Von William Marshall sind außerdem im Goldmann Verlag lieferbar: Das Skelett auf dem Floß • 5403 Feuerkiller • 5438
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Von William Marshall sind außerdem im Goldmann Verlag lieferbar: Das Skelett auf dem Floß • 5403 Feuerkiller • 5438
WILLIAM MARSHALL
Die Katze frißt den Schmetterling PERFECT END
Kriminalroman Deutsche Erstveröffentlichung
Wilhelm Goldmann Verlag
Aus dem Englischen übertragen von Friedrich A. Hofschuster Herausgegeben von Friedrich A. Hofschuster
Made in Germany • 12/82 • 1. Auflage • 119 © 1981 by William Marshall »Published by arrangement with Lennart Sane Agency« © der deutschsprachigen Ausgabe 1982 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagentwurf: Atelier Adolf & Angelika Bachmann, München Umschlagfoto: Richard Canntown, Stuttgart Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Krimi 5234 Lektorat: Annemarie Bruhns • Herstellung: Sebastian Strohmaier ISBN 3-442-05234-3
Die Hauptpersonen Kriminal-Chefinspektor Harry Feiffer Kriminalinspektoren Philip Auden William Spencer Christopher O’Yee
Leiter der Polizeistation Yellowthread Street in Hongkong – jagt zusammen mit seinen Mitarbeitern ein Phantom
Sergeant Koh Constable Shen Constable Tong
Polizeibeamte vom Revier in der Fade Street – fühlen sich unterbezahlt
Prof. Kim
Experte für die Geschichte des Altertums – kennt sich aber auch mit Waffen aus sowie
der Schirmverkäufer, der Mann, der die Zukunft verkaufte, und der Taifun Pandora. Der Roman spielt in Hongkong.
Das Hong Bay-Viertel von Hongkong ist eine freie Erfindung des Autors, ebenso wie die Menschen, die es, aus welchem Grund auch immer, bewohnen.
Katzen und Hunde In der Fade Street; es ist 7.55 Uhr morgens. Der Schirmverkäufer war das klassische Bild eines erschütternden, rührenden Elends. Nicht, daß jemand den Schirmverkäufer sehen konnte, um ihn als einen der letzten Vertreter chinesischer Not und restlosen geschäftlichen Niedergangs zu erkennen – o nein, das wäre zuviel verlangt gewesen. In der Fade Street gab es nur einen, der sich freute – der Regen, und der Schirmverkäufer setzte ein bitteres Lächeln auf, nickte dem in schrägen Fahnen niedergehenden, strömenden Wasser zu, das seinen Vorrat ruinierte, seine Kunden vertrieb und das Glück seiner Familie vernichtete, und dachte gehässig: Nur so zu. Freut mich, daß es dir so gut gefällt. Ich bin richtig froh, daß du nicht nur das Nieseln bist, das der Wetterbericht vorausgesagt hat – eine Wasserkaskade bahnte sich ihren Weg durch einen Riß in einem Standschirm, der seinen Vorrat schützen sollte, und ruinierte ihn endgültig –, ja, ich bin froh, daß du kein normaler Regen bist, sondern eine stinkende, gottverdammte Sintflut! Und da war auch noch der Hund. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in der gottverdammten Polizeistation Fade Street, heulte dieser Hund nun schon seit zwei Stunden, ununterbrochen und in höchsten Tönen. Der Schirmverkäufer sagte durch die zusammengepreßten Zähne: »Diesen Hund bring’ ich um. Und wenn es das letzte ist, was ich tun kann, bevor mich der Hunger und die Pleite geradewegs ins nächste Wohltätigkeitsspital treiben, wo ich mein Leben aushauche: Ich geh’ hinüber und hinein in die Polizeistation, packe den Köter an der Gurgel und dreh’ ihm die Luft ab!« Der Regen ließ für Augenblicke nach, und der Schirmverkäufer, der schon befürchtete, er hätte etwas gesagt, was den Regen beleidigt hätte in der Ausübung seiner verschwörerischen Tätig7
keit, ihn, sein Geschäft und die ganze Kronkolonie unter einem Ozean von Wolkenpisse zu begraben, warf drei von seinen Schirmen zu Boden, trampelte darauf herum und schrie in höchsten Tönen: »Nein, hör jetzt nicht auf! Du hast es ja fast erreicht, hast mich schon beinahe erledigt! Hör jetzt bloß nicht auf! Wenn du nachläßt, könnte vielleicht doch noch ein Kunde auf die Straße kommen und sich einen gottverdammten Regenschirm bei mir kaufen wollen!« Der Regen, der zweifellos der Vorbote einer Katastrophe noch größeren Ausmaßes war, eines den ganzen Planeten aus der Bahn bringenden Taifuns, der sich gerade irgendwo da draußen im Südchinesischen Meer zusammenbraute, hielt zischend inne, um sich die Worte des Schirmverkäufers durch den Kopf gehen zu lassen. Und der Schirmverkäufer schmähte: »Nein, überleg es dir nicht lang! Ich habe die Ersparnisse meines Lebens in diese Schirme investiert und besitze noch ein paar, die du noch nicht durchnäßt hast! Hör jetzt nicht auf, sonst weckst du in mir noch eine leise Hoffnung, daß ich weiterleben könnte, in einem Armenhaus oder in einer dreckigen Gasse, unter elenden Verhältnissen!« Der Hund ließ ein Heulen von Stapel, irgendwo drüben im Polizeirevier, das eines Elefanten würdig gewesen wäre. Und der Schirmverkäufer brüllte: »Hör lieber auf deinen Freund, diesen Köter – du weißt schon, diese gequälte Seele, die selbst dann, wenn es nicht in Strömen regnen würde, jeden Kunden mit ihrem Geheul verscheuchen würde – gib jetzt nicht auf, führ dein Werk zu Ende und ertränke mich hier, wo ich stehe!« Der Regen, der seine Richtung leicht geändert hatte, ergoß sich auf ihn wie ein Wasserfall. Und der Schirmverkäufer sagte: »Ich werde diesen Hund erwürgen. Und wenn ich für tausend Jahre ins Gefängnis gehen müßte – ich werde diesen Köter erwürgen!« Der Hund, der inzwischen ein neues Stadium von Wahnsinn erreicht zu haben schien, mußte, dem Geräusch nach zu urteilen, seine Schnauze in die allgemeine Richtung des Schirmverkäufers gedreht haben und stieß nun ein verstärktes Heulen aus. Zugleich vernahm man ein das graue Himmelsgewölbe erschütterndes Stöhnen. Der Schirmverkäufer suchte nach seinem besten, teuer8
sten, handgearbeiteten unverwüstlichen Schirm, riß den Stoff und die Speichen vom Schaft, stieß mit der Stockspitze gegen den Standschirm, um die Brauchbarkeit des verwüsteten Schirms als Stichwaffe zu erproben, und sagte ganz beiläufig zum Regen, während er sich in Richtung auf das Polizeirevier in Bewegung setzte: »Ich bin gleich wieder da. Ich gehe nur schnell hinüber in den Bullenstall und stech’ das Ding hier dem Hund mitten ins Herz. Vielleicht gelingt es mir nicht, vielleicht gehört der Hund einem der Bullen, der dieses Geheul für nichts weniger als paradiesische Sphärenklänge hält, und vielleicht prügelt er mich, wenn ich es versuche, bis ich nur noch ein Haufen blutigen, verrottenden Fleisches bin, aber es ist mir egal. Oder sollte es mir vielleicht nicht egal sein? Ich bin glücklich, auf meine Weise.« Der Schirmverkäufer, dessen Zukunft als Ärmster der Armen sich endgültig und unwiderruflich abzuzeichnen begann, und der alle nagenden Wünsche und Zweifel seines sorgenvollen Lebens ein für allemal abgestreift hatte, ging über die Straße, schaute hinauf zum Himmel, so daß der Regen ihm noch einen letzten, heftigen Guß verpassen konnte, bevor er auf immer als Verbrecher unter einem festen Dach mit meterdicken Mauern verschwand, und stieß die Tür des Reviergebäudes auf. Aber die Tür des Reviergebäudes ließ sich nicht aufstoßen. Ein Regenschwall, der sich offensichtlich extra zu diesem Zweck am Dach des Hauses gebildet hatte, hüllte ihn ein wie in eine Decke und durchnäßte den Schirmverkäufer bis auf die Haut. Und der Hund heulte ohne Unterlaß. Der Schirmverkäufer zuckte mit den Schultern und sagte: »Großartig. Anscheinend weiß der Bulle, dem der Hund gehört, daß ich komme, und da er beschlossen hat, mich abzuknallen, weil ich eine tödliche Waffe in der Hand habe, will er es lieber am Hintereingang tun, damit es keine Blutflecken auf dem Teppich seines Büros gibt.« Und der Schirmverkäufer fuhr fort: »Schön – das kann ich verstehen. Als ich noch am Leben war, habe ich auch Teppiche und Sitzmatten und alle möglichen Dinge besessen, die mir lieb und teuer waren.« Dann brüllte der Schirmverkäufer gegen die versperrte Tür: »Großartig! Fein! Wie ihr meint! Also 9
gehe ich zum Hintereingang.« Und der Schirmverkäufer, der durch die – natürlich! – zehn Zentimeter hohe Flut watete, die sich über die Einfahrt zum Parkplatz auf der Rückseite des Gebäudes ergoß, warf einen Blick ins Innere der warmen, trockenen Polizeiwagen, die dort parkten. Seinerzeit, ehe er unwiderruflich in den Stand des an Armut dahinsiechenden Bettlers gesunken war, hatte er sich auch mit dem Gedanken getragen, einen Wagen anzuschaffen. Aber der Hund und der Regen hatten dafür gesorgt, daß es nicht dazu kommen würde. Der Schirmverkäufer erprobte die Spitze seines Stocks. Der Hund, der offensichtlich auf telepathische Weise gewarnt wurde, hielt einen Augenblick inne mit seinem Geheul, und der Schirmverkäufer, der sich seinen Weg bahnte durch eine tiefe Pfütze neben einem weiteren Wagen, einem luxuriösen Automobil reicher Leute, brüllte: »Hör jetzt bloß nicht auf, du räudiger Auswurf eines in Kürze aufgespießten, gottvergessenen Köters – heul ruhig weiter!« Jetzt hatte er die Ecke des Gebäudes erreicht, drückte sich mit der Schulter gegen die Hintertür, würde gleich danach die paar Schritte durch den schmalen Korridor des Polizeireviers gehen, einen Siegesschrei des Triumphes ausstoßen, wenn er den geifernden Gegner erblickte, einen den Kopf verwirrenden, das Blut in Wallung bringenden Schwall des Triumphes fühlen angesichts des speicheltropfenden Fangs der großen Bestie, die jetzt gleich den kalten Stahl in ihrem Herzen fühlen würde. Aber der Schirmverkäufer blickte in Wirklichkeit hinunter auf ein Bild armseligen, rührenden Elends, das mit einer Leine an die Hintertür des Polizeireviers gebunden war, und sagte: »Oh.« Ein trauriges, braunes Augenpaar warf ihm einen scheuen Blick zu; Augen, die in einem gesenkten, jämmerlichen Kopf steckten. Und eine Träne funkelte in dem einen der jetzt wieder nach unten gerichteten Hundeaugen. Ein – Der Schirmverkäufer sagte noch einmal: »Oh ...« Und der Hund, dessen Hoffnung neu erwacht war, wedelte mit dem Schwanz ... Der Schirmverkäufer senkte den entblätterten Schirmstock. Die braunen Augen sahen ihn an ... Der Schirmverkäufer sagte leise und mit weicher Stimme ... 10
Aber der Regen, der keine Rücksicht nahm auf die rührende Szene, hatte wieder mit voller Stärke eingesetzt, und der Schirmverkäufer brüllte statt dessen: »Verdammter Scheiß-Regen. Du mußt aber auch alles verderben, alles!« Einen Augenblick lang sah der Schirmverkäufer einen Schatten hinter einem der dunklen Fenster an der Seitenfront des Gebäudes. Es mußte eine optische Täuschung sein, ein Licht, das sich irgendwie spiegelte. Jetzt beugte sich der Schirmverkäufer hinunter und streichelte den Kopf des Hundes. Dann sagte er zum Hund: »Komm, ich laß dich hinein.« Der Schatten war verschwunden. Der Schirmverkäufer stieß die Hintertür des Reviergebäudes tatsächlich auf und sah etwas an der verputzten Wand des leeren Vorraums, das ihm wie die Spur von Klauen vorkam. Er streichelte noch immer den Hund, der an seiner Seite geblieben war, und ging durch den Vorraum in den Mannschaftsraum. Auf den Schreibtischen standen Kaffeetassen, Akten, die in Holzkörbchen geordnet waren oder sich auf den Schreibunterlagen stapelten. Neben einem der Stapel lag ein offener Füllhalter, und links davon stand eine Flasche schwarzer Tinte, deren Deckel abgeschraubt danebenlag. Auf einem Seitentischchen lag ein Revolver neben einer Schachtel mit Reinigungsgerät, und die sechs messingumhüllten Patronen standen aufgereiht wie die Soldaten mit Bleihelmen daneben. Über der Hintertür des Raumes befand sich eine Wanduhr, die laut und vernehmlich tickte. Der Schirmverkäufer sagte behutsam: »Hallo ...? Ist da jemand?« Irgendwo in einem anderen Raum klingelte ein Telefon. Der Schirmverkäufer ging hinaus durch die Hintertür und betrat einen längeren Korridor. Auch hier sah er die Kratzspuren an den Wänden. Und wieder sagte der Schirmverkäufer behutsam: »Hallo! Ich – ich habe einen Hund gefunden ...« Der Regen trommelte auf das Ziegeldach über ihm. Der Schirmverkäufer hörte noch das Ticken der Wanduhr in dem hinter ihm liegenden Raum. Jetzt betrat er den Verhörraum und sah einen Polizeimantel, der ordentlich auf einem Kleiderbügel an einem Kleiderständer hing. Das Telefon, wo immer es sein mochte, hörte auf zu klingeln, und im Revier war es still. 11
Der Hund stieß ein leises Knurren aus und blieb stehen. Der Schirmverkäufer sagte nervös: »Hallo ... Ah ... Ist da jemand ...« Er entdeckte wieder eine tiefe Klauenspur an der Wand. Diesmal schien sie von einer einzelnen Kralle verursacht worden zu sein. Die Kratzspur hatte sich in Brusthöhe tief in den Verputz eingegraben und hörte ein paar Zentimeter danach abrupt auf. Der Schirmverkäufer vernahm, wie der Hund an seiner Seite einen grollenden, kehligen Laut ausstieß. Der Raum, in dem der Schirmverkäufer von draußen einen Schatten zu sehen geglaubt hatte, befand sich hinter einer verschlossenen Tür, direkt vor ihm. Jetzt schien selbst das Rauschen des Regens verstummt zu sein. Auf dem Schreibtisch im Verhörraum stand auch eine Tasse Kaffee, halb ausgetrunken. Der Schirmverkäufer berührte die Tasse. Der Kaffee war längst erkaltet. Der Schirmverkäufer warf einen Blick in den Aschenbecher neben der Tasse. In diesem lag eine Zigarette, die ganz abgebrannt war, ohne daß jemand sie berührt hatte; die gesamte Länge der Asche hing noch am Stummel. Jetzt warf der Schirmverkäufer einen Blick hinunter auf den Hund und bemerkte, daß das Tier zitterte. Mit trockener Kehle sagte der Schirmverkäufer leise in Richtung auf die geschlossene Tür: »Hallo? Ist jemand da?« Dann schaute er hinunter auf den Boden. Es hatte die ganze Nacht geregnet, aber abgesehen von seinen eigenen Nässespuren und denen des Hundes war auf dem Boden nichts davon zu sehen. Er mußte erst vor kurzem frisch poliert worden sein; man roch noch das Bohnerwachs. Der Schirmverkäufer sagte, nervös, da sich die Tür vor ihm langsam öffnete: »Äh – es ist wegen – es ist wegen dem Hund ...« In dem Raum, wo er den Schatten gesehen hatte, war es, wie er feststellte, als sich die Tür öffnete, stockdunkel. Der Schirmverkäufer sagte: »Allmächt-« Vor ihm, im Halbdunkel des Verhörraums, zu ihm herausstarrend, mit großen, weit aufgerissenen, bewegungslosen Augen, war der Kopf einer Riesenkatze, die aufrecht stand wie ein Mensch. Der Schirmverkäufer, der unwillkürlich den Mund weit aufgerissen hatte, sagte: »Allm-« 12
Die Katze hatte einen silbernen Schmetterling im Maul, und sie schien, bevor sie gestört und gezwungen worden war, den Türknopf zu drehen und die Tür zu öffnen, gerade dabeigewesen zu sein, den Schmetterling zu verschlingen. Der Schmetterling lebte noch; er flatterte kurz. Und der Schmetterling hatte drei Flügel. Der Schirmverkäufer sagte: »Alle Götter im Himmel!«, und noch bevor er und der Hund aus der leeren Polizeistation flohen, während der Regen auf das Dach trommelte, schloß sich wieder die Tür zu dem dunklen Raum, und die Riesenkatze war verschwunden. Das ganze Revier war voller Klauenspuren. Der Schirmverkäufer sah noch mehrere davon, während er rannte. In dem dunklen Raum, einen Augenblick, nachdem sich die Tür wieder geschlossen hatte und das Schloß eingeschnappt war, konnte man einen einzelnen Ton vernehmen. Der Schirmverkäufer hörte ihn, während er floh. Ein einzelner Ton ... Es klang, um alles in der Welt, wie wenn jemand auf einem verstimmten Cello einen einzigen Ton angestrichen hätte. Dann war der Ton verhallt, und im Polizeirevier Fade Street, das zwischen den benachbarten Revieren von Hong Bay und North Point lag, herrschte um 8.21 Uhr, während der Regen zum dritten Mal an diesem Morgen nachließ, die Stille einer unterirdischen Gruft.
1 Als ob schon jemals ein Regenguß einem Naturburschen aus dem Gebirge etwas ausgemacht, als ob er sich schon jemals gescheut hätte, mit seinen hochgeknöpften Stiefeln durch die Fluten der Hölle zu waten – es gab keinen himmlischen Spucknapf im ganzen Sassafras County, der ... Am regenbeschlagenen Fenster der Kriminalbereitschaft im Revier Yellowthread Street in Hong Bay rasierte sich Kriminalinspektor Christopher O’Yee mit einem Messer von der Größe eines Zahnstochers aus Arkansas und sagte: »Autsch! Das tut weh!« Ihm gegenüber, am Schreibtisch, saß Kriminalchefinspektor Harry Feiffer, betrachtete O’Yee mit einem gequälten Ausdruck von Mitleid und irrem Humor und fragte: »Was passiert? Warum nimmst du nicht den elektrischen Rasierapparat im –« »Weil Naturburschen wie ich keine elektrischen Rasierapparate haben, und dies aus dem einfachen Grund, weil es in den Wäldern keine Steckdosen gibt, in die man sie einstecken könnte.« O’Yee hob wieder die riesige Klinge. »Was kann ich dafür, daß ich zufällig die gelbe Haut meines chinesischen Vaters geerbt habe? Wenn ich mehr Blut von meiner irischen Mutter mitbekommen hätte, müßte ich mir auch noch die buschigen Koteletten rasieren.« »Da hast du recht«, sagte Feiffer. Er beobachtete mit besorgter Faszination, wie die silberblitzende Klinge über O’Yees Wange schabte. »Aber als echter Naturbursche könntest du dich ja entschließen, einen Bart zu tragen.« O’Yee beantwortete den Vorschlag mit einem knurrenden Laut. Feiffer machte sich Sorgen, daß O’Yee, wenn er in diesem kritischen Augenblick gesprochen hätte, mit durchschnittener Kehle gurgelnd zu Boden gesunken wäre. Jetzt sagte O’Yee: »Ich bin nun mal von Geburt Amerikaner, und ich habe die mittleren Jahre erreicht, und alle echten Amerikaner in mittleren Jahren fühlen 14
wie ich den Ruf der Wildnis.« Er wandte sich Feiffer zu – mit einer sorglosen Bewegung des Messers, die Feiffers Herz einen Augenblick lang zum Stillstand brachte. »Ich habe vor, mich jeden Tag so zu rasieren, weil ich mich abhärten und Erfahrungen sammeln will, um in der Wildnis überleben zu können.« Und noch immer mit dem Messer herumfuchtelnd, fuhr O’Yee fort: »Ich hab’ genug von dem Beruf als Polizist. Die Zeit ist gekommen, wo ich mich verändern muß, und ich habe mich entschlossen, zurückzukehren in die große Wildnis und die rauhe, ungezähmte Natur meiner primitiven Vorfahren.« Feiffer, lächelnd zwar, aber noch immer mit Blick auf das unheimliche Messer, sagte: »Oh. Gut.« Nur immer weiterreden lassen, dachte er und sagte: »Darf ich annehmen, daß es sich dabei um eine unwiderrufliche Entscheidung handelt?« »Ja, das darfst du. Ja.« Und O’Yee fuhr fort: »Du kannst das nicht verstehen, Harry; du bist hier in Hongkong geboren. Aber in einer jeden amerikanischen Seele haust das Verlangen, frei zu sein und eins mit der großen Natur. Du hast natürlich nicht Das rote Mal der Mutigen gelesen«, – Feiffer sagte: »Doch, habe ich«, aber O’Yee ging nicht darauf ein –, »und genau wie bei den Jungen lebt auch in uns allen das Bedürfnis, dem Großen Tod in der Einsamkeit der Weiten entgegenzutreten –« »Wirst du schreiben?« unterbrach ihn Feiffer. Er sah, wie O’Yee sich mühte, ein Gesicht zu schneiden, das der Bedeutung seiner Worte entsprach. »Ich meine – es wäre nett, wenn du mich auf dem Laufenden halten würdest, damit ich weiß, wie’s weitergeht, und damit ich dir gelegentlich ein Stück gesalzenen Speck schikken kann, oder etwas in dieser Preislage ...« »Briefe, die mit dem Schaufelraddampfer befördert werden, brauchen lang, bis sie ihren Empfänger erreichen.« »Ich hätte nicht gedacht, daß es die noch gibt.« Aber er merkte an O’Yees Gesichtsausdruck, daß er den Begriff gewählt hatte als ein Symbol tiefempfundener Erdverbundenheit. Jetzt sagte Feiffer: »Ach so – ich verstehe. Du hast recht. Natürlich dauert es lang.« Und er schenkte O’Yee ein schuldbewußtes Lächeln. »Ich muß zugeben, daß ich das nicht gelesen habe. Was macht denn so ein Naturbursche sonst noch?« Er hoffte, daß O’Yee beim Nach15
denken nicht die Klinge gegen die dünne Fleischschicht am Kinn drücken würde. O’Yee drückte die Klinge nachdenklich gegen das dicke Holz seines Schreibtischs. »Er lernt, treffsicher zu schießen«, sagte er. »Das kannst du doch schon.« »– mit dem Vorderlader.« Feiffer sagte: »Im Ernst?« »Und er härtet sich ab.« »Das dürfte für einen abgehärteten Burschen wie dich nicht allzu schwer sein.« Feiffer versuchte, sich zu erinnern, was er bei amerikanischen Geschäftsleuten in mittleren Jahren gehört hatte, wenn sie sich im hiesigen Hilton begrüßten – vor einem Dinner mit soviel Fett und Cholesterol, daß es jede halbwegs umweltverseuchte Kuh getötet hätte. Feiffer sagte: »Mann Gottes, du siehst ganz schön hartgesotten aus!« Und mit einem britischen Akzent, der irgendwie falsch klang, fügte er hinzu: »Da sieht man, daß Emily sich gut um dich kümmert.« Das Messer wedelte diesen Teil von O’Yees Vergangenheit fort. »Die Tage, wo Emily sich um mich gekümmert hat, sind vorüber. Emily braucht nur noch die Scheite nachzulegen, bis ihr Mann mit dem erlegten Wild nach Hause kommt.« Und er fügte hinzu: »Rattenfleisch, das ist es, wovon die Pioniere im Winter gelebt haben, rohes Fleisch und notfalls das Leder ihrer Schuhe.« »Wirklich?« Feiffer sah, wie sich ein verräterisches Funkeln im Auge des »Oldtimers« bildete, ein Funkeln, das ihm sagte, daß er sich besser vorsah und nicht wie ein Stadtfrack »Wirklich« mit einer solchen stadtfrackhaften, spöttischen Betonung aussprechen durfte. Jetzt sagte er, um das »Wirklich« zu entschärfen: »Du weißt natürlich auch, daß man in jenen Zeiten Maultiere benützte, um sich vorwärts zu bewegen!« »Man benützte die Füße und sonst gar nichts!« sagte O’Yee. »Alles andere ist nichts als Walt-Disney-Krampf. In jenen Zeiten hatte man schon deshalb keine Maultiere, weil man sie sonst in den langen Wintern aufgefressen hätte, um am Leben zu bleiben. Man ging zu Fuß, und genau das werde ich auch tun.« »Gut«, sagte Feiffer. »Sobald es aufgehört hat zu regnen, kannst du zu Fuß hinübergehen ins Revier an der Fade Street und 16
nachsehen, warum Auden und Spencer noch nicht zurück sind.« »Sie sind auch bei Regen zu Fuß gegangen. Wenn sie im Regen gehen mußten, haben sie einen so schnellen Schritt vorgelegt, daß sie ins Schwitzen kamen – bis der Regen zu Nebel verdampfte und die Sonne durch die Lücken in den Wolken spitzte.« Und O’Yee fügte noch hinzu: »Ich habe gelesen, daß niemals auch nur einer von den Männern jener Zeiten an Herzversagen, Krebs oder Schlaganfall gestorben wäre, oder daß er –« Feiffer fragte milde: »Und woran sind sie dann gestorben?« »An der Angst«, antwortete O’Yee leise. Er blickte lange auf das regenüberströmte Fenster, und Feiffer konnte in dessen Spiegelung sehen, daß Tränen in O’Yees Augen standen. O’Yee sagte sehr leise: »Sie wachten mitten in der Nacht auf, hörten ihren eigenen Herzschlag, der die Zeit forttickte, zählten ihre Geburtstage und starben an der Angst, Harry.« Er blickte hinunter auf das riesige Messer in seiner Hand und legte es dann sachte auf das Fensterbrett. »Genau wie ich.« Nach einer weiteren Pause sagte er rasch: »Oder hast du schon jemals einen von diesen alten Naturburschen gesehen, der sorgenvoll ausgesehen hätte?« Feiffer, der sich von seinem Schreibtisch erhoben hatte, sagte freundlich: »He, Christopher ...« »Ja«, unterbrach ihn O’Yee fröhlich, »ich werde mindestens hundert Jahre alt.« »Klar. Aber einmal abgesehen davon: Hat man je von einem chinesisch-stämmigen Naturburschen gehört?« Verdammt noch mal, genau das hatte seine Frau ihm vorgehalten! O’Yee erwiderte wild: »Ich, ja. Oder ist dir Pine Cone Pin kein Begriff?« Dann nahm er wieder sein Messer. »Ach, der«, sagte Feiffer. »Den hab’ ich ja ganz vergessen.« Er hatte vergessen, sich vorzusehen. Der ergraute »Oldtimer«, dessen Seele im Einklang war mit Mahlzeiten aus Rattenfleisch und Schuhleder, blickte durch ihn hindurch mit wütendem Funkeln, dann fuhr er schweigend und verbissen fort, sich in der Spiegelung des Fensters zu rasieren.
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Das Wageninnere füllte sich mit Zigarettenrauch. Blau und scharf stinkend breitete er sich vor der grauen, regenüberströmten Windschutzscheibe aus. Der Fahrer des Wagens kurbelte das Seitenfenster einen Spalt herunter, und der Rauch trieb in Schwaden hinaus in den Regen der Fade Street und wurde ersetzt durch den warmen, feuchten Geruch des Regens. Der Fahrer schwitzte; er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und schaute hinüber auf die Einfahrt zum Polizeirevier. Dort saß der Schirmverkäufer auf dem Rücksitz eines Wagens der Yellowthread Street. Er drehte den Kopf in Richtung Heckscheibe und machte den Hund auf etwas aufmerksam. Sergeant Shens Dienstrevolver befand sich neben ihm auf dem Beifahrersitz; die weiße Schnur war vom Gürtel losgehakt und lag auf dem Boden des Wagens. Er sah eine Bewegung auf der Rückseite des Gebäudes – zwei Kriminalbeamte von der Yellowthread Street, Auden und ... Der andere verschwand hinter einem Wagen, und Shen konnte ihn nicht erkennen. Er leckte sich die Lippen und langte nach dem Kolben seiner Dienstwaffe. Der Schirmverkäufer und sein verdammter Hund wandten sich einen Augenblick vom Heckfenster des Wagens ab. Shen drehte den Zündschlüssel um, wagte es aber nicht, die Scheibenwischer einzuschalten, für den Fall, daß ihn jemand dabei beobachtete. Er fuhr langsam durch die verlassene Straße und bog in die Singapore Road ein, wobei er sich nach vorn beugte wie ein nervöser Fahrschüler, der den Abstand zwischen sich und der feindlichen Straße so weit wie möglich verringern will. Sobald er um die Ecke gebogen war, schaltete er die Scheibenwischer ein. Während seine Hände am Lenkrad zu zittern begannen und er nur mit Mühe einen stummen Schrei unterdrückte, trat er das Gaspedal durch, und die Reifen, die zunächst auf der glatten Straße durchdrehten, faßten protestierend, beschleunigten die Fahrt und rissen Shen fort von diesem entsetzlichen Ort in die Geborgenheit des strömenden Regens.
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In der Fade Street sagte Kriminalinspektor Auden mit drohender Betonung: »Wenn das ein Scherz sein soll, dann kann sich derjenige auf etwas gefaßt machen.« Wie Kriminalinspektor Spencer watschelte er vorsichtig auf Socken über den gewachsten Korridor, um keine Abdrücke auf dem Boden zu hinterlassen. Dazu hielt er sich die Hosenbeine hoch wie eine badende Lady zur Zeit der Jahrhundertwende ihr Röckchen. Warnend sagte er: »Wenn jetzt irgendeiner von den Kollegen plötzlich mit einer Kamera in der Hand aus einer Tür kommt und glaubt, er könnte das blödeste Polizistenfoto seit der Erschießung von Lee Harvey Oswald bekommen, dann ramme ich ihm die Blitzbirnen in den Rachen.« An der Wand war eine von diesen seltsamen Krallenspuren zu sehen. Auden sagte: »Da, wieder einer.« Spencer folgte vorsichtig Audens Spuren, und Auden sagte: »Paß auf, wo du hintrittst.« Er erreichte den Mannschaftsraum und sah das offene Tintenfaß und den Füllhalter, der zum Füllen bereitlag. Regen schlug auf das Dach. Auden wartete einen Augenblick, dann fragte er: »Es gibt doch keine großen Raubkatzen hier in Hongkong, oder, Bill?« »Das Licht ist an«, antwortete Spencer. Er schaute sich in dem verlassenen Raum um und sah eine Kaffeetasse, halbvoll mit Kaffee, welcher allmählich eintrocknete und bereits einen Rand gebildet hatte. Dann sagte er leise: »Phil, wenn du von einem Einsatz kommst, wo verstaust du dann deine Waffe?« Er ging vorsichtig über den dick gewachsten Boden und öffnete mit einem Finger die oberste Schublade des am nächsten stehenden Schreibtisches. »In der obersten Schreibtischschublade«, antwortete Auden. Und in der obersten Schreibtischschublade lag ein Revolver im Halfter, daneben ein Paar stählerne Handschellen. Auden sagte: »Verdammt!« Am Rücken des hölzernen Schreibtischstuhls war wieder eine Krallenspur: ein tiefer Kratzer, der mitten in einem Bogen abbrach. Auden bückte sich und schnüffelte daran. Auch die Stuhllehne war frisch gewachst. Man konnte ganz schwach den Geruch eines Desinfektionsmittels wahrnehmen. Die Lichter zuckten und verdunkelten sich, während draußen ein Blitz niederfuhr, und Auden sagte unnötigerweise: »Der Stuhl ist auch gesäubert worden.« Spencer rief: »Hallo – ist jemand hier?« 19
»Kennst du eigentlich die Kollegen von der hiesigen Station?« fragte Auden. »Irgendeinen von den Leuten?« Spencer schüttelte den Kopf. Auden berührte den Kolben seines Revolvers unter der Jacke. »Ist einer von ihnen vielleicht musikalisch?« Spencer schaute ihn neugierig an. »Ich meine, dieser Celloton, oder was immer es gewesen ist, was der Schirmverkäufer da gehört hat –« Die Zimmerdecke knackte, und Audens Hand umschloß den Revolverkolben. Es war nur der Regen, der auf das Dach trommelte. Jetzt sagte Auden: »Du hast den Kerl doch eingeschlossen, oder? Den Schirmverkäufer, auf dem Rücksitz unseres Wagens?« Spencer nickte. Dann legte er vorsichtig die Handfläche auf den Sitz des Stuhls. Das Holz war kalt. Lange nachdem Auden seine Frage gestellt hatte, antwortete Spencer: »Ja – er kommt nicht raus.« Dann kniff er die Lider zusammen und betrachtete etwas, was auf dem Boden lag, zeigte dann schweigend mit dem Finger darauf: ein kleiner Wachsklumpen, der noch die Schleifbewegung einer elektrischen Bohnermaschine zeigte. In dem Raum hing ein sonderbarer Geruch, der sich mit dem des Bohnerwachses mischte, wie der Geruch des Todes. Spencer sagte: »Es ist, als ob die plötzlich –« Dann fuhr er rasch herum, als Auden von der Tür her rief: »Da, wieder eine Spur.« Er schaute hinüber zu dem kleinen Tischchen, wo die zerlegte Waffe lag und das Reinigungsgerät. Hier waren mehrere Fußspuren auf dem Boden zu erkennen: die des Schirmverkäufers. Auden sagte: »Wir sollten hinübergehen in den Verhörraum.« Spencer wartete und fragte dann: »Es gibt doch eine Art großer Raubkatzen in Hongkong? Man nennt sie chinesische Leoparden, aber sie sind sehr selten und treten nicht –« Er folgte Auden in den Verhörraum und sah die geschlossene Tür, hinter der die Raubkatze – chinesischer Leopard oder nicht – angeblich gesehen worden war. Auch an den Wänden dieses Raumes gab es mehrere Krallenspuren, die sich tief in den Verputz gegraben hatten, lang und zackig, bis hinunter auf eine Höhe von dreißig Zentimetern über dem Boden. Und der Boden in diesem Zimmer war auch frisch gewachst. Spencer warf einen Blick auf die Vordertür des 20
Reviers. Sie war von innen verriegelt. Auch der Verhörraum war leer, wie bisher alle Räume des Reviers. Es gab nur die Fußspuren des Schirmverkäufers. Seine Abdrücke waren in der dicken Wachsschicht deutlich zu erkennen. Spencer sagte leise: »Wenn das, wonach wir suchen, nicht in dem Raum nebenan ist, dann bleibt nur noch der Luftschutzraum übrig.« Er bewegte den Kopf in Richtung auf die geschlossen Tür. »Das Revier hier ist ungefähr zur selben Zeit wie das unsrige in der Yellowthread Street erbaut. Ich erinnere mich, als ich noch bei der Verwaltung war, habe ich die alten Pläne aus der Kriegszeit angesehen, und –« Auden betrachtete die geschlossene Tür. Seine Hand umklammerte unter der Jacke den Kolben seines langläufigen Colt Python. In einer der Kammern steckte verbotenerweise eine .357 Magnum-Patrone statt der üblichen .38er. Ohne den Blick von der Tür abzuwenden, ließ Auden die Trommel aufschnappen und drehte sie so, daß die Magnum-Patrone als erste abgeschossen werden würde. Dazu sagte er nervös: »Wenn da eine verdammte Raubkatze drinnen ist ...« Er wandte sich zu Spencer um und zuckte mit den Schultern. Dann fügte er sehr leise hinzu: »Ich hab’ was gegen Gruselgeschichten ...« Er machte einen Schritt auf die Tür zu, drehte sich dann aber wieder nach Spencer um. Bisher hatten sie insgesamt sechs Klauenspuren gefunden, mindestens eine in jedem der Räume. Das Licht wurde wieder dunkler, und Spencer hörte den Regen auf das Dach trommeln. Er schluckte. »Es ist eine Art Abstellraum, glaube ich, oder –« Auf der einen Seite der Tür war ein Lichtschalter, in »Aus«-Stellung. Auden sagte: »Schalt das Licht an.« Spencers Hand ruhte auf dem Kolben seines Revolvers. Er sagte zögernd: »Wir können doch nicht ... Ich meine, wenn es wirklich ein Scherz ist, oder –« »Schalt das Licht an«, sagte Auden. »Aber wenn es ...« Dann sagte er rasch: »Na schön.« Er trat vor und bediente den Schalter. Durch den Spalt am oberen Türrahmen drang kein Licht. Spencer lauschte. Nichts. Eine Sekunde lang verdunkelte sich wieder das Licht im Ver21
hörraum. Und der Regen trommelte auf das Dach. Wie in einem verlassenen Spukhaus senkte sich der Staub auf den Boden. Durch die geschlossene Tür kam kein Geräusch. Die Krallenspuren befanden sich überall auf dem Revier, an den Wänden und auf den Stühlen, und man hatte sie abgewaschen und danach eingewachst. Und Kaffeetassen, halb ausgetrunken, ein zerlegter Revolver, der gereinigt werden sollte, eine Zigarette, die im Aschenbecher verbrannt war – Auden, der jetzt schnell und laut atmete, hatte den großen Revolver in der klassischen Angriffstellung gezückt und sagte: »Scheiße, Bill – ganz gleich, was da drüben in diesem ScheißRaum ist – ich schwör dir, es ist tot. Tot!« Er drückte die Schulter gegen die Tür, ging einen halben Schritt zurück, holte aus und warf sich dann dagegen, daß das Holz splitterte; dann verschwand er, gefolgt von Spencer, in der Dunkelheit. Draußen fuhr ein Blitz herab, und auf dem ganzen Revier ging das Licht aus. Im Bereitschaftsraum in der Yellowthread Street hielt Feiffer den Hörer seines Telefons O’Yee entgegen. Es funktionierte; man hörte den Rufton. Feiffer sagte: »Das ist doch sonderbar. Ich habe die Zentralnummer gewählt, die sämtliche Apparate erreicht. Selbst wenn niemand im Mannschaftsraum sein sollte, müßte doch jemand im Verhörraum oder sonstwo im Haus das Klingeln hören.« Er hielt einen Augenblick lang inne und sagte dann zögernd: »Selbst wenn sonst niemand dort sein sollte, müßten doch Auden und Spencer ...« Dann legte er, einem Impuls folgend, rasch den Hörer auf und schlug die Nummer noch einmal vorsichtshalber im Telefonbuch der Polizei nach, während O’Yee im allgemeinen Telefonbuch von Hongkong blätterte. Als er die Eintragung gefunden hatte, fragte er O’Yee: »Was für eine Nummer hast du?« O’Yee las sie vor. Sie war identisch mit der, welche Feiffer gefunden hatte. Das war nun schon das dritte Mal im Verlauf einer halben 22
Stunde, daß Feiffer versucht hatte, mit dem Revier in der Fade Street eine Verbindung herzustellen. Jetzt rief er bei der Funkzentrale an und fragte, ob die atmosphärischen Störungen vorbei seien und ob er sich mit Auden und Spencer über Funk in Verbindung setzen könne. Aber bei dem herrschenden Gewitter war das Revier in der Fade Street vorläufig nicht über Funk zu erreichen. Feiffer schaute besorgt drein und zündete sich eine Zigarette an; dann wählte er wieder die Telefonnummer, ganz langsam und bedächtig, wobei er darauf achtete, daß die Relais alle richtig einschnappten. Im Wetteramt zeigten die Satellitenfotos, daß alle Mutmaßungen überflüssig waren. Es handelte sich eindeutig um einen Taifun, und er braute sich ungefähr fünfhundert Kilometer vor der Küste zusammen. Das Gewitter mit den Regenschauern war nur ein erster Vorläufer. Der Taifun bewegte sich zur Zeit in nordöstliche Richtung, und seine weit ausgebreiteten, schaufelartigen Wolkenarme schienen zu versuchen, das Epizentrum auf die Meerenge von Taiwan und die japanischen Ryuku-Inseln zu ziehen. Aber das Epizentrum zeigte keine Neigung, sich irgendwo hinschaufeln zu lassen. Es sah aus wie ein großes Rad, wuchs rasch an auf den Satellitenfotos und bewegte sich mit hoher Geschwindigkeit genau nach Norden. Der Unwetter-Warndienst war inzwischen aufgrund von Informationen des Wetteramtes in Aktion getreten und nahm Kontakt mit allen Polizeistationen der Kronkolonie auf, um darauf aufmerksam zu machen, daß Alarmstufe eins angeordnet worden war und daß sie von nun an die ständigen Durchsagen zu beachten hatten. Die einzige Station, die den Anruf nicht erwiderte, war die in der Fade Street, aber das System – eine Serie von telefonischen Benachrichtigungen über die Zentrale des Hauptpostamts – funktionierte durch menschliche Wesen, und diese nahmen – im Gegensatz zu Computern – an, daß man dort eben im Augenblick beschäftigt sei und sich bei passender Gelegenheit rückmelden 23
würde. In diesem Jahr hatten sie beinahe schon die Jahres-Durchschnittszahl von Taifunen erreicht, und nachdem der letzte vom Wetteramt auf den Namen Olga getauft worden war, setzte man sich dort jetzt daran, einen weiteren Namen für den neuesten metereologischen Gast zu erfinden. Einer der Metereologen im Wetteramt hatte eine klassische Schulbildung genossen, bevor er auf den wissenschaftlichen Zweig abgedriftet war, und er glaubte, den idealen Namen für das gefunden zu haben, was vermutlich der Taifun des Jahres werden würde. Feiffers Telefon klingelte, und Auden sagte: »Harry, wir haben sie gefunden. Bill ist jetzt bei ihnen in dem alten, ehemaligen Luftschutzraum im Keller. Wir sind in den Raum eingebrochen, wo angeblich die Großkatze sein sollte, und wir nahmen die Taschenlampen und –« Seine Stimme klang seltsam. »Sie sind alle tot, Harry. Unten im ehemaligen Luftschutzraum, in voller Uniform, und sie liegen nebeneinander wie Flaschen in einem Weinkeller –« Er wiederholte: »Sie sind alle tot, Harry. Polizisten wie du und ich, und –« Dann schöpfte er tief Atem. »Ich glaube, du solltest rasch herkommen. Bill ist jetzt bei ihnen, und –« Danach entstand eine längere Pause. Dann sagte Auden mit brechender Stimme: »Mein Gott, Harry, es ist wie in einem Horrorfilm – das ganze Revier ist wie –« Es knackte in der Leitung, dann sagte Audens Stimme voller Entsetzen: »Sogar auf der Toilette haben wir eine von den Klauenspuren gefunden, an der Rückwand. Was auch immer – wer sie auch getötet hat, einen davon auf der Toilette – er muß dem armen Teufel noch die Hosen hochgezogen haben, bevor er –« Audens Stimme klang so, als sei er einem hysterischen Anfall nahe. »Harry, das ganze Revier ist danach gereinigt und gewachst und poliert worden wie eine verdammte ägyptische Grabkammer; als ob das die Tat von – von –« Nach einer kurzen Pause sagte Auden: »Und diese verdammten Klauenspuren – ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie die entstanden sein können.« Durch den Hörer vernahm Feiffer, wie in der Gegend der Fade Street der Donner rollte. Er hörte nicht, daß alle Lampen auf dem Revier gleichzeitig wieder aufleuchteten. 24
Hongkong ist eine Insel von ungefähr 1 ooo Quadratkilometern im Südchinesischen Meer. Sie steht unter britischer Verwaltung und ist gegenüber Kaulun und den New Territories auf dem Festland gelegen, die ebenfalls der Kronkolonie angehören. Kaulun und die New Territories, ebenfalls unter britischer Verwaltung, sind umgeben von der Provinz Kwantung der kommunistischen Volksrepublik China. Das Klima ist in der Regel subtropisch, mit heißen, feuchten Sommern und kalten Wintern mit heftigen Regenfällen. Die Bevölkerung von Hongkong und der umgebenden Territorien beträgt über viereinhalb Millionen. Die New Territories sind von den Chinesen gepachtet. Die Pacht läuft im Jahre 1997 ab. Und obwohl die Kommunisten, die fast die gesamte Kronkolonie mit Trinkwasser versorgen, nur die Wasserhähne abzudrehen brauchen, wenn sie den Pachtvertrag vorzeitig beenden wollten, halten die Engländer dennoch ihre militärische Präsenz an den Grenzen aufrecht. Hong Bay liegt auf der Südseite der Insel, und in den Ratgebern für Touristen steht, daß es nicht ratsam sei, dieses Viertel nach Einbruch der Dunkelheit zu besuchen. Das Wetteramt billigte den Namen für den Taifun. Der nordöstliche Arm der Strömung hatte sich mittlerweile ins Zentrum der brodelnden Wolkenmasse zurückgezogen, und ihr Kurs war nun geradewegs auf Hongkong gerichtet. Der Taifun wurde auf den Namen Pandora getauft. Die Leute vom Wetteramt fanden, daß der Name nicht ohne gewisse Ironie war – eine Eigenschaft, die man bei Metereologen eigentlich am wenigsten erwartet hätte.
2 Im schwachen Licht der abgeschirmten Sicherheitslampen des Luftschutzraums wirkte die Szene wie die in den Kellern der Borgias nach den weihnachtlichen Giftmorden. Doktor Macarthur, in seiner langen schwarzen Schürze, bückte sich hinunter auf den Steinboden und führte ein langes, funkelndes Instrument aus rost25
freiem Stahl probeweise in die Brustwunde des uniformierten europäischen Superintendents ein, der als erster in der Reihe der Toten lag, stieß ohne zu zögern nach, was Spencer zusammenzucken ließ, atmete langsam aus, kniete sich näher neben den Toten und leuchtete mit einer bleistiftdünnen Taschenlampe hinein in die blutige Öffnung wie Philip Marlowe, der durch ein Schlüsselloch Geheimnisse erspäht. Die anderen fünf Leichen, alles uniformierte chinesische Constables, lagen in derselben Haltung da wie ihr Superintendent, die Arme an den Seiten wie beim Appell, und Macarthur, der seine Taschenlampenuntersuchung zu Ende gebracht hatte, betrachtete noch einmal kurz die Gruppe, verengte dann die Lider und schüttelte ungläubig den Kopf. Spencer, der neben ihm kniete, erhob sich in eine hockende Stellung und klopfte sich den Staub von den Knien, um irgend etwas zu tun. Aber hier im Luftschutzraum war es makellos sauber, und Spencers Hose war nicht staubig geworden. Von oben hörte er, wie Feiffer und Auden hin und her gingen, dann offenbar stehenblieben, um irgend etwas genauer zu untersuchen. Hier unten, im Luftschutzraum, roch es nicht nach Bohnerwachs. Der einzige Geruch, den man hier wahrnehmen konnte, war der eines Desinfektionsmittels; er stammte entweder von Macarthurs Schürze oder von seinen Instrumenten. Spencer berührte den Steinboden mit der Hand: Er war kalt wie die Leichen, wie ein Grabstein. Macarthur sagte langsam und nachdenklich: »Wenn es vorbei ist, ist es nicht mehr derselbe Mensch.« »Wie bitte?« fragte Spencer. Macarthur lächelte ihn an, dann schüttelte er wieder den Kopf, weil ihm erneut bewußt geworden war, was er bereits wußte und was er als ein äußerst trauriges Ereignis kannte. Er angelte in seiner Schürzentasche nach einer Zigarette und sagte leise: »Der Tod. Danach ist es nicht mehr derselbe Mensch, den man als Lebenden gekannt hat.« Er zog ein Päckchen kurzer, dicker französischer Zigaretten heraus und bot Spencer eine an. Spencer schüttelte ablehnend den Kopf. »Ich kannte ihn; es ist Superintendent Palmer.« Spencer hatte sein Notizbuch in der Hand. Er schaute auf die Liste, die er sich nach den Dienstausweisen in den Taschen der 26
Toten zusammengestellt hatte, und sagte: »Farmer.« »Ach ja?« erwiderte Macarthur. »Aha.« Er zündete sich seine Zigarette an und erfüllte die Luft mit stechenden, blauen Rauchwolken. »Er ist einmal mit einer Frau in den Sezierraum gekommen, um eine Identifikation durchzuführen, während ich gerade bei einer Autopsie war.« Macarthur schaute hinunter auf das tote, harte Gesicht. »Also habe ich den Leichnam, an dem ich arbeitete, zugedeckt und ging zu den Kühlfächern, um ihm den Toten herauszuziehen, damit die Frau –« Macarthur blickte starr in die offenen, glasigen blauen Augen des Toten. »Und –« Er zuckte mit den Schultern. »Er ging einfach hinüber zu meinem Autopsietisch, riß das Tuch weg von der geöffneten Leiche und –« Macarthurs Mund wurde eine harte, schmale Linie. Dann sagte er mit einer Vehemenz, die Spencer überraschte: »Und dieser Bastard brüllte die Frau auf Kantonesisch an, so laut er konnte, als ob er sie eben wegen Massenmord verhaftet hätte: ›Du! Ist das dein Mann oder nicht?‹« Jetzt schaute er wieder hinunter auf den Toten. »Wenn nicht einer seiner Constables bei ihm gewesen wäre – ich glaube, der da drüben –, dann hätte ich ihn auf der Stelle umgebracht.« Macarthur ließ eine kurze Pause entstehen, ehe er rasch hinzufügte: »Und das ist noch nicht lange her – nicht einmal Monate oder Jahre, nur ein paar Wochen.« Seine Stimme klang bitter und gepreßt. »Also bin ich ein guter Kandidat für Ihre Liste der Verdächtigen.« Er hatte Tränen in den Augen, als er fortfuhr: »Ich fluche nicht oft, Mr. Spencer, aber das war das Grausamste, was ich jemals erlebt habe, und Bastard ist das einzig passende Wort, mit dem man ihn bezeichnen kann.« Er schaute wieder hinunter auf den Toten, nahm die Zigarette aus dem Mund mit einer Grimasse, als sei Gift daran. Und um eine Frage zu beantworten, die Spencer gar nicht gestellt hatte, gar nicht stellen wollte, erklärte er: »Nein, ich habe ihn nicht umgebracht. Wenn ich ihn umgebracht hätte, dann damals, an Ort und Stelle.« Spencer nickte. »Ich habe ihn nicht umgebracht, nein. Ich habe dieses Massaker nicht ...« Spencer nickte. Oben knarrte eine Diele, als Feiffer und Auden vorsichtig in ei27
nen anderen Raum gingen. Spencer sagte leichthin: »Abgesehen davon nehme ich an, daß Ärzte eher Arsen oder etwas ähnliches benützen, keine Kugeln.« Er versuchte, Macarthur anzulächeln, aber dabei gerieten ihm wieder die sechs uniformierten Toten ins Blickfeld, und während ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief, verwandelte sich das Lächeln in eine verzerrte, maskenhafte Miene. Spencer sagte: »Wer, um alles in der Welt ...« Macarthurs Stimme klang jetzt wieder kalt und professionell. »Sie dürften ungefähr seit fünf Stunden tot sein. Mehr kann ich Ihnen erst sagen, wenn ich das Temperaturmittel hier unten kenne, im Vergleich zu den oberen Räumen –« Spencer hatte seinen Kugelschreiber über dem Notizbuch gezückt und fragte: »Sind sie denn nicht hier unten umgebracht worden?« Macarthur schüttelte den Kopf. Die Wunde, die er examiniert hatte, war blaß und blutlos gewesen. »Man hat sie nach dem Tod hier heruntergeschleppt.« Er schaute auf die Uhr. »Ungefähr um fünf Uhr morgens. Nach einer oberflächlichen Überprüfung auf dem Weg hierher nehme ich an, daß der- oder diejenigen, die die Tat begangen haben, danach nach oben gegangen sind und das Blut vom Boden und von den Wänden entfernt haben; ich nehme an, es hat ziemlich ausführliche Blutspuren gegeben. Jeder dieser Männer wurde übrigens durch ein einziges Projektil getötet, das massive innere Blutungen in der Gegend der rechten Herzkammer verursachte und die Aorta verletzte: die Hauptschlagader, die das Blut vom Herzen in den Körper befördert.« Er hob sein Skalpell hoch, und einen schrecklichen Augenblick lang dachte Spencer, er würde jetzt gleich die Fetzen der zerrissenen Uniform wegziehen, um ihm die Wunde zu zeigen. Draußen rollte schwerer Donner, dessen Geräusch sich an den Wänden des Schutzraums brach. »Und dabei handelte es sich nicht um ein Geschoß.« Macarthur, dessen Gedanken noch immer ihrem eigenen Gang folgten, sagte nachdenklich: »Wenn ein Arzt einen Menschen töten wollte, würde er wahrscheinlich dazu Gift benützen. Das ist bemerkenswert: Selbst wenn bei einem Arzt die Hemmschwelle gegen das Töten überwunden ist – durch gewisse Umstände –, besteht immer noch eine gewisse Hemmung, unnötige Schmerzen zu verur28
sachen ...« Und er schloß mit triefender Ironie: »Selbst wenn es darum ginge, einen wie diesen Palmer oder Farmer oder wie er auch geheißen haben mag, zu töten, wäre es für einen Arzt nahezu unmöglich, das Opfer dabei leiden zu lassen.« Spencer, sichtlich beunruhigt, schaute hinunter auf den Toten. Die erstarrten Züge zeigten den Ausdruck scharfer, schrecklicher Schmerzen. Spencer fragte rasch: »Sie wurden also nicht erschossen?« »Nein«, antwortete Macarthur. Wieder tastete er mit dem Skalpell nach der Wunde. »Und auch nicht erstochen, was ich zunächst angenommen habe.« Er riß die Wunde ein wenig weiter auf, was Spencer beinahe den Magen umdrehte. »Der Eintrittswinkel wäre dann ganz anders.« Er zeigte auf den toten Constable, der Farmer damals bei der Identifikation in der Leichenhalle begleitet hatte. »Dieser Mann ist – nach Auskunft von Mr. Feiffer und Auden – auf der Toilette sitzend getötet worden. Um eine solche Wunde zu verursachen, in einem Neunzig-Grad-Winkel, hätte der Mann –« Macarthur zeigte auf einen anderen in der Reihe und erläuterte: »Dieser hier wurde getötet, als er dem Mörder den Rücken zuwandte, im Stehen, und die inneren Verletzungen ...« Macarthur fuhr jetzt ruhig und emotionslos fort: »Sie gehen alle glatt durch den Körper.« Spencer sagte zum zweiten Mal: »Also doch Geschosse.« »Außerdem weisen sie einen seltsamen, spiralförmigen Gang auf, sagen wir – wie ich vor der genauen Untersuchung nur schätzen kann –, mit ungefähr zwei Drehungen im Verlauf eines Kanals von zwanzig Zentimetern.« Spencer bekam eine Rauchwolke von Macarthurs Zigarette in die Nase und fühlte, daß er nicht mehr weit davon entfernt war, sich übergeben zu müssen. Macarthur sagte leise: »Ich weiß nicht, womit sie getötet worden sind, nicht sicher, aber ich weiß, daß ich es nicht so tun würde, wenn ich beschlossen hätte, sie alle umzulegen.« Er sah Spencers verzerrtes Gesicht und hielt den Ausdruck für ungezügelte Neugier. Die Wunden waren im Durchmesser mindestens dreieinhalb Zentimeter breit, da, wo die unbekannten Objekte in die Körper eingedrungen waren, und wiesen genau den gleichen Durchmesser an den Austrittswunden auf. 29
Macarthur sagte: »Im Gegensatz zu mir war es demjenigen, der diese Männer hier getötet hat, völlig egal, ob er ihnen damit Schmerzen bereitete oder nicht.« Spencer fragte beunruhigt: »Und womit sind sie dann Ihrer Meinung nach getötet worden?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Macarthur. Er hielt Spencers Blicken stand, während ihm bläulicher Rauch aus Mund und Nasenlöcher drang. Macarthur schaute hinunter auf den Mann, der eine Frau anläßlich einer Identifikation in die Leichenhalle gebracht und ihr die schrecklichen Überreste desjenigen, den sie liebte, so gezeigt hatte, als wäre es nichts weiter als ein Haufen blutenden Fleisches in einem Schlachterladen, und sagte dann langsam: »Ich weiß es nicht.« Er lauschte einen Augenblick auf das gedämpfte Geräusch des Regens, der im Stockwerk darüber gegen die Fenster und das Dach trommelte, auf die Schritte von Feiffer und Auden, die dort oben umhergingen, wo all das Schreckliche geschehen sein mußte, bückte sich dann vor dem nächsten Leichnam in dieser grauenvollen Reihe und sagte sehr leise: »Ich habe keine Ahnung, nicht die geringste.« Im Waschraum sagte Auden entsetzt, während er auf das Loch im Holz der Kabinentür starrte, das sich in der gegenüberliegenden Wand fortzusetzen schien, wo ebenfalls noch tiefe Narben zu erkennen waren: »Das meinst du doch nicht im Ernst, Harry – ein elektrischer Bohrer?« »Fällt dir vielleicht was Besseres ein?« Das Zentrum der tiefen Einkerbung zeigte bei näherer Untersuchung nichts anderes als bei der oberflächlichen Überprüfung, nämlich gar nichts, das heißt, keinerlei brauchbare Anhaltspunkte. Feiffer sagte: »Wenn es sich um eine Kugel gehandelt hätte, müßte sie noch im Verputz stecken. Und selbst, wenn es ein –« Er deutete mit dem Daumen auf die Toilettentür. »Das Loch hat einen Durchmesser von fast vier Zentimetern. Selbst mit einer Elefantenbüchse würde man kein solches Loch machen können.« Er trat hinein in die Kabine und schloß die Tür halb. »Und es muß einen ebensolchen Querschnitt gehabt haben, als es durch den armen Teufel gedrillt 30
wurde, der hier saß. Kennst du vielleicht eine Schußwaffe, einmal abgesehen von einer Kanone auf einem Schlachtschiff, die mit Geschossen von vier Zentimetern Querschnitt geladen werden kann?« »Aber ein Drillbohrer –« sagte Auden plötzlich. »Das hier ist ein Waschraum. Die Steckdose über dem Spiegel ist nur für Rasierapparate gedacht. Du wirst doch nicht behaupten, daß die Riesenkatze, oder wer auch immer es gewesen ist, einen verdammten Bohrer, wie man ihn auf einem Erdölfeld benützt, hier hereingeschleppt hat, ihn in die Steckdose für Rasierapparate angeschlossen und dann –« »Ich behaupte überhaupt nichts. Ich weiß nur, daß hier sechs Polizeibeamte getötet worden sind, einer nach dem anderen, von Zimmer zu Zimmer, und daß nicht einer von ihnen seine Dienstwaffe gezogen oder geschrien oder –« Feiffer brach ab und atmete tief ein. »Wenn du glaubst, die Leute, die hier in der Nachbarschaft wohnen, würden das Gebrüll und die Schreie bei einem nächtlichen Massaker in diesem Gebäude melden, dann kennst du die Leute nicht.« Er fügte hoffnungslos hinzu: »Er muß durch den Vordereingang hereingekommen sein, die Tür von innen verriegelt haben, ganz seelenruhig von Raum zu Raum gegangen sein und einen nach dem anderen getötet haben, bis er zur Toilette kam, wo er unter der Tür durchschaute, feststellte, daß hier der letzte Mann saß, und dann –« »Ein Speer«, sagte Auden. »Könnte es nicht ein Speer gewesen sein?« Er beantwortete sich die Frage selbst. »Aber die Wunden wiesen alle einen Eintrittswinkel von etwa neunzig Grad auf, so daß er –« Auden überlegte. »Er hätte vor den Opfern knien müssen ...« Die Vorstellung war so archaisch, daß sie ans Olympische grenzte. Auden zuckte mit den Schultern und sagte: »Wenn es ein Speer war, hätte er –« »Er hätte ihn werfen und zugleich drehen müssen, sonst wären keine solchen kreisrunden Löcher entstanden.« »Aber das ist unmöglich«, sagte Auden laut. »Eine Riesenkatze ... Ein Schmetterling mit drei Flügeln – und ein ... Ja, was? Ein Cello?« Irgendwie, auf irgendeine Weise, waren hier in diesen Räumen, ohne die geringste Mühe, mitten in der Nacht, sechs 31
Menschen getötet worden – ohne das leiseste Geräusch. Auden sagte: »Es muß doch eine Schußwaffe gewesen sein. Was sonst?« »Und wo, zum Teufel, sind dann die Geschosse?« Auden überlegte. Nach einer Weile sagte er: »Und was geschah dann? Er hat die Böden gereinigt und eingewachst, damit das Blut nicht mehr zu sehen war und damit er – ja, was eigentlich? Damit er noch mehr erwischen konnte, sobald sie hereinkamen?« Er starrte auf die Spur an der Wand, die wie der tiefe Kratzer einer stahlharten Klaue aussah. »Harry, als ich hierherkam, sah ich eine Tafel mit dem Dienstplan an der Wand des Mannschaftsraums. Hast du sie auch gesehen?« »Ja«, antwortete Feiffer. »Und hast du die Namen der Männer gezählt, die hier in der vergangenen Nacht und heute früh zum Dienst eingeteilt waren?« »Nein«, gestand Auden. »Ich nahm einfach an, weil wir sechs Tote gefunden haben, müßte es –« Er brach abrupt ab und fragte: »Wieviele Namen stehen denn auf dem Plan?« »Zehn.« Und Feiffer fügte leise hinzu: »Ich glaube, Phil, als der Schirmverkäufer hier auftauchte, wartete die Katze, oder was immer es war, auf die übrigen vier. Auf die Männer, die zur nächsten Schicht hier eintreffen würden.« »Aber das ist –« Auden schüttelte den Kopf. »Das ist doch – nach Auskunft von Macarthur waren die sechs seit fünf Uhr morgens tot. Willst du sagen, daß die Katze – das, was die Männer getötet hat – drei Stunden hier drinnen gewartet hat? Während sechs uniformierte Männer tot herumlagen?« Der Regen schlug gegen das Dach wie die Flügel von riesigen Vögeln. Feiffer sagte so leise, daß Auden sich anstrengen mußte, um ihn überhaupt verstehen zu können: »Wenn ich mich nicht sehr irre, Phil, dann war das, womit wir es hier zu tun haben – die Katze, das Cello, ein Schmetterling mit drei Flügeln oder ein Speerwerfer – wahrscheinlich die ganze Nacht über hier drinnen.« Die zehn Namen. Aber sie hatten alle Toten gefunden, die es hier gab. Auden fragte mit tiefstem Entsetzen: »Ein Kollege? Willst du damit sagen, daß sie von einem ihrer Kollegen getötet wurden?« »Ich weiß es nicht.« Feiffer schüttelte wieder einmal den Kopf. 32
»Aber wer es auch war, er mußte gewußt haben, wo das Bohnerwachs und die Reinigungsgeräte aufbewahrt werden, nicht wahr?« Ein Speer. Eine Schußwaffe mit Schalldämpfer, die keine normalen Geschosse abfeuerte. Ein riesiger Bohrer, der an einer einfachen Steckdose angeschlossen werden konnte; Schmetterlinge, Katzen, Speerwerfer ... Auden sagte zögernd: »Harry, wir gehen doch davon aus –« Er schluckte, warf einen Blick auf das Loch im Holz der Toilettenkabine, auf die Klauenspur an der Wand und fuhr fort: »Harry, wir gehen doch davon aus, daß es sich um ein menschliches Wesen handelt – oder?« Eine Frage, die früher oder später einmal gestellt werden mußte. Er wußte nicht, wohin er bei dem Regen fahren sollte. Die Singapore Road war wie die Fade Street grau und verlassen, alle Läden waren geschlossen, alle Verkaufsbuden leer und durchweicht, alle die zinnoberroten, blauen, weißen und gelben Schilder durchnäßt, daß die Farben durcheinanderliefen. Von seinem Wagen aus schaute Sergeant Shen hinauf zu den Fenstern oberhalb der Geschäfte; alle Vorhänge waren zugezogen. Ein Bus fuhr langsam durch die Singapore Road in Richtung auf die Yellowthread Street; der Fahrer hatte den Kopf der Windschutzscheibe genähert, um durch die selbst mit Hilfe der Wischer nicht klarwerdende Scheibe sehen zu können, und er steuerte den schweren Wagen vorsichtig über den rutschigen Asphalt. Der Bus, der hellerleuchtet durch das Grau des Tages fuhr, war leer. Keine Ahnung, wohin. Sergeant Shen sah zu, wie Constable Tong in einem schweren Regencape aus einer Tür trat und zu ihm herüberschaute. Shens Revolver lag neben ihm auf dem Sitz. Er legte die Hand auf den Kolben, wog ihn dann in den Fingern. Er sah, daß Constable Tong ihn beobachtete – er war für ihn vermutlich nicht mehr als eine Silhouette, – wie er sich anstrengte, um das Kennzeichen lesen zu können. Der Revolver in seiner Hand gab Sergeant Shen Sicherheit. Er sagte sich leise: »Ja, ich bin es. Schau nur das Nummernschild an, 33
wenn du willst. Ich bin es ...« Er beobachtete, wie Tong zu ihm herüberschaute, die Hand unter seinem Cape. Shen sagte leise: »Du hast deinen Revolver bei dir, was?« Während er den Blick nicht von der Gestalt unter der Tür abwandte, suchte Sergeant Shen in der Innentasche seiner Uniformjacke nach seinem Notizbuch, zog es heraus, schlug es auf der letzten Seite auf und schaute dann nach unten. Singapore Road 141. Constable Tong stand beobachtend gegenüber seinem eigenen Wohnhaus. Jetzt näherte sich ihm eine Gestalt auf dem Gehsteig, in ein langes Regencape gekleidet und mit einem breitkrempigen Hut auf dem Kopf. Shen sah sie als einen sich bewegenden, verschwimmenden Fleck im Rückspiegel. Er wandte sich um, blickte durch das Heckfenster, und die Gestalt war verschwunden. Jetzt schaute er wieder hinüber auf die Tür gegenüber von Tongs Wohnhaus. Tong war ebenfalls verschwunden. Sergeant Shen sagte: »O nein ...!« Einen Augenblick lang war die Gestalt wieder im Rückspiegel zu sehen; sie bewegte sich rasch im Regen. Shen sagte noch einmal: »O nein!« Dann ließ er den Revolver wieder auf den Sitz fallen, drehte den Zündschlüssel, um den Motor zu starten, geriet in Panik und legte nicht den ersten, sondern den dritten Gang ein. Der Wagen fuhr an, ruckte, hustete und ... Er rammte den Hebel in den ersten Gang, drückte hart auf das Gaspedal, und der Wagen machte einen Satz, als wollte er sich in die Luft erheben. Er mußte einige Lenkmanöver ausführen, um den ausbrechenden Wagen wieder unter Kontrolle zu bringen, ehe er die Scheibenwischer einschalten konnte und in einer Fontäne von Wasser davonzischte, in Richtung auf den Hafen, in Sicherheit. Er hatte keine Ahnung, was vor sich ging. Schaltete das Radio ein, während er um eine Ecke bog, hörte den Stationssprecher, der die Nachrichten verlas. Nichts. Und er wußte nicht, wohin er fahren sollte. Sein Herz schlug wie ein Dampfhammer. 34
Beim Aufleuchten von Warnzeichen Stufe drei für tropische Wirbelstürme, das unten am Hafen und an der Küste als eine Folge von zwei grünen und einem weißen Lichtzeichen zu sehen war, empfahl das Wetteramt den Schiffen, die im Hafen lagen, sich einen sicheren Ankerplatz zu suchen. Die Schiffsführer und alle anderen, die es betraf, konnten mit einer Windstärke von etwa dreiunddreißig Knoten und einzelnen Böen von mehr als sechzig Knoten rechnen. Außerdem wurde bei Stufe drei den Hausbesitzern empfohlen, die Läden zu schließen und lose hängende Teile sowie Gerüste, Markisen und lose Dachaufbauten zu sichern und zu befestigen. Draußen auf dem Meer bewegte sich der Taifun rascher als es die Metereologen nach dem Satellitenfoto angenommen hatten. Er zog jetzt leicht in Richtung Nordosten, aber auf dem nächsten Foto hatte sich seine Richtung wieder geändert, und er steuerte stetig nach Nordwesten. Bei Warnzeichen Stufe drei konnte man unter normalen Umständen damit rechnen, daß bis zur Annäherung des Taifuns noch etwa zwölf Stunden vergehen würden. Aber der Taifun baute sich so rasch auf, bewegte sich mit so großer Geschwindigkeit vorwärts und verhielt sich so unberechenbar – selbst angesichts der Unberechenbarkeit, die ohnehin in einem solchen Naturereignis lag –, daß über Radio und Fernsehen verbreitet wurde, es könnte höchstens noch zehn Stunden bis zur Annäherung des Wirbelsturmes vergehen. Die Metereologen betrachteten das neueste Satellitenfoto und stellten fest, daß der Taifun sich jetzt wieder auf nordöstlicher Bahn bewegte. Auf dem Flugplatz Kai Tak empfahlen die Fluglotsen, die im Kontakt mit nicht weniger als vierzig Maschinen verschiedenster Größe und Bestimmungen standen, das Ausweichen auf die Flughäfen von Bangkok, Singapur und Manila. Der Taifun war weniger als fünfhundert Kilometer von der Küste entfernt. Der Sicherheitsoffizier im Kontrolltower schüttelte den Kopf, während er hinunterging, um den weiteren Weg des Taifuns auf dem Radarschirm zu verfolgen und einen Blick auf den sich stän35
dig verschlechternden Zustand seiner Start- und Landepisten zu werfen. Taifun Pandora. Angesichts von zwei Millionen Passagieren, deren Leben er alljährlich verantwortete, fand er den Namen alles andere als komisch. Im Luftschutzraum tauschte Constable Yan einen Blick mit Constable Lee und beantwortete dann leise Feiffers Frage. »Nein, Sir; niemand hat etwas gehört oder gesehen.« Er sah, wie Macarthur an einer der Leichen herumstocherte und schloß einen Moment die Augen. »Wir haben jeden befragt, den wir in der näheren Umgebung auftreiben konnten, und –« Jetzt schaute er nach oben zur Decke, während Macarthur ein schabendes Geräusch an der Leiche verursachte, und preßte die Hände zusammen. Seine Stimme wurde immer leiser, »Nein, niemand hat etwas gesehen ...« Feiffer, der neben Macarthur stand, sagte auf Kantonesisch: »Ihr beide könnt draußen warten, bis die Leute vom Labor und die Fotografen hier sind.« Er sah, wie Constable Yan seinen Amulettring mit dem Jadestein berührte, um die Geister der toten Männer zu verscheuchen. »Sie brauchen nicht hier unten zu bleiben. Gehen Sie Ihren Aufgaben nach, wie gewöhnlich. Wenn Sie –« Spencers Gesicht war kreidebleich. Constable Lee sah, wie er schluckte, um einen plötzlich aufkommenden Brechreiz zu bekämpfen, während Macarthur weiter in der Wunde herumstocherte. Lee sagte auf Englisch: »Wir bleiben – für den Fall, daß Sie uns brauchen. Vielleicht müssen Sie –« Er brach abrupt ab, als Macarthur mit triumphierender Stimme erklärte: »Ich hab’s.« Er hatte sich mit dem Leichnam von einem der chinesischen Constables beschäftigt. Lee glaubte, ihn von der Polizeischule her gekannt zu haben. Macarthur verursachte wieder dieses metallische Kratzen und sagte zu jemandem, der in der Nähe des Toten stehen mußte: »Ich hab’s. Ich bin auf etwas gestoßen. Es ist der Mann, der auf der Toilette gesessen hat. Er muß seine Hand hochgerissen haben, um sich zu schützen. Es ist neben seiner Armbanduhr steckengeblieben.« Danach verursachte er mehrere Kratzgeräusche, die einem den Magen umdrehten, und Lee und Yan versuchten sich einzureden, daß es ja nur das Metall des Skal36
pells sei, das das Metall der Uhr berührte. Macarthur sagte: »Es ist ein – nein, da sind ja zwei! Es ist ein –« Er sagte es, während etwas neben ihm auf den Boden fiel, mit einem metallischen Klirren. »Es sind zwei Rasierklingen. Zwei kleine, rechteckige Klingen eines –« Er blickte nach oben zu Feiffer. »Aus einem Sicherheitsrasierer.« In der chinesischen Mythologie war die Katze das Symbol für Armut und schlechte Zeiten, und in Kombination mit dem Schmetterling das Vorzeichen eines Todes, ehe man die volle Reife erlangt hatte. Constable Yan drehte an seinem Jadering und schaute Lee bedeutungsvoll an. Macarthur sagte verblüfft: »Zwei Rasierklingen!« Er sah, wie Spencer sich pflichtbewußt Notizen machte. »Zwei Rasierklingen aus rostfreiem Stahl, wie man sie für eine bestimmte Sorte von Sicherheits-Rasierapparaten verwendet, etwa einen halben Zentimeter breit und zweieinhalb Zentimeter lang, mit nur einer geschärften Kante.« Er blickte zu Feiffer empor und schüttelte den Kopf. »Zwei Rasierklingen!« Die Wunden hatten mehr als dreieinhalb Zentimeter Durchmesser. »Das ist verrückt. Was, zum Teufel, soll das bedeuten?« Er beugte sich wieder hinunter zu dem Toten und ließ zögernd die Hand unter dem Körper entlanggleiten; Auden mußte sich wieder rasch abwenden. Als die Hand zum Vorschein kam, war sie blutbeschmiert. »Ein Wundkanal, der direkt von der Brust bis zum Rücken durch den Körper geht, mit einer großen Austrittsöffnung von mindestens ...« Die Hand des Toten lag steif an seiner Körperseite. Macarthur hob sie mit Mühe ein paar Zentimeter an, da die Totenstarre bereits voll eingesetzt hatte, und schaute auf das Handgelenk. »Und am Handgelenk ebenfalls ein glatter Wundkanal mit einem Querschnitt von über dreieinhalb Zentimetern.« Macarthur sah nach oben. »Das ist doch wahnsinnig!« Er blickte Auden ins Gesicht. Geschosse mit eingebauten Rasierklingen gab es nicht. Audens Gesicht war ausdruckslos. Die Rasierklingen lagen noch auf dem Boden, nebeneinander, dort, wo sie hingefallen waren. Feiffer warf einen Blick darauf und sagte dann: »Ist vielleicht Klebstoff dran? Ich meine, auf der stumpfen Seite?« Macarthurs Pinzette steckte im Deckel seiner 37
offenen, großen Tasche, und Feiffer nahm sie heraus, pickte damit eine der Klingen vom Boden und hielt sie sich vor die Augen. »Ja. Klebstoff.« Die Klingen waren beide blutverschmiert. Abgesprungen, als sie gegen die Armbanduhr prallten, aber unversehrt, als wenn sie sich einfach von etwas gelöst hätten. Auden sagte mit Erleichterung: »Wenigstens war es kein Drillbohrer ...« Macarthur hatte den Toten auf die Seite gelegt und stocherte wieder mit seinem Skalpell herum. Er sagte entschlossen: »Halten Sie ihn bei den Füßen und heben Sie ihn hoch.« »Wer? Ich?« fragte Auden. »Ja, Sie.« Ohne lange zu warten, hatte er den toten Constable in der klassischen Manier unter den Achseln gefaßt, während Feiffer die beiden Rasierklingen zur Seite legte und zu Auden sagte: »Laß nur – ich mache das schon«, und den Toten dreißig Zentimeter hochhob. Dann machte Macarthur eine Hand frei und schlug damit gegen den verlängerten Rücken des Leichnams. Lee, in dessen Gedanken Geister und Dämonen umgingen, sagte leise zu Yan in einem Hainan-Dialekt, den, wie er wußte, nicht einmal Feiffer verstand: »Mir gefällt das nicht. Sie wissen nicht, wodurch die Männer getötet wurden ...« Nichts. Macarthur gab eine rasche Erklärung. »Ich möchte keinen von ihnen umdrehen, bevor die Fotos fertig sind. So können wir sie wieder hinlegen, wie –« Er schlug noch einmal mit der flachen Hand auf den Rücken des Toten. Nichts. Macarthur sagte: »Verdammt!« Draußen rollte der Donner. Feiffer warnte: »Doktor, wir dürfen den Tatort nicht verändern, ehe –« Macarthur, der den Toten nur unter Anstrengung mit einer Hand halten konnte, sagte durch die zusammengepreßten Zähne: »Es muß hier sein, irgendwo.« Er schaute Spencer an, der ihn beobachtete. »Wenn ich ihn hätte umbringen wollen, bei Gott – so hätte ich es nicht gemacht!« Allmählich schien er die Fassung zu verlieren. Macarthur zog die Hand zurück, holte aus und schlug noch einmal so stark gegen den Rücken des Toten, daß der Staub 38
aus der Uniform stob, und dazu kommandierte er wie ein wahnwitziger Zauberer: »Komm schon, du Bastard!« Und er kam. Er flatterte zu Boden und fiel neben die beiden Rasierklingen. Es war ein einzelner Schmetterlingsflügel aus dünnem, silberglänzendem Dosenblech. Eine Sekunde danach fiel der zweite Flügel zu Boden. Das, was die sechs Polizeibeamten getötet hatte, lag zerlegt auf dem Boden. Die beiden silbernen Flügel waren nebeneinander liegengeblieben, gegenüber den beiden Rasierklingen, die ein V bildeten. Die beiden Klingen hatten in etwas gesteckt – im schwachen Licht erkannte Auden den Klebstoff unter dem Blut. Lee und Yan reckten die Hälse und kamen näher. Während Feiffer und Macarthur über ihm standen und den steifen Leichnam hielten, als wenn sie ihn über eine Klippe in den Ozean schleudern wollten, nahm Auden die Pinzette und legte die Rasierklingen in einem spitzen Winkel zusammen. Die Flügel, die einander völlig glichen, legte er einen Meter weiter zurück. Es gab nichts, was er dazwischenlegen konnte. Das war von dem Ding, dem Wesen, der Person, die die ganze Nacht über hier im Revier Fade Street auf die restlichen vier Mann gewartet hatte, welche aus irgendwelchen Gründen aber nicht erschienen waren, mitgenommen worden, als er – sie – es hier Ordnung gemacht hatte. Auden nahm zwei lange Metallstichel aus Macarthurs Tasche. Er sah, wie Macarthur zustimmend nickte. Jeder der beiden Stichel war ungeführ dreißig Zentimeter lang. Er legte sie aneinander, zwischen die Federn und die Klingen. Spencer zitierte leise etwas, was er vor langer Zeit, als Junge, gelesen oder gehört hatte: »Drei Fuß ergibt ein volles Yard ...« In dem halbdunklen, schrecklichen Raum beugten sich alle schweigend nach unten und sahen, was es war. Es handelte sich – Zweifel waren so gut wie ausgeschlossen – um einen Pfeil. In Kai Tak traf der Sicherheitsoffizier im Radarraum einen Entschluß: Er erklärte den Flugplatz von Hongkong für gesperrt. Während der Taifun sich mit hoher Geschwindigkeit näherte und der Regen sich Stunde um Stunde verstärkte, war die Kronkolonie damit endgültig vom Rest der Welt abgeschnitten. 39
3 Aus dem Handbuch für Überlebenstechnik. Selbstversorgung für jedermann. Direktnutzung der Windenergie. ... wenn die Fläche A Quadratmeter umfaßt und die Windgeschwindigkeit V gemessen wird in Metern pro Sekunde, beträgt die Maximalenergie, welche auf die Fläche eines Windmühlenflügels trifft, 0,0006 AV³kw ... O’Yee, der an seinem Schreibtisch saß und den Worten der Weisheit mit erhobenem Zeigefinger folgte, sagte: »Richtig, richtig ...« Die maximal ausschöpfbare Energie allerdings beträgt nur 59 Prozent dieses Werts, und in der Praxis ... O’Yee blätterte um und sagte: »Hm, in der Praxis – ja, richtig ...« ... kann man nur 43 Prozent der gesamten Energie nutzen. Na. schön – warum nicht? Wieviel Energie brauchte eine einzelne Familie? ... das ergibt eine nutzbare Energiedichte von nur 0,25 kw/m², wenn der Wind mit 8,9 Metern pro Sekunde weht, denn die Windenergie ist eine Funktion von V³, so daß die nutzbare Energie bei 4,45 Metern pro Sekunde nur o,3 kw/m² beträgt. Bedenkt man zusätzlich die Notwendigkeit, die drehbaren Teile der Windmühle über alle Hindernisse erhaben anbringen zu müssen und die Konstruktion standhaft genug zu errichten, daß sie auch starken Windböen Widerstand bieten kann, dann erkennt man ... »Aha«, sagte O’Yee etwas vage. »Aha.« Das sah er ein. Er kehrte zurück zum Beginn des Artikels und hielt nur kurz inne, um sich am Kopf zu kratzen, ehe er von vorn zu lesen begann. Wundervoll, dieser unverbildete, erdverbundene Stoff, wahre, reale, in einfache Worte gefaßte Gebrauchsanleitungen für stählerne Muskeln und unverbildete Seelen, die sich zufrieden gaben mit Felsen und Schluchten, der Wildnis und den Murmeltieren ... Er warf einen flüchtigen Blick durch den Aufenthaltsraum der Kriminalbereitschaft, um zu prüfen, ob ihn niemand beobachtete, dann nahm er seinen japanischen Taschenrechner heraus und versuchte durchzurechnen, was das eigentlich bedeutete. 40
Der Commander sagte in ungläubigem Ton am Telefon: »Ein Pfeil? Meinen Sie, wie bei Robin Hood?« In Macarthurs Büro, das neben dem Hörsaal des gerichtsmedizinischen Instituts der Verwaltung von Hongkong lag, war das Geräusch der Knochensäge so laut, daß Feiffer sich anstrengen mußte, um die Worte zu verstehen. »Jesus Christus – ich dachte, es wäre wenigstens ein einfacher Kreuzbogen gewesen, oder so was ähnliches – aber ein Langbogen?« Der Commander am anderen Ende hörte ebenfalls das Kreischen der Säge. Ein Geräusch, an das man sich einfach nicht gewöhnen konnte. »Wollen Sie damit sagen, daß jemand mit einem verdammten, einsachtzig langen Bogen mitten in der Nacht das Revier betreten hat und – Was, zum Teufel, hat Macarthur sonst noch gefunden? Vielleicht ein Kostüm von Lincoln Green und die Goldknöpfe des Sheriffs von Nottingham?« Im Kühlraum des Leichenschauhauses waren alle Schubladen voll von den Opfern der Verkehrsunfälle der vergangenen Nacht, die ausschließlich durch den starken Regen verursacht worden waren. Die sechs toten Polizeibeamten standen auf Bahren um den Tisch aus Edelstahl herum, als wenn sie in Kürze in einen Zug eingeladen werden würden. Feiffer sagte: »Macarthur hat Holzsplitter in den Wunden gefunden, und das, kombiniert mit den zwei weiteren Blechplatten, die er im Leichnam von Superintendent Farmer entdeckt hat, führte ihn zu der Annahme, daß das Geschoß in voller Länge an die fünfundsiebzig Zentimeter betragen haben muß. Pfeile, wie man sie in Kreuzbogen verwendet, sind kleiner, außerdem haben sie meist nur zwei Steuerblätter –« Der Commander sagte bitter: »Na, Gott sei Dank. Wenn er einen Kreuzbogen gehabt hätte, wäre er vielleicht noch auf die Idee gekommen, den Beamten Äpfel von den Köpfen zu schießen, bevor er sie erledigte.« Seine Stimme senkte sich, als das Sägen einen Augenblick unterbrochen war. »Harry, selbst hier im Präsidium gehen die wildesten Gerüchte um, was passiert sein könnte. Ich hatte gehofft, von Ihnen zu hören, daß alles ein Irrtum war und daß die Opfer mit einem Messer, einer Axt oder irgend etwas Realem umgebracht wurden ...« Ein Klicken, und die Rippensäge trat wieder in Aktion. Hier in dem kleinen Raum war der Druck des nahenden Taifuns beson41
ders deutlich zu spüren und schien allen Sauerstoff zu verdrängen. Feiffer erwiderte scharf: »Dann tut es mir leid, Sie enttäuschen zu müssen.« Die sechs Schuhpaare der toten Männer standen ordentlich nebeneinander unter einem Seitentisch, auf dem man ihre eingerollte Kleidung gestapelt hatte. »Ich nehme an, es wäre den Leuten noch lieber, wenn es gar nichts gewesen wäre.« Die Säge setzte wieder lautstark ein, und Feiffer warf einen Blick auf seine Notizen, ehe er vorlas: »Der Tod dürfte relativ rasch eingetreten sein durch eine massive Durchtrennung der Aorta, gefolgt von ausgedehnten inneren Blutungen im Bereich des Brustkorbs und speziell der Lungen. In den beiden bisher erfolgten Autopsien – der von Superintendent Farmer und von P. C. Han – zeigte sich, daß das Herz höchstens noch zwei bis drei Schläge nach dem Auftreffen des Projektils getan hat und dann durch Stillstand den Tod verursachte. Die Veränderungen an beiden Austrittswunden deuten darauf hin, daß das Projektil, das die Körper fast völlig durchschlagen hatte, in der Wunde steckengeblieben war, bis es manuell entfernt wurde.« Feiffer fügte gleichmütig hinzu: »Das heißt, daß die Pfeilspitzen durch den Körper in die Wand gingen und dort diese seltsamen, an Klauenspuren erinnernden Kratzer hinterließen, als die Männer zu Boden stürzten.« »Die Klauenspuren?« Wenigstens das war etwas Reales. Der Commander sagte: »Dann war es wenigstens nicht diese verdammte Katze. Das ist schon eine Erleichterung.« Dann fragte er: »Was meinen Sie mit ›manuell entfernt‹?« Der Geruch von Lysol hing schwer im Raum. Feiffer sah sich zufällig im Spiegel, der an der Wand hinter dem Schreibtisch hing. Früher einmal hatte er so jung und frisch ausgesehen wie Kriminalinspektor Spencer. Er strich sich mit der Hand über das blonde, schütter werdende Haar. Das Gesicht im Spiegel wirkte verschlossen und müde. Feiffer sagte: »Es heißt, daß der Täter nach der Tat seelenruhig zu seinen Opfern gegangen ist und ihnen die Pfeile herausgezogen hat.« Manchmal kam es ihm so vor, als habe er sein ganzes Leben nicht in der warmen Luft und dem hellen Licht dieser Stadt verbracht, sondern hier, im fensterlosen Halbdunkel, in der Kühle und dem abgestandenen Geruch der Toten. Feiffer sagte ruhig: »Dann hat er sie hinuntergeschleift in 42
den Luftschutzraum und sie in einer Reihe nebeneinandergelegt. Anschließend ist er wieder hinaufgegangen ins Revier, hat die Böden und die Wände und die Möbel gesäubert und gewachst, damit man die Blutspuren nicht mehr sehen konnte, und hat dann in dem dunklen Raum am Ende des Korridors gewartet, bis die übrigen auftauchten, damit er auch sie in gleicher Weise erledigen konnte.« Es klang wie ein Verzeichnis von fast klinischen Horrortaten. »Die Pfeilspitzen müssen, soweit Macarthur das nach den Wunden und Wundkanälen beurteilen kann, ungefähr dreieinhalb Zentimeter Durchmesser betragen haben und waren vermutlich zylindrisch gearbeitet, wobei an dem raketenförmigen Körper mindestens je vier Rasierklingen befestigt waren – wie die Flossen bei einem Hai.« Der Polizeipräsident sagte leise: »O mein Gott.« Er hatte für diesen Morgen eine Pressekonferenz einberufen. »Sonst noch was?« »Bis jetzt nicht, Sir. Ich habe Auden und Spencer zur Adresse von einem der vermißten Beamten geschickt – ein europäischer Inspektor namens Eason –, und zwei meiner Constables kümmern sich um einen Sergeant und um die Constables Koh und Tong, die ebenfalls bisher noch nicht aufgetaucht sind.« Wenigstens eine kleine Information, die so klang, als stamme sie von einem vernünftigen Mann, der sie unter ganz normalen Umständen weitergab. »Koh und Tong haben eine gemeinsame Wohnung in der Singapore Road hunderteinundvierzig, und Sergeant Shen wohnt zufällig in einer Pension in derselben Straße, so daß wir damit rechnen, bald –« Die Säge fraß sich schrill in einen dickeren Knochen, und Feiffer erstarrte. »Und –« Der Polizeipräsident, der fast brüllen mußte, um sich verständlich zu machen, erklärte erleichtert: »Wenigstens ist es keine verdammte Katze! Diesen Kerl, diesen Schirmverkäufer – habt ihr den auf dem Revier bei O’Yee?« »Er wollte nicht. Ich selbst habe mit ihm gesprochen, als ich ihn nach Hause fuhr«, sagte Feiffer und versuchte, sich zu einem Lächeln zu zwingen. »Das einzige, worum es ihm ging, war dieser Hund. Ich sagte, er könnte ihn haben.« Alles, was ihn von diesem grauenvollen Sägeton ablenken konnte ... »War das richtig?« 43
»Was denn für ein Hund?« fragte der Präsident. »Ach. Ach so. Ja natürlich. Andernfalls müßte er eingeschläfert werden.« »Nein.« »Was?« »Ich sagte, nein. Wenn er ihn will, kann er ihn haben.« Das Geräusch wurde immer lauter. Der Geruch von Lysol und Tod schien sich immer mehr auszubreiten in dem erstickenden Raum. Macarthurs Büro hatte keine Fenster. »Ich sagte ihm, wenn er –« Die Säge schien ihm den Kopf zu zerreißen. Feiffer sagte: »Mein Gott, hat es denn noch nicht genügend Tote für einen Tag gegeben?« »Haben Sie was aus ihm rausgebracht?« Es klang wie das Knattern von atmossphärischen Störungen in Feiffers Ohr. Feiffer sagte: »Nein. Nur, was ich Ihnen schon berichtet habe. Und daß seine Augen –« »Was?« brüllte der Polizeipräsident. »Und daß seine Augen –« Der Präsident brüllte: »Ich kann Sie nicht verstehen!« Er wußte, daß die Leute vor seiner Tür warteten. Und irgendein verdammter Witzbold hatte den nahenden Taifun Pandora getauft! Er mußte eine Pressekonferenz mit verdammten, toten Polizeibeamten und Langbogen und – Der Präsident versuchte es noch einmal. »Was war mit seinen Augen?« Die Säge verstummte. Feiffer sagte ruhig: »Sie haben im Dunkeln gefunkelt.« Aus dem Spiegel schaute ihn ein hochgewachsener, müde aussehender Mann an, der irgendwann einmal seine Träume verloren haben mußte, und sagte ruhig: »Der Mann, der in dem dunklen Raum mit dem Langbogen gewartet hat, diese Katze – der Schirmverkäufer meinte, daß seine Augen im Dunkeln funkelten.« Im Nebenraum, wo man die dritte Autopsie beendet und die Überreste in ein rechteckiges Aluminiumgefäß gelegt hatte, wurde der nächste Kunde auf den Tisch gehievt, zur näheren Untersuchung.
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In der Singapore Street stieg Police Constable Yan tropfnaß wieder in seinen Wagen, nahm seine Mütze vom Kopf, klopfte sie am Armaturenbrett ab und machte es naß wie den Boden des Wagens, dann sagte er zu Constable Lee: »Nichts. Es heißt, Sergeant Shen ist heute morgen zur Arbeit gegangen und seitdem nicht mehr gesehen worden.« Constable Lee hatte einen Stiefel ausgezogen und goß Wasser daraus auf den Boden neben der Pfütze von Yans Mütze. Yan fragte: »Und du?« Lee schüttelte den Kopf. Die Constables Tong und Koh waren ebenfalls, nach Auskunft ihrer Nachbarn, früh zur Arbeit gegangen und bis jetzt nicht zurückgekehrt. Lee sagte, während er hinunterschaute auf die Pfützen am Boden: »Hattest du Angst, sein Zimmer zu durchsuchen?« Constable Lee schaute den Kollegen ein wenig dümmlich an und nickte. Der Regen fiel vor der Windschutzscheibe des Wagens wie eine graue Wand. Die Straßen waren von Nebel erfüllt und verlassen. Yan kurbelte das Fenster auf seiner Seite herunter und ließ sich die warmen Regentropfen in die Hand fallen. Nachdem sie überprüft hatten, daß ihre Dienstwaffen sicher und trocken in den Halftern steckten, zogen sich Yan und Lee wieder die Stiefel an, setzten die Mützen auf, stiegen wortlos aus und gingen in verschiedene Richtungen davon: der eine zu Shens Pension, der andere zu Kohs und Tongs gemeinsamer Wohnung, um sich von den Hausverwaltern oder Portiers die Schlüssel geben zu lassen und die Zimmer zu durchsuchen. Im Hafen vollführte das letzte der großen Schiffe, ein riesiger, atombetriebener amerikanischer Flugzeugträger auf einer Goodwill-Tour, ein Wendemanöver und steuerte dann hinaus auf das offene Meer, um dem nahenden Wirbelsturm zu entkommen. In Inspektor Easons Wohnung im Wohnblock der Regierungsangestellten sagte Auden, nachdem er einen leisen Pfiff ausgestoßen hatte: »Mein Gott – das sieht aus, als ob schon seit einer Woche niemand mehr hiergewesen wäre.« Der Wohnraum des kleinen Junggesellenapartments war so sauber, daß man auf dem Boden Gehirnchirurgie hätte betreiben können. Auden ging in die Küche 45
und zog eine Schublade heraus. Dann betrachtete er, wie ordentlich das Besteck einsortiert war. Alle Fenster waren geschlossen, die Klimaanlage summte im Spargang, alles, einschließlich der Kissen und der Bettdecke im Schlafzimmer war fein säuberlich arrangiert, staubfrei und proper. Auden sagte: »Was, zum Teufel, ist dieser Kerl – die Hausfrau des Jahres?« Er ging wieder in die Küche und sah sich nach einer Tür zu einem Amah-Zimmer um, wie es sie in einigen der Wohnungen gab. Wenn Eason eine Amah hatte – ein Hausmädchen, das in demselben Apartment wohnte –, dann mußte sie in einem Mauseloch hausen und dieses noch mit Plastik ausgeschäumt und mit dem Teppich zugedeckt haben. Auden rief zu Spencer hinüber, der sich im Bad befand: »Hast du was ?« Spencer kam heraus und schüttelte den Kopf. »Alles in Ordnung.« »Ordnung? Vielleicht ist das in deinen Augen ordentlich. Aber es ist mehr – es ist sozusagen fleckenlos, antiseptisch.« Auden langte nach unten und berührte eines der Kissen auf einem Ruhesessel. Es gab nicht den kleinsten Fleck darauf, nicht einmal von einem Drink, einem feuchten Glas. Auden fragte: »Glaubst du, daß er ein Schwuler ist?« Spencer erwiderte: »Wenn ich kann, halte ich meine Wohnung ebenso in Ordnung.« An der Stelle, wo Auden das Kissen berührt hatte, wies es jetzt eine Delle auf. Spencer nahm es und schüttelte es wieder glatt. In der Küche hatte er eine Dose Silberpolitur entdeckt – vermutlich für die Knöpfe der Uniform. Spencer sagte: »Vielleicht ist er stolz darauf.« »Immerhin war er schon eine Weile nicht mehr hier, um es mit Stolz zu genießen.« Auden strich mit dem Finger über den Kasten der Klimaanlage. »Wenn es schon so ordentlich ist – warum hat er dann das Ding auf klein geschaltet, wo doch schon seit einiger Zeit die Taifunwarnung läuft?« Sein Finger hinterließ eine leichte Schweißspur auf dem polierten Metall. »Ich glaube, das hier ist nicht eine saubere Wohnung, sondern eine, in der alle Fingerabdrücke weggewischt wurden.« Auf einem Seitentischchen standen mehrere Sportpokale und darüber eine gerahmte Fotografie, die einen jungen Mann in voller Polizeiuniform zeigte. »Ist er das?« 46
Der größte Pokal darunter war für einen Sieg beim Kricket. Auden las die Inschrift und sagte mit Abscheu: »Er hat in Harrow studiert!« »Na, dann ist alles klar. Wahrscheinlich hat man ihm die Sauberkeit auf dem College eingebleut, und jetzt kann er nicht mehr anders.« Auden sagte: »Du bist nicht in Harrow gewesen, oder?« »Nein«, erwiderte Spencer. »Nur auf der Volksschule von Slough.« Dann zuckte er mit den Schultern und grinste Auden an. »Komm mir nicht mit dem Quatsch. Ich bin vielleicht ein ungehobelter Bauer, aber ich lese die Zeitungen. Das ist ein verdammter Insider-Witz, nicht wahr. Die Slough-Volksschule – das ist Eton.« »Ich war nur kurze Zeit dort«, entschuldigte sich Spencer. »Aber man hat dir immerhin beigebracht, die Fingerspitzen an der Klimaanlage abzuwischen und erst zu küssen, nachdem du dir die Zähne geputzt hast, nicht wahr?« Spencer zuckte wieder mit den Schultern. Dann sagte er mit einem sich selbst herabsetzenden Lächeln: »Eigentlich hätten sie mir das beibringen sollen, ja. Wenn man bedenkt, wie viele Schurken in den letzten fünfhundert Jahren durch diese Schule gegangen sind ...« »Es interessiert mich wirklich nicht«, sagte Auden kalt. Spencer zuckte mit den Schultern. »Und hör schon auf, mit den Schultern zu zucken, ja?« Er schob den Kricketpokal mit einem Kugelschreiber zur Seite und betrachtete einen anderen, kleineren Pokal, der dahinterstand. Auden sagte mit bissigem Ton: »Mein Gott – es gibt Leute, die an so was ihre Freude haben, nicht wahr?« Er nahm den Pokal in die Hand und fühlte sein Gewicht. »Ist dir klar, daß das aus massivem Silber ist? Jeder halbwegs vernünftige Mensch würde so ein Ding nicht in seiner Wohnung herumstehen lassen, sondern in einen Banksafe geben, wo man es nicht stehlen kann.« Es gab noch einen weiteren Pokal, diesmal von einem Schützenklub. Der war wenigstens nur versilbert. Spencer, der versuchte, die Menschen seines Schlages zu verteidigen, sagte milde: »Die Tatsache, daß er eine gute Schule besucht 47
hat, macht ihn noch nicht unbedingt –« »Wirklich nicht?« fragte Auden mit triefender Ironie. »Vielleicht hat er ein Stipendium gehabt, oder –« »Hast du ein Stipendium gehabt?« »Nein, aber ich –« Spencer brach ab und sagte, weil ihm ein Gedanke gekommen war: »Aber es war ein großes Opfer für meine Eltern, mich dort hinzuschicken.« »In das verdammte Scheiß-Eton? Was mußten sie dafür tun? Zehn Morgen ihres besten Weidelands verkaufen oder den zweiten Gärtner entlassen, oder was? Meine Mutter mußte Fußböden schrubben, damit ich überhaupt zur Schule gehen konnte.« Spencer lächelte nachsichtig. »Das glaube ich dir nicht.« Auden zeigte ein paar Sekunden lang, daß er nicht übel Lust hatte, Spencer all die Trophäen ins Gesicht zu werfen, dann zog er eine der Schubladen unter den Pokalen auf und rechnete damit, darin weitere Pokale und Auszeichnungen zu finden, diesmal sicher solche aus Gold mit Brillanten darauf. Doch statt dessen fand er einen Bankauszug. Als er die Zahlen sah, wollte er seinen Augen nicht trauen. »Weißt du, wieviel der Kerl auf dem Konto hat? Er hat eine Viertelmillion Hongkong-Dollars auf der Bank!« Noch einmal überprüfte er den Auszug, aber da stand es schwarz auf weiß – und: »Meine Güte – obendrein heißt es, daß das ein Auszug aus dem Konto Nummer zwei ist. Was hat er dann erst auf dem Konto Nummer eins?« Wieder warf er einen Blick auf die Trophäen. »Kein Wunder, daß er das Zeug einfach hier so rumliegen läßt – wenn man dem Kerl die Kronjuwelen stehlen würde, wäre das ungefähr so, wie wenn man mir das verdammte Taschengeld klaut!« Spencer kam herüber und sagte zögernd: »Eine Menge Geld für einen Mann, der –« »– der vermißt wird, während sechs seiner Kollegen tot auf dem Revier gefunden wurden«, ergänzte Auden. Dann kramte er in der ordentlich eingeräumten Schublade und fand einen zweiten Auszug, der ebenso aussah wie der erste, bis auf die Worte KONTO AUFGELÖST, die quer darübergestempelt waren. Auden sagte: »Das sind Bestechungsgelder. Das ist Geld, das er sich bei der notleidenden Arbeiterklasse von Hongkong erschwindelt hat, und 48
jetzt, wo er –« Das Konto war vor acht Tagen aufgelöst worden. Auden sagte: »Wo, zum Teufel, ist sein Paß? Oder kaufen sich Leute wie er lieber gleich ein Privatflugzeug und –« »Du weißt keineswegs, daß es Erpressergeld ist«, unterbrach ihn Spencer verärgert. »Du stellst nur Vermutungen an. Vielleicht gibt es eine durchaus ehrenwerte Erklärung für die Tatsache, daß er –« Auden wedelte ihm mit den Bankauszügen vor den Augen herum. »Schau dir doch die Zahlen an. Die Überweisungen. Ist das vielleicht das Scheißgehalt eines Polizisten hier auf dem Auszug? Seit wann ist er in der Fade Street? Sechs Monate? Sieben? Acht? Ein Jahr? Du bist doch schließlich Detektiv – dann schau dir mal das Foto an. Es ist ein Abschlußfoto der Polizeischule. Siehst du das Datum? Fast auf den Tag genau sechs Monate. Sein Gehalt als Polizist steht ja noch gar nicht auf dem Fetzen – und er hat monatlich fast vierzigtausend Hongkong-Dollars eingezahlt!« Auden sagte wie zu einem zurückgebliebenen Kind: »Vierzigtausend Hongkong-Dollar, das sind dreieinhalbtausend Pfund oder siebentausend US-Dollar – monatlich! Ich weiß ja nicht, was du verdienst, aber ich verdiene nicht soviel.« Spencer sagte, ohne Aussicht gehört zu werden: »Vielleicht hat er sein Gehalt auf das Konto Nummer eins überweisen lassen ...« »Vielleicht, vielleicht auch nicht – egal. Vielleicht hat er sich den Arsch damit gewischt, weil er keine Lust mehr hatte, hinunterzugehen und sich Klopapier zu kaufen.« Audens Stimme war erfüllt von Klassenkampf, von Exekutionen im Morgengrauen. »Der Kerl ist abgehauen. Er ist heute nacht durchs Revier gegangen, um noch ein paar lose Enden zu beseitigen, und jetzt ist er wie der verdammte Lord Lucan auf dem Weg nach Südamerika! So macht man das in seinen Kreisen!« »Nein, das ist doch Unsinn. Früher kann das mal geklappt haben, aber heute nicht mehr.« Spencer biß sich auf die Unterlippe und sagte: »Nur weil ein Mann ...« Dann, leise, kaum vernehmbar: »Die tiefste und scharfsinnigste Herausforderung des Geistes mit sich selbst ...« Schließlich, noch leiser: »Vielleicht hast du recht.« »Wovon redest du eigentlich?« fragte Auden überrascht. 49
»Stimmst du mir jetzt zu?« Er sah den Ausdruck auf Spencers Gesicht. »Hör mal, ich behaupte ja nicht, daß du nicht auch recht haben kannst«, räumte er jetzt großmütig ein. »Es gibt Menschen, die sich über ihre Abstammung erheben, wie ich. Und du. Du bist im Grunde ein guter Kerl, und wenn du ...« Jetzt fühlte sich Auden schuldbewußt und sagte: »Hör zu – nur weil er wie du von den unfairerweise Privilegierten abstammt, braucht er doch nicht – ich behaupte ja nicht, daß er durch das Revier gegangen ist und die Morde begangen hat, aber ich meine eben ...« Die tiefste und scharfsinnigste Herausforderung des Geistes mit sich selbst ... Das stand eingraviert auf dem Fuß des kleineren, weniger auffallenden Pokals auf der Rückseite des Tischchens; er war in England in einer Stadt namens Burnham gewonnen worden im August vor vier Jahren. The Royal Tox, Burnham, England, für Mr. James W. Eason als Auszeichnung bei der alljährlichen FITA-Runde ... Es war ein Meisterpokal; er bedeutete die Erlangung der Meisterwürde in der anderen Hälfte der Welt, an einem schönen Sommertag ... Ein perfektes Ende. Eine Meisterschaft, erlangt durch sechs Treffer ins Schwarze, bei nur sechs Versuchen. Die tiefste und scharfsinnigste Herausforderung des Geistes mit sich selbst. Das war Teil der Großen Lehre des Zen, Teil des weltweiten Ethos der Arkadier, denen die Royal Tox von Burnham, England, romantisch und enthusiastisch anhingen. Umrahmt von silbernem Lorbeer, auf einem Alabastersockel, zurückhaltend wie alles, was wichtig und von Dauer ist, eine Trophäe für – ausgerechnet! – die Meisterschaft im Bogenschießen, ausgetragen bei der alljährlichen fita-Runde. Im Grunde ein guter Kerl, reichte Spencer in einem Aufruhr der Gefühle den Pokal Auden hinüber und sagte leise: »Hier ...«
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4 Im Aufenthaltsraum der Kriminalbeamten legte O’Yee kurz sein Buch »Gartencampen für Jungen« zur Seite und fragte, als Feiffer triefend naß hereinkam: »Hattest du einen schönen Tag im Leichenhaus, mein Lieber?« »Beschissen schön.« Wenn mit dem sich nähernden Taifun die Luftfeuchtigkeit in dem Raum noch weiter anstieg, würde es wohl auch hier drinnen zum Regnen kommen. Feiffer sagte: »Hast du schon etwas von Auden und Spencer gehört?« »Ja.« O’Yee zeigte auf Feiffers von Feuchtigkeit glitzernden Schreibtisch. »Und die Fingerabdruckleute und andere Eierköpfe von Erkennungsdienst und Labor schlagen sich bereits damit herum. Bis jetzt haben sie nicht weniger als hundertacht verschiedene Sätze brauchbarer Abdrücke gefunden – dazu wahrscheinlich noch einmal doppelt soviele unbrauchbare –, und die Techniker haben jede einzelne Fußspur der betreffenden Person zugeordnet. Außerdem haben sie zwei Sätze von Spuren wilder Bestien entdeckt und hofften, ich könnte ihnen versichern, daß es sich dabei um zwei Paar etwas ausgefallenere Socken handelt«, fuhr O’Yee fort. »Also sagte ich ihnen, daß das nur die Fußspuren von Auden und Spencer gewesen sein können.« Er fragte: »Kennst du die Schuhnummer von Auden? Er muß regelrechte Ozeandampfer tragen.« Jetzt sah er, wie Feiffer den Bericht auf den Schreibtisch legte und angewidert seine feuchten Hände betrachtete. »Es ist also Eason?« »Es sieht zumindest so aus, wenn wir davon ausgehen, daß jemand, der sich die Mühe macht, die ganze Nacht im Dunkeln auf seine Kollegen zu warten, angetan mit einer Art von Tarnkleidung, und der die unverfrorene Ruhe besitzt, seinen Opfern die Pfeile aus dem Leib zu ziehen, um Beweise zu vernichten, zugleich so dumm ist, Pokale fürs Bogenschießen und belastende Bankauszüge frei in seiner Wohnung herumliegen- und stehenzulassen.« Feiffer nahm O’Yees Buch kurz in die Hand, warf einen Blick in das Kapitel, das den amerikanischen Jungen die Freude am Leben im Freien schmackhaft machen sollte, und fragte schließlich: »Haben Lee und Yan etwas in der Singapore Road und in Shens Pen51
sion ermitteln können?« »Nein, gar nichts.« O’Yee blätterte ständig hin und her im Kapitel, das die stärkende Wirkung der reinen Bergluft auf die Konstitution beschrieb. Es wäre nicht schlecht gewesen, einen Mann wie Feiffer zur Verfügung zu haben, der einem das Blockhaus baute, während man unterwegs war, um Wild für den Abendtisch zu erlegen. Feiffers Frau Nicola hatte ein Diplom in Pharmakologie, also konnte sie sich auf die Suche nach Heilkräutern machen, während O’Yees Frau mit den Kindern dafür sorgen konnte, daß ... O’Yee sagte: »Und um deiner Frage zuvorzukommen: Ich war bereits beim hiesigen Sportverband und habe mich nach den Bogenschützenklubs erkundigt; abgesehen von der Tatsache, daß Eason bei keinem davon als Mitglied eingetragen ist, befinden sich alle hiesigen Klubs zur Zeit in Taiwan zu den Asiatischen Spielen, und das seit mindestens drei Wochen.« »Und wie steht es mit privaten Klubs, die nicht dem Sportverband angeschlossen sind?« »Es gibt keine. Die einzigen anderen Menschen, die hier mit Pfeil und Bogen schießen, sind die Behinderten.« O’Yee wartete ein paar Sekunden, ehe er fortfuhr: »Als der Hellseher vom Dienst habe ich die Fahndung nach Eason und nach den drei anderen eingeleitet, aber wenn Eason, wie Auden mir am Telefon mitteilte, mindestens seit einer Woche nicht in seinem Apartment gewesen ist, können wir davon ausgehen, daß er inzwischen irgendwo einen sicheren Schlupfwinkel aufgesucht hat.« »Der Schlupfwinkel, den er laut Dienstplan in der Fade Street aufsuchen sollte, war die Fade Street.« Er kam einfach nicht über das Gefühl hinweg, daß alles zu simpel und glatt war. »Wenn Eason seit einer Woche fehlte, hätten wir das über das Zirkular erfahren. Laut Dienstplan hat er bis zu dem bewußten Abend seinen Dienst ganz normal versehen. Und wenn das nicht der Wahrheit entspricht – warum machte er sich die Mühe, seinen Namen mit auf die Tafel zu setzen, nachdem er alle getötet hatte?« Und er fügte noch hinzu, weil ihm gerade erst der Gedanke gekommen war: »Aber natürlich hatte er nicht alle getötet. Die Constables Tong und Koh und Sergeant Shen waren ja noch am Leben.« 52
O’Yee bot eine Lösung an. »Vielleicht hat er sie anderswo umgebracht.« »Warum hätte er dann ihre Namen auf die Liste gesetzt? Er konnte doch nicht so töricht sein zu glauben, daß wir nicht –« Feiffer brach ab und sagte dann sehr ärgerlich: »Wenn zwei oder drei Beamte auch nur ein paar Stunden vermißt werden, ist der Superintendent verpflichtet, sie per Funk suchen zu lassen. Und davon hätten wir gehört. Wenn nicht wir, dann auf jeden Fall in North Point. Ich habe nach meinem Gespräch mit Auden North Point angerufen; dort tappt man ebenso im dunkeln wie hier.« Feiffer wischte die Feuchtigkeit mit der Handkante vom Sitz seines Stuhls, ehe er sich darauf niederließ, und versuchte dann, sich eine Zigarette aus dem durchnäßten Päckchen anzuzünden. »Weißt du, niemand scheint die Leute von der Fade Street näher gekannt zu haben – weder wir noch die in North Point. Der einzige, von dem ich gelegentlich hörte, war Superintendent Farmer, und was ich von ihm hörte, war nicht gerade erfreulich.« Er fragte O’Yee: »Haben wir jemals Leute von dort als Verstärkung bei einer unserer Operationen benützt?« »Nein. Nicht, daß ich wüßte.« »Und warum nicht?« »Wenn wir zusätzliches Personal brauchen, wenden wir uns immer erst an North Point«, sagte O’Yee. »Aber Fade Street wäre doch eigentlich näher, nicht wahr?« O’Yee zuckte mit den Schultern. »Man hörte einfach nichts von ihnen. Außerdem handelt es sich um ein Revier der Schutzpolizei, das über keine Kriminalbereitschaft verfügt –« »Aber wir haben schon oft Beamte der Schutzpolizei anderer Reviere angefordert. Jetzt, wo ich es mir durch den Kopf gehen lasse, fällt mir auf, daß ich mich nicht erinnern kann, jemals mit den Leuten von der Fade Street zu tun gehabt zu haben.« Feiffer warf einen Blick auf die Straßenkarte von Hongkong, die hinter seinem Schreibtisch aufgehängt war. Die Karte war mit roter Tinte in die einzelnen Reviere unterteilt. »Zu dem Revier Fade Street gehören nur ungefähr sechs Straßen. Sind die Fade-StreetLeute ein Relikt aus der letzten Reorganisation – oder ist das eine Art Sibirien?« 53
»Ich weiß es nicht«, sagte O’Yee. »Ich dachte bisher, wenn man bei uns nach Sibirien versetzt wird, landet man irgendwo in den New Territories, oder an der Grenze der ehemaligen Leprakolonie, oder so. Ja, ich weiß, das beantwortet deine Frage nicht.« O’Yee wollte das Thema wechseln und erklärte mit Nachdruck: »Ich bin doch lieber ein einfacher Mann, der nach Pelztieren jagt, um die Beute gegen Bargeld einzutauschen.« Feiffer schüttelte den Kopf, wandte aber den Blick nicht von der Straßenkarte ab. »Als mich Auden im Leichenschauhaus anrief, schilderte er Eason, wie ich aus seiner klassenkämpferischen Auflehnung gegen die Oberschicht erkannte, als eine Art Sohn des Empires, der eine erstklassige Erziehung genossen hatte und zu der stahläugigen, everestbesteigenden Elite zählte. Wenn das wirklich stimmt – was hatte er dann ausgerechnet auf dem Revier Fade Street zu suchen?« Er schüttelte immer wieder den Kopf. »Hast du eine Ahnung, ob er hier auf der Polizeiakademie war oder ob er von anderswo hierherversetzt wurde?« »Wenn er zur stahläugigen Elite des Empires zählte – warum hatte er dann eine Viertelmillion Dollar auf seinem Bankkonto?« »Auf seinem Bankkonto Nummer zwei«, berichtigte Feiffer. »Und eine noch interessantere Frage wäre: Warum hat er das Konto aufgelöst?« Dann fragte er: »Wo sind Auden und Spencer jetzt? In der Fade Street?« »Ja.« »Ruf bei der Paßkontrolle an und stell fest, ob jemand mit seinem Paß in den letzten Stunden aus der Kronkolonie ausgereist ist.« O’Yee schüttelte den Kopf. »Es gibt zur Zeit keine Flüge, und die Fährverbindungen sind eingestellt.« »Versuch es trotzdem. Dehnen wir die Zeitspanne einfach auf die ganze letzte Woche aus.« Fade Street war auf der Karte wie ein kleines Niemandsland in dem Rankenwerk der Straßen und Gassen. Umschlossen von der Singapore Road und der Yellowthread Street, sah es aus wie ein Sprungbrett in die tieferen Gewässer, die es umgaben. Feiffer sagte: »Ich muß noch mal darauf zurückkommen: Wenn dieser Bursche so verdammt raffiniert war, daß er seelenruhig in einem Polizeirevier herumspazieren und die Mannschaft nach und nach in Muße töten konnte, leuchtet mir 54
einfach nicht ein, daß er andererseits so töricht gewesen sein soll, das ausgerechnet während eines herannahenden Taifuns zu tun, wo er doch wissen mußte, daß die Kolonie in Kürze von der Umwelt abgeschnitten sein und er selbst hier festsitzen würde.« »Was hast du jetzt vor? Der Präsident hat schon ein paarmal –« Feiffer sagte rasch: »Ich bin in der Universität und hoffe auf eine Inspiration.« Er warf noch einen Blick auf die Straßenkarte, und aus irgendeinem Grund glaubte er, wieder das scheußliche Geräusch der Knochensäge zu vernehmen. Er sagte rasch: »Und für dich habe ich auch einen Job.« Er drehte sich um und schenkte O’Yee ein gewinnendes Lächeln. »Momentan erscheint mir dein Vorschlag, in die Wälder zu ziehen, immer verlockender.« »Ja?« fragte O’Yee freudig erregt. Dann senkte er den Blick auf sein Buch und wäre durchaus bereit gewesen, für einen Freund sogar die wichtigsten Seiten herauszureißen, damit dieser sie mitnehmen und in Ruhe studieren konnte. »Ja, diese alten Naturmenschen ...« sagte er. Feiffer nickte. »Die hatten noch Grütze im Kopf.« Das gewinnende Lächeln gerann; er merkte es an O’Yees Miene. Dann fragte Feiffer: »Könntest du mir einen Gefallen tun, Christopher?« »Klar. Alles, was du willst.« »Es ist ein Auftrag für einen Naturmenschen«, sagte Feiffer. »Keine normale Polizeiarbeit, sondern ein echter, wettergegerbter Naturmenschenjob.« Er zuckte bescheiden mit den Schultern, schaute dann fast etwas peinlich berührt und beschämt drein, wandte sich ab und erklärte: »Um ehrlich zu sein: Es ist etwas, wozu ich einfach nicht den Nerv habe.« Bären, Wildkatzen, Todesottern, Pumas, bemalte Wilde – alles und jederzeit! Wenn man ihm nur die Chance geben würde! O’Yee sagte: »Na klar. Worum geht’s denn?« Feiffer wandte sich wieder seinem Freund und Kollegen zu, stand auf, zog sich rasch den Regenmantel an und sagte: »Sei so nett und ruf die Abteilung für Innere Angelegenheiten der Dienstaufsichtsbehörde an. Hör dich um, was man dort erfahren hat.« O’Yees Gesicht war eine Maske unverhohlenen, plötzlichen Entsetzens. Er sagte bestürzt: »Die Dienstaufsichtsbehörde? Du 55
meinst, ich soll – die Abteilung für Innere Angelegenheiten anrufen?« Feiffer sagte leichthin, schon auf dem Weg nach draußen: »Ja. Ich wußte, daß es dir nichts ausmacht.« Und er konnte nicht umhin, ihn bewundernd anzugrinsen. »Ihr Pionierstypen seid nicht nur zäh wie Stiefelleder, sondern auch schnell im Kapieren.« Während er durch den Verhörraum hinausging zu seinem Wagen, hörte er noch seinen alten Kumpel drinnen in der Blockhütte zu sich selbst sagen: »Die Dienstaufsichtsbehörde?« Und dabei dachte er: Bei Gott, wenn es darum geht, sich sein eigenes Grab mit bloßen Händen zu graben – die harten, ausgepichten Oldtimer, die man dazu braucht, werden auch immer weniger. Zwölf Uhr mittag. In der Fade Street waren noch immer alle Geschäfte und Gebäude verschlossen und verrammelt. Von seinem Wagen aus warf Feiffer einen Blick in die Auffahrt zum Parkplatz des Reviers. Audens und Spencers neutraler Wagen parkte auf halbem Weg in der Einfahrt, und am vorderen Eingang zum Gebäude sah Feiffer die Siegel und Vorhängeschlösser, die die Leute vom Erkennungsdienst dort hinterlassen hatten. Eine Viertelmillion Dollar und ein zweites Bankkonto, das eine Woche zuvor aufgelöst worden war ... Ein Dienstplan mit Namen von Beamten, die verschwunden waren ... Irgendwo, wenn der Regen aufhörte und die Läden und Häuser wieder geöffnet waren, vielleicht im Geruch der Korruption, die sich dann verbreiten würde, mußte die Antwort auf das Warum liegen. Der Regen aber strömte unablässig und zeigte keine Neigung nachzulassen. Feiffer stellte die Scheibenwischer in den zweiten Gang, wendete auf der verlassenen Straße und fuhr dann zur chinesischen Universität von Hongkong, um einen Koreaner namens Kim zu treffen, der ihm vielleicht sagen konnte, wie er nach einer Antwort suchen mußte. Sturmwarnung Stufe sechs: Windböen aus Südwesten, an Stärke zunehmend. Der Taifun Pandora, draußen auf dem Meer, hatte sein Ziel 56
endgültig auf die Kronkolonie Hongkong gerichtet und bereitete sich darauf vor, mit dem Anschlag zu beginnen. Im Verhörraum des Polizeireviers Fade Street sagte Auden, während er zum fünften Mal auf die mit Kreide geschriebenen Namen der Diensttafel schaute und sie mit den verschiedenen Handschriften im Protokollbuch verglich: »Nichts.« Die fünfte Schrift gehörte Jui-hiang Koh, dem Constable, der noch immer nicht aufgetaucht war. Auden blätterte um und befaßte sich wieder mit der Handschrift von Sergeant Shen. Shen schrieb eng und kritzelig – eine Schrift, die keinem der schwungvollen Zeichen auf der Tafel ähnlich war. Auden warf einen Blick durch die offene Tür des Mannschaftsraums hinüber zu Spencer und rief: »Wenigstens dürfen wir diesmal die Schuhe anbehalten.« Nicht, daß ihm das viel geholfen hätte. Das ganze Revier war von den Erkennungsdienstleuten mit weißem Markierungsband beklebt, von den Fingerabdruckspezialisten behandelt und von den Pathologen untersucht worden, und überall, wo man hintrat, hätte man eigentlich nicht hintreten dürfen. Auden legte einen Wechselschritt ein, um nicht auf ein Pappdeckelschild zu treten, das in Englisch und Chinesisch die Worte ›Tatort‹ aufwies, ›nicht berühren‹. Dabei trat er versehentlich in einen mit weißem Band markierten Raum, kickte das Schild wütend beiseite und blieb dann stehen, um wieder im Einsatzbuch zu blättern. Drüben im Mannschaftsraum steckte Spencer seine Hand in eine Schublade des Schreibtisches, der Eason gehört hatte, tastete darin herum wie ein Einbrecher in einem Safe und förderte nichts ans Tageslicht. Er betrachtete seine Handfläche: Sie war sauber geblieben. Kein Stäubchen. Spencer rief: »Entweder dieser Eason war der ordentlichste Mensch, der je bei der Polizei gedient hat, oder –« Er langte noch einmal in die Schublade, tastete sich an der Rückwand entlang und sagte: »Moment mal.« Dann zog er die Schublade so weit wie möglich heraus. »In der Ritze steckte nur ein Zwanzig-Cent-Stück.« Auden rief herüber: »Ja, hat denn dieser Eason hier überhaupt jemals irgend etwas getan?« Bisher hatte er in den Eintragungen der letzten drei Wochen – ein Katalog aus Autodiebstählen, fal57
schen Einbrecheralarmen, entlaufenen Hunden und Katzen, verlorenen Brieftaschen und vermißten Kindern – keine einzige Eintragung mit Easons Namen entdeckt. Spencer versuchte sein Glück bei einer zweiten Schublade des Schreibtischs. Sie schien erfolgversprechender zu sein – aber sie klemmte. Er zerrte daran. Sie klemmte, weil sich ein Reinigungslappen eingeklemmt hatte. Spencer rief: »Vielleicht war er für die Administration zuständig ...« »Was, zum Teufel, hätte er denn administrieren sollen? Vielleicht eine Putzkolonne?« Auden blätterte noch immer in dem Buch und schaute zwischendurch auf die Namensliste an der Tafel, dann sagte er drohend: »Ich traue keinem, der so ordentlich und sauber ist. Das ist doch nicht normal.« Jetzt stieß er auf eine neue Handschrift – eine Inventur der Notausrüstung des Reviers, warf dann einen Blick auf die Kreideschrift und sagte: »Ich hab’s.« Die Eintragung war unten abgezeichnet von P. C. Jui-hiang Koh. Auden sagte: »Scheiße!« Zehn Beamte, sechs Schriften. Er blätterte wieder um und betrachtete einen Bericht über ›Verlorene Gegenstände‹, der vom Wachhabenden unterzeichnet war; überflüssig zu sagen, daß er die Schrift mindestens schon zwanzigmal in dem Buch entdeckt hatte, die Schrift des Wachhabenden Sergeant Shen. »Was, zum Teufel, war dieser Eason – ein Analphabet?« Er hörte etwas knacken, vermutlich ein Dachsparren, und er blickte rasch auf, sah, daß Spencer es nicht bemerkt hatte, und schaute sich dann im Raum um. Warf einen schrägen Blick auf die Tafel, ließ das große Buch einen Augenblick lang los und berührte seinen Revolverkolben. Auden rief laut zu Spencer hinüber: »Hast du was?« Dann klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch, und Auden wäre vor Schreck beinahe aus den Schuhen gekippt. Spencer sagte: »Nein.« Er hatte den Punkt erreicht, an dem er sich flach auf den Boden legte und mit der Hand die Unterseite der untersten Schublade betastete. Manchmal fiel etwas bis unten durch. Er fand noch eine Münze, erstaunlicherweise etwas Staub und eine zerbrochene Schubladenführung, an der er sich einen Splitter einzog. Dann stand er auf, seufzte und sagte: »Nichts. Gar nichts. Jemand hat auch diesen Schreibtisch ausgeräumt und abge58
wischt, von innen wie von außen.« Das Telefon hörte zu klingeln auf, und er rief hinüber: »Wer war denn dran?« »Weiß nicht«, antwortete Auden. »Ich hab’ nicht abgenommen.« Er blätterte wieder um, hörte nur halb auf das Geräusch, fand eine Eintragung eines weiteren der toten Beamten, die ziemlich genauso aussah wie die Schrift auf der Tafel, und sagte schließlich: »Verdammt, das ist doch nur Zeitverschwendung.« Er klappte das Buch zu, entdeckte eine Aufschrift auf dem Umschlag und sagte wieder triumphierend: »Ich hab’s.« Die Handschrift lautete: »Fade Street Revier, Royal Hongkong Police Monatliche Ereignisse und Tagebuch Dieses Buch gehört auf den Schreibtisch des Wachhabenden Begonnen am 1. August. Autorisiert von ...« Auden betrachtete die Unterschrift sehr genau. Kein Zweifel, das war die Schrift des Vielschreibers Constable Jui-hiang Koh. Aber die Unterschrift lautete: »Superintendent George Farmer, OC, Fade Street.« Auden blätterte zurück zum Notausrüstungsinventar und betrachtete dann die Kreidebuchstaben auf der Tafel. Zuletzt sagte er: »Das ist ja Farmer!« Man hörte einen heftigen Schlag; Spencer, der wieder auf Händen und Knien am Boden kauerte, war mit dem Kopf gegen Holz geschlagen. Dann ein Ratsch, wie wenn Klebeband losgerissen wird. Auden fragte: »Hast du gehört, was ich sagte? Es ist Farmers Handschrift ...« »Ich habe Easons Reisepaß«, sagte Spencer. »Er war unter den Schreibtisch geklebt, mit einem Stück ...« Er schlug das blaue Büchlein vorsichtig auf und warf einen Blick auf die Seiten mit den Visa. »Hier ist ein Sichtvermerk mit dem Datum, als er in die Kolonie eingereist ist ...« Er blätterte zurück zur ersten Seite. »Das Foto stimmt mit dem überein, das uns die Zentrale für die Fahndung überlassen hat.« Und dann abrupt: »Aber der Paß lautet auf einen Robert John Cartwright.« Er warf einen Blick auf den Ausstellungsort – London – und auf den Stempel über dem Foto. Spencer las: Geburtsort und -tag: London, U. K., 19. Juli 59
1954. Größe: 178 cm, Farbe der Augen: blau, Haarfarbe: blond. Sichtbare besondere Merkmale ... Spencer sagte beunruhigt: »Es ist der Mann, aber hier heißt er Cartwright.« Noch einmal betrachtete er das kleine Foto, das er aus den Akten entnommen und eingesteckt hatte. »Auf dem Foto der Personalabteilung ist sein Haar braun.« Auf der Rückseite stand eine maschinegeschriebene Personenbeschreibung. Er las sie laut vor: »Größe: Fünf Fuß zehn Inches. Farbe der Augen: blau. Haarfarbe: braun. Sichtbare besondere Merkmale ...« Dann sagte er: »Möchte wissen, was er mit diesem gefälschten Paß unter dem Schreibtisch wollte.« Spencer hielt den Paß ins Licht. »Oder es handelt sich um den echten, während ...« Er hielt inne und sagte dann langsam: »Alle Trophäen in seiner Wohnung lauteten auf den Namen Eason. Selbst das Foto von der Polizeischule.« Er überlegte. »Steht denn nichts über ihn im Tagebuch, sagen wir, von der letzten Woche oder so?« »Nur die Anwesenheit.« Auden betrachtete die Kreideschrift auf der Tafel. »Wenn Eason hier war ...« Er wandte sich wieder dem Tagebuch zu. »Alle anderen Beamten scheinen in der vergangenen Woche zu Einsätzen unterwegs gewesen zu sein: alle Toten und die noch vermißten P. C. Tong und Koh, sowie Sergeant Shen – aber von Eason kein Wort.« Spencer überlegte, traf eine Entscheidung und sagte dann: »Dieser Schreibtisch ist seit mindestens einer Woche so sauber. Niemand könnte ihn derart genau reinigen, nachdem er gerade ein halbes Dutzend Menschen umgebracht hat.« Er ließ sich wieder hinunter auf Hände und Knie. »Es gibt nicht einmal Kratzspuren an den Beinen, wo jemand vielleicht mit dem Stuhl drangestoßen sein könnte.« Er strich mit dem Finger über die Stelle. »Auf dem Holz ist ein dünner Feuchtigkeitsfilm; es kann nicht mehr berührt worden sein seit ...« Wieder klingelte das Telefon, und er hörte, wie Auden den Hörer abnahm und sich förmlich meldete: »Kriminalinspektor Auden.« Spencer sagte nachdenklich: »Wenn Eason in der vergangenen Woche wirklich hier war – warum hat er dann nicht an seinem Schreibtisch gesessen? Und wenn nicht, warum hat dann der Superintendent seinen Namen auf die Liste an der Tafel gesetzt?« Er warf wieder einen Blick auf den Paß. 60
Wenn er selbst eine Viertelmillion Dollar gehabt hätte und einen Reisepaß, der auf einen anderen Namen lautete ... Auden sagte: »Die Leute vom Wetteramt. Sturmwarnung Stufe sechs. Wir müssen die Taifunstangen vor die Fensterläden legen.« Er blätterte im Tagebuch, bis er zu der Inventurstelle kam. »Taifunstangen: 17 Stück. Verwahrungsort: Unter dem Schreibtisch am Empfang. Monatliche Überprüfung: Alles korrekt und in Ordnung.« Unterzeichnet: der gute, alte P. C. Jui-hiang Koh. Auden fragte: »Soll ich es machen?« Spencer drehte den Reisepaß im Licht und betrachtete den hinteren Umschlag. Die Rückseite wie die Vorderseite sahen jungfräulich aus, wenig benützt, und nach dem Klebeband zu urteilen, mußte der Paß schon eine ganze Weile unter dem Schreibtisch befestigt sein. Auden sagte: »Ich mach’s schon. Es ist ja ganz einfach. Ich brauche nur siebzehn stählerne Taifunstangen in die Halterungen von siebzehn Fensterläden zu schieben, damit sie vom Taifun nicht eingedrückt werden. Kein Problem.« Spencer entdeckte einen kaum erkennbaren Fleck auf der Rückseite des Reisepasses und schaltete die Schreibtischlampe ein. Selbst die Glühbirne schien blankgewischt zu sein. Auden sagte: »Klar, überlaß das ruhig mir.« Er ging zum Schreibtisch am Empfang, holte die siebzehn Stahlstangen hervor und klapperte laut damit herum. Der Fleck sah aus wie Ol. An dieser Stelle wurde das Licht stärker reflektiert. Auden drehte und wendete den Paß im Licht. Der Umriß des Ölflecks war ihm vertraut; er war von etwas verursacht worden, was man zum Schutz vor Korrision leicht einölte, und dieses Etwas mußte auf dem Paß gelegen haben, vielleicht in einer Schublade, bevor Eason oder Cartwright oder wer auch immer den Paß genommen und unter den Schreibtisch geklebt hatte. Es war der Umriß einer Walther PPK, einer 7,65 mm-Pistole. Spencer konnte jetzt im starken Licht sogar die Fabrikationsgravierung in Spiegelschrift vage erkennen. Auden rief herüber: »Es gibt noch ein zusätzliches Fenster. Ich habe die Taifunstangen herausgeräumt; sie sind einzeln für die je61
weiligen Fenster markiert.« Er kam herein und hatte eine lange Metallstange in der Hand. »Hier steht drauf: Aktenraum hinter Wachstube, Fade Street. Ich habe nachgeschaut. Aber es gibt keinen Aktenraum hinter der Wachstube.« Er warf einen Blick vorbei an Easons oder Cartwrights Schreibtisch zur Ecke des Raums. »Die Akten sind alle hier. Das heißt, daß umgeräumt worden ist.« Er hielt einen Streifen Tapete in der Hand und sagte leise: »Bill, es gibt noch einen Raum hier, hinter der Wachstube, und jemand hat eine Wand davor gezogen.« Auden ließ ein paar Sekunden verstreichen, ehe er hinzufügte: »Vor ein paar Minuten habe ich ein Knarren gehört.« Er berührte seine Dienstwaffe und probierte, ob sie ungehindert aus dem Halfter zu ziehen war. Eine Riesenkatze mit Augen, die im dunkeln funkelten, ein Celloton, ein Reisepaß auf einen anderen Namen für einen Mann mit einer Viertelmillion Dollar auf dem Konto, eine leicht geölte Walther PPK, schußbereit ... Auden sagte unheilvoll: »Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, das Knarren kam von dort.« In dem stillen, verlassenen Todeshaus sah er, wie Spencer sich mit den Fingern übers Gesicht strich und dann hinunterschaute auf den Reisepaß. Selbst der Tunnel, der unter dem Hafen verlief und Hongkong mit dem Festland von Kaulun verband, war wie ausgestorben. Darüber lag der Hafen im Grau des Regens, und seine Oberfläche wurde immer dunkler, weil der Sturm den Schlamm des Hafenbodens aufgewühlt hatte und der Regen die Sonne verfinsterte. Feiffer hatte die Scheibenwischer abgeschaltet, obwohl sich selbst hier unten Tröpfchen von Feuchtigkeit auf der Windschutzscheibe niederschlugen. Das Geräusch seines Motors kam ihm seltsam leise vor, und um Gesellschaft zu haben, schaltete er den Polizeifunk ein. Hier, in dieser verlassenen, nässeglitzernden Röhre wurde die Fahrt seines Wagens zwar von den Monitoren der Fernsehkameras aufgezeichnet, aber die Radiowellen wurden vom Wasser und vom Beton geschluckt, und während er die tiefste Stelle passierte, vernahm man nichts aus dem Lautsprecher als ein tiefes Brummen. 62
Irgendwo draußen im Südchinesischen Meer steuerte der Taifun Pandora auf die Küste, die Stadt zu. Der Tunnel war verlassen. Alle, die konnten, waren geflohen. Feiffer nahm seinen Dienstausweis aus der Tasche, um ihn für die Verkehrspolizei am anderen Ende des Tunnels bereitzuhalten, scherte verbotenerweise von der langsamen in die Überholspur aus und drückte, was sehr ungewöhnlich war für ihn, das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
5 Es gab nur eine Möglichkeit, wie man mit dem verdammten Mob von der Dienstaufsichtsbehörde Fraktur reden konnte, und dazu mußte man seinen guten alten Colt hervorreißen, bevor diese geschwärzten Hundesöhne Gelegenheit hatten, eine Pustekugel in ihr altes Pusterohr zu stecken und sie einem zwischen die Lauscher zu setzen. Am Telefon freilich sagte O’Yee ziemlich reserviert: »Dienstaufsicht? Hier spricht Kriminalinspektor Christopher O’Yee vom Revier Yellowthread Street im Auftrag von Chefinspektor Feiffer und dem Polizeipräsidenten.« Friß schon dein Blei, Partner. O’Yee lehnte sich zurück im Sessel, die Zigarette hing ihm im Mundwinkel, und er wartete darauf, daß man am anderen Ende der Leitung einen Laut tiefster Gottesfurcht ausstieß. Aber am anderen Ende der Leitung war nichts als Schweigen. Zuviel Artillerie? Mit dem achtundfünfziger Kaliber konnte man eine jede pelztragende Bestie ganz schön fertigmachen. O’Yee, der die Zigarette aus dem Mundwinkel nahm und damit ausschweifend durch die Luft wedelte, sagte: »Ist schon gut. Man kann das ja alles in Ruhe bequasseln.« Dann steckte er die Zigarette wieder zwischen die Lippen und beugte sich vor, um einen Blick auf seinen Fragenkatalog zu werfen, den er vor sich auf die Schreibtischunterlage gelegt hatte. »Hier spricht O’Yee vom Revier Yellowthread Street. Wir wollen nur wissen, was Sie über die Fade Street in Ihren Akten haben.« 63
Jetzt hörte man eine Art Rascheln durch den Draht. »Nicht, was – äh, sagen wir – vertraulich wäre – nur ein paar Hintergrundinformationen über das Revier und die Beamten, namentlich über einen Inspektor namens Eason ...« Als noch immer keine Antwort erfolgte, sagte O’Yee: »Sie wissen schon, der, nach dem eine Fahndung läuft. Sie müssen es doch über Funk gehört haben ... Der Mann, den wir im Zusammenhang mit den Ereignissen befragen wollen.« Er drückte nervös die Zigarette aus und sagte dann, wobei ihm alles andere als wohl war: »Äh – hallo – Dienstaufsicht? Äh – mit wem spreche ich, bitte?« Nichts. Dann ein Klicken. O’Yee sagte: »Hallo? Hallo?« Bei Gott, wieder mal reingelegt von einem schielenden, verderbten Stadtmenschen! O’Yee zischte wütend: »He, hören Sie! Ich –« Sehr langsam und deutlich erwiderte eine Stimme in einem Ton, wie wenn Gary Cooper gesagt hätte: ›Du sollst lächeln, wenn du das sagst‹, und der andere lächelte nicht: »Hier Kriminal-Superintendent Arthur Clemenson, der Leiter der Abteilung Innere Angelegenheiten.« O’Yee sagte in Gedanken zu sich: O mein Gott! »Wenn Sie einem Beamten dieser Abteilung etwas hinterlassen wollen, hinterlassen Sie Name und Adresse oder Telefonnummer; der betreffende Beamte wird sich unverzüglich nach seiner Rückkehr mit Ihnen in Verbindung setzen. Wenn Ihre Meldung vertraulichen Charakters ist, versuchen Sie später, den betreffenden Beamten direkt zu erreichen.« Danach klickte es, und während sich der im Saloon auf dem Boden liegende Held nach einem Spucknapf umschaute, wurde der gesamte Text noch einmal in klarem, deutlichem Kantonesisch wiederholt. Nach einer weiteren Pause verfiel die Stimme von Chief Superintendent Clemenson wieder ins vertraute Englisch. »Bitte sprechen Sie nach dem Pfeifton.« Eine kaum wahrnehmbare Stimme im Hintergrund sagte: »Es ist O’Yee vom –« und O’Yee brüllte: »Hallo? Ist da jemand?« In diesem Augenblick war der Pfeifton zu vernehmen. 64
Er hätte schwören mögen, daß er ein Flüstern im Hintergrund vernommen hatte. O’Yee rief laut: »Hallo! Ist da jemand? Dienstaufsicht! Hallo? Hallo?« Wieder klickte es, und eine Sekunde, bevor das Auf zeichnungsgerät stoppte und die Leitung tot war, hörte O’Yee im Hintergrund noch jemanden ein Wort sagen. Es war der Name Eason, darauf hätte er geschworen; er kam von derselben Stimme wie der Text auf dem Band, und damit war ihm klar, daß das Band in Wirklichkeit gar kein Band war. O’Yee wählte noch einmal dieselbe Nummer. »Hier spricht Kriminal-Superintendent Arthur Clemenson ...« O’Yee sagte ganz ruhig: »Das ›spricht‹ hat das erste Mal gefehlt.« »Wenn Sie einem Beamten dieser Abteilung eine Nachricht hinterlassen wollen ...« »Etwas hinterlassen«, erklärte O’Yee. »Sie haben vorhin etwas gesagt.« »Name und Telefonnummer ...« »Und Adresse – haben Sie diesmal vergessen«, erklärte O’Yee. Dann brüllte er in einem Ton, der einen angreifenden Apachen auf fünfhundert Meter Entfernung vom Ranchhaus tot hätte umfallen lassen: »Dienstaufsicht! Hier spricht O’Yee. Was soll das heißen? Glauben Sie, Sie können Ihr dämliches Spielchen noch lange mit mir treiben?« »Dies ist eine automatische Aufzeichnung ...« »Von wegen! Dies sind gottverdammte Kollegen, die sich, verdammt noch mal, blöd stellen, und ich verlange, auf der Stelle mit Ihrem Vorgesetzten verbunden zu werden – sofort!« O’Yees Stimme war ein einziger, rächender Donner. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber wenn Sie mir sagen, Sie sind Jack the Ripper, dann –« Jemand im Hintergrund sagte: »Scheiße, Arthur, du hast es zu weit getrieben.« Dann kam Clemensons Stimme, ziemlich laut: »Ich kann deine verdammte Scheiß-Schrift nicht lesen.« O’Yee sprach ohne Pause weiter: »– dann glaube ich es nicht, weil – weil ...« 65
»Arthur, du hast es zu weit getrieben? Arthur ... Clemenson!« O’Yee sagte mit bebender Stimme: »Weil ... weil Mr. Clemenson einen Kollegen niemals so behandeln würde; dazu ist er –« Die Stimme von Chief Superintendent Clemenson sagte abrupt: »Mr. O’Yee, diese Abteilung ist momentan nicht für Telefongespräche zu erreichen. Es tut mir leid, wenn wir Sie enttäuschen müssen, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir keinerlei telefonischen –« »Ich halte Sie nicht lange auf. Sie brauchen mir nur einen Boten mit Ihren Unterlagen zu schicken.« »Ich fürchte, das ist ausgeschlossen.« »Über das Revier Fade Street und Inspektor James Eason. Ich will ja nur –« Clemenson unterbrach ihn. »Nein. Ich fürchte, es ist niemand hier im Moment, der sich mit Ihrem Auftrag befassen könnte.« »Aber Sie sind doch da! Sie sprechen ja mit mir!« Danach entstand eine kurze Pause, ehe Clemenson gelassen erwiderte: »Nein, Mr. O’Yee. Ich bin nicht hier. Niemand ist hier. Wenn Sie aufgelegt haben, wird Ihnen klar werden, daß Sie lediglich mit dem automatischen Anrufbeantworter gesprochen haben.« »Was, zum Teufel, reden Sie da?« O’Yees Geduld war zu Ende. »Hören Sie, Clemenson, wer immer Sie sind –« Die Stimme wurde schneidend wie Stahl. »Hier spricht Chief Superintendent Clemenson –« O’Yee fragte sarkastisch: »Persönlich, oder ist das ein – ein verdammtes Scheiß-Tonband?« »Ein Scheiß-Tonband, Mr. O’Yee.« »Ich will ja nur –« Clemensons Stimme sagte in einem Ton, der jedes weitere Argument ausschloß: »Dies ist ein Scheiß-Tonband. Haben Sie endlich kapiert? Und das, O’Yee – nicht daß Sie etwa vorhaben, mir zu widersprechen –, das ist ein Befehl, verstanden?« Sergeant Shen in seinem Wagen traute seinen Ohren nicht. Eason. Sie waren hinter Eason her! ... James William Eason, männlich, 27 Jahre alt, 178 cm groß, 66
Gewicht etwas fünfundsiebzig Kilo, normaler Körperbau, blaue Augen, europäische Abstammung, trägt vermutlich Polizeiuniform, Haare braun. Bewaffnet und möglicherweise gefährlich. Annäherung unter den erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen. Alle Informationen an Kriminalaußenstelle Yellowthread Street, Hong Bay ... Der Verdächtige könnte versuchen, die Kronkolonie mit einem Verkehrsmittel zu verlassen. Grenzstationen, bitte das gesamte Personal informieren! Küstenwache: alle kleineren Wasserfahrzeuge überprüfen, die den Hafen verlassen. Eine Wiederholung dieser Nachricht erfolgt im Anschluß auf Kantonesisch. Gesucht wird James William Eason, 27 Jahre alt ... Eason? Sie waren hinter Eason her! Sergeant Shen warf einen Blick auf den Revolver, der neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Informationen an Kriminalaußenstelle Yellowthread Street ... Sie waren wirklich hinter Eason her! Shen schaltete vom Polizeifunk auf eine öffentliche Radiostation um. Er hörte die Schlagzeilen vor Beginn der Nachrichtensendung, und während er zuhörte, sagte Shen, ein auf einer Missionsstation aufgewachsener Katholik, immer und immer wieder: »O mein Gott ... O heilige Mutter Gottes ...« »... wo die Obduktion der Leichen noch andauert. Abgesehen von den sechs getöteten Beamten werden noch einige weitere vermißt. Die Polizei gibt ihre Namen mit Constable Jui-hiang Koh, Constable F. G. Tong und Sergeant S. K. Shen an. Der vierte vermißte Beamte, ein Europäer namens James W. Eason, wird derzeit für eine wichtige Zeugenaussage gesucht ...« Die Worte faszinierten ihn. Er sagte nichts, war völlig benommen, hörte nur zu. Und was er hörte, konnte er kaum glauben. Die Worte überlappten sich, verschwammen und wurden zuletzt unverständlich. Der Polizeipräsident sagte am Telefon: »Vergessen Sie’s.« »Aber, Sir, wir –« »Nein, Inspektor O’Yee, vergessen Sie’s. Wenn bei der Dienst67
aufsichtsbehörde ein automatischer Anrufbeantworter eingeschaltet war, dann war ein automatischer Anrufbeantworter eingeschaltet, und damit basta.« Und der Präsident fügte aufmunternd hinzu: »Hören Sie, Mr. O’Yee, viele Leute benützen heutzutage automatische Anrufbeantworter. Es hängt zusammen mit dem ständig anwachsenden Input von Daten und dem abnehmenden menschlichen Output-Material – das hat man mir zumindest berichtet ...« »Aber, Sir, bei der Dienstaufsichtsbehörde muß immer eine Leitung frei sein. Die Dienstaufsichtsbehörde kann doch nicht einfach dichtmachen. Das ist doch unmöglich. Ich sagte ihnen, daß ich Ihre Genehmigung besitze, die Akten über Eason durchzugehen, über das Revier Fade Street und alles andere, und sie haben einfach –« Der Präsident zögerte. »Ja nun ...« Er sagte onkelhaft: »Machen Sie sich vorläufig keine Sorgen, Christopher. Okay?« Inspektor. Mr. O’Yee. Christopher. Was, zum Teufel, ging da vor? O’Yee antwortete förmlich: »Ja, Sir, wenn Sie es sagen«, legte auf und wählte die Nummer der chinesischen Universität von Hongkong, um mit Feiffer zu sprechen. Aber alle Leitungen, die durch den Hafen verliefen, waren zur Zeit wegen des heftigen Regens gestört, und alles, was aus dem Hörer kam, war ein quäkender Ton, der O’Yee in den Ohren schrillte. Auden und Spencer. O’Yee wählte die Nummer des Reviers in der Fade Street. Dort funktionierte das Telefon noch, trotz Regen; es klingelte und klingelte und klingelte. Aber niemand nahm den Hörer ab. Die Stimme in dem halbverdunkelten Raum sagte freundlich: »Mr. Feiffer, ich höre von meinem Assistenten, daß Sie den langen und nassen Weg hierher gesucht haben, um mit mir die feineren Unterschiede in der Kunst des Tötens zu diskutieren.« Die ge68
sichtslose Stimme im Halbdunkel fragte: »Ist das richtig?« Die Tür in dem Raum stand weit offen. Die Stimme sagte einladend: »Aber kommen Sie doch herein.« In der Kriminalbereitschaft schaute der Naturbursche, der in den Disziplinen der Einsamkeit und des Schweigens trainiert war, auf seine Armbanduhr, während der Regen unablässig gegen das Fenster schlug, und sagte verzweifelt: »Wo, zum Teufel, sind sie denn alle?« Am Fenster bewegte sich ein Schatten, aber er sah ihn nicht. Es war ein Lieferwagen, und er fuhr langsam die Straße entlang, bis er den idealen Platz gefunden hatte, wo er parken und warten konnte. Im Inneren des Lieferwagens wartete ein Schatten. Unbewegt, geduldig, ohne Eile. Es war der Schatten des Todes. Im Grau des Tages sah es so aus, als hätte er große, funkelnde starre Augen. Spencer duckte sich in die Büsche vor dem kleinen Seitenfenster des Reviergebäudes in der Fade Street, wurde dabei bis auf die Haut naß, reichte Auden einen Stein aus den Überresten dessen, was vor dem Taifun der Stolz eines gärtnernden Polizeibeamten gewesen war, und sagte milde: »Phil, warum klettern wir nicht einfach hinauf zum Fensterbrett und drücken es mit dem Revolverkolben oder was auch immer ein?« Er sah zu, wie der von Auden gut gezielte Stein gleich nach Verlassen der Hand durch eine Windböe nach oben getrieben wurde, so daß er zwei Meter über dem Ziel gegen die Hauswand klatschte. »Da das Fenster übermalt ist, handelt es sich vermutlich um eine ehemalige Toilette – was macht es schon, wenn das Fenster kaputt ist?« Auden suchte sich diesmal selbst einen Stein aus und sagte ein wenig jungfernhaft: »Mir macht es was aus.« Spencer trug einen erstklassigen Burberry-Regenmantel, der ihn so trocken hielt, als ob sein Körper von Entenfedern bedeckt wäre. Audens hiesiges Produkt dagegen nützte im Regen ungefähr soviel wie eine dicke Lage Fliegengitter. Auden sagte: »Leuten wie dir und Eason oder Cartwright macht das natürlich nichts aus, aber Leute wie ich 69
müssen sich vorsehen.« Er holte aus, schleuderte den Stein, verfehlte das Ziel und suchte sich unbeirrt ein neues Geschoß. »Sobald wir wissen, daß es dieser verdammte Eason gewesen ist, haben wir eine Untersuchungskommission der Dienstaufsicht hier, und ich möchte wetten, daß sie mir Ärger machen, weil ich Polizeieigentum beschädigt habe, ganz gleich, ob das eine alte Toilette ist oder nicht.« »Dann drücke ich das Fenster ein«, sagte Spencer. Auden schaute ihn an. »Wann hast du gelernt, ein Fenster so einzudrücken, daß man glaubt, es war der Wind?« Spencer antwortete: »Ich habe einmal das Fenster eines Nachbarn mit Schrotkugeln kaputtgeschossen.« »Ach.« Der Wind verstärkte sich. Auden suchte sich einen größeren Stein. »Ich war hinter einem Fasan her, mit –« Als er Audens Gesicht sah, verstummte er. Auden sagte: »Ich habe noch nicht alle Raten bezahlt für ein Autofenster, das ich vor ein paar Monaten aufgebrochen habe. Dir macht das ja nichts aus – du hast ein privates Nebeneinkommen.« »Hab’ ich nicht.« »Natürlich hast du eins. Wenn du kein privates Nebeneinkommen hast, warum trägst du dann einen viel besseren Regenmantel als ich?« »Der gehört nicht mir, sondern einem Kollegen, der die Wohnung mit mir teilt. Er ist Major. Und er hat wirklich ein privates Nebeneinkommen. Aber ich bin genauso pleite wie du.« Auden trat einen halben Schritt zurück, beäugte das Fenster und sagte, nur mit halbem Interesse bei der Konversation: »Ich bin nicht pleite.« Er warf einen Blick auf das Fensterbrett. Spencer legte eine Hand auf Audens Schulter und sagte warm: »Schau doch den Regenmantel genauer an. Er ist viel zu groß für mich. Ich bin eben nicht so kräftig gebaut wie du. Mir wäre deiner eigentlich viel lieber. Er ist leichter und –« Er sah, wie Auden besorgt die Stirn runzelte. »Schau, du hast doch selber gesagt, Leute wie du haben sich über ihre Abstammung erhoben.« Das klang abscheulich. Spencer fügte hinzu, um es abzumildern: »Ich wollte, 70
ich steckte in deiner Haut. Glaub mir, es wäre mir wirklich lieber –« Es war sinnlos. Spencer sagte: »Hör mal, ich habe das Geräusch auch gehört. In Ordnung? Also haben wir beide es gehört. Wir klettern jetzt hinaus und drücken das Fenster ein und sagen, daß wir beide das Geräusch gehört haben, und wenn dann die Dienstaufsichts-« Auden war nicht überzeugt. »Hm – vielleicht.« Er suchte sich wieder einen Stein und warf einen Blick auf Spencers teuren Burberry, um die Bestätigung seiner Theorie zu finden, daß man den glattzüngigen Kapitalisten mißtrauen mußte, holte dann weit aus und warf den Stein in Richtung auf das schwarzbemalte Fenster. Spencer sagte aufmunternd: »Hier.« Der gärtnernde Polizeibeamte hatte praktischerweise sein Beet mit Ziegelsteinen eingefaßt. Spencer suchte sich selbst einen zweiten Stein aus. Dann warfen sie gleichzeitig, und während Spencer noch ermutigend erklärte: »Ich stehe doch auf deiner Seite, Phil«, durchschlugen die beiden Steine das Fenster wie Kanonenkugeln. Er sah das, womit er gerechnet hatte. Hinter der halb durchsichtigen Windschutzscheibe sah er, worauf er wartete, sah, wie es in die Yellowthread Street einbog, und zögerte. Er hatte recht gehabt. Er hatte immer recht. Jetzt langte er nach hinten auf die Ladefläche des Lieferwagens und beobachtete dabei noch immer das, worauf er gewartet hatte. Der Mann mit den funkelnden Augen zog sich einen Handschuh über seine rechte Hand – einen Handschuh, der nur drei Finger hatte und einen Druckknopf, mit dem man ihn am Gelenk zuknöpfen konnte. Er warf einen Blick hinaus auf die Straße und sah die Umrisse von O’Yee am Fenster, der einen Hörer in der Hand hielt und eine Nummer wählte. Als der Mann mit den funkelnden Augen die Tür einen Spalt öffnete, war ein Klicken im Lieferwagen zu hören. Der Schnapper befreite sich aus der Halterung. Dann, als er etwas auf seine Knie legte, war der Ton eines leicht verstimmten Cellos zu vernehmen. Der Mann mit den funkelnden Augen wartete. Er hatte genau an der richtigen Stelle geparkt, und das, worauf 71
er wartete, ahnte nichts von seiner Gegenwart. Der Mann mit den funkelnden Augen drehte den Schlüssel im Zündschloß, daß es zweimal klickte, und am Armaturenbrett leuchteten die Bereitschaftslämpchen auf: Ölkontrolle, Wassertemperatur, Batterie. Er war bereit. Jetzt atmete er tief ein, schaute hinaus in den Regen und war bereit. Nichts. Der kleine Raum war vor Wochen zugemauert worden, und es gab kein einziges Papierfetzchen auf dem Boden – nichts. Auden, der mit seiner Taschenlampe in alle Winkel leuchtete und nicht einmal ein Mauseloch entdeckte, sagte: »Nichts.« Dann schaute er Spencer an. »Und jetzt liegen hier zwei verdammte Ziegelsteine. Hoffentlich fällt einem von uns eine gute Erklärung dafür ein.« Noch einmal sagte er: »Nichts, nicht einmal ein ...« Dann sah er doch etwas am Boden und sagte: »Schau, was wir mit dem verdammten Fensterrahmen angestellt haben!« Er sah, wie Spencer sich in der entgegengesetzten Ecke nach etwas bückte, und Auden zischte: »Laß gefälligst die verdammten Bodenfliesen liegen. Weißt du nicht, daß die einzelnen Fliesen ineinandergefügt werden?« Er nahm an, daß man in Schulen wie Eton, verdammt noch mal, zumindest auch die Grundlagen des Zimmermannsund Maurerhandwerks lernte, genau wie man ihm in seiner verdammten Schule Unterricht in Buchführung gegeben hatte. Auden sagte: »Du findest doch nichts da drunter, es sei denn –« Er sah, wie Spencers Taschenlampe auf etwas leuchtete, und fragte plötzlich sehr leise: »Was ist das?« In dem dunklen kleinen Raum breitete sich rasch ein widerlicher Geruch aus, wie verfaulende Lilien. Der Geruch wurde immer stärker, war jetzt auch ranzig und erinnerte eher an verfaulenden Fisch. Auden, der näher trat, während Spencer eine zweite Bodenfliese entfernte, so mühelos, daß sie nicht ineinandergefügt sein konnten, fragte: »Was ist das?« Er sah, wie Spencer einen der Ziegelsteine, die sie durch das Fenster geworden hatten, zur Seite stieß. Spencer sagte: »Das ist ein Grab.« Und Auden, leise: »Mein Gott, Bill – schau doch sein Haar an ...!« 72
In der Yellowthread Street wurde es rasch dunkel, und auf den beiden Straßenseiten gingen jetzt der Reihe nach die Straßenlampen an. Der Mann mit den funkelnden Augen hatte auch damit gerechnet. Er war außer Sicht, saß nicht mehr in seinem Wagen, und niemand sah ihn dort, wo er stand und wartete.
6 Von seinem Sessel hinter dem Schreibtisch im Arbeitszimmer mit den Bücherwänden sagte Professor Kim leise, mit zurückhaltendem Lächeln: »Mr. Feiffer, ich bin überaus geschmeichelt, daß Sie ausgerechnet mich dazu ausersehen haben, aber ich weiß nicht, wo ich beginnen soll, und zu welchem speziellen Thema.« Kim, ein Koreaner, war ein sehr alter Mann; er sah so zerbrechlich und leicht aus unter seinem dünnen Anzug, daß man befürchten konnte, er würde von der ihn umgebenden, unbewegten Luft verzehrt und in feinste weiße Asche verwandelt werden. Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite, lächelte dabei immer noch und sagte sanft und ruhig: »Mein Gebiet ist die Geschichte des Altertums; alles andere –« Er hielt inne, suchte ein Wort, das es genau bezeichnete, fand aber nicht das passende. »– alles andere ist nur, sagen wir, ein Interesse.« Feiffer erwiderte: »Meine Frau hat einen Kurs über chinesische Kultur belegt, als sie hierherkam in die Kronkolonie. Sie hat Ihren Namen erwähnt.« »Oh«, war alles, was Kim darauf entgegnete. Dann schaute er Feiffer prüfend an. »Und warum sind Sie nun zu mir gekommen?« »Ich hoffe, gewisse Informationen von Ihnen zu erhalten, über –« Kim seufzte. »Über Pfeil und Bogen in der chinesischen Geschichte? Der Bogen ist nach Ansicht der meisten Experten ungefähr fünftausend Jahre alt und wurde vermutlich in Afrika erfunden.« Er hob die Hände in einer Geste der Hilflosigkeit, schaute dann hinunter auf die kleine Skizze, die Feiffer auf einem Blatt 73
Papier angefertigt hatte. »Über diese Reste, die Sie einem Pfeil zuordnen wollen, über diese vermeintliche Pfeilspitze und die dazugehörigen Flugfedern? Die Pfeilspitze scheint mit Rasierklingen besetzt worden zu sein, um die Schneidkraft ihrer Oberfläche zu erhöhen. Man könnte sagen, diese Konstruktion basiert lose auf dem Kreuzbogen-Pfeil des Mittelalters, der dazu benützt wurde, große Tiere zu erlegen, auf dem chinesischen Kriegspfeil oder auf dem von den Japanern so bezeichneten ›Ausweide‹-Pfeil.« Er zuckte leicht mit den Schultern. »Oder der Hersteller hatte gerade nichts Besseres zur Hand und hat versucht, dennoch ein möglichst gutes Ergebnis zu erzielen.« Er warf wieder einen Blick auf die Skizze und betrachtete die metallenen Steuerblätter. »Die Flugfedern sind, wie Sie sagen, aus leichtem Metall, was wieder an den Kreuzbogenpfeil erinnert oder an –« Er schaute Feiffer an. »Aber ich fürchte, ansonsten kann ich Ihnen wenig dazu sagen.« Feiffer fragte: »Haben Sie selbst einen Bogen hier?« »Ja.« Kim deutete mit der Hand in die Richtung einer Vitrine hinter sich. »Und eine Sammlung von Pfeilspitzen und verschiedenem anderen Zubehör: griechische und skythische Pfeilspitzen, Pfeilspitzen aus Feuerstein, ein paar englische Langbogen-Pfeilspitzen, mehrere Bogenschützenringe aus Jade und einen Armschutz aus Jade, der aus dem Grab eines chinesischen Prinzen und Kriegers aus der Provinz Sezuan stammt.« Er legte eine Pause ein. »Außerdem besaß ich mehrere datierte türkische Flugbogen und sogar einen recht bekannten Bogen aus Korea, aber da ich keine Familie habe, die mein –« Wieder suchte er nach dem passenden Wort. »– die meine Interessen teilen könnte, habe ich sie verschiedenen Museen in der Gegend von Seoul gestiftet.« Nach einer weiteren, nachdenklichen Pause erklärte Kim: »Vergeben Sie mir meine Unkenntnis, was Ihren Beruf betrifft, Mr. Feiffer – aber benützen die Kriminalbeamten in Hongkong keine Feuerwaffen?« »Doch«, sagte Feiffer. Er fühlte, daß etwas Merkwürdiges in ihm vorging. Hatte es den ganzen Weg hierher gefühlt, besonders stark auf der Treppe hier herauf in das Arbeitszimmer des alten Mannes. Er kam sich irgendwie unbehaglich vor, unausgefüllt. Und aus einem unerklärlichen Grund sagte er jetzt mit leichtem Grinsen: »Ich habe einen Freund, der zur Zeit daran denkt, alles 74
hier aufzugeben, sich in die Einsamkeit der Wälder zurückzuziehen, und ...« Aber das war doch verrückt! Feiffer sagte: »Ich fürchte, ich stehle Ihnen nur die Zeit.« Kim erwiderte mit dem Hauch eines Lächelns: »Nein.« Dann fragte er: »Was hat Ihre Frau gesagt?« Feiffer, überrascht und betroffen, antwortete: »Nichts. Gar nichts.« »Und was wollen Sie von mir wissen?« Nach einer kurzen Pause fuhr Professor Kim fort: »Sie wollen nichts über Bogen und Pfeil wissen, weil Sie von Ihren Experten bereits mindestens ebensoviel darüber erfahren haben, wie ich Ihnen sagen könnte. Die Information, die ich Ihnen über die Pfeilspitze gegeben habe, war Ihnen bereits bekannt.« Er hielt ein paar Sekunden lang inne, und auf seinem Gesicht war ein sonderbarer Ausdruck zu erkennen. »Und wenn Sie sich jemals als Kind selbst einen Bogen gebastelt haben, aus einem biegsamen Stück Holz und einer Schnur ...« »Nein«, sagte Feiffer. »Ich hab’ mir nie einen Bogen gebastelt. Ich bin hier aufgewachsen, und ich –« Es klang sehr sonderbar, im Rückblick. »Ich hatte nie die Gelegenheit dazu.« Professor Kim sagte gelassen: »Mr. Feiffer, wenn Menschen erschossen werden – was tun sie dann?« »Sie meinen, mit einer Schußwaffe erschossen?« Feiffer zuckte mit den Schultern. »Nun ja – sie fallen hin.« »Immer?« Professor Kim beugte sich ein wenig nach vorn und schaute interessiert drein. »Es kommt darauf an, in welcher Position sie erschossen werden.« »Aha.« Kim dachte einen Augenblick darüber nach. »Und woher wissen Sie das?« »Nun ja, ich –« sagte Feiffer vorsichtig, »unglücklicherweise habe ich mehrfach –« Er unterbrach sich selbst und fuhr dann fort: »Wollen Sie damit andeuten, daß derjenige, der alle diese Leute auf dem Revier getötet hat, darin Übung haben mußte – daß er es schon früher getan hat?« »Ich deute gar nichts an«, sagte Professor Kim. »Ich habe nur gefragt, ob Sie als ein Mann mit entsprechender Erfahrung wüß75
ten, was passieren würde, wenn – wenn sich ein derartiges – Ereignis wiederholte.« »Meinen Sie, der Mann ist ein professioneller Killer? Mit Pfeil und Bogen?« Professor Kim sagte: »Nun, Mr. Feiffer, vielleicht stellen Sie mir jetzt die Frage, derentwegen Sie zu mir gekommen sind: Ist ein so albernes, kleines Spielzeug wie Pfeil und Bogen die geeignete Waffe für einen erwachsenen Mann?« »Natürlich ist mir klar, daß ...« »Ist Ihnen das wirklich klar?« unterbrach ihn Professor Kim. »Glauben Sie, daß Sie einen Mann, der mit Pfeil und Bogen in Ihr Revier käme, so ernst nähmen, daß Sie Ihre Schußwaffe ziehen würden, wohl wissend, daß diese über ganz andere Qualitäten verfügt als ...« Feiffer sagte: »Nein – ich glaube, ich würde ihn nicht ernstnehmen.« Professor Kim sagte leise: »Nach dem, was ich in den Zeitungen gelesen habe, hat der Polizist, der ihn zuerst gesehen hat –« »Der Wachhabende«, ergänzte Feiffer. »– ihn ebenfalls nicht ernstgenommen.« Kim brachte ein großes, längliches Lederetui zum Vorschein, das irgendwo hinter seinem Schreibtisch gelegen haben mußte. »Sehen Sie: Hier drinnen befindet sich ein Bogen. Es ist ein chinesischer Kampfbogen aus dem späten neunzehnten Jahrhundert; er wurde beim Boxeraufstand benützt und gehört dem hiesigen Museum. Was wäre Ihre erste Reaktion auf den Anblick eines solchen Bogens?« »Neugier«, sagte Feiffer. Er streckte die Hand aus, um nach dem Etui zu greifen, aber Kim zog es rasch aus seiner Reichweite. »Und warum?« fragte Kim. »Es ist doch nichts weiter als ein Stück Holz mit einer Sehne, die an beiden Enden befestigt ist.« Er fuhr fort: »Antworten Sie rasch, ohne lange zu überlegen: Was für ein Bild formt sich in Ihren Gedanken?« Feiffer, den Blick auf das längliche Etui geheftet, sagte ohne zu denken: »Macht.« »Aber Ihre Dienstwaffe ist zweifellos wesentlich mächtiger.« Kims Augen leuchteten plötzlich, und er erklärte mit großem Nachdruck: »Wenn ein Mann mit diesem Bogen schießt, benützt 76
er die Kraft seines eigenen Körpers, um den Pfeil abzuschießen, und seinen Geist, um den Flug des Geschosses zu lenken. Der Bogen ist außerdem die erste Lyra, das Monochord, die Urgestalt der schönen Kunst der Musik.« Er hielt inne, dann zitierte er, wobei seine Stimme fest war, ohne zu schwanken: »So lange der neue Mond am Himmel in Gestalt eines herrlichen Bogens wiederkehrt, so lange beherrscht die Faszination des Bogenschießens die Herzen der Männer.« Leise und mit einem leichten Lächeln fügte er hinzu: »Das hat ein Amerikaner geschrieben, nicht etwa ein Zen-Buddhist oder ein Mystiker, nicht einmal ein Lehrer der Vergangenheit – aber niemand hat es je besser ausgedrückt.« Jetzt reichte er Feiffer das Etui mit dem Bogen und sah zu, wie der Kriminalbeamte es öffnete und einen langen Bogen aus dunkel patiniertem Holz samt Sehne herausnahm. Professor Kim sagte: »Sie sind hierhergekommen mit einer vagen, dunklen Sehnsucht, die Sie von Ihren Ahnen, aus vergangenen Zeiten, ererbt haben. Sie sind hergekommen, um etwas über den Gedankengang des Bogenschützen, des Mannes mit dem Langbogen, zu erfahren – ein Mann, den Sie fürchten und dem Sie, falls Sie ihn finden, mit Ihrer kleinen, kümmerlichen Pistole entgegentreten müssen.« Professor Kim nahm das lange, leicht gebogene Holz aus Feiffers Händen und sagte leise: »Übrigens – ich erinnere mich an Ihre Frau. Sie heißt, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, Nicola, und sie war einmal mit einer Freundin in meiner Bibliothek, gerade als ich diesen Bogen untersuchte.« Er hielt ihn sachte in der Hand wie ein Lebewesen und fragte dann ohne Spur von Eitelkeit: »Was hat sie Ihnen darüber berichtet?« Feiffer antwortete leise, noch immer den Blick auf die Waffe gerichtet, die mehr als jede andere dem Mann der Frühzeit die Herrschaft über die scheinbar unbezwingbaren Mächte jener vergangenen Tage einräumte: »Sie meinte, es sei der schönste Gegenstand, den sie in ihrem ganzen Leben gesehen hat.« O’Yee, wenn du diesen Augenblick erleben könntest ... Feiffer bat den Professor: »Können Sie es mir zeigen – wie es gemacht wird, meine ich?« Kim erhob sich, ein uralter Mann, der die lange Waffe fest in beiden Händen hielt, so daß Holz und Sehne durch die Anspannung leise summten, und sagte: »Ja.« Dann ging er in die Mitte des 77
schmalen, länglichen Raums, spreizte die Beine, atmete tief ein und flüsterte: »Es ist mir ein Vergnügen, es Ihnen zu zeigen.« Am Ende des Raums, etwa acht Meter entfernt, stand ein wuchtiges Lesepult aus Mahagoniholz. Kim langte hinunter in das Etui und suchte sich einen langen, gefiederten Pfeil aus, spannte ihn zwischen Holz und Sehne des Bogens ein, richtete ihn mit ausgestrecktem Zeigefinger aus, blieb dann bewegungslos stehen und betrachtete schweigend Pfeil und Bogen. Kim sagte: »Ein Gedanke, eine Idee ... Der Verlust des Pfeils ist nichts anderes als ...« Sein ganzer Körper war in den Bogen integriert, das lange Stück Holz bog sich unter der Kraft, mit der er die Sehne zurückzog. Sein Körper war unbewegt, stahlhart, kraftvoll und – jung. Feiffer sah, wie seine Augen strahlten und vor Vergnügen glänzten; die Pfeilfedern waren wie Schmetterlinge, wie die Vögel der Luft, noch zurückgehalten, aber zum Himmel zielend, in die Freiheit; die scharfe, funkelnde Pfeilspitze zitterte leicht an der Rundung des Bogens, war auf den Zielpunkt gerichtet, bereit ... Kim sagte wie zu sich selbst: »Der Körper und der Geist ...« Feiffer sah, obwohl es kaum wahrnehmbar war, wie sich Kims Hand entspannte, eins wurde mit dem Holz und der Bewegung, wie sich die Finger am Pfeilschaft in Bewegung setzten, wie die Bewegung entstand, explosionsartig, bis ... Irgendwo am Ende des Raums war ein dumpfer Schlag zu hören, und dann war der Bogen aus Holz und Sehne verändert, die Symmetrie aus Mann und gebogenem Holz zerstört, zurückgekehrt in die Ruhestellung ... Er hörte, wie Professor Kim seufzte, mit gesenktem Bogen, denn die Kraft und die Jugend, die ihn eben noch beherrscht hatten, waren ausgetrocknet wie sein Mund, und es dauerte lange in dem stillen, zeitlosen Raum, ehe er es fertigbrachte, etwas so Diesseitiges wie das zweifellos beschädigte Lesepult zu betrachten. Ein Flüstern, ein Echo, etwas aus einer längstvergangenen Zeit ... Feiffers Hände lagen unbeweglich auf seinem Schoß. Es war das Schönste, was er je erlebt hatte! Jetzt, als Kim sich ihm zuwandte, noch immer den Bogen in der Hand, betrachtete er das Gesicht des alten Mannes und begriff kopfschüttelnd in dieser 78
Sekunde des gemeinsamen Menschseins, jenes historische Erbe, welches er in der Schule zum Schlafen langweilig gefunden hatte. Worte waren hier absolut überflüssig. Es war ein Alptraum. Draußen fuhr ein Blitz hernieder und erhellte den dunklen Raum mit grauem Licht. Auden, der die Taschenlampe auf die flache Vertiefung unter den Bodenplatten gerichtet hatte, blickte auf und sah dunkle Höhlen auf Spencers Gesicht. Er sagte leise: »Mein Gott, Bill, er sieht aus wie du ...« Die braune Farbe von Easons Haar hatte sich im Verlauf der Verwesung aufgelöst, und das Gesicht, das ihm entgegenblickte, leblos, grau und erstarrt, das helle Haar, das genauso gekämmt war wie Spencers Haar, war ... Auden sagte: »Die Fotos in seiner Wohnung und auf dem Paß waren ein bißchen unscharf ...« Easons Arme lagen an den Seiten, angelegt wie bei einer Grablegung. Auden flüsterte: »Mein Gott – das könntest du sein ...« Spencer sagte: »Cartwright. Auf dem Foto im Paß hatte Cartwright blondes Haar.« Er verschränkte die Hände vor dem Körper und preßte sie unwillkürlich zusammen, versuchte, sich so den Schweiß von den Handflächen zu wischen. Spencer sagte: »Nein, es ist nur eine oberflächliche Ähnlichkeit. Es ist nur das Haar, und –« Dann, gepreßt: »Viele sehen aus wie ich. Ich habe nun mal ein – ein alltägliches Gesicht.« Ein heftiger Donner riß ihn in die Wirklichkeit zurück, und er bückte sich rasch hinunter zu dem Toten, ehe Auden weiter das Licht seiner Taschenlampe mit dem erstarrten Gesicht spielen lassen konnte. »Wir sollten lieber –« Er schaute sich um nach etwas, was man auf den Leichnam legen konnte. Das Licht der Taschenlampe erhellte das Gesicht des Toten, leuchtete auf die Augen und den Haaransatz. Spencer sagte: »Da, getrocknetes Blut auf der Uniformjacke, in der Gegend des –« Dann brach er ab und sagte: »Phil, um alles in der Welt, nimm das Licht von diesem Gesicht, ja?« Auden sagte: »Mein Gott, es könnte dein Zwilling –« »Halt bitte den Mund!« Es war ein Alptraum. Der ganze schreckliche Raum war ein Alptraum des schweigenden Todes, eine Grabstätte, erfüllt von kindlichen Horrorphantasien: glitzernde Augen und eine Katze, die die Menschen tötete, und der 79
Tote bin ich selbst ... Spencer sagte verzweifelt: »Hör zu, wir müssen vernünftig sein. Leuchte mal hierher –« Er stellte fest, daß seine Hände zitterten. Wieder erhellte ein Blitz den Raum. »Wir sind doch erwachsene Männer! Wir müssen –« Dann legte er eine Hand auf den blutverkrusteten Stoff und zwang sich dazu, das Revers ein wenig zu bewegen. »Er muß mindestens seit einer Woche tot sein.« Das war immerhin ein Anfang. Nach den oberflächlichen Anzeichen der Verwesung urteilend – aber das war Macarthurs Aufgabe – sagte Spencer: »Leuchte mal auf die zugemauerte Tür. Wenn man von der Farbe des Mörtels ausgeht –« Das Licht kehrte zurück. Spencer sagte erleichtert: »Die Tür muß schon vor einiger Zeit zugemauert worden sein.« Das Licht wollte sich einfach nicht vom Gesicht dieses Toten wenden. Spencer sagte leise: »Phil, ich bitte dich ...« Er schlug die Uniformjacke zurück, richtete seine Aufmerksamkeit auf die Wunde. Hier, eine Vertiefung an der Brust. Spencer betastete seine eigene Brust und ließ die Finger über die gleiche Stelle gleiten. »Er ist aus geringer Entfernung erschossen worden. Es gibt Spuren von Verbrennungen um das Einschußloch.« »Was? Mit einer Schußwaffe?« fragte Auden. »Ja.« Vielleicht könnte das Licht jetzt ... Auden bückte sich und leuchtete endlich auf die Wunde. Spencer sagte: »Ja.« Seine Stimme schwankte. »Du – du kannst – du kannst die Pulverreste sehen, die am Stoff hängen und an der Haut.« Jetzt lag die Schußwunde klar im Licht. »Ein mittelgroßes Kaliber, das ihn aus geringer Entfernung direkt in die Brust getroffen hat. Ein einziger Schuß, der –« Spencer hatte seine Hand flach auf die kalte, alabasterweiße Haut gelegt. »Er muß schon längere Zeit tot sein.« Jetzt betrachtete er den Körper bis hinunter zu den Schuhen, dann knöpfte er mit spitzen, vorsichtigen Fingern die Lederklappe des Revolverhalfters auf. Der Kolben eines 38er Police Special ragte heraus, glänzend von Feuchtigkeit und mit den ersten Korrosionserscheinungen. »Er hat noch seine Dienstwaffe, und er –« Jetzt berührte er die Taschen der Uniformjacke. »Seine Taschen scheinen leer zu sein.« Auden richtete die Taschenlampe auf die Schuhe des Toten. »Was ist das, direkt über der Socke?« Er beugte sich hinunter, 80
während Spencer in der Dunkelheit die Augen schloß. »Ein Beinhalfter.« Es raschelte, als er das Hosenbein etwas weiter nach oben zog. »Er hat ein Beinhalfter getragen.« Der Lichtfleck erhellte Easons Brust, und Spencer, der jetzt die Jackentaschen abtastete, fühlte etwas Hartes unter der linken Achselhöhle des Toten. Im Zwielicht öffnete er einen weiteren Knopf der Jacke, dann einen Hemdknopf und langte hinein, um zu sehen, was es war. Es war ein einziger, unaussprechlicher, unbeschreiblicher Alptraum. Auden sagte: »Es ist eine Pistole. Er hat eine zweite Pistole in einem Halfter am Bein.« Auden hatte Schwierigkeiten, die Pistole näher zu erforschen, ohne die Lage des Toten zu verändern. »Es ist eine Walther. Sieht so aus, als ob –« Jetzt richtete Auden das Licht auf die Umrisse der Waffe, die deutlich genug zu erkennen waren. Er konnte sogar die Gravierung an der Seite lesen. »Es ist eine Walther PPK, eine Siebenkommafünfundsechzig-Millimeter-Pistole.« Unter dem Hemd waren kleine Plastikplättchen, ein abgebrochener Draht, ein Rechteck aus fleckigem Klebeband, ein winziger Gegenstand, der wie der Teil eines kleinen Elektromotors aussah, und – Auden fuhr fort: »Ich kann sogar die Seriennummer erkennen. Es ist –« Spencer sagte leise in der Dunkelheit: »Phil, dieser Eason oder Cartwright, oder wie er auch heißen mag –« Audens Taschenlampe richtete sich wieder auf die Brust und erhellte sie mit gelbem Licht. Spencer sagte leise, wobei er versuchte, nicht mehr in das Gesicht des Toten zu schauen: »Es sieht so aus, als ob er mit einem Kleinstrekorder ausgerüstet gewesen wäre, wie sie von Spionen benützt werden.« Es gab ein leichtes Geräusch, als er an der Sehne zupfte, ehe er die Waffe vorsichtig auf den Schreibtisch legte. Der Celloklang! Das Projektil des Pfeils war durch das dicke Holz des Lesepults gedrungen und steckte in der Wand dahinter. Mit einem Hauch von Lächeln zog Kim den Pfeil aus dem Verputz und betrachtete den 81
Schaden. Ein altes Lesepult, das ohnehin längst ausrangiert werden sollte. Dann schaute Kim auf das messerscharfe Objekt in seiner Hand und sagte leise, während er Feiffer die völlig unbeschädigte Pfeilspitze aushändigte: »Für die technisch Interessierten: Der Bogen, den ich benützte, entwickelt beim Aufprall eine Schubkraft von fünfundachtzig Pond – das ist die Kraft, die notwendig ist, um die Kapazität voll auszunützen. Auf diese Weise kann man einen Elefanten mit einem einzigen Schuß erlegen. Es gibt einen Bericht darüber. Der Pfeil durchdringt die Haut und das Gewebe des Tieres bis zu einer Tiefe von dreißig Zentimetern.« Und Professor Kim fuhr fort: »Da Sie mir nichts über die unglücklichen Leute berichteten, die Sie im Revier in der Fade Street gefunden haben, darf ich eigentlich keinen Kommentar dazu abgeben, aber es scheint mir wahrscheinlich, nach meiner akademischen Ausbildung, die die Gesetze der Logik befolgt, daß Ihr Bogenschütze im Vergleich zu mir ein wesentlich jüngerer und kräftigerer Mann sein muß.« Er nahm die Pfeilspitze in Empfang, warf nachdenklich einen Blick darauf und legte sie neben den Bogen auf den Schreibtisch. Dann sagte Professor Kim leise: »Und außerdem scheint es mir, als ob er ein sehr ernstzunehmender und gefährlicher Gegner wäre.« interpol an: royal hongkong police, britische kronkolonie hongkong quelle: paris, kriminalaufklärungscomputer, allgemeine informationen. betr. i ia/967/caa/1bph2 zur kenntnis: präsidium nachrichtenbüro zur kenntnis: polizeirevier yellowthread street zur kenntnis: verantw. leiter der untersuchung für rückfragen: abteilung internationaler nachrichtenvergleich, interpol, paris allgemeine information: in beantwortung ihres telex: keine (wiederholt: keine) informationen über bogenschützenwaffen in straftaten bekannt in europa in diesem jahrzehnt. dito amerikanischer doppelkontinent, dito asiatischer kontinent.
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keine (wiederholt: keine) entsprechende waffe benützt in europa dito amerika dito asien nach archiv der obengenannten abteilung. keine (wiederholt: keine) informationen über entsprechende benützung von kreuzbogen oder ähnlichen waffen. keine (wiederholt: keine) informationen betreffend ...
Mit anderen Worten: Nichts. O’Yee schaute hinunter auf den Ausdruck, den ein Bote aus dem Präsidium gebracht hatte, und las dann den Abschnitt Unfälle. Er bestand aus einer Namensliste kleiner Jungen, die mit Hilfe eines selbstgebastelten Bogens angespitzte Stöckchen auf irgendwelche Zuchtkühe oder Schweine geschossen hatten, wobei Pfeil und Bogen von einem Baum stammten und die Sehne aus Muttis Paketschnüren. fazit: interpol kennt keine (wiederholt: keine) entsprechenden vorfälle wie in anfrage nummer ...
O’Yee blickte hoch, als ein Schatten in der offenen Tür der Kriminalbereitschaft auftauchte, und da er annahm, es sei Feiffer, sagte er: »Wir hätten sie lieber nach dem gottverdammten –« Er brach abrupt ab. »Koh? Constable Koh?« Koh, völlig durchnäßt, sagte einfach: »Sie haben das Grab geschändet.« Er schaute sich um, versuchte, jemanden zu entdecken, an den er sich wenden konnte. »Ich – ich habe es in der Zeitung gelesen; sie sind alle –« Er schüttelte den Kopf, schien nicht zu begreifen. »Wo sind sie? Sie sind alle tot, und dann hat man –« O’Yee stand auf, um irgend etwas zu tun. Er stand auf, um – Jetzt schaute er nach unten, und der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, zersprang in Stücke. Die Wand hinter ihm war in Stücke zerfallen. In der Wand war ein Loch, und der Stuhl war ebenfalls durchlöchert. Der Staub rieselte zu Boden wie Regen, und er ... Koh lag auf dem Boden. Blut spritzte rings um ihn durch die Luft. Die Wand zerfiel in Stücke, der Stuhl zersplitterte ... Es schien, als passiere das alles erst, nachdem es schon geschehen war. Koh lag tot auf dem Boden, und das Blut spritzte, als geschehe es noch immer. interpol kennt keine (wiederholt: keine) vorfälle ...
O’Yee sagte: »Ich –« interpol kennt keine (wiederholt: keine) vorfälle ...
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O’Yee sagte: »Ich –« Er hörte, wie draußen ein Motor angelassen wurde. interpol kennt –
Noch immer rieselten der Staub und der Mörtel, noch immer spritzte das Blut wie Regen ... interpol –
Gelähmt vor Verblüffung und Entsetzen, schaute er hinunter auf den Ausdruck, der auf dem Schreibtisch lag, und versuchte vergeblich, herauszufinden, was die Worte zu bedeuten hatten.
7 Im Bereitschaftsraum der Kriminalbeamten auf dem Revier Yellowthread Street glitzerten alle glatten Flächen von der hohen Luftfeuchtigkeit. Auf dem Boden neben O’Yees Schreibtisch war noch eine Blutlache, die eine feine Lage weißen Staubs bedeckte. Feiffer, der mit der Dienstaufsichtsbehörde telefonierte, schaute durch die offene Tür, wo zwei Sanitäter Kohs Leichnam auf einer Bahre hinaus in den Regen schleppten, und warf dann O’Yee, der die Sanitäter ebenfalls beobachtete, einen Blick zu. Neben ihm standen Auden und Spencer und warteten auf eine Erklärung. Feiffer warf einen Blick auf O’Yees Gesicht. O’Yee schien geradewegs durch ihn hindurchzuschauen. Am Telefon sagte Chief Superintendent Clemenson beiläufig: »Eason, sagten Sie, war der Name? Wie kommen Sie darauf, daß er einer von unseren Leuten war?« Diesmal handelte es sich bestimmt nicht um eine Aufzeichnung; Feiffer fühlte geradezu, wie gespannt ihm sein Gesprächspartner zuhörte. »Soviel ich weiß, gab es auf dem Revier in der Fade Street einen jungen Inspektor mit Namen Eason, der –« Feiffer hatte O’Yee noch immer nicht aus den Augen gelassen; jetzt ergänzte er Clemensons Satz: »– der eine Schußwaffe an einem Beinhalfter trug, einen Paß, der auf einen anderen Namen lautete, unter seinem Schreibtisch versteckte, der sich das Haar färbte und der, Wunder über Wunder, da er nicht zu Ihren Leuten 84
gehörte, einen Kleinstrekorder versteckt unter dem Hemd trug, wie er fast ausschließlich von Ihrer Abteilung verwendet wird, und der getötet wurde, vermutlich weil jemand das Klimpern dieser Geräte unter seiner Jacke nicht hören konnte und ihm deshalb eine Kugel ins Herz jagte!« O’Yee wandte sich ab, und Feiffer senkte die Stimme und sagte drohend: »Hören Sie, Clemenson, Sie reden schließlich nicht mit irgend jemanden, sondern mit einem Super, der vor knapp zwei Stunden beinahe einen seiner besten Leute durch einen Pfeil, welcher für einen anderen bestimmt war, verloren hätte, einen, der bei dem verdammten, dreckigen Spielchen erwischt wurde, das Sie, Ihr Mann Eason und, soweit ich das beurteilen kann, die ganze Mannschaft der Fade Street betrifft, und wenn Sie jetzt versuchen, mir dumm zu kommen, unschuldig zu tun oder noch mal den Trick mit dem Telefonbeantworter versuchen, dann fahre ich zu Ihnen, Taifun oder nicht Taifun, und räume in Ihrem Stall auf, daß Sie glauben, der Himmel stürzt auf Sie herab!« Er wartete lange genug, um zu sehen, daß Spencer sachte seine Hand nach O’Yees Schulter ausstreckte und dieser mit entsetztem Blick herumfuhr. Feiffer brüllte: »Der Paß lautete auf den Namen Cartwright. Also, wie heißt der Mann nun wirklich? Cartwright oder Eason?« Clemenson sagte: »Eason.« Das gab den Rest. Feiffer explodierte endgültig und brüllte: »Sie verlogener Schweinehund, es gibt keinen Eason! Eason ist eine reine Erfindung. Ich habe bisher nur in einer Sache – einer einzigen! – Ihres Freundes Eason ermittelt: die Bogenschützenpokale in seiner Wohnung, weil ich zufällig jemand kenne, der eine komplette Liste aller Mitglieder der Königlichen Armbrustschützengilde in England besitzt – seit den letzten hundert Jahren –, und der mir abgesehen davon, daß die Royal Tox gar keine Pokale vergibt, überzeugend klarmachte, daß an dem Tag der Verleihung der angeblichen Trophäe bei der Royal Tox gar kein Wettschießen abgehalten wurde! Es gibt bestimmt irgendwo hier in dieser Kolonie Exemplare der Annalen von Harrow – meinetwegen in der Residenz des Gouverneurs persönlich! –, und ich wette, wenn ich alle Namen der Mitglieder aus den letzten fünfhundert Jahren durchgehe, werde ich feststellen, daß ›Eason‹ –« 85
»Vielleicht finden Sie heraus, daß er besonders schnell befördert wurde«, sagte Clemenson wenig beeindruckt. »Vielleicht stellen Sie fest, daß –« »Vielleicht wurde er so schnell befördert, daß man ihn mit einer Waffe ausgezeichnet hat, wie sie ausschließlich von Ihrer Behörde für Männer mit Geheimaufträgen benützt wird! Und wenn ich beim Arsenal anrufe, finde ich vermutlich auch noch heraus, daß die Nummer der Waffe direkt auf Sie und Ihre Abteilung hinweist! Glauben Sie, daß ich das herausfinde? Und wenn ich den Paß, den er benützt hat, um in die Kronkolonie einzureisen, von der Einwanderungsbehörde überprüfen lasse, komme ich vielleicht auch noch dahinter, daß es sich um einen Paß handelt, der fälschlicherweise auf den Namen Eason ausgestellt wurde – von wem wohl? Vielleicht von den Gangstern in London?« Feiffer senkte die Stimme, als Auden ihn überrascht anschaute, und fragte: »Kommt er vielleicht von der Abteilung C zwei – dem Büro, das ernstzunehmende Beschwerden gegen die Polizei bearbeitet, bei den Londoner Kollegen?« Feiffer, dessen Gesicht schweißüberströmt war in der explosiven Atmosphäre des Büroraums, sagte: »Und was soll ich dann tun? Soll ich mich bei der hiesigen Bank erkundigen, wo er eine Viertelmillion auf einem Bankkonto aufbewahrt hat, und fragen, an wen dieses Geld ausgezahlt wurde, als dieses Konto vor einer Woche aufgelöst wurde?« Clemenson sagte beunruhigt: »Wer behauptet, daß es vor einer Woche aufgelöst wurde?« »Das steht auf dem gottverdammten Bankauszug! So klar und einfach, Clemenson! Was dachten Sie denn? Daß er untergetaucht ist? Haben Sie deshalb meinen Kollegen daran gehindert, einen Einblick in die Kartei zu werfen?« Feiffer sagte: »Hören Sie, Clemenson, Sie haben alles verpatzt. Was immer das für ein nettes, kleines Komplott gewesen sein mag zwischen Ihnen und Eason oder Cartwright oder wie er auch hieß, Sie haben es hundertprozentig verpatzt.« Clemenson sagte: »Wir wußten nicht, was mit ihm passiert war. Heute früh, als wir hörten, daß alle Leute in der Fade Street ermordet worden seien –« »Sie wurden von einem Wahnsinnigen mit Pfeil und Bogen er86
mordet. Eason dagegen wurde erschossen, mit einer Schußwaffe, und dann im ehemaligen Archivraum eingemauert. Vor einer Woche!« Dann fuhr er drohend fort: »Wenn Sie genau darüber nachdenken, müssen Sie auch ungefähr wissen, von wem. Und jetzt verlange ich von Ihnen sämtliche Berichte, Akten und alles andere Material über Eason, über das, woran er arbeitete, und auch sonst alles, was Sie über das Revier Fade Street besitzen, und ich verlange –« »Harry, hören Sie –« Feiffer sagte: »Nein!« »Wir können in dieser Sache doch zusammenarbeiten –« »Von wegen. Was für Arbeit Sie leisten, ist mir inzwischen bekannt. Haarfärben – du meine Güte! Ist das Ihre Vorstellung von Geheimaufträgen? Was tun Sie eigentlich, wenn Sie jemanden nur für ein paar Stunden zu einer Untersuchung brauchen? Muß er lispeln, und glauben Sie dann, daß ihn jeder für Marilyn Monroe hält? Und dieser ganze Quatsch mit Sporttrophäen und guten Schulen, der ganze Unsinn mit Jagen, Schießen und Reiten – wo, zum Teufel, kommt das in eurem Leitfaden zur Verstellung in Königlichen Diensten vor? Vielleicht bei Rudyard Kipling? Und was, verdammt noch mal, haben Sie inzwischen rausbekommen? Daß das Revier Fade Street ein gottverdammtes Nest von bestechlichen Gaunern war? Großartig! Deshalb hat man sie nämlich überhaupt dorthinversetzt!« Feiffer, der noch das Bild des Toten vor sich hatte, wie er durch das zerbrochene Fenster aus dem Revier in der Fade Street nach draußen gehievt wurde, steif wie ein Stück Holz, sagte mit unverhülltem Haß: »Es mag vielleicht ein Schock sein für Sie, aber Tonbandaufnahmen sind vor Gericht nicht zugelassen, es sei denn, sie werden bestätigt durch –« Er brach ab und sagte dann: »Die UKGK. Das ist es doch, oder?« Clemenson erwiderte zu rasch: »Ich weiß nicht, was Sie meinen.« »Ich meine die Unabhängige Kommission gegen Korruptionsfälle. Ich meine die von der Regierung eingesetzten Wachhunde der Polizei- und sonstigen Beamten in dieser Stadt. Ich meine –« Feiffer, dem plötzlich alles klargeworden war, sagte ungläubig: »Mein Gott, Ihr von der Dienstaufsichtsbehörde seid ja nicht ein87
mal dazu befugt, oder? Dieses nette, kleine Unternehmen ist nicht einmal genehmigt gewesen, oder täusche ich mich? Das war Ihre eigene Idee, vielleicht, um der UKGK etwas Respekt einzuflößen und ihr zu demonstrieren, daß Sie eben immer selbst am Ball waren und daß Sie sogar einen Ihrer Leute in ein Korruptionsnest wie die Fade Street steckten, und er –« Clemenson erklärte: »Ich habe nur versucht, den guten Ruf der Polizei zu wahren. Von uns! Von Ihnen und mir! Ich versuchte zu beweisen, daß die Polizei in der Lage ist, ihre eigenen inneren Untersuchungen zu führen, ohne daß ein Haufen Schnüffler, die auch noch ausführlich publiziert werden, von draußen hereinkommen und den Ruf eines jeden ehrlichen Polizisten in Hongkong in den Dreck ziehen. Ich wollte –« »Warum, zum Teufel, haben Sie dann Eason vom C zwei angefordert – wenn es so inoffiziell bleiben sollte?« »Das ist meine Sache.« »Und wo, verdammt, haben Sie ihm einen falschen Paß besorgt und eine PPK, wenn Sie nicht –« »Die PPK ist meine eigene Pistole. Und Eason war zufällig ein Freund von mir aus London – ein Freund eines Freundes, und er –« »Wollen Sie mir sagen, daß er nicht einmal Polizeibeamter war? Daß Sie ihn einfach von irgendwo hergeholt haben?« »Er war ein Polizist. Ein besonders kluger Constable bei der Stadtpolizei von London, der vorhatte, den Dienst zu quittieren, weil er nicht befördert wurde; ich habe davon gehört und –« »– und Sie haben ihn rasch durch die Instanzen gejagt, hier in Hongkong, von Stelle zu Stelle befördert und ihn zuletzt in der Fade Street eingesetzt?« Feiffer sagte entsetzt: »Ja, sind Sie denn noch bei Trost? Haben Sie auch nur einmal darüber nachgedacht, wie wenig jemand, der geradewegs aus London kommt, mit der Art von Korruption fertigwerden würde, wie sie hier herrscht? Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung, wie wenig –« »Ich habe ihm ausführliche Instruktionen erteilt.« »Sie haben – was? Sie haben ihm – was erteilt?« Es war unglaublich. Feiffer sagte: »Mein Gott, ich lebe nun schon mein ganzes Leben hier und mache noch immer Fehler, wenn ich mit den Chi88
nesen zusammenarbeiten muß – geschweige, wenn ich mich mit ihnen genauer befasse. Meine Leute hier sprechen alle fließend kantonesisch, und die Hälfte ihrer Zeit –« Diese unglaubliche, egozentrische Stupidität verlangte nach einer genaueren Erklärung. »Einer meiner Beamten ist sogar ein halber Chinese, und selbst er –« Feiffer herrschte Clemenson an: »Und was hat er Ihnen eingebracht? Was für wertvolle Informationen haben Sie erhalten? Und wofür? Sechs Monate – so lange hat er doch in der Fade Street gearbeitet? Kein Wunder, daß er seinen richtigen Paß unter den Schreibtisch geklebt hat. Es muß ein Alptraum gewesen sein für ihn!« Clemenson sagte mit undefinierbarem Unterton: »Er hätte seinen echten Paß nicht bei sich haben dürfen. Das habe ich ihm ausdrücklich untersagt.« »Nicht derjenige, der ihn umgebracht hat, hat den Paß gefunden. Wir haben ihn entdeckt. Aber wenn wir schon von Naivität reden: Die Leute dort haben vermutlich keine zehn Minuten gebraucht, um ihn zu durchschauen!« »Er hat immerhin eine Viertelmillion an Bestechungsgeldern erhalten, schon in den ersten sechs Monaten! Das beweist doch einiges !« »Meinen Sie das im Ernst? Nicht einmal an einem Glückstag könnte man auch nur ein Zehntel davon einnehmen. Bestechungen werden nicht immer mit Geld bezahlt, sondern in Form von Gefälligkeiten und Besitztümern in Übersee und –« Feiffer wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte: »Man hat das Geld auf sein Konto überwiesen, damit es so aussah, als ob er selbst das Geschäft hätte machen wollen. Bestechungsgelder auf einem Polizeirevier werden normalerweise unter dem Personal aufgeteilt. Wenn man die Summe noch mit den zehn Mann multipliziert, würde das bedeutet haben, daß halbjährlich nicht weniger als zweieinhalb Millionen Dollar an dieses Revier bezahlt wurden. Soviel haben manche, die einen leitenden Posten bei einem Morddezernat innehatten und wegen Korruption geschnappt wurden, in ihrem ganzen Leben nicht erhalten – schon gar nicht ein eben erst probeweise eingesetzter Inspektor auf einem Brackwasserposten wie der Fade Street.« 89
»Aber woher, zum Teufel, stammt dann das Geld? Wollen Sie behaupten, daß man versucht hat, den Spieß umzudrehen und ihm selbst Bestechlichkeit nachzuweisen? Die Leute in der Fade Street haben eben von rechts wie von links genommen.« »Wirklich? Auch in der Zeit, wo er dort postiert war?« Feiffer schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, ob nicht alles Bestechungsgeld direkt an ihn gegangen ist und ob die anderen sich für eine Weile zurückgehalten haben, um nicht reinzufallen. Ich frage mich, ob nicht jeder Penny direkt in Easons Hände gewandert ist und dann direkt an Sie, so daß Sie, wenn die Zeit reif war –« Feiffer brach ab und sagte dann ruhig: »Arthur, wenn diese Geschichte inoffiziell durchgeführt wurde, wohin haben Sie das Geld von Easons Bankkonto überwiesen? Auf ein Sperrkonto der Polizei, oder –« Clemenson sagte so leise, daß Feiffer es kaum verstehen konnte: »Auf mein persönliches Konto. Nur, bis Eason hätte offen erklären können, was da gespielt wurde ... Diese Schweinehunde haben also versucht, den Leiter der Dienstaufsichtsbehörde hochgehen zu lassen, und sie –« Clemenson sagte noch eine Spur leiser: »Und sie haben Eason umgebracht, nicht wahr?« »Ja«, antwortete Feiffer. »Und dann haben sie –« Ja, das ergab einen Sinn – doch nur bis hierher, nicht weiter. Feiffer sagte mit seltsamer Betonung: »Aber ihn dann in ihrem eigenen Revier einzumauern ... Ich weiß nicht. Wenn sie vorhatten, ihn umzulegen oder wenigstens für eine Weile kaltzustellen, damit man Sie mit dem Bestechungsgeld hochgehen lassen konnte, warum haben sie dann nicht ...« Wenn er selbst so schnell hinter das Geheimnis um Eason gekommen war, mußten die Leute von der Fade Street erst recht ... Feiffer sagte ins Telefon: »Haben Sie wenigstens etwas Brauchbares bekommen mit den Berichten, die Eason an Sie schickte? Oder von den Tonbändern? Irgend etwas?« »Nichts«, erwiderte Clemenson. »Er erhielt das Geld zum Ende eines jeden Monats – in bar, aus der Hand von Sergeant Shen. Man legte es ihm einfach in einem verschlossenen Umschlag auf den Schreibtisch, und Shen sagte kein Wort dazu.« Clemenson 90
fügte, plötzlich sehr heftig, hinzu: »Dieser Schweinehund von Shen hat sogar jedesmal darauf geachtet, daß er Handschuhe anhatte, wenn er den Umschlag berührte! Nichts ist es, was wir für all unsere Mühe erhalten haben: gar nichts!« »Hat Eason jemals von einem Grab gesprochen, das angeblich geschändet wurde?« »Was?« Clemensons Stimme klang verblüfft. »Nein – warum?« »Nach Aussagen des diensthabenden Beamten sprach Koh, als er hereinkam, von einem geschändeten Grab. Ich dachte erst, er meinte das von Eason, aber das stimmt zeitlich nicht zusammen. Während meine Leute sich noch fragten, ob sie nach dem zusätzlichen Fenster suchen sollten, muß Koh, nach dem total durchnäßten Zustand, in dem er sich befand, bereits auf dem Weg hierher gewesen sein – er kann es also nicht gewußt haben. Aber er sprach von einem Grab, als ob das etwas zu tun hätte mit –« Feiffer brach ab und sagte noch rasch: »Schicken Sie alles her, was Sie haben.« Clemenson sagte: »›Der Mann, der die Zukunft verkaufte.‹ Das ist alles, was wir haben. Eason hat nur einmal etwas aus Shen herausbekommen, im Hinblick auf das Geld, und Shen behauptete, es stamme von dem ›Mann, der die Zukunft verkaufte‹.« Clemenson fügte leise und bitter hinzu: »Es war also alles umsonst, Harry ...« Eason. Cartwright. Ein geschändetes Grab. Der Mann, der die Zukunft verkaufte ... Das Schlimmste daran war, daß das eine schon vor einer Woche geschehen war und daß die andere Sache, aufgrund derer sechs Männer auf dem Revier in der Fade Street ihr Leben lassen mußten, vielleicht gar nichts mit dem Tod von Eason zu tun hatte. Clemenson sagte leise: »Sergeant Shen und P. C. Tong – was ist eigentlich mit ihnen? Haben Sie die schon gefunden? Vielleicht sind sie –« »Ja,« sagte Feiffer. »Vielleicht sind sie –« Er sah das Blut und den Staub neben O’Yees Schreibtisch. In dem Augenblick, als der Pfeil Koh durchbohrte und das Zimmer um ihn herum explodiert war, in diesem Augenblick hatte draußen vor dem Revier, ungesehen, eine Gestalt im Regen gestanden, wie ein Phantom, wie 91
ein ... Feiffer sah O’Yees Gesicht, drüben im angrenzenden Raum. »Ich schicke Ihnen die Akten«, versprach Clemenson. Feiffer fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und erwiderte nur kurz, bevor er auflegte: »Ja, ja. Tun Sie das.« Es gab weiter nichts mehr zu sagen. Als er sich jetzt über den Nacken strich, merkte er, daß sein Hemdkragen schweißgetränkt war. Drüben im Verhörraum geriet O’Yee an die Grenze seiner Geduld. Er fuhr Auden an: »Na schön – was hättest du getan? Hättest du vielleicht deine gottverdammte, blöde Magnum gezückt wie Billy the Kid und dem Kerl eine Kugel zwischen die Lichter geschossen? Ich konnte ihn ja nicht einmal sehen! Ist dir das endlich klar? Er war ja gar nicht da!« »Ich hätte jedenfalls nicht einfach dagestanden und den Mund aufgerissen. Ich wäre hinausgerannt auf die Straße und hätte auf seinen Wagen oder seinen Lieferwagen geschossen, oder womit er gefahren ist, bevor er in der Lage gewesen wäre –« »Du willst nicht verstehen, oder?« sagte O’Yee. »Du willst einfach nicht kapieren. Du glaubst vielleicht, das war so ein kleiner Spielzeugbogen aus Plastik mit ein paar gummibesetzten Holzpfeilen, oder? Das Scheißding kam hier rein wie ein Expreßzug!« Er schaute Spencer in die Augen. »Bill, er will einfach nicht ... Hör zu Auden, ich hab’ erst gedacht, es ist ein Blitz! Nicht, daß ich glaubte, es ist wie ein Blitz – nein, ich hab’ gedacht, es ist wirklich einer!« Spencer legte eine Hand auf Audens Arm und sagte leise: »Komm schon, Phil, du siehst doch, daß er aufgeregt ist ...« O’Yee schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Aufgeregt? Nennt ihr das so, wenn einer zuschauen muß, wie ein anderer direkt vor den eigenen Augen geschlachtet wird? Ich war nicht aufgeregt, Mann, ich war – entsetzt. Ich konnte nicht glauben, was ich mit eigenen Augen sah. Das Ding war wie eine Kugel, ein Geschoß – es ist explodiert wie eine Granate.« Er sah, daß Feiffer in der Tür stand und ihn besorgt anschaute. »Harry, diese zwei hier glauben vielleicht, das war ein Flitzbogenwettbewerb, und ich hab’ mich auf die Schreibtischkante gehockt und gesagt ›Gut ge92
troffen‹, und dabei –« O’Yee sagte: »Ich weiß, ihr glaubt, daß ich völlig übergeschnappt bin wegen meiner Aussichten über das Leben in der Natur und so weiter, aber wie, um alles in der Welt, glaubt ihr, daß die Menschen in den letzten zwei oder drei Millionen Jahren die Dinosaurier und Säbelzahntiger erlegt haben und –« Er drehte sich zu Auden um. »Neben einem solchen Ding ist deine Scheiß-Magnum eine Wasserpistole. Ich hab’ nicht mal ein Geräusch gehört, ist das klar? Nichts! Das war nicht so wie im Kino, wenn die Pfeile dahinzischen, wusch! Nee, nee. Nichts.« Er wandte sich an Feiffer. »Harry, hast du schon mal so ein Ding losgehen sehen? Wirklich?« Und O’Yee fuhr fort: »Bei Gott, es war das Entsetzlichste, was ich je gesehen habe. Ehrlich, Harry – er ist praktisch explodiert. Koh, meine ich. Er ist buchstäblich explodiert!« Feiffer nickte. »Er –« O’Yee zuckte mit den Schultern. »Ich hab’ gedacht, ich bin tot. Ich meine, ich hab’ nicht gedacht, daß ich getroffen bin, aber ...« O’Yee schüttelte den Kopf. »Ich hab’ gedacht, ich bin tot, und das, was da passiert, ist in Wirklichkeit ...« O’Yee schaute hinunter auf seine Handflächen, eine Geste völliger Hilflosigkeit, und sagte: »Gott helfe mir, ich dachte, ich bin tot, und das war irgendwas in der Hölle!« Seine Hände begannen zu zittern, und ehe einer der anderen etwas dagegen unternehmen konnte, stürzte er auf die Knie und warf sich zuckend auf den Boden. Der Präsident sagte leise am Telefon: »Harry, es tut mir leid, daß ich vorhin O’Yees Nachforschungen blockiert habe, aber ich habe eben erst von Clemenson erfahren, daß diese Eason/CartwrightSache ohne Genehmigung von oben durchgeführt wurde.« Er hielt kurz inne. »Wenn das ein Trost ist für euch: Clemenson ist vom Dienst suspendiert, und –« Feiffer stand an seinem Schreibtisch in der Kriminalbereitschaft und sagte: »Ich weiß nicht, ob das für uns ein Trost ist. Vielleicht sollten Sie die Familie des jungen Kerls fragen, den man hierhergeholt hat, damit er getötet wurde.« »Ist bereits geschehen«, antwortete der Präsident. »Das heißt, 93
ich habe eben mit meinem Kollegen in London gesprochen. Cartwrights Mutter war bei ihm, und es hörte sich so an, als ob es für sie kein Trost wäre. Wahrscheinlich hat sie zuvor mit den Leuten beim Yard gesprochen, oder sie hat einige Kenntnisse von ihrem Sohn, denn das erste, was sie mich fragte, nachdem sie erfahren hatte, daß wir ihn gefunden haben, war, ob die Kugel, die ihn getroffen hat, bereits mit einer Waffe in Verbindung gebracht werden konnte.« Der Präsident fügte hinzu: »Eine großartige Frau. Ich denke, sie versuchte, auf diese Weise ihren Sohn zu ehren – ich meine, als sie die Frage stellte, die er normalerweise in dieser Situation gestellt hätte. Ich sagte ihr, daß das der Fall sei.« Feiffer erwiderte gelassen: »Und Sie haben ihr auch gesagt, wer ihn umgelegt hat.« Er fügte ironisch hinzu: »Lassen Sie mich raten: Es war Farmer, nicht wahr?« »Ja. Superintendent Farmer.« Der Präsident fuhr nach kurzer Pause fort: »Die Schußwaffenexperten haben die Kugel mit den Waffen verglichen, die die toten Beamten bei sich trugen, und ... Ich sagte ihr, Farmer sei ein besonders ruchloser Mensch gewesen und ihr Sohn habe versucht, Beweise gegen ihn zu sammeln, um den Ruf der Polizei von Hongkong vor der Beschuldigung der Korruption zu schützen. Ich erklärte ihr, daß ihr Sohn ein sehr mutiger Mann gewesen sei, und daß er sehr viel Wissen über das Leben hier im Fernen Osten gesammelt habe ...« Dann fügte er mit bitterem Unterton hinzu: »Durch seine Instruktionsgespräche mit dem Ex-Superintendent Clemenson. Und ich sagte ihr ... Es war eine sehr unangenehme halbe Stunde, Harry, eine äußerst unangenehme.« »Es muß Farmer gewesen sein«, sagte Feiffer. »Wenn es jemand anders vom Revier gewesen wäre, hätte Farmer ihn ohne weiteres den Wölfen zum Fraß vorgeworfen. Und er allein konnte anordnen, daß der Raum zugemauert wurde.« »Warum, um alles in der Welt, hat er nicht versucht, den Leichnam auf andere Weise loszuwerden?« »Und warum, zum Teufel, hat er ihn mit seiner eigenen Waffe erschossen?« fragte Feiffer. »Ich weiß es nicht. Wissen Sie es?« »Nein.« 94
»Und der Bogenschütze?« »Davon weiß ich auch nichts«, sagte Feiffer. »Und Sergeant Shen und P. C. Tong?« »Sie sind noch nicht aufgetaucht.« »Dann sind sie vermutlich inzwischen ebenfalls tot«, sagte der Präsident bitter. »Vermutlich, ja.« »Aber was, in Gottes Namen, haben wir dann in Händen ?« Und der Präsident fuhr fort, mit Verzweiflung in der Stimme: »Ich habe dieses Recht nie zuvor in Anspruch genommen, aber ich kann in bestimmten Fällen die Genehmigung erteilen, beim Anblick des Killers einen Schuß ohne Vorwarnung abgeben zu lassen, und wenn Sie glauben ...« »Ich weiß ja nicht einmal, wie er aussieht! Einer meiner Beamten war höchstens acht Meter von ihm entfernt, und alles, was er von ihm sah, war ein Schatten – und bevor dieser Schatten einen Pfeil in seinen Kollegen bohrte, konnte dieser gerade noch etwas von einem geschändeten Grab sagen. Also, wen sollen wir ohne Vorwarnung abknallen? Einen, der in wilder Verkleidung herumläuft, mit einem Langbogen unter dem Arm? Einen Schatten? Einen Blitz? Oder jeden, der uns verdächtig erscheint?« »So habe ich es nicht gemeint. Ich meinte nur, bis jetzt sind immerhin acht Polizeibeamte getötet worden, Eason oder Cartwright eingeschlossen, und das ist doch –« »Das brauchen Sie uns nicht zu sagen. Wir haben noch das Blut hier auf dem Boden.« »Ich will ja nur helfen.« »Sie helfen uns am besten, wenn Sie sich darum kümmern, daß Idioten wie dieser Clemenson dort bleiben, wo sie hingehören. Lassen Sie sie ihre verdammten Scheißträume über das Scheißleben im Empire Ihrer Majestät in die Wirklichkeit umsetzen – in der Sicherheit einer öffentlichen Bibliothek oder so. Nur dann kann man hoffen, daß unschuldige Knaben wie dieser Eason im Lauf ihres Lebens lernen, was wirklich gespielt wird.« Feiffer wartete einen Augenblick, dann sagte er: »Diese Schweinehunde in der Fade Street haben es schon seit Jahren so getrieben. Und was die Verhältnisse von Hongkong betrifft, konnte dieser Eason 95
oder Cartwright nicht einmal zwei und zwei addieren. Deshalb ist er jetzt tot.« »Genau wie fast alle anderen aus dem Revier in der Fade Street.« »Ja! Und ich wünschte bei Gott, es gäbe da einen Zusammenhang. Ich wünschte bei Gott, ich wüßte, was Koh mit dem geschändeten Grab gemeint hat und wo Shen und Tong jetzt sind, aber ich weiß es nicht! Dennoch käme ich nicht auf die Idee, bei Scotland Yard anzurufen oder bei sonst jemand, dessen Kenntnisse über Hongkong sich auf den letzten Kung-Fu-Film beschränken, und ihn zu fragen, ob er nicht ein nettes, kleines Opferlamm hätte, das er mir rüberschicken könnte.« »Vielleicht hätten Sie statt meiner mit Cartwrights Mutter sprechen sollen.« »Ja, vielleicht«, sagte Feiffer. Er schaute hinüber zu Spencer und bemerkte zum zweitenmal an diesem Tag die Ähnlichkeit zwischen seinem Gesicht und dem des Toten, den die Sanitäter durch das zerbrochene Fenster des Reviers geschoben hatten, hinaus in den strömenden Regen. Dann sagte er: »Aber ich habe nicht die Absicht, irgend jemandes Mutter, Frau oder sonstigen Verwandten anzurufen.« Der Regen schlug gegen die Scheiben, während draußen auf dem Meer der Taifun Pandora wieder einmal völlig überraschend seine Richtung änderte. »Ich versuche, mich so zu verhalten, daß meine Leute, verdammt noch mal, am Leben bleiben!« O’Yee stand an seinem Schreibtisch, schaute hinunter auf die allmählich eintrocknende Blutlache am Boden und sagte leise, ohne besonderen Grund: »O mein Gott ...« Was für ein geschändetes Grab? Was für ein Mann, der die Zukunft verkaufte? Feiffer erklärte mit fester Stimme: »Aber jetzt werde ich meine Leute erst einmal nach Hause schicken, damit sie sich ausschlafen können. In Ordnung?« »Ja«, sagte der Präsident. »Ja, natürlich. Das ist gut.« »Vielen Dank.« Feiffer schaute hinüber zu O’Yee, der erleichtert die Augen schloß.
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Er war immer noch draußen. Auf dem Meer zog der Taifun Pandora vorübergehend in südwestliche Richtung und schlug den Regen gleichzeitig von allen vier Seiten gegen seinen Lieferwagen. In der im Dunkeln liegenden Fahrerkabine wartete der Bogenschütze, die wachsamen Augen geradeaus gerichtet, mit der Geduld des Jägers, und er fühlte weder Angst noch Unbehagen.
8 ... Die Hunde, die vor uns gelandet waren, begrüßten uns in aufrichtig freundlicher Weise und sprangen spielerisch um uns herum; die Gänse schnatterten laut, worauf die Enten mit ihrem Baß antworteten, während die wilden Flamingos mit uns unbekannten Tönen das allgemeine Geschrei verstärkten ... Um 6.15 Uhr, auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer liegend und auf den Regen lauschend, strich sich O’Yee, der voll angekleidet war, mit der Hand über die Augen und sagte: »Ja, sicher.« Es war doch ein großer Unterschied, ob die schweizerische Robinson-Familie nach dem Schiffbruch auf eine einsame Insel verschlagen wurde oder ... Pine Cone Pin. O’Yee sagte laut: »Pine Cone, der blöde Pin – wenn er nur einen Funken Verstand gehabt hätte ...« ... letztere in einer unermeßlichen Zahl, und ihre Stimmen machten uns nahezu taub, namentlich, da sie nicht mit denen des uns bekannten Geflügels harmonisierten. Dennoch erfreute mich der Anblick dieser gefiederten Geschöpfe ... O’Yee sagte, während ihm die Tränen in die Augen schossen: »Bockmist. Alles verdammter Bockmist! Bockmist!« ... stellte mir sie bereits als Bereicherung unserer Tafel vor, falls wir gezwungen sein sollten, in dieser verlassenen Gegend bleiben zu müssen ... Pine Cone Pin, verdammter Kerl! Der Pfeil hat Koh durchbohrt wie ein Expreßzug, und er selbst hatte dagestanden und ihn beobachtet wie ein – Das Telefon am Kopfende des Sofas klingelte; O’Yee nahm 97
rasch den Hörer ab und sagte: »Ja?« Es war Harry Feiffer. Feiffer, der offensichtlich leise sprach, um niemanden zu wecken, fragte: »Christopher, ich hab’ dich doch nicht geweckt?« O’Yee sagte: »Nein.« Danach entstand eine Pause, ehe Feiffer fragte: »Geht’s dir gut?« »Ja.« »Ich rufe von zu Hause an. Ich wollte Nicola nicht wecken. Hoffentlich habe ich Emily und deine Kinder nicht geweckt ...« O’Yee sagte ausdrucklos: »Niemand weiß, daß ich zu Hause bin. Ich liege im Wohnzimmer und lese.« Feiffer fragte zum zweiten Mal: »Geht’s dir gut? Bist du sicher, daß alles –« »Es ist alles in Ordnung.« O’Yees Stimme klang defensiv. Er dachte, er könnte ja so tun, als ob ihm nicht wohl wäre, oder als ob eines der Kinder ... Aber O’Yee sagte: »Ich hätte ein paar Urlaubstage nötig, Harry ...« Feiffer erwiderte mit beißender Ironie: »Haben wir das nicht alle? Wäre schön, jetzt ein bißchen freimachen zu können, was?« Dann wurde seine Stimme knapp und nüchtern. »Hör zu, Christopher, ich war gerade beim Leiter des Labors, und er hat mir einen vorläufigen Bericht über diesen Pfeil gegeben – er ist handgefertigt.« Auf dem Tisch in der Nähe des Sofas lag eine Schachtel Zigaretten. O’Yee langte danach und nahm sich eine heraus. Als er sie anzündete, merkte er, daß seine Hände zitterten. Er sagte: »Ja – und?« »Sie haben eine mikroskopische und eine spektroskopische Untersuchung durchgeführt, oder was man sonst so alles macht, und das Hauptergebnis lautet – wenn man die Länge und den Durchmesser und die Tatsache, daß es sich um handelsübliches Hartholz handelte, beiseiteläßt –, daß der Pfeil gedrechselt, geschliffen, lackiert und meinetwegen auch noch mit Champagner getauft wurde – alles mit der Hand.« Feiffer ließ sich Zeit, damit sich O’Yee die Information einprägen konnte. »Es war ursprünglich Holz von einem Tischbein oder einem Stuhl, und derjenige, der 98
ihn bearbeitet hat, benützte dazu nicht einmal elektrische Maschinen: Er hat ihn mühsam mit einem einfachen Werkzeug angefertigt. Das gilt auch für die Spitze mit den Rasierklingen: Sie wurde aus einem Stück Eisenholz geschnitzt, und die Vertiefungen für die Klingen wurden mit einem Messer eingekerbt.« O’Yee legte sein Buch auf eine der Sofalehnen und sagte mit Mühe: »Also wie der schweizerische Robinson, nicht wahr? Genau wie der verdammte Robinson Crusoe oder –« »Christopher, bist du sicher, daß es dir gut geht? Du klingst ein bißchen seltsam.« »Ach, wirklich?« sagte O’Yee mit gespielter Selbstanklage. »Vielleicht ist er ein Verrückter, der alles auf die unbequeme Weise machen will, um sich zu bestätigen, daß er die moralische Kraft besitzt, in der Wildnis zu leben, während er in Wirklichkeit über soviel Energie und Grütze verfügt wie ein verdammtes dreizehiges Faultier.« Danach entstand eine Pause, ehe Feiffer sagte: »Sie haben Spuren von Holz und Sägemehl gefunden, in winzigen Mengen, am Pfeil, dort, wo er sich am Bogen gerieben hat; außerdem fanden sie Spuren von Wachs und Fasern von der Sehne. Er hat sich also auch den Bogen selbstgemacht und die Sehne aus Leinenfäden gewoben.« Das Schweigen am anderen Ende der Leitung vermittelte Feiffer das Gefühl, als ob er zu sich selbst spreche. Er fuhr fort: »Und die Tatsache, daß er plötzlich auf dem Revier auftauchte, als Koh dort eintraf und daß er in der Fade Street von Raum zu Raum schleichen konnte, ohne daß jemand auf ihn aufmerksam wurde, bevor es zu spät war ...« Feiffer sagte: »Christopher, er ist ein Jäger!« »Das steht für mich seit einiger Zeit fest.« »Nein, ich meine, ein richtiger Jäger! Ich meine, das ist sein Beruf. Es ist schließlich durchaus möglich, sich hier in der Kolonie Holzstäbe zu kaufen oder geeignete Schnüre. Die Steuerblätter, die an dem Pfeil befestigt waren, wurden mit einem Messer aus Dosenblech geschnitten.« O’Yee sagte bitter: »Vielleicht hat er keine Gänsefedern auftreiben können. Er hätte nur zu den verdammten Schweizerischen Robinsons zu gehen brauchen. Die hatten Hunderte von geeigne99
ten Federn.« Dann fuhr O’Yee, ruhiger geworden, fort: »Hör zu, Harry, ich habe mir einiges durch den Kopf gehen lassen, über mich und über –« »Er jagt die Menschen«, sagte Feiffer. »Koh und Sergeant Shen und P. C. Tong – er jagt sie, als wäre es –« »Es ist mir egal, verdammt noch mal!« Er hörte ein Geräusch aus dem Schlafzimmer, wo sich seine Frau oder eines der Kinder bewegte, und senkte die Stimme. »Diese ganze Scheiße vom besseren Leben in der Wildnis ist nichts weiter als verdammte Scheiße, und wenn der verdammte Pine Cone Arschloch, oder wie er heißt, die Wahl gehabt hätte, dann wäre er vermutlich gemütlich zu Hause in seinem Bett geblieben. Ich dagegen habe die Wahl, und es gibt genügend sichere, einfache Jobs in der Verwaltung, die jeder mit gesundem Menschenverstand – jeder halbwegs zivilisierte Mensch –« Feiffer übertönte ihn. »Wenn er sie jagt, dann benützt er dabei sein ganzes Wissen über ihre Gewohnheiten, um sie zu finden, und bedient sich jeder nur möglichen Hilfe.« Und Feiffer fuhr rasch fort, ehe O’Yee ihm antworten konnte: »Das schließt auch uns ein.« Jetzt sagte er tonlos: »Christopher, ich glaube, es wäre gut, wenn wir uns ein paar Tage von unseren Familien fernhalten würden – für den Fall, daß er uns beobachtet.« ... meine großartige Frau trocknete sich die Tränen, nahm Haltung an und ermunterte und tröstete die Kinder, die sich an ihren Rock geklammert hatten ... »Was hast du gesagt?« fragte O’Yee. »Ich rufe jetzt gleich Auden und Spencer an«, sagte Feiffer, »und schicke sie in die Fade Street, damit sie sich bei den Geschäftsinhabern nach dem Mann erkundigen, der die Zukunft verkaufte; und ich wäre dir dankbar, wenn du dich um diese Geschichte mit dem geschändeten Grab kümmern würdest. Ich hole mir das Einsatzbuch und die Tagebücher herüber, vergleiche sie mit dem dürftigen Material der Dienstaufsichtsbehörde, und –« »Was, zum Teufel, hast du damit gemeint: Er könnte hinter meiner Familie her sein?« »Es ist denkbar, daß er glaubt, wir würden ihn zu Shen und Tong führen, wenn er sie nicht auf eigene Faust findet.« 100
»Was hast du damit gemeint: meine Familie in Gefahr?« »Wie, glaubst du, ist er in die Fade Street eingedrungen, und woher wußte er, wo alles war, einschließlich des Geräts in der Besenkammer und so weiter? Er ist ein Jäger, Christopher. Er hat die Gewohnheiten seiner Opfer genau beobachtet und studiert. Der einzige Grund, warum er nicht alle in der Fade Street erwischt hat, war meines Erachtens, daß Shen, Tong und Koh den Schirmverkäufer sahen, wie dieser aus dem Gebäude floh, woraufhin sie sich wegen dieser Eason-Sache – von der er möglicherweise gar nichts wußte – ebenfalls aus dem Staub gemacht haben, anstatt ihren Dienst anzutreten.« Dann sagte Feiffer mit sonderbarer Betonung: »Als ich nach Kaulun gefahren bin, um Professor Kim zu sprechen, hatte ich mehrmals das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich nahm an, es sei jemand von der Dienstaufsichtsbehörde, aber bei genauerem Nachdenken ...« O’Yee kniff die Augen zusammen und hörte zu. »... bei genauerem Nachdenken wird mir klar, daß ich die Leute von der Dienstaufsicht wahrscheinlich gesehen hätte, denn die sind nicht besonders geschickt beim Beschatten.« Und Feiffer fuhr fort: »Bei genauerem Nachdenken –« O’Yee unterbrach ihn. »Wir sehen uns in zwanzig Minuten in der Yellowthread Street.« »Aber laß dir Zeit und paß gut auf«, warnte ihn Feiffer. O’Yee wiederholte: »Wir sehen uns in zwanzig Minuten in der Yellowthread Street.« »Gut. Ich rufe jetzt Auden und Spencer an.« »Fein.« Danach herrschte Schweigen auf beiden Seiten, und nach ein paar Sekunden legte O’Yee behutsam den Hörer auf die Gabel. Diese alten Naturburschen, mit dem stählernen Blick der Entschlossenheit und dem harten, unbeugsamen– Als er durch das Zimmer ging und nachsah, ob Fenster und Türen gut verschlossen waren, fiel O’Yees Blick auf die Spiegelung seines Gesichts in einer Fensterscheibe. Wenn das das Porträt eines Naturburschen war, dann erinnerte es in keiner Weise an die Fotos in dem Time-Life-Buch über die Pioniere aus vergangenen Jahrhunderten, ebensowenig wie an die 101
Helden der Hollywoodfilme und der Fernsehproduktionen über die Herren der Wildnis. Er steckte sich den voll geladenen 38er Detective Special ins Schulterhalfter, prüfte, ob er sich leicht ziehen ließ, und mit einem dumpfen Gefühl im Magen wie Pine Cone Pin, wenn er hinauszog in die Wälder, um einen Kontinent zu zähmen, verließ er lautlos seine Wohnung und sah sich auf der Treppe und auf dem Gehsteig immer wieder um, ehe er bei strömendem Regen in seinen vor dem Haus parkenden Wagen stieg. Einmal – es war schon lange her – hatte der Nachtwächter der Busstation in der Peking Road eine kleine Rolle in einer Schüleraufführung vor einem Elternpublikum gespielt. Er war im richtigen Augenblick auf die Bühne gekommen, hatte seinen Text richtig hergesagt, auf die Antwort gewartet, hatte genickt oder den Kopf geschüttelt oder was auch immer ihm die Rolle vorschrieb, und dann ... Und dann hatte er von der Bühne abtreten müssen, in lässigem, normalem, ungezwungenem Schritt, aber seine Beine waren plötzlich wie Pudding gewesen, während das gesamte Publikum jede seiner Bewegungen beobachtete, und er hatte gewußt, daß er so gezwungen ging, als ob er einen Besenstiel verschluckt hätte, und das Publikum hatte einen jeden seiner Schritte beobachtet, und ... Auf halbem Weg quer über den Vorhof des geschlossenen Omnibusdepots blieb der Nachtwächter stehen und legte die Finger der beiden Hände aneinander. Der große Mann im Regenmantel, der ihm den Rücken zukehrte, hatte eine Hand lässig auf die Motorhaube seines parkenden Lieferwagens gelegt, und genau wie damals das Publikum ... Der Nachtwächter leckte sich die Lippen und schaute sich um. Das Depot war verlassen; alle Busse waren seit der Taifunwarnung aus dem Verkehr gezogen, und weit und breit war kein Mensch zu sehen, auch nicht in den überdachten Imbißbuden neben den langen Bänken, wo normalerweise die Passagiere warteten. Der Mann im rehbraunen Regenmantel neben dem Lieferwa102
gen beobachtete das Spiegelbild des Nachtwächters auf der Karosserie des Wagens. Aber nein, das war unmöglich: Das Morgenlicht war noch nicht hell genug, und außerdem waren mehr als die Hälfte der Lampen im Depot abgeschaltet, um Energie zu sparen. Außerdem schaute der Mann auch gar nicht auf den Lieferwagen. Er schaute hinaus auf die Einfahrt von der Straße. Der Mann wußte dennoch, daß der Nachtwächter ihn sah. Der Nachtwächter hatte eine englische Zigarette in der Hand. Der Mann neben dem Lieferwagen konnte den Virginiatabak riechen. Von der Zigarette stieg bläulicher Rauch in die Luft. Der Nachtwächter warf einen Blick darauf, schnippte die Zigarette auf den Boden und trat sie aus. Er sah, wie der Mann den Kopf bewegte, er hatte auch das Geräusch gehört. Der Nachtwächter sagte zögernd auf englisch: »Äh ... Entschuldigen Sie ...« Die Stimme war zu weich und klang außerdem etwas sonderbar. Jetzt sah er wieder die leichte Bewegung des Kopfes. Aus einem unerklärlichen Grund dachte der Nachtwächter, ein christlich erzogener Chinese, plötzlich: ›Ich habe eine Familie; ich gehe jeden Sonntag zur Kirche und ich habe ein –‹ Der Nachtwächter, dessen Mund ausgetrocknet war, sagte ein wenig lauter: »Entschuldigen Sie, aber das Depot ist geschlossen. Die Buslinien sind eingestellt.« Eine Verteidigungsstellung; der Nachtwächter hatte einmal darüber gelesen, im Reader’s Digest oder sonstwo. Wie man eine Verteidigungsstellung aufbaut ... Er hielt sich in einiger Entfernung und sagte: »Wenn Sie auf einen Bus warten ...« Merkte, daß er die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt hatte, und dachte: Aber das ist doch verrückt! Es ist nichts weiter als ein Mann, der da im Regen steht und wartet. Er ging einen Schritt auf ihn zu und sah, wie der Mann den Kopf bewegte. »Entschuldigen Sie, aber wenn Sie auf einen Bus warten ...« Der Mann stand neben einem Lieferwagen. Er war offensichtlich mit dem Wagen hierhergefahren, und jetzt ... Als der Nachtwächter noch ein Kind war, hatten manche Leute überhaupt nicht 103
auf ihn geachtet. Er hätte als Kind so viele wichtige Fragen gehabt, aber die Erwachsenen, für die er weniger als nichts war, hatten ihn angestarrt, als ob er gar nicht dagewesen wäre. Und auch heute noch gab es Leute, die sich so verhielten: Der Leiter des Depots, und ... Der Nachtwächter ging entschlossen einen Schritt auf den Mann zu und sagte laut: »Sie können hier nicht parken, und damit basta.« Er drehte sich um und überlegte sich, was dieser Mann wohl beobachtete. Aber es gab nichts – keinen Menschen weit und breit, keinen Fahrgast, keinen Wagenwäscher, keinen Busfahrer, keinen Polizisten. Der Nachtwächter sagte leise, als er sah, wie sich die grauen, unbewegten Augen auf ihn richteten: »O mein Gott ...« Dann schluckte er und sagte zu dem ausdruckslosen Gesicht: »Wir – wir wollen damit verhindern, daß –« Wieder leckte er sich die Lippen. Das Gesicht beobachtete ihn, wartete; ein durchaus gewöhnliches Gesicht für einen Europäer, schmal, sonnengebräunt, mit reiner Haut. Der Nachtwächter sagte, während er mit den Schultern zuckte: »Wenn Sie ein Tourist sind und sich verfahren haben ...« Die Hand des Mannes lag immer noch auf der Motorhaube des Wagens. Der Nachtwächter sagte mit einem Lächeln: »Nein, mit einem solchen Lieferwagen sind Sie natürlich kein Tourist. Bei den hiesigen Fahrern hätten sie längst unzählige Dellen ...« Das Gesicht betrachtete ihn mit sonderbarem Interesse. Der Nachtwächter machte eine Geste mit beiden Händen und fuhr fort: »Sie sprechen doch englisch, oder?« Er konnte ein Skandinavier sein, dachte der Nachtwächter. Skandinavier hatten einen reinen, gesunden Teint und solche stechenden Augen. Der Nachtwächter sagte: »Hören Sie – Sie können nicht den ganzen Tag hier stehenbleiben. Sie müssen den Wagen anderswo parken, und damit basta.« Er drehte sich um und deutete mit der Hand auf das verlassene Depot. »Wie Sie sehen, ist es nicht gestattet, sich hier aufzuhalten, wenn die Buslinien eingestellt sind. Wir schließen das Depot, damit sich hier nicht Herumtreiber und –« Er hielt inne und sagte dann: »Hören Sie, ich bin hier für alles verantwortlich, und in drei Minuten schließe ich das Tor, und wenn Sie der Herr des Universums wären, könnte ich nicht zulassen, daß Sie hierbleiben. Dieses Depot ist geschlossen.« 104
Jetzt sah der Nachtwächter eine Bewegung auf dem Gesicht des Mannes, unter den Augen. Dieser Kerl hatte nur darauf gewartet, daß er es sagte! Aber das war doch nicht möglich. Nicht wie in einem Theaterstück, bei dem der Dialogpartner genau weiß, was der andere sagen wird, und nur auf sein Stichwort wartet, um seinen eigenen Text herzusagen – aber so kam es ihm vor. Dieser Mann hatte darauf gewartet, daß er, der Nachtwächter, ihm erklärte, das Depot sei geschlossen. Der Nachtwächter bemerkte die Andeutung eines Nickens, als ob er seinen Text richtig aufgesagt hätte und als ob jetzt der Mann im Regenmantel dran wäre, und dann – Aber der Mann im Regenmantel schwieg. Er trat einen Schritt zurück, legte seine Hand auf den Türgriff des Lieferwagens und warf rasch einen Blick hinaus auf die Straße. Es regnete immer noch in Strömen. Der Nachtwächter sagte: »Hören Sie, wenn es nach mir ginge, könnten Sie meinetwegen hier warten, aber –« Der Mann im Regenmantel nickte. Und seine Augen waren wieder unverwandt auf das Gesicht des Nachtwächters gerichtet. Der Nachtwächter sagte nervös: »Ich will Sie ja nicht drängen, aber ich schließe hier in ein paar Minuten ab, und bis dahin –« Er rieb sich die Handfläche an den Knöcheln der anderen Hand. »Wissen Sie, wenn Sie wollen, daß ich –« Der Mann im Regenmantel nickte. Seine Hand auf dem Türgriff bewegte sich, das Schloß öffnete sich mit leisem Klicken. Der Nachtwächter wollte sagen: ›Nun, ich – ich werde nicht darauf achten, wohin Sie fahren –‹ Jetzt merkte er, daß seine Hände zitterten. Er sehnte sich nach einer Zigarette. Sein Büro, am anderen Ende des Vorhofs, war warm und sicher und gemütlich. Der Nachtwächter sagte, wobei er mit den Achseln zuckte: »Ich habe noch einiges zu erledigen, also muß ich jetzt gehen, und ich –« Er brach ab und sagte dann: »Ich schaue Ihnen nicht nach. Ich meine, ich möchte Sie in keiner Weise verärgern, aber es gibt nun einmal Vorschriften, an die ich mich halten muß, und –« Der Nachtwächter drehte sich um und überlegte, ob er noch etwas sagen sollte, irgend etwas, damit ... Er ging so steif und unnatürlich auf sein Büro zu wie damals auf 105
der Bühne, als er noch ein Kind war. Der Mann im Regenmantel stieg in seinen Lieferwagen und nickte sich selbst zu. Sergeant Shen und P. C. Tong waren nun schon über vierundzwanzig Stunden auf der Flucht, in den Straßen dieser Stadt. Der Bogenschütze rechnete damit, daß ihre Kraft bald aufgezehrt sein würde, und daß es nicht mehr viele Schlupfwinkel gab, die er noch nicht durchsucht hatte. Der Nachtwächter drehte sich auf seinem Weg zum Büro kein einziges Mal um. Hätte er sich umgedreht, und hätte er versucht, die Zulassungsnummer des Lieferwagens zu lesen, wäre der Bogenschütze gezwungen gewesen, ihn auf der Stelle mit seinem Jagdmesser zu töten, das er in seiner Hosentasche hatte. Aber es war nicht nötig. Der Nachtwächter verschwand in seinem Büro, schloß die Tür und tauchte nicht einmal einen Augenblick lang am Fenster auf, um herauszuschauen auf den Vorhof. Der Bogenschütze nickte sich selbst zu, legte den Vorwärtsgang ein und fuhr behutsam aus dem Hof des Busdepots hinaus auf die Straße. Im Gegensatz zum Nachtwächter wurden seine Gedanken keineswegs von Erinnerungen beherrscht, und er fuhr aufmerksam und direkt zum nächsten Punkt auf seiner Liste, dem Flughafen, wobei er, ohne Fehler zu machen, der Route folgte, die er der Straßenkarte entnahm, welche neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. 6.57 Uhr. Der Bogenschütze setzte, obwohl die Straße völlig verlassen war, den rechten Blinker, bog behutsam und getreu den Verkehrsregeln in die Yellowthread Street ein und fuhr dann, während die beleuchteten Straßenschilder und die Lichter der Sturmwarnung von seiner Windschutzscheibe reflektiert wurden, in Richtung des Tunnels, der unter dem Hafen hindurch zum Flugplatz führte. Dreihundertneunzig Kilometer weiter draußen auf dem Meer bewegte sich der Taifun Pandora noch immer mit geschätzten vierunddreißig Kilometern pro Stunde auf die Küste zu. Auf dem Flugplatz tippte der Sicherheitsoffizier, der für den Flughafen 106
verantwortlich war, die beiden Zahlen in seinen Taschenrechner ein und dividierte sie. Wenn man annahm, daß der Taifun noch etwas in nordwestliche Richtung schwenken würde, mußte er die Kronkolonie in etwa elfeinhalb Stunden, also am frühen Abend, erreichen. Im Inneren des Taifuns rechnete man mit Stundengeschwindigkeiten bis zu hundertsechzig Stundenkilometern, und sie nahmen noch zu, solange der Luftwirbel ungehindert über dem Meer tobte. Der Sicherheitsoffizier hatte sich den Bericht der Regierungskommission über die Untersuchung des Taifuns Wanda von 1962 aus dem Archiv kommen lassen. Er sah die graphischen Darstellungen durch und stellte dabei fest, daß der damalige Taifun nach den Messungen des Wetteramts beim Durchzug Windgeschwindigkeiten von hundertvierzig Knoten erreicht hatte. Jetzt schaute er durch das Bürofenster hinüber zur Haupthalle des Flughafens und sagte leise: »Verdammte Scheiße ...« In der Wartehalle hielten sich massenweise Touristen auf und warteten auf Flüge, die es in absehbarer Zeit nicht geben würde; Studenten und andere Reisende, denen das Geld nicht reichte, um sich noch ein Hotel oder eine andere Zuflucht zu suchen. Die Hauptstartbahn des Flughafens war auf aufgeschüttetem Boden hinaus ins Meer gebaut. Der Sicherheitsoffizier blätterte wieder in dem Bericht und informierte sich über die damalige Sturmflut. Der Taifun Wanda war bei Tag über die Kolonie hereingebrochen, zur Zeit der Ebbe, so daß es in dieser Hinsicht keine besonders aufsehenerregenden Zahlen gab. Er blätterte ein paar Seiten zurück. Im Jahr 1937 hatte ein Taifun genau wie Pandora während der Flut die Stadt erreicht, und die dabei entstandene Flutwelle war zehn Meter hoch gewesen. Als der Leiter der Flughafensicherung die Zahl der Todesopfer las, war er entsetzt. Er blätterte den Anhang durch und betrachtete die Bilder. Unten in der Halle bewegte sich die Flughafenpolizei durch die Menge der Wartenden und prüfte hier und da Papiere und Pässe. Zwei uniformierte Beamte, die Constables Lee und Sun, stammten von einem Revier auf der Insel; sie suchten, wie sie angaben, nach zwei anderen Polizeibeamten des Reviers, über welches in den Nachrichten berichtet worden war. Das war noch das geringste seiner Probleme. Jetzt ging er zum 107
dritten Mal an diesem Morgen durch sein Büro und schaute zum Fenster hinaus, um zu prüfen, ob die Taifunstangen alle angebracht waren, namentlich vor den Panoramafenstern der Besucherbalkons. Draußen fiel der Regen in Strömen auf den Asphalt – so dicht, daß man kaum das Radargebäude an der Kreuzung der Startbahn Eins mit der Zubringerbahn sehen konnte. Das Gras am Rand der Pisten lag flach auf dem Boden, und dahinter sah er gerade noch die weißen Gischtkämme im Hafen und einen tiefdunklen Streifen am Horizont zwischen Himmel und Meer. Das kleine Funkgerät, mit dem er manchmal die Funkgespräche zwischen dem Tower und den hereinkommenden Maschinen überwachte, summte von Gesprächen zwischen weit entfernten Flugplätzen und Maschinen, wie sie unter den ungewöhnlichen atmosphärischen Bedingungen gelegentlich hereinkamen. Aber der Tower des Flughafens von Hongkong schwieg, und es gab keinerlei Flugverkehr in der näheren Umgebung. Der Sicherheitsoffizier der Flughafenbehörde, ein kleiner Mann, der früher bei der Luftwaffe gedient hatte, sah in Gedanken plötzlich das Bild eines Flugzeugträgers vor sich, welcher in treibendem Nebel und Regen vergebens auf die Maschinen wartet, die nie zurückkommen würden. Hier, auf diesem Flugzeugträger, seinem Flughafen, warteten über zwölfhundert Seelen. Er schaute wieder hinaus auf die Wellenkämme und die gewaltige Strömung, die darunter herrschte. Beim Hurrikan Allen in der Karibik hatte es fast zweihundert Tote gegeben. Einige der Toten, namentlich solche aus den Gegenden von Haiti und Florida, waren noch ein Jahr nach der Katastrophe nicht identifiziert. Er sah einen völlig durchweichten Polizeibeamten, der an seiner offenen Bürotür vorbeikam, und rief hinaus, beherrscht von dem Zwang, alles katalogisieren und für Inventuren bereitzuhalten, wie man es ihm bei der Luftwaffe beigebracht hatte: »Officer, könnten Sie die Information bitten, alle Passagiere zu ihren Schaltern zu rufen, damit wir die Anwesenden mit den Passagierlisten gegenchecken können?« Er merkte, daß ihn der Polizist ein wenig überrascht anschaute. »Ich brauche eine Liste über sämtliche Per108
sonen, die sich hier auf dem Flugplatz aufhalten, damit ich, wenn es zum Schlimmsten kommt –« Einen Augenblick lang fragte er sich, ob der Mann, der ihn so verständnislos anschaute, überhaupt Englisch verstand. »Sie sprechen doch Englisch, oder?« »Ja, Sir.« Der Polizist drehte sich um. Der Leiter der Flughafensicherung rieb sich die Stirn. »Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Sie können die Liste zu ihrem Superintendent bringen, damit er sie bis nach dem Taifun aufbewahrt.« Der Sicherheitsbeamte, der sich genau nach den Regeln bei der Luftwaffe verhielt, versuchte es mit einem kleinen Scherz. »Man kann nie wissen – vielleicht entdeckt ihr noch die schlimmsten Verbrecher unter meinen Schützlingen.« Der Polizeibeamte – der Sicherheitsoffizier sah, daß es ein Sergeant sein mußte – sagte noch einmal: »Jawohl, Sir.« Und dabei wirkte er etwas besorgt. »War ja nur ein Scherz«, beruhigte ihn der Sicherheitsoffizier und zuckte dazu mit den Schultern. Sergeant Shen, dessen Hand auf dem aufgeknöpften Lederhalfter seines Revolvers ruhte, blieb einen Augenblick stehen. Er sah, wie sich der Leiter der Flughafensicherheit einem Buch auf seinem Schreibtisch zuwandte und ein paar Seiten umblätterte, um Fotos zu betrachten. Sergeant Shen, der noch immer zögerte, sagte: »Jawohl, Sir. Wie Sie meinen.« Er hatte einen gestohlenen Koffer mit Kleidung hinter sich auf dem Boden stehen, hob ihn jetzt auf und ging rasch durch die Tür zum Parkplatz für Angestellte im Untergeschoß des Gebäudes, um sich einen vollgetankten Wagen zu stehlen. 7.14 Uhr. Ein Lieferwagen bog in den Ankunfts-Bereich des Flughafens ein, als Shen aus der Garage fuhr, und der Sergeant duckte sich, als der Fahrer des Lieferwagens nach ihm schaute. Shen stieß einen englischen Seufzer aus: »O mein Gott!« Der Motor seines Wagens stotterte, als sich der Draht, mit dem er die Zündung kurzgeschlossen hatte, vom Kontakt löste, und erstarb. Oben ging der Sicherheitsleiter des Flughafens ans Telefon und fragte die Information, warum die Ansage mit der Registrierung 109
der Namen noch nicht durchgekommen war. Der Mann, der einen rehbraunen Regenmantel trug, stand neben seinem Lieferwagen und überlegte sich, ob er hineingehen sollte in die Wartehalle. Shen, dessen Wagen die Straße versperrte, sagte noch einmal laut: »O mein Gott!« Zwei uniformierte Polizeibeamte von der Yellowthread Street kamen aus der Wartehalle des Flugplatzes und schienen sich nach jemandem umzusehen. Einen Augenblick lang richteten sie ihr Interesse auf den Mann im braunen Regenmantel; dann, als er wieder in seinen Lieferwagen einstieg, wandten sie sich von ihm ab. Shen kannte den Mann. Er wußte, wer er war. Seine Augen waren weit aufgerissen, als er unter dem Armaturenbrett herumfummelte, um den Draht wieder anzuschließen. Er kannte ihn! Plötzlich war ihm alles klar. Es war der Bogenschütze, und Shen wußte, warum das alles geschehen war. Er mußte zurückkommen, natürlich! Sergeant Shen lag flach auf dem Vordersitz des Wagens, als der Lieferwagen an ihm vorbeifuhr, und seine Hand zitterte vor Angst, während er versuchte, den Draht zu befestigen; er wußte, daß es ihm nicht gelingen würde, das Einsatzbuch und die Notizbücher aus dem Revier in der Fade Street zu entfernen, bevor jemand die Chance bekam, sie genau durchzusehen. Also waren er und P. C. Tong praktisch tote Männer, selbst wenn es dem Bogenschützen nicht gelingen sollte, sie zur Strecke zu bringen. Der Mann, der die Zukunft verkaufte ... Der Wagen sprang beim nächsten Versuch an, und während Shen aus dem Flugplatzgelände in Richtung auf den Hafentunnel fuhr und weiter zur Fade Street, hatte der Mann, der die Zukunft verkaufte, nur noch wenig Zukunft übrig, die er verkaufen konnte.
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9 Im Neuen Friedhof von Hong Bay an der Great Shanghai Road blieb O’Yee, der nach zwei Stunden ununterbrochenem Spaziergang über den Friedhof, nach ausführlichem Studium sämtlicher Grabinschriften und der Aussicht, sich völlig durchnäßt mindestens eine doppelte Lungenentzündung zu holen, nichts weiter übrig, als sich unter dem Schutz des vorspringenden Daches eines marmornen Familien-Mausoleums angesichts zweier Löwen aus Stein an vergangene, bessere Zeiten zu erinnern. In diesen vergangenen Zeiten hätte sich jetzt, nachdem er die dünne Staub- und Schmutzschicht mit den Eichenholzspuren auf dem linken Schuh von P. C. Koh untersucht hatte, ein Fachmann auf seinem Gebiet, in einem langen Ulster, mit einer zerbeulten Tweedmütze auf dem Kopf und viel Sinn für gute Kriminalgeschichten aufgerichtet, sein Vergrößerungsglas weggelegt, und mit verschmitztem Lächeln im zerfurchten, schnupftabakbefleckten Gesicht wissend genickt und gesagt: »Ganz einfach. Da der Mann Schmutzspuren, Eichenholzsplitter und Staub an seinem linken Schuh hat, kann das nur vom Wikingergrab in Bluetooth Under Oak stammen, wo, wie man feststellen wird, dieser Mann sich ohne Zweifel vor kurzem aufgehalten hat und wo Sie ebenfalls ohne Zweifel das geschändete Grab finden werden, von dem er zuletzt noch sprach.« Aber P. C. Koh, der – bedauerlicherweise für Experten – durch eine Regenflut marschiert war, welche die Vorhut eines nahenden Taifuns bildete, hatte nichts auf der Sohle seines linken Schuhs – und das galt auch für den rechten – außer abgenutztem Leder und Regenwasser. Und im Zentrum der Insel von Hongkong, wo der Quadratzentimeterpreis die Zwei-Millionen-Dollar-Grenze erreicht hatte, wäre ein weitsichtiger Spekulant, wenn es einen alten Wikingerfriedhof gegeben hätte, schon vor dreißig Jahren auf die Idee gekommen, ein Erschließungsprogramm durchzusetzen, die Grabsteine als Tischplatten und das Dekor als Keramik an die Touristen zu verscherbeln und mit etwas Glück das Land an das »Neue Hilton zum Alten Wikingergrab« zu verkaufen. O’Yee, dem jetzt der Regen vom Ziegeldach der marmornen 111
Grabstätte direkt auf den bloßen Kopf plätscherte, sagte: »Jaja«, was sehr bitter klang, und warf einen Blick auf die steinernen Löwen. Die steinernen Löwen, die den kurzen gefliesten Weg zum Mausoleum bewachten, nahmen, da sie aus Granit waren, keine Notiz vom Regen. Außerdem sahen sie – in diesem Punkt O’Yee durchaus ähnlich – so aus, als ob sie hier auf dem Neuen Friedhof von Hong Bay ausharren würden bis kurz vor dem Jüngsten Tag. Falls der Regen noch schlimmer wurde, konnten sie sich immer noch die Zeit vertreiben, indem sie zusahen, wie die Toten aus den Gräbern stiegen und sich eine Arche bauten. Momentan fiel der Regen in grauen Fahnen auf die zehn Hektar des Friedhofs und lief in Bächlein zwischen den sorgfältig gepflegten Gräbern hindurch und über die Plattenwege und Treppen, die zu den größeren Familiengräbern und den Grabreihen der weniger betuchten Dahingeschiedenen führten. Ach ja, die Männer der Wildnis. Die Männer der Wildnis begruben ihre Freunde, Kameraden, ihre Opfer und die toten Indianer unten am Fluß. Die Chinesen dagegen, so schien es, beerdigten die Knochen der ihren unter Stein und Beton. O’Yee schüttelte den Kopf, nahm das Lederfutteral, das hinter ihm in einer Nische des Mausoleums lag, holte den Polizeifeldstecher heraus und betrachtete damit seine nähere und weitere Umgebung. Regen. Nichts als Regen – und Beton. Er stellte die Sehschärfe nach und schaute durch die grauen Fahnen hinüber zur Friedhofsmauer an der Aberdeen Road und dem Hafen. Nichts als Regen. Schnupftabaknase, der Experte, sagte zur Schar der staunenden Bewunderer, die ihn offenen Mundes umrundeten: »Sie sehen, meine Herren, ich war auf der richtigen Spur, schon bevor ich die Schuhe des Dahingeschiedenen untersuchte, weil Sie mir berichteten, daß er keinen Wagen hatte, und ich daher annehmen mußte, er sei zu Fuß von irgendeinem Friedhof gekommen. Um aber zu Fuß von einem Friedhof kommen zu können, mußte sich dieser Friedhof in einer einigermaßen erreichbaren Entfernung befinden, daher konnte meine Wahl nur auf den Neuen Friedhof von Hong Bay fallen. Ha, ha.« 112
O’Yee, der unter der ansteigenden Wasserflut zu verschwinden drohte, sagte in bitterem Ton zu den beiden steinernen Löwen: »Ha, ha.« Weit drüben in der Aberdeen Road schimmerten die Lichter eines Fahrzeugs, und er nahm den Feldstecher, um einen anonymen Lieferwagen zu beobachten, der vorsichtig auf der Straße wendete und dabei den Blinker vorschriftsmäßig eingeschaltet hatte. Wenn ein Mann der Wildnis nach zwei vermißten Polizeibeamten hätte suchen müssen, dann wäre es ihm inzwischen längst gelungen, ihre Fährte aufzunehmen, und er hätte sie sogar durch das keine Spuren hinterlassende Wasser verfolgt, ausgerüstet allein mit seiner treuen Hawken-Flinte, seinem überentwickelten Geruchssinn und seinem alten Waidmesser. Der Lieferwagen hielt einen Moment mitten auf der Straße, als könnte der Fahrer sich nicht entscheiden, ob er lieber an einer Erkältung sterben oder nach Hause in sein trockenes Bett gehen sollte; doch dann, während immer noch der Blinker eingeschaltet war, vollendete er die Wende und fuhr in Richtung Beach Road davon. Natürlich konnte Koh auch Easons Grab gemeint haben, und daß er in der Yellowthread Street angekommen war, bevor Auden und Spencer den zugemauerten Aktenraum in der Fade Street entdeckt hatten, ließ auch die Annahme zu, daß Koh mit der Schändung dieses ›Grabes‹ gerechnet hatte, ohne Genaueres darüber zu wissen. Wenn es jedenfalls ein geschändetes Grab auf dem Neuen Friedhof von Hong Bay gab, dann konnte O’Yee es nicht entdekken. Der Mann, der die Zukunft verkaufte. Sein einziger Trost bestand momentan darin, daß Auden und Spencer, die vermutlich noch weniger Erfolg aufzuweisen hatten als er selbst, inzwischen in der Fade Street den Verstand verloren hatten und auf den überschwemmten Gehsteigen Papierschiffchen schwimmen ließen. Feiffer war zur Zeit ebenfalls auf dem Revier in der Fade Street. Nachdem die Sachverständigen und Labortechniker alle Fußböden aufgerissen und Löcher in sämtliche Wände geschlagen hatten, um nach weiteren, unentdeckten Räumen zu suchen, war das 113
Gebäude inzwischen sicher über Feiffers Kopf zusammengestürzt. Und der Regen kam wie eine feste, graue Masse vom Himmel. Man konnte ja gar kein chinesisches Grab schänden, weil die Chinesen, nachdem sie die Knochen getrocknet hatten, ihre Toten in die Erde betteten, sie mit fünfzig Tonnen Stein, Marmor und Granit bedeckten, um sicher zu gehen, daß keiner die Seelen der Toten stehlen konnte, und dann auch noch ein Paar den Teufel vertreibende Löwen aufstellten, denen der Regen nichts ausmachte, während man selbst sich unter das Dach eines Mausoleums flüchtete und dennoch bis auf die Haut naß wurde. Eason war eine Woche tot gewesen, als der Bogenschütze das Reviergebäude betrat. Kein Mensch konnte behaupten, daß das eine etwas mit dem anderen zu tun hatte. Und ebenso konnte niemand behaupten, daß die Sache mit dem Grab, von der Koh gefaselt hatte, bevor er von diesem Bogenschützen erwischt wurde, etwas damit zu tun hatte. Es konnte durchaus sein, daß – Der Lieferwagen kam zurück, und dann bewegte sich jemand, weit drüben am Rand des Friedhofs. Die Bremslichter des Lieferwagens leuchteten auf und gingen wieder aus, nachdem der Wagen angehalten hatte. Am Rand des Friedhofs, etwa dreihundert Meter von O’Yee entfernt, bewegte sich ein Schatten bei den Armengräbern. O’Yee, der sich etwas weiter unter das Dach des Mausoleums drückte, nahm seinen Feldstecher, um zu sehen, was dort vor sich ging. Die Linsen waren angelaufen; er sah nur verschwommene Umrisse. Neben der Tasche für den Feldstecher war noch ein zweiter Lederbehälter, der zudem mit Ölzeug umwickelt war, um jede Spur von Feuchtigkeit fernzuhalten. O’Yee öffnete ihn und nahm das 223er Remington-Scharfschützengewehr mit Zielfernrohr heraus, entfernte die Schutzkappe vor dem Objektiv und zielte auf den Schatten, der sich dort drüben bewegte, und auf den Lieferwagen. Der Schatten war P. C. Tong, und er huschte verstohlen über einen Friedhofsweg, wobei er die Gräber betrachtete. Als der Fah114
rer des Lieferwagens den Motor anließ und vorwärts fuhr, fiel das Licht einer Straßenlampe ins Innere des Wagens. O’Yee richtete das Zielfernrohr auf den Fahrer und glaubte, für den Bruchteil einer Sekunde sein Gesicht gesehen zu haben. Der Regen klatschte auf die Köpfe der lautlos knurrenden Löwen vor ihm. O’Yee beobachtete den Schatten und den Lieferwagen, schob eine Hand unter seinen Regenmantel und wischte sie an seinem Hemd trocken, zog so leise er konnte den Hahn zurück, beobachtete, wie die lange Messingpatrone in die Kammer einrastete, und bewegte sich dann geräuschlos vorwärts. Selbst mit bloßem Auge sah er, wie die Scheibenwischer des Lieferwagens eingeschaltet wurden, als der Fahrer, der offensichtlich einen Entschluß gefaßt hatte, den Friedhof methodisch und gelassen musterte, was auch immer er sich davon versprechen mochte. 17.8., 23.45 Uhr in der Temple Street vor der Nr. 26 größere Anzahl von Männern beim Glücksspiel auf der Straße. Rückkehr Revier 00.02 Uhr mit 1 Chinesen, männlich, unter Arrest. Versuchte wegzulaufen und leistete bei der Verhaftung energischen Widerstand. Beweismaterial: 4 Kerzenstummel, 1 zerbrochener Becher, 2 Würfel, 3 Holzbrettchen, 1 Stück Papier mit Diagrammen für das Fisch-, Krabben-, Krebs-Spiel. Dreißig (3o) Cents Bargeld. Name des Chinesen I. P. Wong, 25 Jahre alt, wohnhaft Singapore Road 175. Festnahme durch P. C. Koh und Sgt. Shen. 18.8., 02.23 Uhr. Kontrollbesuch im Schwedischen Massagesalon, Wohnung 9, Jasmine Steps Road 78. Keine Gäste zu dieser Zeit. Sprach mit US-Marinepolizei in Begleitung von P. C. Tong, der von Radau auf der Straße berichtete, verursacht durch Matrosen. Die Marinepolizei hatte zwei betrunkene Matrosen entfernt und sprach mit Besitzer des Massagesalons über Beschädigung des Transparents auf der Straßenfront. 02.45 Uhr. Überprüften Einbruchsalarm bei Kwai Nan Curios am Clark Place und informierten Wachgesellschaft. 03.12 Uhr. In Begleitung von Wachgesellschaft Haus und Grundstück Clark Place überprüft. Keine Anzeichen für unbefugtes Betreten oder Eindringen. Wachgesellschaft beauftragt, 115
Alarmanlage abzustellen. 04.11 Uhr. Weiterer Angestellter der Wachgesellschaft erscheint und schaltete Alarmanlage ab ... In der Fade Street rieb sich Feiffer, der bei Seite 74 des engbeschriebenen, hundertseitigen Notizbuchs von P. C. Koh angekommen war, die Augen mit dem Handrücken und sagte leise: »Mein Gott ...« Neben sich auf dem Schreibtisch im Mannschaftsraum hatte er außer den Unterlagen der Dienstaufsichtsbehörde und dem Einsatzbuch einen Stapel von kleinen, blau gebundenen Notizbüchern liegen, von denen jedes den Namen des Beamten aufwies, der es bei sich gehabt hatte. Und zwischendrin lag ein Block mit Aktenpapier, den Feiffer sich für seine Notizen aus der Yellowthread Street mitgebracht hatte. Der Stapel der Notizbücher war bereits zur Hälfte durchgesehen, aber auf dem Block gab es noch keinerlei Notizen. Es wäre gut gewesen, wenn er auch Easons Notizbuch zur Verfügung gehabt hätte, aber im Gegensatz zu Eason selbst konnte man dieses leichter loswerden, also mußte man davon ausgehen, daß es inzwischen längst weggeworfen, zerfetzt oder verbrannt worden war. 05.16 Uhr. Merton Road. Blaue Limousine parkte verkehrswidrig an einem Taxistand. Der Fahrer, ein Chinese männlichen Geschlechts, erklärte, das Fahrzeug hätte eine Panne. Starker Alkoholgeruch im Inneren des Wagens. Fahrer weigerte sich, seine Personalien anzugeben und wurde zur Personenüberprüfung in den Einsatzwagen verbracht. Fahrer bat um Alkoholtest, der beweisen sollte, daß er an Diabetes leidet und völlig nüchtern ist. Ich sagte zu ihm auf kantonesisch: ›Wenn Sie mir Ihren Namen nennen, kann ich Sie ins Krankenhaus bringen, aber dort untersucht man niemanden, der seine Identität verheimlicht.‹ Als Antwort empfahl er mir blutschänderischen Akt mit meiner toten Mutter und wurde gewalttätig. Ich sagte zu ihm: ›Wenn Sie hier im Wagen handgreiflich werden, können Sie sich dabei wehtun.‹ Brachte ihn ins Krankenhaus St. Paul de Chartres, wo festgestellt wurde, daß sein Alkoholspiegel innerhalb der vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Grenzen lag. Man behandelte ihn an mehreren Platzwunden im Gesicht, die er sich beibrachte, als er den Kopf wieder116
holt gegen harte Kanten im Inneren des Wagens schlug. 06.00 Uhr ... Feiffer hörte, wie sich der Regen draußen verstärkte, während sich die Wolkenwälle, die das Zentrum des Wirbelsturms in einer Tiefe von ungefähr achtzig Kilometer umgaben, unaufhaltsam der Kolonie näherten. Das Dach ächzte und knarrte, wie übrigens auch die Wände des Gebäudes. Die leicht baufällige Struktur wehrte sich gegen den Ansturm des steigenden Winddrucks. Einige der Bodenbretter im Wachraum wölbten sich von der Feuchtigkeit. Draußen auf dem Korridor, der zum hinteren Eingang führte, gab es einen lauten Krach, als ob etwas zu Boden gefallen wäre, und danach breitete sich eine Geruchsmischung aus aufgewirbeltem Staub, Bohnerwachs und Lysol aus. Wahrscheinlich war die Tür der Besenkammer aufgesprungen. Der Lysolgeruch erinnerte Feiffer an die Knochensäge in der Leichenhalle, und er konzentrierte sich wieder auf die Eintragungen der Seite 74. 06.00 Uhr. Hillwood Street Ecke Singapore Road. Beobachtete blauen VW, der ohne Licht fuhr. Fahrer australischer Nationalität, Albert J. Tully, China Hotel, Singapore Road, angestellt bei Smithson Drahtseile, Hong Bay. Fuhr unsicher. Überprüfte Führerschein und Zulassungspapiere. Ermahnte ihn zu mehr Sorgfalt beim Fahren. Fahrer erklärte in englischer Sprache: ›Entschuldigen Sie, Constable. Es ist mein Geburtstag, und ich fürchte, ich habe etwas zuviel getrunken. Ich lasse den Wagen hier stehen und nehme ein Taxi.‹ Ich teilte ihm mit, daß er einen schriftlichen Strafbefehl zugeschickt bekommen würde. Er sagte in englischer Sprache: ›Vielen Dank. Ich tu’s auch nicht wieder.‹ o7.16 Uhr ... Entweder war an dieser Stelle Koh von Müdigkeit übermannt worden, oder Feiffers Augen gaben allmählich nach. Die Handschrift wurde immer schwerer zu entziffern, war stellenweise geradezu hieroglyphenhaft. Feiffer warf einen Blick in das aufgeschlagene Protokoll- und Einsatzbuch neben sich, auf die Eintragung in Kohs Handschrift über das Notinventar für Sturmkatastrophen. Sie war ordentlich geschrieben, wie gestochen, daß es jeden Notar erfreut hätte, und 117
wer sich auf Graphologie verstand, hätte daraus Kühnheit, Offenheit, Extrovertiertheit und Entschlossenheit erkannt. Feiffer blätterte eine Seite im Notizbuch um. Die Handschrift wurde immer schlechter. Aber wenigstens war der Text endlich etwas interessanter. 20.8., 00.18 Uhr. Fuhr aufgrund einer Meldung in eine Seitenstraße beim Haus Nr. 12 in der Hennesey Road. Fand sterbliche Überreste eines männlichen Chinesen, der mir als P. K. (Herbert) Ling bekannt. Anzeichen für gewalttätige Auseinandersetzung. Durchsuchte gemeinsam mit Sgt. Shen nach Eintreffen von Asst. Ger. Med. die Taschen. Keine Habe gefunden. Armbanduhr fehlt. Sgt. Shen äußerte gegenüber Asst. Ger. Med. die Ansicht, daß das Opfer von einem Räuber überfallen und ausgeraubt wurde, und der Asst. Ger. Med. erwiderte: ›Nicht nur von einem, sondern von mehreren. Das Opfer hat offenbar einen Schädelbruch erlitten, was nach meiner oberflächlichen Untersuchung den Tod verursacht haben dürfte. Der Körper ist darüber hinaus mit vielen Prellungen und Blutergüssen gezeichnet.‹ Sowohl mir selbst als auch Sgt. Shen ist bekannt, daß es sich bei dem Opfer um einen hiesigen Hausierer handelt, ohne Familie und festem Wohnsitz. Begleiteten Abtransport der Leiche ins Gerichtsmedizinische Institut, wo eine formelle Identifikation als P. K. (Herbert) Ling stattfand, wobei Sgt. Shen und ich als Zeugen auftraten. Gaben im Institut an, daß das regierungseigene Bestattungsunternehmen nach der gerichtsmedizinischen Untersuchung den Leichnam zur Beisetzung übernehmen muß, da das Opfer keine Angehörigen hat. Superintendent Farmer teilte mit, daß das geschehen würde. Bei der nächsten Eintragung, wieder langweiliger Polizeialltag, ging es um eine Lady von zweifelhafter Tugend, die Koh entdeckt hatte, als sie an einer Straßenlaterne lehnte, ihre Handtasche schwingen ließ und einem amerikanischen Matrosen die Unterschiede der verschiedenen Hongkong-Dollarnoten erklärte, wobei sie ein verhältnismäßig gutes Englisch sprach. Bei dieser Eintragung war die Handschrift von Koh wieder kühn, klar und gestochen – wie auch bei allen folgenden Eintragungen. 118
Der Block für Feiffers Notizen war immer noch leer. Feiffer lehnte sich zurück, streckte sich und schnüffelte. Der Lysolgeruch war penetrant; er mischte sich mit dem eines Reinigungsmittels. Feiffer stand auf und ging hinaus auf den Korridor, um die Tür der Besenkammer zu schließen; dabei stellte er fest, daß eine Lysolflasche herausgefallen und zerbrochen war. Das ätzende Lysol fraß sich in die gewellten Dielen. Im Gerichtsmedizinischen Institut, wo man das Zeug ebenfalls verwendete, gab es Steinböden, die nicht davon angegriffen wurden. Er sah sich um. Aber in der Fade Street gab es keine gefliesten Steinböden, keine Edelstahlbehälter und -tische. Feiffer schaute durch die offene Tür auf die Tafel mit der Namensliste, die in Farmers Handschrift aufgestellt worden war, dann blickte er hinunter auf das Lysol, das sich in die Dielen fraß, und blieb einen Augenblick stehen. ... Gaben im Institut an, daß das regierungseigene Bestattungsunternehmen den Leichnam zur Beisetzung übernehmen muß, da das Opfer keine Angehörigen hat. Superintendent Farmer teilte mit, daß das geschehen würde. Lysol. Für Böden, in die sich Lysol wie Säure fressen würde. Die Eintragung über den beraubten und getöteten Hausierer stammte von jenem Tag, an dem nach der Schätzung von Dr. Macarthur Eason getötet worden sein mußte. Und nach dieser Eintragung war die Handschrift von Koh wieder normal, klar und deutlich zu lesen. Als man die sechs Toten in einer Reihe liegend im ehemaligen Luftschutzraum gefunden hatte, waren die Böden im gesamten Reviergebäude gebohnert worden, damit keiner der späteren Ankommenden das Blut sehen und gewarnt sein würde, ehe der Bogenschütze in Aktion trat. Aber das galt auch für den Luftschutzraum, der vermutlich seit Jahrzehnten nicht mehr benützt worden war und den vermutlich keiner der neu Ankommenden betreten hätte. Selbst die Glühbirne in der Fassung im Luftschutzraum war so sauber, ohne die übliche Staubschicht, als ob sie regelmäßig aus119
getauscht worden wäre. Und die Stahltür quietschte nicht beim Offnen. Der Regen, der immer stärker auf das Dach trommelte und gegen die Wände schlug, schien das ganze Gebäude zum Zittern zu bringen; es war, als fröstle es und ziehe sich zusammen. Feiffer ging rasch zur Tür des Verhörraums, dann über die Treppe nach unten und öffnete die Stahltür zum Luftschutzraum. Er schaltete das Licht an und betrachtete zum xten Mal einen Steinboden, der dem Anschein nach täglich mit Lysol behandelt worden sein mußte, fühlte sich plötzlich so, als ob er in einen fürchterlichen Abgrund blickte, war bereit, seinen Block mit Notizen zu füllen, wußte jetzt, wonach er gesucht hatte, ging rasch zurück in den Mannschaftsraum und blätterte Kohs Notizbuch noch einmal Seite für Seite durch, wobei er nicht auf den Text achtete, sondern nur auf die einzelnen Wörter und Buchstaben. Er brauchte nur einen Namen, und dieser Name gehörte zweifellos zu einem Grab, das derjenige, der hinter dem Bogenschützen stand – oder der Bogenschütze selbst – vor kurzem geschändet haben mußte. Der Mann, der die Zukunft verkaufte. Vielleicht war er es. In einem der Schreibtische fand Feiffer ein kleines Plastiklineal. Er nahm es mit hinüber zu seinem Schreibtisch, schlug Kohs Notizbuch wieder bei Seite eins auf und begann jetzt sorgfältig, die Buchstaben abzumessen und ihre Höhe in einer Tabelle auf seinem Block festzuhalten, einen nach dem anderen. Wenn er stehenblieb, um zu beobachten, konnte es sein, daß die kurzgeschlossene Zündung unter dem Armaturenbrett unterbrochen wurde und er dann Mühe hätte, die Verbindung wieder herzustellen. An der Ecke Fade Street, wo sich sein Fahrzeug einen Weg durch zehn Zentimeter tiefes Wasser bahnte, das aus den überfüllten Gullys quoll und die Rinnsteine entlanglief, sah Shen zwei neutrale Wagen, die dort parkten: der eine vor dem Polizeirevier selbst, der andere vor dem Haus des Wahrsagers. Inzwischen hatte sich Shen in einer öffentlichen Toilette in North Point umgezogen, und er rechnete nicht damit, erkannt zu werden, während er langsam an den Polizeibeamten vorbeifuhr, die in dem 120
zweiten Wagen saßen. Der eine der beiden Beamten kurbelte das Fenster auf der Beifahrerseite herunter und zeigte auf etwas, schaute dann ärgerlich drein, kurbelte das Fenster wieder hoch und schüttelte sich den Regen vom Ärmel. Shen kannte ihn: Es war Auden von der Yellowthread Street. Der andere Polizeiwagen, der direkt vor dem Reviergebäude parkte, war unbesetzt. Von drinnen, aus dem Gebäude, kam ein schwaches Licht; und Shen rechnete damit, daß mindestens ein Beamter drinnen sein mußte, vermutlich unten im Luftschutzraum, wo er versuchte, sich einen Reim auf alles zu machen. Sergeant Shen hatte sein Notizbuch in der Hand. Mittlerweile besaß die Polizei vermutlich das Buch von P. C. Koh und beschäftigte sich so lange damit, bis sie – wie der verdammte Koh selbst – dahinterkam ... Er war schon immer der Schlauste gewesen, der gute, alte P. C. Koh, immer bereit, mit seinem flüssigen Englisch zu prahlen, mit seiner wunderschönen Handschrift und seinem – Und jetzt war er tot, der blöde Kerl. Shen sagte leise, während sich der Wagen durch das Wasser auf der Straße pflügte: »Wirklich schlau, Koh, verdammt schlau. Du kommst dahinter, warum sie alle umgebracht wurden, und was machst du dann? Du hast nichts notwendiger als schnurstracks in die Yellowthread Street zu fahren und die Beweise vorzulegen – weil du deine eigene Haut retten willst.« Er hatte am Radio gehört, daß der Bogenschütze beinahe auch noch den Kriminalinspektor O’Yee umgebracht hätte, zusammen mit Koh. Shen sagte bitter: »Wirklich schlau, mein lieber Koh, du verräterischer, kleiner –« Er bemerkte, daß Auden zu ihm herüberschaute, als er an ihm vorbeifuhr, und sich wieder abwandte, nachdem er festgestellt hatte, daß der Fahrer des Wagens kein unziemliches Interesse an ihm zeigte. Solange die beiden Polizeibeamten hier in der Straße waren, gab es keine Möglichkeit, sich mit dem Mann zu befassen, der die Zukunft verkaufte. Er konnte jetzt nur – Der Wagen hustete; Shen drückte kräftiger aufs Gaspedal und pumpte Benzin in den stockenden, naß gewordenen Motor. Er mußte jetzt mindestens so schlau sein wie Koh und ... In diesem Augenblick kam er an der Polizeistation vorbei. Ein 121
graues, leer aussehendes Gebäude, unheimlich, wie eine tote Schale, die ... Es gab nur noch zwei, die die Wahrheit sagen konnten: ihn selbst und Tong. Ohne Tong war alles, was da drinnen geschah, nur Theorie, vage Vermutungen. Farmer war tot, ebenso Eason, und Koh und alle anderen, und wenn niemand übrig war, der berichten konnte, was wirklich geschehen war in jener Nacht, dann gab es höchstens noch die Aussagen von ein paar Nachbarn und Geschäftsbesitzern, einen Massenmord und eine Menge Theorien. Es gab keine wirklichen Beweise unten im Luftschutzraum, hatte nie welche gegeben – dafür hatte das Lysol gesorgt! –, und wenn schon der Spion der Dienstaufsichtsbehörde, Eason, sechs Monate lang nichts gemerkt hatte, dann standen die Chancen für ein paar Leute von der Yellowthread Street, die vermutlich zudem bei den Nachbarn gegen eine Mauer des Schweigens stoßen würden, mehr als schlecht. Er war in Sicherheit. Erst jetzt stellte er fest, daß er in Sicherheit war. Ohne P. C. Tong gab es nichts als Vermutungen und unbeweisbare Theorien. Ohne Tong konnte niemand wirklich sagen, was geschehen war, und was ihn selbst betraf: Auch wenn sie ihn in die Mangel nahmen und ihn verhörten – er war schließlich selbst Polizeibeamter und kannte alle die Tricks; er würde einfach bluffen, und niemand konnte ihm etwas anhängen. Ohne Tong war er zu Hause und in Sicherheit. P. C. Tong ... P. C. Frederick Tong ... P. C. Frederick Tong, der nicht gerade Helle ... Er konnte Tong töten. Das wäre das Ende seiner Sorgen. Als er am Ende der Straße angekommen war, kurbelte Shen das Fenster auf seiner Seite herunter und riß die Seiten seines Notizbuchs, eine nach der anderen, heraus, wobei er das Buch gegen das Lenkrad drückte. Er konnte immer behaupten, er hätte sein Notizbuch auf dem Revier gelassen, und als er, Tong und Koh an 122
dem Morgen etwas früh zum Dienst aufgetaucht waren und den Schirmverkäufer fliehen gesehen hatten, hätten sie es ebenfalls mit der Angst zu tun bekommen und seien in Panik davongerannt. Das konnte er sagen, ja. Und auf lange Sicht war er dann zwar ein Feigling – aber ein reicher Feigling. Außerdem entsprach es der Wahrheit. Genau so war es gewesen. Nur, daß er selbst eigentlich vermutet hatte, der Schirmverkäufer sei zufällig zu einer der Prügeleien hinzugekommen oder hätte Farmer dabei beobachtet, wie er den Aktenraum aufgebrochen und Easons Leiche herausgeholt hatte ... Er konnte immer behaupten, daß Tong und Koh für die Prügeleien verantwortlich waren – und Farmer für den Mord an Eason. Er konnte sagen ... Die Wahrheit, oder einen zensierten Teil davon – damit konnte er sich befreien. Aber nur, wenn Tong tot war. Er mußte seinen Dienstrevolver behalten. Konnte nicht sagen, er hätte ihn weggeworfen. Wenn man ihn erwischte, wäre das allzu verdächtig gewesen. Er mußte Tong erdrosseln oder ihn mit irgend etwas totschlagen – erschießen konnte er ihn nicht. Jedenfalls nicht mit seiner Dienstwaffe. Aber das war nicht schwer. Er hatte es schon einmal gemacht und wußte, wie leicht man einen Menschen totschlagen konnte, wenn man wußte, wo man hinschlagen mußte. Das Grab! P. C. Tong mußte beim Grab sein! Sergeant Shen nickte sich zu. Er lächelte. Das Grab war der einzige Ort, wohin P. C. Tong sich noch flüchten konnte. Er wendete den Wagen, fuhr in Richtung auf die Küstenstraße, pumpte mehrmals mit dem Gaspedal, um den Motor vom Wasser freizubekommen und machte sich daran, einen systematischen Plan für die Exekution von P. C. Tong auszuarbeiten. ... Gaben im Institut an, daß das regierungseigene Bestattungsunternehmen den Leichnam zur Beisetzung übernehmen muß, da das Opfer keine Angehörigen hat. Superintendent Farmer teilte mit, daß das geschehen würde. 123
Und dann, weil er sich nicht die Mühe machen wollte, alle 74 Seiten des Notizbuches von Seite eins an neu zu schreiben, hatte er an dieser Stelle einfach abgebrochen. Die nächste Eintragung vom nächsten Tag – nachdem er nach Hause gefahren war und sich von seiner Arbeit ausgeruht hatte – zeigte wieder P. C. Kohs kalligraphisch schöne Schrift, wobei die Buchstaben auch wieder so groß waren wie im ersten Teil. Oder ... Nachdem der Mann namens Ling tot aufgefunden war, hatte Koh – zweifellos auf Anordnung von Farmer – die letzten Seiten in seinem Notizbuch neu geschrieben, damit der Text zu dem Bericht paßte, in dem es hieß, daß dieser Ling in einer dunklen Gasse von einer Gangsterbande erschlagen worden war. Sicher, er war tatsächlich von einer Bande von Gangstern erschlagen worden, aber diese Bande trieb sich nicht in dunklen Gassen herum, sondern auf einem Polizeirevier, und er war genau hier, in diesem Luftschutzraum, getötet worden, den man täglich mit Lysol gereinigt hatte. Und Eason war dahintergekommen, hatte seine versteckte Pistole aus dem Beinhalfter gezogen und war, ehe er schießen konnte, tot umgefallen – mit Farmers Kugel im Herzen. P. K. Herbert Ling. Wenn er wirklich all dessen beraubt worden war, was er bei sich gehabt hatte – wie es Koh in seinem Notizbuch erwähnte, und vermutlich auch Shen, dessen Text mit dem von Koh übereinstimmte –, woher wußte Koh, daß der Mann überhaupt eine Armbanduhr besessen hatte? Auf der Haut der Chinesen, namentlich hier, in einem warmen Klima, wo man die Armbanduhr häufig abnahm oder nicht allzufest umschnallte, gab es kaum einen hellen Streifen an der Haut unter der Armbanduhr. P. K. Herbert Ling, Hausierer. Wenn die Polizisten vom Revier Fade Street so tüchtig waren, wie man das aus ihren Notizbüchern schließen konnte, dann mußten sie entweder wissen, daß Ling ein Hausierer war, weil er einen Gewerbeschein dafür besaß und sie sich oft mit ihm auf der Straße unterhielten, oder weil er keinen Gewerbeschein besaß und sie ihn deshalb gelegentlich einbuchteten. Die Tür des Luftschutzraums war aus Stahl, und der Raum war 124
– theoretisch – seit vielen Jahren nicht mehr benützt worden; dennoch wurde die Glühbirne regelmäßig erneuert, und die Tür ging leicht und geräuschlos auf gut geölten Scharnieren. Feiffer zog das Telefon zu sich her und wählte die Nummer der Computerabteilung beim Kriminalarchiv im Polizeipräsidium. Er hatte nur eine einzige Frage, die man ihm umgehend beantwortete. Ob ein Hausierer mit oder ohne Konzession: Es gab gar keinen P. K. (Herbert) Ling. ... gaben im Institut an, daß das regierungseigene Bestattungsunternehmen ... ... und der Asst. Ger. Med. erwiderte: ›Nicht nur von einem, sondern von mehreren. Das Opfer hat offenbar einen Schädelbruch erlitten, was nach meiner oberflächlichen Untersuchung den Tod verursacht haben dürfte. Der Körper ist darüber hinaus mit vielen Prellungen und Blutergüssen gezeichnet ...‹ Es war eine Folterkammer gewesen, und der Bogenschütze hatte die Folterknechte, nachdem er durch das Revier gegangen war, dort hinuntergeschleppt, durch die gutgeölte Tür, und sie der Reihe nach auf den lysolgereinigten Fußboden gelegt, einen neben den anderen. Dabei kam Feiffer ein entsetzlicher Gedanke, und während der sich draußen noch verstärkende Sturm das Gebäude erschütterte und das Licht flackern ließ, sagte Feiffer leise in Richtung auf die offene Tür des Luftschutzraums: »Mein Gott – wie oft zuvor mögen sie das schon getan haben ...? Der Lieferwagen war verschwunden, im Grau untergetaucht. O’Yee sah, wie sich die Lichter eines anderen Wagens näherten, der von irgendwo unten am Ufer in die Aberdeen Road einbog. P. C. Tong war vor ihm, ein kaum wahrnehmbarer, verwischter Schatten im Regen. O’Yee hörte ein Geräusch, dann ein paar Worte auf kantonesisch. Immer und immer wieder sagte P. C. Tong zu dem Grab, vor dem er stand: »Es tut mir leid. Ich schwöre, es tut mir leid. Es waren Shen und Koh und Farmer ...« Er hatte etwas in der Hand – eine Seite aus einem Notizbuch, mit chinesischen Schriftzeichen 125
darauf, und er drückte es gegen die Grabtafel, bot es auf diese Weise den Geistern an. Er kniete jetzt vor dem Grab und drückte die freie Hand gegen sein Gesicht. Auf dem Zettel, den er in der Hand hatte, standen drei Schriftzeichen – ein Name. O’Yee konnte ihn deutlich sprechen hören. Tong kniete vor einem Grab, der Regen rann ihm über Kopf und Schultern und während er die einzelnen Worte stammelte, weinte er.
10 Um Audens Füße am Boden des Wagens breitete sich eine Pfütze Regenwasser aus, und zugleich kam er ins Schwitzen vom Gewicht seines Regenmantels, der das Wasser abhalten sollte. Er saß neben Spencer auf dem Beifahrersitz und machte den Mantel auf und zu, um sich etwas Kühle zuzufächeln; dabei bespritzte er allerdings nicht nur Spencer, sondern auch sein bis dahin wenigstens auf der Vorderseite trocken gebliebenes Hemd. Jeder, der sonst hier in der Fade Street alles mögliche zu verkaufen hatte, war ins Innere seines Hauses geflüchtet und hatte die Fenster verrammelt, verriegelt und verschlossen, und wenn einer von ihnen die Zukunft verkauft hatte, so mußte diese Transaktion an einem der vergangenen Tage stattgefunden haben. Doppelt zufrieden mit Mak. Wahrsagen aus dem Wasserspiegel – zu gut, um wahr zu sein. Honorar nach Vereinbarung. Auden warf einen Blick auf das gemalte Schild am Fenster eines an Sam Spade erinnernden Büros über einem Fotoladen gegenüber der Polizeistation und sagte, während er immer noch mit seinem Regenmantel wedelte: »Irrtum – es geht um den Mann, der die Zukunft verkauft, nicht um einen, der sie vorhersagt.« Aber es war, wenn man nach dem Licht schließen durfte, das hinter einem der Fenster zu sehen war, das einzige Geschäft, das noch nicht geschlossen hatte. 126
Spencer warf ebenfalls einen Blick auf das Schild und zuckte mit den Schultern. Es war ohnehin die letzte Adresse in der Fade Street, bei der sie es versuchen konnten. Auden, der sich an seinem Gedankengang erwärmte, sagte, während er den Daumen hob wie ein Maler, der die Perspektive mißt: »Und wenn er schon ein so guter Wahrsager ist, warum sagt er dann überhaupt noch wahr? Ich meine, wenn er so gut wäre, wie er es auf seinem Schild behauptet, könnte er sich ja beim Pferderennen ein bißchen die Zukunft vorhersagen, seine Ersparnisse auf das Siegerpferd setzen und –« Spencer unterbrach ihn. »Es geht um die Zukunft, nicht ums Geld. Das sind eigentlich zwei sehr verschiedene Dinge.« »Quatsch«, erwiderte Auden. Er hatte einige Erfahrung mit dem Okkultismus gesammelt. »Hör zu – ich kannte mal ein Mädchen in England, die war groß im Wahrsagen. Sie hat es mit Karten gemacht –« »Der Wasserspiegel ist nicht das, was du vielleicht denkst, sondern ein altes Buch über –« unterbrach ihn Spencer und wurde selbst unterbrochen. »Vier Karten. Sie hat drei davon aufgelegt und dir gesagt, was die Zukunft für dich bereithält.« Spencer beendete unbeirrt seinen Satz. »– über Physiognomie.« »Das ist doch alles dasselbe. Ich erinnere mich, wie mir dieses Mädchen mal vier Karten gegeben hat. Paß auf, und jetzt sag ich dir, was man zum Wahrsagen wissen muß. Die Karo-Neun bedeutet: Laß dich auf ein Risiko ein, es zahlt sich aus. Das Pik-As –« Er warf einen Blick hinüber, um festzustellen, ob Spencer ihm überhaupt zuhörte. »Also, das Pik-As bedeutet: Es kommen Probleme auf dich zu, laß dich auf kein Risiko ein. Die Kreuz-Drei heißt: Du wirst deine Meinung über eine Sache ändern, und schließlich die Pik-Vier, die bedeutet: Sei wachsam und überleg dir, wessen Rat du annimmst.« Auden hörte endlich auf, mit dem Mantel zu wedeln, und breitete seine Hände aus. »Siehst du – es ist alles Quatsch.« Spencer nickte. »Klar.« Er klopfte sich die Wassertropfen, die ihm Spencer herübergeschleudert hatte, vom Hemd. »Aber du glaubst mir nicht. Wir haben diesen ganzen verdamm127
ten Vormittag damit verbracht, uns die Fäuste an den Türen in dieser Scheiß-Straße blutig zu schlagen, und jetzt willst du dem Blödsinn noch die Krone aufsetzen und einen Wahrsager konsultieren, der zumindest vorhersagen kann, daß wir inzwischen übergeschnappt sind.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »O’Yee hat wenigstens ein Scharfschützengewehr bekommen. Das ist der Job, der mir lieber wäre – aber nicht dies hier!« »Vielleicht weiß der Wahrsager, was ›der Mann, der die Zukunft verkauft‹ bedeutet«, sagte Spencer. »Außerdem sind alle anderen Läden hier geschlossen.« Audens Stimme klang bissig. »Den Quatsch mit dem Wasserspiegel und der Wahrsagerei nach der Physiognomie kenne ich auch ein bißchen. Vor meinem Inspektorexamen bin ich mal zu einem von diesen Kerlen gegangen. Er meinte, ich sei der Ochsentyp.« »Wirklich?« erwiderte Spencer. »Ich hätte nicht gedacht, daß du an so was glaubst.« »Geschah mir auch ganz recht – ich hab’ das Examen glatt versaut«, erklärte Auden mit wild funkelnden Augen. »Und was bist du – der Phönixtyp?« »Was ist denn der Phönixtyp?« »Das ist der mit der aristokratischen Haltung und den günstigen Verbindungen. Während der Scheiß-Ochsentyp –« Spencer wollte helfen. »Es ist mir bewußt, Phil, daß der Ochse in der chinesischen Mythologie nicht unbedingt das Sinnbild für Langsamkeit und Blödheit ist, wie wir im Westen meinen –« »O doch, genau das ist er«, widersprach ihm Auden. »Ich hab’ seitdem was gegen Wahrsager, und wenn ich ihn fragen soll, ob er was von dem Scheißkerl weiß, der die Zukunft verkauft, und wenn er dann mit seinem Ochsentyp-Quatsch anfängt, dann kannst du –« »Ich werde ihm die Fragen stellen«, beruhigte ihn Spencer. Er merkte, daß Auden sich aufregte. »Wir gehen einfach hinüber, klopfen an die Seitentür, und wenn jemand da ist, zeige ich ihm meinen Dienstausweis, frage ihn, ob er was weiß, und wenn nicht, gehen wir direkt zum Wagen zurück und lassen es gut sein für heute.« 128
»Verdammt naß, durch und durch«, brummte Auden. Er stieg aus, stand dann draußen im Regen und schaute mit angewiderter Miene hinauf zu dem Schild. Spencer, der Phönixtyp, sah, wie er zögerte, kam zur anderen Seite des Wagens herüber und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Dann sagte er lächelnd: »Schau, wahrscheinlich sind wir sowieso an der falschen Adresse. Vielleicht hattest du dich damals nur nicht genügend auf das Examen vorbereitet. Niemand behauptet, daß einem diese Leute wirklich die Zukunft vorhersagen können.« Er ging voraus zum Seiteneingang und schlug so heftig mit der Faust dagegen, daß man es trotz des Rauschens und Trommelns des Regens hören konnte. »Kein Mensch weiß, was in der nächsten Sekunde passieren kann.« Er nickte – der Phönixtyp, der mit jeder Situation zurechtkam – und sagte zu Auden, der naß wurde, weil er seinen Regenmantel nicht zugeknöpft hatte, um ihn zu ermutigen: »Na, habe ich nicht recht?« Er hatte nicht recht. Der Wahrsager, der ihnen die Tür öffnete, war ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit einer dicken Brille, und er hatte tatsächlich eine glänzende Idee: Er umspannte mit beiden Händen eine riesige Entenflinte und richtete den Doppellauf auf Auden und Spencer, die unter der schmalen Tür standen. Dazu schrie er mit rauher Stimme und einem von Haß verzerrten Gesicht auf englisch: »Ihr mörderischen, stinkenden Hurensöhne, wenn ihr auch nur einen Schritt hier hereinkommt, knall’ ich euch ab wie die Tontauben – verstanden?« Das Wichtigste im Leben eines Chinesen ist es, ordentlich begraben zu werden. Im Verhörraum des Reviers Fade Street blätterte Feiffer im Protokoll- und Einsatzbuch, bis er zu der Eintragung kam, nach der er suchte, und ohne große Überraschung las: ›Sgt. Shen, P. C. Koh: Der Leichnam eines Chinesen, etwa 50 Jahre alt, entdeckt in einer Gasse bei der Hennesey Road Nummer 12. Identifiziert als P. K. (Herbert) Ling, Hausierer, kein fester Wohnsitz. Wurde ins Gerichtsmedizinische Institut verbracht unter Aufsicht von Ass. Ger. Med. Raubüberfall, Tod durch schwere Prellungen, verursacht durch eine oder mehrere unbekannte Personen.‹ Shens Schrift, und darunter eine andere – die von Koh! – ›Siehe Proto129
koll des Coroners, Aktennummer 567/23-8/3. Urteil bei der Voruntersuchung: Tod durch schwere Schläge, verursacht durch eine oder mehrere Personen im Verlauf eines Raubüberfalls‹, und ganz unten, am Ende der Seite: ›Seite 45 dieses Einsatzbuchs ist durch Tintenflecke unleserlich geworden. Ich versichere, daß dies eine Kopie der Seite 45 darstellt, die ich selbst überprüft und mit dem Original verglichen habe.‹ Und signiert über einem Stempel ›Supt. G. Farmer, Fade Street Station, Hongkong.‹ Sie hatten also auch die Seite im Tagebuch des Reviers neu geschrieben, und der Mann, der Eason getötet hatte, bezeugte das mit seiner Unterschrift, die amtlich durch den Stempel ergänzt wurde. Perfekt. Feiffer schüttelte den Kopf und lächelte bitter. Wahrscheinlich hatten sie vorgehabt, Eason ein paar Wochen danach einfach aus der Anwesenheitsliste wegzulassen, oder sobald sich die Dienstaufsichtsbehörde nach ihm erkundigte. Eason mit seiner Viertelmillion Hongkong-Dollars und dem ungenehmigten, unglaublichen Auftrag, eine Schlangengrube in einer Polizeistation auszuspionieren. Es war perfekt. P. K. (Herbert) Ling. Das Wichtigste im Leben eines Chinesen war, ordentlich begraben zu werden ... Sie hatten Ling, oder wer er auch gewesen sein mochte, in ein Armengrab gelegt und seinen Geist unter einem falschen Namen in die nächste Welt geschickt. Unglaubliche, eiskalte Schurken; unbeschreiblich, sie alle, auch Shen und Koh, Tong und die übrigen Chinesen, die davon gewußt haben mußten, die vielleicht selbst diesen armen Teufel geschlagen und geschunden hatten, bis er tot war, und als ob das noch nicht genug des Frevels gewesen wäre, trugen sie ihn auch noch unter einem falschen Namen in ihre Protokolle und Notizbücher ein und lieferten damit seine namenlose Seele den ewigen Qualen aus. P. K. (Herbert) Ling. Der Name stand auf dem geschändeten Grab. Aber warum? Was hatte er getan? P. K. (Herbert) Ling ... Ein Hausierer ohne festen Wohnsitz, dem eine Armbanduhr fehlte, von der eigentlich keiner etwas gewußt haben konnte. P. K. (Herbert) Ling, nach der Voruntersuchung des Coroners, Aktenzei130
chen 567/23-8/3, erledigt, abgeschrieben, aus dem Weg geräumt, weggeworfen, in die nächste Welt geschickt – und vergessen ... ... da das Opfer keine Angehörigen hatte ... Im Verhörraum, im Schein des zuckenden Lichts, sagte Feiffer plötzlich: »Von wegen!« Einer von ihnen, oder einer, der von einem von ihnen bezahlt wurde, war in ihre kleine, sichere, ordentliche, gestempelte Welt eingedrungen, lautlos, mit einer Waffe, die für diesen Auftrag bestens geeignet war, hatte es ihnen heimgezahlt und ihre Leichen in ihrer eigenen Folterkammer liegengelassen, hinter der gutgeölten Stahltür. Jemand mit Augen, die im Dunkeln funkelten, und der auf sie gewartet hatte, gewartet und getötet, dann das Blut weggewaschen und wieder gewartet und wieder getötet ... Jemand. Jemand mit Augen, die im Dunkeln funkelten, ein Phantom aus jener anderen Welt, wo P. K. (Herbert) Lings Seele in Höllenqualen stöhnte und schrie, war gekommen und hatte es ihnen heimgezahlt. Während Feiffer auf die neu geschriebene, abgestempelte Seite des Tagebuchs starrte, sagte er leise zu sich selbst: »Aber wer? Wer?« P. K. (Herbert) Ling, Hausierer ohne festen Wohnsitz ... Es gab weitere Eintragungen, die am unteren Teil der Seite begannen, fast überdeckt von Farmers Unterschrift und dem Stempel: eine Liste der Habseligkeiten, die man bei dem Opfer gefunden hatte. Taschentuch . . . . . . . . . . . 1 Kleingeld . . . . . . . . . . . . . insges. $ 1,60 (Ein Dollar sechzig Cents) Streichholzschachtel. . . . . . . 1 Armbanduhr . . . . . . . . . . . keine Brieftasche. . . . . . . . . . . . . keine Ringe . . . . . . . . . . . . . . . keine Ausweise. . . . . . . . . . . . . . keine Andere pers. Habe . . . . . . . . keine 131
Bekleidung . . . (Die Liste wurde auf der nachfolgenden Seite fortgesetzt) Unterwäsche . . . . . . . . . . . 2 Stück, Baumwolle, weiß Hemd. . . . . . . . . . . . . . . 1, Seide, Maßarbeit, kremfarben Hose. . . . . . . . . . . . . . . . 1, (Baumwolle, beige, Maßarbeit) Gürtel. . . . . . . . . . . . . . . keiner Socken . . . . . . . . . . . . . . 1 Paar, Nylon, beige Krawatte . . . . . . . . . . . . . . keine Schuhe . . . . . . . . . . . . . . 1 Paar, Leder, braun Weitere Gegenstände . . . . . . keine Blutgruppe auf Kleidung . . . . . die des Opfers Andere forensische Bew.. . . . . keine Zahnprothesen . . . . . . . . . keine Perücke . . . . . . . . . . . . . keine Chirurgische oder prophylaktische Merkmale . . . keine Gegenstände zurückgeschickt an Polizeirevier Fade Street. Zur Vernichtung freigegeben: alles Obengenannte Wert des Obengenannten. . . . keiner P. K. (Herbert) Ling, Hausierer ohne festen Wohnsitz. Ein Hausierer mit einer Armbanduhr, die fehlte. Draußen schlug der Wind heftig gegen die Läden und die Wände des alten Reviergebäudes, während der Taifun Pandora, der sich weiterhin rasch der Kronkolonie näherte, mit seinen Wolkenausläufern die Umgebung von Hongkong erreicht hatte. Hose, beige, Maßarbeit; Socken, beige; Schuhe, Leder, braun ... Für einen Hausierer ohne festen Wohnsitz mußte dieser Ling einen bemerkenswerten Geschmack für Kleidung besessen haben. Feiffer blickte hinunter auf seinen eigenen, zerknitterten Anzug und fragte sich, was man wohl nach seinem Tod aus seinen Kleidern erkennen würde. Maßgeschneidert! Wenn Ling eine maßgeschneiderte Hose trug, als er getötet wurde und als man ihm Armbanduhr und Brieftasche abgenommen hatte ... Hemd ... 1, Seide, Maßarbeit, kremfarben ... Ein Seidenhemd, das in einer maßgeschneiderten Hose steckte – eine Hose ohne Gürtel? Jeder, der sich in Hongkong einen Anzug leisten konnte, ließ ihn vom Schneider nach Maß anfertigen. 132
P. K. (Herbert) Ling. Feiffer langte in die linke Hosentasche, holte seine Schlüssel heraus, zog dann das Taschenfutter heraus, drehte es um und las auf der Innenseite, mit winzigen Buchstaben hineingestickt: Kwong Man Se, Schneiderei, Cochrane Street 18, HK. Tel. 5-457205, Auftr. Nr. 9800 0891, und wieder darunter, links, für den Fall einer Verwechslung oder eines Diebstahls oder eines Überfalls in einer Gasse beim Haus Nummer 12 in der Hennesey Road, ganz in der Nähe des verdammten Reviers Fade Street: ›H. J. Feiffer, Esq.‹ P. K. (Herbert) Ling. Vielleicht waren sie doch nicht ganz so schlau gewesen, wie sie dachten. Vielleicht rechneten sie gar nicht mit der Möglichkeit, daß jemand alle ihre Formulare und Notizbücher und Tagebücher und Gummistempel und Unterschriften – Das war ihnen so unwahrscheinlich vorgekommen ... so wie einer, der von einer anderen Welt geschickt wird, mit harten, im Dunkeln funkelnden Augen – einem Tod, der sich flüsternd bewegte. Draußen hämmerten Sturm und Regen gegen Wände und Fensterläden, während Feiffer, durch keine zehn Meter von den Schleusen der Hölle getrennt, schnell hinüberging zu den kleinen Fächern unter dem Schreibtisch im Verhörraum. Hier wurden die beschlagnahmten Gegenstände aufbewahrt, und er entdeckte sogleich das säuberlich zusammengebundene Paket, nach dem er suchte. Und nun begann er nach dem Firmenzeichen einer Schneiderei zu suchen, die, wie seine eigene, den Namen des Kunden säuberlich und unauffällig einstickte, ohne zusätzliche Kosten. Auf halbem Weg zum Zimmer des Wahrsagers sah Spencer, wie sich Audens Hand auf seinen Mantel zubewegte, auf den Magnumrevolver im Schulterhalfter unter der Achsel, und sagte rasch: »Hören Sie, das ist ein Irrtum.« Er näherte seine Hand ebenfalls dem Mantel, allerdings um seinen Dienstausweis aus der Tasche zu ziehen, wurde jedoch durch einen Stoß in den Rücken mit der riesigen Flinte bei diesem Tun entmutigt. »Hören Sie, wir sind von der Polizei.« Mak, der Wahrsager, stieß wieder mit dem Lauf seiner Flinte nach ihm und sagte auf englisch: »Ja.« Das Zimmer des Wahrsagers war voller Leute – es sah so aus, 133
als hätten sich sämtliche Händler der Fade Street hier versammelt. Mak betrat den Raum, nahm inmitten der Gruppe Platz, so, daß er die beiden Polizeibeamten bequem mit seiner Waffe in Schach halten konnte, und sagte: »Ich weiß. Und genau deshalb werde ich euch beide umbringen und eure Leichen während des Taifuns ins Hafenbecken werfen.« Er warf einen Blick auf die Leute, die sich um ihn scharten – mindestens fünfzehn oder zwanzig Personen –, und sah, daß sie zustimmend nickten. Der Sicherheitshebel der Flinte klickte, als er ihn mit dem Daumen nach vorne schob, in Schußposition. Auf dem Friedhof in der Nähe der Uferstraße hatten sich Regen und Sturm zu einem einzigen, heulenden Mahlstrom vereinigt. Jenseits der Aberdeen Road hatte sich die Meeresbrandung verstärkt, und Wasser und Gischt sprühten über die Ufermauer auf die Straße in einer kurzen Folge gewaltiger Wellen, die die Boote und Sampans aus ihrer Vertäuung zu lösen drohten und wie Nußschalen tanzen ließen. Rings um P. C. Tong wurden die Erde und die Grasbüschel auf der erst kürzlich gegrabenen Ruhestätte hochgewirbelt und in Tongs Gesicht und auf seine durchweichte Kleidung geschleudert. Er wandte sich mit offenem Mund O’Yee zu und brüllte, während ihm das Wasser über das Gesicht strömte, aber es war, als käme kein Laut aus seiner Kehle. O’Yee hörte ihn sagen: »Eason! Wir dachten, Farmer hätte Eason fortgeholt!« Tong starrte mit wildem Blick auf O’Yees Gewehr. »Wir dachten – Koh und ich, heißt das – wir dachten, daß ...« O’Yee versuchte, einen Schritt näherzukommen, aber der Sturm war stärker. Das Gewehr in seiner Hand wurde zur Seite gerissen. Er faßte es mit aller Kraft und richtete den Lauf mit Mühe wieder auf Tongs Brust. O’Yee brüllte: »Der Revolver ... Nehmen Sie den Dienstrevolver heraus, und ...« Tong schrie aus Leibeskräften, um überhaupt gehört zu werden. »Wir dachten, der Schirmverkäufer hätte gesehen, wie Eason aus der Station gebracht wurde!« Das Stück Papier mit den drei Schriftzeichen flatterte in seiner Hand. Er schien es O’Yee hinzu134
halten, als Erklärung. Und Tong brüllte: »Wir haben ihn gesehen! Koh und ich – wir haben gesehen, wie er davongelaufen ist, schreiend, und wir dachten –« Der Sturm peitschte ihm das Haar ins Gesicht, und er wandte den Kopf ab. O’Yee brüllte seinerseits: »Aber Koh ist tot!« Er hörte in all dem Chaos ein Geräusch, den Motor eines Wagens – und dann wieder nur das Tosen der Elemente. Sein Regenmantel klatschte ihm gegen den Körper. O’Yee brüllte: »Wo ist Sergeant Shen?« »Wir sind davongelaufen! Shen hat uns gesehen!« P. C. Tong versuchte, die Hände in einer verzweifelten, abwehrenden Geste hochzureißen. Das Wasser lief ihm in Kaskaden über die Kleidung. Tong brüllte: »Es war Shen, Farmer und Koh, die waren es. Ihnen hat es Spaß gemacht. Es machte ihnen Spaß, Menschen zu quälen.« Der Sturm zerrte an dem Blatt aus dem Notizbuch. Er hielt es hoch wie ein Priester, der es den Göttern zeigen will. »Das ist sein wirklicher Name. Jetzt kann er bei seinen Ahnen ruhen. Es hat gar nichts mit mir zu tun. Aber was hätte ich machen sollen? Farmer hätte mich auch umgebracht.« »Wovon reden Sie da, Mann?« Tong sagte: »Das Grab.« Er drehte sich um und zeigte mit dem Finger darauf. »Ling! Da schauen Sie!« »Ich sehe nichts.« »Sie haben ihm einen falschen Namen gegeben.« »Wer?« »Sie! Ihm!« Tong brüllte: »Sie wissen alles. Sie haben den Mann aus der anderen Welt geschickt, weil wir diesmal zu weit gegangen sind. Wir haben seine Seele gefoltert! Es steht alles in den Notizbüchern! Koh hat die Seiten neu schreiben müssen, aber es war eine Lüge! Sie haben es gewußt! Sie wußten es, in der Welt der Geister, und haben uns den Tod geschickt.« O’Yee hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon der Kerl faselte. Er schaute sich rasch nach allen Seiten um, sah aber nur einen dichten, grauen Regenvorhang auf der Straße. Und irgendwo flackerte ein Licht – eine Markierungsboje vermutlich ... O’Yee brüllte: »Sie wissen, wer ich bin! Werfen Sie Ihren Dienstrevolver weg, und dann –« Ein Windstoß erfaßte ihn, und er taumelte, während die Bö den Lauf seines Gewehrs nach unten riß. Er sah, 135
wie Tong zögerte. »Wenn Sie eine Bewegung machen, schieße ich.« Ein paar Meter von dem Grab entfernt befand sich eine kleine Rampe für die Wagen der Beerdigungsunternehmer und die Trauergemeinde. O’Yee glaubte, von dort das Geräusch eines Motors vernommen zu haben. Und dann sah er einen kurzen Blitz, als ob jemand ein Licht eingeschaltet hätte. O’Yee ging auf Tong zu und sagte: »Keine Bewegung! Machen Sie keine Bewegung!« Das Grab schien unversehrt zu sein. Wenn es geschändet worden sein sollte ... Tong brüllte: »Sie haben ihm seinen Namen zurückgegeben! Sehen Sie denn nicht? Sie haben die alten Buchstaben für den Namen – den Namen, den wir uns ausgedacht haben – gelassen ... und sie haben ...« Er hielt das kleine Stück Papier hoch. »Ich bin einer seiner Mörder! Aber ich habe versucht, es wiedergutzumachen!« Der Wind erfaßte ihn, und er taumelte. Tong schrie: »Ich habe es rausgefunden. Ich weiß, wer er ist –« In der Umgebung der Rampe krachte irgend etwas. Tong drehte sich um, wollte hinüberschauen, schien aber gleich danach vor O’Yees Augen zusammenzubrechen und schrie: »O nein ...!« Er drehte sich wieder zu O’Yee, den Mund noch immer weit offen, und suchte nach einem Platz, wo er sich verstecken konnte. O’Yee brüllte: »Nein! Bleiben Sie stehen!« Er versuchte auszumachen, was den Lärm verursacht hatte, sah aber nur eine graue Wand. Wieder war ein Krachen zu vernehmen, und als O’Yee sich umdrehte, das Gewehr schußbereit in den Händen, sah er ... Die Geschosse gingen ins Leere. Im Sturm verfehlten sie ihr Ziel. Auf den Knien, an einen Grabstein gelehnt, kämpfte Sergeant Shen mit dem Gewicht seines Revolvers, hatte Mühe, ihn hochzuhalten. Aus dem Lauf kam ein kleines Rauchwölkchen, das sofort vom Sturm weggewirbelt wurde, und ein Heulen, als das Geschoß dicht vor O’Yees Füße vom Steinboden abprallte und im Chaos verschwand. O’Yee brüllte: »Nein! Nicht!« Er sah, wie Shen mühsam den Revolver anhob. Tong brüllte ebenfalls etwas. O’Yee sah Tong einen Augenblick, bevor er sich zu bewegen begann, und brüllte so laut er konnte: »Nein, nicht noch einmal –« Er brüllte Tong zu: »Stehen bleiben!« Dann sah er, wie Sergeant 136
Shen sich plötzlich umdrehte, wie die Waffe in seiner Hand eine wilde Bewegung durch die Luft beschrieb. Und er sah Tong, der davonrannte. O’Yee schrie immer wieder: »Nein, nicht, bleiben Sie stehen.« Dann riß er das Gewehr hoch und richtete es gegen den Sturm auf Shen. Er sah, wie sich etwas anderes hinter Shen bewegte, ein Schatten, ein Licht, und durch das Heulen des Sturms drang ein Geräusch in Wellen an sein Ohr. Shen drehte sich um, hielt den Revolver mit beiden Händen fest und stürzte zu Boden. Der Schatten war nun fast über ihm. O’Yee sah, wie Shen sich auf den Knien herumwarf, sich dann spannte, um aufzuspringen und davonzurennen. O’Yee kämpfte mit dem Sturm, um sein Gewehr halten zu können. Es war vergebens. Shen schien vom Sturm fortgeweht zu werden. Und Tong – wo war Tong? O’Yee schaute hinter sich auf die graue Wand und sah, wie er davonrannte. Shen war inzwischen hochgekommen und hatte sich umgedreht, lief in die entgegengesetzte Richtung wie Tong, und etwas war hinter ihm, näherte sich ihm von hinten. Aber da war nichts! O’Yee sah kurz Shens Gesicht, weiß vor Angst. Der Mann rannte, stolperte, fiel und rappelte sich wieder hoch. Lichter näherten sich, wurden heller. O’Yee verlor das Gleichgewicht im Sturm, der sich weiter verstärkte, versuchte erneut, das Gewehr in Anschlag zu bringen. Das verdammte Ding war zu schwer und unhandlich! Er sah ... Der Lieferwagen, der durch den Sturm über die Rampe fuhr, schien von einer besonders heftigen Bö erfaßt zu werden, und bevor er plötzlich Flügel zu bekommen schien und ihn wie Korn abmähte und gegen den Stein des geschändeten Grabs schleuderte, sah O’Yee gerade noch, daß der Fahrer eine funkelnde Pilotenbrille trug und daß somit die Passagiere in seiner Maschine in guter Obhut waren. Naturmenschen sterben nicht ohne Kampf. In dieser Wildnis aus Regen und Sturm und Grabsteinen versuchte O’Yee sich noch einmal aufzurichten, doch dann war alles auf einmal ganz einfach und leicht: Er ließ sich sinken und fiel der Länge nach auf den durchweichten Boden und dachte, daß er nun ungestört und in Ruhe dahingehen konnte.
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Es wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein. Auf dem Firmenzeichen in der Hosentasche stand: ›D’Arcy et Frères, Lusaka‹. Lusaka, verdammt! Ausgerechnet Lusaka in – ausgerechnet in Sambia. In Sambia hatten die berühmten afrikanischen Couturiers ›D’Arcy et Frères‹ wohl noch nie etwas davon gehört, daß man den Namen des Kunden auf das Firmenzeichen stickte. P. K. (Herbert) Ling ... Was immer er gewesen sein mochte – jedenfalls kein Hausierer ohne festen Wohnsitz. Die Schuhe und die übrige Kleidung in dem Paket waren blutverkrustet. Nachdem er alles nebeneinander auf den abgeräumten Schreibtisch im Verhörraum gelegt hatte, begann Feiffer, die einzelnen Gegenstände zu untersuchen – einen nach dem anderen. Währenddessen klapperten die Türen des Haupteingangs laut in den Angeln, und der Sturm wuchs zum Orkan an.
11 In der Polizeistation Yellowthread Street betrachtete Constable Yan, der vorübergehend die Leitung des Reviers übernommen hatte, mit zusammengekniffenen Augen das Telex, das ein halbertrunkener Bote aus dem Präsidium herübergebracht hatte, und fragte sich, ob sein Schulenglisch wirklich umfangreich genug war, um diese Nuß zu knacken, kratzte sich den Kopf und versuchte den Sinn herauszubekommen, der hinter den Wörtern und Silben stand. »Zim-ba. Do-uwe. Zim ...« Er nahm den Hörer ab, um in der Fade Street anzurufen, und währenddessen wiederholte er die Silben und fand, daß sie eigentlich gar nicht englisch klangen, überhaupt nicht englisch, und sagte in kantonesischer Verzweiflung: »Aii-ya!« Zim-ba-we ... Das Telefon am anderen Ende der Leitung machte Klick, und Yan sagte, während er immer noch in Gedanken die Silben probte: »Mr. Feiffer, hier spricht Constable Yan 138
von der Yellowthread Street.« Keine Antwort. Es gab noch einmal ein klickendes Geräusch, und dann berichtete ihm eine gleichgültige Stimme – die Aufzeichnung einer Stimme auf einem Telefonbeantworter –, daß der Taifun Pandora in einer Entwicklung, die von den Meteorologen nicht vorhergesehen werden konnte, früher als erwartet die Kronkolonie erreicht hätte, und daß im Augenblick die höchste Warnstufe auf der Skala der Meteorologie, nämlich die Stufe Zehn, ausgerufen würde angesichts eines Taifuns, den man jetzt schon als den Taifun des Jahrhunderts betrachte. Auf jeder Leitung, die Yan anschließend wählte, hörte er diese Nachricht der Telefongesellschaft. Nach seiner Erfahrung würde die Warnung mindestens eine Dreiviertelstunde lang durchgesagt werden, ehe man die Leitungen wieder freigab. Yan betrachtete wieder das Telex, hörte, wie der Sturm und der Regen draußen erst richtig losbrach, und ging dann ohne Eile hinüber in die Kriminalbereitschaft, um sich ein englisch-kantonesisches Wörterbuch zu holen, mit dessen Hilfe er die geheimnisvolle, schwer verständliche Nachricht zu entziffern hoffte. Im Zimmer des Wahrsagers in der Fade Street war die Flinte unbeweglich wie ein Felsblock auf die Kriminalbeamten gerichtet. Mak, der Wahrsager, sagte mit seltsamer Miene über den Doppellauf der Flinte hinweg: »Sie haben uns alle hineingeschickt, damit wir den Toten sehen. Uns alle.« Er sprach kantonesisch, so daß ihn auch die anderen verstanden, und warf einen Blick auf die versammelten Ladenbesitzer und Händler. »Eines Nachts, gegen Mitternacht, kamen sie mit zerzausten Uniformen, jagten uns alle aus den Betten und führten uns in einen langen Korridor am hinteren Ende des Reviergebäudes; dann brachten sie einen nach dem anderen hinunter in den ehemaligen Luftschutzkeller und zeigten uns, was sie getan hatten.« Er merkte, wie Auden seine Hand um Bruchteile eines Millimeters bewegte, in Richtung auf die Dienstwaffe unter seinem Mantel. »Uns alle! Deshalb halten wir auch zusammen. Wir alle!« Und für den Fall, daß die beiden Kriminalbeamten nicht kapierten, was er damit sagen wollte, trat er einen 139
Schritt vor, drückte den Doppellauf kurz gegen Audens Brust und schaute dann zu Spencer hinüber, um sicherzugehen, daß auch er verstanden hatte. »Über das, was hier in diesem Raum vor sich geht, wird kein Wort gesprochen werden, weil wir alle daran beteiligt sind.« Er trat wieder zurück und sagte zu seinen nickenden Genossen: »Wir haben lange darüber diskutiert. Erst hatten wir gedacht, daß wir vernünftig mit Ihnen verhandeln können, aber in dem Punkt haben wir uns geirrt.« Jetzt warf er einen Blick auf einen der Ladenbesitzer, einen etwas nervösen Mann, der sich fortwährend die Hände rieb, und schüttelte dann den Kopf. »Ihr seid Polizisten. Genau wie die anderen. Also hat es keinen Sinn.« Der nervöse Mann sagte mit leiser, traurig klingender Stimme: »Ihr seid alle viel zu schlau für uns, wie die Katze und der Schmetterling. Ihr seid viel zu schlau für uns.« Mak nickte. Spencer leckte sich die Lippen und drückte den Arm gegen seine Brust, um festzustellen, ob sich sein Revolver noch an Ort und Stelle befand, dann fragte er: »Was haben sie denn getan?« »Ihr wißt ganz genau, was sie getan haben. Ihr gehört ja auch zu denen!« Mak, dessen Gesicht sich vor plötzlichem Haß verzerrte, sagte: »Ihr gehört alle dazu, alle. Ihr seid diejenigen, die genau dort weitermachen werden, wo die anderen aufgehört haben. Außerdem seid ihr diejenigen, die sie daraufgebracht und das Geld kassiert haben.« »Was denn für Geld?« Auden sagte warnend: »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Mak, oder wie Sie heißen –« »Mein Name ist Mak,« sagte Mak. »Ich habe bei Verwandten Briefe hinterlegt – nicht hier, sondern anderswo, in Sicherheit –, auf denen mein Name steht, und keiner wird mir meinen Namen wegnehmen. Mein Name ist Mak.« Er nickte einmal in Richtung auf seine Flinte. »Und deshalb werdet ihr beide sterben.« Auden erklärte: »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, worauf ihr hinauswollt. Das ist doch alles nur verdammter Unsinn. Wenn ihr alle diese Polizeibeamten umgebracht habt, dann sagt es schon und tut dann, was ihr tun zu müssen glaubt.« Er trat einen Schritt zur Seite und fing einen Blick von Spencer auf. »Aber, bei Gott, ihr könnt nur hoffen, daß der erste Schuß uns beide umlegt, denn 140
sonst seht ihr einen von uns den Revolver so schnell ziehen, daß Billy the Kid daneben wie ein –« Er sah, wie sich hinter den Leuten etwas bewegte, und merkte, daß ein zweites Gewehr auf ihn gerichtet war, direkt auf sein Gesicht. Jetzt sagte er, als sei ihm plötzlich die Luft ausgegangen: »O mein Gott ...« Spencer erklärte nach einer Sekunde in klarem, sorgfältig gesprochenem Kantonesisch: »Wir sind nicht dazu bestimmt, das Revier Fade Street zu übernehmen. Wir sind Beamte von der Yellowthread Street. Das Revier Fade Street wird vermutlich aufgelöst. Es war ohnehin nur ein Überbleibsel aus der Revierreform, und jetzt, wo das alles geschehen ist –« Er sah, wie Mak einen Augenblick zauderte. »Wenn ihr wirklich Killer wäret, hättet ihr uns schon umgelegt.« Dann fügte er hinzu: »Denkt daran: Wir stehen auf eurer Seite. Sagt uns, was wirklich geschehen ist.« »Ihr wißt genau, was geschehen ist.« Spencer erklärte: »Nein – wir wissen nur, daß jemand die gesamte Mannschaft dieses Reviers getötet hat, mit Ausnahme von P. C. Tong, Sergeant Shen und P. C. Koh, und daß, wer immer der Täter war, Koh zur Yellowthread Street nachgeschlichen sein muß, um –« »Sie haben Koh getötet, in der Yellowthread Street!« »Nein«, sagte Spencer leise. Er mußte irgend etwas versuchen. »Es steht natürlich nicht in den Zeitungen, und es kommt auch nicht in den Nachrichten, aber Inspektor Eason hat im Auftrag der Dienstaufsichtsbehörde gearbeitet und versuchte, die Beamten in der Fade Street der Korruption zu überführen.« Jemand in der Gruppe sagte mit triefender Ironie: »Kann ich mir denken.« »Ja! Und er wurde ebenfalls getötet, aber nicht von dem Mann mit dem Bogen, sondern –« Mak ergänzte: »– von Superintendent Farmer mit seinem Dienstrevolver. Er hat nur einen einzigen Schuß abgegeben, mitten ins Herz von Eason.« Auden sagte: »Scheiße, Bill –« Seine Hand bewegte sich auf das Revers seines Mantels zu, fand den Knopf, der ihn von seiner Schußwaffe trennte, und öffnete ihn zwischen den ausgestreckten Fingern. 141
Spencer fragte: »Woher wissen Sie das?« »Weil wir dort gewesen sind«, erwiderte Mak in seltsamem Ton. »Versteht ihr denn nicht? Sie haben einen von uns an dem Abend auf die Station gebracht und ihn dort totgeprügelt. Es war Shen – der hat es getan. Immer war er es. Und danach, wo jeder normale Mensch entsetzt gewesen wäre über diese Tat, haben sie uns hinuntergeführt, damit wir den Toten sehen sollten und das Blut, und als Inspektor Eason unerwartet dazwischenkam, drehte sich der Superintendent – der Leiter des Reviers! – einfach um und hat Eason erschossen.« Mak sagte: »Bäng! Einfach so, als wenn das nichts wäre. Wie wenn man eine Kakerlake tottritt, und dann ...« Die Worte wollten ihm nicht über die Lippen. »Und dann haben sie uns ganz beiläufig gesagt, daß sie Eason ganz leicht loswerden würden; sie würden ihn einfach auf dem Revier begraben, und wenn einer von uns sich beschwerte oder es jemanden verraten würde –« Die Flinte zitterte in Maks Hand. Er war der gefährlichste von allen, ein Mann, der keinen Ausweg mehr sah. »Wir müssen unsere Familien vor alledem schützen.« Spencer erklärte mit Nachdruck: »Wir werden das Revier Fade Street nicht übernehmen. Wir wollen nur herausfinden, was hier passiert ist, und jeden, der dafür verantwortlich ist, vor Gericht bringen.« Es klang sehr lahm. Mak sagte: »Gericht? Gerechtigkeit? Gerechtigkeit ist bereits geübt worden. Ein jeder von diesen Dreckskerlen ist tot, der Gerechtigkeit ist Genüge getan.« »Ach ja?« fragte Auden. »Und durch wen? Durch euch? Glaubt ihr, das ist das Spielchen, das ihr jetzt treiben könntet? Glaubt ihr, ihr könnt euch als Richter aufspielen? Ihr tötet zwei Polizeibeamte hier in diesem Raum, und die einzige Gerechtigkeit, die euch daraufhin widerfahren wird, ist –« Maks Hand berührte wie besessen die beiden Abzüge der doppelläufigen Waffe, berührte sie, drückte bis zum Anschlagpunkt darauf, lockerte dann den Finger und spannte ihn wieder an wie einer, der versucht, erst einmal genügend Haß zu entwickeln, damit er dann ohne Gewissensbisse schießen kann. Dazu sagte er: »Sie haben den Mann ohne Namen beerdigt! Sie haben ihn also noch gequält, nachdem er bereits tot war! Und sie haben alle Pa142
piere, die sie brauchten: Das Zeugnis des Doktors und die Aussagen der Polizei – warum? Weil sie selbst die Polizei waren. Gegen die Polizei konnte kein Mensch mehr etwas unternehmen – es sei denn, sie zu töten.« Spencer fragte: »Wer? Wer hat sie getötet?« Der nervöse Mann hinter Mak sagte leise: »Mir gefällt dieses Gespräch nicht!« Mak rief, der Verzweiflung nahe: »Wir wollen nur in Ruhe gelassen werden!« »Der Mann, der die Zukunft verkaufte«, sagte Spencer. »War er das? War das der Mann, den sie totgeprügelt haben?« »Sie haben seinen Bruder getötet. Sie haben ihn getötet, unten in ihrem Luftschutzraum. Shen hat ihn geschlagen und geschlagen, bis er tot war!« Mak senkte die Flinte ein wenig und fuhr fort, den Tränen nahe: »Sie haben ihn geschlagen, bis er tot war, und als Eason hereinkam – der einzige anständige Mensch auf dem Revier – haben sie ihn auch getötet, wie eine Kakerlake, einfach so –« »Wir wissen, daß Farmer Eason erschossen hat«, unterbrach ihn Spencer. »Und er ist nicht davongekommen damit.« »Aber nur, weil er tot ist. Wäre Farmer nicht mit den übrigen umgebracht worden, dann wäre kein Mensch jemals dahintergekommen – niemals!« »O doch«, sagte Spencer. »Wir wären dahintergekommen.« »Glauben Sie das im Ernst?« »Ja, das glaube ich.« Spencer schaute Auden in die Augen. »Wir hätten es herausgefunden, nicht wahr, Phil?« Auden schwieg. »Phil?« »Vielleicht«, sagte Auden. Und Mak: »Sehen Sie! Sogar Ihr Kollege –« Jetzt meldete sich Auden zu Wort. »Ich bin nicht wie er. Ich bin wie ihr, ein einfacher Mensch. Er ist in dem Glauben aufgewachsen, alles würde sich zum Guten wenden, weil das nun einmal so ist auf der Welt, aber ich bin in dem Bewußtsein aufgewachsen, daß einen die anderen fertigmachen, und warum? Weil sie mehr Geld haben als du, sind sie imstande, dich fertigzumachen. Es sei 143
denn, du tust etwas dagegen.« Der nervöse Mann hinter Mak fragte: »Nehmen Sie Schmiergelder?« Es war kein Angebot. Auden schüttelte den Kopf. »Nein. Und warum nicht? Weil ich nicht will, daß irgend so ein Schweinehund auf dieser Erde etwas gegen mich in der Hand hat.« Er nickte Spencer zu. »Und er nimmt auch keine, aber aus einem anderen Grund. Er hält es nicht für ehrenvoll, Schmiergelder anzunehmen.« Jetzt sah er, wie sich Maks Flinte langsam von ihm auf Spencer richtete. »Aber was immer auch geschehen wird, ich bin auf seiner Seite, also glaubt nicht, ihr könntet mich bestechen und ihm etwas antun, denn wenn ihr das tut –« Auden brach ab und erklärte dann: »Ich denke nicht daran, Farmer und die übrigen zu schützen, denn ich habe von allen möglichen Leuten Schlimmes über sie gehört und weiß, was sie für Schweinehunde waren, aber wenn ihr meinen Freund hier abknallt«, – erst jetzt entdeckte er den Lauf des zweiten Gewehrs –, »der eine oder der andere –« »Wir haben gedacht«, sagte Mak und schien wieder zu zögern, »die Sache am Radio mit der Katze und dem Schmetterling – das, was der Schirmverkäufer gesehen hat – wir haben geglaubt, das habt ihr euch nur ausgedacht, um uns noch mehr Angst einzujagen!« Er sah, daß Auden und Spencer ihn verständnislos anschauten. »Die Katze, die einen Schmetterling verschlingt, ist in der chinesischen Mythologie das Sinnbild für ein Leben, das vorzeitig endet!« »Und wer hat eurer Meinung nach die Leute im Revier getötet?« fragte Auden. »Wir vielleicht?« »Jemand, der den Posten übernehmen wollte!« Mak schaute Auden argwöhnisch an. »Sie haben uns wöchentlich Tausende an Schmiergeldern abgenommen – Tausende!« »Und haben einen guten Teil davon benützt, um Eason zu belasten«, ergänzte Spencer, »für den Fall, daß er Beweise gegen sie in die Hände bekam.« Er warf Auden einen seltsamen, zweideutigen Blick zu. »Vielleicht hast du recht, Phil, vielleicht weiß ich wirklich nichts über die Menschen, die hart arbeiten müssen –« »Du bist schon in Ordnung«, sagte Auden. Der Lauf der Flinte senkte sich. Mak erklärte: »Aber der einzige 144
andere, der dafür in Frage kommt, ist der Bruder des Mannes, den sie erschlagen und ohne Namen begraben haben, und der kann es nicht gewesen sein, weil er –« »Der Mann, der die Zukunft verkauft«, sagte Auden. Auf einmal war ihm alles klar. »Ich kenne Menschen, die so sind wie ihr. Ihr habt nichts gehabt als euren Fleiß und euren Ehrgeiz, und dann habt ihr einen Mann gefunden, der für euch bürgte, nicht wahr? Jemanden, der an euch glaubte?« »Ja«, sagte Mak einfach. »Und was hat er getan? Hat er euch Geld vorgestreckt?« fragte Auden. »War er ein Mann wie ihr, der mit nichts angefangen hat und an euren Fleiß und eure Tüchtigkeit glaubte, der euch Geld –« Spencer unterbrach ihn mit leiser Stimme. »Der Mann, der die Zukunft verkauft.« Er dachte einen Augenblick lang an gute Menschen wie Carnegie und Rockefeller und – »Und was, zum Teufel, habt ihr ihm dafür geben müssen?« fragte Auden. »Eine Menge«, antwortete Mak. »Aber er –« »Wann hat er damit angefangen, euch Geld zu leihen?« fragte Auden. »Als wir hierherkamen. Vor zwei Jahren, als sie die Häuser in der Fade Street abreißen wollten und alle Hausbesitzer billig an uns verkauften. Er hat die Stadtplanung geändert und –« »Und woher, verdammt noch mal, hatte er das Geld dazu?« brüllte Auden. »Ihr Vollidioten, was glaubt ihr wohl, von wem? Von den Polizisten!« »Wir sind alle Illegale«, sagte Mak leise. »Wir sind illegale Einwanderer aus China. Er hat nur versucht, uns zu helfen. Er hatte das Geld und veränderte die Stadtplanung und –« »Warum, zum Teufel, hat er euch dann nicht auch die Papiere verschafft, damit ihr legal hier in Hongkong bleiben konntet?« »Ja nun, er –« Mak brach ab, überlegte. »Wir haben ihn darum gebeten, aber er meinte, die Polizei –« Spencer flüsterte: »Mein Gott, Phil, steht es denn wirklich so schlecht um Menschen wie diese hier?« »Aber er konnte sie nicht alle töten lassen«, sagte Mak. 145
»Sie sagten, sein Bruder sei zu Tode geprügelt worden. Warum?« fragte Auden. »Warum haben sie das getan?« »Weil – weil sein eigenes Geschäft in Übersee pleite gegangen ist, und weil er sagte, er würde der Teilhaber seines Bruders werden.« Mak schüttelte den Kopf. »Sein Bruder wollte Geld hineinstecken, damit sie beide gleichberechtigte Partner waren. Er war ein guter Mensch, der –« »Genau wie Eason«, sagte Auden. »Auch Eason war ein guter Mensch. Vielleicht war er genauso wie ich und mein Freund hier. Vielleicht dachte er nur, daß es nicht richtig ist, wenn die Menschen in verschiedene Klassen eingeteilt werden, von Geburt an. Vielleicht dachte er, jedermann sollte eine Chance bekommen, um etwas aus sich zu machen.« Der nervöse Mann hinter Mak sagte: »Deshalb sind wir hierhergekommen – deshalb, ja.« »Und sie haben ihn und Eason getötet«, fuhr Auden fort, »und haben beide ohne Namen begraben.« Mak war den Tränen nahe. »Ja!« sagte er gepreßt. Auden, der endlich zum Fundament seines logischen Gebäudes gekommen war, brüllte: »Und was, zum Teufel, werdet ihr tun, wenn ihr uns getötet und unsere Leichen beim Taifun ins Hafenbecken geworfen habt?« Der nervöse Mann hinter Mak fragte neugierig: »Sind sie wirklich mit Pfeil und Bogen umgebracht worden?« »Ja, sie sind wirklich mit Pfeil und Bogen umgebracht worden!« Mak senkte seine Waffe, und das zweite Gewehr verschwand ebenfalls. Jetzt sagte Mak: »Ich – ich glaube nicht, daß wir es fertiggebracht hätten ...« Er war ein Geschlagener. »Wir stellen uns freiwillig; ihr könnt uns zurückschicken nach China.« Spencer ließ ein paar Sekunden verstreichen. »Ich habe keine Flinte gesehen, Phil«, sagte er dann. »Ich bin auch nicht bedroht worden. Du vielleicht, Phil?« Und Auden ergänzte: »Das ist doch ein Witz! Bei einem, der seinen Revolver so schnell zieht wie ich?« Dann wandte er sich an Mak. »Hört zu – es gibt eine Menge Illegaler hier in der Kolonie – aber wenn sie erst mal hier sind, dann sind sie hier.« Er wartete wieder eine Sekunde. »Wenn ihr aus China geflohen seid, könnt 146
ihr sogar um politisches Asyl bitten.« Er zögerte, schnitt Spencer eine Grimasse. »Und das gilt für jeden. Für jeden, der hierherkommt, entweder schwimmenderweise oder in einem alten Boot. Ihr braucht nur um politisches Asyl zu bitten, und keiner kann euch zurückschicken. Das wäre gegen die Charta der Vereinten Nationen.« »Das habe ich nicht gewußt«, sagte Spencer. »Nein, das wissen die wenigsten«, erklärte Auden. Mak wandte sich an Auden. Er fragte leise: »Sind Sie ein Marxist, Herr Polizist?« »Nein«, entgegnete Auden scharf. »Ich bin nur einer aus der Scheiß-Arbeiterklasse.« Er warf Spencer einen Blick zu, Spencer, dem Phönixtyp, und zuckte mit den Schultern. »Das hab’ ich nicht persönlich gemeint.« Dann wandte er sich wieder an Mak. »Hören Sie, nennen Sie mir den Namen des Mannes, der die Zukunft verkauft, und wir räumen hier ordentlich auf, bei all den Schweinehunden in der näheren Umgebung.« Mak war offenbar entschlossen, bis zum Ende durchzuhalten. »Sie haben seinen Bruder getötet –« »Ja«, sagte Auden, »und jetzt hat er seine Mörder ermordet. Aber was bedeutet das für euch? Ein besseres Leben? Oder wollt ihr warten, bis die nächste Ladung Polizisten euch und die Station übernimmt? Wenn er aus China gekommen ist, zusammen mit euch, mit nichts in der Tasche, dann hat er hier in der Fade Street ein gemachtes Nest vorgefunden. Die Polizisten konnten keine Bestechungsgelder von Leuten kassieren, die nichts besaßen, also haben sie den Mann, der die Zukunft verkaufte, auf euch angesetzt. Der Kerl hat euch vielleicht tatsächlich ein bißchen Zukunft verkauft, und nachdem ihr ihm alles zurückgezahlt hattet – über die Polizisten –, nahmen sie ihrerseits Schmiergelder an, vor allem dafür, daß sie über eure illegale Herkunft schweigen. Ihr glaubt doch wohl nicht, daß der Mann, der die Zukunft verkaufte, sein Geld unter einem Stein gefunden hat?« Mak fragte: »Waren Sie glücklich in England, Herr Polizist?« »Ich bin wesentlich glücklicher hier«, erwiderte Auden. Dann: »Den Namen!« Bei Gott, er hätte sein Inspektorenexamen schaffen müssen! »Der Mann, der die Zukunft verkauft, ist ein Experte 147
im Bogenschießen, oder irre ich?« Mak schaute ihn leicht verwirrt an. »Er hat recht, nicht wahr? Er hat recht!« stieß Spencer nach. Dabei schaute er Auden bewundernd an. »Nein«, entgegnete Mak. Er wartete einen Augenblick. »Nein. Er ist nämlich ein Krüppel.« Jetzt warf er einen Blick auf den nervösen Mann, der über das ganze Gesicht grinste. Und Mak fuhr rasch fort: »Aber er hat einen Leibwächter, und der ist vielleicht –« Der Ochsentyp, beim letzten Trumpf. Auden schien die Luft ausgegangen zu sein. Er sagte: »Und sein Leibwächter ist ein kleiner alter Chinese mit aristokratischen Beziehungen, der –« »Nein«, unterbrach ihn Mak. »Sein Leibwächter ist ein Europäer, der mit seinem Bruder ein Geschäft betrieben hat, in Afrika, bevor der Export von Elfenbein illegal wurde und er hierherkam. Von Beruf war er, glaube ich, in seiner Heimat Soldat ...« Er kam zu spät. Alles in der Fade Street war zunichte geworden, und er kam zu spät. P. C. Tong kniete auf dem Boden im Büro des Mannes, der die Zukunft verkaufte, schaute auf die Gestalt im Rollstuhl, und ihm war nichts mehr geblieben als ein Zettel aus seinem Notizbuch, den er in die Mitte des Raums legte, während er ein Lied sang, den Platz mit Kerzen umstellte und vor dem kleinen Familienaltar ein Gebet sprach. P. C. Tong hatte seinen Dienstrevolver herausgenommen, aber der Revolver war noch mit der weißen Kordel am Halfter befestigt. Jetzt erhob er sich, und der Revolver schlug ihm gegen das rechte Knie und folgte ihm, während er zum Fenster ging und ohne Hoffnung hinausschaute auf den Regen, der über die Scheibe lief und hinunterströmte auf die Straße. Im Revier in der Fade Street legte Feiffer den Hörer des Telefons auf und betrachtete die Nachricht, die ihm Yan Buchstabe für Buchstabe durchgegeben hatte. Feuchtigkeit war auf dem Zettel zu sehen, und Feiffer nahm das Taschentuch aus dem Stapel blutiger Kleidungsstücke, sah nach, ob es sauber war und wischte dann damit über das Papier. 148
zusatz zu interpol meldung ii a/967/caa ib 0900 Uhr unsortierte information an ihr büro neue querverbindung britische kolonie rhodesien korrigieren rhodesien: bitte ›zimbabwe‹ lesen geräuschlose mordmethode handbetriebener bogen bei offizier der selous scouts weitere straftaten: elfenbeinhandel kenya, uganda und nachbarländer name: captain (armeerang, rhodesien) douwe ... wiederholt: douwe nationalität südafrikaner derzeitiger aufenthalt unbekannt armeefahndung wegen mordes ausgeschrieben verbindung mit asien unbekannt letzte bekannte adresse c/o wing elfenbeinhandel kenia, firma inzwischen in liquidation hilft das weiter? wiederholt: zusatz zu interpol meldung ii a ...
Das Papier war schon wieder feucht geworden, und Feiffer nahm das Taschentuch des Toten, faltete es auseinander und fand eine trockene Stelle. An einer Ecke war ein einzelnes Schriftzeichen eingestickt, ein Name. Der Name, so ähnlich, wenn man ihn auf Englisch in ein Notizbuch schrieb, so ähnlich, daß sich sogar Verwechslungen ergeben konnten, lautete nicht Ling, sondern Wing! Er hatte es die ganze Zeit über vor sich gehabt. Vor sich! Durch den strömenden Regen jenseits des Fensters, direkt gegenüber der Polizeistation, sah er ein Schild, das der Welt verkündete, es gebe eine Tür, keine zehn Meter von dort, hinter der man, falls man in Schwierigkeiten geraten war, Geld leihen konnte. Vielleicht, um sich aus einer Folterkammer freizukaufen. Wing & Co, Geldverleih war jederzeit zu Diensten. Er vernahm ein Geräusch hinter sich auf dem Korridor, aber Feiffer, der durch das Fenster auf das Schild starrte, während er das Taschentuch in der Hand zusammenknüllte, dachte, es sei nur der Wind, und drehte sich nicht um. 149
Mak sagte: »Wing. Der Name des Mannes, der die Zukunft verkauft, ist Wing. Sie haben seinen Bruder umgebracht und ihn ganz legal im Neuen Friedhof von Hong Bay bestattet, unter einem anderen Namen.« Er sah, wie Auden und Spencer alles in ihren Notizbüchern festhielten. Jetzt wartete er, bis sie nachgekommen waren. Dann fügte er hilfreich hinzu: »Douwe; der Leibwächter von Wing heißt Douwe. Ich glaube, er ist Südafrikaner, oder so.« Er ließ eine kurze Pause entstehen. »Bevor er Soldat geworden ist, war er, glaube ich, Jäger.« Tarnkleidung, das war es, was der Schirmverkäufer für eine Katze gehalten hatte. Und die funkelnden Augen – der alte Jägertrick: ein Tarnhelm für den Kopf. Eine Brille, deren Gläser herausgenommen und durch klare Plastikplättchen ersetzt wurden, so daß die Augenöffnungen bei der Jagd nicht verrutschten. O’Yee, vom Schlamm und Dreck bedeckt, streckte seine Hand nach dem Grabstein aus und las den Namen von P. K. Ling und etwas darunter, dort, wo der Regen das Gras plattgedrückt hatte, einen zweiten, den richtigen Namen: Wing. Gartencampen für Jungen, Selbstversorgung für jedermann, Kochen in der Wildnis, Pine Cone Pin, Lagerfeuer in den kanadischen Rocky Mountains, Wild häuten und gerben ... Die moderne Pirsch mit den Geheimnissen der Indianer ... O’Yee stemmte sich hoch, hielt sich am Grabstein fest und sagte: Bockmist! Bockmist! Bockmist! Und während der Regen auf ihn niederklatschte, schrie er, so laut er konnte: »Du dreckiger, mörderischer, gottverdammter Sohn einer räudigen Hündin!« und langte nach unten, nahm sein Gewehr, taumelte, stolperte und humpelte quer über den Friedhof auf seine Jagdbeute zu. In der Fade Street sagte Feiffer leise zu Auden und Spencer: »Allmächt ...« Er schüttelte den Kopf. Spencer sagte leise: »Sie steckten alle mit drin in der Verschwörung: die Polizei, dieser Wing, vielleicht auch sein Bruder, zumindest am Anfang. Und dann, als der Bruder das Geld zurückhielt 150
oder vielleicht seine Meinung änderte oder einen höheren Profit verlangte, haben sie ihn umgebracht.« Er selbst fand keinerlei Verständnis für solche Gesinnung. »Und weil er dahintergekommen ist, haben sie auch Eason umgelegt.« Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wäre Wing selbst der nächste gewesen. Aber vielleicht kam er auch nicht darüber hinweg, daß sein Bruder unter einem falschen Namen begraben worden war.« Und Spencer fügte nach kurzer Pause hinzu: »Natürlich müssen sie gedacht haben, daß auch wir mit drinstecken – alle Polizisten, jeder einzelne von uns.« Auden wandte sich an Feiffer. »Du verstehst das doch, Harry, oder?« Feiffer nickte. »Vielleicht wollte Wing sie auch nur aus dem Weg haben«, sagte Spencer, »damit er die Hände frei hatte, um eine neue Polizistenbande einzusetzen, die er beherrschen konnte – nicht andersherum. Vielleicht wollte er –« Er schaute Auden an, und auf seinem Gesicht war deutlich seine Verzweiflung zu erkennen. »Ich hätte nie gedacht, daß die Menschen untereinander so gemein sein können.« Feiffer, der noch immer das Taschentuch in der Hand hatte, sagte tonlos: »Ja. Ich kenne das Gefühl ... Es ist still geworden.« Er schwieg, und dabei fiel ihm auf, daß er die Wanduhr ticken hörte. 03.10 Uhr. Im Polizeirevier Fade Street herrschte längeres Schweigen, und dann, als Feiffer, Auden und Spencer hinausgingen und zu Wings Haus hinüberrannten, setzte der Taifun Pandora, der zu diesem Zweck Hunderte von Kilometern über den Ozean gezogen war, mit voller Kraft ein.
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12 Die Ventilatoren am Plafond heulten, während sie gegen den steigenden Druck in den Räumen ankämpften. Glasreste am Fenster des ehemaligen Aktenraums, das mit Brettern zugenagelt worden war, klirrten und zersplitterten, als der Sturm und der Regen durch die Ritzen drangen. Mit einem Tosen wurde alles, was sich in dem kleinen Raum befand, hochgewirbelt – gefolgt von einem lauten Knall, als die zwei leeren Karteikästen auf den Boden donnerten. Von Shens Hand schossen Schmerzwellen nach oben, durch den ganzen Arm. Er ließ ihn an der Seite herabhängen, und unter dem Mantelärmel lief das Blut hervor wie aus einem geöffneten Zapfhahn. Shen, der im Verhörraum des Reviers in der Fade Street stand, ging an eines der Fenster. Der Rahmen ächzte, und das Glas schien unter dem Druck des Orkans bersten zu wollen. Draußen auf der Straße peitschte der Regen wie eine feste, graue Masse gegen die Häuser. Shen sah Schilder und Rohre und Teile von Baugerüsten, die auf die Straße geschleudert wurden, wo sie der Sturm erneut in die Höhe wirbelte. Etwa fünfzehn Meter von Wings Haus entfernt parkte ein Wagen, der in der Federung schwankte und schaukelte. Feiffer, Spencer und Auden sah er direkt gegenüber; sie suchten Schutz unter dem Eingang von Wings Haus. Shen beobachtete wie die große Glasscheibe des Geschäfts im Sturm vibrierte, während das Wasser in Bächen darüberlief. Feiffer und Spencer duckten die Köpfe in den Hauseingang und drückten sich gegen Auden. Shen hatte Feiffer um Sekunden verpaßt, als er hereingekommen war, und später, als Auden und Spencer eintrafen, hatte er sich in der Nähe des Aktenraums versteckt, kurz bevor der Taifun losbrach. Seine Hand, die von einem 22er Geschoß getroffen war, schmerzte im Rhythmus seines Pulsschlags, und als er mit der anderen Hand danach griff, fürchtete er, vor Schmerzen ohnmächtig zu werden. Aber er würde durchkommen. Er wußte, daß er durchkommen würde. Ein Stück verrostetes Eisen schlug gegen die Vordertür des Reviers und rutschte an der Glasscheibe entlang nach unten, 152
Millimeter am Glas vorbei. Shen, dem das Blut aus dem Ärmel tropfte, ging hinüber zum Schreibtisch des Verhörraums und hielt sich daran fest. Die Luft im Inneren des Reviergebäudes war stikkig; er mußte sich zwingen, die Lungen damit zu füllen und danach wieder regelmäßig auszuatmen. Es gab ein Klappern, als der Flügel des einen Ventilators gegen die Decke schlug, und gleich danach rieselte der Verputz, weil der Taifun draußen die Aufhängung des Ventilators gelöst hatte und ihn halb durch die Decke zerrte. Aber er, Shen, würde durchkommen. Oben auf den Hügeln und unten am Hafen würde der Taifun die Hütten der Siedler und die Boote zerschmettern, es würde Erdrutsche geben, wenn die vom Regen unterminierten Hügel einbrachen, es würde Tote geben, Verletzte und Obdachlose. Die Kugel war glatt durch die Hand gegangen. Er würde nicht daran sterben, und er würde durchkommen. Die Tür zum Mannschaftsraum flog auf, und er hörte ein lautes Zischen, als eine Reihe Dachziegel hochgewirbelt wurde; es klang wie ein überdimensionaler Reißverschluß, der aufgerissen wurde. In dem Hohlraum zwischen der Decke und dem Dach hämmerte und dröhnte es. Dort hatten sich Isolationsmaterial, Rohre und Leitungen losgerissen und flogen umher. Mit einem zerrenden Laut blieb ein weiterer Ventilator stehen und wurde gleich danach nach oben durch die Decke gerissen, so daß Putz und Mörtel auf den Boden rieselten. Er würde durchkommen. Er lebte noch, und hier auf dem Revier würde keiner nach ihm suchen; sobald der Taifun vorüber war, konnte er verschwinden. Shen berührte seine verletzte Hand mit der anderen, nickte sich zu und brüllte: »Ja!« Es würde Tote geben, überall. Er konnte die Personalien von einem von ihnen annehmen und sich zu den Menschen gesellen, die aus Angst um ihre Angehörigen an den Fähren nach Macao Schlange standen, konnte mit ihnen hinüberfahren, und niemand würde sich um ihn kümmern. Kaum jemand würde dann unverletzt sein; sein verwundeter Arm würde also nicht auffallen. An der Vordertür krachte es, als ob jemand versuchte, sie mit 153
einem Rammbock einzudrücken. Er sah, wie sich das Holz bog, wie es an den Rändern splitterte. Er trat wieder ans Fenster; die Scheibe konnte jeden Moment bersten. Feiffer stand drüben unter Wings Hauseingang und brüllte Auden etwas zu. Shen sah, wie Auden mit einem Revolver gegen die Tür hämmerte. Der Wagen, der fünfzehn Meter entfernt stand, machte einen Satz nach vorn, als die Handbremse nachgab, rutschte in dreißig Zentimeter tiefem Wasser in die Straßenmitte und trieb davon. Bambusstangen, Metallteile und große Pappdeckelstücke wirbelten durch die Luft, und das Reviergebäude pulsierte wie seine Hand und ächzte in allen Fugen, als ob es den Kampf mit dem Orkan aufgeben wollte. Wieder wurde eine Reihe Ziegel vom Dach gerissen, der dritte Ventilator blieb stehen, und der Druck und die Temperatur in den Räumen verstärkte sich. Beinahe wäre er Feiffer in die Hände gelaufen. Aber er hatte Glück, er würde durchkommen. Und das 22er Geschoß aus Wings kleiner Pistole war glatt durch seine Hand gegangen. Shen langte in seine Hosentasche, zog ein Taschentuch heraus und band es sich um die Wunde, zog zuletzt den Knoten mit den Zähnen fest. Er besaß ja noch seinen Dienstrevolver. Er würde durchkommen. Hatte die Waffe einmal benützt, auf dem Friedhof, aber danebengeschossen. Was machte das jetzt noch? Vor den Anlegeplätzen der Fähren würden Menschenmassen stehen und warten, sobald der Taifun vorüber war. Und er hatte sein Geld auf einer Bank in Macao. Amerika. Das war sein Ziel, dort wollte er hin, vielleicht in eine Stadt wie San Francisco oder – Er sah, wie Feiffer einen Augenblick auf die Straße trat und versuchte, hinaufzuschauen zum Obergeschoß von Wings Haus. Der Orkan erfaßte ihn, und er stürzte, streckte die Hand nach Spencer aus, wurde zurückgerissen unter den Hauseingang, gerade in dem Augenblick, als etwas Flaches, Dunkles vom Sturm durch die Straße geschleudert wurde, auf einen Laternenpfahl traf, der im Orkan schaukelte wie eine Palme, dann gegen ein Schild über der Apotheke krachte und wie eine Bombe explodierte. Auf dem Wasser in der Straße brodelten Gischtwellen, die rasend schnell in Windrichtung davongetrieben wurden. 154
Shen vernahm ein anschwellendes Dröhnen, und plötzlich klaffte in der Decke des Verhörraums ein riesiges Loch, als ob ein gigantisches Ungeheuer aus einer anderen Welt das Dach eines Puppenhauses abgenommen hätte, um zu sehen, was drinnen war. Augenblicklich bildete sich im Inneren des Hauses ein Sturmwirbel, der alles an sich riß, was nicht niet- und nagelfest war. Einer der stählernen Aktenschränke im Aktenraum wurde vom Sog ergriffen und gegen das mit Brettern abgesicherte Fenster geschleudert, das sofort zersplitterte. Wasser lief plötzlich über die Wände, drang ein in das Haus wie in ein Unterseeboot, das sich an einem Felsen leckgeschlagen hatte. Das Reviergebäude stöhnte, ächzte, bebte und gab nach. Shen war an der Stahltür, die zum Luftschutzraum führte, und versuchte, sie zu öffnen. Aber sie ließ sich nicht bewegen, der Druckunterschied zwischen draußen und drinnen war zu groß. Von Shens Hand schossen Nadeln weißglühenden Schmerzes durch den ganzen Arm. Er fühlte, wie der Arm steif wurde, unbrauchbar. Die Tür gab jetzt ein wenig nach. Der große Schreibtisch im Verhörraum hatte sich aus seiner Verankerung am Boden gelöst und rutschte auf ihn zu, als wollte er ihn zerschmettern. Shen schrie: »Ich komme durch!« Aber im Toben des Wirbelsturms konnte er die eigene Stimme nicht mehr hören. Der Schreibtisch rutschte auf ihn zu. Dann gab die Tür zum Luftschutzraum plötzlich ganz nach, Shen langte mit dem heil gebliebenen Arm nach dem inneren Türgriff, zog sich mit aller Kraft herum, war drinnen, ehe die Tür mit explosionsartigem Knall wieder ins Schloß fiel. Er taumelte die Treppe hinunter, landete schließlich in der Mitte des nach Lysol stinkenden Raums. Shen atmete erleichtert auf und blieb einen Augenblick lang sitzen, um wieder Luft zu bekommen. Er würde durchkommen, ja. Draußen war der Taifun nichts mehr als ein unaufhörliches Tosen hinter den sicheren, fensterlosen, einen halben Meter dicken Mauern. Er merkte, daß er plötzlich zu kichern begonnen hatte, daß er grinste, ja, lachte, weil er es noch nicht glauben konnte. 155
Er würde durchkommen! Er rappelte sich hoch und arbeitete sich in Richtung des Lichtschalters am oberen Ende der Treppe vorwärts. Seine unverletzte Hand streckte er dabei tastend nach vorn. Er hatte allen Optimismus und alle Zeit dieser Erde. Aber bevor er den Schalter erreichte, leuchtete in dem fluchtsicheren unterirdischen Raum das Licht auf, und in diesem Augenblick, während Shens Blut von den Fingern auf die Steintreppen tropfte, zerstoben alle seine Träume, Hoffnungen und Pläne ins Nichts.
13 In seinem Wagen brüllte O’Yee gegen den Mahlstrom von Regen und Sturm aus Leibeskräften an: »Bei Gott, du hast das alles einberechnet, und die Menschen tun genau das, was du von ihnen erwartest – wie Marionetten!« Im untern Drittel der Singapore Road waren die Straßen völlig überflutet; es gab nur noch einen Weg zurück zur Fade Street, und der führte durch die Wildnis zusammenstürzender Häuser und die Stromschnellen des Colorado Rivers. O’Yee brüllte: »Bei Gott, wenn du wirklich ein Jäger bist, dann ist das doch genau das Richtige für dich, oder?« Der Bogenschütze, der Jäger hatte seine Beute im Visier und der einzige Ausweg führte durch einen Kessel, den er als Treiber selbst vorbereitet hatte. O’Yees Wagen schwankte in der Federung wie ein Planwagen auf unwegsamem Gelände, verlor den Halt auf der gischtübersprühten Straße, wurde, während der Motor im Wasser ertrank, hochgehoben, erhob sich wie ein Pferd auf die Hinterräder, kippte gleich danach zur Seite. O’Yee hatte sich das RemingtonGewehr über die Knie gelegt. Er packte es jetzt, als der Wagen, noch immer auf der Seite liegend, hinauf auf den Gehsteig rutschte, mit dem Gestänge einer Markise kollidierte, woraufhin ein Regen aus Bambusstäben und Holzsplittern auf ihn herniederging. Dann kippte der Wagen ganz um, lag auf dem Dach, rutschte 156
aber unbeirrt weiter, den Gehsteig entlang. O’Yee brachte mit Mühe die Tür auf der Fahrerseite auf und stieß sich hinaus, wobei er das Gewehr in den Händen hielt wie ein Kavallerist, der sich durch sumpfiges Land an ein Indianerlager heranschleicht. Der Wagen ächzte noch einmal, trieb davon, während O’Yee unter einer Hauseinfahrt Schutz suchte, und verfing sich wieder an einem Markisengestänge. Das Holz der Tür, an die sich O’Yee preßte, war solide, gute Eiche: sicher ein Portal aus dem neunzehnten Jahrhundert, das vor der Zerstörung bewahrt worden war. O’Yee legte das Gesicht gegen das Holz und drückte mit den Händen dagegen. Ein guter, brauchbarer, sicherer Unterstand. Jetzt schaute er hinaus auf die Straße, hielt das Gewehr mit beiden Händen umklammert und sah, wie ein Durcheinander aus Balken, Brettern und Baumaterial in einem gewaltigen Wasserschwall auf ihn zukam. Vom Dach des gegenüberliegenden Hauses lösten sich erst kleinere, dann größere Teile, flogen davon, als der Sog auf der Leeseite sich kurzzeitig verstärkte, während auf der dem Wind zugekehrten Seite eine Art Vakuum entstanden sein mußte. Der Wind hatte nach Norden gedreht. O’Yee, der rasch feststellte, daß er sich auf der Südseite der Straße befand, lief hinüber durch die Flut und rettete sich unter eine gegenüberliegende Einfahrt. Der Orkan drehte erneut, und O’Yee wurde mit einer mächtigen Faust in der Einfahrt festgehalten. Dann sprang der Sturm zum dritten Mal um, und O’Yee konnte sich wieder rühren. Luv und Lee, Nord und Süd, Gartencamping für Jungen. Er trat unter eine Haustür in einer schmalen Seitengasse und sah, wie ein Schwall brodelnder, wirbelnder, grauer Luft, angefüllt mit Dreck und Abfall, auf ihn zukam. Der gefährlichste Ort bei einem Unwetter in den Bergen war unter einem Baum mit schweren Ästen. Er schaute nach oben, aber die Tür war von einem Stahlrahmen eingefaßt; er befand sich in Sicherheit. Bevor die Windhose ganz heran war, atmete er tief ein, und dann war sie auch schon vorüber, wirbelte auf der Singapore Road das Wasser zu einer Säule hoch und schleuderte Holz und Metall gegen die Fensterläden – aber O’Yee war in Sicherheit. Geduld, Voraussicht, Planung. Der Jäger mußte über grenzen157
lose Geduld verfügen, dazu über einen genauen und durchdachten Plan. Deshalb war er auf dem Friedhof gewesen, in seinem Lieferwagen, und hatte gewartet. Er hatte gewußt, daß Shen und Tong dort hinkommen würden. Ein Wasserloch, ja, das war dieser Friedhof gewesen. O’Yee wußte, daß der Bogenschütze, der Jäger, alle Wasserlöcher, an denen er sein Wild treffen konnte, überwachte, und daß er immer noch irgendwo wartete, immer noch neue Pläne schmiedete, sich immer noch neue Möglichkeiten durch den Kopf gehen ließ. Der Jäger war in seinem Element. Er war noch immer ... Dabei hätte er Shen und Tong ohne weiteres auf dem Friedhof töten können, aber statt dessen hatte er sich mit ihm beschäftigt, mit O’Yee! In diesem Augenblick krachte ein Stück Eisenrohr gegen die Hauseinfahrt, verfehlte O’Yee um Zentimeter und flog dann weiter, während O’Yee laut brüllte, ohne gegen das Getöse anzukommen: »Denk nach! Du mußt denken! Warum nicht sie, warum hat er versucht, mich umzulegen?« Wenn ein Jäger mit seinen Fähigkeiten in der Wildnis wirklich versucht hätte, ihn zu töten, dann wäre er auch tot gewesen. Statt dessen hatte der Jäger den Wagen zwischen ihm und Tong zum Stehen gebracht und war dann einfach rückwärts hinausgefahren auf die Straße. Die Reifenspuren, die er hinterließ, waren nicht einmal tief oder ungleich. Nachdem der Jäger O’Yee ausgeschaltet hatte, war es ihm nicht darauf angekommen, Shen oder Tong zu verfolgen, weil er – Wasserlöcher, Eichenbäume ... Der Bogenschütze wußte genau, wohin sich seine Beute zurückziehen würde; er griff nur hier und da lenkend ein, um sie so gut wie möglich vor den Schuß zu bekommen. Es ist das Zeichen des erfolgreichen Jägers, daß er die Gewohnheiten seines Wildes genau kennt. Warum Bogen und Pfeile benützen, wo einem die moderne Technik alles zur Verfügung stellte, von den verdammten Pistolen bis zum Geheimnis der Strangulation mit Klaviersaiten, ein »Lehrbuch«, das man in jeder Buchhandlung kaufen konnte? Ja, für Wahnsinnige und Mörder war gut vorgesorgt. Es war fast ein Spiel, eine Art Sport. Er hatte sich alles von Anfang an genau überlegt und ... Sicher, er hatte einen Fehler gemacht, als es ihm nicht 158
gelungen war, die gesamte Mannschaft des Reviers umzulegen, dennoch hatte er sich unbeirrt daran gemacht, die drei, die ihm noch fehlten, im Dschungel der Häuser und Straßen aufzuspüren und – Für einen Jäger wie ihn war es egal, ob er im Wald jagte oder in einer Großstadt. Wahrscheinlich hatte er seinen Stadtplan mit einem Koordinationsnetz überzogen und Gebäude und Straßen markiert, als wären es Flüsse und Wasserlöcher und Wildwechsel. O’Yee, an seinem sicheren Zufluchtsort, schüttelte den Kopf und sagte: »Bei Gott, im Vergleich zu ihm sind wir nur primitive Eingeborene. Er machte sich nicht einmal die Mühe, aus dem Wagen zu steigen, um festzustellen, ob er mich erlegt hatte, weil ich für ihn nur irgendein Wilder war, der ihm im Weg stand und den er auf dem Marsch zum Jagdgebiet beiseiteräumen mußte.« Vielleicht galt es sogar als nicht waidgerecht, ein Wild zur Strecke zu bringen, das man eigentlich gar nicht jagte. Wieder änderte sich die Richtung des Orkans – jetzt kam er erneut von Norden –, und O’Yee rannte durch das hohe Wasser der Singapore Road, um sich eine neue Zuflucht zu suchen. Sein Wagen war fort, weggeweht in das strukturlose Grau hinter dem zusammengebrochenen Gebäude am Ende der Straße. Der Wind sprang um, und O’Yee drückte sich gegen die Wand, um Schutz zu suchen. Irgendwo mußte es ein letztes Treffen geben. »Aber wo?« sagte O’Yee laut zu sich selbst, »wo?« Geduld. Planung. Zu Hause, im Lager mußte alles überlegt werden, und dann, ohne Eile, ohne Hast, sorgfältig und gründlich ... Die Beute. Denk an die Beute! Ein Bild aus einem seiner Bücher nahm in O’Yees Gedanken Gestalt an. Es stammte aus dem Band über Jagdtrophäen, und er sah das verschmitzte Gesicht des Jägers vor sich, wie er in seinem Arbeitszimmer saß, unter dem ausgestopften Kopf des größten Elches, den er, O’Yee, je gesehen hatte. Im Text hieß es, daß die Jagd zehn Tage gedauert hatte, zehn Tage, in denen der Jäger auf dem Foto ein halbes Dutzend großer Hirsche, ein paar Elche und drei oder vier Rentiere hatte laufen lassen, nur um den größten Elch zu erlegen, der ... 159
Shen. Der größte Elch, den er an diesem Tag erlegen konnte, war Shen. O’Yee fragte: »Aber wo? Wo?« Wenn ihn der Bogenschütze auf dem Friedhof hatte laufen lassen, wo hoffte er ihn wiederzusehen, wo war der günstigste Ort, an dem er das Wild mit einem Blattschuß erlegen konnte? Wo, wo? Es ist das Kennzeichen des erfolgreichen Jägers, daß er die Gewohnheiten seines Wildes genau kennt. Wohin würde Shen sich treiben lassen, wo würde er Zuflucht nehmen? Es gab keine Zuflucht in der gesamten Kronkolonie; alle Türen waren verriegelt und verbarrikadiert, und in den öffentlichen Gebäuden wurden Listen angelegt über die Menschen, die sich dort aneinanderkauerten, damit man später die Toten identifizieren konnte. Wo, wo? Irgendwo mußte es Sicherheit geben, einen Zufluchtsort, der dem Wild so vertraut war wie dem Jäger, ein Ort, wo das Wild sich frei und unanfechtbar fühlte, wo – Der Mann, der Eason das Geld übergeben hatte, war immer Shen gewesen. Eason. Nach Auskunft der Dienstaufsichtsbehörde hatte Eason versucht, Shen über die Herkunft des Geldes auszufragen, aber er hatte als Antwort nur ein Lächeln erhalten, und – O’Yee, zutiefst erschrocken, sagte laut zu sich: »O mein Gott – nach Auskunft von Auden und Spencer war der Luftschutzraum auf dem Revier in der Fade Street sauber!« Sauber – als ob jemand dort wohnte. Er befand sich unter der Erde, sicher, weil er die Menschen vor der Bombardierung schützen sollte, damals im Zweiten Weltkrieg, hinter einer fünfzig Zentimeter dicken Mauer, stahlgitterverstärkt, ohne Fenster ... Das war die Zuflucht. Während des Taifuns war dieser Luftschutzraum eine willkommene Lichtung im Dschungel. Und der Bogenschütze kannte ihn, weil er alle seine Opfer dorthingeschleppt hatte. Er hatte angenommen, er würde sie alle erwischen und auf ihre eigene Schwelle legen können als Zeichen dafür, daß er ihre letzte Zuflucht ausgekundschaftet hatte, in diese Zuflucht eingedrungen war, und daß ... 160
In jedem echten Amerikaner mit Pioniergeist steckt das Verlangen, zurückzukehren zu – zu seinem Lager. Fade Street. Dieser verdammte Hundesohn wartete dort auf Shen, den der Magnetismus eines Gefühls von Sicherheit und Zuhausesein zu seinem Zufluchtsort treiben würde, genau ... Genau, wie der Bogenschütze es vorgesehen hatte! Pine Cone Pin. Der Wind hatte wieder gedreht, und O’Yee, der sich sorgfältig umschaute nach Ästen, die von den Bäumen brachen, nach Wildbächen, die durch Schluchten tobten, nach Bergen, die sich vor seinem Ziel auftürmten, bewegte sich rasch und geschickt durch den Dschungel der Häuser bis zum Ende der Singapore Road; er folgte der Spur, die ihn unausweichlich und unweigerlich zurückführte in die Fade Street.
14 Die ganze Fade Street schien plötzlich die Flucht zu ergreifen; der Regen und der Sturm tobten gegen die Gehsteige und die Gullys, und von den stählernen Rolläden vor den Fenstern der Geschäfte lief das Wasser in Kaskaden auf die Straße. Im Hauseingang des Geldverleihers Wing brüllte Feiffer Auden zu: »Dann schieß es auf! Nimm deine Flinte und schieß die Tür auf.« Er sah, wie Auden zögerte, als die Neonreklame eines Geschäfts von irgendwoher auf den Gehsteig krachte und einen halben Meter von ihm entfernt in einem Schauer von buntem Glas explodierte. Dahinter folgte ein Gewirr von Bambusstäben; sie fielen splitternd auf die Straße und wurden gleich danach wieder hochgewirbelt und fortgerissen. Auden schrie durch den chaotischen Lärm zurück: »Ich kann nicht!« Er hatte die mit Schrot geladene Doppelnull-Flinte aus dem Wagen geholt, hielt sie jetzt mit beiden Händen fest, damit sie nicht vom Orkan weggerissen wurde. »Wenn ich die Tür aufschieße, sprengt der Luftdruck sämtliche Fenster des Hauses.« Ziegel und Holzstücke flogen vom Dach des gegenüberliegenden 161
Hauses auf die Straße und wurden durch die Luft gewirbelt wie Vögel mit rasiermesserscharfen Flügeln. »Vor dem großen Schaufenster ist nur eine einzige Taifunstange –« Etwas kam dahergeflogen und krachte auf den Gehsteig, sauste dann pfeifend wie ein Geschoß an Auden vorbei. »Wenn wir die Tür aufschießen –« Spencer brüllte, so laut er konnte, und stieß Feiffer dabei in die Rippen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Wie wär’s mit der Hintertür? Vielleicht gibt es einen hinteren Eingang, eine Laderampe oder was weiß ich, und wir können –« »Wir kommen ja gar nicht um das Haus herum«, schrie Feiffer zurück. »Und dort gibt es kein Dach, unter dem wir uns schützen könnten.« Es war, als ständen sie an Deck eines Flugzeugträgers, während sämtliche Düsenflugzeuge ihre Triebwerke auf volle Kraft fuhren und alles, was nicht niet- und nagelfest war, von der Startbahn fegten. »Wir kommen unmöglich um das Haus herum! Wir müssen versuchen, von hier hineinzukommen. Wenn wir es bis zu den hinteren Räumen schaffen, bevor die Fenster nachgeben, können wir drinnen im Haus alle Türen schließen, damit kein Sog entsteht.« Ein Stück verrostetes Eisenblech von den meilenweit entfernten Hütten der Armen flog dreißig Zentimeter vor dem Hauseingang vorbei, und seine scharfen Ränder schnitten durch das Wasser, bevor das Blech verbogen wurde und wieder in die Höhe wirbelte. Feiffer brüllte Auden ins Ohr: »Schieß das verdammte Schloß auf – das ist ein Befehl!« Auden schrie zurück: »Du hast mehr Taifune hinter dir als ich. Wenn du meinst, daß die Fenster nicht nachgeben –« »Schieß das Schloß auf!« brüllte Feiffer. Er trat zurück und drückte sich gegen das Seitenfenster, als Auden die Flinte bis auf Hüfthöhe anhob, die Mündung gegen die Tür preßte und – es hörte sich bei dem Getöse an wie ein Spielzeuggewehr – das Holz rings um das Schloß zu Splittern schoß. Die Tür sprang auf und schlug gegen die innere Wand; die Scharniere ächzten und bogen sich, gaben nach. Feiffer kämpfte sich hinter Spencer hinein in das Haus und brüllte: »Drückt mit der Schulter gegen die Tür, damit wir sie schließen und den Druckausgleich wieder herstellen können.« Sie schafften es, aber die Tür stöhnte unter dem erneut anstürmenden Außendruck, 162
wölbte sich nach innen, während Feiffer dagegendrückte, und löste sich dann in alle ihre Einzelteile auf. Ein großes Stück Holz aus der Türfüllung fiel zu Boden und rings um das Schloß zischten kleine Splitter durch die Luft. Feiffer hörte, wie hinter ihm im Raum alles mögliche hochgewirbelt wurde, wie es krachte und klapperte, wenn es gegen die Wände und Tische prallte. Feiffer sah einen schwachen Lichtschimmer unter einer Tür am entgegengesetzten Ende des Raums und rief Spencer zu: »Die Tür gegenüber. Lauf zu der Tür!« Er sah, wie Auden sich in dem dunklen Raum umdrehte, um zu sehen, ob seine Fenstertheorie zutraf. Er stand direkt vor der großen Scheibe, die seiner Meinung nach jeden Augenblick in tausend Scherben zerspringen mußte. Feiffer zog ihn weg und machte einen Satz zu der anderen Tür, die zum Glück unverschlossen war, öffnete sie, stieß Auden in den dahinterliegenden Raum, während Spencer gleich danach die Tür ins Schloß knallte. Die Tür war oben und unten mit Riegeln versehen, und während Spencer dagegendrückte, um dem wachsenden Druck im vorderen Raum Widerstand zu leisten, schob Feiffer die Riegel zu. Auden suchte nach etwas, womit er die Tür zusätzlich verstärken konnte. Aber es gab nichts. Jenseits der Tür, im vorderen Raum, gingen die Fenster zu Bruch, mit einem ohrenbetäubenden Knall, der das Glas pulverisierte. Feiffer fühlte, wie sich die verriegelte Tür dehnte und zitterte, als ob jemand dagegendrückte. Wasser drang herein, quoll schäumend wie Säure unter der Tür hindurch. Die Tür wölbte sich immer mehr, gab schließlich nach. Feiffer rief: »Kommt! Kommt!« erreichte das entgegengesetzte Ende des Korridors, drehte am Türknopf der nächsten Tür und platzte in den dahinterliegenden Raum. Die Tür zur Parkbucht auf der Rückseite des Hauses schien nicht verriegelt gewesen zu sein – sie wurde vom veränderten Luftdruck aufgerissen, und als der Wind draußen seine Richtung veränderte, knallte sie wieder ins Schloß. Spencer war mit ein paar Schritten daneben und schob die Riegel vor. Überall auf dem Boden des Raums standen Kerzen; sie waren abgebrannt zu Stummeln. Es roch nach Räucherstäbchen, und Rauch umgab die Umrisse eines Mannes, der in einem Stuhl saß. 163
Auden hob die Flinte an, ließ sie jedoch gleich wieder sinken, als ob er die Waffe versehentlich gegen einen Freund gerichtet hätte, und sagte: »Mein Gott ...« Es war ein Rollstuhl, und der Mann, der dort saß und eine Hand in den Schoß gelegt hatte, schaute ihn nicht an, aber Auden sagte mit zitternder Stimme: »Mein Gott, er ist –« Auf dem Boden rings um den Rollstuhl war eine getrocknete Blutlache, und auch auf dem Rollstuhl und dem weißen Hemd des Mannes sahen sie jetzt die dunklen Flecken gestockten Bluts. Es war Wing, und man hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt, vom einen Ohr zum anderen. Eine Tür auf einer Seite des Zimmers öffnete sich, und Auden hob wieder seine Flinte und brüllte: »Eine Bewegung, und Sie sind tot.« Er sah einen Schatten in der Tür stehen, tropfend – von Blut? warf dann einen Blick auf Feiffer und sagte gepreßt: »Das ist doch –« Es war kein Blut, sondern Wasser. P. C. Tong, der in der offenen Tür stand, wobei ihm das Wasser von der durchnäßten Uniform tropfte, sagte leise und beschwichtigend auf kantonesisch: »Schon gut. Ich bin –« Er sah, wie Feiffer, der einen Schritt zur Seite getreten war, die Hand auf den Revolver im Halfter legte, und zuckte mit den Schultern. »Entschuldigen Sie meinen Aufzug, aber wie Sie sehen –« Tränen traten in seine Augen. »– wie Sie sehen, war ich lange draußen im Regen, und ich –« Sein Dienstrevolver schleifte am Boden, war aber noch immer am Traggurt befestigt. Tong warf einen Blick darauf, versuchte dann, ihn langsam und behutsam aufzuheben und ins Halfter zu stecken. Feiffer sagte: »Rühren Sie die Waffe nicht an.« »Ich war lange draußen im Regen, und –« P. C. Tong leckte sich die Lippen. »Nein, ich –« Jetzt schaute er wieder hinunter auf den Revolver und begann zu begreifen. »Nein, ich – ich –« Er hatte etwas in der Hand, was die anderen nicht sehen konnten, näherte es dem Gurt, und der fiel mit dumpfem Klatschen samt dem Revolver auf den Boden. Tong hatte ein aufgeklapptes Rasiermesser in der Hand. Er hielt es noch einen Augenblick zwischen den Fingern, so daß die anderen es sehen konnten, dann ließ er es neben Kordel und Revolver fallen. Jetzt warf er einen Blick auf Wing 164
im Rollstuhl. »Das ist Mr. Wing, der Bruder des Mannes, den wir –« Audens Flinte war noch immer auf Tong gerichtet. Feiffer sagte kurz angebunden: »Tong, stoßen Sie den Revolver und das Messer mit dem Fuß in meine Richtung.« Er warf einen Blick auf Wing. »Stoßen Sie sie in die Richtung des Rollstuhls.« Tong zitterte vor Angst. Feiffer befahl: »Tun Sie, was ich sage, jetzt – sofort!« Hinter ihm, in einem kleinen Raum, sah Feiffer eine Werkbank mit Messern und Hölzern: die Werkstatt des Bogenschützen. Feiffer befahl Tong: »Treten Sie weg von der Tür.« »Ich war es nicht.« »Treten Sie weg von der Tür«, wiederholte Feiffer. Er sah, wie Auden einen Schritt auf Tong zumachte und sagte rasch: »Nein, bleib ihm vom Leib.« Dann befahl er Tong zum dritten Mal: »Treten Sie von der Tür weg!« »Ich war es nicht!« »Laß nur, Harry, ich kriege ihn schon«, sagte Spencer. »Er weiß nicht, was er –« Weiß Gott, was für Mordwerkzeuge in dem kleinen Raum sein mochten, dachte Feiffer. Er befahl Tong: »Bleiben Sie stehen, rühren Sie sich nicht.« Dann hob er die Stimme. »Tong, das ist der Befehl eines Vorgesetzten!« »Ich war es nicht!« Das Zittern verstärkte sich noch und lief über Tongs ganzen Körper. Er wiederholte verzweifelt: »Ich war es nicht.« »Das wissen wir«, erwiderte Feiffer. »Aber jetzt –« »Es war Shen!« Tongs Hände fuhren nach oben und legten sich an die Schläfen, als wollte er damit einen hysterischen Ausbruch verhindern. »Es war Shen! Wing war schon tot, als ich hierherkam. Ich hab’ mir alles durch den Kopf gehen lassen, genau wie Koh, und nach dem Friedhof bin ich hierher –« Er starrte den Toten auf dem Rollstuhl an. »Ich bin hierhergekommen, um Vergebung von ihm ...« Jetzt zeigte er auf die Kerzen am Boden. »Ich habe es versucht. Ich versuchte, es wieder gut zu machen, mit seinem Bruder in der anderen Welt. Aber er war schon tot, und ich konnte nicht –« Er schüttelte den Kopf und schaute sich nach allen Seiten um, wie ein Hund, der aus dem Wasser aufgetaucht ist 165
und sich nach seinem Herrn umsieht. »Ich – sie waren beide vor mir hier, Shen und der – der andere, Douwe. Ich kam hierher, als es schon zu spät war!« Tongs Augen waren auf Wing fixiert, seine Stimme klang jetzt wieder einigermaßen normal. »Ich hätte Shen getötet, um es wieder gutzumachen, um Frieden zu schließen mit seinem Bruder, aber ich –« Er schaute in Wings tote Augen und sagte flehend: »Aber es war nicht meine Schuld. Ich war einfach nicht schlau genug; ich habe mich die ganze Zeit versteckt und versucht ...« Jetzt begann er zu schluchzen. »Ich bin nur gelaufen und gelaufen und gelaufen, durch den Regen, und war nicht schlau genug, um dahinterzukommen.« Und noch immer zu Wing: »Ich dachte, es ist Eason, der zurückgekommen ist. Koh und ich, wir haben gesehen, wie der Schirmverkäufer schreiend aus dem Revier gelaufen ist, und wir dachten, daß Eason zurückgekommen wäre – daß der Schirmverkäufer ihn gesehen hätte – daß Farmer ihn gar nicht wirklich umgebracht hat und daß er ihn aus dem geheimen Raum befreit hat, und –« Tong brach abrupt ab und sagte: »Shen war hinter uns, in seinem Wagen; er hat uns gesehen und – er ist auch geflohen, mit seinem Wagen, und wir dachten, daß er etwas wüßte – Koh und ich –, und dann haben wir uns getrennt und versuchten, Shen zu finden, damit er uns sagen konnte, was wir tun sollten, und er –« Seine Blicke schweiften durch den Raum, fanden aber nicht, wonach sie suchten. »Es waren Shen und Farmer, die haben das alles auf dem Gewissen. Farmer hat alle hineingetrieben, damit sie sehen konnten, was er und Shen mit Wings Bruder gemacht hatten, weil sie so stolz darauf waren, und dann hat er Koh die Stelle im Notizbuch neu schreiben lassen, damit es so aussah, als wenn er nicht von uns, sondern von richtigen Gangstern umgebracht worden wäre – und zuletzt hat er ihn auch noch unter einem anderen Namen begraben lassen!« Es war mehr, als er mit seinem schlichten Verstand begreifen konnte. »Shen war selbst Chinese, und trotzdem hat er sich nicht um die nächste Welt gekümmert und um die Qualen, die man dem Armen damit bereitet hat!« Unter dem Rollstuhl, in der Nähe der Blutlache, glitzerte etwas auf dem Boden. Feiffer versuchte im schwachen Licht herauszufinden, was es war, warf dann rasch wieder einen Blick auf Tong. 166
Tong sagte: »Ich bin fertig. Erledigt. Ich bin halb wahnsinnig von – von dem Regen und dem Sturm und dem Herumrennen, und jetzt bin ich –« Er schaute Auden an und lächelte traurig. Spencer trat einen Schritt vor und beruhigte ihn: »Ist ja gut ...« Tong wich zurück. »Nein.« Er hob eine Hand hoch wie ein Verkehrspolizist. »Wo ist Shen jetzt?« fragte Feiffer. Spencer ging langsam durch das Zimmer, schaute Auden kurz an und schüttelte dann den Kopf, um ihm zu verstehen zu geben, daß er nicht mehr mit der Flinte auf Tong zielen sollte. Dann sagte er leise zu Tong: »Hören Sie, Constable, es ist ja alles gut. Sie sind in Sicherheit. Jetzt brauchen Sie uns nur noch –« Aus Tongs Kehle kam ein seltsamer Ton, eine metallisch dünne Stimme. Er schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt ist es zu spät.« Er sah Feiffer an, blinzelte und fuhr fort: »Ich wollte das Geld, das ich in der Fade Street bekommen habe, weil ich davon geträumt habe, einmal ein Stück Land zu besitzen und als Farmer auf eigenem Grund zu arbeiten.« Jetzt sprach er englisch weiter. »Farmer – das ist komisch – so hat der Superintendent geheißen: Farmer ...« Seine Träume waren seine Privatangelegenheit, daher kehrte er wieder zum Kantonesisch zurück. »Ich wollte drüben in den New Territories meinen Acker bebauen ...« Auf dem Boden waren getrocknete Blutflecken, die zur hinteren Tür führten. Das Ding auf dem Boden funkelte Feiffer an. Die Blutflecken konnten eigentlich nur von einem Verletzten stammen, der durch diese Tür verschwunden war. Und das glitzernde Ding war die Messinghülse eines 22er Geschosses, das von einer kleinen halbautomatischen Waffe abgefeuert worden sein mußte. Feiffer sagte rasch: »Tong, wo ist die –« Tong hob eine Hand hoch und bedeckte damit sein Gesicht. Auden, der die Bewegung wahrgenommen hatte, blickte auf. Tong schrie: »Habt Mitleid, begrabt mich nicht unter meinem richtigen Namen, sonst treffe ich den Mann, den wir getötet haben, in der anderen Welt und muß bis in alle Ewigkeit leiden!« Die andere Hand näherte sich seiner Hosentasche. »Habt Mitleid, begrabt mich nicht –« Feiffer trat rasch auf ihn zu und brüllte Auden an: »Eine Waffe fehlt! Wings Waffe – sie fehlt!« Er sah, wie Spencer, der einein167
halb Meter vor Tong stand, zögerte und sich umschaute; dabei blockierte er Audens Schußlinie. Tong schrie: »Habt Erbarmen, begrabt mich im Ozean, wo meine Seele für immer verschwinden wird!« Er hatte das, wonach er gegriffen hatte, aus der Tasche gezogen: eine winzige, schwarze Westentaschenpistole, Kaliber 22. Mit der einen Hand bedeckte er noch immer sein Gesicht, aber er brüllte wieder: »Habt Erbarmen! Es tut mir leid, ich schwöre es – es tut mir leid!« Die kleine Pistole, die bereits einmal in diesem von Kerzen übersäten Raum abgefeuert worden war, lag schußbereit in seiner Hand; Tong brauchte sie nur noch mit einer raschen Bewegung gegen seine Schläfe zu drücken und durchzuziehen. Eine gedämpfte Detonation – und Tong war auf der Stelle tot. Sein Körper zuckte kaum, als er zu Boden stürzte und zur Hölle fuhr oder in ein Fegefeuer, das nicht schlimmer sein konnte als das, was er vor seinem Tod durchgemacht hatte. Die linke Hand verdeckte noch immer sein Gesicht, als fürchte er sich vor dem, was er in der nächsten Welt sehen würde. Nachdem er hier mehr erlebt hatte, als er ertragen konnte, galt sein allerletzter Gedanke der vollkommenen, restlosen und endgültigen Auflösung ins Nichts. Am oberen Ende der Steintreppe, die in den Luftschutzraum führte, stand Douwe, den Bogen locker in der einen Hand, den Pfeil bereits aufgelegt, und sagte lächelnd: »So müssen sie dich gesehen haben, was Shen? Oben am Ende der Treppe, wie du auf sie hinuntergeschaut hast.« Er trug einen wasserdichten Tarnanzug, sein Körper war entspannt, der Ausdruck auf seinem Gesicht selbstgefällig und so, als ob er unendlich viel Zeit zur Verfügung hätte. Das Lächeln verbreiterte sich ein wenig, und er nickte: »Ganz recht, Shen, denk ruhig an deinen Revolver im Gürtel. Denk lange und genau darüber nach, wie schnell du ihn ziehen kannst und wie schnell ich dir mit meinem Bogen zuvorkomme.« Die Stimme, die Englisch sprach, schien irgendwie nicht zu diesem Körper zu gehören; die grauen Augen über dem Lächeln verrieten nichts, beobachteten nur. Douwe sagte: »Ich habe durch meinen Freund Wing von dir gehört. Du warst immer derjenige, 168
den ich vor allen anderen haben wollte. Mr. Wing bedauerte, daß ich dich nicht schon beim ersten Mal, mit den anderen, erwischt habe, aber ich habe das nicht bedauert. Ich habe seit einiger Zeit auf diesen Augenblick gewartet.« Er nickte Shen zu, und der südafrikanische Akzent klang trügerisch weich, fast freundlich. »Es ist schade, wenn man die beste Jagdtrophäe nur so nebenbei, fast durch Zufall, erlegt. Sie bedeutet einem viel mehr, wenn man sich darum bemühen muß.« Er sah, wie Shen einen Schritt zurücktrat und darauf achtete, daß er sicher auf der ganzen Schuhsohle stand. »Ich habe oft gesehen, wie manche Leute auf Safari gingen mit Kameras; oder wie sie eine Bestie anpirschten, bis sie sie vor die Gewehrmündung bekamen, und dann abdrückten – ohne eine Patrone in der Kammer zu haben.« Er runzelte die Stirn, wollte sehen, ob Shen begriff, was er damit sagte. »Aber ich bin nicht für diese Art von Jagd. Wenn ich eine Bestie oder einen Menschen vor den Schuß bekomme, dann töte ich auch.« Er zuckte leicht mit den Schultern. »Siehst du – wenn du nur noch eine Patrone in der Büchse hast, kannst du danebenschießen, oder der Wind kann das Geschoß aus der Bahn tragen, oder das Tier kann sich bewegen – und man wird das nie mehr erfahren.« Seine Hand lag locker auf der Waffe; die silbernen Leitflügel am Schaft des Pfeils hoben sich funkelnd vor dem khakifarbenen Hintergrund seiner Ärmel ab. »Nein – ich töte immer, was ich gestellt habe.« Er schaute hinunter auf den Steinboden. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. »Mein Freund Wing hat mir in Afrika einen Gefallen getan – er hat mir geholfen, aus dem Land herauszukommen. Der, den du erschlagen hast. Dieser Mr. Wing. Sie sind ein bißchen wie die Afrikaner, die Chinesen – sie vergessen nie, wenn ihnen jemand etwas Böses angetan hat – und du hättest den armen Teufel wirklich nicht unter einem falschen Namen begraben sollen, weil sich das einfach nicht gehört.« Die Hand mit dem Pfeil war noch ein ganzes Stück vom Schaft entfernt. Shen, der ihn genau beobachtete, fragte sich, wie schnell sich der Bogenschütze bewegen konnte, wenn er ... Douwe sagte: »Das war das erste, worum mich Mr. Wing gebeten hat: daß ich unauffällig ein zweites Schriftzeichen am Fuß des Grabsteins anbringe, mit dem richtigen Namen seines Bruders, damit dieser in Frieden ruhen konnte.« 169
In Shens Gesicht zuckte ein Muskel. Es gelang ihm, ihn unter Kontrolle zu bringen. Er sagte gleichmütig: »Wing ist tot.« »Natürlich.« »Ich meine den verdammten Krüppel. Ich habe ihm die Kehle durchgeschnitten.« Douwe nickte. »Ich habe mir gedacht, daß du ihn töten würdest. Ich hätte ihn retten können, aber ich wollte dich. Nachdem die Polizisten weggegangen sind, bin ich hier hereingeschlichen, oben, und habe gewartet. Ich habe gesehen, wie du dich in den Büschen versteckt hast. Und Tong – ich habe ihn gesehen, am Ende der Straße. Er ist zu Wing gegangen, gleich nachdem du von dort verschwunden bist.« »Wenn er hineingegangen ist, weiß er alles über Sie.« Douwe zuckte wieder mit den Schultern. »Nein – der ist am Ende. Er ist wie Koh, Farmer und die übrigen. Eine Hyäne, etwas, das man tötet, weil es einem lästig ist. Er war nützlich als Köder; er hat mich zu dir geführt, aber ich glaube kaum, daß es jetzt noch auf ihn ankommt, oder?« »Es wird sehr auf ihn ankommen, wenn die Polizisten ihn in die Mangel nehmen. Was wollen Sie dann tun? Jeden Polizisten töten, auf der ganzen Welt?« »Nein.« Douwe atmete ein und sagte dann: »Du bist der Leitwolf gewesen, Shen, deshalb bist du hierher zurückgekommen in dein Lager, nicht Tong oder dieser Koh. Koh habe ich getötet, als er sich auf fremden Boden flüchtete, und Tong – auf den kommt es nicht mehr an. Aber du –« »Ich habe ein Vermögen beiseitegeräumt. Es gehört Ihnen.« »Wofür?« »Was meinen Sie – wofür? Es ist Geld!« »Ich hätte jederzeit Wings Geld haben können, wenn ich gewollt hätte.« Shens Mund wurde trocken. In dem kleinen Raum hörte er das gedämpfte Toben des Taifuns. Der Bogenschütze beobachtete ihn, genoß die Situation. Shens Hand stach vor Schmerzen. Der Revolver steckte in seinem Gürtel. Er brauchte nur ... Douwe sagte leise: »Tu’s doch. Ich warte nur darauf, also tu’s ...« 170
»Und warum haben Sie das alles getan? Weil er Ihnen einen Gefallen erwiesen hat? Weil der Bruder dieses Krüppels Ihnen einen gottverdammten Gefallen getan hat? Ich dagegen biete Ihnen ein Vermögen. Haben Sie eine Ahnung, um wieviel Geld es sich handelt? Ich habe Farmers Geld und das Geld der anderen – es liegt auf Nummernkonten in Macao, und ich bin der einzige, der die Nummern kennt. Ich kann Ihnen soviel Geld geben, daß Sie –« Er bewegte die Hand in Richtung auf den Revolver, zog sie aber rasch wieder zurück. »Was, zum Teufel, wollen Sie von mir?« Der Bogenschütze lächelte jetzt wieder. Er sagte mit bewunderndem Ton: »Ja, du bist wirklich erste Klasse, und mir wird immer klarer, wie sehr ich das haben will, was du zu bieten hast.« »Aber sonst ist da nichts! Was sollte denn noch sein, außer dem Geld? Ich habe nichts als das Geld. Ich habe ein Vermögen, und es ist – was, zum Teufel, soll ich denn noch haben?« Safaris, Lager, Spuren ... Shen sagte plötzlich: »O nein ...« Sein Mund war ganz trocken, und es kam ihm so vor, als seien alle Nervenbahnen in seinem Körper auf einen Schlag wie gelähmt. Shen sagte noch einmal: »O nein, nein ...« »So ist es recht, Shen«, erwiderte Douwe, »genau wie ein Beutetier, das ich lange Zeit gejagt und auf seinem eigenen Terrain überlistet habe.« Seine Finger schlossen sich um den Pfeil, während er den Bogen nach vorn bewegte, um ihn in Position zu bringen. »Du hast richtig geraten, Shen – ich will deinen verdammten Kopf!« Und er sagte ruhig und gelassen: »Die Zeit ist da. Wenn du dein Glück mit dem Revolver versuchen willst, das ist der Augenblick.«
15 Im heulenden Orkan auf dem offenen Abstellplatz hinter dem Haus von Wing hatte Feiffer alle Mühe, aus dem schwankenden Wagen auszusteigen, der hinter dem unauffälligen Lieferwagen parkte, und er brüllte, so laut er konnte, zu Auden und Spencer hinüber: »Es ist Blut auf dem Sitz, und der Wagen ist kurzge171
schlossen. Das muß Shens Wagen sein. Er hat wahrscheinlich versucht, den Draht wieder zu befestigen. Unter dem Armaturenbrett ist überall Blut. Wahrscheinlich hat er eine Handverletzung.« Auden stand neben dem Lieferwagen und versuchte krampfhaft, die Tür gegen den Druck des Sturms offenzuhalten. Er hatte etwas in der Hand, das ihm Spencer herausgereicht hatte. Auden hielt es hoch, damit Feiffer es sehen konnte, und schrie, was man nur an seinen Mundbewegungen erkennen konnte: »Ein Pfeil!« Er hielt mit beiden Händen die Tür des Lieferwagens auf, damit Spencer herausklettern konnte, dann ließ er sie los, und sie fiel krachend ins Schloß. »Harry, der Motor des Lieferwagens ist kalt. Der Bogenschütze muß hier weggewesen sein, bevor Shen hierherkam, sonst hätte er ihn vermutlich auf der Stelle getötet.« Er blickte hoch, als die Hintertür von Wings Haus aufflog und in einer Wasserfontäne wieder zuschlug. »Tong kam noch etwas später und –« Feiffer brüllte: »Und wo, zum Teufel, sind sie jetzt?« Der Regen verstärkte sich und peitschte ihnen ins Gesicht. Es gab nur einen einzigen sicheren Ort in der Umgebung, einen Raum unter der Erde, mit soliden, über einen halben Meter dicken Mauern ... Feiffer packte Auden an den Aufschlägen, um sich festzuhalten, während ein Gießbach seine Füße unter ihm fortzureißen drohte, und schrie: »Das Revier! Sie sind beide drüben in der Polizeistation Fade Street!« Er taumelte durch Regen und Sturm, wurde von Auden und Spencer weitergeschleppt. »Wir müssen hinüber, bevor sie –« Jetzt hatte er die Hintertür von Wings Haus aufgerissen, und ein Wirbel aus Papier, Holz und allem möglichen kleineren Zeug kam ihm entgegen. Die beiden Korridortüren waren weg, und er konnte direkt durch das zersplitterte Fenster hinaussehen auf die Straße und die Einfahrt zum Polizeirevier. Die ganze Straße war ein wilder Sturzbach. Auden brüllte: »Da kommt jetzt kein Mensch hinüber. Das sieht ja aus wie die Niagarafälle.« Er flüchtete hinter die Tür, versuchte, sie zuzustoßen und rief Spencer zu: »Hilf mir mal.« Spencer starrte durch die geborstene Vordertür hinaus und schrie: »Ich kann jemanden sehen. Er ist in der Einfahrt und bewegt sich auf den Hintereingang zu.« Auden schrie Feiffer protestierend zu: »Und du hast gesagt, das 172
verdammte Fenster hält es aus!« Er tat beleidigt, während Feiffer, der seine Dienstwaffe gezogen hatte, sich durch den Korridor bewegte wie ein Mensch, der unter Wasser gegen eine starke Strömung schwimmt, und ihn anbrüllte: »Vergiß die Scheiß-Hintertür.« Auden schrie: »Du kommst da nicht hinüber. Der Taifun bläst dich bis hinüber nach China!« Spencer folgte Feiffer durch den Korridor. Auden schrie: »Was, zum Teufel, glaubt ihr denn –« Er sah, wie sich im Grau gegenüber auf dem Gehsteig, vor dem Reviergebäude, etwas bewegte, eine Gestalt, die in Schlamm gebadet und naß bis auf die Haut vorwärtshumpelte gegen den Sturm und etwas Langes an sich drückte. O’Yee! Es war O’Yee, und er war auf dem Weg zur Hintertür des Reviergebäudes! Auden schrie, was die Lungen hergaben: »Es ist der verdammte O’Yee! Und er weiß nicht, daß-« Er sah seine Flinte in einer Pfütze neben Wings umgekipptem Rollstuhl liegen, ließ die Tür los und rannte hin, um das Gewehr aufzuheben. Die Tür schlug mit einem heftigen Knall zu, eine neue Bö stieß sie wieder auf, riß sie aus den Angeln und zerschmetterte sie zu Kleinholz. Jetzt oder nie. Jetzt oder – Shen sagte: »Du verblödeter, hirnloser, primitiver Wilder!« und dachte noch einen Augenblick, bevor sich der Pfeil durch sein Herz bohrte und ihn auf der Stelle tötete, er hätte die Hand auf dem Revolver und würde ihn ziehen können, gerade noch rechtzeitig, um – Noch immer rieselten Glassplitter vom zersprungenen Schaufenster, und die Taifunstange hatte sich gelöst und schwang in der einen ihrer Halterungen hin und her wie eine Sense. Ein Stück Glas, das an der Oberkante hing, löste sich aus dem Kitt und zersplitterte zu kleinen Körnern, die durch den vorderen Raum flogen und Feiffers Gesicht, vor das er schützend einen Arm gehoben hatte, nur um Zentimeter verfehlten. Spencer stand an der geborstenen Vordertür und wurde hinausgeweht. Er schlang den Arm um den Türpfosten und zog sich wie173
der hinein. Ein Wasserschwall riß ihn um, er rutschte über den Boden, rappelte sich wieder auf, und der Orkan zog ihn erneut durch die Tür ins Freie. Feiffer wurde hin und her gestoßen von der Gewalt des Sturms. Er ging auf die Knie und suchte Schutz hinter der Fensterbank, packte Spencers Hand, sah, wie Auden in einem Schwall von Abfall und Holzteilen aus dem Korridor gerissen wurde und brüllte ihm zu: »Gib mir deine Hand!« Jetzt packte er Spencer am Arm und zog ihn wieder herein. Die Straße war ein reißender Fluß aus meterhohen Wassermassen, bedeckt von Gischt und weißen Schaumkronen. Ein Straßenschild wurde gegen einen parkenden Wagen geschmettert, schlug dessen Windschutzscheibe ein, der Wagen begann sich zu drehen, kippte um und rutschte auf dem Dach die Straße entlang. Auden, der inzwischen auch unter dem Fensterbrett Schutz gefunden hatte, schrie: »Wie, zum Teufel, kommen wir da hinüber?« Ein Schauer von Glassplittern wurde wie Schrotkugeln gegen die Wand über ihnen geschleudert. Auden schaute Feiffer vorwurfsvoll an und sagte: »Du hast gesagt, das Fenster hält!« Jetzt sah er, wie der Wagen, der noch immer durch die Straße rutschte, auseinandergerissen wurde, sich in seine Einzelteile auflöste, erst die Türen, dann die Motorhaube, und er schrie noch einmal: »Wie denn? Wie, zum Teufel, kommen wir da jemals hinüber?« Nur eines war noch geblieben: der letzte Auftrag von Wing, den zu erfüllen er ihm schuldig war, und der Bogenschütze vollendete ihn mit der Gelassenheit eines Experten. Der Wind donnerte gegen die dicken Mauern des Luftschutzraums, und während der Bogenschütze sich zu Shen hinunterbeugte, um seine Aufgabe zu erledigen, lauschte er nach draußen. Zugleich überlegte er sich einen Plan, wie er auf der dem Wind abgekehrten Seite durch den Dschungel von Einfahrten und Vordächern zur Singapore Road kommen konnte. Noch ein Pfeil war ihm geblieben, war mit zwei Gummiclips am Bogen befestigt; jetzt überprüfte er, ob er fest genug saß. Das Waidmesser, das auf dem Boden lag, hatte seinen Dienst getan; jetzt klappte er es zusammen und steckte es wieder in die 174
Tasche. Es lag noch etwas auf dem Boden, und er hob es auf, um es mitzunehmen. Von oben hörte er ein Geräusch, aber es war nur der Sturm oder einer der Ventilatoren. Er erhob sich, den Bogen in der Hand, schaute hinunter auf Shen und ging auf den Fersen nach oben, um seine Flucht vorzubereiten. Bevor er das Polizeirevier betreten hatte, hatte er sich trockene Gummiüberschuhe über die durchnäßten Stiefel gezogen, um keine Spuren zu hinterlassen. Jetzt konnte er sich damit völlig geräuschlos vorwärtsbewegen. Nur noch Tong war übrig. Er wußte, wo er ihn finden würde. Wenn er die Route über die Singapore Road nahm, konnte der Bogenschütze im Halbkreis, immer auf der Leeseite des Orkans, schnell und sicher zu Wings Hintertür gelangen. Er erreichte das obere Ende der Treppe und öffnete die Stahltür, trat hinein in den Lärm und das Chaos, die in der Polizeistation herrschten, warf einen kurzen Blick auf die nach innen gewölbten Fenster im Verhörraum, schaute noch einmal kurz hinunter zu Shens Leichnam, grinste befriedigt, drehte sich um und war bereit hinauszugehen ins Freie. An der Tür des Mannschaftsraums stand etwas Schreckliches: eine Gestalt, völlig in Schlamm gehüllt, so daß er wie ein Tarnanzug wirkte. Es war der Polizist vom Friedhof. In den Händen, auf Hüfthöhe, bereit zum Todesschuß, hatte er ein RemingtonJagdgewehr, und seine Augen waren ruhig und entschlossen. O’Yee, dem das Wasser von der Kleidung rann, stand, während das Chaos draußen längst zu einem gleichmäßigen Dröhnen in den Ohren geworden war, im Halbdunkel des Raumes und sagte mit einer Bestimmtheit, an der es nichts zu zweifeln gab: »Eine Bewegung, und ich knall’ Sie ab!« Drüben, im Haus von Wing, würde das Auge des Taifuns niemals kommen. Feiffer brüllte zu Auden hinüber: »Es nützt nichts, wir können nicht warten.« Er schaute sich verzweifelt nach etwas um, das ihm helfen könnte, die Straße zu überqueren, aber es gab nichts. Es einfach zu versuchen und sich in das wirbelnde, alle möglichen scharfen Gegenstände mit sich tragende Wasser zu werfen, wäre Selbstmord gewesen. Vom Haus lösten sich inzwi175
schen bereits größere Teile. Er sah, wie drüben am Dach des Reviers eine Reihe Ziegel hochflog und im Grau des Himmels verschwand wie ein Schwarm Raben. Das Auge des Taifuns. Wo, zum Teufel, war es? Die Fenster drüben im Reviergebäude waren bisher unversehrt geblieben, aber sie wölbten sich, waren kurz davor, zu Staub zu zerplatzen. Auden mit seinem Colt Python, den er mit den unerlaubten, mörderischen Magnumpatronen Kaliber .357 geladen hatte! Feiffer brüllte: »Phil! Deinen Revolver! Gib mir deinen Revolver!« Es gab eine Chance, wenn sie auch verschwindend gering war. Falls O’Yee da drüben war und im Schlamassel steckte ... Er sah, wie Auden zögerte. Feiffers Stimme gellte durch das Chaos: »Gib mir deinen verdammten Scheiß-Revolver!« Der Orkan hatte offensichtlich auf sich warten lassen, aber sie hatten keine Zeit mehr. Feiffer nahm den Revolver, hielt ihn mit beiden Händen fest, drückte sich, so gut er konnte, gegen den leeren Fensterrahmen und versuchte, eines der Fenster drüben einzuschießen. Spencer schrie: »Harry, ich versuche, die Straße zu überqueren, wenn du –« und Feiffer brüllte: »Halt’s Maul!«, nahm all seine Konzentration zusammen, zog den Hahn der langläufigen Waffe zurück und wartete auf den richtigen Augenblick, bis er festen Stand und festes Ziel gefunden hatte, ehe er durchzog. O’Yee brüllte: »Nein!« Er war gelähmt vor Entsetzen. Koh hatte den Pfeil in den Rücken bekommen, und der Anprall hatte ihn gegen die Wand geschleudert, daß der Verputz herunterrieselte ... Das Gewehr bewegte sich in O’Yees Händen, sein Daumen drückte gegen den Sicherheitshebel, als ob er abgebrochen wäre, die Zündnadel war bereit, sich in das Zündplättchen der Patrone zu bohren ... Es war ein Alptraum. Er konnte sich nicht bewegen. Der Bogenschütze brüllte: »Sie haben mich verfolgt, Mann. Sie sind mir nachgepirscht. Schön – hier haben Sie Ihre verdammte Trophäe!« Und damit warf er ihm etwas zu, während er den Bogen anhob. »Ich hab’ sie ihm rausgeschnitten, Mann, damit er nicht einmal 176
mehr im Himmel um Verzeihung bitten kann.« Das alles langsam, zerdehnt, wie in Zeitlupe. Der Bogen war gespannt, der Pfeil zielte auf O’Yee. »Wings Idee – keiner versteht mehr von Rache als ein Chinese!« Es war Shens Zunge. O’Yee sagte: »O mein Gott ...« Er wußte, daß er nicht den Blick vom Bogen hätte abwenden dürfen. Jetzt zielte der Pfeil auf ihn, der Bogen war voll gespannt. Der Bogenschütze schien etwas zu sagen, schien ihn auszulachen. Er brüllte über das Getöse hinweg: »Zeit zum Sterben, Mann. Zeit zum –« O’Yee hob das Gewehr an und wußte, daß er den Finger am Abzug hatte, wußte, daß er tot war, sobald sich der Pfeil in Bewegung gesetzt hatte und durch den Raum schnellte, wußte, daß ... Drüben im Haus von Wing brüllte Auden: »Um Gottes willen, schieß nicht daneben! Es ist das einzige Magnum-Geschoß, das ich geladen habe.« Und als Feiffer die Waffe abfeuerte, als das linke Seitenfenster zerplatzte, begann sich das Reviergebäude, dessen letzter Halt zerstört war, in seine Einzelteile aufzulösen. Er hatte ihn verfehlt! Ein Windstoß hatte den Pfeil erfaßt, und er hatte ihn verfehlt! O’Yee sah, wie sich der Pfeil neben ihm in die Mauer an der Vordertür gebohrt hatte, wie Glas herumwirbelte, und er dachte: »Mein Gott, er hat mich wirklich verfehlt!« Das Gewehr! Er hatte ja noch das Remington-Gewehr, und ... Aber der ganze Raum stürzte zusammen, das Dach gab unter entsetzlichem Ächzen nach, der Boden unter seinen Füßen hob sich und zerbarst in Stücke. Er fühlte, wie ihm das Haar fast vom Kopf gerissen wurde, als der Druck des Taifuns mitten im Raum zu stehen und Wände und Boden aufzulösen schien. Der Bogen hatte seine Bedrohung verloren; er sah ihn auf dem Boden liegen, sah, daß er sich drehte wie eine Kompaßnadel, alle Pfeile verschossen, und er dachte: Gewonnen! Ich habe ihn besiegt! Er blickte auf, und der Bogenschütze stand vor ihm, das Jagdmesser gezückt. O’Yee brüllte: »Ich habe dich –« und dann, im Durcheinander des explodierenden Raums, stürzte sich der noch keineswegs besiegte Bogenschütze auf ihn wie ein Tiger.
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16 Das ganze Dach war weggerissen worden, und durch die teilweise heruntergebrochene Decke strömte der Regen herein. Der Wassertank auf dem Dach war umgekippt, die Rohre und Anschlüsse herausgerissen, und der Inhalt ergoß sich auf den Boden und überschwemmte den Verhörraum wie eine Sturmflut. Der erste Stich hatte O’Yee durch sein Gummicape am linken Bizeps erwischt, und Wasser oder Blut lief ihm über den Arm und auf die Brust, als er versuchte, sich aus der tödlichen Umarmung des Bogenschützen zu lösen. Es war unmöglich, einen Menschen durch direkte Messerstiche ins Herz zu töten – O’Yee hatte einmal darüber gelesen –, weil die Rippen im Wege waren; die einzige erfolgversprechende Methode bestand darin, daß man den Stich von unten her, durch das Zwerchfell ausführte. Irgendwo hatte O’Yee auch gelesen, daß die Malaien bei ihren kriegerischen Stammesritualen nur eine Möglichkeit kannten, ein Menschenopfer durch einen Stich ins Herz zu töten: wenn es auf dem Rücken lag ... O’Yee lag ausgestreckt auf dem Boden, hielt das rechte Handgelenk des Bogenschützen umklammert und stieß es zurück, so fest er konnte, während er mit der anderen Hand nach seinem Gewehr tastete. Aber das Gewehr war weg, und der Arm des Mannes war stark wie eine Stahlschiene. Unter ihm gab der Boden nach, der durch die Arbeiten der Labortechniker ausgehöhlt worden war; O’Yee fühlte, wie er unter seinem Rücken nachgab. Eine Wasserflut überströmte ihn, bedeckte sein Gesicht. Prustend, aber noch immer die Messerhand des anderen umklammernd, drehte sich O’Yee, lockerte plötzlich den Griff um das Handgelenk des Bogenschützen, und das Messer fuhr mit dumpfem Laut wie ein geräuschgedämpfter Dampfhammer in das Holz des Bodens. Das Gesicht des Bogenschützen war zwei Zentimeter über dem seinen. Er sah, wie der Mann die Lippen zurückgezogen hatte, wie er die Zähne fletschte, sah auch, wie er erschrak, als das Messer sein Ziel verfehlte. Es war, als ob man unter Wasser kämpfte. O’Yee fühlte etwas an seiner freien Hand und hob es hoch, hielt es am Lauf, war bereit, es umzudrehen und in Schußposition zu brin178
gen. Aber es war gar nicht das Gewehr, sondern eine Fußbodenlatte. Der Bogenschütze warf sich wieder auf ihn und versuchte, das Messer aus dem Holz zu ziehen. O’Yees Hand schien an der Latte festgeklebt zu sein. Er stellte fest, daß es gar keine Fußbodenlatte war, sondern ein Stück vom Schreibtisch, solides, schweres Holz. Er wollte es hochheben, um damit ausholen zu können, aber es steckte irgendwie fest. Jetzt versuchte er, sich in der Umarmung des Bogenschützen auf die andere Seite zu rollen, um obenauf zu kommen, aber der Mann umklammerte mit der freien Hand O’Yees Kehle und war dabei, ihm die Luft abzudrücken. O’Yee hatte einmal gelesen, was passierte, wenn man einem die Hand an die Kehle gelegt hatte, wenn man zudrückte, bis die Finger gegeneinander trafen ... O’Yee fühlte, daß das Messer sich aus dem Holz gelöst hatte; jetzt ballte er die Faust und rammte sie, so fest er konnte, dem Mann an die Seite des Schädels. Es war, als ob er sie gegen eine Bowling-Kugel gehämmert hätte. Der Bogenschütze gab einen grunzenden Laut von sich, und die Finger, die sich nur kurz gelokkert hatten, verstärkten den Druck auf O’Yees Kehle. Das Getöse des Taifuns wurde zu einem gleichmäßigen Summen, und O’Yee hatte das Gefühl, als ob sein Kopf angeschwollen wäre. Das Wasser strömte ihm wieder über das Gesicht und wurde plötzlich heiß, als ihm die Schlagader am Hals abgedrückt wurde und er keine Luft mehr bekam. Wieder holte er mit der Faust aus, aber jetzt war keine Kraft mehr dahinter. Sein Revolver. Er mußte noch unter dem Mantel sein, ja, er drückte sich gegen seine Achsel, im Schulterhalfter – eine nicht zu überwindende Distanz. Wieder blitzte die Klinge des Messers auf. O’Yee merkte, daß er das Handgelenk des Bogenschützen losgelassen hatte. Das Gesicht des Angreifers verschwamm. O’Yee sah, wie das Wasser in Kaskaden von der Decke strömte, und dachte, er würde unter einem Wasserfall im Gebirge ertrinken, würde immer tiefer nach unten gestoßen, auf den schlammigen Grund. Glas splitterte und fiel zu Boden. Er hörte das Heulen des Sturms und dann einen harten Knall hinter seinem Rücken. Etwas Schweres mußte gegen die Wand geschmettert worden sein. Seine Hand ge179
riet mit etwas in Kontakt – vielleicht war es auch auf ihn gefallen. Er fühlte, wie es im Wasser dahinglitt: ein Ziegelstein! Als der Bogenschütze das Messer zückte, hatte er den Stein in der Hand, und mit letzter Anstrengung, ehe es ihm vor den Augen schwarz wurde, hämmerte er den Stein gegen den Kopf des Bogenschützen. Keine Kraft mehr ... Er hatte einfach keine Kraft mehr und war bereit ... Plötzlich merkte er, wie der schreckliche Druck an seinem Hals nachließ, wie köstliche Luft in seine Lungen drang; er war aus den Tiefen des Wasserfalls aufgetaucht und konnte wieder atmen. Und der Bogenschütze war verschwunden. Er fühlte kein Gewicht mehr auf seinem Körper. Das Summen war auch verstummt. Statt dessen vernahm er ein ungeheures, immer lauter werdendes Brüllen, als der Orkan an den Resten des Plafonds zerrte, Stück um Stück davon wegriß und wie Schrapnelle durch die Luft schleuderte. Dann plötzlich ein durchdringendes, scharfes Geräusch, als sich einer der Querbalken des Daches löste und in das dreißig Zentimeter hohe Wasser platschte wie ein Baumstamm, der in einen Fluß fiel. Er erhob sich und wurde wieder zu Boden gerissen. Der ganze Raum war ein einziges Chaos. Und der Bogenschütze war weg. O’Yee sah, daß der Schreibtisch des Verhörraums auf die Seite gekippt war und hin und her gedreht wurde. Gleich danach kamen mehrere Querbalken herab und zerschmetterten den Schreibtisch wie Sperrholz. Die Doppeltür des Vordereingangs wölbte sich und bebte, würde jeden Augenblick nachgeben. O’Yee versuchte wieder aufzustehen. Eines der Seitenfenster explodierte in den Raum und ließ einen Schauer aus Holz- und Glassplittern und Mörtel auf ihn niederrieseln. Sein Revolver. Er mußte an den Revolver kommen. Das Gummicape hatte sich um seinen Oberkörper geschlungen, und es kostete ihn unendliche Mühe, auch nur einen der Knöpfe zu öffnen. Vielleicht dauerte es nur Sekunden; ihm kam es wie eine Ewigkeit vor. Es kam ihm vor, als liege er noch auf dem Boden und versuchte, die Knöpfe zu öffnen, dabei war er auf den Beinen und wurde vom Sturm hin und her gerissen, bewegte sich jetzt in Richtung auf den Mannschaftsraum. Der Bogenschütze war verschwunden. O’Yee drehte sich um, versuchte, 180
zurückzukehren in den Verhörraum. Türen und Schränke öffneten sich, schlugen gegeneinander und zerbrachen. Er sah, wie etwas draußen auf dem Korridor, das wie ein Speer aussah, gegen die Wand geschleudert wurde – ein Besen aus der Gerätekammer. Auch der Korridor war von Wasser überspült, und eine der Zwischenwände war zusammengefallen bis auf das stählerne Skelett der Konstruktion. Ein Orkanwirbel erfaßte O’Yee und drehte ihn herum, während er noch immer am Gummicape zerrte, und er dachte: Er ist weg. Ich habe ihn verpaßt. Er ist wieder zurückgekehrt in die Berge. Die Welt rings um ihn war nur verschwommen zu erkennen, befand sich in einer ständigen Metamorphose. Er sah, wie das Wasser aus einem Loch in der Decke hereinströmte; es kam ihm vor wie ein Lavastrom. Das Gebäude brach zusammen. Er hörte wieder ein dumpfes Geräusch unter seinen Füßen, die Bodenbretter sprangen hoch und der Boden selbst öffnete sich; O’Yee drehte sich um und warf sich zurück in den Verhörraum, um nicht nach unten gezogen zu werden. Wie im Traum taumelte er vorwärts, versuchte vergebens, diese infernalischen Knöpfe zu lösen, fühlte das Gewicht des Revolvers unter der Achsel, nestelte am Cape herum, unmöglich, unerreichbar, die Qualen eines Tantalus ... Der Bogenschütze stand am Vordereingang. Er zerrte an den Riegeln, versuchte sie zu öffnen. O’Yee war bei ihm und packte ihn von hinten. Das Messer war weg; er sah, daß der Mann beide Handflächen öffnete, als O’Yee ihn zurückriß. Er verlor das Gleichgewicht und fiel rückwärts in die Wassermassen, ohne den Bogenschützen loszulassen. Der Kopf des Bogenschützen war unter Wasser, sein Tarnanzug bauschte sich wie ein Ballon und verwandelte ihn in einen sterbenden, fetten Mann. Die Hände des Bogenschützen öffneten und schlossen sich, und O’Yee, der ihn noch immer festhielt, trotz der Strömung, die sie beide fortzureißen drohte, drückte ihm den Kopf wieder unter Wasser. Er sah, wie etwas vor ihm auftauchte, einen Augenblick lang auf der Oberfläche dahintrieb und dann wieder zur Hälfte untertauchte – sein Remington-Gewehr! O’Yee ließ den Mann los und griff danach, aber es war schon weggetrieben. Seine Kraft schwand, seine Energie ließ jetzt rasch nach, das 181
Herz pochte wie wild und schien sich im Brustkorb auszudehnen, als mache es sich bereit für das Messer, für den Stich durch die undurchdringlichen Rippen. Der Bogenschütze war auf den Beinen, versuchte Halt zu gewinnen. Das Gewehr war weg. O’Yee stieß, so fest er konnte, mit dem Fuß durch das Wasser in Richtung auf den Bogenschützen und traf gegen seinen Knöchel oder seinen Stiefel, was ihn wieder zu Boden schickte. Einen Augenblick lang tauchte der Gewehrkolben auf, und O’Yee, auf Händen und Knien, machte einen Satz in die Richtung und erwischte es am Lauf. Es rutschte ihm durch die Hand, versank wieder, und er tastete unter Wasser in dem Durcheinander aus Rohren und Holz, den Resten der Ventilatoren und den Anschlüssen des Wassertanks. Er bekam das Gewehr zu fassen. Und dann war es wieder weg. Er sah den Schatten des Bogenschützen hinter sich, sah, daß er sich wieder erhoben hatte, und berührte zufällig etwas Hartes, hielt es fest: ein Rohr wahrscheinlich, ein Stück Installationsrohr. Aber es war der Lauf des Gewehrs. Zu spät holte er damit aus wie ein Baseballspieler, schleuderte dennoch den Bogenschützen zu Boden, aber der Schaft des Gewehrs krachte gegen einen Balken und zerbrach. Er sah, wie die Patronen aus dem Magazin geschleudert wurden und durch den Raum flogen. Jetzt war nur noch eine Patrone im Schloß. O’Yee zog die Überreste des Gewehrs an sich heran und versuchte, es auf den Bogenschützen zu richten, aber als er den Finger durch den Abzugsbügel stecken wollte, ertastete seine Hand nur noch verbogenes Metall. Eine Wasserwand kam von irgendwoher – eine Mauer stürzte ein – und O’Yee wurde herumgewirbelt, mußte sich an irgend etwas festhalten, um nicht unter Wasser gezogen zu werden. Er wurde einen Fluß hinuntergeschwemmt, und Holzblöcke trieben gefährlich nahe an ihm vorüber, während er sich den Wasserfällen näherte. Etwas schlug ihm gegen den Kopf: ein Felsen oder ein Balken, der an der Oberfläche trieb, und dann verfing er sich an einer Planke oder einem zur Hälfte untergegangenen Hindernis und hielt sich daran fest – das Gummicape hielt ihn fest und zog ihn unter Wasser. 182
Die hintere Mauer des Gebäudes brach wie ein Staudamm, neue Wassermassen verstärkten schäumend den Fluß und verwandelten ihn in ein tobendes Wildwasser. O’Yee wurde fortgetragen, sah vor sich eine weite offene Schwärze, eine Höhle, über die das Wasser strömte, und er dachte: die Fälle! Sein Cape zerriß und hielt ihn dennoch fest. Er fühlte, wie ein großes Stück davon abgerissen wurde und strampelte mit den Füßen wie einer, der aus einem Flugzeug fällt und vergebens versucht, irgendwo Halt zu finden. Durch die Löcher im Dach strömte der Regen auf ihn herab. Er sah den grauen Himmel, der immer näher zu kommen schien. Was von seinem Cape noch übrig war, wurde weggerissen, und er tauchte wieder unter, stieß sich ab und versuchte, sich nach oben zu drücken, als er mit zerreißendem Geräusch, das aus seinem eigenen Körper zu stammen schien, wie ein Kork auf die schreckliche Schwärze der Höhle zugetrieben wurde, wo die Gischt weiß schimmerte. Die Stahltür zum Luftschutzraum war aufgerissen, das Wasser bildete davor einen Wirbel wie vor einem Felsen, und O’Yee, dem das Cape von den Schultern gerissen war und jetzt als ein warnender Wimpel in der Mitte des überfluteten Verhörraums an einer aus dem Wasser ragenden Planke flatterte, wurde gegen die Tür geschleudert und verfing sich dort. Auch unten im Schutzraum stand das Wasser bereits einen halben Meter hoch, und die Abflüsse in den Ecken verstopften sich allmählich mit Holzsplittern, die das Wasser mit sich führte. O’Yee sah Shens Leiche, die auf dem Wasser dahintrieb, und das Blut färbte das Wasser dunkel wie Markierungsfarbe. Der Bogenschütze zerrte an Shens Gürtel, versuchte, ihn hochzuhieven. Er hatte den Kolben von Shens Revolver in der Hand und wollte ihn – eine Gestalt aus einer Illustration der Hölle im grauen Dämmerlicht – aus dem Halfter herausziehen. Draußen drückte der Taifun in einem letzten Ansturm die Vordertür ein und schmetterte sie polternd in den Korridor. Und plötzlich war das Auge des Taifuns da und alle Geräusche verstummten augenblicklich. O’Yee konnte sich nicht mehr an der Tür halten. Ein letzter Wasserstrudel packte ihn von hinten, und irgend et183
was Hartes krachte ihm gegen den Kopf. Er wurde über die Treppe hinuntergeschwemmt in den Abgrund. Feiffer brüllte immer noch. In der plötzlichen, vollkommenen Stille schrie er Auden zu: »Das ist das Auge! Jetzt haben wir eine halbe Stunde Zeit!« Zum ersten Mal, seit der Taifun tobte, konnte er das Reviergebäude deutlich sehen. »Mein Gott, da ist ja fast nichts mehr übriggeblieben!« Die Wasserflut verringerte sich rasch, und er watete hinaus, hatte immer noch Audens riesige Flinte in der Hand und schrie, so laut er konnte: »Christopher! Christopher!« Er keuchte, prustete, war auf den Beinen. O’Yee, den Revolver gezogen und auf den Kopf des Bogenschützen zielend, sagte am Ende seiner geschlagenen, geschundenen und blutenden menschlichen Natur angelangt: »Du dreckiger, stinkender, lausiger Hurensohn eines Mutterschänders, ich knall’ dich ab wie einen tollwütigen Hund!« Er fühlte, wie die Luft stoßweise durch seine geweiteten Nasenlöcher drang. Er stand über dem Jäger. »Du drekkiger, verlauster Bastard, ich blas’ dir den verdammten Schädel vom Rumpf, und dann reiß ich dir das Herz heraus und werfe es den Geiern zum Fraß vor!« Der Revolver in seiner Hand zitterte. Er legte die linke Hand um den Kolben. »Ich bin deiner Spur gefolgt, du Bastard, und ich hab’ dich angenommen, Mann gegen Mann, und vielleicht krepiere ich eines Tages an einem verdammten Herzanfall, aber dir, du mörderischer, gottverdammter Bastard, dir jage ich eine Kugel in den Pelz und laß dich liegen wie ein Stück Aas für die Geier!« Er war fast von Sinnen. Sein Schädel pochte, vor seinen Augen drehte sich alles. O’Yee brüllte: »Ich will dich haben, du Sohn einer räudigen Hündin. Dich will ich haben, dein Skalp bekommt einen Ehrenplatz in meinem Zelt.« Der Revolver zuckte in seinen Händen. Er spreizte die Beine, suchte Halt auf dem Boden, hatte Mühe, das Gesicht des Mannes deutlich im Blick zu behalten, schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu überwinden, und sagte: »Mein Gott – was ist denn los?« Er lief ab wie eine alte Uhr, kam außer Atem, begann zu schwanken. Sah, wie sich sein Feind erhob und ihm entgegentrat, und brüllte: 184
»Bring mich nicht dazu, daß ich dich abknalle! Bleib stehen, rühr dich nicht!« O’Yee, der sich am liebsten die Hände vors Gesicht geschlagen hätte, sagte vage: »Die Abrechnung, der Gnadenstoß – ich will –« Plötzlich hörte er ein lautes Klingeln in den Ohren, trotz der Stille, die rings um ihn herrschte. O’Yee sagte: »Ich will ...« »Da, nimm!« Eine Stimme. O’Yee konnte sich nicht darauf konzentrieren. Der Revolver in seiner Hand schien sich selbständig zu machen. Er wußte kaum noch, weshalb er ihn gezogen hatte. O’Yee fragte: »Was? Was soll ich nehmen?« Jemand sprach zu ihm. O’Yee fragte: »Was? Was hast du gesagt?« Blut lief ihm über das Gesicht; er nahm die linke Hand vom Revolver und drückte sie sich gegen die Schläfe, um festzustellen, ob es wirklich Blut war. O’Yee fragte wieder: »Was? Was soll ich nehmen?« Er war verwundet. Der Bogenschütze war gar nicht aufgestanden. Er war noch unten am Boden, neben Shen, und wurde von O’Yees Revolver in Schach gehalten. Und er war verletzt. Etwas in seiner Brust war gebrochen; er drückte die Hand dagegen, drückte fest, und der Schmerz trieb ihm die Farbe aus dem Gesicht, war in seinen Augen zu erkennen. Der Bogenschütze sagte: »Ich bin wie du, Mann, ein Jäger ...« O’Yee schüttelte den Kopf und erwiderte: »Nein, ich bin kein Jäger, ich bin ein –« »Nimm sie schon, Mann. Nimm deine Trophäe! Die Jagdbeute gehört dir, so nimm sie doch!« Der Bogenschütze drückte die Hand gegen die Brust, erhob sich auf die Knie und stützte sich dabei auf Shens Leichnam. »Den Kopf! Nimm ihn schon, den verdammten Schädel!« Er sah, wie O’Yee wieder ins Schwanken kam, wie sich die Hand mit dem Revolver bewegte. »Du bist genau wie ich, weißt du das? Afrika ist erledigt, aus. Das ist meine letzte Jagd. So nimm ihn schon, den verdammten Schädel. Er gehört dir!« Emily konnte die Zubereitung übernehmen – das Kochen des erlegten Wilds, und das Fell konnte verkauft werden – aber wie sollte er das Fell verkaufen, wenn Emily das Wild gekocht hatte? Natürlich, zuvor mußte ihm das Fell abgezogen werden ... 185
Und Harry war genau der richtige, der Mann, den er um sich haben wollte im Lager, und seine Frau, Nicola, eine Pharmazeutin, wäre immer von Nutzen, wenn man mal – Und die Kinder konnten in die Wälder gehen und Kräuter und Beeren – O’Yee sagte verzweifelt: »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.« »Das Töten! Du genießt doch das Töten, genau wie ich. Da, die Trophäe, der Kopf – er gehört dir.« Der Bogenschütze beugte sich über Shens Leichnam und flehte: »Um der Liebe Gottes willen, Mann, ich bin verwundet. Um der Liebe Gottes willen, tu endlich, was getan werden muß, und mach ein Ende ...« O’Yee sagte: »Nein.« »Du bist doch ein Jäger! Tu, was getan werden muß!« »Nein!« sagte O’Yee. »Ich bin ein Mann aus den – ach, verdammt, ich bin ein Polizist!« Er versuchte zu denken, versuchte, das Geräusch des Taifuns zu hören, aber er hörte nichts. »Ich bin ein –« Shens Revolver war in Reichweite des Bogenschützen. Er hatte sich lediglich mit dem Hahn im Hosenbund verfangen. Das war alles. Eine lächerliche Kleinigkeit. Der Hahn des Police Positive hatte sich in Shens Gurtband verfangen. Der Bogenschütze konnte ohne weiteres den Sicherungshebel lösen und den Lauf parallel zum Hosenbund halten, in dem er sich verfangen hatte, während er versuchte, ihn herauszuziehen. Der Bogenschütze hustete und sagte: »Männer wie du und ich, wir sind die letzten, die verstehen, was das Leben wirklich ist. Alle diese kleinen Computermäuschen und ihre kleinen Zauberkisten und Lochkarten, ihre Gesetze und Vorschriften – wir sind die einzigen, die wissen, daß es nur darum geht, die Feinde zu töten und das Wild, das man zum Fressen braucht, und –« O’Yee fühlte, daß seine Augen versagten. Er konnte nicht mehr klar sehen. Er merkte, daß sich die Hand des Mannes bewegte, aber er sah nicht, was er damit machte. Das Blut lief ihm über das Gesicht, und O’Yee dachte: Ich bin verwundet. Es ist etwas passiert, und ich bin verwundet. Er sah, daß sich die Hand des Bogenschützen auf etwas zubewegte, und befahl ihm, plötzlich wieder wachsam: »Keine Bewegung. Sie sind festgenommen. Machen Sie keine Bewegung.« O’Yee sagte in drohendem Ton: »Sie lügen. Ich 186
weiß, daß Sie mich belügen. Es ist nicht wahr. Ich bin kein – ich – ich bin ein –« Er dachte, er hätte etwas gesehen, unten, auf dem Boden, neben der Hand des Bogenschützen, und er dachte: Es ist Shen. Shen ... Sein Kopf schien zu zerspringen. Er brüllte den Bogenschützen an: »Machen Sie keine Bewegung.« Er glaubte zu hören, wie jemand ihm Vorwürfe machte – seine Frau, oder Feiffer, oder – O’Yee brüllte: »Ich bin ich. Ich habe das Recht, zu sein, was ich bin. Wenn ich der verdammte Pine Cone Pin sein will, dann bin ich es auch!« Er konnte nicht denken. Hatte den Geruch von Wasser in der Nase, von den Stromschnellen des Colorado Rivers. Er dachte: Nein, den Colorado River habe ich nie gesehen – und dann – er konnte nicht mehr denken, wußte nicht, wer er war! O’Yee sagte: »Ich bin ein –« Die Hand des Bogenschützen hatte den Hahn aus dem Stoff gelöst. Die Waffe war jetzt leicht zu bewegen. Er drehte sie und sah, daß mindestens drei Kammern geladen waren. Jetzt sagte er ruhig, fast beschwörend: »Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht sind Sie –« Der Revolver ließ sich mühelos ziehen. Der Mann, der ihn beobachtete, war in Gedanken weit weg, hatte den Blick nicht auf ihn gerichtet, sondern in eine unbekannte Ferne. Der Bogenschütze, mit einem leichten Lächeln um die Lippen, sagte leise: »Sie haben recht, Mann, Sie sind das, was Sie sein wollen.« Der Hahn schnappte zurück, mit kaum wahrnehmbarem Klicken. Der Bogenschütze lehnte sich nach hinten, um aus seiner knienden Stellung direkt ins Herz zu treffen, und sagte beruhigend: »Kein Mensch will ewig leben, oder?« Es kam zurück. Shen. Es war Shen. Und das Blut – das Blut war ... Er war ein Jäger, genau wie ... Und das Blut war – O’Yee sagte: »Nein, ich bin ein –« Nachdem er ihn getötet hatte, hatte er ihm die Zunge herausgeschnitten, als Trophäe! O’Yee sagte: »Nein! Ich bin ein –« Was, Was? Er sah, wie sich der Revolver langsam auf ihn richtete, und konnte sich an nichts mehr erinnern. Vom Reviergebäude war fast nichts mehr übriggeblieben. Die ganze Vorderfront war eingestürzt, und Feiffer, der sich durch das Chaos auf der Straße einen Weg bahnte, steckte das Gewehr 187
unter seinen Mantel, um es trocken zu halten. Spencer und Auden folgten ihm. Natürlich hatte er Angst gehabt, als Koh getötet worden war. Wer, zum Teufel, hätte da keine Angst gehabt? Und dieser verdammte, riesige, gefährliche Arkansas-Zahnstocher, das verdammte Ding tat weh, wenn man sich damit rasierte. Bei Gott, wenn man die Wahrheit eingestehen wollte: es tat verdammt weh! Was denn für Pelztiere? Man konnte keine Pelztiere mehr durch Fallen erlegen, weil es nur noch wenige Pelztiere gab, und weil sie geschützt waren und in Zoos gesteckt wurden, damit man sie noch ein letztes Mal ansehen konnte. Wie die Wale. Man konnte nicht mehr auf Walfang gehen, weil es fast keine Wale mehr gab. Menschen wie er ... Nein, man konnte nicht mehr alles mögliche töten, zum Vergnügen, weil es nicht mehr genug zum Töten gab – und Pine Cone Pin – sicher, er hatte getötet, aber vielleicht hatte er gar keinen Spaß dabei gehabt ... Nein, er hatte keinen Spaß gehabt. O’Yee erinnerte sich genau. Pine Cone Pin war mit dem Jagdgewehr aus der Wohnung gegangen, um seine Familie zu beschützen, und er hatte keinen Spaß – O’Yee brüllte aus Leibeskräften: »Ich bin nicht wie Pine Cone, der blutige Pin. Ich bin nur ein gottverdammter –« Er sah, wie sich der Revolver auf ihn richtete, wie die schwarze Mündung höher und höher kam, sah dahinter die Hand des Bogenschützen und dachte: Du hast mich belogen. Du bist ja gar nicht verwundet. Seine Gedanken rasten und entgleisten. O’Yee sagte: »Nein, ich bin ja nur –« O’Yee brüllte jedem seiner bald vierzig Jahre, jeder seiner langen Nächte zu, in denen er auf das Klopfen seines Herzens gelauscht hatte, das aller Wahrscheinlichkeit nach noch mindestens ebensolange weiterschlagen würde: »Ich bin ja nur ein verdammter, zivilisierter Mann des Friedens!« Und um es zu beweisen, während Feiffer, Auden und Spencer, auch sie Männer des Friedens und bis an die Zähne bewaffnet, hereinplatzten, zielte er sorgfältig und schleuderte den Feind wie einen Stein mitten auf den Boden, schoß O’Yee dem Bogenschützen sauber und präzise und ohne Haß zweimal auf die Kniescheiben.
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17 Solange der neue Mond am Himmel in Gestalt eines herrlichen Bogens wiederkehrt ... 4.27 Uhr. In dieser Nacht gab es keinen Mond, und die letzte menschliche Seele in der Fade Street, nachdem die Aufräumungskommandos ihre Arbeit verrichtet hatten, war ein einsamer Mann, der seinen Hund spazierenführte. In der Dunkelheit ging er einmal die ganze Straße entlang, dann, als der Hund jaulte und gestreichelt werden wollte, beugte er sich hinunter, strich ihm sachte über die Schnauze, und in Gedanken bei neuen Plänen, die ihm zukünftigen Reichtum bescheren sollten, ging der Schirmverkäufer, der keine lädierten Schirme gefunden hatte, welche man reparieren und danach wieder verkaufen konnte, ohne großes Bedauern schnell und entschlossen seiner Wege.