Jeppe Aakjær
Die Kinder des Zorns
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Als Vorlage diente: Jeppe Aakjær Die Kinder des Zorns Übertragen von Erich Holm, Pseudonym von Mathilde Prager Georg Merseburger, Leipzig, 1912
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Jeppe Aakjær Die Kinder des Zorns
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RATTEN Die Sonne stützte bereits ihr breites Kinn auf die Hügel im Westen und guckte müde und angestrengt zwischen das Laub im Garten des Sølsighofes hinein, wo der Gutsbesitzer Wollesen saß und Ratten fütterte. Dies war die Lieblingsbeschäftigung des alten Wollesen, die er bei gutem Wetter nie verabsäumte. Er saß auf einem dreibeinigen Stuhl an der Spalierwand. Zwischen den morschen Zahnstümpfen hielt er eine fettige Holzpfeife, und auf den Knien der bläulich schimmernden, verschlissenen Hose ruhte eine schwarze irdene Schüssel. Die Ratten kamen aus tiefen Löchern unter den grauen Grundsteinen hervor, dort, wo die Schweinekoben an das getünchte Hauptgebäude stießen; der üppige Klettenwald und die Dünste des Schweinestalls bildeten ein Paradies von Stank und
Dunkelheit für diese Geschöpfe, und sie betrugen sich denn auch so ungeniert, als wären sie die eigentlichen Herren auf Sølsig und alle anderen Wesen nur ihre aufwartenden Diener. Dreist wagten sie sich bis unter Wollesens gesprungene Holzschuhschnäbel und schnappten mit frecher Schnauze die Brotkrumen auf, die er ihnen aus der irdenen Schüssel zuschleuderte. Mit komischen Kapriolen erhoben sie sich auf den Hinterbeinen und klappsten einander auf das Ohr; wo eine Brotrinde ins Gras niederfiel, entstand ein wahres Getümmel von kleinen, geschmeidigen Tierkörpern, die mit erhobenen Schwänzen sich unter teuflischem Pfeifen herumbalgten, so daß die letzten linden Strahlen der sinkenden Sonne bald quer über die Rücken, bald über die weißen Bäuche hinstreiften. Der alte Wollesen saß schmunzelnd, den Geifer über die kurze Pfeife spritzend, und lachte über das Getümmel und Gehopse der besessenen Tiere. Sein Hauptspaß war, einen Brotbrocken an die Zwinge seines Eichenstockes zu stecken und ihn in Armhöhe von der Erde emporzuhalten. Da begann alsbald ein Schnappen nach dem Kloß, über das sich auch andere als Wollesen hätten kranklachen können. Die gefräßigen Geschöpfe sprangen immer aufs neue in die Höhe, um den lockenden Köder zu erhaschen, fielen aber stets wieder enttäuscht auf den Rücken ins Gras nieder; hier rächten sie sich, indem sie ihre
Nachbarn aufs Ohr schlugen oder sich gegenseitig Haarbüschel aus den Pelzen rissen. Auf einmal kommt ein alter dicker Staatsrat aus der Schar der Ratten hervorgewatschelt und nähert sich Wollesen. In einem Nu hat das Tier den Sessel erklettert; mit grünschillernden Augen und einem nervösen Zittern der Schnauzhaare duckt es sich über Wollesens Knie, setzt von da mit keckem Sprunge auf seinen Arm, läuft an dem vorgestreckten Stock dahin, nimmt das Brot in die Schnauze und läßt sich dann dumpf aufklatschend ins Gras zurückplumpsen. Die andern begrüßen diesen wohlgelungenen Versuch mit infernalischem Geheul. Plötzlich stürzt die ganze Rattenschar über Hals und Kopf unter die Kletten hinein … Wollesen dreht langsam und verdrießlich wie ein alter Uhu sein sonnvertrocknetes Runzelgesicht dem Eingangsgatter zu, wo gleich darauf ein ältlicher hagerer Mann mit großer Nase und rotem Backenbart hinter den Johannisbeersträuchern zum Vorschein kommt. Er tritt vor Wollesen, macht eine grüßende Bewegung mit dem gekrümmten Zeigefinger nach dem rechten Ohr und ruft mit lauter Stimme: »Guten Abend, Wollesen!« Es ist der Gemeindevorsteher und Armenrat Hans Nielsen aus Runge. Er stützt sich auf seinen dicken Rohrstock und fährt dann fort: »Wird wohl am besten sein, ich rück gleich mit meinem Geschäft heraus;
ich hab mir erlauben wollen, mit Euch wegen der verdammten Schusterleut bei uns drunten zu sprechen, für die sich die Gemeinde gewissermaßen bei Euch zu bedanken hat.« »He, he, he!« lacht Wollesen, schleudert die in der Schüssel noch übrigen Brotrinden unter die Kletten und wischt sich mit der Handwurzel einen großen hellen Tropfen unter den Nasenflügeln weg. »Ja, Ihr habt, meiner Seel, gut lachen, jetzt, wo Ihr draußen seid,« fuhr Hans Nielsen fort, »aber, wie ich sag, das verteufelte Schustervolk wird noch den ganzen Gemeinderat auseinander bringen. Und was einen am allermeisten fuchst, das ist das Gerede, das unter den Leuten jetzt umgeht, wir in Runge hätten uns von Euch hier in Skejby nur zum Narren halten lassen, und an der ganzen Bescherung war nur unsre dumme Gutmütigkeit schuld.« »He, he, he!« kicherte Wollesen und blinzelte, die Wange auf den Stockgriff gestützt, den Armenpfleger mit unverhohlenem Spott an. Das reizte diesen offenbar, und gewissermaßen um den andern zu entwaffnen, warf er hin: »Jetzt soll’s also zum Prozeß kommen. Da wird sich ja zeigen, was dann geschieht.« »Prozeß! mit wem?« fragte Wollesen, ernst geworden. »Mit dem Skejbyer Gemeinderat natürlich.« »Ih der Daus! So versucht nur Euer Glück! Gut, daß man draußen ist aus dem Spiel!«
»Na, gar zu stark braucht Ihr Euch nicht drauf zu verlassen, daß es an Eurer Tür vorbeigehen wird, Wollesen; denn – wenn ich mich recht entsinn – so wäret Ihrs doch, der in Skejby Gemeindevorsteher war, damals, wie der Handel geschlossen worden ist. Wenn’s also irgendwen gibt, der da Bescheid weiß, so müßt, sollt einer meinen, Ihr das sein!« »Ach, papperlapapp, Hans Nielsen! Wie soll ich alter Mann mich vorn und hinten an die ganze weitläufige Geschichte erinnern? Ich finde mich nicht einmal mehr in meinen eigenen Sachen zurecht, wie dann erst in andern? Ich weiß nur so viel, wir sind die Ann-Marie Kjærsgaard auf ehrliche Weise los worden und ihre Brut obendrein, und das war, meiner Treu, eine Wohltat für unsre Gemeinde.« »Na, Wollesen, gar so heilig tun, das steht einem so estimierten Mann, wie Ihr seid, wahrhaftig nicht an,« sagte nun Hans Nielsen und trat näher. »Übrigens, was ich zu wissen brauch, das weiß ich so ziemlich. Der tolle Küster hat mir alles gesagt.« »Sørensen? Der Tropf der?« erwiderte Wollesen und spuckte verächtlich ins Rhabarberbeet. »Ja, na ja! jetzt ist es freilich nicht mehr weit her mit ihm. Aber in früheren guten Tagen, wo er sich noch nicht um seinen Verstand gesoffen hatte, da hat einer früh aufstehen müssen, um es mit ihm aufzunehmen, da hat er sich nicht leicht ein X für ein U vormachen lassen. Auf dem Hund ist er jetzt wohl,
der Sørensen, aber laßt gut sein, ein Narr ist er noch lange nicht, und wenn er was sagt, so ist immer noch was Wahres dran.« »Na, was hat er denn also über die Schuhmacherfamilie gesagt?« fragte Wollesen, Hans Nielsen mit gesenkter Stirn fixierend. »Er hat gesagt, daß die Skejbyer Gemeinde dem Schuster eintausend Reichstaler aufgezählt hat, dafür, daß er die Ann-Marie Kjærsgaard heiratet.« »Das ist, kreuzschwerenot, eine Lüge!« rief Wollesen. »Kein Heller mehr ist ihm zu meiner Zeit ausgezahlt worden als siebenhundert.« »Also weniger war’s? Na ja, aber auf die Summe kommt’s eigentlich auch gar nicht an, sondern daß ihm überhaupt Geld gegeben worden ist; und darauf hab ich jetzt Euer eigenes Wort.« »Was ich über die Sache gesagt habe, dabei bleib ich auch!« rief Wollesen purpurrot. »Ja, ja! Ich estimiere Euch zuviel, als daß ich was andres glauben sollte. Und warum denn auch nicht? Da wir nun einmal dabei sind, sagt mir nur, wie ist denn das Ganze zugegangen?« »Wie’s zugegangen ist? Kreuzschwerenot, ganz einfach ist’s zugegangen. Aber wie ich sage, ich bin ein alter Mann.« »Ach, Unsinn! Ihr werdet mir doch nicht einreden wollen, daß Ihr schon kindisch zu werden anfangt.«
»Na ja, versteht sich, ich kann’s meinetwegen auch erzählen, denn es ist ja nichts, dessen man sich zu schämen braucht; was da geschehen ist, war eine wahre Wohltat für Skejby, und am End muß ein jedes auf das Seine schauen. – Seht, die Ann-Marie Kjærsgaard, von der die Rede ist, die ist ja ihr Lebtag ein rechter Ausbund gewesen. Selber ein Sündenkind, wie sie war, hat es ihr im Blut gelegen, und wo eine Spätzin ist, findet sich auch allemal ein Spatz. Keiner Verheirateten hat die Ann-Marie in dem Stück was nachgeben wollen. Wo eine andre ein Kind gekriegt hat, da hat sie’s nicht ruhen lassen, ist heimgegangen und hat zwei kriegen müssen. So ein Weibsbild ist doch, kreuzschwerenot, ’ne Last für eine Gemeinde. Sie hat den Jux gehabt, und die Gemeinde hat die Zeche zahlen können. Und wollte man dann einmal ein Wort mit ihr reden, kreuzschwerenot, was hat einem die für ein Maul angehängt! Der einzige, der noch imstande war, ihr das Wasser in die Augen zu treiben, war, meiner Treu, der alte Pastor.« »Und der Küster, der nicht?« schaltete Hans Nielsen ein. »Der Sørensen? O jemineh! Der war schon der Rechte gewesen! Weiß doch ein jedes Kind, daß er vom ersten der Vater ist. – Na, wie sie dann bei Nummer fünf angelangt war, da sag’ ich – ich war ja dazumal der Gemeindevorsteher –: das, sag’ ich, kann bei Gott nicht so fortgehen. Dies Jahr kommt
sie mit einem, das nächste Jahr können’s ihrer zwei sein; sie kostet die Gemeinde bald allein soviel wie ein halbes Armenhaus. Aber, sag’ ich, wenn ihr mich machen laßt, da wollen wir, kreuzschwerenot, doch einmal sehen, ob ich dem Spiel nicht ein Ende mache. Na, man hat mir natürlich freie Hand gelassen, das versteht sich, und schon die ganze Zeit hab ich ein Aug auf den lahmen Schuhmacher gehabt, der in die Ann-Marie bis über die Ohren verschossen war, und weil er auch nicht aus dem Sprengel, sondern drüben bei Euch daheim ist, denk ich mir, der könnt justament der Ann-Marie zu Gesicht stehen. Gehabt hat er nichts, natürlich, daß er sich einen Hausstand hätt’ gründen können, aber zuzeiten war er, weiß der Himmel, ein ganz tüchtiger Mensch, solang ihn noch der Branntwein nicht untergekriegt hat, und von der Gemeinde hat er damals auch noch nichts bekommen. Na also, kurz und gut, ich laß verlauten, daß ich mit dem Burschen unter vier Augen was zu sprechen hätt’. Da war ja weiter nichts dabei. Kommt er also, und wie er dann an meinem Tisch bei Schnaps und Brot gemütlich dasitzt, so sag ich zu ihm: Hör, Schuhmacher, sag ich, du solltest meiner Treu zum Heiraten schauen … Ja, das ist wahrhaftig meine Meinung, sag ich. Bist ja ein ganz schmucker, kapitaler Kerl. Und da hab ich auch nicht gelogen, er hat damals ganz reputierlich ausgesehen, wenn man sich
nur nicht grad an den Fußschaden hat halten wollen. Na, ich schenk ihm noch eins ein und sag noch einmal: Heiraten sollst, Schuhmacher! Die Ann-Marie Kjærsgaard sollst nehmen, gehst ihr ja schon lang nach. Ja, meint er, er tät’s nicht leugnen, daß er sie hin und wieder schon im Sinn gehabt hätt’, aber es wären, dächte er, doch hübsch viel Kinder da. gleich von vornherein. Unsinn, sag ich, was dir das nicht verschlägt! Aber sei’s drum, Schuhmacher, sag ich, nimmst du die Ann-Marie Kjærsgaard und nimmst du sie bald, so sollst, kreuzschwerenot, einhundert Reichstaler für jeden Bankert haben und zweihundert extra für deine eigene Person. Der Schuster macht große Augen und fragt, von wo er denn das Geld herkriegen soll. Das kann dir doch so ziemlich gleich sein, von wo es herkommt, sag ich, und schenk ihm noch eins ein. Bin dir für das Geld doch wohl noch gut? Kurzum, der Schuhmacher und ich sind schließlich über die Sache einig worden, und er und das Weibsbild auch; und den nächsten Sommer ist die Ann-Marie mitsamt ihrer Menage nach der Runger Gemeinde überführt worden. Und wie der letzte Balg auf den Wagen aufgeladen ist und die Pferde anziehen, sagt einer von den Vordersten aus der Gemeinde: Jetzt hätten wir uns bei Gott eine Bowle Punsch verdient. Und so haben wir uns dann alle miteinander einen recht fidelen Abend angetan.«
MENSCHENHANDEL »Morten! Komm runter vom Boden! Hau mir den Per durch!« scholl Ann-Marie Kjærsgaards schrille Stimme aus der offenen Halbtür der Armenkate der Gemeinde. Ann-Marie stand an der Bodenstiege, und ihre grünen Augen schauten zum Schuhmacher auf, der in die Höhe geklettert war, um ein Bund Heu für die Ziege herunterzulassen. Morten ließ sich nicht stören, sondern machte sich weiter mit seinem Heu zu schaffen. »Hörst nicht, was man dir sagt, du Schlafmütze du!« fuhr Ann-Marie fort, erregt mit den verschwollenen Händen fuchtelnd, die gleich ihrem zurückgeschlagenen Rock von Lauge und Seifenschaum trieften. »Halt’s Maul, Alte, und halt dir sie selber in Ordnung, deine Rangen, die mich nichts angehen,« antwortete der Schuhmacher.
»Da hör mal einer, wie er sich das Maul auswaschen kann, der hinkende Teufel,« gab Ann-Marie zurück. »Möcht deiner Ehre wohl nicht zu nahe gehen, wenn du dich des Großen dann und wann annehmen tätest; seine Unnützigkeit wächst einem schon rein über den Kopf. Da steht er und lernt und lernt und vergißt ganz, was er unter den Händen hat. Gestern schmeißt er die Wiege mit der Kleinsten um, und heut, wo man ihn hinstellt, den Brei umzurühren, läßt er’s ganze Essen anbrennen.« Der Urheber so vieler Schändlichkeiten, der elfjährige Per, stand indessen am offenen Herd und lauschte gespannt auf den Ausgang dieser Verhandlung. Als er nun den schweren Klumpfuß des Schusters die Bodentreppe herunterhumpeln hörte, verzog sich sein Gesicht, und die Schattenstriche, die sich hineinzeichneten, gingen, je näher die Gefahr kam, in tiefe Furchen über, die im Nu voll Wasser standen. Per hatte bisher nach besten Kräften den widerhaarigen Brei in dem großen Hafen umgerührt und dabei ab und zu einen Blick in etliche fettige Blätter eines zerrissenen Buches geworfen. Doch da die klumpfüßige Gerechtigkeit ihm näher auf den Leib rückte, erschien ihm die Situation so beunruhigend, daß er den Kochlöffel resolut fahren ließ und laut jammernd Deckung in der Torfecke unter dem Küchentisch suchte. Als der Schuhmacher über die Türschwelle humpelte, stieg die überkochende Grütze von allen
Seiten zum Hafenrand auf, von wo sie in siedenden Kaskaden über die Torfglut niederschoß. »Ach, Herr Jesu Christ, verdient er jetzt nicht die ärgste Tracht Prügel, die nur auf seinem Buckel Platz hat, der verdammte Nichtsnutz!« schrie AnnMarie, die dem Manne auf den Fersen folgte, und stürzte zum Herd hin, um die auf wallenden Reste der Grütze zu retten. Im Vorbeischießen versetzte sie dem Schuhmacher unversehens einen Tritt auf das Schienbein seines Klumpfußes, woraus sich ein heftiges Gezänk entspann, das mit einer regelrechten Schlägerei endete. Ann-Maries Gekreisch und Wutgeschrei erfüllten das Haus. Während die beiden erbosten Eheleute einander in den Haaren lagen und, umhüllt von den Dämpfen, die aus dem brodelnden Grützekessel aufstiegen, ihren Hexentanz aufführten, nahm der kleine Per die Gelegenheit wahr, sich aus dem Staub zu machen und durch die Waschhaustür hinauszuschlüpfen. Mit leichtem Herzklopfen stand er nun draußen an der Hausecke, halb von einer großen Klette gedeckt, und lauschte dem Schlachtgetümmel drinnen im Hause. Die Mutter sprang und kreischte, der Vater schlug den Takt mit dem Klumpfuß. Wenn ihr Getrampel sich dem Ausgang näherte, horchte Per mit weitgeöffneten Lippen, bereit, sich unter den schützenden Schild der Klette sinken zu lassen. Als der letzte Stuhl in der Hütte umgestürzt war, kehrten
die Geister des Friedens zögernd zurück. Per fand es jedoch für geratener und angemessener, noch eine Weile hinter dem Klettenversteck zu warten; er vertrieb sich die Zeit damit, den Kalk von der Wand zu kratzen oder kleine Käfer unter den hierher geworfenen Ziegelstücken zu suchen. Wie Per so dastand und halb widerstrebend den unter dem Vordach hintreibenden brenzligen Breiduft einsog, kam eine kräftige, breitschultrige Mannsperson, einen großen Kramkasten auf dem Rücken und einen kleinen, zottigen roten Hund auf den Fersen, des Wegs einhergetrabt. Als er an dem Knaben vorbeikam, blieb er stehen und sagte: »Du kleiner Taugenichts, sind deine Eltern daheim?« »Ja, sie sind drin.« »Was machen sie denn?« »Raufen.« »Raufen? So, raufen?« lachte der Ankömmling, »na, wird ihnen wenigstens warm dabei. Schauen wir aber doch einmal bei der Tür hinein, ob sie sich noch in der Arbeit haben.« »Guten Tag und Gottes Segen!« scholl unmittelbar darauf Kræn Lybskers Baß durch die niedere Haustür. »Kein Geschäft für den Krämer heut? Zwirn! Heftel! Waschseife! Litzen! Knopflochseide! Nähnadeln!«
Kresten schüttelte einen gewaltigen Haufen verlokkender Dinge auf den Tisch hin. »Und da wären dann auch noch verschiedene Schnurrpfeifereien!« Damit deutete er auf einige besonders verführerische Waren, wie Messer, Frisierkämme und farbige Taschentücher mit Bildern des Kronprinzen und der Schlacht bei Fredericia. »Nein, gar nichts brauchen wir,« sagte Ann-Marie unwirsch und schob mit der rechten Hand ihre zerzausten Haarbüschel unter das Kopftuch. »Laufst aber auch mit dem elendesten Kram herum. Von den letzten Nähnadeln, die man von dir gehabt, war eine jede hin, sowie man sie nur eingefädelt hat.« »Du hast gewiß deinen Zorn an ihnen ausgelassen, denn meine Nähnadeln, die halten sonst ein ganzes Menschenleben aus. Keine alten Fetzen oder Knochen da zum Weggeben?« setzte der Krämer hinzu. »O, Fetzen mehr als genug, wenn man sie nur so leicht entbehren könnt. Und die Knochen, die nagt der Per so fein ab, daß für ’n Krämer kaum was übrig bleibt.« »Aber einen Schluck Schnaps wird’s doch bei euch geben?« »Nein, bei Gott nicht,« beteuerte Ann-Marie Kjærsgaard. »Wo war denn bei uns je ein Tropfen Branntwein im Haus, der nicht dem Morten gleich
durch die Gurgel müßt? Schnaps, der ist gar rar bei uns.« Morten wetzte unruhig auf seiner Bankecke hin und her. »O, du sperrst dich grad auch nicht gegen einen Kümmel, wenn dir ihn nur einer spendieren mag,« warf er ein. »Also gar nichts Gebranntes habt ihr im Haus?« fuhr der Nadelkrämer fort. »Da ist’s freilich kein Wunder, daß ihr den Schnabel so hängen laßt. Na, gegen die Krankheit weiß ich noch ein Rezept.« Der Krämer spreizte den einen Rockschoß wie einen Adlerfittich aus und schielte in die fast ellentiefe Tasche hinab, aus der er triumphierend eine grüne Literflasche heraufholte. Mit einer großartigen, weitausholenden Gebärde setzte er sie dem Schuhmacher vor die Nase und sagte: »Da ist jetzt, alle Wetter, der Branntwein, rückt ihr dafür mit Bier heraus!« »Ja Bier, davon wird just ebensoviel da sein wie vom Schnaps. Aber das läßt sich am Ende doch eher beschaffen. Dem Nielsen sein Weib drunten hat uns einen Krug voll versprochen, wenn sie brauen. Wo er nur jetzt wieder hin ist, der verwünschte Nichtsnutz, der Per!« donnerte Ann-Marie Kjærsgaard zur Halbtüre hinaus. Per kam zögernden Schritts längs der Hausmauer dahergeschlichen. »Eigentlich hättest gedroschen werden sollen, daß du nimmer kriechen könntest. Aber nimm jetzt die Kruke und renn zu Nielsen hinüber, sie möchten so
gut sein und sie mit Bier anfüllen. Nimm aber deine Füße in die Hand und gib gut acht auf die Kruke, daß dir nicht die Gassenjungens drüber herfallen.« Per latschte die Straße hinab, in der Hand den gelben Krug, der an der verschlissenen Hose hin und her schlenkerte. Ann-Marie verschwand wieder in das Innere der Hütte. Während der Krämer aus der Flasche einschenkte, machte sie sich mit der Kleinsten in der Wiege zu schaffen. Auf einmal ließ sich das Trappen schwerer Stiefel draußen vor der Hütte vernehmen. Kaum daß die beiden, die sich bei der Flasche je an einer Seite des langen Tisches behaglich eingerichtet hatten, Zeit fanden, die Spuren des eben begonnenen Trinkgelages zu entfernen. Der Schuhmacher schlürfte das Glas aus und ließ es resolut in seine Hosentasche gleiten. Kræn Lybsker konnte in der Eile den Stöpsel nicht finden und ließ die beinah unberührte Flasche unverpfropft in die Innentasche hinabsinken. In diesem Augenblick sprang die Tür angelweit auf, und zwei Gestalten in zwillingsgleichen Friesröcken, der Gemeindevorsteher und Armenvater Hans Nielsen und Bertel, der reiche Eigentümer des Nørhofs, standen nebeneinander in der Türöffnung. Sie schritten in die Hütte mit jener stählernen Sicherheit der Haltung, mit der erbgesessener Besitz und festgegründeter Reichtum von alters her über die Schwelle des Armenhauses getreten sind. Sie grüßten kurz
und kühl und warfen einen hochmütigen Blick auf das Bankbrett, über das sie mit der Hand fegend hinstrichen, ehe sie sich niedersetzten. Als der Armenvorsteher seine Mütze abnahm und sie auf den Schemel legte, nahm der Schuhmacher in der Verwirrung auch die seine vom Kopf, während der Nadelkrämer nur ein wenig an dem Schirm seiner Kappe rückte, gleichsam um sich zu vergewissern, daß er sie noch aufhabe. Die beiden Neuangekommenen hatten scheinbar keine Eile. Mit großer Umständlichkeit holte der Armenvorsteher sein Pfeifengeschirr hervor und breitete es auf dem Tische aus. Als er mit dem Stopfen fertig war, warf er die Frage an den Schuhmacher hin: »Hast vielleicht ein Schwefelholz bei dir?« »Jesus ja!« sagte der Schuhmacher und fuhr mit großer Eilfertigkeit in die Hosentasche. Der Vorsteher wartete mit der Pfeife in der Hand, indes die Lippen erwartungsvoll eine Saugstellung einnahmen. Der Schuhmacher fingerte an seiner ganzen Person auf der Suche nach einem Zündholz herum. Erst holte er einen schlottrigen Lederbeutel hervor und legte ihn vor sich auf den Tisch, dann zog er aus der Hosentiefe ein altes Schnappmesser, schließlich erwischte er das Ende eines Schusterpechdrahtes, der sich immer weiter und weiter aufwikkelte.
»Na, was wird’s damit?« sagte der Vorsteher und sah ihn spöttisch an. Im selben Augenblick flog das Branntweinglas auf den Steinboden und zerschmetterte in tausend Stücke. »Na, bist schon so weit gekommen, daß du’s Branntweinglas bei dir im Sack trägst?« höhnte Hans Nielsen. »Da hast du’s wenigstens gleich zur Hand.« »Aber, Herr Jeses,« keifte die allzeit zankbereite AnnMarie Kjærsgaard, »jetzt schlägt er das einzige Glas entzwei, das noch im Haus war, der Schußbartel, der. Hättst mich nicht können die Schwefelhölzer suchen lassen?« Mit diesen Worten schleuderte Ann-Marie eine Schachtel dicht an der Nase des Schuhmachers vorbei dem Gemeindevorsteher hin. »Au, au!« schrie der Schuhmacher und bog den Kopf jäh zurück, um dem Projektil zu entgehen. Die drei andern lächelten sich hämisch zu. »Der gehört wohl auch zum Geschäft?« bemerkte nun der Nørhofer, einen Pfropfen in die Höhe haltend, auf den er sich in der Bankecke gesetzt hatte. »Ach, da ist er ja! Nur her damit, sonst könnt es schief gehen!« rief Kræn Lybsker, in die innere Rocktasche guckend. »Schau, daß du dem grünen Vogel da den Schnabel stopfst,« lachte Bertel, »sonst fängt er noch zu krähen an.«
Und da nun Kræn Lybsker die Aufmerksamkeit der beiden Bauern auf sich gezogen hatte, warf Bertel mit der ganzen Verachtung des solid Seßhaften vor dem armen Zugvogel die Bemerkung hin: »Ja, solche Leut wie du, Kresten, die haben’s gut, die können Spazierengehen und herumschlendern, wenn ein andrer bei seiner Arbeit sein muß.« »Ja, ja! schon wahr!« antwortete Kresten, »kann nicht klagen, geht mir ganz gut, bin immer wohlauf. Ein paar Heller im Beutel, einen Schnaps in der Flasche und nichts nicht, was einem zuwider war. Das ist auch eine Art Herrenleben. Aber ich möcht fast glauben, ich könnte meinen Humor auch bewahren, wenn der Nørhof mein wäre und ich alle Jahr von deinen Fünfzigtausend die Renten einstecken müßt. Aber wenn du meinst, Bertel, ich hab’s so viel besser als du, können ja tauschen? Da steht mein ganzes Hab und Gut, alles beieinander, was mein ist«; er deutete auf den Kramkasten hin: »Sollst alles haben bis auf den letzten Knopf und einen Schnaps als Leihkauf obendrein.« Er klopfte sich auf die Tasche mit der darin versenkten Buddel, an deren Hals die Bläschen perlten. »Geh zu mit dem Gerede,« schnauzte ihn Bertel an. »Du weißt viel, wie unsereins sich angreifen muß mit lauter Steuern und Abgaben.« »Ach, zahlst ja doch nur deine eignen, und so lang du nicht mehr tust, da brauchst du dich nicht groß
damit spreizen. Wie wir zwei mitsammen in der Schule waren, damaliger Zeit, kommt mir vor, warst du mir grad nicht über, wenn auch dein Vater drei Schornsteine auf seinem Hof gehabt hat. In dem Alter denkt einer nur wenig an den Geldsack, und wenn so dein Kopf hier zwischen meinen Beinen gesteckt hat, da warst bei Gott ganz klein. Da hast du manche warme Waffel erwischt! Dann ist aber die Zeit gekommen, wo es geheißen hat: ins Leben hinaus. Dein Vater hat dir einen Hof, einen schuldenfreien Hof präsentiert; der meinige aber – kaum daß er so viel gehabt hat, mir einen Stecken und ein Paar Holzschuhe mitzugeben. Na, und dann ist die Kriegszeit gekommen. Ich hab hinein und den Soldatenrock antun müssen; du hast dich losgekauft mit deines Vaters Geld. Ich hab den Schmiß da auf der einen Schulter davongetragen; sie haben dran herumgeschnitten, herumgebrannt, aber ’s ist immer gleich schlecht geblieben. Zu guter Letzt haben sie’s doch irgendwie zusammengeflickt und haben sogar – weiß der Teufel, wie das zugegangen ist – zu beweisen gewußt, daß mir der Schaden nicht weiter zu schaffen machen wird. Pension ist also keine abgefallen für den guten Kresten, aber vom Schaden – ja, davon ist noch mein Lebtag ein Erkleckliches übergeblieben. Wie ich heimgekommen bin, warst du schon ein gemachter Mann; wie hätt’s denn auch anders sein
sollen! Das Geld wachst ja unsinnig, derweil man schläft. Von einem zum andern bin ich dazumal gegangen, und förmlich gebettelt hab ich um Arbeit, um mir mein Brot zu verdienen. Hab auch bei dir vorgesprochen, zweimal noch dazu; aber wie du gehört hast, wie’s mit meiner Schulter ausschaut, da hat’s, meiner Seel, weitergehen geheißen. Für Dreschflegel und Sense war man ja nimmer solid genug mit dem Leibschaden. Na, so hab ich mich denn draußen außerm Ort eingemietet und den Kramkasten auf den Buckel genommen, und da hat man nach der Hand seinen knappen Unterhalt davon. Und jetzt sitz ich da mit meinem Karo,« schloß er und blickte sanft auf den kleinen roten zottigen Hund, der, während er sprach, zu ihm auf die Bank gesprungen war und, als er nun seinen Namen nennen hörte, ihm seine kleine feuchte Schnauze schnuppernd und lekkend in die Hand steckte. Noch einige spitzige Worte wurden zwischen den beiden Schulkameraden, die das Leben so ungleich behandelt hatte, gewechselt. Nach und nach aber ging das Gespräch doch unversehens auf das über, was die beiden Männer hergeführt hatte. »Ja also, der Prozeß da mit Skejby soll jetzt drankommen,« sagte Hans Nielsen, sich an den Schuhmacher wendend. »Du hast doch, hoffe ich, deine Kondovitten in Ordnung, Morten? Denn beim Gericht, da gibt’s
keine Ausflüchte nicht, da muß die Wahrheit heraus, ob man sie gleich bei den Rippen herausschneiden müßt. Dort steht das Wort des Gesetzes über uns allen, hoch und nieder, denn nicht vergebens traget die Obrigkeit das Schwert!« schloß er hochtrabend. »Mir ist’s, zum Teufel hinein, alles eins,« erwiderte der Schuhmacher nun plötzlich trotzig. »Was ich mich hab verlauten lassen, dabei bleib ich und stellt ihr mich vor wen ihr wollt. Siebenhundert Reichstaler, das ist, was man mir ausbezahlt hat, und der Sølsigbauer hat sie mir eingehändigt.« »Na, hör mal einer,« sagte Kræn Lybsker. »Von klein auf hat er schon mit Ochsen und jährigen Fohlen Handel getrieben, der Wollesen, aber daß er auch mit Menschen handelt, das ist, meiner Seel, das erste, was ich hör.« Der Vorsteher tat, als hätte er die beißende Bemerkung des Krämers überhört, und fuhr, zum Schuhmacher gewendet, fort: »Du sagst siebenhundert; mir kommt vor, du hättest früher tausend gesagt.« »Nein, Hans Nielsen, wie ich dir jetzt da sag: siebenhundert Reichstaler und vier Fuhren Torf vom besten, das hab ich dafür gekriegt, daß ich das Weibsbild da genommen hab.« Morten zeigte über die Schulter nach Ann-Marie hinüber.
»Ist das ’ne Lüge, was ich da sag, Ann-Marie?« – damit drehte er sich plötzlich zu seiner Frau um, die dasaß und dem Säugling die Brust gab. »Ach, laß du mich aus dem Spiel bei euren Schuftereien! Daß du dich nicht schämst, dich herzusetzen und so was zu erzählen,« erwiderte AnnMarie. Der Schuhmacher wiederholte mit einer Feierlichkeit, als stünde er bereits vor dem Angesicht des Richters: »Siebenhundert Reichstaler, das ist mein Wort; und bei meiner Seligkeit, nicht um einen roten Heller ist’s zuviel gewesen. Denn die da!« – er deutete wieder auf Ann-Marie Kjærsgaard – »war meiner Seel eine bittre Würz zum Anbeißen.« »Oh, gar so viele werden sich auch nicht drum gerissen haben, an so einen Krüppel da angehängt zu sein, daß ich nicht gut genug dazu gewesen war,« entgegnete Ann-Marie und riß der Kleinen die Brust aus dem Mund, daß sie geängstigt aufschaute. »Wenn sich eins nicht ordentlich zur Wehr setzen könnt, kein Glied möcht einem heil bleiben bei so einem Giftnickel, wie du bist.« »Na,« fuhr der Vorsteher fort, um dieser ehelichen Auseinandersetzung ein Ende zu machen, »das war doch nur das eine Anliegen, um deswillen wir hergekommen sind. Aber ich denk, wir werden auch mit dem andern ins Reine kommen. Um was sich’s handelt, ist, daß der Bertel da wen zum Viehhüten
braucht; und da hab ich mir denn gedacht, daß die Gemeinde – hm – daß die schon grad genug Ausgaben hätt für dich und die Deinigen, ob du ihm also nicht, hab ich g’meint, deinen Größten, den Per, zulassen könntest. In die letzte Klasse kommt er ohnehin, da könnt er doch schon sein Brot verdienen, der Lausbub; man muß doch in Bedacht haben, daß es aus fremder Leute Beutel geht, die Gemeindekasse also nicht auch noch für so einen Burschen herhalten kann.« »Wie ich da hör, ist der Wollesen der einzige nicht, der mit Menschen schachert,« warf Kræn Lybsker ein, der das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte. Nun drehte der Nørhof-Bertel sich rasch zum Krämer um und sagte giftig: »Heißt du das Menschenschacher, wenn ein Bursch was arbeiten soll?« »Heißt es, wie ihr Lust habt, aber wenn die Frage erlaubt ist, laßt ihr eure Kälber den Mistwagen ziehen oder die Fohlen vor den Pflug spannen? Nein, nicht einmal leiden möchtet ihr, daß sich ihnen ein Knecht auf den Rücken setzt. Weshalb verlangt ihr dann von einem Kind, was euch bei einem Vieh nicht ansteht? Und von den eignen Kindern, von denen ja auch beileib nicht; denn du, Hans Nielsen, hast ja selbst vier große Jungens, warum überläßt du dem Bertel nicht einen von ihnen?«
»Oh, meine Söhne, die werden doch wohl nicht in die Fremd dienen gehen,« versetzte der Vorsteher und drückte mit seinem Daumen die Asche heftig in den Pfeifenkopf hinunter. »Aha, da haben wir’s,« entgegnete der Krämer und schob sich mit einem raschen Ruck auf der Bank vor. »Über den Armen geht es her!« »Glaubst denn, unsre Kinder brauchen nichts zu tun?« fragte Hans Nielsen, aufgebracht über die Einmischung des Krämers. »Ja, vielleicht, für die Eltern. Aber der Arme – alle seine Arbeit muß der für andre verrichten. Ihr sagt, der kleine Bursch da kam in die oberste Klasse. Und was hat er davon? Nichts, als daß er aus der Schule herausgerissen und euch ausgeliefert wird, daß ihr mit ihm herumschaffen könnt früh und spät. Ja, wie ich sag, schandbar ist das, wie man umgeht mit so ’nem Kind.« »Du nimmst dich wahrhaftig so stark seiner an, daß man rein auf den Gedanken kommen könnt, es steckt was Extras dahinter. Aber so viel ich weiß, hat den Per der verrückte Küster auf dem Gewissen.« »Na, wenn du aus dem Loch pfeifst, mein lieber Bertel,« versetzte Kresten mit drohendem Ton, »da könntest du, dächt ich, bei dir selber anfangen. Was meinst du dazu?« fuhr er fort, sich an Ann-Marie wendend, die an der Wiege saß, den Männern zuge-
kehrt, und ungeniert bald die eine, bald die andre Brust entblößte, um das Kind trinken zu lassen. Um Ann-Marie, die ihre grünstechenden Augen aus ihrer Verschanzung hinter der Wiege auf ihn heftete, zu entwaffnen, beeilte sich Bertel zu sagen: »Ja, die Ann-Marie, die war einmal eine von den saubersten Dirnen.« »Freilich, hast mir’s damals, den Abend am Sjöruper Markt, ja auch oft genug versichert.« »Da hör nur!« rief Kresten Lybsker und klopfte Bertel herausfordernd mit dem Handrücken auf die Schulter. »Ach, zum Teufel mit dem dummen Zeug, Kresten! Ein andrer war auch nicht immer zehnlötig.« »Aber, um ein End zu machen,« wandte er sich, den Oberkörper vorbeugend, an den Schuhmacher, der während der letzten Wendung des Gesprächs mit einem seltsam einfältigen Statistenlächeln dagesessen hatte, »kann ich den Burschen von dir haben, am liebsten so bald als möglich?« »Jawohl, kannst ihn haben,« nahm Ann-Marie das Wort, »zu Haus, da verwahrlost er so noch ganz.« »Fragt sich also nur noch, was ausbedungen werden soll,« versetzte Bertel. »Die Ann-Kjestin wird’s nicht gar gern sehen, so einen Mitesser den Winter über ins Haus zu kriegen.«
»Oh, ein Mund mehr an so’nem langen Tisch,« bemerkte Ann-Marie Kjærsgaard, »der wird euch doch nicht arm essen, sollt man meinen.« »Ja, solche junge Kerls, die kommen wahrhaftig allzeit gehörig ausgehungert zum Essen, die verstehn sich, meiner Seel, aufs Einhauen.« »Möcht denn dem Jung nicht doch auch ein paar Pfennig Lohn gebühren?« meinte der Schuhmacher. »Ach, was kam dabei heraus,« wendete nun der Vorsteher ein, »wenn er gleich etliche Kronen nach Haus brächt? Die gingen bei dir an einem fidelen Abend auf.« Bei diesem Flankenangriff kehrte sich der Schuhmacher halb von der Gesellschaft ab, schneuzte lärmend über die Steinfliesen hin seine Nase und verhielt sich im übrigen schweigend. »Laßt mich einmal ein Wort dazu geben,« sagte der Nadelkrämer. »Er ist recht anstellig, der Kleine, wirst ihn in jeder Hinsicht gut brauchen können, Bertel. Gib ihm also einen Anzug zur Kirmes, ein Paar Holzschuh, wenn er seinen Platz antritt und einen Spezies zum Jahrmarkt.« »Ja freilich, was mir nicht alles aufgepelzt werden soll,« brummte Bertel. »Ist das auch der Rede wert? Laßt es ein Wort sein und schlagt ein!« »Na ja, meinetwegen, aber ausgreinen wird sie mich, die Ann-Kjestin.«
»Jetzt könnt man also den Leihkauf einschenken,« schloß der Krämer und zog wieder die Flasche hervor, »wenn ihr mein Traktement nicht verschmäht.« »Werden wir wohl besser bleiben lassen,« meinte der Vorsteher halb fragend. »Ach was, so ein kleiner Schnaps ist doch nie vom Übel,« erklärte Bertel. »Aber mit dem Glas ist’s jetzt schlimm bestellt,« sagte der Krämer, »wird nichts übrig bleiben, als aus einer Schale zu trinken; die wirst doch haben, AnnMarie?« »Ja, ’ne Schale war schon da, aber auf so noble Herren ist sie nicht berechnet.« Ann-Marie stellte eine farbige, henkellose Kaffeetasse vor Kresten hin, und er schenkte mit gesenkter Stirn vorsichtig ein. In diesem Augenblick ging die Tür des Vorhauses auf, und der kleine Per kam gerötet und abgehetzt, barfuß, den gefüllten Bierkrug hoch beim Ohr, in die Stube geschwankt. »Da haben wir’s ja, das kleine Kerlchen, auf das wir da grad eins trinken!« rief Kræn Lybsker. »Bist du aber geschickt! Wie er den großen Krug dahergeschleppt bringt! Hätt er dich denn nicht bald in den Straßengraben umgeschmissen? – Meiner Seel, sollst ein Fünförestück haben; da, kleiner Kerl, das ist Nadelgeld, ha, ha, ha! – Ja, ich seh dir’s an, es
wird noch ein tüchtiger Bursch aus dir! Geh nur hin zu deiner Mutter mit der Bierbuddel.« Per schaut verwundert diesen Mann an, der so freundlich zu ihm spricht. Der Krämer wendet sich wieder den Männern zu und sagt: »Man soll allemal ein gutes Wort für die Kinder haben. Ich kann mich’s noch aus der Zeit, wo ich selbst ein Knirps war, erinnern; durch glühendes Feuer hätt ich gehen mögen für den, der mir ein freundliches Wort gab.« Per machte immer größere Augen bei den Reden des Krämers. »Die Kleinen, die brauchen das zum Gedeihen. Freundlichkeit, daran tut’s not. Ist ganz wie mit den Blumen … Sonne! Sonne! Aber Gott bessers!« Während des Selbstgesprächs des Krämers ist des Schuhmachers kleines Mädchen auf den Boden gesetzt worden; es hat sich an die niedere Bank festgeklammert und krabbelt nun mit kleinen stoßweisen Rucken an dem Rücken des Vaters vorbei zum oberen Tischende hin. »Da – da – da!« sagt es und blickt mit geschwollenen skrofulösen Augen dem gestrengen Armenvorsteher gerade ins Gesicht. Er streift mit seinem kalten, gleichgültigen Blick den verfitzten Haarschopf und die ganze übrige ungepflegte kleine Person.
»Da – da – da!« sagt sie nochmals und patscht mit aller Kraft ihrer schmierigen Händchen auf die weiße Kappe des Armenpflegers los. »Aber, Herr Jeses … was treibst denn mit dem fremden Herrn seiner Mütze,« ruft Ann-Marie und stürzt zu dem Kinde hin. Hans Nielsen hat jedoch seine Kappe bereits gerettet; mit strammer, ärgerlicher Miene bürstet er eifrig mit seinem Rockärmel darüber hin und legt sie dann in die Ecke der Bank. Die Kleine schickt der Kappe einen mißvergnügten Blick ihrer skrofulösen Augen nach und schiebt sich weiter, die Zunge zwischen den Lippen. Die Schale hat schon ein paarmal die Runde gemacht; Hans Nielsen denkt stark an den Aufbruch. »Der da ist’s also, der zu mir kommen soll?« sagte Bertel und betrachtete abschätzend den kleinen Per. »Hast du schon von irgendwas einen Begriff?« Per zieht sich geängstigt zurück. »Beim Lernen ist er ganz brav,« sagt die Mutter. »Lernen!« schnaubt Bertel durch die Nasenlöcher, »zum Teufel mit der Lernerei! Das ist mehr zum Schaden als zum Nutzen. Nein, hat er eine Idee, wie er eine Arbeit anpacken soll?« »Weißt, ich hab dich jetzt dem Nørhof er Bertel verkauft,« wirft der Schuhmacher über seine Branntweinschale hin. Der kleine Bursche, der immer das Schlimmste gewärtig ist und den dieses kalte Wort eigentümlich
unheimlich berührt, blickt abwechselnd den gestrengen Armenpfleger und den sauertöpfischen, stierblikkenden Bertel an; es scheint ihm, daß etwas Böses über ihn beschlossen worden ist, und er bricht in hilfloses Weinen aus. Er steht mitten im Zimmer auf den Steinfliesen und läßt seine Tränen rinnen. Der Mutter wagt er sich nicht recht zu nahen, und der Vater hat ihn verkauft. »Aber was ist denn das, kleiner Per; brauchst dich nicht zu fürchten, Kindlieb!« tröstete der Krämer. »Komm her zu mir, Kleiner; will dir niemand was zuleid tun. Sollst ja nur nach dem Nørhof, das Vieh hüten! No! No!« »Was, so einen Flenner soll man da ins Haus kriegen?« sagt Bertel. »Bist du ein eigner Bub, kannst keinen Spaß verstehen?« schnauft der Schuhmacher, auf den der Branntwein des Krämers sichtlich gewirkt hat. »Ach, zu stark abgeschleppt hat er sich, und dann die fremden Leut; ist ja doch nur ein Kind,« entschuldigt der Krämer. Der kleine rote Hund leckt Pers tränenfeuchte Hände. Der Krämer fordert den Hund auf, ihm die Pfote zu geben. »Gebt euch nur die Pfoten, ihr zwei kleinen Leut, seid beide beinahe gleich struppig. Ach ja, Kinder und Tiere, die haben keinen andern Gott als Menschen; wollen die nicht gut gegen sie sein, so gnade ihnen Gott! – Wisch dir jetzt die Augen ab, Per!«
Die beiden Hofbauern haben sich nun von der Bank erhoben. Der rotbärtige Hans Nielsen fährt nochmals gleichsam automatisch mit dem Ärmel über die befleckte Sommerkappe hin. Der NørhofBertel greift nach seinem Rohrstock. Sie sind schon beinahe bei der Tür, als der Krämer sich an Bertel wendet: »In meiner Jugend war’s allemal der Brauch, dem Knecht beim Dingen ein Angeld zu geben. Ist das jetzt ganz aus der Mode?« »Na ja; das hätt ich bald vergessen!« sagte Bertel, indem er mit schiefem Mund, den Kopf zur Seite geneigt, seinen Lederbeutel hervorzog, der so tief wie ein kleiner Grützensack war. Mit komischem Nasenrümpfen und triefenden Mundwinkeln stand er lange Zeit mit beiden Daumen im Beutel herumklaubend da, ohne ein passendes Geldstück zu entdecken. »Sind lauter zu große Münzen,« murmelte er und machte Miene, die Schnur wieder um den Geldsack zu schlingen. »Kann dir ja eine wechseln; denn meine haben, bei Gott, die Krankheit nicht!« erwiderte Kresten. Bertel reichte zögernd ein Zweikronenstück hin, Kresten machte Miene, zwei Einkronenstücke hinzuschieben. »Ach, wechsle nur ordentlich!« sagte Bertel, worauf Kresten das eine Kronenstück zurück-
nahm und statt dessen ein Fünfzig- und zwei Fünfundzwanzigörestücke hinlegte. Einen Augenblick schien Bertel einen inneren Kampf mit seinem Geiz auszufechten. Seine fünf Finger tanzten wie Mücken über die vier Silbermünzen hin und her. Plötzlich griff er hastig nach einem Fünfundzwanzigörestück und reichte es Per, ohne ihn anzusehen. »Da hast du also was für dich.« Vor lauter Aufregung begann seine Nase zu tröpfeln.
DIE ARMENKATE Sobald Ann-Marie Kjærsgaard in der Kate allein geblieben war, ging sie emsig daran, Pers knappen Vorrat an Kleidern und Strümpfen nachzusehen; sie wollte doch, daß der Junge einigermaßen »rechtschaffen« in den Dienst komme. Ann-Marie war, ehe die Armut sie stumpf gemacht hatte, ein tüchtiges Frauenzimmer gewesen, das mit Nadel oder Spindel keiner nachstand. Ihr Unglück war, was der alte Pastor Rönsolt ihre bösen fleischlichen Lüste und Begierden nannte, welche Lüste eine Anzahl überschüssiger und für ihre Heimatsgemeinde äußerst unwillkommener Früchte gezeitigt hatten, von denen Per die älteste war. Den ganzen Nachmittag stand sie kaum vom Tische auf, die Schere schnitt scharf ein in die Fetzen, und die Nadel fuhr kreuz und quer durch zerrissene Fersen und Knopfösen. Gegen abend kamen zwei
kleine Mädchen aus der Schule heim und klagten über Hunger. Ann-Marie schmierte jeder ein Stück Fettbrot, nahm eine lederartig zähe, halb aufgeschnittene Rauchwurst von einem Nagel über dem Kachelofen und legte jeder der Kleinen eine einzige dünne Wurstscheibe – so groß wie ein Fünförestück – auf die äußerste Ecke des Brots. Dieser Wurstbissen war ein kleiner Appetiterreger, den es nur gab, wenn Ann-Marie ihre guten Augenblicke hatte; in der Schule nannte man diese Art belegten Brots »Armenhausfladen«; und es war immer ein köstlicher Anblick, die kleinen Finger die Wurstscheibe prüfend über das Fettbrot hin und her schieben zu sehen, während die Augen schielend gleichsam die Entfernung zwischen dem guten Bissen und den weißen Zähnen maßen. Es lag etwas vom Spiel der Katze in der Art, wie die Finger die Zähne zu verlocken suchten, doch stets damit endeten, den königlichen Himmelsbissen bis zuletzt aufzusparen. Als die beiden Kleinen das Fettbrot verzehrt hatten, kam Ann-Marie mit einer Tasse Kaffee daher; mit ihren Zähnen teilte sie ein Stück weißen Zuckers und gab jedem der kleinen Mädchen die Hälfte. Per, der unleugbar ebenfalls hungrig war – er erinnerte sich kaum eines Augenblicks in seinem Leben, wo er es nicht gewesen – bemühte sich, bei dieser Schwelgerei überlegen auszusehen. »Du kannst schon auch herkommen, Per, und dir dein Fettbrot holen,«
sagte Ann-Marie. »Man muß doch ein bißchen gut gegen dich sein, jetzt, wo man dich nur noch die kurze Zeit da hat; sonst schaust du am Ende gar nimmer heim zu uns ins Armenhaus,« fügte sie mit einer bei ihr ganz ungewohnten Milde des Tonfalls hinzu. Per sah hastig in das Gesicht der Mutter; auch die Augen schienen ihm etwas Warmes in ihrem Blick zu haben, so daß man lieber wo anders hinsah. Ann-Marie schnitt dem Per ein großes Stück Brot ab und legte zwei Wurstscheiben auf sein Stück; und wenn sie das Messer hier schon innehalten ließ, so geschah es sogar halb zögernd, um nicht der andern allergelbsten Neid zu wecken. Per bemerkte auch, daß die Mutter seinen Zucker nicht zerbiß, sondern ein ganzes unberührtes Stück auf seine Untertasse legte. Wieder nahm Ann-Marie mit großem Eifer ihr Gestichel vor, wobei sie dem Sohn, der dasaß und den warmen Kaffee aus der Untertasse schlürfte, eine lange Ermahnungsrede zu halten begann. »– – Jetzt schau nur, daß du dich so aufführst, daß man keine Klagen hört über dich, und tu immer schön, was man dich heißt. Daß du nicht das Vieh in der Hitzigkeit schlägst, sondern paß auf alles gut auf, was man dir aufträgt. – Du wirst gewiß ein gutes Essen kriegen, besser als daheim, aber vergiß nicht, immer nur auf deiner Seite zuzugreifen, und steck nicht die Finger in die Schüssel. – Wenn deine
Kleider naß geworden sind, so bitt die Frau, daß sie sie zum Trocknen hängt, und dann und wann kannst du auch einen Abstecher nach Haus machen, damit man dir die ärgsten Löcher zusammenheften kann; oft wird’s freilich kaum sein, denn die sind gar scharf auf die Arbeit auf dem Nørhof. – Und nimm nur alle deine Bücher mit und lern deine Aufgaben gut, selbst wenn du auch nicht in die Schule kommst; denn damit wird’s wohl nicht viel sein, solang das Vieh draußen auf der Weide sein kann. Und bet manchmal auch ein Vaterunser, wenn du Zeit dazu findst – – –« Per war nahe daran, im Strome der mütterlichen Ermahnungen zu ertrinken. So oft Ann-Marie die Nadel heraus zog, fiel ihr eine neue ein, die ihr ebenso unerläßlich wie die vorhergehenden dünkte. Einen Moment, da die Mutter, damit beschäftigt, bei dem schwindenden Tageslicht frischen Zwirn durch das Nadelöhr zu ziehen, zu einer kurzen Unterbrechung genötigt war, benutzte Per, um sich aus der Tür zu schleichen. Ann-Marie fuhr fort zu sticheln, selbst nachdem die Dämmerung bereits eingetreten war. Mitunter hob sie den Kopf und warf einen hastigen Blick über die Straße hin, ob der Schuhmacher nicht vor Nacht noch zurückkommen würde. – »Jetzt hat er wieder einmal Branntwein zu kosten gekriegt,« murmelte Ann-Marie Kjærsgaard, »das hat natürlich wieder
nach mehr geschmeckt. Mit so einem Menschen muß sich eins auch noch schleppen.« Die Nacht kam. Die Kinder wurden ins Bett gesteckt, Per ebenfalls. Die Mutter ging noch umher und wartete, ob der Mann nicht doch heimkäme, damit sie ihn aus den Kleidern brächte, ehe sie selbst zur Ruhe ging. Die Wartezeit wurde ihr jedoch zu lang, und sie kroch in Hemd und Unterrock ins Bett und schlief sofort ein. Per ließen die Ereignisse des Tags nicht schlafen. Mitternacht war vorüber, als der Schuhmacher, lästerlich besoffen, aber bei guter Laune, hereingetorkelt kam. Er blieb dicht an der Schwelle stehen, setzte den Klumpfuß so schwer auf die Steinfliesen, daß es klirrte, und sich mit der Hand vorwärts tastend, deklamierte er: »Da ist mein Tisch, da ist mein Schustersessel, da ist Ann-Marie, und da, glotz mich der Teufel an, bin ich! Diedel – diedel – diedeldum Diedel – diedel – diedeldum Wie ist es schön, tobt Sturm und Meer, Zu meinem Weiblein heim ich kehr!« Plötzlich vertauschte er die zärtliche Hirtenflöte mit der lärmenden Kriegsposaune, und mit furchtbarem Baß intonierte der Schuhmacher sein Lieblingslied:
»Fahr wohl, mein teures Vaterland! Nun muß ich Abschied nehmen – –« Erst jetzt wurde Ann-Marie auf die Heimkunft ihres Mannes aufmerksam. Erbittert setzte sie sich in ihrem Bette auf und sagte mit verbissenem Zorn: »Willst du die Kleine wecken, du Saufaus, daß man dann die ganze Nacht wieder wiegen kann?« Doch jetzt war der Schuhmacher taub gegen alles mit Ausnahme seiner eignen reizvollen Töne, und mannhaft legte er mit einer weiteren Strophe seines Liedes los: »Der König und Prinz Ferdinand Sind beide voller Freud seiband, So sie zum Kampf bereit Sehn unsre Tapferkeit!« Klatsch! Ann-Marie stand im Unterrock, auf nackten breiten Fußballen vor ihm und maß ihm sein volles Teil kräftiger, wohlgezielter Ohrfeigen zu. »Aber, Herr Gott, Ann-Marie, willst du einen Menschen darum schlagen, weil er lustig ist?« flennte der verkannte Sänger. »Lustig! Ja wahrhaftig, das ist die rechte Freud, die du einem ins Haus trägst! Mach lieber, daß du die Lumpen herunterkriegst.«
Es schollen keine Hirtenlieder mehr unter dem ärmlichen Dach, und die Kriegsposaune war bald von den Trompetentönen des schnarchenden Schuhmachers abgelöst. Per konnte noch immer nicht schlafen, sondern lag und erging sich in Phantasien, was ihm in seinem ersten Dienst begegnen würde. Der Nørhof lag in einer andern Gemeinde, in der Per noch nie gewesen war. Von einem Nachbarjungen hatte er gehört, daß sie auf dem Nørhof einen großen gelben Hund hätten, der schrecklich wild und bissig wäre; darauf beschränkte sich eigentlich alles, was er von seinem neuen Heim wußte. Er dachte nun daran, ob er auch dort wie hier daheim Prügel bekommen würde und auf welche Weise er sich ihnen dann entziehen könnte. Ein weiterer Gegenstand seiner Erwägungen war, ob es dort alle Tage in der Woche ein Mittagessen geben würde, wie manche behaupteten, daß es bei den Leuten auf den Bauernhöfen so der Brauch sei! Pers Ohren scholl das jedoch höchst unglaubwürdig; ob es vielleicht auch auf dem Nørhof Sitte wäre, wie bei Nielsen, wo er heute mit dem Krug gewesen, daß die Bierkufe immer gefüllt und unzugedeckt auf dem langen Tisch stand, so daß jeder frei und nach Belieben hingehen und so viel trinken konnte, als ihn gelüstete? Bei diesen und ähnlichen Vorstellungen, die alle aus Pers vernachlässigten und ausgehungerten
Organen ihre Nahrung sogen, schlichen die Stunden dahin, bis ein nächtlicher Regenschauer die Scheiben zu peitschen begann. Der Regen schlug mit solcher Heftigkeit an sie, daß Per ein Gewitter fürchtete. Aus Angst vor den Blitzen tauchte er einen Augenblick unter die übelriechende Federdecke, doch hier war nicht zu atmen. Seine zwei kleinen Schwestern lagen in einem Bette mit ihm und warfen in der starken Hitze ihre nackten schwitzenden Körperchen zwischen den Lumpen hin und her, wie Puppen, die im Begriffe sind, ihre Hüllen zu sprengen. Im Handumdrehen hatte der Regen das löchrige Dach der Hütte durchrieselt und fiel bereits an mehreren Stellen von der Decke auf sein Gesicht; bald tropfte es lebhaft in das Stroh beim Kopfkissen hinab; erst war es ein einzelner Tropfen, der sich in geziemender Entfernung von seinem Ohre hielt; aber dann kam es plötzlich auch von der anderen Seite her, und endlich zielte ein neckischer Tropfen geradeaus nach seiner Stirnlocke; da fand er es rätlich, seine Maßregeln zu treffen, er machte eine rasche Drehung und brachte seinen Kopf am Fußende des Bettes in Sicherheit. Wenn es nur nicht blitzen möchte, dachte er und bohrte sich zurecht. Allmählich wurde er ganz vertraut mit dem Regen, der auf die großen Klettenblätter jenseits der Lehmwand trommelte. Mit seinem nack-
ten Fuß suchte er im Finstern die auf das Kopfkissen fallenden Tropfen aufzufangen. Es glückte. Die kleinen Wasserbomben trafen schwer auf seinen Rist auf und zerplatzten. Ach, wie wohl tat das in dieser Hitze! Er ließ die Tropfen den ganzen Fuß besprengen und wurde von wohliger Kühle durchrieselt, so oft eine neue Hautstelle getroffen wurde. Die beiden Schwesterchen schraubten sich um und um in der schwülen Atmosphäre. Plötzlich flackerte ein Blitz über die fleckige Innenwand des Betts. In seinem blauen Schein traten aus einem rauchgeschwärzten Spiegelrahmen, der zwischen der rostigen Wollschere und einem Bündel Schusterleisten hing, die verblaßten Züge des berühmten Generals Rye hervor. Per vergaß mit eins sein Spiel mit den Tropfen und stürzte pardauz unter die Bettdecke, während ein schweres, erschreckendes Krachen sich über die geduckten Strohdächer des schlafenden Dorfes hinwälzte. Einen Augenblick später steckte Per wieder den Kopf hervor, um nach Luft zu schnappen. Er hatte die größte Lust, die Eltern zu rufen, aber den schnarchenden Schuhmacher würde keine Macht der Welt zum Bewußtsein erweckt haben, und die Mutter, die hätte ihn bloß gescholten. Plötzlich ließ sich das jämmerliche Miauen einer Katze vernehmen. Per spitzte die Ohren. Wahrscheinlich war es ihr eigner ausgehungerter
roter Kater, der zur Schlafenszeit immer sorgsam hinausgetrieben wurde, heute nacht aber vermutlich mit dem Schuhmacher wieder hereingeschlüpft war. Von Tür zu Tür schlich er und jammerte zum Steinerbarmen. Per fürchtete entsetzliche Dinge. Jetzt mußte es doch gestattet sein, um Hilfe zu rufen. »Mutter, Mutter!« rief er mit zitternder Stimme, »die Katz ist reingekommen.« Ann-Marie hörte nicht. Der Schuhmacher schnarchte wie ein Wildschwein. Die Klage der Katze wurde immer jämmerlicher. »Mutter! Mutter!« Aus lauter Eifer hatte Per sich aufgesetzt. Die Mutter stieß aus der Tiefe des Schlunds ein drohendes Knurren hervor, drehte sich halb um und ließ sich schwer wieder in die Betten fallen. Zugleich ging unter Pers Bett bei der Katze etwas los; ein erstickender Gestank schlug ihm vor die Stirn und betäubte fast seine Sinne. Wie ein Tauchentlein fuhr er abermals unter die Decke und kam nicht wieder an die Oberfläche hervor. Beim Tagesgrauen fand ihn die Mutter, den Kopf in das modrige Stroh am Fußende des Betts vergraben und die dünnen, zwei Leuchterdillen gleichenden Beine weit gespreizt zwischen den Lücken des hölzernen Bettgitters heraushängend.
DER ERSTE MEILENSTEIN Es war Hochsommerwetter an dem Tage, da Per sich aufmachte, um seinen Posten anzutreten. Schon früh am Morgen wurde er von der Mutter geweckt, die ein reines hanfleinenes Hemd auf seine Federdecke legte, daneben einen Fladen mit einer dicken Schicht Staubzucker bestreut. »Steh jetzt auf, Kind, und schau zu, daß du dich ordentlich hinter den Ohren wäschst.« Noch bevor sich Per recht aus den Federn gemacht hatte, holte Ann-Marie ein kleines Kohlenbecken hervor, das sie mit Glut anfüllte und auf den Kaminherd stellte. Per schielte finster auf diese Zurüstungen hinüber. »Komm dann daher, Per, daß man dir den Kopf nachsehen kann,« sagte Ann-Marie. Mit der größten Überwindung legte Per seinen Blondkopf in die erprobten Hände seiner Mutter.
Der schwere Staubkamm schleppte wie ein Grundnetz über den Haarboden hin. Jeder zoologischen Andeutung wurde kritisch nachgespürt, um sie dann unbarmherzig dem Flammentod auf der Glutpfanne zu überantworten. Pers Mund verzog sich nach innen und außen, je nach den wechselnden Kreuz- und Querzügen des Kamms; es schien ihm eine Ewigkeit, bis die Mutter den verfitzten Weichselzopf geglättet hatte; seine Tränen quollen zwischen Ann-Maries Fingern hervor. »Du wirst doch nicht flennen, daß man dir den Kopf rein macht? Wirst doch wie ein ordentlicher Mensch in deinen Dienst kommen wollen, mein ich?« Und als Kern ihrer Lebensweisheit fügte sie hinzu: »Denn so lang eins zu Haus ist, ist’s so ziemlich alles eins, wie dreckig es herumgeht. Aus der Armut und dem Schmutz kann man den Kopf doch nicht oben halten. Aber soll eins unter die fremden Leute hinaus, dann heißt’s aufpassen, daß sie nicht ’nen Narren aus einem machen.« Eine Stunde später stand Per reisefertig neben der Bank mit seinem kleinen Bündel Wäsche und Strümpfe im Knüpftuch. »Na, so leb also wohl, Jung, und unser Herrgott sei mit dir!« sagte Ann-Marie, doch ohne ihm die Hand zu reichen. Um ihren strengen Mund war etwas wie ein Beben, aber ihre Augen hatten sich in der Härte des Lebens des Weinens entwöhnt.
Per ließ einen umflorten Blick über die Mutter und die Stube hingleiten; hierauf kehrte er sich ohne ein Wort um und legte mit gesenktem Kopf die Hand auf die Türklinke. Er war kaum einige Schritte weit vom Hause, als er die Mutter aus dem Vorhaus rufen hörte. Höchst ungern kehrte er um; seine Tränen tropften nun in den Straßenstaub hinab. »Steck das da in deinen Sack!« sagte sie und steckte ihm ein großes Stück Gerstenzucker zu, »und schau manchmal nach Haus zu uns, wann du dich nicht damit versäumst.« Als Per den Gipfel des ersten Hügels erreicht hatte, stand Ann-Marie noch immer an der Ecke des Hauses. Bei dem Anblick der Mutter und des Giebels des ärmlichen Heims hinter ihr begannen seine Tränen aufs neue zu fließen. Er war indes nicht gar zu lange auf der Landstraße dahingewandert, als die Sonne die letzten Tränenspuren getrocknet hatte. Mit der Kindern eignen Schnellebigkeit dachte er nun nicht mehr an das Vergangene, sondern nur an das, was kommen würde. Er hatte ja jetzt die Grenzscheide überschritten zwischen den beiden Halbkugeln: Elternhaus und Fremde. Er hatte seinen Eintritt in die Welt mit einem kümmerlichen kleinen Bündel in der Hand und einem Stückchen Gerstenzucker in der Tasche bewerkstel-
ligt. Sein Blick zog weithin über Fluren, die er nie gesehen hatte, und streifte Leute und Viehherden, die er nicht kannte. Seine Aufmerksamkeit wurde insbesondere von einem Meilenstein gefesselt; er ging lange um ihn herum, um das Rätsel seines Wesens zu erforschen; ein Achter war in seine Vorderseite eingemeißelt, seine rauhe Oberfläche von Vogelschmutz bespritzt, sonst nichts. Vergebens grübelnd ging Per weiter. Seine Mutter hatte ihn gebeten, mit seinen neuen Strümpfen so viel als möglich zu sparen; er setzte sich also an dem Wegrande nieder und zog Strümpfe und Schuhe aus; beide in der Hand, trippelte er über Staub und Schmutz der Straße dahin. Eine Strecke weiter wurde er von einem Mehlwagen eingeholt, doch als dieser eben vorbei wollte, tummelte sich eine Koppel Schafe auf der Fahrbahn. Das eine der geängstigten Tiere wollte vorwärts, das andere zurück. Die Pferde waren in zu starkem Trabe, um auf der Stelle angehalten werden zu können, so daß die Schafe je auf eine Seite der Deichsel geworfen und gegen die Vorderbeine der Pferde geschleudert wurden; die mutigen Füllen bäumten sich in die Höhe. »Sakra, müssen auch grad da mitten auf der Straße die dummen Schöpsen angebunden sein,« rief der Kutscher, all seine Kraft aufbietend, um der erschreckten Fohlen Herr zu werden. Per, der
augenblicklich das Kritische der Lage erkannt hatte, warf seine Holzschuhe beiseite und ging keck unter den Bauch des nächsten Pferdes, dessen Brust bei der Berührung mit dem wolligen Kopf des Schafs bebte. Es glückte ihm durch einen kühnen Griff, bei dem die Fohlen wie auf glühenden Hufen dastanden, den Strick über die Ohren des einen Schafs herabzuziehen, wodurch auch das andere Tier aus der Verstrickung losgemacht wurde. Die Gefahr war überwunden, und Pferde und Kutscher gewannen wieder ihre frühere Gemütsruhe. »Das hab ich, meiner Seel, dir zu danken. Gut hast das gemacht, du Knirps. Die Gäule wären mit mir durchgegangen, wenn du nicht gewesen wärst. Komm, steig jetzt auf und fahr mit, daß die kleinen Füße sich eine Weile ausrasten können.« Per, der glücklich über das Lob des Mannes war, saß bald hoch oben auf einem der Kornsäcke. »Wie weit sollst denn hin, Gevatter?« »In Dienst soll ich gehn.« »Was du nicht sagst, du Kleiner!« sagte der Kutscher und drehte sich zu ihm um. »Bei wem sollst denn einstehen? Denn der ist, meiner Seel, nicht angeschmiert.« »Beim Nørhof-Bertel in Hvarre.« »Ei der Daus, nach dem Nørhof sollst? Da wärst beinah vom Wege abgekommen. Hast denn nicht dort die Schmiede liegen sehen?«
»Wohl!« Per machte schon Miene, vom Wagen abzuspringen. »Na, bleib nur auf deinem Platz, wenn du schon hier oben bist! Ich zeig dir einen andern Weg,« sagte der Kutscher. Eine Weile später fragte er: »Wo bist denn her?« »Aus der Gemeindehütte.« »Der Gemeindehütte drüben in Runge?« »Ja.« »So ist dein Vater der Schuhmacher?« »Das weiß ich nicht.« Der Kutscher sah Per mit einem unmerklichen Lächeln an: »Na, freilich nicht.« Als Per endlich vom Wagen herunter mußte, zog der Kutscher seinen Beutel hervor und sagte: »Mein Name ist Kild Pejrsen, und sollte der Nørhofer dir zu uneben werden, so könntest du ja bei mir anfragen; kann sein, ich brauch auch einen tüchtigen Hirten. Jetzt aber sollst du das dafür haben, daß du mir so gut geholfen hast, mit den Rackern fertig zu werden.« Per mußte zweimal zu dem Kutscher aufschauen, ehe er seinen eigenen Augen traute; ein ganzes rundes Zweikronenstück! So ein groß Stück Geld hätte er sich nicht träumen lassen, je zu besitzen. Glücklicher als ein Krösus schritt er nun aus. Ein leises Bedauern regte sich in ihm, daß es nicht dieser
Mann war, zu dem er in Dienst sollte, anstatt zu dem knauserigen Nørhofer. Es war etwas über die Mittagszeit, als Per das Ziel seiner Wanderung, ein wohlgebautes Gehöft inmitten eines umzäunten grünen Platzes, erreichte. Der große gelbe Hund lief ihm mit geiferndem Maul einige hundert Schritte weit vom Hause entgegen. Mit dem den Hunden eigenen Instinkt hatte die Bestie schon gewittert, daß es ein Kind armer Leute sei, das in den Nørhof eindringen wollte. Die Leute behaupteten steif und fest, daß Bertel das bissige Vieh nur halte, um Bettler und andres armes Volk vom Hofe zu verscheuchen, und nicht selten gelang es dem Hunde wirklich, einen Armen zur Umkehr zu bewegen. Jeden Schritt vorwärts mußte sich Per erkämpfen, indem er mit Stein und Stock die Bestie, der der Schaum der Wut und der gelbe Geifer durch das weiße Gebiß auf den Straßenstaub troff, zum Hof zurücktrieb. Der Nørhof lag hinter einer leichten Verschanzung von Strohschobern, Ackerwalzen, Heuwagen und aufgeworfenen Gräben. Per blieb, vom Hunde unaufhörlich angekläfft, einen Augenblick stehen, um seine Strümpfe anzuziehen. Als er damit fertig war, näherte er sich dem Tor, stark bedrückt von jenem Gefühl der Beklommenheit, das uns befällt, wenn wir das erstemal eine fremde Schwelle betreten. Noch hatte er kein andres leben-
des Wesen auf dem Hofe entdeckt als den Hund mit der schwarzen Schnauze und den blutunterlaufenen Augen, der hinter der Hausecke lauerte. Auf einmal scholl aus dem inneren Hofraum lautes Geschrei, gefolgt von wirrem Wagengerassel. »Hö! Prr! Hö! Prr! So steht’s doch, ihr Luder!« Darauf ließ sich des Nørhofers eigener unverkennbarer Brummbaß vernehmen: »So pack doch die Zügel an, wie sich’s gehört, du Saubengel, du! Wie unterstehst du dich, in drei Teufels Namen, deinen sudligen Sumpftorf mit dem Gaul zu fahren? Mußt denn ein jedes Stück, das man am Hof hat, kurz und klein schlagen? Eine Maulschelle verdienst du, daß dir die Zähne an die Scheunentür fliegen!« Per begann bei diesen Worten am ganzen Leibe zu zittern. Das war’s also, was ihm bevorstand; er dachte einen Augenblick daran, auf und davon zu rennen; aber was würde das wohl nützen? Höchstens würde er den Hund an den Fersen haben. Er wartete also, bis der ärgste Sturm sich etwas gelegt hatte, faßte sich ein Herz und trat durch das Tor. Nach wenigen Schritten auf dem Steinpflaster stieß er auf Bertel, der noch immer grimmig über den Unterknecht fluchte, weil dieser bei einem Versuche, beim Düngerhaufen mit der Mistfuhre zu wenden, die Deichsel an der Gabel gebrochen hatte. »Guten Tag!« grüßte Per sehr verzagt.
Bertel schob die Mütze aus der Stirn zurück und erwiderte: »Ja, könntest jetzt gleich auch guten Abend sagen! Kommt man um die Zeit? Haben dir deine Eltern gar soviel mitzugeben gehabt, daß sie dich nicht hätten ein paar Stunden früher weglassen können? Da stehen die Schafe schon tagelang auf dem Steinacker und warten, daß sie auf die Weide kommen; denn unsereins kann, weiß Gott, doch nicht auf allen Seiten zugleich sein, so not es auch tat bei den verdammten Tagdieben und Trampeln von Leuten, die man heutigen Tags hat.« Bei diesen Worten kehrte er sich nochmals drohend nach dem zweiten Knecht um, der drüben beim Dunghaufen sich abschwitzte und mit Mühe die Pferde an die neue Deichsel anschirrte. Wieder drehte er sich dem demütig wartenden Per zu und sagte: »Hast du vielleicht ein andres Zeug zum Anziehen, so geh und tummle dich.« »Ich hab kein andres,« versetzte Per. »Hat dir deine Mutter nichts andres mitgegeben als das eine Gewand?« »Nein.« »Was tust denn dann, wenn’s draufgeht? Bei uns trägt man seine alten Sachen zur Arbeit, denn hier heißt’s zugreifen, hier gibt’s wahrhaftig mehr als genug zu tun, mein Lieber! Willst du einen Schluck Bier haben, so geh hinein zur Ann-Kjestin; denn
Mittagessen gibt’s keins mehr für einen, der so spät nach Essenszeit daherkommt.« Darauf wendete sich Bertel wieder der Arbeit zu. Der Hund, der aus dem Benehmen seines Herrn geschlossen hatte, daß Per zu den Gästen gehörte, die einer kleinen Verwarnung bedürften, war hinter die Vorhaustür gekrochen. Als Per in den Hausflur trat und die Tür des Wohnzimmers zu öffnen versuchte, schnappte ihm Hektor mit seinen garstigen Zähnen nach der Wade, um dann scheelen Blicks, kriechend und schweifwedelnd, seinem Herrn zu nahen. Mit hellen Tränen in den Augen kam Per in die Stube. »Aber Jesses nein, ist das unser neuer Hirtenjung, der da weinend auf den Hof kommt? Was ist dir denn passiert, du?« »Der Hund hat mich ins Bein gebissen,« klagte Per mit noch heftigerem Schluchzen. »Der Hektor! Da mußt du, meiner Treu, nur selber schuld sein, Kind, denn der Hektor, der ist sonst fromm wie ein Lamm. Es muß eins nur frei auf ihn zugehen und keine Verzagtheit nicht zeigen. Du hast einen recht weiten Weg heut gemacht?« fuhr Ann-Kjestin fort. Per kam er nicht gar kurz vor; jedenfalls war es der weiteste in seinem Leben gewesen. »Da wird’s dir wohl an einem Bissen Essen nottun,« meinte Ann-Kjestin.
»Nein, nur was zu trinken soll ich kriegen, und tummeln soll ich mich, daß ich wieder hinaus zum Bauer komm.« »Ach, laß dir nur Zeit, kannst schon dein Vesperbrot essen.« Ann-Kjestin stellte eine große, dick bestrichene Brotschnitte und den Bierschoppen vor Per hin. Das linderte gar sehr die brennende Wunde am Bein. »Warst also bis jetzt noch nie in Dienst?« frug AnnKjestin. »Nein.« »Da wird’s so leicht nicht sein, wenn du noch nie eine Keule in der Hand gehabt hast. Laß dich jetzt auch nur gehörig weisen, sonst fährt unser Hausvater leicht in die Höh.« Draußen auf dem Steinpflaster begannen jetzt Berteis Holzschuhe ein unheilverkündendes Geklapper. Per warf sein Butterbrot auf den Tisch und sprang auf. »Nein, laß dir nur Zeit aufzuessen, Kind, er wird dir deswegen den Kopf nicht abreißen.« Per begann wieder aus Herzenslust zu kauen; ab und zu sprach er auch tüchtig dem gelben Bierkrug zu. Ann-Kjestin fuhr fort: »Na, von daheim – da wirst wohl auch nicht verwöhnt sein mit dem Liegen. Hier sollst du beim Großknecht schlafen, es ist besser, du legst dich nicht gar nah zu ihm hin, wenn du’s ausweichen kannst. Denn er – – – nein, nicht deswe-
gen – ich mein’ schon, er war ein reinlicher Mensch, aber er hat was zwischen den Fingern, so eine Art, die mir nicht zum besten gefallen will. Ich hab ihm grüne Seife gegeben, daß er sich damit schmiert, aber ob er’s tut, das fragt sich erst. Ich denk, es ist die gewisse Kratz, mit der so viele arg dran sind. Habt ihr bei euch zu Haus nie so was gehabt?« »Nein, ich hab nie was andres gehabt als Würmer und dann die Drüsen; in der Schule aber, da waren viele von den Jungens, die im Dienst sind, krätzig. Dann hat sie aber der Küster allemal so lang von der Schule ausbleiben heißen, bis sie’s wieder los wären; aber gut ist’s deswegen doch nicht worden,« erzählte Per, plötzlich sehr mitteilsam. »Schau, schau, haben sie deswegen aus der Schule zu Haus bleiben müssen?« sagte Ann-Kjestin gedankenvoll. »Ja, wenn du mit dem Essen soweit fertig bist, so wirst wohl zum Bertel hinaus müssen,« fügte sie hinzu, indem sie ihrer Gewohnheit nach die ausgespreizten Finger der Hand von dem einen hohen Zwillingsbusen zu dem andern hin und her bewegte. Per zog abermals seine Strümpfe aus und sah am Bein einen roten frischen Biß zweier spitzer Hundezähne. Mit den bloßen roten Füßen glitt er über die spitzen Pflastersteine, um sich bei Bertel seinen zukünftigen Wirkungskreis anweisen zu lassen.
AUF DEM NØRHOFE Pers Leben unter Bertels Dach gestaltete sich wie das aller Hirtenjungen seines Alters. Die Gründe des Hofs lagen sehr zerstreut, und da er das Hüten des Viehs so gut wie allein über hatte, so kam er niemals zur Ruhe. Von vier Uhr früh bis abends zehn, elf Uhr gab es kaum eine Sekunde – die knapp zugemessenen Essenszeiten abgerechnet – die er hätte sein nennen können. Woche und Feiertag floß für ihn in ein graues Einerlei zusammen. Selbst im stärksten Mittagssonnenbrande, wenn der Körper nach dem Essen schwer und matt war, mußte er, die schwere Tüderkeule von einer Achsel auf die andre werfend, mit den sonnverwitterten Füßen forttrippeln, während das erwachsene Gesinde des Hofs in der schattigen, kühlen Scheuneneinfahrt Siesta machte. Den letzten Bissen noch im Munde, mußte er auf und davon rennen, ja an den allerheißesten
Tagen, wenn alle die aneinandergeseilten Schafe von den dürren Weiden zu den fernen Tränken heruntergetrieben werden mußten und er todmüde von den Sümpfen heimkam, wo er Ordnung unter die von der Hitze wild gewordenen Rinder gebracht hatte, wurde ihm nur aus der Küchentür eine Brotschnitte herausgelangt mit der eindringlichen Ermahnung, doch ja endlich die Beine in die Hand zu nehmen, die Schafe auf den Steinäckern würden schon entsetzlich durstig sein. Daß auch er durstig sein dürfte nach achtstündigem unablässigem Hin- und Herrennen auf sonndurchglühten Wegen, wo der Sand und die weißen Flintsteine unter den Zehen förmlich brannten, kam nicht in Betracht. Sein Dienstherr duldete nicht, daß er auf gewöhnliche menschliche Weise gehe, er sollte immer laufen – sich womöglich die Seele aus dem Leibe laufen –, und dabei fehlte es nie an gestrenger Aufsicht aus den Fenstern oder sonstigen Gucklöchern des Hofs. »Wenn solche junge Kerls nicht sollten tüchtig umrennen können,« pflegte Bertel zu sagen, »so möcht ich wissen, wozu sie denn dann ihre dünnen Beine haben!« Bei der Heumahd mußte er mit den Erwachsenen auf die Wiesen, um hinter dem Heufuder herzurechen, und wenn die Sonne schon längst hinter den Himmelsrand gesunken war und alle andern zur Ruhe und zum Abendbrot zogen, mit seiner Keule
nochmals die Anhöhen hinauf, um die Schafe für die Nacht unterzubringen. »Hat sich eins losgerissen, so mußt du es wieder anbinden, eh du fortgehst, damit sie nicht am Ende hinausrennen und unterm Korn und den Kartoffeln Schaden machen, dieweil man schläft. Die zwei untersten Koppeln, die kannst du nach der oberen Trift hinübertreiben.« Das war wieder ein Stück Arbeit mehr am späten Abend. In Berteis Hof war nie Gesang oder muntere Rede zu hören. Berteis saure Miene genügte, um jeder noch so leisen Heiterkeit den Garaus zu machen. Es war, als stiege die Sonne niemals so recht über den First dieses Hofes empor. Viehstall und Hürde, Pferch und Koben lagen des Sommers mit halboffenen Türen und Luken da und strömten sämtlich einen erstickenden Dunst aus, der sich in der hochaufragenden, ihre Wälle anmaßend bis dicht unter den Brunnenschwengel vor der Brauerei vorschiebenden Dungstätte gleichsam verdichtete und sichtbare Form erhielt. Hier in dem dunstschwangeren Schatten der roten, langgestreckten Wirtschaftsgebäude standen Berteis schneeweiße Rinder um die Mittagsstunde, wenn sie erhitzt von den Sumpfwiesen heimgetrottet kamen. Manchmal stießen sie einander mit den glänzenden Hörnern, sahen sich aber sofort furchtsam um, um
nach Berteis breitem Rücken zu spähen. Selbst das Vieh war wie gezeichnet von dem mürrischen Wesen und der leblosen Schwere, die auf dem Hofe lastete. Bertel gehörte zu jenem Typus von Bauern, die beständig auf ihrem Hof mit einer Miene umhergehen, als wäre ihnen blutiges Unrecht zugefügt worden. Er war immer gleich verdrießlich und aufgebracht, ob ihn nun sein Weib um acht Schilling zu einem Pfund grüner Seife bat oder die Allmacht die beste seiner Mutterstuten erschlug. Seine Leute haßten ihn als den Töter ihres Glücks. Sie freuten sich innig, wenn es ihm recht schlecht erging. Als er einmal vom Heuboden herabgefallen war, drei Rippen gebrochen hatte und lange krank lag, herrschte nichts als Kichern und Befriedigung in der Kammer der Knechte. Berteis Blut floß dick und träge. Es war versauert und abgestanden wie bei Leuten, die immer daheimsitzen. Er rührte sich nie viel über den Umkreis hinaus, in dem er seinen heimischen Dunghaufen noch riechen konnte. Im täglichen Leben war es schwer, mit ihm auszukommen, er war ein Querkopf und Geizhals, dem Knauserei und Stalldunst aus allen Poren drang. Mit allen ihm nur zu Gebote stehenden Mitteln war Per anfangs bestrebt, seinem Dienstherrn zu Gefallen zu sein. Er lief unaufhörlich zwischen den zerstreut liegenden Weiden umher und richtete, so klein er war,
ebensoviel aus wie zwei andre; aber da er nie ein aufmunterndes Wort vom Hausvater zu hören bekam, im Gegenteil nicht selten Undank sein Lohn war, wurde er allmählich, wenn auch nicht gerade lässig, so doch stumpf und gleichgültig. Dazu trug einigermaßen bei, daß er eine Bekanntschaft gemacht hatte, die nicht von allergünstigstem Einfluß war. Es war das ein auf einem Nachbarhofe bediensteter Knecht – Jakob hieß er –, ein Armeleutkind wie er selbst, doch um ein paar Jahre älter, ein durch und durch abgefeimter Schelm, der sich längst zum geschworenen Feinde aller Arbeit und aller Dienstherren entwickelt hatte. Er begann damit, den jüngeren, pflichteifrigen und unerfahrenen Per ein wenig zum besten zuhaben. Einige Tage, nachdem sie sich kennengelernt hatten, kam er barhaupt auf den Acker zu Per hinüber und erzählte mit dem ernstesten Gesicht von der Welt, er habe eben einen merkwürdigen Vogel gefangen; er fürchte jedoch, seiner nicht allein habhaft werden zu können und möchte Per schön bitten, ihm zu helfen. Per, der sich keines Falschs versah und anderseits wie alle richtigen Burschen eine Portion neugierigen Entdeckerbluts in den Adern hatte, ging sofort mit zu der Stelle, wo Jakobs Kappe, mit einigen Steinen beschwert, am Boden lag. »Kann er fliegen?« frug Per.
»Ja, Herrgott, ob der fliegen kann und pfeifen auch,« sagte der durchtriebene Jakob. »Aber jetzt mußt du acht geben, daß du mit den Händen da bist, sowie ich die Mütze aufheb, und das ja gleich im selben Nu.« Pers Augen leuchteten vor Eifer und Anstelligkeit. »Bist du also auf der Hut?« rief Jakob, die Kappe in die Höhe reißend; im selben Augenblick griff Per mit den Händen bis zum Handgelenk in einen Kuhfladen. Jakob schlug Purzelbäume wie ein Wilder vor lauter Lachen. Per saß starr in bebender Wut da und schaute von Jakob auf seine besudelten Hände. Wäre ihm Jakob an Kraft nicht so überlegen gewesen, er hätte ihn mit den Händen, wie sie waren, an der Gurgel gepackt. Mehrere Tage lang mied er nun Jakobs Gesellschaft; der verschmitzte Verbrecherkandidat wußte sich indes bei dem unverdorbenen Per bald wieder einzuschmeicheln. Jakob band ihm die dicksten Lügengeschichten auf und betrog ihn beim Peitschenhandel. Insbesondere verhöhnte er ihn wegen seines allzu großen Pflichteifers gegenüber seinem Herrn. »Solche Halunken!« sagte er, »das fehlte noch, alleweil zu laufen und ihnen nach den Augen zu schauen. Sie sind nichts Bessres wert, als daß man sie hinten und vorn zum Narren hat.«
»Da schau, was ich da hab,« sagte er, zwei rohe Hühnereier aus der Jackentasche hervorziehend. »Die sind gut für den Durst.« »Wo hast du sie hergenommen?« fragte Per ernst. »Daheim, vom Gesims über der Tür. Verkaufen kann man nichts davon, sonst käm’s auf. Aber zum Essen sind sie recht gut. Willst eins davon haben?« Jakob zeigte, wie man durch einen kleinen Stich an jedem Ende des Eies dessen ganzen Inhalt mit einem Zug aussaugen konnte. Per sagte, er könne rohe Eier nicht leiden. So trank sie denn Jakob alle beide mit lautem Schmatzen und entzückten Gebärden aus und unterhielt unterdessen Per mit dem, was er daheim in der Kammer der Knechte gehört und gesehen hatte. Er verhehlte ihm nicht, was er selbst, so jung er noch war, von jenen Freuden kennen gelernt, die man in der Scheune oder auf einem Heuboden genießen kann, wenn die Sonne untergegangen ist und Finsternis die Taten der Menschen deckt. Als Jakob noch ein paar gelbe Rüben hervorzog und Per auch diese gestohlenen Leckerbissen nicht mit ihm teilen wollte, mußte er sich in einige wohlgezielte Hiebe von des erzürnten Jakobs Peitsche finden. So schieden sie auch diesmal in Zorn.
DES HÜTERJUNGEN TAGEWERK Wenn der Nørhofer des Sommers um vier Uhr morgens über das Steinpflaster zur Kammer der Knechte klapperte, um die Leute zu rufen, tat er es mit einem Gepolter, daß die Spatzen unter dem Vordach vor Schrecken auf und davon über den Dachfirst flogen. War er dann aus dem Hof in den Stall gelangt und hatte die Tür zu der Kammer der Knechte angelweit aufgerissen, hielt er täglich dieselbe Namensfolge ein: »Per! – Anders! – Laurenz!« Und mit verstärkter Stimme nochmals: »Peer!« Der kleine Per schlug seine schläfrigen Augen auf und sah den Tag mit überzeugendem Glanz durch die Stallkammerscheibe scheinen und die Tausende von baumelnden Spinngeweben vergolden, die die Gardinen und Tapeten des schmutzstarrenden Raums bildeten.
Per hätte die halbe Seligkeit dafür hingegeben, nur eine Stunde noch schlafen zu dürfen. Aber er wußte, wie vergeblich jede Bitte wäre; denn Bertel verließ nie die Türöffnung, bevor nicht Pers kupferbraune Füße auf dem Lehmboden standen. »Die Schafe auf den Weiden draußen stehen gar so kurz angebunden; es ist das beste, du gehst zuerst zu denen. Aber steck auch einen frischen Halfter ein fürs Kalb, das sich gestern mittag losgerissen hat, und schau nachher zum Sumpfboden hin, ob das Laufbrett nicht weggekommen ist – –« und noch ein halbes Dutzend ähnlicher Aufträge. »Das Frühstück kriegst du, wenn du beim Vieh überall zum Rechten geschaut hast –.« Das hieß so viel wie in drei bis vier Stunden. Den Kopf halbschlafend zwischen die schmalen Schultern gesenkt, trippelt Per bloßfüßig über Sümpfe und taubeglänzte Haferfelder. Eine regenbogenfarbige Glorie spielt im Tau um den Kopf seines langen Schattens, der vor ihm über den frischen Wiesengrund hineilt. – Welcher herrliche Morgen! würde jeder ausrufen, der von duftendem Morgenkaffee und gesundem, stärkendem Schlaf käme. Was aber bedeuten goldne Wolken und all die andre taugeborene Herrlichkeit für den, der von Schlafmangel und monatelanger Überanstrengung aufgerieben nicht einmal die Zeit findet, sein Gesicht in einem Kübel reinen Wassers zu netzen.
Per lief mit schlotternden Beinen und gewölbtem Rücken über den schwankenden Wiesengrund, wo die feinen geriffelten Grasspitzen des zweiten Schnitts ragten und ihre kleinen blanken Schwerter im Windhauch des erwachenden Morgens hin und her bewegten. Die Grauammer saß auf den Heckenpfählen und schmetterte ihre helle Reveille munterer Morgentriller in den neugeschaffenen Tag hinaus. Der niedere Porsch und die ellenlangen Sauerampferstengel schaukelten still auf der Wurzel und gössen säuerlichen Duft über die Moore hin, indes Scharen morgenhungriger Stare mit glänzenden Federn sich zwischen den Knollen tummelten. Per lief und lief mit geknickten Knien in leisen, schwanken Rucken und mit halboffenen, verklebten Augen. Erst als er über ein kleines Wasserrinnsal taumelte und der Wiesentau ihm ins Gesicht schlug, wachte er auf und sah eine weitgedehnte, mit weißen und bunten Rinderkörpern bedeckte Wiesenfläche vor sich. Ein heller Tautropfen hing funkelnd an jedem der gebogenen Hörner. Per trieb seine Rinder auf noch nicht abgeweidete Stellen und eilte dann wieder fort, die höher gelegenen Weideplätze hinan, wo die weißen Lämmer mit den gebogenen Rassenasen sich vom Pelz der’ Mutterschafe erhoben, die langen Beine streckten, den Rücken einzogen und in schlafgesättigtem Behagen den Hals zu einem Bogen spannten, um im nächsten Augenblick die Mäuler
tief in den taubesprengten Weißklee zu stecken, der mit seinen fetten Blättern und Honigkelchen lockte. Alles war hier draußen so rein und frisch und morgenfreudig, nur an ihm, dem Menschenkind, klebten Schmutz und Stallgeruch. Nur er trug den Kopf gebeugt in Verwahrlosung und Müdigkeit. Per hatte endlich die Runde gemacht und konnte von vorn beginnen; zuvor war ihm jedoch gegönnt, den Morgenimbiß zu verspeisen, den ganzen Sommer dasselbe Gericht: kalte Zentrifugalmilch und Roggenbrot. Später am Vormittag kam er zu den Kühen hin, die in langer Reihe am Saume eines reifenden Roggenfeldes standen. Sobald er den letzten Tüderpflock eingeschlagen hatte, sah er sich aufmerksam nach allen Seiten um. Nein, nirgends, weder auf den Feldern, noch auch daheim am Hof war ein Schatten von Bertel zu sehen. Ach, da möcht es für einen kleinen Jungen doch angehen, sich ein paar Minuten hier im Schatten des Roggens hinzustrekken; es war ja noch eine gute Stunde bis zu Mittag, und früher brauchten die Kühe nicht daheim zu sein; er legte sich auf den Rücken in einen Kleebusch hinein, der mitten unter dem geringelten Roggen stand. Er wollte beileibe nicht schlafen, davon war keine Rede; er wollte nur die Glieder strecken, ein klein wenig nur; denn die Schafe dort droben auf der Heide mußten ja gewässert und die drei Kuhkälber drunten am Südmoor ebenfalls weggetrieben wer-
den. – Wie wohl tat das, so frei ausgestreckt hier im duftenden Klee zu liegen; das war freilich was andres als das stinkende Lager neben dem Oberknecht. Das war aber auch ein gar grauslicher Kerl, mit dem man da zusammenliegen mußte. Oft fehlte nicht viel, daß er einen ganz über den Bettrand hinausgedrängt hätte, und wie er in der Nacht sich immer kratzte! Gott weiß, was einem selbst in der letzten Zeit zwischen die Finger gekommen war; jetzt juckte es schon wieder, merkwürdig, wie das immer juckte, wenn man dran dachte. Nein, wahrhaftig, hier war’s doch anders als zu Haus in der Stallkammer; warum man nur nicht auch in den Nächten draußen liegen konnte, wie die Ochsen, und früh mit dem Tau in den Augenwinkeln erwachen? Unten an der großen Zehe die Strippe des Wadenstutzens, die war wohl zu trocken geworden und schnitt ins Fleisch. Dem war abzuhelfen. Per bog sich hinab und zog die Strippe über die Zehe hinunter. So, das war gut. Jetzt war nur noch der kleine Kiesel da drin unter dem Schulterblatt. Er bog den Arm ein und schleuderte das Steinchen in einem großen Bogen über die nächste Kuh hinweg. Dann bohrte er sich tief hinein wie ein Häschen ins Haferlager. – Nein, die schönen, weißen Wolken, die da droben zogen. Wie langsam sie trieben, sie hatten wohl nicht viel zu tun; das sollte nur er sich unterstehen, so herumzuschlendern und die Zeit zu vergeuden, da bekäme er schön die Peitsche
des Bauers zu kosten. Schau, schau, da hatte sich die vorderste entzwei geteilt, es hätte nicht viel gefehlt und sie war ganz und gar zergangen in der Hitze; es war kein Wunder! Einen Riß hat sie bekommen von oben bis hinunter. Was jetzt wohl geschehen wird? Die kleine hat schon beinah einen Vorsprung, die größere tut sich förmlich besinnen. Hei! Marsch fort! Wirst dich rühren, du dicker Klotz! so plauderte Per mit der Wolke. Aber da sieh nur einer, jetzt schaut sie wieder ganz anders aus! Die dicke dort mit der langen geraden Nase, dem vorstehenden Kinn und dem Heuwisch am Backenbart, das ist ja der Bauer, der Bertel! Ja, wahrhaftig, wie er leibt und lebt, nicht einmal der Tropfen fehlt, der ihm immer von der Nase hängt, wenn ihm die Galle überläuft. Und die kleinere Wölke, die vorn, die – – – meiner Sixt! das ist ja der Hektor, der alle armen Leute in die Wade beißt. Schau, jetzt dreht er sich und wedelt den Bertel an, wie er einen Bettler in die Flucht gejagt hat. – Ja, dem Hektor, dem verfluchten Köter, dem hat er’s neulich doch einmal gegeben, tüchtig hat er ihm das Fell gegerbt, als er damals der armen Stine Bethlehem an die Röcke fuhr; das wird er sich wohl nicht so geschwind ablecken, was er da drüben hinterm Gartengraben erwischt hat. Nun fingen Pers Augen schon an zu ermatten; es war daher gefährlich, gerade zu diesem Zeitpunkt die Wolken fahren zu lassen und sich lauter
Gehörsempfindungen hinzugeben, die sicherer als alles andre den lieben Mann in Schlafes Arme führen. – Das war doch merkwürdig, daß die Lerchen so den ganzen lieben Tag singen konnten; Gott weiß, wie hoch droben so ein kleines Vieh sich eigentlich aufhalten mochte! Niemand sieht’s ja, wo sie singen, grad wie beim Küster, wenn er am Sonntag mit dem aufgeschlagenen Psalmbuch in den Mesnerstuhl kriecht. Den kann auch niemand sehen, aber hören tun ihn alle. Per mußte plötzlich eines Sonntags gedenken, an dem er in Runge in der Kirche war, während der zitterige Schullehrer Pallisen drinnen hinter dem hohen Mesnerstuhl saß und sang: »Auf blick ich zur Himmelsflur, folgend deiner Fußspur nur.« Per kicherte noch in der Erinnerung an den Schulmeister, der mit bloßem Kopf, eine Koppel blökender Schafe dicht auf den Fersen, die Landstraße einhertrabte und dabei aus Leibeskräften aus seinem Gesangbuch Lieder sang. Rings um Pers Ohren summten die Bienen in dem zuckersüßen Weißklee. – Nein, die dort mußte wahrhaftig eine Hummel sein, so stark wie die brummte. Jetzt war sie in der Nähe, jetzt weiter weg, jetzt wieder weiter! Und wie nur die Kühe herumwetzten. Die nächste da, die ihm gerade ins Ohr schnaubte, das war die Zugkuh, so eine gute Kuh war das, recht ein liebes Vieh, so fromm und folgsam. Und immer
streckt sie ihr schnoberndes Maul so hoch herauf, daß zwei warme Strahlen ihres Atems einem gradaus ins Gesicht blasen. So gern läßt sie sich an der Gurgel krauen, die Zugkuh. Sie kriegt immer den besten Platz auf der Weide. Horch, wie sie ins Gras schnauft. Ja, da gibt’s aber auch prächtigen Rotklee, wo sie steht, deshalb summen an der Stelle auch so viele Hummeln, da ist wieder eine. Die muß eine gehörig große sein, weil sie gar so surrt; jetzt fliegt sie auf, jetzt setzt sie sich wieder, fliegt wieder auf, setzt sich wieder. Sie wird einem doch nicht ans Ohr kommen; denn die haben einen gar argen Stachel, wenn sie zornig werden. Hei, da ist sie fortgeflogen! Horch! ganz fort, weit fort, im Zickzack hoch über den Roggen hin – – – den Roggen – – Roggen – – auf und nieder, langsam, langsam auf und nieder; auf schwingt sie sich, dort beim untern Weg, hoch im Bogen über die Ährenspitzen bis zur Höhe hinüber. Und das Klingeln da, wie von einer Schafglocke – – weit weg – – zwischen blauen Hügeln – – dingeling – dingeling – – ling – – ling – – Nun floß der Schall der kleinen Roggenschellen mit all den andern Sommerlauten in eins zusammen; das Summen der Bienen, das Rascheln der Kühe, der Gesang der Lerchen – alles verschmolz nun zu einem einzigen tiefen, summenden Ton, der ferner und fer-
ner scholl und zuletzt sich ganz hineinverkroch in die bläulichen Nebel der Hügel. Pers Augenlider zitterten ein paarmal schwach, dann sanken sie fest zu. Per schlief – das unbedeckte Gesicht geradeaus zu Gottes Sonne emporgewendet, die große Zehe unter den Fußballen hineingeschmiegt, wie die Katze, wenn sie sich’s hinter der Scheune bequem macht. Zwei Stunden mochten wohl vergangen sein, als Per im Schlafe auflachte; kurz darauf erhob er sich mit einem hastigen Ruck und sah sich verwirrt mit großen Augen nach allen Seiten um. Zu seinen Füßen stand die Zugkuh und streckte den Kopf vor, als erwartete sie wieder, am Halse gekraut zu werden; sein unwillkürliches Lachen war daher gekommen, daß sie seinen nackten Fußballen beschnuppert und ihn mit ihrem warmen, schnaubenden Atem gekitzelt hatte; er war erst erwacht, als sie auch mit ihrer langen rauhen Zunge über seine Zehen hinzulecken begann. Die Zugkuh meinte es immer gar zu gut. Pers Augen sahen sofort nach dem Hof und dem übrigen Dorfe aus, aber kein Mensch war zu sehen, weder oben noch unten. Offenbar mußte – wie auch der Schatten vermuten ließ – Mittag längst vorbei sein, und alles hielt nun den Mittagsschlaf. Das war in der Tat eine höchst unbehagliche Geschichte. Die Kühe hätten schon vor mehr als einer Stunde
gemolken werden sollen; jetzt hieß es, sich auf das Schlimmste gefaßt machen. In größter Hast koppelte Per die zwölf Kühe zusammen, die schwere Keule ans Horn der Zugkuh befestigend, und heimwärts ging es in einer deckenden Wolke dichten Staubs. Eine fürchterliche Stille herrschte drin und draußen um den Hof. Per wollte vor dem Tor ein wenig innehalten, um einen Überblick über die Situation zu gewinnen. Aber die durstigen Kühe schmachteten nach dem Wassertrog. Es war nichts mit ihnen anzufangen; sogar die Zugkuh weigerte sich, Order zu parieren, und machte gemeinsame Sache mit den übrigen zur Pforte mit einer Gewaltsamkeit Drängenden, die weder Peitsche noch Zurufe zu zähmen vermochte. Per mußte ihnen nach und bekam in der schmalen Toröffnung manchen tüchtigen Tritt auf seine nackten Füße ab, ja es war ein Wunder, daß er inmitten der unbändig vorwärtsstürmenden Tiere nicht ganz zerquetscht wurde. Sein Herz pochte wie ein kleines Hammerbeil wider die Rippen; mit der Hand das Horn der Zugkuh umklammernd, kam er zum Brunnenrand getaumelt. Es war leicht zu erkennen, wie drohend die Lage war. Per erwartete jeden Augenblick Bertel aus einer der offenen Tennenschlunde mit einem Schlägel in
der Hand heraustreten zu sehen; er verrichtete jedoch seine Arbeit, wenn auch unter Zittern und Beben. Die vordersten Kühe standen schon fest an dem Wassertrog und stürzten das Wasser durch den Schlund hinunter, daß es förmlich klatschte. Die hintersten drängten nach, um auch daran zu kommen. Per, der die Stimme nicht allzu laut zu erheben wagte, um die bösen Geister des Hauses nicht herbeizurufen, hatte die größte Mühe, die Ordnung in den Reihen aufrechtzuerhalten; jeden Augenblick waren die zwei kleinen Füße in Gefahr, unter den vielen wildtrampelnden Klauen zertreten zu werden. Noch hatte kein menschliches Wesen seine Ruhe gestört; er begann sich zu ängstigen, daß die Rache ihn im dunklen Kuhstall ereilen würde, wo nur geringe Möglichkeit zur Flucht vorhanden und der Kampf zwischen einem kleinen Buben und einem großen Knüppel besonders aussichtslos wäre. Auf einmal stand breitspurig und dickbäuchig AnnKjestin in der Waschhaustür. Ihre Hand war auf die schwellendste der Brüste aufgepflanzt und ihr Aussehen nichts weniger als vertrauenerweckend. Gleichwohl verlor Per beim Anblick der Hausmutter seine halbe Angst, denn nun wußte er, daß kein Bertel daheim sei. »Ist das eine Zeit, mit den Kühen daherzukommen, du Schlingel, jetzt um halb zwei?« begann AnnKjestin mit wütendem Blick.
»Was glaubst du denn, wann sollen die Mägde zum Melken kommen, jetzt, wo ein jedes wieder an seine Arbeit muß? Wirst du herkommen, daß ich dich tüchtig bei den Ohren nehm!« Ann-Kjestin hatte ihre zornigste Miene angenommen, hatte überdies ihre ausgespreizten Finger von einer Batterie zur andern wandern lassen und stand und trommelte mit den Fingern auf der Taille ihres Kleides. Per fühlte keinen Drang, irgend eine Annäherung einzuleiten, zog nur den Mund in die Länge und fing zu weinen an. »Zum Teufel, ich werd dir’s eintränken, du halsstarriger Bub du, wenn du nicht augenblicklich herkommst, wie ich dir’s schaff!« schrie sie mit immer stärker anschwellender Stimme. Pers Ohren hatten schon bei dem bloßen Gedanken, der Hausmutter in diesem Augenblick unter die Finger zu geraten, rote Flecke bekommen. Obendrein flüsterte etwas in seinem Innern: Komm du nur her und versuch’s, mit mir um die Wette rund um den Brunnentrog zu laufen, meine liebe dicke AnnKjestin! Er fuhr fort, sich mit den Kühen zu schaffen zu machen. Aber nun rief Ann-Kjestin Hilfstruppen herbei.
»Mette, komm heraus und schlepp mir den Burschen her, geschwind aber!« Mette, die Magd, der das als ein rechter Jux erschien, kam mit rauschenden Röcken über das Pflaster herbeigestürzt. Aber Per ergab sich nicht so ohne weiteres, solang er nur gegen Frauenzimmer zu kämpfen hatte. Es war nicht das erstemal, daß er sich auf einen Wettlauf mit einer Tracht Prügel als Einsatz eingelassen hatte. Resolut ließ er nun alle die Kuhstricke fahren und verschanzte sich hinter der Dungstätte. Hier war Per in geschützter Stellung. Mette bekam es hingegen zu fühlen, daß es durchaus nicht beneidenswert sei, zur Sommerszeit über eine Mistgrube zu navigieren. Per machte von der alten Kriegslist Gebrauch, den schweren feindlichen Train auf Stellen hinzulocken, wo er notgedrungen durchplumpsen mußte. Eine Anzahl Mistknollen ragten wie Inseln aus einem Sumpf von Jauche hervor. Per fuhr über diese wie eine Bachstelze hin und her; diensteifrig eilte die leichtfertige Mette desselben Weges nach. Aber kaum daß sie ein paar Schritte getan, verlor sie das Gleichgewicht, und schwups! saß die dicke Magd mit ihren neuen roten Strümpfen bis an die Knie im Dreck. Laut kreischend sank sie ein. Ohne sich eine Zehe zu netzen, rettete Per sich nach dem andern Ufer hinüber. Inzwischen hatten die Dinge vor dem Waschhaus eine unheilvolle Entwicklung genommen. Als die
Kühe merkten, daß sie niemand am Seil hielt, stürzten sie samt und sonders zum Brunnen hin. Die Hörner knallten, die Klauen zappelten und lärmten; die dicken aufgedunsenen Tierkörper schoben sich herein und heraus im wildesten Aufruhr, unter Gebrüll und Gestoße führten sie einen wahnwitzigen Tanz auf. »Ach, du himmlischer Vater, sei uns gnädig!« jammerte und wehklagte Ann-Kjestin von der Tür des Waschhauses aus. »Die zwölf Kühe werden uns noch kopfüber in den Brunnen stürzen. Komm rein, Mette, und laß den Lauskerl jetzt lieber hin zum Vieh, eine Ordnung schaffen.« Ann-Kjestin selbst hielt sich in so weiter Entfernung als nur möglich von den Vorgängen, voll Angst, in den Umkreis des dröhnenden Kampfes der Tiere mit hineingewirbelt zu werden. Fluchend und finsterblickend kam Mette dahergeschlürft. Bei jedem Schritt tropfte es auf die Pflastersteine von ihren kottriefenden Röcken, die ihr um die Waden klatschten. Sie hatte jetzt für nichts Sinn als für ihre besudelten Beine. »Was Teufel hast du mich denn auch dem Bengel nachrennen heißen?« greinte sie und goß das Wasser aus den Holzschuhen, bevor sie ins Haus ging. Mutig hatte sich Per mitten in den Wirbel der taumelnden Tiere gestürzt. Er sprang und hopste hin und her; bald taumelte er zwischen den zwei spitzen
Hörnern einer Kuh, bald langte er nach einem frech erhobenen Maul hinaus. Klitsch! Klatsch! Klitsch! Klatsch! Nach weniger als einer Minute hingen die achtundvierzig Zitzen wieder ruhig nach dem Gesetz der Schwere, und ihre leichtsinnigen Besitzerinnen standen ordentlich hintereinander, warteten geduldig ihre Reihe am Wassertrog ab und blickten großäugig und mit demütig gesenkten Ohren auf zu dem kleinen Zauberer mit den kupferbraunen Füßen. Als Ann-Kjestin gewahrte, daß nun für diesmal alle Gefahr vorüber sei, dünkte es sie, daß sie geziemenderweise sich das Maul noch etwas ausschütten könnte. »Ja, jetzt wird sich’s ja weisen, was unser Hausvater dazu sagen wird, wenn er nach Haus kommt. Aber ’s Mittagessen ist jedenfalls aufgegessen, und nicht einen Bissen kriegst du mehr davon, nach dem, wie du dich aufgeführt hast, drauf kannst du dich verlassen! Ach, Herr Gott im Himmel, daß man sich allemal mit andrer Leute ihren nichtsnutzigen Fratzen herunterärgern muß!« Mit diesem Stoßseufzer verschwand Ann-Kjestin in der Tür. »Soo, also kein Essen soll’s jetzt geben!« murmelte Per. Es war allerdings nicht das erstemal, daß die Strafe auf schmale Kost lautete: aber heute fühlte Per sich ungewöhnlich hungrig, wahrscheinlich infolge
des stärkenden Schlafs draußen auf dem Felde. Er überlegte einen Augenblick, ob es nicht tunlich wäre, sich unten im Küchengarten eine Handvoll Rüben zu schnipsen; Jakob hatte ihm gesagt, daß ein Dienstherr nicht das Recht hätte, einem Knecht das Essen zu entziehen. Aber er besiegte diese Versuchung, trank einen Mund voll frischen Wassers aus dem Brunneneimer und eilte dann hinaus zu den Schafen auf den Steinäckern. Nachdem er mehrere Stunden mit dem leeren Magen in der sengenden Sonne umhergelaufen war, empfand er, auf den Hof zurückkommend, einen fürchterlichen Kopfschmerz, und eine drückende Übelkeit würgte ihn im Zwerchfell. Als er an dem Ostflügel vorbeiging, mußte er die Stirn an die unbeworfene Wand lehnen und sich übergeben. Das hatte Mette vom Waschhausfenster beobachtet, und sie erzählte es sofort der Bäuerin. Da wurde der Ann-Kjestin bange; wie, wenn der Bursch wirklich hinginge und ihnen erkrankte, so daß sie ohne Hirten dastünden! »Der nichtsnutzige Jung der!« sagte sie, langte ein mächtiges Stück Vesperbrot aus der Halbtür und befahl Per, es holen zu kommen. Per kam nicht. »Das ist doch ein Dickschädel sondergleichen! Wird er jetzt gleich herkommen und einem das Brot aus
der Hand nehmen, wenn man schon dasteht und es ihm hinhält!« Ann-Kjestin schob die freie Hand von Brust zu Brust unter steigender Entrüstung. »So komm doch jetzt her und hol dir den Fladen, hab dir eigens Rollwurst draufgelegt.« Per sah abwehrend zur Seite, als dächte er, es gebe im Menschenleben Augenblicke, wo selbst zu Rollwurst nein gesagt werden muß. »Ach, Herr Jesus Christ, sind das heutigentags Kinder! So störrisch! So störrisch! – Mette, geh hin und gib ihm ’s Vesperbrot, und nimmt er’s nicht, so hau ihm eine auf, daß ihm die Zähne wackeln! – Meiner Seel, daß ich’s ihm gut gerichtet hab!« Mette kam mit dem Bescheid zurück: »Er sagt, schlecht war ihm, er könnt nichts essen.« »Je, Kinder, das auch noch!« seufzte Ann-Kjestin. »Am End muß er gar noch liegen! Daß man dann dasteht, jetzt zu Johanni, mitten in der Zeit, und keine Aushilfe nicht kriegt und nirgends wen hat, nach irgend was zu rennen.« Ann-Kjestin verzog den Mund wie zum Weinen. Sie holte einen Napf voll fingerdick mit Rahm bedeckter saurer Milch, die sie mit geriebenem Brot und Staubzucker bestreute. Die hätte Bertel bekommen sollen, wenn er aus der Kreisstadt heimkam; aber im Augenblick sah AnnKjestin beinah das künftige Schicksal des Nørhofs von Pers Gesundheitszustand abhängen.
Aufs neue wurde Mette mit der Meldung zur Hausecke gesendet, und als Per vernahm, womit er diesmal verlockt werden sollte, gab er – ob auch zögernd – seinen Widerstand auf und setzte sich schweigend ans Tischende. »Aber verschluck dich nur jetzt nicht dran!« sagte Ann-Kjestin warnend, noch eh er die Hand an den Löffel gelegt. Im übrigen ließ sie ihn großmütig in Frieden, wahrend er seinen Hunger stillte. Das meiste von dem Inhalt der großen Schüssel verschwand hinter dem Wams des ausgehungerten Knaben. Als Per so ziemlich fertig war, kam Ann-Kjestin drall und versöhnlich aus der Speisekammer herein und sagte in altmoralisierendem Stil: »Siehst du jetzt nicht selber ein, daß du mit den Kühen zur Zeit hättst da sein können und der ganze Verdruß nicht hätt sein brauchen?« »Ich kann nicht dafür, daß ich einschlaf, wenn ich so müd bin,« sagte Per und begann aufs neue leise zu weinen bei dem Gedanken an das Unheil, dem er nur halb entgangen war, so lang noch Bertel als das große Rätsel drohte. »Na, für diesmal wollen wir die Sache gut sein lassen, bist ja sonst brav, mußt dir nur angewöhnen, die Augen offen zu halten – so werde ich dem Bertel also nichts sagen, mußt mir aber dann drunten im
Garten die Kartoffeln häufeln, wenn’s Vieh draußen versorgt ist.« So hielt Ann-Kjestin sich für den Rahm schadlos, indes Berteis drohende Trollgestalt in die Tiefe versank. »Jetzt verspürst keinen Kopfschmerz mehr?« fragte sie noch. »Nein, so stark nimmer,« sagte Per und rülpste hörbar. »Na also! So kannst du jetzt auch wieder zu der Arbeit schauen.«
SCHULPFLICHTIG »Soll der Junge heute wieder nicht in die Schule gehen?« frug Ann-Kjestin eines Morgens beim Frühimbiß, als Per schon den zweiten Monat keine Schule gesehen hatte. »Ich begreif nicht, wo du hindenkst!« erwiderte Bertel mit zornigem Blick und zog seinen Hornlöffel aus dem Mund, daß er förmlich zwischen den Zähnen knirschte. »Kann man ihn heute entbehren, wo man die Knechte auf der Heide hat und keins daheim ist, nach was zu schauen? Dir ist’s aber auch, zum Teufel, ganz gleich, ob was getan wird auf dem Hof oder nicht, wenn nur für deine Einsiedgläser und Vorräte gesorgt ist.« »Ach, du brauchst nicht gleich aufzubegehren,« gab Ann-Kjestin zurück. »Mir liegt viel dran, ob der Jung in die Schul kommt oder nicht! ’s ist nur, weil der
neue Mesner so streng mit den Geldbußen ist, du weißt es ja ohnehin.« »Das ist mir eine saubere Ware, diese Mesner, die eins jetziger Zeit herkriegt, machen sich so wichtig, oh je, so patzig und wichtig!« meinte Bertel, aufgebracht auf der Bank hin und her rückend. »Ja, da läßt sich weiter nichts sagen, wenn eins dem nachgeht, wie’s ihm obliegt.« »Na, so soll er meinetwegen Bußen einheben, der Saukerl! Da tu ich noch lieber – in Gottes Namen – etliche Kronen an Bußen hinlegen, wenn man dann den Burschen daheimbehalten kann, daß man doch so was wie einen Nutzen aus ihm herausschlägt.« »Ja, aber,« fuhr Ann-Kjestin fort und fegte etliche Brotkrumen in die hohle Hand, »’s heißt nur, daß sie so unsinnig hoch sind, die Geldstrafen, die er auferlegt, gar so riesig; eine ganze Krone jedesmal – wenn’s wahr ist, was die Leute sagen –, und wenn’s länger dauert, geht er noch mehr in die Höhe damit.« »Gott beschütze und bewahre uns!« rief Bertel verblüfft. »Da könnte man ja um ein halbes Roß kommen von wegen so eines Lausbuben, den man vielleicht vier oder sechs Wochen daheimbehalten hat. Aber sag ich’s nicht, daß es wahre Schandleute sind, die heutzutage in die Höhe kommen? Gehört sich das, daß so einer Mesner wird, der grad nur – das kann man wahrhaftig sagen – darauf aus ist, den Bauern zu rungenieren? Wenn sie sonst nichts kön-
nen, soll der Teufel die ganze Schullehrerei holen. Wenn sie noch was lernen täten, was einen Sinn hat, wo sie sich später einmal daran halten könnten; aber es hört einer bald nie mehr ein Gotteswort in der Schule. Das Ganze läuft jetzt nur noch auf die Vaterlandsgeschichte hinaus. Und da werden sie meiner Seel weit kommen damit, wenn’s hapert. Was lehrt er euch denn, der, – – der Schatten, der?« wendete sich Bertel, indem er offenbar nach einem möglichst ausdrucksvollen Kraftwort über den Schullehrer suchte, an Per. »Die Landkarten müssen wir anschauen lernen,« erwiderte dieser mit leiser Stimme. »Oh, da lernt lieber gleich schauen in meinen – alten Stiefel!« fuhr Bertel den Per wütend an, als ob er ihn für die neue Unterrichtsmethode verantwortlich machen wollte: »Euern Katechismus sollt ihr lernen – – und das Vaterunser – und nachher, wo ihr was zum Beißen herkriegt! – Landkarten! Pah! So einer wie du soll Landkarten lernen! Sollst du vielleicht hinaus und in der Fremde umherreisen? Hast du vielleicht was, womit du reisen tatst? Deine Arbeit sollst du machen, mein Lieber, und dir die Worte zu Gemüt führen, die ich hab lernen müssen in meiner Kinderlehre: ›Fürchte Gott, den König ehre, heißt des Heilands reine Lehre‹.«
»Geh, stellst dich mit dem Jungen her, als könnte er dafür, was die in den Schulen lernen; er muß doch tun, was ihn der Mesner heißt.« »Ja, ja!« brummte Bertel voll Wut, »es kommt mir grad in den Sinn, was der alte Pastor bei der Schulprüfung zu den Buben über seine Mutter gesagt hat; die Ann-Marie Kjærsgaard, die hat für gar so geschickt im Rechnen gelten wollen; und der Mesner hätte es gern gesehen, daß ihr der Vorzug vor uns andern gegeben worden war. Aber der alte Ronsolt, der hat zur Antwort gegeben – und er war, meiner Seel, einer, der sich darauf verstanden hat – ›Ach, so viel rechnen wird sie bald können, um die Würste zusammenzuzählen, die sie einmal auf ihrer Stange haben wird.‹ Und so ist’s auch zugetroffen!« schloß Bertel. Per senkte den Kopf bei dem Gelächter des Gesindes. Aber das Ende dieses Morgengesprächs war doch, daß Bertel, um seinen Geldsack besorgt, Per zur Schule schickte. Als Per gegen Mittag aus der Schule kam, brachte er einen Zettel mit heim. »Was ist das für ein Geschreibe?« Bertel hatte schon seine Brille hervorgezogen. »Der Mesner hat mir ihn mitgegeben,« sagte Per. Das Schreiben des Küsters teilte mit, daß Per die Schule nicht eher wieder besuchen dürfe, als bis er eine Kur gegen den Hautausschlag durchgemacht,
an dem er leide und demzufolge es unverantwortlich wäre, ihn mit andern Kindern auf einer Schulbank sitzen zu lassen. Der Lehrer riet Bertel, ihn baldmöglichst ärztlich behandeln zu lassen. Per stand in sich gesunken und verzagt da und betrachtete seinen lieblosen Herrn, während dieser den Brief durchbuchstabierte. Seine Wangen waren von getrockneten Tränen gestreift. Offenbar hatten die Kameraden ihn auf dem Heimweg gehänselt. »Hast du die Krätze an den Händen?« sagte Bertel und fixierte ihn mit seinen trüben, nichtssagenden Augen. »Zeig deine Pratzen her! Ach, die paar Schorfen da, die schaden wahrhaftig nichts, zum Misten sind sie gut genug,« setzte Bertel höhnisch hinzu, indem er Pers hingehaltene Hände zurückstieß, ohne sie genauer anzusehen. Innerlich frohlockte er über das empfangene Schreiben. Jedesmal würde es ihn gewurmt haben, so oft er den Knaben zur Schule hätte schicken müssen, und nun schrieb der Küster selber, daß er nicht kommen sollte. Bertel beeilte sich auch durchaus nicht, das Fest der Reinigung für den Hirtenjungen abzuhalten, der seinen Arbeiten wie gewöhnlich nachging, nur hin und wieder sich weidlich kratzte. Als etwa drei Wochen vergangen waren, sagte eines Tags Ann-Kjestin zu ihrem Manne: »Wir wer-
den wegen der Geschichte mit dem Per doch was tun müssen.« »Ja warum, fehlt ihm was?« versetzte Bertel. »Er darf nicht in die Schule; aber wir haben doch wahrhaftig auch bei uns daheim genug Arbeit für ihn.« »Schon recht, aber weißt du, der ist heut dagewesen, der Krämer, der Kræn Lybsker.« »Na, muß der seine Nase schon wieder in unsre Sachen stecken? Man sollte meinen, solche Bettelleute hätten genug mit ihren eignen zu schaffen.« »Er hat auch nichts andres gesagt, als daß die Mutter vom Per, die Ann-Marie Kjærsgaard, bei der Gemeinde gewesen war und uns verklagt hätt deshalb, daß der Jung sich angesteckt hat und nicht in die Schule darf. Und da wird sich jetzt wohl die Schulkommission der Sache annehmen.« »Die Schulkommission? Teufel, das ist was andres! Schau dazu, daß er rein gemacht wird.« »Ja, das ist, meiner Seel, leichter gesagt als getan, mein Lieber! Und etwas Unkosten wird’s wohl auch machen.« »Hat er nicht vielleicht selber Geld für die Medizinen?« schlug Bertel vor. »Ach, der und Geld haben? So ein Bursch!« erklärte Ann-Kjestin. »War nicht anders, als Federn vom Fisch rupfen wollen, bei ihm ein Geld suchen!«
BEIM DACHDECKEN Tags darauf waren die Leute auf dem Nørhof damit beschäftigt, auf dem Westflügel des Hauses, das eine frische Bedachung erhalten sollte, den First zu dekken. Vier waren an der Arbeit. Oben auf dem Dachfirst thronte Anders, der Großknecht. Seine mächtigen, grindigen Hände führten die Torfschaufel zum Eindecken mit solcher Kraft, daß das Haus unter den Schlägen erzitterte, die ein hohles Echo aus den andern Flügeln des Hofes wachriefen. »Merkwürdig, wie das hallt in dem Gebäu im Sommer, wenn nichts drin ist,« sagte Laurin, der zweite Knecht, der Anders mit den Torfstücken zur Hand gehen sollte. »Ja,« sagte Anders mit philosophischem Kopfnicken und ließ die Schaufel sinken, »das kann ich gar nicht verstehen, denn wenn einer auf einen vollen Bauch
schlägt, so macht das doch einen weit schlimmeren Krawall, als wenn man auf einen leeren haut.« Das gab den beiden »erhabenen« Philosophen Anlaß zu einer Reihe wohlerwogener Betrachtungen, die darauf hinausliefen, daß es Fragen gibt, die selbst Philosophen zwischen Himmel und Erde nicht zu lösen vermögen. Unten bei dem aufgestapelten Giebeltorf stand Per zusammen mit Jens Romler, dem Tagelöhner. Jens war ein Mann an die Fünfzig mit rötlichem Backenbart und groben, von Arbeit stumpf gewordenen Zügen. Seine Beine waren krumm, seine Arme krumm, sein Rücken gleichfalls krumm. Das einzige ganz Gerade an ihm war die Nase, auch so ziemlich der einzige Teil seines Körpers, der nicht von der Arbeit mit in Beschlag genommen war. Jens Romler wohnte in einem kleinen mit Ginster gedeckten Häuschen, eine Viertelstunde Wegs westlich am Rain des Moorlands, wo Schilf und Porsch üppig auf einer Unterschicht von kaltem saurem Bleisand wucherten. Das Moor und die Heide rings um das Haus boten ihm so viel Weide, daß er eine Kuh und ein paar Schafe halten konnte, die von Weib und Kindern gehütet wurden, denn er selbst war stets im Taglohn außer dem Hause. Sein Häuschen war mit der umgebenden Welt nur durch einen ungeheuer langen ausgetretenen Steig verbunden, den seine Holzschuhe durch die vielen
Jahre, in denen er in der Hütte wohnte, gebahnt hatten. Draußen an der Grenze zwischen der Heide und dem bebauten Boden teilte der Steig sich in drei Pfade, einen zu jedem der drei Höfe, wo Jens Romler ständiger Taglöhner war. Heute also war er nach dem Nørhof gekommen, und selbstverständlich wurde ihm gleich das schwerste Stück Arbeit, das Hinaufschleppen des Torfs, übertragen. Per mühte sich redlich an seiner Seite ab, aber seine Beine waren etwas zu kurz für die Arbeit, und es fehlte nicht viel, so hätten die ellenlangen, liespfundschweren Rasenflecke ihn hintenüber geworfen, wenn er sie auf den Arm hob und emporhielt wie ein gegorenes Roggenbrot, das in den Backofen geschoben werden soll. Auf alle erdenkliche Weise kam Jens Romler Pers zarten Kräften entgegen. Sobald er den groben schmierigen Sack als schirmende Unterlage über seinen Rücken gebreitet, ließ er sich bedächtig auf die Knie nieder, die Stirn an die Sprossen der Leiter gelehnt, und wartete geduldig wie ein Kamel, das seine Bürde entgegennimmt. Es knackte in den alten Knochen, so oft der kleine schwankende Per eine neue mächtige Torfladung auf des Taglöhners gekrümmten Rücken niedersinken ließ. Nun hält Per einen Augenblick inne, als schiene es ihm für diesmal genug zu sein.
»Noch eins, kleiner Per, sonst muß man ja nur um so öfter gehen.« Jens schiebt mit der Zunge seinen Priem im Mund hin und her und packt ihn zwischen die Zähne, ehe er sich selbst unter Knacken in die Höhe krabbelt. Bedächtig klimmt er die Sprossen hinauf. Per schaut den Sohlen der langsam steigenden Holzschuhe nach, die ganz rein gescheuert sind von dem morgendlichen Gang auf dem taufeuchten Steig. »Ah – ah!« seufzt der Taglöhner, wenn er die schwere Bürde auf dem Dachfirst abwälzt. »Ja, das ist wahrhaftig eine Arbeit, die eins bis ins Mark hinein verspüren muß,« bemerkte der Großknecht. »Ja, da hast du wohl recht; früher einmal, da war’s ein Kinderspiel, solange eins noch den Schmerz in der Hüfte nicht gehabt hat,« entgegnete Jens. »Ist aber auch schon der dritte Tag, daß ich hier bei der Dachdeckerei dabei bin. In der Jugend, da hat eins freilich so was für nichts gerechnet, aber jetzt, meiner Seel, spürt das Kreuz schon gehörig so eine Art Arbeit.« Jens fährt sich mit dem Handrücken über den schmerzenden Buckel. »Möchtest nicht du einmal probieren, den Packen statt meiner heraufzuschleppen, Laurin?« sagte er halb im Scherz zum zweiten Knecht. »Ja, der Daus, wohl!«
Der lange schlenkernde Laurin, dessen Nackenhaar von der Sonne so gelb gebrannt aussieht wie ein alter Maurerpinsel, glitt mit seinen dünnen Hampelbeinen wie eine Katze die Sprossen der Leiter hinab. »Ach geht das mit einem Feuer in dem Alter!« nickt der Tagelöhner, Laurin dankbar nachblickend, während er selbst sich auf den Dachfirst hinstreckt. »Frisch und gut ist’s da droben,« fährt er fort und läßt den Blick meilenweit über die offene Landschaft hinschweifen. Die Brise kommt, mit dem Duft von Moor und Jätgras geschwängert. Die Kirchtürme heben sich wie Bildsäulen von der blauen Himmelswand ab. »So verschnaufen wir also einen Augenblick,« sagt der Großknecht, als Laurin mit seiner Bürde hinaufgelangt ist. »Denn heut ist er ja nicht daheim, der Hundsfott, weswegen soll’s also so hart hergehen?« Anders klappert gleichwohl noch etwas mit der Torfschaufel, um womöglich die wachsame Ann-Kjestin über den Gang der Arbeit zu täuschen. Jetzt kommt auch Per die Leitersprossen hinauf. »Was willst denn du da oben?« ruft Anders scharf. Pers Augen wollten sich schon trüben. »Ach, laß dem Burschen das Pläsier!« wirft Jens Romler ein. »Ist ja so schön in die Höh klettern in dem Alter.« Je höher er auf den Sprossen emporkommt, desto mehr weiten sich Pers Augen.
»Gib acht, daß du nicht drehkrank wirst,« warnt beständig die Vorsehung Anders. Per stolzierte den Giebel entlang mit den Händen balanzierend und die Zunge zwischen den Lippen. Recht in acht mußte sich eins doch nehmen, dachte Per, ’s war grad, als wenn einem jemand inwendig mit einem Flederwisch über die Rippen streichen würde, so ein eignes Gefühl war’s in der Herzgrube. Aber wie weithin man sehen konnte! Pers Blicke begannen plötzlich nach etwas in der Nähe von Runge zu suchen. Das war doch auch merkwürdig, daß er nie auch nur einen einzigen Sonntag frei kriegen und heimgehen konnte, die Mutter und die kleinen Schwestern zu sehen. Per starrte unausgesetzt nach Runge hinüber. »Da seh ich, wie ich da lieg, grad auf die Kuh hin,« rief nun der Taglöhner, dessen erster Gedanke gleichfalls sein Heim war. »Kannst du nicht auch was Weißes sehen, Anders, grad dort vorbei an der Torfmiete ganz rechts? Ja, ganz gewiß, das ist unsre Kuh. Und könnt ihr nicht auch dort links von der nächsten Miete einen ganz kleinen Punkt sehen? Jetzt bewegt sich’s! Könnt ihr’s sehen? Ja, das ist die Dorre, das ist meine Tochter, ganz gewiß!« »Die Dorre, die mußt du doch kennen, Per, ihr zwei geht doch zusammen in die Schule, nicht?« fuhr Jens, zu Per gewendet, fort.
»Ja, die kenn ich wohl,« antwortete Per; er entsann sich eines grobgliedrigen, einsilbigen Schulmädchens seines eignen Alters, das in Sonne und Regen in ein paar klotzigen hausgemachten Zeugschuhen zur Schule kam. »Ist das aber eine kleine Hütte, in der du wohnst, Jens,« sagte der Großknecht. »Ja, gewiß, ein elendiglicher Rumpelkasten ist’s,« gab Jens zu. »Und verfallen! Frisch anwerfen sollte man sie schon lang und herrichten für den Winter, aber wann hätte eins denn die Zeit dazu?« »Ist sie dein eigen, die Kate?« fragte Anders weiter. »Ach, ich und ein eigen Anwesen! So gut geschieht unsereinem nicht. Nein, es gehört dem Bauer dort drunten.« Er deutete in die Richtung von Sølsig. »Ich haus nur zur Miete.« »Sollte er’s denn dann nicht herrichten lassen?« »Ja, prost Mahlzeit! Da könnt man lange warten,« sagte Jens. »Hast du je gehört, daß einem der was hätte herrichten lassen? Kann sich kaum selber erhalten auf seiner eignen Baracke, der alte Narr. Bei dem haperts ganz gewaltig, wie man hört. Seinerzeit ist ihm das große Gehöft mit den dreißig Tonnen Land ohne einen Schilling drauf zugefallen, das hätte unsereinem passieren sollen, Jeses! – Was hätt eins für gute Tage haben können, wenn man nur ein End von so einem Feld hätt kriegen können, nur einen ganz elendigen Streifen von dem
Boden, der da liegt, ohne daß irgendwer was davon hat. Wie die Brachfelder drunten liegen! Ich glaub, meiner Seel, seit vierzehn Jahren sind sie nimmer umgestochen worden. Rein eine Schand und ein Spott ist’s, denn der Boden, der tat weiß Gott was tragen. Das ist nicht so einer wie der, an dem wir armen Häusler uns draußen auf der Heide abrackern. Nein, mit Verlaub zu sagen, ein rechter Jammermensch ist er, der Wollesen; die einzigen, denen er was vergönnt, das sind, meiner Seel, die Ratten! Aber versteht sich, die Mütze nimmt eins doch vor ihm ab, wenn man ihn trifft; das ist schon einmal so der Brauch, aber meinen tut man, weiß Gott, nicht viel damit.« Jens Romler zeigte alle seine gelben Zähne. »Wie viele Stuben hast du denn?« fragte Anders. »Ich hab eine einzige, und die ist kleinwinzig; sie könnt schon gar nicht kleiner sein für unser sieben, die wir sind. Aber das war noch das wenigste, wenn einen nur die Flöhe in Ruh lassen wollten, aber in der Hitz ist’s, meiner Seel, bald nimmer auszuhalten. Was ich nicht versteh bei den Ludern, ist, warum sie sich nicht lieber an die Reichen halten, wo sie’s doch tausendmal besser hätten, möcht eins denken; da war doch ganz anders Platz zum Drauf springen. Aber ’s ist so, daß wir elenden Teufel zu aller großen Plage noch die kleinen auch dazu haben müssen.«
»An Flöhen, da ist wahrhaftig auch in unsrer Kammer keine Not,« bemerkte Laurin. »Oh,« erwidert Anders spitz, »selbige gehst du dir gewiß bei die Dirnen holen, denn in meinem Bett merkt man von so Zeugs nichts.« Der Taglöhner lacht aus vollem Halse. Laurin wird blutrot; denn es ist ein offenes Geheimnis, daß er und Mette mehr miteinander zu tun haben, als gut ist. Er kriecht rücklings die Leiter hinab und feuert von dort folgende Salve ab: »Oh, wenn sie dich auch beißen, spürst es ja doch nicht vor all der Räude und Krätze, mit der du herumgehst.« Diesmal, da es den Großknecht anging, wagte der Taglöhner nicht zu lachen. Anders versetzte drohend: »Jetzt rat ich dir aber, schau, daß du weiterkommst, sonst helf ich dir mit deinen krummen Spindelbeinen auf die Erde hinunter.« Ein frischer Wirbelwind erhebt sich. »Mußt dich hinwerfen, Per, wirf dich hin!« ruft Anders. Per schlägt die Pfoten in den Torf wie eine Katze, die man beim Schwanz vom Dache ziehen will. Der kleine Luftvagabund tanzt mutwillig über den Dachfirst hin, füllt die Jackenärmel mit Wind und bläst frech bei allen Taschen und Knopflöchern hinein.
»O je, da fliegt, meiner Sixt, die Mütze!« sagte der Taglöhner und folgte mit den Augen seiner zu Boden fallenden Kappe. »Mir scheint, es schaut grad so her, als ob die Perücke den selbigen Weg genommen hätt,« neckte Anders, auf Jens Romlers kahlen Scheitel deutend. Plötzlich wurden sie alle mit eins Ann-Kjestins strenger Gestalt in der Waschhaustüre gewahr. Sie sagte nichts, sah aber mit scheelem Blick zu der auf dem Dache ruhenden Gruppe hinauf, während die ausgespreizten Finger mit großer Hast über die gewölbten Höhen des Busens hin und her fuhren. »Na, machen wir uns jetzt wieder an die Arbeit,« sagte Anders, indes Ann-Kjestin sich ins Innere des Hauses zurückzog. »Sie war, meiner Seel, in heller Wut, sicher und gewiß,« flüsterte der Taglöhner und ging gebeugt die Sprossen hinab. Die Arbeit geht mechanisch ihren Gang weiter, während die Sonne herniederbrennt. Der hohle Schall der Schaufel hallt mit regelmäßigem Tonfall durch die Seitenflügel des Hauses, und so oft der erschöpfte Taglöhner die Bürde abwirft, klingt sein erleichtertes »Ahhh« über die grünbewachsenen Dächer hin. Auf einmal erhebt Hektor ein wildes, unsinniges Gebell. Jens Romler macht ein paar Schritte zur Seite, um nach dem Weg und dem offenen Tor blicken zu können.
»Du mein, jetzt kriegen wir gar den Roy her, das ist so gewiß wie was!« ruft Jens zu den Dachdeckern hinauf. Roy ist die merkwürdigste Figur der ganzen Gegend. Er wohnt in einer selbsterbauten Hütte oben an der Landstraße, ist ein Einwanderer aus einem weiter östlich gelegenen Bezirk und huldigt daher nicht den Sitten und Gebräuchen dieser Gegend. Er hatte in jüngeren Jahren Mechanik studiert, bekam es aber satt und wanderte nach Australien aus, wo er eine Zeitlang Schafe hütete. Nach jahrelangem Umherstreifen kehrte er in seine Heimat zurück und nahm Arbeit bei Seetrockenlegungen und dergleichen. Jetzt zog er zumeist als Händler umher und kaufte Wolle und Kalbfelle auf. Unter den Leuten wird er der Iltisjäger genannt nach seiner Lieblingsbeschäftigung, und da er als Fremder für die Bauernbevölkerung etwas Mystisches hat, hält man ihn in der Umgebung für heilkundig und eine Art Zauberkünstler. Er versteht sich ein wenig auf allerlei, übernimmt auch unbedenklich alles mögliche und ist ebenso unentbehrlich, wenn der Bauer einen Wurf Ferkel zu schneiden wie wenn die Hausmutter einen neuen Boden in ein Sieb einzulöten hat. Der Hund fährt ohne Unterlaß fort zu wüten; er schnappt mit gelbem Rachen fortwährend in die Luft und klappt die Kiefer wie eine Rattenfalle zusammen.
Kurz darauf tritt ein etwa vierzigjähriger Mann durch das Tor ein. Das erste, worauf der Blick fällt, ist der starke, rötliche, verwilderte Bart unter einem riesigen, zerfetzten Strohhut; seine Kleider sind fadenscheinig und schlottern an ihm – wie da und dort zusammengekauftes Zeug. Die Hosen bauschen sich über den Knien, und überall fehlen Knöpfe. Wenn der Wind den roten, flatternden Bart zur Seite weht, wird darunter eine schwarze Krawatte mit einem kleinen weißen Dreieck aus Zelluloid sichtbar. Über der linken Schulter trägt Roy einen schweren Sack, der von einer mächtigen Schnellwaage, deren schwere Bleigewichte ihm um die Knie klirren, im Gleichgewicht gehalten wird. »Guten Tag,« grüßt Roy in fremdem Dialekt, »ist der Bauer daheim?« »Nein,« antwortet der Taglöhner. »Weißt du nicht, ob er Kalbfelle zu verkaufen hat?« Nun ergreift aber der Großknecht, der aus seiner Höhe auf dem Dachgiebel zugehört hat, das Wort. »Ja, ich hab grad eins angenagelt drüben am andern Torflügel; aber trocken ist’s noch nicht.« Mit langsamen, bedächtigen Schritten macht Roy ohne viele Worte kehrt und begibt sich durch das Tor nach der andern Seite hinüber, um sich die Haut anzuschauen.
Kaum hat er sich entfernt, da sagt der zweite Knecht: »Ach, wir dürfen nicht vergessen, ihn in dem Bett nachschauen zu lassen, du weißt doch.« »Ja, du hast wahrhaftig recht! – Roy!« ruft der Großknecht dem Iltisjäger, der eben an die Außenseite des Hauses gelangt ist, nach. »Weil du grade da bist, möchtest du nicht so gut sein und nachschauen, was das für ein wunderliches Zeug ist, das zur Nachtzeit in unserm Bett umwühlt? Mitunter ist’s grad, als wenn’s das Federbett unter uns heben tat, und ich und der Dienstjung, wir kriegen ein jedes Stöße, als sollte man aus der Koje hinausfliegen.« »Ach geht, das ist gewiß nur was, das euch träumt, wenn ihr zu lang bei der Breischüssel gesessen seid,« versetzte Roy. »Nein, was dir nicht einfällt! Das hat bei Gott nichts mit dem Brei zu schaffen. Ich meine eher, es wäre irgend so ein giftiges Vieh, das es auf uns abgesehen hat.« Roy kam aufs neue im Hof zum Vorschein und ging schweigend in den Stall, der gewissermaßen die Vorstube zur Kammer der Knechte bildete. Bald darauf kam er aus der Stalltür heraus, drei piepsende Iltis junge in der Hand. »Das ist doch, hol mich der Gottseibeiuns, die sonderbarste Einquartierung, die mir seit langem in eines Christenmenschen Bett vorgekommen ist,«
äußerte Roy. »Ihr könnt von Glück sagen, daß sie nicht hinaufgekommen sind und an euch gesaugt haben; denn dabei hättet ihr wohl schwerlich schlafen können.« Nun kamen die Knechte eilends vom Dach herunter. »Ih, Gott beschütze und bewahre uns!« rief Anders, »’s war also die Alte, die unter uns im Stroh so umgewühlt hat.« Anders hätte der Schlag treffen mögen. Per kam zögernd herbei und beguckte die drei zottigen Raubtierjungen, die sich prustend in Roys Händen umherwarfen und in dem grellen Sonnenlicht am ganzen Leibe zitterten. »Ja, oben in der Magdkammer,« bemerkte Laurin, »da haben sie im Bett einen ganzen Klumpen Schlangen gefunden; aber das da ist fast noch ärger.« »Ja, meiner Seel, ich hab schon beides in einem Bett gesehen,« erklärte Jens Romler. »Aber da hat dann auch, versteht sich, das eine das andre aufgefressen; ja, sicher und gewiß!« »Guten Tag, Roy,« ließ sich nun plötzlich AnnKjestin von der Waschhaustür aus vernehmen. »Ei, was hast du denn da für abscheuliches Zeug?« »Ach, gnädige Ann-Kjestin,« erwiderte Roy, eins der Jungen so hoch emporhebend, daß ihm die Sonne geradeaus in den Magen schien, »bloß etliche Bagatellen, die ich in der Knechte ihrem Bettstroh gefunden hab. Das nächstemal wird sich wohl eine
Sau mit elf grunzenden Ferkeln dortselbst vorfinden.« »Das war, meiner Sixt, das ärgste nicht,« sagte AnnKjestin, »denn bei dieser Zeit sind die Ferkel teuer.« »Gewiß, aber die Arbeitskraft scheint dafür um so billiger zu sein, weil sie mit einem Lager zusammen mit Mardern und Iltissen vorlieb nimmt,« versetzte Roy. »Solltest aber doch bei Gelegenheit einen Blick hineintun in das Bett, Ann-Kjestin; das Stroh riecht gewissermaßen modrig, und das Bettzeug! – ja, ich möcht drauf schwören, daß, wenn du’s eurer alten Mutterstute hinlegen tatst, sie’s mit dem Fuß wegstößt und sich daneben in die Spreu legt. Jetzt hab ich doch die halbe Welt gesehen, vom Kap Horn bis zur Krusumhöhe, aber so soll mich der Teufel mit seinen Klauen packen, wenn ich wilde Raubtiere im Gesindebett anderswo getroffen habe, als dahier beim reichsten Bauern im Hvarre-Sprengel.« »Ja, ja,« sagte Ann-Kjestin, von Roys Spott unangenehm berührt, »aber steh jetzt nicht da und halt die Leute bei der Arbeit auf, komm lieber einen Augenblick in die Tür; ich hätt dich eine Kleinigkeit zu fragen.« Die Leute legten sich wieder ins Geschirr. Roy warf seinen Sack auf das Pflaster vor dem Hausflur hin und ging hinein.
»Bist du nicht durstig?« frug Ann-Kjestin und schob den mächtigen Bierhumpen über den knorrigen Tisch zu ihm hinüber. »Danke,« sagte Roy und senkte seinen wilden Rotbart in die Kanne. Er tat einen tiefen, langen Zug. Als er den Krug abgesetzt hatte, strich er mit der linken Hand über den struppigen Schnauzbart, der vom Bier dunkler geworden war. »Du verstehst dich ja so gut auf solche Sachen,« begann Ann-Kjestin; »und schau, da ist uns jetzt der arme Bursch, der Halterjung, den du draußen stehen siehst, krätzig worden.« »Ei sieh mal,« sagte Roy ironisch, »das wundert mich wirklich bei alledem, was für die Reinlichkeit geschieht, dort, wo er liegt.« »Ach, das hat jetzt keinen Zweck, dasitzen und sich einen Narren aus mir machen!« sagte Ann-Kjestin. »Ein klein wenig könnten sie recht wohl auch selber dazu tun und auf sich acht haben; ich glaub wohl, daß unsre Leute um nichts schlechter dran sind als sonstwo das Gesinde.« »Kannst schon recht haben, meine liebe AnnKjestin,« entgegnete Roy. Das Gespräch kam allmählich auf andre Gegenstände, bis Roy sich erhob und sagte: »Bei euch möcht’s wohl langen für einen Doktor; ihr braucht grad nicht mit meinen Hausmitteln vorlieb zu neh-
men, aber meinetwegen schickt den Burschen zu mir hinauf, so werde ich wohl was für ihn herausfinden. Aber ihr dürft nicht allzu gewaltsam schmieren, weil er ja noch klein ist, und was einen Schmied kuriert, das kann manchmal einem Schneider den Garaus machen.« Nachdem Roy noch eine Unmenge zerbrochenes Geschirr und andre unbrauchbare Gegenstände in seinem Sack mitbekommen, verließ er unter Hektors erneutem Gebell den Hof.
RIVALEN Roy hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, als Per in die Stube gerufen wurde. Auch er griff vor allem nach dem Bierkrug; ehe er trank, blies er kräftig in das Bier hinab, auf dessen Oberfläche ein Dutzend Fliegen Schwimmbewegungen machten. Als er mit seinen dünnen Armen zum drittenmal den gewaltigen Humpen wie einen Helm über seinen Kopf stülpte, warnte Ann-Kjestin: »Na, trink nur nicht mehr als du verträgst! Aber hör zu, was ich dir sag; wenn du jetzt die Kühe hinausgetrieben hast, so kannst du – denn jetzt bleiben sie doch schon ruhig – vor dem Heimkommen zum Roy, der grad da war, hinaufgehen. Er wird dir was zum Einschmieren geben, daß du das schlimme Zeug einmal los wirst und dann und wann wieder in die Schule kannst. Denn der Mesner wird gewiß nach dir fragen. – Hast
du deine Aufgaben gar nicht angeschaut, derweil du nicht in der Schule gewesen bist?« »Ich hab nie Zeit dazu gehabt,« antwortete Per freimütig. »Oh, am Sonntag hätt sich schon Freizeit dazu gefunden; hättst du dann nicht dein Buch einen Augenblick vornehmen können?« fragte Ann-Kjestin. »In der Knechtekammer hab ich nicht lernen können, denn da sind die andern gewesen und haben Karten gespielt und Branntwein getrunken.« »Hättest dich aber ja irgendwohin an einen Graben setzen können. Soll denn ein reiner Heid aus dir werden?« Jetzt ging die Gangtür auf, und ein kleines dralles Mädchen in Pers Alter hüpfte lächelnd in die Stube. »Je, schau, guten Tag, Anni!« rief Ann-Kjestin. »Jetzt kriegt der Per eine Gesellschaft beim Kühehüten auf dem Feld. Denn sicher willst du lieber mit ihm, als daß du daheim um mich Alte herumtanzt, was, Anni?« Anni blickte mit zustimmendem Lächeln von Per zur Tante hin. »Geh du jetzt und koppel die Küh ab, derweil ich der Anni einen Tropfen Kaffee geb; dann bringt sie dir deinen Fladen mit, denn heute kommst du ja so nicht vor Abend heim.« Per warf noch von der Tür aus einen langen, eindringlichen Blick der kleinen Anna zu, die er
von der Schule her gut kannte. Ihr Vater war ein ärmerer Bruder der Ann-Kjestin, der auf einem kleinen Anwesen außerhalb des Orts saß; daß er seine älteste Tochter nach der kinderlosen Ann-Kjestin genannt hatte, war schwerlich so ganz ins Blaue hinein geschehen. Per war sehr glücklich, daß dieses liebe kleine Mädchen zu ihm aufs Feld kommen sollte. Eine Gnade des Himmels war es auch, daß Bertel, dieser herumspukende Poltergeist, heute nicht daheim war. Was für lustige Possen konnten die beiden da draußen auf dem Felde bei diesem herrlichen Wetter treiben! Das Abkoppeln der Kühe ging heute auffallend leicht von der Hand. Bei jeder neuen Kuh, die Per herauszog, schaute er lang und helläugig nach den Fenstern, hinter denen Anna saß und leckere Napfkuchen verspeiste, während sie, mit den Füßen baumelnd, auf die Fragen der Tante, wie es daheim gehe und stehe, die Zunge laufen ließ. Nun hatte Per alle seine zwölf Kühe aus dem Stall, und die gewaltige Tüderkeule saß an ihrem Platz zwischen den knorrigen Hörnern der Zugkuh. Er ergriff seine Sonntagspeitsche mit der neuen Seidenschnur und ließ sie über die blanken Hörner der Kühe hinschnalzen. Beim ersten Peitschenknall sprangen Annas kleine Schuhe auf den Boden. Beim zweiten schnappte sie
das Bündel mit dem Vesperbrot der Tante aus der Hand und verschwand mit einem anmutigen Lächeln aus der Stubentür. Ann-Kjestin schaute, ihrer Gewohnheit nach, eilends aus dem Fenster, ob die Kühe gut aus dem Hoftor kämen. Bald gingen die beiden Hüter behaglich schlendernd und plaudernd dicht nebeneinander. Das war der stolzeste Augenblick in Pers Leben. Bei der kleinsten Widersetzlichkeit der Kühe schnalzte es laut über all die erhobenen Kuhmäuler hin, daß sie sich demütig wieder zur Erde senkten. Anna äußerte sich bewundernd über die Zauberkraft der Peitschenschnur. »Sie ist aber auch aus acht Strähnen zusammengeflochten,« erklärte Per mit Nachdruck. »Acht Strähne!« Anna ließ ihren Blick fast liebkosend über die klafterlange Schnur gleiten, die über Pers Mütze fast wie ein Helmbusch hüpfte und wehte. »Und zu so einer kostet allein ein Gebind fünfzehn Öre.« Anna schaute mehr und mehr erstaunt darein. Sie kamen zum Anger. Die Kühe wurden angebunden, die Schafe anderwärts untergebracht. Und nun konnte Per darüber nachdenken, womit er Anni hier auf den grünen Fluren unterhalten könnte.
Das war wirklich nicht schwer. Es gab genug Sehenswürdigkeiten hier. Da waren vor allem die vier Zaunkönigeier droben auf dem alten Hünengrab, die mußte man zu allererst aufsuchen; denn die würden ganz sicher Beifall finden; freilich waren sie nichts weniger als leicht zugänglich, da sie mitten in der lotrechten Erdwand steckten, die dadurch entstanden war, daß man die Hälfte des Hügels abgetragen und in das aufgebrochene Moor hinausgeführt hatte. Per hätte selbst sehr wohl die Eier ausnehmen können, aber er war überzeugt, daß es Anni als eine schmeichelhafte Aufmerksamkeit von seiner Seite betrachten würde, wenn sie es tun dürfte. Darin irrte er auch nicht. Aber die Frage war, wie dazu gelangen? Per hatte sich zu seinem Privatgebrauch einige natürliche Stufen in den steilen Abhang angelegt, aber an diesen würde Anni bei ihrer mangelhaften Begabung im Klettern kaum sonderliche Freude gehabt haben. Doch es würde sich schon Rat schaffen lassen. »Jetzt mitten am Tag,« sagte Per, »ist gewiß die Alte selbst drin.« Annis Augen leuchteten bei dem Gedanken, das hübsche graue Vögelchen in die Hand zu bekommen. »Aber wie komm ich da hinauf?« fragte sie und sah forschend Per an, als käme es ihm zu, diese Angelegenheit ins Reine zu bringen.
»Ja, wenn du dich auf meine Schultern stellen wolltest, so könntest du ja hinauf langen,« meinte Per, der durch diese schlaue Antwort die Sache vollständig in Annis eigene Hände legte. Anni zog Pers Ritterlichkeit nicht im geringsten in Zweifel, sondern kroch, die Zungenspitze in den Mundwinkeln, behutsam übers Pers schmalen Rücken, der unter der ungewöhnlichen Bürde zitterte. Sie stand mit je einem Fuß auf seinen beiden Achseln; er mußte sie vorsichtig an den Knöcheln fassen, um sie festzuhalten, während sich ihre rechte Hand in den Abhang einbohrte. Obgleich ihre Schuhe sich tief in Pers Schultern eindrückten, wagte er nicht, auch nur ein Glied zu rühren. Der Stoß an ihrem Kleide roch noch schwach nach dem Plätteisen; unwillkürlich fielen ihm die hübschen, regelmäßigen, vierfarbigen Querstreifen ihrer Strümpfe in die Augen, und die Rundung ihrer Waden ließ seine demütigen Hände heiß werden. »Oh!« rief Anni, »sie ist drin; sie schlägt meine Hand mit ihren Flügeln, aber ich kann nicht bis auf den Boden kommen.« Per hatte gleich gedacht, daß es so gehen würde, und war es eigentlich zufrieden; seine Zuvorkommenheit hatte er ja jetzt gezeigt, und nun konnte er selbst das köstliche Vergnügen haben, den kleinen Vogel her-
vorzuziehen; aber es hieß nun verhindern, daß der Gefangene entschlüpfte. »Nimm meine Mütze und verstopf das Loch!« kommandierte er, »und komm dann herunter.« Zu Pers Mütze war es weiter herunter, als Anni berechnet hatte, so daß sie die Hand aus dem Neste ziehen mußte, um sich während des Herabbeugens zu stützen; bei dieser Bewegung flog der kluge kleine Zaunkönig aus der Falle. Mit einem raschen Schlag seiner behenden Flügel streifte er Annis Wange. »Oh je! jetzt ist er davon. Das ist aber doch jammerschade!« rief Anni, verdrossen von Pers Schultern herabsteigend. Trockener Hügelsand saß rings in den Grübchen von Annis Arm, und ihre reine Schürze war verdrückt. Geschmeidig wie ein Affe kletterte nun Per hinan und nahm vier bläuliche Eier aus, nicht größer als ein Fingernagel und mit kleinen bräunlichen Sommersprossen besät. Per nahm eins davon und legte es an Annis weiche Lippen, damit sie fühlen könnte, wie warm das Ei war, das noch den lau säuerlichen Duft vom Bauch des brütenden Vogels aushauchte. Anni jubelte auf nach ihrer Enttäuschung. »Nimm dir eins davon,« lud Per ein. »Ja, aber, wird sie’s nicht vielleicht suchen?« »Ach, eins wird nichts machen,« meinte Per.
Anni verwahrte das gefleckte Eichen sorgsam in ihrem Taschentuch. Von der hochgelegenen Flur stiegen sie ins kühle Moor hinab, wo sie Kränze aus Schilf und Krausemünze flochten. Nun schien es Per an der Zeit zu untersuchen, was Ann-Kjestin ihnen ins Tuch eingebunden hatte. Er band es in großer Spannung auf: Butterschnitten und Rahmküchen. Jawohl, AnnKjestin konnte zuzeiten gar vorsorglich sein! – Sie aßen, sie lachten und trockneten sich gesättigt die Mäulchen. Dann gingen sie zu einem klaren Wässerchen hinab, das ins Blaue hinein plaudernd über grüne Steine dahinlief. Es war ein beinahe völlig ausgetrockneter Fluß, der auf dem Grunde des breiten Grabens an ein kleines Kind in einem allzu großen Bett gemahnte. Er schlängelte sich sachte über den Sand von einer Seite zur andern, als ginge er nach dem Wege fragen. – Nie fühlen sich Kinder so wohl wie an solch einem lieben Wässerlein. In seinem hüpfenden Rieseln, seiner singenden Sorglosigkeit liegt etwas von ihrer eignen Art. Im Wasser lebt das Märchen! Man führe ein kleines Kind zu einem murmelnden Bach, und es wird sich die Augen aus dem Kopfe schauen. Per und Anni neigten sich über das rinnende Wasser, als suchten sie den Schalk im eignen Auge zu erhaschen; sie berührten seine gekräuselte Oberfläche mit ihrem Mäulchen und setzten das
kleine Ei zum Schwimmen darauf, um sich zu überzeugen, ob es auch sei, wie es sein sollte; denn war es faul, so wollte Anni es keine Sekunde mehr behalten. »Gott sei Dank,« dachte Per, als es die Wasserprobe bestanden hatte. Vom Bach liefen sie ins Torfmoor hinaus, wo ganze Büsche Preiselbeeren zwischen den weichen Moospolstern wuchsen. Per fand die meisten, nahm aber selbst nur einzelne und schüttete den Rest in Annis begehrlich geöffnete Hand hinüber. Des Nachbars Hüterbursch, der lange Jakob, hatte mit großem Neid beobachtet, was für eine herrliche Gesellschaft Per den ganzen Nachmittag gehabt, während er selbst sich drüben zwischen seinen Tümpeln und Erdschollen langweilte. Als sie sich nun seinem Grenzgraben genähert hatten, kam er mit seinen langen Beinen dahergeschlichen und machte sich drüben bei ihnen etwas zu schaffen. Bevor noch Per Zeit gefunden, Anni vor ihm zu warnen, hatte Jakob sich schon zwischen sie auf das Moos hingelagert, wo er seinen Kriegsplan bereits zu entfalten begann. »Das ist doch komisch, daß ihr den sauren Mist da essen mögt? Pfui Teufel!« begann Jakob. »Noch dazu so roh. Kommt einem ja das Wasser in die Augen, wenn man dran denkt.« Dabei warf er Anni mit kekker Miene eine prächtige reingewaschene gelbe Rübe in den Schoß. »Da iß doch lieber die,« sagte er.
Anni ließ still Pers letzte Handvoll Preiselbeeren zu Boden gleiten und versenkte mit einem seltsam langen Blick auf Jakob ihre weißen Mausezähne in die gelbe Rübe. Per schaute mit zerknirschter Miene nach ihr, setzte dann aber eifrig das Beerenpflücken fort, doch nunmehr ausschließlich für den eignen Mund. Alsbald hub Jakob mit Per über seine Peitsche, deren Schmitze er verächtlich mit seinem Hirtenstecken hin und her wippte, Händel an und behauptete, sie sei nichts als ein Ende morschen Kuhstricks. Doch das hieß Per an seiner empfindlichen Stelle treffen: »Du lügst in deinen Hals hinein, das sag ich dir!« rief er und riß mit zorniger Gebärde die Gerte an sich, so daß Jakobs große Zehe in der Schnelligkeit einen Hieb erhielt – »allein ein Gebind hat fünfzehn Öre gekostet.« Jakob wollte nun wissen, was Anni so sorgfältig in ihrem Taschentuch barg. Da zeigte sie ihm mit großem Stolz ihr kleines Zaunkönigei. Jakob spuckte höhnisch aus und fragte, ob sie jemals ein Wasserläuferei gesehen habe. Das hatte Anni noch nie. So würde er ihr welche zeigen, sofern sie nur zum Sumpfteich mit ihm gehen wolle; dort segelten sie auf der Oberfläche in einem wasserdichten kleinen Nest wie in einer Wiege. Er brauchte sich nur die Hosen aufzuschlagen, dann könne er sie im Nu holen. Vielleicht daß er den Wasserläufer mit erwischte, denn zuweilen
wären sie so keck, diese Vögel, daß sie einem geradeaus ins Haar flögen. Oder hätte sie nicht Lust, einen Strandläufer fangen zu sehen? Auch eine ausgebrütete Schar Steinschmätzerküchlein könnte er ihr zeigen, und später müßte er zu dem Loch im Altbach hinunter, um nach seinen Aalangeln zu schauen. Per war dem Weinen nahe, als er sah, wie Jakob ihm die Anni wegschnappte. In seiner Herzensangst stieß er hervor: »Anni, du darfst nicht mit ihm gehen. Denn die Rüben, die er dir gegeben hat, die hat er gestohlen.« Und zu Jakob gewendet: »Denn du bist ein Dieb! Du stiehlst auch Hühnereier.« Im Nu standen die beiden Kampfhähne aufrecht einander gegenüber mit erhobener Peitsche. Es gewann jedoch den Anschein, als ob Jakob jetzt mehr Respekt vor Pers knotiger Peitschen-Schmitze hatte, als er früher Wort haben wollte. Denn plötzlich ließ er seine Waffe sinken in der Hoffnung, seinen Gegner noch schwerer treffen zu können. »Brauchst dich nicht so aufblasen, du Schlingel, der du mit Krätze am ganzen Balg behaftet bist,« rief er. »Du hast ihn doch nicht angerührt?« wendete er sich an Anni. »Weißt doch gewiß, daß er nicht in die Schule kommen darf, weil er sonst die andern ansteckt; deswegen ist er ja den ganzen Sommer nicht dort gewesen.« Anni sah Per mit offenem Munde an. Das war also der Grund, weshalb sie eine ausweichende Antwort
erhalten hatte, als sie ihn gefragt, warum er nie mehr zur Schule käme. »Ja aber ich hab eine große Laus auf deiner Jacke gesehen,« schrie Per, seine Geißel wie einen Tomahawk schwingend. Jakob retirierte, höhnisch hinüberschielend, in der Gewißheit, daß sein Hieb fester sitze. Anni zog mit Jakob fort, um sich seine blauen Wunder vorweisen zu lassen. Per ging still weinend zu den Kühen hinauf, seine schöne Peitschenschnur im Staub hinter sich herziehend. Es schnitt ihm ins Herz, daß der Bösewicht ihm Anni geraubt hatte, noch dazu mit so lumpigen Mitteln. Freilich hatte er die Krätze, daß er oft die ganzen Nächte lag und sich bis aufs Blut gottsjämmerlich kratzte. Aber war das seine Schuld? Hatte seine arme Mutter ihn nicht hierher geschickt, so rein wie ein frischgelecktes Lamm, ohne auch nur eine Nuß im Haar? Und da hatten diese abscheulichen Menschen ihn in ein Bett mit dem Großknecht, dem Krätzklotz, treiben müssen, der ihn und alle die Burschen und Knechte, mit denen er in seiner Dienstzeit in Berührung gekommen war, angesteckt hatte. Es war wirklich kein Vergnügen, auf der Welt zu sein; man konnte tun, was man wollte, so hatte man doch nur Undank dafür. Bei jedem Keulenschlag auf die Pfosten die Reihe der Kühe entlang fiel eine bittere Träne aus Pers Augen.
Als er sich umkehrte, sah er über die Sumpfwiesen hin, wie Annis behende Beine elastisch über die Erdschollen hinter dem schlenkernden Jakob herhüpften. Per schmiß die Keule schwer neben den letzten Spannpflock hin und ging langsam über die Hügel zu Roy.
DER ILTISJÄGER Roys buckliges Haus mit seinem ginstergedeckten Giebel lag mitten auf einer offenen Ebene, auf drei Seiten von weißem, grobkörnigem Sand, auf der vierten von einem kahlen Heidefleck umgeben. Längs eines windschiefen Stakets gelangte man zum Eingang. Das erste, worauf das Auge fiel, war eine getünchte, an einer Stange hängende Holzplatte, auf der mit Teer geschrieben stand: Bist du ein Freund, willkommen hier, Bist du ein Schurk, hinaus mit dir! Über der Eingangstür leuchteten folgende Zeilen in Rotschrift: Diesen Wigwam nennt man mein, Gast, tritt ein, und er ist dein!
Im selben Stil war auch das Innere des Hauses gehalten, öffnete man die Wohnstubentür, so schob sich darüber die Gestalt eines Mohren halb hervor und ließ aus einem Horn einige schrille Willkommtöne erschallen. Ein zahmes Schwein bewegte sich grunzend zwischen dem Tischgestell. Auch das Schwein trug seinen Vers. Auf einem Bande am Nacken stand geschrieben: »Wenn ich auch nur ein armes Schweinchen bin, Mein Name steht in jeder Zeitung drin.« Das Schwein hieß nämlich Estrup! * Per sperrte die Augen auf, als wäre er über die Schwelle eines Zauberers getreten. Von der Wohnstube aus schob er sich vorsichtig in den nächsten Raum, aber mit Ausnahme des Schweins fand er keine Bewohner in den beiden Stuben. Auch das zweite Zimmer war mit den sonderbarsten Dingen angefüllt. In einer Ecke stand eine Drehbank, und an den Wänden hingen zwischen den gewöhnlichen Handwerksgeräten wie Säge und Bohrer die eigentümlichsten Waffen und Instrumente, vermutlich Sachen, die Roy von seinen Reisen heimgebracht hatte: ein riesengroßer Bumerang, eine Indianermaske, ein Skalp, ein paar schrecklich grinsende Fetischbilder. Dazwischen eine Menge echt heimischer Produkte. In einer Ecke Estrup, reaktionärer dänischer Minister in den achtziger Jahren. Anm. d. Übers.
*
der Stube ragten einige herrlich goldige Schößlinge in den Sand eingegrabener gelber Rüben über den Ziegelboden hinaus. Auf der entgegengesetzten Seite der Stube lag ein Haufen getrockneter Tierhäute und Wollsäcke; auf einer Hobelbank, die zugleich als Tisch diente, stand eine Riesenzuckerrübe, die, wie ein Teufelskopf hergerichtet, bemalte Hörner hatte und innen ausgehöhlt war, so daß man ein Licht hineinstecken konnte. Per hatte sich noch kaum in diesem schnurrigen Hause zurechtgefunden, als Roy durch eine Hintertür mit einem Melkkübel in der Hand eintrat. »Nun, bist du da, mein kleiner Freund? Grüß Gott! Grüß Gott! Gleich werde ich fertig sein,« sagte Roy und begann die warme Milch in ein schwarzes Tongeschirr zu seihen, nachdem er zuerst einen Leinenfleck über den Boden des Siebes gebreitet hatte. Sobald er den Lappen ausgewunden und seine Hände in einer Blechschüssel abgespült hatte, trat er zu Per hin, der in leisem Schauder vor den beiden Fetischen wartete. »Also du bist’s, der beim Bertel im Dienst ist? Einen ärgeren Knauser als den gibt’s in der ganzen Gegend nicht; war die Frau nicht doch um ein Kleines besser, bekäme keiner von euch einen Bissen zu essen. Und jetzt hast du also die verwünschte Bescherung mit deiner Krätze! Hast sie beim Bertel erwischt?«
»Nein, vom Großknecht hab ich sie kriegt,« sagte Per kleinlaut. »Ja, versteht sich, vom Großknecht; allright! Das Schwein! Obgleich, was kann man da sagen, solange das Gesind wie die Kälber in einen Stander zusammengepfercht wird. Aber ein Unsinn ist das, ein Unsinn, sag ich, daß sie das Recht dazu haben. Ihr Narren! Auflehnen sollt ihr euch! Revolution machen, soll mich der Teufel holen! Das hätte in Südamerika sein sollen; daß sich Gott erbarm! Ein paar Schurkenköpfe auf einer Forke aufgespießt, das tat weit mehr nützen als sieben Scheffel Reichstagsphrasen, soll mich der Teufel holen! Aber was verstehst denn du davon, du kleiner Tropf. Tut euch zusammen! Rottet euch zusammen, zum Teufel! Warum laßt ihr euch treten? – – No, no, no! Brauchst nicht so zu Tode zu erschrecken. Du hast ja keine Schuld. Du hast deine Krätze bekommen, und er, der andre, das Schwein, nun ja, er hat vermutlich die seine auf eben die Art bekommen: ist auch in eine Koje zu irgendeinem angesteckten Arbeitssklaven geschmissen worden. Hat ja auch all sein Lebtag dienen müssen. Und ist ein Lump worden dabei. Denn Lumpen werden sie beinah alle, Freundchen. Sich schinden und plagen jahraus, jahrein und nie eine Aussicht haben, vorwärts zu kommen – dabei muß der Mensch verlumpen! Und stumpf und blöd werden! Denn, Gott
steh uns bei, blöd ist es, sich so hunzen und sich den Rüssel anspeien lassen wie das Schwein dort!« Und Roy spuckte in weitem Bogen nachdrücklichst dem Schwein auf die rosigen Nüstern. »Und wenn eins einmal stumpf geworden ist, Freundchen, so schert es sich auch den Teufel mehr um die Reinlichkeit und all das. Ja, du meinst vielleicht, es war auch bei mir mit der Reinlichkeit nicht gar so weit her,« fügte er hinzu, mit einem entschuldigenden Blick all das aufgehäufte Gerumpel streifend. »Aber du kannst in drei Teufels Namen in jede Hand eine Laterne nehmen und wirst doch im ganzen Wigwam des Iltisjägers nichts von Grind oder Laus finden!« »Na, laß jetzt einmal die kleinen Hundepfoten nachschauen!« Per streckte die Hände hin. »Ja, das sitzt gehörig fest, das geht freilich nicht mit dem Kratzen weg. Schauen wir also, was sich da machen läßt. Obzwar, was zum Teufel kann das nutzen, wenn du weiter bei dem Krätzsack liegen mußt? Und wenn man seiner Hoheit dem Bertel auf Nørhof was sagen möchte, so war das grad so für die Katz, wie dem Ferkel da eine Arbeit zumuten. Wie lang schleppst du dich denn schon mit dem elendiglichen Zeug?« »O, so an drei Monat wird’s schon sein,« erwiderte Per.
»Und von der Schule haben sie dich nach Haus geschickt? Wie lang ist das her?« »Drei Wochen.« »Und da hat dein Herr noch immer nicht dazu geschaut, daß du wieder rein wirst? Ja freilich, vermutlich hat er sich in die Faust gelacht, daß er dich jetzt daheimhalten und den ganzen Tag für sich rakkern lassen kann, ohne mit der lästigen Schule schikaniert zu werden. Ja, wirklich und wahrhaftig, es ist wie ich sag: Ich war schon in aller Herren Ländern, hab in Australien die Schafe gehütet und war Viehtreiber ganz unten in Brasilien, aber, der Deibel soll mich in seine Hölle holen, wenn ich irgendwo auf der weiten runden Erde so ein herrisches, hartherziges Volk getroffen habe wie hierzulande bei diesen als »aufgeklärt« ausposaunten Bauersleuten in ihrem stimmungsduseligen Sahneland! – Aber davon reden wir später einmal. Jetzt bist ja noch zu klein, begreifst nicht, was ich mein. Aber stumpf sollst du nicht werden! Dich nicht gehen lassen wie alle die andern! Immer den Kopf hübsch hochhalten, Freundchen! Und wenn auf dir herumgetreten wird – und es wird tagtäglich auf dir herumgetreten –, so mach eine Faust im Sack so lange, bis der Tag kommt, wo du stark genug bist, sie dieser wurmzerfressenen, bauernstolzen Geldsackwirtschaft mitten ins Gefries sausen zu lassen. Und schau nur wieder herein zu mir, wenn dich der Weg hier vorbeiführt und du Lust dazu
hast! Aber richtig,« fügte er hinzu, »du bist natürlich durstig, du kleiner Schmierfink, warte nur.« Roy zog eine Tasse hervor und füllte sie halb mit Wasser, goß etwas Saft hinein und schüttelte ein Pulver aus einer Tüte dazu. Das Wasser gischtete über den Rand der Schale hinaus. »Trink, trink!« lachte Roy, indem er Per die Tasse reichte. Per trank. Die Kohlensäure stieg ihm prikkelnd in die Nase. Nie im Leben hatte er einen so köstlichen Trunk geschlürft. »Hast noch nie eine Limonade bekommen? Na, natürlich nicht; soviel ich weiß, werden solche Getränke bei Berteis nicht geschenkt. Geh jetzt heim, Kleiner, und ich hoffe, du schmierst dich brav ein mit dem Teufelszeug, das ich dir gegeben hab. Leb wohl, Bürschel. Willst du nicht den »Estrup« hinterm Ohr krauen?Weißt, er hält was drauf und ist gewöhnt, daß ihm die Leute die kleine Aufmerksamkeit erweisen.«
IN DER KNECHTEKAMMER Wenn einmal unser fortgeschrittener, humaner, mit einem Worte aufgeklärter Bauernstand sein eignes Landwirtschaftsmuseum erbauen wird, um der Welt eine Vorstellung von der hohen Kultur des Standes zu geben, möge er die Kammer der Knechte nicht vergessen; doch für den Fall, daß es zu jener Zeit einen solchen Raum nicht mehr geben sollte – was wir uns versucht fühlen könnten zu wünschen –, so soll hier eine Skizze der Knechtekammer entworfen werden, wie sie bei dem Großbauer Bertel auf Nørhof bestand und ohne sonderliche Abweichungen sich heutigen Tags in Tausenden von Höfen rings in unserm geliebten Vaterlande findet. Eigentlich bildete sie keinen Raum für sich, sondern floß – im buchstäblichen Sinne – mit dem Pferdestall zusammen, von dem sie nur durch eine an mehreren Punkten durchbrochene Lehmwand geschieden war.
Statt die Begriffe des Volkes durch die Bezeichnung »Kammer« zu verwirren, sollte man lieber von einem Stall oder Knechtepferch reden. Man gelangte zu demselben über einen stinkenden See flüssiger Tierexkremente, die Sommer und Winter sich vor der ungehobelten Eingangstür sammelten. Die rostigen Türeisen und ausgerissenen Angeln machten es fast immer unmöglich, die Türhaspe vorzulegen. Der Umstand, daß der Stall hier am Nørhof nach der Väter Sitte zu allen Jahreszeiten als Abtritt für die Leute diente, unterstrich gleichsam das Unflätige dieses Wohnraums. Wagte man sich nun in diesen selbst hinein, sah man vor allem vier nackte Wände, die vielleicht einmal in längst entschwundenen Tagen etwas Kalkverputz gesehen hatten, nun aber eine Fülle von Spalten und Rissen aufwiesen, wie benagt vom häßlichsten, längsten Zahn der Zeit. Über der Stalltür, wo zwei, drei Lagen Steine herausgefallen waren, hatte man, um den Schaden auszubessern, ein klotziges Brett von der Dungstatt hingenagelt. Der Boden aus schwarzem, nässendem Lehm war immer mit dem Kot der Holzschuhe und ausgespucktem Kautabak bedeckt. Die Decke bestand aus lose aneinandergereihten Latten, über denen das Dachstroh des Hofes aufbewahrt war. Ging jemand über das Stroh, so wippten die Latten auf und nieder und Wurmmehl und Mäusedreck rieselte herab auf die wenigen wackligen
Möbel, die sich verschämt in die Ecken der Kammer verkrochen. Den größten Teil des Raums nahmen zwei mächtige hochbeinige Doppelbetten ein, zwischen deren Brettern überall das Stroh die Zunge herausstreckte. Das Prachtstück der Kammer war ein Kleiderschrank mit gemalter Eichenmaserung und gekehlten Türen. Er strömte noch etwas frischen Tannenduft in all die sonstige Stickluft aus. All sein Licht erhielt das Loch durch ein einziges ellenhohes, auf den Hof hinausgehendes Gitterfenster. Die Fensterrahmen und alle Winkel des Raums waren gepolstert mit Spinnweben, die, vom leichtesten Windhauch bewegt, das in ihre Netze verfilzte Häcksel und Haferstroh leise schaukelten. Eine verstaubte Schmierkanne muffte ranzig in einer Ecke des Fensterbretts, und in einer unverpfropften Tranflasche schwammen eine Anzahl Fliegenleichen. »Jetzt darfst du aber, meiner Sixt, nicht sparen mit dem Schmieren,« erklärte Laurin, der zweite Knecht, der, um Pers Anstalten, die Einreibung vorzunehmen, besser verfolgen zu können, die rußige Stallaterne herüberdrehte, deren Qualm und derber Petroleumgeruch von dem mit Gerumpel angefüllten Tisch über die Betten hinzog. Das außerordentliche Ereignis, daß der Hirtenjunge »eingeschmiert« werden sollte, rief allmählich die gesamte mobile Besatzung des Hofes herbei. Sogar
Ann-Kjestin stattete diesem Anlaß zu Ehren der Knechtekammer, wo sie seit Menschengedenken niemand gesehen hatte, einen Besuch ab. Sie überschritt jedoch nicht die Schwelle, offenbar in der Sorge, irgend etwas von dort mit wegzutragen. Von einem trockenen Steine inmitten des Dreckpfuhls vor dem Eingange warf sie einen forschenden Blick in die Kammer und teilte zugleich einige Befehle aus. »Was hat er dir denn zum Einschmieren gegeben?« fragte Ann-Kjestin. »Ein Pulver, das ich mit grüner Seife verreiben soll,« sagte Per. »Na, so schau nur, daß du’s ja gut durcheinander rührst,« sagte sie zu Per, der auf einer zerbrochenen Untertasse in einer häßlichen, nach Schwefeldunst riechenden Masse mit einem Holzspan herumkratzte. Ann-Kjestin wendete sich nun an den Großknecht: »Du, Anders, möchtest du nicht deine Holzschäfte, die du am Balken aufgehängt hast, wo anders hintun, bis sie besser ausgetrocknet sind? Ich dächt, daß der Trangeruch gar so höllisch scharf ist, drin zu schlafen.« »Ah, der Tran, der gibt so einen frischen Geschmack zwischen all dem andern,« versetzte Anders. »Und du, Laurin,« fuhr Ann-Kjestin fort, indem sie zu einem der Schränke hinaufdeutete, aus dessen oberstem Fach ein Bündel schmutziger Wäsche her-
ausquoll, »könntest du deine Schmutzwäsche nicht besser zur Seite schieben? Es schaut gar so eigen her, wie das da hängt.« Laurin lief hin und gab den am tiefsten herabbaumelnden Hemdärmeln einen Schwung, daß sie über die Schranktür hinaufflogen. »Wo war es denn, daß er die Iltisjungen aufgestöbert hat, der Roy?« frug sie weiter. »Da, meiner Treu, in meinem und dem Per seinem Bett,« entgegnete Anders. »Pfui über die Geschöpfe! Wie sich so ein ekliges Zeug nur hat einschleichen und hereinlegen können?« »Ja,« sagte Anders, »daran ist der Laurin schuld; er muß allweil in der Nacht den Stein aus der Außenmauer nehmen, und da kommt’s dann natürlich hereingeschlüpft.« »Ja was, soll eins vielleicht daliegen und ersticken?« wendete Laurin ein. »Hab ich dir nicht oft genug gesagt,« antwortete Anders aufgebracht, »daß, wenn du frische Luft haben willst, du ja die Stalltür aufmachen kannst?« »Ja, meiner Seel, das war’ das Rechte! Das war’ eine schöne frische Luft, die von dort hereinkam.« »Ach, tut euch jetzt nicht veruneinigen deswegen,« sagte Ann-Kjestin versöhnlich. »Jetzt hat der Roy den Kram ja doch mitgenommen.
Schmier dich jetzt gut ein, Per, daß du’s wieder los wirst und unter die Leute kommen kannst.« Mit diesen Worten drehte die dicke Ann-Kjestin sich schwerfällig um und ging ihres Weges. »Rein waten muß eins hin und her zu euch! Tut die Mutterstute das alles anstellen? Pfui, förmlich versinken tut man drin.« In der Stalltür traf sie Mette. »Geh, schau drauf, Mette, daß der dumme Junge sich ordentlich einreiben tut, daß er nicht am End es wieder gut sein läßt und eins all die Ungelegenheit und Spesen für nichts hätt. Und gib auch Obacht, daß, solang die Schmiererei im Gang ist, das Bett nicht frisch überzogen wird. Sonst möcht das Bettzeug nur gleich wieder angeschmiert werden!« »Überzogen?« frug Mette. »Seit der Bub da ist, ist noch kein einzigsmal überzogen worden!« »Na, einstweilen hätt’s auch gar keinen Sinn; solche Burschen, die liegen, weiß Gott, kaum eine Nacht drin, so ist alles schon wieder dreckig.« Damit hatte Ann-Kjestin ihren Inspektionsgang in die Knechtekammer vollendet und wurde nun von der diensttuenden Mette abgelöst, deren Augen förmlich glänzten vor schamlosem Eifer, den entkleideten Knaben in Behandlung zu nehmen. Mette war ein liederliches Ding, das die Nächte entweder bei dem zweiten Knechte hier in der Knechtekammer zubrachte, ohne Rücksicht darauf,
daß Per und der Großknecht dicht nebenan schliefen, oder auch die Gegend nach noch schlechteren Mannsleuten durchjagte. Mehr als einmal hatte sie dem kleinen Per rohe Anträge gemacht, die nicht verfehlten, allerhand Vorstellungen in ihm zu wekken; er hegte eine instinktive Scheu vor dieser Mette mit den wilden Augen und dem großen, unschönen Mund, der wie geschaffen schien, Blut aus offenen, frischen Wunden zu saugen. »Na, wirst du dein Gewand bald ausgezogen haben?« sagte Mette, Per an der Jacke packend. Per fuhr zurück und sagte mit drohenden Augen: »Ich werde es schon selber herunterkriegen; du brauchst nicht dazustehen.« »Na, hört einmal den Lümmel!« rief Mette. »Als ob die Ann-Kjestin mir nicht aufgetragen hätt, ich soll darauf aufpassen, daß du gehörig eingeschmiert wirst. Wirst du herkommen, du Fratz,« rief sie und packte ihn von neuem an. Per haute um sich wie ein Wilder, um Mette abzuschütteln; besonders als sie ihren Angriff auf die letzten Kleidungsstücke richtete. Wie ein kleines rasendes und reißendes Tierjunges stand er nackt und hilflos zwischen den drei angekleideten, erwachsenen Menschen; die zwei Männer schlugen sich auf die Schenkel unter rohem Lachen, warfen sein kurzes Hemd übers Knie zurück, deuteten und schlugen eine noch lautere Lache auf, als die
zynische Mette an ihm zerrte, um die letzten schützenden Fetzen von seinem Leibe herunterzureißen. Es war ein Kind, das um seine Unschuld rang und endlich geschändet wurde.
PER IST KRANK Das war eine furchtbare Nacht für den kleinen Per. Das Hemd legte sich ihm so fest an die Haut, als wäre es mit Vogelleim angeklebt. Die Hitze des zerwühlten Bettzeugs verbrühte fast seinen Körper. Wie sehr er sich auch drehte und wendete, er konnte nicht liegen; es war ihm, als wälzte er sich in einem ungeheuren Pechpflaster, das durch die Körperwärme mürb und klebrig geworden. Er hatte kaum wie ein Vögelchen ein Weilchen gedämmert, als er mit heftigem Kopfschmerz erwachte. Seine Sinne waren krankhaft empfindlich; der stinkende Teich an der Tür, Andersens mit Tran eingeschmierte Holzschäfte und der Dunst des Wäschebündels – all das roch er nicht nur, es legte sich ihm wie ein Belag auf die Zunge. Und dabei war er so furchtbar durstig. Wenn er nur einen Tropfen Wasser hätte!
Er mußte unwillkürlich an Roys Limonade denken. Wie die geschmeckt hatte, und was das doch für ein seltsamer Mann war, dieser Roy; und so herzensgut! Sonst gab’s nicht viele gute Menschen. Ja, Kild Pejrsen; und Jens Romler, der Tagelöhner, der ein so armer Teufel war und sich so gebückt hatte, damit er ihm den Deckrasen auf den Rücken laden konnte; und dann die Anni – die war gewiß auch gut, aber zuletzt war sie doch mit dem Jakob davongegangen. Aber diese Mette! Oh, der hätte er mit seiner Keule eins vor die Stirn versetzen mögen, ja, mit dem oberen Ende der Keule, wo sie mit all den breiten Nägelköpfen gespickt war. Ach, aber dieser Durst! Er hielt das nicht aus! Vorsichtig schlug er die Federdecke zur Seite und ließ die nackten Füße auf den Lehmboden niedergleiten. Es schwindelte ihm vor Kopfschmerz und Übelkeit; er umschiffte mühsam den stinkenden See und kam zur Stalltür hinaus. Der Mond stand wie ein großes Gespenstergesicht niedrig über dem Westflügel. Eine Schar weißer Tauben schlief auf dem First. Barfuß und in bloßem Hemde, dessen verkleisterte Falten sich wie Egel an seinen Körper ansaugten, gelangte er zum Brunnenrand. Er wagte nicht, frisches Wasser heraufzupumpen, da der ungeölte Brunnenschwengel gequietscht und alle auf dem Hofe geweckt haben würde. Er bog sich denn zum
Wassertrog nieder und trank begierig wie ein Tier, das den ganzen Tag nicht bei der Tränke gewesen. Krank und taumelnd gelangte er zur Stalltür zurück. Der Mond jagte seinen dünnen Schatten über das mattbeleuchtete Gebälk. Als Bertel am nächsten Morgen wie gewöhnlich rief, scholl es Pers Ohren wie ein Ruf im Nebel. Bertel mußte zum Bette hin und ihn schütteln. »No, mach, daß du aus den Federn kommst! Die Ochsen sind unten auf den Wiesen aufgestanden, es ist schon höchste Zeit.« Per richtete sich automatisch auf. Er hatte grüne Ringe unter den Augen, wie ein Mühlstein schien ihm die Lebenslast am Hals zu hängen. Er taumelte aus dem Bett, während Berteis hohle Holzschuhe Funken aus dem Stallpflaster schlugen. Aus der Stalltür tretend, war er noch nicht zwei Schritte gegangen, als er sich so heftig erbrach, daß es in den Rippen knarrte. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn, und er konnte vor Schwindel kaum seine eigenen Füße sehen. »Ich bin krank,« sagte Per mit leiser Stimme zu seinem Dienstherrn, der bei der Düngergrube stand und an einem Pflock bastelte. »Ach, bist du des Teufels? Meinst du vielleicht, du kannst so mir nichts dir nichts den Kranken spielen, jetzt in der Früh, wo das Vieh dasteht und auf die Weide hinaus muß?«
Pers Antwort war ein neuerliches Erbrechen, unter dem sein Körper so stark erzitterte, daß er sich an die Mauer lehnen mußte. »Was, ist der Jung krank?« rief Ann-Kjestin aus ihrem Hinterhalt in der Brauhaustür. »Ja, ihr könnt was Rechtes anrichten, ja, das könnt ihr,« antwortete Bertel; »es ist natürlich das Satansgeschmier, auf das ihr euch gesteift habt; früher hat der Jung recht gut seiner Arbeit nachgehen können, aber es hat geschmiert werden müssen. Euch sollte man, hol’s der Teufel, schmieren! Wirst du jetzt dem Rindvieh nachrennen? Oder weißt du vielleicht wen dazu zu stellen? Da geht ja die Mette, die lange Stange. Aber kann man denn die dazu haben, daß sie auch nur eine einzige Kuh auf die Trift führen oder die Koppel Schafe vom Fleck bringen tat? Nein, wenn sie nur mit dir tratschen und ihr miteinander euren Kaffee trinken könnt, mit dem Vieh mag dann geschehen, was will!« »Jetzt möcht ich aber wirklich meinen, du könntest dir die viele Rederei sparen; es hat sich doch darum gedreht, daß der Junge, wieder rein werden soll, das weißt du ganz gut. Und daß er das Zeug nicht verträgt, der arme Kerl, das ist wieder eine Sache für sich. Ist er aber krank, so muß er ins Bett, da helfen keine langen Geschichten.« »Na, so geh in Teufels Namen ins Bett, das wirst du hoffentlich vertragen,« sagte Bertel. »Aber wenn
du mir nicht bald wieder gesund wirst, so kannst du, bei meiner Seligkeit, wenn in Sörupen Jahrmarkt ist, daheim sitzen, da steh’ ich dir gut vor.« Auf diesen Jahrmarkt, der nächsten Monat abgehalten werden sollte, hatte sich Per, als auf die fast einzige Zerstreuung des einförmigen Hirtenlebens, seit langem unendlich gefreut. Per hatte schon drei, vier Tage mit ziemlich hohem Puls gelegen, als seine Mutter auf Umwegen Nachricht über seinen Zustand erhielt. Eines Nachmittags nun stand Ann-Marie Kjærsgaard in der Wohnstube auf dem Nørhof. Ann-Kjestin bot ihr einen würdevollen Willkommgruß, indem sie zugleich in die Küchentür hinausrief: »Mette!« »Ja – a!« »Setz den Kaffeekessel ans Feuer.« »Was denn für einen?« »Den blauen.« Zur Erklärung dieser Wahl muß man wissen, daß auf dem Nørhof Geschmack und Güte des Kaffees sich nach Stand und Stellung richteten. Am besten war der Kaffee der braunen Kanne. Sie wurde nur in seltenen Fällen für Familienmitglieder und Honoratioren verwendet. Recht gut war auch der der weißen; sie war zu Ann-Kjestins eigenem täglichen Gebrauch. Aber geradezu schlecht war der der blauen, die ausschließlich für die kleinen Leute und
des Sonntags für das Gesinde gehörte. Diese wurde denn auch Ann-Marie Kjærsgaard zugedacht. »Ich hab gehört,« begann Ann-Marie, »daß der Per krank ist.« »Ja, wir haben ihn müssen niederlegen lassen,« sagte Ann-Kjestin. »Es ist aber wohl nichts Arges?« frug Ann-Marie. »Ih nei – in. Kopfweh hat er, sagt er, und dann –, selbiges Jucken, das er bekommen hat; aber das kann man doch nicht grad für eine Krankheit rechnen. Sonst war er ein recht flinker Jung, ich kann’s in Wahrheit nicht anders sagen. Er hat uns nie einen Schaden gemacht. Und dem Essen hat er auch alleweil gut zusprechen mögen, bis auf die letzten Tage. – Ja, geh nur jetzt hinein und schau zu ihm.« Ann-Marie Kjærsgaard ging zu ihrem Sohn hinein. Sein Wirrkopf mit dem struppigen, sonnverbrannten Haar und dem blassen Gesicht hob sich scharf von dem schmutzigen Bettzeug ab. »Schaust du aber elend her!« sagte Ann-Marie und strich ihm über die feuchte Stirn. Per blickte mit einem müden, unbestimmbaren Blicke auf. »Du kannst doch deine Mutter erkennen, Per?« Pers Mundwinkel begannen zu zucken. »Wo tut’s denn weh, Kindlieb?« Er legte die Hand auf das Zwerchfell und die Schläfen.
»Meinst du nicht, du könntest einen Bissen Kuchen essen?« fragte Ann-Marie und begann eifrig die Stecknadeln aus einem kleinen Bündel zu ziehen und an die Brust zu stecken. Per schüttelte schwach den Kopf. »Nur einen Bissen!« bat Ann-Marie inständig. »Ich hab Zucker drauf gestreut.« Pers Antwort war nur ein neuerliches Kopfschütteln. »Nein, bist du so danieder? Und wie stark du schwitzen tust!« Sie streichelte ihm die Wange, während zwei große Tränen, die ersten, die sie seit undenkbarer Zeit geweint, auf Pers Bettstelle niedertropften. »Und nicht ein einzigsmal bist du seither zu deiner armen Mutter gekommen, daß man doch ab und zu hätt sehen können, wie’s mit dir steht. Hast du dich denn nie nach daheim gesehnt?« »Ja – aa!« sagte Per unter heftigem Weinen. Ann-Marie wickelte langsam das Tuch um den verschmähten Kuchen, nahm die Stecknadeln, eine um die andre, von der Brust herab und befestigte die Tuchenden. Sie stand noch lange und streichelte dem Sohn die Wange, ging hierauf still über den Hof und ins Haus hinein. Sie blieb stumm, solange sie ihren Kaffee trank. Als ihr eine zweite Tasse angeboten wurde, schob sie diese fest und bestimmt von sich: »Nein, danke!« AnnMarie Kjærsgaard verstand sich auch auf Kaffee.
»Na, was sagst du zu dem Jungen?« fragte endlich Ann-Kjestin. »Krank ist er, sag ich, und arg krank! Und dann sag ich, daß der Doktor geholt werden muß, ohne langes Besinnen.« »Jeses nein, der Doktor! Wegen so einem Burschen! Da werden wir uns schön bedanken!« sagte AnnKjestin. »Das ist jetzt schon nicht anders, als wie ich sag; und laßt ihr ihn nicht holen, so werde ich dafür zu sorgen wissen, daß es geschieht, und wer dann dafür aufzukommen hat, das werdet ihr schon erfahren! – Bist du überhaupt drinnen gewesen und hast nach ihm geschaut?« fragte sie streng. »Nein, ich freilich nicht, aber die Mette ist ja öfter bei ihm draußen mit seinem Essen gewesen, und dann und wann hat er auch ein paar Bissen genommen,« beruhigte Ann-Kjestin. »Von meinem Essen hat er aber nichts nehmen wollen, und ich weiß doch sonst auch, was er mag. Aber, wie gesagt, der Doktor muß geholt werden, morgen in aller Früh.« »Na, da wird der Bertel nicht wenig aufbegehren!« »Mag der Bertel tun, was er will, aber das Kind muß eine Hilfe kriegen, und das bald. Er hat niemand anders auf der Welt, der nach ihm schaut, als seine Mutter. Das erstemal ist er in der Fremde, und,
grad heraus gesagt, es tut mir genug weh, wie er dran ist.« »Wie er dran ist,« versetzte Ann-Kjestin erstaunt, »wie du dich aufs hohe Roß setzt! Hat er’s vielleicht nicht ganz ebenso wie die andern Dienstjungens, ja eher noch um ein kleines besser? Ich weiß zum mindesten, daß ich ihm manchen Bissen zugesteckt hab, von dem der Bertel nichts hätt sehen dürfen und den die andern Knechte auch nicht gekriegt haben.« »Übers Essen, da klag ich auch nicht,« gab AnnMarie zurück, »das ist gewiß nicht schlechter als sonstwo. Aber daß der Junge hat herkommen müssen, die Krätze bei euch zu kriegen, das, mein ich, ist Sund und Schad um ihn. Ich schick ihn her, er war, meiner Seel, rein von innen und außen; selber bin ich gestanden und hab ihm’s Haar gekämmt. Nicht eine Laus, nicht eine Spur von einer Laus war auf ihm, wie er bei euch eingestanden ist, so soll ich nimmer selig werden, wenn’s nicht so ist, wie ich’s euch sag. Und jetzt soll der Bursch herumgehen in der Schand und in keine Schule gehen dürfen und nicht zu andrer Leute Kindern? Ich begreif’s wahrhaftig nicht, daß so reiche Leute wie ihr auf dem Nørhof sich nicht schämen, sich so was nachreden zu lassen.« Wenn einmal Ann-Marie dieses Roß tummelte, war nicht gut mit ihr zu spaßen. Und also geschah es, daß Bertel am nächsten Morgen, mürrisch und verdrossen, seinen breiten
Hintern in die Polster des neuen Wagens drückte und zum Doktor fuhr. Als der Wagen am späten Vormittag wieder angefahren kam, empfing ihn Ann-Kjestin mit dem Ausruf: »O Jeses, schon der Doktor da! Das war doch schlimm, wenn der die alte, grausliche Bettwäsche sehen tat, die schon so lange nicht gewechselt ist. Mette, schau, daß du insgeheim noch geschwind das Bett überziehst, derweil ich ihm hier eine Tasse Kaffee vorsetze.« Mette schoß in die Knechtekammer, indes AnnKjestin eiligst die braune Kanne ans Feuer setzte. Unterdes aber war der Arzt schon ausgestiegen. Er war ein untersetzter, fettleibiger Herr mit blondem Vollbart, kleinen Füßen und einem Panamahut auf dem Kopfe. Ein feiner Gordon-Setter stand mit der schwermütigsten Miene neben ihm und streckte die Zunge gegen die Radspeichen heraus. »Da drinnen liegt er!« wies Bertel mit der Peitsche nach der Stalltür. »Na –«, erwiderte der Arzt, »haben Sie Ihre Leute im Stall? Da wird wahrscheinlich das Vieh in den Stuben sein?« »Wa – as?« fragte Bertel; er konnte zuzeiten recht schwerhörig sein. »Du, Bertel, Bertel!« flüsterte Ann-Kjestin verwirrt, indem sie ihren Mann am Rockärmel zupfte. Dann sagte sie mit erhobener Stimme: »Ach möchte der
Herr Doktor nicht auf einen Augenblick bei uns eintreten und eine Tasse Kaffee trinken – zuerst?« »Ja, danke, Ann-Kjestin, nachher!« sagte der Arzt und trat in die Stallkammer, wo Mette eben hastig um den Kranken herumhantierte, um den Befehl der Hausmutter zu erfüllen. »Oh, lassen Sie sich nur Zeit mit dem BettwäscheWechseln,« bemerkte der Arzt mit verständnisvollem Lächeln, »Reinlichkeit ist etwas sehr Gutes, auch wenn sie nicht gerade am Weihnachtsabend kommt.« Mette war glühend rot, als sie am Doktor Koldkur mit all den schmierigen Bettlaken im Arm vorbeiglitt. Der Arzt trat nun zu dem kranken Kinde. Die ganze Sache war ihm sofort klar. Er guckte hinter die vom Schwefel stinkenden Ärmelleisten des Knaben, hob dessen matte Hand ein wenig in die Höhe und schaute zwischen die Finger. »Wo ist das, womit ihr ihn eingeschmiert habt?« fragte er. Bertel schob den Topf scherben über den Tisch hin. »Das ist ja der reine Mordversuch!« murmelte der Arzt. »Roys Kuren könnt ihr meinethalben anwenden für die Schweine oder bei Viehseuchen; von menschenähnlichen Patienten soll er zum Kuckuck die Finger lassen. Das könnt ihr ihm von mir aus-
richten. Bei einem Haar hättet ihr das Kind umgebracht – Quacksalber-Idioten! Wenn ihr auch eure Leute beinahe wie die Rosse leben laßt, so vertragen sie doch nicht alle solche Roßkuren. Der da zum Beispiel ist dazu nicht fest genug. Aber versteht sich, es ist ja so schön billig, was, Nørhofer? Drei Lot Sebedillsamen um fünfundzwanzig Öre! Das macht kein zu großes Loch in den lieben Geldsack. Nicht wahr, mein Lieber?« »Freilich, da drauf muß eins auch seinen Bedacht haben!« versetzte Bertel. »Ja, da drauf muß man auch bedacht sein, natürlich! Wenn auch das Kind krepiert, das hat nichts zu bedeuten; es kommt nur darauf an, daß es auf billige Art geschieht; alles ist gut, wenn nur die Operation an dem Geldbeutel leicht und schmerzlos verläuft; ja, ich kenne euch – ihr Beuteltiere! Bei wem schläft er?« »Er ist die ganze Zeit über beim Großknecht gelegen,« erklärte Bertel. »Kann ich den sehen?« Anders wurde hereingerufen. »Wollen Sie mir Ihre Hände zeigen?« Anders reichte die rechte Hand dar, die schwer und gebräunt wie eine gewaltige Hummerschere herabhing. »Wie lange gehen Sie schon damit herum?«
Anders verstand nicht, worauf sich die Frage des Arztes bezog. »Ich meine die Räude, die Krätze, das skrofulöse Ekzem, in das Sie wie in eine Kapsel eingesponnen zu sein scheinen.« Anders stand immer verblüffter glotzend da. »Sind Sie taub, Mann? Haben Sie die Sprache verloren, daß Sie nicht antworten?« »Ja wa –was meint der Herr Doktor?« stotterte Anders. »Ich meine, sind Sie von Geburt krätzig, oder wann sind Sie es geworden?« »Ach, das da! Ja freilich, das ist schon eine gute Weile, aber das tut nicht den geringsten Schaden von der Welt nicht.« »Aber Mensch, wollen Sie es denn nicht loswerden?« »Nein, wozu denn? Das scheniert mich gar nicht, und dann ist man wenigstens vor allen andern Krankheiten gefeit,« antwortete Anders. »Vor andern Krankheiten gefeit? O heilige Einfalt! Wer hat Ihnen denn diesen Kapitalblödsinn in den Kopf gesetzt?« »Das hört man doch alleweil, daß wer die Krankheit hat, von allem andern freibleibt; und da dran ist doch beileib nichts, ob man das hat oder nicht,« sagte Anders.
»Sie wollen sich also nicht einer höchst notwendigen Kur unterziehen?« »Hm, hm!« hustete Bertel, der schon Angst hatte, den Knecht in dieser Zeit, wo so viel zu tun war, entbehren zu müssen. »Eine Kur? Dessentwegen? Nein, Gott bewahre mich! Dazu hab ich keine Zeit und kein Geld nicht.« »Gar jetzt, wo die härteste Zeit ist,« warf Bertel ein. »Was für Menschen!« seufzte Koldkur. »Nun gut! Aber Sie haben dafür zu sorgen, daß der Knabe da nicht länger in einem Bett mit Ihnen liegt. Das muß ich auf das dringendste sowohl Ihnen als auch Ihrem Dienstherrn einschärfen. Sie können jetzt wieder gehen.« Koldkur wendete sich nunmehr an Bertel. »Ja, das Kind ist ernstlich erkrankt. Es muß sobald als möglich ins Spital.« »Ins Spital?« rief Bertel verblüfft. »Und wer soll denn das zahlen? Ich doch nicht? Und seine Eltern sind ja in der Gemeindeversorgung. Das muß also wohl der Gemeinde ihre Sache sein, ob sie was tun will.« »Hört, Bertel, ich will des Teufels sein, wenn Ihr jetzt nicht eine ordentliche Tracht Prügel verdient!« sagte der Arzt und trat, die Hände in den Hosentaschen, dicht vor Bertel hin.
»Der Knabe ist hier in Euerm Hause angesteckt worden, und zwar dadurch, daß Ihr ihn mit einem notorischen Krätzkranken das Bett habt teilen lassen, und wenn er nun durch Eure Fahrlässigkeit um seine Gesundheit gekommen ist, so fragt Ihr noch, ob Ihr das Spital zu zahlen habt? Nun, mir ist es übrigens gleichgültig, wer zahlt. Daß Ihr als des Knaben Dienstgeber Euren Teil werdet beitragen müssen, ist meiner Ansicht nach selbstverständlich. Die Hauptsache ist jetzt, daß er irgendwohin kommt, wo er ordentlich gepflegt wird und reine Luft hat. Denn in diesem Loch« – Koldkur ließ einen verabscheuenden Blick über all den Unflat der Knechtekammer gleiten – »ja, wenn mein vortrefflicher neuer GordonSetter hier eingesperrt würde, in einer Woche wäre er in einen Dackel verwandelt.«
IN DER SCHULE Rings um das Hwarrer Schulhaus tummelte sich lärmend und jauchzend ein Schwärm von Kindern, die Schüler der zweiten Klasse. Die Knaben stürzten zum Teich des Pastors hinunter, um die Zehen im Schlamm zu netzen und nach den Stichlingen zu schauen. Die Mädchen spielten in mehreren Gruppen Ball auf den grasbewachsenen Spielplätzen. In der Schule wie im Leben werden die Gruppierungen von der Schwere des Geldbeutels und der Zahl der Getreidesäcke bestimmt. Man kann auf den ersten Blick sehen, daß es die Töchter der Hof bauern sind, die den Spielplatz beherrschen; sie geben sich ganz und voll dem Spiele hin, in dem Gefühl der Sicherheit, daß niemand an ihnen etwas auszusetzen wagt. Sie fliegen dem Ball nach, mutwillig und elastisch – wie jährige Füllen, die nach guter Haferfütterung hinaus aufs Sommergras gelassen wur-
den. Ihre netten Schuhe federn und geben dem Fuß Leben und Sprungkraft; sie haben die Taschen voll Zuckerwerk und Zeitchen, die sie fleißig nach oben und minder fleißig nach unten austeilen; sie lachen und schnattern unaufhörlich, indes der Malzzucker sich zwischen den kleinen glänzenden Zähnen hin und her schiebt wie ein Zaum. Die herabfallenden Löckchen werfen sie mit rascher Nackenbewegung nach hinten, sie schieben keck das Kleid über das Knie hinauf, um das widerhaarige Strumpfband zu ordnen, denn einige beginnen schon zu ahnen, daß sie hübsche Beine, und ganz entschieden, daß sie hübsche Strümpfe haben. Inmitten dieser Schar fällt Dorre Romler, die Tagelöhnerstochter, das Kind der Moorheide mit den trüben Augen auf. Aus besonderer Gnade hat sie Erlaubnis erhalten mitzuspielen. Plump und aufgedunsen von allzuviel Brot und Kartoffeln, hält sie sich steif, wie eben befangene Menschen es tun, die stets darauf gefaßt sind, daß man mit Fingern auf sie weist. Die unverwüstlichen Flickenschuhe verbieten jede übermütige Bewegung, und ihr blonder Zopf, der dünn wie ein Rattenschwänzchen ist, bewegt sich gravitätisch wie der Perpendikel einer altmodischen Pendeluhr. Dorre spielt nicht, sie gebärdet sich als Repräsentantin der Häuslerklasse auf dem Spielplatze der Bauerntöchter. Fängt sie den Ball, was nicht oft geschieht, so schlägt sie ihn zu Boden
mit der unbeweglichsten Miene von der Welt. Fliegt er schmählich an ihr vorbei, so blickt sie finster und streng nach allen Seiten, ob niemand kichert. Mit Herzleid muß Dorre gewahr werden, wie schwer es ist, sich in Flickschuhen hier auf Erden zu behaupten. Die andern ärgern sich über ihr teilnahmsloses Spiel, und als Dorre ein paarmal danebengeschlagen hat und dafür jedesmal mit dem Zuruf »Klotztrine« belohnt worden ist, gibt sie endlich das Spiel auf und schleicht sich bitterlich weinend, die Zehen in ihren Lappenschuhen nach einwärts gezogen, hinweg. Per hat an einer Ecke gestanden und hat abwechselnd dem Treiben der Knaben und der Mädchen zugesehen, ohne selbst an dem Spiel irgendwie teilzunehmen. Er ist noch etwas bleich nach seinem Spitalaufenthalt, und seine abstehenden Ohren schälen sich. »Jetzt müssen wir hinein,« schreit plötzlich eine muntere Mädchenstimme; indem erhält Per einen leichten Klaps auf seinen Joppenärmel, er dreht sich um und sieht Annis enteilende Strumpfbeine. Mit genauer Not holt er sie beim Eingange ein. Sie hat nur noch knapp soviel Zeit, ihm ein paar Stückchen Brustzucker in die Hand zu stecken und zu flüstern: »Sollen wir beide mitsammen nach Haus gehen?« Per antwortet mit zustimmendem Kopfnicken; ihre langen Flechten, gelber als Haferstroh, schwingen
wie Glockenschwengel über ihren Schultern hin und her. Der Unterricht nimmt unter leisem Summen seinen Gang. Auf einmal entsteht ein Geräusch in der ersten Bank. Lehrer Gydesen wendet sich rasch um und sieht, daß Pers geballte Faust schwer auf den Schädel eines neben ihm sitzenden großen, wohlgekleideten Burschen niederfällt; zugleich brechen große Tränen aus Pers Augen. »Aber! Was ist denn das?« ruft Gydesen mit Strenge aus. Per stößt schluchzend heraus: »Er soll nicht mit mir anfangen und sagen, daß ich die Krätze hab. Denn das ist eine Lüge, ja das kann ich sagen! Ich hab gar keine Krätze mehr, ich hab sie nicht, das kann ich sagen. Und ich kann doch nichts dafür, daß ich die Krätze gekriegt hab, weil ich beim Knecht hab liegen müssen. Aber jetzt hat der Doktor gesagt, daß ich sie nimmer hab; ich bin kuriert worden, das bin ich, ich kann’s sagen; so soll er nicht wieder anfangen und sagen, daß ich sie noch hab; denn ich hab sie nicht, das ist nicht wahr! …« Pers Schläfen zitterten vor innerlicher Erregung. »Ja, das ist ganz in der Ordnung, was der Per sagt,« nahm nun Lehrer Gydesen Pers Partei. »Ich habe das ärztliche Zeugnis erhalten, daß er vollkommen ausgeheilt ist. Glaubt ihr, ich hätte ihm sonst erlaubt, in die Schule zu kommen? Schäme dich, Jörgen, ihn mit
etwas aufzuziehen, worüber du gar nicht Bescheid weißt. Wenn du glaubst, du darfst dir ein Recht dazu herausnehmen, weil dein Vater einen Hof hat, bist du auf dem Holzweg; in meiner Schule sind alle gleich; hier gilt jeder einzig nur nach dem, was er kann, und was das betrifft, so steht der Per keinem von euch andern nach, obwohl er diesen Sommer soviel hat versäumen müssen. Und euch Bauernsöhnen stünde es weit besser an, anstatt die armen Jungen, die in Dienst gehen müssen, zu hänseln, eure Eltern dazu zu bereden, daß sie daheim besser gehalten würden und es in der Knechtekammer und andern Orten, wohin sie aufs Geratewohl geschmissen werden, etwas menschlicher aussehen möchte. Ich habe selbst ein paar Jahre zubringen müssen in diesen Kammern –.« Die Kinder blickten erstaunt ihren Lehrer an. »Ja, ich bin auch Knecht gewesen,« fuhr Gydesen fort, »und ich weiß, wie das tut. Ihr hättet auch diese roten Wangen und hellen blauen Augen nicht, wenn ihr jahrelang in diesen schauerlichen Höhlen leben müßtet, in dem furchtbaren Schmutz und Unflat.« Gydesen hatte sich in große Heftigkeit hineingeredet. Die Kinder flüsterten verstohlen einander zu. Besonders steckten die kleinen Hüterjungen auf allen Bänken die Köpfe zusammen. Aus Pers Augen war jede Spur von Tränen weggewischt, und er schaute den Lehrer mit einer unsäglichen, wenn auch ein
wenig verlegenen Dankbarkeit an. Wie ein Märchen klang’s in seinen Ohren, daß ein Knecht Schullehrer werden konnte. Aber dann mußte man sicherlich erschrecklich gescheit sein. Sicher durfte er sich so etwas nicht träumen lassen. Das mußte doch auch entsetzlich viel Geld kosten? Wo sollte einer das hernehmen? Nein, wenn er nur wenigstens so reich würde, daß er sich ein spiegelblankes Federmesser kaufen könnte, so eins mit einem eingekratzten Schwan drauf, wie es der eklige Jörgen nebenan von seinem Vater bekommen hat und mit dem er immer so groß tut. Aber auf alle Fälle wollte er sich jetzt mit Eifer an die Rechenaufgaben machen, damit er noch vor November den ganzen zweiten Teil fertig brächte; dann war er dem Jörgen und den andern aufgeblasenen und ewig hänselnden Protzenbuben weit voran. Wieder nahm der Unterricht unter leisem Summen seinen Fortgang. Plötzlich glitt die Tür auf, und ein alter, vornehmer Herr in schwarzem Schößenrock trat in die Schulstube. Es war der Ortsgeistliche Pastor Selig, ein etwas gezwungen lebhafter Mann mit weißbärtigem Eichhörnchengesicht und einer altväterlichen Hornbrille, deren Stangen zwischen die zierlichen Haarbüschel hinter die Ohren gesteckt waren. »Setzt euch nur nieder, ihr kleinen Schelme!« sagte der Pastor mit einem eigentümlich prickelnden
Lachen und schwenkte den Spazierstock nach den Schulbänken hin, dem Lehrer zugleich die Hand reichend. »Nun, ich komme, um einen Blick in die Geldbußenliste der Schule zu werfen,« sagte der Geistliche, zu Gydesen gewendet. »Es hat sich nämlich ein großes Geschrei und Gezeter erhoben,« fuhr er halblaut fort, »über das neue Strafgeldersystem, auf das Sie mich bewogen haben einzugehen; die Leute geraten rein außer Rand und Band; und da sehe ich denn keinen andern Ausweg, als daß wir die Geschichte notgedrungen wieder rückgängig machen.« »Wer sind denn diese Mißvergnügten?« fragte der Lehrer. »Ja, zuvörderst natürlich alle, die schulpflichtige Hüterjungen bei sich im Dienst haben,« antwortete der Geistliche. »Nun, darauf waren wir ja vorbereitet, daß die klagen würden. Gerade deshalb haben wir ja in erster Linie die Strafgelder erhöht, um den Schulbesuch dieser Kinder zu heben und zu verhindern, daß sie von ihren geizigen oder indolenten Dienstgebern allzu herzlos mißbraucht werden. Ich finde also nicht, daß wir irgendwie Grund haben, nervös zu werden, weil sie sich einigermaßen auf die Hinterbeine stellen.« »Doch, doch, sie werden allzu ungebärdig, Herr Gydesen, es geht wahrhaftig nicht an! Es muß
eine Änderung eintreten. Sie wissen auch recht gut, daß ich in dieser ganzen Sache auf einem andern Standpunkte stehe als Sie, Herr Lehrer. Da geht ein ganzer Haufe armer Eltern herum, der kein Brot für sich, geschweige denn für die Kinder hat. Wenn wir da den Bauern nicht ein wenig durch die Finger sehen, sondern ihnen bei der kleinsten Versäumnis strenge Geldbußen auflegen, so wird wahrlich nichts andres dabei herauskommen, als daß die Kinder wieder zu den Eltern heimspazieren können; das hat man mir von mehr als einer Seite versichert,« bemerkte der Geistliche. »Herr Pastor haben zu Anfang sehr richtig bemerkt, daß ich in dieser Angelegenheit auf einem andern Standpunkt stehe. Ich bin der Ansicht, daß, solange das Kind in die Schule geht, sein Platz im Elternhause ist und nicht rings auf den Rübenäckern der Hofbauern. Aber das ist ja eine Sache für sich, die wir nicht auf eigene Faust regeln können. Was aber in unserer Macht steht, ist, dafür zu sorgen, daß die Kinder an den gesetzlichen Schultagen auch zur Schule kommen. Und wie Sie aus den Listen der verhängten Strafen entnehmen können, sind nicht halb so viele Versäumnisse unter dem neuen System vorgekommen als unter dem alten, bei dem es möglich war, die Kinder ganze Monate lang zu Hause zu behalten, ohne daß die Bauern, die sich solch herzlosen Handelns schuldig machten, es ordentlich am
Geldbeutel zu fühlen bekamen. Ich muß also auf das entschiedenste abraten, von einem System abzulassen, das sich so segenbringend für die als Knechte verdingten Jungen bewährt hat. Den Bauern ist wahrlich noch immer Spielraum genug gelassen, diese Kinder trotzdem zu mißbrauchen. Und ich verstehe nicht, wie eine Schulkommission die Verantwortung auf sich laden kann, die Kinder, die ohnehin aller Geldmittel entblößt sind, auch der Möglichkeit zu berauben, dieselben Kenntnisse zu erlangen wie die Kinder der Grundeigentümer, daß sie ins Leben hinausgetrieben werden, ohne auch nur ordentlich rechnen und schreiben zu können. Auf diese Weise wird ja geradezu eine Pariakaste zum Schaden und Verderben unsrer bürgerlichen Gesellschaft gezüchtet. Jedenfalls kann ich mich zu keiner andern Überzeugung bekennen, noch will es mir als eine würdige Aufgabe für eine Schulkommission erscheinen, das Kind des armen Mannes in Dummheit und Unwissenheit niederzudrücken, nur damit die erbgesessenen Bauern stets eine reiche Auswahl von Knechten haben. Ja, Sie müssen entschuldigen, Herr Pastor, daß ich mich so frei ausdrücke, aber so und nicht anders vermag ich diese Sache aufzufassen.« Pastor Selig hörte eigentlich gar nicht mehr zu. Es war nicht das erstemal, daß es zwischen ihm und dem Lehrer Gydesen wegen dieser schulpflichtigen Knechte zu einem Zusammenstoß kam, wiewohl die
Sache den Pastor nicht besonders interessierte. Die sozialen Fragen der Zeit hatten seine Aufmerksamkeit nie sehr zu fesseln vermocht. Erfand, sie entbehrten jenen Geisteshauch, der allein die Äolsharfe des Herzens zum Tönen bringt! Und was die in Rede stehende Sache betraf, so genügte es ihm, daß einige der Angesehensten in der Gemeinde, »sogar Leute von wirklich beträchtlichem Einkommen,« starken Widerstand dieser Reform entgegensetzten, die ihm Lehrer Gydesen in einer schwachen Stunde abgerungen hatte. Er bereute schon bitter, daß er sich jemals dazu hergegeben. Der Pastor hatte ein Buch vom Katheder genommen und schaukelte es auf den gekreuzten Beinen, indem er, in andre Gedanken vertieft, darin hin und her blätterte. Gydesen fuhr fort: »Ich weiß nicht recht, ob ich noch weiter auf die Aufmerksamkeit des Herrn Pastors für das, was ich zu sagen habe, rechnen kann, aber ich möchte darauf hinweisen, daß selbst bei den jetzigen hohen Bußen die Schulverhältnisse der jugendlichen Knechte keine günstigen sind. – So ein kleiner Knirps muß des Morgens schon um vier aus dem Bett, um alles Vieh auf die Triften zu treiben, dann wieder in rasender Eile nach Haus, etwas frühstücken, denn er kann doch nicht mit ganz leerem Magen in die Schule kommen; erst wenn all dies besorgt ist, kommt er her, immer zu spät, obgleich er sich abgehetzt und
abgelaufen; und wieviel Zeit, glauben Sie, bleibt zum Aufgabenlernen daheim bei einem sechzehn- bis achtzehnstündigen Arbeitstag? Und wie soll ich es übers Herz bringen, ihn auszuschelten? Ich weiß doch sehr wohl, woran eigentlich die Schuld von all dem liegt. Und da kommt nun ein solches Kind her und soll sechs bis sieben Stunden dem Unterricht im schwülen Schulzimmer folgen; gestern kroch es den ganzen Tag auf einem Rübenacker umher, heute hat es eine weite Runde über Trifften und Hochwiesen gemacht, zu einer Zeit, da Sie wie ich noch fest auf den Ohren lagen; ist das nicht selbstverständlich, daß solch ein Kind in Schlaf sinken muß, wenn es nun endlich in der Sonnenhitze ruhig dasitzt? ,Herr Lehrer! Jens schläft! Per schläft! Hans schläft!’ so melden die andern jeden Augenblick, auf die kleinen Verbrecher deutend; und – ja ich bekenne es geradezu, Herr Pastor, ich lasse regelmäßig die kleinen Knechte eine Stunde wenigstens schlafen und bitte die andern Kinder, sie unterdessen nicht zu stören. Ich kenne freilich auch Kollegen, die solche Jungen mit einem Buckel voll Schlägen traktieren, aber ich halte derartige Lehrer für wahre Büttel gegen die Kinder und gegen die gesunde Natur.« »Ja, ja, Herr Gydesen, ja, ja! Ihre humanen Betrachtungen mögen ja sehr richtig sein, aber wir dürfen es doch wahrhaftig nicht so weit treiben, daß es sich den Bauern nicht mehr lohnt, Hüter jungen zu
halten. Übrigens, wo haben Sie ein paar von diesen Kerlchen?« sagte plötzlich der Geistliche in seiner burschikosen Art und erhob sich von seinem Stuhl. »Oh, da ist zum Beispiel der dort, der beim Nørhofer Bertel dient; er ist fast der Tüchtigste in der Klasse, besonders im Rechnen. Aber er hat ja jetzt so außerordentlich viel versäumt, er hat nämlich im Spital gelegen.« »Wie, du warst krank, mein Junge?« fragte der Pastor. »Nein, krank war ich nicht, ich habe nur die Krätze gehabt. Aber ich bin sie wieder los,« fügte Per mit Nachdruck hinzu. »Na, du sollst ja ein kleiner Rechenkünstler sein! Aber kannst du nun auch einige Psalmen? Welche Psalmen haben Sie in letzter Zeit mit ihnen durchgenommen, Herr Gydesen?« »Die letzten waren Morgen- und Abendpsalmen!« antwortete der Lehrer. »Dann bin ich überzeugt, mein Junge, du kannst den herrlichen Psalm: Morgenstunde hat Gold im Munde!« Per sagte ein paar Verse ohne sonderliches Stocken her. »Richtig! Findest du nicht auch, mein Kind, daß solch ein Tag es wahrlich wert ist, Gott dafür zu danken, so daß wir ihn preisen mit unserm Munde, wenn wir die Sonne in all ihrem Glänze aufgehen
sehen, wenn der Tau auf dem Grase liegt und die Lerche von ihrer jungen Brut emporflattert! Nicht wahr, mein Kind, solch ein Tag ist wahrlich herrlich für einen Christenmenschen! Meinst du nicht auch, kleiner Per?« »Jaa, wenn man nur nicht unter den Rüben umkriechen müßt!« Der Pastor, der eine so prosaische Antwort nicht erwartet hatte, wendete sich rasch an einen andern Hüterjungen. »Nun kannst wohl du, mein Kleiner, mir ein paar Verse aus dem gewaltigen Psalme: Selig grüßet und preiset den Tag, sagen.« Das Bürschchen stotterte den Text her, offenbar ohne etwas davon zu verstehen. »Hast du nun auch mit all den Fühlern deines Kindergemüts diesen gewaltigen Psalm zu fassen vermocht?« Der kleine Kerl verstand immer weniger und weniger Pastor Seligs blumenreiche Sprache. Dieser fuhr fort: »Wenn du diese gewaltigen Zeilen liest: Wie Gold ist der frühe Morgenstrahl, wenn der Tag aufersteht vom Tode – – hast du da nichts von Lerchenlust sich in dir regen gefühlt, daß es vor deinem inneren Auge funkelte wie eitel Gold?« »Nein,« sagte der Knabe. »Wann stehst du denn des Morgens auf?« »In der Früh um halb vier gewöhn-
lich.« »Ja, aber dann mußt du das gewaltige Schauspiel doch oft gesehen haben?« »Zu der Tageszeit ist man allemal gar so schläfrig,« erwiderte der kleine Knirps. »Weißt du wohl, mein Kind, wer diesen herrlichen Psalm gedichtet hat?« – Schweigen. »Wa–as? Du kennst nicht die mächtigste Säule des dänischen Geisteslebens?« »Nein,« antwortete der Knabe. »Wer kann es mir sagen?« »Der Herr Pastor hat’s gedichtet!« rief ein kluges kleines Mädchen aus der zweitvordersten Bank. Die Großen steckten die Köpfe zusammen. »Du glaubst, ich hätte ihn gedichtet, meine Kleine?« sagte Selig geschmeichelt. »Weshalb glaubst du das?« »Weil dem Herrn Pastor sein Name in der ersten Zeile steht.« – Lachend ging der Pastor zu dem nächsten Knaben über. »Kannst also du mir einen Abendpsalm auf sagen?« wendete er sich an einen kleinen Zerzausten, der ganz hinten an der Wand saß. Schweigen. »Hast du nie von einem Psalm gehört, der beginnt: Friedlich ruhen Land und Stadt?« Unerschütterliches Schweigen. Nun tritt Gydesen hinzu und sagt: »Aber ja, den kannst du gewiß, Anders; ihr habt ihn ja für heute aufgehabt.«
Doch nun begannen düstere Wolken über Anders’ Stirn zu ziehen; man mußte gefaßt sein, daß es jeden Augenblick zu tröpfeln beginnen würde. Endlich bricht Anders sein Schweigen und stammelt: »Wie ich gestern vom Moor heimgekommen bin, hab ich mir die Latern angezündet und mich in die Knechtekammer hingesetzt um zu lernen; aber gerad wie ich mir die erste Zeile hersag: Friedlich ruhen Stadt und Land! – kommt der Großknecht mit einer von den Viehmägden, und dann packt er mich am Haar und sagt – – –« Anders blickt ratlos vom Lehrer auf den Pastor, als wollte er Klarheit erhalten, ob es auch anginge, die Äußerungen des Großknechts wortgetreu wiederzugeben. »Nun, was sagte er denn?« fragte der Pastor. »Er hat gesagt: Zum Teufel hinein, was sitzt du denn jetzt zu der Tageszeit da und plärrst! Du Saubub! Schau, daß du hinauskommst; jetzt gehört die Kammer uns! – Und dann haben sie mich hinausgefeuert. Aber draußen am Graben, da hat man nicht sehen können zum Lernen, es war kein Mond gestern.« Pastor Selig wendete sich in großer Enttäuschung ab. »Ja, ja, Herr Gydesen, wir müssen nichtsdestoweniger den Wünschen der Beschwerdeführer gerecht
werden,« schloß er und huschte aus der Schulstube hinaus.
AUF DEM HEIMWEGE »Rennen wir jetzt geschwind davon, bevor Dorre herauskommt!« sagte Anni mit glänzenden Augen zu Per, als die Schule für diesen Tag zu Ende war und die Schar der Kinder aus den Klassen herausströmte. Per konnte sich nicht ganz des Gefühls erwehren, daß dies nicht recht gegen Dorre sei, der er sich sonst anzuschließen pflegte, da sie so ziemlich denselben Weg hatten; aber Anni »Nein« zu sagen, das vermochte er nicht, und bald hatten die beiden einen so großen Vorsprung, daß die schwer bewegliche Dorre, die stets als eine der letzten aus der Gangtüre kam, nicht daran denken konnte, sie noch einzuholen. Anni bot Per neuerdings von ihrem Brustzucker an und fragte ihn eifrig über seinen Aufenthalt im Spitale aus. Per erzählte mit endloser Begeisterung von der wundersamen Welt, die ihn dort aufgenom-
men. In den ersten Tagen, als er die Kur durchmachte, war’s freilich recht schlimm gewesen, aber später, als er aufstehen durfte und der erklärte Liebling der Krankenwärterinnen geworden war, führte er zwei, drei Wochen lang ein wahres Schlaraffenleben, wie er es auf Erden gar nicht für möglich gehalten hätte. »Fast jeden Tag hab ich süße Suppe mit Zwetschken und Rosinen drin bekommen, und mein Hemd und meine Bettlaken, die waren meiner Seel so weiß, fast – wie soll ich nur sagen – wie dein Hals da!« Anni wurde ein klein wenig rot bei diesem merkwürdigen, wiewohl schmeichelhaften Vergleich. »Manchmal, versteht sich, ist einem auch wieder die Zeit lang worden!« fuhr Per fort. »Aber so gut waren die Leute. Ich hätt vielleicht um etliche Tage früher nach Haus können. Da hat aber der Doktor zur Krankenpflegerin gesagt, damit hätte es keine Eil. »Nimm dir nur Zeit, mein Junge, und schlaf dich gut aus,« sagte er zu mir und hat mich so auf die Backen geklopft. Und immer war er so aufgeräumt und hat Spaße gemacht. Einmal fragte er mich: »Kannst du mir sagen, mein Junge, wer der Vater von des Zebedäus Söhnen war?« Im Augenblick hat mir’s nicht einfallen wollen; wie er aber von den andern Kranken zurückkommt, hab ich’s gewußt. Da hat er gelacht und mir eine ganze Krone geschenkt. Und die geb ich, meiner Seel, so geschwind nicht aus.«
»Ja aber, wer war denn also – der Vater von den Kerls?« fragte Anni. »Kannst es nicht erraten? Der Vater von dem Zebedäus seinen Söhnen, das war natürlich der Zebedäus.« »Ha, ha, ha, ha!« lachten sie beide in schönem Verein. Per fuhr mit seinen Lobpreisungen fort: »Und jeden Tag haben wir mit Messer und Gabel gegessen und dann auch ein jedes extra so ein weißes Ding gekriegt, wie heißt’s nur?« »Ein Tischtuch!« half Anni. »Nein, na alles eins, ’s war was, woran man sich hat die Hände abwischen können.« »Ach ein Salvet!« rief Anna strahlend. »Nein, jetzt fällt’s mir ein: Serviette hat’s geheißen,« erklärte Per. »Die haben’s im Pfarrhof auch,« sagte Anni. »Nein, so fein ist ’s dort zugegangen? Das darfst du keck sagen, daß du dort gewesen bist!« »Ja, und dann, wie eins in den Betten geschlafen hat! Oh! – Und geträumt! Du kannst mir’s glauben, ’s war ein hartes Stück, dann wieder zurück in die Knechtekammer heim müssen! Eine Nacht hat mir geträumt – nein, das erzähl ich nicht, denn da warst du auch mit dabei!« »Ja, Per, du mußt’s erzählen!«
Per fuhr fort: »Mir war so, als wenn ich oben im Himmel war, und da war so eine lange weiße Stube; und ganz am obersten Tischende ist der Hausierer gesessen; du kennst ihn doch auch mit seinem Kramkasten aufm Buckel; und er war so schön balbiert und alle die andern auch. Und er sagt zu mir: Du bist aber ein geschickter kleiner Kerl, daß du da heraufgekommen bist; aber du hast ja, scheint mir, deine Keule aufm Nacken; schmeiß sie nur zur Tür hinaus, Freund, denn den Bertel und seine Küh, die findest du hier oben nicht. Da bin ich hinausgegangen und hab die Keule weit weg geschmissen, und es scheint mir, daß sie grade auf den Nørhof hingeflogen ist. – Wie ich dann aber wieder hineinkomm, ist der Hausierer weg, und du bist an seiner Stelle gesessen; und so ein weißes Kleid hast du angehabt und in der Hand mein kleines Zaunkönigsei getragen. Dann aber ist auf einmal der lange Jakob dagestanden, so dreckig, als hätt man ihn just aus dem Mist hervorgezogen.« »Uh, der eklige Junge! Der muß aber auch überall dabei sein! Mit dem darf ich nie mehr zusammenkommen, hat die Mutter gesagt!« schob Anni ein. »Aber was war dann?« »Ja,« fuhr Per fort, »mein kleines Ei hat er zerdrükken wollen und dich zu sich hinreißen, da ist aber so ein großer Mann gekommen; erst hab ich gemeint, ’s
ist der Teufel, aber es war der Polizist. – Und weiter dann erinnere ich mich an nichts mehr. Nein, wie schön war’s doch dort!« schloß Per wie in Ekstase. »Hast du es jetzt nicht um ein Kleines besser an deinem Platz?« fragte Anni. »Daheim? Beim Bertel? Bei dem Halunken? Gestern abend hat er mir eins gegeben, daß ich’s noch spür!« »Was hast du denn getan?« »Ich war oben auf dem Heuboden, Heu hinunterlassen. Da steht er grad unten. Im Heu war aber eine Brut Eier versteckt, das hab ich ja nicht wissen können, die waren faul. Auf einmal, da fliegen die ihm grad an die Ohren, daß sein Haar und Bart ausgeschaut haben – pfui Teufel – kannst dir denken, wie er hergerichtet war! Aber dafür hab ich ja nichts können. Wie ich dann hinunterkommen bin, da legt er sich aufs Fluchen und langt mir mit seinem Rechenstiel eins über den Rücken, daß ich gemeint hab, ich fall zusammen. Ja, war ich nur um ein wenig größer gewesen, ich hätt’s ihm gegeben, meiner Seel! Ich weiß wohl, du bist in der Verwandtschaft, aber du klatschst nicht wieder, nicht wahr?« »O nein, du kannst dich verlassen darauf! Bin auch gar nicht drauf aus hinzukommen, wenn er daheim ist; er zählt einem förmlich die Stücke Zucker nach, die man in den Kaffee tut. Aber die Tante, die ist doch eine recht gute Frau.«
»Ja – a!« antwortete Per gedehnt. Das Geplauder ging über Stock und Stein unbekümmert weiter, bis sie zum Scheideweg gelangten. Anni begleitete Per noch einige Schritte auf den von ihm einzuschlagenden Seitensteig weiter, wobei ihr offenbar der Schalk im Nacken saß. Denn plötzlich rief sie ausgelassen: »Maus, Maus, komm heraus!« versetzte Per einen Klaps auf den Arm und schoß, so rasch die Füße sie nur zu tragen vermochten, in die entgegengesetzte Richtung davon. Per entdeckt die Verräterin, dreht sich um und holt sie in gestrecktem Galopp ein. Lachend ringen sie einen Augenblick; Per faßt mit zärtlicher Behutsamkeit ihre weichen, weißen Arme an. Auf einmal wird Anni schauerlich ernst; sie läßt ihre Arme sinken und sagt mit leiser Stimme und einem aus tiefster Seele kommenden Blick: »Pe – er, ich muß heim!« Per läßt augenblicklich los. Mit geröteten Backen und leise vor sich hinsummend geht er über die Kleefelder hin. Als Per am selben Abend die Gänse heim in die Ecke des Torfschuppens getrieben und die Tür behutsam hinter sich zugezogen hatte, machte er sich daran, ein Schnurende, darin sich das Bein des grauen Gänserichs verwickelt hatte, zu entfernen.
Schon hatte der Nachttau die Fliesen des Hofes benetzt. Der Herbstmond stieg schwer und kalt über den östlichen First herauf; der Hofraum war öde und leer wie ein Kirchhof. Man konnte die Stille gleichsam rauschen hören, wie sie über die Gerüste hinschlich, auf denen die Hühner mit geducktem Kopf unter den von Spinngeweben überzogenen Holzlatten hockten. Der Iltis glitt auf schwarzen Pfoten durch den Wagenschuppen, machte plötzlich auf dem äußersten Balken halt, reckte den Hals und ließ eine Sekunde seine Augen mit Smaragdglanz über die dunkle Tenne leuchten. Per kauerte mit einem Knie auf der Erde und suchte den Gänserich von dem umschnürenden Strick zu befreien. Der schwefelartige Geruch der aufgeschichteten Torfstücke vermischte sich mit dem hitzigen Dunst, den die säuerliche Bodenschicht des Stalls ausströmte. Die Gänse drängten sich in ihrer Torfecke zusammen und erörterten die Lage mit jenem verstohlenen, ängstlichen Wispern, mit dem diese nachtblinden Tiere sich untereinander verständigen. Hwi–i, hwi–i, hwi–i, hwi–i! Hwæ–æ, hwæ–æ, hwæ–æ, hwæ–æ! Der Gänserich warf sich aufgeschreckt zwischen Pers tastenden Händen hin und her. Als er so mit dem warmen befiederten Tierkörper rang, kam Per auf einmal sein Liebeskampf mit Anni
in den Sinn. Und nun drückte er das fauchende Tier wild an sich, streichelte die weichen Flügel, den in der Erregung gekrümmten Hals; er küßte es auf den Schnabel und die nachtblinden Augen und mit steigender Inbrunst und Wildheit bis tief hinab auf die gurgelnde Kehle. Als der Gänserich endlich loskam, fiel es ihm schwer, seinen Zorn zu dem verstohlenen Wispern der andern abzudämpfen. Per sah sich vorsichtig um, als er auf die Steinfliesen hinaustrat. Im innersten Herzen schämte er sich nicht wenig des armseligen Vorschusses, den er hier auf seine glimmende Kinderliebe genommen hatte.
AUF DEM HEIDEWAGEN Die Ernte war eingefahren, und rings in den Dörfern war man emsig mit dem Einheimsen des Heidekrauts beschäftigt. Die Nørhofleute hatten – vier Mann hoch – zwei Tage und Nächte auf der Heide zugebracht. Die Sonne war längst am Horizont hinabgesunken, als die letzte Fuhre bedächtig heimwärtsschwankte. Noch waren nur erst Anders und Mette oben auf der Fuhre, während Laurin und Per mit langen Gabeln nebenher liefen, um den knarrenden Wagen zu stützen, wenn die berghohe Fuhre in eins der vielen Löcher und Gruben niederrumpelte, an denen diese mittelalterlichen Heidewege so reich sind. Schließlich saßen sie doch alle vier beisammen auf der Fuhre, die langsam dem heraufziehenden Monde entgegenkroch.
Die drei Erwachsenen saßen vorne und schäkerten und kicherten. Per, der vom Ausraufen des Heidekrauts große Blasen zwischen den Fingern bekommen, hatte sich auf den Rücken mitten zwischen den Eßkober und das Bierfäßchen hingeworfen. Die Heide lag weitgedehnt und träumend unter dem Mantel des Halbdunkels da. Die nächtliche Kühle strich über sie hin, geschwängert mit dem Schwefeldunst der offenen Torfgräben und den Rauchresten ferner Moorbrände. Der große Wagen spiegelte seine gebrochene Deichsel in den Heideteichen, wo der Goldregenpfeifer mit der Flöte unter der Schwinge saß, während die kleine braune Spitzmaus helläugig umherhuschte und den Tau von Hartriegel und Katzenbart schlürfte. Per ließ die großen Sterne des Zeniths sich auf dem Grunde seiner Augen spiegeln, indes er halb im Traume auf der Riesenschaukel der schwankenden, knarrenden Heidekrautfuhre durch die Nacht gewiegt wurde. Die drei Erwachsenen hatten vorne links einen unruhig hüpfenden Lichtschein bemerkt; sie erklärten ihn sofort für einen Irrwisch, und es überkam sie ein Gefühl von Unsicherheit und bedrohlicher Lage. Besonders Mette war sehr beunruhigt; sie behauptete, ein Irrwisch wär’s gewesen, der seinerzeit die
tolle Malen behext hätte, daß sie sich nachher im Graumoos ertränkte. »Wenn er uns nur jetzt nicht auch noch über’n Weg läuft, wenn wir vorbeifahren; denn dann muß eins von uns versterben, eh das Jahr um ist.« Zugleich hob der Wagenkorb bedenklich zu knarren an; das linke Vorderrad fuhr mit Gewalt in eine tiefe Schlammgrube. Mette kreischte auf und hatte die Handgelenke schon zum Abspringen gestrafft. In einem Nu war der Wagen wieder im Gleichgewicht, und als man sich nach dem Irrwisch umsah, war nichts mehr davon zu erblicken. Schritt für Schritt schaukelte man weiterauf dem breiten Sattel der Fuhre. Die Pferde prusteten, wenn sie sich über eine besonders schwierige Stelle hinübergearbeitet hatten, Schneideisen und Bierzuber gerieten hinten im Wagen kreischend und knirschend aneinander. Per schwankte willenlos wie ein Span im Weltmeer hin und her, das Antlitz vom Nachttau benetzt. Im Halbschlummer hörte er der andern Gespräch. Vom Irrlicht und allerlei Zauberwesen war die Unterhaltung auf irdische Dinge übergegangen. Anders war vor einigen Jahren mit dem Bauer in Streit gekommen, weil er beim Pflügen des Stoppelfelds die Pferde sich nicht genug hatte ins Geschirr legen lassen.
»Nicht was untern Nagel geht, kann man ihm mehr recht machen, dem Leuteschinder, dem elendigen,« schimpfte Anders. »Könnt’s euch vorstellen, wie ich runtergehunzt worden bin. Kein gutes Haar ist an mir geblieben. Aber was läßt sich bei so einem aufgeblasenen Hundsfott andres tun, als sich ihn das Maul ausschütten lassen? Da laß ich mich doch lieber verschimpfieren, als daß ich mit dem Roß wie ein Teufel umgehen tu. Denn wenn so Tiere einem anvertraut sind, so wird eins doch nicht hingehen und sie rackern lassen und so martern, daß sie’s nicht aushalten.« »So ein Lumpenkerl wie der Bertel ist, der ist doch, weiß Gott, nicht wert, daß ihm eins dient,« erklärte Laurin. »Ja, Quark! Glaubst du, anderswo ist’s besser? Hier kriegt man doch wenigstens sein ordentliches Essen und nicht so einen Fraß, wie wo man früher gedient hat. Nein, wenn eins schon Dienstmensch ist, so muß es froh sein, wenn’s mit einem tüchtigen Rüffel dann und wann abgeht und man die Glieder ganz behält. Habt ihr die Geschichte gehört von drüben in Runge?« Nein, davon hatten sie noch nichts erfahren. »Von der redet man ja fast im ganzen Land. Der Roy, der hat gesagt, er hätte sie sogar in der Zeitung gelesen, und der Knecht, dem sie passiert ist, der hat im Drenshof just in demselben Jahr gedient wie ich.
So wird wohl was dran sein. Ja, es hat sich eben so verhalten, daß der Knecht gegangen ist und gepflügt hat; da kommt der Bauer daher und fängt an aufzubegehren, daß nicht nach seinem Kopf gepflügt war. Jetzt freilich, das ist schon so, daß sie unsereins schimpfen dürfen über alles, was ihnen grad nicht paßt, aber sollt’s nur einer probieren und den Dienstherrn schimpfen! Na, aber der Knecht da, der bei sich gewußt hat, wie er sich, soviel er nur hat können, angestrengt hat, daß er es ja nach seinem Gusto macht, der wird fuchswild, daß er sich so soll hunzen lassen, was ja wahrhaftig nicht zum Verwundern ist. Und wild, wie er war, bückt er sich, hebt von der Erde ein Ortscheit auf, geht damit auf den Herrn los und schreit, ob er sich jetzt vom Acker scheren wollt, sonst könnt es noch geschehen, daß er ihm in die Haar fährt und was eins sonst eben in der Wut noch daherredet. Aber daß der Knecht ernstlich im Willen gehabt hätt, ihm was anzutun, davon kann gar nicht die Rede sein, nur weg hat er ihn haben wollen, damit er Ruh hätt bei seiner Arbeit. Greift da aber nicht der Bauer ganz ohne Verwarnen in seinen Sack? Und was hat er drin, meint ihr? Einen Revolver hat er bei sich, und im Nu jagt er dem Knecht eine Kugel in den Kinnbacken, daß ihm die Zähne aus dem Kiefer fliegen.« »Herr Jesus, steh uns bei!« rief Mette. »Aber der hat doch seine Strafe gekriegt, der Bauer?«
»Na, bist du eine Gans!« versetzte Anders. »Der und Strafe kriegen! Nein, der Knecht, der ist gestraft worden. Davongejagt haben sie ihn gleich, und dann hat er obendrein eine großmächtige Geldbuße zahlen müssen dafür, daß er aufsässig und ungehorsam gegen seinen Dienstherrn gewesen ist. Jetzt heißt es, er wird sein Lebtag ein Krüppel bleiben, weil sie nicht haben die Kugel herausziehen können; aber natürlich muß dann die Gemeinde ihn in die Versorgung nehmen.« »Möcht nur wissen, was solche Leut sich denken!« sagte Mette; »nicht einmal mit dem lieben Vieh wollt eins so umgehen!« »Nein, gäb’s wen, der ein Vieh so behandeln tat, da wollte ihn ein jeder einen bösen Menschen heißen,« versetzte Anders. »Aber unsereins, wahrhaftig, nicht so viel wie der Schmutz, den sie von ihren Holzschuhen streifen, ist man ihnen, und darin ist einer um nichts besser als der andre, wen eins auch nennen möcht.« Da erhob sich nun aber Per mit einem Ruck auf seinem Ellbogen und rief: »O ja, einen Bauer gibt’s hier in der Gegend, der ist ein rarer.« »Hab geglaubt, du hättest dich aufs Ohr gelegt?« sagte Anders. »Möchte wissen, wer das sein sollte, der Bauer?« »Das ist, meiner Seel, der Kild Pejrsen,« erklärte Per mit nachdrücklichem Kopfnicken.
»Ja, der Kild! Der freilich wohl, der ist immer ein rechtschaffener Mann gewesen, aber er hat ja selbst auch als Knecht gedient, und da wird es zum guten Teil auch da dran liegen,« erwiderte Anders. »Dort hören sie Schlag acht Uhr auf zu arbeiten, und nicht ein Finger wird den Tag mehr gerührt.« »Dort möcht ich furchtbar gern dienen,« versicherte Laurin. »Um solche Plätze ist nur immer ein großes Gereiß.« »Aber der Kild hat mir versprochen, daß ich kommen und bei ihm dienen darf,« rief Per stolz. »Du Fratz, du,« sagte Mette, ihm eins versetzend. »Glaubst du, auf dich käms an, wem oder wo du dienen magst? O nein, den Platz mußt du nehmen, an den sie dich hintun. Weißt du vielleicht nicht, daß du auf der Gemeinde liegst?« Der Ausdruck traf Per ins Herz. Er hatte die größte Lust, Mette die Antwort nicht schuldig zu bleiben, aber der Platz da oben auf der Heidekrautfuhre war allzu gefährlich für den Austrag tiefergehender sozialer Streitigkeiten. Er beschränkte sich darum auf die zahme Äußerung: »Aber wenn ich groß bin, dann kann mir niemand verbieten, mich bei wem ich will zu verdingen.« »Pah, du Knirps,« spottete Mette. »Ich könnt jetzt einen Dienst in Sølsig haben,« bemerkte Laurin und spie weithin über das
Schneideisen und den Zuber hinten im Wagen hinweg. »Wieso denn?« frug Anders, gleich etwas neidisch. Da Sølsig eine Art Herrschaftsgut war, so galt es immer für etwas Besseres, Vornehmeres, dort als anderswo zu dienen. »Der Verwalter hat vorgestern gemeint, zum November täten ihnen noch ein paar Knechte fehlen,« erwiderte Laurin. »Dort möcht ich für mein Leben gern Magd sein,« rief Mette. »Freilich wohl, müßtest dich nicht stark um Liebhaber strapazieren,« warf Anders ein. »Gewiß, das ist auch nicht zu verachten,« meinte Mette. »Man kriegt’s ordentlich satt mit der Zeit, immer nur euch zwei Gimpel anzuglotzen. Schließlich weiß eins kaum mehr, ob’s bei euch wettert oder die Sonne scheint.« Anders mußte auf die Zügel achten, aber Laurin riß Mette ins Kraut nieder und kitzelte sie mit dem Daumen an der Gurgel, bis sie ihm – im Scherz – eine Ohrfeige gab, so daß seine Mütze über den »wagen hinkollerte. »Könntest vielleicht obendrein den Verwalter selbst kriegen, er hat sich ja grad mit den andern Dirnen zertragen,« fügte Anders hinzu. Davon hatte Mette nichts gehört.
»Was, davon hast du nichts gehört?« sagte Anders. »Na ja, die Dirnen, die haben sich seiner gar nicht erwehren können. Wo sie gegangen und gestanden sind, war er hinter ihnen her. Zum Schluß sind sie wütend geworden über die ewige Nachstellerei, und vier von ihnen, die tun sich zusammen, ziehen den lieben Verwalter mitten in der Nacht aus dem Bett und schmieren ihn von Kopf bis Fuß mit Teer ein. Selbst der Schnauzbart, der gelbe, hat seinen Anstrich bekommen.« Mette warf sich der Länge nach hin und brüllte vor Lachen: »Da muß er ja ausgesehen haben rein wie ein Mohrian!« »Wohl, es hat nicht bald einer hernach erraten können, daß er je einem Christenmenschen gleich gesehen hat,« erklärte Anders. Auf einmal ruft er mit verändertem, ernstem Ton: »Heda, jetzt heißt’s euch zusammennehmen, jetzt müssen wir durchs Wasser.« »Ach, Jeses nein, sind wir schon da!« schrie Mette. »Ich furcht mich! Wirst nur auch recht aufpassen, wenn du die Ross’ durchführst?« »Weiß nicht! Willst vielleicht du herkommen und mich’s lehren?« antwortete Anders verletzt. »Prrrr!« Er riß die Pferde zurück und glitt auf die Erde hinab, um Koppel und Stränge zu untersuchen, bevor die nervenaufregende Durchfahrt ihren Anfang nahm.
Vor den Pferdemäulern lag ein breiter, mondbeglänzter Fluß, dessen jenseitiges Ufer von den Wiesendämpfen halb verborgen war. Die reißenden, fortschnellenden Wellen rollten mit eigenartig gedämpftem Gurgeln dahin, das drinnen unter den abschüssigen Ufern zu einem tiefsingenden Glockenklang anschwoll. Sie ließen ihre langen Silberfinger durch die grünen Locken der Algen und Wasserlilien gleiten, die in der Strömung sich langsam hoben und senkten, gleich reichem, wallendem Frauenhaar. Anders klopfte dem Sattelpferd beruhigend auf Kreuz und Brust, bevor er sich mit der Hand am Peitschenstiel wieder auf den Wagen hinaufschwang. »Sitzt ihr jetzt ordentlich? Und habt ihr den Zuber beim Henkel und alle Sachen sicher?« »Ja,« scholl es gedämpft. »In Gottes Namen also!« sagte Anders und zog die Seile an. Acht ausschlagende Pferdehufe splitterten das mondhelle Wasser und wickelten die langen Locken des Stroms um die starken Beine. Die Wellen schössen klagend unter dem Bauch der Pferde hin und leckten hoch über die Rädernabe hinauf. Per hatte noch nie etwas so Spannendes erlebt; es sah aus, als sollte die ganze Fuhre mit der Strömung forttreiben, die Pferde konnte er von da oben nicht sehen; er wagte kaum über die Wasserfläche hinzuschauen; aber er fühlte ein eigenes Prickeln unten
an den Kniekehlen, als gelte es vom Hahnenbalken hinunterzuspringen. Er mußte unwillkürlich an die Geschichte in seiner Bibel von dem feurigen Wagen, in dem der Prophet Elias zum Himmel fuhr, denken. War das nicht vielleicht ein brennender Heidewagen gewesen? Oha! da gab’s dem Wagen einen heftigen Ruck. Mette kreischte auf wie in Kindsnöten. »Halt’s Maul!« rief Anders, ohne sich umzusehen. Die Pferde, die mitten in der Flut gar klein geschienen, wuchsen nun wieder aus der Tiefe empor. Der Wagen knirschte über Geröll und grüne Feldsteine ans Land. Weiter schwankte er auf dem ausgefahrenen Heidewege. Einige hundert Schritt vom Wasser entfernt, wo die Heide allmählich in bebautes Land übergeht, begegneten sie einer seltsamen Gestalt. Ein Mann kam in Gedanken vertieft des Wegs daher, geradeaus auf den Wagen zu; doch plötzlich – wie eine Fledermaus, die im Fluge anprallt – machte er einen Bogen, um hinter dem Heidefuder wieder auf das Fahrgeleise zurückzutaumeln. Per hatte gleich den andern sich auf die Knie aufgerichtet und dem Wandernden nachgestarrt, der sich am Wege umkehrt, die Arme erhebt und den Refrain eines Liedes wiederholt, das er vor sich hingesummt:
Denn nieder, denn nieder, denn nieder treten wir uns in den Staub. Dann verschwindet er im Dunkel. »Ih, wer war denn das?« fragen wie aus einem Munde Anders und Laurin. »Der tolle Küster war’s aus Iggebjerg, der Sørensen,« sagt Mette. »Den kennt ihr doch auch?« Und mit leiserer Stimme, doch mit einem bedeutsamen Nicken nach Per hin, fügt sie hinzu: »Die Leute sagen, der sei der Vater von dem Jungen da.« »Geh, schweig!« flüstert Anders. Aber Per hat es schon gehört und starrt noch einmal mit eigentümlich suchendem Blick dem taumelnden Manne auf dem Fahrdamm nach.
DER TOLLE KÜSTER Der Herbst kam. Die Wolkenfetzen trieben über den grauen Stoppelfeldern, auf deren Boden noch die von den Zinken der Egge gezogenen Linien sichtbar waren. Den ganzen Tag hingen gelbe Tropfen den alten Strohdächern unter der Nase, und den Hirtenjungen sprudelte draußen auf den Wiesen, wo sie noch vor einem Monat bei den Nestern der wilden Bienen geschwelgt hatten, das Wasser zwischen den Zehen hinauf. Die Spatzen aßen sich krank an den vielen Haferschobern auf den Vorplätzen der Höfe, die in ihren glatten Strohkitteln mit den niederhängenden Ziegelsteinen Wämsern über strotzenden Bäuchlein, besetzt mit einer dichten Reihe von Knöpfen, glichen. Der Pelz der Schafe wurde Tag für Tag grauer von der vielen Nässe. Das Jungvieh scheuerte die in dem Herbstregen morsch gewordenen
Hanfstricke entzwei und niemand kümmerte sich mehr darum, die Enden wieder zusammenzufügen. Die Zeit der Weidefreiheit war für das Vieh gekommen, da der Regen alle Grenzmarken verwischt, wie zu Noahs Tagen, die Zeit, da der Schar der scheckigen Rinder und der Schafe die Halfter abgenommen wird, daß sie auf freien Klauen über die unbegrenzten Triften schreiten und ihre breiten Mäuler sich einwühlen können, wo es sie gelüstet. Da bekommt auch das Leben des Hirten einen freieren Schwung. Seine schmächtigen Schultern drückt nicht mehr die schwere Tüderkeule, die bis zum nächsten Jahr hinter dem Sparrenbaum im Holzschuppen verwahrt wird. Seine Welt muß nicht mehr auf die paar Rasenflecke zwischen Roggen und Kartoffeln eingeengt bleiben, seine abgehärteten kleinen Füße tragen ihn vielmehr bis in ferne Sprengel, das verlaufene Vieh zu suchen. Da ist er nicht mehr unter der peinlichen Aufsicht von bösen Augen, die hinter Schlafkammerfenstern hervorlugen, sondern trifft ältere Kameraden und erfahrenere Kollegen, die heimlich einen Priem kauen und frech und offen schlechten Tabak rauchen. Sein Auge blickt kekker, der keimende Eigenwille verrät sich, und wenn er heimkehrt und der Hausvater wie gewöhnlich brummt und querköpfig ist, so mault er nicht selten. Eines regnerischen Herbsttages kommt durch die Allee von gestutzten Weidenbäumen, die seitab von
der Landstraße zum Pfarrhof von Hvarre führt, ein Mann gestolpert. Er trägt einen bläulich verschossenen Friesrock mit langen Schößen, auf dem Kopfe hat er einen schäbigen, beuligen Filzhut aus des hochseligen Friedrich VII. Zeiten. Er redet im Gehen mit sich selbst, als wollte er sich zu etwas überreden. Manchmal bleibt er plötzlich stehen, stützt sich schwer auf seinen Stock und schaut zu den gestutzten Bäumen auf: »Ja, ’so ist’s. Ein Querhieb von rechts nach links! So haben sie’s auch bei dem alten Schullehrer Sørensen gemacht!« – Er geht unter neuerlichem Kopfschütteln wieder weiter. Unten am Ende der Allee gelangt er zu der von Kletten und Ampfer umwachsenen Pfarrhofscheune. Mitten an ihrer hölzernen Längswand gähnt ein niederes Tor. »Willkommen« – steht in gelben Buchstaben über dem geschwärzten Querbalken. Hier geht Sørensen hinein. Zwei Eingänge führen ins Vorhaus. Der eine hinter dem Brunnen mit der rostigen eisernen Pumpe ist für Dienstleute, Bettler und anderes einfaches Volk, ein zweiter mit zwei geriefelten Mühlsteinhälften an der Tür für die Honoratioren und »besseren Leute«; jene Worte über der Einfahrt gelten ausschließlich diesen letzteren. In seinen guten Tagen hatte Sørensen es als etwas Selbstverständliches betrachtet, zum Pastor die Haupttreppe hinaufzugehen; heute nimmt er den Bettlerweg nach dem Waschhaus.
Nun steht er hinter dem großen Gossenstein und dreht seinen merkwürdig alten, fuchsroten Hut in der Hand. Eine streng dreinschauende Dame mittleren Alters mit ergrauten Schmachtlocken und hervorgequollenen, eisengrauen Augen, wie taube Katzen sie haben, erscheint zwischen den Türpfosten der Speisekammer mit einem großen Brotmesser in der Hand. Der alte Küster macht seine Reverenz: »Sie erinnern sich wohl nicht mehr des vormaligen Schullehrers Jakob Christian Sørensen?« »Ih freilich!« Die Frau mißt ihn langsam von oben bis unten mit ihrem Blick. Er bitte recht sehr um Entschuldigung, aber er hätte so gern den Herrn Pastor gesprochen. Das sei wirklich sehr fatal, denn ihr Mann lasse sich am Samstag außerordentlich ungern stören. Aber sie wolle nachsehen, ob seine Studien eine Unterbrechung zuließen. »Sie können hineingehen,« sagte Frau Selig, als sie wieder zurückkehrte, warf aber zugleich einen vernichtenden Blick auf seine großen Holzschuhe. Sørensen verstand, was der Blick sagen wollte, und streifte sie eilig vor der Tür ab. Als diese hinter ihm ins Schloß fiel, rief die Frau: »Bolette, stell das elende Schuhzeug auf die Vortreppe hinaus; man spürt ordentlich den Branntweingeruch, der davon aufsteigt.«
Sørensen ging mit schlürfendem Schritt durch eine Flucht kalter Stuben mit geschnörkelten Sofas und alten Familienbildern. Die Bretter der Diele hallten dumpf unter seiner alten gehärteten Ferse. »Na, was wollen Sie von mir, Herr Sørensen?« fragte der Geistliche, ehe der alte Küster noch recht über die Schwelle des Studierzimmers getreten war. »Oh, ich wollte Sie, Herr Pastor, recht sehr bitten, daß Sie dieses Gesuch hier befürworten möchten. Es handelt sich um – eine kleine Unterstützung. Es läßt sich so schwer auskommen! Man ist alt geworden, Herr Pastor. Ja, wahrhaftig, man ist alt geworden.« Sørensen breitete ein großes Dokument auf dem Tisch aus. Es war in Schönschrift mit zierlichen großen Lettern niedergeschrieben und die Unterschrift mit einem gewaltigen, einem zerfransten Hanfstrick gleichenden Schnörkel versehen. »Frau Petersens Legat für alte verabschiedete Schullehrer!« sagte Selig, indem er das Blatt hastig überflog. »Ja, ich war seinerzeit der Frau Petersen behilflich, die Statuten abzufassen,« erklärte Sørensen. »Wieviel beträgt es?« frug der Prediger. »Oh, es sind wohl nur zehn Reichstaler das Vierteljahr,« gab Sørensen zurück, »wenn man, wie ich, unverheiratet ist. Für Verehelichte vierzehnein viertel Reichstaler. Hier können Sie die Bestimmungen sehen, Herr Pastor.«
Der Pastor stand eine Weile über das Heftchen gebeugt; plötzlich sagte er, die Papiere wegschiebend, als ob sie ihn brennen würden: »Nein, ich fürchte wahrhaftig sehr, daß ich Ihnen meine Empfehlung nicht geben kann.« »Wie meinen Herr Pastor das? Finden Sie denn nicht, daß ich die verlangten Qualifikationen besitze? Bin ich nicht verabschiedet und genügend alt und notleidend?« »Ja, Herr Sørensen, was das betrifft, wäre alles in Ordnung.« »Und Sie sehen ja, daß ich ein Vorzugszeugnis mit Ausgezeichnet in Rechnen, Religion und Pädagogik besitze.« »Alles recht schön, Herr Sørensen. Aber hier steht, daß der Bewerber ,ehrbar’ sein soll!« Der Pastor drückte den Finger so fest auf das Wort, daß das Blut unter dem Nagel zurücktrat. »Steht das da?« sagte Sørensen. Sein stark gerötetes Gesicht bekam einen eigentümlich hilflosen, weinerlichen Ausdruck. »Herr Pastor denken wahrscheinlich an das, was meiner Verabschiedung vorausging?« »Ja, an das und an Ihr späteres sündiges Leben, Herr Sørensen! Die Trunksucht richtet wahrlich viele Menschen zugrunde,« entgegnete der geistliche Herr.
»Wissen Sie, was ihrer noch mehr zugrunde richten dürfte, Herr Pastor? Das ist, wenn ich es offen sagen darf, die Sucht zu richten, die herzlose, böse Sucht, die wegen eines einzigen unbesonnenen Fehltritts Tausende und aber Tausende in die Verzweiflung treibt.« Sørensen hatte einen solchen Nachdruck auf die letzten Worte gelegt, daß er, von seinem alten Husten befallen, sich nach einem Spucknapf umsah. »Hier, Herr Sørensen, hier!« rief Selig und kam eifrig mit dem Spucknapf herbeigesprungen. »Sehen Sie, Herr Pastor, das hat ja weiter nichts auf sich, wenn es so einen armen Teufel von Schullehrer trifft, der, wie ich, vom graden Weg etwas abirrte. Sie wissen ja, wie’s mir ergangen ist.« »Sie wurden des Hurenlebens mit Ihrer Haushälterin überwiesen!« »So nennt man’s freilich nach den autorisierten Katechismen; mit ihr, ja, der Ann-Marie Kjærsgaard! Sie war damals gar ein säuberliches Frauenzimmer. Ich hatte mich in sie verliebt, das leugne ich nicht, und wer gern tanzt, dem ist ja leicht aufgespielt. – Ich lebte als Junggeselle und war eben auch nur ein Mensch. Aber, versteht sich, so was darf in meiner Stellung nicht vorkommen! Ich hätte den Versucher von mir fortweisen müssen.« Das wäre wahrlich nur Ihre Pflicht und Schuldigkeit gewesen; bedenken Sie, was für ein Beispiel Sie den
Kindern gaben, deren Erziehung Ihren Händen anvertraut war.« »Jawohl, Herr Pastor, ich werde stets der Gnade Gottes bedürfen, der der Menschen hätte ich jedoch in dieser Sache entraten zu können geglaubt. Aber freilich, das Richteramt liegt stets in ihren Händen. Als es offenkundig wurde, was ich und Ann-Marie miteinander gehabt hatten, erbot ich mich ehrlich und redlich, sie zu heiraten – wie es damals die ganze Zeit meine Absicht gewesen war –, aber nun wollte sie plötzlich nicht. Ich flehte sie an und weinte vor ihr, aber sie blieb unerbittlich. Sie war von meinen Feinden verlockt worden, vor allem von ihm, dem Jakob Nørhofer, Berteis ledigem Bruder, wie Sie wissen. Dieser Mensch hatte schon immer einen Pik auf mich gehabt, aus Gründen, die ich hier nicht erst weitläufig auseinandersetzen kann. Er hat also das Mädel herumgekriegt, daß sie sich’s in den Kopf gesetzt hat, er werde sie heiraten, denn sie soll ja früher einmal eine Liebschaft mit ihm gehabt haben. – Auf diese Weise haben sie die Sache in die Länge gezogen. Natürlich hat sich’s bald gezeigt, daß der Jakob die Ann-Marie nicht hat haben und nicht hat sein nennen wollen, aber inzwischen war man so tief in die Schande und den Skandal hineingeraten, daß die Behörde sich für bemüßigt gehalten hat einzuschreiten. Jakob Nørhofer hatte sich an die Spitze einer Klage beim Propst gestellt, so hat jetzt die Sache
ihren unerbittlichen Gang nehmen müssen. Ich erhielt meinen Abschied, acht Tage nachdem AnnMarie ihr Kind zur Welt gebracht hatte. Sie wissen’s ja, wie dann später die Ortsvorsteher mit ihr gehandelt und geschachert haben wie mit einem unvernünftigen Tier, und auch mit mir ist, wie Sie sehen, nicht glimpflich zu Werke gegangen worden.« »Nein, der Sünde Sold ist der Tod, Herr Sørensen!« »Ja, der Tod ist gleich für uns allesamt, aber darum handelt sich’s, was vorher kommt, vor der Auflösung!« »Ja, ja, Herr Sørensen, ich bedaure Ihr Schicksal sehr, aber ich sehe wahrhaftig keine Möglichkeit, etwas für Sie zu tun.« »Nein,« versetzte Sørensen und erhob sich, »weshalb auch sollten Sie mir helfen?« Und das draußen auf der Landstraße geführte Selbstgespräch gleichsam fortsetzend, sagte er: »Ich bin ja nichts andres als ein altes Wrack, das kaum das Geld fürs Zerhacken lohnt. Ich habe mein Leck davongetragen, einen Schuß unter die Wasserlinie, der in den Abgrund reißt. In die Tiefe! Plumps! Hinunter! Bitte gefälligst! Wünscht jemand dem alten Sørensen einen Fußtritt zu geben, bitte ganz nach Belieben, nur keine Umstände! Bitte näher zu treten. Und kehren Sie sich ja nicht daran, daß hier schon früher mit Fußtritten traktiert worden ist.
Nur ruhig zu! Unser Herrgott verstattet es. Der alte Sørensen ist ja überhaupt nur auf die Welt gekommen, um getreten zu werden.« Der alte Lehrer war in ein eigentümlich unbehilfliches Stammeln und Schluchzen geraten. Pastor Selig ging unruhig im Zimmer auf und nieder. »Sie müssen mich schon entschuldigen, Herr Sørensen, aber ich habe morgen einen Wöchnerinnenkirchgang und ein Begräbnis.« »Nun, da soll es wahrlich nicht heißen, daß der alte Schullehrer Sørensen jemand hinderlich gewesen, in Ehren unter die Erde zu kommen; leider, daß die Reihe noch nicht an mir ist, nicht an mir! – Sie geben also keine Empfehlung?« Er streckte nunmehr die Hand nach seinen Papieren aus. »Nein, das würde ich vor meinem Gewissen wahrhaftig nicht verantworten können,« erklärte Pastor Selig. »Richtig, Herr Pastor, da haben Sie den wunden Punkt der Zeit getroffen: das Gewissen! Sowie ein armer Teufel um eine kleine Verbesserung seiner Lage ansucht, wird das Gewissen auf der Stelle unglaublich empfindlich. Ich möchte fast meinen, es geht mit dem Gewissen wie mit dem Blinddarm: man spürt ihn nicht eher, als bis er entzündet ist. Was aber mich betrifft, Herr Pastor, bin ich vielleicht nicht ein alter, versoffener Schullehrer, entehrt, entlassen, zu allem
Kriegsdienst untauglich? Ist’s gefällig? Versetzen Sie ihm nur einen Tritt, dem alten Schullehrer Sørensen, den man auch ,den tollen Küster von Iggebjerg zu nennen pflegt.« Sørensen ging mit gesenktem Kopf aus der Stube des Geistlichen. Auf der ausgetretenen Steinstufe vor dem Hause fand er seine Holzpantoffeln, deren eingelegte Strohwische unter den fallenden Dachtropfen triefend naß geworden waren. Sørensen ging denselben Weg durch die Allee mit den gestutzten Weiden zurück, gestikulierend und nach Art einsamer Menschen mit sich selber sprechend. So kam er eine halbe Stunde später auf die zum Nørhof gehörigen Grundstücke. Er bog nun querfeldein und suchte die Trift, wo das meiste Vieh weidete. Hier hoffte er Per zu finden, den Sohn, der ihm sein Amt und all sein Lebensglück gekostet hatte. Er hatte nicht geirrt. Per saß hinter einem Erddamm, der ihm einigen Schutz vor den herbstlich kalten Regenschauern bot, indes die Rinderherde grasend über die Flur strich und ihre braunen, buschigen Schwänze im Winde flatterten. Es geschah zum erstenmal, daß Sørensen seinen Sohn aufsuchte. Die Mutter zu sehen, war ihm unerträglich gewesen seit jenem Tage, an dem sie ihn gewissermaßen seinen Feinden ausgeliefert hatte,
und zu der Zeit, da der Sohn heranwuchs, hatte er sich größtenteils in andern Sprengeln aufgehalten. Ab und zu suchte er jedoch den Lehrer Gydesen auf und hörte mit nicht geringem Vaterstolz von Pers Fortschritten in der Schule. Obgleich Per auf diese Weise nichts davon erfuhr, verfolgte sein unglücklicher Vater aus der Ferne sehr genau sein Tun und Treiben. Heute hatte er einen besonderen Anlaß, ihn aufzusuchen. Die Gegend war in der letzten Zeit durch verschiedene kleine Diebstähle, die besonders in Wirtschaftsgebäuden und Kammern der Knechte vorgekommen waren, beunruhigt worden. Der Verdacht war allmählich auf Jakob gefallen; es war jedoch nicht ausgeschlossen, daß er Mitschuldige hatte, und da Sørensen wußte, daß Per und Jakob Mark an Mark das Vieh hüteten, so hegte er die Besorgnis, daß dieses verworfene Subjekt Per zur Beteiligung an einzelnen seiner tollen streiche verlockt haben könnte. Per war erstaunt und verlegen, als er die Gestalt von jenem Heideabend auf sich zukommen sah. Sørensen nahm sich auch merkwürdig aus, wie er da langsam und mühselig über die hochgelegenen Äcker einhergestapft kam. Der ihm entgegenwehende Wind trug seine langen triefenden Rockschöße weit zur Seite; die Hosen bauschten sich über den Knien und reichten nur bis zur halben Wade, so daß die
ungebleichten Socken in dem trüben Licht schimmerten. Der Stock war in eifriger Bewegung vor- und rückwärts längs des rechten Holzschuhs. Als er noch näher kam, sah Per ein großes rötliches Gesicht mit einer starken Ausbuckelung an der einen Schläfe. Per hatte die größte Lust, auf und davon zu rennen; Sørensen mußte das bemerkt haben, denn ehe er noch den Sohn erreicht hatte, sagte er: »Erschrick nicht vor dem alten Sørensen, mein Kind! Es gibt nur einen Menschen, dem er Leids zugefügt hat, und der heißt Jakob Christian Sørensen. Nein, ich tu dir sicher und gewiß nichts Böses; aber jetzt, wo die Ernte eingeheimst ist, kann man ja querfeldein gehen, und das ist doch weit bequemer, als alleweil nur dem Weg folgen. Ach ja! Kann ich mich hier einen Augenblick ausruhen, ehe ich weitergeh?« Sørensen ließ sich schwer an der Abdachung des Damms nieder. »Wenn du so daliegst, mußt du dich ja erkälten, mein Kind. Weshalb läufst du nicht lieber herum, so tatst du dir doch den Körper erwärmen?« »Ja, das tu ich auch immer einmal, wenn es zu schütten grad aussetzt. Aber wenn ein Guß kommt, verkriecht man sich doch gern hinter so was wie einen Schutz,« bemerkte Per, schon zutraulich geworden durch den freundlichen Ausdruck in des Alten Augen.
»Tust nur auch immer ordentlich das Stroh in deinen Holzschuhen wechseln, wenn du vom Feld nach Haus kommst? Laß mich deine Füße anfühlen!« Per zog zögernd seinen nackten Fuß aus dem Holzschuh. Bevor er ihn in des Alten Hand steckte, bog er ihn hinter das linke Hosenbein, ihn daran abzutrocknen; denn das Regenwasser hatte im Holzschuh zwischen die Zehen hinaufgeschlagen. »Ih, du armer Wurm! Der fühlt sich ja rein wie ein Eiszapfen an. Wirst du denn nicht krank auf die Art?« »Ja freilich, manchmal ist’s schon so. Aber da läßt sich nichts machen; was mir das ärgste ist, das ist nur das Zahnweh; da hab ich drei ganze Nächte nicht schlafen können; dann hat mir aber der Anders einen Priem Kautabak gegeben; da hat’s nachher nachgelassen.« »Und gar nichts hast du zum Umnehmen? Kannst du dir nicht von einem der Knechte so was ausleihen wie einen Überhang? Kannst du dich denn gar nicht verwahren, Kindlieb? Du wirst dich ja am Ende noch ganz ruinieren!« »Mit dem Ausleihen geht’s auch nicht immer so leicht. Wie jetzt da in den nassen Zeiten, da brauchen ja die Knechte ihr Gewand für sich zum Anziehen, wenn sie draußen pflügen müssen.« »Aber dein Hausvater, der wird doch irgendein altes Zeug übrig haben, das er dir überlassen könnt?«
»Der Bertel? Der Schubiak! Den kümmert’s viel! Der sagt, die Hirtenjungen, die sollen nur nicht gar zu gut verpackt sein, sonst setzen sie sich hin und duseln, statt dem Vieh nachzugehen.« »Und so eine kleine Hirtenhütte, wie man sie jetzt da und dort einmal zu sehen kriegt, war doch auch, sollt man meinen, zu erschwingen gewesen. Man braucht ja nur ein paar kurze Latten zusammenzuschlagen.« »Ja, das haben ihm auch die Knechte einmal gesagt – denn ich trau mich ja nicht, was zu reden –, da hat aber der Bertel gemeint, von solchen Narreteien wollt er nichts wissen, das möcht nur dazu führen, daß die Bretter für nichts und wieder nichts draußen verfaulen; und solche Kerls wie ich und meinesgleichen, die sollten nicht verhätschelt werden; das würden sie noch immer früh genug, es war nur gut für sie, sich an einen nassen Kittel zu gewöhnen – – Und lauter solches Gewäsch, wie es so einer auftischen kann; denn er ist nicht wert, daß man bei ihm dient.« »Wirst du denn nicht auch am Rücken naß?« »Freilich wohl, gestern abend, da hab ich förmlich geklappert vor Kälte.« »Ja, ich hab wohl auch nichts zum Wechseln, wenn ich naß bin, mein lieb’s Bübel. Aber ich bin alt und zu nichts mehr gut. Du aber bist ein Kind, das noch die Welt vor sich hat. Ja, ja, ja! Was sollen wir armen
Teufel nur tun, um wie Menschen behandelt zu werden?« »Roy sagt, wir sollen Revolutschon machen; aber das kann ich nicht verstehen. Ist denn das nicht so was wie Leute totschlagen und Höfe in Brand stekken? Und das darf man doch nicht,« sagte Per. »Nein, das darf eins nicht. Aber Roy ist weit draußen in der großen Welt herumgekommen, und dort brauchen sie so große Worte. – Vielleicht, daß wir daheim sie wieder zu klein gebrauchen,« fuhr Sørensen nachdenklich fort. »Es ist aber doch schön, ihm zuzuhören,« sagte Per. »Die Hofbauern, die können ihn alle nicht leiden; wenn’s aber dazu kommt, können sie ihn nicht entbehren.« Per erhob sich nun auf die Zehenspitzen und guckte über seine Rinderherde hin. »He, Lies, wo willst denn hin? Wirst herkommen!« Per stürzte über den Damm hin, ein paar unruhige Rinderköpfe umzuwenden. Diese kurze Abwesenheit benutzte Sørensen dazu, den Stöpsel aus seiner Feldflasche zu ziehen und rasch ein paar starke Züge zu tun. Per kam zurück, ohne etwas zu bemerken. »Sag, Per, kennst du den Jakob da drüben im nächsten Hof?« begann Sørensen.
»Ja, den, der ist ein schlimmer Bursch; er hat gestohlen, er wird gewiß durchgepeitscht werden,« sagte Per nicht ohne eine gewisse Schadenfreude. »Kommst du manchmal mit ihm zusammen?« »Nein, schon lang nicht mehr; denn er ist ein garstiger Kerl, der einem alles wegreißen möcht! Und immer haut er mit der Peitsche drein, wo er der Stärkere ist. Soll er sie jetzt selber zu kosten bekommen.« Sørensen stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er hörte, daß der Sohn keine Gemeinschaft mit dem verbrecherischen Burschen hatte. »Laß dich nur ja nie mit dem Kerl ein; denn er lehrt dich sicherlich nichts Gutes. Er ist von einem schlechten Stamm, der Racker. Aber dafür kann er kaum was … Ach ja, ja, ja! Wer ist dran schuld, was aus uns wird?« Sørensen hatte seinen gewohnten gramvollen Ausdruck angenommen. Per betrachtete aufmerksam sein Gesicht wie jemand, der sich anstrengt, eine halbverwischte Schrift auf einem verwitterten Grabstein zu lesen. Plötzlich sagte Per in der Kindern eigenen unumwundenen Art: »Ist das wahr, daß du mein Vater bist?« Sørensen blickte seinen Sohn lange und schwermütig an. »Ja,« antwortete er leise und tonlos wie einer, der die schwerste Schuld seines Lebens bekennt.
»Wie kann denn das sein?« »Ach, Kind, dazu bist du noch zu klein, um das zu hören. Ein andermal werde ich dir alles miteinander erzählen, aber heute … Ich bin so unglücklich!« Nun strömten die Tränen unaufhaltsam über die Wangen des Alten herab und füllten jede Runzel des leidvollen, vergrämten Gesichts. »Wenn der liebe Gott mich nur meinen Verstand behalten läßt! Aber vielleicht ist das zuviel verlangt, denn der hat viel harte Stöße bekommen. Aber das ist ja ganz sündhaft, dasitzen und dich auch noch traurig machen. Und wozu soll’s denn auch? Wir müssen ja doch unsern Weg weiter traben, wenngleich der Boden unter den Sohlen brennt. Hast du denn auch Zeit, bei deinem alten Vater dazusitzen?« »Ja,« sagte Per, »jetzt ist das Vieh ja ruhig.« »Denn du kannst dir’s wohl denken, daß ich gern neben dir sitzen, dich ansehen und mit dir reden mag, jetzt, wo du’s weißt, wer ich bin. Denn du wirst doch nichts Böses von mir glauben?« »Nein,« sagte Per. Vater und Sohn rückten näher zusammen. Ein leiser Staubregen hatte zu fallen begonnen, der als graue Nässe auf den Spitzen der welkenden Schwingelbüschel des Damms hängen blieb und in gelben Tropfen von Pers Mützenschirm auf seine fadenscheinigen Hosenknie träufelte.
Drüben auf dem Nachbarfeld glitten zwei Pfluggespanne langsam hintereinander her, und ein Kiebitzschwarm kreiste über den Sümpfen lautlos in der Luft. Sørensen fuhr fort, von sich zu sprechen, lang und weitläufig bei der Zeit verweilend, in der er im Sonnenglanz seines Lebens gestanden hatte; er erzählte von den Triumphen, die er als Schullehrer bei den Probevisitationen oder im Gemeinderat davongetragen, wo er oft Nüsse geknackt hatte, die allen andern zu hart gewesen. Von da trat er in den Wendekreis seines Lebens, berichtete von seiner Ausstoßung, Entlassung, Erniedrigung; von seiner Wanderung von Sprengel zu Sprengel, um das Gnadenbrot zu finden, das die Barmherzigkeit ihm reichte – einigemal hatte er ein paar Kinder zu unterrichten gehabt, doch war das nur eine Galgenfrist gewesen; den größten Teil seines Lebens war er auf die Mildtätigkeit der Leute angewiesen. »Auf solche Weise, mein Kind, wird man ein Wrack. All die Fähigkeiten, die man besitzt, rosten wie Stahl, der dem Regen und Nachttau ausgesetzt ist. Und jetzt haben sie mich ins Armenhaus gesteckt,« schloß er leise. »Du bist im Armenhaus?« fragte Per. »Ja, aber das halt ich nicht aus. Denn ich komm in Wut, wenn ich seh, daß jemand Unrecht geschieht. Und wenn der Verwalter einen armen, alten, ausge-
mergelten Teufel, der sich kaum auf den Füßen erhält, hunzt oder gar schlägt – so könnte ich, schwach und elend wie ich selber bin, ihm die Nägel in die Augen bohren oder ihm das verdammte Stirnblatt mit der Axt zerschmettern.« Sørensens Lippen zitterten bei seinen wilden Worten. Per sah scheu zu ihm auf. »Aber Jeses nein!« Er wunderte sich, daß auch er die nämliche Empfindung gehabt hatte, wenn ihn Bertel ohne Grund schlug. »Du brauchst nicht ängstlich zu sein, Kind; ich tu’s nicht! Bin viel zu elend und erbärmlich, um irgend was zu tun. Mein Gott hat mich meinen Feinden vor die Füße geworfen; er hat mein Horn in den Staub gelegt und mich in die Gewalt meiner Hasser gegeben! Aber warum murre ich gegen ihn? Warum tu ich nicht, was er mir gebietet? Es ist ja doch so einfach. An meinem Stock umherkriechen, bis der Herr eines Tages zu mir spricht: Gut, alter Sørensen! Nun sei’s genug! Du warst der Welt geliehen, sie hat dich nicht nutzen mögen; gut, so nehme ich dich denn wieder heim zu mir. Du bist nicht das erste meiner Werkzeuge, das die Menschen in einen Winkel schleuderten und liegen und rosten ließen, während sie ihre selbstgegossene Marktware nutzten. Trockne nur deine Augen und komm heim zu mir;
es gibt ohnedies einen andern armen Schlucker, der nach den Brotkrumen fahndet, die du im Hömilder Armenhaus aufgepickt hast. Ach, ja, ja! Wie habe ich ihnen doch recht geben müssen, deinen schwermütigen Worten, du weiser Hiob: Die Armen müssen ihnen weichen, und die Dürftigen im Lande müssen sich verkriechen. Siehe, das Wild in der Wüste gehet hinaus, wie sie pflegen frühe zum Raube, daß sie Speise bereiten für die Jungen. Den Nackenden lassen sie ohne Kleider gehen, und den Hungrigen nehmen sie die Garben; daß sie sich müssen zu den Felsen halten, wenn ein Platzregen von den Bergen auf sie gießet, weil sie sonst keinen Trost haben. Sie machen die Leute in der Stadt seufzend und die Seele der Erschlagenen schreiend, und Gott stürzet sie nicht.« Und nun ganz in seine schwermütigen Gedanken vertieft, begann der alte Küster mit schöner und klangvoller Stimme seine Lieblingsweise zu singen: Es stand ein armer verkrüppelter Tann, Wo viele des Weges schritten; Nie trieb sein Mark zur Höhe hinan, Nie setzte er Ringe und Äste an, Zertrampelt von achtlosen Tritten: Denn nieder treten wir uns in den Staub. Was aus den ersten Knospen springt,
Vernichten wir grausam und dreiste, Und wenn eherne Kraft auch zur Höhe sich ringt, Vereinzelter Stamm zu Früchten es bringt, Bleibt Krüppelholz dennoch das meiste: Denn nieder treten wir uns in den Staub. Das Kind umgaukeln Träume bunt, Es langt nach dem Sonnenballe; Doch stößt es sich erst im Leben wund, Erbettelt es bald mit bebendem Mund Einen einzigen Strahl, eh’ es falle: Denn nieder treten wir uns in den Staub. Sørensen stand nun vom Damme auf. »Wie es doch regnet!« sagte er, »regnet, regnet und regnet! Immerfort regnet es, scheint mir. Aber es scheint einem vielleicht nur so, weil man so arm und alt geworden ist. Denn wie ich jung war, ach, wie hat da die Sonne schön scheinen können! – Leb wohl, mein Kind! – Und vergiß nicht, reines Stroh in deine Holzpantoffel zu legen, sobald du mit dem Vieh nach Haus kommst!« Per sah tief ergriffen dem alten Küster nach, bis er langsam im Nebelgrau verschwand.
MUTTERS STIEFEL Der Winter sauste über die zu Stein und Bein gefrorenen Gemeindewiesen. Die Bauern verschalten ihre Türen und ließen das wilde Wetter Sturm gegen die Giebel rennen. Die Kühe standen an den Krippen und knabberten Rüben und Ölkuchen, daß ihnen der Schaum um die Mäuler stand. Nun kamen auch gute Tage für einen kleinen Jungen, der in dem naßkalten Herbstwetter Frost und Ungemach erduldet hatte. Bertel wußte freilich seine Leute einzuspannen, ob sie nun groß oder klein waren. Er fluchte früh und spät darüber, daß »eins so einen Burschen füttern muß, mit dem man nicht weiß was anfangen.« Aber Bertel wußte dennoch Rat, so zwar, daß Per nicht eine freie Stunde hatte, wenn er nicht eben in der Schule war. Er mußte den Hausvater auf Weg und Steg durch alle Wirtschaftsräume als sein höriger
und gehorsamer Trabant begleiten; und Bertel war keine vergnügliche Gesellschaft. Per mußte in den Ställen misten, die Krippen säubern und Futterrüben aus den gefrorenen Gruben, die sich wie Schanzen rings um den Hof zogen, auf dem Schiebkarren in den Stall fahren. Selbst spät abends, wenn Nacht und Nebel sich über die Dächer gesenkt hatten, mußte er mit den Knechten in die Futtertenne hin, Häcksel schneiden und entweder bei der Kurbel zugreifen oder zum mindesten die Laterne halten, die ebensogut an einem Nagel hätte hängen können, wie sie jetzt in seinen blaugefrorenen Händen hin und her schwankte. »Jetzt brauchst du ihm, meiner Seel, die Butter nicht förmlich draufpatzen aufs Brot, so einem Lauskerl. Der wird sich doch auch mit einer Auflagschnitte behelfen können,« brummte Bertel, der dastand und zusah, wie Ann-Kjestin Pers belegtes Schulbrot strich. »Ja, damit der andern Leute Dienstjungs uns recht austragen, wenn der unsrige mit einem viel schmäleren Vesperbrot zur Schule kommt als sie. Sparen soll eins gewiß, aber dabei doch immer ein Aug drauf haben, daß man sich keine Schande damit antut.« Kraft dieser Lebensregel erhielt Per doppelt so gute Vesperbrote in der Schule, als wenn er daheim war, ein Grund mehr, so viele Schultage als möglich zu wünschen.
Aber der Schulbesuch sprach ihn auch an sich stark an, weil Gydesen ein tüchtiger und anregender Lehrer war, der seine Schüler zu Fleiß und Wetteifer anzuspornen wußte. Dazu war Per auch felsenfest von seiner Gerechtigkeitsliebe überzeugt, ganz sicher, daß er keinen Unterschied mache zwischen arm und reich. Durch diese Eigenschaft erwarb er sich Pers rührendste Anhänglichkeit, so daß dieser ihm um alles in der Welt nicht hätte zuwiderhandeln oder seine Unzufriedenheit erregen wollen. Nie noch hatte er ein so wohliges Gefühl empfunden wie damals, als er eine der schwierigsten Aufgaben im dritten Teil seines Rechenbuchs gelöst hatte und Gydesen ihm leise streichelnd mit der Hand über das Haar gefahren war und gesagt hatte: »Das hast du wahrhaftig fein herausgeklügelt, kleiner Per. Aus dir wird mit der Zeit schon was Rechtes werden. Nun kannst du hinausgehen und dir eine Handvoll Stachelbeeren pflücken. Die ganz unten im Garten sind die reifsten.« Gydesen verwendete fast alle seine Stachelbeeren als Aufmunterungsprämien für fleißige Schüler. Seit Menschengedenken hatten die Kinder der Hvarreschule jeden Winter ihr »Fastnachtsspiel« gehabt, das sie draußen auf dem Lande bei dem oder jenem Hofbauer, der eine geräumige »Großstube« hatte, »ausrichteten«. Gydesen war kein besonderer Freund dieser Form der Volksbelustigung, da das Spiel
der Kinder den Erwachsenen oft Anlaß zum Saufen und Raufen gab. Aber anderseits wußte er auch, daß dieser Wintertanz oft die einzige Zerstreuung eines armen Kindes während eines ganzen langen Jahrs knechtischer Arbeit war. Daher hatte er noch immer, ob auch etwas zögernd, seine Erlaubnis dazu gegeben. Sobald sie auch in diesem Jahre erlangt worden, zogen vier der in der Schule angesehensten, von der gesamten Klasse erwählten Knaben aus, um, mit Stulpen- oder Holzschuhstiefeln angetan, »das Gespiel bestellen« zu gehen. Unter diesen vieren war auch Per. Als sie nun einen ganzen geschlagenen Winternachmittag in Schnee und Morast umhergewatet waren und weit und breit stets nur abschlägige Antworten erhalten hatten mit der Begründung, daß »bei so einem tollen Handel nie was andres als Schaden herausschauen tät« – sagte endlich Per zu seinen entmutigten Kameraden: »Wißt ihr was, jetzt gehen wir in drei Teufels Namen zu Kild Pejrsen. Ich steh euch gut dafür, dort kriegen wir unser Gespiel!« Und sie kriegten es. Sobald Kild aus Pers Munde gehört hatte, wie sie vergeblich von Hof zu Hof betteln gegangen waren, gab er rückhaltlos seine Einwilligung, obgleich er einer der Hofbesitzer war, die keine Kinder in der Schule hatten.
»Ich erinnere mich noch recht gut, wie mich so eine kleine Unterhaltung gefreut hat, wie ich in eurem Alter war,« sagte Kild. »Müßt euch dann aber auch wie ordentliche Menschen aufführen und nicht vielleicht den ganzen Verputz von der Wand herunterstoßen,« fügte er hinzu. Kurz und gut, es wurde ein recht vergnügtes, tolles Spiel. Die Kinder stürmten durch Kild Pejrsens Haustür aus und ein, und Kild sorgte dafür, daß ein jedes sich nach Kräften unterhielt. Er hatte einen großen Anker Met angeschafft, den er glasweise um äußerst niedrigen Preis ausschenken ließ. Auch Kaffee und Judenkuchen gab’s die Fülle. Es fehlte nicht viel, so wäre Per der Löwe des Balls gewesen. Ann-Kjestin hatte großmütig dafür Sorge getragen, daß der Anzug, der dem Kontrakt zufolge den wesentlichsten Teil seines Lohns bildete, rechtzeitig fertig geworden war, so daß er zur Spielstube kam, geschmückt wie eine Lilie des Feldes. Einige Tage vor dem Feste war Per in recht bedrohlicher Lage gewesen. Er hatte plötzlich die traurige Entdeckung gemacht, daß er keine Stiefel besaß. Tanz in Holzschuhen und Wadenstutzen mochte ganz herrlich sein an einem armseligen Sommersonntag, wenn der Harmonika wilde Klage in der lehmgestampften Einfahrt der Spreukammer erklang. Aber bei einem feierlich vorausbestellten Fastnachtsspiel, das noch wesentlich durch seinen Einfluß zustande
gekommen war, da mußten andre und höhere Anforderungen an die Equipierung gestellt werden. Per nahm denn seine Zuflucht zur Mutter, und wirklich fand Ann-Marie Kjærsgaard nach vielem Suchen ein Paar Schnürstiefel, die sie bei manch flottem Jugendtanz getragen hatte, die nun aber stark vom Zahn der Zeit gezeichnet waren. Als aber die Stiefel sich eine Weile unter Mortens pechender Hantierung befunden hatten, erwiesen sie sich in jeder Hinsicht als zweckentsprechend. »Ach was, du brauchst ja nicht grad so unchristlich auf dem Boden herumzustampfen!« meinte AnnMarie. In Mutters Stiefeletten schwang nun Per den ganzen Tag lang seine kleinen berockten Kameradinnen, die von Spitzen und Kartoffelstärke starrten, indes der einäugige Spielmann Kræn unter den verzwicktesten Grimassen und endlosem Naserümpfen den Bogen wie eine Rundsäge über sein Saitenspiel zog. Gegen Abend fanden sich die Eltern der Kinder ein, teils um den Spielen der Sprößlinge zuzuschauen, teils um selbst in einem Dreher oder zweien die Schuhe auszutreten. Unter den Erschienenen befand sich auch AnnMarie Kjærsgaard. Den Strickstrumpf hoch in den Händen, nahm sie mitten in der Tür der großen Stube Aufstellung, von wo sie mit Stolz die Gewandtheit beobachtete, mit der Per die Töchter der Hof bau-
ern zu des einäugigen Spielmanns phantastischen Tönen schwang. Mit ihrem geübten Blick entging es ihr auch nicht, daß Anni und Per sich ungewöhnlich oft im Tanz zusammenfanden. Wie nun Ann-Marie so dastand und mit ihren fünf Stricknadeln klapperte, während der Takt der Tanzmusik ihr in den Ohren klang, wurde sie plötzlich von ihrer eignen alten Leidenschaft für diese wahnwitzigen Drehungen um die eigne Achse ergriffen. Gab es doch keine Finesse des Tanzes, kein »da capo« dieser alten abgenutzten Dorffiedel, die nicht heitere und bezaubernde Erinnerungen in ihrer zertretenen und mißhandelten Seele erweckt hätten. Man sah ihre Augen aufflammen wie die eines alten Zirkuspferdes, dem die Luft plötzlich wieder Geigen: und Flötentöne zuträgt. Anfangs hatten es nur die Stricknadeln zu entgelten, die in wilder Scheu klirrten, und der Garnknäuel, der ein übers andremal umschnurrte. Bald aber wurde es ihr platterdings unmöglich, sich länger zu beherrschen. Sie ließ Per zu sich rufen und zog ihn mit sich fort hinter die Gangtür, die des Luftzugs wegen an die Wand gelehnt worden war. »Ach Per, zieh einen Augenblick die Schuh aus: ich hab solche Lust, nur einen einzigen Dreher zu machen!«
Per blickte mit einem Ausdruck zur Mutter auf, als wollte er sich vergewissern, ob sie auch recht gescheit sei. »Ach, hörst du denn nicht, was ich dir sag!« wiederholte Ann-Marie, ihn ungeduldig am Ärmel reißend. »Die Stiefel möcht ich haben, du kannst dir derweil meine warmen Holzschuh nehmen.« Per wehrte sich mit allen Kräften, aber da half kein Bitten und Betteln; er mußte stehenden Fußes aus den Stiefeln heraus. »Da hast auch was rechts darüber zu flennen,« sagte Ann-Marie mit einem Anflug ihrer alten Heftigkeit. »Bist du jetzt vielleicht nicht den ganzen Tag in meinen Stiefeletten herumstolziert?« – Mit diesen Worten schritt Ann-Marie aus dem Vorhaus und trat, nunmehr voll aufgetakelt, in die große Stube. Im Wirbel des Tanzes hatte sie des Sohns gar bald vergessen. Dagegen begannen die Kameraden Pers blondlokkigen Kopf allmählich beim Tanze zu vermissen. Ein paar der ältesten begaben sich auf die Suche und fanden da den Löwen des Balls in bloßen Strümpfen in einem verborgenen dunklen Winkel des Vorhauses. Bald ging es unter den großen Knaben von Mund zu Mund, daß Per stiefellos im Hausflur hinter der Tür stehe und weine. Sie erzählten sich’s nicht ohne Schadenfreude, denn mit vieler Mißgunst hatten verschiedene Hofbauernsöhne Pers ungemeines Glück beim Tanze beobachtet. Nun kamen sie einer
nach dem andern, um sich zu überzeugen, »ob’s auch wahr war«. Bald war ein ganzes grinsendes Rudel um Pers Schandwinkel versammelt; sie höhnten ihn und zupften ihn am Ärmel, um seine klägliche Lage ins helle Licht zu ziehen. Per wehrte sich eine Zeitlang mannesmutig in seiner Verschanzung; er teilte Maulschellen und Nasenstüber aus, währenddes die Spottreden über ihn niederhagelten. »Per Bloßgeher! Barfüßler Per! Er hat keine eignen Stiefel! In Mutters Schuhen hat er getanzt!« Plötzlich stand Anna mit lachenden hohnvollen Augen mitten in der Schar der Spötter. Per kam in helle Wut vor Kummer, knirschte mit den Zähnen und fuhr aus seiner Ecke heraus, erhobenen Armes, die geballte Faust hoch über dem Kopf. Während des entstandenen Tohuwabohus hatte Kild sich mitten durch den Strom der Flüchtenden hindurchgearbeitet. Per stand barfuß und schluchzend vor ihm und schilderte seine Not. – »Was, die Ann-Marie hat die Stiefel genommen?« sagte Kild, mit Mühe ein Lächeln zurückdrängend, so leid ihm der geweckte Knabe tat. »Weißt, komm du jetzt zu mir herein, bis deine Mutter sich die Mucken ausgetanzt hat.« Kild führte Per in ein Nebengemach, wo der Spott der Kameraden ihn nicht erreichen konnte. Durch eine Tasse Kaffee und einen Judenkuchen suchte er
die gemarterte Seele des Knaben ins Gleichgewicht zu bringen. Endlich kehrten auch die Stiefel zurück, aber Pers Lust, den Tanz wieder aufzunehmen, war unwiederbringlich zerstört; ohne jemand Lebewohl zu sagen, stahl er sich aus der Spielstube fort, und allein und betrübt ging er heim über das dunkle Ackerland.
BEI KILD PEJRSEN So schleppte sich Per durch sein erstes Dienstjahr hin; andre Jahre kamen nachgeschlichen, brachten Gutes und Böses, von diesem am meisten. Die ursprünglich lächelnden, etwas weichen Züge wurden vom Leben gehärtet, fest und scharfgeschnitten. Die Linien um den Mund strafften sich, der Blick wurde kalt und forschend. Bekam er Schläge, so sah man keine Träne mehr, er knirschte mit den Zähnen, und die Zunge wurde dick und gallig. Solange er bei Bertel war, verrichtete er seine Arbeit geschickt und anstellig, doch lustlos wie ein Tier, das automatisch die Brust wider das Geschirr stemmt, ohne einen Funken eigenen Willens. Ein bißchen Festglanz hatte das Leben nur, wenn er dann und wann an einem Sonntagnachmittag sich zum Iltisjäger schleichen durfte oder wenn Kræn-Lybsker über die Fluren gegangen kam, sich
ein Viertelstündchen am Wegdamm neben ihm niederließ und über die verschiedensten Dinge redete und schwatzte, alles mit seinem hellen, gutmütigen Lachen abschließend. Kresten erhob sich nie von seiner Seite, ohne ein Fünfundzwanzig-Örestück auf seinen Knien zurückzulassen. In der Schule behauptete Per nach wie vor seinen Platz als einer der ersten, und als endlich seine Schulzeit zu Ende ging, hielt der Lehrer Gydesen eine kleine Ansprache an ihn, worin er den Fleiß rühmte, den er stets bewiesen, unter so ungünstigen Verhältnissen er auch die Schule hatte besuchen müssen. »Es wäre zu wünschen, daß manche von den Kindern der Bessergestellten von deinem Fleiß, deiner Aufmerksamkeit beseelt wären,« sagte Gydesen, »ich könnte mir da viele Ermahnungen und harte Worte sparen, die anwenden zu müssen dem Herzen immer wehe tut. Und wenn du, Per, nun von mir fort und hinaus gehst, deinem Beruf als Knecht nach, der gewiß für niemand beneidenswert, am wenigsten für den, der verlassen und schutzlos ist, so hoffe ich, daß du zuweilen zurückdenken wirst an diese Schule und die erfreulichen und lehrreichen Stunden, die wir miteinander verlebt haben. Denn es gehört zum Freudigsten, das ein Lehrer erleben kann, zu sehen, daß sein Schüler vorwärtsstrebt. Es ist ein gefährliches Alter, in dem ich dich dir selbst überlassen muß,
mein Junge, und ich hoffe auch, du wirst dich nicht ganz von mir fernhalten; solange ich hier bin, sollen die Pforten der Schule weder dir noch wem immer, der von deiner Lernbegier beseelt ist, verschlossen sein. Lebe wohl, Per, und Gott sei mit dir!« Dem Lehrer wie dem Schüler waren bei diesen feierlichen, warm empfundenen Worten die Tränen in die Augen getreten. Tief bewegt ging Per heim. Gydesen war immer sein guter Geist gewesen. Hatte er sich fast überall sonst als das arme gehetzte Wild gefühlt, auf dem Boden der Schule empfand er sich an geweihter Stätte. Hier herrschte ein höheres Gesetz als das des Dienstherrn, weil Gydesen ein Mann war, der im Bewußtsein seiner Verantwortung kein Jota seines Lehrrechts preisgab, sobald es auf Kosten der Kinder ging. Das also war nunmehr vorbei; was würde jetzt kommen? Auf dem Heimwege war Per Kræn Lybsker begegnet. Wie gewöhnlich hatte ihn dieser auch heute über allerlei auszufragen. »Na, Per, wie geht’s denn? Wird dir der Bertel noch immer nicht zu mopsig?« Per erzählte ihm, daß er heute zum letztenmal in der Schule gewesen sei. »Ih schau! Da bist du ja bald ein erwachsener Knecht und kannst deinem Hirtenstecken schön Guten Tag
sagen! Wirst dann noch immer beim Bertel dein Brot verdienen?« »Nein,« sagte Per. »Ich hab mich beim Kild Pejrsen verdungen.« »Was du nicht sagst! Das laß ich mir gefallen! Wird das ein Unterschied sein, meinst nicht? Denn der Kild, das ist ein ganzer Mann, kein solcher Mistkerl wie der, bei dem du jetzt bist. Der Kild, der ist von jeher ein gewaltig estimierter Mann gewesen, der hält sich auf gleich und gleich mit den Leuten und geht nicht her und bellt und schnappt wie der Nørhofer Köter. An dem, da ist ja nicht mehr Gutes als in einer Kröte Honig. Ih schau, ih schau! So sollst du also hinunter und beim Kild einstehen …« Bei Kild Pejrsen diente Per während einer Reihe von Jahren und kam hier auf weit bessern Fuß mit dem Dasein. Bei Bertel war er der geknechtetste der Knechte gewesen und hatte nicht so viel Recht wie der Hund besessen. Bei Kild wuchs er zu einem schlanken, breitschultrigen Mann heran, der sich überalles, was in seinen Gesichtskreis fiel, eine feste, unbeirrbare Meinung bildete. Kild ließ ihn so viel als möglich nach seinem eigenen Kopfe vorgehen, denn Kild war ein verständiger Dienstherr, der lieber einen freien Mann als einen Fronsklaven auf seinem Hof hatte. Er selbst war von eisernem Fleiß und nie darauf bedacht, sich zu schonen, dazu bei prächtigem Humor, so lang der Tag
nur währte. Desungeachtet war Kild ein Mann der alten Schule und nichts weniger als ein Vorkämpfer irgendeiner einschneidenden Umwandlung in dem Verhältnis zwischen Herr und Knecht. Auch auf seinem Hof war die Kost knapp und dürftig, der Lohn klein, die Arbeitszeit lang, wenn auch etwas kürzer als in den andern Höfen, und der Schlafraum des Gesindes kaum um einen Strohhalm besser als in den übrigen Bauernhäusern. Wenn gleichwohl, wer bei Kild bedienstet war, von allen andern dienstbaren Geistern beneidet wurde, so geschah es, weil Kild als der schlichte, gutgelaunte Mann bekannt war, der sich nicht für zu gut hielt, sich gewissermaßen auf eine Stufe mit seinen Leuten zu stellen. War die Grütze beim Mittagstisch angebrannt, so legte Kild seinen Löffel nicht weg, um sich dann in der Speisekammer schadlos zu halten, sondern feuerte ein paar Brandraketen gegen die unselige Haushälterin ab und tauchte im übrigen seinen Löffel neben dem des Knechts in die gemeinsame Schüssel, bis kein Körnchen Grütze mehr darin zu finden war. So ging er auch Seite an Seite mit Per aufs Feld und fürchtete sich ebensowenig vor Stoß und Schramme oder einer nassen Jacke wie dieser. Eine solche Gleichheit entwaffnet viel Mißmut. Und es war sehr wahr, was der Taglöhner Jens Romler zu sagen pflegte: »Zwei Tage in Kild Pejrsens
Torfmoor, die vergehen grad so schnell wie auf dem Nørhof einer. Sicher und gewiß!« Bei allen seinen trefflichen Eigenschaften war Kild ein ziemlich unaufgeklärter Mann: er war in dieser Hinsicht wie die Bauern zumeist. Wie der größte Teil seiner Standesgenossen hatte er nie ein Buch ausgelesen. Während einiger weniger Wintermonate war er auf ein Quartal des in der nächsten Kleinstadt erscheinenden »Volksblatts« abonniert; aber die Wahrheit zu gestehen, hielt er das Blatt einzig der Bekanntmachungen und der »Sensationsnachrichten« wegen und bestellte es immer wieder ab, sobald die Hafersaat bei ihm begonnen hatte. Diese regelmäßig wiederkehrende Einstellung des Abonnements war für Per ein wahrer Kummer; denn jedes Stück bedrucktes Papier hatte stets einen eigenen Reiz für ihn besessen, und je mehr er heranwuchs, desto mehr regte sich in seinem Blut ein förmlicher Hunger nach Belehrung und Lektüre. War er auf dem Felde zu der Zeit, wo aus der Schule die Kinder kamen, die für den Schulzen oder sonst einen der neumodischen Reformbauern eine Zeitung mitbekommen hatten, so lief er oft über den ganzen Acker hin, nur um einen Blick hineinwerfen zu können. Bei seinem knapp zugemessenen Lohn, der – dank der großen Armut seiner Eltern – den Weg in verschiedene Taschen nehmen mußte, konnte er sich die Verschwendung, ein Blatt auf eigene Rechnung
zu halten, nicht gestatten. Zudem hätte das böses Blut bei seinem Dienstgeber gemacht, da sozusagen kein Bauer, er mag sonst noch so billig sein, es gern sieht, wenn seine Leute lesen. Wie hätte er auch dazu Zeit finden sollen? Des Sommers ein Arbeitstag unter offenem Himmel von siebzehn bis achtzehn Stunden mit knapp zugemessenen Essenszeiten; während der Ernte und Mahd mußte nicht selten auch des Sonntags gearbeitet werden; des Winters: Dreschen und Stallarbeit, solange nur ein Schein am Himmel war; hernach Strohseile drehen, Korbflechten, Federnrupfen und andre Basteleien bei der qualmenden Gesindestubenlampe, bis der letzte Tropfen Öl ausgebrannt war – und immer für den Dienstherrn – nie für sich selbst. Das Strohbund beiseite zu legen und ein Buch oder eine Zeitung zur Hand zu nehmen, wäre einfach eine Meuterei gewesen, die in den meisten Fällen ein regelrechtes Davongejagtwerden zur Folge gehabt hätte. Gleichwohl gelang es Per dann und wann, etwas zu lesen, zumeist gegen Ende des Winters, wenn die vorausbestimmte Anzahl Strohseile fertig gewunden am Hahnenbalken hing. Pers Lesestoff kam ihm von zwei Seiten zu: ein ganzer Strom verlegener, lavendelduftender Romantik, historische Romane und harmlose Novellen, von Lehrer Gydesens altväterischen Bücherregalen;
eine Flut, salzig und bitter, aus Roys etwas zufällig zusammengetragener Büchersammlung, hitzige Problemdichtungen oder sogar sozialpolitische Literatur mit starker, schonungsloser Bloßstellung der Verkehrtheiten der Gesellschaftsordnung. Diese Bücher sagten Per am meisten zu, nicht selten erörterte er ihren Inhalt mit dem Hausvater, wenn sich Gelegenheit dazu bot. Eines Abends streckte Kild sich bequem auf der Bank aus und stützte den Rücken gegen das Uhrgehäuse, neben dem der Brottrog lehnte, und rief: »Lies uns jetzt was vor, Per, was zum Lachen; denn das, womit du gestern gekommen bist, daraus kann, meiner Seel, sein Lebtag nichts werden.« »Was möcht denn das gewesen sein?« »Ach, die Geschichte, daß wir, die auf den Bauernhöfen sitzen, einmal das« Doppelte werden an Leutlohn hergeben und noch dazu, soviel ich hab verstehen können, uns mit der halben Arbeitszeit zufriedengeben müssen.« »Warum denn nicht? Es ist in der Stadt doch auch so gegangen,« entgegnete Per. »In der Stadt, da ja! Aber dort finden sie doch ihr Geld auf der Straße. Auf dem Land aber! Auf dem Land! Ich weiß nicht, wie ein gescheiter Bursch wie du nur so was denken kann? Wir müßten, bei meiner Seligkeit, alle miteinander aus unsern Höfen hin-
aus; ja das tät’s noch nicht einmal. Und wo wolltet ihr dann hin und was verdienen?« »Ach was, gingt ihr hinaus, gingen wohl andre hinein,« versetzte Per. »Nein, nein! Davon darfst du nimmer reden! Das läßt sich nicht machen; außer ihr hättet es geradezu in Willens, die Bauern zu erschlagen!« sagte Kild und zog sein Bein heftig von der Bank herunter. »Na, aber die Dienstleute, die möchten doch auch gern Menschen sein,« meinte Per. »Gott behüte! Wer wird denn was andres sagen! Fühlst du dich vielleicht nicht wie ein Mensch behandelt?« rief Kild und stieß den Brottrog um. »Gewiß, Kild! So ist es ja gar nicht gemeint; wären nur all die andern, bei denen man sein Brot essen muß, so rechtschaffen wie du! Aber siehst du, sein Lebtag möcht eins doch nicht auf demselben Fleck bleiben, und wieviel Dienstmenschen gibt’s denn, die Aussicht hätten, für sich selbst was zu erreichen, ob sie sich noch so lang schinden. Schau dir nur den Jens Romler da draußen am Moorland an.« »Ja, ich geb zu,« sagte Kild, »der ist ein tüchtiger, arbeitsamer Mann, der was Besseres verdient hätt.« »Zeugt das denn nicht dafür, daß irgendwas erzfaul ist in unsrer Gesellschaft, wenn so ein Mann, der sein Lebtag vom frühen Morgen bis zum späten Abend sich abgeplagt und abgerackert hat, wenn der doch nie dazu kommt, sich aus der größten Armut
herauszuarbeiten, sondern, solange er nur schnaufen kann, unter der härtesten Rackerei stöhnt und keucht. Elendigliches Lager und elendigliche Kost; krank das Weib und krank die Kinder! Und weshalb? Weil der Unterhalt zu gering ist, und das, wiewohl er seine Hände fast nicht mehr vom Spaten bringt. Denn möcht er auch nur, sagen wir, vierzehn Tage feiern, das Ganze täte der Gemeinde zur Last fallen.« »Nein, der Jens Romler, der hat’s wahrhaftig nicht gar gut, da müßte eins lügen!« sagte Kild, »der hat’s geradeaus hundsschlecht!« »Na aber, tut so ein Leben uns nicht allesamt erwarten, uns alle, die wir dienen – ja manche ein noch schlechteres?« »Freilich wohl; es gibt nur zuviel Armut auf der Welt; da will ich ganz und gar nicht widersprechen,« sagte Kild, fügte jedoch hinzu: »Aber daß sich’s mit acht Stunden Arbeitszeit richten läßt, – – das geht meiner Seel zu hoch hinaus – zum mindesten bei der Landwirtschaft.« Als der Roggen gesät war und der Herbstwind aufs neue die herabhängenden Vordächer zauste, sagte Kild eines Abends, als er gesättigt war vom Abendbrei: »Jetzt wär’s meiner Seel nicht zuwider, wenn man seine Zeitung hätt! Dabei läßt sich’s so gut sitzen und nicken. Was meinst du, Per? Sollen wir uns eine bestellen?«
»Ja, ich denk mir’s immer schön, wenn man so lesen kann, was sich zuträgt und was sie verhandeln.« »Nein, denen ihr Reichstagsgewäsch und der ganze Quark, der schert mich den Teufel. Was geht das einen Bauern an? Ja, es wird gewiß ganz unterhältlich sein, bei so einer Sitzung dabeizusein und zuzuhören, wie sie aufeinander einhauen. Aber wenn’s um das Zeitungshalten geht, muß es eine sein, aus der man sieht, was auf dem Markt vorgeht. Was sonst noch drin zu lesen steht, dafür geb’ ich, meiner Seel, keinen Pfifferling, denn die Hälfte ist nur lauter Lug,« erklärte Kild. »Wenn wir das Arbeiterblatt halten täten,« schlug Per vor, »da möcht ich meinen Teil dazu zahlen.« »Nein, das will ich in meinen vier Pfählen nicht haben, säh’s beileib auch nicht gern, daß einer von meinen Knechten es hält. Denn Unzufriedenheit und Uneinigkeit gibt’s ohnehin schon genug unter allen Leuten. Und ein Sozialist, Per – davor sollst, zum Henker, wohl auf deiner Hut sein, so einer zu werden. Denn bist du einmal einer, dann gibt’s keinen einzigen ordentlichen Menschen, hier in der Gegend zum mindesten, der dich möcht in Lohn und Brot nehmen. Jetzt hab’ ich dir meine Meinung gesagt.« »Da wirst schon recht haben, Bauer! Glaub’s gern! Es könnt aber dessentwegen doch passieren, daß man hingeht und wird einer!«
Damit erhob er sich schroff von seiner Bank und verließ die Stube mit trotziger Miene.
AUF DEM WAGEN DES ARZTES In einer rauhen, stürmisch kalten Oktobernacht klopfte es heftig an Kild Pejrsens Schlafkammerfenster, das nach dem Felde hinausging. »Wer da?« rief Kild, den Oberkörper rasch zur Fensterbrüstung hinschiebend. »Ach du mein Gott, Kild, ich bin’s, der Jens Romler!« »Was, du bist’s, Jens? Hast du dich verirrt oder was gibt’s sonst?« »Ach, bester Kild, mußt mir nicht bös sein; aber mein Weib, das hat einen Blutsturz gekriegt; das drittemal schon. Und wie der Doktor neulich da war, da hat er gesagt, wenn sie wieder einen kriegt, dann geht’s zu End. Und jetzt bin ich fast die ganze Gemeinde abgelaufen, aber keiner hat fahren wollen; und müßt sie wirklich wegsterben von all den vielen Kindern, mit denen man dasteht – ach, Gott sei mir gnädig, was fang ich armer Mensch dann an!«
Jens’ Worte und Sätze wurden vom Sturm auseinandergerissen, und seine dumpfe Verzweiflung klang noch tiefer, da er sie in die schwarze Nacht hinausschluchzte. »Renn ums Eck und ruf den Per; ich komm gleich nach!« war Kilds ganze Antwort; aber mehr bedurfte es auch nicht, um dem unglücklichen Tagelöhner zu sagen, daß sein Wunsch erfüllt sei. Als Kild einige Augenblicke später auf die nassen Steinstufen hinaustrat, hatte Per schon beim Laternenschein den Kutschwagen hervorgezogen. Im Nu standen die zwei Pferde angeschirrt, und ihre Augen glänzten, die Kniemuskeln zitterten, begierig auszugreifen. »Bist du auch beim Nørhofer gewesen?« fragte Kild und ließ die Hand tastend über das Zaumzeug des Handpferdes gleiten. »Freilich, da bin ich zu allererst hingerannt. Aber die Stute soll gerade hinken, und die Fohlen hat er sich nicht getraut mit dem Knecht zu schicken. Es war nicht so ratsam mit denen.« »Ach was, die Fohlen! Denen hätte es wahrhaftig keinen Schaden getan, wenn sie ihre Beine gerührt hätten. Er soll sich schämen, ist doch so hart bei, da hätt das Weib früher eine Hilfe haben können,« äußerte Kild. Die Torflügel knirschten an den Steinen, der Wagen polterte unter dem grauen Gebälke hinaus;
pfeilschnell durchschnitt Pers kräftiges Gespann das Dunkel des Wegs, den der Wagen zu der Behausung des Doktors nahm. Mit gekrümmtem Rücken und schwer geängstigtem Gemüt schlich der Tagelöhner den Steig zwischen Binsen und Porsch entlang dem ersterbenden Lichtlein in seiner Kate am Moor entgegen. Es fing schon an zu tagen, als die dampfenden Gäule vor der hohen Steintreppe des Doktors Koldkur hielten. »Was, Ihr seid es, Per? Was gibt’s denn? Ist was Ernstliches bei Kild Pejrsen passiert?« fragte Koldkur, der den Kopf aus seinem Schlafzimmerfenster heraussteckte. »Nein, beim Jens Romler, dem Tagelöhner draußen am Moorland,« sagte Per. »Ach, der arme Mensch! Wohl wieder seinWeib krank?« »Ja!« »Gleich im Augenblick bin ich da.« Kurz darauf rief er wieder aus dem Fenster: »Ich nehme jemand mit. Ihr habt ja Platz genug?« Wenige Minuten später standen zwei in Mäntel gehüllte Herren vor dem Wagentritt, bereit einzusteigen; der eine war Doktor Koldkur, der andre ein Freund aus den Studienjahren, der Statistiker Dr. phil. Erik Stegeberg, ein blasser, stets fröstelnder Mann mit Lorgnette und Spitzbart. Seit einer Woche hielt
er sich in Koldkurs Hause auf, um einige Kenntnisse über die ökonomischen Verhältnisse des niederen Landvolks der Umgegend zu gewinnen. Nach längerer Fahrt auf schmalspurigem, holperigem Heideweg hielt endlich das Gefährt vor der baufälligen Hütte des Jens Romler, die im Vordergrunde eines großen, weitgedehnten Moors zwischen vielen Torfmieten und offenen Torfgruben lag. Die Wände des Hauses waren da und dort mit Heidetorf ausgebessert, und ein alter Unterrock war in eine der zerbrochenen Scheiben der Wohnstube gestopft. Stegeberg ging umher und lorgnettierte das Elend, indes Dr. Koldkur sich zu der kranken Frau begab, die nach dem starken Blutverlust in einem todähnlichen Ermattungszustand dalag. Jens Romler stand, die schweren Hände auf das Fußgestell des breiten Ehebetts aufgestützt, und suchte vergebens einen Blick des emsig beschäftigten Arztes zu erhaschen; zwei kleine Mädchen von acht und zehn Jahren mit verweinten Augen hielten Wasser und Handtuch bereit. »Wie ist es denn diesmal wieder gekommen?« fragte Koldkur, endlich zu Jens Romler hinschauend. »Wüßte wirklich nicht zu sagen, was die Ursache gewesen ist, Herr Doktor; aber seit der Ernte ist sie schon immer so elend,« sagte Jens. »Sie hat doch wohl nicht bei der Erntearbeit mitgeholfen?« entgegnete Koldkur. »Sie werden sich doch
noch erinnern, wie dringend ich es Ihnen ans Herz gelegt habe, sie diesen Sommer nach der Wendung, die im Frühjahr die Krankheit genommen hatte, ja zu schonen.« »Ja, ach ja! Meine Meinung war’s ja auch, daß sie heuer verschont sein sollte, aber sie hat’s durchaus probieren wollen; es ist ihr vorgekommen, daß sie schon wieder ganz beisammen war! Und dann haben wir’s den Sommer gar so knapp gehabt, weil uns die Kuh hin geworden ist. Und nachher die viele Krankheit im Haus. Sie hat gemeint, es tat nicht schaden, wenn sie einen Schilling mitverdiente; und da ist auch der Verwalter früh und spät dagestanden, daß sie mit hinaus soll zum Binden. Sie wissen ja, wir wohnen hier zur Miete, und ewig ist man Geld schuldig, Gott besser’s! Aber es wird schon so sein, daß ihr das den Knacks gegeben hat; denn der Roggen, der war zu schwer dieses Jahr; und an solchen Örtern, da heißt es ja seine Reihe abgehen. Ich hab freilich immer einmal dazwischen ihr ein paar Garben abnehmen können, aber es ist doch zu strenge Arbeit für ein schwaches Mensch, das hab ich schon weggehabt. Sie war immer so tüchtig und eifrig bei der Arbeit, und das tut hier im Haus wohl auch not; was hilft’s aber, wenn man nicht mehr fort kann!« »Ach, du liebe, arme Ann-Malen,« sagte er und ließ seine rauhen, harten Fingerknöchel streichelnd über die blutlose Wange des Weibes gleiten, »du bist mir
gewiß und wahrhaftig beigestanden, so lang du nur können hast; aber was hilft’s, ob eins noch so sehr alles zusammenhält, es ist doch zu nichts.« Und wie in großer Pein fügte er hinzu: »Ist denn das nicht auch schrecklich, daß ein so armseliges Volk wie unsereins, das sein Lebtag nichts zu beißen hat, sich auch noch mit allerhand Krankheiten abschleppen muß?« »P – st,« sagte Koldkur und legte das Ohr an die Brust der kranken Frau. Jens Romlers Augen bettelten wie die eines Hundes um einen Schimmer von Hoffnung. Stegeberg, der die ganze Zeit mit einem offenen Notizbuch in der Hand umhergegangen war, hatte nun außen ar dem Hause alles, was er brauchte, aufnotiert und trat mit langem Schritt und ängstlichem Blick auf die niederen Türpfosten in die Stube ein. »Still!« sagte Koldkur, noch immer das Ohr am Hörrohr. Stegeberg war noch kaum über die Türschwelle getreten, als sein Bleistift schon wieder in Bewegung war. Er richtete die Lorgnette auf dies und das und notierte ohne Unterlaß, als wäre er ein Gerichtsschreiber, der das ärmlich’ Mobiliar des Hauses aufzunehmen hätte. Das eine von den zwei kleinen Mädchen betrachtete ihn eine Zeitlang das Waschbecken auf ihren vorgeschobenen Bauch stützend mit offenem Munde. Als aber Stegeberg nun auch die Wiege zu registrieren begann, in der
ein Säugling an einem Leinenlappen, in den eine Rosine eingebunden war, lutschte und zutzelte und Nahrung zu erhaschen glaubte, weil er einen süßlichen Geschmack im Munde fühlte, ließ das kleine Mädchen entsetzt die Blicke vom Schreiber zum Vater gehen, ob er nicht eingreifen und diesen Menschen entwaffnen wollte, ehe ein größeres Unglück angerichtet würde. Auch Jens Romler hatte Stegebergs Schreibmanie peinlich berührt. »Erlauben Sie die Frage: Wer ist denn der da?« sagte Jens. Stegeberg murmelte etwas zwischen den Zähnen. »Ja, hier gibt’s nichts zum Schreiben!« wiederholte Jens Romler mit stillem Zorn; denn die Leute aus dem Volke sehen Feder und Tinte noch immer schief an, eine Erinnerung aus der Zeit, wo sie stets im Gefolge von Vogt und Gerichtsvollzieher waren. »Gestatten Sie nicht zu schreiben?« frug Stegeberg, nun zum erstenmal die Lorgnette auf den Tagelöhner richtend. Doch nun trat Dr. Koldkur dazwischen und beruhigte Jens mit ein paar erklärenden Worten. Nachdem der Arzt seine Hände gewaschen und ein paar kurze Vorschriften gegeben hatte, verließen er und Stegeberg das Haus. »Oh, es ist zum Verzweifeln, Arzt für solche arme Teufel zu sein,« sagte Koldkur, nachdem sie wieder
eingestiegen waren. »Denn es ist ihnen ja platterdings unmöglich, die Mittel zu einer menschlichen Existenz aufzubringen. Nur allein der Kranken ein Pfund frisches Fleisch zu verschaffen, ist so gut wie unausführbar; von hier sind drei Meilen bis in das nächste Städtchen und auf solchen Wegen! – Jetzt haben sie ihre einzige Kuh verloren. Niemand denkt recht darüber nach, was für ein Schlag das für eine arme Familie ist. Aber ist es nicht dasselbe, was es für einen Hofbauern wäre, wenn er eines Morgens in seinen Stall träte und all sein Vieh von den Stricken erdrosselt fände?« »Wie lange wohnen die Leute schon in dieser Hütte?« fragte Stegeberg. »Wie lange ist das her, Per?« gab Koldkur, sich über die Vordersitze hinüberreckend, die Frage weiter, »wie lange ist es her, seit die Romlers sich hier im Moor angesiedelt haben?« »Ach, das wird schon an die dreißig Jahre sein,« antwortete Per und setzte sich seitwärts, um besser dem Gespräch folgen zu können. »Haben sie immer in so großer Armut gelebt?« fragte Stegeberg. »Oh, möglich, daß die ersten Jahre ihrer Ehe etwas freundlicher waren,« erwiderte Koldkur, »damals hatten sie ja nur für sich selbst zu sorgen, und ihre Gesundheit war noch ungeschwächt. Aber in solchen Familien läßt die Krankheit selten auf sich warten.
Und man kann sich das ja an den Fingern abzählen, wenn Menschen in solchen Löchern wohnen und von Kartoffeln und saurem Brei leben und noch froh sein müssen, wenn sie davon genügend haben.« »Ist denn hier in der Gegend gar kein Fleisch zu haben?« erkundigte sich Stegeberg. »Gott, wie naiv du geworden bist, Stegeberg! Gewiß ist Fleisch zu haben, wenn man das Geld hat, es zu kaufen; aber das hat eben ein Tagelöhner nicht. Wie weit kämst wohl du oder ich mit etwa zweihundertfünfzig Kronen das Jahr?« »Ja, aber sie müssen doch wohl mehr verdienen,« meinte Stegeberg. »Der Zusammenstellung nach, die ich … Wart ein bißchen! Nun zum Teufel, ich hatte sie doch meines Wissens in die Tasche gesteckt.« »Hier in der Gegend ist der Lohn nicht höher,« versetzte Koldkur. »Ja vielleicht, daß sie noch eine Kanne abgerahmter Milch und ein paar Schnitten Roggenbrot dann und wann erhalten, wenn auch das angerechnet werden soll. Aber was die Bauern über den knappen Taglohn hinaus schenken, dafür pflegen sie sich wahrhaftig nur zu gut auf andre Weise bezahlt zu machen. Nein,« fuhr Koldkur fort, »kann man sich etwas Unvernünftigeres denken? Nun kenne ich den Mann schon über zehn Jahre; in all der Zeit ist sein Leben ein langsames, aber sicheres Hinabsinken in immer tieferes Elend gewesen, obgleich er ein in jeder
Hinsicht rechtschaffener und strebsamer Arbeiter ist, der sich nie im geringsten eine Ausschweifung erlaubt oder irgendwie über die Schnur haut. Und er ist ja nur einer von den Tausenden in diesem Lande. Es mag paradox klingen, ist aber nichtsdestoweniger die Wahrheit: je länger sie arbeiten, desto tiefer sinken sie – wie eine Lokomotive, die entgleist ist. Natürlich kennst du die Phrase, die jetzt im ganzen Lande kursiert: Was nach außen verloren worden, soll im Innern erobert werden! Nun, was ist’s, das erobert werden soll? Man sollte doch meinen, alle die schlecht bewirtschafteten Besitzungen, die kleinen und die großen, besonders die großen in diesem Lande, die geistlichen Liegenschaften, die gräflichen Güter, die Fidelkommisse, kurz gesagt, die fruchtbare Erde des Landes, die der toten Hand gehört. Aber nein, so war es nicht gemeint. Nein, meine Herren, was erobert werden soll, das ist die Heide und die Düne! Ihr harter Sand, den Gott verflucht und der Unfruchtbarkeit geweiht hat, der wird nun gedankenlos hungernden Menschenkindern als Zukunftsheimat angewiesen.« »Aber, um Gottes willen, Koldkur, bist du denn nicht eines Sinnes mit uns andern in bezug auf die sozialen Vorteile einer Urbarmachung der Heide?« rief Stegeberg plötzlich aus. »Nein, bei meiner Seligkeit, das bin ich nicht!« rief Koldkur. »Ich halte dieses ganze Unwesen für eins
der größten Verbrechen, das ein kurzsichtiger und marktschreierischer Patriotismus nur ausgeheckt! Ihr lockt da einen Haufen vertrauensseliger Menschen in die Wüste hinaus, ohne zugleich die Gabe der Alten zu besitzen, Steine in Brot zu verwandeln. Und diese Einfältigen, die noch stark und mutig sind und strotzende Kraft im Arme fühlen, sie glauben, daß die Erde wohl Erde sein werde, spannen den Ochsen vor und harren dann in blauäugigem Frohmut der Dinge, die da kommen werden. Aber trefft dann, wie ich, unsern kecken Kolonisten ein paar Jahre später, wenn er mit gekrümmtem Buckel hustend um die Hausecke schleicht und ächzt, er könne nicht begreifen, was mit ihm sei; aber es tue ihm da und tue ihm dort weh! Ich kann dir’s sagen, was mit dir ist, einfältiger Pflüger! Das ist’s, daß du die letzten zehn Jahre keine einzige ordentliche Mahlzeit gegessen hast. Du bist mit Kohlehydraten – Brot und Kartoffeln – gefüttert worden, das heißt mit Hungerkost und Fieberkost; daher hat deine Lunge gehörig große Löcher bekommen, und deine Nachkommen werden ihrer vermutlich noch größere aufweisen. Selbst dem Ochsen ist längst der Bauch eingesunken, daß er nun dasteht mit hohlen Weichen und konkavem Rückgrat, die Brust wundgeschabt vom Kummer. Der Sand rächt sich, meine Herren, der gottverfluchte Sand!« »Ich verstehe dich nicht mehr, Koldkur!« erwiderte Stegeberg.
»Nein, das glaub ich wohl! Wann hat die Stubengelehrsamkeit überhaupt etwas von dem verstanden, was in diesem Lande geschieht! Allen euern grauen Theorien wird der erste Zusammenstoß mit der Wirklichkeit den Garaus machen. Aber leider hat der Satan sein Spiel, so daß wir immer nur von den grauen Theorien der Stubengelehrsamkeit regiert werden.« »Aber so sag mir doch, Koldkur, was denkst du dir nur, was wir beginnen sollen mit der unternehmungslustigen, überschüssigen Arbeitskraft des Landes, wenn sie sich ein eigen Heim gründen möchte?« »Das will ich dir mit Vergnügen sagen, mein Lieber! Hebe dich ein wenig von deinem Sitz! Siehst du dort die Äcker und Hochwiesen, die wie ein grünes Meer droben jenseits der Heidegrenze liegen? Es sind die Gründe, die zum Hofe Sølsig gehören. Ihr jetziger Besitzer ist ein abgelebter halbidiotischer Greis, dessen größte und einzige Zerstreuung darin besteht, die unzähligen Ratten zu füttern, die in seinem Hofe hausen. Wir kommen bald dort vorbei; vielleicht kannst du ihn aus der Ferne sehen. Alles in der Welt bis auf die Ratten ist diesem erbärmlichen Wicht gleichgültig; seine Ländereien sind wie eine Wildnis von Schilf und Gestrüpp überwuchert; seine Grasanger sind so lange nicht umgestochen worden, daß Moos auf dem Grunde wächst. Die Feldwirtschaft wird dort wie zur Zeit unserer
Altvordern betrieben. Das leibhafte Gespenst des Todes wandelt grinsend zwischen den Furchen seines Feldes. Hier wäre der passende Tummelplatz für jugendliche blauäugige Kraft. Hier würden die Fähigkeiten Renten und keine Hungerschwindsucht ergeben. Wo dieser einfältige Greis mit rinnendem Geifer bei seinem Pfeifenstummel hockt und sich vor Armut kaum die Läuse aus dem Hemde halten kann, dort könnten Hunderte von Häuslerssöhnen, die mit den neuen Wirtschaftsmethoden vertraut gemacht wurden, in beispiellosem Wohlstande leben. Wie dieser Hof liegen die Besitzungen noch zu Hunderten in diesem Lande da: Fruchterde, Golderde – die den Pflug zu umarmen sich sehnt – wie ein Weib, das einsam daliegt, sich sehnt die lange Nacht hindurch. Aber ihr interessiert euch nur für den Sand; die Heide ist in euern Augen offenbar das einzig vollkommen Passende für den Kätner der heutigen Zeit. Es ist gleichsam zur Ehrensache geworden, das Heidekraut von der Erdoberfläche zu vertilgen; dieses ehrbare alte graue Wams, in das sich das jütische Land von Urväterzeiten her gekleidet hat, soll ihm nun von den dürren Lenden gerissen und ein neues, fremdes Gewand angelegt werden.« »Entschuldige, Koldkur, aber da muß ich wahrhaftig lachen,« warf Stegeberg ein. »Ja, lache nur; ich habe gar lange gelacht, gelacht über all den patriotischen Spektakel, womit unsre paten-
tierten , Vaterlandsfreunde’, sich daran machen, die Heide zu vernichten und die eigentümliche dänische Landschaft zu verwüsten zugunsten der preußischen Kiefer – dieses jämmerlichsten Schosses des Waldes, der kaum Holz genug für eine Krücke in sich hat, der nicht eine einzige reine Linie an seinem ganzen verrenkten Stumpfe besitzt, dessen einziges Verdienst aber ist, katzbuckeln zu können. Dieser lausige Trödler, der dasteht und die Luft mit Moderdunst erfüllt, dieser Proletarier unter den Bäumen, der mit ausgespreizten schwärenden Fingern die Aussicht und den hellen, weiten Horizont versperrt – – möchten seine Läuse ihn auffressen, ehe ihm seine Mission gelingt, die Heide Jütlands in eine langweilige, linienlose Preußenlandschaft zu verwandeln. Und mit welcher Motivierung tut man all dies? ökonomisch wie ästhetisch ist es unstreitig gleich verwerflich. Es gibt keine andre Erklärung als die, daß die Nation von Heidescheu befallen ist; in euch alle ist Pyromanie gefahren. Der rote Hahn soll auf der Heide krähen! – danach wird jetzt im Reichstage, in der Presse, im Vortragssaale geschrien.« »Sag mir, Koldkur,« warf nun Stegeberg ein, »wenn das Ganze nicht ein bloßer Scherz von dir ist, – bist du der Meinung, daß wir an den unbebauten Boden nicht rühren sollen?« »Nein, durchaus nicht; rührt nur immerzu daran, aus Leibeskräften, wenn ihr wollt – wenn er etwas
taugt! Aber wieviel von der Heide, die man jetzt mit so großen Gebärden und Kosten in Feld und Wald umwandeln möchte, taugt etwas? Ist es nun einmal das Schicksal dieses Landes, von einem Ende zum andern zu lauter Schwarzbrot umgeknetet zu werden, so fangt doch wenigstens bei Mull und Schlamm und Moor an. Es gibt mehr als genug alterprobte Humuserde, wenn nur an diese gerührt werden darf; aber statt die umfriedeten Auen und die gutsherrlichen Stachelzäune der zähen der Hütte entsprossenen Arbeitskraft zu erschließen, predigt ihr einen Kreuzzug gegen das Heidekraut und macht die Heide zu einem Lockvogel, durch den die Unglücklichen sich schockweise in der Dohne fangen. Hört auf meine Warnung, ihr Staatsökonomen! Wendet eure Aufmerksamkeit der Fruchterde des Landes zu; doch den gottverfluchten Sand, den laßt nicht Spaten noch Pflugeisen berühren!« Die letzten Worte sprach Koldkur fast in weihevollem Ton. Der Wagen hatte nun den alten Schloßgarten von Sølsig erreicht. »Ach, laß die Pferde einen Augenblick halten!« sagte Koldkur zu Per. »Hier durch dieses Pförtchen dürften wir seiner ansichtig werden, wenn er da ist.« Koldkur erhob sich nun im Wagen. »Ja, da sieh! Links vom Haupttor – an der getünchten Wand des Hauses!«
Auch Stegeberg und Per hatten sich auf den Zehenspitzen erhoben und sahen nun die zusammengesunkene Gestalt des Grundbesitzers Wollesen mit der kurzen Pfeife in den hängenden Mundwinkeln und der Brotschüssel auf den verschlissenen Hosenknien. Die Morgensonne warf dichte Bündel ihrer Fächerstrahlen auf die ungepflegten Rasenplätze des Gartens, dessen alte, gekrümmte Pflaumenbäume ihre geborstenen Früchte müde in das vom Herbstregen flachgepeitschte Gras fallen ließen. Wollesens lange gelblichweiße Bartstoppeln glitzerten fast in dem starken Lichte. Als die Pferde wieder angezogen hatten, sagte Koldkur: »Dieser Greis dort inmitten seiner schlecht verwalteten, verwahrlosten Besitzung, ist er nicht ein treffendes Bild unsres Gemeinwesens, wie es sich auch außerhalb seiner Markungen rings um uns her ausbreitet? Eines Tags stürzt ihm wohl das Haus über dem Kopf zusammen, das seine Ratten untergraben haben, zum Dank für die Brocken, die er ihnen zuschleudert. Er wird darum um nichts klüger werden; wir andern aber sollten es; wir sollten einsehen, wie unvernünftig, ja geradezu aberwitzig es ist, daß so ohnmächtige Hände das Recht haben sollen, den Zutritt zu dem Boden zu verschließen, den selbst zu
bebauen sie weder Kräfte noch Fähigkeiten mehr besitzen.« »Ich weiß nicht recht, was du meinst, Koldkur; wünschst du vielleicht das Recht des Privateigentums aufgehoben zu sehen?« bemerkte Stegeberg. »Ja, wenn es einem höheren Rechte im Wege steht.« »Welchem?« »Dem Rechte der vielen, zu leben.« »Das endet aber ja mit förmlicher Anarchie!« »In der Anarchie befinden wir uns bereits, der Anarchie, wo eine kümmerliche Minderzahl der Menschen geborene Erben aller Güter des Lebens sind, indes es den großen Massen am Allernotwendigsten gebricht. Ach, wenn man bedenkt, was in diesem Lande gedankenlos verschleudert wird – man könnte den Verstand darüber verlieren! Ich habe hier nicht allein materielle, sondern ebenso sehr die intellektuellen Werte im Auge. Oh könnte man euch nur dahin bringen, das einzusehen, ihr Politiker, Statistiker, Soziologen, ihr alle, die ihr sitzt und mit Menschen wie mit Steinen auf dem Brett spielt; wenn man euch bestimmen könnte, euern Griffel einen Augenblick beiseite zu legen und aufzublicken in so ein Paar graue flehende Augen eines Armen, die Kunde von einer Seele bringen, die unterdrückt und vernichtet worden ist durch das brutale Gesetz der Gesellschaft, dieses Gesetz, das von Tausenden heischt, sich in Lumpen zu wälzen,
damit einer in der Kutsche an ihren Hütten vorbeifahren kann!« »Koldkur, du bist gänzlich von mir hinweggeglitten; ich verstehe dich nicht mehr,« äußerte Stegeberg betrübt. »Nein, du verstehst mich nicht mehr; am Verstehen, da gebricht es eben überall. Aber lege einen Augenblick deine schroffe Miene ab und schau mir gerade ins Gesicht wie in alten Tagen, als wir polemisierend im Tiergarten auf und ab spazierten, da du der Radikale und ich der Skeptische war. Ich lebe nun seit mehr als zehn Jahren unter diesem Bauernvolk und habe manches gesehen, wovon du in deiner erhabenen Wissenschaft dir nichts träumen läßt. Du betrachtest nur, was in Blüte steht; meine Stellung hat es mit sich gebracht, daß ich meine Aufmerksamkeit ebenso sehr dem zuwenden mußte, was welkte und abstarb. – Und nun frage ich dich: hast du auch nur eine schwache Ahnung davon, wieviel in diesem Lande an menschlichen Hoffnungen und menschlichen Fähigkeiten dahinwelkt, weil sie aller Fürsorge und Pflege entraten müssen? Hast du jemals über diese sinnlose Vergeudung von Gehirnanlagen und intellektuellem Bodenwert nachgedacht? Ist es nicht die reine verkehrte Welt: sorgsam lesen wir jede noch so faule Kartoffel in der Furche auf; wir dränieren Sümpfe und trocknen Moraste aus; wir bebauen die unfruchtbarsten Sandebenen, wenn nur
Aussicht vorhanden ist, einen armseligen Scheffel Buchweizen einzuheimsen – aber die tausend und abertausend Möglichkeiten, die selbst im Hirn des ärmsten Taglöhners ruhen und der Entfaltung harren, für die interessieren wir uns nicht so viel wie eine Bohne groß? Was aber sind all eure Pflanzenkulturen, all eure Verbesserungen von Schaf- und Rinderrassen, was bedeuten sie vom rein sozialen Standpunkt aus im Verhältnis zu dem Unglück, daß ihr den Menschen verkrüppeln, die Gehirne der unzähligen Armen mit ihren tausend und abertausend Möglichkeiten wie abgeschwendete Äcker liegen laßt! Du hast Mitleid mit dem Menschen, der seinen Körper an Krücken hinschleppen muß, aber ist es denn nicht zehnmal tragischer, daß alle seine Gedanken am Stocke gehen müssen? Sieh dir einmal unser bäuerliches Gesinde an, die Kinder aus den kleinen Hütten, die an die großen Höfe gehen, nicht um es dort besser zu haben, denn selbst bei den reichsten Bauern ist ängstlich dafür vorgesorgt, daß sich das Kind des Armen stets arm fühle. Man hat uns von der im Mittelalter bekannten unheimlichen Kunst erzählt, Zwerge zu machen. Man kaufte armen Eltern ihre Kinder ab und hielt sie eingesperrt in einer eigens dazu eingerichteten Maschine – einer Art Buchbinderpresse – aus Stahl und Holz. Unser Herz erschauert, davon zu hören; als ob wir nicht wüßten,
daß die Verkrüppelungsindustrie der Seelen wie der Körper rings auf unsern Bauern- und Herrenhöfen noch im schönsten Flor steht. Ich werde oft und oft in den funkelneuen Bauernhöfen umhergeführt, wo es in nichts an ländlichem Behagen fehlt. Stube reiht sich an Stube, die eine heller und geräumiger als die andre. Aber plötzlich gleite ich an einer halboffenen Türe in einem dunkeln Gang oder abgelegenen Winkel des Hauses vorbei. Der Hausherr ist eifrig bemüht, mich wegzuziehen, doch ebenso eifrig bin ich bemüht zu sehen. »Was ist das hier?« frage ich. »Ach, das brauchen Sie sich nicht erst anzusehen, das ist nichts als die Mägdekammer.« Und schiebe ich nun die Tür zur Seite, so blicke ich in einen elenden, schmalen Raum, wo die frische Luft binnen einer halben Stunde aufgebraucht sein muß und das Licht oft nur durch eine Scheibe oberhalb der Tür einfällt. Selbst auf den größten Höfen auf dem Lande, wo der Platz weiter keine Rolle spielt, werden dem Gesinde nicht mehr als einige wenige lumpige Ellen Raum zum Atmen überlassen. Es ist, als hätte man dafür Sorge tragen wollen, daß es dem Häuslerkind selbst unter dem Dache des Hofbauern nicht an dem Anblick und Geruch seines eignen niederdrückenden Milieus fehle. Ich stehe nicht an, diese Verhältnisse verbrecherisch zu nennen, diese modernen Sklavenkeller mit ihrem Gestank und ihrer Unbehaglichkeit inmitten der
Behausung des Wohlstands; das sind Mörderhöhlen für Gesundheit und Moral! Warum erfordert das Staatswohl nicht auch hier Kontrolle und Aufsicht? »Wenn die Übertragung ansteckender Krankheiten mit Strafe belegt wird, warum soll der frei ausgehen, der auf diese Weise aus Egoismus oder Gleichgültigkeit meine Gesundheit untergräbt? Hat man denn das Recht, seine Mitmenschen zu töten, wofern man es nur langsam tut?« Doktor Koldkur hatte sich in leidenschaftliche Erregung hineingeredet. Der Statistiker versuchte dann und wann eine zahme Einwendung, die aber augenblicklich ein neuer Strom von Koldkurs Beredsamkeit hinwegschwemmte. Schließlich sank Stegeberg mit einem matten Lächeln im Wagen zurück und heftete seinen Blick auf den kalten, grellen Sonnenball, der zwischen den Morgenwolken immer höher emporstieg. Hatte Koldkur auf diese Weise in Stegeberg nur einen verdrossenen Zuhörer, so wurden seine Worte von Per mit um so größerer Achtsamkeit aufgefangen. Dem Schall von Koldkurs Stimme lauschend, teilte er seine Aufmerksamkeit gleichmäßig zwischen die Pferde und die heftige Rede des Arztes. In vieler Hinsicht erinnerten ihn dessen Worte an das, was er bei Roy gehört hatte, und er war ganz erstaunt, daß ein so »feiner« Herr einen so offenen Blick für die
Not und die bedrückte Lage seines Standes haben könne.
FAHR WOHL, WELT, FAHR HIN! Per war nun an die zwanzig Jahre alt, ohne daß seine Stellung sich irgendwie in nennenswertem Maße verändert hatte. In den ersten Jahren nach der Konfirmation war der Lohn gering gewesen, doch stieg er allmählich, je älter er wurde. Nun betrug er an zweihundert Kronen des Jahrs. Das galt als viel, und Kild Pejrsen machte kein Hehl daraus, daß es mehr sei, als er bisher irgendeinem andern Knecht auf seinem Hofe gegeben hatte. Für diese Summe hatte sich Per das Jahr hindurch mit Kleidung, Wäsche, Schuhzeug und dergleichen zu versorgen. Der Flicken an seinem Arbeitsanzuge wurden daher immer mehr, aber sein Sonntagsgewand war untadelhaft, rein und ohne Flecken, wie es Pers Wesen entsprach, nur roch es selbstverständlich nach dem Stall wie das aller Knechte. Denn auch im Hofe Kild Pejrsens waren Pferdestall und Knechtekammer nur zwei Namen für ein und dieselbe Sache. An Pers
bißchen Lohn zehrte indes durchaus nicht er allein. Nicht selten mußte er seinen armen Eltern aushelfen. Sie waren nach dem Prozesse mit Skejby wieder dieser Gemeinde zugefallen, doch so, daß Runge wie bisher sie mit Obdach und Feuerung zu versorgen hatte. Auch der alte Schullehrer Sørensen begann ihm nach und nach stark zur Last zu fallen; denn wie sollte er diesem Unglücklichen seine Hilfe versagen, solange auch nur eine leise Möglichkeit bestand, ihn aufrecht zu erhalten. Per war es nach und nach gelungen, ihn aus dem Armenhause, wo er in die tiefste Schwermut versunken war, zu befreien. Nun zog er wieder wie ehedem von Kirchspiel zu Kirchspiel. Des Winters rupfte er Federn oder band Scheuerwische; des Sommers suchte er seinen bescheidenen Lebensunterhalt durch kleine Botengänge zu gewinnen oder indem er mit der Angelrute den Windungen des Flüßchens nachging; zur Herbstzeit pflückte er Beeren droben auf der wüsten Heide. Zu allen Jahreszeiten verfaßte er treffliche Grabschriften, die er mit phantastischen Blumengewinden und blauen und grünen Engelchen verzierte. Ab und zu bekam er auch das Rechnungsbuch eines Bauern zur Durchsicht, oder er schrieb für die Mädchen Briefe an den Geliebten. Den Kindern erzählte er Märchen und biblische Geschichten, und so manchesmal verkürzte er in
den Bauernstuben die Abende mit seiner schönen Gesangstimme, wenn die Wollkrempel schnurrte und das alte Mütterchen im Ofenwinkel nickte. Einmal noch kam diese Singstimme zu Ehren und Wurden. Das trug sich folgendermaßen zu: An einem Sonntagmorgen war unmittelbar vor dem Gottesdienste der Lehrer Gydesen von einem starken Unwohlsein befallen worden; Pastor Selig befand sich in großer Klemme. Wer sollte nun den Kirchengesang leiten? Da wagte einer den alten Sørensen vorzuschlagen, der sich zu der Zeit gerade auf einem der Nachbarhöfe aufhielt, und der Pastor willigte endlich trotz großer Bedenken ein. Im Handumdrehen war der Alte barbiert und reingebürstet; dagegen weigerte er sich, seinen eigenen Rock mit dem Gydesens zu vertauschen. Sørensen war zwar nicht ganz nüchtern gewesen, doch sobald er die Schwelle der Kirche betreten hatte, war davon nichts mehr zu merken. Im Orte war es bald ruchbar geworden, daß er den Gesang leiten sollte, und die Kirche daher überfüllt mit Leuten, die kaum der Erbauung wegen gekommen waren. Aber jenen, die Skandal erwartet hatten, brachte der Tag eine Enttäuschung. Sørensens Haltung war die eines Wohlbewanderten, wenn sie auch eine gewisse altväterische Steifheit an sich hatte. Er betete
von der Chortür aus vor und ging dem Pastor mit einer Sicherheit und Ordnung zur Hand, die nichts zu wünschen übrig ließ. Dann stimmte er das Lied an: Die Welt durchhaucht ein Seufzer leis, Kaum selbst sie um ihr Seufzen weiß, Um ihres Herzens Klage. Die Gemeinde schaute empor; des alten Küsters klangvolle Stimme stieg und fiel in melodischem Beben unter der weißen Kirchenwölbung. Manch ein runzliges, weißlockiges Haupt wiegte sich im Takte und nickte dem Nachbar im Kirchenstuhle bedeutungsvoll zu: »Ja, ja! Er hat noch immer Stimme, der alte Küster von Iggebjerg. Mag er noch so arm und versoffen sein, im Singen stellt er doch noch seinen Mann.« Während der Predigt saß Sørensen im Küsterstuhl, die Stirn an die Rückenlehne des Vordersitzes gestützt. Ihm war, als müßte es ihm die Brust sprengen, als sollte er hier an diesem einen Tage die ganze Bitterkeit seines verspielten Lebens noch einmal durchkosten. Die Kirche lag in halbem Dämmer, und in seinem eigenen Innern herrschte noch tieferes Dunkel. Er starrte in dieses Dunkel hinein, und es schien ihm, als ob es sich teilte und die Kirchstühle zu beiden
Seiten eines halbbeleuchteten Mittelganges besetzt wären mit den fahlen Tagen seines Lebens. Die Predigt neigte sich ihrem Ende zu, und Sørensen taumelte wieder aus dem Küsterstuhl. Er sang noch ein paar Psalmen vor; die Leute stimmten ein, ohne daß etwas Ungewöhnliches vorfiel. Hierauf intonierte er mit kraftvoller Stimme den letzten Psalm des Tages: Fahr wohl, Welt, fahr hin! Längst wendet von dir sich mit Ekel mein Sinn. Ich wälze sie ab, die drückende Last, Mit der du zu Boden geknickt mich hast, Ich reiße mich los, tu von mir weit Deine Eitelkeit. Es war, als ob der Küster alle seine Kraft für diesen Psalm aufgespart hätte. Je stärker sich der Strom des Gesangs ergoß, um so mehr steigerte sich die Ergriffenheit seiner Seele. Die Leute vergaßen ins Buch zu schauen, um statt dessen ihn anzublicken. Sein Kopf reckte sich empor, seine Augen schienen über das Fensterchen des Kirchturms mit den kleinen Scheiben weit hinwegzuschweifen. Der Ton der Worte nahm mehr und mehr den Charakter eines Selbstbekenntnisses an; das alte Spangenbuch mit dem dazwischengeschobenen Zeigefinger geschlos-
sen haltend, stand er da und trug aus dem Gedächtnis den alten Text vor, wie er ihn in seiner Kindheit gelernt hatte: Ach, Freundschaft und Treu Zerstiebt vor des Glückes Wandel wie Spreu; Du schöner Schalk betörst so leicht, Enttäuschend, ward uns der Kelch gereicht. Wie bist du, wie hat’s mich gelehrt die Zeit, Nur Eitelkeit. Ach, fleischlich Gelüst, Hast manchen mit tödlicher Lippe geküßt! Dein zündender Funke, dein flüchtiger Schein Verdammt oft zu ewiger Höllenpein. Dein Honigtrank birgt Bitterkeit, Bist Eitelkeit. Fahr wohl denn, fahr wohl, Du trügst mich nicht länger, bist eitel und hohl, Betörende Welt; entsagt ich dir hab Und senke dich in der Vergessenheit Grab. Ich lechze, zu betten mein Herzeleid groß In Abrahams Schoß. Die letzten Strophen sang Sørensen ganz allein, und eine Stille herrschte, daß man beinahe seine Tränen
hätte können auf die Chorfliesen fallen hören. In seinem alten schäbigen Schößenrock, den allerhand böses Wetter gebleicht hatte, um den runzligen Hals ein zerschlissenes Tuch geschlungen, so stand er da und hauchte seine blutende Seele dem alten, ehrlichen, schwermütigen Liede ein, das in der Umarmung seiner breiten wogenden Rhythmen schon Tausenden gebrochener Seelen Worte für ihr verschwiegenes Schluchzen geliehen. Pastor Selig war, indes der Psalm verklang, an die Chortür getreten und blickte den Alten an. »Dank für Ihren schönen Gesang, Herr Sørensen.« Sørensen verbeugte sich mit bebenden Lippen und verschwand aus der Kirche, ehe jemand an ihn herankonnte. Aber all die Wege und Kirchenstege entlang rühmte und pries man seinen Gesang. Ein paar Tage nachher, als Kild Pejrsens Leute beim Abendbrei saßen, hörten sie eine zitternde Hand nach der Türklinke tappen; kurz darauf trat Sørensen mit Beschwerde über die hohe Türschwelle. Niemand fand etwas Merkwürdiges an diesem Besuche, da Sørensen in all der Zeit, seit Per am Hofe diente, ein recht häufiger Gast daselbst gewesen war. »Willst du dich nicht zu uns hersetzen und einen Löffel voll mit zur Nacht essen?« fragte Kild freundlich.
»Nein, dank dir schön! Aber wenn ich darf, so setz ich mich einen Augenblick an den Tisch her.« »Gewiß darfst du das!« versetzte Kild. Sørensen schob sich ans Tischende hin, ließ den Kopf auf den rechten Arm sinken und seufzte tief. Per schielte flüchtig nach dem Alten hinüber. Die andern schauten spöttisch von dem einen zu dem andern. Jeder dachte sich das Seine. Niemand sagte etwas. Als alle die Stube verlassen hatten, ging Per zu dem Alten, der zu schlafen schien, hinüber. »Vater,« sagte er, die Hand auf seinen Arm legend, »hier kannst nicht sitzen bleiben. Jetzt wollen ja die Leute ins Bett.« »Ich steh schon auf, Per, gleich steh ich auf, aber ich bin gar so müd.« »Ja, das sehe ich freilich,« erwiderte Per kalt. Sørensen hob den Kopf und sah den Sohn vorwurfsvoll an. »Du tust mir unrecht, Per. Ich hab seit dem Sonntag keinen Tropfen Branntwein angerührt. Aber aus ist’s mit mir. Wie eine eiskalte Hand liegt’s auf dem Herzen da drin. Ein Druck nur, und es ist vorbei, es ist alles vorbei. »Fahr wohl, Welt, fahr wohl!« fiel mir so leicht, die Worte zu sagen, ’s ist keine Freude mehr im Leib, und ich finde kein Gefallen mehr an der Welt! Seufzen schon lang danach, voneinander
zu scheiden. Gott sei’s gedankt, daß die Befreiung nah ist.« »Aber bist du denn krank, Vater?« fragte Per mit weicher Stimme. »Nein, krank nicht, müde, Per, ach so müde! Bin es müde, das tote Leben zu schleppen!« Wieder sank sein Kopf auf die auf der Tischplatte ruhenden Hände hinab. »Komm, Vater, komm jetzt lieber mit mir. Du kannst doch noch gehen?« fragte Per. Sørensen erhob sich schwer und taumelte am Arm des Sohnes in den Stall hinaus. »Es wird das beste sein, du legst dich heute nacht in mein Bett,« sagte Per und machte Miene, die Tür der Knechtekammer aufzustoßen. »Nein, nein, nein, nein, mit meinem Schmutz!« wehrte Sørensen eifrig ab. »Gott beschütz und bewahr mich davor, daß ich dir noch die letzte Nacht, die ich lebe, Schand antat!« »Aber, Vater, ich geb dir ein reines Hemd, hab ihrer ja genug!« »Nein, ich tu’s nicht! Da hier, da hab ich’s wahrhaftig nur zu gut!« Sørensen wies auf einen Haufen welken Kartoffelkrauts in einem leeren Stand des Stalls, wo er auch früher schon oft gelegen hatte. Wie oft hatte Per spät nachts ein ihm wohlbekanntes Knarren der Stalltür vernommen, und wenn er dann an die Tür der Knechtekammer getreten war,
wurde ihm aus der dunkeln Stallecke zugerufen: »Kümmere dich um nichts, Per, ich bin’s nur; ich leg mich daher wie allemal!« Per hatte ihn darauf jedesmal mit Decken und Säcken und was er sonst bei der Hand hatte, versehen und sich dann seufzend in seine Kammer zurückgezogen. Auch heute abend, wo der Tod dem Alten aus den Augen schaute, wollte er sich keinerlei Änderung gefallen lassen. So verpackte ihn denn Per gut und warm, stellte ihm eine Blechkelle mit Wasser hin und schob ihm eine frische Garbe Dachstroh unter den Kopf. Sørensen dankte innig für jede kleine Aufmerksamkeit. »Sollt sich’s hinausziehen, was ich nicht glaub, so versprich mir eins: nicht wahr, du läßt es nicht zu, daß sie mich noch einmal ins Armenhaus fahren. – Und jetzt geh in dein Bett! Du mußt morgen wieder zeitig an deine Arbeit, du darfst nicht bei mir dasitzen! – Ach, wie gut ich jetzt lieg!« sagte er zum Schluß und bohrte sich tief in das raschelnde Kartoffelkraut. Per ging in seine Kammer und ließ die Tür angelehnt. Ohne sich auszukleiden, legte er sich aufs Bett. Die Tranlaterne stellte er auf den Lehmboden und ließ sie brennen. Seine schwermütigen Gedanken durchwanderten Vergangenheit und Gegenwart; doch das Gehirn
ermüdete bei diesem Kreislauf durch das nicht mehr zu Ändernde. In den Spinnennetzen an den Scheiben des mondbeglänzten Gitterfensters zappelte eine Motte in hilfloser Verzweiflung; ein Mutterschwein schnarchte lärmend in einem Nachbarpferche, und dann und wann hörte man das Stöhnen der Milchkühe, wenn sie sich vom Abendfutter zurückzogen und auf den fetten Bauch niederlegten. Als Per nach Mitternacht erwachte, schauerte es ihn in der Nachtkälte. Die Laterne war ausgegangen und erfüllte den Raum mit Qualm. Auf Socken schlich er eilends zu der dunkeln Türöffnung hin und lauschte. Ein schweres Röcheln aus dem Abteil, wo der Vater lag, erfüllte seine Seele mit Weh. Rasch lief er über die Steinfliesen in die Wohnstube, um Licht zu holen, doch ehe er zurückkehrte, hatte der alte Sørensen ausgelitten. Wenige Tage darauf brachte ihn Per auf Kild Pejrsens Fuhrwerk zu Grabe. Später setzte er ihm ein kleines Holzkreuz, auf dessen kienrußgeschwärzten Armen er von Roy die Worte aus des Vaters schwermütigem Liede malen ließ: Nieder treten wir uns in den Staub.
BEIM GEMEINDEVORSTEHER Als Per das zwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hatte, mußte er »des Königs Rock« anziehen, wodurch er gezwungen war, Kild Pejrsen den Dienst aufzusagen, so leid es beiden tat. Wieder heimgekommen, verdingte er sich als Oberknecht bei Hans Nielsen, dem Gemeindevorsteher. Das war ein Mann, gemessen und gespreizt in seinem Auftreten, daheim wie außer dem Hause; sein Blick war kalt und streng; er beteiligte sich nicht selbst an der Arbeit, sondern ging wachsam umher wie ein beaufsichtigender Verwalter, dessen Befehle augenblicklich befolgt werden mußten. Er ließ sich auf keinerlei Vertraulichkeit oder Scherz ein wie Kild Pejrsen, dagegen hatte er nichts von dem mürrischen Wesen des Bertel. An einem Oktobertage hatten sie bei Nielsen Kartoffelernte. Schon bei Sonnenaufgang kamen
die Leute auf zwei zusammengekoppelten, knarrenden Leiterwagen auf dem Felde angefahren. Es waren die Allerärmsten des Kirchspiels, die zu der Arbeit des Kartoffelgrabens angenommen wurden. Der Vorsteher verstand sehr wohl, sie in ihren Schlupfwinkeln aufzustöbern, und wer von diesen Ausgestoßenen hätte wagen können, diesem Gemeindekönig einen Tag Arbeit zu versagen? Die meisten waren alte, entkräftete Menschen, die auf gebrechlichen Füßen standen. Aber kriechen konnten sie immerhin noch; und da es hier nicht mehr brauchte, war so weit alles gut und schön; denn wie Hans Nielsen bemerkte, »das müßte schon das allerjämmerlichste Geschöpf sein, das nicht einmal zum Kartoffelnausnehmen zu gebrauchen wäre«. Die versammelte Schar war eine ausgezeichnete Illustration zu diesem geflügelten Wort des Ortsvorstehers. Da war der siebzigjährige Ywer Madsen mit den roten verglasten Augen und der hohen knotigen Stirn, in der die Runzeln wie mit einer Egge eingeritzt schienen. In seiner Jugend hatte er an der Schlafzimmertür Friedrichs VI. Wache gestanden, und er erzählte gern Geschichten aus seiner achtjährigen Soldatenzeit. – Da war der hagere schwarze Tischlerfranz, der verhutzelte Dangard, der die feinsten Eichensärge für die reichen Leute der ganzen Gegend gezimmert hatte, aber jetzt von allem so entblößt war, daß er kaum ein Stemmeisen besaß. Dann
war da der Wolle Skajbæk, dem seine gebogene Nase den Spitznamen Sperber eingetragen; er war einst für einen städtischen Metzger als Viehaufkäufer umhergezogen; zur Erinnerung an bessere Tage trug er noch immer zwei abgegriffene Silberknöpfe oben an der verschossenen Weste; ehedem war diese ausgefüllt gewesen, jetzt hätte sich ein Erwachsener zwischen Bauch und Weste einschieben können. Endlich war auf der Männerseite noch das Gneisel, ein kleines, galliges, reizbares Männchen, das unablässig ganz entsetzlich fluchte und den Teufel anrief. Dann die Weiber! Voran die starkknochige, männische Galopp-Sophie, die tüchtigste Kartoffelausnehmerin der ganzen Gegend. Ebenso kräftig wie ihre Hände arbeitete ihr Mundwerk, obgleich ihr hierin die Mette nicht um vieles nachstand, dieselbe Mette, die vordem mit Per auf dem Nørhof gedient hatte und nun nach bewegter Fahrt von den wilden Lebenswogen zusammen mit anderm Wrack auf das Kartoffelfeld des Gemeindevorstehers gespült worden war. Sie war nämlich – nach Wunsch – in ganz exemplarisch gesegnete Umstände gekommen. Der Verwalter auf Sølsig hatte ihr sogar zu einem Zwillingspaar verholfen. Dank einer kleinen Abfindung hatte sie sich dann mit Laurin verheiratet, war später mit einer Kunstreitertruppe durchgegangen, doch schließlich zu ihrem trauernden Ehegespons zurückgekehrt mit vier Kindern,
deren höchst verschiedenartige Gesichter eine kleine Musterkarte der ländlichen Demokratie der Gegend bildeten. Die dritte von den Weibern war »die stille Line,« eine Schwester des Taglöhners Romler; sie war ein schmächtiges, bleiches Frauchen mit gutmütigem Gesicht. Sie hatte auf der Brust eins wegbekommen, drehte sich jeden Augenblick um und hustete jämmerlich. »Mögt euch jetzt hinstellen, wo’s einem jeden paßt,« sagte Per, der Schar zugewendet. Er hatte bereits mit der Forke die ersten Kartoffelpflanzen aufgelockert und arbeitete sich rücklings immer weiter den Acker hinab. »Jetzt heißt es sich aber dazuhalten, solang das Wetter anhält; ich fürchte, wir kriegen heute noch einen tüchtigen Guß«; er blickte nach dem Osthimmel aus, wo die Sonne in großen Wolkenfetzen schwamm. Ein kleiner Kampf entspann sich darüber, wo jeder zu hocken käme; alle stritten um den Platz zunächst der Galopp-Sophie, von der man wußte, daß sie sich nicht lange besann, auch dem Nebenmann ein paar Kräuter mit auszustechen, wenn er nicht Schritt zu halten vermochte. Als Sophie mit Genugtuung wahrnahm, daß man sich um ihre Nachbarschaft stritt, faßte sie rasch die stille Line am Arm:
» ›Komm du zu mir‹, hat unser Herrgott zur alten Ahn gesagt! Tun also wir zwei uns nebeneinander legen und mitsammen unterhalten!« Die andern verteilten sich aufs Geratewohl. Die erste Viertelstunde waren alle bei bester Laune. Da waren die Kräfte noch frisch, und jeder hatte eine Menge köstlicher Neuigkeiten mitgebracht, die es auszukramen galt. Man teilte mit freigebigen Händen davon aus. Die ganze Gegend wurde durchschnattert wie ein Ententeich; jedes bedauerliche und ungewöhnliche Ereignis wurde erörtert und bekrittelt, jede ins Unglück geratene Jungfrau in diesem wie in den angrenzenden Hebammendistrikten mußte dahier zwischen den Erdäpfeleimern gehörig Spießruten laufen. Bauern und Häusler, Herren- wie Dienstleute, wer nur den kleinsten Rostfleck an seiner Ehre, das winzigste Sündenfältchen an seinem Namen oder Ruf sitzen hatte, der wurde vor die Schranken dieser am Boden kriechenden Volksjury geladen. Besonders war Mette unerschöpflich an Skandalgeschichten: sie war selbst der Mittelpunkt so vieler gewesen, daß sie mit allem erforderlichen Beiwerk zu schildern verstand. Und so oft sie eine neue zum besten gab, schloß sie mit der Wendung: »So hab ich’s wenigstens gehört; ob’s aber wahr ist oder nicht, könnt ich nicht sagen.«
Mettes Geschichten hatten bisher nur Beifall und Befriedigung in den Reihen erregt, und von ihrem Erfolg angefeuert, verfiel sie auf die unglückselige Idee, sich auch über Anna herzumachen, Pers Flamme noch aus den Kinderjahren. Anna war auf Sølsig als Stubenmädchen in Dienst getreten, wogegen sich ja nichts einwenden ließ. Aber nun wußte Mette allerlei von dem Glück zu erzählen, das sie bei den Männern mache, indem sie mit einem Kontrollassistenten »so gut wie verlobt« wäre, zugleich aber den Verwalter zu den verdächtigsten Zeiten des Tages und der Nacht bei sich einlasse. »Ja, die Leute behaupten sogar, sie war schon einmal drinnen in Kopenhagen gewesen; denn dort läßt sich’s ja leicht verheimlichen; aber natürlich verlangen sie dann auch ihre gute Bezahlung dafür!« In diesem Augenblick flog auf Mettes Eimer ein Kartoffelkraut, und die daran haftenden Erdklumpen und Steine sausten ihr um die Ohren. Als sie aufschaute, stand Per zähneknirschend vor ihr, die Hand an den Forkenschaft gepreßt, daß die Knöchel förmlich aus der Haut hervorstachen. »Kannst du’s bezeugen, das, was du da sagst? Ich sag, hast du was, an das du dich halten kannst? Denn hast du nichts, dann sei so gut und halt dein Maul, und zwar augenblicklich.« Pers Augen standen ihm wie zwei Kiesel aus dem Kopfe.
»Ih, Gott behüte!« sagte Mette und errötete bis unter ihre schmutzige Halsleiste. Die andern schauten mit verlegenem Lächeln von Per auf Mette. Damit war ihr fürs erste das Spiel verdorben. Nun nahmen die Männer das Gespräch auf. Sie interessierten sich nicht so sehr für die Liebe und dergleichen wie für Ernährungsfragen. Sie erörterten, wo der billigste Kautabak zu haben wäre und was zur Kirmes ein Scheffel Roggen kosten würde. »Ist’s wahr, wie man hört, daß der Krämer nicht mehr aufkommt?« begann Wolle Skajbæk. »Was sagst du? Der Kræn Lybsker ist krank?« fragte Per und ließ die Forke ruhen. »Ja, ganz aufm Hund soll er sein,« nahm nun die Galopp-Sophie das Wort. »Aber das ist schon lange her, daß man das gehört hat; ich hab schon bald geglaubt, er war tot.« »Der wird meiner Treu auch nicht viel Pflege haben, der arme Teufel,« fuhr Sophie fort. »Geht einer jetzt zu ihm, so geschieht’s aus lauter Gutheit; denn er hat ja auf Gottes Welt keine lebendige Seel bei sich als den Hund.« »Aber wo kriegt er denn ein Essen her?« erkundigte sich Line mit ihrer dünnen leisen Stimme. »Ach, ich glaub, der Roy, der sieht sich manchmal nach ihm um und ist ihm in dem einen und dem andern zur Hand; denn das ist ja so ein Eigener.
Aber schlecht genug hat er’s dessentwegen doch,« sagte Sophie. Nun konnte Mette nicht länger an sich halten, sondern mußte ihr Wort dazugeben: »Hat’s aber auch nicht um ein Jota besser verdient; was hat er sich nicht wie andere Leute gehabt und die Hilfe von dort hergenommen, wo sie zu haben war.« Per warf ihr neuerdings einen zornfunkelnden Blick zu, wurde aber vom alten Gneisel am Antworten gehindert. »Da soll mich der Deibel zerreißen, wenn das nicht wirklich wahr ist!« sagte er und ließ eine Spucksalve in des Nachbars Kartoffeleimer fliegen. »Er hat sich immer eingebildet, er war was Bessers als ein anders, weil er nichts von der Gemeinde bekommen hat. Aber da soll mich gleich der Deibel zerreißen, wenn er deshalb was anders ist als ein Landstreicher!« Neue Spucksalve in die Kartoffelgelte. »Ja, wer möcht sich nicht gern selbst helfen, wenn er’s könnte,« seufzte die kleine, blasse Line. »War unserm Anders nicht die Hand von der Maschine zerschmettert worden, wir hätten uns schon auch davor gehütet, an die Gemeinde zu kommen. Es geschieht wahrhaftig nicht zum Vergnügen, so ’was; aber, versteht sich, Krankheit ist jedermanns Herr.« Line kehrte sich um und hüstelte wieder. »Was du sagst, Line, ihr habt aus dem Gemeindesäckel bekommen?« rief Per, »das kann ich nicht glauben.«
»Ja, eigentlich von der freien Armenkasse, wie sie’s nennen,« versetzte Line. »Ach was, darauf habt ihr ein Recht; das heißt noch nicht, die Gemeinde in Anspruch nehmen.« »Es ist doch alleweil fremder Leute Hilfe, es wird also ziemlich eins sein, wie man’s nennen will,« sagte Line. »Der Roy der, von dem früher die Rede war,« begann nun Franz Danggaard, »ist der nicht beim Sotschalistenwesen mit dabei?« »Ja,« antwortete Wolle Skajbæk. »Ich weiß freilich nicht, was sie eigentlich wollen, aber ich kann nun einmal ihre Faxen nit leiden.« »So viel weiß doch ein jedes, daß sie den König mitsamt unserm Herrgott abschaffen wollen,« sagte die Galopp-Sophie; »denn sie möchten ja selbst den lieben Gott spielen zuguterletzt.« Der alte Ywer hatte bisher noch nichts gesagt; sein Gehirn arbeitete zu träge, um einem Gespräch zwischen Vielen folgen zu können, und seine Gedanken standen zumeist noch Gewehr bei Fuß vor des hochseligen König Friedrichs VI. Schlaf gemach. Daher entrang sich seinem zahnlosen Mund ein lautes hohles Lachen – ein Lachen von 1830 –, als Sophies Worte von Gott und dem Könige allmählich in die Schneckengänge seines Bewußtseins eingedrungen waren.
Der Nachmittag ist herangekommen, und mit einemmal geht ein heftiger Platzregen über den Acker nieder. Schon lange hatten Per und die andern Kartoffelgräber mit mißtrauischen Blicken die dikken Regenstreifen beobachtet, die im Südosten hingen, den Kettenfäden eines Riesengewebes gleich. Die schweren Tropfen fallen zischend und klatschend in die schwarzen Kartoffelstauden und dringen den zur Erde Gebückten bis auf die Haut. Sie schütteln sich ein bißchen und kriechen dann wie erschreckte Igel zusammen. Als aber der Regenschauer länger anhält, legen sie wieder Hand an die schwarzen, kantigen Kartoffelstengel. Wolle Skajbæk drückt seine Befriedigung aus, daß sie doch dem Wetter den Rücken zukehren. »Ja, der kann’s noch am ehesten aushalten,« meint die Galopp-Sophie. Fort und fort schüttet es vom Himmel herunter. Nun ist der Acker lauter Morast. Die Erde legt sich wie Brotteig zwischen die Finger. Der Stoß an den Kleidern der Frauen schleppt in langen Streifen und bildet eine kleine Rille im Sande hinter jeder von ihnen. Rücken und Füße sind wie Eis; auch die Zunge ist förmlich eingefroren, niemand spricht mehr ein Wort; selbst das Fallen der Kartoffeln wider die nassen Dauben schallt nun tot und dumpf. Die Augen des alten Ywer rinnen immer stärker, jeden Augenblick erhebt er sich auf den steifen Knien und klopft sich
mit den Pulswärmern unter die Achselhöhlen, wie ein Gänserich auf dem Teich sich mit den Flügeln schlägt. Die blasse Line hüstelt nun ohne Unterlaß. Das Fallen der Kartoffeln schallt immer dumpfer, und die Stille wird nur durch den Klang der eisernen Henkel unterbrochen, wenn ein Eimer über die Stauden hingeworfen wird. Per schlägt der Regen gerade ins Gesicht. Die Tropfen zerplatzen an seinem Mützenschirm und seinen braunen Fingerknöcheln und rinnen in klebrigen Strömen am Forkenschaft hinab. Die andern schauen zu ihm auf, ob er die Arbeit denn wirklich unter solchen Verhältnissen fortsetzen wolle. Per blickt nach der grauen Wolkenwand hin. »Ist das eine Überschwemmung!« sagt er und spuckt das in den Mund gesickerte Regenwasser aus. »Na, höher als bis zum Bauch reicht’s doch noch nicht!« meint die Galopp-Sophie. »Ist wahrhaftig auch mehr als genug,« erklärt Wolle Skajbæk mit Nachdruck. »Ich hab geglaubt, es wird gleich wieder aus sein,« bemerkte Per. »Und hat man mit dem Arbeiten ausgesetzt, so sind dann die Glieder gar zu steif, wann’s wieder drangehen heißt.« »Nja – a!« brummen alle. »Könntet euch vielleicht für eine Weile beim Wagen unterstellen?«
Dazu waren alle schnell bereit. Unter den schützenden Brettern des schweren Leiterwagens stellt sich bald wieder etwas von jenem leichten Sinn und guten Mut ein, der selten ausbleibt, wo ein Haufen Leute beisammensitzt. »Donnerwetter, Mette, mir scheint gar, deine Hosen gehen auf eignen Beinen davon,« läßt sich Wolle Skajbæk vernehmen, indem er ein langes Stück zerfetzter Besatzborte von Mettes Unterrock in die Höhe hält. Mette zieht rasch das kokett vorgestreckte Bein zurück und beugt sich herab, um den Fetzen abzureißen, den sie dann Wolle ums Ohr schlägt. Die Galopp-Sophie wird hintenaus mitgetroffen, daß ihr das kotige Band einen schmutzigen Streif quer über den vorstehenden Backenknochen zieht. Die Rücken dampfen, und der muffige Armeleutgeruch dunstet aus den wollenen Umschlagtüchern und den durchweichten Kapuzen. Franz Dangaard, der seine wenigen Tabakreste zu einem Priem zusammenzufügen trachtet, ist unversehens auf einen Rockzipfel Mettes zu sitzen gekommen. Mette reißt ihn wütend an sich, wirft einen bösen Blick auf Franz und beugt sich dann zu Sophie hinüber, der sie zuflüstert: »Er ist ja lausig, der Mensch!« Das Gneisel sitzt an der äußersten Ecke, spuckt mit großem Ingrimm in die Radspeichen und flucht, daß
ihn der Teufel zerreißen möge, wenn es nicht das letzte Jahr sei, an dem er zum Vorsteher Kartoffeln ausnehmen käme: »Es kriegt eins doch so keinen Pfifferling dafür.« »Was,« fragt Per verwundert, »ihr kriegt nichts für eure Arbeit? Wieso? Nehmt ihr denn nicht wie jeder andre euern Taglohn?« »Ja, wieso,« setzt Wolle Skajbæk auseinander, »weil die Arbeit ja für nichts gerechnet wird; und dann denkt auch so ein Großmächtiger, liegt eins schon ohnehin auf der Gemeinde, warum soll er nicht so gut wie jeder andre einen ausnützen dürfen.« »Eine saubere Erklärung das,« meint Per. »Warum sagt denn ihr aber nicht nein, wenn er euch ruft?« »Dem Gemeindevorsteher nein sagen! Das kam einem teuer zu stehen!« gibt Wolle zurück. »Nein,« sagte Line, die still dagesessen hat und auf der einen Seite die Tropfen von sich abrinnen läßt, »solche Leute, die verlangen, daß alles nach ihrem Kopf geht.« »Da haben wir’s!« ruft Per. »Ihr Angstmeier ihr! Seid imstand und laßt euch ins erste beste tiefe Wasser hineintreiben, wenn nur dem Gemeindevorsteher seine Mütze zur Tennenluke hinausschaut!« »Aber ihr andern – ihr Dienstleute, ihr vielleicht nicht?« fragte die Galopp-Sophie.
»Ja, gewiß, kann schon was dran sein! Wir halten alle miteinand zu wenig auf unser Recht,« pflichtet Per ihr bei. »Da müßt ihr aber zu euerm Recht schauen, so lang ihr jung seid; denn seid ihr erst alt worden, nachher ist’s wohl zu spät,« erklärte Ywer, sich die triefenden Augen mit dem Pulswärmer trocknend. »Ein wahres Wort,« versetzte Per. »Aber versucht es nur heut abend, jeder besonders, euern Lohn zu verlangen; wir werden ja dann sehen, wie er’s aufnimmt.« »Ich trau mich nicht, was zu verlangen,« sagte Line, »denn ich hab Angst, er läßt uns dann nichts mehr von der freien Armenkasse zukommen, und da wüßt ich mir nach keiner Seite einen Ausweg, solang der Anders feiern muß.« Die andern verhalten sich schweigend. Der Regen ist vorbei. Die triefend nassen Menschen kriechen zwischen den Rädern hervor und fangen aufs neue an, im Kartoffelkraut zu wühlen. Die Arbeit geht freudlos und verdrossen vonstatten, solange das nasse Zeug sich allenthalben an den Körper klebt. »O jemine, wie gut tat einem jetzt ein Schluck Schnaps!« seufzt Wolle Skajbæk. Diese Worte erwecken offenbar ein in ihnen allen schlummerndes Sehnen.
Ganz eigenartig schmachtend schweifen die Blicke über den Acker hin. »Könnt nicht am Ende einer im Eßkober sein?« flüstert Franz Dangaard. »Da hast du aber meiner Seel’ einen Gedanken! Könnt schon sein,« meint Wolle und eilt, den Deckel des Korbes zu öffnen. Alle halten einen Augenblick mit der Arbeit inne und schauen mit stockendem Atem auf Wolle. »Nein! Auch nicht ein Tropfen.« Mit zornigem Wurf schmeißt er den Deckel zu. Ein unmutiges Murren geht durch die ganze Reihe: »Hab mir’s denken können!« Der alte Ywer trocknet sich enttäuscht den zahnlosen Mund mit seinem Fäustling. Franz reißt mit den Nägeln Schabsein aus den Kartoffeln, so wütend fährt er in die Erdschollen. »Ach, Gneisel,« sagt Wolle Skajbæk, »du bist ja so fest auf den Beinen, du könntest wirklich hinüberspringen zum Konsum und uns eine Flasche Branntwein holen.« Die andern wieherten freudige Zustimmung. Das Gneisel sendete eine Spucksalve gleich einem Strahl aus einem Storchbürzel sieben Klafter weit ins Pflugland hinein und schwur: »Übernehmt ihr derweil meinen Ackerstrich, so soll mich der Deibel holen, wenn ich nicht wieder da bin so geschwind wie der Wind.«
»Ja – a, das will mir nicht zum allerbesten gefallen, wendete Per ein. »Nicht daß ich euch euern Branntwein nicht gönn, aber ich furcht, die Arbeit könnt sich dadurch verziehen, und das kam dann auf unsereinen.« »Ja,« entgegnete Wolle, »du hast gut dagegen sein; du bist nicht halb so naß wie wir. Wahrhaftig, mir ist so kalt, daß ich nicht weiß, hab ich einen Rücken oder hab ich keinen.« »Und ich bin bis aufs Hemd naß; ich mein, man könnt es auswinden,« erklärte Mette. Per gab den Widerstand bald auf. Aber nun handelte es sich um das Geld. Wolle hatte keines. Gneis fand fünf Öre unter etwas Tabakasche in der Westentasche; die übrigen waren gänzlich blank. So mußte denn Per die Zeche bezahlen. »Du sollst wahrhaftig nicht allein herhalten müssen,« versicherte Wolle, »es wird eins doch auch wieder mal einen Groschen zum Heimzahlen haben.« Das Gneisel buckelte sich zum Laden fort. Die Zurückgebliebenen kosteten die Süßigkeit der Erwartung, indes die Kartoffeln in lustigem Bogen nach den undichten Dauben der Eimer flogen. Wie sie so im besten Zuge sind, ruft Per, der mit einemmal wie an die Forke genagelt steht: »Hols der Teufel, jetzt können wir uns freuen! Wißt ihr, wer da gegangen kommt?«
Die ganze Reihe dreht sich um und sieht Hans Nielsen über den Weggraben springen und in das Feld, wo sie arbeiten, einbiegen. »O Jeses, Kinder!« piept Line und duckt sich wie vor dem Bösen. »Jetzt wird’s was setzen!« flüstert Wolle. »Ach Per, du darfst nichts sagen, daß ich sie eingefädelt hab, die Geschichte mit dem Branntwein. Hörst du?« Pers Oberlippe kräuselte sich in verächtlichem Lächeln. Langsam wie eine drohende Wolke kam der Armenvorsteher über den Acker daher. Eine echte Kuhländer Pfeife baumelte in seinem Mundwinkel. Die Nachmittagssonne fiel von rückwärts in seinen roten Backenbart, daß jedes Haar leuchtete. Bei jedem zweiten Schritt beugte er sich herab und nahm eine vergessene Kartoffel vom Boden auf; nach der großen Regenwäsche lagen sie so kenntlich zwischen den Schollen da. Bald hatte er seine beiden sommersprossigen Hände voll, so daß er die Pfeife allein mit den Zähnen festhalten mußte. Die Kartoffelgräber wühlten in der Erde, daß sie nach allen Seiten aufstob. Ihre Nasen berührten fast den Boden, ihre Hinterteile ragten in die Höhe, daß sie sich ausnahmen wie riesengroße Heuschrecken. Ab und zu flüstern sie sich heiser etwas zu, wie im Dunkel hockende Vögel, die fühlen, daß ihnen etwas Feindliches auf der Spur ist.
Auf einmal wirft Hans Nielsen seine Handvoll Kartoffeln über die Köpfe der Gräber in den Eimer, daß drei oder vier polternd von den Dauben zurückspringen. Ein leises Zucken geht durch die ganze Reihe. »Die habe ich jetzt allein nur auf dem kleinen Ende Weg gefunden. Gebt ordentlich acht, daß ihr alle mit aufklaubt. Von dem, was am Acker liegen bleibt, läßt sich nicht fett werden. Am ärgsten ist’s auf der Seite da.« Er deutete mit dem Holzschuhschnabel nach dem von Gneis verlassenen Ackerstrich: »Wessen ist der? Ist niemand dabei? Wo ist der Gneis?« Ein Schauer durchläuft Wolle Skajbæk; er schaut bittend zu Per auf. »Ach, er hat nur einen Sprung in den KonsumVerein gemacht,« sagt Per. »So – o! In den Konsum-Verein! Läßt du die Leute mitten in der Arbeitszeit so herumspazieren? Da kann ich freilich verstehen, warum so wenig geschafft worden ist; es ist der Wagen ja noch kaum halb voll, ob der Tag auch gleich schon dreiviertel vorbei ist.« »Es hat ja doch geregnet,« sagt Per entschuldigend. »Geregnet! Ist der auch der Rede wert, der Spritzer, der gekommen ist?« sagt Hans Nielsen. »Da ist eins wahrhaftig schön naß geworden von außen und von innen,« erklärte Sophie als die Mutigste des ganzen Kreises.
»So – oo!« entgegnet der Vorsteher beißend, »innen auch? Das, habe ich geglaubt, kommt erst, wenn der Gneis aus dem Konsum zurück ist.« »Der Satan,« raunt Sophie dem Wolle Skajbæk zu; der aber, besorgt, Hans Nielsen könnte gehört haben, daß Sophie ihn zu ihrem Vertrauten mache, senkt die Nase noch tiefer auf die Kartoffeln hinab. Nach ein paar Befehlen an Per schlenderte Nielsen weiter, hinter sich die blauen Ringelwölkchen des feinen Tabaks. Kurz darauf kommt der Gneise! atemlos gelaufen. »Alle Deibel noch einmal!« ruft er, sich auf den Boden werfend, wobei die Hosen, an deren Knien die großen runden Lehmflecke beim Eintrocknen lichtgrün geworden waren, sich bauschten. »Du bist ihm doch nicht begegnet?« fragte Wolle Skajbæk. »Zerreiß mich der Deibel, freilich wohl,« erwidert Gneis, indem er den Arm bis zum Ellenbogen in die Innentasche versenkt. »Das hat sich doch nicht vermeiden lassen. Er hat mir ja drin im Hohlweg aufgelauert. Gott sei einem gnädig, wie der mich angeschnauzt hat!« ruft er ausgelassen, eine volle Flasche im Sonnenlicht vor den Augen der Erdäpfelausnehmer schwingend. »Na ja, so macht jetzt einen Schluck, nachdem ’s einmal geholt ist,« sagt Per, »aber nachher heißt’s sich ins Zeug legen.«
Die Flasche stattete bei jedem von ihnen eine kurze Visite ab. Zu allererst trank Gneis, der sie geholt; nicht einmal die hustende Line ließ sie an sich vorübergehen; sie drückte die Hand an das schmerzende Zwerchfell, indes die scharfe Flüssigkeit sich ihren Weg brannte. Ein starker Hustenanfall war die Folge. »Je, wie das beißt!« gurgelte sie hervor, während die Tränen ihr in den Augenwinkeln standen. »Was, kannst du es nicht vertragen?« fragte die Galopp-Sophie. »Da wär’s meiner Seel schad, das Gute zum Bösen zu genießen!« Sie schwang die Flasche an den Mund mit einem schmatzenden Kuß. »Halt, halt, Sophie! Andre wollen doch auch noch was haben!« sagte Wolle. »A – h!« Er trank, daß es gluckte, und reichte dann die Flasche Per. »Mach jetzt du einen Zug, Per, denn du bist ja doch dafür aufgekommen.« Die Flasche hatte längst ihre pflichtschuldige Runde gemacht. Die Arbeit ging nun wie geschmiert, auch die Münder. Jeder hatte irgend eine lustige Geschichte zum besten zu geben, die ihm auf den Lippen brannte, doch konnte er vor den andern, die auch erzählen wollten, nicht dazu gelangen. Zum zehnten Male begann der alte Ywer in seiner schleppenden, beteuernden Weise: »Daß ich euch erzähle, was sich zugetragen hat, damals, wie ich zum Dienst bin befohlen gewesen im Kastell – –«
Weiter gelangte Ywer nicht, da hatte ein andrer ihm den Faden schon weggeschnappt und sich ihn zum Vorteil gedreht. Nun hatte sich die Stimmung so gehoben, daß die »Lokalchronik« nicht mehr zureichte; es mußte Gesang herbei. Man setzte mit einer Ballade ein. Sophie hub an: Lotte ging, Lotte ging Mit verliebten Blicken; Wie sie ging, wie sie ging, Tat es in ihr zwicken. Länger erhielt die Galopp-Sophie nicht Erlaubnis, den guten Geschmack herauszufordern. Etwas Derartiges mochte man nicht; zartere Saiten sollten jetzt, wo der Tag sich neigte und die Rücken zu trocknen begannen, angeschlagen werden. Da griff Mette in ihren liebeskranken Busen und sang: Am Himmel sieh die Sterne Sich paaren, Paar um Paar, So wollen auch wir beide, Sind wir zu Lieb und Freude Daheim vom Traualtar.
Noch mehrere Strophen folgten. Ja, das ließ sich verstehen, daß das Liebe sei, die etwas zu bedeuten habe. Aber alle blickten sie nun zu Franz Dangaard auf; so lang er nicht gesungen hatte, war es noch nicht das Richtige. Armer Franz! In seiner Jugend war er weit und breit der flotteste Geist gewesen, der beste Sänger und der gesuchteste Tänzer bei jeder Jugendunterhaltung und der unbestrittene Vorreiter bei jeder Bauernhochzeit. Nun war er ein armes Wrack und kannte seit zehn Jahren kaum ein anderes Bett als eine Strohschütte und ein paar Hanfsäcke. »Rück’ jetzt du, Franz, mit einem von deinen Liedern heraus; denn die sind des Zuhörens wert.« Ein schwaches Lächeln stahl sich um Franzens stopplige Mundwinkel. Eine lichte Erinnerung an vergangene Zeiten schien ihm durch den Sinn zu gehen. Franz sang: Es liebt ein Fühner Mägdelein Den jüt’schen Kürassier, Der auf des Vaters Hofe Einge – quartier – et lag. Sie schenkte ihm ihr Herze, Schwor ihm den Treueeid, Ob er auch zu ihr sagte,
Ob er auch zu ihr sagte – Nie kann dies, nie–ie–mals sein. »Das, möcht ich schwören, ist doch das schönste Lied, das eins hören kann,« äußerte Mette, als die letzte Zeile verklungen war. »Ja, so gewissermaßen Gefühl ist drin!« stimmte ihr Wolle Skajbæk bei. »Aber du, Line, du hast ja auch einmal so schrecklich schön singen können.« »Ja, in meinen jungen Jahren, da hab ich schon Leben in die Leute bringen können. Alle hab ich sie gesungen, die Lieder, ob sie lang waren oder kurz; aber seit man verheiratet ist, hat man ja was andres zu tun, man hat ja nicht mehr Sinn für so was.« Gleichwohl ließ sich Line verleiten, den Sang von Hjalmars und Huldas herzzerreißender Liebe anzustimmen. Sie war jedoch kaum über die ersten Verse gekommen, als der Husten jedem Versuch einer Fortsetzung ein jähes Ende bereitete. »Nein, das ist schon zu greulich mit der Brust,« keuchte Line zwischen zwei heftigen Hustenanfällen. »Ich sing gewiß bald meinen letzten Vers, ich arme Haut.« »Ja, da gehören wahrhaftig Lungen dazu; das ist sicher und gewiß!« nickte Wolle Skajbæk …
Der Abend war längst hereingebrochen, und die Kartoffelgräber saßen nun in einem hungrigen Haufen in einer Ecke von Hans Nielsens Gesindestube und harrten des Abendbrots. Per saß gekämmt und reingewaschen auf der Bank vor dem Tisch und rauchte seine Pfeife. Auch die übrigen hatten sich zumeist zum Brunnentrog begeben, um sich mit Rücksicht darauf, daß sie an einem so vornehmen Ort wie beim Gemeindevorsteher waren, abzuwaschen; sonst wäre das viel zu viel Ungelegenheit für so simple Leute wie sie gewesen. Nur das Gneisel betrachtete alles Waschen prinzipiell für überflüssig. »Morgen ist man, der Deibel zerreiß mich, doch wieder akkurat so dreckig; was soll also die ganze Wascherei und Scheuerei?« erklärte er. Am obern Tischende saß eine schlanke imponierende Gestalt mit einem starken, bartlosen Gesicht und einem schön geformten, altväterlichen Professorenkopf. Er sprach mit niemand, und schon seine bloße Haltung schien zu genügen, um einen Abstand zwischen sich und den andern hervorzurufen. Das war Jens Laanum, der des Sommers auf den kleinen Bauernziegelwerken Backsteine strich, in den übrigen Zeiten des Jahres aber Uhren instandsetzte. Jens’ Gehirn beschäftigte sich stets mit den höchsten Problemen, und er hatte insgeheim viel gelesen. Er war bibelkundig trotz einem Fachgelehrten
und erschreckte seine Umgebung häufig durch die Zweifel an fundamentalen Grundsätzen. Kein zweiter verstand es wie er, einzudringen in das Innerste eines alten, herzkranken Uhrwerks, in dessen Gehäuse die Holzwürmer wohnten, dessen Zifferblatt die Zahl siebzehnhundert trug und dessen mit dem Grünspan des Alters überzogener Perpendikel die ganze Woche lang an der getünchten Wand hin und her pendeln sollte. Jens’ Finger, die von dem vielen Lehmkneten plump und breit geworden waren, faßten mit unsäglicher Behutsamkeit jedes Rädchen und jede Schraubenmutter des alten Werks an und legten sie in zierlichen Häufchen auf die Tischplatte. Er hob sie zu seinen stark schielenden Augen empor, um sich mit ihren kleinen Gebrechen gründlich vertraut zu machen, und fügte sie dann wieder ineinander – Häkchen zu Zähnchen – mit so eindringlichem Ernst, als wäre die Naturordnung selbst von der Zuverlässigkeit eben dieses Rädchens abhängig. Es war eine jener so häufig vorkommenden unerklärlichen Seltsamkeiten, daß dieses verkappte Genie sich mit dem plumpen und seelenlosen Zankteufel von einem Weibe, der Galopp-Sophie, verheiratet hatte. Als sie nunmehr aus der Küche hereintrat und ihren Mann erblickte, rief sie spottend: »Ei, was seh ich! Hat man sein Ehegespons da? Da wird man vielleicht Neuigkeiten hören können, wie’s
steht daheim; hast du gut die Tür zugemacht, daß die Bruthenne nicht auskommt?« Jens Laanum saß mit aufgeknöpfter Weste da und stieß die Luft mit schweren pustenden Atemzügen über die Lippen, ohne Sophie eines Blicks zu würdigen. »Kannst du nicht antworten, du Murrkopf?« fuhr Sophie fort, »es tat wohl not, dir das Mundwerk einzuölen?« Jens blieb stumm und aufrecht sitzen, drehte an seinen Messingschrauben und pustete heftig, als wollte er seinen Zorn auf diese Weise kühlen. »Jetzt bringt man natürlich wieder kein Sterbenswort aus ihm heraus,« belferte die alte Hexe weiter. »Da kann man lange warten. Grad so macht er’s zu Haus auch, wenn er sich was in den Kopf setzt. Da kann ich mir das Maul zerreißen, so viel ich will; tagelang kann ich warten, bevor ich eine Antwort krieg. Probiert ihr, ob ihr ihm das Maul aufbringt! Nein, ich sag’s euch. Man könnt ihm das Mangelholz um den Kopf hauen, und er macht doch nicht Muh oder Mau. Das ist ein eigener Dickschädel, das!« Jens hatte das Uhrinnere von der geblümten Scheibe losgemacht und drehte es nun langsam vor dem dünnen Talglicht; als er das nackte Uhrwerk auf den fleischigen Fingerspitzen hielt, gemahnte es an eine aus ihrem Hause genommene Schnecke; die feine Stahlfeder zitterte bei der leisesten Berührung
wie die fröstelnde Nabelschnur einer neugeborenen Leibesfrucht. Die neugierigen Kartoffelleute rückten ein wenig näher, um einen Blick ins Werk zu tun; aber Jens verzog den Mund, sah sie allesamt strenge an, am strengsten Per, weil er aus seiner Tabakpfeife qualmte, was Jens ein Hohn schien auf seine ernsten Anstrengungen, die Zeit in richtigen Gang zu bringen. »Ihr lauert umsonst; keiner kriegt was zu sehen, wenn’s einmal bei ihm aus dem Loch pfeift,« sagte Sophie. Nun wurde das Nachtessen aufgetragen: eine Schüssel Kartoffelbrei mit Speckschnitten und zerlassenem Fett in einer Grube in der Mitte. Die Magd, die das Essen auftrug, war niemand anders als Dorre Romler, Pers Bekannte von der Schulzeit her. Sie war jetzt ein hochgewachsenes, ungeschlachtes, breithüftiges Frauenzimmer, und wenn sie auftrat, quietschten die Reifen ihrer Holzschuhhacken auf dem gelben Ziegelboden. Ihre Augen blickten schwer und umflort, als hätten sie etwas von den Moordämpfen ihrer Geburtsstätte mitgebracht. Dorre diente bereits ein paar Jahre bei Hans Nielsen; denn wie allen gutmütigen Menschen widerstrebte es ihr, den Platz zu wechseln, wenn sie es auch nichts weniger als gut hatte; sie war von jenen, die alle Püffe schweigend hinnehmen.
Der erste, den ihre Blicke beim Eintreten suchten, war Per. Auch als sie sich umwendete, um wieder hinauszugehen, glitten ihre trüben Augen fast streichelnd über Pers Wangen. Er wußte es offenbar, schaute aber absichtlich nach einer andern Richtung. Die Leute saßen in einem hufeisenförmigen Rund um das untere Ende des Tisches; Jens Laanum nahm nicht an der Mahlzeit teil. Es wurde nicht viel geredet. Das Fettloch senkte sich immer tiefer, dank den unzähligen Stößen von allen Seiten. Der Brei schwand wie Tau vor der Sonne. Es konnte den Blicken nicht entgehen, daß zwischen Franz Dangaard und seinen Tischgenossen sich zu beiden Seiten ein größerer Raum einschob. Franz war dieses Abrücken gewohnt, er kannte die Ursache wohl und hatte nichts dagegen einzuwenden. Sobald alle die Löffel weggelegt hatten und so viel Platz geworden war, daß man hindurchkommen konnte, ging Franz gebeugt und eilig aus der Stube. »Jetzt geht er, der Deibel soll mich zerreißen, ihnen ein Nachtquartier schaffen,« bemerkte das Gneisel. »Wem denn?« fragte Line, die Gneis’ Bildersprache nicht verstanden hatte. »Den Läusen natürlich! Wie ich früher herein bin, ist er gestanden und hat sich an der Hausecke den Rücken gescheuert, akkurat wie ein räudiger Hund.« »Der Arme,« sagte Line.
Franz kam wieder in die Stube. »Hast du einer jeden schon ihren Platz geschafft? Ha, ha, ha, ha!« lachte Gneis, indem er sein ungewaschenes Maul allen ringsumher zukehrte. »Ach, kannst du mich nicht gehenlassen; ich wüßt nicht, daß ich dir je was in den Weg gelegt hätt,« versetzte Franz, mit den grauen Augen von unbestimmbarem Ausdruck nach einem Platz spähend, so weit weg als möglich von den übrigen. »Geh, Gneis, hast nicht genug an dem Deinen?« mahnt Per. »Nein, wahrscheinlich will er den Flotten spielen, weil er auch von der Gemeinde beteilt wird,« erklärte Sophie. Bei dem Worte »auch« blickte sie spöttisch zu Mette hin. »Ach, mach dich nicht so mausig, Gevatterin,« entgegnete Gneis, »denn was nicht ist, das kann noch werden.« »Da wird jedenfalls noch eine Weile darüber hingehen, ehe wir von der Gemeinde etwas nehmen! – Nicht wahr, Jens?« »Ja, Weib!« gab Jens vom andern Ende des Tisches zurück, wo er noch immer mit seinen Hämmerchen und Kneipzangen klirrte und die Luft über die Lippen explodieren ließ. »Wer sucht aber auch ein Korn in dem, was der Gneis sagt? Vornehmlich redet er allweil zu viel. Es ist bei ihm wie bei der Uhr da, am
Schlagwerk fehlt’s. Es meint eins, aber schlagen tut’s zwölf.« Diese Antwort lohnten die andern mit einem Lachen, in dem das Gneisel rettungslos unterging. Nun trat eine peinliche Stille ein. Da man sich auf der ganzen Linie gegenseitig beleidigt hatte, war es nicht mehr möglich, den Faden des Gesprächs wieder anzuknüpfen. »Wo nur der Bauer bleibt?« Einige begaben sich an den Herd zu Dorre hinaus. Der alte Ywer duselte in der Bankecke. Jens Laanum klirrte mit seinem Werkzeug. Per verfiel in Nachdenken. Es kam ihm in den Sinn, was Doktor Koldkur über Menschenvergeudung gesagt hatte. Alle die Armen, die gebückt und geknickt dasaßen in der Hoffnung, doch etwas Taglohn, und sei er noch so gering, zu erhalten, waren sie nicht jung und mutig wie er selbst gewesen? Sie hatten neue, anständige Kleider besessen und waren jeder einzelne in ihrem Kreise geachtet gewesen. Wie dieser Franz da, der sich kaum eine Sekunde stillhalten konnte, weil seine Haut von Ungeziefer zernagt wurde; war er nicht einer der Flottesten unter ihnen allen gewesen, ging mit Silberkette auf der Weste und Gehängsei an der Uhr, die Hosen in hochschaftigen Stiefeln mit blankgewichsten Stulpen? Wo wäre die Hofbauerstochter gewesen, die sich nicht geschmeichelt gefühlt hätte,
von Franz zu einem Tanz aufgefordert zu werden, und lebte die Geschichte nicht noch immer in der Erinnerung aller Alten, wie ein vornehmes Fräulein auf Sølsig über Hals und Kopf nach Seeland unter die Aufsicht besorgter Verwandter gesendet werden mußte, weil der flotte Tischler ihr den Kopf verdreht hatte? Was für eine teuflische Macht war es, die langsam – langsam – wie mit einer Walze sein Glück sowohl wie das der andern zermalmt hatte? War er, Per, vielleicht auch im Begriff, in solch ein Räderwerk hineingezerrt zu werden? Sollte sein Leben nur eine schale Wiederholung des ihren werden? War nicht alles darauf angelegt: die Armut, die Schlaffheit, die Hoffnungslosigkeit? Es war, als läge ein Fluch auf dem ganzen dienenden Stande. Ein einziger Unfall in den langen Arbeitsjahren, eine Hand in einer Maschine, der Hufschlag eines Pferdes, der Sturz von einem Balken, und das ganze Leben war im Nu hinabgezogen in den reißenden Wirbel von Schande und Untergang. Per wurde diesen düstern Gedanken durch den plötzlichen Eintritt Hans Nielsens entrissen. »Grüß Gott, Jens,« sagte er, sich an den Uhrmacher wendend. »Na, hast du dich über die Uhr hergemacht? Wir haben schon lange rechts und links nach dir ausgeschaut. Man sieht dich doch auch bald wieder?«
»Gewiß, ich kann heut abend noch nicht fertig werden.« Hans Nielsen wendete sich nun zu den Kartoffelleuten. »No, hat euch die Magd das Nachtessen gebracht?« fragte er. »Ja, danken schön!« scholl es ringsumher aus den Winkeln. »Was wird’s denn aber jetzt mit dem andern sein? … Mit der Zahlung mein’ ich,« sagte Hans Nielsen und sah sich fragend um. Da niemand antwortete, fügte er hinzu: »Was habt ihr denn anderwärts gekriegt, wo ihr gewesen seid?« »Ja, das ist ja ganz verschieden, danach wie die Leute selber dran sind,« erwiderte Wolle Skajbæk. »Es war ein langes Tagwerk und eine garstige Arbeit,« bemerkte Per, um den Kartoffelgräbern zu Hilfe zu kommen. »Was, garstige Arbeit!« wiederholte Hans Nielsen, indem er Per einen finstern Blick zuwarf, »wo sie dabei liegen und ausruhen können.« »Na, die Ruh, die möcht ich wahrhaftig dem ersten besten, der sie haben mag, weiterverehren,« versetzte die Galopp-Sophie. »So rückt heraus damit, was ihr meint, das euch zukommt!« sagte Hans Nielsen zornig.
»Das ist ja doch nur, wie du dich selber ehren willst, Hans Nielsen, wahr und gewiß,« versetzte Wolle Skajbæk. »Du, Wolle, hast ja außerdem auch noch einen Tag bei mir in der Scheune ausgeholfen,« meinte Hans Nielsen, »aber du wirst dich erinnern, daß du auch wieder im Sommer einmal eine Viertelmetze Gerste für deine Hühner bekommen hast.« »No,« antwortet Wolle, »ich hätt gemeint, das war lang ausgeglichen, weil ich ja auch bei dir im Torfmoor mit dabei war.« »Ausgeglichen? Hast denn nicht deine Zahlung gekriegt, apart für’s Torfmoor?« fragte Hans Nielsen. »Ja, für den einen Tag wohl, aber ich war gute anderthalbe drin.« »Ja weißt du, das hab ich anders gemeint, die Zahlung war für’s Ganze,« gab Nielsen zurück. »No, jaja, Hans Nielsen, darüber wollen wir uns wahrhaftig nicht veruneinigen, aber wie ich sag: es ist ganz nach dem, wie du dich selbst ehren willst.« Damit war die Sache mit Wolle geordnet. »Dir, Gneis, wird man wohl nicht extra was bezahlen brauchen,« fand Nielsen – »es war’ denn, du hast die gewisse Buddel Branntwein im Konsum auf Borg genommen,« fügte er lachend hinzu.
»O, da kam man schön an. Ohne Geld kriegt man doch nirgends was als Geschrei und Getu,« entgegnete Gneis und spie voll Ingrimm aus. »Du kriegst doch so, was du brauchst, von der Kommune.« »Freilich, freilich; aber es tat einem doch auch manchmal wohl, einen eigenen Pfennig zu haben.« Hans Nielsen überhörte gänzlich den von Gneis ausgesprochenen Wunsch und fuhr fort: »Und du, Franz, ja du weißt doch, daß du dich in meine Scheuer legen kannst, wann du nur willst; jetzt kennst du ja schon – wenn man so sagen darf – die Lokaler; und die Tür steht auch alleweil offen, so weiß ich nicht ob – hehe.« »Hm, nei – n; hm, nei–n; ich muß nichts – ä – ich muß gar nichts haben für den Tag Arbeit, das ist ja nicht der Rede wert,« sagte Franz und schüttelte sich in seinem dünnen Kittel. »Jetzt zu dir, Mette,« sagte Hans Nielsen, »du möchtest wohl gern eine Kanne Milch für die Kinder mit heim haben; und auf eine Metze Erdäpfel, wenn der Acker umgepflügt wird, soll’s auch nicht ankommen, wenn du dir sie hinterm Pflug selbst auflesen magst.« »Ja, ich dank schön; da könnt ich weiter nicht klagen,« meinte Mette, »wenn’s nur nicht geht wie voriges Jahr, wo sie so lang in der Erde geblieben sind, bis
sie wurmig waren, daß sie nicht einmal die Schweine gemocht haben.« »Aber da bist ja jetzt du, Sophie! Wie sollen wir zwei es miteinander halten?« bemerkte Nielsen in dem Gefühl, daß es hier an den Beutel gehen würde, da sich Sophie als die Unabhängige fühlte. »Ja, ich will, hol mich der Teufel, meinen Taglohn haben!« erklärte Sophie. »Das versteht sich,« versetzte Hans Nielsen, »den haben doch die andern auf ihre Weise auch bekommen.« »Nein, das gilt bei mir nicht; ich will bar ausgezahlt sein,« betonte Sophie mit starkem Kopfnicken. »Na, wer hat denn auch was anderes gesagt?« beschwichtigte Nielsen. »Bist du zufrieden mit fünfundsiebzig Öre?« »Nein, Gott bewahre!« sagte Sophie. »Wenn ich nicht meine Krone dafür haben soll, daß ich den ganzen langen Tag daliegen und mich schinden und auf der Erde herumrutschen tu, so rühr ich mich überhaupt nicht aus dem Haus; das hab ich schon oft zum Jens gesagt; da bleib ich daheim bei meiner Weberei; da weiß man doch, woran man ist, und sitzt wenigstens trocken.« »Du bist aber schon bald grad so teuer wie ein Mannsbild,« versetzte Nielsen, indem er mit einem Seufzer das Kronenstück hervorzog. Die andern
blickten mit langen Hälsen nach, wie es über den Tisch seinen Weg zu Sophie nahm. Nun war die Reihe an den alten Ywer gekommen. Außer seinem bißchen Taglöhnerarbeit versah er auch noch die eines Wegräumers, der, von der Gemeinde angestellt, für eine oder zwei Mark* des Tags mit der schweren Schaufel die meilenlangen Wege im ärgsten Kot und Schlamm abging, um die ausgefahrenen Geleise mit Schotter auszufüllen. Das hätte, schien es dem alten Ywer, am Ende nicht so viel zu sagen gehabt, wenn man nur die paar armseligen Schillinge auch gleich bekommen hätte, nachdem sie verdient worden; aber zumeist mußte er zwei- und dreimal vergebens rennen, bevor es dem gebieterischen Herrn Gemeindevorsteher gefiel, mit dem Geld herauszurücken. »Na, Ywer, du hast jetzt zugeschaut, wie die Sophie mir zugesetzt hat, soll man vielleicht auch von dir ausgebeutelt werden?« »Nein, nein, gewiß nicht, Hans Nielsen,« sagte Ywer, die roten Augen trocknend.« »Von wegen dem einen Tag, da red ich gar nicht weiter. Aber du wirst wohl wissen, daß ich schon etlichemal bei dir gewesen bin wegen dem Weggeld – ich hab es ja schon die ganzen letzten drei Monate nicht gekriegt – und wir haben bald schon keinen *
Eine dänische Mark galt damals etwa 35 deutsche Pfennige.
Bissen Brot mehr daheim; auch für’s Schwein hätt ich gern ein paar Körner Mais gekauft, und auf Borg, da gibt ja niemand was her. Wenn du mir vielleicht nur zehn Kronen derweil geben möchtest, so könnt das andre für später stehen bleiben.« »Kommst du schon wieder mit deiner ewigen Quengelei wegen dem Weggeld,« versetzte Hans Nielsen. »Das sind doch Gemeindesachen; und was hat der Quark mit meinen Erdäpfeln zu tun? Ich hab’s dir doch schon gesagt, dafür muß immer Vorsorge getroffen sein, daß Geld da ist für die ›laufenden Ausgaben‹, und das geht wahrhaftig nicht an, die Gemeindekasse auszuleeren, daß sie dann blank ist bei ,unvorhergesehenen Fällen’. Da gibt’s mehr als einen, der viel länger warten muß als du. Ihr kleinen Leute, ihr glaubt, die Administration, die geht wie’s Haar aus der Butter, aber das ist wahrhaftig nicht nur so, die Gemeinde aufrecht zu halten. Ihr habt keine Steuer und müßt nicht herhalten, aber ganz was anders ist’s, wenn man dasteht und die Verantwortung trägt.« Bei diesen Worten reckte Hans Nielsen seinen Bauch über den Tisch zu dem armen Wegräumer vor, steckte die Daumen in die Armlöcher der Weste und trommelte heftig mit den langen Fingern auf seinen Brustkasten.
Doch nun kochte der Zorn in Pers Brust, und unversehens fuhr ein heißer Strahl Hans Nielsen ins Gesicht. »Das ist doch bei Gott das Erbärmlichste, was mir mein Lebtag noch vorgekommen ist! Eine reiche Bauerngemeinde, und will einem armen Teufel von Straßenräumer seinen elenden Taglohn nicht auszahlen, sondern läßt ihn den langen Weg ein über’s andremal rennen, obwohl ihm die paar Schilling so leicht gezahlt werden könnten wie man sich ein Haar wegzupft. Das begreif ich nicht, daß Ihr Euch nicht in den Hals hinein schämt; denn das ist doch so lumpig, daß jeder rechtschaffene Mensch sich umdrehn und Euch anspucken muß! Ihr verdient, beim Henker, daß man Euch in die Zeitung setzt.« Hans Nielsen war feuerrot geworden. »Hör du, mein Lieber, mir scheint, du vergißt, wo du bist und wer du bist. Vorderhand bist du noch nicht drin im Gemeinderat; dazu wird’s vielleicht noch eine Weile brauchen. Wir pflegen vorderhand keine so Grünen zu nehmen. Und jetzt möchte ich dir raten, dir ein wenig eine Bremse anzulegen. Denn hier bin ich Herr im Haus, du – – – Gemeindejunge!« »Pfui Teufel, großschnäuziger Protz!« »Was hast du gesagt?« Hans Nielsen pflanzte seinen braunroten Bart dicht vor ihn hin, warf sich aber dann kurz auf seinem Absatz herum und ging, steif wie eine Bildsäule, in sein Schlafzimmer.
Gleich darauf kehrte er zurück und schmiß mit einer verächtlichen Handbewegung vier Zehnkronenscheine dem Straßenräumer vor die Nase. »Sei so gut und quittier!« »Nein, Hans Nielsen, wenn es so in einem Zorn ist, daß du mir sie geben tust, da mag ich sie heut gar nicht haben, gar keine Red,« beteuerte der alte Ywer, »da schau ich lieber, daß ich mich noch eine Weile so behelf.« Hans Nielsen sagte kein Wort weiter, sondern begann die Quittung auszufertigen. »Setz da deinen Namen her,« sagte er, gebieterisch auf das Papier deutend. »Nein, wie ich sag, Hans Nielsen …« »Willst du sie haben oder willst du sie nicht haben?« Ohne weitere Einwendungen zu wagen, umfaßte der alte Ywer den Federstiel wie eine Leimstange und schrieb. Schweigend und umständlich und unter vielen scheuen Seitenblicken nach dem Vorsteher hin legte der Straßenräumer die Scheine zusammen und ließ sie in den schlotterigen Beutel verschwinden. Nun war nur noch Line übrig. Während der letzten bewegten Szenen hatte sie gehustet, daß ihr die Rippen krachten. Woher sollte sie nach dem, was hier vorgegangen war, den Mut nehmen, mit ihrer
Bitte herauszurücken? Und anderseits hatte sie es Anders so fest versprochen, sie vorzubringen, daß sie sich daran wagen mußte. »Na, jetzt hat also ein jedes, was ihm zukommt!« bemerkte Hans Nielsen und machte Miene, die Stube zu verlassen. »Vergißt du nicht die Line da?« sagte nun Sophie. »Sie hat doch auch ihren Strich Acker durchgegraben.« »Na ja, kann sein, daß – –?« »Nein, dafür, da will ich gewiß nichts verlangen. Aber um was andres tat ich dich recht inständig bitten, Hans Nielsen.« »Hab’ mir’s gedacht,« entgegnete dieser. »Ich trau mich gar nicht damit heraus. Es ist meist wegen dem Anders. Er ist ja arg zugerichtet, der Arme, und es wird wohl noch viel Zeit hingehen, bevor er wieder was verdienen kann. Jetzt ist’s schon die neunte Woche; es ist recht streng für uns, ja gewiß! Daß er auch nicht einen Funken Hilfe von keiner Seite hat haben können, wo ihm doch die Hand zerquetscht worden ist, das will einem gar nicht eingehn.« »Ja, solche Sachen gehen nach dem Gesetz!« warf Hans Nielsen ein. »Das tun sie freilich wohl,« gab Line zu und hustete herzzerreißend. »Aber schon vierzehn Tage haben wir keinen Löffel Zuspeise im Haus gehabt, und hätt man nicht die Kuh, man müßt hin werden. Eine
ganze Familie aber, die kann doch nicht allein von der Kuhmilch leben; und der Bäcker will jetzt auch nichts mehr auf Borg geben. Und der Anders fällt gradzu ab, daß es ein Jammer ist mit anzusehen, er, der doch inwendig nicht krank ist. Ich will nicht von mir und den Kindern reden; denn die eine, die in die Schule geht, hat schon nicht so viel wie ein Lot Fleisch auf den Knochen. Ach Jesses, wie es uns schlecht geht hinten und vorn. Ja, so lang er seine Hand hat brauchen können, der Anders, da war’s ganz was andres; denn das ist wahrlich nicht seine Art, müßig zu sitzen. Aber was soll so ein Unglücklicher anfangen? Die paar Kronen, die ich verdien, ich armes, krankes Mensch, die langen nicht weit. Und da hab ich dich also bitten wollen, Hans Nielsen, ob du uns nicht ein klein wenig Hilfe könntest zukommen lassen in der harten Zeit, damit man nicht geradezu drin ersäuft.« Line hielt einen Augenblick inne und schaute zu dem Gemeindevorsteher auf, indes ihre Tränen auf die Kanten ihres ausgefransten Kopftuches niederrannen. »Ja, Hilfe, was meinst du denn?« warf der Vorsteher ein, »wollt ihr jetzt vielleicht Unterstützung von der Gemeinde?« »Nein, nein, Hans Nielsen, das will der Anders in keiner erdenklichen Art; nein, davon will er nichts wissen, das hat er mir oft genug gesagt, eh ich fort-
gegangen bin, daß ich die nicht und nicht anrufen darf. Aber die freie Armenkasse – ich weiß freilich wohl, es gibt so viele, die sie brauchen, die gibt’s ja jederzeit. Gott besser’s – aber könnt nicht doch noch was mehr für uns abfallen, wenn es noch so wenig war, jetzt, wo es so schwer für uns ausschaut?« Die freie Armenkasse war jedoch Hans Nielsens Augapfel. Es war bei diesem sonderbaren Administrationstalent zur fixen Idee geworden, daß die Mittel dieser Kasse vor allem und zuvörderst dazu da wären, aufbewahrt zu werden. Er setzte seinen Stolz darein, den andern Gemeinderäten gegenüber damit prahlen zu können, wie viele Gelder noch darin lägen und welche geringe Summe seit der letzten Abrechnung ihm die vielen armen Bewerber zu entwinden vermocht hatten. »Wahrhaftig, das ist einer, der aufzupassen weiß auf die Sachen. Er ist akkurat der Vorsteher, wie er nur sein soll!« konnte man die Spitzen des Sprengels oft bei den Zusammenkünften vor der Kirche oder anderwärts äußern hören. Jeden kleinen Beitrag mußten die Bedürftigen sich sozusagen mit Blut und Tränen erkaufen. Wie oft hatte Per Kätnerweiber, die die größte Not litten, schluchzend aus dem Tor treten sehen, während Hans Nielsen da drinnen hinter den Fenstern auf und ab ging und sich lachend die langen Hände rieb bei dem Gedanken, abermals einen Ansucher aus
dem Felde geschlagen und die teure »Freie« ganz und ungeschmälert bewahrt zu haben. Darum richtete er nun seine Schultheißaugen scharf auf Line und sagte: »Ja, vorklagen könnt ihr einem alle, eins wie’s andre; aber wo glaubt ihr, soll das Geld herkommen? Geht vielleicht einer von euch hin und füllt die Kasse an, wenn man dasteht und alles leer ist? Aber so geht’s allemal, wenn ihr was von einem wollt, da wißt ihr einen gleich zu finden, sonst kann man den Teufel was von euch haben.« Nun rückte Per abermals ins Feld: »Soviel ich die Line verstanden hab, ist’s nicht deine Person, die sie um was angeht. Dazu ist sie wohl zu klug; aber um einen kleinen Beitrag aus der freien Armenkasse sucht sie an, die ja, so viel ich weiß, eine öffentliche Einrichtung ist. Und wer’s weiß, in was für einer Verfassung die Familie jetzt ist, wird einsehen, daß sie wie nicht bald einer ’nen Anspruch hat, wenn’s nach dem Rechten geht.« Mit Mühe bezwang der Gemeindevorsteher seine Heftigkeit, indem er erwiderte: »Möchtst du auch in der Sache dein Wort dazu tun, Gevatter? Wer einen Anspruch hat und wer nicht, das bestimme ich! Übrigens ist’s nicht mein Brauch, Gemeinderatssitzung in der Leutestube zu halten und mit Knechten Verhandlung zu führen.«
Mit diesen Worten reckte sich Hans Nielsen drei Ellen lang in die Höhe und schritt aus der Stube. In der Tür drehte er sich um, und indem er noch einmal seinen roten Backenbart leuchten ließ, sagte er zu Per gewendet: »Sei so gut und bemüh dich hinein zu mir, bevor du dich niederlegst.« Die Kartoffelgräber, die stumme Zeugen des Wortwechsels zwischen Herrn und Knecht gewesen, polterten nun zu der Gangtür hinaus. Mit schweren Schritten suchte jeder auf den durchweichten Wegen im Dunkel das Licht seiner Hütte auf. Franz Dangaard ging mit gekrümmtem Rücken über Hans Nielsens dunkeln Hofraum, löste die Haspe der Scheunentür und vergrub sich unter dem wüsten Anschlagen des Kettenhundes in sein ungebettetes Lager von Stroh. Die weinende Line wollte noch hinein und Dorre Adieu sagen, so daß sie mit unter den letzten war. »Ach, komm einen Augenblick zu mir her, Line,« rief Per, als sie dem Ausgang zuwankte. Line kam näher und sah Per in einem alten Lederbeutel wühlen. »Da du von meinem Brotherrn nichts gekriegt hast, möchtest du das von mir nehmen?« sagte er und schob ihr langsam einen Zehnkronenschein über den Tisch hin. »Viel mehr hab ich selber nicht, aber ich hab doch, Gott sei Dank, noch meine graden Glieder.«
»Aber Jeses, Per! Der himmlische Vater mag dir’s lohnen, aber wie kannst du es nur entbehren?« »Freilich geht’s schwer, der Anders mag mir’s zurückgeben, sowie er einmal so weit ist, daß er wieder schaffen kann. Aber ich mein, wir kleinen Leute müssen eins dem andern aushelfen, so lang wir können; denn auf anderm Weg bekommen wir keine Hilfe.« Jens Laanum hatte – selbst während der bewegtesten Auftritte des Abends – seine unerschütterliche Ruhe bewahrt.Während die Stimmen um ihn lärmten, hatte er scheinbar nur Sinn für den regelmäßigen Gang der Uhr. Wie er nun dasaß, das Werk hoch in der linken Hand haltend, während die rechte prüfend an dem Gewichtstrang zog und er mit zurückgeworfenem Scheitel den heller gewordenen Schlägen lauschte, glich er einem mittelalterlichen Weisen oder dem Bilde des Nikolaus Kopernikus mit dem Himmelsglobus. Die Galopp-Sophie war als eine der ersten hinausgegangen; nun kehrte sie wieder in die Stube zurück und belferte ihren Mann an. »Möchtest dich nicht aufs Fortgehen besinnen? Ist es dir ’leicht lieber, wenn ein jedes allein den Weg ins Stockfinstere hinausstolpert?« Jens stellte die Uhr in den Bankwinkel weg, schlang den Ranzenriemen über die Achsel und erhob sich.
Bevor er die Stube verließ, ging er zu dem Platz hin, wo Per saß, schüttelte ihm kräftig die Hand und sagte mit vertraulichem Nicken: »Gute Nacht, Per! Jetzt hab ich gesehen, daß du einer von meinen Leuten bist.« Per sah ihm verwundert nach. Als die Stube leer geworden war, ging Per ins Schlafzimmer zu Hans Nielsen hinein. Der saß mitten in einem Gewirr von Zirkularen, Bekanntmachungen, langen blauen Kuverts und dicken, fettigen Protokollen mit abgestoßenen Ecken »und den Abdrücken ungewaschener Hände. Hans Nielsen war eifrig damit beschäftigt, in einer kleinen Gesetzessammlung zu blättern, die in schmutziggelbem Umschlage vor ihm lag. Als er Pers ansichtig wurde, räusperte er sich und sagte kurz: »Du hast deine Kündigung vom ersten November.« »So –o!« erwiderte Per. »Da gibst du mir aber eine kurze Frist, Hans Nielsen! Ist das auch ganz, wie sich’s gehört?« »Hab mir’s gedacht, daß du das sagen wirst; aber die Frist ist mehr als lang genug für dich,« bemerkte Nielsen, »denn ich könnte dich heute abend noch vom Hofe jagen, wenn ich wollte. Und das wäre nur dein verdienter Lohn gewesen. Willst du’s hier schwarz auf weiß sehen? Das sind hier nämlich die Worte
des Ge-se-tzes, wonach ein jeder sich zu richten hat.« Hans Nielsen schlug mit dem Handrücken auf das vor ihm liegende fettige Heft: »Willst du dich selbst überzeugen, ob ich dir nicht was vorlüge oder vorschwatze, so komm nur her, mein Bester. Was steht da? Paragraph siebenundvierzig, vierter Absatz von unten auf: Wann Dienstboten ohne Kündigung entlassen werden können: Wenn sie sich Handgreiflichkeiten oder grobe beleidigende Äußerungen gestatten gegen den Dienstherrn, seine Familie oder irgend usw.Wünschst du noch klarere Bescheinigung?« fragte Hans Nielsen. »Ja, es war nicht ohne, wenn du mir eine Aufklärung geben tatst, auf was für eine Art ich Handgreiflichkeiten gegen dich angewendet hab,« erwiderte Per. »Nein, so weit bist du noch nicht gekommen; obgleich dir’s am Willen dazu wahrscheinlich nicht gefehlt hat! Aber »großschnäuziger Protz!« Du hast dir vielleicht eingebildet, ich tät’s nicht hören, aber mir fehlt nichts am Gehör. Hast es auch recht vernehmlich, ganz schön laut gesagt. So was laß ich mir nicht gefallen von Dienstleuten, jetzt weißt du’s! Dann hast du auch – ohne mich erst um Erlaubnis zu fragen – angefangen, das leidige Arbeiterblatt einzuführen, das jetzt hier in der Gegend in Schwung kommt. Solche Burschen aber, die kann ich auf meinem Hof nicht brauchen.«
»Hab ich nicht das Recht, mir ein Blatt zu halten, wenn ich’s mit meinem eigenen Geld bezahl? Kannst du mir nicht auch den Paragraphen zeigen?« versetzte Per aufgebracht. Hans Nielsen machte mit seiner langen, sommersprossigen Hand – eine blaue Krone war darauf tätowiert – eine abwehrende Bewegung und sagte: »Ich hab ausgeredet mit dir über die Sache; du hast den Paragraphen gesehen, und auf Grund dessen bleibt’s dabei, was ich sage: am ersten November kannst du gehen! – Und morgen fährst du mit den Braunen zum Schmied!« Auf seinem Wege zur Stallkammer kam Per am Brunnentrog vorbei und hörte nun im Finstern Dorres schwere Holzschuhtritte vor der Waschküchentür. Nach einem sechzehnstündigen Arbeitstag war sie noch nicht fertig, sondern ging immer noch umher und rumorte mit Milchkübel und Schweinefutter. Per ging langsam auf sie zu und sagte: »Zum ersten November soll ich fort.« Es gab Dorre einen Stich in die Seite. »Aber wie kann das nur sein?« »Es ist mir heut abend aufgesagt worden.« »Dann mag ich auch nicht länger da sein,« erklärte Dorre. »Aber hast du dich nicht auch schon für’s nächste Jahr verdungen?«
Bei diesen Worten war ihr, als ob der Kummer sich mit schweren Schatten auf sie herabsenkte. »Das halt ich nicht aus!« klagte sie und ging schluchzend in ihre Kammer unter der Treppe. Hier stand sie lange halb ausgekleidet mit einem Docht in der einen und einer Photographie von Per im Soldatenrock in der andern Hand, wobei ihr die Tränen um die Wette über die groben, grauen Wangen liefen.
AM TOTENBETTE DES KRÄMERS Am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang lud Per Pflug und Egge auf den Wagen, spannte die beiden Braunen vor und fuhr aus dem Hofe. Als er in den Nachbarort kam, hielt er am äußersten Ende des Dorfs vor dem Häuschen, in dem Kræn Lybsker wohnte, sprang mit einem Satz vom Leiterwagen, machte den Strang des Handpferdes los, schlang den Zügel um die Radnabe und ging hinein. An der Schwelle schlug ihm der atemraubende Geruch einer von Ausdünstungen aller Art geschwängerten Krankenstubenluft entgegen. Der Fußboden war übersät mit halb ausgekratzten Töpfen, Pfannen und Tellern, die dem Kranken von der Decke herabgeglitten waren und nun mit ihren Speiseresten zu seinen Füßen kollerten. Per mußte über all das
hinübersteigen, um zu seinem kranken Freunde zu gelangen. »Guten Tag, Kresten,« begrüßte ihn Per, als er endlich vor dem Bette stand. Der Krämer kehrte ihm mit Beschwerde sein eingefallenes, mit Stoppeln bedecktes Gesicht zu und sagte, die glanzlosen Augen auf ihn richtend: »Guten Tag; du bist’s, Per! Ist das aber schön von dir, daß du kommst, nach mir armen Teufel zu schauen. Ei ja, wahrhaftig, recht, recht schön ist’s von dir. Kannst dir nicht einen Sessel finden? Denn ich kann dir kein – – kann dir nicht« (er versuchte ächzend sich umzudrehen) – – zu einem verhelfen, du Guter!« Per hatte sich schon einen Sitz ausfindig gemacht; doch jetzt kommt ein zerzaustes rotes Hündchen zu Füßen des Alten zum Vorschein; es steigt über die Federdecke und bellt, daß sie kippt und wippt. »Na, na, na, Karo! Sei still, sei doch still! Es sind gute Leute, die, wo jetzt kommen, lauter gute Leute!« beschwichtigt der Krämer und fährt fort: »Nein, wie mich das freut, daß ich dich seh, Per!« »Wie geht’s dir denn, armer Kresten?« erkundigte sich Per mit einem mitleidsvollen Blick; er war etwas ängstlich gewesen, die Frage zu stellen. »Ach ja, jetzt wird’s wohl ausspannen heißen. Aber ich mein auch, ich hätt’ lang genug das Rad in den Furchen gehalten.«
»Oh, du wirst dich schon noch zusammenklauben,« versuchte Per zu trösten. »Nein, es ist der Tod, sicher und gewiß; bin auf nichts andres gefaßt. Aber sei’s, wie’s wolle; ich bin bereit, bin niemand nichts schuldig; jeder hat das Seine bekommen. Bin doch auch schon alt, hab ja meine schönen Tage gehabt, hab nicht zu klagen, hab früher immer zufrieden sein können. Nein, wenn man so lang und frohgemut gelebt hat wie ich, so darf man nicht murren, wenn’s zum Sterben geht. Aber leugnen mag ich’s nicht, wie ich jetzt im Sommer sodagelegen bin auf meinem Lager und draußen die Vögel hab singen hören, da hab ich so bei mir gedacht, es war doch schön gewesen, noch einmal zu sehen, wie die Saat steht. Ich weiß wohl, daß nicht ein Strohhalm davon mein war, aber eine Freude zum Anschauen ist’s dessentwegen doch! Und wie sie dann das Schneiden angefangen haben und ich hab hören können, wie sie die Sensen dengeln, da hab ich zu mir selber gesagt: Kresten, sag ich – jetzt ist’s das letzte Jahr, daß du eine Sense dengeln hören wirst! – Aber was, einmal muß ja das letzte sein; niemand kann doch bis ans End der Tage leben!« »Und wer hilft dir jetzt mit der Abwartung und versorgt dir dein Essen und sonst was?« fragte Per. »Ja, damit, da steht’s freilich recht erbärmlich; es kann einem schon recht öd werden, so eine Woche nach der andern dazuliegen. Denn so gut sie wahr-
haftig sind, die Leut, es muß doch ein jedes seinem Geschäft nachgehen. Und ich kann mich ja nimmer recht selbst regieren, und manchmal hapert’s dann freilich auch mit dem Kaffee und mit dem Essen; denn alles vertrag ich ja nicht mehr, ich arme Haut. Aber gut sind die Leut, wahrhaftig; bald kommt der eine zu meiner Tür herein und bald der andre; ich darf nicht klagen. – Ja, jetzt sind’s wohl schon gute zwei Tage, daß niemand da war!« »Aber Jeses, was du nicht sagst! Ganze zwei Tage war niemand bei dir; woher hast du denn was zu essen genommen?« »Eh sie fortgehn, bitt’ ich sie immer, sie möchten es so nah zu mir herstellen, daß ich danach langen kann.« »Kann ich dir vielleicht was hergeben, eh ich geh?« »Nein, ich hab ganz und gar reinen Tisch gemacht, das letzte hab ich gestern Mittag aufgezehrt.« »Und nichts hast du seither gehabt? Wann kommt denn jetzt wieder wer zu dir?« »Das weiß ich wahrhaftig nicht, liebster Per,« sagte er leise, »wann unser Herrgott will.« Kurz darauf fügte er hinzu: »Aber wegen meiner hat’s weiter nichts auf sich. Ich hab gelernt, mich gedulden. Es tut mir nur um den armen kleinen Hund da leid, wenn er so hungrig ist; denn warum soll er drunter leiden, daß ich krank bin?«
Das rote Hündchen hatte sich über die Decke zu Krestens magerer Hand hingearbeitet, die es winselnd zu lecken begann. »Bist hungrig, mein Karo!« sagte Kresten, ihm zärtlich den Kopf streichelnd. Der Hund winselte und leckte noch heftiger. Per verließ einen Augenblick das Zimmer. Er müßte nach den Pferden vor dem Tor sehen; in Wahrheit hatte er – der doch an mancherlei gewöhnt war – den schrecklichen Geruch da drinnen nicht länger aushalten können. Als er zurückkehrte, hatte er seinen Eßkorb in der Hand. Er entnahm ihm einen Pack Eßwaren, die er aus dem Papier wickelte und dem Krämer reichte. »Nein, Per, Per, gibst jetzt mir deine Zehnerspeis. Geh, behalt doch was für dich selber.« Der Alte begann heißhungrig zu essen; jeden zweiten Bissen gab er dem Hund und fühlte sich nun wieder weit frischer. »War das ein guter Imbiß! Was besser’s hätt’st mir gar nicht mitbringen können. Ach, die Leute sind gut zu mir. Weißt du, ich hätt’ ja gut eine kleine Hilfe von der Gemeinde in Anspruch nehmen können wie so viele andre, aber das will ich nicht für die kurze Zeit, die ich noch da zu sein hab. Ich hab immer selber zurechtkommen wollen; braucht eines niemandem Dank zu sagen.«
Per drängte sich der Gedanke auf, mit welch blutigen Opfern der Arme sich oft seine Selbständigkeit erkaufen mußte. Nun fiel ihm eine Art Fahne auf, die sich neben dem Kopfkissen des Krämers befand. »Wozu brauchst du denn das, Kresten?« sagte Per, auf den Gegenstand, ein geblümtes Tuch, das an den Stock des Alten festgeknüpft war, deutend. »Oh, das war, weiß Gott, eine rechte Komödie, die ich den Sommer ausgeheckt hab, wie ich so dalieg und kann’s schier nimmer aushalten vor Fliegen, die sich mir ringsum ins Gesicht setzen. Auf die Hand haben sie nimmer acht gehabt, aber das hier haben sie doch respektieren müssen!« Der Krämer fächelt hin und her mit seiner sonderbaren Flagge. Eine kleine Pause entsteht. Kresten hat seine magere Hand um die altväterische Bettquaste gelegt, die von der Decke vor seinem Kopf herabhängt; seine dünnen Finger gleiten durch die zerzauste Troddel an dem langen Bande, deren viele grelle Farben der Schmutz in eine hat verschwimmen lassen. »Ich hab grad an was gedacht,« sagte der Krämer, indem er sich mit Hilfe der Bettquaste etwas aufsetzte. »Wenn ich jetzt sterb, so möcht ich gern, daß du ein kleines Andenken von mir hättest. Und da steht dort mein Kramkasten, der mir so treulich gedient hat all die Tag, wo ich straßauf, straßab marschiert bin, mir’s Brot zu verdienen. Ich möcht ihn nicht gern
so ganz beiseit geschmissen sehen. Willst du ihn nehmen, so soll er niemand anderm gehören als dir. Und kriegst du einmal Kinder, so können sie ihn ja als Spielzeug benutzen. – Dann ist noch was, um das mir’s geht. Den armen Hund da,« er deutete auf das kleine Tier, das auf der Decke umherspazierte und nach den letzten Brosamen schnupperte. »Wenn ich hin bin, dann werden sie ihn ja umbringen. Aber ich möcht gern, daß du es tätest. Sie sind manchmal so roh, die Leute, wenn sie an so was sollen. Und so ein kleines Vieh, das früh und spät bei einem gewacht hat, wenn man fast von allen andern vergessen war, das gewinnt man lieb mit der Zeit. Und was du auch damit machst, ob du’s aufhängst oder ertränkst, so bitt’ ich dich, Per, daß du ihm einen leichten Tod bereitest.« Per gab dem Krämer das Versprechen; der Krämer fuhr fort: »Ich furcht, ich halt dich auf, daß du nachher von deinem Dienstherrn einen rechten Putzer kriegst. Nein, war das schön von dir, daß du gekommen und in die Tür zu mir geschaut hast. Mitunter liegt man da und wird ganz verzagt, wenn so gar keins an einen denkt. Aber man muß ja schon froh sein, wenn man ohne Schmerzen daliegt. Hab jetzt Dank, Per. Es gibt nicht viele, die ich so gern gesehen hätt’ wie dich … Ja, der Roy, der schaut auch ab und zu herein zu mir; er kommt gern so zur Abendzeit, wenn er
vom Handel heimkommt. Es ist ein gar guter Grund in ihm. – Und wahrhaftig, auch deine Mutter war da bei mir. Denn ’s ist nicht zu leugnen, eher zeigen noch die Kleinen einem ein Herz als die Großen .. . Leb wohl, Per! Und hab Dank für alles Gute!« Und ganz leise fügte er hinzu: »Wenn ich tot bin, wirst du’s wohl irgendwie erfahren …« Per stieg in schweren Gedanken auf den Wagen. Das also war das Ende, das dem frohsinnigsten Manne, den er gekannt hatte, beschert war: ein langsames Hinsterben in Hunger und Gestank und Einsamkeit mit einem kleinen zerzausten Hund auf seinem Bett als einzigem Trost und Leidensgefährten! In seinem Grübeln über das Schicksal des Krämers hatte Per einen Augenblick die Zügel vergessen. Das Sattelpferd, ein tückisches, verschlagenes Tier, benützte nach seiner Gewohnheit Pers momentane Geistesabwesenheit, um mit einem behenden Schlag des Schweifs den einen Zügelstrang zu haschen und ihn kräftig mit der Schweifwurzel festzuhalten. Die Leine auf- und abwärts führend, suchte Per mit einigen Rucken die Zügel freizumachen, aber das Tier bewahrte seinen Fang, krümmte den braunen Körper und sprang unruhig auf den klappernden Hufen hin und her, jeden Augenblick zu bösen Streichen bereit. Per geriet in Wut über die Tücke des Tiers und ließ seine Geißel über dessen pochende Weichen hinbren-
nen. Doch schon bei dem ersten Schlag warf sich das Roß ungestüm nach dem Handpferd hinüber, ihm mit dem Steiß einen heftigen Schlag aufs Schienbein versetzend, daß es im Schmerz einen gewaltigen Satz zur Seite machte, und im nächsten Augenblick rasten beide Tiere in wildem Galopp dahin. Per riß und zerrte an dem Strang des Sattelpferds, aber das verstockte Tier ließ nicht locker, dabei das andere mehr und mehr pressend, daß es den Lauf beschleunigte. Nun traten Per die Schweißtropfen auf die Stirn, denn er merkte, daß es ihm unmöglich würde, die scheuenden Tiere durch eigene Kraft zu bändigen. Sie waren die letzten Tage zu wenig aus dem Stall gewesen, hatten vielleicht auch zu lange vor des Krämers Tür gestanden und tüchtig gefroren, was sie noch rennwütiger gemacht hatte. Pflug und Egge flogen hoch auf und schlugen gegen ihn mit ihren Eisenkiefern, so oft die Räder wider einen Stein stießen, und das lose liegende Kutschbrett drohte jeden Augenblick auf den Boden des Wagens hinabzurutschen. Das Furchtbarste war jedoch, daß dieser sich nun der Stelle näherte, wo die Straße in starkem Fall sich abwärts senkte und tief unten zu einer Brücke mit hohem Geländer zu beiden Seiten führte. Es war, als ob die Rosse den Vorteil, der sich ihnen bot, auch verstünden, denn sie kauten noch hitziger an der Trense
als zuvor, ihre Augen brannten, und sie duckten sich zur Erde wie Katzen vor dem Sprung. Der Wagen folgte unter Schleudern und Stoßen nach. Pflugschar und Egge wetzten unter steigendem Getöse ihre schneidigen Zähne, indem sie Zoll um Zoll durch die Neigung des Fahrdamms immer näher und näher an Pers Rücken herankrochen. Das Kutschbrett hüpfte wie ein Span unter ihm; die Bodenbohlen scharrten an seinen Holzschuhen, daß es ihm in den Zehen surrte. Wie lange würde er verhindern können, daß Pflug und Egge ihn über das Ortscheit hinüberstießen? – Und die Brücke! die Brücke! die schmale Brücke mit dem hohen Eisengitter zu beiden Seiten! Würde die herausstehende Pflugsterz sich nicht darin verfangen und ihm den ganzen Inhalt des Wagens über den Kopf schleudern? In schwindelndem Grauen sah er schon die Egge sich um ihn zusammenklappen und die Sech ihm die Seite zerfleischen. Die Pferde waren jetzt völlig sinnlos; das Sausen ihrer Mähnen und ihr eigenes siedendes Blut peitschte sie vorwärts; der Schall der Huf schlage, die Wagenstöße und all das knirschende Eisen stachelte sie auf, daß sie den jäh abfallenden Weg hinabflogen, willenlos wie ein Blatt im Sturm. Leute, die seine Not gewahrten, kamen über Gräben und Pflugland herbeigestürzt, doch bevor sie die Straße erreichten, war das scheue Gespann längst vorbei.
Wenn nur die Pferde wie bisher die Mitte des Weges halten wollten, wenn es nun über die Brücke ging, dachte Per und zerrte noch einmal mit seinen wunden Händen an dem verfangenen Lenkseil. »Rrrr!« scholl es ihm hart und scharf ins Ohr; Eisen klirrte an Eisen, doch nur mit einer kleinen Kante hatte der Pflug das Gitterwerk berührt. So war denn die Brücke glücklich passiert, doch gleich wild stürmten die Pferde vorwärts, und in einer Entfernung von nur einigen hundert Klaftern würden sie den steilen Krusumerberg vor sich haben! Aber ging dort vorn nicht jemand mit einem Ranzen auf dem Rücken? Wahrhaftig! Jens Laanum! Wenn der baumstarke Mensch einen Rettungsversuch wagen würde? »Hoi! hoi!« schrie Per, noch fünfzig Klafter vom Ziegelbrenner entfernt. Jens wendete sich langsam um. Im Nu hatte er den Ranzen abgeworfen und ein paar Schritte von der Fahrbahn Aufstellung genommen. Das Gespann sauste auf ihn zu, daß Staub und Gerolle und Straßenschlamm wie in einem Nebel um die Räder auf stob. Mit elastischem, katzenartigem Sprung warf Jens sich mit seiner ganzen ehernen Kraft auf das Zaumzeug des Sattelpferds, und mit einem Riesengriff in Mähne und Nasenbein zwang er das Maul des Tiers zur Erde hinab, daß seine Knie aneinanderschlugen.
Kaum einen Klafter Wegs weiter, und der Wagen war zum Stehen gebracht, doch der gewaltsame Stoß hatte Per auf die Straße hinausgeschleudert; leicht hinkend erhob er sich vom Kies. »Du hast mir das Leben gerettet!« stieß er hervor, die innere Spannung laut herausstöhnend. »Ja, es hat garstig ausgesehen!« versetzte Jens. »Wie hast du denn aber nur die Tiere, die wilden, aufhalten können?« rief Per mit einem bewundernden Blick auf den Riesen. »Oh, man ist doch nicht umsonst schon an die zwanzig Jahr und darüber so was wie ein Tierbändiger,« grinste Jens. Per verstand, daß er an sein Weib dachte. Nachdem Wagen und Pferdegeschirr sorgsam untersucht und Pflug und Egge an ihren Platz zurückgeschoben worden, stieg Per wieder auf; Jens Laanum nahm auf dem Sitzbrett an seiner Seite Platz. »Ich hab einen tüchtigen Preller am Knie gekriegt,« sagte Per, indem er sich das Bein rieb. »Aber man muß ja froh sein, so glimpflich davonzukommen, und ich glaub nicht, daß was in Stücke gegangen ist.« Er griff sich ächzend um die Kniekehle. »Nein, von so einem Bums auf einen Knöchel darf man gar kein Aufhebens machen,« stimmte Jens bei. »Ich erinnere mich, wie vor Jahren, zu der Zeit, wo ich auf Sølsig gedient hab, einem Knecht die Pferde durchgegangen sind, wie heut dir, und er förmlich
in Stücke gerissen worden ist von der Egge. Es war grausig anzuschauen.« »Wohl, es kann einem manches Üble passieren, wenn man dienen muß; das kann man jetzt wieder einmal bei der Line ihrem Mann sehen. – Die nichts davon verstehen, die reden sich gewöhnlich ein, zur Landarbeit da war jeder Tölpel gut, aber soll man’s sagen, wie’s wahr ist, so ist nicht bald ein Stand so ausgesetzt und gefährdet wie dem Knecht seiner. Da wird einer hingestellt zum Viehhüten, lang eh er noch zu irgend was einen Verstand hat, und muß bald einen stößigen Stier und bald einen bockigen Widder von Weide zu Weide treiben. Wächst man heran, kriegt man’s dann mit den Gäulen zu tun; und so oft man den Platz wechselt, hat man neue unter sich. Und manchmal sind ganz verfluchte Luder darunter, wie jetzt das da!« – Per strich mit der Peitsche über das Rückgrat der Stute, die ungeduldig den Hinterbacken mit dröhnendem Knall in die Höhe warf. »Das ist wahrhaftig ein rechtes Schindluder! Kaum daß eins jemals mit ihr draußen ist, ohne daß einem war, als saß einem das Leben auf der flachen Hand. Und solche Kreaturen gibt’s fast in jedem großen Stall. Der Bauer kauft sie oft auf Spekulation, aber wer das eigentliche Risiko hat, das ist der Knecht, der mit ihnen fahren muß. – Na, das wären die Pferde. Aber jetzt gar erst die Maschinen, die heut-
zutag das Land überschwemmen und die man bedienen muß, ob man sich drauf versteht oder nicht. Wie oft kommt man da nicht ins Unglück. Und dem Bauer, der den ersten besten jungen Burschen zu einer Maschine hinstellt, mit der er nicht umzuspringen weiß und die ihm dann ein Glied wegreißt, dem darf beileib kein Mensch dafür ein Haar krümmen. Keinen roten Heller können sie ihm für eine Mutter abzwingen, die vielleicht ihr einziges Kind muß so verschandelt oder zugrund gerichtet sehen. Und von einer Hilfe für den armen Teufel von irgend einer Seite ist keine Red; höchstens die paar Schilling von der Krankenkasse, wenn er in eine eingeschrieben ist, sonst kann er ins Loch kriechen und aufs Ganze pfeifen. Nein, wie ich sag, so eine Schinderei und ewige Gefahr und dabei so einen elendiglichen Lohn, das gibt’s nicht bald wieder bei was immer für einem Stand .. . Prrrr!« rief er nach kurzem Weiterfahren, indem er sein Gespann zum Stehen zwang. »Ih, was hältst du denn da?« fragte Jens. »Mir ist eingefallen, wie ich an der Stelle da auch einmal ein Gespann vor dem Durchgehen bewahrt hab.« Und Per erzählte den Vorfall mit Kild Pejrsen und der Koppel Schafe, der sich zugetragen hatte, als er zum erstenmal in die Welt hinauszog. »Oh, was hat man nicht alles Schlimmes und Hartes durchgemacht seitdem!« schloß er und setzte den Wagen wieder in Bewegung.
»Wie ist dir’s denn neulich mit Hans Nielsen ausgegangen, denn da war doch gewiß das Feuer aufm Dach,« erkundigte sich nun Jens Laanum. »Ich hab die Kündigung für November gekriegt,« erwiderte Per. »I, was du nicht sagst! Was hast denn angestellt? Ja, der Nielsen Hans, das ist ein aufgeblasener Patron; der duldet nicht, daß eins muckt; und er hat auch alle die Großhänse auf seiner Seite, weil er sich aufs Knickern versteht. Wenn der von jedem halben Schilling, den er gibt, noch die Hälfte herunterbeißen könnt, er tät’s wahrhaftig. Das sind die Leute, wie die Großbauern sie gern auf den Vorsteherposten sehen,« meinte Jens. »Ja, möglich ist’s schon, daß ich zu scharfe Reden geführt hab. Aber die Galle ist mir aufgestiegen, und in dem Punkt bin ich ganz meinem Vater nachgeraten; es muß heraus, und ob man sich noch so schneidet!« »Wo willst du dir denn einen Platz suchen, jetzt, wo grad der Winter vor der Tür steht?« forschte Jens. Per erzählte, welche Pläne er für die Zukunft gefaßt habe; er wolle keinen festen Platz mehr annehmen, denn das mache seinen Mann immer zu einem Arbeitstier; lieber sich eine Stube mieten und sich als Taglöhner oder Akkordarbeiter ernähren. Da bleibe man sein eigner Herr, meinte er, und nehme nur so viel, als man ertragen könne. Er
wisse wohl, daß dem Taglöhner stets die schwerste Arbeit aufgehalst werde; um dem aber die Waage zu halten, wolle er sich nach verschiedenen im Wettbewerb ausgeschriebenen Arbeiten umsehen, Seebaggerungen, Straßenschotterungen und dergleichen. Des Winters würde er sein Brot in einer oder der andern Dreschtenne finden, des Sommers setze er sein Vertrauen in die großen Torfmoore, wo selten Mangel an Arbeit war. Er wollte sich eine feste Arbeitszeit einrichten und dann die Mußestunden zum Lesen und zur Erweiterung seiner Kenntnisse benützen; denn die Bücher lockten ihn nach wie vor; sie feuerten seinen Trotz an und boten ihm in der Phantasie, was ihm die Wirklichkeit versagt hatte. Im Alter von etwa achtzehn Jahren hatte er einen ernstlichen Versuch gemacht, in ein Seminar zu kommen. Der gutherzige Kild Pejrsen versprach ihm die ersten hundert Kronen. Kild suchte auch andre dazu zu bewegen, ihm ein Darlehen zu gewähren, und zwar mit der Begründung, daß Per gar geschickt im Singen wäre – was er ja von seinem Vater hätte. Auch Gydesen interessierte sich stark für den Gedanken und versprach, die Sache dem Pastor vorzutragen; doch an diesem scheiterte sie. Pastor Selig war nämlich der Ansicht, »daß es wahrlich nicht des Herrn Absicht mit uns Menschen entspreche, daß wir hin-
ausstrebten über den sozialen Rahmen, den sein Finger uns vorgezeichnet.« Als nun Gydesen ruhig darauf aufmerksam machte, daß ja auch er das Kind armer Leute sei und nichtsdestoweniger diesen Rahmen gesprengt und sich erkühnt hätte, die Hand nach einem erklecklich guten Lehrerposten auszustrecken, erwiderte der geistliche Herr: »Ja, aber Sie waren denn doch in einer christlichen Ehe von gläubigen, achtbaren Eltern geboren; das macht wahrlich einen bedeutenden Unterschied.« Und Gydesen, der wohl wußte, wie unmöglich es sein würde, ohne Befürwortung des Pastors etwas durchzusetzen, sah sich genötigt, Per mitzuteilen, daß er unter diesen Umständen nichts für ihn tun könne. So mußte sich denn Per die Sache aus dem Kopfe schlagen. Dies und verschiedenes noch erzählte Per Jens Laanum, bis sie zur Schmiede gelangt waren. Hier trennten sich ihre Wege. »Leb wohl, Per,« sagte Jens, »und laß dich weder von Hans Nielsen noch von seinen Kracken über’n Haufen rennen.«
AUF SÖLSIG Leichten Herzens zog Per aus Hans Nielsens Hof fort. Nur um die arme Dorre, die zurückbleiben mußte, tat es ihm ein wenig leid. Sie waren ja Schulkameraden gewesen, und der Zufall hatte es gefügt, daß sie unter so ziemlich gleichen Verhältnissen auf einem Hofe mitsammen dienten. Unter solchen Umständen kann es kaum anders sein, als daß ein bißchen Liebe aufkeimt. Sie sprießt so naturgemäß hervor wie Gras zwischen Pflastersteinen. Worin aber Per eine bloße nichtssagende Tändelei erblickte, das wurde von der massiven, schwerfälligen Dorre mit handfestem Ernst aufgefaßt. Jeder flüchtige Kuß in müßiger Sonntagsstunde, jede geringfügige Handreichung im Kuhstall oder auf der Wiese erschien Dorre weit vergrößert und
erregte Hoffnungen in ihr, an deren Erfüllung Per nicht dachte. An dem Tage, an dem er fortzog, kam sie herbei, ihm beim Aufladen seines Kleiderschranks behilflich zu sein. Bei jedem Schritt, den sie mit dem plumpen, unhandlichen Möbelstück tat, rannen ihre hellen, Tränen auf die bemalten Türen des Schranks. So schwere Leute wie Dorre weinen große schwere Tränen. Per blinzelte etwas verlegen nach diesen Tränen hinüber. Wenn man nur schon draußen war aus dem Hof, dachte er und strich ein Spinngewebe, dick wie ein Tau, von der Rückwand des Schrankes weg. »Hast ja versprochen, du nähst mir an der Weste eine Spange an; so laß ich die derweil noch da.« »Ja,« sagte Dorre, schon ein wenig getröstet bei der Aussicht, ihn bald wiederzusehen. . »Sonst hab ich jetzt wohl alles mit,« bemerkte er, noch einen letzten Blick in das häßliche Loch werfend, in dessen Rahmen sich die letzten Jahre seines Lebens abgespielt hatten und das ihm nun seinen Stallduft zum Lebewohl nachsandte. Bei Pers letzten Worten trübten sich die Augen der armen Dorre aufs neue. »Wie ich das nur aushalt!« stieß sie schluchzend hervor.
»Geh, red nicht so!« sagte Per. »Jetzt kommt ein andrer Knecht, der wird ganz gewiß grad so rechtschaffen zu dir sein wie ich.« »Wie du’s nur übers Herz bringst, Per, so was zu mir zu sagen. Du weißt doch recht gut, daß nur du in meinen Gedanken bist, früh und spät, und kein anderer.« »Aber hab ich dich denn je gebeten, auf solche Art an mich zu denken, Dorre?« »Ach Per, daß du doch immer so hart bist,« klagte Dorre unter einem neuen Tränenstrom. »Dann ist’s wohl nicht mit meinem Willen,« gab er zurück. »Aber ich denk mir nur, zuletzt ist man doch am wenigsten hart, wenn man ehrlich ist.« Sonderlich viel Worte wurden nicht weiter gewechselt. Dorre hielt die Schürze vors Gesicht und ging in den Kuhstall hinein, um ihrer Tränen Herr zu werden. Per rumpelte mit seinen ärmlichen Habseligkeiten aus dem Tor hinaus. Als er eine halbe Stunde später den Schrank vor Roys Tür vom Wagen hob, waren noch Spuren von Dorres Tränen auf seinem verstaubten Anstrich zu gewahren. So war denn Per nun gewissermaßen sein eigener Herr geworden. In einer einfachen Dachkammer in Roys Hause richtete er sich seine anspruchslose Behausung ein. Viel konnte er indes nicht daheim
sein, da er, um einen Unterhalt zu finden, sich beständig in der Gegend umtun mußte. Bisher hatte er nur das Leben auf den kleinern Gehöften kennen gelernt; fortan brachte er seine Arbeitszeit zumeist auf Sølsig zu. Hier lag der alte Wollesen, ein abgezehrtes, lallendes Gespenst, den größten Teil des Winters zu Bette, während seine geliebten Ratten um die Hausecken schlüpften und nach ihm schnüffelten. An einem sonnigen Tage des Vorfrühlings jedoch wankte er noch einmal an der Hand seiner Haushälterin in den Garten hinaus. Kissen und Schlummerrollen wurden gewohntermaßen vorn und hinten um ihn aufgetürmt, und, die Brotschüssel auf den Knien, begann er zärtlich seinen langschwänzigen Freunden zu pfeifen. Als die Haushälterin wieder hinausging, um nach ihm zu sehen, fand sie Wollesen auf der Erde liegend, die Nase in der irdenen Schüssel, während die Ratten kreuz und quer über seine Leiche sprangen und sich an den Brotbrocken in dem zerbrochenen Gefäß gütlich taten. Was außer der Arbeit Per nach Sølsig gezogen hatte, das war die Hoffnung, die Beziehungen zu Anna, die dort noch immer eine Art Mittelstellung zwischen Wirtschafterin und Stubenmädchen einnahm, wieder anzuknüpfen. Sie war jetzt ein vollerblühtes schlankes Mädchen mit einem stets bereiten Lächeln
gegenüber den Männern und ein Paar blitzenden braunen Augen für alle und jeden. Sie und Per hatten zwar nie die Verbindung miteinander abgebrochen, aber Per war in seiner Liebe allzu ritterlich beherrscht für die lebensvolle, mannesfrohe Anna, die immer lieber heute umarmt als morgen geküßt sein wollte. Als sich die Gerüchte von einem Verhältnis zwischen ihr und dem Verwalter hartnäckig behaupteten und auch Per nicht verborgen geblieben waren, hatte er seinem Herzen Kühle gegen sie abgerungen und eine Zeitlang ganz aufgehört, an sie zu schreiben. Doch brauchte er nur an einem Sommermarkttage ihre Schürze um eine Straßenecke wehen zu sehen, so flammte sein Herz wieder auf wie eine Schmiedeesse. Es war an einem Nachmittage auf Sølsig, da alle Hände vollauf damit beschäftigt waren, Heu von den großen Strandwiesen, die in breitem Bogen die übrigen Grundstücke umgaben, einzuführen. Per stand hemdärmelig mit entblößter Brust drinnen hinter einer der niedrigen Luken am Ostflügel des Hofes und hob im Schweiße seines Angesichts das Heu ein. Jens Romler reichte es ihm zu. Plötzlich stand Anna, geputzt und fein wie zu einem Erntefest, mitten in dem schiefen Rahmen der Luke und lachte.
»Soll ich dir für eine kleine halbe Stunde helfen kommen?« fragte sie, noch lauter lachend. Pers Herz schlug wie mit Hämmern bei der plötzlichen Erscheinung. Er warf einen Blick auf Annas weiße, frisch geplättete Schürze und ihre blankgeputzten, spitzen Knopfschuhe und ließ ihn zuletzt auf einem Bernsteinherzen ruhen, das vorn an ihrem schönen Halse golden leuchtete. »Fürchtest dich nicht, dich anzuschmutzen?« entgegnete er, indem er die Spinnweben auf seiner Mütze über dem Knie herunterschlug. »Ach, so ein herrliches, frisches Heu; was Schöneres kann’s doch bald nicht geben, als da hineinzutreten,« gab Anna zurück und reichte Per die Hand. Er mußte den Arm ganz um ihren Leib legen, um sie durch die Luke hineinzuziehen. »Ja, ich bin schandbar schwer, nicht?« sagte sie und bog sich hintenüber, daß Per auch den zweiten Arm zu Hilfe nehmen mußte. Ihre braunen Augen schlugen Funken aus den seinen beim Emporheben. »Darf ich da stehen?« fragte sie und stellte sich in die vorteilhafteste Beleuchtung. »Denn ich bin eigens gekommen, weil ich fleißig schaffen will,« fügte sie lachend hinzu, bohrte ihre drallen Arme in das duftende Heu und schwang es unter die Balken hinein, daß es pfiff. Bald röteten sich ihre Wangen wie Purpur unter der ungewohnten Arbeit, und sie
kicherte unaufhörlich und tuschelte und plauderte mit Per, der jetzt tiefer drinnen im Halbdunkel das Heu schichtete und niederstampfte. »Nein, wie ich gemerkt hab, daß heut das Heuen bei euch drankommt, da hab ich mich nicht mehr halten können; ’s ist mir immer als die allerschönste Arbeit vorgekommen, die eins nur verrichten könnt. Ah, wie das riecht! Grad wie wenn man einen frischen Rahmkäs anschneidet. Und dann bin ich ja, unter uns gesagt, allein daheim; unser Wirtschafter ist zum Pfarrhof hinunter; sonst hätt ich mich beileib nicht hergetraut.« »Na, mich freut’s gewiß, daß du mir helfen kommst!« »Meinst? Tut’s dich wirklich freuen?« neckte Anna kokett und lachte, daß das Bernsteinherz an ihrem Halse in die Höhe flog. »Ganz närrisch freuen,« versicherte Per mit unverhohlenem wohligem Grinsen. Nun fuhr der geleerte Heuwagen von der Luke weg, aber der folgende blieb diesmal aus. Als ein paar Minuten verstrichen waren, kam Jens Romler zur Luke hin und sagte: »Laßt euch nur schön Ruh, Kinder! Die Heufuhre hat umgeschmissen mitten am Wiesensteig, daß die andern Wagen nicht her und nicht hin können. Der Verwalter rennt mit seinem Stock um den Wagen rum und ist fuchsteufelswild. Können uns jetzt aufs
Warten einrichten; ich geh und verschnauf mich so lang.« Wie gelegen das käme, dachten die beiden auf dem Heuboden gleichzeitig und ließen sich auf dem Ellbogen in das knisternde Heu nieder. Eine Minute war alles so regungslos, daß man die Stille singen hören konnte. Anna brach zuerst das Schweigen. »Sag mir, Per, wie ist das gekommen, daß du eine ganze Ewigkeit nicht hast von dir hören lassen. Hast du dir vielleicht ein anderes Lieb angeschafft?« »Ja, eins von uns wird das wohl getan haben,« versetzte Per, indem er Anna scharf anblickte. »So glaubst auch du, was die Leute tratschen? Hätt dich für gescheiter gehalten,« erwiderte Anna. »Weshalb sollte denn das nicht wahr sein können?« sagte Per. »Der Verwalter, der gilt ja als ein gar stattlicher Mann. Er kann sich wie ein Graf anziehen, und die Kleider geben oft den Ausschlag, wenn eins bei den Dirnen Glück machen will.« »Ich kann’s gewiß gut leiden, wenn ein Mann sauber beieinander ist; aber alles ist das doch noch nicht,« gab Anna zurück. »Gewiß, und ich hab’s auch nicht begreifen können, daß du dich an einen binden magst, der nach jedem Kuhmensch grapst, das er nur in irgend eine dunkle Stallecke ziehen kann. Denn wahrhaftig, es ist im ganzen Sprengel nichts noch so Schmieriges, wenn’s
nur einen Rock anhat, daß er nicht damit vorlieb nahm.« »Siehst du jetzt nie mehr die Dorre?« fragte Anna, um den Kampf in Pers Lager hinüber zu spielen. »Ob ich sie seh? Freilich wohl; das ist ja nicht gut zu vermeiden, wenn man so viel herumkommt wie ich.« »Wo triffst du sie denn also?« »Wo! Mein Gott, an vielen Orten, in der Kirche, auf der Heide, und neulich, da war sie ja mit draußen am Moor, Torf wegführen.« »Daß sie dich schrecklich gern mag, das ist doch wohl gewiß,« bemerkte Anna, indem sie ihn forschend anblickte. »Ja, das glaub ich selber auch, aber das macht’s doch noch nicht aus. Die Dorre ist ja gewiß ein herzensgutes Mädel. Und treu möcht sie einem sein, das ist doch mit eine Hauptsache,« sagte Per, doch als er Annas Verwirrung bemerkte, fügte er hinzu: »Aber sie ist nun einmal nicht nach meinem Gusto, und was hilft dann alles?« Wieder folgte ein kurzes Schweigen. Auf einmal fühlte Per Annas Hand auf seiner Schulter. »Per,« sagte sie innig, und aus ihren braunen Augen schossen die gefährlichsten Flammen. Wie Feuerglut durchzuckte es Per. Er ergriff nun auch ihre andre Hand, die ihm auf halbem Wege
entgegenkam. Annas geschmeidiger Leib wand sich ihm über das süßduftende Heu entgegen, indes das Bernsteinherz an ihrem Halse wie ein Glöcklein klimperte. Das Schweigen huschte mit tuschenden Tritten über die Bohlen hin. Der Schatten verkroch sich längs der kreuzförmigen Eichenpfosten, die das Dach wie mit sehnigen Armen stützten. Die Motten schlugen sich ihr bißchen Verstand an den wurmstichigen Sparrenbäumen aus, während die Spinnen sich aus Langeweile am Hahnenbalken aufhängten und trag an ihrem selbstgedrehten Faden baumelten. Hie und da rieselte etwas Wurmmehl oder eine Schuppe von den Flügeln einer Motte auf Annas glühende Wange nieder, und ab und zu ließ sich ein scharfes »Kvivit« vernehmen, wenn das Schwalbenmännchen auf langen Umwegen in seinem Nest auf der obersten Latte anlangte; sonst war ihr Glück von allen irdischen Mächten ungestört. Als sie wieder das Rasseln der Anhaltketten und das Knarren des Sielenzeugs jenseits der Hausecke vernahmen, sprang Anna leicht und elastisch aus der Luke und verschwand mit ihren kleinen Knopfschuhen hinter dem Fachwerkgiebel. Die Heueinfuhr war längst vorüber. Der Mitternachtsmond schwebte in einer gelbgrünen Glorie von fallendem Tau. Die Wasserläufer zogen einsam – wie ein Zug von Nachtgespenstern – zwi-
schen den schilfumwachsenen Furten hin. Von den Heuschobern und dem fernen betauten Strand strich der Duft über das Winkel- und Gatterwerk des Herrenhofs hin. Per fand keine Ruhe inmitten der rohen Stallstände je für zwei und zwei drinnen in der Knechtekammer. Er ging hinaus hinter die weißgetünchte Scheuer, um dort dem Glück nachzusinnen, daß er heute Anna besessen. So liebte sie doch nur ihn und dachte nur an ihn. Was die Leute doch für ein schmähliches Pack waren! Von nun an würde er jeden zu Boden schlagen, der sich die Lügengeschichten, die eine Zeitlang ihn so unsäglich beunruhigt hatten, wieder aufzutischen unterstünde. Gab es wohl in der ganzen Gegend ein Weib, das sich an Schönheit mit Anna zu messen vermochte? Konnte sich selbst ein Gutsfräulein anmutiger gebärden und gehaben als sie? Wie voll Wärme und Innigkeit sie war, wie es berauschte, ihren Arm streicheln zu dürfen. Wie ihre Lippen dufteten, gleich einem frisch gepflückten Apfel. Und dann, wie herzig sie den Mund spitzte, bevor sie ihn zum Kuß hinhielt. So – – Per ließ unwillkürlich seine Lippen Annas Kunst nachahmen, und sein Blut erhitzte sich immer mehr und mehr an dem süßduftenden Traum seines HeuAbenteuers.
So ging er eine Zeitlang auf und nieder, eine Beute seiner Leidenschaft, als er plötzlich mitten im Gehen innehielt und lauschte. Kam nicht jemand durch die Gattertür? Der Verwalter! War der Unhold noch immer auf? Vielleicht, daß er wieder einmal auf Stallmägde-Jagd aus war. Es verlohnte sich doch einmal zu schauen, wessentwegen er da eigentlich herumschlich. Per glitt hinter den Stamm einer alten Ulme, die vor der Schmiede stand. An dem Wirtschaftsgebäude, das sich links vom Hofe hinzog, blieb der Verwalter stehen und glotzte um die Ecke. Er hatte das Aussehen eines fünfundzwanzig- bis dreißigjährigen Mannes und trug eine kurze Joppe mit einem Gurt. Seine blanken Stiefel glitzerten im Mondenschein. Ein so großer Geck er war, der beständig mit Daumen und Zeigefinger an seinem widerspenstigen Schnurrbart zwirbelte, hatte ihn Per doch nie anders als die Beinkleider beschmutzt mit Hundehaaren gesehen. Per war kaum einen Augenblick hinter dem Baume gestanden, als er abermals Schritte hörte, ein leichtes, elastisches Trippeln und Trappeln. Eine barhäuptige Frauensperson kam eilig von der entgegengesetzten Seite, als wäre sie durch den Garten gegangen. Per hatte das Gefühl, als würde ihm mit einem Male mit dem Stiefelabsatz auf die Herzgrube getreten. Herr Jesus, das war ja Anna, seine Anna, die
einen Augenblick zuvor ihm ewige Liebe und Treue geschworen. »Hast du nicht gesehen, ob er auf ist?« hörte er den Verwalter fragen. »Nein, es ist finster drin in der Knechtekammer, da liegt er gewiß schon längst und schläft,« erwiderte Anna. Nun legte der Verwalter seinen Arm um ihren Leib, und es sah aus, als ob er sie sachte vorschiebe nach der offenen Luke an der Wand, aus der ein starker Duft getrockneten Heus in die helle Mondnacht hinausströmte. Als die Luke erreicht war, faßte der Verwalter Anna mit der flachen Hand um Lenden und Knie und hob sie in die Öffnung hinauf. Ihre weiße Schürze wehte wie eine Flamme in dem frischen Luftzuge. Der Verwalter kroch nach. Seine breiten Stiefelkappen schabten beim Hinanspringen die getünchte Lehmwand stark ab. Per war fahl wie ein Gespenst geworden. Seine Hände zitterten vor Verlangen, etwas zu ergreifen und nach dem offenen Loch in der Wand zu schleudern, durch das sein irdisches Glück ihm entwichen war. Wie, wenn er die Forke da packte, hineinspränge und sie beide mit einem einzigen Stoß durchbohrte? Sie lagen jetzt vermutlich recht bequem dazu da. Seine Faust hatte den Schaft der Heugabel schon fest umfaßt; er schüttelte sie zähneknirschend wild in der Luft, schleuderte sie dann aber in großem Bogen von
sich, daß sie weit drinnen auf dem Brachfelde mit den Zinken steckenblieb. Halb von Sinnen rannte er aufs Feld hinaus, fort vom Hofe; hier warf er sich auf einen Heuschober und schluchzte. Seit zehn Jahren hing nun sein Herz an diesem Mädchen wie an einem Heiligtum. Sie war die Sonne in seinem grauen, freudlosen Knechtsleben. Ein kleiner unbedeutender Brieffetzen von ihr hatte ihn zehnmal so leicht den Pflug ziehen lassen; ja, es brauchte nur einer seiner Arbeitsgenossen zu erzählen, daß er ihr begegnet sei, so weitete sich seine Brust in pochendem Glück. Und er hätte für den Bringer der Nachricht tun können, was nur immer. Und jetzt lag sie da drinnen hinter der weißen Mauer und ließ sich ans Herz drücken von diesem Lotterbuben, der, wenn sie nicht gewollt hätte, in seiner brünstigen Begehrlichkeit selbst mit der ältesten buckligen Pfründnerin vorlieb genommen hätte. Wieder schoß der Gedanke an Rache in seinem Gemüt auf. Wie, wenn er nach Haus liefe und den alten Vorlader holte, der in der Knechtekammer hing – sie schossen beim Herbstpflügen die Möven damit – und einen blinden Schuß in die Luke hineinfeuerte, um alle Geister der Hölle um sie zu wecken. Obgleich, wozu blind schießen? Lag denn nicht ein ganzer Beutel Schrot und eine Menge Zündhütchen auf dem Fensterbrett? Warum ihnen da nicht an der
Ecke auflauern, bis sie sich satt geherzt, und sie dann beide hintereinander niederknallen? Wie er brüllen würde im Tode, der feige Frauenräuber! Und sie – – Anna – – nein, nein! Mörder um einer Metze willen! So weit durfte es nicht mit ihm kommen! Aber hinaus sollte sie aus seinem Herzen, hinaus! hinaus! Hinausgescheucht werden wie eine schmutzige Sau, die sich in einem unbewachten Augenblick in eine frischgefegte Putzstube eingeschlichen. Jede Erinnerung an sie sollte mit der Wurzel ausgerissen werden, wie man am Dachgiebel Kletten ausreißt und in den Straßenkot schmeißt, daß Ochsen und Pferde sie zertreten. Wo war das Bild, das sie ihm heute nach der Schäferstunde in die Hand gesteckt hatte? Er tastete in die Tasche hinab. Da! da! Mit dem Knöchel der geballten Faust schlug er ihrem Bild ins Gesicht. Er riß es entzwei, wie ein betrogener Spieler eine falsche Karte zerreißt, und schleuderte die Stücke weit von sich. Allmählich ging sein wilder Zorn in Trauer und Wehmut über. Das drückende Bewußtsein bemächtigte sich seiner, daß er nie imstande sein würde, Anna zu vergessen. Den Schaft konnte er vielleicht herausbrechen, aber der Stachel, die Spitze, würde in seinem Herzen festsitzen bis an sein Lebensende.
Anna, Anna! Er bohrte sein Gesicht in das knisternde Heu und schluchzte; doch überall stand sie vor ihm da, schlich sie ihm mit Küssen und Liebkosungen nach, wie heute am Heuboden. Könnte er sie nicht noch einmal der wüsten Umarmung dieses verfluchten Menschen entreißen und sie wieder an sein blutendes Herz legen? Hatte er nicht unrecht getan, ihr Bild zu zerreißen? Wo waren die Fetzen? Er kroch im Grase umher, daß der Tau ihm durch die Hose hindurch die Knie näßte, und jedes Stückchen des Bildnisses sorgsam aufklaubend, fügte er dieses in seiner hohlen Hand zusammen, kehrte es dem Mondlicht zu und starrte weinend die zerfetzten Teile an. Du lieber Gott, ein Riß hatte beide Augen verunstaltet. Seine starke Gemütsbewegung machte ihn endlich schwer und schläfrig, und ehe er sich’s versah, hatte der Schlaf ihn übermannt. Als er wieder erwachte, war es weit über Mitternacht. Der Mond hatte seinen Zauberring gesprengt und war um ein großes Stück weiter nach dem Westhimmel gerückt. Die Sterne standen bleich und flimmerten mit ihrem kalten Licht. Per fröstelte es in seinem dünnen Arbeitskittel, er fand seine Mütze im Heu und wendete sich langsam wieder heimwärts, dem Hofe zu. Er griff in die Tasche nach der Pfeife, sie war nicht drin. Hatte er sie vielleicht in dem Heuschober lie-
gen lassen? Nein, er besann sich, daß er sie wohl beim Abendessen drinnen in der Gesindestube in die Bankecke gestellt. Da wäre es wohl am besten hineinzugehen und nachzuschauen, damit nicht jemand anderer sie nehme. Er rieb ein Zündhölzchen an und trat über die Schwelle in den großen offenen Raum; ein halbes Dutzend Ratten kugelten über Hals und Kopf über die schwankenden Dielen hin und verschwanden in den Löchern der Winkel wie die Kugeln auf einem Billardtisch. Per fand auf einem Leuchterknecht ein Kerzenstümpfchen, das er anzündete. Das Licht warf einen trüben Schein über die von Schweiß- und Speisedünsten dunkel und klebrig gewordenen Wände. Wie Per sich durch das Zimmer bewegte, zog sich der Lichtstreifen ruckweise über den mächtigen grauen Eichentisch hin, an dem es nicht einen Quadratzoll gab, der nicht bedeckt gewesen wäre von Zoten und unflätigen Zeichnungen, in müßigen Stunden mit dem Schnitzmesser eingegraben. Per hatte jetzt seine Pfeife gefunden und schon den Mund gespitzt, um das Lichtlein auf dem Leuchterknecht auszublasen, als er ein torkelndes Holzschuhgeklapper vernahm. »Guten Abend! – Na, du bist’s Per, ich hab schon gebangt, daß es Diebe sein möchten,« scholl jetzt eine schläfrige, schnaufende Stimme in der Gangtür.
Es war einer der Kuhhirten des Hofs, der den Spitznamen »Pipihendel« hatte. »Lösch das Licht noch nicht aus, ist vielleicht noch ein Tropfen Bier im Krug; meine Kehle ist ganz ausgedorrt.« Per guckte in die Kanne. »Ja, ein Tropfen ist noch drin; aber das Bier ist ja abgestanden.« »Macht nichts, Per, es löscht deswegen doch den Durst.« Das Pipihendel trank, als wäre ihm seit vielen Tagen keine Flüssigkeit durch die Kehle geronnen. Als er getrunken, versuchte er seinen nassen, hängenden Schnurrbart abzutrocknen, aber er vermochte nur seinen schweren Zeigefinger in einem Viertelkreis unter die äußersten Haarspitzen hinzuführen. Seine Augen lagen wie ein paar Löffel in seinem Kopfe. Ki, ki, ki, lachte er durch die Nase, auf eine der zotigsten Einkerbungen auf der Tischplatte deutend. »Das sieht schon beinah so aus, wie wenn man an einem gewissen Ort war!« »Ja,« sagte Per, »man sollte meinen, da sitzen alle Tage Schweine zu Tisch.« »Und das liebe Vieh tat ihnen aufwarten,« ergänzte das Pipihendel. »Es ist noch keine zwei Jahr her, daß sie ihn abgehobelt haben, aber jetzt hätt er den Hobel schon wieder nötig. Dann blieb aber, meiner Seel, nicht mehr viel davon übrig. Sie haben ihn so schon beinah durchgeschnitzelt. Aber, Sackerment, jetzt
müssen wir hinein zu der Lustbarkeit drüben bei den Weibsleuten. Denn heut nacht tun sie anständig mithalten. Die Graue Luzie, die ist dir eine Pracht.« Per hieß ihn sich zum Teufel scheren. »Geh, laß dich nicht auslachen. – Das war! Mit mußt du! Red nichts weiter. Wir kriegen Branntwein, so viel als nur hinuntergeht. Alle haben wir zusammengeschossen, dem Jakob seinem Geburtstag zu Ehren; willst du nicht Kam’rad sein mit uns andern? Der Verwalter, sagen sie, ist nicht zu Haus; da soll’s fidel hergehen. Das war, daß du nicht mitkämst. Jetzt soll’s einen Hauptspaß geben. Die Graue Luzie, das ist eine!« Per antwortete, er würde schon nachkommen. Wieder strich er hinter der Scheune hin und her, um mit seinem Kummer allein zu sein. Jetzt vernahm er rohes Gebrüll und Gelächter, das aus dem Melkerinnen-Häuschen herüberdrang, einem Anbau hinter dem Viehstall, aus dem ein Eingang hineinführte. Dort also halten sie das Gelage ab, dachte Per, es wäre doch nicht so übel zu wissen, wer dabei ist und was sie treiben. Er trat an die Mauer heran, um einen Blick durch die Fenster zu tun. Bald hatte er eine Stelle gefunden, wo er unbemerkt stehen konnte, dort hinter der Jauchenpumpe, die einen schweren Schatten über die schmutzigen Scheiben warf. Die Pumpe war so
widerlich, daß selbst ihr Schatten einem verpestet schien. Unmittelbar vor dem Fensterrahmen breitete sich ein großer Ampferwald, durch dessen Mitte ein festgestampfter Steig lief und zu dem einzigen Fenster der Mägdekammer führte, das bewegliche Angeln hatte. Das war ein Liebespfad, ausgetreten von nächtlichen Buhlen, teils aus dem Hofe selbst, teils aus der bäuerlichen Nachbarschaft. Per sah, daß diese Nacht die Besucher ausschließlich die Schnitter des Hofes waren, meistens ledige Leute, doch auch ein paar Familienväter, die sich von dem geliebten Branntwein hatten locken lassen. Er kannte nur zu wohl diese Hölle hier, die zwölf bis vierzehn Feldarbeiterinnen zur Nachtherberge diente. Von allen Gesindehöhlen, die er in seiner ganzen langen Dienstzeit gesehen hatte, war diese unbedingt die ärgste. Im Vergleich hierzu war der Jammerraum mit den schmutzstarrenden Doppelbetten, der die Knechtekammer des Hofes hieß, noch erträglich zu nennen; denn hier in der Mägdekammer war es nicht damit abgetan, daß je zwei in ein Bett gelegt wurden (wenn man nicht zu dritt, ja zu viert drin lag, wovon dann natürlich zwei mit Amors Partout-Billett versehen waren, Eingang durchs Fenster), man hatte, um Platz zu ersparen, zwei Reihen Betten wie die Borde in der Milchkammer übereinander angebracht. Um
in die obern zu gelangen, mußten die entkleideten Frauen über eine Leitertreppe steigen, an der stets eine oder mehrere Staffeln fehlten und die von Bett zu Bett geschoben wurde, je nachdem seine Insassen mit dem Entkleiden fertig waren. Der Platz dort oben unter der undichten Bretterdecke war in jeder Beziehung schrecklich, besonders in den heißen Sommernächten, wenn der Gestank des üppig gefütterten Viehs drinnen im anstoßenden Kuhstall und der schwüle Atem der andern Schläferinnen schwer wie eine Stürze über dem Gesichte lag. Daher wurde immer den zuletzt Gekommenen der Platz dort oben angewiesen, während die länger im Hofe Bediensteten sich der untern Lagerstätten bemächtigten. In diesem Paradox von einem Schlafzimmer saßen nun an diesem Abende zehn bis zwölf Kerle beisammen und machten sich’s bequem. Sie mußten zu recht später Stunde hier eingedrungen sein, denn alle Frauenzimmer lagen in den Betten, obwohl es mit dem Schlaf en schlecht bestellt war. Jeden Augenblick wälzte sich eine Flut von rohem Männergelächter, in das sich ab und zu schrilles Weibergekreisch mischte, aus dem offenen Fenster wie aus einer Schleuse hervor und erschütterte die kühle Nachtluft. Von den Mannsleuten spielten die meisten Karten. Einige Mistbretter waren aus dem Viehstall her-
eingeholt und von Bett zu Bett über den schmalen Mittelgang gelegt worden. Wer hier den Trumpf auf den Tisch schlug, dem blieb ein Siegel an den Knöcheln, das etwas ausgab. Da der Einsatz aus größern und kleinern Liebesgaben bestand, die ohne viel Federlesens sofort zur Einhebung kamen, wurde das Spiel ringsumher von den Betten mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit verfolgt. In den Winkeln schillerten allenthalben Branntweinflaschen, deren offener Hals, so weit ihr herber Odem reichte, allen andern üblen Geruch verdrängte. Sie wurden fleißig zwischen den Betten und über die schmutzigen Spieltische hin und her gereicht; und so oft sie wieder an ihren Platz zurückgestellt wurden, machten die Hände Abstecher bald da, bald dorthin. Die geleerten Flaschen wurden als Leuchter benützt. Zuweilen geschah es, daß, gerade als einer der Spieler sein umnebeltes Gehirn am meisten anstrengte, um die beste Lösung für die schwierige Aufgabe des Ausspielens zu finden, ein nackter Fuß sich aus einem der Betten streckte und sich ihm mit solchem Nachdruck auf den Nacken setzte, daß alle seine Kartenhäuser über den Haufen flogen. Nun schien man der Karten müde zu sein; denn unter wahrem Heidenlärm wurden auf einmal alle Tische umgestürzt, wodurch auch ein Teil der Lichter umfiel und verlöschte.
Noch waren indes so viele übrig geblieben, daß man zur Not unterscheiden konnte, was in dem Loche vorging: das Bettzeug wurde unter Geheul an die Decke geworfen, nackte Frauengestalten leuchteten wie Fahnen durch das Halbdunkel, betrunkene Männer schwankten und taumelten von Bett zu Bett, Gekreisch und Flüche durchschnitten unaufhörlich die schweigende Nacht. Plötzlich scharten sich die Männer in einem dichten Knäuel mitten in der Höhle zusammen. Eine spannende Wette war eingegangen worden. Die Graue Luzie, ein ältliches, beleibtes Frauenzimmer mit einem Nacken wie ein Yorkshire Eber und einem Muttermal auf der rechten Wange, sollte im tiefsten Negligee, eine volle Branntweinflasche zwischen den Zähnen, die Leitertreppe emporsteigen, das heißt die Flasch einzig am Stöpsel mit den Zähnen festhalten. Glückte ih der Versuch, dann sollte die Flasche ihr gehören, wo nicht sie nach bestem Können Buße zahlen müssen. Dieses Experiment sowohl wie die nachfolgenden löste; sich in Gewieher und Getümmel und Faustkämpfen auf. Auf einmal wurde die fahle Dämmerung von herzbrechendem Weinen und Klagen zerrissen. Per erhob sie auf den Zehen und lauschte atemlos. Das war nicht der geheuchelte Feuerlärm einer durchtrie-
benen Metze; es war ein junges Weib, das jammernd und flehend um seine Unschuld rang. Per entsann sich sofort eines stillen, blassen Mädchens einer Häuslerstochter, die vor etwa einer Woche auf der Hofe aufgenommen worden war und all die Zeit mit seltsam scheuen Augen das wilde Leben um sie her beobachte hatte. Zugleich erinnerte er sich, eines Tages auf der Wies Jakob, den bösen Geist seiner Kinderjahre, der nach zahl reichen in den verschiedensten Strafanstalten verbüßten Abstrafungen hier gelandet war, mit noch einem Buben rat schlagen gehört zu haben, wie sie diese Jüngstangekommen unter den Schnittermädchen »in die Arbeit« nehmen könnte. In einem Nu verließ Per seine passive Stellung hinter der Pumpe und schwang sich mit einem geschmeidigen Sprung durch das offene Fenster hinein. Da sah er nun ein wogendes Gedränge taumelnder Männer vor sich, die schallend lachten, schluchzten und sich auf die Schenkel schlugen, während die Angstrufe nochmals durch den verpesteten Raum schallten. Pers Miene wechselte und verdüsterte sich wie ein Teich im Sturm. Er erinnerte sich jäh des Tags in seiner Kindheit, da er in der Knechtekammer des Nørhofs wider drei rohe Menschen für seine Unschuld gekämpft hatte. Blitzschnell stand er mitten in der Schar.
»Was macht ihr da! Gibt’s keinen unter euch, der Töchter hat und nicht möcht, daß sie niedergetreten werden?« Bei diesen Worten krochen zwei, drei verheiratete Taglöhner zur Seite. »Weg von dem Bett da, zum Satan!« Mit diesem Ausruf fegte Per noch einen Haufen berauschter Männer mit einer Kraft weg, daß ihre Holzschuhhacken hohl an die Bettpfosten schlugen. In einem Satze war er auf der Leitertreppe, die an einen der obersten Alkoven, aus dem die Hilferufe drangen, gelehnt stand. Hier versuchte Jakob mit Faustschlägen und derben Griffen den letzten Widerstand eines jungen, halbentkleideten Mädchens zu brechen. Mit einem Riesengriff riß Per den Banditen über den Bettrand zurück; dessen Körper fiel wie ein Sack Knochen zu Boden. »Mach fort!« schrie Per und versetzte ihm einen wuchtigen Fußstoß in die Hüfte. Jakob krümmte sich auf dem Boden wie ein Dämon der Finsternis. Seine Gesichtszüge waren wie ausgerenkt. Im Nu hatte er sich in die Höhe gereckt und schoß wie eine Natter auf Per. Die Hand umklammerte den Hirschhorngriff eines Schnappmessers. Unter den Umstehenden ertönte wirres Rufen. In derselben Sekunde hatte Per Jakobs Handgelenk ergriffen,
und nachdem die blinkende Klinge sich einige Zeit in wilden Zickzacklinien über den Köpfen der beiden Ringenden bewegt hatte, fiel das Messer mit dumpfem Klirren zu Boden. Per knickte Jakob wie dürres Reisig nieder und gerbte ihm weidlich das Fell. Jakobs Kameraden begannen zu murren. »Oh,« meinten die andern, »laßt sie nur raufen, laßt sie fortraufen und ihren Streit ausfechten, solang nur keins von ihnen ein Messer zieht.« Mit heftigem Gepolter wurde nun die Stalltür aufgerissen, und erhitzt und atemlos kam der Verwalter in die Kammer gestürzt. Alle die halbnackten Frauenzimmer schlüpften eilends unter die Bettdecken. Auch die Taglöhner hätten alle und jeder sich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen. »Hölle und Teufel! Was ist das hier für ein Tanz? Liegt ihr da und hurt und rauft und stört die Melkkühe in der tiefen Nacht in ihrer Ruhe? Wollt ihr jetzt gleich aufhören, ihr besoffenen Schweine, wenn euer Verwalter es euch befiehlt? Oder, hol mich der Henker, ich werde es euch weisen.« Bei diesen Worten versetzte der Verwalter Per einen kräftigen Fußstoß in die Weichen. Per ließ Jakob sofort los und stand nun mit flammenden Augen aufgerichtet vor dem Verwalter. Mit einem herkulischen Schlag pflanzte er ihm die geballte Faust mitten ins Gesicht.
Der Verwalter stürzte wie ein Klotz zu Boden. In seinem Bestreben, sich wieder aufzurichten, geriet er mit dem Oberkörper unter eines der hohen Betten, so daß nur seine Beine frei blieben. An den Stiefelspitzen, mit denen er um sich stieß, haftete noch der Kalk von seinem Sprung in die Luke. Per hatte nun leichtes Spiel mit seinem Feinde, und er ließ sich den Vorteil nicht entgehn. Keine Fiber des hier unter ihm zitternden, brunstverzehrten Leibes, die er nicht hätte töten mögen. War er nicht in seinem guten Recht, wenn er ihn erwürgte, der ihm mit demselben Fuß einen Tritt versetzt hatte, mit dem er die einzige Glücksblüte seines Lebens zertreten? Instinktmäßig fuhr er dem Verwalter an die Gurgel, und nur durch gewaltsames Zurückwerfen des Nackens, wobei er sich die Stirn an den morschen Bodenbrettern blutig schlug, glückte es diesem, seinen Hals zu befreien. Das rettete ihn aber noch nicht vor Pers rächenden Händen. An seiner grauen doppelreihigen Joppe hing noch, leicht kenntlich, ein Hauch des Dufts, der Anna stets umgab; er stachelte nun Per zur wildesten Heftigkeit auf, und seine Faust fiel wie ein Schmiedehammer auf das verwünschte Herz nieder, das da drinnen unter dem grauen Wams schlug. Während des Ringens der beiden hatte Jakob sein Messer wiedergefunden, das er nun gegen den Rücken des knienden Per schwang; obgleich einer
der Nächststehenden den Hieb abzuwehren suchte, drang er doch tief unter Pers rechtes Schulterblatt ein. Im selben Augenblick ertönte ein geller Schrei aus dem obern Alkoven. Das mißhandelte junge Weib hatte von dort oben mit angstvollen Blicken den Kampf verfolgt. Als sie nun den tückischen Jakob mit dem wiedergefundenen Messer auf ihren unbeschützten Retter zustürzen sah, fühlte sie gleichsam etwas nachgeben in ihrem Gehirn, und halbnackt wie sie war, nur mit dem Hemde und einem kurzen Rock bekleidet, warf sie sich von dem hohen Alkoven herab, sprang aus dem offenen Fenster, jagte durch den Ampferwald und weiter hinaus über die taugrauen Fluren hin. Jeder Rest von Rausch war aus dem Bewußtsein der Männer beim Anblick des Bluts, das aus Pers Wunde quoll, verweht. Und nachdem man den tobenden Jakob übermannt und gebunden hatte und der durchgebläute Verwalter kleinlaut und verlegen wieder auf die Füße zu stehen gekommen war und Auftrag gegeben hatte, eilends um Arzt und Vogt zu fahren, setzte eine Schar der Behendesten der flüchtenden Brigitte nach. Doch keiner vermochte die Unglückliche einzuholen, die auf den Schwingen des Wahnsinns dahingetragen wurde. In bloßen Beinen, die im Lichte des anbrechenden Tages schimmerten, den groben Rock über das biegsame, leicht schup-
pige Knie gehoben, lief sie wie ein Reh, das, in öden Gefilden verirrt, nirgends Rettung sieht, lief und lief mit jener übernatürlichen Leichtigkeit, die nur der Wahnsinn verleiht. Zaun und Stachelhecken hinderten sie so wenig wie die fliegenden Fäden des Altweibersommers. Über Klüfte, die keine irdische Macht sie früher hätte bewegen können zu überspringen, flog sie jetzt wie eine Schwalbe. Der Wahnsinn trug sie über Gräben und Hecken, über Sumpf und dampfende Steppe, wo der gelbe Ocker den Fuß mit Rost bedeckt, trug sie hinein in Nebelschwaden und wieder hinaus, hinein und hinaus, sie immer heftiger und heftiger fortwirbelnd, hin zu dem dunkelblauen, morgendlich gekräuselten rettenden Fjord. Als die Männer hinzukamen, lag sie auf dem Spiegel des Fjords wie ein weißer flügellahmer Vogel. Sie trugen sie an den Strand, ihre schlaff herabhängenden bloßen Arme hatten blaugrüne Flecken von den umklammernden Händen des Gewalttäters, und von ihrem linken Fuß träufelte Blut aus einer Wunde, die ihr die scharfe Klinge des Riedgrases gerissen hatte. Sie wälzten sie im nassen Grase, das Haar löste sich und fiel über den Mund; plötzlich hoben sich die blonden Locken von ihren schweren Atemzügen. »Ach, warum laßt ihr mich nicht sterben?« Doch sie achteten ihrer verzweifelten Bitten nicht. Alles, was des Fjords war, mußte sie wiedergeben.
Nur ihre Augen flackerten fortan, so lange sie lebte, unruhig wie kleine sich kräuselnde Fjordwellen, nicht wissend wo aus noch ein.
FEUER Der Vorfall mit dem Messerstich zog insofern für Per keine gefährlichen Folgen nach sich, als er schon nach einem Krankenlager von einer Woche sich wieder ins Zeug legen konnte. Hingegen hatte er die nachteilige Wirkung, daß Sølsig sich ihm als Arbeitsmarkt verschloß. Und da seine Existenz als Taglöhner in hohem Grade davon abhängig war, was er auf diesem einzigen Herrenhof der Gegend verdienen konnte, so mußte er schließlich die Hoffnung aufgeben, auch weiterhin als »freier Mann« zu leben. So sah er sich denn neuerlich nach einem Platz als gewöhnlicher Knecht um; doch, siehe da, es zeigte sich, daß die Bauern der Umgebung nicht mehr so recht den Mut hatten, ihn in Brot und Lohn zu nehmen. Pers freimütige Kritik der Verhältnisse, unter denen er und seine Standesgenossen leben mußten,
hatte überall gleichsam einen Schatten vor ihm hergeworfen. »Ich weiß recht gut, daß du ganz gehörig rackern kannst,« sagte einer der vielen, bei denen er wegen eines Dienstes anklopfte, »das ist’s nicht, was dir bei mir im Weg steht; aber ich dulde nun einmal nicht mehr als eine Kommandostimme hinter meinen Hecken und Pfählen, und die eine, das ist die meine!« Überall wurde es ihm zum Vorwurf gemacht, daß er soviel Umgang mit Roy pflegte: »Denn das weiß doch ein jeder,« sagte man, »daß der der eingefleischteste Sozialist ist, der einem nur vor Augen kommen kann. Er spekuliert auf nichts andres, früh und spät, als wie er die Leute aufhetzt und Malheur und Spektakel anstiftet.« Per beklagte sich bei Kild Pejrsen darüber, daß er überall mißliebig geworden, obgleich er sich bewußt sei, stets nur eines jeden Recht zu wollen. »Ja, mein liebes Kind, ich hab es von je gewußt, wohin der Wind über kurz oder lang dich treiben wird. Aber, was Teufel, braut ihr da auch jetzt zusammen? Einen »Dienstboten-Schutzverein,« so nennt ihrs doch, nicht? Das ist ja doch ein Wort, womit eins den Fuchs aus seinem Bau jagen könnte. Ist das deine Erfindung oder hat der Roy den Speckkuchen in die Pfanne geschlagen?«
»Oh an dem Verein, da hat wohl der eine denselben Anteil wie der andre,« erwiderte Per. »Na, sei so gut, aber wie könnt ihr denn nur so blöd sein und euch einbilden, daß so was geht,« rief Kild heftig. »Das heißt doch den Bauern das größte Mißtrauen zeigen, das sich nur denken läßt. Wenn man die Tiere beschützt, das ist wieder eine andre Sache, weil das Tier nicht für sich reden kann; das Gesinde aber, das man hat, das leidet an so einer Krankheit nicht, das bringst du, soll mich der Deibel holen, um keinen Schritt weiter, als es selber will.« »Wie kannst du nur als ein rechtschaffen denkender und achtbarer Mann so daherreden, Kild,« begann Per mit bebender Stimme; denn es gereichte ihm zu wirklicher Betrübnis, den Mann, für den er so aufrichtige Wertschätzung hegte, über das, was ihm Herzenssache war, so beschränkte Ansichten äußern zu hören. »Weißt du denn nicht grade so gut wie eins von uns, wie elendiglich der Dienstbote allerwärts dran ist? Winziger Lohn, lange Arbeitszeit, eine Unterkunft, daß Gott erbarm, kein Recht nach keiner Seite hin, nichts als Aussicht auf Plage und Armut, so weit eins nur vorwärts denken kann – wir haben ja schon so oft darüber geredet. Kannst du im ganzen Land Menschen finden, die einen stärkeren Grund hätten, sich zurückgesetzt zu fühlen? Ich wüßt nicht, wer ihn sonst hätt – – –. Und daß du so gar nicht einsehen kannst, was da alles zu Grund geht, ohne
einen Nutzen für irgend ein Menschenkind! – Denn sind die Bauern dadurch besser dran, daß wir niedergehalten werden? Können andre als Dummköpfe und kurzsichtige Menschen glauben, es läßt sich auf die Länge ein Glück bauen auf andrer Unglück? Schau dir einmal einen Mann an wie meinetwegen den Nørhofer Bertel. Er ist der reichste Mann in der ganzen Gegend, aber da er selber um nichts mehr schafft als die andern, so kann ich mir nur denken, seine Leute sind’s, denen er seinen Reichtum zu verdanken hat. Und wie behandelt er sie dafür?« »Nein, der Bertel,« stimmte Kild bei, »der ist ein rechter Schofel und der niederträchtigste Schmutzian, mit dem man zu tun haben kann; da bin ich wahrhaftig ganz deiner Meinung; hätte um die Welt nicht dem sein Untergebener sein wollen. Solche Leute wie er, die jeden Quark noch vierteilen möchten, um an allen Enden den letzten Tropfen auszupressen, stehen gewiß bei mir nicht hoch angekreidet.« »Da siehst du es also!« rief Per. »Ein Quengler ist er, der seine Leute hinten und vorn schikaniert, und gegen sich selber, wie ist er da? Hast du eigentlich das Gefühl, der Bertel war ein glücklicher Mann? Ja, hat ihn nur je wer zufrieden oder gut gelaunt gesehen? Nein, nichts wie Verdruß, Gemaul und Gezänk von früh bis spät, während das Geld nur so zu ihm hineintanzt. Und wir sollen uns tagein, tagaus schinden, daß so ein Großpatschiger das Gold nach Scheffeln
messen und einen anfahren und anbellen und nach allen Seiten hin Gift und Gall speien kann? Nein, da ist doch, hol mich der Henker, nicht Sinn auch nur für einen roten Heller drin. Und kann eins das Seine beitragen, sei es noch so wenig, daß eine Besserung wird, so mein ich, es war endlich an der Zeit, daß dazu geschaut wird!« »Ja, wahr ist’s schon; aber so ein Verein, – wozu soll der? Kann da je was andres als Verdruß herauskommen?« wendete Kild ein. »Mit Verlaub,« entgegnete Per, »die Hof bauern, die tun vielleicht keine Vereine gründen? Ich mein, mehr als genug: Hengstverein, Stierverein, Vorschuß verein und wie sie alle heißen mögen; und die andern Leute, tun die nicht auch desgleichen? Weshalb sollen also Knechte und Mägde die einzigen sein, die keinen Verein haben dürfen?« »Ich hab ja auch nichts gegen euern Verein, wenn er sich nur nicht gegen uns Bauern wenden tat,« versetzte Kild. »Ah, da haben wir’s! Aber schau, wir Dienstleute, wir haben doch keine Hengste und keine Stiere, derentwegen wir uns zusammentun könnten zu einem Verein.Wir haben nichts als unsere bloßen Hände. Und auf die müssen wir bei Gott acht geben, daß sie nicht eingeklemmt werden. Denn geschieht das, dann ist’s aus mit uns. – Aber die eine Hand wäscht die andre, wie man zu sagen pflegt. Und das
Zusammenhalten im Guten und Bösen, das hat so vielen andern Ständen und Schichten auf die Beine geholfen, das müßte auch uns helfen, wenn uns nur die Augen dafür aufgingen; aber da dran hapert es eben. Die Schafe sogar rennen zusammen, wenn ein Hund ihnen nachsetzt und sie eine Gefahr wittern. Und wir, wir täten gewiß auch gut dran, nicht weniger Verstand zu zeigen als sie.« »Na ja, Per, laß uns jetzt nicht weiter da drüber streiten,« erwiderte Kild Pejrsen. »Ich hab ja all mein Lebtag große Stücke auf dich gehalten, aber du führst eben jetzt alleweil gar so einen weitläufigen Diskurs, daß mir vorkommt, du taugst nicht mehr recht zu den Leuten hier in der Gegend.« »Freilich, das fängt nachgerade auch mir an einzuleuchten,« sagte Per. »Aber wo paßt denn einer hin, wenn er, wie ich, mit zwei leeren Händen dasteht und sich doch nicht ganz will zertreten lassen?« Einige Zeit darauf ereignete sich etwas, das die Kluft zwischen Per und den Hofbauern noch mehr vergrößerte. Pers Eltern wohnten nach wie vor in dem Armenhäuschen, unter dessen Dach Ann-Marie Kjærsgaard nunmehr in die Jahre gekommen war, wo sie keine Kinder mehr gebar. Das Häuschen stand so ziemlich unverändert da wie zu Pers Kindheit, nur daß das Ganze noch ärm-
licher und verfallener geworden war. Der Fußboden ließ kaum mehr erkennen, woraus er bestand; die Wände waren grünlich von Nässe; an der Decke hatten sich Sprünge gebildet, so breit, daß man einen Finger hineinlegen konnte. Am schlimmsten war es mit Ann-Maries Küche bestellt, in der eine gemauerte Feuerstelle den Herd vertreten mußte; hier war nichts, was einer Decke glich, sondern das nackte schwarze Ginsterdach gähnte breit über dem Räume. Dieses Dach war seit Menschengedenken nicht ausgebessert worden, und wenn ein Regenguß eintrat oder Tauschnee den First der Hütte mit seinem nassen grauen Mantel deckte, rieselte Regen und Nässe in förmlichen Bächen auf Ann-Maries ärmliche Anrichte herab. Wiewohl es sie mit den Jahren ganz stumpf und stumm gemacht, stets nur widerwilligen Ohren klagen zu müssen, hatte sie doch dem Gemeindevorsteher so lange angelegen, daß er sich endlich dazu aufgerafft hatte, das Dach frisch decken zu lassen. Zu einer Decke über die Küche ließen sich jedoch die Mittel noch immer nicht auftreiben. Hans Nielsen, der Armenpfleger, rechnete ihr mindestens zum hundertsten Male vor, was sie und ihre Brut die beiden Kommunen laut Protokoll der letzten Jahresberichte gekostet hätten. Leute wie sie sollten denn auch dankbar und froh sein, wenn sie ein Dach
über dem Haupte hätten, und nicht auch noch eitel Begehren nach einer Decke tragen. »Man muß nicht alles auf einmal haben wollen, meine Liebe; ihr tätet gut zu bedenken, daß es aus andrer Leute ihrem Beutel geht; etwas anders wär’s, wenn ihr’s selber zahltet. Denn seid ihr nicht damit zufrieden, wie ihr’s da habt, so ist ja Platz für euch im Armenhaus. Oh ja!« Die Drohung mit dem Armenhaus hatte ihre dämpfende Wirkung auf Ann-Maries hochfliegendeWünsche noch nie verfehlt. Da geschah es eines Tages, als Ann-Marie einen Topf über dem Feuer stehen hatte, daß ein Funke von dem Reisig zum Dach aufsprang und zündete. Im Nu war das trockene Heidekraut von Flammen umzüngelt. Es war an einem brennend heißen Sonntagsmorgen, kurz nach dem Gottesdienste. In wenigen Augenblicken hatten die prasselnden Flammen einen ganzen Haufen Menschen herbeigerufen; sie standen etwas steif im Sonntagsstaate da, als wären sie bange, ihn mit den Funken und dem Rauch in Berührung zu bringen. Ann-Marie hatte selbst alle Kinder und den nicht allzu nüchternen Schuhmacher aus der Hütte geschafft. Nur wenige von den Versammelten nahmen an den Rettungsarbeiten teil. Eine kleine hilfseifrige bäuerliche Besucherin der Volkshochschule, der
die Haare in altmodischen Schlangenwindungen auf die Schultern fielen, sprang jedoch beherzt unter die Flammen hinein und warf ein paar Teller und eine Petroleumlampe aus dem offenen Fenster hinaus, daß beides zerschmettert im Straßengraben lag; so war doch etwas gerettet – Gott sei Dank! Ann-Marie stand weinend vor dem brennenden Hause und rang ihre armen Hände. Mit einem Male war sie durch das Starren in die Flammen wie völlig außer sich geraten und rief dem apathischen Schuster, der sich durch die Aufmerksamkeit, die er heute erregte, im Grunde geschmeichelt fühlte, zu: »Oh Morten, Morten; jetzt brennt meine Kommode und jeder Faden, den wir besitzen und haben; nicht einmal einen Fetzen von einem Hemd wird man nachher zumWechseln haben! Komm, hilf mir! Es ist noch keine Lebensgefahr!« Und ehe die Umstehenden noch recht erfaßt hatten, um was es sich handelte, waren Ann-Marie und der Schuhmacher in dem brennenden Hause verschwunden. Man hörte sie drin mit der plumpen Kommode umherrumoren, während das Prasseln des Feuers immer wilder und wilder schwoll. Auf einmal stürzten ein paar Burschen zum offenen Fenster hin und schrien: »Kommt heraus! Kommt ’raus! Das Dach fängt an zu rutschen.« Die beiden Eheleute hatten nun so lange die unhandliche Kommode gehoben und geschoben, daß sie bis
quer vor die Eingangstür zu stehen kam. Nun hätte Morten darüber wegklettern und versuchen sollen, sie so zu drehen, daß sie hinausgleiten könnte. Doch es gelang ihm nicht, das hohe Möbel zu ersteigen, sei es, daß er zu betrunken war oder die Anstrengung des Schiebens ihn ermattet hatte. Da auf dieseWeise der Ausgang verrammelt war, liefen sie bei dem Zuruf beide zu den Fenstern. Man sah Ann-Marie Kjærsgaards bleiches Antlitz in der Fensteröffnung auftauchen, und die beiden Burschen streckten die Arme aus, um sie zu fassen. Doch da ertönte ein lauter Schrei aus der versammelten Menge. Die beiden jungen Leute taten einen weiten Sprung von der Wand zurück. In derselben Sekunde sank das flammende Dach unter dröhnendem, brodelndem Knistern vor ihren Füßen nieder und schlang einen wüsten Kreis rieselnder Flammen um das Fensterund Türgebälke. »Oh Herr Jesus! Jetzt können sie nicht heraus!« scholl es aus der Menge, während die lodernden Halme, sich wie Schlangen krümmend, zischten und verkohlte Strohseile und Lattenstücke rings um die Hütte herunterhagelten. Als noch etwa zehn Minuten verstrichen waren, ohne daß die beiden Eheleute auch nur das kleinste Lebenszeichen gaben, waren sich alle darüber klar, daß ihr schreckliches Schicksal unwiderruflich besiegelt sei.
Man begann nun die Entstehung und den Verlauf des Feuers zu erörtern. Allen war es aufgefallen, daß das Dach ebenso rasch über den Eingängen wie über den Fenstern herabgerutscht war. Das ließ sich nur dadurch erklären, daß die gesetzliche Vorschrift, über allen Türen mit Stahldraht zu nähen, in diesem Falle nicht eingehalten worden war. Die Gesetzübertretung, wer sie auch verschuldet haben mochte, hatte offenbar hier, wo es sich um Sekunden gehandelt, den zwei Menschen das Leben gekostet. Man wagte sich jedoch nur flüsternd über diesen Umstand zu äußern, denn Hans Nielsen war eben erschienen und hatte sich unter die diskutierende Schar vor der Unglücksstätte gemischt. Auch Jens Laanum war von der Landstraße hierher abgebogen und stand, den Hundslederranzen auf dem Rücken da, bald den Menschenknäuel und bald den Brand betrachtend. Er ging hin und scharrte unter einigen der geretteten Gegenstände mit dem Fuß umher. Das Hausgerät des Armen ist immer kläglich anzusehen, selbst wenn es am Platz in seiner natürlichen Umgebung steht; aber zehnfach elend nimmt es sich aus, wenn es in buntem Durcheinander in einen Straßengraben hingeschleudert liegt, während das allentblößende Licht der Sonne schonungslos alle seine Brüche und Sprünge aufweist. Jens Laanum ging still an einigen Stücken zerlumpten Bettzeugs vorbei, aus denen die spärlichen
Federn einem die Füße umtanzten, dann kamen ein paar abgeschabte Schildereien, Christian VIII. und Gemahlin, mit Orden von der Größe eines Pfannkuchens. Etwas weiter davon entfernt lag General Rye hinter einer Rosette von Glassplittern. Weshalb sich doch die Armut so gern die Wände mit den Konterfeien ausrangierter Fürsten und allerlei begrabener Tapferkeit schmückt? Hier lagen ein paar lahme Sessel, dort ein Kachelofenkranz, dann eine Hafenstürze ohne Hafen, eine Feuerzange, ein Hampelmann, ein Bund wurmstichiger Leisten und endlich, dicht vor dem Eingange, ein kleiner rauchgeschwärzter Gips-Christus, der den Kopf eingebüßt hatte. »Und wegen so eines erbärmlichen Plunders, der kaum fünf Kronen wert ist, setzen sich zwei Menschen der Gefahr aus, zu verbrennen!« seufzte Jens Laanum. Jetzt sah man einen jungen Mann in wildem Laufe über die Felder auf die Brandstätte zukommen. Es war Per. Die Leute wurden plötzlich ganz stumm. Niemand wollte der erste sein, ihm zu erzählen, was geschehen war. Alle kehrten sich seitab und hatten doch nur Augen für ihn. »Sind die Kinder herausgekommen? Wo sind meine Eltern?« schollen Pers Fragen heftig wie zwei Büchsenknalle.
Die Männer wendeten sich noch mehr ab; die Frauen standen und wehklagten leise. Per ist auf Jens Laanum zugestürzt: »Aber so gebt doch Antwort! Ist ein Unglück geschehen? Wo ist die Mutter?« »Mußt ruhig sein, Per!« sagte Jens mit mühsam erkämpfter Fassung. »Dein Vater und deine Mutter sind nicht herausgekommen.« Eine Woge wilden Schmerzes durchflutete Pers Gemüt. Er begann am ganzen Körper zu zittern. »Was sagst du? Dringeblieben sind sie? Und das zu der Tageszeit? Und mitten unter all’ den Menschen da?« »Sie waren hineingerannt, eh noch eins recht drauf acht gegeben hatte, und auf einmal haben sie das Dach über sich gehabt. Was die Schuld war, ist nicht aufgekommen.« Bei diesen Worten blickte Jens Laanum auf Hans Nielsen hin, der minder selbstbewußt auftrat, als sonst seine Gepflogenheit war, und seine Autorität nur manchmal dadurch an den Tag legte, daß er mit beschützendem Arm die Leute von der Brandstätte zurückdrängte. Als Per sich näherte, ließ er sich in eifriges Gespräch mit seinem Nachbar ein. Per rannte hin und her vor der Unglücksstätte, seine Tränen blinkten vom Widerschein des Feuers. Überall wurde er von den sprühenden Flammen zurückgetrieben. Alle Türen und Öffnungen ver-
sperrte brennendes Stroh, und selbst die Türpfosten fielen in glühenden Trümmern von der Mauer. Per konnte nicht aufhören, Worte des Staunens auszustoßen, daß zwei Menschen am hellen, lichten Tage verbrennen konnten im Beisein der Männer, die den Vorplatz füllten. Da flüsterte ihm einer ein Wort von der Unterlassung zu, die man sich beim Dachdecken hatte zuschulden kommen lassen. Augenblicklich stellte Per den Dachdecker, der gleichfalls herbeigekommen war, zur Rede und forderte klaren Bescheid. »Ja,« begann dieser, »soll ich offen die Wahrheit sagen, so kann ich nicht leugnen, daß ich mich stark verwundert hab darüber, daß hier kein Stahldraht zum Nähen Über die Tür eingekauft worden ist, wie’s überall sonst der Brauch. Denn Stahldraht über die Türen, der gehört sich, das liegt auf der Hand, und dazu hat man auch die Vorschrift. Aber wo nichts ist, ist einmal nichts. Und der Nielsen Hans, der hat mir, wie ich was gesagt hab, geantwortet und gesagt, ich hab mit dem zu nähen, was ich gekriegt hab; und das waren Strohseile und nichts weiter. Und nach ihm hab ich mich doch richten müssen. So ist’s!« »Was ist denn also deine Meinung, was hier geschehen ist?« sagte Per. »Ja, wenn ’s schon einmal gesagt werden muß, so halt ich dafür, daß hier nicht hätten müssen Menschenleben verlorengehen, wenn alles so
gemacht worden war, wie es hätt’ gemacht werden sollen. Aber Gott sei Dank steht’s nicht mir zu, hier zu richten; ich hab nur so viel sagen wollen, daß, was mich anlangt, ich ohne Schuld bin,« schloß der Dachdecker. Mit einem Sprung stand nun Per Aug in Auge Hans Nielsen gegenüber. Die Züge leuchtend vom Schein des Brandes seines Elternhauses, schrie er, daß es alle hören konnten: »Was hier geschehen ist, das sollst du noch auf deinen Knien bereuen müssen, Hans Nielsen! Um nichts besser bist du als ein Mordbrenner! Was hast du mit meinen armen Eltern gemacht? Ich fordre ihr Leben aus deiner Hand! – So weit ich nur zurückdenken kann, haben du und deinesgleichen hier in der Gemeinde Handel und Schacher mit ihnen und den ihren getrieben. Immer hast du es dir zur Aufgabe gemacht, uns kleinen Leuten das Brot so bitter wie möglich zu machen. Jetzt hast du deine Kniffe zu weit getrieben! Um ein paar lumpige Pfennige zu ersparen, bist du heut schuld geworden an dem schrecklichen Tod zweier Menschen. Du glaubst, du darfst dir erlauben, was du nur willst; aber du hast dich heut verrechnet, Hans Nielsen! Jetzt soll’s bald ein Ende haben mit deinem Geschacher; ich will dafür Sorge tragen, daß du dorthin kommst, wo weder Sonne noch Mond hinscheinen, du – – – Mordbrenner du!«
»Hört, ihr Leute, was er sich untersteht, zu mir zu sagen!« rief Hans Nielsen. »Ich ruf einen jeden zum Zeugen seiner Worte auf.« Per ging noch ein paar Schritte vorwärts, wodurch er Hans Nielsen so nahe an den Brand schob, daß die Flammen seinen roten Nacken erhitzten. »Du verdientest wahrhaftig, daß ich dir eins zwischen die Brauen versetzte, daß du vor meine Füße hinflögst, du rotbärtiger Armenschinder du!« »Ja, schlag nur zu, wenn du dich getraust,« versetzte Hans Nielsen. »Vergreif dich nur an mir wie am Verwalter in Sølsig.« Jetzt trat Jens Laanum herzu: »Geh, Per, denk an dich selber! Hab acht auf deinen Mund und das, was du tust!« Er zog ihn von der Brandstätte weg, hinaus auf die Landstraße, seiner Behausung zu. Allmählich wurde er fügsam wie ein Kind; er ging und weinte still vor sich hin, während seine Füße willenlos Schritt mit Jens Laanum hielten. Als Jens durch seine klugen Worte Pers Gemüt etwas beschwichtigt hatte, bot er ihm die Hand zum Lebewohl. Es hatte zu dunkeln begonnen. Per ging querfeldein und setzte sich auf einen Erdhaufen weit draußen vor der Ansiedlung, das Gesicht dem Feuerscheine zugekehrt.
Trauer und Ingrimm zogen wie Regenschauer durch sein Gemüt. Die Mutter stieg vor ihm auf mit ihrem groben, zerlumpten Rock und den ergrauten, ungekämmten Haarzotteln um die rauhen, gehärteten Züge. Wie war sie doch stets mißhandelt worden, die arme, unglückliche Mutter, bis zu diesem letzten grauenvollen Abschluß. Nicht jederzeit war sie gut gegen ihn gewesen; aber ihre Prügel und ihre Klapse, deren er sich aus seiner Kindheit noch flüchtig erinnerte, hatten ihre Wurzeln doch weit mehr in ewigen Quälereien und der Überbürdung mit Arbeit als in einem harten und schlechten Gemüt. War sie es nicht gewesen, die kam und Hilfe brachte, als er krank und aller Wartung entbehrend in des Nørhofer Bertel Knechtekammer lag? Und in den nachfolgenden Jahren seines Hirtenlebens – wie oft war sie nicht zu ihm hinaus aufs Feld gekommen, hatte sich mit dem Strickstrumpf in der Hand zu ihm gesetzt, ihn nach seinen bescheidenen Bedürfnissen gefragt und ihm so viel sie konnte Trost gespendet. Und nie war sie, so arm sie war, mit ganz leeren Händen gekommen. Bald hatte sie einen Brocken Kandiszucker, bald eine Tüte Feigen unter ihrem Brusttuch hervorgezogen, und kein Jahr vergaß sie, ihm seinen Teil der Vierteltonne saurer, wurmstichiger Äpfel zu bringen von dem alten verkrüppelten und halb abgestorbenen Baum, der nun geschwärzt und verbrannt sich dort vom Feuerschein abhob. Ja,
noch keine vierzehn Tage war es her, daß sie an seinem Geburtstage zu ihm gekommen war und ihm eine wollene Weste gebracht hatte, die sie selbst für ihn gestrickt; es war wirklich eine wunderhübsche Weste mit blauen Glasknöpfen. Als er ihr dankte, da hatte sie so schelmisch gelächelt und gesagt, eine Weste wie die könnten die jetzigen jungen Mädchen nicht mehr stricken. Wo sie nur das Geld dazu hergenommen hatte, besonders zu den Knöpfen, die gar nicht so billig sein konnten? – Arme, mißhandelte Mutter, die nun dort drüben unter der glühenden Asche lag! Per schlug sich mit der schwieligen roten Hand aufs Knie, und sein kummervoller Kopf wiegte sich langsam auf und nieder wie eine Ähre im Regen.
DAS TOTENHAUS Nach dem Brande der Armenkate und dem Zusammenstoß mit dem mächtigen Hans Nielsen war Per in der ganzen Gegend so gut wie unmöglich geworden. Die meisten Hof bauern machten ja gemeinsame Sache mit ihrem vergötterten Vorsteher. Zwar wurde der Gemeinderat zu einer kleinen Geldstrafe verurteilt wegen Übertretung der erwähnten Dachdeckerei-Verordnung, aber eine viel größere wurde Per für seine dreisten Worte über den Armenpfleger auferlegt. Er konnte sich nun kaum mehr in einem Bauernhof blicken lassen; »er müßte sich doch schämen, wie er einen so estimierten Mann heruntergehunzt hätte.« An Arbeit bekam er nur noch die allerniedrigste und am schlechtesten entlohnte. Eines Tages zu Anfang September waren er und Romler damit beschäftigt, einen alten verwachsenen
Grenzgraben zu jäten. Jens Romler war nunmehr alt und grau und litt zudem an einem Bruch, der ihm jeden Schritt schmerzhaft machte. Es fiel ihm daher schwer, das eiskalte Wasser zu ertragen, weshalb ihm Per gestattet hatte, mit dem Hakeneisen den Rand entlang zu gehen, während er selbst mit der Schaufel im Graben watete und den Schlamm zu beiden Seiten emporwarf. Der Morast war so tief, daß er ihm zu beiden Taschen hineinlief und drei, vier Zoll hoch am Hosenlatz hinaufreichte. Seine Hände und Arme waren über und über mit Schlamm und Wasserlinsen bespritzt, und Pferdeegel und Neunaugen schleimten in der Tiefe zwischen seinen nackten ausgespreizten Zehen fort. »Ist was an dem Gered,« begann Jens Romler, die Jäthaue in einen mächtigen Schlammhaufen an der jenseitigen Grabenböschung schlagend, »daß du – nach Amerika auswandern willst?« »Ja, hier kann ich doch nicht länger bleiben, wenn ich keine Arbeit kriegen kann; denn bei so einer wie die da setzt man doch nur seine Gesundheit zu. Für einen Tag mag’s angehen, aber auf die Dauer greift’s zu stark an, besonders in der jetzigen Jahreszeit. Heute nacht bin ich dir mit einem Leibschmerz aufgewacht, der schon schrecklich war, nur weil ich gestern den ganzen Tag da umgewatet bin, und wer weiß, wie ich wieder diese Nacht zubring.«
»Ich möcht dich ja gern dann und wann für eine Weile ablösen,« entschuldigte sich Jens Romler, »aber mit der Schwäche da geht’s gar so schwer.« »Besser als du werde ich’s doch wohl vertragen können,« tröstete Per, »und was war für ein Vorteil dabei, wenn wir uns alle zwei zugrunde richteten.« »Es ist also wirklich wahr, daß du von uns fort willst! Ja, sagen läßt sich freilich nicht viel dagegen,« nickte Jens Romler. »In meinen jungen Jahren, da hat’s so viele gegeben, die sich aufgemacht haben und sind hinausgezogen in die weite Welt, und hätt’ eins damals einen rechten Verstand gehabt und war mit, wer weiß, was man sich an Kummer und Sorgen erspart hätt’; denn, weiß Gott, es ist nicht immer schön für mich gewesen, da draußen auf dem Moorland.« »Nein, Jens, wahrhaftig nicht,« versetzte Per. »Und in ein Leben, wie du’s geführt hast, könnt ich mich nicht finden. Deshalb geh’ ich auch meiner Wege. Ich will gern was leisten; aber ich will auch wie ein Mensch behandelt werden; ich will mich nicht drein finden, daß die, die leben von meiner Arbeit, daß mir die obendrein ins Gesicht spucken.« »Ich weiß eine, die sich das Herz aus dem Leib grämen wird, wenn sie hört, daß du in die Fremde gehst.« »Ih so, wer war denn das?« »Unsre Dorre.«
»Die Dorre, ja, die ist ein herzensgutes Mädel; wenn man sie nur auch besser lieb haben könnt,« versetzte Per. »Ja, wie die dir gut ist, das ist schon bald nimmer schön. Aber was nützt das alles, wenn du nicht meinst, daß einmal auch du ihr gut werden könntest. Sonst war es wohl ein rechtschaffen braves Mädel. Sie ist mir eine rechte Stütze gewesen, seit ihre Mutter tot ist. Ihren halben Lohn, mein ich, bringt sie allemal mit, wenn sie heim kommt, und das dürft nicht einmal langen.« »Gewiß, der ist nicht zum besten gehalten, der die Dorre kriegt, das weiß ich sehr wohl,« erwiderte Per. »Aber so wie ich jetzt dran bin, was sollt das helfen, wenn ich an Liebschaften oder ans Heiraten dächt’.« »Hast du das Haus gesehen, aus dem der Kræn Madsen das Frühjahr fortgezogen ist?« Nein, das hatte Per noch nicht. Das sollte er sich doch einmal anschauen, fand Jens, eh er außer Landes ging. Ein Haus wär’s auf zwei, drei Kühe, ein Heidehaus wohl, selbstverständlich, aber mit dem seinen nicht zu vergleichen, und obendrein war’s sozusagen ohne alle Aufzahlung zu haben. Und jetzt mußte ja Sølsig zur Versteigerung und damit in neue Hände kommen, wodurch Pers Arbeitsverhältnisse sich wahrscheinlich bessern würden.
Na, es kann ja nicht schaden, wenn ich nächstens hinaufgehe und mir das Anwesen anschaue, dachte Per, als er abends von der Arbeit heim ging. Den nächsten Sonntag zündete er sich seine Stummelpfeife an und machte sich auf den Weg. Es war einer jener herrlichen Septembertage, wo der Himmel einem blauen Meer gleicht, besät mit Hunderten von weißen, schaumumspülten Wolkeninseln. Meilenweit war die Erde von Licht und Schatten gesprenkelt, fast wie die weißscheckigen Kühe unten auf den Wiesen. Die Kirche leuchtete zwischen grünen Bäumen hervor, und die Mühle spreizte ihre Arme weit aus, als wollte sie allen Wind umfangen. Der aber hauchte sie nur liebkosend an unter ihrem grauen Hut, kaum stärker fühlbar, als wenn ein junges Weib lachend in den Bart des Geliebten bläst. Bis an die Grenze der Heide begleitete Per der hitzige Geruch der Steckrübe, und die Lupine duftete süßer als frischgerührte Butter. Eine Viertelmeile weit drinnen in der Heide fand er das verlassene Anwesen, das aus etwa zehn bis fünfzehn Tonnen Lands bestand, sandigem Boden, der schräg zu einigen säuerlichen, düsteren Moorteichen abfiel. Per schritt über die knolligen Äcker, an deren Rain das Heidekraut schon wieder wucherte, ein Rückfall in den Urzustand. Grauer großkörniger
Sand knirschte überall zwischen den dünnen, bleichsüchtigen Grashalmen. Per beugte sich nieder und nahm etwas von diesem Sand in seine hohle Hand. Er stocherte mit seinem Finger darin herum: »Und in so einem elendiglichen Kram war Brot für hungrige Menschenmünder?« Da und dort lagen jährige Kuhfladen und trockener Schafmist als einzige Zeichen früherer Kultur. Per ging zu dem grauen Hause hinauf, das mitten in dem kleinen Besitztum lag wie eine Muschel auf einem Grabe. Rechts davon ragten ein paar Pfosten; sie waren weiß wie Totengebein. Die von der Sonne gespaltenen Türen hatten sich in den Angeln gesenkt, und das Haus hatte fast überall die Fensterscheiben verloren auf jene mystisch gespenstige Weise wie alle verlassenen Häuser. Per stand lange da und sah sich nach allen Seiten um. Dort drüben, von wo er gekommen war, lagen die breiten Schuppen und Scheunen und hoben sich bucklig vom Horizont ab. Der Schlot einer Meierei schwang seine Rauchgerte über eine wellige Landschaft, gelbe Stoppelfelder und saftig grüne Rübenäcker. Doch welch andersartiges Bild bot sich auf der entgegengesetzten Seite. Bracherde, knollige Sümpfe, sauere Moräste, vor allem aber die großen, ginsterbedeckten Sandheiden. Hierher setzt der Bauer ungern
seinen Fuß, außer um ein Stück des Brackbodens an seinen Taglöhner zu veräußern. In seinen täglichen Gebeten fleht er den Himmel an, ihn und die Seinen vor diesem Boden zu bewahren, aber will der Knecht ihn haben und gut dafür zahlen – nun denn in Gottes Namen, mag der Sachwalter kommen und den Kaufbrief aufsetzen mit all seinen bindenden Klauseln. Wie viele von Pers Kameraden waren nicht schon hier oben in der Heide verschwunden. Dort – eine Strecke weiter rechts – ging eben einer dahin. Er war im Begriffe, seinen Hafer zu ernten, ’s ist etwas spät, lieber Niels, aber an allen deinen Wochentagen bist du ja in der Arbeit, dort unten auf den Höfen, und nur der Sonntag ist dein. Das Weib geht hinterher und bindet die Halme. Sieh, wie weit sie sie schieben muß, ehe eine Garbe daraus wird! Sollte er – Per – nun auch von diesem Flecke aus der Welt die Stirne bieten? Auch er einen Steig durch das Heidekraut austreten hin zu den prangenden Speichern der Höfe, um drei Koppel Schafe, ein Schwein und eine räucherige Hütte sein eigen zu nennen? Etwas flüsterte ihm zu: laß sein! Wie sah denn übrigens das Haus von innen aus? Er ging zur Tür und wollte sie aufklinken, doch sie war versperrt. Aber halt, drüben an der Nordseite, da war ja ein halbes Fenstergestell ausgehoben. Per ging hinüber. Drinnen unter dem Fenster war die
Mauer wie frisch abgeschabt von Holzschuhreifen. Wie eigen: sollte hier jemand aus- und eingehen? Er schwang sein Bein über die Fensterbrüstung und stand in einem äußerst ärmlichen Gelaß, in dem noch da und dort an den Wänden die Möbel ihre Spuren hinterlassen hatten; in der einen Querwand gähnte ein mächtiges Loch, wo der Kachelofen herausgenommen worden. Doch was war das für ein garstiger Geruch. Per ging zur Türöffnung des nächsten Zimmers, blieb aber starr vor Entsetzen stehen. In dem starken Sonnenlicht, das vom Süden hereinfiel, hing dort ein Mensch mit einem Strick um den Hals. Per lief hin und schnitt ihn ab. Es war Franz Danggaard. Er mußte schon lange da gehangen haben, denn sein Gesicht war fast unkenntlich. Pers Wanderung zurück über die holprigen Äcker des Totenhauses glich beinahe einer Flucht; er war jetzt fest entschlossen, der Heide für immer den Rücken zu kehren.
VON DER KRUSUMER HÖHE Es war ein rauher Mai dieses Frühjahr. Per saß daheim bei Roy und wartete, bis das Schiff abgehen würde. Der Sturm hatte nun drei volle Tage zwischen Himmel und Erde gewütet. Am vierten spannte Roy Kild Pejrsens Pferde an und fuhr mit Per zur Bahn. Die beiden Freunde saßen beieinander in dem grünen Fahrstuhl und besprachen Pers bevorstehende Seereise. Hinten im Wagen stand Kræn Lybskers alter Warenkasten mit Schulterriemen und Messingschloß, genau wie ihn der Krämer zurückgelassen hatte, die eine Seite ganz weiß abgerieben von seinem Rücken. Der Weg führte quer über Sølsigs alten verwahrlosten Grund und Boden, auf dem die jungen Blätter
der Gerste jetzt nach dem starken Sturme einen ganz übernatürlichen Glanz hatten. In einem Dränierungsgraben auf dem Felde stand Jens Romler, so daß nur der Kopf über die Böschung hervorragte. Er schwang seine Mütze zum Abschiede, aber es wurde vom Wagen aus nicht bemerkt, und ehe der alte, steife Mann sich aus der tiefen Grube herausgearbeitet hatte, war das Gefährt schon weit fort. Große Tränen standen in Jens Romlers Augen, als er sich wieder in den Graben hinabgleiten ließ. »Ja, wie eins jung war, ja, wie eins jung war, da war man auch mitgezogen aus dem Elend heraus. Ei ja, ei ja!« Eine Strecke weiter führte die Straße an Hans Nielsens Hof vorbei. Dorre, die schon die ganze letzte Stunde Ausschau gehalten hatte, kam weinend und mit schweren Tritten aus einer Hintertür heraus. Sie hielt ein Papier in der Hand: »Das hat Hans Nielsen mir aufgetragen, dir zu geben,« sagte sie unter Schluchzen. Roy nahm den Zettel aus ihrer Hand. »Steuerzettel für dich, Per. Zwei Kronen an Gemeindesteuern fürs Juni-Quartal.« »Hoho, wärst du ein gescheiter Hans,« lachte Roy, »das Juni-Quartal haben wir noch nicht! Sei so gut, Dorre, grüß schön deinen gestrengen Herrn und richte ihm aus, von wegen Erlag des fraglichen Betrags beliebe man sich zur angegebenen Verfallszeit
persönlich an die Behausung des Adressaten, derzeit in care of Mr Dowe, R.F.D. Nr. sieben, Reinbach, Iowa, United States of America, zu wenden, woselbst dieser Betrag gegen die erforderliche Quittung erlegt werden wird.« »Ach, ist’s nicht besser, ich zahl?« sagte Per, der heute wenig dazu aufgelegt war, sich herumzuschlagen. »Nein, zum Teufel; laß mich nur die Geschichte ordnen,« erklärte Roy. Dorre klammerte sich an Pers Hand, als wollte sie ihn mit Gewalt zurückhalten. »Jetzt mußt du mich lassen, Liebe,« sagte Per bewegt. Dorre ist einer Ohnmacht nahe. Da beugt sich Per vom Wagen nieder und flüstert, indem seine Lippen beben: »Wenn’s mir gut geht, Dorre, so versprech ich, daß ich dir schreib.« Dorre schaute mit einem tief dankbaren Blick in sein Gesicht. Die Pferde, die sich nun wieder in Gang gesetzt hatten, rissen ihre Hände auseinander. Als der Wagen die Krusumer Höhe erreicht hatte, von der man ringsumher die weiteste Aussicht hatte, tippte Per Roy auf die Schulter: »Geh, sei so gut, halt hier einen Augenblick!«
Roy hielt die Pferde an, und Per erhob sich im Wagen und ließ den Blick über die Gegend gleiten, die er eben verlassen hatte. Die breiten, hochgebauten Bauernhöfe leuchteten in der Morgensonne mit ihren gelben Giebeln, während der frischtreibende Roggen sein Geklingel zu den offenen Pforten hineinsendete. Per fand aus der Menge rasch die Höfe heraus, in denen er als Hirtenbub und Knecht gedient hatte; mit Wehmut ließ er sein Auge eine Sekunde auf Kild Pejrsens bemoostem Dache drüben unter den nickenden Weiden ruhen. Doch die Wehmut wich etwas Kaltem, Hartem, da der Blick über Nørhof und Sølsig zu Hans Nielsens ragenden Speichern hinstrich und von da übersprang zu einem Haufen rauchgeschwärzter Ziegelsteine links vom Kirchhofe, den zusammengestürzten Ruinen seiner Kinderheimat. »Ach, wie viel Leid einem dort unten angetan worden ist!« Per deutete über alle die strotzenden Höfe hinaus. »Es ist nicht ein Gefühl in meiner Brust, nicht ein Recht, es nenne sich, wie es wolle, auf das nicht gespien und getreten worden ist … Und dann, daß man auf all das keine andre Antwort haben soll als das Weite zu suchen! Aber was würde es nützen zu bleiben? Mit dem Recht, das wir haben, vermag eins doch nichts auszurichten, außer herabzusinken wie die andern. Ich erinnere mich aus meiner Schulzeit, daß
von Menschen die Rede war, die haben sie ›Kinder des Zorns‹ geheißen. Den Grund, weshalb sie den Namen getragen, weiß ich heut nicht mehr zu sagen. Aber Leute sind’s gewesen, denen nichts hat gelingen und nichts gedeihen wollen. Wenn für andre die Sonne geschienen hat, haben sie unter einer Wolke gelebt. Wenn ich später auf mich und die Meinigen, auf alle die geschaut hab, die in fremdem Dienst ihr Brot suchen müssen, gesehen hab, wie alles ihnen hinwelkt und hinsiecht, wie sie’s auch angreifen, da hat’s immer wieder in mir gerufen: Wir andern sind’s, wir sind die Kinder des Zorns, die unsre Tage unter einer Wolke hinleben.« »Ja, aber es wird anders werden! Es kommen andre Zeiten, eh eins noch recht davon zu sagen weiß!« rief Roy und knallte heftig mit der Peitsche. »Wartet nur, bis wir gehörig ausgemistet haben bei den Bauern. Reines Bettstroh, reine Luft, reines Wasser, daß ein Unterschied wird zwischen einer Hundshütte und einer Knechtekammer. Und dann Zusammenhalt, meine Freunde! Hand in Hand, feste Ordnung, in Reih und Glied. Vorwärts – marsch! Zum Kuckuck, ein Häuslerverein, ein Dienstbotenverein in jedem Sprengel! So wird es anfangen. Und eines Tages haben wir die ganze soziale Revolution! Red ich in den Tag hinein? Hab ich vielleicht nicht recht?« »Gewiß, Roy. Zwei Dinge sind, die müssen überwunden werden. Das eine ist die Stumpfheit, die von
der elendigen Lebenshaltung kommt, und das zweite die Feigheit, die ist das Schlimmste; denn die wurzelt im Charakter.« Per warf noch einen letzten Blick auf das Land, das ihn von sich gestoßen und seinen Mut und seine junge Kraft verschmäht hatte. Ein starker Windstoß wühlte um Hans Nielsens Gehöft den Sand auf. Wie eine dahinrollende Zorneswolke kam er über den Berg gesaust und hüllte die beiden Fahrenden in seine erstickenden Wirbel. »Fahr zu, Roy!« rief Per. »Daß ich nicht am Ende noch zu spät komm!«