Fußstapfen im Sand… Die Armee des Fistandantilus drang weiter südlich vor und erreichte Kargod gerade, als die letzten ...
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Fußstapfen im Sand… Die Armee des Fistandantilus drang weiter südlich vor und erreichte Kargod gerade, als die letzten Blätter von den Bäumen geweht wurden und der Winter seine eisige Hand mit festem Griff über das Land legte. Die Gestade des Neumeers hielten die Armee auf. Aber Caramon, der wußte, daß er das Meer überqueren mußte, hatte schon lange Zeit vorher entsprechende Maßnahmen getroffen. Er übertrug seinem Bruder und seinen treuesten Untergebenen das Kommando und führte eine Gruppe der am besten ausgebildeten Männer zu den Ufern des Neumeers. Darüber hinaus wurde er von allen Schmieden, Schreinern und Zimmerleuten begleitet, die zur Armee gehörten. Caramon errichtete seinen Befehlsstand in der Stadt Kargod. Er hatte sein ganzes Leben von dieser berühmten Hafenstadt gehört – in seinem anderen Leben. Dreihundert Jahre nach der Umwälzung sollte aus ihr eine geschäftige, blühende Hafenstadt werden. Aber jetzt, hundert Jahre, nachdem das feurige Gebirge auf Krynn gestürzt war, befand sich Kargod in einem völlig chaotischen Zustand. Einst eine kleine, bäuerliche Gemeinde inmitten der Solamnischen Ebene, kämpfte Kargod noch immer mit der Situation, plötzlich ein Meer vor der Haustür zu haben. Als Caramon von seinem Quartier herabschaute, wo die Straßen der Stadt unmittelbar an gefährlich steilen Abhängen endeten, die zu den Stränden führten, dachte er widersinnigerweise an Tarsis. Die Umwälzung hatte diese Stadt ihres Meeres beraubt, ihre Schiffe im Sand stranden lassen wie sterbende Seevögel, während hier in Kargod das zuvor
gepflügte Land vom Neumeer überschwemmt worden war. Caramon dachte mit Sehnsucht an diese gestrandeten Schiffe in Tarsis. In Kargod gab es zwar einige Schiffe, aber sie reichten für seine Bedürfnisse bei weitem nicht aus. Er schickte seine Männer mit dem Befehl fort, die Küste abzusuchen und entweder Schiffe egal welchen Typs zu kaufen oder zu beschlagnahmen, gegebenenfalls einschließlich der Mannschaft. Diese Schiffe wurden nach Kargod gebracht, wo sie von den Handwerkern umgebaut wurden, um so viel Ladung wie möglich für die kurze Überfahrt über die Straße von Schallmeer nach Abanasinia transportieren zu können. Täglich erhielt Caramon Berichte über das Anwachsen der Zwergenarmee – wie Pax Tarkas befestigt wurde, wie die Zwerge Sklaven (Gossenzwerge) importierten, die Tag und Nacht in den Minen und Stahlschmieden arbeiteten und Waffen und Rüstungen herstellten, wie diese nach Thorbadin und ins Berginnere befördert wurden. Ebenfalls erhielt er Berichte von den Abgesandten der Hügelzwerge und der Menschen der Ebenen. Er erfuhr von den großen Versammlungen der Stämme in Abanasinia, bei denen Blutfehden beigelegt wurden, um gemeinsam für das Überleben aller zu kämpfen. Er erfuhr von den Vorbereitungen der Hügelzwerge, die auch Waffen schmiedeten und die gleichen Gossenzwergsklaven wie ihre Verwandten, die Bergzwerge, einsetzten. Er hatte sogar den Elfen in Qualinesti diskrete Vorschläge gemacht. Dies gab ihm ein unheimliches Gefühl, denn der Mann, dem er seine Botschaft übersandte, war kein anderer als Solostaran, die Stimme der Sonne, der erst einige
Wochen zuvor in Caramons eigener Zeit gestorben war. Raistlin hatte höhnische Bemerkungen gemacht, als er von dem Versuch erfuhr, die Elfen in den Krieg hineinzuziehen, da ihm ihre Antwort nur zu bekannt war. Jedoch war der Erzmagier nicht ohne geheime Hoffnungen, die er in den dunklen Stunden der Nacht nährte, daß es dieses Mal anders sein könnte. Es war nicht anders. Caramons Männer erhielten nicht einmal die Gelegenheit, mit Solostaran zu sprechen. Bevor sie von ihren Pferden absteigen konnten, zischten Pfeile durch die Luft, schlugen dumpf in den Boden und bildeten einen tödlichen Kreis um jeden einzelnen. Bei einem forschenden Blick in den Espenwald konnten sie Hunderte von Bogenschützen ausmachen, von denen jeder einen Pfeil auf der Kerbe liegen hatte. Es wurden keine Worte ausgetauscht. Die Boten verließen den Wald und nahmen einen Elfenbogen als Antwort für Caramon mit. Der Krieg selbst gab Caramon ein unheimliches Gefühl. Als er die Diskussionen zwischen Raistlin und Crysania anhörte, kam es ihm plötzlich in den Sinn, daß alles, was er tat, auch schon zuvor getan worden war. Dieser Gedanke war für ihn fast genauso alptraumhaft wie für seinen Bruder, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. »Es kommt mir vor, als ob dieser Eisenring, den ich in Istar um meinem Hals getragen habe, wieder befestigt worden wäre«, brummte Caramon eines Abends, als er in dem Wirtshaus in Kargod saß, das er als Befehlszentrale übernommen hatte. »Ich bin so wie damals wieder ein Sklave. Nur ist es dieses Mal schlimmer, denn damals in Istar hatte ich als Sklave zumindest jeden Tag die Freiheit,
mich zu entscheiden, ob ich noch einen Atemzug holen wollte oder nicht. Ich meine, wenn ich hätte sterben wollen, hätte ich mich in mein Schwert stürzen und sterben können! Aber jetzt verfüge ich anscheinend nicht einmal mehr über diese Entscheidungsfreiheit.« Für Caramon war dies eine seltsame und beängstigende Vorstellung, über die er viele Nächte grübelte und von der er wußte, daß er sie nicht verstand. Er hätte gern mit seinem Bruder darüber geredet, aber Raistlin befand sich im Landesinneren bei der Armee, und selbst wenn sie zusammen gewesen wären, hätte sich sein Bruder, davon war Caramon überzeugt, geweigert, darüber zu sprechen. Raistlin hatte mittlerweile fast täglich an Kraft gewonnen. Nach seinem Zauber, bei dem das ausgestorbene Dorf in einem tosenden Scheiterhaufen ausgelöscht worden war, hatte der Erzmagier zwei Tage lang fast tot dagelegen. Als er aus seinem fiebrigen Schlaf erwacht war, hatte er großen Hunger verspürt. Innerhalb der nächsten Tage nahm er mehr feste Nahrung zu sich, als er in den vorangegangenen Monaten zu vertragen in der Lage gewesen war. Der Husten hörte auf. Er genas schnell und nahm an Gewicht zu. Aber immer noch wurde er von Alpträumen geplagt, die er nicht einmal mit den stärksten Schlafmitteln bannen konnte. Tag und Nacht grübelte Raistlin über sein Problem. Wenn er Fistandantilus’ tödlichen Fehler hätte erfahren können, wäre er in der Lage gewesen, ihn zu vermeiden. Verrückte Pläne kamen ihm in den Sinn. Der Erzmagier spielte sogar mit dem Gedanken, zu Forschungszwecken in seine eigene Zeit zu reisen, ließ aber die Idee fast unverzüglich wieder fallen. Wenn er schon zwei Tage in einen Er-
schöpfungszustand fiel, nur um ein Dorf in Flammen aufgehen zu lassen, dann würde der Zeitreisezauber wohl noch stärker an seinen Kräften zehren. Und falls er es schließlich zurückschaffen würde, hätte er nicht mehr die erforderliche Kraft, um die Dunkle Königin zu bekämpfen. Aber dann, gerade als er in seiner Verzweiflung aufgeben wollte, kam ihm die Antwort…
Raistlin hob den Zeltvorhang und ging hinaus. Die Wache zuckte zusammen und scharrte verlegen mit den Füßen. Das Erscheinen des Erzmagiers war stets zermürbend, selbst für seine persönliche Wache. Niemand hörte jemals sein Kommen. Er schien sich immer aus der Luft zu materialisieren. Der erste Hinweis auf seine Gegenwart war die Berührung seiner glühenden Finger auf einem nackten Arm, sanft geflüsterte Worte oder das Rascheln seiner schwarzen Roben. Das Zelt des Zauberers wurde mit Staunen und Ehrfurcht betrachtet, auch wenn niemand etwas Seltsames bemerkte. Natürlich beobachteten es viele, insbesondere die Kinder, die insgeheim hofften, ein entsetzliches Monster sich der Kontrolle des Erzmagiers entziehen zu sehen, das durch das Lager donnerte und jeden, den es erblickte, verschlang, bis sie es mit einem Stück Pfefferkuchen zähmten. Aber nichts dergleichen trat ein. Der Erzmagier pflegte und erhielt sorgfältig seine Energien. Doch das würde sich heu-
te abend ändern, sinnierte Raistlin. Es blieb ihm keine andere Wahl. »Wache«, murmelte er. »Herr?« rief der Wächter verwirrt. Der Erzmagier sprach selten jemanden an, geschweige denn eine einfache Wache. »Wo ist Crysania?« Der Wächter konnte ein verächtliches Schürzen seiner Lippen bei der Antwort nicht unterdrücken, daß sich die »Hexe« für den Abend seiner Meinung nach in General Caramons Zelt zurückgezogen habe. »Soll ich jemand nach ihr schicken?« fragte er Raistlin mit so offensichtlicher Abneigung, daß der Magier ein Lächeln nicht unterlassen konnte, das jedoch im Schatten seiner schwarzen Kapuze verborgen blieb. »Nein«, erwiderte Raistlin, als wäre er über diese Information erfreut. »Und mein Bruder, hast du etwas von ihm gehört? Wann wird seine Rückkehr erwartet?« »General Caramon hat die Nachricht übermitteln lassen, daß er morgen eintreffen wird«, fuhr der Wächter in verblüfftem Ton fort, überzeugt, daß der Magier bereits Bescheid wußte. »Wir sollen seine Ankunft erwarten und gleichzeitig dafür sorgen, daß uns die Nachschubkolonne einholen kann. Die ersten Wagen sind heute nachmittag eingetroffen.« Ein plötzlicher Gedanke fiel dem Wächter ein. »Wenn… wenn du daran denkst, diese Befehle zu ändern, Herr, sollte ich den Hauptmann der Wache rufen…« »Nein, nein, nichts dergleichen«, unterbrach ihn Raistlin beruhigend. »Ich wollte lediglich sicherstellen, daß ich heute abend nicht gestört werde – von etwas oder von jemandem. Ist das klar? Und wie ist dein Name?« »Michael«, antwortete der Wächter. »Wenn dies deine Befehle sind, werde ich sie befolgen.«
»Gut«, antwortete Raistlin. Er schwieg einen Augenblick und starrte in die Nacht hinaus, die zwar kalt, aber von Lunitari und den Sternen hell erleuchtet war. Solinari nahm ab und bildete nichts weiter als einen silbernen Splitter am Himmel. Wichtiger für Raistlins Augen war der Mond, den nur er allein sehen konnte. Nuitari, der Schwarze Mond, war voll und rund, ein dunkles Loch zwischen den Sternen. Raistlin trat einen Schritt näher zu dem Wächter. Er schob seine Kapuze aus dem Gesicht, ließ das Licht des roten Mondes auf seine Augen fallen. Der Wächter schrak zusammen und trat unwillkürlich zurück, aber seine Ausbildung zum Ritter von Solamnia ließ ihn schnell die Fassung wiedergewinnen. Raistlin spürte, wie sich der Mann versteifte. Er sah die Reaktion und lächelte wieder. Er hob eine schlanke Hand und legte sie auf die gepanzerte Brust des Wächters. »Niemand darf mein Zelt betreten«, wiederholte er in dem sanften Flüsterton, den er wirksam einzusetzen wußte. »Gleichgültig, was passiert! Niemand – Crysania, mein Bruder, du… niemand!« »Ich verstehe, Herr«, sagte Michael. »Möglicherweise wirst du in dieser Nacht seltsame Dinge hören oder sehen«, fuhr Raistlin fort. »Ignoriere es. Wenn jemand dieses Zelt betritt, so geschieht das auf die Gefahr seines eigenen Lebens… und meines!« »Ja, Herr!« antwortete Michael und schluckte. Schweiß lief über sein Gesicht, obwohl die Nachtluft ungewöhnlich kalt war. »Du bist – oder warst – ein Ritter von Solamnia?« fragte Raistlin plötzlich.
Michael wirkte nervös, sein Blick schwankte. Er öffnete den Mund, aber Raistlin schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Gedanken. Du brauchst es mir nicht zu erzählen. Du hast zwar deinen Bart abrasiert, aber ich kann es an deinem Gesicht erkennen. Ich kannte einmal einen Ritter, verstehst du? Darum schwöre, daß du meinen Wunsch befolgst.« »Ich schwöre«, flüsterte Michael. Der Magier nickte, offensichtlich zufrieden, und drehte sich zu seinem Zelt um. Michael, befreit von den Augen, in denen er nur sich selbst sah, ging zu seinem Posten zurück. Im letzten Augenblick hielt Raistlin inne, seine Roben raschelten leise um ihn. »Ritter«, flüsterte er. Michael wandte sich um. »Falls jemand mein Zelt betritt«, sagte der Magier mit freundlicher, angenehmer Stimme, »und meine Zauberei stört, will ich nichts anderes erwarten – falls ich überlebe –, als deine Leiche auf dem Boden vorzufinden. Das ist die einzige Entschuldigung, die ich für Versagen akzeptiere.« »Ja, Herr«, antwortete Michael. »Die Ehre ist mein Leben.« »Ja.« Raistlin zuckte die Achseln. »So endet das im allgemeinen.« Er trat in sein Zelt und ließ Michael in der Dunkelheit zurück, der darauf wartete, was hinter seinem Rücken im Zelt passieren würde. Er wünschte, sein Vetter Garik wäre hier, um diese seltsame und unheilvolle Wache mit ihm zu teilen. Aber Garik war bei Caramon. Michael sah sich sehnsüchtig im Lager um. Feuer brannten, es wurde wärmer, gewürzter Wein gereicht, und es herrschte gute Kameradschaft und Gelächter. Raistlin überquerte den Zeltboden und blieb vor einer
großen Holztruhe stehen, die neben seinem Bett stand. Die mit magischen Runen versehene Truhe war der einzige Besitz Raistlins – außer dem Stab des Magus – , den er niemandem zu berühren erlaubte. Als Raistlin den Deckel der Truhe hob, studierte er gelassen ihren Inhalt – die nachtblauen Zauberbücher, die Gefäße und Flaschen und Beutel mit Zauberzutaten, seine eigenen schwarzgebundenen Zauberbücher, eine Sammlung von Schriftrollen und mehrere schwarze Roben, die ganz unten zusammengefaltet lagen. Er besaß keine magischen Ringe oder Anhänger, wie sie sich im Besitz geringerer Magier befinden würden. Diese verschmähte Raistlin als für Schwächlinge angemessen. Sein Blick flog schnell über all diese Gegenstände einschließlich eines dünnen, verschlissenen Buches, das einen zufälligen Beobachter zum Staunen verleitet hätte. Der Titel, in auffälligen Buchstaben geschrieben, um das Interesse des Käufers zu erregen, lautete: »Taschenspielertechniken zum Überraschen und Erfreuen!« Raistlin griff nach unten zwischen seine Roben und holte eine kleine Dose hervor. Auch diese Dose wurde von Runen beschützt, die auf ihrer Oberfläche eingeschnitzt waren. Magische Worte murmelnd, um ihre Wirkung aufzuheben, öffnete der Magier ehrfürchtig die Dose. Darin befand sich nur ein kleiner Gegenstand – ein verzierter, silberner Ständer. Sorgfältig nahm Raistlin den Ständer heraus, erhob sich und trug ihn zu dem Tisch, der mitten im Zelt stand. Der Magier setzte sich auf einen Stuhl, griff in eine der vielen Geheimtaschen seiner Robe und holte einen kleinen Kristallgegenstand hervor. In Farben aufwirbelnd, glich er
auf den ersten Blick einer Spielmurmel. Wenn man jedoch den Gegenstand näher betrachtete, erkannte man, daß die Farben lebendig waren. Sie bewegten und verschoben sich ständig, als ob sie zu entkommen versuchten. Raistlin legte die Murmel auf den Ständer. Sie wirkte dort lächerlich, viel zu klein. Und dann plötzlich, wie immer, hatte sie die richtige Größe angenommen. Die Murmel hatte sich vergrößert, der Ständer war geschrumpft – vielleicht war Raistlin selbst geschrumpft, denn jetzt hatte der Magier das Gefühl, selbst lächerlich zu wirken. Es war für ihn ein vertrautes Gefühl zu wissen, daß die Kugel der Drachen – denn das war diese schimmernde, farbenaufwirbelnde Kristallkugel – stets versuchte, ihren Anwender in Nachteil zu setzen. Aber vor langer Zeit – nein, in zukünftigen Zeiten – hatte Raistlin die Kugel der Drachen zu beherrschen gelernt. Er hatte gelernt, die Essenz der Drachen, die in ihr wohnte, zu kontrollieren. Raistlin entspannte seinen Körper, schloß die Augen und gab sich seiner Magie hin. Er legte seine Finger auf das kalte Kristall der Kugel der Drachen und sprach die uralten Worte: »Ast bilak moiparalan/Suh akvlar tantangusar.« Die Eiseskälte der Kugel begann sich über seine Finger auszubreiten und ließ seine Knochen schmerzen. Raistlin biß die Zähne zusammen und wiederholte die Worte. Die wirbelnden Farben in der Kugel begannen wild zu kreisen. Raistlin starrte in den verwirrenden Strudel, bekämpfte den Schwindel, der ihn ergriff, und hielt standhaft seine Hände auf der Kugel. Langsam flüsterte er noch einmal die Worte. Die Farben hörten mit ihren Wirbelbewegungen auf, und in der Mitte erglühte ein Licht. Raistlin blinzelte, runzelte
dann die Stirn. Das Licht sollte weder schwarz noch weiß sein, sondern von allen Farben und doch von keiner, die Mischung des Guten und des Bösen und der Neutralität symbolisierend, mit der die Essenz der Drachen in der Kugel verbunden war. So war es auch immer der Fall gewesen, seitdem er zum ersten Mal in die Kugel geschaut und um ihre Kontrolle gerungen hatte. Aber das Licht schien jetzt von dunklen Schatten durchzogen zu sein. Er untersuchte es eingehender, nüchtern, jegliche eingebildeten Phantasievorstellungen verbannend. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. Da waren Schatten, die an den Rändern schwebten, Schatten von… Flügeln! Aus dem Licht traten zwei Hände hervor. Raistlin ergriff sie und keuchte. Die Hände zerrten an ihm mit solcher Kraft, daß Raistlin, völlig unvorbereitet, fast die Beherrschung verlor. Erst als er spürte, daß er von den Händen in das mit Schatten überzogene Licht der Kugel hineingezogen wurde, brachte er seine ganze Willenskraft auf und riß die Hände wieder in seine Richtung. »Was soll das bedeuten?« verlangte Raistlin streng zu erfahren. »Warum forderst du mich heraus? Vor langer Zeit bin ich dein Meister geworden.« »Sie ruft… Sie ruft, und wir müssen gehorchen!« »Wer ruft, wer ist wichtiger als ich?« fragte Raistlin mit einer höhnischen Grimasse, obwohl sein Blut plötzlich kälter war als die Kugel. »Unsere Königin! Wir hören ihre Stimme, die sich in unsere Träume einschleicht, unseren Schlaf stört. Komm, Meister, wir nehmen dich mit! Komm, schnell!« Die Königin! Raistlin erbebte unwillkürlich. Die Hände,
die seine Schwäche spürten, begannen ihn wieder hineinzuziehen. Wütend stärkte Raistlin seinen Griff um sie und hielt inne, um seine Gedanken zu ordnen, die genauso wild wirbelten wie die Farben in der Kugel. Die Königin! Natürlich, das hätte er voraussehen müssen. Sie hatte – teilweise – die Welt betreten und befand sich jetzt bei den bösen Drachen. Vor Urzeiten durch das Opfer des solamnischen Ritters Huma aus Krynn verbannt, hatten die guten und die bösen Drachen an geheimen Orten geschlafen. Die guten Drachen ungestört weiterschlafen lassend, hatte die Dunkle Königin, Takhisis, der fünfköpfige Drache, die bösen Drachen geweckt, sie für ihre Sache, nämlich ihren Versuch, die Macht über die Welt zu erlangen, um sich geschart. Die Kugel der Drachen, die sich zwar aus den Essenzen aller Drachen – der guten, bösen und neutralen – zusammensetzte, reagierte natürlich besonders intensiv auf die Befehle der Königin, zumal gegenwärtig ihre böse Seite vorherrschend war, verstärkt durch das Wesen ihres Meisters. Sind diese Schatten, die ich sehe, die Flügel der Drachen oder die Schatten meiner eigenen Seele? fragte sich Raistlin, während er in die Kugel starrte. Jedoch blieb ihm keine Zeit zum Grübeln. Die Gedanken schossen so schnell durch seinen Kopf, daß er nach einem Atemzug die Gefahr erkannte. Wenn er nur eine Sekunde die Kontrolle verlieren würde, hätte Takhisis ihn erobert. »Nein, meine Königin«, murmelte er und behielt den festen Griff um die Hände in der Kugel bei. »Nein, das wird für dich nicht so einfach sein.« Zu der Kugel sprach er leise,
aber bestimmt: »Ich bin immer noch dein Meister. Ich bin derjenige, der dich von Silvanesti und Lorac, dem verrückten Elfenkönig, befreit hat. Ich bin derjenige, der dich sicher vom Blutmeer von Istar weggetragen hat. Ich bin Rai…« Er zögerte, schluckte den bitteren Geschmack in seinem Mund hinunter und sagte mit zusammengepreßten Zähnen: »Ich bin… Fistandantilus, Herr über Vergangenheit und Gegenwart, und ich befehle dir, mir zu gehorchen!« Das Licht der Kugel trübte sich. Raistlin spürte, wie die Hände zitterten und im Begriff waren wegzugleiten. Zorn und Angst wallten in ihm hoch, aber er unterdrückte diese Gefühle und hielt weiterhin die Hände fest. Das Zittern hörte auf, die Hände entspannten sich. »Wir gehorchen, Meister.« Raistlin wagte einen Seufzer der Erleichterung auszustoßen. »Sehr gut«, sagte er, hielt aber seine Stimme weiterhin streng wie ein Vater zu einem bestraften Kind. Kalt fuhr er fort: »Ich muß mit meinem Lehrling im Turm der Erzmagier in Palanthas Kontakt aufnehmen. Befolge meinen Befehl. Trage meine Stimme durch den Äther der Zeit. Trage meine Worte zu Dalamar.« »Sprich die Worte, Meister. Er wird sie hören, so wie er seinen Herzschlag hört, und so wirst du auch seine Antwort hören.« Raistlin nickte.
Dalamar schloß das Zauberbuch und ballte vor Enttäuschung die Hände zur Faust. Er war überzeugt, alles richtig ausgeführt zu haben, die Worte mit der richtigen Betonung ausgesprochen zu haben, den Gesang in der vorgeschriebenen Anzahl wiederholt zu haben. Die Zutaten waren auch die entsprechenden gewesen. Er hatte Raistlin diesen Zauberspruch hundertmal sprechen hören. Trotzdem gelang es ihm nicht. Er vergrub erschöpft den Kopf in den Händen, schloß die Augen und rief sich Erinnerungen an seinen Meister ins Gedächtnis zurück, hörte Raistlins sanfte Stimme, versuchte sich an den genauen Tonfall und Rhythmus zu erinnern, versuchte nachzuvollziehen, was er falsch gemacht haben könnte. Es half nichts. Nun, dachte Dalamar mit einem erschöpften Seufzer, ich muß einfach abwarten, bis er zurückkehrt. Der Dunkelelf erhob sich, sprach ein Wort der Magie, und der anhaltende Lichtzauber, den er auf eine Kristall-
kugel auf dem Schreibtisch von Raistlins Bibliothek geworfen hatte, flimmerte aus. Kein Feuer brannte im Kamin. Die Spätfrühlingsnacht in Palanthas war warm. Dalamar hatte sogar das Fenster einen Spalt geöffnet. Raistlins Gesundheit war in seinen besten Zeiten allenfalls schwankend. Er verabscheute frische Luft und saß lieber in seinem Arbeitszimmer, von Wärme und den Düften der Rosen und des Zerfalls eingehüllt. Normalerweise störte es Dalamar nicht. Aber es gab Zeiten, insbesondere im Frühling, wenn sich seine Elfenseele nach der Waldheimat sehnte, die er für immer verlassen hatte. Am Fenster stehend, den Duft frischen und neuen Lebens einatmend, erlaubte Dalamar es sich, wenigstens einen Augenblick an Silvanesti zu denken. Ein Dunkelelf – einer, der abseits vom Licht stand. Das war Dalamar für sein Volk. Als sie ihn in den schwarzen Roben ertappten, die kein Elf ohne zusammenzuzucken ertragen konnte, und geheime Künste ausüben sahen, die für jeden seines niedrigen Ranges und seiner niedrigen Stellung verboten waren, hatten die Elfen Dalamar an Händen und Füßen gefesselt, seinen Mund geknebelt und seine Augen verbunden. Dann war er auf einen Karren geworfen und zu den Grenzen seines Landes gebracht worden. Der Sicht beraubt, waren Dalamars letzte Erinnerungen an Silvanesti der Geruch der Espen, der blühenden Blumen und des fruchtbaren Lehmbodens gewesen. Damals war es auch Frühling, fiel ihm ein. Würde er zurückkehren, wenn er konnte? Würde er dies hier gegen eine Rückkehr aufgeben? Empfand er Kummer, Reue? Unabsichtlich fuhr Dalamars Hand zu seiner Brust.
Inzwischen war eine Woche vergangen, daß Raistlins Hand ihn berührt und fünf Löcher in sein Fleisch gebrannt hatte, aber die Wunden waren nicht verheilt. Sie würden auch niemals heilen, wie Dalamar wußte. Den Rest seines Lebens würde er ständig den Schmerz spüren. Wenn er nackt war, würde er sie sehen, diese eiternden Wunden, über die keine Haut wachsen würde. Das war die Strafe, die er für seinen Verrat an seinem Meister bezahlt hatte. Wie er dem großen Par-Salian, dem Oberhaupt des Ordens und Herrn des Turmes der Erzmagier in Wayreth – und auch Dalamars Herrn, denn der Dunkelelfmagier war in Wirklichkeit ein Spion des Ordens der Magier, die Raistlin fürchteten, wie sie keinen Sterblichen in ihrer Geschichte gefürchtet hatten – gesagt hatte: »Es war nicht mehr, als ich verdiente.« Konnte er diesen gefährlichen Ort verlassen? Nach Hause zurückkehren, nach Silvanesti? Dalamar starrte mit einem grimmigen, verzerrten Lächeln aus dem Fenster. Fast ungewollt glitt sein Blick von dem friedlichen, sternenbeleuchteten Himmel zurück in das Zimmer, zu den unzähligen Reihen nachtblau eingebundener Zauberbücher, die die Wände der Bibliothek säumten. Vor seinem geistigen Auge sah er die wundervollen, scheußlichen, schönen, entsetzlichen Bilder, die er als Raistlins Lehrling sehen durfte. Er spürte die Erregung der Macht in seiner Seele, eine Freude, die den Schmerz überwog. Nein, dachte er bei sich, er würde niemals zurückkehren, niemals weggehen… Dalamars Gedanken wurden von dem Klang einer sil-
bernen Glocke unterbrochen. Sie läutete nur einmal, mit einem süßen, leisen Ton. Aber für jene im Turm hatte er die Wirkung eines schmetternden Gongs. Jemand versuchte einzutreten! Jemand hatte den Kampf durch den gefährlichen Eichenwald von Shoikan gewonnen und stand nun vor den Toren des Turms! Dalamar, der bereits Erinnerungen an Par-Salian heraufbeschworen hatte, bekam plötzlich Visionen des mächtigen, weißgekleideten Magiers, der an seiner Türschwelle stand. Auch konnte er hören, was er nur wenige Nächte zuvor der Versammlung mitgeteilt hatte: »Wenn jemand von euch käme und versuchte, während seiner Abwesenheit in den Turm einzudringen, würde ich euch töten.« Auf ein Zauberwort verschwand Dalamar aus der Bibliothek, um nach einem Atemzug am Turmeingang wieder zu erscheinen. Er stand jedoch keiner Versammlung von Zauberern mit funkelnden Augen gegenüber, sondern einer in eine blaue Drachenschuppenrüstung gekleideten Gestalt mit der entsetzlichen gehörnten Maske eines Drachenfürsten. In ihrer behandschuhten Hand hielt die Gestalt ein schwarzes Juwel – ein Nachtjuwel, wie Dalamar erkannte –, und hinter der Gestalt konnte er die Gegenwart eines Wesens mit entsetzlicher Macht – eines toten Ritters – zwar nicht sehen, aber spüren. Mit dem Juwel hielt der Drachenfürst mehrere Wächter des Turms in Schach; ihre blassen Gesichter, die nach warmem Blut lechzten, waren im dunklen Licht des Nachtjuwels sichtbar. Obwohl Dalamar nicht das Gesicht des Fürsten hinter dem Helm sehen konnte, spürte er die Hitze seines Zornes.
»Fürstin Kitiara«, sagte Dalamar würdevoll und verbeugte sich. »Vergib mir diesen groben Empfang. Hättest du uns von deinem Kommen unterrichtet…« Ihren Helm abreißend, funkelte Kitiara Dalamar mit kalten braunen Augen an, die den Lehrling unweigerlich an ihre Verwandtschaft mit dem Meister erinnerten. »…hättest du zweifellos einen noch interessanteren Empfang für mich vorbereitet!« fauchte sie. »Ich komme und gehe, wann es mir paßt, insbesondere wenn ich meinem Bruder einen Besuch abstatten will!« Ihre Stimme erbebte regelrecht vor Zorn. »Ich bin durch eure gottverfluchten Bäume gegangen, nur um vor seiner Haustür angegriffen zu werden!« Ihre Hand zog an ihrem Schwert. Sie trat einen Schritt vor. »Bei den Göttern! Ich sollte dir eine Lektion erteilen, Elfenabschaum…« »Ich wiederhole meine Entschuldigung«, entgegnete Dalamar gelassen, aber in seinen leicht schrägen Augen erschien ein Glanz, der Kitiara in ihrem leichtsinnigen Handeln zögern ließ. Wie die meisten Krieger neigte Kitiara dazu, Zauberkundige als Schwächlinge anzusehen, die ihre Zeit mit Bücherlesen verschwendeten, anstatt sie sinnvoll einzusetzen und kalten Stahl zu handhaben. O ja, sie konnte zweifellos einige protzige Ergebnisse erzielen, aber wenn sie auf die Probe gestellt wurde, würde sie sich lieber auf ihr Schwert verlassen als auf komische Worte und Fledermauskot. Dieses Bild hatte sie von Raistlin, ihrem Halbbruder, und so stellte sie sich auch seinen Lehrling vor – mit der zusätzlichen Bemerkung gegen Dalamar, daß er lediglich ein Elf sei, von einer Rasse, die für ihre Schwächlichkeit bekannt sei.
Aber Kitiara unterschied sich noch in anderer Hinsicht von den meisten Kriegern – der Hauptgrund, warum sie all jene überlebt hatte, die sich gegen sie gestellt hatten. Sie war geübt in der Einschätzung ihrer Gegner. Ein Blick in Dalamars kühle Augen und auf seine gelassene Ausstrahlung angesichts ihres Zornes, und Kitiara fragte sich, ob sie nicht vielleicht einen Gegner gefunden hatte, der ihrer würdig war. Sie verstand ihn nicht, noch nicht. Aber sie sah und erkannte die Gefahr in diesem Mann, und im gleichen Augenblick ertappte sie sich dabei, daß sie sich von ihm angezogen fühlte. Kitiara stieß ihr Schwert in die Scheide zurück und trat einen Schritt vor. »Verzeih mir, Dalamar – das ist doch dein Name, nicht wahr?« Ihr finsterer Blick wurde zu dem bezaubernden Lächeln, mit dem sie schon so viele erobert hatte. »Dieser verdammte Eichenwald zehrt an meinen Nerven. Du hast recht. Ich hätte meinen Bruder über meinen Besuch informieren sollen, aber ich habe impulsiv gehandelt.« Jetzt stand sie sehr dicht bei Dalamar. Sie sah zu seinem Gesicht auf, das von den Schatten seiner Kapuze verborgen war, und fügte hinzu: »Ich… handle häufig impulsiv.« Mit einer Geste schickte Dalamar die Wächter fort. Dann musterte der junge Elf die vor ihm stehende Frau mit einem Lächeln, das ihrem in keiner Weise nachstand. Als Kitiara sein Lächeln sah, streckte sie ihm ihre behandschuhte Hand entgegen. »Verziehen?« Dalamars Lächeln vertiefte sich, aber er sagte lediglich: »Zieh deinen Handschuh aus, Fürstin.« Kitiara zuckte zusammen, und ihre braunen Augen ver-
engten sich gefährlich. Aber Dalamar lächelte sie weiter an. Achselzuckend riß Kitiara an einem Finger nach dem anderen ihres Lederhandschuhs, bis ihre Hand bloß war. »Nun«, sagte sie, und in ihrer Stimme lag ein Hauch Spott, »du siehst, daß ich keine Waffe versteckt habe.« »Oh, das wußte ich bereits«, erwiderte Dalamar und legte ihre Hand in seine. Die Augen auf sie gerichtet, zog der Dunkelelf ihre Hand an seine Lippen und küßte sie. »Wolltest du mir dieses Vergnügen versagen?« Seine Lippen waren warm, seine Hände stark, und Kitiara spürte ihr Blut bei seiner Berührung durch ihren Körper wallen. Aber sie sah in seinen Augen, daß er ihr Spiel durchschaute, und sie sah auch, daß es eins war, das er selbst spielte. Ihr Respekt stieg gleichermaßen wie ihre Vorsicht. Wahrhaftig ein Gegner, der ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit würdig war. Kitiara ließ ihre Hand aus seinem Griff gleiten und legte sie in einer verspielten, weiblichen Geste hinter ihren Rücken, die in krassem Gegensatz zu ihrer Rüstung und ihrem männlichen Auftreten stand. Es war eine Geste, die anziehen und verwirren sollte, und sie sah in dem leicht geröteten Gesicht des Elfs, daß es ihr gelungen war. »Vielleicht habe ich Waffen unter meiner Rüstung versteckt, nach denen du gelegentlich suchen solltest«, sagte sie spöttisch. »Im Gegenteil«, gab Dalamar zurück und faltete seine Hände in seinen schwarzen Roben, »deine Waffen scheinen mir offen dazuliegen. Sollte ich dich durchsuchen, Fürstin, würde ich herausfinden, daß das, was die Rüstung bewacht und wohl von vielen Männern durchdrungen wurde, dennoch von niemandem berührt wurde.« Die Augen des Elfs
lachten. Kitiara hielt ihren Atem an. Verlockt durch seine Worte, immer noch seine warmen Lippen auf ihrer Haut fühlend, trat sie einen weiteren Schritt nach vorne und neigte ihr Gesicht dem des Mannes entgegen. Kühl, sich scheinbar seines Handelns nicht bewußt, bewegte sich Dalamar anmutig zur Seite. Kitiaras Gesicht lief vor Verlegenheit und Zorn rot an. Sie hatte schon Männer getötet, die sie in geringerem Maße verspottet hatten. Aber sie war völlig aus der Fassung gebracht, daß er sich seines Handelns offensichtlich überhaupt nicht bewußt war. Oder doch? Sein Gesicht war sorgfältig bar jeden Ausdrucks. Er sprach über ihren Bruder. Nein, es war Absicht gewesen. Dafür würde er bezahlen… Kitiara durchschaute jetzt ihren Gegner, erkannte sein Können an. Charakteristisch für sie, verschwendete sie keine Zeit, sich für ihren Fehler auszuschimpfen. Sie hatte sich selbst entblößt, sie hatte sich eine Wunde zugezogen. Jetzt war sie vorbereitet. »Ich bedaure zutiefst, daß der Meister nicht hier ist«, sagte Dalamar. »Ich bin sicher, daß dein Bruder betrübt sein wird, dich verpaßt zu haben.« »Nicht hier?« herrschte Kitiara ihn an; ihre Aufmerksamkeit war sofort wieder auf ihn gerichtet. »Wo ist er?« »Das hat er dir sicherlich mitgeteilt«, erwiderte Dalamar mit vorgetäuschter Überraschung. »Er ist zurück in die Vergangenheit gereist, um die Weisheit des Fistandantilus zu erstreben und von dort aus das Portal zu finden, durch das er…« »Du meinst – er ist trotzdem gegangen! Ohne die Kleri-
kerin?« Plötzlich erinnerte sich Kitiara, daß niemand von ihrem Auftrag an Soth erfahren durfte, Crysania zu töten, um ihren Bruder daran zu hindern, daß er die Dunkle Königin herausforderte. Sie biß sich auf die Lippe und warf dem hinter ihr stehenden toten Ritter einen kurzen Blick zu. Dalamar folgte ihrem Blick, lächelte, sah jeden Gedanken hinter dem lieblichen, lockigen Haar. »Oh, du wußtest von dem Angriff auf Crysania?« fragte er unschuldig. Kitiara warf ihm einen finsteren Blick zu. »Du hast mir gesagt, die Frau sei tot!« »Das war sie auch«, bestätigte Soth, der tote Ritter, der sich aus dem Schatten materialisierte und sich vor sie stellte; seine orangefarbenen Augen flackerten in ihren unsichtbaren Höhlen. »Kein Mensch kann meinen Angriff überleben.« Die orangefarbenen Augen richteten ihren Blick auf den Dunkelelf. »Und dein Herr konnte sie nicht retten.« »Nein«, stimmte Dalamar zu, »aber ihr Herr konnte es und hat es auch getan. Paladin hat einen Gegenzauber auf seine Klerikerin geworfen, ihre Seele zu sich gezogen, aber die Hülle ihres Körpers zurückgelassen. Der Zwillingsbruder des Meisters, dein Halbbruder Caramon« – Dalamar verneigte sich vor der in Wut geratenen Kitiara – »nahm die Frau zum Turm der Erzmagier, wo die Magier sie in eine Zeit zu dem einzigen Kleriker zurückschickten, der mächtig genug war, sie zu retten – zu Istars Königspriester.« »Idioten!« knurrte Kitiara; ihr Gesicht wurde leichenblaß. »Sie haben sie zu ihm zurückgeschickt! Genau so, wie Raistlin es auch wollte!« »Das wußten sie«, erwiderte Dalamar leise. »Ich sagte ih-
nen…« »Du hast es ihnen gesagt?« rief Kitiara aus. »Es gibt Angelegenheiten, die ich dir erklären sollte«, antwortete Dalamar. »Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Kommst du mit in meine Gemächer?« Er streckte ihr seinen Arm entgegen. Kitiara zögerte, dann legte sie ihre Hand auf seinen Unterarm. Er faßte sie um ihre Taille und zog sie an sich. »Für den Zauber, der uns transportiert«, erklärte er kühl, »mußt du so dicht wie möglich bei mir stehen.« »Ich bin recht gut in der Lage zu laufen«, gab Kitiara zurück. »Ich kann mit Magie nicht viel anfangen!« Aber während sie sprach, sahen ihre Augen in seine, und ihr Körper drückte sich mit sinnlicher Hemmungslosigkeit gegen seinen harten, muskulösen Körper. »Na schön.« Dalamar verschwand plötzlich. Verblüfft sah sich Kitiara um, als sie seine Stimme hörte. »Die Wendeltreppe hoch, Fürstin. Nach der fünfhundertneununddreißigsten Stufe links.« »Du siehst also«, sagte Dalamar, »mein Einsatz in diesem Spiel ist genauso hoch wie deiner. Ich wurde von der Versammlung aller drei Orden – den Schwarzen, den Weißen und den Roten – aufgefordert, die Verwirklichung dieses schrecklichen Plans zu verhindern.« Die zwei hatten es sich in den prächtig ausgestatteten Gemächern des Dunkelelfs im Turm gemütlich gemacht. Die Reste eines üppigen Mahls hatte der Elf mit einer anmutigen Handbewegung weggezaubert. Jetzt saßen sie vor einem Feuer, das eher um seines Lichtes willen und nicht wegen der warmen Frühlingsnacht angezündet worden war. Die tänzelnden Flammen schienen einer Unterhaltung
förderlicher… »Und warum hat du ihn dann nicht aufgehalten?« verlangte Kitiara wütend zu wissen und stellte ihr goldenes Kelchglas mit einem klirrenden Geräusch ab. »Was ist so schwierig daran?« Mit einer Handbewegung unterstrich sie ihre Worte. »Ein Messer in den Rücken. Schnell, einfach.« Sie sah Dalamar verächtlich an, dann lächelte sie höhnisch. »Oder steht ihr Magier über solchen Dingen?« »Nicht darüber«, antwortete Dalamar und musterte Kitiara aufmerksam. »Es gibt subtilere Methoden, deren wir Schwarzen Roben uns im allgemeinen bedienen, um unsere Feinde loszuwerden. Aber nicht gegen ihn, Fürstin. Nicht gegen deinen Bruder.« Er erschauerte leicht und trank seinen Wein mit übertriebener Eile. »Pah!« schnaubte Kitiara verächtlich. »Hör mir zu, Kitiara«, sagte Dalamar. »Du kennst deinen Bruder nicht. Du kennst ihn nicht, und was noch schlimmer ist, du fürchtest ihn nicht! Das wird dein Verhängnis sein.« »Ihn fürchten? Diesen mageren, hustenden, erbärmlichen Wicht? Das ist doch nicht dein Ernst…«, begann Kitiara lachend. Aber ihr Lachen erstarb. Sie beugte sich vor. »Es ist dein Ernst. Das sehe ich in deinen Augen!« Dalamar lächelte bitter. »Ich fürchte ihn so, wie ich sonst niemanden und nichts auf dieser Welt fürchte – einschließlich des Todes.« Er riß seine schwarzen Roben auf und enthüllte die Wunden auf seiner Brust. Kitiara sah verblüfft auf die eiternden Löcher, dann richtete sie ihren Blick auf das blasse Gesicht des Elfs. »Welche Waffe hat diese Wunden herbeigeführt?« »Seine Hand«, erwiderte Dalamar. »Das Mal seiner fünf Finger. Das war seine Botschaft an Par-Salian und die Ver-
sammlung, als er mir befahl, ihnen seine Grüße auszurichten.« Kitiara hatte schon viele schreckliche Szenen erlebt. Aber als sie diese offenen und eitrigen Wunden und vor ihrem geistigen Auge die schlanken Hände ihres Bruders sah, die sich in das Fleisch des Dunkelelfs brannten, konnte sie ein Schaudern nicht unterdrücken. Auf ihren Stuhl zurücksinkend, überdachte sie sorgfältig alles, was Dalamar ihr gesagt hatte, und sie begann zu glauben, daß sie Raistlin vielleicht unterschätzt hatte. Mit ernstem Gesicht nippte sie an ihrem Wein. »Er plant also, das Portal zu durchschreiten«, sagte sie langsam zu Dalamar. »Er will das Portal mit der Klerikerin durchschreiten. Und dann? Ihm ist doch wohl klar, daß er die Dunkle Königin nicht auf ihrer eigenen Ebene bekämpfen kann!« »Natürlich weiß er das«, antwortete Dalamar. »Er ist stark, aber dort ist sie stärker. Und darum beabsichtigt er, sie hervorzulocken, sie zu zwingen, in diese Welt zu treten. Hier, so glaubt er, kann er sie vernichten.« »Wahnsinn!« flüsterte Kitiara. »Er ist wahnsinnig!« Sie setzte hastig ihr Kelchglas ab, als die Flüssigkeit über ihre zitternden Hände spritzte. »Er hat sie auf dieser Ebene erlebt, als sie lediglich ein Schatten war, als sie am vollständigen Eintreten gehindert wurde. Er kann sich nicht vorstellen, wie sie…« Sie erhob sich und ging nervös über den weichen Teppich mit seinen Bildern von Bäumen und Blumen, die die Elfen so liebten. Plötzlich frierend, stellte sie sich vors Feuer. Dalamars schwarze Roben raschelten, als er an ihre Seite trat. »Was denkt ihr Magier, was passieren wird?« fragte Kitiara unvermittelt. »Wer wird gewinnen, falls er seinen ver-
rückten Plan erfolgreich ausführt? Hat er überhaupt eine Chance?« Dalamar zuckte mit den Schultern, trat einen Schritt näher und legte seine Hände auf Kitiaras schlanken Hals. Seine Finger liebkosten sanft ihre glatte Haut. Das Gefühl war herrlich. Kitiara schloß die Augen und holte zitternd Luft. »Die Magier wissen es nicht«, sagte Dalamar leise und beugte sich herab, um Kitiara unter dem Ohr zu küssen. Sie streckte sich wie eine Katze und wölbte ihren Körper gegen seinen. »Hier wäre er in seinem Element«, fuhr Dalamar fort. »Die Königin wäre geschwächt. Aber sie wird sicherlich nicht einfach zu besiegen sein. Einige glauben, daß die magische Schlacht zwischen den beiden zur Zerstörung der Welt führen könnte.« Kitiara hob die Hand, fuhr mit ihr durch das dichte, seidenweiche Haar des Elfs und zog seine gierigen Lippen an ihre Kehle. »Aber… hat er eine Chance?« fragte sie heiser. Dalamar blickte ihr ins Gesicht. In ihren Augen las er ihre Gedanken. »Natürlich. Es besteht immer eine Chance.« »Und was wirst du unternehmen, wenn er das Portal durchschreitet?« Kitiaras Hände ruhten leicht auf Dalamars Brust, wo ihr Halbbruder sein schreckliches Zeichen hinterlassen hatte. Ihre Augen leuchteten vor Leidenschaft, die fast, aber nicht ganz, ihren Verstand in den Hintergrund stellte. »Ich soll ihn aufhalten«, sagte Dalamar. »Ich soll das Portal blockieren.« Seine Hand fuhr über ihre gewölbten Lippen. »Welche Belohnung erhältst du für diese gefährliche Aufgabe?« Sie drückte sich enger an ihn, biß spielerisch in
seine Fingerspitzen. »Dann bin ich der Herr des Turms«, antwortete er. »Und das nächste Oberhaupt des Ordens der Schwarzen Roben. Warum?« »Ich könnte dir helfen«, sagte Kitiara mit einem Seufzer und ließ ihre Finger über Dalamars Brust nach oben zu seinen Schultern gleiten. Fast krampfhaft schlossen sich Dalamars Hände noch fester um sie, zogen sie noch näher. »Ich könnte dir helfen«, wiederholte Kitiara. »Du kannst ihn nicht allein bekämpfen.« »Ah, meine Liebe«, Dalamar musterte sie mit einem bitteren Lächeln, »wem würdest du helfen – mir oder ihm?« »Nun«, antwortete Kitiara, »das hängt ganz davon ab, wer gewinnt!« Dalamars Lächeln wurde breiter, seine Lippen fuhren über ihre Haut. Er flüsterte in ihr Ohr: »So verstehen wir uns, Fürstin.« »Oh, wir verstehen uns«, sagte Kitiara und seufzte vor Lust. »Und jetzt genug von meinem Bruder! Ich würde gern etwas fragen. Etwas, was mich schon seit langem neugierig macht. Was tragt ihr Zauberkundigen eigentlich unter euren Roben, Dunkelelf?« »Sehr wenig«, murmelte Dalamar. »Und was tragt ihr Kriegerinnen unter eurer Rüstung?« »Nichts.« Kitiara war verschwunden. Dalamar lag dösend in seinem Bett. Sein Kopfkissen roch immer noch nach dem Duft ihres Haares, nach Parfüm und Stahl – eine seltsame, berauschende Mischung. Der Dunkelelf streckte sich genüßlich aus. Sie würde ihn
verraten, daran zweifelte er nicht. Und sie wußte, daß er sie vernichten würde, falls sie ihm bei der Erfüllung seines Ziels im Weg stände. Keiner empfand dieses Wissen als bitter. In der Tat verlieh es ihrem Liebesspiel eine zusätzliche seltsame Würze. Dalamar schloß die Augen und ließ sich in den Schlaf treiben, als er durch das geöffnete Fenster das Geräusch von Drachenflügeln hörte, die sich zum Flug spreizten. Er stellte sich Kitiara vor, auf ihrem blauen Drachen sitzend, der Drachenhelm im Mondschein glitzernd… »Dalamar!« Der Dunkelelf zuckte zusammen und richtete sich auf. Er war hellwach. Furcht rann durch seinen Körper. Bei dieser vertrauten Stimme erzitternd, sah er sich im Zimmer um. »Meister?« fragte er zögernd. Niemand war da. Er legte eine Hand an den Kopf. »Ein Traum«, murmelte er. »Dalamar!« Wieder die Stimme, dieses Mal unmißverständlich. Dalamar sah sich hilflos um, seine Furcht steigerte sich. Es sah Raistlin nicht ähnlich zu spielen. Der Erzmagier hatte den Zeitreisezauber geworfen. Er war in die Vergangenheit zurückgereist. Er war vor einer Woche aufgebrochen und würde erst in vielen Wochen zurückerwartet werden. »Meister, ich höre dich«, sagte Dalamar und versuchte, mit fester Stimme zu sprechen. »Aber ich kann dich nicht sehen. Wo…« »Ich bin, wie du vermutest, in der Vergangenheit, Lehrling. Ich spreche zu dir durch die Kugel der Drachen. Ich habe eine Aufgabe für dich. Hör mir sorgfältig zu und folge genau meinen Anweisungen. Handle sofort. Keine Zeit darf verlorengehen. Jede Sekunde ist wertvoll…«
Dalamar schloß die Augen, um sich besser konzentrieren zu können, und hörte deutlich die Stimme. Aber er hörte auch Gelächter, das durch das offene Fenster drang. Irgendein Fest zu Ehren des Frühlings hatte begonnen. Draußen an den Toren der Altstadt brannten Feuer, tauschten junge Leute im Licht des Tages Blumen und in der Dunkelheit Küsse aus. Die Luft war süß und schwer von Freude und Liebe und dem Geruch der blühenden Rosen. Aber dann sprach Raistlin, und Dalamar achtete auf nichts anderes mehr. Er vergaß Kitiara. Er vergaß die Liebe. Er vergaß den Frühling.
Bertrem ging leise durch die Korridore der Großen Bibliothek von Palanthas. Er hatte das Frühlingsfest von den Fenstern der Großen Bibliothek aus beobachtet, und jetzt, da er zu seiner Arbeit zwischen den Tausenden von Büchern und Schriftrollen zurückkehrte, die in der Bibliothek verwahrt wurden, verweilte die Melodie eines Liedes noch in seinem Kopf. »Ta-tum, ta-tum«, sang Bertrem leise, um kein Echo in den riesigen Korridoren der Großen Bibliothek hervorzurufen. Da die Bibliothek bereits für die Nacht geschlossen und verriegelt war, war Bertrems Gesang das einzige Geräusch, das ein Echo hervorrufen konnte. Die meisten anderen Ästheten – Mitglieder des Ordens, deren Leben dem Studium und der Erhaltung der Großen Bibliothek gewidmet war – schliefen bereits oder waren in ihre eigenen Arbeiten vertieft. »Ta-tum, ta-tum. Die Augen meiner Geliebten sind die
Augen einer Hirschkuh. Ta-tum, ta-tum. Und ich bin der Jäger, der sich heranschleicht…« Bertrem gab sich sogar einem improvisierten Tanzschritt hin. »Ta-tum, ta-tum. Ich hebe meinen Bogen und ziehe meinen Pfeil…« Bertrem hüpfte um eine Ecke. »Ich schieße den Pfeil ab. Er fliegt in das Herz meiner Geliebten und… Nanu! Wer bist denn du?« Bertrems Herz sprang in seine Kehle, als er plötzlich einer hochgewachsenen Gestalt mit schwarzen Roben und schwarzer Kapuze mitten in der schwachbeleuchteten Marmorhalle gegenüberstand. Die Gestalt antwortete nicht. Sie stand einfach da und starrte ihn schweigend an. Bertrem raffte seinen Verstand und seinen Mut zusammen und funkelte den Eindringling an. »Was hast du hier zu suchen? Die Bibliothek ist geschlossen! Ja, selbst für die Schwarzen Roben.« Er runzelte die Stirn und winkte mit einer dicken Hand. »Verschwinde. Komm morgen wieder und nimm die Vordertür, so wie jeder andere auch.« »Aber ich bin nicht jeder andere«, entgegnete die Gestalt. Bertrem zuckte zusammen; die Gestalt hatte zwar solamnisch geredet, aber er hatte einen elfischen Akzent herausgehört. »Und was Türen betrifft, sind sie für jene bestimmt, die nicht die Macht haben, durch Mauern zu gehen. Ich habe diese Macht, so wie ich auch die Macht zu anderen Dingen habe, von denen viele nicht so angenehm sind.« Bertrem erschauerte. Diese glatte, kühle Elfenstimme sprach keine müßigen Drohungen aus. »Du bist ein Dunkelelf«, entgegnete Bertrem anschuldigend; sein Gehirn überschlug sich mit der Frage, was er tun sollte. Sollte er Alarm schlagen? Nach Hilfe schreien?
»Ja.« Die Gestalt entfernte ihre schwarze Kapuze, so daß das magische Licht, das in den von der Decke herabhängenden Kugeln gefangengehalten wurde – ein Geschenk der Zauberkundigen an Astinus während des Zeitalters der Träume –, auf sein Elfengesicht fiel. »Mein Name ist Dalamar. Ich diene…« »Raistlin Majere!« keuchte Bertrem. Er sah sich unbehaglich um, in der Erwartung, daß der Erzmagier ihn unverzüglich anspringen werde. Dalamar lächelte. Aber in dem Lächeln lag eine kalte, zielstrebige Entschlossenheit, die Bertrem erschauern ließ. »Was… was willst du?« stammelte er. »Du meinst, was mein Herr will«, berichtigte Dalamar. »Hab keine Angst. Ich suche hier lediglich Wissen, sonst nichts. Wenn du mir hilfst, werde ich genauso schnell und lautlos verschwinden, wie ich gekommen bin.« Wenn ich ihm nicht helfe… Bertrem zitterte vom Kopf bis zu den Füßen. »Ich will tun, was in meiner Macht steht, Magus«, stotterte er, »aber du solltest wirklich mit…« »…mir reden«, ertönte eine Stimme aus dem Schatten. Bertrem fiel vor Erleichterung fast in Ohnmacht. »Astinus!« stotterte er und zeigte auf Dalamar, »dies… er… ich habe ihn nicht hereingelassen… erschien… Raistlin Majere…« »Ja, Bertrem«, sagte Astinus besänftigend. Er trat vor. »Ich weiß alles, was sich ereignet hat.« Dalamar hatte sich nicht bewegt, nicht einmal zu verstehen gegeben, daß er sich der Gegenwart Astinus’ bewußt war. »Kehre zu deinen Studien zurück, Bertrem«, fuhr Astinus fort; seine tiefe Baritonstimme dröhnte durch die stummen Korridore. »Ich
werde mich um diese Angelegenheit kümmern.« »Ja, Meister!« Bertrem wich dankbar in den Korridor zurück; seine Roben flatterten um ihn, sein Blick war auf den Dunkelelf gerichtet, der sich weder gerührt noch gesprochen hatte. Der Vorstand der Großen Bibliothek von Palanthas lächelte, aber es war ein inneres Lächeln. In den Augen des Dunkelelfs, der ihn beobachtete, spiegelte das gelassene Gesicht genauso wenig Gefühle wie die sie umgebenden Marmorwände wider. »Folge mir, junger Magier«, sagte Astinus, wandte sich um und ging mit schnellen Schritten den Korridor entlang. Völlig überrascht zögerte Dalamar, dann eilte er hinterher. »Woher weißt du, was ich suche?« verlangte er zu wissen. »Ich bin Geschichtsschreiber«, erwiderte Astinus gleichmütig. »Selbst während wir sprechen und gehen, bin ich mir der Ereignisse, die um uns geschehen, bewußt. Ich höre jedes gesprochene Wort, ich sehe jede verübte Tat, gleichgültig, wie banal, wie gut oder wie schlecht sie ist. So habe ich die ganze Geschichte beobachtet. Da ich der erste war, werde ich auch der letzte sein. Hier entlang.« Er machte eine scharfe Wendung nach links. Dabei hob er eine glühende Lichtkugel aus ihrem Ständer und nahm sie mit. Im Licht konnte Dalamar jetzt lange Reihen von Büchern in Holzregalen sehen. An den Ledereinbänden konnte er erkennen, daß sie alt waren. Aber sie befanden sich in einem hervorragenden Zustand. Die Ästheten staubten sie ständig ab; wenn notwendig, banden sie besonders verschlissene Bücher neu ein. »Hier steht das, was du suchst«, sagte Astinus, »die
Zwergentorkriege.« Dalamar machte große Augen. »Alle diese?« Er blickte auf die scheinbar endlose Bücherreihe; ein Gefühl der Verzweiflung überkam ihn. »Ja«, erwiderte Astinus kalt, »und auch die nächste Bücherreihe.« »Ich… ich…« Dalamar war völlig verlegen. Sicherlich hatte Raistlin die Ungeheuerlichkeit dieser Aufgabe nicht bedacht. Sicherlich erwartete er nicht von ihm, daß er den Inhalt von Hunderten von Bänden innerhalb kurzer Frist verschlang. Dalamar hatte sich niemals zuvor dermaßen hilflos gefühlt. Er lief tiefrot an, als er Astinus’ eisige Augen auf sich spürte. »Vielleicht kann ich helfen«, bot der Historiker sanft an. Ohne den Buchrücken zu lesen, griff Astinus nach oben und holte einen Band aus dem Regal. Er öffnete ihn, überflog schnell die dünnen, brüchigen Seiten; seine Augen suchten eine Zeile nach der anderen der sauberen, sorgfältig und mit schwarzer Tinte geschriebenen Buchstaben ab. »Ah, hier ist es.« Astinus zog ein elfenbeinernes Lesezeichen aus einer Tasche seiner Roben hervor und legte es zwischen zwei Buchseiten, dann schloß er sorgfältig das Buch und überreichte es Dalamar. »Entnimm diesem Buch die Information, nach der er sucht. Und richte ihm folgendes aus: ›Der Wind bläst. Die Fußstapfen im Sand werden ausgelöscht sein, aber erst, nachdem er sie beschritten hat.‹« Er verbeugte sich würdevoll vor dem Dunkelelf, dann ging er an ihm vorbei auf den Korridor zu. Als er dort stand, hielt er an und drehte sich zu Dalamar um, der dastand, das Buch umklammernd, das Astinus in seine Hände gelegt hatte.
»Oh, junger Magier, du brauchst nicht zurückzukommen. Das Buch wird aus eigenem Antrieb seinen Weg zurückfinden, wenn du fertig bist. Ich kann nicht zulassen, daß du die Ästheten erschreckst. Der arme Bertrem hat sich bestimmt ins Bett gelegt. Richte deinem Meister meine Grüße aus.« Astinus verbeugte sich wieder und verschwand im Schatten. Dalamar blieb stehen, grübelte, hörte den langsamen, festen Schritt des Historikers im Korridor verklingen. Schulterzuckend sprach der Dunkelelf ein Wort der Magie und kehrte zum Turm der Erzmagier zurück. »Astinus hat mir seinen eigenen Kommentar über die Zwergentorkriege mitgegeben, Meister. Er bezieht sich auf die uralten Texte, die er schrieb…« »Astinus wußte, was ich brauche. Fahr fort.« »Ja, Meister. Hier beginnt der markierte Abschnitt. ›Und der große Erzmagier Fistandantilus benutzte die Kugel der Drachen, um seinem Lehrling in der Gegenwart den Auftrag zu erteilen, die Große Bibliothek in Palanthas aufzusuchen und in den Geschichtsbüchern zu lesen, um herauszufinden, ob sich das Ergebnis seiner großen Unternehmung als erfolgreich erweisen würde.‹« Dalamars Stimme erstarb, als er diese erstaunliche Erklärung noch einmal las. »Fahr fort!« ertönte die Stimme seines Meisters, und obwohl sie eher in seinem Geist als in seinen Ohren erscholl, entging Dalamar nicht der Ton bitteren Zornes. Eilig riß er seinen Blick von dem Absatz, der vor Hunderten von Jahren geschrieben wurde, aber genau die Mission wiedergab, die er gerade unternommen hatte, und las weiter. »›An dieser Stelle ist es wichtig, Folgendes zu beachten: In den Chroniken, so wie sie an diesem Punkt in der Zeit
existierten, wird darauf hingewiesen…‹ Diese Stelle ist unterstrichen, Meister«, unterbrach sich Dalamar. »Welche Stelle?« »›An diesem Punkt in der Zeit‹ ist unterstrichen.« Raistlin gab keine Antwort, und Dalamar, der einen Augenblick den Faden verloren hatte, fand ihn wieder und hastete weiter. »›Hier wird darauf hingewiesen, daß das Unternehmen erfolgreich gewesen sein könnte. Fistandantilus und der Kleriker Denubis hätten in der Lage sein sollen, gemäß allen Anzeichen, die der große Erzmagier sah, das Portal sicher zu durchschreiten. Was in der Hölle passiert wäre, ist natürlich nicht bekannt, da sich die historischen Ereignisse anders abspielten. In der festen Überzeugung, daß sein Ziel, das Portal zu durchschreiten und die Königin der Finsternis herauszufordern, in seiner Reichweite stand, betrieb Fistandantilus die Zwergentorkriege mit erneuter Energie. Pax Tarkas wurde von den Armeen der Hügelzwerge und der Menschen der Ebenen erobert. (Siehe Chroniken, Bank 126, Buch 6, Seiten 589-700.) Angeführt von Fistandantilus’ großem General Pheragas, einem ehemaligen Sklaven aus dem nördlichen Ergod, den der Zauberer gekauft hatte und als Gladiator bei den Spielen von Istar ausbilden ließ, trieb die Armee des Fistandantilus die Streitkräfte von König Dunkan zurück und zwang die Zwerge, sich in der Gebirgsfestung von Thorbadin zu sammeln. Fistandantilus interessierte dieser Krieg nur wenig. Er diente ihm lediglich zur Förderung seiner eigenen Ziele. Er fand das Portal unter der Gebirgsfestung Zaman, richtete dort sein Hauptquartier ein und begann seine endgültigen Vorbereitungen zur Erlangung der Macht.
Was an diesem Punkt geschah, liegt jenseits meines Wissens, da die hier waltenden magischen Kräfte so mächtig waren, daß sie meine Vision verdunkelten. General Pheragas wurde im Kampf gegen die Dewaren, die Dunkelzwerge von Thorbadin, getötet. Nach seinem Tod zerfiel die Armee des Fistandantilus. Die Bergzwerge zogen aus Thorbadin in Richtung der Festung Zaman. In dem Wissen, daß die Schlacht verloren war und ihnen nur noch wenig Zeit verblieb, eilten Fistandantilus und Denubis während des Kampfes zum Portal. Hier begann der große Zauberer seinen Zauber zu werfen. Im gleichen Augenblick aktivierte ein Gnom, der von den Zwergen von Thorbadin gefangengehalten wurde, ein Zeitreisegerät, das er in der Absicht, seinem Gefängnis zu entkommen, gebaut hatte. Entgegen jedem aufgezeichneten Beispiel in der Geschichte Krynns funktionierte dieses Gnomengerät tatsächlich. Von diesem Punkt an kann ich lediglich spekulieren, aber es scheint wahrscheinlich, daß das Gerät des Gnoms irgendwie auf die feinen und mächtigen Zaubersprüche, die von Fistandantilus gesprochen wurden, einwirkte. Das Ergebnis ist uns allen nur zu gut bekannt. Eine Explosion solchen Ausmaßes erfolgte, daß die Ebene von Dergod völlig zerstört wurde. Beide Armeen wurden fast vollständig ausgelöscht. Die hoch emporragende Gebirgsfestung Zaman zerbrach, fiel in sich zusammen und schuf einen Hügel, der in der Zwischenzeit den Namen Schädeldach erhalten hat. Der unglückliche Denubis kam bei der Explosion ums Leben. Fistandantilus wäre auch gestorben, wenn seine Magie nicht so gewaltig gewesen wäre, daß sie es ihm er-
möglichte, sich an ein Stück Leben zu klammern, obgleich sein Geist gezwungen war, auf einer anderen Ebene zu existieren, bis er den Körper eines jungen Zauberkundigen namens Raistlin Majere fand…‹« »Es reicht!« »Ja, Meister«, murmelte Dalamar. Und dann war Raistlins Stimme verschwunden. Dalamar, der im Arbeitszimmer saß, wußte, daß er allein war. Über das Gelesene äußerst erstaunt, fing er heftig zu beben an. Er blieb auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch – Raistlins Schreibtisch – sitzen und versuchte gedankenverloren, den Sinn des Ganzen zu ergründen, bis sich die Schatten der Nacht zurückzogen und die graue Dämmerung den Himmel erhellte. Ein Prickeln der Erregung ließ Raistlins mageren Körper erbeben. Seine Gedanken waren verwirrt, und er würde eine lange Zeit des Nachdenkens brauchen, um absolute Sicherheit über das zu erlangen, was er gerade herausgefunden hatte. Ein Satz glänzte mit schwindelerregender Helligkeit in seinem Kopf: Das Unternehmen hätte erfolgreich sein können! Raistlin saugte die Luft mit einem Keuchen ein; er erkannte, daß er bis dahin seinen Atem angehalten hatte. Seine Hände auf der kalten Oberfläche der Kugel der Drachen zitterten. Ein Frohlocken wallte durch ihn. Er lachte sein seltsames Lachen, denn die Fußstapfen, die er in seinem Traum sah, führten nicht mehr zu einem Schafott, sondern zu einer Platintür, die mit den Symbolen des Fünfköpfigen Drachen verziert war. Auf seinem Befehl würde sie sich öffnen. Er mußte lediglich diesen Gnom finden und töten… Raistlin spürte ein heftiges Ziehen an seinen Händen. »Hör auf!« befahl er und verfluchte sich, die Beherrschung
verloren zu haben. Aber die Kugel gehorchte seinem Befehl nicht. Zu spät erkannte Raistlin, daß er ins Innere gezogen wurde… Er bemerkte, daß sich die Hände verändert hatten, als sie ihn näher und näher zogen. Vorher waren sie nicht zu unterscheiden gewesen – weder menschlich noch elfisch, jung oder alt. Aber jetzt waren es Hände mit einer weiblichen, weichen, geschmeidigen, glatten weißen Haut, und sie hatten den Griff des Todes. Schwitzend, die heiße Welle der Panik bekämpfend, die ihn zu zerstören drohte, nahm Raistlin seine ganze Kraft zusammen, sowohl körperlich als auch geistig, und rang mit der Willenskraft, die sich hinter den Händen befand. Immer näher und näher zogen sie ihn. Er konnte jetzt das Gesicht sehen – das Gesicht einer Frau, wunderschön, mit dunklen Augen, sie sprach Worte der Verführung, auf die sein Körper mit Leidenschaft reagierte. Näher und näher… Verzweifelt rang Raistlin, den Griff zu brechen. Tief tauchte er in seine Seele – aber wonach er suchte, wußte er kaum. Irgendwo existierte ein Teil von ihm, der ihn retten würde… Das Bild einer wunderschönen, weißgekleideten Klerikerin mit dem Medaillon von Paladin erschien. Sie glänzte in der Dunkelheit, und kurz lockerte sich der Griff der Hände. Raistlin hörte das anzügliche Lachen einer Frau. Das Bild zerbrach. »Mein Bruder!« rief Raistlin, und ein Bild von Caramon trat in den Vordergrund. In eine goldene Rüstung gehüllt, sein Schwert in seinen Händen aufblitzend, stand er vor seinem Zwillingsbruder und beschützte ihn. Aber der
Krieger hatte noch keinen Schritt nach vorne getan, als er niedergeschlagen wurde – von hinten. Raistlins Kopf fiel nach vorne, Kraft und Bewußtsein verließen ihn. Und dann erschien eine einsame Gestalt. Sie war nicht in Weiß gekleidet, sie trug kein glänzendes Schwert. Sie war klein und schmuddelig, und ihr Gesicht war tränenverschmiert. In ihrer Hand hielt sie eine tote Ratte. Caramon erreichte das Lager gerade bei den ersten Strahlen der Morgensonne. Er war die ganze Nacht durchgeritten und jetzt steif, müde und unglaublich hungrig. Gedanken an sein Frühstück und sein Bett hatten ihn in der vergangenen Stunde getröstet, und sein Gesicht brach in ein Lächeln aus, als das Lager in Sichtweite kam. Er wollte gerade seinem erschöpften Pferd die Sporen geben, als er genauer auf das Lager sah. Er zügelte sein Pferd und brachte seine Eskorte mit erhobener Hand zum Anhalten. »Was ist dort los?« fragte er beunruhigt. Garik, der zu ihm ritt, schüttelte verwundert den Kopf. Rauchschwaden hätten von den morgendlichen Herdfeuern aufsteigen und das verstimmte Prusten von Männern hätte ertönen sollen, die aus tiefem Schlaf geweckt wurden. Aber keine Feuer waren angezündet, Leute liefen in offensichtlicher Ziellosigkeit umher oder standen in Gruppen zusammen, die sich in heller Aufregung befanden. Jemand erblickte Caramon und stieß einen Schrei aus. Die Menge strömte voran. Sofort rief Garik seine Männer zu sich, und innerhalb von Sekunden waren sie herangaloppiert und bildeten einen Schutzschild aus gepanzerten Körpern um ihren General. Zum ersten Mal erlebte Caramon diesen Beweis von
Treue und Zuneigung seiner Männer, und einen Augenblick konnte er vor Überwältigung nicht sprechen. Dann befahl er ihnen, beiseite zu gehen. »Es ist keine Rebellion«, knurrte er und ritt weiter, als seine Männer sich widerstrebend teilten, um ihn passieren zu lassen. »Schaut! Niemand ist bewaffnet. Die Hälfte von ihnen sind Frauen und Kinder.« Inzwischen hatte die Menge Caramon erreicht. Hände ergriffen sein Zaumzeug, erschreckten sein Pferd, das seine Ohren bedrohlich gespitzt hatte, bereit, mit seinen Hufen auszuschlagen. »Tretet zurück!« brüllte Caramon; er konnte das Tier kaum in Schach halten. »Tretet zurück! Seid ihr verrückt geworden? Ihr seht genauso aus, was ihr auch seid – ein Haufen Bauern! Ich sagte, tretet zurück! Was soll das hier bedeuten? Wo sind meine Offiziere?« »Hier, Herr«, ertönte die Stimme eines der Hauptleute. Rotgesichtig, verlegen und wütend, schob sich der Mann durch die Menge. Gekränkt über die Rüge ihres Befehlshabers, beruhigten sich die Männer, und das Geschrei erstarb zu einem vereinzelten Gemurmel, als eine Gruppe von Wachen, die dem Hauptmann folgte, den Mob aufzulösen begann. »Ich bitte um Entschuldigung für diese Situation, Herr«, begann der Hauptmann, als Caramon vom Pferd stieg und besänftigend den Hals des Tieres tätschelte. Bei Caramons Berührung wurde es ruhig, obgleich seine Augen immer noch rollten und seine Ohren zuckten. Der Hauptmann war ein älterer Mann, kein Ritter, sondern ein Söldner mit dreißigjähriger Erfahrung. Sein Gesicht war mit Narben übersät, ein Teil seiner linken Hand
war ihm bei einem Schwertstreich abhanden gekommen, und er hinkte deutlich. An diesem Morgen war sein vernarbtes Gesicht vor Scham errötet, als er dem strengen Blick seines jungen Generals ausgeliefert war. »Die Kundschafter haben über euer Kommen berichtet, Herr, aber bevor ich dich erreichen konnte, fiel dieses Rudel wilder Hunde« – er funkelte die zurückweichenden Männer an – »über dich her wie eine räudige Hündin. Ich bitte um Entschuldigung«, murmelte er wieder. »Ich habe keine Respektlosigkeit beabsichtigt.« »Was ist geschehen?« fragte Caramon und führte sein erschöpftes Pferd zu Fuß in das Lager. Der Hauptmann antwortete nicht sofort, sondern warf Caramons Eskorte einen bedeutsamen Blick zu. Caramon verstand. »Geht voraus, Männer«, sagte er. »Garik, kümmere dich um mein Quartier.« Als er und der Hauptmann allein waren, wandte sich Caramon dem Mann mit fragendem Blick zu. Der alte Söldner sagte nur zwei Worte: »Der Zauberer.« Als Caramon Raistlins Zelt erreichte, erblickte er den Kreis bewaffneter Wachen, die Neugierige zurückhielten. Beim Anblick Caramons wurden hörbare Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, viele Bemerkungen fielen: »Der General ist jetzt da. Er wird sich um die Angelegenheit kümmern.« Von einigen Flüchen des Hauptmanns aufgefordert, trat die Menge zurück, um einen Weg für Caramon freizumachen. Die bewaffneten Wachen traten zur Seite, als er vorbeiging, dann schlossen sie schnell wieder die Reihen. Schiebend und drängend spähte die Menge über die Schultern der Wachen, um etwas erkennen zu können. Da ihm
der Hauptmann nicht schildern wollte, was sich ereignet hatte, wäre Caramon überhaupt nicht überrascht gewesen, einen Drachen auf dem Zelt seines Bruders sitzen oder auch das ganze Ding von grünen und purpurroten Flammen umzingelt zu sehen. Statt dessen sah er einen jungen Mann Wache stehen und Crysania, die vor dem verschlossenen Zelt hin und her schritt. Caramon starrte den jungen Mann neugierig an; er glaubte ihn wiederzuerkennen. »Gariks Vetter«, sagte er zögernd und versuchte sich an den Namen zu erinnern. »Michael, nicht wahr?« »Ja, General«, antwortete der junge Ritter. Er richtete sich auf und versuchte zu grüßen. Aber es war ein kläglicher Versuch. Das Gesicht des jungen Mannes war blaß und verhärmt, seine Augen rotgerändert. Er war kurz davor, vor Erschöpfung umzufallen, aber er hielt seinen Speer vor sich, blockierte grimmig den Weg zum Zelt. Als Crysania Caramons Stimme hörte, sah sie auf. »Paladin sei Dank!« rief sie leidenschaftlich. Ein Blick auf ihr blasses Gesicht genügte, um Caramon erzittern zu lassen. »Vertreibt sie von hier!« befahl er dem Hauptmann, der sofort seinen Männern entsprechende Anweisungen gab. Mit Murren löste sich die Menge auf; die meisten glaubten, daß das Aufregendste sowieso schon vorbei wäre. »Caramon, hör mir zu!« Crysania legte ihre Hand auf seinen Arm. »Das…« Aber Caramon schüttelte sie ab. Ihre Erklärungsversuche ignorierend, wollte er sich an Michael vorbeischieben. Der junge Ritter hob seinen Speer und versperrte ihm den Weg. »Geh mir aus dem Weg!« befahl Caramon verblüfft.
»Es tut mir leid, Herr«, erklärte Michael mit fester Stimme, obgleich seine Lippen bebten, »aber Fistandantilus hat mir aufgetragen, daß niemand vorbeigehen darf.« »Versteh mich«, sagte Crysania aufgebracht, als Caramon einen Schritt zurücktrat und Michael in sprachlosem Zorn anstarrte. »Ich habe versucht, dir das zu sagen, wenn du nur zuhören würdest! Das geht jetzt schon die ganze Nacht so, und ich weiß, daß im Zelt etwas Schreckliches passiert! Aber Raistlin ließ ihn einen Schwur leisten… O Caramon, ich hatte solche Angst!« murmelte sie. »Es war furchtbar. Ich bin aus tiefem Schlaf wach geworden, als ich Raistlin meinen Namen schreien hörte. Ich lief hierher… In dem Zelt blitzten Lichter auf. Er kreischte unzusammenhängende Worte, dann rief er deinen Namen… und dann begann er verzweifelt zu stöhnen. Ich wollte hineingehen, aber…« Sie machte eine schwache Handbewegung zu Michael, der jedoch geradeaus starrte. »Und dann begann seine Stimme zu… zu verblassen! Es war schrecklich, als ob sie irgendwie weggesaugt werden würde!« »Und was geschah dann?« Crysania hielt inne. Dann erzählte sie zögernd weiter. »Er… er sagte etwas anderes. Ich konnte es kaum verstehen. Es wurde auf einmal dunkel. Dann hörte man einen durchdringenden Krach, und… und alles war ganz still, entsetzlich still!« »Was hat er gesagt? Konntest du es verstehen?« »Das ist eben das Seltsame.« Crysania hob den Kopf und sah ihn verwirrt an. »Es klang wie… Bupu.« »Bupu?« wiederholte Caramon erstaunt. »Bist du dir sicher?« Sie nickte.
»Warum sollte er den Namen einer Gossenzwergin rufen?« wollte Caramon wissen. »Ich habe keine Ahnung.« Crysania seufzte erschöpft und strich ihr Haar zurück. »Ich habe mich das Gleiche gefragt. Aber… war das nicht die Gossenzwergin, die ParSalian erzählt hat, wie nett und freundlich Raistlin zu ihr gewesen ist?« Caramon schüttelte den Kopf. Er würde sich später Gedanken über Gossenzwerge machen. Seine unmittelbare Sorge galt Michael. Lebhafte Erinnerungen an Sturm kamen ihm in den Sinn. Wie viele Male hatte er diesen Blick im Gesicht des Ritters gesehen? Verdammter Raistlin! Michael würde jetzt bis zum Umfallen an seinem Posten stehen und sich dann umbringen, wenn er aufwachte und erkannte, daß er versagt hatte. Es mußte einen Weg geben, dies zu umgehen. Caramon sah zu Crysania. Sie konnte ihre klerikalen Kräfte einsetzen, um den jungen Mann zu verzaubern… Caramon schüttelte den Kopf. Dann wäre das ganze Lager schnell bei der Hand, sie auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen! Verdammter Raistlin! Verdammte Kleriker! Verdammte Ritter von Solamnia! Er stieß einen Seufzer aus und ging zu Michael. Der junge Mann hielt ihm drohend seinen Speer entgegen, aber Caramon streckte lediglich seine Hände hoch, um zu zeigen, daß sie leer waren. Er räusperte sich, wußte zwar, was er sagen wollte, aber nicht ganz, wie er anfangen sollte. Und als er dann an Sturm dachte, sah er plötzlich wieder das Gesicht des Ritters, so klar und deutlich, daß es ihn verblüffte. Aber es
war nicht das Gesicht, wie er es in seinem Leben gehabt hatte – streng, ehrenhaft, kalt. Und dann wußte Caramon es – er sah Sturms Gesicht im Tod! Zeichen schrecklichen Leidens und Schmerzes hatten die rauhen Linien des Stolzes und der Unbeweglichkeit geglättet. In den dunklen, gehetzten Augen lagen Mitgefühl und Verständnis, und – so schien es Caramon – der Ritter lächelte ihn traurig an. Einen Augenblick war Caramon über diese Vision dermaßen verwirrt, daß es ihm die Sprache verschlug und er nur noch große Augen machen konnte. Aber das Bild verschwand, ließ an seiner Stelle das Gesicht des jungen Ritters zurück, grimmig, verängstigt, erschöpft – entschlossen… »Michael«, sagte Caramon mit immer noch erhobenen Händen, »ich hatte einst einen Freund, einen Ritter von Solamnia. Er… er ist jetzt tot. Er starb in einem Krieg, weit von hier entfernt, als… Aber das spielt jetzt keine Rolle. Stur… mein Freund war genauso wie du. Er glaubte an die Ehre. Er war bereit, sein Leben dafür zu geben. Aber am Ende fand er heraus, daß es noch etwas Wichtigeres gibt.« Michaels Gesicht verhärtete sich dickköpfig. Er umklammerte seinen Speer noch fester. »Das Leben«, sagte Caramon leise. Er sah ein Flackern in den rotgeränderten Augen des Ritters, ein Flackern, das von einem Tränenschimmer überflutet wurde. Wütend blinzelte Michael die Tränen weg, der Ausdruck fester Entschlossenheit kehrte zurück, obgleich Caramon den Eindruck hatte, daß er nun mit einem Ausdruck der Verzweiflung vermischt war. Caramon trieb seine Worte in sein Herz, als ob sie die Spitze eines Schwertes wären, das das Herz des Feindes
sucht. »Das Leben, Michael. Das ist alles, was da ist. Das ist alles, was wir haben.« Langsam, immer noch mit erhobenen Händen tat er einen Schritt auf den jungen Mann zu. »Ich bitte dich nicht, deinen Posten zu verlassen. Wir beide wissen, daß du ihn nicht aus Feigheit verläßt.« Caramon schüttelte den Kopf. »Die Götter wissen, was du in dieser Nacht gesehen und gehört hast. Ich bitte dich, deinen Posten aus Mitgefühl zu verlassen. Mein Bruder ist im Zelt, vielleicht liegt er im Sterben, vielleicht ist er schon tot. Als er dich den Eid schwören ließ, hatte er das nicht voraussehen können. Ich muß zu ihm gehen. Laß mich vorbei, Michael. Daran ist nichts Unehrenhaftes.« Michael stand steif da, seine Augen geradeaus gerichtet. Und dann fiel sein Gesicht zusammen. Seine Schultern sackten ein, und der Speer fiel aus seiner kraftlosen Hand. Caramon fing den jungen Mann in seinen Armen auf und hielt ihn fest. Ein Schluchzen ging durch den Körper des jungen Mannes. Caramon klopfte ihm unbeholfen auf die Schulter. »He, einer von euch«, er sah sich um, »soll Garik suchen… Ah, da bist du ja«, sagte er erleichtert, als er den jungen Ritter herbeikommen sah. »Bring deinen Vetter zum Feuer. Gib ihm etwas Warmes zu essen und kümmere dich darum, daß er schläft. Du«, er zeigte auf einen anderen Wächter, »übernimmst seinen Posten.« Als Garik seinen Vetter fortführte, wollte Crysania das Zelt betreten, aber Caramon hielt sie zurück. »Ich gehe zuerst«, sagte er. Einen Einwand erwartend, war er überrascht, daß sie unterwürfig zur Seite trat. Caramons Hand lag an dem Zeltvorhang, als er ihre Hand auf seinem Arm spürte. Verblüfft drehte er sich um.
»Du bist genauso klug wie Elistan, Caramon«, sagte sie und musterte ihn aufmerksam. »Ich hätte dem jungen Mann die gleichen Worte sagen können. Warum habe ich das nicht?« Caramon errötete. »Ich… ich habe ihn einfach verstanden, das ist alles«, brummte er. »Ich wollte ihn nicht verstehen.« Crysania biß sich auf die Lippen. »Ich wollte nur, daß er mir gehorcht.« »Hör mir zu«, sagte Caramon grimmig. »Deine Gewissensprüfung kannst du später ablegen. Gerade jetzt brauche ich deine Hilfe!« »Ja, natürlich.« Der entschlossene, selbstbewußte Ausdruck kehrte in Crysanias Gesicht zurück. Ohne zu zögern, folgte sie Caramon in Raistlins Zelt. Sich der Wache und anderer neugieriger Augen bewußt, schloß Caramon schnell den Zeltvorhang hinter sich. Im Inneren war es dunkel und still, so dunkel, daß beide anfangs im Schatten nichts erkennen konnten. Sie blieben am Eingang stehen und warteten darauf, daß sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnten, als Crysania sich plötzlich an Caramon klammerte. »Ich kann ihn atmen hören!« sagte sie erleichtert. Caramon nickte und bewegte sich langsam vorwärts. Der hell werdende Tag vertrieb die Nacht aus dem Zelt, und mit jedem weiteren Schritt konnte er deutlicher sehen. »Dort«, sagte er. Er stieß eilig einen Schemel beiseite, der in seinem Weg stand. »Raist!« rief er leise, als er sich hinkniete. Der Erzmagier lag auf dem Boden. Sein Gesicht war aschgrau, seine dünnen Lippen blau. Sein Atem ging flach und unregelmäßig, aber er atmete. Caramon hob seinen
Bruder vorsichtig auf und trug ihn zu seinem Bett. Im schwachen Licht konnte er ein leichtes Lächeln auf Raistlins Lippen sehen, als wäre er in einem angenehmen Traum verloren. »Ich glaube, jetzt schläft er nur noch«, sagte Caramon verwirrt zu Crysania, die über Raistlin eine Decke zog. »Aber irgend etwas ist geschehen. Das steht fest.« Er sah sich bei dem heller werdenden Licht im Zelt um. »Ich frage mich… Im Namen der Götter!« Crysania sah über ihre Schulter zu ihm. Die Zeltstangen waren versengt und geschwärzt, der Stoff selbst angekohlt. Es sah aus, als ob ein Feuer vorbeigefegt wäre, doch unverständlicherweise war das Zelt stehengeblieben und kaum beschädigt. Jedoch war es ein Gegenstand auf dem Tisch, der Caramon zu diesem Ausruf veranlaßt hatte. »Die Kugel der Drachen!« flüsterte er eingeschüchtert. Vor Urzeiten von den Magiern aller drei Roben hergestellt, versehen mit der Essenz der guten, bösen und neutralen Drachen, mächtig genug, um die Gestade der Zeit zu überspannen, ruhte die Kristallkugel auf dem silbernen Ständer, den Raistlin für sie angefertigt hatte. Einst war es ein Gegenstand mit einem magischen, in Trance versetzenden Licht gewesen. Doch jetzt war es ein Gegenstand der Dunkelheit, leblos; ein Sprung lief durch seine Mitte. »Sie ist zerstört«, sagte Caramon mit leiser Stimme.
Die Armee des Fistandantilus überquerte die Straße von Schallmeer in einer baufälligen Flotte, die sich aus Fischerbooten, Segelschiffen, einfachen Flößen und Vergnügungsbooten zusammensetzte. Trotz der geringen Entfernung nahm es eine Woche in Anspruch, die Menschen, die Tiere und die Versorgungsgüter zu transportieren. Als Caramon zur Überfahrt bereit war, hatte die Armee einen so starken Zuwachs erhalten, daß nicht genügend Boote vorhanden waren, um alle auf einmal auf die andere Seite zu befördern. Viele Schiffe mußten mehrere Male hin und her segeln. Die größten wurden für den Viehtransport eingesetzt. In schwimmende Ställe umgewandelt, gab es Boxen für die Pferde und die mageren Rinder und Pferche für die Schweine. Obwohl eigentlich alles glatt verlief, bekam Caramon jede Nacht nur ungefähr drei Stunden Schlaf, so beschäftigt war er mit Problemen, von denen alle überzeugt waren,
daß nur er sie lösen konnte – von seekranken Rindern bis hin zu einer mit Schwertern beladenen Kiste, die zufälligerweise über Bord fiel und wieder geborgen werden mußte. Als dann das Ende abzusehen war und fast alle das andere Ufer erreicht hatten, kam ein Sturm auf. Das Meerwasser zu Schaum aufpeitschend, brachte der Sturm zwei Boote zum Scheitern, die aus ihren Vertäuungen glitten. Zwei Tage lang war eine Überfahrt nicht möglich. Aber schließlich schafften es alle in verhältnismäßig guter Verfassung. Es gab nur wenige Fälle von Seekrankheit, ein Kind fiel über Bord und wurde gerettet, ein Pferd brach sich ein Bein, als es in Panik seine Box niedertrat. Bei der Landung an der Küste von Abanasinia traf die Armee auf den Häuptling der Menschen der Ebenen – die Barbaren, die die nördlichen Ebenen Abanasinias bewohnten, waren begierig, das fabelhafte Gold von Thorbadin zu gewinnen – und auf die Abgesandten der Hügelzwerge. Als Caramon den Vertreter der Hügelzwerge kennenlernte, erlebte er einen tiefen Schock, der ihn tagelang aus der Fassung brachte. »Regar Feuerschmied und Begleitung«, verkündete Garik vom Zelteingang her. Er machte Platz und ließ eine Gruppe von drei Zwergen eintreten. Caramon starrte den ersten Zwerg ungläubig an. Raistlins dünne Finger schlossen sich schmerzhaft um seinen Arm. »Kein Wort!« flüsterte der Erzmagier. »Aber er… er sieht aus… und der Name!« stammelte Caramon leise. »Natürlich«, entgegnete Raistlin, als wäre das das Selbstverständlichste auf der Welt, »das ist Flints Großvater.«
Flints Großvater! Flint Feuerschmied – sein alter Freund. Der alte Zwerg, der in der Heimat der Götter in Tanis’ Armen gestorben war, der alte Zwerg, so mürrisch und jähzornig und dennoch so zartfühlend, der Zwerg, der auf Caramon uralt gewirkt hatte. Er war noch nicht einmal geboren! Das war sein Großvater. Caramon wurde heiß, dann kalt. Flint war noch nicht geboren. Tanis existierte noch nicht, Tika existierte nicht. Er selbst existierte nicht! Nein! Das konnte nicht sein! Das Zelt kippte vor Caramons Augen um. Er befürchtete, krank zu sein. Glücklicherweise sah Raistlin die Blässe im Gesicht seines Bruders. Indem er erkannte, was das Gehirn seines Bruders zu verarbeiten versuchte, erhob er sich, stellte sich vor seinen verwirrten Bruder und sprach die angemessenen Willkommensworte zu den Zwergen. Aber gleichzeitig warf er Caramon einen dunklen, durchdringenden Blick zu, ihn streng an seine Pflicht erinnernd. Caramon riß sich zusammen und schaffte es, die beunruhigenden und verwirrenden Gedanken beiseite zu schieben und sich einzureden, daß er sich später in Ruhe damit auseinandersetzen würde. Das hatte er sich in letzter Zeit häufig vorgenommen. Unglücklicherweise schien niemals eine ruhige Zeit zu kommen… Caramon stand auf. Es gelang ihm sogar, die Hand des untersetzten, graubärtigen Zwergs gelassen zu schütteln. »Ich habe es nie für möglich gehalten«, erklärte Regar frei heraus, als er sich auf einen angebotenen Stuhl setzte und einen Krug Bier annahm, den er in einem Zug hinunterstürzte, »daß ich mich auf Verhandlungen mit Menschen und Zauberern einlasse, insbesondere, wenn es gegen mein eigen Fleisch und Blut geht.« Er warf einen finsteren Blick
in den leeren Krug. Caramon bedeutete dem Diener mit einer Geste, den Krug nachzufüllen. Regar behielt seinen finsteren Blick bei, bis sich der Schaum gesetzt hatte. Dann hob er ihn seufzend zu Caramon, der zu seinem Stuhl zurückgekehrt war. »Seltsame Zeiten bringen seltsame Brüder zustande.« »Das kannst du wohl laut sagen«, murmelte Caramon mit einem kurzen Blick zu Raistlin. Er hob sein Glas mit Wasser und trank es. Raistlin befeuchtete aus Höflichkeit seine Lippen an einem Glas Wein, dann stellte er es ab. »Wir werden uns morgen früh treffen, um unsere Pläne zu erörtern«, sagte Caramon. »Der Häuptling der Barbaren wird dann auch dabei sein.« Regars finsterer Blick vertiefte sich, und Caramon seufzte innerlich auf; er sah Ärger voraus. Aber er fuhr in herzlichem Ton fort: »Heute abend werden wir gemeinsam speisen, um unser Bündnis zu besiegeln.« Daraufhin erhob sich Regar. »Ich werde wohl mit den Barbaren kämpfen müssen«, knurrte er. »Aber beim Barte Reorx’, ich werde nicht mit ihnen speisen – und auch nicht mit dir!« Caramon stand wieder auf. In seine zeremonielle Rüstung gekleidet, bot er einen eindrucksvollen Anblick. Der Zwerg spähte zu dem Krieger hoch. »Du bist ganz schön groß, nicht wahr?« bemerkte er. Schnaufend schüttelte er den Kopf. »Aber ich glaube eher, daß du mehr Muskeln als Grips im Kopf hast.« Caramon konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, obwohl sein Herz schmerzte. Es hörte sich so sehr nach Flint an! Aber Raistlin lächelte nicht. »Mein Bruder hat für militä-
rische Angelegenheiten eine außerordentliche Begabung«, sagte er kalt und unerwartet. »Als wir von Palanthas aufbrachen, waren wir lediglich drei. Es ist General Caramons Geschick und schnellem Denkvermögen zu verdanken, daß wir in der Lage waren, diese mächtige Armee zu deinen Ufern zu bringen. Du kannst also wohl seine Führerschaft akzeptieren.« Regar schnaufte wieder und beäugte Raistlin scharf unter seinen buschigen, grauen, überhängenden Brauen hervor. Seine schwere Rüstung klirrte und rasselte um ihn, als er sich umdrehte und aus dem Zelt stapfen wollte, doch dann hielt er inne. »Drei von euch, aus Palanthas? Und jetzt – das?« Seine durchdringenden dunklen Augen glitten zu Caramon, seine Hand machte eine umfassende Bewegung, die das Zelt, die Ritter in ihren glänzenden Rüstungen, die draußen Wache hielten, die Hunderte von Männern, die er beim Entladen der Versorgungsgüter gesehen hatte, die anderen Männer, die Kampftechniken übten, die Reihen der Kochfeuer einbezog… Überrascht von dem ungewohnten Lob seines Bruders, versagte Caramon die Stimme. Aber er schaffte ein Nicken. Der Zwerg schnaufte wieder, aber diesmal lag mürrische Bewunderung in seinen Augen, als er sich klirrend aus dem Zelt bewegte. Plötzlich wandte er den Kopf ins Zelt zurück. »Ich komme zum Abendessen«, knurrte er ungnädig, dann stampfte er von dannen. »Auch ich muß aufbrechen, mein Bruder«, sagte Raistlin geistesabwesend, als er sich erhob und zum Zelteingang ging. Er schien in Gedanken verloren, als er eine Berührung auf seinem Arm wahrnahm. Über diese Störung verärgert, sah er seinen Bruder an. »Nun?«
»Ich… ich wollte nur sagen… ich danke dir.« Caramon schluckte, dann fuhr er heiser fort: »Für das, was du gesagt hast. Du… du hast niemals gesagt… so etwas Ähnliches über mich gesagt… zuvor.« Raistlin lächelte. Sein dünnlippiges Lächeln spiegelte sich nicht in seinen Augen, aber Caramon war zu verlegen und erfreut, um das zu bemerken. »Es ist die schlichte Wahrheit, mein Bruder«, erwiderte Raistlin achselzuckend. »Und es half, unser Ziel zu erreichen, da wir diese Zwerge als Verbündete brauchen. Ich habe dir schon oft gesagt, daß du Qualitäten hast, wenn du nur die Zeit und die Mühe auf dich nehmen würdest, sie zu entwickeln. Immerhin sind wir Zwillinge«, fügte er hinzu. »Ich glaube nicht, daß wir uns so unähnlich sein können, wie du dir immer einredest.« Er wollte seinen Weg fortsetzen, als er noch einmal die Hand seines Bruders an seinem Arm fühlte. Einen ungeduldigen Seufzer unterdrückend, wandte er sich um. »Ich wollte dich damals in Istar töten, Raistlin…« Caramon stockte, befeuchtete seine Lippen. »Und ich glaube, daß ich Grund dazu hatte. Zumindest nach dem, was ich da erfahren habe. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.« Er seufzte, sah auf seine Füße, hob dann seinen roten Kopf. »Mir… gefällt der Gedanke, daß du dies getan hast – daß du die Magier in eine Situation gebracht hast, daß sie mich in die Vergangenheit zurückgeschickt haben – um mir zu helfen, diese Lektion zu lernen. Das war wohl nicht der Grund«, fügte Caramon eilig hinzu, als er sah, wie sich die Lippen seines Bruders zusammenzogen und seine kalten Augen noch kälter wurden, »und ich bin sicher, daß es zumindest nicht alles ist. Du tust das für dich selbst, das habe
ich jetzt erkannt. Aber ich glaube, irgendwo nimmt ein Stück von dir Anteil, wenigstens ein bißchen. Ein Teil von dir hat mich in Schwierigkeiten gesehen, und du wolltest helfen.« Raistlin musterte amüsiert seinen Bruder. Dann zuckte er wieder die Achseln. »Na schön, Caramon. Wenn deine romantische Vorstellung dir hilft, besser zu kämpfen, wenn sie deinem Denken hilft und wenn sie mich vor allem aus diesem Zelt führt und zurück zu meiner Arbeit, dann halte auf alle Fälle daran fest. Für mich hat es wenig Bedeutung.« Er entzog sich dem Griff seines Bruders und ging zum Zelteingang. Dort angekommen, zögerte er. Er wandte den Kopf halb um und sagte mit leiser, aber aufgebrachter Stimme, in die sich ein Hauch von Traurigkeit mischte: »Du hast mich nie verstanden, Caramon.« Dann verschwand er; seine schwarzen Roben raschelten um seine Knöchel. Das Festessen an jenem Abend wurde im Freien abgehalten. Der Anfang war nicht gerade erfolgversprechend. Speisen und Getränke waren auf langen Holztischen aufgestellt, die eilig aus den für die Überfahrt verwendeten Flößen gebaut worden waren. Regar erschien mit einer ungefähr vierzig Zwerge starken Eskorte. Schattennacht, Häuptling der Barbaren, dessen grimmiges Gesicht, hoher Wuchs und stolzes Auftreten Caramon unweigerlich an Flußwind erinnerten, brachte vierzig Krieger mit. Caramon wiederum hatte vierzig seiner Männer ausgewählt, von denen er wußte oder zumindest hoffte, daß er ihnen vertrauen konnte und sie sich mit dem Schnaps zurückhielten. Gemäß Caramons Plan sollten die einzelnen Gruppen für sich sitzen, also Zwerge und Barbaren voneinander getrennt. So würden sie sich nicht in Gespräche einlassen
können. Als alle Gruppen erschienen waren, standen sie da und starrten sich in grimmigem Schweigen an. Die Zwerge hatten sich um ihren Führer geschart, die Barbaren um ihren, während sich Caramons Männer unsicher umschauten. Caramon trat vor die zwei Gruppen. Er hatte sich sorgfältig angezogen, trug seine goldene Rüstung und den Helm von den Gladiatorenspielen sowie neue, zusammenpassende Teile. Mit seiner bronzenen Haut, seinem unvergleichlichen Körperbau bot er eine imponierende Erscheinung, so daß selbst die mürrischen Zwerge Blicke widerwilliger Anerkennung austauschten. Caramon hob die Hände. »Ich begrüße meine Gäste!« rief er mit seiner lauten Baritonstimme. »Willkommen! Dies ist ein Festessen der Kameradschaft…« Spöttisches Gemurmel und höhnisches Schnaufen war die Antwort. Einer der Zwerge spuckte auf den Boden; dies brachte mehrere Barbaren dazu, ihre Bogen zu ergreifen und einen Schritt nach vorn zu treten, da das Ausspucken als schlimme Beleidigung bei den Menschen der Ebene angesehen wurde. Ihr Häuptling hielt sie zurück, und die Unterbrechung kühl ignorierend, fuhr Caramon fort: »Wir werden gemeinsam kämpfen, vielleicht auch gemeinsam sterben. Laßt uns darum unseren ersten Abend gemeinsam verbringen und Essen und Trinken wie Brüder teilen. Ich weiß, daß es euch nicht behagt, von euren Verwandten und Freunden getrennt zu sein, aber ich will, daß ihr neue Freundschaften schließt. Und aus diesem Grund habe ich mich zu einem kleinen Spiel entschieden.« Die Zwerge rissen die Augen auf, Bärte wackelten, und leises Murren rumorte durch die Luft. Kein erwachsener Zwerg gab sich jemals mit Spielen ab! (Gewisse Freizeitak-
tivitäten wie »Steintreffen« und »Hammerwerfen« waren als sportliche Leistungen anerkannt.) Schattennacht und seine Männer jedoch freuten sich; die Barbaren liebten Spiele und Wettkämpfe, diese wurden genauso als Vergnügen betrachtet wie das Kriegführen gegen benachbarte Stämme. Caramon wies auf ein neues, riesiges, kegelförmiges Zelt, das hinter den Tischen stand und Gegenstand vieler neugieriger, argwöhnischer Blicke der Zwerge und Barbaren gewesen war. Es war über sechs Meter hoch und wurde von Caramons Flagge gekrönt. Die Seidenflagge mit dem neunzackigen Stern flatterte im Abendwind, angestrahlt von den Lagerfeuern, die in der Nähe brannten. Als alle Blicke auf das Zelt gerichtet waren, streckte Caramon seine Hand aus, und mit einem Ruck zog er an einem Seil. Sofort fielen die Zeltwände zu Boden, und auf ein Signal von Caramon wurden sie von mehreren Jungen weggezogen. »Was ist das für ein Unsinn?« knurrte Regar, an seiner Axt fummelnd. Ein einzelner, schwerer Pfahl erhob sich aus einem See schwarzen Schlammes. Der Schaft des Pfahls war glattgehobelt und glänzte im Schein des Feuers. Dicht unter der Spitze des Pfahls befand sich eine runde Plattform aus solidem Holz, in die jedoch einige unregelmäßige Löcher geschnitten waren. Aber es war nicht der Anblick des Pfahls oder der Plattform und des Schlammes, der plötzliche Ausrufe des Erstaunens und der Aufregung von Zwergen und Menschen hervorrief. Es war der Anblick, der sich ganz oben an der Pfahlspitze bot. Im Feuerschein glänzten ein Schwert und eine Streitaxt. Aber es handelte sich nicht um die primiti-
ven Eisenwaffen, die die meisten trugen. Diese waren aus dem feinsten geschmiedeten Stahl, ihre hervorragende Handarbeit war für jene sichtbar, die sie aus fast zehn Meter Entfernung anstarrten. »Beim Barte Reorx’!« Regar holte tief Luft. »Ich würde für diese Waffe fünfzig Jahre meines Lebens eintauschen!« »Diese Waffen gehören euch!« verkündete Caramon. Schattennacht und Regar starrten ihn an, ihre Gesichter drückten sprachlose Verwunderung aus. »Wenn«, fuhr Caramon fort, »ihr sie herunterholen könnt!« Ein Stimmengewirr brach unter den Zwergen und Menschen aus. Sofort stürzte jeder zu der Grube. Caramon schrie über den Tumult hinweg: »Regar und Schattennacht, jeder von euch kann neun Krieger zur Hilfe auswählen! Der erste, der die Prämien erreicht, gewinnt sie für sich!« Schattennacht brauchte nicht gedrängt zu werden. Ohne sich um Hilfe zu scheren, sprang er in den Schlamm und begann, auf den Pfahl zuzuwaten. Aber der Schlamm wurde tiefer und tiefer, je näher er dem Ziel kam. Als er den Pfahl erreicht hatte, war er bis über seine Knie in die schleimige Masse eingesunken. Regar nahm sich die Zeit, seinen Gegner zu beobachten. Der Zwergenführer rief neun seiner kräftigsten Männer zusammen und trat mit ihnen in den Schlamm. Die gesamte Gruppe verschwand unverzüglich, ihre schweren Rüstungen ließen sie fast sofort versinken. Ihre Gefährten halfen, sie herauszuziehen. Der letzte, der auftauchte, war Regar. Flüche ausstoßend wischte der Zwerg den Schlamm aus
seinem Bart, dann zog er mit finsterem Blick seine Rüstung aus. Seine Axt hoch über den Kopf haltend, watete er aufs neue in den Schlamm, ohne auf seine Eskorte zu warten. Schattennacht hatte den Pfahl erreicht. An dieser Stelle war der Schlamm nicht so tief – darunter war fester Boden. Der Häuptling umklammerte den Pfahl mit beiden Armen, zog sich aus dem Schlamm hoch und wickelte seine Beine um den Pfahl. Er kletterte ungefähr einen Meter nach oben und grinste seine Stammesbrüder breit an. Dann plötzlich begann er herunterzurutschen. Er biß die Zähne zusammen, versuchte verzweifelt, nicht loszulassen, aber es war sinnlos. Schließlich rutschte der große Häuptling unter dem Gejohl zwergischen Hohns zu Boden. Im Schlamm sitzend, funkelte er grimmig den Pfahl an. Er war mit Tierfett eingeschmiert. Eher schwimmend als laufend erreichte Regar schließlich den Pfahl. Er steckte inzwischen bis zur Taille im Schlamm, aber sein enormer Ehrgeiz hielt ihn aufrecht. »Tritt beiseite«, knurrte er den Barbaren an. »Benutze dein Gehirn! Wenn wir nicht hochkommen, dann holen wir eben den Preis herunter!« Mit einem triumphierenden Grinsen auf seinem schlammverspritzten, bärtigen Gesicht holte Regar seine Axt hervor und führte einen gewaltigen Schlag gegen den Pfahl. Heimlich grinsend krümmte sich Caramon vor Vorfreude. Ein ohrenbetäubendes Geräusch ertönte. Die Axt des Zwergs prallte vom Pfahl zurück, als ob sie in ein Gebirge eingeschlagen hätte – der Pfahl war aus dem dicken Stamm eines Eisenholzbaumes gehauen worden. Als die zurück-
prallende Axt aus den klebrigen Händen des Zwergen flog, wurde Regar durch die Wucht des Aufschlags rücklings in den Schlamm geworfen. Jetzt waren die Barbaren mit dem Lachen an der Reihe – und kein anderer war lauter als ihr schlammüberzogener Häuptling. Der Zwerg und der Mensch funkelten sich an, strafften sich. Das Gelächter erstarb, wurde durch wütendes Gemurmel ersetzt. Caramon hielt den Atem an. Dann glitten Regars Augen zu der eingekerbten Axt, die langsam im Schlamm versank. Er sah zu der wunderschönen Axt hin, deren Stahl im Feuerschein aufblitzte, und mit einem finsteren Blick wandte er sich zu seinen Männern. Regars Männer hatten sich ebenfalls ihrer Rüstungen entledigt und inzwischen ihren Anführer erreicht. Schreiend und fuchtelnd gab Regar ihnen zu verstehen, sie sollten sich neben dem klebrigen Pfahl aufstellen. Dann begannen die Zwerge, eine Pyramide zu bilden. Drei standen unten, zwei kletterten auf ihre Rücken, dann ein weiterer oben drauf. Die unterste Reihe versank bis zur Taille im Schlamm, aber schließlich fanden sie festen Boden und standen sicher. Schattennacht beobachtete den Aufbau in grimmigem Schweigen, dann rief er neun seiner Krieger zu sich. Innerhalb von Sekunden bauten die Menschen ihre eigene Pyramide. Da die Zwerge kleiner waren, waren sie gezwungen, ihre Pyramide am Boden zu verkleinern, um die Spitze zu erreichen. Regar selbst machte den letzten Aufstieg. Schwankend auf der Spitze stehend, während die Zwerge unter ihm stöhnten, streckte er seine Arme der Plattform entgegen, aber nicht weit genug. Schattennacht, der über die Rücken seiner Männer klet-
terte, erreichte mühelos die Unterseite der Plattform. Über das schlammverschmierte Gesicht Regars lachend, versuchte der Häuptling, sich durch eine der merkwürdig geformten Öffnungen zu hangeln. Er paßte nicht durch. Fluchen und Luftanhalten erwiesen sich als nutzlos. Der Mensch konnte seinen drahtigen Körper nicht durch das kleine Loch zwingen. In diesem Augenblick setzte Regar zu einem Sprung auf die Plattform an – und verfehlte sie. Der Zwerg segelte durch die Luft und landete mit einem Plumps in dem Schlamm, während die Wucht seines Sprungs die gesamte Pyramide zum Einstürzen brachte und die Zwerge in alle Richtungen schleuderte. Dieses Mal jedoch lachten die Menschen nicht. Schattennacht starrte auf Regar hinab und sprang plötzlich in den Schlamm. Er landete neben dem Zwerg, bekam ihn zu fassen und zog ihn aus dem Schlamm. Jetzt waren beide fast nicht mehr zu erkennen, von Kopf bis Fuß mit schwarzem Schlamm überzogen. Sie standen da und starrten einander an. »Du weißt genau«, sagte Regar, sich den Schlamm aus den Augen wischend, »daß ich der einzige bin, der durch das Loch paßt.« »Und du weißt genau«, erwiderte Schattennacht mit zusammengebissenen Zähnen, »daß ich der einzige bin, der dich dort hochbringen kann.« Der Zwerg ergriff die Hand des Barbaren. Die zwei bewegten sich schnell über die Menschenpyramide. Schattennacht kletterte zuerst, schuf die Verbindung zur Spitze. Alle jubelten, als Regar auf die Schultern des Mannes kletterte und sich durch das Loch quetschte. Auf die Plattform kriechend, ergriff der Zwerg den
Knauf des Schwertes und den Griff der Axt und hob sie triumphierend über seinen Kopf. Die Menge verstummte. Wieder sahen sich Mensch und Zwerg argwöhnisch an. Das ist es, dachte Caramon. Wieviel von Flint habe ich in dir erkannt, Regar? Wieviel von Flußwind in dir, Schattennacht? Es hängt so viel davon ab! Regar spähte durch das Loch auf das strenge Gesicht des Barbaren herab. »Diese Axt, die von Reorx selbst geschmiedet sein muß, verdanke ich dir, Barbar. Es wird für mich eine Ehre sein, an deiner Seite zu kämpfen. Und wenn du mit mir kämpfen willst, brauchst du eine anständige Waffe!« Unter dem Jubel des gesamten Lagers überreichte er Schattennacht das großartige, glänzende Schwert.
Das Festessen dauerte bis in die Nacht. Das Feld erscholl von Gelächter und Rufen und gutgemeinten Flüchen in den Sprachen der Zwerge und der Barbaren. Raistlin konnte sich ganz mühelos wegstehlen. In der Aufregung vermißte niemand den schweigsamen, zynischen Erzmagier. Als er zu seinem Zelt zurückging, hielt er sich im Schatten. In seinen schwarzen Roben war er nicht mehr als eine flüchtige Bewegung, die man aus dem Augenwinkel erhascht. Crysanias Zelt vermied er. Sie stand im Eingang und beobachtete das Essen mit einem sehnsüchtigen Gesichtsausdruck. Sie wagte nicht, sich anzuschließen, da sie wußte, daß die Anwesenheit der »Hexe« Caramon sehr schaden würde. Es ist schon merkwürdig, dachte Raistlin, daß ein schwarzgekleideter Zauberer in dieser Zeit geduldet wird,
während eine Klerikerin Paladins verachtet und geschmäht wird. In seinen Lederstiefeln leise über das Feld tretend, auf dem die Armee ihr Lager aufgeschlagen hatte, wobei er kaum Fußspuren im feuchten Gras zurückließ, empfand Raistlin bei diesem Gedanken ein grimmiges Vergnügen. Als er zu den Sternen aufsah, musterte er den Platindrachen sowie den gegenüberliegenden Fünfköpfigen Drachen mit einem höhnischen Grinsen. Das Wissen, daß Fistandantilus erfolgreich gewesen wäre, wenn nicht die unvorhergesehene Erfindung eines erbärmlichen Gnoms dazwischengekommen wäre, hatte ein finsteres Vergnügen in Raistlins Seele bewirkt. Der Gnom hatte offenbar die Zeit verändert, auch wenn es unklar blieb, wie er das genau angestellt hatte. Raistlin war zu der Überzeugung gelangt, daß er lediglich in die Gebirgsfestung Zaman eindringen mußte. Von dort aus war es in der Tat einfach, den Weg nach Thorbadin zu finden und diesen Gnom aufzuspüren und unschädlich zu machen. Die Zeit, die vorher verändert worden war, würde zu ihrem angemessenen Fluß zurückfinden. Wo Fistandantilus versagt hatte, würde er erfolgreich sein. Folglich widmete Raistlin nun, wie auch Fistandantilus vor ihm, den Kriegsanstrengungen sein ungeteiltes Interesse und seine volle Aufmerksamkeit, um sicherzustellen, daß er Zaman einnehmen würde. Er und Caramon hatten lange Stunden damit verbracht, über alten Karten zu brüten, die Befestigungen zu studieren und zu vergleichen. Die Eroberung von Pax Tarkas stellte den Schlüssel für eine siegreiche Schlacht dar. Aber Caramon hatte mehr als einmal mit einem schwe-
ren Seufzer erklärt, daß das so gut wie unmöglich sei. »Dunkan wird die Festung stark bemannt haben«, sagte er. Sein Finger ruhte an der Stelle auf der Karte, die die große Festung markierte. »Du erinnerst dich doch, Raist, wie sie gebaut ist, zwischen diesen zwei himmelhohen Gebirgsgipfeln. Diese verfluchten Zwerge können es dort jahrelang aushalten! Sie schließen die Tore, lassen Steine herabstürzen, und wir bleiben stecken! Silberne Drachen mußten diese Steine beseitigen, soweit ich mich erinnere«, fügte er düster hinzu. »Geh um sie herum«, schlug Raistlin vor. Caramon schüttelte den Kopf. »Wo?« Sein Finger fuhr nach Westen. »Qualinesti ist auf einer Seite. Die Elfen schneiden uns in Fleischstückchen und hängen uns zum Trocknen auf.« Er bewegte den Finger nach Osten. »Hier ist entweder Meer oder Gebirge. Für eine Überfahrt haben wir nicht genügend Schiffe, und sieh«, sein Finger fuhr nach unten, »wenn wir hier im Süden landen, in dieser Wüste, bleiben wir mittendrin stecken, im Norden von Pax Tarkas, im Süden von Thorbadin.« Er schritt durch den Raum und blieb gelegentlich stehen, um verärgert einen Blick auf die Karte zu werfen. Raistlin gähnte und erhob sich. Er legte seine Hand leicht auf Caramons Arm. »Erinnere dich daran, mein Bruder«, sagte er leise, »Pax Tarkas ist gefallen!« Caramons Gesicht verfinsterte sich. »Ja«, murmelte er, wütend darüber, daß er an die Tatsache erinnert wurde, daß dies lediglich irgendein riesiges Spiel war, in dem er zu spielen schien. »Ich vermute nicht, daß du dich erinnerst, wie?« »Nein.« Raistlin schüttelte den Kopf. »Aber sie wird fal-
len…« Er machte eine Pause, dann wiederholte er gelassen: »Sie wird fallen!« Aus dem Wald krochen drei dunkle untersetzte Gestalten, die sich vor dem Schein der Lagerfeuer und selbst der Monde und Sterne hüteten. Sie zögerten am Rand des Lagers, als ob sie sich ihres Ziels nicht sicher wären. Schließlich murmelte einer etwas. Die zwei anderen nickten, und dann hasteten sie durch die Dunkelheit. Schnell bewegten sie sich, aber nicht lautlos. Kein Zwerg konnte sich lautlos bewegen, und diese schienen besonders viel Krach zu machen. Sie traten auf jeden kleinen Zweig und murmelten Flüche, während sie weiterstolperten. Raistlin, der sie in der Finsternis seines Zeltes erwartete, hörte ihr Kommen schon von weitem und schüttelte den Kopf. Aber er hatte dies in seinen Plänen berücksichtigt und das Treffen an diesem Abend arrangiert, wenn der Lärm und die Ausgelassenheit des Festessens Deckung bieten würden. »Tretet ein«, sagte er sarkastisch, als das Stampfen eisenbeschuhter Füße vor dem Zelt aufhörte. Es folgte eine Pause, begleitet von schwerem Atmen und einem gemurmelten Ausruf; offenbar wollte niemand als erster das Zelt betreten. Ein knurrender Fluch war die Antwort. An dem Zeltvorhang wurde heftig gezogen, und ein Zwerg erschien. Aufgrund seines kühnen Auftretens war er wohl der Anführer; die zwei anderen folgten ihm nervös und kriecherisch. Der erste Zwerg schritt trotz der tiefen Dunkelheit schnell zum Tisch, der mitten im Zelt stand. Nach Jahren des unterirdischen Lebens hatten die Dewaren ein hervorragendes Nachtsehen entwickelt. Einige, so wurde gemunkelt, verfügten sogar über die Gabe des Elfensehens, die es
ihnen ermöglichte, die Aura von Lebewesen in der Finsternis zu erkennen. Aber trotz seiner guten Augen konnte der Zwerg nicht die schwarzgekleidete Gestalt ausmachen, die ihm an der anderen Tischseite gegenübersaß. Es war, als ob er in der tiefsten Nacht auf etwas noch Dunkleres gestoßen wäre, einen riesigen Spalt, der plötzlich vor seinen Füßen klaffte. Dieser Dewar war stark und ohne Angst und sogar verwegen; aber er konnte ein leichtes Zittern nicht unterdrücken, das am Nacken begann und sich durch seine Wirbelsäule zog. Er setzte sich. »Ihr zwei«, sagte er in der Zwergensprache zu seinen Begleitern, »bewacht den Eingang.« Sie nickten und zogen sich schnell zurück, heilfroh, der Nähe der schwarzgekleideten Gestalt zu entkommen, kauerten sich neben der Öffnung nieder und spähten in den Schatten hinaus. Ein plötzliches Aufflackern von Licht ließ sie jedoch hochschrecken. Ihr Anführer hob mit einem bösartigen Fluch seinen Arm und bedeckte seine Augen. »Kein Licht… kein Licht!« rief er. Dann blieb seine Zunge am Gaumen kleben, und kurz konnte er nur noch unverständliche Geräusche von sich geben. Denn das Licht kam nicht von einer Fackel oder einer Kerze, sondern von einer Flamme, die in der gewölbten Hand des Magiers brannte. Alle Zwerge sind von Natur aus gegen Magie mißtrauisch eingestellt. Die Dewaren, ohne Bildung und zum Aberglauben neigend, gerieten darüber hinaus in Panik, und folglich konnte der simpelste Trick eines jeden Straßenillusionisten einen Zwerg dazu bringen, vor Angst den Atem anzuhalten. »Ich will diejenigen sehen, mit denen ich verhandle«,
sagte Raistlin mit sanfter Stimme. »Fürchte dich nicht, dieses Licht wird von außen nicht zu erkennen sein, und falls jemand vorbeikommt, wird er annehmen, daß ich mit meinen Studien beschäftigt bin.« Langsam senkte der Dewar seinen Arm und blinzelte schmerzhaft im hellen Licht. Seine zwei Begleiter duckten sich wieder, dieses Mal noch näher zum Eingang. Dieser Dewarenführer war der gleiche, der damals auch Dunkans Versammlung beigewohnt hatte. Obgleich sein Gesichtsausdruck von der Grausamkeit geprägt war, die kennzeichnend für die meisten seiner Rasse war, so lag doch in seinen dunklen Augen ein Schimmer praktischer Intelligenz, was ihn besonders gefährlich machte. Diese Augen schätzten nun den vor ihm sitzenden Magier ab, während der Magier ihn abschätzte. Der Dewar war beeindruckt. Wie die meisten Zwerge konnte er nicht viel mit Menschen anfangen. Ein menschlicher Zauberkundiger war doppelt verdächtig. Aber der Dewar war ein scharfsinniger Menschenkenner, und er sah in den dünnen Lippen des Magiers, dem hageren Gesicht und den kalten Augen ein skrupelloses Verlangen nach Macht, das in seinem Verständnis lag. »Du… Fistandantilus?« knurrte der Dewar mürrisch. »Der bin ich.« Der Magier schloß seine Hand, und die Flamme verschwand, worüber der Zwerg erleichtert war. »Und ich beherrsche die Zwergensprache, so daß wir auch in deiner Sprache verhandeln können. In der Tat würde ich es vorziehen, damit keine Gelegenheit zu Mißverständnissen auftritt.« »Gut.« Der Dewar lehnte sich nach vorne. »Ich bin Argat, Lehnsherr meiner Sippe. Ich habe deine Botschaft erhalten.
Wir sind interessiert. Aber wir müssen mehr wissen.« »Was bedeutet: ›Was ist für uns drin?‹« sagte Raistlin spöttisch. Er streckte seine schlanke Hand aus und zeigte in eine Ecke seines Zeltes. Argat konnte anfangs nichts erkennen. Dann begann ein Gegenstand in der Ecke zu leuchten, erst ganz sanft, dann mit zunehmender Helligkeit. Argat warf Raistlin einen scharfen, argwöhnischen Blick zu. »Du kannst es näher untersuchen«, sagte Raistlin schulterzuckend. »Du kannst es auch heute abend mitnehmen… falls wir uns einig werden.« Aber Argat war bereits aufgestanden und stolperte zu der Ecke des Zeltes. Auf seine Knie fallend, tauchte er seine Hände in die Truhe voller Stahlmünzen, die in einem hellen, magischen Schein glänzten. Lange Zeit konnte er den Reichtum nur mit glitzernden Augen anstarren, die Münzen durch seine Finger gleiten lassen. Dann erhob er sich mit einem Seufzer und ging zu seinem Platz zurück. »Du hast einen Plan?« Raistlin nickte. Das magische Glühen der Münzen verblaßte, aber es blieb ein schwaches Leuchten zurück, das ständig den Blick des Zwerges auf sich lenkte. »Spione berichten uns«, sagte Raistlin, »daß Dunkan plant, unserer Armee auf der Ebene vor Pax Tarkas gegenüberzutreten. Seine Absicht ist, uns dort zu besiegen oder, falls ihm das nicht gelingt, uns zumindest schwere Verluste zuzufügen. Wenn wir gewinnen, werden sich seine Streitkräfte in die Festung zurückziehen, die Tore schließen und Tausende Tonnen von Gestein auf uns herabstürzen. Mit den Vorräten an Lebensmitteln und Waffen, die er dort gehortet hat, kann er so lange warten, bis wir aufgeben und uns zurückziehen oder bis seine eigene Verstärkung aus
Thorbadin anrückt, um uns im Tal einzuschließen. Stimmt das?« Argat fuhr sich durch seinen schwarzen Bart. Er zog sein Messer hervor, warf es in die Luft und fing es geschickt wieder auf. Er sah den Magier an, hielt plötzlich inne, breitete seine Hände aus. »Es tut mir leid. Eine nervöse Angewohnheit«, erklärte er und grinste tückisch. »Ich hoffe, es beunruhigt dich nicht. Wenn es dich stört, kann ich…« »Wenn es mich stört, kann ich es aushalten«, unterbrach ihn Raistlin sanft. »Fahr fort.« Schulterzuckend, sich dennoch unter dem Blick dieser seltsamen Augen unbehaglich fühlend, die er im Schatten der schwarzen Kapuze spüren, aber nicht sehen konnte, warf Argat das Messer in die Luft. Eine schlanke weiße Hand kam aus der Dunkelheit, ergriff das Messer am Griff und stieß geschickt die scharfe Klinge in den Tisch zwischen ihnen. Argats Augen funkelten. »Magie«, knurrte er. »Geschick«, erwiderte Raistlin kalt. »Sollen wir unsere Diskussion fortsetzen oder Spiele spielen, in denen ich mich in meiner Kindheit hervorgetan habe?« »Deine Information ist richtig«, brummte Argat, sein Messer wieder einsteckend. »Das ist Dunkans Plan.« »Gut. Mein Plan ist recht simpel. Dunkan wird in der Festung sein. Er wird das Feld nicht halten können. Er wird den Befehl erteilen, die Tore zu schließen.« Raistlin sank auf seinen Stuhl zurück und legte die Spitzen seiner langen Finger zusammen. »Wenn dieser Befehl kommt, werden sich die Tore nicht schließen.« »So einfach?« höhnte Argat. »So einfach.« Raistlin spreizte seine Hände. »Jene, die sie
schließen sollen, werden vorher sterben. Deine einzige Aufgabe ist es, die Tore einige Minuten aufzuhalten, bis wir Zeit haben, sie zu stürmen. Pax Tarkas wird fallen. Dein Volk wird seine Waffen niederlegen und anbieten, sich mit uns zusammenzuschließen.« »Die Sache hat nur einen Haken«, erwiderte Argat. »Unsere Familien in Thorbadin. Was wird aus ihnen, wenn es sich herausstellt, daß wir Verräter sind?« »Nichts«, antwortete Raistlin. Er griff in einen Beutel an seiner Seite und zog eine mit schwarzem Band zusammengehaltene Schriftrolle hervor. »Dies wirst du Dunkan überbringen.« Er reichte Argat die Rolle und forderte ihn mit einem Wink auf: »Lies es.« Stirnrunzelnd, Raistlin mit Argwohn musternd, nahm der Zwerg die Rolle, band sie auf, ging mit ihr zu der Kiste mit den Münzen und las sie in ihrem schwachen magischen Licht. Er sah erstaunt zu Raistlin auf. »Das… das ist die Sprache meines Volkes!« Raistlin nickte etwas ungeduldig. »Natürlich! Was hast du erwartet? Dunkan würde etwas anderes doch wohl nicht glauben.« »Aber« – Argat glotzte ihn an – »diese Sprache ist geheim, nur den Dewaren und einigen wenigen anderen bekannt, wie Dunkan, dem König…« »Lies!« winkte Raistlin gereizt. »Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.« Einen Fluch murmelnd, studierte der Zwerg die Schriftrolle. Trotz des kurzen Textes nahm es lange Zeit in Anspruch. Er strich über seinen dicken, zotteligen Bart und grübelte. Dann richtete er sich auf, rollte die Rolle zusammen und schlug sie leicht in seine Handfläche. »Du hast
recht. Damit wären alle Probleme gelöst.« Er setzte sich wieder, seine dunklen Augen, die auf den Magier gerichtet waren, verengten sich. »Aber ich will Dunkan noch etwas geben. Nicht nur eine Rolle. Etwas… Beeindruckendes.« »Was betrachtet eure Rasse als ›beeindruckend‹?« fragte Raistlin mit gekräuselten Lippen. »Einige Dutzend Leichen…« Argat grinste. »Den Kopf deines Generals!« Es folgte ein langes Schweigen. Der Zwerg erbebte, dann runzelte er die Stirn. Nein, er würde bei dieser Forderung bleiben. Dunkan wäre gezwungen, ihn als Held auszurufen, so wie diesen Bastard Kharas. »Einverstanden.« Raistlins Stimme war ruhig, verriet keine Stimmung oder ein Gefühl. Aber als er sprach, beugte er sich über den Tisch. Argat zog sich zurück. Er konnte jetzt die glitzernden Augen sehen. »Einverstanden«, wiederholte der Magier. »Sieh zu, daß du deinen Teil des Geschäfts einhältst.« Argat schluckte und brachte ein schwächliches Lächeln zustande. »Du wirst nicht ohne Grund der Schwarze genannt, nicht wahr, mein Freund?« sagte er und versuchte ein Lachen, als er sich erhob und die Rolle in seinen Gürtel schob. Raistlin antwortete nicht; er gab nur durch ein Rascheln seiner Kapuze zu verstehen, daß er es gehört hatte. Schulterzuckend wandte sich Argat um, winkte seinen Gefährten zu und machte eine befehlende Geste zu der Truhe in der Ecke. Die zwei eilten herbei und verschlossen sie mit einem Schlüssel, den Raistlin aus den Falten seiner
Roben hervorgeholt und ihnen schweigend überreicht hatte. Obwohl Zwerge an schwere Lasten gewöhnt sind, stöhnten die zwei leicht beim Anheben der Truhe. Argats Augen glänzten vor Freude. Die zwei Zwerge gingen vor ihrem Anführer aus dem Zelt und eilten in den sicheren Schatten des Waldes davon. Argat beobachtete sie, dann wandte er sich zu dem Magier. »Mach dir keine Sorgen, Freund. Wir werden dich nicht enttäuschen.« »Nein«, erwiderte Raistlin sanft. »Das wirst du auch nicht.« Argat zuckte zusammen, ihm gefiel der Ton des Magiers nicht. »Verstehst du, Argat, das Geld ist verflucht. Wenn du ein falsches Spiel mit mir treibst, werdet ihr, also du und alle, die das Geld berührt haben, mitansehen, wie sich die Haut eurer Hände schwarz färbt und zu verfaulen anfängt. Und wenn eure Hände nur noch eine blutige Masse stinkenden Fleisches sind, wird sich die Haut eurer Arme und Beine schwärzen. Und langsam, während ihr hilflos zuseht, wird sich der Fluch über euren gesamten Körper ausbreiten. Wenn ihr nicht länger auf euren verwesenden Füßen stehen könnt, werdet ihr tot umfallen.« Argat stieß einen erstickten, unverständlichen Laut aus. »Du… du lügst!« gelang es ihm zu knurren. Raistlin sagte nichts. Er hätte ebenso gut aus dem Zelt verschwunden sein können, war der Eindruck Argats. Der Zwerg konnte den Magier weder sehen noch seine Gegenwart spüren. Leise fluchend eilte er vondannen. Aber während er lief, wischte er hektisch seine Hände an seiner Hose ab.
Der Morgen dämmerte. Krynns Sonne schlich sich langsam hinter dem Gebirge hervor, als ob sie wüßte, auf welch greuliche Anblicke sie am heutigen Tag ihr Licht werfen würde. Aber die Zeit konnte nicht aufgehalten werden. Als die Sonne schließlich über den Berggipfeln erschien, wurde sie mit Jubel von jenen begrüßt, die vielleicht zum letzten Mal in ihrem Leben die Morgendämmerung erleben würden. Unter diesen Jubelnden befand sich Dunkan, König der Bergzwerge. Auf den Zinnen der gigantischen Festung Pax Tarkas stehend, umgeben von seinen Generälen, hörte Dunkan die tiefen, heiseren Stimmen seiner Männer um sich herum anschwellen, und er lächelte zufrieden. Heute würde ein glorreicher Tag sein. Nur ein Zwerg jubelte nicht. Dunkan brauchte ihn nicht einmal anzusehen, um sich des Schweigens bewußt zu sein, das in seinem Herzen so laut aufdonnerte wie die Jubelschreie in seinen Ohren.
Abseits von den anderen stand Kharas, der Held der Zwerge. Hochgewachsen, prächtig in seiner glänzenden Rüstung, seinen riesigen Hammer in seinen großen Händen haltend, stand er da und starrte den Sonnenaufgang an, und wenn ihn jemand angesehen hätte, hätte er die Tränen bemerkt, die über sein Gesicht liefen. Aber niemand sah ihn an. Jeder wich Kharas sorgsam aus. Nicht weil er weinte, obgleich Zwerge Tränen als eine kindliche Schwäche empfinden. Nein, der Grund war nicht Kharas’ Weinen. Der Grund war, daß seine Tränen ungehindert über ein nacktes Gesicht tröpfelten. Kharas hatte seinen Bart abrasiert. Selbst als Dunkans Augen über die Ebene von Pax Tarkas glitten, selbst als sein Geist die Aufstellung des Feindes aufnahm, der sich über die öden Ebenen ausbreitete, konnte der Lehnsherr den grenzenlosen Schock immer noch spüren, der seine Seele an jenem Morgen überwältigt hatte, als er Kharas sah, der seinen Platz auf den Zinnen einnahm – bartlos. In seinen Händen hatte der Zwerg die langen Locken seines prächtigen Bartes gehalten, und entsetzt hatten sie beobachtet, wie Kharas ihn über die Zinnen schleuderte. Ein Bart ist das Vorrecht eines jeden Zwergs, sein Stolz, der Stolz seiner Familie. Im Todesfall wird ein Zwerg durch die Trauerzeit gehen, ohne seinen Bart zu kämmen, aber nur aus einem Grund würde ein Zwerg ihn abrasieren, und das ist Schamgefühl. Es ist das Zeichen der Schande – die Strafe für Mord, die Strafe für Diebstahl, die Strafe für Feigheit, die Strafe für Fahnenflucht. Warum? war alles, was der betäubte Dunkan denken konnte.
Über das Gebirge starrend, antwortete Kharas mit einer Stimme, die wie Gestein splitterte: »Ich kämpfe in dieser Schlacht, weil du mir zu kämpfen befohlen hast, Lehnsherr. Ich habe dir meine Treue geschworen, und ich bin durch meine Ehre gebunden, diesen Schwur einzuhalten. Aber alle sollen wissen, daß ich zwar kämpfe, aber keine Ehre darin finde, meine Verwandten zu töten, und auch nicht die Menschen, die mehr als einmal an meiner Seite gekämpft haben. Alle sollen wissen: Kharas geht an diesem Tag voller Scham in die Schlacht.« »Du wirst für jene, die du anführst, eine hervorragende Figur abgeben!« erwiderte Dunkan verbittert. Aber Kharas sagte nichts mehr. »Lehnsherr!« Mehrere Männer schrien es auf einmal und lenkten Dunkans Aufmerksamkeit wieder zur Ebene zurück. Aber auch er hatte vier Gestalten gesehen, aus dieser Entfernung winzig wie Spielzeugpuppen, die sich von der Armee gelöst hatten und auf Pax Tarkas zuritten. Drei der Gestalten trugen flatternde Fahnen. Der vierte hielt nur einen Stab, von dem ein klares, helles Licht ausging, das selbst aus der Ferne von dem zunehmenden Tageslicht unterschieden werden konnte. Zwei der Fahnen kannte Dunkan natürlich. Das Banner der Hügelzwerge mit ihrem allzu vertrauten Symbol von Amboß und Hammer, das sich in anderen Farben auf Dunkans eigenem Banner wiederholte. Das Banner der Barbaren hatte er niemals zuvor gesehen, aber er erkannte es sofort. Es paßte zu ihnen – das Symbol des Windes, der über Präriegras fegte. Das dritte Banner gehörte vermutlich diesem Emporkömmling, diesem General, der aus dem Nichts hervorgeritten war.
»Pah!« schnaufte Dunkan und beäugte verächtlich das Banner mit dem neunzackigen Stern. »Nach dem, was wir gehört haben, sollte er ein Banner mit dem Zeichen der Gaunergilde zusammen mit einer muhenden Kuh tragen!« Die Generäle lachten. »Oder verwelkte Rosen«, schlug einer vor. »Ich habe gehört, viele abtrünnige Ritter von Solamnia reiten mit diesen Dieben und Bauern.« Die vier Gestalten galoppierten über die Ebene, ihre Standarten flatterten hinter ihnen, die Hufe ihrer Pferde wirbelten Staubwolken auf. »Der in den schwarzen Roben ist wohl der Zauberer Fistandantilus?« fragte Dunkan mürrisch; durch seine schweren Augenbrauen war sein finsterer Blick fast nicht zu erkennen. »Ja, Lehnsherr«, erwiderte ein General. »Von allen fürchte ich ihn am meisten«, murmelte Dunkan düster. »Pah!« Ein alter General strich selbstgefällig über seinen langen Bart. »Diesen Zauberer brauchst du nicht zu fürchten. Unsere Spione haben berichtet, daß seine Gesundheit angeschlagen ist. Er verwendet selten seine Magie, wenn überhaupt, und verbringt die meiste Zeit in seinem Zelt. Außerdem würde eine ganze Armee von Zauberern, alle so mächtig wie er, nötig sein, um diese Festung durch Magie zu erobern.« »Vermutlich hast du recht«, sagte Dunkan, über seinen eigenen Bart streichend. Als er jedoch aus einem Augenwinkel einen Blick auf Kharas erhaschte, fühlte er sich plötzlich unbehaglich. »Dennoch haltet ein Auge auf ihn.« Er hob seine Stimme an. »Ihr Scharfschützen, ein Beutel
Gold für denjenigen, dessen Pfeil in die Rippen des Zauberers trifft!« Tosender Jubel setzte ein, der aber unverzüglich verstummte, als die vier vor der Festung anhielten. Der Anführer, der General, hob seine Handfläche nach außen in der uralten Geste des Waffenstillstandes. Über die Zinnen schreitend und auf einen Steinblock kletternd, der speziell für diesen Zweck errichtet worden war, legte Dunkan seine Hände an die Hüften, spreizte seine Beine und starrte grimmig hinab. »Wir wollen reden!« schrie General Caramon von unten. Seine Stimme dröhnte und echote zwischen den Wänden des steilen Gebirges, von denen die Festung umgeben war. »Es wurde bereits alles gesagt!« gab Dunkan zurück. Die Stimme des Zwerges erscholl fast genauso kraftvoll, obgleich er nur ein Viertel der Größe des Menschen hatte. »Wir geben euch eine letzte Chance! Erstatte deinen Verwandten das zurück, von dem du weißt, daß es ihnen rechtmäßig zusteht! Gib diesen Menschen zurück, was du ihnen genommen hast. Teile deinen unermeßlichen Reichtum. Denn der Tod kann ihn nicht ausgeben!« »Nein, aber ihr Lebenden würdet einen Weg finden, nicht wahr?« dröhnte Dunkan höhnisch zurück. »Was wir besitzen, haben wir durch ehrliche Plackerei erworben, indem wir unter den Bergen gearbeitet haben und nicht in der Begleitung wilder Barbaren durch das Land gezogen sind. Das ist unsere Antwort!« Dunkan hob seine Hand. Scharfschützen zogen die Sehnen ihrer Bogen zurück. Dunkans Hand fiel herab, und hundert Pfeile zischten durch die Luft. Die Zwerge auf den Zinnen begannen zu lachen; sie erwarteten, die vier um-
drehen und wie wahnsinnig um ihr Leben reiten zu sehen. Aber das Lachen erstarb ihnen auf den Lippen. Die Gestalten rührten sich nicht von der Stelle, als die Pfeile auf sie zuschossen. Der schwarzgekleidete Zauberer hob seine Hand. Gleichzeitig ging die Spitze eines jeden Pfeils in Flammen auf, um den Schaft hüllte sich Rauch, und innerhalb von Augenblicken lösten sie sich in der hellen Morgenluft in nichts auf. »Das ist unsere Antwort!« Die strenge, kalte Stimme des Generals trieb nach oben. Er wendete sein Pferd und galoppierte zu seiner Armee zurück, flankiert von dem schwarzgekleideten Zauberer, dem Hügelzwerg und dem Barbaren. Als Dunkan seine Männer murren hörte und sie zweifelnde Blicke tauschen sah, unterdrückte er rigoros seine eigenen Zweifel und wandte sich ihnen zu. Sein Bart zitterte vor Zorn. »Was ist denn das?« herrschte er sie an. »Bekommt ihr Angst vor den Tricks eines Straßenillusionisten? Wen führe ich hier überhaupt an, eine Armee von Männern – oder von Kindern?« Als sich die Köpfe senkten, kletterte Dunkan von seinem Aussichtspunkt herunter. Zur anderen Seite der Zinnen schreitend, sah er in den riesigen Hof der mächtigen Festung hinab, der nicht von künstlich erschaffenen Mauern, sondern von den natürlichen Wänden des Gebirges umgeben wurde. Höhlen säumten die Wände. Normalerweise würden aus ihren klaffenden Öffnungen Rauch und die Geräusche von Metall, das verarbeitet und zu Stahl geschmiedet wurde, strömen. Aber heute waren die Minen geschlossen, wie auch die Schmieden. An diesem Morgen wimmelte der Hof von Zwergen. In
schwere Rüstungen gekleidet, trugen sie Schilde, Äxte und Hämmer, die Lieblingswaffen der Infanterie. Alle Köpfe fuhren hoch, als Dunkan auftauchte, und der Jubel, der kurz versiegt war, setzte wieder ein. »Wir haben Krieg!« schrie Dunkan über den Lärm, beide Hände ausstreckend. Der Jubel verstärkte sich, dann hörte er auf. Nach einem Augenblick des Schweigens erhoben sich die tiefen Zwergenstimmen zu einem kriegerischen Lied. Dunkan, dessen Blut bei dem Lied in Wallung geriet, spürte, wie sich seine Zweifel wie die Pfeile in der stillen Luft zuvor auflösten. Seine Generäle stiegen bereits eilig von den Zinnen herab, um ihre Stellungen einzunehmen. Nur einer blieb stehen, Argat, der General der Dewaren. Und auch Kharas hatte sich nicht gerührt. Dunkan sah jetzt zu Kharas hin und öffnete den Mund, um zu sprechen. Aber der Held der Zwerge musterte seinen König lediglich mit einem finsteren, gehetzten Blick, verbeugte sich vor seinem Lehnsherrn, wandte sich um und folgte den anderen, um seinen Platz als einer der Führer der Infanterie einzunehmen. Dunkan funkelte ihn wütend an. »Soll Reorx seinen Bart in Flammen aufgehen lassen!« brummte er. Er mußte dabei sein, wenn die riesigen Tore aufgestoßen wurden und seine Armee in die Ebene hinausmarschierte. »Was glaubt er wohl, wer er ist? Meine eigenen Söhne würden sich nicht so verhalten! Das darf so nicht weitergehen! Nach der Schlacht werde ich ihn zurechtstutzen!« Murrend hatte Dunkan fast die nach unten führenden Stufen erreicht, als er eine Hand auf seinem Arm spürte. Er blickte auf. Es war Argat.
»Ich bitte dich, König«, sagte der Zwerg mit seiner ungehobelten Aussprache, »noch einmal nachzudenken. Unser Plan, wertloses Gestein aufzugeben, ist gut. Laß es sie haben.« Er wies auf die Soldaten draußen auf der Ebene. »Sie befestigen es nicht. Wenn wir nach Thorbadin zurückstoßen, werden sie uns in die Ebene jagen. Dann erobern wir Pax Tarkas zurück, und bum«, der Dunkelzwerg schlug seine Hände zusammen, »haben wir sie! Gefangen zwischen Pax Tarkas im Norden und Thorbadin im Süden!« Dunkan starrte den Dewar kalt an. Argat hatte diese Strategie dem Kriegsrat vorgelegt, und Dunkan hatte sich damals gefragt, wie er darauf gekommen war. Der Dewar hatte normalerweise herzlich wenig Interesse an militärischen Angelegenheiten und kümmerte sich nur um eins, seinen Anteil an Beute. War Kharas im Spiel, der wieder einmal versuchte, sich aus den Kämpfen herauszuhalten? Dunkan schüttelte wütend den Arm des Dewars ab. »Pax Tarkas wird niemals fallen!« sagte er. »Deine Strategie ist die Strategie eines Feiglings. Ich werde für diesen Pöbelhaufen nichts aufgeben, nicht einmal ein Stück Kupfer, nicht einmal einen Stein vom Boden! Lieber sterbe ich hier!« Damit stapfte Dunkan fort. Er klapperte die Stufen hinab, und sein Bart sträubte sich vor Zorn. Argat, der ihm nachsah, kräuselte höhnisch die Lippen. »Vielleicht wirst du auf diesem erbärmlichen Stein sterben, Dunkan. Aber nicht Argat.« Er wandte sich zu zwei Dewaren um, die im Schatten einer Nische standen, und nickte zweimal. Die Zwerge nickten ebenfalls, dann eilten sie davon. Oben auf den Zinnen stehend, beobachtete Argat, wie die
Sonne höher in den Himmel stieg. Gedankenverloren begann er seine Hände an seiner Lederrüstung abzureiben, als ob er sie säubern wollte. Der Hochgug war sich nicht sicher, aber er hatte das Gefühl, daß etwas schief lief. Obgleich er nur wenig von den komplizierten Taktiken und Strategien der Kriegsführung verstand, kam es dem Hochgug nichtsdestotrotz in den Sinn, daß siegreich aus dem Schlachtfeld zurückkehrende Zwerge nicht blutüberströmt in die Festung hereintaumeln und dann vor seinen Füßen tot umfallen. Wenn es einer oder zwei gewesen wären, hätte er das als Kriegsgeschick verstanden, aber die Anzahl der Zwerge, die sich so aufführten, wuchs wahrhaft beunruhigend an. Der Hochgug wollte herausfinden, was eigentlich vor sich ging. Er trat also zwei Schritte vor. Als er dann den schrecklichen Tumult hinter sich hörte, blieb er unverzüglich stehen. Einen schweren Seufzer ausstoßend, drehte sich der Hochgug um. Er hatte seine Kompanie vergessen. »Nein, nein, nein!« schrie der Hochgug ärgerlich und fuchtelte mit seinen Armen in der Luft herum. »Wie viele Male habe ich es euch schon gesagt? – Bleibt hier! Bleibt hier!« Der Hochgug fixierte seine Kompanie mit einem strengen Auge; er ließ diejenigen, die still auf ihren Füßen standen und fähig waren, dem Blick des Auges (das andere fehlte) zu begegnen, vor Scham erzittern. Jene Gossenzwerge in der Kompanie jedoch, die über ihre Speerspitzen gestolpert waren, jene, die ihre Speere hatten fallen lassen, jene, die vor lauter Verwirrung ihren Nachbarn mit einem
Speer gestochen hatten, jene, die auf dem Bauch lagen, und jene, die sich ganz umgedreht hatten und jetzt tapfer und beherzt der Nachhut gegenüberstanden, hörten die Stimme ihres Hauptmanns und zitterten vor Angst. »Schaut, ihr schleimigen Gulp-Phunger«, knurrte der Hochgug schweratmend. »Ich finde heraus, was los ist. Es ist nicht richtig, daß alle so zurückkommen. Kein Singen – nur Bluten. Das ist nicht die Art, wie alles werden soll. Darum gehe ich. Ihr bleibt hier. Verstanden? Wiederholt es!« »Ich gehe«, echoten seine Soldaten gehorsam. »Ihr bleibt hier.« Der Hochgug zerrte an seinem Bart. Im Zorn stolzierte er von dannen, als er wieder hinter seinem Rücken das Klappern von fallenden Speeren hörte, die auf dem Boden aufschlugen. Der Hochgug hatte ungefähr zwanzig Schritte zurückgelegt, als er um eine Ecke bog und fast in Dunkan, seinen König, hineinlief. Dunkan bemerkte ihn jedoch nicht, da er ihm den Rücken zugekehrt hatte. Er war in eine Unterhaltung mit Kharas und mehreren Offizieren vertieft. Einen hastigen Schritt zurückweichend, sah und hörte der Hochgug gespannt zu. Ungleich vielen vom Schlachtfeld zurückgekehrten Zwergen, deren schwere Plattenpanzer eingedellt waren, als ob sie einen Berghang hinabgestürzt wären, war Kharas’ Rüstung nur an einigen Stellen eingebeult. Die Hände und Arme des Helden waren bis zu den Ellbogen blutverschmiert, aber es war das Blut der Feinde, nicht sein eigenes. Es gab nur wenige, die sich den mächtigen Hieben seines Hammers widersetzen konnten. Unzählig waren die
Männer, die durch Kharas’ Hand gefallen waren, obgleich sich viele bei ihrem letzten Atemzug wunderten, warum der große Zwerg bitterlich weinte, wenn er den tödlichen Schlag abgab. Jetzt weinte Kharas nicht. Seine Tränen waren versiegt. Er stritt mit seinem König. »Wir sind auf dem Feld geschlagen, Lehnsherr«, sagte er ernst. »General Eisenhand hat recht getan, den Rückzug zu befehlen. Wenn du Pax Tarkas halten willst, müssen wir zurückweichen und die Tore verschließen, wie wir es geplant haben. Vergiß nicht, diese Situation hatten wir in Betracht gezogen.« »Aber nichtsdestotrotz eine beschämende Situation«, knurrte Dunkan mit einem Fluch. »Geschlagen von einem Haufen von Dieben und Bauern!« »Dieser Haufen Diebe und Bauern ist gut ausgebildet«, erwiderte Kharas feierlich, und die Generäle nickten in widerwilliger Zustimmung. »Die Barbaren sind in der Schlacht siegreich, und unsere Verwandten kämpfen mit einem Mut, der ihnen angeboren ist. Und dann fegen die Ritter von Solamnia auf ihren Pferden die Hügel herunter.« »Du mußt den Befehl geben, Lehnsherr!« drängte einer der Generäle. »Oder wir können uns jetzt auf der Stelle aufs Sterben vorbereiten.« »Dann schließt die gottverfluchten Tore!« schrie Dunkan zornig. »Aber laßt nicht die Steine fallen. Nicht bis zum letztmöglichen Augenblick. Vielleicht besteht keine Notwendigkeit dazu. Es wird sie teuer zu stehen kommen, die Tore aufzubrechen, und ich will herauskommen, ohne tonnenweise Gestein wegzuschaffen.« »Schließt die Tore, schließt die Tore!« erscholl es aus allen Richtungen.
Alle im Hof, die Lebenden, die Verletzten und sogar die Sterbenden, wandten ihre Köpfe, um zuzusehen, wie die Tore zugeschlagen wurden. Der Hochgug war einer von ihnen und glotzte ehrfürchtig. Er hatte von diesen riesigen Toren gehört – wie sie sich lautlos in gigantischen, geölten Angeln bewegten, was so glatt funktionierte, daß nur zwei Zwerge auf jeweils einer Seite nötig waren, um sie zu schließen. Der Hochgug hielt den Atem an, so daß er sich beinahe selbst erstickt hätte. Er blickte auf die Tore und konnte sehen, was sich dahinter abspielte; was er sah, lähmte ihn. Eine riesige Armee raste auf ihn zu. Und es war nicht seine Armee! Was bedeutete, daß das der Feind sein mußte, entschied er nach einem Augenblick tiefen Nachdenkens, da es, soweit er informiert war, nur zwei Seiten in diesem Konflikt gab – seine und ihre. Die Mittagssonne schien hell auf die Rüstungen der Ritter von Solamnia, sie funkelte auf ihren Schilden und glitzerte an ihren gezogenen Schwertern. Weit hinter ihnen folgte die Infanterie im Laufschritt. Die Armee des Fistandantilus schoß auf die Festung zu; sie hoffte sie zu erreichen, bevor die Tore geschlossen sein würden. Die wenigen Bergzwerge, die mutig genug waren, sich ihnen in den Weg zu stellen, wurden von aufblitzendem Stahl und trampelnden Pferdehufen niedergemacht. Der Feind kam näher und näher. Der Hochgug schluckte nervös. Er wußte nicht viel über militärische Manöver, aber es schien ihm, daß jetzt die passende Zeit wäre, die Tore zu schließen. Es schien, daß die Generäle den gleichen Gedanken hegten, denn jetzt rannten alle schreiend in diese Richtung.
»Im Namen von Reorx, was machen sie…«, begann Dunkan. Plötzlich wurde Kharas leichenblaß. »Dunkan«, sagte er ruhig, »wir wurden verraten. Du mußt sofort verschwinden.« »W… was?« stammelte Dunkan verwirrt. Auf den Zehenspitzen stehend, versuchte er vergeblich, über die Menge zu sehen, die im Hof ziellos herumlief. »Verraten! Wie…« »Der Dewar, mein Lehnsherr«, erklärte Kharas, der aufgrund seiner ungewöhnlichen Körpergröße in der Lage war, die Situation zu überblicken. »Sie haben offensichtlich die Torwachen ermordet, und jetzt versuchen sie, die Tore offenzuhalten.« »Bringt sie um!« Dunkans Mund schäumte vor Zorn, der Speichel tröpfelte über seinen Bart. »Bringt sie alle um!« Der Zwergenkönig zog sein Schwert und sprang nach vorne. »Ich persönlich…« »Nein, Lehnsherr!« Kharas bekam ihn zu fassen und zog ihn zurück. »Es ist zu spät! Komm, wir müssen zu den Greifen! Du mußt zurück nach Thorbadin, mein König!« Aber Dunkan befand sich jenseits aller Vernunft. Er kämpfte heftig gegen Kharas. Schließlich ballte der jüngere Zwerg mit grimmigem Gesicht seine Riesenfaust und schlug sie seinem König mitten in den Kiefer. Dunkan taumelte zurück und schwankte von dem Hieb, fiel aber nicht. »Dafür will ich deinen Kopf!« schwor der König und griff nach seinem Schwertknauf. Ein Schlag von Kharas folgte, und Dunkan lag ausgestreckt und still auf dem Boden. Mit kummervollem Gesicht bückte sich Kharas, hob sei-
nen König auf und wuchtete mit einem Stöhnen den stämmigen Zwerg über seine Schulter. Kharas rief einigen, die noch stehen und kämpfen konnten, zu, ihm Deckung zu geben, und eilte zu dem Platz, wo die Greife warteten. Der bewußtlose König hing mit herabbaumelnden Armen über seine Schulter. Der Hochgug starrte mit entsetzter Faszination auf die heranrückende Armee. Immer wieder echote in seinem Gehirn Dunkans letzter Befehl: »Du bleibst hier.« Er drehte sich um und lief zu seiner Truppe zurück. Obgleich die Gossenzwerge einen verdienten Ruf als feigste Rasse auf Krynn genossen, konnten sie, wenn in die Ecke gedrängt, mit einer Wildheit kämpfen, die den Feind in Staunen versetzte. Die meisten Armeen verwendeten Gossenzwerge aber nur als Hilfstruppen, so weit wie möglich in der Nachhut, da die Chance fünfzig zu fünfzig stand, daß ein Regiment Gossenzwerge mehr Schaden in den eigenen Reihen anrichtete als beim Feind. Folglich hatte Dunkan die einzige Abteilung Gossenzwerge, die sich zur Zeit in Pax Tarkas befand – es waren ehemalige Minenarbeiter – , mitten im Hof postiert und sie angewiesen, dort zu bleiben, da er überzeugt war, sie auf diese Weise am besten aus allem Mißgeschick herauszuhalten. Er hatte sie angesichts der unwahrscheinlichen Möglichkeit, daß der Feind mit Kavallerie durch die Tore stürzte, mit Speeren ausgerüstet. Aber genau diese unwahrscheinliche Möglichkeit traf jetzt ein. Die Armee des Fistandantilus auf sie zustoßen sehend, wissend, daß sie in der Falle saßen und besiegt waren, wurden alle Zwerge in Pax Tarkas in helle Verwirrung gestürzt.
Einige wenige behielten einen kühlen Kopf. Die Scharfschützen auf den Zinnen ließen Pfeile auf den vorrückenden Feind hinabregnen. Mehrere Befehlshaber versammelten ihre Regimenter um sich und bereiteten sich auf den Kampf vor. Aber die meisten flohen einfach, liefen in die Sicherheit der umgebenden Berge. Und bald stand nur noch eine Gruppe im Weg der einfallenden Armee – die Gossenzwerge. »Jetzt ist es soweit«, rief der Hochgug eilig seinen Männern zu, als er schnaubend und prustend zurückkam. Sein Gesicht war weiß unter dem Schmutz, aber er wirkte ruhig und gelassen. Ihm war gesagt worden, hier zu bleiben, und beim Barte Reorx’, er würde hier bleiben. Dann sah der Hochgug jedoch, daß sich die meisten seiner Männer davonstehlen wollten; ihre Augen waren weit aufgerissen beim Anblick der donnernden Pferde, die jetzt gesichtet werden konnten,’ als sie die offenen Tore erreichten. »Speere setzen!« schrie er. Das war ein Fehler, und er war sich dessen bewußt, als er den Befehl gab und den Aufruhr, die Verwirrung und das Fluchen hinter sich hörte. Aber zu dieser Zeit spielte es keine Rolle mehr… Die Sonne ging in einem blutroten Schleier unter, als sie in die stummen Wälder von Qualinesti sank. Alles war ruhig in Pax Tarkas; die mächtige, uneinnehmbare Festung war kurz nach Mittag gefallen. Der Nachmittag verlief mit Gefechten mit vereinzelten Zwergengruppen, die sich kämpfend in die Berge zurückzogen. Viele waren entkommen, denn der Angriff der Ritter war wirkungsvoll von einer kleinen Gruppe Speerträger aufgehalten worden, die standhaft ihre Stellung gehalten hatten.
Kharas, der den bewußtlosen König in seinen Armen trug, flog auf einem Greif nach Thorbadin zurück, begleitet von den noch lebenden Offizieren Dunkans. Die restliche Armee der Bergzwerge, die in den Höhlen und Bergen der schneebedeckten Pässe zu Hause waren, befand sich auf dem Weg zurück nach Thorbadin. Die Dewaren, die ihre Verwandten verraten hatten, tranken Dunkans erbeutetes Bier und brüsteten sich mit ihren Taten, während der Großteil von Caramons Armee sie mit Abscheu musterte. Als am Abend die Sonne unterging, war der Hof mit Zwergen und Menschen gefüllt, die ihren Sieg feierten, während die Offiziere vergeblich versuchten, die Flut der Betrunkenheit aufzuhalten, die jeden zu überschwemmen schien. Schreiend, kommandierend, einige Köpfe zusammenschlagend, schafften sie es, genügend Männer wegzuzerren, die die Wachtposten einnehmen und Beerdigungsmannschaften bilden sollten. Crysania hatte die Prüfung des Blutes bestanden. Obgleich sie von einem wachsamen Caramon von der Schlacht ferngehalten wurde, war es ihr, als sie die Festung betreten hatte, gelungen, ihm auszuweichen. In Umhang und Kapuze eingehüllt, bewegte sie sich jetzt unter den Verletzten und heilte heimlich jene, von denen sie annahm, daß sie bei ihnen keine Aufmerksamkeit erregte. In späteren Jahren würden die Überlebenden ihren Enkeln Geschichten erzählen, in denen sie behaupteten, daß sie eine weißgekleidete Gestalt mit einem glänzenden Licht um den Hals gesehen hätten, die ihre sanften Hände auf sie gelegt und ihnen den Schmerz weggenommen habe. Caramon traf sich mittlerweile mit Offizieren in einem
Zimmer in Pax Tarkas und plante ihre weitere Strategie, obgleich der große Mann so erschöpft war, daß er kaum richtig denken konnte. Folglich sahen nur wenige die einzelne schwarzgekleidete Gestalt die offenen Tore von Pax Tarkas betreten. Sie ritt auf einem schwarzen Pferd, das vor dem Blutgeruch zurückschreckte. Die Gestalt hielt das Pferd an und sagte offenbar einige beruhigende Worte zu ihm. Jene, die die Gestalt sahen, hielten einen Moment vor Entsetzen inne, viele hatten den Eindruck, daß der Tod persönlich eingekehrt sei, um die noch nicht Begrabenen einzusammeln. Dann murmelte jemand: »Der Zauberer«, und sie wandten sich wieder ab, lachten nervös oder seufzten erleichtert auf. Seine Augen waren durch die Tiefen seiner schwarzen Kapuze verdeckt, dennoch erforschten sie alles aufmerksam um sich herum. Raistlin ritt weiter, bis er den ungewöhnlichen Anblick des gesamten Schlachtfeldes hatte – die Leichen von mehr als hundert Gossenzwergen, die geordnet Reihe um Reihe dalagen. Die meisten hielten noch ihre Speere fest umklammert in ihren leblosen Händen. Bei ihnen lagen auch einige Pferde, die durch wilde Hiebe und Stöße der verzweifelten Gossenzwerge verletzt worden waren. Am Ende hatten die Gossenzwerge ihre nutzlosen Speere fallen lassen, um auf die Weise zu kämpfen, die ihnen am vertrautesten war, mit Zähnen und Fingernägeln. »Das stand nicht in den Geschichtsbüchern«, murmelte Raistlin leise, starrte auf die erbärmlichen kleinen Körper und runzelte die Augenbrauen. Seine Augen funkelten. »Vielleicht«, stieß er aus, »bedeutet das, daß die Zeit bereits verändert wurde!« Niemand sah Raistlins Gesicht, das von seiner Kapuze
verborgen wurde, denn sonst hätte man ein schnelles, plötzliches Zucken des Kummers und des Zornes vorbeiziehen sehen. »Nein«, sagte er sich verbittert, »das mitleiderregende Opfer dieser armen Kreaturen wurde nicht aus der Geschichte ausgelassen, weil es nicht passierte. Es wurde ausgelassen, weil es niemanden gekümmert hat.«
»Ich muß den General sehen!« Die Stimme schnitt sich durch die weiche, warme Wolke des Schlafes, die Caramon wie die Daunensteppdecke auf dem Bett einhüllte – seit Monaten das erste richtige Bett, in dem er schlief. »Verschwinde«, murmelte Caramon und hörte Garik sagen: »Unmöglich. Der General schläft. Er darf nicht gestört werden.« »Ich muß ihn sehen. Es ist dringend!« »Er hat seit fast achtundvierzig Stunden nicht mehr geschlafen…« »Ich weiß! Aber…« Die Stimmen senkten sich zu einem Geflüster. Gut, dachte Caramon, jetzt kann ich weiterschlafen. Aber unglücklicherweise fand er, daß die leisen Stimmen ihn eher wach werden ließen. Etwas war nicht in Ordnung, das wußte er. Mit einem
Stöhnen wälzte er sich auf die andere Seite. Jeder Muskel in seinem Körper schmerzte; er hatte fast achtzehn Stunden ohne Pause auf einem Pferderücken verbracht. Garik kam damit sicherlich zurecht… Die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich leise. Caramon drückte die Augen zu. Dabei kam es ihm in den Sinn, daß ein paar hundert Jahre später Verminaard, der grausame Drachenfürst, in dem gleichen Bett schlafen würde. War er auch so geweckt worden, an dem Morgen, als die Helden die Sklaven von Pax Tarkas befreit hatten? »General«, sagte Garik leise. »Caramon.« Wenn ich aufbreche, lege ich vielleicht einen Frosch ins Bett; dachte Caramon boshaft. In zweihundert Jahren wäre er dann schön steif… »General«, bestand Garik hartnäckig, »ich muß dich leider wecken, du wirst unverzüglich unten im Hof gebraucht.« »Und wofür?« knurrte Caramon, warf die Decken von sich und richtete sich auf. Er rieb sich die Augen und funkelte Garik an. »Die Armee, Herr. Sie bricht auf.« Caramon starrte ihn an. »Was? Du bist verrückt!« »Nein, Herr«, antwortete ein junger Soldat, der Garik nachgeschlichen war und jetzt hinter ihm stand, seine Augen vor Ehrfurcht weit geöffnet, da er sich in Gegenwart seines Generals befand, trotz der Tatsache, daß dieser nackt war. »Sie… sie versammeln sich gerade im Hof, Herr… Die Zwerge und die Barbaren und… und einige von uns.« »Aber nicht die Ritter«, fügte Garik eilig hinzu. »Nun… nun…«, stammelte Caramon, dann winkte er mit einer Hand ab. »Sag ihnen, sie sollen sich auflösen, ver-
dammt! Das ist doch Unsinn!« Dann fluchte er: »Im Namen der Götter, dreiviertel von ihnen war doch in der vergangenen Nacht sturzbetrunken!« »Heute morgen sind sie nüchtern genug, Herr. Und ich denke, du solltest kommen«, sagte Garik leise. »Dein Bruder führt sie an.« »Was soll das bedeuten?« verlangte Caramon zu wissen; sein Atem stieg als weißes Wölkchen in die eisige Luft. Es war der kälteste Herbstmorgen. Eine dünne Eisschicht hatte sich über die Steine von Pax Tarkas gelegt. Eingemummt in einen dicken Umhang, nur mit Lederhosen und Stiefeln bekleidet, die er hastig übergezogen hatte, sah sich Caramon im Hof um. Er wimmelte von Zwergen und Menschen; alle standen ruhig in Reihen da und warteten auf den Marschbefehl. Caramons strenger Blick blieb auf Regar Feuerschmied haften, dann ging er zu Schattennacht, Häuptling der Barbaren. »Wir haben gestern alles besprochen«, sagte Caramon. Seine Stimme war vor Zorn angespannt, den er kaum zurückhalten konnte. Er blieb vor Regar stehen. »Unsere Nachschubwagen werden zwei Tage brauchen, um uns einzuholen. Für den Marsch haben wir nicht genügend Lebensmittel, das hast du mir selbst gestern abend gesagt. Und du wirst in der Ebene von Dergod nichts finden.« »Es wird uns nicht stören, einige Mahlzeiten ausfallen zu lassen«, knurrte Regar; die Betonung auf »uns« ließ keinen Zweifel an seinem Sinn. Caramons Vorliebe für ein gutes Abendessen war nur zu bekannt. Das verbesserte jedoch nicht die Laune des Generals. »Was ist mit Waffen, du langbärtiger Narr?« schnappte er. »Was ist mit frischem Wasser, Obdach, Futter für die Pfer-
de?« »So lange werden wir uns nicht in der Ebene aufhalten«, gab Regar zurück; seine Augen blitzten auf. »Die Bergzwerge, Reorx verfluche ihre Steinherzen, sind in völliger Verwirrung. Wir müssen jetzt zuschlagen, bevor sie ihre Streitkräfte wieder sammeln können.« »Das haben wir alles gestern abend besprochen!« schrie Caramon aufgebracht. »Dies war nur ein Teil ihrer Streitmacht, der wir gegenübergestanden haben. Dunkan hat noch eine ganze verdammte Armee, die unter dem Gebirge auf dich wartet!« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht«, fauchte Regar mürrisch, starrte nach Süden und schlug die Arme vor seiner Brust zusammen. »Auf jeden Fall haben wir unsere Meinung geändert. Wir marschieren heute – ob du mitkommst oder nicht.« Caramon warf Schattennacht, der während der ganzen Unterhaltung geschwiegen hatte, einen Blick zu. Der Häuptling der Barbaren nickte nur einmal. Seine Männer, die hinter ihm standen, waren ernst und ruhig, obwohl Caramon vereinzelt grün angehauchte Gesichter sah und erkannte, daß sich viele noch nicht vollständig von der abendlichen Feier erholt hatten. Schließlich glitt Caramons Blick zu einer schwarzgekleideten Gestalt, die auf einem schwarzen Pferd saß. Obgleich die Augen der Gestalt durch ihre schwarze Kapuze verdeckt waren, hatte Caramon ihren aufmerksamen, amüsierten Blick gespürt, seitdem er erschienen war. Sich vom Zwerg abwendend, ging Caramon zu Raistlin. Er war nicht überrascht, Crysania auf ihrem Pferd vorzufinden, eingemummt in einen dicken Umhang. Als er näher
kam, bemerkte er, daß der Saum ihres Umhangs mit Blut befleckt war. Ihr Gesicht, über einem Schal kaum sichtbar, den sie um Hals und Kinn gewickelt hatte, war blaß, aber beherrscht. Er fragte sich kurz, wo sie gewesen war und was sie in der langen Nacht getan hatte. Seine Gedanken jedoch waren auf seinen Bruder konzentriert. »Das ist dein Tun«, sagte er leise, als er zu Raistlin trat und seine Hand auf den Hals des Pferdes legte. Raistlin nickte selbstzufrieden, als er sich über den Sattelknauf beugte, um mit seinem Bruder zu sprechen. Caramon konnte sein Gesicht sehen; es war kalt und weiß wie der Frost auf dem Pflasterstein unter seinen Füßen. »Was ist das für ein Unsinn?« herrschte Caramon ihn leise an. »Was soll das alles bedeuten? Du weißt genau, daß wir ohne Proviant nicht weitermarschieren können!« »Jetzt gehst du aber zu sehr auf Nummer Sicher, mein Bruder«, antwortete Raistlin. Er zuckte die Achseln und fügte hinzu: »Die Nachschubwagen werden uns schon einholen. Und was die Waffen betrifft, haben die Männer hier nach der Schlacht welche erbeutet. Regar hat recht – wir müssen schnell zuschlagen, bevor sich Dunkan sammeln kann.« »Das hättest du mit mir erörtern sollen!« fauchte Caramon und ballte die Faust. »Ich habe das Kommando!« Raistlin sah weg. Caramon, der neben ihm stand, spürte seinen Bruder unter den schwarzen Roben zittern. »Dafür war keine Zeit«, sagte der Erzmagier nach einem Augenblick. »In der letzten Nacht hatte ich einen Traum, mein Bruder. Sie ist zu mir gekommen – meine Königin… Takhisis… Es ist unbedingt erforderlich, Zaman so schnell wie möglich einzunehmen.«
Caramon sah seinen Bruder schweigend an, plötzlich verstand er. »Sie bedeuten dir nichts!« sagte er leise und wies auf die Männer und Zwerge, die hinter ihm standen und warteten. »Du bist lediglich an einer Sache interessiert, nämlich dein kostbares Portal zu durchschreiten!« Sein verbitterter Blick glitt zu Crysania, die ihn ruhig musterte, obgleich ihre grauen Augen von einer schlaflosen, entsetzlichen Nacht getrübt waren, die sie bei den Verletzten und Sterbenden verbracht hatte. »Und du auch? Du unterstützt ihn auch noch?« »Die Prüfung des Blutes, Caramon«, sagte sie sanft. »Sie muß durchgeführt werden. Ich habe den Gipfel der Bösartigkeit gesehen, die die Menschen einander antun können.« »Das bezweifle ich!« brummte Caramon und warf seinem Bruder einen Blick zu. Raistlin griff mit seinen schlanken Händen zu seiner Kapuze und zog sie langsam zurück. Caramon erschrak, als er sich in Raistlins Augen widergespiegelt sah, als er sein Gesicht sah – verhärmt, unrasiert, mit ungekämmten Haaren, die im Wind flatterten. Und dann, als Raistlin ihn anstarrte, ihn mit seinem Blick festhielt, so wie eine Schlange einen Vogel in ihren Bann schlägt, ertönten die Worte in Caramons Geist: »Du kennst mich gut, mein Bruder. Das Blut, das in unseren Adern fließt, spricht manchmal lauter als Worte. Ja, du hast recht. Dieser Krieg interessiert mich nicht. Ich trage ihn nur zu dem einzigen Zweck aus, das Portal zu durchschreiten. Diese Narren werden mich dorthin bringen. Und was soll es mich dann interessieren, ob wir gewinnen oder verlieren? Ich habe dir erlaubt, General zu spielen, Caramon, da du
dein kleines Spiel offenbar genossen hast. Du bist in der Tat überraschend gut darin. Du hast meinem Zweck angemessen gedient. Du wirst mir weiterhin dienen. Du wirst die Armee nach Zaman führen. Wenn Crysania und ich dort sicher angekommen sind, werde ich dich nach Hause schicken. Vergiß nicht, mein Bruder – die Schlacht in den Ebenen von Dergod wurde verloren! Du kannst das nicht ändern!« »Ich glaube dir nicht!« sagte Caramon; er starrte Raistlin verstört an. »Du würdest nicht in deinen Tod reiten! Du mußt etwas wissen! Du…« Er stockte, bekam keine Luft. »Meine Absichten behalte ich für mich! Was ich weiß oder nicht weiß, betrifft dich nicht, also strapaziere dein Gehirn nicht mit fruchtlosen Spekulationen.« »Ich sage es ihnen!« Caramon zwang die Worte zwischen zusammengepreßten Zähnen heraus. »Ich sage ihnen die Wahrheit!« »Was willst du ihnen sagen? Daß du die Zukunft gesehen hast? Daß sie zum Untergang verdammt sind?« Als er den Kampf in Caramons gequältem Gesicht sah, lächelte Raistlin. »Ich glaube es nicht, mein Bruder. Und falls du jemals wieder nach Hause zurückkehren möchtest, schlage ich vor, du gehst jetzt nach oben, legst deine Rüstung an und führst deine Armee.« Er zog sich die Kapuze wieder über die Augen. Caramon sog die Luft mit einem Keuchen ein, als ob jemand kaltes Wasser in sein Gesicht gegossen hätte. Einen Augenblick konnte er seinen Bruder nur anstarren, vor Zorn erbebend, der ihn fast überwältigte. »Ich habe wohl keine andere Wahl«, sagte er. »Nein«, erwiderte Raistlin. Er ergriff die Zügel. »Es gibt
einige Dinge, um die ich mich kümmern muß. Crysania wird natürlich mit dir an der Spitze reiten. Warte nicht auf mich. Ich werde eine Zeitlang hinten reiten.« Jetzt bin ich also entlassen, dachte Caramon. Als er seinen Bruder beim Wegreiten beobachtete, empfand er keinen Zorn mehr, nur noch einen dumpfen, nagenden Schmerz. Er drehte sich auf dem Absatz um, das bedrückende Schweigen eher spürend als hörend, das sich über den Hof gelegt hatte, ging allein in sein Quartier und legte langsam seine Rüstung an. Als Caramon zurückkehrte, in seine goldene Rüstung gehüllt, erhoben die Zwerge, die Barbaren und die Männer seiner eigenen Armee ihre Stimmen zu tosendem Jubel. Sie bewunderten und respektierten nicht nur aufrichtig den großen Mann, sondern schrieben ihm auch die hervorragende Strategie zu, die ihnen am Tag zuvor den Sieg eingebracht hatte. General Caramon hatte Glück, hieß es, er war von einem Gott gesegnet. War es denn kein Glück gewesen, daß die Zwerge die Tore so lange offengehalten hatten? Die meisten fühlten sich unbehaglich, als das Gerücht aufkam, daß sie vielleicht ohne ihn davonreiten würden. Viele hatten düstere Blicke auf den schwarzgekleideten Zauberer geworfen, aber wer wagte schon, Mißfallen zu äußern? Der Jubel spendete Caramon großen Trost, und einen Augenblick brachte er keinen Ton heraus. Als er dann die Stimme wiederfand, erteilte er mürrisch Befehle, während er sich für den Ritt bereit machte. Mit einer Geste rief er einen der jungen Ritter zu sich. »Michael, ich lasse dich hier in Pax Tarkas zurück, du wirst hier das Kommando füh-
ren«, sagte er, während er sich ein Paar Handschuhe überzog. Der junge Ritter errötete vor Freude über diese unerwartete Ehre. »Herr, ich bin ungeeignet… Ein geeigneter Mann wird sicherlich…« Ihn traurig anlächelnd, schüttelte Caramon den Kopf. »Ich kenne deine Eignung, Michael. Es wird nicht einfach sein, aber gib dein Bestes. Die Frauen und Kinder werden natürlich hier bleiben. Und ich schicke die Verwundeten zurück. Wenn die Nachschubwagen ankommen, sieh zu, daß sie so schnell wie möglich weiterfahren.« Er schüttelte den Kopf. »Das wird wahrscheinlich nicht schnell genug geschehen«, murmelte er. Seufzend fügte er hinzu: »Du kannst im Notfall den Winter hier durchhalten. Egal, was mit uns geschieht…« Als er sah, wie die Ritter mit besorgten Gesichtern Blicke austauschten, verkniff er sich weitere Worte. Nein, sein bitteres Vorwissen durfte er nicht zeigen. Fröhlichkeit vortäuschend, klopfte er Michael auf die Schulter, fügte etwas Albernes hinzu und stieg auf sein Pferd. Der Fähnrich richtete die Standarte der Armee auf. Caramons Banner mit dem neunzackigen Stern glänzte hell in der Sonne. Seine Ritter bildeten hinter ihm Reihen. Crysania kam hinzu, um mit ihnen zu reiten. Obgleich die Ritter wie alle anderen im Lager mit einer »Hexe« nichts anfangen konnten, war sie trotz allem eine Frau, und aufgrund ihres Ehrbegriffs waren sie aufgerufen, sie mit ihrem Leben zu beschützen und zu verteidigen. »Öffnet die Tore!« rief Caramon. Er warf einen letzten Blick um sich, um sich zu überzeugen, ob alle bereit waren, als seine Augen plötzlich denen seines Bruders begegneten.
Raistlin saß im Schatten der großen Tore auf seinem schwarzen Pferd. Er rührte sich nicht, noch sprach er. Er saß einfach da, beobachtend, wartend. Die Zwillinge musterten einander so lange, wie man für einen Atemzug benötigt, dann wandte sich Caramon ab. Er nahm seine Standarte aus der Hand des Fähnrichs. Sie hoch über seinen Kopf haltend, schrie er nur ein Wort: »Thorbadin!« Die Morgensonne, die sich gerade über den Gipfeln erhob, brannte golden auf Caramons Rüstung. »Thorbadin!« schrie er noch einmal, gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte zum Tor hinaus. »Thorbadin!« Sein Schrei hallte in einem donnerhaften Geschrei zurück. Die Zwerge begannen mit ihrem vertrauten, unheimlichen, aus tiefer Kehle kommenden Gesang: »Stein und Metall, Metall und Stein, Stein und Metall, Metall und Stein« und stampften mit ihren eisenbeschuhten Füßen, als sie aus der Festung marschierten. Sie wurden von den Barbaren gefolgt, die sich weniger diszipliniert bewegten. Von der Ordnung schnell ermüdet, würden sie bald von der Straße abweichen, um in ihren gewohnten Jagdgruppen zu ziehen. Nach den Barbaren kam schließlich die Truppe der Bauern und Diebe, von denen nicht wenige unter der Nachwirkung der Siegesfeier in der vergangenen Nacht taumelten. Und schließlich, die Nachhut bildend, marschierten ihre neuen Verbündeten, die Dewaren. Argat versuchte Raistlins Blick zu erhaschen, als er und seine Männer hinausmarschierten, aber der Zauberer saß in Schwarz gehüllt auf seinem schwarzen Pferd, sein Gesicht in Dunkelheit verborgen. Das einzige an Fleisch und Blut, was von ihm sichtbar war, waren die schlanken weißen
Hände, die die Zügel des Pferdes hielten. Raistlins Augen waren nicht auf den Dewar gerichtet, auch nicht auf die Armee, die an ihm vorbeimarschierte. Sie waren auf die goldglänzende Gestalt gerichtet, die an der Spitze der Armee ritt. Die Dewaren marschierten hinaus, und der Hof war von Bewaffneten leer. Die Frauen wischten ihre Tränen ab und widmeten sich wieder miteinander plaudernd ihren Aufgaben. Die Kinder standen auf den Mauern, um der Armee zuzujubeln, solange sie noch zu sehen war. Die Tore von Pax Tarkas wurden schließlich wieder verschlossen. Allein auf den Zinnen stehend, beobachtete Michael die große, in den Süden ziehende Armee. Hinter ihr ritt eine einsame schwarzgekleidete Gestalt. Als Michael sie betrachtete, war er etwas froher. Es schien ein gutes Omen zu sein. Der Tod ritt nun hinter der Armee, nicht vor ihr. Die Sonne schien auf die geöffneten Tore von Pax Tarkas; sie sank beim Schließen der Tore der riesigen Gebirgsfestung Thorbadin. Wenn die Tore geschlossen und verriegelt waren, konnten sie nicht mehr von der Felswand des Gebirges unterschieden werden, so geschickt war die Handwerkskunst der Zwerge, die Jahre mit ihrer Konstruktion verbracht hatten. Das Schließen der Tore bedeutete Krieg. Neuigkeiten über den Marsch der Armee des Fistandantilus wurden berichtet, herbeigetragen von Spionen auf den schnellen Flügeln der Greife. Jetzt war die Gebirgsfestung lebendig vor Geschäftigkeit. Funken flogen in den Geschäften der Waffenschmiede. Die Tavernen verdoppelten ihre Umsätze über Nacht, da jeder kam, um mit den großartigen Taten zu prahlen, die er auf dem Schlachtfeld vollbringen wollte.
Nur ein Teil des riesigen Königreiches unter dem Erdboden war still, und es war dieser Ort, auf die der Held der Zwerge seine schweren Fußtritte richtete, zwei Tage, nachdem Caramons Armee Pax Tarkas verlassen hatte. Als Kharas den großen Empfangssaal des Königs der Bergzwerge betrat, hörte er seine Stiefel in der kugelförmigen Halle ertönen, die aus dem Stein des Gebirges gemeißelt war. Die Halle war außer einigen Zwergen leer, die vorne auf einem Steinpodium saßen. Kharas passierte die langen Reihen der Steinbänke, wo in der Nacht zuvor Tausende von Zwergen ihre Zustimmung gegrölt hatten, als ihr König ihren Verwandten den Krieg erklärt hatte. Heute fand das Kriegstreffen des Rates der Lehnsherren statt. Aus diesem Grund war die Anwesenheit der Bürgerschaft nicht erforderlich, und Kharas war etwas erstaunt, eingeladen worden zu sein. Der Held war in Ungnade gefallen – das wußte jeder! Kharas bemerkte beim Näherkommen, daß Dunkan ihn unfreundlich musterte, aber das hätte auch etwas mit der Tatsache zu tun haben können, daß das Auge des Königs und sein linker Wangenknochen über seinem Bart blau und angeschwollen waren – die Folge des Schlags, den Kharas ihm zugefügt hatte. »Oh, komm herauf, Kharas«, sagte Dunkan, als der hochgewachsene, bartlose Zwerg sich tief vor ihm verneigte. »Erst, wenn du mir vergeben hast, Lehnsherr«, erwiderte Kharas, seine Stellung beibehaltend. »Dir vergeben dafür, daß du ein bißchen Verstand in einen närrischen alten Zwerg geschlagen hast?« Dunkan lä-
chelte sarkastisch. »Nein, dafür wird dir nicht vergeben. Es wird dir gedankt.« Der König rieb an seinem Kiefer. »›Pflicht ist schmerzhaft‹, lautet ein Sprichwort. Das habe ich jetzt verstanden. Aber genug davon!« Als Kharas sich wieder aufrichtete, hielt Dunkan ihm eine Schriftrolle entgegen. »Ich habe dich aus einem anderen Grund gerufen. Lies das.« Verwirrt untersuchte Kharas die Schriftrolle. Sie war mit einem schwarzen Band versehen, aber nicht versiegelt. Er sah zu den anderen Lehnsherren, die alle versammelt waren, jeder auf seinem eigenen Steinstuhl, etwas niedriger als der König, sitzend. Sein Blick glitt insbesondere zu einem leeren Stuhl, dem Stuhl von Argat, Lehnsherr der Dewaren. Stirnrunzelnd öffnete Kharas die Rolle und las laut vor. »Dunkan von den Zwergen von Thorbadin, König. Grüße von denen, die du jetzt als Verräter bezeichnest. Diese Rolle wird dir von uns geschickt, die wissen, daß du jetzt Dewaren unter dem Gebirge bestrafen wirst für das, was wir in Pax Tarkas getan haben. Wenn diese Rolle zu dir geschickt wird, heißt das, daß wir erfolgreich die Tore offengehalten haben. Du verachtetest unseren Plan im Rat. Vielleicht siehst du jetzt seine Weisheit. Der Feind wird von dem Zauberer geführt. Der Zauberer ist ein Freund von uns. Er läßt die Armee durch die Ebene von Dergod marschieren. Wir marschieren mit ihnen, sind Freunde von ihnen. Wenn die Stunde kommt, werden die, die du Verräter nennst, zuschlagen. Wir werden die Feinde angreifen und sie in deine Axtklingen treiben. Wenn du Zweifel an unserer Treue hast, halte unser Volk
als Geiseln unter dem Gebirge, bis zu der Zeit, in der wir zurückkehren. Wir versprechen dir ein großes Geschenk, das wir dir als Beweis unserer Treue geben werden. Argat von den Dewaren, Lehnsherr.« Kharas las die Rolle zweimal, und sein Stirnrunzeln glättete sich nicht. »Nun?« fragte Dunkan. »Ich habe mit Verrätern nichts zu schaffen«, sagte Kharas, wickelte die Rolle wieder auf und gab sie voll Abscheu zurück. »Aber wenn sie aufrichtig sind«, beharrte Dunkan, »könnte uns das zu einem großartigen Sieg verhelfen!« Kharas hob die Augen, um denen seines Königs zu begegnen, der auf dem Podest über ihm saß. »Wenn ich in diesem Augenblick, Lehnsherr, mit dem General unseres Feindes, diesem Caramon Majere, sprechen könnte, der nach allen Berichten ein gerechter und ehrenwerter Mann ist, würde ich ihm genau sagen, welche Gefahr ihm droht, selbst wenn es bedeutete, daß wir zugrunde gehen.« Die anderen Lehnsherren schnauften oder murrten verächtlich. »Du hättest ein Ritter von Solamnia werden sollen!« murmelte einer, eine Feststellung, die nicht als Kompliment gedacht war. Dunkan warf allen einen strengen Blick zu, worauf sie in Schweigen verfielen. »Kharas«, sagte Dunkan geduldig, »wir wissen, wie du über Ehre denkst, und wir stimmen dir auch zu. Aber Ehre wird die Kinder nicht ernähren, deren Väter in dieser Schlacht sterben. Nein«, fuhr er fort, und seine Stimme wurde streng und tief, »es gibt eine Zeit für Ehre und eine
Zeit, in der man das tun muß, was getan werden muß.« Er rieb wieder an seinem Kiefer. »Das hast du mir selbst gezeigt.« Kharas’ Gesicht wurde grimmig. Geistesabwesend hob er eine Hand, um über seinen Bart zu streichen, der nicht mehr da war, ließ sie nervös wieder fallen und starrte mit rotem Kopf auf seine Füße. »Unsere Kundschafter haben diesen Bericht bestätigt«, fuhr Dunkan fort. »Die Armee marschiert.« Kharas sah finster auf. »Das glaube ich nicht!« sagte er. »Ich habe es nicht geglaubt, als ich davon gehört habe! Sie haben Pax Tarkas verlassen? Bevor ihre Nachschubwagen eingetroffen sind? Dann führt der Zauberer jetzt wirklich das Kommando. Kein General würde diesen Fehler begehen…« »Sie werden innerhalb der nächsten zwei Tage in den Ebenen sein. Ihr Ziel ist nach unseren Spionen die Festung Zaman, wo sie planen, ihr Hauptquartier zu errichten. Wir haben dort eine kleine Garnison, die eine Scheinniederlage inszenieren, sich dann zurückziehen und sie dabei hoffentlich ins Freie locken wird.« »Zaman«, murmelte Kharas und kratzte sich am Kiefer, da er nicht mehr an seinem Bart ziehen konnte. Unvermittelt tat er einen Schritt nach vorn. »Lehnsherr, ich kann dir einen Plan unterbreiten, der diesen Krieg mit einem Minimum an Blutvergießen beenden wird, wenn du mir zuhörst und mir einen Versuch erlaubst.« »Ich höre zu«, sagte Dunkan zweifelnd; sein Gesicht legte sich in strenge, harte Linien. »Gib mir eine sorgsam ausgewählte Gruppe von Männern, Lehnsherr, und ich werde es in die Hand nehmen,
diesen Zauberer, diesen Fistandantilus, zu töten. Wenn er tot ist, werde ich diese Schriftrolle seinem General und unseren Verwandten zeigen. Dann werden sie sehen, daß sie betrogen worden sind. Sie werden die Macht unserer Armee sehen, die sich gegen sie versammelt hat. Sie müssen dann einfach kapitulieren!« »Und was sollen wir mit ihnen machen, wenn sie wirklich kapitulieren?« fragte Dunkan verärgert, obgleich er den Plan in Erwägung zog, während er sprach. Die anderen Lehnsherren hatten aufgehört, in ihre Barte zu murmeln, und sahen einander jetzt an. »Gib ihnen Pax Tarkas, Lehnsherr«, sagte Kharas, dessen Eifer wuchs. »Natürlich jenen, die dort leben wollen. Unsere Verwandten werden zweifellos wieder in ihre Heimat zurückkehren. Wir könnten ihnen einige Zugeständnisse machen – einige wenige«, fügte er hastig hinzu, als er Dunkans Gesicht sich verdunkeln sah. »Das könnte mit den Kapitulationsbedingungen ausgehandelt werden. Aber es würde Zuflucht und Schutz für die Menschen und unsere Verwandten während der Winterzeit bedeuten – sie könnten in den Minen arbeiten…« »Dieser Plan liegt im Bereich des Möglichen«, murmelte Dunkan nachdenklich. »Wenn du erst einmal in der Wüste bist, könntest du dich in den Erdwällen verstecken…« Er verstummte und dachte nach. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Aber es ist ein gefährliches Vorhaben, Kharas. Und es kann alles für nichts sein. Selbst wenn es dir gelingt, den Schwarzen zu töten – und ich erinnere dich daran, daß er ein überaus mächtiger Zauberer sein soll –, besteht die Möglichkeit, daß du getötet wirst, bevor du mit diesem General Majere sprechen kannst. Es wird gemun-
kelt, daß er der Zwillingsbruder des Zauberers ist!« Kharas lächelte müde, seine Hand ruhte noch an seinem glattrasierten Kiefer. »Das ist ein Risiko, das ich gern auf mich nehme, Lehnsherr, wenn es bedeutet, daß keine weiteren Verwandten durch seine Hände sterben.« Dunkan funkelte ihn an, dann rieb er über seinen geschwollenen Kiefer und seufzte schwer. »Na schön«, sagte er. »Es sei dir überlassen. Wähle deine Männer sorgfältig aus. Wann willst du aufbrechen?« »Heute abend, Lehnsherr, mit deiner Erlaubnis.« »Die Tore des Gebirges werden sich für dich öffnen und dann wieder geschlossen werden. Ob sie sich wieder öffnen, um dich siegreich einzulassen oder um die bewaffnete Macht der Bergzwerge hinauszulassen, wird von dir abhängen, Kharas. Möge Reorx’ Flamme auf deinem Hammer glänzen.« Kharas verbeugte sich, drehte sich um und ging aus der Halle. Jetzt war sein Schritt schneller und schwungvoller als bei seinem Eintreten. »Da geht einer dahin, dessen Verlust wir uns nicht leisten können«, sagte einer der Lehnsherren. »Er war für uns schon von Anfang an verloren«, sagte Dunkan barsch. Aber sein Gesicht war verhärmt und von Trauer gezeichnet, als er brummte: »Wir müssen jetzt für den Krieg planen.«
»Schon wieder kein Wasser«, stellte Caramon ruhig fest. Regar blickte finster. Obgleich die Stimme des Generals bar jeden Vorwurfs war, wußte der Zwerg, daß er verantwortlich gemacht wurde. Die Erkenntnis, daß es größtenteils seine Schuld war, half auch nicht weiter. »Ungefähr einen halben Tagesmarsch von hier stoßen wir auf ein weiteres Wasserloch«, knurrte Regar; sein Gesicht wurde steinhart. »In den alten Zeiten gab es sie hier überall wie Pockennarben.« Caramon sah sich um. So weit sein Auge reichte, gab es nichts – keinen Baum, keinen Vogel, nicht einmal Gestrüpp. Nichts als endlose Meilen von Sand und hier und dort verstreut seltsame, kuppelförmige Erdwälle. In der Ferne schwebten die dunklen Schatten des Gebirges von Thorbadin. Die Armee des Fistandantilus war am Verlieren, bevor die Schlacht überhaupt begonnen hatte.
Nach einem tagelangen Gewaltmarsch waren sie endlich aus dem Gebirgspaß von Pax Tarkas herausgekommen und befanden sich jetzt in der Ebene von Dergod. Der Nachschub hatte sie noch nicht eingeholt, und aufgrund ihres schnellen Tempos sah es aus, als ob es noch über eine Woche dauern würde, bis die schwerfälligen Wagen sie fanden. Raistlin wies die Offiziere der Armee darauf hin, daß Eile vonnöten sei, und obgleich Caramon seinem Bruder offen widersprach, unterstützte Regar den Erzmagier, und es gelang ihm, die Barbaren auf ihre Seite zu ziehen. Wieder blieb Caramon nichts anderes übrig, als mitzumachen. Und so brach die Armee vor der Morgendämmerung auf, marschierte mit nur einer kleinen Rast am Mittag und setzte den Marsch bis zum Zwielicht fort. Dann hielten sie an und errichteten ein Lager, solange es noch hell genug war, um etwas zu sehen. Die Armee wirkte beileibe nicht siegreich. Verschwunden waren die Kameradschaft, der Spaß, das Gelächter, die Spiele am Abend. Verschwunden war das Singen am Tag; sogar die Zwerge hatten mit ihrem aufwühlenden Gesang aufgehört und zogen es vor, ihren Atem für den ermüdenden Marsch Meile um Meile aufzusparen. In der Nacht fielen die Männer praktisch dort zu Boden, wo sie standen, aßen ihre mageren Rationen und schliefen sofort erschöpft ein, bis sie am nächsten Tag von den Feldwebeln mit Tritten geweckt wurden. Die Stimmung war schlecht. Es gab Gemurre und Klagen, besonders als die Lebensmittel sich dem Ende zuneigten. Im Gebirge war das kein Problem gewesen. Dort hatte es genügend Wild gegeben. Aber in den Ebenen waren sie
die einzigen Lebewesen, so wie Caramon es vorausgesagt hatte. Sie lebten von ungesäuertem Brot und Trockenfleisch, das auf zwei Stücke am Tag beschränkt war – morgens und abends. Und Caramon wußte, daß auch diese kleine Menge noch einmal geteilt werden mußte, wenn der Nachschub sie nicht bald einholte. Aber der General hatte noch andere Probleme, von denen zwei besonders kritisch waren. Ein Problem war der Mangel an frischem Wasser. Regar hatte ihm zwar mitgeteilt, daß es in den Ebenen Wasserlöcher gebe, aber die zwei ersten, auf die sie gestoßen waren, waren ausgetrocknet. Erst dann hatte der alte Zwerg mürrisch zugegeben, daß er das letzte Mal in den Ebenen vor der Zeit der Umwälzung gewesen war. Caramons anderes Problem war die sich schnell verschlechternde Beziehung zwischen den Verbündeten. Bestenfalls immer nur fadenscheinig, riß das Bündnis jetzt an allen Nähten auseinander. Die Menschen aus dem Norden gaben den Zwergen und den Barbaren die Schuld für ihre derzeitigen Probleme, da sie den Zauberer unterstützt hatten. Die Barbaren ihrerseits waren niemals zuvor in den Bergen gewesen. Jetzt, da sie das gigantische Gebirge von Thorbadin am südlichen Horizont aufragen sahen, begannen sie zu denken, daß alles in der Welt nicht so schön wie das flache Grasland ihrer Heimat sei. Mehr als einmal sah Caramon ihre dunklen Augen nach Norden schweifen, und er wußte, daß er eines Morgens aufwachen und feststellen würde, daß sie verschwunden waren. Die Zwerge ihrerseits betrachteten die Menschen als feige Schwächlinge, die sofort heulend nach Hause zur Mut-
ter liefen, sobald die Dinge ein wenig schwierig wurden. Folglich wurde das Fehlen von Essen und Trinken als geringfügige Störung abgetan. Über den Zwerg, der es wagte anzudeuten, daß er durstig sei, fielen unverzüglich seine Kameraden her. Caramon dachte über seine zahlreichen Probleme nach, während er an jenem Abend mitten in der Wüste stand. Dann hob er die Augen, und sein Blick blieb auf Regar ruhen. Da der alte Zwerg sich von Caramon nicht beobachtet fühlte, hatte er seine steinharte Strenge verloren – seine Schultern sackten ein, und er seufzte erschöpft. Seine Ähnlichkeit mit Flint war groß. Beschämt über seinen Zorn, tat Caramon, was er konnte, um es wiedergutzumachen. »Mach dir keine Sorgen. Für die Nacht haben wir ausreichend Wasser. Morgen stoßen wir sicherlich auf ein Wasserloch, nicht wahr?« fragte er und klopfte Regar unbeholfen auf den Rücken. Der alte Zwerg sah zu Caramon hoch, verblüfft und sofort argwöhnisch; er fürchtete, die Zielscheibe eines Witzes zu sein. Aber als er Caramons erschöpftes Gesicht sah, das ihn fröhlich anlächelte, entspannte er sich. »Ja«, antwortete er mit einem widerwilligen Lächeln, »morgen bestimmt.« Die zwei wandten sich von dem trockenen Wasserloch ab und gingen ins Lager zurück. Die Nacht brach über die Ebene von Dergod früh herein. Nur wenige Lagerfeuer brannten; die meisten Männer waren zu müde, um welche anzuzünden, und zum Kochen gab es sowieso nicht genügend Lebensmittel. In Gruppen zusammengekauert, musterten die Hügelzwerge, die Menschen aus dem Norden und die Barbaren einander argwöhnisch. Jeder mied natürlich die Dewaren.
»Paß auf!« Regar ergriff Caramon am Arm. Caramon blinzelte und sah gerade rechtzeitig auf, bevor er gegen einen dieser seltsamen Erdwälle stolperte, die die Ebene übersäten. »Was sind das für Bauten?« knurrte Caramon. Er betrachtete den Wall, der ungefähr einen Meter hoch und genauso breit war, und schüttelte den Kopf. »Sie wurden von Zwergen gebaut! Kannst du das nicht sehen? Sieh dir doch mal die Ausführung an.« Regar fuhr liebevoll über die glatte Seite der Kuppel. »Seit wann leistet die Natur eine so vollkommene Arbeit?« Caramon schnaufte. »Zwerge! Aber warum? Wofür? Nicht einmal Zwerge lieben ihre Arbeit so sehr, daß sie es nur für ihre Gesundheit tun! Warum Zeit verschwenden, um Erdwälle in einer Wüste zu bauen?« »Beobachtungsstellen«, sagte Regar kurz angebunden. Caramon grinste. »Und was beobachten sie? Schlangen?« »Das Land, den Himmel, Armeen – wie unsere.« Regar stampfte mit dem Fuß auf. »Hörst du das?« »Was hören?« »Das.« Regar stampfte wieder. »Hohl.« Caramons Brauen glätteten sich. »Tunnel!« Seine Augen öffneten sich weit. Als er sich jetzt in der Wüste von einem Erdwall zum nächsten umsah, die sich über das Flachland erstreckten, pfiff er leise. »Meilenweit!« sagte Regar und nickte. »Sie wurden vor so langer Zeit gebaut, daß sie selbst für meinen Urgroßvater alt waren. In Legenden wird erzählt, daß es einmal zwischen hier und Pax Tarkas Festungen gab, die durch die Kharolisberge miteinander verbunden waren. Ein Zwerg konnte von Pax Tarkas nach Thorbadin laufen, ohne jemals die Sonne zu sehen, wenn die alten Geschichten wahr sind.
Die Festungen sind jetzt verschwunden. Und auch viele der Tunnel. Durch die Umwälzung wurden viele zerstört. Dennoch«, fuhr Regar fröhlich fort, als er und Caramon ihren Weg wieder aufnahmen, »wäre ich nicht überrascht, wenn Dunkan ein paar Spione hier unten hätte, die wie Ratten herumschleichen.« »Von oben oder von unten können sie uns schon meilenweit im voraus sehen«, brummte Caramon. Sein Blick untersuchte das flache, leere Land. »Ja«, erwiderte Regar beherzt, »und es wird ihnen sehr nützen.« Caramon antwortete nicht, und die zwei gingen weiter, bis der große Mann allein in sein Zelt zurückkehrte und der Zwerg zu dem Lager seines Volkes. In einem der Erdwälle, nicht weit von Caramons Zelt entfernt, beobachteten Augen die Armee. Aber jene Augen waren nicht an der Armee selbst interessiert. Sie waren an drei Personen interessiert, lediglich drei Personen… »Nicht mehr lange«, sagte Kharas. Er spähte durch Schlitze, die so geschickt in den Stein gemeißelt waren, daß sie jenen in den Erdwällen das Umherschauen ermöglichten, aber jeden außerhalb des Walles hinderten hineinzusehen. »Wie groß ist die Entfernung?« Er fragte einen Zwerg von uraltem, mürrischem Aussehen, der einmal gelangweilt aus den Schlitzen und dann wieder in den Tunnel sah. »Zweihundertdreiundfünfzig Schritte. Bringt dich direkt in die Mitte«, sagte der Zwerg ohne zu zögern. Kharas sah wieder auf die Ebene hinaus, wo das große Zelt des Generals abseits von den Lagerfeuern seiner Männer stand. Es schien Kharas wie ein Wunder, daß der alte
Zwerg die Entfernung so genau berechnen konnte. Er hatte ausdrückliche Zweifel gehabt, wäre es ein anderer als Schleicher gewesen. Aber der alte Dieb, der eigens für diese Mission seinen Ruhestand unterbrechen mußte, genoß einen zu großen Ruf für bemerkenswerte Taten – einen Ruf, der Kharas’ eigenem fast gleichkam. »Die Sonne geht unter«, sagte Kharas. »Der General kehrt zurück. Er betritt sein Zelt.« Er runzelte die Stirn. »Beim Barte Reorx’, ich hoffe, er ändert heute abend seine Gewohnheiten nicht…« »Wird er nicht«, sagte Schleicher. Sich in einer Ecke gemütlich zusammenkauernd, sprach er mit der ruhigen Gewißheit einer Person, die in vergangenen Zeiten ihren Lebensunterhalt verdient hatte, indem sie das Kommen und Gehen ihrer Mitmenschen beobachtet hatte. »Anfangs lernst du zwei Dinge, wenn du in Häuser einbrichst – jeder hat seine Routine, und niemand mag Veränderungen. Das Wetter ist gut, es gibt keine Unruhen, nichts außer Sand und noch mehr Sand. Nein, er wird nichts ändern.« Kharas runzelte die Stirn, ihm gefiel nicht, an die gesetzlose Vergangenheit des Zwergs erinnert zu werden. Sich seiner eigenen Grenzen wohl bewußt, hatte Kharas Schleicher für diese Mission ausgewählt, da er jemanden benötigte, der sich schnell und lautlos bewegen konnte, der geschickt bei Angriffen in der Nacht war und in der Dunkelheit entkommen konnte. Aber Kharas litt an Gewissensbissen. Er besänftigte seine Seele, indem er sich erinnerte, daß Schleicher vor langer Zeit für seine Taten bezahlt und sogar mehrere Dienste für seinen König erledigt hatte, die ihn zwar nicht zu einer völlig angesehenen Persönlichkeit, aber zu einem kleineren
Helden gemacht hatten. Außerdem, sagte sich Kharas, denk an die Leben, die wir retten werden. Bei diesem Gedanken stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. »Du hast recht, Schleicher. Jetzt kommt der Zauberer aus seinem Zelt und die Hexe aus ihrem.« Mit einer Hand den Griff seines Messers ergreifend, der sicher an seinem Gürtel befestigt war, verwendete Kharas die andere Hand, um ein Kurzschwert, das auch in seinem Gürtel steckte, in eine etwas bessere Position zu bringen. Schließlich nahm er einen Beutel und zog ein Stück eingerolltes Pergament hervor; mit einem nachdenklichen, feierlichen Ausdruck in seinem bartlosen Gesicht stopfte er es in eine sichere Tasche seiner Lederrüstung. Er drehte sich zu den vier Zwergen, die hinter ihm standen, um und sagte: »Fügt der Frau oder dem General nicht mehr Schaden als notwendig zu! Aber der Zauberer muß sterben, und er muß schnell sterben, denn er ist der Gefährlichste.« Schleicher grinste und machte es sich noch gemütlicher. Er würde nicht mitgehen. Einst hätte ihn das beleidigt, aber er hatte jetzt ein Alter erreicht, in dem es ein Kompliment war. Außerdem knirschten seine Kniegelenke alarmierend. »Laßt sie mit ihrem Abendessen beginnen. Dann«, er zog sich die Hand über die Kehle und gluckste, »zweihundertdreiundfünfzig Schritte…« Vor dem Zelt des Generals Wache stehend, lauschte Garik dem Schweigen im Inneren. Es war beunruhigender und schien lauter widerzuhallen als der heftigste Streit. Als er einen Blick durch den Zeltvorhang warf, sah er die drei zusammensitzen, wie sie es jeden Abend taten, still, nur gelegentlich etwas murmelnd, jeder augenscheinlich
mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Der Zauberer war in seine Studien vertieft. Es kursierten Gerüchte, daß er große, mächtige Zauber plane, mit denen er die Tore von Thorbadin aufsprengen wolle. Was jedoch die Hexe betraf, wer wußte schon, was sie dachte? Garik war zumindest dankbar, daß Caramon ein Auge auf sie hatte. Bei den Männern gab es einige unheimliche Gerüchte über die Hexe, Gerüchte von Wundertaten, die sie in Pax Tarkas vollbracht hatte, von den Toten, die bei ihrer Berührung wieder ins Leben zurückkehrten, von Gliedmaßen, die wieder an blutigen Stümpfen wuchsen. Garik nahm diese Geschichten natürlich mit Vorsicht auf. Dennoch war in letzter Zeit etwas an ihr, das den jungen Mann sich fragen ließ, ob seine ersten Eindrücke richtig gewesen waren. Am meisten sorgte sich Garik um seinen General. Im Laufe der vergangenen Monate hatte der junge Ritter Caramon verehren gelernt. Er hatte Caramons offensichtliche Niedergeschlagenheit bemerkt, von der der große Mann dachte, daß er sie ganz gut verbarg. »Es sind diese verdammten Dunkelzwerge«, murmelte Garik und stampfte gegen die Kälte mit den Füßen auf. »Ich traue ihnen nicht, das steht fest. Ich würde sie fortjagen, und ich wette, der General würde das auch, wenn nicht sein Bru…« Er stockte, hielt den Atem an, lauschte. Nichts. Aber er hätte schwören können… Mit der Hand am Schwertgriff starrte der junge Ritter in die Wüste hinaus. Obgleich sie tagsüber heiß war, verwandelte sie sich in der Nacht zu einem kalten und widerwärtigen Ort. In der Ferne sah er die Lagerfeuer. Hier und dort konnte er die Schatten von vorbeigehenden Männern se-
hen. Dann hörte er es wieder. Ein Geräusch in seinem Rücken. Das Geräusch schwerer, eisenbesohlter Stiefel… »Was war das?« fragte Caramon und hob den Kopf. »Der Wind«, murmelte Crysania, sah zu einer Zeltwand und erbebte. Sie beobachtete, wie das Gewebe sich wellte und atmete wie ein lebendiges Ding. »An diesem entsetzlichen Ort weht er unablässig.« Caramon hatte sich halb erhoben, seine Hand lag auf seinem Schwertknauf. »Es war nicht der Wind.« Raistlin sah kurz zu seinem Bruder auf. »Setz dich!« fauchte er verärgert, »und beende dein Essen, damit wir das hier hinter uns bringen können. Ich muß zu meinen Studien zurück.« Der Erzmagier beschäftigte sich in Gedanken mit einem besonders schwierigen Zauberspruch; seit Tagen mühte er sich damit ab. Er schob seinen nicht angerührten Teller beiseite und wollte gerade aufstehen, als die Welt buchstäblich unter seinen Füßen nachgab. Er starrte verblüfft hinab und sah ein riesiges Loch, das vor ihm gähnte. Eine der Pfahlstangen, die das Zelt hielten, stürzte in das Loch hinein. Eine Laterne baumelte heftig, Schatten hüpften wie Dämonen umher. Instinktiv bekam Raistlin den Tisch zu fassen und schaffte es, nicht in das schnell größer werdende Loch zu fallen. Aber während er das tat, sah er Gestalten aus dem Loch heraufklettern, untersetzte, bärtige Gestalten. Einen Augenblick blitzte das wild tanzende Licht gegen Stahlklingen, glänzte in dunkle, grimmige Augen. Dann wurden die Gestalten in Schatten getaucht. »Caramon!« schrie Raistlin, aber aus den Geräuschen
hinter sich, einem bösartigen Fluch und dem Rasseln eines Stahlschwertes, das aus seiner Scheide glitt, konnte er entnehmen, daß sich Caramon der Gefahr bewußt war. Raistlin hörte eine kräftige weibliche Stimme den Namen von Paladin ausrufen und erblickte ein reines, weißes Licht, aber er hatte keine Zeit, sich um Crysania zu sorgen. Ein riesiger Zwergenhammer, der von der Dunkelheit selbst geschwungen zu werden schien, blitzte im Laternenlicht auf und zielte auf seinen Kopf. Raistlin sagte den ersten Zauber auf, der ihm einfiel, und beobachtete mit Zufriedenheit, wie eine unsichtbare Kraft den Hammer aus der Zwergenhand riß. Auf seinen Befehl trug die magische Kraft den Hammer durch die Dunkelheit, um ihn in einer Zeltecke fallen zu lassen. Durch den unerwarteten Angriff anfangs betäubt, war Raistlins Geist jetzt aktiv. Als der erste Schock sich legte, betrachtete der Magier ihn lediglich als weitere ärgerliche Unterbrechung seiner Studien. Mit dem Vorsatz, die Störung schnell zu beenden, wandte er seine Aufmerksamkeit seinem Feind zu, der vor ihm stand und ihn mit Augen musterte, die ohne Angst waren. Selbst keine Angst empfindend, gelassen in dem Wissen, daß ihn nichts töten konnte, da er von der Zeit beschützt wurde, rief Raistlin seine Magie gemächlich auf. Er spürte mit sinnlichem Vergnügen, wie sie sich in seinem Körper wand und sich sammelte, spürte, wie die Ekstase ihn durchflutete. Dies würde eine angenehme Ablenkung von seinen Studien sein, dachte er. Eine interessante Übung… Er breitete die Hände aus und begann die Worte auszusprechen, die blaue Blitze durch den Körper des Feindes senden würden. Da wurde er unterbrochen.
Mit der Unmittelbarkeit eines Donnerschlages tauchten vor ihm zwei Gestalten auf, sprangen aus der Dunkelheit vor ihm auf, als ob sie von einem Stern gefallen wären. Vor die Füße des Magiers stolpernd, starrte eine Gestalt in wilder Aufregung zu ihm hoch. »O schau mal! Es ist Raistlin! Wir haben es geschafft, Gnimsch! Wir haben es geschafft! Hallo, Raistlin! Ich wette, du bist überrascht, mich zu sehen! Und ich kann dir die wundervollste Geschichte erzählen! Weißt du, ich war tot. Nun, ich war es nicht richtig, aber…« »Tolpan!« keuchte Raistlin. Gedanken zischten durch sein Gehirn, so wie die Blitze, die eigentlich aus seinen Fingerspitzen zischen sollten. Der erste – ein Kender! Zeit könnte verändert werden! Der zweite – Zeit kann verändert werden… Der dritte – ich kann sterben! Der Schock dieser Gedanken schoß durch Raistlins Körper, brannte die Nüchternheit und Gelassenheit fort, die für den Magier zum Werfen seiner Zauber so notwendig sind. Als die unvorhergesehene Lösung seines Problems und die beängstigende Erkenntnis, was es ihn kosten könnte, sein Gehirn durchströmten, verlor Raistlin die Beherrschung. Die Worte des Zaubers entglitten seinem Gedächtnis. Aber sein Feind kam immer näher. Raistlin suchte nach dem kleinen, silbernen Dolch, den er bei sich trug. Aber es war zu spät…
Kharas’ Konzentration war völlig auf den Mann gerichtet, den er zu töten geschworen hatte. Mit der Zielstrebigkeit militärischen Denkens handelnd, schenkte er also dem verblüffenden Auftauchen der zwei sonderbaren Erscheinungen keine Aufmerksamkeit; er dachte vielleicht kurz, daß sie lediglich von dem Erzmagier herbeigerufen wären. Kharas sah gleichzeitig die glitzernden Augen des Zauberers ausdruckslos werden. Er sah Raistlins Mund – geöffnet, um die tödlichen Worte auszusprechen – schlaff werden und wußte, daß sein Feind ihm zumindest wenige Sekunden ausgeliefert war. Er sprang nach vorn, stieß sein Kurzschwert durch die schwarzen, fließenden Roben und erhielt das befriedigende Gefühl, getroffen zu haben. Dem verwundeten Magier immer näher rückend, trieb er die Klinge tiefer und tiefer in dessen schlanken Körper. Die seltsame, glühende Hitze des Mannes hüllte ihn wie ein flammendes Inferno ein. Ein Haß und ein Zorn, so intensiv,
daß sie Kharas wie ein körperlicher Schlag trafen, ließen ihn nach hinten auf den Boden stürzen. Aber der Zauberer war verwundet – tödlich. So viel wußte Kharas. Er starrte hoch und blickte in jene brennenden, haßerfüllten Augen. Er sah sie vor Zorn glühen, aber sie waren auch voller Schmerz. Und er sah bei dem hüpfenden Licht der Laterne den Griff seines Kurzschwertes aus dem Bauch des Magiers ragen. Er sah die schlanken Hände des Zauberers, die sich darum wanden, er hörte ihn in schrecklicher Qual aufschreien. Er wußte, es bestand kein Grund zur Angst. Der Zauberer konnte ihm nichts mehr anhaben. Kharas rappelte sich auf, streckte seine Hand aus und riß sein Schwert heraus. In bitterer Pein schreiend, die Hände in das eigene Blut getaucht, schlug der Zauberer auf dem Boden auf und lag still da. Jetzt hatte Kharas Zeit, sich umzusehen. Seine Männer kämpften eine regelrechte Schlacht mit dem General, der, seinen Bruder schreien hörend, vor Angst und Zorn fuchsteufelswild war. Die Hexe war nirgendwo zu sehen, das unheimliche weiße Licht, das von ihr ausgegangen war, brannte nicht mehr. Als Kharas zu seiner Linken einen erstickten Ton hörte, drehte er sich um und erblickte die zwei Erscheinungen, die der Erzmagier herbeigerufen hatte. Sie starrten voll Entsetzen auf den Zauberer. Bei näherer Betrachtung war er überrascht, daß diese Dämonen von den unteren Ebenen nichts weiter Bedrohliches darstellten als einen Kender in leuchtendblauer Hose und einen dicklichen Gnom in einer Lederschürze. Kharas blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Er hatte
sein Ziel erreicht. Seine Hauptsorge war nun, seine Männer sicher herauszubringen. Er lief durch das Zelt, hob seinen Kriegshammer auf, rief seinen Männern in der Zwergensprache zu, aus dem Weg zu gehen, und schleuderte die Waffe gegen Caramon. Der Hammer streifte den Mann am Kopf, tötete ihn aber nicht. Caramon stürzte wie ein Ochse zu Boden, und plötzlich war es im Zelt totenstill. Das alles hatte nur wenige Minuten gedauert. Als Kharas durch den Zeltvorhang spähte, sah er den jungen Ritter, der Wache gestanden hatte, bewußtlos auf dem Boden liegen. Es gab keine Anzeichen, daß jene, die am weiter entfernten Lagerfeuer saßen, etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört hatten. Der Zwerg sah sich noch einmal um. Der Zauberer lag in einer Blutlache. Der General lag neben ihm, seine Hand griff nach seinem Bruder, als ob er sein letzter Gedanke gewesen wäre, bevor er das Bewußtsein verloren hatte. In einer Ecke lag die Hexe auf dem Rücken, ihre Augen waren geschlossen. Als er Blut an ihren Roben sah, funkelte Kharas streng seine Männer an. Einer von ihnen schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Kharas«, sagte er, sah auf sie hinab und erbebte. »Aber das Licht war so hell! Ich bekam Kopfschmerzen. Ich hatte nur noch einen Gedanken, dem ein Ende zu bereiten. Ich… ich habe sie dann getroffen, aber nicht sehr fest. Sie ist nur leicht verletzt.« »In Ordnung.« Kharas nickte. »Laßt uns verschwinden.« Als er seinen Hammer zurückholte, blickte er auf den General hinunter, der vor seinen Füßen lag. »Es tut mir leid«,
sagte er, fischte das kleine Stück Pergament hervor und legte es in die ausgestreckte Hand des Mannes. »Vielleicht kann ich dir irgendwann alles erklären.« Er erhob sich und sah sich um. »Sind alle in Ordnung? Dann laßt uns verschwinden.« Seine Männer eilten zum Tunneleingang. »Was ist mit diesen beiden?« fragte einer, der bei dem Kender und dem Gnom stehen blieb. »Nimm sie mit«, antwortete Kharas scharf. »Wenn wir sie zurücklassen, werden sie Alarm schlagen.« Zum ersten Mal schien Leben in den Kender zu kommen. »Nein!« schrie er und sah Kharas mit flehenden, entsetzten Augen an. »Du kannst uns nicht mitnehmen! Wir sind gerade erst angekommen! Wir haben Caramon gefunden, und jetzt können wir endlich nach Hause zurückkehren! Nein, bitte!« »Nimm sie mit!« befahl Kharas streng. »Nein!« plärrte der Kender und kämpfte in den Armen seines Ergreifers. »Nein, bitte, du verstehst nicht. Wir waren in der Hölle, und wir sind entkommen…« »Kneble ihn«, knurrte Kharas und spähte in den Tunnel unterhalb des Zeltes, um sich zu überzeugen, daß alles in Ordnung war. Er winkte ihnen zu, sich zu beeilen, während er sich neben dem Loch auf den Boden kniete. Seine Männer stiegen in den Tunnel und zogen den geknebelten Kender mit sich, der sich immer noch wehrte, so daß sie schließlich gezwungen waren, ihn zu fesseln, bevor sie ihn fortzerren konnten. Mit ihrem anderen Gefangenen hatten sie jedoch keine Probleme. Der arme Gnom war so entsetzt, daß er in einen Schockzustand fiel. Hilflos um sich starrend, befolgte er alles ganz ruhig, was ihm befohlen
wurde. Kharas ging als letzter. Bevor er in den Tunnel sprang, warf er noch einmal einen letzten Blick in das Zelt. Die Laterne hing nun ruhig und warf ihr sanftes, glühendes Licht auf eine Szene wie in einem Alptraum. Tische waren umgestoßen, Stühle umgeworfen. Eine dünne Blutspur lief unter dem Körper des schwarzgekleideten Zauberers hervor. Kharas sprang in das Loch und eilte seinen Männern nach. »General…« Caramon sprang auf die Beine, seine großen Hände griffen nach der Kehle des Feindes, ein Knurren verzerrte sein Gesicht. Erschreckt taumelte Garik zurück. »General!« schrie er, »Caramon! Ich bin es!« Ein stechender Schmerz und der Klang von Gariks vertrauter Stimme drangen durch Caramons Gehirn. Mit einem Stöhnen schlug er seine Hände vors Gesicht. Garik half ihm auf einen Stuhl. »Mein Bruder?« fragte Caramon undeutlich. »Caramon… ich…« Garik schluckte. »Mein Bruder?« schnarrte Caramon. »Wir haben ihn in sein Zelt gebracht«, erwiderte Garik leise. »Die Wunde ist…« »Was? Die Wunde ist was?« fauchte Caramon ungeduldig, hob den Kopf und starrte Garik mit blutunterlaufenen, schmerzerfüllten Augen an. Garik öffnete den Mund und schloß ihn wieder, dann schüttelte er den Kopf. »Mein Vater hat mir von solchen Wunden erzählt«, murmelte er. »Männer verweilen tage-
lang in einem fürchterlichen Todeskampf…« »Du meinst, es ist eine Bauchwunde«, unterbrach ihn Caramon. Garik nickte und vergrub sein Gesicht in beide Hände. Caramon sah ihn scharf an. Der junge Mann war leichenblaß. Seufzend schloß Caramon die Augen und machte sich auf den Schwindel gefaßt, der über ihn kommen würde, wenn er sich wieder erhöbe. Dann stand er grimmig auf. Die Dunkelheit wirbelte und hob sich um ihn. Er zwang sich, standhaft stehen zu bleiben, und als sich der Schwindel gelegt hatte, öffnete er die Augen. »Wie geht es dir?« fragte er Garik und musterte ihn aufmerksam. »Mir geht es gut«, antwortete Garik und errötete vor Scham. »Sie… sie überfielen mich… von hinten.« »Ja.« Caramon sah das getrocknete Blut im Haar des jungen Mannes. »Das kommt vor. Mach dir keine Gedanken darüber.« Der große Krieger lächelte ohne Heiterkeit. »Sie überfielen mich von vorn.« Garik nickte wieder, aber in seinem Gesicht war zu lesen, daß seine Niederlage ihm keine Ruhe ließ. Er wird es überstehen, dachte Caramon erschöpft. Wir müssen das alle mal durchmachen, früher oder später. »Ich sehe jetzt nach seinem Bruder«, sagte er und wollte mit unsicheren Schritten aus dem Zelt gehen. Doch er blieb stehen. »Crysania?« »Schläft. Ein Messer hat ihre Rippen gestreift. Ich… wir haben sie verbunden, so gut wir konnten. Wir mußten ihre Roben zerreißen.« Garik lief knallrot an. »Und wir gaben ihr Brandy…« »Weiß sie von Raist… Fistandantilus?«
»Der Zauberer hat es verboten.« Caramon hob die Augenbrauen. Er sah sich in dem verwüsteten Zelt um und erblickte die Blutspur auf dem Boden. Er holte tief Luft, dann hob er den Vorhang und ging unsicher hinaus. Garik folgte ihm. »Die Armee?« »Sie wissen es. Das hat sich schnell herumgesprochen.« Garik spreizte hilflos die Hände. »Es gab so viel zu tun. Wir haben versucht, die Zwerge zu verfolgen…« »Pah!« schnaufte Caramon und zuckte zusammen, als der Schmerz durch seinen Kopf schoß. »Sie haben bestimmt den Tunnel einstürzen lassen.« »Ja. Wir haben zu graben versucht, aber man könnte genauso gut die ganze verdammte Wüste umgraben«, erwiderte Garik bitter. »Was ist mit der Armee?« fragte Caramon hartnäckig und hielt vor Raistlins Zelt an. Von drinnen hörte er leises Stöhnen. »Die Männer sind aufgebracht«, antwortete Garik mit einem Seufzer. »Reden, sind verwirrt. Ich weiß nicht.« Caramon verstand. Er sah in das dunkle Zelt seines Bruders. »Ich gehe allein… Ich danke dir für alles, was du getan hast, Garik«, fügte er sanft hinzu. »Jetzt ruh dich aus, bevor du umkippst. Ich brauche dich später, und du wirst mir keine Hilfe sein, wenn du krank bist.« »Ja, Herr«, sagte Garik. Er wollte davontaumeln, dann blieb er stehen und drehte sich um. Er griff unter den Brustpanzer seiner Rüstung und zog ein blutverschmiertes Stück Pergament hervor. »Wir… wir haben das… in deiner Hand gefunden, Herr. Es ist in der Zwergensprache ge-
schrieben…« Caramon sah darauf, öffnete es, las es, dann rollte er es ohne Kommentar wieder zusammen und steckte es in seinen Gürtel. Jetzt waren die Zelte von Wachen umgeben. Caramon winkte einen Mann herbei und wartete, bis Garik in sein Bett gebracht worden war. Dann riß er sich zusammen und trat in Raistlins Zelt. Eine Kerze brannte auf einem Tisch neben einem geöffneten Zauberbuch – der Erzmagier war offensichtlich davon ausgegangen, nach dem Abendessen sofort zu seinen Studien zurückzukehren. Ein von Schlachten zernarbter Zwerg mittleren Alters – Caramon erkannte ihn als einen aus Regars Stab wieder – hockte im Schatten neben dem Bett. Ein Wächter neben dem Eingang salutierte, als Caramon eintrat. »Warte draußen«, befahl Caramon, und der Wächter verschwand. »Er erlaubt uns nicht, ihn zu berühren«, sagte der Zwerg und nickte zu Raistlin hin. »Die Wunde muß verbunden werden. Wird natürlich nicht viel nützen. Aber es könnte ein bißchen seine Eingeweide zusammenhalten.« »Ich kümmere mich um ihn«, sagte Caramon barsch. Raistlin lag auf einem Bett, immer noch angekleidet, seine Hände umklammerten die entsetzliche Wunde. Die Roben des Magiers und sein Fleisch waren in einer schauderhaften, blutigen Masse verklebt, und er lag im Todeskampf. Jeder Atemzug, den er ausstieß, war ein leises, unzusammenhängendes Stöhnen. Aber für Caramon waren der schrecklichste Anblick die glitzernden Augen seines Bruders, die ihn anstarrten, ihn
erkannten, als er sich dem Bett näherte. Raistlin war bei Bewußtsein. Caramon kniete sich neben das Bett seines Bruders und legte eine Hand auf dessen fiebrigen Kopf. »Warum läßt du nicht Crysania kommen?« fragte er leise. Raistlin schnitt eine Grimasse. Er biß seine Zähne zusammen, zwang aus seinen blutbefleckten Lippen Worte hervor. »Paladin… wird… mich… nicht… heilen!« Das letzte Wort war ein Keuchen, das in einem erstickten Schrei endete. Caramon starrte ihn verwirrt an. »Aber du kannst nicht sterben! Sie haben gesagt…« Raistlin rollte die Augen, schüttelte den Kopf. »Zeit… verändert… Alles… anders!« »Aber…« »Laß mich in Ruhe! Laß mich sterben!« kreischte Raistlin in Zorn und Schmerz. Sein Körper krümmte sich. Caramon erschauerte. Er versuchte mit Mitleid auf seinen Bruder zu blicken, aber das verzerrte Gesicht war ein Gesicht, das er nicht kannte. Die Maske der Weisheit und Intelligenz war abgerissen, enthüllt waren die Linien des Stolzes, des Ehrgeizes, der Habsucht und der gefühllosen Grausamkeit. Es schien Caramon, als ob er seinen Bruder zum ersten Mal sähe. Vielleicht, dachte Caramon, hat Dalamar dieses Gesicht im Turm der Erzmagier gesehen, als Raistlin mit bloßen Händen die Löcher in sein Fleisch brannte. Vielleicht hat auch Fistandantilus das Gesicht gesehen, bevor er starb… Caramon löste seinen Blick von diesem entsetzlichen Gesicht. Doch dann streckte er seine Hand aus. »Laß mich die Wunde verbinden.«
Raistlin schüttelte heftig den Kopf. Eine blutverschmierte Hand klammerte sich um Caramons Arm. »Nein! Mach ein Ende! Ich habe versagt! Die Götter lachen! Ich kann… es nicht ertragen…« Caramon starrte ihn an. Plötzlich wurde der große Mann von Zorn ergriffen – Zorn, der aus Jahren der sarkastischen Bemerkungen hochstieg. Caramon streckte seine Hand aus, packte die schwarzen Roben und hob den Kopf seines Bruders hoch. »Nein, bei den Göttern«, schrie er. »Nein, du wirst nicht sterben! Jetzt hör mir mal zu!« Seine Augen verengten sich. »Du wirst nicht sterben, mein Bruder! Dein ganzes Leben lang hast du nur für dich gelebt. Und selbst jetzt im Sterben suchst du den einfachsten Ausweg. Du läßt mich hier in einer Falle zurück, ohne darüber einen Gedanken zu verlieren. Du läßt Crysania zurück! Nein, Bruder! Du wirst leben, verdammt! Du wirst leben, um mich nach Hause zu schicken. Was du danach machst, ist deine Angelegenheit.« Raistlin sah Caramon an. Es schien fast, als ob er lachen wollte, aber statt dessen schoß eine Blutblase aus seinem Mund. Caramon lockerte seinen Griff an den Roben seines Bruders und legte ihn zurück. Raistlins Augen verschlangen Caramon. Das einzige Leben in ihnen war bitterer Haß und Zorn. »Ich werde Crysania informieren«, sagte Caramon, erhob sich und übersah Raistlins zorniges Funkeln. »Zumindest muß sie versuchen, dich zu heilen. Ja, wenn Blicke töten könnten, würde ich jetzt sofort umfallen. Aber hör mir zu, Raistlin oder Fistandantilus oder wer du bist – wenn es Paladins Wille ist, daß du stirbst, bevor du der Welt noch größeren Schaden zufügen kannst, dann soll es so sein. Ich
werde das hinnehmen und auch Crysania. Aber falls es sein Wille ist, daß du leben sollst, werden wir das ebenfalls annehmen… und du auch!« Raistlin, dessen Kräfte fast verbraucht waren, hielt seinen blutigen Griff noch um Caramons Arm, umklammerte ihn mit Fingern, die fast im Tod erstarrt waren. Entschlossen und mit zusammengepreßten Lippen löste sich Caramon von seinem Bruder. Er erhob sich; hinter sich hörte er ein qualvolles Stöhnen. Er trat in die Nacht hinaus und ging schnell auf Crysanias Zelt zu. Dabei sah er zur Seite und erblickte den Zwerg, der lässig im Schatten stand und mit einem scharfen Messer ein Stück Holz bearbeitete. Caramon zog das Stück Pergament hervor. Er brauchte es nicht noch einmal zu lesen. Es waren nur wenige Worte. »Der Zauberer hat dich und die Armee verraten. Schick einen Boten nach Thorbadin, um die Wahrheit zu erfahren.« Caramon warf das Stück Pergament auf den Boden. Durch die entsetzlichen Schmerzen konnte Raistlin das Gelächter der Götter hören. Wie sehr sie sich an seiner Niederlage weiden mußten! Raistlins gepeinigter Körper krümmte sich in Krämpfen, und seine Seele tat es ihm gleich; sie zuckte in ohnmächtiger Wut, brannte im Wissen seines Versagens! »Schwächlicher, erbärmlicher Mensch!« hörte er die Stimmen der Götter rufen. »Auf diese Weise erinnern wir dich an deine Sterblichkeit!« Er würde Paladin nicht entgegentreten! Zu sehen, wie der Gott ihn verhöhnte, sich an seinem Untergang weidend – nein! Lieber schnell sterben, seine Seele die dunkle Zuflucht suchen lassen, die sie finden konnte. Aber dieser Bas-
tard von Bruder, diese andere Hälfte von ihm, die Hälfte, die er beneidete und verabscheute, die Hälfte, die er hätte sein sollen – von Rechts wegen. Ihm dies zu versagen… diesen letzten gesegneten Trost… »Caramon!« schrie Raistlin in die Dunkelheit. »Caramon, ich brauche dich! Caramon, laß mich nicht allein!« Er schluchzte, umklammerte seinen Bauch, rollte sich zu einer Kugel zusammen. »Laß mich nicht allein!« Und dann verlor er das Bewußtsein. Weißes Licht, rein und kalt und scharf wie ein Schwert, schnitt sich durch den Geist des Magiers. Sich krümmend, versuchte er zu entkommen, versuchte, in die warme und trostspendende Dunkelheit zu tauchen. Er konnte sich selbst hören, wie er Caramon anbettelte, ihn zu töten und den Schmerz zu beenden, das helle und stechende Licht zu löschen. Das Licht wurde heller und verwandelte sich in ein Gesicht, ein wunderschönes, ruhiges, reines Gesicht mit dunklen grauen Augen. Kühle Hände berührten seine glühende Haut. »Laß mich dich heilen.« Das Licht schmerzte schlimmer als der Schmerz des Stahls. Schreiend, sich krümmend, versuchte Raistlin zu entkommen, aber die Hände hielten ihn fest. »Laß mich dich heilen.« »Geh… weg!« »Laß mich dich heilen!« Erschöpfung, eine unermeßliche Erschöpfung legte sich über Raistlin. Er war des Kämpfens müde – des Kämpfens gegen den Schmerz, des Kämpfens gegen den Spott, des Kämpfens gegen die Qual, mit der er sein ganzes Leben lang gelebt hatte.
Na schön, sollen die Götter doch lachen! Ich habe es schließlich verdient, dachte Raistlin verbittert. Soll er sich doch weigern, mich zu heilen. Und dann ruhe ich mich in der Dunkelheit aus… in der trostspendenden Dunkelheit… Er schloß die Augen, schloß sie fest gegen das Licht und wartete auf das Lachen – und sah plötzlich das Gesicht des Gottes. Caramon stand draußen im Schatten des Zeltes seines Bruders, seinen schmerzenden Kopf in den Händen vergraben. Raistlins Sterbewünsche quälten ihn. Schließlich ertrug er es nicht mehr. Die Klerikerin hatte offensichtlich versagt. Seinen Schwertknauf umklammernd, betrat Caramon das Zelt und ging auf das Bett zu. In diesem Augenblick hörte Raistlin zu schreien auf. Crysania fiel über seinen Körper, ihr Kopf auf die Brust des Magiers. Er ist tot, dachte Caramon. Raistlin ist tot. Er empfand keine Trauer. Statt dessen beschlich ihn eine Art Entsetzen bei dem Anblick, und er dachte: Was ist das nur für eine groteske Totenmaske! Raistlins Gesicht war starr, sein Mund sperrangelweit geöffnet. Die Haut war aschgrau. Die blinden Augen, in eingefallene Wangen gesunken, starrten geradeaus. Caramon trat einen Schritt näher, so betäubt, daß er weder Trauer noch Kummer noch Erleichterung empfinden konnte, und musterte schärfer den seltsamen Ausdruck im Gesicht des toten Mannes. Aber er erkannte schockartig, daß Raistlin nicht tot war! Die weiten Augen starrten blind in diese Welt, aber nur, weil sie in eine andere sahen. Ein wimmernder Schrei fuhr durch den Körper des Magiers, der schrecklicher zu ertragen war als seine Schreie in
der Todesqual. Sein Kopf bewegte sich leicht, seine Lippen teilten sich, seine Kehle zuckte, aber es kam kein Laut heraus. Und dann schloß Raistlin die Augen. Sein Kopf rollte zur Seite, seine zuckenden Muskeln entspannten sich. Der schmerzvolle Blick verschwand, ließ sein Gesicht abgespannt, blaß zurück. Er holte tief Luft, atmete sie mit einem Seufzer aus, dann holte er wieder Luft… Geschockt über das, was er gesehen hatte, unsicher, ob er dankbar sein sollte oder betrübt, daß sein Bruder nun doch lebte, beobachtete Caramon, wie das Leben in den zerrissenen und blutenden Körper seines Bruders zurückkehrte. Er kniete sich neben Crysania und hielt sie sanft, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie starrte ihn an, ohne ihn zu erkennen. Dann ging ihr Blick zu Raistlin. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Die Augen schließend, murmelte sie ein Dankgebet. Dann hielt sie die Hand an ihre Seite und sank gegen Caramon. An ihren weißen Roben war frisches Blut sichtbar. »Du solltest dich selbst heilen«, sagte Caramon, als er ihr aus dem Zelt half; sein starker Arm unterstützte ihre taumelnden Schritte. Sie sah zu ihm auf, und ihr Gesicht war wunderschön in ihrem ruhigen Triumph. »Vielleicht morgen«, antwortete sie leise. »In dieser Nacht wurde mir ein größerer Sieg gewährt. Verstehst du nicht? Das ist die Antwort auf meine Gebete.« Caramon spürte Tränen in seinen Augen aufsteigen. »Das ist also deine Antwort?« fragte er schroff und sah zum Lager hinüber. Die Feuer waren zu Asche heruntergebrannt. Aus dem Augenwinkel konnte er jemanden weg-
laufen sehen, und er wußte, daß sich die Neuigkeit schnell verbreiten würde, daß der Zauberer und die Hexe es geschafft hatten, von den Toten wieder aufzuerstehen. Caramon spürte Galle in seinen Mund hochkommen. Er konnte sich das Gerede, die Aufregung, die Fragen, die dunklen Blicke und das Kopfschütteln ausmalen, und seine Seele schrak davor zurück. Er wollte nur noch ins Bett und schlafen und alles vergessen. Aber Crysania sprach weiter. »Das ist auch deine Antwort, Caramon«, sagte sie leidenschaftlich. »Das ist das Zeichen der Götter, das wir beide gesucht haben.« Sie blieb stehen und sah ihm ins Gesicht. »Bist du immer noch so blind wie damals im Turm? Bist du immer noch nicht überzeugt? Wir haben die Angelegenheit in Paladins Hände gelegt, und der Gott hat gesprochen. Raistlin soll leben. Er soll diese große Tat vollbringen. Gemeinsam, er und ich und du, wenn du uns begleiten wirst, bekämpfen und überwältigen wir das Böse, so wie ich den Tod in dieser Nacht bekämpft und überwältigt habe!« Caramon starrte sie an. Dann senkte er den Kopf. Ich will nicht das Böse bekämpfen, dachte er müde. Ich will nur nach Hause. Ist das zu viel verlangt? Er hob die Hand und rieb an seinen pochenden Schläfen. Und dann hielt er inne, sah im langsam heller werdenden Licht der Morgendämmerung die blutigen Fingerspuren seines Bruders an seinem Arm. »Ich stelle eine Wache vor deinem Zelt auf«, sagte er barsch. »Schlaf ein wenig…« Er drehte sich um. »Caramon«, rief Crysania. »Was?« »Du wirst dich morgen besser fühlen. Ich werde heute
nacht für dich beten. Gute Nacht, mein Freund. Vergiß nicht, Paladin dafür zu danken, daß er deinem Bruder das Leben erhalten hat.« »Ja, sicherlich«, murmelte Caramon. Sich unbehaglich fühlend, da sich seine Kopfschmerzen verschlimmerten und ihm bald übel werden würde, verließ er Crysania und taumelte in sein Zelt zurück. Hier, allein, in der Dunkelheit, erbrach er sich in einer Ecke. Dann fiel er auf sein Bett und gab sich endlich dem Schmerz und der Erschöpfung hin. Über dem Dankgebet an Paladin schlief er ein.
Kharas tippte leicht auf den Gaststein, der vor Dunkans Wohnhaus stand, und wartete nervös auf die Antwort. Sie kam schnell. Die Tür öffnete sich, und im Rahmen stand sein König. »Tritt ein und sei willkommen, Kharas«, grüßte Dunkan und zog den Zwerg hinein. Vor Verlegenheit errötend trat Kharas in das Wohnhaus seines Königs. Ihn freundlich anlächelnd, um ihm seine Befangenheit zu nehmen, ging Dunkan voran zu seinem privaten Arbeitszimmer. Tief unter der Erde im Herzen des Gebirgskönigreiches gebaut, war Dunkans Haus ein Labyrinth aus Räumen und Tunneln, die mit den schweren, dunklen und soliden Holzmöbeln ausgestattet waren, die die Zwerge so lieben. Obgleich größer und geräumiger als die meisten Häuser in Thorbadin, glich Dunkans Haus in jeder anderen Hinsicht den Behausungen der anderen Zwerge. Es wäre auch als die Höhe schlechten Geschmacks bewertet worden, wenn
es anders gewesen wäre. Denn gerade weil Dunkan der König war, hatte er nicht das Recht zu Extravaganzen. Und aus diesem Grund hatte er zwar einen Stab von Dienern, öffnete aber selbst die Tür und bediente seine Gäste persönlich. Als Witwer lebte er in dem Haus mit seinen zwei jungen Söhnen (erst achtzig), die noch unverheiratet waren. Das Arbeitszimmer, in das Kharas geführt wurde, war offensichtlich Dunkans Lieblingsraum. Kriegsäxte und Schilde schmückten die Wände sowie eine prächtige Sammlung erbeuteter Hobgoblin-Schwerter mit ihren Krummklingen, ein von einem entfernten Vorfahren erworbener Minotaurusdreizack und natürlich Hämmer, Meißel und anderes Steinmetzwerkzeug. Dunkan bewirtete seinen Gast mit wahrer Zwergengastfreundschaft, bot ihm den besten Stuhl an, goß ihm Bier ein und schürte das Feuer. Kharas war natürlich schon hier gewesen, in der Tat viele Male. Aber jetzt fühlte er sich unbehaglich und befangen, als ob er das Haus eines Freundes betreten hätte. Vielleicht lag es an Dunkan, der seinen Freund zwar mit seiner üblichen Liebenswürdigkeit behandelte, aber den bartlosen Zwerg gelegentlich mit einem merkwürdigen, durchdringenden Blick betrachtete. Da er diesen ungewöhnlichen Blick in Dunkans Augen bemerkte, war es Kharas unmöglich, sich zu entspannen. So zappelte er unruhig auf seinem Stuhl herum, während er auf die Beendigung der Formalitäten wartete. Das geschah schnell. Dunkan, der sich selbst einen Krug Bier eingeschenkt hatte, leerte ihn in einem Zug. Dann strich er sich über den Bart und starrte Kharas mit einem dunklen, trübsinnigen Ausdruck an. »Kharas«, sagte er
schließlich, »du hast uns gesagt, der Zauberer sei tot.« »Ja, Lehnsherr«, antwortete Kharas verblüfft. »Ich habe ihm einen tödlichen Hieb verpaßt. Kein Mensch hätte das überleben können…« »Er hat«, entgegnete Dunkan kurz. Kharas’ Blick verfinsterte sich. »Beschuldigst du mich der…« Jetzt errötete Dunkan. »Nein, mein Freund! Ich bin mir sicher, daß du wahrhaftig geglaubt hast, ihn getötet zu haben.« Er seufzte tief. »Aber unsere Kundschafter berichten, sie hätten ihn im Lager gesehen. Er war offenbar verwundet. Zumindest konnte er nicht mehr reiten. Die Armee marschierte jedoch weiter auf Zaman zu und transportierte den Zauberer auf einem Karren.« »Lehnsherr!« protestierte Kharas, sein Gesicht war vor Zorn rot. »Ich schwöre es dir! Sein Blut spritzte über meine Hände! Ich riß das Schwert aus seinem Körper. Bei Reorx, ich sah den Tod in seinen Augen!« »Ich zweifle nicht an dir!« sagte Dunkan aufrichtig und klopfte dem jungen Helden auf die Schulter. »Ich habe noch nie gehört, daß jemand eine Wunde überlebt hat, wie du sie beschrieben hast – außer in den alten Zeiten natürlich, als die Kleriker durch das Land gingen.« Wie alle wahren Kleriker waren auch die Zwergenkleriker vor der Umwälzung verschwunden. Ungleich anderen Rassen auf Krynn hatten die Zwerge jedoch ihren Glauben an ihren uralten Gott Reorx, den Schmied der Welt, niemals aufgegeben. Die Zwerge waren zwar aufgebracht über Reorx, weil er die Umwälzung herbeigeführt habe, aber ihr Glaube war zu tief verwurzelt und stellte einen zu großen Teil ihrer Kultur dar, als daß sie ihn nach einem geringfü-
gigen Verstoß des Gottes aufgegeben hätten. Sie waren jedoch aufgebracht genug, ihn nicht mehr offen zu verehren. »Hast du irgendeine Idee, wie das passiert sein könnte?« fragte Dunkan stirnrunzelnd. »Nein, Lehnsherr«, antwortete Kharas undeutlich. »Aber ich frage mich, warum wir von Caramon keine Antwort erhalten haben.« Er grübelte. »Wurden die zwei Gefangenen verhört, die wir mitgebracht haben? Sie könnten etwas wissen.« »Ein Kender und ein Gnom?« schnaufte Dunkan. »Pah! Was sollen die schon wissen? Außerdem besteht keine Notwendigkeit, sie zu verhören. An diesem Zauberer bin ich nicht mehr sonderlich interessiert. In der Tat habe ich dich aus einem anderen Grund hierher gebeten. Ich bestehe nämlich darauf, Kharas, daß du endlich dieses Gerede über Frieden vergißt und dich auf den Krieg konzentrierst.« »In diesen zwei stecken mehr als Bärte«, murmelte Kharas, ein altes Sprichwort zitierend. »Ich denke, du solltest…« »Ich weiß, was du denkst«, unterbrach Dunkan grimmig. »Geister, von dem Zauberer herbeigerufen. Und ich sage dir, das ist lächerlich! Welcher sich selbst achtende Zauberer würde einen Kender herbeirufen? Nein, es waren Diener oder etwas Ähnliches. Im Zelt war es dunkel und alles durcheinander. Das hast du selbst gesagt.« »Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Kharas leise. »Du hättest das Gesicht des Magiers sehen sollen, als er sie ansah! Es war das Gesicht eines, der in den Ebenen spaziert und plötzlich eine Truhe mit Gold und Juwelen im Sand vor seinen Füßen liegen sieht. Gib mir die Erlaubnis«, sagte er eifrig, »laß sie mich vor dich bringen. Sprich mit ihnen,
um mehr bitte ich nicht!« Dunkan stieß einen langen Seufzer aus, dann funkelte er Kharas düster an. »Na schön«, schnappte er. »Vermutlich kann das nicht schaden. Aber«, er musterte Kharas scharf, »wenn sich das Verhör als nutzlos erweist, mußt du mir versprechen, diesen wahnsinnigen Plan aufzugeben und dich auf den Krieg zu konzentrieren. Es wird ein harter Kampf«, fügte er sanfter hinzu, als er den Ausdruck wahren Kummers auf dem bartlosen Gesicht des jungen Helden sah. »Wir brauchen dich, Kharas.« »Ja, Lehnsherr«, sagte Kharas ruhig. »Ich bin einverstanden. Wenn es sich als nutzlos erweist.« Mit einem mürrischen Nicken rief Dunkan nach seinen Wachen und stapfte aus dem Haus, gefolgt von einem nachdenklichen Kharas. Sie gingen durch das unterirdische Zwergenkönigreich, gingen Straßen hinab und andere Straßen hinauf und fuhren mit einem Boot über den Urkansee, bis sie schließlich die erste Ebene der Verliese erreichten. Hier wurden Gefangene gehalten, die geringfügige Verstöße begangen hatten – Schuldner, ein junger Zwerg, der respektlos zu einem Älteren gesprochen hatte, Wilderer und mehrere Betrunkene, die ihren Rausch ausschliefen. Und hier wurden auch der Kender und der Gnom festgehalten. Zumindest war das der Fall gewesen – in der Nacht zuvor. »Das kommt alles nur so«, sagte Tolpan Barfuß, während die Zwergenwache ihn vorantrieb, »wenn man keine Karte hat.« »Ich dachte, du hast gesagt, du wärst hier zuvor gewesen«, brummte Gnimsch übellaunig.
»Nicht zuvor«, verbesserte Tolpan. »Nachher. Oder vielleicht wäre ›später‹ ein besseres Wort. Ungefähr zweihundert Jahre später, so weit ich rechnen kann. Es ist in der Tat eine faszinierende Geschichte. Ich kam mit einigen Freunden hierher. Laß mal sehen… Das war nach der Hochzeit von Goldmond und Flußwind und bevor wir nach Tarsis weiterzogen. Oder sind wir erst in Tarsis gewesen?« Tolpan grübelte. »Nein, das kann nicht sein, weil in Tarsis das Gebäude auf mich gefallen ist und…« »Ich habe diese Geschichte schon gehört!« rief Gnimsch. Seine dünne Gnomenstimme hallte in der unterirdischen Kammer, und er wurde von mehreren Passanten streng angefunkelt. Mit grimmigen Gesichtern trieben die Zwergenwachen ihre wiederergriffenen Gefangenen weiter. »Oh«, machte Tolpan geknickt. Dann wurde er wieder froh. »Aber der König noch nicht, und wir werden jetzt zu ihm gebracht. Er wird wahrscheinlich recht interessiert sein…« »Du hast aber gesagt, wir sollen überhaupt nichts über die Zukunft sagen«, erinnerte ihn Gnimsch flüsternd. »Wir sollen so tun, als ob wir hierher gehören, weißt du nicht mehr?« »Da hatte ich gedacht, alles würde gut gehen«, erklärte Tolpan mit einem Seufzer. »Und alles ging gut. Das Gerät hat funktioniert, wir sind aus der Hölle entkommen…« »Sie ließen uns entkommen«, warf Gnimsch ein. »Nun, jedenfalls sind wir herausgekommen, darauf kommt es an. Und das magische Gerät hat funktioniert, wie du gesagt hast, und wir fanden Caramon. Aber dann«, Tolpan kaute nervös am Ende seines Haarzopfes, »ging alles irgendwie schief. Raistlin wird niedergestochen und ist
vielleicht tot. Die Zwerge zerren uns mit, ohne mir Gelegenheit zu geben, ihnen zu sagen, daß sie einen großen Fehler begehen.« Der Kender trottete weiter. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich habe über alles nachgedacht, Gnimsch. Ich weiß, es ist eine Verzweiflungstat und eine, auf die ich normalerweise nicht zurückgreifen würde, aber ich glaube nicht, daß uns etwas anderes übrigbleibt. Die Situation ist uns gänzlich entglitten.« Er stieß einen feierlichen Seufzer aus. »Ich glaube, wir sollten die Wahrheit sagen.« Gnimsch wirkte darüber so beunruhigt, daß er über seine Schürze stolperte und zu Boden fiel. Die Wachen zerrten den Gnom auf die Füße und zogen ihn den restlichen Weg mit sich, bis sie schließlich vor einer großen Holztür stehen blieben. Hier standen andere Wachen, die den Kender und den Gnom mit Abscheu beäugten. »Oh, hier war ich schon einmal!« sagte Tolpan plötzlich. »Jetzt weiß ich, wo wir sind.« »Das ist fürwahr eine große Hilfe«, brummte Gnimsch. »Der Empfangssaal«, setzte Tolpan fort. »Als wir das letzte Mal hier waren, wurde Tanis übel. Er ist ein Elf, weißt du. Nun ja, ein halber Elf, und er haßt das Leben im Untergrund.« Er seufzte wieder. »Ich wünschte, Tanis wäre jetzt hier. Er würde wissen, was zu tun ist. Ich wünschte, irgendein Kluger wäre jetzt hier.« Die Wachen stießen sie in die riesige Halle hinein. »Zumindest«, sagte Tolpan leise zu Gnimsch, »sind wir nicht allein. Zumindest haben wir uns beide.« »Tolpan Barfuß«, stellte sich der Kender vor und verbeugte sich vor dem König der Zwerge, dann vor den Lehnsmännern, die auf den Steinsitzen hinter und eine Stu-
fe tiefer als Dunkans Thron saßen. »Und das ist…« Der Gnom schob sich eifrig nach vorne. »Gnimschmari…« »Gnimsch!« sagte Tolpan laut und trat auf den Fuß des Gnoms. »Überlaß mir das Reden!« schimpfte er in einem hörbaren Flüstern. Mit finsterem Blick verfiel Gnimsch in ein verletztes Schweigen. »Woher kommst du, Kender?« knurrte Dunkan. »Aus Solace«, sagte Tolpan. »Oh, mach dir keine Gedanken, wenn du noch nie davon gehört hast. Es existiert noch nicht. In Istar hatten sie auch noch nicht davon gehört, aber das spielt keine so große Rolle, weil sich in Istar niemand um etwas gekümmert hat, was nicht da ist. In Istar, meine ich. Solace liegt nördlich von Haven, das jetzt auch noch nicht da ist, aber früher da sein wird als Solace, wenn du verstehst, was ich meine.« Dunkan beugte sich vor und funkelte Tolpan unter seinen dicken Augenbrauen hervor beunruhigend an. »Du lügst.« »Ich lüge nicht!« erwiderte Tolpan empört. »Wir sind mit einem magischen Gerät hier gelandet, das ich von einem Freund ausgeborgt habe. Es funktionierte gut, als ich es hatte, aber dann habe ich es zufällig zerstört. Nun, eigentlich war das nicht mein Fehler. Aber das ist eine andere Geschichte. Auf jeden Fall habe ich die Umwälzung überlebt und endete in der Hölle. Kein netter Ort. Egal, dort in der Hölle lernte ich Gnimsch kennen, und er hat das Gerät repariert. Er ist wirklich ein wundervoller Bursche«, fuhr er fort und klopfte Gnimsch auf die Schulter. »Er ist ein Gnom, das stimmt, aber seine Erfindungen funktionieren.«
»So, du bist also aus der Hölle!« stellte Kharas streng fest. »Du gibst es zu! Geister aus dem Reich der Finsternis! Der schwarzgekleidete Zauberer hat euch herbeigerufen, und ihr seid auf seinen Befehl hin aufgetaucht.« Diese verblüffende Anschuldigung versetzte den Kender in Sprachlosigkeit. Er stotterte zunächst zusammenhanglos, dann fand er seine Stimme wieder. »So wurde ich noch niemals beleidigt! Aber Raistlin gehörte gewiß zu den interessantesten Leuten, die ich je kennengelernt habe.« »Der Zauberer ist nicht tot, wie du nur zu genau weißt, Geist!« knurrte Dunkan. »Ich bin kein Geist… Nicht tot?« Tolpan strahlte. »Obwohl du ihn niedergestochen hast und das ganze Blut und alles und… Oh! Ich weiß, warum! Crysania! Natürlich! Crysania!« »Ah, die Hexe!« sagte Kharas leise, fast zu sich selbst, als die Lehnsherren untereinander zu murmeln begannen. »Nun, sie ist zuweilen ein wenig kalt und unpersönlich«, sagte Tolpan schockiert, »aber ich bin überzeugt, das gibt dir nicht das Recht, sie mit Schimpfnamen zu belegen. Sie ist immerhin eine Klerikerin Paladins.« »Klerikerin!« Die Lehnsherren begannen zu grölen. »Ich bitte euch«, bettelte Tolpan, »laßt mich gehen! Ich muß zu Caramon!« Das löste eine Reaktion aus. Die Lehnsherren verstummten. »Du kennst General Caramon?« fragte Kharas zweifelnd. »General?« wiederholte Tolpan. »Wäre Tanis nicht überrascht, das zu hören? General Caramon! Tika würde lachen… Natürlich kenne ich Cara… General Caramon«, fuhr Tolpan hastig fort, als er sah, wie Dunkans Augen-
brauen sich verengten. »Er ist mein bester Freund. Und wenn du nur einmal anhören würdest, was ich dir klarzumachen versuche, daß nämlich Gnimsch und ich mit dem magischen Gerät hierherkamen, um Caramon zu finden und mit nach Hause zu nehmen! Er will nämlich nicht hier sein, da bin ich mir sicher. Verstehst du, Gnimsch hat das Gerät so repariert, daß es eine weitere Person transportieren kann…« »Ihn nach Hause nehmen wohin?« knurrte Dunkan. »In die Hölle? Vielleicht hat der Zauberer ihn auch herbeigerufen!« »Nein!« rief Tolpan, der langsam die Geduld verlor. »Natürlich nach Solace. Und Raistlin auch, falls er möchte. Ich kann mir in der Tat nicht vorstellen, was sie hier eigentlich suchen. Raistlin konnte Thorbadin das letzte Mal nicht ertragen, als wir hier waren, was ungefähr in zweihundert Jahren der Fall sein wird. Die ganze Zeit hat er nur gehustet und sich über die Feuchtigkeit beschwert. Flint sagte – Flint Feuerschmied – ein alter Freund von mir…« »Feuerschmied!« Dunkan sprang von seinem Thron auf und funkelte den Kender an. »Du bist ein Freund von Feuerschmied?« »Nun, du brauchst dich nicht so aufzuregen«, entgegnete Tolpan etwas verblüfft. »Flint hat natürlich auch seine Fehler – immer nur murren und Leute beschuldigen, Dinge zu stehlen, obwohl ich wirklich vorhatte, das Armband zurückzubringen, als ich es fand. Aber das heißt nicht, daß du…« »Feuerschmied«, sagte Dunkan grimmig, »ist der Anführer unserer Feinde. Oder hast du das etwa nicht gewußt?« »Nein«, antwortete Tolpan interessiert. »Hab’ ich nicht.
Aber ich bin sicher, es kann nicht der gleiche Feuerschmied sein«, fügte er nach einigem Grübeln hinzu. »Flint wird erst in ungefähr fünfzig Jahren geboren. Vielleicht ist er sein Vater. Raistlin sagt…« »Raistlin? Wer ist überhaupt dieser Raistlin?« herrschte Dunkan ihn an. Tolpan fixierte den Zwerg mit einem strengen Blick. »Du paßt überhaupt nicht auf. Raistlin ist der Zauberer. Derjenige, den du getötet hast – äh, derjenige, den du nicht getötet hast. Derjenige, von dem du dachtest, ihn getötet zu haben, der aber nicht gestorben ist.« »Sein Name ist nicht Raistlin, sondern Fistandantilus!« schnaufte Dunkan. Dann nahm er mit grimmigem Gesicht wieder seinen Platz ein. »So«, sagte er, während er den Kender unter seinen buschigen Augenbrauen musterte, »du planst also, diesen Zauberer, der von einer Klerikerin geheilt wurde, obgleich es auf dieser Welt keine Kleriker gibt, und einen General, von dem du behauptest, er sei dein bester Freund, zurück zu einem Ort zu bringen, der nicht existiert, um unserem Feind entgegenzutreten, der noch nicht geboren ist, und das alles mit Hilfe eines von einem Gnom gebauten Gerätes?« »Richtig!« schrie Tolpan triumphierend. »Du verstehst also! Da siehst du mal, was du alles lernen kannst, wenn du einfach zuhörst!« Gnimsch nickte zustimmend. »Wachen! Schafft sie fort!« knurrte Dunkan. Er drehte sich auf dem Absatz um und sah Kharas kalt an. »Du hast mir dein Wort gegeben. Ich erwarte dich in zehn Minuten im Kriegsrat.« »Aber Lehnsherr! Wenn er wirklich General Caramon
kennt…« »Genug!« Dunkan bekam einen Tobsuchtsanfall. »Der Krieg kommt über uns, Kharas. Deine ganze Ehre und all dein ehrenhaftes Gejammer über das Umbringen von Verwandten wird ihn nicht aufhalten können! Und du kannst entweder in die Schlacht gehen oder dein Gesicht nehmen, das uns alle beschämt, und es in den Verliesen bei den anderen Verrätern unseres Volkes, den Dewaren, verstecken! Wie wirst du dich entscheiden?« »Ich diene dir natürlich, Lehnsherr«, antwortete Kharas mit starrem Gesicht. »Ich habe dir mein Leben verpfändet.« »Sieh zu, daß du dich daran erinnerst«, schnappte Dunkan. »Und darum befehle ich dir, daß du dich ausschließlich in deinen Quartieren aufhältst, abgesehen von den Kriegsratssitzungen, denen du beiwohnen wirst. Und weiterhin werden diese zwei«, er wies auf Tolpan und Gnimsch, »gefangengehalten, und ihr Verbleib wird bis zum Kriegsende geheimgehalten. Der Tod wird den ereilen, der diesem Befehl zuwiderhandelt.« Die Lehnsherren sahen sich an und nickten zustimmend, obwohl einer murmelte, es sei zu spät. Die Wachen ergriffen Gnimsch und Tolpan. Der Kender protestierte heftig, als sie ihn abführten. »Ich habe die Wahrheit gesagt«, plärrte er. »Du wirst mir noch glauben müssen!« Tolpan hätte es nicht für möglich gehalten, daß man so tief unter die Oberfläche der Erde hinabsteigen könnte. Er erinnerte sich, daß Flint ihm einmal erzählt hatte, daß Reorx hier unten lebe und die Welt mit seinem gigantischen Hammer schmiede. »Eine nette, lustige Person muß er sein«, brummte er. Er zitterte in der Kälte, bis seine Zähne
klapperten. »Wenn Reorx die Welt schmiedet, könnte man eigentlich denken, daß es wärmer wäre.« »Verlaß dich auf Zwerge«, brummte Gnimsch. Tolpan antwortete nicht, da er zu sehr mit anderen Problemen beschäftigt war – wie kommen wir hier heraus, wohin gehen wir, falls wir hier herauskommen, und wann gibt es wohl Abendessen? Da er keine Antworten auf diese Fragen erhielt, verfiel der Kender in ein düsteres Schweigen. Aber er erlebte einen ziemlich aufregenden Augenblick – als sie in einen engen Felstunnel hinabgelassen wurden, der durch das Gebirge gebohrt worden war. Das Gerät, mit dem Leute in den Tunnel hinuntergelassen wurden, bezeichneten die Gnome als »Aufzug«, wie er von Gnimsch aufgeklärt wurde. Da es keine sofortige Lösung für ihre Probleme gab, beschloß Tolpan, seine Zeit nicht zu verschwenden und an diesem interessanten Ort nicht mit einer Jammermiene herumzulaufen. Er genoß also die Fahrt im Aufzug durch und durch, obwohl sie teilweise recht ungemütlich verlief, als das wackelige Holzgerät – das von muskulösen Zwergen bedient wurde, die an unendlich langen Seilen zogen – während der Fahrt gegen eine Seite des felsigen Tunnels stieß, die Fahrgäste durchschüttelte und ihnen so zahlreiche Schnittwunden und Prellungen zufügte. Das Ganze erwies sich als höchst unterhaltsam, insbesondere als die Zwergenwachen, die Tolpan und Gnimsch begleiteten, die Fäuste schüttelten und dem Bedienungspersonal in der Zwergensprache derbe Flüche zuschrien. Was den Gnom betraf, so wurde Gnimsch in einen unglaublichen Zustand der Aufregung versetzt. Ein Kohlestück zückend und sich von Tolpan ein Taschentuch aus-
leihend, ließ er sich auf den Boden des Aufzugs fallen und begann sofort, Pläne für einen neuen verbesserten Aufzug zu zeichnen. Als sie schließlich die unterste Ebene erreichten, versuchte Tolpan vorsichtig nach dem Weg Ausschau zu halten, damit sie auch ohne Karte verschwinden konnten, aber Gnimsch hing an ihm, zeigte auf seine Skizze und erklärte ihm jede Einzelheit. Während die Wachen sie vorwärts stießen, seufzte Tolpan. Dieser Ort war nicht nur genauso langweilig wie die Hölle, er hatte sogar den zusätzlichen Nachteil, daß es hier noch schlimmer stank. Eine Reihe von riesigen Gefängniszellen säumte die Felswände. Erleuchtet von Fackeln, die in der schlechten, dünnen Luft brannten, wimmelten die Zellen von Zwergen. Tolpan sah sie mit wachsender Verwirrung an, als sie durch den schmalen Gang zwischen den Zellen gingen. Diese Zwerge sahen nicht wie Kriminelle aus. Es waren Männer, Frauen, sogar Kinder, die sich in den Zellen zwängten. Zusammengekauert auf schmuddeligen Decken und auf beschädigten Schemeln hockend, starrten sie bedrückt zwischen den Gittern heraus. »He!« sagte Tolpan und zog am Ärmel eines Wächters. Der Kender verstand ein wenig die Zwergensprache, da er einiges von Flint aufgeschnappt hatte. »Was ist das hier alles?« fragte er und wedelte mit einer Hand. »Warum sind diese Leute hier?« Aber der Wächter blickte ihn finster an und antwortete nur: »Dewaren.«
»Dewaren?« wiederholte Tolpan verblüfft. Der Wächter weigerte sich jedoch, nähere Angaben zu machen, und stieß Tolpan mit einem boshaften Schubs weiter. Tolpan stolperte, dann setzte er seinen Weg fort. Er grübelte. Dewaren, dachte er und versuchte sich zu erinnern, wo er das Wort schon gehört hatte. Plötzlich fiel ihm die Antwort ein. »Die Dunkelzwerge!« sagte er. »Natürlich! Ich erinnere mich! Sie haben für den Drachenfürsten gekämpft. Aber beim letzten Mal lebten sie nicht hier unten – beziehungsweise beim nächsten Mal –, als wir hier waren. Oder sie werden hierher kommen. Verdammt, was für ein Kuddelmuddel! Aber sie leben doch sicherlich nicht in Gefängniszellen. He«, Tolpan tippte wieder den Zwerg an, »was machen sie hier? Ich meine, warum sind sie ins Gefängnis gewandert?« »Verräter!« schnappte der Zwerg. Er zog einen Schlüssel hervor, steckte ihn in das Schloß einer Zelle und drückte
die Tür auf. Als Tolpan hineinspähte, sah er ungefähr zwanzig oder dreißig Dewaren in der Zelle zusammengepfercht. Einige lagen apathisch auf dem Boden, andere lehnten an der Wand und schliefen. Eine Gruppe, zusammengekauert in einer Ecke, unterhielt sich leise, als der Wächter erschien. Sie hörten mit dem Sprechen auf, sobald die Zellentür geöffnet wurde. In dieser Zelle waren keine Frauen oder Kinder, sondern nur Männer, und sie musterten Tolpan, den Gnom und den Wächter mit dunklen, haßerfüllten Augen. »Nun, nun«, sagte Tolpan zu dem Wächter, »dieser Spaziergang war recht – äh – unterhaltsam. Wenn du uns jetzt bitte in unsere Zellen zurückbringen könntest, die, das muß ich wirklich sagen, sehr nette Zellen waren – so hell und luftig und geräumig – , kann ich dir hoch und heilig versprechen, daß mein Partner und ich keine weiteren unangemeldeten Ausflüge in deine Stadt unternehmen werden, auch wenn es ein äußerst interessanter Ort ist und ich gern mehr davon sehen würde. Ich…« Aber der Zwerg schubste den Kender grob mit einer Hand in die Zelle, so daß er ausgestreckt auf den schmutzigen Boden fiel. »Ich wünschte, du könntest dich mal entschließen«, schnappte Gnimsch gereizt. »Gehen wir rein oder raus?« »Ich vermute, wir sind drin«, antwortete Tolpan kläglich, setzte sich auf und sah zweifelnd die Dewaren an, die ihn stumm anstarrten. »Hallo«, sagte Tolpan und lächelte freundlich, bot aber keinem die Hand. »Ich heiße Tolpan Barfuß, und das ist mein Freund Gnimsch, und es sieht ganz so aus, als sollten
wir Zellengenossen werden, nicht wahr? Also, wie heißt ihr?« Er erhob sich und starrte auf einen Dewaren, der sich ihnen näherte. Es war ein hochgewachsener Zwerg; sein Gesicht war fast nicht zu erkennen unter dem dichten, verfilzten Haar. Er grinste plötzlich. Stahl blitzte auf, und in seiner Hand erschien ein großes Messer. Er schlurfte auf den Kender zu, der so weit wie möglich in eine Ecke kroch, Gnimsch mit sich ziehend. »Was sind das denn für Leute?« quiekte Gnimsch beunruhigt, der doch noch Notiz von ihrer bedrückenden Umgebung genommen hatte. Bevor Tolpan antworten konnte, hatte ihn der Dewar am Hals gepackt und hielt das Messer an seine Kehle. Das war es! dachte Tolpan mit Bedauern. Dieses Mal bin ich sicherlich tot. Aber das Messer des Dewars ging um Haaresbreite an Tolpans Gesicht vorbei. Hinter seine Schulter greifend, schnitt der Dunkelzwerg fachmännisch die Gurte von Tolpans Beutel durch und ließ sie samt Inhalt auf den Boden fallen. Sofort brach in der Zelle ein Chaos aus, als die Dewaren sich darauf stürzten. Der Zwerg mit dem Messer ergriff, so viel er konnte. Im Nu war alles verschwunden. Die Dewaren begannen die Habseligkeiten des Kenders zu durchwühlen. Dem Dunkelzwerg mit dem Messer war der reichste Fang geglückt. Seine Beute an die Brust drückend, ging er zu seinem Platz am Ende der Zelle, wo er und seine Freunde sofort den Inhalt der Beutel auf den Boden ausschütteten.
Vor Erleichterung aufseufzend, sank Tolpan auf den kalten Steinboden. Aber es war auch ein besorgter Seufzer, denn Tolpan malte sich aus, daß die Dewaren auf die glorreiche Idee kommen könnten, sie als nächstes zu durchsuchen, wenn die Beutel ihre Anziehung verloren hätten. »Und als Leichen sind wir sicherlich viel einfacher zu durchsuchen«, brummte er. Das führte ihn jedoch zu einem plötzlichen Gedanken. »Gnimsch!« flüsterte er. »Das magische Gerät! Wo ist es?« Gnimsch klopfte blinzelnd auf eine Tasche seiner Lederschürze und schüttelte den Kopf. Er klopfte auf die andere und zog eine Reißschiene und ein Stück Kohle hervor. Diese untersuchte er sorgfältig; als er dann erkannte, daß es sich bei beiden Gegenständen nicht um das magische Gerät handelte, steckte er sie wieder zurück. Tolpan erwog ernsthaft, ihn zu erwürgen, als der Gnom mit einem triumphierenden Lächeln in seinen Stiefel griff und das magische Gerät herauszog. Während ihrer letzten Einkerkerung war es Gnimsch gelungen, das Gerät zusammenzuklappen. Es war nicht mehr das ausgeklügelte, wunderschöne Zepter, an das es erinnerte, wenn es völlig ausgeklappt war, sondern es hatte wieder die Größe und die Form eines ziemlich gewöhnlichen, unscheinbaren Anhängers angenommen. »Halt es versteckt!« warnte Tolpan. Nach den Dewaren blickend, sah er, daß sie in einen Kampf um den Inhalt seiner Beutel verwickelt waren. »Gnimsch«, flüsterte er, »dieses Ding hat funktioniert und uns aus der Hölle herausgeholt, und du hast gesagt, es wäre etwas, um direkt zu Caramon zu gelangen. Nun, ich will wirklich nicht, daß es uns wieder irgendwo in eine Zeit bringt, aber glaubst du nicht,
es würde für, sagen wir mal, einen kurzen Hopser funktionieren? Wenn Caramon der General dieser Armee ist, kann er nicht weit entfernt sein.« »Das ist eine großartige Idee!« Gnimsch bekam glänzende Augen. »Nur eine Minute, laß mich nachdenken…« Aber es war zu spät. Tolpan spürte eine Berührung an seiner Schulter. Sein Herz hüpfte in seine Kehle, als er herumwirbelte mit dem, wie er hoffte, grimmigen Ausdruck eines Killers im Gesicht. Offensichtlich war es ihm gelungen, denn der Dewar, der ihn berührt hatte, taumelte entsetzt zurück. Als Tolpan erkannte, daß es ein jüngerer Zwerg mit einem halbwegs normalen Ausdruck in den Augen war, seufzte er und entspannte sich, während der Dewar, der erkannte, daß der Kender ihn nicht lebendig verschlingen wollte, mit dem Zittern aufhörte und ihn hoffnungsvoll anblickte. »Was ist los?« fragte Tolpan in der Zwergensprache. »Was willst du?« »Komm. Du komm.« Der Dewar machte eine auffordernde Geste. Als er sah, daß Tolpan mißbilligend die Stirn runzelte, machte er wieder eine auffordernde Geste und wich zurück. Tolpan erhob sich vorsichtig. »Bleib hier, Gnimsch«, sagte er. Aber der Gnom hörte nicht zu. Er war damit beschäftigt, an dem Gerät zu drehen. Neugierig schlich Tolpan dem Dewar nach. Vielleicht hatte dieser Bursche einen Weg nach draußen entdeckt. Vielleicht hatte er einen Tunnel gegraben… Der Dewar führte den Kender zur Mitte der Zelle. »Helfen?« fragte er hoffnungsvoll.
Tolpan sah nach unten, aber da war kein Tunnel. Was er sah, war ein Dewar, der auf einer Decke lag. Das Gesicht des Zwergs war schweißgebadet, sein Haar und sein Bart klatschnaß. Die Augen waren geschlossen, und sein Körper zuckte krampfhaft. Bei dem Anblick begann Tolpan zu zittern. Er sah sich in der Zelle um. Dann glitt sein Blick zu dem jungen Dewar zurück, und er schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein«, sagte er sanft. »Es tut mir leid. Da ist nichts, was ich tun kann. Es… es tut mir leid.« Er zuckte hilflos die Schultern. Der Dewar schien zu verstehen, denn er sank zur Seite des kranken Zwergs nieder, und sein Kopf neigte sich untröstlich. Tolpan kroch zu Gnimsch zurück. Er ließ sich in eine Ecke fallen und starrte in die dunkle Zelle. Er sah und hörte wildes, unzusammenhängendes Gerede, Schmerzensrufe, Schreie nach Wasser und hier und dort das schreckliche Schweigen jener, die ganz still dalagen. »Gnimsch«, sagte er leise, »diese Zwerge sind krank. Wirklich krank. Ich habe es in künftigen Zeiten gesehen. Diese Zwerge haben die Pest.« Gnimsch riß die Augen auf. Er ließ beinahe das magische Gerät fallen. »Gnimsch«, sagte Tolpan, »wir müssen hier schnellstens verschwinden! Die einzige Wahl, die wir hier unten haben, ist der Tod durch die Messerspitze – der zwar zweifellos interessant ist, aber auch seine Nachteile hat – oder der ziemlich langsame und langweilige Tod durch die Pest.« »Ich glaube, es wird funktionieren«, sagte Gnimsch, während er zweifelnd das magische Gerät beäugte. »Natürlich könnte es uns auch zurück in die Hölle bringen…«
»Nicht wirklich ein schlechter Ort«, unterbrach ihn Tolpan, erhob sich und half dann Gnimsch beim Aufstehen. »Man braucht ein wenig Zeit, um sich daran zu gewöhnen, und ich vermute nicht, daß sie überaus glücklich sein werden, uns wiederzusehen, aber ich glaube, es ist einen Versuch wert.« »Laß mich nur eine kleine Veränderung vornehmen…« »Berühr es nicht!« Die vertraute Stimme kam aus dem Schatten und war so streng und befehlend, daß Gnimsch erstarrte; seine Hand hielt das Gerät umklammert. »Raistlin!« schrie Tolpan, sich verstört umsehend. »Raistlin! Wir sind hier! Wir sind hier!« »Ich weiß, wo ihr seid«, erwiderte der Erzmagier kalt, bevor er sich in der rauchigen Luft materialisierte und vor ihnen in der Zelle stand. Sein plötzliches Auftreten rief Schreie bei den Dewaren hervor. Der Zwerg mit dem Messer erhob sich in seiner Ecke und sprang nach vorne. »Raistlin, paß auf!« kreischte Tolpan. Raistlin drehte sich um. Er sagte nichts. Er hob nicht die Hand. Er starrte lediglich den Dunkelzwerg an. Das Gesicht des Dewars lief aschgrau an. Das Messer fiel aus seinen kraftlosen Fingern, er schrak zurück und versuchte, sich im Schatten zu verbergen. Raistlin warf einen Blick in die Zelle. Unverzüglich verstummten alle. Selbst jene im Delirium schwiegen. Zufrieden wandte sich Raistlin wieder Tolpan zu. Der Kender klatschte in die Hände. »O Raistlin! Es ist so gut, dich zu sehen! Du siehst auch wirklich gut aus. Besonders nachdem ein… äh… Schwert dich niedergestochen…
Nun ja, mach dir keine Gedanken. Und du bist gekommen, uns zu befreien, nicht wahr? Das ist herrlich! Ich…« »Genug geplappert!« unterbrach ihn Raistlin kalt. Er ergriff Tolpan mit einer Hand und zog ihn zu sich. »Jetzt erzähl mir – woher kommst du?« Tolpan starrte in Raistlins Augen. »Ich… ich bin mir nicht sicher, ob du mir glaubst. Niemand glaubt mir. Aber es ist die Wahrheit. Ich schwöre es!« »Dann sag es einfach!« fauchte Raistlin; seine Hand legte sich um Tolpans Hals. »In Ordnung!« Tolpan schluckte und wand sich. »Es hilft, wenn du mich gelegentlich atmen läßt. Jetzt laß uns mal sehen. Ich habe versucht, die Umwälzung aufzuhalten, und dabei ist das Gerät zerstört worden. Ich… ich bin sicher, das war nicht deine Absicht«, stammelte Tolpan, »aber du hast mir anscheinend die falschen Anweisungen gegeben…« »Habe ich. Es war meine Absicht«, unterbrach ihn Raistlin grimmig. »Fahr fort.« »Möchte ich ja, aber es ist so schwierig ohne Luft…« Raistlin lockerte leicht seinen Griff um Tolpans Hals. Tolpan holte tief Luft. »Gut! Wo war ich? Oh, ich folgte Crysania nach unten, ganz tief nach unten bis zum tiefsten Teil des Tempels in Istar, als er auseinanderfiel, weißt du? Und ich sah sie in dieses Zimmer laufen, und ich wußte, sie mußte auf dem Weg zu dir sein, weil sie deinen Namen sagte, und ich hoffte, du würdest das Gerät reparieren…« »Mach schnell!« Tolpan beeilte sich, so gut er konnte. »Und dann schlug hinter mir etwas auf, und es war Caramon, nur hat er mich nicht gesehen, und alles wurde dunkel, und als ich wach
wurde, wart ihr verschwunden, und ich blickte rechtzeitig auf, um die Götter zu sehen, die das feurige Gebirge herabschleuderten…« Er holte Atem. »Nun, das war ein Ding. Würdest du gern davon hören? Nein? Gut, ein anderes Mal. Ich… ich vermute, daß ich wieder eingeschlafen bin, weil ich wieder wach wurde und alles ganz ruhig war. Ich dachte, ich sei tot, aber ich war es nicht. Ich war in der Hölle, wohin der Tempel nach der Umwälzung transportiert wurde.« »Die Hölle!« Raistlin keuchte. Seine Hand zitterte. »Kein netter Ort«, erklärte Tolpan feierlich. »Trotz allem, was ich vorher gesagt habe. Ich lernte die Königin kennen…« Der Kender erschauerte. »Ich… ich glaube nicht, daß ich jetzt darüber reden möchte.« Er streckte eine zitternde Hand aus. »Aber hier ist ihr Zeichen, diese fünf kleinen weißen Male… Sie sagte, ich müsse für ewig da unten bleiben, weil… weil sie jetzt die Geschichte verändern und den Krieg gewinnen könne. Und ich hatte nicht die Absicht… Ich wollte doch nur Caramon helfen. Aber dann, in der Hölle, fand ich Gnimsch…« »Der Gnom«, sagte Raistlin. Seine Augen gingen zu Gnimsch, der jetzt den Zauberkundigen anstarrte und sich nicht zu rühren wagte. »Ja.« Tolpan wandte den Kopf, um seinen Freund anzulächeln. »Er hatte ein Zeitreisegerät gebaut, das funktionierte – stell dir vor! Und zisch! Hier sind wir!« »Du bist aus der Hölle entkommen?« Raistlin richtete seinen spiegelgleichen Blick wieder auf den Kender. Tolpan wand sich unbehaglich. Jene letzten Augenblicke suchten ihn immer noch in seinen Träumen heim, und Kender träumen normalerweise sehr selten. »Sicher«, sagte
er und lächelte den Erzmagier an. Es war offensichtlich verschwendete Mühe. Raistlin, in Gedanken versunken, musterte den Gnom kalt. »Du hast gesagt, das Gerät sei zerbrochen?« fragte er leise. »Ja.« Tolpan schluckte. Er spürte, daß Raistlins Griff lockerer wurde. Zu seiner Überraschung ließ Raistlin ihn so plötzlich los, daß er fast nach hinten purzelte. »Das Gerät war zerbrochen«, murmelte Raistlin. Plötzlich starrte er Tolpan aufmerksam an. »Und – wer hat es repariert?« Tolpan wich langsam von Raistlin zurück. »Ich… ich hoffe, die Magier werden nicht böse sein. Gnimsch hat es eigentlich nicht repariert. Das wirst du doch Par-Salian sagen, nicht wahr, Raistlin? Ich wollte nicht in Schwierigkeiten geraten – nun, nicht in weitere Schwierigkeiten mit ihm, als ich ohnehin schon bin. Wir haben mit dem Gerät nichts angestellt. Gnimsch hat es lediglich wieder zusammengesteckt – so wie es vorher war, damit es funktionierte.« »Er hat es wieder zusammengebaut?« beharrte Raistlin mit dem gleichen seltsamen Ausdruck in den Augen. »Ja.« Mit einem schwachen Grinsen ging Tolpan zurück und stieß Gnimsch in die Rippen, gerade als der Gnom sprechen wollte. »Wieder zusammengebaut.« »Aber, Tolpan…«, begann Gnimsch laut. »Weißt du nicht mehr, was geschehen ist? Ich…« »Halt den Mund!« flüsterte Tolpan. »Und überlaß mir das Reden. Wir sind hier in großen Schwierigkeiten! Magiern gefällt es nicht, wenn man an ihren Geräten herumpfuscht, auch wenn man sie verbessert! Ich bin sicher, daß ich Par-Salian das verständlich machen kann, wenn ich ihn
wiedersehe. Er wird zweifellos erfreut sein, daß du es repariert hast. Immerhin muß es für sie schon sehr lästig gewesen sein, daß man mit dem Gerät immer nur eine Person transportieren kann. Ich bin sicher, Par-Salian wird das verstehen, aber ich erzähle ihm das lieber selber – wenn du verstehst, was ich meine. Raistlin ist irgendwie… nun ja, nervös bei solchen Sachen. Ich glaube nicht, daß er es versteht, und außerdem ist jetzt nicht die Zeit zu Erklärungsversuchen.« Gnimsch, zweifelnd auf Raistlin blickend, erbebte und rückte näher zu Tolpan. »Er sieht mich an, als ob er mich umstülpen wollte!« murmelte er. »So sieht er jeden an«, flüsterte Tolpan zurück. »Du wirst dich schon daran gewöhnen.« Niemand sprach. In der überfüllten Zelle stöhnte einer der kranken Zwerge auf und schrie im Delirium. Tolpan sah unbehaglich nach ihnen, dann nach Raistlin. Der Zauberer starrte wieder den Gnom an, der seltsame, bittere, gedankenverlorene Ausdruck lag immer noch auf seinem blassen Gesicht. »Das ist wirklich alles, was ich dir jetzt erzählen kann, Raistlin«, sagte Tolpan laut. »Können wir jetzt gehen? Wirst du uns hier wegzischen, so wie du es mit mir in Istar gemacht hast? Das hat sehr viel Spaß gemacht und…« »Gib mir das Gerät«, befahl Raistlin. Aus irgendeinem Grund – vielleicht lag es an dem Blick des Magiers, oder vielleicht war es die kalte Feuchtigkeit in den unterirdischen Verliesen – begann Tolpan zu zittern. Gnimsch, der das Gerät in der Hand hielt, sah Tolpan fragend an. »Würde es dich stören, wenn wir es noch eine Weile auf-
bewahren?« begann Tolpan. »Ich werde es bestimmt nicht verlieren…« »Gib mir das Gerät.« Raistlins Stimme war sanft. Tolpan schluckte wieder. Er hatte einen komischen Geschmack im Mund. »Du… du gibst es ihm lieber, Gnimsch.« Der Gnom, der verwirrt blinzelte und offensichtlich bemüht war herauszufinden, was eigentlich vor sich ging, starrte Tolpan fragend an. »Es wird alles gut werden«, sagte Tolpan und versuchte zu lächeln, obgleich sein Gesicht plötzlich ganz steif wurde. »Raistlin ist ein Freund von mir, verstehst du? Er wird es sicher aufbewahren…« Achselzuckend drehte sich Gnimsch um und tat ein paar schlurfende Schritte nach vorn; er hielt das Gerät in seiner Handfläche. Der Anhänger sah im düsteren Fackellicht uninteressant aus. Raistlin streckte die Hand aus und ergriff das Gerät. Er musterte es scharf, dann ließ er es in eine Geheimtasche seiner schwarzen Roben gleiten. »Komm zu mir, Tolpan«, sagte er freundlich und winkte ihn zu sich. Gnimsch stand immer noch vor Raistlin und starrte untröstlich auf die Tasche, in der das Gerät verschwunden war. Tolpan ergriff den Gnom an den Bändern seiner Lederschürze und zog ihn von dem Magier weg. Dann umklammerte er die Hand von Gnimsch und sah auf. »Wir sind bereit, Raistlin«, sagte er strahlend. »Zisch uns weg! Donnerwetter, Caramon wird überrascht sein…« »Ich sagte, komm her, Tolpan«, wiederholte Raistlin mit sanfter Stimme. Seine Augen waren auf den Gnom gerichtet.
»O Raistlin, du wirst ihn doch nicht hier lassen?« jammerte Tolpan. Er ließ die Hand des Gnoms fallen und tat einen Schritt. »Wenn du das nämlich tust, bleibe ich auch hier. Ich meine, er kommt hier niemals allein heraus. Und er hat eine so wunderbare Idee für einen mechanischen Aufzug…« Raistlins Hand packte Tolpan am Arm und zog ihn an seine Seite. »Nein, ich werde ihn hier nicht zurücklassen, Tolpan.« »Siehst du? Er wird uns zu Caramon zischen. Diese Magie macht wahnsinnig viel Spaß«, begann Tolpan, drehte sich zu Gnimsch um und versuchte zu grinsen, obwohl die kräftigen Finger des Magiers ihm weh taten. Aber beim Anblick von Gnimsch schwand Tolpans Grinsen. Der Gnom stand jetzt allein da. Er sah völlig verwirrt und bemitleidenswert aus und hielt immer noch Tolpans Taschentuch in einer Hand. Tolpan wand sich. »Gnimsch, bitte, es wird alles gut werden. Ich sagte dir doch, Raistlin ist mein Freund.« Mit einer Hand Tolpan am Kragen festhaltend, erhob der Erzmagier die andere, zeigte auf den Gnom und begann leise zu singen: »Ast kiranann kair…« Entsetzen packte Tolpan. Er hatte diese magischen Worte schon früher gehört. »Nein!« kreischte er. Er wirbelte herum und sah in Raistlins Augen. »Nein!« kreischte er wieder und schlug mit seinen kleinen Händen auf den Magier ein. »Gardurm Soth-arn/Suh kali Jalaran!« beendete Raistlin seinen Sang. Tolpan, dessen Hände immer noch Raistlins schwarze Roben umklammert hielten, hörte, wie es in der Luft zu zischen begann. Er beobachtete, wie Flammenblitze aus
den Fingern des Magiers direkt auf Gnimsch zuschossen. Die Blitze schlugen in die Brust des Gnoms. Die schreckliche Energie hob seinen kleinen Körper hoch und schleuderte ihn zurück, ließ ihn gegen eine Steinwand prallen. Gnimsch fiel, ohne einen Laut von sich zu geben, auf den Boden. Rauch stieg aus seiner Lederschürze empor. Es roch süßlich nach verbranntem Fleisch. Die Hand hielt immer noch das Taschentuch des Kenders, sie zuckte kurz auf, und dann lag sie still. Tolpan konnte sich nicht bewegen. Seine Hände hielten immer noch Raistlins Roben fest. »Komm mit, Tolpan«, sagte Raistlin. Tolpan drehte sich um und sah zu Raistlin auf. »Nein«, flüsterte er und versuchte, sich von Raistlins festem Griff zu lösen. Dann schrie er gequält auf: »Du hast ihn umgebracht! Warum? Er war mein Freund!« »Meine Gründe behalte ich für mich«, antwortete Raistlin, während er den Kender festhielt. »Jetzt kommst du mit mir.« »Nein, werde ich nicht!« schrie Tolpan. »Du bist nicht interessant oder aufregend – du bist böse wie die Hölle! Ich gehe nirgendwohin mit dir! Niemals! Laß mich los!« Von Tränen blind, tretend und wild um sich fuchtelnd, schlug er auf Raistlin ein. Die Dewaren begannen vor Panik zu schreien und erregten die Aufmerksamkeit der Zwerge in den anderen Zellen. Kreischend drängten sich diese an die Gitterstangen und versuchten zu sehen, was vor sich ging. Mit kaltem Gesicht legte Raistlin eine Hand auf Tolpans Stirn und sprach schnell einige Worte. Der Körper des Kenders entspannte sich sofort. Bevor er zu Boden fiel,
sprach Raistlin wieder, und die zwei waren auf einmal verschwunden. Die verblüfften Dewaren starrten mit offenen Mündern auf den leeren Platz und den Leichnam des Gnoms, der in der Ecke lag. Eine Stunde später ging Kharas zu dem Zellenblock, wo die Dewaren gefangengehalten wurden, nachdem er mühelos seiner eigenen Gefangenschaft entronnen war. Grimmig schritt er durch die Gänge. »Was ist los?« fragte er einen Wächter. »Es ist so still hier.« »Ah, es gab vorhin eine Art Aufstand«, brummte der Wächter. »Wir konnten aber nicht herausfinden, was der Grund war.« Kharas sah sich scharf um. Die Dewaren starrten zurück, aber nicht mit Haß, sondern mit Argwohn und sogar mit Angst. Seine Sorge wuchs, denn er spürte, daß etwas Entsetzliches geschehen sein mußte, und er beschleunigte seinen Schritt. Als er die letzte Zelle erreichte, spähte er hinein. Beim Anblick von Kharas sprangen die Dewaren, die sich bewegen konnten, auf die Füße und wichen in die entlegenste Ecke zurück. Dort kauerten sie sich zusammen, murmelten und zeigten zur vordersten Ecke der Zelle. Als Kharas dorthin sah, verfinsterte sich sein Blick. Der Gnom lag schlaff auf dem Boden. Kharas warf dem verblüfften Wächter einen zornigen Blick zu und wandte sich dann an die Dewaren. »Wer hat das getan?« herrschte er sie an. »Und wo ist der Kender?« Zu Kharas’ Verwunderung kamen die Dewaren herbei und schwatzten alle auf einmal. Mit einer wütenden Handbewegung brachte Kharas sie zum Schweigen. »Du dort«,
er zeigte auf den Dewar, der immer noch Tolpans Beutel festhielt, »woher hast du diese Beutel? Was ist geschehen? Wo ist der Kender?« Als der Dewar nach vorne schlurfte, sah Kharas in seine Augen und bemerkte zu seinem Entsetzen, daß jegliche geistige Gesundheit, die der Dunkelzwerg einmal besessen hatte, inzwischen völlig verschwunden war. »Ich sah ihn«, sagte der Dewar grinsend. »Ich sah ihn in seinen schwarzen Roben. Er kam wegen des Gnoms. Und er kam wegen des Kenders. Und als nächste sind wir dran!« Er lachte entsetzlich. »Wir sind die nächsten!« wiederholte er. »Wer?« fragte Kharas streng. »Wen hast du gesehen? Wer kam wegen des Kenders?« »Nun, er selbst!« flüsterte der Dewar.
Seit Jahrhunderten hatte niemand seinen Fuß in die magische Festung Zaman gesetzt. Die Zwerge betrachteten sie aus verschiedenen Gründen mit Argwohn. Erstens hatte sie Zauberern gehört. Zweitens war sie weder von Zwergen geschaffen noch überhaupt natürlichen Ursprungs. Die Festung war, so hieß es in der Legende, mit Magie aus dem Boden emporgehoben worden, und es war Magie, die sie zusammenhielt. »Muß wirklich Magie sein«, sagte Regar zu Caramon, während er den hohen, schmalen Türmen der Festung einen scharfen Blick zuwarf. »Sonst wäre sie nämlich schon vor langer Zeit umgestürzt.« Die Hügelzwerge, die sich weigerten, die Festung zu betreten, hatten draußen in der Ebene ein Lager aufgeschlagen. Die Barbaren ebenfalls, aber das lag nicht daran, daß sie das magische Gebäude fürchteten, sondern daran, daß sie sich in jedem Gebäude unbehaglich fühlten. Die Menschen, über diesen Aberglauben spottend, betra-
ten die uralte Festung und lachten lauthals über Geister und Gespenster. Sie blieben eine Nacht. Am nächsten Morgen errichteten sie ihr Lager im Freien und murmelten etwas von frischer Luft und einem besseren Schlaf unter den Sternen. »Was war hier früher?« fragte Caramon seinen Bruder nervös, als sie durch die Festung gingen. »Du hast gesagt, es sei hier kein Turm der Erzmagier, aber offensichtlich haben Zauberer sie gebaut. Und es gibt mir ein seltsames Gefühl. Nicht unheimlich wie in den Türmen. Aber ein Gefühl der…« Er brach ab. »Der Gewalt«, murmelte Raistlin, »der Gewalt und des Todes, mein Bruder. Denn dies war ein Ort des Experimentierens. Die Magier bauten diese Festung weit entfernt von zivilisierten Ländern, weil sie wußten, daß die Magie, die sie anwendeten, leicht ihrer Kontrolle entgleiten konnte. Und so geschah es häufig. Aber hier entstanden auch großartige Dinge – Magie, die der Welt weiterhalf.« »Warum wurde die Festung aufgegeben?« fragte Crysania und zog sich ihren wärmenden Pelzumhang enger um die Schultern. Die Luft, die durch die engen Steinkorridore strömte, war eisig. Raistlin schwieg lange Zeit. Langsam wanderten sie durch die verzweigten Korridore. Crysanias weiche Lederstiefel gaben keine Geräusche von sich, während Caramons schwere Stiefel durch die leeren Kammern hallten und der Stab des Magus, auf den sich Raistlin stützte, auf den Boden aufschlug. »Obgleich es immer die drei Roben – die guten, die neutralen und die bösen – unter den Zauberkundigen gab, haben wir unglücklicherweise nicht immer das Gleichgewicht
bewahrt«, erklärte Raistlin. »Als sich die Bevölkerung gegen uns wandte, zogen sich die Weißen Roben in ihre Türme zurück und traten für den Frieden ein. Die Schwarzen Roben versuchten anfangs zurückzuschlagen. Sie übernahmen diese Festung und experimentierten mit dem Ziel, Soldaten zu erschaffen.« Er hielt inne. »Experimente, die damals nicht erfolgreich verliefen, aber zur Erschaffung der Drakonier in unserer eigenen Zeit führten. Aufgrund ihres Versagens sahen die Schwarzen Roben die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation ein. Sie verließen Zaman und beteiligten sich mit ihren Kollegen an der sogenannten Verlorenen Schlacht, wie sie später bezeichnet wurde.« »Du scheinst dich hier auszukennen«, bemerkte Caramon. Raistlin warf seinem Bruder einen scharfen Blick zu. »Verstehst du immer noch nicht?« fragte er barsch und blieb in einem zugigen, düsteren Korridor stehen. »Ich bin niemals hier gewesen, aber dennoch bin ich durch diese Gänge gelaufen. In dem Raum, in dem ich schlafen werde, habe ich schon viele Nächte zuvor geschlafen, aber trotzdem habe ich in dieser Festung niemals eine Nacht verbracht. Ich bin ein Fremder hier, aber dennoch kenne ich jedes einzelne Zimmer, von den Meditationsräumen und Arbeitszimmern ganz oben bis zu den Speisesälen im ersten Stock.« Caramon war ebenfalls stehengeblieben. Sein Blick begegnete dem seines Bruders. »Dann, Fistandantilus«, sagte er mit schwerer Stimme, »weißt du auch, daß dies hier dein Grab werden wird.« Kurz gewahrte Caramon einen winzigen Spalt in Raistlins gläsernen Augen; es war in ihnen kein Zorn, son-
dern Belustigung und Triumph. Dann waren sie wieder glänzende Spiegel, in denen sich Caramon in schwachem, winterlichem Sonnenlicht stehen sah. Crysania trat zu Raistlin. Sie legte die Hände auf seinen Arm und musterte Caramon mit kalten grauen Augen. »Die Götter sind mit uns«, sagte sie. »Sie waren nicht mit Fistandantilus. Dein Bruder ist stark in seiner Kunst, ich bin stark in meinem Glauben. Wir werden nicht versagen!« Raistlin lächelte. »Ja«, flüsterte er, und in seinen Worten lag ein leichtes Zischen, »die Götter sind mit uns!« Im ersten Stock der magischen Festung Zaman befanden sich große, steingemeißelte Hallen, die in vergangenen Zeiten Orte der Zusammenkünfte und der Festlichkeiten gewesen waren. Dort lagen auch Räume, die einst mit Büchern gefüllt und für ein ruhiges Studium und Meditationen gedacht waren. Am hinteren Ende waren Küchen und Lagerräume, seit langem unbenutzt und mit dem Staub der Jahre bedeckt. In den oberen Stockwerken befanden sich große, mit altmodischen Möbeln eingerichtete Schlafzimmer. Die Betten waren mit Leinen bezogen, die sich durch die trockene Wüstenluft gut erhalten hatten. Caramon, Crysania und die Offiziere von Caramons Stab schliefen in diesen Räumen. Wenn sie nicht gut schliefen, wenn sie zuweilen mitten in der Nacht aufwachten und dachten, Stimmen gehört oder geisterhafte Gestalten gesehen zu haben, erwähnte das niemand bei Tageslicht. Nach einigen Nächten waren diese Vorkommnisse ohnehin vergessen, verdrängt von größeren Sorgen wegen des Nachschubs und der Kämpfe, die zwischen Menschen und Zwergen ausbrachen, von Berichten von Spionen, daß die Zwerge von Thorbadin sich zu einer
riesigen Streitmacht sammelten. In Zaman befand sich, ebenfalls im ersten Stock, ein Korridor, der wie ein Versehen wirkte. Jeder, der sich hierhin wagte, fand heraus, daß er von einem kurzen Gang abging und dann in einer Wand endete. Aber der Korridor war kein Versehen. Wenn sich die richtigen Hände auf die Wand legten, wenn die richtigen Worte gesprochen wurden, wenn die richtigen Runen in der Wand nachgezeichnet wurden, dann erschien eine Tür, die zu einer großen Treppe führte. Diese Treppe hinunter, immer tiefer und tiefer hinunter in die Dunkelheit, hinunter – so schien es – in das Herz der Welt selbst, konnte die richtige Person steigen. Hinunter in die Verliese von Zaman… »Noch einmal.« Die Stimme war sanft, geduldig, und sie bewegte sich vor Tolpan wie eine Schlange. Sich um ihn windend, grub sie ihre gekrümmten Zähne in sein Fleisch. »Wir werden es noch einmal erörtern. Erzähl mir von der Hölle«, sagte die Stimme. »Sag mir alles, woran du dich erinnern kannst. Wie du eingetreten bist. Wie die Landschaft aussah. Wen und was du gesehen hast. Die Königin selbst, wie sie ausgesehen hat, ihre Worte…« »Ich versuche es doch, Raistlin, wirklich!« wimmerte Tolpan. »Aber… wir haben es in den vergangenen Tagen immer wieder durchgesprochen. Ich kann an nichts anderes mehr denken! Und mein Kopf ist so heiß, und meine Füße und meine Hände sind kalt, und das Zimmer dreht sich im Kreis. Wenn… wenn du das Zimmer aufhalten kannst, daß es sich nicht mehr dreht, Raistlin, könnte ich mich erinnern…« Als Tolpan Raistlins Hand auf seiner Brust spürte, fiel er
auf das Bett zurück. »Nein!« stöhnte er. »Ich werde es schaffen, Raistlin! Ich werde mich erinnern. Verletz mich nicht wie den armen Gnimsch!« »Bleib still liegen«, befahl Raistlin. Dann hob er Tolpan an den Armen hoch und starrte in die Augen des Kenders. Schließlich ließ er Tolpan auf sein Bett zurücksinken und erhob sich, einen bitteren Fluch murmelnd. Auf einem schweißdurchnäßten Kissen liegend, sah Tolpan die schwarzgekleidete Gestalt kurz über sich schweben, dann wandte sie sich mit einem Rascheln um und ging aus dem Zimmer. Tolpan versuchte den Kopf zu heben, um zu sehen, wohin Raistlin ging, aber die Anstrengung war zu groß. Er fiel schlaff zurück. Warum bin ich so schwach? fragte er sich. Was ist los? Ich will schlafen. Vielleicht habe ich dann keine Schmerzen mehr. Er schloß die Augen. Nein, ich darf nicht schlafen, dachte er ängstlich. Da lauern Dinge in der Dunkelheit, entsetzliche Dinge, die nur darauf warten, daß ich einschlafe! Ich habe sie gesehen, sie sind da draußen! Sie werden hervorspringen und… Wie aus der Ferne hörte er Raistlins Stimme. Als Tolpan sich umwandte, sah er die schwarzgekleidete Gestalt im Gespräch mit einer untersetzten, dunklen Gestalt. Und sie diskutierten wirklich über ihn. Er versuchte zu lauschen, aber seine Gedanken trieben seltsame Dinge – sie wanderten fort, um irgendwo zu spielen, ohne seinen Körper mitzunehmen. Darum war Tolpan sich nicht sicher, ob er hörte, was er hörte, oder ob er träumte. »Gib ihm mehr von dem Heiltrunk. Das sollte ihn ruhig halten«, sagte Raistlins Stimme zu der kleinen dunklen Gestalt. »Die Chance ist zwar gering, daß ihn jemand hier
unten hört, aber ich will kein Risiko eingehen.« Die kleine dunkle Gestalt antwortete etwas. Tolpan schloß die Augen und ließ das kühle Wasser eines blauen Sees über seine glühende Haut fließen. Vielleicht hatte sein Geist inzwischen beschlossen, seinen Körper doch noch mitzunehmen. »Wenn ich gegangen bin«, ertönte Raistlins Stimme aus dem Wasser hervor, »verschließ die Tür hinter mir und lösche das Licht aus. Mein Bruder ist in letzter Zeit sehr argwöhnisch. Sollte er die magische Tür entdecken, wird er zweifellos hier herunterkommen. Er darf nichts finden. Alle diese Zellen müssen leer erscheinen.« Die Gestalt murmelte etwas, und die Tür quietschte in ihren Angeln. Das Wasser des Sees begann plötzlich um Tolpan zu kochen. Tentakel schlängelten sich plötzlich hervor, ergriffen ihn. »Raistlin!« bettelte er. »Laß mich nicht allein. Hilf mir!« Aber die Tür schlug zu. Die kleine dunkle Gestalt schlurfte an Tolpans Seite. Tolpan starrte sie in traumähnlichem Entsetzen an und erkannte, daß es ein Zwerg war. »Flint?« murmelte er. »Nein! Arak!« Er versuchte zu laufen, aber die Wassertentakel griffen nach seinen Füßen. »Raistlin!« schrie er und versuchte fortzukriechen. Aber seine Füße machten nicht mit. Etwas ergriff ihn! Die Tentakel! Tolpan kreischte vor Panik. »Halt den Mund, du Bastard. Trink das.« Die Tentakel ergriffen ihn am Haarzopf und hielten eine Tasse an seine Lippen. »Trink das, oder ich reiße dir die Haare mit den Wurzeln aus!« Verstört nahm Tolpan einen Schluck. Die Flüssigkeit war bitter, aber kühl und lindernd. Er war durstig, so durstig!
Schluchzend nahm er dem Zwerg die Tasse weg und schluckte den Inhalt hinunter. Dann legte er sich auf sein Kissen zurück. Innerhalb von Sekunden glitten die Tentakel fort, der Schmerz in seinen Gliedern ging zurück, und das klare, süße Wasser des Sees schloß sich über seinem Kopf. Crysania erwachte aus einem Traum mit dem entschiedenen Eindruck, daß jemand ihren Namen gerufen hatte. Obwohl sie sich nicht erinnerte, das Wort gehört zu haben, war das Gefühl so stark, daß sie sofort hellwach war und sich im Bett aufrichtete, bevor ihr eigentlich bewußt war, was sie geweckt hatte. War es ein Teil ihres Traumes gewesen? Nein. Der Eindruck blieb und verstärkte sich. Jemand war in ihrem Zimmer! Sie sah sich schnell um. Solinaris Licht, das durch ein kleines Fenster am anderen Ende des Zimmers schien, tat wenig, um es zu beleuchten. Crysania öffnete den Mund, um die Wache zu rufen, aber sie spürte eine Hand auf ihren Lippen. Dann materialisierte sich Raistlin aus der dunklen Nacht und setzte sich an ihr Bett. »Verzeih mir, daß ich dich geängstigt habe, Verehrte Tochter«, sagte er flüsternd. »Ich brauche deine Hilfe, und ich wollte nicht die Aufmerksamkeit der Wachen erregen.« Langsam entfernte er seine Hand. »Ich war nicht verängstigt«, protestierte Crysania. Er lächelte, und sie errötete. Er war so nah bei ihr, daß er ihr Zittern spüren konnte. »Du hast mich… nur erschreckt, das ist alles. Ich habe geträumt. Du schienst ein Teil des Traumes zu sein.« »Natürlich«, erwiderte Raistlin gelassen. »Das Portal ist hier, und folglich sind wir den Göttern sehr nahe.«
Es ist nicht die Nähe der Götter, die mich zittern läßt, dachte Crysania mit einem Seufzer, als sie die glühende Wärme des Körpers neben sich spürte, seine geheimnisvollen, berauschenden Düfte roch. Wütend bewegte sie sich von ihm fort, unterdrückte ihre Wünsche und Sehnsüchte. Er steht über solchen Dingen. Sollte sie zeigen, daß sie schwächer war? Sie fuhr fort: »Du hast gesagt, du brauchtest meine Hilfe. Warum?« Plötzlich wurde sie von Angst gepackt. Sie ergriff seine Hand. »Dir geht es gut, oder nicht? Deine Wunde…« Ein schmerzlicher Krampf verzerrte Raistlins Gesicht, dann wurde sein Ausdruck hart und bitter. »Nein, mir geht es gut«, sagte er kurz. »Dank Paladin«, sagte Crysania lächelnd und ließ ihre Hand in seiner verweilen. Raistlins Augen verengten sich. »Der Gott erhält von mir keinen Dank!« murmelte er. Crysania erbebte. Sie versuchte ihre Hand aus seiner zu ziehen, aber Raistlin, durch ihre Bewegung aus seinem Tagtraum herausgeholt, wandte ihr sein Gesicht zu. »Verzeih mir, Verehrte Tochter«, sagte er und ließ sie los. »Der Schmerz war unerträglich. Ich betete um den Tod. Er wurde mir versagt.« »Du kennst den Grund«, erwiderte Crysania; ihre Angst verlor sich in ihrem Mitgefühl. Sie ließ ihre Hand auf die Decke neben seine zitternde Hand fallen, berührte sie aber nicht. »Ja, und ich akzeptiere es. Dennoch kann ich ihm nicht verzeihen. Aber das ist eine Angelegenheit zwischen deinem Gott und mir«, sagte Raistlin tadelnd. Crysania biß sich auf die Lippen. »Ich akzeptiere meine
Zurechtweisung. Sie war verdient.« Sie schwieg einen Augenblick. Auch Raistlin war nicht zum Sprechen geneigt; die Linien in seinem Gesicht vertieften sich. »Du hast Caramon gesagt, daß die Götter mit uns seien. Dann hast du also mit meinem Gott geredet… mit Paladin?« wagte Crysania zu fragen. »Natürlich.« Raistlin lächelte sein verzerrtes Lächeln. »Überrascht dich das?« Crysania seufzte. Sie ließ den Kopf sinken. Das schwache Mondlicht ließ ihr schwarzes Haar in einem sanften blauen Glanz, ihre Haut in reinstem Weiß erstrahlen. Ihr Duft erfüllte den Raum, erfüllte die Nacht. Sie spürte eine Berührung an ihrem Haar. Als sie den Kopf hob, sah sie Raistlins Augen vor Leidenschaft brennen. Sie hielt den Atem an, aber in diesem Augenblick erhob sich Raistlin. Crysania seufzte. »Du hast also mit beiden Göttern geredet?« fragte sie sehnsüchtig. »Ich habe mit allen dreien geredet«, erwiderte Raistlin. »Drei?« fragte sie verblüfft. »Gilean?« »Wer ist denn Astinus, wenn nicht Gileans Sprachrohr?« fragte Raistlin verächtlich. »Falls er nicht Gilean persönlich ist, wie einige spekulieren. Aber dies ist sicherlich nichts Neues für dich…« »Ich habe niemals mit der Dunklen Königin geredet«, sagte Crysania. »Wirklich?« fragte Raistlin mit einem durchdringenden Blick. »Weiß sie nichts von deinen Herzenswünschen? Hat sie dir nichts angeboten?« Als Crysania in seine Augen sah, seine Nähe spürte und von Sehnsucht überflutet wurde, konnte sie nicht antworten. Sie schüttelte den Kopf. »Wenn sie das hat«, antwortete
sie fast unhörbar, »hat sie mir mit einer Hand etwas angeboten und es mir mit der anderen versagt.« »Ich bin nicht hierher gekommen, um theologische Fragen zu erörtern«, sagte Raistlin. »Ich habe andere, unmittelbarere Sorgen.« »Natürlich.« Crysania errötete und strich ihr wirres Haar aus dem Gesicht. »Ich entschuldige mich. Du brauchtest mich, hast du gesagt…« »Tolpan ist hier.« »Tolpan?« wiederholte Crysania in blanker Verblüffung. »Ja, und er ist sehr krank. In der Tat liegt er im Sterben. Ich brauche deine Heilkräfte.« »Aber ich verstehe nicht. Wie ist er hierhergekommen?« stammelte Crysania verwirrt. »Du hast gesagt, er sei in unsere eigene Zeit zurückgekehrt.« »Das habe ich auch geglaubt«, gab Raistlin ernst zurück. »Aber offensichtlich habe ich mich geirrt. Das magische Gerät brachte ihn hierher. Er ist auf Kendermanier durch die Welt gezogen, hat sich nur vergnügt. Schließlich hörte er von dem Krieg und kam hier an, um am Abenteuer teilzunehmen. Unglücklicherweise hat er sich bei seinen Wanderungen mit der Pest angesteckt.« »Das ist ja schrecklich! Natürlich komme ich.« Sie griff nach ihrem Fellumhang am Ende des Bettes, hüllte ihn sich um die Schultern und bemerkte gleichzeitig, daß sich Raistlin von ihr abgewandt hatte. »Ich bin fertig«, sagte Crysania, während sie ihren Umhang befestigte. Raistlin drehte sich um und hielt ihr seine Hand entgegen. Crysania sah ihn verwirrt an. »Wir müssen auf den Wegen der Nacht reisen«, sagte er ruhig. »Wie ich dir bereits sagte, will ich nicht die Wachen
alarmieren.« »Aber warum nicht?« fragte sie. »Was soll ich meinem Bruder sagen? Verstehst du mein Dilemma?« fragte Raistlin, während er sie aufmerksam musterte. »Wenn ich es ihm sage, wird er sich Sorgen machen, in einer Zeit, in der er zusätzliche Bürden nicht auf sich nehmen kann. Tolpan hat das magische Gerät zerbrochen. Auch darüber wird sich Caramon aufregen, selbst wenn er weiß, daß ich beabsichtige, ihn nach Hause zu schicken. Aber trotzdem – ich sollte ihm sagen, daß der Kender hier ist.« »Caramon hat in den vergangenen Tagen unglücklich ausgesehen«, sagte Crysania nachdenklich. »Der Krieg läuft nicht gut«, informierte Raistlin sie schonungslos. »Die Armee zerfällt. Die Barbaren reden tagtäglich davon zu verschwinden. Sie sind vielleicht sogar schon aufgebrochen. Die Zwerge unter Feuerschmied sind ein unzuverlässiges Volk; sie bedrängen Caramon zuzuschlagen, noch bevor er bereit ist. Die Nachschubwagen sind verschwunden, niemand weiß, was aus ihnen geworden ist. Seine eigene Truppe ist unruhig, aufgebracht. Und der Gipfel wäre es, einen Kender zu haben, der umherstreift, ziellos plappert, ihn ablenkt…« Er seufzte. »Dennoch kann ich Caramon diese Information nicht vorenthalten.« Crysanias Lippen zogen sich zusammen. »Ich halte es nicht für klug, ihn zu informieren.« Als sie Raistlins zweifelnden Blick sah, fuhr sie fort: »Caramon kann nichts tun. Wenn der Kender wirklich krank ist, wie du vermutest, kann ich ihn heilen, aber er wird noch einige Tage geschwächt sein. Er wäre nur eine zusätzliche Bürde für deinen Bruder. Caramon plant, in einigen Tagen zu marschie-
ren. Wir werden uns um den Kender kümmern, und wenn er sich völlig erholt hat, kann er zu seinem Freund, wenn das sein Wunsch ist.« Der Erzmagier seufzte wieder, widerstrebend und zweifelnd. Dann zuckte er die Schultern. »Nun gut, Verehrte Tochter«, sagte er. »Ich werde mich in dieser Hinsicht von dir leiten lassen. Deine Worte sind klug. Wir werden Caramon nicht erzählen, daß der Kender zurückgekehrt ist.« Er trat zu ihr, und Crysania, die aufsah, erhaschte ein seltsames Lächeln auf seinem Gesicht. Er legte den Arm um sie und hielt sie fest. Sie schloß die Augen. Eingehüllt in seine Wärme, lauschte sie seinem pochenden Herzschlag… »Du hältst ihn hier? In den Verliesen?« fragte Crysania, in der eisigen, feuchten Luft zitternd. »Shirak.« Raistlin ließ den Kristall am Stab des Magus erglühen. »Er liegt dort drüben«, sagte er. Ein primitives Bett stand an einer Wand. Crysania eilte hin. Als sie neben dem Kender kniete und ihre Hand auf seine fiebernde Stirn legte, schrie Tolpan auf. Seine Augen öffneten sich, aber er starrte sie an, ohne sie zu sehen. Raistlin, der ihr gefolgt war, deutete auf den Dunkelzwerg, der in einer Ecke hockte. »Laß uns allein«, wies er ihn an, dann trat er an das Bett. Hinter sich hörte er die Zellentür zuschlagen. »Wie kannst du ihn in dieser Dunkelheit eingesperrt halten?« herrschte Crysania ihn an. »Hast du jemals zuvor Pestopfer behandelt, Crysania?« fragte Raistlin. Bitter lächelnd beantwortete er seine eigene Frage. »Nein, natürlich nicht. Die Pest ist ja niemals nach Palanthas gekommen. Sie hat niemals diese wunderschöne,
reiche Stadt heimgesucht…« Er gab sich keine Mühe, seinen Abscheu zu verbergen. »Nun, sie ist zu uns gekommen«, fuhr Raistlin fort. »Die ärmeren Viertel von Haven wurden heimgesucht. Natürlich gab es keine Heiler. Selbst die Verwandten flohen vor ihnen. Ich tat, was ich konnte. Wenn ich sie nicht heilen konnte, habe ich zumindest ihren Schmerz gelindert. Mein Meister mißbilligte das.« Raistlin sprach mit gedämpfter Stimme, und Crysania erkannte, daß er ihre Gegenwart vergessen hatte. »Auch Caramon – er fürchtet um meine Gesundheit, sagte er. Pah!« Raistlin lachte ohne Heiterkeit. »Er fürchtete um sich selbst. Der Gedanke an Pest ängstigt ihn mehr als eine Goblinarmee. Aber wie hätte ich ihnen den Rücken zuwenden können? Sie hatten niemand, sie waren allein im Sterben.« Ein verängstigtes Kreischen des Kenders unterbrach ihn. Tolpan starrte ihn verstört an. »Bitte, Raistlin! Bring mich nicht zur Dunklen Königin zurück…« »Still, Tolpan«, sagte Crysania leise. »Beruhige dich. Ich bin Crysania. Du kennst mich doch! Ich werde dir helfen.« Tolpan richtete seine weit aufgerissenen, fiebrigen Augen auf die Klerikerin und musterte sie einen Augenblick verständnislos. Dann klammerte er sich mit einem Schluchzen an sie. »Laß nicht zu, daß er mich zurück in die Hölle bringt, Crysania! Laß nicht zu, daß er dich mitnimmt! Es ist entsetzlich. Wir werden alle sterben, wie der arme Gnimsch. Die Dunkle Königin hat es mir gesagt!« »Er phantasiert«, murmelte Crysania und versuchte, sich von Tolpans klammernden Händen zu lösen und ihn wieder hinzulegen. »Welch seltsame Wahnideen! Ist das normal bei Pestopfern?« »Ja«, erwiderte Raistlin. Er musterte Tolpan aufmerksam
und kniete sich dann an seine Seite. »Manchmal ist es am besten, sie aufzumuntern. Es beruhigt ihn vielleicht. Tolpan…« Er legte seine Hand auf die Brust des Kenders. Tolpan brach auf dem Bett zusammen. Er schrak vor dem Magier zurück, erbebte und starrte ihn entsetzt an. »Ich werde gut sein, Raistlin«, wimmerte er. »Verletz mich nicht, nicht wie den armen Gnimsch. Blitz, Blitz!« »Tolpan«, sagte Raistlin mit fester Stimme. In ihr lag ein Hauch von Zorn und Verärgerung, der Crysania veranlaßte, ihn tadelnd anzusehen. Aber als sie lediglich den Ausdruck kühler Sorge auf seinem Gesicht sah, glaubte sie sich verhört zu haben. Sie schloß die Augen, berührte das Medaillon von Paladin und begann ein Heilgebet zu murmeln. »Ich werde dich nicht verletzen, Tolpan. Lieg still.« Als Raistlin sah, daß Crysania ins Gebet vertieft war, zischte er: »Sag es mir, Tolpan. Sag mir, was die Dunkle Königin gesagt hat.« Das Gesicht des Kenders verlor seine leuchtende, fiebrige Röte, als Crysanias gemurmelte Worte über ihn strömten, süßer und kühler als das Wasser seiner Fieberphantasien. Das weichende Fieber ließ Tolpans Gesicht aschgrau zurück. »Sie sagte mir… bevor wir aufbrachen…« Tolpan würgte. »Aufbrachen?« Raistlin beugte sich vor. »Ich dachte, du sagtest, ihr seid entkommen!« Tolpan erbleichte und leckte seine trockenen, aufgesprungenen Lippen. Er versuchte, sich von dem Blick des Magiers zu lösen, aber Raistlins Augen, die im Licht des Stabes glitzerten, hielten den Kender fest. Tolpan schluckte. Seine Kehle schmerzte. »Wasser«, flehte er.
»Wenn du es mir gesagt hast!« fauchte Raistlin mit einem Seitenblick auf Crysania, die immer noch niederkniete, ihren Kopf in den Händen hielt und zu Paladin betete. Tolpan schluckte schmerzhaft. »Ich… ich dachte, wir würden… entkommen. Wir benutzten… das Gerät und begannen… zu steigen. Ich sah… die Hölle, die Ebene, flach, leer, unter meinen Füßen. Und sie war überhaupt nicht leer! Da… da waren Schatten und…« Er warf den Kopf zur Seite und stöhnte. »O Raistlin, laß mich nicht daran denken! Laß mich nicht dorthin zurückkehren!« »Pst!« flüsterte Raistlin und legte die Hand auf Tolpans Mund. Als Crysania Tolpans verängstigtes und blasses Gesicht sah, runzelte sie die Stirn und schüttelte den Kopf. »Es geht ihm besser«, sagte sie. »Er wird nicht sterben. Aber dunkle Schatten schweben um ihn, halten Paladins heilendes Licht von ihm ab. Es sind die Schatten dieser Fieberphantasien. Kannst du damit etwas anfangen?« Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. »Was es auch ist, es scheint für ihn sehr real zu sein. Es muß etwas Fürchterliches sein, wenn es einen Kender dermaßen aus der Fassung bringt.« »Vielleicht fühlt er sich freier, mir davon zu erzählen, wenn du nicht dabei bist«, schlug Raistlin vor. »Wir sind alte Freunde.« »Das stimmt.« Crysania lächelte und wollte aufstehen. Zu ihrer Verwunderung ergriff Tolpan ihre Hände. »Laß mich nicht mit ihm allein!« keuchte er. »Er hat Gnimsch getötet! Armer Gnimsch, ich habe ihn sterben sehen!« Er begann zu weinen. »Brennende Blitze…« »Nun, nun, Tolpan«, sagte Crysania mit sanfter, aber entschlossener Stimme und zwang den Kender, sich zurückzu-
legen. »Niemand wird dich verletzen. Wer diesen Gnimsch auch getötet hat, er wird dir jetzt nicht schaden. Du bist mit Freunden zusammen. Nicht wahr, Raistlin?« »Meine Magie ist mächtig«, sagte Raistlin. »Vergiß das nicht, Tolpan. Vergiß nicht die Macht meiner Magie.« »Ja, Raistlin«, erwiderte Tolpan. Er lag ganz still da, wie festgenagelt von dem starren Blick des Magiers. »Ich glaube, es wäre klug, wenn du hier bleibst, um mit ihm zu reden«, sagte Crysania gedämpft. »Diese finsteren Ängste werden ihn heimsuchen und den Heilprozeß beeinträchtigen. Ich werde in mein Zimmer zurückkehren.« »Wir werden also Caramon nichts sagen?« Raistlin sah Crysania aus dem Augenwinkel an. »Nein«, antwortete Crysania bestimmt. »Das würde ihn nur unnötig beunruhigen.« Sie blickte wieder ihren Patienten an. »Ich werde morgen zurückkommen, Tolpan. Sprich mit Raistlin. Erleichtere deine Seele. Dann schlaf.« Sie legte ihre kühle Hand auf Tolpans schweißnasse Stirn, dann fügte sie hinzu: »Möge Paladin bei dir sein.« »Caramon?« fragte Tolpan hoffnungsvoll. »Ist er hier?« »Ja, und wenn du geschlafen und gegessen und dich ausgeruht hast, werde ich dich zu ihm bringen.« »Kann ich ihn nicht jetzt sehen?« schrie Tolpan aufgeregt, dann warf er einen ängstlichen Seitenblick auf Raistlin. »Falls… falls das nicht zu viel Aufwand ist, meine ich…« »Er ist sehr beschäftigt«, unterbrach ihn Raistlin kühl. »Er ist jetzt ein General, Tolpan. Er hat Armeen zu befehligen, einen Krieg zu führen. Er hat keine Zeit für Kender.« »Nein, vermutlich nicht«, sagte Tolpan mit einem Seufzer und legte sich auf sein Kissen zurück. Crysania erhob sich. Das Medaillon von Paladin in der
Hand haltend, flüsterte sie ein Gebet und war auf einmal verschwunden, von der Nacht verschluckt. »Und jetzt, Tolpan«, sagte Raistlin mit sanfter Stimme, die Tolpan erzittern ließ, »sind wir allein.« Er zog die Decken über den Körper des Kenders und richtete das Kissen unter seinem Kopf. »Nun, liegst du bequem?« Tolpan konnte nicht antworten. Er konnte den Erzmagier nur mit wachsendem Entsetzen anstarren. Raistlin setzte sich zu ihm. Er legte eine schlanke Hand auf Tolpans Stirn, streichelte sie und strich sein feuchtes Haar zurück. »Erinnerst du dich an Dalamar, meinen Lehrling?« fragte er. »Du hast ihn, glaube ich, im Turm der Erzmagier gesehen. Erinnerst du dich, daß Dalamar irgendwann seine schwarzen Roben aufriß und fünf Wunden auf seiner Brust entblößte? Ja, ich sehe, du erinnerst dich. Das war seine Bestrafung, Tolpan. Die Bestrafung, weil er gewisse Dinge vor mir geheimgehalten hat.« Seine Finger hörten auf, den Kender zu kraulen, und blieben auf einer Stelle liegen. Tolpan zitterte. »Ich… ich erinnere mich, Raistlin.« »Ich kann mit einer Berührung dein Fleisch verbrennen«, fuhr Raistlin fort, »so wie ich Butter mit einem heißen Messer schmelzen lassen kann. Kender lieben doch interessante Erfahrungen, nicht wahr?« »Nein, lieber nicht«, flüsterte Tolpan. »Ich sage es dir, Raistlin! Ich sage dir alles, was geschehen ist.« Er schloß kurz die Augen, dann begann er zu sprechen. »Wir… wir schienen nicht von der Hölle aufzusteigen, sondern eher… eher schien die Hölle unter uns davonzustürzen. Und dann konnte ich Schatten sehen und dachte… Ich dachte, es wären Täler und Berge…«
Er schlug die Augen auf und starrte den Magier ehrfürchtig an. »Das war es nicht! Diese Schatten waren ihre Augen, Raistlin! Und die Hügel und Täler waren ihre Nase und ihr Mund. Wir stiegen aus ihrem Gesicht hervor. Sie sah mich mit Augen an, die hell waren und feurig glänzten, und sie öffnete den Mund, und ich… ich dachte, sie wolle uns verschlingen! Aber wie stiegen nur höher und höher, und sie stürzte unter uns davon, und dann sah sie zu mir auf, und sie sagte… sie sagte…« »Was hat sie gesagt?« drängte Raistlin. »Die Botschaft war für mich! Darum hat sie dich geschickt! Was hat die Königin gesagt?« Tolpans Stimme wurde leise. »Sie sagte: ›Komm nach Hause…‹«
Die Wirkung seiner Worte auf Raistlin verblüffte Tolpan mehr als alles, was ihn in seinem ganzen Leben verblüfft hatte. Tolpan hatte Raistlin wütend gesehen. Er hatte ihn erfreut gesehen, er hatte ihn einen Mord begehen sehen, er hatte das Gesicht des Magiers gesehen, als Kharas, der Zwergenheld, sein Schwert in das Fleisch des Magiers gestoßen hatte. Aber niemals zuvor hatte er diesen Ausdruck gesehen. Raistlins Gesicht wurde leichenblaß, so weiß, daß Tolpan einen Augenblick glaubte, der Magier sei tot. Die spiegelgleichen Augen schienen zu zerspringen; Tolpan erblickte sich selbst in den winzigen Scherben. Dann sah er, daß die Augen leer waren und blind geradeaus starrten. Die Hand, die auf Tolpans Stirn geruht hatte, begann heftig zu zittern. Der Kender beobachtete erstaunt, daß Raistlin vor ihm zu schrumpfen schien. Sein Gesicht alterte merklich. Als er sich mit dem gleichen leeren Blick erhob, zitterte er am ganzen Leib.
»Raistlin?« fragte Tolpan, zwar erfreut, daß die Aufmerksamkeit des Magiers nicht mehr auf ihn gerichtet war, aber verwirrt über sein seltsames Aussehen. Der Kender rappelte sich auf. Der schreckliche Schwindel war verschwunden, auch das unheimliche, fremde Gefühl der Angst. Er fühlte sich fast wieder normal. »Raistlin, das war überhaupt nicht meine Absicht. Wirst du jetzt krank? Du siehst so komisch aus…« Aber der Erzmagier antwortete nicht. Er wankte nach hinten, fiel gegen eine Steinwand und stand einfach da; sein Atem ging schnell und flach. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und rang verzweifelt darum, die Kontrolle über sich wiederzuerlangen. Plötzlich aber ergriff er den Stab des Magus, seine schwarzen Roben schlugen um ihn, und dann stürmte er durch die offene Tür. Tolpan sah ihn an dem Dunkelzwerg vorbeisausen, der an der Tür Wache stand. Der Zwerg blickte in das Gesicht des Magiers, als dieser wie blind an ihm vorbeilief, und mit einem wilden Aufschrei drehte er sich um und flitzte in die entgegengesetzte Richtung davon. Das alles war so wunderlich, daß Tolpan einige Zeit brauchte, um zu erkennen, daß er kein Gefangener mehr war. Ich muß Caramon finden und ihm sagen, daß ich das magische Gerät habe und wir nach Hause können, dachte er. Ich habe es niemals für möglich gehalten, daß ich so etwas denke, aber »nach Hause« klingt so schön. Er stand auf und ging, zwar noch etwas wackelig, durch den dunklen Raum zu dem fackelbeleuchteten Korridor, den er hinter der Tür erkennen konnte. Er spähte vorsichtig in beide Richtungen, aber niemand
war in Sicht, und so schlich er durch den Korridor. Es gab lediglich weitere dunkle, verschlossene Zellen – so wie seine eigene – und eine Treppe an einem Ende, die nach oben führte. In der anderen Richtung sah er nichts als dunkle Schatten. »Ich frage mich, wo ich mich befinde.« Er ging zu der Treppe, da dies, soweit er erkennen konnte, der einzige Weg nach oben war. Er horchte und konnte Stimmen hören. »Verdammt«, murmelte er, blieb stehen und duckte sich in den Schatten zurück. »Jemand ist oben. Vermutlich Wachen. Klingt nach diesen Dewaren.« Er stand still da und versuchte zu verstehen, was die Stimmen sagten. »Man könnte meinen, sie sprechen eine zivilisierte Sprache.« Seine Neugier siegte, und er schlich die Treppe hoch und spähte um die Ecke. »Zwei von ihnen. Und es gibt keinen Weg um sie herum.« Mutig ging er zu ihnen hin und sagte fröhlich: »Hallo, mein Name ist Tolpan Barfuß.« Er streckte die Hand aus. »Und wie heißt ihr?« Die Dewaren, die den Kender mit wachsender Beunruhigung angestarrt hatten, schrien ein Wort, drehten sich um und stürzten davon. »Antarax«, wiederholte Tolpan, ihnen verwirrt nachschauend. »Laß mal sehen. Das klingt wie das Zwergenwort für… natürlich! Brennender Tod. Ah – sie glauben, ich hätte immer noch die Pest! Nun, das ist praktisch. Oder nicht?« Er war in dem langen Korridor allein. »Ich weiß immer noch nicht, wo ich bin, und niemand scheint geneigt zu sein, es mir zu sagen. Der einzige Weg nach draußen ist diese Treppe. Es ist wohl das Beste, den beiden nachzugehen. Caramon soll auch hier sein.«
Er folgte ihnen die Treppe hinauf. Als er um eine weitere Ecke bog, blieb er plötzlich stehen. Die zwei, denen er gefolgt war, waren ihrerseits auf ungefähr zwanzig andere Zwerge gestoßen. Sich im Schatten zusammenkauernd, konnte Tolpan sie aufgeregt schwatzen hören und erwartete, daß sie jeden Moment die Suche nach ihm aufnehmen würden… Aber nichts geschah. Er wartete, lauschte der Unterhaltung, dann riskierte er einen Blick und erkannte, daß einige der Zwerge nicht wie Dewaren aussahen. Sie waren sauber, ihre Barte gekämmt, und sie waren in glänzende Rüstungen gehüllt. Sie starrten grimmig einen der Dewaren an, als würden sie ihm am liebsten die Haut abziehen. »Bergzwerge!« murmelte Tolpan erstaunt. »Und nach dem, was Raistlin gesagt hat, sind sie die Feinde. Was bedeutet, sie sollten in ihrem Berg sein und nicht in unserem. Vorausgesetzt natürlich, wir befinden uns in einem Berg, was ich allmählich denke, so wie es hier aussieht. Aber ich frage mich…« Als einer der Bergzwerge zu sprechen anfing, freute sich Tolpan. »Endlich jemand, der vernünftig sprechen kann!« Er seufzte erleichtert auf. »Wir sind gekommen, um den Kopf dieses Generals Caramon zu holen«, knurrte der Bergzwerg. »Du hast gesagt, der Zauberer habe versprochen, es werde alles vorbereitet. Wenn das so ist, können wir auf den Zauberer verzichten. Ich möchte sowieso nicht mit einer Schwarzen Robe verhandeln. Und jetzt antworte mir, Argat. Ist dein Volk bereit, die Armee von innen anzugreifen? Seid ihr vorbereitet, den General zu töten? Oder war das nur ein Trick? Wenn
ja, dann wird es deinem Volk in Thorbadin schlecht ergehen!« »Es ist kein Trick!« knurrte Argat. »Wir sind bereit. Der General ist im Kriegszimmer. Der Zauberer sagte, er stellt sicher, daß er nur mit einer Leibwache zusammen ist. Unser Volk wird die Hügelzwerge angreifen. Wenn du deinen Teil des Handels erfüllst, wenn die Kundschafter das Signal geben, daß die großen Tore von Thorbadin offen sind…« »Das Signal ertönt gerade, noch während wir sprechen«, rief der Bergzwerg. »Wenn wir oben im Erdgeschoß wären, könntest du die Trompeten hören. Die Armee rückt aus!« »Dann gehen wir!« sagte Argat. Er verbeugte sich und fügte höhnisch hinzu: »Wenn du dich traust, komm mit uns – wir nehmen General Caramons Kopf jetzt gleich!« »Ich komme mit dir«, erwiderte der Bergzwerg kalt, »nur um mich zu überzeugen, daß du keinen Verrat planst!« Was die zwei noch sagten, ging an Tolpan vorbei, der sich gegen die Wand lehnte. Seine Beine kribbelten, und in seinen Ohren surrte es geräuschvoll. »Caramon!« flüsterte er und versuchte zu denken. »Sie wollen ihn töten! Und Raistlin hat das veranlaßt!« Tolpan erschauerte. »Armer Caramon! Sein Zwillingsbruder. Wenn er das wüßte, würde es ihn wohl auf der Stelle töten. Die Zwerge brauchten nicht einmal Äxte.« Plötzlich fuhr sein Kopf in die Höhe. »Tolpan Barfuß«, sagte er wütend, »was tust du hier? Du mußt ihn retten! Du hast Tika versprochen, daß du dich um ihn kümmerst.« »Ihn retten? Wie, du Türknopf?« dröhnte eine Stimme in ihm, die sich verdächtig nach Flint anhörte. »Ich werde mir schon etwas ausdenken«, gab Tolpan zurück. »Also bleib nur unter deinem Baum sitzen!«
Ein höhnisches Schnaufen war die Antwort. Der Kender überhörte es entschlossen, zog sein kleines Messer und schlich leise durch den Korridor.
Sie hatte das gleiche dunkle, lockige Haar und das verschmitzte Lächeln, das Männer bei ihrer Tochter so bezaubernd finden würden. Sie hatte die einfache, unschuldige Ehrlichkeit, die für einen ihrer Söhne kennzeichnend sein würde, und sie hatte eine Gabe – eine seltene und wunderbare Kraft –, die sie dem anderen weiterreichen würde. Sie hatte Magie in ihrem Blut wie auch ihr Sohn. Aber sie war schwach – schwach im Willen, schwach im Geist. So ließ sie es zu, daß die Magie die Oberhand über sie bekam, und so starb sie schließlich. Weder die seelisch robuste Kitiara noch den körperlich starken Caramon berührte der Tod der Mutter sonderlich. Kitiara haßte ihre Mutter mit bitterer Eifersucht, während Caramon sich zwar um seine Mutter kümmerte, aber seinem Bruder näherstand. Zudem stellten das unheimliche Umherstreifen und die geheimnisvollen Trancen seiner Mutter für den jungen Krieger ein völliges Rätsel dar.
Aber ihr Tod vernichtete Raistlin. Er war ihr einziges Kind, das sie wirklich verstand, das sie bemitleidete, auch wenn es sie gleichzeitig verabscheute. Und er war wütend auf sie, weil sie starb, wütend auf sie, weil sie ihn allein auf dieser Welt zurückließ, allein mit der Gabe. Er war wütend und tief im Innern von Angst erfüllt, denn er sah in ihr seinen eigenen Untergang. Nach dem Tod ihres Vaters war seine trauernde Mutter in eine Trance verfallen, aus der sie nicht wieder herauskam. Raistlin war hilflos gewesen. Er konnte nichts unternehmen, nur zusehen, wie sie dahinschwand. Verloren trieb sie auf magischen Ebenen, die nur sie sehen konnte. Und der Magier, ihr Sohn, war bis ins Mark erschüttert. Er saß bei ihr an jenem letzten Abend. Er hielt ihre geschwächte Hand, beobachtete, wie ihre eingefallenen, fiebrigen Augen auf Wunder starrten, die von einer mißratenen Magie herbeigerufen worden waren. In jener Nacht schwor Raistlin tief in seiner Seele, daß niemand und nichts jemals über die Macht verfügen würde, ihn so zu lenken – nicht sein Zwillingsbruder, nicht seine Schwester, nicht die Magie, nicht die Götter. Er und er ganz allein würde die führende Kraft in seinem Leben sein. Das schwor er. Er legte einen bindenden Eid ab. Aber er war noch ein Junge, allein in der Dunkelheit zurückgelassen, als er in jener Nacht bei seiner Mutter saß. Er beobachtete sie, wie sie ihren letzten zitternden Atemzug nahm. Er hielt ihre schmale Hand mit ihren zierlichen Fingern und flehte sie durch seine Tränen an: »Mutter, komm nach Hause… Komm nach Hause!« Jetzt in Zaman hörte er wieder diese Worte, die ihn herausforderten, ihn verhöhnten, ihm trotzten. Sie ertönten in
seinen Ohren, hallten in seinem Gehirn in einem wilden Klirren wider. Sein Kopf zersprang vor Schmerz, und er stolperte gegen eine Wand. Raistlin hatte einst gesehen, wie Ariakas einen gefangengenommenen Ritter gefoltert hatte, indem er ihn in einen Glockenturm eingesperrt hatte. Die dunklen Kleriker läuteten in jener Nacht die Glocken, um ihre Königin zu ehren – die ganze Nacht lang. Am nächsten Morgen wurde der Mann tot aufgefunden; ein Blick des Entsetzens lag auf seinem Gesicht, so eindringlich und schrecklich, daß selbst die Grausamsten sich schnell der Leiche entledigten. Raistlin hatte das Gefühl, in seinem eigenen Glockenturm eingesperrt zu sein, in seinem Schädel läuteten seine eigenen Worte seinen Untergang ein. Verzweifelt versuchte er das Geläut auszulöschen. »Komm nach Hause… Komm nach Hause…« Von Schmerz blind, versuchte der Magier dem Klang zu entrinnen. Er taumelte umher, ohne eine klare Vorstellung zu haben, wo er sich befand, suchte nur zu entkommen. Seine Füße verloren ihren Halt. Er stolperte über den Saum seiner schwarzen Roben und fiel auf die Knie. Ein Gegenstand sprang aus einer Tasche seiner Roben und rollte über den Steinboden. Als Raistlin ihn sah, schrie er vor Angst und Zorn auf. Ein weiteres Zeichen seines Versagens – die Kugel der Drachen, zersplittert, verdunkelt, nutzlos. Hastig griff er nach ihr, aber sie sprang wie eine Murmel über den Fußboden, wich seinem Griff aus. Verzweifelt kroch er ihr nach, und schließlich blieb sie liegen. Mit einem wütenden Fauchen wollte Raistlin sie ergreifen, als er innehielt. Er hob den Kopf, erkannte, wo er war, und schrak zitternd zurück.
Vor ihm ragte das Große Portal auf. Es sah genauso aus wie im Turm der Erzmagier in Palanthas. Auf einem erhöhten Podest war eine riesige, ovale Tür, bewacht von den Köpfen der fünf Drachen. Im Turm von Palanthas war die Tür zum Portal verschlossen. Sie war nur von der anderen Seite zu öffnen gewesen, wenn man aus der Hölle kam – ein Ausgang aus einem Ort, den keiner jemals verließ. Diese Tür war ebenfalls verschlossen, aber sie konnte von zwei Personen geöffnet werden – von einem weißgekleideten Kleriker unendlicher Güte und einem schwarzgekleideten Erzmagier unendlicher Bösartigkeit. Mit dieser unwahrscheinlichen Kombination hatten die großen Zauberer gehofft, den schrecklichen Eingang zu einer unsterblichen Ebene auf ewig zu versiegeln. Ein gewöhnlicher Sterblicher, der auf das Portal blickte, konnte lediglich eisige Dunkelheit sehen. Aber Raistlin war nicht mehr gewöhnlich. Je näher er seiner Göttin kam und seine Energien auf dieses eine Ziel konzentrierte, desto intensiver schwebte er in einem Zustand zwischen diesen zwei Welten. Als er auf die geschlossene Tür starrte, konnte er diese Dunkelheit fast durchdringen! Sie schwankte in seinem Sichtfeld. Er löste seinen Blick von ihr und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Kugel der Drachen. Wie ist sie mir entwichen? fragte er sich wütend. Er bewahrte die Kugel in einem Beutel, der tief verborgen in einer Geheimtasche seiner Roben lag. Aber dann grinste er höhnisch, denn er wußte die Antwort. Jede Kugel der Drachen war mit einer starken Gabe der Selbsterhaltung ausgestattet. Die Kugel war in Istar der Umwälzung entgan-
gen, indem sie den Elfenkönig Lorac verführte, sie zu stehlen und nach Silvanesti zu bringen. Als die Kugel für den verrückten Lorac keine Verwendung mehr hatte, hatte sie sich Raistlin angeschlossen. Sie hatte Raistlins Leben erhalten, als er in Astinus’ Bibliothek im Sterben lag. Sie hatte mit Fistandantilus ein Komplott geschmiedet, um den jungen Mann zur Königin der Finsternis zu bringen. Jetzt spürte sie die größte Gefahr und versuchte ihm zu entkommen. Er würde das nicht zulassen! Seine Hand streckte sich ihr entgegen und schloß sich um sie. Etwas kreischte auf… Das Portal öffnete sich. Raistlin sah auf. Es hatte sich nicht geöffnet, um ihm Eintritt zu verschaffen. Nein, sie hatte sich geöffnet, um ihn zu warnen, ihm die Strafe für ein mögliches Versagen zu zeigen. Kniend, die Kugel an seine Brust drückend, spürte Raistlin die Gegenwart und die Hoheit von Takhisis, der Königin der Finsternis. Voll Ehrfurcht kniete er zitternd vor den Füßen der Dunklen Königin. »Das ist dein Untergang!« Ihre Worte zischten in seinem Geist. »Du wirst das gleiche Schicksal wie deine Mutter erleiden. Verzehrt von deiner Magie, wirst du für alle Ewigkeit im Zauber gefangen sein, ohne jemals den süßen Trost des Todes zu genießen, ohne dein Leiden beenden zu können.« Raistlin brach zusammen. Er fühlte seinen Körper schrumpfen – so wie er den Körper von Fistandantilus bei der Berührung des Blutsteins hatte schrumpfen sehen. Sein Kopf lag auf dem Steinboden, so wie er in seinen
Alpträumen auf dem Richtblock des Scharfrichters gelegen hatte. Raistlin wollte seine Niederlage zugeben… Aber in ihm steckte eine unerschütterliche Stärke. Vor langer Zeit hatten die Götter Par-Salian, dem Oberhaupt des Ordens der Weißen Roben, eine Aufgabe erteilt. Sie benötigten einen Zauberkundigen, der stark genug war, um die zunehmende Bosheit der Königin der Finsternis besiegen zu helfen. Par-Salian hatte lange gesucht und schließlich Raistlin ausgewählt, denn er hatte in dem jungen Magier diese unerschütterliche Stärke gesehen. Sie war wie eine kalte, formlose Eisenmasse gewesen, als Raistlin jung war. Aber Par-Salian hatte gehofft, daß das glühendheiße Feuer des Leidens, des Schmerzes, des Krieges und des Ehrgeizes diese Masse in erstklassig geschmiedeten Stahl verwandeln werde. Raistlin hob den Kopf von dem kalten Steinboden. Die Hitze des Zornes der Königin umgab ihn. Schweiß strömte aus seinem Körper. Er konnte nicht atmen, als das Feuer seine Lungen durchglühte. Sie folterte ihn, verhöhnte ihn mit seinen eigenen Worten, seinen eigenen Visionen. Sie lachte über ihn, so wie viele über ihn zuvor gelacht hatten. Und dennoch, während sein Körper vor einer Angst zitterte, wie er sie niemals erlebt hatte, begann Raistlins Seele zu frohlocken. Verwirrt versuchte er diese Reaktion zu begreifen. Er versuchte, die Herrschaft über sich selbst wiederzuerlangen, und nach einer Anstrengung, die ihn schwach und benommen zurückließ, verbannte er die schallende Stimme seiner Mutter aus seinen Ohren. Er schloß seine Augen vor dem höhnischen Lächeln seiner Königin. Dunkelheit hüllte ihn ein, und er sah in dieser kühlen,
süßen Dunkelheit die Angst seiner Königin. Sie hatte Angst… Angst vor ihm! Langsam erhob sich Raistlin. Heiße Winde wehten aus dem Portal und bauschten seine schwarzen Roben auf, bis er von Donnerwolken umgeben zu sein schien. Er hatte jetzt einen ungehinderten Einblick in das Portal. Seine Augen verengten sich. Er musterte die angsterregende Tür mit einem grimmigen, verzerrten Lächeln. Dann hob er die Hand und schleuderte die Kugel der Drachen in das Portal. Die Kugel schlug gegen eine unsichtbare Mauer und zerbrach. Ein fast unmerklicher Schrei ertönte. Dunkle Flügel flatterten um den Kopf des Magiers, und mit einem Klagelaut lösten sie sich in Rauch auf. Kraft strömte durch Raistlins Körper, eine Kraft, wie er sie niemals gekannt hatte. Die Kenntnis der Schwäche seines Feindes wirkte auf ihn wie berauschender Alkohol. Er spürte die Magie aus seinem Geist in sein Herz und von dort in seine Adern fließen. Die in Jahrhunderten des Lernens angesammelte Macht gehörte ihm – ihm und Fistandantilus! Und dann hörte er den klaren Trompetenruf; seine Melodie war so kalt wie die Luft um die schneebedeckten Gipfel der entfernten Zwergenheimat. Rein und schneidend hallte der Trompetenruf in seinem Geist wider, vertrieb die ablenkenden Stimmen, rief ihn in die Dunkelheit, verlieh ihm die Macht über den Tod. Raistlin hielt inne. Er hatte nicht beabsichtigt, das Portal so schnell zu durchschreiten. Er hätte gern noch ein wenig Zeit gehabt. Die Ankunft des Kenders bedeutete, daß die Zeit verändert werden konnte. Der Tod des Gnoms stellte sicher, daß von dem magischen Gerät keine Störung aus-
gehen würde – die Störung, die den Tod von Fistandantilus herbeigeführt hatte. Die Zeit war gekommen. Raistlin schenkte dem Portal einen letzten sehnsüchtigen Blick. Dann verbeugte er sich vor seiner Königin, wandte sich um und schritt zielstrebig den Korridor entlang. Crysania kniete in ihrem Zimmer und betete. Sie hatte wieder ins Bett gehen wollen, als sie von dem Kender zurückgekehrt war, aber eine seltsame Vorahnung erfüllte sie. Der Schlaf wollte nicht kommen. Sie war munter, hellwach, wie sie es noch nie in ihrem ganzen Leben gewesen war. Der Himmel war hell erleuchtet – das kalte Feuer der Sterne brannte in der Dunkelheit; der silberne Mond Solinari glänzte wie ein Dolch. Sie konnte jeden Gegenstand in ihrem Zimmer mit unheimlicher Deutlichkeit erkennen. Alles schien sie zu beobachten, mit ihr zu warten. Wie versteinert starrte sie auf die Sterne. Ihre Finger, die auf dem Stein ruhten, wurden eiskalt. Sie nahm ihr Zittern wahr und drehte sich um, sagte sich, daß es Zeit zum Schlafengehen sei. Aber in der Nacht herrschte immer noch dieses atemlose Warten. Und dann hörte sie die Trompete. Rein und schneidend drang die Melodie in ihr Herz, sang ein Lob des Sieges, das ihr Blut in Wallung versetzte. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür ihres Zimmers. Sie war nicht überrascht. Es war, als hätte sie seine Ankunft erwartet, und sie drehte sich um, um ihm ins Gesicht zu blicken. Raistlin stand in der Tür. Sie hielt den Atem an. Sie hatte ihn in der Ekstase seiner Magie erlebt, sie hatte ihn Niederlage und Tod bekämpfen
sehen. Jetzt sah sie ihn in der Fülle seiner Kraft, in der Herrlichkeit seiner finsteren Macht. Uralte Weisheit war in seinem Gesicht scharf herausgearbeitet. »Die Zeit ist gekommen, Crysania«, sagte er und streckte ihr die Hände entgegen. Sie ergriff sie. Ihre Finger waren eiskalt, seine Berührung brannte in ihr Fleisch. »Ich habe Angst«, flüsterte sie. Er zog sie an sich. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er. »Dein Gott ist bei dir. Ich sehe ihn deutlich. Es ist meine Göttin, die Angst hat, Crysania. Ich spüre ihre Furcht! Wir beide, du und ich, werden die Grenzen der Zeit überschreiten und das Reich des Todes betreten. Gemeinsam werden wir die Dunkelheit bekämpfen. Gemeinsam werden wir Takhisis auf die Knie zwingen!« Er hielt sie an seine Brust gedrückt, seine Arme umfingen sie. Seine Lippen schlossen sich über den ihren. Crysania ließ das magische Feuer, das die Körper der Toten verzehrte, ihren Körper verzehren, das kalte, ängstliche, weißgekleidete Gefäß, in dem sie sich in all den Jahren versteckt hatte. Er wich zurück, fuhr mit der Hand über ihren Mund, hob ihr Kinn, so daß sie in seine Augen sehen konnte. Und dort, gespiegelt von seiner Seele, sah sie sich in einer flammenden Aura strahlenden, reinen weißen Lichtes glühen. Sie sah sich wunderschön, geliebt, verehrt. Sie sah sich die Wahrheit und die Gerechtigkeit in die Welt bringen, jedes Leid, jede Angst und jede Verzweiflung verbannen. »Gepriesen sei Paladin«, flüsterte sie. »Gepriesen sei er«, erwiderte Raistlin. »Ich werde dir noch einen Zauber geben. So wie ich dich im Eichenwald von Shoikan beschützt habe, so sollst du beschützt sein,
wenn wir durch das Portal gehen.« Sie erbebte. Er preßte die Lippen auf ihre Stirn. Schmerz schoß durch ihren Körper. Sie zuckte zusammen, schrie aber nicht auf. Er lächelte sie an. »Komm.«
»Die Nachschubwagen?« fragte Caramon in ruhigem Ton, dem Ton einer Person, die die Antwort bereits kennt. »Keine Nachricht, Herr«, erwiderte Garik. Er vermied Caramons gelassenen Blick. »Aber… aber wir erwarten sie…« »Sie werden nicht kommen. Sie wurden überfallen. Das weißt du genau.« Caramon lächelte müde. »Aber wir haben endlich Wasser gefunden«, berichtete Garik und strengte sich an, fröhlich zu klingen. Er zog einen kleinen Kreis um eine winzige grüne Stelle auf der Karte, die vor ihm auf dem Tisch lag. Caramon schnaubte. »Ein Loch, das bis Mittag leer sein wird. Sicher, es wird sich über Nacht wieder auffüllen, aber mein eigener Schweiß schmeckt besser. Dieses verdammte Zeug muß mit Salz versetzt worden sein.« »Es ist aber trinkbar. Wir haben natürlich Wachen aufgestellt.«
»Nun gut«, sagte Caramon und fuhr sich seufzend durch sein lockiges Haar. Es war heiß in dem Zimmer. Ein übereifriger Diener hatte Holz in den Kamin geworfen, bevor Caramon, der an das Leben im Freien gewohnt war, ihn aufhalten konnte. Der große Mann hatte ein Fenster geöffnet, um die frische, klare Luft hereinzulassen, aber das Feuer in seinem Rücken briet ihn trotzdem ganz schön. »Wie viele Fahnenflüchtige haben wir heute?« Garik räusperte sich. »Ungefähr hundert, Herr«, sagte er. »Wohin sind sie? Nach Pax Tarkas?« »Ja, Herr. Das vermuten wir.« »Was gibt es noch?« fragte Caramon grimmig; seine Augen musterten Gariks Gesicht. »Du hältst doch irgend etwas zurück.« Der junge Ritter wünschte sich flüchtig, daß gewisse Lügen nicht gegen den Ehrenkodex, den er heilig hielt, verstießen. So wie er sein Leben opfern würde, um diesem Mann Schmerz zu ersparen, so würde er auch lügen. Er zögerte, aber als er zu Caramon aufsah, erkannte er, daß es nicht notwendig war. Der General wußte es bereits. Caramon nickte langsam. »Die Barbaren?« Garik sah auf die Karten. »Alle?« »Ja, Herr.« Caramon schloß die Augen. Seufzend hob er eine der kleinen Holzfiguren auf, die auf der Karte plaziert waren und die Aufstellung seiner Soldaten darstellten. Nachdenklich drehte er sie in seinen Fingern. Dann wandte er sich mit einem bitteren Fluch um und schleuderte die Figur ins Feuer. »Ich kann Schattennacht wohl nicht die Schuld geben. Es wird für ihn und seine Männer jetzt nicht einfach
sein. Die Bergzwerge halten zweifellos die Bergpässe hinter uns besetzt – darum sind unsere Nachschubwagen auch nicht angekommen. Er muß sich seinen Weg nach Hause erkämpfen. Mögen die Götter bei ihm sein.« Er schwieg kurz, dann ballte er die Fäuste zusammen. »Verflucht sei mein Bruder!« knurrte er. »Verflucht sei er!« Gariks Blick flog durch das Zimmer, als ob er befürchtete, daß sich die schwarzgekleidete Gestalt aus dem Schatten materialisierte. »Nun«, sagte Caramon, richtete sich auf und studierte wieder die Karte, »das bringt uns auch nicht weiter. Unsere einzige Hoffnung liegt darin, daß wir den Rest unserer Armee in der Ebene aufstellen. Wir müssen die Zwerge zum Rückzug bewegen, sie zwingen, im Freien zu kämpfen, damit wir unsere Kavallerie einsetzen können. Wir werden niemals ins Gebirge kommen«, fügte er hinzu, »aber zumindest können wir uns mit der Hoffnung zurückziehen, Pax Tarkas mit unseren noch intakten Streitkräften zurückzugewinnen. Wenn wir erst einmal da sind, können wir es befestigen und…« »General!« Einer der Wächter an der Tür betrat das Zimmer. »Entschuldige, Herr, aber ein Bote ist angekommen.« »Schick ihn herein.« Ein junger Mann betrat das Zimmer. Staubbedeckt, die Wangen rot von der Kälte, warf er dem lodernden Feuer einen sehnsüchtigen Blick zu, wollte aber zuerst seine Botschaft überbringen. »Nein, geh weiter, wärm dich«, sagte Caramon und winkte den Mann zum Kamin hinüber. »Danke, Herr«, sagte der Mann. Er trat zum Feuer. »Ich
habe zu melden, daß die Hügelzwerge aufgebrochen sind.« »Aufgebrochen?« wiederholte Caramon verblüfft und erhob sich. »Aufgebrochen wohin?« »Sie marschieren auf Thorbadin zu.« Der Bote zögerte. »Und, Herr, die Ritter sind mit ihnen gegangen.« »Das ist Wahnsinn!« Caramons Faust schlug auf den Tisch. »Mein Bruder.« »Nein, Herr. Es waren offensichtlich die Dewaren. Ich wurde angewiesen, dir das zu geben.« Er zog eine Schriftrolle aus seinem Beutel und überreichte sie Caramon, der sie schnell öffnete.»General Caramon, ich habe von den Dewarenspionen erfahren, daß sich die Tore zum Gebirge öffnen werden, sobald die Trompete ertönt. Wir planen, ihnen ein Schnippchen zu schlagen. Da wir uns in der Morgendämmerung auf den Weg gemacht haben, werden wir dort bei Einbruch der Nacht eintreffen. Es tut mir leid, daß keine Zeit mehr blieb, dich zu informieren. Doch sei versichert, du wirst den Anteil der Beute erhalten, der dir zusteht, auch wenn du zu spät kommst. Das Licht von Reorx möge auf deinen Äxten scheinen. Regar Feuerschmied«Caramons Gedanken wanderten zurück zu dem blutverschmierten Fetzen Pergament, den er vor nicht langer Zeit in der Hand gehalten hatte. Der Zauberer hat dich verraten… »Dewaren!« knurrte Caramon. »Dewarenspione. Spione ja, aber nicht für uns!« »Eine Falle!« sagte Garik, der sich ebenfalls erhob. »Und wir sind hineingefallen wie ein Haufen verdammter Hasen«, murmelte Caramon, der an einen anderen Hasen in einer Falle dachte; er sah vor seinem geistigen Auge seinen Bruder, der ihn befreit hatte. »Pax Tarkas fällt. Kein
großer Verlust. Es kann jederzeit zurückerobert werden – insbesondere wenn die Verteidiger tot sind. Unsere Leute desertieren in Scharen, die Barbaren verschwinden. Und jetzt marschieren die Hügelzwerge auf Thorbadin zu, und die Dewaren marschieren mit ihnen. Und wenn die Trompete ertönt…« Der klare Trompetenruf erscholl. Caramon zuckte zusammen. Hörte er ihn wirklich, oder war es ein Traum, getragen von den Flügeln einer schrecklichen Vision? Er konnte die Dewaren sehen, die sich langsam, kaum merklich zwischen den Hügelzwergen ausbreiteten, ihre Reihen infiltrierten. Die Hand glitt zur Axt, zum Hammer… Die meisten von Regars Männern würden niemals erfahren, was sie getroffen hatte, würden niemals eine Chance haben zurückzuschlagen. Caramon konnte die Rufe hören, das Zusammenprallen von Waffen und das barsche Schreien tiefer Stimmen. Es war wirklich, so unglaublich wirklich… In seine Vision verloren, wurde Caramon sich nur schwach der plötzlichen Blässe in Gariks Gesicht bewußt. Sein Schwert ziehend, sprang der junge Ritter mit einem Aufschrei zur Tür, der Caramon wieder in die Wirklichkeit zurückriß. Er wirbelte herum und sah außerhalb der Tür eine schwarze Flut von Dunkelzwergen vorwärtsdrängen. Stahl blitzte auf. »Ein Hinterhalt!« schrie Garik. »Zurück!« donnerte Caramon. »Geh nicht hinaus! Die Ritter sind verschwunden – wir sind die einzigen hier! Bleib im Zimmer. Verriegle die Tür!« Er zog den Ritter zurück. »Zieht euch zurück!« schrie er den zwei Wächtern zu, die vor der Tür um ihr Leben kämpften. Er ergriff den Arm eines Wächters, zog den Mann in das Zimmer und ließ
gleichzeitig sein Schwert auf den Kopf eines angreifenden Dewars niedersausen. Der Helm des Zwergs zerbrach. Blut spritzte über Caramon, aber er beachtete es nicht. Er warf sich auf die Horde der Dunkelzwerge, die den Korridor füllte, und tötete mit seinem Schwert eine ganze Reihe von ihnen. »Zurück, du Narr!« schrie er über seine Schulter dem zweiten Wächter zu, der kurz zögerte und dann seinem Befehl nachkam. Caramons wilder Angriff brachte die Dewaren aus dem Gleichgewicht – sie taumelten angesichts seiner Kampfeswut zurück. Aber ihre Verwirrung hielt nur kurz an. Caramon konnte sehen, daß sie ihren Verstand und ihren Mut wiedergewannen. »General, paß auf!« schrie Garik, der mit seinem Schwert in der Tür stand. Caramon drehte sich um und wich in die Sicherheit des Kartenraums zurück. Aber sein Fuß glitt auf den blutverschmierten Steinen aus, und der große Mann stürzte und verstauchte sich das Knie. Mit wildem Geheul sprangen die Dewaren auf ihn zu. »Caramon!« Verzweifelt griff Garik an. Ein Hammerschlag zerschmetterte seinen linken Arm, und er hörte den Knochen brechen. Seine Hand wurde merkwürdig schlaff. Nun, dachte er, den Schmerz nicht wahrnehmend, zumindest war das nicht mein Schwertarm. Seine Klinge blitzte, ein Dunkelzwerg stürzte ohne Kopf zu Boden. Obgleich er nicht stehen konnte, kämpfte Caramon immer noch. Ein Tritt seines unverletzten Beines ließ zwei Zwerge nach hinten taumeln und mit ihren Kumpanen zusammenprallen. Dann rammte er die Klinge in den Bauch eines anderen. Gariks Angriff rettete sekundenlang sein Leben, aber es schien wirklich nur eine Sekunde zu sein.
»Caramon! Feind über dir!« kreischte Garik, der wild um sich schlug. Caramon wälzte sich auf den Rücken und erblickte Argat, der mit erhobener Axt über ihm stand. Caramon hob sein Schwert, aber in diesem Moment sprangen vier Dunkelzwerge auf ihn zu und hielten ihn am Boden fest. Vor Zorn fast weinend, versuchte Garik verzweifelt, Caramon zu retten. Aber zu viele Zwerge waren zwischen ihm und seinem General. Die Axt des Dewars fiel bereits… Die Axt fiel, aber sie fiel aus kraftlosen Händen. Argat riß die Augen weit auf. Seine Axt fiel klirrend auf den blutdurchnäßten Boden, als er über Caramon stürzte. Garik sah ein kleines Messer aus dem Nacken des Zwergs ragen. Neben der Leiche des Verräters erhob sich ein Kender. Garik blinzelte; er dachte, daß er Phantome sehe. Aber es blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Dem jungen Ritter war es endlich gelungen, seinen General zu erreichen. Hinter sich hörte er die Wächter schreien und die Dewaren zurücktreiben, die angesichts ihres gefallenen Anführers ihre Begeisterung für einen Kampf verloren hatten, der eigentlich ein einfaches Abschlachten hätte sein sollen. Die vier Zwerge, die Caramon festgehalten hatten, stolperten eilig zurück, als er sich unter Argat hervorarbeitete. Garik half Caramon auf die Füße. Der große Mann taumelte und stöhnte, als sein verletztes Knie unter seinem Gewicht nachgab. »Helft uns!« schrie Garik unnötigerweise den Wachen zu, die bereits an seiner Seite standen. Halb tragend brachten sie Caramon in den Kartenraum. Garik warf einen schnellen Blick in den Korridor, bevor er ihnen folgte. Die Dunkelzwerge beäugten ihn unsicher.
Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf andere, hinter ihnen stehende Zwerge – Bergzwerge, stellte er fest. Und dort lag auch der seltsame Kender, der offenbar aus dem Nichts aufgetaucht war, um Caramons Leben zu retten. Der Kender war leichenblaß. Garik half ihm auf die Füße und brachte ihn ebenfalls in den Kartenraum. Sobald er drinnen war, verriegelten die Wächter die Tür. Caramons Gesicht war mit Blut und Schweiß bedeckt, aber er grinste Garik an. Dann wurde sein Blick streng. »Du törichter Ritter«, knurrte er. »Ich habe dir einen Befehl erteilt, und du hast nicht gehorcht! Ich sollte…« Aber er verstummte, als der Kender den Kopf hob. »Tolpan!« flüsterte Caramon. »Hallo, Caramon«, grüßte Tolpan. »Ich bin furchtbar erfreut, dich wiederzusehen. Ich habe dir eine Menge zu erzählen, und es ist sehr wichtig. Ich sollte es dir sofort erzählen, aber ich glaube… ich werde ohnmächtig.« »So war das also«, schloß Tolpan. »Er hat mich angelogen, wie das magische Gerät funktioniert. Als ich es versuchte, ist es in meinen Händen auseinandergebrochen. Ich habe das feurige Gebirge fallen sehen«, fügte er hinzu, »und das war den ganzen Ärger fast wert. Es wäre sogar das Sterben wert gewesen. Aber da bin ich mir nicht so sicher, denn ich bin ja nicht gestorben, obgleich ich eine Weile überzeugt war, tot zu sein. Dennoch wäre es sicherlich nicht wert, daß man dafür das Leben nach dem Tod in der Hölle verbrächte, die wirklich kein netter Ort ist. Ich kann mir nicht vorstellen, warum er dorthin will.« Er seufzte. »Nun, ich könnte ihm das noch vergeben, aber nicht, was er mit dem armen Gnimsch getan und was er versucht hat, dir anzutun…« Er biß sich auf die Zunge. Er hatte nicht
beabsichtigt, das zu sagen. Caramon sah ihn an. »Fahr fort, Tolpan«, sagte er. »Was hat er versucht, mir anzutun?« Caramon lächelte bitter. »Ich glaube eigentlich nicht, daß noch etwas übrig ist, was er mir antun könnte.« »Dich töten lassen«, murmelte Tolpan. »Ach ja.« Caramons Ausdruck veränderte sich nicht. »Natürlich. Das ist also die Bedeutung der Zwergenbotschaft.« »Er hat dich… dich den Dewaren überlassen«, erklärte Tolpan jämmerlich. »Sie wollten König Dunkan deinen Kopf bringen. Raistlin hat alle Ritter im Schloß weggeschickt. Er hat ihnen gesagt, daß du sie nach Thorbadin beordert habest. Zu den Dewaren sagte er, du habest hier nur deine Leibwächter.« Caramon schwieg. Er fühlte nichts – weder Schmerz noch Zorn oder Überraschung. Er war leer. Dann strömte eine gigantische Welle der Sehnsucht nach seinem Zuhause, nach Tika, nach seinen Freunden, nach Tanis, nach Laurana, nach Flußwind und Goldmond über ihn herein und füllte die riesige Leere. Als ob Tolpan Caramons Gedanken gelesen hätte, legte er seinen Kopf an Caramons Schulter. »Können wir jetzt in unsere Zeit zurückkehren?« fragte er und sah zu Caramon auf. »Ich bin schrecklich müde. Sag mal, glaubst du, ich könnte einige Zeit bei dir und Tika bleiben? Nur so lange, bis es mir besser geht. Ich würde euch nicht zur Last fallen – ich verspreche es…« Caramon legte den Arm um den Kender und drückte ihn an sich. »Solange du möchtest, Tolpan«, sagte er. Traurig lächelnd starrte er in die Flammen. »Ich werde das Haus
fertigstellen. Es wird nur ein paar Monate dauern. Dann werden wir Tanis und Laurana besuchen. Das habe ich Tika versprochen. Ich habe es ihr vor langer Zeit versprochen, aber ich bin nie dazu gekommen. Tika wollte immer schon Palanthas sehen, weißt du. Und vielleicht könnten wir alle Sturms Grab besuchen. Ich hatte niemals eine Gelegenheit, mich von ihm zu verabschieden.« »Und wir können Elistan besuchen und… Crysania! Ich habe versucht, ihr von Raistlin zu erzählen, aber sie hat mir nicht geglaubt. Wir können sie nicht zurücklassen!« Tolpan sprang auf die Füße und rang verzweifelt die Hände. »Wir können nicht zulassen, daß er sie an diesen entsetzlichen Ort bringt!« Caramon schüttelte den Kopf. »Wir werden versuchen, noch einmal mit ihr zu reden, Tolpan. Ich glaube nicht, daß sie zuhört, aber wir können es zumindest versuchen.« Er stemmte sich hoch. »Sie werden jetzt am Portal sein. Raistlin kann nicht länger warten. Die Festung wird den Bergzwergen bald in die Hände fallen. – Garik«, sagte er und hinkte zu dem Ritter. »Wie geht es dir?« Einer der anderen Ritter hatte Gariks gebrochenen Arm gerichtet. »Mir geht es gut, Herr«, antwortete Garik schwach. »Mach dir keine Sorgen.« Lächelnd zog Caramon einen Stuhl zu ihm heran. »Kannst du reisen?« »Natürlich, Herr.« »Gut. Es bleibt dir auch keine andere Wahl. Dieser Ort wird bald eingenommen sein. Ihr müßt versuchen, hier herauszukommen.« Caramon rieb sich das Kinn. »Regar hat mir erzählt, daß unter den Ebenen Tunnel verlaufen, Tun-
nel, die von Pax Tarkas nach Thorbadin führen. Mein Rat ist, sie zu suchen. Es sollte nicht schwierig sein, sie zu finden. Diese Erdwälle draußen führen zu ihnen hinab. Ihr solltet die Tunnel auf alle Fälle benutzen, um sicher herauszukommen.« Garik sagte ruhig: »Du sagst ›mein Rat‹, Herr. Was ist mit dir? Kommst du nicht mit uns?« Caramon räusperte sich und wollte antworten, aber er brachte keinen Ton heraus. Er starrte auf seine Füße. Vor diesem Augenblick hatte er sich gefürchtet, und jetzt, da es soweit war, war die Rede, die er sorgfältig vorbereitet hatte, geradezu aus seinem Kopf geblasen. »Nein, Garik«, sagte er schließlich. »Ich komme nicht mit. Ich bin geschlagen, aber der Kender und ich haben einen magischen Weg nach Hause.« Garik sah von einem zum anderen. »Doch nicht dein Bruder!« sagte er und runzelte düster die Stirn. »Nein«, antwortete Caramon, »nicht mein Bruder. Hier trennen sich seine und meine Wege. Er hat sein eigenes Leben zu leben, und ich – endlich erkenne ich es – habe mein Leben.« Er legte die Hand auf Gariks Schulter. »Geh nach Pax Tarkas. Michael und du solltet alles unternehmen, was in eurer Macht liegt, um den Leuten dort zu helfen.« »Aber…« »Das ist ein Befehl, Herr Ritter«, unterbrach ihn Caramon barsch. »Ja, Herr.« Garik wandte sein Gesicht ab, seine Hand strich schnell über seine Augen. »Paladin sei mit dir, Garik«, sagte Caramon und umarmte Garik. Er blickte auch die anderen an. »Möge er mit euch allen sein.«
Garik sah erstaunt zu ihm hoch. »Paladin?« fragte er bitter. »Der Gott, der uns verlassen hat?« »Verlier deinen Glauben nicht, Garik«, mahnte Caramon und erhob sich mit einer schmerzlichen Grimasse. »Wenn du an diesen Gott nicht glauben kannst, lege dein Vertrauen in dein Herz. Höre auf die Stimme, die sich über den Ehrbegriff erhebt.« »Ja, Herr«, murmelte Garik. »Und mögen die Götter, an die du glaubst, bei dir sein.« »Ich glaube, sie sind es schon mein ganzes Leben lang«, sagte Caramon und lächelte trübselig. »Ich war einfach zu dickköpfig, um sie zu hören. Aber jetzt solltet ihr lieber verschwinden.« Er verabschiedete sich einzeln von den anderen jungen Rittern. Vorsichtig öffneten die Ritter die Tür und spähten in den Korridor. Abgesehen von den Leichen war er leer. Die Dewaren waren verschwunden. Aber Caramon hatte keinen Zweifel, daß diese Stille nur so lange anhalten würde, bis sie sich wieder formiert hatten. Vielleicht warteten sie auf Verstärkung. Als die Ritter verschwunden waren, gingen Tolpan und Caramon in die andere Richtung. Zuvor zog Tolpan sein Messer aus Argats Leiche. »Du hast einmal gesagt, mit diesem Messer könnte man höchstens Hasen töten«, sagte Tolpan stolz und wischte das Blut von der Klinge des Messers, bevor er es in seinen Gürtel steckte. »Erwähne nie mehr Hasen«, sagte Caramon mit so merkwürdiger Stimme, daß Tolpan ganz verwundert war.
Das war sein Augenblick. Der Augenblick, für den er geboren war. Der Augenblick, für den er sein ganzes Leben lang Schmerz, Erniedrigung und Qualen erduldet hatte. Der Augenblick, für den er studiert, gekämpft, geopfert und getötet hatte. Er genoß ihn, ließ die Kraft über und durch sich fließen, ließ sich von ihr umgeben und emporheben. Nichts auf dieser Welt existierte für ihn in diesem Augenblick – außer dem Portal und der Magie. Aber auch während er diesen Augenblick genoß und frohlockte, war sein Geist aufmerksam auf seine Arbeit gerichtet. Seine Augen musterten das Portal und studierten jede Einzelheit – obwohl das eigentlich unnötig war. Er hatte es unzählige Male in Träumen sowie im Wachzustand gesehen. Die Zaubersprüche zum Öffnen waren simpel. Die fünf Drachenköpfe, die das Portal bewachten, mußten hintereinander mit dem richtigen Satz besänftigt werden. Aber wenn das vollbracht war und die weißgekleidete Kle-
rikerin Paladin ermahnt hatte, Fürbitte einzulegen und das Portal offen zu halten, würden sie eintreten können. Es würde sich hinter ihnen schließen, und er würde seiner größten Herausforderung gegenüberstehen. Der Gedanke erregte ihn. Sein schnell schlagendes Herz ließ das Blut in seinen Schläfen pochen. Er blickte Crysania an und nickte ihr zu. Die Zeit war gekommen. Die Klerikerin, deren Augen im Glanz der Ekstase schimmerten, nahm ihren Platz im Portal gegenüber Raistlin ein. Dieser Schritt machte unerschütterliches Vertrauen auf ihn erforderlich. Denn eine falsch gesprochene Silbe, ein zu unpassender Zeit geschöpfter Atem, das leichteste Entgleiten der Zunge oder eine geringfügige Handbewegung würde sich für beide als tödlich erweisen. Crysania trat in das Portal und lächelte Raistlin an, den sie zum letzten Mal auf dieser Welt sehen sollte. Er lächelte zurück, während sich gleichzeitig die Worte des ersten Zaubers in seinem Geist bildeten. Crysania hob die Arme. Ihre Augen starrten jetzt über Raistlin hinweg, in die herrlichen, wunderschönen Reiche, in denen ihr Gott lebte. Sie hatte die letzten Worte des Königspriesters gehört, sie wußte, welchen Fehler er begangen hatte – den Fehler des Stolzes, von den Göttern zu verlangen, was er in Demut hätte erbitten sollen. In jenem Augenblick war Crysania klar geworden, warum die Götter die Verwüstung der Welt herbeigeführt hatten. Und sie hatte in ihrem Herzen gewußt, daß Paladin ihre Gebete erhören würde, so wie er die des Königspriesters nicht erhört hatte. Dies war Raistlins Augenblick der
Erhabenheit, und gleichsam war es ihr eigener. Wie der heilige Ritter Huma war sie durch ihre Prüfungen gegangen, die Prüfungen des Feuers, der Dunkelheit, des Todes und des Blutes. Sie war bereit. »Paladin, Platindrache, deine treue Dienerin kommt zu dir und bittet, daß du deinen Segen auf sie wirfst. Ihre Augen sind deinem Licht geöffnet. Zuletzt hat sie verstanden, was du in deiner Weisheit versucht hast sie zu lehren. Höre ihr Gebet, Strahlender. Sei bei ihr. Öffne dieses Portal, damit sie es durchschreiten und mit deiner Fackel in der Hand vorwärtsgehen kann. Gehe mit ihr, während sie darum ringt, die Dunkelheit für alle Ewigkeit zu bannen!« Raistlin hielt den Atem an. Alles hing davon ab! Hatte er sie richtig eingeschätzt? Verfügte sie über die Stärke, die Weisheit, den Glauben? War sie wirklich Paladins Auserwählte? Ein reines und heiliges Licht begann von Crysania auszugehen. Ihr dunkles Haar leuchtete, ihre weißen Roben glänzten wie Wolken im Sonnenlicht, ihre Augen strahlten wie der silberne Mond. Ihre Schönheit war in diesem Augenblick vollkommen. »Ich danke dir, daß du mein Gebet erhört hast, Gott des Lichtes«, murmelte Crysania und neigte den Kopf. Tränen glänzten wie Sterne auf ihrem blassen Gesicht. »Ich werde mich deiner würdig erweisen!« Von ihrer Schönheit verzaubert, vergaß Raistlin sein großes Ziel. Er konnte sie nur wie in Trance ansehen. Selbst die Gedanken an seine Magie entwichen ihm einen Herzschlag lang. Dann frohlockte er. Nichts! Nichts konnte ihn nun aufhalten… »Caramon!« flüsterte Tolpan ehrfürchtig. »Wir kommen
zu spät«, sagte Caramon. Die zwei waren durch die Verliese auf der untersten Ebene der magischen Festung gegangen und blieben plötzlich stehen. Eingehüllt in silbernes Licht, stand Crysania mitten im Portal, die Arme ausgestreckt, das Gesicht zum Himmel erhoben. Ihre unirdische Schönheit traf Caramon mitten ins Herz. »Zu spät? Nein!« schrie Tolpan. »Das kann nicht sein!« »Tolpan«, sagte Caramon traurig, »sieh dir ihre Augen an. Sie ist blind. Genauso blind, wie ich im Turm der Erzmagier gewesen bin. Sie kann nicht durch das Licht sehen…« »Wir müssen versuchen, mit ihr zu reden, Caramon!« Tolpan klammerte sich an ihn. »Wir dürfen sie nicht gehen lassen. Es… es ist meine Schuld! Ich bin es, der ihr von Bupu erzählt hat! Sie wäre nicht gegangen, wenn ich nicht gewesen wäre! Ich spreche mit ihr!« Der Kender sprang vorwärts, aber er wurde von Caramon zurückgerissen, der ihn am Haarzopf zu fassen bekommen hatte. Tolpan schrie vor Schmerz und Protest auf, und Raistlin drehte sich um. Der Erzmagier starrte seinen Bruder und den Kender einen Augenblick an, anscheinend, ohne sie wiederzuerkennen. Dann dämmerte in seinen Augen das Erkennen. »Pst, Tolpan«, flüsterte Caramon. »Es ist nicht deine Schuld. Bleib ruhig!« Er schob den Kender hinter eine dicke Granitsäule. »Bleib hier«, befahl er. »Paß auf den Anhänger auf – und auf dich.« Tolpan öffnete den Mund, um Einwände zu erheben. Dann sah er Caramon ins Gesicht. Als sein Blick in den Korridor glitt, sah er Raistlin. Etwas beschlich den Kender.
Er hatte das gleiche Gefühl, wie er es in der Hölle erlebt hatte – jämmerlich und verängstigt. »Ja, Caramon«, sagte er leise. »Ich bleibe hier. Ich verspreche es…« Er sah vor seinem geistigen Auge den armen Gnimsch, der wie zerknittert auf dem Zellenboden lag. Caramon wandte sich ab und hinkte auf seinen Bruder zu. Raistlin musterte ihn wachsam; er hielt den Stab des Magus in der Hand. »Du hast also überlebt«, bemerkte er. »Dank den Göttern, nicht dank dir«, erwiderte Caramon. »Dank einer Göttin, mein teurer Bruder«, berichtigte Raistlin mit einem leicht verzerrten Lächeln. »Dank der Königin der Finsternis. Sie hat den Kender hierher geschickt, und er hat vermutlich die Zeit verändert, so daß dein Leben verschont blieb. Ärgert es dich, Caramon, zu wissen, daß du der Dunklen Königin dein Leben verdankst?« »Ärgert es dich zu wissen, daß du ihr deine Seele verdankst?« Raistlins Augen blitzten auf, ihre spiegelgleiche Oberfläche zersprang eine Sekunde. Dann drehte er sich mit einem boshaften Lächeln zum Portal um. Er hob die rechte Hand und hielt sie mit der Handfläche nach außen; sein Blick war auf den Drachenkopf rechts unten an dem ovalen Eingang gerichtet. »Schwarzer Drache.« Seine Stimme war sanft, liebkosend. »Von Dunkelheit zu Dunkelheit hallt meine Stimme in der Leere wider.« Als Raistlin diese Worte sprach, begann sich um Crysania eine Aura der Dunkelheit zu bilden, eine Aura, die so schwarz wie das Nachtjuwel war, so schwarz wie das Licht des dunklen Mondes…
Raistlin spürte Caramons Hand auf seinem Arm. Wütend versuchte er, seinen Bruder abzuschütteln, aber Caramons Griff war zu stark. »Bring uns nach Hause, Raistlin…« Raistlin drehte sich um und starrte ihn an; er hatte seinen Zorn vor Verblüffung vergessen. »Was?« »Bring uns nach Hause«, wiederholte Caramon bestimmt. Raistlin lachte verächtlich. »Du bist ein schwacher, wehleidiger Narr, Caramon!« höhnte er. Verärgert versuchte er noch einmal den Griff seines Bruders abzuschütteln. Er hätte genauso gut versuchen können, den Tod abzuschütteln. »Du mußt doch inzwischen wissen, was ich getan habe! Der Kender muß dir doch von dem Gnom erzählt haben. Du weißt, daß ich dich verraten habe. Ich wollte dich an diesem erbärmlichen Ort deinem Tod überlassen. Und immer noch hängst du an mir!« »Ich hänge an dir, weil die Wasser über deinem Kopf zusammenschlagen«, entgegnete Caramon. Sein Blick glitt zu seiner starken, sonnengebräunten Hand, die das magere Handgelenk seines Bruders hielt. »Meine Hand auf deinem Arm. Das ist alles, was wir gemeinsam haben.« Caramon holte tief Atem. Dann fuhr er mit einer Stimme, die von Kummer erfüllt war, fort: »Nichts kann auslöschen, was du getan hast, Raist. Es kann zwischen uns niemals wieder so wie früher sein. Meine Augen wurden geöffnet. Ich erkenne jetzt, wer du bist.« »Und dennoch bittest du mich, mit dir zu kommen!« höhnte Raistlin. »Ich kann lernen, mit dem Wissen zu leben, wer du bist und was du getan hast.« Caramon sah aufmerksam in die Augen seines Bruders und sagte leise: »Aber du wirst allein leben müssen, Raistlin. Und es werden Nächte kommen, in
denen das unerträglich sein wird.« Raistlin antwortete nicht. Sein Gesicht war wie eine Maske, undurchdringlich. Caramons Griff um den Arm seines Bruders festigte sich. »Denk darüber nach. Du hast in deinem Leben Gutes getan, Raistlin – es gibt anderes Gutes, das du tun könntest… Komm nach Hause.« Komm nach Hause… komm nach Hause… Raistlin schloß die Augen, der Schmerz in seinem Herzen war fast unerträglich. Weit entfernt konnte er Crysanias leise Stimme hören, die zu Paladin betete. Das weiße Licht flackerte über seinen Augenlidern. Komm nach Hause… Als Raistlin sprach, war seine Stimme ganz weich. »Die finsteren Verbrechen, die meine Seele beflecken, Bruder, kannst du dir nicht vorstellen. Wenn du sie wüßtest, würdest du dich von mir in Entsetzen und Ekel abwenden.« Er seufzte und zitterte leicht. »Du hast recht. In der Nacht wende ich mich manchmal von mir selbst ab.« Er öffnete die Augen und starrte aufmerksam in die seines Bruders. »Aber wisse, Caramon, ich habe diese Verbrechen bewußt begangen. Wisse auch dies: Es liegen noch andere Verbrechen vor mir, und ich werde sie begehen, bewußt…« Sein Blick glitt zu Crysania, die im Portal stand, betete, in ihrer Schönheit leuchtete. Caramon sah sie an, und sein Gesicht drückte Bitterkeit aus. Raistlin beobachtete ihn; er lächelte. »Ja, mein Bruder, sie wird die Hölle mit mir betreten. Sie wird vor mir gehen und meine Schlachten austragen. Sie wird dunklen Klerikern gegenübertreten, Zauberern, Geistern der Toten, die
verdammt sind, in diesem verfluchten Land herumzuwandern und die unglaublichsten Foltern auf sich nehmen, die sich meine Königin nur ausdenken kann. All dies wird ihren Körper verletzen, ihren Geist verschlingen und ihre Seele zerstören. Schließlich, wenn sie es nicht mehr ertragen kann, wird sie auf den Boden sinken und vor meinen Füßen liegen… blutend, erbärmlich, sterbend. Sie wird mit letzter Kraft ihre Hand nach mir ausstrecken. Sie wird mich nicht bitten, sie zu retten. Dafür ist sie zu stark. Sie wird mir ihr Leben freiwillig, freudig geben. Sie wird lediglich darum bitten, daß ich bei ihr bleibe, wenn sie stirbt.« Er holte tief Atem, dann zuckte er die Schultern. »Aber ich werde an ihr vorbeigehen, Caramon. Ich werde an ihr vorbeigehen, ohne sie eines Blickes zu würdigen, ohne ein Wort zu verlieren. Warum? Weil ich dann keine Verwendung mehr für sie habe. Ich werde weiter auf mein Ziel zugehen, und meine Kraft wird wachsen, noch während das Blut aus ihrem gebrochenen Herzen fließt.« Er wandte sich halb um und hob die linke Hand mit der Handfläche nach außen. Er sah auf den Drachenkopf oben am Portal und sagte leise den zweiten Zauber auf: »Weißer Drache, von dieser Welt zur nächsten ruft meine Stimme voll von Leben.« Caramons Blick richtete sich auf das Portal, dann auf Crysania; er war von Entsetzen und Abscheu erfüllt. Und dennoch hielt er an seinem Bruder fest. Dennoch dachte er daran, ihn ein letztes Mal zu bitten. Dann spürte er, wie der magere Arm in seiner Hand eine scharfe, drehende Bewegung machte. Etwas blitzte auf, eine schnelle Bewegung, und die glänzende Klinge eines silbernen Dolches drückte sich gegen seine Kehle.
»Laß mich los, mein Bruder«, sagte Raistlin. Schnell und sauber schnitt das Messer durch die letzte seelische Verbindung der Zwillinge. Caramon zuckte bei dem plötzlichen, stechenden Schmerz in seinem Herzen leicht zusammen. Aber der Schmerz währte nicht lange. Das Band war durchgetrennt. Caramon ließ den Arm seines Bruders los. Er wandte sich um und wollte zu Tolpan zurückhinken, der sich immer noch hinter der Säule versteckt hielt. »Ein letzter warnender Hinweis, mein Bruder«, sagte Raistlin kalt und steckte den Dolch wieder in den Riemen an seinem Handgelenk. Caramon antwortete nicht, er blieb auch nicht stehen oder drehte sich um. »Sei vorsichtig mit dem magischen Zeitgerät«, fuhr Raistlin fort. »Ihre Dunkle Majestät hat es repariert. Sie war es, die den Kender zurückschickte. Wenn du es benutzt, könntet ihr euch an einem höchst unangenehmen Ort wiederfinden!« »Nein, sie hat es nicht repariert!« schrie Tolpan, der hinter der Säule hervorsprang. »Gnimsch hat es getan! Gnimsch hat es repariert! Gnimsch, mein Freund. Der Gnom, den du umgebracht hast. Ich…« »Dann benutz es, Caramon«, erwiderte Raistlin kühl. »Bring ihn und dich von hier fort! Aber vergiß nicht, daß ich dich gewarnt habe.« Caramon ergriff den zornigen Kender. »Beruhige dich, Tolpan. Es spielt jetzt keine Rolle mehr.« Er drehte sich um, strich besänftigend über Tolpans Haarzopf und sagte: »Komm, Tolpan. Laß uns nach Hause gehen. Leb wohl, mein Bruder.«
Raistlin hörte es nicht. Sein Blick war wieder auf das Portal gerichtet, und er war wieder in seine Magie vertieft. Als er jedoch zum dritten Zauberspruch ansetzte, sah er aus dem Augenwinkel, wie sein Bruder den Anhänger von Tolpan nahm und sich anschickte, ihn in ein magisches Zeitreisegerät zu verwandeln. Laß sie gehen. Die bin ich los, dachte Raistlin. Endlich bin ich von diesem großen Idioten befreit! Er blickte wieder zum Portal und lächelte. Ein kreisförmiges goldenes Licht, wie der Strahl der Sonne auf Schnee, umgab Crysania. Das Gebot des Erzmagiers an den Weißen Drachen war also erhört worden. Raistlin hob die Hand, blickte den Drachenkopf im unteren linken Teil des Portals an und sprach seinen Zauber. »Roter Drache, von Dunkelheit zu Dunkelheit rufe ich: Unter meinen Füßen ist alles fest.« Rote Linien schossen aus Crysanias Körper durch das weiße Licht und durch die schwarze Aura. Rot und brennend wie Blut überbrückten sie die Kluft von Raistlin zum Portal – eine Brücke ins Jenseits. Raistlin hob die Stimme. Er wandte sich zur Rechten und rief den vierten Drachen an. »Blauer Drache. Zeit, die fließt, halte in deinem Lauf an.« Blaue Lichtstrahlen flossen über Crysania. Als ob sie in Wasser glitte, neigte sie den Kopf zurück; ihre Arme blieben ausgestreckt, ihre Roben trieben um sie in den wirbelnden Lichtblitzen, ihr Haar schwamm schwarz auf den Strömungen der Zeit. Raistlin spürte das Portal erbeben. Das magische Feld begann sich zu aktivieren und auf seine Befehle zu reagieren! Seine Seele erzitterte vor Freude, die Crysania mit ihm
teilte. Ihre Augen leuchteten, ihre Lippen teilten sich zu einem Seufzer. Ihre Hände spreizten sich, und sie berührten das Portal, das sich öffnete. Raistlin blieb der Atem in der Kehle stecken. Die Welle der Macht und Ekstase, die durch seinen Körper strömte, erstickte ihn fast. Er konnte jetzt durch das Portal sehen. Er konnte kurze Eindrücke von der dahinter liegenden Ebene erhaschen, die für Sterbliche verboten ist. Von irgendwoher hörte er schwach die Stimme seines Bruders, der das magische Gerät aktivierte: »Deine Zeit gehört dir allein, auch wenn du quer durch sie reist… Ergreife fest den Anfang und das Ende… Das Schicksal wird über deinem Kopf sein…« Nach Hause. Komm nach Hause… Raistlin begann mit dem fünften Zauberspruch. »Grüner Drache, weil durch Schicksalsbestimmung selbst die Götter niedergeschlagen sind, weine du mit mir.« Seine Stimme schnappte über. Irgend etwas stimmte nicht! Das Pulsieren der Magie in seinem Körper verlangsamte sich, wurde träge. Er stotterte die letzten Worte heraus, aber jeder Atemzug war eine Anstrengung. Sein Herz hörte einen Augenblick zu schlagen auf, dann setzte es seine Tätigkeit mit einem Sprung fort. Verwirrt starrte Raistlin auf das Portal. Hatte der letzte Zauber funktioniert? Nein! Das Licht um Crysania begann zu schwanken. Das Feld verschob sich! Verzweifelt schrie Raistlin die Worte des letzten Zaubers noch einmal. Aber er spürte, wie die Magie ihm entglitt. Komm nach Hause… Die Stimme seiner Königin war lachend und höhnend, die Stimme seines Bruders flehend, voller Kummer… Und
dann eine andere Stimme, eine schrille Kenderstimme – jetzt raste sie wie ein blendendes Licht durch sein Gehirn: »Gnimsch hat es repariert… Der Gnom, mein Freund.« Die Worte aus Astinus’ Chronik fielen ihm ein: »Im gleichen Augenblick aktivierte ein Gnom, der von den Zwergen von Thorbadin gefangengehalten wurde, ein Zeitreisegerät… Das Gerät des Gnoms wirkte auf die mächtigen Zaubersprüche, die von Fistandantilus gewebt wurden… Eine Explosion solchen Ausmaßes erfolgte, daß die Ebene von Dergod völlig zerstört wurde…« Raistlin ballte vor Zorn die Fäuste. Der Mord an dem Gnom war zwecklos gewesen! Diese erbärmliche Kreatur hatte an dem Gerät vor ihrem Tod herumgepfuscht. Die Geschichte würde sich wiederholen! Fußstapfen im Sand… Als Raistlin in das Portal blickte, sah er den Scharfrichter hervortreten. Er sah seine eigene Hand seine eigene schwarze Kapuze hochheben, er sah die blitzende Axt niedersausen; seine eigenen Hände führten sie! Das magische Feld begann sich heftig zu verschieben. Die Drachenköpfe, die das Portal umgaben, kreischten im Triumph auf. Ein Krampf des Schmerzes und des Entsetzens verzerrte Crysanias Gesicht. Als Raistlin in ihre Augen sah, erkannte er den gleichen Blick, den er in den Augen seiner Mutter gesehen hatte, die blind in eine weit entfernte Ebene gestarrt hatten. Komm nach Hause… Im Portal begannen die wirbelnden Lichter wie verrückt zu kreisen. Crysania schrie vor Schmerz auf. Ihr Fleisch begann in dem tödlichen Feuer unbeherrschter Magie zu zerfallen. Tränen liefen aus Raistlins Augen, als er in den wirbeln-
den Strudel starrte. Und dann sah er, wie sich das Portal schloß. Er schleuderte seinen magischen Stab auf den Boden und stieß einen bitteren, unzusammenhängenden Schrei aus. Aus dem Portal ertönte als Antwort ein spöttisches Gelächter. Komm nach Hause… Ruhe überkam Raistlin, die nüchterne Ruhe der Verzweiflung. Er hatte versagt. Aber sie würde niemals erleben, daß er vor ihr zu Kreuze kroch. Wenn er sterben mußte, dann in seiner Magie… Er blickte auf. Seine ganze gewaltige Macht nutzend – Mächte der Uralten, seine eigenen Mächte, Mächte, von denen er nicht wußte, daß er über sie verfügte, Mächte, die sich aus düsteren und verborgenen Nischen in seinem Inneren erhoben –, streckte Raistlin seine Arme empor, und seine Stimme schrie noch einmal auf. Aber diesmal war es nicht das zusammenhanglose Kreischen eines Hilflosen. Diesmal waren seine Worte klar und deutlich. Diesmal schrie er die Worte eines Befehls, die niemals zuvor auf dieser Welt ausgesprochen worden waren. Diesmal wurden seine Worte gehört und verstanden. Das Feld hielt. Er hielt es! Er konnte spüren, wie er es hielt. Auf seinen Befehl erbebte das Portal und hörte auf, sich zu schließen. Raistlin holte tief Luft. Dann bemerkte er aus dem Augenwinkel irgendwo zu seiner Rechten einen Blitz. Das magische Zeitreisegerät war aktiviert worden! Das Feld neigte sich wild empor. Die Magie des Gerätes verstärkte sich und breitete sich aus, seine mächtigen Schwingungen brachten die Steine der Festung zum Sin-
gen. In einer verheerenden Woge stürzten ihre Lieder auf Raistlin ein. Die Drachen antworteten kreischend vor Zorn. Die zeitlosen Stimmen der Felsen und der Drachen kämpften miteinander, flossen zusammen und vereinigten sich schließlich zu einem den Geist zermürbenden Mißklang. Die Musik war betäubend, ohrenzerreißend. Die Macht der zwei gewaltigen Zauber riß den Boden entzwei. Die Erde unter Raistlins Füßen erbebte. Die singenden Felsen spalteten sich. Die metallischen Drachenköpfe zerbarsten… Das Portal begann einzustürzen. Raistlin fiel auf die Knie. Das magische Feld riß entzwei, und weil Raistlin es immer noch festhielt, drohte auch er entzweigerissen zu werden. Schmerz schoß durch seinen Kopf. Sein Körper zuckte. Er krümmte sich vor Qualen. Es war eine schreckliche Entscheidung, der er gegenüberstand. Wenn er losließ, würde er ins Nichts stürzen, wogegen die dunkelste Finsternis zu bevorzugen war. Wenn er das Feld festhielt, würde er entzweigerissen, durch die Kräfte der Magie zerstückelt werden, die er hervorgerufen hatte und nicht länger beherrschen konnte. »Caramon!« stöhnte Raistlin, aber Caramon und Tolpan waren verschwunden. Das magische Gerät hatte tatsächlich funktioniert. Sie waren gegangen. Es gab keine Hilfe. Raistlin blieben noch Sekunden zum Leben, Augenblicke zum Handeln. Aber der Schmerz war so qualvoll, daß er nicht denken konnte. Er konnte sich selbst schreien hören, und er wußte, es war sein Todesschrei. Dennoch kämpfte er weiter, so wie er sein ganzes Leben lang gekämpft hatte. »Ich will Macht.« Die Worte kamen blutbefleckt aus seinem Mund.
Er streckte die Hand aus, und sie schloß sich um den Stab des Magus. »Ich will!« Und dann wurde er in eine blendende, wirbelnde, zerschmetternde Woge vielfarbiger Lichter geschleudert. Komm nach Hause… Komm nach Hause…