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Scan by Schlaflos
DAS BUCH Nordbritannien im 6. Jahrhundert nach Christus: Das Reich der Pikten ist von Spaltung ebenso bedroht wie von Invasoren. In dieser dunklen Zeit voller Gefahren und großer Not wird der Knabe Bridei, Sohn eines walisischen Königs, dem mächtigen Druiden Broichan zur Erziehung überantwortet. Abgeschottet von der Außenwelt lernt der Junge von seinem strengen Pflegevater alles über die geheimnisvolle Religion der Pikten, über Magie und Politik. Als eines Nachts ein Feenkind auf Broichans Schwelle abgelegt wird, fürchtet der Druide, dass dieses Geschenk des unberechenbaren Guten Volks seine Zukunftspläne für Bridei gefährden könnte. Bridei jedoch kümmert sich um das Findelkind, nennt das dunkelhaarige, zarte Mädchen Tuala, und die beiden werden die besten Freunde. Aber die idyllischen Tage der Kindheit gehen vorbei, und bald müssen sich Bridei und Tuala dem stellen, was der Druide wirklich für sie bereithält: Bridei wurde auserwählt, der neue König der Pikten zu sein, derjenige, der das Land eint und die Angreifer zurückschlägt. Und so finden sich Bridei und Tuala, deren Liebe zueinander erwacht ist, plötzlich inmitten komplizierter und tragischer Geschehnisse, die ihrer beiden Leben verändern und sie auseinander zu reißen droht. Während die Feen Tuala locken, in ihre Heimat zurückzukehren, muss sich Bridei den Anforderungen der Machtpolitik stellen: Diplomatie, Krieg, Verrat und Anschläge auf sein Leben. Und gute Freunde, denen er Zeit seines Lebens vertraute, stehen plötzlich gegen ihn und Tuala ... DIE AUTORIN Juliet Marillier wurde in Neuseeland geboren und wuchs in Dundein, Australien auf. Bereits seit frühester Kindheit begeisterte sie sich für keltische Musik und irische Geschichten. Heute lebt die Mutter von vier erwachsenen Kindern in der Nähe von Perth. Bereits ihr erster Roman, »Die Tochter der Wälder«, wurde zum internationalen Bestseller, und sie wurde fortan in einem Atemzug mit Marion Zimmer Bradley genannt. Juliet Marillier zählt neben Elizabeth Haydon und Jennifer Fallon zu den neuen weiblichen Stars der Fantasy.
JULIET MARILLIER
Die Königskinder UNTER DEM NORDSTERN ERSTER ROMAN Aus dem australischen Englisch von Regina Winter Deutsche Erstausgabe WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Titel der australischen Originalausgabe: THE BRIDEI CHRONICLES BOOK 1: THE DARK MIRROR Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt. Deutsche Erstausgabe 11/2005 Redaktion: Ralf Reiter Copyright © 2004 by Juliet Marillier Copyright © 2005 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2005 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München unter Verwendung eines Motivs von Larry Rostand Karte: Animagic, Bielefeld Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN-10: 3-453-52154-4 ISBN-13: 978-3-453-52154-4 http://www.heyne.de Meinen besten Lehrern gewidmet: denen, die mir halfen, selbst zu denken KAPITEL EINS Der Druide stand in der Tür, so reglos, als wäre er aus dunklem Stein gemeißelt, und sah zu, wie die Reiter den Hügel hinaufkamen. Der Abend dämmerte. Der Schlangensee war hinter den Eichen nur als mattes Schimmern
zu sehen, und Saatkrähen flatterten im letzten Tageslicht zu ihren Schlafplätzen und stießen dabei Rufe in ihrer harschen geheimen Sprache aus. Es war Herbst; die Tagundnachtgleiche lag bereits einige Zeit zurück. In der Luft hing eine frische, blaue Kälte, die einem den Atem in der Brust erstarren ließ. Die Bewaffneten hatten nun die ebene Fläche vor dem Haus erreicht und stiegen nacheinander vom Pferd. Zunächst sah es so aus, als hätten sie den Jungen nicht mitgebracht. Der Druide schluckte seine Enttäuschung, seine Frustration und seinen Zorn herunter. Dann sagte Cinioch, der als Letzter eintraf: »Komm, Junge, beweg dich«, und Broichan entdeckte die kleine Gestalt, die vor dem Krieger saß, gut eingepackt in Wollkleidung, eine Gestalt, die die anderen rasch vom Pferd hoben und nach vorn schoben, damit der Druide sie betrachten konnte. Er war so winzig! War dieser Junge tatsächlich fünf Jahre alt, wie Anfreda ihm in dem Brief geschrieben hatte, in dem sie ihm ihre Entscheidung mitteilte? Er war doch sicher noch zu klein, um hierher nach Fortriu geschickt zu werden, -9so weit weg von daheim. Und zweifellos war er zu klein, um etwas zu lernen. Der Druide spürte, wie er zornig wurde, und zwang sich, gleichmäßiger zu atmen. »Ich bin Broichan«, sagte er mit einem Blick nach unten. »Willkommen in Pitnochie.« Das Kind hob den Kopf und ließ den Blick über Broichans Gesicht wandern, über sein dunkles Gewand, den Eichenstab mit der kunstvollen Schnitzerei und das mit bunten Bändern zu zahllosen Zöpfen geflochtene Haar. Die Lider des Jungen waren schwer; er schlief beinahe im Stehen. Es war ein langer Weg von Gwynedd hierher, sie waren zwei Monde unterwegs gewesen. Der Druide sah schweigend zu, wie das Kind sich gerader aufrichtete, das Kinn reckte, tief Luft holte und vor Konzentration die Stirn runzelte. Dann sagte der Junge mit bebender, aber klar verständlicher Stimme: »Ich bin Bridei, Sohn des Maelchon.« Er holte erneut Luft; er strengte sich gewaltig an, alles richtig zu machen. »Möge die ... die Leuchtende deinen Weg erhellen.« Er blickte mit strahlend blauen Augen zu Broichan auf; es stand Furcht darin, das war deutlich zu sehen, aber davon würde sich dieser winzige Bursche nicht abhalten lassen. Und den Göttern sei Dank, Anfreda hatte ihrem Sohn die Sprache der Priteni beigebracht. Das würde Broichans Aufgabe gewaltig erleichtern. Vielleicht war fünf ja doch nicht zu jung. »Möge der Flammenhüter dein Herz wärmen«, erwiderte Broichan, wie es die Höflichkeit verlangte. Er sah sich das kleine Gesicht genauer an. Das feste Kinn hatte der Junge von Maelchon, ebenso wie die aufrechte Haltung und den eisernen Willen, der diese müden Augen offen hielt und die auswendig gelernten Worte inmitten eines seltsamen, plötzlichen Erwachens in einer fremden Welt heraufbeschwor. Die liebreizenden blauen Augen, das lockige braune Haar und das leichte Stirnrunzeln hatte er von Anfreda. Das Blut der Priteni war stark und - 10 echt in diesem Jungen. Die Mutter hatte gut gewählt. Der Druide nickte zufrieden. »Komm«, sagte er. »Ich werde dir zeigen, wo du schläfst. Cinioch, Elpin, Urguist - gut gemacht. Euer Abendessen wartet drinnen auf euch.« Im Haus folgte der Junge Broichan schweigend an den neugierigen Blicken der Diener vorbei in die Halle, wo zwei alte Männer, Erip und Wid, und ein paar große Hunde vor dem Feuer saßen. Die Hunde hoben die Köpfe und knurrten warnend. Der Junge zuckte zusammen, gab aber keinen Laut von sich. Die alten Männer hatten einen Tisch mit einem Spielbrett und Spielfiguren aus Knochen zwischen sich stehen. Bridei betrachtete interessiert die geschnitzten Priesterinnen, Krieger und Druiden, die alle nicht größer waren als der kleine Finger eines Mannes. Er blieb einen Augenblick stehen. »Willkommen, Junge«, sagte Erip und zeigte beim Grinsen seine Zahnlücken. »Magst du Spiele?« Der Junge nickte. »Dann bist du an den richtigen Ort gekommen«, erklärte Wid und strich sich über den weißen Bart. »Wir sind die besten Spieler in ganz Fortriu. Krähenecken, Brich-die-Mauer, Vormarsch und Rückzug, wir sind Experten darin. Du siehst deiner Mutter ähnlich, Junge.« In den blauen Augen des Jungen stand eine Frage. »Das genügt jetzt«, sagte Broichan. »Komm, hier entlang.« Er würde Wid und Erip daran erinnern müssen, dass er derjenige war, der dieses Kind erzog. Brideis neues Leben begann in diesem Augenblick; der Junge musste seinen Weg beschreiten, unbehindert von dem Wissen, wer er war und was er werden sollte. Für solche Dinge war noch Zeit, wenn er erwachsen war. Sie hatten zehn Jahre, fünfzehn, wenn die Götter freundlich gesinnt waren. In dieser Zeit musste Broichan dieses Kind zu einem jungen Mann formen, der in - 11 jeder Hinsicht für die große Rolle geeignet war, die er in Fortrius Zukunft spielen sollte. Brideis Ausbildung musste makellos sein. Tatsächlich war es nur gut, dass er so früh gekommen war. Fünfzehn Jahre würden kaum genügen. »Das hier ist dein Zimmer«, sagte Broichan und stellte seine Kerze auf ein Regal. Bridei sah sich in dem kleinen Zimmer mit dem schmalen Bett, der Truhe und dem winzigen rechteckigen Fenster um, hinter dem rauschende Birken und ein Flecken dunklen Himmels zu sehen waren. »Du siehst müde aus. Schlafe jetzt. Morgen früh beginnen wir mit deiner Ausbildung.« In Pitnochie hatten alle viel zu tun. Bridei lernte bald, der grimmigen Haushälterin Mara und dem schlecht gelaunten Koch Ferat aus dem Weg zu gehen, wenn sie ihren unglücklichen Helfern Befehle zubrüllten oder sich
mit beträchtlicher Energie daran machten, den Staub aus Wandbehängen zu schlagen oder eine Hammelseite am Spieß zu drehen. Mara und Ferat stritten sich häufig, obwohl sie nie wirklich zornig wurden. Es war nur, als könnten sie sich über nichts einigen. Auch Bridei war stets beschäftigt. Broichans Unterricht war eine Herausforderung; er begann mit Pflanzen- und Tierkunde, und bald schon lernte er außerdem Übungen, die innere Ruhe und Konzentration fördern sollten. Broichan sagte ihm, dass er zwar ein paar Jahre jünger war als die Jungen, die zur Druidenausbildung in die Nemetons gingen, aber nicht zu jung, um mit dieser Arbeit zu beginnen. Eine Weile musste Bridei jeden Abend, wenn er in seinem Zimmer lag und auf den Schlaf wartete, gegen Tränen ankämpfen. Aber schon bald verblasste die Erinnerung an seine Mutter, seinen Vater und seine großen Brüder. Ein paar Dinge blieben noch: der Gürtel seines Vaters, breites, dunkles Leder mit einer Silberschnalle in Form eines Pferds. Ein süßer Duft nach Veilchen oder einer anderen Wildblume, - 12 den er mit seiner Mutter assoziierte. Als selbst diese Erinnerungen immer weiter davon drifteten, blieben ihm immer noch die Abschiedsworte seines Vaters im Gedächtnis: Gehorche deinem Pflegevater bei allem. Gehorche, lerne und weine nicht. Die Jahreszeiten vergingen, und Bridei befolgte diese Anweisung aufs Genaueste. Er freute sich, weil er den Erwartungen seines Vaters nachkommen konnte. Erip und Wid, die bei seiner Erziehung ebenfalls eine Rolle spielten, hatten ihm erzählt, wozu der Austausch von Pflegekindern gut war: Er half Familien, Bündnisse zu schließen, und ließ junge Männer stärker und nützlicher wieder nach Hause zurückkehren. Bridei fragte sich allerdings, wieso seine Familie ihn ausgewählt hatte und nicht einen seiner Brüder, und schließlich stellte er Broichan diese Frage. »Weil du der Geeignetste warst«, sagte der Druide. »Und wann werde ich wieder nach Hause zurückkehren?« Broichan sah den Jungen gelassen aus seinen dunklen Augen an. »Das ist eine Frage, die nur die Götter beantworten können, Bridei«, sagte er. »Bist du hier in Pitnochie nicht zufrieden?« »Doch, Herr.« Und das stimmte, denn er mochte den Unterricht. Er fragte sich nur manchmal, warum er hier war. »Dann stelle keine solchen Fragen mehr.« Der kahlköpfige Erip und der hakennasige Wid freundeten sich bald mit Bridei an. Die alten Männer kannten viele Tricks. Im ersten Winter lernte Bridei das Spiel mit den kleinen geschnitzten Figuren. Und Wid zeigte ihm, wie er mit dem Schatten seiner Finger an der Wand einen Raben, ein Reh und einen langohrigen Hasen darstellen konnte, wenn eine Kerze hinter ihm brannte. Während sie noch darüber lachten, produzierte Broichan mit ausdrucksloser Miene ein Schattenbild, das nie durch Hände vor einer Flamme hätte erzeugt werden können - welcher Mann, dem nur zehn Fin- 13 ger zur Verfügung standen, konnte schon einen Feuer spuckenden Drachen erzeugen, der mit ausgebreiteten Flügeln ein ganzes Heer entsetzter Krieger verfolgte? Im Frühjahr, kurz vor der Tagundnachtgleiche, ging Broichan in den Wald, um dort in Ruhe beten und meditieren zu können. Er war drei Tage weg, und während seiner Abwesenheit brachten die alten Männer seinem Pflegesohn bei, wie man einen ganzen Becher Bier ohne abzusetzen leerte. Als Bridei das zum ersten Mal versuchte, spuckte er gewaltig auf die Steinfliesen, und die Hunde mussten es auflecken. Der Druide kehrte mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen und bleicher als zuvor zurück. Er sagte nichts über die Zeit seiner Abwesenheit. Aber er entdeckte rasch, was inzwischen mit Bridei geschehen war. Als Bridei am nächsten Abend zum Essen in die Halle kam, waren die alten Männer nicht mehr da. Bridei wusste nicht, dass er einsam war. Die Abschiedsworte seines Vaters bedeuteten, dass er akzeptieren musste, was geschah, dass er damit zurechtkommen und weitermachen musste. Er hatte einmal eine Familie gehabt, und sie hatte ihn weggeschickt. Erip und Wid waren nett zu ihm gewesen, und nun waren sie weg. Dahinter verbarg sich eine Lektion. Broichan sagte immer, man könne aus allem etwas lernen. In Broichans Unterricht ging es im Allgemeinen um Muster: um die sichtbaren, wie zum Beispiel, dass die Blätter an den Birken von vorsichtigem Knospen zu frischem, sich entfaltendem Grün und von leuchtend grüner Mittsommerkraft zum knisternden, trockenen Braun der Frosttage übergingen; dass sie schrumpften und sich immer noch anklammerten und dann doch fielen, um sich in zerbrechliche Skelette zu verwandeln, sich in dem üppigen Humus des Waldes zu verlieren und den Elternbaum zu nähren. Dass neue Blätter in der dunklen Zeit verborgen warteten, wie ein Traum im Hinterkopf, den man nicht recht in Worte fassen konnte. - 14 Und es gab andere Muster, die dahinter lagen, Ketten und Verbindungen so groß und kunstvoll, dass Bridei glaubte, er würde selbst ein alter Mann sein, bevor er sie wirklich verstehen konnte. Aber er klammerte sich an das, was man ihm sagte, hörte angestrengt zu und beobachtete seinen Pflegevater so genau, wie ein junges Tier die älteren beobachtet und die großen Dinge lernt: jage oder hungere, verbirg dich oder werde erbeutet, fliege oder falle. Im Lauf des ersten Jahres stand der Junge bei allen jahreszeitlichen Ritualen an der Seite des Druiden. Als Erstes kam das Torfest, das geheimste von allen, der Beginn der dunklen Zeit, der Ruhezeit, in der die Knochenmutter
einen langen Schatten über die Erde warf, das Gras mit Reif und die Teiche mit Eis überzog und die Nächte länger werden ließ, bis sich alle nach der Sonne sehnten. Beim Torritual wurde das Blut eines Tiers vergossen, und es gab sein Leben direkt vor ihnen auf einer Platte aus uraltem Stein. Broichan bat seinen Pflegesohn nicht, das Messer zu führen - das übernahm er selbst -, aber er erwartete, dass Bridei ohne mit der Wimper zu zucken zusah. Das Blut des Hahns spritzte überall hin. Bridei mochte das Geräusch nicht, das er beim Sterben von sich gab, auch wenn der Druide das Tier schnell und sauber schlachtete. Es war notwendig; die Knochenmutter wollte es so. Überall in ganz Fortriu verlangte sie es. Danach lud Broichan die Geister der Ahnen zum Festessen ein. Am Tisch wurde auch für sie gedeckt. Wenn Bridei die Augen halb schloss, glaubte er, sie sehen zu können, bleiche, durchscheinende Schatten grimmiger Krieger und schlanker Frauen, und hier und da ein stilles kleines Kind. Als Nächstes kam Mittwinter, ein Fest der Leuchtenden. Bei dieser Zeremonie war die Präsenz der Knochenmutter immer noch stark, aber von nun an würde ihr Griff jeden Tag ein wenig schwächer werden und die Sonne jeden Morgen ein winziges Stück weiter östlich aufgehen. Überall im Haus wurden Mistelzweige aufgehängt, zusammen mit - 15 glänzenden Stechpalmenblättern und blutroten Beeren; sie waren ein erstes Versprechen des neuen Lebens, das sich bald schon zeigen würde. Es war ein besonders gutes Vorzeichen für das neue Jahr, erläuterte Broichan seinem Schüler, wenn die Leuchtende sich in der Nacht der Sonnenwende in ihrer strahlenden Vollendung zeigte. Wenn das geschah, war es ein sicheres Zeichen, dass diese Göttin des Lichts dem Haushalt und dem, was darin geschah, ihren Segen gewährte. Es würde eine üppige Ernte und fette Lämmer geben; die Bäume würden sich unter dem Gewicht des Obstes beugen, und Neugeborene würden blühen und gedeihen. Bridei fiel auf, dass es in Pitnochie zwar tatsächlich Hafer, Schafe und Birnbäume gab, aber keine Neugeborenen, ja außer ihm überhaupt keine Kinder. Von der Haushälterin Mara einmal abgesehen, war Broichans Haushalt ein Männerhaushalt. Nach der Sonnenwende gab es weitere Feste: den Jungfrauentanz, der der Blütenreichen, der Göttin alles Wachsenden, heilig war; und die Frühlings-Tagundnachtgleiche, Fest des Aufstiegs genannt, worüber Broichan nicht viel verriet, nur dass an anderen Orten, bei anderen Menschen, noch mehr zu diesem Fest gehörte und dass Bridei diese Einzelheiten erfahren würde, wenn er älter war. Zum Fest des Aufstiegs war es warm, der Duft von Blüten hing schwer in der Luft, Bienen summten, Vögel sangen, und Broichan gestattete den Bewaffneten, die Siedlung südlich von Pitnochie aufzusuchen, ein Vorrecht, das er ihnen nur selten gewährte. Bridei hatte diese Siedlung nie gesehen. Broichan sagte, es gebe keinen Grund für ihn, über Haus und Garten hinauszugehen. Dann folgte Mittsommer, wenn der Flammenhüter am stärksten war; danach das Herbstfest der Reife, und das der Herbst-Tagundnachtgleiche, wenn Dunkelheit und Licht abermals vollkommen im Gleichgewicht waren, bevor das Jahr auf sein Ende, auf ein weiteres Torfest zueilte. - 16 Bridei beobachtete und lernte, und jeden Abend, bevor er einschlief, ging er die Rituale in der Stille seines kleinen Zimmers noch einmal durch und übte die stetigen, rhythmischen Gesten, die Broichan vollzog, versuchte, den Kreis zu ziehen, sprach leise die feierlichen Begrüßungs- und Abschiedsfloskeln. Zuerst arbeitete er wegen der Abschiedsworte seines Vaters so schwer, weil er wusste, dass es von ihm erwartet wurde. Aber schon bald lernte er, weil es ihn danach dürstete, weil er so fasziniert von den geheimnisvollen und mächtigen Dingen war, die Broichan ihm enthüllen konnte. Je mehr er entdeckte, desto mehr wollte er wissen. Die Rituale waren ein gutes Beispiel. Es ging nicht nur darum, alles nachzumachen. Das hatte Broichan von Anfang an betont. Man musste die Götter kennen, soweit man Götter überhaupt kennen konnte; man musste sie lieben und achten und die wahre Bedeutung der Feste so gut verstehen, dass das Gelernte bis tief in die Knochen drang, mit dem Blut floss und in jedem Atemzug mitschwang. Solches Lernen war ein lebenslanger Prozess; man hörte nie auf, eine reinere Verbindung zwischen Fleisch und Geist, Mensch und Gott, Welt und Anderwelt anzustreben. Es war ein gleichermaßen wunderbares und schreckliches Geheimnis, sagte Broichan, und sie würden tatsächlich alt werden, bevor sie sein wahres Herz auch nur berührten. Im Frühling von Brideis sechstem Jahr kam Donal. Donal war ein Krieger mit einem wilden Muster auf Wangen und Kinn und einem weiteren Muster aus ineinander verschlungenen Ringen um die starken Muskeln seines Oberarms. Er hatte eng zusammenstehende Augen, ein Furcht erregendes Kinn und ein Grinsen, das Bridei unwillkürlich lächeln ließ. Sie ritten zusammen aus, Bridei auf Perle, dem sanftmütigen Pony, das Donal für ihn mitgebracht hatte, und der Krieger auf einem knochigen Pferd mit seltsam fleckigem Fell, das er Glückspilz nannte. Es war nicht gerade das typische Streitross, aber andererseits, sagte Donal, war es viel- 17 leicht doch das richtige Tier für ihn, denn schließlich hatte Glückspilz seinen Reiter durch drei Schlachten mit den Galen, diesen jämmerlichen rothaarigen Mistkerlen, getragen, und weder am Mann noch am Tier war auch nur eine Spur dieser Kämpfe geblieben. Nun ja, es gab einen oder zwei abgebrochene Zähne - bei Donal - und eine Kerbe im Ohr - bei Glückspilz -, aber hier waren sie nun, führten ein gutes Leben und ritten mit dem Sohn eines Druiden im Wald umher. Wenn das kein Glück war, was sonst? »Pflegesohn«, verbesserte Bridei. »Was sagst du?«
»Broichan ist nicht mein Vater. Er unterrichtet mich. Wenn ich größer bin, werde ich nach Hause gehen.« Bridei war sich dessen nicht so sicher, wie er sich gab, aber er konnte sich auch nicht vorstellen, was sein Pflegevater sonst mit ihm anfangen wollte. »Ah ja?« Das sagte Donal immer. Es bedeutete vielleicht Ja, vielleicht Nein - eine unverfängliche Antwort. Es war die Art von Antwort, die dafür sorgen würde, dass Donal länger im Haushalt des Druiden blieb als die beiden alten Männer. »Ich will galoppieren«, sagte Bridei, berührte Perles Flanken mit den Hacken, und schon eilten die beiden unter den Eichen her, am Hügel am See entlang. Es war nicht einfach für Donal, einen hoch gewachsenen Mann auf einem großen Pferd, das Pony auf solch engem Raum einzuholen, und Bridei führte ihn bis zu einer Stelle, wo der Hügel steil in ein Dickicht aus wilden Rosen und Brombeersträuchern abfiel. Am Rand dieses engen Tals wuchsen Eichen, aber in seinem Schatten gab es nur kleine Bäume, deren Art schwer zu bestimmen war, denn sie waren alle schief gewachsen, in seltsamen Formen. Selbst an diesem klaren Tag hing Nebel über der Kluft; von diesem Ort ging eine unheimliche Stille aus, die von Angst sprach. »Was ist das hier?«, fragte Donal, der Bridei endlich eingeholt hatte und mit einem gut eingeübten Überschlag aus - 18 dem Sattel sprang. »Fühlt sich irgendwie böse an, denke ich. Wir sollten uns hier lieber nicht aufhalten.« »Es gibt einen Weg«, sagte Bridei. »Dort!« Der Weg war nicht leicht zu erkennen, denn Farnwedel und die Zweigfinger niedriger Büsche reckten sich darüber, um ihn zu verbergen. Der Nebel hing kaum mannshoch über dem gewundenen Pfad, der schmal war und aus festgestampfter Erde bestand: kein natürlicher Weg, sondern einer, der künstlich angelegt worden war. Donal zögerte. »Warst du schon einmal hier, Junge?«, fragte er. Bridei schüttelte den Kopf. »Es gefällt mir nicht, wie es hier aussieht«, murmelte der Krieger und machte ein Zeichen mit den Fingern. »Wenn wir da runtergehen, finden wir uns vielleicht auf einer kleinen Lichtung wieder, umzingelt vom Guten Volk, das mit uns feiert, und am Morgen wachen wir in einem seltsamen Land auf, aus dem wir nicht gekommen sind.« »Können wir nicht wenigstens schnell nachsehen?«, fragte Bridei, denn für ihn klang das nach Abenteuer. Das Pony schauderte und zuckte mit den Ohren. »An solchen Orten kann man nicht einfach schnell nachsehen«, sagte Donal angespannt und stieg wieder aufs Pferd. »Das ist eins von diesen Portalen, von denen die Leute erzählen, das sehe ich klar; schau dir nur die Steine dort am Beginn des Wegs an. Das ist ein Schutz, aufgestellt von Leuten wie du und ich, damit diese Anderen nirgendwohin gelangen, wo sie nicht erwünscht sind. Oder eine Warnung für uns, nicht dort hinunterzugehen. Komm weiter, Junge.« Bridei war kein trotziges Kind; es wäre ihm nicht eingefallen zu widersprechen. Außerdem sah er deutlich, dass Perle ebenso versessen darauf war wie Donal, wieder nach Hause zurückzukehren. Aber auf dem Rückweg nagte der Gedanke an das verborgene Tal an Brideis Geist, ein Rätsel, das verlangte, gelöst zu werden. - 19 Es gab eine richtige und eine falsche Art, einem Druiden Fragen zu stellen. Man ließ sie nicht einfach beiläufig beim Abendessen fallen. Wenn man das tat, bestand die Antwort bestenfalls aus einem Hochziehen der Brauen, einem rätselhaften Lächeln und Schweigen. Bridei lernte, einige Fragen überhaupt nicht zu stellen: solche nach seiner Mutter zum Beispiel, oder warum er nicht hinunter in die Siedlung gehen konnte, wo es, wie die Männer erwähnt hatten, andere Jungen etwa in seinem Alter gab. Er würde keine guten Antworten auf diese Fragen erhalten. Der Platz für Fragen war der Unterricht, und sie mussten etwas mit dem Thema des Tages zu tun haben. Zum Glück ging es zu diesem Zeitpunkt in Brideis Ausbildung um häusliche Schutzzauber. Bridei hatte bereits gelernt, dass es drei Arten von Magie gab. Tiefe Magie, die aus der Erde und dem Himmel, dem Fluss und der Flamme, dem trägen Traum im Herzen der Dinge kam, und diese Magie war am schwersten zu erlernen und es dauerte am längsten. Hohe Magie wiederum wurde von den mächtigsten Zauberern eingesetzt, und manchmal von Druiden. Hohe Magie war gefährlich; sie konnte den Verlauf von Kriegen beeinflussen und Könige entthronen. Dieser Tage bekam man sie selten zu sehen. Und als Letztes gab es die häusliche Magie, und damit hatten sie sich beschäftigt. Häusliche Magie oder Herdmagie konnte von jedem angewandt werden, so lange man vorsichtig war. Schon kleine Fehler konnten bewirken, dass alles schief ging; am Ende stellte man vielleicht alles auf den Kopf, weil man die Magie nicht auf die richtige Weise einsetzte. Gewöhnliche Leute wie die Kätner am Seeufer benutzten diese Art von Magie vielleicht, um die mutwilligen Präsenzen abzuwehren, die bei Vollmond aus dem Wald kamen oder sich an nebligen Tagen an Fischerboote auf dem See klammerten. Zum Beispiel Babys. Jeder wusste, dass ein Neugeborenes nicht in Sicherheit war, ehe man ihm einen Schlüssel in die - 20 Wiege gesteckt hatte. Dieser kleine Zauber sorgte dafür, dass das Gute Volk das Kind nicht stahl und an seiner Stelle eine kleine, aus Zweigen und Gras geflochtene Gestalt zurückließ. Oder Türen, die man gegen das mögliche Eindringen aufdringlicher Geister schützen musste. Es gab viele Möglichkeiten, das zu tun, zum Beispiel, indem man Salz oder bestimmte Kräuter vergrub oder Eisennägel ins Holz schlug.
Broichan und der Junge hatten sich schon mehrere Tage mit diesen Dingen beschäftigt, und Bridei wusste nun, warum an den Eingängen der Hütten im Tal Wachholderbüsche wuchsen und wieso die Leute Kreidekreise auf Haustüren malten. Dies waren sehr grundlegende Zauber, einfach zu verhängen, aber von machtvoller Wirkung. Im Wald gab es viele Formen von Leben. Wölfe verfolgten den einsamen Reisenden; ein Wildschwein konnte sich gegen einen Jäger wenden und mit Hauern und Hufen schweren Schaden anrichten. Vernunft und Geschicklichkeit halfen gegen solche Gefahren. Füchse versuchten, sich im Hühnerstall zu bedienen, und Adler wollten Frühlämmer davontragen. Wachsamkeit und Fürsorge konnten solche Gefahren zum größten Teil abwenden. Ein Bauer musste immer mit ein paar Verlusten rechnen; so ging es nun einmal in der Natur zu, damit sowohl Menschen als auch Tiere überlebten. Tiere waren eine Sache, und man durfte sie sicherlich nicht unterschätzen, aber normalerweise konnten Menschen mit ihnen fertig werden. Das Gute Volk war etwas ganz anderes. Gutes Volk - schon die Bezeichnung war irreführend. Die Menschen benutzten sie, erklärte Broichan seinem Schüler, um diese Wesen nicht zu beleidigen. »Du musst wissen, dass es auch andere Namen für sie gibt, Bridei«, sagte er ernst, als sie auf einer Steinbank vor der Asche des Feuers vom Vorabend saßen. Das erste Morgenlicht fiel kalt und rein durch die bunten Scheiben des runden Fensters in der Halle. Es warf ein Muster auf die Steinfliesen, rot, lila, mitternachtsblau. Bridei zog den Umhang hoch um den - 21 Hals und vergrub die Hände in den Falten. Er wollte nicht, dass der Druide sein Zittern bemerkte, aber er fror am ganzen Körper. »Namen, die ich draußen nicht laut aussprechen würde, denn diese Wesen zu verärgern bedeutet, sie geradezu einzuladen, Unruhe zu stiften. Ihre wahren Namen lauten ...« Broichans Stimme verklang zu einem Flüstern: »Der Urisk, der in der Gischt hinter dem Wasserfall lebt, den Menschen bei Nacht folgt und seine Einsamkeit herausweint, und dann gibt es die Tarans, Geister kleiner Kinder, die in der Wiege starben, und das Heer der Toten. Es gibt viele unterschiedliche solche Wesen, alle auf ihre eigene Art gefährlich. Viele haben eine schöne Gestalt, und wir geben ihnen einen schönen Namen. Das allein stellt bereits einen Schutz gegen sie dar.« Bridei nickte und hoffte, der Druide würde nicht bemerken, dass er vor Kälte mit den Zähnen klapperte. »Sie müssen unbedingt und zu jeder Zeit mit Respekt behandelt werden«, fuhr Broichan ernst fort. »Wir müssen sie achten und fürchten, aber ich kann nicht behaupten, dass man ihnen auch vertrauen kann, denn diese Wesen verstehen die Welt nicht auf die gleiche Weise wie wir. Dennoch, ein weiser Mann weiß, wie wichtig sie für den allgemeinen Plan der Dinge sind. Wir alle hängen voneinander ab, Pflanze und Tier, Stein und Stern, Gutes Volk und Menschen. Und jetzt«, Broichan erhob sich, »steh auf, schließe die Augen und sage mir, wo du gesehen hast, dass mein Haus gegen unerwünschtes Eindringen beschützt wird.« Bridei stand auf. Er hatte keine Gelegenheit zum Lernen gehabt, und sie hatten sich das Haus nicht vorher angesehen, sodass er nicht vorbereitet war; Broichan erwartete, dass er stets beobachtete und lernte, jeden Augenblick eines jeden Tages. Die Augen fest geschlossen, sah er nun im Kopf das lang gezogene, niedrige graue Steinhaus, das Strohdach dunkel von Regen und Frost, die Dachgewichte an ihren schweren Seilen. Er stellte sich die unmittelbare Umgebung des Hauses vor, die Pflanzen, die dort wuchsen, das Muster der - 22 kreisförmigen Wege. Dann die Türen, die Öffnungen, jedes Zimmer, jede Ecke. Er nannte dem Druiden alles, was ihm einfiel: Wachholder, Farn und Rosmarin, ein Pfad mit weißen Kieselsteinen, der im Kreis herum führte, ein Kasten mit gelochten Steinen unter der Vordertreppe. Drei Nägel in der Hintertür, die ein Dreieck formten. Kränze aus Blättern und Dornenranken über den Türen und ein Knoblauchzopf. »Und?«, fragte Broichan. Einen Augenblick geriet Brideis Gedächtnis ins Wanken, dann holte er tief Luft und machte weiter. »Das Fenster, das bunte - es ist rund wie der Vollmond. Das ist der Segen der Leuchtenden, der auf uns alle fällt. Das bunte Glas ist dafür da, dass das ... das Gute Volk nicht sehen kann, wo sich der Eingang befindet.« »Und?« »Und ... gewöhnliche Dinge, keine Magie. Mara stellt Schälchen mit Milch nach draußen. Ferat legt einen Laib Brot unter die Ebereschen. Dann wird das Gute Volk den Kühen und Pferden nichts tun.« »Noch etwas?« Bridei schwieg einen Moment. »Man lernt niemals aus«, sagte er schließlich. Das war einer der Lieblingssätze seines Pflegevaters. »Aber das sind alle, die ich im Augenblick aufzählen kann. Und ich habe eine Frage, Herr.« »Du kannst die Augen wieder öffnen, Sohn«, sagte der Druide. Bridei blinzelte und sah zu seiner Erleichterung, dass sein Pflegevater Holz in die Feuerstelle legte. Broichan konnte sehr schnell ein Feuer anzünden; es brauchte nur ein leises Wort von ihm und ein Schnippen seiner schlanken Finger. Flammen zuckten um die Kiefernscheite, das Holz fing Feuer und begann, hell zu brennen. Wärme breitete sich aus, berührte Brideis taube Finger, seine eisige Nase, seine schmerzenden Ohren. »Setz dich, Junge. Und stell deine Frage.« - 23 »Was bedeutet es, wenn ein kleiner Haufen weißer Steine an einem Pfad liegt? Bedeutet es, dass man dort entlanggehen soll, oder das Gegenteil?« Brideis Hände tauten nun angenehm. Broichan schnippte mit den Fingern, und ein Küchenhelfer brachte
Haferbrei, Milch und einen Krug Met auf einem Tablett. »Iss dein Frühstück, Bridei«, sagte der Druide, und seine Augen schienen weit in die Ferne zu blicken. Er hatte die Stirn ein wenig gerunzelt. »Sag mir, hat Donal dich auf einen der Wege geführt, die du nicht betreten solltest?« Bridei, der gerade einen Löffel Haferbrei an die Lippen führte, wurde rot. »Nein, Herr. Ich habe ihn geführt. Wir sind diesen Pfad nicht entlanggegangen, den mit den Steinen. Donal sagte, es wäre besser so. Die Pferde hatten Angst. Donal sagte, ich sollte dich danach fragen.« »Bevor du zurückkehrst und es weiter erforschst, meinst du?« Broichan schien nicht zornig zu sein. »Nicht, wenn du das nicht willst, Herr. Weißt du, welche Stelle ich meine?« Broichan goss sich selbst Met ein und ignorierte den Haferbrei. Er trank einen Schluck, dachte nach und setzte den Becher ab. »Ich habe erst eine andere Frage für dich«, sagte er. Offenbar war die Unterrichtsstunde noch nicht vorüber. Bridei stellte die Schale mit dem Haferbrei wieder aufs Tablett, blieb still sitzen und wartete. »Du bist recht aufmerksam. Du hast ein Auge dafür, was das Haus gegen Eindringlinge schützt. Ich möchte, dass du noch einmal über deine Antwort von vorhin nachdenkst, und diesmal antworte nicht wie ein Kind, das etwas auswendig Gelerntes aufzählt, sondern wie ein Druide: mit deinem Verstand.« Bridei dachte angestrengt nach. Er war nicht sicher, welche Antwort Broichan hören wollte. Vielleicht lag ein Hinweis darauf in der Frage selbst. - 24 »Es ist nicht nur das Gute Volk«, sagte er und dachte über die Möglichkeiten nach. »Es gibt auch andere Arten von Gefahren, gegen die Magie nicht hilft.« »Weiter«, ermutigte Broichan ihn. »Donal bringt mir bei, wie man reitet.« Bridei dachte nun laut. »Aber er ist auch eine Art Wächter. Es gibt hier viele Bewaffnete. Ich weiß, dass du Nebel heraufbeschwören und die Bäume verzaubern kannst, sodass sie sich umherbewegen. Nicht viele Leute kommen her. Und du trägst stets ein Messer in deinem Gewand verborgen. Ich glaube, es gibt noch mehr Gefahren. Du bist die meiste Zeit hier, obwohl du der Druide des Königs bist. Erip sagte, du wärst der einf- einful-einflussreichste Mann in ganz Fortriu.« »Was bedeutet das? Einflussreich?« »Du kannst Leute dazu bringen, dass sie tun, was du willst«, spekulierte Bridei. »Ha!« Das Geräusch, das Broichan von sich gab, war beinahe ein Lachen, aber es lag keine Heiterkeit darin. Bridei schwieg, denn er befürchtete, seine Antwort könnte den Druiden verärgert haben. »Ich wünschte, das wäre so«, fügte Broichan hinzu, griff nach einem Löffel und schob ihn mit sichtlicher Abscheu in den abkühlenden Haferbrei, auf dem sich nun eine gräuliche Haut bildete. »Wenn Weisheit in diesem wirren und umnachteten Land doch nur so viel bedeutete, Bridei! Ein einziger Druide, ganz gleich wie einflussreich, kann nicht genügend Macht heraufbeschwören, um Fortrius Leiden zu heilen.« Bridei hatte sein Frühstück über dem Nachdenken vollkommen vergessen. »Aber du kannst Feuer machen und das Wetter ändern, und du weißt so viel über Zauber und Beschwörungen, und du kennst dich mit Pflanzen und Tieren aus«, sagte er. »Bist du nicht mächtiger als jeder andere? Sogar mächtiger als Könige?« Broichan sah ihn an, die dunklen Augen so wachsam wie - 25 die eines Falken. »Dein Haferbrei wird kalt«, sagte er. »Du solltest lieber aufessen. Selbst der tapferste Krieger reitet nicht mit leerem Magen in den Kampf. Donal wird dir das bestätigen.« Bridei hatte sich inzwischen an Broichans Art zu reden gewöhnt. Er schluckte die klebriger werdende Masse herunter und behielt seine Gedanken für sich. Er nahm an, dass es nicht das Gute Volk mit seinen Streichen und seiner Seltsamkeit war, das sie am meisten fürchteten. Die Gefahr kam aus einer anderen Richtung, aus der Welt der Menschen. Bridei beendete sein Frühstück, und als er die Halle verließ, hatte er immer noch keine Antwort auf seine Frage erhalten. Aber als er zur verabredeten Zeit in den Stall kam, stand Sibel, die schwarze Stute des Druiden, gesattelt neben der kleinen, gut gepflegten Perle und dem langbeinigen Glückspilz. Broichan und Donal unterhielten sich angeregt, aber beide schwiegen, als Bridei näher kam. »Bring uns zu dem Ort, von dem du gesprochen hast, Junge«, sagte der Druide. »Zeig uns die Steine, den Nebel, den Weg nach unten. Nähere dich mit angemessener Vorsicht. Wende an, was du gelernt hast. Wir trampeln nicht einfach im Wald herum. Du kannst vielleicht deinem Pony die Arbeit überlassen, aber du musst ihm helfen, die Schritte zu setzen, als wären seine Hufe deine eigenen Füße, und darfst nie den Herzschlag der Erde unter dir und das Bewusstsein dafür verlieren, was sich über und unter dir befindet. Wann immer du im Wald unterwegs bist, solltest du Teil dieses Waldes sein, Bridei, und kein Eindringling. So wirst du keine Schutzzauber brauchen. Sollen wir aufbrechen?« Es war ein schöner Morgen. Die frische Kälte des Herbstes lag in der Luft; der erste Frost würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Auf den Wegen lag das Laub in einer dicken Schicht, und hier und da waren braune, goldene, rotbraune, gelbbraune Blätter aufgehäuft wie der Hort eines Drachen. Das Laub fiel immer noch, wenn Wind die Zwei- 26 -
ge traf, hier ein Flüstern von Gold, dort eine zerbrechliche Träne, so rot wie Blut. Die Pferdehufe verursachten ein leises, knirschendes Geräusch. Bridei konnte die Wolke von Perles Atem und die kleinere Wolke seines eigenen sehen. Er war froh, dass er seine Schaffellmütze aufgesetzt hatte. Er hielt sich an die Anweisungen des Druiden und sah sich sehr aufmerksam um. Von seinen Spaziergängen her wusste er bereits, dass es im Wald seltsame Dinge gab; Dinge, die man glaubte, so gerade eben aus dem Augenwinkel zu sehen, aber wenn man versuchte, sie besser zu erkennen, waren sie verschwunden. Ein Aufblitzen von Rot, das nicht von einem Blatt kam, plötzliche Bewegungen, die nichts mit vorbeifliegenden Vögeln zu tun hatten. Büsche wuchsen, wo es am Vortag nichts als moosbedeckte Steine gegeben hatte; Geräusche wie Lachen oder Gesang erklangen an Orten, an denen es weit und breit keine menschliche Siedlung gab. Bridei schauderte. Gutes Volk war so ein freundlicher, gemütlicher Name. Was Broichan ihm erzählt hatte, klang ganz anders. Die Reiter ritten unter ein paar großen Eichen hindurch und blieben am Rand der Kluft im Hügelabhang stehen. Bridei stieg ab. Der kleine Steinhaufen war immer noch da. Auf der anderen Seite des Wegs befand sich jetzt ein identischer Miniatursteinhügel. Zwischen ihnen hindurch verlief der steile Weg, verschleiert mit einem Tuch aus Nebel, hinab in die Tiefen des verborgenen Tals. Die anderen waren ebenfalls abgestiegen. Donal nahm die Zügel der Pferde. Broichan beobachtete Bridei gelassen unter halb geschlossenen Lidern hervor. »Es ist deine Entscheidung, Junge«, sagte der Druide. »Interpretiere die Zeichen und sag uns, was wir tun sollen.« »Wir gehen weiter«, antwortete Bridei sofort, und sein Herz klopfte in einer Mischung aus Aufregung und Angst. »Perle hatte letztes Mal Angst, hier entlangzugehen. Heute ist das anders, seht ihr?« - 27 »Dennoch«, erklärte Broichan, »wir werden die Pferde hier oben bei Donal lassen. Die Art von Ärger, gegen die wir seinen Schutz brauchten, wird uns nicht an einen solch unheimlichen Ort folgen. Andererseits gibt es gewisse Kräfte in diesen Wäldern, die ein scharfes Auge für gutes Pferdefleisch haben, und dieses verhüllte Tal sieht aus, als wäre es so recht nach ihrem Geschmack. Deine kleine Perle wird hier oben mit einem Eisen schwingenden Krieger aus Fortriu an ihrer Seite erheblich sicherer sein, so gern sie dir auch folgen würde.« Donal schien mehr als froh, von der Expedition ausgeschlossen zu sein. Er band Pferde und Pony locker an, dann ließ er sich an einen massiven Eichenstamm gelehnt nieder, die langen Beine zwischen den Wurzeln ausgestreckt, und schien zu dösen. Aber diese Pose täuschte; der Blick in den halb geschlossenen Augen, die strategische Position von Messer und Dolch, sodass er sie sofort packen konnte, waren Bridei vertraut. Donal hatte ihm bereits ein paar Dinge beigebracht, die nichts mit Pferden zu tun hatten. Als er nun hinter dem Druiden den steilen Pfad entlangging, hatte Bridei das merkwürdige Gefühl, dass sich die Kriechpflanzen und die Büsche, die sich sonst mit Dornen, Stacheln und Kletten an ihn geklammert hätten, so weit wie möglich zurückzogen, dass die erstickende, wirre Decke von Grün sich entschieden hatte, an diesem Tag Eindringlinge durchzulassen. Er fragte sich, ob Broichan einen Zauber wirkte, denn er wusste, dass der Druide die Naturkräfte erstaunlich gut beherrschte. Aber es gab kein Anzeichen von Magie. Broichan ging einfach nur den Hügel hinunter, setzte die bestiefelten Füße vorsichtig auf den unsicheren Boden, den Stab in einer Hand, während er mit der anderen sein langes Gewand raffte. Wenn er tatsächlich einen Zauber wirkte, dann jedenfalls nicht mit Handgesten oder Rezitationen. Bridei nahm an, dass sich die Magie bereits hier befand. - 28 Er war nicht sicher, was er erwartet hatte: vielleicht kleine Leute, die unter Pilzen hockten, oder seltsame Grimassengesichter, die aus dem Unterholz auftauchten, oder den Urisk, der aus Nebel und Schatten aufstieg, ganz traurige Augen und flehentlich ausgestreckte Hände. Aber tatsächlich gab es nur graublaue Nebelschleier und den Weg, der tiefer und tiefer in diesen dichten Dunst führte. Schließlich wurde der Boden ebener, und als wäre er tatsächlich von einem Druiden verzaubert worden, zog sich der Nebelvorhang zurück, und sie fanden sich am Rand eines dunklen, tiefen Teichs. Ein Schritt weiter, und das Wasser hätte Mann und Jungen verschlungen. Bridei schwankte einen Augenblick, dann fand er sein Gleichgewicht. Broichan stand plötzlich sehr still da. Als die Nebelschwaden sich teilten, enthüllten sie andere Orientierungspunkte: Gedrungene, mit Flechten überzogene Steine saßen am Teich wie Tiere, die sich vorbeugten, um das tintenschwarze Wasser zu trinken; eine Kletterpflanze zog und wand sich um alles, die Speerspitzenblätter so dunkel wie Edelsteine, die Blüten kleine Flecken aus reinstem Weiß. Davon einmal abgesehen war die Erde nackt, hier wuchsen keine Büsche mehr, keine Farnwedel ließen den Rand des Teichs weicher wirken oder umkränzten die Steine, wenn man einmal von dieser einen üppigen Pflanze absah, die sich überall hinzog und ihrem eigensinnigen Weg folgte. Es war vollkommen still. Kein einziger Vogel war zu hören, kein Geschöpf rührte sich im Unterholz am Weg, keine Fliege störte die spiegelglatte Oberfläche des dunklen Teichs. Es war wie eine andere Welt, ein Reich unberührt von Menschenhand, von keinem Menschenfuß betreten. Es war so still, dass Bridei glaubte, sein Herz schlagen zu hören. »Diese Senke wird Tal der Gefallenen genannt«, flüsterte Broichan. An diesem stillen Ort war selbst ein so leises Geräusch so störend wie ein Schreien. »Ich werde dir seine Geschichte auf dem Heimweg erzählen. Schau ins Wasser, Bridei. Komm, stell dich hierher.« - 29 -
Bridei spürte die Hände des Druiden auf seinen Schultern. Spürte Broichans Gegenwart hinter sich, solide und stark, was bewirkte, dass er sich erheblich besser fühlte. Er schaute hinab in das dunkle Wasser des Teichs und in seine eigenen Augen, die zurückstarrten. Er konnte auch Broichan in seinem schwarzen Umhang sehen, grimmig, hoch gewachsen und mit bleichem Gesicht. Und hinter Broichan - Bridei kniff die Augen zu und öffnete sie dann wieder. Hatte er das wirklich gesehen? Eine Axt, die durch die Luft pfiff, glitzernd, tödlich, und die Hand des Druiden, die nach oben zuckte, um sie an der Klinge abzufangen, aufschnitt und zum Bluten brachte und »Vorsichtig, Junge«, sagte Broichan und packte Bridei fest an der Schulter. »Verliere nicht den Blick dafür, was Vision und was Wirklichkeit ist. Atme, wie ich es dir beigebracht habe. Langsam und stetig. Es gibt hier viel zu sehen, und nicht jedes Auge nimmt die gleichen Bilder wahr. Tatsächlich erblicken viele nur Wasser, Licht und den einen oder anderen Fisch. Was war es, das dich so erschreckt hat?« Bridei antwortete nicht. Er richtete den Blick weiter auf die Wasseroberfläche, denn dort tanzten nun viele Bilder. Der Teich blitzte leuchtend rot und silbern auf und zeigte ihm eine Schlacht, aber nicht das ganze Schlachtfeld, sondern die kleinen und schrecklichen Einzelheiten, die das Ganze ausmachten: Männer, die aufschrien, Männer, die Angst hatten, Männer, die unerschrocken weiterkämpften, mit zerschmetterten Kiefern, gebrochenen Gliedern und blutigen Gesichtern. Männer, die ihre Verwundeten auf dem Rücken, ihre Toten auf den Schultern trugen und sich anstrengten, sie in Sicherheit zu bringen, während der Feind ihnen gnadenlos und rachsüchtig nachsetzte. Ein kleiner Hund hielt treu Wache neben seinem Herrn, der sich im Tod zusammengekrümmt hatte. Das weiße Fell des Tiers war rot vom Lebensblut des Mannes, sein Blick verzweifelt. Eine abgehackte Hand. Ein Kopf ohne Körper, jung, mit lei- 30 denschaftlichem Gesicht, jemandes Sohn, jemandes Bruder. Die Feinde rollten vorwärts wie eine riesige Woge, sie schrien ihren Triumph heraus, nahmen alles, das sich ihnen in den Weg stellte. Sie zogen weiter, und Bridei sah das Tal wieder ohne das menschliche Strandgut, in dem es nichts weiter gab als eine so tiefe Traurigkeit, dass niemand es mehr gern betrat. Es war ein Reich aus Nebel und Schatten, ein Wohnort unruhiger Geister. Die Bilder wurden grau, dann schwarz, und dann waren sie verschwunden. Es gab nur noch Wasser. Bridei holte tief Luft; er fragte sich, ob er in der Zeit, die er in den Teich schaute, überhaupt geatmet hatte. »Der Dunkle Spiegel«, sagte Broichan, ließ seinen Pflegesohn los und setzte sich neben einen der verwitterten Steine. Nun, als Bridei sie noch einmal betrachtete, erinnerten die Steine ihn ein wenig an uralte Weise, die an diesem nebelverhüllten Teich Wache hielten. Es gab sieben von ihnen: die sieben Druiden. »Du wirst hin und wieder erleben, wie ich ein solches Werkzeug benutze, einen solchen Spiegel, aber nicht hier; ich arbeite mit meinem eigenen Artefakt aus Bronze und Obsidian, und ich wage mich nicht aus dem Schutz meines Hauses, um es zu benutzen. Wie du gesehen hast, lässt dieser Ort nur jene ein, die er selbst auserwählt, und er tut das nur selten. Dir war bestimmt, etwas zu sehen, und daher wurdest du hierher gerufen. Kannst du mir sagen, was dir gezeigt wurde?« Bridei sah ihn überrascht an. »Hast du es denn nicht auch gesehen?« »Ich sah, was ich sah«, sagte Broichan. »Hast du nicht zugehört? Vielleicht war es das Gleiche, vielleicht auch nicht. Und jetzt sag es mir.« »Es war eine Schlacht«, sagte Bridei schaudernd. Plötzlich wollte er nicht darüber reden müssen. Er wollte dort draußen sein, mit Donal im Sonnenschein über die Felder reiten und an nichts Wichtigeres denken müssen als an das Brot - 31 und den Käse, die sie zu Hause erwarteten. »Es war schrecklich. Schreie, Gemetzel, Sterben, für nichts. Blut überall.« »Das ist vor langer Zeit geschehen«, sagte Broichan, als sie wieder zum Weg zurückkehrten. »Die Enkel dieser Krieger sind tot und liegen in ihrem Grab, ihre Enkelinnen sind alte Frauen. Sie haben schon lange ausgelitten.« »Es war falsch«, sagte Bridei. »Falsch, dass Tapferkeit mit Tod belohnt wurde? Mag sein, aber das ist nun einmal das Wesen des Krieges. Woher weißt du, dass die, die dort getötet wurden, von unserer eigenen Art waren, Bridei? Vielleicht waren die Unsrigen die Sieger und die tapferen Verlierer unsere Feinde. Was sagst du dazu?« Bridei antwortete eine Weile nicht. Er hatte noch nie etwas so Schreckliches, etwas so Übelkeiterregendes gesehen wie diese Bilder von Gemetzel und Tod, und er hoffte, es nie wieder sehen zu müssen. »So sollte es nicht sein«, sagte er schließlich. »Es war falsch. Der Anführer hätte sie retten sollen. Er hätte sie rechtzeitig wegbringen sollen.« »Das ist, was du getan hättest?« »Ich hätte einen guten Plan gemacht. Ich hätte sie gerettet.« »Bei einer Schlacht geht es nicht darum, deine Männer zu retten. Es geht um den Sieg. Ein Anführer erwartet Verluste. Krieger erwarten zu sterben, wenn ihre Zeit gekommen ist. Es liegt im Wesen der Menschen, gegeneinander Krieg zu führen. Aber du hast Recht, Sohn. Es kann besser gemacht werden, erheblich besser. Und Planung ist tatsächlich der Schlüssel. Ah, endlich sind wir oben. Nach diesem Aufstieg habe ich Hunger; ich frage mich, ob Donal wohl Proviant eingepackt hat.« Donal, ein erfahrener Krieger, enttäuschte sie nicht. Seine Satteltasche war voll mit dunklem Brot, salzigem
Käse und kleinen Äpfeln, und sie machten auf einer Anhöhe Rast, wo sie auf den Schlangensee hinabschauen konnten und es - 32 süßes Gras für die Pferde gab. Broichan aß nicht viel, obwohl er angeblich so hungrig gewesen war; er legte bei allem Zurückhaltung an den Tag. »Das Tal der Gefallenen«, sagte er schließlich und schaute auf das silbrige Wasser hinaus, das sich unter ihnen bis zu den dunklen Hügeln auf der anderen Seite zog, »war einmal Schauplatz solch schrecklicher Taten, dass die Menschen es seitdem sowohl mit Ehrfurcht als auch mit Widerwillen betrachten. Es gab eine Schlacht, wie du bereits gesehen hast.« »Und viele Männer wurden getötet«, sagte Bridei, dem plötzlich der Appetit auf den frischen, säuerlichen Apfel verging, den er gerade aß. »Eine ganze Gemeinschaft«, berichtete Broichan, »Väter, Brüder, Ehemänner, Söhne, die Männer aus vielen Siedlungen im Großen Tal. Sie hatten lange und schwer gekämpft; das hier war nur das Ende, das letzte Aufflackern eines Konflikts, der von der Aussaat bis zur Erntezeit dauerte. Unsere Streitkräfte waren bereits besiegt, der Feind hatte die Inseln im Westen und das ganze Land an der Küste erobert und bewegte sich nach Osten wie eine Seuche. Sie schienen mitten durch das Herz von Fortriu toben zu wollen und gaben sich erst zufrieden, als auch der letzte unserer Krieger tot war. Du hast das Ergebnis gesehen. Unsere Männer sind dort gefallen, bis zum letzten Mann. Als der Feind weg war, schlich eine andere Armee aus dem Unterholz, die Vaterlosen, die Alten, und sie sammelten die gebrochenen Überreste ihrer Verwandten ein. Sie brachten sie weg, um sie zu begraben. Dann wurde eine Wache an diesem Ort aufgestellt. Wer diese Wache hält, weiß allerdings niemand so genau. Die Leute sprechen von einem Hund, der in der Nacht dort heult.« »Ein trauriger Ort«, bemerkte Donal. »Das Tal der Gefallenen ist nicht nur ein Schauplatz von Tod und Niederlage«, verbesserte Broichan. »In diesem Tal befindet sich die Essenz der Männer von Fortriu, die dort fie- 33 len. Jeder dieser zum Untergang verurteilten Krieger trug die Liebe zu seinem Land, seiner Familie, seinem Glauben im Herzen. Das dürfen wir über all unserer Trauer nicht vergessen.« »Herr«, wollte Bridei wissen, »wer waren die Feinde? Sie hatten seltsame Augen. Sie haben mir Angst gemacht.« Diesmal war es Donal, der antwortete, und seine Stimme klang bitter. »Die Galen, verflucht sollen sie sein, diese gottverlassene Brut von der anderen Seite des Wassers! Ihre Invasion fand unter ihrem alten König statt. Sein Enkel herrscht nun über sie, er heißt Gabhran. König von Dalriada. Ha!« Er spuckte neben den Weg. »Nichts als ein hochnäsiger Emporkömmling, der sich einmischt, wo er nicht erwünscht ist. Es gibt in dieser Region schon einen König zu viel; wir brauchen nicht noch einen Sumpfbewohner, der hier eindringt und sich selbst bedient.« Broichan warf dem Krieger einen Blick zu, und Donal schwieg. »Wir wollen nicht von Königen sprechen«, sagte der Druide ruhig. »Bridei wird auch diese Dinge einmal lernen müssen. Aber erst später. Er hat kaum begonnen zu lernen, was er wissen muss.« Bridei dachte darüber nach, während sie weiteraßen und schließlich wieder aufbrachen, um sich auf den Heimweg zu machen. Es gab eine Frage, die er Broichan stellen wollte, eine, über die er viel nachdachte. Sein Pflegevater sprach oft von später, von der Zukunft, und von all den Dingen, die Bridei noch lernen musste. Aber der Druide erwähnte nie, wozu das geschah oder was einmal aus Bridei werden sollte, wenn er genug gelernt hatte. Würde er nach Gwynedd zurückkehren, zu seiner Familie, die er begonnen hatte zu vergessen? Würde er ein Druide werden wie Broichan, grimmig und hoch gewachsen und nur aufs Lernen konzentriert? Oder hatte Broichan etwas anderes für ihn geplant? Vielleicht sollte er Krieger werden wie die im Dunklen Spiegel. Er schau- 34 derte, als er wieder daran dachte. Es schien keine Frage zu sein, die er stellen konnte, jedenfalls nicht ganz offen. »Sag mir, Bridei«, riss Broichan ihn aus seinen Gedanken, »kannst du schwimmen?« Das kam vollkommen unerwartet. Andererseits war ein Gespräch mit Broichan stets voller Überraschungen. »Nein, Herr. Aber ich würde es gerne lernen.« »Gut. Dann werden wir Donal den Winter über weiterhin in unserem Dienst behalten, damit er es dir beibringen kann, wenn es warm genug ist. Er wird dir auch zeigen, wie man rudert. Es ist nur gut, dass du nicht in diesen Teich gefallen bist. Er ist ziemlich kalt und extrem tief.« »Ja. Herr.« Es gab nichts weiter zu sagen. Bridei dachte, wenn man in den Dunklen Spiegel fiele, wäre Ertrinken wahrscheinlich noch das geringste Problem. »Und inzwischen«, sagte der Druide und bereitete sich darauf vor, wieder aufs Pferd zu steigen, »gestattet uns der Winter, uns den Nummern und Zahlen, den Spielen und der Musik zu widmen, und ich denke, Donal kann die Halle benutzen, um seine ganz besondere Ausbildung zu beginnen, die dich ein bisschen unabhängiger machen wird. Ich werde vielleicht einige Zeit weg sein. In diesem Fall werde ich andere Lehrer für dich finden.« »Ja, Herr.« Eins war sicher, dachte Bridei: Er würde keine Zeit haben, sich zu langweilen. Wenn Bridei Jahre später auf diese Zeit zurückblickte, fragte er sich manchmal, ob Broichan vergessen hatte, dass sein Pflegesohn immer noch sechs Jahre alt war. Er kam dann allerdings schnell zu dem Schluss, dass das
nicht stimmte. Der Druide hatte ihn einfach danach eingeschätzt, wie schnell er Informationen aufnehmen konnte, wie zäh er war und ob er gehorchen konnte, und dann ein Lernprogramm aufgestellt, das dafür sorgte, dass Bridei so viel Wissen wie möglich aufsaugen konnte. Die Tage waren voll. Er ritt mit Donal aus. Er - 35 verbrachte einige Zeit damit, zu lernen, wie man mit zwei Messern oder mit einem oder mit den Fäusten kämpfte. Er übte, sich rasch und geschickt vom Rücken seines Ponys abzurollen, wie er es zuvor schon bei dem Krieger gesehen hatte. An den Nachmittagen paukte Broichan mit ihm die druidische Überlieferung, beginnend mit Sonne, Mond und Sternen, ihren Mustern und Bedeutungen und den Standorten von Verwandschaftssteinen und den älteren Steinen, die überall in Fortriu zu finden waren. Sie vertieften sich in das Studium der Gottheiten und Geister, der Rituale und Zeremonien. Wie Broichan sagte, sie hatten gerade erst begonnen. Wenn Bridei abends einschlief, wand sich die Überlieferung durch seinen Kopf, und sein Körper tat weh, so müde war er. Er aß wie ein Pferd und wuchs entsprechend schnell. Kurz vor Mittwinter reiste Broichan zum Rat des Königs. Das Land der Priteni war in vier Teile unterteilt: Fortriu, wo Pitnochie lag, das südliche Reich von Circinn und die weiter entfernten Länder der Caitt und die Hellen Inseln. Wenn Bridei fragte, in welchem Teil Gwynedd, das Reich seines Vaters, lag, lächelte Broichan. »Gwynedd ist ein anderes Land, Bridei«, sagte er. »Die Leute deines Vaters sind keine Priteni. Kannst du dich nicht erinnern, wie lange der Ritt von dort hierher dauerte?« Diese Erinnerung war lange verblasst. Bridei schwieg. »Beim Rat werden wir Botschafter zweier Könige treffen«, sagte Broichan. »Unser Land ist geteilt; es war ein finsterer Tag, als Drust, Sohn des Girom, Christ wurde und Circinn sich von Fortriu abspaltete. Hier im Norden sind wir mit einem König gesegnet, der treu zu den alten Göttern steht. Drust, Sohn des Wdrost, bekannt als Drust der Stier, hat die Macht über das gesamte Land des Großen Tals. Wenn sie mich den Druiden des Königs nennen, meinen sie Drust den Stier. Er ist ein guter Mann.« Bridei wollte nicht, dass Broichan ging. Sein Pflegevater lächelte nicht oft; er machte keine Witze und spielte keine - 36 Spiele, wie die alten Männer es getan hatten. Aber der Druide wusste so viele interessante Dinge, und er war stets bereit, darüber zu sprechen. Er hörte gut zu, wenn Bridei etwas erklären wollte, nicht wie Mara, die immer zu viel zu tun hatte, oder Ferat, der den Jungen häufig nicht einmal zu hören schien. Broichan hatte immer Zeit für Bridei, und obwohl der Druide ihn selten lobte, hatte Bridei gelernt, einen bestimmten Ausdruck in den dunklen Augen seines Pflegevaters zu erkennen, einen Blick, der zeigte, dass er zufrieden war. Er wünschte sich, Broichan würde zu Hause bleiben. Dann kam der Tag der Abreise des Druiden. Sibel stand gesattelt im Hof bereit; vier Bewaffnete sollten Broichan eskortieren. Donal würde in Pitnochie bleiben. »Ich werde mich sehr anstrengen, Herr«, sagte Bridei, als Broichan schon neben seinem Pferd stand. »Habe ich irgendwelche Zweifel daran geäußert?« Broichan lächelte beinahe. »Du wirst es gut machen, das weiß ich. Du solltest allerdings bei all deinen Bemühungen, ein besserer Kämpfer zu werden, die geistigen Dinge nicht vernachlässigen. Und jetzt muss ich gehen. Lebe wohl, Bridei.« »Ich wünsche dir eine sichere Reise, Herr«, sagte Donal, der Sibels Zügel hielt. »Ich werde auf den Jungen aufpassen.« »Lebe wohl«, flüsterte Bridei, und plötzlich war ihm seltsam zumute. Er wollte nicht weinen; er hatte seinem Vater versprochen, nicht zu weinen. Er sah schweigend zu, wie Broichan, umgeben von seinen Wachen, auf dem Weg zum Seeufer unter den kahlen Eichen davonritt. Sie hatten eine lange Reise nach Nordosten vor sich, nach Caer Pridne, der großen Festung von Drust dem Stier. »Also gut«, sagte Donal vergnügt. »Wie wäre es heute mit Schwertern? Ich habe irgendwo ein kleines, das du vielleicht so gerade eben heben kannst, wenn du dich ein bisschen anstrengst. Was hältst du davon?« Der Unterricht im Schwertkampf beschäftigte Bridei eine Weile, und so lange es dauerte, hatte er keinen Platz in sei- 37 nem Kopf für etwas anderes außer Kraft, Gleichgewicht und Konzentration. Erst am Nachmittag, als der Himmel grau wurde, der Nieselregen wie ein dünner grauer Vorhang fiel und Brideis Arme in verspätetem Protest gegen die schwere Arbeit des Morgens anfingen sehr wehzutun, spürte er, wie er traurig wurde. Donal war irgendwo draußen bei den Bewaffneten. Mara kümmerte sich um die Betttücher und beschwerte sich darüber, dass sie bei diesem Wetter unmöglich trocknen würden. Ferat war miserabler Laune, was etwas mit feuchtem Feuerholz zu tun hatte. Es gab niemanden im Haus, mit dem man reden konnte. Brideis kleines Zimmer befand sich neben dem Raum, in dem Donal mit den anderen Bewaffneten wohnte, obwohl Donal für gewöhnlich im Flur vor Brideis Tür schlief. Er behauptete, die anderen schnarchten so, dass er nicht schlafen konnte. Durch Brideis winziges Fenster, kaum groß genug, um ein Eichhörnchen durchzulassen, konnte man zwischen den Ästen einer Birke ein Stück des silbrigen Sees schimmern sehen. Manchmal sah Bridei auch den Mond von seinem Fenster aus, und dann legte er ein kleines Opfer auf die Fensterbank, einen weißen Stein, eine Feder oder ein aus Gras geflochtenes Amulett. Broichan hatte ihm beigebracht, wie wichtig der Mond war und dass er die Gezeiten beherrschte, nicht nur im Meer, sondern auch in den Körpern von Mann,
Frau und Tier, wo er ihre Ebben und Fluten mit den Zyklen der Natur verband. Die Leuchtende war sehr mächtig; man musste ihr die entsprechende Ehre erweisen. Heute war kein Mond zu sehen, es gab nur Wolken und Regen, wie endlose Tränen des Bedauerns. Bridei lag auf seinem Bett und starrte zum Fenster hoch, einem kleinen, trüben Rechteck in der Steinwand, grau in grau. Er wusste, was Broichan sagen würde: Selbstmitleid ist Zeitverschwendung, und Zeit ist kostbar. Benutze sie, um zu lernen. Dann würde der Druide über den Regen sprechen, darüber, wie er ins Muster der Jahreszeiten passte und wie das Element des - 38 Wassers dem Mond in seinen Bewegungen ähnelte. Man konnte aus allem etwas lernen. Selbst wenn andere weggingen und einen zurückließen. Aber im Augenblick war Bridei nicht nach Lernen zumute. Ohne seinen Pflegevater schien in Pitnochie nichts so recht zu stimmen. Er setzte sich im Schneidersitz aufs Bett und rezitierte die Überlieferungen, bis ihm die Augen beinahe zufielen. Dann zwang er sich aufzustehen und übte, auf einem Bein zu balancieren, mit einem Arm hinter dem Rücken, und dabei ein Auge zu schließen, wie es die Druiden zur Meditation taten. Dann faltete er seine Decken perfekt, sodass die Kanten präzise aufeinander lagen, nahm alles aus seiner Vorratstruhe und legte es auf eine neue, ordentlichere Art wieder zurück. Er wichste seine Stiefel. Er schärfte sein Messer. Es war immer noch nicht Zeit zum Abendessen. Bridei stellte sich ans Fenster und schaute in den Regen hinaus. Er dachte über den Tag nach und über den Ausdruck in Broichans Augen, als er sich verabschiedet hatte. Er dachte an das Tal der Gefallenen und an all diese Männer, die viel zu früh gestorben waren, und an ihre Familien, vor denen danach ein ganzes Leben der Trauer gelegen hatte. Er fragte sich, was wohl schwieriger war: gehen zu müssen oder zurückgelassen zu werden. Donal weitete Brideis Ausbildung aus. Er brachte ihm Griffe und Tricks bei, Gleichgewicht, Kraft und Geschwindigkeit, und auch, wie man sich angemessen um seine Waffen kümmerte. Bridei lernte, wie man einen Bogen benutzte und die Mitte einer Zielscheibe neun von zehn Malen traf. Donal begann, das Ziel weiter entfernt aufzustellen und andere Schwierigkeiten hinzuzufügen, wie Ablenkungen in dem Augenblick, in dem Bridei die Sehne losließ, oder die Anweisung, die Augen zu schließen. Sein Unterricht war nie langweilig. Seine sorgfältigen Belehrungen darüber, wie man Klingen säuberte und ölte, wie man Pfeile zurückholte und - 39 neu fiederte oder einen Bogen in hervorragendem Zustand hielt, zeigten Bridei bald, dass der langbeinige, sarkastische Donal auf seine eigene Art ebenso diszipliniert war wie der ernste Druide. An den Nachmittagen, die er zuvor mit Broichan und dem Rezitieren der Überlieferung oder dem Studium der Mysterien verbracht hatte, war er nun sich selbst überlassen. Vor Broichans Abreise hatten sie die Elemente studiert. Bridei strengte sich an, sich an alles zu erinnern, was Broichan ihm beigebracht hatte, nicht nur an die Worte der Überlieferung, die er manchmal nur halb verstand, sondern an die Bedeutung dahinter. Der zunehmende und abnehmende Mond beherrschte das Wasser und war ebenso wie die Gezeiten des Geistes gleichzeitig stark und nachgiebig. Wasser war Sturm, Flut, Regen für die Ernte, die heiße Salzigkeit der Tränen. Wasser konnte in einem gewaltigen Strom tosen, es konnte rauschend von einem Felsvorsprung in die Schlucht stürzen oder still und schweigend warten wie im Dunklen Spiegel. Dann gab es das Feuer, mächtig und verschlingend. Die Wärme des Herdfeuers konnte Menschen am Leben erhalten; das ungezähmte Toben eines Waldbrands konnte sie umbringen. Das besondere Geschenk des Flammenhüters an die Menschen bestand in dem Feuer in ihrem Herzen: einem Mut, der selbst angesichts des Todes weiterbrennen konnte. Luft war kalt und brachte das Versprechen von Schnee und den Duft von Kiefern, Luft stützte die Schwingen des Adlers hoch über den dunklen Falten des Großen Tals. Bridei glaubte zu wissen, wie es für den Adler sein musste, wenn er auf Fortriu in all seinem Glanz hinabblickte. Sein Land. Seine Heimat. Erde war der tiefe Herzschlag unter seinen Füßen, der lebendige, wissende Körper, aus dem alles entspross - Hirschkuh, Adler, Eichhörnchen, glänzender Lachs und blankäugiger Rabe, Mann und Frau und Kind, und die Anderen, das Gute Volk. Erde hielt ihn aufrecht; Erde war bereit, ihn wieder aufzunehmen, wenn seine Zeit - 40 vergangen war. Aus Erde konnte man ein Haus oder einen Weg formen, Erde konnte einen Krieger bei seinem langen Schlaf zudecken. Es gab eine ganze Welt von Bedeutungen in den kleinsten Dingen, einem verkohlten Zweig, einem weißen Kieselstein, einer Feder, einem Regentropfen. Wenn Bridei allein nach draußen ging, musste er sich an bestimmte Regeln halten. Er konnte auf die Adlernarbe klettern, solange er vorsichtig war. Im Wald durfte er bis zum zweiten Bach nach Süden gehen. Der Siedlung durfte er sich nicht nähern, ebenso wie den weiteren Bereichen des Waldes, wo er das Tal der Gefallenen entdeckt hatte. Als er Donal nach dem Grund dafür fragte, sagte der Krieger einfach nur: »Es ist gefährlich.« Da Donal stets sowohl vernünftig als auch freundlich war, akzeptierte Bridei diese Regel. Er nahm an, dass es etwas mit dem Guten Volk zu tun hatte. Und dann waren da die Abschiedsworte seines Vaters, die er nicht vergessen durfte: Gehorche und lerne. Er ging die Wege entlang, stieg auf Steine und Bäume, fand einen Dachsbau, ein verlassenes Adlernest und einen gefrorenen Wasserfall aus zerbrechlichem, messerscharfem Filigran. Er begegnete keiner lebenden Seele. Das veränderte sich abrupt eines Nachmittags, als er von einem Jagdausflug nach Hause kam. Nun ja, vielleicht
hatte er nicht wirklich gejagt, aber er trug den Bogen über der Schulter und das kleine Messer am Gürtel, auch wenn er nicht vorhatte, sie zu benutzen. Ein paar Tage zuvor hatte er ein Kaninchen erlegt, aber Donal war dabei gewesen. Sehr zu Brideis Erleichterung hatte der Schuss das Tier schnell getötet; sie hatten das Messer nicht einsetzen müssen. Bridei, ein Junge, der viel Zeit zum Nachdenken hatte, wusste, es hätte auch anders ausgehen können. Heute hatte er seine Waffen mitgenommen, weil es vernünftig war, das zu tun - das war alles. Trugen Donal und die anderen nicht stets ein kleines Messer im Stiefel? Bridei wollte eigentlich nur bis zum Birkenwald gehen und - 41 sich auf die Steine an dem großen Wasserfall setzen, den sie den Schleier der Herrin nannten, um dort nach Adlern Ausschau zu halten. Die Berge trugen schon Mützen aus frühem Schnee, und das Wasser des Sees spiegelte einen schiefergrauen Winterhimmel. Die Rufe der Vögel klangen traurig und hallten aus entfernteren Bereichen des Waldes in klagenden Fragen und Antworten wider. Vielleicht war es die Kälte, die die Vögel so rufen ließ; wie sollten sie im Winter Futter finden, wenn die Beeren an den braunblättrigen Büschen schrumpelten und das süße Gras mit Schnee bedeckt war? Vielleicht riefen sie auch einfach nur, um Musik für diese großartige, leere Landschaft zu machen. Immerhin stand der Winter kurz bevor, und die wilden Tiere wussten das ebenso gut wie Bridei. Winter war die Zeit, in der die Erde schlief, in der sie träumte und sich auf das vorbereitete, was kommen würde. Das hatte zu Brideis frühesten Lektionen gehört. In einer solchen Zeit sollte sich ein Junge seiner Fantasie öffnen, den Stimmen, die in den anderen Jahreszeiten vielleicht von geschäftigem Lärm übertönt wurden. Man konnte aus allem etwas lernen, aber besonders aus Träumen. Der Schleier der Herrin war nicht gefroren; die Strömung war zu stark, um dem Eis Zugriff zu geben. Der Teich unterhalb des Falls war mit winzigen Kristallen gesäumt, und Reif überzog die Farnwedel. Bridei kletterte über die Steine nach oben. Dort blieb er eine Weile stehen und beobachtete den Himmel, aber keine Adler flogen über ihn hinweg. Er übte das Stehen auf einem Bein und fragte sich, welches seiner Augen die Wahrheit wohl am besten erkennen würde. Nach einer Weile schliefen seine Füße ein, und seine Ohren fingen trotz der Schaffellmütze an wehzutun, also hob er seinen Bogen und den Köcher wieder auf und machte sich auf den Heimweg. Man konnte sich darauf verlassen, dass Ferat an einem solchen Tag heiße Haferfladen bereit hielt, und Bridei hatte Hunger. - 42 Seitlich und unterhalb des Wasserfalls begann der felsige Hügel, und hier drängten sich Stechpalmenbüsche mit ihren glänzenden, dunklen Blättern. Bridei hatte vielleicht zwei Schritte auf dem Weg am Fuß der Felsen zurückgelegt, als er es hörte: ein Schnappen, leise und unbedeutend. Er erstarrte. Dort unter den Bäumen, nicht weit entfernt, hatte sich etwas bewegt, etwas, das sich nun ebenso wenig rührte wie er selbst. Etwas folgte ihm, verfolgte ihn. Ein Wildschwein? Eine große Katze? Brideis Herz begann warnend zu schlagen. Seine Füße wollten unbedingt rennen. Er war für seine Größe ein schneller Läufer, er würde nicht lange brauchen, um die Steinmauer zu erreichen, die Broichans äußeres Feld umgab, und dort stand ein Mann Wache. Sein ganzer Körper war fluchtbereit. Aber sein Verstand sagte Nein. Was, wenn es der Urisk war? Der Urisk brauchte nicht zu rennen. Sobald er einen sah, sobald er einen haben wollte, blieb er wie ein Schatten bei einem, ganz gleich, wie schnell man war. Es gab nur eine Fluchtmöglichkeit, eine Möglichkeit, ihn zu übertölpeln: Man musste so reglos dastehen, dass er einen nicht sehen konnte. Bridei konnte sehr gut still stehen. Dann wurde der knackende Zweig zu Schritten, die überhaupt nicht mehr verstohlen klangen, und als Bridei sich umsah, entdeckte er einen ganz in Braun und Grau gekleideten Mann, einen Mann, der im Winterwald nicht leicht zu erspähen war. Der Mann hatte sich eine Kapuze mit Augen schlitzen über das Gesicht gezogen und trug einen Bogen. Er verharrte und starrte Bridei an. Noch während Bridei zurückstarrte und sich nicht von der Stelle rühren konnte, legte der Fremde einen Pfeil auf und machte sich daran, den Bogen zu spannen. Keine Zeit zu fliehen, kein Versteck in Sicht. Bridei war entschlossen, nicht zu schreien. Er würde auch nicht um Gnade bitten, denn er war Bridei, Sohn des Maelchon, und sein Vater war ein König. Der Angreifer machte einen Schritt - 43 vorwärts, zielte und spannte. Bridei wich gegen die Felsen zurück, die Brust angespannt, das Herz laut klopfend. Die Felsen hinter ihm fühlten sich rau an, sie waren voller Risse und Spalten und mit weichem, feuchtem Moos überzogen. Teil der Erde, Teil des Herzschlags ... Als der Finger des Mannes sich an der Sehne spannte, schlüpfte Bridei rückwärts in die Falten des Steins und die trübe Sicherheit einer winzigen, engen Höhle. Er drückte sich fest gegen den Stein und versuchte, nicht mehr sichtbar oder greifbar zu sein. Draußen fluchte der Mann wütend und ausführlich. Bridei wartete und versuchte das Atmen nicht zu vergessen. Ein Schwert wurde in den schmalen Spalt in den Felsen gesteckt, schnitt nach oben und unten, tastend, suchend. Bridei drückte sich an die Wand und machte sich so klein wie möglich. Das Schwert hackte und stach; es sah aus, als könnte sein Besitzer es nicht in die richtige Position bringen, denn der Spalt war zu eng. Bridei fragte sich jetzt, wie es ihm jemals gelungen war, sich hindurchzuzwängen. »Gottverfluchte Druidenbrut!«, murmelte eine Stimme. »Rauch, das ist es, was wir brauchen ...« Dann gab es andere Geräusche, und Bridei wusste, dass der Mann jetzt Zweige, Laub, Farnwedel sammelte, Dinge, die brennen würden. Sie würden überwiegend feucht sein, aber Bridei hatte schon gesehen, wie Broichan nur mit einem Fingerschnippen Feuer angezündet hatte, und er bewegte sich vorsichtig in der engen Höhle,
sodass er hinausspähen konnte. Der Mann häufte tatsächlich Zweige und Laub am Fuß der Felsen auf und bewegte sich dabei schnell und entschlossen. Es hatte keinen Sinn, um Hilfe zu rufen. Wenn dieser Krieger gut mit einem Feuerstein umgehen konnte, würde schon dichter Rauch in die Höhle dringen, bevor eine Wache von den Feldern auf den Hügel hinaufrennen konnte. Wenn Bridei nicht in diesem Loch sterben oder hinausgehen und dort niedergemetzelt werden wollte, würde er sich selbst retten müssen. - 44 Er mühte sich, in dem engen Spalt in den Felsen einen Pfeil aufzulegen. Seine Hände zitterten, und es gab nicht genug Platz, um den Bogen vollständig zu spannen. Der Mann kniete jetzt, versuchte vielleicht schon, Feuer zu machen. Er war zu niedrig für einen Schuss. Das Messer - Bridei konnte es so benutzen, wie er es bei Donal und den anderen gesehen hatte, die ihre Klingen mitunter zu Übungszwecken in einem wirbelnden Bogen warfen. Er hatte es selbst nie versucht, aber das musste nicht bedeuten, dass er es nicht konnte. Bridei stellte den Bogen beiseite und tastete nach dem Messergriff. Er würde nur eine einzige Gelegenheit haben: wenn der Mann sein kleines Feuer entzündet hatte und zurücktrat, um es zu bewundern. Eine einzige Gelegenheit. Danach würde er wohl irgendwie nach draußen springen müssen, ungeachtet der Flammen. Vielleicht würde das Laub ja kein Feuer fangen. Vielleicht würde sein Dolch nicht treffen. Nein, er war der Sohn eines Königs. Ein dünner Rauchfaden stieg am Eingang des Spalts auf, und beißender Geruch breitete sich drinnen aus. Bridei musste sich anstrengen, um nicht zu husten. Der Rauchfaden wurde zu einem Band, einer kleinen Wolke, und plötzlich knisterte es. Der grau gekleidete Meuchelmörder richtete sich auf und drehte sich um, und einen Augenblick lang drehte er der Höhle den Rücken zu. Bridei zielte, hielt die Waffe im Gleichgewicht und warf sie, und im gleichen Augenblick waren eilige Schritte zu hören, und eine vertraute Stimme rief etwas. Während das Messer durch den dichteren Rauch wirbelte, schoss eine Gestalt durch Brideis Blickfeld, eine wütende, langbeinige Gestalt, die sich auf den grau gekleideten Mann warf, und dann waren sie beide nicht mehr zu sehen. Das Messer war verschwunden. Bridei wich zurück. Ein seltsames Gurgeln erklang und verklang wieder in einem keuchenden Seufzen. Die Flammen begannen niederzubrennen; jemand trat das Feuer aus. Ein anderer sagte: »Du hast ihn umgebracht.« Die kleine Höhle war vol- 45 ler Rauch; Brideis Augen brannten, seine Nase juckte, und es war sehr schwierig, nicht zu husten. Er drückte die Augen zu und kniff die Lippen zusammen. Er hatte es falsch gemacht. Jemand war tot. Sein Messer hatte jemanden getötet. Wahrscheinlich Donal. Donal war gekommen, um ihn zu retten, und statt zu warten, wie es richtig gewesen war, hatte Bridei das Messer geworfen, ohne sich gut genug umzusehen, ohne die Gefahren abzuschätzen, wie Donal es ihm beigebracht hatte. Er hatte etwas wirklich Schlimmes getan, und jetzt zitterte er und weinte wie ein kleines Kind; er konnte einfach nicht aufhören. Stimmen erklangen draußen. »Der ist erledigt. Hab ihm das Genick gebrochen, diesem Abschaum.« »Du hättest ihn lieber am Leben lassen sollen; dann hätten wir rausfinden können, wer ihn geschickt und wer ihn bezahlt hat. Warum hast du ... Donal?« Dann ein Rascheln, als versuchte jemand erfolglos aufzustehen. Es wurde schwieriger und schwieriger, nicht zu husten. Bridei musste unbedingt die Nase hochziehen; sie lief wie ein Bach bei Hochwasser. »Was ist denn, Mann? Du blutest wie ein abgestochenes Schwein! Hat der Kerl dich erwischt?« »Das ist nichts. Nur ein Kratzer. Geht, sucht, ob noch mehr von ihnen in der Nähe sind, und beeilt euch!« Schritte auf dem Weg, viele Schritte, und das Klirren von Metall, und dann Stille. Oder doch beinahe; Bridei konnte Atmen hören - sein eigenes - und sein leises Schniefen, und andere Atemzüge, die ein wenig angestrengt klangen. Donal war am Leben. »Bridei?« Das war kaum mehr als ein Flüstern. »Bist du irgendwo in der Nähe, Junge? Antworte, verdammt noch mal!« Donal klang seltsam. Vielleicht war er wütend. Ein Krieger hätte sich nicht feige versteckt und dann das falsche Ziel getroffen und auch noch angefangen zu weinen. Bridei konnte sich nicht rühren und kein Wort herausbringen. - 46 »Bridei!« Donal versuchte zu rufen. Bridei konnte nun ein wenig von ihm sehen, seine Schulter in dem vertrauten alten Lederwams, und die andere Hand, die er darauf drückte. Zwischen den Fingern lief Blut heraus. »Bridei, du dummer Junge, wenn du dich hast umbringen lassen, dann - dann...« Die Stimme des Kriegers verklang; Bridei hatte ihn noch nie so gehört; es war, als liefe das Leben schneller aus ihm heraus, als Sand durch ein Stundenglas rann. Bridei zwängte sich vorwärts, schlüpfte zwischen den Felsen hindurch, stieg über den schwelenden Laubhaufen und stellte sich klein und still neben Donal. Er versuchte, nicht zu dem anderen Mann hinzuschauen, der nicht weit entfernt lag, den Kopf in einem seltsamen Winkel verdreht. Donal saß auf dem Boden; er hatte die Augen geschlossen, und seine Gesichtsfarbe erinnerte an alten Haferbrei. Es war ziemlich viel Blut an seiner Schulter und dem Oberarm, und er hatte Brideis kleines Messer locker in der rechten Hand. »Es tut mir Leid«, sagte Bridei feierlich und schniefte gewaltig. »Ich wollte den anderen Mann treffen, den, der mich umbringen wollte.« Donal riss die Augen auf. Er grinste plötzlich, und er kam halb auf die Beine, dann sackte er ächzend wieder zusammen. »Die Blütenreiche sei gepriesen! Wo warst du, du kleiner - da drin? Wie ist das möglich? Dieser
Spalt ist nicht mal breit genug für einen Welpen und erst recht nicht für einen großen Junge wie dich! Ich kann es nicht glauben!« Es stimmte. Die Öffnung sah so eng aus, als könnte Bridei kaum eine Schulter hineinschieben, ganz zu schweigen vom Rest. Kein Wunder, dass der Mann ihn nicht mit dem Schwert hatte erreichen können... Der Gedanke an diese zuckende, reißende Klinge bewirkte, dass sich Bridei plötzlich sehr seltsam fühlte, und er setzte sich abrupt neben Donal. »Erzähl es mir.« Donais Stimme hatte sich wieder verändert; nun war er wirklich wütend, aber Bridei spürte, dass - 47 dieser Zorn nicht ihm galt. »Erzähl mir, was hier passiert ist, Junge. Alles, jede Einzelheit, alles, was du gesehen hast.« »Du blutest«, sagte Bridei. »Ich weiß, wie man einen Verband anlegt; Broichan hat es mir gezeigt. Ich werde das jetzt machen, und dann erzähle ich dir auf dem Heimweg, was passiert ist. Du solltest eine Kompresse aus Beifuß und Weinraute auflegen, Met trinken und früh zu Bett gehen. Das würde mein Pflegevater dir raten.« Donal sah ihn schweigend an. »Es tut mir Leid, dass ich dir wehgetan habe«, erklärte Bridei noch einmal und spürte, wie seine Unterlippe Unheil verkündend zu zittern begann. »Ah ja«, sagte Donal, wieder mit seltsam belegter Stimme. »Wir sollten vielleicht ein Hemd in Streifen reißen. Wir werden deins nehmen müssen; meins kann ich nicht über diese Schulter ziehen. Aber zieh danach sofort die Jacke wieder an, es ist kalt hier oben. Und beeil dich. Diese Sache mit dem Met klingt ziemlich verlockend.« - 48 KAPITEL ZWEI Es war ein Versehen gewesen, sagte Donal. Dieser Mann und seine Genossen hatten Broichan umbringen wollen, nicht Bridei. Bridei wusste, dass das nicht stimmte. Er hatte den Ausdruck in den zusammengekniffenen Augen des Mannes gesehen, hatte beobachtet, wie er mit dem Pfeil auf ihn zielte. Sicher, Broichan hatte Feinde. Ein Mann, der jedermanns Freund war, brauchte keine Wachen und keine Riegel an den Türen. Vielleicht waren diese Angreifer tatsächlich Feinde des Druiden, aber sie hatten Bridei umbringen wollen. Den Grund dafür wusste er nicht. Sicher, sein Vater war ein König, aber Gwynedd war weit entfernt und hatte seine eigenen Ratssitzungen und seine eigenen Kriege, die nichts mit denen der Priteni zu tun hatten. Und sein Vater hatte ihn weggeschickt. Wenn er irgendwie wichtig gewesen wäre, hätte seine Familie ihn doch sicher behalten. Der Angriff war einfach nicht zu erklären. Der Mann, den Donal getötet hatte, wurde in einer Ecke des Schafspferchs begraben. Broichans Wachtposten hatten noch andere gesehen, aber die waren in den Wald entkommen, obwohl die Bewaffneten des Druiden sie in wilder Jagd verfolgten. Man wusste nicht, wo diese Männer hergekommen waren und wer sie beauftragt hatte. Donal hatte darüber geflucht, dass der Mann ihn gezwungen hatte, ihn zu töten, wenn er nicht selbst getötet werden wollte; er hätte ihm - 49 lieber ein paar blaue Flecken verpasst, ihn gefesselt und auf die eine oder andere Art die Wahrheit aus ihm herausgeholt. Aber dafür war es jetzt zu spät; der grau gekleidete Mann konnte seine Geschichte nur noch den Würmern erzählen. Bridei durfte nun nicht mehr allein umherziehen, sondern musste mindestens zwei Bewaffnete mitnehmen, und durfte das Anwesen auch dann nur verlassen, wenn es wirklich notwendig war. Die täglichen Ritte wurden abgekürzt, denn Donal hatte viel zu tun. Es gab viele angespannte, leise Worte, und alle Männer sahen wachsam und nervös aus. Mara murmelte über dem Waschtrog vor sich hin. Ferat fluchte, während er Gänse rupfte, und Bridei lernte ein paar neue Wörter, die er vorsichtshalber nicht wiederholte. Er verbrachte viel Zeit im Stall damit, Perle zu striegeln und mit ihr zu sprechen; ihr warmer Körper und die freundlichen Augen machten sie zu guter Gesellschaft - jedenfalls für ein Pferd. Nachmittags lernte er. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie leer das Haus wirkte, wie still. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie klein er war, wie wenig er wirklich darüber wusste, wie man stark war und wie man sich wehrte. Er versuchte, sich keine Sorgen um Broichan zu machen und sich nicht zu fragen, was ihn so lange aufhielt. Ohne den Druiden hatte der Haushalt zum Torfest, dem Beginn der dunklen Zeit, kein Ritual veranstaltet, aber Fidich hatte an diesem Morgen ein Schaf geschlachtet, da irgendeine Form von Opfer notwendig war. Mara sagte, am Ufer des Schlangensees würde es am Abend ein großes Feuer aus Kiefern-, Eschen- und Eichenholz geben. Bridei wäre gern hingegangen und hätte zugesehen, wie die Leute durch die Flammen sprangen, wie Mara ihm erzählt hatte. Aber es wäre sinnlos gewesen, Donal zu fragen, wenn er ohnehin wusste, dass die Antwort Nein lauten würde. Also hatte Bridei nur eine kleine Schale Met und einen Teller mit Haferkuchen auf die Schwelle vor der Küche gestellt. Das war ein Zeichen des Respekts; er lud die Toten ein, die Gaben des - 50 Haushalts zu teilen, und hieß sie in dieser Nacht willkommen, in der die Grenzen durchlässig wurden und die Welten sich miteinander vermischten. Am Morgen waren Met und Kuchen weg; es waren nur ein paar helle Krümel geblieben. Die Tornacht war nun lange vorüber, und bald würde es Mittwinter sein. Der Rat des Königs war zweifellos
längst zu Ende, aber sie hatten immer noch nichts von Broichan gehört. Die Nächte wurden länger. In Küche und Halle brannten den halben Tag lang Lampen und beleuchteten Räume, die stets voller Rauch waren, denn das Feuer brannte bis auf die Zeit, in der alle schliefen, ununterbrochen. Mara murmelte etwas über Ruß und hortete Ölvorräte. Bridei wickelte sich in seinem kleinen Zimmer in die Decke, betrachtete das Flackern des Kerzenlichts auf den Wänden und versuchte, sich auf die Überlieferung zu konzentrieren. Es fühlte sich an, als wäre sein Pflegevater schon eine Ewigkeit weg. Wann würde Broichan nach Hause kommen? Drei Tage vor Mittwinter fing es an zu schneien. Es hatte schon seit dem frühen Morgen in der Luft gelegen; diese Ruhe und dieses seltsame, trügerische Gefühl von Wärme, als lockerte die dichte Wolkendecke den Griff des Winters, obwohl sie die Sonne verdeckte, waren unmissverständlich. Bridei half den Männern, die Schafe von einem Feld aufs andere zu bringen. Die Bewaffneten hielten in den oberen Bereichen von Broichans Land weiterhin Wache; ihre kräftigen Gestalten und die blau tätowierten Gesichter waren unter den kahlen Eichen am Waldrand deutlich zu sehen. Ihre Wachen waren im Winter kürzer; immer wieder kamen Männer ins Haus, um Bratenfleisch zu essen und gewürztes Bier zu trinken, und andere zogen viele Schichten Kleidung übereinander, griffen nach Fellumhängen, ledernen Helmen und schweren Stiefeln und machten sich für einen weiteren Kampf mit der Kälte bereit. Ferat hatte so viel zu tun, dass ihm nicht mal Zeit zum Murren blieb. Er hatte jetzt zwei Helfer, und beide hatten solche Angst vor dem aufbrausenden - 51 Koch, dass sie ständig so schnell arbeiteten, wie sie konnten, und darum beteten, keine Fehler zu machen. Es fing an zu schneien, als die letzten Mutterschafe von den aufgeregten Hunden durchs Tor getrieben wurden. Brideis Aufgabe bestand darin, auf der Steinmauer am Tor zu stehen und dafür zu sorgen, dass sie die richtigen aussonderten. Die Landwirtschaft auf Broichans Hof war einem Mann namens Fidich anvertraut. Fidich war eindeutig einmal ein bedeutender Krieger gewesen, denn die Muster auf seinem Gesicht waren beinahe so kunstvoll wie bei Donal, und er hatte auch welche auf den Händen, Wirbel und Spiralen vom Handgelenk bis zu den Fingerspitzen. Fidich hatte kräftige Schultern und eine finstere Miene, und sein rechtes Bein endete kurz unterhalb des Knies. Er bewegte sich mit Hilfe einer Krücke aus Eschenholz und konnte mit erstaunlicher Geschwindigkeit auch das schwierigste Gelände bewältigen. Er wohnte allein in einer Hütte auf der anderen Seite der ummauerten Felder. Kein Schaf lammte zu früh, kein Schwein wagte sich auf ein verbotenes Stück Land, ohne dass Fidich es erfuhr. Das Bein machte allerdings einiges für ihn schwieriger. Also war es nützlich, einen Jungen am Tor zu haben. »Also gut, Junge, das war das Letzte!«, rief Fidich über das aufgeregte Bellen der drei großen Hunde hinweg, und Bridei zog das Tor zu und verriegelte es. Die Schafe auf der anderen Seite, die den Winter über Schutz unter struppigen Büschen finden und von dem Wenigen leben würden, was man im Haus entbehren konnte, wirkten ein wenig verwirrt, dann wanderten sie weiter, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Der Schnee begann mit einzelnen Flocken, die in einem trägen, anmutigen Tanz zur Erde schwebten. Während Männer, Junge und Hunde hügelabwärts zum Haus zurückkehrten, begann ein leichtes Wirbeln und Wehen, und auf dem vom Frost hart gewordenen Schlamm des Wegs sam- 52 melte sich eine dünne Schneeschicht an. Auf der anderen Seite des Sees verschwanden die bewaldeten Hügel hinter einer tiefen Wolkendecke. Mehr Wind kam auf, und die Kiefern ächzten zur Antwort. Als Bridei und die anderen das Haus erreichten, hatten die Hunde eine dünne Schneedecke auf dem zottigen grauen Fell, und nun heulte der Wind ernsthaft. Bridei schaute noch einmal den Hügel hinauf und konnte weder das Feld sehen, auf dem sie gearbeitet hatten, noch die Schafe oder die Wachen, die hinter dem Feld auf und ab gingen. Es gab nur noch Weiß. »Wir werden einschneien«, stellte Fidich fest. »Ich kann nicht bleiben; ich muss nach Hause, so lange ich den Weg noch finden kann. Es wird eine schwere Nacht für die Jungs, die Wache stehen.« »Ja«, sagte ein anderer Mann. »Aber wer immer in einem solchen Schneesturm versucht hierher zu gelangen, muss dumm sein; er wird im Kreis herumirren, und wenn er sich hinlegt, um ein bisschen auszuruhen, wahrscheinlich nie wieder aufstehen. Bist du sicher, dass du nicht erst noch einen Bissen essen willst?« »Lieber nicht; ich muss mein eigenes Feuer anzünden, und ich habe meinen Hafer«, sagte Fidich, wie er es immer tat. Selbst in der Halle vor dem Feuer war es kalt. Bridei hatte es nicht eilig, ins Bett zu gehen, denn er wusste, wie eiskalt es in einer solchen Nacht in seinem kleinen Zimmer sein würde. Alle waren still. Mara flickte im Lampenlicht, Ferat saß auf einer Bank und starrte verdrießlich in seinen Bierbecher. Die meisten Männer hatten sich bereits schlafen gelegt. Donal saß am Tisch und arbeitete an ein paar Pfeilen. Eine Ansammlung kleiner Messer und anderer Werkzeuge lag vor ihm bereit, und außerdem hatte er Federn und Schnur und dünne Holzstäbe. Er pfiff leise vor sich hin. Bridei saß neben ihm, zu müde, um mehr zu tun als zuzusehen. Dann flog plötzlich die Hintertür auf, und alle erschraken. - 53 Kalte Luft fegte aus der Küche in die Halle und ließ Funken aus der Feuerstelle fliegen. Donal packte sein größtes Messer und sprang auf, und auch die anderen Bewaffneten eilten sich, den Durchgang zwischen Küche und Halle zu blockieren. Mara stellte sich schützend vor Bridei, und ihre breite Gestalt verhinderte, dass er etwas sah.
»Was zum...«, konnte Ferat gerade noch sagen, bevor man hörte, wie die Tür wieder zugeschlagen wurde, und die Bewaffneten traten zurück und ließen zwei Gestalten durch, von denen eine die andere stützte. Einer der Männer, die da hereinkamen, war Cinioch, der oben an der Feldmauer im Schnee Wache gehalten hatte, und der andere mit dem bleichen Gesicht, bläulichen Lippen und den Kratzern und blauen Flecken einer ungestümen Schlägerei war Uven, einer der Bewaffneten, die Broichan auf seiner Reise zum Rat des Königs begleitet hatten. Dann gab es Arbeit für Bridei. Er nahm einen Umhang vom Haken an der Feuerstelle in der Küche, holte einen Becher Bier und drückte ihn Uven in die zitternden Hände. Mara scheuchte die Hunde von der Feuerstelle in der Halle weg. Donal zog die Bank näher ans Feuer, und die anderen Männer halfen dem halb erfrorenen Reisenden, sich dort niederzulassen. Uven konnte einige Zeit kein Wort herausbringen; er begann immer wieder krampfartig zu zittern, und der Becher wackelte derart in seinen Händen, dass er sich Bier auf den Waffenrock goss. Schließlich gelang es ihm zu trinken, und ein wenig später aß er etwas heißen Haferbrei, von dem Ferat eine großzügige Portion gebracht hatte. »Gut«, murmelte Uven, und sein bleiches Gesicht bekam ein klein wenig Farbe. Dann sah er Donal an. »Botschaft«, sagte er. »Dringend. Nur für dich.« »Bridei«, sagte Donal. »Es ist Zeit zu schlafen; sei ein braver Junge und verschwinde.« »Was ist passiert?« Bridei hörte, wie jämmerlich seine Stimme klang, schrill und verängstigt. Ein braves Kind wi- 54 dersetzte sich keiner Anweisung, und er war immer brav. Aber er musste die Wahrheit wissen. »Was ist mit Broichan?« Alle sahen ihn schweigend an, dann murmelte Uven: »Keine Zeit, Donal.« »Bridei«, sagte Donal, hockte sich nieder und sah Bridei in die Augen, »das hier ist Männersache, und du bist noch kein Mann, obwohl du eines Tages einen guten Mann abgeben wirst. Wenn du Broichan wirklich helfen willst, tust du jetzt, was ich dir sage. Nimm jetzt deine Kerze und geh in dein Zimmer. Wenn ich gehört habe, was Uven zu sagen hat, komme ich und erzähle dir davon. Das verspreche ich dir.« Er lag im Bett und wartete. Die Decken machten die Kälte seines kleinen Zimmers ein wenig erträglicher. Gegen die Kälte in seinem Inneren, die beißender war als der Winter und tiefer als ein Brunnen, halfen sie nicht. Broichan war tot. Welche andere Erklärung konnte es für solche Eile, solche Heimlichkeit geben? Donal wollte ihn schützen und ihm die Nachricht schonend beibringen. Nun, das würde er nicht brauchen. Das war einfach der nächste Teil des gleichen alten Musters. Man ließ zu, dass einem etwas ans Herz wuchs, und dann war es plötzlich weg. Vielleicht war es besser, überhaupt nichts und niemanden lieb zu gewinnen. Bridei fragte sich, ob der Druide seinem Mörder in die Augen geschaut, ob er beobachtet hatte, wie sich der Finger an der Sehne spannte. Er hatte dem Tod sicher gelassen ins Auge gesehen, dachte er. Man kann aus allem etwas lernen, hätte er gesagt. Die Kerze flackerte in der Zugluft; Schatten zuckten über die Wände, keine Rehe, Adler und Hasen, sondern Gespenster, Visionen, Erinnerungen aus der Anderwelt. Vielleicht war der Druide ja bereits dort. Bridei nahm sich vor, nicht zu weinen. Sie würden ihn jetzt wegschicken, nahm er an. Nach Hause, nach Gwynedd. So sehr er es auch versuchte, er konnte sich nicht vorstellen, wie das sein würde. Nach einer Weile klopfte Donal an die Tür, kam leise he- 55 rein und setzte sich auf den Rand des schmalen Betts. Im Kerzenlicht erwachten die Muster auf seinem Gesicht zu einem seltsamen Eigenleben, bewegten sich und änderten sich, als wären auch sie Manifestationen der Geisterwelt. Bridei wartete auf die Worte, von denen er wusste, dass sie kommen würden. »Dein Pflegevater hat ein wenig Ärger«, sagte Donal. »Er ist krank und noch weit von zu Hause entfernt.« »Krank?« Bridei spürte, wie irgendwo in ihm Hoffnung erwachte, eine winzige Flamme, die ihr Bestes tat, nicht wieder auszugehen. »Er ist todkrank, Bridei; ich will dich nicht belügen. Es sieht so aus, als hätte jemand versucht, ihm mit einer bestimmten Kombination von Kräutern Schaden zuzufügen, die Broichan ohne es zu wissen bei einer Mahlzeit zu sich genommen hat. Er erholt sich, so gut er kann; ein Druide ist sich selbst der beste Arzt. Aber er kann dort, wo er ist, nicht bleiben; wir müssen ihn nach Hause holen.« »Wir?« Donais grimmige Miene wurde sanfter. Er sah Bridei sehr direkt an. »Ich und ein paar von den Jungs. Es ist ein langer Weg, Bridei; den ganzen Weg die Küste entlang bis beinahe zum Hof des Königs in Caer Pridne und wieder zurück. Wir müssen aufbrechen, bevor wir hier einschneien.« »Ich könnte helfen«, sagte Bridei und setzte sich in dem Versuch, größer zu wirken, gerader hin. »Das weiß ich, Junge. Ich weiß aber auch, wenn ich dich nur einen Schritt über die Grenzen von Pitnochie tun lasse, wird Broichan mich rauswerfen, sobald er davon hört. Selbstverständlich, wenn du so versessen darauf bist, mich loszuwerden...« »Ich wünschte nur, du würdest nicht weggehen«, flüsterte Bridei. »Tatsächlich«, erklärte Donal, »gibt es etwas, das du hier für mich tun müsstest. Ich kann Glückspilz nicht mitnehmen, und er vermisst mich immer, wenn ich weg bin. Ich - 56 brauche dich hier, damit du ihn hin und wieder striegelst und ihm einen oder zwei Witze erzählst, damit er bei
Laune bleibt. Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du hier bleiben und dich darum kümmern könntest. Ich weiß, dass es nicht einfach ist.« Bridei nickte. In den Worten des Kriegers lag ein gewisser Trost. Aber er musste trotzdem fragen: »Was, wenn du nicht wiederkommst?« »Nicht wiederkommen?« Donal zog überrascht die Brauen hoch. »Ich, Donal, Held von mehr Schlachten, als du Finger und Zehen hast, um sie zu zählen? Selbstverständlich komme ich zurück! Was redest du da, glaubst du, ich bin nicht im Stande, diesen Auftrag zu erledigen?« Bei seinen herausfordernden Worten klang Ironie durch. Bridei blickte zu dem Krieger auf und schüttelte den Kopf. Einen Augenblick später streckte er die Hand aus, und Donal packte sie fest. »Wir werden ihn sicher wieder nach Hause bringen, Bridei, darauf gebe ich dir mein Ehrenwort.« »Donal?« »Ja, Junge?« »Es sollte ziemlich schwierig sein, einen Druiden zu vergiften.« Sie hatten zusammen geübt, wie man Kräuter am Geruch erkannte, Broichan und er, beide mit fest verbundenen Augen. Broichan hatte sich nie geirrt. Donal nickte finster. »Glaub nicht, dass mir das nicht auch schon durch den Kopf gegangen ist.« »Wer könnte so etwas tun?« »Das möchte ich gerne herausfinden«, sagte Donal. »Aber eins nach dem anderen. Broichan wird besser heilen, wenn er wieder zu Hause ist, mit dir an seiner Seite und uns anderen auf Wache. Ich lasse das Haus in deinen Händen, Bridei. Du solltest für deinen Pflegevater beten. Wirst du das tun?« »Ja«, flüsterte Bridei. Es gelang ihm, nicht zu weinen, als Donal sich verabschiedete, es gelang ihm, ernst und trocke- 57 nen Auges zuzusehen, wie sein Freund sich zu Fuß im ersten Morgenlicht auf den Weg machte, zusammen mit nur vier Männern, die alle warm gekleidet und schwer bewaffnet waren. Ob er weinte, als Donal weg war und er wieder allein in seinem Zimmer hockte, ging nur ihn und die Schatten etwas an. Wintersonnwende: der See tintenschwarz, die Hügel bläulich weiß unter einem tief hängenden Himmel, Kiefernzweige, die sich unter ihrer Last bogen, bis es zu schwer für sie wurde, der Schnee in einer pulvrigen Lawine herunterfiel und die Nadelbaumzweige stark und zäh wieder nach oben federten. Die Schafe blieben dicht am Haus und drängten sich auf der Suche nach Wärme dicht zusammen. Der Rauch des Herdfeuers stieg nur träge auf und blieb wie ein Tuch über dem Haus hängen, und selbst die Hunde regten sich morgens nur widerwillig. Der Wassertrog war fest zugefroren, und Fidich brach das Eis mit einem Stab, damit sein Vieh trinken konnte. Bridei hatte geholfen, die Mutterschafe zu füttern, die im Stall untergebracht waren. Er hatte auch die Schweine nebenan besucht. Dann hatte er einige Zeit im Pferdestall verbracht, Perle gestriegelt und Glückspilz Witze erzählt. Es waren keine besonders guten Witze, aber Glückspilz war offenbar zufrieden. Perle war heute unruhig; vielleicht spürte sie, dass es eine Zeit der Veränderung war. Heute würde sich das Jahr wieder dem Licht zuwenden, so schwer das an einem solchen Tag auch zu glauben war. Bei all ihrer Angst um Broichan und die Männer, die sich auf den Weg gemacht hatten, um ihn nach Hause zu holen, verstanden die Menschen im Haushalt doch, wie wichtig dieser Abend war. Die Männer hatten einen schweren Eichenklotz hereingebracht, der nun neben der Feuerstelle bereit lag. Bridei, begleitet von zwei Wachen, holte einen guten Vorrat an Stechpalmenzweigen, Efeuranken, Kiefernzweigen - 58 und sogar ein oder zwei Mistelzweige aus dem Wald, an denen noch Beeren und Blätter hingen, denn die Mistel war ein Gewächs, das es an Seltsamkeit mit den Druiden aufnehmen konnte. Mit Maras Hilfe stellte er Girlanden her, und nun hatte jede Tür eine goldene Krone. Ferat besprenkelte den großen Eichenklotz mit Met und Mehl, und Bridei schmückte ihn mit Efeuranken mit glänzenden Blättern. Am Abend löschten sie das Feuer, legten den Festklotz in die Feuer stelle und versammelten sich davor in der Kälte. Sie löschten die Lampe, und bis auf eine einzige Kerze war es vollkommen dunkel. Stirnrunzelnd vor Konzentration tat Bridei sein Bestes, obwohl er sich nicht an alle Worte des Rituals erinnern konnte. Er erzählte die Mittwintergeschichte darüber, wie die Göttin einen verwundeten Uralten die ganze Nacht in ihren Armen gewiegt hatte, bis er sich in ein kleines goldhaariges Kind verwandelte, das in den Himmel aufflog - und zur Sonne wurde, die nach der Dunkelheit wieder aufleuchtete, Hoffnung wiedergeboren aus dem Tod. Jemand löschte die Kerze. Dann schlug Fidich einen Funken, blies auf eine Hand voll Zunder und zündete einen Span an. Damit brachten sie ein kleines Stück verkohltes Holz zum Brennen, das einzige Überbleibsel des Mittwinterscheits vom letzten Jahr. Das wiederum setzte schon bald das neue Scheit in Brand, das Alte wich dem Neuen, und Wärme breitete sich in der Halle aus. Bridei ging in entgegengesetzter Richtung im Kreis herum, um das Ritual zu beenden, und dann war es Zeit, sich zu entspannen und den Rest des Abends zu genießen. Ferat lächelte, als er das Festmahl auftischte: Bier und Met, Gewürzkuchen und sorgfältig gelagerten Käse. Mara packte einen Korb für die bedauernswerten Männer, die Wache standen. Uven, der sich nun vollständig von den Strapazen erholt hatte, war schon beim dritten Becher Bier. Vergnügtes Schwatzen, der Duft von Ferats gutem Essen, das Grinsen und die Witze erweckten das Haus zu neuem Leben, ein
- 59 perfektes Spiegelbild des Rituals, das sie gerade durchgeführt hatten. Aber Bridei war plötzlich müde; er nippte nur an dem verwässerten Met, den sie ihm gegeben hatten, knabberte an seinem Kuchen und gab den Rest heimlich dem nächsten Hund. »Gute Nacht«, sagte er zu allen und jedem, aber einer der Männer erzählte gerade eine Geschichte, und alle lachten und niemand hörte ihn. Sie bemerkten auch nicht, dass er in sein Zimmer davonschlich, sich in die Decken wickelte und zu den Hintergrundgeräuschen des fröhlichen Festes bald einschlief. Das schien ein angemessener Abschluss eines langen und anstrengenden Tages zu sein. Aber die Knochenmutter hatte die Arbeit dieser Jahreszeit noch nicht vollkommen beendet. Bevor sie ihren Griff um das Land lockerte, hielt sie eine letzte Veränderung für Bridei bereit, eine ebenso wunderbare wie schwierige Veränderung. In dieser Nacht der Wintersonnenwende würde sich sein Leben gründlicher verändern, als man sich hätte vorstellen können. Bridei schreckte mit klopfendem Herzen aus dem Schlaf. Er konnte sich nicht an seine Träume erinnern, nur, dass es dringlich erschienen war, ihnen zu entfliehen. Es war still im Haus. Durch das kleine rechteckige Fenster spähte der Vollmond herein, und sein bläulich weißes Licht verwandelte Brideis gewöhnliches kleines Zimmer in einen Palast der Wunder, ein Reich trügerischer Oberflächen und geheimer Schatten. Es war still, so still, dass selbst das Trippeln einer Maus zu hören gewesen wäre. Und dennoch rief etwas nach Bridei, drängte ihn, gab nicht nach. Schaudernd schob Bridei die Decken beiseite, zog seinen kurzen Umhang über das Nachthemd, öffnete die Tür so leise er konnte und schlich barfuss den Flur zur Halle entlang. In der Feuerstelle flackerte das Feuer immer noch vergnügt; das Mittwinterscheit würde sieben Tage brennen. Mara - 60 schlief friedlich auf einem Stuhl, den Mund ein wenig geöffnet, das Schultertuch ordentlich um sich gezogen. Zwei Bewaffnete, Elpin und Uven, lagen auf Bänken nahe dem Feuer, und die Hunde schliefen auf dem Boden zwischen ihnen. Die Hunde hoben die Köpfe, als Bridei vorbeischlich, dann schliefen sie wieder ein. Die Küche war leer; Ferat war ins Bett gegangen, nachdem er sein kleines Reich aufgeräumt und für den nächsten Tag vorbereitet hatte. Der Schein des Feuers folgte Bridei in diesen Raum, warf seinen kleinen Schatten auf den Steinboden vor ihm. Als er sich der Hintertür näherte, bewegte sich der Schatten die Wand hoch und bog sich in eine unmögliche Form, lang gezogen und schief. Der schwere Eisenriegel war vorgelegt, was Mara für gewöhnlich erledigte, nachdem die Nachtschicht auf Wache gegangen war. Tagsüber blieb diese Tür unverriegelt, denn in Broichans Haushalt gab es viel Kommen und Gehen. Kalte Zugluft flüsterte hinein; Bridei konnte es an den Zehen spüren. Wieder schauderte er. Dieses Etwas, was immer es sein mochte, das Etwas, das ihn geweckt und in die Dunkelheit einer Winternacht gebracht hatte, sagte ihm nun, dass er nach draußen gehen musste. Mit vorsichtigen Fingern und langsam, damit er keinen Lärm machte, zog Bridei den großen Riegel zurück. Er öffnete die schwere Eichentür zum Schnee, der Mittwinterstille, dem blauen Mondlicht. Die Landschaft sah in diesem Licht wahrhaft wunderbar aus. Alles war davon berührt und zu seiner eigenen Magie erwacht. Die dunklen Eichenstämme waren weise alte Druiden, stoisch und stark in der Kälte; die schlanken, anmutigen Birken waren Waldgeister, die von den schönen silbrig grünen Umhängen träumten, die der Frühling ihnen geben würde, um ihre Nacktheit zu bedecken. In der Ferne schimmerte der Teich wie ein Spiegel aus poliertem Silber und zeigte der Leuchtenden ein Bild ihres eigenen liebreizenden Gesichts, gelassen und weise. - 61 Es war eisig kalt. Brideis Zehen wurden schon ein wenig taub. Wahrscheinlich würden sie sich bald blau verfärben. Er warf einen Blick nach unten, um das zu überprüfen. Und da war, weshalb man ihn herausgerufen hatte. Auf der Stufe direkt vor seinen nackten Füßen stand ein kleines Körbchen, ähnlich wie die, in denen Mara Wollstränge aufbewahrte. Aber das hier war kein festes Geflecht aus Weidenzweigen. Dieses Körbchen bestand aus allen möglichen Dingen: Federn, Gräsern, fragilen Blattskeletten, einem kleinen Zweig mit roten Beeren daran, Rinden, Ranken und Blüten, die eigentlich mitten im Winter nicht blühen sollten. Der Korb war mit Schwanendaunen ausgelegt und hatte zwei Griffe aus geflochtenem Ried, auf das in Dreier-, Fünfer- und Siebenergruppen Steine mit einem Loch in der Mitte aufgefädelt waren. Dieses Körbchen war nicht von Menschen gemacht worden. Die Person, die darin lag, war... sehr klein. Außerordentlich klein, und wahrscheinlich halb erfroren. Bridei kniete sich auf die Stufe und wagte kaum zu atmen, während das Mondlicht auf dieses Geschenk fiel, als wollte es ihm genau zeigen, was die Leuchtende ihm gegeben hatte. Die sehr kleine Person schien zu schlafen. Sie trug eine Art Häubchen, das mit weißem Fell eingefasst war, und hatte eine kleine, in vielen Farben gestreifte Decke bis ans Kinn hochgezogen. Ihr Gesicht war perlweiß, mondweiß, so hell wie das Fell eines Hasen im Winter. Sollten Babys nicht rotgesichtig und hässlich sein? Dieses hier hatte zarte Wimpern und einen rosigen, ernsten Mund. Bridei starrte es wie gebannt an. Ein Bruder. Ein kleiner Bruder. Er würde nicht mehr allein sein. Mit laut klopfendem Herzen richtete er sich wieder auf und hob den Blick zu der großen Silberkugel am dunklen Himmel. Mit den Händen machte er die Zeichen für Anerkennung und Ehrfurcht; es war klar, dass er für immer in der Schuld der Leuchtenden stand.
»Danke«, flüsterte er und verbeugte sich so, wie sein Pflegevater es ihn gelehrt hatte. »Ich werde mich um ihn - 62 kümmern, das verspreche ich. Ich schwöre es bei meinem Leben.« Er griff nach unten, um das Körbchen aufzuheben, und hielt inne. Die kleine Person war wach. Sie sah ihn ernst an, und ihre Augen waren mondhell, sternenhell, hatten keine und jede Farbe. Es waren Augen wie ein Traum, wie ein tiefer Brunnen, wie eine magische Geschichte ohne Ende. Vielleicht waren sie blau, aber anders als jedes andere Blau auf der Welt. Die kleine Person regte sich, und eine Hand, nicht größer als eine Eichel, tauchte unter der gestreiften Decke auf und griff nach etwas Unsichtbarem. »Da«, sagte Bridei und bückte sich, um den Arm des kleinen Geschöpfs wieder unter die Decke zu stecken, denn wenn er selbst schon vor Kälte zitterte, was mochte dieser Winzling empfinden? Die kleine Hand packte seinen Finger und hielt ihn fest. Brideis Herz verhielt sich seltsam; es war, als rollte es in seiner Brust herum. »Du wirst hier sicher sein, das verspreche ich dir.« Erst nachdem er das Körbchen und seinen Bewohner nach drinnen gebracht und die Tür hinter sich geschlossen hatte, wurde Bridei klar, dass er nun schnell handeln musste. In diesem Haushalt herrschten Ordnung und Disziplin, und alle richteten sich nach Broichans Wünschen. Niemand, der hier wohnte, Mara, Ferat, Donal und die anderen, erwähnte je eine Familie. Selbst Fidich, der sein eigenes kleines Häuschen bewohnte, hatte keine Frau und keine Söhne, die von ihm die Landwirtschaft erlernten. Broichans Haus war kein Ort für Kinder. Dieses Neugeborene würde nicht mit offenen Armen aufgenommen werden. Es würde in der Tat doppelt unwillkommen sein, denn es war ohne Zweifel ein Geschenk der Anderen, des Guten Volkes. Der Mond hatte sie zu Brideis Tür geführt. Und während man einen gewöhnlichen Findling wahrscheinlich warm gehalten, mit Milch gefüttert und schließlich einem kinderlosen Paar in einer der Siedlungen übergeben hätte, würde man ein Kind des Waldes - 63 nicht so freundlich behandeln. Bridei hatte gehört, was die Leute sagten; man hielt ein solches Geschenk eher für einen Fluch als für einen Segen. Bei Gelegenheiten wie diesen erwies es sich als nützlich, eine Ausbildung zum Druiden begonnen zu haben. Das Körbchen stand nun auf dem Küchenboden, ein dunkles Oval. Das Gesicht des Kindes war ein weißer Kreis und schimmerte ein wenig, als trüge es etwas vom Mondlicht in sich. Seine Augen blieben offen, und sein Blick folgte Bridei ruhig, als er anfing, sich umzusehen. Ein Schlüssel, er brauchte einen Schlüssel. Dieser Zauber sollte dafür sorgen, dass ein Kind in Sicherheit war - dass es dem Haus erhalten blieb. Wenn er andere davon abhielt, ein Baby zu stehlen, würde er nicht auch die Angehörigen eines Haushalts dazu bringen, ein Kind behalten zu wollen? Er betete, dass das wirklich zutraf. Es musste hier irgendwo einen Schlüssel geben. Er musste sich beeilen; wenn das Baby anfing zu weinen und jemand aufwachte, würden sie das Körbchen sofort wieder nach draußen stellen, und sein kleiner Bruder würde erfrieren, wie es Uven beinahe zugestoßen war. Also schnell, er musste aufhören herumzuwühlen und seinen Kopf benutzen, wie Broichan ihn angewiesen hätte ... Bridei blieb stehen und konzentrierte sich. Ein Schlüssel, er hatte einen gesehen, einen winzigen Schlüssel mit einem Kringel am Griff... ja, der Gewürzkasten, Ferats Schatztruhe aus Eibenholz, hatte einen solchen Schlüssel, und er wusste, wo der Koch ihn versteckte: direkt dort oben hinter dem Ölkrug. Bridei nahm den Schlüssel vom Haken, schlich leise wieder zu dem Körbchen zurück und steckte vorsichtig die Hand an der Seite zwischen die Decke und das weiche Daunenpolster. Der Schlüssel rutschte auf den Boden des Korbs, verborgen, geheim. Niemand würde das Baby mehr wegschicken. Nun wollte Bridei nur noch in sein Zimmer zurückkehren, wo niemand ihn sah, und dieses bemerkenswerte Geschenk so lange wie möglich vor den Blicken der anderen bewahren. - 64 Er konnte einfach nicht aufhören, die winzigen, vollkommenen Züge zu betrachten, diese seltsamen Augen, gleichzeitig unschuldig und wissend, die kleinen Finger wie zarte Blütenblätter. Aber es war kalt in seinem Zimmer. Außerdem wusste Bridei, dass neugeborene Lebewesen wie Frühlämmer viel Pflege brauchten. Sie brauchten warme Milch. Wie sollten sie das mitten im Winter bewerkstelligen? Und wahrscheinlich gab es noch alle möglichen anderen Dinge, von denen er nichts wusste. Er trug das Körbchen in die Halle und stellte es auf den Steinboden in die Nähe der schlafenden Hunde. Einer der Hunde knurrte leise, und Bridei befahl ihm, still zu sein. Er griff in den Korb, ganz vorsichtig, als sammelte er frische Eier, und hob das Kind heraus. Es fühlte sich warm und entspannt an und wog nicht mehr als ein Kaninchen. Es trug eine Art Umhang mit Pelzfutter und ein Gewand darunter, so fein gewoben, so durchscheinend, dass der Faden auch von einem Spinnennetz oder einer Disteldaune hätte stammen können. Der untere Teil war in ein dickes, praktisches Stück Wolltuch gewickelt. Obwohl es unbestreitbar feucht war, fürchtete Bridei, dass er nicht viel dagegen tun könnte, da er kein Ersatztuch hatte. Also hielt er das Baby im Arm, wiegte es ein wenig, und die klaren, seltsamen Augen blickten zu ihm auf, als wollte diese kleine Person herausfinden, was von ihm zu halten war. Eine Haarlocke rutschte unter der Haube vor und kringelte sich rußschwarz über die bleiche Stirn. »Schon gut«, sagte Bridei leise, nur für sie beide. »Ich werde dich nicht allein lassen. Ich werde dir jeden Abend eine Geschichte erzählen und jeden Tag mit dir spielen, und ich werde dafür sorgen, dass du vor dem Urisk sicher bist.«
Vielleicht hatte das Gute Volk dafür gesorgt, dass der Bauch des Babys voll war, bevor sie das Kind dem Mond überließen: Jedenfalls bekam es erst Hunger, als die frühe Winter- 65 sonne ein wenig Licht durch die Ritzen um die Tür fallen ließ, und es begann mit einem schrillen Geschrei, das den gesamten Haushalt sofort auf die Beine brachte. Die Hunde fingen an zu bellen, die Männer ächzten und streckten die verkrampften Glieder, und Mara, eine Hand an der Stirn, kam langsam auf die Beine und machte zwei Schritte auf die Stelle zu, wo Bridei, aus dem Schlaf geschreckt, mit dem heulenden Kind in den Armen saß. Maras scharfer Blick nahm das seltsame Körbchen, das Schwanendaunenpolster, das winzige Gewand mit dem weißen Pelzbesatz wahr; dann betrachtete sie das Kind selbst, das nun ein wenig mehr wie jedes andere hungrige Neugeborene aussah, aber immer noch diese bemerkenswert klaren, hellen Augen, die zarten Hände, die Locke rabenschwarzen Haars hatte. Dann sah Mara Bridei an. Er hielt das Kind fest an sich gedrückt und starrte zurück. Sie sollten lieber nicht versuchen, ihm seinen kleinen Bruder wegzunehmen. Mara bewegte die Finger in einer uralten Geste zur Abwehr des Bösen. Hinter ihr taten die Männer das Gleiche. »Die schwarze Krähe behüte uns«, sagte sie und hockte sich hin. »Was hast du getan, Bridei? Hier, gib es mir.« Bridei hielt das Kind fest. »Komm schon, Junge. Denk doch nach. Kannst du nicht sehen, was es ist? Was würde dein Pflegevater dazu sagen? Gib es mir; schnell jetzt. Je länger es sich innerhalb dieser vier Wände aufhält, desto wahrscheinlicher wird es uns alle in den Abgrund reißen. Und gerade jetzt, wenn Broichan so weit weg von hier dem Tod nahe ist, können wir so etwas wahrhaftig nicht brauchen.« Elpin griff nach unten, als wollte er das Kind nehmen. Er sah aus wie jemand, der gezwungen wurde, etwas zu berühren, das er für widerwärtig oder gefährlich hielt, wie eine Giftschlange. Bridei wich ihm aus. »Er will einfach nur Milch«, sagte er über den Lärm hinweg. Wer hätte gedacht, dass ein so win- 66 ziges Wesen solchen Krach machen konnte? Er konnte spüren, wie die Schreie den zierlichen Körper des Kindes zum Vibrieren brachten. »Seh, seh, es wird schon alles gut«, flüsterte er. »Milch, wie?«, fragte Mara empört. »Und wo, glaubst du, sollen wir die mitten im Winter hernehmen, wenn alle Kühe und Schafe knochentrocken sind?« Sie hatte die Hände auf die Hüften gestützt und stand da wie ein großer Wachhund, der einen Eindringling verscheuchen will. »Wir sollten es schnell wieder nach draußen bringen«, sagte Elpin. »Sie sagen, wenn man das tut, kommen die ... die Anderen und nehmen ein solches Kind wieder weg. Wenn man nicht zu lange wartet.« »Ziemlich kalt da draußen«, stellte Uven zweifelnd fest. »Und das Kind ist sehr klein.« »Was ist denn hier los?« Der Lärm hatte auch Ferat aus dem Bett getrieben, der nun mit wirrem Haar und der Miene eines Mannes mit gewaltigen Kopfschmerzen in die Halle kam. »Wo hast du denn das her, Junge? Hier, gib es mir -ja, so«, und mit einer raschen, geschickten Bewegung nahm der Koch das Kind aus Brideis Armen und ging dichter ans Feuer, sodass er es genauer ansehen konnte. Er schien zu wissen, was er tat; nachdem er die roten, verzerrten Züge betrachtet hatte, legte er das Baby gegen seine Schulter, begann, ihm rhythmisch den Rücken zu tätscheln, und wie durch ein Wunder verstummte das Schreien zu einem dünnen, kläglichen Schluchzen. »Es hat Hunger«, erklärte Ferat. »Und es stinkt wie ein Misthaufen. Mara, bitte geh und hol mir ein paar saubere Tücher. Junge, schüre das Küchenfeuer für mich, wir brauchen warmes Wasser.« Die anderen standen stumm da und starrten ihn an. Der Koch war heute früh eindeutig nicht ganz er selbst. »Geh schon, mach schon«, fauchte Ferat, was seinem üblichen Tonfall ein wenig näher kam. »Das arme Kleine wird - 67 noch verhungern! Was würde Broichan sagen, wenn er hörte, dass wir uns von Albernheiten und abergläubischen Ideen dazu verleiten ließen, ein Neugeborenes schlechter zu behandeln als ein verwaistes Lamm? Ihr solltet euch schämen!« »Das ist ja schön und gut«, sagte Mara, »aber wie sollen wir es ernähren? Außerdem würde Broichan so etwas nicht wollen. Es ist nicht recht, und ich kann nicht glauben, dass du auch nur daran denkst...« Bridei räusperte sich. »Ich bin derjenige, der ihn hereingeholt hat. Wenn mein Pflegevater zornig wird, kann er auf mich zornig sein. Aber ihr könnt den Kleinen nicht wieder in den Schnee legen. Er wird sterben.« »Sieht für mich mehr nach einem kleinen Mädchen als nach einem Jungen aus«, stellte Ferat fest, der immer noch das Baby tätschelte. »Und Mara hat Recht, es kommt von den Anderen. Seht ihr, wie blass sie ist, jetzt, wenn sie nicht mehr schreit? Lange Wimpern wie bei einer schönen Kuh und ein kleiner Rosenknospenmund. Sie könnte aus einem Märchen stammen; ein wirklich schönes Geschenk, finde ich. Mara wird dir sagen, ob es ein Mädchen ist, wenn sie die Tücher gewechselt hat.« »Ich?«, entgegnete Mara verärgert, aber sie legte das Baby auf den Tisch und zog ihm die Windeln aus, und Ferat hatte Recht, es war ein Mädchen. Bridei wusste nicht genau, was er davon halten sollte. Frisch gewaschen und in das Tuch gewickelt, das Mara geholt hatte, blieb das Mädchen auf dem Arm der Haushälterin, während Ferat mit warmem Wasser und Honig tat, was er konnte, und schon bald brachten sie die Kleine dazu, das Honigwasser aus einem aufgerollten Lappen zu saugen, den sie in die Schale tunkten, und es
wurde stiller. Uven und Elpin standen daneben und sahen zu; keiner schien es eilig zu haben, nach draußen zu gehen. Ferat war in die Küche zurückgekehrt, hatte seine Helfer gerufen und war damit beschäftigt, das Frühstück zuzubereiten. - 68 »Damit wird sie sich nicht lange zufrieden geben«, rief er über das Klappern von Töpfen und Pfannen hinweg. »Hat Cinioch nicht von einer Kusine erzählt, die gerade ihr Kind verloren hat? Ihr wisst, wen ich meine; sie war auf der Schwarzen Insel verheiratet, aber ihr Mann wurde getötet, während das Kind noch in ihrem Bauch war. Sie ist jetzt in der Siedlung unten am See, weil sie das Kind bei ihrer Schwester zur Welt bringen wollte. Aber es war nicht gesund; sie haben es vor einem oder zwei Tagen begraben. Kann mich nicht erinnern, wie das Mädchen hieß.« »Brenna«, sagte Uven. »Schüchternes kleines Ding. Eine traurige Geschichte, das.« »Ja«, sagte Mara. »Traurig. Aber auch nützlich. Immer vorausgesetzt, dass wir die Kleine behalten wollen.« Sie betrachtete stirnrunzelnd das Kind, das nun wieder in Brideis Armen lag, während sie ihm ein paar weitere Tropfen Honigwasser in den kleinen, hübschen Mund drückte. Die hellen, klaren Augen blickten zu ihr auf. »Uven!«, rief Ferat. »Wo steckt Cinioch heute früh?« »Noch auf Wache.« »Gut. Also wirst du frühstücken, und dann gehst du so schnell wie möglich rauf. Sag ihm, er soll vorbeikommen und mit mir sprechen, bevor er etwas anderes tut. Wir brauchen eine Amme; je länger wir warten, desto dringender wird es. Klingt, als wäre diese Brenna genau das, was wir wollen.« »Sie müsste den Verstand verloren haben«, murmelte Mara. »Wer wollte schon eins von denen stillen?« Aber es kam Bridei so vor, als meinte sie diese Worte nicht so recht ernst, denn sonst hätte sie sich nicht so angestrengt, das Baby zum Trinken zu bringen, und nicht bei jedem erfolgreichen Schluck ermutigend genickt. Das kleine Körbchen stand nun leer an der Feuerstelle, der Schlüssel war gut in dem wirren Laub verborgen. Es stimmte, was Broichan ihm gesagt hatte. Manchmal war schlichte Herdmagie stärker als alles andere. - 69 Der Tag schien sehr lang zu sein. Cinioch frühstückte schnell und ging dann zur Siedlung. Das Baby war zunächst still, aber später weinte es und weinte, bis es keine Kraft mehr hatte. Es wollte kein Honigwasser mehr. Bridei nahm es auf den Arm und tätschelte und wiegte es. Die Kleine schien schwerer zu werden, je später es wurde. Ihr leises Schluchzen bewirkte, dass er am liebsten mitgeweint hätte, aber er tat es nicht. Am frühen Abend kam Cinioch mit einer blassen jungen Frau zurück, die dick gegen die Kälte draußen eingepackt war. Ihre Züge waren spitz von der Kälte, ihre Nase und die Augen rot, und sie schauderte selbst unter den vielen Schichten Kleidung. Dennoch, sobald sie das Kind in Ferats Armen sah, warf sie schnell den Umhang und das Schultertuch ab, und drei Schritte brachten sie zu dem Koch, wo sie das Kind sofort an sich zog. »Oh, arme Kleine, armes Kind«, gurrte Brenna, und das Baby gluckste schwächlich. »Ich bringe sie in eine ruhige Ecke, wenn ihr mir eine zeigt«, fügte die junge Frau hinzu. »Das arme kleine Ding hat Hunger, aber das bringen wir bald in Ordnung.« Und das tat sie. Die Frauen baten Bridei, in der Küche zu bleiben, während sie sich ans Hallenfeuer setzten; er konnte hören, wie das Baby leiser wurde, und bald war statt des dünnen Jammerns ein keuchendes, schnaufendes, gieriges Geräusch zu hören, und dann gab es nur noch selige Stille. Bridei seufzte erleichtert; Ferat, der die Suppe rührte, nickte zufrieden vor sich hin. »Wir sollten am besten eine Hammelkeule braten«, sagte der Koch. »Wenn eine Frau stillt, isst sie wie ein Pferd. Deiner Kleinen wird es jetzt gut gehen, Junge, ganz bestimmt.« Als der Tag sich dem Ende zuneigte, warteten im Winterwald vor Broichans Haus zwei Präsenzen. »Es ist geschehen«, sagte das erste dieser Wesen. »Er hat sie hereingeholt, und niemand hat sie wieder vor die Tür ge- 70 bracht. Und sie weint nicht mehr. Sie hat eine gewaltige Stimme für ein so kleines Ding.« »Ich habe die Wette gewonnen«, sagte das andere. »Ich habe dir ja gesagt, dass sie sie behalten werden.« »Das ist zweifellos Brideis Werk. Für einen Menschen ist dieser Junge erheblich gerissener, als man von einem Kind seines Alters erwarten würde. Er hat sicher einen kleinen Zauber angewandt, den der Druide ihm beigebracht hat... Sie hätten sie sonst nie behalten. Sie konnten mit einem einzigen Blick erkennen, dass sie eine von uns ist.« Das zweite Wesen warf dem ersten einen Blick zu. »In gewisser Weise ist sie das. Und andererseits auch wieder nicht. Nun, nachdem wir unsere Pflicht gegenüber der Leuchtenden erfüllt haben, hat diese Sache ein Ende.« Das erste Wesen stieß ein Lachen aus, das an Glöckchenklingeln erinnerte. »Wohl kaum! Das hier ist erst der Anfang. Vor ihnen liegt ein langer Weg, lang und schwer. Und wir werden bei jedem Schritt dabei sein. Wir wollen alle das gleiche Ende für diese Geschichte, sogar der Druide. Es könnte ihn allerdings überraschen, auf welche Art es geschieht.« »Komm, gehen wir nach Hause. Es war eine lange Nacht. Diese Menschen ermüden mich. Sie können so dumm sein, so träge, wenn es darum geht, etwas zu begreifen.« »Die längste Nacht«, sagte das erste Wesen ernst. »Nacht des Vollmonds, Nacht der Veränderung, der Beginn einer großen Reise.«
»Brideis Reise.« »Seine und ihre, und die von uns allen. Wir bewegen uns auf nichts Geringeres als ein neues Zeitalter zu. Und die Füße, die den Weg bahnen, sind klein. Lass uns hoffen, dass sie nicht zu früh ermüden. Lass uns hoffen, dass sie nicht versagen.« Die Magie schien weiterhin zu wirken. Brenna richtete sich im Haushalt ein, als gehörte sie dorthin. Sie war sehr still und hatte stets einen traurigen Ausdruck in den Augen, was bei - 71 einer Witwe von erst neunzehn Jahren, die gerade ihren Erstgeborenen verloren hatte, niemanden überraschte. Mara weigerte sich, ihr Zimmer mit Brenna zu teilen, und verkündete, sie habe nicht vor, die halbe Nacht wach zu sein, weil das Kind krähte und gestillt werden wollte. Also ließ Ferat seine Helfer einen kleinen Vorratsraum räumen, und hier packte Brenna ihre klägliche Habe aus und zog mit offensichtlicher Dankbarkeit ein. Nachts schlief das Baby an ihrer Seite, und das nicht mehr in dem seltsamen, aus Waldmagie gewobenen Korb, sondern in einer schönen Wiege aus Eichenholz, in deren Kopf- und Fußende kleine Zweige mit Blättern und Eicheln geschnitzt waren. Fidich, der Bauer, hatte sie alle eines Morgens überrascht, indem er mit der Wiege auftauchte und sie eher schüchtern als seinen Beitrag zum Unterhalt der Kleinen bezeichnete. Als er die neue Wiege brachte, hatte Mara etwas davon gemurmelt, den alten Korb zu verbrennen, um zumindest diesen Einfluss aus dem Haus zu schaffen, bevor Broichan nach Hause zurückkehrte. Bridei sorgte dafür, dass das Körbchen verschwand, während Mara anderswo beschäftigt war. Nun lag es in Brideis Zimmer sicher verborgen in der Truhe, mit Schlüssel und allem. Ferat war nicht sonderlich erfreut, als er Gewürze brauchte und seine kleine Truhe nicht aufschließen konnte. Zuerst gab er seinen Helfern die Schuld daran, dass der Schlüssel verschwunden war, und verfluchte die beiden, weil er die Truhe mit einem Messer aufstemmen musste, was das Holz verkratzte. Der Anblick des Inhalts in den ordentlichen kleinen Päckchen, der immer noch vorhanden war, beruhigte ihn allerdings schnell. Als Koch hielt er die kleine Sammlung von Muskat, Zimt, Kardamom und feinen Pfefferkörnern für unendlich viel kostbarer als den polierten Kasten, in dem er sie aufbewahrte. Widerwillig gab er zu, dass das Verschwinden des Schlüssels vielleicht ein Zufall gewesen war; wer sollte sich schon die Mühe machen, ihn zu stehlen, und dann den Schatz selbst unberührt lassen? Als er mit seinem Apfel- 72 kuchen fertig war, summte er schon wieder vor sich hin. Seit dem Eintreffen des Babys war er ein ganz anderer Mensch. »Sie braucht einen Namen«, hatte Bridei am zweiten Tag festgestellt, als sie in der warmen Halle beim Abendessen saßen. Brenna, das Kind im Arm, verspeiste großzügige Portionen von Ferats besonderer Hammelkeule mit Klößen. Das Baby selbst war wach, aber ruhig, spähte mit seinen klaren Augen unter den rabenschwarzen Locken hervor und beobachtete alles. Selbst jetzt, als sie satt war, gab es keine Spur von Farbe in ihren Wangen; ihre Haut blieb milchweiß. Seit ihrer Ankunft hatte sie sehr wenig geweint; aber das war nicht überraschend, denn ihr Hauptbedürfnis war das nach Milch, und das hatte Brenna gut im Griff. Tatsächlich schien Brideis kleine Schwester ihn nun, da sie alle Milch hatte, die sie wollte, kaum mehr zu brauchen. Bridei wusste, dass er nicht eifersüchtig sein durfte. Er saß neben Brenna auf der Bank; hin und wieder schaute er auf die Kleine nieder und sie blickte zu ihm auf, und er wusste, dass sie ihn erkannte und das Versprechen verstand, das er ihr im Mondlicht gegeben hatte. Vielleicht brauchte sie ihn derzeit wirklich nicht, aber wenn es so weit wäre, würde er da sein. »Wir sollten ihr einen Namen geben«, sagte er noch einmal, und noch während er das aussprach, tauchte ein Name in seinem Hinterkopf auf, einer, der zu der blassen Haut, dem rabenschwarzen Haar und ihrem unabhängigen Aussehen passte. »Hm«, brummte Mara. »Jetzt soll sie also einen Namen haben. Ich weiß nur eins. Das da ist kein Kind, das ich nach meiner Mutter oder meiner Großmutter benennen würde.« »Warum nicht?«, fragte Brenna. »Weil sie keine von uns ist«, antwortete Mara. »Und wahrscheinlich steht es uns nicht einmal zu, ihr einen Namen zu geben. Wahrscheinlich hat sie schon einen, etwas ganz anderes, fremdartig wie jene, die sie hergebracht haben. Die - 73 schwarze Krähe behüte uns«, fügte sie hinzu und machte das Zeichen gegen das Böse. Brenna sagte selten etwas, und meistens öffnete sie nur den Mund, um um etwas zu bitten oder sich zu bedanken. Ihre Stimme war leise und schüchtern. »Welchen Namen würdest du ihr denn geben, Bridei?«, fragte sie. Bridei legte einen Finger an die weiße Wange der Kleinen; sie fuchtelte mit den winzigen Händen und verzog den Mund zu etwas, das vielleicht ein Lächeln war. »Tuala«, sagte er entschlossen. »Das ist ein alter Name aus einer Geschichte. Es bedeutet Prinzessin des Volkes. Broichan würde das gefallen.« »Es wird ihm überhaupt nicht gefallen, heulende Kleinkinder im Haus zu haben, vor allem, wenn er krank ist«, sagte Mara trocken. »Prinzessin, wie? Armes kleines Ding, sie wird keine große Prinzessin sein, wenn sie hier bei uns bleibt. Höchstens eine Prinzessin des Schweinestalls.«
»Es ist ein hübscher Name«, warf Brenna leise ein. »Ja«, sagte Uven. »Er passt zu ihr. Hör auf, Mara. Wir wissen alle, dass du die Kleine ebenso gern hast wie wir alle.« So erhielt der Findling seinen Namen, Broichans Haushalt wuchs um zwei Personen, und Bridei, der sich daran erinnerte, dass sein Pflegevater dem Tod nahe gewesen war, machte sich erneut ernsthaft an seine Studien, damit er Broichan nicht enttäuschen würde, selbst wenn der Druide sich über die Neuankömmlinge ärgern sollte. Es war schwierig, sich ohne Donal im Zweikampf zu üben, also half er stattdessen Fidich auf dem Hof. Am Nachmittag übte er sich im Geschichtenerzählen. Um diese Zeit war die Kleine meist wach, und Brenna, die nach ihrer Entbindung und dem Tod ihres eigenen Kindes immer noch schnell müde wurde, überließ Bridei Tuala gerne, während sie selbst sich in ihre winzige Kammer zurückzog, um ein Schläfchen zu halten. Bridei kannte bereits viele Geschichten, denn Geschichten waren die Grundlage der Weisheit eines Druiden, weil - 74 sie Schicht um Schicht von Verständnis enthielten, unzählige Symbole, Chiffren und Schlüssel. Jedes Mal, wenn er eine Geschichte erzählte, schien sie eine andere Bedeutung zu gewinnen. Für Tuala wählte Bridei nichts aus, das mit Schlachten und Gemetzel, Ungeheuern und Gespenstern oder Verlust und uralter Trauer zu tun hatte. Er erzählte ihr komische Geschichten, alberne Geschichten, durchsetzt mit Geschichten über Heldentaten und Träume, die Wahrheit wurden. Tuala war eine hervorragende Zuhörerin. Sie lernte besser und besser, still zu sein, und sah wie gebannt zu, wenn er erzählte. Mit ihren hellen Augen verfolgte sie seine Gesten, wenn er ein dramatisches Ereignis beschrieb, und hier und da trug sie ein leises Glucksen oder ein Quieken bei. Sicher, es gab auch ein paar Geschichten, die sie einschlafen ließen. Wenn das passierte, begann Bridei einfach mit einem Lied, das er leise sang, während er die Wiege schaukelte. Er war nicht sicher, woher er das Lied kannte, nur dass er es nicht von Broichan gelernt hatte. Hee-oh wee-oh Spinne, komm und hilf mir aus Spinn ein Netz, zart und fein, Ich wickele mein Kind hinein. Hee-oh, wee-oh Krähenfedern, bläulich schwarz Schwanendaunen, weiß und weich Kleiden die Prinzessin gleich. Hee-oh, wee-oh Blatt von Holler, Birke, Eibe Ein Geflecht ganz wunderbar Krönt das schwarze Mädchenhaar. Und wenn sie schlief, schien sie zu lächeln. - 75 An einem sehr klaren Tag, als ein kalter Wind aus dem Nordosten ins Tal wehte und die Vögel vor sich her trieb, brachten sie den Druiden nach Hause. Der Wind schien auch die Reisenden vor sich her zu blasen, als sie den Weg entlangkamen, der den dunklen See umging und sich durch das täuschende Muster der Eichen zu Broichans Haus wand. Brideis Magen zog sich vor Nervosität zusammen. Er hatte sich nach diesem Tag gesehnt, hatte tatsächlich jeden Abend eine Markierung in den Stein seiner Zimmerwand gekratzt, bis Broichan und Donal endlich nach Hause kamen. Aber nun war seine Erwartung mit Angst vermischt. Was, wenn sein Pflegevater einen Blick auf das Baby warf und beschloss, dass es gehen musste? Niemand im Haushalt hatte sich dem Druiden je widersetzt. Sie hatten nicht unbedingt Angst vor ihm. Er war einfach so stark und so weise. Er hatte einfach immer Recht. An diesem Tag sah Broichan allerdings nicht besonders stark aus. Er stützte sich schwer auf seinen Stab, als er mit Donal auf einer Seite und einem Mann namens Enfret auf der anderen den Weg entlangkam. Der Druide schien geschrumpft zu sein; er wirkte weder so groß noch so breit, wie Bridei ihn in Erinnerung hatte. Und er war blass, beinahe so blass wie Tuala, deren Haut den Schimmer von Mondlicht hatte. Aber eins war unverändert geblieben: In Broichans dunklen Augen glühte immer noch leidenschaftliche Intelligenz. »Willkommen daheim, Herr«, sagte Mara, als die Reisenden die offene Tür erreichten. Sie lächelte, was selten vorkam. »Willkommen, Herr«, wiederholte Ferat hinter ihr. »Es ist gut, dich auf den Beinen zu sehen. Donal, Enfret.« Er nickte den beiden zu. Weiter hinten auf dem Weg näherten sich die anderen Bewaffneten mit einem Packpferd, das mit Bündeln beladen war. »Ihr werdet sicher alle froh über einen Becher warmes Bier und einen Bissen sein«, fügte der Koch hinzu. »Es ist ein kalter Tag.« - 76 In Ferats Ton lag eine Spur von Nervosität, aber das war nichts im Vergleich zu der lähmenden Unruhe, die Bridei erfasste, als er dort an Maras Seite stand. Derzeit befand sich das Baby in Brennas Zimmer und wurde gestillt. Bridei betete, dass Tuala keinen Lärm machen würde, noch nicht; nicht, wenn sein Pflegevater so grimmig und müde aussah. Nicht bevor es Bridei gelungen war, sich wieder zu fassen und zu wissen, was er sagen sollte. »Bridei!« Ein breites Grinsen erschien auf Donais Gesicht, und er trat vor und packte seinen jungen Freund herzlich an der Schulter. Bridei erwiderte das Grinsen und wurde ein bisschen ruhiger; hier hatte er einen Verbündeten, auf den er sich verlassen konnte. »Du bist ganz schön gewachsen, Junge. Sieh nur, wie groß und stark er aussieht, Herr!« Broichan blickte nach unten - dunkle Augen, blasses Gesicht, langes, geflochtenes Haar. Er hatte mehr Falten als zuvor, aber er beherrschte seine Miene mit solcher Disziplin, dass man ihm nicht ansehen konnte, was er dachte. »Bridei«, sagte er ernst. »Ich bin froh, dass es dir gut geht. Ich bin sicher, du hast aufmerksam weiterstudiert.«
»Ja, Herr.« Seit Tuala gekommen war, hatte sich Bridei daran gewöhnt, zu den Erwachsenen zu gehören, ein Teil des Haushalts zu sein, der sich um die Bedürfnisse und Nöte eines kleineren Kindes kümmerte. Nun wurde er abrupt selbst wieder zum Kind. »Ich habe mein Bestes getan.« »Davon bin ich ausgegangen. Und nun werde ich mich eine Weile in mein Zimmer zurückziehen. Donal, bitte hilf mir. Nein, ich brauche nichts«, sagte er mit einer Spur von Gereiztheit zu Ferat und Mara, die so gar nicht zu ihm passen wollte. »Vielleicht ein wenig Wasser. Ich bin sicher, dass die Männer euer Angebot gern annehmen werden; wir haben einen langen Weg hinter uns. Stehen die Männer immer noch Wache? Wie viele habt ihr auf dem Wall im Norden?« Sie waren nun im Haus, und Broichan stellte immer noch Fragen, während er auf sein Zimmer zuhinkte und nicht ver- 77 bergen konnte, wie sehr er sich dabei auf Donais Arm stützen musste. »Ich werde das alles überprüfen, Herr«, versprach Donal ruhig. »Komm, du bist jetzt zu Hause und musst dich ausruhen. Überlass diese Angelegenheiten uns.« »Ruhen, ruhen«, murmelte der Druide verbittert. »Ich habe die letzten zwei Monate nichts anderes getan. Ich kann es mir nicht leisten. Die Zeit vergeht, bevor man auch nur Gelegenheit hat, zwei Gedanken aneinander zu fügen. Zeit, das ist alles, was ich will, nur genug Zeit... die Seuche soll diese Leute holen, die sich in alles einmischen müssen.« Wie es Babys nun einmal tun, gab Tuala ihre Anwesenheit bald bekannt. Es gab einen kurzen Ausbruch, einen schrillen Protest, der schnell von Brennas leiser Stimme zum Schweigen gebracht wurde. Nicht lange danach kam Broichan in die Halle, lila Schatten unter seinen Augen, die Knöchel der Hand, mit der er seinen Stab umklammerte, weiß, und blieb vor ihnen allen stehen, ohne ein Wort zu sagen. Von hinter ihm, aus dem kleinen Zimmer, in dem sich Baby und Amme aufhielten, war nun nichts mehr zu hören. Am Tisch sahen sich Donal und die anderen Männer, die mit dem Druiden zurückgekehrt waren, erstaunt um. Bridei hatte gerade versucht, den Mut zu finden, ihnen die Neuigkeit zu erzählen, und sowohl Ferat als auch Mara hatten darauf gewartet, dass er es tat, denn sie gingen davon aus, dass das allein seine Aufgabe war. Da es aussah, als wollte Broichan die Frage nicht stellen, tat es Donal für ihn. »Sagt mir, dass das kein Baby war, was ich gerade gehört habe«, brachte er heraus. »Hattest du etwa Geheimnisse vor uns, Mara?« Als Witz war das ziemlich schwach. Niemand brachte mehr als ein sehr dünnes Lächeln zu Stande. Mara schaute Bridei an, und Ferat tat das Gleiche. Alle schwiegen. Einen Augenblick später kam Brenna aus dem - 78 Flur, das Kind in den Armen, das Haar in wirren Strähnen um das gerötete Gesicht, weil auch sie geschlafen hatte. Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte den Druiden an, der hoch gewachsen und grimmig vor ihr stand. Bridei stand auf. »Herr«, sagte er mit allem Selbstvertrauen, das er aufbringen konnte, »das ist Brenna. Und Tuala. Ich wollte dir gerade erklären ...« »Bring das Kind her.« Broichans Tonfall bewirkte, dass Brenna, deren reizende Rosigkeit plötzlich verschwunden war, ohne ein Wort zu ihm ging und ihm das kleine Bündel hinhielt. Der Druide kniff die dunklen Augen zusammen. Tuala hob eine blütenartige Hand in einer Art von Gruß aus dem Wolltuch und gab ein Gurgeln von sich, das alles hätte bedeuten können. Broichan kniff die Lippen zusammen. Er betrachtete das Kind genau, ohne es zu berühren. »Also gut, Bridei«, sagte er schließlich ruhig. »Ich werde mir deine Erklärung unter vier Augen anhören. Komm.« Er drehte sich ohne ein weiteres Wort um und hinkte davon. Bridei eilte hinter ihm her. Die anderen schwiegen. Broichans Zimmer war nicht die bequeme Domäne eines wohlhabenden Landbesitzers, obwohl er tatsächlich über ein beträchtliches Vermögen verfügte. Dieses Zimmer passte zu dem, was er wirklich war: ein Gelehrter, ein Mystiker, ein Philosoph. Seine Disziplin, die Klarheit seines Denkens, seine Begeisterung für das Lernen, all das sah man auch diesem ordentlichen, aufgeräumten Raum an, der seine private Zuflucht darstellte. Mara war die Einzige, die in Broichans Abwesenheit hier hereinkam. Auf den steinernen Regalen standen Reihen von Tiegeln, Flaschen, Mörsern und Fläschchen, alles an seinem Platz, alles schimmerte matt im Licht der Kerzen und des Feuers in der kleinen Feuerstelle - ein Zugeständnis an seine Krankheit, denn bisher war es Broichans Gewohnheit gewesen, die Kälte zu ertragen. Er prüfte unentwegt, wie - 79 weit die Herrschaft des Geistes über den Körper ging. Auf dem Lager gab es schöne Wolldecken und frische Laken, aber der Strohsack war schmal und fest: Die geringe Bequemlichkeit in diesem stillen Raum war eher Mara als Broichan selbst zu verdanken, das wusste Bridei. Es gab einen Eichentisch und zwei Bänke. Schriftrollen steckten in einem Rahmen an der Wand, und Schreibmaterial, Gänsefedern, Tintenfässer lagen auf ihrem eigenen Regal. Ein Knoblauchzopf hing nahe dem schlitzartigen Fenster. Getrocknete Kräuter in Bündeln entsandten ihren süßen Duft in die Luft, und verschrumpelte Beeren in einer Messingschale zeigten, dass Broichan schon wieder begonnen hatte, ein wenig zu arbeiten. Früher oder später würde Mara ihn vielleicht dazu
bringen können, dass er sich ausruhte, aber es würde nicht leicht sein. Der Umhang des Druiden hing ordentlich an einem Haken; seine Stiefel standen nebeneinander an der Feuerstelle. Das Zimmer war makellos sauber; kein Staubkörnchen war zu sehen. Broichan schloss die Tür hinter sich, ging zum Tisch und stützte beide Hände darauf. Bridei stellte sich seinem Pflegevater gegenüber. Er stand sehr still da, das war etwas, was er gut konnte, auch wenn sein Herz drohte, ihm vor Nervosität in die Kehle zu springen. Er entspannte seine Hände. Er zwang sich, eine ruhige Miene aufzusetzen. »Ich will dir sagen, was ich hier sehe.« Die Krankheit hatte die Stimme des Druiden nicht gedämpft: Sie klang immer noch so tief und mächtig wie eine uralte Glocke. »Ich sehe ein Kind, das innerhalb der vier Wände einer menschlichen Behausung nichts zu suchen hat; ein Kind, das mit jedem Blinzeln seiner fremdartigen Augen Gefahr bringen kann. Ich sehe mehrere treue Angehörige meines Haushalts, die dieses Kind mit einem Ausdruck vollkommenen Vernarrt seins betrachten. Und ich sehe eine junge Frau, die eindeutig nicht auf meine Einladung hier ist.« »Ich...« - 80 Broichan hob leicht die Hand, und Brideis Worte vertrockneten in seinem Mund. »Ich bin noch nicht fertig«, sagte der Druide ruhig. »Ich sehe noch etwas. Ich sehe meinen Pflegesohn, der versprochen hat, brav zu sein, während ich weg war, und zu tun, was ich wünschen würde.« In seinen mitternachtsdunklen Augen stand ein schrecklicher, fragender Ausdruck. Es fiel Bridei plötzlich viel schwerer, ruhig zu bleiben. Das hörte sich an, als hätte Broichan bereits eine Entscheidung getroffen. Tuala würde ausgesetzt werden, noch bevor der Abend kam, allein im Wald, wo sie erfrieren oder verhungern würde. Sie würde weinen und weinen, und niemand würde kommen. Nein. Bridei ballte die Fäuste so fest, dass seine Nägel sich in die Handflächen bohrten. Konzentriere dich. Erinnere dich. Man kann aus allem etwas lernen. Er blieb still stehen, atmete langsam, wie man es ihm beigebracht hatte, und erwiderte den Blick des Druiden unbeirrt. Und erkannte plötzlich, dass es bei dieser Befragung nicht um Tuala oder das Gute Volk ging. Es ging um ihn. Es ging nicht darum, was er getan hatte, sondern um das Warum. Und er musste nur die richtigen Erklärungen geben, Erklärungen, die zu Broichans Art, die Welt zu sehen, passten. Das konnte er tun. Er musste einfach nur ruhig bleiben wie Broichan selbst und nicht wie ein Kind sprechen, sondern wie ein Druide. »Herr«, begann er, »Tuala - das Baby - kam am Sonnwendtag um Mitternacht hierher. Der Mond weckte mich, weil er in mein Fenster schien. Ich ging nach draußen und fand sie auf der Schwelle.« Der Druide runzelte die Stirn. »Und wo waren die anderen Angehörigen meines Haushalts, während du mitten in der Nacht allein im Haus umherwandertest?« »Sie schliefen, Herr. Es war nach dem Ritual.« »Ich verstehe. Weiter.« »Ich - ich dachte, sie wäre ein Geschenk, Herr. Ein Geschenk für...« Er sagte nicht für mich, so sehr er auch davon - 81 ausging, dass das der Fall war. »Ein Geschenk für uns alle. Etwas, das uns anvertraut wurde. Die Leuchtende wollte, dass wir Tuala aufnehmen, dass sie bei uns in Sicherheit ist.« »Bridei.« Broichans Ton war streng. »Erzähl mir nicht, dass du zu dumm bist zu erkennen, was dieses kleine Geschöpf ist. Kein Menschenkind hatte je solche Augen, solch blasse Haut und einen so ernsten und wissenden Ausdruck. Sie ist nicht das unerwünschte Kind eines Dorfmädchens, sie ist ein Kind des Guten Volkes.« »Ja, Herr«, sagte Bridei und erkannte, dass es damit zum ersten Mal jemand ganz offen ausgesprochen hatte. »Ihr war kalt. Sie wäre da draußen gestorben.« Broichan schwieg einen Moment. »Ein Menschenkind hätte die Nacht zweifellos nicht überlebt«, gab er zu. »Ja, Herr.« Bridei arbeitete schwer daran, den ruhigen, distanzierten Ton des Druiden nachzuahmen. »Ich weiß, dass Tuala vom Guten Volk kam. Sie haben sie absichtlich hergebracht. Die Leuchtende hat mich aufgeweckt, damit ich sie finde. Es war mir so bestimmt. Wir sollen sie behalten.« Brideis Stimme zitterte gegen seinen Willen ein wenig. »Tuala ist ein sehr braves Baby, Herr. Sie weint kaum. Und wo sollte sie sonst hingehen?« »Ich nehme an, es gab eine Art Behältnis? Einen Korb?« »Ja, Herr.« »Wo ist er?«, fragte Broichan mit ausdrucksloser Stimme. Bridei spürte ein Kribbeln hinter seinen Augen; er biss die Zähne fest zusammen. »Antworte.« Die Stimme des Druiden war wie ein Grabgeläut. »In meinem Zimmer«, flüsterte Bridei. »Hol ihn.« »Ja, Herr.« Bridei sah die anderen nicht an, konnte sie nicht anschauen, als er zu seinem Zimmer eilte und mit der kleinen Waldwiege unter dem Arm zurückkehrte. Dennoch, er sah - 82 sie, erstarrt, als wären sie in Stein gemeißelt, und alle hatten sich zu ihm umgedreht: Donal mit seinen ehrlichen Zügen und einem Staunen im Blick, Enfret und die anderen Bewaffneten ebenso überrascht, Ferat nervös, Mara
finster und Brenna mit ihrem lieblichen Gesicht, die das Baby in den Armen hielt: Tuala, die so schnell zu dem stillen Mittelpunkt geworden war, um den sich alles drehte. Sie war so klein ... Mit bleiernen Füßen kehrte Bridei ins Zimmer seines Pflegevaters zurück. Es war schwer, seine Gedanken zu beherrschen, denn sie wirbelten ihm wild im Kopf herum. Tuala konnte nirgendwo hin, und sie hatte niemanden außer ihm. Die anderen liebten sie wegen des Zaubers, und sobald Broichan diesen Zauber aufhob, würden sie nur allzu bereit sein, die Kleine hinauszuwerfen. Tualas eigenes Volk wollte sie offenbar ebenso wenig, wie Brideis Familie ihn haben wollte - er hatte kein Wort von ihnen gehört, seit sie ihn hierher geschickt hatten. Aber er hatte wenigstens seinen Pflegevater und Donal und die anderen. Er hatte ein Zuhause. Tuala hatte nichts. Bridei war nun an der Tür. Er könnte selbstverständlich betteln. Er könnte weinen und flehen wie das Kind, das er war. Weinen wäre nur allzu leicht; er spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten, als er den Korb aus geflochtenen Blättern und Gräsern betrachtete, diese seltsamen, immer noch hellen und frischen Winterblüten und die auf die Griffe gefädelten Steine der Macht. Wer verfügte schon über genug Magie, um sich über einen Druiden hinwegzusetzen? Der Schlüssel lag verborgen am Boden des Korbs, dieser Schlüssel, der Tualas einzige Überlebenschance darstellte. Bridei schluckte. Tränen wären Zeitverschwendung; Betteln war die Strategie der Schwachen. Ein Druide hörte auf vernünftige Argumente, auf Logik, auf Beweise. Broichan stand an der kleinen Feuerstelle. Seine Miene, verriet nichts. »Stell es auf den Tisch«, sagte er. - 83 Bridei tat, was man ihm gesagt hatte. Der Korb sah sehr klein aus; Tuala war bereits zu groß dafür. »Herr, darf ich etwas sagen?«, fragte er. Broichans Schweigen schein es ihm zu gestatten. »Ich hoffe, du wirst den Zauber nicht aufheben.« Bridei gab sich große Mühe, selbstsicher zu klingen, obwohl seine Unterlippe zitterte. »Ich weiß, du denkst, ich habe einen Fehler gemacht. Es tut mir Leid, wenn ich dich verärgert habe. Aber es tut mir nicht Leid, dass ich Tuala ins Haus geholt habe. Es tut mir nicht Leid, dass ich den Zauber benutzt habe, damit sie in Sicherheit ist. Ich bin sicher, dass ich Recht hatte. Ich bin wirklich sicher.« Broichan seufzte. Er streckte die Hand nach der kleinen Wiege aus, folgte ihren Linien, ohne das Ding wirklich zu berühren. »Bridei«, sagte er nach einer Weile, »du bist trotz deiner Art zu reden immer noch sehr jung. Du weißt nichts über die Menschen, nichts über die Prüfungen, die wir durchführen, über das Gleichgewicht, für das wir sorgen müssen, um zu verhindern, dass das Land ins Chaos stürzt, Strategien, die erheblich mehr mit den fehlgeleiteten Taten unserer eigenen Art zu tun haben als mit den Machenschaften des Guten Volkes. Außerhalb dieses Tals gibt es eine Welt, von der du nicht einmal einen Bruchteil kennst. Deine Ausbildung hat gerade erst begonnen, Junge. Und sie ist wichtig, so wichtig, dass wir uns nicht leisten können, dass ihr etwas in den Weg gerät. Ich habe keine Zeit, krank zu sein; mein Haushalt hat keine Zeit für ein Kleinkind, vor allem keins, das das Gewicht solcher Unsicherheit auf seinen schmalen Schultern trägt. Diesen Anderen Zuflucht zu gewähren bedeutet, mit großer Gefahr zu spielen, Bridei. Man fordert das Unerwartete geradezu heraus.« Bridei schluckte. »Ein Mann muss lernen, mit Überraschungen fertig zu werden, Herr«, brachte er schließlich heraus. »Das sagt Donal immer. Bei einem Kampf ist das wichtig.« - 84 Broichans Lippen zuckten. »Die Kräfte des Guten Volkes können erheblich gefährlicher sein als ein plötzlicher Tritt zwischen die Beine oder vors Schienbein«, stellte er fest. »Dieses Mädchen mag liebenswert und harmlos wirken. Aber du weißt nicht, zu was sie heranwachsen kann. Ihr Einfluss könnte alles untergraben, das ich für dich ...« Er hielt inne, als hätte er mehr gesagt, als er wollte. »Herr«, sagte Bridei, »ich werde mich so sehr anstrengen, wie ich kann; ich werde alles lernen, was du mir beibringen willst. Ich werde alles tun, was du willst...« »Hör sofort auf.« In Broichans Augen stand ein gefährliches Glitzern. »Ich werde nicht anfangen, mit einem Kind zu feilschen. Und achte darauf, was du sagst, denn sonst werden deine Worte dich noch belasten, wenn du längst vergessen hast, wie feierlich sie gemeint waren. Was, wenn ich nun von dir verlangen würde, dass du die Wiege verbrennst und den Schlüssel seinem Besitzer zurückgibst? Was versprichst du mir dann?« Brideis Wangen glühten plötzlich, nicht vor Scham, sondern vor Zorn, einer hilflosen Wut, die sich mit etwas noch Schlimmerem mischte - dem Gefühl, dass er seinen Pflegevater enttäuschte, dessen gute Meinung ihm alles bedeutete. Beinahe alles. »Ich werde mein Versprechen halten«, sagte er und spürte zu seinem Entsetzen, dass ihm eine Träne über die Wange lief. »Ich weiß nicht, was du von mir erwartest, ob ich ein Druide, ein Krieger oder ein Gelehrter sein soll. Aber ich weiß, dass ich lernen muss, und ich werde so schwer arbeiten, wie du willst, und noch schwerer, wenn ich kann. Herr... ich will, dass Tuala in Pitnochie bleibt. Wie könnte das falsch sein? Die Leuchtende selbst hat sie hergebracht.« Beide schwiegen längere Zeit. Broichan hatte sich umgedreht, um ins Feuer zu starren, und die Hand an die Wand neben der Feuerstellte gestützt. Es war still im Zimmer. Der kleine Korb stand immer noch auf dem Tisch. Eine Feder - 85 oder zwei und ein Fragment eines trockenen Blatts waren auf die polierte Oberfläche des Eichentischs gefallen. »Ich könnte Tuala Dinge beibringen«, fügte Bridei schließlich hinzu. »Zahlen, Geschichten, Lieder. Ich könnte ihr beibringen, wie man reitet. Selbstverständlich nur in meiner Freizeit.«
»Selbstverständlich«, sagte Broichan finster. Er hatte immer noch den Blick abgewandt. »Es gefällt mir einfach nicht, Bridei. Ich hatte ein solches Willkommen nicht erwartet.« Er drehte sich um und setzte sich an den Tisch, mit vorsichtigen Bewegungen, als wäre er ein alter Mann. Bridei sah, wie grau sein Gesicht geworden war und wie er die Fäuste ballte, als müsse er gegen Schmerzen ankämpfen. »Herr?« »Ja, Bridei, was ist? Gieß mir bitte ein bisschen Wasser ein... Danke, Junge.« »Du wirst doch nicht sterben, oder? Sie haben dich doch nicht...« Der Hauch eines Lächelns umspielte die Lippen des Druiden und war dann wieder verschwunden. »Wir sterben alle, Bridei. Aber nein, meine Feinde haben mich noch nicht umgebracht. Auch ich habe Versprechen abgegeben; meins verlangt, dass ich noch weitere fünfzehn Jahre auf dieser Welt bleibe, vielleicht sogar zwanzig, und ich habe vor, aus jedem Fitzelchen Zeit, das mir bleibt, das Beste zu machen. Ich kann mir Ablenkungen nicht leisen. Ich vermeide, mir Ärger ins Haus zu holen, und ich erwarte von denen, die mein Heim mit mir teilen, das Gleiche.« »Ich habe nur getan, was der Mond von mir wollte«, entgegnete Bridei. »Ich habe etwas vom Wilden eingelassen. Erinnerst du dich nicht daran, wie du gesagt hast, dass alles miteinander verbunden ist, das Tal, die Tiere, die Dinge, die wachsen? Wenn du einen Teil davon verletzt, wird alles schwächer. Tuala in Sicherheit zu bringen war etwas Gutes. Für uns alle.« - 86 »Ich habe dich zu gut unterrichtet«, murmelte Broichan. »Was hast du dir also vorgestellt - sollen wir sie aufziehen wie einen verwaisten Fuchs und sie dann wieder freilassen, damit sie Unheil anrichtet?« »Nein, Herr. Wir ziehen sie auf und lassen die Tür dabei offen.« Broichan trank das Wasser, das Bridei ihm gegeben hatte. Er hatte die Stirn gerunzelt; tiefe Falten zogen sich von seiner Nase zu den Winkeln seines schmallippigen Munds. Unerwartet verzog er den Mund nun und lachte leise. »Wenn ich dich zum Mystiker ausbilden wollte, Bridei, hätte ich dich in eins der Nemetons geschickt, wo sie dir die Überlieferung erheblich besser eingebläut hätten«, sagte er. »Und dennoch redest du bereits wie ein Druide.« Bridei wartete. Sein Herz klopfte immer noch heftig, aber in einer Ecke davon war Hoffnung aufgeflackert. »Gib mir den Schlüssel«, verlangte Broichan abrupt. Man konnte nie vorhersagen, was ein Druide tun würde. Mit erneut vor Aufregung heftig schlagendem Herzen trat Bridei vor, griff in den kleinen Korb, holte den Schlüssel heraus und legte ihn in Broichans ausgestreckte Hand. »Und jetzt nimm den Korb.« Bridei stand an der Feuerstelle und hielt das zerbrechliche Ding in den Armen, als wäre es Tuala selbst. Es schien direkt hinter seinen Augen noch einen Rest von Tränen zu geben, die nur darauf warteten, zu fließen, über seine Wangen zu laufen und zu zeigen, dass er tatsächlich immer noch ein Kind war und nichts gegen die Mächtigen ausrichten konnte, selbst wenn sie sich schrecklich irrten. »Ein Mann weint nicht, Bridei«, stellte Broichan fest, als könnte er Brideis Gedanken lesen. Er hatte die Hand immer noch ausgestreckt, der kleine Schlüssel lag immer noch darauf. »Jedenfalls nicht ohne guten Grund.« »Nein, Herr«, flüsterte Bridei. Er konnte es kommen sehen: Broichan würde sich nicht damit zufrieden geben, - 87 Tualas Körbchen, ihr Erbe, ihre einzige Verbindung zu ihren Verwandten zu verbrennen, er würde ihn zwingen, es zu tun, zur Strafe für seinen angeblichen Fehler. »Meine Knochen tun heute weh«, sagte Broichan. »Steig auf die Bank, Junge. Stell den Korb oben auf das Regal neben die Rattenschädel. Mara hat genug damit zu tun, mich bei passabler Gesundheit zu halten, ohne dass sie sich auch noch um gebrochene Knochen kümmern muss. Das genügt. Und jetzt komm wieder herunter.« Bridei gehorchte. Zumindest würde der Korb nicht verbrannt werden. Aber der Schlüssel lag immer noch in Broichans Hand. Vor Brideis Nase schloss der Druide die schlanken Finger um das kleine Eisenstück und steckte es in den Beutel an seinem Gürtel. »Nun gut«, sagte Broichan. »Das hier bleibt von jetzt an bei mir, was bedeutet, dass ich die Verantwortung trage und die Entscheidungen fälle. Wenn ich irgendwann in der Zukunft will, dass dieses Kind geht, wird es gehen, Bridei. Und du wirst mir nicht widersprechen. Ich verdanke meinem langen Leben des Lernens eine gewisse Fähigkeit vorwegzunehmen, was die Zukunft bringt, und kalkulierte Entscheidungen zu treffen. Meine Intuition sagt mir, dass dieses Kind eine Gefahr für uns darstellt. Andererseits gehe ich davon aus, dass es bereits zu spät ist, es loszuwerden. Schlüssel und Korb sind im Augenblick getrennt. Der Schlüssel könnte dorthin zurückgebracht werden, wo er herkam, der Korb könnte in den Flammen enden. Aber ich bezweifle sehr, dass etwas davon eine plötzliche Umkehrung der Menschen dieses Haushalts in ihrer Haltung gegenüber dem Kind bewirkt. Zweifellos haben sie es zunächst wegen des Zaubers aufgenommen, den du gewirkt hast. Aber wenn sie tatsächlich seit Mittwinter im Haus war, hatte deine Tuala genügend Zeit, ihre eigene Magie zu wirken. Wenn ich sie wegschickte, würde ich damit einen Prügel für meinen eigenen Rücken herstellen; ich würde Uneinigkeit schaffen, wo dies hier - 88 doch ein Ort des Lernens sein soll. Und des Heilens. Meine Feinde waren diesmal sehr schlau. Es wäre ihnen beinahe gelungen, mich zu überlisten. Das wird nicht wieder geschehen.«
»War es Gift?«, fragte Bridei. Bei aller ungläubigen Freude über seinen Sieg bei diesem Kampf vergaß er nicht, dass es noch einen anderen Kampf gegeben hatte, einen, der Broichan beinahe das Leben gekostet hätte. »Es war eine ausgesprochen subtile Mischung mit Tollkirschen. Eine Kombination, die man kaum an Geruch oder Geschmack erkennen konnte. Er hielt sich für schlau, aber vielleicht war er ein wenig zu schlau. Es gibt nur wenige mit dem Wissen und den Fähigkeiten, ein solches Getränk herzustellen.« »Du weißt, wer es war?«, hauchte Bridei. »Ich weiß genug. Von nun an werde ich ihn im Auge behalten. Nun gut. Ich glaube, ich wollte gerade meditieren, als die Stimme des Kindes meine Ruhe störte. Sie hat eine gute Lunge. Der Schlüssel bleibt bei mir, Bridei. Vergiss das nicht. Ihre Zukunft liegt nicht in deinen Händen, sondern in meinen.« »Ja, Herr. Und...« »Was ist, Junge?« »Danke, dass du sie bleiben lässt. Und - ich bin froh, dass du wieder da bist. Es wird dir bald besser gehen, jetzt, wo du wieder in Pitnochie bist.« Er versuchte nicht, seinen Pflegevater zu umarmen oder durch eine andere liebevolle Geste zu zeigen, wie er empfand. So etwas machte man nicht mit Broichan. Bridei hoffte, dass seine Worte und sein Gesicht dem Druiden sagten, wie froh er war, seinem Pflegevater nicht offen trotzen zu müssen. Denn Bridei wusste, er hätte das Körbchen nie ins Feuer werfen können; er hätte nie zulassen können, dass sie Tuala wieder in den Schnee hinausbrachten. Er hätte mit Zähnen und Krallen um sie gekämpft, wie ein wildes Tier, das seine Jungen verteidigt. Und - 89 damit hätte er sich gegen alle Belehrungen gewandt, die sein Pflegevater ihm gegeben hatte. »Geh jetzt«, war alles, was Broichan sagte. »Ich habe das sichere Gefühl, dass wir beide irgendwann einen Grund erhalten werden zu bedauern, was an diesem Tag geschah. Ich hoffe sehr, dass ich mich irre.« - 90 KAPITEL DREI Du kriegst mich nicht!«, rief Tuala, und Perle verschwand wie ein tanzender Schatten zwischen den grauweißen Stämmen der Birken. Nur zu wahr, dachte Bridei und lenkte sein Pony hinter ihr her. Blesse war ein Geschenk von Broichan zu Brideis elftem Geburtstag gewesen. Tuala hatte sofort Perle für sich beansprucht. Sie hatten ihr das Reiten kaum beibringen müssen. Das kleine Mädchen hatte eine quecksilbrige Leichtigkeit, etwas Nicht-ganz-Anwesendes, das sie umgab, ganz gleich, wo sie sich aufhielt. Man wandte nur kurz den Blick ab, und wenn man wieder hinschaute, war sie schon weg. Inzwischen hatten sich alle, die in Broichans Haushalt lebten, daran gewöhnt. Niemand machte sich mehr Sorgen, dass Tuala sich verlaufen oder anderweitig Schaden nehmen könnte. Es war, als verfügte sie über ihre ganz eigenen Schutzzauber, solche, die man in sich trug. Dennoch hatte Tuala eine Mondscheibe um den Hals, ebenso wie Bridei. Broichan hatte darauf bestanden. Diese Knochenscheiben mit ihren eingeritzten Symbolen zu Ehren der Leuchtenden, die um ihren Segen baten, waren ein feierliches Zeichen, dass sich der Haushalt an die uralten Wege der Ahnen hielt. Eine solche Scheibe zu tragen war eine Ehre, es zeigte, dass man vertrauenswürdig war. Es hatte niemanden überrascht, als Broichan Bridei einen solchen - 91 Talisman gab. Aber Tuala, deren Platz im Haushalt weniger gut definiert war, einen solchen Zauber zu geben, war unerwartet. Dennoch, Broichan spielte seine eigenen Spiele, subtile Spiele, die gewöhnliche Leute oft nicht verstanden, und er wusste zweifellos, was er tat. Bridei glaubte nicht, dass Tuala eine Mondscheibe brauchte. Für ihn war mehr als deutlich, dass sie die Macht und den Schutz der Leuchtenden in sich trug und dass das immer schon so gewesen war, seit dieser Mittwinternacht, als er sie gefunden hatte, wie sie gewärmt von Schwanendaunen und von Mondlicht übergössen auf ihn wartete. Seitdem waren mehr als sechs Jahre vergangen, aber Tualas Haut hatte immer noch diese seltsame, durchscheinende Blässe; in ihren Augen stand immer noch diese ernste, klare Ruhe. Wenn die Mondgöttin je eine Tochter hätte, dachte Bridei, wäre dieses Kind genau wie Tuala. »Komm schon!«, rief sie nun von irgendwo weiter den Weg entlang, im Schatten der frühlingsgrünen Birken. Bridei berührte Blesses Flanke mit den Fersen und machte sich daran, Tuala zu folgen. Es war einer der letzten Frühlingstage, ein wolkenloser Tag, und sie waren auf dem Weg zur Adler narbe. Tualas natürliche Begabung zum Reiten hatte dazu geführt, dass sie Sattel und Zaumzeug im Stall ließ und sich einfach an ihr Pony klammerte, als wäre die kleine Stute eine Erweiterung ihrer selbst. Aber Bridei hatte sich sehr angestrengt, wie er es versprochen hatte. Er ritt Blesse gekonnt, und das Pony, ein hübscher Brauner mit einer schmalen weißen Blesse, war schnell und gehorsam. Sie folgten dem Aufblitzen von Perles langem, silbernem Schweif, dem leisen Rascheln ihrer Hufe im Laub, dem weißen Gesicht und dem schwarzen Haar der kleinen Reiterin, die hin und wieder zwischen den Bäumen mit ihrer hellen Rinde auftauchte; sie kletterten die sonnenfleckigen Pfade entlang, umgingen moosbewachsene Steine und wateten durch seichte Bäche, - 92 bis sie zum Fuß des steilen letzten Aufstiegs oben auf der Narbe kamen. Als sie dort eintrafen, knabberte Perle schon neben der massiven Felswand an einem Grasbüschel, und Tuala war nirgendwo zu sehen. Es war nicht notwendig, die Ponys anzupflocken; beide kannten diese Region gut und würden sich nicht weit
entfernen. Tuala war schon weit voraus; sie konnte klettern wie ein Eichhörnchen. Der obere Teil der Adlernarbe bestand aus einem großen Granitblock, vielleicht ein einziger gewaltiger Stein, vielleicht viele, dessen Spalten und Risse ein ganzes Heer von Geschöpfen beherbergten. In all den Jahren, in denen Bridei hier heraufgekommen war, hatte er immer nur einen kleinen Teil des Geländes erforschen können. Jedes Mal, wenn er hinaufkletterte, schien der Weg sich ein bisschen verändert zu haben. Vielleicht spielte ja der Fels selbst Spiele, genau wie es diese Eichen rund um das Haus des Druiden taten. Erdgeheimnisse, die sie mit keinem Sterblichen teilten - es wimmelte hier nur so davon. Bridei stand gern oben auf der Adlernarbe, wo die Vergangenheit bis tief in die Knochen des Landes reichte. Der Boden unter ihm war fest; das Große Tal breitete sich unter ihm aus, und steile Hänge mit ihrem lilagrünen Mantel aus Kiefern und dem helleren Schal aus Birken schützten das lange, glitzernde Band des Schlangensees. An diesem Ort stand er im Gleichgewicht zwischen Erde und Himmel, spürte das Herz des Steins unter seinen Füßen und die Berührung des Winds im Gesicht. Er stellte sich vor, ein Adler zu sein. Heute war Tuala vor ihm oben, drehte sich mit ausgestreckten Armen auf der Stelle und sang vor sich hin: »Fortrenn, Fotlaid, Fidach, Fib, Circinn, Caitt, Ce... Fortrenn, Fotlaid...« Das waren die Namen der sieben Söhne von Pridne, des Ahnherrn, von dem die Priteni abstammten. Die sieben Häuser oder Stämme waren nach ihnen benannt. Bridei hatte Tuala diese Litanei von Namen erst vor kurzem beige- 93 bracht; nun sorgte sie dafür, dass sie sie auch behielt. Sie hatte sich auf den obersten Stein gestellt, und ihre Füße bewegten sich auf einer Fläche, die nicht größer war als eine Haferbreischale. Bridei sah ihre kleine Gestalt vor dem hellen Frühlingshimmel; ihr schwarzes Haar wurde vom Wind zerzaust, ihre Augen waren voller Licht. Hinter ihr, auf der anderen Seite, war die lange, beinahe senkrechte Südseite der Narbe. Todessprung nannten es die Leute. Es war gut, dass Tuala keine Höhenangst hatte. Sie drehte und drehte sich, als wollte sie, dass sich die Welt vor ihren Augen ebenfalls drehte. »Hör auf, Tuala«, sagte Bridei ohne großen Nachdruck. »Mir wird schon vom Zusehen schwindlig.« Er zog sich auf die flachen Steine direkt unterhalb von ihr. Wie er gehofft hatte, hörte sie sofort auf und blieb still und vollkommen im Gleichgewicht stehen, ernst und unerschütterlich. Es war Bridei, der diese wirbelnde Angst spürte, diesen Schwindel erregenden Verlust der Balance. »Was machst du da eigentlich?«, fragte er mit gut eingeübter Ruhe. »Versuchst du zu fliegen?« Tuala kam von ihrem Gipfel herunter und setzte sich im Schneidersitz neben ihn. Sie trug ein langes Hemd aus schlichtem Wolltuch und darunter eine Hose zum Reiten. Die Hose hatte einmal Bridei gehört; es war schwer, sich vorzustellen, dass er einmal so klein gewesen war. »Ich würde gerne fliegen«, sagte Tuala. »Manchmal glaube ich, ich könnte es.« Bridei packte den Proviant aus, den er mitgebracht hatte: gekochte Eier und dicke Keile Haferbrot. Er reichte Tuala den Wasserschlauch. »Falls du wirklich vorhast, es zu versuchen«, sagte er, »wäre es vielleicht besser, es beim ersten Mal von einer Bank oder einem Fass aus zu versuchen, nicht von einem Berggipfel.« Tuala sah ihn gelassen an. »Ich würde nicht einfach fallen«, sagte sie. »Jedenfalls glaube ich das nicht.« - 94 »Du bist ein Mädchen, kein Vogel«, sagte Bridei. »Manchmal bin ich ein Vogel.« Sie hob die kleine, weiße Hand, um sich das Haar hinters Ohr zu streichen. »Wie meinst du das?« »In meinen Träumen. Der Mond geht auf, und ich werde wach, und ich fliege durch den Wald. Alles ist silbern, alles ist lebendig und wartet.« Bridei antwortete nicht. Es war lange her, seit Tuala nach Pitnochie gekommen war, so lange, dass er manchmal beinahe vergaß, dass sie ... anders war. Und dann sagte sie solche Dinge. »Herabstoßen, zupacken, fressen«, sagte Tuala zerstreut und aß ein Stück Brot. »Auf dem Wind gleiten, jagen. Dann geht der Mond unter, und die Dunkelheit kehrt zurück.« »Träume sind etwas anderes.« Das war keine besonders gute Reaktion, und Bridei wusste es. »Du solltest vorsichtiger sein. Stell dir doch nur vor, du würdest herunterfallen und ... und dir das Bein brechen. Du würdest den ganzen Sommer über nicht reiten können.« Er würde ihr nicht erzählen, dass schon mehr als ein Mensch bei einem plötzlichen Sturz von der Adlernarbe umgekommen war. Immerhin war sie verglichen mit ihm immer noch ein Baby. »Versprich mir, vernünftig zu sein, Tuala.« »Ich verspreche es.« Die Antwort war bereitwillig erfolgt; leider, dachte Bridei, unterschied sich Tualas Vorstellung von Vernunft ein wenig von seiner. »Was möchtest du sein?«, fragte Tuala nun. »Wie meinst du das?« »Was für ein Vogel möchtest du denn sein, wenn du könntest?« »Ein Adler«, antwortete Bridei sofort. »Ich würde über das gesamte Große Tal segeln und auf alles herabschauen, alles beobachten, alles bewachen. Bei deiner Haarfarbe müsstest du eigentlich ein Rabe sein.« - 95 Tuala schüttelte den Kopf. »Eine Eule«, verbesserte sie ernst.
»Du weißt, dass sie sich übergeben und Kugeln mit all den Knochen und Klauen und Schnäbeln ausspucken, nicht wahr? Die Schwänze und Schnurrhaare und ...« Tuala schubste ihn, aber nicht allzu fest. »Ich esse gerade«, sagte sie. »Und überhaupt, was ist mit Adlern, die neugeborene Lämmer stehlen? Mara hat mir erzählt, dass sie einmal sogar ein Baby geholt haben.« »Das ist alles Teil des Gleichgewichts«, sagte Bridei. »Einige müssen ihr Leben geben, damit andere überleben können. Solange du das respektierst, ist alles viel sinnvoller.« Sie aßen eine Weile weiter, ohne sich zu unterhalten, und lauschten stattdessen den Geräuschen des Tals: dem Ruf der Vögel hoch über ihnen, dem Zwitschern und den Pfiffen derjenigen im Wald, dem Seufzen der Bäume im Wind, dem verstohlenen Rascheln von etwas, das sich in einer Felsspalte rührte. Weiter entfernt gab es häuslichere Geräusche: Fidich, der die Hunde rief und ein Bellen zur Antwort erhielt. Der Bauer sah oben in den Hügeln nach den Mutterschafen. »Weißt du was, Tuala?« Bridei reichte ihr das Ei, das er für sie geschält hatte, und fing an, ein weiteres zu schälen. »Als ich noch so klein war wie du, hätte ich nicht allein hier heraufkommen dürfen. Broichan hätte das nicht gewollt.« »Ich bin nicht allein«, sagte Tuala. »Ich habe dich.« »Ja, nun, ich hatte dich damals nicht und auch keine großen Brüder, die auf mich aufgepasst haben.« Tuala öffnete den Mund. Bridei wusste, sie wollte ihm sagen, dass sie sehr gut auf sich selbst aufpassen konnte, danke vielmals. »Aber es war nicht deshalb«, fuhr er rasch fort. »Damals war es im Wald gefährlich. Einmal hat jemand versucht, mich zu töten. Und sie haben versucht, Broichan umzubringen. Damals durfte ich nie ohne zwei Wachen ausgehen.« - 96 »Wie wollten sie dich denn töten?« Tualas Augen waren jetzt rund, ihr hübscher kleiner Mund sehr ernst. Bridei bedauerte bereits, dass er dieses Thema angesprochen hatte. »Oh, es war nichts weiter«, sagte er bewusst geringschätzig. »Vielleicht sollten wir jetzt wieder nach Hause ...« »Mit einem Schwert? Mit Magie? Haben sie versucht, dich in einer Falle zu fangen?« »Mit einem Pfeil«, sagte Bridei. »Hast du sie umgebracht?« »Nein. Donal hat es getan. Ich möchte nicht darüber sprechen.« »Warum wollten sie dich töten?« »Das weiß ich nicht. Niemand wollte es mir sagen. Aber jetzt ist es in Ordnung. Das ist lange her. Worin auch immer die Gefahr bestand, nun ist sie vorbei. Früher einmal gab es schon allein auf der Mauer auf der Nordseite fünf Wachen, und jetzt ist dort nur noch ein Mann. Und wir dürfen raus. Also kannst du froh sein.« Tuala sah ihn forschend an. »Du kannst froh sein. Oder du wärst tot, und ich wäre nicht hier.« Bridei schauderte. »Es war kein Glück, das mich an diesem Tag gerettet hat«, sagte er. »Es war etwas anderes.« »Donal?« »Er hat ganz bestimmt dabei geholfen. Aber es gab noch mehr. Es war, als hätte sich die Erde geöffnet und mich eingelassen. Sogar Donal fand das seltsam.« »Sie sorgt für deine Sicherheit«, sagte Tuala mit ihrer leisen, klaren Stimme. »Sie hält dich sicher in ihrer Hand. Sicher, damit du weitermachen kannst.« Ihre Worte bewirkten, dass sich ihm die Nackenhaare sträubten. Er schob die Eierschalen zu einem ordentlichen kleinen Haufen zusammen und schwieg. »Es wird alles gut, Bridei«, sagte Tuala, als wäre sie die Ältere und er das Kind. - 97 Als sie wieder zu Hause waren, führte Bridei die beiden Ponys zum Stall und kümmerte sich um Blesse, während Tuala mit einiger Anstrengung Perle abrieb. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um die Mähne des Ponys zu erreichen; zum Glück schien Perle das zu verstehen und senkte gehorsam den Kopf, während das kleine Mädchen die zerzausten Stellen ausbürstete. »Schade, dass sie diesen Gefallen nicht erwidern kann«, stellte Bridei mit einem Blick auf Tualas windzerzauste Locken fest. Als sie zu ihrem Ritt aufgebrochen waren, war ihr dunkles Haar ordentlich zu einem Zopf geflochten gewesen, aber es schien ein Eigenleben zu haben. Alle lachten darüber, wie viele Haarbänder sie schon verloren hatte. Tuala hob beide Hände, um sich die wirre Mähne aus dem Gesicht zu streifen. »Soll ich es machen?«, fragte Bridei. Tuala stellte sich neben ihn und drehte ihm den Rücken zu. Sie suchte in dem Beutel herum, den sie am Gürtel trug, holte einen kleinen Kamm heraus und drückte ihn Bridei in die Hand. Sie brauchten keine Worte; das hier war ein lange eingeübtes Ritual. »Stillhalten.« Bridei war geschickt, denn er hatte viel an Ponys geübt. Er wusste, wie er Tualas Haar auskämmen konnte, ohne auch nur im Geringsten zu ziehen. Und was das Mädchen anging, sie stand vollkommen still, beinahe wie erstarrt; es war eine Pose, die er selbst nur mit Hilfe angestrengter Beherrschung seines Atems, mit Meditation, mit reiner Willenskraft gelernt hatte, während Tuala es schaffte, ohne es auch nur zu wollen. Seine Finger bewegten sich systematisch und flochten den langen Zopf, der ihr bis zur Taille hing.
»Hast du ein Band?«, fragte er lächelnd. Tuala schüttelte mit betrübter Miene den Kopf. »Hab's verloren.« »Dann ist es ja gut, dass ich eins habe.« Er griff in die Tasche und holte ein Stück gelbe, geflochtene Schnur heraus, - 98 eine von mehreren, die er genau für solche Situationen eingesteckt hatte. Tuala verlor ihre Haarbänder überall. Er band die Schnur mit einem festen, ordentlichen Knoten und einer kleinen Schleife wie ein Schmetterling. »Fertig. Und achte darauf, dass du nicht gleich alles wieder verwuschelst, falls Broichan dich sieht.« »Ja, Bridei.« Seit Broichan zum Rat eines Königs gegangen und beinahe umgekommen war, hatte es in Pitnochie ein paar Veränderungen gegeben. Es befanden sich immer noch mehrere Bewaffnete auf dem Anwesen, patrouillierten die Grenzen und eskortierten den Druiden, wann immer er unterwegs war. Aber inzwischen gab es weniger von ihnen und mehr gewöhnliche Leute. Brenna war geblieben; ihre liebenswerte Art und ihre natürliche Schweigsamkeit bildeten ein hervorragendes Gegengewicht zu dem aufbrausenden Ferat und der säuerlichen Mara. Fidich erschien jetzt häufiger im Haus, stand verlegen in der Küche und unterhielt sich mit jedem, der in der Nähe war, über Schafschur, Melken oder das Erneuern von Steinwällen. Das passte überhaupt nicht zu ihm, denn zuvor hatte sich der Bauer nach der Tagesarbeit immer bald in sein kleines Häuschen zurückgezogen und sich offenbar in seiner eigenen Gesellschaft am wohlsten gefühlt. Donal stellte trocken fest, dass Fidichs Besuche beinahe jedes Mal ein kurzes Gespräch mit Brenna einschlössen, er erkundigte sich immer, wie es ihr ging, und tauschte ein paar Bemerkungen über Kleinigkeiten aus. Es hatte lange gedauert, bis die Traurigkeit aus Brennas Augen verschwand. Tuala hatte dazu beigetragen; die Forderungen eines kleinen Kindes hatten der jungen Witwe wenig Zeit gelassen, ihren Sorgen nachzuhängen. In der letzten Zeit war immer deutlicher geworden, dass Fidichs Besuche Brennas Wangen rosiger machten. Die junge Frau und der - 99 Bauer waren beide verlegen und schüchtern, aber vielleicht würde mit der Zeit etwas daraus werden. Und es gab noch weitere neue Bewohner im Haus. Nicht lange, nachdem Broichan immer noch krank von dem Versuch, ihn zu vergiften, nach Hause zurückgekehrt war, war Bridei zum Abendessen in die Halle gekommen und hatte dort die beiden alten Männer, Erip und Wid, vorgefunden, wie sie in einer Ecke über einem Spielbrett saßen, genau wie an seinem ersten Abend in Pitnochie. Er hatte sie erstaunt begrüßt. »Ich dachte, ihr würdet nicht zurückkommen.« Erip, rundlich und kahl, hatte leise gelacht und gleichzeitig eine kleine Kriegerfigur über das Spielbrett bewegt, was dem hoch gewachsenen, weißbärtigen Wid ein verärgertes Zischen entlockte. »Wer, wir?«, hatte Erip gesagt. »Es braucht mehr als den Druiden eines Königs, um uns fern zu halten. Wir waren unterwegs, das ist alles. Nun, du bist wirklich groß geworden. Was hat Ferat dir zu essen gegeben, Stier ...« Der alte Mann brach ab, vielleicht, weil er den Blick bemerkt hatte, den Mara ihm von der anderen Seite der Halle zuwarf. »Oh.« Bridei fragte sich, für welche Teile seiner Erziehung sie zuständig sein würden, die über Brettspiele und Trinken hinausgingen. Wids Finger verharrten über einer kleinen Priesterin aus Speckstein. »Erip ist ein Fachmann für Geografie«, sagte er. »Territorien, Küsten, Stämme und ihre Anführer. Mein Feld ist die Strategie: Wie man in die Köpfe von Männern schaut und noch vor ihnen weiß, was sie vorhaben. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, schwer zu arbeiten, Bridei.« Er nahm die Priesterin vom Brett, stellte sie auf einem anderen Feld wieder auf und sah Erip mit sorgfältig ausdrucksloser Miene, aber hochgezogenen Brauen an. »Die Seuche soll Befehlshaber im Ruhestand holen«, murmelte Erip, warf einen langen Blick aufs Brett und hob - 100 dann die Hände in hilfloser Kapitulation. »Sie sind einem immer drei Schritte voraus.« Erip und Wid waren zu einem Bestandteil des Haushalts geworden, als hätten sie das Anwesen nie verlassen. Nun, sechs Jahre später, wohnten die beiden immer noch drunten am Ende des Männerquartiers und wurden von Ferats guten Mahlzeiten immer fetter. Und sie hatten tatsächlich bewiesen, dass sie ihrem Schüler erheblich mehr beibringen konnten, als wie man sich Ärger einhandelt. Tatsächlich hatte Bridei nur sehr wenig Freizeit. Der Unterricht begann direkt nach dem Frühstück und dauerte bis zum Sonnenuntergang, und das schloss noch nicht die Nachtwachen ein, die Teil von Broichans Belehrungen waren, die hin und wieder zu vollziehenden Rituale bei Sonnenaufgang und das Lernen und die Vorbereitungen, um die Bridei sich in seiner Freizeit kümmern musste. Freizeit, das war wirklich ein Scherz. An manchen Abenden konnte er Tuala nach dem Abendessen gerade noch ihre Gute-Nacht-Geschichte erzählen, bevor er vor Erschöpfung einschlief. Aber diese Pflicht vernachlässigte er nie. Die Geschichten gehörten zu dem Versprechen, das er ihr vor langer Zeit gegeben hatte. Bridei wusste, wie es war, im Dunkeln im Bett zu liegen und auf den Schlaf zu warten, ohne eine Geschichte, die einem Gesellschaft leistete und einem bis in die Träume folgte. Für ihn hatte es viele solche Abende gegeben, und er hatte sich daran gewöhnt. Aber er schwor sich, Tuala sollte nie ein solches Gefühl vollkommenen Alleinseins ertragen müssen.
Morgens arbeitete er mit Erip, dann mit Wid. Als Bridei mehr über das Reich von Fortriu, seine Berge und Täler, seine Seen und Bäche, seine Buchten und Inseln wusste, unterrichteten die beiden alten Männer ihn gemeinsam, und der Unterricht bestand häufig aus hitzigen Diskussionen der drei, denn sie ermutigten Bridei, selbst etwas beizutragen. Von Erip erfuhr er die Geschichte der Priteni, die Muster des - 101 Königtums, das Verhalten von Nachbarn und Feinden. Die Menschen im Norden stammten von den sieben Söhnen ihres Ahnherrn Pridne ab: Von ihm kam die Bezeichnung Priteni, ein Name, den alle Bewohner von Fortriu für sich beanspruchten, die Leute aus Circinn im Süden ebenso wie die an den wenig erforschten Orten des abgelegenen Nordens, wo der wilde Stamm lebte, der als die Caitt bekannt war. Auf den Inseln hinter dieser nördlichen Küste gab es Menschen, die sich einfach nur das Volk nannten. Auch das Volk war von Priteniblut, und ihre Isolation hatte sie mächtig werden lassen; sie hatten ihren eigenen König und ihre eigene Regierung. Fortriu und Circinn waren einmal ein einziges Königreich gewesen, vereinigt in seinem Glauben an die alten Götter, stark und sicher. Das hatte sich geändert, als der letzte König gewählt wurde, denn die abstimmenden Anführer waren nicht im Stande gewesen, sich auf einen Kandidaten zu einigen. Nun war das Reich geteilt, und der Christ Drust, Sohn des Girom, bekannt als der Eber, herrschte über das südliche Reich von Circinn, und ihr eigener König, Drust der Stier, hielt die alten Traditionen in einem Land aufrecht, das sich • von der Festung des Königs in Caer Pridne nordöstlich durch das Große Tal bis zur letzten Verteidigungslinie gegen die Galen im Südwesten erstreckte. Zwischen diesen beiden Reichen und ihren Königen bestand eine ununterbrochene, lauernde Unruhe. In Wids Unterricht ging es um Machtspiele und Ratsversammlungen, darum, wie man die Gesten und die Miene eines Menschen deutete, und welche Dinge man in einer bestimmten Umgebung aussprach und welche nicht. Sie beschäftigten sich mit der Weitergabe von geheimen Botschaften und damit, wie man nach dem lauschte, was bewusst unausgesprochen blieb. Solche Fähigkeiten waren hier in Pitnochie allerdings nicht leicht zu üben. Es ließ sich nur zu leicht erraten, was zum Beispiel Fidich dachte, wenn er einen - 102 Becher Bier umklammerte und so tat, als sähe er Brenna nicht an, oder wovon Donal träumte, wenn er sein Schwert schliff und dabei leise ein altes Marschlied vor sich hinpfiff. »Ich muss es doch üben können«, erklärte Bridei empört. »Wir sprechen die ganze Zeit von Versammlungen und Ratssitzungen des Königs, aber alles, was ich je zu sehen bekomme, sind dieses Haus und der Bauernhof. Wie soll ich je vernünftig lernen können, wenn ich mein Leben lang hier eingeschlossen bin?« Es war ungewöhnlich, dass er sich so beschwerte; er hatte denen, die er achtete, stets gehorcht. Es war ein langer Morgen der Theorie gewesen. »Dein Leben lang?«, fragte Wid und zog die Brauen hoch. »Ein alter Mann von - hm, zwölf, nicht wahr? Ich glaube, du wirst schon bald mehr Gelegenheiten erhalten. Broichan mag noch nicht bereit sein, dich reisen zu lassen, aber er wird vielleicht etwas von der Welt zu dir bringen. Vielleicht noch nicht sofort, aber bald. Habe Geduld. Er hat seine Gründe.« »Wid?«, fragte Bridei. »Ja, Junge?« »Ich habe nachgedacht. Was wird aus mir, wenn all das hier vorbei ist? Wenn meine Ausbildung beendet ist? Ein Gelehrter? Ein Berater? Sollte ich nicht mehr über mein eigenes Volk in Gwynedd erfahren? Ich nehme an, ich werde irgendwann an den Hof meines Vaters zurückkehren.« »Mag sein«, erwiderte Wid mit einem kleinen Lächeln. Bridei hatte diese Fragen schon öfter gestellt, aber nie zuvor so direkt. »Wir werden noch über Gwynedd und Powys, sein Nachbarland, sprechen, und über andere weit entfernte Länder. Für dich ist Fortriu wichtiger. Und die Erziehung eines Mannes ist niemals zu Ende. Das solltest du inzwischen wissen.« »Aber ich bin kein Priteni«, sagte Bridei. »Ich wollte nicht respektlos sein. Ich lerne gern die Überlieferung und Geschichte des Nordens, aber...« - 103 »Deine Mutter kam von hier«, sagte Wid leise. »Meine Mutter!« Bridei war verblüfft; er hatte lange nicht mehr an sie gedacht. »Sie kam aus Fortriu? Dann habe ich hier vielleicht sogar Verwandte, Tanten und Onkel und vielleicht Vettern. Warum sagt mir Broichan so wenig? Was weißt du über sie?« »Nicht viel«, sagte Wid und fing an, seine Schriftrollen wieder aufzurollen. »Sie hieß Anfreda. Das ist so ziemlich alles, was ich dir sagen kann. Erinnerst du dich nicht?« Bridei schwieg einige Zeit. Schließlich sagte er: »Ich war erst vier Jahre alt, als ich hierher kam. Ich erinnere mich an keinen von ihnen. Vielleicht ein bisschen an meinen Vater. Nicht an die anderen.« »Hm. Broichan könnte dir mehr erzählen.« »Er spricht nicht von ihr. Ich glaube nicht, dass er etwas weiß.« »Nun gut«, sagte Wid. »Alles zu seiner Zeit. Sollen wir jetzt sehen, ob wir etwas zu essen finden können?« Nach dem Unterricht am Morgen war es Zeit, mit Donal zu üben. Bridei konnte inzwischen sehr gut mit Schwert und Stab umgehen, war geschickt mit dem Messer, konnte feststellen, wenn ihn jemand heimlich verfolgte, und den Verfolgern entkommen. Er war ein so guter Bogenschütze geworden, dass ihn nur noch die Größe seines
Bogens von Donais Leistungen unterschied. Er hatte auch einen Sommer lang im kalten Wasser des Schlangensees gelernt, gut genug zu schwimmen, um sich ans Ufer retten zu können, falls es beim Segeln ein Unglück geben sollte. Er war im Stande, ein kleines Boot zu rudern. Sobald er für Perle zu groß geworden war und Blesse bekommen hatte, lernte er, wie man das Pony über Sprünge führte, wie man sich seitwärts aus dem Sattel lehnte und ein Bündel vom Boden riss, und wie man aus dem Galopp einen Speer auf ein Ziel warf. Donais Unterrichtsstunden waren angenehm, und die Zeit verging dabei - 104 nur allzu schnell. Bridei hätte gerne mit jemandem Kämpfen geübt, der etwa die gleiche Größe hatte wie er selbst, aber die Siedlung blieb ihm verboten. Sowohl Donal als auch Broichan sagten, es sei immer noch gefährlich. Manchmal beendete Donal die Übungen früher, und Bridei hatte ein wenig Zeit vor dem letzten, anstrengendsten Teil des täglichen Unterrichts: den Stunden bei seinem Pflegevater. Diese kurze Freizeit war sehr kostbar. Tuala wartete schon auf ihn, stand still und leise unter den Eichen am Rand der Wiese, auf der Donal und Bridei Schwertkampf übten, oder sie hockte auf einer Steinmauer nahe dem Stall und sah zu, wie die beiden Manöver mit Messer oder Stab vollführten. Dann nahm sie Bridei mit, um ihm ein paar komisch aussehende Pilze zu zeigen, die sie gefunden hatte, oder um vorzuführen, dass sie einem der Hunde beigebracht hatte, einem Ball hinterher zu jagen. Oder Bridei erzählte ihr etwas von dem, was er am Morgen gelernt hatte: Könige und Stämme, Schlachten und Reisen. Dann war es für ihn nur zu bald schon wieder Zeit, zu Broichan zu gehen. Bei diesen Unterrichtsstunden konnte Tuala nicht zusehen. Sie fanden nun im Zimmer des Druiden statt, und das durfte sie nicht betreten. »Broichan kann mich nicht leiden«, sagte sie eines Tages zu Bridei, als sie zusammen unter den Eichen saßen und zuschauten, wie Fidich drunten am Stall Holz hackte. Nicht, dass sie sich beschwert hätte; sie stellte einfach eine Tatsache fest. »Er ist nicht an Kinder gewöhnt«, sagte Bridei. »Er weiß nicht, wie er mit dir reden soll, das ist alles. Es wird besser werden, wenn du älter wirst.« »Und was ist mit dir?« »Wie meinst du das?« »Er ist schon an Kinder gewöhnt. Du warst hier, seit du klein warst. Er spricht mit dir und unterrichtet dich und lässt dich in sein besonderes Zimmer.« - 105 »Er hat mich nicht reingelassen, als ich so groß wie du war. Du musst ihm einfach Zeit geben.« Tuala schüttelte den Kopf. »Er kann mich nicht leiden. Sonst würde er erlauben, dass ich auch Unterricht bekomme. Brenna sagt, ich brauche nur Nähen und Kochen zu lernen. Aber ich will alles lernen, was du lernst: alles über die Welt.« Bridei verkniff sich die offensichtliche Antwort: Du bist ein Mädchen. Das entsprach zwar eindeutig der Wahrheit, schien aber nicht die richtige Antwort für Tuala zu sein. In seinen wildesten Träumen konnte er sie sich nicht beim Nähen und Kochen vorstellen. »Ich werde dir so viel beibringen, wie ich kann«, versprach er. Tuala drehte einen Grashalm in ihren kleinen weißen Händen. »Kannst du mir beibringen, wie man den Blick benutzt?« Bridei wurde plötzlich kalt, obwohl er nicht sicher war, warum. »Was weißt du über den Blick?«, fragte er. »Ich weiß, dass Broichan dazu seinen Bronzespiegel benutzt. Ich weiß, dass Weise Frauen und Druiden es tun. Man kann sehen, was passieren wird. Und was früher passiert ist. Ich würde das gerne versuchen. Ich glaube, ich könnte das gut.« In ihrer Stimme schwang ein seltsamer Unterton mit. »Warum, Tuala?« Bridei glaubte zu wissen, wie die Antwort lauten würde. Sie senkte den Kopf; der Vorhang aus glänzendem dunklem Haar fiel nach vorn und versteckte ihr kleines Gesicht beinahe vollkommen. »Damit ich sie sehen kann«, flüsterte sie. »Sie?« »Die, die mich hier gelassen haben. Meine Familie. Ich denke, ich könnte sie vielleicht sehen.« Brideis Herz zog sich zusammen. »Wir sind jetzt deine Familie«, sagte er liebevoll. - 106 »Du bist es«, stimmte Tuala zu, hob den Kopf und sah ihn bekümmert an. »Aber Broichan nicht. Er will mich nicht hier haben.« »Hat er das ...« »Er braucht es nicht zu sagen. Bridei, wirst du es mir beibringen?« »Wie könnte ich das? Er schließt seinen Spiegel weg, und - nun, ich bin ziemlich sicher, dass er es nicht will. Es ist etwas Geheimes, man braucht sehr viel Vorbereitung dafür, und es kann gefährlich sein, wenn du etwas falsch machst. Er könnte es dir beibringen, aber ich glaube nicht, dass ich dazu im Stande wäre. Ich habe es nur ein paarmal versucht, und es hat nicht allzu gut geklappt. Broichan sagte, das sei egal. Er meint, die anderen Unterrichtsstunden sind wichtiger für mich.« Tuala schwieg einen Augenblick. Sie flocht das Gras zu einem winzigen Körbchen. Dann sagte sie: »Für mich ist es nicht egal. Ich werde es mir eben selbst beibringen müssen.« Bridei runzelte die Stirn. »Sei vorsichtig. Ich habe dir doch gesagt, es ist gefährlich, wie alle magischen Künste.
Und außerdem hast du keinen Spiegel.« »Ich könnte wahrscheinlich einen finden.« Sie stellte den winzigen Korb zwischen die Wurzeln der großen Eiche. »Du wirst zu spät zum Unterricht kommen.« Auf dem ganzen Weg zurück zum Haus konnte er spüren, wie sie ihn beobachtete, obwohl sie geblieben war, wo sie war - unter den Bäumen. Manchmal machte er sich Sorgen um Tuala. Einen Augenblick rannte sie durch den Wald wie ein kleines wildes Ding, und im nächsten klang sie wie eine Großmutter. Dennoch, sie war erst sechs. Mit ein wenig Glück würde sie sich morgen für etwas anderes interessieren und vergessen haben, dass sie eine Seherin sein wollte. Broichan wartete schon auf ihn. »Du bist gerannt«, stellte der Druide fest. Bridei strengte sich an, seinen Atem zu beruhigen. Er wür- 107 de sich nicht entschuldigen. Er war gerannt und deshalb nicht zu spät. Er wollte sich nicht in eine Diskussion darüber verwickeln lassen, wie er seine Freizeit verbringen sollte. »Ja, Herr«, sagte er einen Augenblick später, und seine Stimme war fest und nicht mehr atemlos. »Setz dich«, sagte Broichan. Bridei setzte sich auf die Bank seinem Pflegevater gegenüber, mit dem Eichentisch zwischen ihnen. Auf dem Tisch lagen Stäbchen aus Birkenholz, jedes mit eigenen eingeschnitzten Zeichen. Bridei strengte sich an, sie nicht zu berühren. Das hier war ein Weissagungsmuster. »Sag mir, was du hier siehst.« Broichans Stimme war tief und volltönend, ein Klang, der ebenso von Geheimnis wie von Autorität sprach. Seine Miene war ruhig wie immer; die dunklen Augen hatte er halb geschlossen, das geflochtene Haar fiel ihm auf die Schultern. In den Strähnen befanden sich jetzt auch ein paar graue Haare. Bridei betrachtete die Birkenstäbchen. Er hatte sehr früh angefangen, diese Zeichen zu lernen; schon nach seinem ersten Sommer in Pitnochie war er mit ihrer grundlegenden Bedeutung vertraut gewesen, und nun verstand er, dass es so viele Möglichkeiten gab, ihre Weisheit zusammenzufügen, wie Sterne am Himmel. Die Aufgabe des Deutens bestand weniger darin, eine einzige Bedeutung festzustellen, sondern auszuwählen, was in einer Unzahl von Bedeutungen relevant war. »Suchst du nach einer Antwort auf eine bestimmte Frage?«, fragte er Broichan und betrachtete, wie die Stäbchen lagen, wo sie sich überschnitten und welche über oder unter die anderen gefallen waren. Selbstverständlich war derjenige, der sie geworfen hatte, auch die Person, die das Muster am besten verstehen konnte, und zweifellos hatte Broichan seine eigene Interpretation bereits beendet. Der Druide nickte. »Die Frage, die ich stellte, war kompliziert. Die Antwort hat entsprechend viele Aspekte. Weil - 108 du sie in einfacheren Begriffen sehen wirst, könntest du vielleicht eine klarere Lösung liefern. Es war eine Frage über Anführer und Treuepflichten. Eine tiefsinnige Frage über Fortriu selbst.« Bridei dachte eine Weile nach, sah die kleinen Birkenstäbchen an, dann über sie hinweg, zwang sich zu erkennen, was hinter den eingeschnitzten Mustern aus Linien und Symbolen auf ihren hellen Oberflächen lag. »Ich sehe hier zwei Geschöpfe«, sagte er, »Stier und Eber, jeder mit denen von seiner eigenen Art hinter sich. Feinde kommen aus dem Westen und dem Süden, greifen sie beide an und versuchen, sich zwischen sie zu schieben. Aber hier gibt es ein Stäbchen, das sie verbindet. Den Adler. Es hält sie zusammen, überbrückt die Kluft. Und hier, eins halb verborgen darunter. Der Schatten.« »Und?« »Es braucht nur eine unerwartete Entwicklung, und viele würden fallen: Eber, Stier und Adler zusammen.« »Und dann bliebe nur der Schatten«, sagte Broichan ernst. »Und allein kann der Schatten nichts erreichen. Danke, Bridei, du kannst die Stäbchen wieder in ihren Beutel stecken, und während du das tust, wollen wir sehen, wie gut deine Geschichtslehrer waren. Die symbolische Bedeutung hier ist offensichtlich. Sagen wir, es bezieht sich auf die kommenden Jahre, vielleicht die nächsten zehn oder fünfzehn. Wie würdest du dieses Bild von Stieren und Ebern interpretieren?« »Der Stier muss unser eigener König sein, Drust, Sohn des Wdrost, denn der Stier ist sein Familienzeichen; Erip sagt, dass die Steine, die rings um seine große Festung stehen, voll solcher Bilder sind. Der Eber ist Drust, Sohn des Girom, König von Circinn. Das bedeutet, dass die beiden Stämme, die die Stäbchen gezeigt haben, für die beiden Königreiche der Priteni stehen: wir aus Fortriu, die wir dem wahren Glauben unserer Ahnen folgen, und die aus dem Süden, die Christen.« - 109 »Und alle werden wir von Feinden bedrängt«, murmelte Broichan nachdenklich. »Ja, selbst ein Kind kann das erkennen. Circinn wird an seinen Grenzen im Süden schwer von Barbarenhorden bedrängt. Und was uns angeht, wir stehen Welle um Welle von Galen gegenüber, die um jeden Preis auch noch die letzte Schlucht, das letzte Tal, den letzten See und Bach erobern wollen, die wir unser Eigen nennen. Und dennoch, wir sind ein starkes Volk, Bridei. Ein zähes Volk. Welche Bedeutung schreibst du dieser einen Verbindung zu, dem Adler, der die Kluft so gefährlich überbrückt? Die Anführer der Priteni haben ihren eigenen Kopf, und ihre Könige sind ebenso störrisch. Eber und Stier zu vereinen kommt mir so unwahrscheinlich vor, als wollte man zwei wilde Hirsche vor einen Wagen spannen und erwarten, dass sie wie ein Gespann arbeiten.«
Die Birkenstäbchen waren nun sicher in ihrem Ziegenlederbeutel weggepackt. Bridei band die Lederschnur darum und legte den Beutel auf sein Regal. Weiter oben stand immer noch eine winzige Wiege im Schatten, verwelkt und verblasst. Er saß mit dem Kinn in der Hand da und dachte angestrengt nach. Jede Antwort, die man Broichan gab, musste gut bedacht sein, oder man könnte ebenso gut gar nichts sagen. »Ich glaube«, sagte Bridei schließlich, »dass der Adler für Fortriu am wichtigsten ist. Er wäre ein besseres Symbol für einen König, besser als Stier oder Eber, obwohl diese beiden auf ihre eigene Art ebenfalls sehr stark sind. Der Adler fliegt hoch über allem: Er fliegt über das gesamte Große Tal und darüber hinaus zu den Inseln im Westen und nach Norden zum Land der Caitt und nach Südosten nach Circinn. Er kann über die Reiche beider Könige fliegen; sein klarer Blick zeigt ihm, dass das Land nicht nach Stämmen gespalten ist, sondern ein Ganzes ist, stark und unteilbar. Oder es sollte so sein. Ich möchte natürlich nicht klingen, als stünde ich nicht treu zu König Drust.« - 110 »Nein«, sagte Broichan leise, »und wenn du dich in Gesellschaft anderer befändest, weiß ich, dass du solche Ideen nicht zur Sprache bringen würdest. Zweifellos hat Wid dich vor der Gefahr gewarnt, falsch verstanden zu werden. Hier in Pitnochie jedoch, unter vertrauenswürdigen Freunden, kannst du frei aussprechen, was du denkst. Und deine Ansichten sind bewundernswert, Bridei. Wir alle sähen die Priteni gerne vereint, wie sie es waren, bevor die Geißel der neuen Religion den Süden traf und den Geist von Drust dem Eber vergiftete. Nun haben wir zwei Könige, zwei Reiche und zwei Religionen. Das hat uns sehr geschwächt. Was immer du über Adler sagst, ändert nichts an der Tatsache, dass diese Spaltung unserer Fähigkeit, bewaffneten Eindringlingen zu widerstehen, gewaltig geschadet hat. Die Galen siedeln sich im Westen an; eine neue Generation von ihnen wächst in Dörfern heran, die einmal von unseren Großvätern bewohnt wurden, und ihre Stiefel trampeln über unseren heiligen Boden. Jedes Mal, wenn sie angreifen, dringen sie ein kleines bisschen weiter vor. Könnten wir eine weitere größere Offensive überstehen? Ich bezweifle das. Du hast den Schatten ihrer Grausamkeit im Tal der Gefallenen gesehen, Bridei. Wir können ihnen nicht gestatten, ins Tal einzudringen, wir können keine Wiederholung eines solchen gedankenlosen Gemetzels an guten Männern zulassen, einer solchen Besudelung unseres Herzlands. Leider zeigen sich unsere eigenen Könige ausgesprochen widerstrebend, wenn es darum geht, einander an den Ratstisch zu bitten. Wie können sie auch? Einer steht zu den alten Göttern von Fortriu, der andere ist ein Verräter an seinem bluttiefen Glauben.« »Was den Adler angeht«, warf Bridei ein, »er bedeutet mehr, als was ich gesagt habe. Diese Männer, die gestorben sind, die ich an diesem Tag im Dunklen Spiegel gesehen habe - du sagst, sie hätten nie aufgehört, an Fortriu zu glauben, selbst als sie wussten, dass sie alle sterben mussten. Ich - 111 glaube, darum geht es bei dem Adler, und das ist die Verbindung in dem Muster: der Funke in jedem von uns, der uns zu einem Teil des Landes macht. Das ist es, was wir von unseren Ahnen erhalten und an unsere Kinder weitergeben. Es macht uns stark, selbst wenn wir besiegt werden. Es macht uns zu Verwandten, ob wir nun im Norden oder Süden leben und welchem Glauben wir auch anhängen mögen. Vielleicht könnten wir, wenn sich alle daran erinnern würden, fest gegen die Eindringlinge stehen, wenn sie wiederkommen. An diesem Tag im Tal der Gefallenen habe ich das nicht wirklich verstanden. Ich war noch ein Kind.« »Den Jahren nach, ja«, sagte Broichan und betrachtete Bridei mit seltsamer Miene. »Wie du es immer noch bist. Die meisten würden dich auch jetzt immer noch als Kind bezeichnen.« Bridei spürte, wie seine Wangen brannten. Er schwieg. »Deine Interpretation des Musters ist allerdings die eines Mannes«, sagte sein Pflegevater. »Das Problem liegt selbstverständlich in der Religion. Wenn unser Land je an einen Eindringling fällt, dann weil dieser Schwächling in Circinn seine Grenzen Missionaren geöffnet hat, die die Lehre vom Kreuz predigen. Wenn wir dem nachgeben, Bridei, haben wir die Niederlage vielleicht sogar verdient. Wenn wir der Weisheit unserer Ahnen den Rücken zuwenden, sind wir es dann noch wert zu überleben?« »Herr, du glaubst doch sicher nicht, dass unser Volk das tun würde!«, protestierte Bridei. »Die Knochenmutter, die Leuchtende und die Weisheit, die jede Entscheidung in unserem Leben bestimmt, beiseite schieben? Hier im Norden sind wir stark im Glauben. Drust der Stier würde nie tun, was der andere König getan hat, und zulassen, dass sein Volk vom alten Weg abweicht. Erip hat sogar gesagt, dass er...« Er brach ab. »Erip hat sogar was gesagt?« »Dass König Drust immer noch am Tortag ein Opfer bringt. Im Brunnen der Schatten. Er sagt, während die Wei- 112 sen Frauen hinunter zum Strand gehen, um die Wache der Knochenmutter zu halten, bringt der König dem Namenlosen ein Opfer, der dunkelsten Macht von allen, die unter und hinter der Anderwelt weilt. Ein lebendiges Opfer.« »Erip hat das gesagt?« »Er hat es angedeutet. Und Wid sagte, man solle lieber nicht laut über diese Dinge sprechen, nicht einmal in Gesellschaft vertrauter Freunde.« »Beide haben sie Recht. Du solltest im Augenblick nicht an diese Dinge denken. Und bald schon wirst du ohnehin anderes zu tun haben. Wir werden zu Mittsommer Besuch bekommen.« »Und deshalb«, sagte Bridei Tuala ein paar Tage später, »kann ich alles, was ich gelernt habe, in die Praxis
umsetzen.« Es war spät, und sie saßen in einer dunklen Ecke der Halle und versuchten nicht aufzufallen, damit niemand Tuala ins Bett schickte. »Wirklich alles davon«, fuhr er fort. »Diese Leute, die herkommen, sind solche, wie man sie am Hof trifft: schlau, subtil und hinterhältig. Oft ist das, was sie wirklich von dir wollen, nicht das, was sie als ihr Anliegen ausgeben. Und das, was sie sagen, ist nicht das, was sie meinen. Interessante Leute. Leute, die viel über die Welt wissen. Broichan sagt, es wird mir Gelegenheit geben, auszuprobieren, was er und Erip und Wid mir beigebracht haben.« »Eine Prüfung«, sagte Tuala und nickte weise. Bridei verzog das Gesicht. »So würde ich es nicht ausdrücken. Soweit ich sagen kann, sind es Broichans Freunde. Es ist also mehr eine Gelegenheit.« »Eine Prüfung«, wiederholte Tuala unerschütterlich. »Nun ja, vielleicht. Es wird schön sein, hier ein paar neue Gesichter zu sehen.« Tuala antwortete nicht. Sie war in diesen letzten Tagen immer stiller geworden. Es hatte keine einsamen Ausflüge in den Wald mehr gegeben, um verborgene Wildblumen, ein - 113 Drosselnest oder ein paar Fliegenpilze zu entdecken. Jetzt, als Bridei darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass Tuala den größten Teil ihrer Zeit nahe beim Haus verbrachte, seit sie erfahren hatten, dass Besucher kommen würden, und sie wartete stets wie ein kleiner, lautloser Schatten auf ihn. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er sie, als er erkannte, wie sehr er selbst in der Aufregung und Erwartung versunken gewesen war. Tuala nickte schweigend. Sie hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen, als wäre ihr kalt. In ihren Augen stand dieser versonnene Blick, den sie manchmal an den Tag legte, als wüsste sie alles über Geheimnisse, die ein gewöhnlicher Junge niemals hoffen konnte mit ihr zu teilen. »Bist du sicher?« Noch ein Nicken. »Du sollest es mir sagen, wenn du dir wegen etwas Sorgen machst«, erklärte er alles andere als überzeugt. »Das werde ich, Bridei.« Die Stimme war sehr leise und eher zerstreut. »Du bist müde. Sieh nur die Schatten unter deinen Augen! Wie wäre es mit einer Geschichte, und dann kannst du ins Bett gehen?« Tuala schlief nun in dem winzigen Zimmer, das einmal Brennas Zimmer gewesen war und davor ein Lagerraum. Mara hatte schließlich nachgegeben und teilte nun ganz freiwillig ihr Zimmer mit Brenna, eine weitere überraschende Veränderung, die sich seit jener Mittwinternacht im Muster der Dinge in Pitnochie vollzogen hatte. »Ja, bitte.« Tuala rutschte näher, lehnte sich gegen ihn und legte den dunklen Kopf auf seinen Arm. »Also gut«, sagte Bridei. »Aber schlaf nicht ein, bevor ich fertig bin.« »Nein, Bridei.« Die leise Stimme war nun liebevoller, aber dennoch gab es an der Art, wie sie ihren Arm um seinen schlang - wie eine Ranke sich um einen Baum schlingt -, etwas, das ihm Unbehagen bereitete. - 114 »Welche Geschichte möchtest du denn?« »Wie du mich im Mondlicht gefunden hast«, flüsterte sie. »Schon wieder?« Er hatte es ihr schon so oft erzählt, dass es zu einem Ritual geworden war. »Mhm.« »Es war einmal ein Junge ...« »... der hieß Bridei...« »... und er dachte, er wäre ganz allein. Sein Leben war nicht schlecht, er hatte einen Schlafplatz und genug zu essen und wurde ausgebildet. Aber etwas fehlte. Bridei wusste nicht einmal genau, was das sein könnte.« »... eine Familie...« »Ja, aber das wusste er nicht; das fiel ihm erst später auf. Bridei war ein guter Junge. Er lernte gut, er strengte sich an, er versuchte, es allen recht zu machen. Und dann, in der Nacht der Wintersonnenwende, veränderte sich alles.« »Der Mond kam in sein Fenster.« »Ja, die Leuchtende weckte ihn auf, und er ging nach draußen, obwohl es sehr kalt war ...« »... so kalt, dass sogar die Eule sich versteckte ...« »... so kalt, dass die Tränen des Urisk zu Eis wurden, sobald er sie weinte...« »... so kalt, dass die Bäume schauderten ...« »... so kalt, dass Brideis Ohren und Nase anfingen wehzutun, sobald er auch nur den Kopf vor die Tür gestreckt hatte; kalt genug, dass man sich die Zehen abfrieren konnte, wenn man - wie er - dumm genug war, barfuss zu gehen. Als er nach unten schaute, zu seinen Zehen, sah er, was der Mond ihm gebracht hatte.« »Ein Baby.« »Genau, ein seltsames kleines Baby, ganz verschrumpelt und hässlich wie ein alter Apfel...« »War ich nicht!« Bridei grinste. »Ich prüfe nur, ob du auch wirklich zuhörst. Nein, es war ein schönes Baby, die Art Kind, die man - 115 -
erwarten würde, wenn einem die Leuchtende ein Mittwintergeschenk macht. Es lag in einer komischen kleinen Wiege aus den Dingen des Waldes: Büschel von Gras und Blattskelette ...« »... Krähenfedern, Eulenfedern...« »... eine Efeuranke und ein Mistelzweig ...« »... grüne Beeren und Spinnennetze ...« »... und Steine mit Löchern darin, auf Binsen aufgefädelt ...« »Bridei?« »Mhm?« »Wo ist die Wiege jetzt?« Das hatte sie ihn noch nie gefragt. »Sie haben sie weggelegt«, sagte er, denn er wollte nicht lügen, ihr aber auch nicht die ganze Wahrheit sagen. Er hatte ihr nie von dem Schlüssel erzählt, nicht von dem Zauber, den er gewirkt hatte, damit sie ein Zuhause bekam. »Sie ist inzwischen vielleicht vollkommen zerfallen; es ist immerhin schon mehr als sechs Jahre her.« Tuala nickte. »Weiter«, sagte sie. »Also nahm Bridei den Korb und das Baby darin und brachte es nach drinnen.« »Weil es draußen auf der Schwelle zu kalt war.« »Viel zu kalt. Er hielt das Baby warm, bis die anderen aufwachten, und dann kam Brenna, und das Baby hatte ein Zuhause. Und Bridei war nicht mehr allein.« »Er hatte eine Familie«, sagte Tuala mit einem gewaltigen Gähnen. »Ja«, stimmte Bridei zu, »und jetzt ist es Zeit, schlafen zu gehen. Wir sehen uns morgen früh. Träume schön, Tuala.« Sie löste sich von seinem Arm, stand auf und rieb sich die Augen. »Mach schon«, sagte er. »Du schläfst beinahe im Stehen.« »Was, wenn es in dieser Nacht bewölkt gewesen wäre?«, fragte sie plötzlich. »Du hättest mich nie gefunden ...« - 116 »Aber es war nicht bewölkt.« »Ja, aber es hätte bewölkt sein können.« »Dann hätte, wer immer dich auf die Schwelle gelegt hat, dich nicht hingelegt.« »Denen war es egal. Sie hätten mich erfrieren lassen wie die Vögel, die im Winter von den Bäumen fallen.« »Es war ihnen nicht egal«, sagte er und sah ihr fest in die Augen. Ihr Blick war erschreckend trostlos; es war kein Ausdruck, der gut zum Gesicht eines kleinen Kindes passte. »Deshalb haben sie dich mir gegeben, damit ich auf dich aufpasse. Weil sie wussten, sie können sich darauf verlassen, dass ich es gut mache. Und dazu gehört auch, dafür zu sorgen, dass du genug Schlaf bekommst. Also los, ich bringe dich ins Bett.« Zu Mittsommer würde der Mond voll sein. Das war verheißungsvoll. Als das Fest näher kam, begann Broichans Haushalt, sich abermals zu verändern. Sie erwarteten vier Gäste: drei Männer und eine Frau. Es waren persönliche Freunde des Druiden, und man konnte sie nicht bitten, neben den Bewaffneten in deren Quartier zu schlafen. Also wurde die Scheune mit ihren Mauern aus Erde so gut wie möglich gesäubert - wenn es auch immer noch Mäuse gab -, und die Männer schleppten ihr Bettzeug dort hinaus und überließen ihr Quartier den männlichen Besuchern. Erip und Wid führten ihre knarrenden Gelenke und schmerzenden Rücken als Grund gegen einen Umzug an und blieben verschont. Und Bridei wurde zu seinem Entzücken eine Schlafstelle in einer Scheunenecke neben Donal zugewiesen. In seinem kleinen Zimmer würde die Weise Frau schlafen, die zu Besuch kam. Sie hieß Fola. Wer ihren Ruf kannte, nannte sie vielleicht auch die Furcht erregende Fola, aber nie, wenn Broichan es hören konnte. In der Küche, wo es immer geschäftig zuging, wurde das Tempo nun noch größer. Ferat wollte, dass der Festtagstisch - 117 Broichans Stellung als älterem Druiden und Landbesitzer von beträchtlichem Einfluss entsprach. Forellen wurden vom See gebracht und geräuchert, Käse aus den Lagerhöhlen geholt, Blutwurst gemischt und in Blasen aufgehängt und das beste Jungrind geschlachtet und eingesalzen. Ferat plante Pasteten, was seine Gewürztruhe beträchtlich leeren würde. In Vorbreitung auf den Besuch übten sämtliche Lehrer stärkeren Druck aus. Wo es zuvor an den meisten Tagen zumindest Zeit für einen Spaziergang, ein Spiel, einen Austausch von Neuigkeiten gegeben hatte, war jetzt nur noch Zeit zum Lernen, für die Mahlzeiten und zum Schlafen. Tuala beobachtete und hörte zu. Sie konnte sehr unauffällig sein, konnte beinahe mit dem Schatten verschwimmen, als wäre sie gar nicht da. Sie stand unter den Eichen, als Bridei und Donal mit Stäben kämpften. Donais tätowiertes Gesicht und die Ledermütze ließen ihn wild aussehen, aber Bridei, das weiche braune Haar zu einem disziplinierten Zopf geflochten, die blauen Augen konzentriert zusammengekniffen, stellte für seinen Lehrer eine echte Herausforderung dar. Es wäre ihm beinahe gelungen, Donal mit einer schlauen Seitwärtsbewegung des Stabs in Kniehöhe umzuwerfen, aber Donal wich im letzten Augenblick mit einem Sprung aus und wehrte den Schlag mit einem Gegenschlag ab. Bridei schwankte, kämpfte um sein Gleichgewicht und fand es beinahe sofort wieder. Lehrer und Schüler wechselten einen Handschlag und grinsten. Der Kampf war vorüber, aber Tuala rührte sich nicht. Heute würde Bridei keine Zeit haben, mit ihr zu sprechen, und morgen auch nicht. Und auch nicht am Tag danach oder dem Tag nach diesem. Broichan würde sofort nach
seinem Pflegesohn rufen und dafür sorgen, dass er bis zum Abendessen beschäftigt war. Er tat das absichtlich. Es war, damit Tuala Bridei nicht sagen konnte, dass sie weggehen würde. Das war ungerecht. Broichan sollte wissen, dass sie es nicht verraten würde; er hatte sie schließlich selbst dazu gebracht, es zu versprechen. Es war - 118 nicht notwendig, ihr auch noch diese kleinen Geschenke von Zeit zu nehmen. Es war nicht notwendig, ihr auch noch diesen Schatz zu stehlen. Es gab nicht viel, was Tuala fürchtete. Sie liebte alle Tiere, sogar die Mäuse in der Scheune und die kleinen huschenden Insekten im Strohdach. Sie hatte keine Angst vor Spinnen oder Fledermäusen und legte selbst gegenüber gefährlicheren Tieren wie Wölfen, Schlangen oder Wildschweinen nur eine natürliche Vorsicht an den Tag. Aber Broichan erfüllte sie mit einem Schrecken, der bis tief in die Knochen ging, einem betäubenden, kalten Gefühl, das sie stumm und hilflos machte, wann immer der Druide sie ansah. Tuala hatte nichts dagegen, allein lange Ausflüge in den Wald zu unternehmen. Sie konnte auf den höchsten Baum und die steilste Felswand hinaufklettern; sie war daran gewöhnt, mit sicherem Schritt über das ummauerte Feld zu gehen, auf dem der Zuchtstier des Hauses graste. Die Hunde waren ihre ergebenen Freunde, und sie war beliebt bei den Bewaffneten. Mara tolerierte sie; Brenna kümmerte sich mit entschlossener Freundlichkeit um ihre kleinen Bedürfnisse. Ferat war eine zuverlässige Quelle für Honigkuchen, obwohl Tuala, wie der Koch sagte, so wenig aß, dass es nicht einmal einen Zaunkönig am Leben erhalten hätte. Bei Broichan war es anders. Nicht, dass er viel mit ihr gesprochen hätte. Die meiste Zeit verhielt er sich, als wäre sie nicht da. Aber sie konnte seine Ablehnung spüren, sie konnte spüren, dass er ihr nicht traute. Sie konnte seine Macht spüren, und das machte ihr Angst, wie es nichts anderes konnte. Er hatte sie vor einiger Zeit zu sich gerufen, als all das Gerede von Besuchern begann. Brenna brachte sie zu ihm, nachdem sie ihr rasch das zerzauste Haar neu geflochten und mit einem feuchten Tuch das blasse kleine Gesicht abgewischt hatte. Tuala war zum ersten Mal im Zimmer des Druiden. Hier gab es viele interessante Dinge, aber das lau- 119 te Hämmern ihres Herzens bedeutete, dass sie sie sich nicht richtig ansehen konnte. Bridei war mit Donal ausgeritten und würde den ganzen Tag weg sein. Sie wünschte sich, er wäre hier. Brenna stand still da, die Hände auf dem Rücken. Tuala drängte sich ein wenig näher an Brennas Röcke und tat so, als wäre sie unsichtbar. Der Druide stand an der Feuerstelle, hoch gewachsen, so groß in seinem nachtschwarzen Gewand. Seine Augen waren so dunkel wie Schlehen und sein Mund fest zusammengepresst, als wäre er zornig oder als hätte er Schmerzen. Tuala hatte gesehen, wie Donal die Lippen so zusammengepresst hatte, als Glückspilz ihn aus Versehen getreten und ihm eine Beule so groß wie ein Ei am Schienbein verursacht hatte. Es gab ein paar Kerzen im Zimmer; sie ließen die Flaschen auf den Regalen geheimnisvoll schimmern und zeigten halb ihren Inhalt, vielleicht bleiche Schlangen oder eine verschrumpelte kleine Gestalt mit einem Koboldgesicht oder Schichten um Schichten fetter, grüner Schnecken. Dann gab es Steintiegel mit Stöpseln und eiserne Werkzeuge und Becher aus gebranntem Ton. Es roch durchdringend nach Kräutern. Tuala begann im Kopf zu zählen, damit sie nicht solche Angst hatte. Sie konnte jetzt schon bis fünfzig zählen; Bridei hatte es ihr beigebracht. »... Familie weiter drunten im Tal?« Broichan hatte etwas gesagt, aber Tuala hatte den größten Teil davon nicht verstanden. »Ja, Herr.« Brenna klang, als wäre auch sie ein wenig aufgeregt. »Meine Mutter und meine Tante - Ciniochs Mutter - wohnen am Eichenhügel, wo der Weg zu den Fünf Schwestern abzweigt.« »Ein abgelegener Ort«, stellte Broichan fest. »Das ist besser, als ich dachte.« Tuala beobachtete seine Hände; seine Finger waren schlank und knochig, und an einem trug er einen silbernen Ring mit einem Schlangenkopf darauf, mit hellgrünen - 120 Augen. Sie zwinkerte der Schlange zu und glaubte, sie zurückblinzeln zu sehen. »Wie kommt das Kind voran?« Der Blick des Druiden ruhte plötzlich auf Tuala, durchdringend, suchend; sie drückte sich wieder gegen Brenna, aber sie konnte diesem Blick nicht entkommen, und sie würde sich nicht abwenden. Das wäre wie aufgeben. Sie musste tapfer sein, wie Bridei es sein würde. »Sie ist ein braves Kind, Herr.« Brenna schien sich wegen der Frage keine Sorgen zu machen; sie schob Tuala ein wenig von sich weg, damit sie allein dastand und besser betrachtet werden konnte. »Sie ist sehr still. Niemals lästig. Alle mögen sie.« »Hm«, sagte Broichan nachdenklich. »Dennoch, sie ist, was sie ist. Leicht zu erkennen und erkennbar anders. In Zeiten wie diesen ist das eine Ablenkung, die wir uns nicht leisten können.« »Wegen der Besucher, Herr?« Brenna hatte nun die Hand ausgestreckt, um Tualas Hand zu nehmen; ihr warmer Griff war tröstlich. »Ich kann dafür sorgen, dass sie niemandem im Weg ist, solange sie hier sind. Sie kann bei uns schlafen, bei Mara und mir ...« Broichan hob die Hand, damit sie schwieg. »Es geht nicht darum, dass sie meine Gäste stören würde. Es geht um die Ablenkung für Bridei.« Zorn überflutete Tualas Herz. Ablenkung war nicht gut, und sie würde nie etwas tun, das schlecht für Bridei war. Er war ihre Familie. »Ich würde nie ...«, begann sie, aber als sie Broichans Gesicht sah, schloss sie den Mund
schnell wieder. Der Druide sprach weiter mit Brenna, als wären die beiden allein im Zimmer. »Du wirst bis zum Neumond nach Mittsommer Urlaub vom Haushalt nehmen. Besuche deine Mutter und nimm das Kind mit. Ferat wird dir einen Korb mit Lebensmitteln mitgeben, ein Geschenk für deine Familie - du brauchst mir nicht zu danken, du hast es verdient. Ich möch- 121 te dass das Kind im Haus deiner Mutter eingeschlossen und seine Anwesenheit dort verschwiegen wird. Wir wollen nicht, dass sich überall im Tal Geschichten verbreiten. Ich weiß, dass ich mich auf deine Verschwiegenheit verlassen kann, Brenna. Soviel ich weiß, werden wir in der nahen Zukunft von einer Verlobung hören?« Brennas helle Wangen wurden scharlachrot. »Ja, Herr«, murmelte sie. »Fidich hatte vor, mit dir zu sprechen, wenn alles vorbei ist, der Besuch, meine ich ...« »Es hängt einiges davon ab, dass du dich an meine Anweisungen hältst. Wenn alles nach Plan verläuft, wirst du ein schönes Zuhause haben, mit mehr Bequemlichkeit, als Fidichs Häuschen dir jetzt bieten kann. Wenn nicht...« Er beendete den Satz nicht. »Ich bin sicher, du verstehst, dass du in dieser Sache vorsichtig sein musst.« »Ich verstehe, Herr«, erwiderte Brenna. »Schon um Tualas willen. Wann sollen wir aufbrechen?« Der Druide runzelte die Stirn. »Cinioch hat leider erst kurz vor dem Festtag Zeit, um euch zu begleiten, aber sobald ich ohne ihn zurechtkomme, werdet ihr aufbrechen. Mara weiß, was ich geplant habe, ebenso wie Ferat und Donal. Es soll allerdings nicht weiter verbreitet werden. Hast du mich verstanden?« »Ja, Herr«, sagte Brenna. »Aber ...« »Aber was? Meine Anweisungen waren doch sicher klar genug.« »Herr, die beiden stehen einander sehr nahe. Tuala und Bridei. Man kann nicht einem von ihnen etwas erzählen, ohne dass der andere das innerhalb eines Tages erfährt.« Broichans Mund wurde wieder zu einer dünnen Linie. »Es gibt in diesem Haushalt eine Priorität«, sagte er, »und das ist Brideis Erziehung. Was an Mittsommer hier geschieht, ist wichtig für seine Zukunft. Es darf keine Ablenkungen geben. Du wirst gehen, und das Kind wird gehen, und sobald ihr euch auf den Weg gemacht habt, werde ich den Jungen über - 122 eure Abwesenheit informieren. Wie er damit zurechtkommt, sollte selbst eine Art Prüfung sein, eine Prüfung seiner Reife. Vor eurer Abreise darf nicht darüber gesprochen werden. Hast du verstanden?« »Ja, Herr«, sagte Brenna. »Ich werde kein Wort darüber sagen, das verspreche ich. Aber ...« »Du darfst jetzt gehen.« Broichan drehte sich abrupt um und starrte in die kalte Feuerstelle. »Ja, Herr.« Tuala konnte hören, wie erleichtert Brenna war; Hand in Hand gingen sie zur Tür. Ihr eigenes Herz war kein bisschen ruhiger. Was sie da gehört hatte, war falsch, ganz falsch. Sie wurde weggeschickt und durfte es Bridei nicht sagen. Wie konnte das sein? Sie sagte ihm immer alles. »Lass das Kind hier.« Erschrocken über den plötzlichen Befehl ließ Brenna Tualas Hand fallen, dann bückte sie sich einen Augenblick später, um eine Locke, die sich aus dem Zopf gelöst hatte, hinter das Ohr des kleinen Mädchens zu schieben und ihm »Sei brav« zuzuflüstern, bevor sie nur zu schnell durch die Tür verschwand und sie hinter sich schloss. Das Zimmer schien plötzlich viel größer und viel dunkler zu sein. Der hoch gewachsene Druide ragte über Tuala auf wie ein Schatten, ein Gespenst, wie ein Zauberer aus einer von Brideis Geschichten. Sie konnte sehen, wie die Schlange auf dem Ring sie ansah und züngelte. Sie wartete, die Hände auf dem Rücken, damit Broichan nicht sah, dass sie zitterten. Nach einem Zeitraum, der ihr sehr lang vorkam, wandte der Druide sich ihr wieder zu und setzte sich auf die Bank. Tuala musste nun nicht mehr so weit aufblicken, um seine Augen zu sehen. Die Miene des Druiden war unverändert finster. »Sag mir«, forderte er, »hast du etwas von dem verstanden, worüber wir gesprochen haben?« Tualas Mund wurde plötzlich trocken; ihre Zunge fühlte sich ganz seltsam an und so, als wäre sie geschwollen. Sie - 123 brachte kein einziges Wort heraus. Und sie musste unbedingt zur Latrine, aber es war unmöglich, Broichan zu bitten, sie gehen zu lassen. Es gelang ihr zu nicken. »Sag es mir.« »Ich - ich ...« Sie konnte einfach nicht sprechen. Es war wie Magie, ein Schweigezauber, der sie im schlimmstmöglichen Augenblick befallen hatte. Broichan seufzte. »Die schwarze Krähe behüte mich vor Kindern«, sagte er. »Komm schon. Ich habe dich oft genug schwatzen gehört. Ich weiß, dass du vernünftige Sätze sprechen und verstehen kannst, was andere sagen. Ich will es noch einmal ganz von Anfang an erklären. Du wirst weggehen, und wenn du tust, was ich sage und was Brenna dir sagt, dann erlaubt man dir vielleicht, ich betone vielleicht, in dieses Haus zurückzukehren, wenn der Mittsommerbesuch weg ist. Ah, du verstehst das; ich sehe es deinen Augen an. Und es scheint dir wichtig zu sein. Selbstverständlich betrachtest du dieses Haus als dein Heim; es gibt nirgendwo in Fortriu einen anderen Haushalt, der dich aufgenommen hätte.« »Ja, Herr.« Das kam als ein Flüstern heraus, das Geräusch einer Brise in trockenem Gras.
»Verstehst du, was ich über Brideis Erziehung gesagt habe?« Ein Nicken. »Ich glaube nicht, dass du es vollkommen verstehst. Mein Pflegesohn kann es sich nicht leisten, Zeit an kleine Mädchen zu verschwenden und sich von dem sehr wirklichen und sehr anstrengenden Weg der Vorbereitung ablenken zu lassen, der vor ihm liegt. Bridei wird in Zukunft mehr Zeit mit anderen Menschen verbringen, hier in Pitnochie oder anderswo. Wenn ich irgendwann zu der Ansicht komme, dass du ihm dabei im Weg bist, werde ich dafür sorgen, dass du schnell und dauerhaft aus diesem Haushalt verschwindest. Hast du das verstanden?« - 124 Sie bebte nun am ganzen Körper, überwältigt von etwas so Starkem, dass sie sich kaum beherrschen konnte: Zorn oder Entsetzen, vielleicht beides. »Ja«, sagte sie, denn obwohl sie die Worte nicht vollkommen verstanden hatte, war ihr die Bedeutung schmerzlich klar. »Du bedeutest Bridei nichts«, sagte Broichan. »Seine Freundlichkeit hat dafür gesorgt, dass du für einige Zeit sicher bist. Mehr ist es nicht.« Sie holte tief Luft und ballte auf dem Rücken die Hände zu Fäusten. »Bridei ist meine Familie.« Ihre Stimme klang in dem großen Zimmer sehr leise. »Ich lüge meine Familie nicht an.« Broichan schüttelte ernst den Kopf. »Das stimmt nicht. Wenn du überhaupt eine Familie hast, dann ist sie da draußen, im Wald. Bridei ist ein gutherziger Junge, der Mitleid mit dir hatte, wie er es auch mit einem verwaisen Lamm haben würde. Er ist nicht mit dir verwandt.« »Mit dir auch nicht!«, brach es aus Tuala heraus, denn der Schmerz hatte ihr alle Vorsicht genommen. Broichan wartete einen Augenblick, bevor er weitersprach. »Er ist mein Pflegesohn«, sagte er dann ruhig. »Er wurde mir aus Gründen anvertraut, von denen du keinerlei Ahnung hast.« Das konnte sie nicht unbeantwortet lassen. »Und ich wurde ihm anvertraut«, flüsterte Tuala. Er sollte lieber bald aufhören und sie gehen lassen, denn sonst würde sie sich schrecklich blamieren und eine Pfütze auf dem Boden verursachen, und dann würde er sie wirklich für ein Baby halten. Broichan kniff die Augen zusammen. »Der Mond hat mich hier zurückgelassen«, sagte Tuala. »Hat ihnen den Weg gezeigt, als sie mich herbrachten. Der Mond hat Bridei geweckt und ihm geholfen, mich zu finden. Die Leuchtende hat ihm vertraut, dass er sich um mich kümmert. Ich bin seine Familie. Das bin ich.« Sie biss sich auf die Lippe und kämpfte gegen ihre Tränen an. - 125 »Hör zu, Tuala.« Es war das erste Mal, dass Broichan ihren Namen benutzte; sie hatte sich schon gefragt, ob er ihn vergessen hatte. »Verstehst du, was das Wort Schicksal bedeutet?« Sie nickte. »Sag mir, was es bedeutet.« »Es kommt in den Geschichten vor«, sagte Tuala. »In denen, die Bridei mir vor dem Schlafengehen erzählt. Schicksal, das sind die großen Dinge, die passieren. Schlachten und Reisen, Hochzeiten und Königreiche. Kämpfe gegen Drachen. Schätze finden. Geheimnisse lüften.« Broichan sah sie ernst an, aber die Strenge in seinem Blick hatte ein wenig nachgelassen, als er sagte: »Ich sehe, Bridei war bei deiner Erziehung sehr fleißig«, sagte er. Er hatte die schlanken Hände jetzt im Schoß gefaltet: Tuala sah, wie die kleine Silberschlange den Kopf hob und sie anschaute. »Ich hätte gerne mehr Erziehung«, sagte sie, ermutigt von der Tatsache, dass es ihr offenbar gelungen war, eine Frage zu seiner Zufriedenheit zu beantworten. »Über die Sterne und die Stämme und all die Sachen, die Bridei lernt. Er kann es mir nicht beibringen, er hat zu viel zu tun.« Der Druide kniff die Lippen wieder zusammen. »Für dich würde zu viel Lernen nur zu Unglücklichsein führen«, sagte er. »Welches Leben dich auch erwarten mag, es kann darin keinen Platz für Wissen wie dieses geben. Du solltest dich lieber den häuslichen Dingen widmen und auf eine gute Heirat hoffen. Dafür können wir sorgen, wenn es Zeit ist.« Tuala schwieg. Irgendwo in seinen Worten lag eine schreckliche Beleidigung, aber sie konnte nicht genau herausfinden, was es war. Die Kränkung war jedoch unmissverständlich. »Tuala«, sagte der Druide, »komm ein wenig näher. Setz dich hier zu mir. Du fragst dich vielleicht, warum ich von Schicksal spreche. Kind, du betrachtest Bridei als deinen Freund, deinen Spielgefährten, obwohl er in so vieler Hin- 126 sieht ein junger Mann ist, selbst mit zwölf, und du noch ein kleines Kind bist. Es ist nicht schlecht, wenn ein Junge Mitleid mit den Schwachen hat. Bis zu einem gewissen Punkt. Es ist eine gute Sache für einen Jungen, dem alten Weg zu gehorchen und willig etwas zu erfüllen, was er für eine Forderung der Leuchtenden hält. Dennoch, glaube nicht, dass du in Pitnochie geblieben bist, weil Bridei wollte, dass der Haushalt dich aufnimmt. Du bist nur deshalb hier, weil ich bis jetzt noch nicht beschlossen habe, dich wegzuschicken. Du bist keine von uns und kannst es niemals sein. Dein Schicksal liegt vollkommen in meinen Händen, Tuala. Vergiss das nicht. In meinen Zukunftsplänen ist Bridei alles, was zählt. Wenn du glaubst, ihm etwas schuldig zu sein, wenn du willst, dass er sein Leben so gut wie möglich führt, dann wirst du genau tun, was ich dir sage. Bridei hat ein Schicksal. Meine Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass er auf die richtige Art erzogen wird; dass nichts und niemand
der Zukunft in den Weg gerät, die ihm bestimmt ist.« Tuala schluckte. »Warum bin ich dann immer noch hier?«, krächzte sie und spürte Bitterkeit, die in ihrer Kehle festsaß und sie zum Sprechen trieb, wenn Schweigen so viel sicherer gewesen wäre. »Wenn ich so schlecht für ihn bin, warum hast du mich überhaupt bleiben lassen?« »Du hörst nicht zu«, sagte Broichan. »Es war eine Pflicht zu erfüllen, die Pflicht Brideis den Göttern gegenüber, wie er sie verstand. Bei all solchen Entscheidungen wägt man die Argumente ab und kommt zu einem Gleichgewicht. Ich tue die Geschichte meines Pflegesohns darüber, wie du hierher gekommen bist, nicht ab, seine Erklärung, dass die Leuchtende etwas damit zu tun hatte. Ich akzeptiere seine Überzeugung, dass er sich verpflichtet fühlt. Tatsächlich wäre es gefährlich, das zu missachten. Du brauchst von dieser ganzen Sache nur zu verstehen, dass du meinen Anweisungen Folge leisten wirst, wenn du ihn gern hast und willst, dass er - 127 alles erreicht, was er kann. Und meine Anweisungen bestehen diesmal darin, dass du eine Weile mit Brenna weggehst und dass du Bridei nichts davon sagst. Du wirst diese Themen ihm gegenüber nicht zur Sprache bringen. Er wird alles verstehen, wenn die Zeit gekommen ist.« Die kleine Schlange bewegte sich nun über Broichans Hand; er schien es nicht bemerkt zu haben. Die Schlange zischte, die winzige gespaltene Zunge zuckte aus dem kleinen, klaffenden Maul. Tuala legte die Hand mit der Handfläche nach oben neben die viel größere des Druiden, und die Schlange kroch zu ihr, rollte sich ordentlich auf ihrer Handfläche zusammen und schaute sie aus grünen Augen an. Sie fühlte sich für ihre Größe schwer an und hatte die Wärme vom Körper des Druiden. Tuala hätte darüber gelächelt, wie anmutig sie war, über diese unabhängige Vollkommenheit der Form, aber sie fühlte sich, als läge ein kalter Stein in ihrem Herzen. Auch Broichan schaute nun die Schlange an. Er ließ sich nicht anmerken, ob er überrascht war, aber er sagte: »Das allein zeigt schon mit verblüffender Deutlichkeit, wie anders du bist. Du magst unter uns aufgewachsen sein und hast zweifellos geglaubt, dass man dich akzeptiert. Aber das hier ist der Haushalt eines Druiden, Kind. Was hier geschieht, spiegelt nicht unbedingt das Verhalten oder die Ansichten in der Menschenwelt wider. Wenn du älter wirst, wirst du das besser erkennen. Es ist durchaus möglich, dass Bridei, unschuldig wie er war, dir keinen Gefallen getan hat, als er dich in dieser Nacht hereinholte. Seine mitleidige Tat hat dich praktisch von beiden Welten abgeschnitten: vom Reich deiner wahren Verwandten auf der anderen Seite des Rands und von der Welt der Sterblichen, in die du nie gehören kannst. Tatsächlich hat sein Bedürfnis, dir Zuflucht zu schaffen, dir jedes wahre Heim genommen.« »0 nein!« Tuala sprang auf, und die kleine Schlange erschrak, wand sich um ihr Handgelenk und klammerte sich - 128 an sie. »Bridei würde nie etwas tun, was mir schadet! Er würde nie etwas Böses tun; das könnte er nicht!« Broichan sah sie an. Er streckte die Hand zu ihrer aus, und die Schlange bewegte sich erneut, glitt zu seinem Finger, umkreiste ihn und rollte sich wieder zu einem silbernen Ring zusammen. Die grünen Emailleaugen starrten nun ohne zu blinzeln die kleine, bebende Tuala an. »Und du würdest nie etwas tun, was ihm schadet«, sagte der Druide ruhig. »Du würdest nichts tun, das ihm im Weg steht, nicht wahr, Tuala? Dann tu, was ich dir sage. Jetzt und in Zukunft. Das ist das Beste für Bridei, das Beste für uns alle.« Tuala starrte ihn schweigend an. Eine Weile hatte er beinahe freundlich gewirkt, wie jemand, mit dem sie sprechen konnte, jemand, der ihr interessante Dinge zu sagen hatte. Nun war er abrupt wieder wie zuvor, und sie hatte das Gefühl, irgendwie betrogen worden zu sein. Ihre Angst kehrte zurück, und wieder raubte sie ihr die Worte. »Du musst es mir versprechen«, sagte Broichan. »Ja.« Das Wort fiel, als wäre es aus ihr herausgedrückt worden, trotz ihrer Anstrengung, es drinnen zu behalten. »Ich werde gehen, wenn du das willst. Und ich werde Bridei nichts davon sagen.« »Gut. Tatsächlich hast du keine andere Wahl.« »Aber ich werde ihn nicht belügen.« So sehr sie auch dagegen angekämpft hatte, das rutschte ihr dennoch heraus. »Ich lüge nicht. Nicht, wenn es um Bridei geht.« Broichan lächelte dünn. »Dann wirst du sehr genau aufpassen müssen, was du sagst«, meinte er. »Du weißt, was geschieht, wenn du einen Fehler machst, Tuala. Glaube mir, ich bin nicht so mitleidig veranlagt wie mein Pflegesohn. Wenn ich einen Feind sehe, ganz gleich in welcher Gestalt, schlage ich sofort und wirkungsvoll zu, noch bevor mein Feind Zeit und Gelegenheit hat, Schaden anzurichten. Bridei muss erst lernen, dass so etwas notwendig sein kann.« - 129 Tuala wurde kalt. Der Druide schien zu behaupten, dass sie böse war; dass sie nicht Brideis Freundin sein sollte. Das war falsch. Es war so falsch, dass sie überhaupt nicht verstand, wie jemand so etwas denken konnte. Bridei war ihr das Liebste auf der Welt. Hatte nicht die Leuchtende selbst Tuala hierher geschickt, damit sie seine Familie war? Sie sah Broichan in die tief liegenden Augen und schauderte. »Ich bin kein Feind«, flüsterte sie. »Noch nicht«, erwiderte der Druide. - 130 KAPITEL VIER Bridei wusste, dass es unwahrscheinlich war, aber er erwartete dennoch ein Eintreffen der Gäste, wie es in alten Geschichten beschrieben wurde: Sie würden in Festkleidung auf Pitnochie zureiten, mit einem großen Gefolge
von Bewaffneten und Dienern und schwer beladenen Packpferden. Er stellte sich Banner und glitzernde Waffen, Seide und Schmuck vor. Tatsächlich kamen die vier einzeln und Tage voneinander entfernt, und jeder auf seine eigene einzigartige Weise. Donal hatte Brideis Fähigkeiten im Spurenlesen geprüft und ihn vier Tage hintereinander vom Sonnenaufgang bis zur Abenddämmerung mit in den Wald genommen. Wenn die beiden ins Haus zurückkehrten, mit vor Müdigkeit schmerzenden Beinen und knurrenden Mägen, war Tuala nirgendwo zu sehen; sie schlief zweifellos schon lange, und die Gelegenheit für die Geschichte war verpasst. Aber das war vielleicht gut so. Bridei bezweifelte, dass er auch nur die Energie für die kürzeste Geschichte aufgebracht hätte. Er wäre selbst eingeschlafen, bevor die Prinzessin auch nur Gelegenheit erhalten hätte, einen ersten Blick auf den Frosch zu werfen. Eine schnelle Mahlzeit und dann direkt ins Bett, das war alles, was er noch fertig brachte; er schlief schon, bevor sein Kopf den Strohsack neben dem von Donal in der Scheune berührte. Am nächsten Morgen traf der erste Gast in Pitnochie ein. - 131 Es gab keinen großartigen Auftritt. Was Broichan tat, tat er diskret und mit Blick auf den Schutz seiner Abgeschiedenheit und seiner eigenen Interessen. Als Erstes traf ein schlanker, drahtig aussehender Mann mittleren Alters ein, der sein ergrauendes Haar kurz geschnitten trug und dessen Gesicht von großer Verantwortung mit vielen Falten gezeichnet worden war. Seine Augen blitzten jedoch vor Leben und Intelligenz. Sie waren grau wie sein Haar, und das Wollgewand des Mannes hatte die gleiche Farbe - so viel zu Seide und Pelzen. Er kam mit zwei Leibwächtern, großen, kräftigen Burschen, und sein Gepäck bestand aus ein paar Bündeln, die hinter den Sätteln seiner Leute angebracht waren. Alle drei Männer waren gut bewaffnet; teuer bewaffnet. Bridei kannte sich nun gut genug aus, um ein gutes Schwert erkennen zu können, wenn er eins sah, und das Gleiche galt für eine gut geschliffene Axtklinge. Da die beiden Wachen in der Scheune bei Broichans Bewaffneten untergebracht waren, gab es viel Gelegenheit für Vergleiche. Der Adlige hieß Aniel, und er war ein Berater an König Drusts Hof. Bridei wusste, er sollte nicht zu viele Fragen stellen, aber es war schwer, sich zurückzuhalten. Es gab so vieles, was er wissen wollte. Beim Abendessen sprachen sie über die Galen und die Gefahr im Westen. Bridei hatte dieses Thema in allen Einzelheiten studiert, er hatte Landkarten in Sand gezeichnet, mit Steinen und Zweigen als Landschaftsersatz; er hatte sich vorgestellt, Armeen überall im Tal aufzustellen, hatte viel über das Wesen dieser Feinde und die Geschichte ihrer vernichtenden Vorstöße erfahren. Das Bild in seinem Kopf schuldete allerdings wenig der Gelehrsamkeit. Seit er in den Dunklen Spiegel gesehen hatte, kannte Bridei die Galen nicht als Feind, den man herausforderte und erledigte wie eine Bande von Räubern, sondern als eine Macht, die den Funken im Herzen jedes treuen Sohns von Fortriu auslöschen wollte. Sie waren stark, grausam und vollkommen skrupellos. An je- 132 nem längst vergangenen Tag im Tal der Gefallenen hatten sie Verwundete und Fliehende getötet, hatten sie ohne Skrupel niedergemäht. Was Bridei an diesem Ort gesehen hatte, würde er nie wieder vergessen. Tuala war beim Abendessen nicht anwesend, ebenso wenig wie Brenna. Bridei nahm das zur Kenntnis, aber es überraschte ihn nicht; Broichan glaubte wohl, dass Tuala zu klein war, um mit solcher Gesellschaft zu speisen, und hatte sie mit Brenna früh schlafen geschickt, damit sie still war. Das war wirklich schade. Tuala hätte sicher gerne zugehört, denn Aniel wusste viel über die Welt, und Tuala lernte leidenschaftlich gern. Ihr entging hier etwas, und sie verpasste auch ihre Gute-Nacht-Geschichte ein weiteres Mal. Broichan saß am Kopf des Tisches. Rechts von ihm saß Aniel, und zu seiner Linken Bridei, eine herausfordernde Platzierung, denn es bedeutete, dass Bridei jedes Mal, wenn er von seinem Fleisch aufblickte, direkt in diese klugen grauen Augen schaute. Ihm war klar, dass er abgeschätzt wurde, und er hatte das Gefühl, dass das noch drei weitere Male passieren würde, bevor die Festzeit zu Ende war. Aniels Wachen standen hinter ihm, und einer aß einen Bissen von jedem Gericht, bevor sein Herr aß. Es war nur gut, dass Ferat in der Küche beschäftigt war; er wäre zutiefst beleidigt gewesen. Was Broichan anging, so zog er bei diesem Zeichen des Misstrauens nur die Brauen hoch. Bridei erinnerte sich, dass sein Pflegevater einmal beinahe selbst an Gift gestorben war, und das am Tisch eines Freundes. Man musste akzeptieren, dass überall Gefahren lauerten. Als Nächste am Tisch saßen Erip und Wid, und dann kamen Donal, Uven und der Rest der Männer. Mara hatte sich Ferats erbarmt und half mit ausdrucksloser Miene, das Essen aufzutragen. »Ich hatte Glück, dass ich noch hier vorbeikommen konnte«, sagte Aniel. »Meine Mission nach Circinn war lang und anstrengend, und die Herausforderungen waren nicht bloß - 133 der jämmerliche Zustand der Wege und das Wetter. Diese Dinge habe ich gelernt zu erwarten, und ich kann mit ihnen umgehen. Es waren die Art, wie man mich empfing, und der Starrsinn meiner Gastgeber, die dafür sorgten, dass es so lange dauerte. Ich muss sagen, ich sehe meiner Rückkehr nach Caer Pridne nicht mit Freude entgegen. Dieser kurze Aufenthalt in Pitnochie ist mir höchst willkommen. Ich hoffe, hier wieder ein wenig zu Kräften kommen zu können, bevor ich dem König die schlechten Nachrichten überbringen muss.« »Drust der Eber war also unnachgiebig?«, fragte Wid durch einen großen Bissen Brot. Aniel lächelte ironisch. »Unerbittlich, ja, aber das hat nichts mit Willenskraft zu tun. Die Berater dieses Mannes erweisen ihm wirklich einen schlechten Dienst; sie vergiften seinen Geist mit ihren falschen Berichten und sorgen dafür, dass er weiterhin fest jeder Versöhnung unseres Volkes entgegensteht. Er verlässt sich auf den Rat
von Wieseln. Vielleicht gibt es tief in seinem Herzen immer noch einen Funken wahren Königtums, aber es fehlt ihm die Kraft, diesen Funken selbst zu nähren, und daher sind seine Berater im Stande, alle Entscheidungen so zu verbiegen, wie es ihren Zwecken passt. Kein Wunder, dass der christliche Glaube in Circinn so gut Fuß gefasst hat. Der Hof ist korrupt, der König wankelmütig, die Weisen Frauen, die es gab, hat er verbannt, die Druiden weggeschickt. Falls die Rituale in diesem Reich immer noch befolgt werden - und ich habe Grund zu glauben, dass der alte Weg nicht vollkommen unterdrückt werden konnte -, dann geschieht das im Geheimen.« »Dennoch, der alte Glaube überlebt«, sagte Wid und zupfte sich ein kleines Stück Fleisch aus dem Bart. »Wenn auch nur eine einzige Kohle noch unter der Asche glüht, kann der richtige Wind die Flammen wieder anfachen.« »Man muss dafür sorgen, dass das Feuer nicht vollkommen ausgeht«, warf Erip ein. - 134 »Was das angeht«, sagte nun Broichan, der den größten Teil der Mahlzeit geschwiegen hatte, »gibt es da gewisse Möglichkeiten. Menschen, die schwieriges Gelände rasch durchqueren und Botschaften weitergeben können. Ich hätte allerdings gerne mehr. Ein Verbündeter im Haushalt des Ebers wäre nützlich.« »Ein Spion in der Festung der christlichen Missionare könnte ebenfalls brauchbar sein«, warf Donal ein. »Er könnte herausfinden, wie sie arbeiten, wie sie ein Land infiltrieren und wer wirklich ihre Freunde sind. Die meisten dieser Priester kommen aus Erin, habe ich gehört. Ich würde gerne wissen, ob sie Verbündete in Dalriada haben. Wenn das der Fall wäre, wüssten wir, wieso man uns von beiden Seiten bedrängt.« »Würde der König in Circinn versuchen, mit den Galen Frieden zu schließen?«, fragte Bridei, der nicht länger still bleiben konnte. Aniel betrachtete ihn forschend. »Broichan sagt mir, du verstehst, dass wir hier so frei sprechen, wie es außerhalb des Heims eines alten, vertrauenswürdigen Freundes undenkbar wäre«, sagte er. »Ich wünschte mir sehr, dass ich deine Frage mit einem eindeutigen Nein beantworten könnte, Bridei. Drust der Eber hat Circinn nicht regiert, wie das Land es verdient. Ein Mann, der sich vom Glauben seiner Ahnen abwendet und zulässt, dass sein Volk ihm ebenfalls den Rücken zukehrt, ist kein Mann, dem man trauen kann, ob er nun König ist oder nicht.« »Aber leider brauchen wir ihn«, sagte Broichan. »Oder doch zumindest seine Streitmacht. Die Anführer von Circinn haben vielleicht ihre Schwüre an den Flammenhüter gebrochen, aber sie haben nicht vergessen, wie wichtig es ist, weiterhin gut ausgebildete Krieger zu haben. Sie können nicht anders; ihre eigene Südgrenze ist alles andere als sicher. Briten hier, Angeln dort; es scheint, als wolle jeder ein Stück von unserem Land. Und um eine volle - 135 Offensive gegen Dalriada zu führen, braucht unser König nicht nur die Streitkräfte des Nordens, sondern auch die aus Circinn.« »In der Tat.« Aniel faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Ich habe mit Drust dem Eber über dieses heikle Thema gesprochen, oder es zumindest versucht. Ich sehe kaum eine Möglichkeit, ihn derzeit auf unsere Seite zu ziehen. Die Atmosphäre war alles andere als herzlich. Er muss eine beträchtliche Streitmacht an der Südgrenze behalten, das verstehe ich. Dennoch, ich hatte gehofft, er wäre bereit, über künftige Pläne zu sprechen.« »Oder zumindest einer gemeinsamen Ratssitzung zuzustimmen«, fügte Broichan hinzu. »Ich habe mein Bestes getan.« »Das bezweifelt niemand hier, mein Freund«, sagte der Druide. »Der König hat dich geschickt, weil du seine beste Chance warst, Circinn zu beeinflussen. Dass selbst deine Anstrengungen keine Übereinkunft herbeiführen konnten, zeigt, wie verzweifelt unsere Situation ist.« »Wenn die Galen sich entscheiden, in diesem oder dem nächsten Jahr anzugreifen, werden wir kaum mehr tun können, als eine einzelne Front zu halten«, sagte Donal säuerlich. »Und das ist wahrscheinlich nicht die Front, die wir wollen. Ich hätte gerne eine gut geplante Offensive, nicht nur eine wirre Reaktion auf das, was sie uns entgegenschleudern. Es ist ein stetiger Stachel im Fleisch, zu wissen, dass unsere eigenen Verwandten keinen Finger rühren werden, um uns zu helfen.« »Wir wollen alle, dass die Galen verschwinden«, stellte Aniel fest. »Gabhran und seine Leute zurück übers Meer nach Erin zu treiben, das ist eine gewaltige Herausforderung, ein Ziel, das es anzustreben gilt. Es lässt sich nicht von heute auf morgen erreichen, nicht mit dieser bitteren Teilung unseres Landes. Den christlichen Glauben zu vertreiben und die Herzen der Menschen in Circinn wieder für den wahren - 136 Weg zu gewinnen, stellt vielleicht eine noch größere Herausforderung dar. Solange die Länder der Priteni nicht wieder vereint sind, halte ich das nicht für möglich.« Alle schwiegen. Es kam Bridei so vor, als könnte er beinahe hören, wie angestrengt die anderen nachdachten. »Herr?«, wagte er sich vor. »Ja, Junge?« Aniels graue Augen waren sehr scharf. Wie Broichan war auch er ein Mann, dem gegenüber man keine leeren Worte machte. »Ich habe mich nur gefragt - wenn der Süden uns im Kampf gegen Dalriada nicht hilft, sollten wir vielleicht andere Verbündete suchen. Das würde es uns - dem König -ermöglichen, zumindest mit den Plänen für die Zukunft zu beginnen.« »An welche Verbündeten dachtest du da? Es gibt dieser Tage nicht viele verlässliche Freunde, wie deine Lehrer
dir zweifellos schon deutlich gemacht haben.« »Ja, Herr.« Bridei hatte mit Erip und Wid lange über dieses Thema debattiert und war nicht besonders weit gekommen. »Es gibt den Stamm auf den Hellen Inseln, der sich einfach das Volk nennt. Sie sind gute Krieger, sagt man mir, und mit unserem eigenen Volk verwandt. Wir könnten uns an sie wenden. Ich weiß, wir waren nicht immer Verbündete, aber ihre Mitarbeit könnte durch Geiseln gesichert werden. Und ...« Er zögerte. »Weiter, Junge.« »Und dann gibt es da die Caitt«, sagte Bridei und hoffte, dass der Berater des Königs nicht einfach höhnisch schnauben würde. Aniel zog die Brauen hoch. »Man könnte ebenso gut versuchen, eine Armee von Wildkatzen zu beherrschen«, stellte er fest. »Ihr alter Name, der von dem Wort für >Katze< kommt, ist tatsächlich eine gute Beschreibung ihres Wesens. Welcher Mann, der noch bei Verstand ist, würde diese Grenze als Botschafter überschreiten wollen? Man würde ihn - 137 wahrscheinlich in Einzelteilen zurückschicken und ohne eine weitere Botschaft.« »Dennoch«, sagte Bridei, froh, dass Aniel ihn nicht ausgelacht hatte, »sie sind von unserer Art, folgen dem alten Weg von Sonne und Mond, und sie können kämpfen, das wissen wir. Sie sind leidenschaftliche, entschlossene Krieger. Niemand scheint ihre Grenzen zu bedrohen. Wildkatzen oder nicht, sie können uns vielleicht etwas beibringen.« »Ein interessantes Argument«, sagte Aniel. »Aber ein falsches. Es ist das Wesen ihres Landes, das die Caitt vor einer Invasion schützt. Verglichen mit diesen Klippen und Schluchten im Nordwesten wirkt das Große Tal wie eine einzige grüne Weide.« »Außerdem«, warf Wid ein, »und das weiß Bridei bereits, sind die Caitt ebenso gespalten wie wir. Sie haben keine Eindringlinge, an denen sie sich die Zähne ausbeißen können, also kämpfen sie untereinander, Kleinkönig gegen Kleinkönig, Anführer gegen Anführer, Stamm gegen Stamm. Es würde schon einen sehr beeindruckenden Anführer brauchen, um dieses Durcheinander zu einer zusammenhängenden Streitmacht zu machen. Und leider haben wir keinen solchen Anführer.« »Könnte König Drust der Stier das nicht leisten?«, fragte Bridei. Das darauf folgende Schweigen zeigte ihm, dass er eine Frage zu viel gestellt hatte. »Es ist spät«, sagte Broichan zu seinem Besuch, »und du hast eine lange Reise hinter dir. Wir können uns vielleicht noch ein wenig unter vier Augen über einem Krug Met unterhalten, und dann möchtest du dich sicher zurückziehen.« Aniel ignorierte das vollkommen. »Spielst du Brettspiele, Bridei?«, fragte er. »Krähenecken vielleicht, oder Brich-die-Mauer?« »Ja, Herr.« »Gut. Wir haben Zeit für ein Spiel, bevor ich schlafen gehe, wenn mein Gastgeber es gestattet.« Sein kluger Blick be- 138 gegnete dem des Druiden für einen Moment, dann nickte Broichan zustimmend. Die Regeln der Gastfreundschaft gestatteten ihm kaum etwas anderes. »Nichts ist besser, um einen Tag zu beschließen, als eine Prüfung des Geistes«, fügte Aniel hinzu und stand auf. »Es wird auch eine gute Übung für dich sein, einem anderen Gegner gegenüberzustehen, einem, der dich ordentlich beanspruchen wird. Selbstverständlich nur, wenn du willst.« Einen Augenblick zögerte Bridei, denn er musste daran denken, dass Tuala sicher noch nicht schlief, sondern einsam und ruhelos auf ihre Geschichte wartete. Sie war in letzter Zeit so anders gewesen; etwas beunruhigte sie, etwas, das sie ihm nicht sagen wollte. Das machte Bridei Sorgen, denn sie hatten ansonsten keine Geheimnisse voreinander. Broichan beobachtete ihn. Broichan, dachte er, kannte ihn nur zu gut. Und das hier war tatsächlich eine Prüfung. Während des gesamten Besuchs würde jedes Wort, das er sagte, abgewogen, jede Entscheidung, die er fällte, gemessen werden. Warum, wusste er nicht. Er wusste nur, dass es wichtig war, so wichtig, dass er sich keine falsche Bewegung erlauben konnte. »Es wäre mir eine Ehre, gegen dich zu spielen, Herr.« Bridei ging, um das Spielbrett mit der Einlegearbeit zu holen, und setzte es auf einen kleinen Tisch, während Erip die aus Knochen geschnitzten Spielfiguren auspackte und Donal und Uven Stühle bereitstellten. Die Mahlzeit war vorüber, und die Bewaffneten machten sich einzeln oder zu zweit durch die Küche zu ihrer derzeitigen Unterkunft in der Scheune auf. Donal blieb und setzte sich auf die Bank an der Wand, und Broichan ließ sich im Schatten nahe der Feuerstelle nieder. Auch einer von Aniels Leibwächtern war geblieben, wachsam, aber in diskretem Abstand. Das Spiel dauerte lange. Als die Spieler über die ersten Vorstöße hinaus zu ernsthafteren Manövern übergingen, bei denen ein Fahnenträger, ein Meisterkrieger und ein Priester - 139 verloren gingen, verstand Bridei, dass er in der Vergangenheit zwar im Stande gewesen war, Erip oder Wid zu besiegen, die zweifellos fähige Strategen waren, aber um gegen den Berater des Königs anzukommen, würde es erheblich mehr Subtilität und Tücke brauchen. Trotz seiner verschwitzten Hände und des hin und wieder heftig klopfenden Herzens genoss Bridei diesen Kampf. Dennoch konnte er Tualas blasses Gesicht und umschattete
Augen nicht ganz aus seinen Gedanken verbannen. Er hatte versprochen, dass er da sein würde, um ihr jeden Abend eine Geschichte zu erzählen. Sie war beinahe mit Sicherheit bereits eingeschlafen. Selbstverständlich würde sie nicht mehr wach sein; es war nach Mitternacht. Er musste sich konzentrieren ... »Ah«, sagte Aniel leise. »Wenn ich nun diesen Zug mache, und dann diesen - ich glaube, dein Fürst sitzt in der Falle. Und er hat keinen Druiden mehr, der ihm mit Hilfe der Magie einen Ausweg verschaffen kann.« In diesem Stadium des Spiels stand Erip auf einer Seite hinter Bridei, Wid auf der anderen, und sie flüsterten ihm Ratschläge zu. Broichan hatte sich weder gerührt, noch hatte er etwas gesagt. Konzentration. Brideis Situation schien hoffnungslos zu sein; Aniel hatte seinen Druiden gefangen genommen und die meisten seiner winzigen Bewaffneten vom Brett geworfen. Brideis Fürst stand stolz allein, so groß wie der kleine Finger eines Mannes, und beinahe umzingelt von Aniels knöchernen Kriegern. Vom Rand des Bretts aus schauten die Weisen Frauen, seine und die des Feindes, zu. Die Weisen Frauen waren die Verkörperung der Göttin, der Leuchtenden ... der Leuchtenden, die Wege bahnte, die die Zukunft erhellte... »Eine unhaltbare Situation«, sagte Aniel. »Es wäre durchaus akzeptabel, wenn du dich jetzt geschlagen gibst, Bridei. Du bist ein sehr fähiger Spieler, und immerhin bist du, wie Broichan mir sagt, nicht einmal dreizehn Jahre alt. Ich schätze, deine Schlafenszeit ist längst gekommen.« - 140 Das war eine Beleidigung, so freundlich er auch klang. Man musste Beleidigungen über sich hinwegrauschen lassen. Das war eine von Donais Lektionen gewesen. Wenn ein Gegner im Kampf einem Dinge wie Du Sohn einer fetten, schlaffen Sau oder Blaugesichtiger Wilder zuschrie, durfte man nicht zulassen, dass es einen ärgerte, sonst hatte man einen Speer im Bauch, ehe man auch nur mit den Fingern schnippen konnte. Man musste es über sich hinwegschwappen lassen und unbeirrt weitermachen. Was in Donais Fall bedeutete, etwas zurückzubrüllen wie Karottenköpfiger Feigling, du verkriechst dich hinter den Röcken deiner Frau und dem anderen mit dem Speer zuvorzukommen. Also schau dir das Brett noch einmal genau an und denk über die Weisen Frauen nach. Dort war seine eigene, klein und ernst in ihrem Kapuzengewand aus geschnitztem Knochen und mondweiß. Und dort, beinahe ihr gegenüber, aber nicht ganz, stand Aniels Weise Frau, identisch bis auf die Farbe, denn ein Satz Figuren hatte eine leichte Verfärbung, eine Spur von Goldbraun auf der ursprünglichen Knochenfarbe. Erip und Wid gaben nun keinen Laut mehr von sich. Bridei bewegte die Weise Frau in den Weg der anderen. Erip schnappte nach Luft; Wid gab ein leises Zischen von sich. »Ein Opfer«, stellte Aniel fest. »Bist du sicher?« Die Leuchtende, die Wege bahnt. »Ich mache keinen Zug, wenn ich nicht sicher bin«, sagte Bridei. »Es tut mir weh, das tun zu müssen.« Aniel griff nach seiner eigenen Spielfigur und bewegte sie nach vorn, um Brideis kleine Priesterin vom Brett zu schubsen. »Manchmal wirkt dieses Spiel geradezu respektlos gegenüber den Göttern. Hoffen wir, dass sie es mit Humor betrachten. Ich glaube, wir sind fertig.« »Nicht ganz«, sagte Bridei und bewegte eine unbedeutende Figur, einen vergessenen Fußsoldaten, ein Quadrat - 141 weiter nach links. »Ich glaube, dein Fürst kann jetzt nicht mehr fliehen.« Aniel kniff die Augen zusammen. Erip und Wid beugten sich näher heran. Es stimmte. Welchen Zug der Berater des Königs auch machte, es gab nur ein Ergebnis: Brideis Fürst würde die Weise Frau seines Gegners vom Brett nehmen, und beim nächsten Zug würde sein einfacher Speerkämpfer sich um Aniels Fürst kümmern und das Spiel gewinnen. Bridei hoffte sehr, dass er Aniel nicht beleidigt hatte und dass Broichan nicht zornig werden würde. Erip und Wid waren, ihrem Grinsen nach zu schließen, außer sich vor Entzücken. Eine Spur von Missmut zeigte sich auf Aniels gefassten Zügen, und die vielen müden Falten auf seiner Stirn wurden noch mehr. Er starrte das Brett an, wie es jeder wahre Spieler im Augenblick der Niederlage tut, und versuchte sich zu überzeugen, dass ihm nicht irgendwo ein Faktor entgangen war, der ihm immer noch einen Triumph erlauben würde. Dann sah er wieder Bridei an, und einen Augenblick später lachte er leise. »Schau nicht so verzweifelt drein, Junge, ich werde dir nicht den Kopf abbeißen! Ich bin hin und wieder besiegt worden, aber ich gebe zu, noch nie von einem Jungen deines Alters. Du hast dich sehr, sehr gut geschlagen. Ich muss müder sein, als ich dachte. Sag mir, was hat dich auf diese Idee gebracht? Es war ein ungewöhnlicher Zug; selbstverständlich erlaubt, aber weit außerhalb des konventionellen Spielflusses.« »Erip und Wid haben mir beigebracht, wie man spielt. Alles, was ich weiß, habe ich von ihnen gelernt.« Bridei warf seinen alten Lehrern einen anerkennenden Blick zu, wie es sich für einen respektvollen Schüler gehörte. »Manchmal denke ich auch über diese Belehrungen hinaus. Ich meine, es ist immerhin nicht nur ein Brettspiel, oder? Es ist wie die wirkliche Welt, nur kleiner: Krieger, Fürsten und Göttinnen, und was immer in der wirklichen Welt passiert, kann einem - 142 Strategien für das Spiel liefern. Oder anders herum. Ich musste einfach nur daran denken, dass die Leuchtende uns mit ihrem Licht Wege zeigt und dass sie unerwartete Geschenke bringt, und dann sah ich den Zug vor meinem geistigen Auge, das war alles. Ich danke dir für das Spiel, Herr.« »Das Vergnügen war ganz meinerseits«, erwiderte Aniel höflich. »Ich werde wieder gegen dich spielen, wenn du fünfzehn bist. Wenn ich jeden Tag übe, sollte ich bis dahin in der Lage sein, dich zu schlagen. Komm, mein
Freund.« Er stand auf und wandte sich dem schweigenden Broichan zu. »Wir wollen uns noch ein wenig unterhalten, wie du vorgeschlagen hast, und dann muss ich wirklich schlafen. Du hast hier einen vielversprechenden Jungen.« »Ja«, sagte Broichan. Ob er damit der Einschätzung des Ratsherrn über Bridei zustimmte oder nur der Bemerkung, dass es Zeit zum Schlafen war, hätte man nicht sagen können. Am nächsten Tag setzte Donal als Erstes Übungen im Bogenschießen an, und Bridei hatte keine Zeit, nach Tuala zu sehen, wie er vorgehabt hatte, und sich dafür zu entschuldigen, dass sie wieder hatte auf ihre Geschichte verzichten müssen. Der Unterricht wurde zu einem Wettbewerb, denn einer von Aniels Leuten hatte den Ruf, ein hervorragender Bogenschütze zu sein, und erklärte sich bereit, gegen jeden anzutreten, der sich dafür interessierte. Als Ferat davon erfuhr, schickte er das Frühstück in abgedeckten Körben nach draußen: frisches Gerstenbrot, Honig in einem Krug und Scheiben vom Hammelbraten des vergangenen Abends. Die Küchendiener kamen ein zweites Mal und brachten Bier. Niemand konnte sich über solche Gastfreundschaft beschweren. Ein paar Männer waren selbstverständlich nicht da, denn sie mussten stets an den Grenzen von Pitnochie Wache halten, aber die meisten machten gerne mit. Sie vereinbarten Ziele und schössen in Paaren. Einer nach dem anderen wur- 143 den die Verlierer ausgeschlossen. Als der Wettbewerb weiterging, wählte man die Ziele kleiner und schwieriger. Die Gruppe der Besucher wuchs, als mehr Männer ausgeschlossen wurden; sie wurde auch lauter, weil die Aufregung zunahm. Breth, Aniels Leibwächter, war ausgesprochen geschickt. Er war ein hoch gewachsener, breitschultriger Mann, jung und stark, und bot einen schönen Anblick, wenn er seinen großen Eibenbogen spannte, zielte und schoss - etwa so, als beobachtete man ein wildes Tier, das seine Beute schlug, oder ein Segelboot, das vor dem Wind läuft. Bisher hatte er noch kein Ziel verfehlt. Ebenso wenig wie Donal, Enfret und Bridei. Fidich ließ sich von seinen Arbeiten auf dem Hof weglocken und kümmerte sich um die Ziele. Erip und Wid hatten sich herausgewagt, um zuzusehen; die Bewaffneten hatten den beiden alten Gelehrten leere Fässer aufgestellt, auf die sie sich setzen konnten, aber die beiden sprangen schon bald auf und jubelten wie jeder andere, wenn ein Schuss ins Ziel ging. Etwas später kamen auch Aniel und Broichan heraus, gefolgt von dem anderen Leibwächter des Beraters, um aus der Ferne zuzuschauen. Bridei warf einen Blick zu den Eichen hin, zu der Stelle, wo Tuala immer saß und zusah, wenn er und Donal hier im Hof hinter dem Stall arbeiteten. Sie war nicht da, und das machte ihm Sorgen. »Du bist dran, Bridei«, sagte Enfret. Diesmal war das Ziel ein Fichtenzapfen, der auf dem Steinwall am anderen Ende des südlichen umwallten Felds lag, dreihundert Schritt weit entfernt. Nur gut, dass die Schafe oben auf den Hügeln auf ihren Sommerweiden grasten. Bridei legte den Pfeil auf, spannte, zielte und ließ die Sehne los. Ein Schwirren, ein leises klatschendes Geräusch, und der Zapfen war vom Wall verschwunden. »Gut gemacht, Junge«, sagte Breth. »Ich wünschte, ich könnte behaupten, dein Lehrer gewesen zu sein. Selbstverständlich ist dein Bogen kleiner und leichter zu spannen.« - 144 »Es ist ein kleinerer Bogen mit weniger Kraft«, stellte Donal ruhig fest. »Hast du in seinem Alter einen Bogen dieser Größe benutzt?« »Er kann sich nicht mehr erinnern«, grinste Enfret. »Zu lange her.« »Beim letzten Durchgang des Wettbewerbs sollten nur Männer zugelassen sein«, sagte Breth. »Ich bin nicht hierher gekommen, um gegen Kinder anzutreten. Nur Männer mit gleich großen Bögen, damit es gerecht zugeht.« »Hast du Angst, dass der Junge dich mit seinem Kinderbogen besiegt?«, wollte Uven wissen. »Komm schon, gib dem Jungen eine Chance.« Fidich bereitete das neue Ziel vor, einen glitzernden Silberlöffel, der an einer Schnur vom unteren Ast einer einzeln stehenden Eiche hing. Die Sonne ließ das Metall aufblitzen und in die Augen des Schützen zucken. Der aufkommende leichte Wind ließ das Ding tanzen wie ein Irrlicht. Breth schoss als Erster und durchtrennte die Schnur, was das gewünschte Ziel war. Der Löffel fiel zwischen die Eichenwurzeln. Alle applaudierten, sogar Donal; es war ein ausgesprochen kluger Schuss gewesen. Fidich band den Löffel wieder an. Enfret schoss als Nächster und fehlte; sein Pfeil bohrte sich schaudernd in den Stamm des großen Baums. Der Bogenschütze murmelte leise etwas; keinen Fluch, wie Bridei hörte, sondern eine Entschuldigung. Man legte sich nicht leichten Herzens mit den Mächten einer Eiche an. Donal schoss als Nächster. Der Pfeil bewirkte, dass der Silberlöffel sich an seiner Schnur drehte, aber er fiel nicht. »Du bist dran, Bridei«, sagte Donal dann. Bridei war ziemlich sicher, dass er es tun konnte. Dann würde es noch ein Ziel geben, und noch eins, und irgendwann würde er Breth demütigen, indem er siegte, oder Breth würde der Sieger sein und er selbst ein guter Verlierer, denn seine Jugend erlaubte ihm zu verlieren und dennoch gut da-
- 145 zustehen. Es war tatsächlich ungerecht. Er warf einen Blick den Hügel hinauf zu der Stelle, wo Broichan, blass in seinem schwarzen Gewand, neben Aniel stand und zusah. Es war möglich, dachte Bridei, dass Sieg bei diesem Wettbewerb nicht das Richtige war. Breth war ein Besucher, ein Gast und ein fähiger Mann, dessen Ruf man bedenken musste. Öffentlich vor seinem Kameraden und Aniel zu verlieren, würde ihn zutiefst beschämen. War das die kurzfristige Befriedigung für Bridei wert? Außerdem hatte Breth Recht gehabt, Brideis Bogen war viel leichter zu spannen. Andererseits war es nicht gut zu lügen, und absichtlich zu verlieren war ein bisschen wie eine Lüge. Tuala hätte gewusst, was das Richtige war. Selbst mit sechs Jahren hatte sie diese Begabung, schlichte Wahrheiten in ein paar wohl gewählte Worte zu kleiden. Aber Tuala war nicht hier. Der Platz unter ihrem Lieblingsbaum war leer. Bridei spannte den Bogen. Der Wind war auf seiner Seite und abgeflaut; das Ziel bewegte sich beinahe nicht mehr. Alle schwiegen nun. Bridei warf einen Blick zu Donal und hoffte auf eine Andeutung. Donais Lippen zuckten in einem kleinen Lächeln. Er schüttelte den Kopf so geringfügig, dass kein anderer es bemerkt hätte. Es hätte bedeuten können: Schieß lieber daneben. Oder vielleicht auch nur: Das hier ist dein Problem, erwarte keinen Rat von mir. Es zählte nicht. Bridei wusste, was das Richtige war. Man gewann nicht die Loyalität eines Mannes, man beeinflusste ihn nicht, das Richtige zu tun, indem man ihn vor seinen Freunden schwach aussehen ließ. Manchmal war es gut zu siegen, aber es gab Ausnahmen. Man musste lernen, welche Wettbewerbe wichtig waren und welche dem größeren Ganzen geopfert werden konnten. Bridei seufzte, sah das hängende Silber wie ein Aufblitzen von Mondlicht im dunklen Laub der Eiche, und ließ die Sehne los. Sein Pfeil traf den Löffel mit einem leichten metallischen Klirren und fiel unter dem Baum auf den Boden. Beinahe so- 146 fort kam wieder Wind auf und machte das Ziel zwischen den rauschenden Blättern nun beinahe unsichtbar. Man konnte gerade noch erkennen, dass es immer noch intakt war. »Oh, was für ein Pech, Bridei!«, rief Erip. »Du warst so nahe dran.« Donal, der die Regeln der Gastfreundschaft sehr genau kannte, gratulierte Breth als Erster und schlug vor, einige von ihnen sollten in den nächsten Tagen auch Wettbewerbe im Schwertkampf oder im Ringen durchführen. Andere drängten sich um sie, schlugen dem Sieger auf den Rücken und lobten ihn. Breth grinste nun; sein Stolz war gerettet, und er schüttelte hier eine Hand, machte da einen Witz. Es war ein guter Wettbewerb gewesen. Und der Junge hatte erstaunlich gut abgeschnitten. Er würde einmal ein wirklich guter Schütze werden. Donal hatte mit ihm gute Arbeit geleistet. Als die anderen weg waren, sammelten Bridei und Donal die Pfeile und die diversen Ziele ein. »Bridei?«, fragte Donal. »Was?« »Würdest du jemals schlechter schießen, als deine Fähigkeiten dir gestatten?« Bridei hatte Zeit gehabt, über seine Antwort nachzudenken, denn er wusste, dass Donal ihm diese Frage früher oder später stellen würde. Sein Lehrer kannte ihn zu gut, um diesen Fehlschuss anders zu interpretieren. »Würdest du je einen deiner Schüler ermutigen, etwas falsch zu machen?«, fragte er zurück. »Das hängt von den Umständen ab.« »Dann ist das meine Antwort.« »Es könnte eines Tages den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen«, stellte der Krieger fest. »Deines Lebens, nicht das des anderen Mannes.« »Wenn es um Leben und Tod ginge, würde ich ganz bestimmt nicht daneben schießen«, erklärte Bridei. »Aber wenn es nur um Stolz geht, würde ich das in die Gleichung - 147 einbeziehen. Und mich dann entscheiden, was ich tun sollte.« »Mhm«, sagte Donal, zog einen Pfeil aus dem Boden und packte ihn zu den anderen. »Ich hätte nicht tun können, was du heute getan hast. Das habe ich nicht in mir.« »Du brauchtest es auch nicht. Du hast ohnehin daneben geschossen.« Bridei grinste. Donais Lächeln war eher eine Grimasse. »Warte, bis dieser Breth sieht, wie gut ich mit dem Stab bin. Er wird am Boden liegen, bevor er weiß, wie ihm geschieht. Und jetzt geh; der Unterricht fällt nicht aus, nur weil der Berater eines Königs im Haus weilt. Die beiden alten Schurken lauern dir sicher schon irgendwo mit einer Dosis lange vergessener Geschichte auf. Verschwinde.« »Donal?« »Was?« »Hast du Tuala in den letzten Tagen gesehen? Ich weiß, wir hatten alle viel zu tun, aber sie war gestern nicht beim Abendessen, und auch nicht vorgestern, und Brenna ebenfalls nicht. Und sie ist heute früh nicht hier.« »Nun«, sagte Donal schließlich, »das Mädchen ist im Augenblick nicht hier. Sie macht einen Familienbesuch. Mit Brenna.« Bridei wurde plötzlich kalt. Donais Tonfall war zu lässig, die Antwort kam zu glatt heraus. »Sie ist weg?«, fragte er und bemühte sich, das zu begreifen. »Was für ein Besuch? Was für eine Familie?« Tualas Familie befand sich hier. Was hatte Broichan getan?
»Immer mit der Ruhe, Junge. Broichan hat Brenna ein paar Tage freigegeben, damit sie ihre Mutter am Eichenhügel besuchen kann, das ist alles. Tuala ist mitgegangen, und Cinioch passt auf die beiden auf. Sie werden inzwischen schon ihr Ziel erreicht haben.« »Er hat sie weggeschickt.« Bridei bemerkte, dass er die Fäuste ballte; er zwang sich, sie wieder zu entspannen, aber - 148 er konnte nichts gegen den Zorn tun, der in ihm immer stärker wurde. Kein Wunder, dass Tuala so traurig und still gewesen war. Kein Wunder, dass er geglaubt hatte, sie hätte Geheimnisse vor ihm. Womit hatte Broichan ihr gedroht, dass sie nichts verriet? »Du hättest es mir sagen sollen«, fügte er hinzu. »Und gegen einen Befehl deines Pflegevaters verstoßen? Er hat uns angewiesen, es dir gegenüber nicht zu erwähnen, Bridei, nicht bevor Tuala schon auf dem Weg ist. Er hätte es dir selbst gesagt, wenn du lange genug gewartet hättest.« »Warum tut er das?«, wollte Bridei wissen. »Warum schickt er sie weg?« »Damit du dich Broichans Gästen vorstellen kannst, ohne dabei abgelenkt zu werden. Es ist wichtig, Bridei. Dein Pflegevater möchte, dass du einen guten Eindruck machst. Und hör auf, so mit den Zähnen zu knirschen, das macht mich nervös.« »Sie war traurig. Sie wollte nicht gehen.« »Hat sie das gesagt?« »Das konnte sie ja nicht! Broichan hat ihr gedroht, damit sie nichts sagt. Sie ist erst sechs, Donal. Ohne eine Gute-Nacht-Geschichte kann sie nicht einschlafen. Sie fürchtet sich im Dunkeln.« »Brenna ist bei ihr.« »Und sie wird Mittsommer verpassen. Das Ritual.« Donais Mundwinkel zuckten. »Vielleicht war es das, was Broichan wollte. Lass es gut sein, Bridei. Es ist nur eine Kleinigkeit. Es spielt bei den Plänen deines Pflegevaters keine große Rolle. Bridei?« Aber Bridei rannte bereits aufs Haus zu. Er wollte Rechenschaft; sein Pflegevater schuldete ihm zumindest eine Erklärung. Verflucht sollte er mit seinen geheimnisvollen Intrigen sein! Man drohte Kindern nicht, als wären sie nichts weiter als eine Ungelegenheit, die man aus dem Weg fegte, wenn sie einem nicht passte. Man schickte sie nicht weg, - 149 sodass sie einsam und verängstigt waren. Und ganz besonders zwang man sie nicht zu Geheimnissen vor ihren Freunden. Das würde er Broichan sagen, und wenn sein Pflegevater die Wahrheit nicht hören wollte, dann war das sein Problem. Rechtschaffener Zorn trieb ihm alles aus dem Kopf außer dem, was er sagen wollte. Aber als er um die Hausecke kam, blieb er abrupt stehen. Reiter standen vor der Tür, eine Gruppe von sechs Männern, die von Osten gekommen sein musste, wo man sie wegen der Birken zwischen dem Haus und dem Weg am See nicht sehen konnte. Broichan begrüßte sie gerade; Aniel stand mit einem seiner Leibwächter neben ihm. Die Neuankömmlinge waren Krieger, deren Gesichter mit Verwandtschaftszeichen und den Zeichen der Schlachten, an denen sie teilgenommen hatten, geschmückt waren. Sie trugen Kleidung, die für Bewaffnete unterwegs praktisch war, Mützen und Brustplatten aus Leder, Filzumhänge und schwere Waffenröcke, enge Hosen im gleichen dunklen Blau, weiche Reitstiefel und schützende Handschuhe. Alle hatten Waffen. Es gab auch ein Packpferd, aber das war nur leicht beladen. Die Pferde der Krieger waren stämmig, hatten klare Augen und sahen kräftig aus. Ein Mann, hoch gewachsen und mit lockigem Haar, stieg an den Stufen zum Haus ab und redete mit Broichan. Sie unterbrachen das Gespräch, als Bridei erschien. »Ah, ich bin sicher, das ist dein Pflegesohn. Ich grüße dich, Bridei! Ich bin Talorgen von Rabenbrunn. Es ist mir ein Vergnügen, dich endlich kennen zu lernen. Ich war ein Freund deiner Mutter, bevor sie sich in den Kopf setzte, Maelchon zu heiraten und nach Süden zu ziehen.« Wieder seine Mutter. Bridei ergriff die ausgestreckte Hand des Mannes. Talorgen hatte ein so entwaffnendes Lächeln, dass es unmöglich war, nicht zurückzulächeln und ihn mit echtem Wohlwollen zu begrüßen. - 150 »Ich habe einen Sohn in deinem Alter«, fuhr Talorgen fort. »Er heißt Gartnait. Er kommt gut mit Bogen und Schwert zurecht, aber nach allem, was ich höre, ist er nicht so gelehrt wie du.« »Schade, dass du ihn nicht mitgebracht hast, Herr«, erwiderte Bridei. »Ach, das machen wir ein andermal«, erwiderte Talorgen leichthin. »Seine Mutter wollte, dass er bei ihr bleibt, und es ist nicht einfach, ihr zu widersprechen.« »Komm«, sagte Broichan. »Ich zeige dir, wo du schlafen wirst. Deine Männer werden in der Scheune bei meinen übernachten. Bridei, könntest du sie zum Stall bringen und Donal bitten, ihnen alles zu zeigen?« Die dunklen Augen des Druiden betrachteten das Gesicht seines Pflegesohns forschend. Zweifellos, dachte Bridei, zeigte sich der Zorn immer noch in seiner Miene, obwohl Talorgens freundliche Art geholfen hatte, ihn zu zügeln. Bridei starrte nur gerade lange genug zurück, damit Broichan begriff, dass er wütend war, und weshalb. Dann wandte er sich Talorgens Männern zu und winkte ihnen, ihm zu Stall und Scheune zu folgen. Was er zu sagen hatte, würde warten müssen.
In der Abenddämmerung dieses Tages traf Broichans dritter Gast ein. Wenn Bridei an Druiden dachte, stellte er sich im Allgemeinen seinen Pflegevater vor, den Einzigen dieser Art, den er kannte: einen Mann von entschlossenem Denken und einschüchternder Intelligenz, einen Mann, der nicht nur von weltlicher Macht, sondern vor allem von einer tiefen Ehrfurcht vor den Mysterien geprägt war. Er hatte allerdings noch von einer anderen Art von Druiden gehört, der Art, wie sie in alten Geschichten vorkam. Sie waren wilde Bewohner von Eichenhainen tief im Herzen des Waldes; Männer, so versunken in der Überlieferung, so auf Magie eingestimmt, dass sie der Außenwelt häufig wie verrückt vorkamen, als wären sie über eine Grenze hinausgegangen und stünden nur noch mit einem Fuß in die- 151 ser Welt und dem anderen in der nächsten. So einer war Uist, den die Abenddämmerung zur Schwelle von Pitnochie brachte. Er kam auf einer milchweißen Stute, die sich mit einem zierlichen, tänzelnden Gang bewegte und ihren seidigen Schweif hin und her fegte. Uist hatte wirres, weißes Haar, geflochten wie das von Broichan, aber nicht annähernd so ordentlich; in den Zöpfen steckten Federn, Zweige und Samenkapseln, und hier und da hatten sich Strähnen gelöst, die ihm wild um den Kopf standen wie eine Strahlenkrone. Er roch nach Moschus wie ein Waldtier. Uists Züge waren schwer zu beschreiben, seine Augen von wechselhafter Farbe, das Gesicht einmal so, dann wieder so, als passte es sich ununterbrochen an, damit niemand sich erinnern konnte, wie er aussah. Er wirkte alt, aber er hielt sich gerade und entspannt, eine Hand an einem langen Birkenstab mit einem polierten Stein von hellstem Grau an der Spitze, der wie ein Ei Flecken in einer dunkleren Farbe hatte, und drei darunter angebundenen weißen Federn. Seine Kleidung wirkte fließend; sie bewegte sich auf seltsame Weise mit ihm, als hätte der Stoff ein Eigenleben, das über die Bewegungen des Trägers hinausging. Hier und da konnte man Risse im Stoff sehen, als wäre der Druide durch ein Dornengebüsch gegangen. Die Stute hatte allerdings nicht den geringsten Kratzer an ihrem schimmernden Fell. Uist versuchte nicht, irgendwen in ein Gespräch zu verstricken, und begrüßte auch niemanden außer seinem Gastgeber. Als man ihm ein Bett im Männerquartier bei Talorgen und Aniel anbot, erklärte er, er habe schon zu lange nicht mehr unter einem anderen Dach geschlafen als dem Wipfel einer Eiche und den Sternen. Er würde die Nächte im Wald verbringen und die Tage in Broichans Haus ertragen, wenn das unbedingt nötig war. Er brauchte die Hände der Knochenmutter unter seinem Rücken, sagte er, und die Augen der Leuchtenden, die auf ihn herabschauten. Ohne das wür- 152 de er Pitnochie spätestens nach zwei Tagen verlassen müssen oder verrückt werden. »Du meinst wohl verrückter, als du bereits bist«, bemerkte Talorgen mit einem Lächeln, und der alte Druide zog die buschigen Brauen zusammen. Die Bemerkung kam Bridei alles andere als höflich vor, aber Uist sagte nur: »Oh, ich war für deine Art von Gesellschaft schon vor Jahren verloren, mein Freund, und sie fehlt mir kein bisschen. Vielleicht die Musik. Davon einmal abgesehen interessieren mich Königshöfe nicht. Das Leben in der Wildnis gefällt mir, und es gefällt auch denen, die mir nachts Dinge zuflüstern. Ich werde allerdings den Mond nicht anheulen, so viel kann ich dir versprechen.« Bridei wartete auf einen Moment, in dem er Broichan allein antraf. Aber sobald das Abendessen vorüber war, zog sich der Druide mit seinen drei Gästen in sein eigenes Zimmer zurück und schloss die Tür fest hinter ihnen, und zornig oder nicht, Bridei konnte dieses Gespräch nicht unterbrechen. Später kam Talorgen heraus und ließ sich am Feuer nieder, und bald schon hatten Donal, Uven und zwei andere Männer ihn in ein Gespräch über die Galen verstrickt. Das wiederum führte dazu, dass sie alle Messer, Becher und Schalen auf dem Tisch herumschoben, um einen großen strategischen Vorstoß über das westliche Ende des Großen Tals und bis hinter die Inseln darzustellen, einen Vormarsch, bei dem sie die Eindringlinge vor sich her trieben, zurück nach Erin, wo diese Missetäter hingehörten. Talorgen hatte erst vor kurzem gegen einige von Gabhrans Leuten gekämpft; Rabenbrunn, sein Territorium, lag westlich von Pitnochie und damit den Siedlungen des Feindes erheblich näher. Er hatte Informationen über die derzeitigen Stellungen der Galen, die neu für Donal waren, und sein Bericht über die wilden Scharmützel mit ihren vordersten Truppen schlug alle in seinen Bann. Als das vorüber war, löschten sie die Lampen, und es war Zeit, schlafen zu gehen. Es kam Bridei zu spät vor, um seinen Pflegevater noch auf- 153 zusuchen. Aber als er an Broichans Zimmer vorbeiging, um seine Kerze zu holen, bevor er in die Scheune ging, öffnete der Druide die Tür und kam heraus. »Du hattest mir etwas zu sagen«, stellte Broichan fest. Es war keine Frage. Brideis Zorn war nicht mehr so glühend wie zuvor. Talorgen hatte gesagt, er könne nach Rabenbrunn zu Besuch kommen, sobald Broichan das erlaubte, und die aufregende Aussicht darauf, einmal etwas anderes als Pitnochie zu sehen und seine Fähigkeiten im Zweikampf mit diesem Jungen namens Gartnait zu messen, hatte seine Stimmung erheblich verbessert. Aber er hatte die Ungerechtigkeit nicht vergessen, ebenso wenig wie sein Bedürfnis nach Rechenschaft. Es war niemand sonst in der Nähe, und Broichan hatte die Tür hinter seinen einflussreichen Gästen geschlossen. »Du hast Tuala weggeschickt«, sagte Bridei und benutzte dabei die Techniken, die ihm sein Pflegevater beigebracht hatte, damit seine Stimme ruhig und sein Körper entspannt blieb, obwohl es einen guten Teil des Zorns zurückbrachte, davon zu sprechen. »Sie war unglücklich, das habe ich ihr angesehen. Und du hast allen
verboten, es mir zu sagen. Das war ungerecht.« Broichan wartete schweigend und betrachtete seinen Pflegesohn, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich glaube, ich habe eine Erklärung verdient«, sagte Bridei. Broichan antwortete nicht. Sein Schweigen konnte Furcht erregend sein, aber im Lauf der langen Jahre seiner Erziehung hatte Bridei gelernt, damit zurechtzukommen. »Warum sind diese Leute hier?«, fragte er, als er zu dem Schluss kam, dass eine direkte Frage erforderlich war. »Und warum sollen sie Tuala nicht sehen? Schämst du dich ihrer?« Broichan verschränkte die Arme. »Du bist zornig«, stellte er fest. »Atme gleichmäßiger. Beherrsche deinen Blick. Du musst lernen, solche Gefühle zu verbergen, denn wenn ein - 154 Mann mit anderen im Rat sitzt, kann es schaden, wenn man ihm ansehen kann, wie er empfindet.« Bridei glaubte, seine Gefühle recht gut beherrscht zu haben. Zumindest schrie er nicht und warf keine Gegenstände, wie es Ferat manchmal tat. »Wirst du meine Fragen beantworten?«, fragte er. »Meine Gäste sind hier, um dich kennen zu lernen. Um dich zu beobachten und einzuschätzen, was du bisher gelernt hast. Es ist äußerst wichtig, dass du dich von deiner besten Seite zeigst. Tuala wird zurückkehren, wenn sie abgereist sind. Es ist unangemessen, dass das Mädchen sich zu solchen Zeiten hier aufhält. Sie gehört nicht hierher.« »Sie ist ein Teil von Pitnochie«, widersprach Bridei. »Sie gehört zu mir.« Etwas, das Bridei nicht deuten konnte, zuckte über Broichans bleiche Züge. »Ich hätte dich beinahe für einen Mann gehalten, Bridei«, sagte der Druide. »Du zeigst an diesem Abend, dass du immer noch ein Kind bist. Dies ist eine triviale Angelegenheit, und du wirst in den nächsten Tagen all deine Energie brauchen. Wir werden nicht weiter über diese Sache sprechen.« Damit öffnete er die Tür, ging wieder in sein Zimmer, und das Gespräch war beendet. Es war alles andere als zufrieden stellend, aber Bridei wusste, dass er von seinem Pflegevater nicht mehr erfahren würde. Als er sich umgeben von schnarchenden Männern zum Schlafen hinlegte, erzählte er lautlos im Kopf eine Geschichte und hoffte, auf diese Weise sein Versprechen zu erfüllen, obwohl Tuala es nicht hören konnte. Es war einmal... Brenna hatte gesagt: »Geh nicht weiter als zu den Stechpalmenbüschen. Ich will dich nicht im Wald suchen müssen. Es gibt hier oben Wölfe.« Aber Tuala konnte nicht gehorchen. Es war anders hier; es war falsch. Das Haus war klein und rauchig, und Brennas Mutter betrachtete Tuala mit zusammengekniffenen, miss- 155 trauischen Augen. Brennas Tante war sogar noch schlimmer. Sie wollte Tuala überhaupt nicht ansehen und machte immer wieder dieses Zeichen, das bedeutete, dass sie Tuala für etwas Böses hielt. Brenna selbst war ungewöhnlich bedrückt. Ihre Mutter wollte Fidich nicht als künftigen Schwiegersohn, wegen seines Beins und weil er das Land eines anderen Mannes bebaute, nicht sein eigenes. Am ersten Abend hatte Brenna sich in den Schlaf geweint. Nur der Wald war der gleiche. Hier am Eichenhügel, auf dem Weg hinauf zu den hohen Gipfeln, die man die Fünf Schwestern nannte, umschlangen die Bäume das Häuschen wie ein Umhang. Brennas Vater hatte vom Holzhacken gelebt und die Stämme auf einem flachen Boot über den See gebracht. Er war im Wald gestorben, als er den Fall einer Esche falsch berechnet hatte. Tuala hielt das nur für gerecht, aber das sprach sie lieber nicht aus. Brennas Brüder hatten das gleiche Handwerk ergriffen, aber dann die Gelegenheit genutzt, Krieger für König Drust den Stier zu werden. Man konnte eine gute Axt auf unterschiedliche Weise nutzen. Nun beherbergte der Haushalt nur Frauen und war derzeit ein Ort der zornigen Worte und der Bitterkeit. Jeden Tag floh Tuala sofort nach dem Frühstück zu der Stelle, wo die dunklen, stachligen Blätter der Stechpalmen einen Schirm bildeten, der das Haus von dem wilderen Teil des Waldes trennte. Dort blieb sie eine Weile sitzen und wartete, bis Brenna nicht mehr nach ihr sah, und dann schlich sie sich davon, wobei sie sorgfältig darauf achtete, nicht ihren Rock an den Stacheln zu zerreißen und ihr Haar nicht in allzu große Unordnung zu bringen. Ein Stück weiter hügelaufwärts fand sie eine kleine Senke zwischen den Wurzeln einer uralten Eiche, eines Baums, der ihrem Lieblingsbaum in Pitnochie ganz ähnlich war. Wenn sie ihren Rock fest um sich zog und sich ganz klein machte, passte sie dort hinein und fühlte sich, als wäre sie ein Teil des Baums und der Baum ein Teil von ihr. Wenn sie angestrengt lauschte, glaubte sie, eine Art - 156 Herzschlag im Baum zu hören, stark und tief; sie hörte eine Stimme, eine gewaltige, träge, alte Stimme, die ihr etwas sehr Bemerkenswertes und Weises erzählte. Was hatte dieser Baum alles gesehen, in all den Jahren, in denen er den Hügelabhang mit seinen Wurzeln festgehalten und den kleineren Pflanzen mit seinem erhabenen Wipfel Schatten gespendet hatte? Es gab so viele Geschichten aus der Zeit, in der er über dem Tal gewacht hatte, Geschichten von Liebenden, von Suchen und Reisen, Geschichten von großen Schlachten, glorreichen Siegen, bitteren Niederlagen: dieser Älteste der Bäume hatte alles in seine monumentale Geschichte aufgenommen und summte diese Geschichte nun Tuala vor, während er sie mit seinen Wurzeln wiegte. Manchmal konnte Tuala über und hinter der tiefen Stimme der Eiche auch andere Stimmen vernehmen, hoch, ätherisch und spöttisch,
oder leise, raschelnd und verstohlen. Sie versuchte, diese Stimmen auszuschließen. Abends erzählte sie sich die Geschichten der Eiche noch einmal, als Hintergrund zu Brennas unterdrücktem Schluchzen. Es war einfach nicht richtig. Nichts davon. Aber Tuala wusste, sie musste brav sein, was auch geschah. Wenn sie nicht brav war, würde Broichan sie nicht wieder nach Hause zurückkehren lassen, und dann musste sie vielleicht immer hier bleiben, wo niemand glücklich war und es keinen Bridei gab. Brenna war sehr entschieden gewesen, was die Notwendigkeit anging, dass Tuala sich nicht sehen ließ. Auf dem Weg hierher waren sie früh am Morgen aufgebrochen, hatten kaum auf den Sonnenaufgang gewartet, und Tuala hatte einen Umhang mit Kapuze getragen, damit man ihr Gesicht nicht sah. Es kamen nur selten Besucher, denn dieses Haus am Eichenhügel war ziemlich abgelegen. Dennoch, Brenna war sehr deutlich gewesen. »Broichan will nicht, dass jemand dich bemerkt. Ich werde dich nicht im Haus einsperren, das wäre zu viel verlangt von einer Sechsjährigen. Aber du darfst nicht mit Fremden sprechen. Kein Wort, hast - 157 du verstanden? Wenn du siehst, dass jemand den Weg entlangkommt, kommst du sofort nach drinnen. Es ist sehr wichtig, Tuala. Wenn jemand auf dich aufmerksam werden sollte, werden wir beide Ärger bekommen.« »Mach dir keine Sorgen, Brenna.« Tuala hatte das ganz ernst gemeint, denn sie hatte die dunklen Ringe unter den geröteten Augen der jungen Frau bemerkt. »Ich werde brav sein.« Am dritten Tag hockte sie wieder unter der Eiche, mit einem Ohr am Stamm, und lauschte mit geschlossenen Augen. Ihr Kopf war voll von der dunklen, trägen Stimme des Baums. Dann bemerkte sie plötzlich, dass sich etwas verändert hatte. Tuala öffnete die Augen. Jemand saß da, ganz ähnlich wie sie selbst, eine grau gewandete, stille, schattenhafte Gestalt, die ein Stück weiter um den Baumstamm herum saß und sich bequem gegen einen niedrigen Bogen knorriger Wurzeln lehnte. Wer immer das war, hatte bei seiner Ankunft keinen Laut verursacht. Tualas Kopfhaut prickelte. War das einer vom Guten Volk, eines jener Wesen, die sie mitten in der Nacht auf Brideis Schwelle gelegt hatten? Zählte ein solches Wesen als ein Fremder? Während sie die Gestalt noch reglos anstarrte, drehte diese den Kopf, und Tuala sah, dass es eine alte Frau war, nicht mit einem faltigen Gesicht wie Wid, sondern mit kleinen, ausgeprägten Zügen, einer gekrümmten Nase und dunklen Augen wie polierte Obsidianperlen. Tuala hätte nicht sagen können, ob es sich um eine Menschenfrau oder etwas anderes handelte. Sie hielt ihr Versprechen an Brenna und sagte kein Wort. »Guten Morgen«, sagte die Fremde. Es schien irgendwie unhöflich, nur mit Schweigen zu reagieren. Tuala nickte. »Ein schöner Platz zum Lauschen; gut für dich, ihn gefunden zu haben. Und ein schöner Platz für eine Reisende, - 158 um ihre Füße ein wenig auszuruhen. Du hast doch nichts dagegen, wenn wir ihn uns eine Weile teilen?« Tuala schüttelte den Kopf. »Du bist vorsichtig«, stellte die Fremde fest. »Das verstehe ich. Ich möchte mich vorstellen. Ich heiße Fola. Ich bin nicht von deiner Art; das siehst du wohl. Aber du läufst trotzdem nicht weg.« Tualas Herz setzte beinahe aus. Nicht von deiner Art... das bedeutete, dass sie tatsächlich zum Waldvolk gehörte, diesen tückischen Geschöpfen, die einem einen kurzen Blick auf eine weiße Hand oder einen flatternden Flügel gewährten, einen Schatten eines spinnennetzfeinen Umhangs oder einen Schimmer silbernen Haars, und wenn man versuchte, genauer hinzusehen, waren sie weg, als hätte es sie nie gegeben. Aber nein, das war falsch. Sie selbst, Tuala, war aus dem Wald gekommen. Sie war diejenige, die anders war. Diese Frau, Fola, stammte aus der Menschenwelt und glaubte, über ein Kind des Guten Volkes gestolpert zu sein. Worte der Erklärung lagen Tuala auf den Lippen: Ich wohne bei Menschen. Ich wohne im Haus eines Druiden, aber sie schwieg. »Redest du heute nicht?«, fragte Fola ruhig. »Ich nehme allerdings an, dass du mich verstehen kannst. Ich habe viele interessante Dinge zu erzählen; das gehört zu meiner Arbeit - ich lehre die Jungen so viel Weisheit, wie ich kann. Die Welt verändert sich schnell. Dinge geraten leicht in Vergessenheit, wenn wir nicht an ihnen arbeiten.« Wieder nickte Tuala. Sie hatte etwas ganz Ähnliches von Bridei gehört. Er hatte ihr erzählt, dass im Süden viele Menschen die Rituale zu Ehren der Götter nicht mehr vollzogen; dass die Menschen die Weisheit der Ahnen vergaßen. »Hier im Wald erfährst du wahrscheinlich wenig von diesen Dingen«, fuhr Fola fort und verschränkte die kleinen Hände vor den Knien. Für eine erwachsene Frau war sie erstaunlich klein, klein genug, dass Tuala sich nicht fürchtete. - 159 Sie war selbst so viel kleiner als jeder andere in Pitnochie, selbst Bridei. »Die Geschichte ist kostbar, Rituale sind kostbar. Wenn man den Faden der Abstammung, wenn man die Geschichten verliert, driftet man ohne Identität einher. Wie alt bist du, Kind? Vielleicht ist das eine alberne Frage; ihr zählt die Zeit nicht, wie wir es tun.« Tuala hob eine Hand, fünf Finger, und den Daumen der anderen Hand. »Ah. Sechs Jahre alt. Ein hervorragendes Alter. Mit einem Ohr kannst du immer noch die Magie von Erde, Himmel und Meer in ihrer wahren, reinsten Form hören; mit dem anderen kannst du beginnen, eine konventionellere Art des Wissens zu lernen: Logik, Urteilsvermögen, Zahlen, Sprachen und Zeichen. Oder du würdest es jedenfalls tun, wenn du ein Menschenkind wärst und man dir die Möglichkeit dazu gäbe. Meine
jüngsten Schülerinnen sind nicht viel älter als du. Ich sehe, das interessiert dich; es lässt deine Augen blitzen. Du möchtest gerne lernen?« Tuala nickte heftig. Sie hatte die Hände jetzt fest gefaltet. Das hier war aufregend; sie konnte es kaum erwarten, Bridei davon zu erzählen. »Ach«, sagte Fola nachdenklich. »Wenn es doch nur unter uns einen Platz für eine von deiner Art gäbe, wie viel könnten wir lernen, sowohl du als auch ich ... aber ich würde so etwas selbstverständlich nie versuchen. Hab keine Angst. Es gibt nichts Grausameres, als ein Kind von allem wegzubringen, was es kennt und liebt, nur weil jemand das für das Beste hält. All meine Schülerinnen sind freiwillig zu mir gekommen. Man kann nicht lernen, wenn das Herz nicht dabei ist. Selbstverständlich gibt es Leute, die behaupten, Erziehung sei an ein Mädchen nur verschwendet.« »Das ist falsch!«, brach es aus Tuala heraus, denn dass Broichan ihre Wünsche so abgetan hatte, hatte eine Wunde gerissen, die noch nicht geheilt war. »Ich wollte lernen, und das hätte ich auch tun können - Erip und Wid hätten nichts - 160 dagegen gehabt -, aber er wollte mich nicht lassen!« Dann schloss sie schnell den Mund, aber es war zu spät. Sie hatte ihr Versprechen gebrochen. Sie hatte mit einer Fremden geredet. Etwas an diesen Worten hatte eine Veränderung in Folas Blick bewirkt. »Wer hat dich nicht lernen lassen?«, fragte sie vorsichtig. »Komm, Kind, du kannst es mir ruhig sagen. Ich bin ungefährlich.« »Broichan«, flüsterte Tuala. Fola schwieg einen Moment, und dann fragte sie: »Und wer ist dieser Broichan? Dein Vater?« Tuala schüttelte den Kopf. »Nein, er ist Brideis Pflegevater. Und Bridei erhält eine Erziehung, er verbringt den ganzen Tag damit, zu lernen, aber als ich gefragt habe, ob ich auch lernen könnte, wurde Broichan böse. Er sagte, ich brauchte nur zu wissen, wie man näht und kocht. Aber diese Dinge kann ich überhaupt nicht gut. Es ist ungerecht.« »Was kannst du denn gut?« »Ich kann nicht kämpfen oder Sport treiben. Bridei lernt das alles; er ist der beste Bogenschütze in Pitnochie. Aber ich kann gut reiten; Bridei hat es mir beigebracht. Und ich bin sicher, ich könnte lernen, wovon du gesprochen hast: Geschichte, Zahlen und Sprachen. Ich will nur dabeisitzen, wenn Erip und Wid Bridei unterrichten. Ich würde ganz still sein. Ich würde sie nie unterbrechen. Aber Broichan lässt mich nicht. Bridei versucht, mir Dinge beizubringen, aber er hat so viel zu tun, dass nie genug Zeit bleibt.« »Interessant«, sagte Fola. »Habe ich mich geirrt? Über das, was du bist?« Widerstrebend schüttelte Tuala den Kopf. »Und dennoch ist klar, dass du nicht hier im Wald lebst.« Wieder schüttelte Tuala den Kopf und erkannte, dass sie schon viel mehr gesagt hatte, als irgendwer wünschen konnte, wenn man von der alten Frau einmal absah. Vielleicht war diese Fola nicht, was sie sagte. Vielleicht war sie eine Fein- 161 din, die versuchte, eine Falle zu stellen. Hatte nicht jemand vor langer Zeit versucht, Bridei umzubringen? »Wie heißt du, Kind?« »Tuala.« Ein Name konnte jetzt kaum mehr etwas ändern. »Ein hervorragender Name, ein Name für eine Prinzessin. Dieser Broichan hat dich falsch eingeschätzt, glaube ich. Männer neigen dazu, selbst die intelligenteren. Und jetzt sag mir, wenn du in Pitnochie wohnst, was machst du dann ganz allein hier auf halbem Weg zu den Fünf Schwestern mitten im Wolfsland?« »Du bist auch ganz allein mitten im Wolfsland«, sagte Tuala. »Ich bin erwachsen und kann auf mich aufpassen. Ich bin nur den Göttern Rechenschaft schuldig«, sagte Fola leise. »Du bist, wie du selbst sagtest, sechs Jahre alt und nicht das wilde Wesen, für das ich dich zunächst gehalten habe, sondern du gehörst zum Haushalt eines Druiden. Sag mir, hat er dich weggeschickt?« Ein Nicken. »Ah ja. Das kann ich mir gut vorstellen. Du bist ihm peinlich. Er hat dich aufgenommen - so weit wollte er gegen die Regeln verstoßen -, aber es ist ihm zu viel, dass andere es erfahren. Typisch Mann; stets an Konventionen gebunden.« Eine Sache bedurfte der Verbesserung. »Broichan hat mich nicht aufgenommen. Es war Bridei. Die Leuchtende hat ihm gezeigt, wo er mich finden konnte.« Fola hörte aufmerksam zu. »Bridei«, sagte sie nachdenklich. »Der Junge?« Tuala nickte. »Er ist größer als ich«, sagte sie, »und er kann alles wirklich gut. Broichan sagt, ich wäre im Weg. Er sagt, ich störe seine Erziehung.« »Tatsächlich? Nun, vielleicht lag darin ein wenig Wahrheit. Ich nehme also an, dass du über Mittsommer wegbleibst?« »Woher weißt du das?«, fragte Tuala herausfordernd. »Und woher weißt du, dass Broichan ein Druide ist?« - 162 »Ich bin eine Weise Frau, Tuala. Es ist meine Aufgabe, Dinge zu wissen. Und jetzt«, sie stand auf und schüttelte ihren langen grauen Umhang aus, »muss ich mich wieder auf den Weg machen und hoffen, dass die Wölfe
keinen Hunger haben. Oh, ich habe hier etwas, das dir vielleicht gefallen wird. Wo steckt es nur?« Fola hatte ein Bündel dabei, ein großes Tuchbündel, das mit Schnüren gebunden war. »Da ist es«, sagte die Weise Frau, griff in eine Seitentasche und holte etwas Pelziges, Graues und eindeutig Lebendiges heraus. »Ich habe sie unterwegs gefunden. Ich habe schon eine Katze, und Schatten hat nichts für Eindringlinge übrig. Diese hier sollte zu dir passen; sie hat etwas sehr Unabhängiges an sich.« Tuala warf einen einzigen Blick auf das weiche Fell des Geschöpfs, auf die hübsche rosa Nase und die großen, seltsamen Augen, und war sofort verliebt. Sie streckte die Hände aus und zog das Kätzchen, das sich trotz seiner langen Gefangenschaft nicht wehrte, liebevoll an die Brust. Der Schwanz des kleinen Tierchens war wie eine Bürste, sein Haar lang und fedrig. »Sie ist keine Bauernkatze, sondern ein wildes Ding, ein Geschöpf des Waldes«, sagte Fola. »Ich denke, sie wird mit dir gehen, wie sie mit mir gegangen ist. Sie erkennt ihresgleichen. Und jetzt muss ich mich wieder auf den Weg machen; es ist noch weit nach Pitnochie.« Tuala, ganz versunken in dieses wunderbare, unerwartete Geschenk, brauchte einen Augenblick, um zu reagieren. »Pitnochie? Du gehst nach Pitnochie?« Fola nickte und verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln. »In der Tat. Ich kenne deinen Druiden gut, aber ich muss diesen Jungen, seinen Pflegesohn, erst kennen lernen. Du allerdings warst wirklich eine Überraschung für mich. Soll ich jemandem in Pitnochie etwas von dir ausrichten?« Tuala hatte viele Botschaften. Für Bridei: Du fehlst mir. Ich vermisse die Geschichten. Für Broichan: Ich will wieder nach Hause. Aber keine davon konnte sie ausrichten lassen. Tuala - 163 balancierte das Kätzchen mit einer Hand, griff in den Beutel an ihrem Gürtel und holte ein Stück Band heraus, das einmal blau gefärbt gewesen, aber nun vollkommen ausgebleicht war. Ihr Haar hatte sich längst aus dem Zopf gelöst und hing ihr wild um die Schultern. »Könntest du das hier Bridei geben? Wenn Broichan nicht dabei ist? Es würde ihm nicht gefallen, wenn ich Botschaften schicke.« »Ich soll es ihm einfach geben?« »Und sag ihm, dass ich hier glücklich bin.« »Du würdest diesem Freund eine Botschaft schicken, die eine Lüge ist?«, fragte Fola. Plötzlich wirkte sie größer, und ihre Miene war streng, beinahe so streng wie die von Broichan. Tuala schwieg. Das Kätzchen an ihrer Brust fühlte sich warm und tröstlich an; sein Schnurren vibrierte durch seinen ganzen Körper und drang bis in den ihren. »Du bist überhaupt nicht glücklich hier; ein einziger Blick, und dein Freund könnte das erkennen. Du möchtest nicht kochen und nähen, du möchtest eine Gelehrte sein. Warum sagst du Dinge, die nicht stimmen?« »Ich will nicht, dass er sich Sorgen um mich macht«, erklärte Tuala ernst. »Nur weil ich traurig bin, braucht er nicht auch traurig zu sein. Und...« Nein, das würde sie um keinen Preis erwähnen. Sie durfte ihr nicht von ihrem Versprechen an Broichan erzählen, dem Versprechen, von dem ihre gesamte Zukunft in Pitnochie abhing. »Also gut«, sagte die Weise Frau, steckte das Band weg und lud sich das Bündel wieder auf den Rücken. »Ich werde ihm sagen, dass ich dich getroffen habe und dass du an ihn denkst und dich darauf freust, wieder nach Hause zu kommen. Das ist ein Kompromiss, und es ist ehrlich. Ich werde keine unwahren Botschaften ausrichten.« »Danke«, sagte Tuala, als Fola sich bückte und einen Stab aufhob, der unbeachtet neben den Eichenwurzeln gelegen - 164 hatte. Sie bemerkte, wie das Weidenholz sich hob, um in die Hand der Weisen Frau zu gleiten. »Ich danke dir für die Katze und für die Botschaft. Es tut mir Leid, dass ich ...« Sie brach ab, denn sie wusste nicht, wie sie ihre Gedanken in Worte fassen sollte. »Es tut dir Leid, dass du mir misstraut hast? Oder dass du mich für etwas anderes gehalten hast, als was ich bin? Dafür solltest du dich nicht entschuldigen, Tuala. Ein wenig Vorsicht ist stets angeraten. Außerdem habe ich ebenfalls zunächst einen falschen Eindruck von dir gehabt. Pass gut auf das kleine Geschöpf auf. Es ist von einer seltenen Art, und es könnte dir eines Tages gut zustatten kommen. Und nun lebe wohl. Möge die Leuchtende deinen Weg erhellen, Kind.« »Möge die Knochenmutter dich in ihren Händen halten«, erwiderte Tuala. Das Muster dieser alten Abschiedsworte gehörte zu den ersten Dingen, die Bridei ihr beigebracht hatte. Fola lächelte. »Ich hoffe, wir werden uns eines Tages wieder sehen.« »Ich auch«, flüsterte Tuala, aber sie wusste, wie unwahrscheinlich das war, solange ihre Zukunft in Broichans Händen lag. Das Kätzchen regte sich; Tuala schaute es an und streichelte seinen winzigen Kopf, und als sie wieder aufblickte, war die Weise Frau verschwunden, als wäre sie nie mehr als ein Traum gewesen. Von hoch oben in den Zweigen der Eiche hatten zwei Augenpaare dieses Gespräch sehr interessiert beobachtet. Ein Augenpaar war klar und leuchtend, die Besitzerin silberhaarig, in Spinnennetze gehüllt und eindeutig weiblich. Die anderen Augen waren rund und nussbraun und gehörten einem rotwangigen Jungen, der dicht belaubte Ranken und Farnwedel trug. Beide waren keine Menschen. »Sie wächst schnell«, stellte das Mädchen fest. »Sie ist stark, schlau und weise, wie zu erwarten war.«
- 165 »Das war eine interessante Begegnung«, stellte der Junge fest. »Sie könnte einmal nützlich sein. Es wird eine Zeit kommen, in der die Angst des Druiden vor dem Einfluss dieses Kindes sich über seine Loyalität gegenüber der Leuchtenden hinwegsetzt. Und die Weise Frau will das Mädchen haben. Sie sieht seine Kraft und erkennt sein Potenzial.« »Du gehst zu weit«, sagte das Mädchen und warf das glänzende Haar zurück. »Tuala ist noch ein Kind, und selbst Bridei ist noch sehr jung. Beide werden lange und streng geprüft werden. Die Berufung, die den Jungen erwartet, verlangt die größte Selbstdisziplin, tiefste Ergebenheit an die Götter und noch wichtiger, die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen. Er muss lernen, seinem eigenen Urteilsvermögen zu trauen.« »Tualas Rolle dabei wird ebenso schwierig sein«, sagte der Junge. »Sie ist unglücklich. Sie wird bereits geprüft, und nicht von uns.« »Das da?«, schnaubte das Mädchen. »Eine kleine Reise in Gesellschaft einer freundlichen Amme? Sei nicht so weich! Warte, bis dieses kleine Ding zur Frau wird; dann werden wir sie wirklich prüfen. Bridei muss sich des Vertrauens der Leuchtenden als würdig erweisen, und Tuala muss es an Kraft mit ihm aufnehmen können. Beiden steht Schweres bevor. Sie wurden auserwählt, und die Göttin erwartet nichts Geringeres, als dass sie all diese Prüfungen bestehen.« Der Junge schwieg eine Weile und ließ die Beine von seinem hohen Zweig baumeln. Tief drunten saß Tuala im Schneidersitz mit der kleinen Katze auf dem Schoß, eine winzige Gestalt zwischen den knorrigen Eichenwurzeln. »Mhm«, murmelte er. »Es wird eine Zeit kommen, wenn Broichan sie wieder wegschickt, und dann wird es keine Rückkehr geben. Bevor er stirbt, wird der Druide darüber noch heiße Tränen weinen.« Das Mädchen sah ihn mit blitzenden Augen an. »Du hältst ihn für so blind?« - 166 »In dieser einen Hinsicht ist er es. Er ist vollkommen auf Bridei konzentriert, darauf, ihn vorzubereiten.« »Also gut«, sagte das Mädchen. »Dafür ist nicht mehr allzu viel Zeit. Komm! Wir brauchen uns hier nicht mehr aufzuhalten. Tuala wird in den Wald zurückkehren, an die geheimen Orte. Sie kann nicht anders. Sie liegen ihr im Blut, ebenso wie uns. Das können wir zu unserem Vorteil nutzen. Der Ruf der Verwandtschaft ist unsere Möglichkeit, ihr Kraft zu geben.« »Mag sein«, sagte der Junge mit einem letzten Blick nach unten. Die kleine Gestalt kehrte zurück zu den Stechpalmen, ihren neuen Schatz liebevoll wiegend. »Komm!«, rief das Mädchen abermals, und mit einem Aufblitzen und einem Flattern silbriger Flügel waren die Boten der Leuchtenden verschwunden. - 167 KAPITEL FÜNF Wir sind also endlich alle beisammen«, sagte Broichan. Sie saßen zu fünft in seinem Zimmer, und Aniels Leibwächter Breth stand auf der anderen Seite der Tür. Dahinter hatte der Haushalt sich zur Ruhe begeben. Draußen schien der Mond auf eine Sommernacht murmelnder Vögel und leichter Brisen; die Leuchtende war noch einen oder zwei Tage von ihrer Vollendung entfernt, und die Sonnenwende stand kurz bevor. An diesem Abend hing Verschwörung in der Luft. Diese fünf hatten lange auf eine solche Beratung gewartet. »In der Tat.« Aniel saß am Eichentisch und hatte Pergament, Gänsefeder und Tintenfass vor sich. »Und wir sollten das Beste aus dieser Gelegenheit machen, denn zumindest ich werde von meinen Feinden scharf beobachtet, und ich weiß, für Broichan gilt das Gleiche. Sollte auch nur ein einziges Wort über unser Zusammentreffen an die falschen Ohren gelangen, könnte das gesamte Unternehmen in Gefahr sein, und Jahre der Anstrengung wären verschwendet. Ich bin immer noch der Ansicht, dass wir von einem viel früheren Stadium an in die Öffentlichkeit treten sollten, vielleicht am Hof und mit König Drusts öffentlicher Unterstützung.« »Wir wissen, dass du das denkst, Aniel.« Fola stand vor dem Feuer, ihre schlanke, aufrechte Gestalt von den Flammen umrissen. Der tadelnde Blick in ihren dunklen Augen - 169 war einer, den sie häufig mit vernichtender Wirkung bei ihren widerspenstigeren Schülerinnen anwandte. »Wenn du deine eigenen Worte ernst nehmen würdest, würdest du keine Zeit damit verschwenden, dich darüber auszulassen, wie die Dinge hätten sein können, und dich stattdessen auf die Gegenwart und die Zukunft konzentrieren. Und ich kann dir versichern, ihr beiden habt die Gefahr nicht gepachtet. Ich bin immerhin die Lehrerin der Töchter der Mächtigen. Und nun sagt mir eins. Ich hatte noch keine Gelegenheit, den Jungen kennen zu lernen, weil ich so spät eingetroffen bin. Gebt mir euer Urteil, wenn ihr zu einem gelangt seid. Ist Broichans selbstzufriedene Miene gerechtfertigt?« »Immer gerade heraus, Fola«, sagte Talorgen mit leisem Lachen. »Nun, mir gefällt, was ich von dem jungen Bridei gesehen habe. Er spricht bereits wie ein Erwachsener, flüssig und dennoch umsichtig. Er weiß viel und hat keine Angst, sich in eine Debatte zu wagen, aber er kennt auch seine Grenzen. Und er kann ungewöhnlich gut mit einem Bogen umgehen.« Aniel lächelte kühl. »Er weiß, wann er gewinnen und wann er verlieren soll«, sagte er. »Ich glaube, mit der Zeit wird er sich zu einem jungen Mann entwickeln, der die Herzen der Menschen für sich gewinnen kann. Er ist noch jung; sein reifes Verhalten täuscht. In den nächsten Jahren werden seine Lektionen schwieriger sein. Die
Entscheidungen, denen er als Erwachsener gegenüberstehen wird, werden ihn schwer belasten; er muss die Kraft entwickeln, sie gefasst zu fällen.« Draußen stieß ein Vogel einen hohen, widerhallenden Ruf aus, als er über den Wald flog. Das Feuer spuckte, und Fola trat beiseite, damit die Wärme die Männer erreichte, denn selbst in dieser Sommernacht war es in Broichans Zimmer eher kühl. »Uist?« Fola zog fragend die Brauen hoch. Der alte Druide stand am Fenster und starrte durch den schmalen Schlitz nach draußen, als könnte er nur überle- 170 ben, wenn zumindest ein Teil von ihm immer noch frei von der Einengung menschlicher Behausungen, von Stein und Strohdach war. Als er sich ihnen wieder zuwandte, war sein Blick vage und unkonzentriert. »Es ist ein schwerer Weg für einen braven Jungen«, sagte er leise. »Ein Weg mit vielen Wendungen, mit Messern im Rücken, mit falschen Freunden und ungetreuen Verbündeten. Schlichte Ehrlichkeit, ein nobles Ziel, scharfsinniges Denken und Mitgefühl werden ihn relativ weit bringen. Der Junge kennt die alten Mächte, liebt und achtet sie. Dafür werden die Menschen ihn ehren. Sie werden zu ihm strömen, um ihm zu folgen. Das sollte euch freuen; es wird uns die Ergebnisse verschaffen, die wir in all diesen Jahren geplant haben. Aber Bridei wird dafür zahlen. Ich sehe, dass ihm eine Entscheidung bevorsteht, die auch den stärksten Mann in ganz Fortriu brechen würde. Vergesst das nicht, denn wenn das geschieht, wird er jeden Freund brauchen können.« Uist wandte sich wieder dem Fenster zu; ein Schauer kleiner Partikel löste sich von seiner Kleidung und rieselte auf den gut gefegten Boden des Zimmers. »Mein Pflegesohn wird stark genug für jede Entscheidung sein.« Broichans Stimme war tief und sicher. Uist widersprach ihm nicht. Nach einiger Zeit erhob Talorgen noch einmal die Stimme. »Mittsommer wird eine Prüfung sein. Die Götter zeigen uns vielleicht, ob der Junge der Zukunft würdig ist, die wir für ihn vorgesehen haben. Es wird viele Bewerber gegeben, wenn es so weit ist. Wenn wir sicher sind, dass Bridei der Richtige ist, müssen wir planen, was als Nächstes geschehen soll. Seine Erziehung war vernünftig, das wird bei jedem Wort, das er sagt, deutlich. Aber der Junge braucht jetzt mehr Gelegenheit...« »Seine Erziehung liegt in meinen Händen.« Broichans Tonfall gestattete keine Herausforderung. »Darüber waren wir uns einig, als wir uns entschieden, diesen Weg zu gehen. - 171 Es ist an mir festzulegen, welche Gelegenheiten Bridei erhält und wann.« »Talorgen hat nicht Unrecht«, sagte Aniel und sah Broichan an. »Du hast den Jungen hier lange genug verborgen, und du hörst dich beinahe an, als wäre dies deine persönliche Angelegenheit. Wir sind ein Rat von fünfen. Keiner von uns sollte das aus den Augen verlieren. Wir teilen die Verantwortung; wir teilen die guten oder schlechten Konsequenzen unseres Plans. Der Junge muss lernen, selbst zu denken. Donal sagt mir, dass Bridei nie auch nur in den Siedlungen am See war, nicht zu reden von Anwesen, in denen es andere Jungen seines Alters und seines Rangs gibt. Das wird er brauchen, wenn er ein Anführer sein soll. Du erziehst hier keinen Druiden, mein Freund, sondern einen König.« Das Wort blieb lange in der Luft hängen, voller Hoffnung und Gefahr. »Außerdem«, sagte Fola schließlich forsch, »muss er sich irgendwann bei Hof sehen lassen. Wenn nicht jetzt, so doch sicherlich in den nächsten Jahren. Er muss Drust bald vorgestellt werden. Die Gunst des Königs jetzt zu erwerben, kann Brideis Chancen später nur erhöhen. Es gibt andere junge Männer, die dem König näher verwandt sind. Carnach von Dornenband zum Beispiel. Mit einem unbekannten Kandidaten werden wir nicht weit kommen, so geeignet er auch sein mag.« »Kommt«, sagte Broichan, »wir wollen uns setzen und diesen Met miteinander trinken. Und ihr sagt mir ehrlich, was ihr denkt.« Es war der Berater des Königs, den er beobachtete, Aniel mit seinem vorsichtigen Blick und der zurückhaltenden Miene. »Wie lange haben wir noch? Weitere fünf Jahre? Sieben?« Aniel räusperte sich. »Wir müssen hoffen, dass es mindestens so viele sind«, sagte er, »oder dieser Junge, so geeignet er auch ist, wird einfach zu jung sein. Die Gesundheit - 172 des Königs lässt zu wünschen übrig; er neigt zu Erkältungen, und er hat Beschwerden beim Atmen. Dennoch, wenn nichts Ungünstiges geschieht, könnte er weitere sieben Jahre leben. Mehr, wenn die Götter uns wohlgesonnen sind.« »Wir sollten darum beten«, sagte Fola. Sie wandte Broichan ihren klugen Blick zu, und der Druide sah sie aus dunklen, undurchschaubaren Augen an. »Drust braucht dich am Hof, alter Freund«, fuhr die Weise Frau fort. »Er vermisst deine weisen Urteile, deine stets zutreffenden Ratschläge.« »Es gibt andere, die ihn anleiten können«, sagte Broichan entschlossen. »Aniel an vorderster Stelle; wer wäre besser geeignet? Drust kommt ohne mich zurecht.« »Es fiele ihm leichter, die einzelnen Fraktionen unter Kontrolle zu behalten und an der Front im Westen wirklich voranzukommen, wenn du an seiner Seite wärst«, stellte Aniel fest. »Er vertraut dir; das hat er immer getan, denn er weiß, dass deine Macht von den Göttern kommt. Mich toleriert er nur.« »Dann musst du daran arbeiten, seine Haltung zu ändern.« In Broichans Tonfall lag nun eine Spur von Schärfe, und Aniel kniff die Lippen zusammen. »Ich habe geschworen, dieser Aufgabe fünfzehn Jahre meines Lebens zu
widmen, und genau das werde ich tun, und mehr, wenn es sein muss. Drusts Befürchtungen sind eine Sache. Aber heute Abend sprechen wir von der Zukunft Fortrius, von nichts weniger als dem Überleben unseres Volkes.« »Gut gesprochen«, bemerkte Talorgen, »aber das alles wird nichts nützen, wenn die Gälen sich in zwei, vier oder fünf Jahren sammeln, um zuzuschlagen. Wie lange können wir auf unseren neuen König warten, wenn der alte langsam schwächer wird und unsere Feinde näher kommen? Deine Anwesenheit am Hof würde Drust neuen Mut geben. Dein Einfluss könnte vielleicht dazu führen, dass Circinn sich wieder an den Ratstisch setzt. Du würdest ein sichtbares Hindernis für alle darstellen, die die Herrschaft des Königs - 173 schwächen und die besten Möglichkeiten für sich selbst nutzen wollen. Der Junge könnte mit dir nach Caer Pridne kommen. Ich verstehe, dass er Schutz braucht, aber dafür könnten wir sorgen.« »Schutz hat das Gift nicht von meinen Lippen fern gehalten, als ich mich zum letzten Mal an den Hof von Drust dem Stier wagte. Schutz hat die Attentäter nicht davon abgehalten, in meinen Wald einzudringen. Ich habe nun bessere Vorkehrungen getroffen, aber wir sprechen hier über Angelegenheiten von großer Tragweite, und die Zeiten sind gefährlich. Bridei ist jung, jung und unschuldig. Er weiß nicht, was wir für ihn geplant haben; ich habe die wahre Identität seiner Mutter vor ihm verborgen. Er wird besser lernen können, wenn die schwere Last unserer Erwartungen nicht auf seinen Schultern liegt. Es ist nicht ratsam, ihn den Gefahren des Hofes auszusetzen; glaubt mir das.« Nun sahen ihn alle an. »Was ich tatsächlich glaube«, sagte Aniel recht spitz, »ist, was bisher unglaublich war: dass Broichan, der immer so distanziert war, seinen Pflegesohn lieb gewonnen hat und ihn einfach noch ein bisschen länger zu Hause behalten möchte. Solch weiche Gedanken könnten gefährlich sein, mein lieber Druide; sie könnten in den Weg unserer gemeinsamen Ziele geraten.« »Kommt schon«, sagte Uist, ohne sich umzudrehen. »Wir können uns keine Streitigkeiten leisten. Fola, du schlägst einen Kompromiss vor. Dann stimmen wir dem zu, und danach sollten die Götter ein für alle Mal die Entscheidung für uns treffen.« Fola faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Also gut«, sagte sie. »Er bleibt noch ein paar Jahre hier, denn du hast Recht, er ist immer noch jung. Aber von nun an erlaubst du Besucher. Vielleicht können Talorgens Kinder einen Sommer hier verbringen. Das wäre sicher ungefährlich. Und du lässt Bridei ein bisschen mehr nach draußen, mit angemessenem - 174 Schutz. Ein Junge sollte die Dorffeste erleben und ein wenig gute Musik und gute Gesellschaft genießen können. Die schwarze Krähe allein weiß, was für ein Familienleben du dem Jungen geboten hast - ein bedauernswertes Kind allein in diesem Haushalt voll säuerlicher Diener. Brideis Mutter wäre entsetzt. Es muss schwer genug für sie gewesen sein, sich von ihm zu trennen. Anfreda hat immer verstanden, wie wichtig der Glaube ist, welche Rolle die Macht des alten Wegs bei einer möglichen Vereinigung der Priteni und der Aufrechterhaltung der Kraft unseres Volkes spielt. Sie hat uns den Sohn gegeben, der am besten geeignet schien, die große Aufgabe zu erfüllen, die vor uns liegt: den weisesten, den stärksten, den, in dem ihr eigenes Blut am reinsten floss. Aber sie ist eine Mutter; es muss ihr schrecklich wehgetan haben, ihn wegzuschicken. Sie glaubte, dass er zusammen mit anderen Kindern aufwachsen würde, sonst hätte sie ihn uns niemals überlassen.« Broichan schwieg. »In einem oder zwei Jahren wirst du ihn zu Talorgen nach Rabenbrunn schicken«, fuhr die Weise Frau fort. »Er wird bis dahin ein junger Mann sein und einige Zeit im Haushalt eines Kriegsführers verbringen müssen. Dreseida ist eine Verwandte seiner Mutter; sie wird ihn sicher gern aufnehmen. Bis dahin wirst du ihm von seiner Abstammung und seinem Schicksal erzählt haben. Von dann an kann Talorgen ihn zusammen mit seinen eigenen Söhnen bei Hof vorstellen. Auf diese Weise wird der Junge nicht die falsche Art von Aufmerksamkeit erregen. Er wird selbstverständlich auch einige Zeit hier verbringen. Erip und Wid sind als Lehrer nicht zu übertreffen. Ich weiß nicht, wie du diese beiden alten Gauner aus ihrem selbst auferlegten Exil gelockt hast, aber du hättest es nicht besser machen können.« Broichan starrte ins Feuer, als hätte er sie nicht gehört. »Du machst dir Sorgen«, sagte Talorgen. »Bewaffne ihn mit Wissen und Fähigkeiten. Und gib ihm auch gute Leibwäch- 175 ter. Donal ist der Beste; er wird den Jungen begleiten. Ich werde andere liefern, selbstverständlich diskret. Er wird in Caer Pridne einfach als der Freund meines Sohns vorgestellt werden. Auf diese Weise können wir, denke ich, unnötige Aufmerksamkeit vermeiden.« »Wenn wir wüssten, welche Feinde wir fürchten und welche wir nur im Auge behalten müssen, wäre alles erheblich einfacher. Wenn der Zeitpunkt kommt, wird es mehrere wahrscheinliche Kandidaten für den Thron geben. Alle werden ihre Verbündeten haben. Alle werden verwundbar sein.« »Das liegt weit in der Zukunft«, sagte Fola. »Wir haben noch viel Zeit zum Planen. Und, sind wir uns einig?« »Lasst uns bis zur Sonnenwende warten.« Falls Broichan einen Augenblick unsicher gewesen war, war das nun vorbei; sein Tonfall war so bestimmend wie eh und je. »Wenn die Götter sprechen, wenn sie bestätigen, was wir
für wahr halten, dann soll es so sein, wie ihr sagt.« »Und wenn nicht?« Aniel zog fragend die Brauen hoch. »Wenn nicht, dann werde ich ihn zu seinem Vater nach Gwynedd zurückschicken«, sagte Broichan, ohne mit der Wimper zu zucken. »Und nun wollen wir uns zurückziehen; wir können uns morgen weiter unterhalten. Wenn ich mich recht erinnere, hat Talorgen sich zu einem Morgenritt verpflichtet. Mein Pflegesohn sorgt dafür, dass er beschäftigt ist. Gute Nacht, meine Freunde; möge die Leuchtende über eure Träume wachen.« Die Männer verabschiedeten sich nacheinander höflich. Fola jedoch blieb am Eichentisch sitzen, und als er ihren Blick sah, schloss Broichan die Tür hinter den anderen und setzte sich der Weisen Frau gegenüber. »Nun?«, fragte er. »Habe ich dich auf irgendeine Weise verärgert?« Folas Miene legte nahe, dass ihm ein Verhör bevorstand. »Verärgert? Nein, alter Freund. Aber du hast der Überraschung, die ich auf meinem Weg hierher ins Tal hatte, eine - 176 weitere hinzugefügt. Es gab heute Abend Bemerkungen darüber, wie isoliert Bridei aufgewachsen ist und dass er in einem Haushalt voll erwachsener Männer und Frauen keine Gesellschaft hat.« »Und?« »Das stimmt nicht, nicht wahr?«, sagte die Weise Frau, goss sich Met ein und füllte auch einen Kelch für den Druiden. »Es gibt nicht nur ein Kind in der Festung des rätselhaften und mächtigen Broichan, einstmals königlicher Magier und Berater. Es gibt zwei.« Broichan runzelte kaum wahrnehmbar die Stirn. Er sagte kein Wort. »Wie ist sie hierher gekommen?«, fragte Fola sanfter. »Ich habe eine kleine Geschichte über den Mond und die Wintersonnenwende gehört.« »Wer hat dir das erzählt?« Sein Ton war eisig. »Das ist unwichtig. Du schuldest mir eine Antwort. Brideis Erziehung ist nicht nur dein Privileg, so sehr dein Bedürfnis, alles selbst in der Hand zu haben, dich auch beherrschen mag, mein Freund. Die Götter haben diese Aufgabe uns allen übertragen. Und die Mitglieder unseres Rats lügen einander nicht an.« »Das habe ich auch nicht getan.« »Du hast uns die Wahrheit vorenthalten. Das ist das Gleiche. Das hier ist eine Angelegenheit, die die Zukunft des Jungen beeinträchtigen könnte. Du hättest es uns sagen müssen. Sie ist seit sechs Jahren hier, nehme ich an. Warum hast du sie behalten? Sentimentalität war nie Teil deines Wesens, und Mitgefühl gehört nicht zu deinen ausgeprägteren Eigenschaften.« Der Druide gestattete sich ein eisiges Lächeln. »Du bist wie immer sehr ehrlich, Fola.« »Ich sehe keine Notwendigkeit, dir gegenüber zurückhaltend zu sein. Du bist stark genug, die Wahrheit zu hören.« - 177 »Sag mir, wie du von dem Kind, dem Mädchen, erfahren hast. Sie ist jetzt nicht hier. Du kannst sie nicht gesehen haben.« »Du hast doch nicht etwa vor zu feilschen? Ein Austausch von Informationen, Stück für Stück?« Fola zog die Brauen in gekünsteltem Staunen hoch. »Würde ich so etwas wagen, wenn Fola ihren missbilligenden Blick auf mich richtet? Es war nur eine Bitte. Mein Haushalt hat in dieser Sache Geheimhaltung geschworen, wie auch in vielen anderen Dingen. Ich muss wissen, wer dieses Versprechen gebrochen hat. Es gibt in Pitnochie keinen Platz für Ungehorsam.« »Gilt diese Regel auch für Kinder?«, fragte Fola unbeschwert. »Alle müssen gehorchen. Es gibt keinen Bruch der Disziplin ...« Broichan hielt inne. »Was sagst du da? Bist du dem Mädchen selbst begegnet? Hat Tuala mit dir gesprochen?« »Tuala, sechs Jahre alt und dabei, mit bemerkenswerter Kraft gegen ihr Heimweh anzukämpfen«, sagte die Weise Frau und verschränkte die Arme auf dem Tisch. »Ich bin direkt an der Stelle vorbeigekommen, wo du sie hingeschickt hast, damit wir sie nicht sehen. Sie wollte ihr Versprechen nicht brechen, Broichan. Sie hat grimmig geschwiegen; es war nicht einfach, die Geschichte aus ihr herauszuholen.« »Sie wird ihre Strafe erhalten«, sagte der Druide ruhig. »Ihr Platz in meinem Haushalt ist gefährdet genug; das Kind mag klein sein, aber es versteht, worin die Strafe für Ungehorsam besteht.« »Und welche Strafe ist das?« Folas Tonfall zeigte nicht, was sie dachte. »Sie kann nicht länger in diesem Haushalt bleiben, wenn sie sich nicht an die Regeln hält.« »Und wohin willst du sie schicken?« Broichan runzelte die Stirn. »Du hast zweifellos gesehen, was sie ist. Die Geschichte stimmt: Das Kind wurde zu Mitt- 178 winter auf meine Schwelle gelegt, unter dem Vollmond. Bridei wachte auf und holte sie herein; er glaubt, dass die Leuchtende ihm dieses Kind anvertraut hat, dass es ein Geschenk der Göttin an uns war. Er hat meinen Haushalt mit schlichter Herdmagie auf seine Seite gezogen. Als ich aus Caer Pridne zurückkehrte, war sie das schlagende Herz des Hauses, und es war unmöglich, sie wegzuschicken.« »Ein Problem«, stellte Fola ruhig fest. »Komm, trink deinen Met und hör auf, so mürrisch zu sein. Ich verstehe deine Gefühle und deine Schwierigkeiten. Ich war nicht umsonst all diese Jahre Lehrerin junger Frauen. Mir ist
klar, dass das Mädchen große Zuneigung zu Bridei empfindet, und er verspürt zweifellos das Gleiche, basierend auf seiner Überzeugung, dass die Geister ihn zu ihrem Beschützer gemacht haben. Dass du ihm die Gesellschaft anderer Kinder vorenthalten hast, hat die Verbindung zweifellos noch gestärkt. Sie betrachten sich als Bruder und Schwester; sie brauchen einander, da sie beide keine Familie hatten.« »Als sein Pflegevater habe ich mein Bestes getan, den Jungen anzuleiten und zu unterstützen.« Broichans Stimme war angespannt. »Er hat die besten Lehrer und einen Haushalt, in dem all seine täglichen Bedürfnisse befriedigt werden.« »Wie traurig«, stellte Fola fest, »dass du das für ausreichend hältst. Warum hast du Tuala weggeschickt? Sie scheint ein stilles, höfliches Kind zu sein, das kaum stören würde, nicht einmal in Gesellschaft von vier Furcht erregenden Fremden.« »Komm schon, das ist ein wenig hinterhältig. Sie ist, was sie ist. Und darin besteht das Dilemma. Ich muss die Götter respektieren; ich kann mich nicht gegen die Leuchtende stellen, falls Brideis Theorie korrekt sein sollte. Ich habe ihm beigebracht, alles Leben zu achten und alle Wesen als Teil eines verflochtenen Ganzen zu betrachten. Also ist Tuala geblieben. Eine Kleinigkeit, wäre Bridei mein wahrer Sohn und für ein Leben als Magier oder Krieger bestimmt. Aber er ist - 179 nicht mein Sohn. Er ist der Sohn einer Prinzessin der Priteni, und sein Schicksal besteht darin, unser Volk anzuführen, wie es ein wahrer König tun sollte. Er ist unser auserwählter Kandidat. Was, glaubst du, hat es Anfreda gekostet, uns einen ihrer Söhne für diesen Zweck zu versprechen, noch bevor sie Fortriu verließ, um in einem fremden Land zu leben? Jeder Schritt von Brideis Weg ist geplant; jede Wendung dieses Wegs muss kontrolliert werden. Wenn seine Zukunft nicht von unserem Rat der fünf gelenkt wird, wird alles zerstört, und unsere traurige Heimat wird nie im alten Glauben vereint werden. Ich stimme zu, dieses kleine Mädchen wirkt harmlos. Aber sie ist das einzige unberechenbare Element in diesem Unternehmen, der einzige kleine Faktor, den wir nicht beherrschen können. Du weißt, wie launenhaft das Gute Volk ist. Wir können es uns wirklich nicht leisten, dass eine von ihnen sich in unsere Pläne mischt wie ein verzogener, verdrehter Faden in einem großen, perfekten Wandbehang.« »Dennoch«, sagte Fola ausdruckslos, »du kannst sie nirgendwo hinschicken. Wer würde sie aufnehmen? Wie kannst du sie verbannen, ohne das Vertrauen der Leuchtenden zu verlieren? Wie kannst du sie ausstoßen, ohne die Liebe und den Respekt deines Pflegesohns für immer zu verlieren? Kein Wunder, dass du so mürrisch dreinschaust.« »Ich spüre Gefahr in diesem Kind. Sie ist nur ein winziges Ding, aber sie verfügt über eine Kraft, die man ihr zunächst nicht zutraut. Sie fürchtet mich und misstraut mir, das ist ihr deutlich anzumerken. Es kommt mir so vor, als wartete sie nur darauf, sich wie ein wildes Tier umzudrehen, um die Hand zu beißen, die sie füttert. Ein solches Geschöpf könnte unsere Pläne untergraben. Wenn sie unangemessenen Einfluss auf Bridei nimmt, könnte sie ihn von seinem Plan ablenken.« »Vielleicht langweilt sie sich«, spekulierte Fola. - 180 »Langweilen?« In der Stimme des Druiden lag unendlicher Unglaube. »Unmöglich. Niemand hat hier Zeit, untätig zu sein.« Fola sah ihn an. »Mein Lieber«, sagte sie. »Ich verspüre so etwas wie Mitleid für Bridei, und noch mehr für Tuala, denn all dein Gerede von wilden Tieren und Beißen sagt mir, dass du überhaupt nicht verstehst, was es bedeutet, ein Kind zu sein. Warst du nie jung? Hast zu vergessen, wie es sich anfühlt, außen vor zu stehen, einsam zu sein, nicht zu erhalten, was anderen gegeben wird? Oder bist du schon erwachsen und kompetent zur Welt gekommen und konntest sofort mit allem zurechtkommen, was sich dir entgegenstellte?« Broichan antwortete nicht. »Ich habe etwas gegen Feilschen und Kuhhandel.« Die Weise Frau trank den Rest ihres Mets. »Dennoch, ich glaube, ich kann dir einen Handel anbieten, der dir dabei hilft, dein Dilemma zu lösen, und außerdem meine Sorgen darüber, wie diese Kinder aufwachsen, beruhigen wird.« »Sag es mir.« Fola stand auf. »Noch nicht. Zuerst möchte ich den Jungen kennen lernen und sehen, ob mich meine Intuition nicht täuscht. Und ich werde warten bis nach dem Sonnenwendritual. Das wird uns vielleicht die Antworten der Götter geben. Danach werde ich wieder mit dir darüber sprechen.« »Hast du vor, in der Zwischenzeit mit den anderen darüber zu reden? Ihre gelehrten Meinungen über meine Mängel als Pflegevater einzuholen?« Fola hielt inne, bevor sie antwortete. »Das hat dich gekränkt. Verzeih mir, ich hätte nie gedacht, dass du so zu treffen wärst, alter Freund. Im Augenblick soll diese Sache unter uns bleiben. Und was deine Mängel angeht, das kann ich erst beurteilen, wenn ich mit Bridei gesprochen habe.« Es war ein angenehmer Morgen gewesen. Er war mit Donal, Talorgen und Aniels zweitem Leibwächter, der Garth hieß, zur - 181 Adlernarbe geritten, und auf dem Rückweg hatten sie ein Rennen veranstaltet, bei dem Bridei und Blesse sich gut geschlagen hatten. Talorgen hatte auf seiner untersetzten Stute mit den kräftigen Beinen gewonnen. Dann
hatten Erip und Wid ihn über den Gebrauch von Verwandtschaftszeichen belehrt, und während des Unterrichts waren sowohl Berater Aniel als auch der wilde Druide Uist hereingekommen, um zuzuhören. Beide hatten nicht lange schweigen können, und viele Theorien und Widersprüche hatten diese Unterrichtsstunde zu einer der besten gemacht, an die Bridei sich erinnern konnte. Danach hatte er sich entschuldigt und war zu den Eichen gegangen, um eine Weile allein zu sein. Es kam ihm richtig vor, selbst wenn Tuala nicht da war und erst nach der Sonnenwende zurückkehren würde. Wenn er still an ihrem Lieblingsplatz saß, dachte Bridei, würde sie vielleicht seine Nähe spüren, auch wenn sie am Eichenhügel war, so weit drunten im Tal. Die Magie von Orten funktionierte auf diese Weise. Die Knochenmutter hielt das ganze Land zusammen; ihr Körper war das Land, stützte und vereinte das Leben, das darauf wuchs. Wenn er hier zwischen den Eichenwurzeln saß, so, als wäre er Tuala selbst, und daran dachte, wie der Baum sich nach unten streckte, zum Kern der Erde, konnten seine Gedanken vielleicht von einem Teil des Körpers der Knochenmutter zum anderen wandern, von Pitnochie zu einem kleinen, sicheren Ort im Wald, an dem Tuala saß und dachte und träumte. Alles ist in Ordnung, sagte er ihr in Gedanken. Du wirst bald wieder nach Hause kommen. Er schloss die Augen und sah ihr kleines, ängstliches Gesicht, ihre großen seltsamen Augen. »Ich scheine öfter junge Personen unter Bäumen zu finden«, sagte eine muntere Stimme. »Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Bridei, nicht wahr? Ich bin gestern Abend zu spät eingetroffen, um dich zu begrüßen.« Bridei sprang auf, wischte sich die Erde von der Kleidung und nickte der alten Frau, die vor ihm stand, höflich zu. »Tut - 182 mir Leid«, sagte er. »Ich habe dich nicht kommen sehen. Ja, ich bin Bridei.« »Und ich heiße Fola; ich erspare dir die Verlegenheit, fragen zu müssen. Normalerweise findet man mich in Banmerren, wo ich eine Art Schule leite, in der junge Frauen die Wege der Göttin in all ihren Gestalten kennen lernen. Ich habe eine Botschaft für dich.« Sie zog ein viel benutztes Band heraus, das einmal blau gewesen war, und legte es in seine Hand. »Oh.« Er erkannte es sofort; er hatte diesen Zopf öfter neu gebunden, als er zählen konnte. »Bist du am Eichenhügel vorbeigekommen?« »Mein Weg hat mich durch diesen Teil des Tals geführt, ja.« »Geht es Tuala gut?« »Selbstverständlich. Warum sollte es ihr nicht gut gehen?« Darauf gab es mehrere mögliche Antworten: Weil sie klein ist, weil sie nicht weggehen wollte, weil sie Angst vor Broichan hat. Weil sie ohne ihre Gute-Nacht-Geschichte nicht einschlafen kann. »Es ist weit weg«, sagte Bridei. Fola lächelte. »Du bist von einem Mann ausgebildet worden, der sehr begabt ist, wenn es darum geht, Fragen nicht zu beantworten«, stellte sie fest. »Deine Schwester war bei guter Gesundheit. Du hast ihr gefehlt, obwohl sie das nicht ausgesprochen hat. Ich glaube, sie wird froh sein, nach Pitnochie zurückzukehren.« Bridei nickte und steckte das Band in die Tasche. »Sie ist nicht wirklich meine Schwester«, sagte er. »Nein.« »Nicht genau. Wir sind beide Broichans Pflegekinder.« Fola lächelte. »Ich bezweifle sehr, dass Broichan das so ausdrücken würde«, bemerkte sie. Bridei schwieg. Das war vermutlich eine weitere Prüfung; eine schwierigere, denn bei dieser alten Frau mit der Hakennase und den klaren Augen ließ sich schwer feststellen, - 183 was die richtigen Antworten waren. Eins war jedoch sicher: Er würde keine Kritik an seinem Pflegevater zulassen, selbst wenn Broichan Tuala weggeschickt hatte. »Vielleicht nicht«, sagte er vorsichtig. »Aber wir sind es dennoch. Ich wurde von meinem Vater hierher geschickt, um erzogen zu werden. Tuala wurde von der Leuchtenden selbst gesandt.« »Um erzogen zu werden?« »Zu einem Zweck«, sagte Bridei. »Und ich versuche, ihr etwas beizubringen. Sie kann jetzt bis fünfzig zählen; sie weiß schon einiges über Rituale und kennt viele Geschichten. Aber ich habe nicht viel Zeit dazu.« »Ich werde mit Broichan sprechen«, sagte Fola knapp. »Diese Situation ist lächerlich. Sie muss am Unterricht teilhaben. Vieles davon wird sie nicht verstehen, aber sie wird aufnehmen, was sie kann.« Ihre Selbstsicherheit war beeindruckend. Bridei zweifelte gewaltig daran, dass man Broichan dazu bringen konnte, diesem Vorschlag zuzustimmen, aber er sprach es nicht aus. »Das würde ihr gefallen.« »Ich weiß. Und nun sag mir eins, Bridei. Ich kenne die Geschichte, wie du sie gefunden hast. Ich weiß, dass du ihren Hintergrund verstehst, wer sie ist und wo sie herkommt, aber ich bin nicht sicher, ob du begreifst, wie schwierig das einmal für sie werden könnte. Denk darüber nach. Denk daran, wie es sein wird, wenn du erwachsen bist und Tuala auch. Denk an die Welt, in der ihr beiden leben werdet. Was wird sie tun? Wie wird ihr Leben aussehen?« Bridei wusste nicht so recht, was die Weise Frau meinte. »Hier in Pitnochie haben sie alle gern.« Dieser Teil stimmte nicht ganz. Man konnte im Zusammenhang mit Broichan nicht von »Gernhaben« sprechen. »Sie ist hier glücklich. Sie gehört hierher.«
»Du wirst nicht immer hier leben, Bridei. Eines Tages wirst du ein Mann sein, deiner eigenen Berufung folgen und dei- 184 ne eigenen Wege gehen. Es scheint mir, dass du für dieses kleine Mädchen den Mittelpunkt ihres Lebens darstellst. Wo wird sie ohne dich sein? Die Menschen misstrauen dem Guten Volk. Tuala wird in der Welt dort draußen nicht immer auf Freundlichkeit stoßen.« »Wie meinst du das?«, fragte Bridei verblüfft. »Bist du ebenfalls der Ansicht, ich hätte sie im Schnee lassen sollen? Ich werde mir das nicht anhören, ich ...« Plötzlich war er zornig. »Ich sage dir überhaupt nichts«, warf Fola rasch ein. »Nimm meine Frage als das, was sie ist. Es liegt keine Lektion darin und kein Urteil. Ich will nur, dass du nachdenkst und mir dann antwortest.« Bridei zwang sich, in einem Muster zu atmen, bis der Zorn vorüber war. Er zwang sich, der Weisen Frau direkt in die dunklen, durchdringenden Augen zu schauen. »Tuala ist stark«, sagte er. »Sie wird ihren eigenen Weg finden. Ihr Leben kann alles sein, was sie will.« »Und du?« »Ich? Ich werde ihr helfen und sie beschützen und dafür sorgen, dass sie nicht einsam ist. Wie ein Bruder, obwohl ich nicht wirklich ihr Bruder bin.« »Ich verstehe. Aber was ist mit deinem eigenen Leben? Was, wenn dein Weg dich weit weg führt und du diese Verantwortung gegenüber einer kleinen Schwester, die nicht wirklich deine Schwester ist, nicht erfüllen kannst?« Bridei runzelte die Stirn. »Mein Pflegevater hat mir noch nicht gesagt, was er für mich geplant hat. Selbstverständlich werde ich eine Weile weggehen müssen - Talorgen sagt, ich könnte nach Rabenbrunn kommen -, aber Tuala wird dann schon größer sein. Und wenn wir erwachsen sind, können wir unser eigenes Haus haben. Es müsste nahe dem Wald sein; Tuala braucht Bäume in der Nähe.« »Mhm«, sagte Fola, und um ihre Mundwinkel zuckte ein Lächeln. »Die meiste Zeit neigt man dazu, zu vergessen, wie - 185 jung du bist, Bridei. Broichan hat dir beigebracht, wie ein Gelehrter zu sprechen und auch wie einer zuzuhören. Nur hin und wieder erkenne ich den Jungen dahinter und sehe, dass du tatsächlich noch genau das bist: ein Junge. Sag mir, was willst du denn sein? Welche Zukunft wünschst du dir für dich?« Die einzige Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, war die Wahrheit. »Ich möchte die Königreiche der Priteni wieder zusammenbringen«, sagte Bridei schlicht. »Ich möchte Circinn wieder zu einem Teil von Fortriu machen. Ich möchte, dass die Menschen sich wieder dem alten Glauben anschließen, sodass wir alle die Ahnen ehren, wie es sich gehört. Und ich möchte die Galen vertreiben und dem Land den Frieden bringen. Das möchte ich tun.« »Ist das alles?« Er brauchte einen Augenblick, bis er erkannte, dass sie scherzte. Er spürte, wie er rot anlief. »Es hört sich wohl ziemlich vermessen an; ich meine, wie kann ich auch nur hoffen, einen Anfang zu finden? Es ist eine Aufgabe für einen großen Anführer. Ich verstehe, warum du über mich lachst. Aber du hast gefragt, und ich habe dir eine ehrliche Antwort gegeben. Jeder Mann und jede Frau in Fortriu sollte diesen Ehrgeiz haben, im Herzen und im Kopf. Wir sollten alle danach streben.« Fola nickte. »Ich habe dich nicht ausgelacht, Sohn«, sagte sie. »Ich begrüße deinen Mut und deine Ideale, und ich bete darum, dass du dein Ziel erreichen wirst. Aber jetzt habe ich eine andere Frage für dich.« Es war ein schwieriges Gespräch gewesen. Bridei hatte keine Ahnung, was als Nächstes kommen würde. »Sag mir«, bat Fola, »was würdest du tun, wenn Broichan dich wieder nach Gwynedd zurückschickte?« Entsetzen erfasste Bridei. Wusste diese Weise Frau etwas, das Broichan ihm nicht gesagt hatte? »Du bist so gut mit dem Rest meiner Fragen zurechtge- 186 kommen, aber nun fehlen dir die Worte. Ich frage mich, warum das so ist?« »Hat er das gesagt?«, brach es gegen seinen Willen aus Bridei heraus. »Wird er mich zurückschicken?« Sie sah ihn so feierlich an wie eine Eule. »Möchtest du denn deine Familie nicht sehen?« Er verkniff sich die erste Antwort, die ihm auf der Zunge lag: Meine Familie ist hier; Broichan und Donal und Tuala sind meine Familie. »Selbstverständlich möchte ich das«, erklärte er höflich. »Ich glaube dir nicht«, sagte Fola. »Alles, was du sagst, ist von Vorsicht geprägt, es sei denn, wenn es um etwas geht, was dir wirklich am Herzen liegt. Dann verändert sich dein Gesicht, deine Augen blitzen, und du hörst auf zu reden wie ein vorsichtiger alter Mann oder ein Druide, der einen verwirren will, und gewährst mir einen kleinen Einblick in das, was du wirklich bist. Fortriu und das Tal sind dir wichtig, die Leuchtende ist es, und selbstverständlich das Kind, das die Göttin in deine Obhut gegeben hat. Gwynedd hast du vergessen. Wie lange warst du in Pitnochie - sieben, acht Jahre? Ich bezweifle, dass du dich auch nur daran erinnern kannst, wie deine Eltern aussehen.« Bridei senkte den Kopf. »Das muss sehr einsam gewesen sein«, sagte sie leise. »Es war in Ordnung.« »Hm. Aber du hast dafür gesorgt, dass es für sie nicht so war, nicht wahr?«
»Broichan ist ein guter Pflegevater. Der beste.« »Und du bist ein loyaler Sohn. Pflegesohn. Sehr gut, Bridei, du hast dich bewundernswert geschlagen; er hat dich in dieser Art von Zweikampf hervorragend ausgebildet. Auch deine kleine Schwester ist darin nicht schlecht, obwohl sie nicht viel größer ist als eine Maus. Du weißt, dass das Sonnenwendritual eine Art Prüfung darstellt, nicht wahr?« Plötzlich sah sie ihn wieder sehr scharf an. - 187 »Ja«, sagte Bridei. »Obwohl ich nicht genau weiß, was eigentlich geprüft wird. Ich werde einfach mein Bestes tun müssen und hoffen, dass die Götter mir den Weg zeigen.« »Ich bezweifle nicht, dass sie genau das tun werden«, erwiderte die Weise Frau. Tuala wusste, was es mit der Sonnenwende auf sich hatte. Bridei hatte ihr gezeigt, wie man die Sonne beobachtete, wenn es auf den Mittsommertag zuging, wie man ihren Stand im Verhältnis zu einem bestimmten Punkt wie einem Baum oder einem Stein überprüfte, bis zu dem Morgen, an dem sie wieder weiter südlich aufging, um bei ihrer Reise einen engeren Bogen zu nehmen. Drei Tage lang wurde bei Sonnenaufgang Wache gehalten, und jeder dieser Tage hatte sein eigenes Ritual. Zu Hause in Pitnochie führte Broichan die feierliche Zeremonie durch, und Bridei half ihm. Hier am Eichenhügel wurde die Sonnenwende nicht sonderlich beachtet. Es gab eine Quelle nicht weit von der Hütte, und sie gingen dorthin, wenn die Morgenarbeit getan war, die beiden älteren Frauen, die jüngere und Tuala selbst, während die kleine Katze, die Tuala Nebel genannt hatte, im Unterholz mit ihnen Schritt hielt, sich hier duckte, dort ein wenig vorausrannte, ihr Schwanz ein graues Flüstern zwischen den Farnwedeln. Das Wasser quoll zwischen Steinen hervor und ergoss sich in einen kleinen runden Teich, über den Holunderbäume ihre langen, dünnen Zweige streckten. Die Frauen banden dort jede einen Streifen buntes Tuch an - Tuala hätte das ebenfalls getan, aber sie hatte wieder ihr Band verloren und nichts, was sie ansonsten verwenden konnte -, und Brenna und Tuala formten ein Muster aus weißen Steinen am Teichufer. Sie sprachen ein schlichtes Gebet an die Göttin; selbst das taten Brennas Mutter und die Tante mit säuerlichen Mienen und finsterem Blick. Tuala hatte noch nie solch traurige, solch zornige Menschen gesehen. Es gab so vieles, worüber man lächeln konnte, selbst - 188 wenn man einsam war: die aufgehende Sonne, das Muster der Farnwedel rings um die moosigen Steine, der angenehm feuchte Geruch der kleinen Lichtung, das Flüstern der Stimme der Göttin... »Darf ich noch ein bisschen hier bleiben?«, fragte sie Brenna. »Nur ein kleines bisschen? Ich kann das Haus von hier aus sehen; ich werde sofort zurückkommen, das verspreche ich.« Die älteren Frauen hatten sich bereits auf den Heimweg gemacht. Brenna zögerte. »Ich verspreche es«, sagte Tuala noch einmal und versuchte auszusehen wie das gehorsamste Kind der Welt. »Also gut«, erwiderte Brenna. Sie sah nun glücklicher aus, denn es war beinahe Zeit für Cinioch, vorbeizukommen und sie nach Hause zu begleiten; ihre Augen waren fast nicht mehr rot, und sie bemühte sich um ein schwaches Lächeln. »Du warst ein braves Mädchen, Tuala. Aber sei vorsichtig und mach deine Sachen nicht nass.« »Ja, Brenna.« Tatsächlich war Tuala bereits mehrmals hier gewesen, nur von Nebel begleitet. Seit dem Morgen, an dem sie zufällig entdeckt hatte, dass der Blick tatsächlich sehr einfach zu meistern war und sie kaum üben musste, hatte der Teich laut nach ihr gerufen, und sie hatte ebenso viel Zeit damit verbracht, in das dunkle Wasser zu schauen, wie sie in der Wiege der alten Eichenwurzeln saß. Beim ersten Mal hatte sie im Wasser nach Fischen Ausschau gehalten; aber noch bevor sie die Gelegenheit gehabt hatte zu sehen, ob es welche gab, hatte sich ein Bild auf der Oberfläche gezeigt, ein Bild von Bäumen, Himmel und Waldwegen, kein Spiegelbild, denn was sie sah, waren die Hügel oberhalb von Pitnochie, und dort mitten in dem kleinen Teich ritt Bridei auf seinem Pony Blesse zur Adlernarbe. Sie brauchte nur ruhig zu bleiben und in einem Muster zu atmen, damit das Bild blieb. Es war überhaupt nicht schwer. - 189 Als sie den Ort häufiger aufsuchte und zu unterschiedlichen Tageszeiten in den Teich schaute, sah Tuala Bilder, die sie beunruhigten. Es gab dort Dinge, die unmöglich jetzt gerade geschehen konnten, es musste entweder lange her oder noch nicht geschehen sein. Es war schade, dass Bridei nicht hier war; sie hatte so viele Fragen! Warum waren die Menschen so grausam zueinander; warum kämpften sie und stritten sich und wurden zornig, wenn das doch nie etwas löste? Wer waren diese rothaarigen Krieger, die sie immer wieder im Wasser sah, mit ihren ruhigen, kalten Augen, in denen der Wunsch zu töten stand? War der junge Mann dort, der mit den braunen Locken und den leuchtenden Augen, wirklich eine erwachsene Version von Bridei? Und wenn ja, warum konnte sie nie sich selbst sehen? War das immer so, dass man ein seltsames Prickeln spürte, wenn man den Blick hatte, als gäbe es überall rings um das kleine Tal, in dem die Quelle sprudelte, unsichtbare, stille Beobachter? Auch heute waren sie wieder hier. Tuala konnte es spüren: ein Kreis von Augen, die auf sie gerichtet waren, ein Kreis von Wesen, der sie umgab. Sie konnte nichts weiter erkennen als ein schwaches Schimmern in der Luft, eine leichte Störung in der Art, wie die Dinge sein sollten. Ihre Augen sagten ihr, dass niemand da war. Aber sie wusste, sie war nicht allein. Wenn sie sich an den Teich kniete, unter den Holunderbaum mit seiner Fracht aus kleinen Wollstreifen, Lederschnüren und verblassten Bändern, den Opfern von Jahreszeit um Jahreszeit, konnte sie sie neben sich spüren, ihr gegenüber, hinter ihr, wie sie jeder Bewegung folgten, die sie machte, jeden
Atemzug zählten, als wären sie ein und dasselbe. »Wer seid ihr?«, flüsterte Tuala beinahe zornig. »Warum zeigt ihr euch nicht?« Aber es gab keine Reaktion bis auf eine leichte Brise im Laub, und dann wurde es still. - 190 In dem Bild im Wasser war es Mittag, Mittag in Pitnochie, denn dort stand Broichans Haus zwischen den trügerischen Eichen, und das Wasser des Schlangensees glitzerte in der Sonne, geschützt von dunklen, von Bäumen überzogenen Hügeln. Sie sah Fidich, der über einen steilen Weg unter Kiefern zu einer kahlen Hügelkuppe hinkte, wo sich Menschen versammelten. Tuala kannte diesen Ort. Sie nannten ihn den Morgenbaumhügel, denn eine einzelne Eiche stand dort, ein ehrwürdiger alter Baum, der das Licht der aufgehenden Sonne in seinem belaubten Wipfel einfing. Hier hatten Broichan und Bridei sicherlich in der Nacht zuvor und den beiden Nächten davor Wache gehalten und festgestellt, an welchem Ort sich der Flammenhüter über den Horizont erheben würde. Auf den flachen Steinen auf der Kuppe wurde ein Kreis gezogen; der Haushalt von Pitnochie hatte sich bereits versammelt. Sie sah Broichan, hoch gewachsen und ernst in seinem dunklen Gewand, den Ritualdolch in der Hand, Hörn und Silber. Er trug einen Kranz aus Eichenblättern im geflochtenen Haar. Seine Miene ließ Tuala schaudern. Dort waren Menschen, die sie kannte, und andere, die sie nicht kannte. Mara, Donal und Ferat waren anwesend, ebenso wie die meisten Bewaffneten. Dann gab es andere Krieger, die sie noch nie gesehen hatte und deren Gesichter mit Verwandtschaftszeichen und Schlachtenzeichen geschmückt waren. Ein Druide im weißen Gewand hatte ein Bündel Stöcke mitgebracht. Sie konnte auch die alte Frau sehen, die sich Fola nannte; Fola hielt eine Bronzeschale mit Wasser, die sie nun im westlichen Viertel des Kreises absetzte. Tuala bewegte sich ein wenig und beugte sich dichter an die Oberfläche des Teichs. Nebel hockte neben ihr, die Pfoten ordentlich unter die Brust gezogen, die zusammengekniffenen Augen auf das stille Wasser konzentriert. Vielleicht hatte sie ihre eigenen Katzenvisionen. - 191 Die Bilder bewegten sich wie ein feierlicher Tanz: Broichan, der im Kreis ging, mit der Dolchspitze den heiligen Bereich absteckte und in jedem Viertel die rituellen Grußworte sprach. Wasser wurde rings um den Kreis gesprüht; Rauch von brennenden Stöcken stieg auf, eine elementare Läuterung. Dann sah Tuala, wie die Weise Frau den Kreis aus dem Norden betrat, den Platz der Erde. Jetzt sah Fola alles andere als klein und harmlos aus, sie wirkte stark und mächtig, die Verkörperung der Knochenmutter. Sie hob die Arme und rief eine Herausforderung: Wer bist du? Warum kommst du her? Sag es uns! Tuala konnte nichts hören; kein Laut störte die Stille der kleinen Lichtung. Aber sie kannte die Worte; Brideis Unterricht war so ausführlich gewesen, wie die Zeit es zuließ. Männer traten aus dem Kreis. Einer war der weiß gekleidete Druide, ein alter Mann mit durchdringenden hellen Augen und einer verrückten Masse weißen Haars, in dem Samenkörner, Zweige und Blätter steckten. In seinen knochigen Fingern hielt er eine Feder, die so weiß war wie sein Gewand. »Das Licht der Sonne erhellt den Geist«, sagte er, »und lässt den Weg klar werden. Flammenhüter, lass unsere Augen nur Wahrheit sehen.« Der Mann, der als Nächster sprach, war ein Krieger, hoch gewachsen und mit aufrechter Haltung, auf dem Gesicht die blauen Tätowierungen seines Standes. Sein Blick war scharf, seine Haltung selbstsicher. Er hielt einen Pfeil vor sich, der mit den gestreiften Federn des großen Adlers gefiedert war. »Das Licht von Mittsommer ist das Licht der Tapferkeit.« Seine klare Stimme hallte weit durch die kühle Luft auf der Hügelkuppe. »Flammenhüter, du gibst uns die Kraft, Männer zu sein. Dein strahlender Glanz inspiriert uns zu mutigen Taten. Durch dich sind wir wahre Söhne von Fortriu.« Der dritte Mann trug einen Knochen; Tuala konnte nicht sehen, was für eine Art Knochen es war, aber er war lang - 192 und hell, wie ein Teil eines Beins. Der Mann hatte graues Haar und ein graues Gewand; sein Gesicht war faltig, seine Stirn von vielen Sorgen gefurcht. Er sprach mit stiller Würde: »Flammenhüter, mit deiner Wärme hast du die Priteni seit Urzeiten genährt, noch bevor die Großväter unserer Großväter das Tal durchschritten. In deinem Leben liegt unser Leben. In deiner Weisheit liegt unsere Weisheit. Wir grüßen deinen hellen Schein.« Danach schwiegen alle lange Zeit. Tuala wusste, dass jeder Mann und jede Frau tief im Geist geheime Worte der Inspiration sprachen, und sie spürte selbst, wie die Macht in jedem Teil von ihr summte. Ihre unsichtbaren Beobachter blieben, ein Kreis unsichtbarer Präsenzen rings um die Quelle. Tuala glaubte, aus dem Augenwinkel bleiche Hände und umschattete Gesichter zu sehen, Gewänder aus grüngrauen Weidenblättern und weichen Federn, silbrige Flügel und Strähnen langen Haars in unmöglichen Blautönen. Die Augen dieser Wesen waren ein Spiegel von Tualas Augen: farblos und klar, hell wie Eis. Sie würde sich nicht umdrehen, um näher hinzusehen; sie musste sich auf das Bild im Wasser konzentrieren. Denn nun sah sie Bridei; er trat vor - er hatte am Stamm des Morgenbaums gestanden - und hielt eine brennende Kerze vor sich. Tualas Herz begann, schneller zu schlagen. Er sah so ernst aus, so besorgt, als glaubte er, die Götter würden unzufrieden sein, wenn er auch nur einen falschen Schritt tat oder bei den Worten den geringsten Fehler machte. Und er sah müde aus; er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Das war wohl von den Nachtwachen. Broichan ließ seinen Sohn am
Vorabend des Mittsommertags immer Nachtwache halten. Bridei biss sich nervös auf die Lippe. Alberner Junge; selbstverständlich würde er keinen Fehler machen. Selbstverständlich würden die Götter nicht böse sein. Er ruhte in der Hand der Knochenmutter; der Flammenhüter brannte in ihm. Die Leuchtende hatte ihn auserwählt. Er war Bridei, der immer alles richtig machte. - 193 Wieder trat er vor, ging in den Kreis und folgte einem spiralförmigen Weg vom Rand aus nach innen, wobei die Kerze weiterhin stark und stetig brannte. Sein lockiges Haar, braun wie Eichenrinde, war ordentlich zurückgebunden; in seinen Augen stand das Blau des Sommerhimmels warm und hell, und seine Schritte waren vollkommen ruhig. Er hatte ein kleines Stück von einem sehr verwaschenen Band ums Handgelenk geschlungen. Tuala lächelte unwillkürlich; sie hatte sich so sehr danach gesehnt, dort zu sein, ein Teil davon sein zu können. Nun war sie in gewisser Weise wirklich dort; er trug sie mit sich. Sie hoffte, dass Broichan wegen des Bands nicht böse sein würde. Brideis Weg führte ihn in den Mittelpunkt des Kreises, wo sein Pflegevater nun zusammen mit der Weisen Frau stand. Bridei hob die Hände, hob die Kerze hoch. »Dies ist die Flamme der Hoffnung und das Versprechen von Gerechtigkeit und Frieden überall im Land!«, verkündete er. In seiner Stimme lag keine Spur von Nervosität. Sie klang klar wie eine Glocke; das Geräusch ließ Tuala schaudern, obwohl sie es nur mit den Ohren der Seherin hörte, zu der die Stille spricht. »Ich rufe die Macht des Flammenhüters herab, und ich beschwöre die Kraft unserer tiefen Mutter, der Erde, herauf, und die Herrin der Gezeiten, die Leuchtende! Die Sonne hat triumphiert; heute erreicht sie ihren höchsten Stand. Das Leben des Flammenhüters hat uns geweckt und das Land, auf dem wir leben, fruchtbar gemacht. Nun beginnt er seinen langen Rückzug. Nun nehmen wir sein Licht in uns auf, um unseren Weg zu beleuchten. Möge jeder von uns wie eine brennende Lampe sein; möge jeder von uns erfüllt vom strahlenden Glanz der Wahrheit weiterschreiten.« Als Nächstes hätte Broichan sprechen sollen, aber bevor er den Mund öffnen konnte, hörte man ein Flügelrauschen, und aus dem Osten kamen zwei Adler herangeflogen. Sie glitten auf den Luftströmungen über dem Großen Tal und bildeten ein perfektes Paar, schwebten erst, dann schlugen - 194 sie in langsamen, machtvollen Bewegungen mit den starken Flügeln, um sie zu der Stelle zu tragen, wo der Junge stand, aufrecht und stolz mit der Flamme der Hoffnung in seinen jungen Händen. Broichan sagte kein Wort, während die Vögel den Hügel in ihrem Tanz uralter Symmetrie umkreisten, in ihrem Verflechten von Feder und Knochen und Atem. Tuala sah mit tiefem Staunen, dass dem Druiden Tränen über die Wangen liefen. Dreimal kamen die Vögel vorbei, und dann landeten sie, beide im gleichen Augenblick, auf den oberen Ästen des Morgenbaums. Sie falteten die gewaltigen Flügel und ließen sich nieder, eine wachsame Präsenz. Die Sonne berührte Brideis lockiges Haar, hellte das Braun zum tiefen Rot von Herbstbuchen auf, und die Mittagssonne ergoss sich auf die Hügelkuppe wie die Wärme eines Segens. Dann nahm Broichan ohne ein Wort die Kerze von seinem Pflegesohn entgegen und entzündete damit ein kleines Feuer aus den Stöcken, die der alte Druide mitgebracht hatte. In diesem kleinen Bündel waren, wie Tuala wusste, alle Bäume des Waldes vertreten, Eiche und Esche, Kiefer und Holunder, Stechpalme und Eberesche, und alle gaben etwas von sich selbst, um die Magie dieses Tages zu stärken. Der Eichenkranz, den Broichan getragen hatte, wurde im Kreis herumgereicht, und jeder Mann und jede Frau setzten ihn sich für einen Augenblick auf den Kopf. Dies war der Moment, in dem sie lautlos ihre Schwüre an die Götter erneuerten. Am Ende kehrte der Kranz zu dem Druiden zurück. Broichan hielt ihn hoch, dann warf er ihn in die Flammen. Tuala schluckte; sie hatte gewusst, dass es geschehen würde, und dennoch schockierte es sie, kam ihr so brutal vor wie der Tod von Träumen. Aber so war es nicht. Nun reichten sich alle die Hände, um das alte Friedensgebet zu sprechen. Die Flammen trugen ihre Träume hoch in die Luft über dem Großen Tal, höher noch als der höchste Baum aufragte, höher als die Adler flogen, über die Wolken hinaus ins Reich der - 195 Leuchtenden und - Feuer zu Feuer - zu der Leben spendenden Sonne, deren Aufstieg sie heute feierten. Dann wurden Brot und Met gesegnet und geteilt, und Fola und Broichan boten die rituelle Mahlzeit zunächst einander an, dann verteilte Bridei den Laib und goss allen Anwesenden ein wenig von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit ein. Donal tätschelte Brideis Schulter, was die Metflasche wackeln ließ. Erip und Wid grinsten, als hätten sie einen Preis gewonnen. Tuala spähte angestrengt ins Wasser des spiegelnden Teichs und stellte fest, dass auf Broichans gelassenen Zügen nun keine Spur von Tränen mehr zu erkennen war. Vielleicht hatte sie es sich nur eingebildet. Vielleicht zeigten diese Bilder nicht etwas, das war, sondern etwas, das sein könnte. Der Blick war eine schwierige Sache. Dennoch, sie sah den Stolz in den Augen des Druiden, als er beobachtete, wie sein Pflegesohn am Kreis entlangging, und sie glaubte, den gleichen Stolz in vielen anderen Gesichtern dort zu erkennen, auch in dem der Weisen Frau. »Tuala!« Brenna rief nach ihr. Tuala schob das Geräusch von sich, beugte sich dichter über das Wasser. Nebel hockte reglos neben ihr und starrte ebenfalls hinein. Rings um den Teich waren die unsichtbaren Präsenzen immer noch so gerade eben aus dem Augenwinkel wahrnehmbar. Das Fest war vorüber, der Kreis wurde aufgelöst. Die Menschen suchten ihre Sachen zusammen und gingen wieder hügelabwärts nach Hause. Oben auf der einsamen Eiche hatten sich die Adler nicht mehr gerührt, seit sie
dort gelandet waren. Aber als Bridei nun die Kuppe verließ und den steilen Weg zum Haus betrat, flogen beide Vögel erneut auf, flatterten hierhin und dahin, kreuzten jeweils den Weg des anderen mit großer Präzision und folgten schließlich dem Jungen. Die Bäume wuchsen dicht an diesem Hügel, drängten sich in kleinen Gräben, überzogen Hänge, Wiesenpfad und Grenze mit üppigem Sommergrün und dunk- 196 len Kiefernnadeln, und unter ihnen wuchsen Farnkräuter und Stechpalmen mit ihren glänzenden Blättern. Dennoch, Adler haben einen scharfen Blick, sind Fürsten unter den Raubvögeln. Als das Bild vor Tuala sich änderte und abermals änderte, kam es ihr so vor, als bildeten diese großen Vögel eine Eskorte, eine Leibwache für Bridei, und als wollten sie ihm voranfliegen, als wäre er ein uralter Magier aus einer Geschichte oder ein neuer König, der an die Macht kam. Sie flogen über ihm, als er durch die hohen Birkenwälder und in das tiefe Dunkel der Kiefern kam; sie tanzten über ihm, als er unter den ehrwürdigen Eichen und den schwer beladenen Holundersträuchern hindurchging, die Bach und Teich säumten. Über dem Haus des Druiden kreisten sie noch einmal, als Bridei den Wald am Steinwall verließ, dort, wo Broichans Wachen standen. Dann flogen sie mit einem Schrei, der Tuala Gänsehaut verursachte, nach Westen und verließen das Bild im Wasser. Sie sah Bridei, der sich seinem Pflegevater zuwandte und lächelnd etwas sagte, aber sie konnte die Worte nicht hören. »Tuala!« Zeit zu gehen. Sie wollte Brenna, die ohnehin genug Schwierigkeiten hatte, nicht verärgern. Also stand sie auf und bückte sich, um die kleine Katze aufzuheben. Rings um den Teich raschelte es, und es gab ein Geräusch wie ein Zischen, nur dass es vielleicht auch Worte waren:... eine von unsss ... Dann waren sie plötzlich verschwunden. Als Tuala an diesem Abend wach lag, während Brenna neben ihr schlief, erzählte sie flüsternd eine Geschichte. Nebel war eine gute Zuhörerin, ihre kleine, warme Präsenz im Halbdunkel der Sommernacht machte die Einsamkeit erträglicher. »Du weißt doch, dass die Priteni zwei Könige haben, Nebel? Sie haben beide unterschiedliche Verwandtschaftszeichen, die in die Steine ihrer großen Häuser gemeißelt sind, damit jeder weiß, wer sie sind. Es gibt Drust den Stier und Drust den Eber.« Tuala streichelte das weiche - 197 Fell der Katze, die sich tief in die dünne Decke gekuschelt hatte. Nebel schnurrte so gewaltig, dass ihr ganzer Körper bebte. »Aber ich werde dir nicht von ihnen erzählen. Ich erzähle dir von einem anderen König. Es ist eine Geschichte, die sein könnte, wie die Bilder in dem Teich. Dieser König heißt Bridei, und sein Zeichen ist der Adler ...« Es war eine gute Geschichte, voller Abenteuer, Mut und Hoffnung. Es war eine Geschichte über Schicksale, und sie kam Tuala zutiefst wahr vor, wie sie es sonst nur bei den ältesten und beliebtesten Geschichten empfand. Es gab nur eins daran, was sie beunruhigte: So sehr sie es auch versuchte, sie konnte in der Geschichte keinen Platz für sich selbst finden. - 198 KAPITEL SECHS Ja, sie konnten sich glücklich schätzen. Tuala erinnerte sich immer wieder daran, Jahr um Jahr, wenn sie zusah, wie Bridei sich auf den Weg zu einem weiteren Besuch in Rabenbrunn machte, oder zu einer weiteren Zeit der Zurückgezogenheit in den Nemetons mit Uist, dem wilden Druiden, denn auch dies war Teil der Erziehung, die Broichan seinem Pflegesohn angedeihen ließ. Es war mehr als sechs Jahre her, seit sie zum Eichenhügel geschickt worden war, seit der Zeit, die sie bei sich als den Sommer der Adler bezeichnete. Während Bridei von einem ernsten Kind zu einem hoch gewachsenen, scharfäugigen jungen Mann herangewachsen war, hatte sie ihn so oft davonreiten sehen, dass sie es nicht mehr hätte zählen können, wäre da nicht der Talisman gewesen, den sie in ihrem kleinen Zimmer im Haus des Druiden in Pitnochie versteckt hatte. Es war eine Doppelschnur aus sehr festem Garn, und die beiden Teile waren auf eine besondere Art miteinander verwoben. Tuala hatte die Geschichte von sich selbst und Bridei in diesem Gegenstand eingefangen: Die beiden Schnüre waren für jede Zeit der Trennung von Bridei ein wenig geteilt und hatten einen zarten Knoten für jede wunderbare Wiedervereinigung. Sie zeigten das Muster ihres Lebens, zwei Wege, die voneinander abwichen und wieder zusammenkamen und bei allen Trennungen grundlegend ein und derselbe blieben. Dieser - 199 Gegenstand war klein, aber mächtig; Tuala achtete darauf, dass niemand ihn zu sehen bekam, nicht einmal Bridei selbst. Sie war im Lauf der Jahre wachsamer geworden, selbst als ihre Privilegien in Broichans Haushalt wuchsen, denn sie spürte stets das grundlegende Misstrauen des Druiden. Broichan hatte nie mehr darüber gesprochen, nicht seit diesem ersten Mal, als er sie weggeschickt hatte. Das brauchte er auch nicht zu tun. Sie erkannte es an seiner verschlossenen Miene, seinem kühlen Ton, an der Distanz, die er zwischen sich selbst und dieses Geschenk der Leuchtenden legte, das er nie wirklich gewollt hatte. Ja, sie konnten sich glücklich schätzen. Broichan hätte Tuala für immer wegschicken können. Er hätte Bridei an den Hof mitnehmen und dort bleiben können. Er hätte Tuala alles Lernen verweigern können bis auf das Wenige, das sie selbst aufschnappte. Stattdessen hatte sie wunderbarerweise, als sie vom Eichenhügel zurückgekehrt war, einen offenen Weg vorgefunden. Erip und Wid durften ihr gestatten, bei Brideis Unterricht zuzuhören, ihr angemessene Aufgaben erteilen und deren Ausführung bewerten. Tuala hatte sich begierig auf diese unerwartete Vergünstigung gestürzt und nicht gefragt, was zu einer solchen Wendung geführt hatte. Es
genügte, dass diese Tür nicht mehr verschlossen war; sie warf sich mit der gleichen Begeisterung aufs Lernen, wie sie es bei jeder neuen Entdeckung tat. Im Lauf der Zeit veränderte sich das Muster ihres Lebens. Brenna heiratete und zog zu ihrem Mann. Nun waren sie und Fidich die stolzen Eltern zweier kleiner Kinder, und Brenna hatte auf dem Hof und mit der Familie viel zu tun. Was Erip und Wid anging, so wurden sie nicht nur Tualas Lehrer für Geschichte und Geografie, Könige und Symbole, Überlieferung und Geschichten, sondern auch gute Freunde. Der Unterricht ging auf eine etwas weniger förmliche Art sogar weiter, wenn Bridei nicht da war. Bridei bewegte sich in immer weiteren Kreisen und war häufig vom Fest des Aufstiegs - 200 bis Mittsommer oder vom Tortag bis zum Jungfrauentanz, der Zeit der ersten Frühlämmer, nicht mehr im Haus. Ohne die Geduld und die Freundlichkeit der beiden alten Männer und Broichans Erlaubnis, sich am Morgen mit ihren Schriftrollen und Federn und ihrer kleinen Schülerin ans Hallenfeuer zu setzen, wäre das Leben wirklich trostlos gewesen. Wenn Bridei weg war, wusste Tuala, dass ihr ein wesentlicher Teil ihrer selbst fehlte, ein Teil, der so wichtig für ihre Existenz war wie Augen oder Ohren oder ein schlagendes Herz. Dieser Winter würde besonders schwer werden. Bridei ging nach Rabenbrunn zu Talorgen und seiner Familie, und Tuala wusste, weil sie es auf dem Wasser gesehen hatte, dass es Kämpfe, Tod und Kummer geben könnte. Ihre Vision hatte ihr Bridei mit einem Gesichtsausdruck gezeigt, den sie noch nie an ihm gesehen hatte, einem Ausdruck, der bedeutete, dass er etwas gesehen hatte, von dem er hoffte, es nie wieder sehen zu müssen, aber zugleich wusste, dass er sich ihm noch oft stellen musste. Sie hatte zerschlagene Männer und Blut auf dem Heidekraut gesehen. Sie hatte mit den Ohren des Geistes einen Schrei unerträglichen Schmerzes gehört, einen Schrei, der sie zutiefst erschütterte und die Götter anflehen ließ, ihm ein Ende zu machen, schnell, bevor sie den Verstand verlor. Aber sie sagte ihm nichts davon. Tuala wusste, dass man sich auf solche Visionen nicht verlassen konnte; sie waren kein klares Bild dessen, was geschehen würde. Solche Bilder als Grundlage für einen Plan zu benutzen, war ausgesprochen gefährlich. Bridei war nun ein Mann: Er war achtzehn Jahre alt. Zweifellos würde er kämpfen müssen und Verluste erleben, wie es allen Männern zustieß, ob Tuala es nun vorhersah oder nicht. Sie konnte nichts tun, um den Augenblick zu verhindern, in dem sich dieser schreckliche Schatten über seine Augen senkte; sie konnte nur da sein, wenn er nach Hause kam, zuhören und ihn trösten, denn sie war die Bewahrerin seiner geheimsten Ängste und die Hüterin seiner Träume. - 201 Sie waren zum Abschied noch einmal zur Adlernarbe geritten. Es war immer schwieriger geworden, Zeit miteinander zu verbringen, nun, da Broichan mehr Besucher in Pitnochie zuließ und mehr Kommen und Gehen herrschte. Im Augenblick war Talorgen mit seinem Sohn Gartnait im Haus, einem schlaksigen, sommersprossigen Jungen, der rasch ein guter Freund für Bridei geworden war, wenn auch nie ein Freund von Tuala. Gartnait hielt sie für ein Kind, und für ein ziemlich seltsames. Er neckte sie wegen ihres Schweigens, wegen ihres Ernstes, wegen ihrer seltsam blassen Haut und ihren großen Eulenaugen. Es war nicht böse gemeint, aber Tuala wusste nicht, was sie mit solchen Neckereien anfangen sollte. Sie kamen ihr sinnlos vor; wozu war es gut, außer um zu betonen, was sie ohnehin im Haushalt des Druiden am unsichersten machte: ihr Anderssein? Sie wollte nicht auffallen, wollte keine Sonderbehandlung. Sie wollte sein wie alle anderen. Erip und Wid schienen sich nie daran zu stören, was sie war und was sie ohne nachzudenken tat, wenn sie zum Beispiel die kleinen Könige und Priesterinnen auf dem Spielbrett bewegte, ohne sie zu berühren, oder das bunte Licht, das durch das runde Fenster fiel, in einen Tanz winziger, wie Edelsteine schimmernder Insekten verwandelte, die sich in einen Schauer glitzernden Staubs auflösten. Erip räusperte sich vielleicht, Harrumpf, und Wid strich sich über den weißen Bart und nickte weise, und dann machten sie einfach mit dem Unterricht weiter, Kräuterkunde, Astronomie oder Könige und Königinnen. Nun, als sie mit Bridei auf den flachen Steinen oben auf der Narbe saß, erinnerte sie sich wieder an die Könige und Königinnen. Es war Herbst. Morgen würde er weggehen, und das Jahr wandte sich der dunklen Zeit zu. »Bridei?« »Mhm?« Er schaute hinab ins Tal, nach Westen, hielt vielleicht nach den Adlern Ausschau oder nach dem Weg nach Rabenbrunn, auf dem er sich bald befinden würde. - 202 »Wenn du in Gwynedd geblieben wärst, hättest du eines Tages König sein können«, sagte sie. Er wandte ihr abrupt seine Aufmerksamkeit zu, die blauen Augen hell und scharf. »So einfach ist das nicht«, sagte er. »Dein Vater ist König von Gwynedd«, stellte Tuala fest. »Sie bestimmen dort ihre Könige anders als hier, hat Erip mir erzählt. Sie wählen sie nicht unter den Söhnen königlicher Frauen, wie es die Priteni tun, mit Kandidaten aus jedem der sieben Häuser. In Gwynedd und Powys kann ein Mann als König seinem Vater nachfolgen. Und das hättest du auch tun können, wenn du dort geblieben wärst. Du könntest es immer noch, wenn du nach Hause gingest.« Bridei schwieg eine Weile. »Pitnochie ist mein Zuhause«, sagte er schließlich. »Es ist unser Zuhause, deins und meins. Ich habe früher immer gedacht, Broichan hätte genau das vor: mich zu erziehen und mich dann nach Gwynedd zurückzuschicken. Aber selbst wenn das so wäre, könnte ich nicht König werden. Ich kann mich nicht an meine Brüder erinnern, aber ich weiß, dass ich zwei Brüder habe, und sie sind beide älter als ich. Ihr
Anspruch wäre stärker; sie sind an der Seite meines Vaters aufgewachsen. Außerdem hat Broichan mich nicht zurückgeschickt.« »Was hat er dann also mit dir vor?« Tatsächlich kannte Tuala die Antwort bereits; die Zeichen waren ihr vollkommen klar gewesen, schon seit jenem Tag vor Jahren, als Bridei am Mittsommer tag die Flamme getragen hatte und die Adler gekommen waren. Aber sie war nicht sicher, ob Bridei selbst es wusste, sogar jetzt noch nicht. Broichans Strategie war tief schürfend und subtil und erstreckte sich über viele Jahre. Der Druide hatte Recht, musste Tuala widerwillig zugeben, er hatte Recht, im Verborgenen zu arbeiten und seinen Plan vor allen zu verbergen, die versuchen könnten, ihn zu vereiteln, auch bis zu dem Punkt, dass er sogar dem jungen Mann, auf dem seine Hoffnungen ruhten, verheimlichte, um was es ging. Ohne die Last zu großer Erwartungen - 203 war er den Weg seiner Jugend leichtfüßiger gegangen und hatte freier lernen können. Unbelastet vom Wissen über seine Zukunft war er besser gegen die Intrigen jener geschützt gewesen, die für sich selbst Macht und Stellung suchten und deshalb ihre eigenen ausgewählten Figuren aufs Spielbrett brachten. »Ich habe eine gewisse Ahnung«, sagte Bridei. »Broichan spricht nicht über meine Mutter. Aber ich habe entdeckt, dass sie eine Verwandte von Talorgens Frau Dreseida ist. Und Dreseida wiederum ist eine Kusine von König Drust. Je nachdem, wie eng sie verwandt sind, könnte das gewisse Möglichkeiten eröffnen; ich wäre ein armseliger Gelehrter, wenn ich sie nach Wids und Erips Unterricht in Genealogie nicht erkennen würde. Aber ich bin jung und als Anführer unerprobt. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass Broichan mich in eine ähnliche Position bringen will, wie er sie selbst innehatte, dass ich ein Berater des Königs werden soll. Nicht als Druide, sondern eher wie Aniel, der reist, verhandelt, an Waffenstillstandsverträgen arbeitet und Bedingungen für Übereinkünfte festlegt. Ein Berater des Königs. Vielleicht auch ein Krieger; ein Mann muss vieles sein können.« »Du bist ein bisschen jung, um König Drust zu beraten«, sagte Tuala tonlos. Brideis Wangen glühten, und sofort tat ihr Leid, was sie gesagt hatte, obwohl es die Wahrheit gewesen war. »Es wird andere Könige nach ihm geben. Ich bin ein Mann, Tuala, und kein Kind. Ich werde meine Rolle spielen.« Tuala schwieg, obwohl sie eine lautlose Botschaft spürte, die sie kränkte: Ich bin ein Mann, und du bist immer noch ein Kind. Du verstehst das nicht. Das war ungerecht; sie verstand es sehr wohl und hatte es schon verstanden, als sie tatsächlich noch ein kleines Mädchen gewesen war, das nicht einmal sein eigenes Haar flechten konnte. Und jetzt war sie tatsächlich eine Frau, so klein und zierlich sie auch sein mochte. Zu Mittwinter würde sie dreizehn Jahre alt sein. Sie - 204 hatte bereits dreimal ihre Blutung gehabt und staunend die anderen Veränderungen in ihrem Körper beobachtet, Anzeichen dafür, dass die Leuchtende in ihr floss wie in der Tiefe des Ozeans. Aber das konnte sie Bridei selbstverständlich nicht sagen. Er war zwar ihr bester Freund auf der Welt, aber er war ein Junge, und es gab Dinge, über die man mit Jungen einfach nicht sprechen konnte. »Tuala?« »Mhm?« »Wir werden diesmal vielleicht den ganzen Winter weg sein. Es gibt einen Frühjahrsfeldzug gegen die Galen; es geht darum, das Land rings um Galanys Höhe zurückzuerobern, wo der Magierstein steht. Talorgen wird Gartnait und mich vielleicht mit seinen Kriegern reiten lassen.« Brideis Augen strahlten: Es war, als sähe er es bereits vor sich, eine Vision von Bannern, Waffen, die im Sonnenlicht glitzerten, donnernde Hufe, ein ruhmreicher Sieg. Tuala schauderte. »Sieh mich nicht so an«, sagte Bridei. »Ich werde irgendwann in den Kampf ziehen müssen. Wenn Broichan nicht wäre, wäre es wahrscheinlich schon vor Jahren geschehen.« »Du wirst mir fehlen. Es ist lange hin bis zum Frühling.« »Und du wirst mir fehlen, Tuala. Ich werde so bald wie möglich nach Hause kommen, das verspreche ich dir. Ich werde dir viel zu erzählen haben.« Tuala nickte. Das war zweifellos wahr; Bridei sprach auf eine Art mit ihr, wie er es nie mit anderen tat, ganz offen und direkt aus dem Herzen, ohne sich in Acht nehmen zu müssen. Und er würde tatsächlich viel zu erzählen haben. Geschichten geboren aus Tränen und Wut, aus Trauer und Zorn. »Was ist denn, Tuala? Was beunruhigt dich? Du weißt, dass ich zurückkommen werde. Ich komme immer wieder zurück nach Pitnochie.« Besorgt rückte er näher und legte den Arm um ihre Schultern. Es fühlte sich seltsam an; nicht so wie früher, wenn er sie an sich zog, um sie zu trösten, und - 205 sie ihn zum Dank dafür umarmen konnte. Nun fühlte es sich unbehaglich an - anders. »Es ist nichts.« Sie löste sich von ihm und stand auf. »Wann wirst du gehen? Ich möchte dir etwas zeigen.« »Ich habe noch Zeit. Aber nicht viel. Was ist es denn?« »Komm mit. Es liegt ein bisschen weiter im Westen. Ich muss es dir zeigen.« Aber als sie den Ort erreichten, diesen besonderen, geheimen Ort, den sie eines Tages entdeckt hatte, als sie allein im Wald unterwegs gewesen war, zügelte Bridei sein Pferd, wollte aber nicht absteigen. »Nein, nicht dorthin«, sagte er. Er war plötzlich bleich geworden. »Das ist kein guter Ort für dich, Tuala. Es ist nicht richtig. Wir sollten jetzt nach Hause zurückkehren.«
Tuala war verblüfft. »Nicht richtig? Wie meinst du das? Ich bin oft hier. Ich muss hierher kommen. Hier sehe ich...« Ihre Stimme verklang, als Erinnerungen an Verrat, an Blut und Tod auf sie eindrangen. »Hier siehst du was?« Nun stieg Bridei doch ab. Wie es das Muster der Dinge war, ritt Tuala nun sein altes Pony Blesse, während er selbst Schneefeuer hatte, mit langer Mähne und Schweif, kräftig und sicher und von hellem Grau, wie Schatten auf Winterhügeln. Tatsächlich wog Tuala so wenig, dass sie vielleicht immer noch die kleine, liebe Perle hätte reiten können, aber Perle war alt und schien damit zufrieden zu sein, im Stall oder auf dem Feld vor sich hinzuträumen und zu beobachten, was in der Welt vorging. »Hier kann ich dich sehen«, flüsterte Tuala, ohne ihn anzusehen. »Damit ich weiß, wo du bist und was du tust, wenn du nicht hier bist.« Bridei schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Es gibt schreckliche Visionen in diesem Teich, Tuala. Broichan nennt ihn den Dunklen Spiegel. Ich bin nur einmal hingegangen, und das war mehr als genug. Ein Mädchen deines Alters sollte solchen Einflüssen nicht ausgesetzt sein. Broi- 206 chan würde nicht wollen, dass du dort hingehst, und ich will es auch nicht.« »Wie alt warst du, als du in den Dunklen Spiegel geschaut hast?« Er antwortete nicht. »Es ist nicht nur das. Nicht zu wissen, wo du bist und ob du in Sicherheit bist. Es gibt auch noch ... andere Dinge.« »Wie meinst du das - andere Dinge?« Bridei wurde immer unruhiger; Tuala sah es daran, wie fest er Schneefeuers Zügel hielt. »Das kann ich dir hier nicht sagen. Wir müssen nach unten gehen, in das kleine Tal.« »Das Tal der Gefallenen.« Er sprach den Namen mit finsterer Miene aus. »Es gab hier vor langer Zeit einmal ein schreckliches Massaker. Dieser Ort ist erfüllt von Erinnerungen an den Tod.« »Und an das Leben. Komm schon, Bridei.« Sie wartete nicht, um zu sehen, ob er ihr folgte, sie eilte einfach den schmalen Weg durch das dichte Unterholz entlang. Der Nebel des Tals hob sich ihr entgegen. Einen Augenblick später hörte sie Brideis Schritte hinter sich. Als sie den Rand des Teichs erreichten, verschwand der Nebel und zeigte die gebeugten Gestalten der dunklen Druidensteine und die sich windenden Girlanden der Rankenpflanze mit ihren sternförmigen Blüten, die das Ufer mit ihrem üppigen Wuchs umgab. Das Licht war trüb und grünlich und spielte auf dem Wasser vor ihnen, denn es sah an einer Stelle dunkel und tief und gleich daneben seicht aus, und winzige Fische schössen nicht weit von der Oberfläche entfernt hin und her. Tuala setzte sich an den Rand des Teichs. »Sieh nicht hinein«, sagte Bridei. »Warum bleibst du nicht bei deiner Bronzeschale? Du kannst damit sehen, wann immer du willst, warum kommst du hierher? Das hier ist ...«Er brach ab. Einen Augenblick später spürte Tuala, wie er sich - 207 neben sie setzte; er berührte sie nicht, aber er war nahe genug, dass sie seine Wärme spürte, das einzig Menschliche im Tal der Gefallenen. Den Blick zu benutzen war Tuala immer leicht gefallen. Sie wusste nun, dass andere, Bridei zum Beispiel oder selbst Broichan, der so von Magie erfüllt war, den Blick mühsam erringen mussten; dass sie ihre Fähigkeiten nicht immer nutzen und nicht bei jeder Gelegenheit Visionen heraufbeschwören konnten. Für sie selbst war es vollkommen anders, und sie hatte widerstrebend erkannt, dass das mit ihrem Ursprung zu tun hatte, damit, was sie war: anders, eine von denen. Das bereitete ihr Unbehagen, aber die Gabe selbst schätzte sie sehr. Sie lieferte ihr ein Fenster zur Welt außerhalb von Pitnochie, außerhalb des Großen Tals, außerhalb des Hier und Jetzt. Sie konnte ein Bild in einem Regenbogen heraufbeschwören, in einem Wasserfass, in einem Krug Met. Aber nirgendwo sonst konnte sie das Staunen und den Schrecken finden, die ihr im Dunklen Spiegel enthüllt wurden. Bridei hatte Recht; das Tal und sein verborgener Teich enthielten tiefe Erinnerungen, eine Geschichte von schrecklichem Verlust und unbeschreiblichem Mut. Mehr als das, der Dunkle Spiegel zeigte, was geschehen würde oder geschehen könnte. Er warnte, prophezeite und leitete an. Und es war ein Ort des Guten Volkes. Sie hoffte, hier irgendwann die von ihrer eigenen Art von Angesicht zu Angesicht sehen und fragen zu können, warum sie sie ohne ein Wort ausgesetzt hatten. Vielleicht hatte die Leuchtende es so gewünscht. Vielleicht war es einfach nur ein Schabernack gewesen. Wenn Bridei in dieser Nacht weitergeschlafen hätte, wäre sie erfroren. Je älter sie wurde, desto öfter musste sie daran denken. Heute zeigte der Teich keinen Kampf. Stattdessen sah sie das Mittsommerritual noch einmal, bei dem der Haushalt sich auf dem Morgenbaumhügel versammelte und ein braunhaariges Kind den Spiralweg zum Licht ging. Aber - 208 diesmal erblickte sie die Zukunft. Das Kind war klein, nicht älter als sechs Jahre alt. Der Mann, der die Zeremonie leitete, der den Kreis zog und die Gebete anführte, war nicht Broichan, sondern Bridei; kein Druide im dunklen Gewand, sondern ein noch junger Mann, breitschultrig, groß und gut aussehend, mit leuchtend blauen Augen und einem langen Zopf aus lockigem Haar in der Farbe reifer Kastanien. Die Weise Frau, die mit der Stimme der Knochenmutter sprach, war nicht die hakennasige Fola, sondern eine jüngere Priesterin, schlank
wie eine Birke, mit bleichem Gesicht und klaren Augen; ihr dunkles Haar fiel auf den Rücken ihres strengen grauen Gewands. Die Blicke dieser beiden begegneten sich immer wieder, aber als das Ritual vorbei und der Met und das Brot geteilt waren, stand eine andere Frau an Brideis Seite, ein Mädchen, dessen wohlgeformte Gestalt in das schöne Kleid und den mit Pelz besetzten Umhang einer Adligen gehüllt war, ein Mädchen, das einen kleinen Blütenkranz im rötlichen Haar trug und den Mann anlächelte, der nun den Kopf mit vertraulicher Freundlichkeit senkte, um zu hören, was sie sagte. Der Junge, der die Kerze getragen hatte, stand nun neben ihnen, eine kleinere Version seines Vaters. Es gab vertraute Gesichter: Ferat, Mara, Fidich und Brenna mit ihren Kindern. Donal war nicht da, und auch Erip und Wid fehlten. Tuala konnte auch Broichan nirgendwo erkennen. Aber sie sah sich selbst, als das Ritual vorüber war, allein unter dem Morgenbaum, ihr Gesicht im Schatten, ihre Augen voll unendlicher Trauer. Sie sah, wie sie sich umdrehte, lautlos wieder in den Schutz der Birken zurückkehrte und die Familie von Pitnochie ihrem freudigen Fest überließ. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie waren kein Teil der Vision, sondern vollkommen wirklich. Bridei saß dicht neben ihr und hatte den Blick selbst auf den Dunklen Spiegel konzentriert. Tuala konnte sich nicht dazu bringen, noch einmal hinzuschauen. Sie schloss die Augen und zwang die Bilder aus ihrem Kopf. Sie musste sich erinnern, dass das, - 209 was sie im Spiegel sah, nicht unbedingt wirklich geschehen würde. Es konnte ebenso gut etwas sein, was geschehen konnte. Alles war möglich. Jeder Weg konnte betreten werden, wenn man es wirklich wollte. Immerhin war sie hier, oder? Sie war im Haus eines Druiden aufgewachsen. Sie hatte eine Erziehung erhalten. Sie war aufgewachsen, als wäre sie ein Menschenkind. Sie musste diese Version der Zukunft wegzwingen, musste daran denken, was sein sollte. Es war schwer. Sie waren hier; Tuala war umgeben vom Rascheln ihrer leichten Bewegungen, dem schleichenden Flüstern ihrer seltsamen Stimmen.... eine von uns... komm zurück zu uns... Sie hatten sich nie wirklich gezeigt, nicht in all diesen Jahren. Vielleicht hatten sie Grund, ihr nicht zu trauen; vielleicht gab es niemanden, dem sie trauten. Aber sie waren immer hier, drängten sich um den Teich, bereit, in Tualas Ohren zu zischeln, ihren Arm, ihre Wange zu streifen, ihr Interpretationen der Visionen zuzuflüstern. Komm zurück, lockten ihre sanften Stimmen nun, komm zu uns zurück. Hier kannst du eine Königin sein... »Ich bin keine von euch«, murmelte sie. »Ich bin ein gewöhnliches Mädchen, und ich lebe unter Menschen. Ich bin aus Fleisch und Blut. Ich schwebe nicht durch den Wald, flüstere keine Lügen und spiele keine Streiche.« Ahhh..., seufzten die Stimmen. Er hat dir einen Streich gespielt, als er dich hereingeholt hat. Er hat dich um Familie und Heim gebracht... kehre zu uns zurück... Wir brauchen dich... Wir werden dich lieben ... »Wie könnte ich jemals zurückkehren? Ich kann euch nicht einmal sehen!«, flüsterte Tuala wütend zurück. »Und ihr liebt mich nicht; das ist nur eine weitere Lüge. Ihr habt mich draußen im Schnee gelassen. Nun, jetzt habe ich mein eigenes Leben. Ich brauche euch nicht.« Von einem Dutzend Stellen gleichzeitig murmelten die Stimmen im Chor: Du brauchst uns ... oh, du brauchst - 210 uns ... Deshalb kommst du hierher, und wieder und wieder... du brauchst uns... Bridei regte sich und streckte die Arme; abrupt waren die Präsenzen verschwunden, als hätten sie sich innerhalb eines einzigen Atemzugs ins Land zurückgefaltet. »Du hast geweint«, sagte Bridei überrascht. »Was ist denn? Was hast du gesehen?« »Es geht mir gut«, sagte Tuala und wischte sich die Wangen. »Was hast du gesehen?« Brideis Züge waren ernst und angespannt. »Für mich gibt es nur ein einziges Bild im Dunklen Spiegel«, sagte er und stand auf. »Ich wollte heute nicht hierher kommen. Aber ich glaube, es war dennoch der richtige Zeitpunkt, dies hier noch einmal zu sehen, da ich im Frühjahr selbst gegen die Galen kämpfen werde. Ich werde es benutzen, um meine Entschlossenheit zu stärken. Wir sind es den tapferen Seelen schuldig, die hier gestorben sind, den Feind für immer aus dem Tal zu vertreiben. Es wird ein Akt der reinsten, endgültigen Rache sein. Ich bin froh, dass du mich hierher geführt hast, Tuala. Aber es tut mir Leid, dass deine Vision dich zum Weinen brachte. Es beunruhigt mich, dich so traurig zu sehen.« »Es geht mir gut«, wiederholte sie, obwohl das nicht stimmte, und sie wusste, dass er das wusste. »Manchmal gibt es hier traurige Dinge, aber man zeigt sie uns zu einem bestimmten Zweck.« »Gab es noch etwas, das du mir zeigen wolltest?«, fragte er. Die Freundlichkeit in seiner Stimme, die Höflichkeit, mit der er sich zu ihr beugte, erinnerten sie so schmerzlich an die Vision, dass sie es wie einen Schlag spürte. »Nein«, sagte sie. Sie hatte vorgehabt, ihm von den unheimlichen Präsenzen zu erzählen, die ihr immer häufiger folgten, Wesen zwischen Substanz und Schatten. Sie hatte nie in Worte fassen können, wie sehr sie sich danach sehnte, etwas über ihre wahren Eltern herauszufinden, über die - 211 Gründe, wieso man sie auf Broichans Schwelle gelassen hatte, und darüber, was diese Dinge für ihre Zukunft bedeuteten. Sie hatte ihm von der Angst erzählen wollen, die mit einer solchen Suche nach Wissen kam. Was, wenn sie ihre wahre Identität fand und feststellte, dass sie sich tatsächlich vollkommen außerhalb der Grenzen der Menschenwelt befand? Was, wenn dieses Wissen sie für immer von der einzigen Person auf der Welt abschnitt, die zählte? Und dennoch, wie konnte sie ohne dieses Wissen weiterleben? »Sicher?«
»Ich bin sicher. Es wird spät. Donal fragt sich bestimmt schon, wo du steckst. Wir sollten gehen.« »Tuala?« »Was?« »Wenn etwas nicht in Ordnung wäre, würdest du es mir sagen, oder?« »Es ist alles in Ordnung.« »Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte Bridei. »Ich lasse dich nicht gern zurück, besonders nicht, wenn du so aussiehst.« »Wenn ich wie aussehe?« »Traurig. Unruhig. Wie damals, als Broichan dich weggeschickt hat, als du noch klein warst.« Er streckte die Hand aus und wischte ihr die Tränen ab. Bei seiner Berührung, leicht wie die eines Schmetterlings, spürte Tuala, wie sich etwas tief in ihr regte, etwas gleichermaßen Wunderbares und Beängstigendes, etwas, wovon sie nicht gewusst hatte, dass es da war. Sie schloss die Augen einen Moment. Sie musste stark sein, ganz gleich, wie elend sie sich fühlte. Bridei hatte keine andere Wahl, als zu gehen; es genügte, dass er an sie denken würde, wenn er weg war. Und er trug immer noch ein Band um sein Handgelenk. Wenn er Pitnochie verließ, nahm er stets etwas von ihr mit. »Ich bin einfach nur traurig, dass du wieder weggehst, das ist alles«, sagte sie. »Wenn du weg bist, muss ich alle Fragen - 212 beantworten, die Wid und Erip stellen, und nicht nur die Hälfte.« Durch das Große Tal, diesen tiefen Spalt in der Erde, erstreckten sich vier lang gezogene Seen, die durch schmale Wasserwege miteinander verbunden waren. Man konnte mit dem Boot den ganzen Weg von der Küste im Norden nahe der Festung des Königs in Caer Pridne bis zu den Inseln im Westen bewältigen, wenn man über die Seen segelte und die Boote an den sie verbindenden Kanälen über Land trug, denn dort war die Strömung zu stark und es gab zu viele Felsen. Jeder See hatte seinen eigenen Namen und sein einzigartiges Wesen. Der Schlangensee erstreckte sich von der nördlichen Förde bis vorbei an Broichans Residenz unter den Eichen. Er war tief und dunkel; Schatten uralter Präsenzen weilten in diesem Wasser. Menschen, die dort fischten, trugen Amulette aus Eisen um den Hals und achteten darauf, in der Abenddämmerung wieder zu Hause zu sein. Südlich des Schlangensees lag der kleinste See in der Kette, der Jungfernsee, der den Beginn des Wegs hinauf zu den Fünf Schwestern kennzeichnete. Es war ein steiler, aber schöner Aufstieg. Die nebelverhüllten Täler und verborgenen Wasserwege, die von Bäumen überzogenen Hänge und hohen, kahlen Felsen boten Reisenden eine wunderbare Aussicht. Es gab Wölfe hier; die Menschen achteten darauf, nicht allein unterwegs zu sein, es sei denn, ihr Leben war ihnen nicht viel wert. Nur jene, die von der Hand der Leuchtenden berührt oder auserwählte Krieger des Flammenhüters waren, konnten sich auch allein sicher in diese Landschaft wagen, denn die wilden Tiere respektierten, was sie waren, sie wussten es tief in ihrem Blut. Einem solchen Menschen mochte sich ein Reh vielleicht selbst als Nahrung anbieten, und ein Wolfsrudel heulte einen Gruß spät in der Nacht, wenn der Reisende an einem kleinen Feuer in diesen - 213 gewaltigen, dunklen Hügeln saß. Der Weg dort entlang führte zum Meer im Westen und den Inseln, die im Wasser lagen wie schlafende Meeresgeschöpfe, im Sommer in eine Decke aus hellem Dunst gehüllt und in der dunklen Jahreszeit von Wind und Gezeiten gepeitscht. Der andere Weg, der nach Südwesten am Jungfernsee entlang führte, brachte einen zum Magiersee. Dieser weite See war ein unheimlicher Ort. In den Hügeln konnte man Trommelschlag hören, ferner Hörnerklang ertönte in einer geisterhaften Erinnerung daran, was einmal gewesen war. Dieses einsame Ufer war zweifellos der Schauplatz eines längst vergangenen Siegs oder einer Niederlage, einer uralten Schlacht, deren Schreie von Schmerz und Herausforderung ein Teil der Erinnerung des Sees geworden waren. Dieses Wasser hatte viele Menschenleben gesehen, die Steine und Bäume am Ufer umfingen alles mit ihrem Schweigen. Auf den östlichen Hängen oberhalb des Jungfernsees stand Rabenbrunn, Heim des Fürsten Talorgen, seiner Frau Dreseida und ihrer vier Kinder, drei Jungen und ein Mädchen. Der Haushalt war nicht klein. Talorgen hatte seine eigene private Streitmacht sowie die zugehörigen Waffenschmiede, Hufschmiede und Stallknechte, und er musste diese kleine Armee ernähren. Er hatte Pächter, die das Land bebauten und ihm die Vorräte lieferten, die er brauchte, das Vieh, das Leder und das Holz, und denen er im Gegenzug Schutz und Arbeit für ihre jüngeren Söhne als Krieger oder als Handwerkslehrlinge bot. Talorgen wurde überall geachtet, ebenso wie seine Frau. Als Kusine mütterlicherseits von König Drust konnte Dreseida rechtmäßig behaupten, vom königlichen Blut der Priteni zu sein. Rabenbrunn stand hoch oben an der Flanke des Krähennests, mit einem Blick über den Jungfernsee hinweg zu einem verborgenen Tal auf der anderen Seite. Im Südwesten, hinter der unheimlichen Weite des Magiersees, lag der Königssee, groß und breit, und öffnete sich schließlich zum - 214 Meer im Westen. Dies waren gefährliche Gewässer, ein gefährliches Ufer: Hier standen die Festungen der Galen. Und es gab noch mehr an der Westküste von Fortriu; von dieser Stelle nach Süden zur alten Grenze und weiter nach Norden bis zum wilden Land der Caitt hatten die Eindringlinge Fuß gefasst, und auch die besten Anstrengungen der Priteni, von Drust dem Stier und anderen Königen vor ihm, hatten diese Parasiten nicht
vertreiben können. Im Süden hatte der selbst ernannte König von Dalriada an einem Ort namens Dunadd eine Festung errichtet und sowohl in der Umgebung als auch auf den Inseln selbst Siedlungen errichtet. Die Galen machten es sich dort gemütlich. Die Lage von Rabenbrunn war perfekt geeignet für geheime Ausfälle in das Land von Dalriada. Aber sie setzte Talorgen auch großer Gefahr aus; seine Männer waren Ziele für Angriffe, wann immer sie zu ihren Missionen auszogen. Bridei erkannte bald, dass es in Rabenbrunn andere Gefahren gab als in Pitnochie. Von hier aus würden die Priteni vordringen und einigen Schaden anrichten können. Wenn es so funktionierte, wie Talorgen und die anderen Anführer hofften, würden sie im Sommer wieder am Magierstein stehen. Dann würde der Flammenhüter singen, und die Leuchtende würde vor Freude am Himmel über dem Tal tanzen. Ein solcher Sieg konnte dem Land große Hoffnung bringen. Nun, da Bridei und Gartnait junge Männer von achtzehn waren, beteiligten sie sich an den Grenzpatrouillen um Rabenbrunn. Im Allgemeinen wurden sie dabei von Donal oder einem von Talorgens ausgewählten Männern begleitet. Es war sinnvoll, zu dritt loszuziehen. Drei Männer konnten sich versteckt im Wald bewegen und durch geheime Signale miteinander in Kontakt bleiben: den Schrei einer Eule, das Rascheln eines Eichhörnchens im Unterholz. Wenn das Schlimmste geschehen sollte und einer verwundet wurde, konnte einer bei dem verletzten Mann bleiben und der andere Verstärkung holen. - 215 Es war ein frischer Herbsttag, und die Luft drang schmerzhaft kalt in die Lunge. Kleine Wolken standen vor Brideis und Gartnaits Mündern, als sie leise am oberen Rand des Kiefernwaldes entlangschlichen und Augen und Ohren nach Gefahren aufhielten. Heute waren sie nur zu zweit, denn die älteren Männer berieten sich mit einem neu in Rabenbrunn eingetroffenen Anführer, einem Mann, dessen Unterstützung Talorgen unbedingt gewinnen wollte. Donal sollte ebenfalls an der Beratung teilnehmen, ebenso wie der andere Mann, der für gewöhnlich mit den jungen Männern auf Patrouille ging. Gartnait und Bridei zogen es vor, ohne einen Dritten unterwegs zu sein. Sie hatten sich beide schnell miteinander angefreundet und wetteiferten miteinander, seit der schlaksige, sommersprossige Gartnait seinen ersten Sommer in dem wohl geordneten Haushalt von Pitnochie verbracht hatte. Es war schwer zu sagen, wer sich unbehaglicher gefühlt hatte, Gartnait in dieser Welt von Gelehrsamkeit, Ritual und Magie, oder Bridei im kommenden Sommer, als er den Lärm, die Scherze und die leidenschaftlichen Familienstreitigkeiten von Rabenbrunn ertragen und nicht nur mit Gartnait zurechtkommen musste, sondern auch mit seinen beiden jüngeren Brüdern und einer kleinen Schwester. Dreseida, die Mutter, war mit ihrem scharfen, abschätzenden Blick und ihren unerwarteten Fragen am schwierigsten. Im ersten Sommer, den er dort verbrachte, hatte sich Bridei nach Pitnochie gesehnt, nach Broichans ernster Disziplin, der stillen Ordnung im Haus, nach dem scharfen Geist und dem respektlosen Humor der beiden alten Männer. Aber vor allem hatte ihm Tuala gefehlt, denn wenn sie nicht an seiner Seite war, klein und ernst mit ihren Eulenaugen, die so vieles wahrnahmen, konnte er seine tiefsten Gedanken nicht aussprechen, sondern musste sie alle in sich anstauen. In diesem Sommer hatte er sehr beunruhigende Träume gehabt. Inzwischen war er an Rabenbrunn gewöhnt. Er hatte gelernt, über Scherze zu lachen, obwohl er immer noch nicht so - 216 recht wusste, wie man selbst welche machte. Er wusste, er hätte nie lernen können, was er für den Feldzug im kommenden Frühjahr brauchte, wäre nicht Gartnait gewesen, mit dem er üben konnte, während die beiden zu Männern heranwuchsen. Gartnaits kleine Brüder blickten bewundernd zu beiden auf. Ferada war etwas anderes. Bridei spürte, dass Gartnaits Schwester ihm ebenso wenig über den Weg traute, wie ihre Mutter es tat. Sie waren schwer zu deuten, die Frauen von Talorgens Haushalt; einen Augenblick lächelten sie und waren höflich, im nächsten waren sie plötzlich gekränkt, stellten Fragen, die er nicht beantworten konnte, oder wahrten eisiges Schweigen. Es war nicht überraschend, dachte Bridei, als er geduckt an den Überresten eines alten Steinwalls entlangschlich, dass er nie wusste, was er zu ihnen sagen sollte, denn er hatte überhaupt keine Übung. Die einzigen Frauen in Pitnochie waren Mara, die mehr an einen großen Wachhund erinnerte als an irgendetwas anderes, und die schüchterne Brenna. Tuala zählte nicht; sie war noch ein Kind. Wenn er jemals Zeit am königlichen Hof in Caer Pridne verbringen würde, würde er dort vielleicht ein paar Damen des Hofs kennen lernen und wissen müssen, wie er mit ihnen sprechen sollte. Diese Aussicht war alles andere als reizvoll. Ein leises Pfeifen: Gartnait, der vor ihm war, warnte ihn vor einer Gefahr. Bridei erstarrte. Eine Weile hörte man nur den Wind in den Kiefern und einen entfernten Vogelruf. Bridei konnte seinen Freund nicht sehen, aber er wusste, dass Gartnait ein paar hundert Schritt entfernt unter den ersten Bäumen stand und sich ebenso wenig regte wie er selbst. Bridei spürte, wie sein Herz raste, und zwang sich, gleichmäßig zu atmen, als er den Bogen von der Schulter nahm und einen Pfeil auflegte, jede Bewegung ein Schritt in einem Ritual, ausgewogen und sorgfältig. Unter diesen Kiefern wurde der Weg schnell dunkler, denn zwischen den massiven Stämmen der älteren Waldbewohner erhoben sich auch ihre hohen, schlanken Abkömmlinge zum Himmel und ver- 217 langten ihren Anteil am Licht. In ihrem Schutz gab es genügend Deckung: Felsvorsprünge, umgestürzte Bäume, die von Grün überwuchert waren, kleinere Pflanzen, die in geschützten Rissen oder plötzlichen engen Schluchten wuchsen. Es war nicht einfach, jemanden durch die oberen Bereiche dieses Waldes zu verfolgen; Talorgens Leute und Bridei hatten Tag und Nacht auf solchem Gelände geübt.
Selbstverständlich war es möglich, dass Gartnait nur ein Reh oder ein Wildschwein gesehen hatte. Dieser Tage, so kurz vor dem Feldzug, waren die Männer nur allzu bereit, jeden Schatten als Feind zu betrachten, ein Geweih als erhobenen Stab und einen Hauer als geschärfte Klinge. Wieder erklang das Pfeifen; ein einzelner Ton, kurz und dringlich. Mit ihm kamen eine Bewegung unten am Hügel im Farnkraut und eine Farbe, die nicht zum natürlichen Braun, Grau und Grün des Waldes gehörte: der helle Ton eines Menschengesichts, das schnell wieder verschwand, als der Mann Deckung suchte, hinter einem Busch, einem umgestürzten Baum, einem Steinhaufen. Er war schnell gewesen. Einen Augenblick später sah Bridei Gartnait links an sich vorbeieilen und hinter einer dichteren Kiefernreihe verschwinden. Sie hatten oft genug über eine solche Lage gesprochen, hatten Situationen wie diese mit den älteren, erfahreneren Männern geübt, vor allem mit Donal. Heute waren sie allein, und sie hatten keinerlei Erfahrung in echten Zweikämpfen. Bridei bewegte sich nach rechts und damit in die Gartnait gegenüberliegende Richtung. Sie würden den Eindringling in die Zange nehmen. Selbstverständlich, dachte Bridei, als er mit dem Bogen in der Hand über den mit Nadeln bestreuten Waldboden schlich, war es auch gut möglich, dass dieser Mann sie in eine Falle führte. Es konnte eine ganze Gruppe im Hinterhalt liegen. Er musste vorsichtig sein und durfte sich nicht sehen lassen, bis er wusste, was der Feind vorhatte. Das Ziel bestand nicht darin, den Mann zu töten. - 218 Spione verfügten über Informationen; sie mussten diesen hier lebendig erwischen. Bridei und Gartnait waren sich nach mehreren Jahren der gemeinsamen Ausbildung darüber im Klaren, dass jeder dem anderen gewisse Fähigkeiten voraus hatte. Gartnait würde nie ganz so gut wie Bridei mit dem Bogen umgehen können. Bridei konnte es im Laufen nicht mit seinem langbeinigen Freund aufnehmen, und er hatte auch nicht Gartnaits natürliche Begabung für alles, was mit dem Wasser zu tun hatte. Sehr zu Dreseidas Ärger machten viele im Haushalt Witze darüber, dass Talorgens ältester Sohn einen vom Seehundstamm unter seinen Ahnen haben müsse. Gartnait konnte nicht so gut mit Tieren umgehen wie Bridei, würde nie das Beste aus seinem Reitpferd herausholen oder Katze oder Hund eines Haushalts für sich einnehmen können. Und niemand in Rabenbrunn konnte sich so lautlos durch den Wald bewegen wie Bridei - eine Fähigkeit, die, wie Dreseida auf ihre trockene Weise feststellte, nur von jemandem gemeistert werden konnte, der von einem Druiden aufgezogen worden war. Damit hatte sie nicht Unrecht. Eine von Broichans frühesten Lektionen hatte sich seinem Schüler tief eingeprägt: Bewege dich immer durch den Wald, als wärst du ein Teil davon, Bridei, nicht wie ein Eindringling. Nun verursachten seine Füße kein Geräusch, oder zumindest keins, das von Menschen wahrzunehmen gewesen wäre. Er bewegte sich wie ein Waldtier, vorsichtig, aber sicher, spürte jede Erhöhung, jede Senke, jede Wurzel, jedes Blatt und jeden Stein, als wären seine Füße eine Erweiterung dessen, was unter ihnen lag. Seine Ohren waren auf das leiseste Geräusch eingestellt, seine Augen offen für das geringste Zeichen, das die Anwesenheit eines Fremden anzeigen könnte, seine gesamte Wahrnehmung zielte darauf ab, etwas zu bemerken, das nicht hierher gehörte. Er wusste, wo Gartnait war; das leise Knirschen eines vorsichtigen Stiefels auf dem Kiefernnadelteppich, das Flüstern - 219 von Atem zeigte an, wo sich sein Freund befand. Außerdem gab es bei dem, was sie taten, ein Muster, und sie kannten beide ihre Rollen, wie sie die alten Kinderreime kannten, beinahe instinktiv, irgendwo in ihrem schlagenden Herzen, dem pulsierenden Blut. Seite an Seite schlichen sie den Hügel hinab, bis sie dicht an der Stelle waren, an der der Feind sich geduckt hatte. Sie hätten einen dritten Mann gut brauchen können. Zu zweit, das wusste Bridei, mussten sie nun warten, denn er konnte sehen, dass ihr Mann sich in einer Senke zwischen Steinen versteckte, wo ein umgestürzter Baum, dessen gesplitterte Äste immer noch dichte Nadeln trugen, eine natürliche Barriere und ein Versteck bot. Einen Angriff auf eine solch sichere Stellung zu wagen wäre dumm, vielleicht sogar selbstmörderisch. Selbst ein einzelner Mann, der sich an einer solchen Stelle verbarg, konnte sich dort eine Weile gut verteidigen und dabei einigen Schaden anrichten. Zwei oder mehr konnten so lange aushalten, wie ihre Bewaffnung es erlaubte. Wenn sie einen Vorrat an Pfeilen oder Wurfmessern hatten, konnten sie zwei Angreifer leicht außer Gefecht setzen. Es war eine gute Wahl für ein Versteck gewesen. Aber nicht gut genug: Der Feind saß nun selbst in der Falle, denn seine Zuflucht hatte nur einen Ausgang, und wenn Bridei und Gartnait lange genug Wache hielten, würde er sich schließlich zeigen müssen. Dann würden sie ihn packen. Oder sie. Bridei hoffte, dass es nicht mehr als zwei waren. Erfolg bei diesem Unternehmen war von äußerster Wichtigkeit. Hier ging es nicht nur darum, einen Spion gefangen zu nehmen und den elenden Galen einen Schlag zu versetzen. Wenn sie es richtig machten, bot sich hier eine Gelegenheit, als Männer unter Männern akzeptiert zu werden, als Krieger, die es verdient hatten, zusammen mit Talorgens Elite ins Feld zu ziehen. Gartnait zeigte sich seinem Freund und signalisierte, dass er das Gleiche dachte wie Bridei. Sie ließen sich zu beiden - 220 Seiten und ein wenig oberhalb der Senke nieder, die Waffen bereit. Von dort unten würden sie nicht zu sehen sein. Nun waren die einzigen Geräusche im Wald das Plätschern eines Bachs, das Seufzen des Windes zwischen den Bäumen und das Rascheln von kleinen Tieren im Unterholz.
Es fiel Bridei leicht, still zu stehen, denn er war durch seine Erziehung an Disziplin gewöhnt. Für Gartnait war es schwieriger. Als ihre Wache immer länger dauerte und der Mann oder die Männer im Versteck sich weder regten noch einen Laut von sich gaben, konnte Bridei sehen, wie sein Freund das Gewicht von einem Bein aufs andere verlagerte, den Griff am Messer änderte, ein Gähnen unterdrückte. Dennoch, beide junge Männer schwiegen weiter. Je länger das dauerte, desto wahrscheinlicher war es, dass andere hier erscheinen würden, bevor es zu einer Konfrontation kam. Wenn einer von Talorgens Bewaffneten vorbeikam, um nach den jungen Männern zu sehen, würde das gesamte Muster sich ändern. Dann wäre es weniger wahrscheinlich, dass einer von ihnen verwundet oder getötet würde. Andererseits würden sie allerdings auch die Gelegenheit verlieren, allein mit der Situation fertig zu werden und endlich beweisen zu können, dass sie wahre Krieger waren. Bridei fand solche Gedanken beunruhigend, denn er wusste, dass sie eines erfahrenen Kriegers nicht würdig waren, für den die allgemeine Strategie mehr zählte als sein persönlicher Ehrgeiz. Lass sie nicht kommen, ehe wir mit der Arbeit fertig sind. Es war schließlich der Feind, der die Stille brach. Ein geflüstertes Wort erklang, nicht zu verstehen, aber mit einer Schärfe, die Bridei den Atem anhalten ließ. Der Mann benutzte die Sprache von Dalriada; es handelte sich tatsächlich um ihren Hauptfeind, und jetzt würde er sich vielleicht bewegen. Gartnait, das Messer in der Hand, warf Bridei einen Blick zu und zog die Brauen hoch. Angreifen? Jetzt? Bridei schüttelte den Kopf: Noch nicht. Dann machte er eine Reihe von - 221 Zeichen, von denen er hoffte, dass Gartnait sie verstand. Finger über die Kehle, dann ein Kopfschütteln: nicht töten. Er zeigte auf Gartnait, dann auf sich selbst, dann auf die Stelle, wo sie sich auf den Mann stürzen würden. Handgelenke zusammen wie gefesselt: Wir packen sie und fesseln sie. Sie hatten keine Zeit für mehr, aber Gartnait, in dessen Gesicht die Sommersprossen sich deutlich vor plötzlich blasser Haut abzeichneten, machte mit einem kleinen Nicken deutlich, dass er verstanden hatte. Sie waren zu nahe, um den Bogen benutzen zu können. Es würde ein Kampf Mann gegen Mann mit Messern werden. Brideis Mund wurde trocken; sein Atem war plötzlich schwerer zu beherrschen. Was, wenn der Feind sich nicht leicht besiegen ließe? Sie mussten einen längeren Kampf vermeiden, denn sie durften diesen Feind nicht zu schwer verletzen, damit er ihnen verraten konnte, was er wusste: Mit einigem Glück würden sie Gabhrans Stellungen erfahren, seine Bewaffnung, seine Streitkräfte, seine Pläne. Ein Spion war wie ein Schatz, und einen Schatz musste man vorsichtig behandeln, selbst als sehr junger Mann, der nie einem wirklichen Feind gegenübergestanden hat. Brideis Herz klopfte laut, sein Blut rauschte. Jede Faser seines Körpers war angespannt. Er benutzte die Techniken, die Broichan ihm beigebracht hatte, verlangsamte seinen Atem, beruhigte seine Gedanken. Wenn der Augenblick kam, musste er in jeder Hinsicht beherrscht vorgehen, denn sonst würden sie Talorgen, Donal und dem Rest dieses einflussreichen Haushalts nur die Geschichte einer vergeudeten Gelegenheit mitbringen können. Wer würde sie dann schon bei einem größeren Feldzug mitnehmen wollen, wenn sie mehr Verantwortung als Gewinn waren? Ein leises Hüsteln erklang aus dem Versteck, ein Geräusch beinahe so subtil wie ihre eigenen Zeichen, und einen Augenblick später brachen zwei Männer aus der Deckung und rannten rasch über das schwierige Gelände, so - 222 schnell, zu schnell. Gartnait verfolgte sie. Bridei schob das Messer in die Scheide, griff nach dem Bogen, legte einen Pfeil auf und schoss, alles in einem Zeitraum, der nicht einmal einen Atemzug zu umfassen schien. Er war immer ein hervorragender Schütze gewesen. Sein erster Schuss traf einen der Männer in die Schulter und ließ ihn taumeln, bevor er in den Kiefern verschwand; der zweite traf den anderen in den Oberschenkel. Dann rannte Bridei. Gartnait hatte einen der Feinde zu Boden gerissen und rang mit ihm im Unterholz; er fluchte, während er versuchte, dem Mann die Waffen abzunehmen, und sein Gegner schien die Flüche in seiner eigenen Sprache zurückzugeben. Bridei hielt inne. Der andere Mann, der mit der verletzten Schulter, schien auf magische Weise verschwunden zu sein. Er konnte sich nicht so viel schneller als sein Verfolger bewegt haben, nicht mit dieser Wunde. Bridei hatte genau gezielt; der Mann würde geschwächt sein und Schmerzen haben. Aber er würde immer noch ein Messer benutzen können, und es brauchte nur einen Augenblick, um aus der Deckung zu springen und einem Feind die Kehle durchzuschneiden. Bridei hielt den Atem an, lauschte nach einem Geräusch außer den wilden Flüchen, die Gartnaits Gefangener von sich gab, und dem Zischen von Gartnait selbst, der nun offenbar versuchte, dem Burschen die Hände zu fesseln. Er schloss diese Dinge aus, benutzte einen von Broichans Tricks, wandte seine Ohren einem einzigen anderen Geräusch zu, einem keuchenden Atemzug, einem Hecheln des Schmerzes; er benutzte seine Nase wie ein jagendes Tier und wartete auf den Geruch der Angst. Und da war er, der Feind, nicht weit entfernt unter dem Farnkraut, tief geduckt, und wartete. Wartete darauf, dass Bridei nur ein wenig näher kam... wartete darauf, zuzuschlagen ... Ein Schritt vorwärts, entschlossen und mutig. Den Bogen hielt er bereit, den Pfeil perfekt ausgerichtet. »Steh auf!«, rief Bridei. »Beide Hände auf den Kopf! Und - 223 jetzt komm raus, wo ich dich sehen kann, oder ich treffe beim nächsten Mal dein Herz!« Stille. Nichts rührte sich. »Ich ziele gut.« Bridei bemühte sich, einen befehlsgewohnten Ton anzuschlagen, und glaubte, Erfolg zu haben. »Willst du einen Vorgeschmack?« Und als er keine Antwort erhielt, ließ er den Pfeil los und betete, dass er den
Schuss richtig eingeschätzt hatte; den Atemgeräuschen nach zu schließen, gab es weniger als zwei Handspannen Spielraum. Er hörte, wie sein Pfeil sich in Holz bohrte - twack! - und war erleichtert, dass er sich nicht verrechnet und den Mann getötet hatte. Einen Augenblick später stand der Feind auf, eine Hand auf dem Kopf, den anderen Arm nutzlos an der Seite baumelnd. Rot breitete sich über die Schulter seines Waffenrocks und auf dem Hemd aus. Sein Gesicht war kreidebleich, sein Kinn angespannt, als bisse er vor Schmerz die Zähne zusammen. Sein Blick war kühl und abschätzend. »Komm her!«, befahl Bridei und wies mit dem Kopf in die entsprechende Richtung, denn der Mann würde kaum die Sprache der Priteni verstehen. Der Gäle gehorchte und ging zu der bezeichneten Stelle drei Schritte von Bridei entfernt im Schatten der Kiefern. Er starrte Bridei in die Augen, dann spuckte er ihm mit großer Präzision ins Gesicht. Bridei holte tief Luft. Er hob nicht die Hand, um den Speichel von der Wange zu wischen. »Dreh dich um«, befahl er. Der andere zog die Brauen hoch, um anzuzeigen, dass er nicht verstand. Er hatte nun einen leeren, ruhigen Ausdruck im Gesicht; tatsächlich schien er die ganze Sache ein wenig lächerlich zu finden. Er war jung, sah Bridei, vielleicht nicht viel älter als er selbst, obwohl seine Augen die eines viel älteren Mannes hätten sein können. »Dreh dich um!«, fauchte Bridei, zeigte mit dem Messer und griff nach dem Seil, das er in seinem kleinen Bündel trug. Der Feind drehte ihm den Rücken zu. Einen Augenblick später, als Bridei ihm die Handgelenke fesseln wollte, zuckte der Fuß des Galen, um Brideis Schienbein einen schwe- 224 ren Tritt zu versetzen, und er riss den unverletzten Arm fest zurück und traf Bridei in die Rippen. Aus dem Gleichgewicht gebracht und atemlos, tat Bridei das Einzige, was ihm übrig blieb: Er sprang vor und packte den Galen am verwundeten Arm, zog ihn mit seinem eigenen Gewicht nach unten, bis er seinen Gegner nach einem schmerzvollen Kampf am Boden auf den Rücken gedreht hatte, wo er keuchend liegen blieb und Brideis Messer an seinem Hals spürte. »Versuch das noch einmal, und ich breche dir auch den anderen Arm«, keuchte Bridei. »Gartnait!« Obwohl der Gäle verwundet war, war er sicher bereit für einen weiteren Trick, und noch einen; er würde weiterkämpfen. Bridei konnte es ihm ansehen; in den Augen dieses Mannes stand nicht die geringste Spur von Angst. »Binde seine Hände«, murmelte er, als Gartnait näher kam; Talorgens Sohn hatte seinen eigenen Gegner offensichtlich ordentlich verschnürt, denn es war kein Fluchen mehr zu hören. Gartnait beschäftigte sich mit dem Seil. Der Gefangene wand sich, versuchte, sich Brideis Griff zu entziehen. »Halt still, Abschaum!« Gartnait versetzte dem Mann einen Schlag gegen das Ohr und riss so fest an der Schnur, dass sie tief in die Handgelenke des Galen einschnitt. Bridei zuckte zusammen, stellte sich vor, wie die Schmerzen den Arm entlang bis zur verletzten Schulter zogen. Der Mann selbst zuckte nicht mit der Wimper. »Kann der andere laufen?«, fragte Bridei seinen Freund. »Wir sollten uns lieber beeilen. Es könnten noch mehr von ihnen da draußen sein.« »Ich habe meinen geknebelt«, sagte Gartnait. »Wir sollten es mit dem hier genauso machen.« »Ihr habt schon genug Krach gemacht, um ihre Verstärkung zu alarmieren, falls es welche gibt«, stellte Bridei trocken fest. »Geh schon, hol deinen Mann, ich kümmere mich um diesen hier. Und danke.« - 225 Gartnait grinste. »Keine Ursache. Du wirst sicher bald Gelegenheit erhalten, den Gefallen zu erwidern.« Auf Gartnaits Wange war ein wenig Blut - nicht sein eigenes - und in seinen Augen stand ein Ausdruck, den Bridei bei ihm noch nie zuvor gesehen hatte. Er konnte es nicht so recht deuten, aber das Ganze bewirkte, dass ihm plötzlich kalt wurde. Ohne sich umzudrehen, spürte er den Blick des Gefangenen, der auf ihm ruhte. Bridei schlang das Ende des Seils um eine Hand und hatte den Mann damit an der Leine wie einen Hund. Er richtete sein Messer auf den Rücken des Galen. »Beweg dich«, befahl er, und sie machten sich auf nach Rabenbrunn. Hinter ihm zerrte Gartnait seinen Gefangenen ungeschickt weiter, denn die Beinwunde bedeutete, dass der Mann nicht ohne Stütze laufen konnte. Bridei wurde langsamer, um nicht zu weit nach vorn zu geraten und damit Lob einzuheimsen, das ihm nicht allein zustand. Sie hatten gute Arbeit geleistet; Talorgen würde das anerkennen müssen. Auch Donal würde auf seine ruhige Art beeindruckt sein. Warum fühlte sich Bridei dann immer noch unbehaglich und angespannt, warum nagte etwas an ihm, das sich nicht richtig anfühlte? Lagen mehr Feinde hinter den Kiefern auf der Lauer und waren bereit zuzuschlagen? Sicher nicht; der ideale Augenblick für einen solchen Hinterhalt war lange vorüber. Würden ihre Gefangenen plötzlich versuchen, sich zu befreien, und diesmal bessere Arbeit leisten? Kaum; Gartnaits Gefangener wurde schwächer, sein Gesicht war gruselig weiß, die Beine gaben unter ihm nach; der da würde eine Weile nicht mehr rennen. Brideis Gefangener hatte aufgehört, sich zu wehren, obwohl seine Miene nicht die eines besiegten Mannes war. Dieser Bursche hatte nicht das rote Haar und das breite, blasse Gesicht, das unter den Männern von Dalriada so verbreitet war. Sein Gesicht war eher lang gezogen, sein Haar dunkel, sein Körper drahtig und muskulös. Der Mann hätte beinahe ein Pri- 226 teni sein können, nur dass er keine Spur der Nadeln eines Tätowierers im Gesicht trug. Jeder erfahrene Priteni-
Krieger trug seine Kampfzeichen mit Stolz, neben seinen Verwandtschaftszeichen, den Tieren und Symbolen, die anzeigten, zu welcher Familie er gehörte. Nach dem Frühlingsfeldzug würden auch Bridei und Gartnait sich ihre ersten Kampftätowierungen verdient haben. Die Haut dieses Mannes zeigte keine solchen Muster, und das kennzeichnete ihn an diesem Ort besser als alles andere als einen Fremden. Obwohl seine Wunde stetig blutete, ging der Gefangene entschlossen weiter, den Blick nach vorn gerichtet, die Schultern gerade. Bridei konnte das Gefühl nicht loswerden, dass er selbst abgeschätzt wurde. Wenn man mit einem Druiden als Lehrer aufwuchs, lernte man, andere Menschen auf subtile Art zu deuten, den Atem zu beobachten, die geringste Veränderung im Blick. Es waren die Augen dieses Mannes, die ihn mehr als alles andere verstörten. Sie waren wie die Augen der Mörder im Dunklen Spiegel, der Krieger, die vor langer Zeit durch das Tal der Gefallenen gefegt waren und alles getötet hatten, was sich ihnen in den Weg stellte. In diesen Augen standen weder Mitleid noch Hoffnung; sie sahen nur die Aufgabe, die vor ihnen lag, und kannten nur den Willen, sie zu erledigen. Eine Armee mit solchen Blicken würde schwer aufzuhalten sein und, dachte Bridei schaudernd, beinahe unmöglich anzuführen. Solche Männer kämpften ohne ein Bewusstsein ihrer eigenen Sterblichkeit, sie töteten, ohne zu wissen, dass ihr Feind ein Mensch war. Eine wahrhaft mörderische Truppe. Als sie die Steinwälle erreichten, die die inneren Höfe von Rabenbrunn umgaben, stützte sich Gartnaits Gefangener schwer auf die Schulter des jungen Mannes und schien kurz davor zu stehen, das Bewusstsein zu verlieren. Der andere bewegte sich hoch aufgerichtet wie ein König und hatte den Mund geringschätzig verzogen. Bald schon erschienen Talor- 227 gen und Donal; die Beratung war von der Nachricht, dass die beiden jungen Männer Gefangene brachten, unterbrochen worden. Es war alles, worauf Bridei gehofft hatte. Männer sammelten sich um sie, um ihnen zu gratulieren, und als die Gefangenen weggeführt wurden, bemerkten mehrere, dass man ihnen wahrscheinlich wichtige Informationen entreißen konnte. In Talorgens Augen stand überraschter Respekt, in Donais zurückhaltender Stolz. Und dennoch, während des gesamten restlichen Tages und des Abends wurde Bridei seine Unsicherheit nicht los. Er konnte den Grund dafür nicht herausfinden. Es war in mancher Hinsicht ein Fluch, von einem Mann wie Broichan aufgezogen worden zu sein. Gartnait hatte gelernt, wie man kämpfte, wie man sich in Gesellschaft verhielt, wie man ritt. Er lernte nun, wie man ein großes Anwesen wie das seines Vaters beaufsichtigte. Bridei hatte stattdessen andere Fähigkeiten erworben: Man hatte ihm beigebracht, wie man hinsah und zuhörte, wie man Überraschungen erwartete und darauf vorbereitet war, wie man die Stimmungen eines Menschen deutete und manchmal seine Gedanken aus einer winzigen Geste schließen konnte, einem kaum merklichen Flackern des Blicks. Man hatte ihm beigebracht, wie man aus allem, womit man zu tun hatte, lernen konnte: aus dem Guten, dem Schlechten, aus Triumphen und Demütigungen. Heute hatten Gartnaits blitzende Augen seine Freude über ihren Erfolg gezeigt; seine geröteten Wangen machten deutlich, wie sehr er sich nach der Anerkennung seines Vaters sehnte. Bridei nahm Talorgens Glückwünsche entgegen, wie sein Freund es tat, und nickte höflich und erklärte, dass er seinen eigenen Mann ohne Gartnaits Hilfe verloren hätte. Aber was ihm auffiel und Gartnait nicht, war ein geringes Zögern in Talorgens Stimme, ein kleines Zucken der Lippe, als wäre das, was sie getan hatten, so mutig und geschickt es gewesen sein mochte, auf gewisse Weise nicht, was sie dach- 228 ten. Und später beobachtete Bridei, dass Cenal, ein zurückhaltender Schatten von einem Mann, dessen Aufgabe im Verhör von Gefangenen bestand, tatsächlich nach ihrer Ankunft für beträchtliche Zeit verschwand und es gewisse Hinweise gab, dass die üblichen Prozeduren angewandt wurden, aber es erklang nur eine einzige Stimme aus der isolierten Hütte hinter dem Pferdestall, und Bridei war sicher, dass nicht sein Gefangener da schrie. Das ließ sich selbstverständlich leicht erklären. Es galt als klug, Gefangene voneinander zu trennen und sie gegeneinander auszuspielen. Aber Brideis Unbehagen blieb, und die Geräusche aus der Hütte verklangen zu leisem Schluchzen und Stöhnen, und schließlich hörte man gar nichts mehr. Was hätte Bridei tun sollen? Man ging nicht zu einem mächtigen Mann wie Talorgen und verlangte Erklärungen, besonders nicht, wenn die eigenen Zweifel auf nichts weiter als einem vagen Gefühl beruhten. Beim Abendessen erwähnte Talorgen, dass die Gefangenen beim Verhör gestorben waren, und dass man ein paar nützliche Tatsachen von ihnen erfahren hatte. Ihr Tod war ein wenig verfrüht gewesen; nach allem, was Cenal ihm gesagt hatte, hatten die Wunden von Brideis Pfeilen und die Blutungen danach beide Männer sehr geschwächt und ihren Widerstand gegen die Folter verringert. »Ich verlasse mich darauf, dass du nicht zu heftig warst«, hatte Talorgen zu Cenal gesagt, der am nächsten Tisch saß. »Nein, Herr. Ich verstehe mein Handwerk.« Ein gekränkter Ausdruck lag auf Cenals unauffälligen Zügen. Bridei legte das Messer hin; der Appetit auf das gute Rindfleisch war ihm plötzlich vergangen. Er sagte nichts; es wäre unangemessen gewesen, seine Meinung darüber kundzutun. Vielleicht hätte er die Männer gefangen nehmen sollen, ohne ihnen so schwere Wunden beizubringen. Aber nun wünschte er sich beinahe, sie gleich getötet zu haben. Alle wussten, dass jeder Gäle, der dumm genug war, sich auf Talorgens Land erwi- 229 -
sehen zu lassen, gefoltert wurde; Gabhrans Anführer taten das Gleiche mit den Spionen der Priteni, wenn die Situation umgekehrt war. Aber es war etwas anderes, wenn man den Mann selbst gefangen genommen, ihn zu Boden gerungen, ihn an einem Seil geführt, ihm in die Augen geschaut und gesehen hatte, wie sein Blut aus einer Wunde lief, die man selbst verursacht hatte. Es war etwas anderes, wenn man ihn selbst abgeliefert hatte, damit er zu Tode gefoltert wurde. Bridei erinnerte sich an das Gesicht des Mannes, unerbittlich wie in Stein gemeißelt. Der dunkelhaarige Gäle hätte nicht nur keine Geheimnisse verraten, er wäre auch ohne einen Laut gestorben, da war Bridei sicher. Und das bedeutete, dass Talorgen gelogen hatte, als er behauptete, beide Gefangene hätten nützliche Informationen verraten. Es gab nur einen Menschen, mit dem Bridei darüber sprechen konnte, und das war Donal. Er musste auf eine Gelegenheit warten: Das Abendessen dauerte für gewöhnlich lange; die Familie saß am oberen Tisch, der große Haushalt an langen Tischen in der Halle, während die vielen Bewaffneten, die bereits in Vorbereitung auf den Feldzug im Frühjahr in Rabenbrunn lebten, auf langen Bänken an den Wänden saßen. Hunde streiften umher, Fackeln qualmten, Bier floss. Als Brideis Lehrer und Leibwächter saß Donal am Tisch der Familie. Bridei versuchte, seinen Blick einzufangen, ihm zu bedeuten, dass er später mit ihm sprechen wollte, aber Donal debattierte mit Talorgen über eine Feinheit seiner Strategie, und es war die Dame Dreseida, die an diesem Abend offenbar unbedingt mit Bridei sprechen wollte. Das dunkle Haar fest unter einem Kopfputz mit Perlenfransen zurückgebunden, die schlanken Hände mit den beringten Fingern elegant auf dem Tisch vor sich gefaltet, beugte sie sich vor und versetzte Bridei einen forschenden Blick. Ihre Verhöre waren unvorhersehbar und erfüllten den jungen Mann mit tiefem Unbehagen; er wusste bereits aus Erfahrung, wie immer er auch antwortete, Dreseida war nie damit zufrieden. - 230 »Nun, Bridei, du hast dich heute als Held erwiesen. Ich nehme an, Broichan wird sehr stolz auf dich sein.« Bridei setzte zu einer Antwort an, aber Gartnaits Schwester Ferada war zu schnell für ihn. »Broichan ist ein Druide, Mutter.« Ihre Stimme triefte nur so vor Verachtung. Sie war Dreseidas Stimme sehr ähnlich, und das Gleiche galt für Feradas aufrechte Haltung, ihre majestätische Art, den Kopf zu heben, und ihr makelloses Aussehen, jedes Haar an Ort und Stelle, jede Falte ihres Gewands dort, wo sie hingehörte. Ferada war jünger als Gartnait, aber man konnte sie nicht ansehen, ohne zu wissen, was für eine Furcht erregende Frau sie eines Tages sein würde. »Druiden interessieren sich nicht für mutige Taten und Waffenkunst. Wenn Broichan hier wäre, würde er Bridei fragen, ob er etwas daraus gelernt hat, zwei Männer mit seinen Pfeilen aufzuspießen und sie dann nach Hause zu schleppen, wo sie von der Hand von Vaters Schurken eines qualvollen Todes starben. Stimmt das nicht, Bridei?« Es wurde still, und Ferada erkannte, dass das Reden und Lachen in ihrer Nähe verklungen war, während sie sprach, und alle am oberen Tisch ihre Worte gehört hatten, auch ihr Vater. Beschämte Röte stieg in ihre Wangen. »Ferada hat Recht.« Bridei sprach schnell, um das unbehagliche Schweigen zu beenden. »Mein Pflegevater würde vor allem danach fragen, was ich aus der Erfahrung gelernt habe, nicht unbedingt nach dem Ereignis selbst. Dennoch, Druiden interessieren sich auch für die Fähigkeiten eines Mannes im Kampf; es ist noch nicht so lange her, dass Broichan an König Drusts Seite ritt, als dieser gegen die Armeen von Dalriada kämpfte. Es gehört auch zu den Aufgaben eines Druiden des Königs, den Herrscher in Kriegsfragen zu beraten: die Vorzeichen zu befragen, Prophezeiungen zu machen, den besten Zeitpunkt für einen Vormarsch oder einen Rückzug zu finden. Er hilft dem König bei seinen Entscheidungen und beschwört das Wohlwollen der Götter auf ihn herab.« - 231 »Ferada mag die Wahrheit gesagt haben«, stellte Talorgen mit einem verärgerten Blick auf seine Tochter fest, »aber es bestürzt mich, dass sie ihre Zunge nicht genügend im Zaum hat, um ihre Bemerkungen mit Zurückhaltung zu formulieren.« Ferada kniff die Lippen zusammen, und sie blinzelte mehrmals. »Dennoch«, warf ihre Mutter ein, »deine Tochter verdient eine Antwort auf ihre Frage, wie unelegant sie sie auch gestellt haben mag.« Dreseida wandte Bridei ihren durchdringenden Blick zu und zog die Brauen hoch. »Welche Frage?«, wollte Gartnait erstaunt wissen. »Sie hat keine Frage gestellt.« Nun beobachtete Talorgen Bridei, und Donal tat das Gleiche. »Das ist wahr«, sagte Bridei so ruhig er konnte, »aber die Frage war deutlich, wie unausgesprochen auch immer. Broichans Frage: Was lässt sich aus den heutigen Ereignissen lernen?« »Und?«, hakte Gartnait nach. Es war klar, dass er selbst nicht antworten wollte. »Man lernt nicht so schnell.« Bridei sehnte sich zutiefst danach, wieder zu Hause in Pitnochie zu sein, wo es Stille genug gab, um über solche Fragen nachzudenken, wo es Raum genug gab, um die Stimmen der Götter zu hören, wo die Menschen ruhig dasaßen und ihm Zeit ließen, um nachzudenken. Er brauchte Broichan, er vermisste Wid und Erip, und er sehnte sich nach Tuala und ihrem Schweigen. »Ich möchte nicht den Eindruck machen, als hielte ich mich für so weise wie meinen Pflegevater. Das hier war Gartnaits und meine erste Begegnung mit dem Feind.« »Und ihr habt es gut gemacht«, sagte Talorgen. »Ihr habt euch gut geschlagen«, fügte Donal hinzu. Aber in seinem Tonfall lag eine Frage.
Bridei wusste, dass er mehr sagen musste, obwohl er sei- 232 ne Gedanken lieber für sich behalten hätte. Aber zumindest um Gartnaits willen sollte er fortfahren, so zu tun, als wäre es ein vollkommener Triumph. Ferada sollte verflucht sein; sie mischte sich in alles ein und war klüger, als gut für sie war. »Ich war überrascht festzustellen, dass dieser Feind ein menschliches Gesicht hatte«, sagte er. »Das hat mich beunruhigt, denn alles in der Geschichte unseres Volkes macht mich zu einem Feind der Galen, und das werde ich bleiben bis zu dem Tag, an dem wir sie von unserem Ufer vertreiben. Ich muss immer noch lernen, mit diesen Dingen fertig zu werden. Mit der Zeit wird es mir gelingen. Auf dem Schlachtfeld können wir uns solche Skrupel nicht leisten. Ich habe heute Mut erlebt. Cenal wird uns sicherlich sagen können, dass der gleiche Mut bis zum Ende demonstriert wurde.« Zum Glück schien Talorgen Brideis kleine Ansprache nicht übel zu nehmen. »Das mag sein«, sagte der Anführer, »aber wir werden nicht in Einzelheiten gehen, nicht solange Frauen und Kinder anwesend sind. Krieg ist ein brutales Geschäft. Ihr seid noch junge Männer. Das hier war nur ein Vorgeschmack dessen, was euch bevorsteht. Glaubt mir, wir alle hatten am Anfang solche Gefühle, aber sie dauern nicht lange. Wenn wir sie nicht unterdrückten, würden sie nur unserer Entschlossenheit im Weg stehen. Und nun wollen wir von anderen Dingen sprechen. Uns steht eine Veränderung bevor; unser Unternehmen im Frühling wird bedeutend sein. Sobald die Feindseligkeiten begonnen haben, wird Rabenbrunn nicht mehr sicher sein. Dreseida wird vor dem Jungfrauentanz das Tal hinauf reisen und die Familie in den Schutz von Drusts Hof bringen.« Er wandte sich Ferada zu, die sich wieder gefasst hatte und nun seinem Blick mit einem eindeutig herausfordernden Ausdruck begegnete. »Das wird dir eine Gelegenheit bieten, ein wenig Zurückhaltung zu lernen, Tochter«, sagte Talorgen nicht unfreund- 233 lieh. Es war bekannt, dass er es vorzog, wenn seine Kinder aussprachen, was sie dachten, selbst wenn das Ergebnis hin und wieder peinlich war. Tatsächlich hatte er irgendwann einmal geäußert, wenn Gartnait so viel Interesse an den Angelegenheiten von Fortriu zeigte wie seine Schwester, könnte er einmal mehr aus sich machen, als nur ein fähiger Kämpfer zu sein. »Du wirst im Haus der Weisen Frauen in Banmerren untergebracht werden«, fuhr der Anführer fort, »wo du den hervorragenden Unterricht erhalten wirst, den sie Mädchen von adliger Geburt erteilen. Meine Gemahlin wird am Hof bei ihren Verwandten bleiben, zusammen mit den Jungen.« Talorgen musste sich des Schweigens von Gartnait und Bridei bewusst sein; ihre eigenen Plätze in diesem Plan mussten noch erläutert werden. Oder betrachtete man sie immer noch als Jungen, die in Sicherheit gebracht wurden, sobald etwas Interessantes passierte? Donal räusperte sich. »Bridei, Broichan erlaubt dir, an dem Feldzug gegen die Galen teilzunehmen«, sagte er. »Er ist nicht gerade froh darüber, aber er weiß, dass es Zeit ist, mehr als Zeit, wenn ich ehrlich sein soll. Tatsächlich wird er eine kleine Truppe aus seinem eigenen Haushalt schicken, sodass wir ein paar alte Freunde wieder sehen werden, wie Uven und Cinioch. Ich nehme an, Talorgen wird Gartnait mit dir reiten lassen. Ihr habt heute gezeigt, was ihr gemeinsam leisten könnt.« Talorgen lächelte. »Wir werden euch beide gut gebrauchen können. Seid jedoch gewarnt: Es wird nicht wie heute zugehen; in einer Schlacht gibt es keinen ausgeglichenen Kampf Mann gegen Mann. Krieg ist schmutzig, grausam und gefährlich. Jeder gute Mann fühlt sich hin und wieder davon angewidert. Aber es ist notwendig, solange es Abschaum wie die Galen auf dieser Welt gibt. Sie haben lange genug unsere Küsten besudelt und unser Land verwüstet. Im Frühjahr sollten sich die Gezeiten wenden. Wenn wir Galanys Höhe - 234 einnehmen, wird uns das Hoffnung geben, Hoffnung auf größere Dinge. Und ihr beiden werdet ein Teil davon sein.« »Wenn du noch breiter grinst, Gartnait«, meinte Ferada, »dann zerfällt dein Kopf in zwei Teile.« Gartnait zog eine Grimasse und konnte dennoch sein Entzücken nicht verbergen. Was Bridei anging, so waren seine Gefühle gemischter, als er erwartet hätte. Endlich als Mann und Krieger akzeptiert zu werden, war gut und wärmte sein Herz. Dennoch, nach den heutigen Ereignissen fragte er sich, ob er auch nur im Geringsten verstand, was es wirklich bedeutete. Die Bilder aus dem Dunklen Spiegel waren nun viel näher an der Oberfläche seiner Gedanken, voller Trauer und Verwirrung, voll von schrecklichem Mut wie dem des jungen Mannes, dessen Tod er heute verursacht hatte. Aber dieser Mann war ein Spion gewesen. Er war der Feind gewesen, von der gleichen Art wie diese Krieger mit dem leeren Blick aus dem Tal, die getötet hatten, ohne nachzudenken. Wie konnte man kämpfen, wie man sollte, wenn man solche Bedenken hatte? »Das ist ungerecht.« Gartnaits jüngster Bruder Uric, eine explosive Präsenz von sieben Jahren, war aufgesprungen und schlug nun so heftig auf den Tisch, dass Bretter und Messer tanzten. »Wir werden nie alt genug sein, um in den Krieg zu ziehen! Wer will denn schon wieder den Hof besuchen? Ein Haufen alter Männer, die in den Ecken sitzen und murmeln, das ist alles, und Leute, die uns sagen, wir sollen still sein.« Talorgens Blick wandte sich nachdenklich seinem jüngsten Sohn zu, und Uric schwieg. »Er hat Recht«, warf Bedo, ein Jahr älter und geringfügig weiser, ein. »In Caer Pridne müssen wir uns die ganze Zeit gut benehmen. Wir würden lieber zu Hause bleiben, wenn hier endlich einmal etwas geschieht, Vater! Wir
könnten helfen. Es gibt alle möglichen Dinge, die wir tun könnten. Wenn Gartnait bleiben darf, warum dann nicht wir?« - 235 »Ja, ihr würdet wirklich viel nützen«, sagte Gartnait leise und versetzte seinem kleinen Bruder einen Rippenstoß. »Du hast nicht die geringste Vorstellung, um was es geht, Bedo.« Feradas Stimme hatte wieder ihren üblichen Unterton ruhiger Überlegenheit. »Gartnait und Bridei sind Männer. Ihr beiden seid kleine Kinder. Gartnait und Bridei könnten am Ende des Frühjahrs tot sein. Habt ihr daran schon einmal gedacht? Seid froh, dass ihr zu jung seid. Ihr werdet schon noch früh genug drankommen. Und wenn ihr das für ungerecht haltet, versucht einmal, ein Mädchen zu sein.« »Lasst uns nicht mehr von Ungerechtigkeiten sprechen«, sagte ihre Mutter und stand auf. »Ihr tut, was euer Vater und ich euch sagen, und dabei bleibt es. Und jetzt ist es Zeit für euch Jungen, zu Bett zu gehen. Ferada, ich habe etwas für dich zu tun; überlassen wir die Männer ihren Kriegsgesprächen.« Viel später fand Bridei Donal allein beim nördlichen Wall, wo er auf den dunklen Hang und zu dem trüben, bleichen Band des Jungfernsees hinausschaute. Ihm war klar, dass Donal auf ihn wartete; nach so vielen Jahren als Lehrer und Schüler und dann eher als Freunde verstanden sie einander sehr gut. Eine Weile standen sie in geselligem Schweigen beisammen und lauschten den leisen Geräuschen der Nacht. »Was heute geschehen ist...«, begann Bridei. »Mhm?« »Vielleicht bilde ich es mir nur ein. Ich könnte es nicht vor Talorgen aussprechen, es würde sich dumm anhören. Es sah nach außen so aus, als hätten wir einen guten Fang gemacht, als hätten sich die Gefangenen als nützlich erwiesen. Aber etwas daran stimmt einfach nicht.« »Ah ja?« »Ich kann nicht viel über den Mann sagen, den Gartnait erwischt hat. Aber der, den ich gefangen genommen habe, hätte nicht so schnell unter der Folter nachgegeben. Und er - 236 hat vielleicht geblutet, aber die Wunde war nicht schwerwiegend genug, um ihn umzubringen. Ich habe sorgfältig gezielt; das tue ich immer. Warum sind sie also mit ihnen so grob umgegangen? War das nötig?« »Sag du es mir«, forderte Donal. »Ich bin es wieder und wieder durchgegangen«, sagte Bridei nachdenklich. Er sprach leise; es waren immer noch andere in der Nähe. »Dieser Mann hätte nützlich sein können, das habe ich gespürt. Vielleicht hätte er nicht geredet, aber er hätte einigen Wert gehabt, vielleicht als Geisel. Es wäre besser gewesen, ihn wieder zusammenzuflicken und zu behalten. Was Cenal getan hat, war einfach ...« »Unmenschlich? So sind die Dinge nun einmal. Es gibt keinen Platz für Skrupel, wenn Spione bis an die Schwelle eines Mannes gelangen. Diese Leute haben gezeigt, dass sie nichts für Nettigkeiten übrig haben, wenn unsere Krieger in ihre Hände fielen. Ihre Methoden würden dich anwidern.« »Es war roh«, sagte Bridei unbeirrt. »Roh, und wie ich fürchte, vollkommen erfolglos, was immer Talorgen darüber verlauten ließ. Warum hat er diesen Kurs eingeschlagen? Talorgen ist weder dumm noch grausam. Es gibt etwas, was er uns nicht verrät.« Donal nickte. »Mag sein. Dennoch, wenn du ihn nicht offen fragen willst, wirst du wohl nicht herausfinden, was es ist.« »Du glaubst nicht«, verlieh Bridei seiner größten Sorge Ausdruck, »dass die ganze Sache geplant war?« »Wie meinst du das, geplant?« »Ich meine, dass es vollkommen vorgetäuscht war, sodass Gartnait und ich Gelegenheit erhielten, unsere Fähigkeiten als Krieger zu demonstrieren, ohne wirklich in Gefahr zu geraten. Ein falscher Hinterhalt, Männer, die sich als Feinde ausgaben, eine seltsam passende Gelegenheit für uns beide, sie ohne Hilfe gefangen zu nehmen. Es beunruhigt mich, dass sich Broichan so um meine Sicherheit sorgt. Das war - 237 alles schön und gut, als ich noch ein Kind war, damals, als es aussah, als wollte jemand ihn treffen, indem man mich umbrachte. Aber ich bin jetzt ein Mann. Stört es dich nicht, dass du immer in meiner Nähe sein musst, du oder ein anderer ausgesuchter Wachtposten, dass du vor meiner Schwelle schlafen und mein Wachhund sein musst, statt mein Freund zu sein? Talorgen behauptet, ich sei ein Mann, aber die Sicherheitsmaßnahmen meines Pflegevaters zeigen mir, dass ich für Broichan immer noch ein Kind bin, das vor Schaden bewahrt werden muss. Vielleicht war der kleine Triumph dieses Tages der eines Kindes, den andere für mich arrangiert haben.« »Ich bin dein Freund, Bridei.« Donais Stimme war sehr leise. »Das weiß ich; und du bist ein besserer Freund, als ich mir je wünschen könnte. Aber man muss mir irgendwann gestatten, auf meinen eigenen Füßen zu stehen.« »Ich kann dir eins sagen«, erwiderte Donal. »Die Leiche, die heute Nachmittag aus Cenals Haus der Schmerzen geschleppt wurde, war echt.« Wieder wurde Bridei kalt, und die Kälte schlang sich um sein Herz wie die Hand eines Gespensts. »Leiche? Welcher Mann war es?« »Ein Bursche mit einem Verband um das Bein. Ich weiß nichts über den anderen; ich bin nicht stehen geblieben, um zu sehen, wie er ebenfalls rausgebracht wird. Diese Männer sind Dreck, Bridei. Sie sind nicht einmal wert,
unter deiner Stiefelsohle zu kleben. Du solltest keine Gedanken mehr an sie verschwenden.« Bridei schwieg. »Was Jungen und Männer angeht«, sagte Donal und legte die Hand auf Brideis Schulter, »so wirst du beim Feldzug deine Rolle als Krieger unter Kriegern spielen; das ist etwas, dem du dich stellen musst, ebenso wie Gartnait. Aber Broichan hat Recht, wenn er dich schützen will. Viel- 238 leicht hätte er die Gründe besser erklären sollen. Ich denke, du hast das Recht, das von ihm zu verlangen, wenn dieser Feldzug vorüber ist. Es ist Zeit, dass er dir mehr sagt. Was mich angeht, so tue ich, was man mir befiehlt. Ich weiß, du glaubst, dass solche Wachsamkeit nicht notwendig ist. Aber das stimmt nicht. Du bist immerhin der Sohn eines Königs.« »Wir sind weit von Gwynedd entfernt«, wandte Bridei ein. »Dennoch. Nach dem Frühling könnten sich die Dinge verändern. Bis dahin wirst du mich noch ertragen müssen.« Bridei warf dem tätowierten Krieger einen Blick zu. Donais Miene war in dem trüben Licht nicht zu deuten. »Ich habe keinen Grund, mich zu beschweren«, sagte er leise. »Wenn du nicht hier wärst, fände ich es unerträglich. Du bist mein Stück Zuhause, wenn ich nicht in Pitnochie bin. Du hilfst mir, die Dinge zu verstehen. Aber wenn ich in den Kampf reite, möchte ich auf der gleichen Ebene stehen wie die anderen Männer, die gleichen Gelegenheiten haben, die gleichen Risiken eingehen. Du solltest dich nicht meinem Schutz widmen, sondern den Feind verfolgen. Ich weiß nicht, welche Anweisungen Broichan dir gegeben hat, aber ich hoffe, du wirst respektieren, was ich gerade gesagt habe.« »Ah ja.« Es war unmöglich zu sagen, wie Donal das meinte. »Ein Mann ist heute wegen etwas, das ich getan habe, gestorben.« »Und noch mehr werden sterben, wenn du in den Krieg reitest, deine eigenen Leute ebenso wie Feinde. Du wirst spüren, wie sich dein Messer im Herzen eines Mannes dreht. Du wirst den Ausdruck in seinen Augen sehen, wenn er nach seiner Mutter schreit, während du ihm den Speer in die Eingeweide stößt. Das erste Mal ist es am schlimmsten. Aber es wird niemals einfach, es fällt einem nie leicht. Du musst dich daran erinnern, was sie getan haben, diese dreckigen Mistkerle. Du musst dich jeden Augenblick, den du da draußen - 239 bist, an das Unrecht erinnern, das sie unserem Land angetan haben, die Vergewaltigungen, das Gemetzel an Kindern, das Niederbrennen unserer Siedlungen, die Zerstörung unserer heiligen Orte. Halte dir das vor Augen, und deine Hand wird nicht zögern, nach dem Schwert zu greifen und einen Schlag für die Freiheit zu führen.« »Und heute?« »Lass es hinter dir. Frage dich, ob du solche Zweifel hättest, wenn du heute früh hättest mit ansehen müssen, wie Gartnait die Kehle durchgeschnitten wurde. Du hast das Richtige getan. Du hast getan, was ein Mann tun muss. Das ist alles, was zählt.« Eine Bemerkung Feradas nagte an Brideis Gedanken, lenkte ihn von den so wichtigen Vorbereitungen für den Krieg ab. Wenn das Frühjahr zu Ende ist, könnten Gartnait und Bridei tot sein. Das hatte er selbstverständlich gewusst. Leibwächter oder nicht, er erkannte, dass er bald einer sehr wirklichen Chance gegenüberstehen würde, in den Weg eines gälischen Speers oder Pfeils zu geraten. Es war nicht die Aussicht auf den Tod selbst, die Bridei so beunruhigte. Es war der Gedanke zu sterben, ohne die Wahrheit zu wissen, ohne sicher sein zu können, ob die Zukunft, die Broichan so sorgfältig für ihn vorbereitete, tatsächlich jene war, die er immer mehr annahm zu haben. Er wollte nicht warten, wie Donal vorgeschlagen hatte, und Broichan im Frühjahr um eine Antwort bitten. Im Frühjahr konnte es zu spät sein. Es war schwierig. Er konnte Talorgen, Broichans Freund, nicht um eine solche Antwort angehen, nicht, solange er dieses Thema nicht zuerst gegenüber seinem Pflegevater aufgebracht hatte. Dreseida wäre im Stande, ihm die Information zu geben, die er brauchte, aber es widerstrebte ihm, sich an sie zu wenden. Ihre Haltung machte Bridei unsicher, denn sie grenzte ohne jeden ersichtlichen Grund an Feindseligkeit. Dreseida würde es ihm sagen, wenn er fragte, aber - 240 nicht ohne eine weitere Reihe bohrender Fragen, deren Sinn er einfach nicht verstand. Es gab jedoch noch eine andere Möglichkeit, und er ergriff sie, als sich die Gelegenheit bot. Eines Morgens, bevor die Tagesarbeit begann, ging er auf der Suche nach ein wenig Einsamkeit in den Küchengarten von Rabenbrunn. Es war ein ruhiges Fleckchen mit einem kleinen Teich in der Mitte, in dem der angenehme Geruch von Kräutern in der Luft hing und niedrige, ordentlich geschnittene Hecken die Beete voneinander trennten. Es gab nicht viele Orte in Rabenbrunn, wo man allein sein konnte; Meditation war so gut wie unmöglich. Selbst in dieser kleinen Zuflucht konnte man von Uric oder Bedo unterbrochen werden, die einem Hund hinterherjagten, oder von jemandem mit einem Messer und einem Korb, der Petersilie für eine Pastete brauchte. An diesem Morgen setzte sich Bridei eine Weile auf eine Steinbank und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Die Spione im Wald, der Gäle mit seinem ruhigen Blick und der überlegenen Haltung, die bevorstehende Schlacht. Broichan und seine Pläne. Bridei dachte an seine Familie, weit weg in Gwynedd, diese Familie, die er so gut wie vergessen hatte. Es hatte lange Zeit so ausgesehen, als wollte Broichan ihn großziehen, ihn ausbilden und ihn dann wieder nach Gwynedd schicken, damit er bei seinem eigenen Volk lebte. So war es für die meisten
Söhne adliger Familien, die in Pflege geschickt wurden: Sie sollten früh ihren Horizont erweitern, damit sie später als Berater, Weiser oder Krieger mehr beizutragen hatten. Bridei nahm an, dass seine Brüder inzwischen erfahrene Kämpfer waren und stolz an der Seite seines Vaters ritten. Vielleicht hatte er sogar noch mehr Geschwister, jüngere, von denen er nichts wusste. Vielleicht eine Schwester. Das war ein seltsamer Gedanke. Keine Schwester hätte ihm je näher stehen können als Tuala, Blutsverwandte oder nicht. Bridei musste lächeln. Obwohl sein kleines wildes Geschöpf inzwischen zu einem - 241 Mädchen von beinahe dreizehn Jahren herangewachsen war, konnte er nicht an sie denken, ohne sich an diese Nacht zu erinnern: das Mondlicht, der Schnee, seine kalten Füße und der Augenblick, als er zum ersten Mal das bemerkenswerte Geschenk der Leuchtenden gesehen hatte, der beste Augenblick seines Lebens. Er würde stets dankbar dafür sein. Was seine eigene Familie anging, so rückten sie mit jedem Jahr, das verging, weiter in die Ferne. Dennoch, es wäre gut, sie irgendwann einmal zu sehen, besonders seinen Vater. Wenn der Kampf vorüber war, würde Broichan ihn vielleicht reisen lassen. Vielleicht. Es sei denn, er hatte Recht, was die Pläne des Druiden anging. »Guten Morgen.« Ferada kam durch den Garten auf ihn zu, ein winziges gebundenes Buch in einer Hand; mit der anderen hatte sie ihren Rock gerafft, um ihn vor dem Tau im Gras zu schützen. Sie trug ein vollendet geplättetes Gewand in einem rötlich braunen Ton, ganz ähnlich dem ihres Haars, das in ihrem Nacken zu einem komplizierten Knoten aus Zöpfen zusammengesteckt war. Eine einzige helle Locke hing an ihrer rechten Schläfe und betonte, wie blass ihre Haut war. Bridei stand auf. »Bleib ruhig sitzen«, sagte Ferada und ließ sich neben ihm nieder. »Ich suche das Gleiche wie du: Ruhe und Frieden. Uric hat ein schreckliches Verbrechen begangen; ich glaube, er hat einen von Bedos Glückssteinen verloren, und da drinnen geht es zu wie auf einem Schlachtfeld. Ich will nur allen aus dem Weg gehen, vor allem Mutter.« Bridei lächelte. »Das kann ich gut verstehen.« Ferada schlug ihr Buch auf, aber sie richtete den Blick nicht auf die ordentliche Handschrift, die die Pergamentseiten bedeckte. Sie starrte in den Garten hinaus, als das frühe Morgenlicht die Reihen von Wintergemüse und die Brachbeete mit ihrem nackten, dunklen Boden beleuchtete, wo eine Unmenge kleiner Vögel bereits nach schmackhaften Bissen suchten. »Ich frage mich manchmal«, sagte sie, »ob es - 242 das königliche Blut ist, das sie so sein lässt. Es ist, als wäre nichts wirklich genug für sie. Keiner von uns kann je dem Bild entsprechen, das sie in ihrem Kopf von uns entworfen hat. Tut mir Leid«, fügte sie eilig hinzu, »ich sollte nicht so mit dir sprechen, Bridei, das ist ungerecht. Unsere Familienprobleme sind unsere Sache, wir müssen unsere eigenen Lösungen finden.« »Ich höre gerne zu«, sagte Bridei, »aber ich fälle kein Urteil über das, was ich höre. Ich bin wohl kaum in der Position, das zu tun, nachdem ich ohne wirkliche Familie aufgewachsen bin.« »Danke.« Ferada wollte offensichtlich nicht weiter über das Thema sprechen. »Darf ich dich etwas fragen?« »Selbstverständlich, Bridei.« »Ich würde gerne wissen, wie deine Mutter und meine Mutter miteinander verwandt sind. Und meine Mutter und König Drust.« Ferada starrte ihn an. »All diese Jahre der Gelehrsamkeit, und du weißt das nicht?« Bridei spürte, wie seine Wangen zu glühen anfingen. Man konnte sich auf Feradas Ehrlichkeit verlassen, aber Takt war nicht ihre starke Seite. »Es kommt mir so vor, als hätte man mir diese Information bewusst vorenthalten. Aber ich möchte es gerne wissen. Ich halte es für wichtig, mehr darüber zu erfahren, bevor wir nach Westen aufbrechen.« »Mhm«, stellte Ferada fest und sah ihn forschend an. »Damit du, wenn du im Kampf stirbst, weißt, dass du eines Tages hättest König sein können, wenn du nicht einem Gälenschwert im Weg gestanden hättest?« Bridei schwieg einen Augenblick. »So etwas Ähnliches«, sagte er schließlich. »Es ist ganz einfach«, sagte Ferada. »Die Mutter meiner Mutter und die Mutter von König Drust waren Schwestern. Das bedeutet, dass sowohl ich als auch meine Brüder das Blut - 243 der königlichen Linie haben - der weiblichen Linie. So schauerlich die Aussicht auch sein mag, ich bin gezwungen zu akzeptieren, dass alle meine Brüder das Recht haben, wenn Drust der Stier stirbt, Anspruch auf den Thron zu erheben. Ich hoffe sehr, dass das noch viele Jahre lang nicht geschehen wird; der König ist kein alter Mann. Ich kann mir Uric wahrhaftig nicht auf dem Thron vorstellen; Bedo ist zumindest im Stande, zwei Gedanken aneinander zu reihen, wenn er es versucht. Was Gartnait angeht«, sie zuckte die Schultern und verdrehte die Augen, »so ist er der Unwahrscheinlichste von allen. Er würde es hassen. Selbstverständlich gibt es noch viele andere Kandidaten. Es gibt in den Königreichen der Priteni viele Söhne mit königlichem Blut.« Bridei wartete. »Für mich bedeutet das eine besondere Heirat, da alle Söhne, die ich einmal haben werde, ebenfalls Anspruch auf den Thron erheben könnten. Ich kann nicht einfach irgendwen heiraten. Es muss ein Anführer oder ein
anderer Mann von hoher Stellung sein, wenn möglich ein Priteni. Wenn ein Bewerber von außerhalb der Grenzen kommt, ist er selbstverständlich ebenfalls akzeptabel, solange er ein König ist. Und genau so war es mit deiner Mutter.« »Also kennst du ihre Geschichte?« Ferada warf den gepflegten Kopf zurück. »Selbstverständlich. Solche Dinge sind für meine Mutter von großer Wichtigkeit; sie spricht oft darüber. Ich bin überrascht, dass sie noch keine Gelegenheit gefunden hat, dir selbst alles zu erklären.« »Sie nimmt wahrscheinlich an, dass ich es bereits weiß. Wirst du es mir sagen, Ferada?« »Deine Mutter ist eine etwas weiter entfernte Verwandte. Anfredas Großmutter war die Schwester der Großmutter von König Drust.« Er wartete. »Erneut die weibliche Linie, Bridei. Auch du bist ein mög- 244 licher Kandidat für den Thron. Das hast du dir selbstverständlich schon gedacht.« Bridei konnte nicht antworten. Zu spekulieren war eine Sache; plötzlich zu wissen, dass er mit seinen Spekulationen Recht gehabt hatte, bewirkte, dass sich seine Gedanken überschlugen und sein Herz wie eine Trommel schlug. Er arbeitete daran, gleichmäßiger zu atmen. »Anfreda stand ihnen allen ziemlich nahe«, sagte Ferada. »Das hat Mutter jedenfalls erzählt. Drust und seine Frau mochten sie; Vater kannte sie, und Broichan muss sie ebenfalls gekannt haben, denn er war in diesen Jahren am Hof. Maelchon kam nach Caer Pridne, weil es Probleme im Norden seines Landes gab; seine Feinde heuerten Priteni-Soldaten als Söldner an, und er wollte dem ein Ende machen. Er blieb ein wenig länger als geplant, und als er nach Gwynedd zurückkehrte, nahm er seine neue Frau mit. Wie ich schon sagte, das ist durchaus akzeptabel. Frauen vom königlichen Blut heiraten manchmal außerhalb der Priteni-Stämme. Man hält es für eine gute Idee, weil es die Linie stärkt. So, nun weißt du es, und ich muss sagen, dass du meiner Meinung nach nur einen geringfügig besseren potenziellen König abgibst als Bedo.« »Oh.« Bridei fand das ein wenig kränkend. »Und warum?« »Du bist zu sehr Gelehrter«, sagte Ferada schonungslos. »Du denkst zu viel. Und du bist zu freundlich.« »Ich verstehe.« »Es kommt mir so vor«, sagte Ferada, »als brauchte man als König eine sehr dicke Haut, und zu viel Fantasie kann nur störend sein. Außerdem braucht man viele schlaue Berater. Drust der Stier hat zweifellos welche.« »Nun ja.« Bridei zuckte die Schultern. »Es kann noch Jahre bis zur nächsten Wahl dauern. Und wie du sagtest, es könnte viele Bewerber geben.« »Sieben, wenn jedes Haus von Pridne einen aufstellen - 245 wird. Der König von Circinn, Drust der Eber, wird sicher versuchen, Fortriu seinem eigenen Land einzuverleiben. Er möchte, dass das gesamte Priteni-Land christlich wird; das behauptet Vater jedenfalls.« Bridei verspürte ein Schaudern, eine Vorahnung finsterer Veränderungen. »Die Fürsten von Fortriu werden das niemals zulassen«, erklärte er grimmig. »Ebenso wenig wie der Flammenhüter.« Ferada betrachtete ihn neugierig. »Mhm«, sagte sie. »Es hängt davon ab, wie gespalten wir untereinander sind. Aber das ist wohl tatsächlich der Schlüssel. Ein Anführer, ein Land, ein Glaube. Ich denke, das ist es, was Circinn vorhat. Solange Fortriu nicht über die gleiche Einigkeit verfügt, werden wir beim nächsten Mal vielleicht sogar die Herrschaft über unser eigenes Land verlieren.« Bridei lächelte. »Ich finde, du solltest königlicher Berater werden, Ferada.« Sie erschreckte ihn, indem sie aufsprang und ihn wütend anstarrte. »Wage bloß nicht, mich gönnerhaft zu behandeln!«, fauchte sie. »Ich wollte nicht...« »Das genügt! Du brauchst nicht versuchen, es zu erklären; du bist genau wie Vater - du lässt das Gespräch bis zu einem bestimmten Punkt kommen, und dann setzt du diesen Blick auf, der sagt, nun ja, du bist schließlich nur ein Mädchen, was zählt es schon, was du denkst?« »Wirklich, ich...« »Lass es sein, Bridei.« Er sah ihr hinterher, als sie davonging, sehr gerade aufgerichtet und mit hoch erhobenem Kopf. »Du hast mich falsch verstanden«, sagte er leise, aber er wusste nicht, ob Ferada ihn hörte. - 246 KAPITEL SIEBEN Die Veränderungen waren zunächst so geringfügig, dass Tuala sie kaum bemerkte. Der Winter ihres dreizehnten Geburtstags war besonders schwer, und in dem isolierten Haushalt von Pitnochie waren alle schlecht gelaunt. Wenn Ferat ihren Morgengruß nur mit einem Grunzen erwiderte, nahm Tuala einfach an, dass er sich auf die schwierige Aufgabe konzentrierte, das Feuer am Brennen zu halten, obwohl der Vorrat an trockenem Holz gering war und der Wind den Kamin hinunterfegte, um seine Anstrengungen zu vereiteln. Wenn Cinioch nach dem Abendessen nicht mit ihr reden wollte, glaubte sie, dass er sich wegen des bevorstehenden Kampfs Gedanken machte, denn Broichan hatte seine Bewaffneten informiert, dass sie im Frühjahr an dem Feldzug
gegen Dalriada teilnehmen sollten, und das bedeutete Blutvergießen und Trauer. Mara war brüsk und kühl, aber das war nichts Ungewohntes. Für sie war Broichan der Mittelpunkt der Welt; alle anderen waren unwichtig. Erst als Fidich Tuala verbot, das Häuschen zu betreten, in dem er mit Brenna und den Kindern wohnte, erkannte sie, dass die Kühle des Haushalts mehr Gründe hatte als die allgemeine schlechte Stimmung in einem schweren Winter. An diesem Tag spürte sie die Berührung von etwas erheblich Kälterem, und ihr wurde klar, dass man sie außerhalb einer Grenze platziert hatte und ihr nie wieder gestatten würde zu- 247 rückzukommen. Warum das geschehen war, wusste sie nicht. Sie hatte nichts getan, um die anderen so gegen sich aufzubringen, aber sie alle hatten sich verändert. »Es tut mir Leid«, flüsterte Brenna, als sie Tuala auf dem Heimweg einholte, nachdem Fidich verkündet hatte, dass sie in seinem kleinen Heim nicht mehr willkommen war. »Er macht sich Sorgen um die Kinder, das ist alles.« »Die Kinder? Wie meinst du das?« Tuala war verdutzt. »Tut mir Leid«, sagte Brenna noch einmal, das Gesicht zu einer hilflosen Bitte um Verzeihung verzogen. Fidich hinkte bereits wieder den Weg entlang, den ältesten Jungen an der Hand, die Hunde dicht neben ihm. »Ich weiß, dass du es nicht böse meinst, es ist nur ...« »Nur was?« Eine schreckliche Ruhe überfiel Tuala, ein Vorgefühl dessen, was geschehen würde. »Es sind die Geschichten. Die Männer kennen alle die Geschichten von der Eulenfrau und von Amna mit dem weißen Tuch, und noch andere. Sie haben Angst, und Angst schafft mehr Angst. Ich habe versucht, mit Fidich zu reden; er ist ein guter Mann, aber er hat es sich in den Kopf gesetzt, sie denken alle ...« »Was? Was hat er sich in den Kopf gesetzt?« Aber Brenna flüsterte nur: »Es tut mir Leid, Tuala«, und dann eilte sie hinter ihrem Mann her. Als Tuala wieder ins Haus kam, schien es ihr, als wichen alle ihrem Blick aus. Ferat konzentrierte sich aufs Kräuterhacken, seine beiden Helfer waren mit dem Feuer beschäftigt - einer machte rasch die Geste, die das Böse abwehren sollte, als sie vorbeikam -, und Mara faltete Bettwäsche, die Lippen verärgert zusammenkniffen, den Blick in die Ferne gerichtet. Broichan war wie üblich in seinem Zimmer. Er kam manchmal heraus, aber da Bridei nicht hier war, waren seine Beziehungen zum Haushalt auf das beschränkt, was für die Verwaltung von Pitnochie unerlässlich war. Vielleicht, dachte Tuala, wartete er einfach nur auf Brideis Rückkehr, so - 248 wie sie es tat. Broichan sprach nur selten mit ihr, und darüber war sie froh, denn ihre Angst vor ihm war mit den Jahren nicht geringer geworden. Ein Blick aus diesen dunklen Augen hatte immer noch die Macht, sie zum Schweigen zu bringen; ein Wort der Kritik konnte ihr Herz auf der Stelle mit einer lähmenden Mischung aus Angst und Entsetzen erfüllen. Fidichs Erklärung zwang Tuala, eine Bestandsaufnahme zu machen, und sie erkannte, dass sich dieser Zustand schon seit Monaten angebahnt hatte. Es zeigte sich auf unterschiedliche Weise: ihr Gedeck am Tisch wurde immer weiter zur Seite gerückt, eine gute Wolldecke verschwand ohne Erklärung aus ihrem Zimmer, und dann lag plötzlich ein raues Ding da, nicht besser als eine Pferdedecke; man verweigerte ihr einen Ausritt auf Blesse, selbst an einem schönen frischen Tag, der vollkommen angemessen gewesen wäre, und das, wo das Pony unbedingt Bewegung brauchte. Und dann war da diese plötzliche Stille, immer, wenn Tuala einen Raum betrat, als hätten die anderen in ihrer Abwesenheit über sie gesprochen, und nicht auf freundliche Art. Sie dachte über diese Dinge nach, aber begreifen konnte sie sie nicht. Wenn Bridei hier wäre, würden die anderen nicht wagen, so unfreundlich zu sein. Wenn Bridei hier wäre, wäre Broichan zufriedener, Ferat würde lächeln, und die Bewaffneten würden wieder anfangen, abends am Feuer Geschichten von Kriegen und von Wundern zu erzählen. Bridei erweckte den Haushalt zum Leben. Sie sehnte sich nach dem Frühling, wenn dieser Feldzug vorbei sein und Bridei wieder nach Hause kommen würde. Es gab allerdings jemanden, an den sie sich immer noch wenden konnte. Ihr Unterricht ging weiter. Er war nun kürzer, denn in diesem Winter ging es Erip nicht gut. Er konnte den Husten nicht loswerden, der seine Brust zerriss, und er wurde dünn - ein verblüffendes Phänomen bei einem Mann, der bis dahin stets durch seine vergnügte Rundlich- 249 keit aufgefallen war. Broichan hatte ihm einen Heiltrank gebraut, bei dem der Duft von Muskat und Honig nicht ganz den Geschmack nach etwas Beißendem, Starkem überdeckte, einem Druidenkraut, das gegen die Krankheit helfen sollte. Alle hofften, dass dies den alten Mann noch vor Ende des Winters wieder gesund machen würde. Erip saß am Feuer, mit einem dicken Tuch um seine nun schmalen Schultern; er weigerte sich, sich ins Bett zu legen, behauptete, dann könnte er sich auch gleich geschlagen geben, und wenn er schon sterben müsste, würde er es lehrend tun. Wid sagte, tatsächlich würde er streitend sterben, und Erip antwortete unter explosiven Hustenanfällen, dass das auf das Gleiche hinauslief und sie jetzt endlich weitermachen sollten. Dieses Gerede vom Tod bedrückte Tuala. Wids Blick machte ihr noch mehr Sorgen, denn wenn der bärtige alte Mann seinen alten Freund überredete, seine Arznei zu trinken, ihn wärmer einpackte oder bei ihren üblichen Streitereien erheblich sanfter reagierte, konnte sie den unmiss-verständlichen Schatten künftiger Trauer auf seinem faltigen Gesicht sehen. Die beiden alten Männer standen einander sehr nahe. Tuala hatte nie ihre Geschichten gehört, woher sie kamen, wieso sie sich hier in Broichans Haus niedergelassen hatten, warum sie scheinbar keine eigenen Familien und kein Zuhause hatten. Was hatte sie bewogen, diesen riesigen
Wissensschatz anzuhäufen? Welches Leben hatten sie als junge Leute geführt, dass sie so viel über so unterschiedliche Gebiete wussten? Erip und Wid sprachen nie von diesen Dingen; wenn man sie fragte, gingen sie schnell zu einem allgemeineren Thema über. Tuala fing an sich zu fragen, ob sie es je erfahren würde. Heute saß Nebel auf Erips Schoß und knetete die Schichten weicher Wolle, in die der alte Mann gewickelt war. Die Katze schnurrte tief. Selbst erwachsen war sie nicht besonders groß; unter dem nach allen Seiten abstehenden - 250 grauen Fell befand sich ein Körper, der vielleicht halb so groß war wie der einer normalen Bauernkatze. Aber sie war eine hervorragende Rattenfängerin und hatte sich ihren Platz in Pitnochie schon lange verdient. Tuala setzte sich neben Wid auf eine Bank. Im Winter fand der Unterricht immer am Feuer statt; sonst war es nirgendwo warm genug. »Kennt ihr die Geschichte von Amna mit dem weißen Tuch?«, fragte Tuala. »Jemand hat sie erwähnt. Und dann gibt es eine über eine Eulenfrau. Könnt ihr sie mir erzählen?« Sie versuchte, beiläufig zu klingen, als empfände sie nur vage Neugier. So, wie die beiden alten Männer sich umdrehten, um sie anzustarren, und ihre Blicke plötzlich schärfer wurden, war ihr allerdings schnell klar, dass sie sie zu gut kannten, um sich so einfach täuschen zu lassen. »Hmpf«, krächzte Erip und nahm seine Geschichtenerzählerhaltung an. »Manchmal bittet ein Kind um eine Geschichte, und sie wird erzählt, und es stellt fest, dass eine Wahrheit darin liegt, die es nicht hören möchte. Das verstehst du, da bin ich sicher.« Wieder wurde es Tuala kalt - der kalte Atem einer unwillkommenen Zukunft. »Ich muss es wissen«, sagte sie. Den Göttern sei Dank für diese beiden alten Männer; zumindest brauchte sie ihnen nichts vorzumachen. »Dann werde ich anfangen«, sagte Erip, »Und mein Freund hier wird weitererzählen. Es war einmal ein Mann namens Conn. Er war ein Brauer; er braute das beste Bier diesseits des Schlangensees und war deshalb sehr beliebt bei den Leuten. Er selbst trank nicht mehr, als er sollte, nur genug, um sich zu überzeugen, dass andere das Beste bekamen, was er herstellen konnte, und alles in allem war er als ein vernünftiger, praktisch denkender Mann bekannt, einer, bei dem man davon ausgehen konnte, dass er nichts Dummes tat.« Erip hielt inne, um zu husten. Es fiel ihm immer schwerer, nach diesen Anfällen wieder zu Atem zu kommen, und sei- 251 ne Hand zitterte, als er nach dem Becher mit Wasser griff, den Tuala ihm reichte. »Bist du sicher, dass du weitererzählen willst?«, fragte sie. »Widkann...« »Unsinn«, erwiderte Erip mit einer Stimme wie das Rascheln des trockenen Rieds im Herbst. »Wenn ich aufhöre, Geschichten zu erzählen, könnte ich ebenso gut auch aufhören zu atmen. Wo war ich stehen geblieben?« »Er war ein praktisch denkender Mann.« »Ja, und da er praktisch dachte, war er bereit zu heiraten und eine Familie zu gründen; er hatte einen Schatz gefunden, die Tochter eines Bauern, und er besaß sein eigenes kleines Haus, und alles sah rosig aus. Der Vater des Mädchens war wohlhabend. Sie würde einen Beutel Silber und ihre eigenen drei Felder mit in die Ehe bringen. Dann war Conn eines Abends noch spät unterwegs, weil er Freunde besucht hatte, und er nahm eine Abkürzung, einen kleinen Weg unter Buchen, der an einem hübschen kleinen Bach mit Farnen am Ufer vorbeiführte. Es war Vollmond. Es war dumm von ihm, dort entlangzugehen; die alten Leute hätten ihm das sagen können. Conn war glücklich, und vielleicht machte ihn das übermütig, denn er musste gewusst haben, was die Leute über diesen Ort sagten. Aber er ging vergnügt diesen Weg entlang, und dort, am Rand des Bachs, sah er sie.« »Amna?«, fragte Tuala. »Ja, aber er wusste nicht, wer sie war. Er wusste nur, dass er das hübscheste Geschöpf vor sich hatte, das er sich vorstellen konnte, ein Mädchen so blass wie eine Perle, dessen Haut im Mondlicht schimmerte, mit langem Haar wie ein Fluss aus weichem Schatten und einem weißen Tuch, dem einzigen Kleidungsstück, mit dem sie ihre Nacktheit bedeckte. Sie hatte eine Hand an den Mund gehoben, als wäre sie überrascht, dass ein Mann des Nachts hier vorbeikam. Ein Blick auf sie, und jeder Gedanke an seine Liebste verschwand augenblicklich aus Conns Kopf.« - 252 »Er folgte der Frau mit dem weißen Tuch bachaufwärts in den Wald«, fuhr Wid mit der Geschichte fort, als Erip sich zurücklehnte und die Augen schloss. »Was zwischen ihnen in dieser Nacht geschah, sollte ein alter Mann wie ich einer leicht zu beeindruckenden jungen Frau wie dir, Tuala, nicht erzählen. Es genügt zu sagen, dass es Conn vollkommen veränderte. Am nächsten Morgen kehrte er nach Hause zurück, und statt wieder mit der Arbeit anzufangen und sich auf seine Hochzeit vorzubereiten, konnte er nur in der Tür stehen, zum Wald hinschauen und davon träumen, Amna wieder zu finden. Tag und Nacht stand er dort, und er braute keinen Tropfen Bier mehr, vom Jungfrauentanz bis in den Hochsommer. Jedes Mal, wenn die Leuchtende ihre volle Schönheit erreichte, schlüpfte er unter die Buchen davon, und wenn er am Morgen zurückkehrte, war er müde und abgehärmt, und in seinen Augen stand ein wildes Entzücken, das dem Wahnsinn recht nahe kam, als hätte er solche Wunder geschmeckt, dass schon die Sehnsucht nach mehr ihn umbringen könnte.« »Alle sagten es ihm«, nahm Erip das Garn wieder auf, »seine Mutter, sein alter Großvater, seine Liebste, in
Tränen aufgelöst, die Ältesten der Siedlung. Es war für sie klar, dass ihn eine Frau vom Guten Volk verführt hatte, und er musste den Bann brechen, oder er würde sterben. Aber Conn wollte nicht zuhören. Wenn der Mond voll war, hatte er seine Nacht der Ekstase, und dazwischen mussten jene, die ihn liebten, zusehen, wie er vor Sehnsucht immer schwächer wurde, bis er nichts weiter war als eine Puppe aus Haut und Knochen, in deren Augen Wahnsinn stand. Was wollte Amna von ihm? Niemand wusste das. Auch andere hatten sie dort am Wasser gesehen, das Weiß des Tuchs überstrahlt von ihrer schimmernden Haut, der tiefe Schatten der Nacht niemals dunkler als ihr hübsches Haar. Andere waren so vernünftig, den Blick abzuwenden und weiterzugehen. Nicht jedoch Conn.« - 253 »Wie ging es weiter?«, fragte Tuala und dachte, wie dumm Männer doch waren, sich so verlocken zu lassen; Conn hätte doch sicher erkennen können, dass diese Begegnungen sein Leben zerstörten, und es Amna einfach sagen sollen. »Es ist eine traurige Geschichte«, sagte Wid. »Seine Familie versuchte, etwas zu unternehmen. Als es wieder Vollmond wurde, gelang es ihnen, Conn zu fesseln, damit er sich nicht mit Amna treffen konnte. Sie glaubten, wenn sie das Muster unterbrachen, könnten sie vielleicht den Bann brechen und ihn wieder zur Vernunft bringen. In dieser Nacht, so sagten die Leute, hörte man Amnas Schreie draußen im Wald, Schreie, die einem das Blut gerinnen ließen. Es klang nicht wie der Ruf eines jungen Mädchens nach ihrem abwesenden Geliebten, sondern wie der Schrei eines wilden Tiers nach seiner Beute.« »Und konnten sie Conn retten?« Erip schüttelte den Kopf. »Man legt sich nicht leichtfertig mit dem Guten Volk an. Einer wie Broichan hätte vielleicht eine Chance, aber nicht einfache Leute wie diese. Conn verfluchte sie die ganze Nacht, kämpfte gegen die Fesseln an, und danach verschloss er ihnen sein Haus. Er wartete, bis die Leuchtende wieder in vollem Glanz am Himmel stand, und ging erneut in den Wald zu seiner Geliebten. Am nächsten Morgen fanden die Leute Conn mit dem Gesicht nach unten im Teich, tot und kalt. Sie glaubten, er hätte sich ertränkt, bis sie ihn umdrehten. Er war weiß wie ein Laken, und es gab kein Blut mehr in ihm. Man konnte die Spur ihrer Zähne an ihm erkennen.« Tuala schauderte. »Das ist eine schreckliche Geschichte.« Schrecklich, und sie half ihr überhaupt nicht weiter; eine solche Geschichte hatte nichts mit ihr zu tun. »Was ist mit der anderen, der von der Eulenfrau?« Wid sah sie ernst an. »Recht ähnlich«, sagte er. »Ein Mann wird in den Wald gelockt, diesmal von einer weißen Eule, einem seltenen, schönen Geschöpf. Sie verwandelte sich am - 254 Tag in eine Frau und stimmte zu, ihn zu heiraten, vorausgesetzt, dass er ihr Anderssein respektierte und ihr nicht folgte, wenn die Zeit für sie kam, sich zu verwandeln. Dies ist zumindest für eine Weile eine glücklichere Geschichte. Sie schenkte ihm Töchter, er schwand nicht vor Begierde dahin, er war nur immer unzufriedener mit dem, was er hatte, denn er wünschte sich, seine Frau könnte in seinen Armen liegen, wenn er schlief. Bald schon dachte er, das wäre doch nicht zu viel verlangt. Schließlich führte ihn sein Wunsch, sie zu etwas zu machen, was sie nicht sein konnte, dazu, ihr bei Vollmond in den Wald zu folgen. Er sah den seltsamen Augenblick ihrer Veränderung, und in dieser Nacht verlor er sie für immer. Der Mann starb nicht, so wie Conn gestorben ist. Er streift immer noch auf den dunklen Wegen unter den Eichen umher und ruft nach der Frau, die nie wieder zu ihm zurückkehren wird.« Alle schwiegen. Tuala erkannte selbstverständlich, worin die Verbindung zwischen diesen Geschichten bestand. Dennoch, so sehr sie es auch versuchte, sie konnte nicht erkennen, was die Verbindung zwischen den Geschichten und der plötzlichen Kälte des Haushalts ihr gegenüber sein sollte. Immerhin wussten alle, dass sie ein Kind des Waldes war, hatten es von dem Augenblick an gewusst, als sie nach Pitnochie gekommen war. Und sie hatten sie aufgenommen. Sie hatten gelächelt und ihr Geschichten erzählt und sie wie eine Freundin behandelt. »Was ist denn, Mädchen?« Erips heisere Stimme war voller Freundlichkeit, und plötzlich war Tuala den Tränen nahe. »Fidich«, flüsterte sie. »Und Ferat und die Bewaffneten ... Sie schließen mich aus. Ich bin kein Teil des Lebens in Pitnochie mehr. Fidich sagt, ich darf Brenna und die Kinder nicht mehr besuchen. Und Brenna sagte, die Männer machten sich Sorgen wegen dieser Geschichten, der von Amna und der von der Eulenfrau. Aber ich verstehe es nicht. Wa- 255 rum sollten sie jetzt mehr Angst vor mir haben als zuvor? Ich würde den Kindern doch nie etwas tun, das sollten sie wissen ...« Jetzt weinte sie wirklich. Wid beugte sich vor und reichte ihr ein Stück Tuch. »Tu, was wir dir beigebracht haben«, sagte er ruhig. »Denke darüber nach. In den Geschichten geht es um Männer, die von Frauen vom Guten Volk verführt wurden, Männer, die von einer Macht überwältigt wurden, die so stark war, dass sie sich ihr nicht widersetzen konnten, selbst wenn sie sehr vernünftige Personen waren wie Conn.« Tuala dachte so angestrengt nach, wie sie konnte. Es schien nicht viel zu helfen. »Du fragst dich«, sagte Erip und streichelte sanft die Katze, »warum sich offenbar alle verändert haben. Ich fühle mich verpflichtet, dich darauf aufmerksam zu machen, dass Wid und ich uns nicht verändert haben; ich glaube,
wir können von diesem Phänomen nicht mehr berührt werden. Aber du musst beim Nachdenken eine andere Richtung einschlagen. Vielleicht hat sich noch etwas anderes verändert.« Tuala sah ihn lange an. »Meinst du mich? Es hat damit zu tun, dass ich mich verändere, dass ich erwachsen werde? Aber ...« Sie schwieg erneut, weil sie erkannte, dass er das tatsächlich gemeint hatte. Nun, da sie darüber nachdachte, kam sie tatsächlich zu dem Schluss, dass sich die Kälte im Haushalt ausgebreitet hatte, als ihr Körper begann, sich zu verändern, hier runder und dort schmaler wurde und ihr die Gestalt und die Rhythmen einer Frau gab. Als Kind war sie in Pitnochie offenbar akzeptabel gewesen, so anders sie auch sein mochte. Man hatte sie freundlich, sogar liebevoll behandelt. Nun schlichen jene, die ihre Freunde gewesen waren, auf Zehenspitzen um sie herum, als wäre sie auf irgendeine Weise gefährlich. Sie glaubten doch sicher nicht, dass sie als Frau die gleiche Art von Geschöpf war wie Amna mit dem weißen Tuch? - 256 »Ihr müsst euch irren«, sagte sie tonlos. »Amna hatte diese unirdische Schönheit, sie war die Art von Frau, die Männer um den Verstand bringt. Die Art von Frau, die es nur in Geschichten gibt. Niemand könnte annehmen, dass ich ...« Das war einfach albern. Sie konnte kaum glauben, dass sie überhaupt über diese Dinge sprachen. »Schau einmal in deinen Spiegel, Mädchen«, sagte Wid. »Was jetzt dort ist, wird nächsten Winter hundertmal mehr sein, und tausendmal mehr im nächsten. Die Männer sehen das und bekommen Angst. Die Frauen sind vernünftiger, aber auch sie werden misstrauisch. Es ist traurig, aber wahr; du bist jetzt beinahe vierzehn, und von nun an wird dieser Schatten auf deinem Weg liegen, ganz gleich, wie sehr du dich anstrengst, eine von uns zu sein.« Tuala fehlten die Worte. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie war keine große Schönheit, sie interessierte sich überhaupt nicht für Männer und für die Dinge, die Männer und Frauen in der Abgeschiedenheit ihrer Schlafräume taten. Der Gedanke, dass Ferat, Fidich und die anderen so etwas von ihr annahmen, bewirkte, dass ihr übel wurde. Sie wollte nicht einmal im Traum daran denken, dass das die Wahrheit sein konnte. »Was ist mit euch?«, fragte sie. »Ihr seid immer noch meine Freunde. Ihr habt euch nicht verändert. Und was ist mit Broichan? Er verändert sich nie. Das kann nicht die Erklärung sein.« Erip begann zu husten; diesmal hatte er Blut auf der Hand, die er vor den Mund hielt. Es dauerte eine Weile, bis der Anfall vorüber war. Schließlich beruhigte sich der alte Mann wieder. »Wie ich schon sagte ...« Seine Stimme war fadendünn. »Wir sind vielleicht zu alt für solche Albernheiten. Oder vielleicht liegt es daran, dass wir uns schon in dich verliebt haben, als du uns gerade eben bis zum Knie reichtest und nicht aufhören konntest, Fragen zu stellen, und wir dich immer noch so sehen: Brideis kleiner Schatz, ein seltenes Mitt- 257 wintergeschenk. Was Broichan angeht, so hat er eine ganz besondere Art, die Dinge zu sehen. Zweifellos hat er dich von Anfang an abgeschätzt, und wägt immer wieder die Möglichkeiten und die Gefahren ab, für die du stehst.« Tuala nickte. Sie konnte sich an jedes Wort erinnern, das Broichan vor langer Zeit zu ihr gesagt hatte, als er sie wegschickte. Es bestand kein Zweifel daran, dass er sie von Anfang an als Gefahr betrachtet hatte. »Was kann ich tun?«, fragte sie sie. Die beiden alten Männer sahen sie schweigend an, mit freundlichem Blick, aber grimmig zusammengekniffenen Lippen. »Warte ein wenig und hab Geduld«, sagte Wid schließlich. »Dir steht eine schwierige Zeit bevor.« »Sei auf Veränderungen gefasst«, fügte Erip hinzu. »Du musst tapfer sein, Tuala.« »Es wäre alles in Ordnung, wenn Bridei nach Hause kommen würde.« Ihre Stimme war kläglich; sie hatte nicht vorgehabt, das laut auszusprechen, aber es kam gegen ihren Willen heraus. Wid setzte dazu an, etwas zu sagen; dann sah sie, wie Erip den Kopf schüttelte, als wollte er nicht, dass sein Freund sprach, und dann wurde Nebel unruhig, sprang vom Schoß des alten Mannes und stolzierte zur Küche. Als wäre das ein Ruf gewesen, kamen auch die drei Hunde, die unter dem Tisch geschlafen hatten, hervor, und plötzlich war es nicht mehr still in der Halle. »Einsamkeit ist manchmal schwer zu ertragen«, sagte Wid und stand auf. »Ein guter Freund ist das kostbarste Geschenk auf der Welt. Das ist eine Lektion, die ich weder dir noch Bridei beibringen muss. Und jetzt wollen wir diesem alten Mann ein bisschen Suppe holen. Er fängt an, einer Vogelscheuche ähnlich zu sehen, und das können wir nicht zulassen. Ich dachte, ich hätte Ferat vor einiger Zeit mit ein paar Schinkenknochen gesehen; der Duft ist ausgesprochen viel versprechend.« - 258 Der Winter ging vorüber, und die Tage wurden merklich länger, aber die Knochenmutter tat wenig, um ihren gnadenlosen Zugriff auf das Land zu lockern. Eis überzog die Teiche, und Schnee lag auf Broichans Haus unter den Eichen. Die Männer murrten, wenn sie auf Wache gehen mussten, und ständig hingen dampfende nasse Kleidungsstücke vor dem Küchenfeuer und erfüllten das Haus mit einem durchdringenden Geruch. Nicht einmal die Hunde wollten nach draußen gehen. Nebel verbrachte den größten Teil der Zeit auf Erips Schoß vor dem Feuer, oder später zusammengerollt auf seinem Bett hinter seinen gebeugten Knien. Denn es kam eine Zeit, in der der alte Gelehrte nicht mehr die Kraft hatte, von seinem Strohsack aufzustehen, sein Zimmer zu verlassen und so zu tun, als ginge es ihm bald wieder besser. Sie brachten ihn in Brideis Zimmer unter; Wid hielt Wache bei ihm, gab Erip kleine Schlucke Wasser oder abgemessene Portionen von Broichans neuestem Heiltrank,
wischte ihm die Stirn und erzählte ihm Geschichten, als wäre er ein krankes Kind. Mara verbrannte aromatische Kräuter in der Nähe der Tür und trug die fleckige Bettwäsche weg. Tuala wollte helfen, aber man verbannte sie aus dem Zimmer. Mara hatte die Herrschaft übernommen; sie entschied, wer kommen und gehen durfte, und sie war der Ansicht, dass zu viele Besucher den alten Mann nur anstrengten. Wid, der mit seinem eigenen Kummer und seiner Erschöpfung rang, hatte nicht die Kraft zu widersprechen, aber er ließ Tuala ein- oder zweimal herein, wenn die Haushälterin anderswo zu tun hatte. Erips Hände waren nun so schmal geworden, dass die Finger sich wie Zweige anfühlten, und seine Stimme war nur noch ein Flüstern. Tuala glaubte, eine neue Art von Licht in seinen Augen zu entdecken, ein Leuchten, als schauten sie bereits über die Welt der Sterblichen hinaus in eine andere Welt voller Frieden und Möglichkeiten. Es war, als hätte er eine großartige neue Geschichte erfunden und wartete nun darauf, sie zu erzählen. Tuala hielt seine Hand und - 259 schluckte die Tränen hinunter, und als Mara zurückkehrte, glitt sie davon wie ein Schatten. Sie bat höflich, wieder hereingelassen zu werden, und wies darauf hin, dass sie mit Erip befreundet war, dass er nach ihr gefragt hatte, dass sie sich nützlich machen konnte. »Du wirst nicht gebraucht, Tuala«, sagte Mara dann. »Geh schon, Mädchen«, sagte Ferat in freundlichem Ton, aber mit einem Blick irgendwo zwischen Ungeduld und Unbehagen. Er zumindest schien ein schlechtes Gewissen zu haben, jemanden zu verraten, der einmal ein geliebtes Kind, eine Freundin gewesen war; dennoch, es war deutlich genug, wie unangenehm er sich in ihrer Nähe fühlte. Als es auf das Ende zuging, blieb ihr nichts anderes übrig, als Mara anzuflehen. »Bitte. Er ist ein alter Freund. Bitte schließ mich nicht aus.« »Erip ist unser aller Freund«, sagte Mara. »Du wirst hier nicht gebraucht. Geh, und nimm dieses Geschöpf mit«, und sie wollte Nebel vom Bett scheuchen, aber Nebel schlug Zähne und Krallen in Maras Finger und blieb schließlich, wo sie war, an Erips aufgehäufte Decken gekuschelt. Erip selbst war nun zu schwach, um zu widersprechen, und Wid döste auf seinem Stuhl, erschöpft von langen Nachtwachen. Schweigend zog Tuala sich zurück. Einige Zeit saß sie allein in ihrem kleinen Zimmer und starrte die Wand an. Das hier war falsch; es war so falsch, dass man wirklich überhaupt nichts daraus lernen konnte. Wie konnten sie sie so ausschließen? Wie konnten sie nicht einmal zulassen, dass sie ihm Lebewohl sagte? Sie war eine von ihnen, war bei ihnen aufgewachsen, war in ihrem Haushalt willkommen gewesen und von diesem alten Mann zum Wissen geleitet worden, der nun unter dem Dach, das ihnen beiden Zuflucht gegeben hatte, im Sterben lag. Verflucht sollten Amna mit dem weißen Tuch und die Eulenfrau sein! Es war einfach nur dumm und hatte nichts mit ihr zu tun. - 260 Plötzlich musste Tuala unbedingt etwas tun. Sie griff nach ihrem warmen Umhang, zog die schweren Stiefel an und eilte nach draußen. Die Kälte drang schmerzhaft in ihre Lunge, sobald sie aus der Küche kam; die Luft war wie Eis auf ihrer Haut. Aber sie musste fliehen, sie konnte nicht mehr in der Nähe von Mara, Ferat und Fidich bleiben, von Uven und Cinioch, von den misstrauischen Blicken aller, die ihr einmal wie Freunde vorgekommen waren. Sie würde nicht darum bitten, Blesse reiten zu dürfen; sie wollte keine weitere Weigerung hören. Sie würde zu Fuß gehen. Sie würde den ganzen Weg zum Tal der Gefallenen gehen, und dort würde sie ein paar Antworten verlangen. Im Lauf der letzten Jahre hatte Tuala begriffen, dass manche Begabungen, über die sie verfügte, anderen nicht so leicht zugänglich waren. Von Anfang an war ihr klar gewesen, dass sie diese Fähigkeiten lieber verbergen sollte, denn sie zu zeigen, würde nur betonen, dass sie anders war, und sie wollte nicht anders sein, sie wollte nach Pitnochie gehören. Erip und Wid wussten ein wenig darüber, was sie konnte, ebenso wie Bridei. Wozu sie wirklich im Stande war und wie leicht es ihr fiel, hatte sie für sich behalten. Es wäre vielleicht besser gewesen, sagte sie sich mit Bitterkeit, als sie den Weg entlangstapfte und die Stiefel tief in die Schicht feuchter, verfallender Blätter unter den kahlen Eichen sanken, wenn sie diese geheimen Künste niemals ausgeübt hätte, wenn sie sogar sich selbst gegenüber so getan hätte, als verfügte sie nicht über solche Kräfte. Dann hätte sie es vielleicht wieder verlernt. Sie hätte vielleicht vergessen, wie man diese Begabung anwandte, wie man Bilder von Königinnen, Drachen und Riesen aus einem Lichtstrahl durch buntes Glas heraufbeschwor, wie man ein Eichhörnchen aus seinem Versteck lockte und es auf eine Weise begrüßte, die es verstand, wie man Binsen, Gras und Samenkapseln zu einer Puppe, einem Korb oder einer Kette flocht, die fest zusammenhielten, nicht nur durch das Muster aus Knoten und - 261 Drehungen, sondern durch lebendige Macht. Sie hätte vielleicht die Fähigkeit verloren, die Zeichen im Wald zu deuten, Zeichen, die von den Anderen, vom Guten Volk hinterlassen wurden. Dann hätte sie sie nicht finden können, so sehr sie sich auch gezwungen fühlte zu suchen. Diese kleinen Kratzer auf Rinden oder Steinen, die Art, wie sie hier und da das Gras verdrehten oder Laub aufhäuften, das alles waren Botschaften, und ohne dass man ihr je beigebracht hätte, was sie bedeuteten, hatte Tuala sie schon vor langer Zeit verstanden. Jene, die die Botschaften hinterließen, ließen sich allerdings immer noch nicht sehen. Halb sichtbare Schatten und leise Stimmen, mehr war nicht zu entdecken. Aber ihre Botschaften waren für sie, das wusste Tuala. Sie riefen nach ihr, sie wollten sie in ihrer Nähe haben - ganz anders als die Menschen. Bei ihnen würde sie vielleicht ein
Zuhause finden. Es war ein Weg, aber ein unmöglicher. Wenn sie diese andere Welt betrat, musste sie Bridei zurücklassen. Und sich von ihm zu trennen war unmöglich. Das wäre, als würde sie sich selbst zerreißen. Tief in Gedanken versunken legte Tuala den langen Weg von Broichans Haus zu dem verborgenen Tal zurück, beinahe ohne es zu bemerken. Der Nebel war heute dicht; sie konnte kaum ihre eigenen Füße sehen, als sie den steilen Weg zum Teich entlangging. Der Dunst schien sich um sie zu schließen, eine erstickende, bedrängende Decke. Irgendwo im Wald heulte ein Hund, ein Laut reiner Verzweiflung. Am Rand des Dunklen Spiegels hockte sich Tuala hin. Zuerst spürte sie die Kälte nicht, denn die Bewegung hatte sie gewärmt, aber schon bald begannen ihre Nase, ihre Ohren, ihre Finger und Zehen zu kribbeln und dann von der knochentiefen Kälte zu schmerzen. Ihre Zähne klapperten. Es war dumm gewesen, hierher zu kommen; sie war weit von zu Hause entfernt, und keiner wusste, wo sie hingegangen war. Nicht, dass sie das interessierte, dachte Tuala. Wenn sie nie zurückkäme, würden sich Mara, Ferat und die anderen - 262 wahrscheinlich freuen. Keine störende Präsenz mehr, keine Versucherin aus der Anderwelt, die ihre jungen Männer davonlocken würde. Das war so dumm, dass sie es immer noch nicht begreifen konnte. Sie, Tuala, sollte eine unirdische Schönheit sein, die Magie wirkte, damit Männer vor Begierde wahnsinnig wurden? Sie hätte über eine so fehlgeleitete Theorie einfach gelacht, wäre nicht die schreckliche Wirklichkeit dessen gewesen, was es für sie bedeutete. Sie hätte dieses Denken vollkommen verachtet, hätten nicht Erip und Wid, die sie für sehr vernünftige Männer hielt, ihr gesagt, dass man sie im Haushalt nun tatsächlich so betrachtete. Sieh in den Spiegel, hatten sie gesagt. Also tat sie es, beugte sich über das stille Wasser des Teichs und suchte diesmal keine Visionen oder Vorzeichen, sondern nur ihr eigenes Spiegelbild. Sie schien nicht sonderlich anders auszusehen als zuvor. Ihr Gesicht war oval, die dunklen Brauen gebogen, die Augen groß und hell, vielleicht blau, wenn sie denn eine Farbe hätte nennen müssen. In den Augen stand ein fragender Blick, und sie waren von Schatten umgeben; sie hatte um Erip geweint, und um Wid, und auch ein bisschen um sich selbst. Die Nase war gerade, der Mund klein, geschwungen und rosa wie eine Rosenknospe. Ihre Haut war zweifellos sehr blass. Tuala war gezwungen zuzugeben, dass sie zumindest in dieser Hinsicht Amna aus der Geschichte ähnlich war, denn ihre Haut war immer weiß und durchscheinend gewesen, als hätte die Leuchtende ihr den Schimmer ihrer Mondstrahlen geliehen. Ihr Haar war rabenschwarz, lang und glänzend, obwohl sie es eher vernachlässigte, was das Bürsten anging. Auch das ließ sie wie das Mädchen in der Geschichte aussehen. Aber sie war noch jung, hatte erst vor kurzem angefangen zu bluten, und sie schreckte vor dem Gedanken daran zurück, was Amna unter dem Vollmond mit ihrem Geliebten getan hatte. Amna war eine Verführerin gewesen, eine Frau von erdhafter Leidenschaft, die sich ihrer - 263 Sinnlichkeit bewusst war. Wie konnte irgendwer glauben, dass sie, Tuala, die gleiche Macht hatte wie dieses gefährliche Geschöpf der Nacht? Tualas praktische Kleidung, Umhang, Schultertuch, Hemd und langer Rock über dicken Winterstiefeln, verbarg ihre wahre Gestalt; das Mädchen, das aus dem dunklen Wasser zu ihr zurückblickte, hätte absolut formlos sein können. Aber noch während sie hinsah, veränderte sich das Bild, und sie sah sich selbst schockierenderweise ohne einen Faden Kleidung am Leib, stand ohne jede Scham da, die Arme erhoben, die hübschen runden Brüste wie zwei kleine Monde, die Brustwarzen rosa, eine zierliche Taille, rundere Hüften, schlanke Schenkel, und alles nackt und bloß und für alle sichtbar. Selbst das kleine, neue Dreieck aus dunklem Haar zwischen ihren Beinen war zu sehen. Entsetzt versuchte Tuala, sich mit den Händen zu bedecken, obwohl sie hier am Rand des Wassers immer noch Schichten von Wolle trug. Dort im Dunklen Spiegel drehte sich ihr Spiegelbild, lächelte und winkte, und sie erkannte hoffnungslos, dass ein Mann ein solches Geschöpf aus Perlen, Ebenholz und Rosen tatsächlich verlockend finden könnte. Sie sah in der Vision ihre eigene Unschuld, und die Gefahr, die genau darin lag. »Verschwinde!«, murmelte Tuala, und Zornestränen traten ihr in die Augen. »Ich will dich nicht sehen! Deshalb bin ich nicht hergekommen!« Sie schloss fest die Augen und wollte ihr eigenes Abbild wegzwingen. »Angst, dich der Wahrheit zu stellen?«, sagte jemand links von ihr. »Das passt nicht zu dir.« Tuala riss die Augen auf. Das war keine leise, zischelnde Stimme, wie sie sie schon zuvor in dieser geheimen Falte des Landes gehört hatte. Diese Stimme war selbstsicher und klang wirklich, war ohne Zweifel die Stimme einer Frau aus Fleisch und Blut. Tuala hatte kaum Zeit zu blinzeln und einen kurzen Blick auf eine verhüllte Gestalt neben sich zu werfen, dicht genug, um sie zu berühren, als auch schon eine zwei- 264 te Stimme erklang. Tuala sprang auf und drehte sich in die andere Richtung. »Außerdem«, stellte die zweite Person fest, »ist es ein erfreulicher Anblick. Das kannst du nicht abstreiten. Ein hübsches Bild. Man braucht nur einen Blick darauf zu werfen, um zu wissen, dass jeder Mann nur zu gerne entdecken würde, dass die Wirklichkeit noch hübscher ist.« Es war ein junger Mann, der da sprach. Tuala bekam bei diesen Worten Gänsehaut; sie konnte sich gut vorstellen, was Donal oder Bridei und sogar Broichan darüber zu sagen hätten, wie dumm es gewesen war, allein mitten im Winter hier herauszukommen und niemandem zu sagen, was sie vorhatte. Sie stand sehr reglos da und versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Sie zwang sich zu beobachten, wie Bridei es ihr beigebracht hatte. Das hier war kein Mensch, nicht wirklich. Er war nicht viel größer als sie selbst, und sein wildes, wirres Haar hatte eine moosige, grünliche Färbung. Hier und da schienen seine Locken in Ranken überzugehen, belaubte Ranken wie
Efeu. Seine Augen waren sumpfbraun und rund wie die einer Eule. Nein, sicher kein Mann, trotz des boshaften Grinsens, mit dem er sie bedachte und das sie schmerzhaft an Erip in seinen besseren Tagen erinnerte. »Du zitterst.« Das war die andere Person, und Tuala spürte, wie ihr ein weicher Umhang um die Schultern gelegt wurde. Er fühlte sich an, als bestünde er aus Disteldaunen, zerbrechlich und beinahe gewichtslos, aber ihr war sofort so behaglich warm wie einer Katze, die sich vor der Feuerstelle zusammengerollt hat. Das Mädchen begegnete ihrem Blick ruhig. Sie war ein wenig größer als der junge Mann, wenn man ihn denn einen Mann nennen konnte, und ihr Haar war lang und silbrig blond, kunstvoll geknotet und geflochten und mit glitzernden Fäden, Blattskeletten, Spinnennetzen und winzigen weißen Beeren verziert. Ihr Kapuzenumhang bestand aus blaugrauem Tuch und bewegte sich um sie her wie Holzrauch. Auch sie schien jung, ihre - 265 Haut war winterweiß, so blass wie die von Tuala, ihre Gestalt schlank und ihre Haltung anmutig. »Du spürst die Kälte; das überrascht mich nicht. Du bist unter Menschen aufgewachsen. Ihre Gezeiten sind kürzer und intensiver. Schon stimmt dein Körper sich auf ihre Muster ab. Du bist gerade noch rechtzeitig zu uns gekommen.« Die Worte, die Tuala für eine solche Situation vorbereitet hatte, waren plötzlich verschwunden. Sie hatte sich so nach einer solchen Begegnung gesehnt, hatte schon lange die Fragen vorbereitet: Wer bin ich? Wer war es, der mich verlassen hat, und warum? Nun hatte sie solche Angst vor den Antworten, dass sie sich nicht dazu durchringen konnte, sie zu stellen. Schließlich sagte sie: »Warum jetzt? Warum zeigt ihr euch jetzt? Ich bin so oft hier gewesen; ich habe Visionen im Dunklen Spiegel gesehen, und andere von eurer Art haben mich geneckt, sich aber nie wirklich gezeigt. Was hat sich verändert?« Die Antwort befand sich bereits in ihrem Kopf, noch während sie sprach, und es war die gleiche Antwort, die sie an diesem Tag schon einmal erhalten hatte: Du hast dich verändert. »Die, denen du begegnet bist, waren nicht von unserer Art«, sagte der Blättermann. »Sie sind ein geringeres Volk; viele von ihnen teilen sich den Wald mit uns. Diese Anderen haben sich nicht in ihrer wahren Gestalt gezeigt, und das werden sie auch nicht tun, solange du noch mit einem Fuß in einer Welt von Druiden und Helden, Königen und Beratern stehst.« »Mit einem Fuß?«, musste Tuala fragen. Sie glaubte nicht, dass sie Angst hatte, obwohl er so ganz und gar seltsam aus- j sah; sie staunte nur darüber, dass diese Geschöpfe sich endlich entschlossen hatten, ihr zu erscheinen, und sie empfand ein gewisses Misstrauen, das davon kam, dass sie die Geschichten kannte. »Ich lebe in Pitnochie; ich gehöre zu Broichans Haushalt. Niemand weiß wirklich, wo ich herkam. Ich könnte das unerwünschte Kind eines armen Mädchens sein. - 266 Ich könnte ein ganz gewöhnliches Menschenmädchen sein.« Sie sollte sie einfach fragen. Sie wünschte, sie könnte sich dazu überwinden. Wisst ihr, wer ich bin? Das Lachen, das nun erklang, hielt sie jedoch davon ab, die Worte laut auszusprechen. Das vergnügte Lachen hallte in dem kleinen Tal wider wie Samen, die in einer Kapsel rasseln, und bewirkte, dass es Tuala im Nacken kribbelte. »Gewöhnlich?«, fragte das Mädchen spöttisch. »Das glaubst du ebenso wenig wie wir. Du bist eine von uns, ein Kind des Waldes. Du hast Magie in jedem Haar auf deinem Kopf, in jeder Berührung deiner Fingerspitzen. Sag uns, warum du heute hierher gekommen bist, Tuala. Sag uns, wieso du uns aufgesucht hast.« Der junge Mann setzte sich hin; seine Kleidung schien ebenso wie sein Haar eine Verlängerung des Laubs zu sein, Matten aus grünem, miteinander verwobenem Pflanzenwuchs. Er roch ein wenig nach verrottenden Blättern. Mit langen, knochigen Fingern tätschelte er einladend den Boden; das Mädchen mit dem grauen Umhang kniete nun auf Tualas anderer Seite. Tuala setzte sich mit gekreuzten Beinen hin, angespannt und aufmerksam. Wenn sie davonlaufen musste, wollte sie bereit sein, das sofort zu tun. Ihr Herz klopfte heftig; es gab hier viele Möglichkeiten, und sie musste auf alle vorbereitet sein. »Ich suchte Antworten«, sagte sie. »Und die Fragen sind nicht mehr die gleichen, die ich früher einmal gestellt hätte, wenn ich die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Die Menschen haben sich verändert; Menschen die einmal meine Freude waren, haben plötzlich Angst vor mir, sind misstrauisch und seltsam. Meine Lehrer sagten, das ist, weil... weil sie mich als Frau für gefährlich halten.« Sie schluckte. »Wie Amna mit dem weißen Tuch«, fügte sie widerstrebend hinzu. »Und nun liegt ein alter Mann, der mein Freund ist, im Sterben, und sie wollen nicht zulassen, dass ich seine Hand halte und mich von ihm verabschiede.« Sie war entschlossen, nicht zu wei- 267 nen; es war wichtig, die Situation zu beherrschen. Sie würde schon bald genug Zeit zum Weinen haben. »Amna, hm«, sagte der Blättermann. »Menschenfrauen erfinden solche Geschichten, damit ihre Männer sich nicht herumtreiben.« Tuala starrte ihn an. Seine Wangen waren so braun und glänzend wie reife Kastanien. »Erfinden?«, wiederholte sie. »Willst du damit sagen, dass es nur eine ausgedachte Geschichte ist? Und was ist mit der Eulenfrau, ist das ebenfalls erfunden?« »Vielleicht«, sagte der Mann. »Vielleicht auch nicht.« »Das hilft mir nicht weiter«, entgegnete Tuala. »Ich brauche Antworten. Ich muss den Leuten zeigen können, dass ich nicht gefährlich für sie bin. Ich muss sie überzeugen, dass ...« Ihre Stimme verklang; es war einfach zu peinlich, um es auszusprechen.
»Dass du nicht einen ihrer Männer begehrst?« Das Mädchen schob die Kapuze zurück und faltete die Hände im Schoß; sie trug viele Ringe, kunstvolle Silbergebilde mit hellen Steinen in Fassungen, die aussahen wie kleine Zweige. »Das ist unwichtig, Tuala. Nach ihrer Ansicht besteht die Gefahr darin, dass ein Mann dich begehren könnte. Sie meiden dich, weil sie glauben, dass es von nun an gefährlich ist, dich anzusehen oder zu berühren. Sie glauben, wenn sie dich in ihre Nähe lassen, kommt das einer Todesstrafe gleich. Wir kennen deine Geschichte. Bridei hat dich aufgenommen. Er war damals ein Kind und wusste nicht, was es bedeutete. Der Druide sah, was geschehen würde, aber er sah es zu spät. Er kann dir nicht gestatten, in Pitnochie zu bleiben. Das zu tun, würde tatsächlich Tod bedeuten: den Tod seiner Vision. Das glaubt er zumindest.« Tualas Herz war kalt. »Aber du sagtest, die Geschichte von Amna sei erfunden. Und ich bin ohnehin nicht so. Ich bin aufgewachsen wie ein Menschenmädchen. Ich werde einfach weiterleben, wie ein gewöhnliches Mädchen es tun wür- 268 de. Ich werde niemandem etwas tun.« Die Zukunft, die sie sich wünschte, umfasste sie und Bridei und Pitnochie; wie sollte sie etwas anderes ertragen können? Die beiden schwiegen. In diesem Schweigen hörte Tuala das Echo dessen, was sie selbst gesagt hatte, und erkannte, wie kindlich es klang, wie simpel. Es war zu spät für solch einfache Lösungen. Sie konnte nie wieder Kind sein. »Woher wisst ihr das alles überhaupt?«, fragte sie schließlich herausfordernd, obwohl die Antwort darauf vor ihr lag, im stillen Wasser des Dunklen Spiegels. »Was interessiert es euch schon?« Das Waldmädchen lächelte. Es war ein seltsames Lächeln, in dem Kummer und Resignation von einer Freundlichkeit gemildert wurden, die beinahe widerstrebend schien. »Du überraschst mich, Tuala«, sagte sie. »Du stellst die eine Frage nicht, die dich am meisten beunruhigt. Ist diese Frage nicht die Antwort auf alle anderen?« Tuala schwieg. Diese Wesen waren anders, sie waren ihr so unähnlich wie wilde Tiere. Wenn sie eine von ihnen war, hätte sie es beinahe lieber nicht gewusst. »Also gut«, sagte das Mädchen seufzend, »du hast dir das Recht zu einer solchen Antwort noch nicht verdient, also könnte ich sie dir nicht einmal geben, wenn ich sie wusste. Diese Wahrheit ist für später bestimmt, wenn du gezeigt hast, dass wir dir trauen können. Und was die Quelle unseres Wissens angeht: Wir beobachten dich, und wir beobachten Bridei. Unsere Muster sind von längerer Dauer als die der Menschen, aber das bedeutet nicht, dass wir kein Interesse an Königen und Druiden, an Schlachten und Kriegen und daran haben, wer in Fortriu herrscht. Es steht eine große Veränderung bevor. Dein Freund steht in der Mitte von allem, oder er wird es zumindest tun. Wir nehmen an, dass du das weißt.« Tuala nickte, weigerte sich aber, die Antwort auszusprechen. Schon als kleines Kind hatte sie verstanden, welche Zukunft Broichan für seinen Pflegesohn vorgesehen hatte. - 269 »Welche Rolle erwartest du bei diesen großartigen und bedeutsamen Ereignissen zu spielen?«, fragte der Blättermann mit brutaler Offenheit. »Das ist die Frage, die du dir stellen solltest, denn es kann nicht mehr lange dauern, bis Pitnochie dir für immer verschlossen ist.« »Hör auf«, murmelte Tuala und steckte sich die Finger in die Ohren, aber sie hörte weiter hin; immerhin hatte sie Antworten gesucht, und die erhielt sie nun, so ungern sie sie auch hören mochte. »Broichan hat ein Problem«, sagte das Waldmädchen. »Er kann dich nicht einfach verstoßen. Brideis gute Meinung bedeutet ihm erheblich mehr, als er auch nur sich selbst jemals eingestehen würde. Der Druide des Königs hat eine Schwäche, und das ist seine Zuneigung zu dem Jungen. Außerdem ist Broichan zutiefst loyal zu den Göttern; er würde nicht wagen, die Leuchtende zu verärgern, indem er ihre Tochter ausstößt. Zum Glück für ihn gibt es eine Lösung. Wenn ich Broichan wäre und mein Geist wie der eines sterblichen Mannes funktionierte, wäre ich froh, dass du das gefährliche Alter erreicht hast. Jetzt braucht er dir nur einen Mann zu suchen und kann dich vollkommen achtbar loswerden, ohne jemanden zu verärgern.« »Schau nicht so entsetzt drein«, sagte der Blättermann und ^ leckte sich die Lippen mit einer langen, grünlichen Zunge, was Tuala eine Gänsehaut verursachte. »Das ist doch üblich bei Menschenmädchen, sobald sie angefangen haben zu bluten. Hast du nicht versucht, uns davon zu überzeugen, dass du ein ganz gewöhnliches Menschenmädchen bist? Selbstverständlich könnte es schwierig sein, einen Mann für dich zu finden. Jeder, der die Geschichte von Amna vom weißen Tuch kennt, wäre verrückt, dich zu nehmen. Aber ein einsamer Witwer, ein älterer Mann vielleicht, könnte sich von einem Blick auf diese zarte Haut, diese hübsche Figur verleiten lassen. Und Broichan ist nicht arm; er könnte dir eine solide Mitgift geben. Ich wette, bis Mittsommer ist er dich - 270 los. Es sei denn, du nimmst die andere Gelegenheit wahr, jene, die wir dir bieten können.« Tuala fürchtete, sich übergeben zu müssen. »Bridei würde das nicht zulassen«, flüsterte sie. »Er würde ihn aufhalten.« Wieder lächelte der Mann. »Bridei ist viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt«, sagte er und zeigte auf den Teich, wo in einem Schimmern von Bewegung sofort Bilder auftauchten. »Angelegenheiten von Leben und Tod, die nicht nur seine eigene Zukunft beeinflussen werden, sondern die von ganz Fortriu. Sollte sich alles so entwickeln, wie Broichan es plant, wird Brideis Schicksal ihn weit von dir wegführen. Sieh selbst.« »Ich werde nicht hinsehen.« Tuala hörte, wie sehr ihre Stimme zitterte. »Ihr könnt diese Bilder manipulieren; ihr
zeigt mir nur, was ich sehen soll. Ihr könnt mich nicht zwingen hinzusehen.« »Warum bist du hergekommen, wenn nicht, um ihn zu sehen?«, fragte das Mädchen leise. »Warum gehst du an diesen einsamen Ort, wenn nicht, um ihm nahe zu sein, wenn er weit weg ist? Wenn dieses Wasser dir sein Gesicht zeigt, dann musst du einfach hinsehen.« Tuala nickte. Sie hatten Recht: Diesen ganzen Weg in der Kälte hierher gekommen zu sein und Bridei nicht zu sehen, wenn sie doch wusste, dass sein Bild dort auf der Oberfläche des Dunklen Spiegels wartete, ging tatsächlich über ihre Kraft. Aber sie war verlegen, als sie sich wieder über den Teich beugte. Es war noch nicht lange her, dass ihre eigene Gestalt bleich und seltsam im Wasser zu sehen gewesen war, und es beunruhigte sie, nun auf der gleichen Oberfläche nach einem Bild ihres guten Freundes Ausschau zu halten. Etwas daran war nicht richtig. Sie glaubte keinen Augenblick, dass ihre Gefährten aus der Anderwelt die Botschaft des Dunklen Spiegels nicht so verzerrten und veränderten, wie es ihnen passte. Dennoch, sie musste einfach hinsehen. - 271 Es gab nur kurze Blicke, und jedes Bild war schon beinahe verschwunden, bevor sie Zeit hatte, es wirklich wahrzunehmen: Bridei, der neben Gartnait ritt, und beide trieben ihre Pferde in unausgesprochener Rivalität an. Das überraschte Tuala nicht. Sie hatte während der Sommer, die Gartnait in Pitnochie verbracht hatte, oft Gelegenheit gehabt, Talorgens lachenden, rothaarigen Sohn zu beobachten. Hinter seiner fröhlichen Fassade hatte Tuala etwas anderes bemerkt: das leidenschaftliche Bedürfnis, was Kraft und Geschicklichkeit anging, besser zu sein als Bridei, da er keine Hoffnung hatte, es in Sachen der Gelehrsamkeit mit ihm aufnehmen zu können. Sie hatte die Verzweiflung erkannt, mit der Gartnait versuchte, seinen Vater zu beeindrucken, und verstand, was Bridei entging: dass sein unbeschwerter, scherzender Gefährte von leidenschaftlichem Ehrgeiz getrieben wurde. Einem Jungen wie Gartnait mochte es so vorkommen, dass Bridei alles zu leicht gemacht wurde. Gartnait wusste nichts von den langen Zeiten der Einsamkeit, den geduldigen Stunden der Selbstdisziplin. Er begriff nicht, was es bedeutete, von zu Hause weggeschickt zu werden, wenn man noch zu klein war, um zu verstehen, warum. Das Bild änderte sich, und Tuala sah Bridei, der mit einem anderen Mann rang, ein Kampf um Leben und Tod mit Messern. Es war nur ein Augenblick. Dann sah sie Bridei allein bei Nacht, wie er in die Dunkelheit starrte. Eine einzelne Kerze zeigte seine umschatteten Augen, die kleine Falte zwischen seinen Brauen, seinen angespannten Mund. »Er braucht mich«, flüsterte sie. Dann war es nicht mehr Nacht, sondern Tag, und er saß auf einer Bank neben einem Fischteich, und da war ein Mädchen. Das Mädchen hatte rotes Haar wie Gartnait und ein paar kleine Sommersprossen auf ihrer zarten Nase. Sie war auf eine Weise gekleidet, die zeigte, dass sie eine Adlige war, ihr Haar war mit einem bestickten Band zurückgebunden, - 272 und sie hatte es nur einer einzelnen Locke erlaubt, über einem Ohr aus der strengen Frisur zu entkommen. Ihr Kleid war aus einem weichen rotbraunen Stoff mit Borten im gleichen Grün und Blau wie im Haarband. Ihre Füße steckten in feinem Ziegenleder. Das Mädchen saß neben Bridei; sie wirkte ebenso ruhig und gelassen wie er, und sie lauschte aufmerksam, als er sprach. Bridei neigte den Kopf höflich zu ihr, und sie sagte ein paar Worte und hob ihm ihr Gesicht entgegen. Trotz ihrer scharfen Züge war sie sehr hübsch, wie eine kleine Füchsin. Tuala konnte in Brideis Augen sehen, dass er sie bewunderte. »Sehr angemessen«, stellte der Blättermann trocken fest, als dieses Bild zerbrach und verschwand. »Die Tochter eines Freunds der Familie, mit Beziehungen zum Königshaus, gesund und in jeder Weise präsentabel und nur ein oder zwei Jahre jünger als er. Er muss selbstverständlich zunächst in die Schlacht ziehen; in diesem Frühjahr muss er sich auf dem Feld beweisen. Aber man sieht schon, wie es sich entwickeln wird. Er vertraut sich ihr bereits an.« »Er braucht mich.« Tuala schauderte, so warm sie der seltsame Umhang auch hielt. »Er muss nach Hause kommen.« Kein elegantes Mädchen mit Verbindungen zum Königshaus konnte so gut zuhören wie sie, wusste, wie man diesem ernsten Gesicht ein Lächeln entlockte, wie man an seiner Seite stand, wenn er mit den großen Fragen rang, die ihn bedrängten und die ihn nun nur mehr und mehr bedrängen würden. Keine blendende Vision konnte sie von etwas anderem überzeugen. All das bedeutete nur, dass niemand außer ihr selbst und Bridei die Verbindung verstand, die zwischen ihnen bestand. »Nein, Tuala«, sagte das Waldmädchen. »Er fliegt bereits weit außerhalb deiner Reichweite; würdest du denn die Flügel eines Adlers beschneiden?« »Selbst der Adler kann nicht pausenlos fliegen.« Tuala bemühte sich sehr, weiterhin selbstsicher zu klingen. »Er muss - 273 ruhen, damit er mutig weiterfliegen kann. Und dafür braucht er mich.« »Wie kannst du da so sicher sein?«, fragte der Blättermann. »Solltest du nicht lieber deinen eigenen Weg finden und deine eigene Begabung nutzen? Du hast kaum begonnen zu entdecken, was du bist.« »Bridei braucht dich nicht mehr.« Die Stimme des Mädchens war so beruhigend wie Honigmet, so sanft wie die einer Mutter. »Es war eine Kinderfreundschaft, die euch beiden geholfen hat. Diese Zeiten sind nun vorbei. Er zieht auf seinem eigenen Weg weiter. Es ist Zeit, dass du anfängst, über den deinen nachzudenken.«
»Du scheinst Broichans Plan für dich zu fürchten«, sagte der Mann. »Du brauchst nicht zu tun, was er will. Wähle den anderen Weg. Deshalb bist du hierher zu uns gekommen. Streite es nicht ab. Du weißt, dass es für dich im Wald einen Weg gibt. Wir werden dir zeigen, wie du ihn finden kannst. Wir werden dir das Tor öffnen, damit du über die Schwelle treten kannst.« »Wir bringen dich nach Hause.« Nun war die Stimme des Mädchens wie der Klang eines süßen, unirdischen Instruments, der über das dunkle Wasser schwebte. Tualas Kopfhaut kribbelte. Ein Zauber, das war es, ein Bann, eine Falle; sie hatte dem Blättermann mit seinem tückischen Lächeln und seinen anzüglichen Blicken misstraut, aber es war die andere, so hübsch und freundlich, die gefährlicher war. Sie war dumm gewesen, sich von dieser sanften Stimme beeinflussen zu lassen, von diesen Visionen, die sie verhöhnten. Sie versuchte, sich das Spinnwebgewand von der Schulter zu schieben. Sie spannte sich an, war bereit zu fliehen. Sie brauchte nur aufzustehen und zu laufen, sie kannte den Weg den Hang hinauf, am Rand des Tals entlang, unter Birken, Eichen und Stechpalmen hindurch zurück zur Grenze von Broichans Land und der Sicherheit. Sie würden ihr nicht folgen, nicht, sobald sie an den weißen Steinen am Eingang - 274 zum Tal der Gefallenen vorbeigekommen war. Das hoffte sie zumindest. Aber wenn sie floh, würden sie wissen, dass ihre Pfeile getroffen hatten. Sie würden wissen, dass es ihnen zumindest gelungen war, sie zu verängstigen. Nein, Tuala würde ihnen diesen kleinen Sieg nicht gewähren, nicht, nachdem sie ihr mit ihren grausamen Bemerkungen so wehgetan hatten. Sie waren nicht die Einzigen, die die Bilder einer Seherin verzerren konnten, um ein bestimmtes Argument zu unterstreichen. Tuala holte tief Luft und schaute noch einmal in das Wasser des Dunklen Spiegels. Sie konzentrierte sich auf die Leuchtende, sie stellte sich die helle Silberkugel vor, beschwor das Bild einer hoch gewachsenen und schönen Frau herauf, die ein kleines, in Pelze gehülltes Kind in den Armen hielt. Das Wasser schimmerte, bewegte sich, wurde wieder ruhig. Dann war auf seiner spiegelnden Oberfläche der kleine Bridei zu sehen, die kleinen nackten Füße blau von der Kälte unter dem Saum seines Nachtgewands, wie er um Mitternacht auf der Schwelle stand. Er schaute nach unten. Der Spiegel zeigte nicht, was er sah, nur die wunderbare Veränderung seines Gesichts, eines Gesichts, das zu ernst, zu misstrauisch war für ein Kind dieses Alters, dessen Gedanken sonnigen Tagen, wilden Spielen und seiner Familie gelten sollten. Er kniete sich auf dem Bild im Wasser nieder und sah sich an, was da vor ihm lag, und plötzlich leuchteten seine Augen, sein ganzes kleines Gesicht strahlte vor Freude. Er stand wieder auf und blickte nach oben, und die Leuchtende schaute auf ihn hernieder und berührte sein Gesicht mit unirdischem Silber. Tuala konnte nicht hören, was er sagte, aber sie erkannte die Bedeutung in ihrem Herzen: Es war ein Versprechen, tief und bindend, eine Bestätigung seiner Verantwortung. Er bückte sich, um aufzuheben, was vor seinen Füßen lag, und er lächelte. Nun hatte er einen anderen Ausdruck in den Augen, einen Blick, der nur für sie gedacht war. Das Bild verblasste und verschwand. - 275 Plötzlich war es im Tal der Gefallenen sehr still, so still, als wäre die Zeit stehen geblieben, während dieses Bild sich auf dem Dunklen Spiegel zeigte. Tuala blinzelte, rieb sich die Augen und schaute nach links und rechts. Sie war allein. So lautlos, wie sie gekommen waren, waren ihre Gefährten aus der Anderwelt wieder verschwunden. Die Vision, die sie sich gewünscht hatte, hatte ihnen nicht gefallen, so viel war sicher. Tuala verstand das nicht ganz; waren sie nicht selbst getreue Untertanen der Leuchtenden? Vielleicht war es Tualas Starrsinn, der sie vertrieben hatte. Vielleicht hatten sie erwartet, dass sie sie an den Händen nehmen und mit ihnen schon heute in den Wald gehen würde, um nie wieder ins Reich der Sterblichen zurückzukehren. Sie hatte sie nicht einmal nach ihren Namen gefragt. Es fing an zu regnen, und dieser Regen steigerte sich mit erschreckender Schnelligkeit zu einem Guss, der durch Tualas Umhang, Tuch und Hemd drang. Sie setzte die Kapuze auf und ging weiter. Ihre Stiefel waren bald dick mit Schlamm überzogen. Sie hatte sich lange gewünscht, dass das Gute Volk sich zeigte und begann, ihre Fragen zu beantworten. Jetzt hatten sie es endlich getan, aber sie hatte nur wenig erfahren. Vielleicht gab es bei diesem Volk tatsächlich eine Art Heim für sie. Wir werden dir das Tor öffnen, damit du über die Schwelle treten kannst, hatten sie gesagt. Sie würde gerne herausfinden, was das bedeutete, aber nur, wenn sie genau wusste, dass sie wieder zurückkehren könnte. Und Tuala hatte zu viele alte Geschichten gehört, um zu glauben, dass das möglich wäre. Wenn man dieses andere Reich betrat, war man dort für immer gefangen, oder man blieb für einen einzigen Tag des Festessens und der Tänze und kehrte zurück und entdeckte, dass alle, die man kannte, schon hundert Jahre tot waren. Außerdem würde sie nicht ohne Bridei irgendwo hingehen, und Brideis Weg lag eindeutig in der Welt menschlicher Angelegenheiten, einer Welt aus Druiden, Königen und Schlachten. Und ganz - 276 gleich, wie viele liebreizende Fuchsmädchen man ihr auch zeigte, sie würde nicht glauben, dass irgendeine andere ihren Platz in seinem Leben einnehmen könnte. Sie beide gehörten zusammen - so einfach war das. Sie kam erst nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause, frierend, durchnässt und erschöpft. Als sie unter den kahlen Eichen hervorkam, mit matschigen Stiefeln, den durchnässten Umhang fest um sich geschlungen, sah sie die blassen Gesichter der Männer auf Wache, die um ihr kleines Feuer saßen, sich ihr kurz zuwandten und schnell wieder wegschauten. Die Küchentür war verriegelt. Tuala tat ihr Bestes, mit frierenden, schmerzenden Händen zu klopfen. Sie dachte
an das Bild im Teich, an ein Kind, das genau an dieser Stelle gestanden und auf ein Baby hinabgeschaut hatte, das im Schnee einer Sonnenwendnacht zurückgelassen worden war. Sie wartete, geschüttelt von heftigem Zittern. Diesmal gab es keinen Bridei, der sie hereinholte. Sie hob die Hand, um noch einmal zu klopfen, aber bevor sie das tun konnte, wurde der Riegel zurückgezogen und die schwere Tür öffnete sich zu Laternenlicht, der Wärme des Feuers und Maras säuerlicher Miene. Tuala stolperte nach drinnen. »Erip geht es sehr schlecht«, sagte Mara und rammte den Riegel wieder an Ort und Stelle. »Zieh diese nassen Sachen aus und bring sie zu mir, dann gehst du zu ihm.« »Wie schlecht?«, fragte Tuala durch klappernde Zähne. Der plötzliche Schock der Wärme bewirkte, dass ihr elend und schwindlig wurde. Mara kniff die Lippen zusammen. »Es könnte eine lange Nacht werden«, sagte sie. »Geh schon, zieh trockene Sachen an. Und gib mir diese Stiefel. Du machst nur Ferats sauberen Boden schmutzig.« Tuala zog die tauben Füße aus den nassen Stiefeln, nahm die Kerze, die Mara ihr reichte, und floh in ihr kleines Zimmer. Sie zog sich zitternd vor Kälte aus, rieb sich mit einem Tuch halbwegs trocken, zog saubere Unterwäsche und ein - 277 Wollkleid an und wickelte sich in ein altes Schultertuch von Brenna, das immer noch an einem Haken an der Tür hing. Sie bündelte ihre nassen Sachen und kehrte in die Küche zurück. Sie empfand eine gewisse Dankbarkeit gegenüber Mara - man konnte die Haushälterin wirklich nicht freundlich nennen, aber zumindest war sie beständig. Aber Erip! Wie hatte Tuala so lange draußen bleiben können, wenn ihr alter Freund an der Schwelle des Todes stand? Mara nahm die triefenden Sachen ohne weitere Bemerkung entgegen und fing an, sie am Feuer aufzuhängen. Ein Topf Suppe stand auf dem Herd, und eine Schale davon stand auf dem Steinregal, das Ferat für seine Vorbereitungen benutzte, mit einem Stück Schwarzbrot daneben. »Iss«, sagte Mara. »Ich kann mich nicht auch noch um dich kümmern, wenn du krank werden solltest, und das nur, weil du auf die verrückte Idee gekommen bist, allein in den Wald zu rennen. Also iss, es wird dich wärmen.« »Du sagtest, ich sollte reingehen«, brachte Tuala heraus, nachdem sie den größten Teil der Suppe gegessen hatte. »Heißt das, dass die Regeln sich wieder geändert haben?« »Regeln? Ich folge nur den Regeln der Vernunft - ein alter Mann, ein kleines Zimmer, da braucht man keine Ansammlung von Leuten, die ihn überanstrengen. Du hast es nicht mir zu verdanken, dass du heute Abend hineingehen darfst, sondern ihm. Er hat nach dir gefragt.« »Er hätte es auch schon vorher getan, er hätte mich dort haben wollen«, fühlte sich Tuala verpflichtet zu sagen. »Er war zu schwach, das ist alles. Ich habe es dir ja gesagt.« Mara warf ihr einen Blick zu, verbiss sich aber jede weitere Bemerkung. In Brideis kleinem Zimmer mit seinem quadratischen kleinen Fenster ruhte Erip an einen Berg von Kissen gelehnt; es half ihm, so zu sitzen. Trotzdem rasselte und keuchte sein Atem an diesem Abend in seiner Brust, als zöge man einen Stock über Knochen; eine garstige Todesmusik. Wid saß - 278 ruhig und gefasst an seiner Seite, die schmalen, knorrigen Hände im Schoß gefaltet. Das Licht der Lampen, die in der Kammer aufgestellt waren, fiel auf seine Hakennase, den schneeweißen Bart, die tief liegenden Augen. Am Fuß des Strohsacks, hoch gewachsen und reglos in seinem langen Gewand, stand Broichan. Tuala erstarrte in der Tür. Der Blick des Druiden begegnete dem ihren ungerührt. »Oh ...«, begann sie, unsicher ob sie eine Ausrede vorbringen sollte, eine Entschuldigung oder eine Bitte, hier bleiben zu dürfen, da ihr alter Freund gesagt hatte, er wolle sie sehen. »Komm herein«, sagte Broichan ernst. Er deutete auf einen Hocker neben dem von Wid, direkt neben dem Strohsack. Tuala verkniff sich die Worte und erkannte plötzlich, dass es der Druide gewesen sein musste, der nach ihr gefragt hatte; er war der Einzige, dem Mara sofort gehorchen würde. Tuala setzte sich neben Erip und nahm die Hand des alten Mannes. Sie sah Broichan nicht an. Wenn sie den Blick abwandte, würde er vielleicht nicht erkennen, wie feige sie war. Es kam ihr vor, als könne sie nicht in seiner Nähe sein, selbst jetzt nicht, ohne wieder fünf Jahre alt zu sein und außer sich vor Entsetzten. Erip sagte etwas; seine Stimme wie ein rauer Faden von Geräuschen. »Draußen... Regen«, brachte er hervor. »Dummes Mädchen...« Tuala nickte und schluckte die Tränen herunter. In einer solchen Situation weinte man nicht; man schickte einen Freund mit Hoffnung, Freude und Liebe auf die Reise. »Ah«, sagte sie, »ich war spazieren, und der Regen hat mich überrascht. Ich hätte mein Haar ordentlich trocknen sollen, aber ich wollte dich sofort sehen. Mara sagte, ich könne hereinkommen.« Sie drehte sich immer noch nicht um, obwohl ihre Sinne ihr sagten, dass Broichan sie angespannt beobachtete. - 279 »Wir haben ein paar Geschichten erzählt«, sagte Wid, »haben ein paar Lieder gesungen, uns an alte Zeiten erinnert.« Tuala warf ihm einen Blick zu. Es schien, dass die Trauer, die in den letzten Tagen seine Züge gezeichnet hatte, ein wenig geringer geworden war, obwohl Erips Hinscheiden kurz bevorstand. Vielleicht hatte das
Geschichtenerzählen beiden alten Freunden geholfen. Wie Broichan hier hineinpasste, konnte sie sich nicht vorstellen. Er schien kein Mann zu sein, der Freunde hatte. »Wo warst du?«, fragte er abrupt, die Frage so plötzlich wie der Sprung einer Katze, die eine Maus mit ihren Krallen fangen will. Tuala zwang sich, langsam zu atmen, wie Bridei ihr beigebracht hatte. »An einem Ort im Wald, wo ich... wo ich Bilder dessen sehen kann, was geschehen könnte.« »Sieh mich an, Tuala.« Sie wandte sich dem Druiden zu; sein Blick war direkt auf sie gerichtet. Broichan war an diesem Abend sehr blass; die Linien von der Nase zum Mund schienen tiefer zu sein. »Welche Bilder? Wessen Weg wolltest du sehen? Deinen eigenen?« Sie wollte es ihm nicht sagen. Sie wollte ihm überhaupt nichts sagen. Der Dunkle Spiegel und die Wahrheiten, die er erzählte, waren geheim, persönlich. Es auszusprechen wäre ein Vertrauensbruch, und Broichan war der Letzte, dem sie sich je anvertrauen würde. Ihm misstraute sie mehr als jedem anderen. Außerdem, wenn sie über das sprach, was heute geschehen war, würde sie vielleicht einen Fehler machen und verraten, dass sie nicht allein am Teich gewesen war. »Ich suche nicht nach etwas Bestimmtem«, sagte sie, hörte den angespannten, spröden Ton ihrer Stimme, der deutlich anzeigte, dass sie log. »Ich sehe, was immer mir gezeigt wird.« Sie konnte seinen Blick nicht mehr ertragen; sie starrte ihre Hände an, die Erips Hand wie eine Rettungsleine umklammerten. - 280 »Sprich die Wahrheit«, sagte Broichan. »Das ist das Mindeste, was ich von jedem Kind erwarte, das in meinem Haushalt aufgezogen wurde. Du hast das von Bridei gelernt, wie? Ich kann nicht glauben, dass er dir nicht auch ein paar Feinheiten beigebracht hat.« Dann fing Erip an zu husten und um Atem zu ringen, und eine Weile konnten sie alle nichts anderes tun, als ihm in seinem Kampf zu helfen, den er bereits verloren zu haben schien. Er war zu schwach geworden für dieses Würgen und verzweifelte Röcheln. Endlich ließ der Anfall nach; der alte Mann atmete wieder, aber nur flach, und jedes Einatmen war ein schmerzerfülltes Ächzen. Es war Blut auf den Laken. Wid hielt Erip einen Becher Wasser an die Lippen; Erip schüttelte schwach den Kopf. Er versuchte, etwas zu sagen, er hatte seine geröteten, schmerzerfüllten Augen auf Tuala gerichtet. »... Bridei...«, flüsterte er. »In der Tat«, sagte Wid und blickte auf zu dem Druiden. »Was Broichan dich fragen wollte, Tuala, was er irgendwann auf seine gewundene druidische Weise gefragt hätte, ist, ob dein Ausflug in den Wald dir heute Neuigkeiten von unserem Jungen gebracht hat. Erip ist traurig, weil sein bester Schüler nicht zu Hause ist, und auch Bridei wird traurig sein, dass er in einer solchen Zeit nicht in Pitnochie sein konnte. Wenn du an diesem Ort etwas von ihm gesehen hast und es uns erzählen könntest, würde das Erip sehr beruhigen. Es ist schwer für dich, wir wissen das.« Es wäre nicht schwer, dachte Tuala, wenn dieser Mann mich nicht mit Augen voller Macht und Hass anstarren würde. Mit meinen alten Freunden würde ich gerne darüber sprechen. Bei all ihrem Unbehagen wusste sie, dass sie erzählen musste, was sie gesehen hatte, zumindest einiges davon. »Ich habe ihn gesehen.« Das kam als Flüstern heraus; Tuala räusperte sich und bemühte sich um einen selbstsichereren Ton. »Ich sah ihn im Zweikampf Mann gegen Mann, ich - 281 sah ihn, wie er mit Gartnait ausritt und wie er mit einem Mädchen sprach, ich glaube, es war Gartnaits Schwester. Es schienen Bilder der Gegenwart zu sein, es war Winter, und Bridei sah ganz ähnlich aus wie zu dem Zeitpunkt, als wir uns zum letzten Mal verabschiedet haben.« »War er gesund? Zufrieden?« Es war Broichan, der da sprach, und in seiner Stimme lag eine Schärfe, die zuvor nicht da gewesen war. Tuala wusste plötzlich, dass er diese Neuigkeiten mehr für sich selbst als um Erips willen hören wollte. »Es schien ihm gut zu gehen.« Sie erinnerte sich an das Bild, von dem sie nicht gesprochen hatte: Bridei in der Nacht, gequält von einem gewichtigen Problem. Gegen ihren Willen platzte es aus ihr heraus: »Er will nach Hause kommen.« Alle schwiegen. Dann sagte Broichan: »Woher weißt du das?« , »Ich sah es in seinem Gesicht. Er hat... Bedenken.« Nun hatte sie zu viel gesagt, und so sehr Broichan sie auch bedrängen würde, sie würde nicht mehr darüber sprechen. Erip seufzte. Seine Finger bewegten sich, um ihre zu tätscheln, die Berührung wie ein trockenes Blatt, ein Grasbüschel, weich und substanzlos, als hätte er bereits begonnen, seine Existenz in dieser Welt aufzugeben, und sich auf die Reise ins Reich reinen Geistes aufgemacht. »Danke«, sagte er und schloss die Augen. »Er kann nicht nach Hause kommen, bevor Talorgens Feldzug vorüber ist.« Broichans Tonfall gestattete keinen Widerspruch. »Und der wird nicht vorüber sein, bevor der Sommer beginnt, selbst wenn alles nach Plan verläuft. Der Junge muss das, was er braucht, in sich selbst finden. Was sonst hast du gesehen? Ein Kampf, sagst du? Eine Schlacht? Ein größeres Gefecht?« Tuala blickte zu ihm auf. »Ich habe nichts dergleichen gesehen«, sagte sie. »Nur einen Kampf zwischen Bridei und
- 282 einem anderen Mann. Sie hatten Messer. Ich weiß, dass er in Sicherheit ist.« »Woher weißt du das?« »Ich würde wissen, wenn ihm etwas zugestoßen wäre. Ich brauche nicht in den Dunklen Spiegel zu schauen, um das zu wissen.« »Der Dunkle Spiegel«, wiederholte Broichan leise. »Du gehst also den ganzen Weg hinauf zum Tal der Gefallenen. Warum dort? Was siehst du dort, das nicht auch näher am Haus gefunden werden kann? Welche Geheimnisse? Welche Präsenzen?« »Nichts, dass du nicht ebenfalls sehen könntest, Herr, da bin ich sicher. Deine eigenen Fähigkeiten in dieser Kunst müssen meine bei weitem übertreffen, so ungeschult wie ich bin.« Tatsächlich staunte sie gewaltig, dass er sie so befragte. Er war immerhin der Druide eines Königs; er konnte doch sicher unendlich machtvollere Visionen heraufbeschwören als sie. »Ich habe Erip bereits erzählt, dass es Bridei offenbar gut geht und ihm sein Zuhause und seine alten Freunde fehlen. Er ist zufrieden mit diesen Nachrichten, und sie entsprechen der Wahrheit. Mehr werde ich nicht sagen.« Danach herrschte Schweigen, ein Schweigen, in dem Tuala darauf wartete, dass Broichan ihr befahl, das Zimmer zu verlassen. Sich ihm zu widersetzen hatte bewirkt, dass ihr kalter Schweiß ausgebrochen war. Aber Broichan sagte nichts, und als sie schließlich wagte, ihm einen Blick zuzuwerfen, stand er einfach am Fuß des Strohsacks, beobachtete Erip, und seine zerstreute Miene zeigte, dass seine Gedanken an einem ganz anderen Ort verweilten. In diesem Augenblick erinnerte Tuala sich an etwas, das das Waldmädchen gesagt hatte. Der Druide des Königs hat eine Schwäche, und das ist seine Zuneigung zu dem Jungen. Es war durchaus möglich, dass Broichans bohrende Fragen weniger mit seinen Strategien und Plänen oder mit seiner Ablehnung ihrer Person zu tun hatten, sondern erheblich mehr mit etwas - 283 viel Einfacherem: der Liebe und Sorge eines Vaters, dessen Sohn abwesend war. Das war eine bedeutende Erkenntnis. Je mehr sie darüber nachdachte, desto wirklicher kam sie ihr vor. Und je wirklicher es schien, desto eher wurde es möglich, Broichan als Menschen und nicht als eine Präsenz von schrecklicher, überwältigender Macht zu sehen. »Haben wir dir je erzählt«, fragte Wid, »wie wir Bridei beigebracht haben, Bier zu trinken wie ein Mann?« Tuala grinste. Sie hatte diese Geschichte viele Male gehört. »Es war so ...« Und danach gab es eine andere Geschichte, und dann noch eine. Tuala trug selbst einige bei, Kindergeschichten, die Brenna ihr erzählt hatte, Geschichten von wunderbaren Ungeheuern und tapferen Helden, die Bridei Abend um Abend an sie weitergegeben hatte, bevor sie einschlief, Geschichten, die er wahrscheinlich von genau diesen beiden gelehrten Alten gehört hatte. Gegen Morgengrauen, als Erip ihre Geschichten nicht mehr hören konnte und sowohl Tuala als auch Wid heiser vom vielen Reden und bleich vor Erschöpfung waren, begann Broichan Gebete zu sprechen. Er sprach leise, aber seine Stimme war dennoch wohltönend und stark, als er den Segen der Leuchtenden und des Flammenhüters herabbeschwor und schließlich eine feierliche Bitte an die Knochenmutter, die Hüterin des großen Tors richtete, durch das dieser müde alte Gelehrte schreiten musste. Tuala weinte nun, aber Wid nicht, auch wenn das graue Vordämmerungslicht, das durch das kleine Fenster fiel, ungeweinte Tränen in seinen tief liegenden Augen zum Glitzern brachte. Erips Atemzüge waren flacher geworden, bis sich die Brust kaum mehr hob und senkte und seine Lippen nur noch ganz wenig zitterten. Seine Augen waren geschlossen. Tuala hielt eine seiner Hände, Wid die andere. »Ein Mann, der gerne gab, stark in seiner Großzügigkeit«, sagte Broichan. »Ein Mann, dessen Reise lang war; er hat viele Wege beschritten und in allem, was ihm zustieß, etwas - 284 Lehrreiches gefunden, im Angenehmen und Unangenehmen. Er war stark in den Lehren der Ahnen, so gut er es auch verbergen konnte, wenn es ihm passte. Er erfüllte treu die Aufgaben, die er im Namen der Götter auf sich nahm. Und er war ein guter Lehrer. Nimm ihn nun auf in Anerkennung all dessen, denn ein solcher Lehrer ist selten; er weiß nicht nur, wie man einen Jungen zum Gelehrten, sondern auch, wie man ihn zum Mann macht. Erleichtere seinen Übergang, denn er wurde sehr geliebt und hat im Gegenzug ebenso geliebt, aber seine erste Liebe galt der Wahrheit. Nimm seine Hand, führe ihn von hier, Mutter von Allem, in die Zuflucht des Schlafes. Lass ihn eine Weile in deiner Obhut ruhen und schenke ihm gute Träume von seiner nächsten Reise. In deinem Namen, dunkle Mutter, bitten wir um dies für unseren lieben Freund. Und wenn wir seine Geschichten erzählen, werden wir ihn ehren und uns an ihn erinnern.« Ob es das feierliche Gebet des Druiden eines Königs war oder einfach Freundlichkeit gegenüber einem guten alten Mann, die Knochenmutter ließ Erip so sanft hinübergleiten, wie es einem Sterblichen möglich war. Es gab keinen letzten Krampf, kein grausiges Ringen nach Luft; Erip atmete noch einmal aus und war dann still. Tuala berührte mit den Lippen seine schmale Hand und legte sie auf seine Brust, und Wid legte die andere darüber. Sie saßen still da, als die Vögel draußen zu singen und zu schwatzen begannen, als das Morgenlicht hell und klar durch Brideis kleines Fenster fiel, wo die Talismane, die er dorthin gelegt hatte, bevor er nach Rabenbrunn aufbrach, immer noch lagen: drei weiße Steine und die braune Feder eines Adlers. Tuala bemerkte, dass andere draußen in der Tür standen, vielleicht schon seit einiger Zeit dagestanden hatten: Mara, Ferat, einer der
Küchenjungen, Uven und ein zweiter Bewaffneter. »Er ist also gegangen«, sagte Mara schließlich. »Ihr solltet lieber alle zum Frühstück kommen; Erip würde nicht wollen, dass ihr seinetwegen hungert. Er hat seine Mahlzeiten im- 285 mer genossen. Danach werde ich ihn waschen und bereit machen. Brenna kann kommen und mir helfen. Es gibt hier ein paar Leute, die Schlaf brauchen; der alte Mann wird so lange warten.« Sie betteten Erip unter einem Hügel behauener Steine oben auf dem Hügel zur Ruhe, nicht weit entfernt vom Morgenbaum. Der Regen ließ gerade lange genug nach, dass sie das Ritual durchführen konnten. Danach tranken sie Bier, aßen Pudding mit getrocknetem Obst und Gewürzen aus Ferats besonderem Vorrat und erzählten Geschichten über Erips Zeit in Pitnochie. Aus Achtung vor Erip blieb Broichan an diesem Abend in der Halle, aber er trug wenig zu den Geschichten bei, und es kam Tuala so vor, als verursachte seine wachsame, schweigende Gegenwart nicht nur ihr selbst, sondern auch allen anderen Unbehagen. Sie hatte den ganzen Abend neben Wid gesessen und war so still gewesen, wie sie konnte. Ihr einziger Versuch, etwas beizutragen, eine Geschichte über einen Streich, den Bridei Erip einmal gespielt und darüber, wie der alte Gelehrte sich gerächt hatte, war auf ausdruckslose Mienen und Schweigen gestoßen, als hätte sie kein Recht, etwas zu sagen, kein Recht so zu tun, als hätte sie zu Erips Freunden gezählt. Nur Wid hatte leise gelacht und ihr die Schulter getätschelt. Von den anderen ging solche Ablehnung aus, dass sie es beinahe körperlich spüren konnte. Am Tag nach Erips Begräbnis erschien ein Besucher: der alte, zerzauste Druide Uist, der im Sommer, als Tuala weggeschickt worden war, in Pitnochie gewesen war, und der hin und wieder auf geheimnisvollen Missionen durch das Tal kam. Er grüßte Broichan auf seine übliche Weise, also mit vollkommener Nichtachtung aller förmlichen Höflichkeit, aber er war zumindest ehrlich. Er ging zu dem Steinhaufen und sprach Gebete, die niemand so recht verstand. Dann wurde Tuala klar, dass Uist nicht in Pitnochie bleiben wür- 286 de, und Wid ebenso wenig. Wid erschien in der Halle mit seinem warmen Umhang und einem kleinen Rucksack, und Uist, der gerade von seinem Besuch an Erips Steinhaufen zurückgekehrt war, fragte: »Bist du bereit?« Es war eisig kalt draußen; dichter Nebel hing über den Hängen oberhalb von Pitnochie und verdeckte das Wasser des Schlangensees. Hier und da erhob sich der Stamm einer großen Eiche moosüberzogen und seltsam grün aus dem grauweißen Dunst. Es war kein Tag, an dem alte Männer in den Wald gehen sollten; es war nicht einmal die Jahreszeit für so etwas. »Zeit zu gehen«, verkündete Wid ruhig und griff nach seinem Stab, der an dem üblichen Platz neben der Feuerstelle lehnte. Er sah Tuala an, die am Feuer stand. So entsetzt und bedrückt sie war, sie konnte dennoch in seiner Miene die Wahrheit über das erkennen, was zunächst wie ein schrecklicher, plötzlicher Verrat erschien. Sie sah, dass seine Trauer ihn überwältigen würde, wenn er hier bliebe. Um zu überleben, musste er ebenfalls eine Reise beginnen, wie Erip es getan hatte. »Es tut mir sehr Leid, dass du gehst«, sagte sie leise. Andere waren in der Nähe, und sie konnte nicht alles aussprechen, was sie empfand. Sie konnte nicht aussprechen, wie grausam es war, den letzten Freund zu verlieren, der ihr hier geblieben war. »Ich wünschte, du hättest es mir gesagt. Aber ich verstehe dich.« Es gelang ihr sogar zu lächeln, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um ihren alten Freund erst auf eine Wange zu küssen, dann auf die andere. »Möge die Leuchtende deinen Weg erhellen.« »Sei tapfer, Kleines«, sagte Wid. »Möge der Flammenhüter deinen Herd und dein Herz erwärmen. Wir werden uns wieder sehen, daran habe ich keinen Zweifel. Dann wirst du mir zeigen müssen, was du auf der hervorragenden Erziehung aufgebaut hast, die wir dir gegeben haben, der alte Mann und ich.« Seine Lippen zitterten. - 287 »Ich verspreche, ihr werdet beide stolz auf mich sein«, erwiderte Tuala und setzte eine so selbstsichere, ruhige Miene auf, wie sie konnte. Aber als sie sie gehen sah, den weiß gewandeten, geheimnisvollen Uist voran und die hoch gewachsene, bärtige Gestalt ihres alten Lehrers, der ihm mit stetigem Schritt folgte, bis der Nebel sie beide verschlang, spürte sie die kalte Schwere vollkommener, quälender Trauer in ihrer Brust. Alle waren gegangen. Nun war sie wirklich allein. 288 KAPITEL ACHT Der Magierstein wurde allgemein für den beeindruckendsten aller Verwandtschaftssteine gehalten, die im alten Territorium der Priteni standen. Er war größer als ein hoch gewachsener Mann und auf allen Seiten mit komplizierten, anmutigen Mustern überzogen. Die Nordseite zeigte die Geschichte eines großen Konflikts: Ganz oben zogen ein König und seine Krieger in die Schlacht, der Herrscher auf einem kräftigen kleinen Pferd, seine Männer zu Fuß hinter ihm, Speere bereit, das lockige Haar bis auf die Schultern fallend, den Blick geradeaus gerichtet. Die Mitte zeigte den Kampf selbst, wo die Priteni auf ihren Feind stießen; hier trieb der König seinen Speer durch die Brust seines Gegners. Am Fuß sah man die Köpfe der Feinde auf Speeren zur Schau gestellt und die Leichen der Gefallenen, die in ordentlichen Reihen lagen. Neben ihnen verschlang ein Hund eine Gans. Vielleicht waren Hund und Gans die Verwandtschaftszeichen der jeweiligen Könige. Die Südseite hatte ein weniger förmliches Muster: Sie war ein leidenschaftlicher, freudiger Tribut an die Götter,
die gesamte Oberfläche mit kleinen Bildern aller Tiere gefüllt, die man in den Königreichen der Priteni fand: Wolf, Hirsch, Fuchs und Dachs, Marder und Wühlmaus, Aal und Lachs, Stier, Wildschwein und Widder, alle sprangen in einer wunderbaren bildlichen Darstellung reiner Lebensfreude über - 289 den Stein. An der Ost- und der Westseite des Magiersteins gab es große Wirbel ineinander verflochtener Schlangen, und hier und da die kleinen, grinsenden Gesichter von Mann, Frau oder Tier. Bridei hatte den Stein nie gesehen. Er befand sich weit im Westen, wo der Königssee sich zum Meer hin öffnete, und eines unseligen Jahres waren die Galen gekommen und hatten den Hügel erobert, von dessen Hang er Generation um Generation herabgeschaut hatte. Es war Broichan, der Bridei als Erster den Stein beschrieben hatte: »Er ist ein wahres Wunder, Bridei, nicht nur ein Wunder der Steinmetzkunst, sondern durchtränkt von der Überlieferung unseres Volkes und voll von den Mysterien unserer Ahnen.« Erip hatte Bridei später erzählt, dass die seltsamen kleinen Gesichter an den Seiten der persönliche Beitrag des Bildhauers zu dem Gesamtwerk gewesen waren; an allen großen Kunstwerken, hatte er gesagt, fand man solche Beweise des Bedürfnisses, sich von etablierten Mustern zu befreien, wenn man nur ausführlich genug danach suchte. Das hatte zu einem hitzigen Streit mit Wid geführt. Bridei erinnerte sich liebevoll daran. Er stellte sich vor, wie die beiden alten Gelehrten zu Hause in Pitnochie immer noch ihre Tage mit endlosen Debatten über Philosophie verbrachten. Es war gut, dass sie jetzt Tuala unterrichteten; sie war klug und würde dafür sorgen, dass die alten Schurken genug zu tun hatten. Sich vorzustellen, wie die drei vor dem Hallenfeuer saßen, half Bridei, sich besser zu fühlen. Zu wissen, dass die Welt in Pitnochie weiterhin auf seine Rückkehr wartete, das war, als hätte er einen Anker, der für seine Sicherheit sorgte, oder wie eine Versicherung, dass sein Geist stark bleiben würde, selbst wenn er Undenkbares erblicken und sich unvorstellbaren Gefahren stellen musste. Nicht, dass Bridei sich gefürchtet hätte. Man hatte ihm beigebracht, eine Situation einzuschätzen, Möglichkeiten und Gefahren abzuwägen, eine Entscheidung zu treffen und ent- 290 sprechend zu handeln. Jahre von Broichans Unterricht hatten dafür gesorgt, dass er auf seine Weise reagierte, ganz gleich, um was es ging; Talorgen hatte, als Bridei in Rabenbrunn mit der Ausbildung zum Krieger begann, einmal festgestellt, dass Broichans Pflegesohn wenig zu lernen hatte, was Strategien, Entschlossenheit und gesundes Urteilsvermögen anging. Andererseits wusste kein junger Mann, ganz gleich wie viel versprechend, was er tatsächlich leisten kann, bevor er seinen ersten wirklichen Geschmack vom Krieg bekommen hat. Das kleine Scharmützel, bei dem Bridei und Gartnait jeder einen Gefangenen genommen hatten, war eine Sache. Eine echte Schlacht war etwas vollkommen anderes. Talorgen hatte sie ausführlich ausgebildet. Es hatte lange Ritte über Land gegeben, auch bei Wetter, das selbst den kräftigsten Mann zum Frieren brachte; sie waren hungrig, erschöpft, zornig und gelangweilt gewesen. Es kam Bridei so vor, als wären sie jetzt für den wirklichen Krieg bereit. Dennoch wusste er, dass man vielleicht nie vollkommen bereit sein konnte. Es half, Donal in der Nähe zu haben. Donal tat sein Bestes, offen und ehrlich zu sagen, um was es ging, und Bridei auf das Beste und das Schlimmste vorzubereiten. »Vergiss nicht, was ich dir einmal gesagt habe«, begann Donal, wenn die beiden miteinander allein waren und einen Augenblick der Ruhe zwischen den endlosen Übungsstunden genossen. Sie ritten nach Süden, und das Tempo war gnadenlos. »Das erste Mal ist es immer am schlimmsten. Dann denkst du noch über den Mann nach, den du tötest, wie ist sein Name, hat er eine Frau und Kinder, hat er Angst und so weiter. Du stichst trotzdem mit deinem Messer zu, denn wenn du es nicht tust, erwischt er dich. Danach lernst du, diesen Teil von dir zum Erlöschen zu bringen, diesen Teil, der Fragen stellt wie: Sollte ich das hier wirklich tun? Du betrachtest sie nicht mehr als Menschen, wie du selbst einer bist, du betrachtest sie als den Feind, als stinkende Galen, die - 291 das Blut deiner Landsleute an ihren Händen und reine Finsternis in ihren Seelen haben. Dann schlägst du nicht zu, um einen Sohn, einen Ehemann, einen Vater zu töten; du schlägst zu, um den Fluch von Fortriu zu vernichten. Es gibt keine andere Möglichkeit, Bridei. Es scheint seltsam, das zu sagen, aber der beste Weg zu kämpfen ist nicht mit dem Herzen oder auch nur mit dem Bauch, du musst mit dem Kopf kämpfen, kühl, sauber, distanziert. Kein Mord, nur eine Hinrichtung.« Darauf reagierte Bridei mit Schweigen. »Glaub mir«, sagte Donal, »du kannst dir keine Skrupel leisten. Deshalb üben wir wieder und wieder, Schwerter, Speere, Messer, bloße Hände - damit wir es, wenn es so weit ist, einfach können. Es hilft auch gegen die Angst, wenn man die Bewegungen so gut kennt, dass man sie im Schlaf beherrscht. Sieh mich nicht so an, Bridei. Du wirst Angst haben. Das haben wir alle. Sogar Talorgen.« Bridei warf ihm einen Blick zu. »Ich dachte nicht, dass du Angst hättest«, stellte er fest. »Donal, Sieger von mehr Schlachten, als ich Finger und Zehen habe, um sie zu zählen - hast du mir das nicht einmal erzählt?« Donal grinste. »Ich bezweifle, dass dir das auffallen würde, wenn ich im Feld stehe. Angst ist gut, wenn man sie richtig benutzt. Sie lässt dich scharfsinnig bleiben und hält dich wach.« »Ich glaube nicht, dass ich Angst haben werde«, sagte Bridei. »Ich glaube, ich werde es schaffen.« »Ja«, sagte Donal. »Daran zweifle ich nicht. Aber du wirst Dinge sehen, die dir nicht gefallen, Dinge, mit denen ein Mann schwer zurechtkommt. Es gibt keine Möglichkeit, sich auf den Tod seiner Freunde vorzubereiten, und
auch nicht auf die Grausamkeit, die das tägliche Brot dieser Galen ist. Das mag dich eine ganze Weile begleiten.« Bridei stellte die Frage nicht, sondern schaute seinen Freund nur an. - 292 »Ich habe gelernt, es wegzuschieben«, sagte Donal leise. »Ich schließe es in mir weg, wo es am besten aufgehoben ist. Manchmal kehrt es zurück. Manchmal träume ich. Nicht oft. Ein Mann kann sich das nicht gut leisten, wenn er als Kämpfer zu etwas nütze sein will.« Bridei dachte nicht zum ersten Mal über die Tatsache nach, dass Donal, ein Mann in mittleren Jahren, weder Frau noch Kinder hatte. Wenn man ihn nach solch persönlichen Dingen fragte, neigte der Krieger zu plötzlicher Schweigsamkeit. Bridei hatte gelernt, nicht zu fragen. »Ich werde bei dir sein, Junge«, sagte Donal. »Erwarte einfach nicht, dass es leicht ist, mehr sage ich nicht.« »Ich bin nicht dumm«, entgegnete Bridei und spürte, wie ihm Röte in die Wangen stieg. »Nein«, sagte der Krieger, »und das habe ich auch nicht gesagt. Ich sage nur, dass die Weisheit eines Druiden dich sicher vieles lehren kann, Dinge, die weit über das Verständnis eines einfachen Mannes, wie ich einer bin, hinausgehen. Aber sie kann dich nicht auf den Krieg vorbereiten, ebenso wenig wie all die Kampfübungen, die Talorgen und ich mit dir durchführen. Das solltest du einfach wissen.« »Ich weiß es.« Bridei dachte an den Dunklen Spiegel. »Die Götter haben's mir gezeigt.« »Sie zeigen kurze Blicke, Bilder, Schatten«, sagte Donal. »Aber es geht um Blut, Eingeweide, abgehackte Glieder, abgetrennte Köpfe, Frauen, die am Boden liegen, wo dieses Ungeziefer sie liegen gelassen hat, Kinder zerschmettert, Häuser angezündet. Es sind die Gerüche und die Geräusche, die dazu gehören. Und noch schlimmer: Deine Kameraden verwandeln sich plötzlich in Fremde. Das ist der schlimmste Teil.« Donais Stimme hatte sich verändert. Bridei warf ihm einen scharfen Blick zu. »Wie meinst du das?« Donal verschränkte die Arme. Seine eng zusammenstehenden Augen schienen weit in die Ferne zu blicken. »Viel- 293 leicht wird es nicht passieren«, sagte er. »Vielleicht wirst du unberührt durch all das hindurchwandeln, geschützt vom Atem der Götter. Ich wünsche, das wäre so. Und jetzt glaube ich, dass Elpin uns ruft. Wahrscheinlich sind wir mit Speerwerfen dran. Kommst du?« Sie brachen aus Rabenbrunn auf, sobald die Knospen an den Birken zu schwellen begannen, und zogen in Zehnergruppen ins Tal hinunter. Eine kleine Streitmacht wurde zurückgelassen, um Talorgens Eigentum vor Überfällen zu schützen; seine Familie war den Schlangensee entlang gezogen, auf dem Weg zur Sicherheit des Hofes. Talorgens Armee zählte beinahe hundert Mann, als sie aufbrach. Sie war, entsprechend einer Entscheidung ihres Anführers, überwiegend eine Armee von Fußsoldaten, obwohl es auch Pferde gab, Packponys für ihre Vorräte und ein paar Reitpferde, die ihnen gestatteten, rasch Botschaften zu überbringen, wenn das Gelände geeignet war. Es hatte eine Debatte darüber gegeben, ob das Problem, die Tiere füttern zu müssen, nicht ihre Nützlichkeit wieder aufwog, obwohl sie einem Mann im Feld bessere Sicht, Reichweite und Geschwindigkeit verliehen. Es gab außerdem einen Disput über die Benutzung der Seen; Männer und Gegenstände konnten rasch von einem Segelschiff oder einem Boot transportiert werden und einem lange, ermüdende Märsche ersparen, die die Energie der Männer erschöpften und ihre Laune verschlechterten. Das Gegenargument bestand darin, dass Boote für Spione oben auf den Hügeln oberhalb des Magier- und des Königssees deutlich zu sehen waren; sie würden das Überraschungsmoment verlieren, wenn sie die Wasserwege benutzten. Außerdem war es beinahe so ermüdend, die Boote zwischen den Seen über Land zu tragen, als legte man den ganzen Weg zu Fuß zurück. Am Ende wählten sie den langen, langsamen Weg, die geschütztere Strecke. Die kleinen Gruppen machten sich ge- 294 trennt auf den Weg, lagerten nahe beieinander, blieben aber unter sich, verbargen ihre Spuren, so gut sie konnten und nutzten die natürlichen Verstecke von Felsen und Bäumen am Ufer. Es war kalt und nass; die Kleidung trocknete nach dem ersten Regen, der alles durchnässte, nicht wieder richtig, und Bridei gewöhnte sich an den Geruch schlecht getrockneter Stiefel, schweißdurchtränkter Wolle und ungewaschener, dicht zusammengedrängter Körper. Wenn sie konnten, jagten sie unterwegs, um die Vorräte zu sparen, die die Ponys trugen. Sie hatten sich nicht lange nach der Tagundnachtgleiche auf den Weg gemacht und waren so lange unterwegs, dass man einige Männer verbittert darüber witzeln hörte, sie würden ihr Ziel nicht vor dem Fest des Aufstiegs erreichen. Wenn es möglich war, legten sie jeden Tag eine größere Entfernung zurück, aber die Jahreszeit war ihnen nicht immer freundlich gesinnt, und es gab Zeiten, zu denen Nebel oder Regen sie nur quälend langsam vorankommen ließen. Eine Krankheit, die zu Erbrechen und Durchfall führte, hielt sie viele Tage am Südufer des Magiersees auf. Sie verloren zwei Männer, begruben sie mit einem kurzen Ritual und zogen dann weiter. Der Tag ging in die Nacht über und die Nacht in den Tag; die Mahlzeiten wurden überwiegend schweigend eingenommen, die Männer wie dunkle, verzagte Schatten an ihren kleinen Feuern. Bridei zählte die Tage, indem er Kerben in einen Birkenzweig schnitt, den er in seinem Rucksack hatte. Sie
verbrachten viele Tage auf den Beinen, viele Nächte mit ruhelosem Schlaf. Sie schickten Späher voraus, aber der Feind ließ sich nirgendwo sehen. Gartnait murrte, sie sollten sich beeilen, seine Hände juckten nach einem Gälenhals, und er würde nicht so sorgfältig auf die Gesundheit des Burschen achten wie beim letzten Mal. Donal wies ihn an, den Mund zu halten, und das tat er. Es hatte an diesem Abend nur ein paar Kaninchen für die gesamte Gruppe gegeben, und ihre Mägen beschwerten sich. - 295 Zu einem Zeitpunkt, als sie sich der Brücke an der Nordspitze des Königssees näherten, rief Talorgen die Gruppen zur Beratung zusammen. Was als Streitmacht von beinahe hundert Männern aufgebrochen war, war auf dem Weg durch das Große Tal deutlich angeschwollen. Es gab noch zwei andere Fürsten: Morleo von Langwasser, hoch gewachsen, schlank und mit dunklem Bart, und Ged von Abertornie, ein lebhafter, vergnügter Mann, der offenbar Kleidung in bunten Farben und kunstvolle Muster aus Streifen und Karos liebte. Beide brachten ihre eigenen beträchtlichen Truppen mit; Geds Leute kleideten sich auf die gleiche Art wie ihr Anführer, und Donal bemerkte hinter vorgehaltener Hand, dass die Galen sie schon auf halbem Weg den Königssee entlangkommen sehen würden, weil sie in ihrem Rot, Gelb und Grün so hell wie Leuchtfeuer waren. Bei der Beratung ging es sachlich zu; es mochte mehrere Anführer geben, aber alle verstanden, dass dies Talorgens Feldzug war, unternommen im Namen von König Drust und ganz Fortriu, und dass Entscheidungen rasch und wirkungsvoll getroffen werden mussten, mit einer einzigen Stimme. Talorgen setzte sich zuerst mit Ged und Morleo und denen unter seinen eigenen Männern zusammen, denen er am meisten vertraute - darunter auch Donal -, dann sprach er zu den versammelten Männern. Sie befanden sich an einem Ort, wo ein Felsen hinter einer natürlichen Lichtung aufragte. Ein Bach verlief in der Nähe, und der moosige Boden fühlte sich an wie ein feuchter Schwamm, aber es war das einzige offene Gelände, das alle Männer aufnehmen konnte und wo sie alle ihren Anführer sehen konnten. Bridei stand mit Gartnait weit hinten; er fragte sich, wie er sich wohl fühlen würde, wenn Talorgen sein Vater wäre. Er nahm an, da sein Vater Maelchon ein König war, würde auch er zu Zeiten vor seinen Truppen gestanden und sie zu Mut ermahnt haben. Bridei hätte das gerne einmal gesehen. Er wusste nicht, ob Gartnait stolz auf seinen Vater war; Gartnait - 296 schien dieser Tage nichts anderes im Sinn zu haben als die Erwartung, bald Galen zu töten. »Wir sind eine starke Armee«, sagte Talorgen, »mutig im Herzen und beständig im Geist. Aber das hier ist nicht die Art Schlacht, bei der wir in großer Anzahl voranstürmen, den Feind angreifen und ihn mit der reinen Kraft unseres ersten Angriffs überwältigen können. Gabhran von Dalriada kennt dieses Land inzwischen.« Bei der Erwähnung des Namens erklang ein allgemeines missbilligendes Zischen. »Seine Leute haben sich überall auf Territorium niedergelassen, das einmal uns gehörte.« »Und das uns wieder gehören wird!«, war jemand mutig genug zu schreien, und andere Stimmen erhoben sich zur Unterstützung. »Auf Galanys Höhe, wo der Magierstein steht, befindet sich nun eine befestigte Siedlung. Unsere Spione sagen uns, dass sie nicht allzu viele Männer haben. Eine Truppe von dreißig vielleicht; mehr, wenn sie bereits wissen, dass wir kommen. Es gibt auch gewöhnliche Leute dort; Frauen und Kinder, Handwerker, Sklaven.« »Abschaum«, murmelte jemand. »Unsere Streitmacht könnte den Ort leicht einnehmen. Aber wie ihr sicher erkennt, wäre es eine ganz andere Sache, ihn auch zu halten. Dieser Hügel und das einsame Tal darunter waren einmal das Land von Duchil von Galany, einem unserer tapfersten Fürsten. Duchil wurde bei dem letzten großen Kampf gegen die Galen getötet.« Talorgen senkte kurz den Kopf. »Wer von seinen Leuten überlebte, wurde vertrieben; sie verbringen ihr Leben im Exil. Fokel, Sohn des Duchil, wird zusammen mit seinen Kriegern zu uns stoßen.« Ein paar Männer brachen in halbherzigen Jubel aus; die meisten schwiegen. Vielleicht, dachte Bridei, hatten sie das Gleiche über Fokel gehört wie er: Der Name dieses Mannes wurde selten genannt, ohne dass Worte wie verrückt, wild oder unberechenbar ihn begleiteten. - 297 »Wir wissen«, sagte Talorgen, »dass wir die Siedlung und den Hügel einnehmen können. Wir wissen auch: Sobald unsere Streitmacht aus dem Wald kommt, um die Brücke bei den Fuchsfällen zu überqueren, werden die Wachen des Feindes ihre Anführer benachrichtigen. Sie werden all ihre Festungen informieren, und bald wird auch ihr König in Dunadd davon hören. Das Tempo ihrer Reaktion hängt davon ab, wo ihre Krieger im Augenblick eingesetzt sind; unsere Informationen zu diesem Thema sind, fürchte ich, ein wenig überholt. Wir könnten Galanys Höhe bestenfalls für einen Mond halten. Wahrscheinlich werden wir schon lange zuvor von Gabhrans Leuten umzingelt sein und auf der Hügelkuppe belagert werden. Ich sage es euch ganz ehrlich, Männer: Das hier ist ein symbolischer Feldzug, ein Vorgeschmack, was auf Dalriada zukommt. Wir stoßen vor, greifen an und ziehen uns wieder zurück. Wir zerstören ihre Garnison und nehmen Geiseln: ihren Anführer, die Frauen und Kinder. Dann ziehen wir uns zurück.« Bridei fand das vernünftig. Genau so würde er selbst den Feldzug durchführen, wenn er der Anführer wäre. Erip und Wid hatten ihm die lange Geschichte dieses Kampfes beigebracht. Sie hatten zu dritt ausführlich die großen und blutigen Schlachten zwischen Fortriu und Dalriada analysiert, die heldenhaften Vormärsche das Tal entlang, die gehetzten Rückzüge, die Abfolge von Sieg und Niederlage. Bridei erkannte deutlich, dass eine Streitmacht von der Größe, wie sie ihnen zur Verfügung stand, kein Gelände lange halten konnte, das so weit im Westen lag.
Ohne die Unterstützung der Armeen von Circinn würde Fortriu die Galen nie wieder in ihre Heimat zurücktreiben können. Die meisten Männer hatten jedoch keine so ausführliche Erziehung genossen wie er. Ihr Blut glühte vom Bedürfnis nach Rache; ihre gesamte Energie war auf das Töten von Galen gerichtet. Also erklang ein Chor von Protesten. »Rückzug? Wir sind nicht hier, um davonzulaufen!« - 298 »Was, wir sollen dem Abschaum das Land überlassen, das sie gestohlen haben? Das wollen wir doch mal sehen!« »Ich sage, wir bringen sie alle um!« Morleo von Langwasser, der neben Talorgen stand, hob die Hand, und das Gebrüll verklang zu zornigem Gemurmel. »Dieses Unternehmen«, sagte er ernst, »wird ihnen zeigen, dass wir mutig, schnell und schlau sind, dass wir immer mehr werden und unsere Verbündeten treu zu uns stehen. Dass wir das Unrecht nicht vergessen haben, das unserem Volk angetan wurde. Wir erheben das Banner von Drust dem Stier, und daneben flattern die von Rabenbrunn, Langwasser und Abertornie.« Er nickte Ged bestätigend zu. »Wir marschieren auch unter den Sternen und der Schlange, was die uralten Symbole von Galanys Höhe selbst sind.« »Und dann«, sagte der bunt gekleidete Ged, »veranstalten wir eine Zeremonie. Vielleicht die zum Fest des Aufstiegs, vielleicht ein anderes Ritual. Wir stehen auf dieser Hügelkuppe rings um den Magierstein und weihen ihn erneut unseren Göttern: dem Flammenhüter und der Leuchtenden, der Knochenmutter und der schönen Jungfrau, der Blütenreichen. Wir sorgen dafür, dass unsere Gefangenen anwesend sind und es sehen. Wir lassen einen oder zwei von ihnen frei, um Gabhran und seinen Handlangern davon zu berichten. Dann ziehen wir uns zurück. Aber wir werden wiederkommen. Wir kehren mit einer größeren Armee zurück, als diese Galen sich je träumen ließen.« Die Krieger brüllten zustimmend; Ged hatte eine ermutigende Art zu sprechen, und die Schlichtheit seiner Rede berührte etwas im Geist der Männer. Bridei jubelte nicht. Er dachte an eine Armee, eine Streitmacht, die groß genug sein würde, um das Land für immer von dieser Plage zu befreien, eine Armee, die nie versammelt werden könnte, solange Circinn Fortriu nicht zur Hilfe kam. Eine solche Armee würde erst marschieren, wenn das geteilte Königreich der Priteni wieder vereint war und ein einziges Ziel verfolgte. Er sah die - 299 leuchtenden Augen der Männer, ihre stolzen, entschlossenen Blicke, und er wusste, sie glaubten, das würde im nächsten Sommer oder vielleicht dem danach geschehen. Sie dachten nicht über diese lebhaften Worte der Hoffnung hinaus. Sie wussten nicht, dass ein wahrer Sieg noch lange auf sich warten lassen würde. Vielleicht sollte das am Vorabend einer Schlacht so sein. Am Morgen zogen sie weiter, nun in größeren Gruppen. Sie blieben bei ihren eigenen Anführern, Talorgens Leuten, Geds und Morleos, obwohl einer oder zwei Freunde in den anderen Gruppen hatte, und die Lagerfeuer teilten sie sich, vor allem, wenn es hin und wieder ein ganzes gebratenes Schaf gab - man würde den Bauern später entschädigen - oder sie das Glück hatten, ein paar fette Forellen zu fangen. Geschichten wurden erzählt und Lieder gesungen, aber stets leise. Das Wetter wurde besser; Talorgen befahl zwei Tage der Ruhe, und an den unteren Ästen von Erlen und Weiden hingen Kleidungsstücke, die in der schwachen Wärme der Frühjahrssonne dampften. Sie waren nicht mehr weit von der Brücke an den Fuchsfällen entfernt. Der Haupttrupp würde nicht weiter vorstoßen, bis Fokel mit seinen Leuten zu ihnen gestoßen war. Diese Krieger im Exil hielten sich in den Bergen in der Nähe der Fünf Schwestern auf. Es war ein karges, grimmiges Land, und nach allem, was Bridei gehört hatte, hatten Fokel und seine kleine Gruppe treuer Gefolgsleute einen zu dieser Region passenden Charakter entwickelt. Bridei fragte sich, ob Fokel sich mit einem eher symbolischen Vorstoß auf das Land seiner Ahnen, für das sein eigener Vater gekämpft hatte und gestorben war, zufrieden geben würde. Er sagte etwas in dieser Richtung zu Donal, als sie am Bach hockten und versuchten, den Dreck auszuwaschen, der sich in ihrer Unterwäsche gesammelt hatte. »Du solltest so etwas lieber nicht laut sagen«, murmelte Donal, »so wahr es auch sein mag. Wenn du mich fragst, hät- 300 te Talorgen besser daran getan, Fokel nicht einzuschließen. Aber das konnte er nicht. Es ist immerhin Fokels eigenes Land. Wie hätte Talorgen ihm verschweigen können, was er plante? Ein kalkuliertes Risiko. Hat ihm ein paar schlaflose Nächte eingebracht. Dennoch, es gibt uns mehr Männer, und sie sind gute Kämpfer.« »Mhm«, sagte Bridei. »Die Frage ist, wessen Befehlen sie gehorchen?« Die ganze Angelegenheit machte ihn immer unruhiger. Er war mit Talorgens Plan einverstanden; es war der einzig vernünftige, wenn man ihre Anzahl und die Lage ihres Ziels bedachte. Ihm gefiel auch die Idee eines Rituals auf Galanys Höhe, denn es war wichtig, bei einem solchen Unternehmen entsprechend anzuerkennen, welche Rolle die Götter dabei gespielt hatten. Dennoch, er fühlte tief drinnen, dass das nicht genügte. Wozu sollte dieser symbolische Sieg gut sein, wenn die Fahne von Fortriu heruntergerissen wurde, sobald Talorgens Leute außer Sichtweite waren? Was half ein freudig begangenes Fest des Aufstiegs, wenn der Magierstein sich immer noch auf feindlichem Gelände befand und ignoriert, belacht und vielleicht sogar besudelt wurde? Zeigte das den angemessenen Respekt für die uralten Mächte, die Knochen und Atem dieses Landes darstellten? Tief drinnen wusste Bridei, dass es nicht genügte.
»Selbstverständlich«, stellte Donal fest und wrang ein nasses Kleidungsstück von nicht mehr festzustellender Farbe aus, »wird Drust die Geiseln benutzen, um Gabhran Zugeständnisse abzuringen, wenn er kann. Wenn man einen Anführer von hoher Geburt oder die Verwandten eines solchen Mannes gefangen nimmt, kann man einigen Spielraum gewinnen. Talorgen denkt wirklich voraus. Aber du siehst aus, als hättest du Zweifel, Bridei. Was nagt an dir? Hast du wieder Skrupel?« »Ich denke nur nach.« Bridei hängte seine Unterwäsche an einen biegsamen Weidenzweig, befürchtete aber, dass sie bis zum Abend nicht trocken sein würde. Er setzte sich auf - 301 einen moosigen Stein und beobachtete die Männer, die diese unerwartete Rast genossen: Einige angelten, andere zogen mit Bögen und Köchern in die Hügel, wieder andere kümmerten sich um kleine Reparaturen. Viele hatten sich einfach nur in ihre Decken gerollt und schliefen fest. »Über was?«, fragte Donal lässig. Aber Bridei antwortete nicht. In seinem Hinterkopf bildete sich ein Plan heraus, ein so wilder Plan, dass er nicht glauben konnte, ihn selbst ausgeheckt zu haben. Es war eine verrückte Idee, eine, die aus Gefühlen entsteht und nicht aus dem sorgsamen Abwägen von Gefahren und Gelegenheiten. Dennoch, der Plan war da, großartig, wenig überzeugend und vollkommen verrückt: eine symbolische Tat, die in Fortriu widerhallen würde wie eine große Glocke der Hoffnung. »Nein«, murmelte er leise. »Nein, ich denke nicht.« »Was?«, fragte Donal. »Du warst schon auf Galanys Höhe, oder?«, fragte Bridei ihn. »Wie weit ist es vom Hügel zum Seeufer? Kannst du mir eine Karte zeichnen, hier auf den Boden?« Tuala schwor sich selbst und der Leuchtenden, dass sie von jetzt an stark sein würde. Sie rief sich in Erinnerung, dass Bridei als sehr kleiner Junge in dieses Haus gekommen war, dass auch er weder Freunde noch Familie gehabt hatte und dennoch erstaunlich gut zurechtgekommen war. Er hatte sich sogar mit Broichan angefreundet. Sicher, wenn Bridei anders aufgewachsen wäre, würde es ihm vielleicht nicht so schwer fallen zu lächeln. Aber es bestand kein Zweifel daran, dass er das Beste aus seinen Möglichkeiten gemacht hatte, und sie war es ihm schuldig, das Gleiche zu versuchen. Nachdem Erip zur Ruhe gebettet und Wid gegangen war, gab es keinen Unterricht mehr. Mara machte deutlich, dass sie Tualas Hilfe im Haus nicht wollte. Brennas Haus war ihr verboten, und die Männer redeten nicht mit ihr. Was sollte - 302 sie machen? Es wäre dumm, noch einmal zum Tal der Gefallenen gehen zu wollen, da das Land immer noch fest im Griff des Winters lag und alles, was sie tat, verstohlen von dem einen oder anderen Haushaltsmitglied beobachtet wurde, als bestünde die Gefahr, dass sie sich plötzlich in eine böse Zauberin verwandelte und sie verhexte. Es gab Augenblicke, in denen sie sich wünschte, genau das tun zu können, und sich fragte, was wohl passieren würde, wenn sie es versuchte - aber sie tat es nicht. Es war eine Sache, diese Kräfte ein wenig in Gegenwart zuverlässiger Freunde wie Erip und Wid zu üben. Sie vor jenen zu zeigen, die sie bereits fürchteten, wäre, als hielte man ein Zündholz an trockenen Zunder. Sie übte den Blick in der relativen Abgeschiedenheit ihres kleinen Zimmers und benutzte dazu eine kleine Bronzeschale, die sie in einem Lagerraum gefunden hatte. Es war ein seltsames Gefäß mit Klauenfüßen und Drachengriffen. Sie erinnerte sich an die Empfehlungen ihrer Lehrer und daran, was Bridei ihr gesagt hatte, versuchte, ihre Fähigkeiten zu vergrößern und neue Möglichkeiten zu ihrer Benutzung zu finden. Wozu sollten solche Aktivitäten gut sein, wenn nicht zum Lernen? Also übte sie das Heraufbeschwören von Bildern im Zusammenhang mit einem bestimmten Thema wie Königtum oder der alten Überlieferung der Symbole oder Pitnochie selbst: die Geheimnisse und Erinnerungen, die tief in den dicken Steinmauern, den schweren wollenen Wandbehängen, den dunklen, rauchigen Räumen hingen. Das Haus hatte schon viele Bewohner gesehen, Anführer, Familien, andere Druiden wie Broichan, wenn auch weniger von diesen. Broichans Weg war recht ungewöhnlich gewesen. Er hatte lange Jahre am Hof verbracht, als Berater des Königs fungiert und sich unter Männern der Tat bewegt. Später war er zurückgekehrt, um hier zu wohnen, als wäre er eher ein wohlhabender Landbesitzer als ein spiritueller Führer. Aber solch äußerliche Dinge konnten täuschen; Tuala - 303 brauchte die Bilder auf dem Wasser nicht, um zu wissen, dass Broichan beides war, und noch erheblich mehr. Zu lange über die Schale gebeugt zu sitzen machte ihren Hals steif und die Augen müde. Manchmal wurde sie von den Visionen traurig, manchmal drehten sie ihr den Magen um. Sie konnte nicht immer herausfinden, was es daraus zu lernen gab. Die zerschlagene und verstümmelte Leiche eines Kindes; Männer, die in ihrem Blut lagen, andere, die sie nicht retten konnten; ein kleiner Hund, der neben seinem gefallenen Herrn saß: Was erzählten diese Bilder anderes, als dass die Welt grausam und traurig war und dass die Menschen ihre Tragödien selbst über sich brachten? Das wusste sie bereits; es war nicht nötig, dass das Wasser ihr diese Lektion wieder und wieder vorführte. Manchmal träumte sie in der Nacht von den gleichen Vorzeichen, auch wenn die Schale leer und in einem Kasten eingeschlossen war. Wenn das passierte, hörte sie eine Weile auf zu üben. Bridei hatte sie einmal vor solchen Dingen gewarnt: Gewisse magische Fähigkeiten im Übermaß zu benutzen, konnte zu
Besessenheit und zu Wahnsinn führen. Ein wichtiger Teil des Handwerks bestand darin, zu wissen, wann man aufhören musste. Sie merkte, dass sie müde wurde. Sie konnte nicht besonders gut schlafen, und ihre Träume waren ein Durcheinander aus starrenden Augen und krallenden Fingern, aus Messern im Herzen und Seilen um den Hals, und von Menschen, die davongingen und nie zurückkehrten. Häufig war ihr nicht nach Essen zumute. Bei Tisch war es, als existierte sie nicht; die Blicke der anderen glitten über sie hinweg, ihre Gespräche schlössen sie aus. Der Einzige, der ihr in die Augen sah, war Broichan, und in seinen strengen Blicken schien entweder distanzierte Missbilligung oder etwas Abschätzendes zu stehen, das sie nur noch mehr beunruhigte, denn es sagte ihr, dass der Druide Pläne schmiedete. Als der Winter vorüberging, wurden die Tage wieder klarer, und Tuala floh aus dem Haus und wieder in den Wald - 304 hinauf. Es schien jetzt viel länger zu dauern, das Tal der Gefallenen zu erreichen, und ihre Füße schmerzten vom Gehen. Die Vorfrühlingskälte tat in ihrer Brust weh, und jeder Atemzug war anstrengend. Wie sich alles verändert hatte, dachte sie, als sie sich gegen den moosbedeckten Stamm einer Birke lehnte, um sich ein wenig auszuruhen. Wie hatte sie so in ihrem Elend versinken können, dass sie nicht einmal die Kraft aufbrachte, sich umzuschauen und zu sehen, worüber Bridei und sie in den Tagen ihrer Kindheit stets gestaunt hatten? Es gab hier so viel Schönes: die ordentlichen kleinen Spuren eines Tiers auf der Suche nach Futter, ein Wiesel oder Marder, die zarten Linien eines Blattskeletts, das sich immer noch vergeblich an den Mutterbaum klammerte, während die Zeit ihm nach und nach die Substanz nahm und nur diese zerbrechliche Erinnerung an das zurückließ, was einmal gewesen war. Die vielen hellen Schattierungen von Weidenrinde, das erste mutige Grün von Glockenblumenblättern in geschützten Senken, der Schrei eines Raubvogels hoch am Himmel und das plötzliche Rascheln, wenn ein kleines Tier im Laub Deckung suchte. Hatte sie die Magie vergessen, die in diesen alltäglichen Dingen lag? Was war mit ihr los? Das Tal war an diesem Tag trüb. Die Frühlingssonne konnte nicht bis auf seinen Boden vordringen; das Unterholz triefte vor Feuchtigkeit, und der Nebel hing tief über dem schwarzen Teich. Die Gestalten der sieben Druiden duckten sich unter ihren Flechtenumhängen; Tuala konnte beinahe sehen, wie sie schauderten. Irgendwo in ihrem Hinterkopf hörte sie einen kleinen Hund heulen, ein klagendes Geräusch, das ihr ans Herz ging und mit seiner verlorenen Trauer ihren eigenen Kummer weckte. Tuala setzte sich auf die flachen Steine. Sie hatte sich gesagt, dass sie heute nicht ins Wasser schauen würde, sie wollte nur sehen, ob ihre beiden seltsamen Besucher wieder auftauchten, und ihnen ein paar Fragen stellen und dann - 305 nach Hause gehen. Sie war zu müde für die Visionen des Dunklen Spiegels; ihre Vernunft sagte ihr, dass ihre Macht sie heute überwältigen würde. Sie wartete lange. Sie wartete, bis ihr vom Stillsitzen der Rücken wehtat und sie im Kopf mindestens fünfzigmal alle erdenklichen Gründe für das Nichterscheinen der beiden durchgegangen war. Selbstverständlich würden diese Geschöpfe der Anderwelt nicht einfach auftauchen, nur weil sie es wollte; wofür hielt sie sich denn? Vielleicht hatte sie sie beim letzten Mal beleidigt, als sie den Dunklen Spiegel Bilder zeigen ließ, die ihr gefielen. Vielleicht hatten die beiden sie aufgegeben, weil sie so lange nicht zurückgekehrt war. Vielleicht wollten sie sie bestrafen; sie hatte immerhin das, was die beiden ihr angeboten hatten, nicht besonders freundlich aufgenommen. »Kommt schon, kommt schon«, flüsterte sie. »Ich will nicht viel, nur eine Antwort oder zwei.« Aber die Zeit verging, und über dem engen Tal zog die Sonne näher zum Abend hin, und Tuala wusste, dass sie diesmal nicht kommen würden. Sie war schon zu lange geblieben; sie musste nun gehen, oder sie würde nach Einbruch der Dunkelheit noch im Wald sein. Nur ein kurzer Blick, sagte sie sich, nur einer, damit sie nicht vollkommen umsonst hergekommen war. Sie würde sich beherrschen und sich nach kurzer Zeit zwingen aufzuhören. Wenn sie ihn sah, nur ein kurzer Blick, ein einziges Bild, würde es den langen Weg wert gewesen sein. Bridei bei Tisch, unter Männern, und Donal links von ihm, den sie sofort an seinem ausgeprägten Kinn, den eng zusammenstehenden Augen, dem Fluss blauer Symbole auf seiner Gesichtshaut erkannte. In diesem Bild trug auch Bridei Kriegerzeichen, Zeichen der Männlichkeit, frisch auf der hellen Haut der rechten Wange, die zeigten, dass er auf dem Schlachtfeld gekämpft und es überlebt hatte. Gartnait, der auf seiner anderen Seite saß, hatte das gleiche Muster, aber - 306 Gartnait hatte auch die Verwandtschaftszeichen, die ein junger Mann von hoher Geburt für gewöhnlich zur gleichen Zeit wie die anderen erhielt. Auf der linken Wange, gegenüber dem Kriegerzeichen, trug Talorgens Sohn den Jagdhund und den Schild des Klans seines Vaters, und darüber den Halbmond und den gebrochenen Stab der Familie seiner Mutter, der königlichen Linie der Priteni. Sie waren vergnügt und entspannt; Donal machte Witze, Gartnait trank große Schlucke Bier und lachte, und selbst Bridei lächelte beinahe, als er ihnen zuhörte, obwohl in seinen Augen ein Schatten stand. Auch andere saßen am Tisch; Männer, die Tuala nicht erkannte, einige in Kriegerkleidung aus Leder, Filz und grobem
Wollgewebe, andere besser gekleidet, und hier und da sah man einen rot gefärbten Mantel, einen Gürtel mit Silberschnalle, ein geflochtenes Stirnband. Es stand Fleisch auf dem Tisch, ein Wildschenkel, von dem nicht viel übrig war. Es gab ein Feuer. Es musste eine Siegesfeier sein. Jemand rief nach einem Trinkspruch. Tuala konnte die Stimmen nicht hören, aber die Stimmung und der Zweck der Versammlung waren eindeutig. Alle standen auf. Ein hoch gewachsener Mann sprach ein paar Worte. Alle hoben ihre Becher und tranken. Sie spürte den Schmerz schon einen Augenblick, bevor sie es sah; ihre Kehle zog sich zusammen, ihr Herz zuckte. Dann warf Bridei dort auf dem Wasser den Becher hin, hob beide Hände an die Kehle, sein Gesicht plötzlich grau, die Augen schrecklich starr und grotesk, der Mund weit offen. Eine kleine Weile bemerkte es keiner; sie riefen, tranken, davongetragen von der Flut ihrer Ausgelassenheit. Tuala bekam keine Luft mehr; sie hatte die Fäuste so fest geballt, dass ihre Nägel in die Handflächen schnitten. Tu etwas, schnell, schnell... Donal sah es, bewegte sich wie der Wind, machte mit kräftigen Armen Platz, legte den nach vorn gestürzten Bridei auf - 307 eine Bank, rief nach mehr Raum, nach Hilfe. Gartnait schien vor Entsetzen erstarrt und starrte nutzlos seinen Freund an. Tuala konnte nicht mehr hinsehen, aber sie konnte sich auch nicht abwenden. Irgendwo in der Ferne hörte sie ihre eigene Stimme wimmern wie die eines geschlagenen Kindes: Nein, nein, nein... Es ist kein schöner Anblick, wenn ein Mann vergiftet wird. Zumindest ging es schnell. Sie sah, was Donal versuchte, die ehrlichen Züge von Verzweiflung geprägt, sah seinen Kampf, Bridei was immer es war wieder ausspucken zu lassen, die Finger in Brideis Hals, den Salztrunk, den er in den schäumenden Mund goss, wo er sinnlos wieder heraus und über die Kleidung lief. Dann ein Versuch, Bridei auf die Beine zu bringen, damit er umherging, auch das zum Scheitern verurteilt, als die Krämpfe begannen und seinen starken jungen Körper zu dem einer zuckenden, gruseligen Marionette machten. Und am Ende gab es nichts anderes zu tun, als ihn zu halten, während er starb, und zu weinen. Seine Augen zu schließen, seine Wange mit einer rauen, sanften Hand zu berühren, nach Worten zu ringen und festzustellen, dass es keine gab. Noch während die Bilder verblassten und verschwanden, warf sich Tuala auf den kalten Boden und krallte die Finger in die Erde. Eine Klage brach aus ihr heraus wie der Schrei eines verwundeten Tiers, ein Laut, von dem sie nicht geglaubt hätte, dass sie ihn hervorbringen konnte. Die Macht dieser Bilder zerriss ihre Eingeweide, zerfetzte ihr Herz; es war unerträglich. Sie schluchzte und schrie in hemmungsloser Wut und Qual. Über die Stimme ihrer eigenen Trauer hinweg konnte sie immer noch dieses einsame Heulen hören, das an diesem Ort beinahe ununterbrochen erklang: die Klage eines kleinen Hundes. Es war, als säße das Tier direkt neben ihr, als betrauerten sie den gleichen Verlust. Sie wünschte sich, die Erde möge sie verschlingen; wie konnte sie nach einer solchen Vision weitermachen? Den- 308 noch raffte sie sich nach einiger Zeit auf, von Schluchzen geschüttelt, wischte sich den schlimmsten Schlamm von der Kleidung, saß mit vors Gesicht geschlagenen Händen da und zwang sich, vernünftig zu sein, wie Erip und Wid ihr raten würden. Die Schlacht war vorüber, sowohl Bridei als auch Gartnait bereits mit Kriegerzeichen versehen: Das war keine Vision, die die Gegenwart zeigte; was sie gesehen hatte, würde erst weit im Frühjahr geschehen, denn eine solche Gruppe von Kriegern konnte nicht vor der Tagundnachtgleiche das Tal entlang ins Land der Galen ziehen, das hatte Wid gesagt. Wenn sie zu früh aufbrachen, würden sie von Schneestürmen, Hochwasser, dichtem Nebel und Steinschlag aufgehalten werden. Bridei war nicht tot. Sie würde wissen, wenn er tot war, würde es tief im Herzen wissen, und zwar sofort. Dieses schreckliche Ereignis war noch nicht geschehen. Es war immer noch Zeit, es aufzuhalten. Tuala stand auf, schwach und wirr. Broichan; sie musste es Broichan erzählen. Sie hatte bereits genug Zeit mit ihrem Heulen und Klagen verschwendet, Zeit, die zu verschwenden sie sich nicht leisten konnte. Sie schlang den Umhang fester um sich, biss die Zähne zusammen und rannte. Von einem Ast hoch über dem Tal der Gefallenen schauten die beiden ihr hinterher. »Sie ist immer noch jung«, stellte der efeugekleidete Junge fest. »Das ist eine schwere Prüfung, und eine, die selbst mich bedrückt.« »Und es wartet noch eine weitere Prüfung auf sie, wenn sie nach Hause kommt«, sagte das Mädchen, »eine, die Broichan für sie vorbereitet hat. Wenn dieser Druide im Spiel ist, wird unsere Arbeit leichter.« »Aber nicht für Tuala.« Das Mädchen wandte ihm die leuchtenden Augen zu. »Es ist notwendig.« Ihr Ton war kühl. »Sie müssen vollständig ge- 309 prüft werden, sie beide. Einer muss sich als so stark erweisen wie der andere. Sie müssen Pflicht mit Treue, Liebe mit Entschlossenheit ausgleichen. Würdest du mit einer nicht gehärteten Waffe in den Kampf ziehen? Würdest du ein Haus aus grünen Balken errichten?« »Ich verstehe es ja«, sagte der Junge. »Es fällt mir einfach nur schwer, daneben zu stehen und zuzusehen. Sie ist ein braves Kind. Und am Ende wird sie uns gehören.« »Brav?«, schnaubte das Mädchen. »Was soll das schon wert sein, wenn sie beim ersten Anzeichen von
Unfreundlichkeit ihre Pflichten vernachlässigt? Vor Tuala liegt ein schwerer Weg. Wir müssen dafür sorgen, dass sie genug Zähigkeit entwickelt, diesen Weg so zu gehen, wie die Leuchtende es wünscht.« »Und der junge Mann?« »Brideis Weg ist vorgezeichnet. Ihn brauchen wir einfach nur weiterhin zu beobachten. Es kommt eine Zeit, wenn die Götter ihn ein letztes Mal prüfen; wir werden dabei vielleicht eine Rolle spielen. Aber bis dahin ist noch Zeit. Im Augenblick steht er den Prüfungen der Menschen gegenüber.« Die schrecklichen Bilder gingen Tuala auf dem gesamten Heimweg nicht aus dem Kopf und verliehen ihren Füßen Flügel. Sie traf am Haus ein, als die Sonne gerade unterging. In der Küche waren Ferat und seine Helfer mit einem saftigen Spießbraten beschäftigt, aber sie drehten sich um und starrten sie an, als sie vorbeieilte, das Haar in den Augen und schwer atmend. Mara deckte den Tisch in der Halle. Als Tuala an ihr vorbeirannte, um laut an die Tür von Broichans Zimmer zu klopfen, wollte die Haushälterin etwas Scharfes, Missbilligendes sagen, aber Tuala beachtete sie nicht. In ihrem Kopf war kein Platz für etwas anderes als dieses eine Bild, die schreckliche, düstere Zukunft, die sie um jeden Preis verändern musste. Als Broichan nicht antwortete, stieß Tuala die Tür auf und fiel beinahe ins Zimmer. - 310 »Ich muss dir etwas sagen - Bridei...«, keuchte sie. »Du musst ihm ...« Sie sah ins Zimmer und schwieg abrupt. Ihr Herz hämmerte von dem langen Lauf in der Kälte. Broichan war nicht allein. Er hatte an der kleinen Feuerstelle gestanden, einen Bierbecher in der Hand, und neben ihm war ein anderer Mann, ein kräftig gebauter Fremder, vielleicht einer der Landbesitzer aus der Umgebung oder ein unwichtigerer Anführer. Der Mann sah sie nun mit unverhohlener Neugier und nicht geringer Überraschung an. Erst jetzt fiel Tuala die Schlammspur auf, die ihre Füße auf dem sauberen Boden hinterlassen hatten, die wirren Strähnen in ihren Augen, die Art, wie sie mit beiden Händen das Tuch packte wie mit verzweifelten Krallen. Ihr Blick war wahrscheinlich starr wie der einer Verrückten. Broichans einzige Reaktion hatte darin bestanden, die Brauen ein wenig hochzuziehen. Seine Selbstbeherrschung war wie stets bemerkenswert. »Es ... es tut mir Leid«, brachte sie hervor und nickte kurz dem Fremden zu; ganz gleich, wie die Umstände waren, man musste solche Personen immer höflich behandeln. »Das Licht der Leuchtenden möge dir in diesem Haus leuchten. Es tut mir Leid, dass ich störe, aber ich muss dringend mit dir sprechen, Herr.« Nun sah sie wieder Broichan an. »Bitte, ich muss dir sagen ... es geht um Bridei, er ist in schrecklicher Gefahr...« »Das genügt jetzt, Tuala.« Die Stimme des Druiden war tief und ruhig. »Aber ich...« »Das genügt.« Broichan wandte sich seinem Gast zu. »Ich bedauere diese Störung, Garvan. Würdest du mir einen Augenblick erlauben, um mich darum zu kümmern?« »Selbstverständlich«, sagte der Besucher freundlich, stellte den Becher auf den Tisch und verließ das Zimmer, nicht ohne Tuala auf dem Weg einen abschätzenden Blick zuzuwerfen. Die Tür schloss sich hinter ihm. - 311 »Sprich, und zwar vernünftig«, sagte Broichan. »Kurz, zusammenhängend und die Unterbrechung wert. Ich hatte gehofft, du würdest einen besseren Eindruck auf Garvan machen. Nach diesem Auftritt wird er dich für so ungezügelt halten wie eine junge Wölfin. Und jetzt erkläre, was dieser Auftritt zu bedeuten hat.« Tuala war so aufgeregt, dass sie Broichan nicht mehr fürchtete; sie verstand nicht einmal wirklich, was er da gesagt hatte. »Ich sah - im Wasser - ich sah Bridei, aber nicht jetzt, sondern bald, nach der Schlacht. Sie feierten, und jemand hat sein Bier vergiftet und ...« Nein, sie konnte es nicht aussprechen. Wie konnte sie die schlimmsten Nachrichten ihres Lebens kurz und zusammenhängend wiedergeben? Sie glaubte, ihr Herz würde vor Schmerz zerreißen. Das Zimmer schien sich um sie zu drehen, die Kerzen wirbelten in einem verrückten Tanz, die seltsamen und erstaunlichen Gegenstände auf den Regalen mischten sich auf groteske Weise; die Welt stand auf dem Kopf; nichts war, wie es sein sollte. »Setz dich. Hier.« Broichan führte sie zu einer Bank, bedeutete ihr, sich hinzusetzen, und gab ihr einen Becher Bier. Nun kniete er sich neben sie und sah ihr fragend und konzentriert in die Augen. Er war sehr bleich geworden; sein Aussehen spiegelte vielleicht das ihre wider. »Sag es mir«, verlangte er. »Sie haben ihn umgebracht«, flüsterte sie, und der Becher in ihrer Hand zitterte so, dass Bier auf ihren Umhang floss. »Ich sah ihn sterben. Donal, Gartnait, die anderen, sie konnten ihn nicht retten. Er - er - es war schrecklich ...« »Trink.« Er sah zu, wie sie einen Schluck trank. »Und jetzt noch einmal. Es war kein Bild der Gegenwart? Bist du sicher?« Tuala nickte. »Ich habe es dir doch gesagt. Es war später, nach der Schlacht. Gartnait hatte sowohl Verwandtschafts- als auch Kriegertätowierungen, Bridei nur die Krie- 312 gerzeichen. Es ist noch Zeit, es aufzuhalten. Wir müssen es aufhalten.« »Trink noch einen Schluck. Und dann sieh, dass du wieder zu Atem kommst. Du bist weit gelaufen, um mir diese Nachrichten zu bringen.« Tuala spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie schniefte und rieb sich die Augen wie ein Kind. »Nun beginnt es also wieder«, sagte Broichan. Er stand auf und setzte sich ihr gegenüber. »Tuala, ich weiß, dass
deine Begabung in dieser Hinsicht nur wenig dem Unterricht verdankt; sie ist etwas Natürliches und deshalb vielleicht nicht besonders verlässlich. Andererseits scheinst du den Mangel an Kontrolle durch Intensität wettzumachen. Ich nehme an, dir ist klar, dass die Visionen des Dunklen Spiegels nicht immer ein genaues Bild dessen zeigen, was geschehen wird. Sie stellen nicht immer die schlichte Wahrheit dar.« Sie starrte ihn an. »Selbstverständlich weiß ich das. Wenn es die Wahrheit wäre, könnten wir nichts daran ändern. Bridei würde auf diese Weise sterben, ganz gleich, was wir unternähmen. Das hier ist nur eine mögliche Zukunft, und wir dürfen es nicht geschehen lassen.« »In der Tat nicht. Zum Glück werden ein paar schlichte Vorsichtsmaßnahmen genügen, um diese Ereignisse zu verhindern. Ich werde dafür sorgen müssen, dass sie begriffen werden, obwohl es einige Zeit brauchen wird; ich muss eine Botschaft nach Rabenbrunn schicken, und der Weg oberhalb des Jungfernsees ist wahrscheinlich zugeschneit. Es ist die allgemeine Gefahr für Brideis Sicherheit, die mir mehr Sorgen macht. Wenn ein Attentäter es einmal auf diese Weise versucht, wird er es auch ein zweites Mal versuchen. Wenn sich Gift als wirkungslos erweist, wird er andere Mittel anwenden.« »Du meinst, Bridei wird auf jeden Fall getötet werden?« Tualas Stimme war nicht mehr als ein dünner Faden. »Nein«, sagte Broichan, »das kann ich nicht zulassen. Bri- 313 dei wird gebraucht. Die Zukunft der Priteni hängt von ihm ab.« »Ich weiß«, sagte sie, obwohl sie dem Druiden ansehen konnte, dass er nicht wirklich mit ihr sprach. »Bedeutet das, dass er nicht in den Kampf ziehen wird? Kann er nach Hause kommen? Hier wird er doch bestimmt in Sicherheit sein.« »Nach Hause?« Broichan schien verblüfft über diese Idee; es war, als hätte er Tuala vergessen, während sich ein großer Plan in seinem Kopf entwickelte. »Du meinst, hierher nach Pitnochie? Nein, das kann er nicht, nicht vor dem Ende des Sommers. Und er muss im Frühjahr kämpfen; es ist wichtig, dass er auf dem Schlachtfeld zeigt, was er kann. Was das Danach angeht, denke ich, dass nun die Zeit gekommen ist, meinen Platz in der Welt dort draußen wieder einzunehmen. Es war ein langes Exil. Drust wird seinen Druiden zurückbekommen, wenigstens für kurze Zeit.« »Für kurze Zeit?«, fragte Tuala und versuchte, seine Worte zu verstehen, während sie die bittere Enttäuschung über das herunterschluckte, was sie bereits verstanden hatte. »So lange, wie es braucht.« Wieder sah Broichan sie an, diesmal mit einem kritischen Blick. »Das bedeutet auch für dich eine Veränderung. Du kannst nicht hier in Pitnochie bleiben, wenn ich weg bin. Der Haushalt könnte das nicht verkraften; es gibt ohnehin schon zu viel Gerede. Geh jetzt und wasch dich, wechsle deine Kleidung, und wir wollen sehen, ob du beim Abendessen einen besseren Eindruck machen kannst.« Nun dämmerte es ihr, und sie war entsetzt. »Du brauchst nicht so dreinzuschauen«, sagte Broichan ruhig. »Garvan ist ein guter Mann, wohlhabend und beständig. Er wird freundlich zu dir sein. Und er würde dich nehmen, oder er wollte es zumindest, bevor du wie eine verrückte Waldfee hier hereingestürzt bist. Du hast wenig Auswahl, Tuala. Und er ist wahrscheinlich das Beste, was du erwarten kannst.« - 314 Wieder fehlten ihr die Worte. Der alte Schrecken, den sie in dem überwältigenden Bedürfnis, ihre Nachricht loszuwerden, vergessen hatte, verschlang alles, was sie hätte sagen können. »Mach dir keine Sorgen.« Er musste sie falsch verstanden haben. »Ich werde mich darum kümmern, dass Bridei nichts zustößt. Geh jetzt; ich erwarte, dass du meinem Gast zeigst, dass du auch eine Dame sein kannst. Du kannst dich beim Abendessen dem Gespräch anschließen und deine Bildung zeigen. Ich denke, Garvan wird das interessant finden. Und Mara soll etwas mit deinem Haar anfangen.« Sie war schon beinahe draußen, als er noch einmal die Stimme erhob. »Tuala?« Sie wartete, ohne sich umzudrehen. »Es war richtig, mir diese Nachricht sofort zu bringen.« Tuala hörte in seinem Tonfall, wie schwer es dem Druiden fiel, das auszusprechen. Sie nickte und floh. Das Abendessen war eine Prüfung. Tuala begriff, dass sie vorgeführt und inspiziert wurde, als wäre sie eine Kuh auf dem Bauernmarkt. So sehr der Besucher auch versuchte, dies mit einem höflichen Gespräch über sichere, allgemeine Themen zu verbergen, konnte sie doch das Interesse in seinen Augen erkennen, und das Spiegelbild davon bei allen, die am Tisch saßen. An diesem Abend war es eine viel kleinere Gruppe als sonst: Broichan und Garvan, Tuala selbst, Mara und nur vier Bewaffnete, alle schon lange im Dienst und relativ alt. Die anderen hatte man zum Essen in die Küche geschickt, von wo sie zweifellos jedes Wort belauschten. Sie zählten wahrscheinlich die Tage, bis der untersetzte, stiernackige Garvan Tuala auf seinen Wagen laden und mit nach Hause nehmen würde, eine gute Investition für die Zukunft, jung, gesund und auch noch gebildet. Je mehr Tuala darüber nachdachte, desto mehr wurde ihre - 315 Angst von Zorn verdrängt. Wie konnten sie es wagen, ihre gesamte Zukunft auf diese Weise zu besiegeln? Wie konnte Broichan eine solche Entscheidung fällen, ohne auch nur zu fragen, was sie selbst davon hielt? Und was das Quälendste war, wie konnten sie das tun, während Bridei weit weg unten im Tal war und nichts davon
wusste? Verstanden sie das denn nicht? Garvan versuchte sein Bestes, das sah sie deutlich. Es war nicht seine Schuld, dass er ein großer Klotz von einem Mann war mit einem Gesicht, als hätte es jemand aus einer Rübe geschnitzt. Er fragte sie nach ihren Lehrern, sprach über die Jahreszeiten, brachte sogar beiläufig das Thema Verwandtschaftszeichen auf und schien sich damit überraschend gut auszukennen. Er strengte sich sehr an, sie nicht anzustarren. Sie hatte einen sauberen Rock und ein Hemd angezogen. Sie hatte ihr Haar gekämmt und geflochten; wie dumm von Broichan zu denken, dass sie für etwas so Vertrauliches jemals Maras Hilfe erbitten würde. Als sie den Kamm durch die wirren Locken zog, war es unmöglich gewesen, sich nicht daran zu erinnern, wie Bridei das für sie getan hatte, als sie noch klein gewesen war, und sie mit einem Lächeln in der Stimme gefragt hatte, was sie denn diesmal mit dem Haarband angestellt hatte. Seine Abwesenheit verursachte ihr ein ununterbrochenes Ziehen im Herzen. An diesem Abend stand Wein auf dem Tisch, der den ganzen Weg von Armorica hierher gebracht worden war, wie Broichan sagte; er erlaubte Tuala einen kleinen Becher. Es war ein berauschendes Getränk und erinnerte sie an Sommer, an vergangene Tage, an denen sie und Bridei auf die Adlernarbe geklettert und mit ihren Ponys durch den Wald galoppiert waren und versucht hatten, die Forellen aus dem See zu locken. Vorbei, alles vorbei; wenn es nach Broichans Wünschen ging, würde sie verheiratet sein, noch bevor Bridei wieder nach Hause kam. Sie ballte die Fäuste. Etwas Gefährliches begann sich in ihr zu regen, wie eine kleine Flam- 316 me. Etwas flüsterte in ihrem Kopf: Zeig es ihnen. Wehre dich. Tuala blinzelte verblüfft. Die Stimme hatte nicht laut gesprochen, das war eindeutig; das Gespräch am Tisch ging unbeirrt weiter. Seltsam, sie hätte schwören können, dass es eine Stimme war, die sie kannte, eine Anderwelt-Stimme. Dieser seltsame junge Mann, der ganz aus Zweigen, Ranken und Blättern des Waldes zu bestehen schien, hatte genau die gleiche Art zu sprechen. Aber die Worte waren in ihr erklungen, als kämen sie aus ihren eigenen Gedanken. »Wir könnten den Abend mit ein paar Geschichten beschließen«, schlug Broichan vor. Das war überhaupt nicht typisch für ihn; er strengte sich wirklich an, den guten Gastgeber zu spielen. »Möchtest du eine erzählen, Garvan? Dein Handwerk hat doch sicher einen großen Schatz an Überlieferungen, es geht gar nicht anders. Möchtest du uns etwas darüber berichten?« Garvan wirkte eher verlegen. »Meine Hände erzählen für mich«, sagte er und errötete ein wenig. »Ich habe nicht die Gabe, diese Geschichten in schöne und machtvolle Worte zu fassen. Aber ich bin sicher, Tuala hat viele Geschichten gehört, die es wert sind, erzählt zu werden. Es klingt, als hätte sie eine bemerkenswerte Erziehung genossen. Vielleicht möchte sie uns mit etwas unterhalten.« Er warf ihr einen beinahe schüchternen Blick zu. Vielleicht, dachte sie, hatte er sich plötzlich mit dem gleichen Leiden angesteckt wie die anderen Männer, mit dieser Angst, dass sie ihn mit ihren unheimlichen Verführungskünsten bestricken würde. Die Seuche sollte ihn holen. Die Seuche sollte sie alle holen. Zeig es ihnen. Erzähle deine Geschichte und zeig es ihnen. Broichan wollte gerade etwas sagen, vielleicht höflich in ihrem Namen ablehnen. »Selbstverständlich«, sagte Tuala freundlich. Es fühlte sich beinahe als, als spräche da eine andere Person. Sie war kalt und ruhig, und eine neue Geschichte entfaltete sich plötzlich vollständig und perfekt in ihrem Kopf, eine Geschichte, die - 317 ihre Kraft zeigen und gleichzeitig ihre Zuhörer prüfen würde. »Aber sag mir zuerst, welches Handwerk du ausübst, Herr. Du sagtest, deine Hände erzählen die Geschichten für dich. Was bedeutet das?« »Ich bin ein Steinmetz.« »Ein wenig mehr als das, mein Freund«, sagte Broichan leise. »Er ist einer der besten Handwerker und Künstler, Tuala; die Ahnen sprechen durch ihn.« »Du tust mir zu viel Ehre an«, sagte Garvan und schaute seine großen, vernarbten Hände an, die er locker auf dem Tisch vor sich gefaltet hatte. »Kaum«, sagte Broichan. »Befinden sich deine Arbeiten nicht sogar am Hof des Königs von Fortriu? Ich kann mir kaum einen Beruf vorstellen, der enger mit allem verbunden ist, was in unserem Land heilig ist, als den deinen.« »Bis auf den einer Weisen Frau oder eines Druiden«, sagte Garvan lächelnd. »Ich hoffe, das ist, was du wissen wolltest, Tuala.« »Sagen wir also, es geht in dieser Geschichte um einen Steinmetz.« Tuala war hervorragend ausgebildet, Geschichten über Helden und Magie, Ungeheuer und mutige Taten zu erzählen. Die Geschichte dieses Abends würde anders sein: weit entfernt vom Repertoire ihrer lieben alten Lehrer. »Ich werde ihn Nechtan nennen. Dieser Nechtan war ein einsamer und stolzer Mann. Er hatte sein Handwerk, und darin war er hervorragend. Er hatte auch einmal eine Frau gehabt, aber sie war tot, und seine Söhne waren davongegangen, um für den König zu kämpfen; keiner hatte auch nur das geringste Interesse an den Tag gelegt, das Handwerk seines Vaters zu lernen. Nechtan arbeitete den ganzen Tag mit Hammer und Meißel und mit seinen bloßen Händen, entlockte dem Herzen der Steine die schönsten Geheimnisse, weise Eulen, stolze Stiere und seltsame Wassergeschöpfe, Speere und Schilde und Männer zu Pferd, die in den Kampf ritten. Tagsüber versank der Steinmetz in sei- 318 ne Träume und verlieh ihnen wunderbare, ewige Gestalt. Nachts lag er mit offenen Augen wach da und spürte seine tiefe Einsamkeit bis zum Grund seines Herzens. Nachts verschwanden die Träume, und es blieb nur eine
dunkle Kluft der Verzweiflung. In diesen trostlosen Stunden überkam Nechtan ein Sehnen, leidenschaftlich und dunkel, aber wonach wusste er nicht. Es geschah, dass Nechtan im Frühjahr das Tal hinaufreiste, denn der König wollte ihm einen Auftrag erteilen, und daher musste der Steinmetz den Hof aufsuchen, um über die Einzelheiten zu sprechen. Das Wetter war angenehm; die Tage waren frisch und hell, kleine Vögel flatterten geschäftig in den Haselbüschen herum, die ersten Blätter zeigten sich zögernd an den kahlen Zweigen, und am Boden war ein Teppich aus Schneeglöckchen zu sehen. Wenn es zu dunkel war, um weiterzureisen, schlug Nechtan sein Lager an einem kleinen Bach auf und zündete ein Feuer zwischen Steinen an, dann legte er sich, in die Decke gerollt, zum Schlafen nieder. Er war an Kälte gewöhnt, es störte ihn nicht, die Nacht über im Wald zu sein. Wenn er hätte schlafen können, hätte er das getan. Aber der Steinmetz konnte nie gut schlafen. Er lag wach unter dem hell leuchtenden Mond und rollte sich zusammen, um es wärmer zu haben, als das kleine Feuer zu glühenden Kohlen niedergebrannt war, die sich ihrerseits bald in pulvrige Asche verwandelten und vom kalten Flüstern des Nachtwinds davon geweht wurden. Nechtan lag da und sehnte sich nach etwas, das er nicht beim Namen nennen konnte. Was immer es sein mochte, er brauchte es mit Körper, Herz und Seele; wenn er es nicht bekam, würde er zweifellos vertrocknen wie die letzten Ebereschenbeeren, die noch an den Zweigen hingen. >Mann?<, erklang eine leise Stimme. Dort vor ihm, gleich auf der anderen Seite der Überreste seines Feuers, hockte eine Gestalt in einem aschgrauen Umhang, vielleicht eine alte Frau, es war schwer zu sagen. - 319 >Wer bist du?<, fragte Nechtan, denn er wusste, dass es nur eine Art von Wesen gab, die man um diese Zeit an diesem Ort im Mondlicht fand. >Was willst du?< >Ich habe einen Herd und ein Haus für einen Gast, besser als du es hier hast<, sagte die Person, und als Nechtan aufstand, sah er, dass es sich tatsächlich um ein uraltes Weiblein mit Hakennase handelte und dass sie ihm mit ihrem knochigen Finger bedeutete, ihr zu folgen. >Ich fühle mich hier recht wohl<, sagte er so höflich er konnte, obwohl das weit von der Wahrheit entfernt war. Aber er wusste aus den Geschichten seiner Kindheit, welche Gefahr darin lag, einem solchen Ruf zu folgen. Andererseits wurde es wirklich kalt, und ein richtiger Herd und ein Dach über dem Kopf klangen recht verlockend. >Das Feuer und das Bett sind warm, traumloser Schlaf, ganz ohne Harm<, murmelte die Alte und begann, unter den Bäumen davonzuschlurfen. Nechtan zögerte immer noch; was, wenn er ihr folgte und sie ihn den ganzen Weg in das gefährliche Reich hinter den Grenzen führte? Denn von dort würde er vielleicht nie zurückkehren, und er hatte einen Auftrag vom König erhalten. Weißer Arm, weiche Hand<, erklang die Stimme der alten Frau. Er konnte sie jetzt kaum mehr sehen, als sie weiterging. >Trost und Ruhe, Heimatland/ >Warte!<, rief Nechtan, griff nach seinem Bündel und stolperte auf einem Weg, der vom Mond trüb beleuchtet wurde, hinter der Alten her.« Tuala hielt inne. Ihre Zuhörer waren still geworden. Broichan beobachtete sie ernst, Garvan beugte sich angespannt vor. Mara kniff die Lippen zusammen und sagte dann: »Dann muss er ein Narr gewesen war. Zweifellos ist er nie wieder in seine eigene Zeit und an einen Ort zurückgekehrt, den er kannte.« Die Bewaffneten schauten überall hin, mieden aber, die Erzählerin anzusehen. Es war allerdings klar, dass sie voll- 320 kommen im Bann der Geschichte standen; seit Tuala begonnen hatte, hatte sich keiner mehr gerührt. »Sie brachte ihn in eine kleine Hütte, die überall von Brombeerhecken umgeben war«, fuhr sie fort. »Drinnen war es tatsächlich warm und gemütlich, auf dem Herd wartete eine warme Suppe, und ein Bierkrug stand schon auf einem kleinen, ein wenig schiefen Tisch bereit, beinahe so, als hätte ihn jemand erwartet. Am Feuer saß eine andere Gestalt im Umhang. Tatsächlich war sie so Schicht um Schicht von Wolltuch umwickelt, dass Nechtan nicht viel von ihr sehen konnte. Er sah nur ein Paar hübsche weiße Hände, weich und anmutig, und das Gesicht, das sich ihm zuwandte, war das einer Frau, und ein sehr angenehm anzusehendes. Der bemerkenswerteste Zug dieses Gesichts war der Mund - der hübscheste, verlockendste Mund, den Nechtan je gesehen hatte, und da er Steinmetz war, hatte er ein Auge für Schönheit. Die Lippen waren nicht zu schmal und nicht zu voll, sie waren rot und süß wie eine reife Kirsche, und auf eine Weise geschwungen, die zum Küssen wie gemacht schien. Als er diesen Mund sah, vergaß er beinahe, wo er war und was ihn hergeführt hatte. Aber nicht vollkommen. >Die Leuchtende segne euren Herd<, sagte er mit nur einem leichten Zittern in der Stimme. >Die alte Frau sagte, ich könnte hereinkommen und mich wärmen. Es ist sehr freundlich von euch.< Die Frau lächelte. Ein reizendes Grübchen zeigte sich an einem Mundwinkel, ihre Augen wurden strahlender, und sie griff nach Krug und Kelch, um ihm Bier einzugießen, aber sie konnte die Arme nicht weit genug strecken. Die Alte kam vor sich hin murmelnd zum Tisch und tat es für sie. >Es tut mir Leid<, sagte die junge Frau. >Ich kann mich nicht bewegen; meine Freundin, Anet, die dich hergebracht hat, muss viele Arbeiten für mich erledigen. Bitte, setz dich, trink und wärme dich. Danach möchte ich dir einen Vorschlag - 321 unterbreiten, oder eine Herausforderung, wenn du willst. Du bist ein Mann mit Urteilsvermögen, das sehe ich in deinen Augen. Du weißt also, welche Grenze du überquert hast, um mich heute Nacht zu besuchend
Nechtans Hand verharrte mit dem Kelch auf halbem Weg zu seinen Lippen. >Du kannst ungefährdet trinken<, sagte sie. >Du befindest dich bereits in unserem Reich, aber ich werde dich nicht gegen deinen Willen festhalten, und Anet wird es ebenso wenig tun. Welche Entscheidungen ein Mann in meinem Haus auch treffen mag, es werden seine eigenen sein.< Sie seufzte, und Nechtan hörte in diesem Seufzen eine seltsame Spiegelung seines eigenen geheimen Kummers, der Leere des Herzens, die zu bannen er so viel gegeben hätte. Er hob den Becher an die Lippen und trank, und er beobachtete sie über den Rand hinweg. >Nechtan<, sagte die Frau nachdenklich. >Das ist also dein Name. Ein Hersteller schöner Dinge, starker, hübscher Dinge. Warum steht im Blick eines solchen Mannes, eines Mannes mit einem Handwerk und einer Stellung im Leben, eines Mannes mit einem eigenen Haus und der Gunst des Königs, solcher Kummer?< >Ich weiß es nicht<, flüsterte Nechtan, sah sie an und dachte, dass diese weißen Hände, dieser köstliche Mund ihn zu noch größerer Verzweiflung treiben würden, wenn er nicht vorsichtig war. >Sag mir, da du meinen Namen bereits kennst, wie der deine lautet, Herrin.< Sie lächelte, aber es war ein Lächeln, dessen Traurigkeit ihm nur zu vertraut vorkam. >Sie nennen mich bei vielen Name», sagte sie. >Namen wie Krummbein oder Krüppel. Ich kleide mich nicht umsonst auf diese Art; niemand darf sehen, wie ich unter diesen Hüllen aussehe, bis auf Anet, die sich um mich kümmert/ >Ich würde dir gern einen Namen geben, wenn du erlaubst, sagte Nechtan zu seiner eigenen Überraschung. Sei- 322 ne Wangen wurden heiß, als er seine Waghalsigkeit erkannte; was würde die Dame von solcher Dreistigkeit halten? >Und was für ein Name wäre das?<, fragte sie leise. >Ela<, sagte Nechtan. >Das ist ein Name für einen Schwan, und an ein solches Geschöpf erinnerst du mich, bleich und einsam und von einer Schönheit, die über das Verständnis eines Menschen hinausgeht. Verzeih mir, ich kenne dich nicht, ich hätte das nicht sagen dürfen ...< >Ela.< Sie wiederholte es, und der Name hing in der Luft des kleinen rauchigen Häuschens, süß wie ein Versprechen. >Das ist... akzeptabel ...< Sie wartete, während er eine Schale Suppe aß und sich am Feuer wärmte. Dann machte sie ihren Vorschlag. Sie hatte, so sagte sie, die Macht, ihm seine Einsamkeit zu nehmen und seinen geheimen Kummer zu heilen. Wenn er bei ihr bleiben, in ihrer Hütte leben und nachts ihr Bett teilen würde, würde sie ihm traumlosen Schlaf gewähren, und am Tag stand es ihm frei, in seine eigene Welt zurückzukehren und weiter sein Handwerk auszuüben. >Denn ich sehe<, sagte sie, >dass du nur vor deiner Zeit dahinwelken würdest, wenn du deinen Beruf aufgeben müsstest. Bleibe ein Jahr und einen Tag bei mir. So lange die Sonne am Himmel steht, wirst du ehrliche Arbeit leisten, und beim Mondschein Nächte so süßer Zufriedenheit erleben, dass dir kein Platz mehr für Kummer bleibt.< >Aber, Herrin - Ela ...<, Nechtan konnte spüren, wie Hitze in seine Wangen stieg, wie die Begierde seines Körpers mit der Vorsicht seiner Gedanken rang, >du sagtest - verzeih mir -, niemand außer deiner Freundin dürfte je sehen, wie du wirklich aussiehst. Wie kannst du einen Mann in deinen Armen und deinem Bett willkommen heißen, wenn das zutrifft?< >Du brauchst mich nicht unbekleidet zu sehen<, sagte Ela ernst. >Und mich auch nicht an dich zu drücken, Haut an Haut, damit diese Magie funktioniert. Glaub mir, du willst nicht sehen, was sich unter diesen Hüllen befindet, die ich trage/ >Wie also ...< - 323 >Vertrau mir, Steinmetz, und nimm an, was ich dir anbiete. Du wirst danach besser schlafen können.< Nechtan schwieg. Sein Kopf war voller Fragen, die er nicht stellen konnte. >Du glaubst mir nicht<, sagte Ela, die Lider mit den langen Wimpern traurig halb über die hellen, klaren Augen gesenkt, den hübschen Mund betrübt verzogen. >Oder du traust mir nicht. Bleibe heute Nacht, nur diese eine Nacht, und ich werde dir zeigen, dass es wahr ist.<« Tuala hielt inne. Die Stille rings um den Tisch war absolut. »Sagt mir«, bat sie, »was wollt ihr, dass Nechtan jetzt tut?« Broichan machte keinen Vorschlag. Tuala glaubte, dass ihr vielleicht das Unmögliche gelungen war: ihn vor Staunen verstummen zu lassen. »Er hätte erst gar nicht in diese Situation geraten dürfen«, sagte Mara barsch. »Ein Handwerker, ein ordentlicher Mann, er kannte sich aus; es war dumm, der Alten zu folgen, dumm, dort etwas zu trinken, und er wäre noch dümmer, das Angebot anzunehmen. Er sollte mindestens fragen, was die Bedingungen sind; was sie im Gegenzug von ihm will. Ich denke, er sagt Nein, bedankt sich höflich und macht sich so schnell wie möglich wieder auf den Weg. Im Leben eines Mannes gibt es keine Zeit für geheime Sorgen und ähnliche Dinge. Er sollte einfach tun, was getan werden muss, und sich an dem freuen, was er hat.« »Aber das kann er nicht, oder?«, warf einer der Bewaffneten ein. »Stimmt«, sagte ein anderer. »So geht es in Geschichten nicht zu. Wenn er eine wie diese Ela auch nur ein einziges Mal anschaut, ist ein Mann für immer verloren. Er legt sich wahrscheinlich in ihr Bett und schaut unter die Kleidung, obwohl sie ihm gesagt hat, dass er es nicht tun soll, und findet ein Ungeheuer, das nur darauf wartet, ihn zu verschlingen.«
Dann war es wieder still. Tuala wartete. »Als Künstler«, sagte Garvan, »weiß er, dass die Wege der - 324 Götter niemals gerade und offensichtlich sind. Als ein Mann, der mit Stein arbeitet, weiß er, dass Schönheit entsteht, wenn man Träume aus den Formen befreit, die sie zurückhalten. Er hat keine andere Wahl, als dem Angebot der Frau zuzustimmen; es kommt ihm so vor, als könnte es das sein, was er so lange gesucht, aber nie gefunden hat.« Er warf Tuala einen Seitenblick zu, in dem eine Frage stand. »Das ist gut«, sagte Tuala, überrascht, dass ein solcher Mann eine solche Antwort geben sollte. »Er blieb, und es war genau so, wie Ela versprochen hatte. Sie teilte das Bett mit ihm, aber er verstand, dass er sie nicht an sich ziehen und auch nicht die vielen Kleidungsstücke ausziehen durfte, mit denen sie ihren Körper verbarg. Und sie wirkte tatsächlich Zauber; ihre Geschicklichkeit und ihre liebevolle Art erweckten ein Feuer in Nechtan, das er nie für möglich gehalten hatte, nicht in all den Jahren seiner Ehe und auch nicht bei beiläufigen Begegnungen mit Frauen während seiner Witwerzeit. Elas sanfte Stimme, ihr lauschendes Ohr, ihre Sanftheit und Freundlichkeit besänftigten seinen Geist aufs Wunderbarste; er hatte das Gefühl, ihr alles sagen zu können, und sie würde es verstehen. Am Tag kehrte er in die sterbliche Welt zurück und übte weiter sein Handwerk aus; am Abend eilte er zu Ela zurück, sein Hunger nach dem, was sie ihm geben konnte, wurde von der wachsenden Vertrautheit nicht verringert, denn ihre Gegenwart schien stets frisch, stets neu, eine wunderbare Welt, in der es immer neue Schätze zu entdecken gab. Er erlebte keine Nächte voller Schatten und Verzweiflung mehr; nun war alles süße Erfüllung und der tiefe Schlaf, der darauf folgt. Ein Jahr und ein Tag vergingen, und Nechtan verbrachte jede Nacht dieser Zeit im Bett seiner neuen Liebsten, was sich manchmal als schwierig für die Arbeit erwies; ein Steinmetz muss reisen können, muss gehen, wohin seine Aufträge ihn führen. Aber er hatte Helfer, und er schaffte es irgendwie, denn er konnte es nicht mehr ertragen, eine Nacht ohne sie zu verbringen. - 325 Als die Zeit, die sie ihm gesetzt hatte, vorüber war, fragte Ela Nechtan, was er jetzt tun wollte. >Denn ich sehe<, sagte sie, >dass wir zwar miteinander glücklich sind und dich die Einsamkeit nicht mehr quält, aber neue Traurigkeit steht in deinen Augen. Was bedrückt dich, mein Lieber?<« Tuala sah sich erneut unter ihren Zuhörern um. »Was sagt er zu ihr?«, fragte sie sie. »Er will wissen, wie sie aussieht«, schlug einer der Bewaffneten vor, den Blick vorsichtig abgewandt. »Es quält ihn, dass sie immer noch ein Geheimnis vor ihm hat. So ist es in vielen Geschichten; die Leute können ihre Neugier nicht mehr beherrschen, und dann geht alles schief.« »Stimmt«, sagte ein anderer. »Wenn eine von den - vom Guten Volk eine solche Regel aufstellt, wagt man nicht, dagegen zu verstoßen; das kann nur in Kummer enden. Aber in Geschichten tun die Leute es immer wieder, jedes Mal.« »Wahrscheinlich wickelt er die Hüllen ab, wenn sie schläft, und schaut hin«, sagte Mara. »Und danach verschwindet Ela, sie und die Alte und das gemütliche kleine Haus, und er steht wieder so dumm da wie zuvor, gemartert von Sehnsucht nach etwas, das nicht sein kann.« Tuala wartete. »Nein«, sagte Garvan. Er schien ernsthaft über seine Antwort nachzudenken. »Nein, das glaube ich nicht. Selbstverständlich wäre es ihm lieb, wenn sie ihm ihren Körper zeigen würde; dass sie es noch nicht tat, bedeutete, dass sie ihm immer noch nicht vertraute. Aber das war nicht der Grund seines Unbehagens. Er sagte ihr, er wünschte sich mehr als alles andere, ihr die gleiche Freude zu bereiten, wie sie es so großzügig Nacht um Nacht tat, ohne etwas anderes dafür zu verlangen als seine Gesellschaft. Er sehnte sich danach, ihre Wunden zu heilen, wie sie es bei ihm getan hatte. Er wünschte sich, sie würde ihm sagen, wie er das tun könnte; er wünschte sich, dass sie ihm sagte, was sie brauchte, um wahrhaft zufrieden zu sein.« Er warf einen Blick zu - 326 Tuala und zögerte plötzlich. »Jedenfalls würde ich es so erzählen, wenn ich deine Begabung für Worte hätte.« »Eine sorgfältige Antwort, Freund«, stellte Broichan mit einem leichten Zucken um die schmalen Lippen fest. »Es kommt mir wie eine ehrliche Antwort vor«, sagte Tuala zu ihrer eigenen Überraschung. »Weißt du eine bessere, Herr?« Etwas gab ihr an diesem Abend Mut, vielleicht diese Stimme, die ihr aus dem Nichts eine so unwahrscheinliche Geschichte eingegeben hatte. »Nein«, sagte Broichan. »Ich frage mich nur, wie dieser Bursche Zeit und Energie gefunden hat, weiter seinem Handwerk nachzugehen, wenn sein Kopf so voller Gefühle, Ängste und Empfindlichkeiten war. Ich neige dazu, Mara zuzustimmen und zu sagen, er hätte gehen sollen, als er noch Gelegenheit hatte. Ich nehme an, diese Geschichte bewegt sich auf ein Ende zu, an dem wir entdecken, dass diese Ela auf irgendeine Art verzaubert war, und ihr Steinmetz findet heraus, wie man den Zauber aufheben kann, und dann ist sie wieder gerade und schön. Schlichte Geschichten für schlichte Leute; die Muster sind stets die gleichen.« Es kam Tuala so vor, als stünde eine Herausforderung in diesem Blick und in den zynischen Worten. »Die Leuchtende ist nicht berechenbar«, sagte sie. »Ihre Zyklen mögen konstant sein, aber die Gezeiten, die sie in den Köpfen und den Körpern ihrer Geschöpfe erweckt, beherrscht sie, wie sie will. Als Ela Nechtans Antwort hörte, begann sie zu weinen. Er hätte sie gern in die Arme genommen und getröstet, aber er achtete die Bedingungen, die sie ihm auferlegt hatte. Es war besser, hatte er gleich von Anfang an gedacht, diesen seltsamen Schatten einer Ehe zu akzeptieren, als Ela vollkommen zu verlieren, die seine beste Freundin, sein Trost, seine Herzensfreude
geworden war. Also streckte er nur die Hand aus und legte sie auf ihre Wangen und berührte sanft mit den Lippen ihr Gesicht und küsste ihre Tränen weg. In dieser Nacht, einer mondlosen Nacht, ließ sie zu, dass er sie - 327 auszog. Was immer es war, das sie ihm enthüllte, ließ das Haus nicht plötzlich verschwinden, ebenso wenig wie Ela oder die alte Anet. Es trieb den Steinmetz auch nicht davon. Stattdessen bemerkten jene, die Nechtan in den folgenden Jahren sahen, dass er vor Zufriedenheit regelrecht verträumt aussah. Was die Bilder anging, die er meißelte, so wurden sie immer seltsamer; Stier, Eber und Gans wichen seltsamen Tieren, die weder das eine noch das andere waren, und so kunstvollen Mustern, dass sie sich zu verändern schienen, noch während man hinschaute: Spiralen und Irrgärten ohne Anfang und Ende. Diese Geschichte ist ein wenig wie diese Muster. Nechtan nahm Ela mit zum Jungfernsee, damit sie die Schwäne dort sehen konnte. Sie teilte ihre tiefsten Geheimnisse mit ihm. Sie empfanden tiefe, lebenslange Freude aneinander. Das ist alles, was ich weiß oder was ich erzählen möchte.« Wieder Schweigen. Es wurde von einem der Bewaffneten gebrochen, der protestierte: »Du meinst, das ist das Ende?« In seiner Empörung über den abrupten Schluss der Geschichte hatte er sogar vergessen, die Erzählerin zu fürchten. »Aber was war ihr Geheimnis? Wie sah sie unter den Hüllen aus?« »Vielleicht schön, vielleicht hässlich«, sagte Tuala. »Darum geht es nicht.« »Ohne das ist die Geschichte nicht wirklich zu Ende«, sagte Mara. »Eine solche Geschichte, eine schwierige Geschichte, braucht ein Ende. Wir brauchen eine Erklärung.« Tuala sagte nichts mehr. Vielleicht verstand keiner von ihnen, was die Geschichte bedeutete. Es beunruhigte sie, dass sie sich nicht den Regeln beugte, denen solche Geschichten im Allgemeinen entsprachen. »Es ist keine Geschichte über Zauber oder über Schönheit.« Broichans Bemerkung überraschte Tuala; sie hatte von ihm keinerlei Unterstützung erwartet. »Es ist eine Geschichte über Entscheidungen«, fügte der Druide hinzu. - 328 »Das ist wahr«, sagte Garvan. »Wir brauchen nicht zu erfahren, ob Ela eine Göttin oder ein Ungeheuer war; es ist nur wichtig, dass Nechtan ihre Bedürfnisse ebenso achtete wie seine eigenen. Damit erwarb er schließlich ihr Vertrauen. Und selbstverständlich war es das, was er mehr brauchte und wollte als alles andere.« »Es ist durchaus möglich«, sagte Tuala, »dass ihr Körper unter den Hüllen so schön und unversehrt war wie ihre Hände und ihr Gesicht, und es immer gewesen war. Sie hatte ihn geprüft, und er hatte die Prüfung bestanden.« »Und was lernen wir daraus?« Broichan vergaß nie, was er war. Tuala holte tief Luft. »Die Lehre besteht darin, dass die Leuchtende erwartet, dass ihre Töchter frei wählen können. Erstaunlicherweise verstand Nechtan das und wurde belohnt. Ich bin ihre Tochter, ebenso wie Ela es war, und ich brauche die gleiche Freiheit, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich sitze heute Abend hier und erzähle meine Geschichte, weil es von mir erwartet wird, und zeige so meine Dankbarkeit für Herd und Heim, die mir gewährt wurden. Aber Geschichten zu spinnen ist eine Sache, weggeschickt, verkauft zu werden, sobald ich unbequem werde, ist etwas ganz anderes.« Ihre Stimme zitterte; ob es vor Zorn war oder vor plötzlichem Schrecken darüber, was sie gewagt hatte, wusste sie selbst nicht. »Ich wünsche euch nun eine gute Nacht; ich möchte euer Beisammensein nicht länger stören. Möge die Leuchtende eure Träume beschützen.« Sie wandte sich Garvan zu. »Du hast gute Antworten gegeben«, sagte sie. Das war nur gerecht; es hatte sie überrascht, wie gut er alles verstanden hatte. Es war schade, dass sie ihn wirklich nicht heiraten wollte. »Gute Nacht, Tuala«, erwiderte Broichan. Was er von all dem hielt, hätte man nicht sagen können. Sie kämpfte in dieser Nacht gegen den Schlaf an, denn sie wusste, dass ihre Träume ihr diese finstere Vision zurück- 329 bringen würden, Bridei, wie er zu Boden stürzte, wie er starb, sein liebes Gesicht von unaussprechlichen Schmerzen verzerrt. Sie musste sich darauf verlassen, dass Broichan das verhinderte. Er schien sicher gewesen zu sein, Bridei rechtzeitig warnen zu können. Sie musste glauben, dass das tatsächlich so war. Die Bilder des Dunklen Spiegels konnten verändert werden, wenn das, was sie zeigten, noch bevorstand; ein Mann oder eine Frau konnte handeln, um sie zu verhindern. So musste es sein, denn sie waren bereits widersprüchlich gewesen und hatten ihr eine Version der Zukunft gezeigt, in der Bridei eine rothaarige Frau heiratete und einen Sohn zeugte, und dann eine andere, in der sein so vielversprechendes Leben ein zu frühes Ende fand. Vielleicht stellten auch diese Visionen eine Wahl dar. Ihre Wahl. Wenn er leben sollte, musste sie akzeptieren, dass er sich von ihr entfernte. Wollte die Göttin ihr sagen, dass sie ihn gehen lassen sollte? Direkt hinter ihren Augen warteten schwere Tränen darauf, zu fallen. Es gab auch noch etwas anderes, das Gleiche, was sich an jenem Tag in ihr gerührt hatte, als sie sich von Bridei verabschiedete. Als er sie an diesem Tag berührte, seine Hand sanft auf ihrer Haut, hatte sie ohne es wirklich zu verstehen gewusst, dass das, was zwischen ihnen bestehen mochte, für immer verändert war. Tuala setzte sich aufrecht hin und schlang im Dunkeln fest die Arme um die Knie. Garvan war ein guter Mann. Er schien freundlich, höflich und rücksichtsvoll zu sein. Und sie konnte ihn nicht heiraten. Sie hatte Bridei von Anfang an geliebt, zuerst wie einen Bruder, einen besten Freund, einen weisen Gefährten, so vertraut, dass er ihr immer wie ein Teil ihrer selbst vorgekommen war. Und nun liebte sie ihn, wie ein Mädchen ihren Liebsten liebte, wie Nechtan Ela liebte, mit schlagendem Herzen, mit rauschendem Blut, mit Schmerz und Tränen und wilder Freude darüber, es zu wissen. Ja, so war es. Sie hatte sich tatsächlich verändert, und als das geschehen war, hatte ihre Welt das Gleiche getan.
- 330 KAPITEL NEUN Broichan schickte am nächsten Morgen nach ihr. Garvan war bereits abgereist; Tuala hörte, wie Mara Ferat erzählte, dieser vorzeitige Aufbruch sei zweifellos eine Reaktion auf die Geschichte, die er am Vorabend gehört hatte, und dem Gesichtsausdruck der Erzählerin. »Denn man konnte es sehen«, flüsterte Mara, »diesen Zauber der Anderwelt, und wie gefährlich es ist. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass das Mädchen eine solche Geschichte erzählen könnte. Du hättest die Blicke der Männer sehen sollen! Und dabei habe ich mir eingebildet, dass sie so unschuldig ist, wie eine Jungfrau ihres Alters sein sollte.« Als Tuala jedoch in Broichans Zimmer kam und vor ihm stand, die Hände auf dem Rücken gefaltet, das Herz laut klopfend, wurde sie nicht dafür getadelt, ihren Bewerber vertrieben zu haben, und auch nicht bestraft, weil sie angeblich versucht hatte, die Bewaffneten mit ihrer Geschichte zu verführen. »Garvan hat darum gebeten, mit dir unter vier Augen sprechen zu dürfen.« Broichan stand am üblichen Platz, mit dem Rücken zur Feuer stelle. Es war an diesem Tag kein Feuer angezündet, und das Zimmer war voller Durchzug und kleiner Luftwirbel. Der hoch gewachsene Druide trug wie immer sein schwarzes Gewand; sein Blick ruhte so konzentriert auf Tuala wie der eines Falken. »Ich habe ihm diese Bitte ver- 331 weigert; es schien nicht angemessen. Geht es darum, dass du ihn nicht heiraten möchtest, oder möchtest du überhaupt nicht heiraten?« Tuala schluckte. »Es ist zu früh«, brachte sie hervor. »Ich bin noch nicht bereit zu heiraten.« »Du bist im heiratsfähigen Alter, Tuala«, sagte Broichan. »Die meisten anderen Mädchen vollziehen das Händereichen in deinem Alter, und häufig sind sie schon nach einem Jahr Mütter. Vielleicht brauchst du nur mehr Erklärungen, mehr Sicherheit... Du könntest mit Mara darüber sprechen. Andererseits legt diese bemerkenswerte Geschichte, die du gestern Abend meinem Gast erzählt hast, nahe...« Die Haltung des Druiden war nun eher zaghaft. Sein Blick war unklarer geworden, als wäre dieses Thema irgendwie unter seiner Würde. »Ich weiß, was es bedeutet, das Bett eines Mannes zu teilen«, sagte Tuala ganz offen. »Man kann nicht auf einem Bauernhof aufwachsen, ohne gewisse Dinge zu erfahren. Herr, ich möchte weder Garvan noch einen anderen Mann heiraten. Wenn dir das missfällt, tut es mir Leid. Du hast mir hier ein Heim gegeben, und ich weiß, dass ich in deiner Schuld stehe. Ich weiß, dass du mich nicht aufnehmen wolltest. Ich habe nicht vergessen, was du vor langer Zeit darüber sagtest, dass mein Platz hier in Pitnochie vollkommen von dir abhängt. Aber ich möchte bleiben. Ich muss bleiben.« Ich muss hier sein, wenn Bridei nach Hause kommt. »Du kannst nicht bleiben«, sagte Broichan. »Du bist unter meinen Leuten nicht mehr willkommen. Diese Veränderung hat sich gegen meinen Willen vollzogen. Nun ziehe ich selbst von hier weg; tatsächlich muss ich es um Brideis willen so bald wie möglich tun. Und du musst gehen.« »Wohin gehen?« Tuala ballte die Fäuste auf dem Rücken und versuchte, ruhig zu bleiben. Im Augenblick war ihr Zorn größer als ihre Angst. »Hast du einen weiteren passenden Bewerber gefunden?« - 332 »Das brauche ich nicht. Garvan wollte auf keinen Fall, dass du die Gründe für seinen frühen Aufbruch falsch verstehst. Bevor er an diesem Morgen davonritt, hat er mir gesagt, dass er seine Bewerbung um dich aufrechterhält und es dir überlässt, dir so viel Zeit für deine Entscheidung zu nehmen, wie du möchtest, ein Jahr, sogar zwei, wenn du willst. Er ist ein erstaunlich großzügiger Mann, so großzügig, dass man es auch als dumm bezeichnen könnte. Er hat mich gebeten, dir zu sagen, dass er keine Mitgift will, und er hat auch nichts im Gegenzug für deine Hand versprochen; du hast von >verkaufen< gesprochen, aber das stimmt nicht. Er wollte, dass du das weißt.« »Aha.« »Daher bleibt dir diese Möglichkeit offen. Es kam mir gestern Abend so vor, dass es eine Verbindung zwischen dir und ihm gab, und sei es nur, was eure Interpretation von Geschichten angeht.« Broichan sah sie mit hochgezogenen Brauen an; offenbar erwartete er einen Kommentar dazu. »Ich will nicht heiraten.« Tuala spürte, wie ihr kalt wurde. »Und ich will nicht weggeschickt werden.« »Was das angeht, hast du keine Wahl. Ob du nun diese Ehe irgendwann in der Zukunft in Erwägung ziehst oder nicht, ich werde dich nicht in Pitnochie lassen. Es gibt allerdings eine andere Möglichkeit, eine, die durch einen Boten aus Rabenbrunn heute früh noch praktikabler geworden ist.« »Aus Rabenbrunn? Wie lautet die Botschaft? Geht es Bridei gut?« »Es ging nicht um Bridei«, sagte Broichan, »aber wir können davon ausgehen, dass er bei guter Gesundheit ist. Der Bote überbrachte die Bitte, dass Dreseida, die Herrin von Rabenbrunn, und ihre Familie einen oder zwei Tage in Pitnochie Unterkunft finden können; sie sind unterwegs zu Drusts Hof, wo sie bleiben werden, bis der Feldzug beendet - 333 ist. Die Dame wird hier eintreffen, sobald das Wetter es zulässt. Ich werde bis dahin schon aufgebrochen sein, aber Mara wird sich um alles kümmern.« Talorgens Frau und Familie. Fuchsmädchen. Und Broichan brach eilig zum Hof auf, nachdem er so lange nicht dort gewesen war ... Er musste sich wirklich um Brideis Sicherheit sorgen, nicht nur im Kampf und bei dem Vorfall, den Tualas Vision ihr gezeigt hatte, sondern auch nachher. Sie wartete auf mehr.
»Dies würde dir eine ausgesprochen gute Eskorte bieten«, sagte Broichan. »Und es bedeutet, dass wir, wenn nötig, dem anderen Weg folgen können, der dir offen steht. Es ist nicht der Weg, den ich vorziehe, und die Geschichte, für die du dich gestern Abend entschieden hast, verstärkt nur meine Zweifel daran, dass es ein wünschenswerter Kurs für dich wäre.« »Welcher Weg?« »Vor langer Zeit hat Fola, die Weise Frau, dir einen Platz auf ihrem Anwesen in Banmerren angeboten, sobald du ein gewisses Alter erreichst. Sie wollte, dass du zuvor hier erzogen wirst; was Erip und Wid dir bieten konnten, war der Ausbildung, die die meisten Mädchen aus hohen Familien erhalten, weit überlegen. Dir ist vielleicht nicht klar, wie privilegiert du in dieser Hinsicht warst.« »Ich weiß, wie viel ich meinen Lehrern schulde.« »Banmerren liegt an der Nordküste, auf der anderen Seite der Bucht von Caer Pridne«, sagte Broichan. »Es ist ein abgelegenes Haus, was zu der Erziehung passt, die dort angeboten wird. Ob eine junge Frau von deiner Herkunft je die heiligen Pflichten einer Dienerin der Leuchtenden erfüllen kann, müssen Fola und die anderen Lehrerinnen dort selbst herausfinden. Sobald du dort akzeptiert wirst, brauchst du nicht nach Pitnochie zurückzukehren. Und du brauchst selbstverständlich auch nicht zu heiraten. Das sollte dir gefallen.« - 334 Tuala war vollkommen verwirrt. Sie wusste überhaupt nicht mehr, was sie sagen sollte. »Ich habe diese Möglichkeit zuvor nicht erwähnt«, fuhr der Druide fort, »weil ich ernsthaft bezweifle, dass es wirklich wünschenswert ist. Fola ist eine Freundin, deren Weisheit ich hoch schätze. Ich fürchte dennoch, dass die Gefahr besteht, dass du dort... ausgenutzt wirst. Deine Fähigkeiten und deine Begabung, verbunden mit deiner ungewöhnlichen Ausbildung, werden dir in einer solchen Umgebung keine Freunde machen. Und du trägst eine Gefahr mit dir: Wenn deine Fähigkeiten nicht weise angewandt und streng überwacht werden, könntest du Unheil anrichten.« Unter der Kälte, die der bevorstehende Verlust ihr eingab, spürte Tuala nun Empörung. Worte drängten auf ihre Lippen: Warum hast du mich dann nicht entsprechend ausgebildet? Wer wäre besser dafür geeignet, mich in den Mysterien zu unterrichten, als der Druide eines Königs? Sie schluckte sie herunter. Es war zu spät dafür. »Vielleicht war dir nicht bewusst, welchen Eindruck deine Geschichte vom Vorabend hinterlassen würde«, sagte Broichan. »Ich glaube, dir ist so manches nicht bewusst, Tuala. Dich ins Reich der Sterblichen zu bringen, war nicht weise.« »Muss ich denn gehen? Könnte ich nicht hier bleiben und ...« Und was? Bleiben und Mara im Weg sein, bleiben und jeden Mann in Pitnochie in Angst versetzen, schon durch ihre bloße Existenz? Eine Erinnerung kam Tuala in den Kopf: ein kleines, einsames Mädchen, das sich einer alten Frau anvertraute, die nicht viel größer war als sie selbst, ein Kind mit verzweifelter Hoffnung in der Stimme. Ich will lernen, aber er lässt mich nicht. Und dann das unerwartete Geschenk des Unterrichts bei Wid und Erip. Es schien, dass Fola ebenso langfristig plante wie Broichan selbst. »Nach meiner Einschätzung wärst du besser beraten, Garvan zu heiraten«, sagte Broichan. »Sein Schutz würde dir - 335 ein Zuhause bieten, in dem du stets willkommen wärst. Sein Einfluss würde dir Respekt und Sicherheit erkaufen. An anderen Orten würdest du wahrscheinlich auf das gleiche Misstrauen und die gleiche Ablehnung stoßen, die dich hier in Pitnochie verfolgen, ganz gleich, wohin du gehst.« »Wann werden sie kommen?« Tualas Stimme bebte. »Die Dame Dreseida und die anderen? Wann muss ich gehen?« Broichan seufzte. »Sobald das Wetter besser wird, werden sie aufbrechen«, sagte er. »Sie kommen mit dem Boot die Seen hinauf und bringen Männer mit, die das Boot tragen, wo die Wasserwege nicht schiffbar sind. Wenn du dich für diesen Weg entscheidest, solltest du lieber sofort anfangen zu packen. Mara wird wissen, was du brauchst.« »Es kommt mir nicht sonderlich wie eine Entscheidung vor«, sagte Tuala, und die Bitterkeit tat ihr bis in die Brust weh. »Kann ich nicht wenigstens bis zum Sommer warten?« »Es wäre dumm, nicht die Eskorte zu nutzen, die Dreseidas Wachen bieten. Ihre eigene Tochter reist ebenfalls zu Fola, um dort unterrichtet zu werden; die Weisen Frauen bilden nicht nur andere zu Priesterinnen aus, sondern betreiben auch eine Schule für die Töchter adliger Familien. Das kommt mir sehr gelegen. Ich kann keinen meiner eigenen Männer entbehren, mit dir zu reisen, und es wäre auch keiner von ihnen glücklich über einen solchen Auftrag. Ich selbst werde sofort aufbrechen, denn ich muss Drust jetzt unbedingt sehen. Und ich reise nicht auf den gleichen Wegen wie gewöhnliche Menschen.« Es geschah viel schneller, als sie erwartet hatte: Das Wetter blieb einige Zeit trocken, und dann erschienen vier Boote auf dem See, die die Dame Dreseida, ihre rothaarige Tochter und zwei sehr laute kleine Jungen brachten, zusammen mit einem ganzen Berg von Gepäck und einer Schar von Wachen mit finsteren Mienen. Die Gegenwart der hohen - 336 Dame schien das Haus zu erfüllen; selbst Mara welkte unter ihrem kritischen Blick. Es wäre sicher einfacher gewesen, wenn Broichan noch in Pitnochie gewesen wäre. Aber so zog sich die ohnehin bedrückte Tuala
vollkommen in sich zurück. Sie beantwortete Fragen im Flüsterton und lernte bald, nach draußen zu verschwinden, wenn ein neues Verhör bevorzustehen schien. Uric und Bedo waren bei all ihrem Geschrei und Umhergerenne erheblich besser zu ertragen als die Frauen von Talorgens Haushalt. Wenn die Jungen Fragen stellten, geschah das ganz offen und mit unschuldiger Neugier. »Stimmt es, dass du unter einem Weißdornbusch gefunden wurdest?«, fragte Bedo. »Nein. Man hat mich auf der Türschwelle abgesetzt. Ich bin ein Findling.« »Du bist sehr weiß im Gesicht. Weißer als alle, die ich je gesehen habe.« »So bin ich eben.« »Ferada sagt...« Uric senkte die Stimme und brüllte nicht mehr ganz so laut. »Dass du nicht wirklich ein Mensch bist. Sie sagt, du bist eine Tochter der du-weißt-schon.« »Ich bin ganz normal«, sagte Tuala. »Ich tue alles, was andere Mädchen auch tun.« Kurzes Schweigen. »Bridei hat uns nie erzählt, dass er eine Schwester hat.« Bedos Tonfall war ein wenig anklagend. »Ich bin nicht seine Schwester. Wir sind zusammen aufgewachsen. Wir sind Freunde.« Ein kleines Wort wie Freunde war jämmerlich unangemessen, es zu erklären, aber der Junge schien die Antwort zu akzeptieren. »Mutter sagt, du wirst mit uns nach Caer Pridne gehen.« »Das ist wahr. Aber nicht wirklich nach Caer Pridne, sondern in die Schule für Weise Frauen.« »Willst du eine Weise Frau werden?« Ein Hauch von Kälte wehte über Tuala hinweg; sie er- 337 innerte sich an eine beunruhigende Vision, die sie selbst in einem grauen Gewand gezeigt hatte, eine Außenseiterin, während Bridei seine Frau anlächelte und seinen kleinen Sohn an der Hand hielt. »Das weiß ich nicht«, sagte sie. »Kannst du zaubern? Dinge verwandeln und so?« Die sicherste Antwort wäre ein glattes Nein gewesen, aber Tuala stellte fest, dass sie die Jungen nicht offen belügen konnte. »Das hängt davon ab, was ihr unter Magie versteht«, sagte sie. »Wenn du wolltest, könntest du mich dann in etwas anderes verwandeln, eine Kröte oder so?« »Ich bin nicht sicher«, sagte Tuala lässig. »Soll ich es mal versuchen?« Ein Ausdruck vollkommenen Entsetzens erschien auf Bedos kleinem Gesicht; er war so weiß wie Leinen geworden. »Sie macht doch nur Spaß, Dummkopf.« Urics Tonfall ließ allerdings vermuten, dass er von seinen eigenen Worten nicht vollkommen überzeugt war. »Vielleicht ein andermal«, sagte Tuala. »Ist das deine Katze?« Uric hatte Nebel entdeckt, die neben dem Holzstapel saß und sich wusch; es war eine gute Gelegenheit, das Thema zu wechseln. »Beißt sie?« Bedo zischelte seinem Bruder etwas zu. »Stimmt das?«, wollte Uric wissen. »Ist sie dein Schutzgeist?« Bedo lief plötzlich rot an und wandte sich ab. »Ebenso wie ich«, sagte Tuala, »ist Nebel vollkommen gewöhnlich. Sie hat nichts dagegen, gestreichelt zu werden, solange ihr es sanft tut.« Nebel - noch ein Freund, den sie zurücklassen musste. Tuala hatte ein gutes Gedächtnis. Sie hatte nicht vergessen, was Fola ihr gesagt hatte, als sie so freundlich gewesen war, ihr das Kätzchen zu geben - dass sie eine eigene Katze hatte, die keine Eindringlinge zuließ. Nebel wäre hier besser dran, in ihrer vertrauten Umgebung, wo es genügend Mäuse gab. Aber eine Nacht ohne diese - 338 tröstliche Wärme neben sich zu schlafen, ohne die Versicherung, dass sie nicht vollkommen allein war, das würde wirklich schwer werden. Sie hatte für die letzte Vollmondnacht, die sie in Pitnochie verbrachte, etwas geplant. Es war etwas, das sie tun musste, weil sie nicht da sein würde, wenn Bridei nach Hause kam. Leider hatte man die kleinen Jungen in Brideis altem Zimmer untergebracht, wo sie auf dem schmalen Strohsack lagen, und das erschwerte Tualas Aufgabe. Sie wollte auf keinen Fall Aufmerksamkeit erregen. Dreseida schüchterte sie ein; Feradas fragende Blicke und abfällige Bemerkungen beunruhigten und ärgerten sie. Die herablassende Art, wie diese beiden sich hielten, ihre makellosen Gewänder und das perfekt frisierte Haar schienen Tualas eigene schlichte Kleidung und ihr allgemein zerzaustes Aussehen zu verspotten. So fest sie ihr Haar auch flocht, irgendwie entkamen immer ein paar Strähnen und lockten sich rings um ihre Ohren oder fielen ihr in die Augen. Sie hatte stets Ersatzhaarbänder dabei, nur für den Fall. Vielleicht hatten die kleinen Jungen Recht, vielleicht würde sie immer wild aussehen. Anders. Es gab einen Zauber, der in dieser Nacht unter dem Blick der Leuchtenden gewirkt werden musste. Sie hatte vorgehabt, in Brideis Zimmer zu schlüpfen, wenn alle schliefen, und ihr Ritual als Teil einer Nachtwache zu vollziehen. Das war nun unmöglich, aber Tuala nahm an, dass Kinder nach den Aktivitäten eines langen Tages sehr fest schliefen. Den wichtigsten Teil konnte sie also immer noch erledigen, wenn sie vorsichtig war. Sie wartete in ihrem eigenen Zimmer und lauschte, während die üblichen Abendgeräusche des Haushalts erklangen. Stimmen ertönten aus der Halle, wo Talorgens Männer Geschichten austauschten mit den wenigen
von Broichans Bewaffneten, die man zurückgelassen hatte, um Pitnochie zu bewachen, während die anderen mit Talorgens Streitmacht unterwegs waren. Die Dame selbst und ihre Tochter würden - 339 ebenfalls in der Halle sein, aber die kleinen Jungen lagen bereits im Bett. Tuala hatte ihre hellen Stimmen vor einiger Zeit aus Brideis Zimmer gehört. Nun waren sie still und beinahe mit Sicherheit eingeschlafen. Aus der Küche war Klappern zu vernehmen: Ferats Helfer scheuerten die Kochtöpfe vom Abendessen und spülten die Holzbretter. Ferats mürrische Stimme begleitete diese Geräusche. Es wurde immer schwieriger, sich daran zu erinnern, dass der Koch einmal einem kleinen Mädchen geholfen hatte, aus Brotteig Kaninchen, Frösche und kleine Männchen zu formen und sie mit seinen starken Armen umhergewirbelt hatte, bis sie vor Aufregung quiekte; dass dieser Mann voller Stolz zugehört hatte, wie sie ihr erstes auswendig gelerntes Gedicht aufsagte, und über ihre kindlichen Witze gelacht hatte. Nun knarrte die Tür zum Quartier der Männer; Stiefelschritte kamen vorbei. Bald schon war Schnarchen zu vernehmen. Die Männer hatten einen langen Arbeitstag hinter sich. Die Besucherinnen waren sehr still und bewegten sich anmutig in weichen Schuhen, wie man es von Damen erwartet. Auch sie zogen sich nun in ihr Zimmer zurück, oder genauer in Maras Zimmer; solange sie hier waren, schlief die Haushälterin in Broichans Zimmer. Das hatte Tuala beeindruckt; eine solche Aussicht kam ihr über alle Maßen erschreckend vor. War es nicht möglich, dass der Druide dort erschien, als Mitternachtsschatten seiner selbst, ganz durchdringender Blick und grimmige, anklagende Worte? Und was, wenn diese Dinge in den Gläsern und Tiegeln begannen, sich zu bewegen? Die Tatsache, dass sich Broichan weit entfernt in Caer Pridne befand, machte keinen Unterschied. In der Küche war es nun still. Ferat und seine Helfer waren fertig und hatten sich in ihr eigenes Schlafquartier zurückgezogen. Maras langsame, schwere Schritte erklangen im Flur. Es knarrte: Sie deckte das Feuer ab und stellte den Schirm davor. Mehr Schritte. Sie ging in die Küche und sah nach, ob auch dort das Feuer abgedeckt war. Mara sah sich bestimmt - 340 noch einmal mit Adleraugen nach dem geringsten Anzeichen von Unordnung um - Staub auf den Steinfliesen, ein Schöpflöffel, der nicht ordentlich weggelegt war, ein vom Haken gefallener Umhang. Dann erklang das knirschende metallische Geräusch des massiven Riegels, der vorgeschoben wurde und die Hintertür verriegeln würde, bis die Nachtschicht der Wache zu einem frühen Frühstück hereinkam. Maras Schritte kehrten zurück, verharrten einen Augenblick in der Halle - woran dachte sie? Glaubte sie Broichan zu sehen, der nun weit weg am Hof des Königs verweilte? -, dann ging sie zum Zimmer des Druiden. Die Tür ging auf und wurde wieder geschlossen. Es war still bis auf Nebels Schnurren, als die Katze in der Nähe von Tualas Knien die raue Decke knetete. Auch jetzt wartete Tuala noch. Sie hatte keine Angst einzuschlafen; was getan werden musste, war zu wichtig. Tuala übte es im Kopf, bis genügend Zeit vergangen war, dass alle eingeschlafen sein mussten, umfangen von ihren Träumen. Dann zog sie ihren Lieblingsrock und ihr Lieblingshemd an, weiche Kleidung aus schöner heller Wolle mit schmalen Bordüren aus blauer geflochtener Schnur. Die Sachen hatten einmal Brenna gehört und waren ein wenig zu groß, aber sie waren die erste Erwachsenenkleidung, die Tuala erhalten hatte, ein Geschenk, bevor Fidich sie aus dem Haus verbannte, und sie wusste, dass Brenna kostbare Zeit damit verbracht hatte, den Rock zu flicken und die Tunika zu ändern, damit sie besser passte. Der Stoff roch schwach nach Lavendel; schon vor langer Zeit hatte Brenna ihrer kleinen Schutzbefohlenen gezeigt, wie man getrocknete Kräuter zwischen einzelne Schichten von Kleidungsstücken legte, damit sie frisch blieben, und Tuala mochte, was das Falten von Kleidung anging, zwar alles andere als ordentlich sein, aber sie vergaß nie ihren Vorrat an duftenden Kräutern. Einen solchen Duft im Haus ließ sie sich dem Wald und der Welt der Pflanzen und Tiere näher fühlen, einer erheblich sichereren Welt als die der Menschen. Tuala flocht ihr Haar - 341 nicht mehr neu, sie bürstete es nur und ließ es über ihren Rücken fallen, eine dunkle Kaskade, die bis unter die Taille reichte. Sie zog die Pantoffeln aus. Barfuss war sie leiser. Um ihren Hals hing die Mondscheibe, die sie immer trug, der blasse Knochen warm an ihrer Haut. Sie schlüpfte lautlos aus ihrem Zimmer und ging auf Zehenspitzen zur Tür von Brideis kleiner Kammer. Die Tür war nur angelehnt; vielleicht hatten diese kleinen Jungen ja Angst vor dem Dunkeln und brauchten das Licht der Lampen, die im Flur die ganze Nacht brannten, damit es über ihre Träume wachte. Tuala schlüpfte hinein. Die Jungen schliefen fest. Uric war ein Kuschler, in die Decke gewickelt, Knie angezogen, Arme vor der Brust, das Gesicht ins Kissen gedrückt. Bedo war ein Strecker. Er nahm nicht nur seine Hälfte des Betts ein, sondern auch noch die Hälfte des für seinen Bruder bestimmten Platzes. Seine Decke lag auf dem Boden; Tuala hob sie hoch und deckte ihn vorsichtig wieder zu. Der Junge regte sich nicht. Durch das winzige quadratische Fenster warf die Leuchtende einen Strahl kühlen Lichts herein; sie bewegte sich nun in den Fleck dunklen Himmels, der aus dieser Öffnung zu sehen war, und bis ihre volle, vollendete Gestalt dort gerahmt war, musste Tuala mit den Vorbereitungen fertig sein. Auf der Fensterbank lagen Brideis eigene Opfer immer noch; Tuala konnte sehen, dass jemand die kleinen Gegenstände verschoben hatte. Jungen sind neugierige Geschöpfe, und diese beiden hatten sich zweifellos die Adlerfeder genau angesehen und mit den weißen Steinen gespielt. Das war gleich; eine unschuldige Berührung kann dem Heiligen nichts schaden. Tuala legte die Talismane wieder so hin, wie Bridei es getan hatte, dann griff sie in ihren kleinen Beutel und legte andere Dinge hinzu, jedes mit seinen eigenen Worten der Macht.
Ein verkohlter Zweig, hell an einem Ende, holzkohlenschwarz am anderen: - 342 »Helle Flamme, leuchte du Auf die Klinge von Fortriu ...« Eine Feder - diesmal nicht vom Adler, sondern eine weiche Daune, vielleicht von der Brust einer Schneeeule, eines Wintergeschöpfs. »Weiche Flügel, flugbereit, Bannen weise jeden Streit...« Tuala nahm ein kleines Fläschchen aus dem Beutel, zog den Stopfen heraus und goss Wassertropfen auf das Fensterbrett, einmal, zweimal, dreimal. »Wildes Wasser, stark und wahr, bleibe ehrlich, bleibe klar ...« Und als Letztes eine Hand voll Erde, üppig und dunkel, die sie zuvor im Wald aufgehoben hatte. Sie legte sie sanft neben die anderen Gegenstände. »Ahnen wahren, schützen, führen, bald zum Herrscher sie dich küren, wie im Frieden so im Krieg, führest du dein Volk zum Sieg ...« Die Leuchtende bewegte sich langsam. Ihr gemessener Tanz brachte sie ins Fenster, in den Rahmen dieser alten Steinränder, und sie ließ ihr Licht auf die Opfergaben und dahinter auf Tualas blasses Gesicht fallen, als diese zu ihr aufblickte und ihren Zauber flüsterte. Nun kam der wichtigste Teil, der Teil, den sie aussprechen musste, bevor man sie für immer aus Pitnochie wegbrachte. Die Göttin musste verstehen, wie wichtig dies war. Wenn Tuala selbst nicht für Bridei da sein konnte, musste ein anderer die Aufgabe übernehmen, musste zuhören, musste beobachten, und vor allem ihn um dessentwillen lieben, was er war, und nicht für das, was aus ihm werden würde. Ohne einen solchen Wächter würde seine Last mit der Zeit für jeden Mann zu schwer werden. Um das zu wissen, brauchte Tuala keine Visionen auf dem Wasser. Wieder griff sie in die kleine Tasche und holte den letzten - 343 Gegenstand heraus: den Talisman, der ihre und Brideis unbeendete Geschichte darstellte, die gemeinsam und die getrennt verbrachten Zeiten, die frohen Wiedersehen und die schrecklichen Abschiede. Wenn sie die Macht einer Göttin hätte, dachte Tuala bitter, würde sie die beiden Schnüre einfach miteinander verflechten, sie umeinander winden, eine in die andere weben, und dadurch würden sie für immer unzertrennlich werden. Aber sie war kein übernatürliches Wesen. Sie mochte ein Kind des Waldes sein, aber die Macht, die sie hatte, war sicher nichts weiter als eine Begabung zur Herdmagie, jener Art von Magie, die jeder leisten konnte, wenn er es nur wollte, kleine Zauber, deren Wirkung eingeschränkt war und die keine große Gefahr darstellten. Sie würde nie im Stande sein, ein Kind in eine Kröte zu verwandeln, selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass sie es wollte. Und sie konnte Bridei nicht vor einer Zukunft der Einsamkeit, Verwirrung und schrecklichen Entscheidungen bewahren, nicht, wenn sie für immer von ihm getrennt wurde. Aber die Leuchtende konnte es, und wenn Tuala jemandes Tochter war, dann die des Mondes, geboren aus Winterschatten und Schnee unter den Eichen, aus Frost, der im kalten Licht glitzerte und aus kahlen Birken, die sich karg vor dem Mitternachtshimmel abzeichneten. Also musste sie daher nun das feierlichste Gebet sprechen, so lange die Göttin ihren Blick auf ihre kleine, blasse Tochter richtete, so lange die Leuchtende ihr Licht in dieses kleine Fenster entsandte. Tuala wand sich die Schnur um die Hände und begann zu flüstern. »Hör mich, strahlende Mutter, höre deine Tochter. Ich rufe deine Macht an, deine Liebe, deine leuchtende Reinheit. Durch dich rufe ich auch den Flammenhüter, Verkörperung wahren Muts, und die schöne Blütenreiche, die ihren sanften Blick auf alles richtet, das auf der Erde lebt und atmet. Durch dich rufe ich die Knochenmutter, Hüterin uralter Geschichten, Bewahrerin der Lieder der Priteni seit Urzeiten.« - 344 Der Mond schaute schweigend herab. Das einzige Geräusch im Raum war der leise Atem der beiden schlafenden Kinder. »Ich will nichts für mich selbst. Wenn es dein Wunsch ist, dass ich diesen Ort verlasse und dir als Weise Frau diene, dann muss ich das akzeptieren. Ich beuge mich fraglos deinem Willen. Es ist Bridei, für den ich Hilfe erbitte. Du kennst den Weg, der ihm bevorsteht. Ich sehe auf dieser Reise Entscheidungen, die selbst den vernünftigsten Mann um den Verstand bringen würden, Verrat, der ihn bis ins Herz verwunden wird, Gefahren überall und eine Einsamkeit, die das wärmste Herz erfrieren ließe. Wenn ich nicht bei ihm bin, wer wird dann wissen, wann er Rat braucht? Wenn ich nicht bei ihm bin, wie kann er seine Tränen fließen lassen? Allein wird er eine Last tragen müssen, die selbst für den stärksten Mann zu schwer ist. Kein Anführer kann seinen Weg von einer solchen Last gebeugt zurücklegen. Aber er muss es tun. Und ich kann nicht bei ihm sein. Was einmal mein Zuhause war, ist kein Heim mehr.« Die Leuchtende begann, sich aus dem Fenster zu schieben, und setzte ihre Reise fort. »Also bitte ich dich«, sagte Tuala durch kaum mehr zurückzuhaltende Tränen, »dass ich diese Fürsorge in deine Hände legen kann, große Göttin, strahlende Mutter, die uns allen leuchtet. Du weißt, dass er König sein wird; du
weißt, welche Kraft er hat. Aber du weißt auch, dass er über etwas verfügt, was einige als Schwäche bezeichnen würden, wie bereit er ist, den Geist und das Herz eines Feindes zu verstehen, und dass diese Offenheit ihn selbst dann noch innehalten lässt, wenn sein Arm das Schwert der Gerechtigkeit führt. Halte deine Hände über ihn, strahlende Herrin; tröste ihn in der dunklen Nacht, wenn sein Herz verzagen will. Wenn der Schatten des Zweifels auf ihn fällt, wiege ihn in deinem Atem und lass ihn Ruhe finden. Ich bitte dies im Namen aller Götter und im Namen alles dessen, was heilig ist...« - 345 Tuala trug ein kleines Messer am Gürtel; nun legte sie die Schnur nieder, griff nach der Waffe und hob sie, um eine lange, dicke Locke ihres dunklen Haars abzuschneiden, was ein fransiges Ende über ihrer Stirn zurückließ. Danach gab es nur noch eins zu tun, und dann, wenn sie es alles richtig machte, würde die Leuchtende ihr ein Zeichen geben, und sie, Tuala, würde wissen, dass Bridei ungeachtet der Tatsache, dass ihr eigener Kummer ihr wie ein Stein in der Brust lag, unter dem Schutz der Göttin wandeln würde. Sie hob die Hände und holte Luft für den letzten Teil des Zaubers. »Was hast du hierzu suchen?« Tuala fuhr herum, die Arme ausgestreckt vor sich. Das Mädchen, das hinter ihr gestanden hatte, wich mit weit aufgerissenen Augen zurück. Das Messer war direkt auf ihre Brust gerichtet. Tuala holte keuchend Luft und senkte die Arme. Ferada eilte mit zwei Schritten ins Zimmer, ein Rachegeist in weichen Pantoffeln und einem bestickten Nachtgewand, das rote Haar ordentlich zu einem Zopf geflochten. »Sag es mir!«, zischte sie. »Was machst du im Schlafzimmer meiner Brüder? Wieso hast du ein Messer?« Tuala schien ihr Herz einfach nicht beruhigen zu können, ebenso wenig wie ihren Atem. Die Leuchtende hatte das Fenster beinahe verlassen, und das Ritual war nicht beendet. Sie versuchte, Fuchsmädchen mit Gedanken wegzuzwingen. Geh weg, schnell, damit ich das hier beenden kann und er in Sicherheit ist, aber das rothaarige Mädchen wich nicht von der Stelle, hatte die Lippen fest aufeinander gepresst und starrte Tuala mit blitzenden Augen an. »Nun?«, fragte sie. »Sprich!« »Ich will deinen Brüdern nichts tun.« Tualas Stimme war weniger stetig, als ihr lieb war. »Und es ist nicht ihr Zimmer, es ist Brideis Zimmer. Das hier ist mein Haus und nicht das deine. Ich kann gehen, wohin ich will.« - 346 Ferada verzog den Mund zu einem Lächeln, das ganz und gar nicht freundlich war. »Meine Mutter wird von solch kindischen Argumenten nicht beeindruckt sein, wenn ich ihr sage, dass ich dich mitten in der Nacht hier gefunden habe, mit einem scharfen Messer in der Hand«, sagte sie. »Wenn du willst, dass sie dich in unserem Gefolge mit nach Caer Pridne nimmt - und du solltest wissen, dass sie von dieser Idee ohnehin alles andere als begeistert ist -, dann musst du dir schon etwas Besseres einfallen lassen.« Der Mond war beinahe nicht mehr zu sehen; es blieb kaum mehr Zeit. »Bitte«, zwang sich Tuala zu sagen. »Bitte lass mich weitermachen.« Sie biss die Zähne zusammen. »Du kannst zusehen, du kannst dich überzeugen, dass ich nichts Falsches tue. Das hier muss jetzt geschehen, so lange der Mond noch ins Zimmer scheint. Es muss geschehen, bevor sie mich wegschicken.« Etwas in ihrem Ton bewirkte, dass Feradas Miene sich veränderte, obwohl in ihrem Blick immer noch Misstrauen stand. Das rothaarige Mädchen ging näher zu dem Strohsack, auf dem ihre kleinen Brüder lagen. »Also mach schon«, sagte sie. Es war schwierig, mit dem Ritual fortzufahren; schwierig, ihr heftig klopfendes Herz zu beruhigen, die Tränen hinunterzuschlucken, ruhiger zu atmen. Das hier musste richtig gemacht werden, oder es würde ganz sicher nicht funktionieren. Bridei hatte Tuala von Anfang an beigebracht, wie wichtig es war, sich an die Regeln zu halten; er hatte immer wieder betont, was für ein immenses Privileg es war, dass einem die Götter bei solch feierlichen Gelegenheiten ihr Ohr liehen. »Ich biete diesen Teil von mir«, sagte Tuala und legte die lange, glänzende Locke auf das Fensterbrett zu den anderen Gegenständen. »Den Rest werde ich dem Feuer übergeben, sodass der Flammenhüter, Beschützer von Kriegern, ebenfalls weiß, dass ich mein Leben lang treu zu ihm stehen wer- 347 de. Ich opfere außerdem dies hier.« Eine kurze Bewegung mit dem Messer über ihre rechte Handfläche, schnell, bevor sie noch länger darüber nachdenken konnte - sie hörte Ferada keuchen -, und dann hielt sie die Hand hoch, damit Blut aus dem tiefen Schnitt auf die Amulette der Macht im Fenster laufen konnte. »So zeige ich meine Verehrung der alten Götter, die so lange andauern wird, wie Blut in meinen Adern fließt, so lange, wie Atem in meinen Körper dringt, so lange meine Füße den Weg der Frauen gehen, so lange mein Herz die Wahrheit kennt.« Die Leuchtende war beinahe verschwunden; nur noch ein dünner Rand ihrer schönen Gestalt war durch das Fenster zu sehen, obwohl ihr Schein sich auf den zarten Birken hinter dem Haus abzeichnete. »Du weißt, dass er weise, stark und gut ist«, flüsterte Tuala. »Aber er ist auch ein Mensch, er kennt Angst, Zweifel, tiefe Trauer. Ich bitte dich nur darum, dafür zu sorgen, dass er seine dunklen Zeiten nicht ohne einen treuen Freund erlebt, der ihm den Weg erhellt, wenn ich schon nicht an seiner Seite sein kann. Dies erbitte ich im Namen des Bands, das du zwischen uns geschaffen hast, strahlende Mutter ...« Sie hätte noch mehr gesagt, aber Feradas Anwesenheit machte das unmöglich. Tatsächlich war es nicht nur beunruhigend, sondern fühlte sich in gewisser Weise sogar
gefährlich an, dass eine andere diese Worte mit anhörte. Tuala steckte das Messer wieder in den Gürtel und umklammerte den Beutel in einem Versuch, die Blutung an ihrer Hand zu stillen. Sie vollzog eine tiefe Verbeugung, gerade als der Mond hinter den Fensterrahmen glitt und nicht mehr zu sehen war, dann wurde ihr plötzlich schwindlig, und sie musste sich aufs Ende des Betts setzen. Die Kinder schliefen ungestört weiter. »Die Ahnen mögen uns beistehen!«, rief Ferada leise und hockte sich neben sie. »Das hätte ich ganz bestimmt nicht erwartet. Zeig mir deine Hand - du brauchst Salbe und einen Verband...« - 348 »Es ist nichts.« Feradas scharfe Züge waren einen Moment lang klar zu sehen, dann verschwammen sie wieder. In Tualas Kopf summte es. »Es geht mir gut. Und ich bin fertig. Du kannst jetzt gehen.« Ferada zog die schön geschwungenen Brauen hoch. »Du siehst nicht aus, als ginge es dir gut. Außerdem kann ich dich ja wohl kaum hier bei Uric und Bedo lassen. Komm. Ich hole ein Stück sauberes Leinen; Mutter hat welches ...« »Nein! Wecke niemanden auf. Mit mir ist alles in Ordnung, ich gehe jetzt einfach ins Bett...« Als Tuala aufstand, wurde ihr abermals schwindlig, und das Zimmer drehte sich um sie. »Dummes Mädchen!«, sagte Ferada. »Wo ist dein Zimmer?« Sie waren bald schon dort und blieben in der Tür stehen. Fuchsmädchen in den einzigen Teil von Broichans Haus zu lassen, der nur ihr allein gehörte, war nichts, was Tuala vorhatte, jetzt oder jemals. »Danke«, sagte sie so entschlossen sie konnte. »Gute Nacht.« »Nicht so schnell.« Ferada hatte den grob gewebten Vorhang beiseite gezogen, der alles war, was dieser kleine Raum an einer Tür aufzuweisen hatte, und spähte in die Dunkelheit dahinter. »Du kannst die Wunde nicht selbst verbinden. Außerdem habe ich ein paar Fragen.« »Ich brauche dich nicht. Ich will dich nicht.« Die Schmerzen in ihrer Hand und der Schwindel machten Tuala unhöflich direkt. Dahinter stand die Erkenntnis, dass die Leuchtende ihr kein Zeichen gegeben hatte, dass sie nicht gezeigt hatte, ob sie die Gebete und das Opfer annehmen würde. Die Unterbrechung hatte wahrscheinlich alles verdorben. Die Göttin war verstimmt und würde Bridei und Tuala auseinander reißen, ohne Freunde, die ihm halfen. »Das ist mir egal«, sagte Ferada, griff nach einer Laterne, die auf einem Steinregal nahe der Tür brannte, und trug sie in Tualas kleines Zimmer. »Bei den Ahnen! Ich hielt schon - 349 Brideis Zimmer für klein, aber das hier muss sein, als schliefe man in einem Schrank. Wie seltsam. Schau mich nicht so wütend an. Du weißt genau, wenn ich meiner Mutter sage, was du getan hast, wird sie dich nicht mit nach Banmerren nehmen. Aber vielleicht willst du das ja. Vielleicht willst du nicht gehen.« Wieder zog sie die Brauen hoch; ihre Augen sahen im Lampenlicht sehr klug aus. »Das geht dich nichts an«, fauchte Tuala und wusste schon, während sie das sagte, dass sie keinen Krieg der Worte gegen diese selbstsichere junge Frau gewinnen konnte. Wie alt konnte Fuchsmädchen sein - fünfzehn, sechzehn? Nicht viel älter als sie selbst und dennoch Welten entfernt. »Das ist es, nicht wahr?«, fragte Ferada herausfordernd. »Wo bewahrst du deine Sachen auf - hier drin?« Sie wühlte in der Truhe. »Du willst nicht wirklich auf Folas Schule gehen, obwohl das deine beste Chance ist, dem Ehebett zu entgehen und etwas aus dir zu machen. Du würdest lieber hier in Broichans seltsamem Haus vermodern und hoffen, dass dein Bruder wieder nach Hause kommt. Ich kann es einfach nicht glauben.« Während dieser Worte fand Ferada Leinen, nahm der stummen Tuala das Messer ab, schnitt einen brauchbaren Streifen ab und begann geschickt, sich um die verwundete Hand zu kümmern. »Hast du Salbe? Gut, hier - nur ein bisschen, dann verbinde ich es. Weißt du eigentlich, dass es Hunderte von Mädchen gibt, die für die Chance, nach Banmerren gehen zu dürfen, töten würden? Fola nimmt nicht jede auf.« Tuala fühlte sich gewaltig versucht zu antworten: Sie hat dich aufgenommen, oder?, aber solch billige Bosheiten waren sinnlos. Außerdem war Feradas Mutter eine Kusine des Königs. Tuala war mit Erips Unterricht in Genealogie aufgewachsen und wusste, welche Vorrechte und Verantwortungen eine solche Herkunft mit sich brachte. »Wenn ich nicht gehe, muss ich heiraten«, sagte sie leise. »In Banmerren zu sein ist immer noch besser, als mich an einen Mann zu binden, den ich nicht liebe.« - 350 »Liebe?«, wiederholte Ferada spöttisch. »Liebe hat damit nichts zu tun. Ich würde mich an deiner Stelle glücklich schätzen, wenn dieser zukünftige Ehemann alle zehn Finger und Zehen und die nötigen Einzelteile dazwischen hat. Mutter sagt, man kann einen Mann formen. Liebe ist etwas für Geschichten. Mit dir, mir oder dem Leben der meisten anderen jungen Frauen in Fortriu hat das nichts zu tun. Wir können bestenfalls hoffen, eine Spur von Einfluss auf den Weg zu haben, den wir gehen müssen. Eine winzige Spur.« Einen kleinen Augenblick klang sie anders, so, als lebte hinter dieser erschreckend kompetenten Fassade auch noch ein ganz anderes Mädchen. »Ich wollte selbst wählen«, sagte Tuala. »Aber am Ende waren es nur Broichans Entscheidungen.« Das stimmte nicht ganz; es gab eine Entscheidung, von der sie nicht sprechen konnte. »Für wen hast du dieses Gebet gesprochen?«, fragte Ferada. »Ich nehme an, für deinen Bruder.« Tuala antwortete nicht. »Ich denke nicht, dass er ein solches Maß an Ergebenheit braucht«, sagte Ferada. »Er ist mir immer sehr fähig
vorgekommen. Es fehlt ihm ein bisschen an Humor, und vielleicht ist er ein wenig langweilig, aber er kommt mit seinen eigenen Angelegenheiten sehr gut zurecht. An deiner Stelle würde ich aufhören, mir wegen ihm Gedanken zu machen, und mich um mein eigenes Leben kümmern. Sei realistisch, Tuala. Ein Platz in Banmerren ist für solche wie dich eine gute Gelegenheit. Wohin würdest du sonst gehen?« Dass es sich bei diesen Worten um die reine Wahrheit handelte, machte sie nicht weniger quälend. »Komisch«, fuhr Ferada fort. »Bridei spricht nie von dir. Ich wusste nur, dass es dich gibt, weil Gartnait es mir erzählt hat. Ich denke, du verschwendest deine Zeit.« Tuala wartete ein wenig und zwang sich, ruhig zu atmen, bevor sie sprach. »Ich möchte jetzt schlafen«, sagte sie spitz. - 351 »Wenn es dich nicht stört. Danke, dass du meine Hand verbunden hast. Ich wäre dir dankbar, wenn du deiner Mutter nichts erzählen würdest.« Er hat mich nicht erwähnt, weil das, was zwischen uns ist, etwas ganz Besonderes und Kostbares ist, das man nicht teilen kann. Ferada sah sie forschend an, als versuchte sie, ein Rätsel zu lösen. »Hm«, sagte sie. »Sie wird es schon bald wissen, wenn die Jungen gebeten werden, das Durcheinander aus Haar und Blut auf der Fensterbank zu erklären.« »Ich bitte dich ja nicht zu lügen«, sagte Tuala. »Wir werden sehen«, erwiderte Ferada. »Hm, das könnte wirklich interessant werden. Ich denke langsam, dich nach Banmerren zu schicken ist ein wenig, als setzte man ein herrenloses Kätzchen in einen Käfig mit wilden Hunden.« »Kätzchen haben Krallen.« »In der Tat. Wenn schon nichts anderes, dann könnte es sehr unterhaltsam werden. Es wäre wohl das Beste, wenn Mutter so wenig wie möglich erfährt. Zumindest im Augenblick.« Tuala hob die Hand, um ein Gähnen zu verbergen. »Ich würde es an deiner Stelle nicht übertreiben«, sagte Ferada. »Ich habe noch mehr Fragen. Aber sie können warten. Gute Nacht, Tuala.« »Möge die Leuchtende deine Träume bewachen.« Selbst in einem solchen Augenblick mussten die richtigen Abschiedsworte gesprochen werden. Der Vorhang wurde gehoben und fiel wieder. Leise Schritte verklangen. Tuala war wieder allein. Sie zog sich das Tuch fest um die Schultern und spürte, dass das tiefe Pochen in ihrer Hand zu einem brennenden Schmerz geworden war, der sich ihren Arm entlangzog; sie spürte die Tränen, die erst drängten und dann tatsächlich fielen, heiß und bitter. Nebel schlief ungerührt weiter. Was in ihrer Katzenwelt vorging, hätte man nicht sagen können. Ihre Pfoten zuckten hin und wieder; vielleicht träumte sie von Ratten. Was Tuala anging, - 352 so dachte sie über bestimmte Dinge nach, die Fuchsmädchen gesagt hatte, Dinge, die Lügen waren, schreckliche, verletzende Lügen. Er ist nicht langweilig! Er ist der beste Mensch der Welt, er erzählt wunderbare Geschichten, und er hört einem immer richtig zu. Die Götter lieben ihn. Und ich mache mir keine Gedanken, sondern ich kümmere mich um die Zukunft. Jemand muss es für ihn tun, und er hat nur mich. Diese Gedanken schienen es nicht besser zu machen; die Tränen flössen noch heftiger und zu schnell, als dass sie sie noch wegwischen konnte. Sie strengte sich sehr an, keinen Laut von sich zu geben; auf keinen Fall würde sie Fuchsmädchen oder irgendwen sonst wissen lassen, dass sie sie zum Weinen gebracht hatten. Was, wenn die Leuchtende ihr Opfer nicht annahm? Was, wenn Bridei seinen Weg ganz allein zurücklegen musste? Er wird nicht allein sein, erinnerte eine leise innere Stimme sie. Was ist mit der Vision, Mittsommer am Morgenbaum? Dort war er nicht allein, oder? Was glaubst du wohl, wer das war, mit dem rotbraunen Haar und dem eleganten Kleid? Eine angemessene Frau für einen König. Tuala legte sich hin, kniff die Augen fest zu und drückte sich die Hände auf die Ohren. Aber die Stimme konnte auf diese Weise nicht zum Schweigen gebracht werden, diese hinterhältige, einschmeichelnde Stimme des Blättermannes, eines Wesens von ihrer eigenen Art, das entschlossen war, ihr vorzuführen, wie dumm sie war. Das war doch sie, nicht wahr? Sehr angemessen. Und wenn Liebe sie nicht interessiert, dann interessiert sie auch nicht, dass er langweilig ist. Er wird König sein. Das ist alles, was zählt. Am Ende wachte Nebel auf, oder doch halbwegs, schlich zum Kopfende des Betts, drehte sich dreimal um sich selbst und schmiegte sich dann an Tualas Hals. Viel später, erschöpft von Traurigkeit, die verbundene Hand auf dem weichen Fell der Katze, ließ sich Tuala vom Schlaf überwältigen. - 353 Es musste in der Nacht starken Wind gegeben haben, einen launenhaften Wind, der zu Wirbeln neigte. Als Bedo aus dem Fenster schaute, um zu sehen, wie das Wetter war, bemerkte er, dass die Adlerfeder verschwunden war. Das enttäuschte ihn; er hatte vorgehabt, sie insgeheim in sein Gepäck zu stecken, bevor sie weiterreisten. Er sah sich um; sie lag auch nicht auf dem Boden oder auf dem Bett zwischen den wirren Decken. Nach dem Frühstück ging er nach draußen, um nachzusehen, aber auch dort gab es keine Spur davon. Der Wind hatte auf dem Fensterbrett nur die drei weißen Steine zurückgelassen. Am nächsten Morgen ritten sie weiter nach Caer Pridne und nahmen das Hexenmädchen mit. Ihr Haar sah seltsam aus; es war etwa auf der Höhe ihrer Ohrläppchen kunstlos abgehackt und erinnerte nun ein wenig an
Bedos eigenes Haar, nur dass es erheblich unordentlicher war. Das Mädchen war sehr still. Sie hatte den Mund zu einer dünnen Linie zusammengekniffen, als versuchte sie nicht zu weinen. Als das Haus des Druiden hinter ihnen zwischen den Eichen verschwand, schaute sie nicht zurück, kein einziges Mal. Broichans Mann hatte sich schon auf den Weg gemacht, bevor sein Herr Pitnochie verließ, ausgerüstet mit einem kleinen Rationspaket, Waffen, um sich zu verteidigen, und einer Botschaft an Talorgen im Kopf. Die Botschaft war nicht schwierig, sie bestand nur aus zwei Teilen. Erstens, der alte Erip war tot, und diese Nachricht sollte dem Jungen schonend überbracht werden. Und zweitens sollte der Junge von nun an einen Vorkoster haben. Das konnte er sich leicht merken. Der Bote war daran gewöhnt, schnell voranzukommen, selbst unter den ungünstigsten Bedingungen. Man erwartete, dass er die Armee innerhalb von zwölf Tagen einholen würde, vielleicht noch schneller, wenn es nicht wieder anfing zu regnen. Er wusste, wie man Wölfe, Kämpfe und - 354 Spione aus Dalriada mied. Er wusste, wie man mit knappen Rationen und zu wenig Schlaf auskam. Aber dem Steinschlag oberhalb des Jungfernsees war er nicht gewachsen. Es war nass gewesen; er bewegte sich auf einem schmalen Pfad hoch über dem Wasser, als er das un-missverständliche Grollen über sich hörte, das rasch zu einer splitternden, brüllenden Kakofonie herunterstürzender Felsen wurde. Grimmig klammerte er sich fest, drückte sich in eine Nische, biss die Zähne zusammen und betete zur Knochenmutter, dass es noch nicht Zeit war, ihn an ihre Brust zu ziehen. Der Tumult wurde leiser; nur noch kleinere Steine bröckelten vom Hang und sprangen über den massiven Geröllhaufen drunten. Und tatsächlich war es noch nicht Zeit, noch nicht ganz. Der Bote blinzelte sich den Staub aus den Augen. Er holte tief Luft, voller Freude, dass er verschont geblieben war. Sein Bein tat allerdings weh; er schaute nach unten, um zu sehen, was geschehen war, und spürte, wie er blass wurde. Ein großer Stein hatte sich an der Felswand verklemmt, an der er Schutz gesucht hatte. Zwischen Stein und Felswand war sein Bein bis zum Oberschenkel eingeklemmt. Kalter Schweiß brach ihm aus. Dieser kurze Blick hatte ihm schon gesagt, dass sein Bein beinahe bis zur Unkenntlichkeit zerdrückt war und er nie wieder würde gehen können Einige Zeit strengte er sich an, sich zu befreien, indem er mit den Händen gegen den Stein drückte und versuchte, ihn mit einem kleineren Stein zu zerschlagen. Er hatte immer noch seinen Rucksack; er rieb das Messer an der festen Oberfläche stumpf, hinterließ ein Netz verzweifelter Kratzer. Er hatte Essen für viele Tage und Wasser für drei. Zuerst rationierte er es, nur kleine Schlucke, weil er hoffte, gerettet zu werden. Aber niemand kam. Als ihm das Wasser ausging, dachte er daran, das Messer zu benutzen, um sein Bein irgendwie abzutrennen, so lange er noch die Kraft dazu hatte, und dann... und dann was? Er würde verbluten, während - 355 er über Wege kroch, die nur Dachs und Eichhörnchen, Marder und Käfer kannten. Aber es würde zumindest schneller gehen. Aber das Messer war stumpf, und er konnte sich nicht überwinden, es zu versuchen. Am Tag, nachdem er seinen Wasserschlauch leer getrunken hatte, regnete es. Er leckte den Regen von dem Stein, der ihn festhielt, und staunte durch den Nebel des Fiebers über seinen Willen, trotz allem am Leben zu bleiben. Die Botschaft hatte er vergessen. Er hatte alles vergessen bis auf den Schmerz und die Kälte und seine finstere Verzweiflung. In dieser Nacht, leise wie die Boten des Todes, kamen die Wölfe. Am Ende war es nicht möglich, viel nachzudenken. Als sie gerade eine Rast einlegten und durch das einsame Tal nach Galanys Höhe aufblickten, sahen sie, dass dort Rauch aufstieg, dass eine Fahne über der Siedlung flatterte, und sie wussten, dass die Galen bereit für sie waren. Auf den Wehrgängen hinter der Palisade aus angespitzten Pfählen standen Bogenschützen Schulter an Schulter. Auf dem Hügel dahinter war selbst aus dieser Entfernung der hoch aufragende Magierstein zu erkennen, beschützt von Ebereschenbäumen. Er zog die Blicke an und ließ die Männer wieder entschlossener werden. »Es sind nicht so viele«, sagte Talorgen, der die Augen zusammengekniffen hatte. »Deshalb sind sie hinter der Palisade geblieben, um sich zu verteidigen, statt herauszukommen und uns anzugreifen. Wir gehen weiter vor wie geplant. Seid ihr bereit? Morleo? Ged? Fokel?« Zustimmendes Brummen erklang. Geds Leute, strahlend in ihren Regenbogenfarben, sollten die rechte Flanke übernehmen, Morleos die linke, und die Hauptstreitmacht würde direkt auf das Tor zumarschieren. Dicht hinter Talorgens Leuten ritt Fokels kleine Truppe. Bridei hatte den gefährlichen Blick dieses Anführers bemerkt, seine kaum beherrschte Energie, als stünde er kurz davor, zu explodieren. - 356 Dass seine grimmigen Männer bis an die Zähne bewaffnet waren, trug nicht dazu bei, Bridei zu beruhigen. Diese Männer erinnerten an anderweltliche Wesen, die willkürlich und sinnlos Gewalt ausübten. Vielleicht würde es sie tatsächlich nicht sonderlich interessieren, wohin sie schlugen, bis alles vorbei war. Ihre Nähe war alles andere als tröstlich. Aniel, der Berater des Königs, hatte seine beiden Leibwächter geschickt, um im Namen Drusts des Stiers an diesem Feldzug teilzunehmen. Nun trat Garth vor, die Fahne des Königs in der Hand, und andere hoben die Zeichen aller anwesenden Anführer: Langwasser, Abertornie und Rabenbrunn, und die alte Fahne von Galany. Talorgen stieß die geballte Faust in die Luft und schrie laut und hallend: »Fortriu!« Stolz rauschte durch Brideis Blut, heiß wie die Berührung des Flammenhüters selbst. Er erhob die Stimme ebenso wie alle anderen: »Fortriu!«, und dann marschierten die Priteni in die Schlacht.
Man näherte sich der Siedlung durch ein breites Tal, durch das ein Bach zum Königssee hinabfloss. Der Boden war sumpfig, und die Stiefel der Männer sanken tief ein. Es gab kaum Deckung, nur ein paar Büsche und magere Bäume klammerten sich weiter stromaufwärts an die Ufer. Als sie sich dem Bach näherten, schwangen die Tore der Siedlung auf, und der Feind kam ihnen entgegen. Es war also doch keine verzweifelte Verteidigung eines unterbesetzten Außenpostens, sondern ein gut geplanter Gegenangriff, Armee gegen Armee; jemand hatte die Galen gut informiert, und sie hatten ihr Wissen genutzt. »Wie viele?«, rief Bridei Donal zu, der grimmig an seiner Seite marschierte, den Speer in der Hand. »Genug«, sagte Donal. »Aber wir werden es schaffen. Sie werden versuchen, uns in Reichweite der Bogenschützen zu locken. Talorgen wird die Männer zurückhalten, jedenfalls, wenn dieser verrückte Fokel nicht gleich angreift. Bleib in meiner Nähe, Bridei. Ich muss dich im Auge behalten.« - 357 Selbst kurz vor Beginn der Schlacht, dachte Bridei, hält Broichan noch seine Hand über mich, als wäre ich ein Kind, das behütet werden muss. Wann werde ich endlich ein Mann sein dürfen? Dann begannen die Männer neben ihm, vor ihm und hinter ihm zu laufen und zu schreien, und der geordnete Marsch wurde zum Chaos. Die Rufe klangen in seinen Ohren wie das Schmettern von Fanfaren; sein Herz, das bereits raste, schlug nun im Rhythmus einer wilden Trommel, seine Beine trugen ihn vorwärts in dieser Flut, in diesen hitzigen Wellen menschlicher Körper, und dann begannen die Pfeile auf sie niederzuregnen. Männer fielen mit Pfeilen in Auge, Kehle oder Schulter, er trat auf sie, Blut leuchtete hell auf Umhang oder Helm, auf klammernder Hand, starrem Auge oder zerschmettertem Arm. Er konnte nicht stehen bleiben, um ihnen zu helfen, es ging weiter, weiter, seine Füße trugen ihn voran. Die Flut von Männern war nun dünner geworden, und seine eigene Stimme erhob sich mit denen der anderen über den Lärm: »Fortriu! Fortriu!« Sie stürzten sich vorbei an den Pfeilen und in den Nahkampf, Wurfspeere wurden zum Stechen benutzt; Donal mit einem Krieger, den er aufgespießt hatte wie eine Forelle und der sich am Schaft wand; Gartnait zwischen keuchenden, ringenden Gestalten, spießte das Herz eines Mannes mit einem wilden Stoß seines Dolches auf. Gartnaits Blick war seltsam begeistert, beinahe, als befände er sich in der Gewalt eines Gottes. Breth, ein großer, kräftiger Mann, hatte eine kleine Erhebung entdeckt, die von niedrigem Gebüsch gekrönt war, und setzte von dort aus seinen Bogen kühl und stetig ein, um einen Feind nach dem anderen mitten aus diesem Gewirr von Männern zu schießen. In der Nähe bleiben?, dachte Bridei. Was für ein Witz. Er rannte den Hügel hinauf zu Breth, bereitete seinen eigenen Bogen vor und begann mit großer Sorgfalt zu schießen; die geringste Abweichung, und ein Pfeil, der für einen hoch auf- 358 ragenden Gälenkrieger bestimmt war, würde stattdessen in die Brust eines Kameraden dringen. »Da drüben im Süden«, murmelte Breth. »Siehst du, hinter der Hauptmasse von Geds Leuten? Gib Fokel Deckung.« Von hier war es so gerade eben möglich zu sehen, was Fokel tat, obwohl es im Durcheinander der Schlacht alles zufällig wirkte und das Muster des Tages reduziert war auf einen einzelnen Mann mit einem großen Messer, der versuchte, einen umzubringen, und einen anderen mit einem Speer, der gerade einen Kameraden getötet hatte. Dort drunten geschah alles von Augenblick zu Augenblick: zuschlagen, atmen, überleben, weiterkämpfen. Von der kleinen Anhöhe aus sah Bridei, dass Talorgens Leute nun langsamer vorankamen, sie hatten kaum das Bachbett hinter sich gebracht und standen einer beträchtlichen Anzahl von Galen gegenüber, und viele Männer von beiden Seiten lagen reglos oder zuckend am Boden, ihr Stöhnen übertönt von den anfeuernden oder beleidigenden Rufen, dem Klirren der Klingen, dem Pfeifen von Pfeilen. Ged und Morleo kamen kaum besser voran. Ihre Leute, ein wenig weiter von der Palisade entfernt, waren das Hauptziel der Bogenschützen. Von dort unten konnte niemand Fokel und seine kleine Gruppe von Kriegern sehen. Fokel hatte seine Männer weiter bachaufwärts geführt, hatte die Büsche am Ufer als Deckung benutzt, und nun kamen sie dem Chaos vor den Toren immer näher. Bridei folgte Breths Beispiel, zielte und schoss wieder und wieder, versuchte, die Galen hinten im Gedränge zu erwischen, die wahrscheinlich im Weg sein würden, wenn Fokels Männer aus der Deckung kamen und den Hügel hinauf auf die Palisade zurannten. Es war verrückt und genau das, was man von Fokel erwarten würde. Wahrscheinlich würden all seine Männer sterben, bevor sie die feindliche Stellung erreichten. Dennoch, dieser Mann, dessen Brust gerade von Brideis Pfeil durchbohrt worden war, würde sie nicht kom- 359 men sehen, und auch nicht der Bursche, auf den Breth nun zielte, und der nicht und der nicht... »Ich habe immer gewusst, dass aus dir ein guter Schütze werden würde«, murmelte Breth, zielte und schoss noch einmal. »Wie viele Pfeile hast du noch?«, fragte Bridei. »Zwei. Hier.« Sie schössen gemeinsam; zwei Galen fielen. Dann eilten sie wieder den Hügel hinab, hinein in den Albtraum. Donal war nirgendwo zu sehen, und auch Gartnait war im Durcheinander verschwunden. Talorgen, dem Garth wie ein Schatten folgte, setzte sein Schwert vernichtend ein; er war ein Anführer, der sein Leben ebenso aufs Spiel setzte wie seine Männer. Geds Leute, deren bunte Hemden nun von Blut bespritzt waren, ihrem eigenen
und dem der Feinde, drängten auf der anderen Bachseite den Hügel hinauf. Und nun gab es hinter der brodelnden Masse von Männern etwas Neues zu sehen. Hinter der ordentlichen Palisade aus zugespitzten Pfählen leuchtete es hell, man hörte Knacken und Knistern und die erschrockenen Schreie von Frauen. Fokels Männer hatten die Siedlung angezündet. Es war ihnen gelungen, sich nahe genug anzuschleichen, und Brandpfeile hatten den Rest erledigt. Die Bogenschützen oben auf der Palisade verließen ihren Posten; es war wichtiger, das Feuer zu löschen. Grimmig hielten die Galen draußen vor den Toren die Stellung. Vielleicht waren ihre Frauen, ihre Kinder dort drinnen, wo die Flammen gierig einen Getreidespeicher, eine Gerberei und Wohnhäuser verschlangen, wo die Menschen verzweifelt nach Eimern rannten, wo Jungen, die zum Kämpfen noch zu klein waren, mit dünnen Armen Pumpen bedienten, wo Frauen mit Säcken und Decken auf die alles verzehrenden Flammen einschlugen. Die Männer kämpften weiter, mit finsteren Mienen, als der Rauch über das Schlachtfeld wehte und Schwert und Speer, splitternden Schild und blut- 360 durchtränkte Fahne in ein unheimliches Halblicht tauchte, rosa und golden und schattengrau. Bridei hatte keinen Wurfspeer gehabt; er war mit einem kurzen Schwert, einem Messer und seinem Bogen bewaffnet, der nun nutzlos war, solange er nicht einem Feind ein paar Pfeile abnehmen konnte. Es war unmöglich zu sehen, was geschah, oder zu wissen, was die Anführer von ihnen wollten. Es ging nur noch darum, sich weiter den Hügel hinaufzubewegen und dabei nicht umbringen zu lassen. Erst ein kleiner, verzweifelter Kampf, dann noch einer und noch einer. Bridei benutzte sowohl das Schwert als auch den Dolch. Dort lag ein junger Krieger, ein Gäle, mit einer schrecklichen Bauchwunde, seine Eingeweide hingen heraus, sein Gesicht war bleich vor Entsetzen. Bridei hatte nicht geglaubt, dass er sich bücken und einem Mann aus Mitleid die Kehle durchschneiden könnte, aber als er sich nun dieser Entscheidung gegenüberfand, tat er es ohne zu zögern und murmelte ein Gebet an den Gott, an den dieser Mann glaubte - welcher es auch immer sein mochte. »Nimm seine Hand.« Nach langer Zeit, nach sehr langer Zeit, in der sein Körper sich einfach weiterbewegte und die Waffen in den gut eingeübten Mustern schwang, zustieß, auswich, stach, seine Augen von Rauch, Schweiß und Tränen brannten und sein Hals vom Schreien wehtat, wurde offensichtlich, dass sich die Gezeiten gewendet hatten. Oben war durch den grauen Vorhang hell flackerndes Feuer zu sehen, und davor zeichneten sich nicht mehr die Galen von Galanys Höhe in undurchdringlichen Reihen ab, sondern Fokels wilde Krieger, ganz gefletschte Zähne und lange, gezähnte Messer, die sich von hinten wie Rachegeister auf den Feind stürzten. Es war ein schrecklicher Anblick; dass sie auf Brideis Seite standen, machte es nicht besser. Fokels Männer metzelten alles nieder, was in ihrem Weg stand. Sie kämpften mit wilder Geschicklichkeit, die an die gefährlichsten Raubtiere des Wal- 361 des erinnerte, vielleicht an die großen wilden Katzen und ihren starren Blick, wenn sie ihre Kiefer um die Kehle der Beute schlössen und nichts mehr kannten außer dem Geruch von Blut. Bridei fand sich direkt am Rand dieses schrecklichen Angriffs, wo er Schwerthiebe mit einem breitschultrigen Krieger aus Dalriada austauschte, während Fokel neben ihm einen Gefangenen brutal festhielt, ihm den Arm auf den Rücken drehte und ihn vor sich auf die Knie zwang. Fokel hielt dem Gefangenen das Messer vor die Augen. Brideis Angreifer war ein kräftiger Mann mit einem Lederhelm, sein Haar so rot und wild wie das Feuer, das nun hinter ihm sein Heim und seine Familie verschlang. Bridei sah seinem müden Gesicht an, dass es ihm egal war, ob er leben oder sterben würde. Dennoch, er kämpfte finster weiter, und da er größer und breiter war als Bridei, bestand der einzige Vorteil, den er nicht auf seiner Seite hatte, in jugendlicher Beweglichkeit. In Brideis Hinterkopf war das Feuer, die Notwendigkeit, die Frauen und Kinder herauszuschaffen, bevor es zu spät war. Talorgen sollte den Befehl geben. Er sollte Männer dort hinaufschicken. Wenn er das nicht bald tat, würden alle sterben, und die Priteni würden sich als ebenso barbarisch erweisen wie ihre Feinde... »Ah!« Bridei keuchte, als Schmerz durch seinen Oberschenkel zuckte; das Schwert seines Gegners hatte ihn getroffen, und er geriet ins Taumeln. Der Gäle hob die Waffe abermals, zielte diesmal nach Brideis Hals. Bridei hielt sich nicht mit Denken auf. Er warf sich zur Seite, duckte sich, drehte sich um und stieß fest zu. Es war vorbei, ehe der Mann auch nur blinzeln konnte. Der Krieger fiel nach vorn, einen überraschten Ausdruck auf dem Gesicht und Brideis Schwert bis zum Griff in seiner Brust. Bridei kniete schwer atmend am Boden; er rollte den toten Mann herum und zog die von Blut glitzernde Waffe he- 362 raus. Er streckte den Arm aus, um die Klinge auf Gras abzuwischen, das bereits von allen erdenklichen unaussprechlichen Dingen bedeckt war. In diesem Augenblick sah er einen Mann, der hinter Fokel vom Boden aufstand, einen Mann, in dessen Hand sich eine Stachelkeule befand, die jeden Augenblick mit gewaltiger Wucht auf dem Kopf des Fürsten landen würde. Bridei sprang. Er stieß gegen Fokel, und beide fielen zu Boden und waren außer Reichweite. Die Keule krachte fest auf den Galen, der Fokels Gefangener gewesen war, den Mann, der sich einen Augenblick zuvor der Spitze eines Messers gegenübergesehen hatte. Das Messer würde nicht mehr nötig sein; die Keule hatte ihm den Schädel zerschmettert. Bridei lag auf Fokel, mit dem Gesicht im Blut und Schlamm des Schlachtfelds. Er holte tief Luft, spürte, wie sein Herz raste, und versuchte, es zu beruhigen. Er kam auf die Beine, alle Knochen taten
ihm weh, und er streckte Fokel die Hand hin. Der Gäle mit der Keule, der einen seiner eigenen Leute getötet hatte, lag am Boden, aufgespießt von nicht weniger als drei Priteni-Speeren. »Die schwarze Krähe steh uns bei!«, stotterte Fokel, als er auf die Beine gekommen war und den Dolch aufgehoben hatte, der ihm aus der Hand gefallen war. »Du junger Narr! Hast du vollkommen den Verstand verloren?« Bridei sah ihn an. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Der Kampf schien sich von ihm zu entfernen; durch den dichten Rauch konnte er Männer sehen, die immer noch in ihrem eigenen Albtraum gefangen waren, aber nun fand offenbar eine allgemeine Bewegung den Hügel hinauf zur brennenden Siedlung statt. Er konnte Morleos tiefe Stimme hören, die Befehle brüllte, und sah die Fahne von Fortriu, weiß mit den königlichen Symbolen in Blau, hoch über einer Menge jubelnder Männer. »Hast du nicht das Messer in meiner Hand gesehen? Um Haaresbreite hättest du das im Hals gehabt!«, knurrte Fokel, - 363 steckte sich die Waffe in den Gürtel und versetzte dem toten Galen noch einen Tritt. »Wer hat dir das Kämpfen beigebracht, ein Wahnsinniger?« Bridei lächelte. »Ein Mann namens Donal. Er ist so weit vom Wahnsinn entfernt, wie man nur sein kann.« »Wie heißt du, Junge?« Fokel war ein Mann, der niemals freundlich aussehen würde; sein Gesicht war wie das eines wilden Tiers, misstrauisch und gefährlich selbst in Augenblicken der Ruhe. Dennoch, es kam Bridei so vor, als sei der Anführer nicht unzufrieden, so barsch seine Worte auch klangen. »Bridei, Sohn des Maelchon. Ich bin der Pflegesohn von Broichan, dem Druiden des Königs.« »Broichan, wie?« Fokel kniff die Augen zusammen. »Das erklärt es vielleicht. Kein Glücksfall, sondern ein kalkuliertes Risiko. Ich sehe, man muss dich im Auge behalten, junger Bridei.« »Herr.« Bridei verbeugte sich höflich. Fokel starrte ihn an und brach dann in Gelächter aus. »So gute Manieren und so unbesonnen im Kampf! Du bist wirklich etwas Besonderes. Bist du sicher, dass du dich nicht den wilden Männern von den Fünf Schwestern anschließen willst, Junge? Nein, nein, du brauchst nicht nach einer höflichen Antwort zu suchen - dein Druide hat zweifellos andere Pläne für dich. Und jetzt sollten wir uns bewegen. Es sieht aus, als wäre der Kampf hier zu Ende, und ich möchte hinter dieser Palisade sein, bevor zu viele andere da sind; wir müssen das Feuer löschen und die Ordnung wieder herstellen.« Er begann, den Hügel hinaufzustapfen, und schaute dabei noch einmal über die Schulter. Einen Augenblick später folgte Bridei ihm. Die Schlacht schien vorüber zu sein. Und nun fing er an, sich wirklich sehr seltsam zu fühlen. »Ich schulde dir einen Gefallen, Pflegesohn des Druiden«, sagte Fokel. »Lass es mich wissen, wenn der Zeitpunkt ge- 364 kommen ist. Der Fürst von Galany zahlt stets seine Schulden.« Bridei hätte beinahe etwas Höfliches gesagt wie: Keine Ursache oder Das ist nicht notwendig, aber dann nickte er nur und ging weiter. Das hier war ein Pakt unter Männern; nicht zu akzeptieren wäre einer Beleidigung gleichgekommen. Später fiel Bridei auf, dass es nicht der Kampf selbst war, der sich so schwer verarbeiten ließ; der war in einem Nebel aus wilden, chaotischen Taten vorübergegangen, aus Entscheidungen, die so schnell getroffen werden mussten, dass es kaum Zeit gegeben hatte, darüber nachzudenken, was sie bedeuteten; ein Wirbelwind aus Zeit, klopfendem Herzen und keuchendem Atem, hin und her gerissen zwischen dem kalten Schweiß äußersten Entsetzens und der berauschenden Begeisterung, die auf der anderen Seite der Angst liegt. Die grausigen Bilder waren immer noch irgendwo in seinem Kopf und würden ihn zweifellos in seinen Träumen heimsuchen. Er hatte sie inmitten von allem wahrgenommen, und dann einfach weitergemacht. Der schwierigere Teil kam, als der Kampf vorüber war, als das Herz wieder langsamer schlug und der Atem ruhiger wurde. Nun kehrte der Geist zu sich selbst zurück, und die Augen begannen, mit Ruhe und Überlegung zu sehen. Erst jetzt, als er durch die Überreste der Siedlung von Galanys Höhe ging, erkannte Bridei, was Krieg wirklich bedeutete. Morleos Männer löschten das Feuer. Sie hatten einen großen Teil der brennenden Palisade niedergerissen und demolierten die Hütten, die sich dahinter drängten; Wasser wurde in Eimern herangeschleppt, Männer standen in einer Reihe, um sie weiterzureichen, während andere nach den Flammen schlugen oder Erde darauf schaufelten, um sie zu ersticken. Hier und da lagen Decken über reglosen Gestalten im Gras; unter einer davon ragte ein kleiner, nackter Fuß hervor. Es waren jetzt auch Männer von Talorgen hier; Bridei sah einen jungen Mann, mit dem er in Rabenbrunn Übungs- 365 kämpfe ausgefochten hatte, vornübergebeugt dasitzen, die Hände vors Gesicht geschlagen und von wildem Zittern geschüttelt, als hätte er ein Fieber. Neben ihm hockte der große, kräftige Breth, seine ruhige Stimme ein Kontrapunkt zu dem hilflosen Schluchzen des jungen Mannes. Es hatte angefangen zu nieseln; bald schon würde das Feuer gelöscht sein. Morleos Männer arbeiteten ordentlich und diszipliniert weiter. Geds Krieger befanden sich noch vor den Toren und erledigten den letzten Widerstand. Ein paar von Talorgens
Leuten hatten angefangen, das Schlachtfeld nach ihren Verwundeten zu durchsuchen. Einige waren sicher schon heraufgeschickt worden, um Frauen, Kinder und alte Männer aus der Siedlung zu schaffen, Gefangene zu nehmen und mit dem letzten Widerstand hinter den Palisaden fertig zu werden. Bridei folgte Fokel durch das zersplitterte Tor in die Siedlung, wo es durch den Rauch seltsam dunkel war, die Luft schwer von Partikeln schwebender Asche und glühende Funken. Es schien möglich, dass trotz des Regens hier und da das Feuer wieder aufflackern könnte; einige Häuser waren aus Stein gebaut, aber viele waren nur Hütten aus mit Schlamm bestrichenem Geflecht, und es hatte sich bereits gezeigt, wie heftig diese Palisaden brennen konnten. Die Wege zwischen den Häusern waren eng und aus gestampfter Erde; hier und da gackerten Hennen hysterisch und Schweine fügten ihren eigenen lautstarken Protest hinzu. Nun waren keine Frauenstimmen mehr zu hören und auch nicht die von Kindern, nur die Rufe von Morleos Männern, die sich um das Feuer kümmerten, und weiter in der Ferne tödlichere Laute von hinter der Palisade, wo selbst jetzt noch die Ehemänner, Väter, Söhne und Brüder von Galanys Höhe starben. Nein, was er da tat, war falsch. Was hatte Donal gesagt? Man durfte sich nicht erlauben, so zu denken. Wenn man den Feind als Menschen sah, als einen Mann, wie man es selbst - 366 war, konnte man sich nie dazu überwinden, ihm ein Messer in den Bauch zu rammen. Und wenn man das in der Hitze der Schlacht nicht tun konnte, verlor man. Dann war man selbst derjenige, der starb, und mit der Zeit würde auch alles sterben, was einem wichtig war. Also musste er Söhne, Brüder, Väter vergessen. Nur »der Feind« denken. Sich daran erinnern, dass sie den Magierstein gestohlen hatten und verdienten zu sterben. Es gelang Bridei, sich das so lange vor Augen zu führen, bis sie eine Abzweigung erreichten. »Du rechts, ich links«, sagte Fokel. »Halte nach Überlebenden Ausschau. Die ganze Siedlung könnte niederbrennen, Morleo oder nicht. Schaff alle, die du findest, vor das Tor, solange noch Zeit ist. Wenn ihr Anführer noch lebt, gehört er mir.« Nur für den Fall, dass daran auch nur der geringste Zweifel bestand, fletschte er die Zähne zu einem wilden Grinsen und machte eine scharfe Geste mit den Fingern über seine Kehle. Dann eilte er nach links und verschwand im Rauch. Der Weg nach rechts schien verlassen zu sein. Bridei ging vorsichtig weiter, das Schwert in der Hand, denn er wusste, dass eine solche Patrouille eigentlich von mindestens zwei Männern durchgeführt werden sollte, besser von vieren: einer, der die Türen aufbrach, einer, der ihm dabei Deckung gab, und zwei, die mit gezückten Waffen abwarteten, was auftauchen würde. Allein würde er keine Türen aufbrechen. Stattdessen schlug er gegen eine nach der anderen und rief: »Raus! Schnell! Feuer!«, und dankte dabei in Gedanken seinem alten Lehrer Wid für die wenigen gälischen Worte, die er ihm beigebracht hatte. Keine Spur von Leben. Wenn nur fadenscheinige Vorhänge in den schmalen Eingängen hingen, zwang er sich, sie beiseite zu ziehen, hineinzuschauen und in den dunklen Räumen nach Frauen oder Kindern Ausschau zu halten, die sich dort versteckten. Er fand keine. Er ging weiter, das Herz - 367 von einer wachsenden Unruhe beschleunigt, die wenig damit zu tun hatte, dass er sich an einem Ort befand, wo vielleicht gut bewaffnete Galen auf ihn warteten, und erheblich mehr mit den Instinkten eines Mannes, der von einem Druiden ausgebildet worden war. Etwas stimmte hier nicht, das spürte er. Er bog um eine Ecke und fand sich auf einer offenen Fläche wieder, einem Versammlungsplatz, um den sich bescheidene Gebäude drängten. Über allem hing Rauch, aber Bridei konnte einen Pflaumenbaum sehen, der gerade angefangen hatte zu blühen, und daneben ein Kreuz aus Stein mit schlangenartigen Mustern darauf. Dahinter hörte er Männer lachen und in seiner eigenen Sprache sprechen, und er sah Bewegungen, die halb vom Rauch verborgen waren. Bridei ging weiter, vorbei an dem Kreuz, und blieb abrupt stehen. Die Frauen und Kinder, die sich in diesen jämmerlichen kleinen Hütten versteckt hatten, waren jetzt alle hier, an eine Wand gedrängt, und drückten sich gegeneinander, um einem Halbkreis von Priteni-Waffen zu entgehen, die auf sie zielten. Eine junge Mutter hielt ein weinendes Baby im Arm, das Gesicht in Angst und Zorn verzerrt. Eine alte Frau hockte am Boden und umarmte zwei weinende Kleinkinder. Andere standen schweigend und bleich da. Bridei starrte die Szene ungläubig an. Die Männer, die sie hierher getrieben hatten und nun mit Speeren bedrohten, waren nicht Fokels wilde Krieger, denen er alles zugetraut hätte. Es waren nicht Gads bunt gekleidete Leute und nicht die Männer von Morleo von Langwasser; nein, die waren alle mit dem Feuer beschäftigt. Dies hier waren Talorgens Leute. Und obwohl ihre Waffen auf ihre jämmerlichen Gefangenen gerichtet waren, waren es nicht diese Galen, auf die die Krieger ihre Aufmerksamkeit konzentrierten. Nicht weit entfernt hatten zwei Priteni-Krieger eine junge Frau an die Wand gedrückt, und ein dritter, der seine Hose heruntergelassen hatte, nestelte an - 368 ihrem langen Rock herum. Noch mehr standen hinter ihm und sahen grinsend zu. Empörung erfüllte Bridei: Er packte sein Schwert fester und öffnete den Mund, um irgendetwas herauszuschreien, er wusste nicht was, eine Reihe von Flüchen, einen Befehl, etwas, worauf sie zweifellos nicht reagieren würden, denn er war jung, unbekannt, hatte keine Stellung bei ihnen. Einen Augenblick später machte sich Broichans Ausbildung bemerkbar, zusammen mit der von Donal, und kalte Ruhe überkam ihn. Er trat vor, die Waffe in der Hand. »Bei allem, was heilig ist«, sagte er und spürte in seiner Stimme ein kleines Echo der Macht, die Broichan bei
den großen Ritualen heraufbeschwor, eine Tiefe, die aus Reichen außerhalb des Menschlichen kam. »Im Namen der Leuchtenden und der Schwüre, die ihr abgelegt habt, eurem König mutig und wahr zu dienen, lasst diese Frau sofort los!« Er ging auf den halb nackten Soldaten zu und hob das Schwert. »Hör auf! Ist das eines wahren Kriegers des Flammenhüters würdig? Ihr beiden, lasst sie los!« Der Mann trat zurück, die Wangen glühend, vielleicht vor Scham, vielleicht auch nur, weil er keine Gelegenheit erhalten hatte zu tun, was er wollte. Die Männer, die die Frau festgehalten hatten, ließen ihre Arme los, und sie sackte zusammen und schlug die Hände vors Gesicht, als könnte sie das unsichtbar machen. »Wofür hältst du dich eigentlich?«, rief einer der Männer, die weiter hinten gestanden hatten, herausfordernd. »Für einen selbst ernannten Anführer?« »Die da sind Abschaum«, sagte ein anderer. »Wozu sonst sollten sie gut sein?« »Stimmt«, sagte der Erste. »Es ist lange her, Druidenjunge. Aber ich nehme an, von solchen Dingen weißt du nichts. Bist kaum aus den Windeln. Du solltest uns dabei zusehen, vielleicht kannst du etwas lernen ...« »Das reicht jetzt!« Brideis Stimme war nun leiser, aber es - 369 lag etwas darin, das die anderen zum Schweigen brachte. »Ihr wisst, dass es falsch ist. Es verhöhnt die Tapferkeit eurer Kameraden auf dem Schlachtfeld; es beschämt all unsere Männer, die gefallen sind. Die Leuchtende würde mit Entsetzen darauf hinabschauen; ihr könnt nicht behaupten, in ihrem Namen zu kämpfen, wenn ihr solche Dinge tut.« Er streckte der hockenden Frau die Hand entgegen, weil er ihr aufhelfen wollte. Sie hob den Kopf und spuckte ihn an, und in ihren rot geränderten Augen stand Hass. Er fragte sich, wie viele sie missbraucht hätten, vor den Augen ihrer Freundinnen, ihrer Mutter, ihrer Kinder vielleicht, wenn er nicht rechtzeitig gekommen wäre. »Ihr werdet diese Leute nicht mehr anrühren. Talorgens Befehle lauteten, Gefangene zu machen, nicht sie zu misshandeln«, sagte er. »Es sind viele von euch hier, mehr als genug, um diese Leute sicher vor die Siedlung zu bringen. Tut das jetzt, und geht davon aus, dass ich eurem Anführer darüber Bericht erstatten werde, was geschehen ist. Wenn diesen Frauen noch etwas zustößt, wird er erfahren, wer daran beteiligt war.« Hinter einer Hütte wurde es nun unruhig. Als Bridei sich umdrehte, sah er zwei Männer herauskommen, die eine weitere Gälin mit sich zerrten. Die beiden lachten und machten anzügliche Bemerkungen. Die Gefangene war ein Mädchen von elf oder zwölf Jahren, ein dünnes Kind in einem formlosen, ausgebleichten Hemd. Ein Mann hielt ihren dürren Arm in einem Knochenbrechergriff, der andere hatte die Finger in ihrem langen dunklen Haar und riss sie mit. Der wirbelnde Rauch verbarg seine Züge, aber sein Anblick, seine Haltung, sein Gang verursachten Bridei ein unerklärliches Schaudern. Ohne die Worte wirklich zu verstehen, wusste er, worüber die Männer witzelten. Das Mädchen war so bleich wie sein abgetragenes Hemd, ihre Augen starr vor Entsetzen. Bridei musste plötzlich an Tuala denken, und der Stich ins Herz, den ihm das verursachte, drohte, ihn ganz - 370 und gar wehrlos zu machen; was war das für eine Welt, in die er plötzlich geraten war? »Lasst sie los!«, fauchte er, eilte zu den Männern und benutzte den Griff seines Schwerts, um einem der Männer einen festen Schlag auf den Unterarm zu versetzen. Der Mann heulte auf und ließ das Haar des Mädchens los. Als der andere zum Widerspruch ansetzte, traf Brideis linke Faust ihn am Kinn; es war ein Schlag, den er so manchen Morgen mit Donal bis zur Perfektion geübt hatte. Der Mann fiel nach hinten, und die Gefangene war plötzlich frei. Sie fuhr herum, ganz knochige Beine und wehendes Haar, und floh in die Richtung, aus der sie gekommen war. Bridei zwang sich, wieder hinzuschauen, und sah den Mann, dessen Arm er beinahe gebrochen hatte, einen der Verbrecher, die dieses Kind hatten misshandeln wollen, und erkannte, dass es Gartnait, Sohn des Talorgen war, sein Freund Gartnait. Es war nicht nötig, noch mehr zu sagen; vielleicht hätte er es in diesem Augeblick ohnehin nicht tun können. Fokels Männer kamen nun auf den Platz. Bei ihrem Anblick wurden die Frauen noch bleicher und versuchten, ihre Kinder mit ihren eigenen Körpern zu schützen. Es war etwas Unheimliches an diesen Kriegern; jede ihrer Bewegungen kündete von Gefahr. Fokel gab ein paar knappe Befehle; alle Männer, seine eigenen und die von Talorgen, gehorchten sofort. Die Gefangenen wurden weggeführt, die Waffen nun in einigem Abstand, aber immer noch blank; es hieß, die Frauen von Dalriada könnten ebenso leidenschaftlich kämpfen wie ihre Männer. Wer wusste schon, ob eine nicht die Gelegenheit nutzen würde, um zu fliehen oder ein Messer zu packen und zuzustechen? In dem Wirbel von Rauch mischten sich die Krieger der unterschiedlichen Truppen, und andere kamen hinzu. Nun war Talorgen selbst hier und berichtete, dass das Feuer beinahe gelöscht war und sie den Anführer der Galen gefangen genommen hatten, und er erinnerte sie daran, dass es keine Plünderung geben würde und jene, die keine Krie- 371 ger waren, nicht verletzt werden durften. Die Männer nickten zustimmend, alle nickten, und man sah ihnen nicht an, dass es hier einen unschuldigen Mann gab, dort einen Frauenschänder, hier einen mutigen Kämpfer, dort einen Burschen, der vorgehabt hatte, ein Kind zu missbrauchen. An der Oberfläche sahen sie alle gleich aus. Nur die Götter wussten, was in ihren Herzen vorging. An diesem Abend, als Talorgens siegreiche Streitmacht an ihren kleinen Feuern saß, die Freude am Sieg gedämpft von Erschöpfung, Wunden und dem Verlust so vieler Kameraden auf dem Schlachtfeld, wurde Bridei von einer machtvollen Sehnsucht erfüllt, oben auf der Adlernarbe zu sitzen und ins Große Tal hinabzuschauen,
mit der Sonne im Gesicht und dem Wind im Haar, und keinen Laut zu hören außer den hohen, reinen Schreien der Vögel. Tuala würde bei ihm sein, klein und still an seiner Seite. Er würde die Schönheit der Landschaft in sich aufnehmen, ihre wilde Freiheit, ihre karge Lieblichkeit. Und dann würde er seine Geschichte erzählen können und weinen. Sie würde zuhören, die großen Augen ernst und weise, sie würde wissen, was zu sagen war. Dann konnte er vielleicht anfangen, einen Weg durch all dies zu finden. »Bist du in Ordnung, Bridei?« Donal war leise näher gekommen und setzte sich nun neben ihn, um an einem Knochen zu nagen. Es hatte viel Vieh gegeben, das sie schlachten konnten, Schweine und Gänse; nach dem langen Weg durch das Tal bei knappen Rationen war das ein Festessen. Sie hatten die Bierfässer geöffnet, die sie in der Siedlung gefunden hatten, aber die Stimmung war nicht fröhlich. Die Leichen ihrer gefallenen Kameraden lagen unter Decken und warteten darauf, begraben zu werden. Die Leichen der Feinde waren hoch aufgehäuft, inmitten von Stapeln aus Zweigen und Farnkraut. Am Morgen würde hier ein neues Feuer brennen. Bridei nickte, weil er seiner Stimme nicht so recht traute. »Nein, das bist du nicht«, sagte Donal. »Es wird eine Wei- 372 le dauern. Wie ich schon sagte, beim ersten Mal ist es am schlimmsten. Die Männer reden über dich.« Bridei kniff den Mund zusammen. Gartnait hatte bereits versucht, mit ihm zu sprechen, ein Gartnait voller Geschichten über ein Missverständnis, über eine schlichte Gefangennahme, die Bridei ungerechterweise als etwas anderes interpretiert hatte. Darauf war etwas zwischen einer Bitte und einer Drohung gefolgt: wenn Talorgen jemals von Brideis Version der Ereignisse erfahren sollte, würden die Dinge zwischen Gartnait und Bridei nie wieder wie früher sein. Bridei hatte ihm den Rücken zugewandt. Was konnte er sagen? Die Dinge waren ohnehin nicht mehr die gleichen. Schon der Klang der Stimme seines Freundes bewirkte, dass ihm übel wurde. Er konnte sich vorstellen, was die anderen Männer über ihn sagten: junger Emporkömmling, der sich aufspielte, wofür hielt er sich eigentlich, für den persönlichen Botschafter des Flammenhüters? Und was die anderen Bemerkungen anging, die über Frauen und was er mit ihnen getan oder nicht getan hatte, davon würde er sich nicht durcheinander bringen lassen. Seine Ansicht über Angelegenheiten des Schlafzimmers konnte er nicht einmal seinen Freunden erklären; solche Männer würden ihn für einen Dummkopf halten. Nur Donal wusste die Wahrheit, da Erklärungen nötig gewesen waren, um Verlegenheit zu vermeiden. Donal kannte viele willige Frauen, eine in jeder Siedlung entlang des Sees, und einige von denen hatten Freundinnen. Statt weiterhin gut gemeinte Einladungen abzulehnen, hatte Bridei schon früh, um die Zeit seines vierzehnten Geburtstags, erklärt, wie er dachte. Er erinnerte sich deutlich daran. Sie waren gerade von einem Ritt im Wald oberhalb von Pitnochie zurückgekehrt, nur er und Donal, und hatten sich im Stall um Glückspilz und Schneefeuer gekümmert. Niemand war in der Nähe gewesen. Donal hatte wieder eins seiner Angebote gemacht: Bridei sollte mit ihm in die Siedlung in der Nähe kommen, und eine gewisse liebenswerte, - 373 großzügige junge Frau wäre nur zu willig, ihm ein paar Dinge beizubringen, die er nun vielleicht lernen sollte. Dies war recht zurückhaltend vorgebracht worden; es war klar, dass Donal ihn nicht bedrängen wollte. »Danke«, hatte Bridei damals ein wenig förmlich gesagt. »Aber ich kann nicht. Noch nicht.« »Du kannst nicht?«, hatte Donal wiederholt. »Was versuchst du mir da zu sagen, Junge?« Bridei hatte sich bemüht, nicht verlegen zu erröten, obwohl Donal sein bester Freund war. »Nicht was du denkst. Nicht, dass ich zu jung wäre, um... dazu in der Lage zu sein. Oder dass ich etwas gegen solche Aktivitäten hätte.« »Aber?« »Ich habe ein Gelübde abgelegt. Ein Versprechen. An den Flammenhüter. Es hatte zu tun mit...« Es war nicht möglich gewesen, zu genau zu sein; hier ging es um Vermutungen, um Spekulation, um diese Sache, die niemand im Haushalt ihm so recht verraten wollte. »Es hat damit zu tun, die Zukunft so gut ich kann vorzubereiten«, sagte er, denn das entsprach durchaus der Wahrheit, auch wenn es nicht die ganze Wahrheit war. »Es kommt mir so vor, als müsse ich größte Loyalität gegenüber den Göttern wie auch perfekte Selbstdisziplin üben. So perfekt ich es eben kann. Ich habe feierlich geschworen, dass ich nicht bei einer Frau liegen werde bis zu dem Tag des Händereichens. Dass ich es nur im Ehebett tun werde. Ich will damit ebenso der Leuchtenden Respekt erweisen, da alle Frauen Spiegelbilder ihrer Reinheit sind, wie dem Flammenhüter, der Kraft und Selbstbeherrschung bei einem Mann schätzt. Also kann ich nicht mit dir in die Siedlung gehen.« »Ah ja«, hatte Donal gesagt, offenbar nicht überrascht. »Und wer hat zugehört, als du das geschworen hast?« »Nur die Götter.« »Ah ja.« Donal hatte wieder angefangen, Glückspilz zu striegeln, und das war alles gewesen. - 374 »Es heißt, dass du heute mindestens einem Mann das Leben gerettet hast.« Donais Stimme brachte Bridei wieder in die Gegenwart zurück. »Es heißt, wenn du nicht gewesen wärst, wäre Fokel von Galany heute Abend nicht mehr hier, um das Land wieder zu beanspruchen, für das sein Vater gestorben ist. Das hast du gut gemacht, Bridei. Du warst mutig, Sohn. Wie geht es deinem Bein?« Bridei warf einen Blick nach unten. Die Wunde war nun mit Leinen verbunden, gesäubert und behandelt von Talorgens eigenem Wundarzt. Er konnte sich kaum mehr erinnern, wie er zu diesem Schnitt im Bein gekommen war. »Er wird das Land nicht wiederbekommen«, sagte er. »Nur einen oder zwei Tage, dann müssen wir
umkehren. Es wird schwer für ihn sein, bis hierher zu kommen und das Land dann wieder verlassen zu müssen.« Donal sah ihn an. »Wir werden ein Ritual veranstalten«, sagte er. »Das wurde beschlossen. Ein symbolischer Sieg, eine Weihung an die Götter.« »Ich denke nicht, dass wir das tun sollten«, sagte Bridei. »Nicht jetzt. Nicht nach dem, was geschehen ist. Die Leuchtende kann auf uns nur noch in Scham und Trauer herabschauen.« Donal ließ sich nicht anmerken, ob ihn das überraschte, und er stellte auch keine Fragen. »Dennoch«, sagte er, »es sollte etwas geben. Ein Zeichen des Siegs, der Hoffnung. Was immer du gesehen hast, was immer du davon hältst, unsere Männer haben hier heute tapfer gekämpft, Bridei, sie haben gekämpft, und viele sind im Namen von Fortriu und von Drust dem Stier gestorben. Und Fokels Vater hat gekämpft und ist gefallen, und zahllose andere mit ihm, als die Galen zum ersten Mal nach Galanys Höhe kamen. Ganz gleich, wie du empfindest, wir sollten nicht davongehen, als wäre das Opfer unserer Kameraden Grund, uns zu schämen.« Bridei schwieg. »Und immerhin«, sagte Donal, »hast du eine Lösung ge- 375 funden. Eine verrückte Lösung, aber Fokel ist schließlich auch irgendwie verrückt. Wirst du ihm deinen Vorschlag unterbreiten?« Bridei antwortete nicht. In dieser so veränderten Welt schien es keinen Platz mehr für heldenhafte Pläne zu geben, für Gesten, die dazu gedacht waren, das Herz zu erheben. In dieser Welt wandelte die Finsternis und trug ein Menschengesicht. »Bridei«, sagte Donal. »Sag es mir, komm schon. Es geht nicht um das, was ich dachte, oder? Es geht nicht um den Kampf, sondern um etwas anderes. Sag es mir, Sohn.« »Ich bin kein Kind mehr«, fauchte Bridei. »Wenn es ein Problem gibt, dann überlass es bitte mir, es selbst zu lösen. Wer bist du, mein Kindermädchen?« Er schlug die Hände vors Gesicht, als er den Klang seiner eigenen Stimme hörte, deren Gereiztheit seine Worte Lügen strafte. »Ich bin dein Freund.« Donal blieb ruhig; er verurteilte ihn nicht für seinen Ausbruch. »Die Männer, einige von ihnen«, begann Bridei, »sie wollten - ich habe sie in der Siedlung überrascht, bevor Fokels Leute eintrafen. Sie wollten - sie haben die Gefangenen verängstigt, haben sie bedroht, und ...« »Du solltest mir lieber alles erzählen, nachdem du schon angefangen hast.« »Sie wollten eine Frau vergewaltigen. Ich habe es gesehen. Wenn ich sie nicht aufgehalten hätte, hätten sie es getan. Und ...« Nein, das genügte. Es war mehr als genug. »Wer war es?«, zischte Donal. »Hast du sie erkannt? Kennst du ihre Namen?« Bridei schluckte. Er hatte mehrere Gesichter erkannt, aber es war das von Gartnait, das er nicht vergessen konnte, Gartnait, in dessen Augen keine Scham und kein Bedauern stand, sondern Zorn, Ablehnung, Herausforderung. Gartnaits Stimme, hin und her gerissen zwischen lügenhaften Ausreden und der Bitte, ihn nicht vor seinem Vater zu beschämen. - 376 »Talorgens Männer«, sagte er. »Ich werde ihre Namen nicht nennen. Es ist zu spät, um es bei denen, die verletzt wurden, noch ungeschehen zu machen, und die Gefangenen sind nun in Sicherheit.« Geds Leute hatten es übernommen, die Frauen und Kinder zu bewachen, bis die Frage der Geiseln gelöst war. Der feindliche Anführer befand sich in Ketten bei Fokels Leuten. Seine Männer waren tot; alle, die nicht im Kampf gefallen waren, hatte man hingerichtet. Eine größere Truppe von Kriegern das Tal entlangzuführen, hielt man für zu gefährlich, und niemand hätte je daran gedacht, sie freizulassen. »Das solltest du aber«, sagte Donal grimmig. »Talorgen würde es von dir erwarten. Du weißt, was er davon hält, wenn die Disziplin gebrochen wird. Ganz gleich, ob das hier elende Gälinnen sind, kaum besser als ihre von allen guten Geistern verlassenen Männer, oder nicht.« Bridei schwieg einen Augenblick. Eine unausgesprochene Frage schien in der Luft zu hängen. »Ich glaube, Talorgen wird diese Namen nicht hören wollen«, sagte er schließlich. »Ich habe ihnen klar gemacht, dass ich es ihm sagen würde, falls ich noch einmal davon höre, dass jemand Hand an die Gefangenen legt. Und das werde ich auch tun.« »Ah ja?« »Ja. Ich habe es gesagt, und ich meinte es ernst. Aber ich hoffe, dass ich es nicht tun muss. Donal?« »Mhm?« »Ich habe mir heute neue Feinde gemacht. Diese Männer lehnten ab, was ich getan habe. Unsere eigenen Männer.« »Sie hätten es auch abgelehnt, wenn Ged es getan hätte, oder Morleo oder Talorgen selbst. Diese Männer hatten lange Zeit keine Frau, Bridei. Sie glauben wohl irgendwie, dass es ihnen deshalb zusteht, sich an die Gefangenen zu halten.« »Es ist eine seltsame Haltung, eine Frau nur als einen Gegenstand zu betrachten, den man sich nimmt, und sich so von den Bedürfnissen des Körpers überwältigen zu lassen, - 377 dass man sie sogar um einen solchen Preis befriedigen muss. So etwas stellt sicher die bitterste Beleidigung der Leuchtenden dar.«
Donal sah ihn fragend an. »Wir verfügen nicht alle über deine druidische Disziplin«, stellte er schließlich fest, »und über dein Ausmaß an Selbstbeherrschung. Das da sind einfache Leute, Bridei. Sie sehen die Dinge in Schwarz und Weiß. Es ist erheblich einfacher.« »Im Kampf vielleicht«, sagte Bridei und erinnerte sich an die kalte Ruhe, die ihn den Hügel hinaufgetragen hatte, die automatische Abfolge von Verteidigungs- und Angriffsbewegungen, die ihn für kurze Zeit zu einem wirkungsvollen und leidenschaftslosen Kriegswerkzeug gemacht hatte. »Aber so kann man doch nicht leben! Männer, die trotz der Götter solche Dinge tun. Wenn ich ein Anführer wäre, würde ich nicht wollen, dass solche Männer mir folgen.« »Sie haben dir heute gehorcht«, sagte Donal. »Wenn sie aufgehört haben, als du eingeschritten bist, haben sie dir gegen ihren Willen gehorcht.« »Sie haben es mit bitteren Blicken und höhnischen Bemerkungen getan.« »Du bist jung, das macht es schlimmer. Es gibt Männer, die die Wahrheit nicht von einem hören wollen, der so viel jünger ist als sie selbst, ganz gleich, wer er ist.« Sie saßen noch eine Weile länger zusammen, während die kleinen Feuer langsam niederbrannten und sich die Männer in der Nähe zum Schlafen niederlegten, weil Erschöpfung und volle Bäuche ihren Preis forderten. An diesem Tag hatten die Priteni gesiegt, und bald schon würde sich diese Nachricht überall in Dalriada ausbreiten und Furcht im Herzen der Feinde bewirken. Bridei fragte sich, ob Krieg immer so war. Vielleicht fühlte sich selbst der triumphierendste, der reinste, der edelste Sieg immer noch in so mancher Hinsicht wie eine Niederlage an. Ein wenig später, als Donal neben ihm eingeschlafen war, - 378 sah Bridei einen Mann, der den Hügel hinauf hinter die Siedlung ging, eine brennende Fackel in der Hand. Er stand auf, wickelte sich in seinen Umhang und folgte dem Mann. Der andere benutzte den gewundenen Weg, der zur Hügelkuppe führte, wo der große Stein zwischen seinen Schutzbäumen stand. Es war ein rascher Aufstieg, aber der Hang war ebenmäßig und es gab keine großen Felsen oder Büsche, nur Wiese. Als Bridei das Ende des Wegs erreichte, sah er den anderen am Magierstein stehen, und das Licht der brennenden Fackel zeigte das kunstvolle Muster von Konflikt, Triumph und Tod in seiner ganzen komplizierten Verflochtenheit. Es hätte beinahe eine Abbildung der Ereignisse dieses Tages sein können. Er sprach Fokel leise an, um seine Anwesenheit anzukündigen; sich einem solchen Mann schweigend von hinten zu nähern hätte bedeutet, sich ein Messer zwischen den Rippen einzuhandeln. Bridei ging zu ihm, die Stiefel leise auf dem Gras. Sie standen Seite an Seite, als das Fackellicht auf die Geschichte von Fokels Ahnen fiel, den wahren Beschützern von Galanys Höhe. »Ich hatte schon befürchtet, diesen Stein niemals als Erwachsener sehen zu können«, sagte Fokel mit seltsam belegter Stimme. »Dass die Götter mir keine Möglichkeit gewähren würden, ihn zu sehen: dieses Zeichen des heiligen Bundes, für den mein Vater starb, und meine Onkel, und so viele andere Verwandte. Ich war erst drei Jahre alt, als die Galen unser Land eroberten, zu klein, um zu verstehen, was wir verloren haben. Hier, nimm die Fackel. Lass mich die andere Seite sehen.« Schweigend umkreisten sie den Monolithen; er war tatsächlich beeindruckend, ein massives Ding, höher als der größte Mann und beinahe zwei Handspannen dick. Er musste auch tief in der Erde stecken, dicht am Herzen der Knochenmutter, um sich so fest ans Land klammern zu können. Sie betrachteten das ausgelassene Muster auf der Südseite, - 379 Geschöpfe von Erde und Meer, Bach, Hügel und Waldland, Schlucht und Höhle und des weiten, offenen Himmels. In dieser wilden Schöpfung war auch irgendwie Brideis eigene Vorstellung eingefangen, in der er auf einem Hügel stand, mit dem klaren Blick eines schwebenden Adlers ins Tal sah und dabei dennoch den Herzschlag von Fortriu unter seinen Füßen spürte. Und obwohl er nicht vorgehabt hatte, es zu sagen, obwohl die Ereignisse des Tages immer noch so schwer auf ihm lasteten, dass es kaum Platz für etwas anderes gab, sprach er es aus: »Wir sollten ihn mitnehmen.« »Was?« Aus Fokels Ton wurde klar, dass er es nur halb gehört und überhaupt nicht verstanden hatte. »Wir können den Stein nicht hier lassen; das käme einem Eingeständnis der Niederlage gleich. Wir wissen, dass wir mit der Streitmacht, die wir haben, Galanys Höhe nicht halten können. Aber wir können den Stein mitnehmen. An einen Ort, an dem die Galen ihn nicht berühren können.« »Du bist wirklich verrückt.« Fokel stand neben dem Stein und lehnte die Stirn an seine hohe, kalte Form, die Handflächen auf der Oberfläche, als könnte er dadurch etwas von seiner uralten Macht in sich aufnehmen. »Das ist das Verrückteste, was ich je gehört habe. Wer bist du, ein Held aus einem Mythos der Vorzeit, der die Kraft von fünfzig Riesen hat? Du siehst, wie groß er ist, und kannst dir denken, wie viel er wiegt. Oder werden wir Druidenmagie benutzen?« Trotz dieser Worte zeigte das Fackellicht eine Veränderung in Fokels Augen; irgendwo dort im Dunkeln gab es einen Funken der Erregung, ein Zeichen der Verrücktheit, die auf Brideis verrückten Plan antwortete. »Das, und ein paar praktischere Mittel«, sagte Bridei ruhig. »Es wird viel Arbeit sein, und wir haben nicht viel Zeit. Aber wir haben eine beträchtliche Anzahl von Männern, immer vorausgesetzt, dass wir Talorgen und die anderen überzeugen können. Und ich weiß genau, wie sich das erreichen lässt.«
- 380 KAPITEL ZEHN Jetzt bist du also endlich hier«, sagte Fola. »Du bist ein so kleines Ding, es ist schwer zu glauben, dass du schon beinahe fünfzehn Jahre alt bist. Aber Broichan hat es mir bestätigt. Willkommen in Banmerren, Kind.« »Danke, Herrin.« Tuala versuchte nicht zu zeigen, wie durcheinander und wie bedrückt sie war. Es war seltsam gewesen, in dieses ungewöhnliche, von einer Steinmauer umgebene Anwesen zu kommen, mit Mädchen überall, die sie staunend ansahen, und es war regelrecht unangenehm gewesen zu hören, wie die einschüchternde Dreseida, die Folas Studierzimmer als Erste betreten hatte, sie mit den Worten »Wir haben dieses seltsame Kind aus Pitnochie mitgebracht« ankündigte. Nun waren Ferada und ihre Mutter gegangen; man hatte sie zu jenem Teil von Banmerren gebracht, wo die Töchter adliger Familien wohnten, die die geheimeren Aspekte der Ausbildung, die hier angeboten wurde, nicht brauchten. Tuala stand vor der Weisen Frau, und außer ihnen beiden war nur noch eine weitere Person anwesend, eine kurz angebundene, schroffe Frau mittleren Alters, die sich als Kethra vorgestellt hatte. So elend ihr auch zumute war, Tuala staunte über die Stille, den hellen Stein, aus dem die Gebäude gemauert waren, die kleinen Figuren, die hier und da in Nischen standen, die hängenden Girlanden aus Kräutern und die seltsam gearbeiteten Lampen. - 381 »Du darfst mich Fola nennen. Wir haben es hier nicht mit Förmlichkeit; für den Blick der Leuchtenden sind alle gleich. Bist du froh, hier zu sein, Tuala?« Diese schwierige Frage kam vollkommen überraschend. »Ich bin dankbar für die Gelegenheit, Herr... Fola.« Es fühlte sich seltsam an, die Weise Frau so anzusprechen, als wäre sie eine vertraute Freundin. So klein sie sein mochte, Fola sah eindrucksvoller aus, als Tuala sie in Erinnerung hatte: Ihr Haar, das nun nicht von einer Kapuze verborgen war, war silbrig grau und lang und in einem schweren Knoten in ihrem Nacken zusammengerollt. Um den Hals trug sie über dem weichen grauen Gewand eine Mondscheibe in einer klauenartigen Silberfassung, die an einer feinen Kette hing. Folas Augen waren so, wie Tuala sie in Erinnerung hatte: dunkel, abschätzend, intensiv; ihr Lächeln war warmherzig. Hinter ihr hatte sich auf einem Steinsims ein pechschwarzer Kater von gewaltiger Größe zusammengerollt; seine ausgefransten Ohren und die Narben im Gesicht entsprachen offenbar den Tätowierungen eines Kriegers. Er beobachtete Tuala mit halb geschlossenen Augen. »Aber?«, fragte Fola. Tuala sah sie direkt an. »Ich werde sehr hart arbeiten«, sagte sie, »und alles lernen, was ich kann. Das bin ich dir schuldig, weil du bereit bist, mich hier aufzunehmen. Und ich schulde es auch denen, die mich zuvor unterrichtet haben.« »Du bist nicht ganz ehrlich mit mir, Kind«, sagte Fola. »Ich weiß, dass du schwer arbeiten wirst. Wenn ein Mädchen dazu nicht bereit ist, wird es nicht lange in Banmerren bleiben. Kethra kann dir das bestätigen.« Sie warf einen Blick auf die andere Frau, die mit vor sich gefalteten Händen an der Seite stand und deren Lippen nun leicht zuckten, aber es sah nicht sonderlich nach einem Lächeln aus. »Du musst es mir sagen, Tuala. Wenn du irgendwelche Bedenken hast, muss ich es jetzt erfahren. Hier in Banmerren sind wir alle Die- 382 nerinnen der Leuchtenden. Sie beherrscht uns vollkommen: Körper, Herz, Verstand und Seele.« Tuala nickte. »Ich bin ihre Tochter«, sagte sie. »Ich diene ihr in allem. Wenn es ihr Wunsch ist, dass ich ihre Priesterin werde, dann werde ich mich dieser Berufung so gut zuwenden, wie ich kann. Aber es war nicht meine Entscheidung, herzukommen. Nicht wirklich meine Wahl.« Bilder drangen ihr in den Kopf: Perle im Stall, die an Tualas Hals knabberte und nicht wusste, dass es das letzte Mal sein würde; Nebel, die protestierend hinter einer geschlossenen Tür schrie, als wüsste sie, dass Tuala sie verließ; der Mond, der durch ein kleines Fenster fiel, auf dessen Fensterbank eine Adlerfeder lag. Sie warf einen Blick zu der schweigenden Kethra, die ungerührt zurückstarrte. »Du kannst uns jetzt verlassen, Kethra«, sagte Fola. »Und würdest du Odha um eine kleine Kanne von ihrem Pfefferminztee und ein wenig Honig bitten? Danke.« Kethra rauschte hinaus, gerade aufgerichtet, Missbilligung in jeder Faser ihres Körpers. Fola seufzte. »Kethra ist für die jüngeren Schülerinnen zuständig«, sagte sie. »Meine wichtigste Helferin. Und jetzt setz dich, Tuala. Du hast eine lange Reise hinter dir; Dreseida hat mir einiges darüber erzählt. Und da ihre Tochter Ferada ebenfalls eine Weile bei uns bleiben wird, gibt es für dich zumindest ein vertrautes Gesicht.« Tuala gelang ein angespanntes Nicken. »Dennoch«, fuhr Fola fort, »ich denke, es sind mehr als nur die ermüdenden Tage auf dem See und im Sattel, die dich so verzweifelt aussehen lassen. Ich weiß, dass du bisher die Wahrheit gesagt hast. Aber es ist sicher mehr an dieser Sache.« »Es sollte eine Wahl sein«, brach es aus Tuala heraus. »Aber es war seine Wahl, nicht die meine.« Fola wartete einen Augenblick, dann sagte sie: »Seine Wahl? Die von Broichan?« - 383 Tuala nickte bedrückt. »Ich hatte zwei Möglichkeiten: hierher kommen oder einen Mann mit einem Gesicht wie eine Rübe heiraten. Nein, das ist ungerecht. Er schien ein guter Mann zu sein. Aber ich wollte nicht heiraten, und ich wollte nicht...« »Du wolltest nicht nach Banmerren kommen?«, fragte Fola sanft.
»Nicht weggehen«, flüsterte Tuala. »Nicht aus Pitnochie weggeschickt werden. Er versteht das nicht. Ich muss da sein.« Es klopfte an der Tür, und ein Mädchen kam mit einem kleinen Tablett herein. Sie trug das blaue Gewand, das Tuala an den meisten jungen Frauen in Banmerren gesehen hatte. Es waren viele im Garten unterwegs gewesen, waren die Pfade entlanggeeilt oder mit Schriftrollen oder Wasserbecken oder Kräuterbündeln beschäftigt gewesen. Ein paar trugen auch Grün; nur die älteren wie Kethra und Fola selbst waren ins Grau der Weisen Frauen gekleidet. Das Mädchen stellte das Tablett ab und zog sich schweigend zurück. Der Kater regte sich, streckte sich ausführlich und sprang vom Regal, dann kam er näher, um zu sehen, was das Mädchen gebracht hatte. »Ich verstehe.« Fola nahm eine kleine Kanne vom Tablett und goss ein dampfendes, aromatisches Getränk in zwei winzige Tassen, löffelte Honig hinein und reichte Tuala eine Tasse. Da es nichts Essbares gab, verlor der Kater das Interesse und fing an, sich zu putzen. »Ich gehorche der Leuchtenden«, sagte Tuala. »Ich liebe sie; warum sollte ich mich ihrem Willen widersetzen? Aber ich hätte nie gedacht, dass ich Pitnochie verlassen soll. Wenn sie vorhatte, dass ich als Weise Frau diene, warum hat sie dann dafür gesorgt, dass es Bridei war, der mich vor all diesen Jahren fand?« Sie hörte ihre eigenen Worte, zu viele Worte, und klappte den Mund zu. Fola trank ruhig ihren Tee. »Nehmen wir also einmal an, - 384 dass Broichan sich geirrt hat«, begann sie. »Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass Broichan nicht gerade für falsche Entscheidungen bekannt ist; mitunter ist für längere Zeit nicht ganz klar, was er anstrebt, aber das hat im Allgemeinen damit zu tun, dass seine Pläne weiter reichen, als wir gewöhnlichen Sterblichen es uns vorstellen können.« Es war schwer einzuschätzen, ob sie scherzte oder nicht. »Aber sagen wir einmal, die Leuchtende will nicht, dass du ihre Priesterin wirst. Was, glaubst du, hat sie für dich geplant?« Tuala schwieg weiter. »Das frage ich mich«, sagte Fola und setzte die Tasse wieder auf dem Tablett ab. »Trink, Kind. Es wird dir Mut geben. Broichan erinnert andere immer gerne daran, dass man selbst aus der anstrengendsten Erfahrung, selbst der verzweifeltsten Enttäuschung noch etwas lernen kann. Du wirst auch hier in Banmerren etwas lernen, und uns anderen wird es ebenso gehen: Wir hatten noch nie zuvor ein Kind des Waldes unter uns. Es wird für dich nicht leicht sein. Eine Herausforderung, aber ich bin sicher, du genießt Herausforderungen. Trink. Dann werde ich Kethra zurückholen, damit sie dir zeigt, wo du schlafen wirst. Du kannst dich vor dem Abendessen ein wenig ausruhen. Danach gibt es nur noch schwere Arbeit. Die Leuchtende wird uns mit der Zeit schon wissen lassen, was sie mit dir vorhat.« Tuala folgte Kethra durch einen Flur, einen Speiseraum und ein Unterrichtszimmer in einen Lagerraum, wo ein Mädchen, das Tuala unverhohlen anstarrte, ihr einen Stapel Kleidung in die Hand drückte: ein blaues Gewand ganz unten und andere Dinge obenauf. Sie kamen wieder durch den Garten, und Tuala bemerkte mehr Mädchen, die sich um ein Gemüsebeet kümmerten, Stroh verteilten oder Ranken festbanden; sie hörte Gesang von irgendwo im Haus, den reinen klaren Klang junger Stimmen, die ein Lied an die jungfräuliche Blütenreiche sangen. Aus einer offenen Tür drang der angenehme Duft von frisch gebackenem Brot. - 385 Das gesamte Anwesen von Banmerren war von einer Mauer umgeben; Stein bezeichnete seine Grenzen und hielt die Welt fern. Der einzige Eingang, den Tuala sehen konnte, befand sich dort, wo sie hereingekommen war - ein schweres Eisentor mit Riegeln davor. Es hatte draußen etwas gegeben, das sie sich gerne ausführlicher angesehen hätte, eine Landschaft, die sich so sehr von den zerklüfteten Hügeln und dem alles bedeckenden Wald von Pitnochie unterschied wie eine Möwe von einer Eule: Sie hatte weite, leere Sandflächen gesehen und dahinter das flüsternde Meer. Aber diese Mauern versperrten nun den Ausblick darauf. Mehrere Mädchen, nicht alle in den blauen Gewändern, sondern in schöne Röcke und Tuniken in unterschiedlichen Farben gekleidet, saßen auf einer Bank im Garten und unterhielten sich. Wie eine einzige Person drehten sie sich um und starrten Tuala an, als diese vorbeieilte, um mit dem forschen Tempo ihrer ungeduldigen Führerin Schritt halten zu können. Sie hörte das Flüstern, das unterdrückte Lachen. Die Worte verstand sie nicht. Ein Mädchen, das ein wenig abseits saß, lächelte sie an, ein warmherziges Lächeln in einem Gesicht, das Tuala besonders wegen seiner schönen grauen Augen und dem Ausdruck von natürlicher Gelassenheit auffiel. Dieses Mädchen hatte Haar, das in der Sonne schimmerte wie gesponnenes Gold und ihr in Wellen lang auf den Rücken fiel. Sie trug ein Kleid in einem hellen Rahmton mit einer Spur von Blau an Hals und Handgelenken. Tuala nickte ihr höflich zu. Das Lächeln zu erwidern war mehr, als sie jetzt über sich bringen konnte. »Hier hinauf«, sagte Kethra. Sie hatte mehr als klar gemacht, dass sie keine Zeit verschwenden konnte und ausgesprochen ungern Kindermädchen für ausgerechnet diese neu eingetroffene Schülerin spielte. Tuala fand das alles so bedrückend wie die letzten Tage in Pitnochie. »Fola sagt, du sollst im Turm schlafen. Er hat eine Weile leer gestanden. Es ist vielleicht das Beste so. Die anderen werden misstrauisch - 386 sein. Ich nehme an, du weißt das.« Sie ging vor Tuala eine Treppe hinauf, die außen am Gebäude verlief, und über einen gefährlich schmalen Laufgang zu einer Tür, die sich beinahe auf der Höhe von Banmerrens
Außenmauer befand. Das Zimmer hinter dieser Tür war ziemlich dunkel. Ein Rascheln in der Ecke hörte plötzlich auf, als sie hereinkamen. »Du wirst eine Kerze brauchen«, sagte Kethra. »Bitte in der Küche danach, wenn du zum Abendessen herunterkommst.« »Wann...« »Beim nächsten Läuten. Zieh das blaue Gewand an. Es wird noch lange dauern, bis du das grüne brauchst. Falls das überhaupt je geschieht. Hast du noch Fragen?« Tuala räusperte sich. Im Zimmer stand ein hölzerner Bettrahmen mit einer Strohmatratze darauf, aber Tuala konnte keine Bettwäsche sehen. Und es gab auch kein Feuer. »Könnte ich...« »Sprich!«, sagte Kethra. »Ich habe zu tun. Du bist wahrscheinlich daran gewöhnt, dass andere sich um dich kümmern und deine Arbeit tun. Das gibt es hier nicht. Wir leisten alle unseren Beitrag, ganz gleich, was wir sind.« »Eine Decke«, sagte Tuala mit fester Stimme, denn sie war zu dem Schluss gekommen, dass sie sich nicht einschüchtern lassen würde. »Zwei, wenn das möglich ist. Ich sehe, dass es hier keine Feuerstelle gibt. Ich werde herunterkommen und sie selbst holen; niemand braucht...« »Noch etwas?« »Im Augenblick nicht«, sagte Tuala höflich. »Du wirst warten müssen; der Lagerraum ist im Augenblick abgeschlossen, und alle haben zu tun. Frag nach dem Abendessen noch einmal. Und wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muss unterrichten.« Kethra drehte sich auf dem Absatz um und war verschwunden. Tuala warf ihre Tasche aufs Bett und zog ihren Umhang fester um sich. Es war vollkommen unmöglich, dass sie sich - 387 hier ausruhte; es war so kalt im Zimmer, dass ihr Atem eine kleine Wolke vor ihrem Mund bildete. Man hatte ihr ein seltsames Quartier zugewiesen. Es gab viele Mädchen hier, und auf ihrem Weg durch das Anwesen hatte sie mehrere lang gezogene Schlafräume gesehen, in denen Reihen von Betten standen. Sie war auch sicher, dort Feuerstellen erspäht zu haben, in denen Torf zum Anzünden bereit lag. Sie hatte erwartet, bei den anderen Mädchen untergebracht zu werden, in einem gemeinsamen Schlafraum, ähnlich wie die Bewaffneten in Pitnochie. Vielleicht sollte diese Isolation noch weiter unterstreichen, wie anders sie war. Aber wenn sie ehrlich war, erleichterte es Tuala gewaltig, allein zu sein, so trostlos dieses kleine Zimmer auch sein mochte. Ihre Augen gewöhnten sich mehr und mehr an das trübe Licht. Es gab tatsächlich eine Art Fenster, aber es war kaum mehr als ein Schlitz zwischen den behauenen Steinen und hatte keinen Laden. Kalter Wind fegte herein und brachte einen salzigen Geruch mit - das musste das Meer sein. Vögel schrien harsch und seltsam und erzählten eine andere Geschichte als Zaunkönig und Drossel, Eule und Rabe. Die hiesigen Vögel waren Reisende, die von langen Flügen über gefährliche Gewässer berichteten. Mit der Zeit würde Tuala lernen, sie zu verstehen. Dann raschelte es wieder, und ein leises Kratzen war zu hören. Offenbar würde sie ihr Zimmer mit Mäusen teilen müssen. Nebel hätte es hier gefallen. Tränen brannten in Tualas Augen, aber sie war entschlossen, nicht zu weinen. Nebel hatte ein gutes Zuhause, viel zu essen und Menschen, die nett zu ihr sein würden, nun, nachdem Tuala weg war. Es würde Nebel dort gut gehen; Tuala litt mehr unter der Trennung als die Katze, denn ihr würde Nebels tröstliche Wärme in diesem kalten Bett fehlen. Im Winter würde es sehr unangenehm sein, im Turm zu schlafen. Aber vielleicht gehörte das zur Ausbildung. Vielleicht sollte sie die Kälte akzeptieren und nicht um Decken bitten. Sie wusste, dass Dru- 388 iden sich Prüfungen durch Erde und Feuer, durch tiefes Wasser und durch die Luft unterzogen. Sie hängten sich in Ochsenhäuten an Bäumen auf und warteten auf prophetische Träume. Was waren verglichen damit schon ein paar unbequeme Nächte? Es wäre angenehm gewesen, sauberes Wasser zu haben, um sich den Staub der Reise von Gesicht und Händen waschen zu können. Aber das war gleich. Vor Kälte zitternd öffnete sie ihre Tasche und fing an, ihre kärgliche Habe auszupacken. Es gab eine Truhe hier, ein uraltes, schweres Ding voller Spinnennetze. Spinnen lebten immer noch in den Rissen und Ecken; Tuala tat ihr Bestes, sie nicht zu stören, schließlich waren sie vor ihr hier gewesen. Mara hatte dafür gesorgt, dass Tuala Unterwäsche zum Wechseln, zwei Unterhemden, warme Strümpfe und ein Nachthemd hatte. Dann gab es den Rock und die Tunika, die sie getragen hatte, als sie die Geschichte von Nechtan dem Steinmetz und seiner geheimnisvollen Liebsten Ela erzählte. Dazu gab es zwei weitere solche Röcke und Tuniken, ähnlich im Stil, aber von schlichterem Stoff und ohne Verzierungen. Schaudernd stieg Tuala aus dem Kleid, das sie zum Reiten getragen hatte, zog sich das blaue Gewand über den Kopf und band es mit dem passenden Gürtel um die Taille, den sie in dem kleinen Wäschestapel fand. Es gab keine Möglichkeit herauszufinden, wie sie darin aussah, aber das Gewand schien einigermaßen zu passen. Sie nahm an, es war das kleinste, was sie hatten. Die meisten anderen Mädchen hatten erschreckend groß und wohl geformt ausgesehen; sie waren vielleicht ebenso alt wie Tuala, sahen aber viel mehr wie junge Frauen aus. Es war schön und gut, dass die Männer in Pitnochie sie für eine Art geheimnisvolle Verführerin hielten; das
geschah alles nur in ihren Köpfen. Aber neben den Mädchen in Banmerren war sie tatsächlich immer noch ein Kind. Als sie ihre Kleidung weggepackt hatte, holte Tuala die kleineren Gegenstände heraus, die sie ganz nach unten ge- 389 steckt hatte, wo sie vor den neugierigen Augen von Feradas kleinen Brüdern verborgen gewesen waren. Ihr besonderes Messer, ihre Sammlung von Federn, die sie auf dem Waldboden gesammelt hatte, ihre Haarbänder, oder zumindest die, die sie finden konnte, bevor sie Pitnochie verließ. Haarbänder brauchte sie im Augenblick allerdings nicht. Sie hatte sich das Haar etwa auf Kinnhöhe abgeschnitten und die langen dunklen Locken dem Feuer in Broichans Halle übergeben. Die Leuchtende wusste bereits, wie ergeben ihre Tochter den Göttern und der Zukunft Fortrius war; mit diesem kleinen Opfer hatte Tuala es auch dem Flammenhüter deutlich gemacht, dem Gott, der Krieger inspirierte und beschützte. Ob einer von ihnen ihre Geschenke angenommen hatte, würde man sehen müssen. Immerhin war Tuala jetzt hier, und das fühlte sich falsch an. Die Haarbänder: grasgrün, himmelblau, blutrot, sonnengelb. Als sie klein gewesen war, hatten die Leute sie ihr mitgebracht. Bewaffnete gingen auf einen Feldzug und kamen zufällig an einem Markt vorbei. Ferat kaufte jeden Sommer ein paar von einem Mann, der mit Waren am Haus vorbeikam. Brenna fand ihre eigenen alten Haarbänder oder stellte mit Nadel und Faden neue aus Stoffstreifen her, die von anderen Näharbeiten übrig geblieben waren. Diese Bänder erinnerten sie an zu Hause, sie erinnerten sie an Bridei, der ihr Haar mit vorsichtigen Händen und einem kleinen Scherz flocht, an Ferats Haferkuchen und Maras sauberes Leinen, an Uven und Cinioch, die Geschichten erzählten, und an Nebel, die auf Brennas Schoß zusammengerollt lag und schnurrte. Diese Haarbänder standen für einen Haushalt, den es nicht mehr gab, für Liebe, die nie wirklich gewesen war. Tuala steckte sie in die Truhe. Das blaue Gewand war wärmer als ihre eigene Kleidung, aber nicht warm genug, um gegen den Durchzug zu helfen. Draußen hatten Wolken die Sonne zugedeckt, und der Wind fegte frisch und stark vom Meer herein. Wer wusste schon, - 390 wann die Glocke zum Abendessen läuten würde? Sie konnte selbstverständlich wieder die Treppe hinuntergehen und versuchen, nicht auf die neugierigen Blicke der anderen Mädchen, ihr schlecht unterdrücktes Lachen und die geflüsterten Bemerkungen zu achten. Sie konnte sich ins Gras setzen und vielleicht einige Zeit meditieren. Dort würde sie einigermaßen geschützt sein. Wenn die Mädchen sie störten, konnte sie sie einfach ignorieren. Tuala verzog das Gesicht. Sie machte sich nur etwas vor, wenn sie so tat, als ob das möglich wäre. Nach Kethras Bemerkungen hing das Überleben hier in Banmerren davon ab, die Regeln so schnell wie möglich zu lernen und sich gefälligst daran zu halten. Das war seltsam; selbstverständlich brauchte ein solches Unternehmen seine Verhaltensregeln, aber mangelnde Flexibilität und ungenügende Sorgfalt gehörten nicht zu den Fehlern, die Tuala in einer von Fola geleiteten Schule erwartet hätte. Sie erinnerte sich an Fola von ihrer Begegnung im Wald vor einiger Zeit als an eine Frau, die nicht nur verstand, was Regeln bedeuteten, sondern auch wusste, wann es Zeit war, sie zu brechen. Tualas Hände verharrten an dem letzten Gegenstand in ihrer Tasche: der gedrehten Schnur, die die Geschichte von ihr und Bridei erzählte. Es sah so aus, als wäre es den beiden Teilen von nun an bestimmt, für immer getrennt zu bleiben. Es war dumm von ihr gewesen, tief im Herzen zu glauben, dass es anders sein musste. Tuala rollte das kleine Ding zu einer Kugel zusammen und versteckte es unter ihrem Nachthemd. Dann schloss sie die Truhe und ging nach draußen. Es war genauso kalt, aber zumindest konnte sie den Himmel sehen. Die gleichen Wolken, die über Banmerren die Sonne verdeckten, würden später auch über den Wald von Pitnochie geweht werden und ihre bewegten Schatten auf das tiefe Wasser des Schlangensees werfen. Vielleicht würden sie sogar, bevor sie sich auflösten, noch über Talorgens Armee hinwegziehen, die das Tal entlang marschierte, um sich den - 391 wilden Kriegern von Dalriada zu stellen. Dort schoben sich die Wolken vielleicht erneut vor die Sonne, und ein junger Mann mit lockigem braunem Haar und Augen von leuchtendem Blau würde vielleicht nach oben schauen und plötzlich an zu Hause denken. Vielleicht. Der schmale Laufgang führte an ihrer Tür vorbei noch weiter. Wenn sie sich nach rechts wandte, würde sie wieder zum Garten gelangen, wenn sie der von Moos überzogenen Steinmauer folgte. Links gab es ein schräges, mit Schindeln gedecktes Dach, und von dort ging eine weitere Mauer aus, die im rechten Winkel auf die Außenmauer von Banmerren stieß. Dicht an dieser Außenmauer wuchs eine uralte Eiche, deren oberste Äste hoch über das Steinwerk aufragten. Ihr Stamm war knotig und knorrig, die Wurzeln bildeten ein großes Nest aus Bögen und Drehungen und Nischen und breiteten sich über ein umfangreiches Areal aus, bevor sie tief ins Herz der Erde vorstießen. Der Frühling war noch nicht weit fortgeschritten; an den Spitzen der dunklen Zweige waren erst die winzigsten Schwellungen neuer Knospen zu sehen. Die Nester vom Vorjahr hingen hier und da noch in den Zweigen und zeigten an, dass dieser Riese Jahr um Jahr Leben der verschiedensten Art beherbergte. Der Wipfel der Eiche erstreckte sich nicht ganz bis zum Schindeldach. Es gab einen Teil der Mauer, drei Schritte lang und vielleicht eine Handspanne breit, über den man balancieren musste, um den Baum zu erreichen. Die Höhe war beträchtlich; bei einem Sturz würde man sich zumindest ein paar Knochen brechen. Tuala steckte den Rock ihres Gewands in den Gürtel, breitete die Arme aus und ging darüber, ihre kleinen Füße sicher auf dem
schmalen Stein. Sie hatte nie Angst vor Höhen gehabt. Das war schon besser. Ein wenig Klettern brachte sie zu einer Gabelung im Baum und einem Ast, der breit genug war, um sie aufzunehmen, mit dem Rücken zum moosüberzogenen Stamm, die Füße beide auf einem Ast, und nun - 392 konnte sie auch über die Außenmauer hinweg sehen, was die Welt außerhalb von Banmerren zu bieten hatte. Sie würde auch sogar durch den Wipfel auf diese äußere Mauer klettern können, wenn sie das wirklich wollte, denn der Baum breitete seine Äste großzügig in alle Richtungen aus. Aber vermutlich würde die Abendessenglocke genau dann läuten, wenn sie auf halbem Weg nach draußen war, und sie würde schon an ihrem ersten Tag zu spät kommen. Und sie brauchte sich auch nicht weiter vorzuwagen; dieser Baum hielt sie sicher, stützte ihren kleinen Körper mit seinem eigenen, uralt und stark. Wenn sie still war und ihre Ohren seinem Geist öffnete, würde er bald schon anfangen, ihr Geschichten zuzuflüstern. Sie konnte über eine breite, helle Bucht hinweg zur Landspitze auf der Ostseite schauen. Dort stand eine Festung. Fahnen flatterten über den Steinzinnen, blaue Zeichen auf Weiß. Von der obersten Ebene der Festung aus würde es möglich sein, weit aufs Meer hinauszuschauen, schon früh zu wissen, wann sich Feinde auf dem Seeweg näherten. Es gab auch Wälle und Gräben; wenn Tuala die Augen ein wenig zusammenkniff, konnte sie kleine Gestalten erkennen, die sich dort bewegten. Caer Pridne: die Festung von Drust dem Stier, Herrscher von Fortriu. Es war so nahe. Dreseida war vielleicht schon eingetroffen, richtete sich mit ihren kleinen Söhnen am Hof ein, tauschte mit Freundinnen Nachrichten aus und war zweifellos erfreut, dass sie die lange Reise endlich hinter sich hatte. Dreseida hatte sich sicher nicht länger in Banmerren aufgehalten, als es notwendig war, um ihre Tochter unterzubringen, denn außer Druiden wurden keine Männer oder Jungen auf das Gelände gelassen, und Tuala konnte sich nicht vorstellen, dass Uric und Bedo sonderlich geduldig vor der Steinmauer auf ihre Mutter warteten. Caer Pridne. Es gab seltsame Geschichten über diese Festung. Oder genauer gesagt hatten Erip und Wid Andeutun- 393 gen darüber gemacht, dass es Geschichten gab, die zu seltsam waren, als dass man sie erzählen könne, und dann geschwiegen. Es gab einen Brunnen, dessen Zugang tief unter der Erde lag, ein Ort dunkler Zeremonien. Mehr hatten ihre alten Lehrer nicht sagen wollen. Wenn die Fahnen gehisst waren, bedeutete das, dass König Drust anwesend war, während seine Krieger tief drunten im Großen Tal gegen die Galen kämpften. Broichan würde ebenfalls in Caer Pridne sein, nachdem er wieder seinen Platz als Druide des Königs eingenommen hatte, einen Platz, den er lange Jahre aufgegeben hatte, während Bridei vom Kind zum Mann heranwuchs. Es schien, dass Broichan Bridei begleitete wie ein dunkler Schatten, wohin er auch ging. Er mochte vielleicht nicht auf dem Schlachtfeld an der Seite seines Pflegesohns stehen, aber er würde bereit sein, wenn Bridei an den Hof kam. Tuala hatte plötzlich ein Bild vor Augen, auf dem Bridei ein reifer Mann war, die braunen Locken von Grau durchzogen, und Broichan war uralt, aber immer noch in seiner Nähe, von wo aus er alles beherrschte und immer noch jede Spielfigur bei diesem lange andauernden Spiel manipulierte. Fola hatte etwas darüber gesagt, dass die meisten Menschen die Pläne des Druiden nicht verstanden. Tuala schloss ihre Gedanken gegenüber der Zukunft ab, damit nicht eine gewisse rothaarige Frau darin erschien. Druiden wussten nicht alles. Selbst die forderndste Selbstdisziplin und das tiefste Wissen versetzten einen Mann nicht in die Lage, die Götter zu betrügen. In Banmerren begann für Tuala ein vorhersehbarer Ablauf aus Mahlzeiten, Lernen, Hausarbeit und Schlaf. Sie entdeckte, nachdem sie den Mut aufgebracht hatte zu fragen, dass jedes Mädchen ein Kissen und zwei Decken erhielt und dass sie, weil sie im Turm keine Feuerstelle hatte, sogar drei bekommen konnte. Sie lernte, was die Glocken bedeuteten, und gehorchte ihnen, wenn sie daran dachte. Wenn sie im - 394 Baum saß oder vor einer Regenpfütze oder einem Becken mit Waschwasser in Trance fiel, vergaß sie manchmal die Zeit und bewegte sich außerhalb der Welt gewöhnlichen Hörens. Kethra versäumte nie, sie deshalb zu ermahnen. »Wie meinst du das, du hast nicht gewusst, dass es geläutet hat? Wo warst du denn, in einer anderen Welt?« Kethras Worte trafen sie; obwohl Tuala sich sehr anstrengte, so wie alle anderen in Banmerren zu sein, konnte sie ihrer Herkunft nicht entkommen. So unauffällig sie auch zu sein versuchte, sie würde immer anders aussehen, und solche Bemerkungen halfen nicht. »Man kann die Glocke in jeder Ecke von Haus und Garten hören, Tuala. Das nächste Mal wirst du pünktlich sein.« »Ja, Kethra.« Früher einmal hatte sie Mara für herrisch gehalten. Verglichen mit dieser reizbaren Lehrerin erschien Broichans Haushälterin im Nachhinein ebenso freundlich wie vernünftig. Dem Muster des Tages konnte man leicht folgen. Sie standen früh auf. Die Schülerinnen wechselten sich mit den Hausarbeiten ab, vom Wasserholen bis zur Vorbereitung und dem Auftragen von Mahlzeiten, vom Schrubben der Böden bis zum Holzhacken, von der Versorgung der Feuer bis zum Nähen und Flicken von Kleidungsstücken. Diese Pflichten fanden rings um die Lernzeiten statt; wer an einem bestimmten Tag keine Arbeit im Haushalt zu erledigen hatte, war angehalten zu üben, was Kethra oder andere ihnen beigebracht hatten: die Herstellung von Kräuterbalsam und Tinkturen, das Auswendiglernen der Worte und Bewegungen für die
Rituale, Sterndeutung, und für jene, die dazu begabt waren, Sprachen, Schreiben und Lesen. Banmerren verfügte über eine eigene kleine Bibliothek. Außerdem wurden die blau gewandeten jüngeren Schülerinnen in die Kunst der Deutung von Vorzeichen und der Weissagung eingeführt. Das ernsthafte Studium dieser Aspekte des Handwerks war überwiegend Sache der Älteren, die bereits eine gewisse Ebe- 395 ne der Kompetenz und des Verständnisses erreicht hatten. Tuala mochte die älteren Schülerinnen. Es gab nur sieben von ihnen, und sie hatten alle einen so ruhigen Blick und eine freundliche Art, die Tuala wünschen ließ, zu ihnen zu gehören und nicht nur eine Anfängerin zu sein, die sich mit einer Schar kichernder Mädchen abgeben musste, die offenbar kaum zwischen Geografie und Genealogie, Astrologie und Arithmetik unterscheiden konnten. Sie war an die intensiven, manchmal leidenschaftlichen Belehrungen der belesenen alten Gelehrten gewöhnt und versank nun während des Unterrichts in Schweigen. Schon ihre Anwesenheit während dieser Unterrichtsstunden erregte Aufmerksamkeit; sie wollte nicht auch noch die hochgezogenen Brauen und das gequälte Lächeln ertragen müssen, mit denen die anderen für gewöhnlich auf ihre Fragen reagierten. Zwei Monde vergingen auf diese Weise, und es war Sommer. Tuala entdeckte, dass der beste Unterricht des Tages die Geschichtsstunde war, bei der die Töchter adliger Familien ebenso anwesend waren wie jene, die Dienerinnen der Leuchtenden werden wollten. Tuala hätte nie geglaubt, dass sie einmal für die Anwesenheit von Fuchsmädchen dankbar sein würde, aber Ferada war zumindest offen und ehrlich, statt nur zu kichern und zu flüstern. Schon in den ersten Tagen in Banmerren fiel Tuala auf, dass Ferada sie beim Abendessen beobachtete, wenn die adligen Töchter an ihrem eigenen Tisch saßen und die anderen an drei langen Tischen unter Aufsicht der Älteren. Bei den Mahlzeiten saß Tuala immer allein da. Die anderen hielten auf beiden Seiten Abstand, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Das führte häufig dazu, dass das Brot ihr erst dann gereicht wurde, wenn nur noch ein winziges Stück übrig war, und manchmal war so gut wie gar nichts mehr für sie übrig. Tuala, die selten mehr Appetit hatte als ein Vogel, weigerte sich, sich deshalb Sorgen zu machen. Zumindest befreite diese Isolation sie von der Notwendigkeit, mit den - 396 anderen sprechen zu müssen. Aber Ferada war offensichtlich beunruhigt; sie sah mit einer kleinen Falte auf der sonst so glatten Stirn zu und sprach mit dem Mädchen neben ihr, dem mit dem Haar wie ein goldener Wasserfall und dem freundlichen Blick. Dieses Mädchen war interessant. Tuala hatte herausgefunden, dass sie Ana hieß und eine königliche Geisel von den Inseln im Norden war; sie befand sich im Gewahrsam von König Drust, um sicherzustellen, dass ihre Verwandten nicht versuchten, die Küste von Fortriu anzugreifen. Ana hatte ihre Heimat und ihre Familie zurücklassen müssen, aber das war nicht ihre Schuld gewesen. Sie lebte nun seit vier Jahren entweder in Caer Pridne oder Banmerren, abgeschnitten von allen, die sie liebte. Und sie war jung; kaum ein Jahr älter als Tuala selbst. Es hieß, sie wurde jedes Mal, wenn sie Banmerren verließ, von vier großen, kräftigen Wachen begleitet, falls ihre Verwandten zu dem Schluss kommen sollten, dass ihre Freiheit wichtiger war als die Risiken, sich Drust dem Stier zu widersetzen. Auch am Hof folgten ihr Bewaffnete beinahe überall hin. Anas Vetter war König der Hellen Inseln und von geringerem Status als der Herrscher von Fortriu. In ihren vier Jahren als Geisel hatte die Familie nicht versucht, ihre Freilassung zu erreichen. Wie es dem blonden Mädchen gelang, so gelassen, so ausgesprochen ruhig zu sein, konnte sich Tuala nicht vorstellen. Wenn es Zeit für den Geschichtsunterricht wurde, bei dem beide Gruppen von Schülerinnen anwesend waren, setzte sich Ferada auf einer Seite neben Tuala und Ana auf der anderen, und danach saßen die drei jeden Morgen beisammen. Zumindest während dieser Stunde konnte Tuala sich einbilden, sie wäre nicht vollkommen allein. Eine der grün gekleideten Älteren, Derila, unterrichtete dieses Fach; eine willkommene Abwechslung zu Kethras scharfen Fragen und ätzenden Bemerkungen. Derila war klug und gerecht; sie erwartete, dass alle Schülerinnen teilnahmen, und blieb - 397 auch noch freundlich, wenn eine einen Fehler machte. In Derilas Klasse schwieg keine. Auch Ferada war klug. Sie hob die Hand bei jeder Frage; wenn sie anderer Meinung war als andere, argumentierte sie geistreich und schlüssig. Tuala begann, noch einmal neu über sie nachzudenken. Ana war ebenfalls für dieses Fach begabt. Sie neigte weniger zum Widerspruch, aber sie konnte ihren Standpunkt bei Debatten verteidigen und lernte rasch, denn sie war die Art von Schülerin, die morgens früh aufstand und schon lernte, wenn andere noch im Bett lagen. Ana konnte auch wunderbar mit Nadel und Faden umgehen und gleichzeitig die Ahnen der Könige des Volkes aufzählen, ohne bei einer dieser Tätigkeiten einen Fehler zu machen. Sie konnte Landkarten auf einem Tablett mit Sand zeichnen und identifizieren, welche Sterne eine glückliche Zukunft für ein Neugeborenes bedeuteten und welche ein Leben des Kampfs und der Anstrengung prophezeiten. Sie konnte singen und Harfe spielen. Was Tuala selbst anging, so war dieser Unterricht eine der wenigen Situationen, in denen sie keine Angst hatte, etwas zu sagen. Sie antwortete vorsichtig erst auf eine Frage, dann auf eine andere, und schließlich fragte Derila sie, was sie über Verwandtschaftszeichen wusste und über die unterschiedlichen Weisen, wie sie auf den gemeißelten Steinen benutzt wurden, je nachdem, ob man sich in Circinn oder in Fortriu befand. Diese Erläuterung brauchte ihre Zeit, denn es war ein kompliziertes Thema, und Wid und Erip hatten häufig darüber debattiert. Die Klasse saß schweigend da und hörte zu, und Derila tat das Gleiche. Von diesem Zeitpunkt an bat
die Lehrerin Tuala häufig, etwas näher zu erklären, und verwickelte sie manchmal auch nach dem Unterricht in ein Gespräch. Es war nicht ganz wie in den alten Zeiten in Pitnochie, aber es war angenehm. Der Unterricht, bei dem es um die Anwendung des Blicks - 398 ging, war ganz das Gegenteil. An diesen Klassen nahmen die adligen Töchter nicht teil; zu diesen Zeiten durften sie ausreiten, da ihre eigenen Pferde auf dem Bauernhof vor der Mauer untergebracht waren. Anas Wachen waren nie weit entfernt; auch sie hatten ihr Quartier auf dem Bauernhof, solange ihre Schutzbefohlene sich in Banmerren aufhielt. Bei schlechtem Wetter saßen die adligen Mädchen zusammen und nähten und unterhielten sich; nach allem, was Tuala hörte, ging es bei diesen Gesprächen meistens um einen ausführlichen Vergleich der jungen Männer, die sie kannten. Tuala und die anderen jüngeren Schülerinnen versammelten sich unter Kethras Blick in einem kalten Zimmer, und vor ihnen auf dem Tisch stand eine Bronzeschale. Kethra erklärte die Grundlagen. »Ihr werdet wahrscheinlich nichts weiter sehen als euer eigenes Spiegelbild ... durchaus üblich ... müsst euch konzentrieren ...« Tuala starrte einen Fleck an der Wand an, der irgendwie die Gestalt eines kleinen Hundes hatte; sie betrachtete die Kratzer auf den Bänken, die Binsen am Boden, die gefalteten Hände des Mädchens neben sich. »Konzentriert euch ... schließt Ablenkungen aus ... versucht langsam und stetig zu atmen, wie ich es euch gezeigt habe...« Odha, bleich vor Anspannung, beugte sich über die Schale, die ein anderes Mädchen aus dem schweren Krug auf dem Tisch gefüllt hatte. Tuala starrte Odhas Filzpantoffel an, den Türrahmen, Folas Kater Schatten, der mit mürrischem Blick in einer Ecke saß. Alles, alles, um den Blick nicht auf die schimmernde Oberfläche richten zu müssen, auf der es vor Geheimnissen nur so wimmelte. Alles, um nicht akzeptieren zu müssen, was sie dort sehen konnte. »Atme, Odha. Mach deinen Geist ganz leer ...« Sie warteten lange schweigend. Schließlich richtete sich Odha mit besorgter Miene auf. »Ich konnte überhaupt nichts sehen«, verkündete sie niedergeschlagen. - 399 »Diese Fähigkeit ist ein Geschenk der Leuchtenden«, sagte Kethra nicht unfreundlich zu ihr. »Sprich bei deinen Gebeten mit ihr und bitte um ihre Weisheit; sie wird dir die Gabe mit der Zeit gewähren, wenn sie glaubt, dass du dafür bereit bist. Solche Aspekte unseres Handwerks lassen sich nicht an einem Tag oder in einer Jahreszeit erlernen, nicht einmal in einem Jahr, sie entwickeln sich mit strenger Disziplin und fleißiger Übung im Lauf eures gesamten Dienstes. Das hier ist keine Prüfung, Kind, es ist nur ein Anfang. Tuala!« Kethras Tonfall hatte sich vollkommen verändert; nun lag Eis in ihrer Stimme. Tuala zuckte zusammen. »Ja, Kethra?« »Du findest diese Binsen auf dem Boden sicher ausgesprochen faszinierend; vielleicht gibt man sich dort, wo du herkommst, nicht mit solchen kleinen Feinheiten ab. Aber du bist hier, um zu lernen, nicht um zu träumen. Aber vielleicht bist du ja der Ansicht, dass ich dir nichts beizubringen habe - ist es das? Dass du alle Fähigkeiten, die ich lehren kann, bereits gemeistert hast?« Leises Lachen erklang, das rasch wieder verstummte, als Kethra den Blick durch den Kreis wandern ließ. Tuala senkte den Blick auf ihre Hände. Sie wollte nicht lügen; es kam ihr so vor, als erwartete die Leuchtende, dass hier im Haus ihrer Weisen Frauen stets die Wahrheit gesagt wurde. »Ich glaube nicht, dass ich in dieser Klasse sein sollte«, sagte sie leise. Nun lachte niemand mehr; stattdessen schnappten alle entsetzt nach Luft. Alle fürchteten Kethras scharfe Zunge; niemand hatte sie je herausgefordert. Außerdem galt Kethra als eine Quelle der Weisheit - schließlich war sie Folas wichtigste Helferin. Dass ihr Unterricht etwas war, das man eher ertrug als genoss, tat dem keinen Abbruch. »Da könntest du Recht haben«, sagte Kethra trocken. »Es gibt Schülerinnen, die die Kunst der Weissagung niemals meistern, denen der Blick für immer versagt bleibt. Aber wir - 400 erwarten zumindest, dass alle es versuchen. Nur die, die über dir stehen, können entscheiden, ob du die Fähigkeit hast oder nicht. Für jene ohne Begabung lassen sich andere Aufgaben finden.« »Fußböden schrubben«, murmelte jemand. »Das meinte ich nicht«, sagte Tuala verzweifelt. Sie wollte unbedingt ruhig bleiben, aber sie konnte unter dem Blick der Weisen Frau nicht den Mund halten, denn Kethra schien sie auf die gleiche Ebene zu stellen wie etwas, was man unter der Stiefelsohle zerdrückte. »Ich würde es nur nicht gerne hier tun, beim Unterricht - es ist am besten, wenn man allein ist, mit Gebeten und dem angemessenen Ritual...« Kethras Blick veränderte sich abermals; nun stand etwas wirklich Beunruhigendes in ihren Augen. »Verstehe ich das richtig?« Ihr Ton passte nicht zu ihrem Blick; er war seidenweich. »Du, eine neue Schülerin, ein Kind des Waldes, das nur wegen der Freundlichkeit der obersten Priesterin hier aufgenommen wurde, will mir sagen, wie ich meinen Unterricht durchführen soll?« Tuala schüttelte den Kopf; Verzweiflung rang in ihrer Brust mit Zorn. Sie schaute Kethra an und versuchte dabei immer noch, das glitzernde Wasser nicht einmal mit einem Blick zu streifen. »Nein«, sagte sie so höflich, wie sie
konnte. »Ich bin weder Weise Frau noch Lehrerin. Aber man hat mich erzogen, die Götter zu lieben und mich strikt an die Rituale zu halten. Ich habe diese Dinge studiert, seit ich ein kleines Kind war. Ich bin sicher, du weißt, was für deine Schülerinnen das Richtige ist. Ich kann nur sagen, dass die Anwendung des Blicks für mich und die anderen in meinem Haushalt immer eine Sache der Einsamkeit war, ein Ritus, der nur zwischen Seher und Geistern stattfand.« Das stimmte nicht ganz; sie hatte Seite an Seite mit Bridei in den Dunklen Spiegel geschaut, und beide hatten ihre eigenen Visionen gesucht. Aber Bridei war ein Teil ihrer selbst, und sie ein Teil von ihm; das war etwas anderes. »Ich möchte bitte von die- 401 sem Unterricht entschuldigt werden; ich werde die Zeit damit verbringen, allein zu üben. Oder Fußböden zu schrubben, wenn du das für angemessen hältst.« Kethra sah sie lange an. Dann trat sie beiseite, und die Bronzeschale war plötzlich gut zu sehen; das ruhige Wasser fing das Licht zweier hoher Kerzen ein, die neben ihr auf dem Tisch standen. Auf der Oberfläche tanzten Bilder und zogen Tuala gegen ihren Willen an. Es wurde sehr still im Raum. »Du bist dran«, sagte Kethra leise. »Sag uns, was du siehst, kleines wildes Mädchen.« Inzwischen hatte sie keine Wahl mehr. Das Wasser rief sie; die Vision verlockte sie, und sie musste hinschauen. Tuala ging näher heran, und die Welt von Lehrerin und Schülerinnen, von flackernden Kerzen, stillem Zimmer und Steinmauern löste sich rings um sie her auf, als das Auge des Geistes sie in die Trance zog. Eine hoch gewachsene Frau war auf dem Wasser zu sehen, die Verkörperung der Leuchtenden selbst, in einem silbernen Gewand, ihr Gesicht so strahlend, dass Tuala es nicht ansehen konnte, sie konnte weder Züge noch Ausdruck erkennen, aber sie wusste, sie waren von unvergleichlicher Schönheit und voll liebevollsten Mitleids. Auf der Schulter der Frau hockte eine Eule, die Augen rund und schimmernd, das Gefieder rein weiß. In den Armen der Göttin lag ein Baby, in weißen Pelz gehüllt; sie hielt es liebevoll, als wäre es etwas sehr Kostbares. Sie verblasste, und an ihre Stelle trat eine so seltsame Szene, dass Tuala eine Weile die Einzelheiten nicht zusammensetzen und sie begreifen konnte. Es war eine Szene hektischer Aktivität; Männer fällten Bäume, glätteten die Stämme zu gleichmäßigen Balken; Männer arbeiteten mit Seilen und knüpften ein Netz oder eine Art Geschirr wie für Zugpferde; Männer gruben tief in die Erde. Männer am Ufer bauten ein großes Floß; andere standen Wache, als erwarteten sie einen Angriff. Ein paar dieser - 402 Männer kannte Tuala: Donal befand sich bei denen, die an den Seilen arbeiteten; Enfret stand Wache, Feradas Bruder Gartnait lehnte sich an eine Mauer und tat überhaupt nichts, sondern sah nur mit verächtlich verzogenem Mund zu. Dann ein schrecklicher Anblick: ein großer Berg von Leichen auf einem brennenden Scheiterhaufen. Tuala biss sich auf die Lippen und hörte mit den Ohren der Seherin die Schreie von Frauen, eine verzweifelte Abschiedsklage. Offenbar war die Schlacht vorüber, und Fortriu hatte gesiegt. Aber was machten sie da? Dann erschien endlich Bridei: Tuala spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten, als sie ihn sah. Er lebte noch, war immer noch in Sicherheit. Er stand oben auf einem Hügel, und der Wind zauste sein Haar. Er erteilte Befehle, und die Männer eilten sich, ihm zu gehorchen. Er sah so groß aus, so ernst. So sehr ein Mann. Es wurde mehr gegraben; verblüffenderweise schien es, als lockerten sie einen riesigen stehenden Stein aus seinem Bett tief in der Erde, legten ihn mit Hilfe von Seilen um, wobei viele Männer das Gewicht hielten, bis der Monolith sachte auf Baumstämme gelegt wurde, die als Rollen fungierten. Vor Tualas staunenden Augen wurde das massive Ding den Hügel hinuntergeschafft; Männer eilten sich, die Stämme von hinten nach vorn zu schaffen; andere legten sich fest in die Seile, um den Abstieg zu verlangsamen, und die ganze Zeit war Bridei neben ihnen, ermahnte sie, ermutigte sie, veränderte den Winkel der kostbaren Last, damit sie sie nicht noch einmal heben mussten; eine Aufgabe, die sicher selbst eine so große Anzahl von Männern nicht leisten konnte. Ein dunkelhaariger, wild aussehender Mann hielt sich stets in Brideis Nähe auf. Sein verrücktes Grinsen schien nicht so recht zu den Tränen in seinen Augen zu passen. Es war ein langer, anstrengender Marsch; die Männer stemmten sich in die Seile und zogen den Stein nun über flaches Gelände, und die Läufer waren weiterhin mit ihrem endlo- 403 sen Heben und Versetzen der schweren Rollen beschäftigt. Endlich erreichten sie das Ufer, und eine komplizierte Verschiebung mit Hilfe von Keilen, langen Hebeln und dicken Seilen fand statt, die den Stein von einem erhöhten Ufer auf eine Art Netzwiege in einem flachen Boot brachte. Tuala fragte sich, ob der Stein jetzt nach all dieser Mühe ohne jede Spur versinken würde; ob die Götter die Männer von Fortriu für etwas bestrafen würden, was wie ungeheuerliche Possen aussah, obwohl das Ding, das sie stahlen, zweifellos ihnen gehörte. Aber unter wildem Jubel - es war ein Wunder, dass diese Männer noch Atem für mehr als ein Flüstern hatten schwamm der Magierstein in seiner Hängematte aus Seilen. Und das Schiff bewegte sich auf ein unruhiges Gewässer zu, wahrscheinlich den Königssee am westlichen Ende des großen Tals. Talorgen schlug Bridei in einer herzlichen Geste auf die Schulter. Donal war ganz in der Nähe, und auf seinem tätowierten Gesicht zeigte sich deutlich, wie stolz er war. Gartnait war nirgendwo zu sehen. Bridei lächelte. Tuala kannte dieses kleine Lächeln, und sie sah an dem Schatten in seinen Augen und der bleichen Haut und daran, wie die Knöchel an den Händen weiß wurden, dass dieser doppelte Sieg für ihn auch eine Niederlage enthielt, etwas, das er für Versagen hielt. Nun war es vorüber, und sie würden nach Hause kommen. Sie würden nach Hause kommen, und Bridei würde reden wollen, er würde jemandem sagen müssen,
was ihn belastete, was diese Finsternis in seinem Geist hinterlassen hatte, die seine Gedanken verwirrte und an seinem Herzen zehrte. Über solche Geheimnisse konnte er nicht einmal mit Donal sprechen, er konnte ihm nicht alles sagen. Er würde Broichan seine Tränen nicht sehen lassen. Bridei würde Tuala brauchen, und sie würde nicht da sein. Sie war hinterher nicht sicher, ob sie das Bild weggezwungen hatte oder ob es von selbst verblasst war. Lange Zeit stand sie wie betäubt da, hatte sich bereits aus der Welt - 404 der Seher verabschiedet, war aber noch nicht ganz in die andere zurückgekehrt. Dann sagte eine Stimme: »Sie weint.« Kethra war die Nächste, die etwas von sich gab, in einem ruhigen, misstrauischen Ton. »Still, Reia. Zu den ersten Dingen, die ihr lernen müsst, gehört, dass man eine Person in Trance nicht stören darf. Man muss ihr Zeit lassen, aus der Trance wieder aufzutauchen, Zeit, zu sich zurückzukehren.« Und dann, nach einer sorgfältig bemessenen Wartezeit: »Tuala?« Tuala blinzelte; die Kerzen flackerten, ein Kreis von Gesichtern war zu sehen, junge Gesichter, ihre Augen alle groß vor Staunen. Tuala fühlte sich schwach, krank; es war so lange her, seit sie ihn gesehen hatte, zu lange, und jetzt das ... »Setz dich«, sagte Kethra. »Odha, hol ihr einen Becher Wasser. Ihr anderen, macht ihr ein wenig Platz. Atme langsam, Tuala.« Der große Kater, Schatten, entschied sich, gerade in diesem Augenblick neben Tuala auf die Bank zu springen; er drückte seinen Kopf schnurrend gegen den ihren, und sie streckte die Hand aus, um ihn hinter den ausgefransten Ohren zu kraulen. Diese Berührung war beruhigend; sie brachte die alltägliche Welt auf eine Weise zurück, wie es den Worten der Menschen nicht gelungen war. »Trink«, sagte Kethra und schob Tuala einen Becher Wasser in die Hände. »Mädchen, ihr könnt hier viel lernen. Vor allem zeigt es uns die Gefahren des Experimentierens ohne Anleitung. Tut das nicht. Eine solche Erfahrung erschüttert sowohl den Körper als auch den Geist. Solange ihr nicht ein gewisses Maß an Beherrschung erlangt habt, braucht ihr stets einen Beobachter.« Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Tuala zu. »Du hast uns also die Wahrheit gesagt«, stellte sie fest. »Was hast du gesehen? Teile es mit uns.« Zu widersprechen wäre sinnlos gewesen; eine Weigerung hätte ihr nur noch mehr Aufmerksamkeit verschafft. Kethra würde sie nicht in Ruhe lassen, bevor sie eine Antwort er- 405 halten hatte. »Ich glaube, es waren Bilder aus der Gegenwart oder der nicht lange zurückliegenden Vergangenheit«, sagte Tuala. »Selbstverständlich zeigen diese Visionen nur, was sein könnte oder was hätte sein können. Es ist nicht immer möglich zu sehen, was man glaubt sehen zu müssen. Manchmal erhält man keine Antworten. Zu anderen Zeiten sind sie da, aber verborgen. Ich habe Bilder von König Drusts Männern auf ihrem Feldzug gesehen. Ihr wisst, dass sie unter dem Befehl des Fürsten Talorgen weit das Tal hinabgezogen sind, in der Hoffnung, das Territorium von Galanys Höhe zurückzuerobern, wo der Magierstein steht.« Ihre Zuhörerinnen schwiegen gebannt und warteten auf mehr. »Die Bilder schienen zu zeigen, dass sie den Kampf gewonnen haben. Und ... sie haben den Stein bewegt. Haben ihn mit Seilen und Balken aus der Erde gehoben und ihn den Hang hinunter zu einem Boot gebracht, damit er zurück in unser eigenes Land gebracht werden kann.« Sie würde nicht von der Leuchtenden sprechen, und sie würde auch Bridei nicht erwähnen. Kethras Miene war ein wenig verärgert. »Warum sollte einem Kind wie dir eine solche Vision gesandt werden?«, fragte sie. »Was kannst du schon von diesen Dingen wissen?« »Sie bewegen den Magierstein?«, fragte Reia verblüfft. »Heißt es nicht, er sei größer als ein Riese und so dick wie der Hals eines Stiers? Wie können sie ihn bewegen?« Tuala sah wieder Brideis junges, entschlossenes Gesicht, seine leuchtenden Augen, in denen sich ein Bewusstsein der Götter nie tief unter der Oberfläche befand. Mit dem richtigen Anführer können Männer das Unmögliche erreichen. »Sie haben es mit Druidenmagie und mit Schlauheit getan«, sagte sie. »Hm«, sagte Kethra. »Das ist wirklich eine seltsame Geschichte. Eine unwahrscheinliche Geschichte; warum sollten sie das tun, wenn doch die Steine als Symbol der Abstam- 406 mung unseres Volkes von den sieben Söhnen von Pridne aufgestellt wurden? Sie kennzeichnen Territorium und Blut; sie zu bewegen, schient beinahe eine Beleidigung der Götter darzustellen, eine schlecht beratene Tat. Wer sollte so etwas tun, und nach einem Sieg im Kampf?« »Ich kann mir den Grund vorstellen«, erwiderte Tuala. »Es scheint eine seltsame Tat zu sein, eine Tat, die ein Ungleichgewicht im Wesen unseres Lands bewirken kann. Aber dieser Ort, Galanys Höhe, befindet sich jetzt auf dem Territorium von Dalriada. Fortriu hat es schon vor Jahren verloren. Talorgens Streitmacht konnte die Siedlung einnehmen, sie aber nicht halten; sie liegt zu weit von unseren eigenen Festungen entfernt. Bei diesem Feldzug ging es nie darum, das Gelände von Galanys Höhe zurückzuerobern. Es war ein symbolischer Schlag; eine Warnung, dass noch mehr passieren wird, falls Dalriada versucht, seinen Zugriff auf das Tal zu erweitern. Dass sie den Stein zurückbringen, ist eine mutige Tat, eine, die Kühnheit und Einfallsreichtum zeigt. Es ist schwer und ungemein anstrengend, aber es inspiriert die Menschen auch. Es muss unseren Männern viel
Zuversicht gegeben und unseren Feind noch weiter beunruhigt haben. Zumindest«, fügte sie hinzu, als ihr klar wurde, dass sie erheblich mehr gesagt hatte als beabsichtigt, »sehe ich das so.« »Woher weißt du das alles überhaupt?«, fragte eins der Mädchen. »Schlachten und Territorien und alles?« »Sie erfindet es einfach«, murmelte jemand hinter vorgehaltener Hand. »Ich hatte hervorragende Lehrer«, sagte Tuala. »Ich hatte Glück.« »Glück spielt sicher eine Rolle«, erklärte Kethra kühl. »Dieses Glück klug zu nutzen, ist ebenso ein Vorteil. Und dann gibt es die natürliche Begabung. Mädchen, ich höre die Glocke. Im Speisesaal wartet euer Essen auf euch. Nicht rennen, Odha, du bist nicht am Verhungern.« - 407 Der Raum wurde leer; nur Kethra blieb noch, und Tuala, die auf der Bank saß und wusste, dass es für sie noch nicht vorbei war. »Es tut mir Leid«, sagte sie, und das meinte sie durchaus ernst. »Ich habe versucht, nicht hinzusehen, aber manchmal passiert es einfach. Die Visionen sind da und warten auf mich.« Kethra holte tief Luft und atmete wieder aus. »Du wusstest offensichtlich schon über diese Dinge Bescheid, bevor du nach Banmerren kamst. Wer hat es dir beigebracht? Broichan?« Tuala hätte gelacht, wenn sie nicht so nervös gewesen wäre. »Meine beiden alten Lehrer haben mir vieles beigebracht, aber nichts, was zum Handwerk eines Druiden oder einer Weisen Frau gehören würde. Und Broichan hat mich überhaupt nichts gelehrt.« Nur, wie man Angst hat. »Er glaubte, dass ich keine Bildung brauche.« »Es sieht so aus«, stellte Kethra fest, als sie das Becken kippte und den Inhalt wieder in den Krug goss, »dass er bezüglich des Blicks vollkommen Recht hatte. Willst du behaupten, dass du es dir alles selbst beigebracht hast? Dass du diese Visionen ohne Technik heraufbeschwören kannst, einfach nur durch Willenskraft?« »0 nein«, sagte Tuala schockiert. »Solche Bilder werden von den Göttern gesandt; kein Mann und keine Frau kann sie allein zu sich rufen. Manchmal ist es möglich, sie mit dem Geist zu beugen oder zu formen. Man kann bestimmte Teile ausschließen und andere intensiver sehen.« Das hatte sie getan, als das Gute Volk versucht hatte, ihren Spiegel mit Bildern zu füllen, die sie nicht haben wollte. Dann hatte sie zur Leuchtenden gebetet, und die Göttin selbst hatte sich ihr im klaren Wasser gezeigt. »Ich denke, wenn der Seher etwas Bestimmtes unbedingt sehen muss, zum Beispiel, um Vorzeichen für die Zukunft zu deuten, formen die Götter die Visionen auf eine Weise, die helfen wird. Zumindest ist das meine Erfahrung.« - 408 »Ich verstehe.« Kethra wirkte vollkommen verblüfft. Sie wischte das Becken geschickt mit einem Tuch aus, deckte den Krug zu und faltete die Hände, bevor sie zu Tuala ging und sich vor sie stellte. Tuala stand respektvoll auf. »Tuala«, sagte Kethra. »Ja?« »Ich glaube, es wäre das Beste, wenn das, was heute geschehen ist, nicht offen unter den Mädchen besprochen wird. Wenn sie dich danach fragen, was geschehen ist, gib ihnen eine kurze, wahre Antwort und belasse es dabei. Lass dich nicht in Gespräche über Technik ziehen oder dazu verleiten, etwas davon zu demonstrieren. Diese Mädchen sind Anfängerinnen und verwundbar. Verstehst du das?« »Selbstverständlich. Sie werden mich ohnehin nicht fragen. Sie sprechen nicht mit mir.« Einen Augenblick schwiegen beide. »Haben wir einen Fehler gemacht, als wir dir ein Zimmer ganz für dich gaben?«, fragte Kethra. »O nein!« Tuala war entsetzt bei dem Gedanken, in eines der Gemeinschaftszimmer verlegt zu werden und Tag und Nacht von flüsternden Mädchen umgeben zu sein. Der Turm gehörte ihr, war sicher und still; die Eiche war ihre Zuflucht, ihr Stück von Pitnochie hier in dieser fremden Umgebung. Wer immer die Entscheidung getroffen hatte, sie im Turm unterzubringen, hatte damit Weisheit und Freundlichkeit demonstriert. »Ich fühle mich wohl, wo ich bin. Es passt gut zu mir.« »Mag sein«, sagte Kethra. »Du darfst jetzt gehen. Morgen wirst du nicht zu diesem Unterricht kommen, sondern stattdessen mit Fola sprechen. Sie wollte einen Bericht über deine Fortschritte, und es ist Zeit. Ich werde ihr sagen, dass sie dich erwarten soll. Und jetzt beeile dich, oder du wirst nichts mehr zu essen bekommen.« Tuala war schon beinahe draußen, als Kethra noch einmal etwas sagte. - 409 »Glaubst du, es ist wahr? Haben sie den Magierstein wirklich das Tal hinauftransportiert?« »Das werden wir erst wissen, wenn Talorgens Männer nach Hause kommen«, sagte Tuala, aber sie sah Brideis Gesicht vor ihrem geistigen Auge und wusste tief im Herzen, dass jede Einzelheit ihrer Vision eine wahre und exakte Wiedergabe der tatsächlichen Ereignisse war. Ein anderes Bild schob sich vor diese strahlende Erinnerung: Ein Mann hob die Hände an die Kehle und starb unter Qualen. Auf den Bildern dieses Tages hatte Bridei noch nicht seine Kampfzeichen getragen. Aber Broichan hatte versprochen, etwas zu unternehmen: Bridei würde nun einen Vorkoster haben und zusätzliche Leibwachen. Dennoch, sie konnte es kaum erwarten zu hören, dass Bridei wieder in Pitnochie und in Sicherheit war. »So ist es wohl«, sagte Kethra. »Wenn es stimmt, könnte es ein machtvolles Vorzeichen dafür sein, dass den Priteni bessere Zeiten bevorstehen.« Wieder änderte sich ihr Ton. »Und jetzt geh«, sagte sie. »Du magst nichts
weiter zu tun haben, aber ich schon.« Als die anderen am nächsten Morgen zum Unterricht gingen, wartete Tuala am Eingang von Folas Zimmer. Auch Schatten befand sich vor der Tür; sie hatte ihn zuvor im Garten gesehen, wo er Vögeln auflauerte. Nun saß er hier, die Ohren gespitzt, der Schwanz zuckend, und wartete ungeduldig darauf, hereingelassen zu werden. Der Kater hatte seine gewohnten Aktivitäten wie alle anderen in Banmerren und mochte es nicht, wenn man ihn dabei unterbrach oder aufhielt. Aber Folas Tür war geschlossen; von drinnen war die gemessene und ruhige Stimme der Weisen Frau zu hören. Tuala beugte sich vor, um Schatten zu streicheln; Schichten alter Narben hatten sein Fell rau und dünn werden lassen. Er betrachtete sie mit dem skeptischen Blick einer alten Katze, aber er schnurrte dennoch. - 410 Die Tür ging abrupt auf, und das Mädchen, das herauskam, musste beide Arme ausstrecken, um nicht über die beiden auf den mit Binsen bestreuten Boden zu fallen. »Oh - es tut mir Leid - hier ...« Tuala streckte die Hand aus, um ihr zu helfen. Das Mädchen wich zurück, die Augen weit aufgerissen. Tuala erinnerte sich vage aus ihren ersten Tagen in Banmerren an sie, ein dünnes, ernstes Ding, sehr still. Wie hieß sie noch? Morna? Morva? Sie hatte in der letzten Zeit nicht am Unterricht teilgenommen; nun, als Tuala darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass sie das Mädchen auch länger nicht mehr im Garten oder bei den anderen am Tisch gesehen hatte. Vielleicht war sie krank gewesen. Ihre Augen waren sehr seltsam. Nun drehte sie sich um und verschwand wie ein Schatten, nicht im Gemeinschaftsbereich, sondern in dem Flügel, in dem die älteren Frauen ihre Schlafräume hatten. Erst als Morna weg war, fiel Tuala auf, dass sie nicht das blaue Gewand der jüngeren Mädchen getragen hatte, sondern reines Weiß. »Komm herein, Tuala.« Folas Tonfall ließ keinen Schluss auf ihre Stimmung zu. Schatten war bereits im Zimmer und auf der Bank neben der Weisen Frau und ließ sich dort auf einem Kissen nieder. Tuala fragte sich, ob der Kater je wagte, auf dem Schoß seiner Herrin zu sitzen. Vielleicht wäre das für beide zu würdelos. »Kethra hat mir erzählt, was gestern geschehen ist«, fuhr Fola fort, »und von deiner Bitte, den Blick nicht zusammen mit den anderen üben zu müssen. Du hast sie überrascht.« »Es tut mir Leid. Ich habe versucht, es ihr zu sagen, und...« »Ich war vielleicht ungerecht, sowohl dir als auch Kethra gegenüber. Mich überrascht nicht, was geschehen ist; meine Intuition irrt sich selten, und ich habe etwas bei dir gespürt, als wir uns begegnet sind, etwas, von dem ich annahm, dass es mit der Zeit fruchten würde und machtvoll - 411 und gefährlich sein könnte. Ich habe lange darauf gewartet, dass du zu uns nach Banmerren kommst, gewartet, während deine Lehrer in Pitnochie eine Grundlage legten, die über alles hinausgeht, was wir hier in diesem Haus der Frauen bieten können. Ich hätte Kethra und die anderen vorwarnen können, aber es schien mir besser, den Dingen eine Weile ihren Lauf zu lassen und zu sehen, was du mit Banmerren anfängst und was Banmerren mit dir macht.« Tuala schwieg. Das hier fühlte sich unangenehm ähnlich an wie Broichans Strategiespiele, Spiele mit menschlichen Spielfiguren. Sie erinnerte sich, dass Fola und der Druide des Königs alte Freunde waren. »Glaubst du, die Vision, die du hattest, zeigte Bilder aus der Gegenwart? Eine Spiegelung der Wahrheit?« Nun lag ein gewisser Eifer in der Stimme der Weisen Frau, ähnlich wie zuvor bei Kethra. Beiden war die wahre Bedeutung von Tualas Vision nicht entgangen. »Ich weiß, dass es so ist«, sagte Tuala. »Du weißt es?«, fragte Fola scharf. »Das ist überheblich, Kind; wir können nicht wissen, was die Götter wünschen, bis diese Vorzeichen sich als wahr erweisen.« »Ich weiß es. Ich weiß es, weil Bridei darin vorkam, und was ich über ihn sehe, ist immer wahr. Außer, wenn es die Zukunft zeigt, die noch verändert werden kann.« Sie schauderte; wenn Broichan nicht schnell gehandelt und diese Warnung geschickt hatte, würde diese Zukunft wahrhaft trostlos sein. Fola kniff die Augen zusammen. »Bridei. Du hast Bridei Kethra gegenüber nicht erwähnt; nicht nach dem, was sie mir erzählt hat. Worin bestand seine Rolle bei dieser Sache?« Tuala biss sich auf die Lippen; plötzlich widerstrebte es ihr, mehr zu sagen, selbst dieser Frau, die ihr immer wie eine Freundin vorgekommen war. »Ich will ihm nichts Böses, Tuala«, sagte Fola. »Ganz im Gegenteil. Wie Broichan habe auch ich mich an Brideis - 412 Zukunft gebunden. Du kannst mir vertrauen; das ist die Wahrheit.« »Er leitete das Unternehmen, als sie den Magierstein hinunter zum Königssee brachten«, sagte Tuala. »Es war seine Idee. Sie folgten ihm alle, Krieger ebenso wie Anführer. Er hat das Licht der Inspiration in ihren Augen aufleuchten lassen, die Berührung des Flammenhüters. Ich glaube, die Männer werden sich noch lange daran erinnern.« Fola nickte. »Broichan wird sehr froh sein, das zu hören«, sagte sie. »Und der König ebenfalls. Wir leben in der Tat in einer interessanten Zeit. In einer sehr bedeutsamen Zeit.« »Fola?«
»Ja, Kind?« »Ich habe versucht, schwer zu arbeiten, seit ich hierher gekommen bin. Ich habe versucht, mein Versprechen zu erfüllen. Es tut mir Leid, wenn ich Kethra erzürnt habe.« Fola schaute sie einen Moment schweigend an. »Kethra ist nicht zornig«, sagte sie. »Vielleicht ein bisschen wütend auf sich selbst, weil sie es nicht früher bemerkt hat, aber sie ist nicht verärgert über dich. Wie ich schätzt auch sie begabte Schülerinnen; wir sehen sie selten genug. Ich habe all deine Lehrer um einen Bericht über dich gebeten. Kethra hat empfohlen, dass du in den meisten Aspekten des Handwerks, die sie unterrichtet, Privatunterricht erhältst, entweder bei ihr selbst oder bei mir. Derila sagt, dass dein Hintergrund in Geschichte, Geografie und Politik hervorragend ist; sie würde dich gerne in ihrer Klasse behalten, denn es sieht so aus, als wären einige der adligen Töchter recht gebildet, und ihr könnt alle bei gesunden Debatten noch viel mehr lernen.« Tuala nickte. »Derila hat viel Spaß mit euch«, sagte Fola lächelnd. »Die beste Gruppe von Schülerinnen, die sie je hatte, sagt sie. Hast du schon ein paar Freundinnen gefunden, Tuala?« »Freundinnen.« Tuala konnte sich kaum vorstellen, was das bedeutete, hier unter diesen Mädchen, die ihr so anders - 413 vorkamen, als stammten sie aus einer anderen Welt. »Nicht wirklich. Fuchs- Ferada setzt sich zu mir, und Ana ist freundlich zu mir gewesen. Sie sind Töchter von Fürsten; ich bin... was ich bin. Ich glaube nicht, dass wir je Freundinnen sein können. Die anderen, nun ja, sie schauen mich an und flüstern und lachen hinter vorgehaltener Hand. Aber das ist gleich. Es war schon in Pitnochie so, bevor ich hergekommen bin.« Etwas in ihrer Stimme oder ihrer Miene bewirkte, dass Fola sich vorbeugte und sie forschend ansah. »Wie meinst du das, Tuala?« Tualas Stimme kam unsicher heraus, obwohl sie sich sehr anstrengte, ruhig zu bleiben. »Ich war plötzlich nicht mehr willkommen. Broichan hat mich dort nie haben wollen. Aber die anderen schon. Bis ich älter geworden bin. Dann hatten sie Angst vor mir. Es war dumm, aber ich konnte nichts daran ändern. Und dann hat Broichan gesagt, ich müsse gehen.« »Was ist mit deinem Freund? Mit Bridei? Hat er auch Angst vor dir, nun, da du eine Frau bist?« Tuala starrte sie an, so empört, dass sie kein Wort herausbrachte. »Es ist eine vernünftige Frage«, sagte Fola ruhig. »Eine sehr angemessene, denke ich, denn der junge Mann ist in dem Alter, in dem man für solche Dinge am verwundbarsten ist, würde ich sagen.« »Er war nicht da«, sagte Tuala und musste plötzlich gegen Tränen anblinzeln. »Und selbstverständlich hat er keine Angst vor mir. Natürlich nicht. So ist es nicht zwischen uns ...« »Nicht wie?« Tuala kniff die Lippen fest zusammen. Das war ungerecht und grausam. Niemand verstand, wie es war, niemand außer ihr und Bridei. Niemand außer der Leuchtenden, die sie an Mittwinter zusammengebracht hatte, vor langer Zeit. - 414 »Lassen wir das im Augenblick, da es dich bedrückt«, sagte Fola. »Vielleicht bist du gerade zur rechten Zeit hergekommen. Was diese anderen Dinge angeht, so werden wir deinen Tagesablauf ändern, damit du morgens Privatunterricht bei mir haben kannst, statt in Kethras Klasse zu sitzen. Du nimmst weiterhin an Derilas Unterricht teil. Ich spüre, dass du etwas daraus beziehen kannst, als natürliche Gelehrte. Die Töchter der Adligen werden an den Hof zurückkehren, sobald Talorgen nach Caer Pridne kommt; wenn deine Visionen zutreffen, wie du es glaubst, wird das vielleicht schon bald geschehen. Danach kann Derila dich vielleicht einsetzen, damit du ihr hilfst, ein paar der anderen Mädchen zu unterrichten, wenn du nichts dagegen hast.« Tuala starrte sie an. »Ich glaube nicht, dass sie mich als Lehrerin akzeptieren würden - sie würden mich nur noch mehr ablehnen.« Fola zog die Brauen hoch. »Wenn es im Dienst der Leuchtenden geschieht, würdest du es doch trotzdem tun, oder?«, fragte sie. »Ja, Fola.« Man kann aus allem etwas lernen, sagte Broichan immer. Selbst daraus, irgendwie über jene gestellt zu werden, die einen für eine geringere Lebensform hielten, für immer anders, für immer vollkommen unakzeptabel. »Außerdem«, sagte Fola, »möchte ich, dass du mit Ferada und Ana über Bündnisse durch Heirat sprichst, darüber, was sie als Fürstentöchter erwartet und welche Regeln die Entscheidungen diktieren, die für sie getroffen werden.« »Aber...« Fola bedeutete ihr mit einem Blick zu schweigen. »Ich weiß, dass du schon alles darüber weißt. In der Theorie. Königliche Abstammung, die Wichtigkeit von Querverbindungen zwischen den sieben Häusern und so weiter. Das, glaube mir, ist etwas ganz anderes als ein Gespräch mit Mädchen deines eigenen Alters, deren persönliche Zukunft vollkommen von diesen Regeln bestimmt wird.« - 415 »Wenn du das willst. Aber ich verstehe nicht, warum.«
Die Weise Frau sah Tuala einen Augenblick an. »Es ist nur vernünftig, dass du eine Erklärung möchtest«, sagte sie. »Es würde mich ein wenig beruhigen, glauben zu können, dass du Banmerren als etwas akzeptierst, das gut für dich ist, dass wir dir tatsächlich etwas Wertvolles beibringen können.« »Ich wollte nicht...« Fola hob die Hand. »Und das hast du auch nicht gesagt, aber du hast mir genügend Hinweise darauf gegeben, was du denkst, Tuala. Ich glaube, du stellst dir eine andere Zukunft für dich vor, nicht die einer Priesterin der Leuchtenden, nicht die einer Gelehrten und Lehrerin, so hervorragend du auch dafür geeignet sein magst. Du sprichst häufig von Pitnochie, in einem Ton und in Worten, die über das natürliche Heimweh hinausgehen, das all meine neuen Schülerinnen befällt. Du sprichst nicht oft über Bridei. Aber wenn du es tust, wird mir klar, dass du viel an ihn denkst.« Tuala schwieg. Sie wusste nicht, worauf Fola hinauswollte oder was es mit dem zu tun hatte, was zuvor gesagt worden war. »Es ist sehr wichtig, dass du erkennst, was für eine Gelegenheit dir hier geboten wird, Tuala«, fuhr Fola ernst fort. »Sprich mit Ana und Ferada. Denk über deine anderen Möglichkeiten nach, die vielleicht geringer sind, als du denkst. Denk über das Leben nach, das wir hier führen, und was es für uns bedeutet. Wir befinden uns vielleicht hinter hohen Mauern, aber der Schutz, den sie bieten, gibt uns auch eine besondere Art von Freiheit, Freiheit des Geistes und des Verstandes, die wirklich kostbar ist. Ich zweifle nicht an deiner Liebe zur Leuchtenden, mein Kind. Ich möchte nur, dass du die Dinge einmal von einer anderen Warte aus betrachtest.« »Ja, Fola. Ich werde mit den adligen Töchtern sprechen.« »Gut. Du darfst jetzt gehen. Kethra sagt, du magst den Turm. Du denkst nicht, dass du bei den anderen wohnen - 416 solltest? Dass sie dich vielleicht ein wenig bereitwilliger akzeptieren würden, wenn das so wäre?« »Vielleicht. Aber ich glaube nicht, dass ich es lange ertragen könnte. Ich sehe den Himmel so gern. Und ich bin an Stille und ans Alleinsein gewöhnt.« Fola nickte. »Und du magst Bäume«, sagte sie. »Ich erinnere mich, dass ich vor langer Zeit einmal ein Kind unter einem Baum gefunden habe. Nun gut, geh jetzt. Ich freue mich darauf, mit dir zu arbeiten; ich erwarte, dass wir beide etwas lernen können.« Was für die Weise Frau eine einfache Angelegenheit zu sein schien, erforderte tatsächlich gewissen Mut. Außen zu stehen, ausgeschlossen zu sein, konnte zu einer eigenen seltsamen Art des Stolzes führen. Die adligen Töchter außerhalb des geregelten Rahmens einer Geschichtsstunde anzusprechen war, als suchte sie Zugang zu einem Kreis, in den sie nicht gehörte. Es war, als forderte sie die Demütigung heraus. Ana und Ferada hatten ihr Brot und ihren Käse mit in den Garten genommen. Sie saßen auf ihrem üblichen Platz, einer Steinbank unter einem Birnbaum, umgeben von mehreren anderen Mädchen. Es war ein hübscher Anblick; sie hätten beinahe zwei Manifestationen der jungfräulichen Blütenreichen sein können: Ferada als Abbild des Herbstes mit ihrem rotbraunen Gewand, dem feurigen Haar, das sie hochaufgesteckt trug, die scharfen Züge ein wenig lieblicher durch ein paar Sommersprossen über der Nasenwurzel. Ana war ganz Frühling, mit ihren aschblonden Locken, die ihr auf die Schultern fielen, im traditionellen, gerade geschnittenen Rock und der Tunika ihres Inselvolkes, gewebt aus hellster rahmfarbener Wolle mit Bordüren in Vergissmeinnichtfarben. Sie trug eine silberne Brosche an der Schulter, mit der sie ihr Tuch befestigt hatte; das Schmuckstück hatte die Form eines Meerestiers, ein Teil Pferd, ein Teil See- 417 hund und ein Teil etwas anderes: eines der uralten Abstammungszeichen der Hellen Inseln. Als Tuala diese beiden beobachtete und sich fragte, was sie zu ihnen sagen sollte, kam es ihr so vor, als ob etwas sie von den anderen unterschied. Ob es ihr adliges Blut, die Vorteile von Erziehung und Bildung waren oder die Berührung der Göttin selbst, beide sahen reizend, einflussreich und - bei all ihren Vorbehalten gegen Fuchsmädchen - auch irgendwie wie gute Menschen aus. Tuala ertappte sich dabei, dass sie sie anstarrte. »Komm, setz dich zu uns, Tuala«, sagte Ana mit ihrer leisen, melodischen Stimme. »Die Sonne ist heute so warm; ich glaube, der Flammenhüter lächelt auf Fortriu herab.« Sie rutschte ein wenig zur Seite, um auf der Bank Platz zu machen; Ferada blieb, wo sie war, und sah mit leicht amüsierter Miene zu. Als Tuala auf die beiden zuging, erhoben sich alle anderen Mädchen ohne ein Wort und ließen sich außer Hörweite wieder nieder. »Tut mir Leid«, murmelte Tuala. »Ich wollte nicht...« »Schon gut«, sagte Ana. »Setz dich, und stör dich nicht an denen, das sind nur dumme Mädchen. Ah!«, fügte sie triumphierend hinzu, als Tuala sich zwischen sie setzte. »Du schuldest mir etwas, Ferada.« Tuala schaute von einer zur anderen, und Ana errötete ein wenig. »Eine Wette«, sagte Ferada. »Wie lange du brauchen würdest, um den Mut aufzubringen, zu uns zu kommen und dich hinzusetzen. Leider haben wir hier in Banmerren nicht viel, um das wir wetten können. Ich muss heute Abend Anas Haar waschen; etwas, das wir ohnehin füreinander tun, während wir hier sind.« Fuchsmädchen klang beinahe menschlich. Es war überraschend; außerhalb des Geschichtsunterrichts hatte sie bisher Abstand gehalten. »Ich höre, ihr geht an den Hof«, begann Tuala. »Wenn dein Vater zurückkommt.« - 418 Ferada verzog das Gesicht. »Unvermeidlich«, sagte sie. »Wir sind eine Weile hier, hinter diesen hohen Mauern
eingeschlossen, und eine Weile dort, um höflich zu Männern zu sein, die unsere Familien für passend halten. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was schlimmer ist.« »Aber du willst doch sicher deine Familie sehen«, sagte Tuala überrascht. »Deine Mutter und deine kleinen Brüder.« Ferada zog die Brauen hoch. »Hättest du es eilig, Uric und Bedo zu sehen, wenn sie deine Brüder wären? Frösche im Bett, lautes Gebrüll, wenn du versuchst, etwas zu lernen, und jämmerliche Witze darüber, welchen von den Männern du am liebsten hast?« Tuala musste gegen ihren Willen lächeln. »Ich fand, sie sind liebe kleine Jungen«, sagte sie. »Sie haben mich zum Lachen gebracht.« »Hast du nicht gedroht, Bedo in eine Kröte zu verwandeln? Ich bin sicher, dass er mir das erzählt hat.« »Kann sein, dass ich so etwas gesagt habe«, erwiderte Tuala. »Er wusste, dass es ein Scherz war. Jedenfalls nach einiger Zeit.« Ana lachte. »Kleine Brüder wären nett«, sagte sie. »Ich habe nur viel ältere. Und eine Schwester.« Sie war ernst geworden. »Sie ist jetzt beinahe elf. Sie hat mich wahrscheinlich vollkommen vergessen.« »Hm«, sagte Ferada, brach ein Stück Brot ab und warf es einer Drossel zu, die auf dem Gras wartete. »Große Brüder können einem Sorgen machen, denkst du nicht auch, Tuala?« »Ich weiß es nicht«, sagte Tuala. »Ich habe weder Brüder noch Schwestern.« Sie hatte plötzlich ein Bild der Waldleute im Kopf, das Mädchen mit dem Spinnwebhaar und den hellen Edelsteinen an den Fingern, der Junge ganz aus Nüssen, Beeren und Ranken. Wenn das ihre Verwandten waren, war es kein Wunder, dass die anderen Mädchen sie schief ansahen. - 419 »Hast du doch«, sagte Ferada. »Du hast Bridei. Einen Pflegebruder.« Sie schwiegen eine Weile. »Ich muss euch etwas fragen«, sagte Tuala. »Dann tu das.« Feradas Interesse war erwacht; in ihren Augen stand ein Glitzern. »Fola wollte, dass ich mehr darüber herausfinde, was ... was von jungen Frauen wie euch erwartet wird. Über Ehen und Bündnisse.« »Warum solltest du uns fragen müssen?« Ana war verblüfft. »Fola sollte dich im Geschichtsunterricht hören. Du weißt bereits mehr als wir alle zusammen.« »Das meint sie aber nicht«, sagte Ferada. »Sie spricht von den Dingen, die einem ältere männliche Lehrer nicht beibringen können.« »Du meinst doch nicht...« Ana errötete erneut, ihre Wangen färbten sich rosig. Ferada grinste schief und warf ihrer Freundin einen Seitenblick zu. »Ich bezweifle, dass Fola von uns erwartet, ihr Unterricht in Angelegenheiten des Schlafzimmers zu erteilen«, sagte sie trocken. »Es geht eher darum, was von uns erwartet wird, und von anderen wie uns. Oder?« Tuala nickte. »Das hat sie gesagt. Ich weiß, dass ihr beide Töchter des königlichen Hauses seid; Ferada, deine Mutter ist eine Kusine von König Drust, die Tochter der Schwester seiner Mutter, und Ana stammt von einem entfernteren Zweig der königlichen Linie ab, dem, der auf den Hellen Inseln herrscht. Das bedeutet, dass eure Söhne einmal Anspruch darauf haben, König zu sein; es schränkt ein, wen ihr heiraten könnt.« »Und unsere Auswahl«, sagte Ferada finster. »Sei froh, dass du die Möglichkeit hast, in Banmerren zu bleiben, Tuala. Du bist hier vielleicht von der Außenwelt abgeschnitten, aber es ist erheblich besser, als eine königliche Zuchtstute zu sein. Es klingt zwar danach, als hätten wir - 420 Macht, weil so viel von uns abhängt, aber es liegt keine wirkliche Macht darin. Am Ende sind es immer die Männer, die die Entscheidungen treffen; wir sind nur Zuchtvieh.« »Es geht uns nicht so schlecht«, warf Ana ein. »Verglichen mit der schweren Arbeit einer Bauersfrau oder einer Dienerin ist es ein privilegiertes Leben.« »Wie kannst du das sagen?« Ferada war empört. »Du bist hier eine Gefangene; du sitzt Jahre und Jahre an Drusts Hof fest, und du kannst nirgendwo hingehen, ohne von großen Männern mit Messern umgeben zu sein. Wie lange ist es her, seit du deine Familie zum letzten Mal gesehen hast?« Ana senkte den Blick und sah ihre Hände an. »Lange Zeit«, sagte sie. »Sie kommen nicht hierher. Mein Vetter hat wohl Angst, dass jeder, der zu Besuch kommt, ebenfalls als Geisel genommen werden könnte. Meine Anwesenheit hier hat dafür gesorgt, dass meine Verwandten friedlich sind. Sie hat erreicht, was sie erreichen sollte.« »Du wirkst immer so ruhig«, wagte sich Tuala vor, die ihre Worte sorgfältig wählte, »als störte es dich nicht, eine Gefangene zu sein.« »Es hat keinen Zweck, sich zu beschweren«, sagte Ana. »Anfangs war ich traurig - traurig und verängstigt. Meine kleine Schwester fehlte mir schrecklich. Aber der König und die Königin waren sehr freundlich. Und es hilft, dass ich einen Teil meiner Zeit hier in Banmerren verbringen darf. Ich lerne gern. Und ich bin gern mit den anderen Mädchen zusammen. Besonders mit Ferada.« »Und wenn du hier bist, brauchst du nicht immer diese Männer in deiner Nähe«, sagte Ferada trocken. »So ist es«, stimmte Ana zu. »Die Regel, dass außer Druiden keine Männer dieses Anwesen betreten dürfen,
wirkt sich sehr positiv aus.« »Ana?«, fragte Tuala. »Mhm?« »Was, wenn dein Vetter ... wenn er...« Es war zu schreck- 421 lieh, es vollständig auszusprechen; die ganze Situation schien wirklich unvorstellbar zu sein. »Schwierige Frage.« Es war Ferada, die antwortete. Ana hatte die Hände im Schoß gefaltet, die grauen Augen plötzlich umschattet. »Was, wenn ihr Vetter beschließt, dass er nicht mehr so gehorsam sein will? Wenn er beschließt, Drust den Stier anzugreifen oder sich mit einem Feind zu verbünden, zum Beispiel mit den Galen? Ich möchte keine Antwort wagen, ich weiß nur, wenn ich eine Geisel wäre, wäre ich nicht so heiter wie Ana.« »Ich glaube nicht, dass sie mich umbringen werden«, sagte Ana leise. »Aber es wäre schon möglich; wenn sie nicht bereit sind, dieser Drohung Taten folgen zu lassen, hat es wenig Sinn, mich hier in Fortriu zu behalten. Ich kann mir allerdings nur schwer vorstellen, dass sie es wirklich tun würden. Königin Rhian ist sehr gut zu mir gewesen.« »Du bist in Sicherheit, solange dein Vetter glaubt, dass sie es tun würden«, sagte Ferada. »Dann ist es nur gut, dass er nicht zu Besuch kommt. Ein Blick darauf, wie man dich in Caer Pridne behandelt, und er würde erkennen, dass der König sich nie dazu durchringen könnte, dir auch nur ein Haar zu krümmen.« Tuala wusste nicht, ob Ferada das tatsächlich glaubte oder diese kleine Ansprache nur gehalten hatte, um ihre Freundin zu trösten. »Es tut mir Leid«, sagte sie. »Es ist sehr schwierig für dich; ich hätte nicht fragen sollen.« »Ich habe es akzeptiert«, sagte Ana. »Unsere Herkunft macht uns bedeutsam, nicht nur als das, was meine Freundin hier königliche Zuchtstuten nennt, sondern auch als Spielfiguren, die in diesem Spiel politischer Strategie nach Belieben aufgestellt werden können. Ich habe das früh im Leben gelernt. Für mich mag diese Zeit als Geisel nicht viel länger dauern; man hält mich jetzt für heiratsfähig, und es ist sehr wahrscheinlich vorteilhafter für König Drust, mich an einen gefährlichen Fürst oder Kleinkönig zu verheiraten, - 422 den er an sich binden will. Dann wird er wohl neue Geiseln nehmen.« »Wie kannst du so ruhig darüber sprechen?«, rief Ferada. »Das alles macht mich manchmal so wütend, dass ich schreien könnte, wenn man Damen erlauben würde, etwas so Ungehobeltes zu tun. Wir haben so viel zu geben, so viel zu bieten, aber weil wir zufällig in diese Stellung geboren wurden, haben wir überhaupt keine Wahl.« »Still«, warnte Ana. »Lass Kethra nicht hören, dass du von zufälligen Geburten sprichst. Das klingt gefährlich nach einer Beleidigung der Götter. Wir müssen das Leben akzeptieren, das sie uns gegeben haben, Ferada. Wir müssen innerhalb des Wegs arbeiten, der uns zugeteilt wurde.« »Hm«, sagte Ferada und verzog den Mund zu einem freudlosen Lächeln. »Um wieder auf deine Frage zurückzukommen, Tuala, man erwartet, dass wir an den Hof zurückkehren und dort weiteren jungen Männern vorgestellt werden, die unsere Familien für angemessene Bewerber halten. Es stehen nicht viele zur Auswahl. Sie müssen von hoher Geburt sein, gesund, von gutem Charakter und unbeirrt dem alten Glauben von Fortriu anhängen. In anderen Worten, sie müssen in jeder Weise geeignet sein, Vater eines künftigen Herrschers zu werden. Ich bin noch keinem begegnet, dessen Berührung ich auch nur ertragen könnte, von den Dingen, die ein Mann mit seiner Frau tut, gar nicht zu reden. Die meisten sehen mich von oben bis unten an, als wäre ich ein besonders gutes Stück Fleisch. Sie können nicht anders.« »Das ist ein bisschen ungerecht«, sagte Ana stirnrunzelnd. »Es sind würdige Männer unter ihnen.« »Würdig!« Ferada schnaubte höhnisch. »Wen interessiert denn schon >würdig Schon gut. Ich weiß, wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn es eine gäbe, würde ich meinen Eltern sagen, dass ich niemanden will. Ich würde mein eigenes Leben führen, wie Fola es getan hat.« »Das könnte einsam sein«, wandte Tuala ein. - 423 Ferada sah sie neugierig an. »Es ist seltsam, dass ausgerechnet du das sagst. Bist du nicht gerne allein? Du verkriechst dich immer in deinem kleinen Versteck da oben im Turm. Vielleicht ist Fola ja wie du. Vielleicht ist sie gerne allein, mit nur ihren eigenen Gedanken zur Gesellschaft.« »Eine Weise Frau lebt in der Gesellschaft der Götter«, sagte Ana. »Das bedeutet, dass sie niemals einsam ist.« »Manchmal sprechen wir zu den Göttern, und sie antworten nicht«, sagte Tuala. »Das ist die schlimmste Einsamkeit.« Sie dachte an Bridei und den Schatten in seinem Blick, an sein Gesicht, das so bleich und angespannt gewesen war. Die Antworten, die er brauchte, hatten ihm weder Menschen noch Götter geben können. »Was ist denn, Tuala?« Ana schien besorgt zu sein. »Was ist denn los?« »Nichts.« Sie musste ihre Gedanken besser im Zaum halten, wenn sie sich so auf ihrem Gesicht abzeichneten. »Wann müsst ihr heiraten? Wie bald? Broichan wollte, dass ich - ich bin nur hergekommen, weil...« »Er hat schon einen Bewerber für dich?«, fragte Ferada. »Wer ist es? Erzähle!« »Es ist ein Mann namens Garvan. Ein Steinmetz. Ich wollte ihn nicht heiraten. Ich will überhaupt niemanden heiraten.« »Dann bist du hier am richtigen Ort«, sagte Ferada. »Garvan«, sagte Ana nachdenklich. »Du meinst den berühmten Garvan, der die Stiersteine in Caer Pridne
gemeißelt hat? Er ist doch sicher schon ziemlich alt.« »Ich weiß nicht, ob er berühmt ist. Er könnte es sein; Broichan erwähnte, dass er für den König gearbeitet hat. Er schien alt zu sein. Vielleicht dreißig.« »Ein Steinmetz würde für uns nicht genügen«, sagte Ferada, »so berühmt er auch sein mag. Es sind entweder Fürsten oder ihre Söhne, und manchmal Könige aus anderen - 424 Ländern. Es ist durchaus üblich, dass Frauen aus der königlichen Familie in andere Länder heiraten. Das ist wohl eine Art von Flucht. Sieh dir nur Bridei an.« »Was ist mit Bridei?« Tuala versuchte, lässig zu klingen. »Seine Mutter hat genau das getan. Hat den König von Gwynedd geheiratet, ist mit ihm davongezogen und hat ihre Kinder dort zur Welt gebracht. Der Thron wird in diesen Ländern vom Vater auf den Sohn vererbt. Bridei hat selbstverständlich ältere Brüder. Einer von ihnen wird wahrscheinlich dem Vater nachfolgen. Bridei ist ein bisschen wie Ana: wegen der Interessen anderer Leute von seiner Familie getrennt. Er ist ein ausgesprochen passender Bewerber für mich oder Ana. Er entspricht allen Anforderungen. Der einzige Nachteil besteht darin, dass er möglicherweise auch ein Kandidat für den Thron sein könnte; man zieht es vor, dass der König nicht innerhalb der königlichen Linie heiratet, damit seine Söhne kein Anrecht auf den Thron haben. Eine Frau vom Blut zu heiraten, sogar eine entfernte Verwandte, würde zu viel Macht in einer einzigen Familie konzentrieren; es würde die Abstammungslinie zu sehr einengen. Aber wahrscheinlich wird Bridei nicht einmal Anspruch auf den Thron erheben, wenn der Zeitpunkt kommt. Es gibt mehrere ältere, erfahrenere Männer, die in Frage kämen, und einer oder zwei von ihnen werden hoch geachtet. Dein Pflegebruder ist ein eher unwahrscheinlicher Kandidat und könnte daher als Heiratsmaterial für uns durchaus in Frage kommen. Ich muss zugeben, das wäre keine allzu schlechte Aussicht. Das Leben mit ihm könnte ein wenig zu ernst werden, aber zumindest ist er kein Rüpel wie die meisten von ihnen. Broichan hat ihm makellose Manieren und Respekt vor den Göttern beigebracht.« »Du glaubst, er ist zu ernst?«, fragte Ana. »Manchen Männern fällt es schwer zu lachen; ich finde das nicht so schlimm. Es ist besser als ein Mann, der zu viel lacht, und zu dumm ist.« - 425 »Ana mag ihn«, flüsterte Ferada Tuala zu und zog die Brauen hoch. »Sie hat deinen Bruder vor zwei Sommern aus der Ferne gesehen, als Talorgen die Jungen an den Hof brachte. Sie sagt, er sieht gut aus.« »Ich habe nichts dergleichen gesagt.« Wieder errötete Ana. »Ich habe ihn nie auch nur kennen gelernt.« Tuala wurde von dem verzweifelten Bedürfnis befallen, das Gespräch sichereren Themen zuzuwenden. »Deine Brüder sind also ebenfalls Kandidaten für den Thron«, sagte sie zu Ferada. »Nun ja.« Ferada zog eine Grimasse. »Technisch gesehen ja; sie sind die Söhne meiner Mutter. Aber Uric und Bedo sind noch viel zu klein, und Gartnait ist vollkommen ungeeignet. Ich mag meinen großen Bruder, aber er ist einfach nicht der Mann für eine solche Bürde. Ihm fehlen so viele Eigenschaften eines wahren Anführers, Eigenschaften, die, das muss ich zugeben, der würdige und eher langweilige Bridei mehr und mehr an den Tag legt, je älter er wird. Vater würde nie auf die Idee kommen, Gartnait als Kandidaten vorzuschlagen. Tatsächlich heißt es, dass Fortriu innerhalb der nächsten beiden Sommer einer solchen Entscheidung gegenüberstehen wird. Es geht Drust nicht gut. Ich habe gehört, wie Kethra das sagte. Also gibt es keine Gelegenheit für meine kleinen Brüder; bis Uric und Bedo erwachsen sind, wird ein neuer junger König auf dem Thron sitzen.« »Vielleicht kein so junger«, wandte Ana ein. »Wenn man in Erwägung zieht, dass jedes der sieben Häuser der Prite-ni einen Kandidaten aufstellen kann, kämen auch mehrere Männer in mittleren Jahren in Frage. Ein paar von meinen Verwandten wären ebenfalls qualifiziert, was die Abstammung angeht, obwohl ich bezweifle, dass sie Anspruch auf den Thron erheben werden, wenn die Wahl bald stattfinden sollte. Schon meine Anwesenheit hier sollte das verhindern.« »Das stimmt«, sagte Ferada. »Die Fürsten, die den König wählen, werden sich sicher für jemanden entscheiden, der - 426 sich als Anführer bereits bewiesen hat; jemand wie Drusts Vetter Carnach, der noch ziemlich jung ist, aber sehr geachtet und auf seinem eigenen Territorium sehr mächtig. Und loyal. Ich denke, wir können Bridei und meine Brüder bei solcher Konkurrenz vergessen; wenn ihre Namen genannt würden, würden die Leute nur lachen. Die größte Gefahr kommt aus Circinn. Von Drust dem Eber. Das hier wird seine Gelegenheit sein, Anspruch auf die Krone von Fortriu zu erheben, damit er die beiden Königreiche unter dem christlichen Glauben miteinander vereinen kann.« »Die Leuchtende möge uns vor etwas so Schrecklichem beschützen«, murmelte Ana. »Glaubst du wirklich, Drust der Eber könnte genügend Stimmen erhalten?«, fragte Tuala entsetzt. »Würden denn so viele Fürsten ihn in Betracht ziehen?« »Es wäre eine knappe Entscheidung«, sagte Ferada. »Es kommen interessante Zeiten auf uns zu. Gefährliche Zeiten. Biete einer Gruppe von Männern die Aussicht auf solche Macht, und alles ist möglich.« Sie wandte sich Ana zu. »Wir sollten gehen. Heute ist es schön genug für einen Ausritt. Warum kommst du nicht mit, Tuala? Ich bin sicher, wir könnten dich irgendwie rausschmuggeln.« Sie stand auf, ein übermütiges Glitzern in den Augen. »Danke, nein«, sagte Tuala. »Ich muss - ich sollte ...«
»Schon gut, Tuala«, sagte Ana freundlich. »Du brauchst nicht gegen die Regeln zu verstoßen. Ferada lässt sich hin und wieder ein wenig hinreißen, vor allem, wenn sie zu lange eingeschlossen war. Wie eine Katze im Käfig. Ich hoffe, wir konnten dir die Antworten geben, die du brauchtest.« »Ja, ich...« »Man darf auch nicht vergessen«, sagte Ferada, »dass es in gewisser Weise für die Jungen nicht besser ist als für uns. Die jungen Männer von königlicher Abstammung, die Kandidaten für die Krone sein könnten, müssen ebenfalls bestimmten Regeln folgen. Ihre Frauen werden so sorgfältig - 427 ausgewählt wie unsere Ehemänner, nicht wegen der Zucht, sondern weil eine königliche Ehefrau perfekt und ohne jeden Tadel sein muss. Stell dir nur vor, unter diesem Druck zu stehen. Du wärst nichts als der Schatten deines Mannes; dein einziger Zweck bestünde darin, den Ruhm seiner Rolle als menschliche Verkörperung des Flammenhüters und Symbol von Fortrius Zielen zu spiegeln. Alles, was du tätest, würde genauestens geprüft. Du hättest überhaupt kein eigenes Leben.« »Wenn du deinen Mann liebtest«, sagte Ana, »würde das doch sicher nicht zählen.« »Hör sie dir nur an«, schnaubte Ferada, »und ihr Gerede von Liebe! Wie du es schaffst, angesichts von so vielen Beweisen des Gegenteils deine albernen Träume am Leben zu erhalten, ist mir ein Rätsel. Aber wenn wir jetzt nicht gehen, werden wir wirklich zu spät dran sein - viel Spaß, Tuala, was immer du auch tun wirst.« Mit einem kleinen Lächeln stand sie auf und ging, und Ana folgte ihr. Der Baum wiegte Tuala in seinen starken, sicheren Ästen, verankerte sie im Herzen der Erde. Sein Wipfel breitete sich frisch und grün im warmen Sonnenlicht aus. Ana hatte gesagt, der Flammenhüter lächele auf Fortriu herab. Das war durchaus möglich; der Magierstein war nach Hause geholt worden, und bald schon würde das Land einen neuen jungen König haben. Trotz aller Einwände Feradas wusste Tuala, wer das sein würde. Sie empfand eine tiefe Sicherheit, die keine Zweifel zuließ. Sie würde nicht den Blick anwenden. Sie wusste, was im Wasser erscheinen würde, um sie zu verhöhnen und zu quälen. Es würde diesmal nicht Fuchsmädchen sein, Ferada als erwachsene Frau in einem eleganten Kleid, die zu ihrem Mann auflächelte, der den Kopf in vollendeter Höflichkeit zu ihr neigte, um ihr zuzuhören. Nein, diesmal würde es Ana sein. Tualas Herz war kalt. Ein junger Mann, der eines Tages - 428 König sein würde, brauchte die richtige Braut. Dagegen ließ sich nichts sagen; er konnte eine so schreckliche Verantwortung nicht auf sich nehmen, solange seine Frau ihn nicht mit all ihrer eigenen Kraft unterstützen konnte. Er würde nicht vollständig von den einflussreichen Männern in seiner Umgebung akzeptiert werden, weder von Verbündeten noch von möglichen Feinden, wenn er keine Ehe einging, die sowohl in den Augen seines Volkes als auch in denen der Götter vollkommen akzeptabel war. Tuala wusste das. Sie hatte gewusst, dass Ferada eine mögliche Braut darstellte, aber sie hatte das beinahe irgendwie abtun können, weil Ferada einfach nie die Auserwählte sein würde. Die Leuchtende würde eingreifen, bevor Bridei sich an ein Mädchen band, das ihn langweilig fand, denn ein solches Mädchen konnte ihn niemals lieben, wie er es brauchte. Aber Ana, Ana war eine ganz andere Sache. Sie war jung, schön, klug, von königlicher Abstammung und außerdem liebenswert und freundlich. Es tat weh, daran zu denken. Ana mochte Bridei. Zweifellos würde er sie ebenfalls mögen; wie konnte er das nicht tun? Sie war vollkommen und absolut passend. Es war nur zu leicht, sich vorzustellen, wie Bridei sich Ana anvertraute, so, wie er sich einmal Tuala anvertraut hatte, ihr von seinen Sorgen erzählte, seine Probleme durchging, mit ihr jeden Aspekt seiner inneren Kämpfe teilte, um zu wissen, was die richtigen Entscheidungen wären. Es passte perfekt; es war, als hätten die Götter genau das beabsichtigt. Sie würde nicht weinen. Sie würde diese Tränen herunterschlucken. Wenn es Bridei half, wenn es das Richtige für die Zukunft von Fortriu war, dann war es eine gute Sache. Und wenn es ihr das Herz brach, dann war das im Vergleich zu dem großen Ganzen nur eine Kleinigkeit. Tuala zog die Knie an und schlang die Arme um sie. Sie spürte eine Kälte, die nicht zur sonnigen Helligkeit dieses Tages passen wollte. Sie würde Bridei wahrscheinlich nie wieder sehen. Niemals. Sie würde vielleicht ihr ganzes Leben - 429 hinter den Mauern von Banmerren oder in einem anderen Haus der Weisen Frauen in Fortriu verbringen. Wenn sie die Leuchtende wirklich liebte, wie sie immer angenommen hatte, sollte das ein gesegnetes Leben sein, ein Leben des Dienens, der Reinheit und der Kraft. Sie konnte unterrichten. Hier hatte sich bereits die Gelegenheit dazu ergeben. Die Tränen begannen dennoch zu fallen. Eine mächtige Welle von Gefühlen rauschte über sie hinweg, eine rohe Sehnsucht nach zu Hause, nach den Wäldern von Pitnochie, nach diesen anderen Eichen, nach dem Hallenfeuer und den klugen, freundlichen Gesichtern von Erip und Wid, wenn sie versuchten, ihre Schülerin aus einer schlechten Stimmung herauszulocken. Sie sehnte sich nach Brennas Freundschaft, Ferats Murren und Donais schlichter, ehrlicher Kraft; nach Maras säuerlichen Bemerkungen und dem Geruch nach sauberem Leinen und frischen Haferkuchen. Sie wollte diese Welt zurückhaben; sie wollte Blesse durch den Wald reiten, mit Bridei neben ihr auf Schneefeuer, mit einem Tag voller wunderbarer neuer Dinge, die sie entdecken konnten, vor ihnen. Und dennoch wusste sie, dass es nicht mehr genügen würde; jetzt nicht mehr. Sie wollte nicht mehr, dass Bridei sie liebte, als wäre sie seine Schwester. Sie wollte ... sie wollte das Unmögliche.
Du kannst nicht wieder zurückkehren, sagte eine leise Stimme in ihr, die gleiche, die ihr die Geschichte von Nechtan und Ela ins Ohr geflüstert hatte. Es war niemand hier im Baum außer Tuala selbst und ein oder zwei kleinen Vögeln. Aber sie waren dennoch hier bei ihr, das Spinnenwebmädchen und der Blättermann, ein Teil von ihr, den sie nicht ignorieren konnte, nicht einmal hier in Banmerren, so weit von zu Hause entfernt. Du kannst nicht wieder zurückkehren. Nicht in dieser Welt. Das war die andere Stimme, die des Mädchens, und Tuala glaubte, beinahe ihre anmutige, luftige Gestalt zwischen den Zweigen entdecken zu können, Sil- 430 berringe und spinnwebfeine Gewänder, durchscheinende Haut und schimmerndes Haar. Aber unsere Welt wartet auf dich; deine Welt, Tuala. Dort gehörst du hin. Du musst zu deiner eigenen Art nach Hause kommen. Es gibt für dich hier keinen Platz. Weder der Hof des Königs noch das Haus der Rituale werden dich lange halten können. Wie die Tiere des Waldes kannst du es nicht ertragen, gefangen zu sein. Früher oder später musst du davonfliegen. So viele Tränen. Das war wieder der Blättermann, und Tuala spürte eine Berührung, als würde ein zweigdünner Finger ausgestreckt, um ihr den Strom von der Wange zu wischen. Es war gleichzeitig liebevoll und zutiefst beunruhigend. Unter uns wirst du keinen Grund zum Weinen haben, Kleines. Du wirst von Liebe umgeben sein. Eule und Dachs, Otter und Hirschkuh werden deine Freunde sein. Du wirst aus den Blättern trinken und in Pantoffeln aus Mondlicht tanzen. Du wirst ohne Angst oder Kummer leben und stets nur gute Träume haben. Lass all dies hier hinter dir; du bist nicht für eine solche Welt bestimmt. Komm nach Hause; komm zurück in den Wald. Wir zeigen dir den Weg... Sie lockten sie zurück. Lockten sie so liebevoll... und dennoch, das gleiche Volk hatte sie ohne die geringsten Bedenken ausgesetzt, als sie noch ein Baby gewesen war. Waren sie damit dem Wunsch der Leuchtenden gefolgt? Bei all ihren Zweifeln lag solche Freundlichkeit in der Stimme des Blättermanns, dass Tuala wusste, wenn sie jetzt dort gewesen wäre, im Tal der Gefallenen, hätte sie seine Hand genommen und sich von ihm unter die Bäume in das Land führen lassen, von dem er sprach, das Reich, in dem ihre wahre Familie auf sie wartete und all ihre Fragen eine Antwort finden würden. Aber sie war nicht dort; sie war hier in Banmerren, hockte ganz allein hoch oben in einer Eiche, und diese Stimmen waren nicht wirklich. Sie waren etwas, das aus ihr selbst kam, eine Manifestation, die wenig mit Ana oder Bridei oder der Tatsache zu tun hatte, dass sie morgen eine Pri- 431 vatstunde bei Fola hatte, auf die sie sich vorbereiten sollte. Sie wischte sich die Wangen mit den Händen, stieg hinüber zur inneren Mauer, balancierte mit sicherem Schritt über die schmale Krone wieder zum Dach hin und kehrte in ihr kaltes Zimmer zurück. Dort kniete sie sich auf den Boden und schloss die Augen. Dann versuchte sie, langsam und gleichmäßig zu atmen und an die Leuchtende zu denken, mächtig, voller Mitleid und Weisheit. Wenn sie die Wahrheit nicht einmal im Gebet finden konnte, dann war sie in der Tat ganz allein. - 432 KAPITEL ELF Sein Kopf tat so weh, als wollte er zerspringen. Er ging weiter, im gleichen Tempo wie die anderen, jeder Schritt ein Hammerschlag gegen seinen Schädel. Bäume, Felsen und Hügel verschwammen um ihn her, ihre Formen von einem Nebel des Schmerzes verzerrt. Das hier war nichts; er musste weitermachen, denn bei Einbruch der Dunkelheit würden sie zu Hause sein. Sie würden Pitnochie erreichen, und er würde es endlich loslassen können. Wenn er darüber sprach, würden sein Schmerz, die Schuldgefühle, dieses Gefühl, dass alles falsch war, und vielleicht auch dieser Schraubstock, in dem sein Kopf steckte, und diese Kälte, die sein Herz umgab, ein wenig nachlassen. Donal war tot. Donal war tot, und er war nicht gestorben, wie er es gewollt hätte, voller Heldenmut in der Schlacht, sondern grausam durch kaltblütigen Mord. Er hatte aus dem Becher eines anderen Mannes getrunken, und er war in Brideis Armen gestorben, von Krämpfen geschüttelt. Bridei hatte nicht geglaubt, hassen zu können, aber wer immer das getan hatte, den hasste er mit weiß glühender Wut. Wenn er je herausfinden würde, wer es gewesen war, dann würde er diese Leute bestrafen, wie sie seinen treuen Freund bestraft hatten. Er würde seine Hände um ihren Hals schließen und zusehen, wie sie sich quälten, wie Donal sich am Ende gequält hatte, wie er keuchend, würgend gegen - 433 den Tod angekämpft hatte wie der Krieger, der er war. Donal war ein guter Mann gewesen, ein guter, tapferer, ehrlicher Mann. Es war nicht Donal, der hätte sterben sollen. Es war Bridei. Es war am gleichen Tag geschehen, an dem er und Gartnait ihre Kriegerzeichen erhalten hatten, in Rabenbrunn auf dem Weg nach Hause. In Talorgens Haushalt gab es einen Mann, der mit feinen Nadeln und Farbstoffen die zierlichen Muster in die Haut von Wange und Kinn ritzen konnte; es tat weh, aber es war ein guter Schmerz, und sie saßen zusammen, Bridei und Gartnait, während die Muster in ihre Haut geritzt wurden, Zeichen ihrer Teilnahme an einer großen Schlacht für ihren König. Danach unterhielten sie sich leise über vergangene Zeiten, flickten die Freundschaft, die sie in der rauchdunklen Siedlung von Galanys Höhe beinahe verloren hatten. Gartnait gab noch einmal seine Erklärung ab und entschuldigte sich; Bridei nahm die Entschuldigung an und behielt seine Zweifel für sich. Als die Tätowierungen angebracht waren, gab es ein Festessen. Die Herrin von Rabenbrunn weilte zwar immer
noch am Hof, aber Talorgens Haushalt brachte dennoch guten Braten, großzügig fließendes Bier und sogar Nachspeisen auf den Tisch. Nach dem Weg das Tal hinauf zum Jungfernsee hatten die Männer gewaltigen Hunger und fielen begierig darüber her. Fokel von Galany hatte sie inzwischen verlassen; es war seine Verantwortung, den Magierstein an einen Ort zu bringen, wo er innerhalb von Fortriu und sicher vor den gierigen Händen der Galen erneut aufgestellt werden sollte. Der Stein befand sich nun nahe dem Ende des Königssees; Fokels Männer mussten noch eine Methode finden, ihn über Land zu transportieren; eine Herausforderung, die ihre Kraft und ihren Scharfsinn bis zum Äußersten beanspruchen würde. Das Ding einen Hügel hinunterzurollen war schön und gut gewesen, aber die steilen Hänge und schmalen Wege des Tals würden etwas mehr als - 434 Einfallsreichtum verlangen. Sie sprachen schon davon, Druiden zu rufen. Das Bier floss freigiebig. Es gab Trinksprüche, Lachen und Scherze; die Krüge gingen von Hand zu Hand, Becher wurden hier und da abgesetzt, fielen um, wurden leer getrunken, geteilt, wieder gefüllt. Niemand wusste, wer das Bier in Brideis Becher gegossen hatte. Wer immer es war, hatte kein Glück gehabt. Bridei hatte tatsächlich den ganzen Abend über nur wenig getrunken und nur genug gegessen, um der Höflichkeit Genüge zu tun. Die frische Tätowierung brannte, er hatte Kopfschmerzen, und die Gedanken an die Schlacht und das Nachspiel gingen ihm nie wirklich aus dem Kopf. Er hatte in den Nächten, in denen sie unter den Bäumen auf dem Rückweg vom Königssee ihre Lager aufgeschlagen hatten, nicht viel Schlaf gefunden. Donais Becher war leer. Statt einen Krug zu holen, um ihn wieder aufzufüllen, hatte Bridei seinem Freund einfach sein eigenes unberührtes Bier zugeschoben, weil er gewusst hatte, dass er selbst nichts mehr trinken würde. »Hier.« Und dann ... dann... Bridei schloss die Augen, das Bild erschien wieder mit seiner ganzen Brutalität vor ihm. Er erinnerte sich an jede Einzelheit, jeden einzelnen Augenblick... es hatte nicht lange gedauert. Was immer es gewesen war, es war sehr wirkungsvoll. Sie hatten verzweifelt versucht, Donal dazu zu bringen, dass er das Gift wieder von sich gab. Sie hatten versucht, ihn zum Gehen zu zwingen, aber bald schon hatten die Krämpfe begonnen, hatten Donais Rücken durchgebogen und bewirkt, dass er wild um sich schlug und seine Augen sich wie verrückt verdrehten. Er hatte Geräusche von sich gegeben, schreckliche, tierische Geräusche. Nein, es hatte nicht lange gedauert; es war ein furchtbarer, abscheulicher Augenblick nach dem anderen gewesen, hundert, tausend Augenblicke des Entsetzens, bis Donal schließlich in Brideis Armen gelegen hatte, und Blut, Er- 435 brochenes und Kot hatten die Kleidung von beiden, den Boden, die Bänke und die Binsen ringsumher beschmutzt. Donal hatte nicht mehr sprechen können, nicht nachdem er sich zum ersten Mal an die Kehle gefasst und heiser und gequält »Bridei« geflüstert hatte. Er war ohne Abschied gegangen. Pitnochie. Er zwang sich, an Pitnochie zu denken, an zu Hause. Diese Dinge zumindest waren stark und sicher: die uralten Eichen, die flüsternden Birken, der Bauernhof mit seinen Steinwällen um die Felder und Fidichs kleinem Haus. Das Haus, das sich hinter den Bäumen beinahe zu verstecken schien. Broichan, streng, weise und fähig, in jeder Geschichte, wie finster und grausam auch immer, eine Lektion zu entdecken. Erip und Wid, voller Lachen und Weisheit nach einem langen, gut geführten Leben. Und Tuala ... ihr Götter, wie sehr er Tuala brauchte, wie sehr er sich wünschte, dass sie seine Hand hielt und ihm zuhörte und ihm dann sagte, dass alles wieder gut werden würde ... Sie erreichten Broichans Haus vor Sonnenuntergang, gingen unter den Eichen den Hügel hinauf, ein kleinerer Trupp von Männern, als in der Schlacht um Galanys Höhe gekämpft hatte. Die meisten waren nach Hause zurückgekehrt, aber Talorgen und sein Sohn waren zusammen mit Ged von Abertornie und einem beträchtlichen Kontingent von Bewaffneten, darunter auch Aniels Leibwächter Breth und Garth, zum Hof unterwegs. Bei ihnen waren die Männer aus Broichans Haushalt, die sich dem Kampf angeschlossen hatten: Elpin, Enfret und Cinioch. Urguist war nicht zurückgekehrt, sie hatten ihn schlafend und zugedeckt mit Erde am Ufer des Königssees zurückgelassen. Auf Talorgens Befehl wachten Breth und Garth nun über Bridei, hielten sich stets in seiner Nähe auf, wie Donal es getan hatte, obwohl Bridei sich weigerte, einen von ihnen sein Essen vorkosten zu lassen. Es kam ihm empörend vor, von einem anderen Mann zu erwarten, dass er an seiner Stelle - 436 starb, als wäre er selbst irgendwie von größerem Wert als der andere. Er hatte gesehen, wie ein Mann für ihn starb, und das genügte ihm für ein ganzes Leben. Sie wurden erfreut willkommen geheißen, aber das Haus wirkte sehr still. Sie entdeckten sofort, dass Broichan nicht da war. Zu Brideis Überraschung und Bestürzung hatte er seine Pflichten in Caer Pridne wieder aufgenommen und Anweisungen für Bridei hinterlassen, zusammen mit Talorgen zum Hof zu reiten, denn es war Zeit, ihn endlich König Drust dem Stier vorzustellen. Ferat grinste breit und bewunderte Brideis Kriegerzeichen. »Ah, sieh dich nur an; was für ein Mann!« Mara war weniger überschwänglich, konnte sich aber ein Lächeln nicht verbeißen, als sie sah, dass er sicher und gesund wieder zu Hause war. Dann überbrachten die Reisenden rasch die schlechten Nachrichten, bevor zu viele Fragen gestellt wurden. Die Schlacht war gewonnen, aber es hatte Verluste gegeben. Urguist war tapfer gefallen. Und auch ein anderer alter Freund würde nicht mehr nach Hause kommen. Bridei berichtete das selbst, denn er wusste, dass es ihnen
wehtun würde. Donal hatte beinahe so lange zu diesem Haushalt gehört wie Bridei; ein solcher Verlust würde schmerzlich wahrgenommen werden. »Ach, der arme Junge«, murmelte Mara. »Das ist ein trauriger Tod für einen Krieger. Es sind schreckliche Zeiten, schrecklich. Es ist gut, dass die alten Männer nicht mehr bei uns sind; es hätte sie traurig gemacht.« »Erip und Wid? Sie sind nicht zu Hause? Ich hatte gehofft, sie zu sehen...« Etwas in Maras Blick ließ Bridei innehalten. »Broichan hat einen Boten geschickt«, berichtete Mara und sah Talorgen an. »An dich, Herr. Vor langer Zeit schon.« »Kein solcher Bote hat mich erreicht«, erwiderte Talorgen. »Welche Nachrichten sollte er bringen?« »Ein weiterer Tod. Der alte Mann, Erip, wurde im Winter von uns genommen; eine schreckliche Erkältung. Seine Lun- 437 ge war schon vorher nicht gesund gewesen. Wir haben ihn oben auf dem Hügel begraben. Und Wid ist weg. Er ist zu den Druiden gegangen.« »Wir sollten den Männern ihre Unterkunft zeigen«, warf Ferat ein. »Bleibt eine Nacht oder zwei und ruht eure Pferde aus. Ich werde euch zeigen ...« »Wo ist Tuala?«, fragte Bridei. Ein seltsames Gefühl hatte ihn befallen, als er von den Abwesenheiten, den Verlusten hörte; es war, als wäre er wieder vier Jahre alt und alles würde ihm abgenommen. Alle schwiegen einen Moment. »Weg«, sagte Mara. »Lange schon weg.« Bridei wandte sich ihr zu, und die Haushälterin zuckte sichtlich zusammen. »Sie ist an diesem Ort oben im Norden, in der Schule für Weise Frauen; Banmerren«, sagte Mara. »Es gab eine Möglichkeit, eine Dienerin der Leuchtenden zu werden, eine große Chance für eine wie sie. Sie ist mit der Familie des Fürsten dorthin gereist.« Sie warf einen Blick zu Talorgen. »Sehr angemessen. Broichan war sehr erleichtert.« Bridei traute seiner Stimme nicht so recht. Tatsächlich wusste er nicht, ob er überhaupt Worte bilden konnte. Sein Herz schien vergessen zu haben, wie es schlagen sollte. »Danke für das Angebot der Gastfreundschaft«, sagte Talorgen in die folgende unbehagliche Stille hinein. »Wir sind ein wenig müde; den Männern wäre eine Mahlzeit - was immer ihr habt - und eine warme Ecke zum Schlafen sicher sehr recht. Wir werden euch nicht lange belästigen. Ged und ich müssen beide so bald wie möglich in Caer Pridne sein.« »Ihr seid uns keine Last«, sagte Ferat. »Gebt uns ein wenig Zeit, und wir bereiten euch ein Essen wie für einen König.« Und als er vertraute Gesichter sah: »Enfret! Cinioch! Willkommen daheim! Elpin, Junge! Erzähl mir, wie es war!« - 438 Allein in seinem Zimmer rang Bridei um Selbstbeherrschung. Er war ein Mann: achtzehn Jahre alt, ein Krieger, der seine erste Schlacht hinter sich hatte, und der Pflegesohn des Druiden des Königs. Er war nicht mehr das Kind, das hier wach gelegen, zum Mond hinaufgeschaut und sich Geschichten gewünscht hatte, um die Schatten zu bannen. Er war nicht mehr der kleine Junge, der sich in einem schmalen Riss in den Felsen verbarg, während die Klinge eines Attentäters wilde Schläge direkt vor ihm vollführte. Er war Bridei, Sohn des Maelchon; er hatte den Magierstein von Galanys Höhe geholt und die Freundschaft von Fürsten ebenso gewonnen wie die von einfachen Kriegern. Fokel von Galany hatte ihm lebenslange Bruderschaft geschworen; Ged von Abertornie hatte ihm einen Umhang in erschreckenden Karos und Streifen von lebhaftem Grün, Orange und Scharlachrot übergeben. Morleo hatte ihn eingeladen, einen Sommer bei ihm in Langwasser zu verbringen, wo die Forellen so groß wie junge Seehunde waren. Er war ein Mann. Er war ein Mann, und sein Kopf tat weh, und in seinen Augen standen ungeweinte Tränen. Er war ein Mann, dessen bester Freund in seinen Armen gestorben war, weil er ihm ein Bier überlassen hatte. Bridei drückte die geballte Faust gegen die Wand an dem kleinen quadratischen Fenster, wo drei weiße Steine immer noch als Opfer an die Göttin lagen. Er stützte die Stirn gegen die Hand und schloss die Augen. Warum konnte er nicht weinen, nicht einmal hier, hinter einer geschlossenen Tür, wo niemand ihn sehen konnte? Warum konnte er nicht reden, nicht einmal mit Gartnait oder sogar mit Talorgen? Warum brauchte er sie so sehr, dass er es wie Schmerz in jeder Faser seines Körpers spürte, wie eine gähnende Leere, die darum flehte, gefüllt zu werden? Was war mit ihm los? Und warum war sie gegangen? Wie hatte sie das tun können? Tuala liebte die Leuchtende, und die Leuchtende hatte stets auf sie herabgelächelt; das war - 439 von dem Augenblick an klar gewesen, als die Göttin ihm in dieser kalten Mittwinternacht gezeigt hatte, wo er sie finden konnte. Aber eine Priesterin, eine Weise Frau: Das hatte er nicht erwartet. Die Logik sagte, dass es nur vernünftig, ja sogar wünschenswert war. Sein Herz schrie Nein. Menschen gingen weg, das wusste er. Sie gingen weg und kehrten nie zurück. So waren die Dinge nun einmal, und man lernte, damit zurechtzukommen. Aber nicht Tuala. Tuala konnte nicht weggehen; sie konnte Pitnochie nicht verlassen. Sie konnte ihn nicht ganz allein lassen. Es war nicht richtig. Wenn sie nicht an seiner Seite war, wie sollte er jemals sein, was sie offenbar alle von ihm erwarteten, sogar die Götter?
Er lehnte die Stirn gegen den kühlen Stein am Fenster. Das half nicht viel. Das Pochen war wie ein Trommelschlag; es war wie die Erinnerung an den Krieg. Eine Frau, die aus Rache missbraucht wurde. Ein junger Krieger, zusammengerollt wie ein Kind, bebend vor Entsetzen. Ein verängstigtes Kind. Leichen, die verbrannten, ein schreckliches Klagen, ein Trauergesang direkt aus den Eingeweiden der Verzweiflung. Donal... und Erip tot, sein lieber alter Freund, dieser grinsende, boshafte, kahle Weise ... Beim Schwert des Flammenhüters, sein Kopf würde sicherlich bald bersten, wenn diese Schmerzen noch länger dauerten. Warum konnte er es nicht loslassen? Was hielt diese Tränen zurück? Er bemerkte ein einzelnes Haar auf dem Fensterbrett, unter einem der kleinen weißen Steine gefangen. Der Wind bewegte es nun; Bridei nahm es zwischen die Finger, das lange, dunkle Haar wickelte sich um seine Hand, als hätte es ein Eigenleben. Ihr Haar, Tualas. Sie hatte hier gestanden, bevor sie weggegangen war, hatte hier vielleicht gewacht, hatte Lebewohl gesagt. Hatte Broichan dabei eine Rolle gespielt? Hatte er Tuala weggeschickt, wieder einmal, und diesmal für immer? Bridei berührte das Zeichen, das er immer noch ums Handgelenk trug, ein verblasstes Band, so verschlissen, dass - 440 es beinahe auseinander fiel. Warum hast du das geschehen lassen?, fragte er die Leuchtende, obwohl ihr Gesicht hinter seinem Fenster noch nicht zu sehen war; die Abenddämmerung hatte gerade erst begonnen, und in den langen Sommernächten war ihr Abbild nur ein bleicher Schatten im Halbdunkel des Himmels. Warum würdest du sie mir wegnehmen? Und das Bild von Donais verrenktem Körper und seinem verzerrten Gesicht kehrte zurück, Donal, der wegen ihm gestorben war. Bridei legte sich auf den Strohsack und schloss die Augen. Er musste weitermachen. Man hatte ihn gelehrt standzuhalten, zurechtzukommen, stark zu sein. Er musste nach Caer Pridne reiten, und dort würde zumindest Broichan ihm Antworten geben müssen: Antworten über Tuala und über sich selbst. »Du hast es ihm noch nicht gesagt?«, fragte Aniel, den Blick auf Broichan gerichtet, die eleganten Hände mit den Handflächen aneinander gelegt auf dem Tisch vor sich. Sie saßen in einem Zimmer in Caer Pridne, in der Halle eines der geringeren Gebäude, die sich hinter den Mauern von Drusts Festung drängten, hoch über dem Seeweg von Fortriu zu den Hellen Inseln und dahinter. Sie hatten nicht vor, hier lange zusammenzubleiben; diese Gruppe war lange Jahre unentdeckt geblieben, weil sie sich nur selten und unauffällig und jedes Mal an einem anderen Ort getroffen hatten. Ihr Anliegen war geheim und gefährlich. Dieses Anliegen wurde allerdings immer dringlicher, und daher hatten sie sich zusammengesetzt, sobald Talorgen am Hof eingetroffen war; er trug immer noch seine Reitstiefel. Drust der Stier war krank. Die Gerüchte sagten, das nächste Torritual würde das letzte des Königs sein. Sie hatten nicht einmal mehr ein Jahr, vielleicht sogar nur noch eine Jahreszeit, um ihre Spielfiguren aufzustellen und ihren letzten, lebenswichtigen Zug zu machen. Und es hatte einen Mordversuch gegeben; nicht der erste, aber zweifellos der waghalsigste. - 441 »Ich wollte, dass Bridei an diesem Unternehmen teilnimmt, ohne die Last solch hoher Erwartungen tragen zu müssen.« Broichans Stimme war so ruhig wie immer, aber sein Blick war misstrauisch. »Ich stimme zu, es ist jetzt Zeit, ihm die Wahrheit zu sagen. Aber er ist gerade erst eingetroffen; er wird nach dem Ritt von Pitnochie hierher müde sein. Ich werde morgen mit ihm sprechen. Er trauert immer noch um seinen Freund; er glaubt, dafür verantwortlich zu sein, so unlogisch das auch sein mag. Das weiß er selbstverständlich. Bridei ist zu schlau, zu aufmerksam, um diese offensichtliche Wahrheit nicht zu erkennen, obwohl seine anderen Lehrer ebenso wie ich stets darauf geachtet haben, nicht zu viel über seine Herkunft und was sie bedeuten könnte zu sprechen.« »Du hättest es ihm schon lange sagen sollen«, kritisierte Talorgen. »Oder es mir gestatten sollen. Bridei hätte dann anfangen können, sich auf das vorzubereiten, was nun viel zu bald geschehen wird. Wir haben nicht viel Zeit. Der Junge muss Drust sofort vorgestellt werden.« »Das wird morgen Abend geschehen«, sagte Aniel. »Es gibt eine Feier; der König möchte dir, mein Freund, und deinen Kriegern, die dich hier an den Hof begleitet haben, gratulieren. Es kursieren bereits Geschichten über den jungen Mann, dessen Einfallsreichtum wir es zu verdanken haben, dass ihr dem Feind den Magierstein entreißen konntet. Drust will den Jungen unbedingt kennen lernen; die Geschichte hat wieder ein wenig Leben in seine Augen gebracht.« »Dann muss Broichan wirklich sofort mit Bridei sprechen.« Talorgen trommelte mit den Fingern auf den Tisch und verzog verärgert das Gesicht. »Der König weiß von der Herkunft des Jungen; er erkennt, dass es sich um einen möglichen Kandidaten handelt. Bridei muss scharfsinnig sein. Und er muss die Augen offen halten; wenn jemand an meinem Tisch in Rabenbrunn einen Mord be- 442 gehen kann, dann kann er uns zweifellos auch hierher nach Caer Pridne verfolgen. Breth und Garth müssen sehr wachsam sein.« »Aber nicht zu offensichtlich.« Fola hatte bis jetzt geschwiegen. »Ich glaube, wir brauchen hier mehr als das; nicht nur die Möglichkeit, unseren Kandidaten vor einem Messer in den Rücken zu bewahren, bevor wir ihn auch nur ins Gespräch bringen konnten, sondern die Möglichkeit, diese Gefahr im Keim zu ersticken. Soweit ich weiß, gibt es mindestens sieben Männer, die für den Thron vorgeschlagen werden könnten, wenn die Zeit kommt. Ich wette, es gibt nur einen Einzigen unter ihnen, der so wenig Vertrauen in seinen eigenen Wert hat,
dass er sich sogar zu Mordversuchen herablässt. Talorgen hat bei seinen Versuchen, die Identität des Angreifers festzustellen, vollkommen versagt, nicht zu reden von dem Mann, der ihn bezahlt hat. Was soll diesen Menschen davon abhalten, es von nun an ununterbrochen wieder zu versuchen, bis zum Frühjahr oder wie lange Drust auch immer leben mag? Bridei braucht Leibwächter, das wird niemand abstreiten. Aber er braucht noch mehr Schutz. Jemanden, der herausfindet, wer hinter diesen Anschlägen steckt. Einen Mann mit besonderer Begabung, einen, der nicht zimperlich ist, der die Wahrheit herausfinden kann und sein eigenes Messer ohne Zögern einsetzen wird, wenn es so weit kommen sollte.« Aniel lächelte kühl. »Du bist in Banmerren vollkommen verschwendet, Fola.« »Und es gibt einen solchen Mann«, sagte Broichan. »Drust wird zustimmen müssen, ihn uns zu diesem Zweck auszuleihen. Denn wenn ich den König um einen solchen Gefallen bitte, werde ich ihm selbstverständlich die Wahrheit sagen müssen.« Aniel zog die Brauen hoch. »Sagst du deinem König nicht immer die Wahrheit?«, fragte er mit gekünstelter Überraschung. - 443 Uist, der in einer Ecke saß, stieß ein schnaubendes Lachen aus. Die anderen starrten ihn an; sie hatten beinahe vergessen, dass auch der wilde Druide anwesend war. »Es gibt eine besondere Art von Wahrheit, die für Könige reserviert ist«, sagte Uist und sah sie aus dem Schatten mit seinen leuchtenden, veränderlichen Augen an. »Sie beinhaltet was immer die Berater glauben, dass die Könige wissen sollen. Ich denke, du brauchst ihm überhaupt nichts zu sagen. Ein Blick auf diesen Jungen, und Drust wird sehen, was in der Haltung, dem Blick, der Sprache des Jungen deutlich zu erkennen ist; was man an der Art sehen kann, wie die Männer ihn achten. Er ist ein König im Werden, die einzige Wahl für Fortriu. Sobald Drust das weiß, wird er dir so viele gefährliche Männer mit Messern leihen, wie du willst.« »Wir brauchen nur einen«, sagte Broichan. »Einen ganz Bestimmten.« »Es muss vorsichtig gehandhabt werden«, sagte Talorgen. »Ihr wisst, was geschah, als sie einander das letzte Mal begegneten, Bridei und der Mann, von dem wir sprechen.« »Sie sind Männer. Sie werden damit zurechtkommen. Und was Drust und dieses Fest angeht, das du erwähnst, ich glaube, wir müssen zuvor mit dem König sprechen. Wir wollen nicht, dass jeder am Hof anfängt, über Bridei zu klatschen und Wetten auf seine Chancen abzuschließen. Warum, glaubt ihr, habe ich ihn so lange nicht in die Öffentlichkeit gelassen? Das ist sein Vorteil; der Mangel an albernen Ablenkungen, der ihm gestattet hat, so stark in der Liebe zu den Göttern und so rein an Mut und Entschlossenheit zu werden.« »Die Welt, in der er leben muss, ist diese hier«, sagte Aniel. »Eine Welt der Machtspiele, der Intrigen, der Lügen und Halbwahrheiten, der Andeutungen und Unsicherheiten. Eine Welt der Schatten. Sobald du es ihm mitteilst, muss er dieses Reich betreten und immer noch stark bleiben.« »Er wird stark sein«, sagte Broichan. »Seit er zu mir nach - 444 pitnochie kam, war jeder Augenblick seines Lebens eine Vorbereitung auf diesen Augenblick. Das Rohmaterial war gut; vierzehn Jahre rigoroser Vorbereitung haben es perfekt werden lassen. Bridei wird uns nicht enttäuschen.« Fola hüstelte ein wenig; die vier Männer drehten sich gleichzeitig zu der Weisen Frau um, die ruhig und still in ihrem weichen grauen Gewand dasaß. »Du wolltest einen Einwand erheben?« Broichans Stimme war nun ein wenig gereizt. »Nur eine Anmerkung machen. Diese Erwartungen stellen eine schwere Last für solch junge Schultern dar. Auch ich habe große Hoffnung für Bridei. Es kommt mir vor, als wandelte er mit dem Atem der Götter in seinem Rücken. Ich möchte euch einfach nur daran erinnern, dass wir bei unserer Eile, uns zu gratulieren, den Preis nicht vergessen.« »Preis?«, wiederholte Broichan. »Wie meinst du das?« »Dass er vielleicht diese Entscheidung nicht getroffen hätte, hätte er eine Wahl gehabt. Dass das Leben eines Königs alles andere als einfach ist. Es ist, wie Uist schon gesagt hat, ein einsamer Weg, ein Weg unmöglicher Entscheidungen und ununterbrochener Belastung. Bridei wird ihn akzeptieren; ich bezweifle nicht, dass die Götter ihm das zuflüstern. Wir sollten nur nicht erwarten, dass es ihn auch noch mit Freude erfüllt.« »Sag mir ganz ehrlich, was du denkst, Broichan«, bat Talorgen. »Und du ebenfalls, Aniel. Ihr seid in der letzten Zeit in der Nähe des Königs gewesen, ihr hattet eine gute Möglichkeit, die Situation einzuschätzen. Um es ganz offen auszudrücken: Wie lange hat er noch zu leben? Sie sprechen vom Tortag, der mehr als eine Jahreszeit entfernt liegt. Wenn die Götter es wollen, wird Drust lange genug bei uns bleiben, um dieses dunkle Ritual noch einmal zu vollführen; es wird wahrhaft seltsam sein, einen anderen Mann am Brunnen der Schatten knien zu sehen. Und nun sagt mir: Wird Drust noch einen Winter überleben?« - 445 Aniel warf Broichan einen Blick zu. Broichan erwiderte diesen Blick ruhig und mit unergründlichen Augen. »Es wäre beinahe eine Gnade«, sagte Aniel leise, »wenn er das nicht täte. Zu hören, wie er sich in der kalten Luft anstrengt zu atmen, bedeutet zu vernehmen, wie reinster Schmerz in Geräusch umgesetzt wird. Wenn die Knochenmutter gnädig ist, wird sie ihn noch vor der Sonnenwende an ihre Brust nehmen.« »Aha«, sagte Talorgen. »Dann müssen wir uns beeilen, Freunde. Wenn die Raubvögel spüren, dass ihr Wild
schwächer wird, machen sie sich bereit zuzustoßen, die Klauen ausgestreckt. Wir müssen sowohl den alten als auch den neuen König schützen. Wir müssen sehen, wie die Bürde weitergereicht wird, zumindest im Geist; die Flamme muss in dunklen Zeiten weiterbrennen.« »Sehr poetisch«, stellte Uist fest, »wenn auch ein wenig wirr. Fola, ich werde dich nach Banmerren begleiten. Es ist ein langer Weg für eine Frau ganz allein. Nicht, dass ich viel Schutz bieten kann, aber für gewöhnlich genügt ein Blick auf mich, um die Leute schnell davonlaufen zu lassen, damit ich sie nicht in Gänse oder Schweine verwandle. Sobald ich dich sicher in deine Frauenfestung zurückgebracht habe, werde ich mich nach Circinn wenden. Wir brauchen ein paar Informationen aus dieser Region. Wenn das, was ihr sagt, wahr ist, und die Götter tatsächlich vorhaben, uns Drust in einer oder zwei Jahreszeiten zu nehmen, bezweifle ich, dass sein Namensvetter im Süden einfach zulassen wird, dass wir die Nachfolge regeln, wie es uns passt. Mit einigem Glück wird ein umherziehender Druide, der schon ein wenig durcheinander ist, sich in Circinn frei bewegen können. Später werde ich euch dann berichten, was ich gesehen habe.« »Sei vorsichtig«, warnte Aniel. »Du glaubst vielleicht, dass dein Gewand und deine Stellung dich schützen, aber sie haben im Land von Drust dem Eber für den alten Glauben - 446 nicht viel übrig. Keine Liebe und auch keinen Respekt. Du solltest dich lieber auf die abgelegensten Siedlungen beschränken; halte dich von seinem Hof fern. Der König von Circinn mag dich höflich behandeln, aber seine Berater sind Wiesel, gnadenlos und schlau.« »Komm, Fola«, sagte Uist und ignorierte die Warnung. »Ein Spaziergang am Meer wird unseren alten Knochen gut tun. Überlassen wir diese heimtückischen Männer sich selbst und genießen wir das Lied der Wellen und der Möwen eine Weile. Es sei denn, es ist unter deiner Würde, sich mit einem verrückten alten Mann wie mir sehen zu lassen.« »Ich glaube, meine Würde kann das verkraften.« Fola stand auf. »Broichan, du hast dich gar nicht nach deinem anderen Pflegekind erkundigt.« Broichan starrte sie verständnislos an; es war klar, dass sie ihn tatsächlich überrumpelt hatte, so unwahrscheinlich das auch sein mochte. »Du sprichst von Tuala«, sagte er einen Augenblick später. »Wie geht es ihr?« Seine Stimme war vollkommen ausdruckslos. »Sehr gut. Sie arbeitet gut mit, legt bemerkenswerte Fähigkeiten an den Tag und ist ausgesprochen fleißig.« »Es freut mich, das zu hören.« Tatsächlich klang er eher gelangweilt; es war klar, dass er nur aus Höflichkeit reagierte und weil die anderen anwesend waren. »Sie ist auch zutiefst unglücklich, ausgesprochen einsam und von verzweifeltem Heimweh erfüllt.« Broichan schwieg einen Augenblick. »Ich nehme an, das ist bei deinen Neuankömmlingen nicht ungewöhnlich«, sagte er schließlich. »Ich bin sicher, du kommst damit so gut zurecht wie mit allem anderen. Tuala hatte eine Möglichkeit zu einer guten Heirat. Sie war dumm genug, sie abzulehnen. Wenn man bedenkt, was sie ist, sollte sie dir für deine Freundlichkeit auf Knien danken.« »Heirat«, sagte Fola nachdenklich. »Sie wäre was ... zwölf gewesen? Dreizehn?« - 447 Nun war eine deutliche Unterströmung im Raum wahrzunehmen; Aniel und Talorgen griffen nach ihren Umhängen und taten so, als interessierte sie dieses Gespräch nicht. Uist hingegen lauschte unverhohlen, die Augen so blank und neugierig wie die eines Raben. »Alt genug«, sagte Broichan. »Es ist durchaus üblich, Mädchen in diesem Alter zu verheiraten. Warum führen wir dieses Gespräch, Fola? Wir haben eine Übereinkunft. Das Glück des Mädchens, oder der Mangel daran, war niemals Teil davon. Es ist unwichtig. Irrelevant. Und ich muss gehen; wenn ich noch länger bleibe, wird meine Abwesenheit auffallen.« Er rauschte mit wehendem dunklem Gewand an ihr vorbei, drückte die Eichentür auf und war verschwunden. »Hm«, sagte Aniel. »Du hast eine Art, die dir in ganz Fortriu niemand nachmachen kann, Fola. Ich habe nur selten gesehen, dass dieser Mann kurz davor stand, die Beherrschung zu verlieren, und es war stets in deiner Gegenwart, Fola. Wer ist dieses Mädchen? Broichan hat nie ein zweites Pflegekind erwähnt. Ist sie wichtig, oder hast du nur versucht, ihn zu verärgern?« »Du hast gehört, was er gesagt hat. Er ist derjenige, der diesen Plan beherrscht, und nach seiner Ansicht ist das Mädchen vollkommen unbedeutend. Bist du so weit, Uist? Dann komm, schleichen wir uns durch die Hintertür davon; mit deinen Fähigkeiten und meinen sollten wir es schaffen, nicht aufzufallen. Lebt wohl, Aniel und Talorgen. Ich werde nicht vor dem Tortag hierher zurückkehren. Schickt eine Botschaft, wenn ich vorher dringend gebraucht werde. Bis dahin gedenke ich, mich meinen unwichtigen Schülerinnen zu widmen.« »Ich habe ein unangenehmes Gefühl«, sagte Aniel zum Fürsten von Rabenbrunn, als sie über den Wehrgang der oberen Mauer von Caer Pridne gingen und hier und da stehen blieben, um nach Norden aufs Meer zu schauen, als hätten sie - 448 es sich einfach nur in den Kopf gesetzt, ein wenig frische Luft zu schnappen. »Es wäre mir sehr lieb zu wissen, ob es dir ebenso geht.« Talorgen wartete, den Blick auf den Horizont gerichtet, hinter dem die Hellen Inseln lagen, das Zuhause von
Papageientauchern, Seehunden und einem König, dessen Verwandte ebenfalls einen Anspruch auf Fortriu hätten, sollten sie so verwegen sein, ihn zu erheben. Es gab viele Söhne der königlichen Linie, unter denen sie wählen konnten - tatsächlich waren es diesmal beinahe zu viele. Es gab nur einen, auf den die Götter herablächelten. »Es geht um diesen Giftanschlag. Ein Mann ist in deiner eigenen Halle gestorben. Beinahe wäre es Bridei selbst gewesen. So, wie du es erzählst, waren die einzigen Anwesenden deine eigenen, Geds und Morleos Leute Männer, denen wir vertrauen, Männer, deren Anführer sich persönlich für sie verbürgen. Dein eigener Haushalt, sorgfältig ausgewählt. Meine Leibwächter. Eine Hand voll von Broichans Leuten, die sich loyal gezeigt haben, seit Bridei noch ein kleiner Junge war. Niemand hätte über deine Sicherheitsmaßnahmen hinwegkommen können, das hast du mir gesagt, und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln. Also wurde dieser Angriff von einem der Unsrigen ausgeführt, und demnach befindet sich unter den Männern, denen wir vertrauen, ein Verräter.« »Genau das denke ich auch.« »Nun, da Bridei sich auf dem Schlachtfeld ausgezeichnet hat, müssen wir damit rechnen, dass es Klatsch und Spekulationen gibt. Die Menschen wissen, dass er Maelchons Sohn ist. Es ist lange her, seit Anfreda den König von Gwynedd heiratete und davonritt, um fern von Fortriu ein neues Leben zu finden. Aber es wird Leute geben, die sich erinnern, und schon bald werden alle am Hof erkennen, dass Bridei das Recht hat, sich als Kandidat für die Wahl zum König aufstellen zu lassen.« - 449 »Du meinst, dass auf diesen Anschlag ein weiterer folgen wird?« »Ich halte es für sehr wahrscheinlich«, sagte Aniel, »und ich nehme an, Broichan geht es ebenso. Wir bewegen uns auf einem schmalen Pfad, mein Freund. Einerseits muss der junge Mann sich in der Öffentlichkeit sehen lassen, damit er sich auszeichnen kann. Er muss daran arbeiten, die mächtigen Männer in Caer Pridne davon zu überzeugen, dass er der beste Kandidat für Fortriu ist. Aber je offensichtlicher seine Qualitäten werden, desto mehr werden unsere Feinde sich anstrengen, ihn aus dem Wettbewerb zu entfernen. Wir müssen wachsam sein. Du hast immer noch keine Ahnung, wer diesen Angriff vorbereitet hat, der Donal das Leben kostete?« »Nicht die geringste. Ich habe jeden Mann befragt, der anwesend war, habe alles fünfmal überprüft, habe mit einer Kräuterkundigen gesprochen, um die benutzte Substanz zu identifizieren, und das alles führte zu nichts. Es gibt nur noch eins, was wir über diesen Feind in unserer Mitte wissen: Er ist sehr schlau.« »Talorgen?« Der Berater des Königs hatte die Stimme zu einem Flüstern gesenkt. »Mhm?« »Ich möchte es nicht glauben; ich schrecke schon vor dem Gedanken zurück. Aber ich werde dich dennoch fragen: Ist es möglich, dass selbst innerhalb unseres kleinen Kreises jemand nicht ist, was er scheint? Könnte ich mich nach so langer Zeit geirrt haben, was jene angeht, denen ich vertraute, vollkommen auf unserer Seite zu stehen?« Talorgen schwieg einen Augenblick. »Das wäre wahrhaft ein gefährliches Spiel«, sagte er angespannt. »Ein solcher Verräter müsste ständig vor Angst beben, dass wir ihn entdecken. Wir fünf verfügen über genügend Macht, den stärksten Mann zu vernichten. Wer würde sich Broichan zum Feind machen wollen? Ich möchte diesen Gedanken nicht weiter - 450 verfolgen, mein Freund. Wir müssen beten, und wir müssen den Flammenhüter anflehen, den Jungen lange genug zu beschützen.« »Und darüber hinaus alle irdische Hilfe nutzen, die uns zur Verfügung steht, um ihm dabei zu helfen. Es scheint ein guter Anfang zu sein, dass wir uns an den Attentäter des Königs wenden.« »Es gibt da ein Kind ...«, sagte Fola zu ihrem alten Freund Uist. Sie überquerten den flachen, hellen Strand, der sich an der Bucht zwischen der Landzunge mit der Festung von Caer Pridne und dem bewaldeten Ende entlangzog, wo sich Banmerren befand. Es war Ebbe; Uist hatte seine Sandalen ausgezogen und schob entzückt die nackten Füße in den feinen weißen Sand. Die weiße Stute des Druiden ging still neben ihnen her, folgte ihnen ohne Zaumzeug oder Halfter. Fola bückte sich nach einer Muschel; das zarte rosa Innere war aufgebrochen, und man konnte Kammer um Kammer in einer perfekten Spirale erkennen. Ein winziges, rätselhaftes Geschöpf der Tiefe hatte hier seine geheime Wohnung gehabt. »Nein, kein Kind, eine junge Frau. Sie ist jetzt vierzehn, wenn ich richtig gerechnet habe. Sie macht mir Sorgen.« »Ist das das Mädchen, bei dessen Erwähnung der Blick unseres Freundes in die Ferne ging und sein Mund schmal wurde? Ich erinnere mich, dass der alte Gelehrte, Wid, eine Schülerin erwähnte, aber er war bewusst vage, was das anging. Wer ist sie?« »Es ist wohl kein Geheimnis mehr. Sie ist ein Kind des Guten Volkes; Broichan hatte sie in seinem Haus, seit sie ein Baby und Bridei noch sehr klein war. Die beiden sind miteinander aufgewachsen.« Uist stieß einen leisen Pfiff aus. Er blieb stehen und schaute seine Füße an, die in den Sand sanken. Wasser quoll rings um sie her aus dem Sand und durchtränkte den Saum seines - 451 fadenscheinigen weißen Gewands. »Broichan hat das sehr geheim gehalten«, sagte er. »Ich glaube, er hoffte, sie würde einfach verschwinden.« »Und ist das nicht so? Ist sie nicht einfach verschwunden? Ich nehme an, du hast das Mädchen jetzt bei dir; das hält sie sowohl von Pitnochie als auch aus Caer Pridne fern. Das Problem bestand
wohl darin, dass diese beiden Kinder einander lieb gewonnen hatten und man das Mädchen als unangemessene Gesellschaft für den Jungen betrachtete. Warum hat Broichan sie überhaupt behalten? Ein Mann mit seiner Voraussicht sollte erkennen, wie gefährlich diese Entscheidung war.« »Er behielt sie, weil er die Götter achtet«, sagte Fola. »Er stellt ihre Wünsche stets über seine eigenen, obwohl seine Ergebenheit an den Plan sein gesamtes Leben verschlingt. Und er hat Tuala behalten, weil Bridei es so wollte. Broichan liebt den Jungen wie einen Sohn. Liebe ... sie verkompliziert unsere Spiele, alter Freund; sie drängt sich hinein, stört die sorgfältigst ausgearbeiteten Pläne und erschüttert selbst das disziplinierteste Herz. Ich möchte, dass du dieses Mädchen kennen lernst und mir sagst, was du von ihr hältst - nicht als Mann, sondern als Diener der Leuchtenden. Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber ich fange an, mich zu fragen, ob unser Fünferrat nicht dank Broichans leidenschaftlicher Ergebenheit an diese Sache in Gefahr ist, von seinem Weg abzuweichen. Ich kann nur hoffen, dass sein Eifer ihn nicht gegenüber dem Willen der Göttin blind gemacht hat. Dieses Kind - diese junge Frau sehnt sich verzweifelt danach, nach Pitnochie zurückzukehren, obwohl sie weiß, dass sie dort nicht mehr willkommen ist. Etwas ruft sie, etwas, das größer ist als sie selbst. Ich sehe, was in ihrem Herzen steht, und es scheint mir beunruhigenderweise die Wahrheit zu sein. Sie sieht mich aus ihren seltsamen Augen an, und ich erblicke die Leuchtende, die mich anschaut.« - 452 »Du machst mich neugierig«, sagte Uist. »Und du erschreckst mich. Da ich ohnehin nach Banmerren kommen wollte, werde ich mich einmal mit dieser jungen Person unterhalten. Es wird eine willkommene Ablenkung von dem Hauptzweck meiner Anwesenheit auf deinem Anwesen sein. Wie geht es mit dem anderen Mädchen?« Folas Miene verfinsterte sich. »Die Vorbereitung war ausführlich; Morna wird am Tortag bereit sein. Es ist schwierig wie immer, schwierig für uns alle.« »Es gibt Dinge, die du nutzen kannst«, sagte Uist ernst. »Du kennst sie. Kräuter können ihre Trance intensivieren. Tees können ihren Körper läutern und es ihr ermöglichen, sich leichter von dieser Welt zu lösen und in die andere einzugehen.« »Wir wissen das, aber wir versuchen, die Anwendung solcher Mittel bis kurz vor dem Ritual zu verschieben. Es ist bei jedem Mädchen anders. Einige sind von sich aus stark und gehen, ohne solche Hilfen zu brauchen. Einige hören die Stimme der Götter und beschreiten den Weg willig. Geist oder Körper zu früh mit Kräutern und Tränken zu beeinflussen, könnte die Wirkung am Ende beeinträchtigen, und das wäre wahrhaftig grausam. Noch jede Kandidatin, die ich gesehen habe, unternahm diesen letzten Schritt zumindest mit einer Spur von Angst.« »Nun, ich werde einige Zeit mit deiner Aus erwählten verbringen«, sagte Uist. »Ich werde sie so gut beraten, wie ich kann. Aber es ist das andere Mädchen, das mich wirklich interessiert. Ich bin nie einem Kind des Guten Volkes begegnet. Verfügt sie über die unirdische Schönheit, von der die Geschichten erzählen?« Fola grinste. »Du bist zu alt für solche Fragen«, neckte sie ihn. »Tuala ist sie selbst. Mehr braucht man nicht zu sagen.« Bridei hatte vorgehabt, mit seinem Pflegevater zu sprechen, sobald er Caer Pridne erreichte, und eine vollständige Erklä- 453 rung für mehrere Dinge zu fordern: Donais Tod, Tualas Verrat ihrer Kinderfreundschaft, Broichans eigene Entscheidung, seinem Pflegesohn die Wahrheit über seine Pläne so lange vorzuenthalten, bis Bridei sie schließlich selbst herausgefunden hatte. Und dann war da die Notwendigkeit, bewacht und beschützt zu werden wie ein verwundbares Kind, selbst jetzt, wenn er doch seine Kriegerzeichen trug. Donal war gestorben, weil er in Brideis Nähe gewesen war. Wer sollte der Nächste sein - Breth mit den kräftigen Schultern und den scharfen Augen? Garth mit seinem täuschend liebenswerten Lächeln und dem mächtigen Schwertarm? Es war an der Zeit, dass Broichan Bridei wie den Mann behandelte, der er war, und ihm genügend vertraute, ihm die Wahrheit zu sagen. Am Ende kam der Druide des Königs den Forderungen seines Pflegesohns zuvor. Sie trafen sich in Broichans Zimmer in der Festungsmauer, wo auch Bridei und seine beiden Leibwächter untergebracht sein würden, solange er am Hof blieb. Bridei war nach dem Ritt von Pitnochie nach Caer Pridne müde, aber er hatte zunächst dafür gesorgt, dass Schneefeuer im Stall des Königs untergebracht wurde, sich dann zusammen mit seinen Wachen etwas zu essen verschafft und war dann zu seinem Pflegevater gegangen. Breth und Garth packten im Schlafraum die Ausrüstung aus. Bridei fand Broichan in der gewohnten Haltung vor einer kalten Feuerstelle, offensichtlich tief in Gedanken versunken. Das Zimmer war ganz ähnlich eingerichtet wie das des Druiden in Pitnochie; sein Handwerkszeug lag auf Regalen oder hing an Balken von der Decke, seine Schriftrollen und das Schreibmaterial waren ordentlich weggepackt. Eine Nische am anderen Ende mit einer gefalteten Decke stellte offenbar Broichans Schlafplatz dar. Bridei hoffte, dass es in dem anderen Zimmer wenigstens Strohmatratzen gab; seine Nächte waren auf dem Weg hierher häufig von Träumen unterbrochen worden, und die Kopfschmerzen waren nie vollkommen verschwunden. - 454 »Herr?« »Bridei. Willkommen daheim, Sohn.« Nun war es möglich, vorzutreten und eine kurze Umarmung auszutauschen, und dabei spürte Bridei, wie dünn sein Pflegevater unter dem schwarzen Gewand geworden war. Bridei trat zurück, sah neue Falten im Gesicht des
Druiden, neue graue Strähnen in dem dunklen, geflochtenen Haar. »Geht es dir gut?« »Gut genug, Bridei. Das Leben am Hof erfreut mich weniger, als das einmal der Fall war. Ich würde das selbstverständlich nicht vor König Drust erwähnen. Er braucht mich, also diene ich ihm. Die Götter verlangen es. Du siehst müde aus. Es gab Verluste; das tut mir Leid. Talorgen sagte, der Bote, den ich mit der Nachricht über Erip ausgeschickt habe, hat euch nie erreicht. Ich hatte auch ... aber das ist jetzt unwichtig. Der alte Mann ist friedlich hinübergegangen; es war am Ende ein guter Tod. Er war von Freunden umgeben.« »Donal ist nicht friedlich gestorben. Er starb an meiner Stelle. Ich habe ihm selbst den Becher in die Hand gedrückt.« Nur mit großer Anstrengung konnte Bridei verhindern, dass seine Stimme zitterte. »Setz dich, Sohn. Wir müssen über einiges reden. Du weißt, dass dies nicht der erste Anschlag auf dein Leben war, oder auf das meine. Ich denke, wir haben es jetzt mit einem neuen Feind zu tun, aber sein Motiv ist das gleiche. Ich nehme an, du brauchst mich nicht mehr zu fragen, wieso jemand versucht dich umzubringen.« Bridei schwieg. »Sag es mir.« »Solltest nicht du derjenige sein, der es mir sagt, Herr?« Broichan seufzte und setzte sich Bridei gegenüber, mit dem Arbeitstisch zwischen ihnen. »Ich denke, wir können uns das >Herr< jetzt sparen, da wir uns als Männer gegenübersitzen«, sagte er leise. »Du kannst mich mit meinem Namen ansprechen, wenn du möchtest. Und nun erzähle. Sie - 455 sagen, du bist ein Held: der Mann, der den kühnen Plan erdacht und ausgeführt hat, den Magierstein vor der Nase unserer Feinde zu rauben. Talorgen sagt, du hast dich auch in der Schlacht hervorragend geschlagen und dich danach durch deine Reife und kühle Ruhe hervorgetan. Ich entnehme seinem Tonfall, dass er sich wünschte, du wärst sein eigener Sohn. Du entwickelst dich also besser, als wir annehmen konnten, du findest Verbündete, du beleidigst niemanden. Die Geschichten über dich eilen dir im Tal voraus und sind bereits Legende. Der Flammenhüter lächelt auf dich herab. Und dennoch versucht jemand, dich zu töten. Warum?« »Du weißt, warum. Weil ich der Sohn meiner Mutter bin.« »Ah!« Broichan lehnte sich zurück, die Hände hinter dem Kopf. »Wann hast du herausgefunden, um was es geht?« »Es ist schon lange her, seit ich es das erste Mal argwöhnte. Bei aller Ausführlichkeit ihres Unterrichts in Genealogie sind Wid und Erip diesem Thema sorgfältig aus dem Weg gegangen. Dass sie meine Fragen nach meinen eigenen Vorfahren so nachlässig behandelten, hat mich aufmerksam gemacht. Ich konnte mich nicht an den Namen meiner Mutter erinnern; für ein kleines Kind lautet er einfach Mutter. Am Ende habe ich Ferada gefragt und erfahren, dass meine Mutter tatsächlich über die weibliche Linie mit dem König verwandt ist. Andere sind enger mit ihm verwandt, sind direkte Vettern oder Basen. Carnach von Dornenband gehört dazu, ebenso wie Talorgens Gemahlin Dreseida. Ich hoffe, Drust der Stier verlässt uns noch nicht zu bald. Aber wenn das geschehen sollte, gehöre ich zu jenen, die als Kandidat in Frage kommen. Das ist es, worauf man mich vorbereitet hat.« »Warum hast du mich nicht eher darauf angesprochen, Bridei?« »Wenn ich mich geirrt hätte, hätten solche Gedanken sehr arrogant gewirkt. Vermessen. Ich habe keine besonderen - 456 Eigenschaften, die mich zu einem so offensichtlichen Kandidaten machen.« Broichan lächelte. »Außer, dass du sowohl Maelchons Sohn bist als auch vom königlichen Blut der Priteni«, sagte er. »Verbinde das mit der Vorbereitung, die du erhalten hast, und das Ergebnis ist ein Mann, der mit jeder Faser ein zukünftiger König ist. Deine Mutter wäre stolz auf dich.« Etwas in seinem Tonfall ließ Bridei aufmerksam werden. »Du kanntest sie, nicht wahr?«, fragte er. »Meine Mutter?« »0 ja.« Er hatte sich also nicht geirrt; diese leichte Veränderung der Stimme und in den undurchdringlichen dunklen Augen war tatsächlich vorhanden gewesen. »Erzähle mir von ihr. Ich kann mich überhaupt nicht an sie erinnern.« »Anfreda war - außergewöhnlich. Klug, vergnügt, ein kleines, schlankes Ding mit Haar so glänzend wie eine reife Kastanie und einem Lächeln, das einem Mann das Herz still stehen ließ. Sie hat tatsächlich viele Herzen gebrochen, als sie sich entschied, Maelchon zu heiraten und ihr Leben weit entfernt von Fortriu zu verbringen. Er war ein ordentlicher Mann, aber gehetzt; es kam mir vor ... nun, das ist jetzt gleich. Du hast viel von deiner Mutter, Bridei. Und wahrscheinlich auch von Maelchon; er war ein Anführer.« Bridei fragte nicht: Hat sie auch dir das Herz gebrochen, als sie davonging? Broichan stand zweifellos über solch menschlichen Schwächen. »Es wird bald geschehen, nicht wahr?«, fragte er stattdessen leise. »Es heißt, der König sei sehr krank, dass er den Winter vielleicht nicht überleben wird.« »In der Tat. Wir haben viel zu tun und nur wenig Zeit, das zu erreichen. Du wirst Drust morgen kennen lernen; dein Anspruch kann erst erhoben werden, wenn er tot ist und der förmliche Prozess beginnt, aber die Kandidaten werden sich von nun an hier und da zeigen. Wir erwarten eine Delegation aus Circinn, und das stellt vermutlich die größte Herausforderung dar. Was die anderen angeht, so werden wir
- 457 daran arbeiten. Einige können mit Silber oder anderen Anreizen gekauft werden, andere kann man durch andere Mittel überreden, sich mit dir zusammenzutun statt zu Rivalen zu werden. Von dir selbst abgesehen gibt es zwei andere Möglichkeiten aus dem Haus von Fortrenn, von denen Carnach der wahrscheinlichere ist. Es wäre erheblich besser, wenn der Norden nur einen starken Kandidaten aufstellte. Wenn die Fürsten von Fortriu unter sich zerstritten sind, können wir nicht hoffen, Drust den Eber zu besiegen, der wahrscheinlich von allen abstimmenden Fürsten der südlichen Regionen unterstützt wird.« »Was ist mit den Hellen Inseln?« »Es gibt dort zwei oder drei Männer vom Blut, aber ich nehme an, das Volk wird sich diesmal heraushalten. Wir haben hier eine königliche Geisel, und sie werden vor allem ihre Sicherheit im Sinn haben. Drust hat hervorragende Voraussicht gezeigt, als er das Mädchen hier behielt, als es seine Verwandten vor ein paar Jahren zu einem Besuch am Hof begleitete. Du wirst sie kennen lernen; sie ist wieder hier.« »Glaubst du, der Attentäter wurde von Circinn geschickt? Dass Drust der Eber vorhat, seine Herrschaft über Circinn hinaus nach Fortriu zu erstrecken?« Broichan schüttelte den Kopf. »Was das Letztere angeht, bin ich vollkommen sicher; kein König, der sein Salz wert ist, würde sich eine solche Gelegenheit entgehen lassen, und der Eber ist umgeben von ehrgeizigen Beratern. Aber Mord? Ich glaube nicht. Er hat auch ohne das einen starken Anspruch, und er kennt dich nicht. Ich bezweifle, dass er dich als ernsthaften Rivalen betrachtet. Zumindest jetzt noch nicht.« »Wer würde sonst...« »Das wissen wir nicht. Und das bedeutet, dass du dich meinen Wünschen fügen musst, Bridei, auch wenn es deine persönliche Freiheit einschränkt. Ich weiß, es gefällt dir nicht; selbst Donais Anwesenheit hat dich mitunter gestört, obwohl er ein Freund war. Aber von nun an müssen Breth - 458 oder Garth stets in deiner Nähe sein. Du brauchst einen Vorkoster. Und es wird noch einen anderen Mann geben. Ich habe ihn gerufen, damit ihr euch kennen lernt; er wird in Kürze hier sein.« »Ich brauche nicht noch einen Leibwächter.« »Alle, die dein bestes Interesse verfolgen, stimmen überein, dass du ihn brauchst.« Bridei setzte zum Widerspruch an, dann überlegte er es sich anders. Es gab noch eine dringende Frage, die er stellen musste, bevor dieser andere Krieger, wer immer er sein mochte, sie störte. »Tuala war weg, als ich nach Pitnochie kam«, sagte er, und es fiel ihm plötzlich schwer, Broichan anzusehen, aus Angst, was er in seinem Blick entdecken würde. »Ich erfuhr, dass sie ins Haus der Weisen Frauen in Banmerren gegangen ist. Angeblich, um eine Dienerin der Leuchtenden zu werden.« Broichan faltete die schlanken Hände auf dem Tisch. »Das ist wahr«, sagte er. »Man hat sie angemessen ausgestattet und eskortiert.« »Du hast sie schon einmal weggeschickt«, sagte Bridei und bemühte sich, seine Stimme zu beherrschen. »Du hast sie schon einmal nicht in Pitnochie haben wollen, weil sie dir peinlich war. Hast du sie gezwungen zu gehen?« Broichan sah ihn schweigend an, das blasse Gesicht ruhig, die dunklen Augen ohne eine Andeutung von Gefühlen. »Nein, Bridei«, sagte er schließlich. »Es war Tualas Entscheidung, nach Banmerren zu gehen. Fola hat ihr einen Platz angeboten, und Tuala hat die Gelegenheit genutzt. Es ist das Richtige für sie.« Kälte breitete sich schleichend in Bridei aus. Die Worte seines Pflegevaters hatten den unmissverständlichen Klang der Wahrheit. Tuala hatte getan, was er nie für möglich gehalten hätte. Sie hatte die Verbindung zwischen ihnen so plötzlich und vollständig durchtrennt, als wäre sie gestorben. »Ich verstehe«, sagte er unsicher. - 459 »Es ist eine hohe Berufung, eine Dienerin der Leuchtenden zu werden«, stellte Broichan fest. »Die alten Männer haben die Begabung des Kindes als Gelehrte in den höchsten Tönen gelobt. Bei all ihrem Anderssein denke ich doch, dass sie bei Fola zu Hause sein wird.« Zu Hause, dachte Bridei. Wie konnte das irgendwo anders sein als in Pitnochie? »Das nehme ich an«, zwang er sich zu sagen, und in diesem Augenblick erklang ein leises Geräusch von der Tür her. Broichan schaute an ihm vorbei jemanden an, der dort stand. Bridei stand auf, drehte sich um und erstarrte. Dann machte sich sofort Donais Ausbildung bemerkbar. Bridei griff nach dem Messer und warf sich nach vorn. In dem Augenblick, den das brauchte, waren in der Hand des anderen Mannes ein Dolch und auf seinen Zügen ein kleines Lächeln erschienen, ein Lächeln, das Bridei schon zuvor gesehen und nicht vergessen hatte. »Haltet ein!« Bridei erstarrte, das Messer zwei Handspannen von der erhobenen Klinge des anderen entfernt. Die amüsierte Miene des Mannes wich der Gereiztheit, dann dem Schrecken. Broichan wendete nicht oft Magie an; wenn er es tat, erinnerte es einen daran, wieso er der Druide des Königs und überall in Fortriu und Circinn geachtet und gefürchtet war. Er hatte nichts weiter getan, als die eigene Hand ein wenig zu heben und mit dem Finger auf die beiden zu zeigen, dem Finger mit dem Silberring in Form einer Schlange. Bridei wartete, unfähig sich zu bewegen, wenn man von seinem schnellen Herzschlag einmal absah. Er starrte den anderen Mann wütend an, den der Zauber des Druiden ebenso bewegungslos machte und der mit intensiver Feindseligkeit zurückstarrte. »Ich muss um Entschuldigung bitten«, sagte Broichan, aber es klang nicht so, als täte es ihm Leid. »Bevor ihr
euch aufeinander stürzt, muss ich ein paar Dinge erklären. Du bist früh hier, Faolan. Mein Pflegesohn reagiert, wie man es von - 460 einem Krieger erwartet, der einen Feind an einem Ort entdeckt, wo dieser nicht hingehört. Bridei, im Gegensatz zu dem, was du glaubst, gehört dieser Mann zu uns. Und nun werde ich den Zauber aufheben, und ihr werdet die Waffen wegstecken und euch hinsetzen, während ich erkläre, um was es geht. Setzt euch einander gegenüber an den Tisch und haltet den Mund, bis ich fertig bin.« Er schnippte mit den Fingern; die beiden Männer konnten sich wieder bewegen. Es brauchte Brideis gesamte Selbstbeherrschung, nicht vorwärtszuspringen und anzugreifen. »Dieser Mann ist ein Spion!«, protestierte er. »Er ist ein Gäle! Ich weiß es, ich habe ihn selbst gefangen genommen! Aber ...« Dann schwieg er. Der Mann, den Broichan Faolan genannt hatte, steckte sein Messer ein, ging ruhig zum Tisch und setzte sich hin. »Er sollte tot sein«, sagte Bridei, bemerkte selbst, wie dumm sich das anhörte, und fragte sich, ob seine Zweifel an jenem Tag in Rabenbrunn berechtigt gewesen waren. Vielleicht war das Ganze tatsächlich abgesprochen gewesen, damit er und Gartnait einen kleinen Sieg ohne echte Gefahr erringen konnten. Aber nein; eins war eindeutig. »Er ist ein Gäle«, sagte er noch einmal. »Ich habe gehört, wie er ihre Sprache benutzte. Wie seine Muttersprache. Was tut er hier? Ich dachte ...« »Hast du mich nicht gehört, Bridei?« »Verzeih mir, Herr. Broichan.« »Faolan ist der Geburt nach tatsächlich Gäle, und er ist in ihrem Land aufgewachsen. Er steht jedoch im Dienst von König Drust, und das schon seit mehreren Jahren. Was in Rabenbrunn zwischen euch geschah, war ein bedauerlicher Irrtum. Ihr müsst das vergessen und es hinter euch lassen. Faolan arbeitet nun für uns. Er wird dein Schatten sein, Bridei, er wird dich schützen und deine Feinde auch dort suchen, wohin Breth und Garth ihnen nicht folgen können. Er hat ein Ohr an jeder Tür, einen Fuß in jedem Lager. Mit ihm an deiner Seite besteht eine passable Chance, dass - 461 du in Sicherheit bist. Immer vorausgesetzt, du tust, was er dir sagt.« Bridei starrte den Galen über den Tisch hinweg erbost an, der seinerseits mit herablassender Miene seine Fingernägel betrachtete. »Warum war er mit einem Mann in diesem Wald, den Talorgen später zu Tode foltern ließ? Warum haben sie versucht, vor uns zu fliehen, und diese Sprache gesprochen? Warum hat man mir gesagt, er sei tot?« »Ich beherrsche die Sprache der Priteni recht gut, und ich glaube, ich bin noch bei Verstand«, sagte Faolan und zog die Brauen hoch. »Ich denke, ich wäre durchaus in der Lage, für mich selbst zu sprechen.« »Dann gib mir Rechenschaft!«, verlangte Bridei. »Ich war auf dem Rückweg von einer Mission; ich sollte einen Mann zurückbringen, einen Mann, der sich auskannte. Er glaubte, dass wir Informationen über Talorgens Streitmacht sammeln würden. Ich hatte vor, ihn zu einer Stelle zu bringen, wo man uns gefangen nehmen würde. Ihr hattet an diesem Tag Wache; es hätte jeder sein können.« »Willst du damit sagen, dass du damals für Talorgen gearbeitet hast?« »Für Drust. Aber Talorgen weiß, wer ich bin.« »Ich hätte dich töten können!« Bridei war verblüfft, beleidigt, tödlich verlegen. »Wenn du das wirklich glaubst, überschätzt du deine Fähigkeiten«, sagte Faolan und klang dabei mehr als nur ein wenig gelangweilt. »Du hast ein wenig mehr Aufmerksamkeit auf mich gelenkt, als es mir oder Talorgen recht war. Das hat meine Arbeit in der Region von Rabenbrunn einigermaßen behindert. Gabhrans Berater glauben, dass ich ihr Geschöpf bin, oder sie taten es zumindest; das hat es mir ermöglicht, Dalriada zu durchqueren und an den Ratssitzungen der Galen teilzunehmen. Leider ist meine Nützlichkeit als Spion geringer, je mehr Männer mein Gesicht kennen, selbst wenn es unsere eigenen sind. Daher entschied Drust, - 462 mich wieder an den Hof zurückzuholen, damit ich eine Weile nicht gesehen werde. Das habe ich dir zu verdanken, und das hier.« Er rollte seinen Ärmel auf und zeigte eine hässliche Narbe am Oberarm. »Es ist nur gut, dass ich meine Waffen immer noch benutzen kann, oder du hättest jetzt einen gefährlichen Feind.« »Verzeih mir«, sagte Bridei höflich, »aber es scheint, als hätte ich bereits einen.« »Ich bin nicht nachtragend«, sagte Faolan. »Solange ich regelmäßig bezahlt werde. Aber du hast Recht. Man sagt mir, dass du einen Feind hast. Deshalb bin ich hier.« Bridei wandte sich dem Druiden zu. »Warum hat Talorgen mich angelogen?«, fragte er. »Warum hat er mich glauben lassen, dieser Mann sei tot?« »Das musst du ihn selbst fragen«, sagte Broichan. »Er hielt es vermutlich für wünschenswert, dass so wenige wie möglich die Wahrheit wussten.« »Aber das bedeutet...« Bridei brach ab. »Wenn es dir Leid getan hat, ist das dumm von dir«, sagte Faolan barsch. »Wenn dir der Feind erst Leid tut, hast du die Schlacht schon verloren, bevor du mit dem Kämpfen überhaupt anfangen kannst. Es ist gut, dass du mich gerufen hast, Herr.« »Ja«, sagte Broichan. »Deine Skrupellosigkeit ist ebenso bekannt wie dein Können und deine Diskretion. Wir
brauchen dich. Bridei, das wirst du akzeptieren müssen.« »Was soll er tun?« »Faolan findet seine eigenen Gelegenheiten. Man beauftragt ihn, aber er führt die erforderliche Arbeit nach seinen eigenen Regeln aus. Man hat ihm erklärt, wieso du beschützt werden musst und von welchem Wesen jene sind, die dich wahrscheinlich töten wollen. Er wird dir sagen, was nötig ist.« »Er wird also hier wohnen? Und mir überallhin folgen, obwohl Breth und Garth gute Arbeit leisten? Obwohl ich kein - 463 kleines Kind mehr bin, das einen Wachhund braucht, der die Schatten fern hält?« Broichan drehte den Silberring an seinem Finger. »Hättest du Donal als reinen Wachhund abgetan?«, fragte er leise. Unangenehmerweise spürte Bridei, dass ihm plötzlich Tränen in die Augen traten; es schien, als befände sich der kleine Junge nicht besonders tief unter der Oberfläche, trotz der Kriegerzeichen. »Donal war mein Freund.« Weder Broichan noch der Gäle sagten etwas. Es war wohl allen deutlich, dachte Bridei, dass Faolan niemals jemandes Freund werden konnte. »Ich weiß, was ich tue«, sagte Faolan. »Ich kann dich schützen. Wir müssen uns nicht unbedingt mögen.« »Verzeih mir«, sagte Bridei, »aber ich frage mich, wie glaubwürdig du hier am Hof sein kannst, ein Mann aus Dalriada im Herzen von Fortriu. Sicher, dein Äußeres weist dich nicht sofort als Galen aus, aber die Leute wundern sich doch sicher, wieso ein Mann, der bewaffnet ist wie ein Krieger, keine Kriegerzeichen trägt. Und sobald du den Mund aufmachst, wird dein Akzent dich verraten.« Er warf Broichan einen Blick zu. »Du sagst, dieser Mann kann gehen, wo Breth und Garth nicht hingehen können, und dass er einen Fuß in jedem Lager hat. Wie ist das möglich, wenn so schnell ersichtlich wird, dass er ein Gäle ist.« Faolan lächelte dünn. »Wie?«, fragte er spöttisch. »Der König von Fortriu vertraut mir, und du tust es nicht? Ich betreibe mein Handwerk schon lange, Bridei. Ich kenne mich mit jeder Facette davon aus. Eine davon ist die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, sich jeder Umgebung anpassen zu können, sei es hier bei den Priteni oder in den Hallen von König Gabhran von Dalriada. Ich habe überall einen anderen Namen, eine andere Verkleidung. Sie sind allesamt so unauffällig, dass die Menschen mich sofort wieder vergessen. Der Akzent wechselt; heute sah ich keine Notwendigkeit, ihn zu verschleiern. Was Caer Pridne angeht, so hat der - 464 König deutlich gemacht, dass ich unter seinem Schutz stehe, Gäle oder nicht. Ich bin seinem inneren Kreis bekannt. Wenn unbequeme Besucher eintreffen, sorge ich dafür, dass sie mich nicht sehen. Oh, und noch etwas. Ich bin kein Mann Dalriadas. Ich arbeite für Geld. Meine Treue dauert so lange wie der Auftrag.« »Aha.« Bridei fand das wenig beruhigend. Es war beinahe, als erklärte Faolan ganz offen, dass er bereit war, jederzeit für einen schwereren Beutel Silber die Seiten zu wechseln. »Und jetzt«, sagte Faolan, »sollten wir zu deinen beiden Leibwächtern gehen, damit ich kurz mit ihnen sprechen kann. Ich muss als Erstes deine Unterkunft überprüfen und ein paar allgemeine Dinge organisieren.« »Dann komm mit«, sagte Bridei und bemühte sich, höflich zu sein. Es war offensichtlich, dass ihm nichts anderes übrig bleiben würde. »Bridei«, sagte Broichan hinter ihm. »Das ist es, was es bedeutet, der Weg, den wir eingeschlagen haben. So ist es für Drust, und so wird es für dich sein. Wenn du diesen Weg gehst, musst du alles akzeptieren, was dazu gehört: Beschützer, Berater, Männer, die dich mit sklavenhafter Unterwürfigkeit grüßen, andere, die nicht zögern werden, dir ein Messer in den Rücken zu stoßen. Glaub mir, ein Mann wie Faolan ist auf einer solchen Reise ein guter Begleiter. Er hat schon hundertmal gezeigt, was er kann.« Tuala, dachte Bridei. Tuala für immer aus seinem Leben verschwunden. Tuala hinter hohen Mauern eingeschlossen. Tuala an einem Ort, der für Männer verboten war. Tuala, die entschied, ihn hinter sich zu lassen. Ohne diese Nachricht hätte er alles andere beherrschter aufgenommen und sich gegenüber diesem Galen nicht wie ein unzufriedenes Kind verhalten. Als Faolan in den Schlaf räum ging und klar wurde, dass Breth und Garth die Autorität des Galen ohne Schwierigkeiten akzeptierten, stand Bridei schweigend in der Tür, die Finger an dem schmalen Band, das er um sein - 465 Handgelenk trug. Als er den vertrauten weichen Stoff berührte, gaben die ausgefransten Enden nach, und der kleine Zopf fiel in seine Hand. Das war vielleicht ein Zeichen. Selbst wenn sie sich nicht entschieden hätte, ihn zu verlassen, selbst wenn sie an seiner Seite geblieben wäre, was für ein Leben wäre das für sie gewesen, für ein Kind, dessen ganzes Wesen auf Buchen, Birken und Ebereschen eingestimmt war, auf Eulen, Otter und Hirsche, auf das schimmernde Wasser des Schlangensees und den hohen, einsamen Gipfel der Adlernarbe? Was konnte ein Leben am Hof einem Mädchen bedeuten, das Geschichten, Träume und Stille liebte? Umgeben von Wachen und Höflingen, von Attentätern und Intriganten, wie lange würde seine Waldblume überleben? Zu erwarten, dass sie an seiner Seite stand, wenn sie doch wusste, und wie er annahm schon seit einiger Zeit, wohin seine Zukunft ihn führen würde, war, als würde er sie bitten, im Namen eines Versprechens zwischen Kindern zu welken und zu sterben. Er musste sie gehen lassen. Er musste seinen Weg allein gehen. Das war es, was die Götter von ihm verlangten.
- 466 KAPITEL ZWÖLF Zieh das Grüne an«, sagte Dreseida. »Und sieh zu, dass du dein Haar weicher frisierst; du kannst es dir nicht leisten, zu majestätisch auszusehen; kein Mann wird es dann wagen, dir nahe zu kommen.« »Warum sollte mich das stören?«, fauchte ihre Tochter, die in einer kleinen Truhe wühlte und ein Schmuckstück nach dem anderen beiseite schob. »Sei nicht dumm, Ferada. Du weißt genau, wieso du in Caer Pridne bist. Du verstehst, wie wichtig dieser Abend ist, und jeder andere solche Anlass. Du bist jetzt sechzehn; wenn du noch länger wartest, werden die möglichen Bewerber anfangen, dich zugunsten von etwas Jüngerem, Frischerem zu übersehen. Ich möchte, dass du heute Abend mit Bridei sprichst.« »Ich denke schon, dass ich das tun werde, wenn man bedenkt, dass er Gartnaits Freund ist.« »Stell dich nicht dümmer, als du bist. Du weißt, was ich meine. Sprich mit ihm, bezaubere ihn, ermutige ihn, sich dir anzuvertrauen. Broichan hat irgendetwas vor, und ich will wissen, was das ist.« »Bridei ist nicht dumm, Mutter. Er wird mich sofort durchschauen. Wenn ich in Rabenbrunn mit ihm gesprochen habe, ging es immer um Geschichte oder Politik oder andere gelehrte Themen. Dagegen habe ich nichts. Es wird eine - 467 willkommene Abwechslung zu den anzüglichen Blicken und jämmerlichen Versuchen der anderen sein, ein intelligentes Gespräch zu führen.« »Ferada.« Ferada schwieg, ein paar Silberohrringe in Form von Delfinen auf halbem Weg zu ihren Ohren erhoben. Es gab einen gewissen Tonfall, den ihre Mutter hin und wieder anschlug, einen Tonfall, der sofortigen Gehorsam verlangte. »Ja, Mutter?« Ihr Herz klopfte heftiger. »Du wirst tun, was ich von dir verlange. Ich muss wissen, was Broichan plant. Hast du verstanden, was ich gerade gesagt habe?« »Ja, Mutter.« »Sprich mit ihm. Freundlich. Entfalte deinen Liebreiz. Erwähne Broichan. Ich will wissen, was die beiden von jetzt an bis zum Winter vorhaben, wohin sie reisen werden, wen sie besuchen. Beobachte Brideis Augen, wenn du ihn fragst.« »Mutter, ich...« »Es passt nicht zu dir, dass du so unaufmerksam bist, Ferada. Du musst doch wissen, dass die Nichtbefolgung meiner Wünsche einer Missachtung der Götter gleichkommt. Das kann deine eigenen Möglichkeiten in der Zukunft gewaltig einschränken. Uns steht die Wahl eines neuen Königs bevor. Das ist eine Gelegenheit, Einfluss darauf zu nehmen, wie die Zukunft sich entwickeln wird. Als Frauen erhalten wir solche Gelegenheiten selten. Ich habe vor, diese Möglichkeit vollstem auszunutzen, und dafür muss ich mehr wissen. Ich kann Broichan oder seinen Pflegesohn wohl kaum selbst fragen. Du wirst für mich handeln müssen. Ich werde dich genauestens im Auge behalten, und ich erwarte Fortschritte zu sehen.« »Das ist, als ... als wäre ich eine Ware, die man mieten kann«, sagte Ferada verbittert, unfähig, weiter zu schweigen. »Als hätte ich keinerlei eigenen Wert. Ich bin deine Tochter, kein Werkzeug.« - 468 »Du bist eine Frau«, sagte Dreseida trocken. »Wenn du dich von Anfang an in diesem Spiel bewährst, wirst auch du Gelegenheit erhalten, Macht auszuüben. Das hier ist nur der erste Schritt.« »Es ist nicht mein Spiel.« Feradas Stimme zitterte. »Es ist nur dein eigenes, und nicht nach meinem Geschmack. Ich wünschte, ich wäre in Banmerren geblieben.« »Aber du wirst tun, was ich dir sage. Es wäre nicht klug, mir zu trotzen. Vergiss nicht, dass die Wahl deines zukünftigen Mannes vollkommen in meinen Händen liegt. Dein Vater wird sich meinen Wünschen beugen. Sei eine gehorsame Tochter, und ich lasse dich in dieser Sache vielleicht ein wenig mitreden.« »Ich nehme an, es ist nicht Bridei, auf den du dein Auge geworfen hast. Du hast ihn nie besonders leiden können.« Dreseida stieß ein freudloses Lachen aus. »Sagtest du nicht einmal, dass er keinen Humor hat? Lass uns ein wenig warten. An Mittwinter wird es in Caer Pridne vor Fürsten nur so wimmeln. Wenn du brav bist, wirst du eine große Auswahl haben.« Tuala konnte die Fackeln sogar von der anderen Seite der Bucht sehen, eine Doppellinie von Lichtern, die im Halbdunkel des Sommerabends die Straße zur Landspitze säumten, zu den Toren der Festung des Königs. Noch
mehr Fackeln waren in der dreifachen Festung von Caer Pridne selbst aufgestellt. Drusts Festung tanzte vor Licht wie ein Palast in einer alten Geschichte. Eine Feier - Uist, der alte Druide, hatte es erwähnt, und Fola hatte es bestätigt. Es würde eine Siegesfeier sein, eine Anerkennung von Tapferkeit und Triumph. Bridei würde dort sein. Tuala wusste, dass er unverletzt zurückgekehrt war, denn Uist hatte es ihr erzählt, ohne dass sie auch nur fragen musste. Sie hatte ihm mit - wie sie hoffte - vollendeter Ruhe für die Informationen gedankt. Es wurde immer deutlicher, dass sie in Brideis Zukunft kei- 469 ne Rolle spielen sollte, dass ihre Freundschaft ihn nur aufhalten würde. Also war es besser, so zu tun, als zählte er für sie nicht. Wenn sie sich immer wieder daran erinnerte, was für ein Glück sie hatte, in Banmerren zu sein, und wie geeignet sie für ein Leben der Gelehrsamkeit und der Hingabe an die Götter war, würde sie es am Ende vielleicht selbst glauben. Uist hatte sowohl gute als auch schlechte Nachrichten gebracht. Wid ging es gut, und er hatte sich in die Nemetons zurückgezogen, um einige Zeit mit Gebet und innerer Einkehr zu verbringen. Tuala hoffte, dass ihm Ferats gute Küche nicht allzu sehr fehlte. Als Uist ihr die schlechten Nachrichten überbrachte, hätte sie beinahe die Beherrschung verloren. Donal war tot; Brideis beständiger Freund, ein Freund für alle in Pitnochie, sie selbst eingeschlossen, war bei einem Anlass vergiftet worden, der ein freudiges Fest hätte sein sollen. Tualas Magen zog sich bei dem Gedanken zusammen. Das war ihre eigene Vision, Wirklichkeit geworden in einer verzerrten Fassung - diese schreckliche Vision, die sie wie ein verängstigtes Reh durch den Wald hatte rennen lassen, um Broichan anzuflehen, ihr zu helfen. Eine so geringe Veränderung im Gewebe der Ereignisse, das beiläufige Weiterreichen eines Bechers Bier von einem Mann zum anderen, und Brideis Leben war verschont worden, aber sein bester Freund hatte dafür mit seinem eigenen bezahlt. Sie wusste, wie Bridei sich fühlen würde: schuldig, traurig, niedergedrückt von dieser Last. Wenn sie doch nur bei ihm sein könnte ... Er war in Caer Pridne, das direkt auf der anderen Seite der Bucht lag, so nahe, und es hätte sich dennoch auch in einem anderen Land befinden können. Es war Bridei und jedem anderen Mann, der kein Druide war, verboten, hierher zu kommen. Sie hatte sich höflich bei Uist für die Nachrichten bedankt und sorgfältig darauf geachtet, nach außen hin ruhig zu wirken. Das war am Abend zuvor gewesen. An diesem Abend war - 470 es anders. Sie hatte sich den ganzen Tag so gut wie möglich abgelenkt. Da die adligen Töchter an den Hof gegangen waren, hatte Derila ihre Klasse geteilt, und Tuala unterrichtete nun die jüngeren Schülerinnen, Mädchen, die beinahe so alt waren wie sie selbst. Es war eine schwere Prüfung; ihre Schülerinnen nahmen ihr ihre Beförderung zur Lehrerin übel, ihre Jugend, ihre helle Haut und die seltsamen Augen. Ihr Anderssein. Gleichzeitig waren sie von diesem Anderssein fasziniert. Sie mochten die Dinge, die Tuala tun konnte. Mit einigem Widerstreben hatte sie ihnen die Bewegungstricks vorgeführt, die Spielereien mit Licht, die kleinen Veränderungen, die sie seit ihrer Kindheit beinahe ohne nachzudenken im Wald durchgeführt hatte. Es gefiel ihnen zu hören, wie man die Gedanken eines Eichhörnchens, einer Eule oder eines Zaunkönigs belauschte; sie hörten nur zu gerne die Geschichten, die im Herzen einer uralten Eiche zu vernehmen waren. Tuala zeigte ihnen gerade genug, um ihr Interesse aufrechtzuerhalten. Der Geschichtsteil des Unterrichts wurde schnell und eifrig erledigt, denn die Mädchen warteten begierig darauf, mit weiteren Geheimnissen belohnt zu werden. Sie setzten sich beim Essen immer noch nicht zu Tuala; das hatte sich nicht geändert. Aber sie lachten nicht mehr über sie. Nachdem der lange Tag vorüber war, saß sie nun im Baum und schaute über den Strand hinweg nach Caer Pridne. Ein paar Fackeln bewegten sich; vielleicht fand dort auf der langen Straße eine Prozession statt, die schließlich feierlich in die große Halle von Drust dem Stier einziehen würde. Es hieß, der Eingang dort sei sehr beeindruckend. Es gab sechzehn gemeißelte Steine, die in Paaren aufgestellt waren; sie gehörten zu den besten Arbeiten in ganz Fortriu, hatte Erip ihr erzählt. Jeder Mann und jede Frau, die sich Drusts Hof näherten, würden von dieser monumentalen Zurschaustellung von Macht begrüßt. Tuala konnte nichts hören; dafür war die Festung zu weit entfernt. Vielleicht gab es Hörner- 471 klänge, vielleicht Trommeln und Gesang. Ganz sicher würden Geschichten erzählt werden. Die Versetzung des Magiersteins war eine Geschichte, die es an Heldentum und Erfindungsreichtum mit vielen anderen aufnehmen konnte. Ja, es war wirklich passiert; Fola hatte es ihnen erzählt. Bridei hatte angefangen, der Welt zu zeigen, wer er war. Tuala schauderte. Selbst Sommernächte konnten hier in Banmerren kalt sein, wo der Wind vom Meer heranwehte. Sie wusste, sie sollte nach drinnen gehen; es war dumm, nach Einbruch der Dunkelheit noch allein hier zu sitzen. Der Mond nahm ab, und sie könnte bei dem schlechten Licht leicht einen falschen Schritt machen und von der Mauer fallen. Aber vielleicht würde das auch nicht passieren. Vielleicht würde sie fliegen. Als Kind hatte sie immer davon geträumt, fliegen zu können. Sie warf einen langen letzten Blick zur Festung; sie betrachtete die flache, nasse Sandfläche, auf deren Oberfläche sich das Fackellicht vom anderen Ende spiegelte. Es war nicht sehr weit. Für ein Mädchen, das in seiner Kindheit wild in den Hügeln oberhalb von Pitnochie umhergerannt war, würde es ein leichter Weg sein. An einem guten Tag würde sie hinüberlaufen und wieder hierher zurückkehren können, bevor es jemand bemerkte. Aber sie durfte das Anwesen nicht verlassen, ebenso wenig wie die anderen in Blau. Die adligen
Töchter hatten die Freiheit, sich zu gewissen Zeiten zwischen der Schule und dem Hof hin und her zu bewegen und auszureiten; die anderen verließen das Gelände nur, wenn sie mussten. Hin und wieder gab es einen Ausflug unter der strengen Aufsicht von Luthana, die die Arbeiten in Garten und Destillierraum überwachte. Am Tortag würden die Weisen Frauen zu einer feierlichen Zeremonie nach Caer Pridne gehen; als Tuala Kethra gefragt hatte, was genau dort geschah, hatte sie sich nicht weiter geäußert. Es gab ein Ritual für die Männer, angeführt vom Druiden des Königs, und ein anderes für die Frauen, das zur gleichen Zeit von Fola gelei- 472 tet wurde. Die älteren Mädchen würden zusammen mit denen, die das graue Gewand trugen, daran teilnehmen. Die anderen mussten warten, bis sie sich das Grün verdient hatten. Tuala hätte ihre Theorie an diesem Abend gerne überprüft: von der Außenmauer zu springen und zu erfahren, ob sie gebrochen, zerschmettert auf dem Boden darunter landen oder durch die Dunkelheit gleiten würde wie eine Eule, bis sie auf den Mauern von Caer Pridne landete, um sich das Fest eines Königs anzusehen. Stattdessen balancierte sie wieder über die Mauer und kehrte in ihr Turmzimmer zurück. Sie musste stark sein. Sie musste an Bridei denken und nicht an sich selbst. Es stimmte: Sie hatte Glück gehabt. Sie konnte sein, was Fola wollte; es würde einfach Zeit brauchen. Es würde andere geben, die Bridei zuhörten, seinen Ängsten, seinen Träumen lauschten, sie würden ihm auf eine Weise zur Seite stehen, wie sie es nie könnte, weil sie war, was sie war. Mit der Zeit würde er lernen, diesen anderen zu vertrauen. Er würde Ana an diesem Abend bei dem Fest sehen, und Ferada. Er würde mit ihnen sprechen, die blauen Augen strahlend, wenn er eine Erklärung abgab und sie mit Gesten illustrierte; Ana würde auf ihre liebenswerte, ernste Weise antworten, und Bridei würde höflich den Kopf ein wenig neigen, um ihr zuzuhören ... Tuala vergrub das Gesicht im Kissen, schloss die Augen fest und zog sich die Decke über den Kopf. Sie hatte die Bronzeschale nicht mehr benutzt, damit sie sie nicht mit solchen Bildern quälte. Aber die Bilder hatten ein Eigenleben und fanden ihren grausamen Weg sogar bis in ihre Träume. »Sie hat begonnen, daran zu zweifeln, was einmal kristallklar in ihrem Kopf war«, stellte die silberhaarige Präsenz fest, die im Baum geblieben war, hoch oben auf einem Ast und für Menschen unsichtbar. »Sie hat diesen verlorenen Blick.« »Sie zweifelt nicht an der Liebe der Leuchtenden«, verbesserte ihr Begleiter. »Das muss ihr doch sicher in dieser Zeit der Einsamkeit helfen.« - 473 »Es ist vielleicht alles zu stark. Stärker als ihre Zuneigung zu Bridei, stärker als die Stimme ihres Herzens und der Ruf zu der Aufgabe, die sie erfüllen muss.« »Es ist die Leuchtende, die sie zu dieser Aufgabe ruft; es war die Göttin selbst, die dieses Kind ins Leben gerufen hat«, sagte der in Ranken gekleidete junge Mann, »und die uns geschickt hat, damit wir sie auf Broichans Schwelle legten. Wenn Tuala sich entscheidet, in Banmerren zu bleiben, trotzt sie den Absichten unserer Großen Mutter.« »Priesterin zu werden, ist ein Akt des Gehorsams gegenüber dem Willen der Göttin. So muss es allen vorkommen, die Tuala im Reich der Menschen kennen, auch Bridei. Wie soll das Mädchen wissen, dass die Leuchtende einen anderen Weg für sie vorgesehen hat?« »Ihr bleibt tatsächlich nicht viel anderes übrig. Sie kann ja wohl kaum über die Mauer klettern und nach Caer Pridne gehen. Sie wird immer das tun, was sie für das Beste für Bridei hält. Selbst wenn das bedeutet, sich von ihm fern zu halten.« »Nun gut«, sagte das Mädchen und fuhr achtlos durch ihre glänzenden Locken, »sie ist in vielerlei Hinsicht immer noch ein Kind; ein Kind, das aus seinem Heim verbannt wurde. Ich denke, wir müssen die Prüfung schwieriger machen.« »Schwieriger für wen?«, fragte der Junge. »Für Bridei. Tuala ist verzweifelt und niedergeschlagen. Sie ist zweifellos im Augenblick eher bereit, über diese andere Möglichkeit nachzudenken, die Möglichkeit, die nicht nur außerhalb des Hauses der Weisen Frauen liegt, sondern vollkommen außerhalb der Menschenwelt. Wir werden sie weglocken. Wir werden sie bis zur Grenze schmeicheln. Wir werden sie auf eine Weise rufen, auf die sie reagieren muss: durch das Blut, das uns gemeinsam ist.« »Aber was, wenn sie uns tatsächlich den ganzen Weg folgt? Was, wenn sie die Grenze überschreitet und feststellt, dass es keine Wiederkehr gibt?« - 474 »Das wird nicht geschehen.« Der Junge in den Ranken schauderte. »Du bist so sicher«, sagte er. »Es steht viel auf dem Spiel.« Das Mädchen nickte, und in ihren schimmernden Augen stand plötzlich ein ernster Ausdruck. »Fortriu muss seinen wahren Anführer bekommen«, sagte sie, »den einzigen, der die Länder der Priteni in Treue zu den alten Göttern und in wahrer Anerkennung der älteren Völker dieses Landes, besonders des unseren, vereinen kann. Der neue Glaube im Süden stapft schweren Schrittes über die heiligen Orte, vertreibt Druiden und Weise Frauen, zerbricht und verbrennt die Heime des wilden Volkes im Wald. Die Göttin braucht Bridei.« »Und Bridei braucht Tuala.« »Was ich vorhabe, wird dafür sorgen, dass beide für das bereit sind, was sie erwartet.« »Du klingst sehr sicher. Wir müssen bedenken, wie unsicher alles ist, was mit den Menschen zu tun hat; ihre fehlgeleiteten Intrigen und kleinlichen Machtspielchen können die besten Pläne durcheinander bringen.«
»Sicher, Bridei stehen noch weitere Prüfungen bevor, die der Menschenwelt und auch jene, die die Götter für ihn vorgesehen haben, um sich zu überzeugen, dass er ihr Vertrauen verdient. Aber ich glaube an ihn. Das wahre Licht des Flammenhüters brennt in ihm. Er hat allerdings noch einen langen Weg vor sich, bevor irgendetwas sicher sein kann. Es liegen Schatten auf diesem Weg, und nicht alle sind sie unser Werk.« Caer Pridne strahlte. Fackeln flackerten auf den Wehrgängen und beleuchteten die schöne Arbeit der Stiersteine, auf denen das Tier jeweils mit großer Genauigkeit und in all seiner muskulösen Kraft und Männlichkeit dargestellt worden war. Drusts große Halle befand sich hoch oben auf der Landzunge, umgeben vom unteren Schutzwall von Caer Pridne. Die Festung hatte drei Ebenen, jede mit ihrer eigenen Schutz- 475 mauer aus Stein und Balken. Dreifache Wälle und Gräben stellten zusätzliche Barrieren gegenüber einem Angriff dar. In diesen Mauern arbeitete und lebte eine ganze Gemeinde, die sich dem Funktionieren des Hoflebens und des königlichen Haushalts widmete. Auf der Westseite gab es zwischen steinernen Wellenbrechern geschützte Liegeplätze für Boote. Stufen führten hinauf zu einem Eisentor. Auf der Landseite befand sich die Straße, eine breite Fläche festgestampfter Erde, die an diesem Abend von Flammen gesäumt war, da auf hohen Stangen zu beiden Seiten Fackeln brannten. Männer marschierten oder ritten zur Festung und wurden vor den Doppeltoren, die den Eingang in die eigentliche Festung versperrten, von Furcht erregenden Wachen begrüßt. Drust war ebenso mächtig wie vorsichtig. Man hatte ihn in einer Zeit zum König gewählt, als die Gemüter unter den Fürsten der Priteni erhitzt gewesen waren und die Versammlung von Adligen wegen der Thronfolge gespalten. Der Süden, zunehmend beeinflusst von christlichen Lehren, hatte Drust, Sohn des Girom, bekannt als der Eber, auf dem Thron gewollt, einen Mann, der selbst diesem neuen Glauben folgte und bei dem man sich darauf verlassen konnte, dass er den Missionaren helfen würde, ihn weiter zu verbreiten. Der Norden hatte sich auf den viel älteren Drust, Sohn des Wdrost, geeinigt, einen zuverlässigen Anhänger des alten Wegs, der entschlossen war, die Grenzen von Fortriu zu verteidigen. Broichan hatte Drust den Stier unterstützt; wie hätte er auch anders handeln können? Drust der Eber seinerseits hatte ebenfalls starke und entschiedene Anhänger. Also war es zu einer Spaltung in der Wahlversammlung gekommen. Die entscheidende Stimme, die der Weisen Frau, war von den Fürsten von Circinn nicht anerkannt worden, da sie Fola verdächtigten, heidnische Magie anzuwenden, um die Männer ihrem Willen zu unterwerfen. Nach einer Zeit von Aufruhr und Chaos kam man zu einem bitteren Kompromiss. Zuvor hatte stets ein einziger - 476 König das Land der Priteni vom Großen Tal bis zur römischen Mauer beherrscht. Ein geringerer König auf den Hellen Inseln war den Entscheidungen dieses Herrschers unterworfen gewesen. Die Caitt folgten selbstverständlich ihren eigenen Gesetzen. Dennoch, die Territorien hatten zusammengehört; wenn es zählte, hatten sie zusammengearbeitet. Nach dieser Spaltung in der Versammlung war das Land der Priteni in zwei Königreiche zerfallen, Fortriu unter der Herrschaft von Drust dem Stier und das südliche Reich von Circinn unter Drust dem Eber. Es war ein offenes Geheimnis, dass beide Könige mit der vollen Absicht zugestimmt hatten, das gesamte Territorium zu beanspruchen, sobald der andere starb. Kein Wunder also, dass es derzeit so viele Wachen in Caer Pridne gab. Bridei ging in die Halle, gefolgt von Breth und Garth in einem diskreten Schritt Abstand. Nun, da er gezwungen war, nur noch in Begleitung seiner Leibwächter auszugehen, fiel ihm auf, dass mehrere andere Männer sich auf die gleiche Art schützten. Broichan trat selbstverständlich immer allein auf, aber Aniel, der Berater des Königs, hatte sich einen neuen Leibwächter zugelegt, der nun ganz in der Nähe des eleganten, grauhaarigen Adligen stand und versuchte so zu tun, als wäre er nicht da. Andere in der Halle zeigten den gleichen Ausdruck, den Ausdruck eines Mannes, der stets wachsam ist, dabei aber versucht, unauffällig zu wirken. Es waren für gewöhnlich große, kräftige Männer, die eher schlicht gekleidet waren und sich am Rand des Raums aufhielten. Es gab selbstverständlich auch noch andere Arten des Schutzes: König Drust hatte Broichan. Schon die Anwesenheit des Druiden des Königs hätte eigentlich genügen sollen, die meisten Angreifer fern zu halten. Alle wussten, dass Druiden über immense Macht verfügten; sie konnten alle erdenklichen Kräfte heraufbeschwören, um ihnen zu helfen. Ein Druide konnte den Flammenhüter bitten, einen Mann schwitzen und brennen zu lassen, bis er von Fieber - 477 verzehrt wurde; er könnte die Leuchtende heraufbeschwören und sie um Hochwasser oder unerwartete Wellen bitten. Nur ein anderer Magier würde es wagen, einen solchen Mann herauszufordern. Und dennoch, was immer die Menschen glauben wollten, Broichan war ein Sterblicher und damit verwundbar. Bridei hatte niemals jenen Abend vor langer Zeit vergessen, als die Nachricht gebracht wurde, dass sein Pflegevater von einem Gift schwer krank geworden war. Er erinnerte sich an seine eigene Verzweiflung und an Donais Freundlichkeit. Jemand war schlau genug gewesen, die Wachsamkeit des Druiden des Königs zu überlisten. Hatte die gleiche Person auch hinter dem Angreifer gestanden, der den kleinen Bridei mit Bogen und Schwert durch den Wald verfolgt hatte? Niemand hatte je etwas darüber gesagt. Vielleicht wussten sie auch jetzt noch nicht, wer für diese Anschläge verantwortlich war, wer den Druiden des Königs und seinen Pflegesohn hatte töten wollen. Es wurde klar, dass Broichan die Wahrheit gesagt hatte: Von nun an würde es immer so sein, jeder Schritt unter Bewachung, jeder Tag in dem Bewusstsein, dass die Feinde bereit waren zuzuschlagen. Wenn
man einen solchen Feind entdeckte und entfernte, würde nur ein anderer an seine Stelle treten. Drust der Stier ... Bridei hatte sich lange gefragt, was für ein Mensch er wohl wäre. Vielleicht war der König stark und fest wie das Geschöpf, das er sich zum Zeichen gewählt hatte, vielleicht majestätisch und strahlend wie einer, der das Licht des Flammenhüters in sich trägt. Der König von Fortriu war immerhin in vielerlei Hinsicht die Verkörperung dieses Gottes; seine besondere Rolle bei den Ritualen betonte das. Vielleicht würde er Bridei auch enttäuschen. Vielleicht war Drust ein kränklicher Mann, ein bedauernswertes Geschöpf, das sich an die letzten Überreste von Leben und Macht klammerte. Es hieß, er hätte Glück, auch nur den Winter zu überdauern. - 478 In der Halle drängten sich Männer und Frauen; einige an den drei langen Tischen, andere im Raum dazwischen. Die Luft war erfüllt von Lachen und Gesprächen. Von irgendwo weiter hinten war Musik über den Lärm hinweg zu vernehmen: eine Flöte, eine Trommel, vielleicht eine Harfe. Es roch nach gebratenem Fleisch und Gewürzen, und es war sehr warm. Holz brannte in einer großen Feuerstelle an der Seite des Raums; sie wurde geschickt durch einen steinernen Kamin entlüftet, und die Halle war relativ frei von Rauch. Die Bewegung all dieser Menschen kam Bridei vor wie ein Tanz oder vielleicht wie ein Spiel, ein sehr kompliziertes strategisches Spiel mit ebensolchen Regeln. Broichan hatte ihn gut vorbereitet, also versuchte er, bestimmte Männer zu identifizieren, einflussreiche Männer, vor denen man ihn gewarnt hatte. Dieser ausgesprochen hoch gewachsene Mann mit dem kupferroten Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, musste Carnach sein, ein Vetter des Königs und möglicher Kandidat für den Thron. Man musste ihn im Auge behalten. Der breitschultrige Mann, der gerade mit Talorgen sprach, war wahrscheinlich ein weiterer Kandidat, Wredech aus dem Haus Fidach. Talorgen hatte Informationen über Wredech, die sich als nützlich erweisen könnten; sie würden vorsichtig versuchen, ihn auf ihre Seite zu ziehen. Wo waren die Berater des Königs? Bridei schaute zum anderen Ende der Halle, und dort saß König Drust, an einem kleineren Tisch, der in einem rechten Winkel zu den anderen auf einem Podium stand. Sein dunkles Haar und der ordentlich gestutzte Bart waren mit grauen Strähnen durchsetzt; seine Züge fielen vor allem wegen einer vorspringenden Nase und den schweren Brauen auf, die seine Augen überschatteten, Augen, denen nichts in der Halle entging, während er sich ein wenig zur Seite lehnte und mit Broichan sprach, der neben ihm saß. Man konnte einen Mann selbstverständlich nicht so schnell einschätzen, aber es kam Bridei so vor, als hätte der König - 479 selbst im kleinen Finger noch Macht, Autorität in jedem Blinzeln. Es hing damit zusammen, wie er sich hielt, aufrecht, königlich, entspannt und dennoch aufmerksam; es lag an der stählernen Intelligenz seines Blicks, dem energischen Kinn, den sparsamen Gesten. Es lag an der Art, wie Broichan ihm zuhörte und dann nickte. Man sah dem König kaum an, dass er schwer krank war. Bridei bemerkte eine Falte zwischen den Brauen und eine gewisse Anspannung um den Mund, die von Schmerz sprechen mochten, der durch reine Willenskraft unterdrückt wurde; aber nicht mehr als das. Die Menge bewegte sich, gruppierte sich, zerstreute sich, gruppierte sich neu. Es gab auch Frauen in der Halle nach der langen Zeit der Kriegsvorbereitungen und des Marsches nach Galanys Höhe und zurück wirkte es beinahe seltsam, sie zu sehen. Talorgens Frau Dreseida, gekleidet in Silber und Schwarz, unterhielt sich mit einer Gruppe elegant gekleideter Damen, deren Haar zu kunstvollen Zöpfen und Knoten frisiert war. Gartnait stand neben seiner Schwester Ferada. Sie bemerkte Brideis Blick und nickte ihm ernst zu; er erwiderte den Gruß. Sie war ein seltsames Mädchen, klug und spröde, mit einem Zorn, der sie stets kämpferisch stimmte. Gespräche mit Ferada waren im Allgemeinen interessant, aber selten entspannend. Im Gegensatz dazu mochte Gartnait zwar ein guter Kumpan beim Sport oder bei Kampfübungen sein, aber seine Gesprächsthemen waren eingeschränkt. Ferada konnte über vieles sprechen; sich in Rabenbrunn mit ihr zu unterhalten war stets eine willkommene Abwechslung zu den endlosen Kriegsvorbereitungen gewesen. Dennoch, er würde ihre Gesellschaft nicht suchen. Ferada hatte ihm immer den Eindruck vermittelt, dass sie ihn verspottete; tatsächlich schien sie einen großen Teil der Welt zu verachten. Das beunruhigte Bridei, denn er war der Ansicht, dass es nur diese eine Welt gab, und wenn sie Fehler hatte, sollte man sich nicht darüberbeschweren, sondern versuchen, sie zu beheben. - 480 »Talorgens Tochter.« Aniel, der Berater des Königs, stand plötzlich neben Bridei; sein Leibwächter unterhielt sich mit Breth. »Ich nehme an, du kennst sie. Das Mädchen neben ihr ist Ana, Drusts Geisel von den Hellen Inseln, eine feine junge Frau. Die beiden werden zusammen mit anderen einige Zeit in Banmerren verbringen, und das Mädchen weiß das zu schätzen, so ruhig und damenhaft, wie sie ist. Und ausgesprochen hübsch, findest du nicht auch?« Es war ein wenig überraschend, solche Worte ausgerechnet von dem reservierten, vorsichtigen Aniel zu hören. Bridei bemerkte Anas ernsten Blick, ihre hellen Farben, das glänzende goldene Haar. Er wurde wieder von Traurigkeit erfasst; ihm ging das Bild von Tuala nicht aus dem Kopf, wie sie sich oben auf der Adlernarbe drehte und drehte, ihre dunklen Locken wie eine Fahne im Wind. Er wusste nicht, was er antworten sollte. »Du solltest später unbedingt mit diesen jungen Frauen sprechen«, sagte Aniel gelassen. »Das ist nur angemessen. Ein weiterer Schritt, den du unternehmen musst. Siehst du diesen dünnen, dunklen Mann rechts vom König? Ein gefährlicher Mann: Tharan, ebenfalls ein Berater. Ausgesprochen einflussreich und ein leidenschaftlicher Anhänger des Kandidaten aus dem Haus Fortrenn, der einen starken Anspruch hat. Es wäre Zeitverschwendung zu versuchen, Tharans Ansicht zu ändern. Der Mann auf seiner anderen Seite, Eogan, ist
ebenfalls ein Berater, ein Mann, der dem König sehr nahe steht und recht flexible Ansichten hat. Es könnte wirkungsvoller sein, wenn du ihn selbst ansprichst, als wenn Broichan oder ich es tun; wir sind nicht überall beliebt. Diese Frau dort, die kleine, ist Drusts Frau, Rhian von Powys. Sie war ihm eine große Stütze, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie nach seinem Tod eine Rolle spielen möchte. Ihr Bruder Owain ist nicht von Bedeutung. Es sieht aus, als sollten wir uns hinsetzen; nach dem Essen wird der König bestimmte Männer zu sich rufen, um ihnen persön- 481 lieh zu danken. Du wirst einer von ihnen sein. Bist du darauf vorbereitet?« »Ich glaube schon, Herr.« »Gut. Ich sehe, dass jemand dich gut angezogen hat; auch das ist wichtig. Du solltest gut, aber nicht auffällig oder protzig gekleidet sein. Mit der Zeit wirst du deinen eigenen Stil entwickeln.« Darauf konnte er kaum antworten, ohne beleidigend zu wirken. Es war Faolan, der auf Broichans Anweisung Brideis Kleidung besorgt hatte, und es fühlte sich nach so vielen Tagen und Nächten des Marschierens, Kletterns, Essens und Schlafens im gleichen Hemd, der gleichen Hose, der gleichen Unterwäsche und den gleichen Stiefeln ausgesprochen seltsam an. Die weiche, feine Wolle, der Gürtel mit der Silberschnalle und der sorgfältig drapierte Umhang kamen Bridei fremd vor. Er hatte sich gründlich gewaschen; zu diesem Zweck waren warmes Wasser und Seife, die nach Rosmarin roch, in ihr Zimmer gebracht worden. Danach waren seine braunen Locken zu einer wilden, unbezähmbaren Mähne getrocknet, und er hatte sich so weit demütigen müssen, Garth zu bitten, die wirren Strähnen zu einem ordentlichen Zopf zu flechten. »Es ist eine neue Welt für dich«, murmelte Aniel. »Du musst schnell lernen, denn du hast nicht viel Zeit.« Dann war er verschwunden, denn sein Platz an der hohen Tafel neben dem König wartete schon auf ihn. Bridei saß bei Talorgens Familie, Gartnait zu seiner Rechten, Ferada links von ihm und die Furcht erregende Dreseida ihm gegenüber. Garth war an diesem Abend sein Vorkoster; es war für Bridei unmöglich gewesen, das zu verhindern. Garth stand hinter ihm an der Wand; Breth war strategisch ein wenig weiter unten am Tisch platziert, wo er sich offensichtlich angeregt mit seinen Freunden unterhielt. Er trank jedoch kein Bier und behielt beim Essen die anderen Gäste, die Eingänge zur Halle und die schattigen Ecken im Auge. - 482 Faolan bediente sich einer anderen Technik. Bridei hatte ihn schon mehrmals bemerkt, immer am Rand, immer aufmerksam lauschend. Er hatte sich so unauffällig von einer Gruppe zur anderen bewegt, dass die Anwesenden ihn kaum bemerkten, und wahrscheinlich hatte er jedes wichtige Gespräch in der Halle belauscht, jede kleine Intrige, jeden beiläufigen Kommentar. Nun saß er bei einer Gruppe von Männern, die Bridei nicht kannte, und schien in aller Ruhe zu essen und zu trinken. Das Mädchen mit dem goldenen Haar saß an der hohen Tafel. Sie war von königlicher Abstammung und eine Verwandte des Vasallenkönigs auf den Hellen Inseln, also war das nur angemessen. »Meine Freundin Ana«, sagte Ferada, die Brideis Blick bemerkt hatte. »Hübsch, nicht wahr?« »Ich höre, sie ist eine Geisel. Sie ist noch so jung, sogar jünger als du. Es muss schwer für sie sein.« »Sie ist etwa so alt wie deine Schwester Tuala. Ja, Ana hat Heimweh. Das ist in Banmerren nichts Ungewöhnliches. Aber Ana gehört zu diesen wunderbaren Menschen, die aus allem das Beste machen können. Sie beschwert sich nie.« Brideis Hand ruhte auf dem Beutel an seinem Gürtel; er würde nicht hineingreifen und den kleinen Gegenstand darin berühren. Er hatte vorgehabt, das Haarband ins Feuer zu werfen, ein Opfer an den Flammenhüter, ein Versprechen, dem Weg, der vor ihm lag, zu folgen, welche Verluste er auch mit sich bringen mochte. Stattdessen hatte er das kleine Stück Stoff eingesteckt und es in seiner Nähe behalten. »Sie sieht reizend aus«, sagte Bridei und bemerkte Anas kleines Lächeln, als sie dem Berater Eogan zuhörte und ihre Wangen dabei zart erröteten. »Auch du siehst heute Abend sehr hübsch aus, Ferada. Diese Ohrringe stehen dir gut.« Die Höflichkeit verlangte, solche Dinge zu sagen. Außerdem entsprachen sie durchaus der Wahrheit, auch wenn Ferada sein Kompliment wahrscheinlich abtun würde. Frische Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken ließen - 483 ihre scharfen Züge weicher aussehen, und sie hatte ihr Haar anders frisiert und wirkte dadurch ein bisschen weniger streng. »Nun ja«, sagte Ferada und schaute auf ihr Essen hinab, »wir strengen uns hier alle an; es ist ein Teil der großen Vorstellung, zu der unser Leben am Hof wird.« Sie schnitt sich ein Stück Rindfleisch ab und starrte es an. »Ich sehe, du hast einen Vorkoster«, sagte sie. Bridei verzog das Gesicht. »Broichan wollte es so.« »Das scheint ein wenig seltsam. Normalerweise haben nur Männer von Macht und Einfluss Vorkoster. Selbst Vater hat keinen.« »Brideis Freund ist gestorben«, sagte Gartnait durch einen Mund voll Fleisch. »Das weißt du, Ferada.« »Wenn ich an deiner Stelle wäre«, sagte Ferada, »würde ich nicht wollen, dass noch ein Freund für mich stirbt.« Bridei legte das Messer hin; der Appetit war ihm plötzlich vergangen. »Dumme Kuh«, sagte Gartnait mit einem zornigen Blick an Bridei vorbei auf seine Schwester. »Oh. Tut mir Leid, Bridei«, sagte Ferada und zerkrümelte das Brot. »Worüber sollen wir sprechen?«
Bridei schwieg. Das hier war ein Spiel, für das er nicht gerüstet und zu dem er nicht geneigt war, vor allem nicht, wenn die falkenäugige Dreseida von der anderen Tischseite jedes Wort belauschte. Außerdem erkannte er, dass es tatsächlich etwas gab, worüber er sprechen sollte. Es gab Fragen, die er Ferada stellen musste, die gerade aus Banmerren zurückgekehrt war. Sie konnten allerdings jetzt nicht gestellt werden, nicht, solange Dreseida zuhörte und noch andere in der Nähe saßen. Der Schmerz, den Tualas Entschluss ihm zugefügt hatte, war zu neu, zu roh. Er erkannte dies als einen Bereich, in dem er verwundbar war, und er musste seine eigenen Vorkehrungen treffen, um einen Angriff zu vermeiden. - 484 »Nach der langen Zeit, die wir auf dem Marsch verbracht haben«, sagte er, »wenden wir unsere Aufmerksamkeit gern diesem guten Essen und dem Bier zu. Ich fürchte, das beeinträchtigt unsere Fähigkeiten als Gesprächspartner.« Ferada lachte. »Das wäre für meinen Bruder nichts Neues«, stellte sie fest, und Gartnait zog ihr eine Grimasse. »Du andererseits kannst keine solche Ausrede benutzen, da du nichts isst, Vorkoster oder nicht. Ich fürchte, das Hofleben behagt dir nicht besser, als Banmerren Tuala behagt.« Bridei holte tief Luft und atmete in Abschnitten aus. Er konzentrierte sich in Gedanken auf die Leuchtende, vollkommen, ruhig, gelassen. Seine Druidenerziehung mit ihren Techniken zur Konzentration und zur Wahrung von Gelassenheit half ihm in solchen Augenblicken. »Ich stelle mir vor, dass der Übergang schwierig ist, selbst für einen so erfahrenen Krieger wie deinen Vater«, sagte er ruhig. »Die Welt von Blut und Kampf, von Nächten unter freiem Himmel und knappen Mahlzeiten, die man im Gehen zu sich nimmt, lässt das hier ... irgendwie künstlich wirken.« »Aber es ist die gleiche Welt«, sagte Ferada und setzte den Becher ab. »Am Hof werden nur andere Kämpfe ausgefochten, das ist alles. Wenn ich die Wahl hätte, denke ich, ich würde Nächte unter freiem Himmel und Essen im Gehen vorziehen.« Gartnait sah sie mürrisch an. Es war unangenehm, zwischen diesen beiden zu sitzen. Bridei konnte sich nicht erinnern, dass die Geschwister sich im letzten Sommer in Rabenbrunn so feindselig gesinnt gewesen waren. »Du würdest es keine zwei Tage aushalten«, sagte Gartnait. »Du hast keine Ahnung, was das bedeutet.« »Ich ...« Ferada war halb aufgestanden, die Wangen dunkelrot. »Deine Schwester hat einen hervorragenden Sinn für Strategie«, warf Bridei rasch ein. »Wir haben uns in Rabenbrunn häufig über solche Dinge unterhalten. Es ist nicht Feradas - 485 Schuld, dass sie als Frau nicht aus erster Hand das Blut und die Grausamkeit erfahren kann, die Tapferkeit und den Opfermut, die Männer in Kriegszeiten erleben. Ich bin sicher, sie versteht es so gut, wie es einer jungen Frau nur möglich ist. Aber du hast Recht, Gartnait. Man kann das wahre Wesen des Krieges nicht kennen, ohne daran teilgenommen zu haben. Solche Ereignisse fördern in einem Mann das Beste und das Schlechteste zutage.« Kurze Zeit sagte niemand mehr etwas, während rings um sie her die Leute immer noch lachten und schwatzten, Messer auf Brettern kratzten und Krüge gegen Kelche klirrten. »Weise Worte, Bridei«, sagte Dreseida kühl. »Ich höre, man betrachtet dich jetzt als Helden. Es ist erstaunlich, dass jemand schon bei der ersten Schlacht solchen Status erreicht.« Es gelang ihr, sogar ein Kompliment wie eine Beleidigung klingen zu lassen. »Viele Männer haben großen Mut gezeigt«, sagte Bridei ruhig. »Einige sind gestorben, andere haben schlimme Wunden davongetragen. Mein Anteil am Kampf war nur gering.« »Ich sprach auch nicht vom Kampf; man sollte hoffen, dass ihr alle dabei eine Rolle gespielt habt. Ich spreche von dem, was hinterher geschah und was dir diesen Ruf eingebracht hat: der Mann, der den Galen den Magierstein vor der Nase weggestohlen hat. Bemerkenswert. Man kann sich kaum etwas vorstellen, das besser dazu geeignet wäre, den Ruf eines Mannes zu fördern und ihm das Vertrauen anderer zu erwerben. Sogar ihre Bewunderung, wenn das, was Gartnait berichtet, der Wahrheit entspricht.« Bridei konnte spüren, wie seine Wangen zu glühen begannen. »Wenn Gartnait das wirklich gesagt hat, hat er übertrieben. Es schien einfach das Richtige zu sein; eine Gelegenheit, die man ergreifen musste, eine Tat, die den Göttern vielleicht gefiel. Viele Männer haben dazu beigetragen: Fokel von Galany, Ged von Abertornie und selbstverständlich Talorgen. Ich habe einfach nur mein Wissen zur Verfügung - 486 gestellt. Meine Ausbildung hat es mir möglich gemacht, das Heben des Steins, seinen Transport zum Wasser und auf dem See anzuleiten. Das war alles.« »Es war tatsächlich ein ziemlich beträchtliches Alles«, sagte Ferada, ausnahmsweise vollkommen ohne Bosheit. »Eine wunderbare Idee. Und es war deine Idee; ohne dich wäre es nicht geschehen. Das hat Vater gesagt.« Sie warf einen Blick auf ihre Mutter und verstummte. »Danke«, sagte Bridei. »Ich habe daraus gelernt. Ich habe gelernt, dass man manchmal ein Risiko eingehen muss. Und ich habe gelernt, Kameradschaft zu schätzen. Dafür danke ich den Göttern. Ich hoffe, dass es Fokel inzwischen gelungen ist, den Stein sicher zu einer Stelle zu bringen, wo er wieder stolz aufgerichtet werden kann. Wenn wir das nächste Mal nach Galanys Höhe ziehen, wird es nicht nur um einen symbolischen Sieg gehen. Beim nächsten Mal werden wir unsere Fahne für immer dort aufstellen. Dieses Land gehört uns, und wir werden es uns zurückholen.«
Dreseida starrte ihn mit leicht zusammengekniffenen Augen an. Es war offensichtlich, dass sie zu einer ihrer herausfordernden Fragen ansetzen wollte. »Ihr Herren! Ihr Damen!« Der Lärm verklang. Die Musik geriet aus dem Takt und verklang dann ebenfalls. Es war einer von Drusts Männern, die gerufen hatten, ein Mann, der offenbar wegen seiner breiten Brust und seiner schmetternden Stimme ausgewählt worden war. »Ruhe für den König!«, rief er. Drust erhob sich. Bridei konnte sehen, dass er sich dabei mit einer Hand auf den Tisch abstützte. Seine Stimme war jedoch kräftig und fest. »Seid alle willkommen«, begann er. »Ich grüße vor allem jene, die gerade aus dem Westen zurückgekehrt sind und gute Nachrichten von einem Sieg über die Galen von Dalriada gebracht haben. Für die Männer, die für diese noble Sache gestorben sind, beten wir um eine rasche und friedliche Reise in das Reich hinter dem Schleier. - 487 Mögen sie fest in den Armen der Knochenmutter schlafen und zu einer Morgendämmerung neuer Versprechen erwachen. Am Tag der Tagundnachtgleiche werden wir sie ehren.« Er senkte kurz den Kopf; alle in der Halle taten es ihm nach. Genauer gesagt alle außer Faolan; Bridei konnte einen raschen Blick auf den Galen werfen, der mit verschränkten Armen und seiner üblichen milde amüsierten Miene dasaß. Dieser Mann stand im Dienst von Drust? Bei den Göttern, er musste tatsächlich über seltene Fähigkeiten verfügen, dass man ihm gestattete, solche Verachtung in der Halle des Königs an den Tag zu legen. »Wir werden für die Frauen und Kinder der Gefallenen sorgen«, fuhr der König fort, »und die Verwundeten werden von meinen eigenen Wundärzten behandelt werden, wenn das möglich ist. Es ehrt diese Halle, dass heute gleich zwei Anführer dieses großen Feldzugs anwesend sind: Talorgen von Rabenbrunn und Ged von Abertornie sind bei uns und werden meinen persönlichen Dank erhalten, zusammen mit Geschenken. Ich hoffe, bald auch Morleo von Langwasser und Fokel, Sohn des Duchil von Galany und den wahren Fürsten dieses Landes im Westen, ebenfalls hier empfangen zu können, damit sie meinen Dank entgegennehmen. Ich grüße die Krieger, die unter der Führung dieser guten Anführer so weit durchs Land gezogen sind, und danke euch für eure tapferen Taten. Der Flammenhüter lächelt auf euch herab; er freut sich an den Taten tapferer Männer und liebt mutige Herzen. Die Leuchtende schaut voller Liebe auf euch herab. Ich bitte euch alle, euch dem hohen Ritual hier in Caer Pridne anzuschließen; möget ihr alle einer nach dem anderen die Krone der Träume tragen und möge das Feuer göttlicher Inspiration euren Weg beleuchten.« Die Männer jubelten so laut, als wollten sie das Dach wegblasen; Füße stampften auf den Boden und Fäuste schlugen auf die Tische. Bridei bemerkte, dass er Tränen in den Augen hatte. Da er sich bewusst war, wie forschend Ferada - 488 und, noch schlimmer, ihre Mutter ihn betrachteten, führte er eine Atemübung durch, damit die Tränen nicht fielen. »Tritt vor, Talorgen, mein Freund. Ged, komm mit ihm. Die schwarze Krähe behüte uns, Mann, wer webt dein Tuch? Es hat mehr Farben als ein Regenbogen.« Alle lachten. Ged grinste gutmütig, schlang sich seinen bunten Umhang um die Schultern und kniete neben Talorgen nieder. Man stand so nahe beim König nicht aufrecht, es sei denn, er gestattete es einem. Drust trat hinter dem Tisch hervor. Damit stand er den Versammelten gegenüber, die hoch gewachsene, schlanke Gestalt von Broichan wie ein Schatten ein wenig hinter ihm und Aniel an seiner Seite mit einem Kasten in den Händen. Zwei Leibwächter waren ebenfalls ganz in der Nähe und flankierten die knienden Männer; ein dritter befand sich hinter dem Tisch, andere warteten an beiden Enden des Podiums. Drust ging kein Risiko ein. Wenn solche Vorsichtsmaßnahmen jetzt schon benötigt wurden, dachte Bridei, was würde geschehen, wenn die Delegation aus Circinn eintraf, um Anspruch auf den Thron zu erheben? Was war mit den anderen Kandidaten? Es würde von großen, kräftigen, schwer bewaffneten Männern nur so wimmeln, die alle so taten, als täten sie nichts Besonderes. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte das eine erheiternde Vorstellung sein können. Er wünschte sich, er könnte Tuala davon erzählen. »Steht auf, Talorgen und Ged. Wir sind alte Freunde. Ich danke euch aus tiefstem Herzen. Ihr habt Fortriu einen wunderbaren Sieg erkämpft und etwas geleistet, das lange in Liedern und Geschichten weiterleben wird. Als Zeichen der Liebe und Dankbarkeit des Flammenhüters und seines Stolzes auf den Krieg, den ihr für ihn geführt habt, gebe ich dir, Talorgen, das hier«, Aniel nahm aus dem kleinen Kasten einen gedrehten goldenen Armreif, so dick wie ein schweres Seil, »und dir, Ged, etwas, um deine unglaublichen Umhänge - 489 zu schließen.« Das Geschenk war eine offene Ringbrosche; Bridei konnte keine Einzelheiten erkennen, aber sie schien emaillierte Ovale in verblüffend bunten Farben zu haben. Ged grinste breit und steckte sie sich sofort an. Es schien, dass dieser mächtige König einen guten und liebenswerten Sinn für Humor hatte. »Ich danke dir, mein Herr und König«, sagte Talorgen und verbeugte sich. »Du ehrst uns«, fügte Ged hinzu. »Ihr müsst an meinem Tisch sitzen«, sagte der König. »Es wird noch mehr Musik und Geschichten geben. Ich höre, es gibt ein neues Lied, in dem es um einen gewissen jungen Mann und die Versetzung eines unmöglich großen Gegenstandes über ein unmöglich schwieriges Gelände geht. Mein Barde hat die letzten zwei Tage und
Nächte darüber Blut und Wasser geschwitzt. Diese Tat hat mich inspiriert und mein Herz erfreut. Der Mann, der sie sich ausgedacht und euch bei der Durchführung angeleitet hat, ist meinem Herzen jetzt schon lieb, noch bevor ich ihn kennen gelernt habe. Tritt vor, Bridei, Pflegesohn meines Druiden.« Brideis Herz machte einen Sprung. Er hatte gewusst, dass so etwas geschehen würde, aber nicht so bald damit gerechnet, denn dass er gleich nach Talorgen und Ged vom König ausgezeichnet werden sollte, kam ihm so unangemessen vor, dass es beinahe lächerlich war. Er hatte ein paar Worte vorbereitet; er konnte nur hoffen, dass er sich jetzt auch daran erinnern würde. Er kniete sich vor den König und spürte Drusts Präsenz als eine Macht, eine beinahe greifbare Wärme; die Kraft des Flammenhüters brannte tatsächlich hell in seinem irdischen Stellvertreter. Als der König ihm eine segnende Hand auf die Schulter legte, zuckte diese Berührung durch jede Faser von Brideis Körper. »Du darfst dich erheben, Bridei. Wir sind Verwandte. Du siehst deiner Mutter ähnlich, und deinem Vater auch ein we- 490 nig. Ich erinnere mich an Maelchon als an einen willensstarken Mann, einen Anführer von eiserner Entschlossenheit, der keine Narreteien zuließ. Der Vorteil einer Erziehung durch einen Druiden fehlte ihm jedoch. Er wurde nicht zur Liebe unserer alten Götter erzogen, und nicht in Verehrung unseres schönen Landes. Ich habe auch für dich ein Geschenk, junger Mann. Ich höre, Ged hat dir einen Umhang gegeben. Du trägst ihn heute Abend nicht.« Aus dem Augenwinkel sah Bridei, wie Ged grinste und Talorgen ironisch lächelte. »Nein, Herr.« Wäre er mit diesem bunten Kleidungsstück um die Schultern in diese Halle gekommen, dann hätte er tatsächlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden. »Das macht nichts«, sagte Drust. »Diese Brosche wird auch auf einem schlichten Umhang gut aussehen; lass sie mich dir anstecken.« Während der versammelte Hof schweigend zusah, nahm der König eine Silberschließe aus dem Kasten, den Aniel ihm hinhielt, und beugte sich vor, um sie mit seinen eigenen Händen an Brideis Umhang zu befestigen. Es war ein wunderschöner Gegenstand in Form eines Vogels mit weit ausgebreiteten Flügeln, mit einem blauen Stein als Auge. Der Adler im Flug: die Flamme von Fortriu. »Gut gemacht, Sohn«, sagte Drust leise. »Wir sind stolz auf dich. Ich höre, du hast erst vor kurzer Zeit einen guten Freund verloren. Komm, setz dich zu mir; du kannst mir diese traurige Geschichte erzählen und dann von deinen Heldentaten berichten. Broichan versichert mir, dass der Magierstein nicht ohne Druidenzauber hätte bewegt werden können. Er und Aniel haben eine Wette auf deine Antwort abgeschlossen. Ich habe mich nicht daran beteiligt; meine Frau mag solche Dinge nicht.« Drust lächelte der Königin zu, die ein Stück weiter entfernt am Tisch saß, und an ihrem Mundwinkel erschien ein reizendes Grübchen. »Komm, setz dich zu uns.« Noch einmal erhob er die Stimme und sprach wieder die Menge an. »Esst, trinkt und freut euch an der Mu- 491 sik, meine Freunde! Und mein Barde soll sich darauf vorbereiten zu singen.« Danach wurde es viel einfacher, obwohl der König Brideis Identität im Prinzip jedem Mann und jeder Frau kundgetan hatte. Die Tatsache, dass er mit Drust verwandt war, würde ohnehin irgendwann ans Licht kommen müssen, und selbstverständlich war das noch nicht gleichbedeutend mit einem wirklichen Anspruch auf den Thron. Dieser hing von einer bestimmten Art von Verwandtschaft ab: Ein Bewerber musste der Sohn einer königlichen Prinzessin des Blutes sein. Und Drust hatte seine Worte vorsichtig gesetzt und Anfredas Namen nicht erwähnt. Es war möglich, dass viele schon zu betrunken, zu dumm oder zu wenig interessiert waren, um zu bemerken, dass dieser junge Mann ein möglicher Kandidat für den Thron war. Zumindest im Augenblick. Danach würde Bridei jedoch öffentliche Aufmerksamkeit genießen, ob er es nun wollte oder nicht. Drust war freundlich, intelligent und ein guter Zuhörer. Dennoch, es war nicht möglich, in Einzelheiten über Donais Tod zu sprechen. Es gab nur eine, der Bridei all das mitteilen würde, denn es auf diese Weise zu erzählen hätte bedeutet, den Zuhörer seine Tränen sehen zu lassen. Also hielt er sich an die Tatsachen, und der König, dessen Augen sehr scharf waren, ging rasch zu Fragen über Flaschenzüge und Hebel, Lastkähne und Rollen über. Und zu Fragen darüber, wie eine so große und unterschiedliche Gruppe von Männern, müde von einem langen Marsch und begierig, wieder nach Hause zurückzukehren, bevor Verstärkung für die Galen eintraf, dazu gebracht werden konnte, solch mörderisch anstrengende Arbeit zu leisten, deren Großartigkeit nur noch von ihrer offensichtlichen Verrücktheit übertroffen wurde. Alles genau zu erklären erforderte den Einsatz von Messern, Schalen und Kelchen zur Illustration. Der König folgte jedem Schritt mit lebhaftem Interesse, und als Bridei fertig war, behaupteten sowohl Broichan als auch Aniel, - 492 die Wette gewonnen zu haben. Aniel sagte, alles könne mit Kraft, Hebelwirkung und Gleichgewicht erklärt werden. Broichan behauptete, ohne die Einwirkung des Flammenhüters beim ersten Heben des Steins und das Wohlwollen der Leuchtenden, das gestattete, einen solch massiven Gegenstand auf dem Wasser zu transportieren, wäre die Tat undurchführbar gewesen. Es hatte zweifellos Gebete und die Rezitation von Beschwörungen gebraucht, als die Männer an den Seilen arbeiteten. Die Götter hatten auf seinen Pflegesohn und seinen wilden Plan herabgelächelt; sie wollten, dass sich der Magierstein in den Händen der Priteni befand, die in ihrem Glauben so standfest waren. Und so war er ihnen zurückgegeben worden.
»Und nun kann Fokel sich damit abmühen, das Ding zum Magiersee zu schleppen«, sagte Drust und stützte das bärtige Kinn auf die Hand. »Auch das war wohl überlegt, junger Bridei.« »Es schien weise, den Stein ihm zu überlassen, mein König. Seine Leute haben beinahe alles verloren, als die Galen ihnen ihr Land nahmen. Es fiel Fokel sehr schwer, sich wieder von Galanys Höhe abzuwenden, nachdem er endlich auf dem Boden seiner Vorfahren stand. Aber er ist ein Anführer; er mag den Ruf haben, ungestüm zu sein, war jedoch weise genug zu erkennen, dass es noch nicht an der Zeit war, dort zu bleiben, so isoliert, so weit entfernt von unserem nächsten Außenposten. Seine Männer sind allerdings nicht alle so weise wie er. Ohne ein Ziel, eine Aufgabe, hätte es schwierig sein können, sie zum Abmarsch zu zwingen. Wenn sie geblieben wären, wären sie von Gabhrans Verstärkung niedergemetzelt worden. Sich um den Stein zu kümmern, erlaubte ihnen, ihren Stolz zu bewahren.« Bridei bemerkte, dass nicht nur Drust, sondern auch die anderen Männer an der hohen Tafel ihn interessiert betrachteten. »Ich nehme an, du hast mit Talorgen und den anderen Fürsten über diese Theorie gesprochen«, sagte Drust. - 493 Bridei spürt eine vielsagende Wärme in seinen Wangen, als wäre er ein Kind, das bei einer Lüge ertappt wurde. »Nicht unbedingt, mein König. Ich bin jedoch sicher, dass sie es wussten. Eine solche Sache offen zu besprechen hätte zu diesem Zeitpunkt wie eine Beleidigung Fokels wirken können. Es hätte gewirkt, als wüsste ich, was das Beste für ihn war. Fokel ist ein guter Mann; ich habe große Hochachtung vor ihm.« »Mhm.« Drust lehnte sich zurück. Die Tischplatte war ein Durcheinander von Messern, Bechern und hier und da einer Brotkruste oder einem Knochen, die den Platz eines Bestandteils der Geschichte eingenommen hatten. »Broichan, du hast einen ungewöhnlichen jungen Mann aufgezogen.« »Ich danke dir, mein König.« Broichan mochte zuvor einen Moment lang überrascht gewesen sein, aber nun hatte er wieder seine übliche undurchschaubare Miene aufgesetzt. Vielleicht verspürte er Stolz. Aber es hätte auch sein können, dass er überhaupt nichts empfand. »Ich sehe, du nutzt Faolan bereits gut«, sagte der König nun leiser und mit einem Blick zu Bridei. Der Gäle hatte sich auf Brideis altem Platz niedergelassen und schien Dreseida in ein Gespräch verstrickt zu haben. Ihre Miene war eisig. »Ja, Herr.« Etwas in Brideis Tonfall ließ den König aufmerksam werden. »Beurteile ihn nicht falsch, Bridei«, sagte Drust. »Er ist der beste Mann für eine solche Aufgabe. Warum, glaubst du, habe ich so lange überlebt?« Aniel räusperte sich. »Selbstverständlich verfüge ich auch über hervorragende Berater«, fügte Drust hinzu, »und einen Druiden mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, obwohl er sich entschieden hat, mich jahrelang allein zu lassen. Lass dich von Faolans Art nicht täuschen, Bridei. Er weiß, was er tut.« »Es beunruhigt mich«, wagte Bridei mit einigem Zögern einzuwenden, »dass er gegen sein eigenes Volk arbeitet. Warum sollte ein Gäle sich entscheiden, für Fortriu zu spio- 494 nieren? Warum lebt er bei einem Volk, das er zu verachten scheint? Es tut mir Leid, mein König«, sagte er, als er Broichans Blick bemerkte, »ich spreche zu offen. Ich weiß, der Mann hat dir gut gedient.« »Und er wird dir ebenfalls gut dienen, solange du ihn brauchst. Du solltest seine Dienste nicht unterschätzen, sie sind zweimal fünfzig Silberbroschen wert. Denke nicht zu viel über seine Motive nach. Und frage ihn nicht nach seiner Vergangenheit. Was immer es dort gibt, sollte bleiben, wo es ist: begraben. Der Mann ist eine Waffe, ein Werkzeug, wirkungsvoll und tödlich. Sei froh über ihn, und stelle ihm keine Fragen.« »Ja, mein König.« An diesem Punkt wurde erhitztes, süß gewürztes Bier aufgetragen, zusammen mit kleinen Kuchen mit Honig und Gewürzen, und die Musik begann erneut. Die Gespräche wandten sich allgemeineren Themen zu; Broichan verwickelte Talorgen und Tharan in eine Konversation; der König bat Ged, sich zu ihm zu setzen, und Bridei fand sich neben dem blonden Mädchen wieder, neben Ana, die geschwiegen hatte, seit er an den Tisch des Königs gekommen war. »Ich muss mich entschuldigen«, sagte er ein wenig verlegen zu ihr. Wenn sie auch nur im Geringsten wie die Frauen von Gartnaits Familie war, würde sie ihn nun mit ein paar gut gewählten Worten auf seinen Platz verweisen. »Das war ein wenig unhöflich von mir. Männer nehmen an, dass Damen sich nicht für solche Themen interessieren. Aber deine Freundin Ferada hat mich bereits gelehrt, dass das häufig nicht stimmt. Ich bin Bridei, Sohn des Maelchon.« »Mein Name ist Ana; ich komme von den Hellen Inseln. Mein Vetter ist dort König.« Bridei nickte. »Das hat Ferada mir erzählt. Es muss schwierig für dich sein.« »Ich habe mich daran gewöhnt.« Sie spielte mit dem fransenbesetzten Ende ihres Gürtels. »Aber manchmal ist es - 495 nicht einfach. König Drust erlaubt mir jedoch eine gewisse Freiheit.« »Man sagte mir, dass du einige Zeit in Banmerren verbringst. Wirst du dort unterrichtet?« Ana lächelte. Es ließ ihr bereits hübsches Gesicht strahlend schön werden. »Ja, und sehr gut«, sagte sie. »Ferada und ich und die anderen Töchter aus adligen Familien erhalten natürlich keinen Unterricht in den esoterischen Themen wie der Anwendung des Blicks und der Deutung von Vorzeichen. Wir hören einiges über Kräuter, was
nützlich sein kann. Man bringt uns nicht die vollständige Durchführung von Ritualen bei, nur die Rolle, die die Frau eines Fürsten dabei spielt. Und wir haben eine sehr gute Lehrerin für Geschichte und Politik. Deine Schwester tut sich in diesen Fächern besonders hervor.« Ana betrachtete ihn forschend; ihre großen Augen blickten tief in seine, und ihr Ausdruck veränderte sich. »Sie fehlt dir«, stellte sie dann leise fest. Bridei schaute auf seine Hände hinab. Er musste müde sein, sonst wäre er doch sicher nicht so unachtsam gewesen. Immerhin hatte er von einem Meister dieser Kunst gelernt, wie man seine Gefühle verbarg. Vielleicht waren es die Kopfschmerzen, die bei der Berührung des Königs nachgelassen hatten und nun zurückkehrten und wie Trommelschlag hinter seinen Augen dröhnten. Er schwieg. »Ich kann ihr gern etwas ausrichten, wenn du möchtest«, schlug Ana vor. »Wir werden schon bald nach Banmerren zurückkehren. Ich glaube, Tuala würde gerne etwas von dir hören. Sie tut sich bei ihren Studien hervor, und die Lehrerinnen sind sehr zufrieden mit ihr, aber ich glaube, sie ist sehr einsam.« Es wurde unmöglich, nicht zu fragen. »Siehst du sie oft? Seid ihr Freundinnen?« Ana drehte den Gürtel in ihren Fingern. »Tuala schließt keine Freundschaften, nicht wirklich. Sie spricht mit mir und Ferada, die sie bereits kannte, als sie nach Banmerren kam. - 496 Sie haben ihr ein kleines Zimmer für sich allein gegeben, oben in einem Turm. Das kam mir seltsam vor, als wollten sie noch betonen, wie anders sie war. Aber ich glaube, es ist Tuala so lieber. Es gibt eine Eiche vor ihrer Tür; sie sitzt gern in diesem Baum. Ich denke, sie träumt dort vielleicht von zu Hause. Sie ist ein ungewöhnliches Mädchen. Wie ein kleines wildes Tier.« »Sind sie dort freundlich zu ihr?« Er konnte dieses Mädchen nicht mit der Frage belasten, die er wirklich stellen wollte. Nur Tuala selbst konnte ihm sagen, wieso sie sich entschieden hatte, nach Banmerren zu gehen und ihm den Rücken zuzuwenden. Ana setzte zu einer Antwort an, aber dann schwieg sie. Der Barde des Königs hatte sich mit seiner kleinen Harfe auf dem Knie vor der hohen Tafel niedergelassen. Es war Zeit, die heldenhafte Geschichte vom Magierstein in all ihrem Glanz zu erzählen. Bridei hoffte inbrünstig, dass sein Name so selten wie möglich fallen würde. Als er die Idee entwickelt hatte, war es eine gute Sache gewesen, sie hatte die Männer vereint und dafür gesorgt, dass er beschäftigt war; sie hatte die finsteren Träume ein wenig im Zaum gehalten. Er sah allerdings keinen Grund, dass seine Taten auf irgendeine Weise unsterblich gemacht werden sollten. Man tat, was man tun musste; wenn es funktionierte, waren es die Götter, die den Dank verdienten. Sehr zur seiner Erleichterung wurde sein Name zwar erwähnt, aber die Betonung lag auf König Drust, unter dessen Fahne der Feldzug gegen die Galen stattgefunden hatte: Drust, der die irdische Verkörperung dieses heldenhaftesten Kriegers darstellte, des Flammenhüters. Talorgen wurde erwähnt und Ged mit seinen Regenbogenkriegern. Morleo von Langwasser und Fokel von Galany wurden gepriesen. Und es gab eine ausführliche und poetische Beschreibung des Steins selbst und eine Interpretation der auf ihm dargestellten Bilder. - 497 Der Barde des Königs hatte eine kräftige, weiche Stimme; seine schlanken Finger flogen über die Harfensaiten und entlockten hier Staunen, dort Schrecken, hier geheimnisvolle Spannung, dort Mitleid, alles mit der Erfahrung eines gut ausgebildeten Mannes und dem Herzen eines wahren Poeten. Als es vorüber war, taten die Versammelten laut kund, wie gut es ihnen gefallen hatte, dann riefen sie nach mehr Musik. Flöten ertönten, Trommeln schlugen einen erregenden Rhythmus, und man begann, die Tische beiseite zu schieben, um Platz zum Tanzen zu machen. Ferada kam auf Ana und Bridei zu, dicht gefolgt von Dreseida. Es war klar, dass sie wegen Ana gekommen waren, die rasch aufstand. Bridei musste sich schnell entscheiden; wer wusste schon, wann sich wieder eine Gelegenheit bieten würde? »Hier«, sagte er und sah sich rasch um, um sich zu überzeugen, dass Broichan nicht zuschaute, dann holte er das ausgefranste Band aus dem Beutel. »Bitte gib ihr das hier.« Ana nahm es und steckte es schnell unter den Gürtel. Sie sah ihn noch einmal an, eine Frage in ihren Augen. »Wenn du es für dich behalten könntest... ich nehme an, solche Botschaften sind verboten«, sagte Bridei leise. »Ich soll ihr nichts weiter ausrichten?«, fragte Ana. Ferada war stehen geblieben, um mit ihrem Vater zu sprechen. Dreseida schaute über die Menge hinweg, ihre Aufmerksamkeit auf den Wirbel von Aktivitäten gerichtet, wo Paare sich am anderen Ende der Halle in einer doppelten Reihe aufstellten. »Nur, dass ich ihre Entscheidung respektiere.« Das klang kalt und förmlich; es war keine wahrheitsgemäße Wiedergabe dessen, was in seinem Herzen vorging. »Und dass ich hoffe, dass sie glücklich sein wird. Ich hatte nicht erwartet, dass die Leuchtende sie auf diese Weise in ihren Dienst rufen würde.« Er zwang sich zu schweigen, er hatte bereits zu viel gesagt. - 498 Ana nickte, und dann war plötzlich Ferada da und zog ihre Freundin weg, dorthin, wo getanzt wurde, und der Augenblick war vorüber. Viel später, als alle im Bett waren und ein weißgoldener zunehmender Mond tief am Himmel über Caer Pridne hing, stand Bridei auf dem Wehrgang in der Nähe von Broichans Quartier. Das Pochen in seinem Kopf hatte es
unmöglich gemacht, still zu liegen und so zu tun, als schliefe er; er würde am Morgen vielleicht gezwungen sein, Broichan um einen Heiltrank zu bitten, obwohl er befürchtete, dass selbst das machtvollste Gebräu aus Druidenkräutern nicht helfen würde. Ein leises Geräusch erklang hinter ihm. Er fuhr herum, das Messer plötzlich in der Hand, alle Sinne geschärft. »Gut«, sagte Faolan und trat aus dem Schatten ins Fackellicht. »Ich dachte schon, ich hätte dich beim Träumen erwischt. Wanderst du immer allein bei Nacht umher? Wo sind deine Wachen?« »Sie schlafen. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen sich ausruhen. Breth ist direkt an der Tür, er könnte in vier Schritten oder weniger hier sein. Er brauchte nur einen Augenblick.« »Ein Augenblick ist alles, was man benötigt, um einem Mann ein Messer ins Herz zu stechen«, sagte Faolan. »Du bist unvorsichtig. Ich hätte dich nicht für so dumm gehalten.« »Es stört mich, mein Leben damit zu verbringen, überall nach Schatten Ausschau zu halten. Ich will lernen, trotz dieser Gefahr zu tun, was ich tun muss. Drust ist ein gutes Beispiel.« »Er hatte kenntnisreiche Beschützer.« Faolan stellte sich neben Bridei an die Mauer. Nun brannten nur noch wenige Fackeln; alles war still bis auf das leise Rauschen des Meeres, das sich an den Felsen brach, die die Ankerplätze drun- 499 ten schützten. Der Mond beleuchtete trüb den hellen Strand und das tintendunkle Wasser der Bucht. »Und du wirst es ebenfalls tun. Du musst lernen, auf ihren Rat zu hören, wenn du so lange überleben willst wie er.« Bridei konnte solche Selbstzufriedenheit nicht einfach durchgehen lassen. »Du bist selbst noch jung«, sagte er. »Du musst Verständnis dafür haben, wie es sich anfühlt, so eingeschränkt zu sein, gefesselt von jenen, die mich in Sicherheit sehen wollen. Ich wurde von einem Druiden aufgezogen. Ich bin an Zeiten der Stille, der Einsamkeit gewöhnt. Ich bin daran gewöhnt, ungestört in den Wald zu gehen. Wie kann ich erfahren, was die Götter wünschen, wenn ich ihre Stimmen nicht hören kann? Wie soll ich sie hören können, wenn ich nicht allein in ihrer großen wilden Landschaft stehe? Wie kann ich ohne das sein, was ich sein muss?« »Ich bin vollkommen unqualifiziert, über solche Dinge zu sprechen«, erklärte Faolan, »ich kann nur darauf hinweisen, dass andere vor dir das anscheinend geschafft haben. Einige Leute sind sehr zuversichtlich, was dich angeht. Falls du König werden solltest, wird es dir leichter fallen, deine eigenen Regeln zu machen. Dann wirst du vielleicht auf meine Dienste verzichten; ich wurde nur verpflichtet, bis zu diesem Punkt für deine Sicherheit zu sorgen. Es ist mir gleich, ob du hören musst, was welche Götter auch immer dir ins Ohr flüstern. Mich interessiert nur, gute Arbeit zu leisten. Und ich erwarte, dass du diese Möglichkeit nicht vereitelst, indem du dumme Risiken eingehst.« Bridei antwortete nicht - tatsächlich war er dazu nicht im Stande, weil eine weitere Welle von Schmerzen über ihn hereinbrach. Er hatte das Gefühl, sein Kopf würde platzen; reine Willenskraft allein verhinderte, dass er sich vor Faolan übergab. »Was ist?« Der Gäle war näher gekommen und sah Bridei forschend an. »Bist du verletzt? Zu viel Bier? Nein, du hast kaum einen Tropfen getrunken. Schmerzen? Kopfschmerzen?« - 500 Bridei spürte ein tiefes Schaudern durch seinen Körper ziehen. »Das ist kein Wunder«, flüsterte er. »Ich schlafe nicht viel. Es wird vergehen.« »Arznei. Ablenkung. Schwere Arbeit. Oder eine Frau«, zählte Faolan die Möglichkeiten an den Fingern ab. »Wie lange ist es her, seit du eine Frau hattest? So etwas lässt sich arrangieren.« »Nein.« Bridei hoffte sehr, dass er seine Gründe für diese Ablehnung nicht nennen musste. Faolan war der Letzte, dem er etwas so Persönliches wie seinen Reinheitsschwur anvertrauen würde, den Schwur, den er halten wollte, bis er heiratete. »Dann werden wir wohl bis morgen früh hier stehen und uns ein wenig unbeholfen unterhalten«, sagte Faolan. »Oder vielleicht sitzen. Die Stufen könnten bequemer sein. Ja, genau, setz dich hin. Wie lange hast du diese Kopfschmerzen schon?« Der Gäle klang beinahe freundlich. Selbstverständlich gehörte es zu seiner Aufgabe, das Vertrauen anderer Menschen zu gewinnen. »Seit dem Kampf bei Galanys Höhe. Vielleicht schon vorher.« »Und warum passiert das, was glaubst du? Könnte es am Ende die Nachwirkung eines Gifts sein? Etwas, das langsam und unbemerkt wirkt?« »Das bezweifle ich. Und ich denke, wir würden es schon bald herausfinden, denn in diesem Fall würden Breth oder Garth demnächst unter den gleichen Symptomen leiden.« »Du hast etwas dagegen, Schwäche zu zeigen.« Sie schwiegen. »Man hat mir beigebracht, so wenig wie möglich preiszugeben«, sagte Bridei. »Ich glaube, du verstehst, dass das mitunter nützlich sein kann.« »Ich kann dich ohne Schwierigkeiten deuten«, sagte Faolan leise. »Du hast niemanden, dem du trauen kannst. Selbst - 501 deinem Druiden vertraust du deine Geheimnisse nicht an. Was das angeht, hast du bereits gelernt, was es
bedeutet, König zu sein.« »Still«, zischte Bridei. »Würde ich so etwas sagen, wenn ich befürchtete, dass man uns belauscht? Zumindest in dieser Hinsicht solltest du mir vertrauen. Glaub mir, ich habe nicht den Wunsch, deine innersten Gedanken zu hören. Ich bin nur interessiert daran, diese Kopfschmerzen loszuwerden. Ich trage die Verantwortung dafür, dich zumindest bis zum Mittwinter am Leben zu erhalten.« »Dann lass mich in Ruhe.« Bridei konnte nicht mehr vermeiden, dass man ihm seine Erschöpfung anhörte. »Allein mit den Sternen«, murmelte Faolan nachdenklich. »Wird das die Kopfschmerzen heilen? Ich ziehe mich in den Schatten zurück, wo ich hingehöre, Bridei. Verlass diesen Teil der Mauer nicht; du musst in Sichtweite bleiben.« »Hast du vor, die ganze Nacht wach zu sein?« »Mein Bedürfnis nach Schlaf sollte das Letzte sein, was dich beunruhigt. Bete, meditiere, träume, tu, was du willst. Aber bleib, wo ich dich beschützen kann. Was die große wilde Landschaft und die Stimmen der Götter angeht, sie werden mit der Zeit vielleicht zu dir kommen. Wenn nicht, dann kann man das wohl nicht ändern.« - 502 KAPITEL DREIZEHN Sie hatten sich in ihrem Baum niedergelassen. Während der Sommer der kühlen, frischen Schärfe der ersten Herbsttage wich, konnte man sie manchmal in der schützenden grünen Kuppel sehen, flüchtig wie Eichhörnchen, ein Hauch von Spinnennetzgrau, ein bunter Beerenfleck und ein wenig Nussbraun. Niemand sonst konnte sie sehen. Sie waren nur wegen Tuala hier. Abends, wenn sie dort unter dem Mond saß und von zu Hause träumte, ließen sie sich neben ihr nieder, das Mädchen breitete Röcke aus rauchigem Silber aus, der junge Mann verschmolz mit den Schatten und Strukturen des Baums, was ihm seine Kleidung, die ganz aus Rinde, Blättern und gebogenen Farnwedeln bestand, sehr leicht machte. »Habt ihr eigentlich Namen?«, fragte Tuala sie eines Abends, denn sie war es müde, sie im Kopf nur sie und er, Waldmädchen und Blättermann zu nennen. »Keine Namen, wie die Menschen sie benutzen«, sagte das Mädchen mit einem Lachen wie leise Glöckchen. »Tuala haben sie dich genannt. Was ist das für ein Name? Er passt nicht zu deiner Schönheit; sie hätten dich nach der weißen Eule nennen sollen oder nach den kleinen Blüten, die sich zäh an die Risse von hohen Felsen klammern. Tuala: Das ist ein Name für eine Frau von Status, für die Gemahlin eines Königs.« - 503 Tuala wandte nicht ein, dass Bridei ihr den Namen vielleicht genau aus diesem Grund gegeben hatte. In den kleinen Liedern ihrer Kindheit hatte er sie oft Prinzessin genannt. »Ich frage nur, um es uns ein wenig einfacher zu machen; so kann ich euch beim Namen nennen, wie ihr es mit mir tut.« »Die Menschen würden uns wahrscheinlich Namen geben, die zu dem passen, was sie sehen«, sagte der junge Mann. »Sie würden meine Begleiterin Weide, Altweibersommer oder Dunst nennen. Und mich vielleicht Geißblatt.« »Weide. Geißblatt. Das sind schöne Namen.« »Gut genug«, stellte das Mädchen fest. »Und nun sag uns, was du heute gelernt hast.« »Kethra kommt jetzt zu meinen Privatstunden. Ich habe ihr und Fola gezeigt, wie ich Dinge bewege, ohne sie zu berühren. Kethra wollte, dass ich mehr tue; ich habe es immer nur mit kleinen Gegenständen versucht, Spielfiguren, vielleicht einem Messer oder einem Kamm, den ich ansonsten nicht erreichen konnte. Sie fragte mich, ob ich es auch mit Gegenständen tun könnte, die ich nicht sehen kann, und ob ich das Tempo verändern kann, in dem sich die Sachen bewegen. Ob es zählt, wie groß sie sind oder wie schwer. Sie wollte, dass ich es draußen versuche, mit Fässern oder Eisenstangen.« »Und?« »Fola sagte Nein.« Der junge Mann, Geißblatt, verzog das Gesicht. »Du hast überhaupt nichts gelernt, sondern nur deine Geheimnisse verraten.« »Das ist nicht gut für dich«, sagte Weide. »Du siehst, wieso diese Leute dich hier haben wollen. Sie nutzen dich nur aus. Heute hievst du Fässer auf einen Wagen, und morgen schon bewegst du eine Eisenstange durch die Luft, um einem Mann oder einer Frau den Schädel zu zerschmettern. An einem Tag lässt du aus einem Lichtstrahl hübsche Bilder - 504 von Schmetterlingen und Blumen entstehen, am nächsten benutzt du dieses Licht, um einen Mann zu blenden, während ein anderer ihm einen Speer ins Herz stößt. Du musst dumm sein, wenn du immer noch glaubst, dass sie dich hierher gebracht haben, damit du etwas lernst.« »Man kann aus allem etwas lernen.« »Ah. Du wiederholst die Lieblingslehre deines Druiden. Und es mag sogar stimmen; du solltest aus dem heutigen Tag lernen, dass die von unserer Art leicht von Menschen ausgebeutet werden können, wenn wir es ihnen gestatten.« »Ich glaube nicht...«
»Nein«, sagte Geißblatt. »Das tust du nicht, nicht so, wie du es solltest. Das hier ist kein Ort für dich. Du hast dunkle Ringe unter den Augen, und du bist so dünn wie ein halb verhungertes Küken.« »Du sehnst dich so sehr nach Pitnochie, dass es dich krank macht«, fügte Weide leise hinzu. »Lass uns dich nach Hause bringen.« Tuala gestattete sich nicht zu weinen. »Es gibt für mich in Pitnochie kein Zuhause mehr«, sagte sie. »Fola und Kethra wollen mich wenigstens hier haben. Ich kann etwas beitragen. Ich kann der Leuchtenden dienen. Mit meinem Unterricht geht es jetzt besser; die Mädchen fangen an, mir zu vertrauen. Ich kann hier in Banmerren ein vernünftiges Leben führen,« »Unsinn«, sagte Geißblatt. »Du hasst es hier. Außerdem sprechen wir nicht vom Haus des Druiden, wenn wir von zu Hause reden. Niemand will dich dort haben. Komm mit uns nach Hause. Wir kennen dort keinen Kummer und keine Einsamkeit. Wir spüren die Berührung des Todes nicht.« Tuala schauderte und zog ihr Tuch fester um sich. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Ana ihr eine Botschaft ausgerichtet. Bridei hatte ihr das Band zurückgeschickt, ihr Haarband, das er stets auf der Haut getragen hatte, wenn er von - 505 ihr getrennt war. Seine Worte, die das Band begleiteten, waren kühl und höflich, wie man sie von einem jungen Mann erwartete, der bald Herrscher von Fortriu sein würde. Er respektierte ihre Entscheidung. Er hoffe, dass sie glücklich würde. Diese Botschaft hatte keine andere Bedeutung außer der, ihr mitzuteilen, dass er sie ohne Widerspruch gehen ließ. Das musste sie als eine Bestätigung dafür betrachten, dass sie sich richtig entschieden hatte. Bridei brauchte sie nicht; er würde eine andere finden, die ihren Platz an seiner Seite einnahm. Der letzte Teil der Botschaft war anders. Ich hatte nicht erwartet, dass die Leuchtende sie auf diese Weise in ihren Dienst rufen würde. Vielleicht machte sie sich etwas vor, aber sie fand, das klang so, als wäre er unglücklich. Wenn sie ihn doch nur sehen könnte, mit ihm sprechen, ihm in die Augen schauen und wissen, was er wirklich dachte. Tuala sehnte sich nach einer solchen Begegnung, wie eine hungrige Frau sich nach frischem Brot oder eine durstige sich nach klarem Wasser sehnte: nach dieser schlichten, einfachen Wahrheit in den Augen eines Freundes, der nicht lügen kann. Sie wollte nur eine Gelegenheit haben, herauszufinden, wie er wirklich empfand, und dann würde es ihr vielleicht leichter fallen, weiterzugehen. »Ich kann nicht mit euch kommen«, flüsterte sie. »Ich würde zu vieles hinter mir lassen müssen. Ich kann nicht glauben, dass es für mich in dieser Menschenwelt überhaupt nichts geben soll. Selbst wenn ich nicht... selbst wenn das Leben, das man mir gewährt, nicht das ist, was ich erwartet hätte... mit euch zu gehen, ein Reich zu betreten, das so anders ist, einen Ort, von dem ich nicht zurückkehren kann... es wäre zu endgültig. Als würde ich die letzte Verbindung zu allem, was ich liebe, durchtrennen.« Weide lachte, ein hohes Glockenläuten. Es war erstaunlich, dass niemand sonst in Banmerren sie jemals hörte. »Liebe«, wiederholte sie. »Du benutzt dieses Wort viel zu - 506 oft, Tuala. Es gibt vieles, was du in unserer Welt genießen würdest, schöne Dinge, wundersame Dinge. Dort würden dich alle lieben; du wärst in jeder Hinsicht die Prinzessin, nach der man dich vor so vielen Jahren benannt hat. Die Leuchtende wirft ihr Licht gleichermaßen auf beide Reiche, Schwester. Komm zu uns, und du wirst dich für immer ihres Wohlwollens erfreuen und ein Leben führen, das vollkommen frei ist von Sorgen, wie sie dich jetzt bedrücken. Keine Sorgen mehr um Personen, die wollen, dass du deine Tricks vorführst und ihnen deine Geheimnisse verrätst. Du wirst nicht mehr beobachten müssen, wie derjenige, den du zu lieben glaubst, ein anderes Mädchen lieb gewinnt, eines mit Haar wie eine Kaskade aus Sonnenlicht. Das wird dich überhaupt nicht mehr stören, wenn du die Grenze erst überschritten hast; du wirst dich höchstens noch wundern, wieso es dir einmal etwas ausmachte. Wusstest du, dass eine von unserer Art ihre Unsterblichkeit verliert, wenn sie einen Menschen heiratet? Wer würde schon den Tod einem unsterblichen Leben vorziehen?« »Ich will nichts davon hören, das habe ich euch wieder und wieder gesagt. Ich will hier in Banmerren bleiben. Die Göttin will, dass ich eine Weise Frau werde. Das muss die richtige Entscheidung sein.« Bedrückt erkannte Tuala, dass sie diese Worte, je öfter sie sie wiederholte, immer weniger glaubte. »Warum prüfst du diese Entscheidung dann nicht?« Geißblatts Stimme klang tückisch; er streckte eine zweigähnliche Hand aus, um Tualas Knie zu berühren, und sie rutschte auf dem Ast ein Stück von ihm weg. »Lass das! Wie meinst du das, die Entscheidung prüfen?« »Er hat dir eine Botschaft geschickt.« Weide war aufgestanden, ihre schlanke Gestalt vom Mondlicht umrissen, die Arme anmutig über den Kopf gestreckt, um sie auf einen höheren Ast zu stützen, das Gewand aus spinnwebfeinem Gewebe wehend um ihren Körper, die kleinen weißen Füße si- 507 eher und fest auf dem Ast. »Schick ihm eine zurück. Wenn du unglücklich bist, sag es ihm. Wenn er die Prüfung nicht besteht, wirst du wissen, dass deine Zweifel berechtigt waren. Dann solltest du die Wahrheit akzeptieren, und wir bringen dich nach Hause in den Wald. Fehlt er dir nicht? Das weiche Grün, das Schweigen?« »Das ist verboten«, sagte Tuala. »Er ist schon ein Risiko eingegangen, als er Ana das Band gab; jene von uns, die zur Priesterin ausgebildet werden, sollen keinen Kontakt mit der Welt außerhalb dieser Mauern haben, solange Fola oder Kethra es nicht erlauben. Ich darf ihm keine Schwierigkeiten machen, und er kann mich ohnehin nicht nach Hause bringen. Er muss in Caer Pridne bleiben.«
»Wenn er dich nicht für wert hält, ein Risiko einzugehen«, sagte Weide beiläufig, »dann wird er nicht antworten. Geh subtil vor. Er kennt dich sehr gut. Schick ihm eine Botschaft, die andere nicht verstehen werden. Das sollte sicher genug sein.« »Warum schlägst du das vor?« Man konnte diesen beiden nicht trauen; sie folgten ihren eigenen undurchdringlichen Regeln. »Weil wir wissen, dass du nicht mit uns kommen wirst, ehe du es nicht weißt.« Auch Geißblatt stand jetzt auf. »Du musst es schwarz auf weiß haben, die grausame, ungeschmückte Wahrheit: dass du nicht das Wichtigste in seinem Leben bist; dass er ohne dich weitermachen wird. Dass du tatsächlich eine Last für ihn bist, mit der er sein Schicksal nicht erfüllen kann. Wann hat je ein König von Fortriu eine vom Guten Volk zur Frau genommen? Und was sonst könntest du sein? Welche Frau würde deine Gegenwart in ihrem Haus erlauben, würde gestatten, dass du die Energie ihres Mannes schwächst und ihn ablenkst? Du erwartest doch sicher nicht, dass Bridei seine Möglichkeit, König zu werden, wegen dir aufgibt? Er ist ein freundlicher junger Mann und wird es nicht so offen ausdrücken. Aber du kennst ihn. Du - 508 wirst seine Botschaft verstehen. Also tu es und erlöse uns alle von diesem Elend. Sei mutig. König Drust ist wieder erkältet, er wird nicht mehr lange leben.« Sie hielten sich nicht mit Abschiedsworten auf, diese beiden. Für gewöhnlich gab es eine letzte Anmerkung, so berechnet, dass sie wehtat, und dann waren sie weg. Sie verschwanden zwischen den vom Mond beleuchteten Blättern wie Rauchfäden und ließen Tuala mit ihren Gedanken allein. So war es auch an diesem Abend, ein Zwinkern, und schon waren sie verschwunden. Und in Tualas Kopf, so vollständig, als hätte sie sie bereits geplant gehabt, befand sich die Botschaft, die Bridei mitteilte, wann und wo er sie finden konnte, in absoluter Klarheit, aber dennoch so, dass niemand sonst sie verstehen konnte. Sie würde Ana trauen müssen. Und was diese grausamen Worte über Könige und ihre Frauen anging, so würde sie so tun, als hätte sie sie nicht gehört. Mit heftig klopfendem Herzen pflückte Tuala ein einzelnes welkes Blatt von der Eiche und kehrte in ihren Turm zurück. Als es auf den Tortag zuging und die Nächte länger wurden, ging es Drust schlechter. Es war kalt; die Männer, die nachts in ihren Schaffelljacken, pelzgefütterten Umhängen und Filzmützen Wache hielten, zitterten vor Kälte, und in den zugigen Steinräumen von Caer Pridne brannten Feuer. Der Husten des Königs rasselte durch die Flure wie ein heiserer Todesschrei, wie eine Verkörperung der schwarzen Krähe selbst. Drusts Wangen waren rosig in einem ansonsten farblosen Gesicht; Königin Rhian, die liebenswerten Züge dauerhaft von Sorgen überschattet, kam immer wieder in den Destillierraum und stellte selbst Tränke her, um ihrem Mann die Anfälle zu erleichtern. Man flüsterte, dass nur Broichans Magie den König noch am Leben erhalte. Aber Drust war kein Schwächling. Er war nicht so lange an der Macht geblieben, weil er dazu neigte, einer Heraus- 509 forderung gegenüber gleich aufzugeben. Er verlegte das Zentrum seiner Aktivitäten in einen kleinen Raum, der gut geheizt werden konnte, und ließ Töpfe mit dampfendem Wasser ans Feuer stellen, Wasser, in denen die zerstampften Blätter heilender Pflanzen schwammen, von Fenchel und Minze. Er trank ein Gebräu aus zerdrückten Haselnüssen und Honig, aber er konnte nicht verbergen, wie sehr sein Appetit nachgelassen hatte. Überall in dem kleinen Raum gab es Schutzzauber: weiße Steine für die Leuchtende in Dreier-, Fünfer- und Siebenergruppen; eine hängende Kette kleiner Männchen aus Stroh, von denen jeder auf dem winzigen Kopf eine Girlande aus Herbstblättern trug und einen Gürtel aus bunten Fäden in Scharlachrot und Gold: Söhne des Flammenhüters, dessen Wärme reiche Ernten gewährte. Es gab einen Kranz aus Laub an der Tür und einen Knoblauchzopf an der Feuerstelle. Es erinnerte Bridei an einen Augenblick vor langer Zeit, als Broichan ihn nach den Schutzzaubern in Pitnochie gefragt und dann getadelt hatte: Antworte nicht wie ein Kind, sondern wie ein Druide. Nun konnte er wie ein Druide antworten. Der König lag im Sterben. Die Knochenmutter tanzte auf ihn zu, die Arme ausgestreckt; diese Schutzzauber konnten sie nicht aufhalten. Es würde ihnen vielleicht für einen oder zwei Monde gelingen, aber nicht länger. Die Wahrheit stand in Drusts Blick, und der König stellte sich ihr ohne Angst. Er wollte nur sicher sein können, dass sein Königreich nicht in einem Sumpf aus Rivalitäten, Herausforderungen und Machtspielen versank, sobald er tot war. Wie Fliegen, die sich um ein sterbendes Tier versammeln, auch wenn es noch atmet, kamen die Adligen aus dem Süden nach Caer Pridne. Drust der Eber selbst war noch nicht eingetroffen, aber an seiner Stelle erschienen seine zwei obersten Berater und ein christlicher Priester. Es war eine Geste empörender Dreistigkeit. Caer Pridne hatte noch nie - 510 einen Christen beherbergt und wünschte auch nicht, es jetzt zu tun; wer würde so dumm sein, die Götter zu beleidigen, wenn ihr guter König an der Schwelle des Todes stand? Leider verlangte die Tatsache, dass Bruder Suibne - ein Gäle und damit doppelt unerwünscht - Teil der königlichen Delegation war, dass man ihn nicht nur unterbrachte, sondern auch noch gut und mit allen Anzeichen echter Höflichkeit behandelte. Gesichter trugen gezwungenes Lächeln zur Schau; Stimmen verbargen nur mit großer Anstrengung die Ablehnung. Die drei erhielten ein schönes Zimmer mit ihrem eigenen Vorzimmer, wo dieser Bursche seine fremdartigen Rituale an
einem Ort praktizieren konnte, wo gottesfürchtige Menschen ihn nicht sehen mussten. Der, auf den sie wirklich ein Auge haben mussten, sagte Broichan seinem Pflegesohn, war der oberste Berater von Circinn, ein Mann namens Bargoit. Er hatte eine glatte Zunge und nur wenige Skrupel, und im Lauf der Jahre hatte er Drust den Eber seinem Willen vollkommen unterworfen. Der andere, Fergus, war nur ein Geschöpf Bargoits. Was der eine entschied, unterstützte der andere. Sie waren früh gekommen. Man konnte nur hoffen, dass sie nicht in zu viele Ohren flüsterten und zu großen Schaden anrichteten. Was den Priester anging, wenn man ihn denn einen Priester nennen konnte, so war seine Anwesenheit eine Beleidigung. Damit hatte Drust von Circinn seinem eigenen Anspruch auf den Thron im Norden keinen guten Dienst erwiesen. Ein Blick auf Bruder Suibne, und jeder Adlige aus Fortriu, der Stimmrecht hatte, würde sich vorstellen können, was geschah, wenn beide Teile des Königreichs Drust dem Eber zufielen. Niemand, der treu zu den Göttern stand, konnte sich für so etwas entscheiden. Die Zeit verging schnell. Brideis Tage waren voll mit rätselhaften Gesprächen, Geflüster in Fluren, vorsichtigen Manövern mit dem einen oder anderen einflussreichen Mann. Zunächst hatte er auf Broichans Anraten den jungen Un- 511 schuldigen gespielt, still und höflich im Verhalten, sparsam und schlicht in seinen Worten. Sie wussten es selbstverständlich. Wenn sie an dem Abend, als Drust ihm die Adlerbrosche und seinen Segen gegeben hatte, nicht erkannt hatten, dass der Pflegesohn des Druiden aus Pitnochie ein wichtiger Bewerber um den Thron war, dann entdeckten sie es schon bald genug. Alle versuchten ihn einzuschätzen. Bridei seinerseits begann, sich ein Bild von ihnen zu verschaffen, gab sich mit jedem passend zu dem Grad seiner Gefährlichkeit und entsprechend der Wahrscheinlichkeit ab, dass er um seinetwillen die Ansicht änderte. Er gestattete sich nicht, den Teil seiner selbst zu beachten, der sich nach einem anderen Weg sehnte, einem, der nach Pitnochie und zu einem stillen Gelehrtenleben führte. Als wahrer Sohn von Fortriu konnte er sich dem nicht verweigern, was ihm immer mehr wie ein Ruf von den Göttern vorkam. Wenn er König wurde, konnte er zumindest den großen Traum erfüllen, den er Fola einmal anvertraut hatte. Er würde daran arbeiten, das geteilte Reich der Priteni zu heilen. Diese Aussicht war ebenso abschreckend wie machtvoll und zwingend. Es war üblich, dass jedes der sieben Häuser nur einen Kandidaten aufstellte, und diesmal würden es vielleicht sogar weniger als sieben sein; besonders die südlichen Stämme würden wohl kaum einen eigenen Bewerber aufstellen, da Drust der Eber Oberherr all dieser Territorien war. Die königliche Linie war die des Hauses von Fidach, deren Herzlande sich im Großen Tal befanden, aber da die Abstammung über die weibliche Linie ging und die Prinzessinnen von Fidach Fürsten von überall im Reich der Priteni und sogar über die Grenzen hinaus geheiratet hatten, gab es berechtigte Bewerber in allen sieben Häusern. Es sah auch so aus, als wollten sich die Hellen Inseln diesmal nicht an dem Wettbewerb beteiligen. Die Anwesenheit von Ana an Drusts Hof und die Möglichkeit, dass vielleicht andere ebenfalls als Geiseln genommen werden könnten, - 512 würde sie wahrscheinlich davon abhalten. Es wurde geflüstert, dass man dem Fürsten dieser Inseln, der ein Vasall von Drust dem Stier war, ein gewisses Versprechen gemacht hatte. Angeblich hatte man erwähnt, dass die königliche Geisel sich in der besten Position befand, den neuen König zu heiraten, falls dieser noch keine Frau haben sollte. Das würde den Status ihrer Familie ungemein erhöhen und ihren Vetter beinahe auf die gleiche Ebene wie den Herrscher von Fortriu bringen. Handelsabkommen und andere Vorteile könnten sich daraus entwickeln. Jemand war sehr klug vorgegangen. Das Haus Caitt war unberechenbar. Bridei hatte einmal geglaubt, dass vielleicht ein Bündnis mit diesen wilden Bewohnern des Nordens möglich wäre, aber Broichan hatte das als äußerst unwahrscheinlich abgetan. Es waren Generationen ins Land gegangen, seit die Caitt zum letzten Mal versucht hatten, Anspruch auf den Thron von Fortriu zu erheben. Niemand erwartete irgendwelche Überraschungen aus dieser Richtung. Was die Zukunft anging, so hatte Bridei seine eigenen Pläne. Die Caitt waren Priteni, und sie waren stark. Falls er König werden sollte, gab es dort Potenziale, die er zumindest erforschen würde. Von Drusts engsten Verwandten war der rothaarige Carnach der aussichtsreichere. Er war ein fähiger, redegewandter Mann, und er hatte sich die Unterstützung mehrerer einflussreicher Männer verschafft, darunter die des Beraters Tharan. Aniel hatte Tharan als gefährlich bezeichnet. In diesem Lager gab es noch einige Arbeit zu leisten. Wredech überließ er Talorgen. Anscheinend war nur ein wenig sanfter Druck vonnöten, um diesen Verwandten von Drust dem Stier zu überzeugen, dass es weiser wäre, seinen Anspruch fallen zu lassen. Talorgen hatte in Erfahrung gebracht, dass einiges Vieh geheimnisvollerweise über Grenzen gewandert und eine Börse mit Silberstücken direkt vor Drusts Nase den Besitzer gewechselt hatte. Sollte Wredechs - 513 Rolle dabei öffentlich werden, wie es zweifellos geschehen würde, falls er Interesse am Thron zeigte, würde das seinem Ruf gewaltigen Schaden zufügen. Und er würde außerdem das Vieh verlieren, darunter einen erstklassigen Zuchtstier, der bereits bei seinen Kühen gute Arbeit leistete. Wenn er andererseits seine Unterstützung für den Kandidaten erklärte, den Talorgen selbst vorzog, würde kein Wort mehr über diese Sache fallen. Und es würde vielleicht sogar noch einen kleinen Anreiz geben, in Gestalt von weiterem Zuwachs zu
Wredechs wachsender Herde. Talorgen arbeitete daran; solche Vorschläge wurden selbstverständlich nicht offen und alle gleichzeitig gemacht, sondern nach und nach und unter Ausnutzung der Ängste und Schwächen eines Mannes. Bridei brauchte dabei nichts weiter zu tun, als Wredech freundlich und respektvoll zu behandeln, wenn sie einander begegneten, und die Themen Königtum und Vieh zu meiden. Er konnte allerdings den Beratern aus Circinn, Bargoit und Fergus, und ihrem christlichen Priester nicht vollkommen ausweichen. Bargoit spielte ein herausforderndes Spiel; er war ein Meister der Andeutung, tückischer Fragen, geschickten Ausweichens und unerwarteter Angriffe. Sich und die Situation weiterhin zu beherrschen, strengte Bridei gewaltig an; die Kopfschmerzen blieben mehr oder weniger konstant, was ihm bei der Konzentration kein bisschen half. Er bat Broichan nicht um einen Heiltrank. Der Druide war sehr beschäftigt, verbrachte Tage und Nächte an der Seite von König Drust, braute Heiltränke, verbrannte Kräuter, sprach Gebete und leistete seinem alten Freund vielleicht auch einfach nur Gesellschaft, denn sie kannten sich schon lange, lange vor der Zeit, als Bridei nach Pitnochie gekommen war. Bridei hatte zunächst geglaubt, dass er sich nie an seine drei Wachen gewöhnen konnte. Aber erstaunlich bald fand er in der geladenen Atmosphäre der überfüllten Festung die - 514 ständige Anwesenheit eines oder des anderen dieser großen, kräftigen Männer beruhigend. Wenn Garth oder Breth hinter ihm standen und aufpassten, konnte sich Bridei auf andere Dinge konzentrieren, zum Beispiel auf eine Diskussion mit Bruder Suibne über das Wesen von Menschen und Göttern, oder eine Runde Krähenecken mit dem scharfäugigen Ratsherrn Tharan, umgeben von einem gespannten Publikum aus Aniel und den beiden Beratern aus Circinn. Er wusste, dass er begutachtet wurde; seine Wachen sorgten dafür, dass er nicht auch noch jeden Augenblick auf ein Messer im Rücken gefasst sein musste. Faolan überließ es Breth und Garth, sich um die wachen Stunden zu kümmern. Er war alles andere als untätig, sammelte Informationen, interessierte sich für die Vergangenheit gewisser Personen, sprach mit Dienern und Sklaven und durchsuchte heimlich die Quartiere der Besucher, wenn die Bewohner anderweitig beschäftigt waren. Am Abend hielt er Wache, während Bridei nicht schlafen konnte. Ob er selbst jemals schlief, und wann, war nicht ersichtlich. Er legte keine Anzeichen von Müdigkeit an den Tag. Die jungen Frauen waren irgendwann nach Banmerren zurückgekehrt und wurden nun jeden Tag am Hof zurückerwartet. Bridei musste oft an Tuala denken. Am Abend stand er an der Mauer, schaute den Mond an und stellte sie sich im grauen Gewand einer Priesterin vor, wie sie für das Mittsommerritual eine Schale Wasser trug oder zur Frühlingstagundnachtgleiche weiße Blüten verstreute. Er dachte daran, wie sie ins Wasser einer Bronzeschale schaute, ihre seltsamen Augen offen für eine ganze Welt, die er nicht verstehen konnte. Er stellte sich vor, wie sie lachte, ihr Haar vom Wind zerzaust; dieses Haar war seinen Händen so vertraut, denn er hatte es öfter geflochten und gebunden, als er zählen konnte. Er dachte an ein Versprechen, das er vor langer Zeit gegeben und wie er sein Bestes getan hatte, es zu halten. Sie war jetzt erwachsen und brauchte keine Geschich- 515 ten mehr, um ihre Angst vor dem Unbekannten zu mildern. Sie war so alt wie Ana; eine junge Frau. Und sie hatte sich weit von ihm entfernt. Die Leuchtende hatte sie berührt, als sie noch ein Kind gewesen war, und streckte nun erneut die Hand nach ihr aus und rief sie nach Hause. Welch reinere Form des Dienstes gab es denn als den eines Druiden oder einer Weisen Frau? Wie konnte er ihr das verübeln? Und dennoch ... und dennoch ... »Bridei?« »Mhm?« »Wir haben morgen einen freien Tag«, verkündete Faolan aus seiner dunklen Ecke an den Stufen. »Was?« »Das Wetter scheint trocken zu bleiben. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich habe genug von dieser Festung. Wir nehmen uns ein paar Pferde, reiten am Strand entlang und suchen ein paar von diesen großen wilden Landschaften, die du erwähnt hast, und machen uns müde. Keine Könige, keine Berater, keine Priester, keine Druiden. Ein ganzer Tag. Was hältst du davon?« »Kein Breth, kein Garth?« Faolan lächelte nicht. »Sie haben ein bisschen Ruhe verdient. Du hast mich; du wirst sie nicht brauchen.« »Du wirst also weiter im Dienst sein.« »Ich bin immer im Dienst, Bridei. Aber auf diese Weise habe ich wenigstens ein bisschen Abwechslung.« Es klang gut; erstaunlich gut. Dem Hof einen ganzen Tag lang zu entkommen wäre eine wunderbare Erholung. »Ich habe es Broichan schon gesagt«, erklärte Faolan. »Ich werde mich um ein paar Rationen kümmern. Bereite dich auf einen frühen Aufbruch vor.« »Weißt du«, sagte Bridei, »es ist beinahe unmöglich, dass das tatsächlich ist, was es zu sein scheint, wenn es von dir kommt. Du bist nicht der Mann, der einen kleinen Ausflug unternimmt, wenn es andere, dringlichere Dinge zu tun gibt. - 516 Wenn an dieser Sache mehr ist, als du bisher zugegeben hast, würde ich vorziehen, das zu wissen.« Faolan schwieg eine Weile. »Wir könnten es mehr als einmal machen«, sagte er schließlich. »Ein Muster etablieren. Es könnte sich als nützlich erweisen.«
»Zu welchem Zweck?« »Um einen Angriff herauszufordern«, sagte der Gäle kühl. »Nicht morgen, aber sobald wir andere erst einmal wissen lassen, wo man uns zu bestimmten Zeiten an bestimmten Tagen finden kann.« »Wunderbar. Ich erhole mich mit einem Ritt durch die Hügel und warte auf einen Pfeil ins Herz.« »Ich dachte, du wärst der beste Bogenschütze in Fortriu«, sagte Faolan ungerührt. »Mach dir keine Gedanken, Bridei. Ich weiß, was ich tue. In Caer Pridne wimmelt es derzeit nur so von den Wachen von Adligen, also wagt niemand, etwas zu unternehmen. Sie werden auf eine Gelegenheit warten. Und wir geben ihnen eine.« »Ich verstehe.« »Aber morgen wirst du in Sicherheit sein. Morgen kannst du so viel du willst den Stimmen der Götter lauschen.« »Ich hätte tatsächlich nichts gegen einen Ausflug. Danke.« Attentäter oder nicht, Bridei erkannte, wie sehr er sich nach der Freiheit gesehnt hatte, Moor und Wald, Hügel und Täler zu durchstreifen, die Augen und Ohren offen für die Wunder des wilden Landes. In Caer Pridne sah man mehr als genug üppige Kleidung und verlogene Gesichter, und an die Ohren drangen Geschwätz, heimliches Flüstern und boshafte Bemerkungen. Er war nicht mehr mit nur einem einzigen Begleiter unterwegs gewesen, seit Donal... »Was ist los?« Faolan sollte verflucht sein; er war einfach zu aufmerksam. »Nichts. Ich werde jetzt versuchen zu schlafen. Gute Nacht. Möge die Leuchtende über deine Träume wachen.« »Gute Nacht, Bridei.« - 517 Faolan hatte es offenbar darauf abgesehen, ihn zu ermüden. Vielleicht hoffte der Gäle auch, dass die Aktivitäten des Tages ihnen beiden einen guten Schlaf einbringen würden. Aber Bridei war mit langen Ausflügen in den Wald oberhalb von Pitnochie aufgewachsen. Er war draußen zu Hause, war seit seiner Kindheit auf die Rhythmen des Landes eingestimmt, und daher belebte es ihn, wieder draußen zu sein, auf eine Weise, wie die angespannten Manöver und die subtilen Spiele von Drusts Hof es nicht konnten. Die Kopfschmerzen vergingen zwar nicht, aber sie wurden schwächer. Zweifel plagten ihn immer noch, aber hier unter den Kiefern zu stehen und auf eine weite Salzmarsch hinauszuschauen, wo sich die Vögel in endlosen, fließenden Massen aus Grau, Braun und Weiß wie ein einziges Wesen erhoben, um über die Gezeitenebene zu wirbeln, und sich dann wieder niederließen, um zu fressen, das war, als fände er etwas von diesem inneren Staunen wieder, das ihn stets gewärmt hatte, wenn er die Schluchten und Täler von Pitnochie durchstreifte, sei es allein oder mit seiner vertrauten Freundin. Faolan versuchte nicht, die gewaltige Stille mit leerem Geschwätz zu füllen; seine Präsenz war unaufdringlich, effizient, gelassen. Sie hatten die Pferde ein wenig aufgewärmt und waren dann auf dem nassen Sand von Caer Pridne nach Banmerren galoppiert. Es war nicht wirklich ein Rennen gewesen, aber sie hatten einander dennoch herausgefordert, Schneefeuer hatte die Gelegenheit genossen, sich ordentlich zu strecken, da er nun so oft im Stall stand. Am westlichen Ende der Bucht erhoben sich die Mauern von Folas Anwesen hoch über dem Unterholz und den Gruppen vom Wind geformter Kiefern, die diese Landspitze nicht zu einer Festung, sondern einer Zuflucht machten. Die Tore waren aus schwerem Eisen und fest geschlossen. Es war unmöglich zu sehen, was hinter ihnen lag, denn es gab einen schützenden Wall gleich hinter der Mauer, wahrscheinlich - 518 genau zu dem Zweck gedacht, neugierige Blicke wie den seinen abzuschrecken. Die Regeln verboten allen Männern außer Druiden, dieses der Leuchtenden heilige Reich zu betreten, und das war überall bekannt. Selbst daran zu denken, diese Regeln zu brechen, stellte bereits eine Beleidigung der Göttin dar. Für einen Mann, der Anspruch auf den Thron erheben wollte, war der Gedanke ketzerisch und dumm. Die Ergebenheit eines Königs an die Götter musste makellos sein. Brideis Intellekt verstand das nur zu gut. Sein Herz jedoch schlug schneller von der Sehnsucht danach, die Mauer zu überqueren, Tuala zu suchen, die Wahrheit herauszufinden. Er konnte die Eiche nicht sehen, die Ana erwähnt hatte. Er wusste nicht, auf welcher Seite dieses umschlossenen Anwesens es ein kleines Turmzimmer geben mochte, passend für eine junge Frau allein. In der Nähe der Mauern befand sich eine Gruppe von Gebäuden, eine Scheune, ein Stall, ein lang gezogenes, niedriges Wohnhaus. Schafe grasten auf ummauerten Feldern; es gab einen Weg hinunter zur Gezeitenebene. Bridei konnte sich Tuala dort vorstellen, wie sie sich nach Muscheln bückte, das dunkle Haar wild, die Röcke gerafft, die kleinen nackten Füße, die Spuren im Sand hinterließen, so zart wie die einer Seeschwalbe ... Sie ritten vorbei, zogen weiter nach Westen über Dünen und Ebenen, durchquerten Sumpf und Heide, zügelten ihre Pferde, um sich eine Sandbank anzusehen, die sich durch eine feuchte Bucht zog, wo sich an diesem Morgen ein Gänseschwarm auf Wasser und Ufer niedergelassen hatte wie ein lebendiges Tuch. Die Vögel erfüllten diesen abgelegenen Ort mit ihren seltsamen Schreien. Es war eine Erinnerung daran, dass das Jahr beinahe sein Ende erreicht hatte; diese Gänse waren Wintergäste, die sich vom Tortag bis zum Jungfrauentanz in Fortriu aufhielten, bevor sie wieder davonflogen, um den Sommer in anderen Regionen zu verbringen. - 519 »Es ist nicht einmal mehr ein Mond bis zum Ritual«, sagte Bridei, den Blick auf die Bewegung der Gänse gerichtet, ein seltsames, sich ununterbrochen veränderndes Muster. »Mhm«, sagte Faolan. »Wird Broichan den König lange genug am Leben erhalten können?«
Bridei schauderte. »Ich bete jeden Tag darum, dass er das kann.« »Es heißt, Drust klammert sich genau aus diesem Grund ans Leben«, sagte der Gäle. »Seine Lunge versagt, jeder Atemzug ist ein Kampf. Er möchte die Zeremonie ein letztes Mal vollziehen und seine Pflicht gegenüber dem Namenlosen erfüllen, bevor er hinter den Schleier treten muss.« »Man spricht nicht laut von diesen Dingen.« »Ah. Aber ich bin keiner von euch.« »Dennoch. Wenn du unter uns leben und unser Silber für deine Dienste erhalten willst, solltest du dich an solche Verbote halten. Hier geht es um einen Gott, dessen Rituale dunkel und geheim sind. Es ist gefährlich, sie auch nur zu erwähnen.« Faolan sah ihn neugierig an. »Dir ist vermutlich klar, wessen Verantwortung dieser heilige Brauch im kommenden Jahr sein wird, und in vielen Jahren danach?« »Ja. Es ist nichts, worüber ich viel sprechen möchte. Die Götter verlangen bestimmte Dinge von uns, entsprechend unserer Stellung in der Gesellschaft. Wenn wir sie lieben, wie es jeder wahre Sohn und jede wahre Tochter von Fortriu tun sollte, müssen wir gehorchen. Mehr braucht man darüber nicht zu sagen. Und in diesem Stadium bin ich nur einer von mehreren möglichen Kandidaten.« »Weißt du, um was es bei dem Ritual geht?« »Hast du mich nicht gehört, Faolan?« Sie schwiegen. Dann stand Faolan auf und ging zu den angepflockten Pferden. »Wir können nicht bis zu deinen geliebten Bergen reiten, jedenfalls nicht heute«, sagte er. »Aber - 520 es gibt ein schönes Moorland, sanfte Hügel, verborgene Täler und einen Fluss, den wir überqueren können, wenn wir von hier aus landeinwärts reiten. Sollen wir das tun?« »Orte für einen Hinterhalt? Verstecke für Attentäter?« »Mag sein. Wie ich schon sagte, heute können wir uns beruhigt umsehen. Wir müssen hoffen, dass es weiterhin trocken bleibt, damit wir wieder hierher kommen können.« Sie ritten, bis die Sonne ihren Höchststand erreichte, gaben den Pferden über das Moor die Köpfe frei und führten sie dann vorsichtig durch die steinige Furt; wenn dieser Fluss Hochwasser führte, würde eine Überquerung gefährlich sein. Schließlich erreichten sie eine Region mit sanften grasigen Hügeln und schmalen, baumbestandenen Tälern. Sie überquerten eine bemooste Dielenbrücke über einen gurgelnden Bach und ritten an einem solchen Tal entlang, bis es breiter wurde und Felsen vor ihnen auftauchten. Weiter drunten stand ein Hain hoher Bäume, dunkler, kahler Ulmen und breitkroniger Eichen mit den letzten Resten ihres rötlichen Herbstkleids. Bridei berührte Schneefeuers Hals, damit das Tier stehen blieb, und Faolan zügelte sein Tier ebenfalls. Unter diesen Wächterbäumen, geschützt und geheim, befanden sich drei runde Steinhügel, jeder von einem Kreis stehender Steine umgeben. »Ein Ort der Göttin«, flüsterte Bridei und stieg ab. Er konnte den Atem der Leuchtenden in jedem Winkel dieses Heiligtums spüren; es gab hier eine Stille, die über die gewöhnliche Ruhe einer unberührten Landschaft hinausging, ein Gefühl tiefster Gelassenheit, aber auch machtvoller Warnung. »Als Männer dürfen wir nicht näher kommen«, sagte er. Faolan stieg vom Pferd. »Du möchtest hier dennoch vielleicht eine Weile bleiben«, sagte er. »Wir können nicht weitergehen, aber andere schon. Gehen wir ein Stück weiter zur Seite hier, den Hügel hinauf, wo die Deckung besser ist.« »Wie meinst du das, andere schon?« - 521 Faolan führte ihre Pferde bereits hinter ein Gebüsch; dann nahm er ein Päckchen aus seiner Satteltasche und ließ sich auf einem flachen Stein nieder. Als Gäle war er gegenüber den alten Göttern von Fortriu selbstverständlich taub. Bridei verspürte hingegen das intensive Bedürfnis, sich von diesem Ort, einem Frauenort, fern zu halten, aber ihm war auch klar, dass der Tag halb vergangen war, dass immer noch der ganze Rückweg vor ihnen lag und dass er gewaltigen Hunger hatte. »Ich meinte das ernst«, sagte er, setzte sich neben den Galen und nahm ein Stück Käse und ein flaches Haferbrot entgegen. »Wir gehen nicht näher heran, und wir sollten diesen Platz verlassen, wenn wir gegessen haben. Ich bin froh, dass ich diesen Ort gesehen habe; ich habe davon gehört. Diese Steinhügel sind sehr alt, von den uralten Ahnen errichtet. Generationen von Frauen haben hier ihre Rituale durchgeführt und zur Göttin in ihrer dreifachen Gestalt gebetet. Kein Mann sollte einen Fuß zwischen die Steinhügel setzen. Selbst wenn ich das noch nicht wüsste, könnte ich es in jedem Knochen spüren.« »Nun ja«, sagte Faolan und kaute. »Aber wir müssen essen; das wird deine Göttin uns sicher nicht übel nehmen. Wir haben noch viel Zeit. Ich habe Met in dieser Feldflasche - hier.« Der Herbst war weit fortgeschritten, aber hier auf dem Hügel oberhalb des heiligen Orts, wo sich Kreis in Kreis befand, verfügte die Sonne über eine Wärme, die die Jahreszeit Lügen strafte. Die Pferde waren es zufrieden, im Gras zu weiden. Faolan saß still da, der Blick ruhig, die Haltung entspannt. Das Essen war hervorragend, der Met von guter Qualität - Bridei nahm an, dass er aus den privaten Vorräten des Königs stammte. Seine Kopfschmerzen waren jetzt beinahe nicht mehr wahrzunehmen. Eine Art Frieden befiel ihn, wie er ihn beinahe vergessen hatte, ein Gefühl tiefster Zufriedenheit, das er nur in der Stille des wilden Landes er-
- 522 lebte, und selbst dort selten. Er war immerhin nur das kleinste Geschöpf vor diesem immensen, wunderbaren Gewebe lebender Wesen; seine eigenen Sorgen wirkten hier so klein. Das Land existierte ewig, stark und sicher. Das Herz der Götter schlug in jedem umherschießenden Wiesenvogel, in jedem goldbraunen Blatt, das von den dunklen Zweigen der Eiche nach unten schwebte, in jedem Tautropfen und jedem Sandkorn, in Kieselstein und Wasserfall, in weitem See und hohem Felsen. Das gleiche Herz schlug auch in ihm; hier an diesem Zufluchtsort konnte er seinen stetigen Rhythmus spüren, der ihn sofort mit dem Leben des Tals und des Landes von Fortriu verband, des Landes, dessen Anführer er vielleicht nur zu bald sein würde. An den Stamm einer Ulme gelehnt, schloss Bridei die Augen. Das Schwinden der Kopfschmerzen war ein Segen, ein Geschenk. Ihm war nicht aufgefallen, wie sehr diese Schmerzen ihn schwächten, bis sie beinahe vergangen waren. »Bridei!« Der Tonfall ließ ihn sofort aufschrecken; es war eine Warnung, ein stiller Befehl. Er riss die Augen auf. Die Schatten hatten sich bewegt, die Sonne war weiter nach Westen gezogen. Er hatte geschlafen, und zwar einige Zeit. Seine Beine waren verkrampft; er verzog das Gesicht, als er in die Hocke hochkam. Faolan hatte den Blick dem Hang zugewandt, spähte zwischen den Büschen hindurch. Er hatte einen Finger an die Lippen gelegt. Als er dem Blick des Galen folgte, sah Bridei, dass sie nicht mehr allein waren. Eine Gruppe von Frauen in Kapuzenumhängen bewegte sich zwischen den uralten Steinen; einige beugten sich hier und da vor, während andere weiter entfernt am Ufer des kleinen Bachs unterwegs waren. Er schloss die Augen fest und wandte sich ab. »Das Ritual ist zu Ende«, murmelte Faolan. »Du kannst beruhigt wieder hinsehen. Ich habe dich erst geweckt, als sie - 523 fertig waren. Jetzt gehen sie nur umher, sammeln Kräuter und schwatzen.« »Das hier ist falsch; es ist respektlos«, flüsterte Bridei. »Frauen insgeheim zu beobachten ... ich werde so etwas nicht tun. Warum hast du mich hergebracht? Ich will das nicht sehen.« Aber in ihm kämpfte etwas darum, gehört zu werden, etwas, das er nur recht mühsam unterdrücken konnte: Vielleicht ist sie hier, so nah... Wenn ich jetzt nicht hinschaue, wird sie vielleicht weg sein, und dann ist es zu spät... »Willst du mich etwa belügen? Ich glaube schon, dass du es sehen willst. Ich weiß nicht, welches dieser Mädchen die Freundin ist, deren Abwesenheit dich die Mauern von Banmerren anstarren ließ, als wären sie eine Verteidigungsmauer, die du stürmen musst, aber ich könnte versuchen zu raten. Ist sie ein seltenes, zierliches Geschöpf mit Haut wie Schnee und Locken so dunkel wie ein Krähenflügel?« Nun war es für Bridei unmöglich, die Augen noch länger geschlossen und den Kopf abgewandt zu halten. Er schaute hin und entdeckte sie sofort, drunten am Wasser, wo mehrere Mädchen eine blühende Pflanze pflückten und sie in ihre Binsenkörbe legten. Tuala war ein wenig von den anderen entfernt, hatte den Umhang abgelegt und ihn in der Nähe am Ufer deponiert. Sie hielt einen Zweig in ihrer kleinen Hand und starrte ihn an, als wüsste sie kaum, um was es sich handelte, als hätte sie vollkommen vergessen, was sie hier tun sollte. Ihre kohleschwarzen Locken waren dem Band entkommen und fielen wirr um ihre feinen Züge... Ihr Haar, ihr hübsches langes Haar, es war abgeschnitten, fiel ihr kaum mehr bis auf die Schultern. Wer würde so etwas tun? Es ließ sie anders aussehen, älter. Älter... Sie trug einen schlichten Rock und eine Tunika, blau wie der Umhang und mit einem grauen Gürtel. War es wirklich nur ein Jahr her, seit er sie gesehen hatte? Die Schlichtheit der Kleidung betonte nur noch deutlicher, dass sie nicht mehr das dünne Kind ihrer letzten - 524 Begegnung war. Sie war schlank und klein geblieben, aber ihre Figur hatte nun Wölbungen und ausgeprägtere Umrisse; es war ein zartes Gedicht junger Fraulichkeit. Und dennoch war es auch die alte Tuala, von den Rosenknospenlippen über die geschwungenen Brauen bis zu der Kaskade unzähmbaren seidigen Haars. Sie fiel unter diesen anderen Mädchen auf wie eine junge Eule in einem Taubenschwarm. Er musste ein leises Geräusch von sich gegeben haben. Die schwarze Krähe allein wusste, was Faolan aus seiner Miene machte. Bridei hob beide Hände, um sein Gesicht zu verbergen; in diesem Augenblick war alle Ausbildung von ihm abgefallen. Alle Selbstbeherrschung. Er fühlte sich, als zerspränge sein Herz. Er konnte sich kaum davor zurückhalten, die Deckung zu verlassen, den Hügel hinabzurennen und ... und was? Sie alle zu erschrecken? Ein noch schlimmeres Sakrileg zu begehen und die Götter bitterlich zu erzürnen? Tuala bitten, ihr Leben von Frieden und Dienst, das die Leuchtende ihr angeboten hatte, wegzuwerfen und ihm stattdessen in eine Existenz geflüsterter Verschwörungen, ununterbrochener Bewachung und Hinterhalten im Dunkeln zu folgen? »Wir müssen jetzt warten.« Faolan schob ihn zurück auf den Boden und blieb in der Hocke. »Es wäre eine Katastrophe für deine Zukunft, wenn man dich hier sähe. Wir müssen warten, bis sie weg sind. Dann werden wir reiten und uns unterhalten. Du hast Tränen vergossen. Sie ist ein bezauberndes Geschöpf, das sehe ich deutlich genug. In den Geschichten meiner Heimat tauchen viele solche Frauen auf. Sie sind ebenso schön wie gefährlich.« Bridei machte eine sehr deutliche Geste, die seine Bereitschaft anzeigte, dem Galen die Kehle durchzuschneiden, wenn er nicht augenblicklich schwieg, und Faolan lächelte und tat ihm den Gefallen. Unter ihnen, halb sichtbar durch die Büsche, suchten die Frauen ihre Sachen zusammen, griffen nach den Umhängen und machten sich in ordentlichen
- 525 Reihen auf den langen Rückweg. Gegen seinen Willen versuchte Bridei sie noch einmal zu sehen, nur noch für einen Augenblick. Tuala war am Ende der Reihe, ganz allein, obwohl die anderen in Paaren gingen. Sie drehte sich immer wieder um und schaute zurück; hob eine schlanke weiße Hand, um sich die Locken aus dem Gesicht zu streichen, aber dann fielen sie ihr abermals trotzig und wirr in die Stirn. Ihre Augen waren umschattet, als würde auch sie von ihren Träumen beunruhigt. »Rühr dich nicht«, sagte Faolan. »Lass sie gehen. Ich sehe, wie sehr du dich danach sehnst; es erklärt vieles. Lass sie ihnen folgen. Jetzt zu handeln würde dich vernichten.« Er hatte Recht. Aber das half nichts gegen den Schmerz in Brideis Herz, einen Schmerz, der sich in jedem Teil seines Körpers auszubreiten schien, ihn drängte, etwas zu unternehmen, jetzt, bevor sie für immer aus seinem Blickfeld verschwand, denn wie sollte er es ertragen, ihr so nahe zu sein und nicht mit ihr zu sprechen, sie nicht zu berühren ... Er blieb reglos stehen, während Tuala weiter bachabwärts ging und verschwand. Er wartete, und nun schloss sich dem Schmerz in seinem Herzen auch wieder das tiefe Pochen hinter seinen Schläfen an. Seine Befürchtung hatte sich bewahrheitet: Gegen diese Krankheit hatte Broichan kein Heilmittel. Schließlich stand Faolan auf und band die Pferde los. Es war sicher genug, mit dem Ritt zurück zum Hof zu beginnen. Sie ritten eine Weile ohne ein Wort. Es war Bridei, der am Ende das Schweigen brach. »War das ein weiterer Teil deiner kalkulierten Strategie? Mich vor dir zum Weinen zu bringen, damit du meine Schwäche den Herren berichten kannst, die dich bezahlen? Wusstest du, dass diese Frauen hier sein würden?« »Ja und nein«, sagte Faolan. »Ich hatte gewisse Informationen darüber, dass Fola ihre Schutzbefohlenen am ersten - 526 schönen trockenen Tag hierher bringen würde. Es gibt Rituale, die zur Vorbereitung auf den Tortag vollzogen werden müssen. Und man sagte mir, die Schülerinnen sammelten als Teil ihrer Ausbildung Kräuter hier draußen. Ich wusste nicht genau, an welchem Tag und zu welcher Zeit; hier haben sich deine Götter eingemischt. Sie spielen ein kompliziertes Spiel mit dir, Bridei.« »Warum? Welches Interesse könntest du daran haben? Das hier ist mein ganz eigenes Elend; es braucht nicht in das, was wir in Caer Pridne tun, hineingezogen zu werden.« »Nein? Ich versuche, die Ursache deiner Beschwerden zu finden. Das gehört zweifellos zu meinen Aufgaben. Ein Mann, der solch mörderische Kopfschmerzen hat, ein Mann, der immer nur kurze Zeit schlafen kann und selbst dann noch von Albträumen geplagt wird, wird irgendwann unfähig sein, die Rolle zu erfüllen, die ihn erwartet. Du sagtest mir, dass du keine Frau brauchst, dass eine solche Erleichterung dir nicht helfen würde. Was ich heute gesehen habe, legt nahe, dass du dich geirrt hast.« Bridei biss vor Zorn die Zähne zusammen. Sein Kopf dröhnte wie eine Kriegstrommel. »Sprich nicht so von ihr«, sagte er. »Du machst es billig. Sie ist meine älteste und liebste Freundin; sie steht mir näher, als jeder andere es könnte. Als ich sie zum letzten Mal sah, war sie noch ein Kind. Du siehst, was sie jetzt ist, eine Weise Frau, Tochter der Leuchtenden, berufen von der Göttin selbst. Tuala ist keine Verführerin aus dem Wald, die mich in den Untergang locken will, wie die Feen aus den Geschichten. Und sie ist auch kein gewöhnliches Geschöpf, das man sich einfach nehmen kann. Sie ist...« Er zwang sich zu schweigen. Je mehr er sagte, desto heftiger wurden die Schmerzen »Sie wurde in Broichans Haushalt aufgezogen. Deine Schwester.« »Nein. Nicht meine Schwester; wir standen einander schon immer näher als Schwester und Bruder. Mehr wie - 527 zwei Teile eines Ganzen, Kern und Hülse, Blütenblatt und Stiel, Rohr und Ried, Harfe und Saite.« Bridei erwartete eine vernichtende Bemerkung, aber es kam keine. Sie ritten schweigend weiter, bis in der Ferne die Mauern von Banmerren erneut auftauchten und auf der anderen Seite der Bucht die hoch aufragende Festung des Königs. Sie hatten sich auf Pfaden bewegt, die, wie Faolan sagte, wahrscheinlich keine Fußwege kreuzten; sie mochten ein Muster etablieren wollen, aber es waren die Spione einflussreicher Männer, die sie anziehen wollten, nicht eine Gruppe von Frauen. »Also gut«, sagte Faolan abrupt und zügelte sein Pferd. »Was willst du tun?« »Ich verstehe nicht.« »Ich bin sicher, du tust es. Hier ist das Problem: ein Mann, der in bester Verfassung sein muss, und zwar bald, weil das Schicksal des Königreiches davon abhängt. Ein Mann, der ein Problem lösen muss, bevor es ihm wieder gut geht. Ein Problem, das er nur lösen kann, wenn er gegen die Regeln verstößt. Aber er darf diese Regeln nicht brechen, damit er niemanden beleidigt: seinen Pflegevater, den Herrscher, die Götter. Also frage ich noch einmal, was willst du tun?« »Hast du etwa eine Lösung für mich? Du, der Mann, der dafür bezahlt wird, mich aus der Gefahr herauszuhalten? Der Mann, der mir auf jedem Schritt folgt?« »Gib mir einen Plan«, sagte Faolan. »Eine Strategie. Wenn ich damit einverstanden bin, werden wir es tun.« »Ein Plan. Ein Plan, den du direkt zu Broichan bringen kannst. Er ist derjenige mit den Silberstücken.« Bridei hörte die Schärfe in seiner Stimme und schämte sich, aber im Augenblick schien das das Beste zu sein, was er fertig bringen konnte.
Faolan seufzte. »Ich bin mein eigener Herr, Silberstücke oder nicht. Ein Mann muss essen, aber das braucht ihn nicht - 528 zu stumpfem Gehorsam zu verdammen. Broichan ist im Augenblick sehr beschäftigt. Der König verlangt seine volle Aufmerksamkeit. Außerdem sind Druiden nach allem, was ich gehört habe, nicht gerade Experten in Herzensangelegenheiten. Ich glaube nicht, dass wir Broichan im Augenblick etwas verraten sollten. Aber es ist mir klar, dass du diese junge Frau allein sehen musst, mit ihr sprechen, dich mit ihr hinlegen, wenn es nicht anders geht - nein, warte, das könnte alle möglichen Komplikationen mit sich bringen, also lieber nicht -, und diese Sache ein für alle Mal lösen. Dir stehen Hindernisse im Weg. Sie befindet sich hinter hohen Mauern. Sie will dich vielleicht nicht sehen; wer kennt sich schon mit Frauen aus? Du hast Feinde. Niemand außer mir darf etwas davon erfahren. Arbeite einen Plan aus, mach ihn narrensicher. Dann sag mir, was du tun willst. Es muss bald geschehen. Wir haben nicht viel Zeit.« Bridei räusperte sich. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Das hier war wahrscheinlich nur Teil einer weiteren Intrige. »Es geht nicht darum, mich mit ihr hinzulegen, wie du es so plump ausgedrückt hast«, sagte er. »Tuala ist -war - ein Kind; es ist nicht angemessen ...« »Du machst dir etwas vor«, sagte Faolan. »Schau mir in die Augen und sag mir, dass du sie da unten gesehen hast mit ihrer perlweißen Haut und ihren verträumten Augen und keine Begierde verspürtest. Was willst du? Ist es nicht am Ende ganz einfach?« Darauf gab es keine Antwort. Es war so, und auch wieder nicht. Er brauchte Tuala, wie ein junger Baum den Regen brauchte, wie Blüten die Sonne. Er sehnte sich nach ihr, wie der Lachs sich nach dem Heimatteich hoch oben in den Hügeln sehnt. Er wünschte sich ihre Nähe, wie sich ein einsames Kind einen Herzensfreund wünscht. Und er begehrte sie, wie ein Mann eine Frau begehrte. Die Intensität dieser körperlichen Begierde schockierte ihn; sie ließ sein Herz rasen. Sie konnte nicht hin und wieder seine Geliebte oder - 529 eine bequeme Mätresse sein; nicht Tuala. Er konnte sie nur als Ehefrau haben. Und das war unmöglich. Von den Einwänden, die Broichan, Aniel und die anderen aufbringen würden, einmal abgesehen, hatte Tuala selbst eine andere Entscheidung getroffen. Die Leuchtende hatte sie ihm genommen. »Ich liebe sie«, sagte er schlicht. »Mhm. Du meinst auf reine, ehrenhafte, edle Art?« »Ja. Ich nehme an, das geht über deinen Horizont.« »Zweifellos. Reiten wir; wir sollten lieber wieder nach Caer Pridne zurückkehren, solange bis zur Abenddämmerung noch ein wenig Zeit ist. Du arbeitest an deinem Plan, und ich werde mich morgen dem meinen widmen. Wenn deine Götter dich heute Nacht besuchen, bitte sie um mehr schönes Wetter. Ich habe nicht vor, in einem Unwetter auszureiten.« Es war der Morgen des Tortags. Der Mond war noch ein paar Tage von seiner strahlendsten Fülle entfernt, aber das Wetter war nass und windig; das Gesicht der Leuchtenden würde an diesem Abend nicht über Caer Pridne zu sehen sein, wenn das finsterste Ritual tief unter der Erde am Brunnen der Schatten stattfand. Bridei hatte nur wenig geschlafen; er fühlte sich wie ein angespannter Draht, jede Faser in seinem Körper schien zu kribbeln, jede Empfindung war stärker als üblich. In seinem Kopf wimmelte es von Gedanken, Ideen, unbeantworteten Fragen. Das nächstliegende Dilemma war das Ritual dieses Abends. Er hatte eine gewisse Ahnung, wie es hier am Brunnen ausgeführt wurde, er hatte das Flüstern am Hof gehört, und Wid und Erip hatten ein wenig über die Einzelheiten durchblicken lassen. Der Gedanke bewirkte, dass ihm kalt wurde bis ins Mark. Es gab alle Arten von Göttern. Den Flammenhüter liebte er mit ganzem Herzen, ein Gott des Lichts, des Mutes und der Kraft, der Männer für ihre Tapferkeit belohnte und dafür nichts Komplizierteres als Treue und Entschlossenheit verlangte. Er verehrte die Leuch- 530 tende in ihrer Schönheit und Weisheit, er achtete die Knochenmutter, wie ein Kind eine uralte Frau achtet, gleichzeitig voller Liebe und Furcht. Aber der Gott, den die Menschen an diesem Abend ehren mussten, das war etwas anderes. Was er verlangte, war erschreckend, abstoßend, eine Prüfung absoluten Gehorsams, die den Willen eines Menschen beinahe über die Grenzen der geistigen Gesundheit hinaus beanspruchte. Bridei wusste nicht, ob er in der Lage sein würde, bei diesem Ritual anwesend zu sein und die Fassung zu bewahren. Er musste es tun, es war eine weitere Prüfung. Ein Mann, der König sein wollte, konnte es sich nicht leisten, hier zu versagen. Diese anderen, Carnach, Wredech, sie hatten als auserwählte Verwandte des Königs bereits Erfahrung damit. Drust der Eber hatte das Ritual in den Tagen, bevor er sich dem Christengott zuwandte, selbst vollzogen, seine Berater, die dem alten Weg den Rücken gekehrt hatten, würden heute Abend wahrscheinlich nicht anwesend sein. Für Bridei war es das erste Mal. Als er an Broichans Tür vorbeikam, sah er den Druiden allein auf dem Boden knien, der Wand zugewandt, den Blick in die Ferne gerichtet, die Arme in einer flehentlichen Geste erhoben. Der Raum war beinahe dunkel; eine einzelne Kerze brannte und warf Broichans Schatten riesig und verzerrt auf die Steine. Bridei fühlte sich an seinen ersten Tag in Pitnochie erinnert; an seine Wahrnehmung seines Pflegevaters als riesengroß und schattenhaft, eine Präsenz voll kontrollierter Macht. Er stand eine ganze Weile in der Tür und beobachtete den Druiden. Broichan änderte diese Pose vollkommener Konzentration und Disziplin während der ganzen Zeit nicht. Schließlich ging Bridei weiter, gefolgt von dem schweigenden Garth. Er ging zu Gartnait, denn er brauchte an diesem Tag einfach schlichte Aktivitäten, die den
Körper forderten und dunkle Gedanken vertrieben: Ringen vielleicht, oder ein Übungskampf mit Stäben. Aber Gartnait war unerwartet be- 531 schäftigt. Er saß mit dem Schreiber des Königs zusammen und quälte sich mit Schreibübungen. »Tut mir Leid«, sagte Gartnait. Sein bedauerndes Grinsen passte nicht so recht zu dem Ausdruck in seinen Augen, der ungewöhnlich düster war. »Meine Mutter hat sich in den Kopf gesetzt, dass ich gewisse Lücken in meiner Bildung füllen sollte; sie hat mir einen sehr anstrengenden Stundenplan verordnet. Vielleicht habe ich später ein bisschen Zeit.« »Ich werde nach dir Ausschau halten«, sagte Bridei und zog sich zurück. Das war seltsam; Dreseida musste ihren Sohn doch gut genug kennen, um zu wissen, dass der Schreiber seine Zeit mit Gartnait nur verschwendete. Es gab Männer, die einfach nicht zum Gelehrten geboren waren. Der Erbe von Rabenbrunn war in anderen Bereichen durchaus kompetent, er war ein hervorragender Schwimmer und konnte sehr gut mit Schwert und Stab umgehen. Er war kein schlechter Reiter. Lesen und Schreiben, Geschichte und Philosophie würde er nie wirklich begreifen. Bridei brauchte nur seine Versuche, etwas von seinem Wissen mit Gartnait zu teilen, mit ähnlichen Bemühungen gegenüber Tuala zu vergleichen. Tuala saugte die Gelehrsamkeit auf, als wäre sie dafür geboren; Gartnait interessierte sich einfach nicht für diese Dinge. Wenn man sich langweilte, lernte man nichts. Es kam ihm so vor, als stünden Gartnait und dem Schreiber ein paar lange, fruchtlose Tage bevor. Faolan war nirgendwo zu finden. Es war zu feucht, um auszureiten, zu kalt, als dass sich jemand außer den Wachen auf den Wehrgängen aufhielt. Es gab außer seinem eigenen Quartier keinen halbwegs ruhigen Ort, und den Tag dort zu verbringen hätte bedeutet, die Gedanken nicht mehr von dem bevorstehenden Ritual abwenden zu können. Die schweigende, reglose Gestalt von Broichan im Nebenraum würde dagegen auch nicht helfen. Sie gingen in die Halle. Breth befand sich bereits dort, zu- 532 sammen mit ein paar anderen Männern, die Messer nach einem Holzziel warfen, einer Puppe, die ganz starrende Augen und scharlachrotes aufgemaltes Haar war: eindeutig ein Gäle. Andere drängten sich um die Feuerstelle. Männer saßen über Spielbrettern, Frauen lauschten dem Barden des Königs, der der Harfe ein klagendes Lied entlockte; andere waren tief in Gespräche versunken. Bridei hatte schnell gelernt, sich solche Gruppen anzusehen, jene zu identifizieren, mit denen er sprechen musste, und andere, die er lieber mied. Talorgen sah den Messerwerfern zu, ebenso wie Carnach, der Vetter des Königs, mehrere seiner Männer und der Berater Tharan. Aniel war nicht zu sehen; der König fühlte sich nicht wohl und würde Hilfe brauchen, um für die schwere Prüfung dieser Nacht Kraft zu sammeln. Auch von der Königin gab es keine Spur, ebenso wenig wie von ihrem Bruder. Aber unter den Männern nahe der Feuerstelle, die sich leise unterhielten, waren auch die beiden Botschafter aus Circinn. Der kaltäugige Bargoit sprach am meisten, während der ältere Fergus überwiegend zuhörte und nickte. Suibne, der Christ, lächelte liebenswert und bewegte den Fuß zur Musik der Harfe, als läge kein guter König in dieser Festung im Sterben. Bridei gestattete sich nicht, zornig zu werden. Er musste diese Situation als eine Gelegenheit betrachten, und er musste sich von dieser anderen Sache ablenken, die drohte, sogar das Ritual aus seinem Kopf zu verdrängen. Das kleine Päckchen befand sich sicher in dem Beutel an seinem Gürtel. Es hatte keine andere Botschaft gegeben, nichts außer dem, was Ana ihm in die Hand gedrückt hatte, als sie im Flur aneinander vorbeigingen, an dem Tag, als die Mädchen aus Banmerren zurückgekehrt waren. Nur dies: ein kleines Stück Tuch, gebunden mit einem grünen Band, und darin ein welkes Eichenblatt und ein runder weißer Kieselstein. Tuala war schlau. Wer außer einem Druiden oder einer weisen Frau hätte das deuten können? Wer konnte es erkennen außer einem Kind, das in einem Haushalt wie dem von Broi- 533 chan aufgewachsen war? Es nannte ihm sofort das Wann und das Wo, die er für Faolan brauchte. Bridei hatte sich sämtliche Argumente immer wieder vor Augen gehalten. Er hatte nach diesem Tag an den uralten Steinhaufen geschworen, dass er sie nicht aufsuchen würde, dass er es einfach nicht konnte. Sie wollte es nicht; es war ihre Entscheidung gewesen, nach Banmerren zu gehen. Sie würde ihm nicht antworten. Er durfte nicht an der Weisheit der Leuchtenden zweifeln. Sollte er König werden, sollte Tuala dann zustimmen, seine Frau zu werden, würde er sie zu einem Leben verdammen, das sie nur unglücklich machen konnte. Am Hof würde sie Klatsch und Flüstern ausgesetzt sein und vielleicht sogar offenem Hass. Niemand traute dem Guten Volk. Wie konnte eine von ihnen je als Königin von Fortriu akzeptiert werden? Wieder und wieder hatte Bridei sich diese Wahrheiten vor Augen geführt, aber er hatte dennoch jeden Tag mit klopfendem Herzen auf Anas Rückkehr gewartet. Sie hatte ihn mit einiger Neugier betrachtet, als sie ihm das Päckchen zusteckte. Bridei hatte sich rasch und mit einem leisen Dankeswort abgewandt; sein Herz verhielt sich sehr unzuverlässig, und er spürte das Glühen seiner Wangen. In diesem Augenblick akzeptierte er, was er schon die ganze Zeit gewusst hatte, seit er Tuala an diesem Nachmittag am Bach gesehen hatte, so ernst und liebenswert, so wunderbar verändert und dennoch so bemerkenswert sie selbst. Er musste sie sehen, ganz gleich, wie gefährlich das war. Innerhalb der Mauern von Banmerren entdeckt zu werden bedeutete, die Aussicht auf den Thron wegzuwerfen; sich auch nur dorthin zu begeben stellte bereits eine Beleidigung der Göttin dar. Er musste tun, was Faolan ihm vorgeschlagen hatte: einen Plan machen und dafür sorgen, dass er narrensicher war. Tuala hatte ihm mit dem Stein und dem Blatt die Hälfte dieses Plans bereits gegeben, mit einer Botschaft, die so klar war wie Worte: bei Vollmond an der
- 534 Eiche. Nur noch vier Tage, so bald, so bald schon würde er sie wieder sehen, und diesmal würde er sie berühren können, ihr sagen ... nein, das führte zu weit voraus. Er musste sich und Faolan zunächst einmal unbemerkt aus Caer Pridne heraus und über den Sand nach Banmerren führen, im Mondlicht. Er musste ein Seil mitnehmen. Er musste sich darauf verlassen, dass Tuala auf ihn wartete, ganz gleich, wann er eintraf. Und er konnte nicht lange bleiben. Aber er würde gehen... Er konnte jetzt nicht daran denken. Bargoit hatte seine Geschichte beendet und betrachtete Bridei, die Arme verschränkt, mit herausfordernder Miene. Neben ihm hatte Fergus, der andere Berater, eine ähnliche Pose eingenommen. Wenn sie eine Debatte wünschten, würde er sich darauf einlassen müssen. Er musste jede Begegnung nutzen, und er musste es gut machen, wenn er die Stimmen haben wollte. »Wirf Messer, wenn du willst«, murmelte er Garth zu. »Ich sollte sie lieber im Auge behalten. Es wäre möglich, dass eine Hand ein wenig zittert und etwas Scharfes im falschen Moment über das Ziel hinausfliegt. Hast du vor, mit diesem langgesichtigen Elend aus Circinn zu reden?« »Ja. Also bleib ruhig, wenn du mit mir kommst. Wir sollten zumindest so tun, als wären wir höflich.« »Gegenüber einem Mann, der die Weisen Frauen aus ihren Häusern wirft und stattdessen Fremde wie diesen Suibne dort wohnen lässt?« »Genau das, Garth. Er ist einer von uns, ob wir sein Denken nun mögen oder nicht.« »Ich werde schweigen wie ein Grab.« »Danke.« Das folgende Gespräch berührte eine ganze Reihe von Themen, ohne dass jemals die traurige Tatsache erwähnt wurde, dass Drust der Stier im Sterben lag, oder die nicht abzustreitende Wahrheit, dass Fortriu bald einen neuen König brauchen würde. Sie begannen mit neutralen Themen, spra- 535 chen über Fischen und die Jagd und über die Möglichkeiten dazu im Großen Tal und in der sanfteren Landschaft nahe dem südlichen Hof von Drust dem Eber. Circinn verfügte durchaus über Hügelland, wenn auch nichts, was es mit den hohen, kargen Gipfeln der Fünf Schwestern oder den Bergen im Westen mit ihren verschneiten Gipfeln aufnehmen konnte. Die Festung Drusts des Ebers stand auf einer uralten Anhöhe, nahe einem heiligen Hügel, der seit Urzeiten ein Ort für Pilgerreisen gewesen war - man nannte ihn die Mutter. Nun stiegen keine Weisen Frauen mehr die knochigen Flanken der Mutter hinauf, um am Tortag oder zu den Tagundnachtgleichen dort Nachtwachen zu halten. Christliche Missionare hatten dem ein Ende gemacht. Die Häuser der Göttin in Circinn waren eins nach dem anderen geschlossen, die Weisen Frauen vertrieben worden. Bridei fragte sich, ob die Menschen ihre Pilgerreisen insgeheim immer noch veranstalteten, allein oder in kleinen, verstohlenen Gruppen. Er wandte sich wieder dem Thema zu, über das sie gerade sprachen: welches Wild man an den waldigen Hängen dieser Region finden könnte. »Du bist ebenfalls ein Jäger?«, fragte Bargoit. »Ein guter Zeitvertreib für einen jungen Mann.« »Ich wurde von einem Druiden großgezogen«, sagte Bridei leise. »Ich habe in Rabenbrunn an Jagden teilgenommen. Aber alles, was ich von Tieren weiß, basiert auf dem Verständnis der Welt, die wir teilen, nicht dem Bedürfnis, sie zu verfolgen und zu jagen. In Pitnochie wurde unser Tisch vor allem mit den Produkten des Bauernhofs gedeckt. Und natürlich gab es Fisch. Die verborgenen Täler nördlich des Schlangensees beherbergen einige der besten Forellen, die je auf einem Tisch ihr Ende fanden.« »Mhm«, sagte Bargoit. »Es heißt, Morleos Land in Langwasser sei reich an Seen und Bächen. Du hast mit ihm auf Galanys Höhe gekämpft, nicht wahr? Was hältst du von ihm?« - 536 »Ich halte Morleo für einen bewundernswerten Anführer«, sagte Bridei vorsichtig; dieses Thema war komplizierter. »Offen und ehrlich, flexibel und von seinen Männern geachtet.« »Und Ged?« »Sehr beliebt. Tapfer.« »Du beschreibst Morleo als flexibel. Kein Mann, der sich so unbeirrbar an den alten Weg klammert, könnte so bezeichnet werden. Ihr lebt alle in der Vergangenheit. Kein Wunder...« Bargoit schien es sich anders überlegt zu haben und vollendete den Satz nicht. Seine plötzliche Schweigsamkeit war mehr als nur ein wenig künstlich. »Kein Wunder was?« Bridei konnte das nicht auf sich beruhen lassen. Andere lauschten: Bargoits Kollege Fergus und aus etwas größerer Entfernung der christliche Priester, Tharan, der Berater Drusts des Stiers, und der rothaarige Carnach, ein Bewerber um den Thron. »Kein Wunder, dass euer Sieg auf Galanys Höhe nicht von Dauer war«, sagte Bargoit schonungslos. »Nur ein Mann, der stets zurückschaut, würde eine solch kostspielige Geste machen. Ein ganzer Feldzug verschwendet, schwere Verluste, Heim und Hof vernachlässigt, und wofür? Die symbolische Versetzung eines Steinbrockens, auf den ein paar unverständliche Zeichen gemeißelt sind, ein Tier oder zwei, und kopflose Leichen, die in Reihen liegen? Kein Gelände gewonnen und kaum nützliche Gefangene gemacht. Ein einziger jämmerlicher Anführer, das war alles, nach dem, was ich gehört habe. So führt man keinen Krieg. Mit einer solchen Einstellung wird Fortriu die Eindringlinge nie vertreiben können. Die Galen werden das Große Tal bald schon überrennen. Sie brennen eure Häuser nieder, verwüsten eure Felder, metzeln eure Kinder nieder und bedienen sich bei euren
Frauen.« Er musste ruhig bleiben. Nicht weit entfernt stand Talorgen, der plötzlich sehr blass geworden war und aussah, als bisse er die Zähne zusammen. Bridei benutzte eines von - 537 Broichans Mustern, um ruhig zu atmen, löste die zu Fäusten geballten Hände und zwang die Kopfschmerzen in den Hintergrund. »Solche Bemerkungen faszinieren mich«, sagte er und ließ sich mit, wie er hoffte, entspannter Haltung auf einer Bank neben Bargoit nieder. »Darf ich? Setzen wir uns doch; wir wollen dieses Gespräch fortführen. Breth, kannst du jemanden bitten, uns Bier zu bringen? Nun«, er beugte sich ein wenig vor, »nach allem, was ich höre, hat Circinn seine eigenen Grenzprobleme. Ein anderer Feind, die Angeln, und weitere aus dem Süden, eine Unmenge wilder Stämme, deren Eindringen in euer Land verlangt, dass viele Bewaffnete dauerhaft in diesen Teilen des Landes stationiert werden. Ein schwerer Zoll für den Hof oder für die Fürsten, die diese Außenposten aufrechterhalten müssen. Ich möchte hier keinen kindischen Wettbewerb beginnen, indem ich dich frage, ob du ebenfalls nach Süden vorgestoßen bist und versucht hast, Gelände zurückzuerobern, das für dein Volk verloren war. Ich werde nicht fragen, ob eure eigenen Siege symbolisch oder wirklich sind. Ich sage nur, dass ein weiser Mann sich sein Reich nicht Stück um Stück ansieht, als glaubte er, einen ganzen Strand verstehen zu können, indem er sich ein einzelnes Sandkorn ansieht, oder einen gesamten Wald in einem einzelnen Blatt. Ich glaube an die alten Götter, ich stehe in jeder Hinsicht treu zu ihnen, denn sie sind die Grundlage, das schlagende Herz von Fortriu. Das bedeutet nicht, dass ich rückwärtsgewandt bin, Bargoit. Mein Blick ist nach hinten gerichtet, nach vorn und nach allen Seiten. Meine Augen sind offen für jede Gelegenheit, jede Herausforderung und jede Gefahr. Das macht mich nicht blind gegenüber Manifestationen des Geistes. Beides geht Hand in Hand; ein Mann kann kein gutes, erfülltes Leben führen, ohne den Atem der Götter in seinem Rücken, ihr Flüstern in seinem Ohr zu spüren. Du bezichtigst uns, in der Vergangenheit zu leben. Das stimmt nicht. Wir tragen die Vergangenheit in uns; sie summt in - 538 unseren Adern, sie schlägt in unseren Herzen. Sie stärkt uns auf unserem Weg nach vorn, sie trägt uns mutig in die Zukunft.« Eine Weile war es vollkommen still. Dann räusperte sich der Priester, Bruder Suibne, beinahe schüchtern. »Gut gesprochen«, sagte der Christ. »Es ist kein Wunder, dass die Männer dir folgen. Dennoch, diese Götter, von denen du sprichst, sind nichts weiter als Schatten. Wenn sie euch zu solch finsteren Taten rufen, wie eine heute Nacht hier stattfinden wird, dann sind diese Stimmen, die ihr hört, Manifestationen des Teufels, Stimmen des Bösen. Ihr müsst euch von ihnen abwenden und auf das Licht zugehen. Es gibt nur einen wahren Weg, und das ist nicht dieser mit seiner Ernte von Grausamkeit und Tod. Wie könnt ihr ...« »Seh«, zischte ein Kreis entsetzter Stimmen, und Suibne schwieg, aber nicht lange. »Eure Götter herrschen durch Angst«, sagte er. »Der Weg des einen wahren Gottes ist ein Weg der Liebe, der Vergebung, der Freude. Vertraut ihm, und ihr braucht eure dunklen Gottheiten nicht mehr mit gewaltsamen Taten zu beschwichtigen, die euch mit Unruhe erfüllen.« »Du bist hier Gast.« Das war der Berater des Königs, Tharan. Er und eine Gruppe von anderen waren während Brideis Ansprache näher gekommen, und nun sprach der scharfäugige Älteste Bruder Suibne in einem Ton an, der den mutigsten Mann zum Schweigen gebracht hätte. »Der König hat dir die Gastfreundschaft seiner Halle gewährt, wie es seine Pflicht ist, da du mit den Botschaftern von Drust dem Eber unterwegs bist. Wir akzeptieren deine Anwesenheit unter uns. Aber niemand wird zulassen, dass du unsere alten Bräuche so schamlos zu entweihen versuchst. Das bringt uns alle in Gefahr. Wenn du laut von diesem Ritual und von dem sprichst, den es ehrt, beleidigst du den Gott, und du beleidigst jeden hier, der sein Anhänger ist. Das ist das Gesetz. Wir nehmen es schon mit der Muttermilch in uns auf. Ich werde nicht - 539 wieder darüber sprechen, ich sage nur, dass du, indem du das Schweigen über diese Angelegenheit brichst, die Strafe des Gottes nicht nur über dich selbst bringst, sondern über jeden hier Anwesenden, sei er nun aus Circinn oder Fortriu. Ich hoffe, ich brauche nicht mehr zu sagen.« Suibne verfügte nicht einmal über genügend Anstand, zu erröten oder sich zu entschuldigen. Er schüttelte kurz den Kopf und berührte das Kreuz, das er an einer Schnur um den Hals trug. »Fortriu ist voller Männer, und die sind voller Worte«, stellte Bargoit fest und zog ein wenig die Brauen hoch. »Jüngere Männer, ältere Männer, uralte Männer. Alle singen das gleiche Lied. Aber das hier ist eine Zeit der Veränderung, meine Freunde. Wir im Süden begrüßen das; unser Volk wendet sich mehr und mehr dem neuen Glauben zu.« »Das ist nicht die ganze Wahrheit«, stellte Carnach, der Vetter des Königs, fest. »Mein eigenes Territorium grenzt an das nördliche Circinn. Die Geschichten, die ich höre, erzählen von Menschen, die vertrieben werden, von Weisen Frauen, die man aus den Siedlungen scheucht, Männern des Glaubens, denen alles genommen wird, was sie hatten, die man aus ihren Häusern vertreibt; uralte Gebetstätten werden verwüstet, um Platz für christliche Tempel zu machen. Das kommt mir nicht so vor, als fände unter Drust dem Eber ein friedlicher Übergang zum neuen Glauben statt. Ich würde einen solchen Mann nicht als meinen König wollen.« Dies kam einer Aussage darüber, um was es hier wirklich ging, unangenehm nahe. Drust der Stier war immer noch am Leben. In dieser Nacht würde er das Torritual vollziehen, eine Zeremonie, in der die Schatten derer, die
vorausgegangen waren, ganz in der Nähe verweilten, und die ausgestreckte Hand der Knochenmutter nur eine Haaresbreite entfernt war. »Es ist ein Fehler«, sagte Bridei, »anzunehmen, dass etwas, nur weil es alt ist, keinen Nutzen mehr hat. Wir lernen von - 540 unseren Ältesten. Wir lernen aus der Vergangenheit - wie sonst würden wir zu Weisheit gelangen? Ich verdanke meinen Lehrern viel, die mich durch Jahre meiner Kindheit begleiteten. Es waren zwei ehrenwerte Alte, lebendige Beispiele alles dessen, was an einem Mann gut ist: Weisheit, Mut, Humor, Glaube. Der alte Weg ist Herz und Seele von Fortriu. Werft das beiseite, und euch bleibt nur eine leere Hülse. Tut ihn verächtlich ab, und ihr verwandelt ein lebendiges, atmendes Land in eine leere Hülse ohne Bedeutung.« »Wie der junge Mann schon sagte«, wandte sich Berater Fergus an Bargoit, »er wurde von einem Druiden großgezogen, von keinem anderen als Broichan. Wir sollten nicht überrascht sein, wenn Bridei so etwas sagt. Ein Mann wie er denkt in Rätseln und antwortet mit Fragen. Sein Geist folgt Wegen, die weit entfernt sind von denen gewöhnlicher Menschen wie unsereinem.« »Bridei spricht nur die Wahrheiten aus, die in allen von uns ruhen.« Das kam von unerwarteter Seite: Es war der hagere Tharan, der Mann, den Aniel als gefährlich bezeichnet hatte. »Was immer unsere Differenzen sein mögen, alle wahren Männer von Fortriu verfolgen die gleichen Ziele. Wir lieben die Götter, und wir lieben dieses Land, das unserem Volk vor Urzeiten anvertraut wurde. Wir mögen nicht immer einander lieben; es liegt im Wesen der Menschen, zu debattieren und um Macht zu kämpfen. Aber trotz allem haben wir hier im Norden ein gemeinsames Ziel: den Willen der Götter zu befolgen und die Eindringlinge von unseren Ufern zu vertreiben.« »Bei eurem letzten Vorstoß hat man davon wenig bemerkt«, sagte Fergus. »Ein paar Galen getötet, ein kurzer Aufenthalt in der Siedlung auf Galanys Höhe, ein vorsichtiger Rückzug; das kann man kaum als das Vertreiben von Eindringlingen bezeichnen. Und was die alten Götter angeht, sie müssen vor Scham geweint haben, als sie sahen, wie der große Stein aus dem Boden gerissen und durchs Land ge- 541 schleppt wurde. War das keine Beleidigung eurer uralten Überlieferung? Und deine eigenen Taten entsprechen kaum dem, was du behauptest, Tharan. Wo warst du, als das geschah? Ich nehme an, hier vor der Feuerstelle in Caer Pridne, wo du dir die Finger gewärmt hast.« Die Gruppe von Männern an der Feuerstelle war nun viel größer; dieses Gespräch hatte viel Aufmerksamkeit erregt. Bridei sah auf Talorgens ehrlichen Zügen einen Ausdruck tiefster Kränkung und wachsenden Ärgers; er bemerkte das Zucken an Tharans Wange, ein Zeichen, dass auch der gefährlichste Berater in Fortriu nicht unverwundbar gegenüber Beleidigungen war. Der Vetter des Königs, Carnach, starrte die Männer aus Circinn feindselig an; Bargoit behielt seine herablassende Miene. Der christliche Priester war davon geschlendert, um der Musik zu lauschen. »Das ist ungerecht, und das weißt du auch«, sagte Bridei schlicht. Er hatte nicht erwartet, ausgerechnet Tharan verteidigen zu müssen, aber er fühlte sich gezwungen, etwas zu sagen. Fergus' Worte waren empörend und konnten nicht einfach so stehen gelassen werden. »Reitest du denn zusammen mit deinem Kollegen hier in den Kampf gegen die Angeln und beraubst damit euren König seiner wichtigsten Berater? Das bezweifle ich sehr. Tharan bleibt an Drusts Seite; die Berater des Stiers haben ihm lange und weise gedient. Ein guter Herrscher versteht, wie wichtig solche Hilfe ist, und die Wichtigkeit von Freundschaft. Es stimmt, dass Tharan, Aniel und Eogan nicht immer der gleichen Ansicht sind, aber das stärkt nur die Rolle, die sie spielen, und gestattet dem König, unterschiedliche Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen und offen für Ideen zu bleiben. Unsere Berater ziehen nicht in den Krieg; wir haben Fürsten wie Talorgen hier, die solche Unternehmen anführen, Männer, die sich mit Ausfällen, Verteidigung und den Problemen der täglichen Führung von Kriegern auskennen. Ein König wirft nicht seine gesamte Kraft an die abgelegenste - 542 Grenze des Reiches, ohne an die Aufrechterhaltung und den Schutz dessen zu denken, was mehr in seiner Nähe liegt. Was unseren eigenen Vorstoß anging, so war er alles, was er sein sollte. Talorgen hat uns ehrenvoll und entschlossen angeführt. Es lag nie in unserer Absicht, dieses Gelände zurückzuerobern, denn für ein solches Unternehmen ist die Zeit noch nicht gekommen. Wir wollten das Wasser für die Zukunft prüfen und den Feind erschrecken. Wir haben zweimal fünfzig und mehr Männer aus Dalriada getötet. Wir haben eine bedeutende Geisel genommen, die nun in Fokels Festung gefangen gehalten wird. Und was den Magierstein angeht, so stellt hier niemand die Götter in Frage. Man wird sehen, ob ihr Zorn über uns kommt, weil wir, wie du annimmst, ein Sakrileg begangen haben. Ich kann dir nur sagen, dass es uns allen so vorkam, als lächelte der Flammenhüter auf uns herab, als wir es taten. Wir spürten seine Liebe, wie wir die Wärme der Sonne spüren; seine Gunst hat uns bei Kräften gehalten und sicher nach Hause geleitet. Die Macht der Götter ist unermesslich; sie erhebt uns über die billigen Spötteleien jener, die unsere Unternehmungen und unsere Kameraden verhöhnen, deren Blut auf dem Schlachtfeld vergossen wurde.« »Das ist ja alles schön und gut«, sagte Bargoit und hob die Hände zu einer beschwichtigenden Geste. Er war nun von zornigen Männern umgeben. »Aber es fehlt deinen Argumenten ein wenig an Logik, junger Mann. Du hast zuvor in poetischen Worten gesprochen: Sandkörner, einzelne Blätter und so weiter. Wenn es so wichtig ist,
unser Land als Einheit zu betrachten, ganz und ungeteilt, dann brauchen wir doch sicher einen einzigen Herrscher, einen einzigen Hof, einen einzigen König? Einen Glauben. Wenn du das wirklich willst, junger Bridei, dann kann ich dem nur zustimmen. Wir in Circinn und Fortriu sind ein einziges Volk, auch wenn wir das hin und wieder vergessen.« »Und die Caitt«, sagte Bridei leise. »Du würdest sie zwei- 543 feilos ebenfalls in dieses geeinte Reich einbeziehen, nicht wahr?« »Die Caitt?«, zischte Fergus. »Diese Barbaren?« »Von Priteni-Blut«, sagte Talorgen, der nun hinter Bridei stand. »Du hast Logik erwähnt. Führen wir dieses Argument also zu seinem unvermeidlichen Schluss. Alles wäre eins: Fortriu und Circinn, die Hellen Inseln und das Territorium der Caitt. Einzelne Reiche, aber vereint unter einem König und einem Glauben. Das ist keine so schwierige Vorstellung. Zu Zeiten meines Vaters und zu denen deines Vaters, Bargoit, war es noch so. Die Territorien der Priteni bildeten ein einziges Königreich. Es war die Entscheidung von Drust, Sohn des Girom, die Missionare des christlichen Glaubens im Süden aufzunehmen, die unsere Heimat spalteten. Sprichst du dich nun dafür aus, dass alles wie früher wird? Dagegen werden die Männer von Fortriu keinen Widerspruch erheben.« Bargoit lächelte dünn. »Ich spreche mich nicht für so etwas aus, wie du gut genug wissen solltest. Die alten Bräuche sind aus Circinn verschwunden und werden nie wieder zurückkehren. Es gibt einen anderen Weg, einen, der uns nun offen steht, falls Fortriu sich entscheidet, sich vorwärts und nicht rückwärts zu bewegen.« »Fortriu wird sich nie gegen seine alten Götter wenden.« Bridei spürte, wie ein Schauder ihn überlief wie eine Berührung des Winters in den Knochen. »Noch lebt unser König, und wir beten zu den Göttern, ihn uns auch für die kommenden Jahre zu erhalten. Auch ich sähe unser Land gerne unter einem einzigen Anführer vereint. Tatsächlich glaube ich, dass dies unsere einzige Möglichkeit ist, die Grenzen zu sichern, sei es im Westen gegen die Galen oder im Süden gegen die Angeln. Ich glaube, dies ist der einzige Kurs für uns, wenn wir in Zeiten solcher Veränderung stark bleiben wollen. Ein solcher Anführer würde kein Mann sein, der seinen Beratern mehr vertraut, als er sollte. Er würde kein Mann - 544 sein, der Druiden und Weise Frauen vertreibt. Ein wahrer König könnte den Göttern niemals so ins Gesicht spucken. Das ist es, was ich glaube. Ein solcher Anführer wäre stark und gut, standfest in seinem Glauben und bereit, viele Opfer zu bringen, um sein Volk voller Hoffnung und Entschlossenheit vorwärts zu führen. Drust, Sohn des Wdrost, ist ein solcher Mann. Wir lieben und ehren ihn. Und er lebt noch. Das Gespräch so, wie du es hier getan hast, einer Zukunft darüber hinaus zuzuwenden, beleidigt jeden Einzelnen von uns. Aber ihr seid seine Gäste. Also biete ich euch einen Becher Bier an und schlage vor, dass wir nun über andere Dinge sprechen. Wir haben, wenn ich mich recht erinnere, mit einem Gespräch über das Fischen begonnen. Das war nicht nur respektvoll gegenüber unserem Gastgeber, sondern auch erheblich sicherer. Wer hat in der letzten Zeit einen guten Fang gemacht?« Die Männer aus Fortriu lachten. Es war ein geschickter Zug, und sie begannen rasch ein lebhaftes Gespräch über die Größe und Qualität der Forellen, die man in den unterschiedlichen Seen fand, und welche Köder die besten waren. Bargoit hatte die Lippen fest zusammengepresst und trug nichts dazu bei. »Gut gemacht«, murmelte Talorgen Bridei eine Weile später ins Ohr, als sie sich der Menge ein wenig entzogen hatten. »Du hast recht schnell eine ganze Anzahl von Zielen erreicht, darunter eines, das mich überraschte. Du hast Tharan dazu gebracht, dir öffentlich zuzustimmen. Damit können wir arbeiten.« Bridei nickte, aber plötzlich fühlte er sich müde. In einer Hinsicht hatte Talorgen Recht; man sollte nicht aus dem Blickfeld verlieren, was hier zu gewinnen und was zu verlieren war, wenn er etwas falsch machte. Diese Männer waren mächtig. Bei der Auswahl eines Kandidaten für den Thron waren ihre Stimmen diejenigen, die zählten. Und dennoch, als er gerade gesprochen hatte, hatte Bridei vergessen, - 545 wie viel davon abhing, dass er die richtigen Worte, den richtigen Ton fand. Er hatte nicht mehr an seine eigene Zukunft gedacht, nur noch daran, diesen Männern zu sagen, was er dachte und empfand. Talorgen hatte ihn falsch eingeschätzt, wenn er glaubte, es habe sich um eine berechnete Bitte um Unterstützung gehandelt. »Tharan hat aus Liebe zu Fortriu gesprochen«, sagte er. »Ebenso wie Carnach. Zumindest darüber sind sich die Männer aus dem Norden einig.« »Aber der Süden hat gute Zahlen«, erinnerte Talorgen ihn. »Circinn wird zwölf Fürsten zur Abstimmung schicken, wenn der Tag gekommen ist. Sie haben einen gesamten Mond, um hierher zu gelangen. Wenn wir nicht für besonders schlechtes Wetter beten wollen, werden wahrscheinlich alle anwesend sein. Wir müssen solide Arbeit leisten, oder Fortriu kann ihnen keine einheitliche Front entgegenstellen. Wir müssen uns auf einen einzigen Kandidaten einigen. Und das wird noch viel Arbeit kosten. Du siehst müde aus, Bridei.« »Wenn ich unter diesen Männern weile, kommt es mir beinahe leicht vor«, sagte Bridei, »als flüsterten mir die Götter zu, was ich sagen soll. Wenn ich danach allein bin, fällt mir wieder ein, dass ich nur ein einzelner Mann bin. Dass es andere würdige Bewerber gibt, die bereit sind, sich gegen mich zu stellen. Dass ich in den Augen dieser Anführer jung und unerprobt bin, ein Niemand. Ihr habt viel Zutrauen in mich investiert, du, deine Freunde, und Broichan ganz besonders. Ich möchte euch nicht enttäuschen. Und vor allem möchte ich die Götter nicht enttäuschen.«
Talorgen sah ihn neugierig an. »Wenn wir angenommen hätten, dass du das tun würdest, Bridei, hätten wir diese Sache nicht weiter verfolgt. Es kommt mir so vor, dass wir näher an unserem Ziel sind, als wir bisher angenommen hatten.« »Ja. Ich habe gehört, dass die Gesundheit des Königs immer schlechter wird.« »Drust wird nicht mehr lange bei uns sein. Aniel befindet sich heute an seiner Seite, zusammen mit der Königin. Die - 546 Götter sind gnädig; sie lassen zu, dass unser König das Ritual noch ein letztes Mall vollführt, und dann werden sie ihn, glaube ich, zu sich rufen. Uns steht ein kalter Winter bevor.« Bridei schwieg. Er dachte an den tiefen Brunnen, kälter als jeder Winter, und an die Stimme des dunklen Gottes, die ihn rief. »Er wird die Zeremonie überstehen«, sagte Talorgen. »Drust hat einen starken Willen. Aber es wird ihn sehr erschöpfen. Bist du bereit, Bridei?« »Ich muss bereit sein.« Talorgen nickte. »Selbst Broichan fürchtet es. Aber es muss geschehen. Es ist ein Teil dessen, was wir sind, eine Finsternis, die wir anerkennen müssen. Du solltest dich ausruhen. Uns steht eine lange Nacht bevor.« - 547 KAPITEL VIERZEHN De Sonne hatte ihr Gesicht den ganzen Tag nicht gezeigt. Tief hängende Wolken zogen sich von Norden nach Süden, von Osten nach Westen, die Bäuche schwer von Regen. Hin und wieder erleichterten sie sich, ließen eine prasselnde Flut auf die Dächer von Banmerren fallen, einen donnernden Guss, der von den Strohdächern floss und sich in Hunderten kleiner Bäche verlor, die sich durch den durchnässten Garten zogen, wo selbst die Enten unter einem Busch Schutz gesucht hatten. Innerhalb der Mauern schien der Tag nie richtig hell zu werden, und als die Sonne schließlich irgendwo hinter den Wolken unterging, wurde es sofort dunkel, als wäre der geheime Gott ungeduldig zu erhalten, was ihm zustand. Die Eiche war beinahe kahl; Regen sammelte sich in den Senken zwischen ihren offen liegenden Wurzeln. Das Licht von Kethras Öllampe fiel auf Blätterhaufen, goldgelb, rostrot, nussbraun, die nun alle in der Nässe die gemeinsame Farbe üppigen Verfalls annahmen, als die Erde sie wieder beanspruchte, um den Wuchs der nächsten Jahreszeit zu nähren. Die Stimme des Regens übertönte alles andere. Tuala folgte der älteren Frau über den überdachten Laufgang und ins Hauptgebäude, wo im Hauptraum ein Feuer flackernd brannte, als wäre es sich der Macht dieser Fluten nur allzu bewusst. Das Feuer würde vor dem Ritual gelöscht werden; - 549 die Präsenzen, die dieser Zeremonie beiwohnten, mieden das Licht. Es war still im Haus. Der Lärm des Regens verklang von ohrenbetäubendem Tosen zu einem fernen Grollen, als sie die Tür hinter sich schlössen. Die Mädchen, die jede Gelegenheit schätzten, zusammenzusitzen, von zu Hause und von Freundinnen zu sprechen und unzählige kleine Geheimnisse miteinander zu teilen, die sie für solche Zeiten aufgespart hatten, waren an diesem Abend ungewöhnlich ernst. Vor dem Abend hatten sie zugesehen, wie Fola, den mit einer Kapuze bedeckten Kopf gegen den Regen gebeugt und gefolgt von einer Prozession ebenfalls in Umhänge gehüllter Frauen, Banmerren verlassen und sich auf den Weg nach Caer Pridne gemacht hatte. Man flüsterte, dass Fola das Torfest nicht mochte. Es hieß, die Weise Frau führte Rituale lieber an Orten durch, die der Göttin heilig waren: innerhalb der schützenden Mauern von Banmerren, auf dem weiten Strand oder in der geheimen Senke mit den drei Steinhaufen. Nicht in Caer Pridne, einem Reich der Männer, der Macht und der uralten Dunkelheit. Und schon gar nicht diese Zeremonie, bei der der Anteil der Frauen gleichzeitig seltenstes Privileg und tiefste Schande darstellte. Aber Fola gehorchte den Göttern. Sie gehorchte ihnen allen, selbst dem, der nicht genannt werden durfte. Also führte sie ihre Frauen nach draußen, alle Priesterinnen bis auf Kethra, die zurückbleiben würde, um auf die jüngeren Mädchen aufzupassen; alle grün gekleideten Älteren wie die Historikerin Derila und ihre Altersgenossinnen. Keine von den Jüngeren; wer noch ein blaues Gewand trug, durfte nichts weiter über dieses Ritual erfahren und ganz bestimmt nicht bei seiner Durchführung anwesend sein. Odha hatte Kethra zuvor danach gefragt. »Warum dürfen wir nicht mitgehen? Immerhin sind wir hier, um zu lernen. Und wir wollen Caer Pridne sehen, die Stiersteine und den Hof des Königs und alles.« - 550 Kethras Miene hatte sich verändert; jeder einzelne Teil ihres Gesichts schien sich anzuspannen. »Das ist mehr als dumm, Odha. Du solltest vor der Leuchtenden niederknien und ihr aus der Tiefe deines Herzens dafür danken, dass du heute Nacht nicht dort anwesend sein musst. Deine Zeit wird kommen. Immer vorausgesetzt, wir schicken dich nicht für deine Dummheit nach Hause zurück, bevor du dein grünes Gewand auch nur annähernd verdient hast.« »Aber...« »Kein Wort mehr.« Nun sammelten sie sich vor der Feuerstelle. Keine sagte ein Wort. Sie lauschten dem Regen, vermieden es, einander anzusehen, und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Tuala hatte die Tornacht allein in ihrem Turm verbringen und an Bridei denken wollen, während er Zeuge des Rituals war, und ihm bei dieser dunkelsten aller
Prüfungen Kraft und Entschlossenheit wünschen. Aber Kethra hatte sie ins Haus geholt. Es war kalt im Turm, und das Dach war undicht. Tuala musste sich den anderen anschließen; sie würden gemeinsam wachen. Die Mädchen waren selbstverständlich mit dem Tortag vertraut. Jeder Haushalt in Fortriu, jede Siedlung, jede Gemeinde hielt an diesem Tag Rituale ab. Man ehrte die Knochenmutter, Lichter wurden gelöscht, die Geister der Verstorbenen willkommen geheißen; kalte, wirbelnde Zugluft stand für den Spiralentanz dieser Schatten zwischen den Lebenden, hinter ihnen, vor ihnen, um sie herum, wo sie hier eine Wange oder Hand mit eisigen Fingern berührten, dort einen zitternden Mund mit frostigen Lippen. Broichan hatte dem Gott immer ein Tier geopfert, für gewöhnlich ein Herbstlamm oder ein Huhn. Als Tuala zum ersten Mal lange hatte aufbleiben dürfen, um an dem Ritual teilzunehmen, hatte Bridei ihr geraten, die Finger in die Ohren zu stecken und die Augen zu schließen, wenn es zu diesem Teil kam, aber sie hatte hingesehen und sich dann gewünscht, sie hät- 551 te es nicht getan. Nach dem Opfer gab es Gebete, man teilte die rituellen Speisen und zündete die einzelne Kerze an: neue Hoffnung flackerte auf, der Weg nach vorn war immer noch wunderbarerweise beleuchtet, selbst in einer Zeit von Dunkelheit und Tod. Tuala verstand das, sie hatte es selbst als kleines Kind verstanden. Die Eiche schlief; kein Zeichen von Grün, keine Spur von Leben außer in den tiefen, trägen Geschichten in ihrem Herzen, der seltsamen und wunderbaren Verwandlung von welkem Laub in üppigen Boden, der ihr verborgenes Wachstum nährte. Ebenso ruhten Männer und Frauen, während der Weg vor ihnen sich irgendwo in dem geheimen Irrgarten ihrer Träume neu bildete. So wurde das Torfest in Pitnochie, in Rabenbrunn und in jedem Teil von Fortriu begangen. In Caer Pridne ging es anders zu. Auf der Landspitze, auf der sich die Festung des Königs befand, gab es einen tiefen Ort in der Erde, eine dunkle Höhle, die dem ältesten Gott geweiht war, ihm, dessen Name nicht ausgesprochen wurde, so gefürchtet war er bei den Priteni. Zahllose Zeitalter waren die Könige von Fortriu am Tortag zum Brunnen der Schatten gezogen, um das Ritual auszuführen, das diese Gottheit forderte. Es war notwendig; die Geschichte hatte das aufs Grausamste bewiesen. Wid und Erip hatten Tuala von einem Herrscher erzählt, der sich nicht überwinden konnte, es durchzuführen; unter seinem Befehl war der Brunnen versiegelt, der Weg verschlossen worden. Zunächst schien sich nichts zu ändern. Dann kamen Jahreszeiten der Finsternis: drei Jahre ohne Sommer. Ein Dunst hatte Tag und Nacht den Himmel verhüllt; der Flammenhüter war klein und blass gewesen, hatte kaum Licht und noch weniger Wärme gesendet. Die Leuchtende hatte sich hinter ihren Schleier zurückgezogen und sich geweigert, auf dieses ungehorsame Land hinabzuschauen. Ernten missrieten, noch bevor sich die Pflanzen eine Handspanne weit aus dem Boden erheben konnten, Hunger und Krankheit verwüsteten Fortriu. Men- 552 sehen starben zu Tausenden, und die Überlebenden verloren vor Gier nach Essen und Licht beinahe den Verstand. Sie warfen sich in ihrer Verzweiflung zu Boden und flehten die Götter um ihre Gnade an. Im vierten Jahr der Dunkelheit brachte die Knochenmutter den König selbst hinter den Schleier, und die Fürsten von Fortriu wählten einen neuen Herrscher. An diesem Tortag sammelten sich die Männer von Caer Pridne erneut am Brunnen der Schatten, und die Zeremonie wurde in ihrer uralten Form abgehalten. Die Sommer kehrten zurück. Die Priteni brauchten lange, bis sie sich von dieser Zeit der Finsternis erholt hatten; wie kann man das Entsetzen, dauerhaft im Schatten leben zu müssen, ertragen? Es gab immer noch alte Männer und Frauen, die sich an diese Zeit erinnerten. Im Süden, hinter dem römischen Wall, hatte die Geißel das Land sogar noch länger heimgesucht, denn der Dunkelheit waren Seuchen gefolgt, und die wenigen, die die Jahre des Hungers und der Krankheit überlebten, hatten weder die Kraft noch den Willen, mit der schweren Arbeit zu beginnen, Ödland wieder in fruchtbares Bauernland und gesunde Weiden zu verwandeln. Tuala wusste, dass die Form des Rituals viel mit der Version, die Broichan zu Hause vollzogen hatte, gemeinsam haben würde. Aber es würde auch anders sein: Am Ritual des Königs nahmen nur Männer teil, und was genau geschah, war geheim. Die weisen Frauen von Banmerren gingen nicht hinunter zum Brunnen. Sie mussten eine bestimmte Pflicht erfüllen, und wenn das geschehen war, hielten sie am Strand unterhalb der Festung Wache bis zum Sonnenaufgang. Das würde in dieser Nacht besonders schwer sein; die Leuchtende hatte sich verhüllt, vielleicht in Scham über das, was getan werden musste, um den Ältesten der Götter zufrieden zu stellen. Die Frauen würden frieren und durchnässt sein, wenn sie nach Hause zurückkehrten. Und sie würden traurig sein. Wie wäre es anders auch möglich? - 553 Tuala starrte ins Feuer. Sie fragte sich, ob die anderen wirklich nicht wussten, was in dieser Nacht geschehen würde, oder ob sie nur so taten, weil es zu schwer zu akzeptieren war. Erip und Wid hatten ihr im Lauf der Jahre genügend Hinweise gegeben. Was Tuala nicht wusste, konnte sie sich zusammenreimen. Dieses bleiche Mädchen mit den seltsamen Augen, Morna, war Fola und den anderen gefolgt, in Umhang und Kapuze in Grau, als wäre sie bereits eine Priesterin, aber das war unmöglich; Morna war viel zu jung und erst ein Jahr oder so in Banmerren gewesen. Und Morna hatte sich seltsam bewegt, als ginge sie im Kopf nicht einen schlammigen Pfad unter grauem Himmel einher, sondern auf einem ganz anderen Weg, einem, den sie nur mit Göttern und Geistern teilte. Es wurde spät; das Feuer kämpfte angestrengt darum, weiterzubrennen. Keines der Mädchen bat darum, sich in sein Bett zurückziehen zu dürfen. In dieser Nacht gab es zu viele dunkle Ecken in den Schlafräumen, zu viele
seltsam geformte Schatten. Aber eine nach der anderen lehnten sich die jungen Frauen gegen die Wand, legten die Köpfe auf den Tisch oder streckten sich auf Bänken aus und schliefen ein. Als die Zeit für das Ritual näher kam, waren nur Kethra und Tuala noch wach, zu beiden Seiten der Feuerstelle sitzend. »Tuala?« »Ja?« »Ich habe beobachtet, wie du den Blick angewandt hast; ich habe die Kraft der Bilder gesehen, die du heraufbeschwörst. Warum setzt du diese Begabung nicht häufiger ein? Als ich dich aus meiner Klasse befreite, hatte ich gehofft, erleben zu können, wie du aufblühst. Ich hatte gehofft, dass Fola und ich dir beibringen könnten, deine Begabung zum besten Nutzen einzusetzen. Aber ich habe dich seit diesem ersten Mal nie wieder mit einer Schale gesehen.« »Ich denke, es könnte ... gefährlich sein. Was ich sehe, verstört mich oft.« - 554 »Das Auge des Geistes öffnet sich nicht, damit die Seherin getröstet wird, sondern damit sie etwas lernen kann«, sagte Kethra. »Man erwartet, verstört zu werden; man akzeptiert eine körperliche und geistige Erschöpfung nach solchen Visionen. Vor dem Benutzen deiner Begabung zurückzuschrecken, besonders wenn sie so stark ist, kommt mir wie eine Verhöhnung der Wünsche der Göttin vor. Und du bist als ihre Dienerin hier in Banmerren. Gehorcht eine gute Tochter von Fortriu der Leuchtenden nicht in allen Dingen?« Tuala schwieg. »Sag mir eins.« Kethra beugte sich vor, die Ellbogen auf den Knien; das Feuerlicht zeigte den fragenden Ausdruck in ihren Augen, die kleinen Falten um ihren Mund, das streng gebändigte Haar. »Kannst du heraufbeschwören, was immer du im Wasser sehen willst? Kannst du deine Begabung in solchem Ausmaß beherrschen? Wenn du es wolltest, könntest du jetzt sehen, was an diesem dunklen, geheimen Ort in Caer Pridne geschieht?« Plötzlich wurde Tuala ausgesprochen kalt; es war, als stünde sie selbst am Rande des Brunnens der Schatten, als schwankte sie unsicher über einem Rechteck dunklen Wassers. »Manchmal kann ich es lenken«, flüsterte sie. »Manchmal schickt mir die Göttin auch andere Bilder. Ich denke, wenn ich heute Nacht hinsehen würde, würde ich genau das erblicken. Den König. Den Brunnen. Aber es ist einer Frau verboten, an dem Ritual teilzunehmen.« »Wir würden nicht teilnehmen«, sagte Kethra leise. »Uns würde nur ein Abbild gewährt, das der Wirklichkeit in gewissem Maße gleicht. Bist du im Stande, eine andere in deine Vision zu ziehen? Die Vision zu teilen?« »Das weiß ich nicht.« Tuala schauderte. Kethras Vorschlag erschreckte sie; aber noch erschreckender war zu erkennen, dass sie genau das hatte tun wollen, dass sie es tun musste, damit sie diese dunkle Zeit mit Bridei teilen konnte, Schritt um Schritt, Atemzug um Atemzug. - 555 »Wenn wir uns an den Händen fassen«, sagte Kethra, »und beide unseren Willen konzentrieren, würde die Göttin uns vielleicht die gleiche Vision gewähren. Du verfügst über eine starke natürliche Begabung. Ich bin in diesem Handwerk geübt und habe die Möglichkeit, das, was geschieht, in Schach zu halten. Zusammen könnten wir es schaffen.« Tuala starrte sie an. Kethra war eine Weise Frau. Sie musste wissen, dass es verboten war. Es unterschied sich nur wenig davon, an dem geheimen Ritual selbst teilzunehmen -etwas, das keine Frau tun durfte. Dieses Ritual zu beobachten, bedeutete die Götter zu erzürnen und schreckliche Vergeltung herauszufordern. Und dennoch wollte sie es tun. Ihr Bedürfnis danach wurde stärker, je mehr sie daran dachte. Bridei war dort. Wenn sie es tat, würde sie ihn sofort sehen können. Sie konnte ihn in ihren Gedanken beschützen, während er ertragen musste, was geschah. »Fola würde das nicht gutheißen«, sagte sie. »Fola wäre im Lauf der Zeit auch noch dazu gekommen.« Kethras Stimme war leise, um die schlafenden Schülerinnen nicht zu wecken, aber voller Selbstvertrauen. »Deine Fähigkeiten faszinieren sie. Sie hat dich, wie ich annehme, weniger deshalb hierher gebracht, weil wir dir etwas beibringen könnten, sondern weil du uns Fähigkeiten vermitteln könntest. Glaub mir, wenn Fola diese Nacht nicht zitternd am Strand verbringen müsste, wäre sie hier bei uns und würde mit uns in die Schale schauen. Wirst du es tun? Es muss beinahe Zeit sein.« Tuala schwieg und erhob sich einfach ebenfalls, als Kethra aufstand, und sie ging, um einen Krug Wasser zu holen, während ihre Lehrerin die Bronzeschale vorbereitete. Das Wasser wirbelte herum und beruhigte sich dann wieder. Tuala nahm über den Tisch hinweg Kethras Hände, sodass sie einander gegenüberstanden, die Schale zwischen sich, und gemeinsam senkten sie die Köpfe über die Oberfläche. - 556 pas Feuer war beinahe ausgebrannt, der Raum so gut wie dunkel. Eine einzelne Kerze brannte; die Gesichter der schlafenden Mädchen waren bleiche Ovale in den Schatten. Tuala spürte, wie ihr Herzschlag langsamer wurde, ihr Atem ruhig. Dann rief die Göttin sie und zog sie hinab in die Dunkelheit. Eine Prozession; die Weisen Frauen, die sich Caer Pridne näherten. Der Regen zog sich nun zurück. Fola mit ihrem silberweißen Haar, das ihr offen auf den Rücken fiel. Eine andere Frau ging neben ihr. Nein, keine Frau, ein Mädchen, ein bleiches Mädchen mit leerem Blick, braunen Locken bis zur Taille und einem makellosen Gewand aus weißestem Leinen unter dem grauen Umhang einer Weisen Frau. Morna: die Schülerin, die plötzlich aus dem Unterricht verschwunden und nur noch hier und da als Schatten zu sehen gewesen war, das
Mädchen, dessen Augen offenbar nur Träume sahen. An ihrer Seite war Luthana, die Expertin für Kräuterkunde, die lange Tage mit Graben, dem Beschneiden von Pflanzen und Arbeit an dampfenden Kesseln verbrachte. Sie erreichten die Eisentore von Caer Pridne; Tuala konnte die Stiersteine zu beiden Seiten des Wegs sehen, beeindruckende Platten, auf denen das Bild des Tiers sich schwach im Fackellicht zeigte. Vielleicht hatte Garvan diese schönen Bilder geschaffen, Garvan, den sie nicht mit ihrer Geschichte von Begierde und Selbstbeherrschung hatte überraschen können, Garvan, dessen Frau sie nun wäre, hätte sie sich nicht für den Weg der Leuchtenden entschieden. Sie warteten schweigend; Morna stand still und blass zwischen den beiden älteren Frauen, und die anderen Priesterinnen aus Banmerren hatten sich hinter ihnen in Paaren aufgestellt, die Kapuzen zurückgestreift, die Hände vor der Brust gefaltet. Fola und Luthana nahmen diese Pose nicht ein, sondern griffen jeweils nach einem von Mornas schmalen Handgelenken, als könnte das Mädchen davonschwe- 557 ben, wenn sie nicht auf diese Art verankert wurde. Morna starrte geradeaus durch die Tore. Tuala dachte, eine blinde Frau würde auf die gleiche Weise starren, unwissend, ob das, was vor ihr lag, schön oder jämmerlich war, ein Gegenstand des Staunens oder des Entsetzens. Kethras Griff um Tualas Hände wurde fester. Tuala war es gewohnt, ihre Visionen allein zu suchen; es in Gegenwart einer anderen Person außer Bridei zu tun, war ihr immer vollkommen falsch erschienen. Als das Gute Volk ihr am Dunklen Spiegel über die Schulter geschaut hatte, war sie darüber verärgert gewesen. Heute jedoch hieß sie den Trost von Kethras Anwesenheit willkommen, die warme Wirklichkeit ihrer Berührung. Im Wasser schien Zeit zu vergehen; die Wolken wirbelten und brodelten am dunklen Himmel. Es regnete, aber die Frauen setzten die Kapuzen nicht wieder auf. Schließlich erschienen Männer am Tor, eine Reihe von Kriegern in Zweiergruppen, und an der Spitze befanden sich drei, die in schwarze Gewänder gehüllt waren: Broichan in der Mitte, das feuchte Haar zu den vielen kleinen Zöpfen eines Druiden geflochten, die Augen umschattete Höhlen in einem Gesicht, das im unsicheren Licht des verhüllten Mondes und der spuckenden Fackeln wie ein Totenschädel wirkte. Rechts von ihm stand ein hagerer grauhaariger Mann mit schmalen Lippen und scharfen Augen. Links von Broichan befand sich ein höher gewachsener Mann, der finster und hart aussah. Zwei Wachen zogen die eisernen Riegel zurück und rissen die großen Tore auf. Worte wurden gewechselt: Broichan sagte etwas, Fola antwortete. Eine festgeschriebene Abfolge von Fragen und Antworten. Mit dem Ohr des Geistes und ihrem Wissen über Rituale spürte Tuala ihre Bedeutung. Warum kommst du her? Um zu flicken, was zerbrochen wurde. Um zurückzugeben, was genommen wurde. Um uns neu zu verpflichten. - 558 Was bietest du an? Reinheit. Gehorsam. Opfer. Das Aufgehen des Ich in der Essenz des Gottes. Ist dies ein makelloses Opfer? Es ist makellos. Fola senkte den Kopf. Es ist ganz. Das war Luthana, die mit diesen Worten Mornas Hand losließ und davonging, zum hinteren Ende der Reihe. Nach und nach traten alle Frauen aus Banmerren vor und sagten etwas zu dem Druiden; zu dem dunklen Gott, dessen Vertreter Broichan in dieser Nacht sein musste. Es ist rein. Es ist voller Licht. Es ist vollständig. Es ist willig. Es ist voll frischer Jugend. Es ist gehorsam. Es ist weise. Jede Frau sprach und zog sich zurück, bis nur noch Morna dort stand, schweigend, reglos, und Fola, klein und aufrecht an ihrer Seite. Dann zog Fola den Umhang von den schmalen Schultern des Mädchens, und Morna stand in ihrem Gewand aus reinstem Weiß vor den Männern, eine schlanke, zerbrechliche Gestalt im Fackellicht. Trotz des Regens und der Winterkälte blieb sie vollkommen reglos. Es ist makellos, sagte Fola abermals und trat vor Morna. Fola war eine kleine Frau; sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um das Gesicht des Mädchens zu erreichen. Die Weise Frau küsste Morna auf die Stirn ein förmlicher Abschiedsgruß -, dann ließ sie sie los und ging davon. Mornas Züge blieben ungerührt; sie wandelte in einer anderen Welt. Es ist gut, sagte Broichan, trat vor und berührte das Mädchen an der Schulter. In Mornas Augen gab es kein Flackern, kein Erkennen der Veränderung. Dann ging Morna durch die Tore von Caer Pridne, folgte dem Druiden auf dem Fuß, und - 559 die Tore schlössen sich hinter ihr, und Fola und die Weisen Frauen blieben draußen. Tuala holte bebend Luft und spürte mehr als sie sah, dass Kethra das Gleiche tat. Das Wasser bewegte sich und wurde wieder still. Die Weisen Frauen waren nun am Strand, und ihre Umhänge wurden vom stärker werdenden Wind um sie
herumgewirbelt, was sie wie Vögel, Fledermäuse oder Geschöpfe aus einem verborgenen Teil des Waldes aussehen ließ, Manifestationen der schwarzen Krähe, die nicht ganz das eine waren und nicht ganz das andere. Fola führte sie in einen Kreis. Kein Ritual, keine Grüße, Gebete oder Anrufungen der Elemente. Sie standen nun schweigend da. Sie berührten einander nicht, wie stehende Steine auf einer schattigen Ebene, wie ein Hain kleiner Bäume in einem geheimen Tal. Der Wind peitschte den Sand um sie her auf, er zerzauste ihr langes Haar, grau, weiß, rötlich braun, blond; er zupfte an ihrer Kleidung und ließ sie frieren. Salzige Gischt folgte dem Sand; Regen fiel auf sie, vermischte sich mit ihren Tränen. Selbst Fola weinte, konnte Tuala sehen. Sie regten sich nicht. Sie würden auf diese Weise Wache halten bis zum Morgen. Das Bild veränderte sich; das Wasser in der Schale wurde dunkel und blieb einige Zeit so. Das einzige Licht war die Reflexion der Kerze, die in der Zugluft um Beständigkeit kämpfte. Leise war das regelmäßige Atmen der schlafenden Mädchen zu hören; ein tröstliches Geräusch. Ein helles Schimmern auf dem Wasser: Mornas weißes Gewand, ihr weißeres Gesicht. Ihre Trance, was immer sie bewirkt haben mochte - Gebet, Fasten, Kräuter, lange Einsamkeit, angestrengte Vorbereitung -, dauerte an. Eine Prozession wand ihren Weg rund um Caer Pridne und in die Festung des Königs, nun keine bloße Reihe von Kriegern mehr, sondern eine großartigere Versammlung, obwohl es nur wenige Fackeln gab. Dieser Gott liebte Dunkelheit; die - 560 Männer hatten nur genügend Licht mitgenommen, um ihre Füße sicher aufsetzen zu können. Morna bewegte sich zwischen ihnen wie ein Gespenst, gefolgt von der dunklen Gestalt des Druiden des Königs. Sie gingen auf einem spiralförmigen Weg, folgten den Mauergängen und stiegen die steilen Treppen von einer Ebene zur anderen hinauf. Als sie einen oberen Hof erreichten, bildeten die Krieger einen großen Kreis, mit dem weiß gewandeten Mädchen und dem Druiden in der Mitte. Ein tiefes Hörn erklang; Tuala hätte nicht sagen können, ob der Laut nur in ihrem Geist ertönte oder auf dem heftigen Wind den ganzen Weg von der Festung des Königs über die Bucht hinweg zu dem geschützten Haus von Banmerren getragen wurde. Es war ein Geräusch wie der gequälte Aufschrei eines riesigen verwundeten Tiers. Türen öffneten sich; eine Gruppe von Männern erschien aus dem Inneren der Festung. Auch sie waren dunkel gekleidet, und alle sahen ernst und feierlich aus. Einer fiel sofort auf: Das musste der König sein, obwohl er weder Silberreif noch goldenen Halsring trug, keine Edelsteine und keinen anderen Schmuck, sondern das gleiche dunkle Gewand wie alle anderen. Es war sein Gesicht, ein hageres, graues Gesicht, die Augen glänzend vor Schmerz, der Mund streng von der Disziplin, die Züge voller Autorität, selbst jetzt, als sie so starr waren, dass es einer Totenmaske gleichkam. Drusts Willenskraft war beeindruckend. Er starrte über den Hof hinweg zu dem wartenden Broichan hin, und der Druide sank auf die Knie. Alle Männer folgten; jeder Kopf wurde gesenkt. Es war ein Augenblick voller Mut; eine Demonstration wahren Königtums. Einige Zeit danach zeigte das Wasser nur kurze Einblicke. Man sah Fola, Derila, Luthana, die immer noch finster im peitschenden Wind und der nagenden Kälte der Nacht standen. Man sah die Männer, die sich wieder in Bewegung gesetzt hatten, über die Hügelkuppe und einen engen, geheimen Weg entlang. Nur wenige gingen weiter, als der Weg - 561 schmaler wurde und tief ins Herz des Hügels schnitt. Tuala konnte ihre Gesichter sehen, eins nach dem anderen im Licht einer Fackel oben an einer unmöglich steilen Treppe, die direkt in die Eingeweide der Erde zu führen schien. Da war der König, stoisch und willensstark, der Schmerz deutlich in sein Gesicht geschrieben. Seine Berater folgten. Dann kam Broichan, das Gesicht eine Maske, und Morna mit ihrem weißen Gewand und den blicklosen Augen. Vielleicht wusste sie nichts, verstand nichts; vielleicht wusste sie alles, verstand und akzeptierte es, bewegte sich nun in einem Reich, in dem die Leuchtende ihren Gehorsam lobte und die Knochenmutter ihr die Arme in einem Versprechen von Frieden entgegenstreckte. Sie mussten hoffen, wünschen, beten, dass dem so war. Andere Männer folgten, ein Hochgewachsener mit rotem Haar, ein paar andere, Talorgen und sein Sohn unter ihnen. Und Bridei, dort war Bridei in einem langen, dunklen Gewand, das Haar offen auf den Schultern und ein schmales grünes Band ums Handgelenk. Danach konnte Tuala nichts anderes mehr sehen. Sie wollte ihn unbedingt in Gedanken erreichen, wollte ihn mit ihrer Liebe umhüllen. Er hatte Kopfschmerzen, das erkannte sie an der Art, wie er die Lippen aufeinander presste, wie er die Hand hob, um den hohen Wall zu berühren, als sie durch den eingesunkenen Weg gingen, an der Falte zwischen seinen Brauen. Er hatte zu wenig geschlafen; dunkle Schatten hingen unter seinen Augen, und er war dünner geworden. Dennoch hielt er sich aufrecht und ließ seine Gedanken nicht schweifen, sondern beobachtete die anderen: den König, die Berater, Broichan. Besonders Broichan. Das Wasser in der Schale veränderte sich. Vor Tualas Augen begannen sich feine Eiskristalle am Rand zu bilden, überzogen die Oberfläche, und eine Kälte stieg auf, die sie schaudern ließ und bewirkte, dass ihre Nase und die Ohren wehtaten. Aber im Raum hing immer noch die letzte Wärme - 562 des Feuers; Schatten, die Katze, döste vor der Feuerstelle, fest zusammengerollt, und die Mädchen, nur mit ihren Umhängen zugedeckt, schliefen friedlich. Es war die Vision, die die Kälte brachte. Der eisige Atem kam direkt von dem geheimen Ort der Götter: dem Brunnen der Schatten.
Sie gingen die Treppe hinunter, ihr Weg schwach von Kerzen beleuchtet, die sie an dieser letzten Fackel anzündeten. Das unruhige Licht zeigte kaum die glatten Steinoberflächen, die gewölbte Decke. Am Fuß der Treppe öffnete sich eine Kammer, deren Boden nicht aus Erde, Stein oder Binsen bestand, sondern plötzlich aus dunklem Wasser. Kalt, kälter als die Berührung von Frost auf dem Weißdorn, kälter als der scharfe Wind, der über die Hochweiden fegt, kälter als der Kuss eines Toten. Rings um den Rand des Brunnens befand sich ein Sims, gerade breit genug, dass ein Mann darauf stehen konnte; einer nach dem anderen nahmen der König, die Krieger, die Berater dort ihre Plätze ein und säumten das Wasser. Auf der der Treppe gegenüberliegenden Seite standen der König und der Druide und zwischen ihnen Morna. Umgeben von den dunkel gekleideten Männern schimmerte das Mädchen trüb im Kerzenlicht, als wäre sie eine geringere Manifestation der Leuchtenden selbst. Das Wasser war dunkel wie Tinte; weder die weiß gewandete junge Frau noch die kleine flackernde Flamme spiegelten sich auf dieser erschreckenden Oberfläche. Tualas Herz begann trotz all ihrer Anstrengungen, ruhig zu bleiben, einen Trommelwirbel. Ihre Hände waren schweißfeucht, Kethra hielt sie so fest, dass es wehtat. Wo war Bridei? Ah, dort, nicht weit von König Drust entfernt. Broichan hatte seinen Pflegesohn gut erzogen. Trotz der Kopfschmerzen hatte Bridei eine ausdruckslose Miene aufgesetzt, die nicht verriet, wie er sich fühlte. Anderen gelang das nicht so gut. Der hoch gewachsene rothaarige Mann sah aus, als wollte er gleich ohnmächtig werden; vielen sah man an, dass sie froren; sie zogen die Umhänge und die Ge- 563 wänder fester um sich, und es gab einen Mann mit harten Augen, dessen Züge ganz unverhohlen zeigten, wie angewidert er war. Es war ein schlichter und kurzer Ritus. Tuala verstand, wieso das notwendig war. Die Kammer des dunklen Gottes war kein Ort, an dem sich ein gesunder Mann lange aufhalten wollte, und es handelte sich auch nicht um ein Ritual, das durch ausführliche Gebete, Verzögerungen und Maßnahmen, sein Wesen und seine Bedeutung zu hinterfragen, besser vollzogen werden konnte. Man erhielt hier keine Gelegenheit zum Zweifeln. Broichan sprach: rituelle Worte, begleitet von Gesten, eine Abfolge von Zeichen, die Tuala nicht im Geringsten vertraut waren. Vielleicht war es ein Druidenzauber; am Ende breitete er die Arme weit aus und stieß einen lauten Schrei aus, und Dunkelheit schien sich um ihn zu sammeln, stieg aus dem Wasser auf, aus der kalten Luft, von den uralten Steinen, und machte ihn noch größer, uralt über seine Jahre hinaus, und erfüllte ihn mit einer unversöhnlichen, gierigen Macht. Tuala konnte kaum mehr atmen; die Gesichter der Männer waren erschrocken, verängstigt, wie die in die Falle gegangener Tiere, die den Messerstich des Jägers erwarteten. Broichan erhob abermals die Stimme, rezitierte eine Beschwörung in einer Sprache, die Tuala nicht verstand. Dann nahm er Morna an der Schulter, und auf der anderen Seite tat König Drust das Gleiche, und die beiden Männer gingen in die Knie und drückten das Mädchen zwischen sich nach unten. »Bete, dass sie nicht zu sich kommt, bevor es zu Ende ist.« Kethras Flüstern war zittrig, die Stimme eines verängstigten Kindes. »Bete, dass die Göttin am Ende nicht den Blick abwendet.« Tuala sah Brideis Gesicht, jung, starr, mit zu viel Pein in seinen Augen; und das des Königs, in dem Pflicht mit Schmerz rang. Auf Broichans strengen Zügen lag etwas zu - 564 Schreckliches, als dass man es ansehen konnte, denn in diesem Augenblick war der namenlose Gott in ihm, und Macht durchtränkte jede Faser seines Seins; nicht die lebhafte, lebendige Macht des Flammenhüters, nicht die ewigen Gezeiten der Leuchtenden, nicht einmal die tiefe Weisheit der Knochenmutter, sondern eine dunkle Energie, die sich über all diese hinaus erstreckte, ein geheimes, schreckliches Ding, das bewirkte, dass Männer die Blicke abwandten und dann gegen ihren Willen wieder hinsahen, denn die schreckliche Gier dieser Gottheit fand ihre kleine Reflexion tief verborgen in jedem von ihnen. Mornas Rücken war rund, ihr Gesicht über das Wasser gebeugt, als sie nun zwischen König und Druide kniete. Ihr langes Haar fiel nach vorn, einen Finger breit von der dunklen Oberfläche entfernt. Sie war ruhig, gehorsam. Tuala hielt den Atem an. Von außerhalb, von oben auf dem Hügel, erklang erneut das Hörn, ein klagendes, herzzerreißendes Geräusch des Leids. Es rief den Gott herbei; das Opfer war bereit. Dann, schnell wie ein Pfeil ins Herz dringt, hob Broichan die Hand in Mornas Nacken und drückte ihren Kopf ins Wasser. Auf der anderen Seite tat Drust das Gleiche, aber schwächer; der kranke Mann hatte nicht die Kraft des Druiden, die in dieser Nacht die Kraft eines Gottes war. Tualas Herz schlug ihr bis in den Hals, plötzliche Tränen der Angst standen in ihren Augen. Es gab keinen Kampf, Morna kniete reglos auf dem schmalen Sims, ihr weißer Rock rings um sie ausgebreitet, das dunkle Haar im dunklen Wasser, das Gesicht unsichtbar unter der Oberfläche. Die schlanke Hand des Druiden lag fest in ihrem schmalen Nacken; er und der König packten ihre Arme, hielten sie im Gleichgewicht, ertrinkend, sterbend. Es war ein Akt vollendeten Gehorsams. Tuala hatte vergessen zu atmen. Flecken tanzten vor ihren Augen, sie würde die Vision verlieren, sie wollte, dass sie verschwand, sie wollte ... - 565 »Ah!« Kethra schnappte nach Luft. Broichans Haltung war ungelenk geworden. Seine Hand drückte mit weißen Knöcheln in Mornas Haar. Sie war nun starr; die beiden Männer mussten sich anstrengen, sie festzuhalten. Ein Hustenanfall erfasste den König; er hob eine Hand an den Mund, versuchte, sich auf dem schmalen Sims zu
halten. Nun hielt nur noch Broichan das Mädchen, dessen Gesicht sich unter Wasser befand. Drust nahm die Finger von seinen Lippen. Sie waren blutig. Neben ihm gab Broichan ein leises Geräusch von sich, als sein Fuß über den glatten Stein des Brunnenrandes rutschte. Wasser spritzte; Morna hatte schließlich doch die kalte Berührung der Knochenmutter gespürt, und nun kämpfte sie mit aller Kraft, die ihr verblieben war. Halb am Rand des Brunnens hockend, murmelte Broichan etwas, und Drusts Blick fiel in dringlichem Flehen auf jene, die er kraft der Verwandtschaft bitten konnte, ihm zu helfen. Tuala sah den hoch gewachsenen, rothaarigen Mann den Kopf senken; er regte sich nicht. Ein Zweiter tat so, als verstünde er nicht. »Hilf mir«, sagte Drust laut, und sein Blick fiel direkt auf Bridei. Eis umfasste Tualas Herz; sie hätte beinahe die Augen geschlossen und Kethras Hände losgelassen, aber sie konnte es nicht. Dies musste in all seinem Entsetzen und seiner Großartigkeit geteilt werden; die Götter verlangten es. Bridei ging um den Brunnen herum, setzte die Füße so vorsichtig wie eine Katze; andere Männer drückten den Rücken an die Steinwände, um ihn vorbeizulassen. An Drusts Seite kniete sich Bridei hin, stützte den König mit einem Arm und hielt ihn sicher im Gleichgewicht, während Drust die Hand noch einmal ausstreckte. Es dauerte nicht länger als die Zeit, die es braucht, Finger und Zehen zweimal zu zählen, nicht länger, als es braucht, um ein wenig Rosmarin abzuschneiden oder eine Schleife ordentlich zu binden. Vielleicht ein wenig länger; es war notwendig, sich zu überzeugen, dass es tatsächlich geschehen war, das Opfer vollendet und perfekt, der - 566 Gott zufrieden. Dann zogen sie Morna aus dem Wasser, schlaff und weiß, und der König erhob sich mit Brideis Hilfe, machte ein Segenszeichen über ihrem bleichen Gesicht und legte ihre Hände auf ihre Brust. Einer der Männer, ein großer, kräftiger Bursche, der neben Broichan auf dem Sims gestanden hatte, hob Morna hoch, bereit, sie aus der tiefen Kammer zu tragen. Der Druide hob die Arme noch einmal, und seine Ärmel fielen zurück und enthüllten Reihe um Reihe kleiner Zeichen, die dort eintätowiert waren - nicht die Zeichen eines Kriegers, sondern geheimnisvolle Symbole, die zum druidischen Leben gehörten, Tier und Kraut, stehender Stein und weit entfernter Stern zogen sich über die Haut, und hier und da gab es auch Worte in der geheimen Schrift dieser Bruderschaft, wie Reihen winziger, geheimnisvoller Bäume. Er rief ein weiteres Mal, ein tiefer, harscher Laut, und es kam Tuala so vor, als ließe das den Raum heller werden, und auf den Wänden und hoch über dem Brunnen der Schatten waren gemeißelte Bilder zu sehen, Zeichen des Gottes, die hier von den Ahnen angebracht worden waren, eine Spiegelung der Muster, die sich auf der Haut des Druiden befanden und die ihn zutiefst mit der Macht verbanden, die hier im Herzen der Erde und in den dunkelsten Ecken der Herzen von Menschen weilte. Der Ruf schien quälend in Tualas Schädel widerzuhallen, und sie biss die Zähne zusammen. Sie spürte, dass Kethras Hände zitterten. Dann verklang der Ruf. Die Prozession begann erneut, und die Männer bewegten sich langsam und vorsichtig über das Sims und die Treppe hinauf zu Licht und Luft. Der große Mann trug Morna mühelos; sie war ein schlankes Mädchen, das aus dem Westen nach Banmerren gekommen war; ihre Eltern waren bei einem Überfall der Galen getötet worden, und sie hatte niemanden gehabt, der sie aufnahm. Ein stilles Mädchen, das es nur allen recht machen wollte - Tuala erinnerte sich, dass solche Dinge über sie gesagt wor- 567 den waren. Bridei blieb neben dem König, hielt ihn mit festem Griff am Ellbogen. Drust sah todmüde aus; seine Augen glitzerten wie im Fieber, und seine Haut war fest über die Knochen gespannt. Aber immer noch schritt er einher wie ein König, mit geradem Rücken und hoch erhobenem Kopf. Was Bridei anging, so wirkte er gelassen und ruhig. Er war stark; Tuala hätte nicht gedacht, dass er das aushalten würde. Männer sahen ihn an, und sie bemerkte Respekt in diesen Blicken, widerwillig vielleicht, aber echt. Sie sahen ihn an, als wäre er der Mann, der sie selbst gerne sein wollten, wenn sie nur den Mut dazu hätten. Seine Miene verriet nichts; er schien ein Ausbund an Selbstbeherrschung zu sein. Nur Tuala kannte ihn gut genug, kannte ihn wie sich selbst. Sie deutete seinen Blick und den Schmerz darin. Sie spürte das Pochen in seinem Kopf, als wütete es in ihrem eigenen. Sie wusste, wie sein Herz klopfte, sie kannte seine Schuldgefühle, seine Abscheu. Sie erkannte die Berührung des dunklen Gottes und konnte nichts tun, um sie zu bannen. »Es ist weg«, sagte Kethra mit seltsamer Stimme und ließ Tualas Hände los. Und tatsächlich: In der Bronzeschale war nichts zu sehen als Wasser. Es war kalt und sehr still im Raum. Tuala blinzelte und rieb sich die Tränen aus den Augen; sie sah, wie Kethra sich mit dem Handrücken über die Wange fuhr, und hörte, wie sie scharf Luft holte: In einem schweigenden Kreis um sie her, hilflos angezogen von der Macht ihrer dunklen Vision, standen die jungen Schülerinnen bleich und mit großen Augen. Wie Kinder, die plötzlich aus einem Albtraum erwachten, der zu schrecklich war, um erzählt zu werden, starrten sie stumm die beiden Frauen an, die ihm Gestalt verliehen hatten. In diesem Augenblick erkannte Tuala die Folge ihres Ungehorsams. Sie hatte an einen Ort geblickt, an den sie nicht hatte schauen dürfen, sie war eingedrungen, wohin keine Frau gehörte. Wie ein Stein, den man in einen friedlichen Teich wirft, konnte dies Wel- 568 len bewirken, die sehr weit reichten. Wer wusste schon, welche Strafe dieser dunkle Gott verhängen würde? Und dennoch konnte sie in sich kein Bedauern finden. Kethra war die Erste, die ihre Stimme wieder fand. »Odha, schüre das Feuer. Deira, bring Holz aus dem Korb. Ihr anderen zündet mehr Kerzen an. Das Ritual ist vorüber, zumindest für uns. Wir werden heute Nacht hier
schlafen, alle zusammen vor dem Feuer. Schiebt diesen Kater weg, er saugt das bisschen Wärme auf, das noch geblieben ist. Und jetzt brauchen wir Brot, Honig und Kräutertee, damit ihr euch beruhigt. Und dann könnt ihr Fragen stellen, wenn es sein muss, aber nicht zu viele. Ich weiß nicht, was ihr hier gesehen habt, aber ich habe euch eins zu sagen. Die Visionen, die wir durch den Blick erhalten, erscheinen und bilden sich entsprechend dem Willen der Göttin. Wenn ihr Bilder seht, die euch beunruhigen, könnte es sein, dass ihr hingesehen habt, wenn ihr es eigentlich hättet besser wissen sollen.« Kethra hatte die Hände fest zu Fäusten geballt. Es kam Tuala so vor, als wäre der Lehrerin kein bisschen bewusst, dass sie beide hier die Schuldigen waren und niemand sonst. Dann sah sie Kethras Blick und wusste, dass sie mit außerordentlicher Geistesgegenwart gehandelt hatte. In ihren Augen standen Wissen und Angst. »Konzentriert euch auf euren Gehorsam«, fuhr Kethra fort. »Das ist eine Lektion, die wir in Banmerren alle lernen, selbst die Ältesten und Weisesten unter uns müssen sich dem Willen der Götter beugen.« »Ich will nach Hause.« Diese zitternde Stimme hätte von jeder stammen können; die gleiche Botschaft stand deutlich in jedem Blick. »Was seid ihr«, fragte Kethra in herausforderndem Ton, den sie nur dank reiner Willenskraft anschlagen konnte, »Dienerinnen der Leuchtenden oder heulende Kleinkinder? Tuala, bring die Jüngeren in die Küche, um beruhigende Kräuter zu holen; wenn du immer noch nicht weißt welche, - 569 dann hat Luthana ihre Arbeit nicht getan. Ihr anderen, versteht ihr keine schlichten Anweisungen mehr? Das Feuer, Odha. Mehr Holz, Deira. Fola und die anderen werden frieren, wenn sie zurückkehren, und müde sein. Da es aussieht, als wären wir alle zu einer Stunde wach, in der sich sonst nur Eulen und Igel regen, wollen wir ihnen ein angemessenes Willkommen bereiten.« Atmen: tief, stetig, gemessen. Zählen, ein alter Reim, ein kleines Lied, um den Atem danach zu bemessen, Hee-o wee-o, Krähenfedern bläulich schwarz... Jetzt hatten sie das Zimmer des Königs erreicht, wo Königin Rhian, ernst und trockenen Auges, auf ihren erschöpften Mann wartete. Ihr Bruder Owain hatte nicht an dem Ritual teilgenommen; er stammte aus Powys und hielt sich an die Religion seines eigenen Volkes, aber er war nun hier, um Drusts Arm zu nehmen und den König nach drinnen zu führen. Drusts Atem klang, als würde man Eis von einem Geländer kratzen, er klang wie das Rascheln trockenen Laubs, das von einem herbstlichen Wind bewegt wird. Schließlich drehte er sich um und grüßte sie alle mit einem knappen Nicken. Sein Blick, leidenschaftlich wie der eines kämpfenden Stiers, verbot jede Bekundung von Sorge und jedes Angebot von Hilfe. »Es ist wieder einmal vorüber«, sagte er mit dem Hauch einer Stimme. »Ich danke euch.« Er sah Bridei an. »Es ist ein einsamer Weg. Alles, was ich bin, gebe ich den Göttern und Fortriu.« Wieder bewegten sich seine Augen; sein Blick fiel auf die rundliche Gestalt seiner Frau, ihr liebliches Gesicht, wo verzweifelte Sorge nur mit großer Mühe verborgen wurde. »Ich hatte Glück«, sagte Drust nun ein wenig fester. »Glück mit meinen Freunden und mit meiner Familie. Das Vertrauen der Götter ist ein wunderbares Geschenk und eine schreckliche Last. Ein Mann kann sie nicht gut allein tragen. Ich wünsche euch allen eine gute Nacht, obwohl der Schlaf - 570 in einer Nacht wie dieser nicht leicht kommen wird. Möge die Leuchtende über eure Träume wachen.« »Möge der Flammenhüter dein Erwachen beleuchten«, erklang die Antwort wie aus einem einzigen Mund: Aniels Stimme und die von Tharan, Broichans und Brideis und jene der engen Verwandten des Königs, des rothaarigen Carnach und des kräftigen Wredech mit seinem schönen Vieh. Dann schloss sich die Tür hinter Drust dem Stier. Bridei hatte wenig gegessen; die Kopfschmerzen nahmen ihm den Appetit. Dennoch würgte und würgte er, vornübergebeugt in dem kleinen Raum hinter der Treppe auf dem oberen Mauerweg; sein Magen drehte sich um und zog sich zusammen, bis jeder Tropfen Galle und Wasser ausgeschieden war. Irgendwann bemerkte er Faolan neben sich, ein feuchtes Tuch in der Hand, der ihm den Kopf hielt und ihm Schlucke Wasser anbot, die nicht länger in seinem Magen blieben, als er brauchte, sie herunterzuschlucken. Dann war es vorbei, und er setzte sich auf die Stufen und schauderte krampfartig unter der dicken Decke, die der Gäle ihm um die Schultern gelegt hatte. Irgendwann später kam Garth mit einem dampfenden Getränk heraus, und Breth brachte trockenes Brot, was die anderen aßen, denn Bridei konnte es nicht. Die drei saßen oder standen die ganze Nacht bei ihm und sprachen nur wenig. Hier und da auf den Wehrgängen und drunten im Hof hinter den Erdwällen waren andere kleine Gruppen von Männern zu sehen, die sich schweigend zusammendrängten oder sich leise unterhielten. Hier und da war eine Laterne sichtbar; man hielt eine Art von Wache, um die Schatten abzuwehren. Es gab in dieser Nacht keinen Mann, der den Mut gehabt hätte, sich seinen Träumen zu stellen. Licht brannte in den Gemächern des Königs, fiel hell durch die Ritzen rings um die Läden. Drusts Husten fand seinen Weg zu jedem Ohr; die Erinnerung an seinen Mut erfüllte jedes Herz. - 571 Irgendwo in einer stillen Ecke grub ein großer, kräftiger Mann ein Grab. Die Auserwählte kehrte nicht nach Banmerren zurück. Irgendwann vor Sonnenaufgang war es Bridei möglich, sich zu bewegen, obwohl seine Beine sich seltsam schwach anfühlten und ihm schwindlig war. Er stand mühsam auf und sah die drei an: den klaräugigen Breth, der ein Gähnen unterdrückte, den liebenswerten Garth, grau im Gesicht vor Müdigkeit, und Faolan, drahtig und
dunkelhaarig, dessen übliche amüsierte Miene von etwas anderem ersetzt worden war, einem Ausdruck, den Bridei nicht interpretieren konnte, weil er zu müde, zu elend und zu traurig war. »Danke«, sagte er schlicht. »Ich gehe jetzt schlafen«, und er ging hinein, in der Hoffnung, dass sein Rücken so gerade war wie der von Drust gewesen war, sein Schritt ebenso stetig. Aber er ging nicht in den Raum, den er mit Breth und Garth teilte; das Flackern einer Kerze aus Broichans Zimmer erregte seine Aufmerksamkeit, und er ging auf leisen Sohlen zur Tür seines Pflegevaters und blieb dort stehen. Es schien zunächst, als wäre niemand dort. Wo am Morgen dieses Tages der Druide in einer Pose der Kraft und des Gehorsams niedergekniet war, gab es auf dem Steinboden nur Schatten. Eine Kerze brannte in einer Nische. Das schmale, harte Bett mit der ordentlich gefalteten Decke war unbenutzt. Auf den Regalen stand die übliche Ansammlung von Tiegeln und Flaschen, Beuteln und Schalen; Knoblauch hing von der Decke, und ein paar Holzstäbchen lagen auf dem Steintisch, Spuren einer Weissagung. Bridei wollte sich abwenden, hatte vor, sich bis zum Morgen hinzulegen. Er würde nicht schlafen, aber wenn er so tat, würden zumindest andere ein wenig Ruhe bekommen. Ein leises Geräusch hielt ihn in der Tür zurück; der abgerissene, flüsternde Atem eines Mannes, der einen verzweifelten Kampf mit sich selbst ausficht. Bridei ging ins Zimmer. Broichan stand an der Stelle, wo sich ein schmaler - 572 Fensterschlitz in der Steinwand befand. Seine Hände, so fest zu Fäusten geballt, dass sich die Knöchel weiß abzeichneten, hielt er an der Seite; er hatte das dunkle Gewand noch nicht abgelegt. Er lehnte sich gegen die Wand, so gut wie reglos, seine Stirn ruhte am kalten Stein, seine Augen waren geschlossen. Auf den Zügen des Druiden lag ein Ausdruck, den Bridei nie zuvor gesehen hatte. Die Maske war vollkommen gefallen; Schuldgefühle, Verwirrung, Trauer, langes Ertragen waren ihm deutlich anzusehen, und auf den hohlen Wangen des Druiden zeigte das Kerzenlicht Tränenspuren. Andere hatten sich in dieser Nacht mit Höflichkeit, mit Zurückhaltung, mit wahrer Freundschaft um Bridei gekümmert. Er konnte dasselbe nun für Broichan tun. Wie sie alle hatte er seinen Pflegevater für ein Geschöpf machtvoller Sicherheit gehalten, einen Mann ohne die Schwächen gewöhnlicher Männer, der ausschließlich Pläne und Intrigen im Kopf hatte, Gelehrsamkeit und Druidenmagie; er hatte angenommen, in Broichans Herz sei nur Platz für die Liebe zu den Göttern. In diesem Augenblick erkannte er, wie sehr er sich geirrt hatte. All diese langen Jahre, von seinem ersten, verwirrenden Eintreffen in Pitnochie, dem ersten Blick auf diese hoch gewachsene, distanzierte Gestalt, die seine eigene Zukunft formen sollte, hatte er Broichan niemals als Menschen betrachtet. Er hatte nie darüber nachgedacht, wie einsam ein solches Leben sein könnte. »Ich bin hier«, sagte er leise, ging ins Zimmer, griff nach der Kerze, um eine Lampe auf dem Tisch anzuzünden, und goss Wasser aus dem Krug in einen Becher. »Komm, setz dich, trink einen Schluck. Es ist vorüber.« Und er sagte nicht: Im Augenblick. Für diesmal. »Es ist nur gut«, sagte Fola, »dass diese jungen Frauen alle neu in unserem Handwerk sind. Hätten sie alles gesehen, wie offenbar ihr beide, hätte ich es jetzt mit einem ausge- 573 wachsenen Aufstand zu tun, Banmerren wäre leer, die Leuchtende zutiefst beleidigt. Was habt ihr euch nur gedacht? Solche Geheimnisse sind selbst den Weisesten unter uns verboten; der Brunnen der Schatten ist kein Ort, den Frauen betreten dürfen. Diese Kinder solchen Dingen auszusetzen ... mir fehlen beinahe die Worte, Kethra. Als Dienerin der Göttin, als erfahrene und ergebene Priesterin ist es undenkbar, dass du einen solchen Fehler gemacht hast, selbst wenn Tuala dich dazu überredet haben sollte.« Kethras Lippen waren schmal, ihre Augen rot. »Es war nicht Tualas Schuld«, sagte sie. »Es war meine Idee. Ich habe sie gedrängt, ihre Begabung zu nutzen.« »Die Verantwortung und die Schuld müssen zu gleichen Teilen zwischen euch aufgeteilt werden«, sagte Fola, und ihr Blick schweifte von ihrer getadelten Stellvertreterin zu Tuala selbst. Die beiden standen vor der Weisen Frau in Folas kleinem Arbeitszimmer, schwer getroffen von ihrer Missbilligung. Fola war nicht anzumerken, ob sie sich von ihrem eigenen Anteil am Ritual der vergangenen Nacht belastet fühlte. Ihr Rücken war gerade, ihre Miene ruhig. In ihren Augen jedoch stand Kälte. »Es ist gleich, wer von euch beiden die Anstifterin war und wer ihr nur folgte. Es ist gleich, wer Lehrerin und wer Schülerin ist. Ihr seid beide klug und fähig. Ihr verfügt beide über eure eigenen einzigartigen Begabungen in diesem Handwerk. Ihr kennt beide den Weg der Leuchtenden, und ihr seid ihrer Stimme offen. Ihr seid beide schuldig. Und ihr müsst beide mit den Folgen eures Fehlers leben.« »Du willst, dass ich Banmerren verlasse.« Kethras Stimme war tonlos. »Ich bin nicht mehr geeignet, zu unterrichten und im Dienst der Göttin zu stehen.« Fola seufzte. Tuala, die sie durch einen Nebel aus Kummer und Verwirrung beobachtete, bemerkte das Netz von Falten im Gesicht der Weisen Frau und die Verfärbung der Haut um die Augen, und sie erkannte, dass Fola tatsächlich alt war, - 574 vielleicht beinahe so alt wie dieser Druide Uist, und von Zweifeln geschüttelt. Morna auf diese Weise zum Tor der Festung zu bringen, sie dem Druiden zu übergeben, die Nacht am Strand zu wachen, in vollem Wissen darüber, was sich dort im Bauch der Erde ereignete, musste schrecklich sein; nur eine Frau, die den Göttern
makellos treu war, konnte dazu im Stande sein, und dann zu dem normalen Muster ihrer Tage zurückkehren, ohne den Verstand zu verlieren. Sie waren stark, diese Heiligen, einschüchternd stark. Tuala bezweifelte, dass sie je so gehorsam sein könnte. Jeder Sinn, über den sie verfügte, wich vor dem zurück, was in der vergangenen Nacht geschehen war, selbst wenn sie es als notwendig akzeptierte. »Tuala!« Folas Stimme brach scharf in ihr Nachdenken ein. »Ja, Herrin?« »Ich bin kein anderer Mensch geworden, nur weil du einen so dummen Fehler gemacht hast. Sprich mich mit meinem Namen an. Du bist jetzt eine von uns. Oder habe ich mich geirrt? Vielleicht sollte ich die Ereignisse der vergangenen Nacht als Beweis dafür betrachten, dass ich einen schweren Fehler gemacht habe, als ich dich nach Banmerren ließ. Deine Begabung ist gefährlich. Sie führt andere in Versuchung, Kenntnisse zu suchen, die über das Erlaubte hinausgehen. Sie ist ein Werkzeug für die Ehrgeizigen, für jene, die sich nach Macht sehnen.« Kethra sackte unter dem Blick der Weisen Frau ein wenig zusammen. »Du hättest nicht zustimmen dürfen, Tuala, da du wusstest, was du in der Bronzeschale heraufbeschwören konntest.« Ein Teil dessen, was geschehen war, tat Tuala wirklich Leid. Dennoch, sie konnte nicht die beschämte Entschuldigung vorbringen, die man offenbar von ihr erwartete. »Sprich«, sagte Fola. »Kethra hat eine angemessene Strafe für sich selbst genannt und ihr Bedauern bekundet. Was hast du zu sagen?« - 575 Tuala holte tief Luft. »Wir haben einen Fehler gemacht, als wir es dort taten, wo die Mädchen schliefen«, sagte sie. »Wir hätten uns nie träumen lassen, dass sie aufwachen würden, aber ich weiß, das ist keine Entschuldigung. Du solltest Kethra nicht wegschicken. Sie ist eine gute Lehrerin. Ihre Fähigkeiten sollten am besten hier genutzt werden, wo sie helfen kann, den Schaden zu beheben, indem sie den Mädchen hilft zu verstehen, was sie gesehen haben und wie dies in die Überlieferung der Götter passt.« Sie schwieg einen Augenblick. »Ich habe dich nicht um einen Kommentar zu Kethras Situation gebeten«, sagte Fola. »Nein, Herr-, nein, Fola.« »Ich glaube, in deiner Ansprache fehlte noch etwas. Es tut dir Leid, dass die Mädchen in diese Sache verwickelt wurden; ich bin erleichtert, das zu hören. Es ist das Mindeste, was ich erwartet hätte. Wird diesem Ausdruck deines Bedauerns ein aber folgen?« Tuala biss die Zähne zusammen. Sie musste die Wahrheit sagen, selbst wenn das bedeutete, dass man sie wegschickte; selbst wenn es bedeutete, dass Bridei bei Vollmond nach Banmerren kommen würde und sie nicht mehr hier wäre. Aber wohin sollte sie gehen? »Ich kann die Tat selbst nicht bedauern«, sagte sie und hörte, wie Kethra scharf die Luft einsog. »Ich habe immer geglaubt, dass die Visionen, die die Leuchtende mir enthüllt, jene sind, die sie mich sehen lassen will, aus ihren eigenen Gründen. Sie gewährt sie mir, damit ich meinen Weg finden und andere anleiten kann. Manchmal sieht es so aus, dass bestimmte Bilder auftauchen, weil ich darum bitte, aber ich glaube nicht, dass ein Menschenmädchen Visionen heraufbeschwören kann, die die Leuchtende missbilligt. Die Göttin ist zu mächtig, um sich so betrügen zu lassen. Was ich im Wasser sehe, bezeichnet den Weg, den sie für mich beschlossen hat, und für ... für andere, die ich - 576 kenne. Selbst letzte Nacht. Sie hat mir das dunkle Ritual gezeigt, weil ich wissen musste, was dort geschah.« »Du entsetzt mich, Kind. Was ist mit Kethra?« Tuala zögerte. »Ich nehme an, das Gleiche gilt für sie; es war die Leuchtende, die die Vision sandte, nicht ich, nicht Kethra. Du hast von Macht gesprochen, von Missbrauch von Begabung. Das hier könnte eine Lektion gewesen sein.« Fola lächelte grimmig. »In der Tat. Und in diesem Fall kommt es mir so vor, als hätte Kethra daraus gelernt und du nicht, Tuala.« »Wir unterscheiden uns, Kethra und ich. Die Lektion, die wir lernen sollen, ist ebenfalls unterschiedlich.« »Ich verstehe. Ich könnte dich darauf hinweisen, dass ein Menschenmädchen vielleicht nicht die Macht haben mag, verbotene Bilder heraufzubeschwören, du aber kein Menschenmädchen bist. Ist es möglich, dass wir es hier mit dunkleren Dingen zu tun haben, als wir uns bisher vorstellen konnten?« Ein seltsames Gefühl befiel Tuala, eine Trennung, als stünde sie hier in dieser von Lampen erleuchteten Kammer und wäre dennoch getrennt von allem, hinter einer unsichtbaren Grenze. Es war ein erschreckendes Gefühl des Andersseins, des vollkommenen Alleinseins. »Das hier war tatsächlich eine Vision, die von der Leuchtenden kam«, flüsterte sie. »Das weiß ich. Sie hat meine Schritte geführt, seit sie mich als Kind nach Pitnochie gebracht hat. Es ist nicht sie, die die Dunkelheit bringt, sondern der Eine, der von Menschen solche Taten verlangt, wie wir in der Vision gesehen haben; solche Taten, die die beständigsten Herzen brechen und den stärksten Willen zerfetzen.« »Still, Kind!« Folas Stimme bebte; nun waren die Folgen des Tortags tatsächlich in ihren Augen zu erkennen. »Wir sprechen nicht über diese Dinge. Diese Bilder waren nicht für die Augen von Frauen bestimmt, vor allem nicht für die einer unschuldigen jungen Frau, wie du es bist. Warum soll-
- 577 te die Göttin dir solch finstere Geheimnisse enthüllen? Zu welchem Zweck?« Tuala schwieg. Die Wahrheit war ihr vollkommen klar, aber sie hatte mit Bridei zu tun, und daher würde sie sie nicht aussprechen. Die Leuchtende spielte ein schwieriges Spiel: Sie gab Tuala die Werkzeuge, die sie brauchte, um dem Mann zu helfen, den sie liebte, und dann brachte sie eine hohe Mauer zwischen sie, nicht nur die Barriere aus Stein und Erde, die Banmerren umgab, sondern eine Mauer aus Bräuchen und Erwartungen, Geschichte und Protokoll, die so viel schwerer zu brechen wäre. Vielleicht stimmte es, was Fola gesagt hatte. War die Vision der vergangenen Nacht etwas Verzerrtes, Unreines, heraufbeschworen von einem dunklen Ort, der sich außerhalb des Reichs der Götter befand? »Darüber muss ich nachdenken«, sagte Fola. »Kethra, ich werde auch über deine Zukunft nachdenken. Was geschehen ist, muss deinen Weg ändern, auf die eine oder andere Weise. Im Augenblick wirst du hier bleiben. Diese Kinder brauchen Anleitung, sie brauchen Erklärungen von jenen, denen sie vertrauen können. Dies ist deine Gelegenheit, mir zu beweisen, dass du wirklich vertrauenswürdig bist. Missbrauche diese Gelegenheit nicht, oder du wirst Banmerren verlassen und nie wieder zurückkehren. Und jetzt geh.« Kethra verbeugte sich steif. Ihr Gesicht war bleich; alle wussten, dass sie angestrebt, ja erwartet hatte, Fola in Banmerren nachzufolgen. Nun konnte sie sich glücklich schätzen, hier überhaupt noch einen Platz zu haben. Tuala stand starr da, als die Lehrerin mit steinerner Miene an ihr vorbeiging und das Zimmer verließ. »Was dich angeht«, sagte Fola in leicht verändertem Tonfall, »so hast du Verständnis und Mitgefühl gezeigt, wie schon Kethra zuvor, und ich danke der Göttin, dass ihr immer noch etwas von ihrer inneren Weisheit besitzt. Du weißt, dass ich nicht am Brunnen der Schatten anwesend war; ich hatte in - 578 der Tat nicht den Wunsch, überhaupt dort zu sein, ebenso wenig, wie ich es in all den langen Jahren zuvor wünschte, in denen Drust dieses Ritual vollzog. Die Rolle, die ich dabei spielen muss, belastet mich sehr. Ich beneide Broichan um seine Kraft und seine Sicherheit. Tuala, ich möchte nicht hören, was du gesehen hast. Ich weiß, was du suchtest. Hast du es gefunden?« Tuala nickte schweigend. »Dann sag mir«, forderte die Weise Frau, deren Blick trotz des Schlafmangels immer noch scharf war, »welche Rolle Bridei dabei spielte. Sieh mich nicht so an, Kind. Deine Miene ist leicht zu deuten; ich weiß, wie du denkst. Hat der junge Mann entsetzt zugesehen? Hat er die Augen fest zugedrückt? Oder war er beherrscht wie sein Pflegevater? Sag es mir.« »König Drust brauchte Hilfe, als es zum ... als sie ... Broichan konnte es nicht allein tun, und der König hustete und rang nach Luft. Drust wandte sich an bestimmte Männer, ich nehme an, enge Verwandte, denn Wid hat mir einmal gesagt, dass das die Regel ist... Niemand sonst darf das. Niemand darf... der Einzige, der helfen wollte, war Bridei.« Tuala hörte, wie ihre Stimme weicher wurde, als sie seinen Namen aussprach, eine gefährliche Enthüllung ihrer geheimen Empfindungen. »Ich verstehe«, sagte Fola, und in ihrem Ton lag ein Gewicht, das diese Aussage sehr wichtig machte, die Anerkennung einer Veränderung. »Bridei hat es ruhig und ohne Zögern getan. Man sah ihm nicht an, was er empfand.« »Broichan war immer ein fähiger Lehrer.« Fola seufzte und stützte das Kinn auf die Hände. »Ich bin müde, Tuala, ich sollte Luthanas guten Rat annehmen und mich eine Weile ausruhen. Du darfst gehen.« »Ich ... ich werde nicht ebenfalls bestraft?« »Vielleicht bin ich diejenige, die Strafe verdient hat, weil - 579 ich dich hier eingesperrt habe«, sagte Fola leise. »Aber ja, es muss eine Strafe geben; es war mehr als dumm, die Mädchen einer solchen Gefahr auszusetzen. Du wirst nicht mehr im Turm wohnen. Es ist im Winter ohnehin nicht mehr passend. Bring deine Sachen nach unten; du wirst mit den anderen Jüngeren im Gemeinschaftsraum schlafen.« Tuala spürte, wie sie bleich wurde. Nicht jetzt, noch nicht; nicht vor dem Vollmond ... »0 nein, bitte ...«, begann sie. »Du darfst gehen, Tuala.« Die Stimme war sehr leise und vollkommen unversöhnlich. »Bring deine Sachen noch heute nach unten. Und lass Kethra den Schaden beheben; die Schülerinnen werden ihre Erklärungen eher akzeptieren als deine.« »Ich...« »Hast du mich nicht gehört?« Als sie Folas ausgeprägte Züge sah, die nun doch alle Qual und Erschöpfung der vergangenen Tage zeigten, die Schuldgefühle und die Verantwortung vieler Jahre, schluckte Tuala ihren Widerspruch herunter und floh. Sie würde sich nicht an Regeln stören. Sie würde sich nicht an Türen, Schlössern und wachsamen Lehrerinnen stören. Bei Vollmond würde er kommen, und sie würde warten. »Berichte«, fauchte Dreseida. »Und beeile dich; ich muss mit Gartnait sprechen, sobald wir hier fertig sind. Er macht nicht die Forschritte, die er sollte.« »Er kann es nicht, Mutter.« Ferada stand im Zimmer ihrer Mutter in Caer Pridne und sah Dreseida in die Augen Augen, die sie an ein Raubtier erinnerten, und sie selbst war die Beute, auf die all sein Trachten gerichtet war. »Du weißt, dass Gartnait kein Gelehrter ist. Er kann sich solche Dinge einfach nicht merken. Ich verstehe nicht,
wieso du ihn zwingst...« »Dann solltest du dich ein wenig anstrengen, Ferada. Ich brauche deine Hilfe. Ich brauche deine vollkommene Loyalität. Habe ich erwähnt, dass der Fürst von Fib deinen Vater - 580 wegen eines Bündnisses angesprochen hat? Eines Bündnisses durch Heirat? Wie heißt er noch, Coltran, Celtane?« »Cealtran«, verbesserte Ferada düster, und sie hatte dabei ein Bild des rundlichen, rotnasigen Fürsten im Kopf, der gerade erst am Hof eingetroffen war. Cealtrans Bauch wackelte, wenn er sich bewegte, und seine kleinen Äuglein waren tief in Falten bleicher Haut eingesunken. Er war mindestens fünfzig Jahre alt; Dreseida scherzte wohl. »Er ist alt, Mutter. Er kommt aus dem Süden. Und er ist Christ. Vater würde niemals ...« »Wie ich dir schon im Übermaß klar gemacht habe, wird die Entscheidung über diese Dinge bei mir liegen. Dein Vater hat mir das versichert. Es gibt selbstverständlich noch andere Möglichkeiten, immer vorausgesetzt, dass wir nicht zu lange warten. Ana hat Onkel, die alle unverheiratet sind. Die Königin hat junge Verwandte in Powys. Und was ist mit den Anführern der Caitt? Viele Möglichkeiten, wenn auch alle ein wenig weit von daheim entfernt. Dann werde ich dir sagen, was ich plane. Du weißt, wie es funktioniert, Ferada. Tu, was ich dir sage, sprich nirgendwo darüber, nicht mit deinem Vater, nicht mit deinen Brüdern, nicht mit deinen Freundinnen, immer vorausgesetzt, es ist dir gelungen, freundlich genug zu sein, welche zu finden, und ich werde dir tatsächlich bei der Wahl eines Ehemanns ein gewisses Mitspracherecht einräumen. Ich verlange nicht viel, Tochter. Nur ein paar Informationen. Nur ein wenig Verstellung. Das sollte einem klugen Mädchen wie dir nicht schwer fallen.« »Mutter ... Gartnait, und all das ... wozu soll es gut sein? Was hast du vor?« »Wenn du glaubst, dass ich darauf antworte, bist du dümmer, als eine Tochter von mir sein sollte«, sagte Dreseida. »Es wimmelt hier nur so von Spionen. Man ist nicht einmal in seinem Privatquartier sicher. Eine Wahl steht bevor. Noch nicht sofort, da Drust uns alle überrascht, indem er sich länger ans Leben klammert, als man für möglich gehalten hät- 581 te, aber bald, sehr bald. Ich werde die geringe Macht verwenden, die ich als Frau habe, um für ein zufrieden stellendes Ergebnis zu sorgen. Es ist gleich, dass ich nicht selbst mit abstimmen kann. Männer sind bemerkenswert gefügig, Ferada. Man muss nur die Techniken lernen, mit denen man sie formen kann. Und nun sag mir, was hast du herausgefunden?« »Nicht viel. Wie ich schon sagte, es gab nur wenig Gelegenheit, mit Bridei zu sprechen, bevor ich nach Banmerren zurückkehrte.« »Was ist mit diesem Mädchen, seiner Schwester? Irgendwelche Hinweise, Botschaften? Spricht sie von Bridei? Von Broichan und seinen Plänen?« »Nein, Mutter. Tuala ist sehr still; sie schließt ihre Gedanken vor anderen ab.« »Ich brauche mehr, Ferada. Denk daran, wie versessen Cealtran darauf ist, seine Hand in deine zu legen und dich mit nach Hause zu nehmen, um sein Bett zu wärmen. Er will Erben. Viele Erben.« Ferada schauderte. »Tuala hat ihm eine Botschaft geschickt«, sagte sie schließlich. »Ana hat sie überbracht.« »Ana hat es dir gesagt? Was für eine Botschaft?« Ferada schüttelte den Kopf. »Ana hat nicht darüber gesprochen, aber ich habe sie gesehen. Du hast mich schließlich gebeten zu spionieren. Tuala hat Bridei ein kleines Päckchen mit einem Blatt und einem Stein darin geschickt. Das war alles.« »Und ein Band.« »Ich nehme an, dass es mit einem Band gebunden war«, sagte Ferada überrascht. »Woher weißt du das?« Dreseidas Lächeln war schmallippig, ihr Blick kalt. »Ich habe gelernt zu beobachten. Der junge Mann trägt ein Band ums Handgelenk, wie ein Zeichen der Gunst einer Dame, aber die Männer wissen alle, dass Bridei nie auch nur in die Nähe der Freudenhäuser geht und nie einem Mädchen - 582 seine Aufmerksamkeit gewährt; einige flüstern sogar, dass er Männer vorzieht, aber Gartnait sagt mir, dass es auch dafür keine Anzeichen gibt. Bridei scheint so keusch zu sein wie ein christlicher Mönch. Man sollte meinen, dass das allein genügt, um die Männer an seiner Eignung als weltlicher Verkörperung des Flammenhüters zweifeln zu lassen. Man erwartet, dass ein König seine Manneskraft zeigt. Ich kann mir nicht vorstellen, wieso ihn jemand als Kandidat ernst nimmt, aber es heißt, dass er seine Anhänger hat. Sicher, der Junge wurde von Broichan aufgezogen, und das erklärt einige seiner Merkwürdigkeiten. Er trägt dieses Band. Es war ein altes, verschlissenes Ding, aber nun ist es ein neues: grün gefärbte Seide. Ich habe ein solches Band am Zopf einer gewissen kleinen Wilden aus unserem Bekanntenkreis gesehen. Es ist klar, was das bedeutet. Er betrachtet dieses Hexenmädchen nicht als seine Schwester, sondern als seine Liebste. Du musst lernen, Kleinigkeiten mehr Aufmerksamkeit entgegenzubringen, Ferada, wenn du als Informantin nützlich sein willst.« Ferada presste die Lippen zusammen. »Die Botschaft«, sagte ihre Mutter. »Was hat sie zu bedeuten? Ein Blatt, ein Stein? Was für eine Art von Blatt?« »Was kann das schon für einen Unterschied machen? Ein Eichenblatt, nehme ich an. Vor Tualas Turmzimmer steht eine große Eiche. Sie reicht bis über die äußere Mauer.«
»Ah.« »Mutter, ich...« »Und was für ein Stein? Klein, nehme ich an. Schwarz, weiß, grau? Glatt, rau, rund, länglich?« »Ich glaube, er war weiß. Mutter, das gefällt mir nicht. Warum willst du ...« »Du tust Folgendes: Du gehst zu Bridei. Er spricht mit dir, ich habe es gesehen; er schätzt deine Klugheit. Sei zur Abwechslung einmal eine Frau. Trage dein blaues Kleid und die Silberbrosche. Er wird nach dem Tortag bedrückt sein. Wenn - 583 der Bericht deines Vaters über das, was geschehen ist, zutrifft, hat der König seinen nahen Verwandten in dieser Nacht eine schwere Bürde auferlegt, und es war offenbar Bridei, der sich von allen am besten geschlagen hat. Du hast gehört, was geschehen ist.« Ferada schauderte. »Nicht offiziell. Aber es ist unmöglich, die Ohren vor dem Geflüster zu verschließen. Ana und ich kannten Morna. Wir haben mit ihr gesprochen, haben das Brot mit ihr gebrochen. Es hat meine Gefühle gegenüber Banmerren und gegenüber Fola geändert. Und mein Kopf ist voller Fragen, auf die ich keine Antworten finden kann.« »Das sollte dich zu einer guten Gefährtin für Bridei machen. Als Broichans Schützling scheint er ausschließlich in Fragen zu denken. Suche ihn auf; leihe ihm ein aufmerksames Ohr. Er soll es sich von der Seele reden. Gewinne sein Vertrauen. Komm ihm so nahe, wie du kannst; nutze alles, was du hast, Ferada. Ich suche eine Möglichkeit, und du kannst sie mir liefern.« »Was für eine Möglichkeit?« »Später. Alles zu seiner Zeit.« »Mutter?« »Was ist denn? Beeile ich; ich habe dir doch schon gesagt, dass ich mich noch um andere Dinge kümmern muss.« »Es kommt mir so vor«, sagte Ferada, »dass das, was am Tortag geschehen ist, Brideis Kraft zeigt, seinen Mut, seine Selbstdisziplin. Es zeigt, dass er ein starker Kandidat sein wird, wenn die Zeit gekommen ist. Es gibt Leute, die ihn als die einzige mögliche Wahl bezeichnen, und sie glauben, dass Carnach sich nun hinter Bridei stellen wird, statt sich selbst aufstellen zu lassen.« »Was für Leute sind das? Wer sagt das?« Dreseidas Stimme war ein Zischen. »Vielleicht bin nicht ich es, die lernen muss zuzuhören«, sagte Ferada, und einen Augenblick später traf sie die beringte Hand ihrer Mutter fest auf der Wange und ließ eine - 584 blutige Schwellung zurück. Dreseida betrachtete ihre Tochter aus zusammengekniffenen Augen. Ferada, die schwer atmete, hob die Hand nicht, um ihre Wange zu berühren und das Blut abzuwischen. »Du hältst deinen Bruder für einen Dummkopf«, sagte Dreseida. »Aber er könnte dir viel über Loyalität beibringen. Sprich nie wieder so mit mir. Wenn du dir einbildest, dass ich dir eine solche Dreistigkeit ohne Strafe durchgehen lasse, bist du eindeutig nicht im Stande, dir deine eigene Zukunft vorzustellen. Mache Bridei zu deinem Freund. Werde seine Vertraute. Besonders möchte ich wissen, ob er irgendwelche Ausflüge in die Umgebung von Caer Pridne plant. Und handele rasch, denn wir haben nicht mehr viel Zeit. Und du solltest lieber etwas wegen deines Gesichts unternehmen, oder du wirst den jungen Mann verschrecken. Das wäre sehr unangenehm für uns alle.« Broichan hatte ihn besser unterrichtet, als sie alle angenommen hatten: Masken und Spiegel, Tricks, Zauber und Heimlichkeiten. Jeden Tag demonstrierte er die weltlichen Fähigkeiten, die er gelernt hatte, nicht nur von seinem Pflegevater, sondern auch von Erip mit seinem Wissensschatz an Überlieferung und von Wid, der einen Fremden mit einem einzigen Blick deuten konnte. Die Höflinge erkannten Bridei nun als einen Mann von Scharfsinn und Tiefe, klug, erfindungsreich und durchaus im Stande, es bei ihren gefährlichen Spielen mit ihnen aufzunehmen. Sie wussten erheblich weniger über seine anderen Fähigkeiten, die er in den früheren Jahren in Pitnochie gelernt hatte - Dinge, die einem nur ein Druide beibringen konnte. Faolan war nicht zufrieden mit Brideis Plan für ihren nächtlichen Ausflug nach Banmerren. Sich mit Hilfe von Magie zu verbergen, stellte für ihn keinen unfehlbaren Schutz dar. Kurz gesagt, er glaubte nicht, dass Bridei dazu in der Lage wäre, und sprach das auch ganz offen aus. »Man - 585 wird uns sehen, sobald wir die Festung verlassen. Was hast du vor, willst du mich um meine Arbeit hier bringen?« »Man wird uns nicht sehen. Dieser Zauber trügt das Auge des Beobachters; nur ein Druide könnte uns entdecken. Wir werden außerdem so vorsichtig sein, uns in der Deckung von Dünen und Büschen zu bewegen und nach Gefahren Ausschau zu halten. Vertrau mir.« »Sie sagten, dass du verrückt wärst, als du vorgeschlagen hast, den Magierstein mitzunehmen«, stellte Faolan fest. »Aber sie haben trotzdem getan, was du von ihnen wolltest. Also gut, wir werden es versuchen. Wie willst du über die Mauer kommen?« »Ein Seil. Ich werde es mitbringen.« »Und wie...«
»Vertrau mir, Faolan.« »Hm. Es wird schnell geschehen müssen. Lass dich nicht ablenken. Rein, raus und wieder nach Hause, bevor man uns entdecken kann. Es war zwar meine Absicht, Aufmerksamkeit auf unsere Ausritte zu lenken, aber in Banmerren darf man dich nicht sehen. Männer dürfen das Anwesen nicht betreten, wie du genau weißt. Wenn man dich erwischt, wie du versuchst, diese Regel zu brechen, ist dein Anspruch auf den Thron nichts mehr wert. Ein König muss rein, vollkommen und gehorsam sein. Er schleicht sich nicht davon, um um Mitternacht Frauen an einem Ort hinterherzujagen, in dessen Nähe er nicht einmal kommen sollte.« »Ich werde keinen Frauen hinterherjagen, wie du es ausdrückst«, sagte Bridei. »Ich besuche eine Freundin. Und ich fühle mich verpflichtet, dich darauf hinzuweisen, dass es deine Idee war.« Faolan verzog die Lippen zu etwas, das ein Lächeln hätte sein können. »Tu nicht so, als wolltest du es nicht«, sagte er. »Dein Blick ist nur schwer zu ertragen. Vergiss einfach in der Umarmung der jungen Dame nicht, wieso du dort bist: um diese Sache ein für alle Mal loszuwerden.« - 586 Umarmung, dachte Bridei; das würde wohl kaum geschehen, wenn auch der Gedanke daran, Tuala zu berühren, zu umarmen und zu küssen ihn erheblich mehr beschäftigte, als er es sich leisten konnte. Er würde nicht nur unfähig sein, auch nur ihre Hand zu halten, wahrscheinlich würde er auch nicht die richtigen Worte herausbringen, wenn er sie erst einmal vor sich sah. Tuala war nun eine Priesterin. Sie hatte sich für diese Art von Leben entschieden. Er hatte ihr nichts zu bieten als eine Existenz, die sie unglücklich machen würde, eine Existenz zwischen Festungsmauern. Es wäre, als wolle man einen Schmetterling in einem kleinen Kasten einschließen und erwarten, dass er damit zufrieden wäre. Das konnte er nicht von ihr verlangen; so etwas wäre vollkommen eigensüchtig. Und dennoch, sie hatte ihm die Botschaft geschickt. Sie hatte ihm das Band geschickt. Vollmond: Der Strand von Banmerren leuchtete hell unter dem Blick der Göttin, die Gezeiten bewegten sich auf ihren Ruf. Die Luft war klar und kühl. Zwei Männer schlichen leise über den Sand, kaum von den niedrigen Büschen verborgen. Dennoch waren sie dank des Zaubers, den Bridei gewirkt hatte, so gut wie nicht zu sehen: Die Magie ließ sie nicht verschwinden, denn dazu hatte er nicht die Macht, aber sie bewirkte, dass ihre Gestalten mit dem verschwammen, was sie umgab: Steinmauer, heller Sand, Zweige oder grünbraune Pflanzenstiele. Niemand hatte sie durch das Wassertor nach draußen schlüpfen sehen; offenbar hatte diese Bewegung keine Wachen alarmiert, obwohl sie zweifellos Spuren auf dem Sand hinterlassen hatten, bevor sie die Deckung der Dünen erreichten. Faolan trug zwei Messer in Gürtel; Bridei hatte sich ein aufgerolltes Seil über die Schulter gehängt. Sein Herz schlug seltsam schnell, als wäre er mit jemandem um die Wette gerannt; keine druidische Disziplin konnte es zu einem weniger gewaltsamen Rhythmus zwingen. Im Geist legte er sich - 587 Worte zurecht und verwarf sie eins nach dem anderen wieder. Ich hoffe, es geht dir gut: wie ein Fremder, förmlich, bedeutungslos. Ich liebe dich: verboten; die Wahrheit. Die gefährliche Wahrheit. Sie wusste das doch sicher auch, ohne dass er es aussprach. Warum hast du mich verlassen? Eigensüchtig, die Worte eines kleinen Jungen, eine Andeutung, dass sie sich schuldig fühlen sollte, weil sie dem Ruf der Leuchtenden gefolgt war. Auch das durfte er nicht aussprechen. Komm mit mir, sofort. Ich brauche dich... Er wollte ihr mit seinen Händen, seinem Mund, seinem Körper zeigen, wie stark seine Sehnsucht geworden war, etwas, das ihn verschlingen würde, wenn es nicht befriedigt würde ... Das musste er mehr als alles unterdrücken. Er würde seine Herzensfreundin erschrecken, und sie würde sich für immer von ihm abwenden. Er hatte ihr nur wenig zu bieten; wenn er mit seinen Worten, seinen Taten vorsichtig war, konnte er sich zumindest ihre Freundschaft erhalten, auch wenn sie getrennt bleiben mussten. Aber worüber konnten sie dann sprechen? Was blieb ihnen zu sagen? Sie erreichten die Mauern von Banmerren. Bridei wusste nun genau, wo die Eiche stand: Sein Plan war bis in die Einzelheiten perfekt gewesen, bevor er ihn Faolan vorgelegt hatte. Der Gäle war kein Mann, der etwas unvorbereitet unternahm. Er folgte vielleicht seinen eigenen Regeln, er bewegte sich dort, wohin andere sich nicht wagten, aber er berechnete seine Risiken genau. Faolans Planung war makellos, die Ausführung ohne jeden Fehler; es war kein Wunder, dass er einen solch hohen Preis verlangen konnte. Sie befanden sich nun unterhalb der Stelle. Die kahlen Zweige des Baums waren über die Mauer hinweg zu sehen, stark und fest im kalten Licht des Vollmonds. Bridei stieß einen leisen Pfiff aus, den Ruf eines Nachtvogels, und wartete. Einen Augenblick später erklang die Antwort, der un-missverständliche Schrei einer Eule. Sie war dort. Er pfiff noch einmal, nur um ganz sicher zu gehen, während er be- 588 reits das Seil von der Schulter nahm und sich darauf vorbereitete, es zu werfen. Nun erklang der Eulenschrei aus größerer Nähe, als wäre sie auf einen Ast oben an der Mauer geklettert. »Was ist dieses Mädchen - halb Mensch, halb Katze?«, murmelte Faolan. »Machst du dir keine Sorgen, dass sie stürzen und sich das Genick brechen könnte? Dieser Baum ist ziemlich hoch.« Das Bild von Tuala oben auf der Adlernarbe, wie sie sich drehte wie eine Wetterfahne, stand so klar und deutlich vor Brideis geistigem Auge, und damit kam eine leise, präzise Stimme, die rezitierte: Fortrenn, Fotlaid, Fidach, Fib, Circinn, Caitt, Ce... »Sie wird nicht fallen«, sagte er. »Wenn du dir unbedingt Sorgen machen musst, dann mach sie dir lieber um mich.« Wieder schaute er nach oben und glaubte, sie vielleicht sehen zu können, eine
helle Gestalt oben auf der Mauer, eine Wolke dunklen Haars. Er winkte und hoffte, sie würde die Geste verstehen, dann nahm er ein Ende des Seils in eine Hand und warf mit der anderen den aufgerollten Rest nach oben. Beim ersten Mal konnte sie es nicht auffangen. Sie streckte die Hand aus und versuchte es, aber das Seil fiel wieder herunter. Bridei rollte es erneut auf. Faolan behielt den Strand, die Büsche, den Weg unterhalb von ihnen im Auge. »Vergiss nicht«, flüsterte er, »beeil dich. Keine endlosen Abschiede.« Bridei warf erneut und spürte, wie das Seil oben aufgefangen wurde. Nun konnte er trüb Tualas kleine, geduckte Gestalt erkennen, als sie es hochzog und an einem kräftigen Ast befestigte. Es hing von der Eiche zum Boden, bereit, dass ein Mann mit starken Armen daran nach oben klettern konnte. »Also los«, zischte Faolan. »Bleib in Hörweite; wenn man uns entdeckt, musst du schnell fliehen können. Wenn du mein Zeichen hörst, kommst du sofort zurück. Du weißt, wie - 589 viel von deiner Sicherheit abhängt. Behalte die Füße flach an der Mauer, wenn du nach oben steigst...« Ein wenig später erreichte Bridei atemlos die Mauerkrone und zog sich nicht besonders geschickt nach oben. Die Mauer war schmal; dahinter fiel sie steil in den dunklen Garten ab, und noch weiter hinten waren die grauen Steine eines hohen Hauses zu erkennen. Kein Licht brannte, es gab nur die blasse Kugel der Leuchtenden. Tuala hatte sich auf einen Ast der Eiche zurückgezogen. Sie betrachtete ihn aus ernsten Eulenaugen; ihr Haar ein weicher Schatten um ihr kleines Gesicht, ihre Gestalt so reizvoll für ihn wie an dem Tag an den Steinhaufen, dem Tag, als er sie zum ersten Mal als Frau gesehen hatte. Er schaute sie an. Fähiger Stratege und scharfsinniger Höfling, der er geworden war, fehlten ihm in diesem Augenblick dennoch die Worte. Wenn Tuala das wilde Schlagen seines Herzens hören könnte, dachte er, würde sie auch spüren können, dass er hätte weinen können, schreien, singen, vor Gefühlen bersten, und dann würde sie die Wahrheit wissen, und er brauchte überhaupt nichts zu sagen. »Du bist gekommen«, sagte Tuala. »Ich habe nicht viel Zeit; ich sollte nicht hier sein.« »Ebenso wenig wie ich«, sagte Bridei. »Ein Mann wartet drunten auf mich. Können wir...« Er saß ein wenig unsicher da und war sich des steilen Absturzes zu beiden Seiten bewusst. Er hatte nie über Tualas instinktives Gleichgewichtsgefühl verfügt. »Wir können nicht nach drinnen gehen«, sagte Tuala. »Ich habe einen Fehler gemacht, und das Turmzimmer ist nun abgeschlossen. Komm hinüber auf den Baum. Dort wirst du sicherer sein.« Bridei warf einen Blick auf die Kluft; es war nicht sehr weit, aber es war dunkel. Und der Boden war tief unten. Die Äste der Eiche kamen ihm nicht sicherer vor als die schmale Steinmauer. »Hab keine Angst, Bridei«, sagte Tuala. Die leise, klare - 590 Stimme brachte ihn in die Kindheit zurück; selbst als kleines Mädchen war sie so sicher, so überzeugend gewesen, dass er ihr nur glauben konnte. »Hier, nimm meine Hand.« Sie kam näher, die Füße sicher auf einem Ast, einen Arm nach ihm ausgestreckt. Er griff nach ihrer Hand, packte sie, trat hinüber. Er sah sie an, sie erwiderte seinen Blick, Augen klar wie Mondlicht, tief wie ein geheimer Teich, lieblich wie Tau an einem Frühlingsmorgen. Er spürte ihre Berührung in jeder Faser seines Körpers. Begehren durchdrang ihn, berauschend und gefährlich. Er ließ ihre Hand los und setzte sich ungeschickt an eine Stelle, wo ein massiver Ast von dem dicken Stamm abzweigte. »Ich...«, begann er. »Ich ...«, sagte Tuala im gleichen Augenblick. »Du zuerst«, sagte er und fragte sich, ob sie diese Begegnung beide vollkommen verderben würden, fragte sich, ob es überhaupt eine Möglichkeit gab, es richtig zu machen. »Ich habe so lange darauf gewartet, dich zu sehen«, sagte Tuala leise, »und jetzt scheint es keine Worte zu geben. Nicht nach dem Tortag. Nicht nach dem, wozu sie dich gezwungen haben.« Er war entsetzt. »Woher weißt du davon?« »Ich habe es gesehen. Ich habe ins Wasser geschaut; ich musste es sehen. Fola war zornig, und sie hatte Recht. Bridei, das war... es war schrecklich. Finster und grausam. Du warst sehr stark in dieser Nacht. Es ist kein Wunder, dass der König müde aussieht.« »Er klammert sich mit letzter Kraft ans Leben. Niemand hätte erwartet, dass er so lange überleben würde. Tuala?« »Mhm?« Er wünschte sich, sie würde näher kommen; dort, wo sie saß, war sie so gerade eben außer Reichweite, lehnte sich gegen einen aufsteigenden Ast des Baums, die Knie unter den Rock gezogen, die Arme darum geschlungen. Ihr Haar war - 591 gewachsen; es war nun lang genug, dass sie es wieder im Nacken zusammenbinden konnte. Weiche Locken waren dem Band entkommen und rahmten ihr Gesicht. Er sah die geschwungenen Brauen, die kleine, feine Nase, den süßen Mund. Seine Hände schienen ohne sich zu rühren zu wissen, wie es sich anfühlen würde, über diese blasse Wange zu streicheln, an dem zarten Nacken zu verharren, ihre weichen Wölbungen mit Leidenschaft und
Ehrfurcht zu berühren; sein Körper sagte ihm mit vollkommener Sicherheit, welche Freude darin liegen würde, sie zu erfreuen ... »Wolltest du mich etwas fragen?«, sagte Tuala. Bridei wurde wieder ins Hier und Jetzt zurückgerissen. »Du weißt es, nicht wahr? Du hast herausgefunden, was sie mit mir vorhaben?« Tuala nickte. »Ich habe es gewusst, seit ich klein war.« »Du hast nie etwas davon gesagt.« »Es war besser für dich, es nicht zu wissen. Und es dann selbst herauszufinden. Es ist eine schwere Last für einen jungen Mann.« Bridei schwieg eine Weile. »Ich wusste nicht, wie schwer«, sagte er schließlich, »bis zum Tortag. Ich tat, was von mir erwartet wurde; Drust brauchte mich, und ich achte und liebe ihn als meinen König und den bevorzugten Krieger des Flammenhüters auf Erden. Aber ich weiß nicht, ob ich das wieder und wieder tun kann, all die langen Jahre einer Herrschaft als König. Ich gehorche den Göttern, wie es ein treuer Sohn von Fortriu tun sollte. Ich sehne mich danach, unser Land und unser Volk weiterzubringen. Aber... ich denke, ich sollte mich vielleicht nicht als Kandidat aufstellen lassen, Tuala. Dieser Ritus hat mich entsetzt, hat mich abgestoßen. Ich sage dies, während die Leuchtende zusieht, und ich hoffe, sie verzeiht mir meine offenen Worte. Wenn feststeht, dass der König von Fortriu ein solches Opfer bringen muss, um den Namenlosen zufrieden zu stellen, dann sollte dieser König vielleicht nicht Bridei, Sohn des Maelchon, sein. Ich - 592 habe gesehen, was das Ritual Broichan angetan hat, den ich immer für unverwundbar hielt. Er war von Scham geschüttelt, gebrochen und alt. Sollte ein Mann das ertragen müssen? Es tut mir Leid. Ich bin nicht hierher gekommen, um dich damit zu belasten.« Tuala schaute auf ihre Hände hinab. »Du wolltest mir nichts davon sagen?«, fragte sie. Er hörte ihren vorsichtigen Ton, die Anstrengung, neutral zu sein, und hätte weinen können. »Es ist ungerecht«, sagte er. »Du bist jetzt eine Weise Frau und folgst dem Ruf der Leuchtenden; du lebst mit dem täglichen Wissen um die Liebe der Göttin. Das Letzte, was du brauchst, ist das Gewicht meiner Unsicherheiten.« »Du wirst andere finden, mit denen du sie teilen kannst, Bridei.« Sie klang leise und kläglich. »Andere, die angemessener sind. Aber ich werde immer deine Freundin sein.« Die Worte kamen ihm vor wie ein niederschmetternder, endgültiger Schlag: eine Todesstrafe. Die Distanz zwischen ihnen war plötzlich gewaltig, unendlich, eine klaffende Schlucht. Sie hatte sich von ihm gelöst; er hörte es ihr an. Die Leuchtende hatte eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen geschaffen. »Meine Freundin«, brachte er heraus. »Das hatte ich in der Tat erhofft, aber ich werde dich nicht wieder sehen, nun, da du den Weg der Göttin gewählt hast. Es ist eine Ehre für dich, und du wirst für Banmerren von großem Nutzen sein, da bin ich überzeugt.« Die Götter mochten ihm helfen, jetzt klang er so steif und förmlich, als spräche er mit einer entfernten Bekannten. Sein Kopf begann zu dröhnen. »Bridei?« »Ja?« »Du musst König werden. Du musst dich zur Wahl stellen. Es muss geschehen. Ich habe es gesehen, und Broichan ebenfalls. Fola auch, denke ich. Du musst es tun.« »Ich glaube nicht, dass ich das kann.« Nicht ohne dich. - 593 »Ich weiß, dass der Tortag schlimm war; grausam, schrecklich. Ich weiß von den anderen Dingen: der Schlacht, Donal. Traurige Dinge. Ich wünschte, ich wäre da gewesen, damit du jemanden hattest, mit dem du sprechen konntest. Aber du musst tapfer vorangehen, wie du es immer getan hast. Es gibt eine Lösung, da bin ich sicher, eine Lösung, die für die Götter und für die Menschen akzeptabel ist. Ich weiß, dass du diese Lösung finden wirst. Versprich es mir, Bridei. Versprich mir, dass du weitermachst.« Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er konnte sie jetzt nicht ansehen. So viel von der alten Wärme hatte plötzlich in ihrer Stimme gelegen, ihre Worte waren lebhaft und herausfordernd gewesen. Wie hatte sie das gemeint, angemessenere andere? Wer konnte wohl angemessener sein als Tuala selbst? Sie wusste doch sicher, wie sehr er sie liebte. »Versprich es mir«, sagte sie wieder, und in diesem Augenblick erklang ein Pfiff von unter der Mauer: Faolan teilte Bridei mit, dass sie gehen mussten. So bald schon. »Ich verspreche es«, sagte er und blickte auf. Sie lächelte. Die Götter mochten ihm helfen - wie konnte er sie so sehen und nicht die Arme um sie legen und mit seiner Not wie ein dummer Junge herausplatzen, der nichts von druidischer Disziplin wusste? Und dennoch, wie konnte er sich abwenden? Das hier war vielleicht das letzte Mal, dass er sie sehen würde. Er durfte sie nicht wieder berühren; das wäre eine schreckliche Ungerechtigkeit ihr gegenüber. Er musste eine neue Ecke in seinem Kopf für sie schaffen, einen getrennten Platz, wo sie rein und unberührt blieb, sicher hinter hohen Mauern, eine Dienerin der Göttin, nicht belastet von den finsteren Prüfungen, den gefährlichen Machtspielen seiner eigenen Zukunft. Es anders zu machen wäre vollkommen eigensüchtig. »Ich muss gehen«, sagte er und sah, wie ihr Lächeln verschwand. Ihre Augen waren plötzlich wieder die eines Kin-
- 594 des, das allein im Dunkeln wartet und Angst hat einzuschlafen. »Es ist besser so«, sagte er, aber der Versuch, seine Stimme zu beherrschen, war jämmerlich erfolglos; seine Worte kamen als ersticktes Flüstern heraus. »Wenn du das willst, Bridei.« »Ich muss gehen. Faolan wartet. Ich ...« »Sei vorsichtig beim Klettern. Nimm meine Hand ...« »Nein, ich schaffe es schon ...« Irgendwie war es auf diesem Ast, der über die Kluft reichte, unmöglich, sie nicht zu berühren, so sehr er auch versuchte sich abzuwenden, zu gehen, bevor er vollkommen die Beherrschung verlor und Broichans Belehrungen zu Hohn und Spott machte. Irgendwie war sie direkt hinter ihm, ihre Hand in seiner, und er hielt schwer atmend inne und kämpfte mit allem, was er hatte, gegen diese Flut der Sehnsucht an, die ihn durchdrang, stärker als Logik, stärker als Vernunft, mächtiger sogar als der Wille der Göttin ... beinahe ... »Nicht so«, flüsterte Bridei. »Nein, nicht so ...« »Bridei.« Tuala stellte sich auf die Zehenspitzen, vollkommen im Gleichgewicht, und streckte die Hand aus, um sie an seine Wange zu legen, wo sich nun die Wirbel und Bögen der Kriegerzeichen auf seiner hellen Haut abzeichneten. Er spürte, wie ihr Daumen sich sanft bewegte; er sah ihren Blick, einen Blick, der die vorherige Kühle Lügen strafte. Er hob die Hand, legte sie auf ihre, drückte sie gegen sein Gesicht, und dann brachte er gegen seinen Willen ihre Handfläche an seine Lippen. Er hörte, wie sie plötzlich ausatmete, ein Echo dessen, was in seinem eigenen Herzen geschah. Unter ihnen im Schatten des Gartens flackerte ein Licht auf. Jemand ging mit einer Laterne den Weg entlang, vielleicht auf der Suche nach Tuala. »Schnell!«, zischte Tuala. »Schnell, geh! Sie dürfen dich hier nicht finden!« - 595 Er kletterte hinüber. Seine Hand lag immer noch in ihrer, er konnte kaum loslassen. Im letzten Augenblick drehte er sich noch einmal um, und sie hob ihm das Gesicht entgegen, die Augen strahlend, der Mund so bezaubernd wie eine Sommerrose, die Haut schimmernd im Licht der Leuchtenden. Drunten konnte er hören, wie sich Schritte näherten. »Lebe wohl«, sagte er unsicher und wollte sich umdrehen. Er konnte es schaffen, er musste es tun, um ihretwillen. »Bridei.« Ein Flüstern. »Ich habe das nicht ernst gemeint, was ich vorher gesagt habe. Du hast mir so gefehlt...« Er spürte ihre Hände auf beiden Seiten seines Gesichts; sie zog ihn an sich. Einen Augenblick später begegneten sich ihre Lippen, ein wenig schüchtern, ein wenig ungeschickt, aber oh, so süß, dass er glaubte, er müsste sterben, wenn das Feuer in seinem Körper nicht gewesen wäre, das ihm sagte, dass er sehr lebendig war, tatsächlich lebendiger als je zuvor. Er hielt sich mit einer Hand an einem Zweig fest; er war in Gefahr zu vergessen, wo er sich befand, so hoch über dem Boden, dass ein einziger Schritt den Tod bedeuten konnte. Seine Lippen teilten sich; der Kuss wurde tiefer, weckte Empfindungen, die einer Folter nicht unähnlich waren, einer Folter, von der man sich wünschte, sie würde niemals enden, es sei denn, sie wurde zu mehr, zu etwas, was er so unbedingt wollte, dass er vieles opfern würde, um es zu erhalten... aber nicht ihre Sicherheit oder ihren Ruf. Er musste gehen. Wenn er hier gefunden wurde, würde Tuala ihren Platz in Banmerren verlieren, und seine eigene Zukunft wäre ebenfalls in Gefahr. Er zog sich zurück, hörte sein eigenes abgerissenes Atmen, spürte das Gleiche bei ihr. Ihre Hand umklammerte seine, fest genug, um wehzutun. »Beim nächsten Vollmond«, flüsterte sie. »Lebe wohl, Bridei. Kehre sicher in die Festung zurück.« »Und du ins Haus«, brachte er heraus und ließ los. Sie wartete oben auf der Mauer, während er hinabstieg; als er den Boden erreicht hatte, fiel das Seil herunter, das sie von - 596 der Eiche losgebunden hatte. Bridei schaute nach oben, aber Tuala war bereits verschwunden. Er war allein mit dem Mond und dem schweigenden Faolan und dem donnernden Schlagen seines eigenen Herzens. Das Gute Volk brauchte nicht laut miteinander zu sprechen, um einander zu verstehen. Für die ältere Weise Frau Luthana, die Tuala nun unter Tadeln von ihrem Baum herunterzitierte und sie nach drinnen führte, so empört, dass die Lampe in ihrer Hand wackelte, schien es, dass sich niemand sonst auf der Eiche befunden hatte als ihre ungehorsame Schülerin mit dem blassen Gesicht und dem wirren dunklen Haar, diese seltsame junge Frau, die entschlossen schien, die Regeln zu beugen und bis an ihre Grenzen zu dehnen. Aber sie waren dort, die Geschöpfe, die Tuala als Weide und Geißblatt kannte, sie mit dem spinnwebfeinen Gewand und dem Silberhaar wie Ketten von Tautropfen, er mit all dem üppigen Waldleben, Zweig und Blatt, Moos und Farn. Sie duckten sich nun in eine Astgabel der Eiche und unterhielten sich, ohne einen Laut von sich zu geben. »Endlich bewegt sich etwas. Hast du gesehen, was sie getan hat, wie sie ihn ansah, ihn berührte, ihm ihre Lippen bot? Unser kleines blasses Geschöpf ist bei all ihrem zurückhaltenden Gehabe tatsächlich zur Frau geworden. Ich fürchte, sie macht es Bridei zu einfach.« »Glaubst du? Er kann sich nicht für sie entscheiden und gleichzeitig König werden. Das glaubt er jedenfalls. Wird er seine Pflicht gegenüber Fortriu über die Sehnsucht seines Herzens stellen? Wie will er beides
miteinander in Einklang bringen?« »Er muss selbst einen Weg finden. Darin besteht die Prüfung. Er muss nicht nur für die Männer und Frauen, die er anführen wird, sondern auch für die uralten Mächte der Richtige sein. Für die Götter. Das versteht er. Und für uns.« »Und das vergisst er.« - 597 »Das mag sein. Wir müssen ihn daran erinnern. Fortriu braucht ihn. Es gibt keinen anderen, der uns vorwärts führen kann.« »Und er braucht sie. Ein Dilemma. Sie werden sie niemals akzeptieren. Was ist mit Broichan?« Geißblatt grinste schief. »Broichan spielt mit ihnen allen, bewegt sie entsprechend seiner Laune auf dem Spielbrett hin und her. Lässt sie springen. Aber der Druide ist nicht der Einzige, der dieses Spiel beherrscht. Er wird vielleicht feststellen, dass es komplizierter ist, als er sich jemals hätte träumen lassen. Es könnte durchaus passieren, dass er sich eines Tages besiegt findet.« »Von...« Geißblatt wandte sich seiner Freundin zu und schaute ihr in die hellen, rätselhaften Augen. »Wir werden sehen«, sagte er. »Für diesen jungen Mann halten die Götter noch eine letzte Prüfung bereit. Aber erst später, zum Ende hin. Inzwischen werden wir unsere Rolle spielen. Wir werden diese beiden in einen Tanz führen.« Weide lachte, ein kurzes, helles Glöckchenklingeln. »Diese Menschen entmutigen mich. Sie können so blind sein. Nun gut... wie sehr will er sie wirklich haben? Wird er ihr sogar in ein Reich folgen, in dem selbst die Leuchtende nicht wagt, sich zu zeigen? Wird er sich dem gegenüber, den er liebt und achtet wie einen Vater, als stark und trotzig genug erweisen?« »Wir werden es schon bald erfahren«, sagte Geißblatt mit einem Schulterzucken. »Drust wird nicht mehr lange in dieser Welt verweilen. Sie sammeln sich bereits um ihn, die Messer bereit. Dummes Volk. Dieser junge Mann strahlt unter ihnen wie ein heller Stern. Dennoch, er muss sich der letzten Prüfung stellen. Was meinst du, hat sie uns gesehen?« »Sie wusste, dass wir sie beobachten.« Weide warf ihr schimmerndes Haar zurück. »Es hat sie veranlasst, ihre - 598 Worte zu beherrschen, ebenso wie ihren Blick. Aber ihre Liebe schimmerte durch ihren kleinen Versuch, kühl zu sein; ihren jämmerlichen Versuch, sich selbst davon zu überzeugen, dass er mit einer von diesen glatthaarigen Prinzessinnen besser dran ist und sie selbst hinter den Mauern von Banmerren verschmachten sollte. Sie ist erheblich sicherer als er.« »Natürlich«, sagte Geißblatt. »Sie ist eine von uns.« - 599 KAPITEL FÜNFZEHN Der Winter machte seine Gegenwart sehr deutlich, peitschte Caer Pridne mit kaltem Wind und durchtränkte es mit ununterbrochenem Regen. Es war nicht möglich auszureiten; nur jene, die etwas sehr Dringendes zu tun hatten, wagten sich nach draußen. Faolans Haltung wich nicht sonderlich von seiner üblichen kühlen Gelassenheit ab, aber er wurde ungeduldig. Bridei, der auf die feinsten Veränderungen in der Stimme und dem Veralten eines Menschen eingestimmt war, erkannte das deutlich. Faolans Plan, den Feind nach draußen zu locken und zu einem Angriff zu provozieren, war vorerst vereitelt worden, und ausgerechnet von etwas so Banalem wie dem Wetter. Der Gäle ging in den Fluren von Caer Pridne auf und ab, man sah, wie er angespannt die Gespräche der Küchensklaven belauschte, der Arbeiter, die das undichte Dach reparierten, der Kinder, die während einer kurzen Unterbrechung des Regens mit einem Ball spielten. Er heckt einen neuen Plan aus, dachte Bridei. Und in der Zwischenzeit plant irgendwer irgendwo, mich umzubringen. Bridei versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was unvermeidlich bald geschehen würde. König Drust hatte sich seit dem Tortag noch einen ganzen Mond ans Leben geklammert, aber das Ende war nah, und nun rief er sie einen nach dem anderen in den kleinen Raum, in dem er seine Ta- 601 ge trotz des warmen Feuers und der Heilkräuter in einen Umhang gewickelt und nach Atem ringend verbrachte. Drust verabschiedete sich von jedem: es gab Worte der Anerkennung, der Anleitung für die Zukunft, Worte der Freundschaft und Dankbarkeit. Manchmal war es nichts weiter als das Eingeständnis, dass eine Veränderung bevorstand, gewollt von den Göttern, die das Leben all dieser Menschen und das von Fortriu selbst beherrschten. Bridei wunderte sich, wieso trotz dieses bevorstehenden Verlusts seine Gedanken so häufig um Tuala kreisten: um jede Bewegung, die sie gemacht, jedes Wort, das sie gesprochen hatte, und um die unausgesprochenen Dinge, die er glaubte in ihren Augen gesehen zu haben. Und um ihre Berührung; das mehr als alles andere. In seinem Kopf ging er es wieder und wieder durch: seine eigenen jämmerlichen Versuche, ihr zu sagen, wie viel sie ihm bedeutete, sein Versagen, dem Ausdruck zu verleihen, die Worte, die sie am Ende geflüstert hatte, die Tatsache, dass er sich gestattet hatte, ihren Kuss zu erwidern - ah, die Erinnerung daran war immer noch süß auf seinen Lippen! -, wenn er doch wusste, dass er sie nicht verleiten sollte, ihre Zuflucht zu verlassen, da er ihr außerhalb dieser Mauern nur so wenig geben konnte. Wollte die Göttin dieses seltene kleine Geschöpf denn nicht für sich haben? Und dennoch hatte Tuala gesagt: Beim nächsten Vollmond, und er war nicht im Stande gewesen zu flüstern: Nein, ich darf nicht, wir dürfen nicht. Er war nicht im Stande gewesen, sich ihr zu widersetzen, und er würde gehen, Faolan oder nicht. Was daraus entstehen würde, wusste er nicht. Es wäre ein
schreckliches Risiko. Die Wahl würde dann vielleicht schon kurz bevorstehen und jede seiner Bewegungen schärfstens beobachtet werden. Sein Instinkt riet ihm, es nicht zu tun. Aber er musste es tun; Tuala würde auf ihn warten. Er musste es tun: Jede Faser seines Körpers sehnte sich danach. Er dachte Tag und Nacht an sie, es war so sehr ein Teil von ihm, dass er sich fragte, wie er je- 602 mals ohne sie weiterleben könnte. Es war wie eine Krankheit; es fraß an ihm, folgte ihm in seinen unruhigen Schlaf, erfüllte diese Zeit mit beunruhigenden Träumen, in denen er ihren Spuren durch den Wald folgte, allein, im Dunkeln, und wusste, wenn er sie nicht bald fand, würde er sie nie wieder sehen. Er wusste in diesen Träumen, dass sie vor ihm davonrannte, dass sie vorhatte, eine Grenze zu einem Ort zu überqueren, an den er ihr nicht folgen konnte. Wusste, dass er ihr nicht folgen sollte, nicht, wenn er kurz davor stand, König zu werden; wusste, dass er ohne sie bestenfalls ein halber Mann war. Er versuchte, diese Bilder aus seinem Kopf zu zwingen, aber sie wollten nicht gehorchen. Er sagte sich, dass alles seine Schuld war; er hätte nie nach Banmerren gehen dürfen. Er erfuhr nun, wieso es Regeln gab, die Männer von diesem Ort der Göttin fern hielten. Aber er hätte es um keinen Preis rückgängig machen wollen. Um nichts in der Welt hätte er diese Begegnung missen wollen. Und er würde wieder zu ihr gehen. Diesmal würde er es ihr ganz offen sagen. Er würde aussprechen, was in seinem Herzen war; er würde sie bitten, mit ihm zu kommen. Seine Frau zu werden. Das war es, was er falsch gemacht hatte. Er hatte es ihr nicht gesagt, er hatte ihr nicht die Möglichkeit gegeben, sich zu entscheiden. Und sie war sehr unabhängig, das hatte er von Anfang an gewusst. Es war ihm nach ihren geflüsterten Worten und dem Kuss vorgekommen, als würde sie Ja sagen, aber er war sich nicht vollkommen sicher. Wenn sie Nein sagte, würde er es akzeptieren und seinen Weg ohne sie gehen müssen. Er wusste allerdings nicht genau, wie er das schaffen sollte. Dann kam ein Morgen, an dem Bridei zum König gerufen wurde. Es war lange her, seit Drust sich aus dem kleinen Zimmer herausbegeben hatte, zu dem seine Welt geschrumpft war, als die Krankheit ihn überwältigte, und Bridei war erschüttert über das Aussehen des Königs, ganz vorstehende Knochen und bleiche, pergamenttrockene Haut. Es - 603 war unbequem heiß im Zimmer; Königin Rhians Gesicht war scharlachrot, ihr Bruder Owain hatte sich bis auf Hemd und Hose ausgezogen und schwitzte trotzdem. Drust schauderte in einem wollenen Umhang, eine dicke Decke über den Knien. Ein Hund lag zu seinen Füßen, Unruhe in den treuen Augen. »Herr.« Bridei ließ sich nicht ansehen, was er dachte; er begrüßte den Herrscher mit der förmlichen Verbeugung, dem höflichen Ton, den solche Situationen verlangten. »Du hast nach mir geschickt?« »Komm. Setz dich.« Drust ging sparsam mit der Kraft um, die ihm geblieben war, damit er sie alle noch sehen und sagen konnte, was gesagt werden musste, so lange er noch eine Stimme hatte. Bridei setzte sich. Die Königin und ihre Helfer bewegten sich mit der stillen Kompetenz von Menschen, die lange daran gewöhnt sind, sich um einen Kranken zu kümmern. Bettwäsche wurde gewechselt, ein Gefäß geleert, das Feuer geschürt, ein Kräuteraufguss vorbereitet, aber diese Helfer waren so unauffällig, dass es Bridei beinahe vorkam, als wäre er allein mit dem König. Drusts Augen waren hell, und ein leidenschaftlicher Wille glühte in seinem verwüsteten Körper. »Carnach«, sagte Drust. »Sprich mit ihm. Biete ihm... Stellung. Vertrauen... Status ...« Bridei nickte. »Wir müssen zusammenarbeiten«, sagte er. »Ich werde ihn aufsuchen. Was ist mit Tharan?« Drust versuchte zu lächeln; es machte sein Gesicht einem Totenkopf sehr ähnlich, und Bridei unterdrückte den Impuls zu einer Abwehrgeste. Die schwarze Krähe schwebte heute dicht über ihnen; er konnte das Schlagen ihrer dunklen Flügel spüren. »Es ist Carnachs Entscheidung«, sagte der König. »Er hat seinen eigenen Willen. Wenn Carnach keinen Anspruch erhebt, wird er eben keinen Anspruch erheben. Wenn er sich - 604 mit dir zusammentut, hat Tharan ... keine Wahl... er wird folgen. Tharan weiß ... hat erkannt... Tortag ...« Bridei zögerte. »Herr...« Drusts Blick schien in ihn einzudringen, fest wie eine Eisenklinge. »Du kannst es tun«, sagte der König. »Du musst.« Es war nun unmöglich für Bridei zu sagen, was er sagen musste: dass er nicht glaubte, es tun zu können, Jahr um Jahr, Winter um Winter, dass die Last eines solchen Todes beinahe zu schwer zu tragen war und dass er bezweifelte, dazu fähig zu sein, es immer zu wiederholen und dabei bei Verstand zu bleiben. Aber dies auszusprechen wäre nicht nur ungehorsam gegenüber den Göttern gewesen, sondern auch schwach. Angesichts dieses Sterbenden, dessen Willenskraft so deutlich in seinen rot geränderten Augen stand, flohen Brideis Worte, bevor er sie aussprechen konnte. »Hauptgefahr ... Süden ... Bargoit«, flüsterte Drust und trank einen Schluck aus einem Becher mit Wasser, den seine Frau für ihn bereit hielt. »Sorge dafür ... Anzahl...« Bridei nickte. »Wenn Carnach sich auf meine Seite schlägt, sind wir der Anzahl von Stimmen, die wir brauchen, sehr nahe. Aniel arbeitet daran, und Broichan ebenfalls.« »Ah, Broichan... hat es gut gemacht mit dir, Sohn... mein Druide ... lange gedient, und treu ... Fortriu ... bestes Geschenk ...«
Der König wurde müde. Sein Atem war flach und gequält; trotz der Hitze, trotz des Dampfs aus den Töpfen, die auf der Feuerstelle kochten, trotz des beruhigenden Dufts der Kräuter. »Ich hoffe, ich werde mich deines Vertrauens als würdig erweisen, mein König.« Die Leuchtende mochte ihm helfen - selbst wenn er ein ganzes Leben darauf verwandte, würde er niemals der König sein, der Drust war, so stark, so gehorsam, so sehr ein Anführer. »Eine ... Sache«, flüsterte der König jetzt. »Ehefrau ... gute Wahl... ändert alles.« Drust richtete seine glänzenden Au- 605 gen auf Rhian, die an der Feuerstelle kniete und etwas in einen kleinen Topf rührte. Sein liebevoller Blick, der Schatten auf seinen Zügen in Erwartung des baldigen Abschieds zeigte deutlich, dass dieser mächtige Herrscher unter der eisernen Fassade ein sterblicher Mann und verwundbar war. »Nicht für Blut«, sagte Drust. »Nicht für Abstammung ... nicht für Wohlstand ... finde eine, die neben dir gehen kann ... das Wichtigste ...« »Ja, Herr«, sagte Bridei und sprach nicht aus: Ich weiß. Ich habe sie gefunden, aber ich weiß nicht, ob ich sie haben kann. »Geh jetzt«, sagte Drust, »Sohn... des Flammenhüters ...« »Lebe wohl, mein König. Mögen die Götter dir eine sichere Reise gewähren. Ich glaube nicht, dass Fortriu je wieder einen König haben wird wie dich.« »Kein Weinen. Nicht... um mich ... neuer König ... neuer Weg ... heller, besser ... Adler ... sei stark, Bridei.« Bridei brachte kein Wort mehr heraus. Er verbeugte sich, und als Drust einen Hustenanfall erlitt und Rhian und Owain zu ihm eilten, um ihm zu helfen, sich aufzusetzen, und Blut von seinem Gesicht wischten, als der König keuchte und würgte, schlüpfte Bridei aus dem kleinen Zimmer, vorbei an den Wachen und hinaus auf den Mauerweg, wo er trotz des Regens lange auf und ab ging. Irgendwann später an diesem Morgen kam eine Gestalt die Treppe hinauf und auf ihn zu, das Haar rund um die Tonsur vom Seewind zerzaust. Es schien, dass auch Bruder Suibne Zeit auf den Wehrgängen verbrachte und nachdachte. Bridei rang sich einen höflichen Gruß ab. Obwohl der christliche Priester für Ideen stand, die ihm schrecklich waren, für Lehren, die zu einer Spaltung der Priteni und zur Zerstörung der heiligen Orte im Süden geführt hatten, hatte er im Lauf der Zeit, die Suibne in Caer Pridne verbracht hatte, zugeben müssen, dass dieser Mann klug und tiefsinnig war und über einen - 606 trockenen, erdigen Humor verfügte. Wäre Suibne nicht gewesen, was er war, dann hätten sie Freunde sein können. Suibne stellte sich neben Bridei, stützte die verschränkten Arme auf die Brüstung und schaute hinaus aufs Meer. Der scharfe Nordwind peitschte das Wasser zu schäumender, brodelnder Unordnung. »Es tut mir Leid zu hören, dass es König Drust schlechter geht«, sagte der Priester leise. »Man sagt mir, dass er sich heute verabschiedet. Ich habe für ihn gebetet.« »Zu welchen Göttern?«, fragte Bridei, der wusste, dass das unhöflich war, es aber dennoch aussprechen musste. »Es gibt nur einen Gott, Bridei.« Der Priester lächelte; es war nicht das erste Mal, dass sie über dieses Thema sprachen. »Einen Gott, der dir viel zu bieten hat, wenn du dich ihm zuwenden könntest. Ich sehe in deinen Augen, dass du beunruhigt und durcheinander bist. Ich nehme an, du hast schwierige Entscheidungen zu treffen, Probleme zu lösen, drängende Fragen zu beantworten.« »All das sieht man in meinen Augen? Du spekulierst zu viel. Man hat mich heute früh zum König gerufen. Ich bin traurig, ihn gehen zu sehen, das ist alles.« »Und?« Suibne hörte sich langsam ein wenig wie Broichan an. Bridei fand das ausgesprochen beunruhigend. »Ja«, sagte er, »uns steht eine Zeit der Veränderung bevor, eine schwierige Zeit. Ein Anführer wie Drust ist nicht leicht zu ersetzen. Du schlägst vor, dass ich meine Antworten beim Kreuz finde. Es hat keinen Sinn zu versuchen, mich zu deinem Glauben zu bringen. Ich wurde dazu erzogen, die alten Götter zu lieben. Ich wünsche mir nichts mehr, als das Land der Priteni wieder in den uralten Ritualen, in Verehrung der Leuchtenden und des Flammenhüters vereint zu sehen. Ich weiß, dass du im Herzen ein guter Mann bist. Aber ich kann deine Anwesenheit hier nicht gutheißen, ebenso wenig wie deinen Einfluss auf Circinn. Ihr christlichen Priester habt bei - 607 unserem Volk großen Schaden angerichtet. Ihr habt unser Königreich gespalten und unsere Fähigkeit, die Grenzen zu verteidigen, sehr geschwächt.« »Ah«, sagte Suibne, die Augen blitzend vor Interesse. »Aber wenn Fortriu sich dem christlichen Glauben zuwendete, wie Circinn es tut, würdet ihr unter dem Kreuz vereint sein. Die Lehre unseres Herrn Jesus Christus basiert auf Liebe, Frieden und Toleranz. Unser heiliges Buch lehrt uns, unseren Nächsten zu lieben. Wenn Menschen sich dem wahren Gott zuwenden, sind sie in Liebe vereint. Dann braucht man keine Armeen und keine Grenzen mehr.« »Im Prinzip ist das eine schöne Idee«, sagte Bridei. »Aber was ist mit den Galen? Das Volk von Dalriada folgt deinem Glauben; in ihrer Siedlung auf Galanys Höhe, die wir letztes Frühjahr gestürmt haben, steht ein Kreuz. Dennoch sind die Galen als die wildesten Krieger bekannt, gegen die unser Volk je gekämpft hat. Sie sind grausam; sie verstehen nicht, was Gnade ist. Wie verbindest du das mit einer Religion der Liebe?«
Suibne lächelte. »Deine Fragen zeigen deinen Hintergrund, Bridei; du bist gut ausgebildet worden. Aber versetze dich im Geist einmal an die Stelle von König Gabhran von Dalriada. Für einen Galen sind deine eigenen Leute wilde Heiden, widerspenstig und gefährlich; ein Hindernis auf dem Weg einer sauberen Eroberung des Nordens und der Errichtung genau jenes Reichs, von dem du selbst gesprochen hast: ein in einem einzigen Glauben vereintes Königreich.« »Unter der Herrschaft eines Eindringlings? Das wäre absurd. Eine solche Einheit, wenn man sie denn so nennen kann, würde sich nicht erreichen lassen, ehe jeder Mann und jede Frau von Fortriu niedergemetzelt auf dieser guten Erde läge. Sauber? Es wäre ein Sieg, der im Blut der Priteni getränkt wäre, ein Frieden gewonnen durch Gemetzel und Zerstörung.« Suibne widersprach nicht direkt, hatte aber einen Einwand. »Mit dem richtigen Anführer«, sagte er, »braucht das nicht so zu sein. Mit einem aufgeschlossenen König hier könnte der Frieden durch Verhandlungen gewonnen werden.« »Ist es das, was Drust der Eber dir zu sagen aufgetragen hat? Oder Bargoit?« »Nicht im Geringsten. Ich sage einfach nur, dass Toleranz und Nachsicht einen Mann oder sein Königreich weit bringen können. Es braucht den richtigen Anführer, um so etwas zu tun. Einen Mann von hervorragenden Eigenschaften.« »Sprichst du von Drust dem Eber?« »Ich spreche von der fernen Zukunft; von einem Frieden, der erreicht werden könnte, wenn Männer mit großen Herzen ihre Waffen niederlegten und ihren Geist Gottes Licht öffneten.« Bridei wunderte sich über die Miene des Priesters; er sah beinahe aus wie Broichan, wenn der Druide sich vor einem Weissagungsmuster oder einer Bronzeschale in meditativer Trance befand. Er hatte nicht angenommen, dass auch Christen Visionen aus der Anderwelt hatten. »Ich würde mich nie gegen die Götter meines Volkes wenden«, sagte er leise. »Nicht einmal gegen den Gott, der einen Mord verlangt?«, fragte Suibne. »Darüber werde ich nicht sprechen. Es ist verboten.« »Aber du denkst daran. Es wird in deinem Kopf sein, Jahr um Jahr, von jedem weiteren grausamen Ritual zum nächsten. Es wird dein Gewissen belasten und deinen Geist verfinstern. Sich an diese Praxis zu klammern ist nicht Loyalität, Bridei. Es ist Wahnsinn. Ich kann nicht glauben, dass ein Mann wie du, ein Mann, dem zweifellos Großes bestimmt ist, solch barbarische Taten gutheißen kann.« »Großes bestimmt? Der religiöse Berater von Drust von Circinn sagt das über mich? Das ist doch sicher ein Scherz.« - 609 »Ich spreche mit dir von Mann zu Mann, Bridei. Im Herzen bist du ein Freund des Friedens. Auch das sehe ich in deinen Augen. Und du bist jung; wer weiß, was in deiner Zukunft liegt, und in der Zukunft von Fortriu? Wir wollen beten, dass die Fürsten der Priteni weise wählen. Viel kann sich zu Lebzeiten eines einzigen Königs verändern.« Es war nicht notwendig, dass Bridei Carnach aufsuchte. Carnach fand ihn später an diesem Tag und schlug vor, dass sie ein ruhiges Eckchen finden sollten, um sich ungestört zu unterhalten. Ungestört bedeutete jedoch nicht allein, nicht, wenn beide einen Anspruch auf den Thron hatten. Sie trafen sich im Stall, wo man leicht vorgeben konnte, einem anderen Mann ein Pferd zu zeigen, das er vielleicht kaufen würde; es war erstaunlich, worüber sich sprechen ließ, während man einen Huf oder Zähne untersuchte. Breth stand wachsam ein Stück entfernt; Carnachs eigener Leibwächter, ein schlaksiger bärtiger Mann, lehnte sich gegen die Halbtür und gab sich unbeteiligt. »Du hast mit dem König gesprochen?« Carnach war direkt; sie hatten wenig Zeit für die Feinheiten höfischer Etikette, und Bridei mochte die Offenheit des rothaarigen Mannes. »Heute früh. Und du?« Carnach nickte. »Hast du einen Vorschlag für mich?« »Ja. Und wenn du Änderungen vorschlagen willst, werde ich dir gerne zuhören.« »Also sprich.« Und als er bemerkte, wie Bridei dem bärtigen Leibwächter einen Blick zuwarf: »Du kannst Gwrad vertrauen, ebenso wie ich deinem eigenen Mann traue, denn sonst hättest du ihn nicht mitgebracht. Sag es mir.« Bridei berichtete über die Bedingungen, an denen er nun mit Aniels Hilfe schon seit einiger Zeit gearbeitet hatte und die Carnachs Stellung, seinem Hintergrund und der Lage seines Territoriums direkt an der Grenze zu Circinn entspra- 610 chen. Er würde Carnach die Grenzsicherung entlang des Dornenflusses anvertrauen, der mitten durch das Land verlief und die Bergkette umging, die das eigentliche Fortriu im Nordwesten von Circinn im Südosten trennte. Alle Anführer in dieser Region würden ihm Rechenschaft schuldig sein und vom König verpflichtet werden, Männer zur Verteidigung der Grenze zur Verfügung zu stellen, wenn Carnach das verlangte. Zusätzlich würde er zum persönlichen Berater des Königs ernannt werden, ein Rang, der ihm einen besonderen Platz am Hof gab, wenn er sich dort aufhielt. Er würde eine wichtige Rolle bei allen künftigen Entscheidungen über das Verhalten gegenüber Eindringlingen spielen, seien es nun Galen, Angeln oder noch unbekannte Völker. Und es gab weitere
Anreize: Carnachs eigene Festung würde mit allen Verbesserungen ausgestattet werden, die er wünschte Steinmauern, Erdwälle, alles, was Carnach für seinen höheren Rang angemessen hielt. Und alles auf Kosten des Königs. Es gab auch eine Möglichkeit zur Heirat, wenn Carnach das wollte. Es gab junge adlige Frauen am Hof, hübsche junge Frauen. Bridei unterbreitete ihm das alles so kühl wie er konnte, aber er wusste, welch großes Opfer er von seinem Rivalen verlangte. »Ich verstehe«, erwiderte Carnach ebenso kühl. »Grenzverteidigung. Du willst, dass ich für dich die Drecksarbeit mache.« »Nicht für mich, sondern zusammen mit mir. Darum geht es doch: um Zusammenarbeit. Die Grenze nach Circinn ist verwundbar. Ich schrecke vor der Vorstellung zurück, dass wir eines Tages unseren eigenen Verwandten im Krieg gegenüberstehen, aber die Differenzen zwischen uns wurden durch das Eintreffen von Bargoit und seinen Lakaien sehr deutlich gemacht. Wenn diese Grenze stark ist, können wir uns nicht nur der Machtgier des Ebers und seiner Anhänger widersetzen, sondern auch dem heimlichen Vordringen ihres neuen Glaubens. Halte den Dornenfluss, und wir kön- 611 nen mit der Zeit unsere Aufmerksamkeit nach Westen wenden. Ich plane, einen großen Kreis von Beratern zu haben. Einige meiner Entscheidungen werden den älteren, konservativeren Männern nicht gefallen. Es wäre ein Privileg, dich zu meinem inneren Kreis zählen zu dürfen, Carnach. Du hast König Drusts Respekt, und den von vielen Männern, auf die ich mich verlasse, unter anderem Aniel und Talorgen.« »Und Broichan?« »Broichan war unsicher, ob du dich auf Verhandlungen einlassen würdest, selbst nach dem Tortag. Ich war überzeugt, dass du mich zumindest anhören würdest. Ich betrachte dich als einen Mann von gutem Urteilsvermögen, und ich weiß, dass du Fortriu liebst.« »Und dennoch konnte ich es nicht tun. Am Tortag.« Bridei schwieg. »Sag mir«, forderte Carnach, »was, wenn ich ein Gegenangebot machte? Wenn ich dir ähnliche Bedingungen vorschlüge, damit du deinen eigenen Anspruch zurückziehst?« »Du könntest deinen Vorschlag machen, und ich würde ihn mir anhören; es wäre unhöflich, das nicht zu tun. Aber ich werde meinen Anspruch nicht zurückziehen. Ich weiß, dass ich mich zur Wahl stellen muss. Der Flammenhüter verlangt es.« »Mhm.« Carnach lächelte beinahe. »Ich will keine Frau. Es gibt eine junge Frau zu Hause; sobald ich weiß, wie es hier weitergeht, werden wir uns die Hände reichen. Sie stammt nicht aus einem Königshaus, aber sie gefällt mir. Und noch zwei Dinge: Ich will die Dienste des königlichen Steinmetzes für einen Sommer, um meine Verwandtschaftszeichen auf dem Hügel oberhalb meines Heims anzubringen. Ich kann allerdings warten, wenn du mir zusicherst, dass er mir zur Verfügung stehen wird. Ich nehme an, Garvan wird noch ein Jahr hier zu tun haben.« »Und das andere?« - 612 Carnach wirkte ein wenig verlegen. »Meine Frau - meine zukünftige Frau - ich möchte ihr gerne ein besonderes Geschenk machen, da sie nur wenig eigenen Schmuck hat. Vielleicht einen kleinen Vorrat vom besten Silber und die Dienste eines guten Handwerkers? Ich weiß, was für ein Muster ich haben will, Spiralen und Hunde; sie mag Hunde sehr gern. Und vielleicht eine Kleinigkeit für meine Mutter.« »Selbstverständlich«, sagte Bridei. »Was Garvan angeht, so werde ich es ihm überlassen, welche Arbeiten er zuerst erledigen möchte. Es wird selbstverständlich einiges hier für ihn zu tun geben, immer vorausgesetzt...« Er schwieg. Er hatte gewisse Vorstellungen, was die Zukunft von Caer Pridne anging, eine Idee, die sich in seinem Kopf herausgebildet hatte, seit er Tuala gesehen hatte und sich von ihr verabschieden musste, ohne die Worte seines Herzens wirklich gesprochen zu haben. Aber er durfte jetzt nicht davon sprechen. Er war immer noch weit vom Thron entfernt. »In der Tat«, sagte Carnach, der das falsch verstand. »Wir dürfen nichts übereilen. Nun, ich brauche ein wenig Zeit, um über deinen Vorschlag nachzudenken. Ich sollte mit ein paar Leuten sprechen, besonders mit Tharan. Ich denke, ich kann dir eine Antwort für diesen Abend versprechen. Deine Vorschläge sind nicht unvernünftig. Du runzelst die Stirn, Bridei. Du wirst mit der Zeit feststellen, dass ich vertrauenswürdig bin und meine eigenen Entscheidungen fälle. Wenn ich mich mit dem Berater des Königs bespreche, demonstriere ich damit nur Umsicht. Man gibt die Gelegenheit, König zu werden, nicht leichtfertig auf.« »Es tut mir Leid«, sagte Bridei. »Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.« »Der Sand rinnt rasch durch das Glas«, sagte Carnach ernst. »Ich habe Drust heute früh gesehen, ebenso wie du. Wenn wir uns einigen wollen, so lange er noch lebt, sollte das sein, bevor der Flammenhüter erneut hinter den Horizont sinkt. Gwrad wird dir meine Antwort überbringen.« - 613 Als sich der Haushalt von Caer Pridne an diesem Abend zum Abendessen versammelte, wusste Bridei, dass der Wettbewerb nur noch zwischen zwei Männern stattfand: ihm selbst, jung, unbekannt und unerprobt, und Drust, Sohn des Girom, dem christlichen König von Circinn, der beide Reiche beherrschen wollte. Wenn es keine Überraschungen mehr geben würde, wie einen Kandidaten der Caitt, würde es dabei bleiben. Carnach hatte die
Bedingungen akzeptiert; sie waren übereingekommen, die Sache bis zur öffentlichen Vorstellung der Kandidaten geheim zu halten, sodass die Gruppe aus Circinn weiterhin glauben würde, dass Fortrius Stimmen gespalten waren und ihr eigener Mann der wahrscheinliche Sieger sein würde. Wredech hatte sich überzeugen lassen, dass er sich lieber an sein Vieh und die relative Unbekanntheit halten sollte, und war aus dem Rennen ausgeschieden. Die Königin und ihr Bruder hatten nun schon seit mehreren Tagen nicht am Abendessen teilgenommen; Drust verlangte nun die ununterbrochene Anwesenheit eines der beiden, und dazwischen wechselten sie sich mit erschöpftem Schlaf ab. An diesem Abend fehlten auch noch andere: Broichan, Aniel, Tharan, Eogan und mehrere ihrer Leibwächter waren nirgendwo zu sehen. Bargoit erschien in Begleitung von Fergus und Bruder Suibne. Bargoit hatte am Brunnen der Schatten alle verblüfft: Niemand hatte angenommen, dass er Zeuge des Rituals werden wollte, nachdem er zuvor seine äußerste Ablehnung einer nach seiner Ansicht barbarischen und widerwärtigen Praxis bekundet hatte. Danach hatte er wenig gesagt. Bridei hatte seine eigenen Ideen darüber. Bargoit konnte dem Brunnen nicht fern gehalten werden; er war der Botschafter des Königs von Circinn, und als solcher durfte er sich frei an den geheimen Orten der Männer von Fortriu bewegen. Die Überlieferung sagte nichts über Christen. Tatsächlich war nie vollkommen klar geworden, ob Bargoits Unterstützung der Veränderungen im Land - 614 von Drust, Sohn des Girom, bedeutete, dass er tatsächlich selbst ein getaufter Christ war. Bruder Suibnes Worte an diesem Morgen hatten Bridei beunruhigt. Er fragte sich, ob ein Mann aus Fortriu die alten Götter wirklich jemals vollkommen aufgeben konnte. Bargoit war selbstverständlich ein Stratege. Zweifellos würde der Berater von Drust dem Eber die Vertreter von Circinn, wenn sie erst alle eingetroffen waren, darüber informieren, was am Brunnen der Schatten geschehen war, besonders über die Rollen des einflussreichen und gefährlichen Broichan und seines Pflegsohns, der nichts weiter war als ein Werkzeug des Druiden. Bargoit würde in Einzelheiten berichten, was er gesehen hatte: ihre Hände ausgestreckt, um das Mädchen unter Wasser zu drücken. Er würde allen berichten, dass er Zeuge eines Mordes an einer Unschuldigen geworden war. Es war still in der Halle. Die Anwesenden unterhielten sich leise und aßen wenig. Der Barde des Königs hatte das Kinn in die Hand gestützt und starrte in sein Bier, die Harfe still in ihrem Lederbeutel an seiner Seite. Wenn er die Saiten wieder wecken würde, dann zu einer Klage. Bridei sah, dass Dreseida Gartnait stirnrunzelnd anschaute. Ferada wirkte blass und distanziert, Ana unruhig, denn da so viele am Tisch des Königs fehlten, saß sie beinahe allein. Gartnait sprach nun mit seinem Vater. Bridei saß zwischen Garth und Ged von Abertornie, und Breth stand hinter ihm und agierte als Vorkoster. Selbst Ged war an diesem Abend still; er arbeitete sich durch die Hammelpastete, ohne viel zu sagen. Sie warteten alle. Die Bretter waren noch nicht lange weggeräumt, als Broichan die Halle betrat. Etwas in seiner Miene brachte alle zum Schweigen. »Unser König ist von uns gegangen«, verkündete der Druide schlicht. »Die Knochenmutter hat ihn hinter den Schleier gezogen. Es war eine Gnade. Trinkt auf sein Andenken, erzählt von seinen großen Taten, feiert seinen Mut. - 615 Morgen im Morgengrauen werden wir das Beisetzungsritual vollziehen.« »Und dann geht es los«, murmelte Ged. »Ich hoffe, du bist bereit, Bridei. Ein Mond, dann wird die Versammlung stattfinden. Du wirst sehen, dass sich Caer Pridne in einen Ort des Wahnsinns verwandelt. Möge die Leuchtende uns alle behüten.« »Wir müssen helfen, die Ordnung zu wahren«, flüsterte Bridei. »Um seinetwillen. Er war ein guter König, würdig und stark. Die Götter mögen ihm eine friedliche Reise gewähren.« »Eins ist sicher«, sagte Ged und warf quer durch die Halle einen Blick zu Bargoit. »Ohne den da wären wir besser dran.« Entsprechend den Wünschen des Königs und unter Broichans Aufsicht errichteten sie einen großen Scheiterhaufen auf dem Strand unterhalb von Caer Pridne und schickten Drust den Stier mit Feuer und Wasser auf seine letzte Reise. Es hörte gerade lange genug auf zu regnen. Dann warf Broichan die Birkenstäbchen zur Weissagung und konsultierte die Leuchtende, und er erklärte, dass man im Hinblick auf die Jahreszeit eine gewisse Flexibilität walten lassen solle, was den Zeitpunkt der Versammlung anging, da die Fürsten aus Circinn die Nachricht vom Dahinscheiden des Königs vielleicht nicht früh genug erhalten würden, um den Weg nach Caer Pridne in dem üblichen Zeitraum von einem Mondzyklus zurücklegen zu können. Diesmal, sagte Broichan, würde es zusätzliche sieben Tage Zeit geben. Es gab Gemurmel, als er das verkündete - warum hielt er den Zeitraum nicht bewusst kurz und sorgte damit dafür, dass Fortriu eine bessere Chance zur Mehrheit hatte? Andere Stimmen, darunter die von Aniel, brachten die Unzufriedenen zum Schweigen. Die Zeit für die Reise zu verkürzen hätte bedeutet, Circinn einen Grund zu geben, die Wahl für ungültig zu erklären, und das wiederum würde einer weiteren lan- 616 gen Zeit des Konflikts Tür und Tor öffnen. Den Männern aus dem Süden weitere sieben Tage zu geben, war ebenso weise wie nützlich. Der neue Zeitpunkt bedeutete, dass die Kandidaten ihren förmlichen Anspruch zu Mittwinter anmelden würden, ein günstiges Zusammentreffen. Sollte ein Anwärter nicht im Stande sein, Caer Pridne rechtzeitig zu erreichen,
konnte ein Stellvertreter in seinem Namen Anspruch erheben. Sieben Tage danach würde die eigentliche Versammlung stattfinden und abstimmen. Bei der letzten Wahl hatte es zwölf wahlberechtigte Fürsten aus Circinn und zwölf aus Fortriu gegeben, darunter auch den Vertreter der Hellen Inseln. Es war möglich, aber nicht sicher, dass die Anzahl diesmal die gleiche sein würde, wenn alle Wahlberechtigten rechtzeitig eintrafen. Sollte eine Entscheidungsstimme notwendig sein, würde sie der Weisen Frau, Fola, zufallen. »Das ist unakzeptabel«, erklärte Bargoit, als Broichan diese wichtige Einzelheit erwähnte. Er erhob sich, die Brauen unwillig zusammengezogen. »Das gibt Fortriu den Vorteil. Wenn die Weise Frau eine Stimme erhält, sollte auch Bruder Suibne hier eine haben, als Drusts religiöser Berater.« Bruder Suibne lächelte vage und schwieg. Seine Haltung wies auf seinen ehrlichen Wunsch hin, woanders zu sein. »Außerdem«, warf der andere Berater aus dem Süden, Fergus, ein, »weiß jeder, dass Fola eine Freundin von dir ist, Broichan. Ihre Stimme ist deine Stimme.« Es gab Unheil verkündendes Murren in der Halle, dessen Mittelpunkt Ged von Abertornie war. Aniel sagte mit ausdrucksloser Miene: »Das ist nicht korrekt. Ihr kennt Fola schlecht, wenn ihr glaubt, dass sie jemandes Geschöpf ist. Ich erinnere mich jedoch, dass es bei der letzten Wahl deshalb gewisse Schwierigkeiten gab. Was du sagst, hat daher eine gewisse Berechtigung.« »Gib beiden eine Stimme«, schlug Ged vor. »Dem Christen und der Priesterin. Warum nicht?« - 617 »Das würde wenig helfen. Die Anzahl wäre dann auf beiden Seiten wieder gleich«, wandte Bargoit gereizt ein. »Darf ich etwas sagen?« Bridei stand auf. »Ihr redet, als wüssten wir bereits genau, wie alle abstimmen werden; als verfügten unsere Anführer in ihren Ansichten über keine Flexibilität. Sind wir tatsächlich so festgelegt, dass wir in unseren Köpfen keinen Platz für Kompromisse und neue Ideen haben? In diesem Fall wäre es auch sinnlos, die Kandidaten sieben Tage vor der Abstimmung vorzustellen. Was würde ein Mann mehr wissen müssen als den Namen eines Bewerbers und seinen Ursprung, wenn er auf diese Weise abstimmt? Seien wir so höflich zu unseren Kandidaten und hören wir uns an, was sie zu sagen haben, was sie glauben, uns bieten zu können. Vielleicht brauchen wir am Ende nicht einmal eine Entscheidungsstimme. Und sollte es doch der Fall sein, können wir uns sicher auf die Erfahrung von Männern wie Broichan und dir selbst, Bargoit, verlassen, darüber zu bestimmen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist.« Darauf folgte einige Unruhe und schließlich widerstrebende Zustimmung. Man würde sehen, ob sich später alle daran hielten, wenn es so weit war. In den folgenden Tagen arbeitete Bridei schwer, schickte Botschaften, besprach sich mit seinen Beratern, machte Pläne und versuchte die verblüffende Möglichkeit zu akzeptieren, dass er in weniger als einer Jahreszeit vielleicht der Erste in diesem Reich mächtiger Männer sein würde. Manchmal machte ihm diese Aussicht Angst: Angst, dass er stolpern und fallen könnte, dass er Broichan, König Drust, die Götter enttäuschen würde. Aber mehr und mehr spürte er beim Gebet die Wärme des Flammenhüters, und die Stimme des Gottes flüsterte ihm ins Ohr: Geh voran, mein Sohn. Sei stark. Und es kam ihm so vor, als hätte er in dieser Sache immer weniger eine Wahl. Man verweigerte sich dem Willen der Götter nicht. Man wich nicht zurück, wenn sie einen zur Pflichterfüllung riefen. Wenn der Flammenhüter ihn für den besten - 618 Mann für die gewaltige Aufgabe der Wiedervereinigung der Priteni hielt, dann musste Bridei dem Gott alles geben, was er hatte. Er musste sein Leben dieser Aufgabe widmen. Und er wollte es auch. Trotz seiner Sehnsucht nach Ruhe, nach Raum, nach Einsamkeit, brannte das Drängen, diesen Auftrag zu erfüllen, in seinem Geist wie eine Flamme. Aber trotz allem dachte er im Herzen nur bis zum nächsten Vollmond. Tuala wieder zu sehen war so wichtig, es machte es schwer, sich darauf zu konzentrieren, bestimmte Männer auf seine Seite zu ziehen und andere zu beruhigen. Die Kopfschmerzen plagten ihn ununterbrochen; er hatte beinahe vergessen, wie es sich anfühlte, keine zu haben. Dennoch, Bridei vollzog alle notwendigen Schritte dieses Tanzes der Möglichkeiten und wusste, dass die Zukunft von Fortriu und seines Volkes von der Genauigkeit seiner Instinkte und der Fähigkeit von anderen abhing, die hohen, kargen Pässe und tiefen, dunklen Bereiche des Tals im Winter zu durchqueren. Die Flüsse und Bäche würden Hochwasser führen; wenn es schneite, würden einige Wege unpassierbar sein. Man konnte Pferde nur auf den leichteren Teilen des Wegs einsetzen, wie an der Küste zwischen der Mündung des Schlangensees und Caer Pridne. Und sie hatten nicht viel Zeit. Es war nur gut, dass Bridei seine Boten früh ausgeschickt hatte. Broichan hatte ihm dabei geholfen; eine Weissagung mit Hilfe von Rauch nach einer Zeit des Fastens hatte den Tag von Drusts Hinscheiden mit einer Genauigkeit angegeben, die die Absichten der Götter deutlich kundtat. Bargoit musste etwas Ähnliches getan haben. Vielleicht verfügte Suibne, der Christ, über seine eigenen Methoden der Prophezeiung. Bald schon wurde klar, dass die zwölf Vertreter von Circinn bereits weit von ihren südlichen Festungen entfernt gewesen waren, als der König starb. Lange vor der ihnen zugestandenen Zeit trafen sie am Hof ein, frierend, müde und voller harter Worte. Die Anhänger Drusts - 619 des Ebers waren nur zu bereit, sich mit den Männern aus dem Norden lange und lautstark auseinander zu setzen. Suibne begann, jeden Tag einen Gottesdienst in Bargoits Kammer zu zelebrieren. Broichan zeigte in der Öffentlichkeit nicht, wie sehr ihn das beleidigte, aber er schickte einen Mann in den Flur vor Bargoits Tür und
gab ihm ein Wassergefäß mit sieben weißen Steinen mit. Auf diese Weise würde der gute Einfluss der Leuchtenden verhindern, dass die Durchführung dieses heidnischen Ritus den Haushalt des Königs verseuchte. Manchmal ging Broichan selbst um diese Zeit an Bargoits Tür vorbei, mit einer irdenen Schale mit einem kleinen Feuer darin, und mit Schutzkräutern, deren durchdringender Geruch sich mit dem läuternden Rauch mischte. Nachts kniete der Druide lange in seinem dunklen Zimmer und betete schweigend. Bei Vollmond beschwor Bridei den Zauber herauf, der ihn vor den Augen der Neugierigen schützte, und verließ Caer Pridne durch das Wassertor, um nach Banmerren zu gehen. Schwere Wolken verhüllten die Leuchtende; er nahm an, sie würden nur warten, bis er die Mitte der Bucht erreichte, bevor sie einen schweren Guss auf ihn niederprasseln ließen. Er dachte an Tuala, allein und in ihrem Baum und den Elementen ausgesetzt. Er würde sie nicht dort lassen; wenn sie einverstanden war, würde er sie noch heute Nacht mitnehmen. Sie durfte nicht einsam, verängstigt und frierend zurückbleiben. Er durfte sie nicht an diesem Ort allein lassen, wo sie nicht eine einzige Freundin hatte. Er würde sie mit zurücknehmen ... Sie konnte bei Gartnaits Familie bleiben, das wäre doch sicher möglich... Nein, er musste diese Gedanken im Zaum halten. Er dachte zu weit voraus, fällte Entscheidungen, zu denen er kein Recht hatte. Es musste Tualas Entscheidung sein. Bei den Göttern, man brauchte in dieser Nacht wirklich Katzenaugen. Donner grollte in der Ferne, irgendwo im Nor- 620 den. Es hing auch eine gewisse Atemlosigkeit in der Luft, Vorboten eines Unwetters. In seinem eigenen Herzen herrschte ähnliche Stimmung, Angst und Staunen, eine berauschende Vorahnung von Veränderungen. Bald würde er sie sehen ... Bald würde er sie fragen ... Bald würde er es wissen ... Bridei duckte sich hinter niedrige Büsche am Rand der Dünen und verzog das Gesicht, als ein Fuß in ein unerwartetes Loch rutschte; er musste sich vorsichtiger bewegen. Seine wirbelnden Gedanken machten ihn achtlos; er bewegte sich, als wäre er hier ein Außenseiter, ein Eindringling. Wenn er doch nur zu Hause gewesen wäre, in Pitnochie, im Tal im Sommer mit seinen weichen Waldwipfeln und den farngesäumten Bächen, dem raschelnden, verborgenen Leben, den edlen Höhen und dem weiten, leeren Himmel. Wenn er doch nur wieder dort sein könnte, mit seiner liebsten Freundin neben sich, ihre Hand in seiner, ihr zerzauster Kopf an seiner Schulter ... die Wärme ihres Körpers an seinem ... Bridei zwang seine Gedanken zurück zur Nacht, dem Weg, dem entfernten Umriss der Landspitze, auf der die dunklen Mauern von Banmerren kaum zu erkennen waren. Es war nicht einfach gewesen, Faolan zu entgehen, aber wichtig; er konnte dem Gälen nicht sagen, was er in dieser Nacht vorhatte. Ein Mann, der glaubte, dass ein einzelner kurzer Besuch genügen würde, um dieses Problem zu lösen, konnte nicht verstehen, wie kompliziert alles war. Faolan konnte nicht wissen, wie viel von Tualas Entscheidung abhing. Wie auch immer, der Gäle hätte dafür gesorgt, dass Bridei nicht ging. Bridei glaubte, überzeugend so getan zu haben, dass dieser Abend nicht anders war als jeder andere. Irgendwann zwischen dem Abendessen, bei dem Garth hinter ihm gestanden hatte, und der Schlafenszeit, wenn Faolan für gewöhnlich die Wache über Brideis Nächte übernahm, war er - 621 beiden mit dem Einsatz der geringen Magie entkommen, die Broichan ihm beigebracht hatte. Seine Begabung zu solchen Dingen war im Vergleich mit der seines Pflegevaters gering; der Zauber, der ihn verbarg, blieb nicht länger bestehen, als er brauchte, um die Dünen zu erreichen. Aber das war in dieser Nacht alles, was er brauchte. Nur ein Narr würde hier umherstreifen, wenn ein solches Unwetter bevorstand. Ein Narr ... Vielleicht war er das ja. Was, wenn Tuala nicht da war? Was, wenn er sein Seil nach oben warf und es einfach wieder zurückfiel, bei jedem einzelnen Versuch? Oder noch schlimmer, sie würde ihn vielleicht anhören und dann höflich ablehnen. Sie hatte ihn geküsst. Aber sie war jung, vielleicht zu jung, um zu verstehen, wie diese Berührung ihn entflammt hatte ... Ein Blitz zerriss die Nacht, beleuchtete hellen Sand, Dünen wie Schneehügel, windgepeischte Büsche. Dann wurde es wieder dunkel, als es ganz in der Nähe ohrenbetäubend donnerte. Einen Augenblick später brachen sie aus der Deckung. Brideis Herz hätte beinahe ausgesetzt. Er griff nach seinem Messer, fuhr herum, noch während sie ihn packten, mindestens drei Männer, einer hinter ihm, einer auf jeder Seite. Regen prasselte plötzlich und heftig nieder. Seine Finger rutschten an dem Messer aus. Der Mann hinter ihm zog ihn zu Boden, ein anderer versuchte, ihm etwas in den Mund zu stecken ... Bridei stach wild um sich, hörte einen Schmerzensschrei, spürte das Messer fallen, als etwas Stumpfes, Schweres auf seine Handgelenke schlug. Weißes Licht blitzte; er hörte Rufe, vielleicht seinen eigenen Namen. Einen Augenblick später erhielt er einen festen Schlag auf den Hinterkopf, und die Welt wurde dunkel. Es war, als tauchte das Zimmer aus dem Nebel auf: Wollene Wandbehänge ließen Steinwände ein wenig weicher aussehen, auf einer Truhe in der Ecke stand eine Lampe, jemand beugte sich über ein Sims und goss Kräutertee aus - 622 einem dampfenden Kessel in einen Becher. Ein durchdringender Duft stieg auf: Es war eins von Luthanas Gebräuen, bitter und voller Heilkräuter. Stimmen drangen an Tualas Ohr, nicht aus der Nähe, sondern von irgendwo draußen. Folas Stimme, nur leise. »Ich glaube nicht, dass sie hier bleiben kann. Nicht nach allem, was sie getan hat. Wenn sie sich weiterhin so verhalten will, laufen wir ohnehin Gefahr, sie zu verlieren.«
Die Gestalt am Sims kehrte zurück. Es war Luthana selbst, einen Becher in der Hand, das faltige Gesicht freundlich. Die Erinnerung kehrte zurück; Tuala drückte das Gesicht ins Kissen. »Komm, Kind. Du musst versuchen, etwas zu trinken. Du hast dich schrecklich erkältet; das hier wird deinem Herzen Kraft geben und dir helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Komm schon, Tuala, ich weiß, dass du wach bist. Setz dich; lass mich dir helfen ...« Es schien sinnlos, zu trinken, sinnlos, es auch nur zu versuchen. Sie verstand überhaupt nichts mehr. Was tat die Leuchtende ihr an? Sie, die Wege beleuchtete, hatte den Weg vor Tualas Füßen verdunkelt, hatte ihr die einzige Chance genommen, die Zukunft gut und hell zu machen, die einzige Chance, an die sie immer geglaubt hatte. Immer, immer, selbst in tiefster Verzweiflung, als die Leute in Pitnochie sich gegen sie wandten, als sie sich das Haar abschnitt und die Obhut für Bridei in die Hände der Göttin legte, als Broichan sie wegschickte, hatte Tuala gewusst, dass ein winziger, verborgener Teil von ihr immer noch an diese Zukunft glaubte, eine Zukunft, in der sie an Brideis Seite wandelte, ein Leben, in dem ihre Liebe ihn stark genug machen würde für die große Aufgabe, die die Götter ihm anvertraut hatten. Trotz allem hatte sie sich tief im Herzen daran geklammert. Warum sonst sollte die Leuchtende sie zu Brideis Schwelle gebracht und dafür gesorgt haben, dass er es war, der sie fand? Warum sonst hatte die Göttin ihr eine Ausbildung gestattet, - 623 wie sie keinem anderen Mädchen in Fortriu gewährt wurde? Sie waren aneinander gebunden, sie beide; gebunden in heiligem Vertrauen und in einer Liebe, die wunderbarerweise von der unschuldigen Ergebenheit und der bequemen Vertrautheit der Kindheit zu etwas Tiefem, Starkem gewachsen war, etwas Berauschendem und Stürmischem, der aufblühenden Leidenschaft zwischen Mann und Frau. Sie hatte die Anziehung gespürt, als sie seine Hand berührte, als ihre Lippen seine mit einer Gier suchten, die in ihr aufgestiegen war wie die Frühlingsflut. Sie hatte geglaubt, dass auch Bridei es spürte, bei all seiner Zurückhaltung. Es war, als hätte dieser Kuss an seiner Statt gesprochen. Und dennoch war er nicht zurückgekommen. Sie hatte die ganze Nacht gewartet, bis Kethra sie in der bleichen Dämmerung gefunden hatte, elend und durchnässt, wie sie sich immer noch an die nackten Äste der Eiche klammerte, die Zähne zusammengebissen, die Augen fest zugedrückt, und auf ihren Wangen hatten sich heiße Tränen mit dem Regen gemischt. Sie war zu verkrampft gewesen, um sich auch nur bewegen zu können; sie hatten zwei der älteren Schülerinnen mit einer Leiter schicken müssen, um sie sicher auf den Boden zu holen. Danach war alles im Nebel versunken. Sie hatte offenbar eine Weile geschlafen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand; es gab keine solch kleinen Privatzimmer im Schülerbereich von Banmerren. Aber das zählte nicht. Nichts zählte mehr. Bridei war nicht gekommen. Offenbar hatte sie sich geirrt. Er liebte sie nicht, oder nur auf die Art eines Bruders und Freunds. Er hatte beschlossen, ohne sie weiterzugehen. Oder Broichan hatte diese Entscheidung für ihn gefällt. Entschied Broichan nicht alles? »Gut, Kind«, sagte Luthana und hielt den Becher an Tualas Lippen. »Trink alles. Später versuchen wir ein wenig Suppe. Schüttle nicht so mit dem Kopf, sonst verschüttest du noch alles. Du musst essen. Wir hätten dich beinahe ver- 624 loren. Verhöhne nicht die Entscheidung der Knochenmutter, dich noch eine Weile bleiben zu lassen. Ja, gut so. Jetzt kannst du dich ausruhen. Fola wird später kommen; sie möchte mit dir sprechen.« »W-wie ...« Tuala konnte kaum ihre Stimme finden; sie fühlte sich so schwach und zittrig wie ein Kleidungsstück, das man so lange gegen Steine geschlagen hatte, bis es vollkommen weich und schlaff war. »Wie lange ...« Luthanas Blick war klug und voller Mitgefühl. »Du warst schwer krank, Tuala. Das war wirklich seltsam von dir. Ich verstehe nicht, was dich zu so wildem und sinnlosem Verhalten treibt. Du tätest gut daran, die Weisheit der Leuchtenden zu suchen und sie um Anleitung zu bitten.« Tuala schloss die Augen. Die Leuchtende? Wohl kaum. Vielleicht hatte die Göttin früher einmal ihren Weg beleuchtet, hatte in Anerkennung und Liebe auf ihre Tochter hinabgeschaut. Nun hatte sie ihren Blick abgewandt. Wer wusste schon, was sie wollte? »Bitte«, flüsterte Tuala, als die Weise Frau aufstand. »Wie lange war ich hier, in diesem Zustand?« »Drei Tage«, sagte Luthana. »Die meiste Zeit hattest du Fieber; wir haben uns große Sorgen gemacht. Das Schlimmste ist nun vorüber. Wenn du jetzt isst und dich auf das konzentrierst, was Fola dir sagt, solltest du in einem oder zwei Tagen aufstehen können.« »Wo ...« »Du bist im Flügel der Weisen Frauen, Tuala. Fola hielt das für besser. Die Mädchen hatten in diesem Winter schon genug Aufregung, wie du wissen solltest. Hier können wir dich im Auge behalten. Und nun ruh dich aus. Du wirst Fola später sehen.« Im Auge behalten. Das bedeutete nicht weniger als: verhindern, dass du so etwas noch einmal tust. Aber es zählte nicht mehr, wenn sie von jetzt an eine Art Gefangene war. Nichts mehr zählte. Ohne Bridei schien alles sinnlos zu - 625 sein. Ohne seine Liebe und ohne die Liebe der Leuchtenden schrumpfte das Leben zu etwas so Kleinem, Unbedeutendem, dass es nicht mehr wert war, sich anzustrengen. Vielleicht wäre es das Beste, sich einfach hier
in diesem kleinen Zimmer zusammenzurollen, die Augen zu schließen und sich zu wünschen, dass die Welt verschwand. Luthana würde sie kaum dazu zwingen können, etwas zu essen ... Zeit verging. Die beiden waren hier bei ihr in dem kleinen Zimmer, wie sie es schon im Baum gewesen waren, gaben weiter ihre Bemerkungen ab und fuhren fort mit ihrer Mischung aus Verlockung, überzeugenden Argumenten und schonungsloser Analyse. »Es ist genau, wie wir es erwartet haben.« Weides Stimme, hell, spöttisch, aber auch ein wenig liebevoll. Mitleid war dem Guten Volk nicht gegeben, aber diese beiden standen Tuala nahe. Wenn sie sich nicht um sie scherten, warum waren sie dann hier? »Er begehrt dich, oder er tat es zumindest, als er hier war; das war eindeutig genug. Aber die Begierde von Männern ist etwas Kurzlebiges. Ein Augenblick berauschender Erregung, ein paar Bedenken, und beim nächsten Vollmond ist es dann eine, die angemessener für ihn ist. Diese Ana zum Beispiel. Bridei hat zweifellos eingesehen, dass er einen Fehler gemacht hat, und ihr seine Aufmerksamkeit zugewandt.« Tuala schwieg; sie hatte nicht genügend Kraft, um zu widersprechen. Früher einmal hätte sie die grausamen Worte des Waldmädchens entsprechend erwidert; jetzt kamen sie ihr nur zu glaubwürdig vor. »Du bist traurig«, sagte Geißblatt und setzte sich ans Fußende des Betts. Er war nicht schwerer als eine Katze. »Das überrascht uns nicht. Du dachtest, er würde dich dem Thron vorziehen. Du hast dich geirrt. Du glaubtest, du hättest hier eine sichere Zuflucht, zumindest das Zweitbeste für dein Leben. Auch das war ein Irrtum; Fola will dich nicht mehr in Banmerren haben. Du bist eine Last, unberechenbar, eine - 626 Gefahr für deine Mitschülerinnen und für dich selbst. Wenn du die ganze Nacht in einem Unwetter draußen bleibst und danach stirbst, muss sie es Broichan sagen, und auch Bridei. Und Bridei ist vielleicht zu dem Schluss gekommen, dass ein König keine Frau vom Guten Volk heiraten kann, aber das heißt nicht, dass du ihm nichts bedeutest. Dein Tod würde ihn sehr erzürnen. Er würde zu einem Bruch zwischen ihm und einem gewissen einflussreichen Druiden führen. Fola möchte dafür nicht die Verantwortung übernehmen. Sie möchte überhaupt nicht mehr für dich verantwortlich sein, nun, da diese Aufgabe so schwierig geworden ist.« Sie würden sie wegschicken, dachte Tuala vage. Aber wohin? Wohin könnte sie gehen? »Nun«, sagte Geißblatt vergnügt, »es gibt immer noch diesen Garvan. Sagte er nicht, er würde dich nehmen, wann immer du bereit bist? Es sieht aus, als käme dieser Zeitpunkt schneller, als alle erwartet hätten. Und er ist jetzt am Hof, weil er wissen möchte, welche Aufträge der neue König für ihn haben wird. Adlersteine, würde ich sagen.« Garvan, der plumpe Garvan mit seinen großen Händen. Sie selbst an seiner Seite, wie sie seinen Haushalt führte, sein Bett teilte, seine Kinder zur Welt brachte ... Sie konnte nicht einmal daran denken. Sie konnte es nicht als eine Möglichkeit betrachten. Möglichkeiten... es kam ihr plötzlich so vor, als hätte sie keine mehr. Alles war auf dieses Zimmer zusammengeschrumpft, dieses Bett, diese Wände ... diesen Tag... »Sieh nur, dort oben!« Weides Stimme erklang wie ein klares Glöckchen. »Jemand hat die Wand gekennzeichnet, hat mit einem Messer Katzer eingeritzt. Und sieh hier, weitere Kratzer. Wie seltsam. Es ist, als wäre hier ein Gefangener gewesen und hätte die Tage gezählt.« »Die Tage vom Jungfrauentanz bis zum Tortag«, sagte Geißblatt leise. »Die Tage eines Lebens. Es ist eine gemütliche kleine Zelle. Sie versuchten, es einem Mädchen hier be- 627 quem zu machen. Aber Morna muss sehr einsam gewesen sein; einsam und verängstigt. Wer könnte jemals wirklich auf eine solche Prüfung vorbereitet sein? Diese Linien, so ordentlich in den Stein geritzt, haben ihr sicher geholfen, sie waren ihr eigenes kleines Ritual, ordentlich und sicher, inmitten einer Welt, die plötzlich dunkel und unwirklich geworden war. Wie ihre Gedanken sie gequält haben müssen, während die Weisen Frauen über sie wachten, sie hegten und pflegten, sie ausbildeten und vorbereiteten. Wie ihre Visionen ihren Schlaf heimgesucht haben müssen, während sie hier allein mit ihrer Kerze und ihrem kleinen Messer saß und ihre einsame Litanei der Tage einritzte. Ich frage mich, wieso sie dich in diesen Raum gebracht haben, Tuala. Ich frage mich, was sie vorhaben.« »Das ist mir gleich«, flüsterte Tuala. »Nichts zählt mehr.« »Genau«, sagte Geißblatt. »Dann schlaf jetzt. Sprich mit Fola. Wir werden zurückkehren. Anders als du haben wir einen Plan; ich denke, er wird dir zusagen. Es ist erheblich besser als eine Heirat aus Verzweiflung, und viel besser als dort zu bleiben, wo du nie wirklich willkommen warst. Schlafe wohl, Tuala.« Und dann waren sie verschwunden; der Kater Schatten kam durch die Tür und sträubte plötzlich die Haare, hielt den Schwanz steif. Tuala lag da, nun hellwach, und starrte die kleinen Zeichen an der Wand an, verzweifelte Kratzer im Stein, und umso jämmerlicher, weil sie so sauber und ordentlich ausgeführt waren. Woran hatte Morna gedacht, als sie Abend um Abend eines dieser Zeichen in den Stein ritzte? Was hatten all diese Mädchen gesehen, als sie die einsame Zeit der Vorbereitung auf einen Tortag durchlebten? So viele junge Leben geopfert, so viel Schönheit und Lebendigkeit im Brunnen des dunklen Gottes verloren, weggeworfen, um einen Hunger zu stillen, der nie wirklich befriedigt werden konnte. Wie konnte so etwas weitergehen? Wie könnte Bridei Teil davon sein? Wie konnte er damit leben, wenn sie nicht bei ihm war, um ihm zu helfen? - 628 Schatten sprang aufs Bett und landete schwer auf Tualas Beinen. Er drehte sich dreimal und ließ sich dann hinter ihren Knien nieder und drückte die Decke dort fest. Es tröstete Tuala, ihn zu spüren; er erinnerte sie an Nebel. Nebel im Wald, wo sie nach Mardern suchte; Nebel in der Küche, wo sie stolz eine fette Maus zu Ferats Füßen
niederlegte. Nebel auf Erips Schoß, wie sie den unruhigen Schlaf des kranken alten Mannes wärmte. Nebel eingeschlossen, Nebel protestierend schreiend, als Tuala zum letzten Mal von Pitnochie wegritt... Plötzlich fiel Tuala auf, dass sie nicht zu hören brauchte, was Fola sagen wollte - sie wusste es bereits. Verhalten, das für eine Dienerin der Göttin unangemessen war... Störung... Zeit lassen, deine Zukunft zu bedenken... Sie brauchte nicht einmal zu warten, dass Weide und Geißblatt ihr ihren Plan erläuterten; es brauchte nicht viel Einsicht, um zu erraten, was sie vorhatten. Und selbst ohne diese beiden war sie nun entschlossen. Sie konnte nicht hier bleiben in diesem kleinen Zimmer mit seinen traurigen Spuren verschwendeter Leben, von Jahreszeiten der Einsamkeit und Verzweiflung. Banmerren würde ihr verschlossen sein; und selbst, wenn das nicht der Fall sein sollte, konnte sie nicht hier bleiben, wenn Bridei so nahe, aber mit einer anderen verheiratet war. In Pitnochie würde sie kaum willkommen sein; sie konnte nicht in Broichans Haushalt leben. Sie würde auch Garvan nicht heiraten, denn sie würde ihn niemals lieben können, und ohne Liebe zu heiraten war absurd. Sich zu so etwas bereit zu erklären, wäre weder Garvan noch ihr selbst gegenüber gerecht. Also würde sie den Schritt machen, den sie bisher nicht gewagt hatte; sie würde ihrem eigenen Volk vertrauen, diesen flüchtigen Geschöpfen, die beinahe während ihres gesamten Aufenthalts in Banmerren an ihrer Seite gewesen waren, lästig und spottend. Der Weg zurück ins Große Tal war lang, und es war Winter. Aber Weide und Geißblatt würden schon eine Möglichkeit finden. Tuala würde nach Hause gehen. - 629 »Wann wird er wieder gesund sein?«, fragte Aniel. »Wann wird er bereit sein?« »Du sprichst, als ginge es dir nur um den Kampf, der hier gewonnen werden muss, und nicht um den jungen Mann selbst«, sagte Talorgen müde, reichte dem Berater einen Becher Bier und goss einen zweiten für sich selbst ein. Sie saßen im Vorzimmer zu Broichans Raum; es war in den letzten Tagen für einige zum Versammlungsort geworden. »Er schwebt immer noch zwischen Leben und Tod. Du solltest Broichan lieber nicht danach fragen.« »Ich hörte ein Gerücht, dass es dem Jungen besser ginge«, sagte Aniel. »Wenn ich glaubte, dass Bridei im Sterben läge, wäre ich weniger offen gewesen. Uist sagt, er kämpft sich zurück ins Leben, obwohl es mir ein Rätsel ist, wie unsere Druidenfreunde das herausfinden können; als sie mich zum letzten Mal nach drinnen ließen, schien der Junge bewusstlos zu sein und kaum verändert, seit sie ihn nach Hause brachten. Hin und wieder regt er sich, sagen sie, und es ist möglich, ihm ein wenig Brühe und einen halben Becher Wasser einzuflößen. Er murmelt unsinniges Zeug vor sich hin; alte Erinnerungen, wirr und verzerrt. Ein Druide weiß wohl, wie man so etwas interpretiert. Wir müssen hoffen, dass er zu uns zurückkehrt, ohne seinen Scharfsinn verloren zu haben. Die gesamte Zukunft des Königreichs hängt von diesem jungen Mann ab.« »Er könnte keine besseren Pfleger haben. Nach Broichans Kräutern, Uists Beschwörungen und der Pflege durch seine ergebenen Wachen wird der Junge es kaum wagen, nicht wieder gesund zu werden. Bridei löst bei anderen großes Vertrauen aus, man könnte beinahe von Liebe sprechen. Ein Funke des Königseins glüht bereits in ihm. Sie müssen ihn nur wieder gesund machen, bevor die Bewerber sich vorstellen. Und dafür sorgen, dass er bis zur Wahl gesund bleibt.« »Ah ja«, sagte Aniel lächelnd. »Die Wahl. Und offenbar wird - 630 es dabei ein paar Überraschungen geben... so säuerlich und schweigsam dieser Faolan auch sein mag, ich bewundere sein Können. Er hält den überlebenden Attentäter insgeheim in Gewahrsam, und außerdem gibt es Beweise, die diesen Mann mit Drust dem Eber in Verbindung bringen, oder doch zumindest mit seinen Beratern. Dafür haben wir Uist zu danken. Seine kleine Reise nach Circinn, verbunden mit seinem erstaunlichen Gedächtnis, hat dazu geführt, dass er sich an das Gesicht dieses Mannes erinnert hat. Selbstverständlich werden Bargoits Leute eine Ausrede finden, um ein schlechtes Licht auf Uist als Zeugen zu werfen, wenn wir diese Sache veröffentlichen.« »Das dürfte nicht schwer sein. Uist ist als ein wenig exzentrisch bekannt; einige würden noch weiter gehen und ihn wirr nennen. Seine Gedanken bewegen sich auf einer anderen Ebene als die gewöhnlicher Menschen. Man könnte ihn glattweg als verrückt bezeichnen. Welcher Mann, der noch bei Verstand ist, würde sich entscheiden, allein aus Circinn hierher zurückzureisen, so nahe an Mittwinter?« »Das zählt nicht. Die Leute werden die Wahrheit erkennen. Außerdem wird Faolan seinen Gefangenen dazu bringen, dass er redet: Er wird gestehen, wie man ihn dafür bezahlt hat, Bridei zu verfolgen und ihn zu eliminieren, bevor die Kandidaten sich vorstellen konnten, und wer Beutel mit Silber für diese Tat verteilte.« »Wo befindet sich dieser Möchtegern-Attentäter jetzt? Er sollte auch nach dem früheren Attentatsversuch befragt werden, als ein Mann an meinem eigenen Tisch vergiftet wurde.« »Er ist nicht hier in Caer Pridne. Faolan hat ihn an einem sicheren Ort untergebracht.« »Dieser Gäle ist ein beschäftigter Mann. Ich höre, die anderen liegen unter den Dünen begraben?« »Welche anderen?« Aniel zog in gespielter Überraschung die Brauen hoch. - 631 »Mhm«, murmelte Talorgen nachdenklich. »Und wir sind sicher, dass Bargoit nicht weiß, was wir planen?« »Oh, er wird misstrauisch sein. Immerhin haben seine Attentäter keinen Bericht erstattet. Und er weiß, dass Bridei noch lebt; jedenfalls solange er nicht denkt, unsere Geschichte von schlimmer Krankheit sei dazu gedacht, darüber hinwegzutäuschen, dass wir verzweifelt nach einem anderen Kandidaten suchen. Das ist allerdings
unwahrscheinlich; wir könnten stattdessen einfach Carnach aufstellen. Er wäre immer noch besser als einer aus dem Süden.« »Ich wäre glücklicher, wenn Bridei die Augen öffnen und anfangen würde, vernünftig mit uns zu reden«, sagte Talorgen. »Darin stimme ich völlig mit dir überein, mein Freund. Mittwinter ist nah; er liegt schon sehr lange dort drinnen und schläft, und das muss seinen Preis von Körper und Geist fordern. Wir wollen nicht, dass er schwach und unfähig wirkt. Und wir wollen auch keinen Stellvertreter; Bridei spricht am besten für sich selbst. Er hat diese Begabung, die richtigen Worte zu finden; seine Ansprachen sind schlicht, aber sie bewegen die Menschen. Dennoch, einer von uns muss bereit sein, an seiner Stelle zu sprechen.« »Dieses Privileg würde Broichan wohl für sich verlangen«, sagte Aniel. »Broichan? Das wäre unklug. Er hat viele Feinde und ist sehr gefürchtet. Ein schlichterer, offenerer Mann wäre besser.« »Du selbst?«, fragte Aniel trocken. »Kaum. Ich würde es nur tun, wenn es keine anderen Leute gäbe. Vielleicht Ged?« Es klopfte an der Tür, und Carnach kam herein, wobei er sich unter dem Türsturz bücken musste. Er war der größte Mann in Caer Pridne, sogar größer als Breth. »Wie geht es ihm?«, fragte er. »Wie zuvor. Auf dem Weg der Besserung, sagt man uns. Aber wir warten voller Unruhe. Tatsächlich sprachen wir gerade von Stellvertretern.« - 632 »Ich werde es tun«, bot Carnach sofort an, setzte sich neben Talorgen und griff nach dem Bier. »Das hätte die gleiche Wirkung, denke ich. Ich trete vor, und statt zu tun, was alle erwarten, nämlich meinen eigenen Anspruch anzumelden und meine eigenen Vorzüge darzustellen, sage ich den versammelten Wahlberechtigten, dass ich gekommen bin, um Bridei als künftigen König von Fortriu vorzustellen, Bridei, der, wie ich gehört habe, nur abwesend ist, weil sein Hauptrivale bei diesem Rennen versucht hat, ihn umbringen zu lassen, bevor er seine Absicht kundtun konnte. Das würde einen Eindruck machen. Aber mir wäre es lieber, wenn es Bridei gut genug ginge, selbst zu sprechen. Das wollen wir alle. Dieser elende Bargoit! Ich möchte wirklich meine Hände um seinen Hals legen und einmal ordentlich fest zudrücken.« »Da bist du nicht allein, glaube mir«, sagte Aniel. »Aber wir werden ihn mit Worten zum Schweigen bringen, nicht mit Taten. Als er diesen Attentatsversuch organisierte, hat Drust der Eber sein eigenes Schicksal besiegelt. Den Göttern sei Dank für Faolan.« »Irgendwie«, sagte Talorgen, »kommt mir das äußerst unangemessen vor. Wem immer wir für die Anwesenheit dieses Galen danken müssen, ich glaube nicht, dass Götter etwas damit zu tun haben.« Uist saß an Brideis Strohsack, wischte seinem Patienten die Stirn mit einem feuchten Tuch und betrachtete die Flächen und Schatten der schlaffen Züge, wo nichts auf Leben hinzuweisen schien. Dennoch, Bridei atmete; es schien allerdings eine Ewigkeit zwischen jedem Seufzer, jedem Keuchen zu liegen, als brauchte es jedes Mal gewaltige Kraft, den Atem umzukehren. Vielleicht waren es die Götter, die seinen Lebenswillen stärkten. Er hatte viele Tage bewusstlos dagelegen. Die kurzen Zeiten, in denen er darum zu kämpfen schien, aus der Bewusstlosigkeit aufzutauchen, wurden von - 633 dunklen Visionen getrübt; die Worte, die er von sich gegeben hatte, waren so wirr, dass selbst ein Druide sie nicht verstehen konnte. Sie waren bei ihren Berichten gegenüber den anderen, so vertraute Freunde sie auch sein mochten, nicht wirklich ehrlich gewesen. Selbst Aniel, selbst Talorgen wusste nicht, wie es sie erschöpft hatte, wie nahe sie der Verzweiflung gekommen waren. Broichan war hager vor Erschöpfung. Garth schlief nun auf einer Bank an der Wand, zugedeckt mit einem Umhang, während Breth damit beschäftigt war, Wasser zu kochen, weil sie den Bewusstlosen später waschen sollten. Brideis Wachen ließen keine Diener aus Caer Pridne herein; niemand außer dem inneren Kreis durfte sich um ihren gefallenen Anführer kümmern. Hinter der Tür hielten Aniels Leibwächter Wache; Talorgens Leute waren auf dem Wehrgang dahinter stationiert. Faolan hatte sich heute noch nicht sehen lassen. Er hatte viel zu tun. Dennoch kehrte der Gäle jeden Abend zurück, um an Brideis Bett zu sitzen, ein schweigender Wächter, der sich mit den anderen beim Wechseln der Bettwäsche, dem Brauen von Kräutertränken, dem Heben des Patienten und dem Waschen des immer dünner werdenden Körpers abwechselte, der die ganze Nacht über wachte, wenn alle bis auf die beiden Druiden schliefen, den dunkel gekleideten Broichan mit den tief liegenden Augen und den wilden Uist mit den fließenden weißen Gewändern und der Aureole schneeweißen Haars. Diese beiden schienen nie zu schlafen. Sie ruhten sich stehend bei einer Meditation aus oder knieten mit offenen, blicklosen Augen am Boden und lauschten den flüsternden Stimmen der Götter. Am Morgen verschwand Faolan dann wieder ohne ein Wort. »Er wird bald aufwachen.« Broichan schaute auf seinen Pflegesohn nieder. »Ich frage mich, was diese beiden sich gedacht haben. Als ich Brideis Sicherheit Faolan anvertraute, dachte ich nicht, dass der Gäle ein solches Wagnis eingehen - 634 würde. Einen Angriff anzulocken ist eine Sache, aber man bringt den Mann, den man beschützen soll, nicht in eine so gefährliche Situation. Wenn du nicht mit dem Stab in der Hand vorbeigekommen wärst, mein Freund, wer weiß, ob es Faolan gelungen wäre, zwei zu töten und den dritten gefangen zu nehmen?«
»Ein glücklicher Zufall«, sagte Uist mit einem rätselhaften Lächeln. »Wer hätte gedacht, dass meine Stute mich ausgerechnet an dieser Stelle vorbeitragen würde, und zur rechten Zeit? Mein kleiner Blitz hat mir tatsächlich Spaß gemacht; mein Stab bebt immer noch in Erinnerung daran, wenn ich ihn anfasse. Selbst Faolan war beunruhigt. Aber nicht lange, der Bursche ist tatsächlich so fähig, wie Drust uns immer gesagt hat. Bridei sollte ihn behalten.« »Er hat Bridei einer großen Gefahr ausgesetzt, als er ihn bei Nacht und nur leicht bewaffnet allein umherziehen ließ. Wir hätten ihn verlieren können.« Etwas in Broichans Stimme ließ den alten Druiden aufblicken. Uist sah Broichan in die Augen und lächelte erneut. »Ich stelle mir manchmal vor«, sagte er leise, »wie es für einen Vater vieler Söhne und vieler Töchter sein muss. So viele Augenblicke des Schreckens, so viele kleine Sorgen, so viele Ängste! Ich bin jetzt doppelt froh, dass ich den Weg der Götter eingeschlagen und nie eine Frau genommen habe. Nicht dass ich nicht versucht gewesen wäre, vor langer Zeit. Fola war ein reizendes Mädchen, so winzig und so entschlossen. Ein bisschen wie deine Pflegetochter, wie heißt sie noch?« »Tuala.« Eine Maske senkte sich über Broichans Züge und verbot weitere Fragen. Aber Uist war ebenfalls Druide. »Hat Fola nicht vor einer Weile einen Boten geschickt, direkt nach dem Angriff auf Bridei? Was wollte sie eigentlich? Hast du die Nachricht weitergegeben?« »Sie weiß, dass mein Pflegesohn krank ist. Ihre Botschaft war für mich persönlich.« - 635 »Aha.« Uist fragte nicht, welche persönliche Nachricht es erfordert hatte, einen Reiter bei so schlechtem Wetter zu schicken. »Aber du weißt«, fuhr er fort, »dass jegliche Information, die in irgendeiner Weise mit unserem Plan zu tun hat, nicht als persönlich betrachtet werden kann, wie privat sie dir auch vorkommen mag. Und wenn es mit diesem Mädchen zu tun hat, mit Tuala, dann betrifft sie vielleicht auch Bridei. Und er ist der Mittelpunkt unseres Plans. Vergiss nicht, worauf wir uns geeinigt haben, wir fünf; vergiss nicht, dass wir vollkommene Ehrlichkeit geschworen haben.« »Es war persönlich.« Es klopfte an der Tür, und Aniel schaute herein. »Wir hatten gerade Besuch«, sagte er. »Tharan und Eogan. Sie haben ihrer Besorgnis Ausdruck verliehen, weil Bridei immer noch krank ist, und mir auf indirektem Weg mitgeteilt, dass sie uns unterstützen werden, da Carnach aus dem Wettbewerb ausscheidet. Tharan würde das selbstverständlich nicht so ausdrücken; Carnach hat mit seiner Entscheidung seinen Mentorenstolz gekränkt. Dennoch, ich denke, sie meinen es ehrlich.« Broichan nickte. »Gut«, sagte er. »Ich verabscheue deinen Beraterkollegen, aber ich weiß, dass wir uns darauf verlassen können, dass für ihn das Wohlergehen von Fortriu an erster Stelle steht. Dieser elende Attentatsversuch gegen Bridei hat geholfen, uns gegen den Süden zu einigen. Aber wir haben immer noch nicht genug Stimmen, und noch weniger Zeit.« »Bridei hat das unter Kontrolle.« Zu ihrer Überraschung war es der Leibwächter, Breth, der sich dort von seinem Platz an der Feuerstelle zu Wort meldete. »Er wird seine Stimmen bekommen.« »Ich hoffe, du hast Recht«, sagte Aniel trocken. »Bridei hat im Augenblick nicht viel unter Kontrolle. Ich bete darum, dass die Götter ihn rechtzeitig wieder zu Kräften kommen - 636 lassen und dass wir uns auf seine Vorausplanung verlassen können.« »Er wird König sein«, sagte Breth schlicht. »Natürlich könnt ihr euch auf ihn verlassen.« »Aha«, sagte Dreseida, die im Frauenquartier auf und ab ging, »das Mädchen ist also aus Banmerren geflohen. Es war wohl unvermeidlich, dass sie früher oder später so etwas tun würde. Sie hätte nie eine von Folas Schwesternschaft werden können; das war von Anfang an eine fehlgeleitete Idee. Sie wird zurückgekehrt sein. Konnte nicht anders.« »Zurückgekehrt?«, wiederholte Ferada. »Wohin?« »Zurück hinter die Grenze; dorthin, wo sie hergekommen ist. Wo die von ihrer Art hingehören. Das hilft uns alles nichts. Wenn das Mädchen weg ist, können wir sie nicht benutzen. Ich hatte gehofft, dass ihre Ergebenheit zu ihrem Pflegebruder und seine zu ihr uns eine Gelegenheit bieten würde ... Wie geht es Bridei? Was hört man?« Ferada starrte ihre Mutter überrascht an. »Wieso sollte ich mehr wissen als du, Mutter? Ich bin gerade erst aus Banmerren zurückgekommen. Soweit ich weiß, geht es Bridei besser, aber er ist immer noch zu krank, um Besucher zu haben. Das hat Ana gesagt; sie wollte ihn sehen, aber sie haben sie nicht zu ihm gelassen. Wenn du Neuigkeiten willst, wieso fragst du nicht Vater?« »Dein Vater ist, was diese Angelegenheiten angeht, stumm wie ein Fisch«, sagte Dreseida. »Aber ich habe genug gehört, um beunruhigt zu sein. Es scheint, dass du dieses eine Mal Recht hattest. Offenbar ist entgegen aller Logik der Kandidat, auf den sich alle geeinigt hatten, nicht der offensichtliche. Sie haben tatsächlich vor, Bridei aufzustellen, falls er sich rechtzeitig erholt. Bridei, diesen leisetreterischen Gelehrten mit dem Kopf in den Wolken. Broichans Spielfigur. Ich kann es kaum glauben! Das Blut ist nur schwach in diesem Jungen. Sein Vater stammt aus Gwynedd, ein Fremder; seine Mutter - 637 -
ist nur eine entfernte Kusine von Drust dem Stier. Wie kann ein solches Halbblut die Kraft haben, König von Fortriu zu werden? Das ist alles Broichans Schuld. Druiden haben viel zu viel Macht. Dieser Mann hätte aufgehalten werden müssen, bevor er so viele andere korrumpieren konnte. Andere, die es hätten besser wissen sollen. Es ist bedauerlich. Tatsächlich ist es mehr als bedauerlich.« Dreseida rang die Hände und ging auf und ab wie ein Tier im Käfig. Ferada räusperte sich nervös. »Aber Mutter... ich stimme zu, es ist ein wenig überraschend, dass Carnach zugestimmt hat, Brideis Anspruch zu unterstützen, statt sich gegen ihn aufstellen zu lassen. Aber es ist auch sinnvoll, wenn du darüber nachdenkst. Wir brauchen nur einen starken Kandidaten aus dem Norden, nicht zwei oder drei, wenn wir die Stimmen haben wollen, um Drust den Eber zu besiegen. Sicher, Carnach ist der offensichtliche Kandidat. Oder er war es. Sie sagen, Bridei wird nun von vielen unterstützt, und die Anzahl seiner Anhänger wächst täglich. Seine Ehrlichkeit, sein Mut und seine Begabung für schlichte Worte werden überall bewundert. Und König Drust der Stier war ihm sehr zugetan. Das ist weithin bekannt und wirkt sich wohl stark zu seinen Gunsten aus.« Der Blick, den ihre Mutter ihr zuwarf, ließ Ferada den Atem anhalten. Sie erstarrte und fragte sich, was sie diesmal verbrochen hatte, welche Strafe sie diesmal erhalten würde. »Nun gut, Ferada«, sagte Dreseida forsch und klatschte in die Hände. Ferada sah, wie ihre Mutter versuchte, ihre angespannten Züge zu beruhigen, den Zorn aus ihrem Blick zu zwingen. Für einen Fremden wäre das Ergebnis vollkommen überzeugend gewesen. »Eine kleine Änderung unserer Pläne. Wir haben nur noch ein paar Tage, bis Drust der Eber eintrifft und alles im Ernst beginnt. Sobald Bridei sich genügend erholt hat, musst du eine Gelegenheit finden, unter vier Augen mit ihm zu sprechen. Heute, aber auf keinen Fall später als morgen.« - 638 »Aber Mutter, du weißt doch, wie scharf er bewacht wird! Und jetzt, so nah an den Wahlen und seit er krank ist, bewachen sie ihn noch besser.« »Hör auf zu plappern und hör mir zu. Bei den Göttern, ich frage mich wirklich manchmal, wieso die Leute dich für schlau halten. Ich habe eine Aufgabe für dich. Diesmal geht es nicht um Vertraulichkeiten, dazu wird er zu schwach sein. Nur ein Besuch am Krankenbett, nur du und Bridei allein. Sei freundlich, sei liebenswert, sei ein Mädchen, wenn du das über dich bringen kannst. Ich möchte, dass du ihm ein ... ich zögere, es als Liebestrank zu bezeichnen, das klingt so barbarisch, aber tatsächlich ist es genau das. Du wirst eine Gelegenheit finden, du wirst Bridei allein sehen, und du wirst es in was immer er trinkt gießen. Und sorge dafür, dass er dich ansieht, wenn er es einnimmt.« »Was?« Das kam so unerwartet, dass Ferada glaubte, sich verhört zu haben. »Wach auf, Ferada. Bridei oder Cealtran. Ein gesunder junger Mann, den du bereits recht gut leiden kannst, oder ein Alter mit Bierbauch und gierigen Händen. Ich weiß, für welchen ich mich entscheiden würde.« Ferada wusste nicht, was sie sagen sollte. »Du könntest Königin werden«, sagte ihre Mutter leise. »Ist das genug Macht für dich, Tochter? Es wird leicht zu bewerkstelligen sein. Ich habe hier einen kleinen Ring, ein zierliches Ding mit einem geschickt angebrachten Scharnier; ein paar Körnchen des Pulvers können darin verborgen und leicht in einen Becher Wasser oder Bier entleert werden, ohne dass es jemandem auffällt. Sie werden dich hereinlassen. Erröte, lächle, klimpere mit den Wimpern. Überzeuge die Wachen, dass du eine verliebte Frau bist. Und achte darauf, es zu tun, wenn Breth oder Garth im Dienst sind und nicht dieser elende Gäle.« »Aber Mutter, das ist vollkommen widersprüchlich. Du hast Bridei nie leiden können; du hast gerade erst wieder - 639 deutlich gemacht, wie sehr du ihn verachtest. Du glaubst, dass er keinen eigenen Willen hat. Warum solltest du deine einzige Tochter mit einem solchen Mann verheiraten wollen?« »Beantworte mir eine Frage, Ferada«, sagte Dreseida sehr leise. »Was habe ich dir wieder und wieder über Ehen gesagt, seit du ein Kind warst? Was ist der einzige Grund zu heiraten, die einzige Grundlage zur Wahl eines Mannes?« »Strategie.« Feradas Ton war bitter. »Wir heiraten um der Macht willen. Um des Einflusses willen.« »Braves Mädchen.« Dreseidas Lächeln ließ ihre Tochter schaudern. »Wenn Bridei entgegen aller Vernunft König werden sollte, dann muss ich das akzeptieren. Aber nur, wenn meine Tochter seine Königin wird. Er ist also langweilig und liebt seine Bücher und Gebete mehr als die Ratssitzungen der Mächtigen. Das ist gleich. Er ist ein Mann. Er kann beeinflusst werden. Selbst Broichan kann beeinflusst werden. Du wirst also tun, was ich dir sage. Es sei denn, du ziehst tatsächlich Cealtran vor.« Ferada schluckte und suchte verzweifelt nach Worten. Seltsamerweise war im Augenblick ihre stärkste Empfindung Erleichterung. »Ich... du weißt, dass ich überhaupt nicht heiraten möchte, Mutter. Wenn ich es schon tun soll, dann verlasse ich mich dabei lieber nicht auf Altweiberrezepte, um mir einen Mann zu angeln. Warum kann Vater nicht einfach Broichan fragen, ob er diese Verbindung in Betracht ziehen würde? Sie wäre vollkommen passend. Tatsächlich hat Vater bereits die eine oder andere Andeutung gemacht, dass er sie für wünschenswert hielte.« »Wir haben nicht so viel Zeit.« Dreseidas Stimme war kalt. »Ich möchte, dass es jetzt geklärt wird. Ich will sicher sein können. Sobald der Junge sich genügend erholt hat, um seine Freunde zu sehen, wirst du es tun. Und du wirst darüber Stillschweigen bewahren. Es wird in der Zukunft erheblich besser aussehen, wenn man glaubt,
Bridei habe dich er- 640 wählt, weil er dich bewundert und glaubt, dass du eine gute Königin von Fortriu sein würdest. Was das angeht, ist dein Gerede von Altweiberrezepten ausgesprochen zutreffend.« »In gewisser Weise«, sagte Ferada, »ermutigt mich das. Deine Entscheidung, meine ich. Ich würde es vorziehen, Bridei nicht zu heiraten. Ich würde es vorziehen, überhaupt nicht zu heiraten. Aber du hast meine Ängste in einer Hinsicht beruhigt. Ich dachte schon - ich habe angefangen zu denken - nein, ich begreife jetzt, wie dumm das war. Selbstverständlich hättest du Gartnait nicht als Bewerber für den Thron aufstellen lassen; das wäre zu grausam.« Dreseida hatte sich bei diesen Worten ihrer Tochter abgewandt. Ferada konnte das Gesicht ihrer Mutter nicht sehen. Als sie schließlich wieder sprach, klang ihre Stimme vollkommen ruhig. »Der Ring liegt auf dem Tisch dort neben dem Kerzenständer. Nimm ihn. Benutze ihn. Wenn du das nicht tust, Ferada, dann wird dein Leben nicht mehr lebenswert sein. Ich verlasse mich auf dich.« »Könnte das nicht warten, bis Bridei sich vollkommen erholt hat? Vielleicht bis nach der Wahl? Ich verstehe nicht...« »Ferada.« Wieder dieser Ton; der Ton, der bewirkte, dass alle, die ihn hörten, ein Schauder überlief. »Ja, Mutter?« »Tu es sofort. Innerhalb von zwei Tagen. Mache einen Fehler, und was dich erwartet, wird erheblich schlimmer sein als der würdige Cealtran, das kann ich dir versprechen.« »Mutter ...« Ferada holte tief und schaudernd Luft. »Das ist - es kommt mir falsch vor ...« »Das reicht jetzt!« Dreseidas Stimme war wie ein Peitschenschlag; Ferada zuckte unwillkürlich zusammen. »Wage nicht, mich zu kritisieren. Und beeile dich gefälligst. Ich bin vielleicht die Einzige am Hof, die versteht, was auf dem Spiel steht. Nun, da Drust tot ist, bin ich die mit dem wahrsten Blut. Ich und die meinen. Sei froh, dass dies alles ist, was ich von dir verlange, Ferada. Und wage nicht, mich he- 641 rauszufordern, denn es besteht kein Zweifel, wer bei einem solchen Streit den Sieg erringen würde. Und jetzt geh.« »Das werde ich, aber ...« »Geh!« »Ja, Mutter.« Es war eine schwere und ermüdende Reise. Tuala hatte angenommen, mit Geißblatt und Weide als Führern würde sie schneller vorankommen; konnten solche Geschöpfe nicht die Gestalt wechseln, über das Winterland gleiten, in tiefe Seen tauchen und auf Windströmungen über dem Tal so schnell wie Schwalben fliegen? Und wenn sie tatsächlich von der gleichen Art war wie diese beiden, konnte sie dann nicht das Gleiche tun und die Entfernung von Banmerren nach Pitnochie so schnell und leicht überbrücken, wie sie über die Mauer vom Dach zum Baum getanzt war, ungeachtet der Gefahr? Konnte sie nicht wie eine Eule im Wald sein, wie ein Lachs im Fluss, eine Hirschkuh, ein Hase, ein Tier des Waldes? Aber das war offenbar nicht der Fall; zumindest noch nicht. »Du hast zu lange unter Menschen gelebt«, sagte Weide. »Wir haben dich schon vor langer Zeit gewarnt. Es hat dich geschwächt, hat deinen Willen geschwächt und deine Magie verwässert. Ein wenig Zeit im Reich hinter der Grenze, und alles wird wieder so sein, wie es sollte. Aber bis dahin wirst du zu Fuß gehen müssen. Wir werden über dich wachen.« Aber während Tuala störrisch weiter auf das Tal zustapfte, ihre Nächte geduckt im Schutz von Nebengebäuden oder nassen Heuschobern verbrachte und sich von einem schimmligen Brotlaib ernährte, was alles war, was sie vor ihrer mitternächtlichen Flucht aus Banmerren hatte mitnehmen können - sie war durch ein winziges Fenster geschlüpft, während ihre Hüterinnen im Gebet waren, war den Baum hinauf und auf die Mauer geklettert und dann in dem einen Augenblick nach unten gelangt, der ihr zeigte, - 642 dass sie wirklich kein Mensch war, denn sie hatte die Augen geschlossen, hatte sich vorgestellt, eine Eule zu sein, und war gesprungen -, erkannte sie, dass ihre Gefährten auch jetzt, wenn ihre Hilfe für sie den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachte, ebenso flüchtig und unzuverlässig waren wie in einfacheren Zeiten. Manchmal waren sie bei ihr, ermutigten sie mit freundlichen Worten, mit Liedern und Geschichten; manchmal erwachte Tuala im ersten Morgenlicht verkrampft und verzweifelt, nur um festzustellen, dass man sie allein gelassen hatte. Wenn das geschah, verließ sie sich auf ihre Sinne, um den Weg wieder zu finden, und segnete Erip für seinen Geografieunterricht und die Belehrungen über Sonne, Mond und Sterne. Eine solche Ausbildung machte es unwahrscheinlich, dass sie sich je verlaufen würde. Sie hatte geglaubt, dass nach dem letzten Vollmond nichts mehr für sie zählte. Aber bestimmte Dinge beunruhigten sie. Es schien kälter zu werden, und hin und wieder schneite es, nur leicht, aber die Kälte drang ihr dennoch bis in die Knochen, sodass sie sich ununterbrochen nach einem Feuer sehnte. Ihre Stiefel waren vollkommen durchtränkt, ihre Füße mit Blasen überzogen. Warum spürten Weide und Geißblatt die Kälte nicht? Als die beiden zurückkehrten und neben sie ins Stroh hinter einem Schweinestall schlüpften - die beste Zuflucht, die Tuala hatte finden können -, fragte sie sie das und erhielt eine vertraute Antwort.
»Du hast zu lange bei ihnen gelebt. Deine Gezeiten haben begonnen, sich dem Muster der ihren anzupassen. Wenn wir zu Hause sind, wirst du dich schnell erholen. Dort gibt es keine Hitze und keine Kälte mehr und keinen Schmerz.« »Aber ...«, begann Tuala. »Es könnte auch etwas anderes bedeuten. Vielleicht friere ich und bin müde und hungrig, weil ich nicht eine von euch bin. Vielleicht bin ich ein Mensch wie Bridei.« Seinen Namen auszusprechen war bittersüß: eine Erinnerung an Liebe und Verlust. - 643 »Pah!«, schnaubte Geißblatt und kuschelte sich ein wenig bequemer ins Stroh. »Bist du nicht von der Mauer von Banmerren abwärts geflogen? Ein Menschenmädchen hätte sich das Genick gebrochen.« »Dann bin ich vielleicht beides, das Kind einer Vereinigung zwischen eurer Art und den Menschen.« »Das würden wir wissen«, versicherte ihr Weide. »So etwas geschieht selten. Denk an deine Geschichten. Denk an Amna mit dem weißen Tuch. Sie hat diesen elenden Conn nicht einmal länger als eine Nacht haben wollen, und schließlich hat sie ihm ein Ende gemacht. Seine Schwäche hat sie angewidert. Was hätte eine wie sie mit einem Kind anfangen wollen, das halb das seine war? Sie hätte es ganz bestimmt nicht auf der Schwelle eines Menschenhauses abgelegt, warm gegen die Kälte eingepackt. Sie konnte den Mann nicht ausstehen. Er konnte sie nicht zufrieden stellen. Das Letzte, was sie interessiert hätte, wäre das Überleben seines Kindes gewesen.« »Aber du hast gesagt - Geißblatt hat gesagt -, die Geschichte von Amna sei nur erfunden«, protestierte Tuala. »Und was war mit der Eulenfrau? Sie hatte Kinder. Es passiert also. Und außerdem, was immer ich sein mag, meine Eltern wollten mich nicht. Wenn ich zu euch gehöre und meine Mutter und mein Vater vom Guten Volk waren, warum haben sie mich nicht behalten? Nein, verschwindet nicht, beantwortet meine Frage! Warum habt ihr es mir nicht gesagt? Verdiene ich nicht die Wahrheit, wenn ich mit euch kommen soll? Was, wenn ich über diese Grenze gehe, von der ihr sprecht, und feststelle, dass mich auch dort niemand haben will?« »Ist es das, was du glaubst?« Kälte lag in Weides Stimme. »Du willst, dass wir dich hier lassen, damit du eine Zukunft unter diesen Menschen findest, die dich so ungerecht und unfreundlich behandelten? Wo würdest du hingehen?« »Nein, das will ich nicht«, flüsterte Tuala. »Ich will nur wis- 644 sen, wer ich bin. Und ich will wieder warm und trocken sein. Es kommt mir vor, als wäre ich schon eine Ewigkeit unterwegs.« »Hm.« Geißblatt betrachtete sie mit seinen runden, seltsamen Augen. »Ich kann nicht viel gegen die Kälte tun. Wenn wir ein Feuer anzünden, kommen sofort die Bauersleute heraus und wollen wissen, wer über ihr Land zieht und vielleicht ein Auge auf ein fettes Schaf geworfen hat. Wie lange sind wir jetzt unterwegs? Drei Tage? Vier?« »Vier«, sagte Tuala grimmig. »Und wir haben noch nicht einmal den Schlangensee erreicht. Es ist beinahe Neumond, und ich glaube, es wird wieder schneien.« »Ja«, sagte Geißblatt. »Ein Mann auf einem Pferd könnte die Entfernung selbstverständlich schneller zurücklegen, immer vorausgesetzt, Mondlicht und Wetter erlauben es. Er würde natürlich ein hervorragendes Pferd brauchen. Was die von unserer Art angeht, so reisen wir nicht grundlos. Was immer wir tun, folgt einem bestimmten Weg und hat seine ganz eigene perfekte Zeiteinteilung. Wir können dich nicht in einem Blinzeln nach Hause bringen, auf die Art, wie Druiden angeblich reisen. Aber wir können uns jetzt schneller bewegen. Der Neumond hilft dabei.« »Nein, das tut er nicht«, widersprach Tuala. »Es bedeutet, dass wir nicht im Dunkeln weiterziehen können, es sei denn, wir wollen in einen Sumpf stolpern oder in den See fallen und dort Futter für die Schlangen werden.« »Der Neumond ist der richtige Zeitpunkt für das Ende unserer Reise«, sagte Weide. »Der Neumond fällt auf Mittwinter; es ist eine sehr bedeutende Verbindung, beinahe so gut wie in der Nacht, als du auf Broichans Schwelle gefunden wurdest, eine Vision von Licht und Hoffnung. Damals hat die Leuchtende ihre wahre Schönheit in ihrem ganzen strahlenden Glanz enthüllt, diesmal verbirgt sie ihr Gesicht vor der Welt der Menschen und vor unserer eigenen, während die Jahreszeit sich wendet. Wer weiß schon, was in einer sol- 645 chen Nacht geschehen kann? In Caer Pridne werden die Kandidaten für den Thron ihre Ansprachen halten, um sich vorzustellen. Dein Freund wird unter ihnen sein; eine gewisse junge Adlige wird ganz in seiner Nähe sitzen, ihm zulächeln und ihm applaudieren. Und wir sind dann in den Wäldern oberhalb von Pitnochie am Dunklen Spiegel. Ein Schritt, mehr wird es nicht brauchen, und du bist für immer frei von diesen Menschensorgen. In diesem Reich werden all deine Fragen eine Antwort finden ...« - 646 KAPITEL SECHZEHN Ferada«, sagte Ana leise. »Ich glaube, du nähst es an deinen Rock.« »Oh.« Ferada schaute auf ihre Arbeit hinab, stieß einen ganz und gar nicht damenhaften Fluch aus und trennte eine Reihe krummer Stiche auf. Die beiden saßen im Lampenlicht, denn es war an diesem Wintertag selbst so früh am Nachmittag schon dunkel; schwere Wolken verbargen das Gesicht des Flammenhüters, der so nah an der Sonnenwende tief hing und nur schwach leuchtete. Anas Stickerei war hinreißend: ein Muster aus winzigen Blüten, cremefarben auf cremefarben, jeweils mit einer schmalen Bordüre in Enteneiblau.
»Was ist denn mit dir?«, fragte sie nun, als sie die ungeduldigen Bewegungen bemerkte, mit denen ihre Freundin die Stiche herauszog und dabei beinahe den Stoff zerriss. »Du bist aufgeregt, das sehe ich. Und du siehst erschöpft aus. Denkst du immer noch an den Tortag?« »Wie kann ich nicht daran denken?« Feradas Ton war finster. »Nachdem ich es gehört hatte, konnte ich mich nicht entscheiden, ob ich Fola verachte, weil sie solche Grausamkeit geschehen lässt, oder bewundere, weil sie den Göttern ohne Zögern gehorcht. Und ich weiß es immer noch nicht. Ein solches Ritual konnten sich nur Männer ausdenken. Wie kann eine rechtschaffene Frau es akzeptieren? Ich glaube einfach - 647 nicht, dass die Leuchtende zulässt, dass es weitergeht, Jahr um Jahr. Es ist so falsch!« »Still.« Ana sah sich nervös um, als stünden die Götter direkt hinter ihr, um sie zu belauschen. Die beiden Mädchen waren allein in diesem stillen Zimmer im Frauenquartier, aber jeden Augenblick konnten sich andere zu ihnen gesellen, um ebenfalls ihrer Handarbeit nachzugehen. Es gab jetzt viele Frauen in Caer Pridne; alle warteten mit ihren Männern auf die Vorstellung der Kandidaten, die Versammlung und die Verkündung der neuen Machtstrukturen. Innerhalb der nächsten zehn Tage würde über die Zukunft von vielen entschieden werden. Die kalte Jahreszeit ließ viel Zeit für solche Beschäftigungen wie Sticken, Spinnen und Weben. Dennoch zogen die älteren Frauen es für gewöhnlich vor, sich in der großen Halle mit ihrer breiten Feuerstelle, der Musik und der Gelegenheit zu interessanten Gesprächen aufzuhalten. Zu solchen Zeiten der Veränderung waren Frauen nützliche Vermittlerinnen von Informationen und übten beträchtlichen Einfluss auf ihre Männer aus, immer vorausgesetzt, sie hatten ein scharfes Gehör und ausgeprägte Überzeugungskraft. »Du magst so etwas denken«, fuhr Ana fort, »aber du solltest es nicht laut aussprechen.« »Ich frage mich langsam, warum nicht.« Ferada riss den letzten misslungenen Stich heraus und biss das Ende des Fadens ab. »Und ich frage mich, ob ich überhaupt noch an irgendetwas glaube, was über die Tatsache hinausgeht, dass Männer und Frauen nur von Gier und Machtgier angetrieben werden.« »Ferada!« Ana legte ihre Arbeit nieder und starrte ihre Freundin erschrocken an. »Was du da sagst, ist schrecklich! Was ist mit Liebe? Was mit dem Wunsch, anderen zu helfen? Was ist mit der Verbesserung für dein Land und dem Wohlergehen seiner Menschen?« Ferada zog die Brauen hoch. »Früher einmal habe ich an all das geglaubt«, sagte sie. »Wenn du immer noch solche - 648 Ideale hast, freut mich das für dich. Es gibt dir Hoffnung, die du gut brauchen kannst, solange du hier als Geisel gefangen sitzt und niemand beschließt, dich gehen zu lassen.« »Du bist sehr zynisch«, sagte Ana leise. »Und tief drinnen glaubst du selbst nicht, was du sagst. Es gibt viele würdige Männer und Frauen, gute, selbstlose Menschen. Was ist mit Bridei?« Feradas Hände zuckten unwillkürlich, und sie verzog das Gesicht, als sie sich mit der Nadel in den Finger stach. »Komm schon«, sagte Ana. »Heraus damit.« »Ich muss ihn sehen. Bridei. Aber sie lassen niemanden zu ihm.« »Mhm«, sagte Ana. »Mich auch nicht, ich habe es dir ja erzählt. Aniel hat mich weggeschickt. Eine von uns muss zu ihm gelangen. Eine von uns muss es ihm sagen.« Ferada starrte sie an. »Das mit Tuala«, sagte Ana. »Was ihr zugestoßen ist. Er wird es wissen wollen, sobald es ihm gut genug geht.« »Aber ...« Ferada runzelte die Stirn. »Broichan hat es ihm doch sicher schon gesagt. Fola hat ihm einen Boten geschickt.« Ana sah sie ernst an. »Ja, ich bin sicher, Broichan weiß, dass Tuala weggelaufen ist. Als ihr Pflegevater ist er dafür verantwortlich, Leute auszuschicken, die nach ihr suchen. Aber ich bin nicht sicher, ob er es Bridei gesagt hat. Es sind nur noch drei Tage bis zur Vorstellung der Kandidaten, und Bridei ist immer noch krank. Es wird ihn sehr aufregen zu erfahren, dass Tuala weggerannt ist, dass sie ganz allein mitten im Winter davongelaufen ist und niemand herausfinden konnte, wohin. Broichan will sicher, dass Bridei für die Vorstellung in bester Stimmung ist.« »Aber du würdest es ihm trotzdem sagen«, stellte Ferada fest. »Du nicht?« »Ich weiß nicht.« Es fehlte Ferada an der üblichen Selbst- 649 Sicherheit. »Ich weiß nur, dass ich ihn sehen muss und keine Ahnung habe, wie ich das bewerkstelligen soll.« Nun kam eine Gruppe von Frauen herein, die sich leise und in angenehmem Ton unterhielten: Königin Rhian, blass, aber gefasst, und drei ihrer Hofdamen. Alle hatten Arbeitskörbe dabei. Die beiden Mädchen standen auf und verneigten sich höflich. »Lasst euch nicht stören, Mädchen«, sagte Rhian und setzte sich auf eine Bank an das kleine Feuer. »Wir suchen nur ein ruhiges Fleckchen; in der Halle wimmelt es von Menschen, von denen die meisten ausgesprochenen Unsinn reden. Jedenfalls kommt es mir so vor. Ich habe allerdings Nachrichten, die euch interessieren werden. Aniel sagte mir gerade, dass es Bridei heute viel besser geht; er sitzt aufrecht und zeigt Interesse an warmer Brühe - so hat Aniel es ausgedrückt. Dafür danke ich den Göttern. Es hat so lange gedauert; ich habe noch nie erlebt, dass Durchfall einen Mann so lange niedergestreckt hat. Wie lange war es, zehn, zwölf Tage? Ich bete
darum, dass Bridei sich genügend erholt, um selbst bei der Vorstellung sprechen zu können. Wir haben gehört, dass der König von Circinn nur noch einen Reisetag entfernt ist und seinen eigenen Anspruch persönlich vortragen wird.« Ana sah Ferada an, und Ferada erwiderte den Blick. Beide hatten die gleiche Idee. Ana nickte, als wollte sie sagen: Tu du es. »Herrin«, begann Ferada. »Ich bin sicher, es würde sehr zu Brideis Gesundung beitragen, wenn du ihn besuchen würdest. Er schätzte die Meinung des Königs über alles. Es würde ihn, glaube ich, ermutigen, wenn ...« Sie erlaubte ihrer Stimme zu verklingen, was sich ganz anhörte wie plötzliche mädchenhafte Schüchternheit. Ana verkniff sich ein Lächeln. Königin Rhian sah Ferada scharfsinnig an. »Du bittest mich als Freundin der Familie?« - 650 »Und als persönliche Freundin.« Ferada errötete und brauchte sich dafür nicht einmal zu verstellen. Der Königin einen solchen Vorschlag zu machen war ein wenig verwegener, als die Hofetikette vorsah. »Ich verstehe«, sagte Rhian mit einem Blick von Ferada zu Ana und wieder zurück. »Und du würdest mitkommen wollen, nehme ich an.« Ferada schaute verschämt auf ihre Hände nieder. »Das würde ich sehr gerne tun. Nur für einen Augenblick; ich weiß, dass er sehr krank gewesen ist.« »Ihr beide?« Die Königin zog die Brauen hoch. »0 nein«, sagte Ana eilig. »Ferada kann gehen; eine von uns genügt. Ich warte gerne, bis es Bridei wieder gut genug geht, dass er unter Menschen sein kann.« »Mhm«, sagte Rhian. »Es ist den Versuch wert, und sei es nur, um zu sehen, ob wir an dieser Furcht erregenden Armee von Beschützern vorbeikommen können, die sie versammelt haben. Ich weiß nicht, wer einschüchternder ist, die Leibwächter oder die Druiden. Also gut, Ferada, vielleicht morgen nach dem Frühstück. Ich werde nach dir schicken. Passt dir das?« »Ja, Herrin.« Ferada tat ihr Bestes, auszusehen wie ein verliebtes Mädchen, ganz niedergeschlagener Blick und bescheiden gefaltete Hände. Der Ring, den ihre Mutter ihr gegeben hatte, fühlte sich an ihrem Finger schwer und unbequem an; die grüne Emaillefläche mit ihrem raffinierten Scharnier war fest geschlossen und verbarg den Inhalt - ein harmlos aussehendes braunes Pulver. »Danke.« »Keine Ursache«, sagte Rhian. »Ich verstehe zwar nicht, wieso du nicht einfach deinen Vater fragst; immerhin hält er sich die Hälfte der Zeit dort auf. Dennoch, in Herzensangelegenheiten sind Väter vielleicht nicht die beste Hilfe. Und vielleicht braucht es eine Königin, um an Broichan vorbeizukommen. Wir werden sehen.« - 651 »Faolan ...«, sagte Bridei. »Holt Faolan ... sofort ... sucht ihn... sofort...« »Leg dich hin«, befahl Broichan. »Breth hat sich auf die Suche nach ihm gemacht. Nichts ist so dringend, dass es nicht warten kann, bis du etwas gegessen und dich ausgeruht hast und ein wenig Zeit hattest, um wieder zu dir zu kommen.« »Botschaft... muss eine Botschaft schicken ...« »Trink.« Broichans Stimme war ruhig und tief. Er schob einen Arm hinter Brideis Schultern, hob und stützte ihn. Mit seiner schlanken Hand hielt er einen Becher an die Lippen des Kranken. Bridei trank einen Schluck und spuckte ihn explosiv wieder aus; Broichan zuckte nicht einmal mit der Wimper, als die Flüssigkeit auf die Decken spritzte. »Was machst du da?«, keuchte Bridei. »Darf... nicht schlafen ... nicht schlafen ... Faolan...« »Faolan wird dir das Gleiche sagen wie wir.« Uist stand am Fuß des Strohsacks und sah Bridei abschätzend aus seinen hellen, wechselhaften Augen an, als dieser versuchte, sich von den Decken zu befreien und die Füße auf den Boden zu stellen. »Du bist nicht in der Verfassung, etwas anderes zu tun, als dich auszuruhen, vor allem, wenn du bei der Vorstellung der Kandidaten selbst sprechen willst. Es ist nicht mehr viel Zeit; ich kann verstehen, wie du empfindest, aber es ist in deinem besten Interesse ...« »Nicht viel Zeit«, sagte Bridei und starrte den alten Druiden an. »Wie lange ... hier?« »Seit dem letzten Vollmond«, sagte Broichan und hob den Becher wieder. »Trink, Bridei. Du hast sehr unruhig geschlafen. Du brauchst das hier.« »Nein!« Der Becher flog auf den Boden, als Bridei sich mit einer Heftigkeit hinsetzte, die sie alle überraschte. »Nein, ich werde es nicht trinken. Wie lange, wie viele Tage? Was ist mit mir los?« - 652 »Dreizehn«, sagte Uist und beobachtete seinen Schutzbefohlenen forschend. »Was?« »Still, Bridei«, sagte Broichan. »Es ist noch genug Zeit. Wir haben noch drei Tage bis zur Vorstellung. Und Carnach hat sich bereit erklärt, wenn du zu schwach bist, als dein Stellvertreter ...« »Was ist mit mir los?« Bridei schaffte es, die Füße auf den Boden zu stellen, versuchte aufzustehen und fiel wieder aufs Bett zurück, als seine Knie nachgaben. »Kannst du dich an nichts erinnern?« Broichan setzte sich auf eine Bank; aus dem Vorzimmer waren Männerstimmen zu hören. »Nicht seit... nicht seit dem Vollmond.« Brideis Stimme war zu einem Flüstern verklungen. Sein Blick war
finster. »Was ...« »Du wurdest angegriffen, wie Faolan vorhergesagt hat«, sagte Broichan angespannt. »Es war eine sehr unkluge und ausgesprochen gefährliche Idee, dich nachts allein an den Strand zu schicken, in solchem Wetter ... aber der Gäle ist, wie wir wissen, kein Mann, der sich an die Regeln hält. Und er geht auch kein Risiko ein, es sei denn, er ist sich des Erfolgs sicher. Du wurdest von drei Männern angegriffen. Faolan war nicht weit hinter dir. Einer der Attentäter wurde gefangen genommen, zwei getötet. Es war viel für deinen Hüter, mit ihnen fertig zu werden, ich glaube sogar zu viel. Zum Glück war Uist zufällig in der Nähe und hat ihm geholfen. Und noch besser, er erkannte Faolans Gefangenen von einer Begegnung in Circinn. Der Mann hat gestanden; er wurde von Bargoit bezahlt. Dieser Anschlag auf dein Leben und, wie wir annehmen, auch andere zuvor wurden im Auftrag von Drust dem Eber ausgeführt.« »Du begreifst, was das bedeutet«, sagte Uist. »Wir haben die Beweise, um deinen Rivalen zu diskreditieren. Wenn du ebenso viele Stimmen hast wie er, werden wir dies als ent- 653 scheidendes Argument vortragen. Faolan hat erreicht, was die mächtigsten Männer in Fortriu nicht tun konnten; er hat dir praktisch den Sieg gesichert.« »Was nicht besonders nützlich gewesen wäre, wenn Bridei bei dem Angriff umgekommen wäre«, stellte Broichan fest. »Dreizehn Tage«, sagte Bridei erschüttert, als hätte er nichts von allem gehört. »Dreizehn Tage?« »In der Tat«, stellte Uist fest. »Du hast die gesamte Zeit hier bewusstlos oder halb bei Bewusstsein gelegen. Man hat dir einen sehr schweren Schlag auf den Kopf versetzt. Wir haben überall erzählt, dass du Durchfall hast. Das wird deine Schwäche erklären, wenn du dich wieder in die Öffentlichkeit begibst. Deine Wachen haben sich als ausgesprochen fähig erwiesen, wenn es darum ging, die ...« »Sofort«, sagte Bridei und erhob sich erneut, getrieben von reiner Willenskraft, obwohl er sich an einer Stuhllehne festhalten musste, um stehen bleiben zu können. »Kleidung ... muss gehen ... Faolan ...« »Nein.« Broichans Hand an seiner Schulter zwang Bridei wieder aufs Bett zurück; in Broichans dunklen Augen stand ein Befehl. »Man darf dich nicht in diesem Zustand sehen. Du darfst nicht in der Öffentlichkeit erscheinen, bevor dein Geist wieder klar ist. Du hast in dieser Zeit der finsteren Träume geflüstert, geweint, geschrien, getobt. Nun musst du dich ausruhen. Faolan wird zu dir kommen; sprich mit ihm, wenn du es für so wichtig hältst. Danke ihm, denn seine übereilten Taten haben sich tatsächlich sehr zu unserem Vorteil ausgewirkt. Gib ihm alle Botschaften mit, die du willst. Und dann trink den Beruhigungstrank und schlafe. Ich hoffe, dass es dir morgen früh erheblich besser geht.« Er musste warten. Warten, während sich in seinem Kopf Bilder drehten und sein Körper allen Versuchen widerstand, ihn zur Arbeit zu zwingen; er hatte nicht einmal die Kraft, seinen eige- 654 nen Becher zu halten und zu heben. Und seine Beine wollten ihn nur einen einzigen Schritt tragen, bevor sie zu Gelee wurden. Die Kopfschmerzen hatten sich in etwas Neues verwandelt, eine matte, dröhnende Präsenz, die mehr an Zorn als an Schmerz erinnerte. Tuala ... Tuala dort im Baum, die auf ihn wartete... vielleicht die ganze Nacht, in der Kälte, im Regen... dreizehn Tage, dreizehn ganze Tage und keine Botschaft... sie würde annehmen... sie musste geglaubt haben ... »Bridei.« Endlich war Faolan da. Er hatte lange gebraucht; es musste inzwischen draußen dunkel sein, die Sonne untergegangen, ein weiterer Tag bereits vergangen, eine andere Gelegenheit verloren. Die Druiden saßen drüben an der Feuerstelle und unterhielten sich leise. Der Gäle stand in der Tür, einen schweren Umhang um die Schultern, als wäre er irgendwo draußen gewesen, aber vor kurzem zurückgekehrt. Faolan sah blass aus, und er wirkte ungewöhnlich angespannt. »Komm ...«, flüsterte Bridei. »Komm näher ...« Faolan kam zum Bett, setzte sich auf einen Hocker, mit dem Rücken zu den Druiden, schirmte Bridei vor ihren Blicken ab. Das war eine der Begabungen, die ihn so nützlich machte; die Fähigkeit, zu verstehen, ohne dass man es ihm sagen musste. Broichan und Uist konnten nichts sehen. Andererseits waren Druiden dafür bekannt, über ein erstaunlich gutes Gehör zu verfügen. »Broichan?«, fragte Bridei. »Ja?« »Ich möchte ... allein ... mit Faolan sprechen. Du und Uist ... frische Luft ... lange Zeit ... um einen Kranken gekümmert ...« »Nicht im Geringsten ...«, begann Broichan und brach dann ab. Einen Augenblick später folgte er Uist ins Vorzimmer und schloss die Tür hinter sich. »Erstaunlich«, stellte Faolan fest. »Ich hätte gedacht, niemand könne diesem Mann sagen, was er tun soll.« - 655 »Nur ... anderer Druide«, keuchte Bridei. »Warum hast du ... gesagt, dass du es warst? Plan ... Angriff? Warum?« »Ah, ich hätte wissen sollen, dass das deine erste Frage sein würde. Es schien ... nützlich. Hätte ich lieber die Wahrheit sagen sollen?« »Welche ... Wahrheit?«
»Dass du auf dem Weg zu einer gewissen jungen Dame an einem verbotenen Ort warst und es vernachlässigt hast, es gegenüber deinen Wachen zu erwähnen?« »Das wusstest du?« »Ich hatte dich zuvor gesehen, vergiss das nicht: Sterne in den Augen, du schwebtest beinahe, die üblichen Symptome. Ich hielt es für möglich, dass du fehlgeleitet genug wärst, es beim nächsten Vollmond noch einmal zu versuchen. Selbstverständlich hast du es mir nicht gesagt; du wusstest, dass ich dich nicht gehen lassen würde. Ich hatte bereits einen Verdacht, was den Hintergrund des nächsten Angriffs anging.« »Was sagst du da, Faolan? Dass du ihnen gesagt hast, wo sie mich finden würden? Dass ich es dir verdanke, dass ich ... dass ich sie nicht...« »Dass du sie nicht sehen konntest? Ist das so wichtig, dass es die Frage nach dem Thron von Fortriu aus deinem Kopf tilgt? Wir haben dich doch sicher nicht so falsch eingeschätzt, Bridei.« Bridei schüttelte den Kopf und bedauerte das sofort, denn die Kopfschmerzen erwachten zu neuem Leben, dröhnten beharrlich hinter seinen Schläfen. »Nicht falsch eingeschätzt ... falsch verstanden ... Faolan?« »Was ist?« Es kam Bridei durch den Nebel von Schmerzen und Müdigkeit so vor, als stünde ein neuer Ausdruck im Auge des Galen. Niemand hätte Faolan weich nennen können; aber es gab eine Direktheit in seinem Blick, die anzeigte, dass sich die Dinge zwischen ihm und seinem Schutzbefohlenen ver- 656 ändert hatten. Bridei hoffte, dass sein Instinkt weiterhin funktionierte, Schlag auf den Kopf oder nicht. »Ich muss ihr eine Botschaft schicken. Sie hat sicher gewartet... lange gewartet ... Sie hätte nicht gewusst, wieso ...« Faolan lächelte grimmig. »Eine Botschaft nach Banmerren. Das denke ich nicht. Weißt du, dass wir nur noch drei Tage haben, bis du vor ihnen stehen und deine Ansprache halten musst? Wir haben vielleicht diese Attentäter eliminiert, aber sie sind nicht deine einzigen Feinde. Es wimmelt hier nur so vor mächtigen Männern, Männern aus dem Süden; Drust der Eber wird morgen in Caer Pridne erwartet. Sie warten alle nur auf eine Gelegenheit, um jeden zu diskreditieren, von dem sie glauben, dass er sich gegen sie stellen wird. Sie werden sich in erster Linie auf Carnach konzentrieren, da die meisten ihn immer noch für einen Kandidaten halten. Aber sie lauern auch darauf, dass du ihnen eine Möglichkeit bietest. Die Gefahr ist zu groß.« Bridei versuchte, den Galen am Handgelenk zu packen; seine Hand fühlte sich so schwach an wie die eines Kindes, sein Griff jämmerlich. »Ich muss«, sagte er. »Ich habe versprochen ...« Faolan runzelte die Stirn. »Was versprochen?«, fragte er. »Dass ich ... dass ich ... verantwortlich sein würde.« Die Schwäche durchfloss ihn wie eine Flut, betäubte ihn, verlangsamte ihn, versuchte, ihm die Willenskraft zu nehmen. »Dass ich ... da sein würde ... wenn sie ...« »Bridei«, sagte Faolan leise, »ich kann heute Abend nichts mehr ausrichten. Wenn du bei Verstand wärst, wusstest du das. Ich werde morgen früh wieder mit dir sprechen. Ich denke, du solltest es sein lassen. Wenn du geschlafen hast, wirst du das vielleicht auch erkennen. Etwas anderes zu tun würde bedeuten, deine Zukunft aufs Spiel zu setzen. Und du gefährdest das Mädchen ebenfalls. Und jetzt solltest du Broi-chan dieses Zeug noch einmal brauen lassen, und wenn er es dir diesmal gibt, trink es. Du hattest Albträume. Laute.« - 657 »Habe ich...« »Das meiste davon war zu verworren, als dass ich es verstanden hätte. Diese Druiden hatten vielleicht mehr Glück. Und ja, du hast einen bestimmten Namen erheblich öfter ausgesprochen als andere.« Bridei schloss die Augen. »Ich brauche sie«, flüsterte er und hasste es, so schwach zu sein. »Still«, sagte Faolan. »Warte bis morgen. Du hast mehr durchgemacht, als dir klar ist. Wir hätten dich beinahe verloren. Und jetzt werde ich gehen. Deine Hüter hier warten zweifellos ungeduldig darauf, wieder eingelassen zu werden.« »Du sagtest... Albträume ... gehört. Du ... hier?« »Die Nachtschicht ist offenbar Teil meiner Arbeit«, sagte Faolan lässig. »Ja, ich war hier. Eine Nacht habe ich verpasst, weil ich meinen Gefangenen an einen sicheren Ort gebracht habe. Die anderen Nächte war ich hier, nicht immer mit Broichans Zustimmung. Ich glaube, er wollte dich für sich haben. Ich sollte lieber gehen; dieser Umhang ist triefnass.« »Häng ihn... Feuer. Bleib ... Weile.« Bridei stellte fest, dass er nicht länger sitzen konnte; er lehnte sich wieder in die Kissen zurück, und die Ungeduld mit seinem hilflosen Zustand trat in Widerstreit zu dem intensiven Wunsch, traumlos zu schlafen. »Füße hoch«, sagte Faolan und zupfte die Decken um ihn zurecht. »Komisch ... du ... Kindermädchen ...« »Ich habe es dir doch gesagt.« Faolan richtete sich auf, zog den Umhang aus und hängte ihn über die Bank am Feuer. »Dafür bezahlen sie mich: Dummköpfe wie dich lange genug am Leben zu erhalten, dass sie erreichen, was ihnen bestimmt ist. Ich mache nur meine Arbeit.« »... nicht bezahlt... Freund zu sein.« Das brachte Faolan zum Schweigen. Unter halb geschlossenen Lidern beobachtete Bridei den Galen und die bemer- 658
kenswerte Abfolge von Gefühlen, die sich auf seinen Zügen spiegelten: Überraschung, Traurigkeit, etwas, das erstaunlich nach Demut aussah, und dann abrupt wieder der leere, harte Ausdruck, mit dem Faolan alles verbarg, was er empfand. Er saß still an Brideis Bett und starrte die Wand an. Schließlich kehrten die Druiden zurück und brauten ihren beruhigenden Aufguss, und Bridei trank ihn und schlief. Die Leuchtende zeigte sich nur noch als schmale Sichel; es war kurz vor der Sonnenwende und vor Neumond. Seltsam, dass sich alles so veränderte. Tuala hatte keinen Hunger und keinen Durst mehr, obwohl sie schon vor ein paar Tagen die letzten Brotkrümel gegessen hatte. Sie wusste, dass sie müde war und dass etwas mit ihren Füßen nicht stimmte, aber sie konnte ihre Stiefel nicht mehr ausziehen, um sie sich anzusehen. Das schien alles nicht zu zählen. Ihre Füße schmerzten, aber sie trugen sie weiter, weiter über die schlammigen Wege durch den Wald. Ihre Hände waren wund vor Kälte, sie steckte sie unter das nasse Schultertuch und ignorierte die Schmerzen. Es war unwichtig. Sie verließ diese Welt. Sie lief davon. Tatsächlich glaubte sie, bereits einen Fuß über die Grenze gesetzt zu haben und sich zum Teil in diesem geheimen Land zu befinden. Sie konnte nicht nur weitergehen, ohne zu essen, sie hatte auch begonnen, Dinge zu sehen, seltsame Dinge, die sie nie zuvor im Wald oberhalb des Schlangensees bemerkt hatte. Auf den Bäumen saßen Geschöpfe und schauten auf sie herab, aus jeder Astgabel, von jedem Zweig richtete ein Wesen seltsame, strahlende Augen auf das Mädchen, das unter den Bäumen unterwegs war. Unter jedem Busch, überall im dichten, feuchten Unterholz tauchten kleine Gesichter auf, faltig bräunlich, langohrig, stachelhaarig, spitznasig, alle Arten, die Augen vor Neugier blitzend. Auf jedem Weg huschte etwas vor ihr her, hörbar, aber nicht sichtbar. Bei jedem Aufstieg folgten ihr leise Schritte. Feine Stimmen riefen, un- 659 heimlich im trüben Licht des Wintertags: Tuala! Tuala! Schwester, komm nach Hause! Als sie weiter den See entlangging und näher an Pitnochie war, erwies es sich als schwieriger, einen Unterschlupf für die Nacht zu finden. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich in das schimmelnde Laub zu wühlen und in einem vergeblichen Versuch, die Kälte fern zu halten, Farnwedel über sich zu ziehen. Sobald sie den Dunklen Spiegel erreichte, sobald sie wirklich diese Grenze überschritten hatte, würde sie nie wieder frieren müssen. Bebend unter eine massive Eiche geduckt, dachte Tuala, dass die Sache es schon beinahe nur deshalb wert war, damit dieses Zittern aufhörte. »Jetzt ist es nicht mehr sehr weit.« Geißblatt saß auf einem Baumstumpf, vollkommen ungerührt von der Kälte der Abenddämmerung. Der Mond war so trüb geworden, dass der Blättermann nur noch als Schattengestalt zu erkennen war, dunkel auf dunkel. Tuala wunderte sich darüber. Wenn sie zum Guten Volk gehörte, sollte sie nicht ebenso gut im Stande sein, ihren Weg zu finden, wie diese beiden? »Noch ein oder zwei Tage«, verkündete Geißblatt. »Und dann ist all das vorüber.« »Ich frage mich, was sie wohl gerade in Caer Pridne treiben«, sagte Weide beiläufig und fuhr mit den schlanken Fingern durch ihr silbriges Haar, das selbst im Dunkeln seinen Schimmer behielt. »Warst du nicht versucht, im Wasser Anleitung zu suchen, Tuala? Zu sehen, was Bridei tut?« »Nein.« Das war eine Lüge; sie hatte tatsächlich versucht, einen Blick auf ihn zu erhaschen, als ihre AnderweltBegleiter einmal nicht da gewesen waren und eine Regenwasserpfütze unter einem wolkigen Himmel die Gelegenheit dazu bot. Sie hatte sich an den Rand der Pfütze gehockt und erwartet, dass die Göttin ihr Bilder sandte. Sie hatte gebetet, hatte tief geatmet, hatte ihr Bestes getan, alle Gedanken aus dem Kopf zu schieben und ihr Seherinnenauge zu öffnen. - 660 Das Wasser war trotzigerweise nur es selbst geblieben: eine Pfütze, die graue Wolken widerspiegelte. Kein einziges Bild hatte auf der Oberfläche getanzt, obwohl Tuala hocken geblieben war, bis ihr Rücken schmerzte und ihre Beine sich verkrampften. Die Leuchtende hatte ihr Gesicht abgewandt; sie hatte ihre Tochter verlassen. Nun würde Tuala nicht mehr hinsehen; wenn dieses Fenster ihr für immer verschlossen sein sollte, wollte sie es lieber jetzt noch nicht wissen. Wenn die Bronzeschale ihre Geheimnisse nicht mehr enthüllte, würde sie ihn niemals wieder sehen. Niemals. »Warum sollte ich solche Visionen suchen? Habt ihr mir nicht wieder und wieder gesagt, dass es so das Beste ist? Bridei wird sich darauf vorbereiten, seinen Anspruch auf den Thron zu erheben. Broichan wird ihm dabei helfen. Das ist alles. Sagtet ihr nicht, es würde zu Mittwinter stattfinden?« »In der Tat. Zur Sonnenwende treten die Kandidaten vor und geben ihre Erklärungen ab. Zur Sonnenwende kehrst du in das Reich zurück, in das du gehörst. Ein zufrieden stellender Ausgleich; eine, die deine Erziehung erhalten hat, sollte das zu schätzen wissen.« »Mir ist kalt«, murmelte Tuala, schlang die Arme um sich und biss die Zähne zusammen. »Es schneit, seht nur.« Und tatsächlich fielen zwischen den dicken, kahlen Ästen der Eiche zarte Schneeflocken und schwebten zu Boden. »Noch zwei Tage«, sagte Weide. »Es dauert nicht mehr lange. Wir sehen uns am Dunklen Spiegel.« Und damit war sie verschwunden, schnell wie ein Blinzeln. Geißblatt war ohne ein Wort gegangen. »Nein ...«, begann Tuala schwächlich. »Geht nicht...« Sie zwang sich, still zu sein. Sie zwang sich, langsam zu atmen, sie konnte es schaffen, sie konnte weitergehen, auch wenn sie sie verließen. Sie war schon öfter allein gewesen. Daran war nichts Neues. Sie würde einfach einen Fuß vor den anderen setzen und weitergehen, bis ihr Weg zu Ende war.
- 661 Bridei bestand darauf, aufzustehen und sich anzuziehen. Er zwang sich, in den Vorraum zu gehen, sich an den Tisch dort zu setzen und all jene zu begrüßen, die kamen, um sich nach ihm zu erkundigen: Aniel, Talorgen, Carnach in Begleitung von Tharan, was eine Überraschung war. Er hatte den Eindruck, dass der Berater recht gut mit der neuen Entwicklung zurechtkam. Nach einer Weile schickten Breth und Garth die Besucher hinaus, dann bauten sie sich neben Bridei auf, während er eine Portion Haferbrei mit Honig aß. Er fühlte sich wie ein verhätscheltes Kind, und das sagte er ihnen auch. »Genieße es, so lange es dauert«, sagte Breth grinsend. »Und jetzt musst du ins Bett; ein Mann kommt nicht so schnell über eine solche Krankheit hinweg. Ich helfe dir ins Nebenzimmer...« Garth, an der Tür nach draußen, räusperte sich. »Mehr Besucher«, sagte er leise. »Diesmal Damen.« »Er hatte genug...« »Diese hier kann man nicht wegschicken.« Königin Rhian rauschte hinein, mit hoch erhobenem Kopf und gekleidet in beste Wolle in einem hellen Taubengrau, was ihr gut stand und zugleich angemessene Trauerkleidung darstellte. Hinter ihr kam Ferada, Tochter des Talorgen, in einem blauen Kleid mit einer Silberschließe an der Schulter, das rostbraune Haar hoch zu einer Krone aus Zöpfen frisiert. »Ah«, sagte die Königin lächelnd. »Ich sehe, du hast dich gut genug erholt, um am Tisch zu sitzen, Bridei. Das ist in der Tat beruhigend, denn nach allem, was ich hörte, erwartete ich, dich im Bett und fiebernd vorzufinden. Nein, steh nicht auf, wir werden nicht lange bleiben. Oh, ich sehe, wir haben unser kleines Geschenk vergessen, Ferada. Ich bin sicher, dass Bridei einen seiner Männer entbehren kann, um es zu holen - Garth, in meinem Quartier befindet sich ein Topf mit recht guter Hühnerbrühe; bitte geh und sprich mit meiner Zofe, sie wird ihn dir geben. Ich habe die Brühe selbst zubereitet. So sehr es dir auch an Appetit mangelt, Bri- 662 dei, diese Brühe wirst du gerne trinken. Sie ist erstaunlich kräftigend. Geh schon, junger Mann!« Sie lächelte, und Garth gehorchte ohne ein Wort. Rhian setzte sich Bridei gegenüber und sah ihn forschend mit ihren freundlichen blauen Augen an. Ferada stand hinter ihr und verschränkte die Finger. »Ein wenig Met vielleicht?« Die Königin warf einen Blick zu Breth, der in Richtung des inneren Zimmers verschwand. »Und nun sag mir, Bridei«, begann Rhian. »Geht es dir wirklich besser? Du warst lange krank. Eine ungewöhnliche Krankheit für einen so gesunden jungen Mann.« »Es geht mir viel besser, Herrin. Ich hoffe, zu Mittwinter vollkommen wiederhergestellt zu sein.« »Ah, ja, Mittwinter ... Nun, du hast noch ein wenig Zeit. Solange du bis zur Versammlung selbst gesund bist das ist es, was wirklich zählt. Der König hatte eine sehr hohe Meinung von dir, Bridei. Du bist es seinem Andenken schuldig, das Beste zu geben. Vergiss das nicht.« Vielleicht glitzerte eine Träne in ihrem Auge, aber sie war eine Königin - sie gestattete ihr nicht zu fallen. »Das ist sehr freundlich von dir, Herrin. Es war ein großer Verlust für das Land. Ich kann nicht hoffen, ihm gleichzukommen, aber ich werde mein Bestes geben, das verspreche ich dir.« »Mh.« Die Königin schwieg einen Augenblick, als Breth mit einem kleinen Krug Met und drei Bechern zurückkehrte und sie auf den Tisch stellte. »Davon bin ich überzeugt, Sohn. Möge der Atem der Götter dich inspirieren! Uns stehen große Veränderungen bevor, erschreckende Veränderungen. Wir werden alle stark sein müssen. Und nun«, Rhian stand auf, als wäre ihr plötzlich etwas eingefallen, »nun muss ich kurz mit Broichan sprechen. Ist er dort drinnen?« Sie warf einen Blick zu Breth, dann ging sie selbstsicher zur inneren Tür, klopfte kurz an und ging direkt hinein. Breth eilte ihr mit erschrockener Miene hinterher. - 663 Ferada griff nach dem Metkrug und goss die helle Flüssigkeit in zwei Becher. Bridei war erstaunt darüber, wie verändert sie wirkte. Sie war ihm immer so gefasst und selbstsicher vorgekommen und hatte ihn damit verlegen und unsicher gemacht. Aber heute sah sie blass und abgehärmt aus, und sie stellte sich ein wenig ungeschickt an, als sie einen Becher vor ihn stellte. Aber er würde keine Zeit verschwenden; ihre Anwesenheit gab ihm eine Gelegenheit, und er musste sie schnell ergreifen, bevor die anderen zurückkehrten. »Ferada, du musst eine Botschaft für mich überbringen. Eine Botschaft nach Banmerren. Kannst du das tun?« Sie starrte ihn mit leerem Blick an; es war beinahe, als verstünde sie nicht, was er gesagt hatte. »Für Tuala. Es ist dringend. Wirst du das tun?« Sie hielt immer noch ihren eigenen Becher; ihre Hände zitterten so heftig, dass der Met über den Rand schwappte. »Für Tuala... oh...« »Sag ihr einfach nur, was passiert ist. Dass ich seit der Nacht des Vollmonds krank war, dass ich nicht...« Bei den Göttern, was war denn mit diesem Mädchen los? Jetzt war er sicher, dass er es sich nicht einbildete: Ferada war aufgeregter, als er sie je gesehen hatte; sie war bleich wie ein Laken, die Sommersprossen zeichneten sich deutlich ab, und sie hatte die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst. Etwas Schreckliches musste geschehen sein. Er musste sie beruhigen. Der Gedanke an Met drehte ihm den Magen um, aber wenn er einen oder zwei Schlucke trank, wenn er so tat, als wäre alles in Ordnung, dann würde sie sich vielleicht entspannen und ihn anhören. Er streckte die Hand nach dem Becher aus, aber irgendwie stieß Feradas Hand in diesem Augenblick gegen
seine, und der Becher, den sie ihm eingegossen hatte, kippte um und ergoss seinen Inhalt über den Tisch. »Oh!«, keuchte Ferada und streckte die Hand aus, um den leeren Becher wieder hinzustellen. - 664 Bridei hatte das Schlimmste verhindert; er schob den Krug beiseite, aus der Pfütze heraus. Offenbar hatte niemand in dem inneren Raum die kleine Unruhe bemerkt; die Stimme der Königin war von drinnen zu hören, forsch und lebhaft. »Was ist denn, Ferada?«, fragte Bridei, der bemerkte, dass sie noch blasser geworden war. »Was ist passiert? Ist Gartnait etwas zugestoßen?« »Was? Warum sollte Gartnait etwas zustoßen?« Ihre Stimme zitterte; sie unternahm einen vergeblichen Versuch, mit einem kleinen Tuch die Vorderseite ihres Rocks zu säubern, wo der Met das Blau des Wolltuchs zu Sturmgrau verfärbt hatte. »Bridei, ich muss dir etwas sagen.« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Es geht um Tuala. Sie ist weggelaufen.« »Was?« »Bridei, du tust mir weh.« Bridei bemerkte, dass er aufgesprungen war und Feradas Schulter fest gepackt hatte; sie verzog schmerzerfüllt das Gesicht. »Verzeih«, sagte er und ließ sie los, aber sein Herz schlug weiterhin schnell und dringlich. »Weggelaufen? Wann? Wohin?« »Kurz nach dem Vollmond. Ein paar Tage später. Niemand weiß, wohin.« Nun war ihm kalt, kälter als der Winter. »Wie meinst du das, niemand weiß es? Sie müssen es doch wissen!« »Wir haben nichts von ihr gehört. An dem Abend, als sie verschwand, hat Fola Männer ausgeschickt, die nach ihr suchen sollten, Männer vom Bauernhof. Sie haben keine Spuren gefunden. Dann sind Ana und ich hierher zurückgekehrt. Ich habe nichts weiter gehört.« Brideis Kopf drehte sich; wo sollte er anfangen, welche Fragen sollte er stellen, was sollte er tun? Dreizehn Tage, er war ganze dreizehn Tage bewusstlos gewesen, während sie ... »Warum haben sie mir das nicht gesagt? Warum hat mir niemand etwas gesagt?« So lange, so weit; er musste gehen, sofort, auf der Stelle ... - 665 »Sie wussten wahrscheinlich, wie sehr dich das aufregen würde«, sagte Ferada und versuchte, den Tisch mit ihrem feuchten kleinen Tuch abzuwischen. »Sie wollen sicher, dass du bei der Vorstellung dein Bestes geben kannst.« »Die Seuche soll die Vorstellung holen! Sie ist die ganze Zeit da draußen, allein, im Winter - was haben sie sich dabei gedacht? Wieso ist Broichan noch hier, wenn sie - Pitnochie, sie muss nach Pitnochie gegangen sein! Er hätte sie doch sicher finden können ... Wenn sie Pitnochie erreicht, wird sie in Sicherheit sein und ich kann sie dort finden...« »Ich glaube nicht, dass sie dort bleiben möchte«, sagte Ferada nüchtern. »Sie sagte, die Leute dort wollten sie nicht haben; sie schien recht unglücklich zu sein, als wir sie damals abholten. Wenn sie in Broichans Haus hätte bleiben können, wäre sie nie nach Banmerren gekommen. Wusstest du das nicht?« Die Stimmen aus der inneren Kammer näherten sich der Tür; die Königin kam zurück. »Sag es mir«, zischte Bridei. »Schnell!« »Broichan hat sie vor die Wahl gestellt, entweder einen Mann zu heiraten, der sie haben wollte, oder zu Fola zu gehen. Sie wollte nicht heiraten. Banmerren war das kleinere Übel. Sie hat ihr Zuhause nie verlassen wollen. Bridei, ich muss dich warnen - du musst vorsichtig sein ...« »Welchen Mann?« Die Worte kamen von einem kalten Ort in ihm, einem Ort, an dem es keinen Platz für Versöhnlichkeit gab. »Den Steinmetz Garvan. Tuala sagte, er sei ein guter Mann, aber sie konnte nicht... Sie glaubte, dass die Göttin die Wahl für sie getroffen hatte. Bevor sie Pitnochie verließ, hat sie ... sie ...« »Was? Beeil dich.« »Sie hat ihr Haar abgeschnitten und Blut vergossen, um einen Schutzzauber für dich zu wirken. Sie wollte nicht gehen. - 666 Aber dort gibt es keinen Platz mehr für sie. Wenn sie nach Hause gegangen ist, dann nicht zu Broichans Haus.« Bridei starrte sie an; Ferada starrte zurück, die Augen voller Schatten. »Was wirst du tun?«, fragte sie ihn. »Sie finden«, sagte Bridei. »Sie finden, bevor es zu spät ist. Wirst du mir helfen?« Sein Umhang war hier, und in der Ecke standen Garths Stiefel. Es war eine geringe Chance, vielleicht die einzige. Wenn irgendeiner von ihnen es bemerken sollte, Breth, Garth, Faolan, Broichan - Broichan, der ihn angelogen, Broichan, der ihn verraten hatte -, würden sie ihn aufhalten. Sie dachten nur an die Vorstellung, die Versammlung, ihren Plan, der nun endlich Früchte trug. Sie dachten nicht an ein Mädchen draußen im Schnee, ein Mädchen, das mitten im Winter allein unterwegs war, vollkommen ohne Freunde. Brideis Eingeweide zogen sich zusammen. »Sag ihnen, Faolan hätte mich geholt; dass wir uns unter vier Augen besprechen und ich bis Mittag zurück sein werde.« »Wie willst du...« Bridei wartete nicht, bis sie den Satz beendete. Zeit war kostbar, Zeit war Leben und Tod. Er zwang Kraft in seine Glieder, griff nach den Stiefeln, warf sich den Umhang über die Schulter und ging durch die äußere Tür zum Mauergang. Dort beschwor er den Zauber herauf, der ihn verbarg, und eilte zum Stall. In ihrem Arbeitszimmer in Banmerren stand Fola allein, eine Bronzeschale vor sich auf dem Tisch. Sie war
lange in Trance gewesen. Die Visionen im Wasser waren nun verschwunden, aber die Weise Frau rührte sich immer noch nicht, denn sie suchte tief in sich nach der Stimme der Göttin, einem Licht, das ihr den Weg zeigen sollte. Nur langsam, langsam und unter Schmerzen akzeptierte sie es: Sie hatten sich geirrt, sowohl sie selbst als auch Broichan. Sie hatten zugelassen, dass Ehrgeiz, Stolz und Eigensucht ihr - 667 Urteilsvermögen trübten. Sie hatten nicht gesehen, was die Leuchtende von Anfang an deutlich gemacht hatte: dass sie das Undenkbare tatsächlich akzeptieren, das Unmögliche annehmen mussten, oder sie würden versagen, und ihre Anstrengungen über all diese Jahre würden im letzten Augenblick vereitelt werden. Es war schwer, das zu schlucken; es war eine Lektion in Demut. So schlicht, so offensichtlich, und dennoch hatten sie es nicht gesehen, hatten es beide nicht gesehen, obwohl sie den Göttern doch so ergeben waren und ein Leben der Keuschheit und des Gehorsams, ein Leben der Gelehrsamkeit und Selbstdisziplin führten. Beide hatten sie weder Geliebte noch Kinder. Fola wusste es nun genau. Vielleicht hatte sie es tief drinnen immer gewusst, schon beim ersten Mal, als sie Tuala unter den Eichen gesehen hatte, winzig, leidenschaftlich, übervoll von Gefühlen und darum ringend, sie zu verbergen. Was Broichan anging, so würde er es vielleicht niemals akzeptieren. Sein Plan war perfekt gewesen, jeder Faktor berechnet, er hatte sich um die kleinsten Einzelheiten gekümmert. Fünfzehn Jahre seines Lebens hatte er diesem Plan geopfert, fünfzehn Jahre der großen Sache gegeben, der Einheit von Fortriu: der Schaffung des perfekten Königs, der Schaffung des Anführers, der dieses umnachtete Reich ins Licht führen würde. Wenn Broichan sich nicht beugte, wenn Broichan nicht akzeptieren konnte, dass sein gesamtes Gebäude auf einem fehlerhaften Fundament stand, dann war in der Tat alles verloren. Aber wenn Broichan sein eigenes Ziel für wichtiger gehalten hatte als das der Göttin, verdiente er vielleicht zu verlieren. Fola zwang sich zu erwachen, bewegte Finger und Zehen, veränderte ihren Atem, blinzelte, streckte sich. Schließlich verbeugte sie sich, die Handflächen aneinander gelegt, und brachte die Schale zum Wasserkrug zurück. Dann rief sie nach Luthana, griff nach Umhang, festen Stiefeln, einer warmen Wollkapuze gegen die Kälte, und nur von der Kräuter- 668 kundigen begleitet, machte sie sich auf den Weg über den windgepeitschten Strand nach Caer Pridne. Er musste sich entscheiden. Schneefeuer, der freudig auf ihn wartete, für ihn bereit war und einen schönen Ritt erwartete, wie Bridei und Faolan ihn zum Moorland unternommen hatten, zu der Senke mit den drei Steinhügeln. Schneefeuer war stark und willig, aber er würde dieses Rennen durch den kalten, dunklen Winter nicht lange ertragen. Glückspilz, von dem Bridei sich nicht hatte trennen können, der große gefleckte Glückspilz, das hässlichste Pferd im königlichen Stall... Donais Tier war an schwere Arbeit gewöhnt, es war zäh, und das Alter hatte es nur besser werden lassen. Die Männer hatten dafür gesorgt, dass er regelmäßig bewegt wurde, und er war in gutem Zustand. Er war trotz seiner langen Beine nicht für Schnelligkeit bekannt. Schnell, schnell, er musste wählen und sich auf den Weg machen; jeden Augenblick konnten seine Leibwächter nun misstrauisch werden und anfangen, nach ihm zu suchen. Nimm ein Pferd, irgendein Pferd, und geh einfach... An der Halbtür bewegte sich eine weiße Gestalt: Uists Stute Gischt, dieses seltsame Geschöpf mit dem makellosen schneeweißen Fell, der seidigen Mähe, dem Wasserfall von einem Schweif und den seltsamen Augen, so schwer zu beschreiben wie die des Druiden selbst. Sie sah Bridei an und tänzelte ein wenig, als wollte sie sagen: Komm schon, entscheide dich. Sie würde schnell sein, und unermüdlich ... Sie würde sich bewegen, wie es die besten gewöhnlichen Pferde nicht konnten, ungeachtet von Schnee und Regen, sie würde unbeschadet durch Wald und Marsch eilen und ihren stetigen Gang den ganzen Weg bis nach Pitnochie aufrechterhalten. Bridei hatte sich bis hierher gezwungen und seinen unkooperativen Körper mit reiner Willenskraft bewegt. Dennoch, er war sehr schwach; der Geist konnte nicht alles erreichen. Er öffnete die Halbtür. Er musste den Block und das - 669 Geländer benutzen, um sich auf den Rücken der Stute zu ziehen; eine ungeschickte Vorstellung. Er beugte sich vor, die Hände auf dem Hals von Gischt, und flüsterte ihr ins Ohr: »Bring mich nach Hause.« Er hoffte, dass sie ihn verstand. Er brauchte alle Kraft, die er hatte, um auf ihrem Rücken zu bleiben und weiterzuatmen; er würde kaum im Stande sein, sie zu lenken. Er hatte nichts mitgenommen, keine Vorräte, kein Wasser, keine Waffen, nichts. Keine Zeit. Er musste jetzt sofort gehen, bevor man ihn entdeckte, und hoffen, dass dieses seltsame Tier schneller war als die Pferde seiner Verfolger. Irgendwo in seinem Kopf regte sich immer noch ein Gedanke an die Wahl, an die Männer und Frauen, die sich auf ihn verließen, die Frage des Schicksals. Aber diese Dinge waren auf die Größe einer Eichel, einer Haselnuss geschrumpft, verdrängt von dem Gewicht seiner Angst, seines Zorns, seines glühenden Bedürfnisses, seine Liebste schnell, schnell zu finden, bevor er sie für immer verlor. »Geh«, flüsterte er, und in einem Wirbel von Weiß, anmutig wie ein Schwan im Flug, trug ihn die Stute aus Caer Pridne nach Südwesten in Richtung des Großen Tals. Eine helle Präsenz an diesem düsteren Wintertag, bewegte sie sich mit der Selbstsicherheit eines Tiers, das unter dem Schutz von Mächten steht, die älter sind als die Zeit selbst, und sie hinterließ auf dem weichen Boden keine einzige Spur. Es war eiskalt draußen auf dem Wehrgang hinter den Frauenquartieren. Ferada duckte sich unter der Treppe, den Umhang über dem Kopf und fest um sich gezogen, verbarg das schöne blaue Kleid, die hübsche Silberschließe, den verhassten schweren Ring aus Silber und Emaille. Sie war schon lange hier, und niemand hatte sie bemerkt. Irgendwo in ihrem Bauch spürte sie ein Gewicht wie kalten Stein; das war vielleicht Angst. Angst vor der
raschen Hand ihrer Mutter, - 670 Angst vor Dreseidas verrückten Augen. Angst vor dem, was geschehen würde, ihr selbst, ihnen allen. Ihre Finger taten weh; sie hatte alle Nägel heruntergekaut und an der Haut ihres Zeigefingers weitergekaut, bis sie blutete. Und dennoch, bei all diesem Gefühl des Schreckens gab es in ihrem Herzen auch noch etwas anderes, etwas Gutes, Neues. Sie hatte es nicht getan. Vielleicht war es wirklich ein Liebestrank gewesen, wie Dreseida ihr gesagt hatte. Vielleicht. Ferada wollte es glauben, sie wollte mehr als alles andere, dass dies die Wahrheit war, so unwahrscheinlich es sein mochte. Aber sie hatte Dreseidas Miene gesehen, sie kannte die Kraft in der Hand ihrer Mutter, kannte ihren schrecklichen Zorn. Wieso sollte Dreseida wollen, dass Bridei sich in Ferada verliebte? Sie hatte Broichans Pflegesohn nie als Mann für ihre Tochter gewollt und wollte auch nicht, dass er König wurde. Wenn Bridei diesen Met getrunken hätte, hätte Dreseida ihre eigene Tochter zu einer Mörderin gemacht. Nein, vielleicht stimmte das nicht. Vielleicht war das nur Feradas wilde Fantasie. Ihre Mutter war eine Frau von makelloser Abkunft, von hoher Intelligenz. Ihr Vater war gerecht und wurde überall bewundert; er war Broichans Freund. Lass es nicht wahr sein, dachte Ferada. Es soll alles nur ein böser Traum sein. Aber sie konnte etwas anderes nicht vergessen: Donal, der an Brideis Stelle gestorben war, in der Halle ihres eigenen Heims in Rabenbrunn. An Gift gestorben. Gab es dort eine Dienerin, die aus Loyalität oder Angst auf Befehl ihrer Herrin getötet hatte? Es wurde spät, und sie konnte sich nicht den ganzen Tag in dieser Ecke verstecken. Bridei würde inzwischen lange weg sein. Und ihre Mutter würde einen Bericht verlangen. Sie würde es ihr sagen müssen... Sie würde ihr die Wahrheit sagen müssen, dachte Ferada grimmig, stand auf und strich ihre Kleidung glatt. Von nun an würde sie genau das tun, und wenn es den anderen nicht gefiel, dann mussten sie eben sehen, wie sie damit fertig wurden. Sie schauderte hef- 671 tig. Solch tapfere Erklärungen waren hier draußen gut und schön, wo sie allein war und sie nicht laut aussprechen musste. Dem durchdringenden Blick ihrer Mutter, ihrer ätzenden Zunge, ihrer strafenden Hand gegenüberzustehen, wäre etwas anderes. Aber sie würde es tun. Aber vorher ... Mit zitternden Fingern zog Ferada den Ring vom Finger und wog ihn einen Augenblick in der Hand. Sie kniete sich hin; zwischen den Steinen am Fuß der Mauer gab es einen tiefen Riss, in dem auf beiden Seiten Moos wuchs. Ferada steckte den Ring in diesen Riss, hörte, wie er tief drunten klirrend landete. Dann stand sie auf und ging nach drinnen. Gartnait und Dreseida befanden sich in dem Raum, der der Familie zugewiesen war. Dreseida und Ferada schliefen ebenso wie die kleineren Jungen im Frauenquartier, Talorgen und Gartnait in den Räumen für Männer. Aber als adlige Familie und Verwandte des Königs standen ihnen bestimmte Räume zur Verfügung, und hier traf sich die Familie. Ihre Mutter und ihr Bruder schwiegen, als Ferada hereinkam. »Nun«, sagte Dreseida leise, »du hast mich überrascht, Tochter. Es scheint, du warst erfolgreich. Ich dachte nicht, dass so viel in dir steckt.« Feradas Magen zog sich zusammen; sie starrte erst Gartnait an, dann ihre Mutter, dann wieder Gartnait. »Was?«, sagte sie. »Ich verstehe nicht...« »Es heißt, dass es Bridei plötzlich wieder viel schlechter geht.« Dreseidas Stimme war ruhig, aber in ihrem Blick stand eine prahlerische Erregung, von deren Anblick Ferada übel wurde. »Beim Frühstück kann er aufrecht sitzen und Besucher empfangen, aber noch vor Mittag ist er wieder vollkommen krank, die Tür verriegelt, grimmige Wachen draußen. Ich würde sagen, wir können bald eine Ankündigung erwarten. Wenn unser Freund zum letzten Mal von der Knochenmutter besucht wurde, kann Broichan das wohl kaum über Mittwinter hinaus geheim halten. Sie werden einen neuen Kandidaten brauchen, oder Drust der Eber wird alles nehmen.« »Aber...«, widersprach Ferada; das war falsch, alles falsch, es war ein Albtraum. »Ich habe nur ...« »Du warst wirklich schlau, Tochter, erstaunlich schlau. Ich habe von dem kleinen Besuch der Königin gehört. Das hat dir eine hervorragende Gelegenheit geboten. Rhian ist so edel und aufrecht, kein Verdacht könnte je auf sie fallen. Gute Arbeit, meine Liebe.« Ferada holte tief Luft. »Es war also kein Liebestrank«, sagte sie und versuchte, schnell zu denken. Dreseida zog die Brauen sehr hoch; ihre Lippen zuckten. »Komm schon, Ferada. Das hast du doch nie geglaubt, oder?« Ferada sah ihren Bruder an; er war bleich, hatte die Zähne zusammengebissen und die Hände auf dem Rücken gefaltet. Sie wusste genau, wie er sich fühlte; so, wie sie sich gefühlt hätte, wenn sie den Auftrag tatsächlich ausgeführt hätte. »Er ist dein bester Freund«, flüsterte sie. »Er ist mir im Weg.« Gartnaits Stimme war ausdruckslos. »Das war er immer schon.« Es war, als gäbe er etwas wieder, das er auswendig gelernt hatte. »In deinem Weg wohin? Du wirst nie König werden. Was ist mit Carnach, Wredech, Anas Verwandten? Vater hat nie auch nur in Betracht gezogen ...« »Halt den Mund!«, zischte Dreseida, und Ferada hielt inne, den Blick weiter auf ihren erschütterten Bruder gerichtet. Er musste es doch wissen, er musste doch wissen, wie aussichtslos es war. Was hatte Dreseida ihm erzählt, um ihn glauben zu machen, dass er es schaffen könnte? »Dein Bruder hat schwer gearbeitet. Und er ist mein Sohn. Er wird bereit sein.«
»Mutter«, begann Ferada, die wusste, was sie ihnen sagen musste. Und dennoch war sie nicht im Stande, sich dazu zu überwinden. »Warum? Warum tust du das? Hasst du Bridei so sehr?« - 672 - 673 Dreseida lächelte grimmig. »Nicht um seiner selbst willen. Wegen seiner Mutter. Anfreda hat genommen, was mir gehörte. Sie hat mir meine Zukunft gestohlen. Dieses affektierte kleine Ding - sie waren alle hinter ihr her, als wäre sie eine läufige Hündin. Es war widerlich. Die Aussicht, dass ihr Sohn Herrscher von Fortriu sein sollte, macht mich krank.« »Sie hat genommen, was dir gehörte? Wovon sprichst du da? Von Maelchon?« »Er wollte um meine Hand anhalten, das hat er mir gesagt. Ich hätte Königin sein können. Er war ein mächtiger Mann, ein wirklicher Anführer. Als seine Gemahlin hätte ich immensen Einfluss gehabt. Und dann kam sie, die süße kleine Anfreda, und er hat mir keinen zweiten Blick gegönnt.« »Aber du hast Vater geheiratet.« »Ja«, sagte Dreseida durch zusammengebissene Zähne. »Und ich habe meinen Sohn, und es ist mein Sohn, der König von Fortriu sein wird, nicht ihr Sohn. Das ist der Wille der Götter.« Es stand etwas in ihrem Gesicht, das Ferada mehr Angst machte als jede Drohung, jeder Schlag. »Mutter«, sagte sie. »Hast du dabei an Gartnait gedacht? Wir haben weniger als zwei Tage bis zur Vorstellung. Er hat in seinem Leben noch keine öffentliche Rede gehalten. Du kannst ihm das nicht antun. Es ist grausam und ungerecht.« »Ich werde es schaffen«, fauchte Gartnait. Seine Schwester hörte, wie verzweifelt er war, so selbstsicher er sich auch gab, und ihr Herz blutete für ihn. »Ich werde zu Mittwinter für Gartnait sprechen«, sagte Dreseida entschlossen. »Es ist erlaubt, einen Stellvertreter zu benennen, und ich entstamme der königlichen Linie. Ich werde seinen Anspruch auf eine Weise begründen, die selbst Broichan nicht abweisen kann. Gartnait braucht nur vor der Versammlung zu stehen, dort eine vorbereitete Ansprache zu halten und bei der Abstimmung anwesend zu sein. Ich bin nicht dumm, Tochter.« - 674 »Nein, Mutter.« Ferada sah, wie ihr Bruder das Gewicht verlagerte, wie er einen Augenblick so aussah, als wollte er etwas sagen, es sich dann anders überlegte und den Mund wieder zumachte. Sie würde es ihnen sagen müssen. Sie hatte geschworen, die Wahrheit zu sagen... Sie wollte nur noch davonrennen und sich verstecken, wie ein verängstigtes Kind. »Mutter«, zwang sie sich zu sagen, »ich glaube nicht, dass Gartnait wirklich König werden will. Und ich glaube nicht, dass er es sein wird.« »Was soll das? Selbstverständlich will er ...« »Mutter. Ich habe Bridei das Gift nicht gegeben. Er liegt nicht im Sterben, er hat sich auf die Suche nach Tuala gemacht. Sie ist vor einiger Zeit aus Banmerren davongelaufen. Ich habe es ihm gesagt, und er ist sofort aufgebrochen.« Dreseidas Miene hatte sich während dieser Worte alarmierend verändert; nun war ihr Gesicht in wütendem Unglauben verzerrt. Ihre Stimme war tödlich leise. »Sag das noch einmal, Ferada, und sag mir, dass es nicht wahr ist. Erinnere dich dabei genau daran, was ich dir in der Vergangenheit über die Folgen von Ungehorsam mitgeteilt habe.« »Ich werde keine Mörderin sein, nicht einmal für die beste Sache. Und vor allem nicht für eine so hoffnungslose Sache wie diese. Gartnait ist nicht dazu gemacht, König zu werden, das könnte selbst ein Blinder erkennen. Bridei ist nach Pitnochie zurückgekehrt. Er wird für die Vorstellung nicht hier sein. Aber wie du schon sagtest, das zählt nicht. Vielleicht wird Vater an seiner Stelle sprechen.« Dreseida machte einen Schritt auf ihre Tochter zu. Sie hob den Arm in Vorbereitung für einen mörderischen Schlag. Ferada hielt den Atem an und stand reglos da. »Nein, Mutter.« Gartnait legte die Hände auf Dreseidas Arm und hielt sie zurück. »Nicht so.« Er warf Ferada einen Blick zu. »Geh lieber. Überlass es mir. Und halte den Mund, um unser aller willen. Du hast schon genug angerichtet.« - 675 Ferada blieb einen Moment auf der Schwelle stehen, aber dann sah sie ihre Mutter noch einmal an und floh. Als Ferada weg und die Tür sicher hinter ihr geschlossen war, sah Dreseida ihrem Sohn in die Augen und sagte: »Deine Schwester hat versagt. Du bist mein Sohn. Das hier ist deine Chance, allen zu zeigen, was du sein kannst.« Gartnait schluckte, dann richtete er sich auf. »Ich werde ihn finden. Ich tue es. Ihr werdet alle stolz auf mich sein.« Dreseida nickte. »Du musst dich beeilen; er ist dir bereits ein ganzes Stück voraus. Du musst sofort gehen, und wenn du die Gelegenheit erhältst, musst du es schnell und unauffällig tun. Es muss makellos sein. Hast du verstanden? Es darf kein Makel davon an dir haften bleiben.« »Ja, Mutter. Ich bin ein Krieger, vergiss das nicht. Ich weiß, was ich tun muss.« »Dann geh.« »Was ist mit der Vorstellung? Ich werde nicht...« »Es ist vielleicht besser so. Wenn du nicht da bist, rechtfertigt das, dass ich an deiner Stelle spreche. Du musst
selbstverständlich rechtzeitig zur Versammlung wieder hier sein. Neun Tage - es wird genügen. Mit einigem Glück kannst du ihn überholen. Lange bevor er Pitnochie erreicht. Er ist krank gewesen; das wird ihn verlangsamen. Es ist möglich, dass auch andere ihm folgen. Sei auf der Hut.« »Lebe wohl, Mutter. Ich werde mein Bestes für dich tun, das verspreche ich.« Dreseida seufzte und legte ihrem Sohn die Hand auf die Schulter. »Lebewohl, Gartnait. Reite schnell und sicher. Der Atem der Götter sei in deinem Rücken.« »Die Leuchtende behüte dich, bis ich zurückkehre.« Vor dem Eingang zu Broichans Räumen standen zwei Wachen mit finsteren Mienen: Gwrad, der für gewöhnlich auf Carnach, den Vetter des Königs, aufpasste, und ein anderer - 676 Mann, dessen vernarbtes Gesicht und abstehende Ohren Fola ebenfalls schon einmal gesehen hatte - das war Imbeg, Tharans Leibwächter. Sie verstellten der Weisen Frau den Weg, bis sie die Stimme genügend hob, dass Talorgen herauskam, um nachzusehen. Bald darauf saßen die fünf wieder einmal in Broichans Zimmer zusammen: eine nicht mehr ganz so geheime Beratung, da es sicher ganz Caer Pridne alarmiert hatte, andere Wachen vor diesen Türen zu sehen. Fola setzte sich neben den leeren Strohsack, auf dem keine Bettwäsche mehr lag. Die vier Männer standen. Nur Uist wirkte ruhig; eine weiße Gestalt im Schatten an der Feuerstelle. Aniel trommelte mit den Fingern auf dem Tisch; Talorgen ging auf und ab, und Broichan, der unerschütterliche Broichan, drehte ein Stück grünes Band zwischen seinen schlanken Fingern, als hätte er es am liebsten zerrissen, und seine Züge waren so angespannt, dass sein Gesicht wie ein Totenschädel wirkte. »Wie hast du es erfahren?«, wollte er wissen, beinahe schon bevor sie sich hingesetzt hatte. »Wie habe ich was erfahren?« Fola zwang sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Dass er weg ist. Dass man ihn irgendwie geholt hat, trotz aller Versicherungen, dass diese Leibwächter Fachleute sind, dass sie nicht erlauben würden, dass er in Gefahr gerät...« »Du kannst ja wohl kaum Breth und Garth die Schuld geben«, warf Aniel ein. »Ihre Loyalität ist unbestreitbar. Außerdem wissen wir noch nicht, was passiert ist...« »Unser Feind hat ihn entführt, ihn vielleicht bereits getötet.« Broichans Stimme bebte. »Was sonst könnte es sein? Wie konnten sie es geschehen lassen? Hat denn niemand aufgepasst?« »Broichan.« Alle schwiegen, als Fola die Stimme erhob. »Bridei ist nicht entführt worden. Er ist auf dem Heimweg nach Pitnochie. Er will Tuala suchen.« - 677 Niemand sagte ein Wort. Broichans Hände erstarrten; das Band hing zwischen ihnen. »Ich habe es im Wasser gesehen. Eine wahre Vision. Ich bin hierher gekommen, um euch zu sagen, dass ein anderer zu Mittwinter für Bridei sprechen muss. Bis dahin wird er weit von Caer Pridne sein, auf seinem eigenen Weg.« »Nein!«, rief Broichan, machte einen eiligen Schritt auf die Weise Frau zu und starrte sie mit seinen dunklen Augen an. Fola erwiderte den Blick ungerührt. »Unmöglich! Bridei ist dieser Sache ergeben! Er gehorcht dem Ruf des Flammenhüters in allen Dingen. Er würde nie ...« »Er hat es getan. Er ist bereits auf dem Weg: Talorgens Tochter hat ihm die Nachricht gebracht, und er war wie ein Blitz verschwunden.« »Was für eine Nachricht?«, fragte Talorgen stirnrunzelnd. »Was könnte Ferada wissen?« Fola sah ihn an. »Dass Tuala davongelaufen ist«, sagte sie. »Hat man dir das nicht gesagt?« »Du willst behaupten, dass Bridei den ganzen Weg bis nach Pitnochie reiten will?«, fragte Aniel. »Er war sehr geschwächt von seiner Verletzung und der Krankheit danach. Er konnte kaum gehen, ganz zu schweigen von einem so langen und gefährlichen Ritt bei diesem Wetter. Er wird langsam sein; wir können ihn einholen, ihn zurückholen ...« »Er wird schwer zu finden sein«, sagte Fola und sah Uist an, der den Blick ruhig erwiderte. »Wenn meine Vision mir ein wahres Bild der Stute gezeigt hat, die er reitet.« »Wie lange ist das Mädchen schon weg?«, fragte Talorgen. »Ich kann mir vorstellen, dass Bridei bestürzt war. Wurde nach ihr gesucht?« Folas Miene war plötzlich sehr streng. Sie richtete den Blick auf Broichan, als wäre er eine Schülerin, die etwas Unverzeihliches getan hatte. »Sag es ihnen«, forderte sie, »da es aussieht, dass der Bote, den ich vor beinahe vierzehn Tagen geschickt habe, zwar eingetroffen ist, die Nachricht aber - 678 nicht weiter gelangte als bis an deine Ohren. Sag ihnen, dass deine Pflegetochter bei Nacht und allein aus Banmerren davongerannt ist. Sag ihnen, wie meine Leute gesucht und keine Spur von ihr gefunden haben. Sag ihnen, wohin du glaubst, dass sie gegangen ist, und warum. Und erkläre deinen treuen Freunden, wieso es dir nicht eingefallen ist, diese Nachricht freundlich und schonend an Bridei weiterzugeben, als er zu sich kam, und vielleicht hinzuzufügen, dass du sofort deine eigenen Leute ausgeschickt hast, um nach ihr zu suchen, nur um es ihm leichter zu machen. Sprich, Broichan. Wir haben Ehrlichkeit geschworen, wir sind ein Rat von fünfen, gebunden durch gegenseitiges Vertrauen, dass jeder alle Informationen, die für unsere Sache wichtig sind, sofort
weitergibt. Sag es ihnen.« »Die Stute«, sagte Broichan, als hätte er sie nicht gehört. »Du hast ihn Gischt nehmen lassen. Das ist dein Werk...« Er hatte seinen zornigen Blick dem weißhaarigen Druiden zugewandt, und seine Stimme schnitt wie eine Klinge. »Dieses Tier würde ohne deine Zustimmung nie einen anderen tragen. Wie können wir ihn verfolgen, wenn sie es ist, die ihn trägt? Du hast mich verraten ...«Er machte einen Schritt auf Uist zu, hob die Hand, vielleicht, um den anderen an den Schultern zu packen und zu schütteln, vielleicht zu etwas Gröberem, denn das Knistern und Zischen eines Zornzaubers schien rings um ihn her in der Luft zu liegen. Uists Augen waren voll täuschender, unruhiger Bewegung, er griff nach dem Stab, der an der Wand neben ihm lehnte, und ein silbriges Licht schien an der Spitze zu glühen, wo sich der eiförmige Stein befand. »Hört sofort auf, ihr beiden«, sagte Fola müde. »Ihr werdet euch nicht prügeln wie kleine Jungen. Du bist nicht nur sehr schlecht mit dieser Sache zurechtgekommen; es war von Anfang an alles falsch. Tuala kommt hierbei eine wichtige Rolle zu. Ich habe selbst die Zeichen nicht richtig gedeutet, erst jetzt, wo es vielleicht schon zu spät ist.« - 679 »Wie meinst du das?«, fragte Broichan barsch. »Tuala spielt in unseren Plänen keine Rolle. Wenn sie weg ist, ist das besser so. Es war nicht nötig, nach ihr zu suchen, es war sinnlos. Du weißt, was sie ist. Diese Argumente ein langer Weg, schlechtes Wetter - zählen für die von ihrer Art nicht. Sie ist wieder bei ihrem eigenen Volk. Das war unvermeidlich. Es ist Bridei, um den wir uns Sorgen machen müssen, ausschließlich Bridei.« »Uist«, sagte Fola, »ich nehme an, du hast schon länger von diesem kleinen Problem gewusst, sonst hätte deine Stute sich nicht angeboten. Vielleicht wird mein Freund es hier besser verstehen, wenn er es von einem anderen Mann hört.« »Ich weiß einiges über die Geschichte dieses Mädchens«, sagte Uist und lehnte den Stab wieder gegen die Wand. »Sie wurde zu Mittwinter unter einem Vollmond auf die Schwelle deines Hauses gelegt und von Bridei gefunden. Sie ist im Haus eines Druiden aufgewachsen und von Weisen unterrichtet worden. Dann hat man sie nach Banmerren geschickt, um diese Ausbildung zu vervollständigen. Sie ist ein bemerkenswertes kleines Geschöpf, weise, ernst, voll natürlicher Liebenswürdigkeit und von einer Schönheit, die zu sehen ich nicht mehr das Privileg hatte, seit ich Fola hier zum ersten Mal sah, als sie ein reizendes junges Ding von sechzehn Jahren war.« Fola schnaubte. »Weiter«, sagte Aniel gereizt. »Wir brauchen Bridei zurück; sag uns, wie wir das tun sollen.« »Ich werde ihn holen«, verkündete Broichan entschlossen. »Es ist nicht nötig, dass andere sich damit abgeben.« »Wir sind ein Rat von fünfen«, sagte Talorgen grimmig. »Vergessen wir das nicht. Uist, sprich weiter.« »Ich habe mich gefragt, warum die Leuchtende diesem Mädchen einen so ungewöhnlichen Weg vorgezeichnet hat. Tuala ist ein gutes Kind, und sie liebt unseren jungen Mann, - 680 das ist offensichtlich, trotz all ihrer Bemühungen, ihren Blick zu beherrschen, wenn sie von ihm spricht.« »Sie liebt ihn? Wie eine Schwester?« »Nein, Aniel, nicht wie eine Schwester. Mit der leidenschaftlichen Ergebenheit einer jungen Frau, die ihm mit der Zeit Herzensfreundin, Geliebte und Ehefrau sein wird. Mit der Ergebenheit von einer, die in allen Prüfungen und Unruhen seiner Herrschaft als König an seiner Seite stehen wird. Und er liebt sie ebenfalls; hat er mich nicht in diesen vergangenen vierzehn Nächten mit seinen Träumen wach gehalten? Bridei braucht dieses Mädchen. Ohne sie wird unser perfekter König versagen.« »Unsinn!« Broichans Empörung war beinahe greifbar. Gewöhnliche Männer wären vor seinem Blick zurückgewichen. Seine Freunde starrten ihn an, ihre Mienen zwischen Sorge und entsetztem Erkennen. Er war fehlbar. Der Druide des Königs hatte einen Fehler gemacht, und jetzt würde ihr Spiel verloren sein, wenn sie nicht sofort das Richtige taten. »Sie ist ein Kind des Guten Volkes! Man wird sie als Königin nie akzeptieren! Bridei würde verlacht werden!« »Ist er nicht stark genug, um das zu überstehen?«, fragte Fola. »Hältst du so wenig von ihm, dass du das Spiel vor Angst, dass er sich der Missbilligung einiger engstirniger Höflinge beugt, wegwerfen würdest? Er ist stark, Broichan, und sie ist es ebenfalls. Gemeinsam werden sie reich in der Liebe der Götter voranschreiten und eine machtvolle Kraft zur Veränderung darstellen.« »Ich muss zugeben, es kommt mir seltsam vor, mir eine von denen als Frau des Königs vorzustellen«, sagte Aniel nachdenklich. »Den Hof zu überzeugen, dass das eine gute Idee ist, stellt zweifellos eine Herausforderung dar. Aber ich verlasse mich auf dein Urteilsvermögen, Fola. Was müssen wir tun?« »Lasst Bridei gehen«, sagte Fola. »Lasst ihn seinen eigenen Weg machen, sie finden und zurückbringen.« - 681 »Hast du vollkommen den Verstand verloren?«, brüllte Broichan und ließ die Faust donnernd auf den Tisch fallen. »Bridei ist krank, er ist verwirrt. Wir haben viele Nächte seine Albträume erlebt; kein Wunder, dass er sich jetzt so unvernünftig benimmt. Habt ihr vergessen, was es war, das ihn niedergestreckt hat? Auf diesem Weg wird er Angriffen hilflos gegenüberstehen. Außerdem, wie soll er für sich sorgen, wenn er keine zwei Schritte machen kann, ohne dass seine Beine nachgeben? Ich muss ihm folgen.« »Selbst du wirst ihn nicht leicht finden können«, sagte Uist. »Gischt kann nur gefunden werden, wenn sie das
will. Deshalb kann sie auch nicht gegen ihren Willen in einem Stall gehalten werden.« »Dann werde ich nach Pitnochie gehen und dort auf ihn warten.« Broichan hatte einen Umhang von einem Haken genommen, und plötzlich befand sich sein Stab, ein schönes Stück Eichenholz mit vielen kleinen eingeschnitzten Zeichen und Mustern, in seiner Hand. »Ich werde schnell reisen und dabei nicht die Wege der Menschen benutzen. Ich werde dem Jungen Vernunft beibringen. Und ich bringe ihn rechtzeitig zur Versammlung zurück. Einer von euch muss zu Mittwinter für ihn sprechen. Der Bann, mit dem das Mädchen ihn belegt hat, ist stärker, als ich geglaubt hätte; wer weiß schon, auf welch unberechenbare Wege sie ihn führen wird, wenn ihr Einfluss nicht gebrochen wird? Ihr Götter, dass es dazu kommen konnte, und gerade jetzt! Es scheint, deine Tochter hatte Anteil an diesem Debakel, Talorgen. Du solltest Ferada veranlassen, ihre Zunge zu hüten, bevor sie noch mehr Unheil anrichtet.« Talorgen erstarrte; er hob die Fäuste. »Broichan.« Fola stand auf und trat zwischen den Druiden und die anderen Männer. »Du darfst nicht gehen. Bridei wird besser gedient sein, wenn du ihn seinem Weg allein folgen lässt. Er wird rechtzeitig zur Versammlung zurückkehren; er hat sich bereits zu der Zukunft, auf die du ihn vorbereitet - 682 hast, verpflichtet. Traust du denn deinem eigenen Sohn nicht?« Niemand verbesserte sie. Einen Augenblick später sagte Broichan: »Ihm vertraue ich. Es ist Tuala, zu der ich kein Vertrauen habe. Ich sah von Anfang an, dass sie mein Feind war. Ich wusste, dass sie sich einmischen würde. Mein Fehler bestand darin, dass ich sie so lange in meinem Haus gelassen habe, ich habe zugelassen, dass sie seine Zuneigung erschmeichelt ...« »Du klingst wie ein eifersüchtiger Liebhaber«, sagte Fola barsch. »Frag dich einmal, warum du es getan hast, warum du das Mädchen nicht aus dem Haus geworfen hast. War es vielleicht, weil du den Jungen liebtest und wolltest, dass er glücklich ist? Oder weil du tief drinnen erkanntest, dass es der Wille der Leuchtenden war?« »Während wir hier stehen und uns streiten«, sagte Broichan kalt, »ist Bridei allein auf schneebedeckten Feldern unterwegs, verwirrt und krank. Ich werde mir das nicht mehr anhören.« »Du wirst gehen, auch wenn wir dir davon abraten?« »Ich werde gehen und dafür sorgen, dass unsere Anstrengungen nicht umsonst waren. Ich werde gehen und unseren künftigen König zurückbringen.« Er fegte aus dem Zimmer, das geflochtene Haar flog um seine Schultern, und der lange Umhang wirbelte wie eine zornige Gewitterwolke. Die anderen starrten einander verblüfft an. »Zumindest in einer Sache hat er Recht«, sagte Aniel schließlich. »Bridei könnte dort draußen angegriffen werden, sei es zufällig oder geplant. Wir sollten zumindest...« »Faolan«, sagte Talorgen. »Er wird sich darum kümmern, so gut wie man es unter diesen Umständen überhaupt kann. Ich werde Gwrad nach ihm schicken. Du magst sagen, lass es ihn allein tun, Fola, aber selbst du musst zugeben, dass ein Beschützer nicht schaden könnte.« »Ich beuge mich dem Urteil eines Kriegers.« - 683 »Wer wird für ihn an Mittwinter sprechen? Können wir uns auf Carnach einigen?« Es klopfte an der Tür, und zu ihrer Überraschung kam Ferada herein, gefolgt von Gwrad, der verlegen dreinschaute. Sie starrten sie an. Talorgens Tochter war für ihre makellose Erscheinung bekannt, für ihre elegante Kleidung, ihre hervorragende Haltung - ein Spiegelbild ihrer Mutter. Nun war ihr Haar wirr und ihr Gesicht geisterhaft bleich, wenn man von den geschwollenen, geröteten Augen einmal absah. Ihr Rock war fleckig, und sie zog sich das Schultertuch so fest um die Schultern, dass ihre Fingerknöchel sich weiß abzeichneten. Sie schauderte, als wäre sie lange draußen in der Kälte gewesen. Fola stieß einen leisen, gequälten Laut aus. Talorgen starrte seine Tochter erschrocken an. »Ferada! Was ist geschehen?« »Vater«, sagte Ferada mit einer Stimme, die von langem Weinen heiser war. »Ich muss mit dir unter vier Augen sprechen. Es gibt etwas, das ich dir sagen sollte.« - 684 KAPITEL SIEBZEHN Es hatte in der Nacht noch mehr geschneit. Als sie das Seeufer erreichte und unter den Kiefern mit ihrem dichten Nadelkleid vorbeikam, konnte Tuala das leise Klatschen hören, wenn Zweige das Gewicht abwarfen. Sie wusste nicht, wie lange sie unterwegs war, wie viele Tage. Kleine Schneeverwehungen klammerten sich an ihre Stiefel, saugten sie tief in sich hinein, und der Rock klatschte ihr feuchtkalt um die Beine. Ihr Atem bildete eine Wolke in der kalten Luft, ihre Ohren taten weh, und ihre Nase lief. Sie war beinahe dort. Diese hohen Kiefern, dieser weiß bedeckte Hang, dieses dunkle Wasser waren ihr vertraut; die Stimmen der Vögel, die hoch über ihr erklangen, über den Wipfeln, riefen sie nach Hause ... Heim ... irgendeine Art Heim ... keine Kälte, kein Hunger, keine Schmerzen... kein Tod... Es war seltsam, sich das vorzustellen. Unsterblichkeit. Ein Zustand, nach dem die Menschen sich sehnten, ein unmögliches Geschenk, von dem sie träumten, das sie aber nie erhielten... das hatte das Gute Volk ihr angeboten. Und dennoch, in diesem Augenblick bedeutete es ihr nichts. Sie wollte nur eine warme Feuerstelle und trockene Strümpfe, und sie wollte ihn wieder sehen, nur einmal, nur ein einziges Mal vor dem Ende ...
Der Druide stand in der Tür und schaute den Hügel hinauf nach Nordosten. Er wusste schon seit einiger Zeit, dass das - 685 Mädchen auf dem Weg war, dass sie die Grenze seines Landes erreicht hatte. Er selbst war in diversen Gestalten von Caer Pridne hierher gereist, erst als flinker Jagdhund, dann als Hase mit weißem Fell, und schließlich als Schneeeule, er war durch die Wälder von Pitnochie bis zu seiner eigenen Haustür geflogen, wo er die Flügel in einen dunklen Umhang und die Vogelgestalt wieder in die eines Menschen verwandelt hatte, bevor er das Haus betrat und Mara so erschreckte, dass sie eine Schüssel Zwiebeln fallen ließ. Er hatte keine Spur von Bridei gesehen, aber er war über Tuala hinweggeflogen und hatte sich auf einem Ast niedergelassen, um zu beobachten, wie sie störrisch weitermarschierte; er hatte bemerkt, dass sie offenbar mit sich selbst sprach, als hätte sie der lange, einsame Weg den Verstand gekostet. Inzwischen musste sie beinahe in Pitnochie sein; bald schon würde sie das Haus sehen können. Er musste dafür sorgen, dass sie es nie erreichte. Broichan hob den Arm und schloss die Augen. Er holte tief Luft und beschwor die Worte eines uralten Zaubers herauf. Als es zu seiner Zufriedenheit erledigt war, ging er wieder hinein und verriegelte die Tür hinter sich, obwohl es noch heller Tag war. Er hatte getan, was er konnte, um seinen Jungen vor dem Einfluss zu schützen, der versuchte, seinen Weg zu verschleiern. Er hatte seine Verantwortung gegenüber den Göttern erfüllt. Nichts und niemand durfte sich in den Weg seines perfekten Königs stellen. Tuala bog um eine Ecke, und dort, direkt unter ihr, lagen die ummauerten Felder, Fidichs Häuschen und die täuschenden Bäume, die das Haus des Druiden verbargen. Schafe drängten sich Schutz suchend im Windschatten der Scheune zusammen. Die ordentlichen braunen Gestalten von Enten hockten unter den Büschen am gefrorenen Teich. Zu Hause ... sie konnte die Eichen sehen, unter denen sie so oft gesessen und gewartet hatte, bis Bridei mit dem Unterricht fer- 686 tig war. Sie konnte den Hof sehen, wo er mit Donal seine kunstvollen Kriegstänze geübt hatte. Sie sah jetzt das Haus, Broichans Haus, wo sie mit ihren beiden alten Weisen am Feuer gesessen und von geheimnisvollen und faszinierenden, zerstreuenden und ernsten Dingen erfahren hatte ... wo sie vor langer Zeit an Brideis Seite auf einer Bank gesessen und einer Geschichte zugehört hatte ... Und was glaubst du wohl, was er dort auf der Schwelle fand ... ein Baby ... Tuala kniff die Augen zu; sie würde nicht weinen, weinen war schwach, und wenn sie das hier tun wollte, würde sie es zumindest mit Mut und Würde hinter sich bringen. Das Haus... sie war jetzt ganz nah ... und es war kalt; ihre Knochen schienen sich in Eis zu verwandeln, und sie konnte nicht aufhören zu zittern ... Der Dunkle Spiegel, hatten sie gesagt, bevor sie sie verlassen hatten. Wir sehen uns am Dunklen Spiegel. Also sollte sie weitergehen, den Hügel hinauf und nach Westen, damit sie das kleine Tal auch sicher vor der Abenddämmerung erreichte. Im Dunkeln würde sie den Weg nicht finden, nicht bei Neumond. Sie durfte keine Zeit verschwenden. Aber direkt hinter dieser Tür lagen das Herdfeuer von Pitnochie, Zuflucht, Wärme, trockene Kleidung, wahrscheinlich heiße Suppe und frisch gebackenes Brot. Dass sie sie dort nicht haben wollten, schien kaum zu zählen. Man konnte sich darauf verlassen, dass Mara vernünftig war. Es würde vielleicht kein begeistertes Willkommen geben, aber Mara würde zumindest dafür sorgen, dass sie sich aufwärmen und trockene Sachen anziehen konnte, bevor sie sich wieder auf den Weg machte. Der Gedanke an das Feuer ließ sie vor Müdigkeit zittern. Ein kurzer Besuch würde doch sicher nicht schaden. Sie brauchte nicht lange zu bleiben. Sie zögerte einen Augenblick, dann bog sie vom Weg ab und ging unter den kahlen Eichen hindurch zur Küchentür. Sie sah keine Anzeichen von Wachen, keine Spuren von Stiefeln im weichen Schnee. Vor der Tür gab es einen Eisenriegel. Einen neuen, der außen angebracht war. Tuala - 687 hob schwach die Hand, um zu klopfen, und senkte sie wieder. Sie stand in einer Schneewehe, die hoch auf der Schwelle aufgehäuft war, auf der sie einmal in Schwanendaunen gelegen hatte. Sie trat zurück und schaute nach oben. Kein Rauch stieg aus dem Dach auf; es war seltsam, dass sie an einem so kalten Tag kein Feuer angezündet hatten. Als sie einen Blick über die Felder zu Fidichs Haus warf, sah sie, dass es auch dort keinen Rauch gab, kein Anzeichen, dass der kleine Bauernhof bewohnt war. Tuala ging um Broichans Haus herum, spähte hinauf zu den wenigen Stellen, wo sich Fensteröffnungen in den dicken Mauern aus Stein und Erde befanden. Sie waren alle fest mit Läden verschlossen; drinnen würde es so finster wie die Nacht sein. Vielleicht brannten Lampen, aber wieso hatten sie kein Feuer? Nur das winzige Fenster von Brideis Schlafzimmer war nicht verschlossen, und das befand sich zu hoch oben, als dass sie hineinschauen konnte. Sie ging wieder zur Tür und klopfte, wollte jetzt unbedingt hereingelassen werden. Das hier war wie in einer Geschichte, in einer von denen, die einem Angst machten, wenn sich die Welt veränderte, während man schlief, und entweder vollkommen leer wurde bis auf den einen einsamen Wanderer durch diesen plötzlichen Albtraum, oder ein Mädchen ein anderes Land betrat, wo sich die Zeit langsamer bewegt, und wenn sie nach Hause zurückkehrte, alle, die sie kannte, lange tot waren. Es war seltsam still hier, als hielte etwas den Atem an. Sie klopfte noch einmal, und niemand reagierte. Vielleicht hatte sie zu leise geklopft, und man hatte sie nicht gehört. Tuala fand einen schweren Stock und benutzte ihn, um laut gegen die festen Eichendielen zu schlagen. Einmal, zweimal, dreimal schickte sie ihre dröhnende Botschaft. Das Geräusch verhallte unter den schneebedeckten Bäumen und in der Stille des Waldes. Es war niemand zu Hause.
Tuala ging zur Scheune. Hier zumindest gab es Zeichen von Leben, die Schafe drängten sich dicht aneinander, um sich - 688 gegenseitig zu wärmen, und ein kleiner Vogel suchte in einem Haufen verfaulenden Holzes nach Insekten. Vielleicht waren die Männer im Stall und kümmerten sich um Pferde oder andere Tiere. Perle musste immer noch hier sein, und Blesse ... Aber auch die Scheune war verschlossen, das große Doppeltor verriegelt und mit einer Kette versperrt; als Tuala durch einen Riss im Holz spähte, konnte sie in dem leeren Raum dahinter weder Mensch noch Pferd, weder Schaf noch Hund noch Huhn erkennen. Ihr Herz war so kalt wie ihre zitternden Glieder, als sie den Umhang wieder fester um sich zog und ihre Schritte von Pitnochie weg lenkte, hinauf in den wilderen Teil des Waldes, wo die dunklen starken Eichen sich mit silbrig hellen Birken und stacheligen Stechpalmen mischten, an denen rote Winterbeeren hingen. Geh nicht weiter als zu den Stechpalmen, Tuala ... Wo kam das her? War sie wieder ein Kind, das von Hütern zurückgehalten und dessen Bewegungen sämtlich von Broichan kontrolliert wurden? Heute war sie eine Frau, und sie würde weitergehen. Sie würde diese Welt verlassen, in der es keinen Platz mehr für sie gab, und sich in ein Land begeben, in das sie immer schon gehört hatte ... dann würde sie nie wieder frieren ... oh, aber sie wollte ihn noch einmal sehen, nur ein einziges Mal, nur ein kurzer Blick, das war alles, was sie brauchte ... Es schien lange zu dauern, obwohl Tuala annahm, dass die unsichtbare Sonne gerade erst ihren Höchststand erreicht hatte, als sie vorsichtig den schmalen Weg ins Tal der Gefallenen hinabging. Sie rutschte im Schlamm aus, tastete nach einem Halt, klammerte sich fest und spürte stachlige Brombeerranken gegen ihre bereits schmerzende Haut peitschen. Wie dumm: Das trieb ihr Tränen in die Augen, obwohl sie doch geschworen hatte, dass sie nicht weinen würde. Sie schniefte, wischte sich mit dem Handrücken die Wangen und stolperte weiter zum Ende des Wegs. Das kleine Tal war verlassen. Der Teich lag dunkel und still, die uralten Steine brüteten schweigend, geduckt unter - 689 ihren Umhängen aus Moos. Die Ranke hatte sich noch weiter ausgebreitet als bei Tualas letztem Besuch hier und überzog nun einen der sieben Druidensteine mit ihrem ausufernden, glänzenden Laub. Es gab keine Spur von Weide und Geißblatt. Es gab von niemandem eine Spur. Tuala ließ sich am Rand des Dunklen Spiegels auf dem Boden nieder. Ihr blieb nichts anderes, als zu warten und zu hoffen, dass die beiden ihr Wort halten würden. Sie hatten gesagt, sie würden sie hier treffen und über die Grenze führen. Sie hatten nicht gesagt, wann. Vielleicht war es ihr ja bestimmt, hier allein an diesem Ort uralter Wahrheit Wache zu halten. Hatte sie sich nicht nach einer Vision dessen, den sie liebte, gesehnt? Nach einem letzten Bild, damit sie etwas mit in diese andere Welt nehmen konnte? Es war unvorstellbar, dass sie sich, wenn sie erst hinübergegangen war, nicht an ihn erinnern würde. Also musste sie diese Vision nun suchen. Es zählte nicht, dass sie bei ihrem letzten Versuch vollkommen versagt hatte. Sitz still, atme tief, öffne das Auge des Geistes. Und suche ihn. Suche ihn... Der Tag verging. Tuala war über die Kälte hinaus, über die Müdigkeit hinaus, beinahe über die Welt hinaus, in der sie im Schneidersitz auf den Steinen saß und ins kalte Wasser starrte. In dem tiefen, geschützten Tal, in dem sich der Teich befand, regte sich nichts. Kein Vogel hüpfte zwischen den Ranken umher und suchte danach, was es in dieser Jahreszeit des Hungers noch an Futter geben mochte; kein Insekt schwebte über dem schwarzen Wasser, kein kleiner Fisch schoss in sein Versteck und bewirkte dabei kleine Wellen an der stillen Oberfläche. Kein Bild erschien, kein einziges. Ihr blieb nichts weiter, als dazusitzen, zu atmen und zu warten. Zu sitzen, bis ihr Rücken ein Stab feurigen Schmerzes wurde, und noch flacher zu atmen, denn diese Luft einzuatmen war, als füllte man sich die Lunge mit Eis, und zu warten, bis sie endlich Mitleid hatten und sie holen kamen. Die Sonne - 690 sank tiefer; der kürzeste Tag des Jahres näherte sich seinem Ende, und das kleine Tal war schattig und seltsam geworden. Tualas Kopf fiel nach vorn; ihre Lider schlössen sich, sie konnte nicht wach bleiben ... Abrupt blitzte das Aufflackern einer Fackel über die Wasseroberfläche. Tuala blinzelte, hob den Kopf; schon die geringe Anstrengung ließ ihr Herz heftig schlagen. Sie starrte in den Teich. Er stand in einer großen Halle, zweifellos in Caer Pridne. Seine Kleidung war kostbar; weit entfernt von den schlichten, praktischen Sachen, die er in Pitnochie immer getragen hatte. Er trug Blau; eine fein gesponnene Wolltunika und die passende Hose, und darüber einen kurzen, weichen Umhang aus dunkelgrauem Stoff, mit einer geflochtenen Bordüre und geschlossen mit einer silbernen Brosche in Form eines fliegenden Adlers. Sein lockiges braunes Haar war zu einem Zopf geflochten, der ihm auf den Rücken fiel. Ah, seine Augen, so leuchtend, so voller Begeisterung und Mut, als wäre es der Flammenhüter selbst, der aus ihnen herausschaute, der Träger der Hoffnung von Fortriu! Diese Augen waren blauer als das tiefe Meer, blauer als der Sommerhimmel, blauer als die Blütenblätter des Waldveilchens. Er war von Menschen umgeben, und sie schienen begeistert zu sein, vielleicht gratulierten sie ihm. Dort war Broichan, die sonst so gleichmütigen Züge voll unverhohlenen Stolzes; dort war Talorgen und lächelte, Fuchsmädchen war sehr elegant in Grün, und Gartnait stand neben seinen frechen kleinen Brüdern. Viele andere waren anwesend, drängten sich um Bridei, wollten ihm die Hand schütteln, sagten Worte, die Tuala nicht hören konnte, von denen sie aber wusste, wie sie lauteten: Gut gemacht, Bridei! Wir wussten von Anfang an, dass du der Richtige warst, gleich von Anfang an!
Was für ein Glück verheißender Tag! Sie sah, wie er sich ein wenig zur Seite drehte, die Hand ausstreckte und zärtlich lächelte. Er lächelte nicht oft; die - 691 Leute sahen das nicht oft. Einen Augenblick später war auch sie zu sehen: Ana von den Hellen Inseln mit ihrem welligen aschblonden Haar. Sie trug ein weißes Seidenkleid, und ihr reizendes Gesicht war ganz sahnige Haut und rosige Wangen. Sie hatte den ernsten Blick auf Bridei gerichtet, als wäre er der einzige Mann auf der Welt. Er nahm ihre Hand, sie sagte etwas, er antwortete. Tuala konnte den Ausdruck in seinen Augen sehen. Er hob die andere Hand, streifte Anas Wange mit sanften Fingern. Sein Handgelenk war nackt, ungeschmückt. Das grüne Band war verschwunden. Als das Bild verblasste und Tuala leer, hohl und beraubt auch noch des Letzten, was zählte, am Ufer saß, erklang eine Stimme vom anderen Ende des Wegs, vom Rand des Tals: »Komm! Höher hinauf! Folge mir!« Es gab noch etwas, noch ein letztes kleines Ritual, das sie vollziehen musste. Mit tauben Fingern griff Tuala in den Beutel an ihrem Gürtel und holte den kleinen Talisman aus Schnur heraus, die Aufzeichnung ihrer ältesten Freundschaft. Nach langen Zeiten der Trennung waren die beiden Schnüre ein letztes Mal zusammengebracht worden und verbanden sich in einem zarten Knoten, als wäre es ihnen bestimmt, ein Einziges zu sein. Vollmond... und danach trennten sie sich wieder und gingen beide ihrer eigenen Wege. Die Schnüre hatten beinahe ihr Ende erreicht und begannen auszufransen. Tuala schloss die Faust fest um das kleine Ding und biss die Zähne zusammen, dann warf sie es in die Mitte des Dunklen Spiegels. So leicht der Talisman auch sein mochte, er sank wie ein Stein, und Wellen breiteten sich aus. »Komm! Hier hinauf!«, rief die Stimme. Sie hätte nicht sagen können, ob das Weides glockenklare Töne waren, Geißblatts tiefere Stimme oder etwas vollkommen anderes. Es mischte sich mit einem seltsameren Geräusch, einem kummervollen, unheimlichen Heulen wie dem eines kleinen, verlassenen Hundes. Das hatte sie schon zuvor an diesem Ort gehört. - 692 Es gelang ihr aufzustehen, obwohl es viel länger dauerte, als es sollte. Ihre Füße gehorchten dem Befehl, vorwärts zu schlurfen und mit langsamen, unregelmäßigen Schritten den steilen Weg aus dem Tal herauszugehen. Ihre Hand hielt sich an alles, was ihr in die Nähe geriet; ohne die Hilfe der dornigen, reißenden Büsche hätte sie überhaupt nicht auf den Beinen bleiben können. Als sie das Ende des Pfads erreichte, atmete Tuala schwer, und das tat in ihrer Lunge weh. Es wurde dunkler, sogar hier oben. Sie würde nicht mehr lange weitermachen können. »Komm! Folge mir! Höher! Höher!« Nun schien es einen ganzen Chor von ihnen im Schatten zu geben. Sie konnte sie nicht sehen. Aber die Rufe führten sie weiter, auf einem neuen Weg, einem, der sich stetig zwischen den Bäumen hindurch nach oben zog, zunächst ein schlammiger Morast, dann ein schmaler Waldweg aus fest gestampftem, verrottendem Blättermilch, und schließlich ein steiler Kletterpfad über rutschige, moosbedeckte Felsen. Ich kann nicht, erklang es irgendwo in ihrem Kopf, aber die Stimmen waren beharrlich, zwingend; es war beinahe Zeit, dass diese Schmerzen endlich aufhörten... Wenn sie diesen nächsten Abschnitt zurücklegen konnte, wenn sie nur noch ein klein wenig weitergehen konnte, würde bald nichts mehr zählen ... »Höher! Höher! Weiter! Weiter!« Sie kroch und krabbelte, kam auf die Beine, ihre Hände hinterließen blutige Spuren an den Steinen, die Füße suchten nach einem Halt, den sie kaum mehr fanden, und Tuala kämpfte sich verzweifelt weiter zur Spitze der Adlernarbe. »Es scheint seltsam, das zu sagen«, teilte das Geschöpf, das als Geißblatt bekannt war, seiner Gefährtin auf seine eigene Weise mit, »aber das hier kommt mir irgendwie ... grausam vor. Ich könnte beinahe so etwas wie Mitleid mit dem Mädchen empfinden.« - 693 Weide lachte. »Es ist eine Prüfung«, sagte sie. »Es ist notwendig. Was sind schon diese kleinen menschlichen Leiden, ein leerer Magen, ein kleiner Kratzer, eine Nacht ohne Schlaf? Das ist nichts!« »Sie ist ein braves Kind. Unsere Verwandte. Ich sehe keinen Grund, sie noch länger leiden zu lassen.« Weide schüttelte den Kopf; Strähnen silbernen Haares tanzten und entsandten einen Lichtschimmer über den düsteren Hügel unter den kahlen Eichen. »Das hier wird sie zum Denken bringen. Es wird dafür sorgen, dass sie nie vergisst, woher sie kommt oder wer sie wirklich ist.« »Sie weiß nicht, wer sie wirklich ist«, betonte Geißblatt. »Nein. Aber sie wird es spüren. Wenn sie alt ist und am Herdfeuer vor sich hinträumt, ihren Enkel auf dem Schoß, wird sie es tief in den Knochen spüren und in ihren Geschichten davon sprechen. Sie wird es tief im Herzen halfen.« »Immer vorausgesetzt, sie stirbt nicht vorher an Kälte, Einsamkeit oder Verzweiflung.« »Diese Leute sind so schwach, so fehlerhaft, so zerbrechlich. Wenigstens regnet es nicht.« »Könnten wir nicht einen Gefährten schicken?«, fragte Geißblatt. »Ein kleines Geschöpf würde genügen.« »Was, wirst du zum Menschen, dass dich Sentimentalität überfällt, sobald du siehst, dass dieses Mädchen ein paar Unannehmlichkeiten erleiden muss?« Weides Stimme war voller Hohn. »Bist du etwa selbst Opfer von Liebesschmerzen geworden?«
»Liebe? Wohl kaum. Aber ich denke ...« »Tu, was du willst.« Weide zuckte die Achseln. »Bridei ist |uf dem Weg, er wird bald schon hier in Pitnochie sein, auf Dieser unvergleichlichen Stute. Eine kluge Wahl; der alte Mann steht mit einem Fuß in jeder Welt und sieht die ganze Wahrheit. Nur dieses Geschöpf, Gischt, konnte Bridei echtzeitig hierher bringen. Aber der junge Mann hat seinen 694 eigenen Begleiter, einen, der die Maske eines Freundes trägt, um das Gesicht eines Verräters zu verbergen. So beginnt es also ...« »Beginnen?«, wiederholte Geißblatt. »Es begann mit einem kleinen Jungen und einer Neugeborenen unter dem kühlen Blick der Leuchtenden. Was, wenn er versagt? Was, wenn er es falsch macht?« Weide richtete die großen, strahlenden Augen auf ihn. »Wir müssen hoffen, dass das nicht geschieht«, sagte sie ernst. »Ein Anführer wie Bridei findet sich selten unter den Sterblichen. Eine Gefährtin wie Tuala ist unbezahlbar. Ich fürchte, wenn er heute versagt, wird Fortriu verloren sein.« Bridei konnte die Schwäche in jeder Faser seines Körpers spüren; die Verletzung und die lange Zeit der Bewusstlosigkeit hatten ihm viel an Kraft genommen. Dem stand das plötzliche, wunderbare Verschwinden der Kopfschmerzen entgegen, was ihm einen klareren Kopf gab, als er lange Zeit gehabt hatte. Und dann war da die Stute, Gischt, die alles war, worauf er gehofft hatte. Sie fand ihren Weg ohne jede Anleitung, fand für jedes Gelände das richtige Tempo und war offenbar unermüdlich. Ihr einziger Fehler war, dass sie hin und wieder im Schutz einer Felswand oder eines dichten Kiefernhains stehen blieb und ihn von ihrem Rücken schüttelte, sodass er gezwungen war, eine Weile zu schlafen. Sie schlief nicht im Stehen, wie Schneefeuer oder Glückspilz es getan hätten, sondern legte sich neben ihn und wärmte ihn mit ihrem eigenen Körper. Bridei war ungeduldig. Er glaubte, keine Zeit zu haben, um sich auszuruhen. Tuala war schon lange unterwegs, war vielleicht bereits in Pitnochie und zog weiter ... weiter wohin? Der Gedanke daran ließ ihn schaudern, denn je mehr er über das nachdachte, was Ferada ihm gesagt hatte, und wie sich alles entwickelt hatte, desto leichter konnte er glauben, dass Tuala tatsächlich davongehen wollte, über die letzte - 695 Grenze an einen Ort, an den er ihr nicht folgen konnte. Er war beim Vollmond nicht zu ihr gekommen. Sie hatte auf ihn gewartet, und er war nicht aufgetaucht. Wenn Ferada die Wahrheit gesagt hatte, hatte auch Pitnochie diese kleine Tochter des Waldes abgewiesen. Und sie war aus Banmerren geflohen. Tuala hatte nie eine Dienerin der Leuchtenden sein wollen. Sie hatte ... sie hatte gewollt, was er wollte, und er hatte es nicht erkannt, blind wie er allem außer seinen eigenen Bedürfnissen gegenüber war. Er hatte alles falsch gemacht, und nun würde er sie für immer verlieren, wenn er sie nicht bald finden konnte. Er wurde bei jedem Aufenthalt ungeduldiger und wusste doch auch, wie dringend er Ruhe und Wärme brauchte. Ohne Gischt würde er nicht weiterkönnen, er konnte Tuala nicht rechtzeitig erreichen. Es sei denn, sie wartete in Pitnochie ... Er glaubte das jedoch nicht. Wenn das Beste, was Broichan ihr zu bieten hatte, eine Ehe mit einem Fremden oder ein Leben hinter Steinmauern war, dann würde der Druide des Königs sie kaum mehr in seinem Haus willkommen heißen. Bridei biss die Zähne zusammen. Broichan ... Broichan hatte ihn so gut wie angelogen. Zu behaupten, Banmerren sei Tualas Entscheidung gewesen, war gut und schön. Aber die Tatsache auszulassen, dass die Alternative eine Heirat mit Garvan gewesen war, verbarg die Wahrheit aufs Grausamste. Broichan hatte Tuala davonlaufen lassen, ganz allein, und hatte kein Wort darüber verloren. Von Anfang an hatte der Druide dem Mittwintergeschenk der Leuchtenden nicht getraut. Dies war schlicht und einfach Verrat. Von einem Augenblick zum anderen war sein Pflegevater zu einem Fremden geworden: einem Mann, der ihm nicht traute und dem er nicht mehr trauen konnte. Zweimal hatten sie Rast eingelegt, um zu schlafen. Es war nun Tag, und Bridei entnahm der Position der von Wolken verschleierten Sonne, dass es bereits später Nachmittag war. Als sie näher nach Pitnochie kamen und den steilen Weg am - 696 Seeufer entlangzogen, wurde Gischt unruhig, zuckte mit den Ohren, drehte den Kopf, zuckte mit dem Schweif. Bridei wurde sich unangenehm bewusst, dass er keine Waffen dabei hatte, nicht einmal das kleinste Messer, mit dem er sich verteidigen konnte; er hatte Caer Pridne ohne alles verlassen. Donal wäre davon nicht sonderlich beeindruckt gewesen. Nun konnte Bridei hören, was die Stute beunruhigt hatte: Huf schlag hinter ihnen, ein Reiter, der sich näherte. Bridei ging im Geist die Möglichkeiten durch: ein Attentäter, ein weiterer, den Circinns Königsmacher bezahlt hatten, oder Broichan selbst, der versuchte, seinen ungehorsamen Pflegesohn zu finden und ihn zum Hof zurückzuzwingen. Nein; wenn Broichan beschlossen hätte, ihn zu verfolgen, würde er reisen, wie es Druiden taten, auf Wegen, die gewöhnliche Menschen nicht benutzen konnten. Einer seiner Hüter, Breth oder Garth. Oder Faolan; das war bei weitem das Wahrscheinlichste. Faolan musste sein Geld verdienen, und deshalb musste er dafür sorgen, dass sein Schutzbefohlener bei der Versammlung in Caer Pridne war und nicht mit einem nach Ansicht des Galen verrückten Ziel irgendwo im Land umherirrte. Faolan hatte die Kraft und die Fähigkeiten, ihm zu folgen, und nun, am Ende, hier zu sein. Gischt war stehen geblieben und wandte sich dem anderen Pferd zu. Bridei nahm alle Reserven zusammen. Waffen oder nicht, er würde sich nicht kampflos ergeben. Der Reiter kam um eine Ecke und war nun deutlich zu sehen: ein sommersprossiger junger Mann, hoch
gewachsen und rothaarig. Seine schlichten Züge waren von der Blässe vollkommener Erschöpfung gezeichnet. Sein Pferd hatte die Augen weit aufgerissen, und es zitterte, als wäre es beinahe über das hinaus getrieben worden, was es leisten konnte. »Gartnait!«, rief Bridei; sein Freund war der Letzte, den er erwartet hätte. »Wie im Namen der Götter hast du mich einholen können?« »Sagen wir mal, im Augenblick fehlt mir ein wenig Schlaf«, - 697 sagte Gartnait und zügelte sein Pferd. »Ich habe im Dreihügelhof Pferde gewechselt, und noch einmal in Klarwasser. Was für eine Jagd... Diese Stute hält ein großartiges Tempo. Bridei, du siehst erschöpft aus. Was hattest du ...« »Wieso bist du gekommen?« Zeit verging. Er wollte keine Begleitung; sobald er Pitnochie erreichte, wusste er nicht, wohin der Weg ihn führen würde. »Warum bist du mir gefolgt?« Gartnait verzog verärgert das Gesicht. »Das ist kein Gruß für einen Freund, Bridei. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Ein Mann springt nicht einfach aus dem Krankenbett und macht sich mitten im Winter auf eine wilde Jagd, ohne dass seine Freunde sich deshalb Sorgen machen. Besonders, wenn er kurz davor steht, sich um den Thron zu bewerben. Was hast du dir dabei gedacht?« »Das musst du doch wissen«, sagte Bridei. »Ferada wusste es die ganze Zeit. Der Thron kann warten. Ich muss Tuala finden. Und ich habe nicht mehr viel Zeit. Wenn du mitkommen willst, komm. Aber es geht nicht einfach nur darum, ins Haus zu spazieren und sie herauszuholen. Sie wird nicht da sein; ich denke, sie ist an einem geheimen Ort im Wald.« »Ein geheimer Ort«, wiederholte Gartnait, als Brideis Stute sich wieder auf den Weg machte, und er lenkte sein eigenes Tier hinter ihr her. »Gefährlich?« »Nicht so, wie du meinst, denke ich. Es ist ziemlich einsam.« »Dann brauchst du einen Freund an deiner Seite. Es ist nicht nötig, dich zu bedanken, weil ich mich halb umgebracht habe, um dich einzuholen.« »Danke«, sagte Bridei angespannt; selbst zu reden schien eine Verschwendung kostbarer Zeit und Kraft. »Es war nicht nötig.« Es waren Leute in Pitnochie, wenn auch weniger als in den alten Zeiten. Bridei entdeckte eine kleine Gestalt vor der Scheune, umgeben von Kindern und Hunden: Fidich, der, - 698 auf seine Krücke gestützt, ein paar Schafe inspizierte. Die Wache wechselte gerade, was ein Glücksfall war. »Halte dich an die Bäume«, sagte Bridei zu Gartnait. »Ich habe keine Ahnung, was sie tun werden, wenn sie mich sehen, aber ich habe nicht viel Zeit und muss sofort zum Dunklen Spiegel gehen.« »Der Dunkle Spiegel?«, fragte Gartnait, als sie ihre Pferde unter die Kiefern führten, wo sie vom Haus und vom Hof aus nicht zu sehen waren. »Der Ort, an den ich gehen muss. Ein Ort des Guten Volkes; ein schmales Tal, in dem es einmal ein schreckliches Massaker gegeben hat, Männer aus Fortriu, die von den Galen niedergemetzelt wurden. Wenn sie hierher gekommen ist, ist das der Ort, an den sie gehen wird.« »Warum?«, fragte Gartnait ausdruckslos. Er klang wirklich seltsam. »Sie ist dort immer hingegangen, wenn sie wegen etwas beunruhigt war oder sich einsam fühlte. Es gibt dort einen dunklen Teich, einen Teich, in dem manche Visionen sehen können ... Dorthin würde sie gehen.« »Mhm«, sagte Gartnait, und dann ritten sie schweigend tiefer in den Wald hinein, wo das Sonnenlicht kaum mehr eindringen konnte. Das Laub war dicht und klebte an ihnen, der Boden war mit einer dicken Matte verrotteter Blätter überzogen, dunkel und üppig, und unter den Pferdehufen stieg ein durchdringender Geruch auf. Kalter Nebel kroch um die Bäume, hing dicht über ihren knorrigen Wurzeln und entsandte Schwaden, die ein kaltes Netz um die Stämme woben. Unter den verflochtenen Zweigen der Wipfel überzog der Nebel den Hang so dicht, dass Bridei schließlich nur noch drei Schritte voraus sehen konnte. Also rutschte er von Gischts Rücken und ging mit der Hand auf ihrem Nacken weiter. Hinter ihm stieg auch Gartnait ab. »Hier«, sagte Bridei. »Das hier ist der kleine Weg ins Tal der Gefallenen.« Heute gab es hier keine weißen Steine. Das - 699 war gleich, er würde trotzdem gehen, Gutes Volk oder nicht. Vielleicht war sie einfach nur da unten, nur einen Ruf entfernt ... Er rief nicht. »Wir müssen die Pferde hier lassen«, sagte er zu Gartnait. »Es ist zu steil für sie. Wenn du mit mir kommen willst, dann komm.« »Bridei...« Bridei wartete nicht auf das, was sein Freund ihm sagen wollte. Er rutschte schon den gefährlichen Weg hinunter, seine Ärmel blieben in den Dornenranken auf beiden Seiten hängen, und er atmete schwer. Etwas erfasste ihn, ein neues, düsteres Drängen, als riefe ihm eine Stimme eine Herausforderung zu: Komm und kämpfe mit uns! Zeig, was du kannst! Zeig uns, woraus du gemacht bist! Er biss die Zähne zusammen und eilte weiter nach unten. Tuala, Tuala ... Sie war alles, was zählte. Ohne sie konnte er nichts von dem tun, was das Schicksal ihm vorbestimmt hatte. Warum verstand Broichan das nicht? Warum verstand Faolan es nicht, warum verstand es niemand? Er musste sie finden ... Er musste sie aufhalten ...
Bridei fluchte leise, als etwas an seinen Füßen vorbeieilte und ihn beinahe zum Stolpern gebracht hätte: eine kleine grau bepelzte Furie rannte den Weg vom Tal des Dunklen Spiegels hinauf und in den Wald hinein. »Die schwarze Krähe behüte uns!«, rief Gartnait. »Was war das denn?« Ihre Katze, Nebel; sie floh voller Entsetzen oder ging einem Auftrag nach, der ebenso dringlich war wie sein eigener ... »Schnell«, murmelte Bridei und rutschte weiter den Weg zum Ufer des Teichs hinunter. Er sah sofort, dass Tuala nicht hier war. Vielleicht war sie es zuvor gewesen, aber nun hingen eisige Kälte und undurchdringliches Schweigen über dem Ort; die Kälte genügte, um einem das Herz still stehen und den Atem gefrieren zu lassen. Bridei blieb am Rand des dunklen Wassers stehen. Hatte sie hier gestanden? Es gab Spuren auf dem Bo- 700 den; die Abdrücke kleiner Stiefel, Pfotenabdrücke einer Katze. Wo war sie? Wohin war sie gegangen? Es war beinahe Abend. Wie sollte er sie bei Neumond hier draußen finden? »Es tut mir Leid.« Gartnaits Stimme erklang von direkt hinter ihm, und dann schlössen sich Gartnaits Hände um seinen Hals und drückten fest zu. Bridei taumelte; sein Herz klopfte heftig, der Atem quietschte in seiner Lunge, als er versuchte, die würgenden Finger von seinem Hals zu stemmen. Er war so dicht daran gewesen, und jetzt das hier, was im Namen der Götter sollte das ... Gartnait war größer als er und an diesem Tag trotz des langen Ritts auch kräftiger ... ein Schraubstock um seinen Hals ... er konnte nicht atmen, alles wurde dunkel... Donal, was würde Donal tun ... Bridei warf sich nach vorn, was beide aus dem Gleichgewicht brachte. Einen Augenblick später fiel er in das eisige Wasser des Dunklen Spiegels, und Gartnait, der ihn immer noch im Würgegriff hatte, fiel mit ihm. Es gab einen keuchenden, würgenden, krallenden Kampf ums Überleben. Das Wasser war viel kälter als in einem normalen Teich, selbst zur Wintersonnenwende. Es ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Gartnait, der immer ein besserer Schwimmer gewesen war, leistete gute Arbeit und drückte ihn unter Wasser... keine Zeit, keine Zeit... Bridei kämpfte immer noch weiter, um aller Dinge willen, die zählten, für Breths Loyalität und Garths Freundlichkeit, für Faolans seltsam widerstrebende Freundschaft, für das Herdfeuer von Pitnochie und die Fahnen, die über dem Schlachtfeld von Galanys Höhe flatterten, für die leidenschaftliche Kraft von Drust dem Stier und die zusammengekrümmte Leiche eines tätowierten Kriegers ... für Broichans Disziplin und die langen Jahre des Lernens ... sogar dafür... für Tuala... mehr als alles andere für Tuala... ihr Götter, Gartnait war stark. Er hatte nicht erkannt wie stark ... »Warum?«, keuchte Bridei, als sich die Hände des anderen in dem wilden Chaos einen Augenblick lockerten. »Warum?« - 701 Es gab keine Antwort, nur einen kurzen Blick auf Gartnaits bleiches Gesicht, Gartnaits zornigen Blick, und dann wurde der Griff wieder fester. »Es tut mir Leid«, keuchte Gartnait, und dann zwang er Brideis Kopf wieder unter Wasser. Er ertrank ... er würde sterben ... seine Lunge füllte sich mit brennendem Schmerz, und in seinem Kopf drängten sich wirre Visionen... irgendwo dort unter dem Wasser bellte ein Hund... Er war tief in der Erde, in Dunkelheit gehüllt, zusammengerollt wie ein schlafendes Baby. Über ihm wanden sich die Wurzeln der großen Eichen langsam und suchend durch die Schichten des Bodens, und rings um sie her verliefen die geringeren Wege unzähliger winziger Geschöpfe, Käfer und Blindschleiche, Ameise und krabbelnde Larve ... Ihre kleinen Höhlen, ihre winzigen Kammern und Vorratshäuser wie Waben in der Erde, eine ganze Welt, die unter dem bewaldeten Hügel verborgen lag, unter dem grasigen Feld, dem mit Heidekraut bedeckten Moor ... er war begraben ... er saß in der Falle ...Tuala... »Vergiss den Körper, verlass dich auf deinen Kopf«, erklang Broichans Stimme tief und stark. »Wende an, was du gelernt hast.« »Es wird alles gut, Bridei.« Tualas klare, leise Stimme, und er hätte weinen können. »Du schaffst es.« Denken ... an die Knochenmutter, in deren Armen er lag, in deren langsamen Mustern jeder von ihnen seine kleine Spanne lebte, ob er nun König von Fortriu oder Findelkind war, gewaltiger Adler oder das geringste der kleinen Geschöpfe, die ihre unterirdischen Gänge gruben. Sie umfing sie alle; jedem gewährte sie einen gewissen Zeitraum, eine gewisse Spanne. Eine gewisse Möglichkeit. Wenn sie glaubte, dass es genügte, folgte der lange Schlaf. Für ihn war diese Zeit noch nicht gekommen. Die Knochenmutter, in deren Leib er nun ruhte, sicher und still, warm ... endlich warm ... - 702 Ihre Hände waren stark, sie reichten weit, von den Tälern im Westen bis zum Strand an der Festung des Königs, von den sanften Hügeln von Circinn bis zu den kargen, felsigen Gipfeln des Nordwestens ... Es war alles eins, ein und dasselbe, ihre Liebe existierte in jedem Teil davon ... das große Reich von Fortriu, das ihn brauchte ... Ich werde nicht um mein Leben betteln, betete Bridei schweigend. Ich gebe mich in deine Hände. Lass mich sie finden. Mir ist bestimmt, dass ich weitergehe, dass ich führe. Ich feilsche nicht. Ich bin nicht so dumm, dass ich es wagen würde, die Götter auf diese Weise herauszufordern. Ich liebe. Ich vertraue. Lass mich diese Reise fortsetzen... Er spürte das Wasser rings um sich her. Seltsame, wunderbare Geschöpfe schwammen auf beiden Seiten, leuchtende bunte Kugeln mit schlanken Gliedern; fette, runde Fische mit hervorquellenden Augen oder lange,
schlanke, die mit erschreckenden Stacheln besetzt waren. Es gab ein Wesen wie das Seeungeheuer der Inseln, und einen kleinen weißen Hund, der einen Schwanz wie ein Lachs hatte. Sie umkreisten ihn in wildem Tanz, über ihm, unter ihm, verwirrten seine Augen und seine Sinne. Er konnte Gartnait nicht mehr sehen. Welches Reich er nun auch durchquerte, es sah aus, als wäre sein Freund ihm nicht gefolgt. Aber jemand anderes war hier. An der Oberfläche über ihm schwamm ein Mädchen, versuchte, sich über Wasser zu halten, obwohl ein schweres graues Gewand sie nach unten zog. Er konnte ihre kleinen, hellen Füße sehen, die traten, traten, aber sie wurden schwächer, als Kälte und Müdigkeit ihr die Kraft nahmen. Ihre Arme bewegten sich schwächer im Wasser ... sie sank, ertrank ... Eine große Hand kam von oben, schloss sich um ihren Kopf, drückte sie unter Wasser ... ihre Augen wurden starr ... ihr dunkles Haar trieb um ihr Gesicht wie anmutige Wasserpflanzen... Nein!, schrie Bridei, aber das Wasser verwandelte seine Stimme in hilflose Blasen. Er stieß sich mit den Füßen ab, - 703 reckte sich nach oben, sie war da, gleich da, zwei Armeslängen über ihm, er konnte sie berühren, er konnte sie retten ... sein Fuß saß fest, er konnte sich nicht bewegen ... Er schaute nach unten, eine langsame Bewegung gegen das Gewicht des Wassers. Etwas hielt ihn, eine Wasserpflanze, ein Fetzen von einem Netz, ein Seil... Tuala!, schrie er, und die Blasen stiegen auf und platzten neben ihrem ertrinkenden Gesicht. Tuala! »Nutze, was ich dir beigebracht habe!«, erklang die Stimme des kahlen, rundlichen Erip. »Wasser. Gezeiten. Ebbe und Flut.« Ebbe und Flut... die Leuchtende ... Bridei schloss die Augen, stellte sich die volle, runde, majestätische Gestalt der Göttin vor, wie er sie zu Mittwinter einmal gesehen hatte, als sie auf die stillen Felder von Pitnochie hinabschaute. So schön, so gut, so weise. Sie würde ihre Tochter nicht so grausam sterben lassen; sie würde ihren Weg nicht so schnell abschneiden. Ich habe sie geliebt, als sie ein Baby war, sagte er, und die Blasen trugen seine lautlosen Worte nach oben zum Licht. Ich liebte sie als kleines Mädchen. Ich liebte sie als meine Herzensfreundin. Ich liebe sie als Frau, und ich liebe sie als deine Tochter. »Sieh dich um...« Wids trockene Stimme, die ihm ins Ohr flüsterte. »Beobachte, Junge, beobachte ...« Umherschießende Fische, treibende Wasserpflanzen, dunkle Steine am Boden, weicher Schlamm ... dort, an seinem Fuß, am Verschluss seines Stiefels gefangen, eine Schnur, ein Seil, das ihn hielt... das hatte ihn festgehalten. Bridei griff zu, packte fester, zog. Die kleine Schnur löste sich in seiner Hand, und er stieß sich zur Oberfläche ab und umklammerte sie dabei. Konnte er Tuala jetzt erreichen ... Wo war sie? ... Wohin hatten sie sie gebracht? ... Irgendwo über ihm, über dem Wasser, bellte ein Hund. Er tauchte auf und spürte die Hitze, sah das grelle Licht, als seine Füße auf festen Boden stießen. Der Hund war dort, - 704 nicht mehr mit einem Fischschwanz, sondern mit vier Beinen und einem zottigen weißen Fell, und stand vor ihm, als wolle er ihn bewachen, seine Stimme zu laut für ein so kleines Tier. Er hatte ihn schon einmal gesehen, vor langer Zeit in einer Vision, wo dieser Hund treu über einem gefallenen Krieger gewacht hatte. Rings um sie her flackerte und schimmerte Feuer, große Wellen von Hitze gingen davon aus. Es war, als stünde er im tosenden Herzen des Flammenhüters selbst. Tuala. Wo war sie hingegangen? In diese Masse glühender Flammen? In ein Land hinter Ort und Zeit, auf eine Reise, auf der er sie nicht begleiten konnte? Das konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Er war Bridei, Sohn des Maelchon, erzogen im Haus eines Druiden und vom Schicksal ausersehen, Fortrius Anführer zu sein, und er würde nicht zulassen, dass sie sie mitnahmen. Er atmete tief ein, langsam, methodisch, wie Broichan es ihm beigebracht hatte. Er schaute hinunter auf den kleinen Hund, und der Hund schwieg und blickte zu ihm auf. Dann schritten sie zusammen vorwärts ins Feuer. Es tat nicht weh, nein, es war nicht wirklich Schmerz, eher das Gefühl, dass alles von ihm abgeschält wurde, Schicht für Schicht, Haut, Fleisch, Adern, Muskeln, Knochen ... Geist, Herz ... alles verschwand, alles verschlungen von der weiß glühenden Hitze der Läuterung, alles dem Willen des Gottes geopfert... bis auf eins, das geblieben war, die Essenz, der Mut, der Geist, der tief in jedem wahren Sohn von Fortriu lag, in jeder wahren Tochter, und sie für immer als Kinder des Blutes kennzeichnete ... Es war der Kern, die Saat, die bedeuteten, dass sie immer weitermachen würden, wie hoch die Verluste auch sein mochten, wie groß der Schmerz; diese innere Wahrheit sorgte dafür, dass man sie nie besiegen konnte ... Fortriu, keuchte Bridei, als die Flammen sich durch ihn hindurchfraßen. Fortriu... und er spürte den Pulsschlag des Feuers, als wäre seine Brust eine Kriegstrommel und als regneten die Schläge des Gottes fest - 705 und schnell auf sie nieder, in einem wilden, herausfordernden Wirbel. Fortriu! Fortriu! Sein Mund stand offen, sein Unterkiefer hing schlaff herunter. Unter seinem Gesicht waren Zweige und Blätter. Ihm war kalt. Seine Kleidung war durchnässt, und jemand drückte mit grausamen Händen gegen seine Seiten, ein rhythmisches Drücken, das wehtat, ihr Götter, es tat so weh, warum konnten sie nicht aufhören, wussten sie denn nicht, dass er schon tot war, drei- oder viermal tot... Ein Schwall widerlich schmeckender Flüssigkeit stieg in seiner Kehle auf und floss aus seinem Mund, und er krächzte: »Hör auf, Gartnait ... genug...« Das Drücken hörte auf. Zwei Hände packten seine Schultern, drehten ihn auf die Seite. Dann versuchte jemand, ihm die nasse Kleidung auszuziehen, die Tunika, den Umhang, den er offenbar immer noch trug. Jemand sagte: »Verdammt, Bridei, hilf mir ein bisschen. Zieh das aus, schnell jetzt, und das hier ... Wenn es irgendwelche
Götter gäbe, an die ich glauben würde, würde ich ihnen jetzt danken, Mann ...« Die Stimme hatte einen gälischen Akzent und war ganz sicher nicht die von Gartnait. Jetzt wurde Bridei auf die Ellbogen hochgezogen und starrte hinauf in einen Himmel, an dem die letzten halbdunklen Spuren der untergehenden Sonne hingen, und ein kleiner weißer Hund leckte sehr begeistert sein Gesicht. Ein echter Hund, Fleisch und Blut. Hatte er ihn irgendwie von seiner langen Wache befreit? Hundert Jahre des Wartens ... Er versuchte sich hinzusetzen. Eine trockene Tunika wurde ihm über den Kopf gezogen, die Wärme wunderbar an seiner kalten, feuchten Haut. Einen Augenblick später fiel ein Wollumhang um seine Schultern, und er zog ihn fest um sich. Wer hätte sich träumen lassen, dass ein so einfaches Ding ein so wunderbares Geschenk sein könnte? Er drehte sich um. »Schau nicht dorthin«, sagte Faolan, der in Hemdsärmeln dastand. »Dort liegt ein Toter.« - 706 Bridei schaute hin; am Rand des Dunklen Spiegels lag Gartnait auf dem Rücken, das rote Haar beinahe im Wasser, die Augen zur Nacht hin geöffnet. »Nicht mehr zu retten«, sagte Faolan. »Schon tot, als ich ihn herausgefischt habe. Und was dich angeht, du bist ein noch größerer Narr, als ich dachte. Was im Namen von allem, das heilig ist, ist hier passiert?« Bridei antwortete nicht. Er starrte das kleine Ding an, das er immer noch in der Hand hielt, einen Talisman aus zwei festen Schnüren, in einem kunstvollen Muster gedreht und geknotet. »Tuala ...«, flüsterte er. »Wo ist Tuala? Hast du sie gesehen? Ist sie hier?« Er ließ den Blick über das Ufer zucken, den überwucherten Pfad, die Oberfläche des dunklen Wassers. »Keine Spur. Nur unseren Freund hier, und schließlich bist du selbst mitten aus dem Teich aufgetaucht. Und der Hund. Er hat geholfen, dich rauszuziehen. Wo ist er denn jetzt?« Faolan spähte in die tiefer werdende Dunkelheit. »Schon gut«, sagte er. »Die Pferde sind nicht weit entfernt; wir müssen dich ins Warme bringen, bevor das letzte Licht verschwindet. Ich habe nicht vor, meinen Beutel Silber zu verlieren, nur weil du es dir in den Kopf setzt, zu Mittwinter schwimmen zu gehen.« »Tuala«, sagte Bridei und nestelte zerstreut an den Schnüren herum, die er in der Hand hielt, knotete, band, verband die losen Enden, als könnte ihm das helfen zu denken. »Tuala ... ich muss sie finden ... aber wo? Wo haben sie sie hingebracht?« »Bridei«, sagte Faolan ruhig und freundlich, als spräche er mit einem widerspenstigen Kind, »Gartnait ist tot. Du bist halb ertrunken, und ich habe dir die meisten von meinen trockenen Sachen gegeben. Und es ist beinahe dunkel. Wir müssen hinunter zum Haus gehen. Sofort. Pferde. Komm jetzt.« Vom oberen Ende des Wegs bellte der Hund, schrill und drängend. - 707 »Wir müssen dich aus der Kälte schaffen, und zwar schnell. Komm mit, Bridei. Stütz dich auf mich.« »Luft«, sagte Bridei. »Erde, Wasser, Feuer... und Luft. Luft ist die letzte Prüfung. Luft, Flügel, fliegen ... der Adler ... fliegt, stürzt... O ihr Götter ...«Er sprang auf und rannte auf den Weg zu, und Faolan fluchte und folgte ihm. »Höher! Höher!«, riefen die Stimmen. Sie waren überall um sie herum, schrill, unausweichlich. »Komm herauf! Komm!« Es war so dunkel, dass sie den Weg vor sich kaum sehen konnte. Ihre Hände taten weh, und ihre Füße konnten sie beinahe nicht mehr tragen. Aber irgendetwas außerhalb von ihr zog Tuala nun voran, eine Kraft, zu stark, als dass sie sich ihr widersetzen konnte. Es war Zeit, diese Grenze zu überschreiten. Es war Zeit, die schlechten Dinge hinter sich zu lassen. Als Kind war sie ohne nachzudenken auf die Adlernarbe gestiegen, so geschmeidig wie ein Marder. Jetzt war das anders. Ihre Füße glitten ab, sie wurde durchgerüttelt; ihre Hände waren rutschig vom Blut und fanden keinen Halt an den Steinen; der Atem rasselte in ihrer Brust. Sie hatte die Zähne so fest zusammengebissen, dass ihr Kiefer davon wehtat. Wo waren Weide und Geißblatt? Warum waren sie nicht gekommen, nachdem sie versprochen hatten, ihr zu helfen? Es gab keine Spur von ihnen; nur die Stimmen, die sangen, riefen, kreischten, schmerzhaft in ihrem Schädel vibrierten. Aufwärts, aufwärts, noch einen taumelnden Schritt, noch einen schwachen Halt für die Hand, einen schaudernden Atemzug. Sie hatte keine andere Wahl, sie musste weitermachen. Schließlich erreichte Tuala die Steinplatte oben auf der Narbe, die Stelle, an der zwei Kinder an Sommertagen Seite an Seite gesessen, eine frugale Mahlzeit geteilt und einander Gesellschaft geleistet hatten. Sommer ... diese sonnigen Zeiten, dieses schlichte Glück schien nun einem Traum zu entstammen, vor langer Zeit, weit entfernt, etwas, - 708 das sie nie wieder erreichen konnte. Tuala sackte zu Boden; ihre Beine konnten sie nicht mehr halten. »Hoch! Hoch!«, schrien die Stimmen. »Höher! Höher!« Es gab nichts weiter. Nichts außer der kleinen felsigen Spitze, auf der sie als Kind gestanden und sich im Wind gedreht hatte, während Bridei so tat, als hätte er keine Angst, dass sie fiel. »Hoch! Hoch!« Sie zwang sich auf die Beine, stieg auf diesen obersten Stein. So klein, sie erinnerte sich nicht daran, dass die Fläche so klein gewesen war, oder so hoch oben. Unter ihr fiel die Klippe in völlige Dunkelheit ab. Über ihr verschwanden die letzten Reste von Licht aus einem Himmel, der die Farbe des Schattens hatte, die Farbe des
Schlafes, die Farbe der Augen der Knochenmutter. »Ahhh ...« Die Stimmen seufzten, als Tuala, schaudernd unter ihrem feuchten Umhang, die Arme um den Oberkörper geschlungen, dort stand. »Jetzt... jetzt ist es so weit... Komm ... tritt über die Schwelle ...« Über die Schwelle? Welche Schwelle? Sie krallte die Finger in den Stoff des Umhangs und verlagerte unsicher auf der feuchten Steinoberfläche das Gewicht. Tuala hatte nie Angst vor Höhen gehabt, tatsächlich hatte sie nie verstanden, was das für eine Angst sein sollte. Nun drehte sich ihr Kopf plötzlich, und ihre Augen brannten, als sie in einen Abgrund aus Schatten blickte. Über die Schwelle... Was konnten sie meinen? »Tu es, Tuala!« Das war Weides Stimme, hell, aber eindringlich, keine Bitte, sondern ein Befehl. »Du weißt, dass du es kannst. Tu, was du für uns schon in Banmerren getan hast. Schließe die Augen, streck die Arme aus und fliege! Fliege hinüber zu uns, Schwester! Vergiss die Müdigkeit! Lass Schmerzen und Kummer hinter dir! Jetzt, Tuala, jetzt!« Es war gleich, dachte Tuala vage. Wen interessierte schon, ob sie flog oder fiel? Nichts würde sich auf der Welt verän- 709 dem, ob sie nun zur Eule ihrer Fantasie wurde und in den Nachthimmel hinaufflog und eine unsichtbare Grenze zu dem Land hinter den Träumen überquerte, oder auf die Steine unterhalb der Adlernarbe fiel, ein zerschmettertes, unwichtiges Ding. Was immer geschah, Bridei würde ohne sie weitermachen. Sie würden es ihm sagen, und er würde eine oder zwei Tränen vergießen und sie dann vergessen. Er würde König sein; sein Leben wäre zu erfüllt für solche kleinen Dinge. Tuala holte tief Luft, schloss fest die Augen und breitete die Arme aus. Etwas streifte ihre Fußknöchel weich wie eine Feder und dennoch beharrlich und wirklich. »Ah!«, keuchte sie und schwankte auf den Steinen. Sie riss die Augen auf und kämpfte um ihr Gleichgewicht. Nebel sprang ganz plötzlich zu ihr auf, und als Tuala die Katze auffing, spürte sie die Krallen, die sich scharf in ihre Hände bohrten. Diese Schmerzen waren irgendwie schlimmer als alles andere, wie ein letzter Schlag, ein letzter Verrat durch jene, die sie geliebt und denen sie vertraut hatte. Nebel klammerte sich weiter an sie, die Krallen bohrten sich tiefer. Ihr Götter, es tat so weh... »Jetzt, Tuala!«, schrien die Stimmen. »Jetzt, jetzt! Flieg!« Sie konnte sich nicht regen. Erstarrt wo sie war, mit dem Nachtwind, der an ihrem Umhang zerrte, ihren Füßen, die auf dem Stein rutschten und den Krallen der Katze, die sich in ihre von Frostbeulen bedeckten Hände schlugen, erkannte Tuala die Wahrheit. Sie spürte das alles; die Schmerzen, den Kummer, die Angst vor dem Herunterfallen, den Schrecken des Unbekannten. Sie konnte es spüren, und auf der anderen Seite gab es das Herdfeuer, die Festmahlzeiten aus Haferbrot und frischen Äpfeln, das trockene Lachen der alten Männer, und Bridei... Brideis Lächeln ... Brideis Berührung ... Brideis Kuss ... Tuala fasste fester zu, sie drückte die weiche, warme Katze an die Brust. Sie liebte diese Dinge. Die Schmerzen, die Angst, die Weisheit waren Teil von ihr, - 710 Teil ihrer Lebendigkeit. Teil dessen, was sie zum Menschen machte. Was immer sie sein mochte, wo immer sie hergekommen war, sie gehörte zweifellos in diese Welt und nicht in die andere. »Komm jetzt, Tuala!«, rief Weide, und Tuala glaubte ganz am Rand ihres Blickfelds eine Spur unirdischer Helligkeit erkennen zu können, ein Aufblitzen leuchtender Farben; sie hörte Fetzen einer wundersamen Musik, ein Lied, nach dem man sich immer wieder sehnen würde, solchen Trost brachte es dem müden Herzen. Sie glaubte, einen süßen Duft in der Luft wahrzunehmen, als wären alle Frühlingsblumen zu einer einzigen verbunden, und dieser Duft wurde auf der weichsten Brise zu ihr getragen, die jemals über Talwiesen geweht hatte. Alle guten Dinge lagen direkt hinter dieser Grenze ... Wie dumm von ihr, das wegzuwerfen, nur wegen ... nur wegen... »Komm, Tuala.« Geißblatts tiefere Stimme, sanft, verlockend, warm von Versprechen. »Nur ein Schritt, mehr braucht es nicht. Du weißt, das ist das Beste für ihn, das Beste für euch beide ... Komm nach Hause, liebes Kind ...« Sie schloss die Augen. Nebel... Sie würde Nebel wieder zurücklassen müssen. Sie setzte die Katze an ihren Füßen ab, richtete sich auf, breitete die Arme noch einmal aus. »Gut, gut«, murmelte Geißblatt. »Schließe die Augen und nimm meine Hand...« »Tuala!« Ihr Herz schlug heftig; in ihrem Kopf drehte sich alles. Plötzliche Tränen blendeten sie. »Tuala, verlass mich nicht! Ich liebe dich!« Seine Stimme war von Entsetzen verzerrt, aber sie erkannte sie sofort. Er war hier. Nach all dem war er doch gekommen, um sie zu holen. Tuala drehte sich um, spähte ins Dunkel. Der Wind riss an ihrer Kleidung, fest und beharrlich. Sie taumelte. Jetzt zu fallen, jetzt, da das Wunder geschehen war, wäre zu grausam ... - 711 »Nimm meine Hand.« Das war nicht Geißblatt, sondern ein Fremder, der die Hände nach ihr ausstreckte, ihre beiden Hände packte, ihr von der Felsspitze auf die relative Sicherheit der flachen Steinplatte half. Seine Hände waren warm und stark. Tuala klammerte sich an sie; sie zitterte am ganzen Körper. Als sie ihre Stimme wieder fand, war es der unsichere Ton eines zu Tode erschrockenen Kindes. »Bridei?«, fragte sie.
Der andere Mann trat zurück, und dort war Bridei, schlang die Arme fest um sie, sein Herz klopfte an ihrer Wange, sein Mund streifte ihr Haar. Er atmete schwer, weinte vielleicht; sie spürte einen tiefen Schauder in ihm, der von Verzweiflung kündete. Ihre eigene klammernde Umarmung war leidenschaftlich; die Gefühle, die sie durchdrangen, waren zu intensiv, um benannt zu werden, zu durcheinander, um sie zu begreifen. Es zählte nur noch, dass sie lebte und dass er gekommen war, um sie zurückzuholen. Sie vergrub das Gesicht an seiner Brust und spürte seine Hände sanft im langen Fluss ihres Haars, und sie hörte ihn mit einer Stimme flüstern, die sie nie bei ihm gehört hatte: »Tuala ... Tuala ...« Heiser und abgerissen, aber es klang wie ein Gebet. Nach einer Weile räusperte sich der andere Mann. »Bridei«, sagte er, und Tuala bemerkte, dass Bridei so kalt wie Eis war und der andere Mann weder Tunika noch Jacke noch Umhang gegen die beißende Kälte der Sonnenwendnacht hatte. Seltsam, dort saß ein kleiner Hund höflich zu Brideis Füßen. »Wir müssen gehen«, fuhr der Fremde fort. »Deine junge Dame ist in ebenso schlechtem Zustand wie du. Ich danke meinen Herren, dass ich nur dafür bezahlt werde, dich bis zur Versammlung zu beschützen, denn die Aussicht, euch beide weiterhin am Leben erhalten zu müssen, erschreckt mich. Zurück zu den Pferden, und zwar sofort. Wir brauchen ein Feuer und trockene Kleidung. Schaffst du es, nach unten zu klettern?« Offenbar meinte der Fremde sie selbst. Tuala setzte dazu - 712 an, »Selbstverständlich« zu sagen, aber als sie versuchte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, schwankte alles und drehte sich um sie, und nur Brideis Arm bewahrte sie davor, zu fallen. Nebel eilte bereits den schmalen Weg entlang; der kleine weiße Hund saß geduldig da, den Blick auf Bridei gerichtet. Sein helles Fell leuchtete im Dunkeln wie ein schwaches Leuchtfeuer. »Ich werde ...«, begann Bridei, aber sein Begleiter kam ihm zuvor, hob Tuala mit starken Armen hoch und kehrte zum Weg zurück. »Du wirst nichts dergleichen tun. Hier bin ich zuständig, zumindest, bis wir wieder in Caer Pridne sind. Sieh zu, dass du selbst sicher wieder zu den Pferden gelangst, und überlass die Dame mir. Ihr werdet im Haus Zeit genug füreinander haben. Geh schon, Bridei. Du fällst vor Erschöpfung beinahe um, so gut du es auch zu verbergen versuchst. Niemand erwartet, dass du wirklich so stark wie der Flammenhüter bist. Jedenfalls jetzt noch nicht.« »Das Haus ...«, flüsterte Tuala, als sie den steilen Weg hinuntergetragen wurde. »Niemand dort... alles abgeschlossen ...« »Jetzt sind Leute dort«, sagte der Mann. »Ein Feuer, Essen, warme Betten. Überlass uns das, junge Dame. Wir bringen dich schon in Sicherheit.« Sie schloss die Augen und überließ sich tatsächlich dem unglaublichen Luxus, nicht alle Entscheidungen allein treffen zu müssen. Am Ende des Pfads warteten drei Pferde. »Glückspilz«, murmelte sie und lächelte, als sie das vertraute gefleckte Fell und die hagere Gestalt von Donais altem Freund sah. »Ja, wir sind alle Glückspilze«, sagte der Mann, der sie trug. Er hob sie auf eine weiße Stute, ein wunderschönes Geschöpf, das still und sanft stehen blieb, während der Mann Bridei nach oben half, während Bridei die Arme um Tualas Taille schlang und sie fest an sich drückte, und dann sprang - 713 der Mann auf den Rücken von Glückspilz und nahm die Zügel des dritten Pferds. »Was ist mit...«, fragte der Mann und sah Bridei an. »Morgen früh. Ein paar Männer können ihn holen gehen. Wir müssen Tuala ins Haus bringen; sie friert und ist verletzt.« »Ganz zu schweigen von der Kleinigkeit, dass du beinahe ertrunken wärst und man dir vor nicht allzu langer Zeit einen Schlag auf den Schädel verpasst hat. Also kommt. Seid vorsichtig; es ist hier unter den Bäumen stockfinster.« Das Geschöpf, das Tuala und Bridei trug, schien eher aus diesem anderen Land zu stammen, dachte Tuala, als sie langsam weiterzogen, aus jener Welt, deren Musik und Licht, deren Wunder und Geheimnisse sie für einen winzigen Augenblick gesehen hatte, bevor die Macht ihrer eigenen Welt sie zurückzog. Über ihr riefen immer noch Stimmen, während sie ritt, nicht zornig, enttäuscht oder anklagend, wie sie erwartet hätte, sondern sie sangen ein Lied der Anerkennung und des Abschieds, eine Art Gruß, in dem nichts zu hören war als ihr Name und der seine, um die wortlose Girlande einer Melodie gewunden. Am Ende war die Nacht doch nicht so voller Schatten, dass sie den Weg nach Hause nicht gefunden hätten. Der kleine Hund trabte voran, jetzt ohne zu bellen. Seine weiße Gestalt, die sich auf und ab bewegte, schien ihr eigenes Licht auszustrahlen und führte die Reiter auf sicheren Wegen, bis sie den Waldrand erreichten und unter sich die brennenden Fackeln, die wachsamen Wachen, das strohgedeckte Dach und den Rauch sahen, der aus dem Schornstein von Broichans Haus unter den Eichen aufstieg. Es gab keine Schneeverwehungen auf den Stufen, keinen Eisenriegel vor der Tür. Als sie auf den Eingang zuritten, schwang die Tür auf, und warmes Licht fiel auf sie, begleitet von Stimmen und dem aufgeregten Bellen der drei Hunde von Pitnochie, das von drinnen plötzlich erklang. Der kleine Hund wich nicht zu- 714 rück, sondern blieb trotzig und mutig zwischen dem weißen Pferd und der Gefahr. Als Bridei von der Stute glitt und die Arme ausstreckte, um Tuala herunterzuheben, erschien eine dunkle Gestalt in der Tür, umrissen vom goldenen Licht des Herdfeuers und einer Lampe. Broichan sah schweigend zu, wie sein Pflegesohn Tuala
auffing und sie über die Schwelle ins Haus trug. Die Wärme, die Geräusche, die leckeren Gerüche bewirkten, dass Tuala schwindlig wurde. Abrupt wurde sie sich ihrer Erschöpfung bewusst, der Schmerzen überall in ihrem Körper, dem dringenden Bedürfnis nach einem Schluck Wasser. Alles bewegte sich wirr rings um sie her; die einzige Sicherheit waren Brideis Arme, die sie hielten, als er sie durch die Halle trug und so vorsichtig auf einer Bank absetzte, als wäre sie ein Korb mit frisch gelegten Eiern. Und Brideis Stimme, die scharf ein paar Befehle gab. Von Broichan hörte sie nichts. »Cinioch, bring Brenna zum Haus und holt trockene Sachen für Tuala; hier gibt es nichts, das klein genug ist. Mara, wir brauchen warmes Wasser; sie ist halb erfroren. Und wir brauchen ein paar Sachen für Faolan hier, er hat mir einen Teil seiner Kleidung gegeben ...« Tuala sah sich um und bemerkte, dass das Haus für die Jahreszeit geschmückt war. Es gab Kränze über den Türen und Fenstern, glänzende Blätter, hellrote Beeren, und an der Feuerstelle stand ein großes Mittwinterscheit bereit für die Zeremonie, bei der die Feuer des Hauses gelöscht und wieder angezündet wurden. Es roch angenehm nach Braten und Obstpudding; es war klar, dass den ganzen Tag Menschen in Haus und Hof gewesen sein mussten, um alles vorzubereiten. Die leere Scheune, die verlassenen Felder, die verschlossenen Fenster waren ein Trick gewesen, eine Vision, die man ihr geschickt hatte, um sie von Pitnochie weg und zum Dunklen Spiegel zu führen. Hatten Weide und Geißblatt das getan? Warum sollten sie so grausam sein? Es sei denn, - 715 es war alles ein Trick gewesen, die Verlockungen, der lange, einsame Weg. Vielleicht war es eine Prüfung gewesen... eine Prüfung ihrer Treue... »Bridei«, sagte Faolan, »überlass das bitte mir. Du bist derjenige, der am dringendsten trockene Kleidung und warmes Wasser braucht.« »In der Tat.« Nun hatte Broichan doch etwas gesagt, und seine tiefe Stimme weckte Tualas alte Ängste. Der Druide verabscheute sie, er wollte, dass sie ging. Nichts hatte sich verändert. Sie drehte den Kopf zu Brideis Brust, hasste ihre eigene Schwäche und spürte, dass er die Arme fester um sie schlang, während sie dort auf der Bank saßen und er sie wiegte. »Was immer heute hier geschehen ist, mein Haushalt wird euch allen Wärme und Zuflucht geben«, sagte der Druide. »Die Frauen werden sich um Tuala kümmern. Was dich angeht, Bridei, so war der Entschluss, diese Reise direkt nach deinem Krankenbett zu unternehmen, nicht der eines klar denkenden Mannes. Du bist nicht du selbst. Du musst essen, trinken und dich ausruhen. Überlass die Entscheidungen anderen, zumindest im Augenblick. Morgen früh ist noch Zeit genug, um zu reden.« Bridei rührte sich nicht. »Ich meine das ernst, Bridei. Überlass Tuala Mara. Du musst dich ausruhen und erholen.« »Ich bin kein Kind mehr.« Brideis Stimme war kühl und beherrscht; die Stimme eines Mannes und eines Anführers. Im Raum breitete sich plötzlich tiefes Schweigen aus; Tuala hatte die Augen immer noch geschlossen, aber sie spürte, dass alle Bridei beobachteten. »Hier muss etwas abgerechnet werden, und das wird nicht bis zum Morgen warten. Mara! Ich überlasse Tuala im Augenblick deiner und Brennas Obhut. Faolan, bleib so nah bei ihnen, wie es der Anstand erlaubt. Tuala wird kein Haar gekrümmt, und in ihrer Gegenwart wird kein unfreundliches Wort fallen. Ihr solltet alle wissen, dass ich in sieben Tagen als Kandidat für den Thron - 716 von Fortriu vor die Wahlversammlung trete. Von diesem Augenblick an steht Tuala unter meinem Schutz. Ihr werdet sie höflich, respektvoll und liebevoll behandeln. Ihr solltet euch zutiefst schämen, dass ich euch das sagen muss.« Er löste sanft seine Arme, dann stand er auf, behielt aber eine von Tualas Händen in seiner. Sie öffnete die Augen zu einem Kreis überraschter Gesichter - nur das von Mara fehlte; Mara war bereits dabei, einen Stapel gefalteter Tücher zum Wärmen ans Feuer zu legen, und schob die Hunde - jetzt vier - aus dem Weg. Die Haushälterin starrte den gelassenen Faolan an. »Und wer ist der da?«, fragte sie. »In diesem Haushalt gab es nie einen Platz für Galen, und ich wüsste nicht, wieso sich das jetzt ändern sollte.« »Faolan ist mein Freund«, sagte Bridei schlicht. »Er kümmert sich um meine Angelegenheiten. Du kannst ihm vertrauen. Und jetzt...« Er ließ Tualas Hand los und lächelte sie liebevoll an. »Es wird nicht lange dauern«, flüsterte er. Dann ging er durch das Zimmer auf Broichan zu. Es war eine beeindruckende Anstrengung; Tuala, die den Atem anhielt, konnte sehen, was es ihn kostete, auch nur aufrecht zu stehen. Jemand hatte ein Krankenbett erwähnt. Was für ein Krankenbett? Und was hatte Faolan mit dem Schlag auf den Schädel gemeint? »Komm«, sagte Bridei zu seinem Pflegevater, und die beiden gingen in Broichans Zimmer. Die Tür schloss sich hinter ihnen. »Sag mir«, bat Tuala den Galen, als hektische Aktivität sich um sie herum entfaltete, »was ist mit ihm los? Was ist passiert?« »Erst baden, dann Fragen stellen«, verkündete Mara, als das Klappern von Töpfen und Pfannen aus der Küche darauf schließen ließ, dass Ferat sich wieder an die Vorbereitung des Mittwinterfestessens gemacht hatte. »Und es ist nicht nur unüblich, dass Galen zusehen, wie sich Frauen in meiner - 717 Halle ausziehen, zu solchen Zeiten haben wir überhaupt keine Männer in der Nähe. Verschwindet! Uven, bring diesen Mann ins Schlafquartier und such ihm etwas zum Anziehen, er sieht aus wie eine ersoffene Ratte. Was
habt ihr alle getrieben, im See nach Schlangen gefischt? Geh schon, beeil dich!« »Du hast gehört, was er gesagt hat.« Faolans Stimme war ruhig. »Das habe ich, und es war unnötig. Ich weiß, was sich gehört. Das habe ich immer getan. Es beleidigt mich, dass der Junge glaubt, mir nicht trauen zu können.« »Die Dinge ändern sich«, sagte der Gäle. »Du wirst dich daran gewöhnen müssen.« »Vielleicht ändern sie sich nicht so sehr«, murmelte Mara und warf einen Blick zur inneren Tür. »Und jetzt verschwindet, alle miteinander. Keine Männer hier, bis ich sage, dass wir fertig sind. Die schwarze Krähe behüte uns, Tuala, was hast du dir angetan? Du bist so dünn wie ein gerupfter Zaunkönig, und diese Stiefel... Brenna, komm und hilf mir. Schick Cinioch nach den Kleidern. Ferat! Wo bleibt das heiße Wasser?« Tuala warf dem Galen einen Blick zu, der immer noch mitten im Zimmer stand, mit steinerner Miene und verschränkten Armen. »Schon gut«, sagte sie. »Du kannst gehen. Ich bin hier in Sicherheit. Und ich danke dir. Du bist ihm offenbar ein treuer Freund.« Faolan nickte schweigend, dann drehte er sich auf dem Absatz um und folgte Uven nach draußen. »Man kann einem Galen keine guten Manieren beibringen«, stellte Mara fest. »Und wo kommt der da her?« Der kleine weiße Hund hatte sich aus dem Knäuel größerer Hunde gelöst und stand nun vor Mara und blickte mit glänzenden Augen zu ihr auf. »Von weit her«, sagte Tuala, die sich an ihre Visionen aus dem Dunklen Spiegel erinnerte, und an jene, von denen Bri- 718 dei gesprochen hatte. »Von sehr, sehr weit her. Ich glaube, Bridei hat ihn von einer schrecklichen Pflicht erlöst.« »Mhm«, sagte Mara, als Ferat und seine Helfer mit einem großen, flachen Becken und Krügen mit warmem Wasser erschienen. »Es gab einen Hund, der oben im Wald geheult hat, Nacht um Nacht. Die Leute sagten, dass er dort schon seit hundert Jahren war.« Sie warf dem Hund einen misstrauischen Blick zu. »Ich glaube nicht, dass er noch länger heulen wird«, sagte Tuala. »Ich glaube, er ist nach Hause gekommen.« - 719 KAPITEL ACHTZEHN Ich werde nicht fragen«, sagte Bridei, »warum du sie wieder aus Pitnochie weggeschickt hast, und auch nicht, warum du eine Heirat für sie arrangieren wolltest, als ich nicht zu Hause war. Ich werde nicht fragen, warum du, als du hörtest, dass sie weggelaufen war, nicht sofort mit allen Mitteln angefangen hast, nach ihr zu suchen. Du brauchst mir nicht zu erklären, warum du mir nicht gesagt hast, dass sie weg war; warum du mich angelogen hast. Ich habe deine Gründe, Tuala so zu misstrauen, nie verstanden. Mir ist klar, dass sie in jeder Hinsicht den Segen der Leuchtenden mit sich trägt, dass sie einen Weg des Lichts geht und uns nur Gutes bringen kann. Du bist der Druide des Königs. Das Wissen um die Götter liegt tief in deinem Herzen und stark in deinem Blut. Wo habe ich diese Dinge gelernt, wenn nicht von dir? Dass du nie in der Lage warst, die Wahrheit über Tuala zu erkennen, ist mir ein Rätsel. Du hast mich enttäuscht, Broichan. Und du hast Zweifel in mir geweckt, die mich verstören. Ich frage mich, ob du vielleicht nicht erkennst, dass ich kein Kind mehr, sondern ein Mann geworden bin. Ich frage mich, ob du nicht erkennst, dass ein Mann, der König sein soll, mit der Zeit lernen muss, selbst zu denken.« »Setz dich, Bridei.« Es wäre unhöflich gewesen, sich zu weigern; außerdem sagte die Vernunft Bridei, dass seine Beine ihn nicht mehr - 721 lange tragen würden. Es war vom Augenblick an, als dieses letzte erschreckende Rennen auf die Adlernarbe sein Ende gefunden und er Tuala sicher in den Armen gehalten hatte, deutlich gewesen, wie viel vom Erfolg seines Unternehmens er der bemerkenswerten Gischt und am Ende Faolan verdankte. Bridei wusste, dass er schwach und erschöpft war. Aber er war zur Selbstbeherrschung ausgebildet worden, und das vom allerbesten Lehrer. Nun stand ihm eine Auseinandersetzung bevor, und er hatte nicht vor, sie zu verlieren. »Nun«, sagte Broichan, setzte sich ihm am Tisch gegenüber und goss Met in zwei Becher, »ich hoffe, du wirst mich anhören, obwohl du behauptest, dass du keine Erklärungen suchst.« »Ich will keine. Es kann keine geben, die ich verstehen würde. Sie befand sich in unserer Obhut, uns von der Göttin anvertraut. Du wusstest, was sie mir bedeutet. Du hast durch deine Machenschaften, durch deine Tatenlosigkeit, durch dein Schweigen dafür gesorgt, dass Tuala beinahe für immer verloren gewesen wäre. Du hast ihr unaussprechlichen Schmerz bereitet. Wenn du erwartest, dass ich dir verzeihe, wirst du eine Enttäuschung erleben. Wenn du mein Einverständnis erwartest, musst du dumm sein.« Broichan seufzte. »Bridei«, sagte er, »es sind noch sieben Tage bis zur Versammlung. Deine Worte sagen mir, dass du diese Tatsache nicht vergessen hast, obwohl deine überstürzten Taten nahe legen, dass du aus dem Blickfeld verloren hast, wie wichtig dieses Ereignis ist. Sieben Tage, Bridei. Es ist Winter. Drust der Eber hält sich bereits in Caer Pridne auf, lockt, überredet, besticht, wendet Männer gegen dich und sammelt Unterstützung für seine eigene Sache. Jeden Tag, an dem du nicht am Hof bist, wächst der Einfluss deines Gegners. Die Wahl wird nicht auf uns warten. Wir müssen so schnell wie möglich nach Caer Pridne zurückkehren. Du musst dort sein, dich sehen und hören lassen, - 722 -
an den Herzen und Köpfen derjenigen arbeiten, die immer noch überzeugt werden können. Hierher zu kommen war dumm. Hier länger zu bleiben als unbedingt notwendig, bedeutet den Tod unserer Hoffnungen. Den Tod der Zukunft von Fortriu.« Bridei schwieg einen Moment und betrachtete seine Hände, die er entspannt vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Er rührte den Met nicht an. »Das ist zweifellos übertrieben«, sagte er. »Es gibt auch andere gute Kandidaten.« »Das ist einfallslos von dir, Bridei. Carnach wird bei der Vorstellung in deinem Namen sprechen, nicht in seinem eigenen. Es ist meine wohl überlegte Ansicht, und auch die der anderen in meinem engsten Kreis, dass Drust der Eber der einzige andere Kandidat sein wird. Wir wissen beide, wir wissen alle, dass du der auserwählte Kandidat des Flammenhüters bist. Dies wurde fünfzehn Jahre lang vorbereitet und erheblich länger geplant. Dein Land braucht dich. Dein Volk braucht dich. Ich sehe, dass du ein wenig Zeit brauchen wirst, um dich auszuruhen und deine Kraft wiederzugewinnen. Einen Tag, vielleicht zwei. Dann müssen wir an den Hof zurückkehren.« Bridei schwieg. Broichan legte die Fingerspitzen aneinander; seine Miene änderte sich nicht. »Dann ist da die Frage um Tuala. Ich verstehe das. Ich gebe dir mein persönliches Wort, dass sie hier Zuflucht finden wird, so lange sie will. Was ihre Zukunft angeht, so ist jetzt nicht der Zeitpunkt, darüber nachzudenken. Sie wäre besser in Banmerren geblieben, wo es einen Platz für sie gab. Ihre Eskapade hat uns kostbare Zeit gekostet. Aber das ist gleich; es kann warten. Nach der Versammlung, wenn du König bist, können wir uns darum kümmern.« »Ich habe nicht vor, sie wieder aus den Augen zu lassen«, erklärte Bridei. »Sie kann nicht mit uns zum Hof reisen.« Broichans Ton war barsch. »Man wird sie dort nicht akzeptieren. Ein Blick, - 723 und es ist offensichtlich, dass sie zum Guten Volk gehört. Was würden die Wähler aus Circinn davon halten? Selbst die Leute hier betrachten sie mit Misstrauen. Was glaubst du, wieso sie Pitnochie verlassen musste?« »Ich denke«, sagte Bridei langsam und wog jedes einzelne Wort sorgfältig ab, »dass dieses Misstrauen nur entsteht, wenn man es zulässt. Deine Leute lieben und achten dich. Ein Wort von dir wäre alles gewesen, was es brauchte, um ihre Zweifel auszuräumen. Stattdessen hast du Tuala weggeschickt. Du hast ihr das einzige Heim genommen, das sie je kannte. Deine Beteuerungen sind wertlos für mich. Ich werde nicht ohne Tuala nach Caer Pridne zurückkehren.« Einige Zeit schwiegen beide. »Es tut mir Leid, Bridei. Ich verstehe die Kindheitsverbindung zwischen euch. Ich erkenne Eigenschaften bei Tuala, die bewundernswert wirken: Geist, Treue und einen körperlichen Liebreiz, der einen jungen Mann tatsächlich vergessen lassen kann, was das Richtige ist bei der Auswahl einer ... Gefährtin.« Broichan hatte das letzte Wort mit offensichtlicher Abscheu ausgesprochen. »Ich will ganz offen mit dir sein. Ich weiß nicht, was für eine Rolle für das Mädchen du am Hof siehst. Ich erkenne, dass es nicht die einer Schwester sein wird. Vielleicht lässt sich etwas arrangieren. Man könnte sie irgendwo unterbringen, nicht in Caer Pridne selbst, aber...« »Das genügt.« Bridei bemühte sich, trotz allen Zorns, der ihn erfasst hatte, ruhig weiterzusprechen. »Offensichtlich habe ich mich nicht ausreichend verständlich gemacht. Tuala und ich werden heiraten. Ich werde keine andere zur Frau nehmen. Das steht nicht zur Debatte. Ich habe mich entschieden.« »0 Bridei.« Broichans Worte kamen als Seufzer heraus. »Du bist immer noch jung. Deine Zukunft liegt noch vor dir. Das hier ist keine davon, Sohn. Ein König von Fortriu heiratet keine Tochter des Guten Volkes. So etwas würde dich dein - 724 Leben lang der Lächerlichkeit aussetzen. Es würde dich fesseln, dich behindern. Ihr Einfluss würde deinen Kurs gefährlich unberechenbar machen. Das können wir nicht zulassen.« »Wir?«, fragte Bridei leise, immer noch mit ruhiger Miene, die Hände immer noch vor sich auf dem Tisch. »Deine Berater. Obwohl er nie direkt darüber spricht, hat Talorgen lange auf eine Verbindung zwischen dir und seiner Tochter gehofft. Sie ist ausgesprochen angemessen: klug, nicht schlecht anzusehen und vom königlichen Blut von Fortriu. Und sie ist die Schwester deines besten Freundes.« »Ich achte und bewundere Ferada; das habe ich immer getan. Ich habe nicht vor, sie zu heiraten.« Ein Bild des ertrunkenen Gartnait, dessen blicklose Augen zum Nachthimmel aufstarrten, stand vor Brideis geistigem Auge, und er schauderte gegen seinen Willen. »Aniel«, fuhr Broichan fort, »hat die königliche Geisel vorgeschlagen, Ana. Sehr hübsch und offenbar ein Ausbund an Sanftmut und Höflichkeit. Sie wäre eine hervorragende Wahl. Und es gibt andere. Bridei, ich verstehe, dass ein junger Mann starkem Drängen unterworfen ist, den körperlichen Leidenschaften, die der Flammenhüter erweckt. Ich bezweifle nicht, dass es für dich Zeit ist, eine Frau zu nehmen.« »Aber nicht Tuala.« »Ganz bestimmt nicht Tuala. Dass du je auch nur an diese Möglichkeit denken konntest, verhöhnt deine gesamte Erziehung.« »Ich verstehe. Aber stellt die Entscheidung, sie zu übergehen, nicht noch eine größere Geringschätzung des Vertrauens der Leuchtenden dar? Es war die Göttin, die Tuala an einem anderen Mittwintertag vor langer Zeit in meine Obhut gab. Würdest du das so leicht abtun?«
Broichan schwieg einen Moment. »Wie ich schon sagte, wir können für Tuala sorgen«, sagte er schließlich. Er fing an, - 725 mit dem Metbecher zu spielen. »Du brauchst das Mädchen nicht zu heiraten, um das Versprechen zu erfüllen, dass du für sie die Verantwortung übernimmst.« »Ich glaube doch. Ich bin überzeugt, dass die Leuchtende sie genau aus diesem Grund nach Pitnochie gebracht hat: damit ich, wenn ich König von Fortriu werde, eine perfekte Gefährtin an meiner Seite haben werde, eine, die mir für alle Prüfungen, denen ich auf einem solchen Weg gegenüberstehe, genug Kraft gibt. Die Göttin hat mir Tuala als Herzensfreundin geschickt, sodass ich bei dieser großen Arbeit nicht ins Wanken gerate und nicht versage. Ich liebe Tuala, und sie liebt mich. Ist das zu einfach, als dass ein Druide es verstehen könnte?« »Bridei«, sagte Broichan. »Du bist sehr müde und immer noch recht schwach, und du hast nichts mehr gegessen, seit du Caer Pridne verlassen hast. Glaub mir, wir sollten damit lieber bis morgen warten. Oder noch besser bis nach der Versammlung. Solche Entscheidungen sollte man nicht übereilen. Wenn du Tuala nicht hier lassen willst, kann sie nach Banmerren zurückkehren, bis die Wahl vorüber ist. Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass du nun all deine Energien auf die Wahl konzentrierst. Wir können uns keine Ablenkung leisten. Lass es für den Augenblick gut sein. Fola wird für die Sicherheit des Mädchens sorgen, bis wir Zeit haben, eine Lösung zu finden ...« »Nein«, sagte Bridei. »Es kann nicht warten. Tuala wäre heute Abend beinahe gestorben, weil du das nicht begriffen hast, weil sie glaubte, ganz allein auf dieser Welt zu sein. Ich wurde nach dem Ritual am Tortag Zeuge deiner eigenen dunklen Zeit. Ich habe damals gesehen, was für einen Zoll der Weg, den du gewählt hast, dir abverlangt. Ich weiß, wie schwer es ist. Sag mir, war dein Leben so sehr auf Disziplin und Loyalität ausgerichtet, dass du nie gelernt hast, was Liebe ist?« »Das ist nicht Liebe«, sagte Broichan, sein Ton plötzlich hart wie Eisen, »sondern die Illusion eines jungen Mannes. - 726 Du wirst Tuala nicht heiraten. Als König kannst du das nicht.« Bridei sah seinem Pflegevater direkt in die dunklen, undurchschaubaren Augen. »Dann sieht es wohl so aus, als würde ich nicht König werden«, sagte er leise. Die Augen veränderten sich. Es wurde deutlich, dass Broichan das selbst in seinen wildesten Träumen nicht erwartet hätte. »Was sagst du da, Bridei?« »Tuala wird meine Frau werden. Ich lasse mich nicht von dieser Entscheidung abbringen, denn ich weiß, dass ich ohne sie nicht weiterleben kann. Es scheint, dass du mich vor die Wahl stellst: Tuala oder der Thron. Ich werde sie nicht aufgeben, Broichan. Und wenn ich zu der Ansicht komme, dass der Preis dafür, dir diesen lang gehegten Traum zu erfüllen, einfach zu hoch für mich wird, dann musst du einen anderen finden, der deine Marionette sein kann. Ohne sie kann ich es nicht tun.« »Mach dich nicht lächerlich! Selbstverständlich kannst du es!« Der Druide war aufgesprungen, sein Gesicht kreidebleich. »Lass mich das noch einmal anders ausdrücken«, sagte Bridei. »Ohne sie werde ich mich nicht als Kandidat aufstellen lassen. Ich hoffe, das ist jetzt klar genug für dich. Ich bin ein Mann, Broichan, ich bin erwachsen, und ich treffe meine eigenen Entscheidungen. Ich weiß schon lange, auf welches Schicksal du mich vorbereitet hast. Ich lasse es nicht leichten Herzens gehen, glaube mir. Aber ich meine es ernst, jedes einzelne Wort. Wenn du dich weigerst, unserer Heirat zuzustimmen, werde ich mit Tuala davongehen, und wir werden unser Leben anderswo führen, weitab von engstirnigen Machtmenschen. Es gibt nichts, was du tun oder sagen könntest, um meine Ansicht zu ändern.« »Ich kann das einfach nicht glauben ...« »Denk einfach nur daran, was du Tuala angetan hast. Du hast mit deinen fehlgeleiteten Taten die Saat dazu gelegt. - 727 Mein vollendeter Gehorsam dauert nur so lange, bis ich Risse in der Fassade jener auftauchen sehe, die ich für fehlerlos hielt. Ich kann nicht verzeihen, was du ihr angetan hast. Ich kann dir deine Lügen nicht verzeihen. Aber ich treffe diese Entscheidung nicht, um dich zu bestrafen. Ich möchte mich um den Thron bewerben, Broichan. Ich habe schwer dafür gearbeitet. Ich glaube, es ist der Wille der Götter; ich bin überzeugt, der beste Mann zu sein. Aber ich weiß auch, wenn ich zum König gewählt werde, kann ich ohne sie nicht überleben. Schon aus diesem Grund werde ich gehen, wenn ich nicht deine Unterstützung und die deiner Verbündeten erhalte. Und jetzt tue ich, was du vorgeschlagen hast: Ich ziehe trockene Sachen an, esse etwas und ruhe mich aus. Und dann müssen wir noch das Mittwinterritual vollziehen. Es ist eine Zeit des Erwachens, eine Zeit der Geburt neuen Lichts, und die Tage werden wieder länger, bis der Flammenhüter seinen strahlenden Höchststand erneut erreicht. Eine Glück verheißende Nacht. Wie du schon sagtest, die Entscheidung hat ein wenig Zeit. Deine Entscheidung. Meine habe ich bereits getroffen.« »Was verlangst du?« Broichans Ton war halb erstickt. »Deine Unterstützung in allen Dingen. Du wirst meine Entscheidung nicht nur billigen, sondern Tuala mit Freundschaft und Höflichkeit begegnen und dafür sorgen, dass andere das Gleiche tun. Du wirst kein böses Wort
über sie sprechen und nichts unternehmen, was ihr schaden könnte. Und du wirst dafür sorgen, dass deine wahre Ansicht in dieser Sache niemals über dieses Zimmer hinausgeht.« »Und wenn ich mich weigere, würdest du wirklich ...« »Ich würde aus Pitnochie und aus Fortriu weggehen, mit Tuala an meiner Seite. Du würdest mich nie wieder sehen.« »Du meinst es ernst.« Bridei stand auf. »Wenn ich König werde, habe ich vor, eine Gruppe von Beratern um mich zu sammeln«, sagte er. »Du solltest einer davon sein. Was hier geschehen ist, tut - 728 meiner Dankbarkeit für die Jahre keinen Abbruch, die du meiner Erziehung gewidmet hast, für die Weisheit, die du mit mir geteilt hast, für die Möglichkeiten, die du mir gegeben hast. Es sorgt allerdings dafür, dass ich dir nie wieder trauen werde. Ein König sollte auf seine Berater hören und dann seine eigene Entscheidung fällen.« Er nickte Broichan höflich zu, ging zur Tür und verließ das Zimmer. Der Druide hinter ihm schwieg. Es fehlte dem Mittwinterritual ein wenig an seiner üblichen Lebendigkeit. Broichan sprach die Gebete, als wäre er in Gedanken an einem vollkommen anderen Ort. Sie löschten das Feuer nur sehr kurz: Es war wichtig, dass die Halle warm blieb, da drei der Anwesenden die Nachwirkungen der Winterkälte sehr spürten. Als er zu dem Abschnitt der Zeremonie kam, wo Fragen gestellt und Antworten gegeben werden, warf Broichan Bridei einen Blick zu, und Bridei vollzog ruhig und still den Teil, den er dank des strengen Unterrichts durch den Druiden lange vervollkommnet hatte. Am Ende, als alle im Kreis standen, um den Segen zu sprechen, stellte sich Tuala neben Bridei, ihre Hand in seiner. Faolan schaute ohne ein Lächeln aus einer Ecke des Raums zu. Dann kam das Festessen, ein sehr gutes, aber weder Bridei noch Tuala konnten viel essen. Ein wenig Suppe, ein Bissen Brot, das schien mehr als genug zu sein, und das Bier und den Met, den man vor sie stellte, rührten sie nicht an. Sie sprachen wenig; sie saßen Seite an Seite auf der Bank, wo sie als Kinder so manchen Abend gesessen und sich Geschichten von Magie und Geheimnis erzählt hatten. An diesem Abend begann eine neue Geschichte für die beiden, eine Geschichte mit genug Staunen und Versprechen für ein ganzes Leben. Sie hatten nur Augen füreinander. Das Mittwinterscheit brannte hell. Vor der Feuerstelle hatte sich Nebel zusammengerollt, und dicht neben ihr lag der weiße Hund schlafend auf der Seite, die Beine gerade aus- 729 gestreckt, der Kopf auf Brideis Fuß, und ab und an zuckten seine Ohren. Vielleicht hielt er in seinen Träumen immer noch Wache in dem einsamen Tal, wo einmal vor langer Zeit ein geliebter Krieger unter einer Axt aus Dalriada gefallen war. Der Haushalt zog sich ins Bett zurück. Es gab einen Platz für Tuala in Maras Zimmer und einen für Bridei in seinem alten Kämmerchen, aber sie schienen sich nicht von der Stelle rühren zu wollen, und niemand erteilte irgendwelche Anweisungen. Als Mara schließlich die Tür verriegelt und alle Lampen bis auf eine gelöscht hatte und sich dann mit einem spitzen Blick über die Schulter in ihr Zimmer zurückzog, stand auch Broichan auf und ging schweigend in sein Zimmer. Neben dem Feuer stand ein großer Sessel, aus Eichenholz geschnitzt und mit breiter Rückenlehne. Bridei hatte sich dort niedergelassen, mit Tuala auf dem Schoß. Ihr Kopf lag an seiner Schulter, und sie hatte sich an ihn gekuschelt. Eine warme Decke lag über beiden. Darunter war es möglich, dass sich Hände bewegten, streichelten, eine Reihe köstlicher Überraschungen verursachten. Brideis Wangen waren ein wenig gerötet; Tualas Augen glänzten. Es war vielleicht nur gut, dass keiner von ihnen mehr wollte als diese zarte Erforschung ihrer neu gefundenen Nähe. Auf einer Bank an der gegenüberliegenden Wand hatte sich Faolan unter einem Umhang ausgestreckt. Es war unwahrscheinlich, dass er schlief. Selbst hier ließ er Bridei nicht unbewacht. »Ich muss dich etwas fragen«, flüsterte Bridei. »Aber ich fürchte mich auch davor, denn wenn du Nein sagst, wirst du mir nicht nur das Herz brechen, sondern ich werde auch noch vor dem ganzen Haushalt ausgesprochen dumm dastehen.« »Ich werde nicht Nein sagen, Bridei.« Ihre Hand bewegte sich sanft unter dem frischen Hemd, das man ihm gegeben hatte, über seine Brust. - 730 Bridei schluckte. »Ich wollte dich fragen, bevor ... ich wollte dich fragen ... Willst du meine Frau werden, Tuala?« Sein Herz schlug rasch; es war erstaunlich, wie sehr ihn dies nach allem, was sie durchgemacht hatten, noch ängstigte. »Ja, Bridei.« Ihre Stimme war leise, liebenswert und präzise; sie hatte sich seit ihrer Kinderzeit nicht besonders verändert. Er beugte den Kopf und küsste sie; ihr Kuss war eindeutig der einer Frau. Nach einiger Zeit löste er seine Lippen von ihren. »Du verstehst, was das bedeutet?«, fragte er. »Wenn ich bei der Wahl Erfolg habe, wirst du Königin von Fortriu. Das wird ein sehr anderes Leben sein. Einsam. Anstrengend.« »Ich weiß. Aber Bridei, was ist mit Broichan? Was hat er gesagt? Hat er zugestimmt?« »Noch nicht. Er wird es tun, er hat keine andere Möglichkeit. Ich habe ihm gesagt, dass ich meine Kandidatur zurückziehe, wenn er sich weigert, unserer Heirat zuzustimmen.« »Oh.«
»Er muss nachgeben. Er weiß, dass ich siegen kann. Ich sollte genügend Stimmen haben, immer vorausgesetzt, Fokel von Galany trifft rechtzeitig in Caer Pridne ein. Sollte es zu einem Gleichstand kommen, können wir die Beweise, die Faolan für Drusts Anschlag auf mein Leben hat, öffentlich machen. Das sollte genügen.« »Anschlag auf dein Leben? Stammt daher die Kopfwunde, von der Faolan gesprochen hat?« »Bei Vollmond. Sie haben mich überfallen, als ich auf dem Weg nach Banmerren war. Es tut mir Leid ... es tut mir so Leid, dass ich es dir nicht mitteilen konnte ...« Sie hob die Hand, streichelte sanft sein Haar und berührte den Kopf dort, wo die Spuren der Wunde immer noch deutlich waren. »Ich weiß nicht, wieso ich gedacht habe...«, murmelte sie. »Sie haben mir Visionen gezeigt: du und Ana, du und Ferada ... ich hätte ihnen nicht glauben sollen ...« - 731 »Ihnen? Wem?« Tuala lächelte. »Ich habe dir eine lange Geschichte zu erzählen, Bridei. Eine lange, seltsame Geschichte. Ich glaube, es war vielleicht eine Art von Prüfung.« Er nickte, und seine Finger wanden sich in die seidigen dunklen Locken ihres Haars. »Auch meine Geschichte ist schwer zu glauben. Es scheint, die Götter haben uns beide geprüft. Gartnait war hier. Er ist mir gefolgt. Und Gartnait ist tot.« »Tot? Was ist geschehen?« »Ich kann nur dir wirklich sagen, was geschah. Faolan und ich wissen es, sonst niemand. Ich muss für Talorgen eine andere Geschichte finden.« Tuala starrte ihn jetzt an; was immer sie in seinem Gesicht sah, ließ sie schweigen. »Er ist mir gefolgt, den ganzen Weg von Caer Pridne bis hierher. Ich hatte Uists Stute; Gartnait muss sich bis zum Zusammenbruch angetrieben haben. Er hat mich eingeholt, kurz bevor ich Pitnochie erreichte; er behauptete, er wolle mir Gesellschaft leisten, wolle helfen. Wir ritten zum Dunklen Spiegel, um dich zu suchen. Und dann ...« »Dann was, Bridei?« Sie hielt seine Hand zwischen ihren Händen. »Dann versuchte er mich zu erwürgen. Es war, als wäre er von Wahnsinn befallen. Er hat nur wieder und wieder gesagt, dass es ihm Leid tat. Ich konnte seinen Griff nur brechen, indem ich ihn ins Wasser gezwungen habe.« »In den Dunklen Spiegel?«, hauchte Tuala. »Es war ... eine Reise. Eine Prüfung. Als ich wieder zu mir kam, drückte mir Faolan das Wasser aus der Lunge, und Gartnait lag ertrunken am Ufer. Faolan hatte uns beide herausgefischt. Der Hund war ebenfalls dort, der Hund aus dem Dunklen Spiegel, nur dass er nun wirklich ist. Wir hatten keine Zeit nachzudenken. Wieso Gartnait sich so verhalten hat, bleibt ein Rätsel.« 732 »Was willst du Talorgen sagen?« Bridei warf einen Blick auf die Bank, auf der Faolan lag. »Dass es einen Unfall gab; dass Gartnait versuchte, mich zu retten, und dabei ertrank. Zumindest im Tod soll er vor seinem Vater gut dastehen.« »Ferada wird traurig sein.« »Ja. Bei all ihren Streitereien standen sie und Gartnait sich sehr nahe. Ferada hat mir geholfen. Ohne sie wäre ich nicht aus Caer Pridne herausgekommen.« »Glaubst du, Talorgen, Fola und die anderen werden dich auch unterstützen, wenn du ein Mädchen heiratest, das ... nicht angemessen ist?« »Du bist ganz und gar angemessen«, sagte Bridei. »Es ist nur eine Frage, wie wir es ihnen demonstrieren. Und ja, ich glaube, die anderen werden sich hinter mich stellen. Schon wegen Broichans Einfluss. Wenn sie es nicht tun, dann bin ich kein so starker Kandidat, wie ich sein sollte. Und was die Fürsten von Fortriu angeht, so war ich es, der sich in diesen letzten Monden mehr als jeder andere angestrengt hat, sie auf meine Seite zu ziehen. Sie werden mich unterstützen. Am Morgen, wenn nicht schon früher, wird mein Pflegevater akzeptiert haben, dass dieser Einwand kein Einwand ist.« »Er fürchtet meinen Einfluss auf dich«, stellte Tuala fest. »Er fürchtet, dass er größer sein wird als sein eigener. Es gab eine Zeit, in der wir beinahe verbündet waren, er und ich. Aber er wird mir nie vertrauen, ganz gleich, wie oft ich meine Verlässlichkeit beweise. Ich bin kein Teil seines Plans.« »Sein Plan hat ein Ende gefunden«, sagte Bridei. »Dieser Weg ist nun der unsere, deiner und meiner.« »Er liebt dich. Das solltest du nicht vergessen.« »Nicht für das, was ich bin. Nur für das, was ich für ihn und für Fortriu tun kann.« »Du irrst dich. Du bist wie ein Sohn für ihn.« »Das glaube ich nicht.« Sie schwiegen eine Weile. Der weiße Hund seufzte und be- 733 wegte sich. Tuala hielt Brideis Hand an ihre Wange, berührte sie mit den Lippen. »Bridei?« »Mhm?« »Wann werden wir heiraten?« »Ah.« Er setzte sich ein wenig auf und wickelte die Decke fester um ihre Schultern. »Darüber wollte ich mit dir
reden.« »Du klingst beunruhigt, mein Liebster. Sag es mir.« »Es ist nur, dass ... nun, ich wünsche mir sehr, dass unsere Hochzeitsnacht... perfekt sein wird.« »Ich erwarte, dass sie das wird«, sagte Tuala. »Nicht, wenn sie hier stattfindet, wo du so unglücklich warst, hier, wo Broichans Einfluss so stark ist. Und auch nicht in Caer Pridne. Ich will Dinge verändern. Nicht nur für uns, sondern für den Thron. Es hat zu tun mit...« »Mit dem Tortag?« Er nickte. »Wenn alles so verläuft, wie ich hoffe, könnte ich in sieben Tagen König sein. Die erste Veränderung, die ich durchführen werde, besteht darin, meinen Hof von Caer Pridne wegzubringen. Ich werde eine neue Festung bauen, ein neues Zentrum für Fortriu. Das sollte ein machtvolles Zeichen für bessere Zeiten sein. Ich habe schon einen Ort im Sinn, einen, den Ged von Abertornie mir beschrieben hat, nahe der Mündung des Schlangensees. Es gibt dort einen hohen Hügel, auf dem die Überreste einer alten Befestigungsanlage aus Stein und gebranntem Holz stehen. An den Hängen gibt es hohe Bäume und oben eine weite offene Fläche. Von diesem Aussichtspunkt aus kann man nicht nur das Meer sehen, sondern auch das Wasser des Sees und die Hügel des Großen Tals. Ich glaube nicht, dass du irgendwo wohnen solltest, wo du den Wald nicht sehen kannst.« »Und du solltest stets sehen können, wie der Adler fliegt«, sagte Tuala leise. »Es gibt einige, denen dein Plan nicht gefallen wird. Caer Pridne war seit vielen Jahren der Sitz der Könige von Fortriu.« - 734 »Es ist Zeit für eine Veränderung«, sagte Bridei. »Wenn wir uns dem nicht öffnen, sind wir zum Untergang verurteilt.« »Wie lange wird es dauern, bis du deine neue Festung gebaut hast?« »Ich weiß nicht, Tuala. Einen Sommer, vielleicht zwei.« »Oh. Das ist lange.« Er seufzte, und seine Hand bewegte sich unter der Decke, um ihre Brust zu umfassen. Der Seufzer, den sie daraufhin ausstieß, ließ ihn sich fragen, ob er nicht wirklich unglaublich dumm war. »Ja, Liebes, es ist eine lange Zeit. Und ich muss dir von einem Versprechen erzählen, das ich abgegeben habe ... einem Gelübde an den Flammenhüter ...« »Bridei, du wirst rot.« Er warf einen raschen Blick auf Faolan; der Gäle hatte die Augen geschlossen, und ein leises Schnarchen war zu hören. »Ich habe geschworen, dass ich... dass ich nicht... nicht vor der offiziellen Handreichung«, sagte er leise. »Dass ich bis dahin keusch leben würde. Es tut mir Leid, es war ...« »Oh. Ich verstehe. Zwei Sommer, sagtest du?« »Vielleicht lässt es sich schneller machen.« »Hoffen wir das. Aber Bridei, wo werde ich bis dahin wohnen? Ich will nicht hier in Pitnochie sein, nicht ohne dich. Und ich möchte auch nicht nach Banmerren zurückkehren.« »Ich könnte auch beides nicht gutheißen. Keuschheitsgelübde oder nicht, ich will dich in meiner Nähe haben. So können wir einander zumindest ansehen, miteinander sprechen und einander berühren...« »Mhm. Das wird eine weitere Prüfung sein, denke ich. Bridei, ich möchte dir so gut helfen, wie ich kann. Aber wenn ich am Hof bin und wir noch nicht verheiratet sind, werden die Leute anfangen zu klatschen. Meine Gegenwart wird eine Last für dich sein, genau wie Broichan immer gedacht hat...« »Ich weiß eine Lösung dafür. Ich denke, sie wird dir gefallen.« - 735 »Du weißt für alles eine Lösung.« »Nicht ganz. Ich tue mein Bestes. Das ist so viel, wie ein Mann tun kann, sei er nun Druide oder Krieger, Diener oder König.« »Warte einen Augenblick, Tuala.« Ana streckte die Hand aus und zupfte Tualas Haar ein wenig zurecht, wo es sich um das geflochtene Band schob, um sich reizvoll um ihre Ohren zu locken. Das Band war dunkelblau gefärbt und passte zu dem weich fallenden Rock und der Tunika, die Tuala trug, schlicht und elegant über Ziegeniederschuhen. Es war das erste Mal, dass sie die Bandagen abgelegt hatte; sie hatte entschlossen verkündet, dass sie nicht auf in Leinenstreifen gewickelten Füßen zur Wahl eines Königs gehen würde. Die Blasen heilten. Wärme und Freundlichkeit hatten viel zur Heilung der anderen Wunden beigetragen. »Fertig, Mädchen? Wir müssen jetzt hineingehen.« Rhian von Powys betrachtete sie, königlich in ihrem taubengrauen Gewand, ein Lächeln auf den Lippen. »Ihr seht beide sehr hübsch aus. Rücken gerade, Kinn hoch, Tuala. Wir werden auf beiden Seiten neben dir stehen. Schau den Leuten direkt in die Augen. Du bist eine künftige Königin; nichts kann dir etwas anhaben.« »Danke, Herrin. Für alles.« Brideis Plan hatte wunderbar funktioniert. Drusts Witwe war entzückt gewesen, als er sie bat, am Hof zu bleiben, ihre alten Räume zu behalten und seiner Verlobten bis zur Handreichung als Anstandsdame und Mentorin zu dienen. Brideis Intuition hatte sich als zutreffend erwiesen. Rhian war nicht darauf versessen gewesen, zu ihren Verwandten in Powys zurückzukehren, da sie in ihren Jahren hier in Fortriu viele Freunde gefunden hatte. Auch ihr Bruder blieb gern in Caer Pridne. Tuala nahm an, dass beide eine viel einflussreichere Rolle bei den Entscheidungen des früheren Königs gespielt hatten, als man im Allgemeinen
annahm. Rhians sanfte, unauffällige Art war - 736 ein wenig trügerisch; in der Stille der Frauengemächer debattierte sie während des Stickens mit einer Einsicht über politische Strategie, die selbst für ein Mädchen, das von Gelehrten aufgezogen war, eine Herausforderung darstellte. So schwierig die Wartezeit sein würde, sie würde sicherlich nicht langweilig werden. Außerdem erkannte Tuala die Vorteile, die daraus entstehen konnten, einige Zeit unter der Aufsicht und dem Schutz der Königswitwe zu stehen. Rhian konnte ihr beibringen, wie man sich bewegte, wie man sich anzog, wem man in die Augen schaute und vor wem man sich in Acht nehmen sollte. Tuala würde die subtilen Spiele des Hofs lernen; sie würde lernen, wie sie auf sich selbst und auf Bridei aufpassen konnte. Eine solche Ausbildung war unbezahlbar, und sie von dieser freundlichen, aufrichtigen Frau zu erhalten, stellte ein seltenes Geschenk dar. Außerdem sollten Rhians Schutz und Einfluss sehr dabei helfen, jene zum Schweigen zu bringen, die flüsterten, eine vom Guten Volk könne keine angemessene Frau für einen König sein. Auch Ana würde dabei ihre Rolle spielen. Bisher hatte niemand etwas gesagt. Bisher hatte sich Tuala überwiegend in den Privatgemächern der Königin aufgehalten. Heute kam die erste wirkliche Prüfung auf sie zu. »Fertig?« »Ja, Herrin.« Sie gingen hinaus in eine Halle, in der sich Männer und Frauen drängten. Viele Lampen brannten; die Tische waren an diesem Abend an die Wände geschoben, und vor dem Podium war ein offener Bereich gelassen worden. Tuala nahm ihren Platz zwischen Rhian und Ana ein und hielt nach bekannten Gesichtern Ausschau. Dort war Ferada, die erschöpft aussah, aber sie hielt den Kopf dennoch hoch erhoben; ihr rotbraunes Haar war hervorragend frisiert, und an ihrem grünen Kleid saßen alle Falten und Nadeln an der richtigen Stelle. Sie hatte einen kleinen Bruder auf jeder Seite. Heute Abend waren Bedo und Uric, so ungestüm sie sonst - 737 sein mochten, ernst und still, und Bedo hielt die Hand seiner Schwester. Talorgen stand hinter ihnen. Der Fürst von Rabenbrunn war seit dem heldenhaften Tod seines ältesten Sohns und der merkwürdig abrupten Abreise seiner Frau in einen fernen und nicht näher benannten Landesteil um zehn Jahre gealtert. Man flüsterte, Dreseida sei von ihrer Trauer um Gartnait so überwältigt gewesen, dass sie den Verstand verloren hatte. Es hieß, sie würde nicht zurückkommen. Wer die Wahrheit wusste - und dazu gehört auch Tuala -, behielt sie für sich. Tatsächlich hatte Talorgen seine Frau selbst weggeschickt. Für das, was sie getan und was sie beinahe getan hatte, war Dreseida von Heim und Familie und aus dem Land verbannt worden. Arme Ferada. Sie hatte sich immer danach gesehnt, über die Einschränkungen einer strategischen Heirat hinaus etwas aus ihrem Leben machen zu können. Ihre Zukunft war nun enger geworden; sie musste nach Rabenbrunn zurückkehren und den Platz ihrer Mutter bei der Führung von Talorgens Haushalt und der Erziehung seiner Söhne einnehmen. Dort war Fola mit einer Gruppe Weiser Frauen, darunter auch Kethra. Sie nickten und lächelten Tuala zu, und sie erwiderte die Grüße mit einem gewissen Staunen. Das Ganze fühlte sich immer noch unwirklich an, besonders, wenn Bridei nicht in der Nähe war. Dort war Uist in seinem fließenden weißen Gewand, und neben ihm ein anderer alter Mann ... Tuala unterdrückte einen Freudenschrei; sie konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, quer durch die Halle zu rennen und den weißbärtigen, hakennasigen Alten zu umarmen, der neben dem wilden Druiden stand. »Wid«, hauchte sie und spürte, wie sie auf eine sehr undamenhafte Weise grinste. Ihr alter Freund nickte höflich in ihre Richtung, dann zwinkerte er ihr zu. »Freut dich das?«, murmelte Rhian. »0 ja! Wid hat mir alles beigebracht, was ich weiß. Oder zumindest die Hälfte davon. Ich bin so froh, ihn zu sehen.« - 738 »Er wird bis auf Weiteres am Hof bleiben, sagt man mir. Bridei hat um seine Anwesenheit gebeten. Dein Verlobter macht sich große Sorgen um dein Wohlergehen; er möchte, dass du von Freunden umgeben bist. Er ist sehr gut zu dir, Tuala.« »Ich weiß.« »Seht nur«, sagte Ana. »Dort ist Drust der Eber, ganz im Rot von Circinn. Und hier kommen die anderen. Bridei sieht noch ernster aus als sonst.« »Ja. Er wird sich Sorgen machen, dass er irgendetwas falsch macht, obwohl er weiß, dass er ein hervorragender Redner ist. So ist er nun einmal.« »Dieser Mann dort starrt dich an. Da drüben. Garvan der Steinmetz.« Tuala sah hin und entdeckte Garvan. Er lächelte und wandte dann den Blick ab. Auf seinen schlichten Zügen lag eine Traurigkeit, die sie bedrückte. Er hatte doch sicher nicht wirklich gehofft, dass sie ihn noch heiraten würde? Er hatte doch sicher nicht wirklich vorgehabt zu warten, bis sie eine Entscheidung getroffen hatte? Männer waren seltsam. Sogar Bridei, den sie glaubte, besser zu kennen, als er sich selbst kannte, hatte sie mit diesem Gelübde an den Flammenhüter überrascht. Zwei ganze Jahre. Das war eine lange Zeit. Selbstverständlich, wenn ein anderer König würde, wäre diese Verzögerung nicht notwendig. Aber Tuala hielt das für unwahrscheinlich. Wie konnten die Götter nicht dafür sorgen, dass Bridei gewählt wurde? Die Kandidaten gingen zur Mitte der Halle, Drust der Eber strahlend in scharlachrot gefärbter Wolle, Bridei in
der gleichen Schattierung von Blau, wie Tuala sie trug, den Umhang mit der Schließe mit dem Silberadler zusammengesteckt. Drust von Circinn war ein großer, kräftiger, dunkelhaariger Mann. Mit seiner korpulenten Gestalt und den kleinen Augen schien er gut zu seinem Wappentier zu passen. Neben ihm wirkte Bridei schlank und jung, obwohl er der Größere - 739 von beiden war. Beide Männer waren von ihren Anhängern umgeben; bei Bridei standen Broichan und Aniel, Drust wurde von den Beratern Bargoit und Fergus und von dem wenig anziehend wirkenden Bruder Suibne begleitet. Auf ein Zeichen von Tharan, der auf dem Podium am Ende der Halle stand, schwieg die Menge. »Die wahlberechtigten Fürsten sollen vortreten«, sagte der Berater. Aus den Gruppen von Anwesenden lösten sich ein paar Männer. Es gab nicht viele darunter, die Tuala erkannte; Talorgen war einer davon, und dort sah sie auch Ged von Abertornie in seinem Regenbogenumhang und Morleo von Langwasser. Bridei hatte ihr diese beiden vorgestellt; Ged hatte viel über ihre Schönheit und ihre zierliche Größe gesprochen und erklärt, er werde sie einfach heimlich in die Tasche stecken und mit nach Hause nehmen. Sie hatte ihn gemocht. Morleo war höflich und förmlich gewesen, als wäre sie bereits Königin. »Also gut«, sagte Tharan. »Sind das alle? Können wir anfangen?« »Es sind noch nicht alle«, erklärte Aniel ruhig. »Wie wir alle wissen, sind noch Gruppen aus dem Westen auf dem Weg hierher und werden heute Abend erwartet. Wenn nicht bereits förmlich festgelegt wäre, dass es von der Vorstellung bis zur Versammlung sieben Tage sein sollen, würden wir eine weitere Verzögerung erbitten, damit sie anwesend sein können. Außerdem ist es immer noch möglich, dass eine Delegation von den Hellen Inseln eintrifft. Das Wetter ...« »Fangt an.« Bargoit schien die Diplomatie aufgegeben zu haben. »Wie funktioniert es? Werden der Priester und die Weise Frau eine Stimme haben?« »Man wird ihnen gestatten, sich an der Abstimmung zu beteiligen«, sagte Tharan. »Es kann am Endergebnis nichts ändern.« Fola stand auf und trat zu der Gruppe von Fürsten. Sie wurde von allen überragt, überstrahlt von der auffälligen - 740 Kleidung, den Silberschließen und Goldreifen der Männer, und sie wirkte so klein und unauffällig wie eine Felsentaube; dennoch lag eine Macht in ihrer aufrechten Haltung, der Adlernase und dem durchdringenden Blick, dass die anderen ehrfürchtig Abstand hielten. »Wir haben die Ansprüche der beiden Kandidaten gehört, die uns zu Mittwinter präsentiert wurden«, fuhr Tharan ernst fort. »Jene von Drust, Sohn des Girom, von ihm persönlich, und jene von Bridei, Sohn des Maelchon, durch einen Stellvertreter, Carnach aus dem Haus Fortrenn. Wir geben jetzt beiden noch einmal Gelegenheit, erneut zu sprechen. Kurz. Wenn die, auf die wir noch warten, vor der Abstimmung eintreffen, können sie teilnehmen. Wenn nicht, haben sie leider ihre Gelegenheit verpasst. Hören wir zuerst, was der ältere Kandidat zu sagen hat - Drust.« Der Eber von Circinn sprach gut; er war seit vielen Jahren König dieses südlichen Reichs und daran gewöhnt, vor seinem Volk zu sprechen. Er sprach von seiner Reife und Erfahrung, davon, dass er bereits bei der letzten Wahl König sowohl von Circinn als auch Fortriu gewesen wäre, wäre die Wahl gerecht durchgeführt worden, denn die Thronbesteigung Drusts des Stiers sei auf ein fehlerhaftes Abstimmungssystem zurückzuführen. Tuala spürte, wie Rhian sich anspannte, und sah, wie die ältere Frau die Lippen zusammenkniff. Sie berührte Rhians Arm. »Eine Lüge«, flüsterte sie. »Es wird die Leute gegen ihn einnehmen. Ein billiger Trick. Du solltest ihn ignorieren, Herrin.« Rhian sah sie an und verzog den Mund zu einem wehmütigen Lächeln. »So jung und schon so weise.« Tuala beobachtete Bridei, während er auf seinen Auftritt wartete. Er war sehr blass und hatte die Zähne zusammengebissen. Seine Hände wirkten allerdings entspannt. Das war etwas, was er häufig geübt hatte, das und das Atmen. Broichan, der neben ihm stand, wirkte ebenso nervös. Andere schienen selbstsicherer zu sein. Bridei war nun von seinen - 741 Anhängern umgeben: dem rothaarigen Carnach, dem ernsten Aniel, Talorgen, Ged und Morleo. Auch Faolan war ganz in der Nähe und machte den nicht ganz anwesenden Eindruck des erfahrenen Leibwächters, den Blick nicht auf Bridei selbst, sondern auf Schatten und Ecken und plötzliche Bewegungen konzentriert. Die anderen, Breth und Garth, standen strategisch seitlich hinter Tuala und ihren Begleiterinnen. Bridei überließ nichts dem Zufall. Drusts Ansprache kam zu einem Ende, Tharan machte mit Gesten deutlich, dass er mit kurz auch genau das gemeint hatte. Der König von Circinn hatte etwas über den christlichen Glauben gesagt und darüber, dass es ganz Fortriu vereinen würde, wenn sich das Land anschlösse, und alles besser machen könnte. Eine erschreckende Anzahl der wahlberechtigten Fürsten hatte bei dieser Aussage begeistert applaudiert. Tuala biss sich auf die Lippen. War es möglich, dass Bridei sich nach so viel sorgfältiger Planung geirrt hatte? Nach ihrer Zählung würde er seine zwölf Stimmen nicht bekommen, wenn die Vertreter aus dem Westen nicht bald eintrafen. Man hatte erwartet, dass Anas Vetter von den Hellen Inseln einen Verwandten schicken würde, um in seinem Namen abzustimmen. Aber das war offenbar nicht geschehen. Tuala fragte sich, was aus Ana werden
würde, wenn Bridei die Krone verlor. »Bridei, sprich nun«, sagte Tharan. Bridei warf Tuala einen Blick zu, seine Augen blau wie ein Sommerhimmel, blitzend vor Entschlossenheit, und er lächelte. Sie nickte ihm zu; sie wusste, dass die Botschaft ihres Herzens ihr ins Gesicht geschrieben stand. Ich liebe dich. Du wirst es schaffen. »Ich bin Bridei, Sohn des Maelchon.« Die junge Stimme war klar und kräftig. »Mein Vater ist König von Gwynedd. Meine Mutter ist die Dame Anfreda, Verwandte des verstorbenen großen Königs Drust, Sohn des Wdrost, bekannt als der Stier. Ich bin jung. Ich biete ein ganzes Leben des Die- 742 nens für unser geliebtes Land Fortriu. Ich bin ein erwachsener Mann; ich habe an der Seite unserer Fürsten in der Schlacht auf Galanys Höhe gekämpft und mich auf diesem Feld und bei der Heilung von Fortrius verletztem Stolz bewährt, indem ich dazu beigetragen habe, den Magierstein zu uns zu holen. Ich wurde vom Druiden des Königs, von Broichan, aufgezogen, und ich bin ebenso Gelehrter wie Krieger. Ich liebe die alten Götter von Fortriu, deren Knochen das Land sind, auf dem wir wandeln, deren süßer Atem die Luft ist, die uns Leben gibt. Ich werde mein Volk all die Jahre meines Königtums auf seinem Weg führen. Ich werde euch mit dem Besten dienen, das ich geben kann, und mit der Inspiration des Flammenhüters, der Weisheit der Leuchtenden und der tiefen Sicherheit der Knochenmutter, die mich führen. Ich biete euch meine Jugend, mein Blut, meinen Mut und meine Energie. Ich werde euch vorwärts in eine neue Zukunft führen, eine, in der die Grenzen von Fortriu wieder sicher sind und sein Volk vereint. Das schwöre ich bei allem, das gut ist.« Es kam Tuala so vor, als ginge ein Strahlen von ihm aus, als er sprach; sie wusste nicht, ob die anderen es sehen konnten, aber das vollständige Schweigen, das auf seine Ansprache folgte, ließ das vermuten. Sie hob die Hand und wischte sich die Augen. »Also gut«, sagte Tharan nach einer Weile. »Lasst die Abstimmung beginnen. Drust, Sohn des Girom, nimm deinen Platz auf der linken Seite ein. Bridei, Sohn des Maelchon, du gehst nach rechts. Alle Männer bis auf die stimmberechtigten Fürsten verlassen den Bereich vor dem Podium.« Das Wahlrecht war auf eine bestimmte Anzahl von Fürsten aus den sieben Häusern der Priteni beschränkt. Die Wahlberechtigten repräsentierten die ältesten Familien und die größten Ländereien innerhalb eines jeden Hauses oder Stammes. Einige Häuser hatten eine Stimme, andere zwei oder drei. Auf Brideis Seite der Halle standen Talorgen, Ged und - 743 Morleo; Carnach und Wredech fanden sich hier ebenfalls ein, denn beide waren berechtigt, eine Stimme abzugeben, immer vorausgesetzt, sie stellten sich nicht selbst zur Wahl. Fola stand neben Talorgen. Auch andere Männer waren zu Bridei gegangen. Uist und Wid hatten sich zurückgezogen. Man ging im Allgemeinen davon aus, dass Druiden schon über genügend Einfluss verfügten, auch ohne Stimmrecht zu erhalten. Auf Drusts Seite standen dreizehn Männer, wie alle vorhergesagt hatten: zwölf Fürsten und Bruder Suibne, der ruhig dastand, das Kreuz in der Hand. Tatsächlich sah Tuala, als sie jetzt genau hinschaute, dass der Priester nicht nach links gegangen war, sondern seine in Sandalen steckenden Füße zu beiden Seiten dessen aufgestellt hatte, was man als die Mittellinie der Halle betrachten würde. Mehr Männer hatten sich nach rechts bewegt; auf Brideis Seite standen nun elf. »Hm.« Über das gedämpfte Summen aufgeregter Stimmen hinweg räusperte sich Tharan laut. »Verstehst du, wie wir hier vorgehen, Bruder Suibne? Du musst dich nach links oder nach rechts stellen, um deine Absicht anzuzeigen.« Die Stimme des Beraters hatte eine gewisse Schärfe angenommen; er hatte sich Bridei vielleicht einmal entgegengestellt, aber es gab in ganz Fortriu nicht einen einzigen Mann, der sehen wollte, wie der Christ Drust den Thron bestieg und Bargoit hinter ihm stand und ihm ins Ohr flüsterte. »Ich brauche Zeit, um nachzudenken.« Suibnes Stimme war leise; dennoch bemerkte Tuala den festen Ton, den direkten Blick. »Man sollte über diese beiden Ansprachen zumindest kurz nachdenken, bevor man sich entscheidet. Bitte gebt mir noch einen Moment oder zwei.« Tuala sah, wie Fola amüsiert und mit so etwas wie Anerkennung den Mund vorzog. Andere waren weniger geduldig; zorniges Murmeln erhob sich im Lager von Circinn. Sie hatten sich schon vor langer Zeit entschieden. Mit der Ent- 744 Scheidung bis nach den letzten Ansprachen zu warten, war lächerlich. Sie hatten schon gewusst, wie sie abstimmen würden, bevor sie nach Caer Pridne aufgebrochen waren; sie hatten erwartet, dass der Priester ebenso dachte. Hinten in der Halle wurden Türen aufgerissen; es waren neue Gäste eingetroffen. Ein Durcheinander von Stimmen erklang. »Wir geben dir ein wenig Zeit«, sagte Tharan. Es gelang ihm, bewundernswert ruhig und unparteiisch zu wirken, als er über die Menge zur Tür hinschaute. »Ein paar Augenblicke zum Nachdenken. Als Gäle bist du wahrscheinlich mit den Formalitäten nicht vertraut.« »Als denkender Mensch«, sagte Suibne, »ziehe ich es vor, mich zu entscheiden, nachdem ich alle Argumente abgewogen habe. Ich danke dir für deine Rücksichtnahme.« Bargoit trat vor, packte den Priester am Arm und begann wütend auf ihn einzuzischen.
»Tritt zurück, Bargoit.« In Tharans Stimme lag jetzt kalte Autorität. »Nur Stimmberechtigte sind in diesem Bereich erlaubt. Ich nehme an, der Mann kann selbst denken. Das sollte man zumindest hoffen.« »Wahlberechtigte, wie?« Eine laute Stimme erklang aus dem hinteren Teil der Halle; die Menge teilte sich, als eine Gestalt in dunkler Reitkleidung nach vorn kam, in festen Stiefeln und dem Pelzumhang für eine Reise im Winter. Sein Gesicht und was man vom Körper sehen konnte, waren mit einem Netz von Tätowierungen überzogen, den komplizierten Aufzeichnungen vieler Schlachten; seine Augen waren dunkel und leidenschaftlich, sein Kinn grimmig vorgereckt. Tuala sah, wie sich Brideis Miene veränderte und aufhellte. »Das schließt mich ein: Fokel, Sohn des Duchil, Fürst von Galanys Höhe.« »Galanys Höhe ist verloren!«, spuckte Bargoit zornig aus. »Wie kannst du Fürst eines Territoriums sein, das sich wieder in den Händen der Galen befindet?« Er fuhr zu Tharan - 745 herum und zeigte anklagend auf Fokel. »Man sollte ihm nicht erlauben abzustimmen! Das ist ein schwerer Verstoß gegen die Regeln! Diese Wahl ist ein Betrug!« »Das stimmt nicht.« Broichans Stimme, tief und stetig. »Das Gesetz erlaubt diese Stimme; Fokel ist ein Fürst im Exil. Im letzten Sommer wurde bewiesen, dass sich sein Land durchaus zurückerobern lässt. Dieser junge Mann, den ihr vor euch seht, unser künftiger König, hat dafür gesorgt, dass das Symbol von Galanys Freiheit wieder nach Fortriu gebracht wurde. Es war eine Tat voller Mut und Voraussicht, eine Tat, die zweifellos vom Flammenhüter selbst gesegnet wurde. Fokel wird dort schon bald wieder Herr sein. Ihm die Stimme zu verweigern käme der Behauptung gleich, dass unser Volk im Westen keine Zukunft mehr hat. Es wäre die Behauptung eines Verräters.« »Das genügt«, sagte Tharan entschlossen. »Fokel, du darfst selbstverständlich abstimmen. Ich muss allerdings sagen, dass deine Pünktlichkeit einiges zu wünschen übrig lässt.« Fokel stand bereits neben Talorgen auf der rechten Seite der Halle. Tuala zählte erneut. Ohne den christlichen Priester, der immer noch allein in der Mitte stand, waren nun zwölf auf Drusts Seite und zwölf auf der von Bridei, Fola eingeschlossen. Es war in der Halle inzwischen sehr voll; es schien, dass Fokel von all seinen Kriegern nach Caer Pridne begleitet worden war, und nun standen in allen Ecken wild aussehende Burschen mit Spiralen und Schraffierungen auf der Haut, langem, verfilztem Haar und wilden Blicken. Sie waren gut bewaffnet; Eisen hing überall an ihnen. In den Augen der höfischen Damen stand eine Mischung aus Bewunderung und Befürchtungen. »Nun, Bruder Suibne?« »Ich brauche noch ein wenig länger.« »Wir können nicht die ganze Nacht warten. Es ist eine schlichte Entscheidung, aber sie scheint leider von dir abzuhängen. Also entscheide dich bitte.« - 746 »Es gibt vielleicht noch eine Kleinigkeit, die ich vergessen habe zu erwähnen«, sagte Fokel lässig. »Verstehe ich es recht, dass von allen sieben Häusern mindestens ein Anführer stimmberechtigt ist? Ja?« »Das ist korrekt«, bestätigte Tharan. »Da keine Vertreter von den Hellen Inseln anwesend sind, haben sie diesmal ihr Recht aufgegeben.« »Aber es ist noch ein anderes Haus hier bisher nicht vertreten«, sagte Fokel und kratzte sich am Kinn. »Ein anderes - oh, du meinst den Norden?« Tharan zog die Brauen hoch. »Die Caitt haben seit Jahren nicht mehr abgestimmt. Sie haben sich nie für unser Gesetz interessiert. Und es ist nicht verpflichtend ... außerdem, wenn sie nicht herkommen, können sie auch nicht abstimmen.« »Diesmal sind sie gekommen«, sagte Fokel. Ein weiterer Mann trat aus dem Schatten, ein riesenhafter Mann mit schwarzem Haar bis zur Taille und einem Gesicht wie eine Granitplatte, vollkommen mit kunstvollen Zeichen bedeckt, die die Kriegertätowierungen von Fortriu wie das Gekritzel von Kindern aussehen ließen. Der Mann trug einen langen Kapuzenumhang, der aus vielen kleinen zusammengenähten Fellen bestand. Tuala schauderte, als sie an Nebel denken musste, die nun vor dem Feuer in Rhians Gemächern döste. Das Kleidungsstück des Mannes hatte offenbar Katzenschwänze als Fransen. Um seinen Hals hing ein Schmuckstück aus kleinen Knochen, die auf geknotetes Leder aufgezogen waren. In seinen Augen stand ein gefährlicher Ausdruck, seine Fäuste waren riesig. Die Axt auf seinem Rücken, deren Klinge vollkommen mit Zeichen von Mond und Sternen überzogen war, schimmerte im Lampenlicht wie poliertes Silber. »Ich bin Umbrig von den Caitt.« Die Stimme klang wie eine Kriegstrompete, die Sprache war eine gutturale Variante der Pritenisprache. Umbrig verschränkte die Arme, und breite Silberreifen, in Zöpfen und Schnörkeln gearbeitet, wurden - 747 unter dem Umhang sichtbar, wo sie die muskulösen Oberarme umspannten. »Ich gebe meine Stimme dem Mann, der die alten Mächte ehrt. Hätte ich gewusst, dass dieser Hof einen Bewerber zulässt, dessen Glaube die Weisheit der alten Götter verspottet, dann wäre ich auf weniger friedlichem Weg gekommen, um diesen jungen Krieger zu unterstützen. Ich sehe an seinen Augen, dass er fest im Glauben und in seinen Absichten ist. Die Stimme der Caitt geht an Bridei, Sohn des Maelchon.« »Ein Trick der Druiden«, murmelte Bargoit. »Geplant und in jeder Hinsicht ungerecht.«
Auf dem Podium sah Drust der Eber sehr unbehaglich aus. Sein breites Gesicht war beinahe so rot wie seine Kleidung. Bei gleicher Stimmenanzahl würde wahrscheinlich die Angelegenheit eines gewissen erfolglosen Attentatsversuchs in die Öffentlichkeit gebracht werden. Er wusste, dass sie es wussten. Er konnte sich sehr genau vorstellen, was ihm hier drohte und welche Folgen dies für seinen Ruf haben würde. Tuala warf einen Blick zu Bridei. Er wirkte ruhig, obwohl er noch blasser geworden war. »Nach meiner Zählung gibt der augenblickliche Stand Bridei, Sohn des Maelchon, dreizehn Stimmen, und zwölf gehen an Drust«, verkündete Tharan mit bemerkenswert ruhiger Stimme. »Eine Stimme ist noch zu vergeben: die von Bruder Suibne. Es sei denn, es gibt noch weitere Überraschungen.« Er warf einen Blick zum Ende der Halle. »Nein? Also gut, dann komm, Bruder, machen wir der Sache ein Ende.« »Unbedingt.« Der Christ faltete die Hände vor sich; er wirkte beinahe heiter. »Ich habe über die Ansprachen nachgedacht und darüber, was ich von diesem geteilten Land weiß. Ich habe über das Wesen der beiden Kandidaten nachgedacht, so unterschiedlich in Glauben und Ansichten, in Alter und Haltung, in Überzeugungen und Prioritäten ...« »Bruder«, sagte Aniel gereizt, »es wird nicht erwartet, dass - 748 auch die Abstimmenden Reden halten. Bitte sage uns, wie du dich entschieden hast.« »Das kann ich nicht«, erwiderte Suibne leise. »Als Mann Gottes halte ich es für unangemessen, dass meine Stimme die entscheidende bei dieser weltlichen Wahl sein soll. Als Gäle, denke ich, bin ich noch unangemessener. Mir bleibt keine andere Möglichkeit, als mich zu enthalten.« Der kleine Mann trat wieder in die Menge zurück, die in wildes Protestgeschrei und begeisterten Jubel ausbrach. »Genug! Genug!« Tharans Stimme war kaum zu hören. Es war Broichan, der auf das Podium stieg, beide Hände hob und sie oben ließ, bis die Unruhe verklang. Seine Augen blitzten. »Ich ernenne Bridei, Sohn des Maelchon, zum Sieger mit dreizehn zu zwölf Stimmen«, sagte Tharan feierlich. »Und ich verkünde, dass unser neuer König innerhalb eines Mondes hier in Caer Pridne gekrönt werden muss. Unter dem Blick der Götter grüße ich Fortrius neuen Herrscher. Bridei, möchtest du etwas sagen?« Tuala presste die Lippen zusammen; das hier war nicht der Zeitpunkt zum Weinen. Sie wünschte sich, Bridei würde seinen Pflegevater ansehen. Ein Blick auf Broichans Gesicht, und er würde nie wieder behaupten, der Druide wisse nicht, was Liebe ist. Aber Bridei sah die Menge an, bedachte jeden, der ihn unterstützt hatte, mit einem Nicken und einem Lächeln und beruhigte seinen Atem, damit er ruhig und laut über das dröhnende Schlagen seines Herzens und das Durcheinander in seinem Kopf hinweg sprechen konnte. Sie kannte ihn nur zu gut. »Ich werde nur ein paar Worte sagen; das hier sollte nun eine Zeit zum Feiern, für Festessen und Musik, für Hoffnung und gute Gesellschaft sein. Unsere große gemeinsame Arbeit, eure und meine, beginnt morgen früh. Ihr wisst, was ich im Herzen trage; ich danke euch und verpflichte mich, euch zu dienen. Im Augenblick habe ich nur zwei Dinge zu - 749 sagen. Als Erstes möchte ich meinem Respekt vor einem würdigen Gegner, Drust, Sohn des Girom, Ausdruck verleihen, und ihm alles Gute wünschen. Ich hoffe auf eine Zukunft der Kooperation und des Verständnisses, damit wir trotz unserer Unterschiede zusammenarbeiten können. Nur so können wir unser Land von der Geißel der Eindringlinge befreien. Drust ist schon lange Zeit König im Süden. Ich kann nur aus seiner Erfahrung lernen.« Das stieß auf tödliches Schweigen. Bridei schien sich deshalb keine Gedanken zu machen; seine Pläne waren langfristig, und Tuala wusste, dass er nicht erwartet hatte, dass Veränderungen so schnell angenommen wurden. Aber er hatte es aussprechen müssen, denn Drusts Miene war finster, und Bargoit sah aus wie eine Schlange kurz bevor sie zustößt. Es war eine schwierige Situation, nachdem sich einer der Ihren gegen Circinn gewandt hatte. Indem er das tat, hatte Bruder Suibne Drust allerdings die Verlegenheit erspart, dass der Mordversuch an Bridei öffentlich wurde. Tuala fragte sich, ob der Priester davon gewusst hatte. Wie auch immer, sie hätte an diesem Abend um nichts in der Welt mit ihm tauschen wollen. »Außerdem möchte ich euch meine künftige Frau vorstellen, meine liebe Kindheitsgefährtin: Tuala von Pitnochie.« Bridei sah Tuala an, mit leuchtenden Augen, die Wangen ein wenig gerötet. Sie hielt sich sehr gerade und hob das Kinn, wie Rhian es ihr gezeigt hatte. Bridei streckte die Hand aus. »Geh, Kind«, flüsterte Rhian. »Geh mit dem Segen der Göttin.« »Du siehst reizend aus, Tuala«, fügte Ana hinzu. »Geh langsam und lächle.« Aber sie lächelte nicht. Es schien ein zu feierlicher Augenblick dafür. Sie richtete einfach den Blick auf ihn und ging durch die Halle, als schwebte sie in der Luft. Er nahm ihre Hand; sie stand neben ihm, spürte das Zittern in seinem Körper, wusste um seinen gewaltigen Mut und seine tiefe - 750 Verwundbarkeit. Sie stand aufrecht und stark und schaute die Herren und Damen an, die Krieger und Fürsten, die Druiden und Weisen Frauen des königlichen Hofs. Sie senkte den Kopf einen Augenblick. Dann entdeckte sie Wid und musste wider Willen lächeln. Eine Welle von Geräuschen breitete sich in der Halle aus, es gab Flüstern und Murmeln, und das alles mit einem unmissverständlich erschrockenen Unterton. Das war es, dachte Tuala; jetzt ging es los: der Klatsch, das
Misstrauen, die Abweisung; sie würde stark sein müssen. Einzelne Stimmen waren nun deutlicher, und sie glaubte, einzelne Worte hören zu können: wildes Geschöpf und Frau? Ganz bestimmt nicht! Und: eine von denen. Bridei schien das nicht zu hören. »Ich möchte Tuala im Namen von ganz Caer Pridne willkommen heißen.« Das war eine tiefe Stimme, die mit ihrem Wohlklang die Halle beherrschte. Broichan war nach vorn getreten, die Züge eisern beherrscht, und hob eine Hand, um um Ruhe zu bitten. »Wie einige von euch wissen, wuchs Tuala in meinem eigenen Haushalt auf. Sie ist eine junge Frau von erstaunlichen Qualitäten und in jeder Hinsicht geeignet, eure künftige Königin zu sein. Ich verlasse mich darauf, dass ihr sie am Hof herzlich willkommen heißt, wo sie bis zur Handreichung unter der Obhut von Königinwitwe Rhian stehen wird. Dies ist für uns alle eine Zeit großer Veränderungen, eine Zeit der Herausforderungen und Möglichkeiten. Wir müssen dem offen gegenüberstehen; wir müssen daraus lernen.« Man sah dem Druiden nicht an, ob er diese Worte mit zusammengebissenen Zähnen sprach; er verbarg sein Widerstreben hervorragend. Die unausgesprochene Botschaft war klar: Wer immer sich gegen die Verlobte des Königs stellte, weil sie anders war, würde sich den Zorn des Druiden zuziehen. Plötzlich war es still in der Halle. Dann hörte man Fokel von Galanys Stimme: »Bei den Eiern des Flammenhüters, du - 751 hast eine gute Wahl getroffen, Bridei«, erklärte er mit breitem Grinsen. »Hat deine junge Dame noch Schwestern?« Lachen erklang, kurz darauf gefolgt von Klirren und Klappern, als Diener begannen, Krüge und Becher, Bretter und Messer hereinzubringen, die für das Festessen gebraucht würden. Männer drängten sich ums Podium, alle gleichzeitig, alle wollten mit Bridei sprechen. »Schon gut«, murmelte Tuala ihm zu. »Sie wollen, dass du ihnen zuhörst. Tu, was du tun musst.« »Bleib bei mir«, flüsterte er und hielt ihre Hand sehr fest. »Ich brauche dich.« »Ich werde da sein«, sagte Tuala. »Ich bin immer da gewesen.« »So viele Geschichten«, sagte Geißblatt zu Weide. »So viele Träume. Muster um Muster und ein Weg nach dem anderen. Für solch kurzlebiges Volk sind die Menschen wirklich entschlossen, die Dinge so kompliziert wie möglich zu machen. Es ist ein Glück für uns und für unser Unternehmen, dass Bridei unter dem Schutz der Götter wandelt und einen klareren Blick hat, als man es von seiner Art gewöhnt ist.« »Und dass wir dafür gesorgt haben, dass Tuala an seiner Seite steht.« »In der Tat. Es sieht also aus, als wäre unsere Arbeit getan. Ich empfinde bei allem Triumph dieses Abends auch ein wenig Bedauern. Die kleinen Leben dieser Leute sind auf ihre eigene Weise unterhaltsam.« »Oh, hier gibt es noch viel, um dich weiterhin zu unterhalten«, sagte Weide lachend. »Unsere Aufgabe, was den jungen König und die Königin von Fortriu angeht, mag beendet sein, aber es gibt viele Wege, viele Möglichkeiten. Ich schaue heute Abend auf Caer Pridne hinab und sehe einen Mann, der nicht einmal einen einzigen Ton von der Harfe des Barden vernehmen kann, bevor er die Halle verlassen muss. Diese süße Musik ist Gift für seine Ohren. Ich sehe eine jun- 752 ge Frau, deren Weg grausam verengt wurde, und ich frage mich, ob sie ihr ganzes Leben dort verbringen wird, kurz vor einem Sprung ins Unbekannte. Ich sehe einen Handwerker, dessen Hände Magie schaffen, eine Magie, die niemals den Träumen gleichkommen kann, die in seinem Kopf leben. Ich sehe einen Druiden allein dastehen, über Fragen von Liebe und Pflicht nachdenken und sich seiner eigenen Menschlichkeit stellen. Nein, es ist noch nicht vorbei, mein Freund. Selbst Bridei und Tuala, so stark sie auch sein mögen, werden uns wieder brauchen.« »Ah, Tuala... so ein seltenes Geschöpf. Ich wünschte beinahe, sie wäre zu uns gekommen ...« »Was, und hätte Bridei allein gelassen? Sei nicht dumm. Vergiss Tuala; richte deinen Blick auf eine andere. Was ist mit der königlichen Geisel, einem entzückenden Geschöpf mit langen Locken wie gesponnenem Gold und einer Haut so frisch und süß wie reifes Obst? Jung ... gut... unschuldig... Gibt es eine Art von Chaos, die wir nicht durch sie anrichten könnten? Wir könnten diese Männer dazu bringen, dass sie tanzen, tanzen, bis sie darum flehen, aufhören zu dürfen ...« »Komm«, sagte Geißblatt. »Wir haben keinen Grund mehr, hier zu sein. Ich werde eine Weile nicht mehr mit den Männern und Frauen von Brideis Hof spielen. Mein Herz ist schwer; ich habe kein Bedürfnis nach solchen Tricks und Heimlichkeiten.« »Noch nicht«, sagte Weide. »Und das zählt ohnehin nur wenig. Immerhin sind es alles Menschen. Sie werden ihre eigenen Komplikationen schaffen, nach ihrer eigenen Pfeife tanzen, ihre eigenen Spiele spielen. Komm! Folge mir!« Und mit einem Laut wie dem Flüstern von Spinnenseide, dem Aufblitzen eines hellen Flügels und dem Glitzern von silbrigem Haar waren sie verschwunden. Faolan, der allein auf dem Wehrgang vor der großen Halle stand, schauerte und warf einen Blick zum Himmel. Etwas war vorbeige- 753 kommen; er hatte es nicht gesehen, aber seine Präsenz gespürt. Wäre der Gäle ein gottesfürchtiger Mann gewesen, hätte er vielleicht ein Gebet gesprochen, ein Zeichen gegen das Böse gemacht oder mit den Fingern ein verborgenes Amulett berührt. Aber Faolan verließ sich auf sich selbst. So war es erheblich einfacher. Durch die offenen Türen folgte ihm der Klang der Harfe hinaus ins Dunkel und ließ seine Finger zucken. Er starrte in die Nacht hinaus.
»Faolan?« Das war Bridei, nun allein, der leisen Schritts den Weg entlangkam, gefolgt von dem kleinen Hund. »Du hättest mich beinahe überrascht«, sagte Faolan. »Ich werde offenbar alt.« »Ich wollte mit dir allein sprechen.« »Dann solltest du dich beeilen. Heute Abend will jeder ein Stück von dir.« »Ich nehme mir so viel Zeit, wie ich brauche; das hier ist eine wichtige Sache. Ich frage mich, ob du schon über deine Zukunft nachgedacht hast.« Faolan schwieg eine Weile. Als er schließlich antwortete, war es eher zaghaft. »Ein einigermaßen vernünftiger Mann kann das kaum vermeiden.« »Und bist du zu einem Schluss gekommen?« »Noch nicht.« Bridei stützte die Unterarme auf die Brüstung. Es war ein klarer Abend; die Sterne bildeten helle Lichtpunkte an einem Himmel, an dem die Leuchtende schlafend hing, eine silbrige Sichel. »Du weißt, es wäre mir lieb, wenn du bleibst«, sagte er leise. »Nicht als Leibwächter; ich habe eine andere Rolle für dich im Sinn, eine, die dir neue Herausforderungen und Möglichkeiten bieten würde.« »Bist du mit meiner bisherigen Arbeit nicht zufrieden?« Faolan wandte bewusst den Blick ab. »Du solltest wissen, dass das nicht der Grund ist«, sagte Bridei. »Du hast mehr als verdient, was sie dir bezahlt haben. Es - 754 kommt mir nur vor, dass deine Begabung an die schlichte Aufgabe, für meine Sicherheit zu sorgen, verschwendet ist.« »Schlicht! Wegen dir habe ich bereits zehnmal mehr durchgemacht als in all den Jahren, in denen ich Drust diente. Aber es stimmt, ich bin im Stande, viele andere Rollen zu spielen und habe es häufig getan. Übersetzer, Attentäter, Spion. Was hast du im Sinn?« »Ich denke«, sagte Bridei, »du könntest im Lauf der Zeit in jeder dieser Rollen beansprucht werden. Aber ich dachte mehr an die eines Beraters und Kameraden. Falls du das in Betracht ziehen würdest.« Faolan antwortete lange nicht. Sie standen nebeneinander und schauten zu den Sternen hinauf, während der weiße Hund neben Brideis Füßen saß und sich wachsam umsah. »Du hast, als du krank warst, etwas gesagt: dass ich nicht dafür bezahlt werde, ein Freund zu sein. Es kommt mir so vor, als suchtest du nach einem. Einem, der den Platz von Gartnait einnimmt, oder von diesem Burschen, der vergiftet wurde. Es heißt, ihr hättet euch sehr nahe gestanden.« Bridei schwieg und wartete einfach. »Ich glaube nicht, dass ich der Mann für eine solche Aufgabe bin, Bridei. Eine einfache Arbeit, die meine Fähigkeiten herausfordert und die am Ende angemessen bezahlt wird - da bin ich dabei. Aber mehr kann ich nicht bieten.« »Ich verstehe. Du enttäuschst mich, Faolan. Ich glaube, du leugnest dein eigenes Wesen.« »Du wurdest von einem Druiden aufgezogen. Du suchst nach Komplikationen, wo es keine gibt. Ich möchte einfach nur dafür sorgen, dass mein Weg gerade bleibt, das ist alles.« »Das tut mir Leid. Du wirst mir sehr fehlen.« Wieder schwiegen sie, aber diesmal hatte das Schweigen eine andere Qualität. »Willst du damit sagen, das ist die einzige Stellung, die du anzubieten hast?« Faolans Ton war bewusst zurückhaltend; Bridei hätte am liebsten geweint. »Du hast nicht vor, mich als - 755 persönlichen Leibwächter für dich und deine Verlobte einzustellen?« »Ich hatte angenommen, dass du das andere Angebot annehmen würdest. Ich hatte keine Alternative bereit.« »Ich verstehe.« »Du würdest das in Betracht ziehen? Weiter die Last zu tragen, für unsere Sicherheit zu sorgen, mit einer schlichten Bezahlung in Lebensmitteln, Unterkunft und ein wenig Silber?« »Ich würde es nicht als wenig bezeichnen«, sagte Faolan rasch. »Ich verlange einen hohen Preis.« »Ich werde ihn zahlen«, sagte Bridei. »Dann sind wir uns also einig.« Faolan streckte die Hand aus, und Bridei ergriff sie. »Ich möchte bleiben. Ich hätte nicht gedacht, dass ich dir das sagen müsste.« »Dienst als Leibwächter. Lange Tage, schlaflose Nächte, ständige Unruhe.« »Das ist mein Beruf. Es passt zu mir. Ich werde außerdem hin und wieder die zusätzlichen Pflichten ausüben, die mich nach Dalriada führten, als ich noch für Drust den Stier arbeitete. Du kannst es dir nicht leisten, eine solch gute Informationsquelle zu verlieren.« »Nein«, stimmte Bridei zu, »und auch nicht einen guten Freund. Du wirst mit der Zeit schon herausfinden, was das bedeutet. Komm, lass uns hineingehen und es wieder mit diesen Leuten aufnehmen. Ich möchte Tuala nicht zu lange allein lassen. Das hier ist alles neu für sie.« Faolan verzog das Gesicht. »Es sieht aus, als lernte sie ebenso wie du mit verblüffender Geschwindigkeit. Ihr beiden seid ein erstaunliches Paar.« »Das hoffe ich«, sagte Bridei. »Ein ganzes Königreich hängt davon ab.«