Die Kolonie Nelson Doty wußte, daß dies sein letztes Jahr im Col-System sein würde. Sein letzter Sommer auf Hope. Es war...
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Die Kolonie Nelson Doty wußte, daß dies sein letztes Jahr im Col-System sein würde. Sein letzter Sommer auf Hope. Es war ein sehr erwachsen gewordenes Lächeln, das sich um seine Mundwinkel prägte, als er von der Uferböschung aus auf den Blue River hinabstarrte, mit dem ihn ein auch noch nach vielen Jahren unvergeßliches Erlebnis verband. An diesem Fluß hatte er einst Abschied von einem Freund genommen, einem ganz besonderen Freund, mit dem er nie ein Wort hatte wechseln können, und der ihm doch – damals zumindest – nähergestanden hatte als die meisten Menschen hier auf dem marsgroßen fünften Planeten der Doppelsonne. Noch immer das versonnene, wehmütige Lächeln auf dem Gesicht, setzte sich Nelson in den weichen Ufersand. Die Landschaft hinter ihm war immer noch nicht wieder völlig verheilt; Narben würden noch lange sichtbar bleiben. Narben jenes sinnlosen Vernichtungsfeldzugs, den die G’Loorn gegen Cattan geführt und dabei die Stadt dem Erdboden gleich gemacht hatten. Cattan war die erste menschliche Siedlung auf Hope gewesen – und bis heute die einzige geblieben. Ein Wiederaufbau nach der Zerstörung durch die Hybridwesen aus dem Zentrum der Galaxis hatte nicht stattgefunden. Heute lebten diejenigen, die Hope treugeblieben waren, auf Deluge. Im dortigen Industriedom, der eine der großen Hinterlassenschaften der Mysterious war. Die Mysterious… Nelson schüttelte beinahe unwillig den Kopf. Alle Welt dachte immer nur an die Mysterious. Er nicht. Für ihn war jedes Lebewesen wichtig, ganz gleich, ob es in der Lage war, Beeindruckendes zu leisten oder nur einfach… da war. Dong-dong war der beste Freund gewesen, den er je gehabt hatte. Ihm hatte er intimere Gedanken anvertraut als selbst Goofy, seinem "Menschen- und Erwachsenenfreund". Nelson schmunzelte. In seinen Augen funkelte es, als kämpfte er gegen Tränen an. So war es auch. Dong-dong, der Feuerhüpfer, hatte im Kampf gegen die Amphis sein Leben geopfert – für die Menschen von der Erde. Für die Menschen, die hier eine neue Heimat gefunden hatten, nachdem der Time-Antrieb ihres Kolonistenraumers sie in eine seinerzeit unbekannte Region der heimatlichen Milchstraße versprengt gehabt hatte. Die Amphis… die Giants… die G’Loorn… Das alles war Geschichte. Heute schrieb man auf Terra und den Kolonien das Jahr 2057. Cattans Zerstörung und die Auseinandersetzung mit den insektenhaften G’Loorn lag rund vier Jahre zurück. Dong-dongs Tod noch länger, gut sechs Jahre. Auf Terra, so besagten es die Meldungen, war mittlerweile wieder Frieden eingekehrt; der Wiederaufbau der von den Giant-Invasoren geknechteten Heimatwelt war in vollem Gang. Ab und zu flammten noch Konflikte mit Robonen auf – auch so eine unglaubliche Geschichte… Nelson merkte, wie seine Gedanken abzuschweifen versuchten, als ertrüge er es immer noch nicht, den kleinen, possierlichen, rotbeschweiften "Eisenfresser" Dong-dong verloren zu haben. Von Metall hatte sich der Feuerhüpfer ernährt. Und am Ende war er im Stromversorgungskreis eines Scoutbootes umgekommen. Die Energie hatte ihn als "Leiter" mißbraucht. Und völlig verändert. Ein bis heute ungeklärtes Phänomen. Aus dem possierlich anzuschauenden Tierchen war durch eine sehr hohe Stromspannung ein… Kristall geworden. Ein blau und rot leuchtendes, stacheliges Gebilde, das so rein gar nichts mehr mit dem quietschfidelen Freund gemein gehabt hatte, mit dem sich Nelson damals die Zeit auf Hope vertrieben hatte – ohne gleichaltrige Freunde unter den Siedlern. Ein Eigenbrötler war er gewesen. Ein Außenseiter. Nur zu Goofy, dem Scoutboot-Piloten, hatte er ein innigeres Verhältnis entwickelt. Aber Goofy war damals schon ein "alter" Mann von dreißig Jahren gewesen, während er noch ein halbes Kind war. Goofy… Dong-dong… an seine Eltern hatte Nelson nur noch vage Erinnerungen. Sie waren in den Wirren der Amphikriege umgekommen, und ihr Verhältnis war nie das beste gewesen. Sie hatten sich wenig gekümmert um ihren einzigen Sohn, waren ganz in ihrem Wunschtraum aufgegangen, Terra mit dem Ziel Dorado im fernen Deneb zu verlassen, eine bessere Existenz zu gründen… Aus Dorado war Hope geworden. Die Hoffnung hatte in der Katastrophe geendet. "Dott?"
Er zuckte leicht zusammen und drehte den Kopf. Aus Richtung des Scoutbootes näherte sich eine vertraute Gestalt mit Bulldoggengesicht. Ja, Goofy sah auch heute noch wie die Karikatur eines ewig traurig dreinschauenden Mannes aus. Was nichts daran änderte, daß Nelson ihn liebgewonnen hatte. Er war sein bester Freund geblieben. Der einzige, auf den er bedingungslos baute. Und umgekehrt war es genauso. Was sind wir doch für ein ungleiches Paar, dachte Nelson in mildem Selbstspott. "Wo bleibst du denn? Wir müssen noch weiter. Komm schon! Du weißt doch, daß wir längst auf dem Dreizehnten sein müßten…" Mit "Dreizehnten" meinte Goofy – Ex-Korporal Goof, Waffenexperte auf der seligen Galaxis – einen der Inselkontinente, von denen es über ganz Hope verstreut insgesamt einunddreißig gab. Derjenige, auf dem sie erwartet wurden, hatte von den Kartographen die Ziffer 13 erhalten. Main Island, wo sich einst Cattan erhoben hatte, war in dieser Rangfolge mit 1 beziffert. Nelson hatte Goofy zu dem Abstecher hierher überredet. Auf Kontinent 13 hatten sie auf direktem Weg eigentlich eine Gruppe von Exobiologen abholen sollen, die eigens von Terra hierher gereist waren, um die Artenvielfalt Hopes zu katalogisieren. Noch immer war nur ein verschwindend geringer Teil der planetaren Flora und Fauna bekannt. Die Kontinente 1, 4 und 6 (Deluge) waren weitestgehend erschlossen, die übrigen achtundzwanzig nur im Grobraster. Von den zahllosen kleineren Inselchen, die sich über die von einem einzigen gewaltigen Ozean bedeckte Welt verstreuten ganz zu schweigen. Nelson hatte einmal gelesen, wie lange es auf der Erde gedauert hatte, bis man dort die letzten weißen Flekken auf der Landkarte ausgeräumt hatte. Die Menschen hatten schon andere Planeten betreten, bevor die irdische Tiefsee ihre Wunder preisgegeben hatte. Oder entlegene Gebirgsregionen. Die Dschungel der Regenwälder. Die Eispanzer der Arktis… Wahrscheinlich gab es auch heute noch Dinge, die auf Terra ergründet werden konnten. Ein Planet behielt immer seine "Restgeheimnisse". Nelson stand auf, warf einen letzten sentimentalen Blick auf den Fluß und ging Goofy dann entgegen. "Schon gut, ich komme ja." Gemeinsam marschierten sie zu einem von insgesamt vier noch existierenden Notbooten des ehemaligen Großraumers Galaxis. Die CC4 war nicht ganz zwanzig Meter lang und maß etwas mehr als zwei Meter im Durchmesser. Ihre ausfahrbahren Dreieckstragflächen machte diese Boote zu idealen Lastentransportern für den innerplanetaren Verkehr, obwohl sie auch raumflugtauglich waren. Dieser Bootstyp vermochte sowohl wie frühere Düsenflugzeuge zu starten und zu landen als auch im Senkrechtflug abzuheben. Die Plasmatriebwerke waren variabel schwenkbar. Ein Scoutboot bot Platz für maximal 45 Passagiere. Auf Kontinent 13 warteten nur rund zwei Dutzend, aber mit jeder Menge Ausrüstung. Fast die Hälfte der Sitze war demontiert worden, um alles aufnehmen zu können. Geschmeidig kletterte Nelson an Bord und setzte sich im Cockpit in den Ko-Sitz. Goofy nahm neben ihm Platz und startete die Motoren. Die Luke schloß. "Und du meinst es ernst mit deinem Vorhaben?" fragte er plötzlich wie beiläufig, den Blick nicht von seiner Instrumentenkonsole nehmend. Die Monitore übertrugen den Außenbereich in 360°-Rundumsicht. Fenster im herkömmlichen Sinn gab es nicht. "Du meinst, daß ich nach Terra gehen will?" fragte Nelson. Er blickte Goofy an. "Terra", schnappte dieser. "Dort wartet niemand auf dich. Dort kennst du niemanden. Wenn du mich fragst, ist das eine verdammte Schnapsidee!" "Du wirst mich doch nicht etwa vermissen?" Nelson hatte zu lange gegrübelt, um sich von dem gefaßten Entschluß noch einmal abbringen zu lassen. Auf Terra wartete vielleicht niemand – aber etwas. Die Zukunft. Hope hingegen, das war seine feste Überzeugung, würde sich nie mehr vom Schlag der G’Loorn erholen. "Vermissen? Dich?" Goofy schüttelte so heftig den Kopf, daß seine Hängebacken wackelten wie Gelee "Wie kommst du denn darauf?" Ein warmes Gefühl breitete sich in Nelsons Magen aus. Er lehnte sich weit im Pneumositz zurück – bevor ihn der Andruck des mit Vehemenz starteten Bootes noch tiefer in die Polster trieb. Goofy verhinderte auf seine Weise, daß Nelson ihm noch mehr Fragen stellte, die ihn sichtlich in Verlegenheit brachten. *
Der Flug in einem Scoutboot war nicht mit der Fortbewegung in einem Flash vergleichbar – in dem
Nelson auch schon gereist war. Den Beibooten der Point of konnte so leicht nichts das Wasser reichen.
Sie hätten nur Sekunden für die Strecke benötigt, welche die CC4 bei vierfacher Schallgeschwindigkeit
immerhin noch in mehr als einer Stunde zurücklegte.
Am späten Mittag, drei Stunden nach dem eigentlich vereinbarten Zeitpunkt, setzte das Boot auf einer
neben dem Lager gerodeten Urwaldfläche zur Landung an. Saftig braun war die üppige Vegetation des
Inselkontinents. Und die Vielfalt auf den ersten Blick eher eine Armut. Aber unter dem bräunlichen
Blätterdach des Dschungels verbargen sich Schätze. Die Expedition schien, zumindest einer ersten
Einschätzung des Gruppenleiters zufolge, ein großer Erfolg gewesen zu sein. Insgesamt dreißig
Planetentage hatte das Team hier zugebracht. Etliche Container waren mit Proben gefüllt. Die
vollständige Auswertung würde auf Terra erfolgen und Monate, vielleicht Jahre in Anspruch nehmen.
Nelson hatte sich beim Herflug vor einem Monat mit einer jungen Biologin angefreundet. Auf das
Wiedersehen freute er sich schon jetzt – was ihn aber nicht vom Besuch des Blue River abgehalten hatte.
Manchmal überkam ihn einfach die Sehnsucht nach den Stätten der verlorenen Kindheit.
"Versuche es noch einmal", sagte Goofy.
Nelson gehorchte. Aber auch diesmal meldete sich das Lager nicht auf der üblichen Frequenz. Niemand
reagierte auf das Bemühen der CC4-Besatzung, eine Verbindung herzustellen. Der letzte Kontakt hatte
am frühen Morgen stattgefunden, als man sich vom Camp aus bei Goofy "versichert" hatte, daß die
gebuchte Abholung pünktlich über die Bühne gehen würde.
Goofy hatte sich während des Flugs von Main Island hierher eine passable Ausrede zurechtgelegt:
Triebwerksschaden. Notwendiger Zwischenstopp auf Kontinent 4, zeitaufwendige Reparatur… das
Übliche eben.
Eine kleine Unwahrheit machte ihm nichts aus. Nelson auch nicht. Für ihn fiel dies unter die Kategorie
Notlüge.
"Das gefällt mir nicht…"
"Unsere Geräte arbeiten einwandfrei?" fragte Goofy.
"Tadellos."
"Dann ist deren Kommunikation ausgefallen."
Nelson nickte. Das Gesicht der Biologin, die es ihm ein klein wenig angetan hatte, stieg vor seinem
inneren Auge auf. In den letzten Wochen war sie ab und zu durch seine Träume gegeistert. "Ich habe ein
ganz blödes Gefühl…"
"Das Gefühl kenne ich. Es nennt sich Liebe. Mann…" Goofy holte mit seiner Pranke aus und schlug
Nelson damit auf die linke Schulter, "… meinst du, ich hätte nicht gemerkt, was mit dir los ist? Und wie
du sie angesehen hast?"
"Wen?"
Goofy lachte bellend auf und zog die Hand wieder zurück. "Schon gut. Wir sind gleich da. Und diesmal
läßt du dir die Gelegenheit nicht noch mal entgehen. Der Rückflug nach Terra ist erst für übermorgen
abend gebucht. Bis dahin kannst du herausfinden, ob du, wenn du selbst in ein paar Monaten den Abflug
machst, schon mal eine Anlaufadresse auf der guten alten Erde hast…"
"Du bist unmöglich!"
"Genau." Goofy schnitt eine Grimasse, bei der seine Himmelfahrtsnase fast die Stirn berührte.
"Unmöglich. Aber nicht bescheuert."
Die CC4 setzte in einer Wolke aus aufgewirbeltem Staub und Grashalmen auf.
* Im ersten Moment erweckte das Lager im weißen Licht des Doppelgestirns den Anschein völliger Verlassenheit. Der Wind verursachte weinerliche Geräusche in den Blättern der umliegenden Bäume, bog Gräser und Büsche – sonst war es totenstill. Diese unwirkliche Atmosphäre erinnerte Nelson unwillkürlich an Fliegen. Auf Hope gab es keine; auch nichts Vergleichbares. Aber im Hinterkopf trug er immer noch Bilder von Fliegen mit sich herum, die sich in Schwärmen auf Tierkot oder Kadavern niedergelassen hatten – reale Bilder, mit denen er als Kind auf der Erde selbst ab und zu konfrontiert worden war. Später hatte er Aufnahmen von den Greueln der Giant-Besatzungszeit gesehen: Berge von Leichen (keine Tierkadaver, Menschen!), auf denen sich Heerscharen von Fliegen niedergelassen hatten. Die Bewohner
Terras waren unter dem Einfluß der willenslähmenden Strahlung der Giants zu Millionen verhungert…
Heute schien es wie ein Wunder, daß sich die Zivilisation von diesem Hammerschlag wieder erholt hatte.
Die Fliegen gingen ihm nicht aus dem Sinn, während er auf das kreisrund angelegte Camp zulief.
Schulter an Schulter mit Goofy, der seine Nervosität auch nicht mehr verbarg. Er hatte sogar den
Paraschocker aus dem Cockpit mitgenommen.
Nelson haßte Waffen. Aber manchmal waren sie nötig.
Manchmal.
Normal wäre es gewesen, wenn ihnen jemand entgegengelaufen wäre. Die Wissenschaftler hatten vier
Wochen unter freiwilliger Isolation zur Außenwelt gelebt. Und die – wenn auch verspätete – Ankunft des
Scoutboots war unüberhörbar gewesen…
Niemand kam.
"Vielleicht solltest du zurück an Bord gehen", sagte Goofy und bleckte die zu groß geratenen oberen
Schneidezähne. "Als Rückversicherung."
Nelson schüttelte entschieden den Kopf. "Kommt nicht in Frage."
Das Camp war umzäunt. Aber unsichtbar. Ein mit einigem Kraftaufwand überwindbares, mannshohes
Prallfeld sollte ungebetene Besucher irritieren und in die Flucht jagen.
Aber es existierte nicht mehr, wie Nelson und Goofy feststellten, als sie ungehindert durch die Lücke
zwischen zwei Plastikunterkünften bereits auf den "Innenhof" des Lagers traten.
Sekunden später fanden sie den ersten Wissenschaftler.
Und eine Erklärung für das Schweigen.
Nelson Doty strauchelte. Er hatte Mühe, weiterzugehen. Goofy schien es nicht zu bemerken. Er lief
geradewegs auf die im Schatten einer Unterkunft liegende Gestalt eines Wissenschaftlers zu.
Nelson überwand seinen Schrecken und folgte dem Freund.
Er sah noch andere Personen am Boden liegen, aber er fand nicht die Kraft, sich allein zu einer von ihnen
zu begeben.
Sie lagen da wie tot. Wie mitten in ihren Bewegungen von einer tödlichen Kraft hinweggerafft!
Damit schien sich die schlimmste aller Befürchtungen zu bestätigen. Aber was auf dem als harmlos
geltenden Kontinent 13 war ihnen zum Verhängnis geworden?
Auf ganz Hope gab es, von den Super-Piranhas abgesehen, die in bestimmten Regionen von Main Island
ihr Unwesen trieben, keine wirklich gefährlichen Raubtiere…
… zumindest hatte man das bislang geglaubt.
"Er lebt!"
Goofys Stimme riß Nelson aus den sich überschlagenden Gedanken.
"Aber…"
"Aber?" Nelson trat hinter seinen Freund, der neben dem in grotesker Stellung am Boden liegenden
Wissenschaftler kniete.
"… er fühlt sich so… hart an."
"Hart?"
"Ja." Goofy richtete sich plötzlich auf. "Aber faß du ihn nicht auch noch an. Faß keinen an. Es reicht,
wenn ich…"
"Was ist hier passiert?" unterbrach ihn Nelson, der gegen die aufsteigende Hysterie ankämpfte. Erst recht,
als er in einiger Entfernung die junge Frau neben einer Box mit persönlichem Gepäck liegen sah, die
wiederzutreffen er sich die ganze Zeit gefreut hatte.
Er erzitterte.
"Wenn ich das wüßte… vielleicht eine Krankheit, irgendein Fieber… obwohl er sich kühl anfühlt…"
Goofy huschte zum nächsten Opfer. Nelson folgte ihm wie an einer unsichtbaren Leine. Kraftlos, wie
ausgepumpt.
"Ihr Herz schlägt ebenfalls", rief Goofy über die Schulter. "Lauf zum Scout, Dott! Kontakte Deluge!
Schildere ihnen, was für eine Lage wir hier angetroffen haben. Sie sollen sofort Hilfe schicken. Ärzte…"
Nelson starrte die Frau an, neben der Goofy kauerte. Sie hatte die Augen weit aufgerissen. Darin schien
ein unglaublicher Schmerz zu wogen.
Sie ist bei Bewußtsein! Die Vorstellung, sie könnte hören und sehen, was um sie herum vorging, sich aber nicht mehr mitteilen, steigerte sein Entsetzen noch mehr. Auf dem Rücken liegend, hatte sie die Arme nach oben gestreckt, wie
flehend.
"Ist sie auch…" rann es über Nelsons Lippen, "… hart?"
"Ja, zur Hölle! Und jetzt spute dich endlich!"
Nelson erwachte aus seiner Benommenheit. Rasch wandte er sich einer Lücke zwischen den Bauten zu, in
die Richtung, in der die CC4 lag.
Als er in die Lücke eintauchte, hörte er Goofy noch einmal. Diesmal rief er jedoch nicht, er schrie auf!
Nelson blieb wie gegen eine unsichtbare Wand geprallt stehen und drehte sich um.
Irgend etwas schwebte hinter Goofy in der Luft. Transparente Flügel schillerten in allen Farben. Ein
wundervoller Anblick…
… bis deutlich wurde, daß eines von den Biestern sich in Goofys Nacken niedergelassen hatte.
Ein kolibriähnliches Wesen, mit einem langen, rüsselartigen Auswuchs, den es in Goofys Fleisch gebohrt
hatte…!
Der Mann brüllte jetzt immer lauter! Er schlug um sich, führte einen Veitstanz auf, doch seine
Bewegungen erlahmten rasch. Nelson wollte ihm zu Hilfe eilen. In diesem Augenblick bewegte sich der
restliche Schwarm auf ihn zu.
Im Weiterrennen sah er noch, wie Goofy zu Boden ging und in seinen Bewegungen erstarrte…
* Als die alarmierte Verstärkung endlich eintraf, wies auf der Lichtung nichts mehr auf den Schwarm monströser, geflügelter Wesen hin, die offenbar erst dem Wissenschaftsteam, dann Goofy zum Verhängnis geworden waren. Der Schwarm tauchte auch während der ganzen Zeit nicht mehr auf, in der die Opfer von speziell geschützten Rettern geborgen wurden. Fast hatte es den Anschein, als hätten die Kolibriähnlichen begriffen, daß sie gegen die Neuankömmlinge das Überraschungsmoment nicht mehr ausspielen konnten und dementsprechend unterlegen wären. Was eine Form von Intelligenz voraussetzte. Intelligente Killerkolibris? Nelson grauste es beim bloßen Gedanken. Er wußte nicht mehr, wie er es im letzten Moment zurück in die CC4 geschafft und die Schleuse hinter sich versiegelt hatte. Via Außenübertragung hatte er dann noch eine Weile in die häßlich gezeichneten Fratzen der Vogelartigen gestarrt. Lange hatten sie über der CC4 ausgeharrt; erst als von Osten her ein ganzer Pulk weiterer Fahrzeuge herangeflogen war, hatten sie sich zwischen die Urwaldriesen zurückgezogen. Seither waren und blieben sie verschwunden. Zurück blieben nur ihre Opfer. Nelson begleitete den Rettungskonvoi nach Deluge. Er steuerte die CC4 allein. Seine Gedanken waren nur bei Goofy, der sich im selben Zustand wie die anderen noch Lebenden, aber von einer vollständigen Starre Befallenen befand. Noch gab es keine Toten zu beklagen. Noch. * Auch zwei Tage später war die Situation der Opfer – fast – unverändert. Geändert hatte sich nur ihr Befinden; es hatte sich verschlechtert. Offenbar injizierten die "Kolibris" ein Gift, das nur die äußere Hautschicht befiel. Es ließ sie verhärten, ohne dabei allerdings die Sauerstoffaufnahme zu beeinträchtigen. Sonst wären längst alle Betroffenen jämmerlich erstickt, ganz gleich, ob ihre Lungen noch arbeiteten oder nicht. Der größte Sauerstoffbedarf eines Menschen wurde über die Haut aufgenommen. Verbrennungsopfer wußten davon ein Lied zu singen… Nelson konsultierte den Ärztestab bei jeder sich bietenden Gelegenheit, erhielt aber immer nur ausweichende oder vertröstende Floskeln zur Antwort. Schnell wurde ihm klar, daß die Mediziner hilflos gegen dieses Syndrom waren. Vollkommen hilflos. Die Patienten, das hatten Untersuchungen gezeigt, waren die meiste Zeit des Tages hellwach. Offenbar registrierten sie, was mit ihnen geschehen war und was um sie herum vorging. Das half ihnen aber nicht. Wachkoma nannten die Ärzte das Phänomen. Man ernährte die Betroffenen durch Schläuche, die in den Rachenraum eingeführt wurden. Die Haut selbst hatte sich als so widerstandsfähig erwiesen, daß herkömmlichen Nadeln abbrachen. Eine Verständigung mit den Patienten war nicht möglich. Dennoch verbrachte Nelson jede freie Minute neben seinem Freund.
Trotz der künstlichen Versorgung mit Nährstoffen und Flüssigkeit verschlechterte sich der körperliche
Zustand nicht nur von Goofy. Wenn nicht bald ein entscheidender Durchbruch gelang, das war
abzusehen, würden sie alle sterben, ohne noch einmal die Gewalt über ihre wie versteinerten Hüllen
zurückgewonnen zu haben.
Am Morgen des dritten Tages hielt Nelson es nicht mehr aus. Eine vage Idee trieb ihn zum Chef des
Ärztestabs, der ihm völlig übernächtigt zuhörte.
Und fast wider Erwarten sein Einverständnis zu Nelsons Vorschlag gab.
"Versuch es. Es kann uns nur weiterbringen…"
* In der Ringraumerhöhle, in der Ren Dhark einst die Point of entdeckt hatte und aus der sie später zu ihrem Jungfernflug gestartet war, existierte noch ein anderes großes Vermächtnis der Mysterious. Das Mentcap-Archiv. Mentcaps waren nur knapp einen Millimeter durchmessende, schneeweiße, synthetische Kügelchen, in denen die Mysterious Wissen in komprimierter Form gespeichert hatten. Nicht nur technisches, auch anderes Wissen. Allerdings mußte man sich über Mentcaps gewonnenes Wissen durch intensive gedankliche Auseinandersetzung damit "verdienen". Wer diese Mühe nicht auf sich nahm, vergaß die "zugeflogenen" Kenntnisse schon binnen weniger Tage wieder. Nelson hatte darum gebeten, das Archiv allein betreten zu dürfen. Dort mußte er sein Problem gedanklich darlegen. Das Archiv war nur mental ansprechbar. Nelson stellte sich die geflügelten Wesen noch einmal intensiv vor und schilderte dazu, welche Symptome ihr Stich bei den Opfern ausgelöst hatte. Danach wartete er eine kleine Ewigkeit, in der keine der metallenen Archivscheiben in den Auffangbehälter fiel, und er befürchtete schon, auch hier keine Hilfe erfahren zu können. Unerwartet wurde schließlich doch noch eine Scheibe ausgeworfen, die über das übliche Verfahren mittels eines 19.500-Hertz-Impulses geöffnet werden konnte. In einer kleinen Mulde der etwa fünf Zentimeter durchmessenden Scheibenhälfte lag eine unscheinbare Mentcap. Nelson zögerte keine Sekunde, sie zu schlucken. Ungeduldig wartete er darauf, daß sie sich in seiner Magenflüssigkeit auflöste und all ihr enthaltenes Wissen freisetzte. * Erst jagte Dschungel unter ihm dahin, dann eine Wasserwüste, dann wieder Land… Nelson war gar nicht mehr richtig zu sich gekommen, seit er sich den Inhalt der Mentcap verinnerlicht hatte. Beinahe mehr noch als das erhaltene Wissen beunruhigte ihn dabei seine eigene Reaktion: Anstatt sich mit dem Ärztestab kurzzuschließen und ihn über den neuen Kenntnisstand zu unterrichten, hatte er sich fast wie ein Dieb von Deluge weggeschlichen. Unter fadenscheiniger Begründung war er mit der CC4 gestartet und hatte Kurs auf Main Island eingeschlagen. Niemand hatte den angeblichen Auftrag hinterfragt. Im Industriedom drehten sich alle Gedanken momentan nur um die heimtückische Krankheit. Der Chef des Ärzteteams würde aber schon bald feststellen, daß sich Nelson nicht mehr in der Ringraumerhöhle aufhielt, sondern einen Alleingang unternahm. Bis dahin mußte der Junge, der nicht nur um seinen Freund bangte, sondern um jeden Betroffenen der Raguun-Starre – wie die Mysterious die Krankheit genannt hatten – sein Ziel erreicht haben: das Gebirge nahe der ehemaligen Siedlerstadt Cattan. * Nachdem Nelson gelandet war, beschlich ihn ein sonderbares Gefühl: Wie schon im Archiv, meinte er
auch jetzt, daß nicht nur die Mentcap auf ihn einwirkte. Da schien… noch ein anderer Einfluß vorhanden
zu sein…
Ein Gefühl, das sich jedoch nicht "greifen" und dementsprechend nicht präzisieren ließ.
Zu Fuß begab er sich zu dem hinter dichter Vegetation verborgenen Stolleneingang, den vor ihm – soviel
schien sicher – noch kein Mensch betreten hatte.
In all den Jahren nicht, und das, obwohl Cattan so nahe gewesen war.
Cattan und der Blue River. Dong-dongs "Friedhof"…
An Dong-dong dachte Nelson unentwegt. Ausgerechnet die Feuerhüpfer… es schien so unglaublich!
Mentcaps lügen nicht! rief er sich immer wieder in Erinnerung.
Schon nach wenigen Schritten in die Tiefe des Felsenstollens kamen ihm die ersten Feuerhüpfer
entgegen.
Willkommen! signalisierten sie ihm. Wortlos – wie sie ihn hierher befohlen hatten.
* Das samtweiche Fell, die possierlichen Gesichter, sie alle sahen aus wie Dong-dongs Ebenbilder.
Was sie von dem verlorenen Freund seiner Kindheit unterschied, waren die Gürtel.
Ja, sie trugen Gürtel, an denen sich kleine, funkelnde Kristalle befanden. Kristalle, die wie
Miniaturausgaben jenes wie eine Kastanienschale geformten Kristalls aussahen, in den sich Dong-dong
bei seiner Rettungstat verwandelt hatte…!
Nelson wußte endgültig nicht mehr, ob er wachte oder träumte, als die Feuerhüpfer ihn in ihr
unterirdisches Reich im Berg führten. Nach einem langen Fußmarsch tat sich vor ihm eine Höhle auf,
mindestens ebenso imposant wie die Ringraumerhöhle auf Deluge, aber völlig anders eingerichtet.
Im phosphoreszierenden Schein der Felsenwände gab es hier termitenhügelähnliche Bauten, zwischen
denen es vor Bewegung wimmelte.
Eine Stadt, schoß es Nelson durch den Sinn. Eine zweite, nicht von Menschen erbaute Stadt auf Main
Island…
Nicht ganz, korrigierten ihn Gedanken, fremde Gedanken, die sich zwischen seine eigenen mischten. Eine
Kolonie – wie eure eine war.
Und dann führten sie ihn zu dem Objekt, das alles erklärte.
Ein Wrack.
Das Wrack eines uralten Raumschiffes…
* Kein Mensch hätte an Bord Platz gehabt. So "winzig" war es im Vergleich zu irdischen Schiffen oder
denen anderer bekannter raumfahrender Rassen.
Ein korrodiertes Wrack, an dem erst ein Unglück, dann der unbarmherzige Zahn der Zeit genagt hatte.
"Warum – zeigt ihr mir das alles?"
Acht, neun Feuerhüpfer umstanden Nelson, hinter dem sich die Termitenbauten der Feuerhüpfer erhoben.
Damit du verstehst. "Damit ich was verstehe?" Unsere Lage. In den nächsten Stunden erfuhr er, was die Feuerhüpfer darunter verstanden. Warum sie sich versteckten. Heute wie seit tausend Jahren. Die, die ihr die Mysterious nennt, kannten auch schon das Gift, mit dem eure Leute jetzt konfrontiert wurden. Und das Schicksal wollte es, daß sie eines Tages einen der unseren einfingen, ihn für ein "Tier" hielten und in seinem Blut den Grundstoff für ein wirkungsvolles Serum fanden, das als Gegengift funktioniert. Nelson hörte sich das und alles andere wie vor den Kopf geschlagen an. "Woher wißt ihr, daß Menschen Opfer des Giftes wurden?" Wir stehen in permanenter Verbindung mit dir. "Mit mir…?" Seit sich einer der unsrigen für euch opferte. "Dong-dong!" Du nanntest ihn so. "Habt ihr mich hierhergetrieben – dafür gesorgt, daß ich wider alle Vernunft allein gekommen bin?" So ist es. "Aber warum?" Weil wir dir helfen wollen. Nur dir. "Nur mir? Aber…" Seine Freunde sind unsere Freunde.
"Dong-dong?" Wir leben in einer Symbiose. Wenn einer stirbt, verteilt sich sein Geist auf alle Lebenden. Dong-dong, wie
du ihn nennst, ist somit nicht wirklich gestorben. Er ist Teil von uns geworden. Und er will dir helfen.
Nelson spürte, wie der Boden unter seinen Füßen wankte. Aber es war nur Einbildung.
"Wenn ihr Kontakt mit uns aufgenommen hättet, könntet ihr wieder dorthin zurückkehren, von wo ihr
einst gekommen seid."
Wir wissen nicht mehr, wo das war.
"Ihr könntet suchen." Das wollen wir nicht. Wir sind hier zufrieden. Wenn du gehst, denk daran. Wenn du gehst…
"Und die Mysterious? Ihr kanntet sie? Warum habt ihr ihnen nicht gesagt, daß ihr keine… Tiere seid?!"
Sie genossen nicht unser Vertrauen . * Dieser Satz hallte noch in Nelson nach, als er bereits wieder auf dem Rückweg nach Deluge war. Sie genossen nicht unser Vertrauen. Wer waren die Mysterious wirklich gewesen?
Er wußte es nicht. Vielleicht wußten es nicht einmal mehr die Bewohner des Bergesinneren, hatten es
ebenso vergessen wie die Koordinaten ihrer Heimat.
Noch von unterwegs aus instruierte Nelson den Ärztestab. Eine weitere Mentcap würde verraten, wo
fertige Seren im Industriedom gelagert wurden.
Notfalls mußten sie selbst das Gegenmittel aus dem Blut, das die Feuerhüpfer Nelson überlassen hatten,
gewinnen.
Goofy und die anderen hatten wieder eine Hoffnung!
Und er auch.
Er war sich nicht mehr sicher, ob dies wirklich sein letztes Jahr auf Hope sein würde – Hope, der Welt,
die noch so viel Unerforschtes bereithielt…
Ende