshauses nach der Schlacht bei Bouvines (12 14 ) gewachsen, und sie wurde zum Kern, um den herum sich später die französische Nation sammelte. In England hatte das gleiche geschichtliche Ereignis zur Schwächung des Königtums und zu der erzwungenen Bewilligung der Magna Charta durch König Johann geführt. I'rankreich hatte zu jener Zeit in der westlichen Christenheit die höchste
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Kultur, es war führend in Kunst und Wissenschaft. Alexander van Roes, der im dreizehnten Jahrhundert in Köln lebte und Deutschlands Ansprüche auf das Reich lebhaft unterstützte, bestand darauf, daß das >imperium< rechtmäßig den Deutschen zukäme, das >sacerdotium< den Römern, und die Wissenschaft, das >studium<, den Franzosen. Frankreich und nicht das cha otische Italien war der Erbe der nationalen römischen Ordnung, des Sinnes für Recht und Gesetz. Sein zentralistisches Regierungssystem wurde bei spielhaft für den europäischen Kontinent. Seine Kultur hatte die Klarheit und Urbanität der besten lateinischen Überlieferung, tiefgegründet in jener humanitas, die Rom durch seine Berührung mit der Philosophie der Stoa entwickelt hat. Trotz des Wachstums seines Nationalbewußtseins hat die französische Kultur wie keine andere einen Universalismus und eine Assi milationskraft bewahrt, wovon sie das Recht herleitete, der Repräsentant der westlichen Zivilisation zu sein. Die Könige von Frankreich betrachteten sich als Könige der Franken, als die blutmäßigen und rechtmäßigen Erben Karls des Großen und als Könige von Gallien innerhalb seiner alten Grenzen, die von Caesar bestimmt wor den waren und die mit den natürlichen Grenzen Frankreichs, durch Meer, Gebirge und Flüsse gezogen, übereinstimmten. >Francia< und >Gallia< wur den als Worte gleichen Sinnes gebraucht; die französische Sprache wurde lingua gallica genannt. Nach Ansicht der Könige von Frankreich konnte auch die Krönung Ottos des Großen zum Kaiser nichts an der Tatsache ändern, daß das >Regnum Francorum< und das Vermächtnis Karls des Gro ßen von rechtswegen der älteren Linie der karolingischen Dynastie zukam und im Boden Galliens wurzelte. Wie die französischen Epen über Charlemagne und seine zwölf großen Pairs — unter ihnen sein Neffe Roland, der Verteidiger der Christenheit gegen die Sarazenen, und Turpin, der Erzbischof von Reims — zeigen, wurde die karolingische Überlieferung mit durch die Anfänge einer fran zösischen Literatur getragen. Der überlieferten Sage nach hatte Charlemagne Spanien von den Sarazenen erobert, Rom und Italien befreit, Germanien getauft, erobert und der Kultur erschlossen — sogar Konstantinopel soll er der wahren Kirche und das Heilige Grab der Christenheit wiedergegeben haben. Als Könige der Franken erhoben die Könige von Frankreich An spruch auf das gesamte von Charlemagne eroberte und der Kultur erschlos sene Reich. Niemals haben sie das durch Otto I. errichtete Reich anerkannt, und sie fühlten sich deshalb seiner weltlichen Macht auch nicht untertan. Sie betrachteten sich nicht nur als dem Kaiser gleichgestellt, sondern sie beanspruchten das Reich für sich selbst. 100
Man darf das nickt so auffassen, als ob das ein nationalistischer Anupruch von Seiten Frankreichs gewesen wäre; es war ein universalistischer Anspruch der Könige von Frankreich, der auf ihre Abkunft von Charlemagne, und sogar mehr noch auf dem christlichen Moment des >Rex Chritiiianissimus< beruhte. Der König von Frankreich war heilig und allerchrist lichst; diese seine Eigenschaft war durch die leuchtenden Beispiele von Charlemagne und von Ludwig dem Heiligen bestimmt. Der König von Frank reich wurde für den Nachfolger Davids gehalten, den sakramentalen Cha rakter erhielt er durch die Weihen in Reims und St. Denis. Daher stand er allgemein im Rufe Wunder, insbesondere die Heilung von Kranken, wirken ir.ti können, ein Glaube, der das Mittelalter überdauert hat. Dank seiner Könige fühlte sich Frankreich »a domine electum et benedictum pre ceteris regnis mundi«. Das werdende Nationalgefühl Frankreichs war universal nnd religiös. Die Prärogative Frankreichs war in dem Anspruch begründet, daß seine Könige bessere Christen und bessere Katholiken als die anderer Länder seien, und deshalb den Willen Gottes ausführten: gesta dei per l'rancos. Dieses frühe französische Nationalgefühl fand in den Kreisen der könig lichen Legisten, den nnilites regis<, die als eine Schicht gebildeter Laien die Vorläufer der >noblesse de robe< waren, einen literarischen Niederschlag. I )iese hatten die Ansprüche Philipps des Schönen (1285—13 14 ) gegen den l’apst Bonifaz VIII. verteidigt. In diesem Kampf hatte die neue territoriale Macht des Königs, gestützt auf die im römischen Recht entdeckten Begriffe der Souveränität, den imperialen Universalismus des Papsttums besiegt. Mit Erfolg konnte der König behaupten, daß »regimen temporalitatis regni «ui ad ipsum regem solum et neminem alium pertinere«. Die neue Lehre der Legisten trug viel dazu bei, die Ansichten über das Regiment zu än dern. Renan hat das folgendermaßen dargestellt: »Une classe d'hommes politiques entièrement nouvelle, ne devant sa fortune qu'à son mérite et l\ ses efforts personnels, dévouée sans réserve au roi, qui l'avait créée, rivale à l'Eglise dont elle aspirait en bien des choses à prendre la place,. . . «liait inaugurer en tout, ce qui touche à la conduite des affaires, un prol'tnd changement.« Im Kampf um die Behauptung der französischen Sou veränität gegen das Papsttum hatte Philipp der Schöne auch noch in wei let en Kreisen wesentliche Unterstützung gefunden. Im April 13 0 2 berief er die Versammlung der Etats Généraux, wo sich zum ersten Male die Veriretcr des Adels, der Geistlichkeit und des Bürgertums (tiers état) ge meinsam in Notre Dame versammelten. Doch die wirkungsvollste Unter ul lltzung erhielt er durch die >milites regis<, die für die göttlichen Rechte 10 1
ihres Königs ein traten und deren Sieg zum Untergang des mittelalterlichen Universalismus beitrug. Dieses war aber nicht die Wegbereitung für den Nationalismus, sondern der Anfang des Weges, der zur absoluten Monar chie führte. Unter dem Gesichtspunkt des Nationalismus betrachtet, war Pierre Dubois der Interessanteste von diesen Legisten und Streitern für den König, Er führte eindeutig den mittelalterlichen Universalismus auf einen ganz bestimmten Träger dieser Idee zurück. Seine >De Recuperatione Terrae Sanctae< war völlig beherrscht von der universalen Überlieferung des mit telalterlichen Christentums, der >tota res publica omnium Christicolarum<, dem universalen Frieden, von Gottes- und Kirchendienst. Für ihn war der König von Frankreich als >Rex Christianissimus< der Träger dieser univer salen Idee. Im Interesse der Kirche, der Wiedereroberung des Gelobten Lan des, der Errichtung des universalen Friedens und der Gerechtigkeit in der Christenheit sollten die Könige von Frankreich — die auf Grund ihrer Ab stammung von Charlemagne und ihres Lebens im Dienste Gottes die ein zigen rechtmäßigen Erben der Kaiserwürde waren — das Imperium Romanum übernehmen, das so zu einem »Imperium Gallicanum< werden würde. Für Pierre Dubois wie für seine deutschen Zeitgenossen Jordanus von Os nabrück oder Alexander van Roes war es eine unumstößliche Wahrheit, daß die Menschheit eine Einheit bilde, die einen Herrscher brauche. Das Endziel — »pax universalis finis est quem querimus« — stand für Pierre Dubois genau so fest wie dessen Voraussetzungen, die >unitas mundi<, die >unitas ecclesiae<, die >unitas imperii<, »omnium credentium unam faciendo rempublicam«. Die das Leben und die Geschichte beherrschende Idee war für alle die gleiche: für die Päpste, für die Hohenstaufen, für Dante, für Petrarca wie für die >milites regis< Francorum: nur ihr Träger wechselte.
13 Das beginnende vierzehnte Jahrhundert hallte wider von dem Zweikampf zwischen zwei universalen Ansprüchen Imperium und Sacerdotium. Ein Jahrhundert später hatte der Kampf an Heftigkeit schon sehr nachgelassen; allmählich verschwand er ganz von der Bühne des geschichtlichen Gesche hens. Und doch konzentrierten in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts die bedeutendsten Wortführer des Zeitalters — der Italiener Enea Silvio Piccolomini, der nachmalige Papst Pius II., und der größte deutsche Denker jener Zeit, Nikolaus von Cues — all ihr Wirken und Mühen auf eine Neu-
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ilarstellung des mittelalterlichen Universalismus. In seiner >De Concordantia ('ntholica< schlug Nikolaus detaillierte Pläne für die Wiederherstellung des mittelalterlichen Imperiums vor; Pius II. ist bei Vorbereitungen zu einem Kreuzzug gestorben. Aber diese Anrufe blieben ohne Folge; ein neues Zeit alter mit einer veränderten Auffassung von Natur und Geschichte begann. Der Übergang von einem Zeitalter zu einem anderen ist ein langsamer und unmeßbarer Vorgang: niemand kann feststellen, wo das alte endigt und das neue beginnt. Während einer langen Zeit sind beide unentwirrbar verschlungen. Die neuen Gedanken künden sich in den Schriften weniger und vereinzelter Männer. Sie fühlen die Probleme, die von den veränder ten Umständen gestellt werden; die Lösungen, die sie vorschlagen, beein flussen die neue Entwicklung; durch das Zusammenwirken neuer wirt schaftlicher und geographischer Faktoren und menschlicher Gedanken wan delt sich langsam die Einstellung dem Leben gegenüber. Neuen Anforde rungen begegnet man mit neuen Antworten, und diese Antworten wirken selbst wieder als Herausforderung. Das fünfzehnte Jahrhundert war noch nicht >modern<, doch war es auch nicht mehr mittelalterlich. Die neuen Ideen hatten noch keine endgültige Gestalt angenommen. Zum Gedeihen des Nationalismus bedurfte es noch einer neuen, die Welt und die Natur bejahenden Weitsicht, es bedurfte auch der Entstehung des Individualismus und einer neuen Deutung des Geschichtsablaufes. Im Mittelalter hatte sich die Kirche als ein Staat, als eine >respublica<, der jedermann angehören mußte, betrachtet, Religion war eine politische Kategorie, sogar die wichtigste Kategorie. Häresie war deshalb ein >crimen laesae majestatis<. Die Neuzeit brachte die fortschreitende Entpolitisierung der Religion; der weltliche Staat wurde die erste politische Macht. Vielleicht der erste Denker, der, als Bürger eines blühenden italienischen Stadtstaates, diese Entwicklung voraussah, war Marsilius von Padua. Sein >Defensor Pacis< (1324) lehrte, unter dem Einfluß der französischen Legisten des Ho fes Philipps des Schönen, den Vorrang des Staates über die Kirche. Frühere Verteidiger des Imperiums gegen das Sacerdotium waren davon überzeugt gewesen, daß die beiden Schwerter im Range gleichgestellt seien, von A n beginn an von Gott zur Handhabung zwei verschiedenen Gewalten verlie hen; beide leiteten sich, unabhängig voneinander, von Gott her. Marsilius ging weiter. Dieser Vertreter der neuen Laienintelligenz der Städte in ihrem Kampf gegen die Habgier des Klerus ordnete die Kirche dem Staate unter. »Er ging an Probleme heran, die, im heutigen Sinne, noch modern sind, und die Lösungen, die er fand, scheinen mehr einem modernen Zeitalter anzugehören als dem Mittelalter. Man hat nachgewiesen, daß er bereits 10 3
Vorgänger gehabt und daß er die seinem Jahrhundert eigentümliche Rolle gespielt habe, aber daß es überhaupt notwendig war nachzuweisen, daß er kein Anachronismus war, ist die beste Bestätigung dafür, daß er die Zu kunft vorausgesehen hat — es braucht uns niemand zu beweisen, daß Dante nicht modern gewesen ist.« Marsilius war tief in der mittelalterlichen Über lieferung des Universalismus befangen und er hat versucht, die Autonomie des neuen Staates mit der Universalität des Christentums in Einklang zu bringen. Er war ein Rationalist unter dem Einfluß des Pariser Humanis mus, doch war er nicht frei von einem im Biblischen wurzelnden Sektierer tum. In den freien italienischen Stadtgemeinschaften fand er die Wieder erstehung der klassischen Auffassung vom Staate — die >Polis< oder die >Civitas< als der allumfassende und folglich einzig gültige Ausdruck jenes Gemeinlebens, welches über dem individuellen Leben stand — in der Praxis, wenn auch nicht in der Theorie. Marsilius gab ein theoretisches Bild von diesem neuen weltlichen und souveränen Staat, ohne jedoch bereits die ge eigneten Worte gefunden zu haben, um seinen neuen Ideen Ausdruck zu verleihen. Der Beziehung des neuen universalen Staates zur souveränen Ordnung schenkte Marsilius wenig Beachtung: »Ob es für alle zivilisierten Menschen auf Erden von Vorteil ist, eine über allen anderen stehende Regierung zu haben, oder ob es für die Menschen in verschiedenen Gegenden der Welt, die notwendigerweise durch die Lage getrennt sind, und besonders diejeni gen, die keine gemeinsame Sprache haben und in Sitten und Bräuchen ver schieden sind, besser ist, zu jeder Zeit verschiedene Regierungen zu ha ben . . . muß überlegt und untersucht werden; doch hat jene Untersuchung mit meinem gegenwärtigen Zweck nichts zu schaffen.« Vor ihm hatten an dere Autoren, insbesondere Franzosen, für den gesonderten Bestand regio naler Staaten im Rahmen einer universalen Christenheit gesprochen, und während sie die unerläßliche Einheit der Menschheit anerkannten, leugne ten sie die Notwendigkeit einer obersten monarchischen Spitze. Doch Mar silius befaßte sich hauptsächlich mit der Souveränität des Staates nach innen, indem er die verschiedenen Machtbereiche innerhalb des Staates abschaffen wollte. Er wollte sämtliche die Allgemeinheit angehenden Belange einer Gewalt unterstellt wissen, einer Regierung, die vom Volke — dem Gesetz geber, wie er es nannte — gewählt und diesem verantwortlich ist, da bei diesem letzten Endes die Souveränität liege. Der Staat, den er im Geiste sah, war einer, in dem die Regierung, sei es nun die eines einzelnen oder die einer Gruppe von Menschen, bedeuten würde »daß ihr allein das Recht zu steht, der Menge der Untergebenen zu befehlen . . . und jeden Menschen, 104
wenn es erforderlich sein sollte, in Schranken zu halten, in Übereinstim mung mit den gültigen Gesetzen, und nichts zu tun, besonders nichts von Tragweite, was nicht im Gesetze vorgesehen ist, ohne vorher die Zustim mung der untergebenen Menge, des Gesetzgebers, eingeholt zu haben; noch daß sie die untergebene Menge, den Gesetzgeber, durch Ungerechtigkeit herausfordere, denn die Wirksamkeit und die Gewalt der Regierung liegt im Willen des Gesetzgebers«. Das Neue seines Vorschlags lag nicht in der Beschränkung, die der re gierenden Gewalt auferlegt wurde. Es war eine im Mittelalter verbreitete Idee, daß ein Befehl, der die Befugnisse des Herrschers überschritt, keinen der Untergebenen zu Gehorsam verpflichtete. Eine Theorie wie die Machiavellis, die den Monarchen von der Beschränkung durch Moralgesetze frei sprach und den Untertanen das Recht der Empörung absprach, wäre im Mittelalter ungeheuerlich und unerhört gewesen. Das Neue an Marsilius' Theorie lag in der Unterordnung der kirchlichen Angelegenheiten und der Religion unter den Staat und in seiner Behauptung, daß die Sorge für und die Überwachung der Religion, wie in der Antike und in Konstantinopel, eine der Funktionen des Staates sei. In den allgemeinen Kirchenkonzilien sah Marsilius den Universalismus der Kirche und anerkannte ihn in dieser Form, doch konnten die Beschlüsse der Konzilien nur durch die Mitwir kung des selbständigen Staates für dessen Bürger rechtskräftig gemacht wer den. Die folgenden Jahrhunderte folgten dem Erastianismus des Marsilius und bildeten seine Anfänge der absoluten Souveränität des Staates um die Person des Monarchen weiter aus; aber die in seiner Lehre enthaltenen demokratischen Keime trugen keine Früchte. Marsilius war kein Vorläufer des Nationalismus, aber er war ein Bereiter des weltlichen souveränen Staates, der die für den Nationalismus unent behrliche Form schuf und den Staat endgültig aus der >Civitas Dei< oder dem >Sacrum Imperium* herausgelöst hat. Die Kirche hat der neuen Ent wicklung Widerstand geleistet, aber sie hat andererseits auch zu ihrer Ent faltung beigetragen. Die Kirchenprovinzen, insbesondere die Erzdiözesen, lehnten sich oft an die alten Einteilungen des römischen Imperiums an und wurden zu bedeutenden Bindekräften, indem sie ihre Einwohner zu einem Gemeinschaftsbewußtsein erzogen. Zu einer Zeit, in der sämtliche Symbole einer Lebensgemeinschaft rein religiös waren, bildeten die Nationalheiligen den Sammelpunkt für die Gemeinschaftsgefühle zukünftiger nationaler Gruppen, die sich jedes Jahr an dem im Kirchenkalender vorgesehenen Tag ihres Heiligen offenbarten. In Zeiten der Not und Unterdrückung baten die Gläubigen den gemeinschaftlichen Heiligen um seine Hilfe. St. Denis wurde 10 5
der Schutzheilige Frankreichs, St. Patrick der von Irland, St. Stanislaus der von Polen, St. Wenzel der von Böhmen, St. Stephan der von Ungarn. Einige von diesen Heiligen waren früher Missionare und Märtyrer gewesen, an dere wiederum Fürsten, deren ruhmreiche und gerechte Regierungen durch viele Generationen hindurch unvergessen geblieben waren. Alle waren sie mit dem Leben der Kirche engstens verbunden gewesen. Im Mittelalter konnte nichts ins Leben treten, ohne den Stempel der Religion aufgedrückt zu bekommen.
14 Zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts bediente man sich auf Kirchen konzilien und auf Universitäten des Ausdrucks >Nation<. Doch bedeutet das nicht, daß zu jener Zeit ein dem modernen Nationalismus gleichbedeu tendes Gefühl aufkam. Diese >Nationen< waren Vereinigungen, welche die Landsmannschaften repräsentierten, ohne Bezug auf ihre Nationalität, sie waren lediglich die Teile einer noch bestehenden, universalen Ganzheit, sie waren keine abgespaltenen Gruppen, die sich selbst als Ganzheit betrach teten und als solche handelten. A uf dem Konstanzer Konzil (14 14 —14 17 ) waren die Stimmen in vier >Nationen< aufgeteilt — Deutsche, Franzosen, Italiener, Engländer. Diese Gruppen vertraten die wichtigsten geographischen Bereiche Europas. Die deutsche >Nation< umfaßte die Abgeordneten des östlichen Europa: Deut sche, Ungarn und Polen; die englische >Nation< sämtliche nordeuropäischen Abgeordneten einschließlich der Skandinavier. Die Aufteilung der Konzi lien nach >Nationen<, die sich bereits auf den Konzilien von Lyon (1274) und Vienne ( 1 3 1 1 ) abzeichnete, erfolgte aus kirchenpolitischen Gründen und als Ergebnis der Bemühungen der Monarchien, in den einzelnen Staaten die Kirche unter ihre Kontrolle zu bringen. Die überlieferte Abstimmung nach Einzelstimmen hätte eine überwältigende Mehrheit für Papst Johannes XXIII. ergeben, denn die italienischen Bischöfe und Äbte, deren Kandidat er war, hätten die Prälaten sämtlicher anderen Länder bei weitem überstimmt. Deshalb wurde eine neue Abstimmungsmethode eingeführt: die Abstim mung nach >Nationen<. Die Kardinäle baten darum, als fünfte >Nation< ihre Stimme abgeben zu dürfen; doch dieser Antrag wurde aus politischen Gründen genau so abgelehnt, wie das Ansinnen König Sigmunds, die un garischen Prälaten, auf die er einen starken Einfluß ausüben konnte, als fünfte >Nation< zuzulassen. 1 4 1 7 erhoben die Engländer Protest gegen die 10 6
Zulassung der Franzosen als eigene >Nation< auf dem Konzil, doch wur den später die Spanier als eigene >Nation< zugelassen. Alle diese >Nationen< vertraten verschiedene Gruppeninteressen, und häufig wurden sie als Werk zeuge bei politischen Auseinandersetzungen zwischen den Monarchen und der Kirche benutzt. Die Konstanzer Abstimmungsmethode war wahrscheinlich unter dem Einfluß der Gruppierung der Studentenschaft an der Pariser Universität ent standen; diese teilte sich in vier >Nationen< — Frankreich, Picardie, Nor mandie und England. 134 8 gründete Karl IV. die Prager Universität; auch dort wurde die Studentenschaft in vier >Nationen< gegliedert: Tschechen, Bayern, Polen, Sachsen. Auch diese Aufteilung erfolgte nicht nach ethno graphischen, sondern nach territorialen Gesichtspunkten. Durch den Erlaß von Kuttenberg im Januar 1409 wurde die Abstimmungsmethode an der Prager Universität geändert: während bisher jede Nation über eine Stimme verfügt hatte, so daß die Studenten des Königs von Böhmen durch die Stu denten aus anderen Ländern überstimmt werden konnten, sollten die Stu denten aus den Ländern des Königs fortan über drei Stimmen verfügen, während alle ausländischen Studenten nur noch eine Stimme haben sollten. Diese Veränderung war durch einen Disput innerhalb der Universität zwi schen den >Realisten<, den Anhängern von John Wycliffe, und den >Nominalisten<, meist durch deutsche Lehrer an der Universität vertreten, veran laßt. Der König von Böhmen fand die meiste Unterstützung für seine all gemeine Politik bei den >Realisten<, weshalb er ihren Einfluß auf die Uni versität mehren wollte. Die Maßnahme selbst trug jedenfalls die zu jener Zeit übliche Eifersucht gegenüber den Fremden zur Schau, da man ängst lich darauf bedacht war, die Privilegien und Stellungen, die ein Land zu vergeben hatte, den eigenen Landsleuten vorzubehalten. So sollten die Pri vilegien der >Nation< des Königs von Böhmen, >des rechten Erben dieses Landes<, gegen die Konkurrenz aus dem Auslande geschützt werden. Infolge dieses Erlasses verließen die meisten deutschen Professoren und Studenten im Jahre 1409 Prag und bildeten in Leipzig den Kern einer neuen Univer sität. Die Auseinandersetzung zwischen den >Realisten< und den >Nominalisten< blieb nicht auf die Universität beschränkt. Die theologische Leidenschaft jener Epoche bemächtigte sich jener Angelegenheit, durch die, nach dem Tode von Johann Hus auf dem Konstanzer Konzil 1 4 1 5 , in Böhmen alle anderen Dinge in den Schatten gedrängt wurden. Die Hussitenkriege wur den nicht mit der Absicht, einen tschechischen Staat auf nationaler Grund lage zu errichten, geführt. Die Hussiten waren von dem brennenden Ver10 7
langen erfüllt, den Glauben und die Kirche der Christenheit für alle Chri sten zu reformieren und das Reich Gottes auf Erden zu schaffen, oder zu mindest sein Kommen zu beschleunigen. Es handelte sich um eine im höch sten Maße religiöse Bewegung, die tief in der mittelalterlichen Weltord nung befangen war, ein Vorläufer der Reformation und des Schwärmertums der Wiedertäufer. Zufälligerweise deckten sich die Hussiten zum größ ten Teil, jedoch nicht ganz, mit den Tschechen; und die von Papst und Kai ser zu ihrer Bekämpfung entsandten Kreuzheere bestanden zum größten Teil aus Deutschen. So kam es, daß die Tschechen sich als >Gottesstreiter< betrachteten; nach Ansicht der Hussiten waren die Tschechen das aller christlichste Volk, die Gruppe, die dazu auserwählt sei, das reine Christen tum auf der ganzen Erde wiederherzustellen. Nur aus dieser Aufgabe heraus schöpften sie ihre Überlegenheit. Es ist nur natürlich, daß sich, wie bei den meisten gegen die Kirche gerichteten Sekten und Reform bewegungen, der religiöse Eifer mit Forderungen sozialer Art und mit dem bestehenden tschechischen Argwohn gegen das Überhandnehmen des in Böhmen ständig wachsenden Einflusses fremder Deutscher ver mischte. Die Deutschen, deren Siedlungsraum bis zum zwölften Jahrhundert auf das Gebiet westlich der Elbe beschränkt gewesen war, hatten damals be gonnen, sich nach dem Osten hin auszubreiten und die slawischen Völker östlich der Elbe zu unterwerfen. Die in Europa durch die Kreuzzugspredigten hervorgerufene Begeisterung lenkte den Kreuzzugsgeist der Norddeutschen gegen die heidnischen Slawen. Im dreizehnten Jahrhundert wurden Bran denburg, Mecklenburg und das obere Sachsen germanisiert; viele Städte wurden damals gegründet, unter ihnen Berlin und Dresden. Deutsche Sied ler wurden von den Königen nach Ungarn und Böhmen gerufen, wo sie Städte gründeten und eine Schicht von Kaufleuten und Handwerkern schufen. Es war ein wirtschaftlicher Einwanderungs- und Siedlungsrutsch nach schwachbevölkerten und unentwickelten Ländern. Im dreizehnten Jahrhundert trugen die Ritter vom Deutschen Orden die deutsche Inva sion in die östlichen Bereiche, wo sie Preußen eroberten, dessen ursprüng liche Einwohner litauischen Stammes sie praktisch vertilgten, sowie Kur land und Livland, wo sich die eingeborene Bevölkerung als widerstands fähiger erwies und als Ackerknechte unter deutschen Baronen und als Dienerschaft in den neuen, von Deutschen gegründeten Städten erhalten blieb. Das fünfzehnte Jahrhundert brachte einen großen Rückschlag für die deutsche Ausdehnung nach dem Osten. Nach einer langen Zeit der Schwäche 108
gelangte das polnische Königtum unter litauischen Fürsten wieder zu Kräf ten und bereitete dem Deutschen Orden in der Schlacht bei Tannenberg (1410) eine vernichtende Niederlage. Durch den zweiten Thorner Frieden (1466) wurde der Deutsche Orden zum Vasallen der polnischen Krone. Während beinahe vier Jahrhunderten ruhte die deutsche Ausdehnung im Osten. Zur gleichen Zeit hatten die Hussitenkriege weiter südlich einen ähnlichen Rückgang des deutschen Einflusses zur Folge. Hus (1369—14 15 ) selbst predigte, wie W ycliffe, in der Muttersprache des Volkes; er förderte und verbesserte die tschechische Sprache und bestand darauf, daß die Tsche chen ihre Muttersprache sprächen, und zwar gut. Die lange sich hinziehende Auseinandersetzung zwischen den Hussiten und den Katholiken, mit ihren wilden und rohen Begleiterscheinungen, hat natürlich den Antagonismus zwischen Tschechen und Deutschen gesteigert, und er hat den Tschechen ihre Verwandtschaft mit anderen Völkern, die eine ähnliche slawische Sprache sprechen, ins Bewußtsein gerufen. Unter ihrem militärischen Führer Johann Zizka zogen die Hussiten 1420 in den Krieg, »um die Wahrheit der Gesetze Gottes und der Heiligen zu befreien und die treuen Gläubigen der Kirche sowie die tschechische und slawische Sprache zu beschützen«. Zu den religiösen und sprachlichen Gegensätzen gesellte sich noch ein sozialer Konflikt zwischen dem besitzenden Bürger tum und den unteren Schichten der Stadtbevölkerungen. Im Zuge dieser Auseinandersetzung erkämpften sich die wirtschaftlich schwächeren tsche chischen Handwerker die Verwaltung der Städte aus den Händen der deut schen Bürger; viele ehemals deutsche Städte in Böhmen kamen unter tsche chische Herrschaft, und der Einfluß der tschechischen Sprache begann in der Literatur zu überwiegen. So wurden die Tschechen das einzige Volk im Osten Europas, in dem sich schon vor dem neunzehnten Jahrhundert ein eigener bürgerlicher Mittelstand gebildet hat. Dieser tschechische Mittelstand versuchte, sich im Besitz der neu errungenen öffentlichen Ämter zu erhal ten, indem er die Kenntnis der tschechischen Sprache zur Grundvoraus setzung bei der Besetzung von Ämtern machte und indem er sich be mühte, Ausländer soweit als möglich von den Verwaltungsprivilegien aus zuschließen. Die sprachlichen und sozialen Gegensätze überlebten das Ende des Hussitentums. Nach der Reformation wurden sie aufs neue betont durch die religiöse Opposition zwischen den protestantischen Ständen in Böhmen — tschechischen wie deutschen — und dem katholischen Habsburger König. Die Habsburgischen Könige setzten deutsche, italienische und spanische Be amte am Hofe und in der Verwaltung ein; so wuchs wieder der Einfluß 109
der deutschen Sprache, doch lag keine bewußte Germanisierungsabsicht vor. Der böhmische Landtag erließ 16 15 ein Gesetz, das die Einstellung auslän discher Beamter, die der tschechischen Sprache nicht mächtig waren, ver bot, und das es allen ausländischen Siedlern zur Auflage machte, ihre Kin der in der tschechischen Sprache zu unterrichten, ferner, daß Einwanderer, die kein Tschechisch konnten, von den Privilegien der Stände und des städ tischen Patriziates ausgeschlossen waren. Dieses Gesetz war nicht der Aus druck eines Nationalgefühles, das zu jener Zeit in Böhmen, sofern es über haupt irgendwie in Erscheinung trat, höchstens bei einigen Geschichtsfor schern vorhanden w ar; es war vielmehr die Äußerung einer herrschenden Klasse, die ihre Privilegien und ihren Einfluß mit niemandem zu teilen wünschte. Als die böhmischen Stände, in offener Revolte gegen den Habs burger, einen neuen König wählten, nahmen sie einen Deutschen, den Kur fürsten Friedrich von der Pfalz, der zwar kein Tschechisch konnte, der aber als Calvinist den gleichen Glauben wie die Mehrheit der böhmischen Stände hatte und von dem sie erwarteten, daß er ihre Standesprivilegien und Interessen respektieren würde. Der Nationalismus beherrschte die allgemeinen Gefühle und politischen Loyalitäten der Völker Europas während des Hundertjährigen Krieges ge nau so wenig wie während der Konzilsbewegung oder in den Hussiten kriegen. Ein führender französischer Historiker geht sogar so weit, zu be haupten, daß die Ereignisse des Hundertjährigen Krieges, »so schwer sie auch auf den Zeitgenossen gelastet haben mögen, anscheinend keinerlei Wirkung auf die Entwicklung der Nation gehabt haben. Die Revolten wa ren nur Episoden ohne tiefere Bedeutung, und die Eroberungen des Königs von England waren nur kurzlebig. Dieser Krieg, der von Abenteurern ohne bestimmten nationalen Charakter geführt wurde, war eher ein Krieg zwischen zwei Königshäusern als ein Krieg zwischen zwei Nationen. Es ist möglich, daß der Kampf gegen die in den Diensten des Königs von Eng land stehenden Banden, die man als >die Engländer bezeichnete, ein natio nales Gefühl ausgelöst hat, aber gewiß ist das nicht. Die englandfeindliehen Äußerungen können von einem lokalen Patriotismus herrühren. Der Dichter Alain Chartier stammte aus Rouen, dessen Umgebung ganz besonders unter der englischen Invasion gelitten hatte. Jeanne d'Arc, so wun derbar ihre Haltung erscheinen mag, war eine Parteigängerin der Orléans, die gegen die Burgunder, die Verbündeten der Engländer, im Kriege lagen; ihre Loyalität galt eher dem Könige ihrer Partei als dem König der fran zösischen Nation.« Diese Worte sind eine treffliche Darstellung der volks tümlichen Gefühle und der allgemeinherrschenden Ideen. Trotzdem zeig110
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ten einige französische Dichter des beginnenden fünfzehnten Jahrhunderts die Anfänge eines Nationalgefühls. Aber auch bei den Franzosen war vor dem achtzehnten Jahrhundert das Nationalgefühl an Tiefe und Weite grundverschieden vom modernen Nationalismus. Das fünfzehnte Jahrhun dert erlebte nur einzelne Keime, die Renaissance wurde Zeugin einer ersten kurzen Blüte. Aber auch damals, genau wie vorher und nachher, blieben die provinziellen Bindungen stark und beherrschend. Das neue Gefühl drang nicht in die breiten Schichten der Bevölkerung vor, und religiöse Spaltungen und Adelskämpfe erstickten schnell wieder das im Entstehen begriffene Gefühl für nationale Einheit, das sich um die Königsmacht herum, den Wächter der >chose publique<, gebildet hatte. Das Fehlen eines inneren Zusammenhaltes, das jähe Anwachsen der Ele mente der Uneinigkeit während des Hundertjährigen Krieges, die vielen privaten Kriege, die während eines Krieges von scheinbar nationalen Aus maßen ausgetragen wurden, das Fehlen jeglichen patriotischen Gefühles oder jeder nationalen Loyalität — dies alles brachte Frankreich zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts an den Rand des vollkommenen Zerfalls. Erst gegen die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts hin riefen allgemeines Elend und Chaos eine Reaktion hervor; diese äußerte sich in der Verord nung von 1439 , die die Besteuerung in den Händen des Königs zusammen faßte, sowie in der Verordnung von 1444, in der festgelegt wurde, daß das Recht auf Kriegführung »in diesem Königreich einzig dem König und seinen Offizieren zusteht und sonst niemandem«, — eine Reform, die durch die gleichzeitige Erfindung von Schießpulver und Geschütz unterstützt wurde. Doch der Konflikt zwischen dem einigenden Königtum und den separati stischen Loyalitäten der Aristokratie dauerte noch bis zur Regierung Lud wig XII. (1498—15 15 ) fort. Dann erst gelangte das Salische Gesetz und der Grundsatz der Inalienabilität der königlichen Gewalt, der im vier zehnten Jahrhundert formuliert worden war, zur Anerkennung. Dieses Wachsen einer einigenden Königsmacht zu Beginn des fünfzehn ten Jahrhunderts, dieses neue Empfinden für nationale Einheit wurde von einigen patriotischen Dichtern — Eustache Deschamps, Robert Blondei und Alain Chartier — vorausgeahnt und begrüßt. Deschamps forderte, daß der Krieg gegen England bis zum vollständigen Sieg durchgeführt werde. Seine >Ballade de la paix avec les Anglais' (ca. 1380) hatte folgenden Refrain :
Et que François et Anglois feront paix. Elle respont : Foy que doy ma queloingne — Paix n'arez ja s'ilz ne rendent Calays. 111
Aber in einem Gedicht >Contre les guerres entre gens de même religion« unterstellte er seinen Patriotismus dem gemeinsamen christlichen Glauben:
Je voulsisse que la guerre cessast Entre les gens d'une religion De la crestienne foy. In >La Complaincte des Bons François« (ca. 1420) hielt es Robert Blondel für erforderlich, die Pflicht, für König und Land zu kämpfen, zu erklären und zu verteidigen:
La foy que vous devez au roy, Est raison si vous amonneste De deffendre par bon arroy Vos pais, que est chose honneste. Ceulz qui meurent pour leur pais Sont jugiez en paradiz vivre. Bon vassaulx ne sont point hais De Dieu, ains bon louyer leur livre.
Die bewußteste Form eines werdenden Nationalismus ist wohl in Alain Chartiers >Quadrilogue invectif« (1422) zu finden. Hier kann man auch den ersten Einfluß eines Renaissancegefühles feststellen. Er stellte sich im Geiste Frankreich in seinem Elend als eine schöne königliche Frau vor, auf deren Antlitz und Stirn die Spuren des Leides sichtbar sind, und deren Kleidung einen jämmerlichen Anblick bietet, wie sie ihre drei Söhne — den Edelmann, den Geistlichen und den Bauern, der sein Elend und seine Not zur Schau stellt — betrachtet. »Le povre Peuple allégué ses doleances et injures à sa mère Dame France, que luy font souffrir les pillars gens d'armeaulx sous umbre de deffendre la chose publicque.« Die gegenseitigen Vorwürfe und Beschwerden der drei Söhne enden in dem Mahnruf, sich zur Errettung ihrer gemeinsamen Mutter, des leidenden Frankreichs, zu vereinen. So hebt er den Patriotismus lobend hervor, wenn er auch im Rang noch hinter der Religion zurückstehen muß. »Ce vous puis je mettre au devant, que après le lien de foy Catholique, nature vous a devant tout autre chose obligez au commun salut du pays de vostre nativité, et à la deffence de celle seigneurie soubz laquelle Dieu vous a fait naistre et avoir vie.« Diese wenigen patriotischen Dichter waren einsame Rufer im beginnen den fünfzehnten Jahrhundert. Erst gegen Ende des Jahrhunderts, auf der Versammlung der Etats Généraux in Tours im Jahre 1484, brachten einige Sprecher, so Guillaume de Rochefort und Jean de Rely aus Paris, den neuen französischen Patriotismus, der sich um den König als Mittelpunkt 112
entwickelte, zum Ausdruck. In der Eröffnungsansprache wurden die ver sammelten Stände aufgefordert, zu unterscheiden zwischen Angelegenhei ten, die das gesamte Königreich betreffen und solchen, die nur einzelne Pro vinzen, Städte oder Personen angehen, und den ersteren den Vorzug zu geben. Gleichzeitig wurden die Schönheit und Fruchtbarkeit Frankreichs sowie die Mildtätigkeit und Urbanität der Franzosen anerkannt und gelobt. Aber ein tieferes Gefühl für Frankreich als der Gegenstand patriotischer Verehrung, erwuchs nicht vor dem sechzehnten Jahrhundert. Erst unter dem Einfluß der Renaissance entstand in Frankreich ein neues Wort, >patrie<, das zuerst in einer Übersetzung aus dem Lateinischen auftauchte, im >Songe de Scipion traduit nouvellement du Latin en Fran?ais<. Das, was damals in Frankreich erwuchs, war noch kein Nationalgefühl, sondern ein neuer Mittelpunkt der Einheit und der Ordnung, die Königs macht. Ihr Vorbild war ihr großer Gegner, in dessen Bekämpfung es sich zuerst zur Geltung gebracht hatte: die universale Kirche. Denn als Erbe des Römischen Imperiums trug die Kirche nicht nur zur Grundlegung der künf tigen nationalen Staaten bei; im Mittelalter hat sie auch die erste Form der absoluten Monarchie entwickelt. Die großen Päpste schufen das Beispiel einer straff organisierten, autoritären Ordnung, an deren Spitze ein Ober haupt stand, dem unbedingter Gehorsam zu leisten war. Späterhin über nahmen die weltlichen Herrscher diese Form und wandten sie, unterstützt durch die neu entdeckten Grundsätze des imperialen römischen Rechtes, in ihrem Kampfe gegen die Kirche an. Doch handelt es sich nicht um eine ein fache Nachahmung oder Anpassung an die eigenen Bedürfnisse. Der neue weltliche Staat, der an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit in Erschei nung trat, war von einem neuen Lebensgefühl beseelt. Dieses Lebensgefühl empfand sich selbst, wenn auch nur teilweise dazu berechtigt, als eine In spiration von jenseits des Mittelalters, als eine Verjüngung in dem Jung brunnen, der aus den Quellen von Hellas und Juda gespeist wurde.
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f 4. K apitel
Renaissance und Reformation Das Erscheinen des Nationalismus
1 Die beiden großen geistigen Revolutionen, die man als Renaissance und Reformation bezeichnet, bilden den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Zu allen Zeiten und an jedem Ort greifen Altes und Neues unlösbar inein ander; die Wandlungen vollziehen sich in unterschiedlicher Intensität und Zeitdauer. Oftmals herrscht in den Menschen ein Nebeneinander von heftig drängenden, neuen Strömungen und eigenwilligem Festhalten an den alten Lebensanschauungen. Doch in Zeiten rasch fortschreitender Veränderun gen sucht der Mensch, der sich selbst zum Problem wird, in verstärktem Maße nach einer neuen Sinndeutung der Geschichte. Dieses war auch am Ende des Mittelalters der Fall. Alle anerkannten Grundanschauungen über Leben und Welt — die Stellung der Erde als die Mitte des Universums zwischen Himmel und Hölle, die Bedeutung der Zeit als eine Brücke zwi schen Schöpfung und Erlösung, die Identifizierung der Menschheit mit den Völkern der Bibel — wurden durch neue Entdeckungen untergraben und durch eine neue Denkart umgeformt. In seinem >Principe< bemerkte Machinvelli, »daß die Dinge sich gewandelt haben und sich täglich weiter wan deln, in einem Umfange, der alle menschlichen Mutmaßungen übertrifft«. Die alte Ordnung schien aus den Fugen geraten zu sein. Die Menschen suchten nach neuen Grundlagen; während Machiavelli den >Principe< schrieb, verfaßte Thomas More die >Utopia< und Erasmus die >Erziehung eines Christenfürsten<. Gesellschaft und Bildungswelt empfanden die Notwendig keit einer Erneuerung: Erasmus hoffte, daß dieses Ziel durch einen Vergeietigungs- und Reinigungsprozeß der alten Grundlagen zu erreichen sei, während Machiavelli erklärte, daß man hierzu mit einer gänzlich neuen und realistischen Auffassung an die Dinge herantreten müsse, mit einer Auffassung, die auf Grund »una lunga sperienza delle cose moderne ed una continua lezione delle antiche« (einer langen Erfahrung mit den Din115
gen der Gegenwart und einem anhaltenden Studium der Antike) zu ge winnen sei. In dieser Zeit der leidenschaftlichen Erforschung der Vergan genheit und der inbrünstigen Zukunftshoffnungen traten die ersten Umrisse eines bewußten kulturellen Nationalismus in Erscheinung. Der Nationalis mus ist das Produkt geschichtlicher, sozialer und geistiger Faktoren; seine Entstehungszeit ist daher in den verschiedenen Ländern auch verschieden anzusetzen, je nach den hier oder dort herrschenden unterschiedlichen Zu ständen. Bei den verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeitpunkten kommen den Ausdrucksformen des Nationalismus auch verschiedene Be deutungen zu. Doch zu einem Verstehen des Nationalismus gelangt man nur durch Vergleiche zwischen ähnlichen Erscheinungsformen bei verschie denen Völkern; nur eine alle und alles umfassende Geschichte des Natio nalismus wird den Untersuchenden in die Lage versetzen, den einzelnen Fall in seiner Eigentümlichkeit und Bedingtheit zu würdigen. In der Renaissance entwickelte sich das rein vegetative Gruppengefühl erstmalig zu einem nationalen Bewußtsein. Dieses Bewußtsein wurde aus der klassischen Literatur und aus dem Alten Testament, welche nun beide in einem neuen Lichte und mit neuem Verständnis gelesen wurden, gespeist. Der Zusammenbruch der statischen universalistischen Ordnung des Mittel alters überließ es den einzelnen Komponenten, selbständig und aus sich heraus neue Anknüpfungspunkte zu finden. Einem neuen Individualismus waren Tür und Tor geöffnet, den Wert des Besonderen innerhalb des All gemeinen herauszustellen. Hierfür schienen die antiken Autoren ein gutes Richtmaß zu sein; sie boten ein großartiges und vielseitiges Bild der Reich haltigkeit der säkularen Welt, in der die Diesseitigkeit unbestritten war Sfund in der der Mensch den Mittelpunkt und das Maß aller Beziehungen und allen Wissens bildete. Dieses neue Gefühl für die Selbständigkeit der Persönlichkeit und die neue Weltlichkeit ebneten den Weg für die Entste hung des Nationalbewußtseins. Gleichzeitig wurde dieser entstehende Natio nalismus durch ein neues Geschichtsbewußtsein genährt. Der Mensch, des sen sicherer Lebensrahmen erschüttert war, forschte eifrigst in seiner Ver gangenheit und erwog kritisch die Möglichkeiten der Zukunft. Doch bald genug reichten hierzu weder die Bibel noch die alten Autoren aus. Die enge Berührung mit den nichtchristlichen Kulturen der alten und der neuen Welt, ohne Beispiel in der alten oder biblischen Geschichte, führte zu einer sach licheren und viel intensiveren Forschung und Beobachtung, deren Aufmerk samkeit sich auf die Unterschiede in den Einzelwesen konzentrierte. Geo graphie und Ethnographie gesellten sich zur Geschichtsschreibung als Weg bereiter für das wachsende Nationalbewußtsein.
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Wie auf anderen Gebieten bietet auch in der Geschichte des Nationalis mus die Renaissance lediglich die Umrisse künftiger Entwicklungsmöglich keiten. Sie war ein kurzes, aber großartiges Aufblühen, dessen Früchte erst im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts zur Reife gelangten. Es war eine Periode von größter Intensität, doch von kurzer Dauer. Der gebildete Mensch, der einer neuen, vom Klerus unabhängigen Laienschicht angehörte oder von dieser abhängig war, fühlte, wie sich die inneren menschlichen Möglichkeiten erweiterten, und er erlebte, wie sich innerhalb weniger Jahr zehnte die Grenzen des menschlichen Wissens und damit der menschlichen Macht ausdehnten, so wie das seit Jahrhunderten nicht mehr geschehen war. Die menschliche Vorstellung durchbrach alle Schranken, und da die wissenschaftlich begründeten Naturgesetze in ihrer universalen Anwend barkeit bis ins siebzehnte Jahrhundert unbekannt blieben, schienen Kunst und Dichtung am geeignetsten, dem Inhalt dieser neuen wunderbaren Welt Ausdruck zu verleihen. Durch sie sprach der Mensch und versuchte die neue Ordnung als Kunstwerk darzustellen. Durch den Zusammenbruch der alten universalistischen Ordnung war er ganz auf sich selbst gestellt und auf seine eigenen Mittel angewiesen; er hatte ein, wenn auch noch schwa ches Bewußtsein seiner Freiheit und war von seiner neuen Würde erfüllt. Fortuna, die die Welt dem Menschen bötig machte, konnte durch Tugend, Stärke und Wagemut gezwungen werden; Machiavelli sagte, sie sei »wie eine Frau den jungen Männern zugetan; und weil diese weniger behutsam als heftig und wagemutig sind, ist sie ihnen zu Gebote«. Die Renaissance war die Zeit, in der das Ideal der Selbstdarstellung der starken Persönlich keit entstand. Ein aristokratisches und intellektuelles Ideal, das nicht frei war von der Verachtung für die ungebildeten und mühsam sich plagenden Massen und für den Durchschnittsmenschen. Diese neue Lebenserfahrung wurde in einer Sprache ausgedrückt, die durch den Rhythmus und den Sinngehalt der antiken Autoren geformt war. Nachdem die Autorität der Kirche abgeschüttelt worden war, hatte die Re naissance in den antiken Schriftstellern eine neue Autorität gefunden. Doch diese Autorität lag außerhalb des Bereiches maßgebender und bindender Interpretation, dem Einzelnen eine freie Wahl nach eigenem Geschmack und Ermessen belassend. Die Bestätigung durch die Antike stärkte und er quickte den Einzelnen in dieser Übergangszeit; aber sie durchsetzte auch seine Gefühle mit Worten und Assoziationen aus der Antike, mit ihrer patriotischen Verehrung der Polis der Griechen und der Patria der republi kanischen Römer. Die Humanisten, Bürger der wachsenden italienischen Stadtrepubliken, verlegten das Schwergewicht von Augustus und dem im ii 7
perialen Rom auf die Helden der Republik, auf Scipio, Cato und Brutus. Dante hatte Brutus zusammen mit Cassius und Judas Ischariot an die tiefste und schrecklichste Stelle der Hölle, dorthin, wo Luzifer selbst sich befand, verbannt. Für ihn war das universale kaiserliche Rom von werthafter Be deutung, die Schöpfung Caesars und Augustus, die geordnete Harmonie der Menschheit. Doch nun begann sich das machtvolle Bürgertum der ita lienischen Städte als der einzig rechtmäßige Erbe der römischen Größe zu fühlen und es verabscheute dieselben deutschen Kaiser als ausländische Bar baren, die noch zwei Jahrhunderte vorher Dante als Träger der Reichsidee so verzückt begrüßt hatte. Die neue Betonung der antiken Geschichte erweckte in den Italienern ein neues Bewußtsein ihrer Identität mit den alten Römern, dem einzigen echten Kulturvolk. War nicht der Humanismus bei den Italienern als etwas Selbstverständliches erwachsen? War das nicht Beweis genug, daß sie wiederum, j wie in alten Zeiten und für immer, der Mittelpunkt der Kultur, die Fackel träger des menschlichen Lichtes waren? Dieses Überlegenheitsgefühl, das ständig den >barbarischen Völkern< vorgehalten wurde, weil sie Italien auf suchten oder zu den italienischen Humanisten Zuflucht nehmen mußten, um in den Humanismus eingeweiht zu werden, führte zwangsläufig zu einer Reaktion. Es veranlaß te die Franzosen und die Deutschen, ihre Eben bürtigkeit zu beweisen und ihre Geschichtsforschung zu intensivieren mit dem Ziel, eine Abstammung nachzuweisen, die genau so würdig war wie die der Italiener. Obgleich aus dem Zusammenbruch der universalen Ordnung heraus die nationalen Eigenarten in einer bewußteren Form aufzutreten begannen, kann man die Zeit der Renaissance und der Reformation noch nicht als eine nationalistische Epoche bezeichnen. Sie blieben durch religiöses Gedan kengut und religiöses Empfinden beherrscht. Beide hatten sie dieselbe Ur sache — den Wunsch nach einer Erneuerung durch Rückkehr zu den Ur sprüngen — und beide waren sie ein Ringen um eine Synthese zwischen dem alten Universalismus und dem neuen Individualismus. Noch im Banne einer universalen Zivilisation und Religion, hielten sie beide das Indivi duum für das Grundelement dieses Universalismus, den sie mit dem Uni versalismus der Antike identifizierten und solchermaßen seine Autorität anerkannten. In ihrer Welt hatte die Nation als bewußter und mächtiger Faktor, als Wegbereiter einer besseren Zukunft, als ein Mittler auf dem Wege zu kollektiver oder individueller Erlösung noch keinen Rjum . Für die breiten Schichten der Bevölkerung blieb die Ordnung der Vergangenheit noch unerschütterliche Wirklichkeit; sie waren nach wie vor in die immer 118
noch mächtige Ordnung des Mittelalters eingebettet und unberührt von den hohen Winden der Diesseitigkeit und des Persönlichkeitsbewußtseins, welche durch die über ihnen stehenden Ränge wehten. Immerhin hatten auch für sie das Gebäude und der Boden, auf dem es errichtet war, einiges von ihrer Unerschütterlichkeit eingebüßt; die Risse in den Wänden waren drohend genug geworden, um auch ihre Sicherheit ins Wanken zu bringen. Das fünfzehnte Jahrhundert war mit großen Bürgerkriegen und ihren cha otischen Begleiterscheinungen angefüllt. Der Hundertjährige Krieg, die Hussitenkriege, die englischen Rosenkriege waren kaum beendet, als für Italien und Deutschland der Kampf begann, als die Türken als eine tödliche Gefahr für die europäische Kultur an der Schwelle Europas erschienen. In ganz Europa verursachten das Aufkommen kapitalistischer Wirtschaftsfor men und die Verschiebung wirtschaftlicher und geographischer Zentren un geheuere Not unter der breiten Bevölkerung. Der Zustrom von Gold warf das Preis- und Lohngefüge über den Haufen, und das Fehlen eines sozialen Gewissens und von Wohlfahrtseinrichtungen steigerte noch die Not und V'erzweiflung. In diesem Chaos wurde durch die Dekadenz der Kirche das Bedürfnis nach übersinnlichem Trost eher gesteigert als gemindert. Stärker denn je klammerte sich das Volk an religiöse und transzendente Hoffnun gen. Stärker noch als das Verlangen nach einer politischen Ordnung, die in der Lage gewesen wäre, die Bürgerkriege und die von außen kommenden Drohungen zu bannen, stärker als das Verlangen nach machtvollen Fürsten, die den Frieden wiederherzustellen vermochten, als der Wunsch nach einer neuen Gesellschaftsordnung, die geeignet gewesen wäre, den Wohlstand und die von den Alten genossenen Freiheiten wiederherzustellen, war die Sehnsucht nach Erlösung, die sich in der ungeheueren Zunahme des Ablaß handels, in apokalyptischen Zukunftserwartungen, in religiöser Schwärmetei und Prophezeiung ausdrückte. Die ganze Welt schien voll von Dämonen, die das Kommen des Antichrists ankündigten. Durch die Erfindung der Druckerpresse wurde die Ausbreitung geistigen Lebens beschleunigt. In einer Flut von Flugblättern und Broschüren wurden die theologischen Fragen, die jedermanns Hauptinteresse bildeten, bespro chen. In der Bewegung der Wiedertäufer kam das tiefe Verlangen der Mas sen nach einer neuen und besseren Ordnung zum Ausdruck, das Verlangen nach einer Taufe im wahren Glauben, die ein Überleben der Welt der Dä monen, die ihrem Ende entgegenzurasen schien, ermöglichen sollte. Die Renaissance hatte keine neue Ordnung errichtet; sie hatte die überlieferten Sicherheiten in Frage gestellt und der Weltlichkeit und der Korruption der Kirche Vorschub geleistet. So waren die Massen zur Aufnahme des Evan119
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geliums der Reformation bereit; in einer erstaunlich kurzen Zeit riß diese Bewegung die gesamte westliche Christenheit mit sich fort. Sie verlagerte | den Schwerpunkt wieder auf die universalen Belange der Religion und | setzte dem kurzen Zwischenspiel der Diesseitigkeit und des historisierenden Patriotismus der Renaissance ein Ende. Trotz des häufigen Ausdrucks nationaler Gefühle in der Literatur der Renaissance wurden die entstehenden Nationen durch Bürgerkriege zer rüttet; die rivalisierenden Parteien der großen Herren kannten keine Loya litätsgefühle gegenüber der Nation, und die Bevölkerung selbst blieb völlig außerhalb der Einflußsphäre des Nationalismus. Nur die Bildung von star ken, zentralen, monarchistischen Mächten war in der Lage, die Bruderkriege zu beenden und künftige Nationen aufzubauen oder zu vereinigen. Die Treuegefühle der Völker galten noch der Religion. Aber so wie die eini gende politische Gewalt des Mittelalters vernichtet worden war, so zerstör ten nun die Reformation und die siegreiche Gegenoffensive des refor mierten Katholizismus die einheitliche religiöse Autorität. Obwohl die Religion ihrer Zielsetzung nach universalistisch blieb, hatte sich die west liche Christenheit in zwei getrennte Körper aufgespalten, und an die Stelle des nach Einheit strebenden Universalismus war ein neuer Pluralismus getreten. Am Ende der Renaissance war das Leben wieder theologisiert und die Religion wieder zum Angelpunkt der Politik geworden. Aus politischen Gründen wurde keine religiöse Toleranz gewährt, »cuius regio ilittts reli gio« wurde zur politischen Maxime, und nicht die Nation, sondern Fürsten und Religion wurden die Kristallisationspunkte des neuen Staates. Die ver einzelten Denker, die noch unter dem Einfluß der Renaissance standen, lösten sich aus der Kirche, wie zum Beispiel der Agnostiker Jean Bodin, von dem man sagte »II mourut comme un chien, sine ullo sensu pietatis, n'etant ni juif, ni chretien, ni turc«. Aber abgesehen von solchen Einzelfällen riß die neue religiöse Welle den Humanismus und den Individualismus, die sich beide in Renaissance und Reformation durchgesetzt hatten, mit sich fort und begründete eine neue Lehre vom Machtstaat. Sogar Melanchthon nannte die Verbrennung des Servetus »pium et memprabile ad omnem posteritatem'exemplum«. Niemals hatte während des finsteren Mittelalters der Hexenglaube so geblüht wie in der Zeit nach der Renaissance und der Reformation. In Holland, damals das fortschrittlichste Land auf dem Kon tinent, wurde noch 16 9 1 ein Pastor, Balthasar Bekker, als Gotteslästerer von der Kirche verfolgt, weil er in seinem Buche >Betooverde Wereld< die Existenz der Hexerei angezweifelt hatte.
Während in ganz Europa der Nationalismus nach einem sehr kurzen und wirkungslosen Aufflackern angesichts der neuen Macht von Königtum und Religion wieder verschwand, ging die Entwicklung in England andere Wege und brachte dem Lande vor dem Kontinent einen Vorsprung von einem Jahrhundert. Dort wurde im Bürgerkrieg des siebzehnten Jahrhun derts, der ersten großen nationalen Welle, die ein ganzes Volk ergriffen hat, die Religion depolitisiert und deterritorialisiert. Die religiöse Toleranz wurde eingeführt und die Vormacht des Parlamentes über den König kon stituiert. Dort vermochte sich der Individualismus der Reformation gegen über den autoritären Staatslehren durchzusetzen; es wurden die Grundlagen zu einer neuen Epoche geschaffen, in denen wesentliche Elemente der Re naissance und der Reformation aufgenommen und eingestaltet wurden — eine Epoche, deren Licht über dem kontinentalen Europa erst im achtzehn ten Jahrhundert aufgehen sollte.
2 Auf den ersten Blick scheint kein notwendiger Zusammenhang zwischen dem beginnenden Nationalismus und dem Humanismus zu bestehen, da letzterer ja der gesamten westlichen Christenheit gemeinsam war. Daß er zuerst in Italien auftrat, lag an der führenden Stellung, welche die Fürstenliöfe der Apenninenhalbinsel dank ihres Reichtums und ihres fortschritt lichen Wirtschaftswesens innehatten. Dort drangen die antiken Quellen auch wirkungsvoller in das Leben ein; die gewohnten Stadt- und Land schaftsbilder verbanden sich mit dem Glanz und dem Ruhm der Antike. Aber die Schlußfolgerungen des Humanismus waren keineswegs auf Ita lien und die Italiener gemünzt. Der Humanismus erweckte die >humanitas< des antiken Rom zu neuem Leben, mit der Betonung auf >humana< als einem gemeinsamen Erbe der Rasse. Die italienische Sprache, die durch Dante, Petrarca und Boccaccio zu solcher Höhe entwickelt worden war, wurde durch die Verbindung mit der lateinischen Sprache neu belebt, und der Grad der Beherrschung dieser universalen Sprache bestimmte den Rang, den der Mensch in der geistigen Welt einnahm. Der Humanismus führte die mittelalterliche kosmopolitische Gemeinschaft der Gelehrtenwelt in einer luikularisierten Form fort, Erasmus, der Fürst der Gelehrten, lehrte das Ideal der >tranquillitas orbis Christiani<, verwarf den Nationalismus als Eigenliebe und setzte Friede und Eintracht als das höchste Ideal, nach dem der Mensch streben müsse.
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r Die meisten humanistischen Schriftsteller der italienischen Renaissance standen in Diensten von Fürsten oder Städten. Es war ihre Pflicht und Auf gabe, die Tugenden ihrer Brotgeber auf die vollkommenste Art in der neuen lateinischen Weise zu preisen. Die Nachahmung der antiken Geschichts schreiber und Redner war die einzige Möglichkeit, die sich ihnen bot. Ästhe tische Erwägungen spielten dabei eine fast noch größere Rolle als ihre apo logetische Aufgabe. Sie versuchten aus Ciceros oder Livius' Wortschatz zu schöpfen und mußten deshalb das Originale ihrer Zeit in Worten ausdrükken, die dazu bestimmt waren, die Empfindungen eines gänzlich verschiede nen Zeitalters zu vermitteln. Sie übertrugen den alten Stadtpatriotismus auf ihren Geburts- oder Tätigkeitsort. Livius' Beispiel folgend, betrachteten sie ihre Stadt nicht als einen Teil eines geistigen oder politischen Reiches; die Ereignisse aus dem Bereich des Christentums behandelten sie nur in soweit, als ihre eigene Stadt davon betroffen wurde. Im Lohne ihrer Für sten oder Städte schreibend, befaßten sie sich nur damit, die Vergangenheit ihrer Auftraggeber darzustellen und zu preisen, ohne sie dabei vor einen universalistischen Hintergrund zu stellen. Die humanistischen Geschichtsschreiber, oftmals fahrende Scholaren, die für diesen Zweck angestellt wurden, empfanden selten einen lokalen Patrio tismus, geschweige denn ein italienisches Nationalgefühl. Aber die zuneh mende Kenntnis antiker Quellen und die intensivere Untersuchung antiker Anlagen führten zu einer neuen Bewunderung der römischen Vergangenheit und des Verwandtschaftsverhältnisses, in dem die italienische Gegenwart zu jener stand. Flavius Blondus, aus seiner Geburtsstadt Forli verbannt, arbei tete während der letzten dreißig Jahre seines Lebens in der päpstlichen Kanzlei. Er verfaßte dort drei Bücher über das antike Rom und Italien, die für spätere Nachahmer, sogar außerhalb Italiens, beispielhaft wurden: >Roma Instaurata<, eine Topographie des alten Roms (1446); >Italia Illustrata< (1458), eine historische und geographische Enzyklopädie; und schließlich >Roma Triumphans< (1459), ein Handbuch römischer Altertü mer. Dieses waren die Werke eines Archivars, noch ohne Patriotismus oder Nationalismus. Ein neuer Ton machte sich nach dem Einfall Karls VIII. von Frankreich (1494) bemerkbar, als Italien zum Kampfplatz der beiden rivalisierenden Imperialismen, Spanien und Frankreich, wurde. Die alten Quellen im Sinne tragend, litten die Italiener darunter, daß diese Barbaren, die einstmals Rom tributpflichtig gewesen waren, nunmehr Italien und die Italiener vernichteten und verachteten. Bernardino Corio aus Mailand ver lieh diesen neuen Gefühlen den französischen Eroberern gegenüber in sei ner >Patria Historia< (1503) Ausdruck. In Florenz erhob sich während der 122
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turbulenten Zeit, die der französischen Invasion folgte, und während der inneren Kämpfe zwischen der Republik und den Medici, zum ersten Male eine Stimme, die im Sinne des italienischen Nationalismus sprach: es war dies die Stimme Niccolö Machiavellis. Machiavelli (1469—1527) schrieb die Geschichte nicht mehr auf lateinisch, sondern auf italienisch, und nicht als ein Rhetor, sondern als ein Staats mann. Er erkannte klar die Beziehungen, die zwischen dem Ausland und der einheimischen Politik bestanden. Er ermaß, wie wichtig die Aufstel lung einer schlagkräftigen Streitmacht sei, auch war er sich über die Ab hängigkeit des Schicksals von Florenz vom gesamtitalienischen Schicksal klar und wünschte sich daher sehnlichst ein Italien, das genau so geeint und mächtig sei wie Frankreich und Spanien es unter ihren großen Königen geworden waren. Als ein italienischer Patriot empfand er eine starke Ab neigung gegen das Papsttum, das seiner Ansicht nach die italienischen Ein heitsbestrebungen durch seine universalen Bindungen vereitelte. Während er sich einen starken Mann wie Caesare Borgia für die Durchführung der Einigung Italiens wünschte, beschrieb er das Leben vonCastruccioCastracani, einem mittelalterlichen Tyrannen von Lucca, den er für den Prototyp des ersehnten italienischen Freiheitshelden hielt. Dieser Vorläufer des italienischen Nationalismus, der zwei Jahrhunderte nach Dante und etwa 200 Jahre vor den ersten schwachen Anfängen einer italienischen nationalen Bewegung lebte, sah die Zukunft mit unbarmher ziger Hellsichtigkeit voraus. Das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben Italiens, das im fünfzehnten Jahrhundert noch in vieler Hinsicht kräftig und lebendig war, überschritt im sechzehnten Jahrhundert die Schwelle zu dem langjährigen Verfall, den der spanische Einfluß über das Land heraufbeschworen hatte. Machiavelli hatte ein starkes Empfinden für die hereinbrechende Dämmerung; Pessimismus und sogar Verzweiflung erfüllten ihn - Gefühle, die zu dem in England während des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts herrschenden Optimismus in krassem Ge gensatz standen. Wie Dante aus seiner geliebten Vaterstadt Florenz ver trieben, sah er in einer starken und weisen Autorität das einzige Mittel tfegen die politische Unordnung und Demoralisierung Italiens, die er um sich herum erblickte. Mit seinem völlig auf das Diesseits gerichteten Sinn war er der erste Mann, der das Mittelalter hinter sich zurückgelassen hatte. IJniversalismus bedeutete ihm nichts. Für Religionen hatte er weder per sönliche noch politische Verwendung. Es gab für ihn keine andere Welt nls die der Tatsachen eines ehernen Zeitalters, denen er hart und furcht los in die Augen blickte. Die göttliche Ordnung war zusammengebrochen 12 3
und i*lne sittliche Ordnung, die auf der Grundlage der Autonomie der Na turgesetze beruhte, hatte sich noch nicht entwickelt. Deshalb waren dem Staate, dem einzigen Ordner des irdischen Glückes, keinerlei Beschränkun gen auferlegt. Machiavelli war der erste europäische Nihilist; am Rande eines Abgrunds stehend, den er nur allzu deutlich sah, errichtete er mutig eine Zufluchtstätte für seine Verzweiflung und seine vergebliche Hoffnung. Machiavellis Bedeutung für die Geschichte des Nationalismus liegt we niger in seinem noch nicht ausgesprochenen Patriotismus als in der Vision eines weltlichen Staates, der von jeder moralischen Sanktionierung unab hängig war. Von dieser Basis aus konnte der Staat leicht ein absoluter werden, der völlig durch die und innerhalb der Autonomie seiner Staatsraison lebte. So wurde die Stärke des Staates zum Selbstzweck, und sämt liche Mittel, die dazu verhalfen, das Ziel zu erreichen, erschienen ge rechtfertigt. »Wenn es sich um das Wohl unseres Landes handelt, dürfen wir keinerlei Erwägungen über Recht oder Unrecht, über Gnade oder Grausamkeit, über Lob oder Schmach zulassen; alles andere beiseitelassend, müssen wir den Weg einschlagen, der seinen Bestand und seine Unabhän gigkeit zu erhalten vermag.« Machiavellis politische Philosophie beruhte auf realistischer Beobachtung, aber eine Beobachtung, deren Wert durch eine einseitig pessimistische Ansicht über die menschliche Natur und die menschlichen Absichten beschränkt war. »Wenn die Menschen durch und durch gut wären, so wären diese Regeln falsch; aber weil sie eben schlecht sind und ihr Wort nicht halten, so bist auch du nicht daran gebunden, es ihnen zu halten.« Aber in seinem auf einer utopischen Vollkommen heitsvorstellung beruhenden Pessimismus hat er übersehen, daß die Men schen, wenn sie auch nicht »durch und durch gut« sind, sich doch in vielen Fällen an ihr gegebenes Wort halten, und daß der Bestand einer zivilisierten Gesellschaftsordnung auf dieser Regel als einem sittlichen Gebot beruht, selbst dann, wenn diese Regel in einzelnen Fällen durchbrochen wird. Aber hinter dieser strengen und leidenschaftslosen Beurteilung der Wirk lichkeit — ein Urteil, das er vielleicht mit vielen seiner Zeitgenossen teilte — stand ein Herz, das leidenschaftlich für Italien schlug, doch schlug es ein sam und nicht in Übereinstimmung mit der Gesinnung seiner Zeitgenossen. Im letzten Kapitel des >Principe<, das »ein Mahnruf, Italien von den Bar baren zu befreien< war, ändert sich plötzlich der Rhythmus des Buches. Machiavelli sah Italien »ohne Haupt und Ordnung, geschlagen, ausgeplün dert, zerrissen und verwirrt und jede Art des Elends bis zur Neige kostend«. Vor allen anderen Dingen sah er seine sittliche Zerrüttung. »Es wird leicht einzusehen sein, daß für Italien wegen seiner Korruption wenig oder 12 4
iiitlits mehr zu hoffen ist, es sei denn durch den Wagemut und die Rück»Ulitslosigkeit eines großen Mannes, der fähig und willens ist, für die Bes«t’iung Italiens zu kämpfen.« Er hatte gehofft, daß Caesare Borgia von l.ntt als Befreier Italiens ausersehen würde, aber das Glück hatte sich ihm Vrrnagt. Nun widmete er seinen >Principe< Lorenzo de' Medici. Machiavelli lilmibte, daß die Italiener, denen »diese Barbarenherrschaft stinkt«, einen Hefreier stürmisch begrüßen würden und daß so die Hoffnungen, die Peliarca in der 16 . Canzone von >Italia Mia< ausgesprochen hat, sich erfüllen würden.
Virtü contro al Furore Prenderä l'arme, e fia il combatter corto: Che l'antico valore Negli italici cuor non c ancor morto.
Der Befreier kam nicht. Die Italiener waren auf eine nationale Befreiung nicht vorbereitet. Kein Fürst, keine Stadt und kein Bürger nahm sich der Uemeinsamen Sache Italiens an, die zu Machiavellis Tagen genau so wenig bestanden hatte wie in den Tagen Rienzos. Selbst Machiavelli hatte nicht in erster Linie eine italienische Einheit gewünscht; es war ihm lediglich darum tu tun, Italien von den barbarischen Eindringlingen befreit zu wissen. Er nehme sich nach der Wiedererstehung der alten virtü, aber seine größte Liebe galt den kleinen Republiken seines zeitgenössischen Italiens. Über die Einheit stellte er die Freiheit und über Italien seinen Geburtsort Florenz. Sein italienischer Patriotismus sollte keine Früchte tragen; die virtu erHtand nicht, die Korruption wuchs, und die Kirche, die Machiavelli beschul digte, sie alleine habe Italiens Einheit verhindert, konnte sich wieder sieg reich durchsetzen. Der Stern Italiens war in schnellem Sinken begriffen, und die um das Mittelmeer herum gelagerte Welt des Imperium Romanum wurde durch eine neue Welt, die an den Küsten des Atlantischen Ozeans erstand, überschattet. Der Fürst, der Befreier Italiens, war nichts als der fromme Wunsch eines einsamen Patrioten; der gewalttätige Führer als Prototyp des neuen Staates trat dagegen ins Leben ein, und hat sich in jüngster Zeit in einem Ausmaße entwickelt, das die Ahnungen jenes küh nen politischen Denkers bei weitem überflügelte.
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3 Dort wo Italien versagte, hatte Frankreich Erfolg. Der große Renaissance könig Franz I. ( 15 15 —1547) versammelte an seinem Hofe ein glänzendes Aufgebot von Schriftstellern und Künstlern, die viel dazu beigetragen ha ben, einen gesteigerten Stolz auf die politischen und kulturellen Leistungen des Königtums zu nähren. Einer der Hofschriftsteller verstieg sich sogar zu der Behauptung, daß der Ausdruck >langue françoise< vom königlichen Namen François hergeleitet sei; und wirklich, die Regierungszeit Franzi, und das gesamte sechzehnte Jahrhundert brachten eine große Bereicherung der französischen Sprache. Am 15 . August 15 3 9 bestimmte Franz I. in den Artikeln 1 1 0 und 1 1 1 der Verordnung von Villers-Cotterets, durch welche gewisse juristische Reformen eingeleitet wurden, daß in Zukunft sämtliche Gesetze und Urteile auf französisch aufgeschrieben und verkündet werden sollen. Diese Anordnung schloß nicht nur den Gebrauch der lateinischen Sprache aus, sondern drängte auch die lokalen Dialekte in den Hintergrund. Der König hat sein Vorgehen damit begründet, daß Klarheit herrschen müsse, um Zweideutigkeit und Unsicherheit zu vermeiden. Aber außer die sen Gründen erschien als ferneres Ziel die Einheit des Rechtes auf der Grundlage der Einheit der Sprache als tragende Säule für ein geeinigtes Königreich. Verwaltung und Rechtswesen waren nicht die einzigen Quellen, aus denen die Blüte der französischen Sprache gespeist wurde. Der neue Humanis mus machte eine höhere Bildung für den Adel, der des Lateins nicht mäch tig war, erforderlich. Claude de Seyssel, der Historiograph Ludwigs XII., machte den Vorschlag, eine >literature en françois< zu schaffen und über setzte selber griechische und lateinische Autoren ins Französische. Die Kö nige von Frankreich gingen auf Seyssels Vorschlag ein und förderten die neue Literatur, vielleicht angeregt durch seinen Prolog zu >Justine<, wo er Ludwig XII. aufgefordert hatte, dem Beispiel Roms zu folgen. »Was haben das Volk und die Kaiser von Rom getan, als sie das Weltreich innehatten und es verewigen wollten? Keinen anderen Weg fanden sie so sicher und erfolgversprechend wie den Ausbau und die Verfeinerung ihrer lateinischen Sprache, die zu Anfang des Reiches noch recht dürftig und roh gewesen war, um sie dann, zusammen mit ihrem römischen Recht, das in dieser Sprache verankert war, über die Länder, Provinzen und Völker, die sie er obert hatten, auszubreiten.« Der Rat, politische Zielsetzung mit kultureller Lebenskraft und leuchtendem Vorbild zu vereinen, fiel auf fruchtbaren Bo den. In diesem Punkte wirkliche Erben der Römer und Griechen, begrün* 12 6
deten die Franzosen ihre Vormachtstellung im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert auf der Intensität, Klarheit und Rationalität ihrer Kultur. Während des siebzehnten Jahrhunderts machte in Frankreich ein glänzen des Siebengestirn von Autoren von Prosa und Poesie die französische Sprache zu jenem vollendeten Werkzeug, welches vom ganzen zivilisierten Europa als Grundlage des geistigen Lebens übernommen wurde. »Die Reihe der Verfasser von Prosa von Calvin bis Montaigne und von Dichtern von Marot bis Regnier schuf eine Sprache, die keiner modernen Sprache an Schönheit, Schmiegsamkeit und Ausdruck nachsteht,. . . deren Vorzüge durch die Bekenntnisse und das Wirken der größten modernen französi schen Autoren aufs glänzendste bewiesen sind.« Pierre de Ronsard (1524 bis 1585) sang das Lob jener Männer, die es als erste gewagt hatten, die Sprache der Antike zu verlassen und der Sprache ihres eigenen Landes den Vorzug zu geben. Geoffroy Tory von Bourges machte 15 2 9 in seinem >Champfleury< den Vorschlag, die Franzosen sollten dem Beispiel der Rö mer folgen, die den größten Teil der Erde beherrscht hatten und mehr »par leur langue que par leur lance« ihre großen Siege errungen hatten. Er wünschte, daß die Franzosen dasselbe täten, »non pas pour estre tyrans et roys sur tous«, sondern um den Wissenschaften und Künsten in ihrer Sprache klaren und angemessenen Ausdruck zu verleihen; dann würden nicht nur die gebildeten Schichten, sondern auch das Volk von den Büchern profitieren. Er betonte, daß es sich nicht darum handle, auf das Hebräische, Griechische oder Lateinische zu verzichten, sondern nur darum »de cheminer plus seurement en sa voye domestique, c'est â dire escripre en francois, comme François que nous sommes«. Die von Joachim du Bellay in seiner >La Deffence et illustration de langue françoyse< (1550) ausgesprochene wagemutige Hoffnung, daß die französische Sprache, die bereits begon nen hatte Wurzeln zu schlagen, sich zu solcher Höhe aufschwingen würde, daß sie der griechischen und lateinischen gleichkäme, ging in Erfüllung. Während Machiavelli seinen >Principe< schrieb, veröffentlichten die gro ßen französischen Humanisten Guillaume Budé und Claude de Seyssel ihre Auffassungen vom Zweck und von den Methoden des fürstlichen Regi ments, Budé in seiner >De l'institution du Prince< (15 16 ) und Seyssel drei Jahre später in seiner >La Grand' Monarchie de France< (15 19 ). Es ist offensichtlich, daß ihre Werke einen gänzlich verschiedenen Geist zum Aus druck brachten. Machiavelli sah um sich her nur Korruption und Verfall und hielt vergebens nach dem Erretter in der Gestalt eines Fürsten Aus schau. Die französischen Humanisten seiner Zeit grüßten einen König, von dem sie hofften, er sei ein königlicher Philosoph und Vater des Volkes, 12 7
r welch beide Attribute man Ludwig XII. zugelegt hatte. Ihre Schriften spiegelten das die Franzosen erfüllende allgemeine Gefühl des Aufstiegs und des Wachstums wieder. A uf Budés Vorschlag hin wurde das Colle gium Trilingue, das Collège Royal (später Collège de France genannt) gegründet. Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung erhielten neuen Auftrieb, wenn auch die bekanntesten Geschichtswerke der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts sich immer noch an die Legende der troja nischen Abkunft der Franken hielten. Trotz des starken Einflusses, den die Antike noch auf den französischen Geist ausübte, setzte sich die Volks sprache doch langsam durch. Im Jahre 15 2 9 wandte sich Jean Bodin in Toulouse in einer Rede über die Jugenderziehung gegen den ausschließlichen Gebrauch der lateinischen Sprache in den Schulen und machte den Vorschlag, im wissenschaftlichen Unterricht die französische Sprache zu benutzen. Nach nicht ganz zwanzig Jahren hielt Louis Le Roy die erste französische Vorlesung an einer Uni versität und verfaßte als erster eine metaphysische Abhandlung in der Sprache des Volkes. In der französischen Gesellschaftsordnung traten große Veränderungen ein: Franz I., der erste >Roy du bon Plaisir<, wurde bei seinen Bemühungen, eine zentralisierte und autokratische Regierung einzuführen, von den Ju risten seiner Zeit, die eine ähnliche Rolle wie die Legisten unter Philipp dem Schönen spielten, unterstützt. Franz I. war es gelungen, die zwei tra genden Säulen der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung zu schwächen — den feudalen Adel und die Kirche. Dieser Wechsel stärkte nicht nur die Macht des Königs, sondern auch die des Bürgertums, dessen Wohlstand infolge der Ausdehnung des Handels und der Mobilisierung der Reichtümer schnell zunahm, und das sich in den Besitz aller wichtigen Ämter setzen konnte. Doch war der Nationalismus weder die Seele noch das Re sultat dieser Entwicklung. Sie schuf nicht eine stärkere französische Nation, sondern führte zur Errichtung der absoluten Monarchie. Doch selbst hier für waren die Grundlagen noch nicht stark genug. Nur allzu bald wurden das Königtum und seine eben erst errungene Macht in den Strudel erbit terter Religionskämpfe gerissen, durch welche, trotz der Bemühungen eini ger toleranter und patriotisch gesinnter Männer, Frankreich in zwei feind liche Lager aufgespalten wurde, und in denen religiöser Eifer und persön licher Ehrgeiz den während der Renaissance aufgekeimten Patriotismus wieder töteten. Doch hat auch die Reformation zur Entwicklung der französischen Na tionalidee beigetragen. Der Gebrauch des Französischen für Predigten und 128
religiöse Schriften stärkte die Stellung dieser Sprache. Die Hugenottenfüh rer veröffentlichten in der Schweiz Bücher, in denen eine vom Monarchen geschiedene Souveränität des Volkes sowie die Priorität der Rechte der Nation und der Allgemeinheit betont wurden. Aber durch den Sieg des katholischen Monarchen wurden diese ersten Anzeichen der Theorie der Volkssouveränität in Frankreich wieder vernichtet. Der Calvinismus hat diese Samen nach anderen Ländern, nach Holland, England und nach NeuEngland getragen, von wo aus sie dann während des achtzehnten Jahrhun derts als voll ausgewachsene Pflanzen nach Frankreich zurückkommen soll ten. Aus den Religionskriegen gingen in Frankreich nicht die Rechte des Volkes, sondern die absolute Monarchie siegreich hervor. Aus den Trüm mern ununterbrochener Religionskriege schuf ein freier Geist wie Jean Bodin die Theorie der Staatssouveränität als eine feste weltliche Basis der Gesellschaftsordnung. Er hatte das Vorhandensein einer überreligiösen menschlichen Gemeinschaft, zu der die eingeborenen Indianer in Amerika so gut wie die Einwohner Indiens gehörten, erkannt. Diese >res publica mundana< oder >republique universelle de ce monde< war von dem christ lichen Reich des Mittelalters, welches nicht wirklich universal gewesen war, verschieden. In dem >Colloquium heptaplomeres< (1588) zeigte er, daß er sich der Relativität aller Religionen bewußt war; in seinem >Methodus ad facilem historiarum cognitionem< (1566) vertrat er den neuen und zu kunftsfreudigen Universalismus der späten Renaissance. Aber inmitten von konfessionellen Streiten und der Auseinandersetzung zwischen mittelalter lichen Gemeinschaften und feudalen Rechten, erkannte er die Notwendig keit einer obersten territorialen Gewalt. Als zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts der wirtschaftliche Zusammenbruch und das allgemeine Elend das Verlangen nach innerem Frieden unwiderstehlich machten, war nicht die Nation, sondern die absolute Monarchie diejenige Macht, die die Ver waltung vereinheitlichte und den Wohlstand wiederherstellte, und die zur Quelle des politischen, kulturellen und religiösen Lebens wurde.
4 Die Entwicklung in Deutschland unterschied sich in vieler Hinsicht von der in England, Frankreich und Spanien. In jenen Ländern gingen aus der Re naissance starke Staaten hervor, die aus dem verschwommenen und form losen Universalismus des Mittelalters herausgewachsen waren und die be stimmenden Elemente der künftigen Nation wurden. In Deutschland hat 129
das Reich niemals seine alten, erdumspannenden Ansprüche aufgegeben, obwohl diese Ansprüche nicht gegenständlicher waren als ein Schatten. Das Reich blieb die hierarchische Spitze einer feudalen Ordnung, auf die die welt liche Macht mehr und mehr überging, da die Magnaten des Reiches (aber nicht das Reich selbst), ihre Verwaltungsmethoden dem Vorbild der zentra lisierten Staaten des Westens anpaßten. Während die Lebenskraft des Zen trums schwächer und schwächer wurde, kam das Blut in den Arterien und Kapillaren immer stärker zum Fließen; aber es gab keine Venen, die das Blut zum Herzen zurückgeführt hätten, das folglich mehr und mehr unter Blutmangel zu leiden hatte. Maximilian von Habsburg (1493—15 19 ) hoffte noch, den Weltanspruch des Reiches und seine innere Struktur wieder beleben zu können; aber, wie sämtliche anderen Fürsten des Reiches, war auch er mehr an seiner Haus macht interessiert als an einer Reform des vom Mittelalter überkommenen, gestaltlosen Reiches. Als eine Nation lebten die Deutschen auch noch in der Neuzeit in der Vorstellung der römischen Reichsidee, sie betrachteten sich weiterhin als die Träger des universalen Reiches, das für ewige Zeiten der deutschen Nation verhaftet sein sollte. In der zweiten Hälfte des fünfzehn ten Jahrhunderts dokumentierte sich diese Verbindung des Heiligen Römi schen Reiches mit der deutschen Nation in dem neuen Titel >Heiliges Rö misches Reich Deutscher Nation<. Dieser Titel drückte einerseits die tat sächliche Beschränkung des Reiches auf die deutschen Lande aus, gemahnte aber andererseits daran, daß das universale Reich überall, zumindest von rechtswegen, der deutschen Nation zukam, selbst dann, wenn in der Wirk lichkeit die Macht in anderen Händen lag. Doch die Grundlagen der Reichsmacht schwanden dahin; die Deutschen wurden durch die zunehmende Macht ihrer Nachbarn beunruhigt. Im Osten gewannen die Polen und Tschechen an Boden, und die Türken drohten, tief in deutsches Land einzudringen; im Westen konnten die Franzosen, nach dem sie die Engländer besiegt hatten, ihr Augenmerk auf den Osten, den Rhein, richten, und die lothringischen Bistümer, Lehen des Reiches, kamen unter französische Herrschaft. Die Wirkung dieses politischen Druckes wurde noch durch den wirtschaftlichen Rückgang, der infolge der Verlage rung der Handelswege eingetreten war, verschlimmert. Die großen Städte im Norden der Alpenpässe und die Hanse verloren an Bedeutung. Wäh rend in Italien, Frankreich und England in der Renaissance die Städte stark gewachsen waren und ihre politische Macht zugenommen hatte, bot die soziale Struktur Deutschlands nach dem fünfzehnten Jahrhundert ein Bild, das von dem des westlichen Europas grundlegend verschieden war. Der 13 0
rasche wirtschaftliche und kulturelle Anstieg der italienischen Städte prägte der italienischen Renaissance seinen Stempel auf; in Frankreich schmälerte der dritte Stand, in Zusammenwirkung mit der Monarchie, die Machtstel lung des Adels; in England verbanden sich Städte und Adel, um die Macht der Monarchie einzudämmen, während andererseits das Königtum die Städte benutzte, um seine Vormacht gegenüber dem unbötigen Adel durch zusetzen. In Deutschland nahmen der Wohlstand und die Macht der Städte ab: in politischer Hinsicht verloren sie ihre Macht, gleich dem Reich, an den feudalen Adel. Während im Westen der neue Kapitalismus das gesell schaftliche Leben umzugestalten begann, wandten sich führende deutsche Sprecher — Luther wie Ulrich von Hutten — gegen das Eindringen neuzeit licher kapitalistiscber Wirtschaftsformen. Sie verharrten in dem mittelalter lichen Mißtrauen gegen den Handel und die Kaufmannschaft und klammer ten sich, inmitten von wirtschaftlichen Umwälzungen, an die alte feudale Ordnung. Bezeichnender Weise wurde für sie der Unterschied der Wirt schaftsordnung zu einem sittlichen Problem; die rückständige Agrarwirt schaft, die sie in Deutschland erhalten wissen wollten, erachteten sie als eine ethisch gesunde und deshalb typisch deutsche Ordnung, den neuen Wirtschaftskapitalismus hingegen als verrucht und als den Ausdruck der angeborenen sittlichen Inferiorität der Italiener und Franzosen. Diese unterschiedlichen sozialen Entwicklungen in Deutschland und im Westen fanden ihre Parallele in der unterschiedlichen Entwicklung der Re formation in Deutschland unter Luther einerseits, und der Schweiz sowie im Westen unter Zwingli und Calvin andererseits. Bei Fürsten und Adel, an die sich Luther um Hilfe gewandt hatte, fand das Luthertum seine wich tigste Stütze; der Calvinismus hingegen verbreitete sich am stärksten unter dem handeltreibenden Mittelstand, der städtischen Handwerkerschaft und Intelligenz, entsprechend der gesellschaftlichen Struktur von Zürich und Genf. Ursprünglich schöpfte der Protestantismus aus den gleichen Quellen wie die mittelalterliche katholische Welt; er suchte nach neuen Antworten auf alte Fragen; sein Ziel war nicht die Zerstörung, sondern die Erfüllung des mittelalterlichen Weltbildes; doch von einem gemeinsamen Ausgangs punkte aus führten Luther und Calvin die Reformation auf verschiedene Wege. Aber die geistigen, sittlichen und sozialen Bewegungen, die aus dem Boden, den die beiden großen Reformatoren durch ihre Lehre und ihr Führertum bereitet hatten, hervorgingen, reichten weit über ihre Grundsätze und ursprünglichen Absichten hinaus. Das Luthertum übte einen tiefgrei fenden Einfluß auf die gesellschaftliche und geistige Entwicklung Deutsch lands, insbesondere in Preußen, aus; der Calvinismus beeinflußte in eben131
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solchem Ausmaße die Geschichte und den nationalen Charakter der Schweiz, Hollands und der angelsächsischen Länder und schließlich, wenn auch nur mittelbar, die Französische Revolution. Luthers passive Einstellung gegenüber politischen und Gesellschaftsfra gen führten ihn zur Anerkennung der bestehenden Ordnung. »Denke nie mand, daß er die Welt ändern könne. Sie ist immer gleich böse gewesen.« Die Erlösung, für ihn die zentrale Frage, war ein religiöses Problem, das nur durch den Glauben gelöst werden konnte. Christus kümmerte sich um die Seelen und nicht um die Gesellschaftsordnung. »Christus non curat politiam aut oeconomiam, sed rex est ad destruendum Diaboli regnum et ad salvandos homines.« Während die katholische Kirche immer bestrebt war, Staat und Gesellschaft zu verbessern und sie Gott anzunähern, lehrte Luther die Menschen, daß es auf ihr inneres Leben und auf ihren Glauben ankäme. Sie sollten nicht versuchen, eine neue politische und gesellschaft liche Ordnung einzuführen — das sei einzig Gottes Sache. In ihrem äuße ren Leben sollten sie die bestehende Ordnung anerkennen und dem Fürsten und der Obrigkeit Gehorsam leisten. Der Staat sei ein Übel, aber ein not wendiges Übel, ein Zwang für den sündigen Menschen, >poena peccati< und >remedium peccati<; er kann nicht nach den natürlichen Sittengesetzen beurteilt werden, seine Ordnung gehorcht eigenen Gesetzen. Wie in Machiavellis Lehre und aus einem ähnlichen Pessimismus heraus wurde hier der Staat als ein autonomes Gebilde, das außerhalb der Moral stand, auf gefaßt. Luther bekämpfte aufs heftigste Zwingli, die Wiedertäufer und die aufständischen Bauern, weil er in ihnen das Werk des Teufels sah. Gott, und Gott allein, war für ihn der feste Grund in einer Welt voll Teufel. So wurde das Luthertum mit seiner politischen Apathie und seinem grund sätzlichen Konservatismus zur Hauptstütze der bestehenden Ordnung, der Fürsten und privilegierten Stände, und verlieh ihnen das Recht, den pas siven Gehorsam zu fordern. Der Calvinismus entwickelte sich in einer anderen Atmosphäre. In seiner >Institutio religionis christianae< betonte Calvin, daß »wir in dem Gehor sam, den wir den Regierenden schuldig zu sein glauben, besondere Vor sicht walten lassen müssen, daß er nicht unvereinbar sei mit dem Gehor sam, den wir IHM schulden, dessen Wille der Wille aller Könige untertan sein sollte . . . Wir sind den Menschen, die über uns herrschen, untertan, aber nur im Herrn. Wenn sie uns etwas befehlen, was gegen IHN ist, so laßt uns dem keine Folge leisten.« In Calvins theokratischer Republik stell ten Staat und Kirche zwei Seiten einer Gemeinschaft dar; beide waren nur zur Ehre Gottes da, beide waren wesentlich. Weltliches Schaffen konnte 132
dadurch die Bedeutung göttlicher Berufung erlangen. Da die gesellschaft liche und politische Ordnung der göttlichen und geistigen verwandt schien, und da das geschichtliche Leben als ein Hinschreiten zu Gott und zur Voll kommenheit gedeutet wurde, lehnte Calvin eine Trennung von öffentlicher und privater Moral ab. Er war tief beeindruckt von dem im Alten Testa ment beschriebenen Beispiel des Volkes Israel. Das Volk und die Polis er hielten einen tiefen religiösen Sinn; das Volk mußte ein >peuple sainct< sein, der Staat eine >christiana politia<. »Die politische Ordnung und das Gesetz der Kinder Israel erschienen so unübertrefflich, daß kein Solon und kein Plato, ja nicht einmal ein Engel sie ersonnen haben könnte.« Zwingli und Calvin waren von jeder neuzeitlichen demokratischen Vor stellung weit entfernt. Die Obrigkeit war für sie von Gott gewollt. Doch in der freieren Schweizer Atmosphäre mit ihren überlieferten Freiheiten, setzte die nächstfolgende Generation bald das Recht des Volkes auf eine Regierung, die den Gesetzen Gottes entsprach, durch. Heinrich Bullinger (1504—15 75 ), Zwinglis Nachfolger in Zürich, verkündigte in seinen Pre digten das Recht des Aufruhrs und des Widerstandes gegen Tyrannei und schlechte Regierung. Calvins Nachfolger in Genf, Théodore de Bèze (15 19 bis 1605), erklärte in seiner Schrift >Du droit des magistrats sur leurs sujets<, daß das Allgemeinwohl und die Rechte des Volkes über den Rech ten des Souveräns stehen, und daß gerechtfertigter bewaffneter Widerstand nicht in Widerspruch zu christlicher Duldung stehe. »Les peuples auxquels Dieu a plu de se laisser gouverner ou par un prince ou par quelques seigneurs choisis, sont plus anciens que leurs magistrats, et, par consé quent, le peuple n'est pas créé pour les magistrats, mais au contraire les magistrats pour le peuple.« Dieser nachdrückliche Hinweis auf die Souve ränität des Volkes, dessen ursprünglicher Bund mit Gott älter ist und über dem Vertrag mit der Obrigkeit steht, wurde durch das praktische Beispiel der Schweizer Demokratie unterstrichen. 157 6 veröffentlichte Josias Simmler aus Zürich sein Werk >De Re Publica Helvetiorum<, eine volkstümliche Darstellung der Schweizer Geschichte und des Schweizer Staatsrechtes. Dienes Werk, das für Ausländer geschrieben war, fand eine weite Verbreitung und wurde in viele Sprachen übersetzt. Simmler versuchte mit großem patriotischem Eifer, die unkritischen humanistischen Werke über die Schwei zer Geschichte von Johannes Stumpf und Aegidius Tschudi verwertend, voll Stolz auf die freie Einrichtung und die militärischen Tugenden des Schwei zer Volkes zu beweisen, daß Republiken genau so gut sein könnten wie il le besten Monarchien, und daß eine durch einen freien Bund geeinte Bür gerschaft einen starken Staat schaffen könne. Die politischen Gehalte von 133
w Calvins Theokratie und das Beispiel der Schweizer Freiheiten lebten unter den Calvinisten Englands und Hollands fort und erzeugten die angelsäch sische freikirchliche Bewegung. Die Differenzen zwischen Wittenberg und Genf vertieften sich, und in ihrer Folge nahm die Entfremdung zwischen Deutschland und dem Westen, die bereits in der Renaissance begonnen hatte, zu.
5 Die deutschen Humanisten waren von der Reichsidee beherrscht. Im Mittel punkt ihres Denkens stand die universale Mission des Kaisers, wobei die Kurfürsten mehr die Repräsentanten der Christenheit als nur die des deutschenVolkes waren. Sowohl Sebastian Brant in seinem >Narrenschiff< (1494) als auch zehn Jahre später Hans Sachs in seiner >Histori: das römisch Reich< haben den universalen Charakter des Reiches und seine Identität mit dem Imperium Romanum von Romulus bis zu Karl dem Großen betont. Der Patriotismus der deutschen Humanisten blieb gestaltlos und phantastisch, immer dem leeren Traumgebilde der Weltherrschaft nachjagend. Viele Humanisten sahen in Maximilian einen neuen Karl den Großen, der ein glänzendes Reich als Mittelpunkt der Menschheit wiederherstellen würde. Sie propagierten eine starke Außenpolitik, die den Anspruch des Reiches auf Italien und den Westen geltend machen sollte. Ihre feindseligen Ge fühle wandten sich gleichermaßen gegen Rom (gegen das das ganze fünf zehnte Jahrhundert hindurch Klagen erhoben wurden), gegen Frankreich (gegen das die Elsässischen Humanisten einen typischen Grenzlandpatrio tismus entfalteten), und gegen die Türken (gegen die ein neuer Kreuzzug gefordert wurde). Der deutsche Antagonismus gegen Rom im fünfzehnten Jahrhundert kam in einem Brief zum Ausdruck, den der Kanzler des Mainzer Kurfürsten, Martin M ayr, an Enea Silvio Piccolomini geschrieben hatte (1457), in dem er gegen die Ausbeutung Deutschlands durch die römische Kurie Beschwerde führte. »Tausend arglistige Schliche werden mit großer Schlauheit ersonnen, um Geld von uns Barbaren zu erpressen. Deshalb ist aus unserer einstmal« so ruhmvollen Nation, die sich durch ihren Mut und mit ihrem Blut das römische Imperium erkämpft hatte und die Herrin und Königin der Welt gewesen ist, heute eine arme, Tribut zahlende Magd geworden. In ihrem Unglück hat sie sich nun viele Jahre hindurch über dieses traurige Geschick beklagt. Doch jetzt sind unsere Köpfe wie aus tiefem Schlaf erwacht und 134
sinnen nach Mitteln, um diesem Übel zu begegnen. Sie haben beschlossen, das Joch von sich zu schütteln und sich ihre alten Freiheiten wieder zu erkämpfen. Aber wenn die deutschen Fürsten diesen Plan zur Ausführung bringen, wird der Verlust für die römische Kurie nicht unbedeutend sein.« Der, größtenteils auf Geschichtsforscher und Dichter beschränkte, begin nende deutsche Nationalismus, war von diesem Kampf gegen Rom und die Italiener inspiriert. Die Volkslieder des fünfzehnten und sechzehnten Jahr hunderts gingen mehr um religiöse als um nationale Dinge, und außerhalb des religiösen Bereiches befaßten sie sich mehr mit dynastischen und per sönlichen Dingen als mit patriotischen. Doch die deutschen Humanisten verliehen der allgemeinen Stimmung des Volkes gegen das opulente Leben des katholischen Klerus, das dieser offensichtlich auf Kosten der Deutschen führte, Ausdruck. Die wirtschaftliche Ausbeutung wurde um so bitterer empfunden, als man wußte, daß die Italiener die Deutschen verachteten und sie als leichte Beute betrachteten. Dieses Gefühl der nationalen Ernie drigung trieb die deutschen Humanisten dazu, in der Vergangenheit zu forschen und aus kritiklos angenommenen Legenden die beruhigende Kenntnis zu gewinnen, daß die deutsche Kultur älter und besser sei als die römische, und daß folglich die Italiener kein Recht hätten, die Deut schen als Barbaren zu behandeln. Diese Bemühungen erfuhren eine große I lilfe durch die >Germania< des Tacitus, deren Manuskript im Jahre 14 55 durch Poggio Bracciolini im Kloster Hersfeld gefunden worden war. Triumphierend rekonstruierten die deutschen Humanisten aus diesem Huche, in dem Tacitus die Wahrheitsliebe, die Freiheit und die Sachlichkeit der Barbaren der Entartung und der Servilität seiner Landsleute gegenüberHestellt hatte, einen idealen Germanentyp. Nur allzu gern waren die Huma nisten bereit gewesen, ihre deutschen Zeitgenossen mit dem Idealbild der Vergangenheit zu verwechseln. So konnten sie, auf das Zeugnis eines Rö mers gestützt, die ewige Überlegenheit des deutschen Charakters mit sei ner Wahrheitsliebe als bewiesen darstellen. Die deutsche humanistische Gewhichtsschreibung diente bald nur dem Zweck, die deutsche Vergangenheit und die deutschen Tugenden auf Kosten aller anderen Völker zu loben, linige Humanisten vor Luthers Tagen behaupteten sogar, daß Adam ein (lermane gewesen sei und allemannisch gesprochen habe — denn bedeutete nicht dieser Name aller-Mannen-Sprache? Diese Sprache würde, wenn erst ilic Deutschen die Weltherrschaft erlangt hätten und die wahre Pax Ger manica unter einem Kaiser Friedrich errichtet sei, ihre beherrschende Stel lung wieder erlangen und alle anderen Sprachen ersetzen. Die Einstellung den römischen Kaisern gegenüber schwankte: manchmals wurden sie als 13 5
Deutsche beansprucht, manchmal auch geschmäht und beschimpft. So hat Luther Caesar einen »Nachäffer Alexanders, der das Regiment und das Ge meinwesen zerrüttet hat«, genannt. Luther brach sogar mit der Überliefe rung, daß das gegenwärtige Reich eine Fortführung des Imperium Romanum sei. In seiner Schrift >An den christlichen Adel deutscher Nation< hat er betont, daß das Imperium Romanum vor langer Zeit durch die Moham medaner zerstört worden sei, daß die Konstantinische Schenkung als Betrug entlarvt sei und daß deshalb der Papst nicht das Recht gehabt hätte, das Reich von den Römern und Griechen auf die Deutschen zu über tragen. A ls Maximilian 1 5 0 1 in Innsbruck den humanistischen Dichter Heinrich Bebel krönte, behauptete dieser in seiner Adresse, daß die Deutschen prak tisch die gesamte Erde erobert und viele Völker unterworfen hätten, die heute nicht mehr wüßten, daß sie niemals etwas Anderes gewesen seien als Deutsche. Die moralische Überlegenheit der Deutschen sei deutlich sichtbar an der Tatsache, daß die Helden der Antike nur aus Ruhm und Machtgier gehandelt haben, während die Deutschen vom Verlangen nach Gerechtigkeit und Tugend getrieben worden seien. Kein Volk der Erde habe, so sagte er, dem Christentum größere Dienste erwiesen als die Deutschen; und dieses sei auch der Grund dafür, daß sie der Weltherrschaft für würdig befunden worden seien. Realistischer in seinen Ansprüchen als der Schwabe Heinrich Bebel war der Elsässer Jakob Wimpheling (1450—1528 ), der zu beweisen suchte, daß das Elsaß immer deutsch gewesen sei. In einem an die Adresse der Ratsherren von Straßburg gerichteten Schreiben wieder holte er mit großer Betonung ständig die Behauptung, daß Karl der Größt1 ein Deutscher gewesen sei, der über die Franzosen geherrscht habe (wäh rend niemals ein Franzose in Deutschland geherrscht habe), und daß sein Blut noch in den Adern mancher deutscher Fürstenhäuser fließe, während es in Frankreich schon längst ausgestorben sei. »Man muß wissen, daß sich die Deutschen von den wahren Franzosen in Haarfarbe, Hautfarbe, Sprache, Charakter und Sinn unterscheiden. Auch pflegen die Deutschen ihre Siege durch die ehrlichen Kräfte ihrer Männer zu erringen, während die Franzosen nur durch die große Zahl ihrer Mannschaften zu siegen vermögen.« Der interessanteste und fruchtbarste Geist dieser Humanistengeneration war Konrad Celtes (1459—1508). Durch jahrelange Wanderungen kannt* er alle deutschen Länder genauestens; er beklagte den Verlust Italiens und Frankreichs genau so wie den Verlust Polens und Transsylvaniens, und ef bedauerte den Umstand, daß die Mündungen der deutschen Flüsse in fremdl 13 6
Hände gefallen waren. Er hoffte, daß der Tag bald anbräche, an dem die deutschen Studenten nicht mehr über die Alpen nach Italien ziehen müß ten, um zu studieren, daß dafür aber die Italiener in Scharen zu den neuen Universitäten nördlich der Alpen herbeiströmen und die Überlegenheit deutscher Dichtung anerkennen würden. Er übersetzte die >Germania< des Tacitus ins Deutsche und hielt unermüdlich Ausschau nach alten Manu skripten und Neuentdeckungen deutscher Altertümer. Er leitete das Wort >Germanus< vom lateinischen Adjektiv >brüderlich< her. Durch diese Wort ableitung bewies er den hohen sittlichen Stand der alten Germanen, die von den Römern >Germani< genannt worden seien, weil sie brüderlich zu sammenlebten, »quod fratrum solebant inter se vivere more«. Er hoffte, eine deutsche Äneis zu schreiben und eine Nachahmung der »Italia Illustrata* für Deutschland zu verfassen, ein Versuch, den mehrere führende deutsche Humanisten ohne Erfolg unternommen haben. Der Nationalismus der deutschen Renaissancegelehrten vertiefte das Ge schichtsbewußtsein der Deutschen, wenn auch auf eine unkritische und un wissenschaftliche Weise, und schuf das Bild einer glänzenden Vergangen heit, die von Christentum und Römertum nicht nur unabhängig, sondern sogar älter als jene, und ihnen überlegen war. Man entdeckte die frühe Vergangenheit der deutschen Stämme, ihre Wanderzüge durch die ganze Welt und schmückte sie phantastisch aus. Der Herrschaftsanspruch wurde ethisch wie historisch unterbaut. Die Gleichsetzung von deutsch und gut einerseits und von fremd und schlecht andererseits mußte zu einem natio nalen Überschwang führen, der in die Gestaltlosigkeit der deutschen Poli tik eindrang. Der nationale Staat und das Weltreich gingen in der schlecht umgrenzten politischen Wirklichkeit, der sich historisch unbegrenzte Wei ten zu öffnen schienen, auf. Folglich blieb der Nationalismus der deutschen Renaissance auf politischem und gesellschaftlichem Gebiet undurchführbar und der Wirklichkeit gegenüber gänzlich unpolitisch. Die Zeit seines Wir kens war zu kurz, um irgendeine zentrale Idee oder einen gesellschaftlichen Kern zu erzeugen, um den herum sich die Nation in ihrem Wachstum hätte sammeln können; er trug zur Bereitung des Bodens für die Reformation bei, aber das Schwergewicht auf Glauben und Religion lähmte den auf keimenden Nationalismus, der dann erst dreihundert Jahre später in der deutschen Romantik die Oberfläche wieder durchstoßen sollte.
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Für einen Augenblick hatte es den Anschein, als ob Luther und die Reim mation den unbestimmten und wirren deutschen Bestrebungen gültigen Ausdruck und Sammlung verleihen würden. Als Luther 1 5 1 7 auftrat, hau* delte er aus eigenem religiösen Erleben heraus. Sein mutiger Kampf gegen den Ablaßhandel, seine leidenschaftliche und mächtige Sprache ließen ihn als den lange erwarteten Reformator erscheinen, der Volk und Reich wieder aufrichten und ihm eine Antwort auf die schreienden Nöte einer sorgen· erfüllten Zeit geben würde. Der Widerhall, den er im Volke fand, dessen Bereitschaft zur Reform, machten Luther für eine Zeitlang zum Mittelpunkt sozialer und nationaler Hoffnung. A uf dem Reichstag zu Worms war ei eine nationale Gestalt, die Verkörperung der Hoffnungen auf ein neue« mächtiges Reich, auf die Behebung der Not und des sozialen Unrechts, auf eine Grunderneuerung der Kirche und des Glaubens. Er schien den Kampf gegen alle jene Übel zu führen, die die Deutschen während des voraus gegangenen Jahrhunderts befallen hatten, die sich in verwirrten Schriften, in schwärmerischer Frömmigkeit und in sozialen Unruhen geäußert hatten. In seiner Schrift >An den christlichen Adel deutscher Nation< sprach Luther die Gefühle seiner Zeitgenossen aus: »Wie kommen wir Deutschen dazu, daß wir solche Räuberei, Schinderei unserer Güter von dem Papst leiden müssen? Hat das Königreich zu Frankreich sich's erwehret, warum lassen wir Deutsche uns also narren und äffen? . . . und wir verwundern uns noch, daß Fürsten, Adel, Städte, Stifter, Land und Leute arm werden, wir sollten uns verwundern, daß wir noch zu essen haben!« Doch bald erwies es sich, daß die in Luther gesetzten Hoffnungen ver gebens waren. Luther löste seinen Protestantismus vom Reich und vom Kampf gegen die sozialen Unzulänglichkeiten der Zeit; statt dessen unter stützte der Protestantismus die territoriale Fürstenmacht und die bestehende Standes- und Gesellschaftsordnung. Sehr bald erlosch das Interesse der Luthe raner an nationalen Belangen, und ihre Aufgabe wurde der religiöse Kampf gegen den Antichrist in Rom, ein Kampf der durch keinerlei nationale oder politische Grenzen beschränkt war. Die Verbindungen zwischen Luthertum und der Entwicklung des Nationalismus in Deutschland sind spärlich. Lu thers Bibelübersetzung hatte einen großen, wenn auch nur indirekten Ein fluß auf das Werden eines deutschen Nationalbewußtseins, so wie der Pro testantismus überall dort, wo er sich ausbreitete, durch das Schwergewicht, das er auf die Bibel und die Predigt legte, zur Vertiefung der Landesspra chen und zu ihrer Erhebung zu neuer Würde beitrug. Die lateinische 13 8
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PiprniTie wui
wcnenc Weise auf dem Wege war, zur universalen Sprache für eine stets wachsende Schicht von Gebildeten zu werden, als sie in ihrer klassischen llcinheit wieder hergestellt worden war und durch Kirche und gebildetes I nientum gleichermaßen getragen wurde. Unter diesen Umständen war es unbedingt von größter Bedeutung, daß protestantische Bibelübersetzungen und protestantische Predigten den ruropäischen Völkern eine neue Literatur schufen, die dem einfachen Manne zugänglich war, eine vereinheitlichte Literatursprache, die ein starkes Band dnrstellte, das als Grundlage für das spätere Werden des Nationalismus die nen konnte. Doch waren die protestantischen Bibeln und Gebetbücher nicht iius einem nationalen Geist heraus entstanden; sie waren ausschließlich für religiöse Zwecke bestimmt. In mehreren Fällen förderte der Adel eines Lan des die Übersetzung der Bibel in die Sprache eines anderen ihm unter gebenen Volkes, um dort das Evangelium zu verbreiten, und nur sehr viel später erkannte man die nationale Erhebung des untergebenen Volkes als eine unvorhergesehene und entfernte Folgeerscheinung dieser Übersetzun gen, was durch einen eigenartigen Wechsel der Umstände zu einem der vielen Faktoren im vielseitigen und verwickelten Werdegang des Nationa lismus wurde. Luther mußte diejenigen Deutschen, die ihn für einen Verbündeten in ihrem eigenen, unklaren Kampf um den deutschen Nationalismus hielten, notwendigerweise enttäuschen. Der einzige von ihnen, der zu einem uner müdlichen Apostel und Agitator eines neuen nationalen Bewußtseins wurde, war Ulrich von Hutten (1488—15 2 3 ). Dieser fahrende Scholar und Ritter verbrachte sein Leben in einem kurzen, leidenschaftlichen Bemühen, doch fand er in seinem eigenen Lande genau so wenig Anhänger wie Machia velli in Italien. Sein Ruf verhallte ungehört.
Erbarmt euch übers Vaterland, Ihr werten Teutschen, regt die Hand. Jetzt ist die Zeit, zu heben an Um Freiheit kriegen. Gott will's han. Aber die Gedanken dieses einsamen Dichters und Verfassers von Streit schriften enthielten im Keime viele jener Ideen, die später den Grund zum deutschen Nationalismus legten. Wenn Machiavelli und Hutten sich darin ähnlich waren, daß sie beide einsame Vorläufer eines künftigen Nationalismus ihrer Völker waren, so waren sie doch im Grunde von verschiedener Art. Machiavelli war der Bür13 9
ger eines der entwickeltsten und fortschrittlichsten Gemeinwesen seiner Zeit —Hutten war einer der letzten Ritter, Angehöriger eines aussterbenden Stan des, dessen alte Ideale er teilte und verkündete. Machiavelli war einer der nüchternsten Denker seiner Zeit, ein in der Behandlung von Menschen und geschäftlichen Angelegenheiten reich erfahrener Staatsmann — Hutten war ein Dichter und Schwärmer, ein die Gefühle ansprechender Agitator. Machiavelli hatte sich gänzlich aus dem Banne der mittelalterlichen Auf fassung von Staat und Kirche befreit, sein Geist war uneingeschränkt welt lich — Hutten lebte weiterhin in einer phantastisch mittelalterlichen Reichs und Kirchenvorstellung; die Ideale mittelalterlicher Frömmigkeit waren in ihm noch so lebendig, daß er einmal den Wunsch hatte, nach dem Heiligen Land zu pilgern — er konnte sogar noch sagen »wie Christus der Herr des Himmels ist, so ist der Deutsche Kaiser der Herr der Erde«. Hutten bedurfte der Reichsidee um die Kaisermacht zu rechtfertigen, doch sah auch er das Reich in einem neuen Lichte. Der Kaiser war die Verkör perung der Tugenden der Deutschen. Er war der tatsächliche Erbe des Rö mischen Imperiums, doch gleichzeitig auch der Erbe des imponierenden deutschen Vermächtnisses, welches von den Siegen der Cimbern und Teu tonen und den Kämpfen des Arminius durch die Zeiten der Karolinger und Ottonen bis in seine Gegenwart reichte. Hutten übernahm die unkla ren imperialistischen Träume der deutschen Humanisten und den halb legendären, frühgeschichtlichen Hintergrund, auf den diese den deut schen Herrschaftsanspruch und die sittliche Überlegenheit gründeten. Hut ten verknüpfte Vergangenheit und Gegenwart zu einem engeren geschicht lichen und sittlichen Ganzen, als es je einer seiner Vorgänger getan hat. Er entdeckte Arminius als Symbol dieser Einheit und machte ihn zum Heros und Schutzherrn des Deutschen Nationalismus. Während seiner Italienreise, von der er in seiner Abneigung gegen die Italiener gefestigt zurückkam, lernte er die gerade veröffentlichten Annalen des Tacitus kennen und fand darin die Geschichte des Arminius und seines Sieges über die Römer. Von da an wurde Arminius für ihn nicht nur sein persönlicher Heros, mit dem er sein eigenes Leben und Schicksal zu identifizieren wünschte, sondern auch die Verkörperung der sittlichen Kräfte und des politischen Kampfes des Deutschtums im Verlaufe seiner Geschichte. In Nachahmung von Lukians Zwiegespräche der Toten< veröffentlichte Hutten mehrere >Gespräche<, in deren letztem er Arminius als den »Brutus Germanicus« pries, den Kämpfer gegen Knechtschaft für Freiheit, den »Cheruscus liberrimus, invictissimus et Germanissimus«. In diesem Dialog beanspruchte »Der Teutscheste Held« den Vorrang vor den drei größten 140
r 1leiden der Antike — Alexander, Scipio und Hannibal. Sein Anspruch wurde anerkannt; aber Minos, der Richter der Unterwelt, der bereits jenen drei Heroen die führende Stelle zugesprochen hatte, konnte seinen Urteilsspruch nicht mehr umstoßen. Deshalb bewilligte er dem Arminius vor den beiden Brutussen die erste Stelle unter den Vaterlandsbefreiern — denn, mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln, einschließlich List und Doppelzüngigkeit, Rom bekämpfend, hatte Arminius das Recht des Vaterlandes gegen die un gerechtesten Tyrannen verteidigt. Huttens Freiheitsbegriff hatte einen Sinn. Er bedeutete weder die Luthersche Freiheit eines Christenmenschen noch die überlieferten Freiheiten der Stände und Orden innerhalb des Reiches. Sein Sinn war die nationale Freiheit, die Freiheit der Deutschen gegen Rom, gegen >fremdes< Joch — ein Joch, welches mit Gefühlen besonderer Bitter keit empfunden wurde, weil durch diesen ganzen Kampf hindurch die Unterdrücker, ein verweichlichtes und feiges Volk, den Deutschen an sitt licher Kraft unterlegen waren:
Ein weibisch volck, ein weyche schar, On hertz, on mut, on tugent gar, Der keiner hatt gestritten nye, Von kryegen weißz nit was, noch wie, Da seind wir uberstritten von. Im hertzen thut mir wee der hon. Hutten vereinigte den wirtschaftlichen, religiösen und politischen Kampf der Deutschen gegen Rom in einem gewaltigen Appell an das deutsche Na tionalbewußtsein. Dieser Kampf war für ihn nicht etwa eine Nebenerschei nung; er war das Wesen und der Sinn der ganzen deutschen Geschichte, er war nicht nur politisch sondern auch ideologisch — Freiheit gegen Ty rannis, Tugend und Wahrheit gegen sittliche Schwäche und Falschheit. Aber Ulrich von Hutten fand bei seiner Generation keine tätige Unter stützung. Maximilian, Karl V. und Luther versagten sich ihm. 1 5 2 1 rich tete er einen wütenden, von nationalem Stolz und persönlicher Verzweif lung erfüllten Aufruf an Karl V .: »Wie hat Deutschland es verdient, mit dir anstatt für dich zu sterben? Führ uns lieber in offene Gefahr, in Krieg und Brand; laß alle Völker sich gegen uns verschwören, laß alle Völker auf uns hereinbrechen, laß ihrer aller Waffen uns bedrohen kommen, auf daß wir unsere Mannestugenden im Kampfe erweisen können, ehe wir uns auf so unmannhafte Art, ohne Kampf und Blutopfer wie Weiber beugen und in Knechtschaft dienen.« Er kannte die Verschiedenartigkeit von seiner und von Luthers Auffassung. »Mea humana sunt, tu perfectior iam totus 14 1
m ex divinis dependis.« Als Huttens kurze Lebensbahn ihr Ende erreicht hatte, mußte er erfahren, daß weder die beiden großen Kräfte des Mittelalters, Reich und Kirche, noch die deutschen Fürsten, Stände und Menschen seinen neuen Nationalismus begriffen hatten. »Allein ich alles hab gethan dem vatterland zu nutz und gut.« Sein Kampf endete in einem niederschlagen den Mißerfolg. Doch die Art seines deutschen Nationalismus trug zur Ge staltung der künftigen Entwicklung bei.
7 Zu eben jener Zeit, als Renaissance und Reformation den Grund für die religiöse und nationale Vielfalt legten, versuchte Karl V. in einem letzten großen Anlauf die mittelalterliche Überlieferung von religiöser und poli tischer Einheit zu behaupten. Eine neue Reichsmacht, deren Schwerpunkt nicht mehr in Deutschland, sondern in Spanien lag, versuchte, sich den neuen Lebensbedingungen einer größerwerdenden Welt anzupassen. Ob wohl die Iberische Halbinsel gleich ihren eurasischen Gegenstücken, der russischen Ebene und dem Balkan, den mittelalterlichen Charakter länger als sämtliche anderen europäischen Bereiche bewahrt hatte, war sie doch das Tor, durch welches das mittelalterliche Europa, das an das Mittelmeer und an dessen Handelsrouten gebunden war, in die neue Welt und in das neue Zeitalter, welches durch die iberischen Entdeckungen der Weltmeere eröffnet wurde, hinaustrat. Dieses Grenzgebiet, das von Europa durch die Bergkette der Pyrenäen getrennt und mit A frika durch politische und kul turelle Bande verbunden war, dieser Platz, an dem sich zwei Kulturen und zwei Welten begegneten, wurde nunmehr Ausgangspunkt einer dritten Welt. Während eines kurzen Jahrhunderts schlugen die Wellen der drei neu entdeckten Ozeane — des Atlantiks, des Indischen Ozeans und des Pazifiks — an die Küsten von vier Kontinenten, deren Brennpunkt die Iberische Halb insel war. Das Jahr 149 2 eröffnete eine Zeit von noch niemals dagewesem Glanz und von unvorstellbarer Größe. Karl V. war der Herr über ein Reich, das unermeßlich größer war, als es das Römische Imperium jemals gewesen ' ist. Im sechzehnten Jahrhundert, dem Goldenen Zeitalter der spanischen Ge schichte, war Spanien nicht nur der Träger der Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches; es beherrschte außerdem noch die Niederlande und Bur gund, Italien und Portugal sowie riesige Gebiete in Übersee. 15 2 7 erober ten seine Heere Rom; 1 5 7 1 besiegte seine Flotte den Feind, mit dem die Christenheit während mehr als neunhundert Jahren um die Vorherrschaft 142
im Mittelmeer gerungen hatte. Spanien schien wie keine andere Nation vor ihm, zu einer universalen Mission berufen zu sein. Aber dieser Mission, die Karl V. mit seinen Eroberungen und Ansprüchen dem spanischen Lande auferlegte, waren seine Kräfte und Hilfsquellen bei weitem nicht gewachsen. Obwohl die Iberische Halbinsel einen wohlbe grenzten natürlichen Komplex darstellte, war sie niemals zu einer natio nalen Einheit gelangt. Die orographischen und die klimatischen Verhältnisse des Landes, der Charakter seiner Einwohner und die eingewurzelten Über lieferungen seiner Provinzen führten eher zu Absonderung und Zwist als zu gemeinsamer Handlungsweise. Nach einem Jahrhundert Weltherrschaft verblieb das Land arm, seine Einwohner den neuen wirtschaftlichen Mög lichkeiten verschlossen, ihr Lebensstandard schäbig und niedrig. Einen Ausweg aus dieser Situation schien sich nur in einer Flucht in romantische Abenteuer, Mystizismus und Träume zu bieten. Der hochfliegende Impe rialismus Karls V. schien in spanischem Boden keine festen Wurzeln schla gen zu können. Das Schicksal schien Karl V. die Rolle des Vertreters des mittelalterlichen Universalismus bestimmt zu haben. Alle großen Überlieferungen schienen in seiner Geburt und in seiner Erziehung zusammenzutreffen. Sein Urgroß vater, Karl der Kühne von Burgund, nach dem er seinen Namen trug, hatte die Wiedererrichtung des Lothringischen Reiches der Karolinger von der Nordsee bis zum Mittelmeer geplant. Sein Großvater Maximilian, von dem er die habsburgischen Länder und die Rcichskrone geerbt hatte, war der >letzte Ritter< und die letzte Hoffnung auf eine Wiedergeburt des Reiches gewesen. Die Großeltern mütterlicherseits hatten Spanien geeint und es Karl, zusammen mit der Neuen Welt, als Vermächtnis hinterlassen. Er war in den Niederlanden, damals das reichste und fortschrittlichste Gebiet Eu ropas, in enger Berührung mit der literarischen Welt und mit dem Geist des Humanismus aufgewachsen. Sein erster Lehrer war der Italiener Mercurino Gattinara gewesen, dessen Ideen durch Dantes >De Monarchia< ge prägt worden waren und der von Karl V. die Verwirklichung der Weltmonar chie erwartete. 1 5 16 , als sechzehnjähriger Jüngling, wurde er König von Spanien. Drei Jahre später stach der in Karls Diensten stehende Ferdinand Magellan zur ersten Weltumsegelung in See, und Karl selber wurde zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches erwählt. Unmittelbar darauf wurde er gezwungen, sich der Aufgabe, die sein Leben beherrschte, zu widmen: der Einheit der Christenheit und des Reiches. Sein Wunsch war es, ihre Sicherheit gegen die Türken zu verteidigen — sein Schicksal war es, ihre Existenz gegen Luther verteidigen zu müssen. Genau so wie man Maximilian
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den letzten Ritter genannt hat, könnte man Karl V. als den letzten katho lischen Kaiser bezeichnen. Er machte Spanien zum Kreuzfahrer für die katholische Idee. Die Methoden, deren sich Karl V. zur Wiederbelebung der mittelalter lichen Staatsidee bediente, waren charakteristisch für das neue Zeitalter der Königsmacht und des dynastischen Etatismus. Sein Reichsbild beruhte auf dynastischen Grundlagen — auf dem durch seinen Großvater Maximi lian vorgezeichneten Weg. Im Verfolg dieser Politik vermählte er seinen Sohn Philipp an die Königin von England, und wenn aus dieser Ehe ein Sohn hervorgegangen wäre, so hätten die Habsburger mehr Macht in ihren Händen vereinigt als je ein Königshaus in der ganzen Geschichte vor und nach ihnen. Diesem dynastischen Imperialismus, der mittelalterlich in sei ner Konzeption, aber modern in seinen Realitäten war, leisteten die füh renden katholischen Fürsten Widerstand. Franz I. von Frankreich verkör perte in seinem Kampf gegen Karl V., in dessen Verlauf er sich sogar mit den Türken gegen das Christliche Reich verbündete, die werdende national staatliche Idee. Der Papst, ein Territorialfürst der Renaissance, dessen In teresse der Förderung der eigenen dynastischen Ziele galt, erhob die Waffen gegen den kaiserlichen Verfechter des katholischen Glaubens. Träger der Wucht des habsburgischen Imperialismus war Spanien, »die Grundfeste, der Schild und die Stärke aller Anderen«. In Spanien konnte sich die imperiale Idee auf eine lange Überlieferung berufen. Mit Stolz erinnerten sich die Spanier daran, daß einige der größ ten römischen Kaiser aus Spanien hervorgegangen waren. Während andere Völker Tribute an Rom entrichteten, hatte Spanien der Kaiserstadt Herr scher wie Trajan, Hadrian und Theodosius den Großen geschenkt. Allein in Spanien hatte sich bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts der Kreuzfahrergeist nicht nur erhalten, sondern hatte, nach acht Jahrhunder ten sogar an Inbrunst zugenommen. 1492 hatte die lange Periode der >reconquista<, der Rückeroberung des Landes von den Mohammedanern, die 7 1 1 ihr Banner auf iberischem Boden aufgepflanzt hatten, durch die Wiedergewinnung des letzten islamischen Bollwerks auf westeuropäischem Boden ihren Abschluß gefunden. Im gleichen Jahre segelte Kolumbus im Geiste der Kreuzfahrer nach Westen. Im sechzehnten Jahrhundert wurde Spanien, das bis dahin von Europa isoliert und dem Islam zugewendet gewesen war, in die europäische Politik hineingezogen. Es wurde zum Mit telpunkt dieser Politik und gleichzeitig zum Kraftzentrum jener Anstren gungen, die in ganz Europa und in der neuen Welt den Kreuzzug gegen die Ungläubigen und Abgefallenen führten. In jenem ruhmreichen Jahr144
hundert verfügte Spanien, das bedeutende Künstler und Wissenschaftler be heimatete, über eine unüberwindliche Infanterie und über eine Flotte, welche die Meere beherrschte; es war nicht nur das Machtzentrum der Welt, es war auch das Herz der Christenheit. Aus einem sieben Jahrhunderte währenden Kampfe ging das Weltreich der >Hispanidad<, in dem die Sonne nicht unterging, hervor. Selbst von frühen Zeiten an war im mittelalterlichen Spanien der Kaisertitel nicht fremd gewesen. In der nordwestlichen Ecke der Halbinsel hatte sich Alfons III. (866—910) von Leön >magnus imperator< genannt; seine Nach folger beanspruchten die Titel >Imperator Legionensis< und >Magnus Basileus<. Im zwölften Jahrhundert wurde Kastilien mit Le6n vereinigt, und seine Könige — bis hinab zu Alfons VII., dem letzten, der 1 1 3 5 aus drücklich zum Kaiser von Le6n gekrönt worden war, — erhoben den An spruch >Imperatores super omnes Hispaniae nationes< zu sein. Zu jener Zeit war Portugal, das sich 1095 von Le6n getrennt hatte, schon zu einer selbständigen Grafschaft entwickelt, und im Osten, in der Nähe des baskischen Königreiches Navarra, hatte sich das Königreich Aragon am Ebro mit Katalonien, der alten spanischen Mark Karls des Großen, vereinigt. Kasti lien, Aragon und Portugal hatten im späten Mittelalter die Geschichte der Iberischen Halbinsel bestimmt und den Kreuzzug gegen die Mauren zu einem erfolgreichen Abschluß geführt. Die >reconquista< ging sehr langsam vor sich. Im frühen Mittelalter hat ten auf der Iberischen Halbinsel Christen und Mohammedaner zusammen gelebt, ohne Haß oder gegenseitige feindselige Gefühle. Während mehr als dreihundert Jahren waren die Mohammedaner, die alle fruchtbaren Teile des Landes besetzt hielten, den Christen politisch und geistig über legen. Das islamische Cordoba war das wirtschaftliche, politische und kul turelle Zentrum der Halbinsel gewesen. Als Verbündete oder Vasallen mohammedanischer Fürsten kämpften christliche Fürsten unterschiedslos gegen andere Christen oder Mohammedaner. Der spanische Nationalheld Rodrigo Diaz de Vivar (ca. 10 3 5 —1099), dessen Ehrentitel >der Cid< vom Arabischen Sidi, >Mein Herr<, herrührt, hatte oft auf Seiten mohammeda nischer Fürsten gekämpft, und seine Siege werden von der Legende unter schiedslos verherrlicht, gleich ob er sie über Christen oder Mohammedaner errungen hat. Er verkörperte nicht ein nationales Ideal, sondern das Ideal der Ritterlichkeit, welches mohammedanischen und christlichen Rittern ge mein war. Sein kulturelles Leben war stark vom Islam und seiner natio nalen Kultur beeinflußt. Der Kreuzfahrergeist konnte erst im späten Mit telalter zu eigenem Leben erwachsen — und dann erhielt er seine Kräfte
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T aus dem ernsten und abgeschlossenen Hochland von Kastilien. Während Aragon durch ständigen Verkehr mit Frankreich und Italien zu einem be deutenden Zentrum der Wissenschaften geworden war, war Kastilien, das unzugänglich zwischen seinen Gebirgsschranken lag, gegen Europa ver schlossen, feindselig gegen fremde Einflüsse und ganz in sich selbst zurück gezogen. Barcelona blühte als Sitz einer frühen Renaissancekultur; die Kö nige der Dynastie von Aragon herrschten in Sizilien und Neapel; Aragon und Katalonien waren eine Mittelmeermacht. Aber der Adel von Kastilien wurde durch den Wohlstand der südlichen spanischen Provinzen, durch die höhere Kultur, welche in den von den Mauren bebauten und beherrsch ten Gebieten lockte, angezogen. Kastilien und Aragon waren in Überliefe rung, Geschichte und Geist verschieden. Selbst die Heirat zwischen Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon im Jahre 1469 brachte nicht mehr als eine rein dynastische Verbindung zwischen den beiden Ländern zuwege. Und doch waren die beiden katholischen Monarchen in der Lage, das Zeitalter der >reconquista< 149 2 zum Abschluß zu bringen und noch im gleichen Jahre die >conquistadores< auf neue Kreuzfahrten zu ent senden. Spanien bildete keine Einheit. Die Königreiche und Provinzen blieben mit ihren historischen Überlieferungen und geographischen Gebundenhei ten in sich selbst verschlossene Gebilde. Es gab auf der Halbinsel auch keine religiöse Einheit. In vielen Gebieten waren die Mohammedaner und Juden den Katholiken an Zahl überlegen, und die islamische und die he bräische Kultur übten weiterhin ihre starke Anziehungskraft aus, beson ders auf den Adel, der sich jetzt ebenso mit den Juden vermischte wie frü her mit den Mauren. Es gab nur wenige adlige Familien und wenige hohe Würdenträger der Kirche, in deren Adern nicht jüdisches oder maurisches Blut floß. Diese religiöse Uneinheitlichkeit stand der Entwicklung einer na tionalen Einheit im Wege. In einem Zeitalter, in dem die Religion der be stimmende Faktor war, waren in Spanien die Hindernisse, die einer poli tischen und kulturellen Verschmelzung entgegen standen, weit größer als in irgend einem anderen Lande. Infolge der lutherischen Propaganda, die sehr schnell Anhänger fand, sowie wegen der Pläne der Mauren, die mit ihren Glaubensbrüdern in Nordafrika und der Türkei zum Zwecke der Wie derherstellung eines islamischen Spaniens paktierten, schienen bald alle Chancen für einen Zusammenschluß restlos verloren zu sein. Unter diesen Umständen begann die Königsmacht jenen Kampf um die Glaubenseinheit und um die Reinheit des Blutes — der >limpieza de sangre< — der die Spa nische Nation um Thron und Kirche zusammenschließen sollte.
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Die Katholischen Majestäten führten 1478 die Heilige Inquisition ein, um mit diesem Instrument die Einheit des Staates zu erzwingen, die Unab hängigkeit des Adels und des Klerus zu brechen und alle Häresie auszu rotten. Die Inquisition bekämpfte Mohammedaner und Juden als Feinde des Glaubens, welche der Vereinigung der Nation hinderlich im Wege stan den. Sie war ein Instrument zur religiösen Reformation, geschaffen, um die Schlaffheit des Glaubens und des Lebenswandels zu bekämpfen; aus ihrem Feuer heraus erwuchs der brennende und strenge Eifer der spani schen Gegenreformation. Die Zulassung zu hohen Ämtern und zu mili tärischem Rang wurde vom Nachweis der Reinheit des Blutes durch min destens vier Generationen hindurch abhängig gemacht. Die Päpste wider setzten sich dieser Forderung, doch gegen die Inquisition waren sie ohn mächtig. Späterhin verfolgte die Inquisition Lutheraner, Humanisten, An hänger des Erasmus und häretische Mystiker. Sich über alte und aner kannte Privilegien der Provinzen und Stände hinwegsetzend, errichtete sie eine für das gesamte spanische Gebiet einheitliche Rechtssprechung. Durch die von ihr verhängten ungeheueren Geldstrafen und Eigentumsbeschlag nahmen füllte sie den königlichen Schatz und zwang den widerspenstigen Geist des Adels zur Unterwerfung. Hier finden wir den Geist von »cuius regio illius religio<, von »un roi, une loi, une foi< in voller Wirksamkeit. Sie trug dazu bei, Staat und Kirche zu vereinigen und versuchte, die Ein heit von Glauben, Leben und Loyalität aus der großen Verschiedenheit von Traditionen, Religionen und Rassen in Spanien zu erzwingen. Sie ver folgte eine Methode, welche »die Völker Spaniens für zweihundert Jahre auf einen verderblichen und abwegigen Weg führte und, indem sie ihnen eine Einheit aufzwang, die nach der Natur der Dinge nicht von Dauer sein konnte, ermöglichte sie es ihnen, sich selbst in einem Ausmaße der Welt nufzuzwingen, das in keinem Verhältnis zu ihren Fähigkeiten, Hilfsquellen und zu ihrer wirklichen Stärke stand«. A uf dieser Grundlage beruhte Spaniens Goldenes Jahrhundert. Zwar wa ren Staat und Kirche zur Einheit zusammengeschlossen, doch ein Zusam menschluß der Bevölkerung war hierdurch nicht erreicht worden. Die Ka tholischen Majestäten konnten ihre Regierungen »im äußersten Falle als fine Förderung des Glaubens und erfolgreiche Erfüllung der nationalen Aufgabe« bezeichnen, doch war es ihnen nicht gelungen, die unterschied lichen Provinzverwaltungen zu vereinheitlichen. Einzig die Kirche wurde m einer wirklich nationalen Einrichtung, die vom Papste beinahe unab hängig und eifersüchtig auf die Wahrung ihrer Vorrechte und ihrer Selb»tfindigkeit gegenüber Rom bedacht war. Gleichzeitig war sie aber auch
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universal eingestellt und mit Missionseifer erfüllt. Unter Philipp II. wurdi· die Kirche zur »raison d'etat< des spanischen Staates und die Grundfesto seines weltumspannenden Reichsgedankens. Im sechzehnten Jahrhundert sahen sich die Spanier selbst als von einer einzigartigen Reinheit und Vor nehmheit des Blutes und des Glaubens, als Welteroberer und Kämpfer für die Eine wahre universale Religion. Der Eroberer blieb ein Kreuzfahrer. Die religiöse und die nationale Idee verschmolzen in eins, aber die natio nale Idee war auf ein imperiales Ziel gerichtet, während die religiöse Idee ihrem Wesen nach universal war. Den Katholischen Majestäten und der Inquisition war es nicht gelungen, Spanien zu einer Einheit zusammenzufassen. Das Land blieb »eine An häufung getrennter Staaten, die sich in Rasse, Überlieferung, Sprache und Verwaltungsformen unterschieden und nur durch das gemeinsame König tum zusammengehalten wurden. Es war ein locker verbundenes, hetero genes Reich, dessen Verwaltung auf dem Prinzip des dezentralisierten Despotismus aufbaute.« Die neue Welt war für Kastilien und Le6n erobert worden, Aragon hatte daran keinen Anteil. Erst im Jahre 159 6 wurden die gleichen Auswanderungsrechte nach Amerika auf sämtliche Einwohner Spaniens, einschließlich Aragon, ausgedehnt. In dem Bestreben, die Zen tralisation und die Einswerdung Spaniens zu fördern, wählte Philipp II. eine neue Hauptstadt im Herzen des Landes — eine Stadt ohne jegliche ge schichtliche oder kulturelle Überlieferung, inmitten einer unfruchtbaren und baumlosen Ebene gelegen, mit drückender Hitze und Sands türmen wäh rend des Sommers und eisigen Nordstürmen im Winter. Nach 1560 war Madrid der »einzige Hof< in Spanien. Das Jahrhundert Philipps II. war nicht nur ein Jahrhundert spanischer Weltmacht, sondern auch das Jahrhundert spanischer Wissenschaft und Kunst. Die Herzen der Spanier waren von einem neuen Nationalstolz er füllt. Als Hofsprache und als Sprache der großen literarischen Werke er langte die kastilische Sprache den Vorrang über die anderen regionalen Mundarten und wurde die offizielle Landessprache. Simon Abril machte Philipp II. den Vorschlag, »daß die Ärzte sich der klaren kastilianischen Sprache bedienen sollen an Stelle des undeutlichen und barbarischen La teins«, und daß das Recht »en lengua comün y populär« gesprochen wer den solle. Die glanzvolle spanische Sprache verbreitete sich im sechzehnten Jahrhundert außerhalb Spanien, »teilweise durch flüchtige spanische Juden, die durch Generationen und Jahrhunderte hindurch zähe an ihrem Kastilisch festhielten«. Führende Humanisten und Kleriker, wie Luis de Leön (1527—15 9 1) veredelten die Volkssprache, indem sie sie in ihren theolo148
r gischen Schriften und in ihren Dichtungen verwendeten. Im Vorwort zum ersten Teil seines >De los nombres de Cristo<, wo er alle »buenos ingenios< «ufruft »en nuestra lengua, para el uso comün de todos« zu schreiben, läßt Leon den neuen Stolz auf die Nationalsprache erklingen. Man kann sagen, daß Leon das allgemeine Empfinden seiner Zeit zum Ausdruck ge bracht hat. »Wenn wir die gesamte Geschichte der Vergangenheit durch blättern, so werden wir nichts finden, was großartiger wäre als das, was zu den Zeiten unserer Väter sich ereignet hat, als nämlich die Spanier über die unendlichen Tiefen segelten und eine neue Welt entdeckten, die nicht geringer, vielleicht sogar viel größer ist als das Römische Imperium.« Er fand, daß die neue Epoche in der Bibel vorausgesagt sei und wies sehr ge schickt nach, daß die Spanier ein auserwähltes Volk sind. »Doch wird es sehr schwer sein, zu entscheiden, ob sie deshalb zu beneiden oder zu be dauern sind.« Das Spanien des Goldenen Jahrhunderts war die Heimat des religiösen Eifers und des militanten Kampfgeistes gegen die Reformation. Die Aus einandersetzung forderte unbarmherziges Festhalten an bedingungsloser Ein heit, Abscheu vor der geringsten Verunreinigung durch neue Ideen, starre Ablehnung gegen jegliches Zugeständnis, das geeignet gewesen wäre, den gesamten Aufbau zu unterhöhlen. Die Gesellschaft Jesu wurde vom Geiste Spaniens genährt. Unter Karl V. hatte Spanien für eine kurze Zeit am all gemeinen Weltgeschehen teilgenommen; unter Philipp II. zog es sich wie der zurück, mißtrauisch gegen jeglichen Einfluß von außen und gegen jede Berührung mit neuen Ideen. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert drangen die Strömungen des europäischen Geisteslebens und der gesell schaftlichen Entwicklung kaum über die Pyrenäen hinüber. Im Schutze dieses unüberwindlichen Hindernisses erstand hier eine neue Scholastik. Nach einer kurzen und glanzvollen Zeit der Weltführerschaft hörte Spa nien wieder auf, geistig und wirtschaftlich ein Teil Europas zu sein. Ob wohl es nach Frankreich der erste Staat in Europa war, der die Grundlagen für ein nationales Wesen und für eine nationale Einung gelegt hat, war cs im achtzehnten Jahrhundert doch nicht in der Lage, in ein modernes nationales Dasein einzutreten. Denn die Welle des nationalen Stolzes und des nationalen Missionsbewußtseins, die im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert Spanien erlußte, hatte nichts mit dem modernen Nationalismus gemein. Der Spanier wurde durch sie nicht gewandelt, sie erweckte in ihm keine neuen Lebens kräfte; sie gab ihm kein neues Zusammengehörigkeitsbewußtsein, das es Ihm ermöglicht hätte, über das Mittelalter hinaus zu wachsen und das ge 149
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sellschaftliche, geistige und wirtschaftliche Leben des Landes auf anderen Grundlagen neu aufzubauen. Deshalb waren die Spanier unfähig, dir Größe, die ihnen ein kurzes Jahrhundert geschenkt hatte, zu bewahren. Im Wirtschaftsleben verharrten sie bei ihren mittelalterlichen und orientalischen Anschauungen. Sie verachteten körperliche Arbeit, Gewerbe, Handel und Landwirtschaft. Mit den Juden und Mohammedanern verließen nicht nur die Händler, sondern auch die Handwerker und Bauern das Land. Nie mand nahm ihre verwaisten Plätze ein; die Kastilianer sahen auf diese Ge werbe als auf die körperliche Arbeit minderwertiger Rassen und verfluch ter Heiden herab, und sie selbst dünkten sich als durch Geschick und Ge burt bestimmte Edelleute. Jedermann wollte zum mindesten ein Hidalgo sein — ein >hijo de algo<, ein Sohn aus guter Familie. Ein >furor nobiliarius< hatte sich der Spanier bemächtigt; sie lebten in einer Welt von Illusionen, weit entrückt von der sie umgebenden traurigen Wirklichkeit. Der Einfluß der Kirche steigerte noch den Müßiggang. Im Jahre 15 7 0 war ein Viertel der spanischen Bevölkerung Kleriker, und 16 26 gab es in Spanien 9088 Männerklöster und ungezählte Frauenklöster. Während einer kurzen Zeit erlebte Spanien noch gleichzeitig mit seinem politischen und wirtschaft lichen Zerfall ein kulturelles Aufblühen. Aber bereits 16 2 1 war Spanien ein »erschöpftes, entvölkertes Land, von Kopf bis Fuß von Korruption zer fressen, überschwemmt mit Bettlern und Schmarotzern des Hofes, des Adels und der Klöster«. Das Bild der Trostlosigkeit wurde im Anfang des siebzehnten Jahrhun derts durch die Vertreibung der Nachkommen von getauften Mauren noch mehr verdüstert; wahrscheinlich wurden mehr als eine halbe Million Men schen durch diese Maßnahme betroffen. Unter diesen Umständen war Spa nien unfähig, die Mission zu erfüllen, zu der es sich berufen fühlte: der Mittelpunkt der Welteinheit und des Weltglaubens zu sein. Die spanischen Könige waren noch von der ehrlichen Absicht beseelt gewesen, die Indianer durch ein großzügiges Erziehungsprogramm in die christliche Kultur ein zubeziehen. Doch nach 1600 brach diese weitsichtige Politik zusammen. Die königlichen Subventionen an die Indianeruniversität in Tlaltelolto wurden eingestellt. Das vorschwebende Ziel einer Gleichstellung von Indianern und Spaniern in einem riesigen indianisch-iberischen Reiche schwand dahin, und es begann eine Zeit der grausamsten Unterdrückung. In Amerika wio in Spanien zerfiel das Reich. Der Zusammenschluß Spaniens zu einer mo dernen Nation und die lebendige Gestaltung seines Reiches blieben ein Traum. Spanien fiel in ein Stadium der Abgeschlossenheit von der allge meinen europäischen Entwicklung zurück. Das siebzehnte Jahrhundert gc15 0
liörte nicht mehr Spanien, sondern England, dem Land, dem es als erstes gelang, Volk und Staat zu einer modernen Nation zusammenzuschweißen. Wie Spanien war auch England ein rückständiges und armes europäisches Randgebiet gewesen, das erst in der Morgendämmerung der atlantischen Ära zu neuem Leben erwachte. Aber während Spanien den geistigen, wirtNchaftlichen und religiösen Umwälzungen unzugänglich blieb, nahm Eng land diese als Lebensnahrung in sich auf und wurde im siebzehnten Jahr hundert die Heimat, von der aus sie sich in die Neue Welt und nach dem europäischen Kontinent ergossen.
8 Die normannische Eroberung verursachte in England, trotz seiner insula ren Lage, gewisse Schwierigkeiten bei der Ausbildung eines kontinuier lichen Nationalbewußtseins. Nur langsam vollzog sich die Vermischung der drei wichtigsten Rassenelemente — der Kelten, der Sachsen und der Nor mannen. Die englische nationale Legende von König Arthurs Tafelrunde ist keltischen Ursprungs; Richard Plantagenet Löwenherz, der Prinz, der sich als Franzose fühlte und die Engländer wenig achtete, wurde zu einem Nationalhelden. Erst im Verlaufe des vierzehnten Jahrhunderts verdrängte die englische Sprache langsam das Französische aus den Gerichten und aus dem öffentlichen Leben: um 14 50 überwog das Englische in juristischen Urkunden. 13 6 2 begann das Parlament seine Verhandlungen auf englisch zu führen mit der Begründung, daß das Volk nur wenig französisch verstehe. Doch behielt die französische Literatur ihren überragenden Einfluß auf die gebildeten Schichten, und von Chaucer konnte man sagen, daß »das Außer ordentliche an ihm ist, daß er einer der wenigen großen Meister unserer Literatur ist, dessen Werk anscheinend bar jeglicher patriotischen Impulse ist«. Bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts trieben eigene Armut und Rückständigkeit die englischen Heere nach den reichen und fruchtbaren Ländern jenseits des Kanals. Froissart, der bestimmt kein unfreundlich ge»innter Beobachter war, beschrieb die Engländer als »über alle Maßen hab gierig und neidisch auf anderer Leute Reichtum«. Englands Bevölkerung von ungefähr drei Millionen Menschen entsprach zu jener Zeit nur der Hälfte der spanischen, ungefähr einem Viertel der französischen und ungefähr rlncm Fünftel der deutschen Bevölkerung. Das Ende des Hundertjährigen Krieges und der Aufstieg des Hauses Tudor ist ein Meilenstein in der Ent15 1
Wicklung zur englischen Nation. Die Niederlage in Frankreich und der Rückzug vom Kontinent stärkten England auf die Dauer und legten den Grund zu Englands Größe. Durch die See geschützt, glaubte es sich vor jedem Angriff über den Kanal her gesichert. So konnte es seine ganzen Kräfte dem Atlantischen Ozean zuwenden. Dieser Wendepunkt in der eng lischen Geschichte traf mit dem Wendepunkt des wirtschaftlichen und poli tischen Lebens Europas zusammen, als sich der Schwerpunkt des Kontinents von dem von den britischen Inseln weit entfernten Mittelmeer weg, nach dem Atlantischen Ozean hin verlagerte, von dessen jenseitigen Ufern neue Welten mit märchenhaften Reichtümern lockten. Durch diese Wandlungen begünstigt, konnten sich in England früher als in allen anderen europäischen Ländern grundlegende Voraussetzungen für das Werden einer Nation bil den und so den Boden für die volle Entwicklung des modernen Nationa lismus im siebzehnten Jahrhundert bereiten. Durch das Fehlen auswärtiger Kriege sowie durch die wachsende Aus dehnung des Wirtschaftslebens brach in England das System der Stände und Kasten, das anderswo weiterhin in seiner ganzen Starrheit fortbestand und das Werden des Nationalismus verhinderte, zusammen. Die gemein schaftlichen Parlamentsdebatten über das Wohl des gesamten Landes för derten das Wachstum eines Nationalgefühles. Der Umstand, daß das Land von außen nicht durch Kriege bedroht war, enthob es der Notwendigkeit einer starken zentralisierten Macht und erhöhte die Macht des Parlamentes und der lokalen Selbstverwaltung. Das Überwiegen von freibäuerlichen Bogenschützen in der englischen Armee, im Gegensatz zu den Heeren des Kontinents, deren Rückgrat durch die ritterliche Reiterei gebildet wurde, trug ebenfalls dazu bei, daß sich der Akzent von der feudalen Gefolg schaftstreue zu einem mehr nationalen Loyalitätsgefühl hin verlagerte. Der Adel, der durch die Rosenkriege zahlenmäßig stark zusammengeschrumpft war, hatte viel von seinem kriegerischen Geist verloren. Unter den sich wandelnden Verhältnissen setzte sich der neue Adel aus wohlhabenden Grundbesitzern zusammen, die an ihrem Wohlstand interessiert waren und von Geschäftsinstinkten beherrscht wurden. Von dem emporkommen den Dritten Stand waren sie nicht durch unüberwindliche Hindernisse ge schieden. Reiche Kaufleute erwarben sich Landgüter und traten in den Le benskreis des Adels ein. Die jüngeren Söhne des Adels, denen auf dem Kon tinent nur die Offizierslaufbahn offenstand, wurden in England Kaufleute. In solch einer Atmosphäre der nationalen Sicherheit, des wachsenden Wohl standes und des parlamentarischen Einflusses gediehen die Voraussetzun gen für die Entstehung der individuellen Freiheit und des Respektes vor 15 2
dem Gesetz, sowie die Voraussetzungen für die Sicherheit und Berechenbar keit von größeren geschäftlichen Unternehmungen, die ja durch das Gesetz garantiert waren. Die öffentliche Meinung wurde zu einem gewichtigen Faktor bei den Entscheidungen derjenigen, die an der Macht waren. Die Emanzipation des Individuums und der privaten Initiative aus den Banden der mittelalterlichen Tradition und der feudalen Gesellschaft vereinigte sich mit dem langsamen Wachstum eines Gefühles des Selbstvertrauens und der Eigenständigkeit, welches zum Charakteristikum des Engländers im sieb zehnten Jahrhundert wurde. Die Thronbesteigung durch die Tudors (1485) setzte den langen Bürger kriegen, in denen sich die Stärke der feudalen Barone erschöpft hatte, ein Ende und legte den Grund für jene Homogenität, die die notwendige Vor aussetzung für die spätere Entwicklung des Nationalismus war. Hein rich VIII., eine typische Renaissancegestalt, spielte für die englische Ge schichte und für den englischen Nationalismus eine ähnliche Rolle wie die absoluten Könige auf dem Kontinent. Das Ergebnis seiner Regierung war die Entstehung eines bewußten englischen Etatismus. Er verkörperte die neue Tendenz nach einem mächtigen Königtum und er identifizierte sein eigenes Verlangen nach Macht, Vergnügen und Reichtum mit dem zuneh menden nationalen Verlangen nach Größe und Wachstum. Schließlich zer riß er noch das Band, das England an den mittelalterlichen Universalismus kettete. Er führte den Titel Majestät, der bis dahin allein dem Kaiser Vor behalten gewesen war. Er errichtete die nationale anglikanische Kirche, eine Kirche, die in ihrem Anfangsstadium eher von der Staatsraison als von den lebenspendenden Kräften des Nationalismus getragen wurde. Er be gründete Englands und Irlands Unabhängigkeit vom Papst, er vereinte Wales mit England, durch ein Gesetz des Parlamentes erhielt er den Titel eines Königs von Irland, und er begann mit dem Ausbau einer englischen Seemacht. Er merzte die letzten Spuren einer Feudalmacht in England aus und tat vieles für die Hebung des Mittelstandes und des niederen Adels, bei dem die Tudors größte Unterstützung fanden. Der neue Reichtum, der nach England hereinzufließen begann, beschleunigte das Hinüberwechseln von Prestige und Einfluß von einer Gesellschaftsschicht zur anderen. Während der Regierungszeit der Königin Elisabeth kam die Renaissance in England zu einer Zeit zur Reife, als sie auf dem Kontinent bereits im Abklingen begriffen war und als die neuen Impulse der Reformation die Geister der Menschen beschäftigten. Zunehmende Macht und zunehmender Reichtum, die Anfänge der kolonialen Ausdehnung, und eine gesteigerte literarische Tätigkeit erzeugten einen starken patriotischen Stolz, der je-
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doch noch nichts gemein hatte mit dem tief verwurzelten, immer gegenwär tigen und alles durchdringenden Charakter des modernen Nationalismus. Mit ihrer Wertbetonung der Internationalität der Bildung, der einen gro ßen Republik der Literatur und der Wissenschaften, die nichts anders war als die säkularisierte >Res publica Christiana<, war die Renaissance die Trä gerin des mittelalterlichen Erbes. Dieses Gefühl fand einen anschaulichen Ausdruck in den Versen von Samuel Daniel (1562—16 19 ):
It be'ing the proportion of a happie Pen, Not to b'inuassal'd to one Monarchie, But dwell with all the better world of men, Whose spirits all are of one communitie; Whom neither Ocean, Desarts, Rockes nor Sands Can keepe from th'intertraffique of the minde, But that it vents her treasure in all lands, And doth a most secure commercement finde. Die Reformation selbst bewahrte starke universalistische Gesichtspunkte. Aber die großen kulturellen Fortschritte, die England zum ersten Male gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts machte, um die Entwicklung in Italien und in Frankreich einzuholen, gab den Engländern ein neues Ge fühl für die eigene Bedeutung, obgleich noch lange die Kultur der beiden kontinentalen Länder Vorbild und Anregung für das geistige Leben Eng lands blieb. Das neue Selbstbewußtsein führte zu eingehenderer Beobach tung des englischen Lebens, seiner Einrichtungen und Eigentümlichkeiten, seiner Traditionen und seiner Geschichte. Auch hierin folgten die englischen Schriftsteller und Historiker einer allgemeinen Tendenz der Renaissance, die ein neu erwachtes Interesse an der Erforschung der Vergangenheit der Nation mit sich brachte. Sir Thomas Smiths >De Re publica Anglorum; The Manner of Governement or Policie of the Realme of England< (1583) zeigte deutlich, in welch hohem Maße während der Tudorzeit der König im Mittelpunkt allen nationalen Lebens stand. »Kurzum, der König ist das Leben, das Haupt und die Macht aller Dinge, die im Königreich England geschehen.« Der Glanz der elisabethanischen Regierung veranlaßte viele Engländer, ihre Gleichwertigkeit, ja sogar Überlegenheit den Franzosen und Italienern gegenüber zu betonen. Richard Carew (15 5 5 —1620), der die ersten fünf Gesänge von Tassos >Godfrey of Bulloigne, or the recouerie of Hierusalam< übersetzte, schrieb auch >An Epistle concerning the excellencies of the Eng lish tongue<, in der er für die englische Sprache den Vorrang forderte vor allen anderen, weil sie ja von diesen allen entlehnt hätte. William Camden
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( 15 5 1—16 23), sein Zeitgenosse, verfaßte nach dem Vorbild der >Italia lllustrata< des Blondus eine Beschreibung Großbritanniens, das er in allen »einen Teilen bereist hatte. Seine »Britannia, sive Florentissimorum Regnorum Angliae, Scoriae, Hiberniae, et Insularum adiacentium ex intima nntiquitate Chorographica Descriptio< (1586) war gleich ein großer Erfolg und erlebte, sowohl in der lateinischen Originalfassung als auch in der englischen Übersetzung, innerhalb kurzer Zeit mehrere Auflagen. Dieser patriotische Stolz fand während der letzten Jahre der Königin Elisabeth seinen reichsten Ausdruck; Samuel Daniel schrieb damals in seinem >Musophilus<:
And who, in time, knowes wither we may vent The treasure of our tongue, to what strange shores This gaine of our best glory shall be sent, T'inrich unknowing Nations with our stores? W hat worlds in th'yet unformed Occident May come refin'd with th'accents that are ours?
Und zur gleichen Zeit pries Shakespeare
This other Eden, demi-paradise, This fortress built by Nature for herself Against infection and the hand of war, This happy breed of men, this little world, This blessed plot, this earth, this realm, this England. Einige Jahre vorher hatte John Lyly in seinem Buche >Euphues and His England< (1580) ein Gefühl zum Ausdruck gebracht, das im Verlaufe des siebzehnten Jahrhunderts zu einem Allgemeingut werden sollte: »So ten der a care hath he alwaies had of that England, as of a new Israel, his chosen and peculiar people.« Im sechzehnten Jahrhundert begannen auch die Ausländer, die im eng lischen Kultur- und Wirtschaftsleben eine führende Rolle gespielt hatten, an Einfluß zu verlieren. Das Anwachsen des englischen Mittelstandes und der englischen Wissenschaft ließ sie langsam überflüssig werden. Die neue englische Lebenskraft und die Chancen, die sich boten, machten sich in der beginnenden englischen Kolonialtätigkeit bemerkbar. Entgegen allen rassen-mystischen Auslegungen sind die Engländer von Natur aus durch aus nicht zu Seeabenteurern veranlagt. Bis hinab ins sechzehnte Jahrhun dert waren die Engländer reine Landratten gewesen. Das große Zeitalter der Entdeckungen gehörte den Iberern. An Liebe zur See und kühnem Unter-
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nehmungsgeist waren die Engländer damals allen Mittelmeervölkern, ja so gar den Franzosen unterlegen. Nur langsam wurden die Engländer im Elisabethanischen Zeitalter zu einem großen seefahrenden Volke und errich teten ein Reich, das auf der Stärke seiner Marine und seines Handels be ruhte. Erst die Taten von Sir Walter Raleigh und die Schilderungen von Richard Hakluyt lenkten den Geist der Engländer auf die Beherrschung der See hin. Doch ist es bezeichnend, daß selbst am Ende der Elisabethanischen Ära der größte englische Dichter unter der unendlichen Vielfalt seiner Ge stalten nicht einen einzigen englischen Seemann gestaltet hat. So hat die Zeit der Tudors die Grundlagen für das Werden der eng lischen nationalen Einheit gelegt. Das englische Staatsbewußtsein kreiste um den Monarchen; der englische Etatismus geht auf jene Zeit zurück. Aber das englische Volk und die englische Kultur waren noch nicht zu vollem Selbstbewußtsein gekommen. Selbst im Elisabethanischen Zeitalter fürchtete man noch allgemein, daß der englischen Sprache keine große Zukunft gegeben sei. Die literarische Kritik blieb fast vollständig von dem klassischen Maß der Vergangenheit beherrscht. Das Empfinden für die Eigenständigkeit der englischen Literatur war erst schwach entwickelt, des halb wurde auch an die zeitgenössischen großen englischen Dichter, an statt sie in ihrer Eigenberechtigung anzuerkennen, das Maß der universa len klassischen Dichtung angelegt. Shakespeare wurde sein ganzes Leben lang als »volkstümlicher Schriftsteller betrachtet, für geringer gehalten als Ben Jonson mit seiner überlegenen klassischen Bildung und seiner Beach tung der Grundsätze des klassischen Erbes. Die anhaltende Herrschaft der klassischen Überlieferung hielt, wie Bacon sagte, »wie durch eine Art von Verzauberung« die Menschen davon ab, sich der Größe ihrer eigenen Lei stungen bewußt zu werden. Erst im beginnenden siebzehnten Jahrhundert kam eine Anerkennung des englischen Genius als etwas besonders Eng lisches zum Ausdruck, und damals wurde auch erst hervorgehoben, daß sich die Regeln der Dichtung und des Geschmackes mit den Völkern und Zeiten veränderten. Moderne Dichtung könne der klassischen Dichtung gleichwer tig oder sogar überlegen sein, auch wenn sie grundsätzlich vom Maße der letzteren abweiche. So verteidigte Samuel Daniel den Reim als der eng lischen Sprache gemäß, wenn er auch der klassischen Dichtung fremd sei, sowie die englische Architektur gegenüber der Nachahmung antiker Stile. Die Modernen, sagte er, brauchen nicht nach dem Vorbild der Griechen und Römer zu gestalten, denn »wir sind Kinder der Natur genau so gut wie jene«. Am besten spiegelt sich diese neu errungene Eigenständigkeit sowie die Möglichkeit des Fortschrittes in Francis Bacons Haltung zur Wissenschaft
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wider. Er verkörperte die Tudor-Renaissance in ihrem utilitaristischen und experimentellen Realismus, in ihrem Glauben an ein universales, vernunftmäßiges Sittlichkeitsgesetz, und in ihrem Verlangen, die Natur zu beherr schen. Doch ging er weiter als seine Zeitgenossen: er proklamierte als er ster den Grundsatz, daß die Wissenschaft die Grundlage der Macht des Menschen sei: »Hominis imperium sola seien ta constare, tan tum enim potest quantum seit.« Es war das neue Lebensgefühl des emporstrebenden Dritten Standes, das er in seiner berühmten Verherrlichung des Wissens zusammenfaßte: >Scientia est Potential Er sah unbegrenzten Fortschritt voraus: »Genus humanum novis operibus et potestatibus continuo dotare«; er lebte in dem Bewußtsein, als erster den Weg zu einer neuen Auswer tung der Wissenschaft gewiesen zu haben. »Finis scientiarum a nemine adhuc bene positus est.« Nach Bacon ist das Wohl der Gesellschaft der Zweck der Wissenschaft, »die Erleichterung des menschlichen Loses«. In sei nem >Novum Organum, Containing Rules for Conducting the Understanding in the Search of Truth and Raising a Solid Structure of Universal Philosophy< (1620) erklärte er, daß das wissenschaftliche Experiment das Organ zum Verständnis der Welt und zur Erkenntnis der Natur durch Beobachtung, Induktion und Versuch sei. Eine Gegenüberstellung von Bacons >New Atlantis< (1626) und einem iilteren Werke wie More's >Utopia< (1516 ) zeigt eine bedeutungsvolle Wandlung in der Auffassung von der Wissenschaft und ihrer Macht. Bacon sah in der Wissenschaft das Werkzeug, das das Zeitalter des Glückes und des Friedens herbeiführen solle. Der ganze letzte Teil von >New Atlantis< war eine Verherrlichung wissenschaftlicher Erfindungen und Erfinder. »Das Ziel unseres Tuns ist das Wissen um die Ursache und um die unsicht baren Bewegungen der Dinge, und die Ausweitung der Grenzen der Herr schaft des Menschen, auf daß sie alle möglichen Dinge bewirke.« Diese Überzeugung führte unvermeidlich zu Optimismus, zu dem Glauben, daß der Mensch es lernen könne, die Natur zu seinem Vorteil zu beherrschen. Unter diesem Eindruck geschah es, daß sich der zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts herrschende Pessimismus — Robert Burtons >Anatomy of Melancholy< wurde 16 2 1 veröffentlicht — wandelte. Im >Novum Organum< stellte Bacon zunächst fest, daß Pessimismus meist von denjenigen propa giert würde, die der Ansicht sind, daß die Menschen der Antike alle großen Dinge bereits geleistet hätten und der Gegenwart nichts zu tun übrig bliebe. Dann legte er die Gründe für seinen Optimismus dar, beruhend auf der Überzeugung, daß der Mensch durch die Anwendung der richtigen Metho den die Welt beherrschen könne und werde. Viel zitiert wurde im sieb-
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zehnten Jahrhundert der Abschnitt aus seinem >Advancement of Learning<, in dem er eine neue Sinn- und Wertdeutung der Antike gab. »Sicherlich ist des Propheten Rat die rechte Art in dieser Angelegenheit, >State super vias antiquas, et videte quaenam sit via recta et bona, et ambulate in ea<. Die Antike verdient die Ehrerbietung, daß der Mensch auf ihr beruhen solle, um nach der besten Art Ausschau zu halten, aber wenn er diese erst ge funden hat, so muß er auch in ihr fortschreiten. Die Wahrheit ist >Antiquitas saeculi iuventus mundi<. Wenn die Welt einst alt sein wird, dann wird auch unsere Gegenwart Antike sein, und nicht nur jene Zeiten, die wir, ordine retrogrado, durch Rückrechnung von unseren Tagen an für die Antike halten.« Dieses Vertrauen auf die Zukunft und auf die durch Wissenschaft zu gewinnende zunehmende Macht des Menschen gab den Ton für die Zukunft an. Bacons Zeitgenossen lebten noch in dem Glauben, daß alle großen Dinge in der Vergangenheit vollbracht worden seien, daß die Menschheit das Greisenalter erreicht habe und das Weitende näher rücke. A uf Grund mystischer Berechnungen wurde das Weitende für 1600 oder 1666 prophe zeit. Godfrey Goodman hatte 16 16 in London ein Buch veröffentlicht unter dem Titel >The Fall of Man, or the Corruption of Nature proved by the Light of our Reason<, worin er behauptete, daß der Mensch kleiner würde, daß keine der gegenwärtig lebenden Generationen mit den Riesen der An tike zu vergleichen sei, daß, verglichen mit dem Lebensalter der Patriarchen, die Lebensdauer kürzer würde, daß die Tiere nicht mehr die gleiche Stärke und Größe wie früher hätten und daß die himmlischen Mächte und die Elemente sich erschöpften. In ähnlichem Sinne schrieb John Donne um die gleiche Zeit in >An Anatomie of the World, wherein . . . the frailty and the decay of this whole World is represented<:
So thou sicke World, mistak'st thy seife to bce Well, when alas, thou'rt in a Lethargie . . . If man were anything, he's nothing now. Doch zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts wurden auch neue Argu mente ausgesprochen, denen zufolge die Ursache für die Unterschiede zwi schen den verschiedenen Perioden der Geschichte und ihrer Auffassungen nicht in irgend einer wesentlichen Verschiedenartigkeit antiker und moder ner Menschen zu suchen sei, sondern in unterschiedlichen Klimata, Umge bungen und nationalen Veranlagungen. Deshalb hätten die späteren Gene rationen nicht weniger Chancen zu großen Leistungen als die Antike. Eine zunehmend historisierende Denkungsart und ein beginnendes Verständnis 158
für die Literatur vor ihrem historischen und gesellschaftlichen Hintergrund verband sich mit dem zunehmenden Stolz auf den Fortschritt der Wissen»chaften zu einem Glauben an die Möglichkeiten des Menschen und an rationale Leistung. Nicht nur durch Bacons Werke, sondern auch durch imdere vielgelesene Bücher wurde dieser Geist des Vertrauens verbreitet. I.)ie Kontroverse des siebzehnten Jahrhunderts zwischen Antike und Moderne wurde in England weniger auf dem Gebiete der >belles lettres< und des ästhetisierenden Kritizismus (wie in Frankreich) als auf dem Ge biet der experimentellen Forschung und des wissenschaftlichen Fortschrittes nusgetragen. Dank diesem neuen wissenschaftlich interessierten Allgemein geist errangen die Engländer im siebzehnten Jahrhundert die Führung auf diesem Gebiet, und überall blickten Menschen auf die >Royal Society of London for the Improving of Natural Knowledge< als den Mittelpunkt der experimentellen Forschung in Europa. Dieser wissenschaftliche Geist erfüllte auch die anglikanische Kirche, die, iinders als die zeitgenössischen Kirchen auf dem Kontinent, sich der neuen Wissenschaft nicht widersetzte, sondern viele ihrer Geistlichen an der A r beit der Royal Society teilnehmen ließ. Der erste, der die Geschichte der Royal Society aufgezeichnet und im Jahre 1667 ihre universale Bedeu tung hervorgehoben hat, war ein Bischof. Die Mitglieder der Gesellschaft "tun öffentlich kund, daß sie nicht eine englische, schottische, irische, katho lische oder protestantische Wissenschaft, sondern eine für die Gesamtheit der Menschheit gültige Wissenschaft begründen wollen . . . Wenn ich meine Objekte nehmen kann woher immer es mir beliebt, so entspricht das der Idee des vollkommenen Wissenschaftlers; auch sollte dieser nicht von der Art eines einzigen Landes sein, sondern über die Vorzüge mehrerer Länder verfügen.« In der Erfüllung dieses Aufgabenbereiches von universaler Be deutung haben die Engländer die unbestrittene Führerschaft erlangt. Ihre Auffassung »hat alle unsere Nachbarn dazu veranlaßt, ihre Blicke nach l'.ngland zu richten. Sie erwarten, daß von hier die großen Erneuerungen der Wissenschaften ihren Ausgang nehmen werden.« So kann England »mit Recht beanspruchen, vor allen anderen Ländern Europas das Haupt «Ines Bundes der Wissenschaft zu sein . .. wenn man überhaupt von dem Charakter der universalen Veranlagung irgend eines Volkes unter dem wei len Himmel sprechen kann, so muß dieser gewiß unseren Landsleuten zugeschrieben werden. So scheinen sich sogar die Gegebenheiten unseres Klimas, der Atmosphäre, der Einfluß des Himmels, die Zusammensetzung lies englischen Blutes sowie die Umarmungen des Ozeans mit den Bemü hungen der Royal Society zu vereinen, um unser Land zu einem Lande der 15 9
experimentellen Forschung zu machen. Es ist ein gutes Zeichen, daß die Natur gewillt ist, den Engländern mehr von ihren Geheimnissen zu ent hüllen als anderen Völkern; denn sie hat sie schon mit einem Geist aus-j gestattet, der glänzend dazu geeignet ist, ihre Geheimnisse zu empfange und zu bewahren.« So vereinigte sich bald die Vorstellung von der Überlegenheit der Mo derne mit der Idee der Überlegenheit der Engländer als Führer in einei Wissenschaft, die selbst der Antike unbekannt gewesen war. Der mensch liehe Glaube an die Vernunft (nach der Lehre von Descartes), an seine] Sinne und an seine Beobachtungsgabe (nach der Lehre Bacons) fiel, unter-· stützt durch das neue Gefühl der Freiheit und der Toleranz, welches in del; englischen Revolution des siebzehnten Jahrhunderts aufkeimte, in Eng-j land auf denkbar günstigen Boden. Sogar Bischof Sprat betonte 16 6 7 in seiner »History of the Royal Society< den Geist der Toleranz: »Es ist nicht ehrenvoll, harte Urteile über die Religionen anderer Länder zu fällen: es ist deren eigene Angelegenheit, sich um die Verständigkeit ihres Glaubens zu kümmern: uns steht nur zu, fest zu der Wahrheit unseres eigenen Glau bens zu stehen.« Die neue Vorahnung der ungeheueren Möglichkeiten, die sich den Engländern und durch die Engländer der gesamten Menschheit eröffneten, fand einen enthusiastischen Ausdruck in John Drydens >Annus Mirabilis< — das Wunderjahr 1666, das von vielen Menschen auf dem Kon tinent für das Jahr des Weltunterganges gehalten wurde.
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But what so long in vain, and yet unknown, By poor mankind's benighted wit is sought, Shall in this age to Britan first be shown, And hence be to admiring nations taught. Instructed ships shall sail to quick commerce, By which remotest regions are allied; Which makes one city of the universe, Where some may gain, and all may be supplied. Then we upon our globe's last verge shall go, And view the ocean leaning on the sky: From thence our rolling neighbours we shall know, And on the lunar world securely pry. Im siebzehnten Jahrhundert befaßten sich die Engländer nicht nur mit den neuen Wissenschaften stärker als die anderen Völker, sie waren auch 111 der Staatstheorie und in der allgemeinen Anteilnahme am politischen Leben allen anderen Völkern voraus. Während Italien und Spanien dahinsanken, 16 0
während Deutschland wirtschaftlich wie geistig durch die lange währenden Schrecken des Dreißigjährigen Krieges ruiniert wurde, während Frankreich das großartige Schauspiel einer auf klassischer Grundlage beruhenden sta bilen Gesellschaftsordnung bot, wurde das englische Volk bis in sein inner«tcs Wesen durch die Erschütterungen der Revolution aufgewühlt. Die Strö mungen des wachsenden Nationalismus, der unter den Tudors auf gekeimt war, kamen jetzt mit elementarer Wucht zum Ausbruch. Es erfüllte die Engländer mit einem neuen Lebensgefühl, daß sie, das gewöhnliche Volk von England, das auserwählte Volk, die Träger der Geschichte und die Schmiede des Schicksals waren während einer Zeit, die eine große Wende bedeutete und von der eine wahre Reformation ihren Ausgang nehmen (tollte. Zum ersten Male wurden hier die autoritären und aristokratischen Traditionen, auf denen Staat und Kirche beruhten, im Namen der Freiheit iles Menschen in die Schranken gefordert. Die englische Revolution war fine Synthese von weittragender Bedeutung aus calvinistischer Ethik und finem neuen optimistischen Menschheitsglauben. Da sie eine calvinistische Revolution war, drückte sich der neue Nationalismus in einer Identifizie rung des englischen Volkes mit dem Volke Israel des Alten Testamentes tius.
9 Trotz ihrer tiefgehenden nationalen und gesellschaftlichen Folgerungen war die puritanische Revolution grundsätzlich eine religiöse Bewegung zur liehauptung jener Züge der Reformation, die in Deutschland durch den Autoritätskult unterdrückt worden waren. Der calvinistische theokratische Radikalismus vereinigte sich mit der primitiven demokratischen Art der Wiedertäufer und spiritualistischer Bewegungen in der Forderung nach einem echt christlichen Gemeinwesen mit dem Endziel einer universalen protestantischen Ordnung. Die Revolution war ursprünglich aus Quellen Inspiriert worden, die, in einem früheren Stadium der Gesellschaftsentwick lung, auch das Hussitentum gespeist hatten. Aber bei dem weit fortschritt licheren Stand der gesellschaftlichen und geistigen Entwicklung in England mündete diese Revolution in eine große, befreiende, geistige Revolution rin, die zum Ausgangspunkt der sozialen und politischen Bewegungen der Neuzeit wurde. Die religiöse Begeisterung der Revolution erkämpfte sich den Weg für eine neue Freiheit. Das Gefühl, daß eine große Aufgabe zu rrfüllen sei, war nicht auf die oberen Gesellschaftsschichten beschränkt: es erfüllte das gesamte Volk mit einem neuen Wertbewußtsein. Die Massen 16 1
waren nicht mehr das gemeine Volk, das Objekt der Geschichte, sondern die Nation, das Subjekt der Geschichte, auserwählt, große Taten zu voll bringen. Jeder einzelne war zur Mitwirkung an diesen großen Dingen be rufen. Hier haben wir das erste Beispiel für den modernen Nationalismus, der zugleich religiös, politisch und sozial ist. Doch war dieses noch nicht der säkularisierte Nationalismus, wie er dann im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert in Erscheinung trat. Aber es war schon unendlich viel mehr als der Etatismus und der Patriotismus der Renaissance und des Zeitalters der absoluten Monarchie: hier war ein ganzes Volk in seinen tiefsten Grün den aufgerüttelt, es fühlte, daß auf seine Schultern eine historische Mission gelegt war, und es entdeckte einen neuen Sinn und einen neuen Glanz in dem Worte >Freiheit<. Einige englische Autoren jener Zeit versuchten, diese neue Freiheit in der Vergangenheit zu verankern, in den überlieferten Formen des englischen Rechtes im Gegensatz zu der Starrheit des Römischen Rechtes, in der Wie derbehauptung des sächsischen gemeinen Volkes gegenüber den normanni schen Eroberern, die »alle englischen Freiheiten vernichtet hatten«. Ähn liche Strömungen sollten später aus der Französischen Revolution hervor gehen. Politiker und Gelehrte, Monarchisten und Republikaner versuchten ihre gegenwärtige Stellung durch Berufung auf die Vergangenheit zu rechtfertigen — doch nicht in jener Art, die sich später zum romantischen Natio nalismus entwickelte, sondern in einem Bemühen, ihre Ansprüche und Forderungen zu erhärten und ihre neuen Interessen durch die Autorität der Vergangenheit zu schützen. Das erwachende gemeine Volk konstituierte eine sagenhafte Vergangenheit der Freiheit und Gleichheit als Hintergrund für den Kampf seiner Vorfahren gegen die >Normannischen Herren< und betrachtete die Freiheit aller Engländer als in der Geschichte begründet. Doch weit bedeutungsvoller als diese nur kurzlebige Bemühung um eine Neudeutung der Vergangenheit war die mächtige Schwingung in die Zu kunft, einem neuen Nationalismus entgegen, der zu jener Zeit von den Engländern verkörpert wurde — der für die gesamte Menschheit gültig wer den sollte und der letzten Endes auf den neuen Ideen des Naturrechts und der Vernunft basierte. Die englische Revolution griff, trotz ihrer religiösen und nationalen Begrenztheit, nach den neuen Leitsternen der natürlichen Rechte, die allen Menschen, da sie als Abbild Gottes geschaffen sind, ge meinsam waren. Der neue Nationalismus war zutiefst liberal und univer sal, der Träger einer Botschaft an die gesamte Menschheit, die Freiheit und die Gleichberechtigung des Individuums verheißend — wenn auch nicht immer verbürgend. A uf dem Wege zu diesem auf Freiheit und Vernunft
beruhenden Universalismus sollten die Engländer Führer und Lehrmeister sein. Aus Puritanern und Sektirern, aus Engländern, Schotten und Juden, aus allen denen, die rechten Sinnes waren, entstand ein neues, gottesfürchtiges Volk. »Es stimmt, daß Cromwell und seine puritanischen Zeitgenossen einer Art Nationalismus gehuldigt haben; aber die Gemeinschaft oder Na tion, der sie huldigten, war nicht eine Blutsgemeinschaft, sondern eine Glaubensgemeinschaft. Die englische Nation, für die sie diese Leidenschaft empfanden, war Nation durch göttliche Anerkennung und Gnade, nach Art des Alten Testamentes. . . Es ist dieses ein Nationalismus, der leicht und auf ganz natürliche Art in einen Internationalismus einmündet. . . Die Auserwählten eines Volkes, und durch diese die Gesamtheit des Volkes, stehen in einer Gemeinschaft mit den Auserwählten anderer Völker und durch diese wiederum mit der Gesamtheit der anderen Völker.« Das englische Volk erlebte den religiösen Nationalismus als ein Wieder aufblühen des alttestamentarischen Nationalismus. So wie die Autoren der Renaissance in Italien, Deutschland und Frankreich durch ihre Identi fizierung mit den klassischen Autoren zu einem neuen Vaterlandsgefühl inspiriert worden waren, so wurden die Engländer zur Zeit der Purita nischen Revolution durch ihre Selbstidentifizierung mit den Hebräern in spiriert. Doch führten diese beiden Auffassungen zu grundverschiedenen Folgen. Beim Nationalismus der Renaissance ist es manchmal schwer fest zustellen, ob die Autoren solche Empfindungen wirklich als echtes Erlebnis aussprachen, oder ob sie nur >abschrieben<, ob sie die Alten nur nachahmten, oder ob sie die Inspiration ihrem eigenen Leben einverwandelten. Dieser Nationalismus der Renaissance blieb auf die gebildeten Schichten, die die antiken Autoren lesen konnten, beschränkt und war deshalb nur eine vor übergehende Erscheinung, die schnell von der aufkommenden Flut der neuen Theologismen verschlungen wurde. Der englische Nationalismus hin gegen wurde zu einem unzerstörbaren Bestandteil des Geistes und des Her zens aller Engländer. Er blieb nicht auf die gebildeten Schichten beschränkt, sondern wurde zu einem Band, welches das gesamte Volk vereinte: denn sein Mittler war das jedem Protestanten zugängliche und bekannte Buch. »England wurde durch ein Buch zum geeinten Volk, und dieses Buch war die Bibel.« Vor allen anderen Dingen war es das Alte Testament, wodurch Crom well und seine Generation inspiriert wurden. Die ganze Denkungsart und der Stil der Zeit waren stark mit hebräischem Gut durchwirkt. Die drei Hauptgedanken des hebräischen Nationalismus beherrschten das Bewußt sein jener Zeit: die Idee des auserwählten Volkes, die Idee des Bundes und 16 3
die Messias-Idee. Sie wurden mit der alten religiösen Inbrunst, in die eige nen Worte des Alten Testamentes gekleidet, vorgetragen: aber sie strahlten das neue Licht des Rationalismus und der Freiheit aus. In der Auseinander setzung des individuellen Gewissens mit der absoluten Macht auf geisti gem und auf politischem Gebiete, trafen der Kampf um die religiösen als auch der Kampf um die bürgerlichen Freiheiten in einem begeisterten Be mühen zusammen, der die neue Freiheit in dem ethischen Ideal der pro phetischen Religion verankerte. So wie Israel in der Antike, war nunmehr das englische Volk dazu berufen, Gottes Name auf Erden zu verherrlichen, die endgültige Reformation herbeizuführen und die Völker das rechte Le ben zu lehren. Cromwell wurde mit Josua verglichen, und Dichter wie An drew Marvell (16 2 1—1678) und Edmund Waller (1606—1687) verherrlich ten England als den Mittelpunkt einer neuen >Weltpolitik< der universalen Freiheit:
Whether this portion of the world were rent, By the rude ocean, from the continent, Or thus created; it was sure designed To be the sacred refuge of mankind. Hither the oppressed shall henceforth resort, Justice to crave, and succour, at your court; And then your Highness, not for ours alone, But for the world's protector shall be known.
Diese neue Freiheit fand in Miltons Schriften hervorragenden Ausdruck. Als er 16 39 aus Italien zurückkehrte und »von der Vision eines regene rierten Englands ergriffen wurde, gewann er die Überzeugung, daß auch auf ihm eine Aufgabe ruhte, und er entschloß sich dazu, als seinen Beitrag zu der heiligen Aufgabe, ein großes Lehrgedicht für die Nation zu ver fassen«. Dieses Gedicht ist niemals geschrieben worden, denn bald fühlte sich Milton zum tätigen politischen Leben getrieben, zum Dienst an Gott und an der Nation. »Ich erkannte, daß sich ein Weg eröffnete für die Er richtung der wirklichen Freiheit, daß die Grundlage für die Befreiung des Menschen aus dem Joch der Sklaverei und des Aberglaubens geschaffen wurde, daß die Grundsätze der Religion, die den Hauptgegenstand unserer Sorge bildeten, einen heilsamen Einfluß auf die Sitten und auf die Ver fassung der Republik ausüben würden.« Milton war ein Mann der Reformation, aber gleichzeitig trug er den Geist der Renaissance in sein Jahrhundert hinein. In all seiner tiefen Reli giosität schwingt eine neue, frohlockende Diesseitigkeit. Der Mensch und 164
die Gesellschaft standen im Mittelpunkt seines Interesses. Er erwartete von jedermann, daß er »sein eigenes Wohl und sein eigenes Glück in den Dienst des allgemeinen Friedens, der allgemeinen Freiheit und des allgemeinen Glaubens stelle«. »Das größte und fast das einzige Gebot der Bibel besteht darin, daß man nichts gegen das Wohl des Menschen anordnen darf und erst recht keine bürgerrechtliche Anordnung gegen das bürgerliche Wohl treffen darf.« »Der letzte Zweck eines jeden noch so strengen und des gött lichsten Gebotes, ja selbst der Zweck des Sabbats ist das Wohl des Men schen, ja, sein Wohlergehen auf Erden ist hiervon nicht ausgeschlossen.« Sein Glaube an den Menschen, sein Wunsch nach Besserung des Lebens beruhte auf seinem Stolz auf die menschliche Vernunft und auf das Recht des individuellen Gewissens. In Gewohnheitsrecht und Gewalt sah er seine und der Menschheit Erzfeinde. Sein Verlangen nach dem Recht unzensierter Veröffentlichungen gipfelte in der >Areopagitica< (1644) in dem Ausruf: »Gebt mir vor allen Dingen die Freiheit zu wissen, zu äußern und zu er örtern, frei nach meinem Gewissen.« In seiner ersten >Defence of the People of England, concerning their right to call to account kings and magistrates und after due conviction to depose and put them to death<, (1650) ging er über die Erklärung der Freiheit der Menschen hinaus und verkündete die grundsätzliche Gleichberechtigung. »Kein Mensch, der auch nur etwas weiß, wird so dumm sein, daß er den Satz leugnet, daß alle Menschen von Natur aus frei geboren sind, da sie Gottes Abbild und ihm ähnlich sind . . . Da cs solchermaßen offenkundig ist, daß die Macht der Könige und der Obrig keiten nichts anderes ist als das, was diesen vom Volke übertragen und zu (reuen Händen übergeben ward zum Gemeinwohl aller Menschen, und die im Grunde immer bei diesen verbleibt und die den Menschen nicht genom men werden kann, ohne ihr natürliches Geburtsrecht zu verletzen.« Seine Hauptsorge galt immer der Freiheit des Menschen, der Willens freiheit des vernunftbegabten Wesens, das sich nunmehr zur vollen Reife entfaltet und in seine Rechte gelangt. Man kann fast sagen, daß Milton von der Idee der Freiheit besessen war. Sogar in seiner Dichtung spielte nie eine bedeutende Rolle, und seine ursprüngliche Auffassung vertiefte nich noch, als die unruhigen Jahre ihm die Erkenntnis der Probleme, die auf ihr lasteten, brachten. Die Freiheit in seinem Sinne war religiös, poli tisch und persönlich, er vertrat die Freiheit als Ziel der Erziehung, Frei heit in der Eheschließung und Freiheit in Druck und Veröffentlichung. Er begriff, daß die Freiheit sowohl eine sittliche als auch eine Frage der Insti tution sei und daß das persönliche Verantwortungsbewußtsein ihr unzer trennlicher Begleitumstand ist: die Freiheit und die Würde der Wahl lastet 165
als ungeheure Verantwortung auf Mensch und Nation bei jeder ihrer Ent scheidungen. Die Vernunft hielt er für das wahre Kennzeichen der Freiheit, Frei kann der Mensch nur sein, wenn er seine niederen Triebe — Begierden, Verlangen und Sinne — durch die Vernunft beherrscht. »Wenn die Men schen sich durch ihre Vernunft beherrschen ließen anstatt im allgemeinen ihren Verstand zu Gunsten einer doppelten Tyrannei, der äußeren der Ge wohnheit und der inneren des blinden Affekts, zu opfern, so würden sie es besser verstehen, was es bedeutet, den Tyrannen einer Nation zu be günstigen oder zu unterstützen.« Im englischen Volke seiner Zeit sah Milton diese neue Freiheit verkör pert. Ungeheurer Stolz auf seine führende Stellung in der Menschheit klingt aus seinen Worten. »Edle Herren und Bürger Englands, bedenket, was für eine Nation es ist, der ihr entstammt und die ihr regiert: diese Nation ist nicht träge und stumpf, sondern hat einen schnellen, klugen und rührigen Geist, der scharfsinnig ist im Erfinden, klug und zäh in der De batte und jedem Gegenstand, selbst dem höchsten, zu dem menschliche Fähigkeiten sich aufschwingen können, gewachsen . . . Doch was noch mehr als all dieses bedeutet, ist die Gunst und die Liebe des Himmels, und wir haben guten Grund anzunehmen, daß er uns auf besondere Art gnädig und geneigt ist. Warum sollte sonst diese Nation vor allen anderen auser wählt worden sein, daß aus ihr, wie einst aus Zion, die erste Botschaft und die ersten Fanfaren der Reformation über ganz Europa ertönen. . j Und jetzt noch einmal durch die Übereinstimmung aller Anzeichen und durch das allgemeine Empfinden frommer und andächtiger Männer, wie sie täglich und feierlich ihre Gedanken aussprechen, kann man schließen, daß Gott beschlossen habe, eine neue und große Zeit in seiner Kirche an heben zu lassen, ja sogar die Reformation selbst zu reformieren: was tut er denn anderes, als sich seinen Dienern zu offenbaren und das, wie es seine Art ist, zuerst den Engländern. Ich sage, nach seiner Art zuerst uns; aber wir kennen nicht die Ursachen seines Ratschlusses, noch sind wir die ser Kenntnis würdig. Sehet nun diesen großen Staat, ein Staat der Zuflucht, das Haus, in dem die Freiheit wohnt, mit starkem Schutz umgeben. . . Was bedarf es bei solch bereitwilligem und fruchtbarem Boden mehr denn weiser und gläubiger Arbeiter, um ein wissendes Volk, eine Nation von Propheten, von Weisen, von Helden zu schaffen . . . Denn nunmehr scheint die Zeit gekommen, da Moses, der große Prophet, im Himmel sitzt und sich an dem Anblick erfreut, der sich ihm durch die Erfüllung seines ehr würdigen und herrlichen Wunsches bietet, daß nicht nur unsere siebzig Väter, sondern alle aus des Herren Volk zu Propheten geworden sind.« So ist 16 6
eine Nation freier Menschen entstanden, politisch wie geistig frei, ohne Könige, ohne Aristokratie und Priesterhierarchie — jeder einzelne von ihnen ein Prophet — ein frommes Volk, ein neues Israel. Deshalb wird die Re gierungsform dieses neuen Gemeinwesens der Theokratie des alten Israel entsprechen. »Aber Gott wird sie geneigt machen, mit aufrechten Sinnen der Stimme unserer höchsten Obrigkeit zu lauschen, die uns zur Freiheit und zu erfolgreichen Taten in einem reformierten Gemeinwesen ruft. In dieser Hoffnung, da Gott den Juden zürnte, weil sie ihn und sein Regiment abgelehnt hatten und sich einen König erwählten, daß er uns aber segnen möge und uns gnädig sei, weil wir einen König verwerfen und ihn zu unserem einzigen Führer und Herrscher machen, so ähnlich als möglich seinem eigenen alten Regiment. Hierin haben wir die Ehre, anderen Völ kern voran zu gehen, die nun sich darum bemühen, unserem Beispiel zu folgen.« So kam Milton dazu, das englische Volk mit der Sache der individu ellen Freiheit, der Gewissensfreiheit und der Würde der Vernunft zu iden tifizieren. Er wünschte, daß das Parlament das gesamte Leben der Nation — einer wiedergeborenen Nation — ordne, von der Erziehung bis »zur Rege lung unserer öffentlichen Kurzweil und unserer Feste«. Es war Englands Vorrecht, die Heimat der neuen Freiheit zu werden. »England, bislang als das Mistbeet der Tyrannis bezeichnet, wird später für alle Zeiten als der fruchtbarste Boden für das Gedeihen der Freiheit gerühmt werden.« Doch diese Freiheit war keineswegs für England allein bestimmt. Es war eine menschliche Freiheit, die allen Völkern, sogar über die Grenzen der Chri stenheit hinaus, eine universale Botschaft zu bringen hatte. In einem be rühmten Abschnitt sah Milton, wie die ganze Menschheit die englische Revolution beobachtete und nachahmte. »Es ist, als ob ich von erhabener Höhe aus die weit dahin gebreiteten Länder und Meere überschaute, und ich sehe ungezählte Mengen von Zuschauern, deren Blicke lebhaftes Inter esse und Empfindungen, die den meinen gleichen, verraten . . . Und ich glaube zu erkennen, wie die Völker der Erde von den Säulen des Herkules bis hin zum Indischen Ozean ihre Freiheit, die sie so lange verloren hatten, jetzt wieder erlangen und die Menschen dieser Insel die Segnungen der Kul tur und der Freiheit, unter Städten, Königreichen und Völkern aussäen.« Ein neues Zeitalter war angebrochen, und England ging unter der Füh rung von Männern wie Cromwell und Milton mit riesenhaften Schritten der Menschheit voran. Milton ehrte in Cromwell den großen Führer zur Preiheit. Trotz seiner Bewunderung für Cromwell und dessen Werk hat er jedoch nicht gezögert, ihn zu warnen, als es für einen kurzen Augenblick 16 7
so schien, als wolle Cromwell sich selber zu einem Autokraten machen. »Denn es liegt in der Natur der Dinge, daß derjenige, der sich an der Frei heit anderer vergreift, der erste ist, die eigene Freiheit zu verlieren und zum Sklaven zu werden.« Der Held war für Milton — und hierin liegt der befreiende Sinn und die großzügige Schau der englischen Revolution — nicht der in Macht erstrahlende Mann, der Führer zu Eroberung und Ex pansion. »Nur der verdient diesen Namen, der entweder selber große Dinge vollbringt oder der uns lehrt, sie zu tun, oder der sie mit angemessener Würde beschreibt, nachdem sie vollbracht sind. Groß aber sind nur jene Dinge, die dazu verhelfen, das Leben glücklicher zu gestalten, die die un schuldigen Freuden und Annehmlichkeiten des Lebens vermehren oder die den Weg zu einer Seligkeit eröffnen, die anhaltender und reiner ist als die gegenwärtige.« Niemand hat so machtvoll und getreu wie Milton die Grundideen der englischen Revolution des siebzehnten Jahrhunderts wie dergegeben. Der größte englische Dichter jener Zeit hatte die mittleren Jahre seines Lebens gänzlich dem Dienste am Gemeinwesen gewidmet. An ders als Cromwell hat Milton den anscheinenden Zusammenbruch seiner Mission überlebt. Doch in den Jahren der Restauration blieb er wie Abdiel dem großen Licht, das er wahrgenommen hatte, treu, unbeirrt durch die Finsternis, die ihn umgab.
Unshaken, unseduced, unterrified, His loyalty he kept, his love, his zeal; Nor number nor example with him wrought To swerve from truth, or change his constant mind, Though single. An ihn wie an Abdiel waren die stolzen und trostreichen Worte gerichtet:
Servant of God, well done! Well hast thou fought The better fight, who single hast maintained Against revolted multitudes the cause Of truth, in word migthier than they in arms, And for the testimony of truth hast borne Universal reproadi, far worse to bear Than violence; for this was all thy care — To stand approved in sight of God, though worlds Judged thee perverse.
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Wenn Milton der geistige Repräsentant der puritanischen Revolution ist, so ist Cromwell ihre Verkörperung. Man hat ihn den »typischsten Englän der aller Zeiten< genannt. »Alle Ungereimtheiten der menschlichen Natur kann man irgendwo im Verlaufe seiner Laufbahn feststellen. Doch be wundernswert ist der Umstand, daß diese Vereinigung von scheinbar sich widersprechenden Kräften genau das ist, was man im englischen Volke vor findet und was England zu dem gemacht hat, was es heute ist.« Cromwells Führerschaft bezeichnet den Übergang von religiöser Mittelalterlichkeit zum England der Neuzeit, zur Herrschaft des Mittelstandes und der Han delsinteressen. Sein Geist war eine eigenartige Mischung von religiösem — oder besser gesagt, alttestamentarischem — Enthusiasmus mit einem klaren und vernunftmäßigen Erkennen des Wertes der individuellen Freiheit. Mehr als jeder andere erweckte er in den Engländern das Bewußtsein, ein ausorwähltes Volk zu sein, ein Bewußtsein, an dem teilzuhaben, jeder Eng länder aufgefordert wurde. Die religiöse Begeisterung wurde durch die sichtbaren Segnungen, mit denen England seinerzeit bedacht wurde, gestei gert: die Festigung der Union mit Schottland, die Vollendung der Erobe rung Irlands, die Ausweitung des Kolonialreiches, dei Machtzunahme der Flotte, das Anwachsen von Gewerbe und Handel. Cromwell kämpfte für >die Freiheit des individuellen Gewissens< in religiösen Belangen, für >die Freiheit des Christenmenschen<, doch gingen bei ihm religiöse und bürger liche Freiheiten Hand in Hand. Er zog zum ersten Male zwei große Ziele an das Licht der Geschichte. »Freiheit des Gewissens und Freiheit der Unter tanen — zwei Dinge, die mehr als alle anderen Gottesgaben es wert sind, daß man dafür kämpfe«, verkündete er in seiner Ansprache an das Parla ment am 4. September 1654. Die »freie Kirche< verlangte einen »freien Staat<; sein religiöser Nationalismus war voll von modernen politischen und sozi alen Inhalten. Sein auserwähltes Volk waren nicht mehr die Christen, son dern die Engländer, doch blieben diese repräsentativ für die christliche und universale Sache. Die Sache, für die er kämpfte, war in der Tat übernational, es war das Ideal dessen, was er als Protestantismus und das Ideal der universalen Menschheit und Freiheit erachtete. Doch für ihn deckte sich diese Sache mit dem Interesse des englischen Volkes, und das englische Volk kämpfte in dieser geschichtlichen Stunde die Schlachten des Herrn, aber nur so lange, iils sie seiner sittlichen Lehre treu blieben, ein frommes Volk, das im Dienste Gottes lebte und von ihm für seinen rechten Lebenswandel gesegnet wurde. 169
In jener Geschichtsperiode waren nach Cromwells Auffassung die Englän*] der ein neues Israel. Immer und immer wieder wandte er Worte und Gleich nisse auf sie an, die er dem Alten Testament entnahm. Eine Taschenbibel für Soldaten, 1643 gedruckt, um aus der Heiligen Schrift »die inneren Eigenschaften seines inneren Mannes, der würdig ist, die Schlachten des Herrn zu schlagen« aufzuzeigen, enthielt fast ausschließlich Zitate aus dem Alten Testament. Wie die Propheten, so empfand auch Cromwell die drükkende Schwere der Last, die auf seinen Schultern ruhte, und auch er hatte das Bedürfnis, sich ihrer zu entledigen. Wenige Tage vor seinem Tode sagte er: »Angesichts meines Gottes, mit dem verglichen wir nur armselig auf dem Boden dahinkriechende Ameisen sind, darf ich gestehen, daß ich lieber in meinen Wäldern geblieben wäre und meine Schafe gehütet hätte, als dieses Regiment zu führen.« Doch in der Nacht, bevor er starb, hörte man ihn noch sagen: »Ich wäre bereit, weiter zu leben und Gott und seinem Volke dienstbar zu sein. Aber meine Arbeit ist vollbracht.« Bei all seinem religiösen Enthusiasmus wies Cromwell doch bereits deut lich auf den kommenden weltlichen Nationalismus hin. 16 56 sagte er »der Gegenstand, der zur Erörterung steht, ist von großem Interesse und von großer Bedeutung sowohl für die Ehre Gottes als auch für sein Anliegen in dieser Welt. Ich meine sein besonderes Anliegen, seine Kirche, die Ge meinde der Gläubigen in Christo; — und das wird uns lehren, sein allge-i meines Anliegen, das ist die Sorge um die lebenden Menschen, nicht als Christen sondern als menschliche Wesen, in unseren drei Nationen und in allen von ihnen abhängigen Ländern nicht hiervon auszuschließen.« — Im folgenden Jahre, als er die >beiden wichtigsten Anliegen Gottes auf Erden< definierte, drückte er sich noch deutlicher aus: »Das eine Anliegen ist die Religion . . . und das andere ist die bürgerliche Freiheit und das Interesse der Nation . . . Wenn irgend jemand glauben sollte, daß das Interesse der Christenheit und das Interesse der Nation unvereinbar oder zwei verschie dene Dinge seien, so wünsche ich nur, daß meine Seele niemals in ihre Ge heimnisse eindringen möge!« Und drei Jahre früher, als er von den Krie gen und Leiden in Irland und Schottland sprach, verkündete er als Ziel »den Schlußstein diesem Werke einzufügen und die Nation glücklich zu machen«. Bei all seinem Handeln war Cromwell davon überzeugt, daß die Eng länder in ein neues großes Zeitalter einträten, dem kein anderes seit den Tagen Israels gleichkäme, und daß sie ein Volk seien, »dem Gott sein Zei chen aufgeprägt hatte. Gott hat alle Ehre und allen Ruhm, den wir un9 durch Taten, die einer Nation zur Ehre gereichen, in früheren Jahren erwor17 0
l»en hatten, in den vergangenen zehn oder zwölf Jahren aufeinandergehäuft.« Der englische Nationalismus wurde in einer entscheidenden Stunde »einer Geschichte aus der Wiederholung des Erlebnisses des Auserwähltlu'ins und des Bundes mit Gott geboren. In seiner ersten Ansprache an das Parlament (1653) sagte Cromwell zu den Abgeordneten: »Gott hat euch wahrlich in diese Welt berufen durch so wunderbare Gnadenbeweise, wie die noch niemals den Menschensöhnen innerhalb so kurzer Zeit zuteil ge worden sind . . . ihr seid wahrlich von Gott berufen so wie Juda, um mit Ihm und für ihn zu herrschen . . . so seid ihr Gottes vor aller Welt und so lut Gott auch euer. Forschet in euren Herzen, ob Gott jetzt und immerdar tiuf euch anwenden mag, was in Jesaja 43; 2 1 steht: >Dies Volk habe ich mir zugerichtet, es soll meinen Ruhm erzählen.< Bewahret diese Worte in euren Herzen; möge Gott sie im Herzen eines jeden von euch gerechtfertigt finden!« Ein Jahr später, wiederum vor dem Parlament, sagte Cromwell: »Die einzige Parallele für Gottes Handlung an uns, die mir bekannt ist, ist die Herausführung Israels aus Ägypten, durch die Wüste hindurch, nach einer Stätte der Ruhe, vermittels vieler Zeichen und Wunder.« Und 16 5 7 brachte er seine Überzeugung von Gottes Führerschaft noch stärker zum Ausdruck. Er sagte, »der Boden Englands ist — erlaubt mir dies zu sagen, denn ich glaube, daß es wahr ist — von dem besten Volk der Welt bewohnt. Und was noch kostbarer ist, inmitten dieses Volkes habt ihr Menschen, die für Gott soviel >wie sein eigener Augapfel· sind — und er spricht so von ihnen, ob es ihrer nun viele oder wenige sind! Aber es sind ihrer viele! Hin von Gott gesegnetes Volk, ein Volk, das seine Sicherheit und seinen Schutz genießt, ein Volk, das Gottes Namen anruft, was die Heiden nicht können. Ein Volk, das Gott kennt und fürchtet. Ein gleiches Volk gibt es auf der ganzen Erde nicht! Herrliche Dinge habt ihr unter euch . . . ihr habt ein gütiges Auge, das über euch w acht. . . einen Gott, der über euch und uns wacht. Einen Gott, der diesem Volk seine Hand dargereicht hat, das »ein Zeugnis ablegte wider die Rechtlosigkeit und Gottlosigkeit des Menichen, gegen diejenigen, die solch ein Volk schmähen w ollen . . . ER >hat Wunder bei uns gewirkte >durch strengste Rechtschaffenheit< hat ER uns mit Wundern heimgesucht.« Gesta dei per Anglos: doch nach Cromwells Ansicht kämpfte England gleichzeitig auch für die Kultur der Menschheit und für die Freiheit, eine l'reiheit, an der jedermann, sogar die Iren, teilhaben konnten. Diesen Geist atmete auch seine Proklamation an das irische Volk (1650), welche einem 'betrogenen und verführten Volke< Aufklärung bringen sollte. Obgleich »eine völlige Unkenntnis der irischen Geschichte und der dortigen sozialen 17 1
Zustände ihm ein völlig falsches Bild der Lage in jenem unglückseligen Lande vorspiegelte, war er doch ehrlich davon überzeugt, daß das englische Heer ein wirklich menschenwürdiges Leben für alle nach Irland brachte. »Ich kann euch einen besseren Grund dafür sagen, warum das Heer zu euch kommt. England hat den Segen Gottes erfahren bei der Verfolgung gerechter Ziele, wie hoch auch immer der Preis und das Wagnis sei. Und wenn es jemals eine gerechte Sache auf der Welt gegeben hat, für die die Menschen gekämpft haben, so steht diese ihr sicherlich nicht nach . . . wir kommen, um die Macht einer Gesellschaft von rechtlosen Gesellen zu zer brechen, die, da sie sich der englischen Obrigkeit entledigt haben, als Feinde der menschlichen Gesellschaft leben . . . Wir kommen, mit Gottes Beistand, um den Glanz und den Ruhm der englischen Freiheit einem Volke, wo wir ein Recht darauf haben, es zu tun, zu bringen — eine Freiheit, an deren Vorzügen das irische Volk gleichermaßen teilhaben kann, die Frei heit und das Glück gemeinsam mit den Engländern zu genießen, wenn es die Waffen aus den Händen legt.« >Freiheit< im Sinne von individueller Freiheit, und >Glück< im Sinne von Streben nach Glückseligkeit, beides auf Rechtssicherheit beruhend: dieses begann die englische Revolution des siebzehnten Jahrhunderts in England durchzusetzen und als Botschaft den anderen Völkern zu verkünden. Die Samen der modernen weltlichen Zivilisation wurden in einer ursprünglich religiösen Revolution gesät und gepflegt. Die Puritaner nahmen in ihr eine zentrale Stellung ein, ähnlich der Rolle der Jakobiner in der Französischen Revolution. So wie die Jakobiner in Frankreich hinterließen auch die Puri taner unverwischbare Spuren im Charakter des englischen Nationalismus, und mehr noch in Neu-England. Aber die Bedeutung der puritanischen Revolution ging weit über den Kreis der Puritaner hinaus. Als die unge heure Spannung, unter der diese Kreuzritter für ein neues und gottgefäl liges Leben kämpften, schließlich in der Ermattung und Enttäuschung, die der Restauration vorangingen, zusammenbrach, mögen zeitgenössische Beobachter geglaubt haben, daß die puritanische Begeisterung und der puritanische Kampf vergebens gewesen seien. Aber der Umstand, daß der Nationalismus in der puritanischen Revolution geboren wurde, bestimmte damals und bestimmt auch heute noch den Charakter des englischen Natio nalismus. England war das erste Land, in dem die Gesamtheit der Bevölke rung von einem Nationalbewußtsein ergriffen worden ist. Dieses National bewußtsein schlug im englischen Geist so tiefe Wurzeln, daß der Nationa lismus für die Engländer heute kein Problem mehr ist. Das ist auch der Grund dafür, warum im neunzehnten Jahrhundert England, im Gegensatz 17 2
/,u Italien, Deutschland oder Rußland, so wenig Gedanken den Pro blemen des Nationalismus gewidmet hat; in jenen Ländern nahmen die Frage des Nationalismus und sein problematischer Charakter eine zentrale Stellung ein. Von den Anfängen her hat der englische Nationalismus eigentümliche Merkmale bewahrt. Er war immer und ist immer noch dem religiösen Mutterboden, aus dem er erstanden ist, näher verbunden als jeder andere Nationalismus, und er ist durchdrungen von einem Freiheitsgeist, den er sich in der Auseinandersetzung mit kirchlicher und staatlicher Obrigkeit errungen hatte. Er hat niemals das vollständige Aufgehen des Individuums in der Nation zu seinem Ziele erhoben; immer hat er nachdrücklichst das Individuum und die menschliche Gemeinschaft über allen nationalen Tren nungen betont. Das calvinistische Bewußtsein vom unendlichen Wert jedes einzelnen Individuums hat die englische Gesellschaftsordnung vor Unifor mität im staatlichen wie im religiösen Leben bewahrt. Religiöses Leben und Empfinden haben sich in England nur selten auf das Heiligtum des inneren Lebens und der inneren Freiheit zurückgezogen. Stets waren sie voller sozialer Aktivität, von einem Verantwortungsgefühl für die Besse rung der Zustände in dieser Welt erfüllt, in dem Bewußtsein, daß religiöse und politische Freiheit die gemeinsame Wurzel und Grundfeste eines wirk lichen Gemeinwesens bilden. Der religiöse und liberale Charakter des eng lischen Nationalismus wirkte auch bestimmend auf die eigentümliche Ent wicklung des englischen Sozialismus im neunzehnten Jahrhundert, die so grundverschieden war von den sozialistischen Bewegungen des euro päischen Kontinents. Der englische Sozialismus trug das Gepräge des Inilependentismus des siebzehnten Jahrhunderts, er war religiös, liberal und humanitär; das gleiche Gepräge trug auch der englische Imperialismus. Die Geburt des englischen Nationalismus traf mit dem Emporkommen des neuen Mittelstandes zusammen. Beide Entwicklungen waren unter den Tudor-Königen vorbereitet worden, und beide kamen sie im siebzehnten Jahr hundert zur Reife. Einer der in der Entstehung des Nationalismus einbeUriffenen Faktoren war das Anwachsen neuer gesellschaftlicher Kräfte, die Ausdehnung der Wirtschaft, die Notwendigkeit neuer gesellschaftlicher Be ziehungen und ihre Verschmelzung mit neuen Gefühlsregungen und Loya litäten. Die neuen, im siebzehnten Jahrhundert zur Macht gelangten Schich ten, sahen ihre eigene Tätigkeit, die Anhäufung von Reichtümern, die Suche nach Handelsmöglichkeiten und Betätigungsfeldern für ihre Energie im l.ichte dieses neuen Nationalismus. Ihr Wissen um die neue Macht, die Ihnen, und durch sie der Nation, zufiel, die Verfolgung ihres eigenen
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Glückes und des Glückes der Nation, gingen Hand in Hand mit dem Wissen um eine Mission, um eine religiöse und sittliche Pflicht, um eine Verpflich tung gegenüber der Menschheit. Der neue Liberalismus, der neue Glaube an den Menschen und an die Vernunft, das neue Vertrauen auf das Wohl wollen Gottes lösten den neuen Erwerbstrieb, den neuen Kapitalismus aus, der nicht nur ein Gefühl des Fortschrittes und der Sicherheit war, sondern auch — zumindest potentiell — ein Gefühl der Hingabe im Dienst an etwas Höheres als nur den persönlichen Gewinn oder das nationale Interesse. Auf dem Kontinent sprach man oft sarkastisch von den Engländern, die Gott und Mammon zugleich verehrten, und man argwöhnte immer Heuchelei, wenn die Engländer von Moral sprachen. Doch auf Grund der Herkunft des englischen Nationalismus waren die Äußerungen der englischen Macht, selbst wenn sie oft als brutal und ausbeuterisch empfunden wurden, auf die Dauer doch stets von einer sittlichen, zutiefst christlichen und liberalen Unterströmung begleitet, die einer der mächtigsten Faktoren bei der Ge staltung moderner Zivilisation war, eine universale Botschaft, die sich nicht nur über Europa, sondern vermittels des britischen Reiches und seiner Ver zweigungen über die gesamte Menschheit hin ausgebreitet hat. Die eng lische Reichspolitik des neunzehnten Jahrhunderts war eine Machtpolitik. Doch im Gegensatz zur deutschen oder russischen Machtpolitik jener Zeit war sie niemals ausschließlich nur Machtpolitik. Nur selten hat sie die Forderung und das Versprechen, politische und geistige Freiheit und Gleichberechtigung vor dem Gesetz zu gewähren, aus den Augen verloren. In ihren besten Vertretern kann man immer Spuren der begeisterten Hoff nung und Erwartung der puritanischen Revolution auf die Errichtung eines allumfassenden Gottesreiches auf dieser Erde feststellen. Die Restauration setzte diesem Enthusiasmus notwendigerweise ein vor läufiges Ende. Sie bot eine willkommene Erholung nach den ungeheueren Spannungen der Revolutionsjahre. Doch trotz aller gegenteiliger Erschei nungen war die puritanische Revolution nicht unterlegen. Ihre wesent lichen Züge traten in gemäßigter, den Verhältnissen angepaßter und huma nisierter Form in der Glorreichen Revolution wieder in Erscheinung, genau so wie die jakobinische Revolution in einer nüchternen und verbürgerlich ten Form mit der Thronbesteigung von Louis Philippe wieder lebendig wurde. Verglichen mit den heroischen Taten der Revolution sah es fast wie ein Tiefpunkt aus, doch es war der Geist des Liberalismus, des Rationalis-j mus und des Optimismus, der, aus der himmlischen Atmosphäre her untergeholt, sich den irdischen Bedingungen anpaßte, eine Wandlung von übermenschlicher Verzückung in das gewöhnliche Kleid des Alltags. John
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I.ocke war kein Cromwell und kein Milton, doch in seinen Abhandlungen >Two Treatises of Government und in seinen >Letters on Toleration< führte er ihr Werk fort und gab dem englischen — und dem amerikanischen — Nationalismus seine endgültige Gestalt. Lockes Einfluß auf das politische Denken der Engländer war ungleich viel tiefer als der seines älteren Zeitgenossen Hobbes. Vieles hatten sie ge mein: unbedingter Rationalismus, induktive Philosophie sowie die A uffasitung vom Staat als einer zweckdienlichen Einrichtung. Sie hatten beide die puritanische Revolution erlebt, Hobbes als reifer Mann, Locke als Jüngling. Die Erfahrungen des Bürgerkrieges hatten in Hobbes den Wunsch nach Ordnung, der die persönliche Freiheit geopfert werden müsse, hervorgeru fen. Den menschlichen Veranlagungen gegenüber war er sehr skeptisch; cs wollte ihm scheinen, daß das menschliche Verhalten ausschließlich auf l-ürcht und Eigeninteresse beruhe. Sein Hauptwerk, den >Leviathan< (16 5 1), hat er nach einem alttestamentarischen Ungeheuer benannt, welches nach I [ermann Gunkel, das personifizierte Chaos< ist und die Macht der Gottes ordnung in das Chaos zurückverwandeln will. A uf die Titelseite der Urausgnbe setzte Hobbes Hiobs Worte über die unvergleichliche Macht dieses Ungeheuers: »Non est potestas super terram quae comparatur ei.« Hobbes Staat war keine Einrichtung zum Wohle der Gesellschaft, sondern ein für den Menschen unerläßlicher Zwingherr; das Gesetz war nichts anderes als das Gebot des tatsächlichen Machthabers. Da es kein vom Willen des Sou veräns unabhängiges Sittengesetz gab, konnte zwischen souveränen Staa ten nur der Anarchiezustand der Wildnis herrschen. Seltsam ist es, daß I tobbes, der von einem rationalistischen und utilitaristischen Standpunkt «usgegangen war, nicht den logischen Schritt vollzog und die Forderung nach einem weltumfassenden Staat unter einem Souverän zur Bannung von Chaos und Furcht und zur Errichtung einer wahren Ordnung erhoben hat. Die äußerste Weltlichkeit und der extreme Absolutismus des >Leviathan< war in vieler Hinsicht der Ausdruck der Empfindungen eines RenaissanceMenschen, der sich von dem reformatorischen Enthusiasmus der puritaniichen Revolution abgestoßen fühlte. Im Gegensatz zu Hobbes war Locke von der grundsätzlichen Güte des Menschen und von seiner natürlichen und geselligen Veranlagung überzeugt, und er war der Ansicht, daß Ge waltanwendung und Krieg nur dann möglich seien, wenn der Mensch die Gesetze der Vernunft mißachtet. Den Hauptpunkt seiner Auffassung hatte rr schon 16 67 in dem unvollendeten und unveröffentlichten >Essay Concerning Toleration< folgendermaßen ausgedrückt: »Grundlegend wäre Fol
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gendes zu behaupten, was wohl von niemand in Frage gestellt oder geleug net werden wird: daß nämlich Vertrauen, Gewalt und Machtbefugnis auf die Obrigkeit nur deshalb übertragen sind, damit sie für das Wohl, für die Erhaltung und für den Frieden des Menschen in der Gesellschaft, über die sie gesetzt ist, angewendet werde, und daß deshalb nur dieses das Maß sein sollte, nach dem die Gesetze geschaffen und die Regierungsformen ge staltet werden.« In der gleichen Abhandlung schrieb er noch: »Mit Gewalt können die Meinungen der Menschen nicht beherrscht werden, noch kann man ihnen neue Meinungen mit Gewalt einpflanzen, doch kann man dieses wohl durch Höflichkeit, Freundschaft und vorsichtige Behandlung erreichen.« Diese Grundsätze verkündete er dreiundzwanzig Jahre später, nach der »Glorreichen Revolution (und zu ihrer Rechtfertigung) in >Two Treatises of Government< und in >Letters on Toleration*. Charakteristischerweise beginnt die erste Abhandlung über die Regierungsform mit einer Zusam menfassung des humanitären und nationalen Gesichtspunktes: »Die Skla verei ist ein derart niedriger und abscheulicher Zustand des Menschen und steht so im Gegensatz zu der großmütigen und tapferen Veranlagung unse rer Nation, daß es kaum vorstellbar ist, daß ein >Engländer< und noch viel weniger ein >Gentleman< sich dafür verwenden könne.« Die Forderung, die Locke in seinen >Letters on Toleration< erhob, ging nicht in Erfüllung: »Absolute, gerechte und wahre Freiheit, gleichberech tigte und unteilbare Freiheit ist ein Ding, dessen wir dringend bedürfen.« Die Toleranzakte blieb weit hinter Lockes Erwartung zurück. Doch der Weg war nun geöffnet, und Locke selber hat den Wert dieser Tatsache in einem Brief an seinen holländischen Freund Philip van Limborch (6. Juni 1689) anerkannt; »Ich zweifle nicht daran, daß Sie bereits vor diesem Brief davon erfahren haben, daß bei uns die Toleranz durch Gesetz ein geführt ist, zwar nicht so weitgehend, wie Sie und aufrechte Männer, die von christlicher Arroganz und von Haß frei sind, es sich wünschen mögen. Aber es ist schon viel, wenn wenigstens etwas erreicht ist. Ich hoffe, daß aus diesen kleinen Anfängen heraus die Grundlagen für die Errichtung der Kirche Christi gefügt werden können.« Das Parlament verhielt sich gegen über der Durchführung der Toleranz bis zu ihrem logischen Abschluß wi derspenstig. Wie üblich, verspürte es keine Lust zu philosophischen Erwä gungen. Doch hatte es nun einmal einen Weg beschritten, auf dem es lang sam und in zufälligen und manchmal inkonsequenten Schritten weiterging, jedoch ohne jemals auf Altes zurückzukommen, entsprechend Macaulays Charakterisierung der englischen Geschichte: »Niemals Neuerungen einzu führen, es sei denn, daß irgendein Mißstand den Anlaß dazu gibt; in Neu17 6
i-rungen nur so weit zu gehen, daß der eigentliche Mißstand dadurth beho ben wird; niemals mehr zu beantragen, als es der besondere Fall erheischt — dieses sind die Regeln, an die sich im allgemeinen unsere zweihundertundfünfzig Parlamente gehalten haben. Unser nationaler Widerwille gegen alles Abstrakte auf dem Gebiete der Staatswissenschaften ist zweifellos ein Fehler. Und doch ist dieses vielleicht ein guter Fehler. Es muß zugegeben werden, daß wir viel zu langsam waren, wenn es galt, unsere Gesetze zu verbessern. Und doch, wenn in anderen Ländern gelegentlich schnellere Fortschritte erzielt worden sind, so wird man doch nicht ein einziges Land nennen können, in dem so wenig Rückschritte gemacht wurden.« Mit seinen >Treatises of Government hat Locke der Gesellschaftsschicht, die damals in England und Holland an die Macht gekommen war, einen großen Dienst erwiesen. Er legte einen neuen Akzent auf den Besitz und auf den gesicherten Genuß des Besitzes — »der Hauptzweck des Zusammen schlusses der Menschen zu Gemeinwesen und ihrer Unterordnung unter Re gierungen ist die Bewahrung ihres Besitzes« —, und, was noch wichtiger ist: im fünften Kapitel des zweiten Buches lieferte er eine neue Rechtferti gung des Besitzes, nicht mehr auf Grund von Eroberung, sondern auf Grund der menschlichen Arbeit und Mühe. Doch diente er mit den beiden Grundsätzen, die er in dieser Abhandlung formulierte und erläuterte, näm lich daß das Individuum, seine Freiheit, seine Würde und sein Glück das Grundelement allen gesellschaftlichen Lebens ist, auch innerhalb des Staates, und daß die Regierungsgewalt eine sittliche Verpflichtung ist, die von der freien Zustimmung der Regierten abhängig ist, mehr als nur seiner Ge sellschaftsschicht. Diese beiden Grundsätze bildeten nicht nur die Grund lage der Gesamtentwicklung der englischen Innenpolitik seit dem Erwachen des Nationalbewußtseins, sie waren auch als mäßigende und regulierende Faktoren der britischen Außenpolitik wirksam. Sie bildeten den Kern des englischen Nationalismus. Sie haben England für ein ganzes Jahrhundert zum Führer der Menschheit gemacht. Während in Frankreich und sonst allgemein auf dem Kontinent der auto ritäre Absolutismus von König und Kirche siegreich aus den Kämpfen des siebzehnten Jahrhunderts hervorgegangen war, war England das einzige Land, in dem der Absolutismus zerbrochen wurde. Dort und nur dort, war die Kontrolle der Staatsgeschäfte in die Hände eines Parlamentes mit einem in zunehmendem Maße übergewichtigen Unterhaus übergegangen. Die Rechte des Individuums wurden in den Schutz der »Bill of Rights< genom men, die Richter waren unabhängig geworden von der Exekutivgewalt. Die Toleranzakte gab Cromwells Grundsätzen konkrete Form und, in Über
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einstimmung mit Miltons leidenschaftlicher Forderung, war auch die Zen sur der Presse aufgehoben worden. Es entstand eine freie und äußerst rege öffentliche Meinung, die sich ihres Einflusses auf die Führung der Staats geschäfte zu versichern wußte. Eine Nation war entstanden, die ihre eige nen Geschicke lenkte und sich dafür verantwortlich wußte, und sämtliche' Einrichtungen waren von Nationalgeist durchdrungen. Dieser entsprang einem einzigartigen Wissen um die Identität von göttlichem Recht, Natur recht und nationalem Recht, gegründet auf die Würde und die Freiheit je des einzelnen Individuums als Gottes vornehmstes Geschöpf und auf das individuelle Gewissen, das vom inneren Lichte Gottes und von der Ver-; nunft gleichermaßen beseelt war. In der englischen Nation beruhte der Liberalismus nicht nur auf den Gesetzen der Vernunft, sondern auch auf den geschichtlichen Erfahrungen des siebzehnten Jahrhunderts, der für die! Entwicklung des englischen Nationalismus zur Vollreife entscheidenden' Periode. Erst ein Jahrhundert später eröffneten die Franzosen unter dem Einfluß englischer Ideen, doch in einem viel größeren Maßstabe, ein neues Kapitel in der Geschichte des Nationalismus und der Befreiung des mensch- , liehen Geistes.
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y K apitel
Die souveräne Nation Fürst und Volk
1 Das siebzehnte Jahrhundert ist der große Trennungsstrich zwischen einem Zeitalter, in dem alle politischen und gesellschaftlichen Ideale entscheidend von der religiösen und universalistischen Tradition geprägt wurden, und einem Zeitalter, in dem die weltliche und raumgrenzende politische Idee des Nationalismus vorherrschend wird und ihre eigenen Symbole für die Integrierung der menschlichen Gedanken und Empfindungen erzeugt. Aus dieser Krise ging die zweite Renaissance hervor, die dauerhafter und weit tiefgehender war als die des fünfzehnten Jahrhunderts. Im siebzehnten Jahrhundert herrschten im Leben Brutalität und Gewalt, Mißachtung der sozialen Verantwortung und der menschlichen Empfindsamkeit. Das acht zehnte Jahrhundert war der Anfang einer noch nie dagewesenen Verfeine rung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Mensch, mit einer neuen Würde ausgestattet, wuchs in einem atemberaubenden Prozeß zu Freiheit und Reife heran. In diesem sehr komplexen Prozeß bietet das Gesamtbild iles Allgemeingeistes jener Generation ein überraschend vielfältiges Muster nus Überkommenem und Vorweggenommenem in immer neuen und ein maligen Abwandlungen. Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts betrachteten sich die nationalen Staaten des westlichen Europa weiterhin als Teile des einen christlichen Ge meinwesens, das immer noch als eine über den nationalen Einzelgruppen, In die der Kontinent sich aufzuteilen im Begriffe war, stehende höhere Ein heit empfunden wurde. In ihrem Kampf um die Vorherrschaft in Europa begründeten die regierenden Häuser von Österreich und Frankreich ihre Forderungen mit dem Anspruch, die wahren Beschützer der Kirche und die «läubigsten Söhne der Christenheit zu sein. Noch erschienen die Türken iils eine große Gefahr für die Christenheit und als der gemeinsame Feind Europas; der Kreuzzugsgeist war noch nicht gänzlich erloschen. 17 9
Innerhalb dieses Rahmens des noch fortlebenden christlichen Universalis·1 mus erwuchs das neue Prinzip vom Gleichgewicht der Mächte als ein Mit tel der Selbsterhaltung und des Selbstschutzes in einer Gesellschaftsordnung, in der eine über dem einzelnen Staate oder Fürsten stehende, bindend« Autorität nicht mehr anerkannt wurde. Der Westfälische Friede von 164S bestätigte dieses neue Prinzip eines gerechten Gleichgewichtes< unter den wetteifernden Nationen Europas. Der Universalismus verfiel, aber nicht etwa zugunsten der Nationalitäten, denn diese bestanden zu jener Zeit als bewußte politische Faktoren noch nicht, sondern zugunsten einer neuerwach senen Macht der Staaten und der Fürsten. Aus der Auflösung des mittel alterlichen Universalismus erwuchs der Etatismus und nicht der Nationalis-j mus. Die Dynastie trat an die Stelle der Religion; die Loyalität konzen trierte sich auf die Person des Fürsten. Dieser neuen Loyalität fehlte die Inbrunst des religiösen Empfindens, der Staat war ohne die innere Glut der Religion ein »kaltblütiges Ungeheuere Folglich war die Politik des Jahr hunderts zwischen 16 50 und 17 5 0 zutiefst rationalistisch. Die Massen der Bevölkerung aber lebten weiterhin in den gefühlsmäßigen Formen der Reli gion. Der Wechsel im politischen Oberbau reichte nicht tief in ihre Lebens anschauungen hinein und führte keine Wandlung in ihrem täglichen Den-I ken und Handeln herbei. Im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert begann der Nationalismus sie mit jener Wärme der Empfindung, jener Innerlich keit des Einheitsempfindens zu durchdringen, die vordem durch die Reli- \ gion hervorgerufen worden waren; der Nationalismus legitimierte den Staat und verankerte ihn tief in den Herzen und im Willen seiner Bürger, j Die Vertreibung der Türken aus Mitteleuropa und das Erlöschen der spa nischen Habsburger — den letzten, die noch von einem christlichen Welt reich träumten — im ausgehenden siebzehnten Jahrhundert, bezeichneten das Ende des mittelalterlichen Universalismus. In der Übergangszeit des Etatismus wurden die Vernunftsprinzipien der »raison d'6tat<, der Staatsvernunft, zur Grundlage staatlichen Handelns.1 Richelieu, ein Christ und Rationalist, ein Universalist und ein Diener sei nes Königs, wurde zum Repräsentanten dieser Staatsauffassung, zu einem der Väter des modernen, aber nicht des nationalen Staates. Er dachte so wohl in den Begriffen des Christentums als auch in denen der neuen Ära des Absolutismus, der Fürstenmacht und der aristokratischen Kultur — Be griffe, die eher von europäischer und universaler Weite als von nationaler Begrenztheit sind. Sein Zeitalter griff wieder auf die weltliche Machtpolitik der Renaissance zurück und stellte sie auf eine stabilere und weniger rein personelle Basis. Diese unpersönliche Basis verlangte nach jener verwal18 0
I tungsmäßigen und wirtschaftlichen Zentralisation, die den modernen Na tionalstaat vorbereitete. . Richelieus bewußtes Ziel blieb die Einheit der christlichen Welt, die vom (Jeiste Frankreichs befruchtet und genährt sein sollte. Das Ziel seiner Außenpolitik war nicht die Errichtung der französischen Hegemonie, son dern die Schaffung eines Gleichgewichtes der Kräfte gegenüber den ver muteten universalistischen Bestrebungen der Habsburger. Frankreich sollte lediglich eine Rolle, wenn auch eine führende Rolle, im Bündnis der euro päischen Nationen gegen die habsburgischen Hegemoniebestrebungen spie len. Deshalb unterstützte Richelieu sowohl die >Libertäten< der deutschen Territorialfürsten gegen Österreich als auch die Selbständigkeit der italie nischen Fürsten gegen Spanien. Seine >raison d'etat< entsprang aus den Bedürfnissen Frankreichs, aber sie war von christlichen und rationalen Er wägungen gesteuert. Meinecke hat die >raison d'etat< dahingehend definiert, »daß jeder Staat vom Egoismus des eigenen Nutzens und Vorteils getrieben werde und rücksichtslos alle anderen Motive schweigen lasse, wobei aber zugleich stillschweigend als wesentliche Voraussetzung gilt, daß die >ragione di stato< immer nur den wohlverstandenen, den rationellen, von bloßen Instinkten der Gier gereinigten Vorteil bedeutet.« Bei Richelieu lag die Be tonung immer auf dem zweiten Teil dieser Definition. Die Vernunft mußte die Instinkte mäßigen und die Begierden in Schach halten. Für ihn wie für das folgende Jahrhundert wurde die Vernunft zum Leitstern, eine universale Kraft, die selbst den absoluten König in der Ausübung seiner Macht beBchränkte; beschränkt wurde jene außerdem noch durch die >bonne opinion du monde<, den Ruf der Wahrheit und Aufrichtigkeit, der zu den wich tigsten Imponderabilien des Staates gehört und ein wesentlicher Garant »eines Friedens und seines Wohlergehens ist. In ihrem Friedensdurst nahmen die Völker das Supremat des Staates über die Religion hin, denn die Depolitisierung der Religion setzte der ständig drohenden Gefahr der Religionskriege ein Ende. Der in England sich entwikIcelnde, neue wissenschaftliche Geist, vereint mit dem in Frankreich unter dem r.influß von Descartes erwachsenden rationalen Individualismus, leitete die /eit der Aufklärung und ihren Kampf gegen den religiösen Dogmatismus ein. Langsam büßte die Religion die Gewalt, die sie ein Jahrtausend lang über das politische und soziale Denken der Menschen ausüben konnte, ein. Doch das Zeitalter der politischen Religion machte noch während seines Unterganges eine Zeit heftigster Zuckungen durch. Religionskriege und dogmatische Kontroversen waren die schrillen Töne seines Schwanengesanges. Ein Jahr hundert später hatte sich das Zeitalter des Nationalismus konstituiert. 18 1
Während der Übergangszeit lebten die in der christlichen Überlieferun wurzelnden universalen Ideen fort, doch waren sie ihres übernatürliche^ und dogmatischen Charakters entkleidet. A uf der einen Seite gerieten sie unter den Einfluß des Rationalismus, der ihnen auf politischem und sozi·· alem Gebiet weltliche Formen und Gedanken aufzwang: auf der anderen Seite wurden sie durch den Prozeß der Verinnerlichung individualisiert und durch ihren Rückzug in den innersten geheiligten Raum des mensch liehen Herzens gewannen sie eine neue Intimität und eine mystische Glut. In beiden Formen halfen sie, ohne irgendwelche bewußte Absicht, den Bo den, auf dem der Nationalismus gedeihen sollte, zu bereiten. Obgleich der Pietismus das religiöse Leben intensivierte, löste er es doch aus allen For-i men der politischen Organisation heraus. Die pietistischen Bewegungen'1 wandten sich an die unteren und weniger gebildeten Stände und hatten die Tendenz, der Kasten und Klassen nicht zu achten und die erzieherische Bil dung der breiten Volksschichten zu fordern. Aber während der Pietismus in Deutschland einen weitreichenden und anhaltenden Einfluß aus übe konnte, spielte in Frankreich der Jansenismus nur eine geringe Rolle bei der Ausbildung des Nationalismus, und der englische Methodismus inspi-, rierte den unteren Mittelstand mit einem tätigen religiösen Sozialismus und bereitete dessen Geistlichkeit auf soziale Reformen vor. In Überein stimmung mit den wirtschaftlichen Bedürfnissen des aufstrebenden M ittel-; standes, den er repräsentierte, glorifizierte der Pietismus die gute Tat als Pflicht des Menschen und erhob den Fleiß, die Sparsamkeit und Mäßigkeit i zu einer religiösen Verpflichtung. Diese neue evangelische Erweckung blieb bewußt universal und leitete eine neue weltweite Missionsbewegung ein. Nichtsdestoweniger förderte sie, durch ihre enge Verbundenheit mit dem gewöhnlichen Volk und seinen örtlichen Zuständen und Gebräuchen, eine größere Betonung der Eigentümlichkeit und räumlichen Begrenztheit des religiösen Lebens. Der neue Staat förderte seinerseits, sogar in den katholischen Ländern, die Nationalisierung der Religion. Gallikanismus und Febronianismus strit ten dem Papst das Recht ab, sich bei den Bourbonen und den Habsburgern selbst in die Fragen der Kirchenverwaltung einzumischen. Nicht etwa auf geklärte Skeptiker, sondern solch fromme Katholiken wie Bossuet und Maria Theresia stellten die Beziehungen zwischen Staat und Kirche auf eine neue Grundlage. Obwohl sich der Staat aus der Vormundschaft der Kirche emanzipierte, blieb er in Europa unlösbar mit der Religion verbunden^ Doch im Britischen Reich wurde zum ersten Mal ein gewagter Schritt unter nommen. In Providence gründete Roger Williams die erste Gesellschaft, 182
■ in der Staat und Kirche vollständig getrennt waren, und dieser neue GrundHatz wurde in der Verfassung, die Karl II. 1663 Rhode Island und Provi dence gewährte, anerkannt. »Our royall will and pleasure is, that noe per son within the sayd colonye, at any time hereafter, shall bee any wise molested, punished, disquieted, or called in question, for any differences in opinione in matter of religion, and doe not actually disturb the civill peace of our sayd colonye; but that all and everye person and persons may, from tyme to tyme, and at all tymes hereafter, freelye and fullye have and enjoye his and their owne judgments and consciences, in matters of religious concernments.« Noch zwei Jahrhunderte sollten vergehen, ehe In Europa die Religion depolitisiert war. Aber in der Zwischenzeit schritt die Entwicklung so weit vor, daß im katholischen Österreich das Toleranz patent vom 13 . Oktober 17 8 1 in den einleitenden Worten die Überzeugung von der Schädlichkeit der religiösen Intoleranz einerseits, und von der Vorteilhaftigkeit einer wahren christlichen Toleranz für Religion und Staat /.um Ausdruck bringen konnte. Ohne die Trennung von Staat und Religion wäre die entstehende enge Verbindung zwischen Staat und Nationalität unmöglich gewesen. Durch diese Trennung leisteten die absoluten Monar chen einen negativen Beitrag zur Entstehung des Zeitalters des Nationalis mus; aber durch die Schaffung des zentralisierten Staates mit seiner Gleich heit aller Untertanen vor dem König, mit seiner Tendenz zur Rechtseinheit und zur Einheit des Wirtschaftslebens und durch die Erhebung des in »ich geschlossenen Staates über alle universalen Treuebindungen, haben sie auch einen entscheidenden positiven Beitrag geleistet. Dieser neue Staat wurde erst national, als die Völker durch zunehmendes Interesse und Teilnahme an den Staatsgeschäften zu Nationen wurden. Na tionalismus und Demokratie waren ursprünglich gleichzeitige Bewegungen und sind in vieler Hinsicht aus den gleichen Bedingungen heraus entstan den. Aber die Wurzeln des Nationalismus lagen in der Ordnung der Grup pengefühle und der >natürlichen< Bindungen, während die Demokratie auf dem Glauben an die Freiheit und an die Gleichberechtigung des Indivi duums — an das Göttliche in der Seele jedes Menschen, das ihn nach Kants Worten, zu einem »Zweck an sich< macht — sowie auf dem Glauben an die Menschheit als dem Träger absoluter Werte, beruhte. Das Naturrecht ver weltlichte und rationalisierte diese religiösen Begriffe, aber es zerstörte sie nicht. Der Menschenstaat mit seinem Naturrecht war als Ziel und Mission genau so universal wie das Christentum. Die Demokratie war in ihrem Wesen und in ihrem Ziel eine universalistische Bewegung; zur Freiheit und /,ur Gleichberechtigung jedes Menschen fügte sie noch die Brüderschaft der 18 3
gesamten Menschheit hinzu. Die Verschmelzung mit dem Nationalismus gab ihr den, unter den gegebenen geographischen und organisationsmäßw gen Verhältnissen, der Zeit gemäßen Rahmen für ihre gegenständliche Ver wirklichung. Aber dieses schuf einen Widerspruch, der letzten Endes die Verwirklichung der Demokratie zu durchkreuzten drohte, sobald die tech nischen und geographischen Voraussetzungen für die Schaffung einer uni versalen Gesellschaftsordnung in den Bereich der Möglichkeit traten.
2 Die französische Monarchie entwickelte sich zu dem hervorragendsten ge schichtlichen Beispiel für die Leistung des Absolutismus. Um die nationale Einheit, die zur Zeit der Thronbesteigung Heinrichs IV. (1589) auf einem ; Tiefpunkt angelangt war, zusammenzukitten, war die Monarchie danach bestrebt, die Vielheit der Loyalitäten und der Rechte durch die Einheit des königlichen Regiments zu überwinden. Aber sie konnte nicht mehr, als die künftige Entwicklung vorbereiten, denn jenem Zeitalter fehlte es noch an den technischen Voraussetzungen für eine derartige Leistung, und die Kö nigsmacht allein reichte nicht dazu aus, um von einem Zentrum aus den politischen Leib durch all seine Venen und Arterien mit dem Willen zur j Einheit zu durchpulsen; denn das Volk war nur Mittel und der monarchi-J sehe Staat ein Zweck an sich. Viele Faktoren trafen zusammen, um Frank reich die führende Stellung in jener Geschichtsperiode einzuräumen. Die : Bevölkerung war zahlreich und in schnellem Anwachsen begriffen ; die geo graphischen und klimatischen Bedingungen waren günstig; die Wirtschaft liehe Kraft war stark genug, um wachsende Geldquellen zu entwickeln, die den Unterhalt eines großen stehenden Heeres sowie die Förderung der In dustrie gestatteten. Frankreich hatte außerdem das Glück, in Sully, Riche lieu, Mazarin und Colbert Staatsmänner zu besitzen, die mit Voraussicht und Energie begabt und den Idealen der Epoche ergeben waren. Und vor allen Dingen wurde Frankreich kraft der Fähigkeit seiner Literatur, den na tionalen Geist auszudrücken und zu gestalten, zum Führer des geistigen und literarischen Lebens in Europa. Französischer Geist und französische Sprache beschenkten das Zeitalter des Rationalismus mit den großen Gaben der Klarheit, des Strebens nach Vernunft, nach Maß und nach Harmonie. 16 3 7 veröffentlichte Descartes j seine »Discours de la Méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences<, ein Buch, das von den Franzosen als der gültige
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Ausdruck ihres nationalen Genius aufgenommen worden ist. Descartes begründete darin mit Zurückhaltung und Maß die Autonomie der Ver nunft und begründete die Existenz auf der Grundlage des denkenden Indi viduums. Descartes sagte: »De mettre en évidence les véritables richesses de nos âmes ouvrant â un chacun les moyens de trouver en soi mesme et «uns rien emprunter d'autruy, toute la science qui luy est nécessaire.« Seine •l)iscours< begannen mit der Feststellung der Universalität der Vernunft und folglich mit der Gleichberechtigung aller Menschen: »Le bon sens est la chose du monde la mieux partagée . . . la puissance de bien juger et distin guer le vrai d'avec le faux, qui est proprement ce qu'on nomme le bon sens ou la raison, est naturellement égale en tous les hommes.« Klarheit, Ord nung und Maß rühmte er als die leuchtenden Richtpunkte menschlichen Denkens und Handelns; er lehrte, alles als unwahr zurückzuweisen, was nicht klar ergriffen werden konnte, und daß Voreiligkeit und Vorurteile auf idle Fälle vermieden werden müssen. Seine Philosophie hatte einen tiefen, ethischen Grund. Wiederholt stellte er heraus, daß der Mensch das Gute wollen und selbst seine Leidenschaften dazu zwingen müsse, dieses zu wol len. Unsere Vernunft unterscheidet das Wahre vom Falschen und das Gute vom Schlechten; sie muß deshalb die Handlungen des Menschen leiten und lenken. Descartes' Philosophie und Ethik gestalteten das französische Den ken. So konnte Emile Boutroux im Jahre 1895 sagen, »die Verbreitung Descartesscher Denkformen stimmt mit unserem Lebens- und Einflußbe reich überein. In einem ganz außerordentlichen Maß ist er für uns Muster und Beispiel all der Eigenschaften, die wir in uns zu entwickeln wünschen.« Mit seiner Forderung nach der Autonomie der Vernunft und der Klar heit des Denkens wurde Descartes einer der Väter der Aufklärung in l'uropa. Französisch wurde die universale Sprache des Zeitalters, weil es in Porm und Gedanken die Tendenzen der Zeit widerspiegelte. 1679 konnte ein Schriftsteller äußern: »Die französische Sprache ist heute an die Stelle tles Lateinischen und des Griechischen getreten . . . sie ist so allgemein ge bräuchlich geworden, daß sie heute in fast ganz Europa gesprochen wird, und wer zur Gesellschaft gehört, ist beinahe beschämt, wenn er sie nicht beherrscht.« Das französische Denken repräsentierte die neue Universalität tles Rationalismus, genau so, wie es im dreizehnten Jahrhundert die Univer s i t ä t des Christentums repräsentiert hatte. Dieser neue Universalismus war keineswegs blind für die Verschiedenheiten der Völker und Klimata, aber er betonte das gemeinsame Menschliche in all diesen Verschiedenhei ten. Die Franzosen reisten zu jener Zeit mehr als in irgend einer anderen Periode ihrer Geschichte. Sie hatten ein waches Interesse für fremde Völker
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und Kulturen. Die enge Berührung mit nichtchristlichen Kulturen beschleu nigte den Übergang von einem christlichen zu einem rationalen Universa lismus. Im Jahre 1664 führte François Charpentier seinen Bericht über die Er richtung einer französischen Handelskompanie mit Ostindien mit der For-Ä derung ein, daß die französische Nation nicht in Europa verkapselt bleiben | dürfe, daß sie sich bis in die entlegensten Teile der Welt hin ausbreiten müsse, damit die barbarischen Völker die Milde ihrer Regierung kennen lernten und durch ihr Vorbild zivilisiert würden. Einer der ersten französi-f sehen Forschungsreisenden und Orientalisten, der 15 8 1 in Paris verstor-i bene Guillaume Postei, nannte sich einen »Gaulois cosmopolite< ; er pro-l pagierte die Einheit aller Völker und Religionen. In seinem Buche »De orbis terrarum concordia< ließ er den orientalischen Religionen, insbeson-fl dere dem ihm am besten bekannten Islam, die gleiche Gerechtigkeit wider- j fahren wie dem Christentum und er formulierte die »canones persuasionum omnium communes<, eine universale Theologie, entsprechend der Einheit des göttlichen und des Naturrechts. In seiner Beschreibung des türkischen Staates legte er dar, daß die Türken unter Suleiman dem Großen den abend ländischen Christen in Sitten und Rechtsachtung überlegen sind. Während einige Franzosen, wie Sully, einen europäischen Bund zur Be- j kämpfung der Türken vorschlugen, wurden andere durch den Einfluß des neuen Rationalismus dazu bewogen, alle Menschen als Partner im gemein samen Reiche der Vernunft zu betrachten. Nur wenige gingen so weit wie Eméric Crucé, der in »Le Nouveau Cynée, ou discours d'estat représentant les occasions et moyens d'establir une paix générale et la liberté du com-j merce par tout le monde< (1624) die Errichtung einer Friedensorganisation mit einem Schiedsgerichtshof vorschlug, die alle Nationen, selbst die ent-: ferntesten, einbeziehen sollte. Obgleich er katholischer Geistlicher war, zeigte er doch größtes Verständnis für andere Religionen. In Antwort auf die Frage, wie man solch verschiedenartige Völker wie Franzosen und Spa nier, Türken und Perser, Chinesen und Juden zu einem allgemeinen Ein verständnis bewegen könne, wies er darauf hin, daß ihre Feindseligkeiten nur politischer Natur seien und das humanitäre Band, das sie alle verbinde, nicht zerstören können. Er schlug Venedig als den Sitz des Schiedsgerichtes vor; der Papst solle das Präsidium führen, an nächster Stelle solle der tür kische Sultan stehen, und alle Herrscher Afrikas, der beiden Indien und des Fernen Ostens sollten daran beteiligt sein. Er erkannte die Bedeutung, die ein freier Handel für eine friedvolle Weltgemeinschaft hat, und er empfahl den Bau von Kanälen, weil diese die Völker einander näher brächten. Fran 186
zösische Jesuiten-Missionare in China veröffentlichten die erste wissen schaftliche Darstellung der Weisheit des Konfuzius. Die französischen In tellektuellen waren von dem Rationalismus und dem Humanismus dieses fernöstlichen Philosophen, bei dem sie eine Bestätigung ihrer eigenen An sichten fanden, tief berührt. Mit der Ausweitung der Horizonte und dem zunehmenden Stolz auf den neuen Erfahrungsreichtum büßten die Antike und das Vorbild der Alten viel von ihrem Werte ein. 1683 verfaßte Fran(,'ois Charpentier seine »Défense de l'excellence de la langue française^ worin er für eine französische Inschrift, anstatt einer lateinischen, auf einem für Ludwig XIV. errichteten Triumphbogen eintrat. Er wies auf den ( rößenunterschied zwischen der Welt seiner Gegenwart und dem Imperium Romanum hin und betonte den hohen Rang der orientalischen Literatur und ihre Gleichwertigkeit mit der des Westens. So finden wir im siebzehnten Jahrhundert nicht nur den Zerfall der >res publica Christiana< in eine Vielzahl europäischer souveräner Staaten, son dern auch das Auftauchen neuer Welten außerhalb der westlichen Chri stenheit — Rußland, China, Ost-Indien — die alle über eigene alte Kulturen verfügten und als gleichberechtigt anerkannt wurden. In dieser ständig sich vergrößernden Welt, die bald die ganze Erdkugel umspannte, waren neue Versuche zu einer Zusammenfassung notwendig. Sie konnten nur auf der Basis der Ratio unternommen werden, in der Art, wie sie Hugo Grotius in seiner Schrift >De iure belli ac pacis< (1625) als erster vorgeschlagen hatte. I )ie Wurzeln seines Denkens reichten bis tief in die Überlieferung der rö mischen Stoa und des christlichen Universalismus zurück; er wünschte ihren l'ortbestand in neuer Gestalt in einem Zeitalter, das von politischem und religiösem Streit und Krieg ständig heimgesucht war. Alle seine Bemühun gen waren darauf gerichtet, in dem modernen Zeitalter der Uneinigkeit und des Zwistes etwas von jener Disziplin zu bewahren, die vermeintlich das universalistische Zeitalter in Einheit und Frieden zusammengehalten hatte. Sein Hauptziel war es, einer Gesellschaft, bei der die engsichtigen Inter essen von sich bekämpfenden Staaten und Religionen im Vordergrund Ständen, die Majestät eines für alle verbindlichen Rechtes aufzuerlegen. »Wenn keine Gemeinschaft von Menschen ohne Gesetz bestehen kann, wie cs uns Aristoteles anhand des schönen Beispieles aus dem Leben der Räuber gezeigt hat, so kann auch sicherlich jene Gemeinschaft, die die Menschheit uisammenhält oder viele Nationen vereinigt, nicht ohne Gesetze bestehen; dieses war von ihm erkannt worden, da er sagte, daß schlechte Taten auch nicht für das Wohl des eigenen Landes begangen werden dürfen. Aristoteles führt strenge Rede mit denjenigen, die es niemandem gestatten, über sie
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irgendwelche Gewalt zu haben, es sei denn, dies geschehe in Übereinstim-; mung mit dem Gesetz, denen es aber andererseits völlig gleichgültig ist, ob Fremde dem Gesetze entsprechend behandelt werden oder nicht.« Grotius wollte, daß auf Individuen wie auf Nationen der gleiche Maßstab von Recht j und Moral Anwendung finde. Grotius berief sich immer wieder auf die Bibel und auf die Klassiker, um seine Thesen zu erhärten. Aber sein Universalismus beruhte auf dem ratio nalen und humanitären Gesichtspunkt des siebzehnten Jahrhunderts, und sein Christentum war eine ethische, undogmatische universale Religion, die auf dem über allen religiösen Scheidungen stehenden Naturrecht beruhte. Für ihn war dieses Recht, wie alles auf Erden, göttlichen Ursprungs, aber er proklamierte die Eigenständigkeit dieses Rechtes und seine Unabhängigkeit von der Bibel und von den Klassikern. Seine Wurzeln lagen in der ratio nalen Natur des Menschen. »Das Naturrecht ist unveränderlich — selbst in dem Sinne, daß es auch von Gott nicht geändert werden kann.« Gott hat die Natur des Menschen und die Natur aller Dinge geschaffen, und nun ist er durch seine eigenen Gesetze gebunden. Der Wille Gottes »steht niemals in Gegensatz zu dem wahren Naturrecht«. Das Naturrecht ist, wenn es auch ursprünglich von Gott kommt, ein Produkt der menschlichen Natur, welche uns durch eben ihr Wesen dazu führt, die Gesellschaft und den gegenseiti gen Verkehr zu begehren, selbst wenn keine Notwendigkeit hierfür bestehen würde. Verpflichtung durch gegenseitiges Übereinkommen ist die Mutter des bürgerlichen Rechtes, und da die gegenseitige Übereinkunft ihre bin dende Kraft aus dem Naturrecht herleitet, kann man sagen, daß die Natur die Quelle auch des bürgerlichen Rechtes ist. Grotius Bild vom Menschen war der Auffassung Lockes sehr ähnlich. Für beide war der Mensch ein von Natur aus gutes und geselliges Wesen, das den Wunsch nach einer friedlichen und rationalen Gesellschaft hatte. Ihre Vorstellungen waren in soziologischer Hinsicht genau so eng verwandt wie sie es in anthropologischer Hinsicht waren. Sie waren beide Repräsentanten des aufstrebenden, erfolgreichen Mittelstandes, der auf Eigentum und Ar beit, auf Vertrag und auf Vertrauen, auf Vernunft und auf Maß den größ ten Wert legte. Es ist interessant, zu sehen, wie ähnlich sich Grotius' Richt linien für die politische Praxis und Richelieus Grundsätze für vernunft mäßiges Verhalten und zur Wahrung des guten Rufes waren. Beide streb ten sie danach, die Grundlagen für eine Gesellschaftsordnung zu schaffen*! welche die in viele sich gegenseitig bekämpfende Staaten zerfallene Welt davor bewahren sollte, ins Chaos abzustürzen. »Das Vertrauen muß erhal ten bleiben, damit die Hoffnung auf Frieden nicht verloren gehe. Denn
nicht nur jeder Staat erhält sich durch das Vertrauen, wie Cicero sagt, son dern ebenso auch die größere Staatengesellschaft. Aristoteles sagt ganz rich tig, daß aller Verkehr unter den Menschen aufhört, wenn ihnen das Ver trauen genommen wird. Dieses Vertrauen sollten die höchsten Herrscher (Iber die Menschen um so mehr bewahren, als sie es ungestrafter verletzen können. Wenn das Vertrauen verschwindet, dann werden sie wie wilde Be ul ien sein, deren Gewalt alle Menschen fürchten. Um so mehr ist es die Pflicht der Könige, das Vertrauen peinlichst zu hüten, erstens um ihres Ge wissens willen, und dann um des guten Rufes willen, der eine wichtige Ütütze der königlichen Macht ist.« Seine praktische Ethik beruhte auf einer •wohlausgeglichenen Urteilsfähigkeit^ die unsere Begierden im Zaume hal len und unsere Handlungen lenken solle. Das Denken des siebzehnten Jahrhunderts leitete den Wechsel von den theologischen und religiösen zu den anthropologischen und philosophischen (.rundlagen der Gesellschaftsordnung ein. Diese Grundlagen fand man nicht mehr in dem unerforschlichen Willen Gottes, sondern in dem auf der Nntur der Menschen und Dinge beruhenden Naturrecht. Damit ging eine Neubewertung des Menschen Hand in Hand. Es wurde weniger seine sün dige Natur betont als vielmehr seine ursprünglich gute Veranlagung, die ihn imch einer friedlichen und harmonischen Ordnung streben läßt und ihn mit der Fähigkeit begabt, eine gesetzmäßige Ordnung zu errichten, die derjeni gen ähnlich ist, die in der ganzen Natur vorherrscht. Der Mensch, und zwar jpder Mensch, kann diese Ordnung vermittels des dumen naturale<, des natürlichen Lichtes der Vernunft, begreifen. Um dieses Licht leuchten zu IrtUHcn, bedarf es nur der Beseitigung von Vorurteilen, des Aberglaubens und der Unwissenheit. Die Natur, die vordem eine Quelle der Gefahren gewesen war, wurde der Freund des Menschen; sie wurde erkannt als von l .Ott in seiner Güte zum Wohle des Menschen geschaffen, für sein sicheres lind friedvolles Leben. Die gesetzmäßige Ordnung (denn die soziale Ord nung mußte eine gerechte Ordnung, eine >ordo rectus< sein), die Ethik und die Wahrheit bildeten ein Ganzes. Samuel von Pufendorf sah in >De iure iiiiiurae et gentium< (1672) den Ausgangspunkt für alle rechtlichen Bezie hungen in dem Satze »Du bist nicht allein auf dieser Welt«. Der deutsche liuiBt betrachtet die Sprache als das wunderbarste und nützlichste Mittel, Min die Gesellschaft zu erhalten, für die der Mensch geboren ist. Aber diese Aufgabe könne die Sprache nur dann erfüllen, wenn der Mensch das antukinne, was Pufendorf das unverletzliche Grundrecht der Natur bezeich net hat, nämlich, niemanden zu hintergehen mit Worten und Zeichen, die il**u bestimmt sind, unseren Gedanken Ausdruck zu verleihen. 189
Unter dem Einfluß des Zeitenwandels trat an die Stelle der römischen und mittelalterlichen Idee einer Weltmonarchie die Idee einer Weltgemein· schaft, einer >societas gentium<, die auf dem Völkerrecht, das identisch war! mit dem Naturrecht, beruhte. Denn das Naturrecht behielt zwei in der Stoa der Antike und im Christentum wurzelnde Vorstellungen bei und entwila kelte sie weiter, die des Vorranges des Individuums vor der Gemeinschaft und die der Humanität als Endzweck der Gesellschaft. In dieser neuen Vi sion einer ökumenischen Ordnung lebte Dantes >humana civilitas<, abej ohne ihre Verbindung zu der römischen Reichsüberlieferung, fort. Der neu! Individualismus wurzelte in den christlichen Beziehungen zwischen dem Individuum und Gott. Die Vernunft selbst nahm einige Merkmale der Gott heit an. Diese neue menschliche Auffassung war keine verstaubte Bücher weisheit mehr ; sie bedeutete das Ende der Scholastik und der theologischen Haarspalterei des siebzehnten Jahrhunderts. Der neue Rationalismus war praktisch, menschen- und wirklichkeitsnahe, am Experiment, an der Beob achtung, an kleinsten Einzelerscheinungen interessiert, sein Geist war rege und mutig wie ein Krieger. Der vielgepriesene >bon sens< war nicht der Geist des durchschnittlichen Spießers, sondern die geläuterte und spontan! Kraft der Vernunft — nichts Wirres und Unbestimmtes, sondern etwas Exaktes im Sinne der von Descartes geforderten Klarheit. In diesem Sinn· gebrauchte Marie-Joseph de Chénier dieses Wort in seinem bekannten Vers i C'est le bon sens, la raison qui fait tout: Vertu, génie, esprit, talent et goût.
Vernunft, Kunst, Literatur, Wissenschaft, Schönheit, Wahrheit und Tu gend erschienen als ein Ganzes, vereint in dem Kampfe gegen die finsteren Mächte der Unvernunft, der Falschheit, der Unmoral und der Häßlichkeit, die den Menschen in seinen uralten Fesseln hielten. Der Mensch sollte auf der Bevormundung befreit werden, doch bedeutete dieses nicht die Freihejl zur Zügellosigkeit: es bedeutete eine höhere Sittlichkeit, eine strengere Ver pflichtung, nicht mehr eine Moralität aus Gehorsam gegenüber der Obrig- ; keit, sondern aus eigener freier Willensentscheidung. Die Vernunft sollt«den Menschen zur rechten Tat hinführen, er selbst trug die Verantwortunj für seine Taten und ihre Folgen. Die freie und verantwortliche Persönlich keit wurde geboren, und sie mußte in dem neuen Staat, den die absoluten ; Monarchen geschaffen hatten, ihre Stellung finden.
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3 I ngland war im Verlaufe des siebzehnten Jahrhunderts zu einem nationalen Bewußtsein gelangt, ohne mit dem religiösen Gedankengut, das im nationa len und individuellen Leben des Volkes lebendig war, zu brechen. Das Par lament, das, zum mindesten theoretisch, die gesamte Nation repräsentierte und die Interessen des Landes als Ganzes vertrat, war zum unbestrittenen Mittelpunkt der Nation geworden. Der Calvinismus hatte sich durch seine Betonung der Heiligkeit der Arbeit und der rationalen Berechenbarkeit des Wirtschaftsvorganges als ein günstiger Nährboden für die Entwicklung des Individualismus und des Kapitalismus erwiesen. In Frankreich hingegen waren die Generalstände nach dem Fehlschlag von 16 14 nicht mehr einberufen worden. Die Nation verkörperte sich im König, oder war, wie Aulard i'ii ausgedrückt hat, im König aufgegangen. Die von Bossuet vertretene offizielle Theorie trennte die Könige von der Nation, indem sie sie zu Stell vertretern Gottes auf Erden machte. »Gott setzt die Könige als seine Werk zeuge ein und regiert durch sie die Völker . . . Der Königsthron ist nicht der Thron eines Menschen, sondern Gottes eigener Thron.« So wurde die Mo narchie mit der Theokratie verschmolzen, und die Untertanen schuldeten dem König den gleichen Gehorsam wie Gott. Der Fürst war niemandem Rechenschaft schuldig, und es gab keine irdische Gewalt, die seine Allmacht Iwaufsichtigen oder beschränken konnte. In seiner gesamten Lebensführung war er von den übrigen Sterblichen verschieden. »Des Königs Majestät ist das Abbild Gottes in den Fürsten.« Unter diesen Voraussetzungen gelangte man leicht zu dem Schluß, daß »niemand es bezweifeln könne, daß der ganze Htnat in der Person des Fürsten ist«, und daß man »ohne Widerspruch «11 gehorchen habe«. Noch 1766 kleidete Ludwig XV. die Theorie über die Allmacht des Königs in die Worte: »Die königliche Macht ruht ausschließ lich in meiner Person . . . Die Macht der Gesetzgebung liegt, unabhängig und ungeteilt, nur bei mir. Die gesamte staatliche Ordnung kommt von mir; ich bin ihr oberster Wächter. Mein Volk besteht nur in seiner Einheit mit mir; die Rechte und Interessen der Nation, die man vom Monarchen ui trennen wagt, bilden mit den meinigen notwendigerweise eine Einheit und ruhen ausschließlich in meinen Händen.« Diese Allmacht der Königsgewalt kam aber nicht nur im politischen Le hen zum Ausdruck; im siebzehnten Jahrhundert herrschte auch die Ten denz, das Wirtschaftsleben in die Machtsphäre des Königs einzubeziehen. I 'er neue Staat mit seinen stehenden Heeren war unendlich viel mächtiger »In die Staaten des Mittelalters oder der Renaissance mit ihren feudalen, 19 1
beziehungsweise Söldnerheeren. Aber diese stehenden Heere erforderten größere wirtschaftliche Mittel, als die vorausgegangenen Zeiten sie gekannt j hatten. Die Revolutionierung des Wirtschaftslebens im sechzehnten Jahr hundert brachte der europäischen Wirtschaft neue Mittel, aber außer in England und in den Niederlanden war der Mittelstand noch zu schwach ent wickelt, um sich dieser neuen Machtmittel zu bedienen. Folglich wurde auch der zunehmende Reichtum in das einzige Feld abgeleitet, das in der Lage war, ihn aufzusaugen und zu verwerten. Der Merkantilismus war die erste Wirtschaftstheorie, die auf der klaren Erkenntnis beruhte, daß die Wirtschaftsreichtümer ein Instrument der Machtpolitik sind. Die neue Wirt schaftsstruktur trug dazu bei, den Staat und seine territoriale Einheit zu stärken, ihn an Arbeitskräften und Gold so selbstgenügsam und reich als möglich zu machen und diesem Ziele das Zoll- und das Industriewesen J unterzuordnen. »Der Merkantilismus war das wirtschaftliche Gegenstück zum politischen Etatismus. In der Praxis war er darum bemüht, alle Pha sen des Wirtschaftslebens unter die Kontrolle des Königs zu bringen. Zum mindesten in der Theorie hatten die Merkantilisten einen rührenden kind lichen Glauben an die Allmacht und an die Zuständigkeit der zentralen Regierung. Wenn irgend etwas nicht in Ordnung war, so konnte und sollte der König dem abhelfen. Wo ein Mißstand herrschte, konnte der König ihn durch einen Erlaß aus der Welt schaffen. War eine Unternehmung erforder lich, so konnte der König sie einleiten und zum Erfolg führen.« Die merkantilistische Wirtschaftspolitik war wesentlich kriegerischer Natur; sie war bemüht, den Staat in seiner Konkurrenzfähigkeit und für seinen Kampf gegen andere Staaten zu stärken. Sie wurde immer zum Nachteil von ande ren Staaten und Ausländern geführt. Die Kolonialpolitik des Merkantilis mus hat stets versucht, alle anderen Nationen vom Handel mit den eigenen Kolonien auszuschließen. Dieser Merkantilismus war eine Folgeerscheinung der neuen Aufspaltung Europas in getrennte und widerstreitende Staaten. Seltsam mag es erschei nen, daß dieses Hand in Hand ging mit der Fortführung, ja sogar Wandlung und Fortentwicklung der universalistischen und kosmopolitischen Philoso phie. Aber die technische Rückständigkeit jener Periode gestattete nicht die praktische Verwirklichung kosmopolitischer Gesichtspunkte. Der Mangel an Nachrichten- und Verkehrsmitteln hielt alle Staaten in einem uns heute nicht mehr vorstellbaren Maße isoliert, und selbst innerhalb der einzelnen Staaten waren die Provinzen und Städte noch beinahe genau so entfernt voneinander wie während des Mittelalters. Schnelle Verbindungen und gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit hatten sich noch nicht entwickelt. 192
Im siebzehnten Jahrhundert war die geographische Isolierung der Pro vinzen und Städte noch so groß, die Allgemeinheit noch derart unvorbereitet für die Aufnahme irgendwelcher nationaler Anschauungen oder Emp findungen, daß der Merkantilismus seine Forderung auf eine nationale Wirtschaft nur in einer äußerst unzureichenden Form durchsetzen konnte. Alle Bemühungen Ludwigs XIV. und Colberts hatten es nicht vermocht, das zu erreichen, was die Französische Revolution, als das Nationalbewußtncin erwacht war, innerhalb weniger Jahre zuwege gebracht hat. Das Fehlen des Nationalgefühls und das Vorhandensein mittelalterlicher Überlieferungen haben ein erfolgreiches Wirken des merkantilistischen Wirtschaftssystems verhindert. Die Menschen machten nicht von sich aus mit; alles mußte von oben herab erzwungen und überwacht werden. Der Katholizismus war der Entwicklung des Kapitalismus weniger günstig als der Calvinismus. Als Ludwig XIV. 16 7 1 die Höchstgrenze des Zinsfußes auf 5 % heraufzusetzen wünschte, wollte er dieses nicht ohne die Zustimmung der Kirche tun. Ei nige der hervorragendsten Gelehrten der Sorbonne wurden zu einer Kon ferenz berufen. Die Professoren hielten an der Auffassung fest, daß das Geld von Natur aus unfruchtbar und deshalb alle Gewinne daraus Wucher »eien; die Sanktionierung des Gesetzes wurde abgelehnt. Ein noch wesentlich größeres Hindernis war das Provinzlertum der Be völkerung, das jeder Art von Nationalempfinden gegenüber verschlossen war. Colbert ist einer der wenigen Männer seiner Zeit gewesen, welche die l iihigkeit besaßen, Frankreich als ein Ganzes zu sehen, und er hat, wenn auch ohne Erfolg, den Versuch unternommen, seine auseinanderstrebenden Illemente zu einer Einheit zusammenzufassen. Sein Mißerfolg läßt sich damit erklären, daß »er seine meiste Zeit darauf verschwenden mußte, sich mit historischen widersetzlichen Elementen herumzuschlagen, und er hatte ichon die größten Schwierigkeiten, seinen einfachsten Anordnungen Ge horsam zu verschaffen«. »Trotz der Klarheit seiner Ideen begegneten Colberts Versuche zu einer Reform des Zollwesens bei jedem Schritt, den er tat, dem Widerstand, der in der Unübersichtlichkeit des bestehenden Sy stems sowie im Provinzialismus und im angeborenen Konservativismus der Menschen und Beamten lag.« Trotz alledem war damals Frankreich nach I Iolland das fortschrittlichste Land des europäischen Kontinents. Und doch hatten Frankreichs politisches Leben, sein Verwaltungswesen, die Organi sation seiner Wirtschaft sowie die geistige Einstellung seiner Bevölkerung mehr Ähnlichkeit mit dem Zustand, in dem sich die orientalischen Staaten Im neunzehnten Jahrhundert, das heißt vor ihrer Strukturwandlung, die der (ieist des Nationalismus unter dem Druck westlicher Einflüsse herbeigeführt 19 3
hat, befanden, als mit den europäischen Ländern nach der Französischen Revolution. Selbstverständlich brachten die zeitgenössischen Autoren, wie in den früheren Jahrhunderten, den Stolz auf die militärischen Erfolge und auf die Stärke ihres Landes zum Ausdruck. Das bezeichnendste Beispiel hier- ; für ist vielleicht die Stelle, in der Voiture die Erfolge Richelieus verherr licht. »Mais lorsque dans deux cents ans, ceux qui viendront après nous liront en notre histoire . . . et qu'ils verront que, tant qu'il a présidé à nos affaires, la France n'a pas un voisin sur lequel elle n'ait gagné des places j ou des batailles : s'ils ont quelque goutte de sang français dans les veines, j quelque amour pour la gloire de leur pays, pourront-ils lire ces choses sans s'affectionner à lui?« Die Lektüre Plutarchs, in der Übersetzung von Amyot, hat manche Autoren zur Nachahmung des griechischen und römfl sehen Patriotismus veranlaßt. Doch ein allgemeines nationales Loyalitäts gefühl gab es noch nicht. Soldaten, Diplomaten und Geschichtsschreiber dienten den Fürsten und Herren unabhängig von ihrer Nationalität. In dem von Wallenstein befehligten Reichsheer dienten italienische, schottische und irische Offiziere, deren Namen einen fremden Klang für das deutsche Ohr hatten — Piccolomini, Gordon, Butler; deutsche Adlige, wie die Her zoge Bernhard von Weimar und Moritz von Sachsen, dienten dem König von Frankreich. Der berühmte deutsche Jurist Samuel von Pufendorf war von 16 7 7 bis 1688 Historiograph am schwedischen Hofe gewesen, in den folgenden Jahren war er am Berliner Hofe, obgleich während dieser Zeit sich die beiden Fürsten feindlich gegenüber standen. Alle diese Wechsel von Fürst zu Fürst bedeuteten keine Untreue, denn den Begriff der nationalen Treue hat es damals noch nicht gegeben. Territoriale Ausdehnungen wur-Ii den nicht mit nationalen Erwägungen motiviert, ihnen lagen geographische Motive zugrunde, wie sie das Wort >arrondir< treffend bezeichnet. Selbst in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts war Preußen unter Fried rich II. genau so gerne bereit, sich Untertanen polnischer wie deutscher Na tionalität einzuverleiben; tatsächlich mögen die Polen einem absoluten Staat als bessere Untertanen erschienen sein als Deutsche. Bei der Erwerbung neuen Territoriums erhob man damals nicht diesel*! ben Einwände wie heute, wenn die Bevölkerung eine fremde Sprache sprach. Zwar hat der Westfälische Friede einiges Gewicht auf die religiöse Einheit der Staaten gelegt, aber nicht im Interesse der Religion, sondern im Inter esse des Staates. Es ist charakteristisch, daß diese Einheit, die auf dem Ge biete der Religion gefordert und erzwungen wurde, nicht auch auf das Ge biet der Nationalität und der Sprache ausgedehnt worden ist. Und selbst 194
r die religiöse Einheit trat zurück vor der einzigen Einheit, die wirklich lÄhlte, und dem einzigen Interesse, das wirklich von Belang war, und das war der Fürst. Das katholische Frankreich erwarb protestantische Teile im l.luaß, und das protestantische Preußen erwarb einen Teil des katholischen l’olen. In beiden Fällen wurde die Freiheit der Religionsausübung gewährt. Nur aus praktischen und nicht aus nationalen Erwägungen heraus hat die königliche Verwaltung Frankreichs versucht, die französische Sprache in allen zum Königreich gehörigen Territorien einzuführen und durchzum'tzen. Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts wurde von der Bevölkerung von Marseille berichtet, daß sie an ihrer eigenen Sprache festhielt und den Gebrauch der französischen Sprache vermied. Sie verhielt sich so, um, so wird berichtet, ihre alten Freiheiten beziehungsweise ihre provinzielle Auto nomie zu bewahren; sie nannten sich auch nicht Franzosen, sondern >Mar»eillois<. Aus ähnlichen Gründen wie die französische Verwaltung im siebzehnten Jahrhundert wollten die Habsburger im ausgehenden achtzehnten Jahrhun dert die deutsche Sprache zum einigenden Band zwischen den verschiedenen Völkern ihrer Erblande machen und hierdurch die Verwaltung vereinfachen. Während Friedrich II. Deutsch als Amtssprache in seinen von Polen be wohnten Territorien cinführte und Maria Theresia dasselbe in den von Völ kern slawischer Sprache bewohnten Erblanden versuchte, war die Privat korrespondenz dieser beiden Fürsten in französischer Sprache abgefaßt; ihr Leben und ihre Handlungen wurden von keinerlei Gefühlen beeinflußt, die Irgendwie mit einem Nationalismus im modernen Sinne zu vergleichen ge wesen wären. Das kontinentale Europa lebte im siebzehnten und in der fisten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts noch in einer vor-nationalistiluhcn Zeit. Doch wurden während dieser Zeit schon die Grundlagen für ilns Emporkommen des Nationalismus gelegt durch die Verweltlichung des politischen Lebens, durch den zunehmenden Individualismus mit seinem (Hauben an die Freiheit und seinem Vertrauen auf die menschlichen Fähig keiten, sowie durch die Aktivierung des Wirtschaftslebens, das eine Locketung der statischen Formen der überlieferten Organisation notwendig machte. Wenn auch Frankreich, als das fortschrittlichste Land des Kon tinents, die Führung übernahm, so wurde doch die Geburt des Nationalis mus gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, hier und dort mit verschie dener Intensität, zu einer europäischen Bewegung; die auslaufenden WelIcn dieser Bewegung drangen sogar über die Pyrenäen hinüber, in die wei len Ebenen des östlichen Europas und in die unter der Herrschaft der Otto manen stehenden Länder hinein. 195
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Als die Politik Ludwigs XIV. die wirtschaftlichen und militärischen Mittel ! des Landes erschöpft hatte und Unglück über das Land hereinbrach, be gannen sich in Frankreich neue Strömungen breit zu machen. Das Volk litt unter den unaufhörlichen Kriegen und den finanziellen Lasten, aber es litt, so wie es Jahrhunderte lang gelitten hatte, ohne die legitimen An-j Sprüche des Königtums anzuzweifeln. Nur die Intellektuellen begannen an der vollständigen Identität von König und Nation zu zweifeln. Fénelon schrieb am 4. August 1 7 1 0 aus Cambrai an den Duc de Chevreuse: >Les choses du roi sont devenues violemment les nôtres . . . c'est la nation qui doit se sauver elle-même.« Der französische Sinn für das Maß, das Ver langen nach Vernunft, das sich in Richelieu geäußert hatte, lehnten sich gegen die unmäßigen Forderungen des Königs und seine kriegerischen Abenteuer auf. Während des ganzen achtzehnten Jahrhunderts übten die patriotischen Reformatoren, sogar Adlige und Soldaten, »wohlerwogene* Kritik am >großen Monarchen< und an seiner Glanzpolitik!« Diese er schien ihnen als unzeitgemäß, überholt, als >gothisch<, dem konstruktiven und geduldig aufbauenden, dem französischen Geist (dieses letztere wurdej allerdings nicht besonders betont) fremd. Im Gedächtnis der Franzosen lebt das Zeitalter Ludwigs XIV. als das Zeitalter der Kunst und des Geistes, f als ein wesentlicher Teil des literarischen und geistigen Erbgutes Frank- ; reichs fort, aber kaum als ein Zeitalter des militärischen Ruhmes und der territorialen Ausdehnung. Diese neue Strömung kam in der Rede zum Ausdruck, die der bekannte ; französische Jurist Henry François d'Aguesseau 1 7 1 5 anläßlich des Todes Ludwigs XIV. gehalten hat. Er benutzte bei dieser Gelegenheit eine Sprache, die erst ein halbes Jahrhundert später Allgemeingut wurde. Er wies dar- ! auf hin, daß die Macht des Königs und der Gehorsam des Volkes auf einem äußerst innigen Band beruhen müsse, nämlich auf der Liebe zum Vaterland, von der alle Herzen zutiefst durchdrungen sein müßten. Er sprach sein Bedauern darüber aus, daß es in der Monarchie anscheinend keine Vaterlandsliebe gebe, und daß nur in den Republiken die Bürger das Interesse und das Wohlergehen des Staates zu ihrer eigenen Sache machten. ; Diese Gesinnung läßt in den Republiken jeden Bürger an dem Wohlerge- ! hen des Vaterlandes Anteil nehmen und sie erzeugt unter den Bürgern ein Gefühl der Brüderlichkeit, als ob sie alle zu einer Familie gehörten. So wird die Vaterlandsliebe zu einer Art Eigenliebe, bis man schließlich das Vaterland mehr als sich selbst liebt. Doch gab es einen solchen Patriotis*i
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¥ Itius in den Monarchien nicht, es gab ihn nur in den Republiken und im alten Rom. Die französische Gegenwart bietet ein großes Königreich, aber L in Vaterland — eine zahlreiche Bevölkerung, aber fast keine Bürger. I »'Aguesseau beteuerte, daß es nur ein einziges Mittel gäbe, um diesem Zunliind abzuhelfen, nämlich, man müsse eine neue Regierungsform schaffen, ein neues Vaterland, in dem die Flamme des Patriotismus in allen Herzen brenne und alle Elemente der Gesellschaft durch ein starkes Band verbun den seien. Dann würde jedermann erkennen, daß sein privater Wohlstand durch den Wohlstand der Allgemeinheit und daß das Glück des Königs durch das Glück und die Sicherheit der Bürger bedingt sei. Noch fünfzig Jahre mußten nach dem Tode Ludwigs XIV. vergehen, ehe die Worte >Patriot< und >Patriotismus< in Frankreich Allgemeingut wurden und gleichzeitig einen neuen Sinn gewannen. Das >Vaterland< war dann nicht mehr das Erbeigentum des Fürsten, unter dessen Regierung man ge hören war, und »Patriotismus« bedeutete nicht mehr lediglich eine Anhänglldikeit an das Geburtsland und den Stolz auf dessen Erfolge; das Wort •p«trie< bezeichnete nunmehr ein Land, in dem die Freiheit herrschte, in dem die Einwohner an der Gesetzgebung teilnahmen und an der Gestal tung seiner Geschicke bewußten Anteil hatten. Der neue Patriotismus schuf rine gegenseitige Bindung zwischen Fürsten und Untertanen, zwischen dem I.and und seinen Bewohnern. Als »Patriot« zu empfinden, bedeutete dem Menschen nicht nur ein Gefühl der Freiheit, des Rechtes, sondern auch ein ( iefühl des Glückes und der Gemeinschaft zu geben. Der Patriotismus ver langte und schuf Gerechtigkeit, Gedeihen und Liebe. Die neue geistige A t mosphäre, in der sich der Sinneswandel von >patrie< und >Patriotismus< vollzog, untergrub die traditionellen Grundlagen der absoluten Monarchie. Historische Erwägungen trugen zu dem Wandel der philosophischen An sichten bei und begleiteten ihn. Die Vergangenheit wurde einer neuen Aus legung unterzogen, alte Legenden wurden durch neue ersetzt, die als W aflen gegen den königlichen Absolutismus dienten. A ls erstes berief sich die Aristokratie auf die alten »Freiheiten«, die sie angeblich in ferner VerganIten h e it genossen habe. Der Graf von Boulainvilliers legte seine Theorien in umfangreichen Werken dar, die erst nach seinem Tode (1722) veröffentllcht wurden. Seiner Ansicht nach setzte sich das französische Volk aus w e i verschiedenen Rassen zusammen: den germanischen Franken und den keltischen Galliern. Die Gallier waren von den Römern unterworfen worilrn, aber späterhin hatten die Franken die Welteroberer geschlagen und »nlchermaßen ihr unbestrittenes Recht, die Gallier zu beherrschen, erwor ben. Diese neuen Eroberer, die so gewesen waren, wie Tacitus die Ger
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manen beschrieben hatte, nämlich groß, blond, kühn und kriegerisch, ohne j Städte und Gewerbe, wurden die Herren des Landes und Begründer dein französischen Staates. Diese Franken haben eine Gemeinschaft freier Man·! ner gebildet. Ihre Könige waren nur die Ersten unter Gleichen und Führer im Krieg. Doch mußten sie mit ihrem Gefolge von Edlen zu Rate sitzen und Gewinn und Ruhm mit ihnen teilen. Nach Boulainvilliers Ansicht waren j die Etats Généraux eine alte fränkische Einrichtung, doch hätten sie, wie dieses ursprünglich der Fall gewesen war, auf den Adel beschränkt blei ben. sollen. Die Geistlichkeit und die Magistrate haben ihre Teilnahme an den Etats Généraux als Erster und als Dritter Stand gegen alles Recht durch·! gesetzt. So wurde Boulainvilliers zum Wortführer des Erbadels als dem traditio nellen Wächter über die »politischen Freiheiten gegen den königlichen Des- j potismus, gegen die Kirche und gegen den Dritten Stand. Er trat für die Wiederherstellung des Feudalstaates ein, war aber gleichzeitig in geistige! j Hinsicht ein Rationalist und beinahe Freidenker, der den Islam dem Chrifll stentum vorzog. Seine Argumente waren weitreichender und revolutionärer, j als er gedacht hatte. Sein Einsatz für das Repräsentationsrecht, welches er auf den Adel beschränkt wissen wollte, konnte im Zuge des Kampfes gegeiU den Absolutismus leicht in das Begehren nach einer breiteren Repräsenta« tion umgedeutet werden. Die Berufung auf die Vergangenheit, mit deren ! Hilfe er die Opposition gegen den König und das Bestehen auf der politi schen, sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit zwischen Adel und Volle begründete, konnte leicht dazu Verwendung finden, die >Freiheiten< des | Volkes gegen König und Adel zu begründen. Das durch Eroberung er worbene Recht, auf das er die Ansprüche des Adels zurückführte, konnte leicht durch ein auf Wiedereroberung beruhendes Recht, durch das das Volk die Privilegien seiner früheren Eroberer annullierte, aufgehoben werden. Nur vier Jahrzehnte nadi dem Tode des großen Propagandisten des auf Rassenunterschieden beruhenden Klassenunterschiedes schuf Mably ein Bild der französischen Geschichte im Sinne der demokratischen Aufklärung! er sah die Franken als wohlwollende Eroberer, die den Galliern ihre frei heitlichen Einrichtungen gebracht und in Frankreich eine Überlieferung von freien und republikanischen Einrichtungen geschaffen haben. Doch bereit· nach weiteren zwei Jahrzehnten wich diese milde und humanitäre Gesin· nung in der Französischen Revolution einer Kriegslust und Gewalttätigkeit!] die der von Boulainvilliers wohl ähnlich, doch genau entgegengesetzt war, A ls Wortführer des Dritten Standes verkündete der Abbé Sieyès die Wie* I
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tlrreroberung Frankreichs durch die Gallier, wodurch Frankreich von einer Nation des Adels zu einer Nation des Volkes wurde. Er nahm die Berufung «uf die Geschichte und auf die Gewalt auf: »Le Tiers ne doit pas craindre de ii'monter dans les temps passés. Il se reportera à l'année qui a précédé la Rmquete . . . Pourquoi ne renverrait-il pas dans les forêts de la Franconie mutes ces familles qui conservent la folle prétention d'être issues de la race ilca conquérants et d'avoir succédé à des droits de conquête? . . . La nob lesse a passé du côté des conquérants? Eh bien! il faut la faire repasser de l'autre côté; le Tiers deviendra noble en devenant conquérant à son tour.« Die Französische Revolution vermochte die tiefe Kluft, die sich durch die lianzösische Geschichte hindurchzog und von der Boulainvilliers und Sieyés Hftiprochen hatten, nicht zu schließen; der Kampf zwischen den beiden I rankreich und zwischen der unterschiedlichen Auslegung der Geschichte Killte, unter wechselnder Gestalt und wechselnden Bedingungen, immer wieder von neuem ausbrechen. Der Einfluß, den England auf die Neubildung des Begriffes »Patriotis m s in Frankreich während des achtzehnten Jahrhunderts ausgeübt hatte, darf nicht übersehen werden. England ist das erste Land gewesen, von dem tllc anderen Völker erfahren konnten, daß die Grundlage und die Stärke des Vaterlandes auf der Rechtssicherheit und der bürgerlichen Freiheit be ruhen. Während der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts war in I ngland der Enthusiasmus des siebzehnten Jahrhunderts abgeebbt. Ein Gefühl der Sicherheit in seinen erworbenen Freiheiten erfüllte die Nation. Den Kontinent sah man als »that world of slaves«, als eine Welt von Sklaven, wiihrend sich England selbst als »dedicated, long, to liberty«, empfand. Manchmal erinnerte die typische barocke Übertreibung an den Geschmack ili's Kontinents, wie zum Beispiel bei George Granville, Lord Landsdowne (1667—17 3 5 ), in dessen Gedicht »Urgandas Prophecy< es heißt:
Great Britain's queen, but guardian of mankind Sure hope of all who dire oppression bear, For all th'oppress'd become thy instant care. >Rule, Britannia<, das erste volkstümliche Nationallied, 174 0 geschrieben, hob Britanniens Freiheiten vor allen anderen Gütern hervor:
The nations not so blest as thee Must in their turns to tyrants fall, Whilst thou shalt flourish great and free, The dread and envy of them all. 19 9
Und Edward Young, der den Ozean als eine »wahrhaft englische Auf gabe< bezeichnet hat, warnt vor Überheblichkeit und Macht:
Above the Florentine's court-science raise; Stand forth a patriot of the moral world; The pattern, and the patron of the ju s t... Armies and fleets alone ne'er won the day. Doch außer dem Stolz auf die englische Freiheit ist in der englischen Literatur jener Zeit wenig »Nationalismus« zu finden. Das Wort »Patriotis* mus< im Sinne einer Liebe und begeisterten Hingabe an das eigene Land kam erst nach 17 2 5 in Gebrauch, aber gewöhnlich enthielt es dann eine iro* nische Note. Pope benutzte das Wort in seinem »Epitaph on Trumbal· deut lich in dem Sinne, den es um die Mitte des Jahrhunderts in Frankreich er halten hatte: »Ein rechtschaffener Höfling, doch auch ein Patriot, seinem Fürsten gerecht, und seinem Lande treu.« Aber dieser repräsentative Dich ter jener Zeit hatte so wenig Vertrauen in die Dauer der englischen Sprachc, daß er 1 7 1 6 schrieb: »Die A lt e n ... haben in Sprachen geschrieben, die universal und ewig wurden, während unsere Sprachen sowohl in ihrer Ver breitung, als auch in ihrer Dauer beschränkt sind. Welch eine Grundlage für unseren Stolz, wenn das meiste, was wir erhoffen dürfen, darin bestehtj auf einer Insel gelesen und am Ende einer Epoche beiseite geworfen zu werden. Uns bleibt nur übrig, unsere Erzeugnisse durch Nachahmung der Alten empfehlenswert zu machen: und man wird es als eine Tatsache fest stellen, daß zu allen Zeiten jene den größten Ruhm wegen ihrer Weisheil und ihres Wissens erlangt haben, die diesen am meisten verpflichtet waren! Auch James Thomson (1700—1748) zeigte in »The Seasons« keinerlei Natio nalismus. In den drei Gedichten, die er Großbritannien gewidmet hat, prici er die Tapferkeit und die Freiheit, die er sogar noch über dessen Größt stellte.
Yet, like the muttering thunder, when provoked, The dread of tyrants, and the sole resource Of those that under grim oppression groan.
Nur an einer einzigen Stelle hat der Dichter Verständnis für den Sinn des Patriotismus gezeigt:
That first paternal virtue, Public Zeal, Who throws o'er all an equal, wide survey, And, ever musing on the common weal, Still labours glorious with some great design. 200
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Obwohl die englischen Schriftsteller des frühen achtzehnten Jahrhun derts den nationalen Ruhm, im Unterschied zu der individuellen Freiheit, nur selten hervorgehoben haben, war England damals das einzige Land, in dem es das gab, was man ein »nationales Leben« nennt. Die öffentliche Meinung hatte sich in England zu einem Machtfaktor entwickelt; sie be lästigte sich öffentlich und wurde auch anerkannt. Die Zeitungen nahmen an Zahl, Verbreitung, Beliebtheit und Einfluß zu. 17 0 2 erschien »The D aily Courant«, die erste erfolgreiche Tageszeitung, in London; 170 4 gab Defoe •The Review« heraus; 1709 folgte Steel mit dem >Tatler<, und 1 7 1 1 erschien der >Spectator<. 176 0 belief sich die Jahresauflage der Zeitungen auf 10 000 000 Stück. Während jener ganzen Zeit wurde gegen die Regierung ein heftiger Kampf um die Pressefreiheit geführt. Defoe brachte 17 0 1 in der »Legion Memorial· das Freiheitsgefühl der Nation zum Ausdruck: »So, meine Herren, stellt sich eure Pflicht d a r. . . doch, wenn ihr sie weiterhin Vernachlässigt, dann müßt ihr euch darauf gefaßt machen, die Gefühle einer »verletzten Nation« zu erfahren; denn »Engländer« sind genau so wenig die Sklaven des »Parlamentes« wie die eines Königs. Unser Name ist Legion, und wir sind viele«. Henry Fielding brachte im >True Patriot« vom 19 . No vember 174 5, um die Mitte des Jahrhunderts, das gleiche nationale Empfin den zum Ausdruck: »Mich dünkt, gab ich darauf zur Antwort mit einer l'.ntschlossenheit, die, wie ich hoffe, jeder Engländer bei solchem Anlaß be weisen würde, daß keines Menschen Leben wert ist, länger erhalten zu bleiben, als es durch die gültigen Gesetze seines Landes geschützt ist; und wenn die Launen des Königs dieses Gesetz sein sollen, so ist es mir gleich gültig, was er über meine Person zu beschließen geruht.« Beschwerden über mangelnden Allgemeingeist waren zu jener Zeit häu fig. Bischof Berkeley schrieb 1 7 2 1 »An Essay Towards Preventing the Ruin of Great Britain«; er schlug darin vor, eine Akademie zu berufen, »deren Aufgabe es wäre, eine Geschichte Großbritanniens zu schreiben, Vorträge /u halten, die dazu geeignet sind, das Interesse der Allgemeinheit zu he ben« und das Andenken jener zu ehren, die der Nation hervorragende Dienste geleistet haben. Er warnte vor der herrschenden Korruption und vor dem Parteihader, ja, er befürchtete sogar, daß das Ende Englands nahe hevorstehe, und daß in Bälde die Menschen von den Britischen Inseln sagen würden: »Diese Insel war einstmals von . . . einem Volk mit unverdorbenen Sitten bewohnt,. . . von Vorkämpfern für die Freiheit, die ihr Land geliebt linben,. . . den alten Griechen und Römern in nichts nachstehend, und jedes dieser beiden Völker durch die Vollkommenheiten des anderen übertreffend. Bo waren unsere Vorfahren während ihres Aufstieges und ihrer Größe; 201
aber sie entarteten,. . . was schließlich zu ihrem Untergang geführt hat.; Berkeley wandte sich vom sinkenden England ab und Amerika zu, und versuchte dort, Wissenschaft und Bildung zu pflanzen und in Bermuda ei Hochschule ins Leben zu rufen:
There shall be sung another golden age, The rise of empire and of arts, The good and great inspiring epic rage, The wisest heads and noblest hearts. Not such as Europe breeds in her decay; Such as she bred when fresh and young, When heavenly flame did animate the clay, By future poets shall be sung. Auch Berkeleys Landsmann, Jonathan Swift, war nicht optimistischer hinsichtlich des Patriotismus, den er in Irland beobachtete. Nachdem all seine Vorschläge zur Besserung der Lage in Irland abgelehnt worden waren, einschließlich des Vorschlages »unser Land, worin wir uns sogar von den Lappen und von den Einwohnern von Wölkenkuckucksheim unterscheiden, lieben zu lernen«, blieb ihm nur noch der eine »bescheidene Vorschläj übrig, die Lage in Irland dadurch zu verbessern, daß man fünf Sechstel aller im Lande geborenen Kinder als Lebensmittel verkaufe, und ein Sechstel zu Zuchtzwecken zurückbehalte. Er sah viele Vorteile in diesem Plan, unter anderem eine Verminderung der Papisten, die sich sehr stark vermehrte! eine Verbesserung der Substanz der Nation, ein gutes Geschäft für die Gast wirtschaften, die für ihre Delikatessen und eine hervorragende Küche be rühmt werden würden, und schließlich würde diese Maßnahme zu Heiraten verleiten, »was alle klugen Völker durch Belohnungen gefördert, oder durch Gesetze und Strafen erzwungen haben«. Gelegentlich findet man bei den englischen Dichtern des achtzehnten Jahrhunderts einiges zur Verherrli chung des Patriotismus oder der britischen Heldentaten. Doch nichts reicht an den kompromißlosen Nationalismus heran, den am Ende des siebzehten Jahrhunderts der erste Marquis of Halifax in seinem »The Character of a Trimmen ausgesprochen hat, eine seltene, vielleicht in ihrer Verehrung von heimatlicher Erde und heimatlichem Blut sogar einzigartige Äußerung in der Literatur des siebzehnten Jahrhunderts: »Unser Opportunist ist weit davon entfernt, aus anderen Dingen Idole zu machen, nur in einer Sache kommt er der Vergötterung nahe; seine Heimat ist in gewissem Sinne sein Idol; er betet nicht die Sonne an, weil sie uns nicht eigentümlich ist, sic wandert durch die Welt einher, und uns ist sie auch weniger gnädig all 202
Milderen; aber der Boden Englands, auch wenn er vielleicht minderwertiger Int als der in manchen anderen Ländern, ist für ihn göttlich, und eher würde rr sterben, als daß er zusähe, wie ein fremder Eindringling auch nur einen I Inlm englischen Grases knickte. Er glaubt, daß es sehr viele gibt, die seine Ansicht teilen, denn alle Pflanzen haben den Geschmack des Bodens, auf ilcm sie wachsen, und wir, die wir hier wachsen, haben Wurzeln, die in uns t'lncn Strom von englischem Saft erzeugen, der weder durch Aufpfropfung, noch durch fremde Beimischungen verändert werden kann; und ich weiß nicht, ob irgend etwas weniger Erfolg haben wird als das Experiment, iltirch welches das Blut eines Lebewesens auf ein anderes übertragen wird: danach müßte, bevor man französisches Blut in unseren Körper überträgt, erst der letzte Tropfen unseres eigenen Blutes aus ihm herausgezogen werden.« Unter den Engländern des frühen achtzehnten Jahrhunderts war es nicht rin Dichter, sondern ein Staatsmann, Lord Bolingbroke, der dem Wort Patriotismus« einen neuen und endgültigen Sinn gab. Seine beiden SchrifIttn, >A Letter on the Spirit of Patriotism« (1736) und >The Idea of a Patriot Klng< (1738) wurden bald ins Französische übertragen und beeinflußten so «lus Denken auf dem Kontinent. Bolingbroke war ein echtes Kind der A uf klärung, ein Rationalist und Deist, Kosmopolit und Menschenfreund; doch lint er auch erkannt, daß verschiedene Nationen unter der Einwirkung ver schiedener Gesetze und Veranlagungen stehen. »Wir sind, auf Grund unseior menschlichen Verfassung und durch den Willen des Schöpfers dieser und aller anderen Zustände, zwei Gesetzen unterworfen. Das eine ist von (iott allen Menschen unmittelbar und zwangsläufig allen gleich gegeben. I Ins andere ist den Menschen von Menschen gegeben und ist deshalb nicht bei allen gleich und folglich auch nicht für alle gleich: wohl beruht es auf ilrn gleichen Prinzipien, aber durch die nach Zeiten, Veranlagungen und eine unendliche Zahl anderer Umstände unterschiedlichen Anwendungen ist i'» vielfach abgewandelt. Unter dem ersten Gesetz verstehe ich das univer sale Vemunftgesetz; unter dem zweiten aber das besondere Gesetz oder die ( irtietzverfassung durch die jedes der verschiedenen Gemeinwesen regiert wird.« Deshalb stammt auch das besondere Gesetz von Gott, und der Mensch muß sich ihm fügen, aber — und hier nehmen Bolingbrokes Worte i'lnen neuen und noch ungewohnten Klang an — der Zweck dieser Gesetze kann kein anderer sein als das Glück des Menschen. »Der Grund ist klar: ln der göttlichen Absicht kann nur eine gute Regierung liegen. Gott hat gemacht, daß wir für uns das Glück ersehnen; er hat unser Glück von der (Icmellschaft abhängig gemacht, und das Glück der Gesellschaft von der 203
guten beziehungsweise schlechten Regierung. Folglich war es seine Absicht, daß die Regierung gut sei.« Eine gute Regierung ruht auf zwei Grundpfeilern, nämlich auf der E i » heit des Volkes und der Freiheit. >A Patriot King<, ein patriotischer König^ dieses Modell einer künftigen Verschmelzung der überlieferten Auffassung des Königtums mit der neuen patriotischen Auffassung, wird deshalb vor allen anderen Dingen darum bemüht sein, das Volk um seine Person her um zu einen und den Geist der Freiheit zu pflegen, der allein zu Wohl stand und Glück führen kann, da diese auf dem Geist des freien Unterneh mertums und der freien Initiative beruhen. Der britische Genius hat sich, wie die Geschichte bewies, im Geist der Freiheit offenbart, aber dieser Geist kann nur in einer Nation bestehen, in der jeder einzelne Bürger vom nationalen Patriotismus beseelt ist. »Kann dieser Britische Geist, jener Geist, der bislang die Freiheit wenigstens in einem Winkel der Welt be wahrt hat, so leicht oder so schnell der Britischen Nation erneut eingeflößt werden?« Wenn König und Volk eins sind, dann wird die Nation nicht mehr in einzelne, sich bekämpfende Teile aufgespalten sein, sondern eine einzige große nationale Partei bilden. Ein patriotischer König und eine patriotische Nation gehören zusammen; innerhalb dieser Nation wird es verschiedene Meinungen und deshalb auch eine Opposition geben, aber Bolingbroke hat dieser Oppositionspartei zum ersten Male eine wirklich nationale Rolle zugeschrieben. »Es folgt hieraus, daß diejenigen, die sich in die Opposition begeben, genau so verpflichtet sind, sich auf die Übernahme der Verwaltungsgeschäfte vorzubereiten, wie diejenigen, die der Krone dienen, verpflichtet sind, sich auf die Fort führung der Geschäfte vorzubereiten. Und eine Partei, die sich zu diesem Zweck gebildet hat, handelt nicht so wie ein guter Bürger es soll, wenn sie nicht die guten Maßnahmen der Regierung unterstützt und gegen die schlechten opponiert. Ich bin gewiß, daß sie nicht als gute Männer handeln, wenn sie nicht systematisch handeln, und wenn sie nicht bei jeder sich bie tenden Gelegenheit diejenige Politik, die im öffentlichen Interesse befolgt werden muß, derjenigen gegenüberstellen, die keinem anderen Interesse dient als dem privaten des Königs oder seiner Minister.« Unter diesen Vor aussetzungen, wenn sich alle um das Allgemeinwohl der Nation bemühen und ihre privaten Interessen und Parteiungen dem Allgemeinwohl unterere» nen, wenn der König seine Rechte als ein anvertrautes Gut und die Rech te seines Volkes als dessen Eigentum ansieht, — dann wird der König von Großbritannien der beliebteste Mann dieses Landes sein, und ein patriotischer König an der Spitze seines geeinten Volkes. Der wiedererwachendl 204
Nationalismus in England im neunzehnten Jahrhundert, repräsentiert durch liing England und Disraeli, hat sich auf Bolingbroke als Vorläufer dessen, was dann als >Tory Demokratie< bezeichnet wurde, berufen. Von den zwei Ideen, die Bolingbroke herausgestellt hat, nämlich die per»önliche Freiheit und die nationale Einheit, konnte die erste um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich Fuß fassen. Die nationale Einheit trat dort erst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts in den Vorder grund. Den französischen Denkern hat England nicht nur eine neue Sinniltiutung des Patriotismus gegeben; wegen seiner reichentwickelten öffent lichen Meinung, wegen seiner literarischen Lebendigkeit sowie wegen sei nes wissenschaftlichen Geistes und seiner religiösen Toleranz wurde es über haupt allgemein als Vorbild hingestellt. Doch wenn auch viele Vorschläge und Einflüsse von jenseits des Kanals herüberkamen, so fand doch der neue Geist des achtzehnten Jahrhunderts seinen bewußtesten Ausdruck in Frankreich. Dieses neue Denken blieb nicht auf Frankreich beschränkt, denn m war eine europäische Bewegung, welche schließlich die intellektuelle A t mosphäre in Deutschland und in Italien, ja sogar in Rußland und in Spa nien gewandelt hat. Sie war die eigentliche Renaissance des europäischen Geistes. Frankreich war der erste Brennpunkt, von dem aus das Licht über Kiinz Europa erstrahlte; aber dieses Licht war nicht französisch, es war ein humanitäres Licht, in dem ein neues Europa sich selbst fand.
5 I >ic moderne Zivilisation erhielt im achtzehnten Jahrhundert ihre endgüllige Gestalt. Viele Ströme aus der Vergangenheit des menschlichen Den kens und Strebens trugen zu ihrer Entstehung bei. Sie war eine Wieder geburt des sokratischen Griechentums, seines Glaubens an die Gültigkeit von Vernunftschlüssen und an den Menschen als den eigentlichen Zweck iiIler Untersuchungen. Die athenische Überlieferung des Rationalismus und i Icb Humanismus, der Vervollkommnung des Menschen durch richtiges Den ken, wurde durch das palästinensische Erbe des Respekts vor der Heiligkeit iles Lebens und der Anschauung der Geschichte als ein dynamischer Ent wicklungsprozeß zu einer vollkommeneren Welt hin vertieft. Die Renais sance und die Reformation hatten die Saat des Individualismus gelegt, die nunmehr in dem neuen Begriff der Menschenrechte zur Reife gelangte. Die nen Erbe der Vergangenheit verband sich zu einer lebenspendenden Kraft, ille die Menschen des achtzehnten Jahrhunderts mit neuer Stärke und neuem 205
Tatendrang erfüllte. Überall tauchten riesenhafte Aufgaben auf: die Könige . waren unaufgeklärt; der lebendige Quell der Religion war durch Aber glauben und Scholastik getrübt; die breiten Massen der Völker lebten in Lethargie, Armut und Unwissenheit dahin; die Verfassungen waren ver altet; Handel und Wirtschaftsentwicklung lagen in den Fesseln altherge brachter Interessen; die Strafgesetze waren unmenschlich; die zwischen menschlichen Beziehungen waren plump und unzivilisiert; das Leben stand gering im Wert, alles schien von dem Staub und Schutt der Jahrhunderte überdeckt, verdunkelt durch sinnlos gewordene Vorstellungen und Bezie hungen, die der vernünftigen Kritik nicht standhielten. Die Menschheit schien aus einem langen Schlaf zu erwachen; noch trieben die dunklen Gei ster ihr Unwesen, doch das helle Licht des Tages würde sie bald vertrei-i ben. Während seiner Kindheit und im Jünglingsalter mußte der Mensch durch eine Obrigkeit gelenkt werden, in geistiger wie in politischer Hin sicht mußte er Gesetzen Folge leisten, die ihm auferlegt worden waren. Nun aber war er mündig geworden und bedurfte nicht mehr der Autorität anderer Gesetzgeber. Seine Vernunft zeigte ihm den Weg zum Verständnis des unendlichen Universums, dessen Abbild er im Sternenhimmel über sich sah, sowie zum rechten Verhältnis zwischen dem Individuum und seinen Mitmenschen, geleitet durch das in ihm wohnende sittliche Gesetz. Diese Willensfreiheit stattete ihn mit einer neuen Würde und mit einem neuen Verantwortungsbewußtsein aus. Die Erhebung des Menschen bedeutete nicht die Entthronung Gottes. Das Verhältnis zwischen Mensch und Gott verlor viel von der Furchtbarkeit, durch welche die unergründliche Allmacht des Schöpfers das Geschöpf in seiner Gegenwart erzittern machte. An ihre Stelle trat eine neue enge Be ziehung und das Vertrauen. Das Universum war ein Geheimnis gewesen! die Natur der Wohnort der bösen Mächte, vor denen einzig die göttliche Gnade den Menschen beschützen konnte; die Natur war sündig gewesen! und jede geringste Abweichung vom Pfade des Gehorsams gegenüber den göttlichen Gesetzen war mit schrecklichen Strafen, ewigen Höllenqualen, bedroht. Nun aber schien sich das unbekannte Dunkel des Universums in Klarheit und Ordnung vor den menschlichen Blicken auszubreiten: die großen Wissenschaftler des siebzehnten Jahrhunderts hatten damit begon nen, die Gesetze zu enträtseln, die das Universum und seine Bewegungen unabänderlich und in Ewigkeit regierten. Alle Vorgänge in der Natur wur den gesetzmäßig, mit dem Verstände erfaßbar und dem menschlichen Drang nach Erforschung und Beherrschung zugänglich. Gott und Natur verloren ihren Schrecken; je mehr das Licht des Wissens sich ausbreitete, 20 6
desto deutlicher wurde ihre Güte dem Menschen offenbar und erfüllte die sen mit neuem Vertrauen und mit einem neuen Gefühl der Sicherheit. Die»es Licht, das die Finsternis und die Furcht vertrieb, war den Menschen von Clott verliehen; es war Gottes größtes Geschenk an den Menschen und der höchste Beweis seiner Güte. Auch hat die Entdeckung der Naturgesetze die Allmacht Gottes nicht gemindert. War es denn nicht das schönste Zeugnis seiner Größe, daß er ilic Welt in dieser wunderbaren Harmonie der Gesetze geschaffen hat? Wohl wurde die Welt von Gesetzen beherrscht, aber diese Gesetze waren von Gott. Das wahre Wesen Gottes trat in dem Umstand in Erscheinung, daß er nicht ein Despot war, der nach seinen Launen handelte und vor dem die elende Kreatur erzittern mußte. Er war ein konstitutioneller Monarch, der die vollkommenste Verfassung geschaffen hatte, nämlich die Gesetze der Natur, durch die er selbst gebunden war, und die der Mensch erforüchen und erkennen mußte. Wenn Gott selbst ein konstitutioneller Monarch war, wenn die Gesetze, die das Universum beherrschten, vernünftig waren, wie war es dann möglich, daß die Könige dieser Erde als absolute Monarehen weiter wirken wollten, daß sie sich über alle Gesetze stellten oder sich von Gesetzen leiten ließen, die der menschlichen Vernunft nicht zugänglich waren? Die Untertanen eines konstitutionellen Monarchen brauchen nicht ln Demut vor diesem zu erzittern: sie werden ihn lieben und verehren. Im achtzehnten Jahrhundert begann ein neues Gefühl der Vertrautheit, des Ver trauens und der Sicherheit, die Beziehungen des Menschen zum Universum und zur Gesellschaft zu erfüllen. Ein neues Glücksgefühl und eine neue Sehnsucht, die in den voraufgegangenen Jahrhunderten unbekannt gewesen waren, weiteten die Herzen der Menschen und ermutigten sie zu edelmü tigen Taten. Die Liebe zum Menschen, humanitäres Empfinden, Gesetzlich keit, Sicherheit und Friede: all dieses hatte Teil an dem beseligenden Stre ben, den Menschen auf dieser Erde glücklich zu machen. Durch die Unterstellung aller zwischenmenschlichen Beziehungen unter die Vernunft hat dieser Rationalismus den neuen Staat vorbereitet. Er hat das Gestrüpp der jahrhundertealten Überlieferungen, welches dem Wachs tum einer geeinten Nation im Wege gestanden hatte, gelichtet. Der huma nitäre Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts mag nicht als ein frucht barer Boden für das Wachstum nationaler Empfindungen erschienen sein; und doch lagen die Wurzeln des nationalen Patriotismus tief in dem Humus der Bestrebungen und Gefühle des Zeitalters der Aufklärung. Das Natur recht war absolut, allgemeingültig und universal, und es bezog alle MenHchen ein. Der Bereich des neuen Zeitalters und seiner Mission war univer 207
sal. Das achtzehnte Jahrhundert hat immer auf seinem kosmopolitischen® Charakter bestanden; aufgeklärte Monarchen wie Friedrich II. von Preu ßen wiesen auch nicht die leiseste Spur von Nationalismus auf. Die breiten Schichten der Völker waren gewiß nicht nationalistisch. Im großen und ganzen blieb ihr Leben von den Strömungen des neuen Denkens und Le-; bens unberührt. Dieses traf in besonderem Maße für die Bevölkerung! außerhalb der großen Städte und der zahlenmäßig kleinen gebildeten! Schichten, auch in Frankreich, zu. Aber dieses neu erwachte Interesse an allen Dingen, die den Menschen betrafen, erweckte den Sinn für die Ver schiedenartigkeit der Menschen und verursachte eine eingehende B csch äfti· gung mit der Geschichte, wie man sie in früheren Jahrhunderten noch nie erlebt hatte. Das Gefühl einer großen Wandlung lag in der Luft, die Menschheit schien auf neuen Wegen aufzubrechen: in derartigen Situatio nen wächst immer das Interesse an der Geschichte und an der Geschichts philosophie. Voltaire ist einer der großen Historiker aller Zeiten gewesen. Bewußt weitete er den Rahmen der Geschichte zur Weltgeschichte aus, er schrieb, ohne dabei seine moralischen Urteile zu verbergen — denn er war nicht ein den menschlichen Tatsachen entrückter Beobachter — aber er urteilte mehr vom Gesichtspunkt der Humanität und der aufgeklärten Ethik als von nationalen Gesichtspunkten aus. Er hatte keine nationalen Vorurteile, er schrieb nicht im Aufträge eines Staates, einer Regierung oder eines Für sten; in seinem Werke wurde zum ersten Mal das Volk mit all seinen viel fältigen Interessen, Sitten und Lebensarten zur Hauptgestalt der Geschichte. Voltaires Werk vollendete die Entwicklung zur säkularisierten Geschichts schreibung, es diente dem politischen Vorhaben der Aufklärung. Er brauchte nur Großbritannien mit seinem blühenden Handel, mit seiner freien Wirt schaft, seiner Pressefreiheit und der entsprechenden Toleranz, mit seinen parlamentarischen Einrichtungen und mit seinem >habeas corpus< Frank·' reich gegenüber zu stellen, wo im April 17 5 7 durch ein königliches Dekret; für Verfasser und Drucker unlizensierter Bücher die Todesstrafe erneut be stätigt worden ist. Zwischen 1764 und 178 5 erschienen noch andere Dekrete/ die die Veröffentlichung von Schriften, die sich mit den Finanzen, dem Rechtswesen und mit religiösen Fragen befaßten, strengstens verboten. Die Zahl der Druckerpressen war gering, und alle wurden sie strengstens über wacht. Gegen diesen Zustand führten die Philosophen und die Reformef einen mühevollen Kampf. Dieser Kampf gegen Unwissenheit und AberH glauben, gegen Despotismus und Rückständigkeit wurde nicht nur in eine: Lande alleine geführt: die Sache der ganzen Menschheit stand auf dem 208
Spiel. Aber, indem diese Philosophen und Historiker für die Menschheit kämpften, bereiteten sie den Boden für eine neue Auffassung vom Status des Bürgers und von seinen Beziehungen zu seinem Staat. Die neue Betonung des >Vaterlandes«, wie sie um die Mitte des acht zehnten Jahrhunderts in Frankreich allgemein üblich wurde, hatte mit Na tionalismus immer noch wenig zu tun. Die Betonung lag weniger auf der Einheit der Nation als vielmehr auf der Freiheit der Bürger. Nur ein freier Bürger konnte eine wirkliche Zuneigung zu seinem Vaterland empfinden. Diese Zuneigung beruhte nicht so sehr auf Gefühlen als auf utilitaristi schen Erwägungen über das Allgemeinwohl und die eigenen Interessen des Bürgers. In den >Pensées sur l'administration publique« brachte Voltaire 1752 diese Auffassung zum Ausdruck, die sich auch anderweitig in vielen Aussprüchen aus jener Zeit widerspiegelt. »Un républicain est toujours plus attaché â sa patrie qu'un sujet à la sienne, par la raison qu'on aime mieux son bien que celui de son maitre.« Und in seiner nächsten >Pensée< stellte er die Frage nach dem Wesen der Vaterlandsliebe. Seine Antwort war bezeichnend.Vaterlandsliebe war für ihn ein Gemisch aus Selbstrespekt und Vorurteilen, von denen das Allgemeinwohl noch das wertvollste war. Das Wort >patrie« definierte er im >Dictionnaire Philosophique« als eine Interessengemeinschaft. »Wenn jene, die, wie ich selber, Felder oder Häuser besitzen, sich zum Zwecke der Wahrnehmung ihrer Interessen zusammen schließen, dann habe auch ich eine Stimme in diesem Verein; ich bilde einen Teil des Ganzen, einen Teil der Gemeinschaft, einen Teil der Souveränität; voilà ma patrie.« Dieser neue Patriotismus beruhte auf einem neuen Frei heitsgefühl, das auf die verschiedensten Arten zum Ausdruck kam. Alle möglichen Arten von Freiheit wurden entdeckt und beansprucht. Neue Wen dungen wurden in die Sprache aufgenommen: persönliche Freiheit, politi sche Freiheit, bürgerliche Freiheit, Handelsfreiheit, Freiheit des Denkens, Pressefreiheit — dieses ist nur eine kleine Auswahl aus der Unzahl der Re dewendungen, in denen das Verlangen nach Handlungsfreiheit und nach der Freiheit der Selbstentwicklung ihren Ausdruck fanden. Die Freiheit wurde zur Grundlage des Vaterlandes: Vaterland war nur dort, wo die Freiheit gesichert war. Doch die Freiheit selbst beruhte auf Besitz, auf dem Bewußtsein von der Bedeutung der Macht, die der empor kommende Mittelstand gewann. Als Eigentümer forderten sie Rechtssicher heit für ihren Besitz, und als solche waren sie auch am Wohlergehen des bandes interessiert. In einer schlechten Regierung sahen sie eine Gefahr für die Rechtssicherheit. Deshalb forderten sie die Schaffung einer guten und vernunftgemäßen Regierungsform, entsprechend der neuen Philosophie. Es 209
war nicht genug, daß sich der Souverän auf die überlieferten Rechte berief; durch seinen Dienst an der Allgemeinheit mußte er die Rechtmäßigkeit ! seiner Ansprüche beweisen. Dieser neue Typ des aufgeklärten Monarchen, der nach den Grundsätzen der neuen Philosophie lebte und sich als den ersten Diener seines Staates betrachtete, war der Idealtyp Voltaires und seiner Generation. Bald jedoch schien auch diese wohlwollende Monarchie, in der der Fürst durch seine eigenen Gesetze gebunden war, der rasch sich entfaltenden öffentlichen Meinung in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts nicht mehr gewachsen zu sein. Die Untertanen forderten An teil an der Souveränität. Rousseau definierte den Untertanen als einen Menschen, der den Gesetzen des Staates unterworfen ist, und den Bürger als einen Menschen, der an der Souveränität teil hat. Es war nicht nur die an Ludwig XIV. erlebte Enttäuschung — der einst als der wohlwollende und aufgeklärte Monarch begrüßt worden war —, sondern auch die Entwicklung des Freiheitsbegriffes, die bald zu dem neuen Begriff der Volkssouveränität, zur Forderung der gleichen Teilnahme aller an der Führung der Staats geschäfte geführt hat. Dieser neuen Idee, die viele Autoren auf verschie dene Art zum Ausdruck brachten, hat Rousseau die endgültige Gestalt verliehen.
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6 Die Lehren vom Naturrecht und von der Volkssouveränität haben eine lange Geschichte. Schon 1483 hat Philippe Pot in einer Ansprache an die Etats Généraux von Frankreich die These vertreten, daß das Volk ein zwei faches Recht habe, seine Angelegenheiten selbst zu handhaben; erstens, weil es sein eigener Herr sei, und zweitens, weil es unter einer schlechten Regierung am meisten zu leiden habe. Er sah in den Etats Généraux ein Sammelbecken für den Willen des Volkes. Zu Beginn des siebzehnten Jahr hunderts gab Althusius, unter holländischem und puritanischem Einfluß stehend, eine klare Darstellung der Theorie von der Volkssouveränität. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert erzeugte die zunehmende Aner kennung des Naturrechts eine Neubewertung der Stellung des Individuums, die sich in den Begriffen des Naturrechts ausdrückte, sowie eine Gemein schaftsstruktur, die sich in den Begriffen des Gesellschaftsvertrages und der Volkssouveränität ausdrückte. Das französische Denken während der zwei ten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts vereinigte diese verschiedenen Strömungen zu einem neuen Evangelium, dem es jedoch niemals gelungen
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Ist, die Forderung nach Schutz des Individuums vor dem Staate mit der Kollektivforderung der Gleichberechtigung aller zur Teilnahme an der Souveränität in Einklang zu bringen. Die Freiheiten des Individuums und die Konstituierung des Volkes als eine Gemeinschaft von Gleichberechtig ten wurden nicht aufgrund eines historischen Präzedenzfalles gefördert; und, es gab hierfür auch keinen Präzedenzfall in der Geschichte. Sie waren rine ethische Forderung, die auf einem neuen Begriff vom Menschen be ruhte. Montesquieu begann seine Schrift >De l'esprit des lois< mit dem Satze: >Les lois, dans leur signification la plus étendue, sont les rapports néces»aires qui dérivent de la nature des choses.« Doch war er sich dessen be wußt, daß der Begriff, den er da einführte, der Begriff der Tugend als die Grundlage der Republiken — wobei Tugend soviel bedeutete wie Vater landsliebe, Liebe zur Gleichberechtigung — neu war, ja in gewissem Sinne Hogar ein neues Wort war: »J'ai eu des idées nouvelles: il a bien fallu trouver de nouveaux mots, ou donner aux anciens de nouvelles accep tions.« Turgot schrieb 17 5 5 in seinen »Mémoires sur les municipalités« an den König, daß die Rechte der zur Gesellschaft vereinigten Menschen nicht nuf ihrer Geschichte, sondern auf ihrer Natur beruhen. Die Menschenrechte beruhten auf Wahrhaftigkeit und Vernunft. »Plus mes compatriotes cherdieront la vérité, plus ils aimeront leur liberté. La même force d'esprit qui nous conduit au vrai nous rend bons citoyens. Qu'est-ce en effet que d'être libres? C'est raisonner juste, c'est connaître les droits de l'homme; 1*1 quand on les connaît bien, on les défend de même.« Die englischen und amerikanischen Freiheitsrechte hatten einen gewissen Einfluß auf die Bildung ähnlicher Begriffe in Frankreich. Bei seiner Forderung nach Zen«tirfreiheit für Veröffentlichungen führt Voltaire die englische Gesetzge bung als Vorbild an. »La loi d'Angleterre, sur cette question, ne méritet-clle pas de servir d'exemple à tous les législateurs qui voudront fair jouir l'homme des droits des l'homme?« Die englische, die amerikanische und die französische Vorstellung von den Menschenrechten sind aus den gleichen Wurzeln erwachsen; aber im Frankreich des achtzehnten Jahrhun derts fanden diese gemeinsamen Anschauungen ihren mächtigsten Aus druck, der dann seinerseits nicht nur die Ereignisse auf dem europäischen Kontinent maßgeblich beeinflußt hat, sondern auch die Entwicklung in den angelsächsischen Ländern beschleunigte. Da Freiheit und Eigentum die Eckpfeiler des neuen Patriotismus wurden, wurden sie auch die Grundelemente jener neuen Wirtschaftstheorien, die mit den Physiokraten in Frankreich und mit Adam Smith in England in
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Erscheinung traten. Man verwarf die Doktrinen des Merkantilismus nichl nur wegen ihres autoritären Charakters, der ja dem neuen Geist der Frei heit und des Individualismus widersprach, sondern auch deshalb, weil sicn der Merkantilismus als unfähig erwiesen hatte, die Produktion in genügend dem Maße zu beleben. Die Physiokraten stellten das Individuum und da individuelle Eigentum in den Mittelpunkt ihrer Lehre, und sie forderten die Abschaffung sämtlicher traditionellen Beschränkungen, Verbote und Vor schriften, die der freien Entwicklung des individuellen Eigentums und der optimalen Ausnutzung seiner Produktionskraft im Wege standen. Das auf geklärte und vernünftige Eigeninteresse schien ihnen zum Allgemeinwohl und zu einer freien Entwicklung zu führen, und, auf freier Konkurrer beruhend, das Zustandekommen der natürlichen Harmonie zu begünstige Selbst die Staatsgrenzen sollten kein Hindernis für den freien Austaus von Gütern und Menschen bilden. Die Physiokraten konzentrierten ih£ Aufmerksamkeit auf die Landwirtschaft als die wahre Quelle produktive Reichtums, aber die wirtschaftliche Gestalt, die sie der Landwirtschaft ga ben, bewegte sich in Richtung auf den modernen Kapitalismus. Die Physiokraten wollten die Welt moralisch und wirtschaftlich erneu ern und forderten zu diesem Zwecke eine universale Bildung. Der Unter richt war immer als ein privates Vorrecht betrachtet worden, und nicht alj ein Dienst, den der Staat zum Wohle seiner Bürger, letzten Endes auch z ' seinem eigenen Vorteil zu leisten habe. Die Physiokraten verstanden es gaj wohl, daß eine neue Wirtschaftsordnung nur gleichzeitig mit einer neue moralischen und politischen Ordnung geschaffen werden konnte, daß die notwendige Aufklärung nur durch eine Erziehung verbreitet werden konnte, die alle Menschen lehren würde, gerecht und wohlwollend zu denker. Einige traten aus utilitaristischen Gründen für eine allgemeine Erziehun/ ein. So Quesnay, der die Frage stellte, ob man nicht die Kinder der Baue in die Lage versetzen sollte, die Bücher zu lesen, die ihre Kenntnisse in de Landwirtschaft erweitern können. Der von den Physiokraten beeinflußte Turgot stellte das Problem auf eine breitere Basis. Er schlug dem König die Gründung eines »conseil de l'instruction nationale« vor, eine Einrichtun die, wie er glaubte, den Ruhm des Königs, mehr als jede andere seiner Schöpfungen, unsterblich machen würde. Dieser Rat würde die Uniformität der patriotischen Gesinnung in sämtlichen Schulen garantieren und die sitt liehe und gesellschaftliche Schulung sicherstellen, »par des livres faits expr1 au concours, avec beaucoup de soin, et un maître d'école dans chaque paroisse, qui les enseigne aux enfants avec l'art d'écrire, de lire, de compter de toiser, et les principes de la mécanique«.
Obwohl die Physiokraten Kosmopoliten und strikte Gegner des parochialen Nationalismus, des Merkantilismus, waren, trug ihre Lehre doch zur Entstehung des liberalen Nationalismus bei. Sie haben sich vom Hofe und von der Stadt ab- und dem Land und Volk zugewandt; sie gehörten zu jener Generation, die an die große, wohltätige Heilkraft der Natur, der >vis medicatrix naturae< glaubte. Sie lenkten die Aufmerksamkeit der ge bildeten Schicht auf das einfache Volk hin, auf die Bauern, auf die Not wendigkeit ihres Wohlergehens und ihrer Fortbildung als eine Grundlage für das Wohlergehen der gesamten Gemeinschaft. Im Boden sahen sie die Quelle des Reichtums. Wohl anerkannten sie den Handel und die Industrie als nützlich für die Bereicherung und Verschönerung des Lebens, aber sie hatten die Vorstellung, daß der Boden und seine Erzeugnisse das Werk Gottes, das Handwerk und die Zivilisation hingegen das Werk des MenBchen seien, daß der Mensch von sich aus zu schöpferischer Leistung un fähig sei und lediglich die von Gott der Erde verliehenen schöpferischen Kräfte, die >alma parens<, das Symbol der unerschöpflichen Fruchtbarkeit iler Erde, auswerten könne. Diese Auffassung haben Rousseau in dem ein leitenden Satz zum >Emile<, »Tout est bien, sortant des mains de l'Auteur des choses, tout dégénère entre les mains de l'homme«, und William Cowper in seinen bekannten Versen ausgedrückt:
God made the country, and man made the town : W hat wonder then that health and virtue, gifts That can alone make sweet the bitter draught That life holds out to all, should most abound And least be threatened in the fields and groves. Die Physiokraten waren sich nicht bewußt, daß die Natur auch viel Un nötiges und sogar Schädliches hervorbringt, und daß es nur das Werk des Menschen ist, das den üppigen Fluß der Natur in Nützliches und Produk tives verwandelt. Sie hatten noch nicht das Werkzeug in der Hand des Arbeiters als die wirkliche Quelle des Reichtums erkannt, sondern ihr gan zes Schwergewicht auf den Grundbesitz gelegt. Der Landbesitz wurde für »ic zur Grundlage der Gesellschaftsordnung und die Freiheit zu ihrer not wendigen Folgeerscheinung. »Le maintien de la propriété et de la liberté fuit régnerl'ordre le plus parfait sans le secours d'aucune autre loi«, bat Mercier de la Rivière gesagt. Unter dem Einfluß derPhysiokraten hob Turgot 17 7 6 die Zünfte auf, 176 3 wurde, wenn auch nur für kurze Zeit, der Getreidehandel im Inland freigegeben, und drei Jahre später auch ilcr Außenhandel. Das >laissez faire< der Physiokraten war keine Untätig213
keits- oder fatalistische Doktrin. Es war im Gegenteil eine Lehre der an gespanntesten Tätigkeit für alle Individuen, denen ehrliches Spiel und Handlungsfreiheit zugesichert wurde. Sie sollten nicht mehr durch künst liche, traditionelle Schranken und durch willkürliche Gesetzgebung gehemmt werden; mit zunehmender Einsicht in die Gesetze der natürlichen Ordnung würde sich die heilsame Harmonie der Schöpfung zum Besten aller Indi viduen und der ganzen Welt auswirken. Politisch gesehen, standen die Physiokraten zwischen zwei Generationen: zwischen der Generation Voltaires mit ihrer Betonung der zivilisierten Ge sellschaftsschicht und ihrem Mißtrauen gegen den Pöbel einerseits, und den Revolutionären der Achtzigerjahre andererseits. Sie anerkannten das Volk und die Notwendigkeit seiner Bildung und sie betonten das Bürgertum und die Bürgerrechte, aber sie waren keine Revolutionäre. Eine der bedeutend sten Zeitschriften ihrer Schule waren die Æphémérides du citoyen, ou bib liothèque raisonnée des sciences morales et politiques«, von Nicolas Baudeau im Jahre 176 5 unter dem Titel >Ephémérides du citoyen, ou chro niques de l'esprit national« gegründet. Der Marquis de Mirabeau, der mit Pierre Samuel du Pont de Nemours in den >Ephémérides< und in dem »Jour nal de l'agriculture« zusammenarbeitete, hat 17 7 4 seine »Instruction populaire, ou la science, les droits, et les devoirs de l'homme< veröffent licht. Aber trotz dieser Betonung der Rechte und Pflichten des Bürgers ha ben sich die Physiokraten der älteren Generation angeschlossen; sie er strebten einen aufgeklärten Despotismus, der jedoch nicht aus eigener Machtvollkommenheit Gesetze aufstellen sollte, sondern der die Gesetze der Natur erkennen und ihnen entsprechen sollte. In Übereinstimmung mit ihrem Glauben an die »lex aeterna«, konnten weder Fürst noch Volk Gesetze schaffen. Die Natur war selber der Souverän, die Vernunft, die un veränderliche Gesetze aufgestellt hatte, die weder durch den Willen des Fürsten noch durch den Willen des Volkes verändert werden durften. Aus diesem Grund sollten alle, Fürsten wie Völker, aufgeklärt werden, auf daß sie die vernünftigen Gesetze der Natur voll verstehen und erkennen mögen. Zwanzig Jahre nach Beginn der physiokratischen Bewegung hat Adam Smith sein »Wealth of Nations« veröffentlicht, in dem er die physiokratische Schau zu der klaren Einsicht vertiefte, daß eine Volkswirtschaft nicht auf den Interessen der einen oder der anderen Klasse, dem einen oder dem an deren Beruf, oder auf einer einzigen Produktionsquelle aufgebaut werden könne, sondern nur auf dem Allgemeinwohl der Nation als Ganzes. So wurde die Gesellschaft als eine große Werkstatt aufgefaßt, in der die unter schiedlichsten Arbeitsarten zur Schaffung des nationalen Wohlstandes bei 2 14
trugen. Man muß sich vor Augen halten, daß zu jener Zeit die Revolutionierung durch die Industrie noch kaum begonnen hatte. Die großen Erfin dungen, die die maschinelle Produktion in großem Maßstab erst ermög lichten, wurden zu jener Zeit gerade erst gemacht. Frankreich hatte damals sogar noch weniger moderne Industrie, wenn cs auch auf einem Gebiete den englischen Verhältnissen weit voraus war, nämlich im Verkehrs- und Postwesen. Colbert hatte den Grundsatz aufge stellt, daß der Bau und Unterhalt von Straßen eine Angelegenheit des Staates sei. Aber selbst in Frankreich hatte man erst 1 7 1 5 mit dem Bau verbesserter Straßen begonnen, als die Direction Générale des Ponts et Chaussées errichtet wurde. Die Arbeit dieser Behörde war 17 7 5 praktisch beendet; Frankreich verfügte damals über ein Straßennetz, das seinesglei chen auf der Welt nicht hatte. Im gleichen Jahre wurden durch eine Ver ordnung feste Fahrpläne und Fahrpreise für die Beförderung von Personen eingeführt; 17 8 3 wurden fünfundzwanzig feste Routen befahren. Aber selbst in Frankreich waren, im Vergleich zu neuzeitlichen Maßstäben, die Verkehrsverbindungen unvorstellbar langsam. Die ausgezeichneten Straßen lagen oftmals leer und öde da, denn die Anzahl der Reisenden war außer ordentlich gering. Eine Reise von Paris nach Straßburg dauerte zehn Tage, und von Paris nach Bordeaux fuhr man vierzehn Tage; in jeder Richtung fuhren die Wagen nur einmal die Woche. Sogar für die Strecke von Paris nach Orléans, wo jeden Tag ein Wagen lief, brauchte man zwei Tage. Das französische Straßenbau- und Verkehrswesen war während des gan zen achtzehnten Jahrhunderts dem englischen weit voraus. Arthur Young bemerkte über seine Reisen durch England im Jahre 177 0 , daß die Straßen immer noch so schlecht wie ehedem seien, und noch 17 8 2 gehörten Raub überfälle zu den üblichen Ereignissen. Zu jener Zeit zeichnete sich das Post wesen durch »größte Unregelmäßigkeit in Postabgang und -ablieferung aus. Die durchschnittliche Beförderungsgeschwindigkeit betrug dreieinhalb Meilen die Stunde. Die illegale Postbeförderung nahm schnell an Umfang zu.« Seit 178 4 setzte langsam eine Verbesserung der Verhältnisse ein, doch hat erst Thomas Telford den Steinunterbau, der in Frankreich schon längst üblich war, im englischen Straßenbau eingeführt. Bei einem verhältnis mäßig so rückständigen Zustand von Produktion und Verkehr hatten die l'orderungen der Physiokraten und Adam Smiths, nach Wirtschaftlichkeit und nach internationalem Handel, eine revolutionierende Wirkung. Ihre Thesen schienen sich zu bestätigen, als der Abfall der dreizehn amerika nischen Kolonien von England und dessen Folgeerscheinungen eindeutig 2 15
die Fehler der merkantilistischen Theorie bewiesen. Der Handel zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten gedieh nach erfolgter Trennung wesentlich besser. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatten sich die Physiokraten und Adam Smith in der Wirtschaftstheorie durchgesetzt. Die Französische Revolution verwirklichte die von den Physiokraten angesfrebten Reformen, und in Großbritannien war William Pitt ein gelehriger Schüler von Adam Smith. Zur gleichen Zeit hatte die Revolutionierung der Industrie begonnen, die neue Perspektiven eröffnete, welche der französische Nationalökonom Jean-Baptiste Say, der hervorragende Dol metsch Adam Smiths, erkannt hatte, als er die zunehmende Bedeutung des Unternehmers im Wirtschaftsprozeß des kapitalistischen Zeitalters betonte. Durch ihre Betonung des individuellen Besitzes und Unternehmertums, der Berechenbarkeit und des Gewinnes, der intensiven Arbeitsleistung und des selbsterrungenen Erfolges trugen die Schüler Adam Smiths mittelbar zur Entwicklung der Demokratie bei, indem sie Überlieferung und stän dische Schranken durchbrachen und eine Gesellschaftsordnung vorbereiteten, in der das Individuum und seine Tätigkeit mehr zählten als der Stand, in dem es zufällig geboren war. So trat im Verlaufe des achtzehnten Jahr hunderts die freie Persönlichkeit auf allen Gebieten der menschlichen Tätig keit in Erscheinung — in Politik, Kultur und Wirtschaft. Aber diese neue Ordnung w arf das schwere Problem auf, wie die Freiheit des Individuums mit den Erfordernissen des gesellschaftlichen Zusammenschlusses in Ein klang zu bringen sei, wie man den Menschen einem Gesetz unterstellen könne, das sich nicht mehr auf die absolute Autorität eines Gesetzgebers berufen konnte, der außerhalb und über den Menschen steht. In dieser Situation sollte der Nationalismus zu dem Band werden, durch welches das autonome Individuum in die Gemeinschaft hinein verflochten wurde. Rous seau war der erste, der dieses Problem klar erkannt hatte und um seine Lösung rang. Er war, mit vielen Unklarheiten und Widersprüchen, auf der Suche nach einem Gemeinwesen, welches vom freien Individuum ausging und auf diesem beruhte. Der Hintergrund, vor dem er diese Suche unter nahm, war der rationale Kosmopolitismus des achtzehnten Jahrhunderts, mit einer neuen Wertbetonung der Lebensart des gemeinen Volkes und seiner schöpferischen Spontaneität.
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In einer Erörterung über die Leitideen des achtzehnten Jahrhunderts, so wie sie sich in neuen Worten der französischen Sprache ausdrückten, führte Ferdinand Brunot die »humanite« als das führende neue Dogma an. Schon früher hatte man dieses Wort, im Sinne von »Nächstenliebe« verwandt; nun wurde es im Sinne von »Menschheit« gebraucht. Doch der alte Sinn blieb als eine lebendig wirkende Kraft zurück, auch wenn das Wort selbst nicht mehr dazu verwendet wurde, um ihm Ausdruck zu verleihen. Im Gegenteil, die menschliche Güte und die Notwendigkeit guter Handlungen wurden mehr und mehr betont. Das ganze Zeitalter war eine Anrufung der Nächstenliebe; das Gefühl der Nächstenliebe wurde zur Grundlage des menschlichen Seins. »Der Glaube an etwas Humanes und Unzerstörbares in uns ist eine dem Denken des achtzehnten Jahrhunderts eigentümliche, grundsätzliche Vorstellung. Sie gestattet es, daß dieses Denken in alle Be reiche cindringt und von jeder Möglichkeit Besitz ergreift. Die menschliche Natur, die niemals sich verändert, ist eine feste Grundlage«, von der aus der Mensch in den Genuß der Souveränität seines Geistes gelangt, seines Ichs und seiner Verwandtschaft mit jedem menschlichen Wesen bewußt. Dieses Gefühl beherrschte die »Encyclopedie« und den Willen jener Gene ration, den Menschen all das verwirklichen zu lassen, was die menschliche Natur erhöht. Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit, auf dem Verstand und auf dem menschlichen Gefühl beruhend, waren absolute Werte, an die alle Men schen glaubten. Im vierundachtzigsten seiner »Lettres Persanes« sagte Mon tesquieu, daß die Menschen die Gerechtigkeit lieben müßten, selbst wenn es Gott nicht gäbe. Wenn sie auch vom Joche der Religion befreit wären, so dürften sie doch nicht vom Joche der billigen Gerechtigkeit frei sein. Mit einer erschreckenden Klarheit fügt er hinzu: »Das bringt mich zu der Über zeugung, daß die Gerechtigkeit etwas Ewiges ist und nicht von menschlichen Übereinkünften abhängt. Wenn dem aber doch so wäre, so wäre das eine schreckliche Wahrheit, die man vor sich selbst verbergen müßte.« Diese Zweifel an der Gültigkeit der Moralgesetze tauchten in Montesquieus for schendem Geist nur ganz kurz auf — in dem zunehmenden Abrücken von transzendentalen Wahrheiten wurde die menschliche Natur als der unwan delbare Grundstein betrachtet, von dem aus der Neuaufbau der Gesellschaft und eine enzyklopädische Integrierung der stürmisch wachsenden Wissen schaften sicher erfolgen würde. Voltaire übernahm vom »großen Newton« die Idee, daß »»natura est semper sibi consona«. Das Gravitationsgesetz, das 2 17
auf einem Sterne wirksam ist, ist auf allen Sternen wirksam, und es wirkt auf alle Materie. Genauso ist das grundlegende ethische Gesetz für alle Völker gültig. Unter tausend verschiedenen Verhältnissen gibt es tau send verschiedene Auslegungen dieses Grundgesetzes; sein Wesen jedoch bleibt sich immer gleich: die Idee von Recht und Unrecht. »Die Menschen verüben im Ungestüm ihrer Leidenschaften, wenn sie im Rausche ihre Ver nunft verlieren, eine Unsumme von ungerechten Handlungen: doch wenn der Rausch vorüber ist, kehrt die Vernunft wieder; und dieses ist meiner Überzeugung nach die einzige Ursache dafür, daß die menschliche Gemein schaft fortbesteht, eine Ursache, die davon ausgeht, daß wir uns gegenseitig brauchen«. Dieses Gefühl für die Einheit der Menschheit war der Grundzug des für das achtzehnte Jahrhundert repräsentativen Schrifttums. Montesquieu sagte: »Wenn ich etwas wüßte, das wohl meinem Volke nützlich, einem anderen aber verderblich wäre, so würde ich es meinem Fürsten nicht unterbreiten, denn ich bin ein Mensch, bevor ich ein Franzose bin, und Mensch bin ich notwendigerweise, Franzose aber nur durch Zufall.« Wei ter: »Wenn mir etwas bekannt wäre, das meinem Vaterlande zuträglich, für Europa aber abträglich wäre, oder etwas, das für Europa nützlich, für die Menschheit aber schädlich wäre, so würde ich es für verbrecherisch halten.« Der Gesichtskreis jenes Jahrhunderts reichte weit über Europa und die Christenheit hinaus; seine Wortführer betrachteten alle Rassen und alle Kontinente mit dem gleichen menschlichen Interesse. Diderot wandte sich schärfstens gegen alle Kirchturmspolitik. »II y a des têtes étroites, des âmes mal nées indifférentes sur le sort du genre humain, et tellement concentrées dans leur petite société — leur nation — qu'ils ne voient rien au delà de son intérêt. Ces hommes veulent qu'on les appelle bons citoyens, et j'y consens, pourvu qu'ils me permettent de les appeler méchants hommes.« Diderot meint, daß diese Menschen, anstatt die Aufklärung jen seits der Grenzen unter allen Menschen zu verbreiten, die übrige Welt in Barbarei und Unwissenheit zu stürzen wünschen, um sie danach um so sicherer beherrschen zu können. Aus derselben humanitären Gesinnung heraus, die Diderot beseelte, hat Turgot in seinem Brief über die amerikanische Verfassung an Dr. Price (1778) gegen die Beherrschung eines Volkes durch ein anderes protestiert. Er behauptete, daß ein Mensch, der durch ein ungerechtes Gesetz unter drückt gehalten wird, nicht als ein freier Mensch betrachtet werden kann: Freiheit bestehe nicht in der einfachen Unterwerfung unter eine Regierung, sei es durch Gesetz oder durch Mehrheitsbeschluß. Denn nach der Anschau 2 18
ung des achtzehnten Jahrhunderts gab es ein Gesetz, das über allem natio nalen Recht stand. Die Würde und die Freiheit des Menschen könne nicht einfach darin bestehen, daß er Gesetzen, anstatt dem Willen anderer Men schen unterworfen sei. Gesetze können zur schlimmsten Tyrannei ausarten, sogar solche, die durch Mehrheitsbeschluß der Nation sanktioniert sind, wenn sie nämlich nicht mit dem übereinstimmen, was Kant als den Kate gorischen Imperativ bezeichnet hat, das Gebot der Vernunft, das für alle Menschen das gleiche ist. Um gerecht zu sein, müssen die Gesetze den unveräußerlichen Menschenrechten Rechnung tragen. Diese Rechte »kann die Nation dem Individuum nicht nehmen, es sei denn durch Macht und durch unrechtmäßige Anwendung von Gewalt«. Aber derselbe Turgot, der auf den Rechten des Individuums und auf der unbegrenzten Gültigkeit des Naturrechts bestand, war keineswegs blind für die Existenz einer aus vielen Nationen zusammengesetzten Welt. In einem aus dem Jahre 17 7 6 datierten Brief machte er du Pont de Nemours den Vorwurf, daß er den Begriff der Nation mit dem Begriff des Staates ver wechselt habe, und definiert dann die >Nation< als eine Sprachgemeinschaft. Hierin ging er noch weiter als Montesquieu, der im »Esprit des lois< die Unterschiede zwischen den Nationen — oder, besser, zwischen den Staaten — auf die klimatischen Unterschiede zurückführte. Er befaßte sich nicht mit Nationen im modernen Sinne, sondern mit Regierungsformen. Deshalb hatte er nur einen unbeträchtlichen Einfluß auf die Entwicklung des Nationalis mus, doch wirkte er stark auf die Entwicklung des Verfassungsrechts und des politischen Denkens. Es war hauptsächlich seine Verkündung der Tugend als die notwendige Grundlage freier Republiken, die das im achtzehnten Jahrhundert einsetzende nationale Denken beeinflußt hat. Obwohl Turgot, und mit ihm einige andere Denker, die Sprache als das Hauptelement der nationalen Einheit erkannt hatten, wurde auf das Fran zösische als Nationalsprache keine besondere Betonung gelegt. Während sich das Französische als universale Sprache über die ganze Welt hin verbrei tete, begegnete man den größten Schwierigkeiten, als man es in Frankreich als Unterrichtssprache einführen wollte; und das sogar in den untersten Klassen. Thomasius hatte 1690 auf der Universität in Halle mit Vorlesun gen in deutscher Sprache begonnen, und Deutsch wurde während des acht zehnten Jahrhunderts die allgemein anerkannte Lehrsprache auf den deut schen Universitäten. Doch solch ein sprachlicher Nationalismus blieb in Frankreich unbekannt. Zwar war in Frankreich im achtzehnten Jahrhundert Latein nicht mehr die allgemein gebräuchliche Schriftsprache, und als Um gangssprache war es noch mehr zurückgetreten; doch als Schulsprache 219
konnte es seine Stellung noch halten. Zu Beginn des Jahrhunderts herrschte in Frankreich, wie dieses ja auch in England der Fall war, Ungewißheit über die Zukunft der Landessprache. Im Jahre 1685 hat Malebranche Lenfant dafür gedankt, daß er seine »Recherche de la vérité< ins Lateinische übertragen hatte, denn so habe er vermutlich etwas unsterblich gemacht, was sonst, in Anbetracht der Vergänglichkeit der lebenden Sprache, wahr scheinlich nicht länger als ein Jahrhundert gelebt hätte. Noch 17 2 7 brachte der »Mercure de France< folgende Verse:
Toute Langue aujourd'hui devient Enigmatique; On n'entend plus le Grec, assez peu le Latin : Je crains pour le François un semblable destin. In seinem »Discours préliminaire de l'Encyclopédie< nannte D'Alembert das Französische eine »langue vulgaire«, und er brachte sein Bedauern dar über zum Ausdruck, daß zu seiner Zeit die Philosophen, die von der Nation gelesen zu werden wünschten, sich der Landessprache bedienen mußten. Mit Sorge sah er voraus, daß noch vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts ein Philosoph, wenn er die Werke der voraufgegangenen Generation gründ lich studieren wolle, erst sieben oder acht verschiedene Sprachen erlernen müsse; nachdem er seine besten Jahre auf dieses Studium verschwendet habe, könne es ihm dann auch noch leicht geschehn, daß er sterbe, bevor er überhaupt eine Gelegenheit gehabt habe, sich mit denjenigen Büchern zu befassen, denen sein eigentliches Interesse galt. Erst 17 2 6 setzte sich die erste gewichtige Stimme für die Verwendung des Französischen als Unterrichtssprache ein. Charles Rollin, ein Jansenist und Altertumswissenschaftler, der seinen Ruf durch die Wiederbelebung der griechischen Studien an der Pariser Universität begründet hatte, erhob in jenem Jahre in seinem »Traité des études« die Forderung, daß die Sprachc des Volkes im höheren Unterricht eingeführt werde, nicht um das Latein zu ersetzen, sondern als zusätzliche Sprache. Er empfahl auch, daß die Stu denten französische Bücher lesen sollten. Einer seiner wenigen Anhänger in dieser Sache, der Abbé Nicolas Gédoyn, selber ein Altertumswissen·· schaftler, erhob die Frage: »Warum soll man die Studenten nicht in ihrer eigenen Sprache unterrichten, in der Sprache, in der sie ihren Geist, wenn sie welchen haben, unter Beweis stellen und entwickeln müssen, jene Sprache, die alle anderen überflügelt hat, die an allen Höfen gesprochen wird, die in Europa fast überall in Gebrauch ist, die so viel Gutes hervor gebracht hat, die von Ausländern genau so geliebt wird wie von den Fran zosen selbst.« 220
Selbst die wenigen Lehrer, die die Forderung nach einem französischen Unterricht anerkannten, sahen hierin keinen Selbstzweck. Sie sahen darin lediglich eine Einführung und eine Hilfe für einen besseren Lateinunter richt. Im Collège de France war es ausdrücklich untersagt, Kommentare über lateinische oder griechische Texte in französischer Sprache abzu fassen. Der erste Lehrstuhl für französische Literatur ist 17 7 3 errichtet worden, doch war dieser in der Hauptsache für Ausländer gedacht, die nach Paris kamen, um die französische Literatur zu studieren. Doch selbst zur Zeit der Revolution gab es noch keinen Lehrstuhl für die französische Sprache, und bis 17 9 1 wurden alle Bulletins des Collège de France in lateinischer Sprache abgefaßt. Trotzdem erlebte das achtzehnte Jahrhundert, nach der Schließung der Jesuitenkollegs und nach der Veröffentlichung des >Emile< im Jahre 176 2, ein zunehmendes Verlangen nach der Einführung lies Französischen als Unterrichtssprache. Es wäre aber falsch, hinter diesen Vorgängen irgendwelche >nationalistischen< Motive zu vermuten. Der Ge brauch der französischen Sprache wurde aus Zweckmäßigkeitsgründen ge fordert. Dem emporstrebenden Mittelstand, der an den Wissenschaften und an sozialen Reformen interessiert war, schien es unzweckmäßig, daß man *0 viel Zeit auf das Erlernen des Lateinischen und des Griechischen ver»chwende, anstatt sie für das Studium praktischer Gegenstände zu verwen den. Durch die Verbreitung der Zivilisation und der Zeitungen, durch die Hinrichtung von Büchereien und >Cabinets de lecture<, durch die Intensivie rung der Wirtschaftsverbindungen zwischen den verschiedenen Teilen des l andes und die Verbesserung der Verkehrsverbindungen konnte sich im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts die französische Sprache allge mein durchsetzen, ohne wesentliche Förderung von offizieller Seite oder Unterstützung durch irgendwelche nationalistischen Bewegungen und A gi tationen zu erfahren. In den französischen Provinzen wurden örtliche Aka demien gegründet, die sich meist den Wissenschaften widmeten und sich beim Mittelstand großer Beliebtheit erfreuten. Einige dieser Akademien be faßten sich auch mit der französischen Sprache. In den Statuten der 17 3 7 ergründeten Société littéraire d'Arras, war als einer der Zwecke der Gesellmhaft aufgeführt, »eine bessere Kenntnis der Prinzipien, des Genius, des
des verkehrten untereinander in nichtfranzösischen Sprachen. Das franzö* ; sische Nationalbewußtsein war in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts noch so schwach entwickelt, daß, nach Turgots Definition der Sprache als das die Nation einende Band, das französische Königreich mehrere Nationen um faßt haben müßte. Selbst zu Beginn der Französischen Revolution mußte Condorcet noch gegen die Meinungen derjenigen ankämpfen, »qui conti nuent toujours de croire qu' il existe entre les Bretons et les Poitevins une telle différence de moeurs et de climats qu'ils doivent être gouvernés pai des lois différentes«. Und Brunot hat es klar zu verstehen gegeben, daß in den zwanzig Jahren vor der Französischen Revolution die Schulen in Frank reich es sich nicht zur Aufgabe gemacht hatten, die Kenntnis des Franzö sischen als einer Nationalsprache zu pflegen oder zur Erweckung eines Na tionalgeistes beizutragen. Man hat die französische Sprache nicht als ein Mittel zum Ausdruck nationaler Gefühle betrachtet, sondern als die Stimme der universalen Vernunft.
8 Im Jahr 1684 gab Pierre Bayle in Amsterdam die »Nouvelles de la république des lettres< heraus, die zu einem universalen Bindeglied für das Geistes leben in ganz Europa wurden, obgleich Bayle sich auf die Besprechung von Büchern beschränkt hat, die in französischer oder lateinischer Sprache erschienen waren. Jean Leclerc, der zwei Jahre später die »Bibliothèque uni verselle et historique« herausgab, widmete sich den Büchern aller Sprachen, Bald entstand daraus die Grundlage für eine neue Auffassung der Welt* literatur. Im Jahre 1 7 1 7 gründete Michel de la Roche in Amsterdam die »Bibliothèque anglaise, ou histoire littéraire de la Grande Bretagne« mit der Absicht, diejenigen, die nicht Englisch konnten, mit dem literarischen Schaffen Großbritanniens vertraut zu machen — ein Land, »in dem Wissen schaften und Kunst wie in keinem anderen Teile der Welt blühen; sie ge* deihen dort am Busen der Freiheit«. 17 2 0 gründeten Jacques Lenfant und andere Franzosen in Berlin die »Bibliothèque germanique, ou histoire litté raire de l'Allemagne, de la Suisse, et des Pays du Nord«, die sich durch zwanzig Jahre hindurch erhalten konnte. Ein ähnliches Unternehmen, die »Bibliothèque italique, ou histoire littéraire de l'Italie«, wurde von einigen Franzosen 17 2 8 in Genf begonnen. Das wichtigste unter diesen Organen eines modernen literarischen Kosmopolitismus war das 17 5 4 von Abbé Prévost, Grimm und anderen gegründete »Journal Etranger«. Die Heraus· 222
geber hatten die Absicht, alle neuen Veröffentlichungen, Entdeckungen und Schöpfungen der Künstler und Gelehrten aller Länder zu sammeln, und lolcherart in einem einzigen Bunde alle die einzelnen Fachgebiete, in die die Wissenschaften sich aufgespalten hatten, zu vereinigen. Die technischen Schwierigkeiten, die sich damals einem solchen Unternehmen in den Weg i teilten, waren zu groß, so daß die Zeitschrift nach acht Jahren ihr Erschei nen wieder einstellen mußte; doch lebte sie, unter zwei von ihren ursprüng lichen Herausgebern, François Arnaud und Jean Baptiste Antoine Suard, dis >Gazette littéraire de l'Europe« noch einige Jahre fort. Vielleicht noch interessanter und erfolgversprechender war die erste mo derne Sammlung von Zeitungsartikeln, >L'Esprit des journeaux français et étrangers« (1772), die monatlich in einem Umfang von vier bis fünfhun dert Seiten veröffentlicht werden sollte, eine richtiggehende Enzyklopädie nller in Europa erscheinenden bedeutenden Zeitschriften und Bücher. Alle diese Bestrebungen in der Welt der Literatur und Wissenschaften beruhten iiuf dem gemeinsamen Glauben an die Aufklärung und auf dem allge meinen Gebrauch der französischen Sprache. Alle führenden Denker und Staatsmänner des Kontinents standen in ständigem Briefwechsel untereinnnder, für den keine nationale Grenzen existierten, selbst wenn ihre Länder In Kriege verwickelt waren. Viele große Denker jener Epoche, unter ihnen Descartes, Leibniz, Maupertuis und Condorcet, machten den Vorschlag, eine universale Sprache zu schaffen. Pahin de Champlain de la Blancherie «chlug in den von ihm 177 9 gegründeten »Nouvelles de la république des lettres et des arts< die Errichtung eines Institutes für internationale geistige Zusammenarbeit vor. Kunst und Literatur waren nun genau so wenig Selbstzweck wie Wissenschaft und Gesetzgebung. Alle verfolgten sie das gleiche Ziel: den Menschen und das menschliche Leben zu humanisieren. Friedrich II. von Preußen faßte die Absichten der Schriftsteller der frühen Aufklärung zusammen, als er, von Voltaires >Henriade< sprechend, den Wert von Kunst und Literatur beschrieb als einen Beitrag »à humaniser les hommes en les rendant plus doux, plus justes, et moins portés aux violences. I Iles ont pour le moins autant de part que les lois au bien de la société et au bonheur du peuple. Cette façon de penser aimable et douce se commu nique insensiblement de ceux qui cultivent les arts et les sciences, au publi que et au vu lgaire,. . . elles passent de la cour à la ville, de la ville à la province.« Die frühe Aufklärung, von ungefähr 1680 bis 175 0 , war von einem nptimistischen Geist des Wohlwollens erfüllt gewesen. Diese Rokoko-Kullur war noch auf sehr enge Kreise in der Aristokratie und auf einige freie 223
Geister, die mit dieser in enger Verbindung standen, beschränkt. Die herr-ji sehenden Tendenzen waren einerseits der Skeptizismus von Bayles >Dictio-fl naire historique et critique« von 1697, die Grazie des Witzes und der Ironie, das Festhalten am >bon ton< und >bon goüt< — und andererseits eine neue diesseitige Fröhlichkeit, der Wunsch nach gutem Leben, das Verlangen, sich selbst und seine Umwelt kennen zu lernen, geistig zu wachsen und sich uni versal zu bilden. Man hatte die Vernunft als das Grundwesen des Menschen erkannt, doch gleichzeitig auch als eine Disziplin, die auf keinen Fall die übrigen Anlagen der menschlichen Natur unterdrücken, sondern sie mildern und veredeln und die Universalität des Menschen zu verwirklichen helfen solle. »Notre raison doit nous servir à modérer tout ce qu'il y a d'excessif en nous, mais non pas à détruire l'homme dans l'homme.« Bei all ihrer Fragestellung nach der Ursache aller Dinge und bei ihrem Kampf gegen irrationale Überlieferungen und Vorurteile, war die literarische Bewegung jener Jahre doch nicht revolutionär. Ihr Ziel war die Aufklärung des Mo narchen, und nicht die Verkündung der Menschenrechte. Die große Wandlung trat nach der Mitte des Jahrhunderts ein. Damals begann der emporkommende Mittelstand in der >comédie larmoyante« und im >drame bourgeois«, der Tragödie in Prosa, den Ton anzugeben. In philo sophischen und politischen Diskussionen klang ein neuer aggressiver manch mal sogar scharfer und verbitterter Ton an. Der Skeptizismus wich einem zuversichtlichen Glauben an die Kritik an den bestehenden Einrichtungen»! Die Einfachheit des Lebens, für die man das Vorbild in einer neu gedeuteten Antike fand, wurde als Forderung erhoben. Griechisches und römisches Leben und die Lebensideale der Klassik gelangten zu neuer Bedeutung) wieder trank Europa, die Notwendigkeit einer Erneuerung spürend, aus dem immerfließenden Jugendbrunnen. Johann Joachim Winckelmann ent deckte in der griechischen Kunst und im griechischen Leben jene edle Ein fachheit und stille Größe, die so verschieden war von den ästhetischen Ideen des Barock und des Rokoko; 17 5 5 , bevor er Dresden verließ, um nach Rom zu gehen, veröffentlichte er seine >Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in Malerei und Bildhauerkunst«, worin er nicht nur dil Gesetze der griechischen Kunst als den absoluten Wertmaßstab für all«* Kunst und allen Geschmack proklamiert hat, sondern auch das Empfinden der Griechen für Schönheit und Form, ihre Verehrung für den nackten Körper und für die Körperertüchtigung, sowie ihre Ehrerbietung für dtp Natur und für das Natürliche, zu neuem Leben erweckte. Seine Begeisterung für das Griechentum war jeglichem Nationalismus und nationalem Empfin den entgegengesetzt; für den Klassizismus des achtzehnten Jahrhundert;*, 224
von Winckelmann bis Goethe, war der Wertmaßstab für das Schöne und I lute für immer und ewig im alten Griechenland statuiert worden. »Unsere einzige Möglichkeit groß, ja vielleicht sogar unnachahmbar zu werden, be geht in der Nachahmung der Antike.« Universale, und nicht räumlich be grenzte Wertmaße, waren die unveränderlichen Leitprinzipien des Denkens und Empfindens des Klassizismus im späten achtzehnten Jahrhundert. Doch w«r die geistige Atmosphäre jener Epoche derart komplex, so verwickelt und sogar widerspruchsreich — wie beinahe die gesamte neuzeitliche Geschichte hindurch —, daß diese Hinwendung zur Antike in Männern wie Goethe zur ( irundlage für ein universales und konservatives Wissen, bei anderen aber KU einer Erweckung revolutionärer Gefühle wurde und hier, durch die Belonung der Natur, des Gefühles und der Schlichtheit des einfachen Menschen die Vorbedingungen für das Wachstum nationaler Gefühle schuf. Nicht nur durch die Theorien und Anstrengungen der Physiokraten hatte ilns Landleben im Denken und in der Sprache der Epoche eine Bedeutung erlangt, wie sie der >bel esprit< ein Jahrhundert früher gehabt hatte. Die füllen und Ansprüche des Lebens änderten sich; der Versailler Hof hatte keine Anziehungskraft mehr für die Gesellschaft. Diese zog aufs Land, baute •Ich dort Häuser, in denen sie mindestens den Sommer verbrachte. Eine neue Liebe zur Natur kam in den Romanen und Gedichten jener Zeit zum Ausdruck. Von Abbe Prevosts >Manon Lescaut< (17 3 1) bis zu >La nouvelle I li‘loise< (1760) begann die neue Empfindsamkeit mehr und mehr die aus dem Klassizismus des siebzehnten Jahrhunderts überkommene Strenge zu llberwinden. Die junge Generation entwickelte einen Kult der Gefühle, der enthusiastischen Liebe und Freundschaft, sie untersuchte und analysierte ihr eigenes Gefühlsleben und erklärte das Herz zum Sitz des Lebens. Der neue Individualismus wurde durch diese Welle der Empfindsamkeit gestärkt, die ihrerseits die wachsende Betonung des Individualismus akzentuierte. Dieser Wechsel des Geschmackes und der Neigungen war nicht allein auf I'rankreich beschränkt; in gewissen Varianten war er überall in Europa It'Htzustellen. Er bildete den Nährboden, aus dem die romantischen Bewe gungen, mit ihrer Betonung des spontanen schöpferischen Geistes des Geiileä und ihrer selbstquälerischen Freude am >mal die siecle<, erwuchsen. Deutschland hatte durch den heftigen Ausbruch einer jungen Generation Im Sturm und Drang an dieser neuen Atmosphäre anteil, und Goethes Werther berührte die Herzen der Jugend ganz Europas nach 177 4 . Eng land hatte Youngs >Night Thoughts< sowie jene >Wiederentdeckung< einer einfachen und heroischen Vergangenheit in James Macphersons »Fragments nf Ancient Poetry Collected in the Highlands of Scotland< und in den 225
»Works of Ossian<, die ungefähr zu gleicher Zeit mit Rousseaus großen Werken veröffentlicht worden waren, dazu beigetragen. Doch die Franzosen jener Zeit gaben sich nicht dem titanischen, aber doch ziellosen revolutio nären Chaos des Sturm und Drang, noch der tiefen Melancholie Youngs, noch der nostalgischen Welle der Vergangenheitsverehrung, der einige Eng länder und viele Deutsche erlagen, hin. Ihr Interesse wandte sich mehr den primitiven Völkern, exotischen Ländern, den »edlen Wilden< und der Neuen Welt zu, wo gute, durch die Zivilisation der Höfe und Kirchen noch nicht verdorbene Menschen in der Lage zu sein schienen, eine von Grund auf neue Ordnung auf den Prinzipien der Vernunft, durch Verderbtheit und Aber glauben der Vergangenheit noch unverdorben, errichten zu können. Die zivilisierteste und komplexeste aller Gesellschaften richtete ihre Blicke auf die Primitiven, weil sie sich von ihren eigenen Ankergründen losgerissen und einer neuen Zukunft entgegengetrieben fühlte. Obwohl die Gefühle, als eine »lumière intérieure«, zur inneren Stimme von Offenbarung und Gewissen wurden, stand diese neue Kraft doch nicht im Gegensatz zur Ver nunft. Im Gegenteil, unverdorben durch die Unwahrheiten der Zivilisation und der Künstlichkeit traditionellen Aberglaubens, unterstützte sie die wahre Vernunft. Die Vernunft blieb der Quell und die Grundlage dea inneren Lebens des Menschen; sie alleine, als Quell und Garant der Wahr heit und der Gerechtigkeit, ermöglichte die Erkenntnis von Rousseaus Ge meinwillen, der verbindlich wurde als der eigenste Ausdruck jener Ver nunft, die, von Descartes bis Rousseau, als »la chose du monde la mieux partagée, naturellement égale en tous les hommes« anerkannt wurde. Die geheiligte Person des Monarchen, die noch vor weniger als einem Jahrhundert Bossuet als fest in der ewigen göttlichen Ordnung verankert erschienen war, hatte ihren Wert als Symbol des Mittelpunktes und der Rechtfertigung der Gesellschaftsordnung verloren. Die heilige Freiheit der freien Persönlichkeit war als ein leuchtender Morgenstern am Horizont einer neuen Zeit aufgestiegen. Aber während sie eine neue Verwirklichung von Menschentum und Menschlichkeit verhieß und ermöglichte, fehlte ihr doch die integrierende Kraft, die in der Lage gewesen wäre, ein neue« Symbol als Mittelpunkt und Rechtfertigung der Gesellschaftsordnung zu erschaffen. Mit dem Zusammenbruch der alten autoritären Ordnung er wuchs die Aufgabe, eine neue Ordnung der Freiheit, die auf der Autonomie des Individuums beruhte, zu errichten. Rousseau hatte als erster dieses Pro blem erkannt und sich um seine Lösung bemüht. Unter seinen Händen ent wickelte sich, beinahe widerwillig, als neuer Mittelpunkt und Rechtfertigung der Gesellschaftsordnung die heilige Kollektivpersönlichkeit der Nation, l'.i 226
war sich der Größe seiner Aufgabe bewußt. »Celui qui ose entreprendre d'instituer un peuple doit se sentir en état de changer pour ainsi dire la nature humaine, de transformer chaque individu, qui par lui-même est un tout parfait et solitaire, en partie d'un plus grand tout dont cet individu reçoive en quelque sorte sa vie et son être.« Die Souveränität des Fürsten, iler ein einzelner gewesen war, sollte durch die Souveränität des Volkes, das zu einer Einheit im höheren Sinne werden mußte, ersetzt werden. Diese neue einigende Kraft einer neuen Ära, die über Frankreich, und durch Frankreich über der westlichen Menschheit aufging, sollte der Nationalismus werden.
9 Man kann den Einfluß, den Rousseau auf die Entwicklung des modernen politischen Denkens gehabt hat, kaum übertreiben. In gewisser Hinsicht nahm er in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die gleiche Stellung ein, die Nietzsche in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr hunderts innehatte. Beide waren sie Kritiker an der Kultur ihrer Zeit, und, von diesem Punkte ausgehend, befaßten sie sich mit dem allgemeinen Pro blem der Kultur, die, nach der Ansicht ihrer optimistisch denkenden Zeit genossen, auf sicheren Grundlagen zu ruhen schien und in beständigem Fortschritt begriffen war. Bei aller Verschiedenheit ihrer Interessen und Schriften waren sie beide im Grunde Moralphilosophen, und beide waren lie mehr Künstler und Propheten als Gelehrte. Ihre hochempfindsamen Gei nter registrierten bevorstehende Wandlungen in der geistigen Atmosphäre Kuropas. Da sie beide nach Ausdrücken und Formulierungen für künftige und manchmal beinahe unwahrnehmbare Geisteshaltungen suchten, waren Ihre Schriften notwendigerweise widerspruchsvoll und mannigfaltigen und widerspruchsvollen Auslegungen offen. Rousseau half, die Grundlagen für »len demokratischen Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts und Nietzsche die für den faschistischen Nationalismus des zwanzigsten Jahr hunderts zu schaffen, obgleich viele Elemente ihres Denkens und ihrer Schriften dem entgegenstanden. Trotz aller Widersprüche ist Rousseau im Grunde immer der Geisteshallung treu geblieben, die er als Genfer Bürger eingenommen hatte, und die rr in einem seiner frühesten Werke, dem >Epître à M. Parisot< (17 4 1), »,um Ausdruck gebracht hatte. Obwohl jene Zeilen keine echte Dichtung enthalten — hierin unterscheidet sich Rousseau stark von Nietzsche — sind nie doch wert, hier aufgeführt zu werden, denn in ihnen sind bereits alle 227
jene Elemente vorhanden, die noch in seinen letzten politischen Schriften zu finden sind.
Mais on m'apprit qu'ayant aussi par ma naissance Le droit de partager la suprême puissance, Tout petit que j'étois, foible, obscur citoyen, Je faisois cependant membre du souverain; Qu'il falloit soutenir un si noble avantage Par le coeur d'un héros, par les vertus d'un sage; Qu'enfin la liberté, ce cher présent des deux, N'est qu'un fléau fatal pour les coeurs vicieux. Avec le lait, chez nous, on suce ces maximes, Moins pour s'enorgueillir de nos droits légitimes Que pour savoir un jour se donner à la fois Les meilleurs magistrats er les plus sages lois. Vois-tu, me disoit-on, ces nations puissantes Fournir rapidement leurs carrières brillantes? Tout ce vain appareil qui remplit l'univers N'est qu'un frivole éclat qui leur cache leurs fers. Par leur propre valeur ils forgent leurs entraves : Ils font les conquérants, et sont de vils esclaves ; Nous vivons sans regret dans l'humble obscurité; Mais du moins dans nos murs on est en liberté. Nous n'y connoissons point la superbe arrogance, Nuls titres fastueux, nulle injuste puissance. De sages magistrats, établis par nos voix, Jugent nos différends, font observer nos lois. L'art n'est point le soutien de notre république : Etre juste est chez nous l'unique politique. Rousseau war, wie Dante und Petrarca, einer der großen Exilfiguren der Geschichte. Aus seiner Geburtsstadt verbannt, baute er seine Gedankenwell auf einer mit Heimweh getränkten Erinnerung an die bürgerlichen und republikanischen Tugenden von Calvins Gemeinde, in der die alttestamen tarische Theokratie und die Überlieferungen des republikanischen Rom und der Stoa durch die Reformation in einem fleißigen und stolzen Mittel stand zu neuem Leben erweckt worden waren. Die geistige Atmosphäre in Genf und in England während des siebzehnten Jahrhunderts waren sich in mancher Hinsicht ähnlich, und Roussseau selbst war nicht ganz frei von >Anglomanie<. In einer Bemerkung zum siebzehnten Kapitel im zweiten Buche des >Contrat Social· hob er die Bedeutung Calvins hervor, aber 228
nickt so sehr als Theologe, als vielmehr als politischer Führer und Ge setzgeber. Im Unterschied zu den Puritanern hatte Rousseau, der ein Jahr hundert später lebte, den calvinistischen Kult durch eine Naturreligion er setzt. Doch war der Calvinismus von grundlegender Bedeutung für die Bildung seines Geistes gewesen. »Quelque révolution que le temps puisse amener dans notre culte, tant que l'amour de la patrie et de la liberté ne sera pas éteint parmi nous, jamais la mémoire de ce grand homme (Calvin) ne cessera d'y être en bénédiction.« Seine schlechten Erfahrungen in einem fremden Lande steigerten seine Anhänglichkeit an die kleine Republik, in der er geboren war, wo es keine Machtpolitik und keine Ruhmes- und Eroberungsgedanken gab, wo die Unabhängigkeit und die Freiheit geschätzt und strenge Auffassungen von der Tugend hochgehalten wurden. Weil Rousseau als Verbannter nach Frankreich gekommen war, konnte er diese neue Heimat objektiv betrachten. Die Generation von Voltaire hatte in einem gesicherten gesellschaftlichen Rahmen gelebt, der sich um Versailles und um aufgeklärte Monarchen, die ein neues Ideal, das des philosophischen Monarchen, zu verkörpern schienen, spannte. Aber der Zerfall dieser Gesellschaftsordnung war bereits weiter vorgeschritten, als die Philosophen und ihre königlichen Schüler es ahnten. Der letzte, und der bei weitem aufrichtigste, aufgeklärte Monarch, der Habsburger Jo seph II., schien die Notwendigkeit zu einer beschleunigten Reform der Grundlagen der Gesellschaftsordnung zu empfinden. Aber seine Bemühun gen führten zu einem traurigen Mißerfolg, der sich vor dem tragischen Hintergrund des Aufruhres, durch den seine unglückliche Schwester und die ganze Gesellschaftsordnung von Versailles hinweggefegt wurden, ab spielte. Die Revolution war nicht Rousseaus Werk. In seinen politischen und gesellschaftlichen Auffassungen war er eher konservativ. In seinen Rat schlägen an die Bevölkerung von Genf drang er immer auf Ruhe und Mä ßigung, und er warnte vor revolutionären Änderungen. Er fürchtete den gewaltsamen Aufruhr, den er deutlich kommen sah. Er konnte nicht mehr länger mit den Waffen der scharfen Satire und des glänzenden Witzes den Kampf um die Reformierung einer Gesellschaftsordnung, die in anschei nend noch unzerstörbaren Grundlagen verankert zu sein schien, führen. Voltaire und Diderot waren nicht nur vom geistigen und sittlichen Fort schritt der Menschheit überzeugt, sondern ebenso von dessen Einfluß auf die Verbesserung der Gesellschaft und der Gesellschaftsordnung. Rousseau war der erste, der an der Identität oder dem Gleichlauf von kulturellem Fortschritt und dem Wachstum des moralischen Bewußtseins zweifelte, was 229
seinen Zeitgenossen als ein gewagtes Paradoxon erschien. Ein unglücklicher und gequälter Außenseiter, ein Umherirrender ohne Heim und Familie, stellte Rousseau die Gültigkeit von Gesellschaft und Kultur in Frage. Aus seinem persönlichen Schmerze heraus empfand er die schwere Krankheit der Zeit, und er bot ihr die heilsame Vision einer neuen Gesellschaftsord nung und seinen enthusiastischen Glauben an die Kraft des menschlichen Herzens, für diese zu kämpfen. Der unzerstörbare Kernpunkt seiner Hoffnungen, inmitten der allge meinen Dekadenz, war sein dem achtzehnten Jahrhundert gemäßer Glaube an die innewohnenden Kräfte und die Freiheit des Menschen. Er war an der zufällig herrschenden Regierungsform nicht interessiert. Er hatte von Montesquieu gelernt und auch aus seiner eigenen Geschichtsbetrachtung er fahren, daß jede abstrakte Diskussion über die beste Form der Regierung zwecklos ist, wenn man dabei die Tatsache übersieht, daß jede Regierungs form in manchen Fällen die beste, und in anderen wieder die schlechteste sein kann. Seine Sorge galt der Findung einer Regierungsform, deren Grundlagen mit der Freiheit des Menschen und mit seiner Würde als ver nünftiges Wesen vereinbar ist. Der natürliche Mensch und die natürliche Ordnung waren für ihn nicht historische Tatsachen, die einer fernen Ver gangenheit angehörten, sondern ewige Normen, die für solche Völker, die den Wunsch hatten, die zweifelhaften und willkürlichen Grundlagen der Gewaltherrschaft durch die ewigen Grundlagen einer rationalen Ge sellschaft freier Menschen zu ersetzen, das einzig mögliche Richtmaß waren, Nur so konnte man jenen Widerspruch überwinden, der darin bestand, daß die Menschen zwar frei geboren, aber doch überall gefesselt waren. Da weder Gewalt noch Recht eine rechtmäßige Machtordnung schaffen kön nen, da Gesellschaft aber sein muß und der Mensch nur in ihr existieren kann, muß ein Weg gefunden werden, auf dem der Mensch die Gesellschaft aus eigenem Antriebe will und bereit ist, den Gesetzen Folge zu leisten, die er für sich selbst geschaffen hat. In dieser neuen, durch Vertrag zustandegekommenen Gesellschaft, in der die Menschen souverän sind, werden die unveräußerlichen Rechte des Indi viduums nicht aufgehoben, sondern in einem Staate, der nicht auf Willkür und Gewalt, sondern auf dem moralischen Gesetz beruht, geschützt. Eine willkürliche Opposition des Individuums gegen diesen Staat wäre eine Ab surdität und ein Vergehen gegen die Gesetze der Ethik. Aber diejenigen, die später die Form von Rousseaus Gemeinwesen, jedoch ohne seinen dem achtzehnten Jahrhundert eigentümlichen Geist, übernahmen, haben leicht den Umstand übersehen, daß der Gemeinwille von Rousseaus Staat nur aus 230
lier vernunftmäßigen Freiheit und Gleichberechtigung aller Menschen, die er darstellte, Gültigkeit erhält, anders aber null und nichtig ist und sich in Tyrannei verwandelt, wenn nämlich eine, wenn auch noch so starke, Mehr heit einer Minderheit Gleichberechtigung und Gerechtigkeit versagt. Die >totalitäre< Form von Rousseaus Gemeinwesen sollte dem Gemeinwillen eine bessere Grundlage bieten als die Willkürherrschaft, die Rousseau um Bich herum sah — Regierungen, an denen nur einige wenige Individuen, iler König oder eine Oligarchie, teilhatten. Aber das Ziel seiner >totalitären< Gesellschaft war nicht die Schaffung einer neuen Hierarchie oder die Aus bildung einer neuen Elite, sondern das rationale und humanitäre Ziel des individuellen Glückes, des Friedens und der Gleichberechtigung. Die Generation der Französischen Revolution sah nicht unberechtigt in Rousneau die Quelle der Freiheit, der Gleichberechtigung und der Brüderlich keit. Mit einem an Nietzsche gemahnenden Scharfblick verkündete Rousseau, daß »nous approchons de l'état de crise et du siècle des révolutions«. Die Kraft, der Krise gegenüber zu treten und in der zerfallenden Welt einen neuen Sammelpunkt zu errichten, kam ihm aus dem calvinistischen Be wußtsein seiner Vaterstadt, ein neues Israel, ein auserwähltes Volk, eine heilige Nation zu sein. Natürlich hatte die Freiheit in Genf mit Demokratie Im modernen Sinne so wenig zu tun, wie die Freiheit in den puritanischen Siedlungen des siebzehnten Jahrhunderts in Neu-England; es ging dort be»chränkt und bigott zu, aber dennoch gab es dort Freiheitsgefühle, die an derswo auf dem europäischen Kontinent unbekannt waren, einen Stolz auf ilie nationale Souveränität, einen von allen Bürgern geleisteten freiwilligen Militärdienst zum Schutze des Vaterlandes — alles Keime jenes echten Va terlandes, welches die Enzyklopädisten für Frankreich und für alle Länder herbeisehnten. Aus einer Genfer Erbschaft heraus schuf Rousseau seinen Idealen Staat des >Contrat Social·, wenn auch die Freiheiten und Tugenden Im wirklichen Genf bei weitem nicht identisch mit denen seines idealisier ten Abbildes waren. So wie Platons Staat eine Idealisierung Spartas war, »o war das Genf des Verbannten nicht nur eine Frucht des Heimwehs, son dern auch das Gebäude eines rationalen Gesetzgebers. Das Abbild Genfs, des wahren wie des idealisierten, begleitete ihn sein ganzes Leben hindurch. Hie patriotischen Tugenden der antiken Stadtrepubliken, die alttestamenlarische Theokratie des Calvinismus, die stolze Geschichte der Unabhängig keit der Schweizer Genossenschaften — diese Überlieferungen spiegelten »Ich, wenn auch etwas verzerrt, so doch immerhin erkennbar, im Genfer Wicht und im Genfer Leben. 231
Rousseau hat seinen »Discours sur l'origine et les fondements de l'iné galité parmi les hommes« (1754) der Republik Genf, mit einer langen unil glühenden Lobschrift auf ihre Einrichtungen und auf ihren Geist, gewidmet, Aus jenen Zeilen sprach der patriotische Stolz eines Republikaners, aber ci war ein konservativer Verehrer der Freiheit und der überlieferten Gesetze und Sitten, welche diese sicherten und erhielten, der seinen Glauben in einer Weise zum Ausdruck brachte, die auch für einen Burke annehmbar gewesen wäre. Ungefähr um die gleiche Zeit veröffentlichte er einen Auf satz, >De l'économie politique«, im fünften Band der Enzyklopädie. Dort betonte er die Notwendigkeit, ein guter Bürger zu sein, und er hielt die Vaterlandsliebe für das beste Mittel auf diesem Wege. »L'amour de la patrie est (le moyen) le plus efficace; car, comme je l'ai déjà dit, tout homme est vertueux quand sa volonté particulière est conforme en tout à la volonté générale, et nous voulons volontiers ce que veulent les gens qui nous aimons.« Er nannte die Vaterlandsliebe die heroischste aller Lei denschaften, die fähig ist, die größten Wunder an Tugend hervorzurufen; er zog Cato sogar dem Sokrates vor. Doch hier, wie auch in allen späteren Schriften Rousseaus, war immer der individuelle Bürger die Grundlage de:» Vaterlandes, und dessen, wie jedes anderen Bürgers Glück und Freiheit, wa ren der Hauptzweck des Staates. »En effet, l'engagement du Corps de la nation n'est-il pas de pourvoir à la conservation du dernier de ses mem bres avec autant de soin qu'à celles de tous les autres? Et le salut d'un citoyen est-il moins la cause commune que celui de tout l'Etat? Qu'on nous dise qu'il est bon qu'uri seul périsse pour tous; j'admirerai cette sentence dans la bouche d'un digne et vertueux patriote qui se consacre volontièrement et par devoir à la mort pour le salut de son pays. Mai» si l'on entend qu'il soit permis au Gouvernement de sacrifier un innocent au salut de la multitude, je tiens cette maxime pour une des plus exécrable» que jamais la tyrannie ait inventées, la plus fausse qu'on puisse avancer, la plus dangereuse qu'on puisse admettre, et la plus directement opposée aux lois fondamentales de la société.« Aber die Grundaufgabe des Staates besteht nicht nur darin, die Freiheit und das Glück jedes einzelnen Einwohners zu sichern, denn seine Recht mäßigkeit hängt von den Tugenden all seiner Bürger ab. In diesem Sinne müssen diese auch erzogen werden. Wie die Physiokraten, bestand aurli Rousseau darauf, daß die öffentliche Erziehung aller Kinder eine zentrale Stellung im Staat einnehmen müsse. »L'éducation publique, sous des règle» présentes par le Gouvernement, et sous des magistrats établis par le son verain, est donc une des maximes fondamentales du Gouvernement popu · 232
laire ou légitime. Si les enfants sont élevés en commun dans le sein de l'egalité, s'ils sont imbus des lois de l'état et des maximes de la volonté générale, s'ils sont instruits à les respecter par-dessus toutes choses, s'ils sont environnés d'exemples et d'objets qui leur parlent sans cesse de la tendre mère qui les nourrit, de l'amour qu'elle a pour eux, des biens in estimables qu'ils reçoivent d'elle, et du retour qu'ils lui doivent, ne dou tons pas qu'ils n'apprennent ainsi à se chérir mutuellement comme des frères,. . . et à devenir un jour les défenseurs et les pères de la patrie, dont ils auront été si longtemps les enfants.« So sollten von Kindheit an die Ideale der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit im Dienste am gemeinsamen Vaterland in die Herzen der künftigen Bürger eingepflanzt werden. Obgleich diese Ideale im wirklichen Leben seiner Geburtsstadt Genf nicht verwirklicht waren, schöpfte Rousseau doch aus seinen Jugenderinnerungen die Eingebungen, die ihn zu einer Auffassung gelangen ließen, derzufolge er die calvinistische Schlichtheit der überfeinerten und »korrupten« franzö sischen Zivilisation, und die »unschuldigen« Volksfeste eines harmonischen und glücklichen Volkes den Vergnügungen einer Aristokratie gegenüber stellte. Als d'Alembert in seinem Artikel über Genf in der »Encyclopédie« die Einführung von Theatergesellschaften in der calvinistischen Stadt vor schlug, verteidigte Rousseau in seiner »Lettre à M. d'Alembert« (1758) die überlieferten Gebräuche seiner Heimatstadt und setzte sich für einfache Festspiele, die den Geist der Brüderlichkeit, des Patriotismus und die kämp ferischen Tugenden fördern, ein. Er führte die Festspiele von Sparta an als Vorbild dessen, was er in Genf eingeführt zu sehen wünschte. Er gab eine eingehende Schilderung einer Szene, deren Zeuge er einstmals zusammen mit seinem Vater gewesen war, und die ihn tief beeindruckt hatte. Er hatte das Regiment von Saint-Gervais gesehen, wie es nach der Rückkehr von einem Manöver auf der Place de Saint-Gervais einen Tanz veranstaltet hatte, wobei Offiziere und Soldaten sich bunt mischten. Ihr Tanz wurde zu einem spontanen allgemeinen Fest, an dem die Menge teilnahm. »Mon père en m'embrassant fut saisi d'un trésaillement que je crois sentir et partager encore. »Jean-Jacques« me disait-il, »aime ton pays. Vois-tu ces bons Gene vois? Ils sont tous amis, ils sont tous frères, la joie et la concorde rég nent au milieu d'eux. Tu es Genevois; tu verras un jour d'autres peuples; mais quand tu voyagerais autant que ton père, tu ne trouveras jamais leurs pareils.« Und Rousseau fühlte sich zu dem Schlüsse veranlaßt, daß die einzig reine Freude die Freude der Allgemeinheit sei, und daß man die wahren natürlichen Gefühle nur unter dem Volke finde.
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Trotz all dieser bewegenden Kindheitserinnerungen war sich Rousseau wohl bewußt, wie weit entfernt das wirkliche Genf von seiner Idealstadl war. In einem Abschnitt seiner >Confession<, in dem er über seinen kurzcu Besuch in Genf im Jahre 17 3 2 berichtet, spricht er selber darüber: »En pas sant à Genève je n'allai voir personne, mais je fus prêt à me trouver mal sur les ponts. Jamais je n'ai vu les murs de cette heureuse ville, jamais je n'y suis entré, sans sentir une certaine défaillance de coeur qui venoit d'uu excès d'attendrissement. En même temps que la noble image de la liberté m'élevoit l'âme, celles de l'égalité, de l'union, de la douceur des moeurs, me touchoient jusqu'aux larmes, et m'inspiroient un v if regret d'avoir perdu tous ces biens. Dans quelle erreur j'étois, mais qu'elle étoit naturelle! Je croyais voir tout cela dans ma patrie, parce que je le portois dans mon coeur.« Und in einem späteren Abschnitt, in welchem er von seiner Ab sicht eine Institution politique< (einen Vorläufer des >Contrat Social·) zu schreiben berichtet, wußte er, wie weit das Bild, welches er aufzuzeichnen gedachte, über die Wirklichkeit Genfs hinausging. »Je voyais que tout cela se menait à de grandes vérités, utiles au bonheur du genre humain, mais surtout à celui de ma patrie, où je n'avais pas trouvé, dans le voyage que je venais d'y faire, les notions des lois et de la liberté assez justes, ni assez nettes à mon gré; et j'avais cru cette manière indirecte de les leur donner, la plus propre à ménager l'amour-propre de ses membres, et à me faire pardonner d'avoir pu voir là-dessus un peu plus loin qu'eux.« A ls er dann schließlich den >Contrat Social· veröffentlicht hatte, war die einzige Regierung, die das Buch verbrennen ließ, die seiner Heimatstadt Genf, die er als ein Vorbild hingestellt hatte. Kein Wunder, daß Rousseau tief verbittert wurde. In einem Brief an Moultou vom 2. April 176 3 beteu erte er sein Schamgefühl darüber, daß er immer noch den Titel eines Bür gers von Genf führte, einer Stadt, auf die er einstmals so stolz gewesen sei; am 12 . M ai des gleichen Jahres leistete er Verzicht auf sein Bürgerrecht, Doch seine Landsleute waren mit der Verwerfung des Buches nicht ganz im Unrecht gewesen, denn es stellte ja nicht ein bestimmtes Land oder eine bestimmte Stadt dar, auch nicht die Republik Genf, sondern ein auf dem ethischen Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts beruhendes IdealVaterland. Im Jahre 17 5 8 hatte Rousseau in dem Vorwort zu seiner >Lettre à M. d'Alembert«, die er voll Stolz als Bürger von Genf unterschrieben hatte, Folgendes gesagt: »Justice et vérité, voilà les premiers devoirs de l'homme. Humanité, patrie, voilà ses premières affections. Toutes les foll que des ménagements particuliers lui font changer cet ordre, il est cou234
pable.« Sieben Jahre später, nachdem er sich von Genf losgesagt hatte, Bchrieb er in einem Brief: »S'il est sur la terre un état où règne la justice et la liberté, je suis citoyen né de cet état-là.« Rousseau hatte recht; er war kein moderner Nationalist. Er würde jeden Integralen oder totalitären Nationalismus verworfen und verabscheut ha ben. Er wollte den Staat auf einer neuen, echt patriotischen Basis aufbauen, die aber zugleich auch die Grundlage einer rationalen Freiheit und Gerech tigkeit sein sollte. Sein Ziel war von Hobbes Absichten nicht grundsätzlich verschieden. Gleich ihm suchte Rousseau in einer Zeit des Verfalls nach neuen Grundlagen. »Civitas est persona una, cuius voluntas, ex pactis plurium hominum, pro voluntate habenda est ipsorum omnium, ut singulorum viribus et facultatibus uti possit ad pacem et defensionem communem«, hatte für Rousseau einen vertrauten Klang. Aber Rousseau war mißtrauisch «egen den Fürsten als den Vertrauensmann des Gemein willens, er traute tttich nicht dem aufgeklärten Fürsten, der zugäbe, daß sein eigenes Interesse ein gerechtes Regiment und die Wohlfahrt des Volkes verlangt. Am 26. Juli 1767 schrieb er an Mirabeau: »On prouve que le plus véritable intérêt du despote est de gouverner légalement, cela est reconnu de tous les temps; mais qui est-ce qui se conduit sur ses plus vrais intérêts? Le sage seul, »'il existe.« Um der Despotie zu entgehen, bedarf die Gemeinschaft der Menschen einer sichereren Grundlage, als sie die Verkörperung des Gemeinwillens in einem einzigen Menschen bietet. Es muß ein wahrer >corps moral et collec tif«, ein >moi commun«, ein kollektives Ich sein, von dem das Individuum, Keistig wie körperlich, ein Teil ist. Um in Gesellschaft leben zu können, muß der Mensch Gesetzen Folge leisten, sich beherrschen und seine ärgsten Feinde, nämlich Gier, Roheit und Unwissenheit, bekämpfen. Doch, und hierin stimmt Rousseau mit Milton und Kant überein, sind die Würde und die Freiheit des Menschen unter dieser Beschränkung nur dann gewahrt, wenn er Gesetzen unterworfen ist, die er sich selber auferlegt hat. So ge winnt der Mensch aus dem Contrat Social vor allen Dingen die moralische Freiheit, die ihn allein zum Herren seiner selbst macht: »Denn schon die bloßen Versuchungen der Begierden bedeuten Sklaverei, während der Ge horsam gegen ein Gesetz, das wir uns selbst auferlegen, dasjenige ist, was die Freiheit schafft.« Diese freien Menschen werden ganz natürlich auch xleichberechtigt sein. So ist es nicht verwunderlich, wenn Rousseau das höchste aller Güter, welches der Endzweck eines jeglichen Rechtssystems nein sollte, als Freiheit und Gleichberechtigung definiert. Von dieser Basis imsgehend, gelangte Rousseau zu dem äußerst wichtigen Schluß, daß das 235
kollektive Ich zu keiner bindenden Entschließung gelangen könne, ehe nicht die Sache der Gegenstand einer freien Abstimmung des gesamten Volkes ge worden sei. Und niemand darf von dieser Abstimmung ausgeschlossen wer den. »Pour qu'une volonté soit générale, il n'est pas toujours nécessaire qu'elle soit unanime, mais il est nécessaire que toutes les voix soient comp tées; toute exclusion formelle rompt la généralité.« Obwohl in Rousseaus Auffassung der Staat zu einer Kollektivpersön lichkeit geworden war, die theoretisch genau so lebensvoll wie ein Indivi duum war, so hat er doch niemals den Staat als ein Wesen mit einer eige nen Moral, mit einer eigenen Raison, der die einzelnen Individuen unter worfen wären, betrachtet. Manchmal sprach er so, als ob das Individuum im Staate aufgehen würde. Im >Emile< erklärte er, daß die besten gesell schaftlichen Einrichtungen diejenigen seien, »qui savent le mieux dénaturer l'homme; lui ôter son existence absolue pour lui en donnner une relative et transporter le moi dans l'unité commune; en sorte que chaque parti culier ne se croit plus un, mais partie de l'unité, et ne soit plus sensible que dans le tou t.. . . L'homme civil n'est qu'une unité fractionnaire qui tient au dénominateur et dont la valeur est dans son rapport avec l'entier, qui est le Corps social.« Den »Contrat Social· und den >Emile< hat Rousseau während des gleichen Lebensabschnittes geschrieben; aber im ersteren wird das Individuum als ein integrierender Teil der Gesellschaft beschrieben, während es im letzteren gänzlich außerhalb des Staates steht. Diese Widersprüche bei Rousseau, wie ähnliche bei Nietzsche, können aus dem Umstand erklärt werden, daß sie beide nicht auf der Suche nach wissen schaftlichen Lösungen waren, sondern als Propheten der Notwendigkeit gegenüber standen, Lösungen von Problemen zu finden, welche durch die Erfordernisse des Lebens und geschichtliche Wandlungen gestellt waren, die sie ihren Zeitgenossen weit voraus empfanden. Im Ringen um neue Lösungen hat Rousseau manchmal die individuelle Freiheit verabsolutiert, und andere Male wieder die gesellschaftliche Integrierung der Individuen zu einer vollkommenen Einheit. Dieses führte notwendigerweise zu unlös baren Widersprüchen und zu sprachlichen Unklarheiten. Doch trotz all die ser Widersprüche blieb das Individuum der Mittelpunkt von Rousseaus wie von Nietzsches Denken. Das Ziel der neuen Staatsordnung, wie sie sich Rousseau vorstellte, war das Glück und die Freiheit der Individuen. »Quelle est la fin de l'association politique? C'est la conservation et la prospérité de ses membres.« Nicht der Mensch war für den Staat geschaffen, sondern der Staat für den Menschen. »L'objet de la vie humaine est la félicité de l'homme.« 236
Aber die Widersprüche, die Rousseaus grundsätzlichen Individualismus überschatteten, waren aus den widerstreitenden Tendenzen, die Rousseaus (leist beherrschten, entstanden. Der Lesestoff, den er während seiner Jugend In sich aufgenommen hatte, hatte seinem leicht empfänglichen Geist das llild römischer und spartanischer Tugenden, die völlige Aufgabe des pri vaten Lebens und Interesses zugunsten der Verpflichtungen gegenüber der Allgemeinheit, eingeprägt. Ihr Patriotismus war für ihn nur noch anzie hender geworden, als er mit dem egoistischen Vergnügungsleben der fran zösischen Gesellschaft seiner Tage, mit deren Interesselosigkeit an den DinKen, die die Allgemeinheit betrafen, mit ihrer Geringschätzung der Ver antwortung gegenüber der Wohlfahrt der Nation, in enge Berührung kam. Wie viele seiner aufgeklärten Zeitgenossen sah auch er im zunehmenden Wachstum des Patriotismus ein Heilmittel gegen viele Krankheiten seines Jahrhunderts. Er hatte keine klare Vorstellung der notwendigen und wüniichenswerten Reformen. Grundvoraussetzung schien ihm ein Wandel auf dem Gebiete der Moral zu sein. Daher auch seine Betonung der Pflichten und des Verantwortungsgefühles gegenüber der Gemeinschaft, und daher auch sein Beharren auf der Tugend, von der er glaubte, daß sie nicht allein aus der Vernunft entspringen könne, sondern in den tiefen Gefühlen des I lerzens verankert sein müsse. Während Locke und die Enzyklopädisten das Schwergewicht auf Indi vidualismus und Rationalismus, als die Befreier des Menschen und der Geuellschaft aus den Fesseln der Vergangenheit, gelegt hatten, mußte Rousseau, bei dem Versuch, eine neue Gesellschaftsordnung unter diesen neuen Vor aussetzungen zu errichten, das Schwergewicht verlagern, ohne jedoch von den Grundlagen abzuweichen. Er wußte, daß diese neue Gesellschaft aus freien und gleichberechtigten Individuen nur unter der Voraussetzung be stehen könne, daß die auflösenden Kräfte der persönlichen Begehrlichkeit und Trägheit durch einen neuen Gemeinschaftssinn, durch die Einssetzung des Persönlichen für das Gemeinwohl überwunden werden müssen. Gleich zeitig aber sollte, und hierin war Rousseau ein echtes Kind des achtzehnten Jahrhunderts, diese Gemeinschaft solcherart sein, daß in ihr die persönliche Freiheit weder gehemmt noch unterdrückt, sondern im höchsten Maße ver wirklicht werden solle. In einem Brief an Mirabeau vom 26. Juli 176 7 be kennt er, daß er vor der Aufgabe stehe, eine Regierungsform zu finden, die das Gesetz über den Menschen stelle, eine Aufgabe, die mindestens genau so schwierig sei wie die Quadratur des Kreises. Wie er weiter im gleichen Briefe schrieb, könne dieses Ziel nur durch die Schaffung >einer strengen Demokratie«, einer auf Vernunft, Freiheit und Bereitwilligkeit beruhenden
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Gemeinschaft erreicht werden. Rousseau hatte die leicht faßbare Souveräni tät des Fürsten durch den Begriff der Volkssouveränität ersetzt. Der sou veräne Wille beruhte nunmehr auf allen Individuen, die sich zu einem in sich geschlossenen Ganzen vereinigten, und die ihren Willen in der »volonté générale« zum Ausdruck brachten. Obgleich die »volonté générale« das Produkt aus den vielen einzelnen Willen der Individuen war, konnte sie doch vom Willen des Einzelnen verschieden sein; und dennoch vertrug sie sich mit dem Willen jedes einzelnen Gliedes, denn sie war ja nicht der Ausdruck des Willkürlichen und Zufälligen, sondern des Vernünftigen und Guten, der Ausdruck jener Auffassung von Tugend, die jedes einzelne Glied beseelen sollte. Eine Nation, die sich im Gemeinwillen ausdrückte, konnte für Rousseau niemals ein Produkt der Natur sein. Die deutschen Denker der Romantik haben ihn falsch verstanden, als sie seine kulturethische Antithese — Natur und volkhafte Überlieferung gegenüber aristokratischer und städtischer Zi vilisation — auf das Gebiet des Gesellschaftswesens und des Nationalismus übertrugen. Sie führten eine Trennung von Staat und Nation durch: den Staat betrachteten sie als eine mechanistische und juristische Konstruktion, als ein künstliches Produkt geschichtlicher Zufälle, während sie von der Nation glaubten, sie sei ein Geschöpf der Natur und deshalb etwas Heiliges, Ewiges, Organisches, das eine tiefere Rechtfertigung habe, als das Werk des Menschen. Nichts konnte sich von Rousseaus Denken weiter entfernen, denn für ihn waren Nation und Nationalstaat nichts »Natürliches« oder »Organisches«, sondern das Produkt aus dem Willen der Individuen. Wäh rend nach der Auffassung der deutschen Romantiker jeder Mensch »von Natur aus« einer Nation angehörte, vereinten sich nach Rousseaus Auffas sung die Menschen durch einen freien Willensakt zur Nation. So konnte er im ersten Entwurf zum »Contrat Social« über den Absatz, der die Frage behandelt, wie die Menschen sich zu einer Nation vereinigen, als Leitsatz schreiben: »Je cherche le droit et la raison.« Mit den Romantikern teilte Rousseau die Abneigung gegen die wach sende städtische und kapitalistische Zivilisation, aber er blickte nicht sehn suchtsvoll auf das Mittelalter zurück. Nichts lag ihm ferner als eine Ideali sierung der mittelalterlichen Stände und der Feudalordnung, die er als »cet inique et absurde gouvernement dans lequel l'espèce humaine est dégradée et où le nom d'homme est en déshonneur«, bezeichnet hat. Er haßte am Mittelalter den Mangel an individueller Freiheit und die hierarchische Ord nung, die die Gleichberechtigung aufhob, genau jene beiden Dinge, welche den Romantikern das Mittelalter so lieb und wert machten. Seine Ideale in 238
der geschichtlichen Vergangenheit — die er übrigens in einem genau so un wirklichen Lichte sah wie die Romantiker das Mittelalter — waren das an tike Sparta und das republikanische Rom, die Quellen, die den Individualis mus der Renaissance und die Gleichheitsidee der Französischen Revolution nährten. Die Gemeinwesen, die Rousseau zu schaffen wünschte, ordneten ihr Leben streng nach moralischen Prinzipien, und er verwarf grundsätzlich jeden Unterschied zwischen privater und öffentlicher Moral. Die Staatsräson, das dynamische Eigeninteresse des Gemeinwesens als Motiv für Handlun gen, die außerhalb des strengen Bereiches der Moral lagen, war für ihn unannehmbar. Rousseaus idealer Staat war wohl omnipotent, aber er war eine Demo kratie, die auf der tätigen Anteilnahme aller Bürger, die niemals ihre Grund rechte auf die Dauer einem Dritten übertragen würden, als Gesetzgeber und auf ihrer absoluten Gleichberechtigung beruhte. Er war wohl ein au tarker Staat, aber er war statisch, und jegliche Dynamik, und erst recht jede Expansion, waren ihm ein Greuel, es war ein absolut friedfertiger Staat, der die Armut dem Ruhm und dem Heroismus wie auch dem Reichtum vor zog. In seiner »Lettre à M. d'Alembert< hat Rousseau nicht nur gegen die Einführung geringwertiger Komödien in Genf protestiert, sondern auch gegen die Einführung von Tragödien, trotz ihres edlen Pathos und ihrer Anrufung der Tugend. »La tragédie nous représentera des tyrans et des héros. Qu'en avons-nous à faire? Sommes-nous faits pour en avoir ou les devenir? Elle nous donnera une vaine admiration de la puissance et de la grandeur.« Für die Machtpolitik war kein Raum in Rousseaus Geist. Er anerkannte wohl die inneren Tugenden des republikanischen Rom und Sparta, aber er verabscheute ihre Expansionspolitik. Das Römische Reich, wie Reiche überhaupt, waren ihm zuwider. Rousseau verwarf nicht nur Expansionsgelüste, sondern große Staaten als solche, denn sie schienen ihm mit der Freiheit und Gleichheit der Bürger, mit dem Glück und der Fried fertigkeit des Gemeinwesens unvereinbar zu sein. Durch die Anrufung der Moral und des Gefühles, die sein ganzes Werk durchdrang, übte Rousseau einen ungeheuren Einfluß aus. Sein Bestehen auf Freiheit und Volksregierung, sein Haß gegenüber Unterdrückung und Tyrannei, seine Liebe zum Menschen und seine Anteilnahme an den Ge schicken des gemeinen Mannes — all dieses traf auf ein Publikum, welches durch den Individualismus und durch den humanitären Geist seiner Zeit wohl vorbereitet war. Aber sein glühendes Eintreten für die patrie und für den citoyen, für das Stimmrecht und für die Souveränität brachten einen neuen Klang in die Diskussion. Obgleich der »Contrat Social· ein rein 239
abstraktes Buch war, das aus jenem natürlichen Licht, welches Rousseau in seinem Brief an Mirabeau so kritisch behandelt hatte, hergeleitet war und sich darauf berief, war es ihm doch gelungen, die >penchants du coeur humain< und das >jeu des passions« in den Dienst an seinem Utopia mit einzubeziehen. Ein Zeitgenosse der Französischen Revolution hat Rousseaus äußerst wichtigen Beitrag nicht nur zur Vorbereitung der Revolution, son dern auch zum modernen demokratischen Nationalismus, folgendermaßen zusammengefaßt: »C'est avec la vertu publique de Rousseau que l'Assem blée nationale, après plusieurs siècles de barbarie et de délire, durant lesquels la politique des philosophes avait été méconnue, oubliée, récréa la politique naturelle qui va faire le tour du monde: j'entends la morale réciproque et générale, cette morale publique et commune, soit au dedans, soit au dehors, entre les sociétés que les hommes civilisés forment les unes auprès des autres sur la terre.« Das Jahrhundert nach Rousseau war von dem Ideal freier Gemeinwesen, die sich auf die tätige Anteilnahme gleich berechtigter Bürger gründeten und auf dem Geist der Hingabe an eine ge meinsame Idee beruhten, beherrscht. Er hat die Menschen gelehrt, daß ihre oberste Loyalität der >nationalen< Gemeinschaft gehörte, die auf Recht, Frei heit und Gleichheit beruhte und durch ein Gefühl der Brüderlichkeit und der gegenseitigen Treue zusammengehalten wurde. Ein solches Gemeinwe sen konnte nur auf dem Willen all seiner Glieder aufbauen. Diesen Willen zu erziehen, die Bedingungen zu schaffen, die seiner Entstehung und seiner Dauerhaftigkeit günstig sind, das war die zentrale Aufgabe, die die Bildung einer Nation stellte. Rousseau hat den modernen Nationalstaat weder kulturell noch politisch vorbereitet; politisch ist dieser von den absoluten Monarchen vorbereitet worden, wobei Rousseau wohl viel dazu beigetragen hatte, daß sich die Basis vom König zum Volk hin verschob, und kulturell hat ihn Herder, der wohl Rousseau verpflichtet war, vorbereitet. Aber Rousseau hat für die moderne Nation die gefühlsmäßigen und moralischen Grundlagen ge schaffen, er hat den >amour de la patrie< und den >élan de la vertue< für den Staat mobilisiert. Nur ein freier Staat, in dem jeder Bürger eine tätige Mitverantwortung für das Allgemeinwohl empfindet und trägt, wird ir gendwelche Kräfte aus dem einmal erweckten Interesse seiner Bürger ge winnen. Dieser Zuwachs an Lebenskraft ist nicht nur eine Frage des wirt schaftlichen Eigeninteresses. »On ne peut fair agir les hommes que par leur intérêt, je le sais; mais l'intérêt pécuniaire est le plus mauvais de tous, le plus vil, le plus propre à la corruption, et même, je le répète avec con fiance et le soutiendrai toujours, le moindre et le plus faible aux yeux de 240
qui connaît bien le coeur humain. Il est naturellement dans tous les coeurs des grandes passions en réserve; quand il n 'y reste plus que celle de l'argent, c'est qu'on a énervé, étouffé toutes les autres, qu'il fallait exciter et développer.« Wenn aber die großen Leidenschaften des mensch lichen Herzens im Interesse des Staates mobilisiert werden — was einzig durch die Gewährung von Freiheit geschehen kann — dann »de l'efferve scence excitée par cette commune émulation naîtra cette ivresse patrio tique qui seule sait élever les hommes au-dessus d'eux-mêmes, et sans la quelle la liberté n'est qu'un vain nom et la législation qu'une chimère«. Diese Berauschung am Patriotismus, diese Vaterlandsliebe als der Lebens saft der Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit, diese Geisteshaltung, die den Jahrhunderten vor Rousseau unbekannt gewesen war und welche die Jahrhunderte nach ihm so gut kennen: das war der Hauptbeitrag, den Genfs größter Bürger und Verbannter zur Entstehung des modernen Natio nalismus geleistet hat. Es war seine Absicht gewesen, dieses Gefühl in den Dienst an der Befrei ung des Menschen, der Erweckung der Massen aus der Lethargie zu tätigem Leben, aus Knechtschaft zu stolzer Willensfreiheit zu stellen. Es steht außer allem Zweifel, daß es diesen Dienst auch tatsächlich geleistet hat. Aber Rousseau konnte nicht voraussehen, daß es zu einem neuen finsteren Zeit alter führen würde, in dem Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit einem Leviathan zum Opfer fielen, der ungleich viel tödlicher wirkte als Hobbes' kaltes Ungeheuer, weil seine Vitalität ins Unermeßliche gesteigert worden ist durch die Darbietung all jener Liebe und Hingabebereitschaft, die von Rousseau und seinen Anhängern in den Herzen der Menschen erweckt wor den waren. Rousseau hätte sich mit Abscheu von dem jüngsten Kinde seines Geistes abgewandt, denn es war seine feste Überzeugung gewesen, daß alle Menschen und alle Nationen dem gleichen Vernunftrecht gehorchten und daß die Hauptaufgabe der Gesetzgebung darin bestehe, jedem Menschen dieses unverletzbare und unveränderliche Recht offenbar zu machen. In seinem Vorschlag zur Neugestaltung des nationalen Lebens Polens sprach er von »la Loi de la nature, cette Loi sainte, imprescriptible, qui parle au coeur de l'homme et à sa raison«; in seinem Verfassungsentwurf für die Korsen versicherte er diesen: »Je ne veux point vous donner des lois arti ficielles et systématiques, inventées par des hommes; mais vous ramener sous les seules lois de la nature et de l'ordre, qui commandent au coeur et ne tyrannisent point les volontés.«
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Wie Montesquieu sah auch Rousseau, daß Geschichte, Klima und Umge bung Unterschiede zwischen den einzelnen Menschengruppen hervorriefen. Die Verfassungsentwürfe für Korsika und Polen zeigen ein zunehmendes Verständnis für das Wesen des Nationalismus, was vielleicht als eine Wi derspiegelung des allgemeinen Zuges der Zeit gedeutet werden könnte; beide Verfassungen sind nach dem »Contrat Social· verfaßt — die »Con sidérations sur le gouvernement de la Pologne« ist Rousseaus letzte poli tische Schrift gewesen. Die äußeren Umstände waren in beiden Fällen ver schieden: Korsika hatte die seltene Gelegenheit eines Neubeginnes, während Polen ein alter Staat im Stadium des Zerfalles war, dessen Überleben eine moralische und politische Wiedergeburt voraussetzte. Korsika war noch jungfräulicher Boden, und seine insulare Abgeschlossenheit, der Stand seiner gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung machten es, von Rousseaus Gesichtspunkt aus, zu einem idealen Grund für die Pflanzung seiner Ideen. Im »Contrat Social« hatte er Korsika als das einzige Land in Europa bezeichnet, in dem eine Gesetzgebung nach seinen Ideen noch mög lich wäre. So war denn Rousseau, als er von dem Korsen Matteo Buttafuoco die Aufforderung erhielt, die Grundrechte für die freiheitsliebende Insel und ihre selbstgenügsame primitive agrarische Bevölkerung aufzu stellen, von dieser Aufgabe begeistert; im Herbst des Jahres 17 5 6 schrieb er den Entwurf zu einer Verfassung für Korsika. Die beiden Entwürfe weisen eine verstärkte Betonung nationaler Eigen schaften und Einrichtungen auf, also von Produkten der Geschichte und der Erziehung, weniger von natürlichen Anlagen! Die Völker unterschei den sich voneinander in Einrichtungen, Festen und Sitten. Wenn sie an diesen Unterscheidungsmerkmalen festhalten, so können sie den Verlust der nationalen Unabhängigkeit überstehen und trotzdem ihre nationale Eigen art bewahren. »Donnez une autre pente aux passions des Polonais, vous donnerez à leurs âmes une physionomie nationale qui les distinguera des autres peuples, que les empêchera de se fondre avec eux.« Alle wirklichen Nationen müssen jedenfalls durch einen freiwilligen Akt, durch einen in großem feierlichen Zeremoniell geleisteten Eid gegründet werden — was an den »jour des confédérés« gemahnt, den 14 . Juli 1790, jenen Tag, an dem die französische Nation geboren ward. Rousseau entwarf die Eidesformel für die Korsen: »Au nom de Dieu tout-puissant et sur les saints Evangiles, par un serment sacré et irrévocable, je m'unis de corps, de biens, de volonté et de toute ma puissance, à la nation corse, pour lui appartenir en toute 242
r propriété, moi et tout ce qui dépend de moi. Je jure de vivre et mourir pour elle, d'observer toutes ses lois et d'obéir à ses chefs et magistrats légitimes en tout ce qui sera conforme aux lois. Ainsi Dieu me soit en aide en cette vie, et fasse miséricorde à mon âme. Vivent à jamais la liberté, la justice et la République des Corses. Amen.« Bemerkenswert ist die Reihen folge im letzten Satz: Freiheit und Gerechtigkeit stehen vor dem Vaterland. Das Ziel von Rousseaus Nationalismus war Freiheit und Gerechtigkeit, und nicht die Erhebung der Nation über universale humane Werte. Korsika hatte Rousseau eine Gelegenheit geboten, sein Utopia, eine kleine, völlig selbstgenügsame agrarische Gemeinschaft, worin alle, ohne große Besitzunterschiede, gleichberechtigt sein sollten, für den praktischen Gebrauch vorzuschlagen. Er haßte die großen Weltstädte, die die Eigen tümlichkeiten der Nationen zu vernichten und die Völker Europas zu ni vellieren scheinen. Schon im >Emile< hatte er geschrieben: »Toutes les capitals se resemblent, tous les peuples s'y mêlent, toutes les moeurs s'y confondent; ce n'est pas là qu'il faut aller étudier les nations. Paris et Londres ne sont à mes yeux que la même ville . . . C'est dans les pro vinces reculées, où il y a moins de mouvement, de commerce, où les étran gers voyagent moins, dont les habitants se déplacent moins, changent moins de fortune et d'état, qu'il faut aller étudier le génie et les moeurs d'une nation.« Den Korsen gegenüber drückte er sich sogar noch stärker aus: »Or, si les villes sont nuisibles, les capitales le sont encore plus; une capitale est un gouffre où la nation presque entière va perdre ses moeurs, ses lois, son courage et sa liberté . . . De la capitale s'exhale une peste con tinuelle qui mine et détruit enfin la nation.« Rousseau wünschte Korsika als ein ländliches Gemeinwesen zu erhalten, denn darin sah er den einzigen Garant der Freiheit. »Le seul moyen de maintenir un état dans l'indépendance des autres est l'agriculture. Le commerce produit la richesse; mais l'agriculture assure la liberté. On dira qui'il vaudrait mieux avoir l'une et l'autre; mais elles sont in compatibles.« Die Bauern seien auch bessere Soldaten und eher bereit, ihre Freiheit zu verteidigen. Ein allgemeiner Militärdienst schien Rousseau die einzige Möglichkeit zu sein, die Freiheit auf einer wirklich demokratischen Grund lage zu verteidigen. Bauern wie Städter sollten gleichermaßen an dieser Aufgabe teilnchmen. Alle sollten über die gleichen Rechte verfügen und auch die gleichen Lasten tragen, ohne Aristokratie, Privilegien oder erbliche Auszeichnungen. Da alle im Heere dienen würden, sollten auch alle als Magistrate wählbar sein. 243
Als überzeugter Pazifist bestand Rousseau auf einem allgemeinen M ili tärdienst. Korsika sollte nickt nur auf jeden Gedanken an militärischen Ruhm und an Expansionspolitik verzichten, es sollte auch jeglichem Wett bewerb mit anderen Staaten entsagen. Der Verkehr mit anderen Staaten sollte auf das Notwendigste beschränkt werden; das in sich abgeschlossene Land würde seine Einfachheit und seine ererbten Gebräuche bewahren und glücklich bleiben. »La nation ne sera point illustre, mais elle sera heureuse. On ne parlera pas d'elle; elle aura peu de considération au dehors; mais elle aura l'abondance, la paix et la liberté dans son sein.« Es paßt in dieses Bild, daß Rousseau die Einbürgerung von Fremden beschränkt wissen wollte, und daß die politischen Rechte nur den verheirateten Männern ge währt werden sollten. Ein großer Teil der Staatseinkünfte sollte aus dem unmittelbaren Dienst der Bürger als Soldaten in großen öffentlichen Unter nehmungen und Arbeitslagern gewonnen werden. Während die Gemein schaft reich und stark sein sollte, sollten die Einzelnen arm sein, wobei sich das Erbrecht aller großen Reichtümer annehmen sollte, so daß in jeder Generation ein Ausgleich des Besitzes stattfände, und jeder etwas, aber niemand zu viel besäße. So schien es, als ob Korsika Rousseau die Chance böte, sein idealisiertes Gemeinwesen aus dem >Contrat Social· in die Wirk lichkeit umzusetzen. Doch hat der Entwurf die Menschen, für die er be stimmt gewesen war, niemals erreicht. Bis lange nach Rousseaus Tod ist er, unter seinen Papieren vergraben, liegengeblieben. Von Rousseaus Standpunkt aus gesehen, befand sich Polen in einer viel ungünstigeren Lage als Korsika. Es war ein großes, von allen Seiten An griffen ausgesetztes Land, das von einer Aristokratie regiert wurde, die weit reichende Privilegien genoß. Bezeichnend für Rousseau war cs, daß er den Polen an erster Stelle und am dringlichsten riet, ihr Land zu verkleinern. Wenn die Nachbarn sich die Polen durch Herauslösung von Gebieten ver pflichten würden, so wäre dieses wohl für die annektierten Teile ein großes Unglück, aber für die restliche Nation wäre es ein Segen, denn es würde die Durchführung der unbedingt erforderlichen Reformen erleichtern. Selbst dann wäre es noch möglich, daß Polen zu groß sei, und es müßte sich erst in einen Bundesstaat umwandeln und seine Einheit in eine Anzahl kleinerer unabhängiger Gemeinwesen auflösen, die sich zu gemeinsamer Verteidi gung verbünden würden. Rousseau sah in dem föderativen Zusammen schluß kleiner Staaten eine Lösung, die eine Verbindung von Glück und Freiheit im Inneren und von Ordnung und Sicherheit nach außen gestattet. Das Wohlergehen des Staates beruhte für Rousseau auf dem Patriotismus seiner Bürger; dieser Patriotismus mußte durch Erziehung der Kinder und
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durch entsprechende Gebräuche und Einrichtungen im Mannesalter in den Herzen fest verankert werden. »C'est l'éducation qui doit donner aux âmes la forme nationale, et diriger tellement leurs opinions et leurs goûts, qu'elles soient patriotes par inclination, par passion, par nécessité. Un en fant, en ouvrant les yeux, doit voir la patrie, et jusqu'à la mort ne doit plus voir qu'elle. Tout vrai républicain suça avec le lait de sa mère l'amour de sa patrie: c'est-à-dire, des lois et de la liberté.« Denn Rous seau glaubte, daß nur eine Republik ein Vaterland sein könne, daß nur ein auf Gesetzen und Freiheit beruhendes Gemeinwesen eine Nation bilden könne. Er wußte, daß Freiheit nur durch Tugend, und Tugend nur durch Erziehung gesichert werden könne. Das Programm welches er für Polen auf stellte, stellte in den Mittelpunkt des gesamten Erziehungswesens eine ein gehende Kenntnis von den Dingen des Vaterlands und eine innige Liebe zu ihnen. Das Kind, das lesen lernt, soll von seinem Vaterland lesen; mit zehn Jahren sollte es bereits alle Erzeugnisse seines Landes kennen; mit zwölf all seine Provinzen, Straßen und Städte, mit fünfzehn die gesamte Geschichte, mit sechzehn Jahren all seine Gesetze. So sollte es dann in der ganzen Geschichte Polens keine große Tat und keinen berühmten Mann geben, der nicht in den Herzen der Kinder lebendig wäre. Eine derartige Erziehung machte den vollständigen Bruch mit den über lieferten Gepflogenheiten zu einer Notwendigkeit. Zu einer Zeit, da prak tisch die gesamte Erziehung in den Händen der Kirche und ausländischer Lehrer lag, machte Rousseau den Vorschlag, alle Ausländer und Geistlichen vom Erzieherberuf auszuschließen. Er schlug eine nationale und weltliche Erziehung vor, die alle Kinder ohne Rang- und Geldunterschiede umfassen sollte, und die durch Lehrer zu erfolgen hätte, die polnisch, verheiratet, un bescholten, aufgeklärt und wirklichkeitsnah sein müßten. Die körperliche Erziehung müsse einen wesentlichen Punkt des Lehrplanes ausmachen, da mit kräftige und gesunde Geister und innerlich gefestigte Charaktere her angezogen würden. Doch würde der Unterricht allein nicht ausreichen; Rousseau ahnte die Bedeutung der Sportplätze und der Spiele, »des insti tutions oiseuses aux yeux des hommes superficiels, mais qui forment des habitudes chéries et des attachements invincibles«. Der Erziehungsprozeß sollte nicht mit dem Ende der Jugendzeit abschließen; durch Wettkämpfe, Feiern und Schauspiele sollte den Erwachsenen die Geschichte ihrer Vorfah ren ins Gedächtnis zurückgerufen, sollten ihre Körperkräfte, ihr Stolz und ihr Selbstvertrauen gestärkt werden. So würden sie dem Vaterlande verbunden bleiben, und ihre Zuneigung »à cette patrie dont on ne cessait de les occuper« würde sich immer mehr verstärken. Diese Wettkämpfe und Feiern
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sollten alle ihr eigentümliches nationales Gepräge haben. »Il faut qu'on s'amuse en Pologne plus que dans les autres pays, mais non pas de la même manière. Il faut, en un mot, renverser un exécrable proverbe, et faire dire à tout Polonais au fond de son coeur: Ubi patria, ibi bene.« Rousseau erinnerte die Polen auch daran, den Wert imposanter und groß artiger öffentlicher Schaustellungen nicht zu unterschätzen und solche Ver anstaltungen nicht zu vernachlässigen, auf daß die Herzen der Menschen durch das, was sie mit den Augen wahrnehmen, die Majestät der Nation und derjenigen, die sie vertreten, erkennen mögen. Von den Vorschlägen, die Rousseau auf dem Gebiete der politischen Or ganisation in den »Considérations sur le gouvernement de Pologne< unter breitet hat, verdienen zwei besondere Erwähnung: er widersetzte sich der Wahl von Ausländern zu Königen, weil diese nur fremde Sitten einführen würden, und er forderte eine allgemeine Militärdienstpflicht in einer natio nalen Miliz. Eine Miliz würde geringe Unkosten verursachen, immer bereit sein und gut kämpfen, weil diese Männer ja für ihre eigene Sache einstehen würden. Die Offiziere sollten ausschließlich nach Verdienst und Erfahrung ernannt werden, so daß alle Bürger im Militärdienst nicht nur eine Pflicht, sondern auch eine Ehre sähen. »Toute la Pologne deviendra guerrière, au tant pour la défense de sa liberté contre les entreprises du prince que contre celles de ses voisins.« Der Miliz fiel eine noch wichtigere Aufgabe zu als die Verteidigung des Vaterlandes gegen auswärtige Angreifer. Ihre erste Pflicht war die ewige Bewachung der inneren Freiheiten des Volkes und der Schutz seiner Rechte. Wie alle liberalen Nationalisten von der Französischen Revolution an bis 1848, war auch Rousseau zutiefst da von überzeugt, daß ein freies Volk niemals ein anderes Volk angreifen würde. Im Geiste sah Rousseau einen Weltbund aus kleinen, unabhängigen und friedliebenden Staaten und eine Ausweitung der Herrschaft des Rechtes vom nationalen Stadtstaat zum menschheitumfassenden Weltstaat. Das »Projet de Paix Perpétuelle« (17 13 ) des Abbé de Saint-Pierre hatte ihn tief beein druckt; 17 6 1 veröffentlichte er eine Zusammenfassung dieses unförmigen und weitläufigen Werkes. Es stellte eine eindringliche Forderung dar nacli einer rationalen Weltordnung, in der zwischenstaatliche Kriege genau so als rechtswidrig erklärt würden, wie dieses bei Bürgerkriegen bereits der Fall war. Als Instrument dieses Bundes sahen Saint-Pierre und Rousseau unter anderem ein Bundesgericht vor, das Gesetze und Verordnungen er lassen könne, die für alle Mitglieder bindend sein sollten, sowie eine be waffnete Exekutivmacht, die gemeinsam gegen jeden Staat Vorgehen solle, 246
der sich den Beschlüssen des Bundes nicht fügt oder Kriegsvorbereitungen trifft, oder der ein Mitglied des Bundes angreifen will. Der Bund braucht nicht allumfassend zu sein, doch muß er so stark sein, daß ihn keine Macht anzugreifen oder die Zusammenarbeit mit ihm abzulehnen wagt, und er muß fest und dauerhaft sein, um seinen Mitgliedern den Austritt bei jeder Gelegenheit, wo sie glauben, daß ihr Eigeninteresse mit dem Allgemeininteresse unvereinbar sei, unmöglich zu machen. In seinem »Jugement sur la Paix Perpétuelle', das er 17 5 6 gleichzeitig mit einer Zusammenfassung des »Projet« geschrieben hatte, das aber erst 178 2 veröffentlicht worden ist, stellt Rousseau die Frage, warum die Öffentlich keit den Vorschlag nicht annehme, wenn er doch durchführbar sei. »II ne voit pas qu'il n'y a rien d'impossible dans ce projet, si non qu'il soit adopté par eux.« Kant hat in seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« (1795) die Pläne von Abbé de Saint-Pierre und Rousseau wieder aufgenommen. Aber wäh rend der Abbé zu Beginn des Jahrhunderts seine Hoffnungen auf die Regie rungen und die Fürsten gesetzt hatte, sah Kant am Ende des Jahrhunderts in freien republikanischen Verfassungen die einzig mögliche Grundlage für das Zustandekommen eines dauerhaften Friedens; während Saint-Pierre vom Geist des rationalen Optimismus der frühen Aufklärung durchdrun gen war, errichtete Kant sein Projekt auf einer tiefen Einsicht in die Natur des Menschen und der Ethik. Seine kleine Schrift, ist eine reife Frucht auf dem mächtigen Stamme der Aufklärung und des Rationalismus des acht zehnten Jahrhunderts, in dessen Schatten das zwanzigste Jahrhundert den Staat der Menschheit aufbauen muß, wenn es nicht von der umsichgreifenden Todeswüste verschlungen werden w ill; Kants Schrift wäre ohne das Wirken Rousseaus undenkbar gewesen. Obgleich Rousseau die Notwendigkeit, das Recht vom Stadtstaat auf den Weltstaat auszudehnen, erkannt hatte, war er doch von der vordringlichen Bekämpfung des menschlichen Egoismus durch die patriotische Hingabe zu stark in Anspruch genommen, um den Schwerpunkt seiner Aufmerksamkeit von der Nation — die damals noch in statu nascendi war — auf eine Vereini gung der Welt, für die die technischen und organisatorischen Voraussetzun gen noch nicht gegeben waren, zu verlegen. Diese Geisteshaltung kam in dem berühmten Kapitel über die Religion des Staatsbürgers am Ende des •Contrat Social« zum Ausdruck. Rousseau glaubte fest an den rationalistiichen weltlichen Staat, aber er wünschte das Nationalgefühl, das Band, welches die Individuen zu einer Gemeinschaft zusammenschließt, mit einer last religiösen Tiefe und Inbrunst zu begaben. Seine eigentliche Religion war der Patriotismus ; er war aber bereit, alle überlieferten Religionen unter 247
der Voraussetzung, daß sie tolerant sind und die Autorität des Staates nicht untergraben, anzuerkennen. Die Religion, zu der er sich am stärksten hingezogen fühlte, war ein rationales Christentum, das dem von Tolstoi ähnlich war, eine Religion ohne Tempel und Altäre, die dem Kult des Höchsten Wesens und der ewigen fl sittlichen Pflichten gewidmet war. Doch was den Internationalisten und Anarchisten Tolstoi an reinem Deismus in den Evangelien, in der >ewigen ■ Religion der Menschheit« anzusprechen vermochte, stieß Rousseau, der den Nationalstaat auf einer starken und unzerstörbaren Basis errichten wollte, ab. Das Christentum schien ihm eine universale Gesellschaftsordnung eher als gesonderte, in sich abgeschlossene Gemeinwesen zu begünstigen. Ein wahrer Christ war seinem Wesen nach ein Weltbürger und kein Patriot. Gegen das bestehende Christentum machte Rousseau noch einen weiteren I Einwand geltend, nämlich daß es die Unterwürfigkeit predige und so den Despotismus begünstige, daß also eine christliche Republik etwas Unvor stellbares sei. Seine Freiheitsliebe machte ihn sogar gegen jede Art von nationaler Religion mißtrauisch, die ja schlecht und verwerflich werden müsse »quand, devenant ecxlusive et tyrannique, eile rende un peuple sanguinaire et intolerant, en sorte qu'il ne respire que meurtre et massacre, et croit faire une action sainte en tuant quiconque n'admet pas ses dieux«. Obwohl Rousseaus Nationalismus ein beinahe religiöses Gefühl von gänz lich neuer Tiefe und von alles durchdringender Art war, so war er doch grundsätzlich gegen jegliche Art von Intoleranz oder Feindseligkeit gegen über anderen Nationen. Er wollte das Leben moralischer, friedfertiger und für alle Menschen glücklicher gestalten, die Würde und die Freiheit eines jeden Individuums fest begründen und schützen und schließlich den Natur zustand, in dem der Mensch von Leidenschaften und von Begierden be herrscht wird, durch die vernünftige Ordnung des Gesetzes ersetzen.
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■ (>. Kapitel
Einer neuen Welt entgegen Die Verheißung eines freien Volkes
1 In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts waren die Menschen nicht länger zufrieden, die Führung der Staatsgeschäfte in den Händen der bestehenden Gewalten zu lassen. Ein offizielles französisches Dokument brachte kurz nach der Mitte des Jahrhunderts die Haupttendenz jener Zeit deutlich zum Ausdruck: »Jeder hat heute patriotische Ideen; jeder Bürger verlangt, daß er zur Mitwirkung am Allgemeinwohle aufgefordert werde.« Die Rechte des Individuums mußten nicht nur errungen, sondern auch ver teidigt werden; und das konnte nur mit Bezug auf das Gesamtwohl der Gemeinschaft geschehen. So wurde jene zum Gegenstand des Hauptinter esses des Einzelnen, während der Charakter und das Schicksal der Gemein schaft selbst vom einzelnen Individuum und seinen Qualitäten abhing. Ein korruptes Volk würde niemals in der Lage sein, eine freie Gemeinschaft zu tichaffen und zu erhalten; zunächst mußten seine moralischen Kräfte ge weckt werden: der persönliche Eigendünkel mußte überwunden werden, dann erst wären alle bereit, am Gemeinwohl zu wirken. Diese neue intime Verquickung zwischen dem nationalen Wohl und dem Leben des Einzelnen wuchs sich zu einer großen und heilsamen Kraft aus; sie erweckte die Geister und die moralischen Leidenschaften in einer Atmosphäre, in der die möglichen Auswüchse und Übertreibungen durch einen rationalen Frei heitsbegriff sowie durch einen universalen Begriff der Gleichberechtigung ln Schranken gehalten wurden. Das Zeitalter der Aufklärung erlebte den Höhepunkt des Weltbürger tums und auch die Anfänge des Nationalismus, die Erhöhung des Indivi duums und ein neues nationales Einheitsgefühl, ein enthusiastisches Ver trauen in die Zukunft und den Beginn eines Interesses an der geschichtlichen Vergangenheit der Völker, ihrer Sitten und ihrem Volkstum; sie brachte unbestrittene Anerkennung der Vernunft als das führende Prinzip im Men-
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sehen und in der Welt sowie die Anrufung der im Herzen der Menschen ruhenden Kräfte. Vielleicht ist diese Doppelwertigkeit der Grund dafür, daß diese neue Geisteshaltung innerhalb einer so erstaunlich kurzen Zeit Ge meineigentum werden konnte; sie hat in weiten Bereichen das Leben so grundlegend gewandelt, daß das Ende des Jahrhunderts eine schärferc Trennungslinie zwischen zwei Stadien der menschlichen Entwicklung dar stellte als irgend ein anderer kurzer Zeitabschnitt in unserer Geschichte. Ihre Stärke lag in ihrer universalen Botschaft, die die Errichtung einer neuen Weltordnung verkündete, die allen Freiheit und Gerechtigkeit verhieß und die Quellen einer höheren Moral für den Aufbau menschlicher Gesellschaft auf der ganzen Welt erschloß. Allerdings gerieten diese edelmütigen Regun gen in den Strömungen und Gegenströmungen des geschichtlichen Gestal tungsprozesses bald in den unentwirrbaren Strudel, der entstehen mußte aus dem Aufeinanderprall von alten und neuen Interessen, von alten und neuen Gefühlsmomenten, von Wünschen und Begierden, geboren aus neuen Situationen und Möglichkeiten, aus Ängsten und Befürchtungen, entstanden aus der Unsicherheit eines Zeitenwandels und einer unberechenbaren Zu kunft. Die große Vision des achtzehnten Jahrhunderts war ein Verhältnis des Wohlwollens zwischen den Nationen, in dem »das internationale Recht auf dem Grundsatz aufbaute, daß sich die verschiedenen Nationen im Frie den so viel Gutes, und im Kriege so wenig Schlechtes als nur irgend mög lich, antun, ohne dadurch ihren wahren Interessen Abbruch zu tun«. Der neue Nationalismus und die Emanzipation der Massen, zunächst die Pro dukte und gleichzeitig aber auch die Quelle eines gesteigerten Freiheitsver langens, trugen die Gefahr einer möglichen Verzerrung des Freiheitsbe griffes in sich. Aber in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts schienen diese Gefahren noch nicht in greifbarer Nähe zu liegen; die Men schen waren von dem freudigen Gefühl beseelt, daß das individuelle und das gesellschaftliche Leben auf neue Grundlagen gestellt würde. In ganz. Europa verlangte man nach der Geburt eines freien Volkes, ein Verlangen, das aus einer Revolte gegen die alte und unnatürliche Ordnung hervorging. Der junge Schweizer Dichter Salomon Geßner (1730 —1788) durchsetzte die arkadische Lieblichkeit seiner vielgelesenen Idyllen, unter dem Einflüsse von Rousseau, mit heftigen Klagen über den Luxus und die Verderbtheit der wohlhabenden Städte und der städtischen Zivilisation. Eine neue Ju gend, die sich nach der Güte, der Schlichtheit und der Gleichheit der primi tiven Gesellschaften sehnte, protestierte gegen die »künstlichen« Klassenund Standesschranken. Der arme Hirte, der von seiner Herde umgeben im Grase lag, schien der Quelle der Glückseligkeit unendlich viel näher 250
zu sein, als es der Fürst in seinem Palaste jemals sein konnte. »Diejenigen, die die Schlichtheit der Einfalt Ungeschliffenheit, und die Bescheidenheit der Wünsche verächtlich Armut nennen, sind nur Narren, die sich in ihren Städten in Glücksgespinste verstricken, die jeder Wind zerfetzen kann.« Während die Dichter und Liebhaber des ländlichen Lebens auf diese Weise das Verlangen nach neuen Lebens- und Gesellschaftsgrundlagen er weckten, gingen andere daran, nüchterne und praktische Erörterungen an zustellen über die Probleme, die sich aus dieser Neugestaltung der Gesell schaftsordnung ergaben. In jenen Jahren, als Geßners Idyllen alle Herzen bewegten, hat sein jüngerer Zeitgenosse, der Theologe Christoph Heinrich Müller (1740—1807), im Jahre 176 2 in Zürich eine Gruppe junger Männer organisiert, die sich einmal in der Woche zusammenfanden. Der Zweck dieser Zusammenkünfte war eine Unterrichtung über die patriotischen und politischen Tugenden und die Begeisterung der jungen Menschen für ein Wirken und Leben für das Allgemeinwohl auf der Grundlage der damals sogenannten »wahren philosophischen Politik« zu erwecken. Die Aufgabe, die sich dieser Kreis junger Männer gestellt hatte, umfaßte, in den Worten ilcr damaligen Zeit ausgedrückt, die Untersuchung der Vorteile, Fehler und Verbesserungen anderer Regierungsformen sowie ein eingehendes Studium der vaterländischen Geschichte, um dann auf Grund der so erworbenen Kenntnisse in allen Herzen edle patriotische und philanthropische Gefühle zu pflanzen, zu stärken und zu verbreiten. Diese beiden Geisteshaltungen — die eine poetisch, gefühlsbetont, pathetisch, voll jugendlichen Feuers und lllans, die andere rational, ausgewogen und von einem tiefen Verantworlungsbewußtsein erfüllt — wurden von dem gleichen Ethos einer Erneuerung iles Lebens getragen. Die Schweiz mit ihrer alten Tradition von Volkssouveränität und Bauerndemokratie, mit ihrer großartigen und bewegenden Natur, schien ein fruchtbarer Boden für das Gedeihen dieser neuen Tenden zen zu sein. Aber in ihren Städten herrschte eine aristokratische Oligarchie, und die großen Handelsrouten und die kriegerischen Auseinandersetzungen tler europäischen Staaten hatten dieses Herzland Europas in den Strudel des Wirtschaftslebens und der Diplomatie hineingezerrt. Wesentlich günstiger schien ein Boden zu sein, auf dem die Menschen noch den heilsamen Quellen tlur Natur nahe lebten, und wo nur wenige überlieferte Interessen und Überfeinerungen der Kultur das Wachsen der spontanen Güte des Men schen behinderten. Mehr als in irgendeinem der europäischen Länder schie nen diese Voraussetzungen in einigen der englischen Kolonien Nordame rikas gegeben zu sein. 251
Die nur sehr unvollkommene Kenntnis der wirklichen Lebensbedingun gen Nordamerikas führte dazu, daß sie idealisiert wurden. Jene Amerika ner, von denen man damals in Europa träumte, glichen mehr den Gestalten aus der Sage als wirklichen menschlichen Lebewesen. Aber gerade des wegen war es möglich, daß die Europäer in ihnen die Verkörperung ihrer Ideale erblickten. Der Abbé Raynal schloß seine vielgelesene >Histoire philo sophique et politique des établissements et du commerce des Européen» dans les deux Indes< (1770) mit dem in glühenden Farben gemalten Bilil eines Amerika, dem es vom Schicksal bestimmt sei, eine neue Epoche der Humanität herbeizuführen; diesem Bilde stellte er die moralische Dekadenz Europas gegenüber. Schon Voltaire hatte seine Zeitgenossen auf die Quäkci aufmerksam gemacht, in denen er die Anhänger einer rationalen, philo sophischen« Menschenliebe und einer universalen Wohltätigkeitslehre ge sehen hatte. Die Quäker, Pennsylvanien und Philadelphia — von wo Ben jamin Franklin bald nach Frankreich kommen und überzeugende Beweist' der Weisheit der neuen Welt liefern sollte — bildeten für Raynal das Her/. Amerikas. Dort, in den unendlichen, an die Wildnis angrenzenden Räumen, schienen religiöse Menschen ohne eine Staatskirche, ohne mystische Riten und ohne eine ausbeuterische Priesterschaft zu leben, und dort schien da» Christentum die strenge Einfachheit und Unverdorbenheit seiner Jugendzeit wiedererlangt zu haben. Raynal stellte sich vor, daß dort die Menschen, vom Lichte der Philosophie, der Philosophie des Jahrhunderts, geführt, eine neue Gesellschaftsordnung ohne Könige und Adel errichtet hätten; jene Menschen waren zwar ursprünglich aus den alten europäischen Ländern hinübergewandert, aber sie hatten es fertig gebracht, den irrationalen Aber glauben und die der Gleichberechtigung widersprechenden Klassenunter schiede abzustreifen. Es sah beinahe so aus, als ob die Menschen in Amerika mit der Luft zugleich die Freiheit einatmeten. Das Buch des Abbé Raynal beruhte nicht auf exakter Kenntnis des Gegen ■ standes, auch hat er keinerlei ernsthafte Versuche unternommen, seine Be hauptungen durch Unterlagen zu beweisen. Statt dessen bot er allgemein! philosophische Gesichtspunkte und einen moralisierenden Enthusiasmus) aber gerade diese beiden Eigenschaften waren der Grund für die große Popu larität seines Buches. Es hat auch nicht in seiner Absicht gelegen, genau«' Tatsachenkenntnisse zu vermitteln, sondern er wollte edle und hohe Gefühlt' erwecken. Die Tatsache, daß seine Ansichten durchaus nicht originell waren, sondern die in jenem Jahrzehnt allgemein vertretenen Auffassungen repril* sentierten, verhalf dem Buche innerhalb einer kurzen Zeit zu mehreren Aul lagen. Wenn auch Voltaire es als »du réchauffé avec de la déclamation* 252
bezeichnete, konnten die Herausgeber einer neuen Auflage im Jahre 17 7 5 sagen: »II est peu de littérateurs, peu de particuliers même, qui n'aient lu cet ouvrage avec avidité : il en est peu qui n'aient admiré les sentiments d'humanité, de patriotisme & de philosophie qui y sont partout répandus.« Aus diesem Buche lernten die Europäer, daß der überraschende Wohlstand Pennsylvaniens auf der Freiheit und auf der Toleranz beruhte, welche Men schen aus allen Ländern und aller Religionen in jenes Land gelockt hatten, und die nun dort in Frieden und Harmonie zusammenlebten. In allen Kolo nien Nordamerikas lebten die Menschen ein einfaches und glückliches Le ben. »Les femmes sont encore ce qu'elles doivent être, douces, modestes, compatissantes & secourables; elles ont ces vertus qui perpétuent l'empire de leurs charmes . . . On mène dans les colonies cette vie champêtre qui fut la première destination de l'homme, la plus convenable à la santé, à la fécondité.« In den damals lebhaften Erörterungen über die Fragen, ob sich die Kolo nien vom Mutterlande lösen sollen, sprach sich Raynal gegen eine Trennung aus. Immer sei ihnen Großbritannien Schutz und Vorkämpfer gegen mög liche feindliche europäische Mächte gewesen. Er hielt den Kolonien vor, daß sie ihre Freiheiten ja den politischen Traditionen Englands verdanken. »Den Frieden und den Wohlstand, dessen sie sich erfreuen, verdanken sie dem Einfluß seiner (Englands) hervorragenden Verfassung. So lange diese Ko lonien unter einem so vernünftigen und milden Regime leben, werden sie weiterhin Fortschritte machen, die in einem richtigen Verhältnis zu der Unermeßlichkeit einer Zukunft stehen, in der ihr Fleiß sie bis zu den entfern testen Wüstengebieten Vordringen lassen wird.« Doch stimmte er gleich zeitig den Kolonisten darin zu, daß sie eifersüchtig und unentwegt über ihre Freiheiten zu wachen hätten. »Diese Wachsamkeit wird der beste Ga rant für jenes Einheitsgefühl sein, welches Mutterland und Kolonien anein ander fesseln muß.« Raynal war fest davon überzeugt, daß Europa wegen seiner absolutistischen Könige und wegen seines Sittenzerfalls verfalle, und daß andererseits in der Neuen Welt, Freiheit und Tugend herrschten; dieser Umstand ließ ihn eine großartige Zukunft für die Kolonien voraussehen. »A mesure que nos peuples s'affoiblissent & succombent tous les uns sous les autres, la population & l'agriculture vont croître en Amérique; les arts y naîtront rapidement, transportés par nos soins; ce pays, sorti du néant, brûle de figurer à son tour sur la face du globe, & dans l'histoire du monde.« Wie die meisten seiner Zeitgenossen war auch Raynal davon überzeugt, daß Frankreich zur größten Nation werden könnte, da ja die Milde des
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Klimas und die Fruchtbarkeit des Bodens es begünstigten, wenn nur die Franzosen unter der Herrschaft der Vernunft und der Freiheit leben wür- ' den. Unter der Herrschaft des Absolutismus hatte Frankreich große Dinge vollbracht; wie viel mehr hätte es leisten können, hätten die Franzosen den Patriotismus gekannt, der selbst den Engländern, die in einem so durch aus ungünstigen Klima leben, in solch hohem Maße zu neuen Lebenskräf ten verholfen hat! »Auch die englische Sprache hat ihre Dichter und Schrift steller hervorgebracht, die sie mit einer solchen Kraft und Kühnheit be schenkt haben und sie unsterblich machen werden. Mögen alle Völker, die nicht zu Sklaven werden wollen, sie lernen. Sie werden aus ihr die Kraft gewinnen, selbständig zu denken, selbständig zu handeln und sich selbst zu regieren. Englisch ist nicht eine Sprache der Worte, sondern der Ideen, und diese waren bei den Engländern immer stark. Sie waren die ersten, die von der »Majestät des Volkes« sprachen, und diese Worte allein genügen schon, um eine Sprache zu weihen.« Eine Nation braucht, soll sie nicht untergehen, Gesetze, was die Freiheit der Rede voraussetzt; und sie braucht ferner treff liche Lebenssitten, die wieder davon abhängen, ob die Regierung im Inter esse eines Einzelnen oder einer Gruppe von Menschen handelt, oder ob sie sich nach dem Allgemeinwohl und nach den Interessen aller richtet. So hat Raynal deutlich die drei Grundlagen eines freien Volkes erkannt: die eng lische Tradition der Freiheit; rationale Gesetze und eine Lebensverfassung, die zur tätigen Anteilnahme aller am Wohle der Allgemeinheit führt. Konnten diese Bedingungen zu jener Zeit anderswo erfüllt sein als in den englischen Kolonien Nordamerikas? Deshalb war ihre Entwicklung zu einem nationalen Dasein in der Amerikanischen Revolution für den euro päischen Kontinent und besonders für sein führendes Volk, die Franzosen, beispielhaft.
2 Bei der Bildung des in den englischen Kolonien Nordamerikas entstehenden Nationalismus vereinigten sich viele Strömungen miteinander. Einige dieser Strömungen waren in der ganzen Situation gegeben: so die englische Tra dition der konstitutionellen Freiheiten und des Gewohnheitsrechts, die ihren Ausdruck in den Gründungsurkunden gefunden hatte, sowie der junge und experimentelle Charakter dieser von der europäischen Gesellschaft und ihren alten Überlieferungen so weit entfernten Siedlungen. Gemeinsame Gefahren und Aufgaben erleichterten und ermöglichten in den weiten Räu
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men des noch beinahe unerforschten Kontinents die gleichzeitige Entstehung lies Individualismus und eines Bewußtseins der Gleichberechtigung. Die Situation war für demokratische Experimente günstig: 16 18 schaffte Sir Edwin Sandys in Virginia die Zwangsarbeit ab und führte eine gesetzge bende Körperschaft ein, die in allgemeiner Abstimmung gewählt wurde; fluch ein Programm für die allgemeine Erziehung hatte er ausgearbeitet. Der Mayflower-Vertrag von 16 20 schloß alle Männer zu einer Körperiichaft von Bürgern zusammen und übertrug dadurch die Freiheit und Gleichheit der Religionsgemeinschaft auf das Gebiet der Politik. Der Geist der Puritanischen Revolution blieb in Neu-England lebendiger als im Mut terland, während der Einfluß der Restauration wesentlich geringer war. Obgleich die Puritaner in den Kolonien manchmal stark antidemokratische Züge aufwiesen und den Geburtsrang durch einen neuen, nach Wohlstand und Erziehung bestimmten Rang ersetzten, blieb die koloniale Situation ilem sozialen Experiment doch günstig, denn Klassenunterscheidungen, die Anstatt auf ererbten, auf neu erworbenen Merkmalen beruhten, waren doch wesentlich elastischer. Neue Einwanderungswellen, die meistens aus den unteren Ständen kamen und Angehörige der verschiedensten Konfessionen mit sich brachten, haben verhindert, daß irgend ein Stand oder eine Kon fession für längere Zeit eine starre Vorherrschaft ausüben konnte. Jene Puritaner, die im Verlaufe des siebzehnten Jahrhunderts nach England zu rückkehrten und »einen resoluten Optimismus in ihren sozialen Besse rungsplänen mitbrachten, wandten ihre ganzen Kräfte der Unterstützung des parlamentarischen linken Flügels zu«. Einer von diesen Rückkehrern, I Iugh Peters, griff in einer an das Parlament und an die Assembly of Divines am 2. April 1645 gehaltenen Predigt die statische Gesellschaftsordnung, die er in England vorgefunden hatte, an: »Ich habe in einem Land gelebt, wo ich während sieben Jahren weder einen Bettler gesehen, noch einen l'luch gehört, noch einen Betrunkenen erblickt habe; warum sollte es ge rade in eurem Israel Bettler geben, wo doch so viel Arbeit getan werden muß?« Wie die englischen Puritaner fühlten sich auch die Puritaner der Kolo nien als das neue Israel. Ihre gefahrvolle Wanderung in ein neues und fruchtbares Land, wo ihre Zahl und ihr Wohlstand schnell Zunahmen, war Ihrer Selbstidentifizierung mit den alten Hebräern günstig. William Bradlord bezog in seiner »History of Plymouth Plantation« die Worte aus dem 116. Psalm auf die neuen Siedler und sagte: »Seht ihr nicht die Früchte t'tirer Arbeit, o ihr Knechte des Herrn? die ihr für seine Wahrheit gelitten Imbt und seine treuen Zeugen gewesen seid, und doch nur eine Handvoll
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seid unter der Menge, die Wenigsten unter den Tausenden Israels? Ihr habt nicht nur gesät, sondern viele von euch haben auch eine glückliche Ernte erlebt. So solltet ihr euch denn nicht freuen . . .?« Cotton Mather hat Brad ford mit Moses verglichen und John Winthrop »unseren Neu-Englischen Nehemia, den Führer der politischen Geschäfte unseres amerikanischen Je rusalems«, genannt. Es nimmt nicht Wunder, daß in Neu-England das Ge fühl, das auserwählte Volk zu sein, stärker verbreitet war als im Mutter land. Hiermit stand auch die starke Betonung des Hebräischen im Zusam menhang. Die im Alten Testament ausgedrückte Einstellung gegenüber dem Königtum wurde zu einem Moment, das sich stark auf die Förderung republikanischer Gefühle auswirkte. Der vielgelesene Algernon Sidney zi tierte den Philo, der die Einführung des Königtums in Israel der Raserei des sündhaften Volkes zur Last gelegt hat. Freilich konnte man die Auslegung der Bibel zur Unterstützung völlig entgegengesetzter Ansichten heranziehen, und die führenden Männer der Bay State Theokratie, einschließlich Winthrop und John Cotton, konnten sich zur Verteidigung der geistigen Aristokratie gegenüber einer >meere Democratie< auf die Heilige Schrift berufen. Aber die Bibelauslegung, so wie sie in Connecticut und in Rhode Island und auch von vielen während der Puritanischen Revolution in England gehandhabt worden war, wurde zu der Grundlage, auf der sich die moderne Demokratie aufbaute. Die in Neu-England herrschenden beiden Schulen — die eine durch Männer wie Cotton, die andere durch Hooker und Williams vertreten — entsprachen den beiden Entwicklungsrichtungen im Alten Testament, der institutioneilen Theokratie einerseits und der prophetischen Religion andererseits. Beide betrachteten die Siedlungen in Neu-England als »holy experiments in government« und als einen neuen Anfang, dem ungeheure Möglichkeiten für eine Besserung der Menschheit innewohnen, als die reifste Frucht der Ent wicklung des englischen Geistes. Zu Beginn der englischen Kolonisation in Amerika war die Idee des Auserwählten Volkes bereits vorhanden gewesen; unter der Wucht der naturrechtlichen Begriffe des achtzehnten Jahrhun derts ist diese Idee säkularisiert und demokratisiert worden und das räum liche und zahlenmäßige Wachstum, sowie der zunehmende Wohlstand, diese sichtbaren Segnungen der Vorsehung, haben zu ihrer Ausbreitung beigetragen. So wurde sie zu einem jener Elemente, aus denen heraus am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts das amerikanische National bewußtsein erwuchs. Die Vorsehung hat, wie Jonathan Edwards sich aus drückte, Amerika dazu bestimmt »der ruhmvolle Erneuerer der Welt« zu werden. 256
John Wise aus Ipswich, Massachusetts, der in seiner »Vindication of the Government of New England Churches< (17 17 ) die Behauptung aufgestellt hatte, daß »keine Knechtschaft und Unterwerfung ohne Ungleichheit mög lich sei; da die Natur die Menschen alle gleich und eines Ranges geschaffen hat, kann Knechtschaft nur durch Usurpation und durch Anwendung von Gewalt gegen andere Menschen herbeigeführt werden«, folgte der durch die Puritanische Revolution und durch Locke vorgezeichneten Linie. Wise vertrat die Ansicht, daß »das Volk die Quelle der Regierungsgewalt ist« und daß »der Staat eine aus einer Vielheit zusammengesetzte moralische Person ist, deren Wille der Wille aller ist, so daß er schließlich auch die Kräfte und die Besitztümer von privaten Personen zur Erhaltung des ge meinsamen Friedens und der gemeinsamen Sicherheit sowie des Wohlerge hens aller heranziehen darf, und daß der gesamte Staat schließlich ein Mensch geworden ist, wobei man annehmen darf, daß die oben genannten Bündnisse die Bestätigung sind für das göttliche fiat, welches der Schöpfer ausgesprochen hat mit dem Wort: Lasset uns Menschen machen.« Das fiat, von dem der Pastor aus Neu-England gesprochen hat, hat nicht den Men schen geschaffen, sondern ein neues Reich, das er folgendermaßen definierte: »Der Zweck jeder guten Regierung ist, die Humanität zu pflegen, das Glück aller, sowie das Gute in jedem Menschen in allen seinen Rechten, in seinem Leben, in seiner Freiheit, in seinem Besitz, in seiner Ehre, usw. zu fördern, ohne daß andere verletzt oder benachteiligt werden.« Die Wege der Geschichte sind so verschlungen und die Motive, welche die Handlungen der Menschen bestimmen, sind derart komplex, daß jeder Versuch, die Ereignisse, die sich im Verlauf mehrerer Jahre zugetragen haben und eine Multiplizität von Menschen und Orten umfassen, als den Ausdruck einer geistigen oder gesellschaftlichen Bewegung darzustellen, immer ein großes Wagnis ist; und doch kann man sagen, daß jener histo rische Prozeß, der in der Präsidentschaft von Thomas Jefferson seinen Höhe punkt hatte, das hervorragende Beispiel ist nicht nur für die Geburt einer neuen Lebensart, sondern auch für die Geburt des Nationalismus als einer neuen Lebensart. Die Amerikanische Revolution ist das Bindeglied zwischen dem siebzehnten Jahrhundert, in dem sich das neuzeitliche England seiner selbst bewußt geworden ist, und dem Erwachen des modernen Europa am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Es mag seltsam erscheinen, daß der Weg der Geschichte erst den Ozean überqueren mußte, aber nur in den Kolonien Nordamerikas konnte der Kampf um die bürgerlichen Freiheiten nuch zur Gründung einer neuen Nation führen. Hier waren die Früchte der Volkserhebung gegen eine >tyrannische< Herrschaft mehr als nur die Errin2
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gung einer freieren Verfassung, denn sie umfaßten auch die Entstehung einer Nation, die in aller Freiheit dem Willen der Menschen und nicht der gemeinsamen Abstammung, aus geographischen Gegebenheiten oder dem Ehrgeiz eines Königs oder einer Dynastie entsprang. Mit der amerikani schen Nation ist zum ersten Male eine Nation geboren worden nicht in den Fernen geschichtlicher Vergangenheit, sondern angesichts der wachen Blick«· der gesamten Welt. Niemand hätte die Entstehung einer Nation in den nordamerikanischen Kolonien in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts vorausahnen können. Die einzelnen Kolonien waren vollständig voneinander gesondert. »Jede Siedlung war eine kleine, physisch isolierte Welt für sich, die mit ihren Nachbarn nur über Fluß- und Seewege in Verbindung stand . . . Es ist gar nicht verwunderlich, daß die einzelnen Kolonien so lange Zeit in Interessen und Neigungen so stark voneinander geschieden blieben wie Christen und Türken.« Andrew Burnaby, ein Engländer, der während des Krieges gegen die Franzosen und die Indianer die dreizehn Kolonien bereist hatte, schrieb: »Feuer und Wasser sind nicht heterogener als die verschiedenen Kolonien Nordamerikas. Nichts kann die Eifersucht und die Rivalität, die zwischen ihnen herrscht, übertreffen.« Man bemerkte weder Unterdrückung noch Elend, weder verbitterte Unloyalität noch Verzweiflung als Vorboten eines kommenden Wandels im Status der Kolonien. Ganz im Gegenteil, die Kolo nisten waren damals in politischer, wirtschaftlicher und nationaler Hinsicht die am wenigsten bedrängten Menschen der Erde. Mutterland und Kolo nien waren durch zunehmende Wirtschaftsverbindungen verbunden, wo raus ein Gefühl der Interessengemeinschaft und Schicksalsgemeinschaft ent stand. In politischer Hinsicht waren die Kolonisten freier als irgendein Volk des europäischen Kontinents, ja sie waren sogar noch freier als die Engländer in Großbritannien. Die günstigen Bedingungen des Grenzer lebens hatten die Lehren von Milton und Locke und die konstitutionellen englischen Freiheiten in den Kolonien zu rascherer und vollerer Reife ge bracht, als dieses die Verhältnisse im Mutterland gestatteten, wo nach 1660 die Prärogativen des Hofes, des Adels und der Kirche wiederhergestellt worden waren. Die Puritanische Revolution ist eine Revolution des Mittelstandes gewe sen, aber durch die Restauration ist England in eine aristokratische Gesell schaft verwandelt worden, wenn auch mit veränderten politischen Grund lagen. In den Kolonien bildeten der Mittelstand, seine Tugenden und Ideen, das Vorbild für die Gesellschaftsordnung, und in den Predigten mancher Geistlicher in Neu-England lebte der Geist der Puritanischen Revolution 258
fort. Die amerikanischen Kolonien haben nicht revoltiert, weil sie unter drückt wurden, sondern weil sie frei waren, und weil ihre Freiheit ihnen eine noch größere Freiheit verhieß, eine Freiheit, die in den Verhältnissen der alten Gesellschaftsordnung nicht in Erfüllung gehen konnte, aber auf dem neuen Kontinent als eine Möglichkeit lockte. Das Mutterland und die Kolonien sind aus den gleichen Wurzeln hervorgewachsen: die Magna Charta und das Gewohnheitsrecht, die parlamentarischen Einrichtungen und die lokale Selbstverwaltung, die Puritanische und die Glorreiche Re volution, Milton und Locke. Wenn auch die Entwicklung in den Kolonien, zunächst hinsichtlich der Praxis, doch späterhin auch in der theoretischen Formulierung, die Entwicklung im Mutterland bald übertraf, so konnten die Kolonien nur revoltieren, weil sie englisch waren. Ihre Forderungen fanden in Großbritannien genau so aufrichtige Fürsprecher und Verteidiger wie in der Heimat, und zwar nicht nur unter den >Radikalen<, sondern auch unter den höchsten Würdenträgern der Krone und des Rechts, wie beispiels weise Charles Pratt, Earl of Camden, der von der englischen Verfassung sagte: »Ihr Kern und ihre Grundfeste ist die Freiheit, und sie gibt jedem Unter tanen innerhalb ihres weiten Geltungsbereiches die Freiheit.« Stimmen gegen die Amerikanische Revolution erhoben sich nicht nur in England; auch unter den Kolonisten Nordamerikas fand sie viele Gegner. So waren die Reihen auf beiden Seiten des Atlantik geteilt: ein Bürgerkrieg, ver gleichbar mit dem des siebzehnten Jahrhunderts, brach aus. Aber diesmal stand an seinem Ende nicht das Erwachen einer Nation zu Selbstbewußtsein, sondern die Geburt einer neuen Nation. Ermöglicht wurde dieses Resultat nicht nur durch die geographischen Verhältnisse, sondern auch durch die neue Deutung der Freiheit, die als ein rationales und universales Attribut aufgefaßt wurde. Dieses Moment hatte in der englischen Revolution des siebzehnten Jahrhunderts, in der sich viele im Kampf gegen die Tradition auf die Vernunft berufen hatten, durchaus nicht gefehlt. Während der Amerikanischen Revolution, beson ders in ihrem Anfangsstadium, hatte man beharrlich auf den Rechten der Kolonisten als Engländer, die unter der Britischen Verfassung lebten, be standen; aber gleichzeitig verlagerte sich in zunehmendem Maße die Beto nung auf die natürlichen Rechte des Menschen. Die Zukunft der Kolonien wurde nicht mehr als ein englisches, sondern als ein menschliches Schicksal gesehen. John Adams schrieb 17 6 5 : »Die Besiedlung Amerikas habe ich immer mit Ehrfurcht und Bewunderung betrachtet als ein großes Beginnen und einen großen Plan der Vorsehung zur Erleuchtung der Unwissenden und zur Emanzipation der noch in Sklaverei lebenden Teile der Mensch 259
heit.« Der religiöse Universalismus des protestantischen Independentismus war nicht verschwunden; er war im Lichte des Rationalismus des ach tzeh n -· ten Jahrhunderts säkularisiert worden. Deutlich hat Thomas Jefferson den kosmopolitischen Geist jener Zeit, der jeglichen historisch fundierten Patrio tismus ablehnte, zum Ausdruck gebracht: »Bevor unsere Vorfahren nach Amerika auswanderten, waren sie freie Bürger der Britischen Dominions in Europa, und sie hatten das Recht, mit welchem die Natur alle Menschen ausgestattet hat, das Land, in das sie der Zufall und nicht ihre eigene Wahl gestellt hat, zu verlassen und auf die Suche nach einer neuen Heimat zu gehen, und dort eine neue Gesellschaftsordnung zu errichten unter solchen Gesetzen und Verordnungen, die nach ihrer Ansicht zur Förderung des allgemeinen Glücks am günstigsten sind.« Dieses Weltbürgertum hat Ben jamin Franklin erneut bestätigt, als er, kurz vor seinem Tode, seine Über zeugung und Hoifnung in die Worte zusammenfaßte, daß, »wer die Frei heit liebt, überall in der christlichen Welt eine Heimat finden möge«. Obwohl die Amerikanische Revolution, die ein Zweig vom Stamme der Englischen Revolution war, und die amerikanische Nation, die ein Zweig der britischen Nation war, auf einen neuen Boden verpflanzt sich entwickel ten und gediehen, war es nicht einer der alteingesessenen Kolonisten, der der werdenden Nation und der Revolution eine »Philosophie« geschenkt hat: den Schlachtruf hatte den Amerikanern ein Engländer, der nur wenige Mo nate vorher in den Kolonien an Land gegangen war, geliefert. Thomas Paines »Common Sense« war von einem Weltbürger geschrieben worden, der in der Amerikanischen Revolution ein von aller Verwurzelung in der Vergangenheit freies Ereignis erblickte, und der das, was ursprünglich ein Verfassungsstreit zwischen britischen Tories und Whigs gewesen war, in einen Kampf um die Geburt einer neuen Freiheit und einer neuen Nation nach universalen Prinzipien verwandelte. Es war die »Religion der Humani tät«, und nicht die Religion eines englischen oder eines noch nicht bestehen den amerikanischen Nationalismus, noch die des puritanischen Protestan tismus, die aus jeder Seite seiner Schrift als ein Ruf nach Unabhängigkeit ertönte und die den amerikanischen Whigs dazu verhalf, ihre Handlungen und Ziele im Lichte einer neuen Bewußtheit zu sehen. Als Paine aller Ehr furcht vor den historischen englischen Freiheiten im Namen der natürlichen Rechte des Menschen entgegen trat, sprach er nur Gedanken aus, die von den meisten englischen Liberalen jener Zeit, insbesondere von den nonkon formistischen Geistlichen Richard Price und Joseph Priestley, bereits ausge sprochen worden waren; aber in seinem »nationalistischen« Anruf an die amerikanische Eitelkeit ging er über jene hinaus. »Er lenkte ihre Vor 260
stellungskraft auf eine Zukunft, in der der neue Kontinent der Glanzpunkt der Erde sein würde. Die alte Welt war dem Joch der Unterdrückung er legen, Amerika mußte ein A syl für die Menschheit werden. Niemals >hat die Sonne auf eine bessere Sache geschienen«; dem Wesen nach war alles künftige Geschehen bis zum Ende aller Zeiten darin einbegriffen.« So wurde die Amerikanische Revolution nicht zu einem neuen Glied in der Entwicklungsreihe der englischen Freiheit und auch nicht zu einer Be jahung der englischen Grundrechte, wie sie in der Parlamentsakte so kraft voll zum Ausdruck kamen: »Die Rechte Englands sind die Geburtsrechte der Engländer; und alle Könige und Königinnen, die den Thron dieses Rei ches besteigen, sollen in Übereinstimmung mit diesen Gesetzen regieren; und alle ihre Beamten und Minister sollen ihnen in Übereinstimmung mit diesen Gesetzten dienen.« Sie wurde das Abenteuer einer werdenden Nation, die es unternommen hatte, ihr Leben auf den Menschenrechten des achtzehnten Jahrhunderts aufzubauen. Wenige Monate auf Paines Flug schrift folgte die Unabhängigkeitserklärung. In ihr war die politische Theo rie des achtzehnten Jahrhunderts zum ersten Male auf die Praxis übertragen worden. Die Tatsache, daß die unter sich uneinigen und schlecht bewaffne ten Kolonisten fähig waren, ihre Ziele gegen den Willen des mächtigsten Reiches jener Zeit durchzusetzen, und daß der Verfasser der Unabhängig keitserklärung sechsundzwanzig Jahre später Präsident der Vereinigten Staaten werden und sein 17 7 6 begonnenes Werk vollenden konnte — also der erfolgreiche Ausgang der Amerikanischen Revolution, ließ diese als eine »glückliche Bestätigung zwar längst anerkannter, aber bislang nur in Büchern vorgetragener Ideen« erscheinen. Denn als die Revolution abgeschlossen war, da hatten sich die Ameri kaner von ihrer eigenen Vergangenheit so weit emanzipiert, daß sie eine gemeinsame Abkunft oder Wurzel nicht mehr als Grundlage ihrer Gemein schaft betrachteten. 178 4 schrieb Benjamin Franklin in seiner »Anweisung an diejenigen, die nach Amerika zu gehen wünschen«, daß »in Europa der (leburtsrang zwar seine Bedeutung habe; aber für diese Ware gibt es kei nen schlechteren Markt als Amerika, wo die Menschen bei einem Fremden nicht danach fragen, wer er ist? sondern, was er kann?« Wie Raynal und nndere zeitgenössische Europäer pries auch Franklin Amerika darob, daß es nicht auf einer einzelnen Konfession, sondern auf dem Zusammenleben verschiedener Glaubensbekenntnisse aufbaue. »The Divine Being seems to liave manifested his approbation of the mutual forbearance and kindness with which the different sects treat each other, by the remarkable prosperity with which He has been pleased to favor the whole country.« Die Man 261
nigfaltigkeit und Toleranz auf religiösem Gebiet, etwas in jener Zeit gänz lich Neues, wurde durch die gleiche Mannigfaltigkeit und Toleranz auf dem Gebiete der in den Kolonien sich untereinander mischenden, verschiedenen Rassenelemente ergänzt. Schon 178 2 hatte ein scharfer Beobachter auf die Entstehung eines >neuen Menschen< in den Vereinigten Staaten und auf die erstaunliche Vielfalt von Rassenelementen, die sich in diesem Schmelztiegel vermischten, hingewiesen: »Was ist denn eigentlich dieser Amerikaner, die ser neue Mensch? Er ist entweder ein Europäer, oder ein Nachkomme von Europäern. Daher diese eigenartige Blutmischung, die Sie sonst in keinem anderen Lande finden werden. Ich könnte Ihnen einen Mann zeigen, dessen Großvater Engländer war, dessen Frau eine Holländerin ist, dessen ältester Sohn eine Französin geheiratet hat, und dessen übrige vier Söhne jetzt Frauen von vier verschiedenen Nationalitäten haben. Der ist ein Amerika ner, der seine alten Vorurteile und Sitten abgelegt hat und aus dem neuen Leben, dem er sich widmete, von der neuen Regierung, der er sich unter stellt und aus der neuen Stellung, die er einnimmt, neue empfängt. Da durch, daß ihn unsere große Alma Mater in ihren Schoß aufnimmt, wird er zum Amerikaner. Hier werden die Individuen aller Nationen zu einer neuen Menschenrasse umgeschmolzen, eine Rasse, deren Wirken und deren Nachkommenschaft eines Tages große Veränderungen in der Welt verursachen werden.« Die Amerikanische Revolution hat diesen Werdeprozeß des neuen Men schentyps, des neuen Volkes, beschleunigt. Sie war nicht in erster Linie eine politische oder wirtschaftliche Erscheinung, sondern ein geistiger und mora lischer Wandlungsprozeß. 178 3 hat Noah Webster zur Einführung seines neuen Schulbuches der amerikanischen Sprache geschrieben: »Unsere Ge genwart ist eine Zeit der Wunder — während der kurzen Spanne der ver flossenen acht Jahre haben sich in den Geistern der Menschen größere Wand lungen vollzogen, als sich sonst innerhalb eines Jahrhunderts ereignen.« Fünfunddreißig Jahre später schrieb John Adams in einer rückschauendeil Auswertung des Sinnes jener Ereignisse, »diese radikale Wandlung in den Grundsätzen, Meinungen, Empfindungen und Neigungen der Menschen war die eigentliche Amerikanische Revolution.« Hier war eine auf allge meinen und rationalen Grundsätzen aufbauende Nation erstanden, die nicht nach rückwärts in die Vergangenheit blickte, sondern durch das Wis sen um eine gemeinsame Gegenwart und Zukunft konstituiert worden war. »Jene mittelalterliche Idee, wonach wir nach rückwärts schauen sollen an statt nach vorwärts, um den Geist der Menschen zu bessern, und zu den Aufzeichnungen unserer Vorfahren Zuflucht nehmen sollen auf der Suche 262
nach dem, was in der Regierung, in der Religion und in der Wissenschaft das Beste sei, ist wohl derer wert, die sie uns vorgeschlagen haben, und deren Zwecken sie auch entsprechen würde. Aber dieses Land wird solche Ideen nicht dulden«, schrieb Thomas Jefferson. Noch bündiger faßte er die sen Gesichtspunkt in die Worte zusammen: »I like the dreams of the future better than the history of the past.«
3 Aus zwei Quellen wurde der in den sechziger Jahren noch kaum wahrnehm bare, aber stets wachsende Strom des amerikanischen Nationalismus ge speist: aus dem im siebzehnten Jahrhundert entwickelten englischen frei heitlichen Nationalbewußtsein, das in der neuen Welt einen günstigen Bo den für sein weiteres Wachstum vorgefunden hatte, sowie aus dem Natur recht, welches die Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert über den Ozean herüber gebracht hatte. Man empfand keinen Widerspruch zwischen diesen beiden Faktoren. Ein- und derselbe Mann, ein- und dieselbe Erklärung konnten, selbst im gleichen Satze, zu ihrer Rechtfertigung beide Faktoren gleichzeitig heranziehen. Alexander Hamilton, einer der bedeutendsten Ver treter der englisch-traditionalistischen Richtung, schrieb in seiner ersten Flugschrift, >A Full Vindication< (1774), die er noch als Student in King's Kollege in New York verfaßt hatte: »Die heiligen Rechte der Menschen findet man nicht, indem man in alten Pergamenten und verstaubten Doku menten herumwühlt. Sie sind von Gottes Hand selbst, wie mit einem Son nenstrahl geschrieben, in das ganze Buch der menschlichen Natur einge tragen.« Andererseits schrieb Thomas Jefferson, dessen großer Beitrag zum Werden des amerikanischen Nationalismus die Neudeutung der Amerika nischen Revolution im Lichte des Naturrechts war, im Jahre 177 6 an Ed mund Pendleton: »Sind wir nicht bereits um dasjenige besser dran, was wir bisher vom Feudalsystem abschaffen konnten? Hat nicht bisher jede Wieder einführung alten sächsischen Rechtes glückliche Folgen gehabt? Ist es des halb nicht besser, daß wir sofort zu jenem glücklichen System unserer Vor fahren zurückkehren, zu dem klügsten und vollkommensten System, das je der menschliche Geist ersonnen, und zwar zu der Form, in der es vor dem lichten Jahrhundert bestanden hat?« Ursprünglich war der Protest der Kolonisten gegen einige Maßnahmen ilcr Regierung aus rein konstitutionellen Motiven heraus erfolgt. Sie woll ten im Geiste einer wahren Legitimität handeln, sie wollten für ihre ererb 263
ten Rechte als Untertanen der Britischen Krone kämpfen. Nach der Wider rufung des Stempelgesetzes lobte William Smith, der Leiter des College of Philadelphia, im Mai 177 6 anläßlich der dortigen Promotionsfeierlichkeiten die Amerikaner, »weil wir gezeigt haben, wes Stammes wir sind, und daß w ir es wert sind, vom edlen Geschlecht der Briten abzustammen«. Ihre Agi tation fußte auf der britischen Verfassung und hatte die Erhöhung ihres Ruhmes zum Ziele. A uf einer Wahlrede in Massachusetts sagte 17 6 3 Tho mas Barnard aus Salem, daß »die rauhen Sachsen die männlichen Grund sätze von Freiheit und Regierung«, gebracht hätten, »jene Ausgewogenheit von Macht und Freiheit, die, weiter ausgebaut und verbessert, die britische Verfassung zum Gegenstand des Neides und der Bewunderung der gesam ten Welt«, gemacht hätten. Flugschriften, wie die von Henry Care, >English Liberties, or The Free-Born Subjects' Inheritance, containing Magna Charta, Charta de Foresta, the Statute de Talagio non concedendo, the Habeas Cor pus Act, and several other Statutes; with comments on each of them<, ( 17 2 1), erlebten viele Auflagen und eine starke Verbreitung. Und John Jay faßte den ganzen Sachverhalt kurz zusammen, indem er sagte: »Es ist ge wiß den Einrichtungen, den Gesetzen und Grundsätzen in Politik und Re gierung, die wir als britische Kolonisten von den Engländern übernommen haben, zu verdanken, daß die Menschen dieses Landes mit der Hilfe des Himmels zu dem geworden sind, was sie heute sind.« So bedeutungsvoll die konstitutionelle Tradition auch war, so stand doch die religiöse Tradition im britischen Erbe, besonders soweit die Verhält nisse Neu-Englands in Betracht kommen, jener gleichwertig gegenüber; in Neu-England führten die Geistlichen die Puritanische Revolution fort und waren die Führer im Kampfe gegen die Krone, die Aristokratie und die Staatskirche. Die Berufung auf die britische Verfassung in den Kolonien unterschied sich nicht von dem Kampf, den die englischen Whigs gegen die Torypolitik des Königs führten; es war eine Auseinandersetzung der Parteien im Rahmen der Glorreichen Revolution. Aber aus den Stimmen, die von den Kanzeln Neu-Englands tönten, klang ein grundsätzlicherer und radikalerer Gegensatz, so wie der in den Tagen Cromwells und Miltons. Der Puritanismus, dem einige dieser Prediger huldigten, war durch den Rationalismus der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts liberalisieri; so bei Jonathan Mayhew, der 17 7 6 auf Wunsch der West Church in Boston anläßlich der Aufhebung des Stempelgesetzes eine Dankpredigt unter dem Titel >Der zerrissene Fallstrick« hielt. Er führte darin aus, daß er aus der Heiligen Schrift ersehen habe, »daß weise, tüchtige und tugendsame Miin ner immer Freunde der Freiheit gewesen sind, daß Gott den Israeliten ein 264
Königreich, einen absoluten Herrscher beschert hat aus Zorn darüber, daß sie nicht Vernunft und Gesittung genug besessen haben, ein freies Gemein wesen und ihn selbst als König haben zu wollen; daß Gottes Sohn auf Erden herabgekommen ist, um uns wirklich frei zu machen, und daß dort, wo der Geist des Herren herrscht, Freiheit ist«. Mayhew war ein Anhänger von Milton, Locke und Sidney; sein ratio nales Christentum fußte mehr auf der Heiligen Schrift als auf den Lehren Calvins. Er war durch eine 17 5 0 anläßlich des Jahrestages der Entthronung Karls I. gehaltene Predigt bekannt geworden; die Anglikanische Kirche hatte jenen Tag zum nationalen Gedenktag für einen kanonisierten Mär tyrer erklärt, und ihre Geistlichen hielten an jenem Tage Predigten »gegen den Ungehorsam und den gewalttätigen Aufruhr«. Mayhew nahm diese Gelegenheit wahr, um einen flammenden Protest im Geiste Miltons zu er heben. Seinen >Discourse Concerning Unlimited Submission and Non-Resi stance to the Higher Powers: with some Reflections on the Resistance made to King Charles I and on the Anniversary of his Death; in which the Mysterious Doctrine of that Prince's Saintship and Martyrdom is Unriddled< hat Thornton als den »Startschuß zur Revolution, den punctum temporis, an dem jene Geschichtsepoche ihren Anfang genommen hat«, be zeichnet. Mayhew hatte erklärt: »Im Gefolge der Tyrannei kommen Igno ranz und Brutalität. Sie erniedrigt die Menschen aus dem ihnen zukommen den Rang auf die Stufe des Viehs. Sie macht Geister, die von Natur aus groß und stark sind, schwach und klein, und schließlich triumphiert sie über den Trümmern der Tugend und der Humanität. Dieses trifft für jede Art von Tyrannei zu: wo ihr Geist sich breit macht, kann Großes und Gutes nicht bestehen. Deshalb muß jeder Freund der Wahrheit und der Menschen, jeder Mensch, der Gott und die christliche Religion liebt, am Widerstand gegen dieses hassenswerte Ungeheuer teilnehmen.« Auch in den häufigen Hinweisen auf das Beispiel Israels zeigte sich der puritanische Geist. Die Kolonien wurden weiterhin mit den alten Israeliten verglichen, und immer wieder berief man sich auf die biblischen Argumen tationen gegen das Königtum. Samuel Langdon, der Präsident von Har vard, sagte am 3 1 . Mai 17 7 5 vor der Gesetzgebenden Versammlung in Massachusetts: »Die Staatsform von Israel ist, unter Berücksichtigung eini ger Eigentümlichkeiten, zweifellos ein hervorragendes, allgemeingültiges Vorbild«, und der Präsident von Yale, Ezra Stiles, begann seine Rede >The United States Elevated to Glory and Honor< (1783), indem er über den Hund Gottes mit Israel zur Zeit Moses sprach, als »Einleitung zu einer Er örterung über die politische Wohlfahrt von Gottes amerikanischem Israel, 265
und als eine andeutungsweise Prophezeiung des künftigen Gedeihens und des künftigen Glanzes der Vereinigten Staaten«. 17 7 5 predigte Jacob Duché, ein Prediger des Continental Congreß (und späterer Loyalist) über >The American Vine< und verwob darin alle diese verschiedenen Fäden. Amerika war »ein von Gottes gerechter Hand angelegter Weinberg«, der, um ihn anlegen zu können, »die Heiden aus der Gegend vertrieben, und ihn dann gepflanzt hatte«. Die ersten Siedler, die in diesen »Garten Eden« gekommen waren, hatten, indem sie einer »trostlosen Wildnis« den Rücken gekehrt hatten, »den irdischen Freiheitsbrief und die Niederschrift der Ewi gen Wahrheiten« mit sich gebracht. So wurden die Fäden des britischen, des biblischen und des Naturrechts in dem Tuch der amerikanischen Frei heit und des wachsenden nationalen Bewußtseins verwoben. Das Gleiche hat Samuel Langdon in seiner 17 7 5 gehaltenen Predigt getan. Er berief sich bei der Ablehnung des Königtums auf das Beispiel Israels und führte dann weiter aus: »Jede Nation, wenn sie dazu fähig und willens ist, hat das Recht, sich diejenige Regierungsform zu geben, die sie für ihr Allge meinwohl am zuträglichsten hält.« Hier ist bereits kein Unterschied mehr zu Jeffersons Kampf um die ewigen, angeborenen und unveräußerlichen Menschenrechte wahrzunehmen. Seiner Ansicht nach bedurften die Freiheit der Religionsausübung und die Redefreiheit keines besonderen Rückhaltes in Statuten, verfassungsmäßigen Garantien oder Freibriefen: »Sie sind nicht das Geschenk irgendeiner Gesetzgebenden Körperschaft, weder der engli schen, noch der von Virginia, noch des Kongresses; aber, zusammen mit all unseren anderen natürlichen Rechten, bilden sie einen jener Gegenstände, zu deren Schutz sich die Gesellschaft bildet und Gesetze erlassen werden.« Das Recht auf eine freie Regierungsform war nicht nur das traditionelle Geburtsrecht der Engländer. »Jeder Mensch und jede Gruppe von Menschen auf der Erde hat das Recht auf Selbstregierung. Sie empfangen dieses Recht mit ihrem Sein aus der Hand der Natur. Individuen üben dieses Recht durdi ihren Einzelwillen aus, Gruppen von Menschen durch den Willen der Mehr heit.« Hier hatte Rousseau über die Glorreiche Revolution gesiegt. Sobald die Fluten des amerikanischen Nationalismus frei zu strömen begannen, vermengten sich die Wasser, aus denen er gespeist wurde, untrennbar untereinander: die verschiedenen Ursprünge aus britischer Tradition und aus dem Naturrecht waren nicht mehr zu unterscheiden. Ein Mitglied de* Continental Congress sprach am 5. September 17 7 4 von »dem unveräußer liehen und unschätzbaren Erbe, welches uns die Natur verleiht, die Ver fassung Englands und die uns in der Satzung der Provinz verliehenen Vor rechte«. Er war sich gar nicht dessen bewußt gewesen, daß er grundver 266
schiedene und historisch sogar gegensätzliche Elemente als ein und dasselbe behandelte; in dem lebendigen Fluß der Geschichte waren sie zu einer neuen Realität zusammenverschmolzen. Vom historischen Gesichtspunkt aus be trachtet, mag Samuel Adams Argumentation ziemlich wirr erscheinen, aber vielen seiner Zeitgenossen, sowohl in den Kolonien als auch in England selbst, erschien sie überzeugend. »Es ist der Ruhm des englischen Königs und das Glück all seiner Untertanen, daß ihre Verfassung auf der Grund lage der unveränderlichen Rechte der Natur beruht, und da sowohl die oberste Gesetzgebende Gewalt als auch die oberste Exekutivgewalt ihre Autorität aus der Verfassung herleiten, sollte es wohl so sein, daß kein Gesetz beschlossen oder ausgeführt werden kann, das zu irgendeinem der wesentlichen Naturgesetze in Widerspruch steht.« Die am 29. Oktober 176 5 auf Vorschlag von Samuel Adams, der einen Monat vorher in das Haus gewählt worden war, im Repräsentantenhaus von Massachusetts gefaßten Beschlüsse brachten strengste Untertanentreue dem König gegenüber und größte Verehrung des Parlamentes zum Ausdrude; doch »gleichzeitig ent hält die britische Verfassung bestimmte wesentliche Rechte, die im gött lichen und im Naturrecht verankert sind und deshalb auch das Gemeingut der gesamten Menschheit sind; — deshalb wird beschlossen, daß die Ein wohner dieser Provinz einen unveräußerlichen Anspruch auf diese allen Menschen gemeinsamen Rechte haben und daß kein Gesetz irgendeiner Ge sellschaftsordnung, so diese mit den Gesetzen Gottes und der Natur in Ein klang steht, sie dieser Rechte entkleiden kann«. Die rationalistische, uni versalistische und naturrechtliche Note hatten in erster Linie Engländer, Thomas Paine, Richard Price und Joseph Priestley der Bewegung der Kolo nisten verliehen; sie ließen die britisch-konstitutionelle Seite in den Hinter grund treten und gaben dem amerikanischen Kampf einen mehr demokra tischen Inhalt und eine universale Geltung. Unter diesen Gesichtspunkten wurde der Konflikt auch in Europa, und dort besonders in Frankreich, ge(chen und verstanden.
4 Dieses waren die Quellen, aus denen der vordrängende Strom des amerika nischen Nationalbewußtseins gespeist wurde. Aber um die Mitte der sieb ziger Jahre war dieser Strom bei weitem noch kein mächtiger. Vielen Zeit genossen erschien er eher als ein schwaches Geriesel, das jeden Augenblick wieder versiegen konnte. Denn das Heranwachsen des Nationalbewußtseins 267
ist ein langwieriger, durch Rückschläge und Hemmungen unterbrochener Prozeß, der durch die Erregungen großer politischer Kämpfe, durch Kriege und Revolutionen vorangetrieben wird und im langsamen Lebensschritt >normaler< Zeiten wieder an Kraft verliert. In den siebziger Jahren schie nen die Elemente, auf denen man eine neue Nation hätte aufbauen können, nur sehr spärlich vertreten gewesen zu sein. Eine territoriale Einheit hat es nicht gegeben; die einzelnen Kolonien und Siedlungen waren nicht nur in geographischer, sondern auch in historischer und geistiger Hinsicht ge sondert. Es gab keinen Gemeinwillen und keine einheitliche Zielsetzung; viele Menschen in den Kolonien, besonders unter den gebildeten Schichten und den älteren Generationen, hielten eisern an ihrer britischen Nationa lität fest. Diese lehnten nicht nur den aufkeimenden Nationalismus der Revolution ab, sondern auch das, was sie als ihren antiliberalen Charakter bezeichneten, nämlich die Zerstörung derjenigen Freiheiten, die den Stolz der britischen Tradition ausmachten. Sie erblickten darin »die barbarische Herrschaft wahnwitziger Torheit und zügelloser Ehrsucht — Unterdrückung der Redefreiheit, Vernichtung der Pressefreiheit, Abwürgung der Stimme der Wahrheit, eine schrankenlose Gewalt, durch die die Menschen ihrer natürlichen Rechte beraubt wurden«. In ihren Augen war der Kampf gegen England ein Brudermord, dessen erfolgreicher Ausgang das kostbarste Erbe der amerikanischen Siedler ernsthaft gefährden würde, nämlich ihren Zu sammenhang mit dem Mutterland, ihre Mitgliedschaft in einem großen und liberalen Reich, das den Neid der gesamten Menschheit erregte, das sowohl wegen seiner Stärke als auch wegen seiner fortschrittlichen Freiheit bewun dert wurde — ein Reich, in dem Amerika noch eine Rolle von ungeahnter Größe spielen könnte. Daniel Leonard sah sogar schon eine Zeit kommen, in der ein künftiger König von England über den Atlantischen Ozean her überkommen würde, in der Amerika das Herz des Reiches und Großbritan nien von einem amerikanischen Parlament regiert werden würde. Keiner der gegenständlichen Faktoren unterschied die Loyalisten von den Rebellen, die sich als >Patrioten< bezeichneten. Sie waren alle gleicher Herkunft, hatten eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Traditionen und ein gemeinsames Territorium. Nichts lag zwischen ihnen als eine Idee, und diese Idee war so stark, daß nach der erfolgreichen Beendigung des Revolutionskrieges die Loyalisten nach Kanada auswandern mußten, weil sie diese Idee, die die Grundlage der neuen Nation bilden sollte, nicht zu der ihrigen machen konnten. Nachdem 176 3 die Engländer das französische Kanada eroberi hatten, waren die französischen Kanadier, obgleich diese nach Herkunft, Sprache, Traditionen und Territorium verschieden waren, nicht gezwungen 268
worden, das Land zu verlassen; sie sind auch nicht aus eigenem Antrieb gegangen; unter der Freiheit und der Toleranz des Britischen Imperiums konnten sie ungehindert bleiben und leben. Vor der Revolution hatten die Kolonisten kein Loyalitätsgefühl Amerika gegenüber empfunden. Als eine politische Idee, als ein Gegenstand, dem man seine Treue widmen konnte, hatte Amerika damals noch nicht bestan den. Loyalitätsgefühle hatte man gegenüber Großbritannien und gegen über einzelnen Kolonien oder Niederlassungen. Während die Kolonisten England gegenüber kaum irgendwelche fremdfühlenden oder gar feindse ligen Empfindungen hegten, herrschte in den Beziehungen der einzelnen Kolonien untereinander viel Eifersucht und Vorurteil. Ihr Handels- und Wirtschaftskonkurrenzkampf war genau so scharf wie ihr gegenseitiges Mißtrauen und ihre gegenseitige Abneigung. Lewis Morris aus New York hatte 176 0 in seinem Testament verfügt, daß sein Sohn Gouverneur Morris niemals nach Connecticut geschickt werden dürfe, damit er nicht in seiner Jugend durch die »niederträchtige Geriebenheit und List, die den Einwoh nern jenes Landes eigen ist« und von denen viele es gewagt haben, »sich unter dem Heiligenschein der Religion der Welt als ehrliche Menschen dar zubieten«, verdorben werde. Im gleichen Jahre veröffentlichte Benjamin Franklin seine Flugschrift >The Interest of Great Britain Considered, with Regard to Her Colonies and the Acquisition of Canada and Guadeloupe«, in der es hieß: »Entlang der Meeresküste des Kontinents haben wir bereits vierzehn verschiedene Regierungen . . . Wie notwendig auch eine Vereini gung der Kolonien zur Verteidigung und Sicherung gegen Feinde schon immer gewesen sein mag, und wie stark auch jede einzelne Kolonie diese Notwendigkeit empfunden haben mag, so war doch ihre gegenseitige Eifer sucht immer so heftig, daß sie es niemals fertiggebracht haben, diese Ver einigung selber herbeizuführen oder das Mutterland zu bitten, diese für sie zu vollziehen . . . Wenn sie sich schon nicht zur Verteidigung gegen die Franzosen und Indianer, die ihre Siedlungen ständig überfielen, vereinigen konnten, kann man dann vernünftigerweise annehmen, daß irgendeine Ge fahr bestehe, daß sie sich gegen ihre eigene Nation, die sie beschützt und unterstützt, mit der sie so viele Blutsbande, Interessen und Gefühle verbin den und die sie ja bekanntlich mehr lieben als sich selber, verschwören? Ich wage zu behaupten, daß eine Vereinigung zu diesem Zwecke nicht nur un wahrscheinlich, sondern sogar unmöglich ist.« Diese Ansicht des bedeutend«ten Amerikaners jener Zeit teilte ein sachverständiger englischer Beobach ter, der bekannte Nationalökonom Josiah Tucker. Er war einer der ersten, der die Loslösung der Kolonien vom Mutterlande befürwortet hat. »Die 269
gegenseitigen Antipathien und gegensätzlichen Interessen der Amerikaner, die Verschiedenheiten der Regierungsformen, der Sitten und der Lebensart weisen darauf hin, daß es ihnen nicht gelingen wird, einen Kristallisations punkt für ihre Einheit und eine gemeinsame Auffassung der Interessen zu finden. Wie auch immer die Regierungsform sein mag: zu einer wirklichen Einheit können sie niemals zusammengefaßt werden. Ein bis zum Ende aller Zeiten uneiniges Volk, untereinander argwöhnisch und mißtrauisch, werden sie stets kleine Gemeinwesen bilden, die den natürlichen Grenzen entsprechen, durch große Meeresbuchten und Flüsse, durch Bergzüge und Seen voneinander getrennt.« Nicht viele der alteingesessenen Kolonisten sahen die Notwendigkeit von Unabhängigkeit und Einheit ein, aber aus England neu eingewanderte Männer traten dafür um so stärker für sie ein. Unter diesen Männern be fand sich, außer Thomas Paine, auch John Whitherspoon, der erst 1768, einem Rufe als Präsident des College of New Jersey folgend, seine Heimat Schottland verlassen hatte, und der schon sechs Jahre später die Amerikaner dazu drängte, »ihren festen Entschluß zu verkünden, den Forderungen Großbritanniens niemals nachzugeben, sondern den Krieg mit all seinen Schrecken, ja sogar die völlige Vernichtung, der Knechtschaft vorzuziehen, sowie ihre Einheit zu beschließen und auf diesem Wege weiterzuwirken, bis die amerikanische Freiheit auf einer sicheren Basis konstituiert ist.« Timothy Dwight pries zwei Jahre später seinen Kommilitonen in seiner Abschieds ansprache in Yale die Größe der Vaterlandsliebe: »Sie sollten sich nicht als die Glieder eines beschränkten Kreises, einer Stadt oder einer Kolonie fühlen, sondern als Menschen, denen die Aufgabe gestellt ist, die Grund lagen für Amerikas künftige Größe zu schaffen. Ihre Wünsche, Ihre Pläne sowie Ihre Arbeit sollten nicht durch den gegenwärtigen engen Rahmen beschränkt sein, sondern die kommenden Generationen bereits einbe schließen und sich nach dem Maßstab der Ewigkeit richten . . . Bedenken Sie immer, daß Sie für das Reich Amerika und für viele kommende Jahrhun derte zu wirken haben.« Dieses war nichts weiter als eine Ausweitung der aufrüttelnden Worte, die Thomas Paine in seinem >Common Sense<, der damals in jedermanns Händen war, geschrieben hatte: »Es geht nicht um eine Stadt, um einen Kreis, um eine Provinz oder um ein Königreich, son dern um einen Kontinent — es geht um mindestens den achten Teil der be wohnbaren Erde. Es geht auch nicht um einen Tag, um ein Jahr oder um eine Generation: unsere Nachkommen sind zwangsläufig in diesen Kampi mit einbegriffen, und ihr Schicksal wird bis an das Ende der Zeiten mehr oder weniger vom Ergebnis der gegenwärtigen Vorgänge bestimmt wer270
r den.« Doch noch im gleichen Jahre, kurz nach erfolgter Unabhängigkeits erklärung, klagte John Adams: »Wenn wir nicht untergehen sollen, so müssen im Volke eine starke Liebe zu seinem Lande, ein stärkeres Verlan gen nach militärischem Ruhm und eine tiefere Verachtung, ja Abscheu vor kriegerischem Mißgeschick geweckt werden.« So ist es nicht verwunderlich, wenn einer der bedeutendsten Historiker des amerikanischen Unabhängig keitskrieges zu dem Ergebnis gelangt, daß »ein Patriotismus, so wie er ein Jahrhundert später sich im Bürgerkrieg manifestiert hat, oder gar von der höheren Art, wie er sich im Weltkrieg ( 19 17 —18) gezeigt hat, damals nur sehr selten zu spüren war. Der >Geist von 7 6< bedeutet in der Haupt sache eine Begeisterung für die Unabhängigkeit, sowie die Treue zu einem großen Heerführer und Haß gegen Georg III., aber nicht Vaterlandsliebe, Liebe zu einem hohen Ideal oder zu einer Sache, die mehr wert war als das Leben selbst. Washington erhob sich zu dieser Anschauung, wie auch einige andere, die Geist und Weitblick hierfür besaßen; doch bei den Massen war die Loyalität zum Lande, zur Provinz oder zu ihrer Gruppe das beherr schende Motiv.«
5 Das damals sehr beliebte Volkslied >Bunker Hill< verherrlichte den Krieger tod für das Vaterland:
Death will invade us by the Means appointed, And we must all bow to the King of Terrors; Nor am I anxious, if I am prepared, W hat shape he come in. Life, for my Country and the Cause of Freedom, Is but a Trifle for a Worm to part with, And if preserved in so great a Conflict, Life is redoubled. Aber die amerikanischen Revolutionsheere hatten es sehr schwer, die erfor derlichen Menschen und Gelder zu erhalten. Die Begeisterung, die am A n fang geherrscht hatte, war sehr bald wieder geschwunden; die Männer zo gen es vor, in ihre Heimatorte und zu ihren Berufen zurückzukehren. Es fehlte an militärischer Ausbildung und an Disziplin, die Truppen waren unordentlich und unbotsam, und Moral war genau so wenig vorhanden wie Ausrüstung. Daß diese schlecht vorbereiteten und mit nur wenig Offi271
zieren versehenen Truppen schließlich doch die Herren der Lage werden konnten, verdankten sie zum großen Teil ihrem Glück, dem Bündnis mit Frankreich sowie dem Umstand, daß Großbritannien bei weitem nicht mit ganzem Herzen bei der Sache war. Aber die Tatsache, daß dieses unausgebildete Bürgerheer der Revolution den Berufssoldaten des Empire stand halten und jene schließlich schlagen konnte, erfüllte die Amerikaner mit Selbstvertrauen und fand jenseits des Ozeans einen starken Widerhall alii ein Beweis für die Überlegenheit des freien Menschen im Kampfe, und für die Überlegenheit der Freiheit über den Despotismus überhaupt. Die Entste hung einer amerikanischen Nation aus so vielen ungleichen Elementen, der Sieg eines Bürgerheeres, das plötzliche Aufflammen eines republikanischen Patriotismus dort, wo es vorher nichts dergleichen gegeben hatte — all dag schien fast ein Wunder zu sein. Diese Anschauung von den Tatsachen brachte Washington in seinem Abschiedsbefehl an das Heer von Rocky Hill im November 178 3 zum Ausdruck: »Jeder amerikanische Offizier und Sol dat muß sich nun mit der Erinnerung an jene wunderbaren Ereignisse, deren Zeuge er gewesen ist, zufrieden geben; es sind dies Ereignisse ge wesen, die sich bisher nur selten, wenn überhaupt schon einmal auf der Bühne der menschlichen Taten abgespielt haben, und die sich wahrscheinlich nie mehr wiederholen werden. Denn wer hat es schon einmal erlebt, daß aus solchem Material mit einem Schlage ein diszipliniertes Heer aufgestellt worden ist? Wer, der es nicht selber erlebt hat, könnte sich vorstellen, daß die schärfsten lokalen Vorurteile so schnell abgelegt werden konnten und daß Männer, die aus verschiedenen Gegenden des Kontinents zusammen gekommen sind und durch Erziehung stark dazu neigten, sich gegenseitig zu verachten und zu bekabbeln, mit einem Schlage zu einem einzigen Bunde patriotischer Brüder zusammenwachsen können?« Die Amerikaner hatten sich ihre Unabhängigkeit erkämpft, und der ungeheuer große Kontinent mit seiner Fülle von unerschlossenen Hilfsquellen bot sich ihnen nun, der Auswertung harrend, dar. Jedoch die Vision der künftigen Größe Amerikati wurde durch die Realitäten des täglichen Lebens aufs traurigste Lügen ge straft. Die dreizehn Staaten, die aus dem Unabhängigkeitskrieg hervorge gangen waren, blieben im Sumpfe ihres Elends, ihrer Eifersüchteleien mul ihrer lokalen Bindungen stecken; der größte Teil ihrer Bürger war unfähig, an dem Glauben teilzunehmen, der die starke Grundlage für eine neue Na tion bilden sollte. Die Entfernungen blieben ungeheuer. Als Noah Webster 178 5 mit der Postkutsche von Philadelphia nach Baltimore reiste, war er zwei Tage unter wegs »auf einer bekannt miserablen Straße, auf der an vielen Stellen Ge* 272
ländestufen von sechs, acht oder zehn Fuß zu überwinden waren. Unfälle waren so häufig, daß man den Straßenkommissaren nachsagte, sie hätten private Abkommen mit den Ärzten geschlossen.« Als er im gleichen Jahre nach Charleston, Süd Carolina, reisen wollte, war eine Fahrt über Land von Baltimore aus unmöglich, so daß er sich eines Schiffes bedienen mußte. »Siebenundzwanzig Tage dauerte diese anstrengende und unerfreuliche Reise, die sich durch abwechselnde Sturmböen und Flauten auszeichnete.« Kein Wunder, daß zwischen den einzelnen Teilen des Landes weiterhin große Interessengegensätze herrschten »sowie dauerndes Mißtrauen und gegenseitige Anschuldigungen, anstatt freundschaftlichen Wetteifers und Nacheiferns zwischen den Mitgliedern der gleichen Familie mit gemeinsa men Interessen«. Dieser Zustand war unvermeidlich, solange die Menschen in großen Entfernungen voneinander lebten und nicht reisen konnten. »So war die Liebe zum Boden notwendigerweise eine Liebe zu dem Teil des Landes, den ein Amerikaner gerade kannte; sie galt mehr seinem Staat als dem Kontinent. . . Seine Interessen und Gefühle bewegten sich nur inner halb eines sehr beschränkten Bereiches.« In einer Rückschau auf die Ame rikanische Revolution schrieb John Adams am 1 3 . Februar 18 18 an Hezekiah Niles: »Die Kolonien waren unter derart verschiedenen Verwal tungsformen herangewachsen, es gab so viele verschiedene Formen der Re ligion, sie setzten sich aus so vielen verschiedenen Nationen zusammen, ihre Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche waren einander so unähnlich, der gegenseitige Verkehr so spärlich und die gegenseitige Kenntnis so man gelhaft, daß es gewiß ein sehr schweres Unterfangen war, sie unter gemein samen theoretischen Grundsätzen und praktischen Formen zu vereinigen.« Erst nach 18 1 5 begannen sich die Verhältnisse zu ändern; während der letzten Jahrzehnte des achtzehnten Jahrhunderts waren die ideologischen Kräfte, die diesem Zustand entgegenzuwirken vermochten, noch recht schwach. Wohl hatte der Friede seinen Einzug gehalten, aber mit ihm waren weder Wohlstand noch nationales Solidaritätsgefühl eingekehrt. Die öffentliche Verschuldung war beängstigend, die finanzielle Lage chaotisch und die Währung noch schlimmer dran. Die oberen Schichten mißtrauten der übri gen Bevölkerung, klagten über sie und warfen ihr Mangel an Zusammen arbeit und Gewalttätigkeit vor. Die Massen litten unter der Last der öffent lichen Schulden. Die sogenannte Bundesregierung war wie »ein Pferd mit dreizehn Zügeln, von ebensovielen Lenkern geführt«. Die Staaten, so schrieb Madison am 16 . April 17 8 7 an Washington, »plagen sich weiterhin gegenseitig mit nebenbuhlerischen und gehässigen Maßnahmen, die von
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schlechtverstandenem Interesse diktiert sind«. Handels- und Finanzinter essen führten eine energische Agitation zugunsten einer stärkeren Zentralregierung und für die Umwandlung der dreizehn Staaten in eine einzige Nation. In seinem >Plan of Policy for Improving the Advantages and Perpetuating the Union of the American States< sagte Noah Webster 178 5: »Wir sollten unsere Ideen und Maßnahmen verallgemeinern. Wir sollten uns nicht nur als Einwohner eines bestimmten Staates sehen, wir sollten uns als Amerikaner fühlen, als die gemeinsamen Untertanen eines großen Reiches. Wir können und sollen uns nicht unserer provinziellen Gesichts punkte und Bindungen begeben, aber wir sollten sie dem größeren Inter esse des Kontinents unterordnen.« Zu den ersten Vorkämpfern für eine starke zentrale Regierung gehörte Alexander Hamilton. Denjenigen, die der Ansicht waren, daß die Inter essen und Lebensgewohnheiten der dreizehn Staaten zu verschieden seien, um die Bildung einer geeinten Nation zu gestatten, hielt er 1788 auf der New Yorker Konvention entgegen, daß »unter der beständigen und sanften Einwirkung allgemeingültiger Gesetze die verschiedenen Interessen einandei angeglichen werden, bis sie ineinander aufgehen und sich gleichen«. Er hat seine ganzen Kräfte der Schaffung einer nationalen Regierung, die den Ver einigten Staaten »einen nationalen Charakter und eine nationale Politik« garantieren würde, gewidmet. Aber seine Auffassung vom nationalen Charakter war rein politischer Natur. Während er ein Pionier auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Nationalismus war — sein berühmter >Report of Manufactures< war eine erste Saat — vernachlässigte er die ideolo gische Seite, die so typisch amerikanisch war und worauf allein eine amerikanische Nation errichtet werden konnte. Er war ein ausgesprochener Anhänger einer starken nationalen Regierung. Aber »nicht weniger be stimmt und von nicht geringerer Bedeutung war Hamiltons Antwort aul die Frage nach der Gestalt, welche die Zivilisation in den Vereinigten Staa ten annehmen sollte. Er wollte hier, soweit es die Umstände gestatten wür den, ein amerikanisches England schaffen. In allem, was er tat, waren seine Vorbilder und Methoden englischen Ursprungs.« Der Kampf um eine ein heitlichere Regierungsform wurde schließlich im Sinne Hamiltons entschie den. Die neue Verfassung war ein großer Fortschritt auf dem Wege zur natio nalen Einheit. Der traditionelle starke Isolationismus der dreizehn Staaten war überwunden worden; für Frieden und Sicherheit, für das Gedeihen der Wirtschaft und für einen blühenden Handel war eine neue Grundlage ge schaffen worden. Mit ihr war ein Exempel statuiert worden nicht nur für
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die republikanische Regierungsform schlechthin, sondern auch für ihren föderalistischen Charakter, der eine weitgehende Selbständigkeit histori scher lokaler Einheiten mit dem Bestand einer starken zentralen Macht zur Wahrnehmung der gemeinsamen Belange, deren Anzahl und Umfang na türlich mit der Entwicklung des Verkehrswesens und der gegenseitigen Ver bindungen wachsen würde, in sich vereinigte. Die Verfassung und die Bill of Rights sind die unerschütterlichen Grundlagen der neuen Nation geblie ben. Ihre Kraft empfingen sie nicht aus ihrer Eigenschaft als Gesetz, son dern aus den Ideen, deren Ausdruck sie waren. Trotz ihrer Unvollkommen heiten haben sie den Prüfungen der Zeit besser widerstanden als irgend eine andere Verfassung; alle anderen Nationen haben während der letzten einhundertfünfzig Jahre ihre Verfassungen wiederholt geändert. Die ame rikanische Verfassung von 1789 hat die Zeit überdauert, weil die Idee, die sie vertrat, so eng mit dem Bestand der amerikanischen Nation ver schmolzen ist, daß die amerikanische Nation ohne diese Idee nicht existie ren würde. Der amerikanische Nationalismus war in erster Linie ein ideo logischer Nationalismus, die Verkörperung einer Idee, die, wenn sie auch historisch und geographisch in den Vereinigten Staaten verankert war, uni versal war — das bedeutendste und lebenstüchtigste Vermächtnis des acht zehnten Jahrhunderts. Eine der wichtigsten Realitäten des nationalen Lebens ist das Bild, das eine Nation sich von sich selber macht und in dem sie sich spiegelt. Nur wenig steht in seiner Bedeutung dahinter zurück jenes Bild, welches sich Menschen anderer Nationen über ein Volk machen, denn das eigene Bild und sein Widerbild gestalten und beeinflussen sich gegenseitig. Obwohl in vieler Hinsicht die Wirklichkeit der Vorstellung nicht entspricht, weit von der idealen Vollkommenheit entfernt ist und oft in den unzähligen und widersprechenden Zügen einer komplexen Wirklichkeit zu ihr in Wider spruch steht, ist doch dieser aus Elementen der Wirklichkeit, aus Überliefe rung, Vorstellung und Streben gewirkte Teppich einer der gestaltungskräf tigsten Faktoren des nationalen Charakters. Er formt mit am nationalen Le ben, und wenn er auch nicht immer als treibende Kraft wirkt, so wirkt er doch zumindest als ein retardierendes Moment gegen radikale und extreme Strömungen. Nationen wie die amerikanische, die nicht seit vielen Jahr hunderten im gleichen Boden wurzeln und durch gemeinsame alte Überlie ferungen sowie durch den Glauben an eine über lange Zeiten sich erstrekkcnde gemeinsame Herkunft getragen werden, leben sogar noch in weit hö herem Maße aus der Kraft ihres nationalen Bildes und ihrer nationalen Idee. Das Gebiet der Vereinigten Staaten war nicht fest Umrissen; trotz der 275
Bemühungen Noah Websters hat die Nation niemals eine eigene Sprache entwickelt; Neger wie Juden, germanische Lutheraner wie romanische Katholiken haben sich am Revolutionskrieg beteiligt und für die ameri kanische Nation gekämpft; einzig die nationale Idee konnte die Grund lage und das alle umschließende Band bilden. Im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert war das Bild, das sich die auf geklärtesten europäischen Nationen von der neuen amerikanischen Nation machten, nicht grundsätzlich von der Eigenvorstellung der Amerikaner ver schieden, es war lediglich mehr den Realitäten des Alltags entrückt und noch intensiver mit den philosophischen Idealen des Jahrhunderts durch setzt. Amerika erschien als ein Symbol der Freiheit und der »natürlichen« Tugenden, als ein Land, in dessen weiten offenen Räumen die natürliche Ordnung schöpferisch wirken konnte, ohne durch die Überlieferungen und Vorurteile vergangener Zeiten gehemmt zu sein. Das ferne Amerika er schien als ein A syl der wahren philosophischen Geisteshaltung, als ein Zu fluchtsort für alle Menschen, die sich nach der Herrschaft des Naturrechts sehnten. Jaques Pierre Brissot, der führende französische Girondist, pries die Vereinigten Staaten als ein Land der moralischen Regeneration und Re form. Diese Vorstellungen, die sich das Ausland machte, wirkten auf die Amerikaner zurück, um so mehr, als sie ihnen bereitwilligst die führende Rolle auf dem Weg der Menschheit in die Zukunft zusprachen. »Ex occidente lux«; nicht nur das Schwergewicht des Empire, auch der Mittelpunkt der Menschheit schien sich nach dem Westen zu verlagern. In der Wirklich keit aber hatte dieser kühne Gedankenflug keinen Rückhalt: noch eine lange Zeit hindurch bewegte sich die junge Nation in politischer und kul tureller Hinsicht nur an der Grenze der Zivilisation. Nichtsdestoweniger hatte sich etwas grundsätzlich Neues und außerordentlich Wichtiges ereig net: Zum ersten Male war eine Nation auf der Grundlage jener »selbstver ständlichen Wahrheiten« erwachsen, »daß alle Menschen gleich geboren sind, daß ihr Schöpfer sie mit bestimmten unveräußerlichen Rechten bedacht hat und daß zu diesen Rechten gehören: das Leben, die Freiheit und das Stre ben nach Glück« — Wahrheiten, von denen die Nation nicht mehr abrücken konnte, ohne damit ihre eigenen Grundfesten zu zerstören. Durch all die vielen Predigten, Aufsätze und Gedichte mit ihrem leeren Schwulst, mit ihrer salbungsvollen Rhetorik und ihrer Gebundenheit an den Zeitge schmack und durch alle politischen Kämpfe und wirtschaftlichen Manöver unbedeutender Menschen und habgieriger Führer hindurch, hat sich die ame rikanische Idee doch erhalten, manchmal wohl entstellt und verwischt, im mer aber um ihre Gestaltwerdung ringend. 276
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Das amerikanische Nationalbewußtsein beruht auf dem Bewußtsein der Verschiedenartigkeit von anderen Nationen — verschieden aber nicht darin, daß diese Nation eine einmalige und einzigartige entwicklungsgeschichtliche Erscheinung darstellt, sondern dadurch, daß sie als erstes Volk den allge meinen Zug der menschlichen Entwicklung zu einer besseren, vernunftge mäßen Ordnung, zu größerer individueller Freiheit und zu grundsätzlicher Gleichberechtigung mit größtmöglicher Annäherung an die Vollkommen heit verwirklicht hat. So ist der amerikanische Nationalismus nicht wie der deutsche und der russische ein romantischer Protest gegen die rationale und Gleichberechtigung heischende Anschauung des Westens, sondern geradezu die vollendete Form dieser Anschauungen. Er ist nicht eine aus den Tiefen einer unklaren Vergangenheit herüberklingende Stimme, sondern das stolze Produkt einer aufgeklärten Gegenwart, deren Blicke in die Zukunft gerich tet sind. Noah Webster hat das amerikanische Regierungssystem verherr licht, weil es »während der aufgeklärtesten Periode der Weltgeschichte ge schaffen worden ist. Sämtliche anderen Regierungssysteme haben in Zeiten roher Unwissenheit und wilder Grausamkeit ihren Ursprung, sie sind unter dem Zwang der Notwendigkeit erfunden worden, ohne auf Wissenschaft und Erfahrung gestützt zu sein. Amerika, das seine Existenz gerade in einer fortschrittlichen Zeit menschlicher Vervollkommnung beginnt, hat das Wissen und die Erfahrungen sämtlicher Völker für die Gestaltung seines Re gierungssystems zu seiner Verfügung.« Der amerikanische Nationalismus verdankte seine Entstehung und seine Kraft einem individuellen, nicht na tionalen, Freiheitsgefühl sowie dem Gefühl für Gleichberechtigung, die, wenn auch keineswegs vollkommen verwirklicht, von keinem anderen Volke in gleichem Maße realisiert worden waren. Philip Freneau und Hugh Henry Brackenridge, beides Studenten im College of New Jersey, haben 17 7 1 ein Gedicht verfaßt, >The Rising Glory of America<, in dem sie die Vision eines Landes der Freiheit in Verse gekleidet haben:
Here independent power shall hold sway, And public virtue warm the patriot breast: N0 traces shall remain of tyranny, And laws, a pattem to the world beside, Be here enacted first. .. A new Jerusalem, sent down from Heaven, Shall grace our happy earth. 277
Kein Wunder, daß 17 8 1 nach Cornwallis' Niederlage Prediger wie Nathan Fiske angesichts der leuchtenden Aussichten für die Zukunft in lyrischem * Überschwang ausriefen: »Glückliches Land! Der Schauplatz solcher Wun der, Du Mutter solcher Helden, Du Verteidiger der Freiheit, Du bist Jehovas eigenes Land. Hier wird die Religion ihre wohltätige Wirkung auf wilde, versklavte und geknechtete Völker ausüben. Können wir uns angesichts solch herrlicher Zukunftsaussichten der Freude enthalten?« Bereits drei Jahre früher ließ sich Phillips Payson aus Chelsea in seiner Predigt anläßlich der Wahlen in Massachusetts über die erfreulichen Zukunftsaussichten verneh men: »Es ist erhebend für den Geist, aus den Hoffnungen und Möglich keiten der Gegenwart auf den künftigen Glanz Amerikas zu schließen. In diesem Lichte sehen wir unser Land, wie es, dem Zugriff aller Unterdrücker entrückt, unter dem Schutz der großen Unabhängigkeitserklärung sich der reinsten Freiheit erfreut, schön und stark in seiner Einheit, zum Neid aller Tyrannen und Teufel, doch zur Freude Gottes und aller guten Men schen, eine Stätte der Zuflucht für alle Bedrückten, der Glanzpunkt der Erde.« Das Verhältnis, in dem der neue amerikanische Nationalismus zu Europa stand, war zutiefst von Zuneigung und Abneigung zugleich bestimmt. Jede nationale Idee erhält ihre Prägnanz und Deutlichkeit, indem sie sich ande ren Anschauungen gegenüberstellt und sich hierdurch ihres Unterschiedes bewußt wird; für Amerika war Europa dieser Kontrast. Amerika wußte, auch wenn es diese Tatsache manchmal zu vergessen schien, daß es ein Kind Europas war, daß es seine Freiheit den Ideen Miltons, Sidneys, Lockes, Vol taires, Montesquieus und Rousseaus verdankte. Doch was bei diesen Män nern noch eine Vision gewesen war und was bei den Völkern Europas im besten Falle zu einem Bruchstück der Verwirklichung geführt hatte, war in Amerika weithin Realität geworden. Ob dieses nun der geographischen und gesellschaftlichen Situation in der Neuen Welt oder einer besonderen Ver anlagung des amerikanischen Volkes oder beiden Momenten gemeinsam zu verdanken war, das stand nicht zur Debatte. Die Tatsache bestand und konnte durch einen Vergleich des Lebens auf den beiden Seiten des Atlantik leicht bestätigt werden. Die fortschrittlichen Geister in Europa haben diese· Tatsache auch nicht bestritten; im Gegenteil, die meisten von ihnen unter stützten und überboten sogar manchmal den Glauben der Amerikaner an die Vorzüge des Lebens und der Freiheit in der Neuen, von den Fesseln der Alten befreiten Welt. Noah Websters frühe Schriften von 178 2 waren im Wesentlichen ein Widerhall der Worte der französischen Philosophen »Amerika sieht die Absurditäten — es sieht die Königreiche Europas, e» 278
sieht, wie ihr Leben durch laut sich zankende Sektierer gestört wird, wie ihr Handel, ihre Bevölkerung und jeglicher Fortschritt gehemmt und ver hindert ist, weil in ihnen der Geist und der Leib der Menschen gefesselt >und durch die Bande der Politik und des Aberglaubens fest gebunden ist<: Amerika lacht über ihre Torheiten und lacht über ihre Fehler: Es gründet sein Reich auf einer universalen Toleranzidee: . . . (Dieses) wird schließlich Amerika zu dem Gipfel der Größe und des Glanzes emporheben, vor dem der Ruhm des alten Griechenlands zusammenschrumpfen und der Glanz der modernen Reiche verbleichen wird.« Weil Amerika die Bestrebungen der Denker der englischen und franzö sischen Aufklärung verwirklicht hatte, und weil sein Nationalismus nicht parochial und autochthon sondern universal war, betrachtete es sich, indem es Freiheit und Glück zu seiner Grundlage wie auch zu seinem Ziel erklärte, als den Garanten dieser Segnungen für Europa und für die gesamte Mensch heit. In seiner berühmten Predigt >The United States Elevated to Glory and Honor< zeigte Ezra Stiles die zentrale Stellung der Vereinigten Staaten im kulturellen wie im wirtschaftlichen Leben auf. »Diese große amerika nische Revolution . . . wird von allen Nationen beachtet und beobachtet werden. Die Schiffahrt wird die amerikanische Flagge über den ganzen Erd ball tragen . . . und zusammen mit den Handelsgütern wird sie die Weis heit und die Literatur des Ostens bei uns einführen. Daniels Prophezeiung geht nunmehr wörtlich in Erfüllung: man wird überallhin, in jede Richtung reisen können, und das Wissen wird vermehrt werden. Dieses Wissen wird nach Amerika gebracht und hier gehortet werden, hier wird es auch ver arbeitet und aufs höchste vervollkommnet werden, um dann von Amerika aus nach Europa, Asien und Afrika aus zu strahlen und so die Welt mit Wahrheit und Freiheit zu erleuchten.« Diese verhältnismäßig bescheidene Vision des gelehrten Präsidenten von Yale wurde durch seinen Nachfolger Timothy Dwiglit in den Schatten gestellt. Dieser hatte 179 4 , ein Jahr, bevor er Präsident von Yale wurde, unter dem Titel >Greenfield Hill< ein Gedicht veröffentlicht, worin er das amerikanische Leben in Greenfield Hill, Connec ticut, wo er elf Jahre lang als Pastor gewirkt hatte, beschrieb. Es ist zwei felhaft, ob jenes Gedicht seinen patriotischen Zweck, nämlich die Moral der Amerikaner zu heben, erfüllt hat; fest steht, daß es den zweiten Zweck, den der Verfasser zu erreichen bestrebt war, nämlich den Europäern zu zei gen, daß Amerika über eine eigenständige Dichtung verfüge, nicht erfüllt hat. Doch war der Mangel an dichterischer Phantasie durch eine glühende patriotische Vision mehr als ausgeglichen:
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Ah then, thou favour'd land, thyself revere! Look not to Europe, for examples just Of order, manners, customs, doctrines, laws, Of happiness, or virtue. Cast around The eye of searching reason, and declare W hat Europe proffers, but a patchwork sway . . . O blissful visions of the happy West! O how unlike the miseries of the East! There, in sad realms of desolating war, Fell Despotism ascends his iron car: Printed in blood, o'er all the moving throne, The motto glows, of —Millions Made For One. Der amerikanische Nationalismus, dieses Gefühl, Europas beste und kühnste Hoffnungen und Ziele außerhalb, ja sogar gegen Europa zu verwirklichen, nahm an Bestimmtheit zu, je enger sich der Kontakt mit Europa gestaltete. Jeffersons amerikanischer Nationalismus erhielt seine letzte Prägung wäh rend dessen Aufenthalt in Frankreich. Es war ein typisches »Fremdheits erlebnis«, was ihn da erregte, diese Empfindung des Fremdseins und de9 Exils, das durch die gesamte Geschichte des Nationalismus hindurch, von Petrarca bis auf den heutigen Tag, einer der stärksten Ansporne zur Klä rung des nationalen Bewußtseins geblieben ist. Wie auch andere Amerika ner, die zu Besuch in Europa weilten, verglich Jefferson seine Freiheit, die Verteilung des Wohlstandes, das sittliche Verhalten und das allgemeine Bildungsniveau mit den Verhältnissen in seinem eigenen Lande. Aus Paris schrieb er am 17 . Juni 178 5 an einen Freund in Amerika: »Ich habe den aufrichtigen Wunsch, daß Du eine Gelegenheit finden mögest, um hierher zu kommen . . . Es wird Dich Dein eigenes Land, seinen Boden, sein Klima, seine Gleichheit, seine Freiheit, seine Gesetze, seine Menschen und seine Sitten lieben lehren. O Gott! wie wenig wissen meine Landsleute davon, daß sie im Besitz kostbarster Glücksgüter sind, deren sich kein anderes Volk auf Erden erfreut. Ich gestehe, daß auch ich mir dessen nicht bewußt gewe sen bin. Während wir viele Beispiele dafür erleben, daß Europäer nach Amerika übersiedeln, behaupte ich, daß niemand es jemals erleben wird, daß ein Amerikaner nach Europa übersiedelt, um dort für immer zu blei ben. Komme deshalb herüber und sieh mit eigenen Augen die Beweise mei ner Behauptungen, und füge dann bei Deiner Rückkehr Dein Zeugnis dem jedes denkenden Amerikaners hinzu, um unsere Landsleute davon zu über zeugen, wie wichtig es für sie ist, daß sie jene Eigentümlichkeiten in ihrem Regierungssystem und in ihren Sitten, denen sie diese Glücksgüter verdan · 280
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ken, vor moralischer Verseuchung bewahren.« Und ein Jahr später schrieb er: »Wenn alle Souveräne Europas sich an die Arbeit machen würden, um die Geister ihrer Untertanen aus ihrem gegenwärtigen Unwissen und Vor urteil zu befreien, und zwar mit genau so großem Eifer, wie sie gegenwär tig das Gegenteil zu erreichen suchen, so würden sie doch auch nicht in tausend Jahren jenes hohe Niveau erreicht haben, auf dem bei uns heute schon der kleine Mann steht.« Aber Jeffersons Warnungen vor der >Verseuchungsgefahr< waren verge bens. Die Entwicklung fortschrittlicher Ideen in Europa beeinflußte weiter hin das Denken in den Vereinigten Staaten. Jefferson selbst wurde zum be deutendsten Werkzeug der sogenannten zweiten Revolution, die den end gültigen Charakter des amerikanischen Nationalismus geprägt hat und der neuen Nation eine starke moralische und ideologische Grundlage brachte. Die Jahre nach Erreichung der Unabhängigkeit waren erfüllt von der Aus einandersetzung zwischen den konservativen Gruppen, die in den Vereinig ten Staaten eine den englischen Verhältnissen ähnliche Gesellschaftsordnung der Klassenherrschaft und Machtverteilung zu erhalten wünschten, und den Vorkämpfern einer Ordnung mit größerer sozialer und politischer Gleich berechtigung. Selbst ein Mann wie Noah Webster, der sich in seiner Jugend zu starken demokratischen Gefühlen bekannt hatte, »setzte seine Kraft da für ein, umstürzlerische Naturen wie Priestley und Jefferson davon abzu halten, die Nation zu ruinieren, und versuchte, die wachsende demokra tische Flut in Connecticut einzudämmen«. Doch unter den amerikanischen Verhältnissen kämpften Webster und seine Gesinnungsgenossen einen vergeblichen Kampf; ihre Bemühungen waren durch die sozialen Verhältnisse des Landes sowie durch die Ideen, kraft deren sie selber die Amerikanische Revolution begonnen und beseelt hatten, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Welle des neuen de mokratischen Nationalismus, die in den neunziger Jahren über Amerika da hinbrauste, entsprang aus den wesentlichen Grundlagen der Amerikanischen Revolution. Doch war ihr ein Teil ihrer neuen Kraft, ihr weiterer Blick, ihre neue Popularität von jenseits des Ozeans aus der Französischen Revolution zugeflossen, welche sich anschickte, die amerikanische Freiheit zu überstrah len und die Vorhut auf dem Marsch zur Freiheit des Menschen zu über nehmen. Nicht nur, daß das Denken von Jefferson, Barlow und anderen führenden Männern durch sie tief beeinflußt wurde; auch die Massen ge wannen neues Selbstvertrauen, überall in den Vereinigten Staaten spros sen demokratische Clubs empor, die Menschen redeten sich als >Bürger< und >Bürgerin< an, die King Street in New York wurde in Liberty Street, und 281
die Royal Exchange Alley in Boston in Equality Lane umgetauft. Eine ähnliche belebende Wirkung hat die Französische Revolution auch in Eu ropa ausgeübt. Doch in Amerika blieb diese Wiedergeburt des Glaubens an Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit nicht eine vorübergehende Er scheinung, die schnell durch eine Gegenrevolution wieder unterdrückt wer den konnte. Sie stärkte die bestehenden Grundfesten und machte sie uner schütterlich. Die demokratische Erneuerungsbewegung der neunziger Jahre war ein Protest gegen die jüngsten Siege der Föderalisten, gegen die An nahme der Verfassung, gegen die Orientierung nach London, gegen die neue Finanzpolitik des Staates. Der Geist von 17 7 6 flammte wieder auf — die englische revolutionäre Überlieferung und der neue französische Geist tra fen und vereinigten sich in der Neuen Welt. Während in Europa der Des potismus Triumphe zu feiern schien, während sogar in Frankreich die neu erworbenen Freiheiten wieder dahinschwanden, vertiefte in den Vereinigten Staaten die zweite Revolution, die selber zum Teil eine Folgeerscheinung der Französischen Revolution war, die Kluft zwischen Europa und Amerika. Während in Europa überall die Freiheitsfeuer wieder erloschen, flammten sie jenseits des Atlantik noch heller auf. Die düsteren Prophezeiungen der Föderalisten, die in der Wahl Jeffersons das Ende aller Ordnung und den Anfang einer Schreckensherrschaft gese hen hatten, erfüllten sich nicht. »Das Recht auf Privatbesitz, das Eherecht, das Recht der Keuschheit und des Anstands«, von denen Timothy Dwight vorausgesagt hatte, daß sie »unter dem Vorwand, dem Menschen die Gleichberechtigung und die Freiheit zu geben«, vertilgt werden würden, blieben genau so unangetastet wie vordem. Jefferson als Präsident, der Mann der seinerzeit »die Seele des Kontinents in die Form der Unabhän gigkeitserklärung eingegossen hatte«, wie Ezra Stiles 178 3 sich ausge drückt hatte, brachte erneut diese Seele zum Ausdruck. Und er konnte das auch, denn in den Worten von Samuel Dickinsons Rede am 4. Juli 1797 lag ein entscheidender Kern wesentlicher Wahrheit: »Ich brauche keine Zeit damit zu verlieren, die Gleichberechtigung der Menschen oder die unver äußerlichen Menschenrechte zu beweisen. Ihr, meine Landsleute, fühlt ihre Wirklichkeit. Sie sind ein heiliger Schatz, der im Busen eines jeden Ameri kaners ruht.« Die Französische Revolution, der in Frankreich der Erfolg versagt zu sein schien, weil, wie Jefferson es ausgedrückt hat, »der Mob in den Städten, das (zur Durchführung der Revolution) ausersehene Instru ment, durch Unwissenheit, Armut und Laster entwürdigt und zu keiner vernünftigen Handlungsweise fähig war«, und die dann vorübergehend durch die Mächte der Vergangenheit wieder überschattet worden war, wurde 282
zu einem wesentlichen Bestandteil des amerikanischen Nationalbewußtseins, da es hier eine Vergangenheit, auf der eine Gegenrevolution hätte fußen können, nicht gab. Das Auftreffen der Französischen Revolution auf den amerikanischen demokratischen Nationalismus hatte Joel Barlow, ein naher Freund von Thomas Paine und ein Klassenkamerad von Noah Webster in Yale, er lebt; dieser war 1788, im Alter von vierunddreißig Jahren, nach Europa gesegelt, wo er dann siebzehn Jahre verblieb. 179 2 schrieb er in >A Letter to the National Convention of France on the Defects in the Constitution of 1 7 9 1 and the Extent of the Amendments which ought to be applied<: »Nicht nur, daß ich die gesamte Menschheit als eine große Familie betrachte, in der deshalb, durch natürliche Übereinstimmung, jeder das Glück des Nächsten als einen Teil seines eigenen Glückes betrachten muß; im gegen wärtigen Augenblick, meine ich, steht die französische Nation stellvertre tend für die Gesamtheit da.« Aber diese Ablösung Amerikas als Vorkämp fer für die Sache der Menschheit durch Frankreich war, auch nach Barlows Auffassung, nur eine vorübergehende Erscheinung. In seinem >Advice to the Privileged Orders in the Several States of Europe, resulting from the necessity and propriety of a general revolution in the principles of government< (1792), sah Barlow klar die einzigartige Stellung, in der sich die Vereinigten Staaten befanden, wo »das Wesen der Freiheit von jedermann verstanden, empfunden und gelebt wird, vom einfachen Menschen genau so wie vom Gelehrten, vom Schwachen wie vom Starken. Der Gedanke, daß alle Menschen mit den gleichen Rechten ausgestattet sind, und daß man diese nicht ändern kann, ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen; und da dieses ihre feste Überzeugung ist, können sie es nicht verstehen, daß ein Mensch auch anders denken könne. Ist in diesem Punkte erst einmal Klarheit geschaffen, so ist alles andere auch klar. Viele Vorgänge, die man in Europa für unglaubhafte Märchen oder für gefährliche Experimente gehalten hat, sind nichts weiter als die unausbleiblichen Konsequenzen der Anwendung dieses großen Grundsatzes.« Als Barlow 1805 nach Amerika zurückkehrte und sein episches Gedicht, >The Columbiad< vollendete, brachte er darin zum Ausdruck, daß Amerika den großen Vorzug genieße, eine Neuschöpfung des achtzehnten Jahrhun derts zu sein und nicht an der Last einer feudalen Vergangenheit zu tragen habe. In den Vereinigten Staaten wird ein »verjüngter Menschentyp< in einer >Neuschöpfung< geboren werden.
Here social man a second birth shall find, And a new range of reason lift his mind, Feed his strong intellect with purer light, A nobler sense of duty and of right, The sense of liberty; whose holy fire His life shall temper and his laws inspire. Dock diese Regeneration des Menschen wird sick nicht auf Amerika allein beschränken. Die bundesstaatliche Demokratie der Vereinigten Staaten wird zu dem Vorbild werden, nach dem sich die Menschheit vereinigen wird.
There stands the model, thence he long shall draw His forms of policy, his traits of law; Each land shall imitate, each nation join The well based brotherhood, the league divine, Extend its empire with the circling sun, And band the peopled globe within its federal zone. Till each remotest clan, by commerce join'd, Links in the chain that binds all humankind, Their bloody banners sink in darkness furl'd And one white flag of peace triumphant walks the world. Konservative wie Demokraten in Amerika fühlten sich von der offensicht lichen Schwäche Europas zur Zeit der Jahrhundertwende gleichermaßen ab gestoßen. Den Konservativen widerstanden die Exzesse der Französischen Revolution, und ihr Atheismus flößte ihnen Furcht ein, so daß sich viele von ihnen in eine neue Orthodoxie flüchteten. Die Demokraten hingegen fühlten sich durch die Restitution der Monarchie und der Aristokratie in Frankreich durch Napoleon abgestoßen. Aber auch im demokratischen La ger wurde durch die Vorgänge in Frankreich das Interesse an der Religion neu erweckt, was sich in der Unitarischen Bewegung in Massachusetts und im Wiederaufleben des Baptismus und des Methodismus in den Grenzstaa ten äußerte. Durch die Abschließung von Europa blieben wesentliche Ele mente der europäischen Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts erhalten und am Leben: die Schlichtheit des Lebens und die Freiheit der natürlichen Ordnung wurden nicht durch überlieferte Formen der Vergangenheit be droht. In dieser Tendenz zur Absonderung von Europa, die von einem star ken Überlegenheitsgefühl getragen wurde, begannen einige Intellektuell·· der jungen Nation nach einem eigenen kulturellen Ausdruck für Amerika zu suchen. 284
Can we never be thought to have learning or grace Unless it be brought from that horrible place? There tyranny reigns with her impudent face; And popes and pretenders, And sly faith-defenders Have ever been hostile to reason and wit, Enslaving a world that shall conquer them yet? — hat 178 6 Freneau in seinen >Literary Importations< geschrieben. In dem Jahre, in dem die amerikanische Verfassung angenommen wurde, hat Noah Webster festgestellt, daß Amerika unbedingt eine selbständige nationale Kultur brauche. »Da wir eine unabhängige Nation sind, sind wir es unserer Ehre schuldig, daß wir, genau wie in unserer Regierungsform, auch in un serer Sprache ein eigenes System entwickeln. Zw ar sind wir die Kinder Englands und sprechen seine Sprache, aber England sollte uns nicht mehr als Maßstab dienen, denn der Geschmack seiner Schriftsteller ist schon ver dorben und seine Sprache im Verfall begriffen.« Von jenem Zeitpunkt an hat Noah Webster sein Leben der Schaffung einer Grundlage für eine ame rikanische Sprache und Kultur gewidmet.
7 Ein kulturelles Nationalbewußtsein hatte die junge Nation äußerst nötig, denn die losen Bande, die die weit auseinanderliegenden Gemeinden und Kolonien mit ihren divergenten Traditionen und verschiedenartigen kul turellen und historischen Hintergründen Zusammenhalten sollten, mußten fester gefügt werden. Sollte Amerika je zu einer auf festen Grundlagen be ruhenden Nation werden, so mußte die Erziehung einen wesentlichen Bei trag hierzu leisten. Die größte Wirkung mußte von der Fibel ausgehen, aus der ja das Kind die ersten Vorstellungen von der Welt, die es umgibt, und von der Lebensart, die es zu erwarten hat, empfängt. Die Fibeln, die vor Noah Websters Zeit in Gebrauch waren, spiegelten die englischen Einrich tungen und Überlieferungen und die englische Lebensart wider. Durch Websters Fibel war hier eine Änderung eingetreten: neben der Bibel war lie während eines ganzen Jahrhunderts das wichtigste Instrument zur For mung des Geistes der Jugend der Nation. Im Vorwort zu dieser Fibel legte der Verfasser klar und deutlich seine nationalen Absichten dar: »Der Verl.isser will die Ehre und das Wohlergehen der vereinigten Republiken von Amerika fördern, und freudig trägt er sein Scherflein zum großen Schatz 285
der nationalen Bemühungen bei. In künftigen Zeiten muß sich dieses Lanil durch seine Gelehrsamkeit genau so auszeichnen, wie es das schon jetzt durch die Freiheitlichkeit seiner weltlichen und kirchlichen Verfassungen tut. Europa ist in Torheit, Korruption und Tyrannei gealtert — dort wird das Recht vergewaltigt, dort herrschen zügellose Sitten, dort verfällt die Literatur, und die menschliche Natur wird entwürdigt. Die Maximen der alten Welt zu übernehmen, würde für das junge Amerika bedeuten, daß man der Jugendblüte die Runzeln eines verfallenden Zeitalters aufprägt und in einen lebensträchtigen Organismus den Keim der Verwesung ein pflanzt. Amerikas Herrlichkeit bricht zu einem günstigen Zeitpunkt unter günstigen Umständen an. . . . Es ist die Aufgabe der Amerikaner, die Weis heiten aller Nationen zu sammeln und sie in die Grundlagen ihrer Ver fassungen einzubauen, die Fehler der anderen zu vermeiden, die Einfüh rung fremder sowie die Entwicklung eigener Unsitten und Schlechtigkeiten zu verhüten, die Tugend und die Vaterlandsliebe zu pflegen, die Einheit lichkeit und die Reinheit der Sprache zu fördern, dieses junge Reich und die menschliche Natur zu einer höheren Würde zu erheben.« Webster trat für eine Erziehung ein, bei der »eine Auswahl von Aufsätzen über die Be siedlung und die Geographie von Amerika, über die Geschichte der letz ten Revolution und ihre bedeutendsten Männer und Ereignisse sowie ein Grundriß der föderativen und der provinziellen Regierungsprinzipien das wichtigste Lehrmaterial bilden«, und die schließlich in einer Besichtigungs fahrt durch die Vereinigten Staaten gipfeln sollte. Noah Webster war keineswegs der einzige, der sich um die Schaffung einer ausgeprägten und nationalbewußten amerikanischen Kultur bemühte. Obgleich der Kreis seiner aktiven Mitarbeiter nicht sehr groß war, umfaßte ihr Tätigkeitsbereich, in dessen Mittelpunkt geschichtliche und erdkundliche Forschungen standen, ein sehr weites Gebiet. Die Annalen der zwar kurzen, aber von neuen Ideen und revolutionären und heroischen Taten erfüllten Vergangenheit, die Annalen von den langen, schweren Pionier- und Kampf tagen mußten der Nachwelt erhalten werden. Die Umrißlinien dieses neuen Vaterlandes mußten beschrieben und der Allgemeinheit bekannt gemacht werden. Geist und Gefühl richteten sich damals noch nach dem Mutter land mit seiner langen und ruhmreichen Tradition, die man als Amerika» eigene Vergangenheit empfand, und die Gefühle und Gedanken hingen an den Landschaften und Städten Englands, deren Baudenkmäler aus Abbil dungen und Beschreibungen jedermann wohl bekannt waren. Von nun an sollte die Aufmerksamkeit der jungen Generation auf jene Soldaten und Staatsmänner, auf jene Agitatoren und Prediger gelenkt werden, welche die 286
Entstehung der Republik ermöglicht hatten, sowie auf das weite, dünn be siedelte Hinterland der Hafenstädte, auf die Hütten der Grenzer und auf die spärlichen Felder und dichten Wälder. Aus dem kleinen Kreis von Männern, die sich dieser Erziehungsaufgabe gewidmet haben, mögen zwei kongregationalistische Geistliche erwähnt werden: Jeddiah Morse ( 17 6 1—1826) und Jeremy Belknap (1744—1798). Morse wurde der »Vater der amerikanischen Geographie« und seine »Geography Made Easy< (1784) erlebte noch zu seinen Lebzeiten fünfund zwanzig Auflagen. Belknaps Interessengebiet war die Geschichte. Er ist der Verfasser von >A History of New Hampshire« und von zwei Bänden »Ame rican Biographies«, welche die Lebensgeschichten bekannter Kolonialführer enthielten. 179 0 hatte er den Plan zur Gründung einer historischen Ver einigung gefaßt, die sich dann schnell zur Massachusetts Historical Society for »collecting, preserving and communicating the antiquities of America« erweiterte. Seine Mitarbeiter waren Männer wie Ebenezer Hazard (1744 bis 18 17 ), ein Pionier auf dem Gebiet der Sammlung und Veröffentlichung von Originalberichten und Dokumenten (Hazards »Historical Collections« wa ren als vielbändiges Werk geplant, doch blieb es wegen Mangels an Inter esse von Seiten des Publikums nach dem zweiten Bande stecken), und John Pintard (1759—1844), der 17 9 1 mit dem Beistand der Tammany Society in New York ein historisches Museum geschaffen hatte und der 1804 bei der Gründung der New York Historical Society mitgewirkt hat. Charles Brockden Brown ( 17 7 1—18 10 ) war der erste berufsmäßige Schriftsteller Amerikas, ein von William Godwin und von der Französischen Revolution stark beeinflußter revolutionärer Demokrat; er übersetzte Volneys »Tableau du climat et du sol des Etats Unis« ins Englische und verfaßte Romane über das Leben in Amerika. Im Vorwort zu seinem Grenzerroman »Edgar Huntly« (1799), ermahnte er die amerikanischen Schriftsteller »den kindlichen Aber glauben und die überlebten Sitten, die gotischen Schlösser und Hirngespinste der europäischen Überlieferung« zu meiden. »Die Feindseligkeiten der India ner und die Gefahren der westlichen Wildnis sind weit geeignetere Objekte.« Dieser kulturelle Nationalismus blieb nicht auf Geschichte, Geographie und schöngeistige Literatur beschränkt.»DasWort »amerikanisch« durfte in keinem Lehrbuchtitel mehr fehlen; alles wetteiferte im patriotischen Sprachge brauch . . . Nicholas Pike stellte seiner »Arithmetic« (1788) einen für die Websterschen Tendenzen typischen Satz voran: Da die Vereinigten Staaten nunmehr eine selbständig gewordene Nation sind, hat man es für richtig befunden, eine Rechenmethode zu entwickeln, die unseren Breiten ange messener ist als jene, welche bisher veröffentlicht worden sind.« 287
A ll diese verschiedenen Versuche liefen auf ein nationales Erziehungs system hinaus, welches die Jugend mit patriotischen Gefühlen durchdringen und als ein, äußerst notwendiges, einigendes Band dienen sollte. In einem »Election Sermon<, den Jeremy Belknap am 2. Juni 17 8 5 vor dem General Court von New Hampshire gehalten hat, war er für gleiche Erziehungs und Bildungsmöglichkeiten für die Kinder aller Schichten eingetreten, weil dieses im nationalen Interesse liege. Er wies auf das Beispiel der Antike hin, wo, nach Lykurg, die Jugend mehr dem Staate als den Eltern gehörte. Einer der Vorkämpfer für eine >education proper in a republic<, war der fortschrittlich denkende Arzt Benjamin Rush (1745—18 13 ) . Er forderte ein allgemeines und gleiches nationales Erziehungssystem, dessen Ziel die Schaf fung eines homogenen Volkskörpers sein sollte. 17 7 4 war er an der Grün dung der Pennsylvanischen Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei, de ren Präsident er später wurde, beteiligt. Er war ein Pionier auf dem Gebiet des öffentlichen Gesundheitswesens und ein glühender Fürsprecher für die Zulassung der Frauen zu den Bildungsinstituten. Um sie in die Lage zu versetzen, ihre Söhne im richtigen Geist zu erziehen, sollen sie »über die Prinzipien der Freiheit und der Regierung unterrichtet werden, ebenso sol len ihnen die vaterländischen Pflichten eingeschärft werden.« Die Geschichte solle gelehrt werden als Anschauungsunterricht über den Kampf gegen die Tyrannis in allen Jahrhunderten. Rush hatte auch die Bedeutung der außerhalb des Lehrplanes betriebenen Betätigungen, Sport und Spiel, für den demokratischen Geist erkannt, und er forderte ein Verlassen der her kömmlichen Schulmethoden. »Es ist höchste Zeit, daß wir aus dieser Knechtschaft erwachen, daß wir unseren eigenen Charakter studieren, daß wir den Reifezustand unseres Landes erkennen — und Methoden anwenden, die unserer Gesellschaftsordnung und unserem Regierungssystem entspre chen.« Ein anderer Fürsprecher für ein nationales Erziehungssystem, Ro bert Coram, veröffentlichte 17 9 1 einen >Plan for the General Establishment of Schools throughout the United States<, worin er die Erhebung einer all gemeinen Steuer für den Unterhalt öffentlicher Schulen im ganzen Lande vorschlug; tote Sprachen und Religion sollten nach diesem Plan in diesen Schulen nicht gelehrt werden. Diese Vorschläge fielen aber auf keinen fruchtbaren Boden. Es half nicht viel, daß Du Pont de Nemours, der aus Frankreich die physiokratische For derung nach einer allgemeinen Erziehung mitgebracht hatte, auf Jeffersonu Aufforderung hin im Jahre 1800 einen Aufsatz >Sur l'education nationale dans les Etats Unis d'Amerique< verfaßte und veröffentlichte, oder diil·' 1808 einige Bürger von Connecticut eine »Association of American Pu 288
triots for the Purpose of Forming a National Character< gründeten. Selbst die American Philosophical Society, die der Verbreitung der französischen Aufklärung sehr förderlich gewesen war und die hervorragende Amerikaner als Präsidenten gehabt hatte (1769—1790 Benjamin Franklin, 1790—1796 David Rittenhouse, 1796—1 8 1 5 Thomas Jefferson), und deren große Bedeu tung darin gelegen hatte, daß sie dem geistigen Leben des Landes einen Mittelpunkt gab, konnte in der Frage einer allgemeinen Erziehung keinen wirksamen Einfluß ausüben. 179 6 hatte sie ein Preisausschreiben veran staltet für »das beste System der liberalen Erziehung und des wissenschaft lichen Unterrichts, das dem Geist der Regierungsform der Vereinigten Staa ten angemessen ist«. Von den beiden preisgekrönten Aufsätzen legte der eine, >Essay on Education< von Samuel Knox, den Hauptton auf den Patrio tismus und schlug deshalb die Einführung militärischer Ausbildungskurse und die Schaffung einer nationalen Universität vor; der andere Aufsatz, >Remarks on Education: Illustrating the close connection between Virtue and Wisdom<, von Samuel Harrison Smith, brachte eine kosmopolitische und humanitäre Einstellung zum Ausdruck und wünschte, daß der Mensch so erzogen werde, daß er »die ganze Welt als eine einzige Familie betrachte«. Noah Websters Bemühungen um die Schaffung einer nationalen Sprache waren noch weniger erfolgreich als seine Pläne für eine nationale Erzie hung. Die Sprache schien ihm eine unerläßliche Voraussetzung für eine unabhängige Nation zu sein. Über seinen Vorschlag zu einer Reform der Orthographie schrieb er: »Ein Hauptvorteil, der hierdurch erreicht würde, wäre die Entstehung von Unterschieden zwischen der englischen und der amerikanischen Orthographie. Ich bin davon überzeugt, daß eine solche Sache von großer politischer Bedeutung i s t . . . Eine nationale Sprache ist ein die Nation einendes Band. Es sollte alles getan werden, um den Men schen in diesem Lande zu einer nationalen Gesinnung zu verhelfen, um ihre Gefühle an dieses Land zu fesseln und sie mit Nationalstolz zu beseelen.« Nur auf dem Boden einer Nationalsprache könne eine nationale Literatur entstehen. Einige Reformisten wünschten die Schaffung einer völlig neuen Sprache für die Vereinigten Staaten, andere wieder wollten für das, was in den Vereinigten Staaten gesprochen wurde, den Namen >Englisch< aus gemerzt wissen. Webster glaubte, daß sich die englische Sprache in den verschiedenen Teilen der Welt verschieden entwickeln würde, daß von diesen Sprachen, die aus einem gleichen Stamme hervorgehen würden, ilie amerikanische wegen der künftigen zahlenmäßigen und kulturellen Überlegenheit des westlichen Kontinents bald an erster Stelle stehen würde, und daß sie noch vor der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts von mehr 289
Menschen auf dem Erdball gesprochen werden würde als irgendeine andere Sprache, das Chinesische nicht ausgenommen. Nicht viele seiner Zeitgenossen teilten Websters linguistischen Nationa lismus. Ezra Stiles erwartete, daß sich in Amerika das Englische nicht zu einer neuen, sondern zu einer reineren und eleganteren Sprache entwickeln würde. In einem Brief vom 23. September 178 0 schlug John Adams die Gründung einer Akademie zur Pflege und Verbesserung der englischen Sprache in Amerika vor. »Sie sollen wissen, daß ich zu prophezeien wage, daß im nächsten Jahrhundert, \venn nicht noch vor Ablauf des gegenwär tigen, das Englische die hervorragendste, die meistgelesene und meistgesprochene Sprache der Welt sein wird. Das amerikanische Volk wird im kommenden Zeitalter eine größere Zahl englischsprechender Menschen her vorbringen als irgendeine andere Sprache, und diese Menschen werden mehr mit allen anderen Nationen Verkehren als irgendein anderes Volk, was natürlich dazu führen wird, daß sie ihre Sprache als das Medium des Ver kehrs und der Unterhaltung unter den Gebildeten aller Völker einführen werden, dessen sich auch alle Reisenden und Fremden bedienen werden, so wie im vergangenen Jahrhundert des Lateins und im gegenwärtigen des Französischen.« Diese Erwartung einer glänzenden Zukunft wurde von vie len Europäern geteilt. 1789 zeichnete der Girondistenführer und Minister während der Französischen Revolution, Jean Marie Roland de la Platière, ein leuchtendes Bild der Amerikaner: »La douceur de leur gouvernement en fait des patriotes aussi zélés que le furent jamais les plus célèbres ré publicains; celle de leur principes les rend, dans leur bienveillance univer selle, semblables aux plus parfaits cosmopolites, et leur situation doit en faire les commerçants les plus puissants. Que de moyens de s'élever, de s'étendre, de multiplier ses relations et de propager l'usage de sa langue! Le seul charme de leur philosophie, si propre à gagner les coeurs, semble préparer le triomphe de leurs opinions et devoir ranger un jour bien de« peuples sous leur religion consolante.. . . Il me semble que la langue d'une telle nation sera un jour la langue universelle.« Webster wollte sogar noch über die Schaffung einer unterschiedlichen Sprache zur Hervorhebung der kulturellen Selbständigkeit der Amerikanei hinausgehen. Er propagierte eine amerikanische >Mode< — teilweise alt Ausdruck des wirtschaftlichen Nationalismus, um das Wachstum einer amr rikanischen Industrie zu unterstützen, doch zum anderen Teil auch als (in Ausdruck des amerikanischen Geistes. »Es ist eine erstaunliche Erschei nung«, so schrieb er im Dezember 1786, »die unseren Nachkommen ganunglaublich erscheinen wird, daß eine Nation von Helden, die Armeen fm 290
schlagen und ein Reich errichtet hat, nicht das Herz hat zu erklären, wir wollen unsere Kleider so tragen, wie es uns gefällt.« Zwei Jahre später äußerte James Sullivan, der Verfasser einer »History of the District of Maine< und einer der Gründer der Massachusetts Historical Society, in seiner Abhandlung >Thoughts upon the Political Situation of the United Staates of America<, wenn die Amerikaner einen eigenen Nationalcharakter entwickeln wollen, so sei das erste Gebot, daß sie sich von der sklavischen Anhänglichkeit an die europäische Denkungsart befreien. Die Amerikaner hätten »sich derart an jene (europäischen) Moden und Meinungen gewöhnt, daß sie es kaum wagten, ihre Röcke zu tragen, wenn sie nicht nach deren Moden geschnitten sind, auch wenn jene mit jedem Monde wechseln sollten. Selbständig zu denken wagen sie nur innerhalb des Spielraumes, den die Fesseln, die jene für sie geschmiedet haben, ihnen lassen. Es ist nun höchste Zeit, daß wir uns einen eigenen Nationalcharakter und eine eigene Meinung zulegen und die Welt davon überzeugen, daß wir auf dieser Seite der Erd kugel eine echte Lebensanschauung haben.« Doch Webster und Sullivan haben den äußerlichen Merkmalen zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Ob wohl die in Amerika gesprochene Sprache Amerikanismen entwickelt hat, ist sie doch Englisch geblieben, und die amerikanischen Schulen pflegten und hegten weiterhin die großen Überlieferungen der englischen Literatur von Chaucer bis zur Gegenwart als das dem Volke gehörige geistige Eigentum. Wenn auch das Grenzerleben eine gewisse Anpassung der Kleidung und der Gebräuche an die gegebenen Verhältnisse erforderlich machte, haben die Amerikaner doch keine ausgesprochen nationale Mode entwickelt. Der amerikanische Nationalismus fußte weder auf der Sprache noch auf sonst einem äußerlichen Symbol; seine Grundlage war eine Idee. Er nahm gültige Formen an, als Thomas Jefferson, der »Apostel des Amerikanismus«, die zunehmende Bewußtheit der jungen Nation mit dem unauslöschlichen Sig num ihres Glaubens und ihrer Mission beschenkte.
8 Jefferson konnte die »zweite Revolution« vollenden, weil seine Auffassung vom amerikanischen Nationalismus von der im amerikanischen Leben herr schenden Grundströmung getragen wurde. Er war davon überzeugt, daß die junge Nation von der Vorsehung dazu ausersehen sei, die Verkörperung der rationalen und liberalen Ideen des achtzehnten Jahrhunderts zu werden. Der Kampf gegen die Privilegien und für die individuelle Freiheit, der Glaube 291
an den einfachen Mann und an die Möglichkeit seiner Vervollkommnung — diese der ganzen Menschheit gemeinsame Aufgabe schien Jefferson, beson ders nach seinen in Europa gesammelten Erfahrungen, in Amerika eher verwirklicht werden zu können als anderswo. Während in Europa Monar chie, Aristokratie und Kirche die alte Ordnung der menschlichen Ungleich heit und des Autoritarismus wiederherstellten, schien Amerika der geeig nete Boden für das Gedeihen der neuen Freiheit und Gleichheit zu sein. So wurde Amerika zum Vorkämpfer der Menschheit, erfüllt vom stolzen und beseligenden Glauben an seine Mission. Durch diesen Glauben an sich selbst und an seine Mission ist das amerikanische Volk zur Nation geworden. Jefferson war ein typischer Vertreter des liberalen und humanitären Na tionalismus des achtzehnten Jahrhunderts. Er war ein Patriot: »Meinem Herzen am nächsten steht mein Vaterland. Meine Familie, mein Glück und meine Existenz sind darin eingebettet. Meine Interessen gehen bis zum letzten Pfennig darin auf, und nicht mit einer einzigen Faser meines Her zens hänge ich an etwas, das außerhalb meines Vaterlandes liegt.« Die nationale Einheit war für ihn ein hohes und wesentliches Ziel. »In einem Regierungssystem wie dem unsrigen ist es die Pflicht der höchsten Beamten, sich mit allen ehrlichen Mitteln darum zu bemühen, das Vertrauen des Vol kes für sich zu gewinnen, damit sie in der Lage sind, all das Gute, was ihr hohes Amt von ihnen fordert, durchzuführen. Hierdurch kann allein, in Fällen, welche die Kräfte der Gesamtheit der Nation erfordern, eine Einheit erzielt und die Kraft aller in eine Richtung konzentriert werden, so, als ob alle zusammen nur einen Körper bildeten und eine Seele hätten, und nur diese Einheit alleine kann eine schwächere Nation der stärkeren gegenübci unüberwindbar machen.« Er hatte erkannt, daß ein freies Volk, dessen Leben auf der individuellen Freiheit und auf der Gleichberechtigung aller Bürger beruht, in kritischen Stunden eine größere Anstrengung zur frei willigen Zusammenfassung all seiner Kräfte machen müsse als ein autori tär regiertes Volk. Bei all ihrer Freiheit und Vielseitigkeit mußte eine Na tion doch eine Einheit bilden. Diese höchste Treuepflicht gegenüber dei nationalen Idee, diese Übereinstimmung des nationalen Willens in allen entscheidenden Kreisen war für Jefferson wie für die Männer der Franzö sischen Revolution die Grundvoraussetzung der nationalen Existenz. Trotz* dem oder gerade weil die amerikanische Nation eine universale Nation wai — nicht nur in dem Sinne, daß sie einer universalen Idee folgte, die für dii* gesamte Menschheit gültig und anwendbar war, sondern auch in dem realen Sinne, daß sie sich aus verschiedenen rassischen und sprachlichen Elementen zusammensetzte — mußte sie in der Treue zur amerikanischen Idee, die siili 292
jedermann zu eigen macken konnte, eben weil sie universal war, ihre Ein heit finden. Um den Vereinigungsprozeß zu fördern, wandte sich Jefferson schärfstens gegen die Ansiedlung von Neueinwanderern in geschlossenen Gruppen; er forderte, daß sie unter die älteren Siedler verstreut würden, damit so der >Vermischungsprozeß< beschleunigt werde. Sein Patriotismus war frei von Engsichtigkeit und Exklusivität. Die gleicken strengen Moralgesetze, die das individuelle Leben beherrschten, sollten auch im Leben der Nationen Gültigkeit haben. »Übereinkommen zwischen einzelnen Nationen sind für diese bindend kraft der moraliscken Gesetze, durch die die Individuen verpflichtet werden, ihre Abmachungen einzu halten.« Keine Nation hat die Freiheit, so zu handeln, wie sie es wünscht oder wie es ihr Interesse vorzuschreiben scheint; jede Nation ist vor dem Areopag sämtlicher Nationen für ihr Verhalten verantwortlich. Das Gefühl für diese Verpflichtung sollte im Bewußtsein der Amerikaner tiefer ver wurzelt sein als bei anderen Nationen, denn das Volk der Vereinigten Staa ten handhabte seine Regierungsform als Treuhänder für die gesamte Menschheit. »Wir fühlen, daß uns Verpflichtungen auferlegt sind, die über den Bereich unserer eigenen Gesellschaft hinausreichen. Es ist unmöglich, daß wir nicht empfinden, daß wir für die gesamte Menschheit handeln, daß wir durch Umstände, die anderen versagt, uns aber gewährt wurden, die Pflicht auferlegt bekommen haben, in der Praxis zu versuchen, welchen Grad von Freiheit und Selbstverwaltung eine Gesellschaftsordnung ihren individu ellen Mitgliedern anvertrauen darf.« Wie die hebräischen Propheten, war sich auch Jefferson dessen bewußt gewesen, daß ein auserwähltes Volk nicht etwa besondereVorrechte oder den unbegrenzten Schutz des Himmels genießt, sondern daß es vielmehr eine zusätzliche Last trägt, eine größere Verantwor tung und Verpflichtung. 1820 hat er geschrieben: »Wir leben und werden als ein gültiger Beweis dafür betrachtet, daß eine Regierungsform, die so geartet ist, daß sie dauernd auf dem Gemeinwillen der Gesellschaft beruht, prak tisch durchführbar i s t . . . Deshalb haben wir als Mitglieder der universalen Menschheitsgesellschaft, der wir verantwortlich verpflichtet sind, die heilige Verpflichtung,. . . den Glauben welchen wir der Menschheit eingeflößt ha ben, nämlich daß ein Vernunftregiment besser ist als ein Gewaltregiment, nicht wieder zu zerstören.« Wieder und wieder hat Jefferson die universale Bedeutung von Amerikas nationaler Einheit betont. Im Chaos der Revolutionskriege und der napoleonischen Kriege in Europa hat die amerikanische Regierungsform, dank glücklicker Umstände, ihre einzigartige Stärke und segensreiche Wirkung bewiesen. »Wenn wir nur uns selbst betrachten, dann sind unsere Schwie2»
rigkeiten wahrhaft groß, aber in Vergleich zu den Verhältnissen in Europa sind sie wie die Freuden des Paradieses . . . Wirklich, mein Freund, auf un serem Beet wachsen Rosen. Und das Regierungssystem, das uns inmitten einer Welt von Trümmern über Wasser hält, wird unsterblich in die Ge schichte eingehen.« Bei all diesem Glücksgefühl war kein Gedanke an Ex klusivität. Er wünschte, daß die Tore Amerikas offen gehalten würden, »um denjenigen Menschen eine Zufluchtsstätte zu bieten, die wegen der Miß regierung in Europa gezwungen sind, ihr Glück in einer anderen Lebensluft zu versuchen. Ist dieser Zufluchtsort erst einmal bekannt, dann wird er sich auch auf das Glück derjenigen auswirken, die Zurückbleiben müssen, da er eine ständige Warnung für ihre Zuchtmeister sein wird, die besagt, daß, wenn die Übel der Ägyptischen Knechtschaft schlimmer werden und die Schmerzen übertönen, die das Verlassen des Vaterlandes bereitet, ein neues Kanaan offen steht, wo ihre Untertanen als Brüder aufgenommen werden und gegen derartige Unterdrückung durch ihre Teilhaberschaft am Recht der Selbstregierung geschützt sind.« So zieht sich ein roter Faden durch die Geschichte der Neuen Welt, von ihren ersten Anfängen bis in die Gegenwart hinein: ein neues Kanaan zu sein für alle, die sich des Joches der Ägyptischen Knechtschaft entledigen wollen, die den Hafen der Freiheit aufsuchen, wenn sie dem Gewaltregi ment, und den Hafen der Gleichberechtigung, wenn sie der harten und starren Klasseneinteilung, der Scheidung in Herren und Knechte, entfliehen wollen. Für die frühen Siedler war die Neue Welt ein Land der Verheißung gewesen, und das würde es auch für alle Neuankömmlinge bleiben, solange dies erforderlich sei. Schließlich wird hierzu einmal keine Notwendigkeit mehr bestehen: denn sämtliche anderen Länder werden einmal die Segnun gen der Freiheit und der Gleichberechtigung, für die die amerikanische Regierungsform das Vorbild ist, übernehmen. In seinem letzten uns erhal tenen Brief, zehn Tage vor seinem Tode geschrieben, hat Jefferson noch ein mal seinen Glauben an die Mission Amerikas, der ihn ein halbes Jahrhun dert zuvor bei der Abfassung der Unabhängigkeitserklärung beseelt hatte, bestätigt: »Möge sie für die Welt (für die einen früher, für die anderen später, doch schließlich für alle) das sein, was ich von ihr erwarte, nämlich ein Signal für die zum Selbstbewußtsein erwachten Männer, die Fesseln ab zuschütteln, die sie sich in ihrem mönchischen Unwissen und Aberglauben auferlegen ließen, und nach den Segnungen und Sicherheiten der Selbst regierung zu greifen.« So hat während eines langen Lebensweges, der von dem Höhepunkt von Voltaires Einfluß bis zu dem der Restauration und der Heiligen Allianz reichte, der Apostel der Amerikaner seinen Glauben an 294
die Aufklärung und an ihren segensreichen Einfluß auf die Welt bewahrt. In den fünfzig Jahren zwischen dem 4. Juli 177 6 und dem 4. Juli 1826, Jeffersons Sterbetag, war aus einer Verheißung und Hoffnung die feste Grundlage der amerikanischen Republik geworden. A uf seinem Sterbebett konnte Jefferson auf ein erfolgreiches Mühen zurückblicken, und es war kein Zufall, daß sein Epitaph an zwei für den Kampf der Aufklärung gegen »Unwissenheit und Aberglauben< charakteristische Errungenschaften erin nern sollte: an die Trennung von Kirche und Staat und an die Ausbreitung der Volksbildung. Zehn Jahre vor seinem Tode hatte er an seinen franzö sischen Kampfgenossen im Ringen um die Freiheit, Pierre Samuel du Pont de Nemours, geschrieben: »Wenn ich auch nicht, wie einige Enthusiasten, daran glaube, daß der Mensch sich jemals zu solcher Vollkommenheit ent wickeln werde, daß es auf der Welt keinen Schmerz und keine Verderbtheit mehr geben wird, so halte ich die Menschheit doch für sehr verbesserungs fähig, besonders in Dingen der Regierung und der Religion, und ich bin auch davon überzeugt, daß die Verbreitung des Wissens unter den Men schen dasjenige Instrument ist, mit dem diese Verbesserung bewirkt werden muß.« Jeffersons Gesetzesvorschlag zur Errichtung der Religionsfreiheit, der am 17 . Dezember 178 5 von der Gesetzgebenden Versammlung von Virginia angenommen worden war, war die erste offizielle Maßnahme zur Herbei führung einer vollständigen Trennung von Staat und Kirche. In Abschnitt II heißt es: »Wir, das Parlament von Virginia, beschließen als Gesetz, daß kein Mensch gezwungen werden darf, irgendeinen religiösen Kult, Ort oder Geistlichen aufzusuchen oder zu unterstützen, noch soll er deswegen an Leib oder Gut gezwungen, abgehalten oder belästigt werden oder auf andere Weise wegen seiner religiösen Überzeugung Schaden erleiden. Alle Men schen sollen in ihrem religiösen Bekenntnis frei und in der Äußerung ihrer religiösen Anschauungen ungehindert sein; auch dürfen hierdurch ihre bür gerlichen Rechte in keiner Weise gemindert, gemehrt oder beeinträchtigt werden.« Hier waren die Bemühungen Roger Williams' und Lockes, der Kampf der französischen Skeptiker und Deisten erfüllt. Die Trennung von Staat und Kirche wurde zu einem der stärksten Prinzipien, und in früheren Zeiten zu einem der bezeichnendsten Unterscheidungsmerkmale des ameri kanischen Regierungssystems. Im Jahre 1796 wurde zwischen den Vereinig ten Staaten und Tripolis ein Vertrag abgeschlossen, in dem ein Artikel mit folgenden Worten beginnt: »Da die Regierung der Vereinigten Staaten in keiner Weise auf der christlichen Religion beruht«, — und dieser Vertrag war ohne Widerspruch vom Senat ratifiziert worden. Der erste Präsident
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der Vereinigten Staaten kat wäkrend zweier Amtsperioden das Volk nur in zwei Proklamationen zur Dankerweisung an Gott auf gerufen, am 3. Okto ber 1789 und am 1 . Januar 179 5. Im ersten Aufruf hatte er Gott »the great and glorious Being«, und im zweiten A ufruf »the great Ruler of nations« genannt. Washington hatte »den Wortlaut absichtlich so abgefaßt, daß er für alle, die an einen Gott glaubten, annehmbar war. Jefferson hat keine Proklamation dieser Art erlassen, aber Madison war vom Kongreß aufge fordert worden, eine Dankproklamation anläßlick des Friedens mit England zu erlassen und, obgleich er von vielen Seiten dazu gedrängt wurde, ein christliches Dokument daraus zu macken, hielt er sich doch an das Vor bild Washingtons und faßte den Wortlaut so ab, daß er auch für einen Nicht-Christen annehmbar war. Nach seiner Amtsniederlegung äußerte er die Ansicht, daß der Kongreß nicht richtig handle, wenn er aus öffent lichen Geldern Geistliche bezahle und seine Sitzungen mit Andachten eröffne.« Jefferson war auf seinen unermüdlichen Einsatz für die Förderung der Volkserziekung genau so stolz wie auf seinen Anteil an der Erreickung der Religionsfreikeit. In seinen »Notes on Virginia' (178 1) besprach er ausführ lich die Vorzüge und Folgen des von ihm vorgeschlagenen Gesetzes für die Ausbreitung der Bildung. 18 16 schlug er vor, daß die Legislatur eine Dauer steuer in Höhe von einem Cent pro Einwohner des Staates beschließen solle, um auf diese Weise die Mittel für den Unterhalt von Elementar schulen und einer Universität zu gewinnen. Für die von ihm selbst gegrün dete Universität von Virginia wählte er das Motto: »Wir fürchten uns nicht, der Wahrheit zu folgen, wohin auch immer sie uns führen mag, noch wer den wir Fehler dulden, solange dem Geist die Freiheit belassen ist, sie zu bekämpfen.« Die Erziehung sollte eine der tragenden Säulen der Demo kratie werden: »Wenn eine Nation unwissend und dock zugleick frei und zivilisiert sein will, so erwartet sie etwas, was niemals war und niemals sein wird. Die Funktionäre jeder Regierung kaben die Neigung, die Frei heiten und das Eigentum ihrer Wähler nach eigenem Gutdünken zu ver walten; deskalb gibt es für diese keinen anderen sicheren Verwahrungsori als beim Volke selbst. Doch sind sie auch dort nicht sicher, wenn das Volk unwissend ist. Wo die Presse frei ist und jedermann lesen kann, dort ist alles sicker.« Diese Worte des alten und erfakrenen Staatsmannes aus dem Jakre 18 1 6 waren eine Wiederkolung dessen, was er bereits als junger Mann im Jahre 1 7 8 1 geschrieben hatte: »Von den Aussichten, die diesen Gesetz bietet, ist keine wicktiger und gerecktfertigter als die, daß die Men seken zu sickeren Wäcktern ikrer eigenen Freiheiten gemacht werden. . , 296
Und um selbst diese sicher zu machen, muß man ihren Geist bis zu einem gewissen Grade bilden. Wohl ist das nicht genug, doch ist es zuvörderst nötig. Hier muß unsere Verfassung im Sinne einer Unterstützung der allgemeinen Erziehung ergänzt werden. Allen Menschen muß die Mög lichkeit gegeben werden, ihren Einfluß auf die Geschäfte der Regierung auszuüben.« Obgleich Jefferson aus den Südstaaten kam, nahm er in der Frage der Sklaverei eine der Aufklärung gemäße Haltung ein. Seine Einstellung unter schied sich in nichts von derjenigen der Fürsprecher der Emanzipation in den Nordstaaten, wo zum Beispiel Samuel Cooke aus Cambridge in einer Predigt über >The True Principles of Civil Government« (1770) die Forde rung erhob, daß man mindestens die Einfuhr weiterer Sklaven einstellen solle. »Lasset die Zeiten vorüber sein, in denen wir, die Schutzherren der Freiheit, den christlichen Namen entehrt und die menschliche Kreatur fast auf den Stand sterbender Tiere herabgewürdigt haben.« 17 8 1 schrieb Jeffer son in einem noch schärferen Tone: »Welches Maß von Verachtung soll man auf einen Staatsmann häufen, der dadurch, daß er es der einen Hälfte der Bürger gestattet, die Rechte der anderen mit Füßen zu treten, jene zu Despoten und diese zu Feinden macht, bei den einen die Moral und bei den anderen den >amor patriae« vernichtet?« Diese Gefühle des fortschrittlichen Staatsmannes teilte sein späterer konservativer Gegner Noah Webster, der sich 178 5 mit gleich scharfen Worten gegen die Einrichtung der Sklaverei gewandt hatte: »Abgesehen von dem verabscheuungswürdigen Prinzip, nämlich, daß ein Mensch zum Dienst für einen anderen gezwungen wird, welches jede freie Regierung entehrt, und von dem Übel des Luxus, dem Verderben jeder Gesellschaftsordnung, das hierdurch unterstützt wird, wer den durch die Sklaverei noch andere Prinzipien verletzt, die dem Geist unserer amerikanischen Verfassung widersprechen. Sie fördert den Geist anmaßender Geringschätzung — eine hochfahrende, unsoziale aristokrati sche Einstellung, die nicht mit jener Gleichberechtigung, welche die Grund lage unserer Verfassung und des Glückes der menschlichen Gemeinschaft ausmacht, in Einklang steht.« Hier, wie in seiner gesamten Lebenshaltung, ist Jefferson den Maximen seiner Jugend treu geblieben, und viele Jahre später wiederholte er die Empfindungen, die er bereits 17 8 1 ausgesprochen hatte: »Die Gerechtigkeitsliebe und die Vaterlandsliebe sprechen beide für die Sache dieser Menschen, und die Tatsache, daß sie so lange vergeblich bitten mußten, und daß wir keinen einzigen Versuch unternommen haben, ja, ich fürchte sogar nicht einmal das nötige Maß von Bereitwilligkeit ge zeigt haben, jene wie uns selbst aus der gegenwärtigen Befangenheit in 297
moralischer Verworfenheit zu befreien, ist ein Vorwurf gegen unsere M o ral. . .Aber im Zuge der Zeit rückt auch die Stunde der Emanzipation näher heran.« Im Gewebe der amerikanischen Demokratie wucherte noch ein weiteres Krebsgeschwür: das Indianerproblem. Bereits einer der frühen englischen Kolonisten in Virginia, Colonel William Byrd (1674—1744), war auf eine selten humane und liberale Art an das Indianerproblem herangetreten. In seiner >History of the Dividing Line< erörterte er das Verhalten der ersten Siedler von Virginia: »Sie hatten nun mit den Indianern Frieden geschlos sen, doch fehlte es noch an einer Sache, um dem Frieden Dauer zu verleihen. Die Eingeborenen konnten nicht zu der Überzeugung gelangen, daß die Engländer ihre aufrichtigen Freunde seien, solange diese es ablehnten, Ehen mit ihnen einzugehen. Hätten die Engländer ihre eigene Sicherheit und das Wohl der Kolonie wirklich bedacht — hätten sie die ernsthafte Absicht ge habt, diese Heiden wirklich zu zivilisieren oder zu bekehren, so hätten sic ihre Gemüter gewiß dazu bewegt, diese kluge Verbindung einzugehen. Im allgemeinen sind die Indianer groß und Wohlgestalt, was ihre dunkleren Farben voll aufwiegt. Hinzu kommt noch, daß sie gesund und kräftig sind, daß ihre körperliche Verfassung nicht durch Unzucht verdorben und durch Luxus geschwächt ist. Außerdem glaube ich, daß, soweit es die Moral an belangt, die Indianer keine größeren Heiden waren als die ersten Aben teurer, welche, wären sie gute Christen gewesen, die Barmherzigkeit be sessen hätten, diese einzige erfolgversprechende Methode, um die Heiden zu Christen zu bekehren, anzuwenden . . . Alle Völker der Menschen haben die gleiche Würde, und es ist uns allen bekannt, daß unter mancher dunklen Haut ein leuchtendes Talent verborgen liegt. Der Hauptunterschied zwi schen zwei Völkern rührt nur von den unterschiedlichen Gelegenheiten, sich schneller zu entwickeln, her.« Der Zeitpunkt für derartige Maßnahmen wai schon vorbei, als Jefferson das Steuer der jungen Republik in seine Hände nahm. Aber in seinen Botschaften an den Kongreß wiederholte er die Not wendigkeit einer humanitären und liberalen Politik den Indianern gegen über, da er diese als einen integralen Bestandteil der amerikanischen Nation betrachtete. In seiner achten Jahresbotschaft sagte er am 8. November 1808; »Allgemein kann man sagen, daß die Zuneigung der Indianer in täglichem Zunehmen begriffen ist, aus der Überzeugung heraus, daß wir sie als einen Teil unserer selbst betrachten und ihre Rechte und Interessen respektieren — und daß diese Zuneigung sich von unseren direkten Nachbarn auf die abge· legeneren Stämme überträgt und uns für die Gerechtigkeit und Freundschaft, die wir an ihnen geübt haben, reichlich belohnen wird.«
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Jefferson, der Rousseau um beinahe ein halbes Jahrhundert überlebt hat, ist der Überzeugung seines Meisters, daß nämlich die Landwirtschaft die Grundlage des Wirtschaftslebens, der Bürgertugenden und des moralischen Glückes sei, treu geblieben. Die Industrialisierung und Urbanisierung der Atlantikküste kat noch zu Jeffersons Lebzeiten eingesetzt; doch selbst in seinen alten Tagen wiederholte er Anschauungen, die in seiner Jugendzeit Salomon Geßner und die Dichter und Propheten einer idyllischen und ruralen Demokratie Arkadia ausgesprocken hatten. 17 8 1 hatte er geschrie ben: »Jene, welche die Erde beackern, sind das auserwäklte Volk Gottes, wenn er je ein Volk auserwäklt und dessen Brust zu Seinem besonderen Hort für echte und wahre Tugend gemacht hat.« Nur diese allein schienen gesund zu sein, die Existenz von anderen Menschen, die vielleicht auch not wendig war, wurde durch das Leben derjenigen, die in enger Berührung mit dem Boden lebten, erkauft. »Allgemein gesprochen ist das Verhältnis, in dem die Masse der anderen Bürgerschichten in allen Staaten zur Land bevölkerung stekt, gleicksam das Verhältnis der gesunden zu den unge sunden Teilen und ein gutes Barometer, auf dem man den Zustand der Entartung ablesen kann.« Wie Rousseau kuldigte auck er dem Ideal eines selbstgenügsamen Gemeinwesens, das nur geringe Wirtschaftsverbindungen mit dem Ausland braucht, eine glücklicke Insel bürgerlicher Tugend und Schlichtheit, die vor den störenden Einflüssen aus anderen Ländern bewahrt bleibt. »Es wäre vielleicht besser für uns, wenn wir vom Ozean ganz fern blieben, weil jener das Feld ist, auf dem wir am meisten einem Zusammen stoß mit anderen Nationen ausgesetzt sind, und es den anderen überließen, uns mit dem zu versorgen, was wir brauchen und von uns mitzunehmen, was wir erübrigen können. Ein solches Verhalten würde uns Europa gegen über unverwundbar machen, indem wir ihm unser Eigentum nicht als Beute anbieten, und alle unsere Bürger würden sich dadurch veranlaßt fühlen, sich der Landwirtschaft zu widmen.« Als Repräsentant einer Agrardemokratie gegenüber den urbanen In teressen ist Jefferson in einem Briefe vom 5. Februar 1803 sogar so weit gegangen, die beiden großen Berufsgruppen als verschiedene Nationen zu bezeichnen: »Die große Masse der Bevölkerung steht in der Landwirtschaft, und die Handelsstädte haben, obwohl sie auf Geheiß der Zeitungen ein großes Geschrei erheben, nur geringen Einfluß auf die Regierungsgeschäfte. Sie sind von der Landbevölkerung in Gefükl und Charakter so versckieden wie nur je zwei Nationen versckieden sein können, und sie lärmen ständig gegen die durck die Interessen der Landbevölkerung bestimmte Ordnung der Dinge.« Von diesen beiden »verschiedenen Nationen« schien ihm das 299
landwirtschaftliche Element weit bedeutungsvoller für das Leben der Na tion zu sein: »Die Bebauer des Landes sind die wertvollsten Bürger. Sie sind die Tüchtigsten, die Selbständigsten, die Tugendsamsten, und an ihr Lanil und an ihre Freiheit sind sie durch die dauerhaftesten Bande geknüpft.« Nichtsdestoweniger standen Jefferson und die junge Nation vor der Auf gabe, zwischen der Landwirtschaft einerseits und dem Handel und der In dustrie andererseits einen Ausgleich zu schaffen. Jefferson war gegenüber den Folgerungen, die sich aus diesem Dilemma ergaben, nicht blind; am 1 . Februar 1804 schrieb er an den bekannten Na tionalökonomen Jean-Baptiste Say, der ein Anhänger und Verbreiter der Lehren Adam Smiths war: »Die beste Arbeitsteilung soll diejenige sein, welche die Industrie der Landwirtschaft gleichstellt, so daß der eine Teil beide ernähren und der andere Teil beide mit Kleidung und anderen Ge brauchsgütern versehen kann. Würde das auch bei uns das Beste sein? Der Egoismus und der erste Anschein sagen ja. Oder würde es vielleicht besser sein, wenn alle unsere Arbeitskräfte in der Landwirtschaft beschäftigt wä ren? In diesem Falle würde die doppelte oder dreifache Ackerfläche bewirt schaftet werden, die doppelte oder dreifache Lebensmittelmenge würde er zeugt werden, und der Überfluß würde nach Europa gehen, um die dort jetzt verhungernden Neugeburten zu ernähren, während Europa seinerseits Klei dung und sonstige Bedarfsgegenstände erzeugen und uns schicken könnte.« Kraft seines Nationalismus Rousseauscher Prägung hat Jefferson diese Frage beantwortet, indem er den Umstand betonte, »daß wir zur gerechten Be wertung die moralische und physische Überlegenheit des landwirtschaftli chen über den industriellen Menschen in Rechnung stellen müssen«. Aber diese Werteinschätzung des ländlichen Lebens wurde, aus nationalen Grün den, von der Schule des amerikanischen Wirtschaftsnationalismus, die sidi während der letzten Jahre Jeffersons durchzusetzen begann, nicht geteilt. Der philosophisdie Isolationismus des agrarischen Rousseauanhängerä, der sich selbst niemals als etwas anderes als einen Weltbürger betrachtet hat, hat ihn nicht daran gehindert, ein weitsichtiger und den Tatsachen zugewandter Staatsmann zu sein, der für die Folgerungen der Weltpolitik und für Amerikas konkrete Situation auf dem Felde der sich verändern den internationalen Beziehungen volles Verständnis hatte. Mit dem Ankauf von Louisiana, der auf seine eigene Verantwortung hin unternommen wurde, tat er den entscheidenden Schritt für eine schnell umsichgreifendc, amerikanische, imperialistische Expansion. Bei ihm gingen Ideologie und klare realistische Anschauung Hand in Hand. Er war von der Einmaligkeit der Situation der amerikanischen Demokratie in einer Zeit, in der ganz, 300
Europa von konservativen Monarchien beherrscht wurde, überzeugt. »Die Stellung, die wir unter den Nationen einnehmen, ist ehrenvoll, aber furcht bar«, sagte er am 4. März 1809 zu den Bürgern Washingtons. »Uns ist das Schicksal dieser einzigen Republik der Welt anvertraut, des einzigen Denkmals der Menschenrechte und des einzigen Hortes des Heiligen Feuers der Freiheit und der Selbstregierung, von wo aus es in anderen Zonen der Welt entfacht werden soll, wenn jemals andere Zonen für seinen wohltuen den Einfluß empfänglich sein werden. Die gesamte Menschheit sollte des halb, gemeinsam mit uns, sich an ihren Erfolgen erfreuen und ihre Miß geschicke bedauern, da, was den Menschen lieb und teuer ist, in ihr ruht.« Jefferson zweifelte nicht daran, daß alle reaktionären Regierungen in Eu ropa die Vereinigten Staaten auf den Tod haßten, da sie sie als eine stän dige Bedrohung und als einen Vorwurf empfinden mußten, und daß sie deshalb keine Mittel scheuen würden, um sie nach Möglichkeit zu zerstö ren. »Nur eine starke Einheit innerhalb der Republik kann diese retten.« Obwohl er die demokratische Republik Amerika in Gegensatz zu den konser vativen Monarchien der Napoleonischen Zeit stellte, sah er doch klar den Wert, den Groß-Britannien für die Sicherheit Amerikas und für die Ent wicklung der Freiheit hatte. An Sir John Sinclair schrieb er am 30. Juni 180 3: »Mit großer Sorge sehen wir, in welche Stellung England geraten ist, und wir würden uns sehr betroffen fühlen, sollte die Menschheit durch ein Unglück der Wohltaten eines solchen Bollwerkes gegen den reißenden Strom, der nun schon seit einiger Zeit alles, was ihm in den Weg kommt, um reißt, beraubt werden.« Während der kritischen Zeit zwischen 1 8 1 2 und 18 1 5 , als der Entschei dungskampf gegen Napoleon geführt wurde, um ihn an der dauernden Er oberung des Kontinents und, sollte er das britische Imperium zu Fall brin gen, an der Kontrolle des Atlantik und Amerikas zu hindern, hat Jeffer son am Neujahrstag 18 1 4 an Thomas Leiper einen Brief geschrieben, in dem der Moralphilosoph und der realistische Staatsmann zum gleichen Er gebnis gelangten. Er erhob darin die Frage: Sollen wir »gegenüber allen moralischen Empfindungen unempfindlich sein? Ist denn das moralische Verlangen, dem Blutvergießen, das dieser Mann (Napoleon) veranstaltet, den Leiden so vieler menschlicher Wesen, die genau so gut sind wie wir selbst, in deren Nacken er tritt, der Einäscherung alter Städte, der Vernich tung großer Länder, der Zerstörung von Recht und Ordnung und der De moralisierung der Welt, ein Ende zu machen, selbst wenn dadurch unser Friede in weitere Ferne rücken würde, ein Verbrechen? Nein. Sie und ich, wir können nur den einen gemeinsamen Wunsch haben, daß Rußland, 301
Schweden, Dänemark, Deutsckland, Spanien, Portugal, Italien und sogar England ihre Selbständigkeit bewahren mögen.« Aber genau so wie die moralischen Erwägungen verlangte auch die Sicherheit der Vereinigten Staaten, daß Napoleon geschlagen werde. »Bestimmt wünscht niemand von uns zuzusehen, wie Napoleon Rußland erobert und auf solche Weise sich zum Herren über den ganzen europäischen Kontinent macht. Ist das erst erreicht, dann wäre England für ihn nur noch ein kleiner Happen. . . . Nein. Es kann nicht in unserem Interesse liegen, daß Europa zu einer einzigen großen Monarchie w ird .. . . Und sollten die Folgen hiervon auch eine Ver längerung unseres Krieges bedeuten, so würde ich lieber diese auf mich neh men als zusehen, wie die gesamte Macht Europas sich in einer einzigen Hand konzentriert.« Als fast zehn Jahre später eine europäische Mächtekombination die Sickerkeit und Unabhängigkeit amerikaniscker Länder zu bedrohen schien, schrieb Jefferson am 24. Oktober 18 2 3 einen Brief an den Präsidenten Mon roe, in dem er hinsichtlich der britisch-amerikanischen Beziehungen darauf drängte, »daß wir mit Großbritannien mit größtem Eifer eine herzliche Freundschaft pflegen müssen«, weil die Vereinigten Staaten und England, wenn sie zusammenstehen, nichts auf der Welt zu fürchten hätten. Sollte England in einen Krieg mit der Heiligen Allianz verwickelt werden, und sollten die Vereinigten Staaten Großbritannien zur Hilfe kommen, dann, so glaubte Jefferson, würde »der Krieg, in den wir in unserer gegenwär tigen Stellung verwickelt werden können«, nicht ein Krieg Englands, son dern ein Krieg Amerikas sein. »Wir müssen an unseren eigenen Grund sätzen festkalten und dürfen nicht davon abweichen. Und wenn wir, um dieses Festhalten an unseren Grundsätzen zu erleichtern, eine Aufspaltung der europäischen Machtkonstellation erreicken und die stärkste Macht auf unsere Seite ziehen könnten, so sollten wir dieses unbedingt tun.« Denn eine Verbindung mit Großbritannien würde die Länder Amerikas vor einem Kriege mit den europäischen Kontinentalmächten schützen. »Denn wie sollten sie wohl einen der beiden Feinde ohne eine überlegene Seemacht angreifen können?« Aus diesem Geist heraus hat Präsident Monroe in sei ner Botschaft an den Kongreß am 3. Dezember 18 22 die Stellung der Ver einigten Staaten definiert: »Die Geschichte der letzten Kriege in Europa ist ein deutlicher Beweis dafür, daß kein politisckes Verkalten, und möge e» im Grunde noch so korrekt sein, neutrale Mäckte vor Angriffen durck fremde Mäckte sckützen kann; daß ferner der Mangel an Verteidigungsbereitschaft und eine ausgesprochene Friedensliebe die sichersten Einladungen zu einem kriegeriseken Unternehmen sind, und daß es keine andere Möglickkeit gibt, 302
einen Krieg zu vermeiden, als immer bereit und willens zu sein, ihn für eine gerechte Sache auf sich zu nehmen. Wenn es auf dieser Erde ein Volk gibt, das besonders dazu verpflichtet ist, jederzeit zur Verteidigung der Rechte, mit denen es gesegnet ist, bereit zu sein, und das alle anderen Völker darin übertreffen muß, die notwendigen Lasten auf sich zu nehmen und Opfer zu bringen, um die erforderlichen Vorbereitungen zu treffen, so ist dieses zweifellos das Volk dieser Staaten.. . . Die Vereinigten Staaten sind der Welt ein großes Vorbild, und der Sache der Freiheit und der Menschlichkeit großzügige Hilfe schuldig. Bis jetzt sind sie, zur Zufriedenheit der tugend haften und aufgeklärten Männer in allen Ländern, ihrer Aufgabe immer gerecht geworden. . . . Gegen die Regierungen freier Länder ist oftmals der Vorwurf erhoben worden, sie seien nicht in der Lage, zur rechten Zeit Vor bereitungen für die Not zu treffen, und daß ihr Verhalten unbedacht und kostspielig sei, daß sie von Kriegen immer unvorbereitet getroffen werden und daß, wie groß auch das Elend sein mag, das sie mit sich bringen, die schrecklichen Warnungen mißachtet und vergessen werden, sobald der Friede wiederhergestellt ist. Ich habe volles Vertrauen darauf, daß dieser Vorwurf, soweit er sich auf die Vereinigten Staaten bezieht, sich als un richtig erweisen wird.«
9 Jeffersons humanitärer und liberaler Nationalismus war charakteristisch für jene Zeit. Als Washington am 15 . August 178 6 an Lafayette schrieb, brachte er die gleichen Empfindungen zum Ausdruck: »Als Mitglied eines Reiches, das noch in seinen Kinderschuhen steckt, als ein Menschenfreund der Veranlagung nach und, wenn ich so sagen darf, als ein Bürger der gro ßen Republik der Menschheit, kann ich nicht umhin, meine Aufmerksam keit manchmal diesem Gegenstände zuzuwenden. Ich will damit sagen, daß ich nur mit freudigen Empfindungen daran denken kann, welchen Einfluß möglicherweise hiernach der Handel auf die menschlichen Sitten und auf die menschliche Gesellschaft ganz allgemein haben wird. Bei solchen Gele genheiten stelle ich mir vor, wie die Menschheit durch brüderliche Bande zu einer großen Familie verbunden sein könnte. Ich habe dabei die herr liche, vielleicht enthusiastische Vorstellung, daß die Welt, da sie heute offen sichtlich weniger barbarisch ist als früher, in ihrer Besserung noch Fort schritte machen könne, daß die Nationen humaner werden in ihrer Politik und daß ihre Ambitionen und ihre Kriegsursachen täglich weniger werden;
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und schließlich habe ich noch die Vorstellung, daß die Zeit nicht mehr fern ist, in der die Segnungen eines liberalen und freien Handels an die Stelle der Zerstörung und Schrecken der Kriege treten werden.« Obwohl dieser aufgeklärte Nationalismus der amerikanischen Idee einen unauslöschlichen Stempel eingeprägt hatte, sollten sich doch bald dunklere Farbtöne in das Bild einmischen. Der Krieg von 18 1 2 hatte ein stärkeres Nationalgefühl zur Folge; besonders bei den Diskussionen um das Wirt schaftsprogramm der jungen Nation wurde ein neuer, selbstbewußter Ton vernehmbar. Mathew Carey, ein irischer Nationalist, der seinen Haß gegen Großbritannien mit nach Amerika gebracht hatte und hier zum Vater des amerikanischen Wirtschaftsnationalismus wurde, genau so wie einstmals Thomas Paine aus Groll gegen seine englische Heimat zum Vater der ame rikanischen politischen Unabhängigkeit geworden war, führte, nur in einer aggressiveren Form, Alexander Hamiltons Kampf für Industrie und Handel als die wirtschaftlichen Hauptstützen des nationalen Lebens, und für die Einführung von Zöllen zu ihrem Schutz, fort. Als junger Mann hatte Carey eine kurze Zeit in Paris im Exil gelebt, und wie bei so vielen Men schen hat sich auch bei ihm durch den Aufenthalt in der Fremde die Liebe zur Heimat noch gesteigert. Nach Irland zurückgekehrt, hatte er 178 3 das »Volunteer's Journal· gegründet, dessen Aufgabe es war, »den Handel und die Industrie, sowie die politischen Rechte Irlands gegen die Unterdrückung und die Übergriffe von Seiten Großbritanniens zu schützen.« »Laßt uns nicht mehr länger auf England blicken, wir müssen uns auf uns selbst ver lassen—laßt uns einig sein und in Waffen vorwärtsschreiten, — wir werden bald das aristokratische Ungeheuer stürzen, und aus seiner Asche wird, gleich einem Phönix, ein Handel erstehen, der nur noch durch die Gestalt der Erdkugel begrenzt sein wird — und eine Verfassung, die liberal sein wird, weise und frei.« Obwohl in diesen Worten noch der Klang des Frei handels und der liberalistischen Ideale des achtzehnten Jahrhunderts mit klingen, war Carey in seiner Zeitung für Schutzzölle als Vergeltungsmaß nahme gegen England eingetreten. Solche Zölle könnten die irische Indu strie in einem solchen Maße wiederbeleben, daß sie nicht nur den Inlands markt versorgen, sondern auch noch einen Überschuß für einen gewinn bringenden Ausfuhrhandel erzeugen könnte. Aber sein leidenschaftliches Eintreten für den bewaffneten Aufruhr hatte zur Folge, daß er von der Regierung verfolgt wurde; so mußte er, im Alter von vierundzwanzig Jah ren, nach den Vereinigten Staaten auswandern. Bis zu seinem fünfundzwan zig Jahre später erfolgten Tode hat er immer unter dem Eindruck seiner Jugenderlebnisse gelebt. Er wurde zu einem bedeutenden Verleger, und sein 304
»Pennsylvania Herald< wurde zum Sprachrokr seiner Forderungen nach Schutzzöllen sowie seines glühenden Hasses gegen England. Nach einem knapp einjäkrigen Aufentkalt in seiner neuen Heimat brachte er seine Ent täuschung über Amerikas »unglückselige Vorliebe für ausländischen Flitter kram und Tand« zum Ausdruck und erklärte, »daß es ihm die größte Freude bereitet, festzustellen, daß die Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten ihre Aufmerksamkeit jedem Gegenstände zuwendet, der geeignet ist, das Zu nehmen der Einfuhr zu hemmen und die eigene Industrie zu fördern«. Dieser erst kürzlich eingewanderte Mann übertraf mit seinem leiden schaftlichen Nationalismus die meisten seiner neuen Landsleute. 179 6 ver öffentlichte er eine vernichtende Anklage gegen Jays Wirtschaftsvertrag mit England. Er bezeichnete diesen Vertrag als »ein Wahrzeichen amerikaniscker Sckmack und Schande — einen Verrat am amerikaniscken Wohlstand und amerikaniscker Selbständigkeit — ein Dokument behördlicher und senatorischer Gewaltanmaßung«. Das Abkommen sckien ihm eine schreck licke Katastropke kerauf zu beschwören: durch seine Ratifizierung würden die Vereinigten Staaten ihre Unabhängigkeitserklärung wieder aufkeben und wiederum eine Kolonie der »korruptesten und entartesten Regierung Europas« werden. Diese Propkezeiung ging nickt in Erfüllung; Amerika blieb unabhängig, und Careys Schule des neu-merkantilistiscken Nationa lismus gewann an Einfluß. Nack 18 1 5 führten Hezekiak Niles, der Heraus geber des »Weekly Register«, sowie Daniel Raymond, John Rae und vor allen Dingen Matthew Careys Sohn, Henry Charles Carey, seine Propa ganda für eine starke nationale Wirtsckaftspolitik fort. Der Vater des deutscken Wirtschaftsnationalismus, Georg Friedrich List, empfing seine ent scheidenden Einflüsse während seines 18 2 5 begonnenen Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten. Dieser amerikanische Wirtschaftsnationalismus hatte durch die napoleonischen Kriege eine starke Förderung erfakren, da wäkrend dieser Zeit die Vereinigten Staaten in kohem Maße vom Verkehr mit Europa abgeschnit ten gewesen waren. Sie waren dadurch gezwungen worden, ihre eigenen Industrien zu entwickeln. Amerikas Teilnahme an den Feindseligkeiten 18 1 2 drokte in verhängnisvolle Folgen auszuarten. In der jungen Nation waren die Meinungsverschiedenheiten über die Kriegsziele so groß, daß die Union an den Rand der Auflösung geriet; der Partikularismus steigerte sich, besonders im Jahre 18 14 , zu einer noch nie dagewesenen Höhe, und in Neu-England erhoben sich viele einflußreiche Stimmen, die für eine Los trennung plädierten. Britische Armeen drangen erfolgreich in die Vereinig ten Staaten ein, und nur schweren Fehlern auf englischer Seite und unge
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ahntem Glück auf Seiten der Amerikaner war es zu verdanken, daß eine vollständige militärische Niederlage vermieden wurde. Der Umstand, da(.< die Engländer den Krieg nicht mehr weiterführen wollten, brachte den Ame rikanern einen Frieden, in dem der status quo bestätigt wurde. Zugleich aber erweckte dieser Friede das Nationalgefühl der Amerikaner, das sich, in Gegensatz zu seinem Tiefstand während des Krieges, zu einer bedeutend größeren Intensität entwickelte und sich bald auf kulturellem wie auf wirt schaftlichem Gebiete auswirken sollte. Der Zug nach dem Westen begann alte lokale Loyalitäten auszulöschen. So wie die Vereinigten Staaten ein Gemisch aus allen europäischen Völkern darstellten, so wurden nunmehr die riesigen Gebiete des Westens durch Menschen aus allen Staaten bevöl kert. Die Bewegung, die nach 18 1 5 mit zunehmender Kraft die Grenze immer weiter und weiter nach dem Westen hinausgetrieben hat, war auch eine der stärksten Kräfte, die an der Schaffung einer nationalen Einheil mitwirkten. Der amerikanische Nationalismus, der aus einer großen Volks erhebung für die Rechte des Menschen im kosmopolitischen und humani tären Geist des achtzehnten Jahrhunderts entstanden war, begann im neun zehnten Jahrhundert zu erstarren. Das amerikanische Reich der Freiheit und der Menschenrechte beschritt damals den Weg der imperialistischen Erobe rung. In >A Poem on the Happiness of America«, das David Humphrey wäh rend der Amerikanischen Revolution gedichtet und dem Patriotenheer ge widmet hatte, stellte der Verfasser die alten Reiche, die durch Eroberung zustandegekommen waren, dem neu entstehenden Reiche, das auf »der Grundlage der Freiheit« errichtet und »der Sache der Menschheit« gewidmel war, gegenüber. So wie das Britische Reich überallhin die belebenden Keime der Freiheit (liberty under law) verbreitet hatte, so lebte auch die ursprüng liche Auffassung des amerikanischen Nationalismus durch die ganze Zeil der imperialistischen Ausdehnung hindurch fort. »Der Nationalismus dei amerikanischen Expansionspolitiker war so wenig exklusiv, daß er allen Freiheitsuchenden, die in anderen Teilen der Welt von der steigenden Flui der Despotie bedroht wurden, eine Zuflucht bot.« Wohin auch immer Ame rika sich ausbreitete, brachte es, wenn auch in sehr unvollkommener Gestall, die Verheißung der »großen und gleichen Rechte der menschlichen Natur«, die Grundlage des amerikanischen Nationalismus und das Vermächtnis von 1776. In Louisiana erhielten die Einwohner, oder wenigstens die Weißen unter ihnen, nach einer vorübergehenden Fremdverwaltung ihren vollen Anteil an der Gleichberechtigung und Freiheit. Wie in England im siebzehn ten Jahrhundert erschien auch in Amerika die eigene nationale Geburt alu 306
ein Fortschritt im Kampfe um die Freiheit und um das Glück der Mensch heit. Und wenn Amerika auch oftmals das Wissen darum — und sein Ge wissen — verdrängte, so konnte es doch diese Vision niemals ganz aufgeben, ohne dadurch die Grundlage der eigenen Existenz zu unterhöhlen. Wie jede starke Nation waren auch die Amerikaner von ihrer Mission durchdrungen. Ihre Grundlage war der Wunsch zur Verbreitung der De mokratie, einer Regierungsform, die auf der Gleichberechtigung aller, auf individueller Freiheit und auf der englischen Auffassung von der Rechts sicherheit beruhte. Die Amerikaner hofften, diese Mission durch ihr Bei spiel erfüllen zu können. »Sie erwarteten, daß sie wie die Sterne durch ihr mildes Licht, durch die bloße Ausstrahlung ihres leuchtenden Beispiels füh ren könnten.« Obwohl das Gefühl der Verantwortung für die Menschheit manchmal vom naiven Egoismus eines selbstgefälligen Isolationismus über lagert wurde, war es dennoch immer vorhanden. Präsident Johnson sagte in seiner vierten Botschaft an den Kongreß am 8. Dezember 1868: »In Ame rika gewinnt jetzt schnell die Auffassung an Boden, daß mit der zunehmen den Erleichterung des Nachrichtenaustausches mit allen Teilen der Erde die Grundsätze einer freien Regierungsform, so wie sie in unserer Verfassung niedergelegt sind, wenn sie nur treu bewahrt und durchgeführt werden, sich als stark und großzügig genug erweisen würden, um alle zivilisierten Nationen der Welt zu beeinflussen.« Als dann schließlich die Nachrichten mittel die kühnsten Träume des achtzehnten und des neunzehnten Jahr hunderts bei weitem übertroffen hatten, hat Woodrow Wilson die univer sale Botschaft der amerikanischen Demokratie zu neuem Leben erweckt und den Versuch unternommen, unter den veränderten Zuständen auf der Welt, die ursprünglichen Folgerungen aus dem Geist von 17 7 6 zu verwirklichen. Der Charakter der amerikanischen Nation ist weder durch die »natürlichem Faktoren Blut und Boden, noch durch eine gemeinsame lange geschichtliche Tradition bestimmt worden. Er ist durch die Kraft einer Idee, und zwar i'iner universalen Idee, geprägt worden. Loyalität zu Amerika bedeutete deswegen Loyalität zu dieser Idee und, da diese Idee universal war, konnte jedermann einbegriffen und, wenn er guten Willens war, assimiliert wer den. Die Überlieferungen und Erinnerungen an alte geschichtliche Ereig nisse haben die Nationen voneinander abgesondert, die schwere Last der Vergangenheit hat die Versuche eines rationalen Neubeginns oft vereitelt. Die Amerikaner aber konnten unter sich Menschen mit den verschiedeniirtigsten historischen Vergangenheiten vereinigen. »Zum Glück für Ame rika und, wie ich glaube, zum Glück für die ganze Menschheit, haben sie einen neuen und edleren Weg beschritten«, schrieb James Madison. »Ist es 307
nicht der Rukm der Amerikaner, daß sie, wäkrend sie den Ansichten frü herer Zeiten und anderer Nationen die gebührende Achtung schenkten, nicht der blinden Verehrung von Althergebrachtem, von alten Sitten und Namen verfallen sind, was zu einem Übertönen der aus dem eigenen gesunden Empfinden erwachsenen Vorschläge, des Wissens um die eigene Situation und der Lehren aus den selbstgemachten Erfahrungen geführt hätte? Die sem männlichen Geist werden die eigenen Nachkommen wegen des Besitzes, und die Welt wegen des Beispieles der zaklreicken Neuerungen, die im Bereick des amerikaniseken Lebens zugunsten der Rechte des Individuums und des allgemeinen Glücks eingefükrt worden sind, zu Dank verpflicktet sein.« Der Einfluß der Amerikaniseken Revolution auf das Erwacken der Natio nalitäten in Europa, besonders im Falle Frankreich, war groß. Jefferson hat aus Frankreick berichtet: »Obgleich gefeierte Schriftsteller in diesem und in anderen Ländern bereits gute Prinzipien für das Regierungssystem vorgeschlagen haben, so scheint doch erst der amerikanische Krieg den den kenden Teil dieser Nation aus dem Despotenscklaf, in den sie versunken war, erweckt zu haben.« Doch die starken Traditionen der Vergangenheit haben die Nationen Europas daran gehindert, dem Beispiel der Neuen Welt zu folgen. Von den großen Nationen des Kontinents schien sich nur Frank reich eine Zeitlang das Vorbild Amerikas mit voller Überzeugung zu eigen zu machen. Deutschland blieb im ganzen davon unberührt. Obgleich der beginnende deutsche Nationalismus des achtzehnten Jahrhunderts das Ge präge der Aufklärung, die er mit dem Westen teilte, trug, waren kistorische und gesellsckaftlicke Kräfte am Werk, die den deutschen Nationalismus in eine Form gossen, die zu dem Vermächtnis Miltons, Sidneys und Lockes, das sick unter den günstigen Verhältnissen der Gesellschaftsordnung einer Neuen Welt zum amerikaniseken Nationalismus ausbilden konnte, in Ge gensatz stand.
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■/.Kapitel
Das Erwachen in der Alten Welt Vergangenheit und Volkstum
1 Im Zeitalter des Nationalismus bilden die Nationen die großen korpora tiven Persönlichkeiten der Geschichte; die Unterschiede in ihrem Wesen und in ihren Anschauungen sind einer der wirksamsten Faktoren, die den Ver lauf der Geschehnisse bestimmen. Nur in diesem Zeitalter übertrifft der Wille der Nationen an Bedeutung den Willen einzelner Persönlichkeiten, von Dynastien oder von nicht-nationalen Körperschaften wie Kirche und Stände. Deshalb ist eine Phänomenologie der Nationen und ihrer Charak tere eine Voraussetzung zum Verständnis ihrer Geschichte. Diese Charak tere sind weder vorgeschichtlich oder biologisch bestimmt noch sind sie für alle Ewigkeiten festgelegt; sie sind vielmehr das Produkt der gesellschaft lichen und geistigen Entwicklung, von zahllosen Übergängen, von denen einige im Flusse der Vergangenheit, aus welcher der Geschichtsforscher jene Momente herausgreift, die ihm in dem verwirrend komplexen Muster als die wesentlichen und charakteristischen erscheinen, kaum wahrnehmbar sind. Während sich die Bildung nationaler Charaktere im Verlaufe mehre rer Jahrhunderte vollzogen hat, hat ihre Kristallisation im Zeitalter des Na tionalismus stattgefunden. In der westlichen Welt, in England und in Frank reich, in den Niederlanden und in der Schweiz, in den Vereinigten Staaten und in den Britischen Dominions war die Entstehung des Nationalismus ein überwiegend politischer Vorgang; die Bildung des — künftig nationa len — Staates war entweder vorausgegangen oder hatte sich, wie im Falle der Vereinigten Staaten, mit ihr gleichzeitig vollzogen. Außerhalb der west lichen Welt, in Mittel- und Osteuropa sowie in Asien entstand der Natio nalismus zu einem späteren Zeitpunkt und im allgemeinen auch unter rück ständigeren sozialen und politischen Verhältnissen: nur selten stimmten die Grenzen eines bestehenden Staates mit dem Bereich einer erwachenden Na tionalität überein; hier wuchs der Nationalismus in Protest gegen und Kon309
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flikt mit dem bestehenden Staat auf — und zwar nicht in erster Linie, um diesen in einen Volksstaat zu verwandeln, sondern um die politischen Gren zen in Übereinstimmung mit den ethnographischen Gegebenheiten neu zu ziehen. Da die politische und gesellschaftliche Entwicklung in Mittel- und Ost europa noch rückständig war, fand der dort erwachende Nationalismus seinen ersten Ausdruck auf dem Gebiet der Kultur. Zu Beginn war er der Traum und die Hoffnung von Gelehrten und Dichtern, — es gab noch keine öffentliche Meinung als Träger dieser Hoffnungen, es war die Aufgabe der Gelehrten und Dichter, eine solche erst einmal zu schaffen, — das Ganze war mehr ein Versuch auf dem Gebiet der Erziehung und der Propaganda als ein Bemühen um die Beeinflussung von Politik und Regierung. Gleich zeitig standen der erwachende Nationalismus und die gesamte moderne geistige und gesellschaftliche Entwicklung außerhalb Westeuropas unter dem Einfluß des Westens, der während einer langen Periode das Vorbild und der Lehrmeister war. Aber gerade durch diese Abhängigkeit vom Westen fühlten sich die gebildeten Schichten, sobald sie mit der Entwicklung eines eigenen Nationalismus begonnen hatten, in ihrem Stolz verletzt, was schließlich zu einer Opposition gegen das >fremde< Vorbild mit seinen libe ralen und rationalen Anschauungen führte. Jeder neue Nationalismus suchte, nachdem er seine ersten Impulse aus der kulturellen Berührung mit einem älteren Nationalismus empfangen hatte, in seiner eigenen geschichtlichen Vergangenheit nach Rechtfertigung und Unterscheidungsmerkmalen und stellte seine uralten Eigentümlichkei ten dem Rationalismus des Westens und den universalen Maßstäben ge genüber. Im Westen ist der Nationalismus in dem Bemühen erwachsen, eine Nation in der politischen Realität und in den Kämpfen der Gegenwart, ohne zu starke gefühlsmäßige Bindung auf die geschichtliche Vergangen heit zu bilden; in Mittel- und Osteuropa dagegen haben die Nationalisten oftmals aus dem Mythos der Vergangenheit und aus Zukunftsträumen ein ideales Vaterland konstruiert, welches zwar mit der geschichtlichen Ver gangenheit eng verknüpft war, aber keinerlei unmittelbare Verbindung zu der jeweiligen Gegenwart hatte, und von dem sie erwarteten, daß es sich irgendwann einmal politisch realisieren würde. Deshalb war es ihnen un benommen, dieses >VaterIand< mit Merkmalen auszustatten, für deren Ver wirklichung sie keine unmittelbare Verantwortung trugen, die aber die Vor stellung, die sich die werdende Nation über sich selbst und über ihre >Mission< machte, beeinflußten. Der Nationalismus des Westens war, sei nem Ursprung nach, mit den im achtzehnten Jahrhundert allgemein gül3 10
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tigen Ansekauungen über die individuelle Freiheit und das rationale Welt bürgertum verbunden; aber der spätere Nationalismus Mittel- und Ost europas und Asiens neigte leicht zu einer gegenteiligen Entwicklung. Die sem Nationalismus, der von Einflüssen, die von außen ker herangetragen wurden, abhängig war, sich aber zugleich zu diesen in Gegensatz stellte, der auch nicht in einer politischen und gesellschaftlichen Realität verwurzelt war, fehlte es an Selbstsicherheit; die Minderwertigkeitskomplexe wurden oft durch Überheblichkeit und starkes Selbstvertrauen aufgewogen, und den Nationalisten in Deutschland, Rußland oder Indien erschien ihr eige ner Nationalismus als bedeutend tiefgründiger und deshalb auch an Problemen und innewohnenden Möglichkeiten reicker als der Nationa lismus des Westens. Das Ringen um den Sinn des deutseken, russischen oder indischen Nationalismus, das Grübeln über die >Seele< und die >Mission< der Nation, die nicht endenwollende Diskussion über ihr Verhältnis zum Westen: diese Momente wurden für die neue Form des Nationalismus charakteristisch. Im Westen beruhte der Nationalismus auf einer Nationalität, die das Produkt sozialer und politiseker Faktoren w ar; in Deutsckland aber war nicht ein rationaler Begriff von der Gesellschaftsordnung seine Rechtferti gung, sondern das >natürliche< Faktum einer Gemeinschaft, die nicht kraft des Willens ihrer Mitglieder oder durch irgendwelche aus einem Vertrage entspringende Verpflichtungen, sondern aufgrund der traditionellen Bande der Verwandtschaft und Gefolgschaft bestand. Der deutsche Nationalismus ersetzte den juristischen und rationalen Begriff des >Bürgertums< durch den ungleich viel vageren Begriff des >Volkes<, der von den deutschen Huma nisten entdeckt worden war und den später Herder und die deutseken Ro mantiker entwickelt haben. Die Wurzeln des Volkes sekienen bis in den dunklen Grund uralter Zeiten zurückzureichen und durch abertausend Ka näle unbewußter Entwicklung gewacksen zu sein, nicht im hellen Lichte rationaler politischer Zielsetzung, sondern im mystischen Leibe des Volkes, von dem man annakm, er steke den Kräften der Natur wesentlich nahe. Diese verschiedene Auffassung von den Begriffen Nation und Nationalis mus war eine historische Folgeerscheinung jener Differenz, welche Renais sance und Reformation zwischen Deutschland und dem westlichen Europa hervorgerufen hatten. Im Westen hatten Renaissance und Reformation eine neue Gesellschafts ordnung geschaffen, in der der Mittelstand und die weltliche Bildung mehr und mehr überwogen und die universale oder imperiale römische Vorstel lung der mittelalterlichen Welt nicht nur der Tatsache nach, sondern auch
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in der Theorie aufgegeben worden war. Aber in Mittel- und Osteuropa ließ die Geschichtsforschung die mittelalterliche Weltreichsidee noch weiterlebcn und sogar neue Kräfte gewinnen — die unwirkliche und doch faszinierende Kraft einer Scheinwelt. Renaissance und Reformation hatten in Deutschland nicht, wie im Westen, die politische und gesellschaftliche Ordnung tiefgrei fenden Veränderungen unterworfen, sie waren hier rein wissenschaftliche und theologische Erscheinungen gewesen. Weiter nach Osten hin waren sie überhaupt nicht vorgedrungen — Rußland und der Nahe Osten sind davon unberührt geblieben — und so vertiefte sich noch die bereits bestehende Kluft zwischen dem westlichen und dem östlichen Reich. Den Moskowitern des sechzehnten Jahrhunderts erschien die russische Geschichte als eine Fort führung der bereits Alexander und dem Römischen Reich gestellten Auf gabe, nämlich »die verschiedenen Nationen des Ostens und des Westens zu einem organischen Ganzen zu vereinigen«. Bei der Einsetzung des Mos kauer Patriarchen im Jahre 1589 wurde in der Urkunde versichert, »da das alte Rom wegen der Irrlehre des Apollinarius gefallen ist und das zweite Rom, das ist Konstantinopel, jetzt im Besitze der gottlosen Türken ist, ist nun Dein großes Reich, O Zar, das dritte Rom. Mit seiner Frömmigkeit übertrifft es alle anderen, und alle anderen christlichen Königreiche gehen jetzt in Deinem Reiche auf. Du bist der einzige christliche Herrscher auf der ganzen Welt. Du bist der Herr aller Christen.« Das im Mittelpunkt des Kontinents gelegene Deutschland schien zwischen dem Westen und dem Osten, zwischen einer Konsolidierung zu einem Na tionalstaat und der noch mächtigen Weltreichstradition zu schwanken. Das Weiterleben dieser Idee in Deutschland wurde durch die Komplexität und Irrationalität seiner Verfassung sowie durch die Unklarheit seiner Grenzen und die Doppelsinnigkeit seiner Ambitionen ermöglicht. Im Süden und Westen wurden Italien und Burgund, im Osten Böhmen, Ungarn und an dere Länder oft als Teile des Reiches und folglich als potentieller deutscher Lebensraum betrachtet. Ein moderner österreichischer Historiker, Heinrich von Srbik, hat diesen nichtendenwollenden deutschen Welttraum treffend formuliert. Er sieht im deutschen Volk den gegebenen Träger der Weltkaiser idee, und er beklagt bitter den Umstand, daß sich im sechzehnten Jahrhun dert das deutsche Volk auf sich selbst zurückzuziehen begann, daß es den Expansions- und Kolonisationsgeist aufgab, der ihm im Mittelalter als mächtige Grundlage für sein Weltkaisertum gedient hatte. Das siebzehnte Jahrhundert brachte eine fortschreitende Schwächung der gesellschaftlichen und politischen Grundlagen, auf denen ein neuzeit licher deutscher Nationalismus hätte gedeihen können. Während im Westen
die Religion zu einer der Hauptkräfte wurde, die die moderne politische und soziale Bewußtheit förderten, führte das deutsche Luthertum zur poli tischen Passivität: die Deutschen waren es zufrieden, Untertanen zu bleiben, sie strebten nicht danach, Bürger zu werden. Die konfessionelle Spaltung zerriß das Land in zwei Teile, die im Verlaufe der Zeit immer verschiedener wurden. Anderthalb Jahrhunderte lang standen sich Protestanten und Katholiken als Feinde auf Schlachtfeldern gegenüber, mit der wieder ein setzenden Theologisierung des gesamten Lebens verbot der konfessionelle Unterschied jeglichen kulturellen Kontakt, und in den beiden Deutschland entwickelte sich das geistige Leben nach verschiedenen Richtungen. Beide Kirchen unterstützten die Fürsten, oder vielmehr ihre Fürsten, bedingungs los; die neuen zentralisierten Staaten der Fürsten wuchsen notwendiger weise in Opposition zu möglicherweise entstehenden deutschen nationalen Strömungen, die nur das Reich hätte vertreten können, wobei aber die mit telalterlichen Grundlagen dieses Reiches nicht mehr den veränderten gesell schaftlichen und politischen Realitäten entsprachen. Die Reichsritterschaft und das freie Bauerntum, die letzten Gesellschafts faktoren, die ihre Aspirationen mit dem Schicksal des Reiches verknüpft hatten, waren 15 5 0 geschlagen worden und hatten von jenem Zeitpunkt an ihren Einfluß eingebüßt. Sie waren gesellschaftlich und wirtschaftlich keine fortschrittlichen Kräfte gewesen; ihre Blicke waren nach rückwärts gerichtet auf die Libertäten des Mittelalters, deren Neubelebung ihre Absicht gewe sen war. Bald darauf begann auch das Absinken der freien deutschen Reichsstädte, genau zu der Zeit, als sich die städtischen Schichten des Westens zu noch nie dagewesener Bedeutung emporschwangen. Langsam arbeiteten sich in Deutschland neue gesellschaftliche Kräfte in den Vorder grund. Diese neuen Kräfte fühlten sich nicht mehr an das Reich gebunden. Ihr Boden war der neue Territorialstaat, dessen Autorität durch die Refor mation gestärkt wurde. Da die öffentliche Meinung gänzlich in der Dis kussion über theologische Fragen aufging, wurde die Territorialisierung der Religion ein weiteres Hindernis für jegliches nationale Einheitsbestreben. Der Friede von 1648 ist ein Markstein auf dem Wege zur Zersetzung des universalen Reiches, dessen Mittelpunkt und Träger Deutschland sein sollte. Während im Bereich der katholischen Habsburger die Gesellschaftsord nung des Reiches noch weiterlebte, entwickelten sich im Norden neue Be«riffe und Formen der Gesellschaftsordnung. Zwei Kräfte, die voneinander unabhängig waren und sich oft feindlich gegenüberstanden — die Bildungsuchicht und die Herrscher von Preußen — spielten eine entscheidende Rolle 3x3
bei der Gestaltung des neuzeitlichen Deutschland. Diese Bildungsschicht stand in enger Beziehung zum protestantischen Pfarrhaus — die meisten ihrer Vertreter waren entweder aus Pfarrhäusern hervorgegangen oder wa ren selbst Pfarrer. Obwohl ihr geistiges Leben innerhalb seines eigenen Be reiches manchmal wagemutig und unternehmerisch war, blieb es der poli tischen Wirklichkeit entrückt und der gesellschaftlichen Verantwortung un zugänglich. Es lag nicht in ihrer Absicht, eine öffentliche Meinung heran zubilden, die einen wichtigen Faktor im Leben des Staates hätte abgeben können; sie dachten auck nicht daran, das politische Leben zu beeinflussen. Im besten Falle, und auch das nur selten, waren sie gewissenhafte Diener ihrer Fürsten, niemals jedoch deren Kritiker oder Fükrer. Während ihr gei stiges Leben von westlichem Gedankengut beeinflußt wurde, blieb ihr ge sellschaftliches Denken kiervon eigenartig unberührt. Die >republique des lettres< des Westens war, wie in der griechischen Antike, eine politiscke Gesellschaft, ein wesentlicher und einflußreicher Teil des nationalen Orga nismus; die >Gelehrtenrepublik< hingegen lebte in einem völlig unpoliti schen Bereich am äußersten Rande der Gesellschaft, und ohne diese zu be einflussen. Zwar lebte sie im Staate, ohne aber ein wesentlicher Teil des Staates zu sein, und selbst ihre Existenz im Staate war rein zufälliger Na tur: keinerlei Bande, außer denen des Woknsitzes, fesselten den Gelehrten an den Staat. Der Staat gehörte den Fürsten, er war ein Fürstenstaat. Aus der Zahl dieser Fürsten hat das Geschlecht der Hohenzollern in Branden burg und Preußen eine bedeutende konstruktive Leistung vollbracht. Ihr Aufbauwerk war von den Nützlichkeits- und Moralbegriffen der englischen und französischen Philosophen durchdrungen — sie befanden sich in einem ähnlichen Abhängigkeitsverkältnis zum Westen wie die Gelehrten; doch auch hier blieb die Gesellschaftsordnung in Geist und Haltung dem Westen fremd. Die Bildungsschicht und die preußischen Fürsten wirkten unabhän gig voneinander, und das Maß ihrer gegenseitigen Anerkennung und ihres gegenseitigen Verständnisses war nur sehr gering. Erst zu Beginn des neun zehnten Jahrhunderts begannen sie gemeinsam zu wirken, ja sich sogar zu vereinigen, und zwar geschah dieses unter dem belebenden Einfluß der Französischen Revolution und durch das Medium des neuen Volkstumsbe griffes, der der bleibende Beitrag Johann Gottfried Herders war, des schöp ferischsten Geistes unter den deutschen Gelehrten auf dem Gebiet des Na tionalismus. j
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2 Seinerzeit haben nur wenige Deutsche vom Reich die Schaffung eines star ken zentralisierten Staates, dem die Überwindung des konfessionellen Strei tes gelingen könne, erhofft. Lazarus Schwendi hat dem Kaiser Maximilian — der nach seiner Auffassung als Römischer Kaiser das Oberhaupt der Chri stenheit, und als Deutscher Kaiser der Vater des Vaterlandes war — den Vorschlag gemacht, der protestantischen und der katholischen Konfession völlige Gleichberechtigung zu gewähren, um auf diese Weise Deutschland vor Interventionen fremder Staaten zu bewahren. Er hob hervor, daß seit unvordenklichen Zeiten die Deutschen alle anderen Völker an Wert und Tapferkeit übertroffen hätten und sie infolge ihrer großen Stärke und ihres Zusammenhaltes niemals fremder Herrschaft unterworfen gewesen seien, und daß eben diese Faktoren es ihnen sogar möglich gemacht hätten, das Römische Imperium zu übernehmen. Der kaiserliche Feldherr Wallenstein, eine eigenartige und nicht ganz klar faßbare Gestalt von spätrenaissancehaftem Charakter, hatte inmitten der Wirren des Dreißigjährigen Krieges die Vision eines geeinten habsburgischen Erbreiches, das sich von der Ost see bis zur Adria erstrecken sollte, und dessen Aufgaben im Osten, in der Bekämpfung der Türken und in der Wiederherstellung des Byzantinischen Reiches, liegen sollten. Der größte Teil des politischen Schrifttums des siebzehnten Jahrhunderts bewegte sich in den veralteten Vorstellungen des dahinschwindenden Uni versalreiches, obwohl die Deutschen mit dem politischen Gedankengut des Westens vertraut waren und sie sogar in der >Politica methodice atque exemplis sacris et profanis illustrata< des Johannes Althusius eine der frü hesten Forderungen nach Volkssouveränität und nach einem Gesellschafts vertrag besaßen. Obwohl in Trinkliedern des sechzehnten Jahrhunderts ein hohes Maß von Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal des Reiches zum Ausdruck kam, hörte das Volk doch nicht auf, daran zu glauben; weit ver breitet war unter den Uneingeweihten bis zum achtzehnten Jahrhundert die Auffassung, daß der Kaiser über eine unbegrenzte Macht über die Welt verfüge. Die amtliche Theorie und die Vorstellungen der Allgemeinheit klammerten sich an die alte Reichsidee, und nur wenige Autoren waren sich der Inhaltslosigkeit, der diese Idee verfallen war, bewußt. Die meisten Menschen waren empört, als Bogislav Philipp von Chemnitz im Jahre 1640 unter dem Pseudonym Hippolithus a Lapide eine >Dissertatio de ratione status in Imperio nostro Romano-Germanico< veröffentlichte, in der er die politische Gestalt Deutschlands als »funestam et cadaverosam hodiernae
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1 Germaniae nostrae faciem« bezeichnete und erklärte, daß der Kaiser über keinerlei wirkliche Macht verfüge. »Nihil fere habet, nisi quod inane nomen eius, et titulus, omnibus Imperii decretis praefigatur.« Dieses außer ordentlich klug geschriebene Buch eines Pommern verteidigte die schwedi schen Interessen und die separatistischen Rechte der deutschen Territorial fürsten. Konstruktiver in seinen Gedanken war der berühmte Rechtsgelehrte Sa muel von Pufendorf, der, dem nicht-nationalistischen Charakter seiner Zeit entsprechend, seine Loyalität und Dienste als Historiograph erst während vieler Jahre dem König von Schweden und dann dem Kurfürsten von Bran denburg gewidmet hatte. 1667 veröffentlichte er unter dem Pseudonym eines frei erfundenen Edelmannes aus Verona, Severinus de Monzambano, >De statu Imperii Germanici ad Laelium fratrem, dominum Trezolani, liber unus<. In diesem Buche hat er das Reich recht respektlos als ein »irre guläre aliquod corpus et monstro simile« bezeichnet. Er trat als ein rationaler Denker an das Problem heran und forderte eine Reformierung des Reiches durch Aufstellung einer Armee, die aus öffentlichen Mitteln finanziert werden solle, ferner durch Entpolitisierung der Religion, durch Auflösung der Klöster und durch Säkularisation der geistlichen Fürsten tümer. Während des siebzehnten Jahrhunderts war das geistige Leben in Deutsch land von theologischen Fragen beherrscht: was an Gruppensolidarität be stand, vereinigte Menschen gleicher Konfessionen, was an politischer Loya lität bestand, konzentrierte sich auf die Territorialstaaten. Das größte Er eignis des Jahrhunderts, der Dreißigjährige Krieg, vermochte in den Deut schen kein Verständnis für seine Folgen für das Leben einer deutschen Na tion zu erwecken. Das hervorragende literarische Denkmal jener Periode, >Der Abentheurliche Simplicissimus< von Hans Jakob Christoffel von Grim melshausen, weist keine Spur irgendeines Nationalgefühles auf. Paul Joachimsen sagt, daß wir daran gewöhnt seien, dieses Buch als den Gesell schaftsspiegel für die Zeit des Dreißigjährigen Krieges zu betrachten. Um so erstaunlicher ist es, daß es keine Stellungnahme zum Krieg als nationales Ereignis enthält. Simplicius scheint sich in erster Linie als Soldat und nicht als Deutscher zu fühlen, und er scheint überhaupt kein Empfinden dafür zu haben, daß in jenem Kriege das Schicksal Deutschlands auf dem Spiele stand. Der Held der Geschichte, der abenteuerliche Soldat Simplicius Simplicissimus, ist kein Individuum: er ist ein Typ und ein Symbol, der Re präsentant des deutschen Barocks. Für die Menschen des Barock war das Leben verwirrend und unwirklich, die Natur sündhaft und gefährlich, Well 316
und Gesellschaft waren nickt von ernsthaftem Belang. Das Buch beginnt mit dem Motto
£3 hat mir so wollen behagen Mit Lachen die Wahrheit zu sagen.
Aber es ist eine bittere Wahrheit von der der Verfasser zu berichten hat, die Wahrheit von der Wertlosigkeit des Lebens — es ist nichts weiter als eine schmerzhafte Vorbereitung auf den Abschied. Nach all seinen stürmi schen Abenteuern endet Simplicius als Einsiedler auf einer einsamen Insel, und er hat kein Verlangen mekr danach, in die Welt zurückzukekren, und kein Interesse an Deutschland und an dessen Schicksal. Bei all seinem Gestalten- und Ereignisreichtum hat dieser Roman inW irklickkeit nur ein einziges Thema: die Entlarvung des Tieres, für das Grim melshausen augenscheinlich jeden durchschnittlichen Menschen seiner Zeit hält. (Oder für das er vielmehr den Menschen aller Zeiten hält.) Von allen Gestalten, die darin auftauchen, hat nur eine einzige ein Herz für das Va terland, nur eine hofft und träumt von der Zukunft des deutschen Volkes, und diese Gestalt ist ein irrer Vagabund! Die einzige episodisch auftretende Gestalt in diesem langen Roman, die auch nur das geringste Maß von pa triotischem Gefühl und Interesse zeigt, ist als ein lächerlicher Narr darge stellt. Aber noch bemerkenswerter ist der Inhalt der Träume und Hoffnun gen, die er für das Schicksal des deutschen Volkes kegt: er prophezeit, daß sich ein deutscher Held erheben wird, der durch seine Taten ein Weltreich schafft, dessen Mittelpunkt und Herrscker Deutschland ist. Der seltsame Narr, dem Simplicius auf der Landstraße begegnet, entpuppt sich als Jupiter, der den deutschen Helden erwecken wird, der »alles durch die Schärfe des Schwertes vollenden wird; er wird alle bösen Menschen vernichten und die guten bewahren und erheben«. Mit der magischen Kraft seines Schwertes wird er die gesamte Welt erobern und alle gottlosen Menschen vertilgen. »Jede große Stadt soll vor ihm erzittern und jede Festung in der ersten Viertelstunde ihm unterliegen. Endlich wird er den größten Potentaten der Welt gebieten.« Dieser deutsche Held wird alle seine Feinde zur Unterwerfung auffor dern. Wenn sie aber ablehnen, so wird er jene — die der deutsche Führer des zwanzigsten Jahrhunderts als >Kriegshetzer< zu bezeichnen beliebte — bestrafen, weil er sie dafür verantwortlich hält, daß einige Völker es ab lehnen, sich den Deutschen demütig zu unterwerfen. Und wenn der deutsche I leid all seine Siege erkämpft hat, wird Jupiter, wie der >Narr< behauptet, »oftmals zu den Deutschen herniedersteigen und sich unter ihren Weinstökken und Feigenbäumen ergötzen. Den heiligen Berg Helikon werde ich mit 317
ten in ihre Grenzen setzen und die Musen von neuem daraufpflanzen. Ich ■ werde Deutschlands Höhen segnen mit allem Überfluß als das glückselig' Arabien, Mesopotamien und die Gegend von Damaskus. Der griechischcn Sprache werde ich abschwören und nur deutsch reden, mit einem Wort, mich so gut deutsch erzeigen, daß ich ihnen schließlich, wie einst den Rö mern, die Beherrschung der ganzen Welt zukommen lasse.« A uf Simplicius Frage, ob denn die Fürsten der deutschen Eroberung kei nen Widerstand leisten werden, antwortet Jupiter, daß sich der Held wenig darum kümmern werde. Er wird die fremden Fürsten in drei Gruppen ein teilen: die Verruchten wird er bestrafen; diejenigen, die sich dazu bereit erklären, als einfache Menschen unter deutscher Herrschaft zu leben, wirtl er nicht anrühren — aber sie werden so leben müssen wie der einfache Manu lebt, während die Deutschen dann besser und reichlicher leben werden nltt jetzt die Könige und ihre Höfe. Und schließlich die dritte Gruppe, das sind diejenigen, die zu stolz dazu sind, die Rolle der Heloten zu spielen, wird er nach Asien schicken, wo deutsche Soldaten für sie neue Länder erobern werden. Jupiter ist zuversichtlich, daß die christlichen Könige des Westen^ keinen Widerstand leisten werden und bereitwilligst ihre Kronen von den Deutschen als Lehen entgegennehmen werden, — und zwar aus recht inter essanten rassischen und historischen Gründen: Die Könige von England, Schweden und Dänemark, weil sie deutschen Blutes sind; die Könige von Frankreich, Spanien und Portugal aber, weil die Deutschen ihre Länder einstmals erobert und regiert hatten. Nach all diesen Eroberungen wird zwischen allen Völkern der Erde ein ewiger Friede herrschen, ein Friede, der durch das siegreiche deutsche Schwert gesichert ist. Doch der deutsche Held wird sich nicht damit zufrie den geben, die ganze Welt unter den deutschen Frieden und die deutsche Herrschaft gezwungen zu haben. Er wird auch alle Religionen reformieren und sie zu einer einzigen Religion verschmelzen. Er »wird den geistlichen und weltlichen Häuptern aller christlichen Völker und verschiedenen Kitchen ins Gewissen reden, wie schädlich die bisherigen Spaltungen in Glatt benssachen waren, und wird sie durch vernünftige Gründe und unwider legbare Argumente endlich dahin bringen, daß sie sogar selbst eine allge· meine Vereinigung wünschen und ihm die Ausführung dieses Werkes an« tragen werden«. Sollten sie aber nicht geneigt sein, den Befehlen des detii sehen Helden Folge zu leisten, so wird dieser zunächst mit jedem der Theo· logen über seine Interessen, sein friedliches Leben, über sein Weib und seine Kinder, über seine Vorrechte und über alles was sonst noch dazu ge* eignet ist, ihn geneigt zu machen, reden. Sollten sie aber auch nicht dunit 3 18
diese verhüllten Drokungen und Köder zu beeinflussen sein, so wird der deutsche Held zu überzeugenderen Mitteln greifen. »Dann wird er das Hanze Kollegium mit Hunger quälen, und wenn sie ihr heiliges Werk immer noch hinauszögern, so wird er ihnen vor allen Dingen vom Hän«en predigen und sie solcherart erst mit Milde und dann mit Strenge dazu bringen, zur Sache zu schreiten und die Welt nicht länger mit ihren halsstarrigen Meinungen zum Narren zu halten.« Nach erlangter l inigung wird er ein großes Jubelfest veranstalten und die neue Religion verkünden; »wer sick dann nicht bekehrt, den will er mit Schwefel und Pech brennen«. Ein wirklich phantastisches Bild bieten diese Welteroberungsmethoden, so phantastisch, daß man sie sich nur aus dem Munde eines >Narren< anhören kann. Und doch klingen diese Worte heute, dreihundert Jahre später, ziem lich prophetisch, und in unseren Tagen hat sich auch ein deutscher Histo riker darum bemüht, den Nachweis zu erbringen, daß zu Grimmelshausens Zeit die Rede der Narren oft höhere Weisheiten zum Ausdruck brachten, den ewigen Traum und das Ideal des Germanismus. Julius Petersen sagt, •laß, wenn Jupiter seinen Genossen auch als ein unheilbarer Narr erscheint, no ist er doch der Mann, der die große Idee ausspricht, die trotz aller Miß bildung, Entstellung und praktischem Unvermögen Wahrheit im tiefsten Sinne des Wortes enthält, die Wahrheit einer Idee, der die unvollkommene Wirklichkeit niemals gänzlich zu entsprechen vermag. In der bombastischen Traumwelt von Grimmelshausen lebten auch noch lindere Gelehrte und Schriftsteller seiner Zeit. Sie fühlten sich gegenüber den überlegenen Zivilisationen des Westens in ihrem Stolze verletzt. Von iiller politischen Realität und Verantwortung entrückt, suchten sie in der phantastischen Welt einer imaginären Vergangenheit, die alles Große den I K'utschen verdankte, Zufluckt. Das einzige sickere Erbe aus dieser Verganlienheit war die deutsche Sprache, das Instrument ihrer Bemühungen und llciitrebungen. Sie statteten sie mit einer einzigartigen Erhabenheit des RanIIch aus, sie erhoben sie zu einer >Hauptsprache<, in Vergleich zu der alle linderen Sprachen nur >Bastardsprachen< waren. Charakteristischerweise wurde die behauptete ästhetische Vollkommenheit der deutschen Sprache als *·11vc moralische Überlegenheit gewertet; die deutsche Lebensart wurde als dlhisch und aufrecht gepriesen, während die der westlichen Völker als BeWrls ihrer Verweichlichung und Oberflächlichkeit gebrandmarkt wurde. 1663 veröffentlichte Justus Georg Schottelius (16 12 —1676) ein Buch über die ili utsche >Hauptsprache< in welchem er ihr Alter, ihre Reinheit, ihre Kraft, ihre Unvergleichlichkeit und Vortrefflickkeit von Grund auf in den Himmel
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1 lobte. Das Vorwort und die Widmung lesen sich wie eine Karikatur auf das deutsche Eigenlob. Doch war es ehrlich und ernst gemeint und wurde auch allgemein so aufgenommen. Die Deutschen galten als älter, tugend reicher und in Eroberungen erfolgreicher als alle anderen Völker. »Durch göttliche Vorsehung sind sie in den Besitz des Weltkaisertums gelangt und haben dadurch die größte Herrlichkeit und die Führerschaft über die Chri stenheit erlangt.« Durch die Zahl ihrer mächtigsten und tapfersten Helden, durch die Zahl ihrer vortrefflichen Gelehrten, berühmter Universitäten und Städte, sowie durch den Besitz einer so herrlich reichen und reinen »Hauptsprache< erfreuen sie sich eines beträchtlichen Vorranges über andere Völ ker. Durch die Erfindung der Druckerpresse haben sie der Welt die Bildung gebracht, und durch die Erfindung des Schießpulvers haben sie sie tapfer und gleichsam zum Kriegsmanne gemacht; so kann man von Osten nach Westen, von Süden nach Norden wandern, nirgends wird man ein Volk finden, das den Deutschen vergleichbar wäre. Bei einem so vortrefflichen Erbgut bedurften die Deutschen ihrer Mei nung nach natürlich keines fremden Vorbildes. Deutsch zu sein war eine Verpflichtung, und zugleich bedeutete es so viel wie ethisch sein; >undeutsch< zu sein, war Verrat, und der Undeutsche wurde als unethisch oder ethisch minderwertig erachtet. Der Elsässer Hans Michael Moscherosch (16 0 1—1669) bot in seiner »Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewald< (1643) ein satirisches Bild seiner Zeit. Im achten von den vierzehn Traumbildern stellt er Philander im Schloß Geroldseck den großen Helden der deutschen Vergangenheit, darunter Ariovist, Arminius und Siegfried, gegenüber. Der Titel dieses Kapitels heißt >A la mode Kehrauss<, ein Pro test gegen die neue Mode, das Französische nachzuahmen. Die germanischen Helden nehmen Philander heftig ins Gebet, weil er einen undeutschen Na men führt, undeutsche Kleider trägt, undeutsche Speisen zu sich nimmt, kurzum, weil er die Schlichtheit und die Kraft des alten Germanentums zu gunsten des Luxus der Franzosen und der französischen Leichtlebigkeit auf gegeben hat. Doch waren alle diese Ermahnungen gänzlich unpolitischer Natur, Moscherosch selbst hielt die Monarchie Ludwigs XIV. für die vollendetste Regierungsform. Das Trachten jener Generation beschränkte sich auf da# kulturelle Gebiet, auf die neuen Gesellschaften zur Erhaltung und Vered lung der deutschen Muttersprache. Moscherosch war ein Mitglied der älte sten. von diesen Gesellschaften, der 1 6 1 7 gegründeten Fruchtbringenden Gesellschaft, auch Palmenorden genannt, die sich größtenteils aus Adligen) Dichtern und Gelehrten zusammensetzte. Andere bekannte Gesellschaften 320
dieser Art waren die Deutschgesinnte Gesellschaft in Hamburg, die 1643 gegründet worden war und auch weibliche Mitglieder aufnahm, sowie der Löbliche Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz, der, 1644 in Nürnberg gegründet, als literarischer Zirkel länger als zweihundertundfünfzig Jahre bestehen konnte. Alle diese Gesellschaften verloren sich schnell in Triviali täten, schlugen übertriebene und unsinnige Sprachreinigungen vor und mußten bald dem wachsenden Einfluß, den die französische Kultur über das gesamte geistige Leben Deutschlands erlangte, erliegen. Die Dichter des deutschen Barock beklagten die Sucht, das Französische nachzuahmen. Die französische Sprache erachteten sie als zweitrangig und abgeleitet, und dem französischen Volk sprach man einen ursprünglichen lind autochthonen Charakter ab. Während in Frankreich D'Aubery ein Buch über die gerechten Ansprüche des Königs von Frankreich auf das Reich ver öffentlichte, trat Grimmelshausen diesen Forderungen mit der Behauptung entgegen, daß die Franzosen selber Abkömmlinge der Germanen seien, und daß sie von den Galliern, die sie einstmals unterworfen haben, eine un deutsche Lebensart angenommen hätten. Als ein Symbol dieser Überlegenheit führte das Barock Arminius als deutschen Helden wieder ein. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde er zur I lauptgestalt in einer der meistgelesenen Geschichten jener Zeit, in der viele bombastische Phrasen über die Vaterlandsliebe und die Ehre des deutschen Ailels sich mit vollständig mangelhaftem Geschichtssinn und unkritischem (ieschichtsverständnis vermengten. Es ist eine überschwengliche Erzählung, In der alle großen Entdeckungen und alle Heldentaten der Mythologie und der alten Geschichte den Germanen zugesprochen werden. Zwar waren sie einst von den Römern geschlagen worden; aber die Feinde hatten nur durch Zauberei und Tücke, gegen die die rühmliche deutsche >Treue< machtlos ge wesen war, die Oberhand gewinnen können, bis die Germanen schließlich durch Arminius triumphieren konnten. Bei aller hohlen und prahlerischen Polemik hatte das Schrifttum doch einen Fortschritt in der Entwicklung der deutschen Literatursprache ge macht. Martin Opitz (1597—1639), der als >Fürst der teutschen Poeterey< ge leierte Dichter, der im Alter von zwanzig Jahren den >Aristarchus seu de Conlemptu linguae teutonicae< verfaßt hatte, veröffentlichte 16 24 seine grund legende Abhandlung, das >Buch von der deutschen Poeterey<, in der er den Unterschied zwischen der deutschen und der klassischen Prosodie klar her«tiHStellte und so den auf der deutschen Dichtung lastenden Bann des neuliileinischen Verses durchbrach. Sein Deutsch war durch seine zahlreichen Übersetzungen aus dem Alten Testament, aus dem Griechischen und Latei 321
nischen, aus dem Englischen und Französischen stark beeinflußt. Ähnliche Pionierleistungen hat Hermann von Conring (1606—16 8 1) vollbracht, der die >Germania< des Tacitus herausgegeben hatte. In seinem Werke >De Ori gine Juris Germanici< (1643) hat er auf den Unterschied zwischen dem deut schen und dem römischen Recht hingewiesen und eine Kodifizierung di'f Gesetze in deutscher Sprache gefordert. Aber keiner dieser Männer hatte ein politisch-nationales Bewußtsein. Opitz starb in Danzig als Sekretär und Hofhistoriograph des Königs von Polen, und Conring war ein treuer Diener der Könige von Schweden und Frankreich gewesen. Es ist ein charakteri stischer Anachronismus, wenn später ein nationalistischer deutscher Histo riker gegen Conring den Vorwurf erhebt, er habe seine Talente an Lud w ig XIV. verkauft, um deutsche Interessen zu schädigen, und diese Hand lungsweise als verwerfliche Haltung bezeichnet. Alle diese Gelehrten, die ein so großes Interesse an der deutschen Sprache und an der deutschen Art bewiesen haben, waren an dem politischen Schicksal des deutschen Volke* völlig desinteressiert. Keiner von ihnen ist als ein politischer Faktor in Er scheinung getreten. Im besten Falle dienten sie den großen und kleinen Fürsten ihrer Zeit, ihre Untertanentreue mit ihren Herren wechselnd, ohne dabei zwischen deutschen und fremden Fürsten einen Unterschied zu machen, Selbst der größte deutsche Gelehrte jener Zeit, Leibniz, bildete hierin keine Ausnahme.
3 Wie verschieden war doch die Welt, in der Locke, oder sogar Bayle, wirken konnten, in der sie die öffentliche Meinung gestalteten und Geschichte mach ten, von der Welt, in der Leibniz lebte, der seine Kräfte und Gaben ver schwendete oder sie den Streitigkeiten und Eifersüchteleien von Fürsten und Höfen widmete. Die neuen Begriffe von der Freiheit unter dem Gesetz und den verfassungsmäßigen Rechten begannen in Deutschland einzudringrn Im Geiste der englischen Aufklärung erklärte Leibniz, daß die Menschen nicht ein Eigentum der Herren sind, das sie wie Pferde, Ländereien und andere Güter unter ihre Söhne aufteilen können, und 1706 erklärte er in einem Briefe: »Tatsächlich haben diejenigen Fürsten, die nach den Gesetzen regieren, die größte und längste Autorität. Diese englische Maxime sollte die Maxime aller Völker sein.« Solch eine Maxime hätte in der politischen Welt, in der Leibniz lebte, nicht angewandt werden können; auch hat er einen solchen Gedanken niemals ernstlich erwogen. Seine Gedankenwelt will 322
noch zu einem großen Teil durch die mittelalterliche Auffassung von Kirche und Reich beherrscht. Für ihn war der Kaiser der Herr der Welt, der »advocatus, vel potius caput, aut, si mavis, brachium seculare ecclesiae universalis«. Viele Jahre hindurch arbeitete er an der Vereinigung der protestan tischen und der katholischen Kirchen zu einer Universalkircke. Er meinte, wenn alles auf der Welt auf die vollkommenste Art geordnet wäre, dann wären alle Länder in Gottes Kircke. Da er zwischen dem neuen Rationalismus und der mittelalterlichen A n schauung hin und her schwankte, waren seine Loyalitätsgefühle teils die eines Weltbürgers und teils die eines aufgeklärten, dock vagen deutschen Patrioten. Treitschke hat ihn einen großen Weltbürger genannt, und Leib niz selbst hat einmal geschrieben: »Pourvu qu'il se fasse quelque chose de conséquence, je suis indifferent que cela se fasse en Allemagne ou en France, car je souhaite le bien du genre humain; je suis non pas cpiXÉ?J.r|v ou r[)i?.()(.)0)|i«Iog mais cpiXàvfrpcojtoç« (Ich bin weder ein Freund der Grie chen, noch der Römer, sondern ein Freund der Menschheit). Sein Universa lismus war, wie der von Grotius, philosophisch und humanitär. Er begrüßte das Projekt des Abbé de Saint-Pierre für einen Universalfrieden, und er machte den Vorschlag, eine universale république des lettres< zu gründen, die vermittels eines Netzes von gelehrten Gesellschaften und Akademien bei der Verbreitung der Zivilisation in allen Ländern wirken könnte. Seiner Auffassung nack würde solch eine >societas eruditorum< auch zu einer Ver einigung aller Religionen führen. Er hat versucht, mehrere Fürsten für seinen Plan zu gewinnen — erst Ludwig XIV. und dann Peter den Großen. Der Vorschlag war damals nichts Neues; 1667 hatte der Große Kurfürst nuf Veranlassung eines Schweden, Benedict Skytte, daran gedacht, in Berlin eine >nova Universitas Brandenburgica gentium, scientiarum et artium< zu gründen, um die freie wissenschaftliche Forschung und die Vereinigung der Religionen zu fördern. Zu dieser Universitas gedachte er Vertreter aller christlichen Konfessionen und Sekten einzuladen, ferner Juden, Araber und alle anderen Nicht-Christen. Diese kosmopolitiseken und kumanitären Be strebungen lagen genau in der Richtung von Leibnizens Bemühungen. Wäh rend er sich stark für die Interessen desjenigen Fürsten einsetzte, in dessen Diensten er gerade stand, galt seine eigentlicke Loyalität der Welt der Ge lehrsamkeit. Seinem Herzen am näcksten kätte die deutseke Gelehrsamkeit Itehen können; aber obgleich er um die Würde der deutschen Sprache und des deutschen Namens zuweilen sehr besorgt war, konnte diese Aufgabe »einen Geist doch niemals gänzlich ausfüllen und hat sich auch niemals bis /.u einer politischen Loyalität hin entwickelt. 323
Während Leibniz in seinen späteren Jahren Ludwig XIV. unfreundlich ge sinnt war und ihn 1664 in einer kleinen, anonym erschienenen Schrift, >Mar» Christianissimus auctore Germano Gallo-Graeco, ou Apologie des armes du Roi Très-Chrétien contre les Chrétiens< angrifï, hatte er früher seine »Préceptes pour avancer les Sciences< Ludwig XIV. gewidmet, den er als den »einzig artigen, unsterblichen, großen Fürsten, auf den unsere Zeit stolz ist und nach dem sich künftige Zeiten vergeblich sehnen werden« ansprach. Leider hattr sich Ludwig gegenüber den wiederholten Annäherungsversuchen dieses Phi losophen ablehnend verhalten, der in seiner Schrift >L'Accomodement avec « France< für eine Anerkennung des französischen Besitzes von Straßburg eingetreten war, und in >De Expeditione Aegyptica Ludovico XIV. Regii Franciae proponenda< Frankreich den Rat gegeben hatte, Ägypten als Aus gangsbasis für eine Eroberung Afrikas und Asiens zu besetzen und solcher art der Hegemonie über den europäischen Kontinent die Herrschaft über die Meere hinzuzufügen. Aber während seine politischen Vorschläge weltweit waren, mußte er sich doch oft über die Rückständigkeit des deutschen Kul turlebens ernsthafte Sorgen machen. Er klagte darüber, daß diejenigen Deutschen, die die Absicht hätten, etwas zu lernen, ins Ausland gehen und französisch oder italienisch lesen müßten, so daß sie sich daran gewöhnten, das Ausländische zu lieben und zu verehren und nicht mehr daran glaubten, daß auch die Deutschen dazu in der Lage seien, in ihrer eigenen Sprache bemerkenswerte Leistungen zu vollbringen. Um diesem Zustand abzuhel fen, schlug er die Gründung einer Deutschen Gesellschaft vor, deren Auf gabe es wäre, die Abfassung von nützlichen, gedankenreichen und erfreu lichen Büchern in deutscher Sprache anzuregen. Denn »besser ist ein Origi nal von einem Teutschen als eine Copei von einem Franzosen sein«. Auch für Leibniz war Deutsch die Haupt- und Heldensprache. Doch war es seinem jüngeren Zeitgenossen Christian Thomasius (1655—1728) V o r behalten, als Professor an der Universität in Leipzig im Jahre 1688 die erste moderne Zeitschrift in deutscher Sprache herauszugeben, >Freimüthige, lustige und ernsthafte, jedoch Vernunft- und gesetzmäßige Gedanken oder Monatsgespräche über allerhand, fümehmlich aber neue Büchen — eine Monatszeitschrift, die sich an den allgemeingebildeten Leser wandte, und das erste öffentliche Forum zur Erörterung literarischer und philosophi scher Probleme darstellte. Zwei Jahre später ging Thomasius, der von der Leipziger Universität ausgestoßen worden war, nach Halle. Hier w ar et eine der wesentlich treibenden Kräfte, die zur Gründung der neuen Univer sität beigetragen haben, und hier wurde auch von vornherein der deutschen Sprache eine hervorragende Stellung eingeräumt und der orthodoxe Geist
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ausgeschlossen. Aber Thomasius war nur ein vorsichtiger Reformator. Als einer der ersten Deutschen erhob er seine Stimme gegen den Hexenglauben, aber er verneinte in keiner Weise die Existenz böser Geister und ihre direk ten Eingriffe in das menschliche Leben. Auch trat er nicht freimütig gegen die Anwendung der Folter auf, die auch Leibniz noch für ein im Straf prozeß unentbehrliches Mittel hielt; einem seiner Schüler gegenüber äußerte er seine Bedenken darüber, ob es ratsam sei, die christlichen Herr scher dazu anzuhalten, das aufgeklärte englische Vorbild in der Abschaf fung der Folter nachzuahmen. Aber im achtzehnten Jahrhundert begann die westliche Aufklärung in breiten Strömen in Deutschland einzufließen, und innerhalb eines Jahrhun derts wurde die Rückständigkeit im kulturellen Leben wieder aufgeholt. Während nun das deutsche Kulturleben innerhalb einer kurzen Zeit den Westen einholte und sogar überflügelte (ein ähnlicher Vorgang spielte sich in Rußland während des neunzehnten Jahrhunderts ab), behielten die Politik und die Gesellschaftsordnung ihren alten provinziellen Charakter bei. In England und in den Niederlanden fühlte sich die gebildete Schicht für die politischen Geschicke der Nation verantwortlich und nahm an ihrer Führung teil, in den Vereinigten Staaten war sie sogar Gestalterin und Führerin, und in Frankreich hatte sie in ihren Schriften und in ihrem Geist ein Instrument, das über alle gesetzmäßigen und verfassungsmäßigen Grenzen hinaus wirksam w ar; in Deutschland hingegen lebte sie in völliger Isolierung von Politik und Regierung. Unter diesen Umständen blieb der Ausdruck des Nationalismus auf die Literatur beschränkt, wo er zum Teil als Erinnerung an die in der Schule gelesenen patriotischen Autoren der Antike und zum anderen Teil als Einfluß englischer und französischer Autoren lebte. Aber auch selbst in der Literatur machte sich das Fehlen politischer Empfindun gen bemerkbar: von Objekten, die zur Satire herausforderten, in Hülle und Fülle umgeben, entwickelte die deutsche Literatur weder eine politische Sa tire noch eine kraftvolle patriotische Prosa. Indem sich die deutschen Intellektuellen außerhalb des politischen Berei ches stellten, nahmen sie ihre Rache, eine Rache, die zwar für die Fürsten harmlos, für das Leben der Nation aber sehr gefahrvoll war. Sie betrach teten ihre rein geistige Betätigung als eine höhere und reinere Lebensart. Sie werteten ihren Ausschluß von aller politischen Einflußnahme in eine Tugend um, die das Vorrecht war des Gelehrten und Intellektuellen, der in »höheren Sphären< lebte, ohne in die niederen Bereiche der gemeinen Menschheit hinabzusteigen. Das politische Leben und die Verwaltung waren Angelegenheiten der Fürsten und der Obrigkeit; der Untertan hatte we325
der das Recht noch die Fähigkeit, sich einzumischen. In übersteigertem Aus gleich hierzu begannen die deutschen Schriftsteller auf das geistige Leben in den Westlichen Ländern herabzusehen als auf eine Geistigkeit, der der deutsche Flug in die höheren Sphären fehlte, und die sich in den anschei nend oberflächlichen und trivialen Dingen der politischen und sozialen Rea lität erschöpft. In ihrer Entrücktkeit von aller politiscken Aktivität legten die Intellektu ellen Deutscklands die Grundlagen zu einer nationalen Literatur. Johann Christoph Gottsched (1700—1766) widmete sich mit großem Eifer dieser Aufgabe, als er 17 2 4 nach Leipzig kam, und er bewirkte, daß diese Stadt während einer längeren Periode der Mittelpunkt des literariscken Lebens Deutschlands war. Er schloß sich einer der bestehenden Sprachgesellschaf ten, der Deutschübenden Gesellschaft, an, änderte ihren Namen in Deutsche Gesellschaft und entwickelte sie aus dem Stand einer rein lokalen Organi sation zu einer literarischen Gesellschaft von nationalem Rang. Sein Traum war es, sie zu einer der Academie Française ähnlichen Einrichtung auszu bauen und eine deutsche Literatursprache zu entwickeln. Die obersächsische Mundart, deren sich bereits Luther bedient hatte, machte er zur deutschen Schriftsprache, die er durch Reinigungen und Regeln zu einem Instrument für Poesie und Prosa, ähnlich der französischen Sprache, gestalten wollte. Unter einer deutschen Literatur stellte er sich lediglich Texte in deutscher Sprache vor; er suchte eigentlich nicht nach einer von den anderen verschie denen und originalen deutschen Kultur: er wollte eine universale Zivili sation — deren vollkommenstes Beispiel die Franzosen boten — die in der deutschen Sprache ihren Ausdruck finden sollten. In seinem Spracheifer zeigte er den Fanatismus eines Reformators. Als ihm seine spätere Gattin und Mitarbeitern, die hochbegabte Louise Kulmus, französische Briefe schrieb, erhob er lebhaften Protest, und obgleich sie dagegen einwendete, man habe sie gelehrt, daß es unpassend sei, Deutsch zu schreiben, bestand er den noch auf seinem Wunsch und zwang sie dazu, sich der deutschen Sprache zu bedienen. So entwickelte sick seine Sprackreform zu einer Lebens reform. Sein Einfluß während der Zwanziger- und Dreißiger]'ahre des acht zehnten Jahrhunderts war ungeheuer. Die pomphafte und schwerfällige Sprache des Barocks verschwand aus den deutschen Büchern; mehr und mehr fand die deutsche Sprache in den Schulen Eingang, und ausländische Worte wurden nur noch sparsam gebraucht. Die französische Literatur wurde in all ihren Formen getreulich nachgeahmt; durch Gottscheds Einfluß beherrschte sie den deutschen Geschmack während mindestens 326
eines halben Jahrhunderts. Gottsched war bestrebt, innerhalb der allge mein anerkannten literarischen Maßstäbe dem Französischen gleichzu kommen und nicht irgendwelche Abweichungen von diesen Maßstäben zu statuieren. Selbst als 174 3 Johann Elias Schlegel Arminius zum Hel den seines Dramas >Hermann< machte, um die Aufmerksamkeit auf die deutsche Geschichte als Quelle dramatischer Stoffe hinzulenken, schrieb er, in strenger Übereinstimmung mit den klassischen Regeln, in Alexan drinern. Gottscheds Nachfolger als >praeceptor Germaniae< war Christian Fürchtegott Geliert ( 17 15 —1769), der ebenfalls in Leipzig lehrte (wo Goethe seine Vorlesungen gehört hat), und der um die Mitte des Jahrhunderts einen bis dahin in Deutschland unerreichten Ruf erlangte. Er war ein schüchterner kleiner Mann, dessen Schriften das Ethos und die Anschau ungen des deutschen Mittelstandes, seine Redlichkeit, Behaglichkeit und Gutmütigkeit widerspiegelten. Sein Leben spielte sich in der Zeit großer politischer Wirren ab. A uf drei Kontinenten tobten Kriege, welche die Schicksale von Nationen und Dynastien neu gestalteten. Im westlichen Eu ropa diskutierte man frei und heiß über neue Prinzipien der Gesellschafts ordnung, und das militärische Genie Friedrichs II. erhob einen deutschen Territorialstaat zum Range einer Großmacht. Doch inmitten all dieser Er eignisse war Geliert einzig darum bemüht, sich die Ruhe des Privatlebens von allem Tumult der öffentlichen Ereignisse ungestört und unberührt zu bewahren. Es war ihm »höchst gleichgültige wer Schlesien oder Böhmen beherrschte, und die Schlacht bei Roßbach erweckte in ihm nur Mitleid für all die Opfer, die sie gefordert hat. In einer Rückschau auf sein Leben konnte er sich an nichts so deutlich erinnern, wie an die tiefe Furcht, die er empfunden hatte, als er zufällig in der Nähe des Schlachtfeldes vor beigekommen war. Nichts lag ihm und der Generation, die er vertrat, ferner als Heroismus oder kriegerischer Geist. Er war mehr als zufrieden darüber, daß er alle Politik der Weisheit der Herrscher und ihrer Beamten überlassen durfte, und äußerst dankbar dafür, daß ihm der Genuß eines Lebens, in dem häuslicher Friede, freundschaftliche Neigungen und die leich te Grazie der Poesie allein zählten, nicht gestört wurde. Seine berühmten »Moralischen Vorlesungen^ die er als Professor der Philosophie ge halten hat, enthielten nicht ein einziges Wort über Pflichten gegenüber dem Vaterland, noch über Bürgerpflichten oder über die Tapferkeit. Den Griechen und Römern machte er den Vorwurf, daß sie gerade diese Fak toren besonders betont hätten, anstatt auf Sanftmut und Demut Wert zu legen. 327
f Und doch war Geliert ein echter Sohn der Aufklärung und ihres humani tären Rationalismus; mit großem Eifer widmete er sich der Aufgabe, die Gefühle der Menschen zu veredeln und in den Herzen der Menschen die Quellen der Güte, die durch den Despotismus der Fürsten und durch starre Orthodoxie versiegt waren, wieder zum Fließen zu bringen. In >Die Schwedische Gräfin< griff er Lessing voraus, indem er einen edlen und ehrenhaften Juden darstellte, der von Graf und Gräfin als Gleichberechtig ter behandelt wurde. Aber alle guten Absichten Gellerts und seines Krei ses kamen über den Versuch, sie in der Gesellschaft zu verwirklichen, nicht hinaus. Das einzige satirische Talent jener Zeit, Gottlieb Wilhelm Rabener ( 17 14 —17 7 1) , konnte in der philisterhaften Atmosphäre der deut schen Gesellschaft, in der die meisten Objekte der Satire völlig tabu waren, seine Begabung niemals voll entfalten. Im Vorwort zum vierten Band sei ner »Sammlung satirischer Schriften< (Leipzig 1755) gab er offen zu, daß er es niemals gewünscht oder gewagt habe, über Fürsten und Be hörden, Geistliche und Lehrer zu schreiben, denn der Versuch, die Men schen in ihren Ämtern und Würden zu kritisieren, hätte ihm von den Untertanen das Urteil eingebracht, daß er es noch nicht gelernt habe, ein guter Untertan zu sein. Und wie sollte ein mit solchem Makel behafteter Mensch irgend jemandem Ratschläge erteilen können? So mußte sich seine >Satire< auf einen ziemlich wohlwollenden und gutherzigen Witz über die Torheiten des Mittelstandes und dessen privates Alltagsleben beschränken. Rabener klagte, daß in Deutschland die Satire, deren Zweck es sei, die Dinge zu verbessern, es nicht wagen könne, ihr Haupt mit der Freiheit zu erheben, mit der sie in anderen Ländern die Fehler und Torheiten der Menschen züchtige. Er könne es in Deutschland nicht wagen, einem Dorfschulmeister eine Wahrheit zu sagen, die in London selbst ein Erzbischof hören müsse.
4 Die Früchte von Gottscheds und Gellerts Bemühungen begannen um die Mitte des Jahrhunderts in Erscheinung zu treten: sie hatten das Deutsche zu einer achtbaren Literatursprache erhoben und die Grundlage zu einer deutschen Literatur gelegt. Das Übermaß an französischen und italieni schen Worten und Redewendungen, das die Kraft und sogar die Existenz der deutschen Sprache zu ersticken gedroht hatte, war in schnellem Rück gang begriffen. A uf den Universitäten und höheren Schulen der katholi schen Länder blieb das Latein noch vorherrschend, aber in den protesta n 328
tischen Ländern und in den literarischen Erzeugnissen trat es sehr schnell hinter die deutsche Sprache zurück. Während 1589 noch 246 lateinische Bü cher gegenüber 1 1 6 deutschen veröffentlicht worden waren, hatte sich 17 x 4 das Verhältnis in 209 lateinische und 419 deutsche Bücher umgekehrt, und 1780 standen 198 lateinische 19 1 7 deutschen Büchern gegenüber. So be gannen eine gemeinsame Sprache und das Bewußtsein, eine gemeinsame Literatur zu besitzen, wenigstens den protestantischen Teil Deutschlands zu einigen. Doch die Loyalitätsgefühle waren noch nicht national, sondern streng dynastisch oder konfessionell. Die Katholiken in den habsburgischen Landen fühlten sich den Ungarn, Kroaten und Italienern weit enger verbun den als den protestantischen Preußen, die nach 174 0 ihre Feinde wurden. Als sich die Gelegenheit hierzu ergab, begrüßten die deutschen Protestan ten die Schweden und die Franzosen als willkommene Verbündete im Krieg gegen deutsche Katholiken. Die lutherischen Theologen waren gegen die Calvinisten genau so bedingungslos feindlich eingestellt wie gegen die Katholiken. Erdmann Neumeister (16 8 1—1756), ein für seine Begabung als religiöser Dichter und Ästhetiker bekannter protestantischer Geistlicher in Hamburg, schrieb in einem Pamphlet gegen einen calvinistischen Theo logen von »Calvinistischen Mameluken und Judasbrüdern«, während die Versuche, Lutheraner und Calvinisten zu vereinigen, als »Luthers Versu chung durch Beelzebub« gebrandmarkt wurden. Die Geistlichen aller Kon fessionen wetteiferten in Unterwürfigkeit vor großen wie kleinen Fürsten, und sie wagten es niemals, ihre Stimmen zur Verurteilung selbst des offen sichtlichsten Unrechts zu erheben. Nirgends in Deutschland vermochte die Religion in dem Maße das Volk zu erwecken oder die Mißbräuche abzustellen, wie ihr dies in den angel sächsischen Ländern gelungen war. Das prophetische Feuer der Reforma tion war mit der Ausrottung der Wiedertäufer erloschen, und der deutsche Pietismus glich mehr dem Methodismus als dem Puritanismus. Doch hat der Pietismus, obwohl er es niemals gewagt hat, in aller Öffentlichkeit gegen die schnell umsichgreifende Korruption und Immoralität der oberen Schichten zu protestieren, auf seine ruhige Art für den einfachen Mann ge kämpft. Noch bedeutsamer, nämlich als eine Bewegung, die den Grund für das neuzeitliche Deutschland vorbereiten half, war die von der Aufklärung herbeigeführte rationale Säkularisation. Aber während im Westen der ra tionale Humanismus und der optimistische Liberalismus zu grundlegenden Änderungen in der Gesellschaftsordnung geführt hatten, beschränkte sich in Deutschland ihr Einfluß auf das Gebiet des Geistes und auf die Schicht der Gebildeten. Als dann schließlich zu Beginn des neunzehnten Jahrhun-
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derts der Wille zu politischen und sozialen Veränderungen erwackte, war die rationale und liberale Aufklärung bereits der Romantik gewichen, die mit ihrer völlig entgegengesetzten Auffassung den Irrationalismus und den Enthusiasmus der Pietisten, wenn auch auf einer ganz anderen Ebene, fort führte; dieser Enthusiasmus erfüllte nicht mehr das Herz des einsamen Wanderers vor Gott, sondern ergoß sich in den mystischen Körper der na-' tionalen Gemeinschaft. Eine deutsche nationale Bewegung entstand erst im neunzehnten Jahr hundert. Es gab keinen Staat, um den Tierum sie sich hätte konsolidieren können. Es gab lediglich die leere Hülle des Heiligen Römischen Reiches, die voll ausgehöhlter Erinnerungen war, und in der kaum noch jemand eine Zukunftsaussicht erblicken konnte. Wohl war es ein Rahmen für eine Nation, aber dieser Rahmen umschloß ein Vakuum. Die politiscke Wirk lichkeit war im Leben der vielen großen und kleinen deutschen Staaten auf gegangen, deren weltliche und geistliche Fürsten sich selbst als Souveräne und die Einwohner als Untertanen, ihre eigene Macht aber als unbegrenzt betrachteten. Den Stimulus, den eine Unterdrückung durch Fremde verur sacht, gab es nicht: die Deutschen lebten nicht, wie andere Völker, unter fremden Fürsten. Was an Unterdrückung geschah, und das war oftmals grausamer als in anderen Gegenden Europas, kam von eingeborenen Für sten, und nur wenige Deutsche haben vor der Französischen Revolution jemals auch nur davon geträumt, daß man den Fürsten ihr angemaßtes Recht auf willkürliche Unterdrückung streitig machen könne. Der deutsche Nationalismus konnte sick nicht, wie das im Westen der Fall war, um eine politische Freiheitsidee herum zusammenschließen. Wohl hatte die Reformation potentielle revolutionäre Kräfte entbunden, aber Luther hat sein Möglichstes getan, um diese Kräfte innerhalb der Schranken des inne ren Lebens zu halten und die Menschen zu blindem Gehorsam zu erziehen. In seiner Schrift >Vom Deutschen Nationalgeist< hat Friedrich Carl von Moser erklärt, daß jede Nation von einem bestimmten Grundsatz geleitet wird; diese Grundsätze sind: Gehorsam in Deutschland, Freiheit in Eng land, Handel in Holland, die Ehre des Königs in Frankreich. Sehr tiefge hende und grundlegende Veränderungen müßten eintreten, um dem gesam ten Denken eines Volkes eine andere Richtung zu geben. Diese Verände rungen haben in Frankreich während der Französischen Revolution statt gefunden, in Deutschland aber sind sie niemals eingetreten. Der prominen teste Kritiker von Mosers Schrift unterstrich noch diese Auffassung: »Es ist kaum vorstellbar, daß ein Genie auftauchen könnte, dessen Befehl unseren Gehorsam erschöpfen könnte.« Und als dann dieses Genie des Despotismus
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r wirklich auftrat, konnte es die Gehorsamsbereitschaft der Deutschen tat sächlich nicht erschöpfen. Während viele deutsche Autoren in Selbsterniedrigung und Kriecherei wetteiferten, blickten andere wieder verächtlich auf alles herab, was irgend wie mit Politik zusammenhing und trugen so dazu bei, daß das Volk in einem Zustand politischer Unreife und Teilnahmslosigkeit verharrte. Die Bauern, die durch jahrhundertelange, feudale Unterdrückung zu Dumm heit, Roheit und physischer Entartung herabgesunken waren, ertrugen alles mit stumpfer Resignation und waren der gnädigen Gutsherrschaft gegenüber mit einer knechtischen Dankbarkeit für jede Erleichterung und für jede weniger harte Forderung erfüllt wie für eine unverdiente Gnade, und sie erzitterten vor jedem herrschaftlichen Gutsverwalter oder kleineren Beamten. Ein Korrespondent der »Berlinischen Monatsschrift schickte 178 3 aus London einen Vergleich zwischen dem dortigen Leben und dem Leben in der Heimat: »Wenn man es erlebt« — so meinte er in seinem Bericht —, »wie hier der geringste Schubkarrenfahrer sich für Alles, was vor sich geht interessiert, und sich nicht als ein abseitsstehender Zuschauer vorkommt, und wie die Knaben von den Geländern und Laternenmasten herab ihre Hüte schwenken und durch ein freudiges Hurrah ihre Zustimmung kund tun, kurz, wie jeder deutlich zur Schau trägt, daß auch er ein Mann, und zwar ein Engländer sei, genau so gut wie der König und seine Minister — wenn man dieses erlebt, so hat man in der Tat gänzlich verschiedene Emp findungen, als wenn man zu Hause die Soldaten exerzieren sieht.« Vierzig Jahre später stellte Goethe, am 12 . März 1828, in einem Gespräch mit Ecker mann auf gleiche Art die englische Lebensart der deutschen gegenüber. Er pries die Freiheit der Engländer, »das Glück der persönlichen Freiheit«, die ihnen eine edle Gradheit verleihe, während in Deutschland jeder kleine Knabe unter dem gestrengen Auge der Polizei heranwachse. Wann immer er versuche, sich frei zu fühlen, »sogleich ist die Polizei da, es zu verbieten«. Es ist denkbar, daß dieser Mangel an persönlicher Freiheit im politischen und gesellschaftlichen Leben die kühnen Taten intellektueller Ungebunden heit und Verantwortungslosigkeit, die sich viele deutsche Denker erlaubt haben, verursacht hat, und daß späterhin das fehlende »Glück der persön lichen Freiheit« in den hochfliegenden Träumen von disziplinierter Macht und Eroberung einen Ausgleich gefunden hat. Im Westen entstanden die Nationen als Vereinigungen von Bürgern durch den Willen von Individuen, die diesen Willen in Verträgen, Bünd nissen und Volksentscheiden kundtaten. Sie sammelten sich um eine poli tische Idee und blickten in eine gemeinsame Zukunft, die die Folge ihrer 331
gemeinsamen Bemühungen sein würde. Der entstehende deutsche Natio nalismus fand in der Gesellschaft oder in einer freien rationalen Ordnung keinen Sammelpunkt, wohl aber fand er diesen in der Natur und in der geschichtlichen Vergangenheit, nicht in einem politischen Akt, sondern in einem gegebenen natürlichen Zustand, nämlichj n der Volksgemeinschaft, die durch die Bande einer sehr alten Vergangenheit, und in späterer Aus legung auch durch prähistorische und biologische Faktoren bestimmt war. Diese natürliche Grundlage wurde aber nicht einfach als eine Tatsache hin genommen, sondern auf die Stufe eines Ideals oder gar eines Mysteriums erhoben. An die Stelle des politischen Zusammenschlusses um ein rationales Ziel trat der mystische Zusammenschluß in einem irrationalen, vorzivilisa torischen Volksbegriff. . Herder, den man als den ersten Repräsentanten des deutschen Nationa lismus und des Volksnationalismus im allgemeinen betrachten darf, war durch Rousseaus Hervorhebung der natürlichen und vorzivilisatorischen Zustände in der menschlichen Entwicklung, durch die natürliche Volkheit der >unverdorbenen< Menschen beeinflußt. Der jugendliche §tuxm und Diang, in manchet-Jjinsicht ein Vorläufer des deutschen Nationalismus, lehnte die klassischen und universalen Normen und Wertmesser ab zugun sten des Urwüchsigen dessen, was aus den eigenen tiefen Wurzeln ohne fremdes Dazutun erwächst. Der Rousseausche Kontrast zwischen Natur und Zivilisation, Gefühl und Vernunft wurde hier mit einem neuen und agressiven Ton und mit Gewicht auf die Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit der künstlerischen Schöpferleidenschaft aufgegriffen. Doch hatten weder Herder noch der Sturm und Drang einen politischen Willen; der eine hat das Volk als die Quelle aller kulturellen Schöpfung und Eingebung ent deckt, und die anderen haben, in Protest gegen die herrschende Gesellschaft, die Einmaligkeit des Künstlers verkündet. Erst 1806, nachdem die beste hende politische Ordnung völlig aufgelöst war, wurde der kulturelle Volksbegriff politisiert und die Einmaligkeit des Volkes als Faktor im Kampfe gegen die westliche Gesellschaftsordnung und Zivilisation prokla miert. Damals begann im Nationalismus der deutschen Romantik die wäh rend der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ausgelegte Saat selt same Früchte zu tragen, denn dieser Nationalismus wandte sich nicht nur gegen Frankreich, sondern auch gegen die Prinzipien der Französischen Revolution und des achtzehnten Jahrhunderts, gegen den liberalen und humanitären Charakter des Nationalismus von 177 6 und 1789. Der west liche Nationalismus erschien als eine künstliche Schöpfung von Politikern und politischen Bewegungen, während der deutsche Nationalismus spon 332
tan und von der Natur selbst eingegeben zu sein sckien, aus den Tiefen der Vergangenheit entspringend, nicht in universalen und rationalen Prinzipien wurzelnd, sondern in einem individuellen und eigenständigen Volksgenius. Und doch war auch diese deutsche Betonung von einheimischer Urtüm lichkeit teilweise auf ausländischen Einfluß zurückzuführen, nämlich auf den Einfluß Rousseaus, sowie auf den Einfluß einer in Europa allgemein verbreiteten Strömung, die von England ausgehend, in Deutschland ihren entschiedensten Ausdruck gefunden hat. Die Empfindsamkeit und Melan cholie in Samuel Richardsons >Clarissa< (1748) und >Sir Charles Grandison< (1753), in Edward Youngs >Night Thoughts<, und die Neuerstehung von angeblich keltischen Legenden aus dem dritten Jahrhundert in den Werken von James Macpkerson — >Fragments of Ancient Poetry Collected in the Highlands of Scotland<, >Fingal< und >The Works of Ossian< — so wie Thomas Percys >Reliquies of Ancient English Poetry< (1765) übten in Deutschland eine viel tiefere Wirkung aus als in England selbst. Sie wur den übersetzt, in vielen Ausgaben veröffentlicht und als eine Offenbarung tiefer Urtümlichkeit und eines reichen Volksgeistes aufgenommen. Thomas Percys >Northern Antiquities< machten die in der Edda enthaltenen alten nordischen Sagen in weiten Kreisen bekannt. Klopstock sah sich durch diese Veröffentlichung veranlaßt, die griechischen Mythen durch diese neuent deckten germanischen Legenden zu ersetzen, die den Blick in eine neue deut sche Vergangenheit, die den Humanisten der Renaissance noch unbekannt gewesen war, erschlossen. Diese echten, oder angeblich echten Quellen hat das achtzehnte Jahrhundert nicht in einem ausschließlich nationalistischen Geist aufgenommen; entscheidend war weniger die Entdeckung germaniscker Volkskunde als die Anerkennung des urtümlichen Volksgenius ir gendwelcher Völker oder Rassen. Ossian erweckte eine ähnliche Begeiste rung für die griechische und hebräische Volkskunde. Jene urtümliche An tike, in welcher der Mensch den Quellen der Natur angeblich enger ver bunden gewesen war und noch eine frische Empfangsbereitschaft, die spä ter unter dem Staub der Zivilisation verdorrt war, aufzuweisen hatte, wurde jetzt nicht nur für das Zeitalter des edlen Wilden, sondern auch für das Zeitalter des blinden Sängers gehalten. Die Schreiber der homerischen und biblischen Epen erschienen als namenlose Dichter und Seher, als Sprachrohre spontanen Volkssanges. Blackwell hatte 17 3 5 auf der N a türlichkeit' Homers bestanden; Wood hatte in seinem »Essay on the Ori ginal Genius of Homer< (1769) die Verwandtschaft mit Ossian hervor gehoben, da beide der Ausdruck des heldischen Geistes ihrer Völker seien;
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Robert Lowth (17 10 —178 7), ein englischer Geistlicher und Professor der Dichtkunst in Oxford, hielt Vorlesungen über >Die Heilige Dichtung der Hebräer. Johann David Michaelis, ein führender deutscher Theologe und langjähriger Herausgeber der »Göttinger Gelehrten Anzeigern, hat 1758 die als Buch erschienenen Vorlesungen von Lowth übersetzt, und Hamann war davon so beeindruckt, daß er die Juden »die lebendigsten Quellen des Al tertums«, mit denen verglichen die Griechen und Römer nur »durchlö cherte Brunnen« seien, genannt hat. So gingen Rousseaus und Englands Einflüsse in den anschwellenden Strom jenes deutschen Geisteslebens ein, welches die Originalität und die Eigentümlichkeit der nationalenTradition gegenüber den universalen Maß stäben und Wertungen betonte. A uf den ersten Blick mag es sonderbar erscheinen, daß die vom Sturm und Drang und von der Romantik verkündete Auflehnung gegen westliche Zivilisation und westlichen Einfluß aus gerechnet von westlichen Quellen inspiriert worden ist. Dieser Prozeß von kulturellem Kontakt und Reaktion ist durch die gesamte Geschichte de» Nationalismus hindurch zu beobachten. Der russische Slawismus, der die einheimischen und eigentümlichen russischen Kräfte dem überwiegend deutschen Einfluß auf das russische Kulturleben gegenüberstellte, war von der deutschen Romantik inspiriert worden. Die Ablehnung westlicher Ein flüsse durch die späteren indischen Nationalisten und ihre Hinwendung zu einheimischen Traditionen war die Folge eines eingehenden Studiums der modernen europäischen Kulturkritik. Viele grundlegende Gedanken de» italienischen Faschismus stammen aus französischen Quellen, und einige der wichtigsten Begriffe des Nationalsozialismus finden sich in den Schrif ten von tvjaurice Barrés. Doch was bei den Engländern, Franzosen und Amerikanern eine bedeutungslose und oft nur kurzlebige Erscheinung war, wurde für den deutschen, den russischen oder den indischen Nationalismus manchmal zu mächtigen, ja entscheidenden Gesichtspunkten. Literarische Spekulationen des Westens wuchsen sich östlich des Rheines und der Alpen in manchen Fällen zu großen und hochgehenden Bewegungen aus, die schließlich die Dämme, welche die Disziplin des Rationalismus und die Tra ditionen des Rechtes und der Freiheit errichtet hatten, mit Zerstörung be drohten. Dieses Schicksal teilte der Einfluß von Burke, dessen reife Gedan ken nirgends auf so fruchtbaren Boden gefallen waren wie in Deutschland. Und vor allen Dingen war dieses das Schicksal von Rousseaus Einflüssen, insoweit, als er die Künstlichkeit der Zivilisation zugunsten einer natür lichen Freiheit ablehnte und die Forderung erhob, die Erziehung auf dem natürlichen Menschen aufzubauen, frei von den fremden Einflüssen der
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Zivilisation, die nur das innere organische Wachstum verfälschen konnten. »Was Rousseau in genialer Eingebung hingeworfen, das brachte man in Deutschland in ein System.« Die deutschen Historiker der Gegenwart schätzen Herder und den Sturm und Drang sehr hoch ein, weil sie durch die Entdeckung des Volkes die Entstehung des deutschen Nationalismus erst ermöglicht haben. Doch nur in einer sehr weitläufigen Auslegung können Herder und der Sturm und Drang als nationalistisch bezeichnet werden; der heutige deutsche Natio nalismus übersieht den Umstand, daß .kein Denker des achtzehnten Jahr hunderts = . auch Herder nicht — die >Realität< des Volkes als die natürliche und deshalb unanfechtbare und unveränderliche Grundlage^aller Geschichte betrachtet hat. Man kann wohl sagen, daß Herder eine einsame Gestalt war, daß er in einem Gegensatz zu seiner Zeit und seinem Land gelebt hat und schließlich in Verbitterung gestorben ist, weil man ihn nicht verstan den hatte: aber Herder würde höchst erstaunt darüber sein, wenn er noch feststellen könnte, daß man ihm heute eine »organisch-heroische Gesin nung« und »die kategorische Wendung vom theoretischen Geist der A ufklärung zum neuen deutschen Tatmenschentum« zuschreibt. V^ d e r KlooHtock noch Herder kannten, und noch viel weniger forderten oder verkün deten sie triumphierend, eine tiefe Kluft und einen ewigen Kampf zwischen der westlichen universalen Zivilisation und der deutschen Kultur, einen TCampf, in dem die >Denker< des Dritten Reiches den Grundzug der Geistes(jeschichte überhaupt zu erkennen glauben. Herder und seine Generation lebten selber viel zu tief in dieser universalen Zivilisation, um sie ablehnen zu können. Wohl hat Herder den volkhaften Nationalismus, der in A uf lehnung gegen die westliche universale Zivilisation entstand, vorbereitet, aber ihn trifft keine Verantwortung für die nachfolgende Entwicklung. Er war der Mann, der die Saat auf einen viel zu fruchtbaren Boden ausgelegt hatte, und aus dem eine Ernte erwachsen sollte, die der Sämann wohl kaum wiedererkannt und die er sicherlich abgelehnt hätte. Wenn auch Herders Volksbegriff die wichtigste Grundlage des deutschen Nationalismus war, so wurden doch die Voraussetzungen_seines Wachs tums durch zwei andere Bewegungen, die nach Herkunft und Anschauung dem deutschen Nationalismus völlig entgegengesetzt waren, geschaffen. Es handelt sich hier um die Aufklärung und das Preußentum. Weder die Den ker der Aufklärung noch die Erbauer des preußischen Staates haben jemals nn einen deutschen Nationalismus gedacht, noch hätten sie es sich jemals träumen lassen, daß aus dem Boden, den sie gepflügt haben, einmal eine oolch eigenartige Blüte ersprießen würde, die von ihrem Geiste so verschie
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den und allen ihren ursprünglichen Absichten sogar entgegengesetzt war. Die Aufklärung und, in einem etwas geringeren Maße, der Pietismus ha ben die Umklammerung der starren Orthodoxie, in der das deutsche Leben gefangen war, gesprengt; aber während sich in England Rationalismus und Puritanismus mit dem erwachenden modernen Nationalismus verbanden, blieben in Deutschland die Aufklärung und der Pietismus dem Nationalit* mus und dem politischen Leben fern. Das Preußen des achtzehnten Jahrhunderts hatte in einigen Deutschen ein gewisses Verständnis und Interesse für das politische Leben und füi die geschichtsbildenden Kräfte erweckt. Preußen war nicht aus irgendwelchen organischen oder völkischen Grundlagen entstanden, es war das Produkt des bewußten Willens von Fürsten, die unter dem Einfluß der Aufklärung und der rationalen Staatskunst des Westens standen. Bestehend aus meh reren unzusammenhängenden Territorien, die durch dynastische Interes sen in eine Hand gekommen waren, bildete dwjuteul^isdi^Staat weder eine geographische Einheit, noch ein Mutterland, noch eine völkische Einheit; er war eine Idee, und als solche übte er auf viele Deutsche, die keine gebo renen P reß en waren, eine Anziehungskraft aus, welche jene dazu veran lassen konnte, noch in reifen Jahren in den Dienst des preußischen Staates (zu treten. Weder das Preußentum noch die Aufklärung haben es versucht, Kristallisationspunkte für das Wachstum eines deutschen Nationalgefühles zu bilden: das Preußentum forderte ausschließliche Loyalität zum Könjg von Preußen und wandte sich gegen noch bestehende Anhänglichkeitsge fühle an ein umfassenderes Deutschland; die Aufklärung, und später der Klassizismus, lehrten die harmonische Vollkommenheit des Individuum» gemäß den universalen Normen der europäischen >republique des lettres<, der anzugehören der Stolz des größten Preußenkönigs war.
5 Vieles Gemeinsame hatten die Aufklärung und das Preußen des achtzehn ten Jahrhunderts. Preußens größter König, der zum Mittelpunkt des preu ßischen Mythos wurde, war tief von den Lehren der Aufklärung durch drungen. Er übernahm die Verwaltungsmethoden und Wirtschaftsprinzi· pien der Zeit, und Preußen gewann durch ihre Anwendung an Kraft mehr, als dies anderswo östlich des Rheines der Fall war. Aber diese äußerst ge schickte Anwendung westlicher Lehren und Methoden hatten keine Wand lung der gesellschaftlichen und geistigen Grundlagen seines Staates zur
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Folge. Obwohl der König für seine Person ein Anhänger des rationalen Li beralismus des Westens war, blieb der Kern des Landes davon seltsam unberührt. Preußen war als ein Land von Kolonisatoren und Eroberern, von Herren und Knechten groß geworden. Die Tradition des Deutschen Ordens hatte das herrschaftliche Kriegerideal mit dem asketischen und religiösen Mönchs- und Kreuzritterideal vereinigt zu einem seltsamen Gemisch aus zwingendem Pflicht- und Dienstgefühl und stolzem Vertrauen auf Herr schaft und Waffen. Wie die Puritaner hatten auch die Preußen eine Leiden schaft für Arbeit und Sparsamkeit. Doch was bei den Puritanern zum Merk mal eines wachsenden urbanen Mittelstandes wurde, wurde bei den Preu ßen das Rückgrat einer konservativen ländlichen Gesellschaftsschicht — in beiden Fällen Tüchtigkeit, Selbstvertrauen und Wirtschaftlichkeit hervor rufend. Unter den Hohenzollern wurde Preußen mit Brandenburg, einer anderen Mark auf ehemals slawischem Territorium, vereinigt. Die Erbschaftspolitik des regierenden Hauses fügte dem Bestand noch weitere Territorien an; aber geographisch und wirtschaftlich, verwaltungsmäßig und in ihren lo kalen Traditionen blieben sie alle gesondert. Diese Herrschaftsbereiche, die weithin über die nordostdeutsche Tiefebene, die unmerklich in die gestaltund grenzenlosen Grasebenen und Wälder Polens und Rußlands übergeht, verstreut waren, wurden einzig durch die Dynastie und durch die Notwen digkeit, die langen Grenzen zu verteidigen, zusammengehalten. Wegen sei ner knappen natürlichen Hilfsmittel und wegen mangelnder Industrie konnte der Staat militärisch nur dann stark sein, wenn durch eine leistungs fähige und wirtschaftliche Verwaltung die geringen Mittel des Landes aufs beste ausgenützt und dem Militärdienst ein Vorrang vor allen anderen Be rufen eingeräumt wurden. Die Methoden der Aufklärung, nicht aber ihr Wesen und ihre humanistischen und humanitären Folgerungen wurden in Preußen auf die traditionellen Grundlagen einer militanten Aristokratie aufgepfropft. Die Aufpfropfung zerstörte nicht, sondern stärkte die vor handenen Grundlagen. Dieser Vorgang wiederholte sich, und Preußen wurde wieder gestärkt, als es nach 1806 unter dem Freiherrn vom Stein einige der wichtigsten technischen und verwaltungsmäßigen Reformen von der Französischen Revolution übernahm, um eben diese Revolution und ihren Geist erfolgreicher bekämpfen zu können. Ähnlich Bismarck, der in den 1860er Jahren den liberalen Konstitutionalismus in Preußen heftig angegriffen hatte, später aber einige seiner äußeren Formen übernahm und sie den Erfordernissen eines wachsenden und sich ausdehnenden Preußens anpaßte.
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So wurde der aufgeklärte Rationalismus im Dienste der Macht — und nicht die Macht im Dienste der Vernunft, von ethischen Zielen oder im Dienste des Glücks der Menschheit — zum entscheidenden Wesenszug jene» Staates, den einer seiner repräsentativsten Historiker, Otto Hintze, die Per sonifikation der politischen Machtidee genannt hat. Die Aufklärung stand dem Preußentum auch durch die Säkularisation des Lebens und der Ideale bei. Die Beschränkung, die die Religion den Rittern des Deutschen Orden» auferlegt hatte, fiel weg; der Staat, und nur der Staat allein, konnte jetzt der Mittelpunkt und die Quelle aller Ethik und Treue sein. Die Religion war nur geduldet, soweit sie dem Staat von Nutzen war. Den Frieden zwi schen den verschiedenen Konfessionen zu wahren, wurde zur Politik der Regierung, denn er war eine der Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung und militärische Stärke des Landes. Das neue Staatsethos drückte sich am stärksten in der Armee aus, die das Band war, welches alle Provinzen zu einer Einheit verband, das alle ihre Traditionen in eine neue Loyalität zu einem gemeinsamen Ideal zwang; die Armee war außer dem das die gesamte gesellschaftliche und private Existenz durchdringende Vorbild allen Lebens. Der preußische. Staat wurde nicht um das politische Freiheitsideal der westlichen Nationen, auch nicht um die kulturellen Überlieferungen des deutschen Volkstums, noch um das natürliche Element der germanischen Rasse herum errichtet. Er war vom Liberalismus genau so weit entfernt wie vom deutschen Nationalismus. Er war eine bewußt politische Schöp fung wie die modernen Nationen des Westens, und jenen daher näher ver wandt als dem späteren deutschen Nationalismus. Doch war er nicht aus dem Willen des Volkes oder aus dem Wunsch nach größerer Gerechtigkeit oder nach vermehrtem menschlichem Glück, oder aus sonst irgendeiner der Verheißungen für die Menschheit heraus entstanden: er war das Produkt eines Willens, der dem Volke von oben her aufgezwungen worden war. Hierarchie, Autorität, Gehorsam und Treue waren die Grundlagen der Armee und des gesamten Preußentums. König, Adel und Volk dienten, je der innerhalb seiner Rangstufe, dieser einen Idee. Zu diesem Dienst mußte der König erzogen werden: seine Schule war die Armee. In seinem poli tischen Testament hat Friedrich der Große geschrieben, daß die Erzieher des Thronerben zu diesem über die Armee mit der gleichen frommen Vereh rung zu sprechen haben, mit der die Priester von ihrer imaginären Offen barung sprechen. Die privilegierten Stände, auf denen der Staatsbau ruhte — der landbesitzende Adel, die Offiziere und die Beamten —, wurden hodi geachtet, eben weil sie dem Staate dienten. Das Wirtschaftsleben, die För338
derung der Landwirtschaft und der Industrie, das Steuerwesen und der Haushaltsplan: alles war dem einen zentralen Zweck, dem Machtstaat, untergeordnet. »Der preußische Staatsgedanke beruhte auf der vollständi gen Hingabe des Einzelnen an den Staat bis zum Auslöschen der Persön lichkeit.« Preußens Wachstum war ein Schlag gegen die im Reiche verkörperte deutsche Einheit. Seine vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber der Exi stenz eines deutschen Volkes erstreckte sich auch auf kulturelles Gebiet. Preußens politisches Wachstum hat sich ohne den Wunsch nach Zusam menarbeit mit und ohne Rücksicht auf das deutsche Geistesleben vollzogen. Friedrich Wilhelm I. hatte keinerlei geistige Interessen; Kultur bedeutete ihm nichts und war ihm widerwärtig. Leibniz schätzte er ein als »einen Kerl, der zu gar nichts, nicht einmal zum Schildwachestehn«, tauge. Fried rich II. war ein hoch kultivierter Mann, aber während seines langen mit Schriftstellerei und Studien ausgefüllten Lebens blieb er dem deutschen Gei stesleben gegenüber indifferent, und es verlangte ihn nicht danach, etwas davon kennen zu lernen, selbst nachdem dieses noch zu seinen Lebzeiten einen hohen und in vieler Hinsicht faszinierenden Stand erreicht hatte. Das Wachstum Preußens war nur von einem einzigen Ziel beherrscht: Macht — von einer einzigen Norm: Preußen. Alles andere zählte nur mit, soweit es diesem Ziele und dieser Norm dienen konnte. 1680 war Berlin noch eine kleine Stadt in einem schwach besiedelten, wirtschaftlich und kulturell rückständigen Land gewesen. Die ostwärts der Elbe gelegenen Städte hatten einen anderen Charakter als die Städte des Westens, die noch aus den Zeiten vor der fürstlichen Machtvollkommen heit stammten und Jahrhunderte des Reichtums und kultureller Blüte er lebt hatten. Die ostdeutschen Städte waren von Fürsten und Baronen ge gründet worden und waren meist arm — alles, was sie besaßen, verdankten sie ihrem Fürsten. Als der Große Kurfürst 1688 starb, zählte man in seiner Hauptstadt nur ungefähr 20 000 Einwohner, dabei war sie während seiner langen Regierungszeit beträchtlich gewachsen, denn zu ihrem Beginn hatte man nur 6000 gezählt. Er hatte in Berlin ungefähr die gleiche Zahl an Hugenotten aufgenommen, die dann für das Wachsen des Wohlstandes und des industriellen Lebens sowie für den rasch zunehmenden franzö sischen kulturellen Einfluß verantwortlich wurden. Dieser französische Ein fluß wurde späterhin von Friedrich I. und seiner Gemahlin Sophia Char lotte, die eine Schwester Georgs I. von England war, gepflegt; die Königin wollte Berlin nach dem Vorbild von Versailles gestalten. 17 0 1 nahm Fried rich den Titel eines Königs von Preußen an; er vergrößerte und verschö
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nerte seine Hauptstadt, gründete die Preußische Akademie für Kunst und Wissenschaften, zog ausländische Gelehrte an seinen Hof und versuchte auf jede Art, die Welt durch den Glanz und die Kultur seines neuen Athen an der Spree zu beeindrucken. Sein Nachfolger Friedrich Wilhelm I. (17 x 3 —1740) verachtete und haßte die Nachahmerei von Athen; er wollte ein Sparta schaffen, und zwar nicht nur eine Kopie. Er kannte nur eine Leidenschaft, und er hat den Staat zu ihrem vollkommenen Abbild und Werkzeug gestaltet; eine machtvolle Armee. Er war genügsam und sparsam, fleißig und gewissenhaft, und hatte außer auf militärischem Gebiet keinen Ehrgeiz und keine Ambitionen. Selbst auf diesem Gebiet hatte er nicht das Genie eines Feldherrn — er hat auch keine Kriege geführt — sondern alle Talente eines vorzüglichen Aus bildungsoffiziers. Er war äußerst grob und ungeschlacht, verachtete jegliche geistige Kultur und hielt Künste und Wissenschaften für ein Teufelswerk und eine sträfliche Zeitvergeudung. Seiner Meinung nach konnte es für jeden Menschen nur eine einzige Aufgabe geben: die Kriegskunst für die Männer und den Haushalt für die Weiber. Als Staatsmann wünschte er vor allen Dingen den Adel seiner Provinzen mit diesem Geist zu erfüllen und ihn für sich und für den Dienst in seiner Armee zu gewinnen. Während seine Vorgänger fähige Männer aus allen Ländern und Lebensumständen als Offiziere angenommen hatten, beschränkte er sich auf die Söhne des preußischen Adels; der Eintritt in den Dienst von anderen Fürsten, so wie es vordem ungehinderter Brauch gewesen war, wurde nun erschwert oder gar verboten. Es war sein Sohn Friedrich II. (1740—1786), der als erster Preußens wahre Macht ans Licht brachte. Der Vater war ein einfacher Mann gewesen, der Sohn, der mit feindseligen Gefühlen gegen den Vater aufgewachsen war, war vielseitig veranlagt: ein zunächst unpreußischer Jüngling, wurde er zum großen Meister und Werkzeug des Preußentums. Er war kein Re krutenunteroffizier, sondern ein großer Feldherr, und er war kein vorsich tiger Hausvater, sondern ein Staatsmann, der große Risiken auf sich nahm, und ein Meister im Spiele der skrupellosen Diplomatie. Seine Jugend hatte er in glücklicher Beschäftigung mit Kunst und Literatur zugebracht, und er ist auch sein ganzes Leben hindurch diesen Dingen treu geblieben; er hat viel über Philosophie, Geschichte und Literatur geschrieben und hat immer die Gesellschaft von Schriftstellern, Gelehrten und Reformern gesucht. Er teilte die philanthropischen und humanitären Anschauungen seiner Zeit, ihren Glauben an die Vernunft, ihren Kampf gegen das Vorurteil und für die Aufklärung des menschlichen Geistes und die Veredelung seiner Leiden340
schäften. Als junger Prinz hatte er noch an den Traum geglaubt, daß die Völker von Philosophen in einem aus Stoizismus und säkularisiertem Christentum gemischten Geist regiert werden könnten; ein Jahr vor seiner Thronbesteigung schrieb er den »Antimachiavelh. Aber bereits von früher Jugend an brannte in ihm das Verlangen nach Macht und Ruhm, zusammen mit einem elementaren und beinahe dämonischen Ehrgeiz, Preußen zu einer Großmacht zu erheben. Nur äußerst selten hat ein irrationaler Macht hunger die rationalen Methoden und Möglichkeiten derart wirksam ange wandt und seine ehrgeizigen Ziele mit solcher Treue verfolgt. Sowohl in der Außenpolitik wie in der Innenpolitik ordnete er seine humanitären Ideen den Ansprüchen der Machtpolitik unter, und die Menschen wurden mit übermäßigen Anforderungen für die Zwecke des Krieges und der Diplo matie belastet. In allen Dingen, die den Erfolg seiner Politik berührten, war er so streng und hart wie sein Vater es gewesen war. »Und soweit man sieht, hat Friedrich diese Barbarei seines Militarismus niemals zum Problem seines Nachdenkens gemacht, niemals versucht, ethischere und humanere Prinzipien in seine Grundlagen einzuführen . . . In diesen dunklen Grund staatlicher Macht leuchtete er mit dem Licht seiner Humanität nicht hinein.« Während der Prinz Machiavellis unethische Autonomie der Machtpolitik verurteilt hatte, wurde der König zu ihrer großartigsten Verkörperung. In der Art, in der er Verträge brach oder auslegte, plötzlich unvorbereitete Gegner mit einer wohlvorbereiteten Armee angriff, wie er ohne Heraus forderung angriff um des eigenen Ruhmes und der Größe seines Staates willen, war er Machiavellis vollendeter Schüler; doch war er das niemals mit einem reinen Gewissen. Aber die Notwendigkeiten der Machtpolitik ·wobei er sich selbst als den einzigen berechtigten Beurteiler der auftretenden Notwendigkeiten betrachtete — rechtfertigten seiner Meinung nach jede Ab kehr von den philosophischen Grundsätzen, an die er glaubte. In dem 174 3 verfaßten Vorwort zur >Histoire de mon Temps< schrieb er: »Ich hoffe, daß die Nachwelt, für die ich schreibe, in mir den Philosophen vom Fürsten, den ehrlichen Menschen vom Politiker unterscheiden werde. Ich bekenne, daß es sehr schwer ist, Anstand und Reinheit zu bewahren, wenn man in den Wirbel der europäischen Politik geschleudert wird. Man sieht sich ständig der Gefahr ausgesetzt, von seinen Verbündeten verraten zu werden.« (In dieser Apologie hat Friedrich passenderweise ausgelassen, daß er selbst mit diesen Verrätereien begonnen und sich als ein unübertroffener Meister in dieser Kunst erwiesen hat, so daß er weniger der Gefahr ausgesetzt war, von anderen verraten zu werden, als die anderen immer befürchten mußten,
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von ihm verraten zu werden.) »Man sieht sich schließlich vor die schreck liche Entscheidung gestellt, ob man sein Wort oder sein Volk opfern will.« (Das Glück und der Friede von Friedrichs Volk war durch nichts als durch seinen Ehrgeiz gefährdet.) »Man kann den Drang nach Vergrößerung alt das Grundelement jeglicher Regierung, der kleinsten wie der größten, be trachten.« (Hier zeigt der >Realismus< der Machtpolitik eine mangelhafte realistische Beobachtung der Wirklichkeit und schreibt die eigenen Beweg gründe, im Bemühen um die eigene Rechtfertigung, jedem anderen zu; der Expansionstrieb ist in keiner Weise das Grundelement jeglicher Regierung.) »Die Leidenschaften der Fürsten kennen keine anderen Grenzen als diejeni gen, die ihrer Macht gesetzt sind.« Und fünfundzwanzig Jahre später, 1768, schrieb er in seinem zweiten politischen Testament: »Denken Sie stets daran, daß es keinen großen Fürsten gibt, der nicht die Vergrößerung seines Terri toriums im Sinn hätte.« Für diesen humanitären Philosophen schienen Ex pansion und Herrschaftsgewalt die Zeichen der Größe zu sein. Obgleich das Preußen Friedrichs II. gemäß den rationalen und mecha nistischen Grundsätzen jener Zeit verwaltet wurde, erhielten die gebil deten Schichten keinerlei Ermutigung, sich zur politischen Reife zu ent wickeln, noch war das Volk an sich eine Lebensaufgabe des Staates gewor den. Friedrich dachte nicht an irgendwelche nationalen Grundlagen oder an eine sprachliche Einheitlichkeit für sein Königreich. Er war willens, die Herzogtümer Cleve, Mark und Ravensberg gegen sächsische Länder einzu tauschen und sie an Frankreich auszuliefern, weil er sie seinen östlichen Ländern nicht angleichen konnte. Er war bereit, polnische Untertanen anzu erkennen; der qualitative Charakter einer Bevölkerung zählte nicht — wichtig war die quantitative Machtzunahme in Form von möglichen Sol daten und wirtschaftlichen Hilfsquellen. Friedrich verlangte von seinen Un tertanen persönliche Treue und nicht Loyalität zu einer preußischen Nation. Die Vaterlandsliebe, von der er manchmal sprach, war bei ihm eine Nütz lichkeitserwägung, die auf dem materiellen Wohlstand, den die Individuen von ihrem Staate bezogen, beruhte und nicht eine gefühlsmäßige Bindung oder geistige Kraft. Die gleiche vom Zweckmäßigkeitsprinzip bestimmte Auffassung vom Patriotismus kam in der von Thomas Abbt (1738—1766) im Jahre 17 6 1 verfaßten Flugschrift >Vom Tode fürs Vaterland< zum Ausdruck. Der Ver fasser war selber kein Preuße, aber zu jener Zeit Professor der Philosophie an der preußischen Universität Frankfurt an der Oder. Er ist in Ulm gebo ren und dann als lutherischer Geistlicher in Bückeburg, der Hauptstadt des kleinen Fürstentums Schaumburg-Lippe, gestorben, wo Herder sein Nach342
folger wurde. Bezeichnend ist der Anfang dieser Flugschrift, in der Abbt bekennt, daß es ihm nicht bekannt sei, welch ein unglücklicher Umstand zu der allgemeinen Auffassung geführt habe, daß nur Republikaner auf ihr Vaterland stolz sein können, während in den Monarchien das Vaterland nur ein leerer Name, eine Illusion sei. Als derzeitiger loyaler Untertan des Königs von Preußen hatte Abbt, als der Siebenjährige Krieg seinen Höhe punkt erreicht hatte, die Absicht, die Bereitschaft der Preußen, für ihren König in den Tod zu gehen, zu heben. Nichts lag dem Verfasser ferner als ' die Erweckung eines Nationalgefühles. Doch selbst schon bei den einfachen ! Pflichten, die ein Untertan seinem Fürsten gegenüber hat, empfand Abbt sich als einen einsamen Rufer inmitten eines Meeres von Verständnislosigi keit gegenüber dem Patriotismus. Er klagte darüber, daß kein Mensch etwas j vom Tode für das Vaterland wissen wolle; selbst Offiziere, die für ihre \ Todesbereitschaft bezahlt wurden und für die das Soldatsein die einzige ; Möglichkeit war, einen Lebensunterhalt zu verdienen, lachten über diese Idee und nannten sie verrückt. Abbts bekannte Flugschrift ist der beste Be weis dafür, daß es um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts keinen Patrio tismus gab, nicht einmal in Preußen.
6 Obgleich Friedrichs Erfolge keine patriotischen Gefühle bei den gebildeten Schichten erweckten und die Massen gleichgültig ließen, haben sie doch das Niveau der deutschen Staatskunst gehoben und verschiedene Preisgedichte und Lieder inspiriert. In einem bekannten Satz hat Goethe in >Dichtung und Wahrheit< gesagt: »Der erste wahre und höhere eigentliche Lebensgehalt kam durch Friedrich den Großen und die Taten des Siebenjährigen Krieges in die deutsche Poesie!« Einige dieser Dichter waren in ihren Tagen wohlbekannt, so Johann Peter Uz (1720—1796). Johann Wilhelm Ludwig Gleim (17 19 —1803), der am zweiten Schlesischen Krieg teilgenommen hatte und der Verfasser der >Preußischen Kriegslieder in den Feldzügen 17 5 6 und 1757, von einem Grenadier« war, und Ewald Christian von Kleist ( 17 15 — 1759) der, in Pommern geboren, erst in der Armee des Königs von Däne mark gedient hatte, 174 0 in die Armee Friedrichs eingetreten war und schließlich an den Folgen einer in Kunersdorf erlittenen Verwundung ster- , ben mußte. Doch zeigten all ihre Gedichte keine Spur von preußischem oder deutschem Nationalgefühl. Sie sangen eine primitive Liebe zum preußischen Heer und zum militärischen Erfolg. Charakteristisch ist Gleims bekannter
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»Schlachtgesang vor der Schlacht bei Prag<, der die Österreicher verhöhnte und Friedrich verherrlichte:
Was kannst du? Tolpatsch und Pandur, Soldat und Offizier! Was kannst du? Fliehen kannst du nur; Und siegen können wir. Wir kommen; zittre! Deinen Tod Verkündigt Roß und Mann! Wir kommen, unser Kriegesgott, Held Friedrich, ist voran! Und die auf einem höheren dichterischen Niveau stehende >Ode an die preußische Armee< von Kleist war von den gleichen primitiven Gefühlen beseelt:
Unüberwundnes Heer, mit dem Tod und Verderben In Legionen Feinde dringt, Um das der frohe Sieg die güldnen Flügel schwingt, O Heer, bereit zum Siegen oder Sterben! . .. Die Nachwelt wird auf dich als auf ein Muster sehen; Die künft'gen Helden ehren dich, Ziehn dich den Römern vor, dem Cäsar Friedrich, Und Böhmens Felsen sind dir ewige Trophäen.
Diese wenigen Dichter haben keine preußische Periode der deutschen Kul tur zuwege gebracht: im achtzehnten Jahrhundert verdankte diese Kultur ihre Eingebung und Kraft ganz anderen Quellen. Der neue preußische Staat blieb den Intellektuellen und der Masse der deutschen Bevölkerung fremd. Die ersteren waren zu stark von den Ideen des universalen Kosmopolitis mus und von der humanitären Ethik durchdrungen, und die große Masse war zu sehr in ihren eigenen kleinen Alltagssorgen befangen und allen politischen Anforderungen zu sehr abgeneigt, um nicht vom preußischen Militarismus abgestoßen zu werden. Überall in Deutschland brachte man eine Antipathie gegen die preußische Lebensart zum Ausdruck. Friedrich Nicolai, der 178 0 in Süddeutschland reiste, schrieb, »diese freien Menschen sehen auf uns arme Brandenburger als wie auf Sklaven herab«. Wieland hat sich in gleichem Sinne geäußert: »König Friedrich ist zwar ein großer Mann, aber vor dem Glücke, unter seinem Stock sive Scepter zu stehen, bewahre uns der liebe Herrgott.« Den »Liberalismus«, den Friedrich so oft feierlich verkündet hat, hat Lessing am 25. August 1769 in einem Brief an Nicolai gekennzeichnet. Er sagt darin, Wien möge sein, wie es ist, aber füi
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die Zukunft einer deutschen Literatur biete es mehr als das französisierte Berlin. Und: »Reden Sie mir nicht von Ihrer Berliner Denk- und Schreib freiheit. Sie ist nichts weiter als die Freiheit, über Dinge der Religion so viel Unsinn zu sagen, als man will.« Inzwischen müsse sich schon jeder ehrliche Mann schämen, von dieser Freiheit Gebrauch zu machen. Doch solle es einmal einer wagen, dem edlen Hofgesindel in Berlin die Wahrheit zu sagen, so wie Sonnenfels dies in Wien getan hatte; solle einmal in Berlin jemand seine Stimme erheben für die Rechte der Untertanen gegen Aus beutung und Despotie, so wie das in letzter Zeit sogar in Frankreich und in Dänemark geschehe. Wenn man in diesem Sinne von der Denk- und Schreibfreiheit einmal Gebrauch machen würde, werde man sehr schnell feststellen, welches das versklavteste Land Europas ist. Noch verbitterter war Johann Joachim Winckelmann ( 17 17 —1768), der als geborener Brandenburger preußischer Untertan war, von dort aus aber in die seinem Geiste verwandtere Atmosphäre von Dresden und Rom geflo hen war. 17 6 3 , als Friedrichs Bahn ihren Höhepunkt erreicht hatte, schrieb Winckelmann aus Rom, daß es ihn von Kopf bis Füßen durchschaure, wenn er an die preußische Despotie und an Friedrich denke. Dieser Sklaventreiber würde sein Land, das schon die Natur verflucht und mit Lybischer Wüste bedeckt habe, zum Gegenstand des Abscheus der Menschen machen und es mit einem ewigen Fluch belasten; es sei besser, ein verschnittener Türke zu sein als ein Preuße. Und ein anderer in Preußen geborener Deutscher, der junge Herder, empfahl die Auflösung der preußischen Länderanhäufung zum Wohle ihrer Bevölkerungen, und prophezeite, daß Friedrichs Werk unfruchtbar bleiben und sein Reich auseinanderfallen werde. Ein moderner deutscher Historiker hat die damalige Situation folgendermaßen beschrie ben: »Von einem innerlichen Verhältnis zwischen Friedrich und seinen Un tertanen, geschweige der Nation, darf in der Zeit seiner drei großen Kriege kaum gesprochen werden. Dafür war die Härte des Regiments, das Spartanertum dieses Staates zu groß, die Alleingewalt des Königs, der alle Zweige der Verwaltung in der Hand hielt, in jeden Winkel hineinblickte, seine Diener drangsalierte, keine Widerrede litt und höchstens seinem Schreiber, seinem Eichel, seine Geheimnisse anvertraute, zu stark entwickelt, stand er vor allem mit seiner französischen Bildung dem Kulturbewußtsein der Nation in allen ihren Schichten zu einsam gegenüber.« Die Aversion aller Schichten gegen den Militarismus und sogar gegen die Soldaten machte sich auf der Bühne und in der Presse Luft. 17 7 4 hatte Jakob Michael Lenz, ein begabter Vertreter des Sturm und Drang und ein Freund des jungen Goethe, eine Komödie verfaßt, >Der Hofmeister oder
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Vorteile der Privaterziehung«. In der zweiten Szene des fünften Aktes fal.Il*> Rehaar die damalige Volksmeinung in den Satz zusammen: »Studenten haben noch Honettät im Leibe, aber mit den Offiziers — die machen einem Mädchen ein Kind und kräht nicht Hund oder Hahn nach: das macht, weil sie alle couraschäse Leute sein, und sich müssen todtschlagen lassen. Denn wer Courage hat, der ist zu allen Lastern fähig.« 17 7 6 äußerte sich Lenz in seiner Komödie >Die Soldaten« verbittert über Offiziere und Soldaten: »Oh Soldatenhandwerk, welche Zerrbilder machst Du aus unseren Miin nern!« Ein Jahrzehnt später schrieb der einflußreiche Journalist P. A. Win kopp in seinem >Deutschen Zuschauer«, daß ein Volk glücklich sei, wenn e» weder Festungen noch Kanonen noch Soldaten besäße, ein Berufsstand, dei so viel Schlechtes und Elendes, aber so wenig Gutes den Menschen besehen habe. Oder, als er einmal in einen Schreckensausruf über stehende Heere ausbrach, sagte er, man solle doch einmal die Möglichkeit einer nachbar lichen Invasion in die eine Waagschale legen und in die andere all da# Elend, all die Zerstörung von Familienleben, all die moralischen Schlechtif, keiten und Roheiten, die in vielen stehenden Heeren gestattet sind, und stelle sich dann die Frage, ob all diese Übel, in einem Zeitraum von nur fünfzig Jahren begangen, nicht bei weitem alles überwiegen, was selbst der grausamste Feind einem Lande zufügen könne. Wenn Friedrich während seiner späteren Jahre manchmal von seinen Un tertanen oder von anderen Deutschen gepriesen wurde, so tat man das niehl wegen seines militärischen Ruhmes und seiner Siege, sondern wegen der weisen Selbstbeschränkung, mit der er während der Jahre nach den drei großen Kriegen daran ging, die Verwaltung und die wirtschaftlichen Ver hältnisse in seinen Provinzen zu bessern. Doch weder Friedrichs Helden taten noch seine aufgeklärte Verwaltung haben in der preußischen Bevölke rung irgendwelche patriotischen Gefühle erweckt. Ein Jahr vor dem Tode des Königs veröffentlichte der Pastor Christian Ludwig Hahnzog aus Welschleben bei Magdeburg seine Patriotischen Predigten oder Predigten zur Beförderung der Vaterlandsliebe für die Landleute in den preußischen Staaten«; patriotische Predigten, die, wie er sagte, deshalb dringend erfor derlich seien, weil es nur in Preußen noch keinen Patriotismus gebe. Fried richs Regierung hat bei dessen Untertanen keine vaterländischen Gefühle erweckt. Bei seinem Besuch in Berlin (1778) hat Goethe den Eindruck ge wonnen, als sei alles nur wie eine große Maschine, die ausschließlich durcli Friedrich in Bewegung gehalten werde, und in der jedes Individuum nur ein Rad ohne eigenen Willen sei. In seinen letzten Jahren empfand der Koni# selbst die Einsamkeit, die um ihn herum herrschte; seine Menschenveradi346
tung entwickelte sich zu einer verbitterten Menschenfeindlichkeit. Kurz vor seinem Tode soll er gesagt haben: »Ich bin es müde, über Sklaven zu herr schen.« Mirabeau, der zu Friedrichs Bestattung in Berlin anwesend war, hat die Gleichgültigkeit, mit der allgemein die Menschen dem Ereignis gegenüberstanden, bemerkt. »Dieses ist nun das Ende, nach so vielen sieg reichen Schlachten, nach so viel Ruhm, nach einer beinahe ein halbes Jahr hundert währenden Regierung voller Wunder! Man war seiner überdrüs sig geworden, beinahe bis zum Haß.« So ist Friedrichs lange und denkwürdige Regierung eine Militärdikta tur gewesen, die durch die Persönlichkeit des aufgeklärten Monarchen lei stungsfähig und verhältnismäßig wohlwollend gehalten ward. Im Jahre 1764 wurde ein Erlaß notwendig, in dem den Militärbehörden verboten wurde, sich in die zivile Rechtsprechung einzumischen und Untertanen und Bauern selbständig zu bestrafen. Über die Landbevölkerung in den deutsch-slawischen Gebieten östlich der Elbe hat in neuerer Zeit ein großer europäischer Historiker gesagt: »Je mehr ich über Deutschland erfahren habe, desto klarer wurde es mir, daß seine Disziplin, sein Gehorsamsgeist, sein Militarismus und sein Mangel an politischen Fähigkeiten zum größten Teil aus der im sechzehnten Jahrhundert erfolgten Renaissance der Leib eigenschaft erklärt werden konnten. Hätte sich das Luthertum so ausbrei ten können, wäre die Organisation des preußischen Staates jemals denk bar gewesen ohne die beinahe universale Leibeigenschaft in den Räumen östlich der Elbe?« Ein deutscher Geschichtsschreiber hat um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gesagt, daß, während freie und politisch reife Völker ihren Stolz dreinsetzten, Größe durch eigene Leistung zu erlangen und ihre Könige nur als Pfleger und Verwalter dessen betrachteten, was sie selbst geschaffen und gewonnen hatten, hatten die Untertanen Fried richs II. nur Sinn für die Größe ihres Königs und nahmen auch jede Ge legenheit wahr, den Stempel dieser Größe auch anderen aufzudrücken. So hat die Bevölkerung Preußens jenen eigentümlichen royalistischen Zug entwickelt, der ihr bis heute geblieben ist, jener Hang, alles dem König und nichts sich selbst zuzuschreiben. Preußische Tüchtigkeit und preußisches Pflichtbewußtsein stachen jeden falls günstig ab gegen den Geist, der in den meisten der anderen deutschen Staaten jener Zeit herrschte, was auch viele tatkräftige Männer aus allen Tei len Deutschlands dazu veranlaßt hat, in preußische Dienste zu gehen. Aber unter Friedrichs Nachfolger hat sich ein völlig anderes Regime entwickelt, dem auch die für Preußen charakteristischen spartanischen Tugenden fehlten. Die Menschen wandten sich sofort, beinahe jubelnd, dem neuen Regime zu
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und krochen vor den Favoriten und Maitressen von Friedrichs Nachfolger, Seiner Seele beraubt, brach Friedrichs Staat im Jahre 1806 zusammen, nicht so sehr infolge einer militärischen Niederlage als vielmehr durch die Auf· lösung seiner gesamten Struktur. Erst unter dem Einfluß der Französischen Revolution und unter einer gegen diese gerichteten politischen Zielsetzung konnten die Grundlagen des Staates neu geschaffen und durch die Pflcgo eines preußischen Nationalismus, der dann bald in einen deutschen Natio nalismus aufgehen und diesen gestalten sollte, gefestigt werden. Friedrich II. hätte für einen preußischen Nationalismus genau so wenin Verständnis gehabt wie für einen deutschen Nationalismus. Er ist dem kosmopolitischen Rationalismus aus seinen Jugendtagen treu geblieben: dieser schien ihm die Erfüllung nicht nur seiner eigenen, sondern aller Zeiten zu sein. Es war mehr als nur höfliche Schmeichelei, was er am 24. Juli 17 7 7 an Voltaire geschrieben hatte: »Pour moi, je me console d'avoir vécu dans le siècle de Voltaire; cela me suffit.« Als er 174 3 dir Berliner Akademie als >Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres dr Prusse< erneuerte, wurde ein Franzose, der Mathematiker und Astronom Maupertuis, zu ihrem ersten Präsidenten ernannt; nach dessen Tod (1759) wurde die Präsidentschaft einem Freunde Voltaires, dem Philosophen und Mathematiker Jean d'Alembert angeboten. A uf Friedrichs Betreiben hin bediente sich die Akademie an Stelle des Lateinischen des Französischen als Verhandlungs- und Veröffentlichungssprache. Friedrich blieb dem Ge schmack seiner Jugend treu. Sein ganzes Leben hindurch hat er Pope vor Shakespeare und Vergil vor Homer den Vorzug gegeben. Aber ohne daß er es bemerkte, hatte sich der allgemeine Geschmack und die kulturelle Situation während seiner Regierungszeit völlig verändert. Ein Jahr vor seiner Thronbesteigung hatte er dem Wunsche nach einem zivilisierten Deutschland Ausdruck verliehen:
Ah! quand verrai-je enfin ma stérile patrie Réformer de son goût l'antique barbarie, Offrir un doux asyle aux beaux arts négligés, Réchauffer leur ardeur, dans son sein protégés, Et faisant refleurir l'esprit et le génie, Rendre la gloire aux arts, et les arts à la vie. Siebenunddreißig Jahre lang war er schon König des in politischer Hin sicht rührigsten deutschen Staates gewesen, als er in einem Brief an Vol taire am 17 . Dezember 17 7 7 von einer Auseinandersetzung berichtet, dl«· er mit dem Grafen Montmorency-Laval gehabt hatte, weil jener die Ab 348
sicht geäußert habe, die deutsche Sprache zu erlernen; Friedrich hatte sich lebhaft darum bemüht, ihn von diesem Vorhaben abzuhalten, weil es ja doch keine guten deutschen Autoren gäbe, die ein lohnendes Ziel für die großen Mühen versprächen. Er hatte nicht bemerkt, daß unterdessen eine große deutsche Literatur entstanden war, eine Literatur von universaler Be deutung, in der der Nationalismus genau so wenig Eingang gefunden hatte wie im deutschen politischen Leben und Trachten jener Zeit.
7 Die zweite europäische Renaissance, die des ausgehenden siebzehnten Jahr hunderts, erreichte Deutschland um beinahe ein Jahrhundert später; wie schon die erste Renaissance wurde auch diese zweite für Deutschland mehr zu einer literarischen und geistigen Bewegung als zu einem das politische und soziale Leben umgestaltenden Faktor. Geistig hat sie Deutschland er neuert, aber politisch blieb sie ohne Konsequenzen. Genau wie wiederum ein Jahrhundert später in Rußland, stand auch hier eine Blüte der Literatur dem Unvermögen der gebildeten Schichten gegenüber, den Staat zu wanJ" dein. Bis ins späte neunzehnte Jahrhundert hinein waren sich in Deutsch land Staat und Gesellschaft einander so fern, als ob sie zwei verschiedenen Welten angehörten, ein Zustand, der in Rußland noch bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein fortgedauert hat. In beiden Fällen war dann der Staat der Gestalter der Gesellschaftsordnung. Das hochgeistige Leben in Deutsch land während des achtzehnten Jahrhunderts war rein privater Natur. Es gab keine öffentliche Meinung, die sich mit der in England oder in Frankreich hätte vergleichen können. Alle Deutschen waren von der Notwendigkeit des Gehorsams gegen die Obrigkeit — welches immer auch ihr Wert sein mochte — überzeugt. Deutsche Autoren haben von einer natürlichen Nei gung bei den Deutschen, sich zu unterwerfen, bis zur Selbstverleugnung zu dienen, sich imponieren zu lassen, gesprochen. Einige junge Dichter und Schriftsteller griffen mit vielen Worten den Despotismus an, aber ihre An griffe waren theoretische Abstraktionen, die außerhalb des bedruckten Pa piers nicht lebendig wurden. Helfrich Peter Sturz (1736 —1779), ein in jener Zeit vielgelesener Schriftsteller, ermahnte die stürmische Jugend, die Für sten, zu deren Füßen sie vielleicht als Männer würden knien müssen, nicht herauszufordern. Sie verdienten das dichterische Eifern nicht, denn viele von ihnen seien freundlich und gut und gäben sogar jenen Brot, welche die Fürsten haßten. Diese Ermahnungen waren aber wirklich überflüssig.
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denn die jungen Männer kannten die Wirklichkeit selber viel zu gut. Sie stimmten mit dem überein, was Sturz einige Jahre später in einem anony men Artikel über den Stolz auf das Vaterland geschrieben hat, nämlich daß das Vaterland und die Freiheit in der deutschen Sprache nicht viel mehr aln leerer Schall seien. Patriotismus und Nationalismus wurden nur sehr selten erwähnt, und wenn, dann ohne irgendwelche besonderen Empfindungen und ohne einen tieferen Sinn. Und doch wiesen die Verhältnisse der Zeit in eine Richtung, in deren Verfolg ein Nationalgefühl entstehen mußte. Überall wirkte der neue Rationalismus und Humanismus nicht nur als ein kräftiger Gärstoff innerhalb der überlieferten Schranken des geistigen Lebens, er erweckte auch ein neues Interesse am Menschen, an seinen Ursprüngen, an seiner Entwicklung und an den Formen seines Zusammenlebens mit anderen. Ge lehrte wie Amateure begannen, Urkunden zu sammeln und die Geschichte ihrer Länder und Städte zu erforschen. Der neue Rationalismus führte zu einer neuen kritischen Geschichtsbetrachtung, die sich darum bemühte, eine wissenschaftlich begründete Erklärung der Vergangenheit zu geben. Diese neue Auffassung drang auch zögernd in das Gebiet der Religion ein und trug dazu bei, das langsam wachsende Toleranzgefühl zu vertiefen. Die Religion verlor etwas von ihrer dogmatischen Starrheit, und in fortschritt lichen Kreisen erhielt sie die gleiche Bedeutung wie rationale und univer sale Moral, sie wurde der >philanthropeia< und der >humanitas< gleichge setzt. Die neue, allgemein verbreitete Philosophie erweckte das Interesse an der Natur und an der Menschheit, aber auch an den Empfindungen und Situationen des Individuums, an soziologischen und psychologischen Ent deckungen. Im geistigen Bereich war es eine Zeit großen Selbstvertrauens, großer Wagnisse und großen Wissensdurstes. Wie in England während des siebzehnten Jahrhunderts begannen jetzt auch in Deutschland die Natur wissenschaften und das Experiment den Geist vieler Menschen in ihren Bann zu ziehen. Der neue Huixianismus wünschte auch dem gemeinen Manne die Segnungen der Aufklärung zu bringen und ihn aus der Finster nis der Unwissenheit und des Aberglaubens zu befreien. Eberhard Rochow (1734—1805) versuchte die Grundschulen, und insbesondere die Dorfschu len, in Preußen zu organisieren. Unter dem Einfluß von Rousseaus >Emile< und mit der Unterstützung des Fürsten von Anhalt gründete Johann Bern hard l^asedow (1723—1790) in Dessau im Jahre 17 7 4 eine Schule, das Philanthroginum. in dem die Ausbildung des Körpers, der Unterricht in der Muttersprache, in den Naturwissenschaften und in modernen Sprachen neben den alten Sprachen besonders betont wurden.
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Aber wenn die Worte »Patriotismus' und »Nationalismus' überhaupt er wähnt wurden, so geschah das nur mit einem bemerkenswert geringen Be griffsinhalt und in jeder Hinsicht verschieden von allem, was man später hin unter Nationalismus verstehen sollte. Ein Pionier auf diesem Gebiete war der Schweizer Arzt Johann Georg Zimmermann (1728—179 5), der die Niederlande und Frankreich bereiste und danach 1768 in Zürich ein Buch »Vom Nationalstolze< veröffentlichte. Seine psychologische Untersuchungs weise führte ihn zu einigen richtigen Beobachtungen über den Umstand, daß eine Nation sich selbst durch das Medium des Eigendünkels betrachtet und Schlüsse zum eigenen Vorteil zieht, welche die einzelnen Individuen dann aus Selbstgefälligkeit auf sich selber beziehen, weil sie ihren pri vaten und ihren nationalen Charakter verwechseln und durcheinander brin gen, und daß die Eitelkeit der Menschen stets die unermeßliche Leere, die sich jenseits der authentischen Urkunden über den Ursprung jeder Nation erstreckt, mit legendärer Geschichte angefüllt hat. Aber Zimmermann war kein Nationalist; für ihn bedeutete nationaler Stolz den Stolz auf die Frei heit, und Patriotismus nur eine utilitaristische Dankbarkeit für Vorteile, die durch die konstitutionelle Freiheit gewährt werden. Im vierzehnten Ka pitel seines Buches kommt er zu dem Schluß, Patriotismus könne nur sein: der Stolz des Republikaners und sein Gefühl für die Überlegenheit der Freiheit, der Gleichheit, der Ruhe und des Glückes, die ihn über den Unter tanen eines Despoten erhebe. Erst der zweiten Ausgabe seiner Abhandlung hat er ein Kapitel angefügt, in dem die Möglichkeit des Vorhandenseins eines Nationalstolzes in einer Monarchie erörtert wird. Bedeutungsvoller in der Reihe der frühen Erörterungen um einen deut schen Nationalismus war Friedrich Carl von Mosers (17 2 3 —1798) Flug schrift »Von dem deutschen Nationalgeist' (1765). Er war einer der weni gen »deutschen« Patrioten seines Jahrhunderts, dessen Loyalität dem Reich als Ganzem galt. In seiner Heimat, Schwaben, lebte noch die Überlieferung des Reiches in dem bunten Reigen vieler kleiner souveräner Fürsten, von Ständen und Städten. Sein Vater, Johann Jakob Moser (17 0 1—178 5), war einer der tüchtigsten VerfasstingsrecH’tler und Verteidiger der bestehenden Reichsverfassung gewesen. Er war ein aufrichtiger und mutiger Mann, der es gewagt hatte, den Herzog Karl Eugen von Württemberg herauszufor dern, einen der kleineren deutscken Despoten der damaligen Zeit, der als extravaganter Schutzpatron der Kunst bekannt war, mit Soldaten handelte und die Karlsschule, die der junge Friedrich Schiller sieben Jahre lang be suchte, gegründet hat. In einem Streit zwischen den Ständen und dem Her zog (1759) trat Moser für die Stände ein, und trotz der Drohungen des
Herzogs beharrte er auf seinem Standpunkt mit Worten, die im damaligen Deutschland noch unerhört waren: »Ich bin kein Knecht, sondern bin als freier Deutscher geboren, und als solcher werde ich leben und sterben.« Für diese Worte hat ihn der Herzog, ohne Gerichtsverfahren, fünf Jahre lang in einem Kerker gefangen gehalten. Viele Deutsche teilten seine positive Ansicht über die bestehende Reichs verfassung, denn sie wurde als eine Bürgschaft gegen einen despotischen Einheitswillen und gegen die Bildung einer starken aggressiven Macht im Herzen des Kontinents betrachtet. 178 0 pries Wieland die Verfassung des Reiches, denn sie ermöglichte es den Deutschen, vor einem despotischen Fürsten in einem benachbarten Staate Zuflucht zu finden und sich denjeni gen auszusuchen, der der ungehinderten Ausbildung ihrer Anlagen am günstigsten war. Wieland war davon überzeugt, daß kein großes zivilisiertes Volk der Erde sich eines höheren Grades menschlicher Freiheit erfreuen und gegen politischen und kirchlichen Zwang einen größeren Schutz genießen werde als die Deutschen, solange sie die bestehende Ordnung bewahrten. Johann Stephan Püttgr, dessen »Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfas sung des Deutschen Reiches< (1786) die maßgebendste Abhandlung über deutsches Verfassungsrecht jener Zeit war, warnte die friedliebende Welt vor der verderbenbringenden Stunde der deutschen Einheit und schloß sein Loblied auf das Heilige Römische Reich mit einem Mahnruf an die Freiheit des Kontinents, die sich vor der Stunde in acht nehmen solle, in der viel leicht einmal die Hunderttausende deutscher Bajonette den Befehlen eines einzigen Mannes gehorchen würden. In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts sah es so aus, als ob das Reich lange weiterbestehen sollte. Die Deutschen schenkten ihm nicht viel Beachtung; sie liebten es wegen seines Friedens, und außer den ehrgeizigen preußischen Plänen hatte es kaum irgendwelche Feinde. Wohl aber gab es feindselige Gefühle Preußen gegenüber, denn, wie Treitschke sagte: »Dies Land der Waffen erschien den Deutschen wie eine weite Kaserne. Nur der dröhnende Gleichtritt der Pots damer Riesengarde, der barsche Kommandoruf der Offiziere und das Jam mergeschrei der durch die Gasse gejagten Deserteure klang aus der dumpfen Stille des großen Kerkers ins Reich hinüber.« Dieselben Empfindungen hatte Friedrich Carl von Moser: als Patriot haßte er Friedrich, weil er die Einheit des Reiches zerstörte, und als Men schenfreund haßte er ihn wegen seines militärischen Despotismus. Als ein Gegner des miles perpetuus und der Militärgewalt, in der er die Ursache vieler schlechter Anzeichen seiner Zeit sah, erklärte er sich öffentlich all
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Gegner des Berliner Systems. Er hielt es für ratsam, Preußens zivile Ver waltungsmethoden nachzuahmen, doch für unmöglich, auch seine Militär verwaltung zu übernehmen. Und selbst wenn dieses möglich wäre, so hielt er es doch für unerwünscht. Aber seine Forderungen nach einem deutschen Patriotismus fanden nur sehr geringen Widerhall. Bezeichnend hierfür ist Thomas Abbts Stellungnahme zu Moser. Welche Art von Mensch verlangt Herr Moser? lautet seine Frage. Den deutschen Bürger? Darauf gibt er zur Antwort, daß Moser erst das Bestehen eines deutschen Interesses nachweisen müsse, an dem alle Untertanen der verschiedenen Fürsten, in Überein stimmung mit allgemeinen Gesetzen und Pflichten teilhaben könnten. Wenn es aber preußische und österreichische Untertanen gibt, deren Fürsten ver schiedene Interessen haben, dann ist der preußische und der österreichische Untertan nicht mehr verpflichtet zu fragen, was das Reich von ihm erwar tet: er ist lediglich verpflichtet das zu tun, was er seinem Vaterland schuldig ist, das heißt, er hat sich nach dem Land zu richten, das ihn mit seinen Gesetzen beschützt und, das ihn glücklich macht. So hat einer der ganz wenigen Autoren jener Zeit, die sich überhaupt mit der Frage des Patrio tismus irgendwie beschäftigt haben, Mosers deutschen Patriotismus strikt abgelehnt.
8 Verschiedene Quellen speisten Mosers Patriotismus: die Erinnerung an die einstige Reichsherrlichkeit, die in Schwaben, dessen viele Zwergterritorien den Kaiser als den Garanten ihrer Existenz ansahen, noch lebendig war, ferner die Lehre der französischen Philosophen, die die These aufstellten, daß die Schaffung eines Staates freier Menschen nicht nur eine Pflicht des Fürsten, sondern auch ein Recht der Bevölkerung sei, und vor allen Dingen der Einfluß aus der nahegelegenen Schweiz, wo 17 5 8 Franz Urs Balthasar aus Luzern die »Patriotischen Träume eines Eidgenossen von einem Mittel, die veraltete Eidgenossenschaft wieder zu verjüngen« veröffentlicht hatte. Diese Flugschrift war durch Isaak Iselin (1728—1782) aus Basel, den füh renden Schweizer aufgeklärten Philosophen, verteilt worden. Iselin hatte 176o die Helvetische Gesellschaft gegründet, eine Gesellschaft zum Studium der Schweizer Geschichte und zur Förderung des Gemeinsinnes innerhalb der Eidgenossenschaft; 176 4 war er zum Präsidenten dieser Gesellschaft ge wählt worden. Sein Freund Moses Mendelssohn lobte die Gesellschaft in den »Briefen, die Neueste Literatur betreffend«, und brachte Moser und
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Iselin zusammen. Unter diesem Einfluß verfaßte Moser seine Schrift übt i den deutschen Nationalgeist. A uf die meisten Leser muß diese Schrift als eine alarmierende Hera im forderung gewirkt haben. Neu war der Klang seiner Worte — »Wir sind ein Volk, wir haben einen Namen und eine Sprache, wir leben unter einem gemeinsamen Oberhaupt und unter einem Gesetz, das unsere Verfassiinn bestimmt und unsere Rechte und Pflichten im allgemeinen großen Ziele dir Freiheit vereint. Deutsche Männer, in deren Herzen der Name »Vaterland noch lebendig ist, ist es zu hart, oder ist es unwahr, wenn man im Namen seines Volkes bekennen muß: wir kennen uns nicht mehr, wir haben un» entfremdet, unser Geist hat uns verlassen? Wir müssen uns wieder kennen lernen, und wieder an ein Vaterland glauben, so wie wir an eine christliche Kirche glauben.« — Um dieses Ziel zu erreichen, forderte Moser eine neue Erziehung, die besonderes Gewicht auf die Kenntnis der Reichsverfassunu und der alten Traditionen des Reiches legen solle. In dieser Schrift hat Moser zum ersten Male das_ Wort »Nationalgeisl· (eine Übersetzung von Montesquieus >esprit de nation<) gebraucht, d:n späterhin als >Volksgeist< eine solch wichtige Rolle im deutschen Nationalis mus spielen sollte. Für Moser war der >Nationalgeist< nicht eine alles durch dringende Kraft, er war mehr ein juristischer Begriff als eine lebenspendende Realität. Von den verschiedenen Antworten auf Mosers Schrift hat nur eilt'· einzige, von einem anonymen Verfasser — wahrscheinlich von Johann Jakob Bühlau, Stadtschreiber in Zerbst — veröffentlichte Schrift den Nationalgeini in einem weiteren Sinne aufgefaßt. In seiner Schrift »Noch etwas zum dem sehen Nationalgeiste< schrieb jener, er stelle sich vor, daß der NationalgciM eine eigentümliche Eigenschaft oder eine Zusammenfassung aller jener eigen tümlichen Eigenschaften sei, durch welche sich ein Volk von allen anderen Völkern unterscheide. Diese unterscheidenden Merkmale äußern sich allge mein in allen Handlungen der einzelnen Mitglieder des Volkes, und im besonderen in den Handlungen des Volkes als solches. Bühlau betonte die Einmaligkeit jedes Nationalcharakters und forderte eine vergleichende Unlei suchung über die verschiedenen Arten, in denen sich diese Charaktere /n äußern vermögen, in Krieg und Frieden, in Wirtschaft und Wissenschaft, itl Religion und Recht, sowie eine Untersuchung der Wandlungen, denen sie im Verlaufe der Geschichte unterworfen gewesen sind. Er fand, daß Mosern Flugschrift nur ein mangelhaftes Verständnis des Nationalgeistes aufweine ' Über den Nationalgeist der Deutschen habe Moser überhaupt nichts Eni scheidendes gesagt. Wenn der Titel dem Inhalt entsprechen sollte, so hliiie er lauten müssen »Von der Treuepflicht der deutschen Stände zu ihrem Kul
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6er«. Denn dieses sei der Hauptgegenstand seiner Abhandlung, und offen bar setze er das, was andere unter Patriotismus verstehen, diesem gleich. Moser hat Bühlau in seinen »Patriotischen Briefen« geantwortet, die 17 6 7 in Frankfurt am Main erschienen, wo die Kaiserkrönung Josephs II. viele Hoffnungen entfacht hatte. Hier machte es Moser klar, daß sein National geist eine politische Idee war, die den westlichen Auffassungen Montesquieus und Iselins bedeutend näher stand als dem späteren >Volksgeist<. In jeder politischen Verfassung müsse es eine große, allgemeine Idee geben, den punctum saliens, durch welche die lebendigen geistigen Kräfte der Nation repräsentiert werden. Wenn diese Idee vom Geiste des gesamten Volkes Besitz ergreift, wenn sie zu seiner Überzeugung und zu seinem politischen Glaubensbekenntnis wird, so wird sie sein Nationalgeist, die Summe der edelsten und bedeutendsten Elemente, welche die allgemeine Denkungsart eines Volkes ausmachen und ohne die nichts übrig bleiben würde als ein caput mortuum. Solch ein Nationalgeist, glaubte Moser, sei in Deutschland notwendig. Patriotische Lehrer sollten die Jugend mit dem deutschen Staats recht vertraut machen und so die alten Überlieferungen des Reiches zu neuem Leben erwecken. Obwohl über den Deutschen eine Wolke von Vorurteilen hänge, sei er weit davon entfernt, für unmöglich zu halten, was in anderen Staaten durch das Zusammenwirken von Mut und Einigkeit von klugen, auf geklärten und unbefangenen Männern ermöglicht worden sei. Und, »möge dieser herrliche Tag bald in vollem Glanze anbrechen!« Mit diesen Worten schloß Moser seine Schrift >Von dem deutschen Nationalgeist«; zweifellos stand ihm das Beispiel der Helvetischen Gesellschaft vor Augen. Aber zu seiner Zeit fand er in Deutschland keine Männer, die seinem Rufe folgten. Moser hat weiterhin in vielen Veröffentlichungen, unter anderem in sei nem »Patriotischen Archiv« (1784—1790), für seine Idee gewirkt. Doch mußte er schließlich einsehen, daß ihm kein Erfolg beschieden war. Deutschland schien von der Freiheit genau so weit entfernt zu sein wie von der Einheit. Moser beobachtete den zunehmenden Despotismus, für den er Preußen mit seiner Forderung nach blindem Gehorsam verantwortlich machte, und der nll seine Hoffnungen vernichtete. »Der militärische Geist hat sich von Ber lin aus durch alle deutschen Länder verbreitet und hat sich aller Geister und aller Regierungen bemächtigt, immer und soweit er nur konnte.« Trotz Mosers Tätigkeit hat sich der deutsche Patriotismus nicht in weiteren Krei sen durchsetzen können. Soweit der Patriotismus überhaupt erwähnt wurde, handelte es sich dabei um eine reine Zweckmäßigkeitserwägung, ein Gefühl pflichtgemäßer Dankbarkeit für empfangene Wohltaten, das sich aber auf den Territorialstaat beschränkte.
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Einen solchen Patriotismus hatte Abbt den Preußen und Joseph von Sou nenfels (17 3 3 —18 17 ) den Österreichern empfohlen. Sonnenfels, der S0I111 eines jüdischen zum Christentum übergetretenen Gelehrten, war einer der führenden aufgeklärten Staatsmänner und wirkte erfolgreich für die Ab schaffung der Folter, an der Verbesserung des Strafprozesses und an einer Reform der Wiener Bühnen. Mehrere Jahre lang hat er eine Wochenschrill, >Der Mann ohne Vorurteil«, herausgegeben, und 1 7 7 1 ein kleines Blüh >Über die Liebe des Vaterlands«. Darin beklagte er, daß die Herzen beim Worte »Vaterland« kalt blieben. Das käme daher, daß man durch etwa«, was man gar nicht oder nur kaum kenne, nicht stark berührt werden könne. Der Name »Vaterland« habe in den Ohren seiner Zeitgenossen nur einen unbedeutenden Klang, während er den Römern und den Griechen wie der Name einer Geliebten geklungen habe. In den »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« hat 17 7 2 der junge Goethe dieses Buch besprochen und selben gegen diesen begrenzten, durch Zweckmäßigkeitserwägungen bestimmten Sinn des Wortes Patriotismus Einwände erhoben. »Wenn wir einen Platz, in der Welt finden, da mit unsern Besitztümern zu ruhen, ein Feld, uns zu nähren, ein Haus, uns zu decken: haben wir da nicht Vaterland? Und haben das nicht Tausend und Tausende in jedem Staat? Und leben sie nicht in dieser Beschränkung glücklich? Wozu nun das vergebliche Aufstreben nacli einer Empfindung, die wir weder haben können noch mögen, die bei ge wissen Völkern nur zu gewissen Zeitpunkten das Resultat vieler glücklich zusammentreffender Umstände war und ist? Römerpatriotismus! Davor be wahre uns Gott, wie vor einer Riesengestalt! wir würden keinen Stuhl fin den, darauf zu sitzen; kein Bett, drinnen zu liegen.« Noch im Mai 1793 hat Wieland in seinem »Neuen Teutschen Merkur« geschrieben, daß er während der letzten Jahre zwar viel über den deutschen Patriotismus gehört habe, aber immer noch nicht begriffen habe, was eigentlich ein deutscher Patriol sei, welches seine Pflichten seien oder wie sich diese zu seinen Pflichten gc genüber den anderen Nationen, die von den gleichen Vorfahren wie die Deutschen abstammen und die deshalb die Gefährten und Brüder der Deut schen seien, verhalten. »In meiner Kindheit wurde mir zwar viel von aller* ley Pflichten vorgesagt; aber von der Pflicht, ein deutscher Patriot zu sein, war damals so wenig die Rede, daß ich mich nicht entsinnen kann, da« Wort Deutsch (Deutschheit war noch ein völlig unbekanntes Wort) jeiriiiU ehrenhalber nennen gehört zu haben.« Die deutsche Presse hielt sich ebenfalls von jeder aktiven Diskussion über die politische Zukunft des deutschen Volkes fern. Die ersten beiden deut sehen Wochenblätter, die man als Organe einer öffentlichen Meinung an
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sprechen kann, erschienen nach 17 2 0 in Zürich bzw. in Hamburg, beides Städte mit einer republikaniscken Tradition, wo der Mittelstand zuerst den Mut gefunden hatte, seine eigene Moral und seine eigenen Angelegenhei ten zum Ausdruck zu bringen. Gegen Ende des Jahrhunderts erschienen mehrere bedeutende Monatsschriften, wie Mosers »Patriotisches Archiv«, die »Berlinische Monatsschrift« und August Ludwig Schlözers »Staatsanzeiger«. Diese Zeitschriften haben nicht das Recht für sich in Anspruch genommen, die Fürsten zu beeinflussen oder die Weisheit ihrer Regierungen anzuzwei feln. Nur in Hannover war die Lage, dank dem englischen Einfluß, etwas besser. Die Göttinger Universität, die Georgia Augusta, 17 3 4 von Georg II. gegründet, wurde die führende Universität Deutschlands, insbesondere auf dem Gebiete der Geschichte und der Staatswissenschaften. Schlözer erfreute sich dort als Professor einer Freiheit, die im übrigen Deutschland unbekannt war. Doch selbst er durfte nur die kleinen deutschen Fürsten kritisieren oder geißeln — niemals aber Preußen, Österreich oder gar seine eigene Re gierung. Nur ein einziges Mal hat er eine milde Kritik an einer Einricktung der hannoveranischen Regierung versucht, nämlich am Postamt. Sofort ging ihm eine Warnung zu, er solle sich davor hüten, noch einmal eine solch arrogante Handlung zu begehen, woraufhin er in seiner Monatsschrift eine demütige Entschuldigung brachte. Er habe sich, Gott sei Dank, nie zu dem anmaßenden Glauben verstiegen, daß seine Zeitschrift dazu berechtigt sei, Regierungsbeamte in ihren Amtshandlungen zu beurteilen oder aufzuklären. Die Grenzen, die den Hoffnungen der deutschen Publizistik gesetzt wa ren, wurden in einem 178 7 erschienenen Aufsatz in der »Berlinischen Mo natsschrift«, »Ein neuer Weg zur Unsterblichkeit der Fürsten«, klar und deut lick aufgezeigt. Der Verfasser gab den Fürsten den Rat, ihre Völker schritt weise zur Selbstregierung zu erziehen, um dann freiwillig von ihrer Macht zurückzutreten und Republiken einzurichten. So würden die Fürsten ihren Völkern Freiheit und Patriotismus schenken, die Herzen der Menschen für sich erobern und unsterblichen Ruhm gewinnen. Dieser Artikel war nicht etwa als eine Satire gedacht, sondern als ein ernstzunehmender Vorschlag: Die Verheißung der politischen Freiheit und des Patriotismus freier Völker hatte Deutschland erreicht, aber die Menschen waren so daran gewöhnt, von oben her geführt und zurechtgewiesen zu werden, daß ihnen die Ver wirklichung der Menschenwürde und der bürgerlichen Freiheit nur durch einen Gnadenakt des Fürsten oder durch obrigkeitlichen Befehl möglich er schien. Die meisten Intellektuellen in Deutschland bewunderten und aner kannten bei anderen Völkern oder im Bereiche des Geisteslebens das, was sich niemand als eine politische Wirklichkeit für Deutschland zu wünschen
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oder vorzustellen wagte. Kaum jemand hatte mehr Verständnis für die moralische Bedeutung und die politische und menschliche Größe der Fran zösischen Revolution als Kant, und nur wenige blieben ihrer anfänglichen Begeisterung für diese Revolution so treu wie er. Und doch hat eben dieser Kant von jedem Untertanen bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem König von Preußen gefordert, hat diesen seiner tiefsten Verehrung und Treue versichert und hat es sogar abgelehnt, die Forderung nach einer be schränkten Monarchie zu unterstützen. So blieb Deutschland, wie alle an deren Länder östlich des Rheins, außerhalb jener großen Strömungen politischer Wandlung, welche im westlichen Europa die Grundlagen für das Wachstum des modernen Nationalismus und der rationalen Freiheit ge legt haben.
9 Unter diesen Umständen blieb der Einfluß aus dem Westen wirkungslos. Das Beispiel Amerikas konnte großen Enthusiasmus erwecken, und viele Deutsche sind nach drüben ausgewandert, um entweder dem Militärdienst oder religiösen Drangsalierungen zu entgehen; viele träumten sogar von einem deutschen Amerika. Der amerikanische Unabhängigkeitskampf be stimmte das persönliche Schicksal mancher dieser Auswanderer. Johann Kalb, ein Mann aus deutschem Bauerngeschlecht, hatte bereits als Offizier in der französischen Armee mit Auszeichnung gedient; er kämpfte auch in Amerika und starb 178 0 an den Verwundungen, die er in der Schlacht bei Camden erlitten hatte. In seinem Epitaph haben ihn die Brüder seiner Frei maurerloge als »German by birth, but in principle a citizen of the world« bezeichnet. Baron Friedrich von Steuben, ehemals Offizier in der preußi schen Armee, kam Ende 17 7 7 als militärischer Berater nach den Vereinig ten Staaten. Er blieb dort und berichtete nach Deutschland von dem neuen, schönen, glücklichen Land ohne Könige, ohne Priester, ohne ausbeuterische Steuereinnehmer und ohne müßige Barone, wo jedermann glücklich und Armut ein unbekanntes Übel sei. Selbst ihre Feinde lernten von der Amerika nischen Revolution. Neithardt von Gneisenau, ein Offizier des Markgrafen Alexander von Ansbach-Bayreuth, kam 17 8 2 zu den englischen Truppen nach Nordamerika und gewann dort neue Erkenntnisse über militärische Methoden, über die Bedeutung des Nationalismus im Kriege, über die Überlegenheit patriotischer und aufgeklärter Truppen. Die Nordamerikanoi kämpften nicht in geschlossener Formation wie die Armeen des achtzehnten
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Jahrhunderts, die sich aus gepreßten, ungebildeten Bauern zusammensetzten und zu blinder Disziplin gedrillt waren. Sie fochten als Einzelkämpfer und paßten ihre Taktik dem Terrain an. Gneisenau war nicht einer jener Söhne der Freiheit, die der neue ungeheure Kontinent verlockt hatte; er kehrte nach Deutschland zurück und trat in die Dienste des Königs von Preußen. Er hat jedoch die in Amerika erlebten Beispiele patriotischer Tapferkeit nicht vergessen. Durch die Nutzanwendung dieser Beispiele hat er zur Umgestal tung der preußischen Armee nach 1806 beigetragen. So war das einzige Gebiet, auf dem das amerikanische Vorbild in Deutschland wirksam wurde, dasjenige der militärischen Leistungsfähigkeit. Die anderen und wichtigeren Seiten der amerikanischen Freiheitsidee konnten die Intellektuellen Deutschlands nur beschreiben und besingen. Anfang April 178 3 veröffentlichte ein anonym gebliebener Universitäts professor in der »Berlinischen Monatsschrift« ein Gedicht, >Die Freiheit Amerikas«:
Wer nie sich freute, freue sich deines Glücks! Wer nie gejauchzt hat, jauchze! Dein Beispiel ruft Laut den entferntesten Nationen: »Frei ist, wer's sein will und wert zu sein ist!«
Wo süße Gleichheit wohnet und Adelbrut, Europens Pest, die Sitte der Einfalt nicht Befleckt, verdienstlos bessern Menschen Trotzt und vom Schweiße des Landmanns schwelget. Euch preist noch oft mein schüchternes Saitenspiel, Hellenen unsrer Tage! der Fabelzeit Erstandne Helden, kühn und bieder, Arm, aber frei; ohne Prunk, doch glücklich! Was säum ich? —Doch, die eiserne Fessel klirrt Und mahnt midi Armen, daß ich ein Deutscher bin. Euch seh' ich, holde Szenen, schwinden, Sinke zurück in den Schacht und weine. Welch flammende Worte für die Freiheit! Welch Worte unduldsamer An klage gegen den Adel! — Aber, ach, welch schmachvolles, rein literarisches und selbstgefälliges Eingeständnis der eigenen Schwäche! Einer der wenigen gebildeten Deutschen, die der Amerikanischen Revo lution kritisch gegenüber standen, war Schlözer. Er nahm entschlossen Eng lands Partei, nicht nur weil er in Hannover lebte, sondern weil er ein feines Empfinden für die deutschen politischen Realitäten hatte. In einer beschränk-
ten Monarchie nach englischem Muster sah er das für Deutschland erstre benswerte Ziel. Im einzig glücklichen Albion hatten sich die mittelalterlichen Stände, die anderswo vor der Macht des Absolutismus verschwunden wa ren, am Leben erhalten. Aber Schlözer und seine Göttinger Freunde waren fast die einzigen, die nach England blickten; ein britischer Einfluß, wie er sich auf literarischem Gebiet stark bemerkbar machte, war auf dem Gebiete der Politik kaum vorhanden. Auch hatte Schlözer das nationalistische Ele ment, das sich im westlichen Denken des achtzehnten Jahrhunderts zu äu ßern begann, nicht begriffen. Nach Schlözers Ansicht bestimmte nicht das Volk oder die Nation, sondern die Verfassung die Geschichte und die Ge sellschaftsordnung. Wie alle bedeutenden deutschen Denker jener Zeit hat sich Schlözer niemals als Deutscher betrachtet, und niemals hat er sich eine deutsche nationale Einheit auch nur vorgestellt. Als alter Mann an die längst vergangenen schwierigen Tage in St. Petersburg zurückdenkend, sagte er, daß er sich damals unter dem Namen Deutschland zum ersten Male, und vielleicht auch zum letzten Male, eine Einheit und vielleicht so gar ein Vaterland vorgestellt habe. Patriotismus war für ihn eine Zweck mäßigkeitserwägung, ein Gefühl, das sich auf jenen Staat bezog, den er unter Wahrung größter Vorsicht reformieren wollte, um so das Glück der Untertanen sicherzustellen. Der Einfluß, den Rousseau auf das langsam sich entwickelnde politische und nationale Denken in Deutschland hatte, war wesentlich stärker als der Einfluß der politischen Ereignisse in England und in Amerika. Rousseau bediente sich eines Mediums, das den deutschen Intellektuellen verständlich war: der Literatur. Am stärksten war sein Einfluß in der Schweiz, wo er auch seine stärksten Anregungen empfangen hatte. Obwohl sich die Schweiz in politischer Hinsicht und in ihrem ganzen Gesellschaftsaufbau von Deutschland immer mehr und mehr unterschied, wurde die literarische Ver bindung zwischen den deutschsprechenden Kantonen und dem deutschen Süden im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts wesentlich intensiver. Die neue Naturfreudigkeit fand in der deutschen Literatur ihren ersten Aus druck in dem Gedicht >Die Alpen< von Albrecht von Haller, einem berühm ten Physiologen und Botaniker aus Bern. Die kritischen Schriften von Jo hann Jakob Bodmer (1698—1783) brachten den Deutschen ein neues Ver ständnis für M il ton und Homer. Zürich kam Leipzig als Zentrum der lite rarischen Geschmacksbildung gleich; aber Bodmer und sein Kreis beschränk ten sich nicht auf die >belles lettres< und auf die Ästhetik, wie Gottsched in Deutschland: Ihr Ziel war eine allgemeine Reform des Schweizer Lebenn und der Schweizer Politik. 360
Die Schweizer Eidgenossenschaft war durch Jahrhunderte hindurch eine einzigartige Erscheinung gewesen: ländliche Demokratien und blühende Städte, ohne Fürsten und Könige, hatten sich zu einem Bunde vereinigt und waren zu einem wichtigen und politisch wie militärisch starken Faktor in Europa geworden. Aber zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts hatten der konfessionelle Kampf zwischen katholischen und protestantischen Kan tonen, scharfe Eifersüchteleien, Mißtrauen und sogar Haß zwischen den sou veränen Kantonen und das Eindringen mehrerer oligarchischer Herrschaf ten an die Stelle alter Demokratien den Verfall des Landes herbeigeführt. Einige Kantone, besonders die alten ländlichen wie Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden, Zug und Appenzell hatten ihre demokratische Einrichtung, die Landsgemeinde, auf der alle Bürger zusammenkamen, sich berieten und ab stimmten, beibehalten. Andere Kantone hatten sehr exklusive, in verschie denem Maße tyrannische, oligarchische Systeme eingeführt. Alle Kantone unterschieden zwischen den ursprünglichen souveränen Einwohnern und den unterbötigen Ländern und Städten, die sie im Verlaufe der Geschichte durch Eroberung oder Kauf erworben hatten und die keinerlei Anteil an der Regierung besaßen. Im achtzehnten Jahrhundert fehlte der Schweizer Eid genossenschaft, ähnlich den deutschen Verhältnissen, ein alle umfassender Patriotismus. Jeder Kanton dachte nur an sich selbst; die alte Demokratie und die einstige Schlichtheit des Lebens waren verschwunden. Von Rousseaus Idealbild war wenig mehr übriggeblieben als eine schnell verblassende Erinnerung an eine bessere oder idealisierte Vergangenheit. Gelegentlich der Feiern zum dreihundertjährigen Jubiläum der Univer sität Basel im April 1760 erörterte Isaak Iselin mit Salomon Geßner und anderen Züricher Gästen die Gründung einer patriotischen Gesellschaft, de ren Aufgabe es sein sollte, die nationalen Grundlagen neu aufzubauen und die gemeinsame Vergangenheit wieder lebendig zu machen, um den Schwei zern, die in egoistischer Absonderung lebten, das Bewußtsein ihrer Einheit und damit ihre ehrenvolle Stellung vor den anderen Völkern wiederzuge ben. In Schinznach, einem kleinen Kurort im Aargau, hat die Helvetische Gesellschaft 17 6 1 ihre erste Tagung abgehalten. Ihre Ziele waren die des aufgeklärten Patriotismus jener Zeit, das heißt die Wiederbelebung der ge schichtlichen Traditionen und die Hebung des moralischen Niveaus des Schweizer Lebens. In Zürich sammelte und gab Bodmer Quellensammlun gen zur schweizerischen Geschichte heraus, und als der erste Lehrstuhl für vaterländische Geschichte und Politik errichtet wurde, war er der erste, ihn zu besetzen. 176 4 hat er in einem Vortrag voller Begeisterung von der Unschuld und Schönheit des schlichten Landlebens gesprochen, das nach
seiner Ansicht bereits damals abzusinken begonnen habe, als die Menschen, um sich vor den Hunnen zu schützen, geschlossen hinter städtischen Mau ern gesiedelt hätten. Nachdem er die Züricher Geschichte in Rousseauschen Farben gemalt hatte, forderte Bodmer die Rückkehr zur alten Schlichtheit, die Abschaffung der Unterbötigkeit, sowie die Gleichstellung von Stadtund Landbevölkerung als Bürger, auf daß sich alle in gemeinsamer Liebe dem Vaterland zuwenden können. Die Helvetisch-Vaterländische Gesellschaft in Zürich, vor deren Forum Bodmer seinen Vortrag gehalten hatte, wurde zu einem Sammelbecken von puritanischen Patrioten, Rousseau-Anhängern und Sozialreformern. Die be kanntesten unter diesen jungen Moralisten waren Johann Caspar Lavater ( 17 4 1—18 0 1), Johann Heinrich Pestalozzi (1746—1827) und Johann Hein rich Füssli, Bodmers Nachfolger als Professor der Vaterländischen Ge schichte und später Herausgeber der ersten modernen Züricher Zeitung. Im Aufträge dieser Gruppe hat Lavater 176 5 eine Zeitschrift herausgegeben, den >Erinnerer, eine moralische Zeitschrift«. Schnell hat diese Zeitschrift den Zorn der herrschenden Oligarchie erweckt, und in weniger als zwei Jahren hat diese der Zeitschrift das Lebenslicht wieder ausgeblasen. 176 7 veröffent lichte Lavater, ohne seinen Namen zu nennen, eine Gedichtsammlung, die >Schweizerlieder, von einem Mitglied der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach«. In kürzester Zeit waren diese Gedichte vertont und zu Volks liedern geworden. Der Jugend rief der Verfasser zu, sie solle ihr Herz der Freude öffnen, die ein Lied, am ruhigen Morgen oder im goldenen Abend licht fürs Vaterland gesungen, bereitet. Sie folgte ihm auch in seiner patrio tischen Leidenschaft, mit der er für die Einheit der Schweizer warb, sie hörte auf seinen Ruf nach einem schlichten Leben und nach dem Heldentum der Vorfahren, die für die Freiheit gekämpft hatten.
O Schweiz, Du Heldenvaterland! Sey nie mehr deiner Väter Schand, Und halt das neu geknüpfte Band Der Einigkit mit treuer Hand, Dann ist in dieser Welt kein Land Dir gleich, du Heldenvaterland. Den in Bern und Zürich herrschenden Oligarchien mißfiel dieser neue Ruf nach Freiheit außerordentlich. Gegen Rousseau war man sehr mißtrauisch; wenige Jahre zuvor war er gezwungen worden, seine Geburtsstadt zu ver lassen, und aus Bern, wo er Zuflucht gesucht hatte, war er auch ausgewie sen worden. Lavaters Gedichte übten eine scharfe Kritik an der bestehenden 362
Ordnung, sie beklagten den Mangel an Patriotismus und Freiheit, und sie griffen die althergebrachten Interessen der Privilegierten sowie den Luxus an. Die junge Generation forderte nicht nur eine Reform, sondern sie brüs kierte ihre Väter auch mit dem Verlangen nach einer neuen Brüderlichkeit, unter deren Kraft die bestehenden Souveränitäten und Klassenschranken verschwinden würden. Gewiß, das alles klang gefährlicher, als es in Wirk lichkeit w ar; denn die meisten dieser jungen Menschen gehörten selber zu den herrschenden Schichten; ihr Reformeifer blieb Dichtung, denn Bodmers Enthusiasmus hat sie nicht zu praktischen Taten aufrütteln können. Doch gab es auch da einige Ausnahmen. Pestalozzi hat viele Jahre später den Eindruck beschrieben, den Bodmers Lehre und Vorbild auf ihn gemacht hatte. Er sagte, Bodmer habe sein Herz entflammt; es habe gar nicht anders sein können. Seine Lehre sei mit all den Träumen verschmolzen, die in ihm lebendig gewesen seien, mit seinem Herzen, das wohltätig gesinnt war und sich in einem unauslöschlichen Feuer danach verzehrt habe, Gutes zu tun und zu schaffen. Er ließ ihn das Elend der einfachen Menschen sehen, die niedrige und selbstsüchtige Gemütsanlage, die um ihn herum alle Menschen, die wachsen und glücklich werden wollten, unterdrückte und elend machte. In diesem Geiste hat Pestalozzi im Alter von zweiundzwanzig Jahren die Stadt verlassen, in der er geboren war und in der er studiert hatte und in Birr im Aargau hat er einen Hof gekauft, den er >Neuhof< nannte. Dort hat er verwahrloste und kriminelle Kinder um sich versammelt, um sie durch Erziehungsarbeit wieder zu anständigen Menschen zu machen. Zwar ist dieser Versuch einer Umsetzung Rousseauscher Grundsätze in die Praxis im Jahre 177 9 finanziell zusammengebrochen, doch war er richtungweisend für alle späteren Reformen. Bodmers patriotische Jünger haben auch versucht, die Frauen für das Vaterland zu gewinnen. Unter Hinweis auf die Teilnahme der Züricher Frauen an den Freiheitskämpfen der früheren Zeiten forderte Lavater die Mädchen seiner Tage auf, dem Luxus zu entsagen und das Vaterland zu lieben:
Horts Mütter, Schweizermädchen hörts Im seidenen Gewand; Habt ihr, wie eure Mütter, Herz Und Blut fürs Vaterland?
Die jungen Weiber sollten sich ihre künftigen Ehemänner um das Maß ihrer Vaterlandsliebe willen aussuchen, und sie sollten für Helvetien Söhne mit glühender Freiheitsliebe und Töchter, die die Tugend der Schlichtheit lieben, erziehen. Zu diesem Zwecke empfahlen diese jungen Schweizer 363
Patrioten die Einführung des Schulbesuchs von Mädchen, um sie mit der neuen politischen Moral und mit den patriotischen Zielen — den Hoffnun gen des Jahrhunderts — bekannt und vertraut zu machen. Bis dahin war in Zürich jede höhere Schulerziehung der Kirche und privaten Unternehmun gen überlassen worden. Jetzt wurde verkündet, daß die Erziehung der Ju gend die Pflicht und die Aufgabe des Staates sei. Wie Louis René de Caradeuc de la Chalotais in seinem »Essai d'Education Nationale ou plan d'étude pour la Jeunesse« sagte, hat jede Nation ein unveräußerliches und unver letzliches Recht, ihre Mitglieder zu erziehen. In Zürich wurde Anfang der Siebzigerjahre eine entsprechende Reform durchgeführt. Naturwissenschaf ten, moderne Sprachen und Buchführung sowie die Unterweisung in den Bürgerpflichten und in der vaterländischen Geschichte wurden in den Lehr plan aufgenommen. Die Reform hatte man mit der Notwendigkeit begrün det, alle Kinder gleichmäßig wie Brüder zu erziehen, da man zu der Über zeugung gelangt war, daß das Wohl eines freien Staates auf der Llarmonie und der Brüderlichkeit seiner Bürger beruht. Die neuen Schulen machten die Herausgabe neuer Lehrbücher für alle Fächer und Stufen erforderlich. A uf den richtigen Gebrauch der Mutter sprache und auf die Vaterlandsliebe wurde durchweg größter Wert gelegt. Füßli, der 17 7 5 Bodmer auf dem Lehrstuhl für Vaterländische Geschichte gefolgt war, hat eine >Catechetische Anleitung zu den gesellschaftlichen Pflichten« verfaßt. Dieser »Katechismus« begann mit einer Erörterung über das Glück und endete mit der Aufführung von drei Fragen mit den dazu gehörigen Antworten, die für die Situation der Zeit charakteristisch waren. Die erste Frage erkundigt sich nach den Pflichten des Bürgers für die Ver teidigung des Vaterlandes. Die Antwort lautet, er habe Besitz und Leben willig und freudig dafür hinzugeben. Die zweite Frage erkundigt sich nach der Bezeichnung für die Summe aller Bürgerpflichten. Die Antwort nennt sie: die politische Tugend. Und drittens wird gefragt, wie man einen Mann nenne, der die politische Tugend in größtmöglicher Vollkommenheit übt. Die Antwort lautet: einen wahren Patrioten. Füßli hat geschrieben, daß ein Land dann am besten beschützt sei, wenn jeder seiner Bürger in der Überzeugung lebe, daß es besser für ihn sei, sein Eigentum und sein Leben zu verlieren, als den Schutz jenes Staates zu entbehren, in dem er sein Glück gefunden hat. Er hatte auch die Absicht, in Gemeinschaft mit Johannes Müller eine auf Quellen beruhende neue Ge schichte des Schweizer Volkes zu schreiben. Eine 178 0 gegründete Zeit schrift, das »Schweizer Museum«, sorgte für die Verbreitung der Kenntnis in allen das Vaterland betreffenden wissenswerten Dingen. 364
Seite an Seite mit dieser historischen Gruppe, die unter dem Einfluß von Rousseau stand, existierte noch ein anderer Kreis von Männern, die ihr Augenmerk auf die Naturwissenschaften und, unter dem Einfluß der Physiokraten stehend, auf die neue Wissenschaft von der Nationalökonomie gerichtet hatten. Den Mittelpunkt dieses Kreises bildeten die von Iselin in Basel herausgegebenen >Ephemeriden der Menschheit«. Iselins »Geschichte der Menschheit« (1768) wurde als Widerlegung von Rousseaus Kulturpes simismus berühmt; seine Bodmer gewidmeten »Philosophisch-patriotischen Träume« (1775) verkündeten, daß die Natur jeden Menschen mit den glei chen Rechten ausgestattet habe. Im folgenden Jahre hat Gabriel Fr. Coyer seine Aufsätze »Über das uralte Wort Vaterland« und »Über die Natur des Volkes« veröffentlicht; er hat auch das Schlagwort »Et la Patrie et l'Humanité!« geprägt. Die philanthropische Philosophie jener Zeit blieb nicht in Literatur und Diskussionen stecken. Die »Lehr- und Arbeitsschule für die dürftige Staatsjugend« war ein novum in Mitteleuropa, genau so wie die 178 3 gegründete »Frauenzimmer-Lesegesellschaft auf Zimmerleuten«, die den Geschmack der Frauen der oberen Schichten durch politische und bürgerkundliche Vorträge und Diskussionen bilden sollte. Diese aufgeklärte Philosophie mit ihrer patriotischen Forderung nach der Freiheit und dem Staate freier Menschen erweckte bei den führenden Oligarchien zunehmende Befürchtungen und Haß. Doch vergebens : wenige Jahre später fegten die Ein wirkungen der Französischen Revolution die Oligarchien und die Überbleib sel traditioneller Souveränitäten hinweg und leiteten die Wiedergeburt des Schweizer Nationalismus auf einer breiteren und moderneren Grundlage ein.
10 Für die Liberalen in Deutschland war die Schweiz dasselbe wie für die Liberalen Westeuropas Nordamerika: diese beiden Länder schienen eine letzte Zufluchtsstätte der Unschuld, des Glückes, der Freiheit, eine Verwirk lichung von Rousseaus Träumen zu sein. Schubart nannte die Schweiz die Saat der heiligen Freiheit und der republikanischen Tapferkeit. Diejenigen aber, die sich mit eigenen Augen von den Zuständen in den Schweizer Kan tonen überzeugten, beurteilten die Lage schon wesentlich realistischer. So Johann Michael Afsprung, der in den oligarchisch regierten Städten man ches vorfand, das ihn an den Freiheitsmangel in Deutschland erinnerte; aber er hat auch eine Landsgemeinde in Appenzell miterlebt, und das füllte ihn mit Begeisterung für das Land und für seine lebendige Demokratie. 365
Wo herrlicher als selbst in Rom und Griechenland Der Freiheit Majestät im reinsten Glanze thronet. Durch das Schweizer Beispiel angeregt, hat er 174 4 die >Deutsche Chronik' begründet und sie seiner Vision von Deutschlands mächtiger Zukunft ge widmet, einer wahrhaft erstaunlichen Vision, wenn man sie an der Wirk lichkeit des damaligen Deutschland mißt. Die deutschen Männer sollten nicht klagen, denn die Löwen seien wach, sie werden, so wie einstmals die Cherusker, aus den Wäldern hervorbrechen, werden den Fremden die deut schen Länder wieder entreißen, und die fruchtbaren Felder und Weinberge werden wieder deutsch sein. Ein deutscher Kaiserthron wird sich über ihnen erheben und einen furchtbaren Schatten über die Gefilde der Nachbarn wer fen. Der Leser möge — so meinte er weiter — dieses Gesicht nicht lediglich für ein prophetisches Traumgebilde halten, denn es könnte Wirklichkeit werden. A n Zahl, Maß und Gewicht seien die Deutschen bereits allen ande ren Nationen überlegen. Wenn nur die Deutschen einig blieben, dann wür den sie bald die erste Nation der Welt sein. Schubart war sich all der Schwierigkeiten, die einem Unternehmen wie seiner >Deutschen Chronik« entgegenstanden, wohl bewußt. Erstaunlich, meinte er 17 7 4 , sei die Freiheit, mit welcher der Herausgeber einer Abend zeitung in England schreiben könne. Er könne Dinge offen aussprechen, die man in Deutschland kaum zu denken wage. Ein Jahr später meinte er, als Deutscher könne er nichts Neues über sein Vaterland berichten. Die Staatsgeheimnisse erfahre er nicht, und der Rest, über den man sprechen dürfe und über den man als Chronist berichten sollte, sei »schläfrig bis zum Gähnen«. Trotzdem war es Schubart gelungen, einiges Material zu veröf fentlichen, das ihn in kürzester Zeit bei den Behörden äußerst unbeliebt machte. Er mußte seine Zeitschrift von Augsburg nach Ulm verlegen, und als er 17 7 7 eines Tages außerhalb des Weichbildes der Freien Reichsstadt spazieren ging, wurde er von der Polizei des Herzogs von Württemberg er griffen und zehn Jahre lang, ohne Gerichtsverfahren, auf dem Hohenasperg gefangen gehalten. Als er 178 7 wieder in Freiheit kam, gab er seine Zeit schrift unter dem geänderten Titel >Vaterlandschronik< wieder heraus. Voll Stolz kommentierte er die großen Fortschritte, die Deutschland während der einen Dekade erzielt hatte, und voll Freude sah er die »sonnigen Tage« voraus, wo ein freies Deutschland, das jetzt schon auf bestem Wege sei, zum Brennpunkt aller europäischen Macht und zum erhabenen Areopag, der als Schiedsrichter über die Streitigkeiten aller Völker walte, zu werden. Aber trotz seines starken Patriotismus war Schubart in erster Linie ein aufgeklärter Menschenfreund. Als im August 1789 die französische Natio 3 66
nalversammlung die feudalen Institutionen und die provinziellen Rechte, die im Elsaß noch aus früheren deutschen Zeiten her bestanden hatten, ab schaffte und das Elsaß zu einem Bestandteil des revolutionären Frankreichs wurde, meinte Schubart, daß Franzose zu werden eine größere Wohltat sei als ein Deutscher, der davon träumt, ein freier Mann zu sein, während hinter seinem Rücken der Despot mit der Peitsche knallt, sich vorzustellen vermag. Anfang 179 0 strich er aus dem Titel seiner Zeitschrift das Wort >Vaterland< und nannte sie hinfort nur noch >Chronik<. Die Einladung zur Teilnahme am Bruderschaftsfest in Straßburg im Jahre 179 0 betrachtete er als die größte Ehrung, die ihm im Verlaufe seines Lebens widerfahren sei. So war Schubarts Patriotismus tief von einer kosmopolitischen Glut durch drungen gewesen; das Hauptgewicht hat er auf die bürgerliche Freiheit und auf die Würde des Menschen gelegt. Um die gleiche Zeit meinte Weckherlin, daß die Kernfrage die sei, ob sich die Lage der Deutschen bessern würde, wenn sie ihre Herren wechselten. Die Interessen der Deutschen lägen dort, wo sie bessere bürgerliche Lebens bedingungen fänden, wo es mehr Gleichberechtigung und aufgeklärte Ge setze, mildere Steuern, mildere Beamte, tolerantere Geistliche, niedrigere Zölle und Wegegelder gäbe. Prosa und Dichtung waren in jener Zeit meist didaktisch; ihr Ziel war es, bessere Menschen und Bürger zu erziehen, und wenn der Ausdruck >bessere Deutsche« überhaupt gebraucht wurde, so lag die Betonung auf >besser< und nicht auf >Deutsch<. Einer der schwäbischen Patrio ten jener Zeit, G. D. Hartmann, machte sich zum Sprecher seiner ganzen Gene ration, als er in seinem Gedicht >An meine Freunde in Deutschland« sagte: Liebe zur Menschheit und Stolz auf menschliche Würde Hat mich zum Dichter gemacht. ( Patriotismus bedeutete strebende Liebe zu einer guten Regierungsform, zu aufgeklärtem Recht und zur Achtung vor der Würde des Menschen; der dem Patriotismus entgegengesetzte Begriff hieß Despotismus, die Vernei nung und Verwerfung der neuen philosophischen Ideen des Jahrhunderts. Vaterland bedeutete nicht die deutsche Nation; in einigen wenigen Fällen meinte es das Heilige Römische Reich, aber in der großen Mehrzahl der Fälle bedeutete es den Territorialstaat, in dem man zufälligerweise lebte. Einige dieser Territorialstaaten, wie zum Beispiel Preußen, waren auf dem Wege, sich zu etwas, was man mit einer Nation vergleichen könnte, zu entwickeln; aber es gab viele Miniaturterritorien, deren Einwohner von einem größeren Vaterlandsstolz erfüllt waren als die Einwohner größerer Staaten.
Als Joseph II. 178 5 Bayern gegen die österreichischen Niederlande ein· tauschen wollte — ein Vorhaben, das klar im Interesse einer Stärkung der deutschen Reichsmacht lag — wurde dieser Plan von den meisten deutschen Fürsten in einem anderen Lichte gesehen. Sie waren genau so wenig wie ihre Untertanen an Deutschland interessiert. Friedrich, der sein ganzes Le ben hindurch Deutschland und die deutschen Fürsten, im Zusammenwirken mit den großen außerdeutschen Mächten Europas bekämpft hatte, übernahm die Führung in einem Fürstenbund, der dem österreichischen Vorhaben Widerstand leisten sollte und gesellte sich jetzt, ein Jahr vor seinem Tode, den deutschen Fürsten als Verbündeter gegen den Kaiser zu. Viele Flug schriften und Broschüren sind während dieses Konfliktes veröffentlicht worden, die meisten traten für die Fürsten ein, sangen das Lob der beste henden Reichsordnung und gaben vor, diese gegen den Kaiser in Schutz nehmen zu wollen. Sie beriefen sich sogar auf Frankreich als Garanten des Westfälischen Friedens, und behaupteten, daß es in Frankreichs Interesse läge, Deutschland und Österreich möglichst schwach zu halten, wobei Bay ern als ein unerläßliches Gegengewicht gegen den österreichischen Einfluß in Süddeutschland erhalten bleiben müsse. Der Schweizer Historiker Jo hannes von Müller (175 2—1809), der damals in den Diensten des Kur fürsten von Mainz stand, schrieb 17 8 7 seine >Darstellung des Fürstenbun des«. Als Fürsprecher Preußens und der Fürsten gegen den Kaiser appel lierte er an das europäische Gewissen, man solle die Bildung eines starken Reiches im Herzen Europas nicht dulden. So ein Reich bedeute eine Gefahr für die Selbständigkeit aller anderen Länder und für die Freiheiten der Menschen. Im Interesse Europas müsse in seinem Herzen das Gleichge wicht der Kräfte gewahrt werden. Diese Ansicht des Schweizer Historikers war damals in Deutschland allgemein verbreitet. Niemand wünschte sich ein politisch starkes oder geeintes Deutschland, und auch Joseph II. hatte keine Absichten in dieser Richtung gehabt. Die Aufregung, die über den Fürstenbund entstanden war, hat sich schnell wieder gelegt. Joseph II. mußte seine Pläne aufgeben, und Fried rich II. starb. Und selbst die wenigen Menschen, die sich etwas Hoffnung auf eine Verjüngung der deutschen Staatsstruktur gemacht hatten, mußten bald einsehen, daß es dem Fürstenbund nicht um Deutschland, sondern ein zig um die Interessen der Fürsten ging. Ein melancholischer Nachtrag zu dieser Episode war die von Müller 178 8 anonym veröffentlichte Schrift Erwartungen Deutschlands vom Fürstenbund«. Müller sah Deutschland mit dem klaren Blick eines Außenstehenden. Von seiner Heimat her hatte er ein tiefes Empfinden für nationale Traditionen; gleichzeitig stand er, wie 368
alle seine Zeitgenossen, im Banne kosmopolitischer Ideale. In seiner wech selvollen Laufbahn als Publizist und als Staatsmann ist er beiden Bahnen gefolgt; die beiden Denkrichtungen haben sich in ihm zu einem wider spruchsreichen und doch sinnvollen Ausdruck einer Übergangsperiode ver einigt. Voll entschiedener Klarheit und leidenschaftlicher Heftigkeit, wie sie bis dahin in Deutschland noch nicht vorgekommen waren, forderte er die Aufgabe des status quo. Die Deutschen sollten neue Wege beschreiten und sich in einem allgemeinen patriotischen Geist finden, damit auch sie endlich das Recht hätten zu sagen: Wir sind eine Nation! Ein neuer und noch unbekannter Ton klang aus den Worten jenes Schweizers, als er im Geiste intellektuellen Selbstvertrauens den Menschen den Rat gab, nicht auf ihre Fürsten, sondern auf die geistigen Führer der Nation zu blicken. Er rief die geistigen Menschen in Deutschland zu einer neuen Verantwortung und Aufgabe auf. Er sagte ihnen, wen Gott dazu treibe, in der Öffentlichkeit für die Rechte der Menschen einzutreten, der solle die Saat der rationalen Freiheit ausstreuen, ohne sich vorher Gedan ken darüber zu machen, ob er sie durchsetzen könne. Montesquieu habe mehr erreicht als Legionen von Fürsten. Die großen Stürme in der Ge schichte haben nicht geweht, weil Fürsten und Generäle es wünschten: sie sind aus dem Willen der Nationen entstanden und durch die Stimmen ihrer Wortführer entfesselt worden. Ein neues Geschichtsempfinden begann, den schwach glimmenden Funken deutscher Vorstellungskraft und deutschen Willens neu zu entfachen. Schubart hatte besser als Burke die natürlichen Folgeerscheinungen der kommenden Revolution vorausgesehen. 1788 hat er England gewarnt, daß der neue Geist in Frankreich das Land nicht schwächen werde, wenn auch zunächst chaotische Zustände herrschen würden, denn nie mals sei eine Nation mächtiger, als wenn sie von Freiheitswillen und Patrio tismus durchdrungen sei. Als ein Jahr später die Revolution in Frankreich tatsächlich zum Ausbruch kam, fand Schubart begeisterte Worte zur Be grüßung dieses Ereignisses. Die Menschheit sei noch nicht schwach und alt geworden, wenn ein Volk, von dem man geglaubt habe, es würde in Triviali täten ersticken, einen solchen Beweis für seine Tapferkeit und Größe liefere. Ein neues Vertrauensgefühl belebte die Intellektuellen Deutschlands. Unter dem Einfluß von Rousseau hatte Afsprung geäußert, daß die Demokratie nur für die kleinen Schweizer Kantone geeignet sei. Er meinte, daß, wenn es eine Nation aus Göttern gäbe, diese demokratisch regiert werden würde; aber eine so vollkommene Regierungsform sei für die Menschen nicht ge eignet. Aber, unter dem Eindruck der Französischen Revolution meinte A f sprung, daß, wenn so schwache Kreaturen, wie es die Menschen nun einmal 369
sind, von Menschen regiert werden sollen, so kann das auf gerechte Weise nur in der Form einer Demokratie geschehen; eine aristokratische Regie rungsform wäre nur möglich, wenn die Menschen von Engeln, und eine monarchische Form, wenn sie von Gott selbst regiert werden würden.
11 Während der Achtzigerjahre des achtzehnten Jahrhunderts machte Deutsch land einen schnellen Wandlungsprozeß durch. Der Geist der Zeit kam in den aufgeklärten Fürsten zum Ausdruck, in einer Blüte der Literatur, in einem steigenden Lebensstandard des Mittelstandes und in der Verbreitung von Zeitschriften, die den Anfang einer öffentlichen Meinung schufen, welche von Höfen und Kirchen unabhängig war. Die neue Literatur, zu der noch die großartige Entwicklung der deutschen Musik unter Gluck, Haydn und Mozart hinzukam, erweckte nicht nur ein Gefühl des Stolzes und des Selbstvertrauens; sie bildete, wenn sich auch im großen und ganzen ihr Einfluß auf das protestantische Deutschland und auf die kleine Schicht der Gebildeten beschränkte, ein einigendes Element. Noch gab es keine Berüh rungspunkte zwischen der neuen Literatur und den weiteren Volkskreisen, f' zwischen dem neuen Denken und dem politischen Leben. Die klassische deutsche Literatur hat am Ende des Jahrhunderts einen der höchsten Gipfel im gesamten Bereich des menschlichen Geistes erklommen. Aber es war nur ein einsamer Gipfel, von dem aus keine Wege hinabführten in die Ebenen, in denen das Volk lebte. Der Einfluß der Aufklärung auf die politische und soziale Gesetzgebung, wie er im Allgemeinen Landrecht in Preußen zum Ausdruck kommt, war mehr dem unmittelbaren Einfluß der westlichen Ge dankenwelt als dem mittelbaren der deutschen Literatur zuzuschreiben, jj Die klassische deutsche Literatur und Philosophie waren nicht repräsentaj! tiv für die deutsche Nation, und es war ihnen auch nicht gelungen, eine Synthese der deutschen Aspirationen widerzuspiegeln, so wie das die klassische Literatur Athens und die französische Literatur im siebzehnten Jahrhundert getan hatten. »Die Besonderheit der deutschen Klassik liegt darin, daß sie nicht wie die klassischen Bewegungen in der Literatur anderer Länder >das Produkt einer Nation oder einer Generation ist, die einen be wußten geistigen, moralischen und politischen Fortschritt erzielt hat und von dem Glauben durchdrungen ist, daß ihre Anschauung vom Leben na türlicher, menschlicher, universaler und weiser ist als diejenige, die sie hin ter sich zurückgelassen hat<. Nur sehr begrenzt ist sie der Ausdruck >von
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Gedanken und Empfindungen, die Künstler und Publikum gemeinsam tei len, Gedanken und Anschauungen, die für eine Generation die Gültigkeit universaler Wahrheiten haben«. Nur eine sehr kleine Elite hat die Lebens anschauung der deutschen Klassiker geteilt.« Die deutscke Klassik, eine späte Fruckt des Rationalismus und Universa lismus der Aufklärung, hat viele ihrer Inspirationen aus der Wiederent deckung der Antike, die sich wie ein roter Faden durch sämtliche Lebens äußerungen des späteren achtzehnten Jahrhunderts hindurchzog, gewonnen. Die 17 3 8 begonnenen Ausgrabungen in Herculaneum erweckten allgemein das Interesse an der antiken Kunst. Der französische Archäologe Compte de Caylus, der in Italien und Griechenland gereist war, wurde 17 5 0 Direktor der Pariser Akademie; 17 6 2 nakm diese Akademie, die sich bis dahin aus schließlich biblischen Themen gewidmet hatte, zum ersten Male ein Thema aus der klassischen Antike in ihr alljährliches Preisausschreiben auf. Der neue Stil, den der französische Maler Alphonse-Charles Dufresnoy als »majestas gravis et requies« beschrieben hatte, hatte sich endgültig durchge setzt. Er war der dekorative Hintergrund für die politischen Wandlungen der Zeit, für die neue patriotische Moral, für die republikanische Glut und die neue Beredsamkeit. In Deutschland fand er seinen höchsten Ausdruck auf dem Gebiete der Kunst und der Gedankenwelt. Winckelmann forderte die »imitatio veterum« als den einzigen Weg, der zu Kunst und Schönheit führe, er zog das Studium der antiken Kunst dem Studium der Natur selbst vor und beschrieb die griechische Kunst als »edle Einfalt und stille Größe«. Die griechischen Klassiker wurden ins Deutsche übersetzt; führend auf die sem Gebiet waren die Schweizer um Geßner und Bodmer. Dieser neue Huma nismus drängte wohl das Licht der französischen Literatur, die bis dahin richtungweisend gewesen war, in den Hintergrund, aber er ersetzte sie nicht durch irgendwelche nationalen Gesichtspunkte: die zeitlose, ewige mensch liche Natur, die im antiken Grieckenland die vollkommenste Gestalt ange nommen hatte, blieb das Maß. Der Mensch konnte in der zeitlosen Mensch lichkeit der ewigen Natur und der griechischen Kultur immer Erlösung aus den zeitgebundenen Konflikten finden. »Und die Sonne Homers, siehe! Sie lächelt auch uns.« Die deutsche klassiscke Literatur befaßte sich weder mit der deutschen Nation, noch hatte sie ein deutsches Ideal. Sie befaßte sich mit dem Menschen, der sich aus eigenen Kräften zur Persönlichkeit heranbilden mußte, um sich selbst in seiner individuellen Humanität ver wirklichen zu können, wobei der »allgemeine Mensch« als Ziel gefordert war. Der erste große Schriftsteller der deutschen Klassik war Gottkold Epkraim Lessing (1729—17 8 1). Er stellte eine Synthese dar zwischen dem
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Geist der Aufklärung und dem neuen Humanismus. Der Geist der Klassik und seine Freundschaft mit Winckelmann beeinflußten ihn stark; er hatte sich eine Zeitlang in Italien aufgehalten und trug sich auch mit der Absicht, sich dort niederzulassen. Seine Kritik richtete sich gegen das Überwiegen des französischen Geschmackes in der deutschen Kunstanschauung; wohl rühmte er Shakespeare, aber sein eigenes dramatisches Schaffen folgte mehr klassi schen und rationalen Regeln. Er brachte einen neuen Geist auf die deutschen Bühnen; in seinen Tragödien und Komödien zeichnete er das Leben und das Streben des Mittelstandes. Durch sein Wirken als kritischer und schöpferi scher Autor hat er zur Schaffung der Grundlagen der künftigen deutschen Nation beigetragen. Aber diese Entwicklung hatte er weder vorausgesehen noch willentlich angestrebt. Staat und Vaterland waren für ihn abstrakte Begriffe, die ihn kaltließen. Er arbeitete an der Erziehung der Menschheit auf ihrem Wege zu einer universalen und rationalen Ordnung. Die deutsche Nation begriff er als eine durch die Verfassung des Reiches bestimmte poli tische Einheit; er selbst war politisch an ihr genauso wenig interessiert wie an irgendeinem der Territorialstaaten. Eine deutsche Nation als kulturellen oder geistigen Begriff gab es für ihn nicht. In der >Hamburgischen Drama turgie« lächelte er über den Gedanken, die Deutschen mit einer nationalen Bühne zu versehen, denn die Deutschen seien noch keine Nation. Damit meinte er nicht etwa die politische Verfassung, sondern den moralischen Charakter. Er meint, man könne fast sagen, der deutsche Charakter bestehe in dem Wunsch, keinen Charakter zu haben. In einem Brief an den preußi schen Dichter Gleim hat er geschrieben, daß er nicht verstehe, was Vater landsliebe eigentlich bedeute. Sie schien ihm im besten Falle eine heroische Schwäche zu sein, welche nicht zu besitzen er recht froh war. Er wollte nicht das Lob von Patrioten hören, insbesondere nicht von denjenigen, die ihn vergessen machen wollten, daß er ein Weltbürger sein mußte. Als Welt bürger, als ein Mensch, der in eine Zukunft universaler Aufklärung blickte, hat er seine letzten und reifsten Werke geschaffen. 17 7 9 schenkte er der Welt sein größtes Bühnenwerk, >Nathan der Weise«, dem er 1788 »Ernst und Falk: Gespräche für Freimaurer«, didaktische Dialoge über die Bedeu tung und die Mission der Freimaurerei als Vorwort hinzufügte. Diesem folgte dann, als seine letzte Veröffentlichung, >Über die Erziehung des Men schengeschlechts«. Der >Nathan< war eine große Fürsprache für die Mensch lichkeit und Toleranz, eine Huldigung für Lessings nahen Freund Mose» Mendelssohn und ein Zeugnis der Gleichberechtigung aller Menschen und Religionen. Sechsunddreißig Jahre später hat Goethe die Lebendigkeit de;· Stückes auf der Bühne gelobt. »Möge doch die bekannte Erzählung, glück-
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lieh dargestellt, das deutsche Publikum auf ewige Zeiten erinnern, daß es nicht nur berufen wird, um zu schauen, sondern auch, um zu hören und zu vernehmen. Möge zugleich das darin ausgesprochene göttliche Duldungs und Schonungsgefühl der Nation heilig und wert bleiben.« Umfassender, doch nicht so tiefschürfend wie Lessings Werk war das seines vier Jahre jüngeren Zeitgenossen Christoph Martin Wieland, der ihn um zweiunddreißig Jahre überlebt hat. Wieland entstammte einem prote stantischen Pfarrhause, und die pietistische Atmosphäre und die Einflüsse Klopstocks, Rousseaus und der Schweizer Dichter bestimmten den Ton sei ner frühen Schriften. Er war bei den alten Klassikern genauso zu Hause wie in der modernen englischen und französischen Literatur, und indem er vieles hiervon ins Deutsche übersetzt hat, hat er eine wichtige Aufgabe erfüllt. So hat er als erster versucht, Shakespeare ins Deutsche zu übertragen und ihn in die deutsche Literatur aufzunehmen; zweiundzwanzig seiner Stücke hat er übertragen. Der ziemlich leichte und frivole Stil seiner Reifejahre war durch die französischen Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts beein flußt, während seine letzten Jahre zum großen Teile der Übersetzung grie chischer und lateinischer Philosophen und Redner gewidmet waren. Den größten Teil seines späteren Lebens hat er in Weimar zugebracht, wohin er nls Hauslehrer der jungen Prinzen berufen worden war. Dort hat er 17 7 3 den >Teutschen Merkur«, eine für die Bildung des deutschen literarischen Geschmackes sehr bedeutende Zeitung, herausgegeben, dem er 1796 das »Attische Museum« folgen ließ, das er mit einer Übertragung von Isokrates' ►Panegyricus« eröffnete und das der Aufgabe gewidmet war, das deutsche Publikum mit dem Gedankengut, der Literatur und dem Leben des alten Hellas vertraut zu machen. Alle diese Einflüsse — Rousseau, das Gedankengut der klassischen Antike, zeitgenössische englische und französische Literatur — haben die Idee des Patriotismus an Wielands regen und aufnahmebereiten Geist herangetragen, doch hat er diese Idee niemals wirklich aufgegriffen. 17 7 6 begann er mit der Veröffentlichung der »Geschichte des Agathon«, dem ersten deut lichen psychologischen Erziehungsroman, der sich mit dem Wachstum und der Gestaltung der menschlichen Persönlichkeit befaßte. Sein Held war der .ithenische Tragödiendichter Agathon, von dessen Werk nur wenig bekannt Ist, dessen Andenken jedoch durch das berühmte Gastmahl, welches anläß lich seiner Erringung des Tragödenpreises in seinem Hause stattgefunden hatte, gesichert ist. Aber Wieland hat sich in seiner Darstellung über den Auszug des Agathon aus dessen Vaterstadt Athen gänzlich über die patrio tische Haltung der Antike hinweggesetzt. Nach seiner Ansicht habe Agathon
mehr nach seinem eigenen Glücke als nach dem der Menschheit getrachtet, und er habe sein Vaterland verlassen, um nach einem besseren Vaterland irgendwo auf der Welt, wo die Tugend noch zu Hause ist, zu suchen. In Ta rent ließ er ihn die vollkommene Verwirklichung seines politischen und bürgerlichen Ideales, welches mit dem humanitären identisch ist, finden. Wieland hat, wie sein Agathon und wie alle großen deutschen Autoren der Klassik, den Pflichten gegenüber der Menschheit und dem moralischen Gesetz den Vorrang vor den Pflichten gegenüber dem Vaterland eingeräumt. Und wenn man sich im Reiche umschaute, wo waren denn da die Patrioten? »Aber deutsche Patrioten, die das ganze deutsche Reich als ihr Vaterland lieben, über alles lieben, bereit sind, nicht etwa bloß seiner Erhaltung und Beschützung gegen einen gemeinschaftlichen Feind, sondern auch, wenn die Gefahr vorüber ist, seinem Wohlstand, der Heilung seiner Gebrechen, der Beförderung seiner Aufnahme, seines innerlichen Flors, seines äußerlichen Ansehens, beträchtliche Opfer darzubringen: wo sind sie? Wer zeigt, wer nennt sie uns? Was haben sie bereits gewirkt? Und was kann man noch von ihnen erwarten? Wir wollen uns also mit unserm vermeintlichen Patriotis mus nicht zu viel schmeicheln. Vielleicht ist er bei den meisten, die eine ge wisse Erziehung genossen haben, nur das Aggregat aller der Eindrücke, welche die Maximen und Beispiele von Vaterlandsliebe, die sie in ihrer Jugend in den alten Schriftstellern lasen, auf ihre damals noch weichen und unbefangenen Gemüter machten.« In seinem Patriotischen Beitrag zu Deutschlands höchstem Flor< (1780) sah er Deutschland als eine Ansammlung vieler verschiedener Völker und Staaten, die nur durch eine gemeinsame, aber noch nicht allgemein aner kannte Schriftsprache und durch die Verfassung des Reiches, welche die Ur sache war, daß die Deutschen niemals als ein Volk denken und handeln konnten, zusammengehalten wurden. Doch Wieland bedauerte keineswegs diesen Umstand, im Gegenteil, er begrüßte ihn sogar. Er fürchtete die Ent stehung einer geeinten deutschen Nation mit einer zentralen Hauptstadt, die in Europa eine aktive Rolle spielen würde. Er war davon überzeugt, daß eine solche Entwicklung zur Vernichtung der menschlichen Freiheit und den geistigen Lebens in Deutschland führen würde. A ll sein Hoffen richtete sich auf eine größere Menschlichkeit und nicht auf ein nationales Ziel. Während seiner letzten Jahre, als die Armeen Napoleons Deutschland be herrschten, wandte er sich der Übersetzung und Kommentierung von Cicero» Briefen zu; fünf Bände konnten noch der Öffentlichkeit übergeben werden, bevor der Tod die Arbeit des Achtzigjährigen unterbrochen hat. In jenen Jahren hat er nicht nur die Möglichkeit einer nationalen Einheit für
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Deutschland in Frage gestellt, sondern auch den Bestand der deutschen Spra che. Wie lange wird das Band der Sprache die Deutschen einen? Wie leicht sei es möglich, daß die Sprache, in die er gerade Ciceros Briefe übersetze, in hundert Jahren schon eine tote Sprache sei, oder mindestens ein so mitleid erregendes Kauderwelsch, daß kein anständiger Mensch mehr den Wunsch haben werde, diese Sprache zu schreiben oder zu sprechen!
12 Auf keinen anderen deutschen Denker hat Rousseau einen so entscheiden den und anhaltenden Einfluß ausgeübt wie auf Kant. Kant schrieb einmal, daß Rousseau ihn auf den rechten Weg gewiesen habe; er habe durch ihn ge lernt, den Menschen zu achten. Beide hatten sie jenen grundlegenden Re spekt vor der Würde des menschlichen Individuums, aber Kants Ethik hat niemals einen anderen als den universalen Horizont der Menschheit ge kannt. Den Menschen als Zweck und nicht nur als ein Mittel zu behandeln, ihn keiner anderen Gesetzgebung zu unterwerfen als der, der er selbst als ein autonomes Glied des Gemeinwillens zugestimmt habe, das waren Rousseausche Gedankengänge; darüber hinaus aber hat Kant die Menschheit, eine universale Gesellschaft aus freien Individuen, als das Ziel aller mensch lichen Entwicklung angesehen. Der Mensch solle immer nach dem Prinzip der absoluten Gegenseitigkeit handeln, nach Prinzipien, die auf jeden Men schen anwendbar seien und nicht nur auf eine einzelne Nation, eine einzelne Klasse oder einen bestimmten Stand. Rousseau hatte mehr in der Vorstel lung des politischen Lebens einer nationalen Gemeinschaft gedacht, Kant hingegen ausschließlich im Vorstellungsbereich einer rationalen Mensch heitsordnung. Begeistert hat er die Prinzipien der Französischen Revolution begrüßt. Friedrich Gentz hat ganz richtig gesagt, daß die Philosophie Kants das vollständige System der oft gepriesenen und selten verstandenen Men schenrechte enthalte, welches der deutsche Philosoph durch schlichtes Den ken, ohne Aufhebens davon zu machen und ohne Pomp, doch in der vollen detsten Form hervorgebracht habe. Aber Kant ist nicht bei den unveräußer lichen Menschenrechten stehengeblieben; sein Universalismus hat ihn zu der Forderung einer Weltordnung unter rationalem Gesetz geführt, einer Vereinigung konstitutioneller Republiken, welche die Freiheit des Bürgers und den Frieden der Völker garantieren. Kant ist manchmal für einen Preußen gehalten worden, und zwar in einem tieferen Sinne als dem des preußischen Untertans. Die preußische Be-
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tonung der Pflicht und der Disziplin und die überragende Bedeutung, wel che die Pflicht bei Kant einnimmt, schienen auf eine geistige Verwandtschaft der beiden Ethiken hinzuweisen. In Wirklichkeit aber handelt es sich hier bei nur um eine rein äußerliche Ähnlichkeit, die zudem nur in einem einzi gen Punkte vorhanden ist; nach Ursprung und Wesen waren die beiden Hal tungen nicht nur verschieden, sondern sogar entgegengesetzt. Preußens gei stiger Mittelpunkt war der Staat, für den Kants Philosophie kaum Verständ nis oder gar Zuneigung zeigte. Preußen beruhte auf Autorität und Unter würfigkeit — Kants Philosophie auf Gleichberechtigung und Willensfrei heit. Es war eben diese grundlegende und zentrale Stellung, welche die Freiheit in diesem System einnahm, was Schiller an der Kantschen Philoso phie angezogen hat. Schiller ist durch die Berührung mit dieser Philosophie zu Reife und Erfüllung gekommen, so wie Goethe durch die Begegnung mit der klassischen Antike in Italien. Schiller hat am 18 . Februar 179 3 an sei nen Freund Körner geschrieben, daß niemals ein sterblicher Mensch ein grö ßeres Wort ausgesprochen habe als Kant mit dem Wort, welches das Wesen seiner ganzen Philosophie beschreibe: »Bestimme dich aus dir selbst!« Auf der Willensfreiheit des Menschen sollte eine neue Welt errichtet werden: die Welt des reifen Menschen, in der eine universale Ordnung rationaler Ge setze jedem Menschen die reichlichste Entfaltung seiner Fähigkeiten und sei ner Humanität ermöglicht. Das Schiff, auf dem Kants Menschheit ihrem Ziele entgegenfuhr, war von den großen Strömungen des Jahrhunderts ge tragen. Das Mittelalter erschien ihm als eine unverständliche Verirrung der menschlichen Vernunft. Im Dezember 178 4 hat Kant in der »Berlinischen Monatsschrift einen kurzen Artikel geschrieben, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?< Er sagte in diesem Artikel, daß die Aufklärung das Heraustreten des Menschen aus einem Stadium der Unreife sei, für die er selber die Verantwortung trage. Unreife sei die Unfähigkeit, von der eigenen Vernunft ohne fremde Führung Gebrauch zu machen. Die Verantwortung für diese Unreife, sofern sie nicht aus Mangel an Vernunft, sondern aus mangelnder Entschlußkraft und unzureichendem Mut herrühre, sich ihrer ohne fremde Anleitung zu bedienen, liege bei jedem selbst. Sapere audel | Dieses sei das Leitmotiv der Aufklärung. In diesen Einführungssätzen zu dem Artikel war der ganze Sinn, den Kant in der Geschichte sah, enthalten: nach seiner Auffassung lag der Sinn der Geschichte in der fortschreitenden Entwicklung von der Unfreiheit zur Freiheit. Gewiß, Kants Kühnheit und seine Forderung nach der Freiheit des Wil lens waren auf die Bereiche des Geistes und des privaten Lebens beschränkt, für das öffentliche und politische Leben nahm er die für Deutschland sn
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charakteristische Unterwerfung unter die Obrigkeit kin. Er mackte einen Untersckied zwischen dem inneren Leben und der eigentlichen gesellschaft lichen Wirklickkeit, zwiscken dem Menscken an sich und seiner öffentlichen Funktion, nickt sekr versckieden von der Art, in der Lutker zwiscken der Person und dem Amt untersckieden kat. Als Kant durch seine religiösen Ansichten in Konflikt mit dem reaktionären Regime Friedrick Wilhelms II. geriet, hat er nachgegeben. Aber in seiner ethischen Philosophie war Kant der unermüdliche Vorkämpfer auf dem Wege des Menschen zur Freiheit. In seinen Betrachtungen hat er einmal geschrieben: »Auf die Rechte der Men schen kommt es mekr an als auf die Ordnung und Ruke.« Das Endziel der Natur war für ikn: die größte Vollkommenkeit und das größtmöglicke Glück der Menscken, soweit diese es selbst herbeiführen können. Der Mensck muß daliin wirken, die Herrschaft der Moral zu errichten. Es sei eine große Prärogative der westlichen Kultur, den ständigen Fortschritt der Mensckkeit bis zur höchsten Vervollkommnung durckzufükren und ikn über die ganze Erde hin zu verbreiten. Die Menschheit sei noch jung. Es war erst zwei Jahrhunderte her, daß die Verbindung mit anderen Kontinenten jenseits der Meere hergestellt wurde, Amerika, Japan, den Inseln der Südsee. Es war erst hundert Jahre her, daß es in einem großen Lande eine verfassungsmäßige Regierung gab, nämlich in England. Was das internationale Recht anlangt, so befindet sich die Menschheit noch im Zustande der Barbarei. Es gibt noch kein allgemeines Erziehungssystem. Mit diesen Worten brachte Kant seine Überzeugung zum Ausdruck, daß sein Jahrhundert den Anbruch einer neuen Periode in der Geschichte der Menschheit erlebe: zum ersten Male sei die ge samte Erde entdeckt und erscklossen; zum ersten Male seien die Grundla gen zu einer verfassungsmäßigen Regierung eines Gemeinwesens gelegt wor den, und England fükrte die Menschheit, die westliche Zivilisation zuerst, und dieser folgend die anderen Kontinente, auf dem Wege zur Freiheit. Und doch sei noch kein entsckeidender erster Sckritt auf dem Gebiete des inter nationalen Rechtes unternommen und auch noch kein System für die Erziekung der Mensckheit entwickelt worden. Es hafte noch etwas Barbari sches an den Staaten, denn sie seien noch nickt dazu bereit, sich in ihren nachbarlichen Beziehungen dem Zwang der Gesetze zu unterwerfen. Kant war der Ansicht, daß der einzige positive Beitrag, den eine Nation zur Ge schichte der Menschheit leisten könne, die Unterstützung des Fortschrittes zu einer universalen Ordnung von Reckt und Freiheit sei. Die Revolutionen in der Schweiz, in den Niederlanden und in England hielt er für die bedeu tendsten Ereignisse in der neuen Geschichte, denn sie hätten den Weg in die Freikeit gewiesen.
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Während viele, die zunächst der Französischen Revolution zugejubelt hatten, sich wieder von ihr abwandten, als die Reaktion im Namen eines neuen Mystizismus ihren Kampf gegen die Freiheit, die Gleichberechtigung und die Vernunft begonnen hatte, schrieb der Siebzigjährige im »Streit der Fakultäten«: »Die Revolution eines geistreichen Volkes, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenken der Mensch sie, wenn er sie zum zweiten Male unternehmend glücklich aus zuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde, — diese Revolution, sage ich, findet doch in den Ge mütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also kei ne andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache ha ben kann.« Aber selbst wenn die Revolution fehlschlüge, so verlöre die ihr zugrunde liegende philosophische Vorhersagung doch nichts von ihrer Kraft. »Denn jene Begebenheit ist zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Mensch heit verwebt und ihrem Einfluß nach auf die Welt in allen ihren Teilen aus gebreitet, als daß sie nicht den Völkern bei irgendeiner Veranlassung gün stiger Umstände in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung neuer Ver suche dieser A rt erweckt werden sollte.« Klar und deutlich hat Kant hier die Einsicht ausgesprochen, daß der moralische Inhalt der Französischen Revolution nicht auf ein einzelnes Land oder auf einen einzelnen Kontinent beschränkt bleiben würde: früher oder später würden alle Völker der Erde von ihm ergriffen werden. Lange bevor die deutsche Romantik ihren Kampf gegen die Prinzipien der Französischen Revolution aufgenommen hatte, warnte Kant: »Freunde des Menschengeschlechts und dessen, was ihm am heiligsten ist! Nehmt an, was Euch nach sorgfältiger und aufrichtiger Prüfung am glaubwürdigsten scheint, es mögen nun Fakta, es mögen Vernunftgründe sein; nur streitet der Vernunft nicht das, was sie zum höchsten Gut auf Erden macht, näm lich das Vorrecht ab, der letzte Probierstein der Wahrheit zu sein! Widri genfalls werdet Ihr, dieser Freiheit unwürdig, sie auch sicherlich einbüßen und dieses Unglück noch dazu dem übrigen schuldlosen Teile über den Hals ziehen, der sonst wohl gesinnt gewesen wäre, sich seiner Freiheit gesetz mäßig und dadurch auch zweckmäßig zum Weltbesten zu bedienen!« Kant hatte klar erkannt, daß die bevorstehenden Angriffe auf die Vernunft An griffe gegen die Freiheit des Menschen, und letzten Endes gegen seine Würde und gegen den Glauben an seinen Fortschritt seien. 378
Dieser Glaube an den Fortschritt des Menschen hat in zwei Abhandlungen Kants seinen gültigsten philosophischen Ausdruck gefunden, nämlich in der >Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« und in >Zum ewigen Frieden«. Die >Idee<, die im November 178 4 in der »Berlini schen Monatsschrift« erschienen war, war das erste, was Schiller von Kant zu lesen bekommen hatte, und der Eindruck, den dieser Aufsatz auf ihn ge macht hat, war entscheidend. »Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist ^die Erreichung einer allge mein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft.« Die Menschen müs sen dieses Problem lösen, da sie sonst vom Chaos der Kriege verschlungen werden. Die universale Friedens- und Freiheitsordnung war nach Kants Überzeugung keine Utopie; er war davon überzeugt, daß die menschliche Entwicklung notwendigerweise zu ihr hinführen müsse. Er sah darin eine rationale Erfüllung der ethischen Anlagen des Menschen. In seinem Aufsatz >Qim ewigen Frieden« (1795) stellte er alle die Bedingungen auf, deren Er füllung für die Errichtung und Erhaltung eines durch Gesetz erzwungenen Friedens erforderlich ist. Zu diesem Zwecke müßten alle Staaten nach dem Grundsatz der Freiheit und der Gleichberechtigung aller Bürger, »nach die sen angeborenen, zur Menschheit notwendig gehörenden und unveräußerli chen Rechten«, organisiert sein. Kant sah deutlich, daß man den Frieden nur durch Gesetz und Gerechtigkeit erhalten könne, daß die Rechtsverlet zung an einer Stelle der Erde sich überall spürbar macht. Er hätte eine Welt republik einer Föderation vorgezogen, aber er hielt das unter den damals herrschenden Verhältnissen für undurchführbar; er sah die Gefahr eines durch Welteroberung und Weltdespotismus erzwungenen Friedens voraus; er war der festen Überzeugung, daß der ewige Friede kommen werde, weil die Menschheit sowohl durch die Moral als auch durch Notwendigkeit hierzu gezwungen werde. »Denn: daß dasjenige, was bisher noch nicht gelungen ist, darum auch nie gelingen werde, berechtigt nicht einmal eine pragmatische oder techni sche Absicht (wie zum Beispiel die der Luftfahrten mit aerostatischen Bäl len) aufzugeben; noch weniger aber eine moralische, welche, wenn ihre Be wirkung nur nicht demonstrativ-unmöglich ist, Pflicht wird. Überdem lassen eich manche Beweise geben, daß das ganze menschliche Geschlecht im gan zen wirklich in unserm Zeitalter, in Vergleichung mit allen vorigen, an sehnlich moralisch zum selbst Besseren fortgerückt sei (kurzdauernde Hem mungen können nichts dagegen beweisen), und daß das Geschrei von der unaufhaltsam zunehmenden Verunartung desselben gerade daher kommt, daß, wenn es auf einer höheren Stufe der Moralität steht, es noch weiter vor
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sich sieht, und ein Urteil über das, was man ist, in Vergleichung mit dem, was man sein sollte, mithin unser Selbsttadel immer desto strenger wird, je mehr Stufen der Sittlichkeit wir im Ganzen des uns bekanntgewordenen Weltlaufs schon erstiegen haben . . . So wie allseitige Gewalttätigkeit und daraus entspringende Not endlich ein Volk zur Entschließung bringen mußte, sich dem Zwange, den ihm die Vernunft selbst als Mittel vorschreibt, nämlich den öffentlicher Gesetze zu unterwerfen und in eine staatsbürger liche Verfassung zu treten, so muß auch die Not aus den beständigen Krie gen, in welchen wiederum Staaten einander zu schmälern oder zu unterjo chen suchen, sich zuletzt dahin bringen, selbst wider Willen, entweder in eine weltbürgerliche Verfassung zu treten, oder, ist ein solcher Zustand eines allgemeinen Friedens (wie es mit übergroßen Staaten wohl auch mehrma len gegangen ist) auf einer ändern Seite der Freiheit noch gefährlicher, in dem er den schrecklichsten Despotismus herbeiführt, so muß sie diese Not doch zu einem Zustande zwingen, den zwar kein weltbürgerliches gemeines Wesen unter einem Oberhaupt, aber doch ein rechtlicher Zustand der Föde ration nach einem gemeinschaftlich verabredeten Völkerrecht ist.« Die Verwirklichung eines solchen Bundes unter einem allgemeinen Völ kerrecht setzte die Existenz von unabhängigen Staaten voraus. Kant ver neinte weder ihre Existenz, noch sah er ihre Auflösung für die nahe Zu kunft voraus; doch innerhalb seines Systems maß er ihnen keine besondere Bedeutung zu: weder in moralischer noch in politischer Hinsicht nahm darin die Nation eine besondere Position ein. Eine Abhandlung über die >Fordcrung der Narren in Deutschland nach einem Nationalstolz< ist möglicher weise die Reaktion Kants auf einen im November 179 3 in der »Berlinischen Monatsschrift« erschienenen Aufsatz von O. K. R. Teller über den Patriotis mus. Teller glaubte nicht, daß Kosmopolitismus und Patriotismus sich ge genseitig ausschlössen, aber im Hinblick auf die Ereignisse in Frankreich wünschte er den Deutschen doch ein gewisses Maß von Nationalstolz einzu flößen. Kant war durchaus nicht dazu geneigt, den Deutschen einen Natio nalstolz zu wünschen. Er lobte die Deutschen ob ihres mangelnden Natio nalstolzes und ob ihrer Bereitschaft, die Verdienste anderer Völker vor ihren eigenen anzuerkennen. Deutschland erschien ihm als »das Land der Welt bürger«, und die Deutschen als das Volk, das das Gute aus allen Völkern bei sich aufnähme und es harmonisiere, und alles Gute, was von außen an cs herankomme, ohne Unterschiede williglich ergreife. Er betrachtete Deutsch land als einen Staatenbund, der der Kern eines universalen Bundes sein könnte, und er stimmte mit Rousseau darin überein, daß die Friedensver träge von 1648 die Grundlage dieser erfreulichen Situation seien. 380
Kant war, wie auch Goethe und Schiller, der Ansicht, daß bei den Deut schen das eigentümliche Gepräge nicht in der Nation, sondern im Indivi duum liege. Wenn jeder Einzelne in der Nation seinen eigenen Charakter hat, dann hat die Nation als Ganzes keinen; haben aber die einzelnen kei nen ausgeprägten eigentümlichen Charakter, so hat die Nation als Ganzes einen Charakter. Nur in ganz seltenen Fällen hat Kant sich mit der Frage der Nationalität befaßt. 1800 hat er das Nachwort zu einem von Chr. G. Mielcke zusammengestellten litauisch-deutschen Wörterbuch verfaßt; bei dieser Gelegenheit ist er für die Rechte der nationalen Minderheiten einge treten. Er trat für die Erhaltung kleiner und alter Nationalitäten nicht nur aus wissenschaftlichen Gründen ein, sondern auch, weil er der Meinung war, daß ein Staat von Minoritäten, die treu an ihren nationalen Eigenarten und Überlieferungen festhielten, gewisse Vorteile hätte, und weil außerdem die aufklärende Erziehung sprachlicher und nationaler Minderheiten besser in ihrer eigenen Muttersprache erfolge. Kant hat sich ebenso für die Pflege der polnischen Sprache in den neuerworbenen östlichen Provinzen Preußens ein gesetzt. Aber trotz dieser gelegentlichen Beschäftigung mit dem Nationa litätenproblem hat das gesamte Kantsche System mehr das Universale als das Besondere und Parochiale betont. Deutlich trat diese Tendenz in Kants ziemlich kritischer und ablehnender Besprechung von Herders >Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« in Erscheinung. Er hatte kein Verständnis für die von Herder vertretene neue Geschichtsauffassung. Für Herder war das ewige »Werden«, mit seinen individuellen Wertmomenten, die zentrale Kategorie; für Kant hingegen war es die Universalität des kate gorischen Imperativs. So hat Kant, an der Schwelle der romantischen Gegen revolution stehend, die Grundsätze einer rationalen universalen Ordnung in eine endgültige, in der deutschen Sprache niemals übertroffene Form ge bracht. Er hat vor allen Dingen als ein Moralist gesprochen, während sein Jünger, Schiller (1759—1805), seine Botschaft mit dem Reichtum und der Schönheit der dichterischen Schau ausgestattet hat.
13 In seiner Jugend hat Schiller an dem Aufruhr des Sturm und Drang gegen die starren Fesseln der feudalen Gesellschaftsordnung seiner Zeit teilge nommen, indem er die individuelle Freiheit forderte, nicht aber als eine poli tische Form, sondern als Protest gegen die gesellschaftlichen Konventionen und als Bestätigung der Würde des Menschen. In seiner Heimat fühlte er 38 1
sich so stark bedrängt, daß er als junger Mensch von vierundzwanzig Jah ren viele Pläne schmiedete, um Deutschland zu verlassen. Am 6. November 178 2 schrieb er an Dr. von Jacobi, daß er den Gedanken gefaßt habe, nach St. Petersburg zu gehen. Bis jetzt habe er immer nur als Flüchtling gelebt, und in drei bis vier Wochen hoffe er ein freier Weltbürger zu sein. Mehrere Monate später hat er an Henriette von Wolzogen über seine Pläne, nach England und von dort nach der Neuen Welt zu gehen, geschrieben. Wenn Nordamerika frei würde, werde er bestimmt dorthin übersiedeln. Aber Schiller brauchte Deutschland nicht zu verlassen; er hat das Reich der Frei heit nicht in einer politischen Gesellschaftsordnung, sondern in den philo sophischen Hoffnungen seines Jahrhunderts gefunden. 17 8 5 hat er seine Ode >An die Freude«, eine die Brüderlichkeit unter den Menschen verhei ßende Botschaft gedichtet — die später Beethoven in seiner Neunten Sym phonie unsterblich gemacht hat. Zwei Jahre später ist er nach Weimar gegangen. Dort stand die klas sische Antike neben Rousseau und dem humanitären Liberalismus des achtzehnten Jahrhunderts als beherrschender Einfluß in seinem Leben, und in >Die Götter Griechenlands« hat er den ewigen griechischen Vor bildern aller Schönheit und allen Lebens gehuldigt. Ein Jahr später, im Jahre der Französischen Revolution, verschmolz er in seiner Ode >Die Künstler« die Botschaft der Vergangenheit mit der Botschaft seines Jahrhun derts; beginnend mit einem Triumphlied auf das achtzehnte Jahrhundert, schrieb er:
Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige stehst du an des Jahrhunderts Neige, in edler stolzer Männlichkeit, mit aufgeschloßnem Sinn, mit Geistesfülle, voll milden Ernsts, in tatenreicher Stille, der reifste Sohn der Zeit, frei durch Vernunft, stark durch Gesetze, durch Sanftmut groß und reich durch Schätze, die lange Zeit dein Busen dir verschwieg, Herr der Natur, die deine Fesseln liebet, die deine Kraft in tausend Kämpfen übet und prangend unter dir aus der Verwild'rung stieg! das in den großen Worten gipfelte:
Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben — bewahret sie! 382
Die Welt der Antike ist für ihn immer eine Quelle der ästhetischen Inspira tion geblieben. In seinem >Tabulae Votivae< im Musen-Almanach für das Jahr 17 9 7 hat er auch der deutschen Kunst eine solche Tafel gewidmet und sie aufgefordert, sich aus Rom und aus Athen das Licht zu borgen:
Muß der Künstler nicht selbst den Schößling von außen sich holen? Nicht aus Rom und Athen borgen die Sonne, die Luft? Er fühlte auch, daß die deutsche Sprache den sogenannten >toten< Sprachen, die ja in der deutschen Sprache seiner Tage noch lebendig waren, tief ver pflichtet sei:
Tote Sprachen nennt ihr die Sprache des Flaccus und Pindar, Und von beiden nur kommt, was in der unsrigen lebt! Im Mittelpunkt von Schillers Denken stand, wie bei Kant, die Würde des Menschen und die Einheit der Menschheit. Der Staat und das politische Le ben bedeuteten ihm wenig. Am 27. November 178 8 schrieb er an Caroline von Beulwitz, daß selbst der größte Staat nur das Werk des Menschen, der Mensch aber das Geschöpf der unerreichbar großen Natur sei. Der Staat sei ein Geschöpf des Zufalls, aber der Mensch notwendig ein lebendiges Wesen. Was anders mache denn einen Staat groß und verehrungswürdig als die Kräfte der Individuen, die in ihm leben? Der Staat ist nur ein Ergebnis menschlichen Wirkens, das Werk unserer Gedanken, aber der Mensch selbst ist die Quelle dieser Kräfte und der Schöpfer dieser Gedanken. Der Kantsche Einfluß ist in sämtlichen späteren Schriften Schillers wahrnehmbar. So sagte er, das erste Gesetz der Sittlichkeit laute, daß man die Freiheit der anderen respektiere, und das zweite, daß man seine eigene Freiheit beweise. Rousseau und Kant, die Französische Revolution und das achtzehnte Jahr hundert fanden ihre dichterische Verklärung in >Die Worte des Glaubens« — wenn der Mensch seinen Glauben an die drei Worte »Freiheit«, »Tugend« und >Gott< verliere, so verliere er damit auch alle seine Werte. Als Schiller 1797 dieses Gedicht schrieb, klangen seine herausfordernden Worte wie eine scharfe Zurechtweisung aller Verleumder der Französischen Revolu tion:
Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und würd' er in Ketten geboren, laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei, nicht den Mißbrauch rasender Toren; vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, vor dem freien Menschen erzittert nicht.
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In >Don Carlos< hat Schiller durch den Mund des Posa als ein »Abgesand ter der ganzen Menschheit« zu seinen Mitbürgern gesprochen. Posas Herz das schlug
Der ganzen Menschheit. Seine Neigung war Die Welt mit allen kommenden Geschlechtern.
Schiller wollte keine Utopien schaffen und keine Tugendrepubliken wie Sparta oder Rom: er wollte das Ideal der Aufklärung verwirklichen. »Alles, was in der Zeit vor der Französischen Revolution an liberalen und humanitären, an toleranten und kosmopolitischen Ideen aufgespeichert lag, ist hier von der Bühne herab laut geworden durch den Mund Posas, welcher der Sprecher seines Jahrhunderts ist. Nie haben die Schlagworte von Welt bürgertum, von der allgemeinen Menschenliebe, von der Gedankenfreiheit und der Glaubensfreiheit einen beredteren und mächtigeren Ausdruck ge funden!« Aus den Worten, die der Marquis Posa an den König richtete, hörte das liberale Deutschland seine eigene Stimme und seine eigenen Hoff nungen. Professor Minor hat hierzu geschrieben, daß man die Worte wie ihren Verfasser damals mit Freudenjubel aufgenommen habe, und daß das auch immer so sein werde, wo und wann immer diese Stimme erklinge. In den Forderungen, die Posa als Sprecher seiner Zeit erhoben hat, war nur ein konkreter Punkt enthalten, nämlich die Gedankenfreiheit; sonst be schränkte er sich auf sehr allgemein gehaltene Formulierungen über die heiligen Rechte der Menschheit, über die allgemeine Menschenliebe und die Glückseligkeit freier Untertanen. Posa sprach nicht als ein Patriot, sondern als ein Weltbürger; im Verlaufe des Dramas ist er nicht davor zurückgescheut, halb Europa und sogar die Türkei gegen seine spanische Heimat in den Kampf zu locken. Bis auf den heutigen Tag sind die Worte des Posa das klassische Dokument des deutschen Liberalismus ge blieben. In der berühmten Szene zwischen dem Marquis und dem König weist dieser auf das Glück hin, das Spanien unter seinem Regiment genieße, ein Regiment, das in mancher Hinsicht als Vorläufer der modernen totalitären Unterdrückung gelten könnte:
Sehet In meinem Spanien Euch um! Hier blüht Des Bürgers Glück in nie bewölktem Frieden; Und d i e s e Ruhe gönn' ich den Flamändern.
Hierauf gab der Marquis zur Antwort: 384
Die Ruhe eines Kirchhofs! Und Sie hoffen, Zu endigen, was Sie begannen? Hoffen, Der Christenheit gezeitigte Verwandlung, Den allgemeinen Frühling aufzuhalten, Der die Gestalt der Welt verjüngt? Sie wollen Allein in ganz Europa —sich dem Rade Des Weltverhängnisses, das unaufhaltsam In vollem Laufe rollt, entgegenwerfen? Mit Menschenarm in seine Speichen fallen? Sie werden nicht! Schon flohen Tausende Aus Ihren Ländern froh und arm. Der Bürger, Den Sie verloren für den Glauben, war Ihr edelster. Mit offnen Mutterarmen Empfängt die Fliehenden Elisabeth, Und fruchtbar blüht durch Künste unsres Landes Britannien. Verlassen von dem Fleiß Der neuen Christen, liegt Granada öde, Und jauchzend sieht Europa seinen Feind An selbstgeschlagnen Wunden sich verbluten. Sie wollen pflanzen für die Ewigkeit, Und säen Tod? Ein so erzwungnes Werk Wird seines Schöpfers Geist nicht überdauern. Dem Undank haben Sie gebaut —umsonst Den harten Kampf mit der Natur gerungen, Umsonst ein großes, königliches Leben Zerstörenden Entwürfen hingeopfert. Der Mensch ist mehr, als Sie von ihm gehalten. Des langen Schlummers Bande wird er brechen. Und wiederfordem sein geheiligt Recht. Zu einem Nero und Busiris wirft Er Ihren Namen, und —das schmerzt mich; denn Sie waren gut. Geben Sie, Was Sie uns nahmen, wieder! Lassen Sie, Großmütig wie der Starke, Menschenglück Aus Ihrem Füllhorn strömen —Geister reifen In Ihrem Weltgebäude. Geben Sie, Was Sie uns nahmen, wieder. Ein Federzug von dieser Hand, und neu Erschaffen wird die Erde. Geben Sie Gedankenfreiheit.
In seiner »Geschichte des Abfalls der Niederlande< hat sich Schiller noch mals mit dem Kampf der Freiheit gegen den Despotismus befaßt. In Phi lipp II. sah er den mächtigsten Herrscher, dessen gefürchtete Übermacht die Selbständigkeit Europas bedrohte, dessen Schätze die Reichtümer aller an deren Monarchen der Christenheit zusammengenommen übertrafen, dessen ehrgeizige Pläne von zahlreichen und wohldisziplinierten Armeen ver fochten wurden, dessen Truppen, in langen blutigen Kriegen abgehärtet und durch die Erinnerung an ihre eigenen früheren Siege gestärkt, auf jedes Unternehmen, das Ruhm und Beute versprach, begierig waren, die auf die unwiderstehlichen Kräfte des Reiches vertrauten, die durch willigen und prompten Gehorsam den wagemutigsten ihrer Führer unterstützten. Und doch hatte sich ein friedliches Volk, das von Natur aus nicht besonders heroisch veranlagt war, das aber stark in seiner Freiheitsliebe und in sei nem Zusammenhalt war, gegen ihn erhoben und gesiegt. Schiller hat die Niederländer als ein »moralisches, geschäftstüchtiges Volk« bezeichnet, das eine plutokratische Demokratie hatte, die durch die über Europa aufgehen den rationalen Wahrheiten befruchtet wurde, das durch seine Industrie gut vorwärtskam und im Überfluß lebte. Und doch, als sie von dem mächtig sten europäischen Monarchen jener Zeit bedroht wurden, haben sie es ge wagt, sich auf das Naturrecht zu berufen und, unter Einsatz ihres Lebens, für die Freiheit einzutreten. Der Marquis Posa hat als ein Repräsentant des achtzehnten Jahrhunderts gesprochen. Zur weiteren Ehrung jenes Jahrhun derts hat Schiller seine Antrittsvorlesung als Professor der Geschichte in Jena gehalten: »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universal geschichte?« Er zeigte darin auf, daß sich vor den Menschen ein Zeitalter der Freiheit und des Fortschritts geöffnet habe. Alle denkenden Geister seien nun durch ein allgemeines Band der Freundschaft vereinigt, und die ganze Sonne des Zeitalters könne nunmehr den Geist eines modernen Galileo oder Erasmus erleuchten. Für diese neue Zeit schienen die Deutschen besser be reit zu sein als die anderen Völker, weil sie unter einer Verfassung lebten, welche die Freiheit gestatte und, im Unterschied zum Römischen Imperium, Eroberungs- und Herrschaftspläne unmöglich mache. Schiller hatte seinen Weg in die Welt als ein Reformator, als ein Welt verbesserer, mit der ganzen Begeisterungsfähigkeit einer revolutionieren den Jugend angetreten. Aber die persönlichen Umstände haben ihn später dazu gezwungen, in den Dienst von Fürsten zu treten, die bestehende Ord nung als etwas Gegebenes hinzunehmen und sich mit Unlust Zuständen zu fügen, die zu ändern er sich nicht fähig fühlte. So hat er sich, wie so viele Deutsche, von der Politik abgewandt und sich dem Reiche der Ideen, 386
der Antike und der Idylle der Rousseauschen Natur zugewandt. Seine philosophiscken Grundsätze kat er niemals aufgegeben — er ist der Humanitas treu geblieben; aber er hat ihrer Verwirklickung in einer unmittelbar be vorstehenden Zukunft entsagt. Er hat nickt daran gezweifelt, daß die Grund sätze der Französiscken Revolution die einzig ricktigen seien, die ewigen Grundlagen des menscklicken Lebens. 179 3 äußerte er sich in einem Brief dem Herzog von Augustenburg gegenüber, daß er für immer den Musen entsagt hätte, um sich der sekönsten aller Künste zu widmen, der Monar chie der Vernunft, wenn das Außerordentliche sich wirklick ereignet kätte, daß nämlich die politische Gesetzgebung in die Hände der Vernunft gelegt worden wäre, daß der Mensch als ein Zweck an sich respektiert und be handelt würde, daß das Recht auf den Thron gehoben und die Freiheit zur Gründungsmauer des Staatsgebäudes bestimmt worden sei. Aber er glaube nicht, daß es schon so weit sei. Schiller wußte, daß dieses Reich der Vernunft und der Freiheit nur durch Erziehung vorbereitet werden konnte, und erhielt die Kunst für das große Erziehungsmittel. Aber dieses Mittel war oft in der Gefahr, ein Zweck an sick zu werden, und so suckte er in der entrückten Erkabenheit der klassiseken Kunst Zuflucht vor den Stürmen der Zeit. 179 5 hat Schiller das ausgesprochen, was gewissermaßen als Programm über dem letzten Jahrzehnt seines Lebens stand, nämlich, daß er körperlich ein Bürger seiner Zeit sein und bleiben wolle, wie das ja auch anders nicht möglich sei, daß es aber im Bereiche des Geistes das Vorrecht und die Pflicht der Philosophen und Dichter sei, keinem einzelnen Volke und keiner be stimmten Zeit anzugehören, sondern wirklicke Zeitgenossen sämtlicker Zei ten zu sein. Sein ganzes Leben hindurch hat er, wie er es selber in der A n kündigung der »Rheinischen Thalia< (1785) gesagt hatte, als ein Weltbür ger geschrieben, der keinem bestimmten Fürsten dient; und anstatt >Fürst< hätte er genau so gut >Staat< oder >Nation< sagen können. Nationalen Mo tiven brachte er als dichterische Themen etwas Interesse entgegen, und in seiner Abhandlung über »Die Schaubühne als eine moralische Anstalt be trachtet« sagte er: »Unmöglich kann ick kier den großen Einfluß übergehen, den eine gute stehende Bühne auf den Geist der Nation haben würde. Na tionalgeist eines Volkes nenne ick die Äknlickkeit und Übereinstimmung seiner Meinungen und Neigungen bei Gegenständen, worüber eine andere Nation anders meint und empfindet. Nur der Schaubühne ist es möglich, diese Übereinstimmung in einem hohen Grad zu bewirken, weil sie das ganze Gebiet des menschlichen Wissens durchwandert, alle Situationen des Lebens erschöpft, und in alle Winkel des Herzens kinunterleuchtet; weil sie alle Stände und Klassen in sich vereinigt, und den gebahntesten Weg zum
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Verstand und zum Herzen hat. . . . Was kettete Griechenland so fest anein ander? Was zog das Volk so unwiderstehlich nach seiner Bühne? — Nichts anderes als der vaterländische Inhalt der Stücke, der griechische Geist, das große überwältigende Interesse des Staats, der besseren Menschheit, das in denselbigen atmete.« Nationale Themen mögen ihn manchmal angezogen haben, aber er hat ihnen niemals etwa besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Der Inhalt sei nes Denkens war universal, doch seine Form war, dessen war er sich voll bewußt, deutsch, bestimmt durch die Sprache, deren er sich bediente. »Kein Schriftsteller«, schrieb Schiller an Körner, »so sehr er auch an Gesinnung Weltbürger sein mag, wird in der Vorstellungsart seinem Vaterland ent fliehen. Wäre es auch nur die Sprache, was ihn stempelt, so wäre dies allein genug, ihn in eine gewisse Form einzuschränken und seinem Produkt eine nationelle Eigentümlichkeit zu geben.« Aber einen nationalen Vorwurf für seine eigene Arbeit konnte er sich nicht denken. Er lehnte es ab, über Fried rich II. zu schreiben. Er konnte keine Zuneigung für diese Gestalt gewinnen, sie konnte ihn nicht genügend begeistern, um sich der gewaltigen Arbeit ihrer Idealisierung zu unterziehen. Was ihn bei allen Vorwürfen beschäf tigte, war ihre Humanität, ihre Bedeutung für die Menschheit, der Fort schritt in der Menschheit, den sie darstellen, gleichgültig, welchem Jahr hundert oder welcher Nation sie angehören. Wenn es etwas gab, was er gegen die Griechen oder Römer einzuwenden hatte, so war dies ihr Patriotismus; er pries die Neuzeit, weil sie dieser Idee nicht huldigte. An Körner schrieb er am 13 . Oktober 178 9 : »Wir Neuern haben ein Interesse in unserer Gewalt, das kein Grieche und kein Römer gekannt hat, und dem das vaterländische Inter esse bei weitem nicht beikommt. Das letzte ist überhaupt nur für unreife Nationen wichtig, für die Jugend der Welt. Ein ganz andres Interesse ist es, jede merkwürdige Begebenheit, die mit Menschen vorging, dem Menschen wichtig darzustellen. Es ist ein armseliges kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geiste ist diese Grenze durchaus uner träglich. Dieser kann bei einer so wandelbaren, zufälligen und willkür lichen Form der Menschheit, bei einem Fragmente (und was ist die wich tigste Nation andres?) nicht still stehen. Er kann sich nicht weiter dafür er wärmen, als soweit ihm diese Nation oder Nationalbegebenheit als Bedin gung für den Fortschritt der Gattung wichtig ist. Ist eine Geschichte (von welcher Nation und Zeit sie auch sei) dieser Anwendung fähig, kann sie an die Gattung angeschlossen werden, so hat sie alle Requisite, unter der Hand des Philosophen interessant zu werden, und dieses Interesse kann jeder Ver zierung entbehren.« 388
Zwei von Schillers späteren Dramen, nämlich >Die Jungfrau von Orleans« und »Wilhelm Teil«, werden manchmal als Beweis dafür angeführt, daß er doch ein gewisses patriotisches Interesse hatte. In Wirklichkeit aber hatte sich Schiller keines von diesen beiden Themen aus patriotischem Interesse gewählt. Er dachte gewiß nicht an die Deutschen, als er die Jungfrau von Orleans und den Wilhelm Teil idealisierte, sondern an die menschliche Hal tung, die diese beiden schlichten Rousseauschen Gestalten gegenüber Unter drückung und Gewalt einnahmen. Nichts ist hierfür bezeichnender als die
Klage der Jungfrau.
Kümmert midi das Los der Schlachten, Midi der Zwist der Könige? Schuldlos trieb ich meine Lämmer Auf des stillen Berges Höh. Doch du rissest midi ins Leben, In den stolzen Fürstensaal, Midi der Schuld dahinzugeben, Ach, es war nicht meine Wahl.
Und alle Zweifel ausschließend hat Schiller selbst den Sinn seines Teil dar gelegt, als er ihn dem Erzkanzler des dahinsterbenden Reiches, Karl Theo dor von Dalberg, zusammen mit einem seiner letzten Gedichte zuschickte. In diesem Gedicht hatte er nicht nur den Sinn des »Wilhelm Teil· zusam menfassend dargelegt, sondern auch seine gesamte Philosophie mit ihrer Verherrlichung des idyllischen Friedens, mit ihrem Respekt vor der Würde des Menschen und mit ihrem Lob der Bescheidenheit und der Mäßigung im Siege.
Wenn rohe Kräfte feindlich sich entzweien Und blinde W ut die Kriegesflamme schürt, Wenn sich im Kampfe tobender Parteien Die Stimme der Gerechtigkeit verliert, Wenn alle Laster schamlos sich befreien, Wenn freche Willkür an das Heil'ge rührt, Den Anker löst, an dem die Staaten hängen, —Das ist kein Stoff zu freudigen Gesängen. Doch wenn ein Volk, das fromm die Herden weidet, Sich selbst genug nicht fremden Guts begehrt, Den Zwang abwirft, den es unwürdig leidet, Doch selbst im Zorn die Menschlichkeit noch ehrt, Im Glücke selbst, im Siege sich besdieidet, —Das ist unsterblich und des Liedes wert. Und solch ein Bild darf ich dir freudig zeigen: Du kennst's, denn alles Große ist dein eigen.
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Schillers scharfe und kompromißlose Ablehnung des spartanisierenden Preu ßentums und jeder totalitären Staatsphilosophie kommt hervorragend in >Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon< zum Ausdruck, in der er Sparta und Athen, autoritären Militarismus und friedliebende Demokratie, als Ge gensätze konfrontierte. »Gegen seinen eigenen Zweck gehalten, ist die Ge setzgebung des Lykurgus ein Meisterstück der Staats- und Menschenkunde. Er wollte einen mächtigen, in sich selbst gegründeten, unzerstörbaren Staat; politische Stärke und Dauerhaftigkeit waren das Ziel, wonach er strebte, und dieses Ziel hat er soweit erreicht, als unter seinen Umständen möglich war. Aber hält man den Zweck, welchen Lykurgus sich vorsetzte, gegen den Zweck der Menschheit, so muß eine tiefe Mißbilligung an Stelle der Bewunderung treten, die uns der erste flüchtige Blick abgewonnen hat. Alles darf dem Besten des Staates zum Opfer gebracht werden, nur dasjenige nicht, dem der Staat selbst nur als ein Mittel dient. Der Staat selbst ist nie mals Zweck, er ist nur wichtig als eine Bedingung, unter welcher der Zweck der Menschheit erfüllt werden kann, und dieser Zweck der Menschheit ist kein anderer als Ausbildung aller Kräfte des Menschen, Fortschreitung. Hindert eine Staats Verfassung, daß alle Kräfte, die im Menschen liegen, sich entwickeln, hindert sie die Fortschreitung des Geistes, so ist sie verwerflich, sie mag übrigens noch so durchdacht und in ihrer Art noch so vollkommen sein. Ihre Dauerhaftigkeit selbst gereicht ihr alsdann viel mehr zum Vor wurf als zum Ruhme — sie ist dann nur ein verlängertes Übel; je länger sie Bestand hat, um so schändlicher ist sie.« Bitter war Schillers Urteil über die spartanischen Erziehungsmethoden. »Eine einzige Tugend war es, die in Sparta mit Hintansetzung aller anderen geübt wurde: Vaterlandsliebe. Diesem künstlichen Triebe wurden die natürlichsten, schönsten Gefühle der Menschheit zum Opfer gebracht. A uf Unkosten aller sittlichen Gefühle wurde das politische Verdienst und die Fähigkeit dazu ausgebildet. In Sparta gab es keine eheliche Liebe, keine Mutterliebe, keine kindliche Liebe, keine Freundschaft — es gab nichts als Bürger, nichts als bürgerliche Tugend. Lange Zeit hat man jene spartanische Mutter bewundert, die ihren aus dem Treffen entkommenen Sohn mit Unwillen von sich stößt und nach dem Tempel eilt, den Göttern für den gefallenen zu danken. Zu einer solchen unnatürlichen Stärke hätte man der Menschheit nicht Glück wünschen sol len. Eine zärtliche Mutter ist eine weit schönere Erscheinung in der mora lischen Welt als ein heroisches Zwittergeschöpf, das die natürliche Empfin dung verleugnet, um eine künstliche Pflicht zu befriedigen.« Der hauptsächlichste Vorwurf, den Schiller gegen Sparta erhob war der, daß dort jegliches Humanitätsgefühl ausgelöscht worden und jeder Respekt 390
vor der Würde des Menschen verlorengegangen war. Die Menschen wur den in Sparta als Mittel betrachtet, und nicht als Zweck — eine Perversion, der die Grundlagen des natürlichen Rechts und der Ethik zum Opfer ge bracht worden waren. Lykurg hat nicht nur seinen Staat auf der zum Ge setz erhobenen Zerstörung der Moral aufgebaut, sondern auch die Erfül lung des höchsten Zwecks der Menschheit unterbunden, indem er die gei stige Entwicklung der Spartaner aufhielt. »Alle Wissenschaften wurden vernachlässigt, . . . alles Auswärtige wurde ausgeschlossen. Dadurch wur den alle Kanäle gesperrt, wodurch seiner Nation helle Begriffe zufließen konnten; in einer ewigen Einförmigkeit, in einem traurigen Egoismus sollte sich der spartanische Staat ewig nur um sich selbst bewegen.« Diesem Pro totyp des faschistischen Militarismus hielt Schiller die Demokratie Athens gegenüber: »Schön und trefflich war es von Solon, daß er Achtung hatte für die menschliche Natur und nie den Menschen dem Staat, nie den Zweck dem Mittel aufopferte, sondern den Staat dem Menschen dienen ließ. Seine Gesetze waren laxe Bänder, an denen sich der Geist der Bürger frei und leicht nach allen Richtungen bewegte und nie empfand, daß sie ihn lenkten; die Gesetze des Lykurgus waren eiserne Fesseln, die durch ihr drückendes Gewicht den Geist niederzwangen.« Bezeichnend waren die verurteilenden Worte, die Schiller abschließend sagte: »Sparta konnte nur Herrscher und Krieger — keine Künstler, keine Dichter, keine Denker, keine Weltbürger erzeugen.« Nur Herrscher und Krieger, Herren und Helden, die keinen Raum in Schillers Wertskala fanden, konnte Sparta hervorbringen — und keine Künstler, Dichter, Denker und Weltbürger, in denen er den Endzweck der menschlichen Entwicklung sah. Bei Schillers Nachlaß hat sich ein interessantes Fragment gefunden — der erste Entwurf zu einem Gedicht; der erste Herausgeber hat als Titel für dieses Gedicht »Deutschlands Größe< vorgeschlagen. Es ist wahrscheinlich im Jahre 18 0 1, als das Reich unter dem Schwergewicht der Niederlage zu sammenbrach, geschrieben worden. Schiller hatte sich leicht mit dem Ver lust politischer Macht und Größe abgefunden; er fühlte, daß Deutschlands Mission und Größe in der Universalität seines Geistes lag, und eben dieses Unheil auf machtpolitischem Gebiet würde den Weg zu Deutschlands wah rer Größe garantieren: der deutsche Tag würde mit dem endgültigen Tri umph der Ethik und der Vernunft anbrechen.
Hohem Sieg hat der errungen, Der der Wahrheit Blitz geschwungen, Der die Geister selbst befreit, Freiheit der Vernunft erfechten 39 1
Heißt für alle Völker rechten, Gilt für alle ew'ge Zeit. Die Deutschen sind ein universales Volk, das in sick selbst die universale Menschkeit zu erfüllen und die schönsten Blüten aus allen Völkern in einem Kranze zu vereinigen kat. Die Gedanken über Deutschland haben in Schil lers Geist nicht viel Raum in Anspruch genommen: das Gedickt ist über den ersten Entwurf niemals hinausgekommen. Wenn er überhaupt an Deutsch land dachte, dann nur in dem Sinne, daß er es sich als die Erfüllung der Universalität der Menschheit vorstellte. Am besten ist seine und Goethes Vorstellung von der deutschen Mission in dem berühmten Distichon über den deutschen Nationalcharakter ausgedrückt:
Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens; Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus. 14 Goethe (1749—1832) hat den Umstand, daß Deutschland nicht zu einer na tionalbewußten Einheit gelangen konnte, genauso wenig bedauert wie Schiller. Als er als junger Mann Sonnenfels' Schriften über den Patriotis mus besprach, flehte er darum, daß die Deutscken vor diesem Gefükl be wahrt bleiben möchten; niemals in seinem Leben hat er seine ablehnende Einstellung gegenüber dem Nationalismus geändert. Und doch hat er wäh rend der sechzig Jahre, die zwischen jener Besprechung und seinem Tode abliefen, das Emporkommen des deutscken Nationalismus erlebt, die Begei sterungswellen, welche die Jugend des Landes in die Befreiungskriege trieb, und die endlosen Diskussionen über den Nationalgeist und die deutsche Mission, die die gebildeten Schichten nach 1806 voll beschäftigten. 18 12 hatte er mit dem Historiker Luden ein Gespräck über Bernhard von Wei mar, den bekannten Feldherrn, der zuerst in schwedischen und anschließend in französischen Diensten gestanden hatte. Goethe hat damals mit Recht darauf hingewiesen, daß zu jener Zeit die Ideen Vaterland und Nation noch nicht existiert hätten und auch noch in späteren Zeiten unbekannt gewesen seien, da diese früker wakrsckeinlich nur selten wirksam geworden seien. Deskalb könne man niemandem einen Vorwurf daraus macken, daß er nicht in einem patriotischen oder nationalen Sinne gehandelt habe. Aber selbst als infolge der Napoleonischen Kriege der Nationalismus in Deutschland zu einer treibenden Kraft geworden war, hat Goethe sick niemals zu dieser 392
Idee bekannt. Zu einer Zeit, in der jeder damit beschäftigt sei, neue Vater lande zu schaffen — so meinte er 1799 — sei das Vaterland des vorurteilslos denkenden Menschen nirgends und überall zugleich. Seine Mutter, die einer älteren Generation angehörte, schrieb ungefähr um die gleiche Zeit — am 20. Januar 1798 — daß es ihr persönlich gut gehe, und daß sie all die Dinge, an denen sie sowieso nichts ändern könne, auf sich beruhen lasse. Weimar sei der einzige Fleck auf der ganzen weiten Welt, von wo Nachrichten, die sie beunruhigen würden, zu ihr gelangen könnten. Wenn ihre Lieben dort alle wohlauf seien, dann könne von ihr aus das rechte und das linke Rhein ufer gehören, wem immer es gefiele; weder ihr Schlaf noch ihr Appetit wür den darunter leiden. — So dachte man damals allgemein über diese Dinge in Deutschland. Goethes Gedanken kreisten um die ewigen Werte der Z ivi lisation. »Wo wir uns bilden, da ist unser Vaterland«, sagte er am 25. Sep tember 1802 in Weimar von der Bühne herab. Noch stärker ist dieser Ge danke in Wilhelm Meisters Wanderjahren ausgedrückt: »Man hat gesagt und wiederholt: >wo mir's wohlgeht, ist mein Vaterland!« doch wäre die ser tröstliche Spruch noch besser ausgedrückt, wenn es hieß: wo ich nütze, ist mein Vaterland!« Goethe, der Napoleons Herrschaft über Deutschland willig hingenommen hat, verehrte den Kaiser, der für die deutsche Kunst und die deutsche Lite ratur mehr Verständnis hatte als Friedrich II. Die Beamten des Kaisers üb ten nicht mehr Gewalt aus und waren allgemein beliebter als die franzö sischen Zollbeamten, die Friedrich II. in seinen Diensten gehabt hatte. Viele prominente Deutsche haben willig und eifrig in der französischen Verwal tung gedient. Goethe hat wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß ihm das politische Schicksal Deutschlands gleichgültig sei; als das Nationalgefühl zu erwachen begann, hat er zur Unterwerfung unter die französische Herr schaft geraten und davor gewarnt, den griechischen und römischen Patrio tismus dafür einzuspannen, die Deutschen gegen die Franzosen aufzu hetzen. In einer Äußerung Riemer gegenüber verschwinden vor einer eigen artigen Mischung aus christlicher Demut und aufgeklärtem Universalismus die nationalen Unterschiede. Goethe sagte, daß unser Leben nicht zu Ab sonderung und Trennung von anderen Völkern sondern im Gegenteil zu engstem gegenseitigen Austausch führe. Das gegenwärtige bürgerliche Le ben sei nicht wie das bürgerliche Leben der Alten: die Gegenwart lebe einer seits in viel größerer Freiheit und ohne die einseitige Beschränktheit der Alten, und andererseits stelle auch der Staat keine so hohen Anforderungen an den einzelnen. Er meint weiter, daß es kindisch sei, gegen einen Sieger aufzutrumpfen, aus keinem anderen Grunde, als daß man von griechischem
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und lateinischem Geist durchdrungen sei. Gleichzeitig pries er die christ lichen Tugenden: hier scheine es rühmlicher und erstrebenswerter, Hammer anstatt Amboß zu sein; und doch: wieviel gehöre dazu, diese nie enden wollenden, ständig sich wiederholenden Schläge auszuhalten! Der französische Gesandte am Weimarer Hof, Graf Reinhard, war ein Deutscher; seine Gattin, eine Tochter aus dem berühmten Hamburger Hause Reimarus, hat 1807 ihrer Mutter berichtet, Goethe habe die Überzeugung ausgesprochen, daß die deutsche Sprache niemals ganz verschwinden werde. Niemals werde ich das glauben, — habe er gesagt — die Deutschen seien wie die Juden, sie können wohl unterdrückt, niemals aber ausgelöscht werden. Selbst wenn sie kein Vaterland mehr haben sollten, so wären sie dadurch doch nicht entmutigt, und sie würden immer geeint bleiben. Bei einer ande ren Gelegenheit hat Goethe geäußert, daß die Deutschen niemals unterge hen würden, genau so wenig wie die Juden, weil sie Individuen seien. So waren nach seiner Anschauung das Fehlen des Nationalismus und der starke Individualismus vorteilhafte Erscheinungen für die Deutschen, die als ein zelne so trefflich und als Nation so erbärmlich seien. Goethe ist sein ganzes Leben hindurch seinem Weltbürgertum treu ge blieben. Während seiner letzten Jahre hat er in den Gesprächen mit Ecker mann seine Liebe und Achtung für Frankreich, für die französische A uf klärung und für Paris selbst zum Ausdruck gebracht — Paris verherrlichte er als die Metropole der Welt, in der während dreier Generationen Männer wie Molière, Voltaire, Diderot, und andere das geistige Leben in einem solch lebendigen Fluß gehalten hätten, wie es sonst nirgends auf der Welt geschehen sei. 18 3 0 meinte er, daß es für ihn, dem Kultur oder Barbarei allein entscheidende Faktoren seien, unmöglich sei, eine Nation zu hassen, die eine der gebildetsten auf Erden sei, und der er einen sehr großen Teil seiner eigenen Bildung verdanke. Und von diesem speziellen Falle ausge hend, leitete Goethe zu einer allgemeinen Betrachtung über den nationalen Haß über. Er meinte, man würde diesen immer dort am stärksten und hef tigsten antreffen, wo der Grad der Bildung am niedrigsten ist. Aber es gebe auch einen Grad, wo der nationale Haß völlig verschwände, wo man sozu sagen über den Nationen stehe und das Wohl und Wehe einer benachbar ten Nation wie das der eigenen empfinde. Dieser Grad der Kultur entspreche seiner eigenen Natur. Nichts war seinem Wesen fremder als jene roman tische Wiederbelebung der geschichtlichen Vergangenheit. In einem Ge spräch über Fouqués »Sängerkrieg auf der Wartburg< hat er bemerkt, daß man aus diesen alten, in Dämmerung gehüllten deutschen Zeiten genau so wenig gewinnen könne wie aus den serbischen Liedern und ähnlichen bar
barischen Volksdichtungen. Man könne diese Dinge lesen und sich eine Zeit lang damit beschäftigen, aber doch nur um sie dann wieder beiseite zu le gen und sie hinter sich zurückzulassen. Allgemein gesprochen sei der Mensch durch seine eigenen Leidenschaften und Geschicke schon betrübt genug; es sei nicht nötig, ihn durch die Dunkelheit einer barbarischen Ver gangenheit noch mehr zu betrüben. Goethes sechzig Jahre schöpferischen Wirkens entsprachen der entschei denden Wachstumsperiode des deutschen Nationalismus, von seinen ersten Regungen in den frühen Siebzigerjahren unter Klopstocks und Herders Ein fluß, bis hin zu der Zeit, wo er unter den Romantikern und unter der histo rischen Schule die Dämme des rationalen Universalismus zu durchbrechen drohte. Als junger Mann hatte Goethe für kurze Zeit unter Herders Ein fluß gestanden; aber bald hatte er sich von jenem wieder abgewandt, und der Weg, den sein Geist verfolgte, führte ihn auf die Höhen des Universa lismus, von wo aus seine Blicke Frankreich und England, Rom und Persien mit der gleichen Liebe umfaßten. Okzident und Orient, alle Länder und Religionen waren gleichermaßen von Gott. Als Goethe ein Memorandum zu der Feier der dreihundertsten Wiederkehr des Reformationstages im Jahre 1 8 1 7 schrieb, wollte er, daß dieser Tag nicht als eine nationale Feier, son dern als ein >Fest der reinsten Humanität« begangen werde.
15 Nur drei Gestalten aus der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des acht zehnten Jahrhunderts — nämlich Klopstock, Justus Möser und Herder — kann man, jeden in seiner Art, als Vorläufer des deutschen Nationalismus ansprechen. Doch auch diese drei Gestalten wurzelten tief in der Aufklä rung: ihre Geisteshaltung war humanitär und in eben dem Maße kosmo politisch wie national. Jeder von ihnen hatte ein starkes Freiheitsempfinden und eine universale Gedankenweite, die den typischen Vertretern des deut schen Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts gänzlich fehlte. Klopstock (1724—1803), der als der Entdecker des deutschen Volkstums gefeiert worden ist, kann als der erste, bewußt nationale deutsche Dichter angesprochen werden. Genau wie Milton hatte auch er in seiner Jugend den Entschluß gefaßt, ein großes Lehrgedicht für seine Nation zu schaffen, und Milton blieb auch weiterhin sein großes Vorbild. Er stellte die deutsche Literatur der Literatur anderer Völker zum Vergleich gegenüber, und ihre Minderwertigkeit, die dabei zu Tage trat, verursachte ihm große Schmer-
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zen. In seiner Abschiedsrede in Schulpforta, am 2 1. September 17 4 5, gab er der glühenden Hoffnung Ausdruck, Deutschland möge sich zu geistigen Höhen aufschwingen und durch unsterbliche Werke, besonders durch ein großes Epos, sich als den Nationen der Antike und der zeitgenössischen Welt gleichwertig erweisen. Mit Leidenschaft begrüßte er den künftigen Dichter, der Deutschland ewigen Ruhm bringen wird, der alle voraufge gangenen Jahrhunderte als seine Lehrer betrachtet und mit offenen Sinnen den Wundern der Natur gegenübersteht, sogar in das Geheimnis der Zukunft eindringen wird — ein Dichter, der sich der Menschheit, der Un sterblichkeit und sogar Gottes, dessen Lob er an erster Stelle singt, würdig erweisen wird. Der ehrgeizige Traum seiner Jugend ist in Erfüllung ge gangen. Klopstocks Werk war durch die Träume und Hoffnungen einer künfti gen geistigen Größe Deutschlands beseelt; es war des Dichters Bemühen, die Quelle, und zwar die Quelle des eigenen deutschen Geistes zum Fließen zu bringen. Der entscheidende Faktor bei dem im achtzehnten Jahrhundert wachsenden Nationalbewußtsein war die Betonung nationaler Unterschiede und der Originalität jedes einzelnen Nationalgeistes. Der Klassizismus hat an eine allgemeingültige Norm in Kunst und Literatur geglaubt, und er war um den reinsten Ausdruck eines gemeinsamen kulturellen Erbes bemüht. Der neue Nationalismus hingegen erachtete den nationalen Charakter als wesenhaft unterschieden von allen anderen Nationalcharakteren, als die eigentliche Quelle der schöpferischen Inspiration. »Jede Nation hat ein Schönheitsideal, das ihr eigen ist; jede Nation sollte sich mit ihrem eige nen Schönheitsideal zufrieden geben; keine Nation sollte von ihrer Natur und von ihrem Temperament abweichen.« Diese Worte aus dem Munde des schwedischen Grafen Karl August Ehrensvärd waren für die Tendenz jenes Jahrhunderts bezeichnend. Diese Betonung des Eigentümlichen fand ihr Gegenstück in der von Hamann und vom Sturm und Drang entwickel ten Theorie über das Genie, wonach das Genie nicht von anderen Vorbil dern lernen könne, sondern ausschließlich auf jene spontane Eingebung an gewiesen sei, die das Individuum über die gewöhnliche Menschheit hinaus hebt. Freiheit bedeutete in diesem Sinne Unabhängigkeit von allen anderen Menschen, sie bedeutete die schöpferische Kraft des Ich. Nach Hamanns Anschauung (1730 —1788) wurzelte das individuelle Genie im nationalen Genius, der jedem Volke eigen sei. Und doch ist Hamann kein deutscher Nationalist gewesen. Am 20. August 178 4 hat er an Scheffner geschrieben: »Habe kaum Lust, ein Deutscher zu sein; bin, ohne Ruhm zu melden, weder mehr noch weniger als ein Ostpreuße.« Aber ebensowenig war er 396
ein Lokalpatriot. 17 8 7 hat er an Jacobi geschrieben, daß er niemals eine besondere Zuneigung zu Preußen empfunden habe; er liebe sein Vater land mehr in der Art einer Pflicht und Verpflichtung. Die Erde sei Gottes, und in diesem Sinne sei er ein Weltbürger. Hamanns Theorie gab der Lehre Rousseaus eine neue, von der ursprüng lichen abweichende Richtung: sie übersteigerte die in ihrer Feindseligkeit gegenüber der Zivilisation beruhende revolutionäre Dynamik. Die Dichter und Schriftsteller des Sturm und Drang haben sämtliche Schranken, die Tradition und Sitte errichtet hatten, angegriffen; sie fühlten sich wieder als die uranfängliche Jugend, in einem barbarischen Aufruhr gegen die sie umgebende, anscheinend veraltete und vergreiste Welt, die ihren über schwenglichen Drang nach all den unbegrenzten Möglichkeiten, die dem Menschen offengestanden hatten, bevor er in die Zwangsjacke der Z ivi lisation eingezwängt worden war, zu unterdrücken suchte. Nicht lange hat es gedauert, da erschienen die alten Germanen als die Repräsentanten einer urtümlichen Kraft und unverdorbenen Natur — und ihre Gegner, die Römer, als die dekadenten und korrupten Opfer der Zivilisation, von Goldsucht beherrscht, berechnend und unwahrhaftig, mit ihrem kalten Verstände un fähig, die Tiefe des ungebrochenen germanischen Fühlens nachzuempfinden. Klopstock entdeckte die alten germanischen und nordischen Mythen, in de nen er die nach seiner Auffassung typische deutsche Ernsthaftigkeit und Tiefe, Charakterstärke und Schlichtheit wiederfand. Durch sein Wirken be gannen diese Sagen die christliche und die griechisch-römische Mythologie zu verdrängen. Für Klopstock und seine Generation waren diese Mythen ein literarisches Ausdrucksmittel für den Rousseauschen Geist der Zeit. Erst im neunzehn ten Jahrhundert wurden diese Mythen zu wirksamen Kräften, die gestal tend auf die Vorstellung und den Willen der Menschen einwirkten, zu dy namischen Göttern einer neuen nationalen Religion, deren schreckliche Fol gen Heinrich Heine bereits 18 3 4 vorausahnen sollte. Klopstock hat nie mals daran gedacht, den germanischen Mythos der christlichen Tradition und Ethik entgegenzustellen. Sein großes Lehrgedicht für die Nation war nicht eine Verherrlichung Deutschlands, sondern das Epos >Messias<, an dem er siebzehn Jahre lang gearbeitet hatte. Von den sechs Dramen, die er ge schrieben hat, waren drei dem Alten Testament (>Adams Tod<, >David<, >Salomo<) und drei der Verherrlichung des Arminius gewidmet (»Hermanns schlacht«, »Hermanns Tod<, »Hermann und die Fürsten«). Zw ar war nicht er es, der die Gestalt des Hermann für die deutsche Literatur entdeckt hat, aber er hat sie volkstümlich gemacht, und Hunderte wertlose Dichtungen
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versuchten seinem Vorbilde nachzueifern. In seinen Oden hat er gerne die zeitgenössischen Deutschen mit den alten Germanen identifiziert:
Hermanne unsre Fürsten sind, Cherusker unsre Heere sind, Cherusker kalt und kühn! Und er sang seinen Stolz auf die Eroberung des alten Rom durch die Ger manen und auf die germanischen Reiche in Gallien und Britannien. Deutsch land erschien ihm als ewig unbesiegt und unüberwindlich. Aber bei all seiner Glorifizierung des Ruhmes der alten Germanen liebte Klopstock weder den Krieg noch den Kriegsruhm, weder den Staat noch Er oberung und Gewalt. Er sang für die Freiheit, aber nicht für die nationale Freiheit, sondern für die individuelle Freiheit, für die Freiheit des Menschen, für die Freiheit von Unterdrückung durch die Obrigkeit. Er haßte allen politischen Machtdurst, den er für unmoralisch und unreligiös hielt, der Tugend und der Menschenliebe, nach der sein Herz verlangte, entgegen stehend. Er begrüßte die Amerikanische wie die Französische Revolution, weil er in ihnen die Erfüllung der Sehnsucht der Menschheit sah. Stolz war er auf die ihm verliehenen französischen Bürgerrechte, und obgleich er wie so viele, die anfangs für die Französische Revolution hell begeistert waren, ihren Terror verabscheute, war er doch glücklich über seine Ernen nung zum korrespondierenden Mitglied des Institut de France im Jahre 1802, zu einem Zeitpunkt also, an dem das linke Rheinufer bereits von den Franzosen besetzt worden war. Er rühmte Joseph II., weil er die Bauern und besonders die Juden eman zipiert hatte:
Den Priester rufst du wieder zur Jüngerschaft Des großen Stifters, machest zum Untertan Den jochbeladnen Landmann; machst den Juden zum Menschen. Wer hat geendet, Wie du beginnest?. . . Wen faßt des Mitleids Schauer nicht, wenn er sieht, Wie unser Pöbel Kanaans Volk entmenscht! Und tut der's nicht, weil unsre Fürsten Sie in zu eiserne Fesseln schmieden?? Du lösest ihnen, Retter, die rostige, Eng angelegte Fessel vom wunden Arm; Sie fühlen's, glauben's kaum. So lange Hat's um die Elenden hergeklirret!
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Seiner Bewunderung Josephs II. standen seine bitteren Gefühle für Fried rich II. gegenüber. Seine humanitäre und pazifistische Einstellung und sein Mitgefühl mit den Schwachen gegenüber aller Übermacht machten ihm die preußische Machtpolitik zuwider. Niemals hat er ein gutes Wort für Fried richs militärische Erfolge oder für seine aufgeklärte Form des Despotismus gefunden. Obgleich er die Siege der alten Germanen über die Römer ge rühmt hat, konnte er es niemals über sich bringen, ein Wort der Anerken nung für Friedrichs Sieg über die Franzosen bei Roßbach, der so vielen als ein Ereignis von nationaler Tragweite erschienen war, auszusprechen. Selbst der Tod des Königs konnte die feindseligen Gefühle, die er gegen ihn hegte, nicht dämpfen. Sein Patriotismus war vage und altertümelnd, sein Natio nalismus rein literarisch, eine Betonung des nationalen Genius in Kunst und Literatur, ein Gefühl des Stolzes auf den deutschen Geist und ein per sönliches Missionsgefühl als Ausdruck des deutschen Genius. Er hat niemals daran gezweifelt, daß diese Faktoren mit seinem humanitären Streben nach allgemeiner Gerechtigkeit und seiner tiefempfundenen Liebe für die gesamte Menschheit wohl vereinbar wären. Die Versammlung der Generalstaaten im Jahre 1788 erschien Klopstock als der Anbruch eines neuen Tages. Er segnete sein hohes Alter, weil es ihm die Genugtuung gewährte, ein Zeuge der »edelsten Tat< des Jahrhunderts zu sein. Er sah jetzt in den Franzosen seine Brüder, und er bedauerte nur den Umstand, daß es die Franzosen waren und nicht die Deutschen, die als erste den Gipfel der Freiheit erklommen und das rühmliche Beispiel für alle Men schen gegeben hatten. Die Franzosen hätten sogar das schrecklichste aller Un geheuer, den Krieg, in Fesseln geschlagen. Zuerst war er der Ansicht gewesen, daß die Amerikaner die ersten gewesen wären, die Fackel der Freiheit zu entzünden, und daß Deutsche hieran beteiligt gewesen waren, war ihm ein besonderer Trost gewesen. Nun hatte aber Frankreich der Menschheit das entscheidende Beispiel gegeben. Der begeisterte alte Mann versuchte, das re volutionäre Frankreich in seinen Schutz zu nehmen, wo immer er nur konnte, war es doch das Volk, das als erstes dem Endziel der Menschheit näher ge kommen war und das den Eroberungskrieg abgeschafft hatte. Und in einer seiner lebendigsten Oden warnte er die deutschen Fürsten, daß auch in Deutschland ein gleiches Feuer ausbrechen könne, wenn sie die französische Freiheit bekämpften und den vergötzten Herrschern Menschenopfer brächten:
Und jetzt wollt ihr sogar des Volkes Blut, das der Ziele Letztem vor allen Völkern sich naht, Das, die belorbeerte Furie, Krieg der Erobrung, verbannend, Aller Gesetze schönstes sich gab,
Wollt das gepeinigte Volk, das, Selbsterretter, der Freiheit Gipfel erstieg, von der furchtbaren Höh, Feuer und Schwert in der Hand, herunter stürzen, es zwingen, Wilden von neuem dienstbar zu sein. Wollt, daß der Richter der Welt —und bebt! —auch eurer, dem Menschen Rechte nicht gab, erweisen durch Mord! Möchtet ihr, ehe das Schwert von der Wunde triefet, der Klugheit Ernste, warnende Winke verstehn! Möchtet ihr sehn! Es entglüht schon in euren Landen die Asche, Wird von erwachenden Funken schon ro t. . . Fragt, der blinken die Pflugschar läßt, die Gemeinen des Heeres, Deren Blut auch Wasser nicht ist: Und durch redliche Antwort erfahret ihr oder durch lautes Schweigen, was in der Asche sie sehn. Doch ihr verachtet sie. Spielt denn des neugestalteten Krieges Nie versuchtes, schreckliches Spiel, Allzuschreckliches! Denn in den Kriegen werden vergötzten Herrschern Menschenopfer gebracht.
16 Klopstocks unklarer Nationalismus und sein festgegründeter Liberalismus begeisterten die jüngeren Dichter, die in ihm den ersten großen und eigen ständigen deutschen Dichter sahen. Eine Studentengruppe in Göttingen, der Göttinger Dichterbund, begann in den Siebzigerjahren sich altgermanische Namen zuzulegen und im empfindsamen Stil jener Zeit das neu zu beleben, was sie für altgermanisches Gut hielten. Unter den Mitgliedern dieser Dichtergruppe befanden sich Johann Heinrich Voß ( 17 5 1—1826), der spä ter der bekannteste Übersetzer von Homer und der Verfasser idyllischer Gedichte über das Leben des ländlichen Mittelstandes in Norddeutschland geworden ist, sowie Friedrich Leopold Graf Stolberg, der in der Klopstock zugeeigneten Ode >Mein Vaterland< seinen Stolz auf sein Deutschtum sang, weil es die Deutschen niemals nach fremden Besitz gelüstet hätte und weil sie niemals andere Völker versklavt, sondern sich immer als schützen den Schild vor die Verfolgten gestellt hätten. Interessanter ist die Tatsache, daß Voß in einem Friedrich Leopold von Stolberg gewidmeten Gedicht >Deutschland< (1772) Karl den Großen verurteilt hat. Deutschland, sagte er, sehe mit Stolz auf all die Völker, denen es Könige und Feldherrn gege ben habe. Aber war es denn nicht auch ein König deutschen Blutes gewe400
sen, der unter dem Einfluß römischer Mönche Deutschen die Fesseln der Sklaverei angelegt und die Sachsen dazu gezwungen hat, Statuen und Idole zu verehren anstatt Wotans unsichtbare Gottheit? Durch seine hoffärtigen Eroberungen und durch seine Unterwürfigkeit unter die römischen Priester habe Karl der Große bewiesen, daß er kein deutsches Herz gehabt hat und nicht von Hermanns Art gewesen ist. Aber diese jungen deutschen Enthusiasten bedienten sich, wie auch Klopstock, der schwierigsten klassischen Versmaße, sie gehörten zur >republique des lettres< und blieben dem Volke entrückt. Nur einer von ihnen, Gottfried August Bürger, schrieb im Vorwort zur zweiten Ausgabe seiner Gedichte (1789), er sei der Ansicht, daß die Dichtkunst, wenn sie auch von gebildeten Menschen ausgeübt werde, so doch nicht ausschließlich für die Gebildeten, sondern für alle Menschen sei. Und in seinem >Herzensausguß über Volks poesie', den er im »Deutschen Museum< 17 7 6 erscheinen ließ, meinte er, daß deutsche Dichter keine griechischen, römischen oder weltbürgerlichen Gedichte in deutscher Sprache zu schreiben hätten, sondern deutsche Ge dichte in der deutschen Sprache, nahrhaft und verdaubar für das gesamte Volk. So ein auf das Volk bezogener Nationalismus war Klopstock und dem Göttinger Dichterbund vollkommen fremd gewesen. Wohl pflegten sie empfindsame Erinnerungen an eine verherrlichte, sagenhafte, glorreiche und heroische Vergangenheit, aber sie wären als erste vor dem Gedanken zurückgeschreckt, diese Vergangenheit in der zivilisierten und humanitären Zeit, in der sie lebten, und deren Fortschrittlichkeit und Liberalismus sie mit Stolz erfüllte, Wiedererstehen zu lassen. Während jene auf ferne Vergangenheiten zurückgriffen, für die keine festen Anhaltspunkte mehr vorhanden waren, hat Justus Möser (1720 bis 1794) die Wurzeln der deutschen Nation, so wie er sie sich vorstellte, im Mittelalter gefunden, als die Menschen noch ländliche Freisassen gewesen waren, bewaffnet und zur Verteidigung bereit, eine Gesellschaftsordnung, deren schwache Spuren in seiner nordwestdeutschen Heimat noch erkenn bar waren. Das Bistum Osnabrück, das Möser als sein Vaterland bezeichnete, und dem er sein ganzes Leben hindurch diente, hatte viele Züge aus der Vergangenheit bewahrt, die er nun mit liebender Sorgfalt studierte. Er war unter dem Einfluß der französischen Literatur aufgewachsen und hat als junger Mann mit seiner Familie französisch korrespondiert. Viel ver dankte er auch seinem engen Kontakt mit England, der auf den nahen Be ziehungen zwischen Osnabrück und Hannover beruhte. In seinen Schriften findet sich nicht die so häufig die Werke und Gedanken seiner zeitgenössi schen Dichter auszeichnende Eifersucht oder Konkurrenzsucht gegenüber der 401
Literatur des Auslandes. Er folgte Voltaires Beispiel in dem Bemühen, die Geschichtsschreibung aus der Enge einer Wiedergabe von Hofereignissen zur Weite einer großen Darstellung aller in einer Periode herrschenden Lebensströmungen herauszuführen. Er hat die deutsche Geschichtsschrei bung reformiert, indem er, anstatt Könige, Helden und Schlachten hervor zuheben, das Volk, seine Einrichtungen, sowie den Einfluß des Rechts auf das tägliche Leben in den Vordergrund stellte. Im Oktober 177 6 begann er mit der Herausgabe der >Osnabrückischen Intelligenzblätter<, um seinen Mitbürgern eine politische Erziehung angedeihen zu lassen und um ihnen auf eindringliche Art nützliche Wahrheiten, die er aus den Erfahrungen des täglichen Lebens gelernt hatte, beizubringen. Bis 17 8 2 hat er diese Zeit schrift weitergeführt, die dann in ganz Deutschland berühmt wurde, als seine Tochter Jenny, die Gattin des königlich englischen Rates Justus von Voigts, seine Beiträge in einer besonderen Ausgabe sammelte und sie in vier Abschnitten unter dem Titel »Patriotische Fantasien< ab 17 7 4 veröffent lichte. Mösers unvollendet gebliebenes Hauptwerk, die >Osnabrückische Ge schichte', die er nur bis 13 3 6 durchführen konnte, bezeugt die Sorgfalt, mit der Möser auf die Quellen zurückgriff, und seine Liebe zum Detail. Möser hatte nichts, das ihn mit dem Sturm und Drang verbunden hätte: für ihn war die Frömmigkeit die Grundlage aller Tugenden. Er war, um das Wort zu gebrauchen, das Goethe von ihm gesagt hat, >ein Patriot'. Deutlich war Rousseaus Einfluß, als er schrieb, daß, wenn wir richtig den ken würden, eine Unterhaltung mit dem einfachen, ursprünglichen und un verdorbenen Landvolk uns mehr Freude bereiten würde als die Bühne der Theater, auf der einige Schauspieler, gleich vollendeten Marionetten, affek tiert ihre Rollen herunterspielen. Aber im Unterschied zu Rousseau suchte Möser seine Vorbilder nicht in den alten Stadtrepubliken, sondern in der ruralen Gesellschaft des Mittelalters. Mit Rousseau verband ihn eine ge meinsame Abneigung gegen die großen Städte und gegen die urbane Be völkerung, gegen den Kapitalismus und gegen den Handel, aber selbst für die Anhänger Rousseaus blieb die Zivilisation der Stadt als ihrer Quelle und ihrem Brennpunkt verhaftet — so wie sie es seit unvordenklichen Zei ten, von der frühesten Antike an bis zur Neuzeit hin immer gewesen ist. Möser war der erste, der diesen Grundzug umkehrte: seiner Ansicht nach war die Kultur ganz konkret, sowohl ihrer Herkunft als auch der ihr inne wohnenden Kraft nach, mit dem Landleben verknüpft. Die landsässige Be völkerung war in seinen Augen die wahre Grundlage des nationalen Le bens und der nationalen Stärke. In seiner Besprechung von Mosers >Von dem Nationalgeiste' w arf er die Frage auf, wo man denn die Nation finde 402
— in den Höfen etwa? Das wird wohl niemand annehmen wollen. In den Städten? Da befindet sich nur eine korrupte und mißlungene Nachahmung der Nation; in der Armee gibt es nur seelenlose Maschinenmenschen; und auf dem Land, da gibt es nur unterdrückte Bauern. Damals, als jeder Franke oder Sachse noch sein freies Grunderbe bewirtschaftet habe, von Lehnsherren und Großgrundbesitzern unabhängig, und als er es noch sel ber verteidigte, als er von seinem Grund und Boden zu der allgemeinen Versammlung der Freisassen ging, und als ein Mann, der keinen Grund besaß, selbst der reichste Krämer, zu der Klasse der Armen gehörte — da mals hätte es noch eine Nation gegeben. Zu seiner Zeit aber nicht mehr. Möser beklagte, daß in der deutschen Geschichte der Sieg der Fürsten und Feudalherren nicht nur die Freiheit der Bauern, sondern auch den Einfluß der Städte vernichtet habe. Wenn das nicht geschehen wäre, dann hätte in Deutschland die Entwicklung die gleichen Wege wie in England eingeschlagen: in Regensburg würde dann anstatt des Reichstages ein Par lament zusammentreten, das aus zwei Häusern bestünde, aus einem unbe deutenden Herrenhaus und aus einem Unterhaus, in welchem die Städte und Kreise gemeinsam Gesetze beschließen könnten, die für die gesamte Welt von Bedeutung wären. »Nicht Lord Clive, sondern ein Senator aus Hamburg würde am Ganges herrschen.« Der großen Erfolge der Hansa gedenkend, sagte Möser, daß sich dieser Geist bestimmt zum Herren der beiden Indien gemacht und den Kaiser zu einem Weltmonarchen erhoben haben würde. Welche Empfindungen müsse ein Deutscher haben, wenn er sieht, wie die Nachkommen solcher Männer Zitronen aus Spanien oder Bier aus England einführen? Aber sein Herz war nicht bei den großen Kauf herren, auch nicht bei denjenigen, die ein großes deutsches Weltreich auf bauen würden. Industrie und Handel, so meinte er, seien fließende Güter, die von einem Land ins andere hinüberwechseln. Wieviel beständiger sei da ein Staat, der auf der Grundlage der Landwirtschaft errichtet sei! Diese sei immer in der Lage, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und finde leicht Abnehmer für ihre Überschüsse. Wenn Deutschland nur nach Wegen suchen würde, um seinen Export zu steigern und so dazu gebracht werden könnte, das brachliegende Land zu bebauen, könnte es zur mächtigsten Nation werden. Er bedauerte die wachsende Mobilisierung der Wirtschaft, und er zweifelte daran, ob die geistige Erziehung der Kinder, selbst die der Knaben, ratsam sei, denn es sei wichtiger für sie, mit dem Pflug umgehen zu können als mit der Feder; und was gar die Erziehung der Mädchen an gehe, wäre es ihm gar nicht wünschenswert, eine Frau zu heiraten, die le sen und schreiben könne! Möser ist oft mit Benjamin Franklin verglichen 403
worden; es haben wohl Ähnlichkeiten bestanden, so die Betonung des ge sunden Menschenverstandes, die didaktische Leidenschaft und die Menschen freundlichkeit — aber wie verschieden waren doch die Philosophien und Ideale dieser beiden Männer, und auch die Bedingungen, unter denen sie wirkten! Bei all seinen konservativen Interessen und seiner tiefen Verwurzelung in den lokalen Traditionen seines kleinen Provinzstaates hatte Möser doch eine gute Einsicht in die neue Freiheit, die sich in England während des siebzehnten Jahrhunderts durchzusetzen vermocht und während des acht zehnten Jahrhunderts in Amerika zu voller Reife ausgewachsen hatte. Sehr richtig hat er das Bürgerheer der Vereinigten Staaten als etwas angesehen, das sich seiner eigenen Vorstellung von einer bewaffneten Nation freier Männer annäherte, wo die Männer im Frieden Bauern und im Kriege Sol daten sein sollten. Er bewunderte Englands Vitalität und seinen liberalen Nationalismus, wo ungeheure geistige und soziale Kräfte immer in Bewe gung seien, und wo Redner, Dichter und Schriftsteller nicht nur für die Zwecke der Erziehung und des Vergnügens arbeiteten, sondern mit ihrem Enthusiasmus auch den Staat unterstützten. Dort betrachte der geringste Mann das Allgemeinwohl als eine Sache, die ihn persönlich angehe. Alle Satiren, Komödien, moralischen Ermahnungen und sogar viele Predigten stünden in einer direkten Beziehung zu den Geschäften des Staates. Es sei diese tiefe Anteilnahme, die die menschlichen Kräfte immer in einem angespannten Zustand erhalte und sie befähigte, ein höheres Ziel zu er reichen. Doch war es noch ein sehr großer Abstand, der sich zwischen den neuen Freiheiten des Westens und den alten Freiheiten Westfalens dehnte. Alles, was Tradition war, lag Möser sehr am Herzen. Er war gegen eine allge meine Erziehung und gegen eine öffentliche Gesundheitsfürsorge; der ho hen Kindersterblichkeit stand er gleichgültig gegenüber; er ist auch nicht für die Abschaffung der Folter und der Leibeigenschaft eingetreten. Ehre war für ihn unlösbar mit dem Besitz von Grund und Boden verbunden; die Menschenrechte bedeuteten ihm wenig, sie waren zu rational und zu allgemein. Er liebte das Partikulare, denn er fürchtete, daß allgemeine Ge setze einen nivellierenden und zentralisierenden Despotismus herbeiführen würden. Sein Herz gehörte dem Volke, aber nicht den einzelnen Individuen als solchen, sondern der in Stände und Klassen geordneten Nation, die sich auf alten Privilegien und Freiheiten aufbaute, und die in den konkreten und vielfältigen Beziehungen einer differenzierten und vielgestaltigen Ge sellschaftsordnung lebt. 404
So ein Mann konnte nur im Fürstentum Osnabrück heranwachsen, das eine der vielen Kuriositäten in dem monströsen Reiche war, welches ein großes Gemisch aus den entgegengesetzten Elementen und Strömungen ver schiedener Zeiten, Standesansichten und Religionen darstellte. Er haßte Despotismus, Zentralisation, Bürokratie, und er liebte die Unabhängigkeit und die individuelle Würde, er hatte eine klare Vorstellung von den Wer ten, welche die Aufklärung auf geistigem Gebiete geschaffen hatte; aber für die politischen und wirtschaftlichen Wandlungen der Epoche hatte er kein Verständnis. Alten Dingen und Institutionen legte er einen hohen Wert bei, eben weil sie alt waren. Viele von den Dingen, die später von der historischen Schule der Französischen Revolution und dem Rationalismus zum Vorwurf gemacht wurden, konnte man schon in Mösers Konservatis mus finden. Er neigte dazu, aus dem Alter der Mißstände ihre Unabänder lichkeit zu schließen und jede alte Usurpation mit dem Mantel der Recht mäßigkeit zu umkleiden. Der peinliche Beobachter des täglichen Lebens, der Menschen und der Kompliziertheit des staatlichen Lebens in seinem Ge burtslande predigte einen engherzigen romantischen Traditionalismus, so daß es nur weniger Jahrzehnte bedurfte, um zu beweisen, daß seine Schrif ten das waren, als was er sie in seiner Bescheidenheit genannt hat, nämlich »patriotische Fantasien'. Seine geistigen Wurzeln lagen im deutschen Ba rock; während seiner eigenen Tage waren die Verbindungen zwischen ihm und dem wachsenden deutschen Nationalismus nur sehr schwach gewesen. Aber sein Name war mit dem ersten bedeutenden Manifest des werdenden deutschen Nationalismus verknüpft, nämlich mit der von Herder 17 7 3 her ausgegebenen Publikation >Von deutscher Art und Kunst<, zu der auch Goethe einen Beitrag geliefert hatte und in der Mösers Einleitung zu seiner »Osnabrückischen Geschichte' (1768) abgedruckt war.
17 Mösers politische Schau beschränkte sich im wesentlichen auf Osnabrück mit seinen eigentümlichen Überresten alter Traditionen: er war ein Jurist und Staatsbeamter, der in einem kleinen Fürstentum verwurzelt war und der die deutsche Nation mit einer beinahe gänzlich aus dem Leben ver schwundenen Klasse, mit der aus Freisassen gebildeten Miliz, identifizierte. Herders Schau dagegen war ungleich weiter; in einem großen Schwung umfaßte er gleichzeitig die Geschichte der gesamten Menschheit und die der deutschen Nationalität. A uf beide hat er die zwei Grundelemente sei 405
nes Denkens angewandt: das Werden und die Spracke — Begriffe, deren gegenseitige Beziekung nickt unmittelbar war, welcke aber beide von grundlegender Bedeutung für die Entstehung des Nationalismus und für eine neue Deutung von Geschichte und Kultur waren. Die Natur und die Geschichte verloren den statischen Charakter, den sie noch zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts gehabt hatten. Beide sah er als einen wachsenden Organismus an, als Selbstoffenbarungen des Göttlichen in den unzähligen Äußerungsformen des Lebens, ein unendlicher Schöpfungsvorgang, bei des sen Betrachtung man weniger auf das Allgemeine als auf das Besondere und Einmalige achten sollte. Das rationale Denken des acktzehnten Jahr hunderts, das in Kant seinen Höhepunkt erreickt katte, katte das Schwer gewicht auf Recht, Planung und Zweckbestimmung gelegt; die neue An schauung verlegte das Schwergewicht auf Wachstum, Leben und Originali tät. Die große schöpferische Kraft, die das Universum erfüllte — die Natur wie die Geschichte — offenbarte sich in jeder Erscheinung; das schöpferische Herz des Dickters und Denkers antwortete auf diesen schöpferischen Wil len in einer Unmittelbarkeit und Spontaneität, die ihn selbst zu einem Teil des großen Schöpfungsprozesses machte. Herders Philosophie ist als ein Pantheismus bezeichnet worden, wobei sich dieser Pantheismus nicht so sehr auf die Natur als vielmehr auf die Geschichte bezieht, ein dynamischer Pantheismus des organischen Wachstums. Als Herder Volkslieder sammelte und sie in seinen »Stimmen der Völker« veröffentlichte, folgte er damit einem allgemeinen Zug der Zeit, der im Ge folge von Ossians Gedichten ganz Europa ergriffen hatte. Frühere Veröf fentlichungen und Forschungen dieser Art waren im Geiste der Altertums forschung durchgeführt worden, manchmal auch aus patriotischen Moti ven, wie bei Klopstock und seinem Kreis, um gegenwärtigen Bestrebungen einen Hintergrund altgeschichtlichen Glanzes zu geben. Für Herder hatte die Volksdichtung nicht Altertumswert, sie war ihm eine der großen Offen barungen des schöpferischen Geistes, den Werken großer Dickter und Künstler völlig gleickwertig. Sie war ein Teil der Geschichte, der seinen Wert in sich selbst trug; die Stimmen der Völker und die Stimmen der gro ßen Künstler — aus beiden sprach die gleiche große Schöpfungsmacht, vielartig entsprechend den Individualitäten der Völker und Menscken, der Zeiten und der ortsgebundenen Verhältnisse, ein unendlicher, aus zahllosen Fäden gewebter Teppich, wo jeder Faden von dem anderen ver schieden ist und doch alle das Werk des gleicken Meisters sind. Herder kat sich nicht auf die Sammlung deutscher Volkslieder beschränkt; sein Geist durchstreifte alle Völker und Zeiten und fand überall die gleiche 406
organische Schöpfung vor, aus allen hörte er die Stimme der Menschheit heraus. Der Sänger brachte nicht nur sich selbst, sondern auch eine Kraft, die größer war als er selbst, zum Ausdruck: nämlich die Kraft der nationalen Gemeinschaft, der er selber angehörte. Wenn die Völker sangen oder wenn große Dichter schrieben, so war es in beiden Fällen die Gemeinschaft (um ein modernes deutsches Wort zu gebrauchen), die durch sie sprach. Die na tionale Gemeinschaft war das notwendige Bindeglied zwischen der Mensch heit und dem Individuum; die schöpferischen Kräfte des Universums indi vidualisierten sich weniger in dem einzelnen menschlichen Wesen, als viel mehr in der Kollektivpersönlichkeit der nationalen Gemeinschaften. Diese Art der Gemeinschaft war von Rousseaus Gemeinschaftsbegriff verschie den, da jener zunächst und in der Hauptsache politisch war, auf Recht be ruhte und auf einer freien Willensentscheidung des Menschen aufbaute. Herders Gemeinschaft war organisch und naturgegeben, sie beruhte auf geistigen und kulturellen Grundlagen. In beiden Fällen brachte die Gemein schaft einen Gemeinwillen hervor, einen >sens commun< — aber welch him melweiter Unterschied liegt da doch zwischen >sens commun< und >Gemeinsinnsens commun< fand seine Verkörperung in einer Verfas sung und ihrer Anwendung; Herders Gemeinsinn aber in etwas viel Ungreifbarerem, Irrationalem und Vagem, in der besonderen Individuali sierung der Zivilisation in der nationalen Gemeinschaft, deren hauptsäch lichstes Werkzeug — und noch mehr als das — die nationale Sprache ist. Herder war der erste, der darauf bestand, daß die menschliche Kultur nicht in ihren allgemeinen und universalen, sondern in ihren besonderen und nationalen Äußerungen lebe. Jede kulturelle Äußerung muß einmalig sein, aber ihre Einmaligkeit ist die der nationalen Gemeinschaft und der natio nalen Sprache. Von Natur aus und durch Geschichte sind die Menschen in erster Linie Glieder ihrer nationalen Gemeinschaft; nur als solche können sie wirklich schöpferisch sein. Herders Entdeckung der Nationalität trug die Möglichkeit revolutionie render Folgeerscheinungen in sich: er betrachtete den Staat als etwas Zu fälliges und Künstliches, während die Nationalität etwas Natürliches und Wesenhaftes war. Da sein Nationalitätsbegrifi völlig unpolitisch war, konnte er einen Konflikt zwischen Staat und Nationalität nicht voraus ahnen. Aber seine Betonung der volkhaften Gemeinschaft und ihrer Spra che sollte bald den verschiedenen ethnographischen Gruppen in Mittel und Osteuropa eine neue Bedeutung zukommen lassen, indem sie inner halb dieser Gruppen das nationale Bewußtsein erweckte. Die Dynamik, die
in seinem Nationalitätsbegriff lag, sollte bald den von Herder gesteckten, rein kulturellen Rahmen durchbrechen. Die Französische Revolution hat den politischen Nationalitätsbegriff nach Mittel- und Osteuropa getragen, und als sich diese beiden Begriffe vereinten und neue Hoffnungen aufflammen ließen, fanden sich dort die erweckten Nationalitäten bald in einer scharfen Auseinandersetzung mit den bestehenden Staaten, die überall, in Deutsch land, auf dem Balkan und in Osteuropa, ohne Rücksicht auf Nationalitäten — ein dort bis weit ins achtzehnte Jahrhundert hinein unbekannter Begriff — entstanden waren und bestanden hatten. Herders Anrufung der schöpfe rischen Kräfte der Volkssprache und der Volkstraditionen hat nicht nur bei den Deutschen, sondern ebenso bei den Tschechen und Letten, Serben und Finnen neue Interessen und neuen Stolz erweckt. Nach 1848, als Herders Lehren Früchte zu tragen begannen, wurde der kulturelle Nationalismus zur Grundlage des politischen Nationalismus, dessen Ergebnis schließlich die langen Kämpfe um einen deutschen, tschechischen oder serbischen Staat waren, Kämpfe, die während der folgenden sieben Jahrzehnte die Ge schichte Mittel- und Osteuropas gestaltet haben. Und doch hätte Herders Auffassung nichts ferner liegen können als der Nationalismus des neun zehnten Jahrhunderts mit seinem Willen zur Macht und seiner Geltend machung politischer Ansprüche, und besonders die jüngste Form seiner Entwicklung, in der die Nation als der letzte und höchste Wertfaktor be trachtet wird. Diese Glorifizierung dunkler, elementarer Kräfte, diese über triebene Bejahung bloßer Naturgegebenheiten, hätten auf Herder absto ßend gewirkt. Seine Naturanschauung war nicht biologisch und wissen schaftlich — oder, besser gesagt, pseudowissenschaftlich — sondern meta physisch und moralisch. Seinen Nationalismus kann man nur aus dem begrifflichen Zusammenhang von aufgeklärter Humanität und rationaler Moralität verstehen, ein Zusammenhang, der für Herders Denken und für seine ganze Epoche von so grundlegender Bedeutung ist, daß er, wenn auch nicht immer ausgesprochen, so doch stets gegenwärtig ist. Obgleich Herder ein geborener Ostpreuße war, haßte er Preußen mit seinem Militärdespotismus und seiner bürokratischen Ordnung. Diese Ab neigung teilten die meisten seiner Landsleute mit ihm. Unter Friedrich Wil helm I. und Friedrich II. waren die Ostpreußen keineswegs patriotisch ge sinnt gewesen; die Bürger begrüßten die russische Besatzung: die lokalen Dichter und Schriftsteller schmeichelten den Russen und lobten sie, keine einzige patriotische Stimme erhob sich, und selbst als die Russen das Land wieder verlassen hatten und man sich ohne Furcht zu Preußen hätte be kennen können, ist nichts dergleichen geschehen. Der preußische Militaris 408
mus, der überall in Erscheinung trat, war verhaßt: öffentliche Parkanlagen waren Exerzierplätze, das königliche Schloß war eine Militärakademie. Nichts erfüllte Herder mit solchem Abscheu und Schrecken wie der Gedanke an den Militärdienst in der preußischen Armee. Um sich herum hatte er so viel Unterjochung und Knechtschaft: gesehen, daß ihm die russischen Provinzen im Baltikum, wo er seine erste Stellung hatte, als das Land der Freiheit und des Fortschritts erschienen. Sein erstes Gedicht war die >Ode an Cyrus<, in der er Peter III. von Rußland und den Frieden von 176 2 verherr lichte. Sieben Jahre später, auf seiner Seereise von Rußland nach Frank reich, schrieb er in seinem Journal über sein Geburtsland, daß die Staaten des Königs von Preußen nicht glücklich sein werden, ehe sie nicht aufgeteilt sind, und die Einwohner beschrieb er als zu ahnungslose Deutsche und zu sehr Untertanen. A ls er Litauen verließ, grüßte er es in einem Gedicht als sein zweites, besseres Vaterland, das ihn wesentlich besser behandelt habe als sein >verjochtes Vaterland<, sein von Friedrich versklavtes Preußen. Die Seereise nach Frankreich war von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung des Herderschen Denkens. Die Geschichte enthüllte sich ihm auf dieser Reise in ihrem ganzen unermeßlichen Reichtum in Raum und Zeit, und tief war seine Freude, als er die mannigfaltigen Formen des menschlichen Lebens wahrnahm, wie sie jede in sich vollkommen und nur in ihrem eigenen Rahmen voll verständlich war. Jede schien zu eigener Zeit und an eigenem Orte zu bestehen, in sich selbst gerechtfertigt und in ihrer Einmaligkeit die Idee der Entwicklung der Menschheit widerspiegelnd. Die ses traf besonders für die Nationen zu: sie unterschieden sich nach Ort, Zeit und innerem Charakter, und jede trug in sich selbst das Maß ihrer Voll kommenheit, das keiner anderen Nation vergleichbar ist. Er schloß daraus: »Die Glückseligkeit eines Volkes läßt sich dem ändern und jedem ändern nicht aufdringen, aufschwätzen, aufbürden. Die Rosen zum Kranze der Freiheit müssen von eigenen Händen gepflückt werden und aus eigenen Bedürfnissen, aus eigener Lust und Liebe froh erwachsen.« Wir müssen, wie Herodot, mit unvoreingenommenen Sinnen alle Völker betrachten und jedes in seiner eigenen Umgebung beschreiben und über seine eigenen Sit ten und Gebräuche Rechenschaft ablegen. Dann werden wir erkennen, daß alle Nationen, obgleich sie verschieden sind, doch einem einzigen Gesetze Folge leisten: nur das Maß macht glücklich, während Arroganz und Hof fart immer ihre eigene Vergeltung in sich tragen. Der Geist, der in der Ge schichte der Menschheit lebt, will, daß alle Völker auf ihre eigene A rt und in ihrem eigenen Raume glücklich werden, doch w ill er auch, daß der Sinn für Gegenseitigkeit in ihnen lebendig sei. Behandle jeden so, wie du be409
handelt zu werden wünschst. Denn die Menschengattung ist ein Ganzes; wir arbeiten und leiden, säen und ernten, jeder für alle. Diese kurzen Ausführungen enthalten Herders Philosophie des Natio nalismus. Jede Nationalität war für ihn ein lebendiger Organismus, eine Offenbarung des Göttlichen und deshalb etwas Heiliges, das man nicht zer stören, sondern pflegen sollte. Jeder Mensch könne nur innerhalb und durch seine Nationalität seine menschliche Bestimmung erfüllen. Für alle Nationa litäten traf dieses zu: alle waren gleich heilig, die scheinbar Fortgeschrit tenen wie die sogenannten >Primitiven<, in ihnen allen erfüllte sich, wenn auch auf verschiedene Art, die Bestimmung der Menschheit. Die Nationali tät lebte vor allen Dingen in ihrer Kultur; ihr hauptsächlichstes Instrument war ihre Sprache, die nicht ein künstliches Instrument, sondern eine Got tesgabe war, die Wächterin über die nationale Gemeinschaft und der Nähr boden ihrer Kultur. So wurde die Sprache, die Nationalsprache, zu einem heiligen Werkzeug; der Mensch konnte nur er selbst sein, indem er in sei ner eigenen nationalen Sprache dachte und wirkte. Mit der Achtung für alle anderen Nationalitäten war auch die Achtung vor ihren Sprachen ver bunden. Herder war der erste, für den die Rechte der Nationalität und der Sprache den gleichen Rang wie die Rechte des Staates einnahmen. Herder hatte sich gegen die Bestrebungen Joseph II. gewandt, der, nicht etwa aus deutsch-nationalistischen Gründen, sondern um die Verwaltung zu zentralisieren und zu modernisieren, die deutsche Sprache bei den vielen nichtdeutschen Nationalitäten der Habsburgischen Monarchie einführen wollte. Herder bestand auf den Rechten der Nationalitäten, und er tat das zu einer Zeit, als die Böhmen, Rumänen und Kroaten und andere sich kaum ihrer eigenen Nationalität bewußt waren. Er hat als erster die Behauptung aufgestellt, daß die Rechte der Nationalität vor allem Rechte der Sprache seien, und dieses zu einer Zeit, als viele Sprachen nicht viel mehr als Lokal dialekte waren, die von den ungebildeten Bauern gesprochen wurden, und denen man weder eine Zukunft noch eine eigene Würde zusprach. Es war weitgehend ein Ergebnis von Herders Wirken, daß sich bei diesen schlum mernden Völkern die Auffassung von der eigenen Nationalität und der eigenen Sprache zu ändern begann. Von ihm haben sie gelernt, daß ein Volk, und besonders ein unzivilisiertes, nichts Kostbareres besitze als die Sprache seiner Väter. Sein ganzer geistiger Reichtum an Überlieferung, Ge schichte, Religion, die ganze Fülle des Lebens, sein ganzes Herz und seine Seele leben darin. Ein solches Volk seiner Sprache zu berauben, bedeute, daß man ihm seinen einzigen unsterblichen Besitz, der seit Generationen > von den Eltern auf die Kinder vererbt worden ist, raubt. Den menschen 4 10
freundlichen Bestrebungen Josephs II. hielt Herder gegenüber, daß man die Kultur nicht vermittels einer fremden Sprache einem Volke aufdrängen könne. Diese entwickelt sich am besten, oder gar allein, innerhalb der Eigenlebigkeit der Nationalität, in ihrer ererbten und von Generation zu Generation weitergereichten Landessprache. Das Herz eines Volkes gewinne man nur, indem man seine Sprache rede. Ist es nicht einer großen Begeiste rung wert, bei so vielen Völkern in ihrer eigenen Denkart, in der Art, die ihnen am eigentümlichsten ist und die ihnen am meisten zusagt, die Saat für ihr Wohlergehen bis in die fernste Zukunft auszulegen? So hat Herder sich 179 3 geäußert. Aber bereits in seinem ersten Artikel — einem in der Schule gehaltenen Vortrag —, den er 176 4 veröffentlichte, hatte Herder die Behauptung aufgestellt, daß jede Sprache ihren bestimm ten nationalen Charakter habe, und daß uns deshalb die Natur dazu ver pflichte, einzig die Sprache unserer Abstammung zu erlernen, da diese un serem Charakter und unserer Denkungsweise am besten entspräche. Viel leicht könne man die Sprachen anderer Nationen nachlallen, aber ohne da durch in das Wesen ihres Charakters einzudringen. Man könne auch die toten Sprachen aus ihren Denkmälern mit viel Schweiß erlernen, aber ihren Geist wird man nicht erfassen können. Kein Wunder also, daß Herder die lähmende Wirkung, welche die klassische Bildung auf die armen >Märtyrer< der Lateinschulen ausübte, so betont hervorgehoben hat. Keine Schule, in der der Schüler nicht um den Lateinunterricht herumkam oder in der Latein das wichtigste Unterrichtsfach bildete, war nach seiner Meinung gut. Na türlich wandte er sich auch gegen den französischen Unterricht. Wenn die Sprache das Organ unserer Seelenkräfte, das Medium unserer innersten Bildung ist, dann können wir nicht anders, als in der Sprache unseres Vol kes und unseres Landes erzogen werden. Die sogenannte französische Er ziehung in Deutschland muß notwendigerweise zu einer Mißbildung und Fehlleitung deutschen Geistes führen. Beharrlich hat Herder von seiner Ju gend an bis in sein hohes Alter hinein an der Überzeugung festgehalten, daß jede Nation den Reichtum und die Eigentümlichkeiten ihrer eigenen An lagen und ihres eigenen Geistes aufspüren und pflegen müsse, und daß die Sprache ihr wichtigstes Ausdrucksmittel sei. Niemals könne ein Mensch in einer fremden Sprache schöpferisch dichten, weil in einem solchen Falle Inhalt und Form nicht zueinander stimmen würden; es wäre dies ein Ver such, einen nationalen Gedanken durch ein fremdes Medium auszudrücken. Denn kein Individuum, kein Land, kein Volk, keine Geschichte eines Vol kes, kein Staat sei dem anderen gleich. Deshalb ist das Gute, das Wahre und das Schöne auch nicht für alle gleich. Alle eigenen Kräfte werden un4 11
terdrückt, wenn nicht der eigene Weg gesucht wird und man blindlings dem Vorbild einer fremden Nation folgt. Die Zivilisation besteht in erster Linie in den Potentialitäten einer Nation und in dem Gebrauch, den sie davon macht. Für Herder war jede Nationalität ein selbständiger Träger einer all gemeinen Humanität, die in allen Nationalitäten lebt und sich entfaltet. Die Menschheit blieb für Herder das höchste, wenn auch etwas vage Ziel und Kriterium. Seine Liebe zur Nationalität umfaßte sämtliche Nationali täten und ihr nationales Leben. Die Liebe zur eigenen Nation solle uns nicht daran hindern, überall das Gute zu erkennen, das in fortschreitendem Maße nur im großen Strome der Zeiten und Völker verwirklicht werden könne. Denn die Nationen sind verschieden und einmalig, damit sie sich gegenseitig ergänzen können. Die Natur hat ihre Gaben nach Klima und Kultur verschieden verteilt. Wie sollte man sie da einander vergleichen? Man sollte sich vielmehr, wie Sultan Soleiman, darüber freuen, daß es auf der bunten Erdenwiese so verschiedene Blumen und Völker gibt, daß zu bei den Seiten der Alpen derart verschiedene Blüten aufgehen können, daß so verschiedenartige Früchte zu reifen vermögen. Wir sollten uns darüber freuen, daß die Zeit, die große Mutter aller Dinge, bald diese und bald jene Gaben aus ihrem Füllhorn streut und so die Menschheit langsam in allen ihren Komponenten aufbaut. Die Menschheit zu bilden und zu erziehen, sie menschlicher und men schenfreundlicher zu machen, das war Herders Hauptanliegen gewesen, so wie auch schon Lessing und Kant dies als ihre Hauptaufgabe betrachtet hat ten. Sein ganzes Leben hindurch hat er an dieser Zielsetzung festgehalten. In seinen jungen Jahren hatte er den Plan gefaßt, ein >Jahrbuch der Schrif ten für die Menschheit< herauszugeben, das ein Buch »zur menschlichen und christlichen Bildung« sein sollte, ein Tribut an das Jahrhundert, in dem sich humanitäre Ideen durchgesetzt und verbreitet hatten wie nie zuvor. Zehn Jahre nach der Vollendung seiner Schrift >Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit' begann er mit der Veröffentlichung der >Ideen zur Geschichte der Menschheit' (1784—17 9 1) , die den reifsten Ausdruck seines Denkens darstellen. Der ursprüngliche Titel lautete >Briefe, die Fortschritte der Humanität betreffend', womit er bewußt an einen an deren berühmten Titel aus dem literarischen Schaffen des achtzehnten Jahr hunderts in Deutschland erinnerte, nur daß er an Stelle der Literatur die Humanität in den Vordergrund stellte, eine Verlagerung der Betonung, die für Herders Einstellung bezeichnend war. Der erste dieser Briefe besagte, daß sie aus einer Diskussion in einem Kreise von Freunden, in einem Bund der Humanität, hervorgegangen seien, die sich als eine Gemeinschaft be412
trachtet hätten, in der es weder Juden noch Griechen, weder Sklaven noch Freie, weder Männer noch Frauen gäbe, in der vielmehr alle eine Einheit bilden würden. Der zweite Brief war Benjamin Franklin gewidmet, den Herder einen seiner Lieblingsschriftsteller des Jahrhunderts genannt hat. Wie Kant hat auch Herder die Geschichte als ein Fortschreiten zu einer voll kommeneren Humanität gedeutet. Ohne dieses letzte Ziel, nämlich die »Bil dung und Förderung der Humanität im Menschen«, ist ein Studium der Geschichte nur von sehr untergeordnetem und sogar zweifelhaftem Wert. Eine Philosophie der Geschichte kann keinen anderen Zweck haben, als eine Geschichte der Humanität, eine Reinigung unserer Moral, eine Erwekkung unseres Pflichtbewußtseins zum Besten der Menschheit zu sein. Ge schichte war für ihn Weltgeschichte. Schon 1769 hatte er den Wunsch, eine Geschichte »unter dem Gesichtspunkt einer zu bildenden Menschheit« zu schreiben. Zw ar hat er dieses Vorhaben niemals ausgeführt, aber seine Phi losophie der Geschichte war völlig von diesem Gesichtspunkt beherrscht. In >Ernst und Falk< war Lessing für die Freimaurer eingetreten, da sie Männer seien, die über allen Rassen- und Landesvorurteilen stünden, die um die Grenze wußten, wo die Vaterlandsliebe aufhöre, eine Tugend zu sein, und die sich nicht unter religiöse Vorurteile beugten oder irgendwelche Klassen und Kasten besonders achteten. Herder war mit diesen Zielen völlig einverstanden, doch wollte er nicht, daß diese sich auf eine einzelne Gesell schaft — und besonders nicht wie in diesem Falle auf eine geheime oder ge schlossene Gesellschaft — beschränkten; er wollte, daß dieses die Zielset zung der Gesellschaft aller denkenden Menschen in allen Kontinenten werde, so daß die Mitgliedschaft in dieser Gesellschaft nicht zu einem Verkehr mit Menschen dieser oder jener Art, sondern zum Verkehr »mit Menschen überhaupt« erziehen würde. Der Mensch sollte einen Grundsatz zur Ma xime seines Handelns machen: Humanität. Er meinte, wenn wir diesem Begriff alle Stärke geben, seinen ganzen Umfang seiner Wirkung aufzeigen und ihn uns selbst und anderen als eine Verpflichtung auferlegen würden, als die unerläßliche und allgemeinste erste Pflicht, dann würden alle natio nalen und religiösen Vorurteile, und das lächerlichste aller Vorurteile, nämlich das des Standes und des Ranges, wenn auch nicht gleich verschwin den, so doch geschwächt und unschädlich gemacht werden. Herder erörterte den Begriff der Humanität in seinen verschiedenen Bedeutungen — Mensch heit, Menschlichkeit, Menschenrechte und Menschenpflichten, Menschen würde und Menschenliebe — die er alle unter dem einen Begriff zusammen gefaßt wissen wollte: »Humanität ist der Charakter unseres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muß uns eigentlich angebil413
det werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unsres Bestrebens, die Summe unsrer Übungen, unser Wert sein: denn eine Angelität im Menschen kennen wir nicht, und wenn der Dä mon, der uns regiert, kein humaner Dämon ist, werden wir Plagegeister der Menschen. Das Göttliche in unsrem Geschlecht ist also Bildung zur Hu manität; alle großen und guten Menschen, Gesetzgeber, Erfinder, Philoso phen, Dichter, Künstler, jeder edle Mensch in seinem Stande, bei der Erzie hung seiner Kinder, bei der Beobachtung seiner Pflichten, durch Beispiel, Werk und Lehre hat dazu beigeholfen. Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muß; oder wir sinken, höhere und niedere Stände, zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück.« Nichts schien Herder lächerlicher als der Nationalstolz. Was, so frug er, solle denn das Vergleichsmaß sein zwischen den Nationen? Jede Nation sei einem großen Garten ähnlich, aus dem das Unkraut nicht herausgejätet worden sei, wo neben Weisheit und Tugend auch Dummheit und Fehler üppig ins Kraut schießen. »Offenbar ist's die Anlage der Natur, daß, wie ein Mensch, so auch ein Geschlecht, also auch ein Volk von und mit dem än dern lerne, bis alle endlich die schwere Lektion gefaßt haben: kein Volk sei ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde; die Wahrheit müsse von allen gesucht, der Garten des gemeinsamen Besten von allen gebaut wer den; am großen Schleier der Minerva sollen alle Völker, jedes an seiner Stelle, ohne Beeinträchtigung, ohne stolze Zwietracht wirken.« Nichts ver abscheute Herder mehr als Eroberergestalten. Wenn er auch nicht leugnete, daß einige von ihnen in gefährlichen Situationen großen Mut bewiesen hätten, so wies er doch andererseits darauf hin, daß das gleiche auch für Wegelagerer und Piraten zutreffe. Alle die seinerzeit der Bartholomäus nacht oder den Hinrichtungen von Juden zugestimmt hätten, seien heute mit Schmach und Schande bedeckt, und es stehe zu hoffen, daß die Räuber und Würgeengel der Völker, die Mörder von Nationen, trotz all ihres Hel dentums, eines Tages, in Übereinstimmung mit den Grundsätzen einer wahren Geschichte der Menschheit, ebenfalls mit Schande bedeckt sein wer den. In jeder Nation müsse das Gefühl der Sympathie für alle anderen Na tionen so intensiv gepflegt werden, daß sich jede einzelne Nation in die Stellung der anderen hineindenken könne. A uf diese Art würde eine Al lianz aller zivilisierten Nationen ins Leben treten, die es verhindern könnte, daß irgendeinem ihrer Glieder ein Unrecht geschehe. Aber der Besitz der Menschenrechte beschränkte sich nicht auf die zivili sierten Völker allein. In seiner >Adrastea< (1802) hat Herder die Missions tätigkeit der Böhmischen Brüder gelobt, weil sie nicht versuchten, die Eski
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mos, Neger, Hottentotten und die Wilden in Amerika zu versklaven, son dern stets darum bemüht seien, die Sitten jener in eine brüderliche Huma nität zu überführen; und er war davon überzeugt, daß der Nachwelt hier aus ein Nutzen erwachsen werde. Denn die primitiven Völker hätten die gleichen Rechte wie alle anderen, und eine >unzivilisierte< Nation könne wesentlich humaner und besser sein als ihre Eroberer, während man für jede Unzulänglichkeit in ihrer Organisation eine Erklärung in den klima tischen Verhältnissen finden könne. Der Genius der Menschheit weise mit Verachtung alle Schriften, die durch unbewiesene und offensichtlich unbe weisbare Behauptungen den Stolz der Europäer — der bereits unerträglich genug sei — nähren, zurück und sage, sie seien von unmenschlichen Wesen geschrieben. Der Genius der Menschheit sei unparteiisch, er kenne hier auf der Erde keine bevorzugte Nation. Alle Menschen sind ihm gleich lieb. Im »sensus humanitatis«, im »Sinn und Mitgefühl für die gesamte Menschheit«, sah Herder den Sinn der Geschichte der Menschheit. In diesem zentralen Satz seiner Geschichtsphilosophie erwies er sich als ein wahrer Sohn des rationalen Weltbürgertums seines Jahrhunderts. Herder pries den Tschechen Comenius, den großen Bischof der Brüder gemeinde, als den Führer in einer alten Tradition eines Volkes, bei dem zu einer Zeit, als über Europa die finstersten Wolken des Despotismus gelegen haben, Hus und andere tschechische Reformatoren als erste die Fackel der Freiheit entzündet hätten. Herder war der erste, der die Pionierleistung, welche die Tschechen für die Menschheit und für die Freiheit vollbracht ha ben, anerkannt hat; er pries sie, weil sie in Einheit und Mut einen neuen Geist bewiesen hätten, wie man ihn, außer von den Schweizern, von keinem anderen Volke nördlich der Alpen gekannt habe, und er war der Ansicht, daß die Tschechen und andere slawische Völker, wenn sie nur die erforder liche Unterstützung erhalten hätten, sich zu einer Nation ausgewachsen ha ben würden, zu einer Nation, von deren Vorbild die Deutschen sehr viel hätten lernen können. Hier hatte Herder mit wenigen Sätzen jene Deutung der tschechischen Geschichte vorweggenommen, die ein halbes Jahrhundert später, unter seinem Einfluß stehend, Frantisek Palacky, der große Erwecker der tschechischen Nation, zum Herzstück seiner »Geschichte des Tschechischen Volkes« machen sollte, jenes Grundsteines und bleibenden Denkmals der tschechischen nationalen Wiedergeburt. Herders Einfluß auf die nationale Erweckung der slawischen Völker kann man kaum hoch genug veranschlagen. Obwohl er in einer der deut schen Ostmarken geboren war, wo die deutschen Kolonisatoren daran ge wöhnt waren, ihre slawischen Untertanen als ein minderwertiges Volk zu 415
betrachten, war Herder von derartigen Gefühlen völlig frei. Seiner Meinung nach erfüllten die Slawen viel besser als die Deutschen einige der wesent lichen Voraussetzungen eines guten und zivilisierten Volkes. Er glaubte, sie seien niemals wie die Deutschen eine Nation von Kriegern und Abenteu rern gewesen, sondern ein friedliebendes und fleißiges Volk, welches auf seine eigene A rt ein heiteres und musikerfülltes Leben führe. Sie waren großzügig, äußerst gastfreundlich, liebten die Freiheit des Landes und wa ren doch willfährig und gehorsam und Gegner aller Räuberei und Plünde rei. Doch all dieses konnte sie nicht vor Unterdrückung schützen, im Gegen teil, diese Eigenschaften luden sogar zur Unterjochung ein. Denn, da sie sich niemals am Kampfe um die Weltherrschaft beteiligt hätten, weil sie keine kriegliebenden Erbfürsten hatten und es vorzogen, Tribute zu entrich ten, wenn sie nur dafür in Frieden auf ihrem Lande belassen wurden, ha ben sich mehrere Nationen, insbesondere die deutsche, schwer gegen sie ver sündigt. Die Franken und die Sachsen, die selber nicht willens waren, die friedlichen Handwerke zu erlernen, haben es vorgezogen, die fleißigen Sla wen zu knechten. Obgleich diese friedlichen Völker Jahrhunderte hindurch im Unglück gelebt hatten, war es ihnen doch gelungen, einen großen Teil ihres guten Charakters durch all die dunklen Zeiten der Unterdrückung hindurch, die die Deutschen aus dem Westen und die Tataren aus dem Osten über sie hereingebracht hatten, zu bewahren. Aber Herder sagte für die Slawen eine große Zukunft voraus, wenn Europa erst einmal seinen Kriegsgeist aufgegeben hätte und ein Zeitalter des Rechtes und des Friedens anbrechen würde. Dann würden jene Völker wieder erwachen und ihre al ten Feste des friedlichen Handwerks und Handels wieder feiern in ihren herrlichen Ländern zwischen Don und Moldau und Adria und Karpaten. Herder hoffte sehr, daß, noch bevor dieser große Tag der Slawen anbreche, ihre schnell verschwindenden Volkslieder und Volksbräuche gesammelt und bewahrt werden würden, und daß eine Geschichte der Slawischen Na tion geschrieben werden würde. Kein Wunder, daß Herders verständnis volle und liebende Aufforderung zur Erweckung der schlummernden slawi schen Völker die Aufmerksamkeit jener jungen intellektuellen Slawen er regte, bei denen die Aufklärung bereits ein Interesse für die Völker, unter denen sie lebten, und ein Verlangen nach gesellschaftlichen Reformen ge weckt hatte. Diese pazifistische Menschenfreundlichkeit hatte Herder mit Lessing und Klopstock gemein. Er besorgte einen Neudruck von Klopstocks Ode »Der jetzige Krieg<, in der der Verfasser seine Abscheu vor dem Krieg kundtat und das ständige Wachstum der Humanität, »diese heilige Schonung«, 4 16
pries, die Krieg und Zwistigkeiten durch Mäßigung und Vernunft ein schränken und gar abschaffen würde. In seiner Feindseligkeit gegen Herois mus und Eroberungsgeist ging Herder sogar noch einen Schritt weiter; die Gründung Roms betrachtete er als das Werk eines Dämons, der dem Men schengeschlecht feindlich gesinnt gewesen sei. Er hat auch einen Neudruck von Klopstocks Gedicht >An den Kaisen besorgt, worin der Dichter Jo seph II. als den Befreier der Leibeigenen und der Juden gefeiert hat. Lessings Tod im Jahre 17 8 1 bot Herder die Gelegenheit, seine tiefe Bewun derung für den großen Lehrmeister der Menschheit auszudrücken. Was ist nicht »ein einziges Werk, wie Nathan der Weise, für mich, für jeden, der einen Sinn für Vollkommenheit in Werken des Geistes hat«? Wie Lessing hat auch Herder dem jüdischen Problem viele Gedanken gewidmet. Als Theologe hatte er ein tiefes Interesse für das Alte Testament; als ein Lieb haber der Volksdichtung deutete er die hebräische Literatur im Lichte eines neuen Verständnisses, das er aus dem Studium von Homer und Ossian ge wonnen hatte; als Nationalist war er sich mehr als die meisten seiner Zeit genossen darüber im klaren, daß die Wurzeln der Idee des Nationalismus in der hebräischen Tradition lagen. Die Grundlagen der hebräischen Nation, so wie sie durch Moses und im Bunde nicdergelegt worden waren, schienen Herder das Vorbild für alle Zeiten zu sein. Er wünschte, daß sich alle an dieses Beispiel halten möchten. Denn es sei, so sagte er, dasjenige, was alle Menschen sich herbeigewünscht haben, was alle weisen Führer zu erreichen versucht haben, und das zu verwirklichen allein Moses vor schon so langer Zeit den Mut gefunden hat, daß nämlich das Gesetz und nicht der Gesetzgeber herrschen solle, daß eine freie Nation ungezwungen und bereitwillig der unsichtbaren und wohlwollenden Macht, die uns regiert, uns aber nicht fesselt und in Ketten legt, Folge leistet. Dieses war Moses' Idee: kann es eine reinere und höhere geben? Die Hebräer schienen ihm das erste Beispiel einer wirklichen Nation zu sein. Das hebräische Volk ist von seinen Anfängen an entstehungsgeschichtlich als ein Individuum, als Ein Volk betrachtet worden. Die Patriarchen haben zu ihren Söhnen gesprochen, gleich als ob jene die ganze Kette der kommenden Generationen repräsentiert hätten. Als ihrer Tausende am Berge Sinai gestanden hatten, hat Moses zu ihnen gesprochen, als ob sie nur ein Körper seien. Wenn die Propheten sprachen, so wandten sie sich nicht so sehr an einzelne Individuen als vielmehr an eine nationale Allgemeinheit. Daher auch der hohe und lauttönende patriotische Klang in den hebräischen Psalmen und bei den Propheten. Wo immer und in welcher Sprache sein Widerhall erklingt, berührt er das Herz und erweckt ein na-
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tionales Bewußtsein. Man findet sich in einem Gemeinwesen, in welchem einer für alle und alle für einen stehen. Das gesamte Volk trägt gemeinsam die Last der Gebote, ihre Segnungen wie ihren Fluch. Dankeslieder ertö nen von allen gemeinsam, selbst für die unbedeutendsten persönlichen Er eignisse, denn das Individuum ist ein Teil des gesamten Volkes. Deshalb trägt in den von den Propheten verheißenen Strafen jeder Israelit die Schuld der Gesamtheit. Gemeinsames Verlangen und eine allen gemeine Vision erheben das Herz, sowohl in der Freude als auch in der Trauer. So wie Her der es aufgefaßt hat, war die hebräische Gesetzgebung das erste geschicht liche Beispiel einer nationalen Zivilisation. Von der Betrachtung des alten Israels zur Behandlung der als gesonderte Nationalität unter den Nationen Europas lebenden Juden übergehend, stellte Herder die Forderung auf, daß man die Juden als eine von allen an deren Nationalitäten verschiedene eigene Nation betrachte, da sie an allen in ihrer Religion liegenden Unterscheidungsmerkmalen festhielten und sich selber nur als vorübergehende Bewohner der Länder der Zerstreuung be trachteten und sich nach Palästina zurücksehnten. Er glaubte, daß man die Juden nicht als Vollbürger der Länder, in denen sie leben, betrachten könne, solange sie sich in ihren Gesetzen, in ihrer Loyalität und in ihren Wirt schaftsmethoden als eigene Nationalität von den anderen sondern, und er hoffte, daß sie einmal nach Palästina zurückkehren könnten. Aber trotz sei ner kritischen Einstellung gegenüber ihrer >parasitischen< Existenz betrach tete er die Juden doch als ein »feines, scharfsinniges Volk, ein Wunder der Zeiten«, und er führte jene schöne Stelle aus dem Talmud an, in der geschil dert wird, wie Israel und Esau, die Repräsentanten verfeindeter Nationen, sich unter Tränen umarmen; der Kuß schmerzt beide, aber sie können nicht voneinander lassen. Mit einem Blick in die Zukunft meinte Herder: »Est wird eine Zeit kommen, da man in Europa nicht mehr fragen wird, wer Jude oder Christ sei, denn auch der Jude wird nach europäischen Gesetzen leben und zum Besten des Staates beitragen. Nur eine barbarische Verfas sung hat ihn daran hindern oder seine Fähigkeit schädlich machen kön nen.« Der hebräische Nationalismus der Vergangenheit stand Herders Herz ge nauso nahe wie der slawische Nationalismus der Zukunft. Beide schienen ihm nicht auf Macht und weltlichem Glanz, sondern auf ethischer Kultur zu beruhen, einen echten Nationalismus darstellend, welcher der beste Garant für eine friedliche Entwicklung zu sein schien. Denn nach Herders Auffas sung bestand zwischen Nationalitäten und Staaten ein großer Unterschied Die Fürsten hatten Staaten, während die Nationalitäten ein Vaterland hat418
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tcn. Der Wunsch nach Ausdehnung und nach Selbstbestätigung gegenüber anderen schien dem Staate natürlich zu sein. Wie ein böser Dämon hat die ser Eroberungsgeist die Geschichte der Menschheit durchstürmt, aber ein echter Nationalismus, bei dem die Völker an die Stelle der Fürsten treten werden, wird diesen Ungeist brechen. Für Herder war der Nationalismus eine ethische und kulturbildende Kraft, das Vaterland bedeutete ihm eine große Familie, das heißt ein friedliches Leben in der Gemeinschaft. M it dem Worte >Vater< rufe es unsere Jugendzeit in unser Gedächtnis zurück, es er innert uns an alle diejenigen, die vor uns waren und die sich darum ver dient gemacht haben, und alle, die nach uns kommen werden, und denen wir Väter sein werden; es bindet das gesamte Menschengeschlecht zu einer un unterbrochenen Kette zusammen, deren einzelne Glieder alle Brüder, Schwestern, Verlobte, Freunde, Kinder und Eltern sind. Hat nicht die Welt genügend Raum für uns alle? Die Kabinette betrügen sich gegenseitig, und die politischen Maschinerien können so lange arbeiten, bis sie sich gegensei tig vernichten. Aber Vaterländer manövrieren nicht so gegeneinander, sie leben friedlich nebeneinander und unterstützen sich gegenseitig wie Fami lien. Von Vaterländern zu sprechen, die in blutiger Auseinandersetzung mit anderen Vaterländern stehen, ist die schlimmste Barbarei im Sprachge brauch der Menschen. Fürsten und Staaten können an Kriege, Politik und Beherrschung denken; Nationen und Vaterländer denken an das friedliche Beieinanderwohnen der Menschen. In dem Gedicht >Der deutsche National ruhm' hat Herder den Nationalruhm als ein Phantom bezeichnet. Die wahre nationale Größe bestehe in der Unschuld, darin, daß man seine Hände nie mals mit Blut beflecke, und daß man selbst dann, wenn man zum Blutver gießen gezwungen sei, sich so verhalte, als ob es sich um das eigene Blut handle; ferner bestehe die wahre Größe in der Mäßigung und in der Ab wendung von der Sucht nach Gold und Reichtümern, durch die schon solch entsetzliche Verbrechen an den Indianern und an den Negern verursacht worden seien, sowie in einer Weisheit, die sich in der Art zu leben und in den Gesetzen mehr ausdrücke als in den Werken der Kunst, die nicht einem einzelnen Volke, sondern der gesamten Menschheit gehören; schließlich be stehe die wahre Größe auch in altruistischen Taten zugunsten der gesamten Menschheit. Der höchste Grad der nationalen Größe sei ein in aller Stille zum Wohle der Menschheit geführtes Leben, ein dem Geiste und nicht den materiellen Gütern geweihtes Leben. Herders Nationalismus, der ein ethisch kultureller Nationalismus war, hatte starke Verwandtschaftsmerkmale mit der nationalen Idee der besten unter den hebräischen Propheten.
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Herders Gedankenwelt bezeichnete einen entscheidenden Fortschritt gegen über Möser und Klopstock; sie war von einer großen Weite und hatte einen unmittelbaren Kontakt mit der Realität, was bei jenen beiden nicht der Fall gewesen war. Sein Blick war nicht nach rückwärts gerichtet auf eine alte Mythologie, und sein Ziel war nicht eine sentimentale Neubelebung angeblicher Sitten und Gebräuche einer längst vergangenen Zeit; er blickte um sich her und fand in der Wirklichkeit seiner Gegenwart lebendige Kräfte aus der Vergangenheit, die in die Zukunft wiesen. Es war der heiße Odem eines neuen Lebens, und nicht die dünne, künstlich erwärmte Luft Walhallas oder des mittelalterlichen Osnabrück, was da in den Seiten der Blätter >Von deutscher Art und Kunst< atmete. Diese Blätter >Von deutscher Art und Kunst< waren eine Sammlung von fünf Aufsätzen, von denen drei die Abdrucke anderer Autoren waren: Mösers Einleitung zu seiner Ge schichte von Osnabrück, Goethes >Von deutscher Baukunst', eine leiden schaftliche Bewunderung des gotischen Münsters in Straßburg, und der Aufsatz eines italienischen Autors, der die Architektur der Gotik ablehnte. Von größter Bedeutung waren Herders eigene Beiträge, der eine über Ossian und alte Volkslieder und der andere über Shakespeare. Beide zeigten ein tiefes Verständnis für das Wesen der Sprache. In den alten Volksliedern aller Völker und aller Sprachen hatte Herder eine Lebenskraft und Stärke, eine Kühnheit und Ursprünglichkeit gefunden, die ihm große Kunst zu sein schienen. Sicherlich mußte es bei den Deutschen und bei anderen Völkern noch eine große Anzahl solcher unbekannter Lieder geben. Aber wer sollte sich ihrer annehmen und sie sammeln? Wer würde sich für die Lieder des Volkes interessieren? Für Lieder, die auf den Straßen, auf dem Land und auf den Fischmärkten gesungen wurden? Herders A ufruf blieb nicht unbe achtet; in Deutschland und in anderen Ländern begannen junge Menschen mit der Sammlung von Volksliedern und Volksbräuchen. Das Volk als ak tiver Faktor des nationalen Lebens, als Quelle der Schönheit und Stärke, wurde neu entdeckt und neu bewertet. Herder pries England und erklärte, daß dort sogar die Art des Denkens national sei, und daß die Gelehrten dort nicht nur für Gelehrte, sondern für die ganze Nation, für das Volk, für das Vaterland schrieben. Dieser Zustand trat jetzt auch allmählich in ande ren Ländern ein, was zu einem erheblichen Teil auf Herders Einfluß zu rückzuführen war. In Straßburg hatte Herder Goethe gesagt, daß die Dicht kunst eine Gabe an die Menschheit, an alle Völker sei, und nicht etwa das private Erbgut einiger vornehmer und gebildeter Menschen; Herders eigene 420
Schriften und seine Liedersammlungen haben einen wesentlichen Beitrag zur Erfüllung dieser Forderung geleistet. Auch Herders Nationalismus war nicht ganz frei von den Gemeinplätzen jener Zeit. Einige frühe Gedichte, die er 17 7 0 geschrieben hatte, wie >An den Genius von Deutschland« oder >Eine Erscheinung«, wimmelten davon. Deutschheit bedeutete für ihn wie für so viele andere deutsche Nationali sten »Treue und Einfalt mit Anhänglichkeit und Mut verbunden«. A uf der anderen Seite schienen den Franzosen die Tiefe und die Ursprünglichkeit zu fehlen, Züge, welche sie zugunsten des Geschmacks und einer leichtle bigen Oberflächlichkeit aufgegeben hatten, sie erschienen als die Meister der Imitation, die stark dazu neigten, sich selber zu kopieren. Gewisse Er scheinungen deutscher Unterlegenheit wurden durch die Aussicht auf künf tige deutsche Größe wieder wettgemacht. Die Deutschen seien zwar später gekommen, aber dafür seien sie jünger. Herder machte geltend, daß die Deutschen Jahrhunderte damit zugebracht hätten, Europa gegen den Des potismus Roms und gegen die aus dem Osten andrängenden Barbaren zu verteidigen. Wenn sie nun daran gingen, anderen Völkern nachzueifern und sich von jedem Volke das Beste aneigneten, dann würden sie jene bald überflügeln. Die deutsche Sprache, die den romanischen und englischen »Mischsprachen« bei weitem überlegen sei, schien das geeignetste Werkzeug für diesen Zweck zu sein; sie habe, da sie aus ihrer eigenen Wurzel in voll kommener Reinheit erblühe und außerdem die Stiefschwester der voll kommensten aller Sprachen, des Griechischen, sei, eine ungeheuer schmieg same Anpassungsfähigkeit an das Idiom, an den Geist und an die Prosodie anderer Nationen, selbst an die der Griechen und Römer. So hat schon Her der alle jene traditionellen Ansprüche des deutschen Nationalismus erho ben, die im neunzehnten Jahrhundert so allgemein verbreitet waren: die größere Tiefe und Ursprünglichkeit des deutschen Geistes gegenüber dem Geist der romanischen Völker, und insbesondere der Franzosen (eine Tiefe, die späterhin die russischen und indischen Nationalisten gegenüber dem europäischen Geist geltend machten); ferner die Ursprünglichkeit der dem Griechischen verwandten deutschen Sprache, eine Auffassung, die sich spä ter zu dem stolzen Anspruch versteigen sollte, daß das Deutsche und das Griechische die beiden großen schöpferischen nordischen Kräfte der Welt kultur seien; dann, die Betonung der Jugend Deutschlands und folglich auch seiner Zukunftsaussichten, wobei die Deutschen als die Erfüllung der Ge schichte und die Krönung der Zivilisation aufgefaßt wurden, (ein An spruch, der später mit etwas anderer Betonung auch von den Russen und von anderen »jungen« Nationen, deren »Tag« einmal anbrechen würde, er-
hoben worden ist); sowie die deutsche Schutzherrschaft über Europa und die abendländische Kultur gegenüber der Bedrohung durch die östlichen Barba ren (eine edle Rolle, die auch die Polen, Ungarn, Rumänen und Griechen für sich beanspruchen). Obwohl Herders Gedanken einer Hauptrichtung folgten, waren sie doch nicht ganz fest und eindeutig umrissen und folglich auch verschiedenarti ger Auslegung zugänglich. Der deutsche kosmopolitische Liberalismus und der fortschrittliche Nationalismus konnten sich auf Herder genauso beru fen wie die deutsche Romantik. Während er wiederholt die kulturellen Zusammenhänge zwischen den Nationen und ihr gemeinsames Wirken an einem gemeinsamen Erbe herausgestellt hat, neigte er doch wieder an ande ren Stellen zu einer scharfen Ablehnung fremder Einflüsse, so wie es spä ter die Slawophilen in Rußland und die extremistischen Hindus in Indien getan haben. Karl der Große war für ihn der große Missetäter, der die deut sche Nation unter ein dreifaches Joch gezwungen hatte: unter das Joch des römisch-papistischen Götzendienstes, des römischen Rechtes und der römi schen Sprache der Mönche. Dieser fremde Einfluß habe den Geist der deut schen Nation vergiftet. In einem 17 7 0 geschriebenen Gedicht stellte er über Karl den Großen die Frage:
War er, Deutsches Vaterland, Mörder dir oder Heiland? Vieh und Heim, das war dein Gut Und ein freies, edles Blut — Er vergoß dein freies Blut nahm dir Heim und Gut und Mut und gab dir —h a! Affentand, den nicht Lai nicht Pfaff verstand! Und viele Jahre später stellte Herder nochmals die Frage:
Soll ich singen den Mann, der Deutschland würgte, oder taufete; den der Römerbischof, der den Bischof in Rom zum Herrn der Welt log — Leyer, o nenne Nicht den Franken und seines Stammes keinen; Laß die Inful ihn preisen, der sie schmückte. Mehrere Momente trafen bei der Bildung von Herders ablehnendem Urteil über Karl den Großen und besonders über den fremdartigen römischen Einfluß zusammen. Herder sprach nicht nur als Deutscher, sondern auch als ein Protestant. In Karl dem Großen haßte er den Eroberer, den Mann, der 42z
mit dem Schwert friedliche Menschen seiner Herrschaft unterworfen hatte, der von imperialer Habgier und Herrschaftsgelüsten getrieben war, jenem bösen Dämon der Geschichte, wie Herder das römische Vermächtnis nannte. Doch war da noch ein anderer, interessanterer und grundlegenderer Faktor in seiner Verurteilung der Christianisierung Deutschlands durch Karl den Großen: sein Glaube, daß das Volk die eigentliche schöpferische Wesenheit in der Geschichte sei. Er fand, daß die Menschheit durch die zunehmende Mechanisierung des Lebens, die ihre Schatten bereits auf das achtzehnte Jahrhundert vorauswarf, sowie durch die Trockenheit des allgemeinverbrei teten und allzu zuversichtlichen Rationalismus der utilitaristischen Epoche und durch die fortschreitende Spezialisierung und Erstarrung der Wissen schaft gefährdet sei. Gegen diese Tendenzen machte er die Lebensfülle und Einmaligkeit der Individualität geltend, die sich nicht in ein allgemeines Schema hineinpressen ließ. Sein romantischer Geist fand diese Individua lität nicht ausschließlich, und auch nicht hauptsächlich, im Menschen als Einzelerscheinung verkörpert, er entdeckte sie in den nationalen Gemein schaften, in korporativen Persönlichkeiten, die für ihn nicht eine Ansamm lung von Menschen waren, sondern eine neue, einzigartige und reichere Offenbarung der großen Kräfte der Natur und der Geschichte. Diese Ge meinschaften waren nicht durch menschliche Willensäußerung oder durch Vertrag entstanden, sie hatten ein Eigenleben, eine Lebenskraft, die urtüm licher und zugleich zukunftsträchtiger war als die Summe aller Individuen. »Wunderbare, seltsame Sache überhaupt ist's um das, was genetischer Geist und Charakter eines Volkes heißt. Er ist unerklärlich und unauslöschlich, so alt wie die Nation, so alt wie das Land, das sie bewohnte.« Der nationale Charakter, genetisch und organisch wie alle Erscheinungen der Natur und der Geschichte, erschien als eine wunderbare Offenbarung des Weltgeistes, unerklärlich und unauslöschlich — eine Entdeckung von allergrößter Bedeu tung, da sie das Denken aller folgenden Generationen, besonders in Deutschland, tief beeinflußt hat. Herder ist niemals zu einer klaren Bestimmung des Nationalcharakters, des Volksgeistes, gelangt. Manchmal sah er ganz deutlich die Einmaligkeit aller historischen Erscheinungen. Niemand auf der Welt, sagte er, empfinde die Schwäche verallgemeinernder Charakterisierungen stärker als er. Wen habe man denn eigentlich charakterisiert, wenn man ein ganzes Volk, eine ganze Epoche, einen ganzen Kontinent charakterisiert? Wenn man aufein anderfolgende Völker und Epochen charakterisiert, die sich in ständigem Wechsel wie die Wellen der See folgen: wen hat man dann eigentlich charakterisiert, wen hat man dann beschrieben? Wer hat schon bemerkt, wie
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unbeschreiblich und einmalig der Charakter eines einzelnen Individuums ist und wie unmöglich es ist, das in Worten auszudrücken, was den Einen vom Anderen unterscheidet? Wie unähnlich und eigenartig alle Dinge werden, wenn er sie mit seinen eigenen Augen betrachtet, sie mit seiner eigenen Seele mißt und sie mit dem eigenen Herzen empfindet! Welche Tiefe liegt nicht im Charakter einer Nation, der, selbst wenn er genauestens untersucht wird, doch letzten Endes unfaßbar bleibt! Kommt dieses nicht alles dem Versuche gleich, einen Ozean von Nationen und Ländern mit einem einzigen Blick, mit einer einzigen Empfindung und mit einem einzigen Wort erfassen zu wollen? Überwältigend war für ihn seine Entdeckung der Einmaligkeit, der offenbaren Irrationalität der Individualität, und beinahe mehr noch seine Entdeckung der nationalen Individualität, durch welche die Individu alität all ihrer Glieder bestimmt wird. Er wußte, daß es nicht zwei gleiche Momente in der Geschichte gab, und daß deshalb Ägypter, Römer und Griechen nicht durch alle Zeiten hindurch die gleichen sein konnten, daß es eine Entwicklung des Nationalcharakters gab, daß es da ein Wachstum gab, daß äußerliche Ereignisse und Bedingungen, Klima, geographische Faktoren, Ereignisse, von außen her aufgezwungene Notwendigkeiten, ihn beeinfluß ten und mitgestalteten. Und doch war für ihn bei anderen Gelegenheiten der Nationalcharakter eine endgültige und dauernde Realität. Er wurde zu einem wesentlichen Element, zu etwas Altem und von Naturkräften Durchsetztem, das nur aus seinen eigenen Quellen heraus wachsen konnte, und dem jeder von außen herangetragene Einfluß schädlich war. In diesem Sinne konnte der Volksgeist leicht zu einer mystischen urtümlichen Kraft werden, die nur aus sich selbst wachsen konnte und dem Prozeß der Wandlung und des gegenseitigen Austausches entrückt war. Herder hat Rousseaus naiven Optimismus — welcher besagte, daß der Mensch von Natur aus gut sei, dali er keinen äußeren Einflüssen ausgesetzt werden solle und nur seinen eige nen Instinkten folgen und sich >organisch< entwickeln solle — vom Indivi duum auf die Nation übertragen: nichts ist gut außer dem, was als >natürlicher< Instinkt in der Nation lebendig ist. Obwohl Herder sich der Tatsache bewußt war, daß äußere Einflüsse sehr wohl einen Nationalcharakter ver ändern konnten, sprach er von ihm doch manchmal so, als ob er etwas Ewi ges sei. So geriet Herder in den circulus vitiosus, der dann entsteht, wenn man einen besonderen Nationalcharakter aus den Eigenarten einer Literatur oder eines Rechtssystems ableitet (die aber vielleicht nur der Ausdruck be stimmter sozialer Bedingungen oder einer kulturellen Entwicklungsstufe sind), und dann wiederum versucht, eben diese Literatur oder dieses Recht»· system aus eben diesem Nationalcharakter heraus zu erklären. 424
Dieser Volksbegriff hätte leicht zu völligem Irrationalismus und Relati vismus führen können. Herder wurde vor dieser Gefahr, deren er sich als echter Sohn des achtzehnten Jahrhunderts niemals voll bewußt gewesen war, durch seinen eigenen grundlegenden Rationalismus und durch seine humanitäre Ethik bewahrt; er glaubte an die grundsätzliche Harmonie zwi schen Individuum und Nation einerseits und zwischen Nation und Mensch heit andererseits. Die rationale Tugend des Maßhaltens hat ihn davor be wahrt, die Grenzen des Menschlichen zu überschreiten. Die Glückseligkeit des Einzelnen, und nicht das Glück oder die Größe von Staaten oder Natio nen war nach seiner Auffassung das Endziel der Geschichte. A ls Christ wußte er, daß starke Männer, die nur der >Natur< folgten, immer, auch für die >unnatürlichsten< Handlungen, in der >Natur< eine Rechtfertigung fin den konnten. Deshalb sei ein Mann gekommen, der das menschliche Wesen über die animalische Kreatur erhoben habe, und der die Lehren aller guten und weisen Männer zu einer »über allen Nationalismus erhöhten Menschenund Völkerreligion« vereinigt habe. Wie verschieden, rief Herder aus, wäre die Geschichte verlaufen, wenn die Menschen durch die reine Humanität geleitet worden wären, anstatt durch Leidenschaft, die die Menschen wie wilde Tiere gegeneinander getrieben hat. Als das größte Unglück der Men schen bezeichnete Herder die Helden, die »Würger des Menschengeschlechts«, jene ehrgeizigen, arglistigen Henker der Menschheit, die unsere Erde in einen Mars oder in einen kinderverschlingenden Saturn verwandelt haben. Er hatte nur ironische Verachtung für solche Menschen, die sich als etwas Besseres dünkten, nur weil sie zufällig einem Volke angehörten, das große Männer oder große künstlerische oder wissenschaftliche Leistungen her vorgebracht hatte. Er glaubte nicht an die Macht des Blutes oder der Erb lichkeit, einige Menschen über die anderen erheben zu können. Das schien ihm eine der »dunkelsten Formeln der menschlichen Sprache« zu sein. Herder war nicht nur humanitär, er war auch ein Demokrat. Er betrach tete jenen Grundsatz, der da behauptet, daß der Mensch ein Tier sei, das eines Herren bedürfe, als gefährlich: im Gegenteil, ein Mensch, der eines Herrn bedürfe, sei ein Tier; sobald er Mensch werde, brauche er keinen Herrn mehr. Unter dem Joch des Despotismus würden auch die edelsten Völker in kürzester Zeit ihren Adel einbüßen: ihre größten Talente wür den zu Falschheit und Verbrechen, zu Kriecherei, Servilität und Luxus miß braucht werden; kein Wunder, daß sie sich an ihr Joch gewöhnen und es schließlich auch noch küssen. Herders ganzes Denken war von dieser feind lichen Haltung gegenüber dem Despotismus durchdrungen. Was nützt dem König die Willkürherrschaft? Die Macht, die sich über das Gesetz erhebt,
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ist das Verabscheuungswürdigste unter der Sonne und eine Schande für den Inhaber dieser Macht, denn er verläßt damit alle Moral und jedes wahre Verdienst um die Menschheit. Johann Georg Müller, der Bruder des be kannten Schweizer Historikers, hat uns eine Unterredung, die er am 13 . Ok tober 178 0 mit Herder gehabt hat, berichtet; in dieser Unterredung habe Herder über den Despotismus und über die damals in Europa übliche Miß achtung der heiligsten Rechte des Menschen geklagt. Später hat Müller ver zeichnet, daß Herder der Aristokratie gegenüber sehr feindselig eingestellt sei, weil diese in Gegensatz zu der Gleichberechtigung aller Menschen und aller christlichen Prinzipien stehe und ein Denkmal der menschlichen Dumm heit sei. Es ist leicht verständlich, daß ein Mensch, der mit diesen Überzeugun gen lebte, die Französische Revolution begrüßte und ein solch treuer An hänger ihrer demokratischen Botschaft geblieben ist, es im Jahre 179 5 we gen der gegensätzlichen politischen Überzeugungen zu einem fast voll ständigen Bruch mit Goethe kommen ließ. Und doch hat er nur wenig von dem, was er wirklich dachte und empfand, in seinem Werke ausdrücken können. Er hat sich bitter darüber beklagt; wenn er es wagte, seine Mei nung zum Ausdruck zu bringen, so mußte er immer neue Wege finden, um sie zu verschleiern:
Sieh, Freund, so spricht die Deutsche Politik Vom Fernsten immer und vom Weitesten; Nur nicht von sich; und lohnt es wohl der Müh, Die Musen mit dem Wüste zu entweihn? Verbannt aus Deutschland ist die Politik; Verbannet sei nur nicht die Menschlichkeit! Einige Gedichte sprachen von seiner Begeisterung und von seinen Hoffnun gen, so zum Beispiel, als er den 14 . Juli ein göttliches und heiliges Fest nannte und darum flehte, daß das helle Licht Apolls die Nebel der Leiden schaften zerreißen und der Menschheit die Erlösung bringen möge, indem sich die Brüder in der Menschheit erkennen und die erwachenden Natio nen sich gegenseitig die Hände reichen. 180 2, ein Jahr vor seinem Tode, frug er noch, ob das Christentum etwas anderes lehre als die reine Huma nität? Darauf solle die Menschheit ihr Völkerrecht begründen. Niemand solle sich durch schwerwiegende Fehler und durch Widersprüche, die er er fahren habe, verwirren lassen; die Vernunft und die Gleichberechtigung werden ihren Weg sicher fortsetzen. Es sei offensichtlich, daß jede Nation das, was sie von einer anderen Nation wünsche oder fordere, auch selbst zu 426
leisten bereit sein müsse. Brutale Gewalt, Tücke und Arroganz einer Nation gegenüber einer anderen erweckten die Verachtung aller anderen Nationen. Dieses internationale Rechtsprinzip sei in das Herz eines jeden Menschen wesens eingeprägt. Herder war ein echter Sohn der Aufklärung, ein liberaler Menschen freund und ein rationaler Weltbürger. Seine bleibende Leistung war die Entdeckung des Volkes, womit er der Geschichte und der Gesellschaftsord nung, der Kunst und der Kultur neue Gesichtspunkte gegeben hat. Aber noch bedeutungsvoller als diese von Herder entdeckte sehr einseitige und beschränkte Anschauung der Wirklichkeit wurde der Mythos der Volkheit, den seine Anhänger hoch über die fragmentarische Wirklichkeit hinaus zu einer souveränen Totalität erhoben. Der tiefe Glaube des achtzehnten Jahr hunderts an Harmonie und an das rechte Maß hat verhindert, daß Indi vidualität und Humanität von Herders Volksbegriff verschlungen wurden; die Geistigkeit des Christen hat es nicht zugelassen, daß sein Volksbegriff auf die Ebene eines reinen Naturbegriffes herabsinke; der Idealismus des rationalistischen Denkers hat ihn davor bewahrt, seinen Volksbegriff als eine reine Gegebenheit und als letzten Wert zu sehen, dem der Mensch ohne die Möglichkeit eines Widerstandes unterworfen werden könne. Aber das deutsche Denken, das sich während der vergangenen einhundertfünfzig Jahre fortschreitend von den Idealen der Harmonie und des Maßes sowie von denen des Christentums und des Rationalismus entfernt hat, hat dem Volk — oder, wie es späterhin unter dem wachsenden Einfluß der Natur wissenschaften genannt wurde, der >Rasse< eine dämonische Macht über Ge schichte und Leben eingeräumt. Kurz vor seinem Tode hat Herder noch ein eigenartiges Stück geschrie ben, ein Zwiegespräch über nationale Religionen, in dem er vielleicht eine kurze Zusammenfassung seiner vielfältigen Gedanken über dieses Thema geben wollte. Er zeigte, daß er tief mit all den vielen primitiven Völkern empfand, die die Religion ihrer Vorfahren und damit ihren Charakter, ihr Herz und ihre Geschichte verloren hatten. Er verstand den durch nichts zu besänftigenden Haß der Gälen und Slawen, der Litauer und Esten ge genüber den Fremden, die ihnen eine fremde Religion aufgezwungen und ihre eigene als Aberglauben verdammt hatten. Den Rechten jedes einzelnen Volksgeistes stand das große Symbol der Christenheit gegenüber: ein Hirte und eine Herde — die Verheißung einer geeinten Menschheit. Die Er örterung dieser beiden entgegengesetzten Gesichtspunkte hat Herder zu dem Versuch geführt, eine Synthese zwischen den individuellen Rechten und den nationalen Eigentümlichkeiten einerseits, und einem allgemeinen, univer427
salen Menschheitsziel andererseits zu finden. Sein protestantischer Indivi dualismus hielt daran fest, daß eine Religion nicht aufgezwungen werden könne, und daß die Herzen der Menschen nach einer Religion der freien Überzeugung und des individuellen Gewissens suchten. Aber diese Reli gion könne nicht ausschließlich individuell sein, denn auch das Herz be dient sich einer Sprache, seiner ureigenen Sprache, nämlich der Mutter sprache. Die Sprache unserer Liebe, unserer Gebete und unserer Träume, ist auch die Sprache unserer Religion. Sie ist die Sprache unseres Volkes. Keine fremde Sprache kann zur Sprache des religiösen Erlebnisses werden. Das Christentum hätte nicht die nationalen Religionen vernichten, sondern rei nigen sollen; es hätte sie das Wesen des Christentums lehren sollen — was nichts Anderes sei als die reinen Gesetze der Humanität — und zwar in der eigenen Sprache der Völker. Nur so hätten diese Völker wirklich der Zivilisation erschlossen werden können, denn die wahre Zivilisation be ginnt immer mit der Erweckung und der Pflege der Sprache, in der die Er innerungen an die nationale Vergangenheit lebendig sind. Deshalb sind nationale Religionen für den Frieden auf der Welt und für die Entwicklung eines jeden Volkes aus seinen eigenen Wurzeln heraus wesentlich. Dann wird keine fremde Sprache oder Religion die Sprache oder den Geist ande rer Völker tyrannisieren. Das Christentum sollte für alle Nationen sein wie der Tau, der vom Himmel fällt: erfrischend, aber nicht den Baum und die Frucht verändernd. In einer solchen Welt harmonischer Unterschiede, in der jede Verschiedenartigkeit respektiert wird und sich in ihrer eigenen Art or ganisch entwickeln darf, wird Friede herrschen. Es wird da keine Eroberun gen und Eifersüchteleien, keine Ambitionen und Bitternisse geben. Jede Re ligion wird, ihrer Umgebung angepaßt, bestrebt sein, sich zu vervollkomm nen, ohne sich mit anderen zu vergleichen. Unterscheiden sich die Nationen denn nicht in allen Dingen? In Dichtung und Vergnügungen, in Aussehen und Geschmack, in Sitten, Gebräuchen und Sprache? Sollte da nicht auch die Religion, die an allen diesen Dingen teilhat, national verschieden sein? und sogar individuell, so daß letzten Endes jeder Mensch seine Religion be sitzen würde, genau wie sein Herz, seine Überzeugung und seine Sprache? Während die Freunde so in das Gespräch über das Verhältnis vom Univer salen zum Individuellen vertieft waren, begann die Sonne unterzugehen: in ihrer milden Glut nahm alles an ihrer Schönheit und an ihrer lebenspen denden Kraft teil, und sie ließ allen Pflanzen ihre eigenen Farben und sie teilte ihre wohltuende Strahlung all den verschiedenen und vielfältigen Formen des Lebens mit. 428
Die Betonung der individuellen Nationalität und ihrer Rechte und die hohe Bewertung der Volkstraditionen und der Volkssprache — die Vision einer künftigen friedlichen Welt, in der jede Nationalität in Freiheit an ihrem eigenen Platze leben würde, jede der hohen Botschaft der Humanität aufgeschlossen und jede sie in ihrer eigenen Art pflegend und fördernd, und alle Nationen, ob groß oder klein, in voller Gleichberechtigung in friedlichem Wettstreit für das Allgemeinwohl der Menschheit — der Glaube an eine harmonische Synthese der Rechte des Individuums mit seiner Loya lität gegenüber der nationalen Gemeinschaft und ihren Pflichten gegen die Menschheit: dieses waren die Elemente, die wir Herders reichem und frucht barem Geist verdanken und die, durch viele und verschiedene Wege wir kend, den wachsenden mitteleuropäischen Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts tief beeinflußt haben. Erst später, in einem Zeitalter, das ein gestandenermaßen den Rationalismus der Aufklärung gering schätzte, wur den die tiefen Widersprüche und die Gefahrenmomente in Herders Denken offenbar. Doch zu dem Zeitpunkt hatten Generationen von Deutschen und anderen Nationalisten dem liberalen und humanitären Geist bereits den Rücken gekehrt, und Aggression und Herrschaft, die Herder so leidenschaft lich gehaßt hatte, bedeuteten ihnen ruhmreiche Erfüllung des Lebens und der Geschichte.
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8. Kapitel
Das Erwachen in der alten Welt Die Suche nach neuer Geschichte
1 Im achtzehnten Jahrhundert nahm Europa seine heutige Gestalt an: seine äußere Gestalt rundete sich durch das Hineinwachsen Rußlands und der Balkanländer ab; und im Innern wurde es zu dem, was Voltaire im Jahre 1767 in einem Brief an einen Russen »une république immense d'esprits cultivés« genannt hatte. Die alte Ordnung mit ihren religiösen Überliefe rungen, die einstmals den Anspruch auf ewige Gültigkeit erhoben hatte, brach langsam in sich zusammen. Neue Bande für die Integrierung der Ge sellschaft und neue Gesichtspunkte für die Deutung der Geschichte waren erforderlich, um die wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Kräfte des an brechenden Zeitalters mit seinen schnellwachsenden Bevölkerungen, seiner Industrialisierung und Urbanisierung, seiner Erhebung der Massen und seiner allgemeinen Mobilisierung und Beschleunigung des Lebensrhythmus freizugeben und zu ordnen. Das kontinentale Europa des achtzehnten Jahr hunderts war noch eine träge und ländliche Gesellschaft mit einer strengen Klassenhierarchie. Die neuen Ideen, welche die Anschauungen der gebil deten Minderheiten wandelten, gingen den sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen voraus und erleichterten so die Integrierung der neuen dy namischen wirtschaftlichen und sozialen Kräfte, was seinerseits wieder de ren tieferes und weiteres Eindringen ermöglichte. A uf der Suche nach neuen Grundlagen für die Gesellschaftsordnung kri stallisierte sich das europäische Denken um die drei Begriffe der Freiheit, der Humanität und des Patriotismus. Diese drei Ideen hatten die Tendenz, die zwischenmenschlichen Beziehungen — besonders die Beziehung zwi schen Volk und Regierung —, ohne Rücksichtnahme auf Traditionen und Klassen auf eine neue Grundlage zu stellen. Die Regierung war eine Insti tution gewesen, die >über< dem Volke gestanden hatte; das Volk stand >unter< der Regierung als ihr Objekt und war ihr untertan. Die Regierung
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war handelnd, das Volk nur duldend. Der neue Begriff der individuellen Freiheit, der die Klassenschranken im Namen der Gleichberechtigung und die religiösen Schranken im Namen der Toleranz zu unterhöhlen begann, aktivierte die Völker, indem er ihnen ein neues Interesse und einen Anteil an ihren Regierungen gab und hauchte den Regierungen selbst neues Leben ein. In dem Augenblick, wo die traditionelle Legitimation der Regierung als Herr des Volkes erschüttert war, erwarb sich die Regierungsautorität eine neue und stärkere Legitimation als Diener des Volkes. Die Begriffe Freiheit, Humanität und Patriotismus standen untereinander in enger Wechselbeziehung; sie waren nur verschiedene Seiten ein-und des selben Wandlungsprozesses. Patriotismus, Kosmopolitismus und Liberalis mus waren nicht nur miteinander vereinbar, ja, sie waren sogar nicht von einander zu trennen. Doch mit fortschreitender Zeit wandelte sich der Sinn des Patriotismus, und er gewann an Tiefe und Leidenschaftlichkeit. In der Mitte des Jahrhunderts bedeutete er noch Anteilnahme an der allgemeinen Wohlfahrt und am aufgeklärten Recht; einen Patrioten nannte man den Ver fechter eines Staates freier Menschen, den altruistischen Freund der Freiheit und der Humanität. Das Vaterland war mehr ein Ideal als ein geographischer Begriff, und es gehörte mehr in den Bereich der bürgerlichen Moral als in den der nationalen Exklusivität. Aber kurz nach der Mitte des Jahrhunderts hat ein Franzose dem >Vaterland< eine Bedeutung zugeschrieben, die weit über den Bereich einer guten Regierungsform oder einer verpflichtenden Loyalität hinausging. »Eine kalte Definition! Ein Land, das nur diese eine Verbindung zu seinen Einwohnern hat — verdient das überhaupt den Na men Vaterland?« Die alten Autoren haben den wahren, großartigen Sinn jenes Wortes ausgesprochen, als sie schrieben, daß nichts so sehr unserer Liebe wert sei, daß nichts so heilig sei wie das Vaterland, daß wir ihm ganz verpflichtet seien, daß es genau so wenig zulässig sei, Haßgefühle gegen das Vaterland wie gegen den eigenen Vater zu hegen, daß es süß sei, in der Verteidigung des Vaterlandes zu sterben und daß der Himmel nur denen offen stehe, die jenem richtig gedient haben. »C'est une puissance aussi ancienne que la société, fondée sur la nature et l'ordre; une puissance supérieure à toutes les puissances qu'elle établit dans son sein.« Das Vaterland stehe über den Königen und Obrigkeiten, und es umfasse alle Schichten der Gesellschaft, alle Arten von Menschen, arme wie reiche, die Großen und Berühmten so gut wie die Massen der Unbekannten, die An hänger aller Sekten und Religionen, aller Parteien und Meinungen. Denn es steht über allen trennenden Momenten: es bedeutet ein gemeinschaft liches Denken, eine Gemeinschaft von Gefühlen und Interessen, die über 432
allem anderen steht, den Mittelpunkt allen Denkens und allen Tuns bil dend. Philologen sind nicht in der Lage, das Wort in seiner wahren Be deutung wiederherzustellen; hierzu sind Staatsmänner erforderlich, die die Ideen und Verbindungen, die das Wort in sich schließt, zu neuem Leben und in der ganzen Gesellschaft zu lebendiger Wirklichkeit erwecken. Mit diesen Worten sah der Abbe Coyer eine Entwicklung des Patriotis mus voraus, die weit über die ursprüngliche Bedeutung von aufgeklärter öffentlicher Meinung hinausging. Gegen Ende des Jahrhunderts hatte das Wort >Patriot< seine akademische Entrücktheit und seinen aristokratischen Beigeschmack vollends verloren; es war zu dem gemeinen Volke herab gestiegen und war zum Träger einer revolutionären Bedrohung der beste henden Ordnung und die Verheißung einer neuen Chance für jedermann geworden. 1788 hatte es bereits, teilweise unter amerikanischem Einfluß, die schwerwiegendere Bedeutung von »Menschen, zur Tat geeint« erlangt. Das >Gemeinschaftsdenken< bezeichnete die Entstehung der mit gemeinsa men Gedanken, Gefühlen und Zielen ausgestatteten korporativen Persön lichkeit. Mit diesem Prozeß vermengte sich das neuerwachte Interesse an der Geschichte des Landes — das teils wissenschaftlich und teils politisch be gründet war, nämlich dort, wo es darum ging, alte Privilegien gegen die zentralisierenden Tendenzen der modernen Verwaltung zu verteidigen. Im klaren Lichte des Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts begannen sich wie dunkle Töne die Spuren alter und urtümlicher Kräfte abzuheben. Das Nationalbewußtsein erwuchs aus komplexen und widerspruchsvol len Elementen. So stark ist die Kraft von Ideen, daß sich der Nationalis mus, der in Westeuropa den in Wandlung begriffenen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Realitäten entsprach, bereits nach der Mitte und nach dem Osten Europas ausbreitete, längst bevor dort die entspre chende gesellschaftliche und politische Wandlung eingesetzt hatte. Dasselbe war ein Jahrhundert später in Asien und A frika der Fall. Der kulturelle Kontakt zwischen den gebildeten Schichten des Kontinents führte zu einer Wandlung der moralischen und geistigen Haltung der Völker, während noch die Wirtschaftsordnung und die Lebensart der großen Mehrheit der Völker von dieser Wandlung unberührt blieb. Die auf den Westen be schränkten wirtschaftlichen und politischen Wandlungsprozesse akzentuier ten noch mehr die tiefe Kluft, die zwischen den beiden Teilen Europas be stand. Die neuen Ideen trafen in den verschiedenen Ländern auf eine große Vielfalt von aus der Vergangenheit überkommenen institutionellen und gesellschaftlichen Ordnungsformen, und sie wurden durch diese beeinflußt und gewandelt. Die verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten erzeugten ver-
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sckiedene Arten von Nationalismus: der eine berukte auf den liberalen Vorstellungen des Mittelstandes und zielte auf eine demokratiscke Weltgesellsckaftsordnung kin; der andere beruhte auf irrationalen Vorstellungen in der Art, wie sie vor der Aufklärung auch im Westen geherrscht hatten und neigte mehr zur Exklusivität. Diese untersckiedlichen Typen von Na tionalismus bildeten den ideologischen Hintergrund für die großen Kon flikte Europas in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jakrkunderts. Und dennock, trotz all dieser Verschiedenheit, ist damals der Sinn für die Einheit der modernen Welt geboren worden, zunächst nur von den gebildeten Schichten Europas begriffen, später aber in die Weite und Tiefe wirkend, die Massen in seine Kreise mit einbeziehend, den Erdball umspannend und weit entfernte Völker aus ikrer Isolierung und Trägkeit aufrüttelnd.
2 Wäkrend dieser gesckicktlicken Epocke war England das Ausstrahlungs zentrum und das Vorbild für die Verwirklichung dieser Ideen. A uf jedem Gebiet des menschlichen Fortschritts und Unternehmens, des technischen Er findungswesens und der Ausbreitung des Handels, in der Vergrößerung der Freiheit und der Minderung der Gewalt, in der Rücksicktnahme auf die Würde des Menscken und in der Handkabung des Rechts, in Philanthropie und Staatsmoral, schritt England der übrigen Menschheit auf dem Wege voran. Seine Stärke beruhte nicht auf militärischer Macht. In keinem ande ren Lande spielten stekende Heere eine so geringe Rolle wie in England. Als im Jakre 174 4 eine französische Invasion in Stärke von zekntausend~ Mann drokte, entstand in England eine große Panik, denn man war nickt in der Lage, mehr als neuntausend Mann zu mustern, und niemand konnte entsckeiden, wo man diese wenigen Truppen zur Abwehr der drohenden Invasion konzentrieren solle. Ein Jakr später konnten die paar tausend sckottiscken Hockländer Karl Eduards, des Sohnes Jakobs II., ungehindert durch England hindurch bis nach Derby marschieren. Aber England war durch die Verwirklickung der Freiheit des Individuums eher und besser als jedes andere Volk zu einer Nation geworden: und kierin lag seine Stärke. Ohne die humanitären und liberalen Grundsätze aufzugeben — vielmehr gerade mit Hilfe dieser Grundsätze — hat es die großen Krisen, die das Imperium durchschreiten mußte, glücklick überstanden. Was Emerson über die Engländer von 1850 geschrieben hatte, gilt auch für die Eng länder von 17 5 0 und von 19 40: »Die elektrisierende Berükrung mit 434
irgendeiner ihrer nationalen Ideen läßt sie zu einer einzigen Familie verschmelzen und bringt den ganzen Schatz von Kräften, der in ihrer Persönlichkeit verborgen liegt, zur Wirksamkeit zum Nutzen der Allge meinheit. . . . Sie stellen ihre gute Sache über ihr eigenes Leben. Obgleich sie nicht gerade militärisch veranlagt sind, ist doch jeder einzelne dazu in der Lage, einen guten Soldaten abzugeben. Diese privaten, zurückhal tenden Familienväter können sich mit ihrem ganzen Herzen für eine ge meinsame Sache einsetzen, und diese Stärke der Hingabe macht den Zau ber von Englands Helden a u s .. . . Ein hohes Maß von Fähigkeiten, das nicht auf eine geringe Zahl hervorragender Persönlichkeiten beschränkt ist, sondern einen Teil des Allgemeingeistes ausmacht, macht es möglich, daß auf Anruf jeder einzelne an die Stelle eines anderen treten könnte. Sie sind mehr durch ihren Charakter gebunden, als durch Fähigkeiten oder Rang geschieden. Aus jedem Arbeiter kann ein Herr werden und aus jedem Herrn ein Korbflechter. Jedem ist das englische System gegenwärtig, und jeder weiß, was ihm dadurch anvertraut ist, und er gibt das Beste, dessen er fähig is t .. . . Der Charm in Nelsons Geschichte liegt in seiner selbstlosen Größe, in seiner Versicherung, daß er von denjenigen getragen werde, die in Wirklichkeit er selber unter Aufbietung all seiner Kräfte trägt. Während die Engländer in der Kunst zu leben der übrigen Welt um einige Jahrhun derte voraus sind, während sie in mancher Hinsicht nicht den Geist der Zeit repräsentieren, sondern ihn konstituieren, halten sie kaltblütig an die sem Vorsprung der Zivilisation vor den übrigen Mächten fest und mar schieren in geschlossenen Reihen im Gleichschritt, eine unübersehbare Ko lonne von Helden, der Menschheit voran.« In England hat jene Theorie, wonach die Staatsraison die Maßnahmen der Regierungen in der Politik und in den zwischenstaatlichen Beziehungen rechtfertige, niemals festen Fuß fassen können. Alle hervorragenden Den ker haben das Regieren als eine ethische Handlung und die Grundsätze der Politik als die der Moral, nur in einem vergrößerten Maßstab, erklärt. Hierin stimmten Edmund Burke, der die Glorreiche Revolution für eine endgültige Lösung und ein ewiges Vorbild hielt, und Jeremy Bentham, der in ihr den Ausgangspunkt für bald bevorstehende und immer umfangrei chere Reformen sah, völlig überein. Für Burke war der Despotismus immer der Feind; wo immer er konnte, kämpfte er gegen Willkür und Gewalt, »sei es in der Art, in der ein König eine Kolonie behandelte, oder daß ein Gouverneur ein erobertes Land, oder große Staaten kleine Staaten unter drückten, oder revolutionierende Massen ihren Launen freien Lauf ließen.« Burke und Bentham erachteten das Wohlergehen des einzelnen Individu-
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ums als das entscheidende Kriterium einer Regierungsform. Regieren war eine Verpflichtung, sei es, daß die Regierung, wie die Konservativen glaub ten, auf dem Christentum beruhe — »eine Religion, die die Unterdrückung so stark verachtet, daß der Gott, den wir verehrten, als er in Menschen gestalt zu uns kam, nicht in Größe und Majestät, sondern in Sympathie mit den niedrigsten Menschen auftrat, und es solchermaßen zum festen und obersten Grundsatz erhoben hat, daß ihr Wohlergehen der Endzweck jeder Regierung ist« — oder daß sie, wie es die Ansicht der radikalen Denker war, auf vernunftmäßigem Wohlwollen beruhte. »Warum sollte das Recht irgendeinem fühlenden Lebewesen seinen Schutz verweigern? Die Zeit wird kommen, wo die Humanität über alles, was Odem hat, ihren Mantel aus breiten wird. Wir haben damit begonnen, daß wir uns um die Lebensbe dingungen der Sklaven kümmern, und wir werden es zu dem Ende weiter führen, daß wir all jenen Tieren, die uns in unsrer Arbeit unterstützen und die dazu beitragen, unsere Bedürfnisse zu befriedigen, ihr Schicksal erleich tern. . . . Je aufgeklärter wir werden, desto gütiger werden wir werden, denn wir werden erkennen, daß die Interessen der Menschen in mehr Punk ten übereinstimmen als auseinandergehen. Im Handel haben sich unaufge klärte Nationen gegenseitig als Rivalen behandelt, wobei jede nur auf den Ruinen der anderen gedeihen zu können glaubte. Das Werk von Adam Smith ist eine Abhandlung über das allgemeine gegenseitige Wohlwollen.« Von seinem >A Fragment of Government' (1776), einer kritischen Unter suchung der Kommentare von Sir William Blackstone, bis zu seinem Tode im Jahre 18 3 2 , ist Bentham unentwegt für das größte Glück der größten Zahl eingetreten. Indem er von den »Mitbürgern aller Zeiten und aller Orte« sprach, wollte er der Diener sein von »allen Nationen, die sich zu liberalen Ansichten bekennen« — zu Ansichten, die in der englischen Frei heit gründeten. Die Freiheit machte England unerreicht stark; Freiheit be gleitete die Engländer, wohin auch immer sie gingen, sie trugen sie bis in die entferntesten Winkel ihres ausgedehnten Imperiums, wo sie neue Sehn süchte entfachte: sie war der Grund zur erfolgreichen Behauptung der De mokratie in den Vereinigten Staaten, »ein Gebiet, in dem Menschen wohn ten, die in den englischen Sitten und Traditionen aufgewachsen waren, die voller Ideen steckten, und die durch ihre Sprache mit allen englischen Ideen in engster Verbindung standen.« Von diesen Ideen konnte Joseph Priest ley sagen: »England hat bis jetzt in beinahe allen großen und guten Din gen geführt, und seine Bürger stehen an erster Stelle in den Annalen des Ruhmes, weil sie den menschlichen Geist aus seinen Fesseln befreit und den Menschen zur Betätigung seiner edelsten Kräfte aufgerufen haben; Eng 436
lands Verfassung war so weit davon entfernt, durch das Wirken seiner frei geborenen und unternehmerischen Söhne verletzt zu werden, daß es sogar den einzigartigen Ruf, den es heute genießt, nämlich das euro päische Land mit dem besten politischen System zu sein, diesen freien Söhnen verdankt.« Die neuen englischen Begriffe von der Freiheit und der Treuhänderschaft äußerten sich auf allen Gebieten der Philanthropie und der humanitären Reformen. Das britische Imperium war der Schrittmacher der Toleranz und der Achtung vor der Würde des Menschen in Gegenden, wo diese Begriffe vorher unbekannt gewesen waren. Im Jahre 17 7 2 erlangte Granville Sharp (17 35 —18x3) von Lordoberrichter Mansfield die epochemachende Ent scheidung, daß alle Sklaven, die in das Vereinigte Königreich eingeführt werden oder dort bereits lebten, frei seien. 17 8 7 wurde die Vereinigung zur Abschaffung der Negersklaverei gegründet. Der bedeutendste englische Staatsmann jener Zeit, William Pitt, entwarf bei der großen Debatte, die um die Abschaffung des Sklavenhandels geführt wurde (2. April 1792), das Zukunftsbild eines neuen A frika: »Wenn wir auf die Stimme der Vernunft und der Pflicht hören und uns in dieser Nacht an die Richtlinien halten, die uns von diesen vorgeschrieben werden, dann werden es vielleicht noch einige von uns erleben, daß sich die Eingeborenen in A frika den friedlichen Berufen des Handwerks und einem gerechten und rechtmäßigen Handel widmen. Wir werden es dann vielleicht noch erleben, wie die Strahlen der Wissenschaft und der Philosophie in jenes Land eindringen und in einer glücklichen Zukunft, vereint mit dem Einfluß einer reinen Religion, auch die abgelegensten Teile jenes riesigen Kontinents erleuchten und beleben. Dann wollen wir hoffen, daß auch Afrika in den Genuß jener Segnungen gelangt, mit denen wir zu einem früheren Zeitpunkt der Weltgeschichte so reich beschenkt worden sind. Dann wird auch Europa an Afrikas A uf schwung und Wohlstand teilhaben und für seine etwas späte Güte reichlich belohnt werden (sofern man es als Güte bezeichnen kann), wenn es nun jenen Kontinent nicht mehr daran hindern will, sich aus dem Dunkel her aus zu ringen, das in anderen, glücklicheren Zonen so sehr viel eher zer streut worden ist.« Die Bewegung zu Freiheit und Humanität fand eine starke Stütze in der evangelischen Bewegung. Als konservativer Tory und Anhänger der Hoch kirche predigte John Wesley (1703—17 9 1) die Berufung des Christen zu sozialem und politischem Handeln und seine Verpflichtung zur Linderung der Not der Armen. Seine weitläufigen Pläne für soziale Verbesserungen umfaßten auch den Kampf gegen die Sklaverei. 17 7 4 hat er seine >Gedan
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ken über die Sklaverei< veröffentlicht; als er 85 Jahre alt war, hielt er in Bristol eine Predigt gegen die Sklaverei; und in seinem letzten Brief, vom 24. Februar 17 9 1, sprach der ehrwürdige schon todgeweihte Greis seinen Segen über William Wilberforce aus und ermahnte ihn, den Kampf ge gen »jene abscheuliche Schurkerei« weiterzuführen: »Werde nicht müde, Gutes zu tun! Fahre fort im Namen Gottes und seiner Allmacht, bis auch die amerikanische Sklaverei, die abscheulichste, die die Sonne je gesehen hat, weichen muß.« Der Methodismus hat einen tätigen und belebenden weltweiten Missionsgeist erweckt, der durch die Errichtung von Schulen und Krankenhäusern in rückständigen Ländern wesentlich dazu beigetragen hat, daß dort der allgemeine Standard gehoben und die Entstehung einer Welt gesellschaft vorbereitet worden ist. Die 1804 gegründete »British and Foreign Bible Society< war die bedeutendste Vereinigung dieser A rt; sie hat die Bibel in vielen Sprachen drucken lassen, in denen es vordem über haupt noch keine gedruckte Literatur gegeben hatte, und hat hierdurch we sentlich zur Entstehung eines Nationalbewußtseins beigetragen. Diese Ge sellschaft war auf Anregung des Reverend Charles aus Bala (Wales), der sich in seiner Tätigkeit durch das Fehlen von walisischen Bibeln stark be hindert fand, ins Leben gerufen worden. Das Aufleben des religiösen Le bens in England in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts war der Anlaß, der zur Entstehung eines walisischen Nationalismus geführt hatte. In den Zeiten der römischen, sächsischen und normannischen Invasionen hatte Wales in vieler Hinsicht das gleiche Schicksal wie England erlebt. 13 0 1 wurde es endgültig mit England vereinigt, als Eduard, dem Sohn und Er ben Eduards I., der in Carnarvon geboren wurde, der Titel eines Prince of Wales verliehen worden war, was fortan der Titel des englischen Thron folgers geblieben ist. Die letzte walisische Revolte gegen den König erfolgte 1400 unter der Führung von Owain Glyndwr, der ein walisisches Parla ment nach englischem Muster einberufen, die walisische Kirche von Canterbury trennen und walisische Hochschulen nach dem Muster von Oxford errichten wollte. Die Revolte war für England sehr gefährlich, denn sie wurde von den Percys in Northumberland und durch eine französische Lan dung in Wales unterstützt. Nachdem sie niedergeschlagen worden war, er griff Heinrich IV. (1399—14 13 ) Vorsichtsmaßnahmen und ordnete an, daß ; künftig ein Waliser weder Waffen tragen noch ein Schloß besitzen oder ein Amt innehaben dürfe. Aber im Jahre 1485 bestieg ein rein walisisches Haus, die Tudors, den Thron von England, und zwar mit Unterstützung bewaff neter Kräfte aus Wales (Sir Rhys ap Thomas); mit Stolz erfüllte die Wali-
ser die Tatsache, daß ein Edelmann aus Wales die englische Krone trug. Der größte Monarch aus dem Hause Tudor hat in der Act of Union im Jahre 15 3 6 die völlige Gleichstellung von Walisern und Engländern pro klamiert. »Some rude and ignorant People have made Distinction and Di versity between the King's Subjects of the Realm and his Subjects of the said Dominion and Principality of Wales, whereby great Discord, Vari ance, Debate, Division, Murmur and Sedition, hath grown between his said Subjects; His Highness therefore, of a singular Zeal, Love and Favour, that he beareth towards his Subjects of his said Dominion of Wales . . . hath ordained. . . that all and singular Person and Persons, born or to be born in the said Principality, Country or Dominion of Wales, shall have, enjoy, and inherit all and singular Freedoms, Liberties, Rights, Privileges, and Laws, within this, his Realm, and other the King's Dominions, as other the Kings's Subjects, naturally born within the same, have, enjoy, and inherit.« Die Folge von dieser Gleichstellung war die Angleichung des wa lisischen Rechtes und der Gebräuche des Landes an das in England herr schende Recht sowie die Einführung der englischen Sprache in die Verwal tung. Viele Waliser strömten nach London und nach anderen englischen Städten, wo sie bald zu einem höheren sozialen und kulturellen Niveau aufstiegen. Die wohlhabenderen Stände in Wales wurden anglisiert, und die politische Loyalität der >Cymren<, wie sich die Waliser nannten, blieb unerschüttert, sogar während des Bürgerkrieges. Der Schaden, der durch die Einführung des Englischen im Interesse einer reibungslosen Verwaltung und der Hebung des Landes durch Heinrich VIII. möglicherweise entstanden war, wurde mehr als aufgewogen durch die Übersetzung der Bibel ins Wa lisische, die Elisabeth mit Hilfe von Richard Davies, Bischof von St. David (1567), durchführen ließ. Die walisische Bibel wurde 1588, vorwiegend durch die Arbeit von William Morgan, Bischof von St. Asaph, fertigge stellt und in der königlichen Druckerei in Westminster gedruckt. Zu jener Zeit wurden auch die erste walisische Grammatik und das erste walisische Lexikon herausgegeben. Das Wiederaufblühen des englischen religiösen Lebens im achtzehnten Jahrhundert förderte das sprachliche und kulturelle Wiederaufleben des Walisischen. Es stellte die Predigten und die Lektüre in der Landessprache mehr in den Vordergrund. Das Fehlen einer staatlichen Kontrolle im Erzie hungswesen war dem freien Wachstum einer sprachlichen und kulturellen Verschiedenheit förderlich. So stark war die individuelle Freiheit im eng lischen Nationalismus verwurzelt, daß der Engländer einem staatlichen Er ziehungsmonopol sehr mißtrauisch gegenüberstand und »die Tyrannei
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einer aufgezwungenen Meinung befürchtete, besonders wenn diese nationa listisch gefärbt war.« Priestley hat in seinem >Essay on the First Principles of Government (1768) geschrieben: »Die Erziehung ist ein Teil der bür gerlichen Freiheit und sollte auf keinen Fall den Händen einer Regierungs körperschaft ausgeliefert werden, und die vornehmsten Rechte der Gesell schaft erfordern, daß das Recht, die Erziehung zu leiten, als ein unverletz bares Recht des Einzelnen bewahrt werde.« Die gleiche Auffassung äußerte John Stuart Mill in seiner Schrift >On Liberty< (1859): »Eine allgemeine staatliche Erziehung ist lediglich eine Machination, um die Menschen einander anzugleichcn, und da die Form, in die die Menschen gegossen werden sollen, diejenige ist, die den herrschenden Regierungsgewalten am besten zusagt, . . . errichten sie so eine despotische Herrschaft über den Geist, die auf ganz natürlichem Wege bald zu einer solchen über den Körper füh ren kann.« Unter diesen Umständen war der Unterricht durch Waliser in walisi scher Sprache, sowohl aus religiösen Motiven wie auch im Interesse der Aufklärung oder aus den für jenes Jahrhundert charakteristischen histori sierenden Gründen, frei und unbehindert. Griffith Jones aus Llanddowror (1683—17 6 1) gründete wandernde Freischulen, in denen das Lesen der Bibel in walisischer Sprache gelehrt wurde, und 178 5 rief der Reverend Thomas Charles aus Bala (1755 —18 14 ) Sonntagsschulen ins Leben, die Menschen jeden Alters und Geschlechts offen standen. Das neue Interesse an der Sprache und an den kulturellen Überlieferungen des Landes wurde geför dert durch Prediger wie Howell Harris ( 17 13 —1773) und Daniel Rowland ( 17 13 —1790) sowie durch große Volksdichter wie Goronwy Owen (1722 bis 1769), der im alten klassischen Versmaß religiöse Hymnen und den >Theomemphus<, das nationale Epos der evangelischen Waliser, gedichtet hat. 17 7 0 erschien die erste walisische Halbmonatszeitschrift, die >Trysorfa Gwybodeatlv (Schatzkammer des Wissens); aber die neuen Zeitschriften er freuten sich, mit Ausnahme des methodistischen >Yr Eurgrawn Wesleyaidd> (Methodistischer Goldener Schatz), nur eines kurzen Lebens. Hand in Hand mit diesem neuen volkstümlichen religiösen Leben ging die Tätigkeit der literarischen Gesellschaften, die von gebildeten Walisern ins Leben ge rufen worden waren, wie zum Beispiel die >Cymdeithes y Cymmrodorion< (Walisische Gesellschaft) (17 5 1)· Diese forschten nach alten walisischen Handschriften, wovon einige veröffentlicht wurden, gaben walisische Wör terbücher und Grammatiken heraus, propagierten die Legende von der g o l denen Zeit der Unabhängigkeit und versuchten, das Eisteddfod, den Bar dentag, sowie die feierliche Begehung des St. Davidstages am 1 . Mai in Er 440
innerung an den Schutzpatron von Wales aus dem sechzehnten Jahrhun dert, Sant Dewi, wieder einzuführen. So wurden, ausgelöst durch eine Welle der Religiosität, die Verbindungen mit vergangenen Zeiten gefestigt. »Zweifellos handelte es sich um eine Neubelebung des religiösen Lebens, aber sobald man bis zum Kern der Sache vordringt, erkennt man, daß es doch wesentlich mehr war als nur das. Es war tatsächlich die Wiedergeburt eines Volkes.« Doch hat es sich hier lediglich um einen kulturellen Natio nalismus gehandelt, der auf der Sprache und auf historischen Interessen beruhte, der den entsprechenden Bewegungen bei den schlummernden Na tionalitäten des damaligen Mitteleuropa darin sehr ähnlich war, daß er keine politischen Ziele und territorialen Forderungen vertrat. In dieser Hin sicht unterschied er sich grundsätzlich von der Geburt der irischen Nation, die sich während der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts vollzo gen hat.
3 Wie die Waliser, so haben auch die Iren ein tiefes Gefühl für religiöse Dinge und für das Althergebrachte und ein reges Interesse an Dichtung und Geschichte. »Kein Volk der Erde war jemals stärker an der Vergan genheit seiner Heimat interessiert als die Iren«, wenn auch in ihren Ge schichtswerken das Ungewöhnliche, Übertreibung und Übernatürliches eine große Rolle spielen. Was die Iren am meisten von den friedfertigen Walisern unterscheidet, ist ihr Kampfgeist; doch stand bis in die neuere Zeit hinein dieser Geist nicht im Dienste einer nationalen Idee. Erst im Ver lauf des späteren achtzehnten Jahrhunderts ist Irland, unter der Führung von Engländern und unter dem Einfluß englischer Ideen, zu einer Nation geworden. Vordem war es nur ein lockerer Bund von Stämmen gewesen, von leidenschaftlichem Sippengeist und unentwegten Stammesrivalitäten durchtobt, in deren Verlauf die Engländer ins Land gerufen worden waren; sie sind auch immer von irischen Parteien unterstützt worden. Gewisse, für die europäischen Länder grundlegende Erfahrungen, die für die Entstehung der Nationen wesentlich waren, hatten die Iren nicht mitgemacht. Ihr Land war niemals von den Römern erobert oder während der Völkerwanderung von Germanen überflutet worden. Selbst die Organisation der Kirche hatte sich in Irland gesondert entwickeln können und trug den Stempel der für Irland charakteristischen stammesmäßigen Gesellschaftsordnung. Die Iren hatten keine großen Städte und keine Verwaltungskörperschaften; den 441
hauptsächlichsten Lebensunterhalt bildete nicht der Ackerbau, sondern die Weidewirtschaft. Die ersten Städte auf irischem Boden waren von den im neunten Jahrhundert eindringenden Wikingern gegründet worden (Dublin 840), und im Verlaufe des elften und zwölften Jahrhunderts haben die Skandinavier Irland in wirtschaftliche und kulturelle Verbindung mit Eu ropa gebracht. Das einzige Zusammengehörigkeitsgefühl, das es in Irland gab und das noch durch den insularen Charakter des Landes unterstützt wurde, war das Bewußtsein, eine gemeinsame Kultur zu besitzen, die von der Liebe der Iren zu Gesang, Volkskunde und Kunst getragen wurde und in den Barden verkörpert war. Diese Barden waren »im späteren Irland beinahe die einzigen Menschen, die ihrem Lande mehr verbunden waren als den Herren, Stämmen oder Territorien«. Aber auch die Tätigkeit dieser Barden war nicht von der Art, daß sie ein nationales Bewußtsein erweckt hätte. Im Gegenteil, dadurch, daß sie der Eitelkeit der Herren schmeichelten, haben sie den Sippengeist noch gefördert, und »es ist wohl denkbar, daß die Barden letzten Endes nicht zu Irlands Vorteil gewirkt haben, daß die genauen Stammbäume, die sie bewahrten und die Lobeshymnen, die sie auf ihre jeweiligen Herren sangen, den Sippengeist zum Nachteil einer na tionalen Einheitsidee lebendig gehalten und das Eindringen von neuem politischen Gedankengut verhindert haben.« Der Konflikt zwischen Irland und England hatte ursprünglich weder einen nationalen noch einen religiösen Charakter: es war ein Konflikt zwi schen zwei Kulturen, in dem das zerfallende primitive irische Stammessy stem unterlag, ohne in sich die Stärke zu finden, sich veränderten Bedin gungen und höheren Formen des Gemeinschaftslebens anzupassen. Die Un terschiede zwischen dem englischen Feudalrecht und dem irischen Stammes recht waren die Ursache vieler Mißverständnisse und der daraus sich erge benden Konflikte. Die englischen Siedler brachten ihre Gesetze und ihre Freiheiten mit nach Irland; und unter Sir Edward Poynings als Statthal ter in Irland hat das Parlament von Drogheda im Dezember 1494 die iri sche Gesetzgebung dem englischen Parlament unterstellt — ein Zustand, der sich fast dreihundert Jahre lang erhalten konnte. In dem großen inter nationalen Kampf zwischen Katholiken und Protestanten wollten exilierte Engländer die Iren zu einem Krieg gegen das protestantische England or ganisieren; da sie in der über den Sippenverbänden stehenden Priester schaft ein Element der Einigung vorfanden, wollten sie auf der Grundlage des Glaubens eine irische Nation ins Leben rufen. Nicholas Sanders (ca. 15 3 0 —15 8 1) , der in Winchester, New College, Oxford erzogen worden war, später Jesuit wurde, kam 1579 zusammen mit einigen Spaniern nach 442
Irland, um hier eine Revolution anzuzetteln. Seine Bemühungen, eine irische Nation auf der Grundlage des Glaubens zu gründen, waren ebenso erfolg los wie ähnliche Versuche des Great O'Neill auf politischem Gebiet. Er sel ber war nur zum Teil irischer Abstammung, war unter englischem und protestantischem Einfluß erzogen worden, seine Frau war eine Engländerin, und er umgab sich mit einer englischen Leibwache. Seine Bemühungen um eine politische Einigung der Gälen wurden durch jene selbst verhindert und verraten. Im siebzehnten Jahrhundert wurden die katholischen Iren und Frankreich, die beide Jakob II. unterstützten, von den Protestanten in den Schlachten von Boyne (1690) und Aughrim (1691) geschlagen. Die Folgen für die katholische Sache waren außerordentlich schwer. Der Soldaten-Held von Irland, Patrick Sarsfield, selber anglo-normannischer Abkunft, führte den allgemeinen Auszug der Katholiken an, der das Land seiner potentiel len Führerschaft beraubte. Die Protestanten, die die katholische Dynastie und die katholischen Mächte fürchteten, führten in Irland ein Strafgesetz ein, welches den Katho liken verbot, Waffen zu tragen und in den Schulen zu unterrichten. Katho lischer Landbesitz wurde konfisziert und dem irischen Handel schwere Einschränkungen auferlegt. Was anfangs ein Konflikt zwischen zwei ver schiedenen Kulturniveaus gewesen war, wurde nunmehr zu einem Teil der großen konfessionellen Auseinandersetzungen in Europa. Doch war es immer noch kein nationaler Konflikt zwischen Iren und Engländern. Die nationale Einheit, zu der sich die Iren im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts durchrangen, erwuchs weder auf gälischer noch auf katholi scher Grundlage. Es trat auch keine Wiederbelebung der irischen Sprache und Literatur oder der irischen Volksbräuche und Geschichte ein, die mit den Vorgängen in Wales vergleichbar gewesen wäre. Während jener Zeit war die gälische Literatur auf ihrem tiefsten Stande angelangt, und die gälische Sprache kam, außer in einigen Gegenden Westirlands, allgemein mehr und mehr außer Gebrauch, und das, obwohl im beginnenden sieb zehnten Jahrhundert die Geschichtsschreibung und »die Kunst, ein klares Irisch zu schreiben, in Geoffrey Keatings >Geschichte von Irland bis zur Eroberung durch die Normannen< zur höchsten Vollkommenheit entwickelt worden war«. Keating selbst war englischer Abstammung und sagte im Vorwort seines Buches: »Meiner Abstammung nach gehöre ich zur alten gälischen oder zur anglo-normannischen Rasse. Ich habe gesehen, daß jeder zeitgenössische Engländer die eingeborenen Iren verleumdet. Aus diesem Grunde, weil mich die Ungerechtigkeit, die diese Schreiber an den Iren be gehen, betrübt, sah ich mich dazu veranlaßt, selber eine Geschichte Irlands
zu schreiben.« Ungefähr zur gleichen Zeit hatten die vier Meister — von denen O'Clery, ein Franziskaner aus dem Kloster in Donegal, der bedeu tendste war — die Annalen des Königreiches Irland, die die Zeit zwischen der Sintflut und dem Jahr 16 16 umfaßten, abgeschlossen. Doch hundert Jahre später war das alles verkümmert. Soweit es noch eine Volksdichtung gab, befaßte sich diese in der Hauptsache mit den Stuarts und der sehn suchtsvollen Hoffnung auf eine Rückkehr der exilierten Familie. In diesen Liedern, die von einer fremden Dynastie singen, wird Irland zum ersten Male als eine Einheit gesehen, und zwar in der Personifizierung eines schö nen, leidenden Weibes; auch die Loyalität, die sich bisher ausschließlich auf Sippe und Sippenoberhaupt beschränkt hatte, trat nun über die Grenzen dieses Bereiches hinaus. Aber aus der dichterischen Schau gingen keine politischen Ideen und Schlußfolgerungen hervor: sie war vage und passiv, der letzte Seufzer einer rettungslos im Aussterben befindlichen urtümlichen Kultur, und nicht ein Ruf nach Tat und Erneuerung. Als gegen Ende des Jahrhunderts, von den Ideen des Jahrhunderts inspiriert und ungestüm nach Erfüllung drängend, eine irische Nation geboren wurde, da bestand kein Zusammenhang mehr mit der gälischen Überlieferung und mit den katho lischen irischen Sippenverbänden: es war eine Nation von protestantischen Engländern, die sich in Irland niedergelassen hatten und die als Engländer das volle parlamentarische Selbstverwaltungsrecht forderten. Ihr Fall war in mancher Hinsicht dem der englischen Kolonisten in Nordamerika gleich. In ihren Forderungen nach politischer und verfassungsmäßiger Verwirkli chung ihrer Wünsche begannen sie sich mit dem Glück, mit der Kultur und mit dem wirtschaftlichen Fortschritt des Landes als Gesamtheit zu identifi zieren, sie >entdeckten< die gälischen Iren. Die Fortschrittlichen unter ihnen sahen bald voraus, daß die katholische Mehrheit sich zu einer Nation zu sammenschließen würde. Die Geburt der irischen Nation auf der politisch-verfassungsmäßigen Ba sis des englischen Rechtes und des aufgeklärten Patriotismus hatten William Molyneux (1656—1698) in >The Case of Ireland< (1698) und Swift voraus gesehen; Swift schrieb in seinen >Drapier Letters< (1724): »Die Mittel lie gen alle in eurer Hand . . . nach den Gesetzen Gottes, der Natur, der Völker und eures eignen Landes sollt und werdet ihr ein freies Volk sein, wie eure Brüder in England.« »Während dieser ganzen langen Periode haben die katholischen Iren, die unter dem Druck und Zwang eines strengen und unmäßigen Systems standen, keinen planvollen Widerstand geleistet oder irgendwelche allgemeine revolutionäre Äußerungen hervorgebracht.« Die Geltendmachung Irlands im achtzehnten Jahrhundert war das Werk des
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protestantischen Landadels. A ls gegen Ende des Jahrhunderts Theobald Wolfe Tone den Versuch machte, die Katholiken aufzurütteln, begegnete er den größten Schwierigkeiten. Alle prominenten Führer der >United Irishmen< (Bund der Vereinigten Iren, 17 9 1) — Tone, Emmet, Rüssel, Lord Fitzgerald — waren Protestanten englischer Abstammung; unter den zwan zig Gefangenen im Fort George waren nur vier Katholiken. Die irische na tionale Bewegung begann nicht als eine Äußerung einer unterdrückten Minderheit oder eines unterworfenen Volkes; sie war auch nicht aus dem Besitz einer besonderen Sprache oder aus dem Stolz auf eine eigenständige Geschichte entstanden; diese Momente kamen erst später hinzu. Zu Beginn war die nationalistische Bewegung in Irland, genau wie der Amerikanische Nationalismus es gewesen war, eine Geltendmachung der englischen Frei heiten. Grattan und Flood beriefen sich nicht auf die irische Geschichte, und sie fühlten sich auch nicht als ihre Vollstrecker. Sie waren mit Eng land verbunden, und England hat bei ihnen, bei seinen eigenen Söhnen, die Flamme des irischen Nationalgefühles entfacht, als dessen letzte Über reste bei den katholischen Kelten bereits versiegt waren. Die Bevölkerung Irlands setzte sich im achtzehnten Jahrhundert aus drei Gruppen zusammen. Ungefähr ein Zehntel der Bevölkerung war englischer Abstammung und gehörte der Staatskirche an; aus dieser Gruppe rekru tierten sich die landbesitzende Klasse und die geistigen Berufe, die auf Grund einer Wahlordnung, die der des unreformierten englischen Parla mentes ähnlich war, das irische Parlament besetzten. Zwei Zehntel der Be völkerung waren Dissidenten, meist Presbyterianer schottischer Abkunft, die in Ulster angesiedelt waren und sich mit Handel und Industrie befaßten. Diese hatten nicht nur, wie in England, unter politischen Beschränkungen zu leiden; auch ihre Industrie und ihr Handel waren im Interesse der eng lischen Produzenten stark eingeschränkt. Sie stellten eine Gruppe von tüch tigen und unternehmungslustigen Menschen dar, aus deren Kreisen eine große Anzahl nach Amerika ausgewandert war, so daß zwischen diesen beiden englischen Kolonien viele Verbindungen bestanden und viele Ein wohner von Ulster eher Philadelphia als ihre Heimat betrachteten als Westminster. Die Mehrheit der Bevölkerung, die Katholiken keltischen Ur sprungs, hatte keine politischen Rechte und keine eigenen Erziehungs- und Bildungssttäten. Nur eine kleine Oberschicht konnte sich einigen dieser Einschränkungen entziehen und einen bequemen Lebensstandard aufrecht erhalten. Doch der bei weitem größte Teil dieser Gruppe lebte in Schmutz und Erniedrigung und ohne die Aussicht auf eine Verbesserung seiner Lage. Was diese Menschen verbitterte, war nicht etwa die Verletzung ihres
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Nationalgefühls, sondern die ständige Furcht, von ihrem Acker vertrieben zu werden. »Es ist wohl denkbar, daß sich in Irland kein einziges Schwert in Empörung erhoben hätte, wenn die Beherrscher des Landes der Bevölke rung gestattet hätten, ihre Religion und ihren Boden in Frieden zu ge nießen.« Der Kampf um Irlands Freiheit war nicht eine Revolte gegen die eng lische Krone, sondern eine Opposition gegen die Politik der britischen Ka binette. »Es ist ein alter Trick der Minister, sich hinter dem schützenden Schild ihrer Fürsten zu verbergen und jede Opposition gegen ihre Maß nahmen als eine Rebellion erscheinen zu lassen.« Die Opposition im iri schen Parlament, die sich nach der damaligen Sitte als >die Patrioten< bezeichnete, forderte die Befreiung von der unrechtmäßig angemaßten Lon doner Gesetzgebung, die im >Act for the better securing of the Kingdom of Ireland upon the Crown of Great Britain< (1720) verkörpert war, sowie die Befreiung von den Einschränkungen, die dem Lande im Interesse der englischen Industrie und des englischen Handels auferlegt worden waren. Diese patriotischen Bemühungen wurden durch die Unzulänglichkeiten, mit denen das irische Parlament, genau wie damals das englische, behaftet war, vereitelt, nämlich durch seinen unrepräsentativen Charakter, durch Bestech lichkeit, sowie durch den Ämtermißbrauch. 175 9 kam Henry Flood (1732 bis 17 9 1) in das Parlament, wo er bis 17 7 5 der Führer der Opposition war. Im Dezember jenes Jahres kam dann Henry Grattan (1746—1820) als Ver treter für Charlemont in das Parlament. In ihm hat der irische Nationa lismus seinen ersten modernen Vorkämpfer gefunden. Der Kampf der englischen Kolonisten in Nordamerika war das Vorbild. Die verfassungsmäßigen Forderungen der amerikanischen Whigs gegenüber der Willkür und der schlechten Verwaltung der Tory-Regierung im Mutter land spornten auch die irischen Patrioten an. In Vergleich zu den Ameri kanern konnten die Iren sogar einen Vorteil für sich buchen: Irland bestand nicht aus dreizehn weit auseinanderliegenden Kolonien, sondern war ein zusammenhängendes Territorium mit einer parlamentarischen Tradition und mit eigenen nationalen Institutionen. Das Jahr 177 8 , in dem die Ame rikaner im Hinblick auf ihr Bündnis mit Frankreich das Angebot Lord Norths abgelehnt hatten, bot den Iren ihre große Chance. England lag da mals mit Frankreich im Krieg; England und Irland waren von allen Streit kräften entblößt, und man befürchtete eine Invasion. Unter diesen Um ständen erklärte sich das irische Parlament bereit, selbständig Truppen zum Schutze Irlands auszuheben. A uf diese Weise entstand damals das »Irish Volunteer Corps<, eine nationale Armee von Patrioten, in der unter dem
Befehl des Earl of Charlemont Hochkirchler und Dissidenten Schulter an Schulter marschierten, und die sogar, wenn dieses auch nicht öffentlich zu gegeben wurde, von einigen Katholiken finanzielle Unterstützung erhielt. Die folgenden vier Jahre sahen die irische Revolution, ein stürmisches Auflodern des irischen Nationalismus und seinen scheinbaren vollen Er folg. Im Jahre 177 9 wurde die Handelsfreiheit wiederhergestellt, und am 19 . April 178 0 brachte Grattan im irischen Unterhaus den Antrag ein, daß »des Königs erlauchte Majestät und die beiden Häuser des irischen Parla ments einzig dazu berechtigt seien, Gesetze zu erlassen, die für Irland bin dend sind«. Mit 13 3 gegen 99 Stimmen wurde dieser Antrag abgelehnt, aber die Bewegung, gefördert durch die Begeisterung der Volunteers und durch viele Versammlungen und Resolutionen in ganz Irland, konnte schnell an Boden gewinnen. Grattan wurde zum Verfechter der nationalen Sache, als er bei der Debatte um die Strafgesetzordnung am 13 . November 17 8 1 das Wort ergriff: »So erstaunlich das klingen mag: ich stehe im acht zehnten Jahrhundert auf, um die Magna Charta in Schutz zu nehmen. Ich fordere die Herren Abgeordneten auf, den irischen Senat über die engli schen Privilegien aufzuklären. Ich berufe mich auf die englischen Rechte, weil sie Bürgerrechte darstellen, und zwar von Iren so gut wie von Engländern. Ich bitte die Herren Abgeordneten, mir zu erklären, aus welchem Grunde man der irischen Nation die britische Verfassung vorenthalten hat. Ich bin nicht gekommen, um darzulegen, was nötig wäre, sondern um ein Recht zu fordern. . . . Unsere Pflicht ist es, mit unermüd licher Wachsamkeit über die Wiege der Verfassung zu wachen, einen jun gen Staat zu erziehen, einen wachsenden Handel zu schützen, ein wachsen des Volk zu pflegen: bei aller Vielfalt der Sekten und Glaubensbekenntnisse herrscht hierüber Einmütigkeit. Die Neue Welt hat die Vorurteile, die in der Alten Welt geherrscht haben, beseitigt, sie hat einen Lichtstrahl auf die Menschheit fallen lassen, und die moderne Philosophie hat den Men schen gelehrt, daß er seinen Mitmenschen als seinen Bruder ansehen soll. Wir sind frei, wir sind einig, — es gibt keine Verfolgungen mehr. Die pro testantische Religion ist das Kind der Verfassung, die presbyterianische Re ligion ihr Vater, und die römisch-katholische Religion nicht ihr Feind: wir sind in einer großen nationalen Gemeinschaft geeint.« Von den Volunteers und von anderen Vereinigungen aus ganz Irland strömten Glückwunschadressen herbei. In seinen Antwortschreiben hat Grattan immer wieder zwei Grundsätze betont: den einen, daß der uner schütterliche Fels, auf dem die irische Freiheit ruhe, das unzerstörbare Band sei, welches Irland mit der englischen Tradition verbinde; und der
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andere Grundsatz war seine neue Botschaft, nämlich, daß es im Interesse der Nation und der Philosophie der Zeit unerläßlich sei, daß man die Ka tholiken als Mitbürger anerkenne. »Ich schätze mich glücklich, daß Sie wie ich der Ansicht sind, daß die Freiheit ein starkes Band ist, das Irland und Groß-Britannien unlösbar aneinanderkettet. Wir sind mit der britischen Nation verbunden und nicht ihr unterworfen: wir wurden ursprünglich durch gemeinsame Bürgerrechte mit England verbunden, und durch eben diese Bürgerrechte wird die Verbindung unzerstörbar werden.« Und die andere Seite dieser Sache: »Der Geist der Toleranz, der in anderen Natio nen als human gilt, ist für Irland unerläßlich. Er ist unsere Grundlage und unser Bollwerk. Die Natur hat uns Menschen gleich gemacht, und nur Tor heit kann uns trennen. Wir genießen die Freiheit auf Grund der Freiheiten, die wir gewähren. Wir vertrauen auf den Katholiken, und er ist für immer unser Freund.« Die irische Revolution von 178 2 wurde durch die Resolutionen einge leitet, die auf einer Versammlung der Volunteers von Ulster am 15 . Fe bruar 178 2 in Dungannon beschlossen wurden. Diese Resolutionen erklär ten den Anspruch jeglicher Institutionen, außer denen des Königs und des irischen Parlaments, für Irland bindende Gesetze zu erlassen, als verfas sungswidrig, desgleichen die unter der Poynings-Akte erlassenen Vollmach ten der Private Councils, ferner die zeitlich unbegrenzten Aufruhrgesetze; sie forderten ferner die Beseitigung der Abhängigkeit der Richter sowie jeder Einschränkung des freien Handels zwischen Irland und anderen Län dern. Ebenso gewichtig, doch weniger wirksam, waren die die religiöse Toleranz betreffenden Resolutionen: »Wir stehen auf dem Standpunkt, daß das Recht auf ein eigenes Urteil in Dingen der Religion für andere genau so unantastbar ist wie für uns selbst, und wir begrüßen deshalb, als Men schen wie als Iren, als Christen und als Protestanten eine Lockerung der Strafgesetze gegen unsere römisch-katholischen Mitbürger, und wir sind davon überzeugt, daß diese Maßnahmen die glücklichsten Folgen für die Einheit und das Gedeihen der Einwohnerschaft von Irland zeitigen werden.« Die Resolutionen zur Freiheit Irlands wurden von allen Volunteers im gan zen Lande mit größter Begeisterung aufgenommen, und sie verpfändeten ihr Leben und Gut zu ihrer Durchsetzung. Am 22. Februar 178 2 brachte Grattan eine Bittschrift an den König ein, in der die »Rechte Irlands« dar gelegt wurden. Ein Wechsel in der englischen Regierung hatte zur Folge, daß die irischen Forderungen Zustimmung fanden. Im irischen Parlament, das auf den 16 . April einberufen worden war, sprach Grattan zu einem »freien Volk<. »Du Geist von Swift! und du Geist von Molyneux! Euer 448
Genius hat gesiegt! Irland ist jetzt eine Nation! Ich grüße Irland in seiner neuen Gestalt, und indem ich mich vor seiner Gegenwart verneige, sage ich: Esto Perpetua! . . . Ihr habt die auseinanderstrebenden Elemente eures Landes zu einer Nation zusammengefügt.. . . Laßt andere Nationen in dem Glauben, daß die Untertanen für die Könige geschaffen sind, wir aber le ben in der Überzeugung, daß die Könige und die Parlamente für die Untertanen da sind. Das Parlament besteht nicht aus eigener Machtvoll kommenheit, es leitet seine Macht aus einer anderen Quelle her. In jeder Sitzungsperiode zieht das Parlament seinen periodisch sich wiederholenden Kreis um die Quelle seiner Existenz, die Nation; selbst des Königs Maje stät muß dieser Quelle des Lichtes ihre Ehre erweisen, und von diesem Strahle erzeugt und von seiner Zuneigung getragen, muß sie sich vor die sem Lichte verbeugen, oder sich aus dem ganzen System zurückziehen.. . . Durch Treuepflicht und Freiheit verbunden bilden die beiden Nationen Ir land und Groß-Britannien einen verfassungsmäßigen Bund und ein Reich. Die Krone ist das eine Bindeglied, die Verfassung das andere, und nach meiner Überzeugung ist das letztere das stärkere. Könige kann man überall finden, aber England ist das einzige Land, mit dem man sich unter einer freien Verfassung vereinigen kann.« Durch Grattans Bemühungen und durch seinen weit vorschauenden Blick wuchs Irland, unter dem Enthusiasmus und dem Druck der Volunteers, zu einer einigen Nation heran. Vieles hat das irische Parlament in nerhalb weniger Jahre erreicht: Handelsfreiheit, Unabhängigkeit der Ge setzgebung und der Rechtsprechung, Wiederherstellung der obersten Ge richtsbarkeit, den Anfang einer Emanzipation der Katholiken und die Wie derherstellung der Rechte des Individuums, des Eigentumsrechtes und des Rechtes auf freie Religionsausübung. Den Katholiken wurde es wieder er möglicht, Land zu kaufen; die Beschränkungen auf dem Gebiete des Er ziehungswesens wurden aufgehoben, und schließlich wurde ihnen auch das aktive Wahlrecht zugesprochen. Aber dieses erste Stadium des modernen irischen Nationalismus hielt nur achtzehn Jahre an. Dreifache Ursache lag hierzu vo r: der unrepräsentative und noch nicht reformierte Charakter, der das irische genau so wie das englische Parlament kennzeichnete, ferner die noch nicht vollständige Emanzipation der Katholiken und schließlich der Einfluß der Französischen Revolution. Das irische Parlament war zum gro ßen Teil selber schuld an seinem Sturz: die Reformforderungen, die von vielen Stellen erhoben wurden, blieben unbeachtet; die Sitze im Parlament waren käuflich und ständig wurden neue Pairwürden geschaffen; der Stimmenkauf war im vollen Schwang, um sich dadurch erworbene oder
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überkommene Interessen zu wahren; die völlige Emanzipation der Katho liken wurde gehemmt und unterbunden. Eine persönliche Feindschaft zwi schen Grattan, der sich auf das Parlament stützte, und Flood, der es mit den Volunteers hielt, verschlimmerte noch die Situation. Niemals hatte Grattan seinen Kampf um die Emanzipation der Katho liken aufgegeben. Er wies darauf hin, daß die beiden Elemente, die eine Gefahr bedeutet hätten, nämlich der Kronprätendent und der Papst, von der Bildfläche verschwunden oder zumindest recht bedeutungslos geworden seien. Auch wies er darauf hin, daß in dem neuen Zeitalter die religiösen Unterschiede vor den nationalen Unterscheidungsmerkmalen weit in den Hintergrund träten, und daß der Patriotismus starke Nationen verlange, die von der Einheit des Volkes getragen werden. »Ich liebe die Presbyteri aner, und ich liebe die Katholiken; das heißt: ich liebe die Iren! Wenn meine Liebe zu ihnen erlahmen sollte, so nur deshalb, weil sie sich unter einander hassen.« Das Irische Parlament hatte die vollständige Emanzipa tion abgelehnt. Als nach dessen Auflösung Grattan im Mai 1805 seine erste Rede vor dem Vereinigten Britischen Parlament hielt, warnte er wieder davor, »sich auf eine einzelne Sekte oder Religion zu stützen und sein Schicksal etwas Geringerem anzuvertrauen als der Gesamtheit des Volkes«. In der Zwischenzeit hatte aber die Französische Revolution eine vollstän dige Änderung der Situation in ganz Europa herbeigeführt: ein katholi sches Land hatte seine Befähigung zur Freiheit und zu einem Fortschritt, der die englische Verfassung bei weitem übertraf, bewiesen; der Zehnte war abgeschafft und alle Rechtsbeschränkungen, die auf der Religion beruhten, waren hinweggefegt worden. Gleichzeitig war aber auch die Vernunftmä ßigkeit, die das achtzehnte Jahrhundert gekennzeichnet hatte, einem aus den Tiefen des Gemütes aufdrängenden enthusiastischen Fanatismus gewi chen. Diese neue Erregung griff auch bald auf Irland über, wo sie sich be sonders der demokratischen Protestanten in Ulster bemächtigte; dort machtc sich auch bald der Bund der Vereinigten Iren zum Vorkämpfer der radi kalen Demokratie und der nationalen Einheit. In diesem Kampf triumphier ten die Ideen von Thomas Paine über die Ideen von Edmund Burke. Das Ziel war eine irische Republik, die durch einen bewaffneten Aufstand mit fremder, besonders französischer Hilfe erzwungen werden sollte. Für den bedeutendsten Führer dieser Bewegung, Tone, war der Haß gegen England »mehr ein Instinkt als ein Prinzip«. Die erste Phase des irischen Nationa lismus, der auf den Rechten und Freiheiten aus den Prinzipien der Glor reichen Revolution und des aufgeklärten Patriotismus beruhte, war damit beendet. Grattans große Hoffnung, daß nämlich die geeinte Nation in Frei450
heit unter der Führung des Rechts, und in Humanität unter der Führung der Vernunft auf wachsen sollte, erfüllte sich nicht. Hundert Jahre später trium phierte ein Nationalismus, den uns der größte irische Nationaldichter, wieder ein Mann englisch-protestantischer Abkunft, in Worten charakterisierte, für die Grattan kein Verständnis gehabt hätte: Aus Irland sind wir hervor gegangen, an unsrer Wiege standen Haß und Enge, und mit fanatischen Herzen kommen wir zur Welt:
Out of Ireland have we come. Great hatred, little room, Maimed us at the start. I carry from my mother's womb A fanatic heart. 4 Das Fehlen ethnographischer und völkischer Momente, das für den irischen Nationalismus kennzeichnend war, war auch ein Merkmal in der Entwick lung des Nationalismus in den Niederlanden. Obgleich das Land an den strategisch und wirtschaftlich wichtigen Mündungen von Rhein, Maas und Schelde von einer Bevölkerung gleichen Stammes und gleicher Sprache be wohnt wird und während bedeutender Abschnitte seiner Geschichte unter einer zentralen Autorität zusammengefaßt gewesen war, ist dort kein all gemeines Nationalbewußtsein des >Nederlandsche stam< — des niederländi schen Volkes entstanden. Die Holländer in den nördlichen Niederlanden und die Flamen in den südlichen Niederlanden sprechen die gleiche Sprache. Während des Mittelalters hatte der Schwerpunkt der holländischen Kultur und Literatur im Süden, in Flandern und in Brabant gelegen; erst nach 1600 hat sich dieser Schwerpunkt nach dem Norden, nach Holland verla gert. Und doch ist weder im achtzehnten, ja nicht einmal im zwanzigsten Jahrhundert ein gemeinsames Nationalbewußtsein zu beobachten. In den Niederlanden ist das Nationalbewußtsein ohne jede Beziehung zu völki schen, rassischen oder sprachlichen Elementen entstanden; maßgebend wa ren lediglich politische Grenzziehungen, die teilweise auf mittelalterlichen Privilegien und Freiheiten und teils auf den religiösen Konflikten und den Kriegsschicksalen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts beruhten. Im zehnten Jahrhundert zerfiel das Herzogtum Niederlothringen in meh rere geistliche und weltliche Herrschaften, von denen Flandern und Brabant im Süden, Holland im Norden und Lüttich im Südosten die bedeutendsten 451
waren. Die Niederlande waren ein strategisches Spannungsfeld zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich, und zwar in so hohem Maße, daß es in Flandern französische Lehen (Kroon-Vlaanderen) und deutsche Lehen (Rijks-Vlaanderen) nebeneinander gab; außerdem waren die Niederlande der wirtschaftliche Mittler zwischen England und dem Kontinent. So wa ren schon in frühen Zeiten Verbindungen zwischen England und den Nie derlanden zustandegekommen. Während der Kreuzzüge waren flämische und brabantische Edle unter den bedeutendsten Führergestalten, und in der Hei mat entwickelten sich die flämischen Städte, teilweise infolge der Kreuz züge, zu den großen Handels- und Gewerbezentren jener Zeit. Sie wurden zu fast selbständigen Republiken, in denen sich ein kraftvolles kulturelles und politisches Leben entfaltete und die Gilden um die Demokratisierung der Stadtverwaltungen kämpften. In den Niederlanden war es dem Volk ge lungen — ähnlich wie den Engländern im Mittelalter — den Fürsten wich tige Rechte und Freiheiten abzuringen. Der bedeutendste Erfolg in dieser Hinsicht wurde im Herzogtum Brabant errungen, wo die bekannte Joyeuse Entrée von 13 5 6 zum großen Freibrief wurde, dessen Gerechtsame und Privilegien seitdem oft erneuert und erweitert worden sind. Im Mittelalter zeichneten sich die Niederlande durch eine unübertroffene wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung, durch die Entstehung des Freiheitsgeistes und durch die Vitalität ihres städtischen Mittelstandes aus. A uf diesen Grund lagen versuchte das Haus Burgund, das von 13 8 4 bis 14 7 3 die Niederlande durch Erbschaft und Kauf vereinigt hatte, den ersten modernen Staat zu errichten. Im Jahre 1465 wurden die Stände aller siebzehn Provinzen als Generalstaaten nach Brüssel berufen, und Karl der Kühne träumte von einem Burgundischen Reich, das von der Nordsee bis zum Mittelmeer rei chen sollte — ein Traum, den 14 7 7 der Widerstand der Schweizer zunichte machte. Karls Tochter Maria wurde von den Ständen von Flandern, Bra bant, Hennegau und Holland in Gent gezwungen, das Große Privileg zu unterzeichnen. Dieses Große Privileg machte die Zustimmung der Stände zur Erhebung neuer Steuern, zu Kriegserklärungen und zur Heirat mit fremden Fürsten erforderlich; auch wurde darin versprochen, daß in der Verwaltung nur die Landessprache und eingeborene Beamte Verwendung finden sollten. Diese Abmachung wurde durch das Flämische Privileg, durch das Große Privileg von Namur und durch die Joyeuse Entrée von Brabant, durch welche bereits bestehende Freiheiten bestätigt und erweitert wurden, ergänzt. Die siebzehn niederländischen Provinzen gingen durch Heirat von den Burgundern in die Hände der Habsburger über. Aber trotz der dynasti
sehen Bande, welche die Provinzen zusammenfaßten, haben diese doch kein Gemeinschaftsbewußtsein entwickelt. Jede Provinz war auf ihre eigenen Tra ditionen und Freiheiten stolz. Brabant nahm eine führende Stellung ein: seine Hauptstadt Brüssel wurde Residenz und Versammlungsort der Gene ralstaaten. Diese Generalstaaten, in denen das Bürgertum eine gewichtige Rolle spielte, wachten eifersüchtig über ihre Immunitäten. Als der Habs burger Philipp II. von Spanien, der weder Holländisch konnte noch die Sitten und Traditionen der niederländischen Bevölkerung kannte und ver stand, versuchte, in den Niederlanden die zentralisierende spanische Mo narchie einzuführen, das Land mit spanischen Truppen zu belegen und spä ter die Ausbreitung der Reformation mit dem ganzen Eifer der spanischen Inquisition zu bekämpfen, erweckte er die politische Opposition der Gene ralstaaten und die religiöse Opposition der Calvinisten. Die politische Opposition, deren Exponent Wilhelm, Prinz von Oranien, Graf von Nassau und Statthalter in Holland war, entwickelte sich schnell zu einer offenen Revolte. 15 7 6 schlossen Holland und Seeland in Delft einen Bund, und in der Pazifikation von Gent schlossen sich alle siebzehn Provinzen zusam men mit dem Ziele, die alten Freiheiten wiederherzustellen, die fremden Truppen aus dem Land zu vertreiben und die Toleranz für beide Konfes sionen durchzusetzen; die Autorität des Königs wurde de jure anerkannt. Doch allzubald sollten konfessionelle Streitigkeiten diese Einigkeit wie der zersprengen. Die katholischen Provinzen des Südens schlossen sich 15 7 9 in der Liga von Arras zusammen, während die Provinzen des Nordens sich in der Utrechter Union so zusammenschlossen, »als bildeten sie eine ein zige Provinz«. Der Führer dieses nördlichen Bundes war Wilhelm von Ora nien, der >Vater dieses Landes«, und es galt, unter Einsatz von >Gut und Blut< die alten Rechte und Freiheiten zu verteidigen. So wurde die Republik der Vereinigten Niederlande geboren, die nach langem hartem Kampfe 1609 und dann endgültig 1648 die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit von Spanien erlangen konnte, während die südlichen Provinzen noch unter der Kontrolle Spaniens verblieben. Sowohl die Religion als auch eine scharfe Wirtschaftsrivalität, die erbarmungslos den früher blühenden Han del von Flandern und Antwerpen vernichtete, während Holland zur füh renden Kolonial- und Seemacht jener Zeit aufrückte, trennten die Republik von den angrenzenden spanischen Provinzen. So hatten konfessionelle Spal tungen und die Glückszufälle europäischer Kriege — Frankreich und Eng land hatten die Republik in ihrem Freiheitskampf unterstützt — die Vor aussetzungen zur Entstehung von zwei verschiedenen nationalen Richtun gen in den Niederlanden gelegt. Diese beiden Nationalismen, von denen der
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eine um Holland und um den Calvinismus — der andere um den Katholi zismus und um die Traditionen von Brabant herum entstanden, befanden sich zeitweilig in schroffem Gegensatz zueinander. Beide waren sie das Er gebnis einer politischen Grenzziehung und eines revolutionären Willens; sie beruhten beide auf den aufgeklärten Grundsätzen der Freiheit und der Selbstregierung und nicht auf der Sprache, der Rasse oder auf dem Volk. Erst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts konnten sie sich nach lan gem Kampfe von den lokalen Traditionen und provinziellen Privilegien befreien. Die sieben nördlichen Provinzen betonten ihre Souveränität wesentlich stärker als ihre nationale Zusammengehörigkeit. Jede dieser Provinzen hatte eine eigene, meist recht komplizierte Verfassung und wachte auch eifersüch tig über ihre traditionellen Privilegien. Eine dieser Provinzen — de Edele Greet Mögende Heeren Staaten van Holland en Westfriesland, wie Hol lands offizieller Titel lautete —, wurde von einer aus neunzehn Mitglie dern bestehenden Ständeversammlung regiert. Eines der Mitglieder vertrat die Ritterschaft, die >ridderschap<, die die Interessen der Landbevölkerung vertrat, während die anderen achtzehn die führenden Städte und ihre Bür geraristokratie vertraten. Nur wenn Gefahr von außen drohte, konnten die Föderalisten, die das Haus Oranien begünstigten, die Oberhand gewinnen; so zum Beispiel im Jahre 174 7, als Wilhelm IV. zum erblichen Statthalter über alle sieben Provinzen gewählt wurde. Doch konnten die Partikularisten, meist unter der Führung von Holland, wieder ihre alte Bedeutung erlangen und die Souveränität der Provinzen wiederherstellen. Die Stellung des Statthalters war anormal und unlogisch wie auch die meisten der ande ren verfassungsmäßigen Institutionen. Er wurde von den Staaten der Pro vinzen bestellt und war folglich ihr Diener; doch gleichzeitig hatte er auch eine sehr weitgehende Exekutivgewalt, deren Umfang aber niemals genau festgelegt worden ist. Eine starke Persönlichkeit hätte vielleicht aus diesem Zustand einen zentralisierten halbmonarchischen Staat nach der Art der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts schaffen können, aber die spä teren Prinzen aus dem Hause Oranien waren schwache Persönlichkeiten ohne Führereigenschaften. Die Verfassung der Republik war veraltet und in keiner Weise dafür geeignet, den Rahmen für das Wachstum einer Na tion abzugeben. Die Republik, die unter dem gewaltigen Schwung ihres Freiheitskampfes noch zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts in Literatur und Wissen schaft, in Handel und Wohlstand eine führende Rolle spielen konnte, ge riet bald in eine lange Periode des materiellen und intellektuellen Verfalls.
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Der angehäufte Reichtum konnte noch eine Zeitlang das Schwinden des Unternehmungsgeistes verbergen, aber nach 1748 bot die Republik, nach den Worten ihres hervorragendsten Geschichtsschreibers, »ihren Freunden einen traurigen Anblick, und dem Feinde war sie ein Gegenstand des Spot tes«. Das politische Leben war von Parteizwist, Eigensucht und engstirni gem Provinzlertum beherrscht. Das vollständige Fehlen von Rohmaterialien enthüllte die viel zu schmale Basis, auf der das holländische Weltreich er richtet worden war, und dieser Mangel wurde nun nicht etwa durch einen starken Gemeinwillen oder durch einen weitsichtigen Patriotismus ausge glichen. Das politische und gesellschaftliche Leben war erstarrt, die offizielle reformierte Kirche war durch einen erbitterten Dogmenstreit innerlich zer rissen, die vielen Dissidenten waren nur geduldet, und die Katholiken wa ren in der Ausübung ihrer Religion gehindert und hatten keinen Anteil an der Regierung. Die Klassenschranken wurden streng beachtet, und die unteren Klassen hatten keinen Anteil am nationalen Leben. »Ungebildet, des Lesens und Schreibens kaum kundig, altmodisch in ihren Arbeitsme thoden, ohne nach Verbesserung und Entwicklung zu verlangen, wuchsen diese Menschen in Unwissenheit auf, von den Reichen verachtet und ver stoßen, im günstigsten Falle noch bis zu einem gewissen Grade bemitleidet, doch ohne zu einer Gemeinschaft in den höheren Dingen des Lebens zuge lassen zu werden. Die unterste Schicht der Bevölkerung, die lediglich an religiösen Dingen Interesse nahm, war von den Reichen durch eine tiefe Kluft getrennt, die sich im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts eher ver größerte als verminderte.« Die Stadtregierungen lagen in den Händen einer selbstgefälligen Aristokratie, der sogenannten Regenten, die, auf den Glanz vergangener Tage zurückblickend, es kaum gewahr wurden, in welchem Maße ihre Republik durch die fortschreitende Rationalisierung der Regie rungsmethoden anderer Länder überholt wurde. Selbst die holländische Literatur war zu einer provinziellen Bedeutung herabgesunken, und der französische Einfluß war im gesellschaftlichen und kulturellen Leben all mächtig geworden. In der Zeit der Reformation war die holländische Sprache durch die katholischen Dichtungen von Anna Bijns aus Antwerpen (1494—1575) und durch die calvinistischen Schriften von Filips van Marnix (1538—1598), dem Verfasser des Wilhelmusliedes, der holländischen Nationalhymne, zu einer modernen Literatursprache geworden. Durch die amtliche Bibelfassung, die Statenbybel, die zwischen 1626 und 16 3 7 in Dordrecht übersetzt worden war, wurde die holländische Mundart in der gesamten nördlichen Republik anerkannt. Der größte holländische Dichter, Joost van den Vondel (1587
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bis 1679), konnte 1650 schreiben: »Onze spraak is sedert weinige jaren . herwaart von bastaard-woorden en onduitsch allengs geschuimt« (In der Zeit von Hollands Größe und Stärke ist die Sprache »innerhalb weniger | Jahre nach und nach von Fremdwörtern und von nichtholländischen Elementen gereinigt worden«). 1683 wurde zur Eröffnung des ersten großen The- ; aters in Amsterdam ein Drama von van den Vondel, »Gysbreght van A em -! stel< aufgeführt, das die Ermordung von Floris V., Graf von Holland, des Volksfreundes und Begründers der Größe Amsterdams, durch einen unzu- j friedenen Vornehmen (1296) zum Gegenstand hatte. Schon im folgenden Jahrhundert hat die Lebenskraft der holländischen Literatur und Sprache wieder nachgelassen, bis schließlich um 17 7 0 herum ein neuer Wind aus England und aus Frankreich herüberzuwehen begann. Der Geist der Zeit erweckte neue Visionen und Hoffnungen, ein allgemeiner Wunsch nach Re formen und nach Erneuerung erfüllte die Herzen der Patrioten. Unter patriotischen Einflüssen wandte man sich erneut dem Studium der holländischen Sprache und Geschichte zu. Jan Wagenaar (1709—17 7 3), ein Stadtsekretär in Amsterdam, verfaßte eine >Vaderlandsche Historie vervattende de geschiedenissen der nu Vereenigde Nederlanden inzonderheid die van Holland«, die einundzwanzig Bände umfaßte; Pieter Burman ( 17 13 bis 1778), Altphilologe an der Amsterdamer Universität, wurde zum Mittel punkt einer Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der holländischen Litera tur, der auch die >Vaderländsche Letteroefeningen< (17 6 1) herausgab. Die Volkswohlfahrt und die Volksbildung wurden von der >Maatschappij tot Nut van 't Algemeen< (Gesellschaft für Allgemeine Wohlfahrt), die 1784 von dem Mennonitenprediger Maarten Nieuwenhuyzen zum Zwecke der Aufklärung des gemeinen Volkes gegründet wurde, gepflegt. Dem gleichen Zwecke dienten auch J. H. Swildens' >Vaterlandsch A. B. boek< (17 8 1) so wie sein >Almanaek en politiek zakboekje<, durch welche nützliches Allge meinwissen verbreitet wurde. Unter französischem Einfluß stehend, verfaßte Jakobus Bellamy (175 7—1786) die >Vaderlandsche Gezangen< (1782). Alle diese Einflüsse der Enzyklopädisten und von Rousseau, Locke und Price er hielten durch die Amerikanische Revolution mächtige Antriebe. Diese hat nicht nur die Republik in einen unheilvollen Krieg mit England gestürzt, der die ganze Schwäche und Hohlheit des politischen und wirtschaftlichen Aufbaues der einstmals mächtigen Vereinigten Provinzen an den Tag brachte, sie hat auf der anderen Seite auch die Patrioten dazu ermutigt, die (aristokratische Regierungsform anzugreifen und demokratische Refor men zu verlangen. Der Kampf, der vordem nur in Broschüren ausgetragen worden war, wurde nun von politischen Zeitschriften aufgenommen, wie 456
zum Beispiel von der von Antoine Marie Cerisier herausgegebenen >Le Politique hollandais<, die von 1 7 8 1 —178 7 in Utrecht erschienene >Post van den Neder-Rhijn<, die es bald auf vierundzwanzigtausend Abonnenten brin gen konnte, und der >Politieke Kruyer< (1782—178 7). Die Periode zwischen 17 8 1 und 178 7 ist in der holländischen Geschichte als die >Patriottentijd< bekannt, als die Zeit der Patrioten. Es wurde heiß und viel diskutiert und es gab kleinere, aber ziemlich harmlose Kämpfe; aber das Übel saß zu tief, die Reformbewegung konnte sich nicht durchsetzen, und die Probleme der Republik blieben ungelöst. Drei Parteien standen sich gegenüber: die Föderalisten, die den Prinzen unterstützten; die bürgerliche Aristokratie, die Regenten, die sich ihre alten Privilegien und Freiheiten, durch die ihre Stellung dem Prinzen gegenüber geschützt wurde, erhalten wollten; und schließlich noch die demokratischen Patrioten, die nicht alte Freiheiten, sondern rationale menschliche Freiheit forderten. Am Anfang wirkten die zweite und die dritte Gruppe noch ge meinsam an der Untergrabung der Stellung des Statthalters; doch bald be gannen die Regenten die demokratischen Forderungen der Patrioten zu fürchten — und flüchteten sich in die Arme des Prinzen. Für eine kurze Zeit ebbte unter dem Eindruck eines drohenden Krieges mit England (17 8 1 bis 1784) der Streit der Parteien ab, und alle drei Parteien, sogar die der Oranier, nahmen für sich in Anspruch, Patrioten zu sein. Doch als die Kata strophe des Krieges und des abschließenden Friedens die ganze Schwäche der bestehenden Ordnung enthüllte, bestanden die demokratischen Patrioten auf der Durchführung von Reformen, während die Staaten von Holland weiterhin ihre Souveränität gegenüber dem Prinzen verfochten. Einer der Führer der Patrioten war Joan Derk van der Capellen (17 4 1 bis 1784), ein Mitglied des Adels der Provinz Overyssel. Am 25. Septem ber 17 8 1 wurde seine anonyme Flugschrift >Aan het volk van Nederland< mit Hilfe seines Freundes Francis Adriaan van der Kemp (1752—1829), einem Baptistengeistlichen, in der ganzen Republik verbreitet. In diesem Flugblatt wurde die holländische Geschichte in einem scharfen anti-oranischen Sinne dargestellt, und im Namen der legendären Freiheit der alten Bataver, die in Rousseauscher Art beschrieben waren, wurde die Befreiung Hollands von der »Unterdrückung durch die Prinzen« gefordert. Die Flug schrift schloß mit einem Aufruf an die Bevölkerung, gute Patrioten zu wäh len, welche die Provinzen »im Namen und im Auftrag dieser Nation« regieren sollten, und zu den Waffen zu greifen, um die gute Sache mit der Hilfe Jehovas, »des Gottes der Freiheit«, zum Siege zu führen. Die Flug schrift verursachte große Erregung. Jo h a Adams, der damalige Vertreter 457
der Vereinigten Staaten in Den Haag, berichtet über diese Flugschrift, wobei er sowohl ihre Bedeutung als auch die der Amerikanischen Revo lution etwas übertreibt: »Ich betrachte diese Schrift als einen Beweis dafür, daß es in diesem Lande eine Partei gibt, und zwar eine recht starke, die sich zu den Grundsätzen der Demokratie bekehrt hat. Wer und was hat den vermessenen Stolz des Volkes, wie man es hier in Europa nennt, hervor gerufen, wo doch hier die Völker alle so gründlich gedemütigt worden sind? Die Amerikanische Revolution! Die Lehren, die Beweise und das Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika, durch die Presse der ganzen Welt mitgeteilt, haben die Verständigen überzeugt und die Gemüter bewegt.« Capellen war aber nicht nur Demokrat, er war auch Nationalist. Wenn er sich auch in der Hauptsache mit seiner Heimatprovinz befaßte, so hat er doch die Dinge vom Gesichtspunkt der gesamten Nation aus betrachtet — ein damals noch sehr seltener Fall — und er ist dementsprechend vom hol ländischen Volk nicht als ein Provinzpatriot, sondern als ein Nationalheld angesehen worden. Capellens Aufruf fand Gehör. Bewaffnete Bürger schlossen sich zu Vrijcorps (Freicorps) zusammen, — ähnlich den irischen Volunteers — sie wähl ten sich ihre Offiziere aus ihren Reihen und exerzierten unter patriotischen und freiheitlichen Schlagworten wie »Pro patria et libertate«. Stadt auf Stadt folgte in der Aufstellung dieser Freicorps, und diese forderten die Bildung von patriotischen Ausschüssen aus Vertretern aus ihrer Mitte. So wurden die Freicorps die erste nationale Organisation, welche die Männer aller Glaubensbekenntnisse in ihren Reihen aufnahm und sie, seit 178 4 die Provinzgrenzen überbrückend, im gesamten Lande zu einer Körperschaft vereinigte wie »ein Volk, mit einem gemeinsamen Interesse«. Das Zentrum dieser Organisation war in Utrecht, wo ein junger Theologiestudent, Peter Philip Juriaan Quint Ondaatje, ihr Führer war. Die Patriotischen Regenten« von Holland und Utrecht traten 178 6 offiziell gegen den Statt halter auf. Der einzige in diesem Kampfe hervortretende Verteidiger der Partei der Oranier, Rijklof Michael Goens, ein gelehrter und kluger Schrift steller, mußte das Land verlassen. Ein politisches Journal, das er heraus gegeben hatte, der »Ouderwetsche Nederlandsche Patriot« (Der Holländische Patriot Alter Art) mußte nach kurzer Zeit, nachdem er es auf nicht mehr als siebenhundert Abonnenten gebracht hatte, sein Erscheinen einstellen. Doch war der Sieg nur von kurzer Dauer. Die Masse der Bevölkerung blieb teilnahmslos und begünstigte zu einem großen Teil den Prinzen. Im Sep tember 17 8 7 schickte der König von Preußen, der Onkel der Gattin des Statthalters, eine Armee zur Unterstützung seiner Nichte. Innerhalb weni 458
ger Wochen wurde die patriotische Bewegung wieder aufgelöst und die alte Ordnung wiederhergestellt. Das Land fiel in seinen hundertjährigen Pro vinzschlaf zurück. Der Ablauf der Ereignisse war in mancher Hinsicht den schweizerischen Verhältnissen ähnlich. In beiden Fällen schien die Reaktion über den neuen Patriotismus zu siegen, der traditionelle Provinzialismus über das neue nationale Einheitsempfinden. Und in beiden Fällen hat nur wenige Jahre später die Französische Revolution mit ihrer Botschaft von der rationalen Freiheit und der patriotischen Einigkeit mit erstaunlicher Leichtigkeit jene Institutionen hinwegzufegen vermocht, welche, obgleich sie unzeitgemäß waren und schwach auf ihren Füßen standen, den Anstürmen der früheren Patrioten dennoch standgehalten hatten.
5 Unter der spanischen Herrschaft machten die südlichen Niederlande eine Zeit der Misere und der kulturellen Rückständigkeit durch. Doch die öster reichische Herrschaft während des achtzehnten Jahrhunderts, besonders un ter dem hervorragenden Gouverneur Karl von Lothringen (1744—1780), brachte ihnen neuen Wohlstand und kulturellen Fortschritt. »Die Menschen unterstützten bereitwillig eine Regierung, deren sehr reale Wohltaten sie zu spüren bekamen. In wenigen Jahren wurde ein erstaunlicher Fortschritt er zielt. Die Regierung Maria Theresias setzte der langen Zeit des Verfalles ein Ende.« Die Verfassungen und Privilegien der verschiedenen Provinzen, ins besondere Brabants, wurden respektiert. Doch erforderten die Bedürfnisse einer modernen Regierung einige fortschrittliche Maßnahmen in Verwal tung und Wirtschaft, eine größere Einheit und Zusammenfassung, als es nach den mittelalterlichen Verfassungen der Provinzen gestattet war. Die Wohltaten, die den Österreichischen Niederlanden durch die Regierungen Maria Theresias und Joseph II. zugeflossen waren, förderten das Bedürfnis zur Entwicklung eines nationalen Lebensrahmens. Als aber Joseph II., die reinste Verkörperung des wohlwollenden aufgeklärten Absolutismus, dieses Ziel erzwingen wollte, stieß er auf den Widerstand der Stände, die sich ihre mittelalterlichen Privilegien und den provinziellen Partikularismus er halten wollten; er traf aber außerdem auch auf die Opposition der demo kratischen Patrioten, die zwar genau so dachten wie er, die es aber im Namen der neuen Souveränität der Völker ablehnten, sich diese Ziele vom weit entfernten und autoritären Wien aufzwingen zu lassen. In diesem Kampf gegen Joseph II. — der sogenannten Brabanter Revolution — zeich-
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neten sich zum ersten Male ein neuer Nationalismus und eine neue Nation ab. Diese Nation wurde aus einem revolutionären Willensakt heraus gebo ren; als gemeinsames Charakteristikum hatte diese neue Nation zunächst nur den katholischen Glauben, denn in sprachlicher und rassischer Hinsicht bestand keine Einheit; aber diese Faktoren haben auf das Zustandekommen der Nation keinerlei Einfluß ausgeübt. In den südlichen Niederlanden ist die Sprachgrenze seit tausend Jahren praktisch unverändert geblieben: während dieser Zeit spielte die Sprache in der Politik keine Rolle; Flandern und Bra bant waren von Anbeginn an zweisprachig gewesen. Die Verwaltungen der burgundischen, spanischen und österreichischen Dynastien haben sich der Landessprachen ihrer Untertanen bedient. Nicht auf Grund irgendwelcher amtlicher Maßnahmen, sondern auf Grund ihres eigenen Gewichtes wurde die französische Sprache mehr und mehr die Sprache der gebildeten Kreise, sogar bei den Flamen. Ohne irgendwelche politischen Folgen zu haben, wurde das Französische, bei dem völligen Fehlen jeglicher sprachlich-natio nalen Tendenzen, in den Niederlanden genau so vorherrschend wie im übrigen Europa. Die zentralisierenden Bestrebungen der Habsburger be günstigten die französische Sprache in Belgien genau so, wie sie die deutsche Sprache in Böhmen und Ungarn begünstigten, nicht aus nationalistischen Gründen, sondern weil in dem einen Falle das Französische und im anderen Falle das Deutsche als der geeignetste Träger eines kulturellen Fortschritts und des Allgemeinwohles im Sinne der Aufklärung erschien. Aber offi ziell ist nichts unternommen worden, um die flämische Sprache durch eine andere zu ersetzen; sie wurde weiterhin in der örtlichen Verwaltung ge braucht und nahm in dem von Maria Theresia geförderten Erziehungspro gramm einen großen Raum ein. Nur eine einzige Stimme hatte sich damals in Protest gegen die Zurücksetzung der flämischen Sprache im öffentlichen Leben erhoben. Ein Rechtsgelehrter aus Brüssel, Verloy, wandte sich 1788 gegen die in den Niederlanden allgemein umsichgreifende Vernachlässigung der Muttersprache. Wie Herder war er der Überzeugung, daß sich der Gelehrte nur in der Muttersprache voll auszudrücken vermöge, daß sich alle Schichten der Gesellschaft nur in der einen gemeinsamen Muttersprache vereinen könn ten, und daß der fremde Geist, der zusammen mit der fremden Sprache ein gedrungen sei, den Abstieg der Niederlande herbeigeführt habe. Doch sein Angriff war »wie der Ruf in der Wildnis, und hatte keinerlei Wirkung«. Die allgemeine Annahme der französischen Sprache schloß noch lange nicht die Annahme französischer Ideen< ein. Im Gegenteil, die österreichi schen Niederlande blieben unter dem allmächtigen Einfluß der katholischen 460
Kirche. Geistige Apathie und Ignoranz waren ein hervorstechendes Merk mal aller Bevölkerungsschichten. Die aufgeklärte Verwaltung bemühte sich darum, diesen Zustand zu ändern, und nach der Ausweisung des Jesuiten ordens war es ihr durch die Gründung von dreizehn höheren Schulen (1777) gelungen, eine nach modernen Grundsätzen ausgerichtete Laienbildung ein zuführen. Aber 178 5 zählten diese Schulen nur 852 Schüler, während die dreiundvierzig von der Kirche unterhaltenen Schulen von 3 0 17 Schülern besucht wurden. 1769 gründete die Regierung in Brüssel eine literarische Gesellschaft, aus der dann 17 7 2 die Brüsseler Akademie entstand. Doch diese Versuche zu einer Ausbreitung der Aufklärung führten zu einer Ent fremdung mit der Kirche. Als Joseph II. sein Toleranzedikt erließ, wurde die Kirche zum Mittelpunkt einer Agitation, die späterhin die Stände bei ihrem Kampf um die Erhaltung ihrer mittelalterlichen Freiheiten unterstützte. Verschieden hiervon war die Entwicklung im Bistum Lüttich, das reichs unmittelbar und folglich von den Niederlanden unabhängig war. Seine soziale Fortschrittlichkeit beruhte auf dem Kohlenreichtum, auf Grund dessen es zu einem der frühesten Industriezentren des Kontinents wurde. Seine beinahe republikanische Verfassung erhielt die Lebenskraft der Stände, von denen der dritte Stand der einflußreichste war. Dort konnten fort schrittliche Ideen viel schneller Fuß fassen als in den benachbarten Nieder landen, und mit der Bischofswahl von Franz-Karl de Velbruck (1772) er hielten die Tendenzen der Aufklärung eine starke Stütze in der Regierung und in den gebildeten Schichten. Der Bischof, der 177 9 die Société d'Emulation gründete, wurde als ein Mäzen der Literatur und als Vater der Men schenrechte und des Volksglückes gefeiert. In vieler Hinsicht war dieses blü hende kleine Land England und Amerika viel ähnlicher als den Ländern des europäischen Kontinents. Die industrielle Entwicklung wurde durch keine merkantilistische Gesetzgebung gefördert oder gehemmt, sie war der pri vaten Initiative überlassen. Die allgemeine Freiheit stärkte und belebte die literarische und philosophische Diskussion sowie die Tätigkeit der Zeitun gen und Zeitschriften. Die Veröffentlichungen unterlagen hier nicht der glei chen strengen Zensur, wie sie in anderen Ländern üblich war. Als Velbruck 178 4 starb, war man gerade in ernsthaften Erörterungen über die Einfüh rung einer freien und allgemeinen weltlichen Erziehung begriffen. Unter diesen Voraussetzungen war es nur natürlich, daß die Französische Revolution einen spontanen Widerhall bei den Patrioten der >nation liégeoise< hervorrief. Am 18 . August 1789 wurde die alte Verfassung aufge hoben, und zwar durch eine gemeinsame Aktion des industriellen Mittel standes, der von dem Geist der Zeit durchdrungen war, und des Industrie-
prolétariats. Unter dem Proletariat kamen Flugschriften zur Verteilung wie zum Beispiel die Commandements de notre mère la Patrie à chaque fidèle citoyens in denen es dazu aufgefordert wurde, sein Leiden durch eine tätige Teilnahme an der Regierung zu beheben. Diese demokratische Revolution hatte zwar Erfolg, aber dieser Erfolg war nicht von langer Dauer: die öster reichischen Armeen bereiteten ihr, wie auch der Revolution in den österrei chischen Niederlanden, ein schnelles Ende. Diese war von der Revolution in Lüttich grundlegend verschieden, denn sie beruhte auf der Unzufriedenheit mit den voreiligen Reformen Josephs II., der noch im Juni des schicksals schweren Jahres 1789 die Joyeuse Entrée aufgehoben und jegliche Ver sammlungen der Stände untersagt hatte. In der hierauf folgenden Revolution, deren Mittelpunkt in Brabant war, wurde die belgische Nation geboren: eine Frühgeburt, die sich nur einen flüchtigen Augenblick lang am Leben erhalten konnte, weil die revolutio näre Bewegung keine einheitliche Zielsetzung hatte. Zwei verschiedene Rich tungen, die sich beide >Patrioten< nannten, während sie entgegengesetzte Ziele verfolgten, mengten sich untereinander. Die Demokraten unter der Führung von Jean François Vonck setzen sich für die Ideen der Französi schen und der Amerikanischen Revolution ein und stimmten dem aufgeklär ten Säkularismus Josephs II. zu, betonten aber die Souveränität des Volkes — ein Gedanke, der dem wohlwollenden Absolutismus des Kaisers völlig fern lag. Sie wollten eine moderne Nation schaffen, in der alle Provinz- und Klassenunterschiede verschwinden und in einer rationalen Ordnung des Fortschrittes und der Toleranz aufgehen würden. Die andere Gruppe, die unter der Führung von Henri van der Noot und Pierre van Eupen stand, lehnte die Existenz der Menschenrechte ab und respektierte nur die durch Tradition gegründeten Privilegien der Provinzial Verfassungen und der Stände. Der Modernismus Josephs II. war ihnen verhaßt, und sie fürchteten, worin sie mit der Kirche übereinstimmten, den neuen demokratischen Geist. Für den Augenblick vereinigten sich beide Gruppen in der Verteidigung der >Freiheit< gegen die Angriffe durch den Absolutismus, und dieses beharr liche Festhalten an ihrer Freiheit und an der Selbstbestimmung schmolz die Einwohner der verschiedenen Provinzen, Reaktionäre wie Demokraten, konservative Katholiken wie Freidenker, Flamen und Wallonen zu einer enthusiastischen Nation zusammen. Vor dem Glanz des neuen Namens >Belgien< verblaßten die alten Bezeichnungen Flandern, Brabant und Henne gau. Da sich die konstitutionellen Privilegien der einzelnen Provinzen sehr ähnlich waren, erschienen sie mehr und mehr als ein Gleiches, als eine ge meinsame Garantie im Kampfe gegen den Fürsten. Die Staaten von Brabant 462
ließen an die anderen Provinzen eine Einladung zu einer Koalition ergehen. Sie riefen die Mächte zum Schutze ihrer Freiheiten an, und unter Jean Andre van der Mersch wurde eine nationale Armee aufgestellt. A uf Einladung der Staaten von Brabant versammelten sich die Generalstaaten aller Provinzen im Jahre 179 0 zu einem Kongreß in Brüssel. Aber dieser Kongreß war keine vom Volke gewählte Nationalversammlung, es war eine Versammlung aus Abgeordneten der Provinzialstände, die sich im Namen ihrer traditionellen Verfassungen trafen und hinter verschlossenen Türen verhandelten. Die Ver fassung der »Vereinigten Staaten von Belgien< hatte nur rein äußerlich eine Ähnlichkeit mit der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Es gab keine Rechtssicherheit und kein allgemeines Wahlrecht; sie war nichts anderes als eine Rückkehr zum Großen Privileg von 14 7 7. Es war ein Sieg des Provinzialismus über die neue Nation, der Sieg mittelalterlicher Privi legien über die politische Freiheit, ein Sieg des Adels, der Geistlichkeit und der reaktionären Massen über den aufgeklärten fortschrittlichen Mittelstand. Die Demokraten, deren Enthusiasmus die Revolution allein ermöglicht hatte, sahen sich der Früchte beraubt und wandten sich deshalb nach Frank reich. Aber der neue Staat, der durch die Verfassung vom 1 1 . Januar 1790 geschaffen worden war, hatte keinen langen Bestand. Bereits am 2. Dezem ber marschierten die Österreicher in Brüssel ein. Leopold II. verließ den Weg, den Joseph II. mit seinen Reformen eingeschlagen hatte. Die ruhigen alten Zeiten schienen wiedergekehrt zu sein. Zwei Jahre später überrannten die französischen Revolutionsheere, die die Grundlagen für ein neues Europa mit sich trugen, die österreichischen Niederlande und das Bistum Lüttich und legten das Fundament zu einer belgischen Nation.
6 In Spanien selbst war die katholische Tradition noch tiefer verwurzelt als in den Spanischen Niederlanden, wo die österreichischen Habsburger größere Bereitschaft bewiesen hatten, die Struktur des Landes zu modernisieren, als die spanischen Bourbonen. Obgleich Spanien durch dynastische und poli tische Bande eng mit Frankreich verbunden war (man träumte in Spanien davon, Jamaika und Gibraltar von den Engländern zurück zu erobern und sich das mit England verbündete Portugal einzuverleiben), drang die fran zösische Aufklärung in Spanien wesentlich langsamer ein als in anderen europäischen Ländern. Die wenigen Männer am Hofe Karls III. (1759 bis 1788), Spaniens aufgeklärtem Monarchen, die aufrichtig den fortschritt463
liehen Ideen des Jahrhunderts huldigten, »hatten keinen Einfluß auf die Bevölkerung. Die Aufhebung des Jesuitenordens (1766) war äußerst unpopu lär. Dieser Führer beraubt, die im großen und ganzen einen mäßigenden Einfluß ausgeübt hatten, warfen sich die Spanier den Mönchen in die Arme — und wurden noch fanatischer. Außer gegen Reformen gab es in Spanien keine nennenswerte Opposition.« Die Reformen Philipps V. (1700—1746) und Karl III. hatten wohl etwas dazu beigetragen, den Handel des Landes, der sich in einem beispiellosen Zustand der Apathie und Armut befand, etwas zu beleben. Aber die Spanier waren über diese Neuerungen durchaus nicht glücklich: als fanatische Anhänger der Kirche und der Dynastie hatten sie nichts gegen Despotie und mittelalterlichen Aberglauben einzuwenden, solange ihre traditionellen Lebensgrundlagen intakt blieben. Keine der westlichen Nationen war für die neuen Ideen so unzugänglich wie die Spanier, die alles Fremde haßten und auf ihre eigene geschichtliche Vergangenheit stolz waren. Die Tatsache, daß sie durch ihre Rückständig keit zur Zielscheibe des Spottes und der Verachtung der übrigen europäi schen Länder geworden waren, steigerte nur noch ihren Haß gegen alle Ausländer. Der Tod Karls III. wurde begrüßt, weil er das Ende der Refor men erhoffen ließ; und diese Hoffnung wurde denn auch erfüllt. Karl IV. (1788—1808) war unfähig und geistig nicht ganz auf der Höhe. Er wurde von seiner Gemahlin Maria Luise bevormundet, die ihrerseits unter dem beherrschenden Einfluß ihres Liebhabers Emanuel Godoy stand. Unter die sem korrupten Regime war Spanien dem stürmischen Zeitalter der Franzö sischen Revolution ausgesetzt. Und gerade wegen dieser Kirchentreue und Anhänglichkeit zur Dynastie sowie wegen ihres übertriebenen National stolzes waren die Spanier das erste Volk, das sich mit Erfolg gegen die Bot schaft der Menschenrechte, gegen den König von Napoleons Gnaden und gegen die französische Unterdrückung aufgelehnt hatte. Ihr Unabhängig keitskrieg war von keinerlei Erneuerungs- oder Reformwillen beseelt, und er hat auch nicht die Grundlagen für einen modernen Nationalismus in Spanien gelegt. Die Spanier sind aus dieser Feuerprobe mit einer beinahe unveränderten Lebensauffassung und Verehrung der eigenen geschichtli chen Vergangenheit hervorgegangen. Doch selbst in Spanien ist im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts das geistige Leben etwas in Bewegung geraten, teils auf Grund eines engeren Kontaktes mit dem europäischen Denken, und teils aus dem Bedürfnis her aus, die spanische Kultur vor den verächtlichen Blicken des übrigen Europa zu rechtfertigen. Die meisten führenden Schriftsteller standen unter dem Einfluß Frankreichs und wurden >reformadores< und >afrancesados< ge 464
nannt. Ignacio de Luzan unternahm den Versuch, mit seiner >Poetica< (1737) die Regeln der europäischen Schule in Spanien einzuführen. Dieser französische Einfluß wurde von den >espanolistes< bekämpft. Unterstützt wurde der Kampf um eine reine spanische Sprache durch die von Philipp V. 1 7 1 4 gegründete Real Academia de la Lengua, die den >Diccionnario de autoridades< (6 Bde., 172 6 —1739 ) und die >Gramätica de la lengua castellana< (17 7 1) herausgab. Die Nationalisten beschworen gegen die Nach ahmerei ausländischer Vorbilder und gegen die Vorliebe für die französische Literatur die Größe des Goldenen Jahrhunderts und besonders Calder6n und Lope de Vega. 176 4 veröffentlichte Francisco Mariano Nipho in Madrid eine Flugschrift »La Naci6n espanola defendida de los insultos del Pensador y sus secuaces<, in der er anhand französischer Quellen nachwies, daß die spanischen Dramen nicht nur Eigenschöpfungen, sondern sogar die besten in Europa seien. Der Jesuit Francisco Xavier Llampillas führte in einem sechsbändigen, in italienischer Sprache abgefaßten Werke, dem >Saggio storico-apologetico della letteratura spagnuola contro le pregiudicate opinioni di alcuni moderni scrittori italiani< (Genua, 17 7 8 —17 8 1) aus, daß die spa nische Literatur nicht nur unübertroffen sei, sondern auch die Literatur sämtlicher anderen Länder übertroffen habe. Im Jahre 1786 sprach der ita lienische Historiker Carlo Denina vor der Akademie in Berlin über die Frage >Reponse ä la question: Que doit-on ä l'Espagne?< und führte aus, daß Frankreichs Literatur Spanien mehr zu verdanken habe als alle anderen Länder Frankreich. Dieser nicht ganz unberechtigte Stolz auf die eigene nationale Vergangenheit steigerte noch den traditionellen Isolationismus des spanischen Geisteslebens. Wie ruhmreich auch immer Spaniens Vergangenheit gewesen sein mag: die Gegenwart sah traurig aus. Zu einer Zeit, in der sich im übrigen Europa nicht nur die Gelehrten, sondern auch schon der Mittelstand mit den Wissen schaften befaßte, gab es in Spanien noch keine Lehrstühle für Anatomie, Botanik und Experimentalphysik. Der erste Lehrstuhl für Chemie wurde im Jahre 17 8 7 errichtet. Das Niveau auf dem Gebiete der Hygiene und der Medizin war seit dem Mittelalter sogar gesunken. In dieser Situation hat sich ein Benediktinermönch aus Galicien, Benito Feij6o (1676—1764) in der Stille seiner Zelle ein ganzes Leben lang der Aufgabe gewidmet, den Beweis zu erbringen, daß Wissenschaft und Fortschritt mit der Religion zu vereinbaren sind, und er hat sich mit den Lehrern auseinandergesetzt, die die Ignoranz deshalb so leidenschaftlich verteidigten, weil sie selber un fähig waren zu lernen und zu begreifen. Die Wissenschaft war mit der Hauptgrund für das Gedeihen der protestantischen Länder, und Spanien 465
hatte hierin nur einen weiteren Grund gesehen, um sich in seiner eigenen Vergangenheit einzuschließen. Ein tragischer Fehler, wie Feijoo nachwies, denn das eigene Vaterland zu isolieren und es verarmen zu lassen, sei Verrat. Gute Fürsten müßten Schulen errichten, Straßen und Schiffe bauen, den Staatsschatz vermehren und die Künste und Wissenschaften fördern. Spa niens Armut könne nur durch eine umsichtige Kultivierung des Bodens, durch Beschäftigung der allzuvielen müßigen Hände bei der nicht allzugro ßen Bevölkerung, durch einen scharfen Kampf gegen die Faulheit und ge gen die viel zu zahlreichen Feiertage, die die Religion nicht verlangt und die sich nicht mit der Wohlfahrt eines Landes vertragen, überwunden werden. Aus patriotischem Eifer heraus hatte Feijoo zahlreiche Schriften veröffent licht, in denen er in Spanien häufige Absurditäten brandmarkte und neue naturwissenschaftliche Entdeckungen sowie bessere und fortschrittlichere Methoden für Industrie, Verwaltung und das tägliche Leben beschrieb und dabei betonte, daß ihre Anwendung die Spanier in die Lage versetzen würde, den natürlichen Reichtum ihres Landes und ihren fruchtbaren Geist besser auszunützen. Zu diesem Zwecke müßten auch die Tore für den geistigen Austausch mit den anderen Ländern, insbesondere mit Frankreich, weit ge öffnet werden. Aber es gab immer noch viele Spanier, deren Wunsch es war, »que los Pyrineos llegassen al Cielo; у el Mar, que bana las Costas de Francia, estuviesse sembrado de escollos, porque nada pudiesse passar de aquella Nacion a la nuestra«. Feijoo trat auch für die Gleichberechtigung der Frau ein, die seiner Ansicht nach dem Manne geistig nicht etwa unter legen sei, sondern der es nur an Gelegenheit zum Lernen fehle. Spaniens ruhmvolle Vergangenheit solle das Volk nicht dazu verleiten, auf seinen Lorbeern auszuruhen und der Indolenz zu verfallen — im Gegenteil, sie solle es aus seinem Schlafe aufrütteln und es anspornen, die großen Taten der Vorfahren zu übertreffen. Wie der preußische König solle auch der Kö nig von Spanien eine Akademie der Wissenschaften und der Künste grün den; er solle sich von seinen Träumen über Eroberungskriege und Vergrö ßerung seines Landes ab- und der Förderung des Lehrbetriebes und der Wissenschaften zuwenden. Feijoos Aufruf zu einer Regeneration Spa niens ist hundert Jahre später durch die spanischen Liberalen erneut aufgegriffen worden; aber wie Feij< o mußten auch jene zusehen, wie ihre Be mühungen durch die immer wieder auftretende Forderung nach der katho lischen Hispanidad des sechzehnten Jahrhunderts mit ihrer Feindseligkeit gegenüber allen neueren Denkformen, die im siebzehnten Jahrhundert von England und im achtzehnten Jahrhundert von Frankreich ausgegangen sind, zuschanden gemacht wurden.
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Die ablehnende Haltung gegenüber diesen Einflüssen wurde noch da durch gesteigert, daß sie Spaniens Macht über sein amerikanisches Reich un tergruben. So wie England seine freiheitlichen und aufgeklärten Traditionen den nordamerikanischen Kolonien aufgeprägt hatte, so hatte Spanien sei nen Besitzungen in Süd- und Mittelamerika den Stempel seiner Despotie und seiner Rückständigkeit aufgedrückt. Sämtliche Verbindungen zwischen dem spanischen Amerika und Europa liefen durch das Mutterland. Die Er ziehung, soweit man überhaupt davon sprechen konnte, lag in den Händen der Geistlichkeit. Die moderne Wissenschaft und ihre Gesichtspunkte wa ren dort unbekannt. Eine selbständige Verwaltung war undenkbar. Sämt liche führenden Stellungen waren in Händen von Spaniern, während die Masse der Kreolen (d. i. geborene Amerikaner spanischer Abkunft) und der Mischlinge von allen Privilegien ausgeschlossen waren. Die Indianer lebten in völliger Teilnahmslosigkeit und im größten Elend. Die Vertreibung der Jesuiten im Jahre 176 7 hat sogar das Wenige an Bildung, das überhaupt vorhanden gewesen war, vernichtet. Der aufgeklärte Despotismus Karls III. brachte einige Verbesserungen. Der Kodex von 177 8 begünstigte den Handel und erweiterte den Kontakt der Kolonien mit anderen Ländern. Die strenge Buchzensur und das Verbot, Bücher aus fremden Ländern in die Kolonien einzuführen, hatten doch nicht vermocht, das Reich vollständig zu isolieren. Einige mutige Männer lasen in aller Heimlichkeit die französischen Philosophen; es sind auch einige private Bibliotheken zusammengestellt worden, die zu Mittelpunkten der Diskussion und der Agitation in den Kreisen der kreolischen Jugend wur den. Diese jungen Kreolen waren von den Nachrichten über die erfolgreiche Amerikanische Revolution tief beeindruckt worden — und sie hatten auch erfahren, daß ihr König diese Revolution unterstützt hatte. Gegen Ende des Jahrhunderts wurden die ersten Zeitungen ins Leben gerufen; unter diesen befand sich der >Mercurio Peruano< in Lima (17 9 1), der noch im gleichen Jahre eine in Bogota neu erscheinende Zeitschrift begrüßen konnte als einen Beweis dafür, daß »der Geist des Jahrhunderts der Aufklärung, der Humanität und der Philosophie günstig ist. Schon lange haben verschie dene Teile von Amerika die gleichen Ideen gehabt, und nun haben sie sich unbewußt zu einer Einheit zusammengefunden, indem sie das günstigste Mittel zu ihrer Beförderung, nämlich die Zeitung erwählt haben. Vielleicht werden noch vor 1800 Buenos Aires und Chile jedes einen >Diario<, einen >Mercurio< oder eine >Gazeta< herausgeben.« Einzelne Gruppen, wie zum Beispiel die Gesellschaft der >Amantes del Pais<, nannten sich Patrioten. 467
Aber all diese Anfänge waren viel zu dürftig und schwach, um als Fun dament für die Entstehung eines spanisch-amerikanischen Nationalis mus dienen zu können. Die Rassen- und Standesunterschiede waren zu groß. Das Gemeinschaftsbewußtsein war unter den spanischen Kolonien Süd amerikas nicht stark entwickelt. Die klimatischen und geographischen Ver hältnisse waren zu verschieden, die verwaltungsmäßigen Einheiten waren zu groß und standen in keinem direkten Kontakt untereinander. Jede Pro vinz wies eine andere Rassenmischung auf — selbst die Veranlagungen und Traditionen der einzelnen Indianerstämme waren sehr verschieden, und sie waren sich ihres gemeinsamen Geschickes nicht bewußt. Die in der Heimat geborenen Spanier trennten starke gesellschaftliche Schranken von den in Amerika geborenen Spaniern. Es gab auch so gut wie gar keine Literatur, die einen gemeinsamen Hintergrund früherer Ruhmestaten und Kämpfe ge schaffen hätte, mit Ausnahme des einen langen Epos >La Araucana< von Alonso Ercilla y Zuniga (15 3 3 —1594), das den heldenhaften Widerstand der Araukaner in Chile gegen die spanischen Eroberer verherrlichte und Bewunderung für Eingeborenenhäuptlinge wie Lautaro und Caupolicän erweckte. Aber diese heroische Zeit schien weit zurückzuliegen. Von den ge legentlichen Revolten der Indianer gegen die grauenhafte Unterdrückung hatte nur der von Tupac-Amaru II. (1742—17 8 1), einem direkten Ab kömmling der peruanischen Inkas, geführte Aufstand gewisse Bedeutung erlangt. Er endete mit grausamen Hinrichtungen und der systematischen Ausmerzung aller Überreste der Inkafamilie. Dem Führer des Aufstandes hatte scheinbar ein klares eindeutiges Ziel gefehlt; er hatte die rücksichts lose Mißwirtschaft der spanischen Beamten angegriffen, von der er be hauptete, daß sie dem ausdrücklichen Wunsche der Krone, der er treu erge ben sei, widerspräche. In seiner Proklamation versicherte er, es seien »alle Vorkehrungen getroffen worden, um die Spanier und Kreolen, die Zambos und die Indios zu beschützen und ihre Ruhe zu erhalten, denn sie sind un sere Landsleute und Kompatrioten, in unserem Lande geboren und gleichen Ursprungs wie die Eingeborenen, und haben alle gleichermaßen unter der Tyrannei der Europäer gelitten«. Seine Revolte war »der erste feierliche und vernünftige Protest gegen die spanische Mißwirtschaft in Peru«. »Aus ihrem Siege haben die Spanier wenig Vorteile und noch weniger Ehre ge wonnen. Die Indianer blieben weiterhin feindselig und jederzeit bereit, sich mit jedem Feinde ihrer gehaßten Herren zu verbinden. Durch die Barbarei der Spanier gröblich verletzt, vereinigten sie sich mit den Kreolen in ihrem Kampf um die Unabhängigkeit.«
Unter dem Einfluß der Französischen und der Amerikanischen Revolu tion traten bald die ersten Wortführer der Forderung nach Freiheit und Ge rechtigkeit in Erscheinung. Francisco de Miranda (1750—18 15 ) , der Sohn eines kreolischen Kaufmanns in Caracas, hatte als spanischer Offizier im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft. Aus seiner Berührung mit dem englisch-amerikanischen Lebenskreis erwuchs in ihm die Idee, daß auch dem spanischen Teil von Amerika die Freiheit erkämpft werden müsse. Im Jahre 178 4 reiste er durch die Vereinigten Staaten, er las die Enzyklo pädisten und Rousseau; dann fuhr er nach London, wo er sich für mehrere Jahre niederließ. Von hier aus hat er den europäischen Regierungen meh rere Pläne zur Schaffung einer unabhängigen spanisch-amerikanischen Na tion unterbreitet. Diese Nation sollte ein Erbkaisertum werden, der Titel des Monarchen sollte >Inka< heißen, ferner sollte dieses Reich ein Parlament nach dem englischen Muster erhalten; die Mitglieder des Oberhauses soll ten auf Lebenszeit ernannt werden und den Titel >Caciques< erhalten. We sentlich interessanter als diese Pläne, doch genauso erfolglos, war eine in Rom gedruckte Flugschrift, >Ein Brief an die amerikanischen Spanier von einem Landsmann<, in dem der im Exil lebende Jesuit Juan Pablo Viscardo y Guzman geschrieben hatte: »Der von Spanien erhobene Anspruch auf blinden Gehorsam gegenüber seinen Willkürgesetzen, gründet sich in erster Linie auf die Unwissenheit, die derartige Anmaßungen erlaubt und begün stigt, insbesondere auf die Unkenntnis über die unveräußerlichen Men schenrechte und die unbedingten Pflichten einer Regierung . . . Die Natur hat uns durch ein ungeheuer großes Meer von Spanien getrennt. Ein Narr wäre ein in solcher Entfernung von seinem Vater lebender Sohn, wollte er zur Regelung seiner eigenen Angelegenheiten immer erst die Entscheidung sei nes Vaters abwarten. . . Aus Dankbarkeit gegenüber unsren Vorvätern, die ihr Blut und ihren Schweiß nicht dazu vergossen haben, daß der Ort ihres Ruhmes und ihrer Mühen der Schauplatz unserer elenden Knechtschaft werde, sollten wir unserer Abhängigkeit von Spanien ein Ende bereiten.. . Die Tapferkeit, mit der die englischen Kolonien in Amerika für ihre Freiheit gekämpft haben, und die sie nun in ihrer ganzen Herrlichkeit genießen, beschämt uns in unserer Indolenz.« Doch der Einfluß der Amerikanischen und der Französischen Revolution drang nur bis zu einzelnen Menschen in Spanisch-Amerika durch. Es bedurfte erst des Aufruhres, den die napoleonischen Kriege verursachten, um den Traum von neuen Nationen, die aus der spanischen und indianischen Vergangenheit heraus auf ame rikanischem Boden erwachsen sollten, seiner Verwirklichung näher zu bringen. 469
Dank seiner engen Verbindung mit England und dank der starken Per sönlichkeit seines aufgeklärten Staatsmannes Sebastiäo Jose de Carvalho e Mello, Marquez de Pombal (1699—1782), unterschied sich Portugals Weg zur nationalen Einheit wesentlich von dem der Spanisch sprechenden Welt. Gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts wurden die Galicier im Norden, die Mauren im Süden, die Juden und die ausländischen Kreuzfahrer zusam mengefaßt, und die Monarchie, die 1290 die Universität von Coimbra gründete und 1294 den ersten Vertrag mit England schloß, auf Kosten der Kirche und des Adels gestärkt; hierdurch wurde Portugal zu einer Nation konsolidiert. Hundert Jahre später wurde durch die Allianz von Windsor (1386) die Unabhängigkeit Portugals durch England garantiert. Aus einem Jahrhundert der Kreuzfahrten gegen den Islam, das 14 1 5 durch die Erobe rung von Ceuta eingeleitet worden war und mit Vasco da Gamas Entdekkung des Seeweges nach Indien abgeschlossen wurde, ging Portugal als ein Weltreich hervor. Manuel I. (1495—15 2 1) nannte sich >Herr über die Conquista, über die Seewege und über den Handel von Indien, Äthiopien, Ara bien und Persien<, und bald konnte er noch Bereiche aus der Neuen Welt seiner Herrschaft über die Seewege nach Afrika und Asien hinzufügen. Doch genau wie in Spanien und Holland waren auch hier die eigenen Hilfsquel len des Mutterlandes zu gering, um das ganze Gebäude des Reiches zu tragen. Das sechzehnte Jahrhundert sah den Verfall der Dynastie und der Finanzen des Landes, sowie den wachsenden Einfluß der Kirche und ihrer Inquisition, die das geistige Leben durch eine strenge Zensur beherrschte und das Erziehungswesen völlig in der Hand hatte. Die Bevölkerungszahl war gering, und diesem Zustand konnte weder die Vertreibung der Juden noch die Einfuhr von Sklaven aus Afrika abhelfen, obwohl Mischehen leicht möglich waren und auch häufig vorkamen. Das zerfallende Portu gal verkörperte sich im Knaben Sebastian, der im Alter von drei Jahren auf den Thron kam (1557), und während dessen Regierungszeit Portugals größ ter Dichter, Luis de Camöes (1524—1580), das Nationalepos >Os Lusiadas< (15 7 1) verfaßt hat. Ein asketischer und schwacher Fürst, der unter dem Ein fluß der Jesuiten stand, brannte der König vor Verlangen, die Kreuzfahrten gegen die Heiden wieder aufzunehmen. 15 7 8 zog er nach Marokko, wo er in einem Gefecht, das wegen unzulänglicher Führung verloren ging, ums Leben kam. Das portugiesische Volk sah in ihm den Märtyrer des natio nalen Glaubens und des Rittergeistes, als den >rei encuberto<, den verbor genen König. So wurde er zum Mittelpunkt der nationalen Legende. Bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts konnte sich der Glauben des Vol kes, daß der König weiterlebe und eines Tages als der Erretter seines Lan 470
des wiederkehren werde, als ein Element der politischen Willensbildung er halten; da dieses Element den Glauben der Massen an Kirche und Monar chie ständig lebendig erhielt, wurde es »ein für die politische Aufklärung des Volkes unüberwindliches Hindernis. Denn in Hinblick auf das bevor stehende glückliche Zeitalter war nichts wichtig außer der Erhaltung eines gläubigen Absolutismus. Die Reformier aller Schattierungen waren gleich sam Verräter am rechten Glauben.« Als im Jahre 158 0 das regierende Haus der Aviz ausstarb, folgte mit Unterstützung der katholischen Kirche Philipp II. von Spanien, der durch seine Mutter Isabel ein Enkel Manuels I. war, auf dem portugiesischen Thron. Während sechzig Jahren haben die Spanier versucht, Portugal in die Verwaltung und in die Geschicke Spaniens einzubeziehen. Im Jahre 1640 revoltierte Portugal gegen diese Hispanisierung, aber dieser lange sich hin ziehende Kampf brachte weder eine Erweckung der Massen noch eine Neubelebung des geistigen und gesellschaftlichen Lebens der führenden Schich ten mit sich. Unter Johann V. (1706—1750) nahm der Einfluß der Kirche noch zu; die 1 7 1 4 gegründete Portugiesische Akademie arbeitete an der Vervollkommnung und Reinigung der Sprache, die Königliche Akademie für portugiesische Geschichte, 17 2 0 gegründet, veröffentlichte die >Documentos e Memorias< ( 17 2 1—1756 ), und Dio Barbosa Machado gab die >Biblioteca Lusitana< in vier Bänden ( 17 4 1—1759) heraus. Um die Mitte des Jahrhunderts stellte die unter dem Einfluß der fran zösischen Aufklärung stehende, von Antonio Diniz da Cruz e Silva ( 17 3 1 bis 1799) unter dem Namen >Arcadia Ulysiponense< gegründete Gesellschaft der Dichter die französischen Vorbilder dem spanischen Einfluß entgegen, doch gleichzeitig gebot sie dem Gebrauch von Gallicanismen Einhalt und schöpfte aus der klassischen Antike und den Dichtern aus Portugals Gol dener Zeit, aus den >quinhentistas<. »Im achtzehnten Jahrhundert wandten sich die wenigen Gebildeten, die nicht in völlige geistige Ignoranz und Apathie verfallen waren, Frankreich zu, um sich dann allmählich auf dem Umweg über die Enzyklopädisten wieder zurückfinden.« Die Modernisie rung des sozialen und geistigen Lebens in Portugal wurde durch Pombal gefördert, der während siebenundzwanzig Jahren (1750—177 7) Außen- und Kriegsminister war. Er ist ein aufgeklärter Staatsmann von ungewöhnlicher Vitalität gewesen, dessen belebender Einfluß sich im ganzen Bereich der portugiesischen Gesellschaft fühlbar auswirkte, und noch seinen Sturz, wenn auch mit schnell nachlassender Intensität, überdauern konnte. Er setzte dem Einfluß der Kirche ein Ende, vertrieb die Jesuiten, reformierte das Erzie hungswesen und versuchte, das Wirtschafts- und Verwaltungsleben des 471
Landes auf eine neue Grundlage zu stellen. Seine Tätigkeit als Reformator erstreckte sich bis nach Brasilien, wo er die Verwaltung vereinheitlichte und verbesserte, Rio de Janeiro zur Hauptstadt machte, gebürtige Brasilianer in den Verwaltungsdient einstellte und sich für die Gleichberechtigung der Rassen einsetzte. Mit der Abschaffung der Sklaverei in Portugal (1773) und der rechtlichen Beschränkungen der »neuen Christen« stellte er seinen auf geklärten Liberalismus unter Beweis und führte damit auch gleichzeitig einen Angriff gegen die bevorzugte Stellung der Aristokratie. Doch gelang es Pombal nicht, Portugal von Grund auf zu wandeln. Als ein Vertreter des aufgeklärten Absolutismus hatte er kein Verständnis für die Kräfte, die im Volke ruhten, oder für die Aktivierung der Massen im nationalen Leben. Doch war er nicht nur ein eifriger rationaler Reformator; es lag auch in seinem Bestreben, die Gesundheit des Staates und die Würde der Nation zu stärken. In voller Würdigung der Bedeutung, die das Bündnis mit England für Portugal hatte, da es ja die Grundlage von Portugals Selbständigkeit war, hatte er doch das Verlangen, die Selbständigkeit gegen englische An sprüche zu sichern und die wirtschaftliche Abhängigkeit Portugals von Eng land zu lockern. Als England sich einmal über portugiesische Rechte hin wegsetzte, verlangte er volle Genugtuung und betonte dabei in einer Note die ruhmreiche Vergangenheit seines Landes. »Vous comptiez pour peu en Europe, lorsque nous comptions pour beaucoup. Votre île ne formait qu'un point sur la carte géographique, tandis que le Portugal la remplissait de son nom. Nous dominions en Asie, en Afrique et en Amérique, tandis que vous ne dominiez pas que dans une petite île de l'Europe. . . . Par une stupidité qui n'a point d'exemple dans l'histoire universelle du monde économique, nous vous permettons de nous habiller et de nous fournir tous les objets de notre luxe, qui n'est pas peu considérable . . . Sans être Cromwell je me sens en état de suivre son exemple en qualité de ministre protecteur du Portugal.« Als 17 5 5 eine Reiterstatue des Königs feierlich enthüllt wurde, erwähnte Pombal voller Stolz die großen Fortschritte, die das Land unter seiner Ver waltung gemacht hatte: »Zum Ersten: Alle jene Nationen, die bisher in arroganter, prahlerischer und selbstgefälliger, überlegener Weise das por tugiesische Volk als dumm, roh, träge und aller Elemente und Grundsätze der Natur- und Geisteswissenschaften, sowie aller wahren philosophischen Erkenntnis bar bezeichnet haben, werden jetzt davon überzeugt sein, daß wir es ihnen in Hinsicht auf den ersten Punkt gleich tun, und was das zweite anbelangt, so sind wir darin den meisten sogar überlegen; dieses haben die Franzosen und Italiener oft zugeben, müssen, indem, sie. d k Gc472
setze und Verordnungen Seiner Majestät respektiert und nachgeahmt haben; auch werden wir um die Statuten der Universität von Coimbra beneidet, und von ihren Korrespondenten in Lissabon wünschen jene, daß ihnen alle Schriften zugesandt werden, die in diesem herrlichen Reiche, das die Aus länder felicissimo nennen, veröffentlicht werden. Zum Zweiten: Daß die Verachtung, die jene Nationen früher unserem Innen- und Außenhandel gegenüber zum Ausdruck gebracht haben, verschwunden ist, da sie uns in diesen Dingen jetzt selber nacheifern und uns darum beneiden. Und sie haben gesehen, was bis jetzt ohne Beispiel war, daß nämlich ein großarti ges öffentliches Wirtschaftsseminar alle drei Jahre dreihundert Schüler ent läßt, die auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens ausgebildet sind und das Gelernte zum Nutzen des Staates verwenden.« Auch den Wert einer Nationalsprache hatte er richtig erkannt. Ihre Ver vollkommnung »ist einer der wichtigsten Schritte auf dem Wege zur Bil dung einer Kultumation, da von ihr die Verständlichkeit, die innere Kraft und die Majestät des Wortlautes der Gesetze abhängen, in ihr die Wahr heiten des Glaubens verkündet werden und durch sie das Schrifttum nütz lich und schön zugleich gestaltet wird. Im Gegenteil, nichts beweist die Ig noranz eines Volkes besser als die Ungeschliffenheit seiner Sprache. Das sicherste Mittel, um die Sprache zu verfeinern und zu vervollkommnen ist das, daß man die Jugend die Grammatik der eigenen Sprache lehrt, um sie so in die Lage zu versetzen, diese mit Reinheit und Eleganz zu sprechen und zu schreiben und diejenigen Fehler zu vermeiden, durch die die Vor nehmheit ihrer Ideen so gröblich verunstaltet wird.« Nach Pombals Anwei sungen wurde 178 0 die Academia Real das Sciencias gegründet und der >Diccionario da lingua portugueza< herausgegeben. Repräsentant des wachsenden Nationalgeistes, der in Portugal durch die Berührung mit der Französischen Revolution im Entstehen begriffen war, war Francisco Manoel de Nascimento (1734—18 19 ), der 1788 vor der In quisition nach Frankreich geflohen war und sich für den Rest seines Lebens in Paris niedergelassen hatte. Er interessierte sich für portugiesische Volks lieder und Volksbräuche, und er hatte die alten Volkssagen und Märchen, die als Flugblätter gedruckt und verteilt worden waren, gesammelt; indem er die weite und unerschlossene Welt der portugiesischen Volksüberlieferung für die Literatur entdeckte, hat er die Sprache der Dichtung bereichert. Sein Nationalgefühl steigerte sich im Exil und kam in einer Reihe von Oden zum Ausdruck, in denen er es unternahm, die ruhmvolle nationale Vergangen heit Wiedererstehen zu lassen und die Nation zu einer rationalen Freiheit und zu einem tätigen Fortschritt aufzurufen. In einer seiner Oden be
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schimpfte Neptun die Portugiesen wegen ihrer Dekadenz: »Ihr habt das wohlerworbene Reich Mina, das Goldland, verloren! Ohne Widerstand zu leisten, habt ihr Dabul und Cochin und alle jene Länder, die einstmals Portugals Ruhm bedeckte, fremden Händlern überlassen! Ihr laßt es zu, daß die Barbaren des Nordens die Meere beherrschen, die einstmals vom Blute eurer Feinde gerötet waren! . . . Während ihr Tugend und falsche Begei sterung vortäuscht, beherrscht Unwissenheit das portugiesische Reich. Ein schlechtberatener Fanatismus hat Asien und Europa mit Glaubensgerichten überzogen, und erbarmungslose Flammen haben die Flügel des Genies ver sengt und Portugals Ruhm auf immer vernichtet.« Eine solche Neuerste hung von Portugals ruhmreicher Vergangenheit lag außerhalb der Macht der Nation und konnte nur ein Irrlicht sein, von dem sie auf gefährliche Irrwege verlockt wurde, die von einer nationalen Regeneration, nach der Pombal und Nascimento sich gesehnt hatten, wegführten. Diese Ziele hat Portugals liberale Intelligenz im neunzehnten Jahrhundert auf einer Basis verfolgt, die breiter und volkstümlicher war, als Pombal sie sich je vorgestcllt hatte.
7 Italien stand mit seiner politischen Struktur und kulturellen Situation ein zigartig da. Es war noch weniger eine Einheit als Deutschland, denn dort gab es zumindest einen Kaiser als sichtbares Oberhaupt und eine Reichs verfassung. Deutschland war in einer etwas ungewissen, aber keineswegs ungünstigen Situation, indem es eine lockere nationale Einheit, die sich auf altehrwürdige Symbole und lebendige Traditionen stützte, mit starken dy nastischen Kräften verband, darunter zwei großen Mächten, die ihr Gewicht auf der europäischen Bühne voll zur Geltung kommen ließen. — Italien hatte in der neueren Zeit weder eine politische Einheit noch gemeinsame Traditionen und Symbole gekannt; im achtzehnten Jahrhundert vermochte keine einzige der italienischen Mächte eine bedeutende Rolle zu spielen; die Regierungen waren schwach, und außer der von Sardinien, verfügte keine über stärkere Bande, die sie mit ihren Völkern verbunden hätten. Die Mas sen der Bevölkerung lebten in völliger Teilnahmslosigkeit, besonders im Sü den des Landes, wo die sozialen Verhältnisse und die Anarchie in der Ver waltung eher den spanischen und afrikanischen als den westeuropäischen Verhältnissen entsprachen. Aber unter den Einflüssen der klassischen und der französischen Literatur konnte sich während des achtzehnten Jahrhun-
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derts das geistige Leben Italiens wieder erholen und schließlich sogar zu einem mächtigen Faktor werden. In seiner geistigen Freiheit, in seiner Welt lichkeit, in seiner antikirchlichen Einstellung sowie in seinem Reformbe streben war es dem intellektuellen Leben in Frankreich ähnlich. Doch war es natürlich nur auf einen kleinen Kreis von Menschen beschränkt. Das Volk selbst hatte weder einen politischen noch einen geistigen Ehr geiz, es nahm die politische Struktur der verschiedenen italienischen Staa ten hin, und wenn es überhaupt einen Wunsch zum Ausdruck brachte, so war es der nach einer milden Regierung, aber keinesfalls der Wunsch nach einer spezifisch italienischen Regierung. Das Nationalgefühl, das bei den gebildeten Schichten vorhanden war, beruhte auf dem Bewußtsein einer ge meinsamen Kultur. Im achtzehnten Jahrhundert kamen die lange vernach lässigten Namen Dante und Petrarca wieder zu Ehren. Eine italienische Na tion war im besten Falle eine melancholische Erinnerung an vergangene Größe und die unbestimmte Hoffnung auf künftigen Ruhm — aber sie war weder eine lebendige Kraft, die die Herzen der Menschen zu bewegen ver mocht hätte, noch eine politische Forderung, die ihre Handlungen bestimmt hätte. Kein einziger der vielen italienischen Staaten bot irgendwelche Er mutigungen für gesamtitalienische Bestrebungen. Die meisten von ihnen waren einem ungesunden Provinzialismus verfallen oder waren, wie Vene dig und Genua, nur noch ein Schatten ihrer großen Vergangenheit. Als 1759 Karl IV. von Neapel und Sizilien als Karl III. auf den Thron von Spanien berufen wurde, fand seine verhältnismäßig aufgeklärte Regierung ein Ende, und Neapel geriet in die Hände eines Königspaares, das wohl an Charakter verschieden aber von gleicher Unwürdigkeit und Inferiorität war: der schwache und vulgäre Ferdinand IV. und die ehrgeizige und launische Maria Karoline, eine Schwester von Marie Antoinette. Das päpstliche Re giment in Rom unter Pius VI. (1775—1799) war weit unter das Niveau gesunken, das Joseph II. noch im Jahre 1768 geschildert hatte: »La cour de Rome est parvenue à se rendre presque méprisable. Dans son interne, le peuple est dans la plus grande misère.« Als unaufgeklärter und willkür licher Despot vollkommen der Regierung seines italienischen Staates hin gegeben, übertrug der Papst die schleichende Paralyse einer rückständigen Verwaltung vom weltlichen Fürstentum auf den kirchlichen Bereich. Am besten verwaltet waren die österreichische Lombardei und Toscana, wo Leopold (1765—1790) sich als der klügste und aufgeklärteste Fürst in Eu ropa erwies. Doch war er fremd im Land und nicht in ihm verwurzelt, und er verließ es im Jahre 1790, um seinem Bruder Joseph auf dem Kaiser thron zu folgen. Nur in Piemont war die Dynastie mit dem Lande ver-
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wurzelt, und dieses war auch der einzige italienische Staat, der eine be wußte und ehrgeizig Expansionspolitik betrieb und sich, soweit das in seinen Kräften stand, darum bemühte, als eine Macht im europäischen Spiele aufzutreten. In vieler Hinsicht war Piemont dem preußischen Staate ähnlich. Alle Interessen und Kräfte des Hauses Savoyen richteten sich auf den Er werb neuer Territorien. Etwas weniger methodisch und gewaltsam als Preu ßen, konzentrierte Piemont seine Kräfte darauf, ein Heer aufzubauen und seine Verwaltung zu modernisieren. Da Piemont im Verhältnis zu anderen Staaten schwach war, mußten sich seine Herrscher mehr auf eine skrupellose Diplomatie als auf ihre Armee stützen. Aber der herrschende Geist war bei beiden gleich, und es ist erstaunlich, wie viele gleichartige Erscheinun gen bei den beiden Staaten, die ja auch ungefähr die gleiche Rolle bei der politischen Einigung ihrer Nationen gespielt haben, zu beobachten sind. Die piemontesischen Expansionsbestrebungen hatten mit nationalen Erwägun gen genau so wenig zu tun wie die preußischen: Das Motiv, das die Politik beider Länder bestimmte, war die Macht um ihrer selbst willen und nicht die Macht im Dienste einer nationalen Idee. Wenige Jahre nachdem Fried rich von Brandenburg den Titel eines Königs in Preußen angenommen hatte, nahm Victor Amadeus II. von Piemont (1675—1730) den Titel eines Königs von Sizilien an ( 17 13 ) ; diesen Titel tauschte er 17 2 0 gegen den eines Königs von Sardinien aus. Sardinien wie Preußen waren die ab gelegensten und kulturell rückständigsten Teile jener Nationen, die sie künftig zusammenschweißen sollten. Karl Emanuel III. (1730 —177 3) war ein sorgfältiger Verwalter von Armee und Finanzen, aber er war ein klein licher Tyrann, der an aufgeklärten Reformen und an der Humanität, an Kunst, Literatur und Wissenschaft nicht im geringsten interessiert war. »Die Gedankenfreiheit war in Piemont strengstens untersagt«; die führen den Intellektuellen, unter ihnen Alfieri, verließen das Land, um im Ausland frei zu atmen. Victor Amadeus III. war sogar noch schlimmer, als sein Vater gewesen war; er verehrte Friedrich II. von Preußen, aber nur insoweit, als es sich um den Soldaten und Feldherm handelte, denn er war ein völlig un aufgeklärter Herrscher, der sein Land restlos der Kirche und der Inquisition unterwarf. Preußen und Sardinien hatten nicht nur die gleichen Ambitio nen und die gleichen Ideale, sie hatten auch den gleichen Feind, gegen den sie ihre Größen- und Machtträume durchsetzen mußten: die Habsburger in Deutschland und in Italien. Italiens geistige und moralische Auferstehung im achtzehnten Jahrhun dert war von italienischen Regierungen oder von politischen Kräften weder 476
inspiriert noch unterstützt worden. Die neuen Begriffe der Freiheit, dei Humanität und der öffentlichen Moral, die von England und von Frank reich (hier durch das Vorbild der französischen Sprache und Literatur ver stärkt) herüberdrangen, haben den italienischen Geist erweckt und gewan delt. Wie auch sonst in ganz Europa wandten sich die Menschen mit Ge schmack und Kultur Frankreich zu, lernten die französische Sprache und ahmten die französischen Autoren nach, beneideten Frankreich um seine Literatur, so wie sie England um seine Redefreiheit und um seine geistige Blüte beneideten. Indem sie diese Vorbilder nachahmten und ihnen nacheiferten, entwickelten sie sich zu geistiger Kraft und Reife. Unter der Zucht und Führung der französischen Ideen von der universalen Humanität und vom Rationalismus, fanden die italienischen Intellektuellen den Weg zu ihrer eigenen Überlieferung, zur >Italianitä< zurück. Ausländer priesen Italien, seine Denkmäler und seine Schönheit; das französische klassische Denken bestätigte seine tiefe Verpflichtung gegenüber dem antiken Rom. Kein Wunder, daß die Erben der italienischen Vergangenheit, die Bewoh ner seiner historischen Städte, in ihrer neuerwachten Lebenskraft den ge schichtlichen Auftrag als gegeben empfanden, die im genius loci schlum mernde Herrlichkeit zu neuem Leben zu erwecken und mehr als nur die Gastwirte und Museumsdiener für fremde Besucher zu sein. Hatten denn die Alten nicht bereits alles übertroffen, was die Franzosen oder die Eng länder zu leisten vermochten? Waren sie denn nicht die Quelle, aus der die anderen Völker alle schöpften? War die neue Kultur denn etwas Andres als die Ernte dessen, was Italien in vielen Jahrhunderten, zuletzt noch während der Renaissance, ausgesät hatte? War nicht die italienische Sprache die echte Nachfolgerin des Lateinischen? um vieles wohlklingender als das Fran zösische mit seinen monotonen Akzenten, unbeschreiblich viel reicher an Ausdrucksmöglichkeiten, feierlicher und majestätischer? Sollten die Italie ner nicht die gallische Invasion abweisen und sich statt dessen den Quellen aus ihrer eigenen Vergangenheit zuwenden? Der größte italienische Schrift steller des Jahrhunderts, Alfieri, hat noch bis zum Jahr 17 7 5 sein privates Tagebuch auf französisch geschrieben; aber in jenem Jahre faßte er den Entschluß, seine Lebensarbeit der Schaffung eines italienischen Dramas zu widmen, welches dem französischen in nichts nachstehen sollte. Doch Alfieri war nur ein einsamer Vorläufer des späteren italienischen Nationalismus. Die italienische Wiedergeburt im achtzehnten Jahrhundert war im Bewußtsein ihrer Träger ein Teil jenes neuen moralischen und ästhe tischen Klimas, das kosmopolitisch und humanitär war. Ihr Patriotismus war die Liebe zur Bürgertugend und zum guten Geschmack. Die Accademia
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dell' Arcadia, die 1690 in Rom von Männern aus dem Kreis um Christine von Schweden gegründet worden war — zum Beispiel Giovan Maria Grescimboni (1663—1728), der die erste >Istoria della volgar poesia< (1698) und die Dialoge über >La Bellezza della volgar poesia< (1700) geschrieben hatte, und Gian Vincenzo Gravina (1664—17 18 ), Dichter, Jurist und Historiker, Verfasser der >Ragion poetica< (1708) — war nur insoweit eine nationale Institution, als sie Männer aus allen Teilen Italiens in sich vereinigte. Die >Rime degli Arcadi<, von denen sechzehn Bände veröffentlicht wurden, be herrschten bis in die Mitte des Jahrhunderts den italienischen Geschmack, so wie Geliert und seine Schule den deutschen Geschmack beherrscht hatten. Um 176 0 trat die italienische Literatur in ein neues und reiferes Stadium ein: während die italienische Dichtung der deutschen literarischen Entwick lung nicht gleichzukommen vermochte, war das politische und soziale Den ken in Italien in einen Zustand der Gärung geraten, der es zu einem Ele ment von europäischer Bedeutung werden ließ. Das Italien des achtzehnten Jahrhunderts trat voll in die literarische Welt Europas ein; die lange Frie denszeit in Italien (1748—1796), die wohlwollende und aufgeklärte Ver waltung in den habsburgischen Ländern, das Wachstum eines wohlhabenden Mittelstandes, die Aufmerksamkeit, die der neue Klassizismus der Heimat der alten Kultur entgegenbrachte — all das trug dazu bei, das Tempo, in dem die modernen Ideen in Italien eindrangen, zu beschleunigen. Die erste Hälfte des Jahrhunderts wies einige führende intellektuelle Köpfe auf, die die kommende Wiedergeburt Italiens vorbereitet hatten. Pietro Giannone (1676—1748), dessen ausgesprochener Antiklerikalismus und Antipapismus in Machiavellis Linie lagen und ein Charakteristikum der im späteren nationalen Italien vorherrschenden Denkart waren, ver öffentlichte 17 2 3 seine >Storia civile del Regno di Napoli<. Im gleichen Jahre begann Lodovico Antonio Muratori (1672—1750) mit der Heraus gabe seiner fünfundzwanzig Bände >Rerum italicarum scriptores ab anno Chr. 500—1500«; unter dem Einfluß von Jean Mabillon stehend, schrieb er später seine >Annali d'Italia del principio deH'era volgare sino all'anno 1749«. Der Friede und das Glück des Einzelnen waren nach Muratoris Anschauung das höchste Gut. Wenn er von Freiheit sprach, so verstand er darunter nicht die nationale Unabhängigkeit, sondern das Nichtvorhandensein einer unterdrückenden Regierung. Über Odoaker bemerkte Muratori: »Die La tiner und die Griechen nannten jeden einen Barbaren, der nicht ihres eige nen Stammes w ar; aber es hat Barbaren gegeben, die besser, weiser und vornehmer waren als Griechen und Römer.« Und von Theoderich sagte er: »Nicht das Land, sondern das Herz macht den Helden.« Nach seiner A uf 478
fassung gab es weder Rassenschranken noch bevorzugte Nationen: Die Menschheit war eins, und Nationen wie Individuen wurden nach humani tären Maßstäben beurteilt. Sein ganzes Denken war von einer tiefen Mora lität erfüllt und auf einen sozialen Utilitarismus hin ausgerichtet. Das Rö mische Imperium lehnt er wegen seiner Raubgier, Grausamkeit und wegen seines Expansionsdranges ab, der so vielen Völkern und schließlich dem Imperium selbst den Untergang gebracht hatte. Und, der Wahrheit entspre chend, hat er betont, daß sich die römische Herrschaft niemals, wie ihre Bewunderer es behaupteten, über die ganze Erde erstreckt habe. Originaler, doch von seinem Jahrhundert kaum bemerkt, war Giambattista Vico (1668—1744), Professor der Beredsamkeit in Neapel. In seinem ersten Buche, >De antiquissima Italorum sapientia ex lingua latina eruenda libri tres< (1710 ) hat er darauf hingewiesen, daß die pythagoreische Phi losophie von Etrurien ihren Ausgang genommen haben müsse, und daß folglich Italien der Mittelpunkt und Geburtsort der mittelländischen und griechischen Kultur sei. Bedeutender war seine »Scienza nuova intorno alla commune natura delle nazioni<, eine Quelle, aus der Hamann und Herder geschöpft haben, und einer der eindrucksvollsten Versuche zu einer Philo sophie und Morphologie der Geschichte. Die Geschichte der Menschheit sah er als eine Einheit, welche die durch die Vorsehung bestimmte Entwicklung durchläuft und in der alle Teile den gleichen Gesetzen unterworfen sind. Die historische Entwicklung zeigt sich in Kollektivindividuen, von denen jedes die gleiche Entwicklung durch drei Stadien hindurch wiederholt. Im finste ren oder prähistorischen Stadium sind alle Menschen den Tieren ähnlich, den Leidenschaften und den Instinkten unterworfen; das mythische oder heroische Stadium ist von den großen Konflikten der Nationen und der Klassen beherrscht; das fortgeschrittenste Stadium ist die Periode der Hu manität, die durch Vernunft, Milde und Verstand ausgezeichnet ist, in der aufgeklärte Monarchen ein Regiment der Gleichberechtigung und der Ge rechtigkeit führen. Vico fand diese drei Stadien in der Entwicklung der al ten Welt bestätigt, aber er glaubte, daß sie auf alle Völker anwendbar seien. Das dritte Stadium endet immer in einer Katastrophe, mit einem plötzlichen Rückfall in das barbarische Stadium. Aber da das Ideal der Humanität das ewige Ziel bleibt, beginnt die Geschichte jedesmal von neuem, es ist ein >ricorso<, der dem ersten >corso< parallel läuft, wieder das barbarische und das heroische Stadium durchläuft und in das humane Stadium des aufge klärten achtzehnten Jahrhunderts einmündet. Aber in diesem >ricorso< ist das barbarische oder finstere Stadium weit schlimmer als im ersten Lauf, weil es eine Dezivilisation, eine Erniedrigung und Zerstörung vorhandener
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Werte bedeutet; doch gleichzeitig ist es auch ein Reinigungsprozeß, aus dem heraus eine neue Kultur erstehen kann. Vico hat manchen Samen zum späteren Relativismus und Historismus des romantischen Nationalismus gesät. Wie Hegel verstand er die verschie denen Perioden als notwendige Durchgangsstufen auf dem Wege zum End ziel; wie die Romantiker erkannte auch er die tragische und dämonische Seite der Geschichte; wie später die Nationalisten sah er manchmal die Na tionen als Gebilde, die ein selbständiges Leben aus sich selbst heraus füh ren. Aber bei ihm waren alle diese Gesichtspunkte in die aufgeklärte Phi losophie seines Jahrhunderts eingebettet. Seine Anschauungen waren ent schieden antiheroisch, antiaristokratisch und kosmopolitisch. Er verherr lichte die Vernunft, die Mäßigung und die Humanität seines Jahrhunderts, in dem er den Gipfel der Entwicklung des Menschen zü sehen glaubte. Erst in den Sechzigerjahren haben die Italiener begonnen, sich von der Harmlosigkeit der arkadischen Verse zu einer tieferen Wirklichkeit hinzu wenden und ihren Platz auf der Bühne des europäischen Theaters einzu nehmen: 17 5 8 veröffentlichte Gaspare Gozzi ( 17 13 —1786) seine >Difesa di Dante<; zehn Jahre später hob Carlo Denina ( 17 3 1—18 13 ) die nationale Geschichtsschreibung durch sein Werk >Delle Revoluzioni d'Italia libri XXV< (1768—1772) auf ein neues Niveau. Während dieser Zeit haben Pietro Verri (1728—1797) und Cesare Bonesana, Marchese di Beccaria (1738—1794) zu sammen mit einigen Freunden, darunter Gian Rinaldo Carli (1720—1795) die >Societä dei Pugni< gegründet, die von Juni 17 6 4 bis Mai 1766 den berühmten >Caff£< herausgegeben hat. Dieses »primo giornale Italiano agitatore dei idee, un foglio d'avanguardia« stand völlig im Zeichen der Ideen von Locke und der französischen Enzyklopädisten und forderte eine Reformierung Italiens im Geiste der englischen und französischen rationa len Aufklärung. Ein unbegrenztes Vertrauen in die Möglichkeiten des Jahr hunderts und seiner Philosophie flößte den Autoren dieses Kreises einen festen Glauben an den »spirito universale dei secolo« ein und machte sie zu überzeugten Gegnern des Machiavellismus, des kriegerischen Geistes und des Fanatismus. »II governo inglese sempre mi pare quello, che si accosta alla perfezione«, schrieb Pietro Verri in seinen >Meditazioni sulla felicitä< (176 3); im nächsten Jahre folgte Beccarias berühmtes Buch >Dei delitti e delle pene<. Beide, der Nationalökonom und der Strafrechtler, kämpften für »i lumi e le scienze« gegen »la cabala e l'intrigo«. Den Wert der Tradi tionen und der Weisheit vergangener Jahrhunderte schätzten sie gering ge genüber der rationalen Wahrheit und der »massima felicitä divisa nel maggior numero« (das größte Glück der größten Zahl). Sie lehnten aus480
drücklich die Auffassung ab, daß die Staatsraison und das nationale Inter esse dem individuellen Interesse vorgehe und von diesem verschieden sei. In Ablehnung von Rousseaus Gemeinschaftsidee betonten sie die Gren zen der Gesellschaft angesichts der Rechte des Individuums. »Nessun uomo ha fatto il dono gratuito di parte della propria libertä in vista del ben pubblico; questa chimera non esiste che nei romanzi« (kein Mensch hat je mals freiwillig auf einen Teil seiner persönlichen Freiheit zugunsten des Allgemeinwohles verzichtet; diese Chimäre lebt nur in den Romanen). In diese kosmopolitische Atmosphäre hinein ließ ein Aufsatz von Carli, >La patria degli Italiani<, einen völlig neuen und andersartigen Ton auf klingen. Er wandte sich gegen die Nachäfferei fremder Nationen durch die Italiener. »Aller natürlichen Bande des inneren Zusammenhaltes beraubt, unter das Joch gewisser universal-humanitärer Maximen gepreßt, die im Ernstfall nur höchst selten anwendbar sind, haben wir nicht den Mut, selb ständig zu denken und uns auf uns selbst zu verlassen. Das ist auch der Grund, warum die Italiener sogar so weit gehen, sich so zu kleiden oder so zu speisen, wie die Engländer oder die Franzosen es wünschen.« Diese einsame Stimme fand ihre Erwiderung durch Verri, der auf der Verein barkeit von Patriotismus und Kosmopolitismus bestand; er schrieb in sei ner »Geschichte Mailands«, daß die edlen Seelen die Erde als das Vaterland der Menschheit betrachten und die Menschen als eine Familie, die sich nur nach guten und bösen Individuen unterscheidet. Über den Plan Gregors, Italien unter Rom zu einigen, schrieb er: »Das Ziel war groß. Aber ist es gerechtfertigt, die Ruhe und die Sicherheit einer lebenden Generation, die das Recht auf ein glückliches Leben hat, für die unsichere Hoffnung, noch ungeborenen Generationen Ruhe zu verschaffen, aufzuopfern? Ist solch ein Opfer vernünftig und gerechtfertigt, selbst wenn das Gute, welches wir für unsere Nachkommen schaffen wollen, sicher ist? Jene Männer in der Geschichte, die sich den Beinamen >der Große« erworben haben, haben diese Frage niemals sorgfältig erwogen.« Aber selbst die weitgehendsten Hoff nungen jener vereinzelten Italiener, deren Gedanken um die Schaffung einer italienischen Nation kreisten, gingen niemals so weit, sich ein geein tes Italien oder eine besondere Rolle dieser Nation im allgemeinen politi schen Leben vorzustellen. Sie betrachteten die italienischen Staaten als eine Gruppe von Planeten, von denen jeder sein individuelles Dasein führte, die jedoch alle unter der Einwirkung der Anziehungskraft des kulturellen Pa triotismus wie von einer Sonne zu einem System zusammengefaßt werden. Die überwältigende Mehrheit der Italiener jedoch wußte selbst von solch einer lockeren und unbestimmten Einheit nichts und wollte von ihr nichts 4 81
wissen. Im achtzehnten Jahrhundert gab es Bürger von Mailand, von Ve nedig, von Toscana und von Neapel: die Italiener außerhalb der Stadt mauern oder im äußersten Falle, außerhalb der Grenzen der Kleinstaaten galten als Ausländer, wenn nicht gar als Feinde. In Italien war wie in Deutschland das Volk vom politischen oder kulturellen Nationalismus un berührt geblieben. Im Kreise der Intellektuellen überwog das Weltbürger tum die Nationalidee, und von einem Nationalstaat träumte 178 9 noch niemand. Die französischen Emigranten konnten in Italien keine Spur eines Nationalgefühles entdecken. »Die Mentalität des italienischen Menschen ge genüber diesen Dingen hielt die Emigration davon ab, von der Zukunft das Erwachen eines Nationalgefühles auf der Halbinsel zu erwarten.« Vittorio Alfieri (1749—1803), der gegen den rationalen Optimismus des >secol felice< protestierte, war ein einsamer Vorläufer, mehr ein pathetischer Dichter als ein mit der Wirklichkeit in Berührung stehender Denker, mehr ein Individualist als ein politischer Nationalist; aber selbst sein Protest be diente sich der Abstraktionen seines Jahrhunderts. Von Geburt ein Aristo krat aus Piemont, das als italienische Grenzprovinz mehr Französisches als Italienisches hatte, wurde er von klein auf dazu erzogen, Französisch zu sprechen und die italienische Sprache zu verachten. Während seiner Jugend hatte er keine Gelegenheit gehabt, die großen italienischen Schriftsteller kennen zu lernen. Als Individualist verabscheute er jede Form der Abhän gigkeit und natürlich auch das Militär, jene »berühmte Grundlage der Ge waltherrschaft«. Friedrich II. und Katharina II. waren ihm »verruchte und falsche Tyrannen«, und seine Heimat Piemont war ihm genau so uner träglich wie dem jungen Herder der preußische Staat. Er war stark von Plutarch beeinflußt. Seine beiden Ideale waren die römische Republik und das England seiner Tage. Er verehrte die römische Republik, nicht aber das römische Imperium, er liebte Brutus und nicht Caesar, und er rügte Virgil, weil er den Augustus und nicht Cato verherrlicht hatte. England erschien ihm als das einzige moderne Land, in dem es Freiheit und Bürgertugend gab. Sein Wunsch war, in England begraben zu werden, und 1 7 1 9 ver faßte er sein Epitaph:
Securo alfin l'italo Alfier qui giace, Cui sol dier gli Angli e libertade e pace. Und in seiner bekannten Autobiographie sprach er von der »beata e vera mente sola libera Inghilterra«. Im Jahre 17 7 5 vollzog sich eine große Wandlung in ihm: war bis dahin sein Leben nur planloser Müßiggang gewesen, so stellte er sich nunmehr 482
die Aufgabe, als moralischer Erzieher zu wirken; er beschloß, ein großer italienischer Schriftsteller zu werden, die italienische Sprache und Litera tur zu studieren, sich selbst zu italienisieren und dem italienischen Volk ein nationales Theater zu schenken. Sein erstes Sonett begann mit den Wor ten »Ho vinto alfin, si, non, m'inganno, ho vinto«, und endete »E la virtü tra' tanti sogni, la sola i cui pensier sian cari!« Er hatte seinen Lebenszweck gefunden: die Italiener zur >virtu< und zu sieghaftem Willen zu erziehen. »Ich bin der Überzeugung, daß die Menschen in einem Theater lernen sollen, frei, tapfer, edelmütig und tugendhaft zu sein, sowie unduldsam ge gen jede Art von Gewalt, daß sie lernen sollen, das Vaterland zu lieben, daß sie sich ihrer Rechte bewußt werden sollen . . . Die Grundvoraussetzung für den Besitz eines Theaters ist die Existenz einer wirklichen Nation, und nicht zehn verschiedener Völker, die nichts Gemeinsames haben, wenn sie auch äußerlich vereint sind; das Theater setzt Erziehung, Kultur, Armeen, Handel, Marine, Kriegsbegeisterung und die schönen Künste voraus.« Für ihn war, wie für Schiller, die Bühne ein Mittel zur moralischen Erziehung. Er hoffte, daß seine Tragödien ein Ansporn zu einer Neugeburt Italiens sein würden. Aber diese Tragödien hatten keine patriotischen Themen zum Gegenstand: sie behandelten heroische Freiheit im Stile der großen klassi schen Tragödie. Sie waren eine Weiterführung seines bekannten Essays >Della tirannide< (1777), das eine leidenschaftliche Aufforderung zum Sturze der Tyrannei und der Willkürherrschaft und eine ebenso leidenschaftliche Be jahung der Menschenrechte war. Er war gegen jede A rt von Autorität, sei diese nun monarchisch oder kirchlich. Die katholische Religion war für ihn unvereinbar mit der Freiheit, und er war der Ansicht, daß das Heidentum für den Patriotismus besser geeignet sei. Könige und Priester waren ihm die Symbole der Unterdrückung, und das päpstliche Rom »d'ogni vizio il seggio«. So fanden sich im Geiste dieses revolutionären Aristokraten Welt lichkeit und Ablehnung der obrigkeitlichen Gewalt, der Ruf zur Mannhaf tigkeit und zum Heroismus, leidenschaftlicher Wille, >il forte sentire«, der göttliche Furor, der ihn dem deutschen Sturm und Drang verwandt machte, und den er in die Worte gekleidet hat: »Volli, e volli sempre e fortissima mente volli.« Wie die Männer vom Sturm und Drang war auch er kein klarer Denker und hatte keine eindeutigen politischen Vorstellungen; er re bellierte gegen die Fesseln, die sein ego zur Unfreiheit verdammten, ein Protest gegen alles Unmännliche und Halbherzige um ihn herum. Er emp fand den Beruf des Dichters als eine Inspiration zu großen Taten, die Dich ter als Tribunen, die ihr Volk zu Freiheit und zu Erneuerung führten. Die Rolle, die Machiavelli (den er verehrte) dem Fürsten zugeschrieben hatte, 483
übertrug Alfieri auf den großen Dichter, der das Wort als ein magisches Schwert zur Befreiung der Italiener führen und so die erste neue Freiheitsliteratur schaffen würde. Wort, Freiheit und Geist wuchsen in Alfieris Be ruf zu einer Einheit zusammen. Für ihn gab es kein Vaterland ohne Frei heit, und ein eingeborener Tyrann konnte ein weit schlimmerer Unter drücker sein als ein auswärtiger Feind. Das ideale Vaterland war für ihn das Land, in dem die an das Gesetz gebundene Freiheit herrschte:
Republik ist jenes Land, wo man als Schild und Grund Des Mensdienrechts die göttlichen Gesetze nennt; Wo niemand seiner Straf' entgeht der grausam sich Am Mensdi vergeht, und jeder seine Grenzen kennt; Wo niemand vor mir auf den Knieen rutscht; Wo niemand gegen mich mit Macht begehrt; Wo Herz und Sinn ich offen tragen darf; Wo niemand nach dem Meinen trachtet; Wo jeder nach dem Wohl des Ganzen strebt. Dieses Land der Freiheit konnte Alfieri weder in Piemont noch in Italien finden. Er mußte feststellen, daß »der einzige Grundsatz, über den sich alle Italiener einig sind, der ist, nichts zu tun. Dem Müßiggang und billigen Vergnügungen hingegeben, liegt Italien darnieder, ohne daß jemand ein Gefühl für diese tiefe Erniedrigung hätte. Das Land ist bis über den Kopf in Lethe versunken.« Und doch erwartete er von diesem erniedrigten Volk, das weder frei noch ein wirkliches Volk war, die größten Dinge, nämlich den revolutionären Durchbruch zur Freiheit durch Heldentaten. Mit größ ter Verachtung für sachliche Details und für ein schrittweises Vorgehen, ver herrlichte er die Tat um ihrer selbst willen, die spontane Erhebung aus Verworfenheit und Schwäche zu Ekstase und Ungestüm. Aus eben diesem Grunde erwartete er auch, daß die politisch unreifen Italiener die Führung übernehmen würden, denn nirgends sonst auf der Welt, so meinte er, habe er das energievolle und leidenschaftliche Individuum gefunden, »gli enormi e sublimi delitti«, und nirgends weise die menschliche Kreatur solch kräf tigen Wuchs auf wie auf dem italienischen Boden. So ist auch seine große Enttäuschung, die sich bald zu einer Wut stei gerte, verständlich, als er feststellen mußte, daß die Franzosen, die er in keiner Weise hierfür geeignet gehalten hatte, mit ihrer Revolution jene Führung im Kampfe für die Freiheit an sich rissen, die er den Italienern zugedacht hatte. »Revolution ist Tugend, aber die Franzosen sind kein tu gendhaftes Volk, und deshalb können sie auch keine wirkliche Revolution machen.« Während Verri davon überzeugt war, daß die Franzosen durch 484
die Revolution zur reichsten, stärksten und glücklichsten Nation Europas werden würden, von der aus der Geist der Freiheit nach allen Seiten aus strahlen würde, und daß die französischen Revolutionsheere die Verteidiger der Unterdrückten und der Vernunft seien, verfaßte Alfieri seinen >Misogallo<, eine wütende Schmähschrift gegen die Franzosen. Dieser Erguß war den Italienern gewidmet, und er verherrlichte darin die schöpferische Kraft des nationalen Hasses; die bittere Eifersucht des Autors wurde noch durch die Furcht des aristokratischen Individualisten vor dem Pariser Mob ge steigert. Wie konnten die Franzosen es wagen, andere Völker zu Kultur und Freiheit, gegen Tyrannei und Unvernunft führen zu wollen, wo doch die Natur die Führerpalme den Italienern, deren Sprache so himmelhoch über allen anderen europäischen Sprachen stand, verliehen hatte?
Di Libertä maestri i Galli? E a cui? A noi fervide ardite Itale menti, D'ogni alta cosa insegnatori altrui? Inmitten der finsteren Nacht der italienischen Tatenlosigkeit geboren, brannte in ihm die Hoffnung, die Morgendämmerung über Italien herauf beschwören zu können, in den Herzen der Italiener Heldenmut zu erwecken und sie durch seine Lieder anzufeuem, wenn ihr Tag erst einmal angebro chen sei:
Giomo vcrrh, tornerä il giorno, in cui Redivivi omai gl'Itali, staranno In campo audaci, e non col ferro altrui In vil difesa, ma dei Galli a danno.
Dann wird man Alfieri als den großen Seher Italiens, >vate nostro<, erken nen, der, im Jahrhundert der Verderbtheit geboren, durch die Macht seines Wortes das erhabene Zeitalter italienischer Größe heraufbeschworen hat. Aber Alfieri hatte sich geirrt, denn nirgends außerhalb Frankreichs sollte die Französische Revolution einen so tiefen und heilsamen Einfluß ausüben wie gerade in Italien. Die gesamte veraltete politische Struktur Italiens wurde durch sie gewandelt, sie hat die alten Grundlagen hinweggefegt und die Voraussetzungen für die Entstehung einer italienischen Nation geschaffen. Weil der italienische Geist bereits ein Jahrhundert lang unter der Einwir kung französischer Ideen gestanden hatte, konnte die Französische Revo lution den vagen Reform- und Freiheitsvorstellungen der italienischen Intellektuellen sowie ihren Wünschen für ein erneuertes Italien feste Form verleihen. A uf Grund des Einflusses der Französischen Revolution beschritten sie den Weg vom rationalen Kosmopolitismus zu liberalem 485
Nationalismus: im Risorgimento verschmolz das Verlangen nach dem Glück des Menschen und nach der Wiedererstehung der alten Größe zu einem mo dernen Nationalismus.
8 Genau so stark wie auf Italien war der Einfluß der westlichen Aufklärung auf die skandinavischen Länder, aber hier wirkte dieser Einfluß auf alte, fortschrittliche Königreiche, von denen Dänemark ursprünglich das frucht barste, volkreichste und zugänglichste gewesen war. Schon früh hatte Däne mark die Führung übernommen und die drei Königreiche in der Kalmarer Union von 13 9 7 vereinigt. Schweden, ein fruchtbares Land mit einem streb samen Mittelstand, hatte sich jedoch bald wieder aus dieser Union zurück gezogen; aber Norwegen, das arm und unzugänglich war, dessen Adel dänisiert war, dessen Bevölkerung aus Bauern und Fischern bestand, blieb während mehr als vierhundert Jahren mit Dänemark vereinigt. Politisch wie kulturell wurde es zu einem Teile Dänemarks, gegen welches Schweden vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert mehrere erbitterte Kriege führte. Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts verlor Dänemark — dessen Königtum dem Namen nach ein Wahlkönigtum war, wo der Einfluß des Adels im Rigsraad zu stark und die Landbevölkerung machtlos war — die Führung. In Schweden hatten mit Hilfe der freien Bauernschaft die Wasas eine starke, zentralisierte Monarchie geschaffen. Nach 16 1 7 trat der Reichs tag regelmäßig zusammen, wobei die vier Stände — Adel, Geistlichkeit, Bür ger, Bauern — getrennt berieten; die Rechte des Reichstages waren in dem königlichen Privileg, der Konungaförsäkram, garantiert. Zweihundert Jahre lang ist Schweden die führende Macht im Norden Europas gewesen, aber nach dem Tode Karls XII. (1718 ) zog es sich auf jene Grenzen zurück, die ihm von der schmalen Grundlage seiner natürlichen Hilfsquellen vorge schrieben waren. Während des achtzehnten Jahrhunderts erlebten beide Königreiche, Däne mark wie Schweden, unter französischem Einfluß eine Zeit aufgeklärter Reformen. In Schweden ist nach 17 2 0 die gesamte Macht in die Hände des Reichstages übergegangen; dieser Umstand hat zu heftigen Parteifehden innerhalb der vier Stände geführt, die so lange anhielten, bis endlich Gustav III. ( 17 7 1—1792) im Jahre 17 7 2 durch einen Staatsstreich die starke Monarchie wieder herstellte und ein Regiment der fortschrittlichen Refor men und des patriotischen Eifers einführte. In Dänemark wurde der abso486
lutistische Charakter der seit 1660 erblichen Monarchie durch den Kongelov bestätigt, woraufhin später die Angleichung der norwegischen Verwaltung an die dänische und der Aufstieg des Mittelstandes zu Ämtern und Einfluß folgten. Friedrich V. (1746—1766) und besonders Friedrich VI. als Kron prinz und später als König (1784—18 12 ) waren beispielhaft in ihren fort schrittlichen Reformen: Leibeigenschaft und Sklavenhandel wurden abge schafft, die Juden erhielten die Bürgerrechte, der Getreidehandel wurde von allen Beschränkungen befreit, das gerichtliche Verfahrenswesen wurde ver einfacht und verbilligt und die Zensur weitgehend aufgehoben, so daß sich in Dänemark wie in Schweden eine lebhafte öffentliche Meinung entwickeln konnte. Mit ihren politischen Reformen und mit ihrer Neubelebung des geistigen Lebens traten die beiden nordischen Königreiche voll und ganz in den Geist der westlichen Welt ein. Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts war in Dänemark das Franzö sische die Sprache der Gesellschaft und das Deutsche die Sprache des Heeres; Dänisch sprachen nur die unteren Stände. Ein aus Bergen gebürtiger Nor weger, Ludwig Holberg (1684—1754), der seine Reifejahre in Kopenhagen als Professor an der Universität verbrachte, wurde zum Vater der dänischen Literatur. Er hat ein neues geistiges Leben entfacht, indem er alle Gebiete des Denkens und der Kunst mit dem neuen Geschmack und mit der Moralität des Rationalismus befruchtet und seine Gedanken in einer neuen kraft vollen und schmiegsamen dänischen Prosa ausgedrückt hat. Unter seiner Führung wurde das erste dänische Theater errichtet und 17 2 2 eröffnet. Für dieses Theater hat er in sechs Jahren achtundzwanzig Stücke geschrieben, wodurch er sich einen Namen in der Literaturgeschichte geschaffen hat. In Norwegen war sein Einfluß genau so stark wie in Dänemark. Seit der Refor mation hatte sich eine für beide Länder gemeinsame Sprache herausgebildet, und die Tatsache, daß der große Reformator der dänischen Literatur ein geborener Norweger war, erfüllte die Norweger mit Stolz und rüttelte sie aus ihrer Lethargie auf. Die neuen Ideen drangen in beiden Ländern gleich zeitig ein und erweckten ein starkes und tätiges Interesse an Naturwissen schaften und Geschichtsforschung. Das Luthertum hatte es nicht vermocht, in den skandinavischen Ländern das geistige Leben zu fördern. Aus politischen Erwägungen, gegen die reli giöse Überzeugung der Bevölkerung eingeführt, blieb das Luthertum eine Staatskirche in enger Anlehnung an den Hof. Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts brachte zum ersten Male eine kleine Gruppe von Pietisten neue Bewegung in das religiöse Leben Norwegens, indem sie Bibeln und Gesangbücher unter die unteren Schichten des Volkes verteilten und die 487
Forderung nach Volksbildung erhoben. Bald aber sollte ein neuer Geist, der von starrer Orthodoxie gleich weit entfernt war wie vom Pietismus, die Vorkämpfer des norwegischen Geisteslebens beherrschen. Das aus England herrührende Interesse am wissenschaftlichen Experiment, die neue, durch Locke repräsentierte Moralität und Wißbegierde des Mittelstandes, der Rati onalismus Voltaires und der Enzyklopädisten, das Interesse der Physiokraten an der Wohlfahrt des Landes und an der Landwirtschaft, patrio tischer Utilitarismus und patriotisches Interesse an der Landesgeschichte: all dieses vermischte sich in Norwegen mit dem Rousseauschen Sinn für eine wilde und großartige Natur und für ein unabhängiges und heldenhaftes Bauerntum als Rückgrat des nationalen Lebens. Im Jahre 1 7 5 1 kamen der Norweger Gerhard Schöning (1722—1780) und sein dänischer Freund Peter Frederik Suhm (1728—1798) nach Trondheim. 1760 gründeten sie hier zusammen mit Johan Ernst Gunnerus die Trondhejmske Videnskabs-Selskab (Wissenschaftliche Gesellschaft in Trondheim), aus der im Jahre 176 7 die Kongelige Norske Videnskabs-Selskab (König liche Norwegische Wissenschaftliche Gesellschaft) hervorging. Im Sinne des utilitaristischen patriotischen Geistes des Jahrhunderts verstand man damals unter Wissenschaften die Förderung der Landwirtschaft und des Handels, experimentelle physikalische und astronomische Forschung und Verbreitung der gewonnenen Erkenntnisse, sowie die Geschichts- und Altertumsfor schung und die Verbreitung von jeder Art nützlichen Wissens. Nach 17 50 war in sämtlichen nordischen Ländern das Interesse an der eigenen ge schichtlichen Vergangenheit stark gestiegen und verbreitet. 176 5 kehrten Suhm und Schöning nach Dänemark zurück, wo Suhm eine achtbändige >Historie af Danmark< schrieb, die sich mit der Zeit vor 1400 befaßte, und Schöning seine dreibändige »Norges Riges Historie<, die bis 955 zurückgriff, verfaßte. Kopenhagen wurde zum Mittelpunkt der nordischen Altertums forschung, besonders nachdem der Isländer Arni Magnusson (1663—1730) dort eine berühmte Sammlung isländischer Handschriften angelegt hatte. Dort hat auch Paul Henri Mailet (1730—1807) seine >Introduction ä l'histoire du Danemarck< (1755) vorbereitet, und in der Folgezeit sind dort viele norwegische Urkunden veröffentlicht worden. In jenen Zeiten des Ossian-Kultes wurden die Anfänge und Ursprünge der nordischen Kul turen eifrigst untersucht. Bei der damals allgemein herrschenden Auf fassung, daß die Skandinavier den Trojanern verwandt und von Klein asien her eingewandert seien, behauptete Schöning — im Gegensatz zu den deutschen Theorien, die besagten, daß die Skandinavier nur ein Zweig vom germanischen Stamme seien — daß diese auf einer nördlichen Route um den
Bottnischen Meerbusen herum nach Skandinavien eingewandert und folg lich auch von den Germanen verschieden seien. Das neue Interesse an der Volkskunde griff sogar auf Finnland über, das damals ein Teil Schwedens war, wo Henrik Gabriel Porthan (1739 —1804), der in schwedischer Sprache seine bahnbrechenden Studien über die ausgedehnte mündlich überlieferte Volksdichtung herausgab, jenes Interesse erweckte, das nach 1809 zur Grundlage des Finnischen Erwachens wurde. Die kleine Gruppe norwegischer und dänischer Gelehrter in Trondheim hat auch die erste Forderung nach einer norwegischen Universität und nach einer norwegischen Bank zur Förderung der Interessen des norwegischen Handels erhoben. Der Mangel an höheren Bildungsanstalten in Norwegen zog die Jugend nach Kopenhagen: durch die Einheit der norwegischen und der dänischen Sprache und Kultur, die durch Holbergs Lebenswerk gefestigt worden war, nahmen sie frei am gemeinschaftlichen Leben der beiden Völ ker teil, die zwar politisch eine einzige Nation bildeten, die sich aber in ihrer Veranlagung, hervorgerufen durch die unterschiedlichen physischen Lebens bedingungen, sowie in ihrer Frühgeschichte, deren Erforschung gerade da mals eingesetzt hatte, unterschieden. Dänemark, wo Klopstock zwanzig Jahre lang gelebt und den gemein samen Ursprung der germanischen und der skandinavischen Völker und ihrer Literatur gelehrt hatte, stand kulturell unter deutschem Einfluß. Klopstocks hervorragendster Schüler, Johannes Ewald (1743—17 8 1), hatte 1778 ein Melodrama geschrieben, in dem das Leben der Fischer in Rousseauschem Stile idealisiert war, und das die dänische Nationalhymne »Kong Christian stod ved köjen Mast« enthielt. Aber mit dem Sturz von Johann Friedrich Struensee ( 17 3 1—177 2), der als Sohn eines Hallenser Pietisten zu einem Atheisten und radikalen Reformer geworden und während der Dauer von acht Monaten der allmächtige Herrscher Dänemarks gewesen war, kam der offizielle deutsche Einfluß zu einem jähen Ende. Struensee war der Typ des aufgeklärten Despoten des achtzehnten Jahrhunderts gewesen, der auf eine Unterstützung durch das Volk, dessen Sprache er niemals gelernt hatte und das er verachtete, nicht den geringsten Wert gelegt hatte. Seine Miß achtung und Verachtung der dänischen Traditionen empörte die Dänen ge nau so wie seine Überheblichkeit und sein unmoralischer Lebenswandel. Sein Sturz wurde als ein nationaler Sieg betrachtet. Suhm schrieb an den König: »Laß uns in deinen Befehlen wieder unsere uns liebe eigene Sprache hören. Du bist ein Däne, und ich weiß, daß Du Dänisch sprechen kannst. Laß die fremde Sprache das Zeichen des feigen Verräters sein, der zu faul war, unsere Sprache zu erlernen.« 17 7 2 wurde das Deutsche als Kommando 489
spräche in der Armee abgeschafft und Dänisch zur Amtssprache innerhalb des Königreiches erhoben. Nach 17 7 6 konnten nur noch dänische Bürger Ämter bekleiden. Das dänische kulturelle Selbstbewußtsein begann sich durchzusetzen. Die Grundlagen hierzu hatte Holberg geschaffen; Hans Gram (1685—1748), der kritische Ausgaben der alten dänischen Chroniken besorgt hatte, gründete die Königliche Dänische Akademie der Wissen schaften; Jakob Langebek (17 10 —177 5) gründete die Gesellschaft zur Förde rung der dänischen Sprache und begann mit der Sammlung der >Scriptores rerum Danicarum medii aevi<, die ab 17 7 2 in neun Bänden herausgegeben wurde. Dank dem Wirken von Hermann Wessel (1742—1785) eröffnete sich die Bühne, die von der französischen Komödie beherrscht war, wieder dem dänischen Schauspiel. Aber der Geist der aufgeklärten Reform war nach Struensees Sturz noch keineswegs erloschen. Unter der geschickten Führung von A. P. Bernstorff war Dänemark am Vorabend der Französischen Revo lution zu einem der fortschrittlichsten Länder geworden. Der neue Geist der Freiheit kam in einer Gärung des geistigen Lebens und in einer gesteigerten sozialen und wirtschaftlichen Aktivität zum Ausdruck, durch die das Volk aus seiner Lethargie aufgerüttelt wurde. Selbst im fernen Island erweckten Industrie- und Handelsreformen das Volk aus seiner Hoffnungslosigkeit und Apathie, die die Folge der Feindseligkeit der Natur und von jahrhun dertelanger Unterdrückung gewesen waren. 17 3 3 begann eine Druckerei mit der Veröffentlichung weltlicher Literatur; J6n Torlaksson (1744—18 19 ), ein Landgeistlicher in Nordisland, übertrug Popes >Essay on Man«, Miltons >Paradise Lost< und Klopstocks >Messias< in das Versmaß der Edda. Eggert Olafson (1726—1768) verherrlichte in >Biinadar-balkur< das Landleben, und in >Reise igiennen Island< hat er die erste umfassende Beschreibung des Landes und der Leute auf der Insel gegeben. Ihm, der die mehr nationale Seite des aufgeklärten Patriotismus vertrat, war die Muttersprache beson ders teuer, während Magnüs Stephenson (1762—18 33), der hervorragendste Isländer seiner Zeit, die kosmopolitische Richtung der rationalen Aufklä rung betonte und die Anschauungen der Öffentlichkeit in Richtung auf fort schrittliche und humanitäre Reformen beeinflußte. Im Laufe der Zeit traten Abweichungen in den kulturellen Ansichten der Norweger und Dänen an den Tag. »Holbergs kosmopolitische Einstellung und weiter Gesichtskreis ließen ihn die dänisch-norwegische Literatur als einen gemeinsamen Besitz beider Völker ansehen, bei dem ein geringer Un terschied in der nationalen Auffassung unbeachtet bleiben konnte.« Nach 17 5 0 überwog der deutsche Einfluß unter den jungen dänischen Schrift stellern, die den Danske Literatur-Selskab gegründet hatten, während die in 490
Kopenhagen lebenden Norweger, die unter starkem englischen und franzö sischen Einfluß standen, 17 7 2 ihren eigenen literarischen Klub, den Norske Selskab, gründeten. Dem Vorbild von Thomsons >Seasons< folgend, schrieb Christian Braunmann Tullin (1728—1765) das lange Gedicht >Maidagen< und Johan Nordahl Brun (1745—18 16 ) sein patriotisches Lied >For Norge, kjoempers födeland<, in dem er Norwegen als die Heimat von Riesen ver herrlichte, die inmitten der Großartigkeit der Natur leben. Doch in ihrer ganzen rhetorischen Dichtung »waren die Norweger auf ihre Loyalität dem König gegenüber nicht weniger stolz als auf die Liebe zu ihrem Vaterland, dessen alten Ruhm sie gerade zu entdecken begannen. Mit allen Banden der Treue blieben sie an Dänemark gefesselt.« Vor dem neunzehnten Jahrhun dert hat es in Norwegen keine nationale Unabhängigkeitsbewegung gege ben. Der Begriff des Vaterlandes umfaßte das gesamte vom König be herrschte Reich — Dänemark, Norwegen, die deutschen Fürstentümer, Island und die Westlichen Inseln. Sogar noch 1 8 1 2 hat der ausgeprägteste norwe gische Patriot, Nicolai Wergeland, bestritten, daß er das Wort Vaterland ausschließlich auf Norwegen beziehe und betonte, daß der dänisch-norwe gische Staat sein Vaterland sei. Doch durch die Einflüsse Rousseaus und der Frühromantik trat noch ein weiteres Element zur Bildung des späteren nor wegischen Nationalismus hinzu, nämlich die Bewunderung der >bönder<, der norwegischen Freibauern, die von den dänischen Bauern, die erst 178 8 ihre Freiheit erhielten, stark verschieden waren. Die Norweger schienen mutiger und freiheitsliebender zu sein als die Dänen. Die Bauernrevolten in Norwe gen, wie zum Beispiel die unter C. J. Lofthus, die zwar in keiner Weise der Ausdruck eines wachsenden Nationalgefühles waren, bestärkten diese A n sicht. Ein bedeutender dänischer Denker, Thyge Rothe, der sich um die Rei nigung der dänischen Sprache von ausländischen Elementen verdient ge macht hat, pries »die stolzen Söhne Norwegens. Wer wird sich noch darüber wundern, daß die bönder so sind, wenn er erfährt, daß sich unter ihnen die Nachkommen von Königen befinden, die seit Generationen auf ihren Odalgütern sitzen und wahre Krieger und Verteidiger ihres Landes gewesen sind? Ist es ein Wunder, daß jeder Norweger, gleich welchen Standes, um die nationale Ehre weiß, er, der in der reinen Bergluft lebt, von alten Überlieferungen erfüllt ist und das Bewußtsein hat, daß sein Land ein Land der Freiheit und nicht ein Land der Aristokratie und der Knechtschaft gewesen ist!« Einige norwegische Dichter fingen an, in der Weise der Bau ernlieder und in den lokalen Dialekten zu schreiben. Als im neunzehnten Jahrhundert der norwegische Nationalismus erwachte, brachte er eine Ver schmelzung der Verfassungsprinzipien von 1789 mit der Rousseauschen 491
Glorifizierung des freien Bauerntums als dem wahren Rückgrat der Natio nalität. So war sein Charakter von Anbeginn an, trotz der starken roman tischen Einflüsse, betont westlich und demokratisch. Verschieden hiervon verlief die Bildung des schwedischen Nationalismus im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts. Die Schweden hatten das Ende ihrer Großmachtstellung bereitwillig hingenommen; nach dem Verlust der meisten ihrer Außenterritorien haben sie, im Unterschied zu den Polen, auf ihre Expansionsträume verzichtet. Bei ihnen schwang das Pendel von einer disziplinierten Soldatenmonarchie hinüber zu einer Wiedergeltendmachung der alten Freiheiten des Reichstages. Doch bald wurden diese Freiheiten übertrieben. Die Rivalitäten und der Parteigeist drohten, genau wie in Polen, die nationale Existenz zu untergraben. Aber Schweden war keine Adelsoligarchie — auch Bürger und Bauern spielten eine große Rolle im politischen Leben — so daß das Jahr 17 7 2 , das den Anfang von Polens Un tergang brachte, in Schweden die Wiederherstellung der Macht des Landes unter der Führung einer aufgeklärten, von der Nation getragenen Mo narchie sah. Die Jahre, in denen der Reichstag die stärkste Macht im Lande gewesen war, waren doch nicht umsonst gewesen, denn die Teilnahme weiter Kreise der Bevölkerung am öffentlichen Leben sicherte die Grund lagen einer parlamentarischen Regierungsform, und die Zeit, während der Schweden auf alle äußere Größe verzichtet hatte, hatte ein bemerkenswertes Aufblühen der Literatur und der Wissenschaften gebracht. Schweden ließ von der Beherrschung des Ostseeraumes ab und öffnete sich den westlichen Einflüssen, die aus England und aus Frankreich hereinströmten. Der phanta stische Patriotismus eines Olof Rudbeck (1630—170 2), der als Anatom und Botaniker in Upsala gewirkt und der in den vier Bänden seiries >Atland< zu beweisen versucht hatte, daß der >campus elysii<, Platos Atlantis, nichts anderes als Schweden sei, gehörte bereits der Vergangenheit an. Das Z e it alter der Freiheit — wie die Periode zwischen 17 2 0 und 17 7 2 genannt wird — hat die Grundsätze der Freiheit und des rationalen Fortschrittes tief im Bewußtsein des schwedischen Menschen verankert. Während in Lite ratur und Geschmack der französische Einfluß überwog, wurden das poli tische Denken, die Wirtschaft und die Naturwissenschaften, unter dem eng lischen Einfluß von einem utilitaristischen Gesichtspunkt aus betrachtet, und die neue Moral der Vernunft und der Gleichberechtigung führte zu einem Wandel in der Gestaltung der menschlichen Beziehungen. Olof von Dalin (1708—176 3), der führende Literat seiner Zeit und der bedeutendste Vertreter des Rationalismus in Schweden, schrieb über die Geschichte Schwe dens im Geiste seiner Zeit und wirkte für die Verbreitung der Geschichts 492
kenntnis in einem Umfange wie niemand vor ihm. Nach englischem Vorbild gab er auch eine Zeitschrift heraus, den Schwedischen Argus< (1733) mit deren Hilfe er versuchte, das zeitgenössische Denken von der Vergan genheit weg auf die Zukunft, vom Gefühl zur Vernunft hinzulenken. Johan Henrik Kellgren ( 17 5 1—179 5), die bedeutendste Gestalt in der Literatur seines Jahrhunderts, Anhänger von Voltaire, hat Dalins Werk mit noch größerer geistiger Schärfe fortgeführt. Auch er hat eine Zeitschrift gegrün det, den >Stockholmsposten< (1778), in der er mit Hilfe der Satire Vorurteil und Ignoranz bekämpfte. Der schwedische Patriotismus mündete in ein neues Interesse an der Landessprache ein. Johan Ihre (1707—1780) empfahl eindringlich ihre Verwendung im gesamten Erziehungswesen sowie ihre Reinigung von Fremdwörtern. Kellgren war ein enger Mitarbeiter von Gustav III., der ein Neffe und Bewunderer Friedrichs II. von Preußen war; Gustav sollte zu einem vor bildlichen, aufgeklärten Monarchen, zum Wiederhersteller von Schwedens Größe und großzügigen Schirmherrn des schwedischen Kulturlebens wer den. Am 2 1. Juni 1 7 7 1 eröffnete er seine erste Parlamentssitzung mit der ersten Reichstagsrede in schwedischer Sprache seit über hundert Jahren: »Un ter euch geboren und auf gewachsen, habe ich von meiner frühesten Jugend an gelernt, mein Land zu lieben, es als die höchste Auszeichnung zu be trachten, als Schwede geboren zu sein und es als die größte Ehre zu würdi gen, der erste Bürger eines freien Volkes zu sein. Mein heißester Wunsch ist es, über ein glückliches Volk zu herrschen, und ein freies Volk zu regieren mein größter Ehrgeiz.« Und er fuhr mit Worten fort, die an Bolingbrokes patriotischen König erinnern: »Ich habe erfahren, daß weder Pomp und Glanz der Monarchie, noch die sparsamste Wirtschaft, noch eine überreiche Schatzkammer Zufriedenheit und Gedeihen verbürgen können, wenn die Einheit fehlt. Es liegt bei euch, die glücklichste Nation der Erde zu wer den . . . indem ihr allen Parteihader und alle Parteiinteressen zugunsten des Allgemeinwohles opfert. Soweit es in meinen Kräften steht, werde ich mich um die Vereinigung eurer auseinandergehenden Meinungen und um die Versöhnung eurer gegenseitigen Abneigungen bemühen.« Grundlegende staatliche und militärische Reformen stärkten Schwedens Macht während einer Periode äußerst heikler internationaler Situationen. Die Reformen des Königs erstreckten sich auf jeden Bereich des staatlichen und kulturellen Lebens. Obwohl er ein Verehrer des französischen Geistes und Geschmackes war, wollte er doch, daß diese in schwedischer Form und Sprache nach Schweden verpflanzt würden. Die schwedischen Bühnen waren vollkom men französisch gewesen. Der König entließ die französischen Schau-
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Spieler, gründete ein schwedisches Theater und verfaßte selber eine Anzahl Stücke, von denen einige in der naiven Art der Zeit das einfache Landleben der schwedischen Bauern priesen, und andere wieder im Stile von Racine die Heldentaten Gustav Adolfs mit patriotischer Rhetorik verherrlichten. Er zog Künstler und Wissenschaftler an seinen H of; dem noch sehr in den Kinderschuhen steckenden Journalismus gab er einen kräftigen Auf trieb; er gründete eine Musikakademie und eine Kunstakademie und schließ lich 1786 die Schwedische Akademie der achtzehn Unsterblichen, die er mit folgenden bezeichnenden Worten eröffnete: »Alles zu fördern, was dem Reiche zum Wohle gereicht, ist immer mein höchstes Ziel, zur Ehre des schwedischen Namens beizutragen mein heißester Wunsch. Der Ruhm, der Schwedens Waffen kreuz und quer durch Europa begleitet hat, wurde nur allzuoft auf Kosten unsres persönlichen Glückes erworben. Es liegt an uns, einen anderen und größeren Triumph zu erringen, einen Triumph, der über die Zeit erhaben ist und der über jenem unbeständigen Ruhm steht, der nach kaum gewonnenem und leicht wieder verlorenem materiellen Ge winn wieder zerrinnt.« In all den Maßnahmen, die Gustav III. zur Wiederherstellung der natio nalen Einheit des Reiches durch eine erstarkte Monarchie ergriffen hat, hat er immer die Rechte des Reichstages respektiert. In seiner Ansprache an den Reichstag am 27. Februar 179 2 bestand er darauf, daß während einer Welt krise von noch nie dagewesenen Ausmaßen das parlamentarische Leben ungehindert weitergehe, und auf der patriotischen Mitarbeit aller Stände, ganz besonders auf der des »ehrbaren Standes der freien Bauern, die ihr in einträchtigem Bemühen eure Pflüge verlassen habt und zur Verteidigung des Königreiches herbeigeeilt seid, um jene Schiffe zu bemannen und in die Schlacht zu steuern, die ihr mit euren eigenen Händen ausgerüstet habt. Um meiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, kann ich keine anderen Worte als diese finden: Ihr habt euch als Schweden erwiesen, als würdige Nachkommen jener Männer, von denen Gustav Wasa einst sagte: ich ver traue auf Gott und auf die schwedischen Bauern.« Der Geist der patriotischen Aufklärung unter westlichem Einfluß be herrschte das schwedische Leben im Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts. Die Blicke Schwedens waren nach vorwärts auf den rationalen Fortschritt gerichtet, und nicht nach rückwärts, auf die Vergangenheit. Nur wenige Schriftsteller, wie zum Beispiel Thomas Thorild (1759 —1808), ein A n hänger des deutschen Sturm und Drang, wiesen auf die enge Verwandt schaft zwischen Schweden und Deutschen hin und empfahlen, der deutschen Tiefe vor der rationalen Oberflächlichkeit der Franzosen den Vorzug zu
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geben. Nach ihnen sollte die schwedische Kunst ihre Wurzeln in der nordi schen Vergangenheit suchen. Diese Bewunderung der sagenhaften natio nalen Vergangenheit nahm unter dem Einfluß der deutschen Romantik zu. Die Gotische Union ( 18 11) feierte die Schweden als die Nachkommen der Goten, der Eroberer Roms und der Gründer großer Reiche. In einer Bewe gung, die der in jenen Tagen in Deutschland herrschenden Teutschtümelei sehr ähnlich war, wurden alte nordische Namen und Sitten wieder belebt. Als die nordische Romantik ihre Stimme gegen die westlichen Einflüsse er hob und die Behauptung aufstellte, daß die Untermischung so vieler frem der Gedankenelemente dem schwedischen Leben unzuträglich sei, antwortete Esaias Tegner (1782—1846), daß in diesem Falle das Barbarentum das pa triotischste sei, weil dieses allein ursprünglich und von fremden Kulturen völlig unbeeinflußt sei. Der Gotizismus hatte in Schweden keinen langen Bestand. Die moderne schwedische Nation baute sich ihr Leben auf der Grundlage des aufgeklärten und fortschrittlichen Patriotismus des »Zeit alters der Freiheit< im achtzehnten Jahrhundert.
9 Die politische Klugheit der Schweden kam darin zum Ausdruck, daß sie diejenigen Ansprüche, die über ihre eigenen Mittel hinausreichten, bereitwil ligst aufgaben und ihre nationalen Träume und ihren Parteihader einer weisen Mäßigung unterwarfen. Die Polen hingegen haben weder Klugheit noch Mäßigung bewiesen. Politisch rückständig und moralisch korrupt, lösten sie sich zu einer Zeit auf, in der alle anderen Nationen ihre Kräfte sammelten. Erst gegen Ende des Jahrhunderts erweckte der belebende Geist des Westens auch in ihnen den Wunsch nach Reform und Regeneration, und wenn dieses Verlangen auch zu spät für die Errettung der Nation kam, so legte es doch die Fundamente für ihre spätere Wiedergeburt. Immerhin war die einzige Nation, die während des achtzehnten Jahrhunderts unter ging, einstmals an Größe und Bevölkerungszahl eine der großen Mächte Europas gewesen, die sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer hin er streckt hatte, eine amorphe Ländermasse in den grenzenlosen Ebenen des östlichen Europa. Wie Schweden und die Türkei sank Polen am Ende des siebzehnten Jahrhunderts unter dem westwärts gerichteten Druck Moskaus, das über die Ostsee und über das Schwarze Meer Anschluß an Europa suchte, dahin. Seit dem siebzehnten Jahrhundert war die Ukraine, deren slawische Bevölkerung den Moskowitern genauso wie den Polen verwandt
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war und das die Wiege der russischen Nation und Kultur war, das Schlacht feld für die russische und die polnische Expansionspolitik gewesen. Polens innere Schwäche und sein Zerfall rührten von der übersteigerten Expansion und dem Ehrgeiz seiner Oberschicht her, für die die wirtschaftliche Struktur des Landes keine Grundlagen zu bieten vermochte. Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts war Polen, mehr noch als Spa nien, die Zielscheibe allgemeinen Spottes und allgemeiner Verachtung. Es war eine Adelsrepublik mit einem machtlosen Wahlkönigtum. Die Regie rungsgewalt beruhte auf drei eigenartigen Grundlagen: auf den >pacta conventa<, die der König bei seiner Wahl unterschreiben mußte, eine Legali sierung der Machtlosigkeit in einem Lande, das weder über ein ausgebil detes Heer noch über ein ausreichendes Steuersystem verfügte; auf dem >liberum veto<, dem Vorrecht jedes Adligen, sein Veto gegen jedes Gesetz ein zulegen, also eine formale Legalisierung der Anarchie; und schließlich auf der Konföderation, einer Legalisierung des Bürgerkrieges, der in vielen Fäl len das einzige Mittel zur Geltendmachung der Regierungsautorität war. Wohl hatte Polen ein Parlament, den Sejm, aber Burkes Definition, daß nämlich ein Parlament nicht ein Kongreß von Botschaftern verschiedener und feindlicher Länder, sondern die Versammlung einer Nation sei, die über ein Interesse, nämlich das Interesse der Gesamtheit, berate, traf für Polen nicht zu. Der polnische Freiheitswille äußerte sich nicht in patriotischem Zusammenstehen, sondern in chaotischem Egoismus. »Wolno w Police, jak kto chce.« Der einzige Stand, der im Sejm vertreten war, war der Adel — scharf ge trennt in eine kleine Gruppe sehr reicher und einflußreicher Magnaten einerseits und die große Masse der meist ungebildeten, sehr armen Edel männer, den szlachta andererseits; — diesem Stand war jede Art produkti ver Arbeit und kaufmännischer Tätigkeit untersagt, und aufgrund der >Freiheiten<, die er als der eigentliche Souverän von Polen genoß, war er von einem übertriebenen, anmaßenden Standesdünkel besessen, der sogar den des spanischen Adels übertraf. Diese einzigartigen Privilegien, deren höch stes das >nie pozwalam<, das liberum veto war, hatte er sich auf Kosten der Städte und des Mittelstandes, die zu unglaublicher Armut herabgesun ken waren, und der Bauernschaft, die in einen Abgrund der Primitivität und der Knechtschaft gestürzt worden war, errungen. Aber der Adel, der für die Anarchie und den Zerfall Polens zu einer Zeit, wo selbst Rußland sich durch Reformen zu einem höheren staatlichen und kulturellen Niveau emporschwingen konnte, verantwortlich war, zeigte weder Reue noch das Bedürfnis nach Reformen. Er pries die >goldenen Freiheiten<, welche die 496
»ehrbaren Vorväter< erworben hatten, und dieser Superioritätskomplex, der auf Ignoranz und Arroganz beruhte, wurde von der katholischen Kirche unterstützt. Die große Masse des Adels war fanatisch religiös und aber gläubisch. Während im achtzehnten Jahrhundert in anderen katholischen Ländern, so in Spanien und in Neapel, in Portugal und im Reich unter der tief religiösen Maria Theresia die Macht der Kirche stark beschnitten wurde, blieb sie in Polen vom Geist der Zeit unbehelligt. »Unter dem Einfluß der Geistlichkeit setzte sich bei den Polen die Meinung durch, sie ständen als ein auserwähltes Volk unter dem Schutze der Vorsehung; eine Bestätigung dieser Ansicht fand man in den vielen Zeichen und Wundern, die sich wäh rend des siebzehnten Jahrhunderts ereignet hatten; besonders die wunder bare Befreiung des Landes von den Schweden zur Zeit Johann Kasimirs wurde als ein solches Zeichen angesehen.« Aber im achtzehnten Jahrhundert kamen weder Zeichen noch Wunder zu Hilfe: es gab nichts als Schmach und Zerfall, die die Nation ruinierten und die gierigen Nachbarn dazu einluden, das Land unter sich aufzuteilen. Polen hatte bereits seit 1 4 1 3 regelmäßige Parlamente gehabt; aber auf den Sitzen saßen nur Adlige, die einzig sich selbst vertraten, völlig für sich abgeschlossen waren als eine eigene Kaste, die keinerlei Steuern zahlte und die sich alle Ämter, einschließlich der hohen Ämter in der Kirche und im Heer, vorbehielt. Die Städte waren klein und arm; keine erreichte auch nur die Zahl von 50 ooo Einwohnern, und nur sieben hatten mehr als 10 ooo Einwohner. Die Bürger der Städte durften keinen Landbesitz ha ben und waren von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Das Land war nur schwach besiedelt und schlecht bewirtschaftet und von unendlich großen Wäldern durchsetzt, die so dicht waren, daß sie selbst für primitive Kulturen undurchschreitbar zu sein schienen. Das Schulwesen lag sehr im argen; um die Mitte des Jahrhunderts »herrschten bei dem entwürdigten Adel gedankenlose und brutale Vergnügungen vor, die auch nicht durch einen Funken kultivierten Geistes gemäßigt und nur in ganz seltenen Fällen durch mäßige intellektuelle Bildung etwas verfeinert wurden. Die Litera tur, die in bezug auf Stil und Gegenstand einen Tiefpunkt erreicht hatte, war ein getreuer Spiegel der Verderbtheit der Gesellschaft.« Polen hatte so lange Zeit hindurch in diesem Chaos gelebt, daß sich langsam die Überzeu gung durchgesetzt hatte, Polen lebe durch Unordnung. Aber in diesem Augenblick begann die Aufklärung, einige Vertreter des Adels und der Geistlichkeit dazu zu bewegen, sich die moralische Reformation der Nation und eine Europäisierung ihres Regierungssystems und ihres Lebens zum Ziel zu setzen.
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Stanislaus Konarski (1700—17 7 3), der praeceptor Poloniae, ein Piarist, der zehn Jahre lang im Ausland studiert hatte, kehrte mit dem Entschluß in seine Heimat zurück, das polnische Erziehungswesen zur Grundlage der na tionalen Regeneration zu machen. Französische Muster befolgend, errich tete er 17 5 3 das Collegium Nobilum, in dem die Söhne des Adels zu »ehr baren Männern und guten Bürgern« erzogen werden sollten. Er war viel seitig tätig: er verfaßte Bühnenstücke als einen Beitrag zum Aufbau eines polnischen Theaters; er schrieb für den >Monitor<, die erste polnische Zeit schrift, die nach dem Vorbild des >Spectator< gestaltet war und im Jahre 17 6 5 erschien; er schrieb über politische Reformen und über die Mängel der polnischen Regierungsform; in seiner Schrift >De emendandis eloquentiae vitiis< setzte er sich auch für die Klarheit und Schlichtheit der polnischen Sprache ein, obgleich er selber die lateinische Sprache benutzte, wenn er sich an die Öffentlichkeit wandte. Erst nach 17 7 0 konnte sich die polnische Sprache im Unterrichtswesen und im geistigen Leben durchsetzen. Polnisch wurde nach Konarskis Lehrplan nur in den drei unteren Klassen gelehrt; aber zum ersten Male wurde moderne Geschichte unterrichtet, was sich da hin auswirkte, daß die Schüler die geschichtliche Vergangenheit Polens für sich neu entdeckten. Als Ziel seiner Erziehungsarbeit galt ihm, daß die Ju gend »des Landes gedenken lerne, für das sie geboren wurde, und daß sie es von früh auf lieben lerne, damit sie die Erwartungen, die das Land in sie setzt, nicht enttäusche. Sie soll sich in guten Umgangsformen und in einer Lebensführung, die der großen Söhne ihrer Nation würdig ist, schulen.« Klar hatte Konarski Polens Mängel erkannt. In seinem Drama >Die Tra gödie des Epaminondas« (1756) hat er die Überparteilichkeit des Patriotis mus betont: .
Mehr Schmerz als Tod und bose Tat Bereiten mir Fehden und Streit im Staat.
»Laßt uns unser Land nach der Art vernünftiger Menschen regieren. Laßt ab von der Einbildung, wir seien besser als andere Menschen! Der Gott, der die Natur erschaffen hat, hat die Polen nicht aus anderem Lehm als die Engländer gebildet.« Unter der Regierung von Stanislaus August Poniatowski, dem ehemaligen Günstling von Katharina II., nahm Konarskis Einfluß noch zu. Dieser sorgte dafür, daß sich die Ideen der Aufklärung in Polen einbürgerten; aber die Abhängigkeit Polens von Rußland wirkte als starker Bremsklotz, denn Katharina, die auf der absoluten Monarchie in ihrem eigenen Reiche bestand, machte sich hier zum Schutzherm der pol nischen >Freiheiten<. A uf politischem Gebiet konnte kein wirklicher Fort schritt gegen die althergebrachten Rechte und gegen den tief eingewurzel498
ten Familien- und Sippengeist erzielt werden. Doch in kultureller Hinsicht wurde der Hof zum Mittelpunkt des französischen Einflusses, und unter den Anregungen, die aus dem Westen hereinströmten, entwickelte sich eine neue Literatur. Aber nicht der sich allmählich in einigen Kreisen der Haupt stadt und bei einem Teil der großen Magnaten durchsetzende aufgeklärte Patriotismus, erweckte die Polen zu neuem Leben, während die Mehrheit des Adels und die breiten Bevölkerungsschichten des Landes noch im Banne der sarmatischen Ignoranz und Rückständigkeit verharrten, sondern eine tief religiöse und fanatische Bewegung, die sich gegen Katharinas Absich ten, die griechisch-orthodoxen Polen auf gleichen Fuß mit den katholischen Bürgern zu setzen, wandte. Die Kräfte des Landes scharten sich unter dem Ruf »Der Glaube ist in Gefahr« zusammen, und der päpstliche Nuntius stellte sich an die Spitze dieser Bewegung. 1768 begann die Barer Konföde ration einen bewaffneten Aufstand zur Verteidigung des Glaubens bis auf den letzten Mann. Zum ersten Male vereinigten sich alle Stände, um gegen die Gleichberechtigung der Nichtkatholiken anzukämpfen. In den Reihen der Bruderschaft zum Heiligen Kreuz standen Landedelleute, Bauern, Hand werker und Geistliche zum Kampfe vereinigt. Doch hatte es Rußland nicht schwer, diese chaotische Bewegung zu unterdrücken, und das Resultat des Aufstandes war schließlich die erste Teilung Polens (1772). Rußland wurde zum Garanten der polnischen Verfassung von 17 7 5 . Wie schon Rousseau klar erkannt hatte, wurde Polen durch den Land verlust gestärkt. In den folgenden Jahren konnte der Wohlstand ständig zunehmen, während die Anarchie nachließ. In Befolgung der russischen For derungen nach einem stabileren Regierungssystem wurden günstige Refor men durchgeführt. Männer vornehmer Geburt durften sich dem Handel widmen, ohne hierdurch ihren Rang zu verwirken. Zum ersten Male seit Jahrhunderten erhob der Mittelstand wieder sein Haupt: der Bürgermei ster von Warschau, Jan Dekert, rief eine Bewegung ins Leben, die sich für die Anerkennung der bürgerlichen und politischen Rechte des Bürgertums einsetzte. Seine Bestrebungen wurden von Sozialreformern wie Stanis laus Staszic (1755—1826) und Hugo Kollataj (1750—18 12 ) unterstützt. Beide gehörten zu jener Gruppe von katholischen Geistlichen, die, unter dem Einfluß französischer Ideen stehend, die vorderste Reihe der Reforma toren bildeten und eifrige Verfechter der Freiheit, des wissenschaftlichen Fortschrittes und der modernen Erziehung waren. Die Auflösung des Jesuitenordens im Jahre 17 7 3 bot eine günstige Gele genheit zur Übernahme sowohl seiner Schulen als auch seiner Einkünfte. »Nachdem Polen zwei Jahrhunderte lang in geistiger Isolierung und Sta
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gnation abseits gestanden hatte und sich von den trockenen Knochen der Scholastik und eines ausgeleierten Humanismus ernährt hatte, konnten die modernen Wissenschaften und die Philosophie der Aufklärung ihren trium phalen Einzug ins Land halten.« Es wurde eine Erziehungskommission ge bildet, in der auch die Reformatoren saßen. Das gesamte Schulsystem wurde reorganisiert, und die Naturwissenschaften, die Anatomie, die Me dizin und der Maschienenbau wurden in den Ausbildungsplan mit aufge nommen. 178 3 bestanden bereits dreiundachtzig Schulen, die von fast zehntausend Schülern besucht wurden. Im gleichen Jahre wurde auch Pol nisch als Lehrsprache auf den Universitäten eingeführt, und Kollataj rüt telte die Universität von Krakau aus ihrem Schlaf auf. Reformen, für die sich noch 176 0 nur wenige eingesetzt hatten, wurden jetzt allgemein gefördert. Die ganze Tendenz jener Zeit, die ständig drohende Gefahr neuer Aufteilungen, die unverhohlene Verachtung ganz Europas: dies alles steigerte die Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung. Neue Interes sen und ein neuer Geschmack waren entstanden; auch ein ständiges polni sches Theater, dessen wichtigster Autor der Jesuit Bohomolec (1720—1784) war, wurde ins Leben gerufen. Der Bischof Ignaz Krasicki übersetzte den Ossian und andere alte Balladen, und mit seinen Satiren wurde er zu einem polnischen Voltaire. Der Bischof Adam Naruszewicz (17 3 3 —1796) ver faßte eine Geschichte Polens (>Historya narodu polskiego<, sechs Bände, 1786), die in Polen eine ähnliche Rolle gespielt hat wie Karamsins Ge schichte in Rußland. Seine Geschichtsschreibung wie seine Dichtungen ver folgten das gleiche Ziel, nämlich die Übel des herrschenden Systems aufzu zeigen, die allgemeine Korruption und Indolenz zu brandmarken und Vor bilder wahrer Bürgertugend zu zeichnen. Die Zahl der ins Polnische über setzten ausländischen Werke nahm ständig zu, aber auch ältere polnische Texte wurden neu herausgegeben. Und doch hat ein großer Teil des Adels, während der neue Geist rasch an Boden gewann, seinen alten blinden Stolz und seine Abneigung vor Neue rungen bewahrt. Als die Krise dann kam, war Polen gespalten: auf der einen Seite stand eine kleine führende Gruppe, deren Blicke nach dem We sten gerichtet waren, und auf der anderen die große Masse, die sich noch an die alten Überlieferungen klammerte. Unter dem Druck der patriotischen Erneuerungsbewegung trat der Sejm am 6. Oktober 1788 zusammen und blieb vier Jahre lang in Beratung. Rußlands kriegerische Verwicklung mit der Türkei schien eine günstige Gelegenheit zur Befreiung des Landes zu bieten. Doch nur die jüngeren Patrioten, die eine kleine Minderheit bilde ten, hatten erkannt, daß im Inneren der Nation ernsthafte Reformen von 500
nöten waren. Die Mehrheit aber war voller Selbstvertrauen, doch der Sejm schob alle Entscheidungen auf die lange Bank. Der große Enthusiasmus fand kein Gegengewicht in Selbstdisziplin und Erfahrung. Hartnäckig behauptete sich der Parteigeist: viele der Magnaten waren pro-russisch ein gestellt, und andere wieder nahmen auf die leeren und unaufrichtigen Ver sprechungen Preußens hin Stellung gegen Rußland. Aus der Präambel zu der Verfassung, die schließlich am 3. M ai 17 9 1 angenommen wurde, klan gen die patriotischen Töne der Zeit: »Aus der Erkenntnis heraus, daß un ser aller Schicksal ausschließlich von der Erstellung und Vervollkommnung einer nationalen Verfassung abhängt, und nachdem wir durch lange Er fahrung die tief verwurzelten Fehler unseres Regierungssystems erkannt haben, und . . . höher als das Leben und das persönliche Glück die politi sche Existenz, die äußere Unabhängigkeit und die innere Freiheit der Na tion, dften Schicksal uns anvertraut ist, einschätzen; da wir begierig sind, uns den Segen und die Dankbarkeit der gegenwärtigen und aller künftigen Generationen zu verdienen, haben wir zum Wohle der Allgemeinheit und zur Sicherung der Freiheit unseres Vaterlandes und zur Verteidigung sei ner Grenzen diese Verfassung beschlossen.« Aber diese Verfassung stellte nur einen gemäßigten Kompromiß dar. Polen wurde zu einer beschränkten Erbmonarchie mit Ministerverantwortlichkeit und zweijähriger Legislatur periode des Parlaments. Das >liberum veto< war abgeschafft, und jeder Ab geordnete sollte als Vertreter der gesamten Nation angesehen werden. Aber die alten Privilegien und Rechte des Adels wurden anerkannt und be stätigt; der Sejm sollte sich aus 204 Adligen und aus 24 Abgeordneten der Städte zusammensetzen, wobei die letzteren nur in solchen Dingen eine Stimme haben sollten, die die Städte und den Handel betrafen. Den Bür gern wurde das Recht zugesprochen, Landbesitz zu erwerben und öffent liche Ämter zu bekleiden; aber die Leibeigenschaft ist damals noch nicht abgeschafft worden. Diese Verfassung hat Polen nicht gerettet. Der Sejm hatte einerseits Ruß land durch seine herausfordernde Sprache beleidigt, auf der anderen Seite aber keinerlei militärische Vorbereitungen getroffen und alle seine Hoff nung auf ein Bündnis mit Preußen gesetzt, das trotz all seiner gegenteili gen Versprechungen nur allzugeme dazu bereit war, sich mit Rußland ge gen Polen zu vereinigen. Als Katharina ihre Armee zur Unterstützung der Konföderation von Targowicz (1792) nach Polen schickte, war es mit dem polnischen Widerstand bald vorbei. M it viel Begeisterung wurde von einer »levee en masse< gesprochen. J6sef Poniatowski schrieb an den König: »Wenn Eure Majestät zusammen mit dem Adel die Pferde bestiegen hät 501
ten, die Bevölkerung der Städte bewaffnet und die Bauern befreit worden wären — dann wären wir entweder in Ehren untergegangen, oder Polen wäre jetzt eine Macht.« Aber der Adel war niemals in patriotischem Geiste erzogen worden, die Stadtbevölkerung kannte sich im Waffenhandwerk nicht aus, und die Bauern sind nicht befreit worden. Der schnelle Zusam menbruch der polnischen Armee und die Lethargie der Nation bewiesen, daß die Reformbewegungen die Menschen nicht ergriffen hatten. Es war we niger der Geist der Verfassung von 1 7 9 1 als die durch die zweite Teilung Polens hervorgerufene Verletzung der patriotischen Gefühle, die es Tadeusz Kosciusko, der von 177 6 bis 178 4 in Amerika die Kraft der Demo kratie und die Gewalt des patriotischen Kampfes erlebt hatte, gestattete, bei seiner Rückkehr nach Polen im Jahre 179 4 als das Oberhaupt einer na tionalen Erhebung den Polen von Krakau aus zuzurufen: »Unser Leben, das Letzte, was uns die Tyrannei noch gelassen hat, dem Vaterlande wei hend, stehen wir im Begriffe, jene letzten und gewaltsamen Maßnahmen zu ergreifen, zu denen patriotische Verzweiflung uns treibt. Da wir uner schütterlich dazu entschlossen sind, entweder zu sterben oder unser Vater land aus seinem schmählichen Joche zu befreien, erklären wir vor Gottes Antlitz, vor der gesamten Menschheit und besonders vor euch, ihr Natio nen, denen die Freiheit mehr wert ist als alle anderen Güter der Wejt, daß wir alle in einem nationalen, bürgerlichen und brüderlichen Geiste unsere Kräfte vereinen werden. In der Überzeugung, daß der glückliche Ausgang unsres großen Unternehmens in erster Linie von der Einigkeit, die unter uns herrscht, abhängt, verzichten wir auf alle Vorurteile und Meinungs differenzen, die bisher die Einwohner und Söhne des Landes getrennt ha ben oder noch zu trennen vermöchten, und wir schwören uns gegenseitig, daß wir keines der Opfer scheuen wollen, die nur die heilige Liebe zur Frei heit den Menschen auferlegen kann, die sich zum verzweifelten Kampf um ihre Verteidigung erheben.« Als Oberhaupt dieser Bewegung versuchte er, das Werk der Reformen fortzuführen. Er befreite die Leibeigenen und war dazu entschlossen, die Freiheit aller Klassen und Religionen durchzusetzen, er suchte die Mitar beit der Griechisch-Orthodoxen und der Juden, er rüstete eine Jüdische Le gion als einen Bestandteil der polnischen Armee aus, und er lud den Bankier Andrzej Kapostas und den Schuhmacher Jan Kilinski zum Nationalrat nach Warschau ein. Handwerker und Bauern begannen, sich um das Banner Kosciuszkos zu sammeln, aber viele Adlige hielten sich zurück, wenige nur wa ren im Waffengebrauch geübt, das bereitgestellte Material war nur sehr knapp, und der Führer der Bewegung mußte viel Zeit darauf verwenden, 502
die Moral der Nation zu mobilisieren — was den Preußen und den Russen genügend Zeit zum Handeln ließ. Streitigkeiten zwischen den Reformisten und den Konservativen im eigenen Lager vermehrten noch die Schwierig keiten. In der entscheidenden Schlacht am io . Oktober 179 4 nahm die un ter Suworow kämpfende russische Armee Kosciuszko gefangen; bis 1796, ein Jahr nach der dritten Teilung Polens, blieb er in russischer Gefangen schaft. Von der Nation war nichts übrig geblieben als die Erinnerung an die Verfassung und an Kosciuszkos Erhebung, die die Emigranten mit sich ins Exil nahmen. Unter dem Befehl von General Henryk Dabrowski haben polnische Legionen unter Napoleon in Italien gekämpft. Dort hat auch Josef Wybicki den Text des polnischen Liedes >Jeszcze Polska nie zginela< (Solange wir am Leben sind, ist Polen nicht gestorben) geschrieben, das dann später zur polnischen Nationalhymne geworden ist. Die patriotische Erneuerungsbewegung, die Polen während der letzten Jahre seiner Existenz durchdrungen hatte, war nicht mehr in der Lage gewesen, die Nation zu retten. Sie hatte Polen weder zu reformieren vermocht, noch konnte sie das Volk zu einer mit einer neuen Moral und einem Einheitswillen erfüllten Nation umformen. Das Übergewicht und die Arroganz des Adels, der Traum von großen Herrschaftsbereichen, die Unzulänglichkeiten der materiellen und geistigen Kraftquellen, das Fehlen einer weisen Selbstbeschränkung und Selbstkritik waren die grundlegenden Schwächemomente der polni schen nationalen Wiedergeburt. Aber das Vermächtnis von Staszik, Kottataj und Kosciuszko wirkte als das Ferment, das in späteren Zeiten zur Bil dung einer neuen Moral und einer neuen patriotischen Einheit führte.
10 Die politische Struktur Ungarns war der polnischen ähnlich: auch hier übte der Adel seine Macht zum Nachteil der Monarchie, des Mittelstandes und der Bauernschaft aus und herrschte über ethnographisch verschiedene Bevölke rungsgruppen. Aber Ungarn hatte mehr Glück als Polen: die Karpaten bildeten eine hervorragende natürliche Grenze, und seine Existenz wurde nicht durch die zunehmende Macht Rußlands, sondern durch den Zerfall des Osmanenreiches bedroht. Vor allen Dingen hat die Herrschaft der Habs burger dem Land eine Stabilität verliehen, welche die Durchführung mo dernisierender Reformen erleichterte; so konnte sich auch die nationale Wiedergeburt unter günstigeren Umständen vollziehen als im benachbarten Polen, das in vielen Fällen Ungarns enger Verbündeter gewesen war.
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Genau wie die Polen waren auch die Ungarn, das einzige asiatische Reiter volk, dem es gelungen ist, in Europa seßhaft zu werden, ein Volk an der Grenze zwischen der römischen und der byzantinischen Welt. Ungarn und Polen hatten zu ungefähr der gleichen Zeit den Glauben der römischen Kirche angenommen. Der heilige Gerhard von Venedig, in Ungarn als Szent Geliert bekannt, war dem heiligen Stephan (997—10 38 ), der sich am Weih nachtstage des Jahres 1000 die vom Papst übersandte Krone aufs eigene Haupt gesetzt hatte, bei der Einrichtung des Königreiches behilflich gewe sen. Diese Krone, und nicht die magyarische Nationalität, wurde zum Sym bol der ungarischen Nation. Die große Kodifikation des ungarischen Rech tes durch Istvän Werböczi (1460—15 4 1) , das >Tripartitum opus juris consuetudinarii inclyti regni Ungariae<, nannte die heilige Stephanskrone die Quelle aller Macht und den Adel, der sich aus Männern aller Nationali täten zusammensetzte und sich des Lateinischen als offizieller Sprache be diente, ihre Repräsentanten, die >membra sacrae coronae<. In seiner Kodi fikation zitierte Werböczi die Anweisung Stephans an seinen Sohn, den heiligen Emerich, dem Beispiel des Römischen Reiches zu folgen und die Menschen aller Rassen gut zu behandeln. »Nam unius linguae uniusque moris regnum imbecille et fragile est. Propterea jubeo te, fili mi, ut bona voluntate illos nutrias et honeste teneas.« Erst durch den Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts wurde der magyarische Charakter des vielrassi gen Königreiches betont, wurde Ungarisch zur Amtssprache erhoben und der Streit der Nationalitäten hervorgerufen, dem schließlich das beinahe tausendjährige Königreich erliegen sollte. 15 2 6 war der größte Teil von Ungarn unter die Herrschaft der Türken ge raten, ein Zustand, der bis 1699 andauerte, als die Habsburger die Türken wieder vertrieben. Während dieser zwei Jahrhunderte war das in großen Gebieten zerstörte und entvölkerte Ungarn in drei Teile geteilt gewesen, wobei die türkische Provinz in der Mitte des Landes gelegen hatte. Wäh rend sich im westlichen Teil Ungarns, das unter der Herrschaft der Habs burger geblieben war, die Gegenreformation in der Hauptsache durch das Wirken von Peter Pazmany durchzusetzen vermocht hatte, wurde im Osten Siebenbürgen zu einem überwiegend calvinistischen, praktisch selb ständigen Fürstentum mit der Hauptstadt Karlsburg. 1 5 7 1 anerkannte der Landtag von Siebenbürgen vier Konfessionen: die katholische, die luthe rische, die calvinistische und die unitaristische. Da Siebenbürgen in vieler Hinsicht ein weit vorgeschobener Grenzposten des Protestantismus war, spielte es während der Religionskriege in Europa eine bedeutende Rolle und trat bald mit dem Westen in Beziehungen. Ehrgeizige Fürsten, wie Georg 504
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Raköczi II. (1648—1660), überschritten die durch die eigenen Hilfsmittel des Landes gesetzten Grenzen, schwächten es hierdurch und ließen es schließ lich völlig unter türkischen Einfluß geraten. Nach der Vertreibung der Tür ken wurde es wieder mit Ungarn vereinigt, behielt aber einen hohen Grad von Selbständigkeit. Während der Kämpfe gegen die Türken hat Nikolaus Zrinyi (16 18 —1664) das patriotische Epos »Obsidio Szigetiana< geschrieben, worin er die helden hafte Verteidigung von Szigeth durch seinen Urgroßvater, der die gesamte Besatzung zu einem selbstmörderischen Angriff gegen den türkischen Be lagerer geführt hatte, verherrlichte und seinen Landsleuten ihre Eitelkeit, ihre Selbstbewunderung, ihre schnelle und unbeständige Begeisterungsfä higkeit und ihre großspurigen und leeren Träume vorhielt. Aber nur we nige Ungarn teilten seine patriotischen Gefühle und sein Einigkeitsverlan gen. Ihre Geister waren von den Konfessionsstreiten und Parteizwisten der art beherrscht, daß sich die Protestanten mit den Türken gegen den katho lischen Monarchen verbündeten. Ein Aufstand der Bauern, die >kurucok<, fand in Zrinyis Neffen Franz Raköczi II. einen fähigen Führer, in seinem Manifest >Recrudescunt vulnera< wandte er sich mit dem Schlagwort »Pro patria et libertate« an das Volk. Die Erhebung, die religiös und sozial zu gleich war, verlangte die Duldung der Protestanten und eine Besserung des Status der Bauern. Doch führte sie nicht zum Erfolg. Im Jahre 1 7 1 1 ge währte der Kaiser großzügige Bedingungen, und während mehr als hundert Jahren herrschte in Ungarn Frieden. Raköczi wanderte aus und starb 17 3 5 in der Türkei. Die Bauernschaft verlor alles Vertrauen in den Adel und erhoffte sich eine Verbesserung ihrer Lage durch die aufgeklärten Habs burger, die das auf ihr lastende Joch erleichterten. Der Katholizismus schien Ungarns Einheit zusammenzukitten und das Band mit der geschichtlichen Vergangenheit fest zu knüpfen. Das Erziehungswesen lag in den Händen der Jesuiten, die das Land der Heiligen Jungfrau weihten — ein >regnum marianum<. Das achtzehnte Jahrhundert war für Ungarn wie für Belgien und die Lombardei eine Periode des Fortschritts und des Wiederaufbaues unter der Herrschaft der Habsburger. Die Bevölkerung wuchs durch die großzügige Ansiedlung von Einwanderern, die eine bedeutende wirtschaftliche Verstär kung darstellten. In Siebenbürgen waren in zunehmendem Maße Rumä nen angesiedelt worden, die nunmehr die Mehrheit in der Bevölkerung bil deten, aber keinerlei politische Rechte besaßen. Diese waren den drei aner kannten >Nationen< Vorbehalten: den Magyaren, den Szeklern, einem Stamm, der den Magyaren verwandt war, und den Sachsen, deutschen Kolonisten, 505
die in den Städten mit Industrie und Bergbau angesiedelt worden waren. Aber nationale Unterschiede waren damals noch nicht in das Bewußtsein der Bevölkerung getreten; die ungarischen protestantischen Fürsten veröf fentlichten religiöse Literatur in rumänischer Sprache, um die orthodoxe Bauernschaft zu bekehren, und versuchten, das alte Kirchenslawisch durch die Landessprache der Walachei zu ersetzen. In Bra§ov (Kronstadt) wurde 1559 eine Druckerei eingerichtet, in der die ersten Bücher in rumänischer Sprache gedruckt wurden. Unter diesen Büchern befand sich eine Übersetzung der vier Evangelien (15 6 1) und, zwanzig Jahre später, eine Übersetzung der gesamten Bibel. Georg Rakoczi I. hat 16 4 1 dem rumänischen Bischof von Bihar die Anweisung gegeben, »den armen Rumänen in ihrer eigenen Sprache zu predigen« damit sie »aus der Finsternis des Aberglaubens zum Lichte der Erkenntnis« geführt werden mögen. Der Ungarisch sprechende Teil der Bevölkerung des Königreiches Un garn geriet bald in die Minderheit. Zu den Slowaken im Nordwesten, den Ruthenen im Norden, den Rumänen im Osten, den Kroaten im Südwesten gesellten sich bald neue Siedler aus Deutschland hinzu: katholische Bauern aus Süddeutschland, Schwaben genannt, die viele fruchtbare Landstriche be siedelten, sowie Serben, die unter der Führung ihres Patriarchen Arsenije III. Cornopevic in das Banat und in die Batschka einwanderten, nachdem diese Gebiete von den Türken befreit worden waren. 1 7 4 1 verlegte der serbische Patriarch von Ipek, Arsenije IV. Jovanovic, seine Residenz nach Karlowitz und wurde zum geistigen und politischen Führer der orthodoxen Serben in Ungarn. Alle diese Siedlerwanderungen waren ein Teil der aufgeklärten Bevölkerungspolitik und hatten nichts mit Nationalismus oder Germanisierung zu tun. Die gleiche Politik verfolgten auch die Könige von Preußen und die Zaren von Rußland. Erst am Ende des achtzehnten Jahrhunderts begann sich ein Nationalbewußtsein herauszubilden: zuerst bei den in den habsburgischen Landen lebenden Rumänen und Serben, und später bei den jenigen, die unter der Herrschaft der Türken standen. Die Rumänen Sieben bürgens waren in der nationalen Wiedergeburt Rumäniens führend. Ru mänische Studenten aus Siebenbürgen wurden auf die griechischen katho lischen Seminare in Rom geschickt. Dort hatte Bischof Samuel Klein, der seinen Namen in Micu rumänisierte, unter dem Eindruck der Trajanssäule und anderer Monumente der Antike Betrachtungen über den lateinischen Charakter der Bevölkerung der Walachei angestellt, und er war dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß die Rumänen die Nachkommen jener Römer seien, die von Kaiser Trajan einstmals in Dacien angesiedelt wurden, und daß sie deshalb die Erben der römischen Kultur im Osten Europas sein
müßten. Er und Georg Sincai propagierten den Namen >Rumänen< an Stelle von >Walachen<. Sie versuchten die Sprache zu reinigen, das heißt zu lati nisieren, tauschten das kyrillische Alphabet gegen das lateinische aus und gaben in Buda im Jahre 178 0 die erste rumänische Grammatik heraus. >Elementa linguae Daco-Romanae sive Walachae<. Die rumänischen Bauern Siebenbürgens, deren Lebensbedingungen nach der blutigen Revolte des Jah res 178 4 durch die Reformen Josephs II. wesentlich gebessert worden wa ren, schlossen sich im Jahre 17 9 1 zum ersten Male politisch zusammen. In dem >Supplex Libellus Valachorum< erhoben sie die Forderung, als vierte Nation in Siebenbürgen, wo sie die Mehrheit der Bevölkerung bildeten, an erkannt zu werden. Nach 17 5 0 begann sich zusammen mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in Ungarn das kulturelle Leben zu heben. Die ungarischen Magnaten am Hofe Maria Theresias kamen mit der westlichen Kultur in Berührung und nahmen französische Sitten an. Die Städte, deren Bevölkerungen vorwie gend aus Deutschen bestanden, spielten in Ungarns sozialem und gesell schaftlichem Leben nur eine untergeordnete Rolle. Aber bei dem wohlha benderen Landadel, der keine Häuser in Wien unterhielt, bewahrten sich die ungarischen Überlieferungen, und von hier nahm auch der Widerstand gegen die Neuerungen seinen Ausgang. Dieser Landadel hielt an seiner >aurea libertas<, seinen überkommenen Privilegien, fest. Die Stände oppo nierten gegen die Versuche Josephs, die Verwaltung des Landes zu moder nisieren und wachten eifersüchtig über ihre >alten Freiheiten<. Wie das im damaligen Europa öfters vorkam, vertraten auch hier die Monarchien den Fortschritt im Interesse des Volkes, während ihnen die Stände mit ihren alten Verfassungen Widerstand leisteten. »Les assemblées . . . sont étran gères et comme impénétrables à l'esprit nouveau du temps. Aussi le coeur du peuple leur échappe et tend vers les princes.« Und doch sprachen die ari stokratischen Stände, die um die Erhaltung ihrer alten Privilegien bemüht waren, im Namen der Nation und ihrer überlieferten Freiheiten. Gegen Ende des Jahrhunderts kam ihnen das erwachende Nationalbewußtsein der ge bildeten Schicht zu Hilfe. Diese Schicht, die sich aus Lehrern, Schriftstellern und Juristen zusammensetzte, befaßte sich ernsthaft mit der nationalen Sprache. Als Joseph II. 178 4 anordnete, daß das Deutsche als Amtssprache das Latein ersetzen solle, leistete diese Schicht einen erbitterten Widerstand, obwohl der Kaiser damit keine andere Absicht verfolgte, als seinen Ländern eine einheitliche Verwaltung zu geben und die Tore für den Zutritt des modernen Geistes zu öffnen. Es hatte sich hierbei in keiner Weise um eine ideelle Bevorzugung der deutschen Sprache gehandelt. »Sie le royaume de
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Hongrie était la plus importante de mes possessions«, schrieb der Kaiser, »je n'hésiterais pas à imposer sa langue aux autres pays.« Doch zu eben der Zeit, als Joseph II. versuchte, die Ideen der Aufklärung zu verwirklichen, erweckten gerade diese Ideen bei den jungen Ungarn ein neues Interesse an ihrer Landessprache, wodurch diese veranlaßt wurden, sich um deren Erneuerung im Sinne der Vorbilder des Westens zu bemühen. Georg Bessenyei (1747—1 8 1 1 ) , der als Offizier am Wiener Hof lebte, lernte dort die zeitgenössische Literatur kennen. Er und seine Freunde, die >Generation von 1765<, faßten den Entschluß, ihrem Lande und der Huma nität dadurch zu dienen, daß sie die Ungarn mit der neuen Philosophie vertraut machten, um sie so auf das Niveau des Westens zu heben. Eng lische und französische Bücher wurden ins Ungarische übersetzt. Franz Kazinczy (1759—18 3 1) bereicherte die Sprache, reinigte sie von veralteten Konventionsformen und vereinfachte sie. Es wurde die Forderung erhoben, das Latein durch die ungarische Sprache als Amtssprache in der Verwaltung und bei den Gerichten zu ersetzen. Debreczin, die volkreichste Stadt in Un garn, mit einem starken calvinistischen Bevölkerungsanteil, wurde zum Mittelpunkt des erwachten nationalen Lebens. Die Universität von Nagyszombat oder Trnava wurde im Jahre 17 7 7 nach Buda und dann 178 4 nach Pest verlegt. Die Auflösung des Jesuitenordens im Jahre 17 7 3 beschleunigte die Reform des Erziehungswesens, das völlig in den Händen dieses Ordens gelegen hatte. Doch die kleine Minderheit, die sich den westlichen Ideen zugewandt hatte, entfremdete sich der großen Masse des Adels und den Realitäten der ungarischen Gesellschaft, die unberührt in ihrem alten Zu stand verharrte. Die Generation von 17 6 5 verfügte über kein wirkliches Reformprogramm und sah nicht einmal die Notwendigkeit eines solchen Programmes ein. Gleichzeitig wurde auch durch eine mißverstandene Auslegung von Rous seau die Güte der alten Ordnung hervorgehoben. Die >laudatores temporis passati< protestierten gegen die Nachahmung fremder Vorbilder, gegen das höfische Leben, gegen Neuerungen und gegen Luxus. Sie priesen die Frei heit und die Schlichtheit der Alten. Der rückständige Landedelmann, der an den alten Vorurteilen und an der alten Einbildung festhielt, trat als der wahre Ungar auf. Ein Sprichwort hat dieses leichte Leben in Müßiggang verherrlicht: »Extra Hungariam non est vita«, und 17 8 2 schrieb Paul Anyos, daß zierliche Kleider und duftende Tüchlein nicht im Sinne der Mo ral seien; Schleier, große Silberknöpfe und Leopardenfelle entsprächen mehr dem ungarischen Geschmack. In der ersten ungarischen Zeitung, dem M a gyar Hirmond6< wurde empfohlen, nationale Trachten als äußeres Kenn508
Zeichen der Nationalität zu tragen. Es wurde die alte Größe der Ungarn hervorgehoben, die einstmals den Tataren und den Türken siegreichen Widerstand geleistet und unter Attila Europa erobert hatten, und die schließ lich unter Arpad seßhaft geworden und sich eine ständige Heimat erworben hatten. 1 7 5 1 sagte Johannes Ribinyi, ein Lehrer an der lutherischen Schule in Sopron: »Die italienische Sprache ist wohlklingend, die französische ist schön und die deutsche ist ernst; aber alle diese Eigenschaften sind in der ungarischen Sprache so glücklich vereint, daß man kaum zu sagen vermag, welche von ihnen überwiege.« Er ermahnte zur Pflege der nationalen Sprache: »Wenn wir nicht versuchen, uns gegenseitig in diesem Bemühen zu übertreffen, so versündigen wir uns gegen das Vaterland, gegen den magyarischen Namen, gegen uns selbst und gegen unsere Vorfahren. Un sere Vorfahren konnten sich bei all ihrem Edelmut dieser Aufgabe nicht unterziehen, denn ständig waren sie durch Kriege und andere Sorgen in Anspruch genommen; da unser Leben friedlicher ist und uns auch mehr Ge legenheit dazu geboten ist, müssen wir die Literatur pflegen und alle un sere Kräfte darauf verwenden, unsere Sprache zu verfeinern und zu berei chern. Wir müssen auf dem Reichstag und auf den Kreistagen ungarisch sprechen, und es ist wahrlich beschämend, daß wir nicht in der Lage sind, schöne Gedanken in unserer schönen Sprache auszudrücken.« Aber selbst diese Aufforderung zum Gebrauch der ungarischen Sprache war noch in Latein abgefaßt, und in weiten Kreisen war man noch fest davon überzeugt, daß die ungarische Sprache zum Aussterben verurteilt sei. Nur der Tätigkeit der aufgeklärten und in vieler Hinsicht kosmopolitisch eingestellten Gene ration von 17 6 5 war es zu verdanken, daß Ungarisch zu einer modernen Sprache geworden ist. Aus dem neu erwachten Interesse an der nationalen Vergangenheit war auch das erste Werk über die ungarische Geschichte ent standen, eine ernsthafte Forschungsarbeit von Stephan Katona (1732—1 8 1 1 ) , die >Historia critica primorum Hungariae ducum< (1788) und die >Historia critica regum Hungariae< in zweiundvierzig Bänden (1779—18 17 ). Die Pflege der magyarischen Sprache erhielt durch die Abneigung gegen die Reformen Josephs II. mehr Antriebe als durch die tatsächliche Liebe zur eigenen Sprache, wenn auch einige der Kreistage im Jahre 178 4, als sie sich gegen die Ersetzung des Lateins durch die deutsche Sprache auflehnten, das neue Interesse an der ungarischen Landessprache hervorhoben (»hoc praesertim seculo peculiari zelo eruditi excolere et polire adlaborant«). Der Reichstag, der nach dem Tode Josephs II. in Preßburg zusammengetreten war — Buda und Pest waren damals noch unbedeutende Städte — hat 17 9 1 bestimmt, daß Ungarisch als Wahlfach, und 179 2 , daß es als Pflichtfach 509
in den Lehrplan der Schulen aufgenommen werden solle. 1805 waren Un garisch und Latein gleichberechtigte Verhandlungssprachen auf dem ungari schen Reichstag. Doch erst sehr viel später wurde Ungarisch die Amtssprache des ungarischen Königreiches, das so lange den nicht-nationalen Charakter seiner mittelalterlichen Tradition bewahren konnte. Wie in den anderen rückständigen Ländern Osteuropas hat das Zeitalter der Aufklärung auch in Ungarn keine grundlegende Wandlung und keine wirkliche nationale Wiedergeburt herbeigeführt. Worte wie Volkssouve ränität, nationale Freiheit, Gesellschaftsvertrag wurden — wenn überhaupt — nur gebraucht, um die Ansprüche der privilegierten Schichten, die sich für die Nation schlechthin hielten, zu unterstützen. Nur eine kleine Gruppe von aufrichtigen Reformern, die man die Jacobiner nannte — die G enera tion von 1795< — trat, unter der Führung von Jozef Hajn6czy, für eine Abschaffung der Feudalordnung ein. Aber die von diesen Männern ange zettelte Erhebung fand weder die Unterstützung des Mittelstandes noch die der breiten Schichten der Bevölkerung und konnte deshalb schnell Nieder geschlagen werden; der Adel, der sich nach 179 2 um die Monarchie scharte, um die alte Ordnung aufrecht zu erhalten, war aktiv gegen diese Bewegung aufgetreten. Auch die napoleonischen Kriege haben Ungarn kaum berührt. In wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht blieb es ein rückständiges Land. Der westliche Geist konnte in Ungarn erst eindringen, nachdem Graf Ste phan Szechenyi 1 8 1 5 England besucht hatte und daraufhin in seinem ersten Buche (1830) die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Rückständigkeit des Volkes und auf die Verantwortlichkeit der privilegierten Klassen lenkte. Er setzte sich für einen wirklichen Neuaufbau der Gesellschaftsordnung und für eine neue Denkungsart ein. Seine Ausführung schloß er mit folgenden Worten: »Die Vergangenheit ist uns aus den Händen geglitten, aber die Zukunft können wir vielleicht noch besitzen. Warum sollen wir uns dann mit alten Reminiszenzen befassen? Laßt uns stattdessen durch entschlosse nen Patriotismus und durch treue Einigkeit für einen neuen glorreichen Tag unserer Heimat wirken. Viele glauben, daß Ungarn der Vergangenheit angehöre; ich aber bin davon überzeugt, daß seine größten Leistungen noch in der Zukunft liegen.« Die Generation von 1848 sollte bald noch weiter als Szechenyi gehen; damals begann sich die Philosophie der Französischen Revolution in Ungarn erst auszuwirken. Aber, genau wie in Polen, ist auch hier der Widerstand der alten Illusionen und Traditionen noch lange le bendig und wirksam geblieben.
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11 So wie im Okzident romanische und germanische Einflüsse, die rivalisieren den Erben des westlichen Reiches, in einer von der Nordsee bis zum Mittel ländischen Meere reichenden Mittelzone (Lothringen und Burgund), auf einandertrafen, so begegneten sich im Osten der deutsche und der russische Einfluß in einer ähnlichen Zone, die sich von der Ostsee bis zur Ägäis er streckte und das westliche vom östlichen Reich trennte. Diese östliche Grenz zone war weit weniger konsolidiert als die entsprechende Zone im Westen. Die dort ansässigen ethnographisch und rassisch verschiedenen Gruppen waren weder politisch noch ideell zusammengewachsen. Nur die Ungarn und die Polen mit ihrer mittelalterlichen aristokratischen Struktur haben sich ihr bewußtes nationales Dasein bewahrt. Die Vielzahl der anderen Völker — Litauer, Ukrainer, Tschechen und Kroaten, Serben und Bulgaren — von denen einige schon hervorragende Rollen in der Geschichte gespielt hatten, waren keine selbstwirkenden Faktoren mehr. Diesen >schlummernden< oder >ahistorischen< Völkern hat erst das Zeitalter des Nationalismus eine erneute Geltendmachung ihres geschichtlichen Bewußtseins gebracht. Die Griechen, im Schnittpunkt der Handelswege des Mittelmeerraumes gelegen, nahmen eine einzigartige Stellung ein — die zu einer Zeit, als der Zerfall des Ottomanenreiches den Osten wieder zu einem europäischen Problem werden ließ, bedeutsam wurde. Als die Erben des alten Griechen land profitierten sie von dem tiefen Interesse, welches die Neuklassizisten der griechischen Kultur entgegenbrachten. Nur wenige Gelehrte im Westen hatten damals mehr als eine blasse Ahnung von den Tschechen oder Bul garen, von den Ukrainern oder den Kroaten; aber jeder gebildete Mensch wußte um die Herrlichkeiten Griechenlands und wurde in steigendem Maße von diesen beeinflußt. Der Westen hat den Griechen nicht nur die allge mein neubelebenden Elemente der Aufklärung gebracht; der Westen hat den Griechen auch ihre eigene geschichtliche Vergangenheit wiedergeschenkt, die sie selber nicht beachtet und vergessen hatten. So wie die französischen Gelehrten in Ägypten und die englischen Gelehrten in Indien die Geschichte und das Gedankengut jener Völker wiederentdeckt und durch ihre Europäisierung dazu beigetragen haben, zum ersten Male bei ihnen ein auf dem Glauben an die historische Kontinuität beruhendes Nationalbewußtsein hervorzurufen, so hat die Erforschung der griechischen Antike durch die Wissenschaftler des Westens bei den Griechen das Interesse an ihrer Ver gangenheit und den Stolz auf sie erweckt und sie schließlich dazu veran laßt, sich als die >Söhne des Lykurg und des Solon< zu betrachten. 511
Auch in anderer Hinsicht nahmen die Griechen eine besondere Stellung ein. Sie betrachteten die griechisch-orthodoxe Kirche als ihr nationales Erbe. Diese Kirche war die Kirche des byzantischen Reiches gewesen, eines Rei ches, in dem die griechische Sprache vorherrschend und dessen höchster Würdenträger der griechische Patriarch in Konstantinopel gewesen war. Auch im Ottomanenreich war der Patriarch von Konstantinopel das geistige Oberhaupt aller orthodoxen Griechen, und, da das ottomanische Reich auf religiöser Basis aufgebaut war, hatten die Häupter der Religionsgemein schaften auch in Rechts- und Finanzdingen Gewalt. So waren die Serben und Bulgaren, die Rumänen und die Albaner, soweit sie Anhänger des orthodoxen Glaubens waren, unter die Jurisdiktion des Patriarchen von Konstantinopel gekommen — und damit auch unter seinen Einfluß, den er durch seine griechische Geistlichkeit, griechische Sprache und hellenisierenden Tendenzen ausübte. Einige griechische Patrioten träumten von einer Führerstellung der Griechen über die gesamte orthodoxe Welt — oder doch mindestens über die Balkanländer, in einem neuerstehenden byzantinischen Reich. Die nicht-griechischen orthodoxen Völker mußten ihr wachsendes Nationalbewußtsein genau so gegen die griechische Kirche durchsetzen wie gegen ihren türkischen Oberherrn. Während kein lebendiges Band die Griechen mit ihrer klassischen Ver gangenheit verband, waren sie sich doch immer ihrer Einheit mit dem Ost reich bewußt gewesen, das von Anbeginn an christlich gewesen war und auf der orthodoxen Kirche beruht hatte, und dessen ursprünglich römische Struktur später hellenisiert worden war. Politische und religiöse Differen zen, der Kampf gegen die Kreuzfahrer und gegen Venedig hatten den bitte ren Antagonismus der Griechen gegen die westliche Welt noch verschärft. Im Reich der Ottomanen hatten die Griechen wie alle anderen Minoritäten im großen und ganzen eine gute Behandlung erfahren, und sie hatten wei terhin eine bedeutende Rolle spielen können, nicht nur als Kaufleute, son dern auch als Seefahrer, Staatsmänner und als Diplomaten. Selbst unter der Herrschaft der Türken repräsentierten sie die Kontinuität des byzantini schen Reiches, und träumten von einer Wiedergeburt dieses Reiches. Nach einer weitverbreiteten Legende war der letzte Kaiser, Konstantin XI., nicht tot, sondern durch eine geheime Pforte aus der Hagia Sophia entflohen, um in dem Augenblick zurückzukommen, in dem ein griechischer König wieder den kaiserlichen Thron besteigen würde. Der erste im modernen Griechen land geborene König erhielt den Namen Konstantin. In den Augen der Griechen waren die Türken nicht nur Heiden, sondern auch die Usurpato ren einer Kaiserwürde, die rechtmäßig den Griechen zukam. 5x2
In diesem Anspruch fanden sich die Griechen durch einen ähnlichen An spruch der Russen konfrontiert, der sich auf die zwar ebenfalls orthodoxe, aber unendlich weit überlegene, slawische Macht stützte. Katharina II. hatte ihre ersten zwei Söhne Alexander und Konstantin genannt, wodurch sie den russischen Anspruch auf das Ostreich zum Ausdruck brachte. Griechen land und Rußland hatten den gleichen religiösen Glauben; Rußland trat als der Beschützer der orthodoxen Kirche und der Griechen im Ottomanischen Reiche auf. Oft segelten griechische Schiffe unter russischer Flagge. Grie chen dienten den Russen als Konsuln. Da Konstantinopel das Ziel der grie chischen wie auch der russischen nationalen Ambitionen war, mußte Grie chenland neben seinem religiösen Anspruch auf Byzanz noch andere Rechts titel geltend machen. Diese Rechtstitel fand es in seiner Sprache und in seinem klassischen Erbe, welch beide zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts zu neuem Leben erweckt worden waren. Während die Religion Griechenland mit dem Osten verband, brachte ihm seine klassische Kultur die Verbindung mit der Wis senschaft und dem modernen Geist des Westens. Aus dem Westen kamen auch die ersten Säkularisationstendenzen, was für die Griechen die Wieder entdeckung ihrer vorchristlichen Vergangenheit bedeutete. Um die Jahrhun dertwende herum begannen die Griechen ihren Schiffen die Namen antiker Helden an Stelle der bisher üblichen Heiligennamen zu geben. Das Anwach sen des Handels und der Schiffahrt war der Verdichtung der Verbindung mit dem Westen äußerst förderlich. Griechische Händler ließen sich im gan zen Bereich des Mittelmeeres und im Süden Rußlands nieder; bald hatten sie den gesamten Handel fest in ihre Hände gebracht. Bildungsinteresse, Familienbande und Gruppensolidarität unter fremder Herrschaft stärkten den Zusammenhang innerhalb der griechischen Handelsniederlassungen. Reiche Kaufleute gründeten und stifteten Schulen und schickten ihre Söhne zum Studium ins Ausland. Die griechische Diaspora, die sich von Odessa nach Livorno, von Alexandria nach Manchester und von Wien nach Mar seille erstreckte, eröffnete eine breite Straße, über die sich der westliche Ein fluß ins Mittelmeer, wo der griechische Handel die frühere Vormachtstel lung Venedigs eingenommen hatte, ergießen konnte. So waren die Griechen besser als irgend ein anderes Volk im Osten Eu ropas zur Aufnahme der Botschaft der Französischen Revolution bereit. Große Fortschritte hatten sie gemacht, nicht nur auf dem Gebiete des Han dels und des Erziehungswesens; sie waren sich auch ihrer Macht bewußt geworden. Die französischen Revolutionskriege waren ein Auftrieb für den griechischen Handel und für die griechische Schiffahrt. Griechische Schiffe,
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die zum Schutz gegen Piraten bewaffnet waren, durchbrachen beide Blokkaden, sowohl die gegen den Kontinent gerichtete englische als auch Na poleons Blockade gegen England. Sechs Jahre nach Napoleons Sturz wa ren die Griechen die ersten, die mit Erfolg das Banner des Nationalismus und der Freiheit aufrichteten. Mit ihrem Unabhängigkeitskrieg leiteten sie das Zeitalter des Nationalismus in Osteuropa ein. Sie waren die ersten, nicht weil sie am meisten unter dem Joche der Türken zu leiden gehabt hätten, sondern weil die Ideen der Französischen Revolution bei ihnen einen wohl vorbereiteten Boden gefunden hatten, der durch die Bemühungen von phil anthropischen Kaufleuten, durch die Errichtung von Schulen wie die in Iannina in Epirus und A ivali in Kleinasien, durch aufgeklärte griechische Geistliche wie Eugenios Bulgares ( 17 15 —1806) und Nikephoros Theotokes (gest. 1800), sowie durch die vereinten Bemühungen vieler unbekannter Männer, welche die moralische und geistige Erneuerung Griechenlands unter der Führung von Rhigas (1757—1798) und Adamantios Coray (1748 bis 1833) vorbereitet hatten, bestellt worden war. Rhigas stammte aus Velestino, einer kleinen thessalischen Stadt, die im Altertum unter dem Namen Pheraios bekannt war. Die Bevölkerung dieses Städtchens bestand aus Griechen, Albanern und Walachen, und alle drei Gruppen beanspruchten Rhigas als einen der ihren. Seine rumänischen Sprachkenntnisse verdankte er seiner Tätigkeit als Sekretär des Fanoriten Fürsten Alexander Ypsilanti in Bukarest und später als Dolmetscher des französischen Konsulates. Während sein Fürst russisch orientiert war, neigte er mehr nach Frankreich und zu den Ideen der Französischen Revo lution. In Bukarest hat er eine Abhandlung über Physik ins Griechische übertragen, weil »es jeden Patrioten mit Trauer erfüllen muß, wenn er sieht, daß die Nachkommen von Aristoteles und Plato überhaupt keine philosophischen Kenntnisse haben. Da ich Griechenland liebe, gebe ich mich nicht damit zufrieden, den Zustand, in dem sich meine Nation befindet, zu beweinen; ich will ihr helfen, so gut es in meinen Kräften steht. Laßt uns alle gemeinsam daran arbeiten, jeder nach seinen besten Kräften: nur so wird die griechische Nation Wiedererstehen können.« Dieses war der Leit gedanke, der sich durch Rhigas' gesamtes literarisches Schaffen hindurch zog; seine bedeutendste Leistung war wohl seine >Karte Griechenlands^ die er als Anlage zu einer Übersetzung von Barthelemys >Voyage du jeune Anacharsis en Grece< angefertigt hatte; mit dieser Karte führte er den Griechen die einstige Größe ihres Vaterlandes vor Augen, eine Vorstel lung, welche die griechische Expansion nach 18 22 als die >große Idee< be herrschte: »Dieser ungeheure Raum, diese Berge, diese Länder, diese Buch
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ten, diese Inseln, diese Städte mit ihren wohlklingenden Namen — all dieses ist Griechenland. Dieses sind die Stätten, an denen die Griechen, deine Vor fahren, gelebt und gekämpft haben, die sie durch ihren Geist und durch ihre Waffen unsterblich gemacht haben.« Diese Vision eines Großgriechenland, eines wiedererstandenen Byzanti nischen Reiches, veranlaßte Rhigas, eine revolutionäre Verfassung zu ent werfen, unter der er alle unter türkischer Gewaltherrschaft lebenden Völker des Balkans, Kleinasiens und der Inseln des Mittelmeeres in einem gemein samen Vaterland der Freiheit, der Gleichberechtigung und der Brüderlich keit zusammenschließen wollte. Dieses griechische Balkanreich, ein Vor läufer der modernen Pläne um den Balkanbund, war nach dem Vorbild der französischen Verfassung von 179 3 entworfen und versprach allen Einwohnern ohne Ansehen der Rasse, Religion und Sprache die gleichen Menschen- und Bürgerrechte unter der kulturellen Führung der Griechen. Der Artikel 7 hatte folgenden Wortlaut: »Das souveräne Volk wird aus der Gesamtheit der Bewohner dieses Staates gebildet, ohne Ansehen der Religion und der Sprache: aus Griechen, Albaniern, Walachen, Armeniern, Türken, und den Gliedern aller anderen Völker.« Die Demokratie sollte durch ein allgemeines Erziehungsprogramm und durch die allgemeine M ili tärdienstpflicht garantiert werden. »Alle Griechen sind Soldaten, alle müs sen sie an den Waffen als Scharfschützen ausgebildet werden, alle müssen sie die militärische Taktik lernen. Selbst die griechischen Frauen müssen mit einem Speer, wenn nicht gar mit einem Gewehr umgehen können« (Art. 109). Das griechische Volk werde der Freund und natürliche Verbündete aller freien Völker sein und mit offener Gastfreundschaft alle Fremden aufneh men, die in ihrem Vaterland wegen ihres Einsatzes für die Freiheit miß handelt oder von dort vertrieben werden (Art. 1 1 8 ,1 2 0 ) . Diese Verfassung ist nur ein aus der Fieberhitze der Französischen Revolution geborener Traum geblieben; aber Rhigas hatte zu dessen Verwirklichung zu tun ver sucht, was immer ihm möglich gewesen war. Im August 179 6 war er nach Wien übergesiedelt, wo Ende 179 0 die erste griechische Zeitung, die >Ephimeras< herausgegeben worden war. Obgleich die Verfasser der Artikel ein schlechtes Griechisch schrieben und sich auf der Suche nach neuen grie chischen Wörtern vieler deutscher Wörter in griechischer Schreibweise be dienten, waren sie doch glühende Patrioten. Sie waren Rhigas behilflich, eine Verschwörung zum Sturze der türkischen Herrschaft zu organisieren. Im Dezember 17 9 7 verließ Rhigas Wien; aber schon in Triest wurde er verhaftet, von den österreichischen Behörden ausgeliefert und im Juni 1798 in Belgrad hingerichtet. 515
Der vierundzwanzig Jahre später in Griechenland ausbrechenden Revo lution hinterließ Rhigas nicht nur das Andenken an seinen Märtyrertod, sondern auch eine Sammlung nationaler Lieder, darunter das bekannte Kriegslied, den Thurios. Rhigas war einer der wenigen frühen Patrioten, die ihre Schriften in der Sprache des Volkes verfaßten. Wie so viele Nationen von Norwegen bis nach China war auch Griechenland bei seiner nationalen Wiedergeburt vor die Frage gestellt, ob man sich einer literarischen Sprache bedienen solle, die der vom Volke gesprochenen Umgangssprache weit ent rückt war, oder aber ob man die Sprache des Volkes auf die Höhe einer Literatursprache heben solle. In den meisten Fällen konnte sich die Volks sprache gegen die klassische Sprache durchsetzen, aber in Griechenland,wurde ein leicht modernisiertes klassisches Griechisch, das von dem gesprochenen Idiom sehr verschieden war, zur Literatursprache. Heute kann, infolge der allgemeinen Schulerziehung, fast jedermann diese >reine< Sprache verstehen, aber zur Zeit der nationalen Wiedergeburt Griechenlands war sie nur klas sisch gebildeten Gelehrten verständlich. Die griechischen Patrioten hatten auf dieser Bildungssprache bestanden, weil für sie eine Wiedergeburt Grie chenlands nichts als ein Wiedererstehen des alten Hellas bedeuten konnte, also auch ein Wiedererstehen seiner klassischen Sprache, der Sprache der republikanischen Freiheit und des führenden Gedankengutes der Mensch heit. So diente die Sprache zur Legitimation der griechischen Ansprüche auf Freiheit und Anerkennung. Die 18 3 7 gegründete Universität von Athen wurde zum Mittelpunkt des sprachlichen Purismus, und erst im späten neunzehnten Jahrhundert wurde die moderne Volkssprache — die man bis dahin voller Verachtung als >verderbt< bezeichnet hatte — zum Range einer Literatursprache in Dichtung und Roman erhoben. Rhigas, selber ein Kind aus dem Volke, war mehr an der zeitgenössischen Demokratie als an der klassischen Antike interessiert gewesen; er hat das Idiom des Volkes ge sprochen, das er als eine einfache Sprache bezeichnete, und im 53. Artikel seines Verfassungsentwurfes hat er sie deshalb zur Amtssprache bestimmt, weil sie >leicht erlernbar< sei. In diesem Sprachenproblem trat Coray für eine Kompromißlösung ein. Rhigas war in erster Linie ein von militantem Patriotismus erfüllter A gi tator gewesen, der davon träumte, ein Führer der Revolution zu werden. Coray hingegen, der in nicht geringerem Maße als Rhigas von der Aufklä rung und von der Französischen Revolution beeinflußt war, war in erster Linie ein Erzieher, der für die Schaffung einer Synthese zwischen dem an tiken Griechenland und der Kultur seiner Zeit wirkte. Er war der Sohn einer verhältnismäßig gebildeten und wohlhabenden Familie aus Chios in 5x6
Smyrna; in seiner Jugend war er unter den Einfluß eines holländischen Geistlichen gekommen, der ihn mit dem Gedankengut der Aufklärung be kannt gemacht hat. 17 7 2 wurde er nach Amsterdam geschickt. 177 8 kehrte er auf vier Jahre nach Smyrna zurück und verließ es 178 2 wieder, um in Montpellier Medizin zu studieren; er hat danach niemals wieder griechi schen Boden betreten. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hat er in Frank reich gelebt, nach 1788 in Paris, wo er dann im hohen Alter von 85 Jahren starb. Sein Epitaph, das er selbst verfaßt hat, lautet: »Sous la terre étran gère de Paris que j'aimai à l'égal de la Grèce ma patrie je repose ici.« Die Französische Revolution hatte ihn zu dem Entschluß kommen lassen, das Land der Freiheit nie mehr zu verlassen. Wie er in seiner Autobiographie geschrieben hat, hat die französische Freiheit in ihm den Wunsch bestärkt, so viel als nur irgend möglich zur Erziehung und Bildung seiner Landsleute beizutragen und auch in ihnen die Freiheitsliebe zu erwecken, zu der die Franzosen erzogen worden sind. »Das einzige Mittel, welches mir gegeben zu sein schien, war die Herausgabe der griechischen Autoren mit ausführ lichen Einleitungen in der griechischen Volkssprache, so daß sie nicht nur von denen gelesen werden würden, die die klassische Sprache studiert ha ben, sondern auch von den Männern aus dem Volke. Doch zu einem sol chen Unterfangen war mir eine weit größere Kenntnis der griechischen Sprache nötig; deshalb habe ich mich ganz dieser einen Aufgabe zuge wandt und habe die Medizin und jede andere berufliche Tätigkeit aufge geben.« Genau wie Alfieri, doch mit einem etwas anderen Temperament, unter nahm er den Versuch, vermittels der Arbeit seiner Feder eine Nation zu schaffen. Aus Paris hat er an seinen Freund Dimitrios Lotos nach Smyrna geschrieben, daß er die große Stadt, in der er lebte, und ihre Bevölkerung bewundere — eine Bewunderung, die für einen Griechen, der daran denken mußte, daß zweitausend Jahre früher Athen einen noch höheren Grad von Gelehrsamkeit erreicht hatte, nicht ohne einen Anflug von Melancholie sein konnte. Und doch: dort, wo die jetzt von den gebildeten Menschen des We stens so sehr bewunderten weisen Gesetze des Solon gegolten hatten, herrsch ten jetzt Bosheit und ein ignoranter Klerus, der noch schlimmer war als selbst die Türken. Paris war der Mittelpunkt des Lichtes, von dem das neue Leben ausging, und zwar nicht nur durch Bildung, sondern auch durch politische Taten. Nachdem die französischen Truppen die jonischen Inseln, die einen Teil der venezianischen Herrschaft bildeten, besetzt hatten, wid mete Coray 179 7 seine Ausgabe und Übersetzung von Theophrasts E th i schen Charakteren< den »freien Griechen des Jonischen Meeres«. Sein
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gallisch-griechischer Kulturnationalismus kam darin zum Ausdruck: »Eine große, von der Aufklärung geführte Nation, die in den Spuren unserer Vorfahren wandelt, bietet euch mit der Freiheit alle Mittel, um es ihr gleich zu tun und die alten Griechen vielleicht sogar zu übertreffen. Eines der Mittel ist, daß ihr euch mit der Sprache der alten Griechen und mit der Sprache eurer Befreier vertraut macht. Die eine, die man mit Recht als die Sprache der Götter bezeichnen darf, hat einen großen Teil der antiken Welt zum Lichte der Erkenntnis geführt; die andere, die man die Spracht der Vernunft und der Philosophie nennt, wird bald die Lehrmeisterin der gan zen Menschheit sein. Ich will euch ins Gedächtnis zurückrufen, was ihr in jenen herrlichen Tagen gewesen seid, als wir noch ein großes gemeinsames Vaterland besessen haben, und ich w ill euch zeigen, was ihr zu eurem eige nen und zum Glücke unserer Brüder, die noch unter dem eisernen Regimente schmachten müssen, werden könnt.« Aber die politische Befreiung war ein in weiter Ferne liegendes Ziel: zuerst mußte eine moralische Regeneration erfolgen, und das konnte nur durch Erziehung erreicht werden. Als die echten Erben des antiken Griechenland betrachtete Coray nur diejenigen, die sich der Erziehung wid meten; in den Lehrern sah er die größten Wohltäter des Landes, und jene Menschen, die stumpf und widerwillig waren, hielt er für »so gering wie die Türken«. Seine großen Klassikerausgaben enthielten Einführungen in moderner griechischer Sprache, die voll patriotischer Betrachtungen waren, um auf diese Weise das alte Griechenland, das tot zu sein schien, mit dem Griechenland, das neu geboren werden sollte, zu verbinden, und um »die Jahre der Schmach und der Verderbtheit«, welche die geschichtliche Konti nuität unterbrochen hatten, wieder auszulöschen. Die Sprache und der pa triotische Eifer würden das wahre Griechenland wieder erschaffen; eine Sprache, die ein Kompromiß sein sollte zwischen der Sprache der Klassik und der Sprache des Volkes, würde das Bewußtsein von einer gemeinsamen Nationalität wiedererwecken und eine Nation bilden, die griechisch ist in ihren Wurzeln und westlich und aufgeklärt in ihren Lebensformen. Gegen diese Auffassung von griechischem Nationalismus traten aufs heftigste die konservativen Kräfte auf, vornehmlich die Kirche. Sie erblickten darin einen revolutionären Versuch, den Glauben und die Ordnung zu untergraben. Im Jahre 1798 veröffentlichte der griechische Patriarch von Jerusalem Anthimos seine >Väterlichen Ermahnungen^ in denen er die Griechen vor dem Blend werk der Französischen Revolution warnte und den unchristlichen Franken das türkische Regiment vorzog, das von Gott eingesetzt sei, um die Freiheit der Religion zu sichern und die Griechen vor den Ketzereien des Westens 5 18
zu bewahren. Coray antwortete darauf in seinen brüderlichen Ermahnungen<, in denen er die Griechen aufforderte, der französischen Aufklärung zu folgen, da sie der einzige Weg sei, der zu einer Regeneration führen könne. Bei den griechischen Kaufleuten, besonders in der Diaspora, fand er Unter stützung. Als Griechenlands Kampf um seine Unabhängigkeit begann, hat diese Diaspora mit ihren liberalen Ideen, zu denen Coray so viel beigetragen hatte, die revolutionäre Begeisterung ausgelöst. Als die Revolution ausgebrochen war, schickte Coray seinem fernen Va terlande seine Politischen Ermahnungen^ in denen er — ohne sie immer klar auseinanderzuhalten — politische Gespräche und Richtlinien von A ri stoteles mit seinen eigenen zusammenstellte, wodurch er die geistige Kon tinuität Griechenlands wiederherstellte. Größere Taten — so schrieb er — haben die Griechen 18 2 1 vollbracht als damals in Marathon oder in Sala mis, denn damals habe es sich nur um die Abwehr von Barbaren gehandelt, die von außen auf die Griechen eindrängten; die modernen Griechen hätten aber Barbaren hinauswerfen müssen, die sich schon seit langer Zeit im Lande selbst festgesetzt hatten. Doch nunmehr sei ein noch größeres Werk nötig, denn es handle sich darum, die errungene Freiheit zu bewahren. Es sei nicht genug damit getan, daß der Tyrann geschlagen sei; jedermann müsse die noch bei weitem tyrannischeren Leidenschaften in seinem eigenen Herzen bekämpfen; das erfordere Weisheit und Gerechtigkeit, die Königin aller Tugenden. Immer wieder hat Coray die Notwendigkeit von Gerechtig keit und von patriotischer Einheit betont. Die Tugenden des Bürgers und die des Christen sind ein- und dieselben, denn der tugendsame Bürger ist der Mann, der sein ganzes Tun mehr nach dem Wohl der Allgemeinheit als nach seinem eigenen Vorteil richtet, der Freuden und Leiden mit sei nen Mitbürgern und Brüdern teilt. Ein Mann, der keinen Gemeinsinn hat, kann nur ein schlechter Bürger und ein schlechter Christ sein. Eine rechte Auffassung von der Freiheit fördert die Einheit und den Respekt vor dem Gesetz, nicht die Zwietracht und die Anarchie. Das alte Griechenland sei an dem Mißbrauch der Freiheit und an mangelnder Einheit zugrunde gegangen. Coray, der die französischen Revolutionskriege selber miterlebt hatte, feierte die jungen Männer, die für die Freiheit ihres Vaterlandes kämpften, mit den berühmten Versen aus den >Persem< des Äschylus: O Söhne Griechenlands, ziehet! Befreiet das Vaterland, befreit Kinder, Frauen, die Tempel der uralten Götter, Und die Gräber der Väter. Alles stehet im Krieg A u f dem Spiel.
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Aber mit seinem Herzen war er nicht bei den Kämpfen, denn das war den moralischen Ideen zugewandt. Orelli hat Coray den »philologischen Bau meister seiner Nation« genannt und ihn mit Fichte verglichen. Coray war weder radikal noch war er von dem Elan der Französischen Revolution durchdrungen. Er war humanitär, realistisch und maßvoll, ein Mann, der Beccaria ins Griechische übersetzte und die Sklaverei bekämpfte, ein aufge klärter Philanthrop, der tief in den liberalen Ideen des Mittelstandes daheim war. Er sah weder auf Byzanz noch auf Rußland, er blickte auf Frankreich und auf den Westen. Der griechische Nationalismus folgte der abgeklärten Weisheit seines Erweckers nicht: in seinem geschichtlichen Verlauf war er vom Osten genau so beeinflußt wie vom Westen, ein Schicksal, das Grie chenland mit den kleineren slawischen Nationen teilte, deren Nationalis mus durch die westliche Aufklärung inspiriert worden war, der aber oft in die russische und panslawistische Romantik und in die imperialistischen Aspirationen des Ostens verstrickt wurde.
12 Von allen slawischen Völkern waren die Südslawen das letzte, bei dem ein nationales Bewußtsein erwachte. Im achtzehnten Jahrhundert waren die Süd slawen sowohl sich selbst als auch dem Ausland gegenüber, dem Namen nach als auch in ihrem ethnographischen Bestand, nur sehr unbestimmt be schrieben. Mehr als alle anderen Slawen waren sie in Religion und Überlie ferung zwischen dem Westen und dem Osten geteilt. Ihre westlichen Rand gebiete standen unter venezianischem und habsburgischem Einfluß, wäh rend sie in ihrer östlichen Ausdehnung völlig in der türkischen Welt unter getaucht waren. Die Religion — ob orthodox, mohammedanisch oder katholisch — beherrschte ihr Leben. Die Säkularisation mit ihrer neuen Li teratursprache und ihrer gebildeten Laienschicht, mit ihrer wissenschaftlichen Anschauungsweise und ihrem wirtschaftlichen Unternehmungsgeist hatte sie kaum berührt. In diesen Dingen standen sie um mindestens drei Jahrhun derte hinter dem Westen zurück. Ein handeltreibender Mittelstand mit in ternationalen Beziehungen und Handwerker der Städte, eine Gesellschafts schicht, die in den anderen Ländern so große Initiative bewiesen hatte, waren auf dem Balkan kaum vertreten. Im Osten gab es fast nur Bauern, und diese waren schwerfällig und auf die Aufnahme von Reformen in keiner Weise vorbereitet. Aber selbst in dieser rückständigsten Ecke Europas trat bei den Bulgaren, dem östlichsten Zweig der Südslawen, während des acht520
zehnten Jahrhunderts schon ein einsamer Vorläufer der späteren Entwick lung auf. Es war dieses der Pater Paisii (1722—1798), ein Mönch des Klo sters Khilendar auf dem Berge Athos. In seiner >Istoria Slavyanobolgarskaya< (1762), die während mehr als achtzig Jahren ausschließlich in hand gefertigten Abschriften zirkulierte, hatte er den Versuch unternommen, in einem Volke, das politisch von den Türken und kulturell von den Griechen ausgelöscht worden war, das Bewußtsein einer historischen Kontinuität zu erwecken, indem er ihm die längst vergessene Vergangenheit seiner großen Zaren, Patriarchen und Heiligen wieder ins Gedächtnis zurückrief. Das Buch war in einem schwerfälligen Kirchenslawisch geschrieben und hatte eine umfangreiche und wiederholungsreiche Einleitung, in der der Verfasser ver suchte, den Leser von der Dringlichkeit dieser neuen Botschaft zu über zeugen. »Vernehmt, ihr Leser und Zuhörer von bulgarischer Art, die ihr begierig darauf seid, nach eurer eigenen Art zu leben und euer bulgarisches Vaterland zu lieben. . . Es ist von großem Nutzen, wenn ihr von euren Vätern und Vorvätern, Königen, Patriarchen und Heiligen etwas w iß t. . . So kennen die anderen Völker und Zungen ihr eigenes Volk, und sie haben Geschichtsforscher, und jeder, der Bücher schrieb, weiß darum Bescheid und schreibt davon. Denn jedermann preist sein Volk und seine Sprache . . . Des halb habe ich für euch in eurer Sprache und in eurer Art geschrieben. Leset und lernet, damit ihr nicht einer fremden Sprache und einer fremden Art unterliegt. . . Ich habe dieses für euch geschrieben, damit ihr euer Volk und euer bulgarisches Vaterland lieben lernen möget. Schreibt diese Ge schichte ab und zahlet jedem, der zu schreiben weiß und sie abschreibt, und bewahrt sie auf . . . Lasset euch nicht täuschen, ihr Bulgaren; erkennet eure Art und eure Sprache, lernet, daß darin bulgarische Schlichtheit und Ehr lichkeit liegen. Bulgaren sind aufrichtige Menschen; sie nehmen jeden in ihr Haus auf und bewirten ihn und geben Almosen jedem, der darum bittet. Aber die klugen und politischen Griechen handeln nicht so . . . Schäme dich nicht vor dem Schlauen und dem Krämer . . . Denn Gott liebt die schlichten und arglosen Bauern mehr . . . Aber ihr schämt euch und preist die fremde Art und Sprache und ahmt ihre Sitten nach . . . Das ist es, warum ich dieses Buch geschrieben habe.« Diese einsame Stimme eines altmodischen Geistlichen, in dessen Herz sich auf mysteriöse Weise neue Ideen regten, hat nur einen äußerst schwachen Widerhall erregt. Der erste, der dieses Manuskript abgeschrieben hat, war Stoiko Vladislavov (1739— ca. 18 15 ) , besser bekannt als Sofronii, Bischof von Vratsa, der später in die Walachei ins Exil ging und dort sein >Kiriakodromion<, das >Sonntagsbuch< (Rimnik, 1806) druckte; dieses Buch war das
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erste bulgarische Buch, das gedruckt worden ist; es war in seinem Inhalt noch völlig religiös und in einem schwerfälligen Kirchenslawisch geschrie ben. Seine posthum herausgegebene Autobiographie >Zitie i stradaniya gresnago Sofroniya< (Leben und Leiden des sündigen Sofronii) kann man als das erste wirklich bulgarische Werk der Neuzeit ansprechen. Aber vor 18 2 5 sind keinerlei Schritte zu einer kulturellen Erweckung der beinahe in völliger Vergessenheit lebenden Balkanvölker unternommen worden, und auch dann wurden bezeichnenderweise diese Schritte von außen her unter nommen. Unter dem Einfluß der Romantik und der Schule für slawische Philologie in Prag untersuchte Venelin, ein ruthenischer Panslawist, die bulgarischen Volkslieder und Volksbräuche und schrieb über bulgarische Geschichte und Religion. Seine Arbeit erregte das Interesse des in Odessa lebenden hellenisierten bulgarischen Kaufmannes Aprilov, der sich dann, mit Unterstützung der Russen, der Förderung des kulturellen Lebens und des Nationalbewußtseins der Bulgaren gewidmet hat. Ein Jahrhundert nach Paisiis vergeblicher Bemühung begann sein Volk zu erwachen. Die europäischen Bewegungen, die bis zu den Bulgaren nicht vorzu dringen vermocht hatten, berührten aber die Kroaten und Slowenen, die durch ihren römisch-katholischen Glauben und dank ihrer geographischen Lage mit Wien und Venedig in Berührung gekommen waren. Der italie nische Humanismus war bis nach Ragusa, einem bedeutenden Handelsplatz mit kroatischer Bevölkerung an der dalmatinischen Küste vorgedrungen. Die eingeborenen Humanisten betrachteten ihr Volk als Illyrer und wollten das Lateinische, das bis weit ins achtzehnte Jahrhundert hinein als Schrift sprache im Gebrauch geblieben war, an die Stelle des Kroatischen setzen, das sie »Scythacus sermo< nannten. Aber viele Dichter wußten die Landes sprache zu schätzen, und unter den Einflüssen des Westens haben sie sie zur Höhe einer Literatursprache entwickelt, die dann von späteren Autoren, die auf der Suche nach einer serbokroatischen Sprache waren, übernommen werden konnte. Als Vermittler diente ein Franziskaner, Andreja KacicMioiSic, durch seine Veröffentlichung über >Razgovor ugodni naroda slovinskoga< (Die Volksstimmen der Slawen — Venedig, 17 5 6 ); er berichtet darin in Gesängen, die in der Umgangssprache abgefaßt sind, über die Heldentaten aus der Vergangenheit der Serben, Kroaten, Slowenen und Bulgaren. Durch Karadzic hat sein Werk die serbische Literatur beeinflußt und ist durch diesen zur Grundlage der modernen Sprache der Serben und Kroaten geworden. Was für die Kroaten in Ragusa die Renaissance bedeutet hatte, das be deutete die Reformation für die Slowenen. Primoz Trubar hat die Bibel ins 522
Slowenische übersetzt, und sein Freund Adam Bohoric hat die erste slowe nische Grammatik verfaßt. Aber infolge des Druckes, der sowohl von den Deutschen aus dem Nordwesten als auch von den Türken im Südosten aus geübt wurde, schlief das slowenische politische und kulturelle Leben für lange Zeit wieder ein, bis schließlich die österreichische Aufklärung und besonders die napoleonische Verwaltung in den illyrischen départements wieder neues Leben und neue Ideen in das Land brachten. Die ersten neu zeitlichen Schulen und Zeitungen wurden gegründet, und Wirtschaftsrefor men erleichterten die Entwicklung eines Mittelstandes. Der slowenische Dichter Valentin Vodnik (1758—18 19 ) wurde zum Direktor des öffentlichen Erziehungswesens in Illyrien ernannt. Aber selbst damals kannte Anton Linhart, der Verfasser der ersten Geschichte der Slowenen in einem neuen patriotischen Geiste >Versuch einer Geschichte von Krain und der übrigen südlichen Slawen Österreichs<, Laibach 1788, noch keine Sammelbezeichnung für diese Völkerschaften. Die südlichen Slawen, die sich mehr nach histo rischen Gebieten als nach ethnographischen Gegebenheiten gliederten, die keine einheitliche Sprache und Schrift besaßen, waren nur ethnographisches Rohmaterial, aus dem sich die einzelnen Nationalitäten erst entwickeln sollten. Die Vorstellungen, die man damals noch von den Slawen und Illy rern, von ihrer Herkunft und ihren gegenseitigen Beziehungen hatte, waren noch sehr unterschiedlich und umstritten. Erst um die Mitte des neunzehn ten Jahrhunderts begannen sich aus den verschiedenen regionalen, dialek tischen und religiösen Gruppen die drei Nationalitäten der Serben, Kroaten und Slowenen herauszukristallisieren. Aber wie auch schon in anderen Fäl len haben auch hier einsame Vorläufer die spätere Entwicklung voraus geahnt. Meistens waren dies Männer mit einem außergewöhnlichen Lebens lauf, die, von geistiger Neugierde und von vagen, aber brennenden Visionen getrieben, sich aus ihrem Stand und aus ihren Traditionen losrissen und sich auf der Suche nach neuen Wegen ins Ausland und in geistige Abenteuer begaben. Einer der frühesten und interessantesten Wanderer durch Zeiten und Räume war der katholische kroatische Priester Yuri Krizanic (16 18 —1683) gewesen, in dessen Schriften man bereits viele Motive und Probleme ausge sprochen findet, die später im slawischen Denken auftauchten. Er war gleich zeitig ein Panslawist, ein Slawophile, ein ernsthafter Anhänger der west lichen Ideen und ein radikaler Reformer. Wenn auch in seinen Gedanken noch nichts feste Gestalt angenommen hatte, so hat doch die spätere Ent wicklung nur wenige Wege beschritten, die er nicht bereits erkundet hätte. Er glaubte an die Einheit aller Slawen ; schon lange vor der Reformtätigkeit 523
Peters des Großen sah er in Rußland die Mutter des Slawentums, und im Jahre 1659 reiste er selbst nach Rußland zum >Zar meines Volkes<, um dort nicht nur den Panslawismus, sondern auch eine Vereinigung der griechi schen und der römischen Kirche zu propagieren. Wie Herder war er von der hohen Bedeutung der Sprache durchdrungen, und wie die späteren roman tischen slowakischen Panslawisten träumte er von einer gemeinsamen sla wischen Sprache, die alle slawischen Völker, die er als eine einzige Nation betrachtete, verbinden würde. Er hat nicht nur Grammatiken und Wörter bücher dieser slawischen Sprache verfaßt, er hatte auch eine klare Vorstel lung von der Notwendigkeit einer umfassenden Reform des slawischen Le bens und Denkens. Er war ein früher panslawistischer Patriot, und seine Anschauungen waren seltsam geteilt zwischen dem, was man zweihundert Jahre später als xenophoben Slawophilismus bezeichnet hat, und einer klar sichtigen westlichen Aufklärung, welche die beschämende orientalische Rückständigkeit des slawischen und insbesondere des russischen Lebens und die Notwendigkeit einer gründlichen Europäisierung betonte. In seinen politischen Schriften hat er sein Bedauern darüber zum Aus druck gebracht, daß das slawische Leben und Denken von deutschen und griechischen Einflüssen beherrscht werde. Er machte den Slawen ihre >cuzebiesie<, ihre Leidenschaft für fremde Dinge zum Vorwurf, da diese zu >cuzevladstvo<, zur Fremdherrschaft führe. »Keinem Volke unter der Sonne ist von Fremden jemals so viel Unrecht angetan worden wie den Slawen von den Deutschen. Wir ersticken neben den vielen Fremden; sie betrügen uns und führen uns an der Nase herum, während sie sich selber als Ebenbilder Gottes erachten und uns nur als Einfaltspinsel. . . Bewundernd blicken wir auf alles Fremde, und alles, was unserem Leben eigen ist, verachten wir.« Aber dieser katholische Kroate, der den Westen kannte und der mit so großen Erwartungen nach Rußland gegangen war, konnte auch nichts An deres, als die dort herrschenden orientalischen Zustände kritisch an west lichen Maßstäben zu messen. In Rußland, das in seiner Art sich damals kaum von der Türkei unterschied, sah er die erschreckende Rückständig keit und Bildungslosigkeit, die allgemeine Trägheit, die Kenntnislosigkeit und Unfähigkeit auf jedem Gebiete, vor allen Dingen ein völliges Fehlen von persönlicher und nationaler Würde und die völlige Unterwürfigkeit unter den Herrscher. Er hat für Rußland ein Reformprogramm entworfen, in welchem er nicht nur die Reformen Peters des Großen, sondern auch das Programm der späteren Vertreter einer Europäisierung vorwegnahm. Vor allen Dingen forderte er eine Beschränkung der Macht, und er verurteilte die Exzesse und Extreme, zu denen die russische Lebensart neigte. Den Händlern, Handwerkern und Bauern wollte er wirtschaftliche Freiheit und 524
Selbstverwaltungseinrichtungen gewährt wissen, und er forderte eine Ver breitung von Allgemeinbildung und von Kenntnissen praktischer Dinge; aus dem Ausland sollten Handwerker und Fabrikanten eingeladen werden, die die Russen bei der Auswertung der natürlichen Reichtümer ihres Landes anleiten sollten. Wie unzählige Russen und Slawen nach ihm hat sich auch Krizanic Gedanken über das Verhältnis zwischen Russen und Slawen einer seits und dem übrigen Europa gemacht; auch er war zu dem Ergebnis ge kommen, daß Russen und Slawen in der Geschichte die Rolle des Vermitt lers zwischen dem kultivierten Westen und dem barbarischen Osten zu spielen hätten. Hundert Jahre vor Herder verfolgte ihn die Vision von der künftigen Größe der Slawen. Aber selbst nach Herder war der geistige Horizont der südlichen Slawen durch örtliche Grenzen, durch Dialektschwierigkeiten und religiöse Spal tungen noch sehr begrenzt. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts er griffen die Serben die Initiative. Ihre Kultur war weniger fortschrittlich als die der Kroaten, aber sie hatten sich ein stärkeres geschichtliches Bewußtsein und einen größeren Kampfgeist als die anderen südslawischen Völker be wahrt. Bei ihnen hatten sich die Volkslieder, die >pesme<, die in mündlicher Überlieferung zur Begleitung der einsaitigen Fidel, der Gusla, vorgetragen wurden, die Erinnerung an berühmte Vorfahren und an den Kampf gegen die Türken, an den sagenhaften Prinzen Marko, an die vielen Männer aus dem Volke, die Haiduken, halb romantische Räuber und halb wilde Gue rillakrieger, die in den Bergen den Kampf gegen die Türken fortgesetzt hatten, lebendig erhalten. Diese Volksdichtung appellierte zugleich an die Mannhaftigkeit und an den Heroismus des Volkes. Nirgends sonst war der Geist wilder Unabhängigkeit stärker als in den unzugänglichen Schwarzen Bergen, den Crna Gora oder Montenegro. Dort lebten Stämme in einer primitiven Theokratie unter gewählten Fürstbischöfen (vladika), bis schließ lich Daniel I. Petrovic-Njegos (1697—1737) das Recht erlangte, seinen Nach folger innerhalb seiner Familie zu bestimmen und so die Dynastie gründete, die dann über zweihundert Jahre lang geherrscht hat. Nach der Niedermetzelung aller Türken am Weihnachtstage 17 0 2 konnten die Montene griner ihr Land frei halten. Während sie sich früher an das katholische Ve nedig gehalten hatten, empfingen sie im Jahre 1 7 1 1 eine feierliche Bot schaft von Peter dem Großen, in der jener die Bande der Religion und der Rasse betonte und Rußlands Hilfe versprach. Danilos Nachfolger Savo hat in Rußland studiert und ist dort zum Bischof geweiht worden; er und Peter I. (1782—1830) haben von dem Gebirgsnest über der Adria aus die Verbindung mit dem Hof in Petersburg aufrechterhalten. 525
Trotz der Volkslieder, der Heldentaten der Haiduken und der Tapferkeit der Montenegriner, die den Geist der Unabhängigkeit unter den türkischen Serben lebendig erhalten hatten, kamen die ersten Anzeichen einer natio nalen Wiedergeburt aus der Woywodina in Südungarn, wo viele Serben unter der Herrschaft der Habsburger gesiedelt hatten. Im türkischen Serbien ist des Leben das achtzehnte Jahrhundert hindurch rein mittelalterlich ge blieben; die gesamte Literatur, die in der schwerfälligen kirchenslawischen Sprache abgefaßt war, trug religiösen Charakter. Außer den Geistlichen hat es kaum irgendwelche gebildeten Menschen gegeben, und das Volk verharrte in seiner ablehnenden Haltung gegenüber neuen Ideen. Aber gegen Ende des Jahrhunderts kamen viele Großbauern (knez) in den Gemeinden als Exporteure von Schweinen mit dem Ausland in Berührung, besonders mit dem Versorgungsdienst des österreichischen Heeres. Aus dieser Schicht der Bevölkerung rekrutierten sich auch die Führer des Aufstandes von 1804, der nicht ein Kampf um die Unabhängigkeit gegen die Türken, sondern gegen die Janitscharen war, die die Befehle des Sultans mißachteten und die Bevöl kerung ausbeuteten. Aber dieser Aufstand hat die serbische Unabhängig keitsbewegung und die südslawische Einheitsbewegung ausgelöst, und zwar nicht nur, weil durch ihn der erste autonome serbische Staat geschaffen worden ist — der unter Georg Petrovic, genannt Kara- oder Schwarzer Georg (1766—18 17 ) , neun Jahre lang bestehen konnte —, sondern ebenso, weil er durch die unter den in Österreich siedelnden Serben aufgekeimten neuen Ideen der Aufklärung befruchtet worden war. So wie der Mittelpunkt des rumänischen Kulturlebens lange Zeit in Siebenbürgen gelegen hatte, so lagen die Zentren des serbischen Kulturlebens in Wien und in Ungarn. Dort war auch das erste serbische Buch gedruckt und 17 9 1 die erste ser bische Zeitschrift, >Srpske Novine<, herausgegeben worden, die aber, da sie zu wenig Abnehmer gefunden hat, nach einem Jahr ihr Erscheinen einstellen mußte. Ein neuer, allerdings genau so erfolgloser Versuch in dieser Richtung ist 18 1 5 in dem damals selbständigen Fürstentum Serbien unternommen worden. Die Zahl der gebildeten Serben war noch viel zu gering. Im süd lichen Ungarn herrschte der Einfluß der Kirche vor, und fast sämtliche dort gelesenen Bücher kamen ebenso wie die meisten Lehrer aus Rußland. Und doch standen die dortigen Serben nicht nur mit dem Westen in Berührung, sie erfreuten sich sogar auch weitgehender Freiheiten. Im >regulamentum illyricum< war ihre Selbständigkeit auf dem Gebiete der Religion und des Erziehungswesens festgelegt worden; Leopold II. hatte sogar die Einberu fung eines nationalen illyrischen oder serbischen Kongresses nach Temesvar im Jahre 179 0 gestattet, und er hat auch die serbischen Bischöfe in den un526
garischen Reichstag berufen. Die religiöse Abgeschlossenheit, die in der Türkei möglich gewesen war, hatte sich nördlich der Donau nicht länger aufrecht erhalten lassen. Einzelne Persönlichkeiten konnten sich aus den Banden der Vergangenheit herauslösen; sie unternahmen große Reisen, lernten vom Westen und vermittelten die Ideen der Aufklärung ihren ser bischen Stammesgenossen. Matija Antun Reljkovic, der als Hauptmann der österreichischen Armee im Siebenjährigen Krieg in preußische Gefangen schaft geraten war, wurde mit der deutschen Literatur vertraut und gab später, nach Moscheroschs Vorbild, eine >Satira< heraus, die in der Sprache des Volkes abgefaßt war und scharfe Kritik an der serbischen Rückständig keit übte. Von weit größerer Bedeutung war Dositej Obradovic (ca. 1740 bis 18 x 1) , der erste volkstümliche Schriftsteller, der nicht mehr in der alten slawischen Kirchensprache, sondern in der Umgangssprache schrieb. Als junger Mann war er in einem Kloster gewesen; von dort war er geflohen und hat dann dreißig Jahre lang im Ausland gelebt, unter anderem auch in England, wo er die klassischen und die modernen Sprachen gelernt und die moralischen und wissenschaftlichen Ideen des Jahrhunderts in sich aufge nommen hat. Er wurde zum Erwecker seines Volkes, zu einem unermüd lichen Arbeiter für die Verbreitung besserer und vernünftigerer Lebens formen. Er war der erste, der sich im Geiste eine moderne Nation vorstellte; in der Sprache hat er ein stärkeres Band der Einigung erkannt, als die Reli gion es war. Er trat für religiöse Toleranz ein und propagierte die Einheit aller Slawen unbeschadet der Religionsunterschiede. Seine Autobiographie, deren erster Teil unter dem Titel >Zivot i priklucenija< (Leben und Aben teuer des Demeter Obradovich — ein Mönch, genannt Dositej), im Jahre 178 3 in Leipzig erschienen war, bezeichnete den Anfang der modernen ser bischen Literatur. Sein Ruhm wurde so groß, daß Kara-Georg, der selber ein Analphabet war, ihn zum Erzieher seiner Kinder und zum Minister für das Erziehungswesen machte, in welcher Eigenschaft er dann in Belgrad die erste Hochschule gründete. Weniger volkstümlich als Obradovic war Jovan Rajic (1726—18 0 1), der die erste moderne Geschichte der Südslawen, die >Geschichte der verschie denen slawischen Nationen, insbesondere der Bulgaren, Kroaten und Serben< (vier Bände, Wien 179 4—1795) herausgegeben hat. Als orthodoxer Priester hatte er in Kiew studiert, und in Rußland sowie in den Balkan ländern hat er umfangreiches Material sammeln können. A uf dem Berge Athos hatte er sich mit Paisii, dem Verfasser der bulgarischen Geschichte, angefreundet. Sein Versuch, die Geschichte der verschiedenen südslawischen Völker als eine geschlossene Einheit darzustellen, war von ganz besonderer 527
Bedeutung. Aber, wie die meisten Gelehrten und Priester der damaligen — und auch noch späterer Zeiten — hat er anstatt in der Umgangssprache in dem schwerfälligen Kirchenslawisch geschrieben und konnte folglich keinen direkten Einfluß auf die Erneuerung des serbischen Lebens ausüben. Der erste wirkungsvolle Anstoß erfolgte erst im neunzehnten Jahrhundert, als Vuk Stefanovic Karadzic (1787—1864), ein Schüler des slawischen Philo logen Kopitar in Wien, die Arbeit seines Lebens der Hebung der Umgangs sprache auf die Höhe einer Literatursprache widmete. Zu diesem Zwecke, und um die Schönheit der Volkssprache unter Beweis zu stellen, gab er die serbischen Volkslieder sowie Grammatiken und Wörterbücher heraus; auch vereinfachte er die Orthographie und schuf eine moderne weltliche Literatur, die sich auf den nationalen Traditionen aufbaute. Mit Recht kann man ihn als den Vater seiner Nation bezeichnen. Er hat auch den Namen und die Leistungen des serbischen Volkes bei den gebildeten Schichten des Westens bekannt gemacht. Durch sein Lebenswerk, das ohne die Einwirkung Herders und den neuen Nationalismus der Französischen Revolution un denkbar gewesen wäre, hat er die Kluft zwischen Europa und den Serben überbrückt. Bei den Tschechen, die als die westliche Bastion der slawischen Welt immer in enger Berührung mit dem Geistesleben Deutschlands und Westeuropas gelebt hatten, haben diese Einwirkungen frühere und reifere Früchte getragen.
13 Kein anderes slawisches Volk ist durch die Einwirkungen der Renaissance und der Reformation schon so früh aufgerüttelt worden wie die Tschechen. In der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts war Prag der Mittelpunkt des Humanismus und der Sitz der ersten Universität nördlich der Alpen. Hun dert Jahre später gingen von Böhmen die ersten kraftvollen Reformations wellen aus, und das Land wurde zum Schauplatz ihrer Kämpfe. Die beiden großen Religionskriege des fünfzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts haben von Böhmen ihren Ausgang genommen und hatten dort auch ihren Mittelpunkt. In geistiger wie in strategischer Hinsicht lag Böhmen im Schnittpunkt der europäischen Kräftelinien, wo die slawischen, deutschen und romanischen Einflüsse aufeinanderprallten. Die Niederlage des Prote stantismus in Böhmen im Jahre 1620 hatte die Vernichtung des protestan tischen Adels zur Folge; katholische Adlige aus vielen Ländern traten an ihre Stelle, und im Verein mit den Jesuiten, die das gesamte Erziehungs 528
wesen monopolisierten, brachten sie in Böhmen eine hohe Blüte des spa nischen und des italienischen Barocks mit seiner reichen und überschweng lichen Architektur, seiner transzendenten Gedankenwelt und seiner inter nationalen Anschauungsweise hervor. Im achtzehnten Jahrhundert trat dann das französische Rokoko an die Stelle des Barocks und gestaltete die Anschauungen und das Leben der böhmischen Aristokratie. Zum Glück für die Entwicklung eines demokratischen tschechischen Nationalismus bildete der böhmische Adel nur eine kleine Schicht reicher Magnaten und nicht, wie in Polen und Ungarn, einen großen Kreis kleiner Adliger, deren Ge sichtskreis sehr beschränkt war und der sich an überholte Vorstellungen von Stand und Tradition klammerte. Unter dem Einfluß der Aufklärung hat diese böhmische Aristokratie, deren Wurzeln in vielen Ländern lagen, im Verlaufe der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts einen Patriotismus entwickelt, der, wie in Irland und Belgien, auf der Gemeinsamkeit des historischen Territoriums beruhte, der >natio bohemica<, ohne sich dabei bewußt zu werden, daß sich diese Nation aus zwei verschiedenen ethnischen Gruppen, die sich sowohl in der Sprache wie in ihren Traditionen unterschieden, nämlich aus den Tsche chen und den Deutschen zusammensetzte. Ein deutsches Nationalbewußt sein hat es damals in Deutschland ja noch nicht gegeben, und auch der Ge danke an ein tschechisches Nationalbewußtsein lag noch in weiter Ferne. In Böhmen, das über große natürliche Reichtümer und über ein stark entwikkeltes Kulturleben verfügte, war die Entfaltung eines aufgeklärten Patrio tismus ausgeprägter als in den anderen Gebieten Mitteleuropas. In ihrem Patriotismus berief sich die böhmische Aristokratie auf die geschichtlichen Traditionen und Rechte des böhmischen Königtums als Garanten ihrer Pri vilegien gegenüber den zentralisierenden Tendenzen der Monarchie. Unter dem Patronat der Aristokratie entwickelte sich ein neues Interesse an der Geschichte des Landes und an seiner Sprache, sowie am Leben seiner Bevöl kerung. In Böhmen traf dieses Erwachen eines historischen Bewußtseins mit dem Aufstieg des Mittelstandes zusammen, da sich hier der Wandel von der agrarischen zur industriellen Gesellschaftsordnung früher als in den anderen slawischen Ländern vollzogen hatte. Dieser Wandel wurde durch die Refor men Maria Theresias und Josephs gefördert, die sich günstig auf die Vitali tät und die Struktur der Gesellschaft auswirkten. Die Verwaltung wurde durch eine neue Bürokratie, die sich aus den Reihen des Mittelstandes rekrutierte, erneuert. Diese Reform machte ein neues Erziehungssystem er forderlich, das geeignet war, das Niveau der allgemeinen Bildung zu heben und den Nachwuchs für das neue Beamtentum heranzubilden. So entstan529
den die ersten Grundlagen einer nationalen tschechischen Wiedergeburt, die ihrem Ursprünge nach weder aus Forderungen politischer Natur, wie in Ir land und Holland, noch aus einer Regeneration der Dichtung und des schöpferischen Schrifttums, wie in Deutschland, hervorgegangen ist. Die geistigen Väter dieser nationalen Wiedergeburt der Tschechen waren Histo riker, die im Geiste der humanitären Aufklärung wirkten, und Reforma toren des praktischen Lebens, denen es darum ging, die Landwirtschaft zu heben, die natürlichen Hilfsquellen des Landes nutzbar zu machen, die In dustrie und den Handel zu fördern, und schließlich die Erzieher. Bis in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hinein wurde in Böhmen der Unterricht, der von der jesuitischen Scholastik beherrscht war, in latei nischer Sprache erteilt. In den Siebzigerjahren wurde der Lehrplan moder nisiert; auf den Hochschulen wurde Deutsch als Unterrichtssprache einge führt — eine Reform, die den Erfordernissen der Praxis Genüge tun und nicht etwa einen deutschen Nationalismus fördern sollte. Maria Theresia traf eine Anordnung, wonach der Unterricht in der tschechischen Sprache eingehender gehandhabt werden sollte, um die Beamten in die Lage zu ver setzen, mit dem Volk in dessen Muttersprache zu sprechen. Zum Zwecke der Ausbildung der Beamten ist 17 7 5 in Wien ein Lehrstuhl für die tschechische Sprache und Literatur errichtet worden, und Beamtenanwärter, die beide Sprachen beherrschten, sollten bei der Vergebung von Stellen bevorzugt werden. Noch vor dem Ende des Jahrhunderts hatte sich die Lage des Bauern tums gebessert, war das Wirtschaftsleben in Bewegung gekommen und das Erziehungswesen säkularisiert worden. Die Atmosphäre der Aufklärung begünstigte den Aufstieg und die Aktivität des Mittelstandes. Von den Ländern unter der Herrschaft der Habsburger war Böhmen in geistiger und wirtschaftlicher Hinsicht das fortschrittlichste. Die Emanzipation der Protestanten unter Joseph II. hat dem Mittelstand ein neues und kräftiges Element zugeführt, ein Element, in dem die Erinnerung an die Hussiten kriege und an die Reformation noch lebendig war. Aber die erste Gene ration der >Erwecker< des tschechischen Geschichtsbewußtseins bestand aus aufgeklärten katholischen Geistlichen, aus Piaristen und Ex-Jesuiten, deren Patriotismus aus dem klassischen Humanismus und späterhin aus den Einflüssen des Westens herrührte, die sie meistens von und durch Deutsch land empfangen hatten. Auch in Deutschland nahmen damals einige her vorragende Autoren und Wissenschaftler ein starkes Interesse an der sla wischen Sprache und Geschichte. Herder hegte große Hoffnungen für die Zu kunft der Slawen, und Goethe liebte und studierte ihre Volkslieder; Schlözer, der in Rußland gelebt und gelehrt hatte, wurde zu einem der geistigen 530
Väter der slawischen Studien und zu einem ausgesprochenen Freund der Slawen. Die Sorben, ein kleiner Überrest des slawischen Volkstums in Sach sen und Brandenburg, die infolge des von deutscher Seite auf sie ausgeüb ten Druckes, und ihrer Lostrennung von den anderen Slawen scheinbar zum Verlöschen verurteilt waren, blieben durch das Interesse, welches deutsche Männer wie Georg Körner und Karl Anton an ihnen und an ihren Volks sitten nahmen, in ihrer Art erhalten. Genauso wie das irische Nationalbe wußtsein unter der Einwirkung englischer politischer Ideen und unter der Führung von Männern englischer Abkunft entstanden war, so hat auch das nationale Erwachen der Tschechen unter dem Einfluß von Kulturideen, die aus Deutschland herüberkamen, und unter der Führung von Männern deutscher Herkunft seinen Anfang genommen. Während des siebzehnten Jahrhunderts haben nur vereinzelt dastehende Männer das geschichtliche Bewußtsein der Tschechen gepflegt. Einer von diesen Männern war der böhmische Jesuit Bohuslav Baibin (16 2 1—1688), der im unkritischen Geist seiner Zeit eine böhmische Geschichte verfaßte, >Epitome rerum bohemicarum< (1677), in der er das Hussitentum und die Reformation als gefährliche Ketzerei verwarf. In seiner >Dissertatio apologetica pro lingua slavonica, praecipue bohemica< (erst 17 5 5 veröffent licht) meinte er im siebenten Kapitel, daß es »ein Fehler und ein schänd liches Vergehen sei, seinem Lande nicht helfend beizustehen oder nach einer Änderung der Sprache und der moralischen Anschauungen zu trachten«. Aber Balbins Ermahnungen trafen taube Ohren; es hat noch ein volles Jahrhundert gedauert, bevor ein ernsthaftes Interesse an der tschechischen Sprache und geschichtlichen Vergangenheit erwachte — und auch dann mei stens bei Männern deutscher Abkunft, die ihre Anteilnahme in deutscher Sprache zum Ausdruck brachten. Karl Heinrich Seibt, der 176 3 Professor an der Universität in Prag geworden war und dort 176 4 zum ersten Male in deutscher Sprache las, hat in Zusammenhang mit einer Erneuerung des Interesses an der zeitgenössischen deutschen Literatur auch das Interesse an der tschechischen Sprache erweckt. In seinem Wochenblatt >Neue Litera tun propagierte er Geliert und Gottsched, und einige Jahre später hat August Gottlieb Meißner Wieland und die Dichter des Göttinger Haines in Böhmen bekanntgemacht. 1 7 7 1 wurde Ignaz von Born, ein Anhänger von Sonnenfels und der Wiener Aufklärung, nach Böhmen versetzt, und im gleichen Jahre kehrte der Piarist Nikolaus Adaukt Voigt (17 3 3 —1787) nach einem neunjährigen Aufenthalt im protestantischen Deutschland nach Böhmen zurück. Dieser gehörte zu einer kleinen Gruppe von Männern, von denen die Piaristen Gelasius Dobner (17 19 —1790) und Franz Martin
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Pelzei (1734—18 0 1) die bekanntesten waren, die eine tiefe Liebe zur tschechi schen Sprache und Geschichte entwickelt haben, obgleich sie deutscher Her kunft waren und eine deutsche Erziehung genossen hatten, Lateinisch oder Deutsch schrieben und die tschechische Sprache erst im Verlaufe ihres spä teren Lebens lernten, wenn sie auch nur in seltenen Fällen zu einem sol chen Grade der Vollkommenheit gelangten, daß sie sie gut schreiben und sprechen konnten. Aber sie fühlten tschechisch. Sie haben ihr Leben und ihre Arbeit der tschechischen Kultur gewidmet, die für sie größtenteils noch ein historisches Problem war, welches die Wissenschaft erst klären mußte. Dobner hatte die tschechische Sprache >patria nostra lingua< genannt, und von den Slawen hat er als der >gens mea< gesprochen, und Voigt machte dem Przemysliden Ottokar II. den Vorwurf, daß er die Deutschen den Tschechen vorgezogen habe. Diese erste Generation von tschechischen Patrioten hatte den Ehrgeiz, aufgrund der tschechischen Geschichte und der kulturellen Leistungen der Tschechen den Beweis zu erbringen, daß sie den Deutschen und den west lichen Nationen ebenbürtig seien. Wie alle Patrioten des achtzehnten Jahr hunderts behaupteten auch sie nicht einen spezifischen Charakter der tsche chischen Kultur, sondern wirkten für ihre Anerkennung als gleichwertigem Partner innerhalb der universalen Kultur der Aufklärung. In den >Prager gelehrten Nachrichten< und in den Veröffentlichungen des 17 7 3 gegründe ten Wissenschaftlichen Vereins, der 178 4 zur Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften erweitert und schließlich 179 0 zur Königlichen Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften erhoben wurde, haben sie in deutscher Sprache geschrieben. Diese Gesellschaft hatte zwei Abteilungen: eine na turwissenschaftlich-mathematische und eine für vaterländische Geschichte und Sprachforschung. Innerhalb dieser zweiten Abteilung hat die Ge schichtsforschung die führende Rolle gespielt. Die Hauptaufgabe bestand darin, aus den Geschichtsquellen das Bild einer tschechischen Nation heraus zuarbeiten, ein Gefühl der Verehrung für sie zu erwecken und sie als der Liebe und der Mühewaltung aufgeklärter Männer wert darzustellen. Unter Anwendung der neuen Methoden von Mabillon besorgte Dobner eine kri tische Ausgabe der >Annales Bohemorum Wenceslai Hajek a Liboczan< (sechs Bände, 176 1/8 2), eine vielbenutzte Quellensammlung aus dem sechzehnten Jahrhundert, die voller Legenden und Fälschungen steckte. Diese Mängel hatte Dobner beseitigt und dadurch eine Grundlage für das Studium der älteren tschechischen Geschichte geschaffen. Gleichzeitig hat er die >Monumenta historica nunquam anterea edita< herausgegeben, und Voigt hat in seinen >Acta literaria Bohemiae et Moraviae< die Geschichte 532
der tschechischen Literatur wiederentdeckt. Der fruchtbarste Schriftsteller in diesem Kreise war Pelzei, dessen >Kurzgefaßte Geschichte der Böhmen< (1774) mehrere Auflagen erlebt hat. Er hat auch Balbins >Dissertatio< ver öffentlicht, und als erster Professor für Tschechisch an der Prager Universi tät hat er seine Antrittsvorlesung >Über den Nutzen und die Wichtigkeit der Böhmischen Sprache< gehalten. Wie viele seiner Zeitgenossen hegte auch er gelegentlich Zweifel an einem Fortbestand der tschechischen Sprache; er glaubte, daß ihr ein ähnliches Schicksal bevorstünde, wie jenen slawischen Sprachen, die noch vor wenigen Jahrhunderten in Brandenburg gespro chen worden waren. Doch 1 7 9 1 war sein Glauben an die tschechische Spra che schon so stark, daß er daran ging, eine Geschichte Böhmens bis zum Tode Karls IV, in tschechischer Sprache herauszugeben, die >Nova kronika ceska<. Die neue patriotische Geschichtsschreibung hat nicht nur die Ver gangenheit im kritischen Lichte des Rationalismus wiederentdeckt; sie hat auch eine Neubewertung des Hussitentums gebracht. Die Siege der Hussiten, obwohl sie gegen ein katholisches Kreuzheer erkämpft worden waren, wurden nunmehr mit Stolz vermerkt, und Hus selbst sah man als einen aufgeklärten Geistlichen, der damals schon im Geiste des achtzehnten Jahr hunderts gegen einen veralteten Aberglauben und gegen Mißbräuche ange kämpft hatte. Während diese Pioniere die Grundlagen für ein tschechisches National bewußtsein gelegt haben, haben die Reform des Erziehungswesens und der Aufstieg der unteren Stände den Wunsch nach vermehrten Veröffent lichungen in tschechischer Sprache für den Gebrauch der breiten Massen der Bevölkerung wach werden lassen. Graf Franz Joseph Kinsky (1739 bis 1805), ein hoher Offizier der österreichischen Armee, setzte sich in sei nen Erinnerungen über einen wichtigen Gegenstand von einem Böhmen< für die Anerkennung der tschechischen Sprache ein. Zehn Jahre später, im Jahre 17 8 3, hat Johann Alois Hanka zu Hankenstein die gleichen Argu mente erneut aufgegriffen und seine Empfehlung der Böhmischen Sprache und Literatur< seinem Vaterlande Mähren und dem Kaiser Joseph II. ge widmet; außerdem empfahl er dem Kaiser, daß er sich in Hinsicht auf die Tatsache, daß von Ragusa bis zur Arktis, vom Baltikum bis zur Kam tschatka slawisch gesprochen werde, zu einem König der Slawen erheben solle. Langsam nahm der Gebrauch der tschechischen Sprache zu: sie konnte sich sowohl als Bühnensprache durchsetzen als auch in der Publizistik, die an Bedeutung und Umfang zunahm und den praktischen Bedürfnissen der Zeit entgegenkam. Doch auf ästhetischem Gebiete blieb ihr Wert noch erheblich zurück; die ersten tschechischen Verse und Almanache, von Vaclav
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Tham (1785) und Antonin Jaroslav Puchmajer (1769—1820) veröffent licht, waren noch kunstlose Nachahmungen jener idyllischen Poesie, wie sie in Deutschland und in Italien einige Jahrzehnte früher in Mode gewesen war. Es verging noch fast ein halbes Jahrhundert, ehe die tschechische Lite ratur feste Wurzeln geschlagen hatte. Dieses verdankte sie der Arbeit jener drei Männer, welche die drei Übergangsgenerationen zwischen dem aufge klärten achtzehnten Jahrhundert und dem nationalistischen neunzehnten Jahrhundert repräsentieren: Josef Dobrowsky (17 5 3 —1829), Josef Jung mann (1773—1847) und Frantisek Palacky (1798—1876). Dobrowsky gehörte zur Pioniergeneration des achtzehnten Jahrhunderts. Er war in seiner Toleranz ein überzeugter Rationalist, ein aufgeklärter katho lischer Humanist, der deutsch und lateinisch schrieb und den Jungmann 18 2 3, zwar nicht ganz mit Recht, einen >slawisierenden Deutschen< nannte. Er war einer der Väter der modernen slawischen Philologie, ein Wissenschaftler mit umfangreichem Wissen und unermüdlichem Arbeitseifer; er hat wesent lich dazu beigetragen, daß Prag zum Mittelpunkt der slawischen Studien geworden ist. Unter Herders Einfluß stehend hat er die Einheit des Sla wentums und dessen künftige Größe betont. 1806 hat er mit der Heraus gabe der >Slawin< begonnen, einer Zeitschrift, die er eine >Botschaft aus Böhmen an alle slawischen Völker, oder Beiträge zur Kenntnis der Slawi schen Literatur nach allen Mundarten< genannt hat, worin er die Existenz einer viel weiter gehenden Einheitlichkeit der slawischen Sprachen voraus setzte, als sie in Wirklichkeit vorhanden war. Seine politischen Auffassun gen bewegten sich zwischen einem aufgeklärten Patriotismus und einem humanitären Kosmopolitismus, zwischen Verzweiflung an der Zukunft der Slawen und großen Hoffnungen auf ihre künftige Rolle unter den Völkern. Am 24. November 179 5 hat er an seinen Kollegen Vaclav Fortunat Durych geschrieben: »Und was könnte mir, nach Gott, teurer sein als das Vaterland? Aber ich will ebenso den Menschen anderer Länder und der ganzen Mensch heit von Nutzen sein.« In einem Briefe vom 20. Oktober 1 8 1 1 an Bartolomew Kopitar, den großen slawischen Wissenschaftler in Wien, kommen seine Zweifel zum Ausdruck: »Causa gentis nostrae, nisi Deus adjuvat, plane desperata est.« Aber in einem Briefe an den gleichen Empfänger vom 7. Mai 1 8 1 5 schrieb er, daß das neue Licht für die Menschheit von den Slawen ausgehen müsse, denn das slawische Wort >um< — welches Verstand und Gefühl, Kopf und Herz in einem ausdrücke — sei in seiner Reinheit dem deutschen Wort >Verstand< und dem französischen >esprit< weit überlegen. War dieses Vertrauen in die slawische Mission bestätigt durch den Um stand, daß Europa zwischen 1 8 1 1 und 18 1 5 den wunderbaren Aufstieg
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Rußlands erleben konnte? durch Rußlands Europa befreienden Sieg über Napoleon in den Schneebenen des Ostens? durch den Siegeszug der russi schen Armeen quer durch Deutschland hindurch bis in das Herz Frank reichs hinein? durch Rußlands jugendlichen und stattlichen Zaren, dem Idol der Wiener Gesellschaft? So wie die Deutschen, die in eine Anzahl von Einzelstaaten aufgespalten waren, sich nunmehr kraft ihrer gemeinsamen Sprache als eine einzige Nation zu betrachten anfingen, so begannen nun mehr auch die slawischen Völker, die unter die großen osteuropäischen Reiche aufgeteilt und in ihrer Isolierung schwach waren, die Sprache als ein einigendes Band für sich zu entdecken. Sollte denn nicht eine geeinte slawische Welt einer geeinten deutschen Welt gegenübertreten können? Bot nicht das mächtige Rußland seine Führerschaft an? Und lag nicht die Stärke der Slawen im Interesse der Menschheit? In der romantischen Atmo sphäre jener Zeit wurden Philologie und Vorgeschichte, Geschichtsfor schung und metaphysische Spekulation herangezogen, um die moralische Überlegenheit und damit auch die Rechtmäßigkeit der künftigen Mission der Slawen mit ihrer friedfertigen Veranlagung und Abneigung gegen Gewalt, mit ihrer tiefen und allesumfassenden seelischen Veranlagung, mit ihrer relativen Jugend zu beweisen, zu einem Zeitpunkt, in dem die >älteren< europäischen Rassen ihr Werk, in das nunmehr die Slawen als Erben einzu treten hätten, vollbracht zu haben schienen. Noch dachte man nicht an eine Einheit der politischen Aktion, die Betonung lag auf der geistigen und der kulturellen Einheit. Durch eine literarische Einheit aller slawischen Völker und Dialekte würde die Verwirklichung von Herders Humanitätsidealen garantiert werden. Wenn sich die Slawen einen könnten und davon ablie ßen, ständig andere Völker nachzuahmen, dann würden sich die Spannun gen und Konflikte der verschiedenen Kulturen in einer neuen und endgül tigen Harmonie auflösen. Dobrowskys Nüchternheit hat es ihm niemals gestattet, sich in weitschweifigen Vorstellungen zu ergehen, aber die beiden protestantischen Slowaken Pavel Josef Safarik (1795—18 6 1) und Jan Kol lar (179 3—1852) wurden die ersten literarischen Vorkämpfer für einen Panslawismus, der alle politischen Spaltungen und religiösen Unterschiede überbrücken sollte. Hus, der slawische Herold der Reformation, Johann von Nepomuk, der katholische Heilige der tschechischen Gegenreformation, und Kyrill, der griechisch-orthodoxe Apostel der Slawen, hatten alle glei chen Anteil an der Mission der slawischen Rasse. A uf eine etwas realistischere A rt hat Jungmann das Werk Dobrowskys fortgesetzt. Er war der Sohn eines armen tschechischen Bauern und Dorf schusters und ist zum eigentlichen Schöpfer der modernen tschechischen
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Sprache geworden. Seine tschechische Grammatik, seine Geschichte der tschechischen Literatur und besonders sein deutsch-tschechisches Wörterbuch bilden die Grundpfeiler der Renaissance der tschechischen Literatur. Er schrieb in seiner tschechischen Muttersprache und hat sie zu vollem Leben erweckt. In einem Aufsatz >Über die tschechische Sprache< (1803) hat er die Sprache zum höchsten Kriterium der Nationalität erhoben. Nationen — so verkündete er — leben in ihren Sprachen; so viele Sprachen es gibt, so viele Vaterländer gibt es auch. Aus diesem Geist heraus erklärte er, daß eine gute Erziehung sich nur in der Muttersprache durchführen ließe — eine Idee, die der früheren Generation der Patrioten noch phantastisch erschienen wäre. Er behauptete auch, daß sich die tschechische Sprache die Herzen der ge bildeten Menschen erobern werde, wenn es nur erst eine lesenswerte Lite ratur in dieser Sprache gäbe. Jungmann hat es sich zur Lebensaufgabe ge macht, diese Literatur zu schaffen. Außer seinen wissenschaftlichen Arbei ten verfaßte er noch umfangreiche Übersetzungen aus dem Englischen (un ter anderem Miltons >Paradise Lost<), aus dem Französischen und dem Deutschen. Seit 18 2 5 begann sich ein neues tschechisches literarisches Le ben zu entfalten. Was noch wenige Jahre vorher als ein aussichtsloses Un terfangen erschienen wäre, stand jetzt vor seiner Verwirklichung: die Er weckung der schlummernden tschechischen Nation. Dazu bedurfte es der Bewußtheit eines ausgeprägten Charakters und einer bestimmten Mission. Diese Bewußtheit hat dem tschechischen Volk ein Historiker geschenkt, der durch diese Tat, wie Masaryk sagte, zum Vater der Nation geworden ist. Palackys Deutung der tschechischen Geschichte erhob die Vergangen heit zu neuer Würde und rechtfertigte den Kampf der Tschechen um ihre nationale Wiedergeburt. Durch seine Interpretation der Vergangenheit stellte er den tschechischen Nationalismus auf eine sichere Grundlage im Sinne der liberalen Traditionen des Westens, indem er die Tschechen von den Deutschen, in deren Mitte sie lebten, schied und sie in einen Gegensatz zu diesen stellte. Palacky machte das gesamte tschechische Volk zum Trä ger der tschechischen Idee. Selber ein Protestant und Abkömmling der Böh mischen Brüder, fand er in der tschechischen Reformation von Hus bis hin zu den Böhmischen Brüdern den Höhepunkt und den Sinn der tschechi schen Geschichte und gleichzeitig die Erfüllung des ursprünglichen slawi schen Wesens in der Neuzeit. Wie Herder hielt auch er die Slawen für einen Menschenschlag, der dem Ideale Rousseaus nahe kommt: fromm, friedfertig, naturverbunden, Bauern und Hirten. Sie lebten in einem demo kratischen Geist der Gleichberechtigung, aber innerhalb ihrer Gemeinwe sen neigten sie zu Anarchie, wodurch sie zu einer leichten Beute der stärke-
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ren Nachbarn wurden, die es, wie die Deutschen, die eine kriegerische und wohlorganisierte Gruppe unter guter Führung waren, auf Eroberung und Ausbeutung der Arbeit der Unterlegenen abgesehen hatten. Dieses Bild, dessen Wurzeln in der Rousseauschen und Herderschen Überlieferung des achtzehnten Jahrhunderts ruhten, war im neunzehnten Jahrhundert das gleiche bei den russischen Slawophilen, bei den polnischen Messianisten und bei Palacky; aber er allein hat daraus Folgerungen gezogen, die die Tschechen nicht in Gegensatz zum westlichen Liberalismus stellten, sondern sie sogar zu dessen Vorkämpfer machten. Nach Palackys Deutung sind die Tschechen in den Hussitenkriegen die Vorkämpfer der gesamten Mensch heit in einem geistigen Kampf gegen die obrigkeitliche Autorität und ge gen die Hierarchie für die Gleichberechtigung der Menschen und die Gewis sensfreiheit gewesen. In den Hussiten hat er nicht nur den Anfang der Re formation gesehen, sondern auch die Saat, aus der später der Liberalismus hervorgegangen ist, die Vorläufer der puritanischen Revolution, die ihrer seits dann wieder der Herold der Amerikanischen und der Französischen Re volution gewesen ist. Die Tschechen hatten den Kampf um die Befreiung des menschlichen Geistes zu früh begonnen; es war ihnen nicht vergönnt ge wesen, die Früchte der Saat, die sie ausgestreut hatten, selber zu ernten; aber wenn sie nunmehr durch die westliche Aufklärung zu neuem Leben erweckt wurden, so war das eigentlich nur eine Wiedererweckung der tiefsten nationalen tschechischen Traditionen, und die Tschechen würden ihren Platz an der Seite der fortschrittlichen Nationen des Westens einnehmen. Durch diese Geschichtsinterpretation wurden die Tschechen zum östlichen Vor posten des liberalen Westens, anstatt der westliche Vorposten des östlichen Slawentums zu sein. Dobrowsky hatte 179 2 eine Reise nach Rußland un ternommen und war so der erste Böhme, der die Pilgerfahrt zu dem großen slawischen Bruder angetreten hat; der Eindruck, den er auf dieser Reise ge wonnen hatte, war der gleiche, den auch hundert Jahre später Masaryk empfangen hat, daß nämlich Rußland wegen seiner »entsetzlichen Sklave rei« derart rückständig sei, daß auf lange Zeiten hinaus von dort kein menschlicher Fortschritt zu erwarten sei. Durch diesen aufgeklärten Huma nismus und durch ihre Deutung der Hussitenkriege haben die >Erwecker< der Tschechen ihre Nation an die liberalen Traditionen des Westens gebun den.
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England und Rußland bilden nicht nur den westlichen beziehungsweise den östlichen Vorposten Europas; in ihren politischen Ideen und in ihrer sozia len Struktur stellen sie auch die beiden entgegengesetzten Pole einer Ent wicklung dar. England ist die klassische Heimat der Freiheit und des Indi vidualismus gewesen, und diese beiden Elemente waren in Rußland un bekannt. Dort war der Fürst der alleinige Eigentümer des Landes, und alle Menschen ohne Unterschied waren ihm untertan und dem Staate, der mit dem Fürsten identisch und Alles in Allem war, zu Zwangsdiensten verpflichtet. Es hat nicht wie im Abendland eine Aristokratie oder ein Bür gertum mit gesicherten Rechten gegeben, alle waren demütige Diener des Fürsten, und der Bauer war der Knecht des Adligen, seinen Launen und jeder Erniedrigung preisgegeben. Aber trotz der vielen grundlegenden Un terschiede ähnelten sich diese beiden Nationen in der ungeheuren Vitalität, die ihre Entwicklung vom siebzehnten Jahrhundert an bewiesen hat, in der Lebenskraft, die es dem russischen Volk ermöglicht hat, die langen Perio den gänzlich unzulänglicher und korrupter Herrschaft zu überleben und in ihrer Duldung härter zu werden. Die grandiosen Expansionspläne der rus sischen Zaren wurden durch die passive Bereitschaft des Volkes, alle Opfer zu tragen, unterstützt. Ihre territorialen Ansprüche wurden durch ein zwar unbewußtes, aber doch vernehmbares nationales Missionsgefühl sanktio niert, nämlich durch den Ruf der orthodoxen Kirche, die mit dem Christen tum schlechthin identifiziert wurde, und des Ostreiches, die beide nach By zanz und weit in das abtrünnige Europa und in das ungläubige Asien hin ein wiesen. Immer haben die Russen ein großes Vertrauen auf ihre Stärke und Überlegenheit gegenüber der Außenwelt an den Tag gelegt. Das Russische Reich hat riesige Territorien, die ihm rassisch und kultu rell völlig fremd waren, erobert und in einen zentralistischen Despotismus eingeschmolzen, der mächtiger schien als je ein anderer in der Geschichte. Das spätere russische Reich unterschied sich von dem liberalen und toleran ten Britischen Reich grundlegend durch seine Tendenz, seinen Herrschafts bereichen eine Uniformität aufzuzwingen, sie zu russifizieren beziehungs weise später sie kommunistisch zu machen, ohne ihnen Möglichkeiten zu einer spontanen Entwicklung zu belassen. Im siebzehnten Jahrhundert drangen russische Pioniere durch die endlosen Ebenen Nordasiens bis zu den Toren Chinas vor; zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts wurde der nördliche Seeweg durch die Arktis erforscht, das südliche Kamtschatka er reicht, der Kontakt mit Japan hergestellt und die Kolonisation Nordwest-
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amerikas, wohin Vitus Behring im Jahre 174 0 vorgedrungen war, eingelei tet. Während Rußland sich in östlicher Richtung auf dem Erdball vorar beitete, beanspruchte und erhielt es auch zum größten Teil im Westen das Erbe Schwedens, Polens und der Türkei, wodurch es sich den Zugang nach Europa eröffnete. Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts drohte zum ersten Male der noch unbekannte und mysteriöse russische Koloß an der östlichen Schwelle Europas. In der Mitte des Jahrhunderts drangen seine Heere nach Mitteleuropa vor, und am Ende des Jahrhunderts konnte der russische General Suworow durch Italien und die Schweiz marschieren. Im Verlaufe eines Jahrhunderts war Rußland, dessen Macht am Ural, im Altai und im Kaukasus fest errichtet war, zu einer europäischen Großmacht ge worden. Dieser Aufstieg Rußlands war das Verdienst Peters des Großen (1689 bis 172 5). Der Lebensrhythmus am russischen Hofe war vor seinen Tagen der einer orientalischen Theokratie mit all ihrer formalistischen Monotonie gewesen; die Geistlichkeit hatte einen sehr starken Einfluß, und die Frauen waren vom Staatsleben ausgeschlossen. Nach Peter aber begannen die Frauen eine ganz andere Rolle zu spielen, die Theokratie wurde in eine Militärbürokratie umgewandelt, an die Stelle der geistlichen Robe trat die militärische Uniform. Die Verweltlichung des Lebens, die in Europa im vierzehnten Jahrhundert eingesetzt hatte, hat Rußland, das von der euro päischen Scholastik, Renaissance und Reformation kaum berührt wurde, erst vier Jahrhunderte später erreicht. Die sogenannte Reform, die während des siebzehnten Jahrhunderts in Rußland stattgefunden hatte, hat das Dogma und das Gedankengut nicht berührt; sie war lediglich ein Versuch gewesen, Einzelheiten von untergeordneter Bedeutung im Ritus und in den Texten zu verbessern. Und trotzdem führte diese sogenannte Reform zu einem er bitterten Kampf und schließlich zu einem bleibenden Schisma. Einige der >Altgläubigen< stellten sich gegen die >Neuerungen<, die sie für eine w e st liche Korruption hielten, während andere Sekten, die geistigere Züge auf wiesen, die Einflüsse protestantischen Gedankenguts zeigten. Aber der ganze Konflikt bewies nur, wie fremd Rußland Europa gegenüberstand. Peters Reformen waren in der Anlage sehr umfassend, aber in der Wir kung nicht sehr tiefgehend. Sie waren der erste Versuch, ein rückständiges Land auf das Niveau der modernen Zivilisation zu heben. Mit der Aus breitung des Nationalismus ist dieser Versuch in vielen Ländern des Ostens und Lateinamerikas wiederholt worden, und zwar oft von Männern, deren Persönlichkeiten, Absichten und Methoden der A rt Peters des Großen sehr ähnlich waren. Aber im zwanzigsten Jahrhundert mit seinen modernen
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Erziehungs- und Verwaltungseinrichtungen konnten die Reformen mit einer ganz anderen Tiefenwirkung durchgeführt werden, als dieses im frühen achtzehnten Jahrhundert möglich gewesen war. Peters Reformen waren in erster Linie durch militärische Bedürfnisse bestimmt (die meiste Zeit seiner Regierung hat der Zar mit der Vorbereitung und Durchführung von Krie gen zugebracht), durch den Wunsch, Rußland zu einer starken Militär macht zu erheben und es dadurch in die Lage zu versetzen, sowohl seine Rechte gegenüber Europa zu wahren als auch sich auszudehnen und ande ren Staaten seinen Willen aufzuzwingen. Von Europa hoffte Peter das äu ßerliche Rüstzeug zu gewinnen. Er ist immer mißtrauisch gegenüber Eu ropa geblieben, er fürchtete dessen Absichten und dessen Verachtung Ruß lands, sowie den Wunsch der europäischen Staaten, die militärischen Fort schritte Rußlands zu unterbinden. Er wollte sich Europas praktische Er fahrungen und technische Geschicklichkeit zunutze machen, nicht aber des sen Ideen von der Freiheit und Menschenwürde, und sein einziges Ziel war die Festigung der russischen Macht. Da ständig Kriege zu drohen schienen und die Zeit drängte, mußten seine Reformen schnell zu greifbaren Ergeb nissen führen, und diese konnten natürlich nur mit einem großen Kosten aufwand und mit manchen Notbehelfen erreicht werden. Das Ziel der Re formen war nicht die Schaffung einer neuen Moral, sondern Rußland mit den erforderlichen Machtmitteln zu verstehen, damit es eine führende Rolle im internationalen Spiel der Kräfte übernehmen könne. Peters Größe lag darin, daß er erkannt hat, daß diese Mittel nicht in Polen, dem früheren Mittler zwischen Europa und Rußland, zu finden seien, sondern in Holland und im protestantischen Nordeuropa gesucht werden müssen, und daß die erste Voraussetzung für die Erreichung seiner Ziele eine allgemeine Hebung der Produktivität seines Volkes war. Er hat ein richtiges Empfinden dafür gehabt, daß er mehr tun mußte, als nur die west liche Technik in Rußland einzuführen, daß er das russische Leben umge stalten mußte, daß er es zu einer neuen Initiative und Aktivität, zu Verantwortungs- und Persönlichkeitsbewußtsein, kurzum zu einem echten Staatsbürgertum hinführen mußte. Er wollte sein Volk dazu erziehen, zwi schen der Person des Zaren und dem Staate zu unterscheiden; er wollte die Menschen aus den Fesseln des schrankenlosen Despotismus befreien und sie zur freien und willigen Anteilnahme am Dienste für das allgemeine Wohl erziehen. Aber dieses Ziel hat er nicht erreichen können, und er hatte es auch selber nicht ganz klar erkannt. Rußland war noch in keiner Weise hierfür bereit, und ihn drängte die Zeit. Es hat einige Männer gegeben, welche die Notwendigkeit von Reformen eingesehen haben, aber auch diese 540
waren der Ansicht, daß die traditionelle russische Lebensform erhalten blei ben könne. Eine bemerkenswerte Erscheinung unter diesen Männern war der Handwerker und Kaufmann Iwan Tichonowitsch Pososchkow (ca. 1662 bis 172 5), ein Autodidakt und weitsichtiger Mensch, der in seinem Buche >Kniga o skudosti i bogatstwe< (Buch über Armut und Reichtum), das er anscheinend ohne ausländische Anregungen verfaßt hat, durchaus moderne Vorschläge zur Förderung des Bauerntums und zur Errichtung einer gesetz lichen Ordnung gemacht hat. Er war einer der wenigen, die selbständig zu denken vermochten. Aber Peter hat von seinen Vorschlägen keinen Gebrauch gemacht; als typischer Despot hatte er keinen Sinn für die Bedeutung der öffentlichen Meinung. Seine Vorstellung von Reformen war rein mechani stisch. Angesichts der Rückständigkeit der Bevölkerung zwang er dieser seine Reformen auf und führte sie rücksichtslos durch, ohne beim Publikum auf Unterstützung oder auch nur geringstes Verständnis zu stoßen, auch nicht bei seinen engsten Mitarbeitern, die die Reformen nur deswegen un terstützten, weil sie ihnen gute Stellungen einbrachten. »Peter selbst hat seinem Lande aus ganzem Herzen gedient; aber seine Helfer verstanden das Wort >Dienst< nicht notwendigerweise als Dienst an Rußland, denn die Vaterlandsidee war noch nicht in den Bereich ihres Denkens eingedrungen und hatte auf die Entwicklung eines staatlichen Bewußtseins noch keinen Einfluß ausgeübt — selbst diejenigen, die dem Throne am nächsten standen, waren bewußt nur Untertanen des Zaren und des Hofes und waren kaum dazu geeignet, als aktive Repräsentanten seines Reformprogrammes in Er scheinung zu treten. So sehr er sich auch darum bemühen mochte, seine Helfer als seine Mitarbeiter anzusehen, so hat ihn das Ergebnis doch nur immer mehr in ein Gefühl der autokratischen Isoliertheit hineingesteigert und ihm schließlich keinen anderen Ausweg mehr gelassen, als jene kräftig durchzuprügeln.« So hat Peter einen Staat geschaffen, der seine Untertanen »in eine Atmosphäre der Gewaltherrschaft, der Nichtachtung des Rechtes und der Person und eines abgestumpften Moralsinnes« zurückstieß; und wenn auch die russische Intelligenz im Verlaufe des neunzehnten Jahrhun derts sich dieses Erbes aus der Zeit Peters des Großen entledigen konnte, unter den Massen der Bevölkerung ist es auch noch während des zwanzig sten Jahrhunderts lebendig gebieben. Peters reformatorischer Eifer, sein rücksichtsloser Despotismus und die Trägheit, die er immer wieder zu überwinden hatte, trieben ihn dazu, Ge walt und Reglementierung in einem Maße anzuwenden, durch das nicht nur Rußland Europa gegenüber noch mehr entfremdet wurde, sondern auch der tiefere Zweck der ganzen Sache — den Peter, wenn auch nicht
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bewußt so doch gefühlsmäßig als die Hauptsache empfunden hat —, nämlich die Russen zu patriotischem Verantwortungsbewußtsein und zu einer hu manen Geisteshaltung zu erziehen, weit verfehlt wurde. Er regelte alles; das Individuum, das menschliche Wesen zählte nicht. »Selbst wenn seine Handlungen als Wohltaten beabsichtigt waren, so wurden sie doch von ab stoßenden Machtäußerungen begleitet, denn seine Reformen waren ein drei facher Kampf zwischen Despotismus, einem Volk, und den Instinkten eines Volkes; in diesem Kampf hat er seine Macht als Drohmittel gebraucht. Er war ständig darum bemüht, eine Gemeinschaft von Sklaven zu eigenver antwortlicher Handlung zu erziehen und den Adel, der der Aufseher dieser Sklavengemeinde war, zu einem Vermittler des europäischen Wissens und der Aufklärung zu machen: die Erfüllung dieser beiden Postulate hielt er für unerläßlich, bevor das Volk als Ganzes selbständig handeln könne und seine Sklaven zu freier und selbständiger Tätigkeit übergehen konnten.« So haben weder Peter noch das amtliche Rußland bis auf den heutigen Tag — eine Lösung gefunden für das Problem eines Nebeneinanderbestehens von Ordnung und Freiheit, ein Zustand, für den England das Vorbild abgege ben hat. Die Russen sahen nur die Alternative: Ordnung oder Anarchie. Mit Ausnahme einer kleinen Gruppe von Menschen, die wirklich im Geiste des Westens aufgegangen waren, hegten alle Russen die Befürchtung, daß der europäische Liberalismus und Individualismus zum Chaos führen müsse. Wohl bezeichneten Peters Reformen einen Wendepunkt in der rus sischen Geschichte, aber ihr Wert ist zwei Jahrhunderte lang diskutiert und angezweifelt worden. Viele haben in Peter den Antichrist gesehen, der Rußlands christliche Grundlagen zerstört und es den destruktiven Einflüs sen des unchristlichen Europa geöffnet habe; andere wieder haben in ihm ein Idol, den Vater eines besseren Rußland gesehen. Aber selbst von sei nen Nachahmern haben einige bis auf den heutigen Tag, während sie seine Reglementierungs- und Zwangsmethoden anwenden und sogar noch über treffen, die Europäisierung Rußlands auf die äußerlichen Dinge beschränkt, während sie den Kern in seinem alten Zustand belassen haben. Um den Neuanfang deutlich zu bezeichnen, hat Peter seine Hauptstadt vom historischen Moskau, in dem sich das Heilige Rußland repräsentierte, nach St. Petersburg verlegt; der Bau dieser Stadt war im Marschland an der Russischen Grenze 170 3 in Angriff genommen worden; sie hatte kei nerlei Verbindungen mit der russischen Tradition und war so das Wahr zeichen eines säkularisierten Rußlands. Um den Säkularisierungsprozeß noch zu beschleunigen, reformierte Peter den Kalender, führte ein verein fachtes Alphabet ein und setzte an die Stelle des kirchenliterarischen Stiles
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eine einfachere, dem Leben näherstehende Ausdrucksweise; schließlich hat er auch selber mit der Herausgabe der ersten Zeitung begonnen. Das erste im neuen Stile gedruckte Buch war bezeichnenderweise ein kleines Handbuch über Geometrie und Vermessungskunde (1708), dem ein aus dem Deut schen übersetzter Vollständiger Briefsteller< sowie >Ein ehrsamer Spiegel für die Jugend oder Führer zum guten Betragen< folgten. Viele Ausländer, insbesondere Techniker, wurden nach Rußland gerufen, und Russen wur den zum Studium ins Ausland geschickt. Aber diese Studenten zogen gänz lich unvorbereitet hinaus und brachten schließlich mehr ausländische Un sitten als gründliche Kenntnisse zurück. Peters Bemühungen haben nur er reicht, daß Rußland mit einem äußerlichen Firnis überzogen wurde; aber sie haben im russischen Leben einen Gärungsstoff hinterlassen. Peters Werk ist von Katharina II. (1762—1796) fortgesetzt worden. Die Zarin war eine deutsche Prinzessin und eine Anhängerin der französischen Aufklärung. Sie wetteiferte mit Friedrich II. um die Freundschaft der Phi losophen, um die Bewunderung Europas und um die Anerkennung ihrer literarischen Leistungen. Deutsche Instruktoren bauten während des acht zehnten Jahrhunderts die russische Armee und Verwaltung auf, und fran zösische Einflüsse gestalteten maßgeblich das geistige Leben, insbesondere am Hofe. Für jede Art von Fortschritt waren Ausländer unerläßlich. Als Schuwalow 17 5 5 die erste russische Universität in Moskau gründete, konnte nur eine sehr geringe Zahl von Studenten zugelassen werden, weil den meisten Bewerbern alle Voraussetzungen zum Studium fehlten, und die meisten Professoren aus Deutschland herbeigeholt werden mußten. Ein Be schluß der Kaiserlichen Akademie in Petersburg aus dem Jahre 17 4 7 , wo nach die Hälfte ihrer Mitglieder Russen sein sollten, erwies sich als undurch führbar. Und doch haben sich die Russen in ihrem Selbstvertrauen über die Ausländer geärgert; erst gegen Ende des Jahrhunderts waren russische Schriftsteller und Wissenschaftler so weit, daß sie deren Arbeit fortführen konnten. Eine typische Gestalt aus der Zeit der Reformen Peters des Großen war Wasilij Nikolajewitsch Tatischtschew (1686—1756). Er war Offizier, Ver waltungsbeamter, Bergbauingenieur, Naturwissenschaftler und Geograph und hat auch eine Sammlung von russischen Gesetzen angelegt; schließ lich war er noch der Verfasser einer Geschichte Rußlands, mit der er den Zweck verfolgte, Rußlands Größe und Leistungen gegenüber dem Vorwurf der Barbarei und der Rückständigkeit zu beweisen. Der größte russische Gelehrte des Jahrhunderts, Michael WasiljewitschLomonosow ( 17 12 —176 5), trug noch deutlicher das Selbstvertrauen des emporstrebenden Rußland zur
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Schau. Er war der Sohn eines Bauern aus Archangelsk, hatte zuerst ein orthodoxes Seminar besucht und war dann später im Ausland gewesen. Puschkin hat ihn einmal »die erste russische Universität« genannt; er war ein self-made man, der sich mit exemplarischem Eifer auf vielen Gebieten betätigte. Obwohl es ihn seiner Veranlagung nach zu den Naturwissen schaften hinzog, hat er doch der russischen Sprache seinen unauslöschlichen Stempel aufgeprägt, indem er sie durch seine Grammatik (1755) zu einem Instrument machte, vermittels dessen sich auch moderne Gedanken und Empfindungen ausdrücken ließen. Seine gesamte Arbeit war vom Stolz auf das Russentum erfüllt, und viele seiner Handlungen richteten sich gegen das Wirken der ausländischen Wissenschaftler in Rußland — insbesondere gegen Gerhard Friedrich Müller (1705—178 3), der durch seine >Sammlung russischer Geschichte« und durch seine Pionierarbeit in den russischen A r chiven der russischen Geschichtsschreibung unschätzbare Dienste erwies. Lomonosow selber hat seine russische Geschichte geschrieben, um »die glor reichen Taten unserer Herrscher« aufzuzeigen, damit jeder »in den alten slawischen Sagas Taten finden möge, die genau so groß sind wie die der alten Griechen und Römer, und damit sich Rußland niemals mehr demü tigen zu lassen brauche«. In der Widmung seiner russischen Grammatik hat er folgende Worte geschrieben: »Der Römische Kaiser Karl V. hat ein mal gesagt, man solle Spanisch sprechen, wenn man Gott anrufe, Franzö sisch im Umgang mit Freunden, Deutsch bei Verhandlungen mit Feinden und Italienisch bei der Unterhaltung mit einer Frau. Doch wenn er die rus sische Sprache gekannt hätte, dann hätte er ohne Zweifel gesagt, daß man sich ihrer bei jeder dieser Gelegenheiten bedienen könne. In ihr hätte er die Erhabenheit des Spanischen, die Grazie des Französischen, die Stärke des Deutschen, die Zartheit des Italienischen neben dem Reichtum und der Klar heit des Spanischen finden können. Ich bin mir dessen ganz gewiß, denn ich bediene mich nun schon seit langer Zeit der russischen Sprache. Wenn es etwas gibt, was wir nicht in ihr auszudrücken vermögen, so liegt das bestimmt nicht an ihrer Armut, sondern an unserer Unkenntnis.« Er for derte die russische Jugend auf, die russische Literatur fleißig zu studieren und sie zu bereichern, auf daß Rußland seinen eigenen Plato und seinen eigenen Newton erhalte, zu Ruhm gelangen möge und seine unermeßli chen, noch ungenutzten natürlichen Hilfsquellen ausbeuten könne. Das Rußland des achtzehnten Jahrhunderts hat Peters Hoffnungen auf eine Steigerung der Produktivität und Hebung des Lebensstandards der Massen nicht erfüllt; die Ausbeutung durch den Staat und die auf dem Volke ruhenden Lasten nahmen immer mehr zu. Nur der Adel wurde im
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Verlaufe des Jahrhunderts befreit und konnte in den Genuß eines gewissen Maßes von unabhängigen Rechten gelangen. Der Staat entwickelte sich von einem rein orientalischen Patriarchalstaat zu einem Adelsstaat im Stile des achtzehnten Jahrhunderts. Katharina führte in Rußland die Sprache des aufgeklärten Patriotismus jener Zeit ein. Aber die russische Wirklichkeit sah doch ganz anders aus. Die Leibeigenschaft erreichte ihren Höhepunkt, die Bauern verloren auch noch den letzten Rest rechtlichen Schutzes; weder das Finanzsystem noch die nationale Wirtschaft waren irgendwie in der Lage, eine moderne Verwaltung mit ihren großen Ambitionen zu tragen. Doch war während dieser Jahre eine Schicht von gebildeten Russen mit Europa in engere Berührung gekommen. Die Literatur befaßte sich noch mit der Verherrlichung der Größe Rußlands — Michael Matwejewitsch Cheraskow (17 3 3 —1807) hat lange patriotische Epen verfaßt, wie zum Beispiel >Vladimir< und >Rossiada< (1779), worin er den Sieg Iwans IV. über die Mohammedaner und damit auch die Kriege gegen die Türken zur Befreiung der Balkanslawen verherrlichte — und verspottete die oberflächlichen Nach ahmer ausländischer Sitten; besonders das neue russische Theater, das sich sehr schnell durchsetzen konnte, war auf diesem Gebiete führend. Aber in dieser Periode wurden auch schon von privater Seite aus die ersten Ver suche unternommen, einen echten Patriotismus im Sinne des Zeitgeistes ins Leben zu rufen. Nikolai Iwanowitsch Nowikow (1744—18 18 ) gründete eine Reihe von Zeitschriften, in denen an der Regierung Kritik geübt und die Forderung nach Reformen erhoben wurde. 178 2 begann er mit dem Druck und der Herausgabe von Büchern unter modernen Gesichtspunkten. A uf seine Anregung hin wurden in vielen Städten Bücherstuben eingerichtet; er hat auch dafür gesorgt, daß wissenschaftliche Bücher ins Russische über setzt wurden. Unterhaltungszeitschriften, darunter auch die erste Jugend zeitschrift, propagierten die Ideen der aufgeklärten Moral und lenkten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Notwendigkeit der Einrichtung von Elementarschulen hin. In den fünf Jahren zwischen 178 6 und 179 0 er lebte das russische Schrifttum einen großen Aufschwung; in jedem dieser Jahre wurden 366 Bücher veröffentlicht, während zwischen 1 7 7 1 und 17 7 5 nur 12 6 und zwischen 1 7 5 1 und 1760 nur 23 Bücher jährlich erschienen waren. Katharina hat zum ersten Male den Betrieb von privaten Drucke reien gestattet, und die öffentliche Meinung konnte sich nunmehr Gehör ver schaffen. Der typischste Vertreter der jungen Intelligenz, Alexander Nikolajewitsch Radischtschew (1749—1802), wurde von der Kaiserin auf die Leip ziger Universität geschickt, um dort als Beamter ausgebildet zu werden. Er lernte dort die Schriftsteller jener Zeit, besonders Rousseau und Mably,
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kennen. In seiner Ode >Volnost< (Freiheit) hat er Cromwell und Washington verherrlicht, und in seiner berühmten >Puteschestwije is Peterburga w Moskwu< (Reise von Petersburg nach Moskau) setzte er sich in beredter Weise für die Befreiung der Leibeigenen und für die Einrichtung eines kon stitutionellen Regimes ein. Dieses Buch war im Jahre 179 0 erschienen; aber damals wechselte Katharina ihren bisherigen Kurs, denn die Französische Revolution hatte Befürchtungen in ihr erweckt, die sie veranlaßten, sich der Verteidigung der bestehenden Ordnung zuzuwenden. Seine Behauptung, daß eben diese >Ordnung< nichts anderes sei als eine abgrundtiefe und ge fährliche Unordnung, mußte Radischtschew mit Verbannung nach Sibirien bezahlen. Die kurze Zeit der relativen Freiheit fand ein plötzliches Ende. Nowikow wurde ins Gefängnis geworfen, die Emanzipation der Leibeige nen wurde um siebzig Jahre verschoben, und viele Stimmen begannen das Lob des alten Rußland zu singen. Katharina hatte immer behauptet, daß Rußland Europa gleichwertig und nicht schlechter als dieses sei. Aber sollte in Wirklichkeit denn Rußland nicht besser sein als Europa? Katharina selbst, die während ihrer letzten Jahre durch ihre griechischen Pläne und durch die polnischen Teilungen immer mehr in das Fahrwasser der traditionellen nationalen russischen Aspirationen geraten war, entwickelte ein Interesse an der russischen Ge schichte und an den alten Chroniken. Russische Amateurhistoriker, wie der Fürst Michael M. Schtscherbatow (17 3 3 —1790), idealisierten die Zeiten vor Peter als eine Zeit, in der Tugend und Unschuld geherrscht hätten, während sie die Aufklärung als eine Untergrabung der Religion und damit der Moral und der Tugend darstellten. Der General Iwan N. Boltin (17 35 —1792) ging noch weiter; er behauptete, daß die Russen zwar nicht besser und nicht schlechter als die Europäer, aber eben anders als jene seien — wobei die Unterschiede sowohl in geographischen und klimatischen Faktoren als auch in den verschiedenen geistigen Traditionen begründet seien. Die al ten patriarchalischen Lebensformen bezeichnete er als gut, weil sie dem Charakter der russischen Landschaft und des russischen Volkes am besten entsprächen. Daher seien auch alle rationalen Reformen nach ausländischen Vorbildern wider die Natur der Dinge gewesen: Reformen müßten lang sam wachsen und sich entwickeln und dürften nicht einfach von einem Re formator befohlen werden. Er protestierte gegen ein Allzuviel an Reform gesetzgebung, denn durch Gesetze könne man keine neue Moral und keine neuen Sitten erzwingen — es müsse im Gegenteil so sein, daß man sich durch neue Gesetze dem langsamen Wandel der Gebräuche und Anschau ungen anpasse. 546
Ein typisches Beispiel für diesen um die Jahrhundertwende eingetretenen Wandel vom liberalen Kosmopolitismus zu einem engherzigen Nationalis mus war Nikolai Michailowitsch Karamsin (1765—1826). Die russische Li teratur verdankt ihm sehr viel, und er kann als der Schöpfer des modernen russischen Literaturstiles unter französischem Einfluß angesprochen werden. Aber die Auslandsreisen, die er während der Jahre 1789 und 179 0 unter nahm und über die er in seinen >Pisma russkogo puteschestwennika< (Briefe eines russischen Reisenden) berichtete, hatten in ihm die Überzeu gung hervorgerufen, daß Rußland Europa überlegen sei. 1803 ist er zum offiziellen russischen Historiographen ernannt worden, und in dieser Eigen schaft hat er die >Istorija gosudarstwa rossijskogo< (Geschichte des Russi schen Staates) verfaßt, von der er bis zu seinem Tode zwölf Bände fertig stellen konnte. Dieses Werk, in einem interessanten und eleganten Stil ge schrieben, wurde in weiten Kreisen gelesen und hat mehr als irgendein anderes Buch dazu beigetragen, die Russen mit ihrer Geschichte vertraut zu machen und sie mit Stolz auf ihr Regime und auf seine alten Traditio nen zu erfüllen. Karamsin verherrlichte die Autokratie und die russische Vergangenheit. Rußlands Größe sah er nicht in Peter dem Großen, sondern in Iwan dem Schrecklichen verkörpert. Gegen Peter erhob er den Vorwurf, daß er das moralische Leben und die Kontinuität des russischen Volkes un terbrochen habe, wodurch die Russen zwar zu Weltbürgern geworden seien, aber zugleich auch aufgehört hätten, Russen zu sein. »Das Leben jedes ein zelnen Individuums ist aber aufs engste mit seinem Vaterland verbunden. Diese edlen Gefühle, die uns mit jenem verbinden, sind selbst ein Teil un serer Eigenliebe. Die Universalgeschichte verschönt die Welt vor unserem Geist, aber die Geschichte Rußlands verschönt unser Vaterland, den Mittel punkt unserer Liebe und unserer Existenz.« Die Größe des russischen Rei ches schien der des römischen Reiches gleichzukommen, ja sie sogar in den Schatten zu stellen. »Der Anblick der ungeheuren Größe dieser Monarchie, die einzig in der Welt dasteht, ist überwältigend. Niemals war Rom ihr gleich.« Es ist daher nicht weiter überraschend, daß sich Karamsin in einem Memorandum über das alte und das neue Rußland ( 18 11) ablehnend über alle liberalen Reformen äußerte. Er war fest davon überzeugt, daß, was auch immer für Europa die richtige Form sein möge, Rußland ein autokratisches Regime brauche, um stark und gefürchtet zu sein. Die Einführung eines neuen nach dem Vorbild des Code Napoléon verfaßten bürgerlichen Gesetz buches, schien ihm in Widerspruch mit dem Geist der Nation zu stehen. Rußland bedürfe lediglich einer Sammlung seiner eigenen alten Erlasse und Ukase, wobei man dasjenige ausmerzen solle, was aus der Gesetzge
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bung der früheren Generationen überflüssig geworden sei. Vor allen Din gen protestierte er gegen die Lehre, daß das Gesetz über dem Herrscher stehe. Jede Beschränkung seiner Macht, selbst durch die freiwillige Gewäh rung einer Verfassung, würde die Grundlagen der Macht der Zaren zer stören: der Zar dürfe alles tun, nur nicht sich selbst Beschränkungen auf erlegen. Karamsin konstruierte eine legendäre russische Vergangenheit, die die Entwicklung der russischen Autokratie in der neueren Zeit rechtfertigen sollte. Er hat sich in allen Dingen auf die Vergangenheit als Zeugin gegen die Gegenwart berufen. Während seiner frühen Jahre war Karamsin noch ein Anhänger der Re formen gewesen, denn »der Weg der Aufklärung ist für alle Nationen der gleiche«. Damals hielt er noch alles Wehklagen über die vergangenen schö nen alten Zeiten für »einen Witz, der aus einem Mangel an gründlichem Nachdenken herrührt«. »Wir sind heute nicht mehr das, was unsere bär tigen Vorväter einstmals gewesen sind — und das ist gut so ! Äußere und innere Unreife und Roheit, Leere und Langeweile: das war es, was selbst die höchsten Schichten ausgezeichnet hat. Uns stehen heute alle Wege zu einer Verfeinerung des Geistes und zu einer edleren Erbauung der Seele offen. Alles Nationale ist nichts im Vergleich zu dem, was die gesamte Menschheit betrifft und universal ist. Wichtig ist, daß wir Menschen und nicht, daß wir Slawen sind. Was für die Menschen im allgemeinen gut ist, kann auch für die Russen nicht von Nachteil sein; und was die Engländer und die Deutschen zum Vorteile der Menschheit erfunden haben, das ist auch mein Besitz: denn ich bin ein Mensch.« Er war von Rousseau und von den anderen französischen Schriftstellern begeistert, aber seine Begeisterung bezog sich nur auf die Theorie, denn als er die Anfänge der Französischen Revolution sah, stand er ihr gänzlich verständnislos gegenüber. Er gelangte zu dem Schlüsse, daß »alle gewaltsamen Erschütterungen verderblich sind. Wir wollen uns der Macht der Vorsehung anvertrauen, sie hat ihre be stimmten Pläne; die Herzen der Herrscher liegen in ihren Händen — und das ist genug.« Er glaubte, daß die Ordnung, und selbst ihre offensicht lichsten Mängel, sakrosankt seien. Unter dem unmittelbaren Eindruck der Französischen Revolution stehend, wünschte er alle kühnen Theorien des Geistes, so sehr er sie auch bewundern mochte, zwischen den Deckeln der Bücher eingeschlossen zu wissen. Zehn Jahre später hat Karamsin in sei nem >Wjestnik Ewropy< (Bote Europas, 1802) wiederum liberale Ideen pro pagiert. Aber nachdem wieder zehn Jahre vergangen waren, erklärte er in seinem Memorandum über das alte und das neue Rußland, daß die libe ralen Reformen verderblich seien, und daß Rußland nichts anderes brauche 548
als eine Autokratie und seine alte, sagenhafte Tugend. »Hat für uns der Name Rußland noch immer jene magische Kraft, die er in früheren Zeiten besessen hat? Unsere Vorfahren (vor Peter dem Großen), selbst wenn sie die Vorzüge vieler fremder Sitten angenommen haben, sind immer der Meinung gewesen, daß der orthodoxe russische Mensch der vollkommenste Bürger und das Heilige Rußland der erste Staat auf der Erde sei. Man mag das einen Irrtum nennen, aber wie ungeheuerlich wurden doch durch diese Überzeugung die Liebe zum Vaterland und die moralischen Kräfte, die von ihm ausgingen, gestärkt! Nun aber, nach über einem Jahrhundert fremdländischer Erziehung,. . . nennen wir alle Europäer Brüder, die wir früher als Ungläubige bezeichnet hatten. Ich frage nun: wer wird es leich ter haben, Rußland zu unterwerfen, Ungläubige oder Brüder?. . . Peter trägt dafür die Verantwortung.« Das Rußland des achtzehnten Jahrhunderts hat mit Peter dem Großen begonnen und mit Alexander, der wie Karamsin zwischen liberalen Refor men und quietistischer Reaktion hin und her schwankte, um schließlich in Lethargie und mystischer Askese aufzugehen, geendet. Das Problem Ruß land, von Peter aufgeworfen, ist im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts nicht gelöst worden: die Diskrepanz zwischen den Idealen und der Wirk lichkeit nahm zu und mit ihr auch die Kluft zwischen Regierung und Ge sellschaft. Während in England sich Ideale und Wirklichkeit, Regierung und Gesellschaft enger als irgendwo anders zusammenfinden konnten, klaff ten sie in Rußland weiter auseinander als in irgendeinem anderen euro päischen Lande. Das Rußland des achtzehnten Jahrhunderts hat es dem neunzehnten Jahrhundert überlassen, eine Lösung für das aufgeworfene Problem zu finden. Aber es ist auch dann nicht gelöst worden: Rußland ist ein Staat des achtzehnten Jahrhunderts geblieben, dessen problematische Existenz die russische Intelligenz vor die ewige Frage nach dem Sinn des russischen Lebens und seinem Verhältnis zu Eruopa gestellt hat. Die mo ralische und soziale Krise, die Europa während des achtzehnten Jahrhun derts erlebte, wurde in Rußland bis zum Ausbruch der Russischen Revo lution hinausgezogen. Diese Revolution hat es dann unternommen, die rus sische Krise so zu lösen, wie einstmals die Französische Revolution die europäische Krise löste. Unter den in Rußland herrschenden historisch be dingten Umständen konnte sich die Lösung nicht in einer Wandlung zur Freiheit und Rechtssicherheit vollziehen, sondern nur in der bereits von Peter dem Großen geübten Form eines willkürlichen Kampfes der Autokra tie gegen die Trägheit der Menschen und ihrer Traditionen.
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So machte am Ende des achtzehnten Jahrhunderts ganz Europa auf der Suche nach Regeneration, nach besseren Grundlagen des Gesellschaftslebens und nach neuen Begriffen der öffentlichen und privaten Moral, eine tief gehende Krise durch. Die angelsächsischen Völker in Großbritannien und in Amerika hatten diese Krise schon eher durchgemacht und hatten sie ge löst; sie haben dadurch an Stärke gewonnen und standen als Vorbilder vor der übrigen Welt. A uf dem europäischen Kontinent war die Krise im Westen bedeutend ausgeprägter als im Osten, wo sich die neuen Ideen nur sehr langsam und gegen äußersten Widerstand durchzusetzen vermochten. Was im Westen eine große Bewegung war, hatte im Osten nur vereinzelte Menschen ergriffen. Doch bald sollte überall eine grundlegende Wandlung einsetzen: Die Französische Revolution war ein Wendepunkt in der Ge schichte aller Länder des Kontinents. Die Revolution ist in Frankreich aus gebrochen, weil, wie Tocqueville gezeigt hat, dieses das fortschrittlichste Land des Kontinents gewesen war, weil dort die alten Institutionen und Übelstände am schwächsten waren und weil man dort ein starkes Gefühl hatte für das Recht auf Abänderung der unersprießlichen Zustände. Frank reich war der Schrittmacher des Kontinents. Durch Frankreich gelangten die anderen Nationen zum Selbstbewußtsein. Vor der Revolution hatte es nur Staaten und Regierungen gegeben, nach ihr traten die Völker und Natio nen in den Vordergrund. Die neuen Autoritäten waren unendlich viel stär ker, als es die alten Regierungen gewesen waren, denn sie wurzelten in der Nation und waren von einer neuen Moral durchdrungen. Das alte Europa, mit Ausnahme von England, mußte vor den Kräften der Französischen Re volution dahinsinken, denn es hatte die Wandlung, die sich im französi schen Volke vollzogen hatte, nicht begriffen: Auch Napoleon mußte aus dem gleichen Grunde scheitern, denn er hat die Kräfte, welche die Fran zösische Revolution außerhalb der französischen Grenzen erweckt hatte, nicht verstanden — er dachte noch in den Begriffen des alten Europa, wäh rend doch dieses Europa dank der Französischen Revolution und dank Na poleons eigener Tätigkeit in der Zwischenzeit in ein neues Zeitalter einge treten war, nämlich in das Zeitalter des Nationalismus: es war dieses die Regeneration, welche durch die Krise des achtzehnten Jahrhunderts einge leitet worden war. In dieser zweiten und größeren Renaissance wurden in den verschiede nen Ländern Europas die neuen Ideen den jeweiligen sozialen Strukturen, kulturellen Traditionen und dem Zivilisationsniveau entsprechend aus-
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gelegt und eingestaltet. A uf die Dauer ist sie überall in die aus der Ver gangenheit überlieferten Gedankenwege eingefügt worden, die Nationen voneinander sondernd und sie mehr denn je zu korporativen Persönlich keiten herausbildend, und zwar nicht nur in politischer Hinsicht, sondern bis in den Kern ihres Wesens hinein, bis hinein in ihre heimlichsten Träume und Ideen, aus denen heraus sie ihre Taten vollbringen. So hat sich im Zeitalter des Nationalismus die Kluft zwischen den Völkern vertieft. Die Entwicklung ihrer Charaktere und der Verlauf ihrer Auseinandersetzungen während des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts waren bereits in den Umständen angedeutet, unter denen sie im achtzehnten Jahrhundert die Saat des Nationalismus in sich aufgenommen hatten. Zu jener Zeit ha ben die Nationen begonnen, sich ihrer selbst sowie ihrer politischen und kulturellen Ideale bewußt zu werden. Im Zeitalter des Nationalismus ist dann diese Bewußtheit, die durch Erziehung und Literatur auch die Mas sen der Bevölkerung ergriffen hat, zu einem den Verlauf der Geschichte be stimmenden Faktor geworden. Aus der Verquickung von Einflüssen und Zuständen haben sich zwei große Hauptgruppen der Begriffe >Nation< und >Vaterland< herausgebildet; diese haben sich, teils widerstreitend und teils sich vermengend, in den gei stigen Bewegungen aller Nationen und, in unterschiedlichem Maße, in den Nationen selbst verkörpert./Der eine Begriff beruhte auf der rationalen und universalen Vorstellung von der politischen Freiheit und von den Menschen rechten und wies in die Zukunft, nach der Gesellschaft freier Menschen. Der andere Nationalbegriff beruhte auf Geschichte, auf Denkmälern und Grä bern und griff sogar auf das Mysterium der vorgeschichtlichen Vergangen heit und der Stammessolidarität zurück. Er betonte die Vergangenheit, die Unterschiedlichkeit und die Eigenständigkeit der Nationen.jpiese zwei Vor stellungen vom Nationalismus sind die beiden Pole geworden, zwischen de nen sich das neue Zeitalter mit all seinen unzählbaren Schattierungen und Übergängen abspielen sollte: aus ihnen empfängt es die Impulse und die Verheißungen, welche die Herzen von Männern und Massen bewegen, so wie dies in früheren Zeiten die Hoffnungen auf himmlische Glückseligkeit und auf Erlösung getan hatten. Auch diese religiösen Begriffe waren zwie fach gedeutet worden: einmal enger und ritualistisch und in Verquickung mit dem Fortbestand alter Lehren und Mythen, das andere Mal sich zur Höhe und Weite einer universalen Botschaft aufschwingend, die den Men schen als das Abbild Gottes verkündete. In der Neuzeit ist der Nationalis mus, der die Stelle der Religion eingenommen hat, in seinen Äußerungen und Tendenzen, in seiner Form und selbst in seinem Wesen genau so ver-
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schiedengestaltig wie die Religion selbst. Doch bei all seiner Verschiedengestaltigkeit erfüllt er die eine große Aufgabe, dem Leben des Menschen einen Sinn zu geben und seine edlen und unedlen Leidenschaften vor sich selbst und vor der Geschichte zu rechtfertigen. Der Nationalismus erhebt den Menschen über die Einsamkeit und die Zwecklosigkeit seiner Tage und stattet die Ordnung und Macht der Regierungsgewalt, ohne die eine Gesell schaft nicht bestehen kann, mit der Majestät der echten Autorität aus. Im neunzehnten Jahrhundert haben die Kriege und die Diplomatie nicht nur an Tiefenwirkung gewonnen; während diese früher die ausschließliche Angelegenheit der Höfe und Regierungen gewesen waren, unter denen die Völker lediglich als passive Objekte dulden mußten, wurden sie nunmehr zu einer Angelegenheit der Nationen, an der die Völker einen tätigen An teil nahmen, und selbst wenn sie noch weiterhin darunter zu leiden hatten, so fanden sic doch darin auch eine Quelle der Inspiration und des Selbstge fühles. Aber sie unterlagen auch einem geistigen Verfeinerungsprozeß, denn das Zeitalter des Nationalismus hat dem privaten wie dem öffent lichen Leben eine neue Würde verliehen. Selbst die Heilige Allianz, die an sich gegen die neue Zeit gerichtet war, spiegelte die neue Moral wider, so wie die Gegenreformation die neue Moral der Reformation widergespiegelt hatte. Die Heilige Allianz war schon nicht mehr das alte Europa, denn sie hat nicht nur einen neuen Respekt vor moralischen Grundsätzen und vor der Würde des Königtums proklamiert — sie hat auch danach gehandelt, und zwar in einem Maße, das wir hier erstmalig beobachten können. Ein neues Ordnungs- und Friedensverlangen trat in den Vordergrund, und das Legitimitätsprinzip des alten Regimes entwickelte sich über den Zustand des Zynismus und des schrankenlosen Selbstinteresses hinaus. In allen europäi schen Staaten entwickelten sich ein neues Gefühl der Verantwortlichkeit und ein neuer Gemeinsinn. Durch die französischen Revolutionskriege und be sonders durch den britischen Imperialismus hat sich dieser Prozeß der Re generation und moralischen Erziehung nach den entfernten Kontinenten hin ausgebreitet und dort eine staatsbürgerliche und sogar eine private Moral hervorgerufen, die weit über allem stand, was man vorher gekannt hatte, wobei er alte, seit undenkbaren Zeiten niedergehaltene Rassen und Völkermassen, zum ersten Male zu einem menschenwürdigen Leben erweckte. Diese neue Moral kam im Zeitalter des Nationalismus in den beiden Be griffen Freiheit und Nationalität zum Ausdruck. Oft schienen diese beiden Begriffe unlösbar miteinander verschmolzen zu sein. Und doch sind sie nach Herkunft und Wesen, in Wirkung und Dauerhaftigkeit verschieden. In dem Worte >Freiheit< schwingt jene Botschaft, welche die gesamte Geschichte der
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Menschheit erfüllt und sie menschlich macht: die Verheißung der Menschen würde und der Rechte des Individuums, aber auch der Pflichten gegenüber den Mitmenschen, eine Botschaft, deren Existenz man von Anbeginn an dumpf empfunden und die dann an Weite und Tiefe gewonnen hatte, bis sie schließlich während des siebzehnten Jahrhunderts in England zur Reife gelangte und die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts sowie das Le ben des neunzehnten Jahrhunderts in der westlichen Welt beherrschen konnte. Mit dieser Botschaft verglichen, ist der Nationalismus nur eine vor übergehende Form der Integrierung, im Grunde belebend, aber durch seine eigene Dynamik und Übertreibung leicht zu einer Vernichtung der mensch lichen Freiheiten neigend. Auch im Zeitalter des Nationalismus werden die herrschenden Tendenzen der Zeit von der Natur der Dinge und von den menschlichen Leidenschaften ausgenutzt und gestaltet, aber durch diese Ten denzen wird auch der jahrhundertealte Kampf um die Emanzipation des Menschen, der einst in Palästina und Hellas begonnen hatte, fortgeführt. Das Zeitalter des Nationalismus hat von den hebräischen und griechischen Ideen viele seiner anfänglichen und grundlegenden Inspirationen empfan gen; aber aus Athen und aus Jerusalem leuchten auch die ewigen Leitsterne herüber, die das Zeitalter des Nationalismus über sich selbst hinausführen, indem sie den Weg zu einer tiefer empfundenen Freiheit und zu höheren Formen der Integration weisen.
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Nachwort
Die Zeit nach dem Abschluß des Zweiten Weltkrieges hat eine tiefe Wand lung in dem politischen und sozialen Bild der Menschheit hervorgebracht. Die beiden Weltkriege des zwanzigsten Jahrhunderts waren in ihrem Ursprung noch europäische Hegemonialkriege. Der zweite dieser Kriege machte offenbar, was der erste schon ankündigte, was aber damals allge mein nicht anerkannt wurde: das Ende des europäischen Hegemonialzeitalters und damit der europäischen Hegemonialkämpfe. Neue Geschichtsfak toren traten in die politische, kulturelle und wirtschaftliche Führung der Erde ein, die es im neunzehnten Jahrhundert noch nicht getan hatten, wie die Vereinigten Staaten und Rußland. Das war schon 19 45 offenkundig. Im Jahre 19 6 1 ist es klar, daß die bis dahin von Europa abhängigen Konti nente — Asien, Afrika, Latein-Amerika — mit überraschender Schnelligkeit sich zu gleichrangigen Partnern in der Weltpolitik, wie auch in Wirtschaft und Kultur, zu entwickeln streben. Dieser Wandel vollzieht sich im Namen des Nationalismus. Was im achtzehnten Jahrhundert an der östlichen und westlichen Küste des Nordatlantischen Ozeans einsetzte, ist zweihundert Jahre später eine erdumfassende Bewegung geworden, von der sich auch die abgelegensten Länder, die man im achtzehnten Jahrhundert noch gar nicht kannte, nicht ausschließen wollen. Das zwanzigste Jahrhundert ist das Jahrhundert des Pan-Nationalismus geworden. Dabei hat der Nationalismus natürlich mancherlei Wandlungen erfahren, je nach den Traditionen und der sozialen Struktur der Völker, die er er faßte, und je nach dem allgemeinen Zeitgeist der Epoche, in der die Bewußtseinswerdung der Nation erfolgte. Aber überall bedeutet das Eintreten in das Zeitalter des Nationalismus den Beginn des politischen Lebens im modernen Sinn des Wortes, den Anspruch des Volkes auf das Recht, sein eigenes Schicksal zu gestalten. Dieses politische Leben und das Zeitalter des 555
Nationalismus begannen auf dem europäischen Festland mit der Französi schen Revolution. Sie stellte ursprünglich eine Synthese des philanthropischen Weltbürgertums der Aufklärung mit dem neuen Gedanken des souveränen und zentralisierten Nationalstaates dar, und war in dem letzteren Sinne mit den autoritären und absolutistischen Traditionen der französischen Monar chie verknüpft. Als Erbe der Aufklärung aber trug sie die Botschaft einer neuen freiheitlichen Würde aller Menschen und aller Völker, wohin auch immer ihr Einfluß drang. Die kontinentalen Völker, vor allem die Deut schen und Italiener, griffen den Gedanken des Nationalstaates, der in der Zustimmung und Begeisterung des ganzen Volkes verankert ist, auf. Aber die Freiheit, die nunmehr gepriesen wurde, war nicht so sehr Freiheit des Bürgers von einer autoritären Regierung als vielmehr nationale Freiheit von fremden Regierungen. Der neue Nationalismus wandte sich nicht nur gegen »fremde« Herrschaft, sondern auch gegen die »fremden« Ideen. Der deutsche romantische Nationalismus, der seinen ersten Ausdruck im Kampfe gegen Napoleons französische Vorherrschaft fand, wandte sich auch gegen den Geist der Aufklärung, den er als einen westlichen, oberflächlichen und rationalistischen Ungeist verwarf und dem er ein idealisiertes und angeb lich eigenständiges völkisches Erbe entgegenstellte. Das gleiche taten we nige Jahrzehnte später die russischen Slawophilen, die die russische Eigen art mit ihrer Tiefe und Religiosität der Seichtheit und Zerrissenheit des Westens, der diesmal Deutschland einschloß, gegenüberstellten. Romantische nationalistische Bestrebungen in vielen Völkern lehnten den Liberalismus, Individualismus und Kapitalismus ab, den sie als »fremd«, »westlich« oder »überholt« betrachteten und glaubten, daß ihr eigenes Volk sich auf seine eigenständige Art, seine Ursprünglichkeit zurückziehen und sie entwickeln müsse, um so seine einmalige Sendung zu erfüllen. Der Na tionalismus der europäischen Völker des neunzehnten Jahrhunderts war von einem Sendungsbewußtsein erfüllt, das den Konflikt der Nationen auf dem europäischen Kontinent nicht nur als einen politischen Hegemonialkampf sah, sondern als eine ideologische Auseinandersetzung. Dabei waren diese Missionsideen in jedem Falle verschieden. Das Jahr 1848 bedeutete einen folgenschweren Abschnitt in der Geschichte des kontinental-europäischen Nationalismus. Es brachte das Erwachen der slawischen und osteuropäischen Völker zu vollem Nationalbewußtsein, den Zusammentritt des ersten panslawischen Kongresses in Prag und die natio nale Revolution der Magyaren und damit die Aufrollung der Schicksals frage des habsburgischen Vielvölkerreiches. Wichtiger noch war der Um stand, daß die großen liberalen Hoffnungen, mit denen das Jahr in den
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drei Hauptnationen des kontinentalen Europa, in Frankreich, Deutschland und Italien, begonnen hatte, sich bald als trügerisch erwiesen. Zu Anfang des kritischen Jahres proklamierten die Nationalisten überall bürgerliche Freiheiten und verfassungsmäßige Rechte, brüderliche Eintracht der Völker und das Ende aller Kriege. Britische und amerikanische Friedensgesellschaf ten, die kurz vorher gegründet worden waren, betrieben den Zusammen tritt des ersten internationalen Friedenskongresses, der im September 1848 in Brüssel stattfand. Ein zweiter trat im August 1849 in Paris zusam men. Victor Hugo war sein Präsident, Richard Cobden Vizepräsident. In seiner Eröffnungsansprache erklärte Hugo, daß ein Tag kommen werde, »an dem wir sehen werden, wie diese beiden ungeheuren Völkermassen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Vereinigten Staaten von Europa, sich über den Ozean hinweg die Hände zu enger Zusammenarbeit reichen«. Die Hoffnung auf einen Sieg des Liberalismus und der Friedensidee, die ser Erben des Zeitalters der Aufklärung, verwirklichte sich nicht. Aus den Wirren des Jahres 1848 ging auf dem europäischen Kontinent, in Frank reich wie in Deutschland, in Italien, unter den Völkern des Habsburger Reichs und auf dem Balkan ein militanter Nationalismus als Sieger hervor, der die kollektive Macht stärker betonte als die individuelle Freiheit, und das nationale Interesse stärker als die Brüderlichkeit der Völker. A uf die Ereignisse des Jahres 1848 zurückblickend, beklagte John Stuart M ill in einem Aufsatze, der im April 1849 erschien, daß der Nationalismus die Menschen gleichgültig mache gegenüber den Rechten und Interessen »jedes Teiles der Menschheit, ausgenommen dessen, der auf denselben Namen hört und dieselbe Sprache spricht wie sie selbst«. Er bezeichnete diese ex klusiv nationalistischen Gefühle und dieses Pochen auf historische Rechte als barbarisch. Bitter bemerkte er, daß »in den zurückgebliebenen Gegen den Europas und selbst in Deutschland, wo man Besseres hätte erwarten können, das Nationalgefühl die Freiheitsliebe so sehr überwiegt, daß das Volk bereit ist, seinen Führern dabei zu helfen, die Freiheit und Unabhän gigkeit jedes Volkes, das nicht seiner Rasse angehört oder seine Sprache spricht, zu vernichten«. Zu Beginn des Jahres 1848 beherrschte noch die Theorie des Naturrechtes des achtzehnten Jahrhunderts von der Gleichheit und Brüderlichkeit der Völker viele Gemüter. Im Laufe der Revolution ließ der Nationalismus in vielen seiner Formen die >Eierschalen< des humanitären Liberalismus, mit dem er einst verbündet in die Arena der Geschichte eintrat, hinter sich. Unterdrückte Völker appellierten an die Welt gegen ihre Unterdrückung, fanden aber nichts daran, andere zu unterdrücken, wenn ihre vermeintlichen 557
nationalen Interessen es zu erfordern schienen und ihre Machtüberlegen heit es gestattete. Gelehrte und Schriftsteller waren um historische und mo ralische Gründe nicht verlegen, wenn es galt, die Bestrebungen ihrer Na tion zu unterstützen und darzulegen, daß ihr Volk und seine Lage einen Sonderfall darstellten, auf den die allgemeinen Regeln, die sie bei anderen gern anerkannten, nicht zuträfen. Unter dem Eindruck des großen euro päischen Krieges von 19 14 verstärkten sich noch diese Tendenzen im Leben der kontinental-europäischen Völker. In ihrer extremen Form führten sie zu den verschiedenen Spielarten des Faschismus. Die englisch sprechenden Völker und auf dem europäischen Kontinent die Schweizer und Skandinavier waren dieser Umwandlung des Nationa lismus nach 1848 weniger unterworfen. Die Schweizer und Skandinavier, als ein Ergebnis der Revolution der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, folgten dem englischen Beispiel eines stabil demokratischen Nationalis mus. Der Schweiz gelang es, auf der Grundlage einer weitgehenden födera len Autonomie unter Betonung individueller bürgerlicher Rechte deutsch, französisch und italienisch sprechende Bürger in einer freien und friedlichen Gemeinschaft zu vereinigen, die sich von den nationalistischen Exzessen frei hielt, denen die deutsch, französisch und italienisch sprechenden Men schen außerhalb der Schweiz in dem Jahrhundert, das auf 1848 folgte, ver fielen. Der große Hegemonialkrieg von 19 14 , in dem es um die Vorherrschaft in Europa — und das hieß damals noch in der Welt — ging, endete mit dem anscheinenden Triumph des Gedankens der nationalen Selbstbestimmung, wenigstens für die Völker Europas. In diesem Triumph gipfelte das Zeit alter des Nationalismus, das für den europäischen Kontinent mit der Fran zösischen Revolution begonnen hatte. Darin stellte das Ergebnis des Krie ges die Umkehrung des Ergebnisses der napoleonischen Kriege dar, die zum Schluß in den Sieg der >legitimen< Fürstenherrschaft über das Freiheits streben der Völker mündeten. Das Zeitalter des Nationalismus hatte einer neuen Legitimität im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts zum Durch bruch verholfen. An die Stelle von jahrhundertealten und >geheiligten< Dynastien, >eigenen< oder >fremden<, trat überall in Europa, zumindest theoretisch, die Nation und das Volk als legitimes Staatsprinzip. Am Ende des Krieges von 19 14 waren es nicht länger die Staatsmänner des >alten< Europa, die noch zu Beginn des Krieges allein die Verantwor tung getragen und das Schicksal bestimmt hatten, sondern Woodrow Wil son als Vertreter der Neuen Welt und Lenin als Sprachrohr der Revolu tion, die die neuen Schlagworte prägten, auf die die Welt hörte. Die Ideen-
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weit dieser zwei Sprecher und der Charakter der nationalen Entfaltung der zwei Völker, die sie repräsentierten, waren grundverschieden, ja gegen sätzlich im Ausgangspunkt und in der Zielsetzung. Jedoch in einem waren sie einig, in der Verkündigung nationaler Selbstbestimmung, in vieler Hin sicht des Zieles des Frühlings von 1848, als Grundlage der neuen Ord nung. Im Verlaufe des Krieges selbst hatten alle kriegführenden Nationen an dieses Prinzip appelliert, freilich im allgemeinen nur für die von den Gegnern abhängigen oder >unterdrückten< Nationalitäten. Wilson und Le nin verkündeten das Prinzip nationaler Selbstbestimmung und der Frei heit aller Völker nicht nur für Europa, sondern für die Menschheit als solche. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, im Zuge des gewaltigen Europäisierungsprozesses, begannen die Gedanken des Nationalismus, der Demokratie, des Rechtes auf allgemeine Erziehung, der Gleichberechtigung aller Menschen und beider Geschlechter, auch zu den Völkern Asiens und Afrikas zu dringen. Im Jahre 1 8 3 1 hatte Alexis de Tocqueville in einer berühmten Stelle sei nes Buches über die Demokratie in Amerika darauf hingewiesen, daß die europäischen Nationen das äußerste ihrer Machtentfaltung und ihres Ein flusses erreicht hatten, und daß die Zukunft den zwei großräumigen Mäch ten, den Vereinigten Staaten und Rußland, gehöre, die, obwohl gegensätz lich in ihren Ideen und Verhaltensweisen, dennoch jede für sich das Schick sal der halben Erdkugel bestimmen werde. Dieser Zustand war schon 19 18 /19 angedeutet, als Wilson und Lenin als Sprecher der Menschheit auf traten. Doch gaben sich davon damals nur sehr wenige Rechenschaft. Die europäischen Mächte nahmen die Hegemonialkämpfe einer nun endgültig vergangenen Zeit wieder auf, und auch Washington war sich der grund legenden Änderung der geschichtlichen Lage nicht bewußt. Der Nationalis mus steigerte sich in Europa zu einem früher durch das Fortwirken der humanitären Aufklärung verhinderten fanatischen Paroxysmus. Nicht nur in Italien und in Deutschland, sondern in den vielen auf dem Prinzip des Nationalismus aufgebauten Staaten von der Ostsee und Polen bis Rumä nien und Griechenland nahm der Nationalismus faschistisch-extremistische Formen an. Gleichzeitig begann der Nationalismus auch die Massen der asiatischen Länder, einschließlich Ägyptens, aus ihrer traditionellen Lethargie wach zu rütteln. Bedeutende Persönlichkeiten wie Sun-Jatsen in China und Mustafa Kemal in der Türkei versuchten mit Hilfe des leninistischen Rußlands ihre Völker von dem Druck des westlichen Imperialismus zu befreien und sie aus religiösem »mittelalterlichem Traditionalismus in moderne säkulare 559
Nationen zu verwandeln. Unabhängig von der russischen Revolution und dem Traditionalismus enger verbunden, waren die nationalen Bewegungen in Indien unter Gandhis Führung und unter den Arabern in Westasien und Ägypten. Doch besaßen noch in den dreißiger Jahren wenige Europäer eine Vorstellung von der Mächtigkeit und Zukunftsträchtigkeit der neuen Be wegungen. Einige von ihnen habe ich damals in zwei Büchern, »Geschichte der nationalen Bewegung im Orient< (Berlin 1928) und »Nationalismus und Imperialismus im Vorderen Orient< (Frankfurt a. M. 19 3 1) darzustel len versucht. Kaum zwei Jahrzehnte später, im Jahre 1945, wurde es offenbar, daß die europäische Epoche der Weltgeschichte, die mit der Renaissance und Refor mation begonnen hatte und in der Aufklärung ihren Höhepunkt erreichte, zu Ende war. Tocquevilles Voraussage von 1 8 3 1 schien erfüllt. Die zwei großräumigen Mächte, die Vereinigten Staaten und Rußland, waren damals allein als geschichtsbestimmende Faktoren übriggeblieben, und die Erde war in zwei von ihnen geführte Lager geteilt. Manche Betrachter glaubten, daß damit auch das Zeitalter des Nationalismus vorbei sei. Doch mit der wirt schaftlichen Konsolidierung Europas, die mit Hilfe der Vereinigten Staaten überraschend schnell gelang, lebte dort der Nationalismus wieder auf und manifestierte sich am stärksten in dem von de Gaulle geführten Frankreich. Vor allem erwies der Nationalismus aber unter den Völkern Asiens und nun auch Afrikas eine anhaltende ja gesteigerte Vitalität, wie er es vor hundert Jahren unter den Völkern Kontinentaleuropas getan hatte. Ein neues Bewußtsein begann, die Völker Asiens und Afrikas wie auch LateinAmerikas zu erfüllen, ein gemeinsamer die Massen miterfassender Wille, bestimmende Faktoren ihrer eigenen Geschichte zu werden und die ur sprünglich vom Nordatlantischen Raum des achtzehnten Jahrhunderts aus gehende Botschaft von menschlicher Würde und Gleichheit auch bei sich zu verwirklichen. Alles dies befindet sich noch in Fluß, und der Historiker kann die Zu kunft nicht Voraussagen. Aber für die Gegenwart ist die Idee des Nationa lismus, deren früher Entwicklungsgang bis zum entscheidenden Einschnitt der Französischen Revolution in dem vorliegenden Buche dargestellt ist, auch weiterhin ein sehr wirksamer Faktor in der Geschichte, der sich heute zum ersten Mal im universalen Raum der Menschheit als solcher entfaltet. Schon in dem vorliegenden Buche, das nur von der westlichen Welt han delt, sind mannigfaltige Probleme und verschiedenartige Entwicklungsfor men des Nationalismus vorgezeichnet, die auch im zwanzigsten Jahrhun dert, dem Zeitalter des Pan-Nationalismus, das Ost und West gleicherweise
umfaßt, zu finden sind. Inmitten der Erschütterungen, die diese, wie jede große Zeitwende, mit sich bringt, eröffnet die heutige Entwicklung neue und auch hoffnungsvolle Perspektiven. Die zwei Jahrzehnte zwischen den beiden in Europa entfachten Weltkriegen und der in Europa wurzelnden fanatischen Lehren des Kommunismus und Faschismus mit ihren grund sätzlichen Ideologien von Klassen- und Rassenkampf, erschienen vielen als eine Apokalypse. Das neue Zeitalter des Pan-Nationalismus, das mit dem Ende des zweiten europäischen Krieges angebrochen ist, eröffnet inmitten all seiner Schwierigkeiten zum ersten Mal die Möglichkeit einer offenen, alle Völker und Rassen in einem gemeinsamen Gespräch vereinigenden, mensch lichen Gesellschaft. Da werden vielleicht unter großen Mühen und Mißver ständnissen die Grundlagen eines auf freiem nationalen Leben fußenden Weltbürgertums gelegt, wie das Zeitalter der Aufklärung es vorausgeahnt hat. New York City, Herbst 19 6 1 H. K.
Register
Abbt, Thomas 342 f., 35 3, 356 Abril, Simon 148 Adams, John 262, 2 7 1, 273, 290, 457 Adams, Samuel 259, 267 A frika 437 f. Afsprung, Johann Michael 365 f., 369 d'Aguesseau, Henri François 196 f. Ägypten 32 , 559 Alarich 69, 75, 85 Albertus Magnus 83 d'Alembert, Jean, le Rond 220, 233, 239, 348 Alexander d. Gr. 59 ff., 63, 65, 3 12 Alexander I. (Rußland) 5 1 3 , 549 Alexander von Roes 10 0 , 10 2 Alfieri, Vittorio 476 f., 482, 484 f., 5 17 Alfons III. von Le<Sn 14 5 Alfons IV. von Le6n 14 5 Allgemeinbildung 2 12 , 2 14 , 245 f., 285, 287 f., 296, 357, 364, 439 f., 5 13 f.,
533
Althusius, Johannes 2 10 , 3 1 5 Amerika (Britisch) 17 2 , 202, 252 ff., 267, 467 Amerika (Portugiesisch) 472 f., 555 Amerika (Spanisch) 14 8 , 15 0 , 466 f.,
555
Amerika (Vereinigte Staaten v.) 274 f., 2 9 1 ff., 3 0 1, 305, 55 5, 557, 559 f. Amerikas Einfluß 275 f., 284, 358 f., 463, 467 Amerikas Imperialismus 300, 305 f. 56 2
Amerikas Nationalismus 257 f., 263, 266, 268, 270, 273, 277 ff., 289, 300, 306 Amerikanische Revolution 257 ff., 273, 2 8 1, 456, 469, 537 Amos, Prophet 39, 43 ff. Am yot, Jacques 194 Ansbach-Bayreuth, Alexander, Mark graf v. 358 Anthimos 5 18 Anyos, Paul 508 Aprilov 522 Aragon 146 Aristophanes 57 f. Aristoteles 14 , 36, 45, 54, 57 ff., 64, 67, 18 7 , 5 14 , 5 19 Arminius 13 9 f., 3 2 1 , 327 Arnaud, François 223 Arnold de Villa Nova 88 Arpad 509 Arsenije III., Cornopevié 506 Arsenije IV., Jovanovic 506 Äschylus 5 19 Athaulf 85 Athen, athenische Demokratie 56 f., 390 Aufklärung 3 0 ,18 2 ,18 4 f., 18 9 f., 205 ff., 2x7 ff., 223 f., 263, 279, 294 f., 323, 32 5, 329, 336 ff., 376, 383 f., 478 f., 490, 556 f. Augustinus 75 ff. Augustus 66, 68, 70 ff., 1 1 8 , 482 Augustenburg, Herzog v. 387
Aulard 1 9 1 Auserwähltes Volk 40 ff., 70, 108, 15 5 , 1 6 1 , 1 6 3 , 2 3 1, 256, 265 f. Bacon, Francis 15 5 ff. Baibin, Bohuslav 5 3 1, 533 Balkanbund 5 15 Balthasar, Franz Urs 353 Barlow, Joel 2 8 1, 283 Barnard, Thomas 264 Barrés, Maurice 334 Barthélémy, Jean Jacques 5 14 Basedow, Johann Bernhard 350 Baudeau, Nicolas 2 14 Bayle, Pierre 222, 224, 322 Bebel, Heinrich 13 5 Beccaria, Marchese di 480, 520 Beethoven, Ludwig van 382 Befreiungskriege, deutsche 392 f. Bekker, Balthasar 12 0 Belgien 453, 460 ff., 529 Belknap, Jeremy 287 f. Bellamy, Jakobus 456 Bellay, Joachim du 12 7 Benthan, Jeremy 435 f. Bering, Vitus 539 Berkeley, George 2 0 1 f. Bernhard von Clairvaux 83 Bemstorff, A . P. 490 Bessenyei, Georg 508 Beulwitz, Caroline v. 383 de Bèze, Théodore 13 3 Bibel 3 7 , 1 3 3 , 1 3 9 , 1 6 3 f., 17 0 , 2 3 1, 256, 4 17 f. Bibelübersetzungen 1 3 , 1 3 9 , 438 f., 506, 522 f. Bijns, Anna 455 Bismarck, Otto v. 337 Blackstone, W illiam 436 Blackwell 333 Blondel, Robert 1 1 1 f. Blondus, Flavius 15 5 Boccaccio, Giovanni 98, 12 0 Bodin, Jean 1 2 0 ,1 2 8 f. Bodmer, Johann Jakob 360 ff., 3 7 1 Böhmen 108, 3 12 , 528 ff. Bohomolec, Franciszek 500 36 *
Bohovic, Adam 523 Bolingbroke, Henry St. John 203 ff., 493 Boltin, Iwan N. 546 Bonifaz VIII. 87 f., 90, 1 0 1 Borgia, Cesare 12 3 f. Born, Ignaz v. 5 3 1 Bossuet, Jacques Benigne 18 2 , 1 9 1 , 226 Boulainvilliers, Henri de 19 7 ff. Boutroux, Emile 185 Brabant 4 5 1 ff., 459, 462 f. Bracciolini, Poccio 13 5 Brackenridge, Hugh Henry 77 Bradford, W illiam 255 f. Brandenburg 345 Brant, Sebastian 13 4 Brasilien 472 Brissot, Jacques Pierre 276 Britannien, s. England Brown, Charles Brockden 287 Brun, Johan Nordahl 491 Brunot, Ferdinand 2 17 , 222 Brutus 1 1 8 , 1 4 0 , 482 Bude, Guillaume 12 7 f. Bühlau, Johann Jakob 354 f. Bulgaren 520 ff. Bulgares, Eugenios 5 14 Bullinger, Heinrich 13 3 Burckhardt, Jacob 3 4 ,3 6 Bürger, Gottfried August 401 Burgund 452 f., 5 1 1 Burke, Edmund 232, 334, 369, 435, 450, 496 Burman, Pieter 456 Burnaby, Andrew 258 Burton, Robert 15 7 Buttafuoco, Matteo 242 Byrd, W illiam 298 Byzantinisches Reich 74 f., 80, 86, 94, 5 1 1 f., 5 15 Caesar, Julius 64 f., 1x 8 , 136 , 4.82 Calder6n de la Barca 465 Calvin und Calvinismus 2 6 , 1 2 7 , 1 3 1 ff., 228 f., 265, 329 Camden, W illiam 1 5 4 ! Camöes, Luis de 470 Capellen, Joan Derk van der 457 f.
Caracalla 68 Care, Henry 264 Carew, Richard 15 4 Carey, Henry Charles 305 Carli, Gian Rinaldo 480 f. Castracani, Castruccio 12 3 Cato 1 1 7 , 232, 482 Catull 64 Caylus, Anna Claude Philippe Comte de 3 7 1 Celtes, Konrad 13 6 f. Cerisier. Antoine Marie 457 Champlain de la Blancherie, Pahin de 223 Charlemont, Earl de 447 Charles, Thomas 438, 440 Charpentier, François 18 6 f. Chartier, Alain 1 1 0 ff. Chaucer, Geoffrey 1 5 1 Chemnitz, Bogislav Philipp v. 3x5 Chénier, Marie Joseph de 19 0 Cheraskow, Michael Matwejewitsch 545 China 18 6 f., 559 Christentum 50 ff., 70 ff., 80, 18 2 , 248, 422 ff. Christine von Schweden 478 Cicero 62, 64, 66, 68, 1 2 2 ,1 8 9 , 374 f. Cid, der 14 4 Claudius R. Namatianus 69, 75 Clemens V. 88 Cluny 83 Cobden, Richard 557 Colbert, Jean Baptiste 18 4 , 19 3 , 2 15 Comenius 278 Condorcet, Marie Jean Antoine Marquis de 222 f. Conring, Hermann v. 322 Cooke, Samuel 297 Coram, Robert 288 Coray, Adamantios 5 14 , 5 16 , 5 18 ff. Corio, Bernardino 12 2 Cornwallis, Charles Mann, Marquess of 278 Cotton, John 256 Cowper, W illiam 2 13 Coyer, Gabriel Fr. 3 6 5 ,4 33 Cromwell, Oliver 16 3 f., 16 7 ff., 17 7 564
Crucé, Eméric 186 Cruz e Silva, Antonio Diniz de 4 71
Dabrowski, Henryk 503 Dalberg, Karl Theodor v. 389 Dalin, O lof v. 492 f. Dänemark 20, 343, 486 ff., 558 Daniel, Samuel 15 4 ff. Danilo I. (Montenegro) 525 Dante Alighieri 69 f., 90 ff., 95 f., 1 1 8 , 1 2 1 , 1 2 3 , 14 3 , 228, 475, 480 D'Aubéry 3 2 1 David 4 1, 47 Davies, Richard 439 Defoe, Daniel 2 0 1 Dekert, Jan 499 Demokratie 3 1 f., 68, 18 3 , 227, 239, 369 f., 386 Descartes, René 160 , 1 8 1 , 18 4 f., 190 , 223, 226 Deschamps, Eustache x x i f. Deutsche und Deutschland 77 f., 84 ff., 10 8 , 12 8 ff., 1 3 3 , 3 1 1 ff., 330, 357, 369 ff., 556 f. Deutscher Charakter 1 2 9 ,1 9 9 f., 325 ff. Deutsche Klassik 370 ff. Deutsches Nationalbewußtsein u. dt. Nationalismus 84, 92 f., 13 4 , 13 9 , 3 10 ff., 3 19 ff., 33 3 ff., 350, 354, 367, 373 f., 380, 386, 39X f., 396, 400 f., 420 f. Deutschordensritter 10 8 f., 336 Dickinson, Samuel 282 Diderot, Denis 2 18 , 229, 394 Dio Cassius 68 Diocletian 68 Diodorus von Sizilien 66 Disraeli, Benjamin 205 Dobner, Gelasius 5 3 1 f. Dobrowsky, Josef 534 ff. Donne, John X58 Dreißigjähriger Krieg 3 1 3 , 3 15 f. Dryden, John 160 Dubois, Pierre 10 2 Duché, Jakob 266 Dufresnoy, Alphonse-Charles 3 7 1
Du Pont de Nemours, Pierre Samuel 2 14 , 288, 295 Durych, V aclav Fortunat 534 Dwight, Timothy 270, 279, 282 Eckermann, Johann Peter 394 Eduard I. (England) 438 Edwards, Jonathan 256 Ehrensvärd, Karl August G raf 396 Elias, Prophet 36 Elisabeth von England 1 5 3 , 15 5 , 439 Emmel 445 England 1 1 0 , 1 2 1 , 15 0 ff., 16 7 ff., 1 9 1 , 19 5 ff., 3 0 1, 434 ff., 470, 472, 538 Englands Einfluß 199, 2 1 1 , 228, 255, 263, 32 3, 360, 377, 482 Englischer Charakter 1 5 5 ,1 6 3 ,1 6 6 , 1 7 2 , 3 3 1 , 404, 420, 434 Englischer Imperialismus 17 2 f., 253, 306, 43,6 f. Englischer Nationalismus 16 0 ff., 17 3 f.,
439
f· Englische Revolution 1 6 1 ff., 17 2 ff., 1 7 6 ff., 435, 450 Erasmus, Desiderius 1 1 4 , 1 2 1 Erastianismus 10 5 , 18 2 f. Ercilla y Zuniga, Alonso 468 Esra 40 f. Etats Généraux ι ο ί , 1 1 2 Eupen, Pierre van 462 Euripides 54 f., 57 Eusebius 70 Ewald, Johannes 489 Exil und Nationalismus 96, 12 3 , 228, 280 Faschismus 27, 227, 2 4 1, 5 6 1 Feijôo, Benito 465 f. Fénelon, François de Salignac 196 Ferdinand von Aragonien 146 Ferdinand IV. (Neapel) 475 Fichte, Johann Gottlieb 20, 520 Fielding, Henry 2 0 1 Finnland 489 Fiske, Nathan 278 Fitzgerald, Lord 445 Flandern 4 5 1
Flood, Henry 445 ff. Florenz 90 f., 12 2 ff. Folklore, s. Volkstum Fouque, Friedrich, Baron de la Motte 394 Franken 8 4 ,19 7 ff. Franklin,Benjamin 252,260 f., 269, 289, 403 f., 4 13 Frankreich 99 f., 1 x 1 , 1 2 6 ff., 18 0 f., 1 9 1 ,
557
Französischer Charakter 10 0 ,18 4 f., 196 Französischer Einfluß 477, 486, 5 14 f.,
517
Französisches Nationalbewußtsein 19 5, 222 Französische Revolution 9 f., 1 7 , 22, 26, 1 3 2 ,1 7 2 ,1 9 8 f., 2 16 , 239, 2 8 1 ff., 290, 3 14 , 330, 33 2 , 348, 365, 369, 378, 382 ff.,38 7 ,3 9 8 ,4 0 5 , 408 ,4 26,4 49 f.,
459
44
473 485 5
- 4 6 1, б / 469/ / i° / 5 1 3 ff.,53 7 ,5 4 6 ,5 4 8 ff., 55 6 ,5 5 8 , 560 Franz I. (Frankreich) 1 2 6 ,1 2 8 , 1 4 3 Franz von A ssisi 83 Freiheit (als moderner Begriff) 16 4 ,17 4 , 17 6 ff., 189 f., 19 9 ff., 208, 235 f., 276, 3 8 2 « ., 432, 435 f., 556 Freneau, Philip 277, 285 Friedrich IV. (Dänemark) 487 Friedrich V . (Dänemark) 487 Friedrich I. (Hohenstaufen) 89 Friedrich II. (Hohenstaufen) 88 ff. Friedrich I. (Preußen) 339 f. Friedrich II. (Preußen) 194 f., 208, 223, 3 2 7 ,3 3 8 ff., 368, 388, 393, 408 f., 476, 482, 493, 543 Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst
339
323Friedrich Wilhelm I. (Preußen) 339 f., 408 Friedrich Wilhelm II. (Preußen) 377 Friedrich von der Pfalz 1 1 0 Froissart, Jean 1 5 1 Füßli, Johann Heinrich 362, 364 Gallikanismus 18 2 Gallien, Gallier 10 0 , 19 7 ff. Galton, Sir Francis 16 Gama, Vasco da 470 565
Gandhi 560 Gattinara, Mercurino 14 2 Gaulle, de 560 Gedoyn, Nicolas 220 Gegenreformation 14 9 , 453, 504, 552 Geliert, Christian Fürchtegott 3 27 f., 478, 58 1 Genf 1 3 1 , 227 ff. Gentz, Friedrich v. 375 Georg II. August von Hannover 357 Georg III. (England) 2 7 1 Geschichte und Geschichtsschreibung 33, 38, 10 2 , 1 1 6 , 12 2 , 208, 286 f., 386, 456, 478 f., 488, 5 2 1 , 527 ff., 536 f., 546 Geßner, Salomon 250 f., 299, 3 6 1, 3 7 1 Giannone, Pietro 478 Gleim, Joh. Wilh. Ludwig 343 f., 372 Gluck, Christoph W illibald v. 370 Glyndwr, Owain 438 Gneisenau, August Neithardt v. 358 f. Godoy, Emanuel 464 Godwin, W illiam 287 Goens, R ijklof Michael 458 Goethe, Johann W olfgang v. 225, 327, 34 3 ,34 5 f., 356, 372, 37 6 ,39 2 ff., 405, 420, 426, 530 Goethe, Katharina Elisabeth 393 Goodman, Godfrey 158 Goten 69, 74, 85, 495 Gottsched, Johann Christoph 326 ff., 360, 5 3 1 Gozzi, Gaspare 480 Gram, Hans 490 Granville, George (Lord Landsdowne) 199 Grattan, Henry 445 ff. Gravina, Gian Vincenzo 478 Gregor VI. 87 Gregor IX. 87 Grescimboni, Giovan M aria 478 Griechen, Charakter und Nationalismus im Altertum 3 1 ff., 52 ff., 57 f. Griechen, Charakter und Nationalismus in der Neuzeit 5 12 ff., 559 Griechisch-Orthodoxe Kirche s. Östliche Kirche 566
Grimm, Hermann 90 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel v. 3 16 ff. Grotius, Hugo 9, 18 7 f., 323 Gruppengeist u. Gruppenhaltung 1 7 f. Gumerus, Johan Ernst 488 Gunkel, Hermann 17 5 Gustav Adolf (Schweden) 494 Gustav III. (Schweden) 486, 493 f. Guzman, Juan Pablo Viscardo 469 Habsburger Monarchie 109 f., 14 3 f., 1 8 1 , 1 9 5 ,3 1 3 , 3 1 5 , 4 5 3 ff., 459, 503 ff., 520, 526, 529, 556 f. Hadrian, Kaiser 14 4 Hahnzog, Christian Ludwig 346 Hajn6czy, Jozef 5 10 Hakluyt, Richard 15 6 I Ialifax, Marquess of, s. Savile, George Haller, Albrecht v. 360 Hamann, Johann Georg 334, 396 f., 479 Hamilton, Alexander 263, 304 Hanka, Johann Alois zu Hankenstein
533
Hannover 357, 359, 401 Harris, Howell 440 Hartmann, G. D. 367 Haydn, Joseph 370 Hebräer, s. Juden Hebräische Propheten 39, 42 ff., 166 f., 17 1, 293, 4 17 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 480 Heiliges Römisches Reich 79, 88 ff., 94, 10 0 ,1 2 9 f., 13 4 f., 3 12 , 3 1 5 , 330, 352, 368, 374, 386 Heine, Heinrich 397 Heinrich IV., Kaiser 87 Heinrich VII., Kaiser 90 ff., 94, 99 Heinrich IV. (England) 438 Heinrich VIII. (England) 15 3 , 439 Herder, Johann Gottfried 20, 240, 3 14 ,
332 , 33 5 - 342 , 345, 381 / 395 / 405 ®·/
460, 479, 524 f., 528, 530, 534 ff. Herodot 54 f., 409 Hintze, Otto 338 Hiob 45 Hobbes, Thomas 17 5 , 235, 241
Holberg, Ludwig 487, 490 Holland, s. auch Niederlande 636 ff. Homer 52, 33 3, 360, 400, 4 17 Hooker, Richard 256 Horaz 64 f. Hugenotten 339 Hugo, Victor 557 Humanismus 1 1 8 , 1 2 1 , 223 in Deutschland 13 4 ff. in Frankreich 1 2 7 1 in Italien 1 1 7 f., 1 2 1 f. Humanitas 64 f., 7 7 ,10 0 , 1 2 1 , 2 17 , 350, 4x3 ff. Humphrey, David 306 Hundertjähriger Krieg 1 1 0 Hus, Johann 10 7 ff., 4 15 , 535 f. Hussitentum 108 ff., 530 ff. Hutten, Ulrich v. 1 3 1 , 13 9 ff. Ihre, Johan 493 Indianer 15 0 , 298, 467 Indien 3 1 1 , 334, 422 Individualismus 1 1 6 , 16 5 , 19 0 , 205 f., 216 , 236 f., 382 f., 435 Industrialismus 4 3 1, 461 Innocenz III. 87, 90 Innocenz IV. 87 Internationalismus, s. Universalismus Irland 15 3 , 1 7 1 f., 202, 441 f. Irischer Nationalismus 444 f., 4 5 1 Isabella von Kastilien 146 Iselin, Isaak 353 ff., 3 6 1, 365 Islam 62, 77 ff., 94, 14 5 ff. Island 490 Isokrates 54, 57, 59 ff., 65, 373 Italien 9 1, 1 2 1 , 556 f. Italienisches Nationalbewußtsein 90, 95 ff., 12 3 f., 477, 482 ff. Iwan IV. (Rußland) 545 Jacobi, Johann Georg 382, 397 Jakob II. (England) 434, 443 Jansenismus 18 2 , 220 Jay, John 264, 305 Jeanne d'Arc 1 1 0 Jefferson, Thomas 257, 260, 262 f., 266, 280 ff., 288 f., 29 1 ff., 308
Jehuda I. 49 Jeremias 35, 43, 45, 87 Jesaia 45, 48 f., 1 7 1 Jesuiten 14 9, 18 7 , 2 2 1, 464, 467, 4 71, / ° / 528 Jesus 3 7 , 50 f., 70 ff. Johann V. (Portugal) 4 71 Johannes XII. 88 Johannes XXIII. 106 Johnson, Andrew 307 Jones, Griffith 440 Jonson, Ben 15 6 Jordanus von Osnabrück 102 Joseph II. (Habsburg) 229, 35 5, 368, 398 f., 4 10 f., 4 17 , 459, 4 61 ff., 475, 507 ff., 529 f., 533 Josua 48 Juden in Europa 146, 334, 4 17 f., 470 502 Jüdischer Charakter 3 1 ff. Jüdischer Nationalismus 3 1 f., 38 ff., 62, 4x7 f. Jüthner, Julius 60 Jungmann, Josef 534 ff.
499 5 5
Kacic-Miosic 522 Kalb, Johann 358 Kanada 268 Kant, Immanuel 18 3 , 2 19 , 235, 247, 358, 375 ff., 4 12 Kapostas, Andrzej 502 Karadzic, Vuk Stefanovic 522, 528 Kara-Georg 526 f. Karamsin, Nikolai Michailowitsch 500, 547 ff. Karl der Große 77, 8 1, 84 ff., 10 0 f., 13 4 , 136 , 400 422 f. Karl IV., Kaiser 94, 10 7 , 533 Karl V., Kaiser 1 4 1 ff., 14 9, 544 Karl der Kühne 14 3 , 452 Karl I. (England) 265 Karl II. (England) 18 3 Karl VIII. (Frankreich) 1 2 1 Karl von Lothringen 459 Karl III. (Spanien) 463 f., 467, 476 Karl IV. (Spanien) 464
567
Karl XII. (Schweden) 486 Karl Emanuel III. (Sardinien) 476 Karl Eugen (Württemberg) 3 5 1 f. Kastilien 14 6, 14 8 Katalonien 146 Katharina II. (Rußland) 482, 498, 5 0 1,
513 543 545
/ . f· Katona, Stephan 509 Kazinczy, Franz 508 Keating, Geoffrey 443 Kellgren, Johan Henrik 493 Kemal, Mustafa 559 Kemp, Francis, Adriaan van der 457 Kilinski, Jan 502 Kinsky, Franz Joseph 533 Kipling, Rudyard 1 1 Kirche und Staat 7 1 f., 74 ff., 79, 87 ff., 10 5 , 247 f., 295 f. Kleist, Ewald Christian v. 343 Klopstodc, Friedrich Gottlieb 33 3, 335, / ff·/ 4 16 f·/ 420, 489 Knox, Samuel 289 Körner, Georg 5 3 1 Körner, Theodor 376, 388 Kollar, Jan 535 Kollataj, Hugo 499 f., 503 Kolumbus, Christoph 14 4 Komensky, Jan 4x5 Konarski, Stanislaus 498 Königtum 8 8 ,10 0 f., 1 9 1 Königtum in Griechenland 3 1 Königtum in Israel, s. auch Theokratic 3 1 , 42, 8 8 ,1 66, 265 f. Konstantin I. 74 f., 87 Konstantin XI. 5 12 Konstantinopel 74 f., 8 1, 86, 94, 10 5,
373 395
51
3
Konzil von Konstanz 106 Konzil von Lyon 106 Konzil von Vienne 10 6 Kopitar, Bartolomew 534 Korsika 242 ff. Kosciusko, Tadeusz 502 f. Krasicki, Ignaz 500 Kreuzzüge 94, 10 3 , 10 8 , 14 5 Kriege u. Nationalismus 23, 53, 270 f., 283, 358 568
Krizanic, Yuri 523 ff. Kroaten 525 Kulmus, Louise 326 Lafayette, Joseph de 303 Langbek,J akob 490 Langdon, Samuel 26 1, 266 Lavater, Johann Caspar 362 f. Leclerc, Jean 222 Leibniz, Gottfried Wilhelm 223, 322 ff.,
339
Leiper, Thomas 3 0 1 Lenfant, Jacques 220, 222 Lenin 558 f. Lenz, Jakob Michael Reinhold 345 f. Leo III., Papst 77 Lion, Luis de 14 8 f. Leonard, Daniel 268 Leopold II. (Österreich) 463, 475, 526 Le Roy, Louis 1 1 8 Lessing, Gotthold Ephraim 328, 344, 3 7 1, 4 12 f., 4 16 Linhart, Anton 523 List, Georg Friedrich 305 Litauer 38 1 Livius 54, 12 2 Llampillas, Francisco Xavier 465 Locke, John 9, 14 8 ff., 188 , 237, 257 ff., 26 5,27 8 ,29 5, 3 0 8 ,3 2 2 , 456, 480, 488 Lofthus, C. J. 491 Lomonosow, Michail Wasiljewitsch
543
fLotos, Dimitrios 5 17 Lowth, Robert 334 Lucretius 64 Luden, Heinrich 392 Ludwig XII. (Frankreich) 1 1 1 , 12 6 , 12 8 Ludwig XIV. (Frankreich) 18 7 , 19 3, 196 f., 320, 323 f. Ludwig XV. 1 9 1 Ludwig der Bayer 93 f. Ludwig der Heilige 1 0 1 Lukian 140 Luther, M artin 1 3 1 ff., 1 3 6 ,1 3 8 ff., 14 3 ,
313 33 377
/ °/ Lüttich 4 5 1, 4 61 f. Luzan, Ignacio de 465
Lykurg 288, 390 f., 5 1 1 Lyly, John 15 5 Mabillon, Jean 478 M ably, Gabriel de 198, 545 Macaulay, Thomas Babington 17 6 f. Machado, Dio Barbosa 4 7 1 Machiavelli, Niccolô 9 1, 10 5 , 1 1 5 , 1 1 7 , 12 3 f., 1 2 7 , 1 3 2 , 1 3 9 f., 3 4 1, 483 Macpherson, James 225, 333 Madison, James 273, 296, 307 f. Maecenas 68 Magellan, Ferdinand 14 3 Magna Charta 99 Magnusson, A rni 488 Malebranche, Nicolas 220 Mallet, Paul Henri 488 Manuel I. (Portugal) 470 f. Maria Carolina (Neapel) 475 M aria Theresia (Österreich) 18 2 , 19 5 ,
459 475 497 5 7 5*9
» / ° / f· M arnix, Filips van 455 Marot, Clément 12 7 Marsilius von Padua 10 3 ff. Marvell, Andrew 164 Masaryk, Thomas G. 536 f. Mather, Cotton 256 Maupertuis, Pierre Louis 223, 438 Maximilian I., Kaiser 1 3 0 , 1 3 4 ,1 3 6 ,1 4 1 , 14 3 f., 3 15 Mayhew, Jonathan 264 f. M ayr, Martin 256 Mazarin, Jules 18 4 Medici 12 3 Medici, Lorenzo de 12 3 Meinecke, Friedrich 1 8 1 Meißner, August Gottlieb 5 3 1 Melanchthon 12 0 Mendelssohn, Moses 35 3, 372 Merkantilismus 24, 19 2 ff., 2 12 f. Mersch, Jean André van der 463 Messianismus 39 f., 46 ff., 66, 70, 164 Methodismus 18 2 , 329, 438 Michaelis, Johann David 334 Micu, Samuil 506 Mielcke, Chr. G. 3 8 1 Militarismus 340 f., 345, 355, 408, 482
M ill, John Stuart 440, 557 Milton, John 1 6 4 ® ., 17 8 , 235, 258 f., 264 f., 278, 308, 360, 395, 490, 536 Mirabeau, Honoré Comte de 2x4, 237, 240, 347 Miranda, Francisco de 469 Mittelstand io , 1 0 9 , 1 3 1 , 1 5 2 , 1 6 9 , 1 7 3 , 17 7 , 19 2 , 19 6 f., 208, 2 2 1, 258, 325, 370, 4 6 1, 499, 5 19 , 529, 5 5 1 Molyneux, W illiam 444, 448 Monroe, James 302 f. Montaigne, Michel de 12 7 Monte Cassino 83 Montenegro 526 Montesquieu, Charles de 2 x 1, 2 17 ff., 230, 278, 354 f., 369 Montmorency-Laval, Graf v. 348 More, Thomas 1 1 5 , 1 5 6 Morgan, W illiam 439 Morley, Henry 16 Morris, Gouverneur 269 Morris, Lewis 269 Morse, Jedidiah 287 Moscherosch, Hans Michael 320, 527 Moser, Johann Jakob 3 5 1 f. Moser, Friedrich Carl v. 330, 3 5 1 f. Möser, Justus 395, 4 0 1 ff., 420 Moses 34, 38 f., 42, 4x7 Moskau 94, 542 Mozart, W olfgang Amadeus 370 Müller, Christoph Heinrich 2 5 1 Müller, Gerhard Friedrich 544 Müller, Johann Georg 426 Müller, Johannes v. 364, 368 f. Muratori, Lodovico Antonio 478
Napoleon I. 3 0 1 f., 550, 556 Narüszewicz, Adam 500 Nascimento, Francisco Manoel de 473 Nationalismus 9 ff., 39, 1 1 6 , 1 6 1 , 17 9 , 18 2 , 19 4 , 226 f., 275, 290, 309 f., 394 ff., 407 ff., 4 1 7 ! , 555 f. Nationalismus und kulturelles Leben, s. auch Sprache 23, 9 1 , 1 2 7 , 1 5 6 , 1 9 5 , 244 f., 285 ff., 2 9 6 ,3 10 ,3 2 8 f., 4 1 1 f., 4 4 0 ,5 x 8 ,5 3 2 f. 569
J
Sv
Nationalismus u. Mittelalter 79, 8 1, 84, 92 f. Nationalismus u. Religion 21, 8 0 ,10 5 f., 18 1 Nationalismus u. Wirtschaft 23 f., 109, 17 3 , 19 2 f., 2 12 ff., 303 ff., 433 f. Nationalismus, verschiedene Arten 10 , 1 6 2 ,1 7 7 f., 227, 277, 2 8 2 ,30 6 ff.,330, / 334. 426, 433- 520, 536 f., 550 ff. Nationalcharakter 1 5 f., 33 f., 355, 396, \ 409 ff., 423 f. Nationalhymnen 199, 489, 503 Nationalstaat 10 , 23, 25, 29, 53 f., 180, 238 f., 407 f. Naturgesetze und Naturrecht 9, 16 3 , 18 7 ff., 206 f., 2 1 1 , 230, 262 f., 557 Neuengland, s. auch Amerika (Britisch) 2 3 1, 254 f., 264 Nehemia, Prophet 40 f. Nelson, Horatio 435 Nemours, Pierre Samuel du Pont 2x4, 2 19 Neumeister, Erdmann 329 Newton, Isaac 2 17 Nikolaus von Cues 10 2 f. Nicolai, Friedrich 344 Niederlande 14 3 , 19 2 f., 386, 4 5 1 ff. Nietzsche, Friedrich 1 5 , 73, 227, 2 3 1, 236 Nieuwenhuyzen, Maarten 456 Niles, Herzekiah 273, 305 Nipho, Francisco Mariano 465 Noot, Henri van der 462 North, Lord 446 Norwegen 20 f., 4 8 7 0 ., 558 Nowikow, Nikolai Iwanowitsch 545 f. Obradovic Dositej 527 Occam, W illiam 84 O 'Clery, Michael 444 Olafson, Eggert 490 Olympische Spiele 56 Ondaatje, Peter Philip Juriaan Quint 458 O'Neill, Hugh 443 Opitz, Martin 3 2 1 f. Origines 72, 74 57°
Österreich 18 2 Östliche Kirche 80 f., 10 5 , 51X f. Otto I., Kaiser 88, xoo Ottokar II. 532 Owen, Goronwy 440 Paideia 65 Paine, Thomas 260 f., 267, 270, 283, 304, 450 Paisii 5 2 1 , 527 Palacky, Frantisek 4 15 , 534, 536 f. Panaetius 64 Panhellenismus 56, 59 f. Panslawismus 520 ff., 533 ff. Papinian 67 Papsttum 63, 75, 86 ff., 97, 18 2 Paris 394, 557 Parlament 15 2 , 17 7 , 1 9 1 , 494, 496, 5 0 1 Patriotismus 198 ff., 209, 232, 240 f., 257, 432 f., 529 Paulus, Apostel 5 1 f. Payson, Philipps 278 Pazifismus 255 f., 379, 4 15 f. Pdzmdny, Peter 504 Pelzel, Franz Martin 5 3 1 ff. Pendleton, Edmund 263 Pennsylvanien 253 Percy, Thomas 333 Pcrikles 57 Pestalozzi, Johann Heinrich 362 f. Peter I. (Rußland) 323, 524 f., 539 ff.,
547
f· Peter UI. (Rußland) 409 Peters, Hugh 255 Petersen, Julius 3 19 Petrarca, Francesco 95 ff., 1 2 1 , 12 5 , 228, 280, 475 Petrovic, Georg 526 Petrus, Apostel 70 Philanthropie 65, 239, 350 Philip van Limborch 17 6 Philipp von Mazedonien 59 Philipp der Schöne x o i, 10 3 , 12 8 Philipp II. (Spanien) X44, 14 8 f., 386,
453
- 471 Philipp V . (Spanien) 464 f. Philo 36
Physiokraten 2 12 ff., 225, 232 Piemont 476, 482 Pietismus 18 2 , 329 f., 336 Pike, Nicholas 287 Pintard, John 287 Pitt, W illiam 2 16 , 449 Pius II. 10 2 f., 13 4 Pius VI. 475 Platière, Jean Marie Roland 290 Plato 35 f., 42, 53 , 58 f., 64, 2 3 1, 492,
5*4
Plinius 67 Plotin 74 Plutarch 6 1 ,1 9 4 Polen 109, 242 ff., 322, 495 ff., 559 Polis, Ideal der 59, 2 3 1 f., 239 Polybius 64 Pombal, Marquez de 470 ff. Poniatowski, Jösef 5 0 1 Poniatowski, Stanislaus August 498 Pope, Alexander 200, 348 Porthan, Henrik Gabriel 489 Portugal 14 5 , 463, 470 ff. Pososchkow, Iwan Tichonowitsch 54 1 Postei, Guillaume 168 Pot, Philippe 2x0 Poynings, Sir Edward 442 Pratt, Charles, Earl of Camden 259 Preußen 10 8 f., 1 9 4 ,3 1 3 f., 336 ff., 352 f., 356, 375 f., 408, 476, 50t Prévost d'Exiles, Antoine François 222,
225
Price, Richard 2x8, 260, 267, 456 Priestley, Joseph 260, 2 6 7 ,2 8 1,4 36 ,4 4 0 Puchmajer, Antonin Jaroslav 534 Pufendorf, Samuel v. X89, X94, 3 16 Puritaner 1 6 1 , 1 6 3 ff., 17 2 , 258, 337 Pütter, Johann Stephan 352 Puschkin 544 Quäker 252 Quesnay, François 328 Rabener, Gottlieb Wilhelm 328 Raditschtschew, Alexander Nikolajewitsch 545 f. Rae, John 305
Rajic, Jovan 527 Räk6czi, Franz II. 505 Râkéczi, Georg I. 506 Räk6czi, Georg II. 505 Raleigh, Sir W alter 15 6 Rassengedanke 19 f., 39 f., 53 ff., 26 1 f.,
427
Rationalismus 30, 59, 15 7 , 16 5 , 180 , 184 ff., 19 0 , 205 ff., 223 f., 336 ff., 350 Raymond, Daniel 305 Raynal, Guillaume Thomas François 252 ff., 26 1 Reformation 26, x i5 ff., 166, 3 1 3 ,3 2 9 f., 522 f., 528 ff., 536, 560 Regnier, Mathurin 12 7 Reinhard, G raf 394 Religion 2 1, 2 4 ,3 0 ,7 8 ,8x f., 16 9 ,18 0 ff., 248, 295 f., 329, 350, 427, 5 5 1 f. Reljkovié, M atija Antun 527 Rely, Jean de 1 1 2 Renaissance 26, 39, 1 1 5 ff., 15 3 f. 3 x 1, 522, 528, 560 Renan, Ernest xox Rhigas 5 14 ff. Rhode Island X82, 256 Rhys ap Thomas 438 Ribinyi, John 509 Richard Löwenherz 1 5 1 Richardson, Samuel 333 Richelieu, Armand Jean du Plessis 18 0 f., 1 8 4 ,1 8 8 ,1 9 4 ,1 9 6 Riemer, Friedrich Wilhelm 393 Rienzo, Cola di 97 f., 12 5 Rittenhouse, David 289 Rivière, Mercier de la 2 13 Robertson, J. M. 16 Rodie, Michel de la 222 Rochefort, Guillaume de 1 1 2 Rochow, Eberhard 350 Rollin, Charles 220 Romantik 225, 238, 330, 334, 378, 480 Römisches Recht 67, io o , 1 1 3 Römisches Imperium 62 ff., 84, 90, 94, 12 5 , 239, 3x2, 4 17 , 479 Römische Republik 1 1 7 f., 237, 239, 482 Ronsard, Pierre de 12 7 Rothe, Thyge 491 571
Rousseau, Jean Jacques 21, 29, 2 13 , 216, 226 ff., 266, 278, 299, 332 ff·, 350, 360 ff., 365, 369, 37 5 ,3 8 0 ,3 8 2 f . ,397, 402, 407, 424, 456, 469, 4 8t, 488,
491, 499' 508, 536 ' 545- 548 Rowland, Daniel 440 Rudbeck, O laf 492 Rumänien 505 ff., 5 14 , 559 Rush, Benjamin 288 Rußland 94, 3 12 , 334 , 408 f., 422, 4 3 1, 498 ff., 5 1 3 , 523 ff., 535, 537 ff., 555, 559 f· Russischer Imperialismus 538 f., 547 f. Russischer Nationalismus 3 1 1 f., 543 f.,
556
Sachs, Hans 13 4 Safarik, Pavel Josef 535 Saint Pierre, Charles Irenee Castel 246 f.,
323 Säkularisierung 39, 10 2 ff., 1x 6 , 17 5 f., 1 7 9 ,1 8 8 f., 206 f., 5 13 , 539 f. Samuel, Prophet 40, 43 Sanders, Nicholas 442 Sandys, Sir Edwin 255 Sardinien, s. Piemont Sarsfield, Patrick 443 Say, Jean-Baptist 2 16 , 300 Savile, George Marquess of H alifax 202 Scipio Aemilianus M inor 63 f. Scipio Africanus Maior 64 Sebastian (Portugal) 470 Seibt, Karl Heinrich 5 3 1 Seneca 68 Serben 506 f., 525 ff. Servet, Michael 12 0 Seyssel, Claude 12 6 f. Shakespeare, W illiam 15 5 f., 372 f., 420 Sharp, Granville 437 Sidney, Algernon 256, 265, 278, 308 Siebenbürgen 504, 507 Siebenjähriger Krieg 343 f. Sieyes, Emanuel Joseph 198 f. Sigmund, Kaiser 106 Simmler, Josias 13 3 Sincai, Georg 507 Sinclair, Sir John 3 0 1
572
Sklaverei 53 , 67, 288, 297, 437, 472 Skytte, Benedikt 323 Slawen 1 3 , 1 0 8 f., 4 1 1 , 4 15 , 520 f. Slawophilentum 334 , 422, 523 f., 556 Slowaken 535 Slowenen 522 f. Smith, Adam 211, 2 14 ff., 300, 436 Smith, Samuel Harrison 289 Smith, Sir Thomas 15 4 Smith, W illiam 264 Sofronii, Bischof von Vratsa 5 2 1 f. Sokrates 53 , 232 Solon 1 3 3 , 390 f., 5 1 1 , 5 17 Sonnenfels, Joseph v. 345, 356, 392 Sophisten 58 f. Sorben 5 3 1 Spanien 14 2 ff., 464 f. Spanischer Charakter 14 9 f. Spanischer Nationalismus 464 f. Sparta 54, 57 f., 2 3 1, 2 3 3 ,2 3 7 ,2 3 9 ,3 4 0 , 390 f. Spinoza 37 Sprache 1 3 f., 18 , 20, 90 f., 12 6 f., 13 8 f., 14 8 , 18 5 , 19 5 , 2 19 f., 288 f., 3 19 f., 329, 4x0 f., 460, 472 f., 489,504, 509, 5 1 5 f., 535 f. Sprat, Thomas 160 Srbik, Heinrich v. 3 12 Suard, J.-B. Antoine 223 Sully, Maximilien de Bethune 18 4 , 186 Suhm, Peter Frederik 488 f. Sullivan, James 291 Sun-Jatsen 559 Suworow, General 539 Swift, Jonathan 202, 444, 448 Swildens, J. H. 456 Szcchenyi, Stephan 5 10 Scheffner, Johann Christian 396 Schiller, Friedrich v. 22, 3 5 1 , 376, 379, 3 8 1 ff., 483 _ Schlegel, Johann Elias 327 Schlözer, August Ludwig v. 357, 359 f.,
530
Schöning, Gerhard 488 Schottelius, Justus Georg 3 19 Schottland 169
Schtscherbatow, Michael M. Fürst 546 Schubart, Christian Friedrich Daniel 365 ff., 369 Schuwalow, Iwan Iwanowitsch 543 Schweden 3 16 , 32 2 , 486 ff., 492, 558 Schweiz 22, 250 f., 3 5 1 , 353 f., 3 6 1 ff., 3 65 558 Schweizer Nationalismus 2 2 , 1 3 1 ,3 6 1 ff. Schwendi, Lazarus 3 15
,
Staatsraison 12 4 , 180 , 435 Stammeszugehörigkeit 3 1 Staszic, Stanislaus 499, 503 Stein, Karl Frh. vom u. zum 337 Stephan I. (Ungarn) 504 Stephenson, Magnus 490 Steuben, Friedrich, Baron v . 358 Stiles, Ezra 265, 279, 282, 290 Stoische Philosophie 44, 6 1 f., 64 f., 68,
73/ 187 Stolberg, Friedrich Leopold 400 Struensee, Johann Friedrich 489 Stumpf, Johannes 13 3 Sturm und Drang 226, 332 , 335, 3 8 1 f., 396 f., 483, 494 Sturz, Helfrich Peter 349 f. Tacitus 67, 69, 1 3 5 , 13 7 , 14 0 , 19 7 Tasso, Torquato 15 4 Tatischtschew, W asilij Nikolajewitsch
543
Tegncr, Esaias 495 Telford, Thomas 2 15 Teller, O. K. R. 380 Tertullian 7 1 Theoderich 85 Theodosius d. Gr. 14 4 Theokratie 42, 88 f., 13 2 f. Theophrast 5 17 Thomas von Aquin 83 Thomasius, Christian 2 19 , 324 f. Thomson, James 200, 491 Thorild, Thomas 494 Thukydides 57 f. Timaeus 56 Tocqueville, A. C. de 550, 559 f. Toleranz 17 6 f., 18 3 , 26 1 f.
Tolstoi, Leo Nikolajewitsch 248 Tone, Theobald Wolfe 445, 450 Torlaksson, J6n 490 Tory, Geoffroy 12 7 Toscana 475 Traditionalismus 10 Trajan 14 4 Treitschke, Heinrich v. 32 3, 352 Trubar, Primoz 522 Tschechischer Nationalismus 2 1 , 1 0 7 ff., 4 15 f., 530 Tschudi, Ägidius 13 2 Tucker, Josiah 269 Tudor, Haus 1 5 1 ff., 1 5 6 , 1 6 1 , 1 7 3 , 438 f. Tullin, Christian Braunmann 491 Tupac-Amaru II. 468 Turgot, Anne Robert Jacques 2 1 1 ff., 2 18 , 222 Türkei 17 9 , 186 , 504 f., 5 1 1 f., 520 f.,
525 f·/ 559 Ukraine 495 f. Ulpian 67 Ungarn 3 12 , 503 ff., 556 Universalismus 23, 40, 68 ff., 77, 8 1, 84, 1 1 8 , 12 9 , 18 0 , 3 1 2 f., 32 3, 3 7 1 , 556, 561 Universität Göttingen 357 Universität Halle 2 19 , 324 Universität Leipzig 10 7 , 324 Universität im Mittelalter 10 7 Universität Moskau 543 Universität Paris 10 7 , 220 Universität Prag 10 7 , 532 Uz, Johann Peter 343 Vega, Lope de 465 Velbruck, Francis Charles 461 Vereinigte Staaten von Amerika s. Amerika Verkehrswege 2 15 , 272 f. Verri, Pietro 4 8 0 !, 484 Vico, Giambattista 479 f. Victor Amadeus II. (Sardinien) 476 Victor Amadeus III. (Sardinien) 476 V irgil 64 f., 67, 482 Virginia 295 f., 298
573
V ivar Rodrigo Diaz de 14 5 Vladislavov, Stoiko 5 2 1 Vodnik, Valentin 523 Voigt, Andreas Adaukt 5 3 1 f. Voiture, Vincent 194 Volksdichtung und Volkslieder s. Volkstum Volkstum 10 , 238 f., 3 1 1 ff., 3 3 1 , 334 f., 354 f - 4 07> 420 ff., 473, 488 f., 525 ff. Volkssouveränität 9, 209 f., 227, 235 ff. Volney, Constantin François 287 Voltaire, François Marie (Arouet) 14 f., 208 f., 2x7, 223, 229, 252, 278, 294, 348, 394, 402, 4 3 1, 488 Vonck, Jean François 462 Vondel, Joost van den 455 f. Voß, Johann Heinrich 400 Wagenaar, Jan 456 Wales 15 2 , 438 ff. Wallenstein, Albrecht v. 19 4 , 3 15 Waller, Edmund 164 Walther v. d. Vogelweide 89, 92 f. Washington, George 2 7 1 f., 296, 303 Webster, Noah 262, 272, 274, 276 f., 278 f., 2 8 1, 283, 285 ff., 289 ff., 297 Weckherlin, Wilhelm Ludwig 367 Weltstaat s. Universalismus Werböczi, Istvdn 504 Wergeland, Nicolai 491 Wesley, John 437 Wessel, Hermann 490 Westfälischer Friede 18 0 ff., 19 4 f., 3 13 , 380
Weströmisches Reich 78, 84 Westliche Zivilisation 27, 3 t , 62 f., 82, 17 2 , 17 9 , 205, 282 Widukind 86 Wiedertäufer 1 1 9 , 13 2 , 1 6 1 Wieland, Christoph Martin 344, 4 5 1,
356,
373 / 531
Wilberforce, W illiam 438 Wilhelm I. (Oranien) 453 Wilhelm IV. (Oranien) 454 Williams, Roger 30, 18 2 f., 256, 295 Wilson, Woodrow 307, 558 f. Wimpheling, Jakob 13 6 Winckelmann, Johann Joachim 224 f.,
345 / 372
Winkopp, P. A. 346 Winthrop, John 256 Wise, John 257 Witherspoon, John 270 Wolzogen, Henriette v. 382 Wood 333 W ybicki, Josef 503 Wycliffc, John 1 0 7 , X09 Xenophobie 1 1 f. Young, Arthur 2 15 Young, Edward 200, 225 f., 333 Zenon 6 1, 64 Zimmermann, Johann Georg 350 Zizka, Johann 109 Z rinyi, Nikolaus 505 Zw ingli, Ulrich 1 3 1 ff.
Welt im Werden W ir e rle b e n das E n tsteh en e in e r te c h n is c h -in d u s trie lle n W e ltzivilisa tio n . Ih re P rob lem e lassen sich mit den h e r köm m lichen
B e tra ch tu n gsw e ise n
w eder
lösen
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erfa ssen . D a h e r haben sich auf den ve rsc h ie d e n ste n W is s e n sg e b ie te n neue D en k m ode lle und n e uartige M e tho den h e ra u s g e b ild e t. Die R eihe »W e lt im W e rd e n « w ird d ie s e Ideen und ih re A n w e n d u n g auf u n se re ve rä n d e rte s o zia le , w irtsch a ftlich e und k ulturelle W irk lich k eit in A b h a n d lu n g e n h e rv o rra g e n d e r W isse n sch a ftle r da rstelle n .
D ie fo lg e n d e n Th e m e n k re ise w e rd e n b e h a n d e lt:
Philosophie der Gegenwart Kybernetik Sprach- und Zeichentheorie Spieltheorie und soziales Verhalten Mechanisierung von Denkprozessen Planung Genetik und Evolution Humanökologie Gehirnforschung und Sozialpsychologie Massenkommunikation Bevölkerungslehre
Inhalt
V o rw o rt..............................................................................................................
5
1 . Kapitel Einleitung ................................................................................... Das Wesen des Nationalismus
9
2. Kapitel Israel und Hellas ..................................................................... Vom Stammessystem zum Universalismus
31
3. Kapitel Rom und das Mittelalter ........................................................ Die universale Überlieferung
63
4. Kapitel Renaissance und R efo rm atio n ................................................. 1 1 5 Das Erscheinen des Nationalismus 5. Kapitel Die souveräne N a t i o n ...............................................................179 Fürst und Volk 6 . Kapitel Einer neuen Welt entgegen........................................................ 249
Die Verheißung eines freien Volkes 7. Kapitel Das Erwachen in der alten W e lt ............................................... 309 Vergangenheit und Volkstum 8 . Kapitel Das Erwachen in der alten Welt
...........................................4 3 1
Die Suche nach neuer Geschichte Nachwort
....................................................................................................... 555
R e g is te r..............................................................................................................562
Die Neue Serie Paperbacks b rin gt w ich tig e ältere und neue W erk e d e r L ite ra tu r und der W issensch aft d e r G e sch ich te und d e r Z eitg e sch ich te . L IT E R A T U R Theater
Henrik Ibsen: Meisterdramen Eugene O’N e ill: Meisterdramen I Eugene O’N e ill: M eisterdramen II (Septem ber 1962) Theatrum Mundi, Englische und irische Dramen Theatrum Mundi, Am erikanische Dramen der Gegenwart Theater im S. Fischer Verlag I (April 1962)
Roman
Thomas Mann : Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde André Schwarz-Bart: Der Letzte der Gerechten (O ktober 1962)
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Bruno W alter: Thema und Variationen L e o T ro tz k i: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie Harry Grpf Kessler: Gesichter und Zeiten. Erinnerungen (A pril 1962)
W ISSENSCHAFT Sigmund F reud: Das Unbewußte Sigmund Freud: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. 1897-1902. Briefe an W ilhelm Fließ Panorama des zeitgenössischen Denkens Henri Bergson: Die beiden Quellen der Moral und der Religion ■ Materie und Gedächtnis (April 1962) W elt im W erden
P. B. M edawar: Die Zukunft des Menschen (Septem ber 1962) Oskar M orgenstern: Strategie — heute (Septem ber 1962) Stafford Beer: Kybernetik und Management (O ktober 1962)
G ES C H IC H TE UND ZEITG ESC H ICH TE Raymond L. Bruckberger: Amerika, Die Revolution des Jahrhunderts Leo T rotzki: Geschichte der Russischen Revolution Henri Pirenne: Geschichte Europas, Von der Völkerwanderung bis zur Reformation Chester W ilm ot: Der Kampf um Europa, Von Dünkirchen bis Berlin Leonhard S chapiro: Die Geschichte der Kom munistischen Partei der Sow jetunion Hans K ohn: Die Idee des Nationalism us Am aury de R iencourt: Die Seele Chinas Dov Joseph: Die Belagerung von Jerusalem (A pril 1962) Hansjakob S tehle: Nachbar Polen, Land zwischen Ost und West (O ktober 1962)
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Hans Kohn Die Idee des Nationalismus Unter den Kräften, die unser Schicksal tjestimmen, ist der Nationalismus noch immer eine der gewaltigsten. Denn während er in Europa an Viru lenz eingebüßt hat, entfaltet er sich erst jetzt in A frika und Asien. Ohne Schw ierigkeit bedient man sich dieses Begriffes; ergibt sich aber die Notw endigkeit der D efinition, so stockt man. Was sind die Wesensele m ente? Geschichte, Sprache, Schicksal oder R eligion? Begegnen wir dem Phänomen w irklich erst im achtzehnten Jahrhundert? Setzt es sich nicht vielm ehr aus Elementen zusammen, die schon im Altertum vorgeform t w urden? Kohn, der als Bürger eines Reiches aufwuchs, das von der Sprengkraft des Nationalism us zerstört werden sollte, hat sich imm er w ieder m it diesen Problemen beschäftigt: In der Weite Rußlands, in den intellektuellen Zirkeln von Paris und London, in den Städten des Nahen Ostens und schließlich in den Seminaren amerikanischer Uni versitäten. Bald fand diese Auseinandersetzung in Büchern ihren N ieder schlag, die der Verfasser „V o rstu die n ” zu diesem W erk nennt, das 1944 bei M acm illan in New York veröffentlicht wurde und dem in der eng lisch sprechenden W elt großer Erfolg beschieden war. 1950 folgte bei Lam bert Schneider die deutsche Ausgabe. Die vorliegende Fassung w urde vom Autor gestrafft, um die wissenschaftlichen Anm erkungen gekürzt, und m it einem Nachwort versehen.
Hans Kohn geboren 1891, verbringt seine Jugend in Prag, kämpft in der k. u. k. Armee, bleibt als Kriegsgefangener bis 1920 in Rußland. Er beobachtet in den folgenden Jahren das Phänomen des Nationalism us als Histo riker und Korrespondent in vielen Teilen der Welt. 1928 erscheint »Die Geschichte der nationalen Bewegung im vorderen Orient«, 1931 »Natio nalismus und Im perialism us im vorderen Orient«. 1934 übersiedelt Kohn nach Am erika, wo er an verschiedenen Universitäten lehrt. 1944 er scheint sein Hauptwerk «Die Idee des Nationalismus«. »Wege und Irr wege — Vom Geist des bürgerlichen Deutschland« erscheint 1961 in Deutschland und schließt vorläufig das in viele Sprachen übersetzte Werk Kohns ab.