Jürgen Seidel
Die Kopfrechnerin
Roman
Beltz & Gelberg
www.beltz.de
© 2001 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
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Jürgen Seidel
Die Kopfrechnerin
Roman
Beltz & Gelberg
www.beltz.de
© 2001 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Programm Beltz & Gelberg, Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
Gesetzt nach der neuen Rechtschreibung
Lektorat Frank Griesheimer
Einband von Peter Knorr und Dorothea Göbel
Gesamtherstellung
Druckhaus Beltz, 69494 Weinheim
Printed in Germany
3 407 80876 3
Die 15-jährige Chiara Lisa Morelli muss Italien verlassen und kommt nach Berlin zu ihrem Onkel, dem Mathematikprofessor Göttling. Ihre Eltern sind bei einem mysteriösen Unfall ums Leben gekommen. Auch im Hause des Onkels geht nicht alles mit rechten Dingen zu. Göttling arbeitet an einem Geheimauftrag, er muss für den preußischen Staat ein mathematisches Chiffriersystem entwickeln. Bei den umfangreichen Berechnungen soll ihm seine Nichte helfen. Chiara hat nämlich eine besondere Begabung: Die Welt der Zahlen ist für sie eine lebendige Welt, mit Gerüchen und Farben, Bildern und Gefühlen. Sie kann sehr gut kopfrechnen, etwa in Sekundenschnelle Wurzeln ziehen. Chiara hilft dem Onkel so gut sie kann, doch bald wird ihr der Professor immer unheimlicher. Seine Frau und seine Kinder, vor allem den Sohn Toto, behandelt er wie Spione, überwacht sie mittels selbst erfundener Geräte wie dem Phonotransitor und dem Orendaskop. Auch Chiara fühlt sich bald wie eine Gefangene im goldenen Käfig, und ihre Angst wächst, denn der Onkel scheint nicht nur beim Vaterland in Diensten zu stehen… Die Kopfrechnerin versetzt den Leser ins 19. Jahrhundert, eine aufregende Epoche, in der jeden Tag Erfindungen gemacht wurden, die das Leben der Menschen bis heute revolutionieren: Elektrizität und Telegraphie, die Schiffsschraube und das Luftschiff. Vor diesem Hintergrund erzählt der Roman von der Selbstfindung eines jungen Mädchens, das lernt, seine besondere Begabung von niemandem ausnutzen zu lassen.
Jürgen Seidel, geboren 1948 in Berlin. Nach schulischer und handwerklicher Ausbildung lebte er drei Jahre in Australien und Südostasien, bevor er Germanistik und Anglistik studierte und 1984 promovierte. Seither arbeitet er als freier Autor. Er veröffentlichte Romane, Hörspiele, Rundfunkbeiträge und wurde u. a. mit dem Literaturpreis der Stadt Siegburg und dem Diotima Literaturpreis Neuss ausgezeichnet.
Ihr Leben passt in einen Koffer
»Chiara, Kind!…« Die fremde junge Frau stand in der Zimmertür und blickte ernst. Chiara hockte am Boden und sortierte Mutters Knöpfe. Das hatte sie schon eine Ewigkeit nicht mehr getan. Das letzte Mal, als sie elf oder zwölf Jahre alt gewesen war. Die Frau zögerte einen Moment. Dann ging sie in die Küche zurück, wo die anderen waren, die beiden Carabinieri und der Schreiber Signore Tulpino mit der derb riechenden Aktentasche, dem Gänsekiel und seinem Tintenfass. Die meisten Knöpfe waren aus Holz, eine Menge aus Perlmutt, viel weniger aus Elfenbein. Chiara ordnete sie nach Größen und Farben. Eine kleine Garnison formierter Soldaten war entstanden, ein strenges Gefüge aus Reihen und Rechtecken, die ihrerseits ein großes, scharf umgrenztes Feld bildeten. Eine Ordnung jedenfalls und klare Übersicht. Sie saß davor und starrte darauf und fühlte, wie sich die Taubheit unaufhaltsam in ihr ausdehnte. Sie konnte nichts denken und nichts empfinden. Wie oft hatte sie als Kind darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, die Mutter zu verlieren oder den Vater? Einem Jungen aus der Nachbarschaft war es passiert. Sein Vater starb am Hirnschlag. Der Junge und sie waren damals zehn gewesen. Sie hatte versucht zu fühlen, was er empfand. Aber es war nichts dabei rausgekommen. Sie hatte den Jungen tagelang beobachtet. Sie schämte sich, aber die Neugier fraß an ihr. In welchen Abgrund blickte er? Wie weh tat es ihm? Sie erinnerte sich, dass die Distanz zwischen dem Jungen und ihr selbst zu
groß gewesen war. So einfach ließ sich nicht in die Seele eines anderen Menschen schauen. Jetzt war sie fünfzehn und die Rollen waren vertauscht. Jetzt musste sie es selbst erleben. Aber sie hatte nicht bloß ihre Mutter verloren oder ihren Vater. Die Eltern waren beide tot! Sie blickte auf die Knöpfe und sagte es sich immer wieder und hörte die Worte in sich klingen und konnte doch nichts fühlen. Nichts. Sie konnte nicht weinen und nicht lachen. Eigentlich war sie schon genauso tot. Da war kein Leben mehr in ihr, sondern nur noch dieses Bild der beiden offenen Särge, die noch vor einer Stunde im Schlafzimmer gestanden hatten. Aber das Bild war unbewegt. Die Träger hatte die Särge aufgehoben und hinausgetragen und auch diese Bilder waren starr und still. Es waren wechselnde, reglose Zustände, nüchterne Anordnungen, genau wie die Knöpfe vor ihr auf den dunkelroten Dielen. Jetzt war sie also eine Waise. Auch dieses Wort klang düster in ihr nach. Als Waise leben! Wie sollte das gehen? Ohne Eltern sein. Von heute an für immer. Es war undenkbar. Chiara blickte auf die Knöpfe. Es waren fünfhundertsechs hölzerne, dreihunderteinundsechzig beinerne und zweihundertvierundvierzig aus Perlmutt. Die Zahlen fielen ihr zu. Sie sah die schillernde Perlmuttzahl, die bleiche Elfenbeinzahl und die Zahl des Holzes. Chiara konnte sie hören, riechen und auch schmecken, wenn sie wollte. Das Holz schmeckte wie Milch, das Elfenbein roch eher nach guter Seife, als dass es nach etwas schmeckte; Perlmutt dagegen hatte immer etwas von Meer, Fisch und Salz… »Bitte, zieh dich an. Wir müssen jetzt gehen, Chiara«, sagte die fremde Frau. Chiara hatte die Frau gar nicht zurückkommen hören. Sie wandte sich um und stand auf, sah sich in den Zimmern um, als wären sie ihr nicht vertraut. Es war zu still und es roch
überall anders als sonst. Draußen polterte ein Pferdewagen vorbei. Der Kutscher sang. Es hallte fröhlich zwischen den Häusern wider. Chiara ging in ihr Zimmer und zog sich an. Sie schielte nach dem neuen Reifrock, einer echten Krinoline, die sie zum Weihnachtsfest bekommen hatte. Es tat weh, wenn das Kleid ganz fest geschnürt wurde, aber es sah hübsch aus. Sie wählte das einfache Kleid, das mit der großen, blauen Schleife im Rücken, und blickte in den Spiegel. Sie lächelte und wurde ernst. Sie schielte von Geburt an. Allerdings so wenig, dass man es erst merkte, wenn man sie genauer ansah. Ihr Blick glitt hautnah am eigenen vorbei, eine zauberhafte Nuance, wie der Papa es nannte. Sie selber spürte nie etwas davon, nie gelang es ihr, den Fehlblick zu erhaschen. Es ärgerte sie, wenn jemand wegsah, ihr verlegen auswich und verkrampft zu Boden schaute oder sonst wohin. Ihre Augen waren groß und schön, sie hatte die dunklen, schweren Augen des Vaters. Manchmal fielen die Lider herab und schmälerten sie; die Augen standen plötzlich schräg und wirkten asiatisch. Chiara zog das Kleid zurecht, straffte ihren Haarknoten und riss sich vom Spiegel los. In der Küche saßen die drei Männer. Die Papiere lagen auf dem Tisch, daneben standen das Tintenfass und die Sanddose zum Trocknen. Signore Tulpino kratzte mit der winkenden Feder. Er tunkte sie ins Fass, schrieb weiter und hüstelte. Schließlich würzte er die Schrift mit Sand, so wie man ein gutes Rührei mit Salz und fein gemahlenem Pfeffer segnet, und schob das Blatt ein paarmal hin und her. Dann blies er den Sand fort, stand auf und zog seinen Rock zurecht. Die junge Frau schob Chiara behutsam durch die Tür. »Und nimm deine Sachen!« Chiara fühlte den Atem der Frau an ihrem Hals, hinten, dicht unterm dunkelbraunen, krausen, hochgesteckten Haar.
»Du verstehst doch, dass du hier nicht alleine bleiben kannst.« Chiara nickte. Die Frau fasste ihre Schultern und drückte sie leicht. Chiara ging an den Männern vorbei und hob den Handkoffer vom Boden auf. Er war nicht groß und doch überraschend schwer. Die Frau hatte ihn vorhin gepackt, in Chiaras Zimmer, allein und ohne ihre Hilfe. Chiara hatte nicht packen wollen. Sie hatte sich Mutters Intarsienkästchen mit den Knöpfen geholt und begonnen zu sortieren. Vorhin, als die Männer mit den Särgen das Haus verlassen hatten. Chiara wusste nicht, wohin. Papa und Mama seien tot. Es stimmte wohl. Sie hatten am Morgen tot im Bett gelegen. Sie selber hatte sie gefunden und war schreiend auf die Straße gerannt. Der Ofen stank und rußte immer noch. Sie hatten dagelegen, als schliefen sie, als hätte Chiara sie bloß wecken müssen, um selber endlich zu erwachen. Denn dass dies alles nur ein grauenvoller Traum sei, hoffte sie noch immer und wollte nicht aufhören, es zu glauben. Sie gähnte ein paarmal gekünstelt und legte die Hand auf die schweren, wund gebissenen Lippen. Die Männer guckten komisch. Die Frau stand an der Tür und wartete. Chiara ging zu ihr, schloss die Augen und folgte ihr als Blinde durch den Flur zur Haustür. Sie hörte die Schritte der Männer hinter sich. Der Lärm von draußen fiel herein. Sie nahm tastend die vier flachen Stufen bis hinunter auf die Straße. Sie roch die Stimmen, sie hörte den Duft der Rabatten und Beete, die der Gärtner erst gestern geharkt hatte. Wozu die Augen öffnen, wenn sie doch bloß träumte und es nicht die Wirklichkeit war? Oder war es doch wirklich? Aber wenn, dann war es eine Wirklichkeit, die von jetzt an unendlich dauern würde und kein Ende hätte, wie der Zahlenstrahl, der
zwar wirklich ist, aber nicht fürs Leben, sondern nur fürs Denken und Träumen. Chiara öffnete die Augen. Die Sonne blendete sie. Überhaupt war alles zu laut, zu schnell und viel zu staubig um sie her. Sie gingen gemeinsam die Straße hinunter zum Rathaus. Es war wie eine kleine Prozession. Die Leute schauten her und tuschelten. Vorneweg marschierten die Carabinieri, ihnen folgte der Schreiber mit seiner Ledertasche; den Schluss bildeten die fremde, junge Frau, die Bianca hieß und eigentlich recht nett war – und sie selber, Chiara, die Waise, die jetzt Tränen in den Augen hatte von all dem Staub und Licht. Es war kein Albtraum, und es gab nichts, in das hinein sie hätte wach werden können. Dies war das wirkliche Dorf, die Via Prato, in der das Haus der Eltern stand. Aber diese Eltern gab es nun nicht mehr. Sie waren im Schlaf erstickt vom Rauch, ohne Schmerzen, einfach nicht wieder aufgewacht aus ihren Träumen und mausetot. Nie wieder würde sie das Lachen ihres Vaters hören können und die Stimme ihrer Mutter, wenn sie ihre fröhlichen, deutschen Lieder sang. Chiara wankte, fiel zur Seite und fing sich wieder, schüttelte den Kopf, als Bianca ihr zu Hilfe springen wollte. Es ging schon. Es musste gehen. Sie selber musste weitergehen. Sie hörte Mamas Stimme. Aber sie lief weiter. Sie hörte Papas Lachen. Aber sie ging weiter. Sie fühlte den Schnurrbart des Vaters, wenn er sie auf die Wange küsste. Aber sie tat Schritt für Schritt. Die Sonne wird sich genauso weiter über den Himmel bewegen, dachte sie trotzig. Die Carabinieri werden gegen Mittag in ein Restaurant gehen und Pasta essen. Der Schreiber wird seine Aktentasche leeren und die Papiere in ein Fach legen. Und diese Bianca wird sich später mit ihrem Verlobten treffen, wenn sie einen hat, und mit ihm an den Fluss gehen oder Blumen schneiden. Nur sie, Chiara, wird im Rathaus auf die Kutsche warten, die sie in die Kreisstadt
bringt, wo es ein Heim für Kinder gibt, die kein Zuhause haben, keine Eltern, keine erwachsenen Geschwister, keine Großeltern, keine echten Onkel oder Tanten und keine ehrlichen Paten, die sie weiter lieben wie die Eltern, die es nicht mehr können. Kinder, die nur irgendeine Bianca haben, einen Schreiber und zwei Carabinieri. Kinder, die nur fremde Leute kannten, Leute, die die Tür des Elternhauses abschließen und versiegeln, damit niemand raubt, was bis gestern noch ihr, Chiaras, Leben gewesen war: Bücher, Sessel, Lampen, Bilder, Teller, Pfannen, Besen und das alte Spielzeug, das nun sinnlos in der Kommode lag – genauso tot wie die Eltern in ihren frisch duftenden Särgen, die am Morgen dicht nebeneinander auf dem Schlafzimmerboden gestanden hatten, als sei es das Normalste in der Welt, gleichsam in ehelicher Zweisamkeit und Ordnung, passend und vernünftig wie das Leben selbst, das aber nun zu Ende war, weil der Kamin nicht funktionierte. Das jedenfalls hatten die Männer gesagt, die die Särge herein- und wieder hinausgetragen hatten. Chiara hatte nicht die geringste Regung in ihren Gesichtern sehen können. Sie hatten gehüstelt und ab und zu gemurmelt. Die Feder des Schreibers hatte leise gekratzt, als sie den Tod der Eltern aufschrieb, einschrieb und für immer festschrieb, nachdem Dottore Zocchi im Anschluss an die Untersuchung sich vor Rührung die Augen wischend mit schweren Schritten das Schlaf- und Sterbezimmer und das Haus verlassen hatte. Chiara lief weiter neben Bianca her, folgte dem Schreiber und den Carabinieri, deren Stiefel, matt vom Staub, bei jedem Schritt hell knirschten. Die Füße taten ihr schon weh und auch der Arm vom Tragen ihres Koffers, der nun den Rest des Lebens enthielt, denn mehr zu haben hatte keinen Sinn ohne Eltern und Zuhause. Sie ging, sie trat auf den Boden der Straße, stieß Sand und kleine Steine weg und zählte. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, eine Million,
zweihundertvierunddreißigtausend und fünfhundertsiebenundsechzig. Die Wurzel daraus war lustig; es waren vier Einsen! Und es war auch genau die Menge der Knöpfe, die noch immer daheim am Boden lagen wie ein aufmarschiertes Heer vor einer Schlacht. Chiara hatte sie liegen lassen. Versehentlich. Es war ihr größter Schatz. Aber sie lief weiter und hätte fast gelächelt, ihr Gesicht war hart und schmerzte. Dann mit einem Mal die Stimme der jungen Frau hinter ihr: »Wir sind da, Chiara. – Sieh nur, Signora Nelli hat dir ein Glas Milch gebracht!«
Und später: »Ach, Kind, was hast du nur für wunderschöne Hände!« Bianca hatte neben Chiara Platz genommen. Sie saßen im Zimmer des Schreibers. Er blätterte nervös in seinen Papieren. Er ärgerte sich spürbar, dass man sein Büro als Wartesaal missbrauchte und er sich wenig wehren konnte, weil Messer Ghirardelli, der Amtsleiter persönlich, den Kopf durch die Tür gesteckt hatte mit den Worten: »Es stört Sie doch hoffentlich nicht, Signore Tulpino. Oder?« Woraufhin der Schreiber aufgesprungen war und leichtsinnig »Ach i wo!« gerufen hatte. Seither spitzte er Federn an, füllte murmelnd Tinte in die Fässer und sortierte alte Steuerzettel. Bianca legte Chiaras Hände in ihre eigenen und strich sie glatt wie kostbare chinesische Seide. »So lang und schlank«, sagte sie. »Ich glaube, ich habe noch nie solche Hände gesehen.« Chiara wurde rot. Biancas Hände waren warm und trocken. Um Biancas willen wäre sie vielleicht hier bei ihr geblieben, aber es ging jetzt nicht um Bianca und was sie empfinden mochte, es ging um
die Eltern, um Leben und Tod und um die Knöpfe daheim auf den roten Dielen. »Ich sollte Klavier spielen lernen, meint Mama«, sagte Chiara und hörte die Stimme der Mutter so deutlich, als stünde sie neben ihr. »Oh ja«, sagte Bianca. »Bist du musikalisch?« »Meine Mutter war Sängerin«, antwortete Chiara und fühlte den doppelten Inhalt des Wörtchens »war«. »Als junge Frau hat sie in Deutschland eine Ausbildung erhalten«, fügte sie hinzu. Dann fragte sie ängstlich: »Was passiert jetzt mit mir?« Bianca blickte zum Fenster. »Du kannst nicht dort alleine in eurem Haus bleiben, Chiara.« Chiara nickte. Nicht, weil sie es einsah, sondern weil sie diese Antwort erwartet hatte oder eine ähnliche. »Aber was geschieht nun?« »Du fährst in die Kreisstadt«, sagte Bianca. »Das habe ich dir ja erklärt. Dieses Haus dort wird erst einmal dein neues Zuhause.« »Ich habe ein Zuhause.« »Es muss sein, Chiara.« Bianca ließ die Mädchenhände los, und Chiara nickte noch einmal, ganz gefasst und vernünftig, um es den Erwachsenen leicht zu machen. Bianca konnte nichts dafür. Die Carabinieri konnten nichts dafür. Signore Tulpino konnte nichts dafür. Niemand war schuld! Chiara schaffte es, für einen Moment zu lächeln. Das war schwer. Sie entschuldigte sich, um den Abtritt aufzusuchen, und stand auf. Draußen folgte sie dem Flur bis an das andere Ende des Gebäudes. Der Abtritt des Rathauses befand sich außerhalb und war schmutzig. Chiara beachtete ihn nicht, durchquerte den Hof und bog in die Via Asinaria ein, die in einem langen
Bogen, vorbei am Schlachthaus, von Süden her auf die Via Prato und das versiegelte Elternhaus stieß. Sie hoffte, niemandem zu begegnen, der von dem Unglück wusste. Ein dummer Gedanke, denn natürlich hatte sich alles längst herumgesprochen, und es gab niemanden im Dorf, der den Spielzeugmacher Stefano Morelli, seine deutsche Frau und deren einziges Kind Chiara nicht kannte. Chiara hielt sich im Schatten, blieb im Schutz der Hecken, Büsche und Mauern. Sie lief so schnell sie konnte und überlegte im Laufen, ob die Carabinieri auch das Gittertor zum alten Keller des Hauses gefunden und verschlossen hatten. Hier und da hängten Frauen Wäsche auf oder legten sie zum Bleichen auf große, hölzerne Gitter. Niemand schien zu bemerken, dass hier Chiara Lisa Morelli rannte, die am Morgen zur Waisen geworden war und von heute an ohne ihre Eltern und ihr Zuhause weiterleben musste! Sie bog in einen schmalen Weg zwischen den Gärten und Feldern ein und lief mit schmerzenden Beinen und lichterloh brennender Brust. Aber die Schmerzen waren nichts; sie waren nichts gegen die in ihrem Herzen, gegen die Bilder und Gedanken und gegen die unerbittliche Gewissheit dessen, was geschehen war. Als hätte ihr erst jetzt, im Laufen, jemand alles zugerufen. Da packte sie der ganze harte Schreck noch einmal und verbrannte ihr die Haut. Sie rannte weiter. Sie sah das Elternhaus, den Garten und blieb stehen. Vielleicht war man schon auf der Suche nach ihr. Sie musste sich beeilen. Bianca würde längst die Carabinieri benachrichtigt haben. Chiara lief durch den Garten auf das Haus zu, sprang die Stufen zum Kellertor hinunter – es war offen – und betrat die kühlen, dunklen, in der Stille rauschenden Räume. Sie lief die Treppen nach oben, bis in das Zimmer, wo Mamas Knöpfe auf dem Boden lagen. Das Intarsienkästchen
mit seinen zierlichen Fächern und Schubladen und seinem Geheimnis stand daneben. Wie hatte sie es nur stehen lassen können? Sie sah sich um. Es war, als wäre sie, statt eine Stunde, ein paar Wochen weg gewesen. Die Kleider der Eltern lagen herum, noch lebendig, nicht wie die Möbel und anderen Gegenstände, die seit dem Morgen bedeutungslos geworden waren. Und plötzlich rückte alles noch einmal näher und greller heran. Sie hatte geglaubt zu fühlen, was passiert war. Sie hatte nichts gefühlt. Jetzt drang die Wahrheit mit noch festeren Schritten in ihr Bewusstsein vor, schlug mit noch härteren Schlägen an die Pforte ihres Lebens und schrie: Du bist allein! Du wirst alleine sein! Für immer, für immer! Chiara ließ sich weinend fallen. Der Boden zog sie mit Wucht zu sich herunter, auf den Teppich mit den schönen Tiermotiven, den die Mutter aus Berlin, wo sie geboren und groß geworden war, mit nach Italien gebracht hatte. Im Fallen spürte Chiara die tosende Gewissheit, dass sie nichts von diesem Todesmorgen je vergessen würde, keinen Atemzug, nicht einen Wimpernschlag und nicht die kleinste Regung ihrer Seele. Das Heer der Knöpfe erstreckte sich dicht neben ihr. Sie ließ sich auf den Rücken kippen und starrte gegen die Zimmerdecke. Die Knöpfe tuschelten und trommelten. Dann sang die Mutter, laut und deutlich. Es klang von unten herauf, wie immer. Der Vater rief dazwischen, der Kutscher solle zu Signore Ghirardelli laufen und fragen, wann der Wagen endlich fertig sei und was die Reparatur der Federn koste. »Und nicht mehr als zwanzig gute soldi! Sag ihm das, Francesco! Wehe! Ich hetze ihm Messer Luigi auf den Hals, wenn es nur zwei denari mehr sind!« Chiara atmete tief. Die Gerüche des Hauses waren nicht mehr fremd. Sie roch Vaters Haaröl und die würzige Seife, die jeden Monat neu in einer gelben Muschelschale neben der
Waschschüssel lag und dann von Tag zu Tag unmerklich kleiner wurde. Diese Seife hatte die Zahl Dreizehn, weil sie so gut roch. Das war irgendwie albern, aber es war vom ersten Moment an eine Tatsache gewesen. Der Vater hatte die Seife zusammen mit dem Haaröl, einem zarten, geklöppelten Halsband für sie, Chiara, und einem Flakon Parfüm für Mama aus Florenz mitgebracht. Er packte die Seife aus, roch genüsslich daran und hielt sie Chiara hin. »Dreizehn«, hatte sie gesagt. Der Vater hatte sie fragend angesehen und nichts verstanden. Das war nicht schlimm gewesen. Es zu erklären war ohnehin unmöglich. Alle Dinge hatten eine Zahl; es war nun einmal so. Der Garten hatte die Neun, das Haus die Sieben und sogar Mama entsprach einer schönen Zahl, einer ziemlich großen sogar; aber es wäre Blödsinn, ihr das zu sagen. »Ich bin die Hundertfünf?«, würde sie fragen und enttäuscht sein, von ihrer Tochter auf eine Menge reduziert zu werden. Natürlich könnte man versuchen, ihr zu erklären, dass die Hundertfünf wunderschön ist, ganz anders als die Hundert oder die Tausend, diese hässlichen Quadrate, die bloß Nullen haben und ganz geheimnislos und ohne Poesie sind. – Nein, gar nichts könnte sie der Mama sagen! Weil sie tot war. Weil sie neben Papa tot im Keller von Signore Lungos Sargwerkstatt lag und darauf wartete, in drei Tagen oder so in die Erde gelegt und bestattet zu werden. Chiara weinte. Endlich konnte sie weinen und niemand sah ihr zu. Sie bebte, wimmerte, redete und merkte, dass es ihr gut tat. Dann bezwang sie sich. Sie horchte, ob sie fliehen musste. Sie schob die Knöpfe zusammen und warf sie in eines der Fächer des Kästchens. Noch einmal ließ sie Trauer und Wut Besitz von sich ergreifen, fiel zur Erde und ließ das Herz ausfließen; es wollte gar kein Ende nehmen.
Sie weinte nicht leicht; sie hatte nie schnell geweint. Es nahm ihr die Luft und machte brennende Scheusalsaugen. Überhaupt mochte sie es nicht, wenn man ihr ansah, was sie fühlte. Das habe sie wohl vom preußischen Großvater, hatte die Mutter erklärt, sehr italienisch sei es jedenfalls nicht. Chiara war es egal, ob es italienisch oder preußisch war zu weinen; sie behielt es gern für sich und es tat ihr auch nicht weh. Jetzt aber drängte es mit Wut heraus, da riss es alle Zäune in ihr nieder und schrie in die Welt: Die Eltern sind tot! Ich bin allein! Aber dann kam es ihr plötzlich wieder kindisch vor und sie biss sich auf die Lippen. Sie nahm das Intarsienkästchen, stand auf und ging nach unten in den Salon. Von hier aus würde sie früh genug sehen können, wenn die Carabinieri kamen oder Bianca, alleine. Vielleicht ging sie mit ihr zurück; vielleicht versteckte sie sich und flüchtete. Sie wusste es nicht. Stattdessen sah sie eine Zahl für diesen Tag, der ihr Leben fortan teilen würde. Sie suchte sich Papier und Bleistift. Und rechnete ein bisschen. 1x8+1 = 9
12x8+2 = 98
123x8+3 = 987
1234x8+4 = 9876
12345x8+5 = 98765
123456x8+6 = 987654
1234567x8+7 = 9876543
12345678x8+8 = 98765432
123456789x8+9 = 987654321
Das Zahlenspiel war ein Abbild ihres Lebens. Dort, wo die Gleichheitszeichen waren, lag der heutige Tag. Dahinter lag die zweite Hälfte, die dem Nichts entgegenlief.
Sie wischte sich die Augen, die bestimmt aussahen wie zwei Hagebutten. Sie lugte schräg durch die hohen Fenster die Straße hinauf. Ein paar Hunde jagten einander kläffend. Weit hinten wankte eine Frau mit einem großen Korb auf ihren Schultern. Ein Kind lief nebenher. Dieses Kind hatte seine Mutter bei sich; es musste nur herübergreifen und den Rock der Mutter fassen! Chiara beneidete das Kind, egal, ob es nun arm war oder nicht. Niemand konnte ärmer sein, als sie selbst es von heute an war. Sie stellte das Kästchen ab. Womöglich kamen Bianca und die Carabinieri gar nicht darauf, dass sie sich hier im Elternhaus versteckte. Dann konnte sie fürs Erste hier bleiben. Immerhin. Sie ging in die Küche, öffnete die Tür zum Vorratsraum und nahm sich ein Glas eingemachter Stachelbeeren. Sie trank den Saft fast in einem Zug aus und löffelte die herzhaften Früchte. Danach aß sie ein Stück Käse und etwas Speck. Es war ihr Zuhause. Wieso sollte sie in einem Haus für Kinder leben, die kein Zuhause hatten? Sie legte Käse, Speck, Eingemachtes und Brot in einen Korb. Dann stutzte sie. In dem Räumchen hatte der Vater einen eigenen kleinen Schrank, in welchem er Papiere aufbewahrte. Sie sah das Schloss und die Spuren eines Werkzeugs, als hätte jemand daran rumgemacht, um es zu öffnen. Sie sah sich ängstlich um. Der Schrank war wirklich aufgebrochen! Der Inhalt war zerwühlt. Sie lief ins oberste Stockwerk, wo sich ein zweites Versteck befand. Es war noch unentdeckt. Sie nahm heraus, wonach unten vermutlich gesucht worden war. Es waren Vaters Pläne und Berechnungen. Die faltete sie ein und legte sie zu den Knöpfen. Sie hörte ein Geräusch. In aller Eile stellte sie die Leiter an die Luke zum Dachboden und kletterte hinauf, dorthin, wo es dunkel und die Welt verborgen war.
Chiara zog die Leiter hinter sich nach oben und schloss die Luke des Dachbodens. Die Sonne strömte gelb und üppig durch ein kleines Gaubenfenster. Auf dem Boden lag ein schiefes Kreuz. Es war aus Licht und Schatten. Und es war wirklich. Chiara legte ihre Hand darauf und fühlte das raue, warme Holz der Dielen. Das Kreuz kroch lebendig über ihre helle Haut. Und auch die Anzahl ihrer Finger war wirklich, ebenso die ungezählte Menge der winzigen Splitter. Sie schob ein paar Kisten als Möbel zusammen, leerte ihren Vorratskorb und horchte angespannt. Von draußen drangen die Geräusche einer Tischlerwerkstatt in der Nachbarschaft herauf, gelegentliches Hämmern, Sägen und dazu die Lieder der Gesellen… »Chiara?« Es war Signorina Biancas Stimme, die durch die Luke nach oben drang. »Komm bitte, Kind! Ich weiß, dass du dort oben bist. Der Herr Notar Luigi Spunda, der Freund deines Vaters, hat es mir gesagt. Er hat mir erzählt, dass du einen Onkel in Deutschland hast, es ist ein Bruder deiner Mutter. Der Herr Notar hat ihm einen Brief geschrieben, und bis die Antwort eintrifft, kannst du bei ihm wohnen. Du musst nicht mehr nach Prato, in dieses Haus.« Onkel Luigi!, dachte Chiara besorgt. Sie bewegte sich nicht, sie wagte kaum zu atmen. Sie war gelähmt vor lauter Enttäuschung, dass man sie gefunden hatte. »Ich kann dich hören, Chiara!«, rief Bianca. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht, wo du bist. Ich weiß, dass wir uns nur flüchtig kennen. Signore Spunda hat mir eine Menge von dir erzählt. Er hält große Stücke auf dich. Er war es auch, der mich heute Morgen zu dir geschickt hat…« »… und ich darf ihn nicht enttäuschen!«, ergänzte Chiara bissig, aber leise genug, dass es unten nicht zu hören war. Der
Notar Spunda war ein Freund des Vaters gewesen, solange sie denken konnte, weshalb sie »Onkel« zu ihm sagte. Aber dass sie jetzt und hier mit ihm zu tun bekam, behagte ihr nicht. »Signore Spunda wäre bestimmt enttäuscht, wenn…«, hörte sie Bianca rufen. »Und ich?«, flüsterte sie wütend. »Was ist mit meiner Enttäuschung? Sie ist größer als die Welt, als das ganze Weltall. Sie ist… kosmisch!« Einen Moment zögerte sie. Dann rief sie mit aller Kraft: »Meine Enttäuschung ist kosmisch, Signorina Bianca!« Für ein paar Atemzüge war es still. Biancas Schreck war durch die geschlossene Luke spürbar. »Das bedeutet«, fuhr Chiara genauso laut fort, »dass sich mein Schmerz bis in das Weltall ausdehnt. Er ist grenzenlos wie der Zahlenstrahl und reicht weiter als Rom, als China und als die australischen Inseln im Pazifik, weiter als der Mond und die liebe Sonne…« Sie lauerte. Nichts. »Ich bin Chiara Lisa Morelli und lebe hier«, rief sie. »Ich bin fünfzehn Jahre alt und habe heute Nacht meine Eltern verloren. Es ist, als hätte man mir die Haut abgezogen. Ich falle auseinander und verflüchtige mich.« Sie horchte wieder. »Ich löse mich auf. In einer Stunde bin ich nicht mehr da…« »Chiara!«, bettelte Bianca. »Sagen Sie Onkel Luigi, dass ich ihm dankbar bin für seine Mühe. Aber ich habe ein Zuhause und es ist hier oben und es ist mein letzter Halt, mein einziger Rahmen, ohne den ich…« »Chiara!«, hörte sie Bianca rufen. »Ich muss dich dennoch bitten, herunterzukommen. Du kannst nicht alleine bleiben.« »Ich bin es schon, Signorina Bianca!«
»Das verstehe ich. Aber wie soll ich es dem Herrn Notar und den Carabinieri erklären, die im Rathaus die strenge Anweisung erhalten haben, so etwas unter keinen Umständen zuzulassen?« »Wer will nicht zulassen, was schon eine Tatsache ist?«, fragte Chiara. »Ich bin allein! Ich bin so allein wie ein Stern, egal, ob ich bei Onkel Luigi wohne oder im Waisenhaus. Sie plagen sich umsonst, Signorina. Gehen Sie nach Hause und sagen Sie den Leuten, dass Chiara Lisa Morelli von heute an alleine lebt, nein, nicht ganz allein. Sie hat ihre Knöpfe bei sich und ein paar unsichtbare Freunde, mit denen sie sich gerne unterhält…« Sie hörte Biancas Schritte. Sie entfernten sich. Sie stiegen die Treppe hinunter und betraten die Fliesen im Flur. Dann fiel die Haustür ins Schloss. Es war ihr sonnenklar, dass man sie nicht in Frieden lassen würde. Aber sie hatte Lust, sich zu streiten. Sollten die Carabinieri ruhig kommen, sie würde sich zu wehren wissen! »Trotzdem!«, flüsterte sie. Das Trotzdem war eine Art Zauberformel. Man musste es nur mit der nötigen Wut herausschreien, dann sprang die Welt in Stücke. »Trotzdem!«, rief sie. Plötzlich gab es einen Knall. Chiara sah den Lukendeckel in die Höhe fliegen. Ihr Blut gefror. Da lugte, wie ein Gespenst, ein Kopf durch die Öffnung. Chiara sprang auf und rannte zu der kleinen Gaube, riss das Fenster auf. Sie passte gerade hindurch. Aber das Dach war steil und glatt. Sie kletterte zum First. »Um Gottes willen, Chiara!«, schrie Bianca von der Straße herauf. Chiara blickte über die Stadt und war für einen Moment entzückt. Sie hatte noch nie aus solcher Höhe auf die Dächer geschaut. Von jeher hatte sie den Wunsch gehabt, einmal auf
den Turm der Kirche zu steigen. Wie oft hatte sie den Vater angebettelt, sie dorthin mitzunehmen. Aber er hatte nie Zeit gehabt, und nun war er tot und blickte wie sie von oben auf die Welt herab… »Signorina Morelli! Was tun Sie da?« Einer der beiden Carabinieri steckte in dem Gaubenfenster fest wie eine Wurst. »Machen Sie keinen Unsinn, Signorina Morelli! Bleiben Sie sitzen und halten Sie sich fest! Wir wollten Sie nicht erschrecken, um Himmels willen, das war nicht unsere Absicht! Warum fliehen Sie denn? Wollen Sie sich zu Tode werfen?…« »Ja, vielleicht!«, rief Chiara. Sie ritt das Dach wie einen großen, roten Esel, der nicht laufen wollte. Sie musste lachen. Der Schutzmann blickte herüber, als hätte sie ihn angespuckt. »Ho!«, rief sie. »Na los, komm schon, altes Grauohr! Lauf!…« Der Mann im Fenster schnaufte. Sein Gesicht war roter als die Ziegel um ihn her. »Ho! Holla!«, sang Chiara mit heller Stimme. Aber das Lachen erstickte wie ein Kerzenlicht; in ihrer Seele kräuselte ein dünnes Fähnchen Rauch empor. Und plötzlich lief der Esel los. Das Haus bewegte sich. Es bebte. »Signora Morelli! Aber nein, was tun Sie denn?!«, schrie der Polizist. Bianca rief von unten herauf: »Chiara! Rühr dich nicht vom Fleck!« Ihre Stimmen griffen ulkig ineinander. Chiara sah den Horizont, den Waldsaum, wie einen grauen Scherenschnitt, die schiefe Scheune des Bauern Nozzo, die beiden Weiden am Fluss, wo sie als Kind beinah ertrunken wäre. Dann sah sie den Kamin und machte eine seltsame Entdeckung. Alles kippte, der Himmel fiel zur Erde, die Erde schwebte zu den Wolken. Die Via Prato peitschte durch die Luft. Die Welt zerfiel und Chiara stürzte…
Sie hatte sich den Tod ganz anders vorgestellt. Das Paradies. Viel heller, stiller, wärmer. Hier war es kühl und laut und düster. Sie hatte sogar Angst, und das passte gar nicht zu dem, was Monsignore Albertino über das ewige Leben gesagt hatte, in dessen Erzählungen sich Löwen kraulen ließen und Schlangen niemals giftig bissen… »Chiara!…« Sie schlug die Augen auf und erkannte Bianca, die auf der Bettkante saß. »Ich dachte, ich sei tot und wäre bei den Eltern.« »Du hättest tot sein können.« »Wo bin ich denn?« »Bei Signore Spunda«, antwortete Bianca. »Dottore Zocchi hat dich untersucht. Du hast unglaubliches Glück gehabt.« Chiara stöhnte leise. Jeder Atemzug bohrte ihr ein Messer durch die Brust. »Stell dir vor«, sagte Bianca, »du bist mitten in die Hühner gefallen. Vier sind tot und fünf weitere mussten wir an Ort und Stelle schlachten. Jetzt gibt es einen schönen Schmaus.« »Überall nur Tod«, flüsterte Chiara. »Ich bin zu jung dafür. Was soll denn aus mir werden?« »Du sagst es, mein Kind«, meinte der Arzt, der soeben seine Tasche packte. »Oder muss ich Signorina Morelli zu dir sagen?« »Aber nein, Dottore«, sagte Chiara. Der Arzt blickte grimmig auf das Bett und die Patientin. »Ich kann es immer noch nicht glauben.« Er nahm seinen Mantel vom Stuhl, grüßte und ging zur Tür. Als er sie öffnete, fiel ihm eine Frau mit einem seltsam aussehenden Koffer in den Arm.
»Oh nein!«, rief er. »Nicht hier, Signora Spini! Alles, was recht ist. Die Patientin braucht Ruhe und keinen Schwefelgestank!« Die Frau drängte ihn zur Seite, trat ein und stellte den Koffer neben das Bett. Es war ein Feldaltar. Ohne zu zögern öffnete sie die beiden Flügel, zog ein paar Schubladen auf, montierte ein Kreuz fest und füllte eine Schale mit goldenen Kugeln. »Das ist ehrliches toskanisches Mandelharz, davon verstehen Sie nichts, Dottore. Es klärt die Lunge und schenkt der Haut eine frische Farbe.« Der Arzt brummte etwas und ließ von draußen die Tür zufallen. »Hör nicht auf ihn, Chiara!«, sagte die Frau. »Er mag seine Arzneien mischen; aber sie erreichen nur den Körper und nicht die Seele und schon gar nicht Gott. Aber wie sollst du ohne Gott wieder gesund werden? Dieser Mann begreift das nicht!« Signora Spini war eine ältere Dame, verwitwet, verwirrt, ein bisschen jedenfalls, und nicht ganz unbetucht; für manche eine Heilerin und gute Hexe. Ihr Feldaltar sah aus, als hätte er schon zu Zeiten der Medici seinen Dienst getan. Die Hexe zog eine weitere Lade auf, nahm eine lange Tonpfeife heraus und stopfte sie in aller Ruhe. In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet und Onkel Luigi betrat das Zimmer. »Notar Luigi!«, rief die Hexe. »Ich habe den Dottore schon entlassen. Jetzt bin ich hier, wie Sie sehen. Es wird alles gut.« Der Advokat sah Chiara an, die mit unterränderten Augen dalag und noch bleicher wurde. »Wie geht es dir, mein Kind?«, fragte er. »Ach, was sage ich da? Wie soll es dir schon gehen!« »Lieber Herr Notar«, zwängte sich die alte Dame dazwischen. »Ich bin sehr viel billiger als dieser Scharlatan. Sie wissen das genau. Ich koste nicht mal ein Dutzend denari.
Dieser Zocchi dagegen leert Ihre Börse so schnell, dass Sie daran sterben werden. Niemand wird gesund durch ihn, nicht einmal die, die unter seiner Hand genesen.« Der Notar warf ihr einen Blick zu und sie schwieg. »Wir haben wirklich andere Sorgen, Mütterchen«, sagte er. »Onkel Luigi«, sagte Chiara, »warum hast du mich nicht gefragt, bevor du den Brief nach Berlin auf den Weg gegeben hast? Ich möchte nicht nach Deutschland.« »Chiara! Du weißt, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, sosehr es mich schmerzt, schon heute überhaupt davon zu sprechen. Deine Mutter hat Verwandte in Berlin, und das Gesetz schreibt vor, erst diesen Weg zu klären, bevor eine andere Lösung angestrebt werden kann.« Chiara wischte sich die Augen. »Du hast meinem Vater, deinem Freund, wie ich denke, versprochen, mir in einem solchen Fall ein guter Pate zu sein«, sagte sie langsam und deutlich. »Daraus wird wohl nichts.« Onkel Luigi wurde blass. »Wie kommst du darauf, Chiara?« »Ich habe euer Gespräch damals mit angehört. Es ist lange her und ich war klein. Aber nicht klein genug, Onkel Luigi.« Sie sah ihn an. »Und nun weiß ich nicht einmal mehr, ob ich überhaupt noch bei dir bleiben möchte, auch wenn du mich hier behalten würdest…« Der Notar schüttelte den Kopf. »Das ist alles ein furchtbares Missverständnis, das musst du mir glauben! Lass uns morgen darüber reden. Die Köchin hat erzählt, du hättest bei deinem Sturz ein Dutzend Hühner getötet und nur deshalb überlebt…« Er lachte gekünstelt. »Sie kocht die armen Tiere schon in Wein. Wir essen erst etwas. Dann sieht die Welt gleich anders aus.« »Die Hühner gehören mir«, sagte Chiara. »Lebendig oder tot.«
»Ja, natürlich… selbstverständlich«, entgegnete Onkel Luigi, eine Spur unsicher und sogar – Chiara war ganz sicher – ein wenig verlegen. »Denkst du, ich will sie dir stehlen? Chiara, was ist los mit dir? Gut. Entschuldige! Ja, ja, du bist verwirrt und verängstigt von alledem.« »Ich habe keine Angst«, sagte Chiara angriffslustig. »Und ich habe Zweifel daran, dass unser Kamin nicht funktioniert haben soll.« Alle sahen sie erschreckt an. »Ich habe auf dem Dach gesehen, dass jemand den Kamin verschlossen hat. Man sieht deutlich eine dunkle Spur, vielleicht von einem Brett, das auf der Öffnung lag. Ich weiß, dass mein Vater Feinde hatte, Onkel Luigi, und du weißt es auch. Ich habe Papas Angst gefühlt.« Chiara schwieg erschöpft. Sie war noch ganz benommen von den Worten, die so lange in ihr versteckt gelegen und gelauert hatten. Aber sie war froh, bei aller Angst und Aufgeregtheit. Es war endlich heraus! Die Hexe führte einen brennenden Fidibus an ihre Pfeife und sog den Qualm ein. Bianca setzte sich auf den Bettrand und betrachtete den weiten, leeren Fliesenboden mit seinem klaren, meeresblauen Rhombenmuster. Onkel Luigi knetete die Hände. Er zog den Mund breit und lachte einen Augenblick verlegen. »Es tut mir Leid, dass die vielen Hühner durch mich zu Tode gekommen sind«, sagte Chiara sorgfältig. »Es wäre besser gewesen, ich wäre gestorben.« Sie blickte Bianca an. »Dann wäre ich jetzt bei Papa und Mama.« Sie schauspielerte. Sie schwindelte den Schmerz. Nicht alles, aber ziemlich viel davon. Es tat ihr gut. Sie sah, wie Onkel Luigi das Gewissen zwickte. »Vor ein paar Wochen hatten wir Besuch«, erzählte sie. Alles musste jetzt ans Licht! »Es waren zwei Herren von der
Regierung, hat Papa gesagt. Du kennst diese Leute, Onkel Luigi. Ich habe dich zweimal mit ihnen gesehen, in Leones Gaststube. Die Männer stritten mit Papa. Er war danach sehr wütend. Er schlief schlecht, ich weiß es von Mama. Ich ließ mir nichts anmerken, aber ich hatte Angst. Papa wurde krank und ging eine Weile nicht mehr in die Werkstatt. Etwas lag ihm auf der Seele, er lief ganz krumm und zitterte. Und eines Tages kam er mit einer Armbinde nach Hause. Mama fragte, was passiert sei. Er hat es nicht erzählt. Bestimmt hat man ihm wehgetan… Sag etwas, Onkel Luigi!« Der Notar starrte sie an. »Du kannst mir glauben, Chiara, ich weiß nicht, wovon du redest. Ich war vor einiger Zeit mit zwei Landvermessern aus Prato bei Leone essen. Mit ihnen wirst du mich gesehen haben. Der eine ist ganz dünn, der andere humpelt und hat einen Stock.« Er blickte Bianca und die Hexe arglos fragend an. »Ich habe keine Ahnung, was das Mädchen sagen will. Es ist verrückt geworden, auf den Kopf gefallen, das ist es!« Er schwitzte. Und zu Chiara: »Warum willst du das Andenken deines Vaters in den Dreck ziehen? Don Stefano war ein guter, fleißiger Mann. Er war mein Freund. Er hat sich niemals mit seltsamen Leuten getroffen, so ein Unfug! Jedenfalls weiß ich nichts davon und basta.« Damit ging er zur Tür und verließ, ohne sich noch einmal umzuwenden, das Zimmer. Das ist Flucht!, dachte Chiara. Er ist davongelaufen. Er hat es nicht mehr ausgehalten. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich lüge nicht, Signorina Bianca, das müssen Sie mir glauben!« Die junge Frau blickte sie unsicher und verlegen an. »Du hast uns alle sehr überrascht«, sagte sie. Die Hexe fingerte an ihrem Feldaltar herum. »Ich weiß nicht, Kind, ob das richtig war. Der Notar Spunda ist ein mächtiger
und ehrenwerter Mann. Du hast ihn sehr beleidigt, er ist verletzt, und ich glaube, das wäre ich an seiner Stelle auch.« »Aber ich habe diese Männer beobachtet und ich habe die Spuren auf dem Dach gesehen…« »Spuren! Männer!«, sagte die Hexe verächtlich. »Was ist das?« Sie blickte Bianca an, die betroffen das Gesicht verzog und sich wieder auf Chiaras Bettrand setzte. »Das sind alles ziemlich vage Verdächtigungen«, sagte Bianca nach einer Weile. »Sie enthalten einen ungeheuren Vorwurf. Du musst doch verstehen, dass es dir nicht zusteht, so etwas auszusprechen. Selbst wenn es wahr wäre, Chiara, sogar dann nicht.« Chiara war enttäuscht, entrüstet. Immer wieder spürte sie den Impuls, sich an den Vater zu wenden, der sofort alles bestätigen würde. Aber jedes Mal stieg diese bange Hitze in ihr auf und die Gewissheit, dass es keine Eltern mehr in ihrem Leben gab. »Wären Sie bereit, Signorina Bianca, mir einen Gefallen zu tun?«, fragte sie mit kindlicher Stimme. »Ich wünsche mir Papier, eine Schere und etwas Klebstoff aus Kartoffelmehl.« »Vielleicht weiß sie noch nicht, was sie angerichtet hat«, sagte Signora Spini, die Hexe, als wäre Chiara gar nicht anwesend. Sie klappte die Flügel ihres Feldaltars ein. »Das Mandelharz lasse ich da, mein Kind, damit deine Glieder heilen. Nur gegen deinen Hochmut habe ich keine Medizin. Da musst du den Dottore Zocchi fragen, das ist sein Spezialgebiet.« »Bitte, Signorina Bianca«, bettelte Chiara. »Mir ist langweilig. Ich muss mich ablenken, sonst denke ich den ganzen Tag nur daran, was geschehen ist. Haben Sie denn gar kein Mitleid?« »Sie hat den Teufel in sich«, sagte die Hexe.
Bianca rang die Hände. »Sie müssen wissen«, erzählte Chiara, »mein Vater war Spielzeugmacher und Mechaniker. Er war ein Genie. Onkel Luigi wird es Ihnen bestätigen. Papa hat eine Art Rechenmaschine erfunden. Ich glaube, sie kann Buchstaben verschlüsseln. Mein Vater stand kurz davor, diese Maschine zu bauen.« Bianca blickte unsicher umher. »Sie müssen mir glauben«, flehte Chiara. »Die Maschine ist sehr wichtig. Onkel Luigi kennt Vaters Ideen. Natürlich fehlen ihm die Pläne.« »Das kann alles sein«, wandte Bianca ein. »Trotzdem ist es deine Pflicht zu sehen, wie hoch angesehen und beliebt der Signore Spunda ist. Und sieh mal, er ist doch auch nachsichtig mit dir. Was denkst du, ein anderer hätte dich schon rausgeworfen und dir sein Haus verboten.« Sie stand auf. »Denk noch einmal über alles nach. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, sich zu entschuldigen.« Chiara ließ sich in die Kissen fallen. »Und liebes Kind«, sagte Signora Spini, »du bist viel zu aufgeregt. Deine Phantasie kocht über. Schlaf ein bisschen! Wir lassen dich allein.« Damit griff sie ihren Altarkoffer und ging zur Tür. Chiara fühlte sich kraftlos und erschöpft. »Wieso weißt du so viel über die Arbeit deines Vaters?«, fragte Bianca. »Er hat mit mir geübt, das Schnellrechnen, und besser als der Monsignore in der Schule.« Chiara hatte die Augen geschlossen. »Ich bin ziemlich gut. Fragen Sie Onkel Luigi! Ich bin für ihn aufgetreten, hier in seinem Haus, vor einer geladenen Gesellschaft. Ich habe die dritte Wurzel aus einer Million achthundertsechzigtausend
achthundertsiebenundsechzig im Kopf errechnet. Es hat weniger als vier Minuten gedauert.« Bianca lächelte flüchtig. In ihrem Gesicht mischten sich Erstaunen und Zweifel. »Bringen Sie mir Papier und Schere?«, fragte Chiara. Es war wieder diese kindliche Stimme. »Wenn ich es finde«, antwortete die junge Frau und öffnete Signora Spini und sich selber die Zimmertür. »Was willst du denn damit?« »Ein Geheimnis. Ich schneide Zahlen aus«, sagte Chiara leise. »Zahlen sind lebendig. Ich kann mit ihnen reden. Ich schneide vierhundert Zahlen aus und beklebe das Bett und die Wände damit. Dann warte ich, was Onkel Luigi dazu sagt. Sie werden sehen, er wird sich verraten. Ich habe keine Angst vor ihm. Ich gehe nicht nach Deutschland. Ich hasse Berlin.« »Du kennst es doch gar nicht.« Bianca zog langsam die Tür zu. »Schlaf ein bisschen!« »Trotzdem!«, erwiderte Chiara.
Wer ist diese Signorina Bianca?, fragte sich Chiara immer wieder und folgte mit den Augen der fernen, rätselhaften Linie zwischen Meer und Himmel. Die Kalesche hatte Pisa gestreift und war durch die Gassen von Livorno gepoltert. Der Hafen schnitt wie ein schwerer Säbel in die Stadt. Die Schiffe lagen dicht gedrängt, als frören sie mit ihren dürren, betrunkenen Masten. Und es war laut hier. Stimmen und Pfiffe flogen wie Geister durch die flirrende Luft und rissen Chiara fast entzwei. Die Bestattung der Eltern hatte ihr die letzte Kraft geraubt. Auf dem Friedhof hatte sie auf einem Stuhl sitzen dürfen, weil ihr noch immer der Rücken wehtat. Aber nur ihr Köper hatte dort gesessen, nichts von ihrem Herzen.
Sie konnte sich kaum an etwas erinnern. Monsignore Albertino hatte laut geweint und aus der Bibel vorgelesen. Sie selber wäre später vor lauter Lachen, gegen das sie sich nicht hatte wehren könne, fast erstickt. Sie sei verrückt geworden, sagte man. Gut. Dabei hatte sie nur alle beobachtet, jeden, der gekommen war. Und es waren viele da gewesen, das ganze Dorf. Aber wer, zum Kuckuck, war diese Bianca? Woher kam sie? In wessen Auftrag war sie tätig, jetzt, wo sie ihr, Chiara, nicht mehr von der Haut wich? Chiara hatte das Krankenzimmer mit genau vierhundert Papierziffern beklebt. Ein paradiesisches Milieu. Onkel Luigi war hereingekommen und hatte prompt, ohne ein Wort zu sagen, wieder gehen wollen. – »Komm zurück, Onkel Luigi!« Chiara hatte sehr genau gewusst, was sie sagte. »Elf mal zweiundzwanzig mal dreiunddreißig ist eine wunderschöne Zahl und macht siebentausendneunhundertundsechsundachtzig. Daraus die Wurzel sind neunundachtzig Komma drei, sechs, vier, vier, zwo, zwo. Kannst du dich nicht mehr erinnern? Ich habe neun Sekunden gebraucht.« – Der Notar hatte Bianca, die mit eingetreten war, einen Wink gegeben. Sein Blick sagte: Sehen Sie? Vier Tage vergingen, an die Chiara sich kaum mehr erinnerte, dann hatte die Kutsche vor der Tür gestanden. Sie hatte nicht vergessen, den Schreiber Tulpino zu bitten, jedem im Dorf zu helfen, der ihr, Chiara, würde schreiben wollen. Nach Berlin. Also Berlin! Wo immer das lag und wie immer es aussehen mochte. Chiara war in die Kalesche gestiegen und Bianca hatte sich ganz selbstverständlich neben sie gesetzt. Nichts auf der Welt hätte diese Reise verhindert. Und da stand sie nun, am grünen Meer, den Koffer voller Lebensreste neben sich und plötzlich auch Signorina Bianca, die immer freundliche
Verräterin! Sie stand schräg hinter hier und hatte wohl den Auftrag, ihr Objekt, ihr Opfer keine Sekunde aus dem Blick zu lassen. »Ich habe Angst, dass wir ertrinken«, sagte Chiara. Sie hatte noch nie ein Schiff betreten. Der Gedanke, nichts als diese imaginäre Linie um sich zu haben, draußen auf See, beunruhigte sie: eine Kreislinie, die zwar sichtbar war, als solche aber gar nicht existierte. Und dann der Tanz der Masten, die benommen schaukelten, als lebten sie. Wenn sie am folgenden Morgen auf das Schiff gingen, würde sie als Erstes ein Ohr ans Holz legen und horchen, ob da irgendwo ein Schiffsherz schlug oder etwas atmete. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass Menschen sich aus freien Stücken auf einem seelenlosen Fahrzeug auf das offene Meer hinausbewegten. Sie selber hoffte jedenfalls mit Leidenschaft, dass Schiffe, wie die Zahlen, lebten. »Sie müssen sich keine Mühe machen, mich im Auge zu behalten, Signorina Bianca«, sagte sie. »Ich bin dem Messer Luigi nichts wert. Das Gegenteil: Wenn ich dort draußen auf See ins Wasser falle, ist er seine Sorgen los und freut sich. Sie haben bis Berlin eine ganz sinnlose Funktion. Es sei denn, er fürchtet, ich könne zurückkehren und meinen Vater rächen. Aber dafür bin ich viel zu schwach.« Bianca hatte es längst aufgegeben, sich zu rechtfertigen oder die Dinge neu zu deuten. Sie verzog den Mund, vielleicht weil die Rolle, die sie spielte, entlarvt worden war. Chiaras einzige Waffe waren diese Stiche, die Ironie, mit der sie Bianca seit der Abreise von Zeit zu Zeit verletzte. Und Bianca war verletzlich. Die Schani stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Onkel Luigi muss Ihnen viel Geld geboten haben, dass sie ihm diesen Dienst erweisen«, bemerkte Chiara mit grausamer Zielsicherheit und suchte Biancas Blick.
»Hat er Ihnen versprochen, Sie zur Frau zu nehmen? Er ist ledig und hat in Prato eine Menge vornehmer Verehrerinnen, das weiß ich. Aber er lügt Sie an, glauben Sie mir! Er will keine Frau, gar keine. Nie.« »Hör bitte auf, Chiara!«, sagte die junge Frau mit bebender Stimme. Ihre Augen glänzten im Licht der Sonne, die jetzt ins Meer fiel. »Warum sollte ich?«, fragte Chiara schnippisch. »Entführe ich mich selbst? Bin ich mir selbst im Weg? Soll ich noch Mitleid zeigen mit denen, die mir die Haut abziehen wollen? Ich quäle nur zurück, und wenn es einen guten Gott gibt, legt er mir seinen Segen in das Herz.« »Du redest, als wärst du vom Teufel besessen«, versetzte Bianca. »Ja, das bin ich wohl.« Die junge Frau sagte lange nichts. Dann tat sie einen Schritt auf Chiara zu. »Ich habe dir gesagt, dass der Schreiber Tulpino mein Patenonkel ist und ich ihn lediglich besucht habe, ausgerechnet an dem Tag, als er mit den Carabinieri zu dir gehen musste. Da bin ich mitgekommen, um zu helfen…« »Weil ich Ihnen Leid tat.« »Ja!«, rief Bianca verzweifelt. »Wie soll ich es dir denn beweisen? Der Messer gibt mir kein Geld. Du kannst eine solche Reise nicht alleine unternehmen und in Berlin leben deine nächsten Verwandten, so ist es nun mal! Was Signore Luigi und deinen Vater betrifft, darüber mag ich mir kein Urteil erlauben.« »Sie lügen! Sie lügen!…« »Warum können wir nicht Freunde sein?« »Weil ich verliere.« »Was?«
»Mein Leben, Signorina. Alles. Die Luft, den Boden, das Blut, die Wärme«, sagte Chiara und trat mit dem Fuß auf, dass der Staub hochwirbelte.
Am frühen Morgen ging das Schiff in See. Es war ein Dampfschiff. Trotzdem musste es von vier voll bemannten Booten in die offene Reede gepullt werden. Dort kreuzte es zwei Stunden angestrengt, bis die Küste endlich dünner wurde und verschwand. Chiara unternahm einen neuen Versuch, in diesen Horizont und seine Linie vorzudringen. Dort lag eine Art imaginärer Zahl auf dem Wasser, eine Erfindung ohne zwingenden Bezug zur Wirklichkeit. Die Entfernung zwischen Schiff und Linie, der Radius des gedachten Kreises, den sie während der Meerfahrt gleichsam mit sich schleppten, erschien auf den ersten Blick gut abschätzbar, änderte sich in Wahrheit aber buchstäblich fließend mit der Betrachtungshöhe, die hier vom Schiff aus vielleicht ein Dutzend Fuß betragen mochte. Worin sich zeigte, dass die Erde eine Kugel war. Chiara musste lachen und hielt nach Bianca Ausschau. Sie hatte eine Idee. Sie kehrte den Spieß um und verfolgte die Signorina über alle Decks. Vor allem auch, weil sie bemerkt hatte, dass die junge Frau schon feste seekrank war. Das ist die Strafe! »Wir sind wirklich, Signorina Bianca«, rief Chiara in das frische Schnattern der Segel. »Aber diese Linie dort draußen ist nur eine Illusion, abhängig von unserem Standpunkt. Auch Sie sind eine Darstellung. Ich sehe Sie von meinem Standpunkt aus und sie mich. Wir wollen hoffen, dass es uns auch unabhängig davon gibt.«
Die junge Frau taumelte wie ein Schiff ohne Segel. Ab und zu rannte sie zum Heck, um sich zu übergeben. Chiara beobachtete sie. Mitleid mischte sich mit Schadenfreude. Der Kapitän erschien und redete vom Essen und dass man tapfer den Horizont im Augen behalten müsse, sonst werde es bloß schlimmer. Er war ein schöner Mann mit voller Stimme. Aber schon der Klang des Wortes »essen« wühlte Bianca auf. »Sehen Sie, Signorina?«, sagte Chiara und fühlte sich bestätigt. Und zum Kapitän gewandt: »Wie heißt die Stadt?« »Marseille«, antwortete er. »Bestimmt ist sie schmutzig und hässlich.« »Ja, sicher.« »Und wie weit ist es bis Berlin?« Der Kapitän hob die Brauen. »Berlin in Deutschland? Das sind tausend Meilen. Fünfzehn bis zwanzig Tage, schätze ich.« »Ich werde die halbe Weltkugel sehen«, sagte Chiara zu Bianca, für die soeben ein Liegestuhl an Deck getragen wurde. Der junge Matrose, der ihn schleppte, zwinkerte Bianca zu. Chiara sah es und kam sich wie ein Kind vor. Bestimmt glaubte er, dass sie die jüngere Schwester sei oder Bianca eine Gouvernante und sie selbst das alberne, verwöhnte Kind aus einer adligen Familie. So würde es die ganze Reise über gehen. Andauernd würden hübsche, junge Kutscher, Diener, Pferdeknechte und Kofferträger um sie sein und nur Augen für Bianca haben! »Wussten Sie, Capitano«, rief sie beherzt, »dass in England vor kurzem Versuche unternommen wurden, ein Dampfschiff statt mit Schaufelrädern mit einer so genannten archimedischen Wasserschraube in Bewegung zu setzen? Diese Schraube ist eine spiralförmig sich um eine Achse windende Eisenplatte und befindet sich am Hintersteven des Schiffs, über der Fortsetzung des Kiels.« Der Kapitän riss die Augen auf.
»Ich habe englische Zeitungen gelesen«, sagte Chiara. »Dort steht, dass man ein Schiff aus Eisen plant mit einer Länge von dreihundertzwanzig Fuß. Es wird, wenn es schwimmt, dreitausend Tonnen Wasser aus der Stelle drängen und mit seiner Dampfmaschine, die tausend Pferde ersetzen würde, wenn sie wie Jesus auf dem Meer laufen könnten, eine Velozität von mehr als zehn Seemeilen pro Stunde erreichen. Wie schnell sind wir?« Der Kapitän lachte. »Velozität, ha ha! Drei Knoten, wenn es hochkommt. Die Maschine schlummert süß die meiste Zeit, besonders wenn man sie mal dringend braucht. Ich habe keinen einzigen richtigen Maschinisten an Bord. Mag sein, dass es Kuhhirten sind, Steinmetze, Bäcker oder begabte Tänzer; aber von Stangen, Rädern und Kesseln verstehen sie nichts. Irgendwo an Land türmt sich ein Gebirge aus Bittbriefen an den Reeder, in welchen ich um die Abstellung dieses Zustands flehe. Ohne Wind und Segel wäre ich längst auf See verhungert und verdorrt, glauben Sie mir, Signorina!« Chiara hielt sich die Hand vor den Mund. Der junge Matrose schielte dauernd zu ihr her. Er hatte langes, blondes Haar und einen weichen Bart am Kinn. Seine Hände waren furchtbar schmutzig, aber sein Mund war schön. Chiara blickte nur flüchtig zu ihm hin, teils weil sie sich schämte, teils weil sie befürchtete, der Kapitän könne es bemerken und ihn an die Arbeit schicken. »Seitliche Schaufelräder drehen sich ungleichförmig und sind zu laut«, sagte sie, um davon abzulenken. Was gar nicht nötig war, denn der Kapitän schob die Unterlippe vor und nickte ihr anerkennend zu. Den gaffenden Jungen hatte er vergessen. »Das ist wirklich auch das Schlimmste. Es schüttelt einem die Seele aus dem Leib, und der Gestank! Da ist mir die Sinfonie der Segel doch viel lieber, oder?« Er wandte sich plötzlich um, als hätte der Junge ihn
gestoßen, blickte in dessen erschrecktes Gesicht und rief: »Was denn, was denn! Das Schiff fällt auseinander und du treibst dich bei den Gästen rum!« Damit kehrte er zurück, nahm Biancas Hand und küsste sie. In Chiaras Richtung machte er eine leichte Verbeugung, entschuldigte sich und wünschte beiden Damen für den Rest der Reise eine gute Fahrt. »Ach, Chiara«, sagte Bianca viel zu laut. Der Kapitän war im Gehen, aber noch nah genug, es vielleicht zu hören. »Ich bewundere dich wirklich. Warum sagst du nicht du zu mir und hörst überhaupt damit auf, immer so kühl und garstig zu sein?« Der Kapitän wandte sich noch einmal um. Chiara machte einen Knicks und wurde feuerrot. »Ist es dunkel, wenn wir Marseille erreichen?«, fragte sie. Bianca zuckte mit den Schultern. »Eher wohl wieder taghell. Aber das hättest du besser den Capitano fragen sollen oder diesen Jungen, der mir den Stuhl gebracht hat.« Chiara wagte gar nicht, Bianca anzusehen. Sie war schon wieder den Tränen nah. Die Welt stand Kopf. »Ich weiß selber nicht, warum ich so hässlich zu Ihnen bin«, sagte sie gegen ihren Willen. Aber es tat gut. »Ich bin aufgewühlt und verletzt. Ich weiß vor allem nicht, wohin mein Leben geht. Ich falle und falle.« »Jeder Mensch an deiner Stelle würde fallen, Chiara«, sagte die junge Frau. »Wir werden eine lange und unruhige Zeit miteinander haben, bis wir in Berlin sind. Lass uns Freunde sein! Ein bisschen.« Chiara hockte sich neben sie und nahm ihre Hände. »Verzeihen Sie mir, Signorina Bianca!« »Sag einfach Bianca und nicht mehr Sie!« »Danke… Bianca.« Chiara legte sich eine der fremden, warmen Hände an die Wange. Sie hatte sogar Lust, Bianca zu umarmen. Aber sie
traute sich nicht. Es war, als hätte das Gefühl eine Lawine mit sich reißen können. »Ein bisschen fürchte ich mich vor der langen Reise«, sagte sie. »Es kann so viel passieren, nicht bloß Unglücke.« »Danke, dass du mir vertraust«, antwortete Bianca. »Ich halte dich für ungeheuer klug und mutig und stark, wie du das alles schaffst. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte soeben meine Eltern verloren. Ich glaube nicht, dass ich auch nur annähernd so tapfer wäre wie du.« »Vielleicht habe ich es auch bloß noch immer nicht richtig begriffen.« Chiara löste sich von den Händen. »Ich ertappe mich immer wieder, dass ich denke: Wenn ich das alles dem Papa erzähle! Oder wenn die Mama mich jetzt sehen könnte!« Nun war es Bianca, die Chiaras Hände nahm und hielt. Chiara wehrte sich jedoch, ging ein Stück weg und trat an die Reling. Die jähe Vertrautheit zwischen ihnen war ihr zu viel. Sie ärgerte sich, dass sie gerade eben so schnell und gedankenlos darauf eingegangen war. »Ich will Sie nicht verletzen«, sagte sie und verbesserte sich: »Dich.« Bianca lächelte. Das Schiff stampfte. Wütend stieß es in die Wellen. Der Bug wurde in die Höhe gerissen und stürzte bebend nieder. Schwere Schläge folgten, die Gischt sprühte bunt schillernde Wolken hoch über die Back ins Lee. Segel wurden gerefft, die Kommandos echoten und jagten sich. Die Männer turnten in den Rahen und Toppen, pfiffen einander zu und fluchten schamlos. Endlich wurde die Maschine angefahren, die Schaufelräder drehten sich. Das Schiff erzitterte. Die Wellen hatten weiße Kronen, im Takelwerk jaulte der Wind. Bianca fröstelte. Plötzlich stand sie aus dem Deckstuhl auf und winkte Chiara zu sich. Sie legte ihren Arm um sie und zog sie mit sich zur Kajütentür.
Drinnen war es kühl und zugig. Sie setzten sich auf eine Bank, von der aus sie durch ein halbblindes Fenster in die Ferne sehen konnten. »Dein Vater war Mechaniker«, sagte Bianca, »kein Mathematiker oder Wissenschaftler. Er muss mit anderen zusammengearbeitet haben.« Chiara war überrascht. Sie hob das Kästchen mit den Knöpfen und Vaters Plänen, stellte es sich auf den Schoß und umarmte es ganz fest. »Nein. Ich meine, ja«, sagte sie und dachte nach, ob sie die entstandene Nähe zwischen Bianca und sich fördern oder bremsen sollte. »Er hat sich mit Leuten in Florenz getroffen. Das waren Professoren. Sie haben meinen Vater sehr geschätzt.« »Und der Messer Luigi?«, fragte Bianca. »Wie spielt er denn da hinein? Wenn ich dich richtig verstanden habe, hat er das nötige Geld, mit dem dein Vater die Maschine hätte bauen können.« Chiara stimmte zu. »Und du glaubst, dass der Tod deiner Eltern damit zusammenhängt?« Bianca schüttelte sich. »Jedenfalls weiß ich«, sagte Chiara, »dass mein Vater Feinde und Neider hatte.« »Und Berlin? Dein Onkel dort?« »Meine Mutter hat nie von ihm gesprochen. Vielleicht hat Onkel Luigi ihn erfunden.« »Das glaube ich nicht«, sagte Bianca. »Angehörige lassen sich nicht einfach aus dem Hut zaubern, besonders dann nicht, wenn sie plötzlich ihre unbekannten Nichten miternähren sollen. Du sprichst doch Deutsch, oder?« »Ja.« Chiara standen wieder die Tränen in den Augen. Sie hasste sich dafür und kniff sich rote Flecken in die Hände.
»Ich mag das Deutsche nicht. Es klingt wie Steine, die man auf einen Haufen schmeißt.« Sie beobachtete Bianca, wie sie lächelte. Noch nie war sie in so kurzer Abfolge zwischen Ablehnung und Zuneigung hin- und hergeworfen worden, und Bianca war die Zauberin, die das bewirkte. Vor einer Stunde noch hatte sie ihr nicht gefallen, nicht mal äußerlich, mit ihrem strengen, aber schönen Mund, der hohen Stirn, dazu die Stimme, die schmal und zittrig klang. Jetzt blickte sie zu Bianca auf. Es war ein Wunder. Vielleicht hatte es gereicht, sie einmal anzugreifen und alle Wut und die Enttäuschung und den ganzen Schmerz der letzten Tage von sich wegzuwerfen. Chiara fühlte sich erleichtert. Sie atmete ruhig und fühlte ihren Herzschlag inmitten des Lärms, der Schläge und Stöße des Schiffs. »Ich habe ein Geheimnis, Bianca«, sagte sie, »das ich noch nie jemandem anvertraut habe. Aber meine Eltern sind nun tot und nichts kann ihnen mehr schaden.« Sie zögerte und blickte lange auf ihre Hände, mit denen sie sich an der Kante eines schmalen, am Boden verankerten Tischs festhielt. »Vor Jahren, als ich klein war, habe ich meine Mutter und Luigi gesehen, wie sie sich küssten. Der Kuss hörte einfach nicht auf, und ich dachte, Luigi wäre im Begriff, die Mama zu töten, und dass er ihr ein Gift aus seinem Mund in ihren legte. Ich war ein Kind und wusste nicht, was ein Kuss ist.« Bianca lächelte flüchtig. »Und was hast du getan?« »Nichts. Ich habe den Schreck und das Rätsel mit mir herumgeschleppt. Lange Zeit glaubte ich, der Onkel Luigi würde uns alle töten. Ich wartete darauf, dass er eines Tages zu mir käme, um mich genauso zu küssen. Wenn er zu Besuch kam, brachte er oft kleine Kuchen mit. Ich habe sie nie gegessen und manchmal heimlich weggeworfen.« Ein Steward brachte Tee.
»Ich habe sie lange beobachtet, Mama und Luigi. Sie haben sich auf sonderbare Weise angesehen.« »Und dein Vater?« »Papa grübelte über seiner Arbeit. Ich glaube, wenn er es erfahren hätte, wäre nichts passiert. Mama und Luigi haben sich vielleicht sehr gemocht. Aber damals dachte ich wirklich, wir müssen alle sterben oder dass wir entführt werden oder krank würden von dem Gift, das Onkel Luigi unaufhaltsam zu uns brachte. Diese alten Ängste sind nie ganz aus meinem Herzen verschwunden.« Sie tranken. »Wenn sie sich sehr mochten«, sagte Bianca nach einer Weile, »dann passt das eigentlich nicht zu dem Verdacht, der Messer hätte etwas mit dem Tod deiner Eltern zu tun, oder?« »Ja«, sagte Chiara und starrte durch das Fenster. »Ich habe dann auch allmählich verstanden, was da wirklich geschehen war. Je älter ich wurde, umso eindringlicher erschien es mir in der Erinnerung, und natürlich hörte ich irgendwann auf zu glauben, Luigi hätte uns vergiften wollen. Ich spürte bald, dass viel mehr dahinter steckte, etwas sehr Starkes, Fremdes und furchtbar Erwachsenes, das es zu ergründen galt.« »Die Liebe?«, flüsterte Bianca. »Die Liebe«, sagte Chiara und wurde bleich.
Der kräftige Wind ließ bis Marseille nicht nach. Bianca erholte sich. Stattdessen wurde Chiara krank. Die Nacht verbrachte sie fast schlaflos, eng an Bianca gedrückt in einer Art Wandschrank mit großen Schiebetüren. Als der Tag dämmerte, lag im Norden ein grauer, trüber Streifen auf dem Wasser. Frankreich. Am Nachmittag wurde ein bewohnter Hügel sichtbar.
»Das ist Marseille«, erklärte der Kapitän. »Sehen Sie, dort!…« Er deutete zur Küste hinüber. Der Himmel hatte helle, bläuliche Streifen. Eine Stunde später brach die Sonne durch die Wolken und wärmte das Schiff, die Luft und die zehrenden Herzen. An Land ließ sich Bianca vom Kapitän eine Herberge empfehlen, wo man sich bis zur Abfahrt mit der Kutsche ordnen, waschen, umziehen konnte. Das Haus stand am Fuß eines Hügels. Sie kehrten ein, das Zimmer war sehr eng. Chiara bedrängte Bianca, mit ihr den Hügel hinaufzulaufen. Aber Bianca wehrte ab. Am liebsten wäre Chiara sofort alleine losgegangen oder besser noch: gar nicht auf den Hügel, sondern in die Hafengassen, wo die Fischer und Matrosen, die Mädchen und die Händler durcheinander schrien und wo es recht gefährlich war und jedes Haus voll Leidenschaft und Sünde. Chiara hoffte, träumelte. Sie berührte in Gedanken die feuchten Netze, die Borde der schlafenden Schiffe, die starken, festen Poller, die eisernen Arme der Kräne, die Gurte der Lastenträger, den Schweiß der Hemden, Reepe und Türgriffe, die Schwänze der Fische und rollenden Augen der sterbenden Langusten, die blutigen Messer… Sie roch an ihren Händen und schauderte und sehnte sich und schämte sich. Sie sah sich selbst im Wasser des Hafens ertrinken, bekleidet mit Spitzen und schneeiger Seide… »Du hast heute Nacht im Schlaf geredet«, sagte Bianca. Sie kämmte sich. »Und was?«, fragte Chiara erschreckt. »Es klang sehr ängstlich und gehetzt.« »Ich erinnere mich an nichts«, schwindelte Chiara. Die Nähe zu Bianca erschien ihr plötzlich wieder fremd und fast gefährlich. Sie hatte viel zu viel von sich verraten. Sie saß auf ihrem Bett und hatte das Intarsienkästchen mit seinen
verborgenen Fächern auf dem Schoß und äugte zu Bianca, ob sie hersah. Aber Bianca lächelte versteckt. Im Salon tranken sie Kaffee und Schokolade. Später brachte sie eine altmodische Pony-Chaise, die zum Hotel gehörte, in die Stadt, zum Corso, einer breiten Straße zwischen Alt- und Neustadt, wo schon der vierspännige Lyoner Scheibenwagen stand und wartete.
Die Straßen waren schlecht. Nicht mal ein Buch zu lesen war in Ruhe möglich, und Essen überhaupt nicht, ohne dass das Brot bei jedem Sprung der Kutsche in die Höhe sprang. Neben Chiara und Bianca saßen zwei weitere Leute, eng wie Vieh gepfercht, »in diesem Folterwagen«, wie Chiara bitter lachend sagte. Ein dunkel blickender Mann mit hohem, steifem Hut und eine Dame, die ihr Gesicht hinter einem Schleier verbarg. Alle schwiegen lange, als wären sie schon tot. Erst weit nach Mittagnacht erreichten sie das Außentor von Arles; die beiden Kutscher waren längst betrunken. Der Rasthof hatte nichts zu essen außer Flöhe, die Wirtin stank nach Schnaps, und ihre Knechte waren junge Diebe, die bis zum Morgen flüsternd durch die dunklen Flure schlichen. Am andern Tag, hinter Orange, entspann sich ein Gespräch. Ein fünfter, lebhafterer Fahrgast war hinzugestiegen. Er war, wie er erzählte, ein Ingenieur und baute »Telegraphenstrecken«. Chiara traute sich zu fragen, was das sei. »Ein Wunder!«, antwortete der Ingenieur lebhaft. »Ein Wunder der Technik, das die Welt verändern wird. Ich denke, wir sind alle der Meinung, dass die Welt ein bisschen Veränderung gebrauchen kann. Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich, sagen wir, in Lyon, in einem Hospital. Ihr Vater ist todkrank…«
Chiara wurde bleich. »Ihr Vater soll operiert werden, aber es fehlt eine wichtige Information, die der Arzt dringend benötigt, um den Eingriff vorzunehmen. Das Leben Ihres Vaters hängt von dieser Information ab…« Chiara suchte Biancas Blick. Sie bezwang sich und hörte aufmerksam zu. »Die Information, das weiß der Operateur, liegt in Paris, verstehen Sie?« Der Ingenieur starrte Chiara an. »In Paris! Eine Reisewoche von Lyon entfernt! Ihr Vater wird sterben, wenn diese Information nicht von Paris nach Lyon gelangt.« Er machte eine kleine Pause. Dann sagte er mit gehobener, bebender Stimme: »Wir aber… wir bauen ein Telegraphenrelais! Für Ihren Vater!« Alle blickten ihn an. Er stülpte die Unterlippe vor und sonnte sich in der Bedeutsamkeit seiner Worte. Jeden einzelnen der Mitreisenden sah er eine Weile an und nickte dabei langsam mit dem Kopf. Chiara fühlte ihr Herz schlagen, sie faltete die Hände und wartete auf die beginnende Rettung. Vor allem durfte sie nicht zurückblicken, fiel ihr ein, nicht in ihr Leben zurückschauen und daran denken, dass diese Reise nur in eine Richtung ging, dass sie Italien, die Heimat vielleicht nie Wiedersehen würde, dass sie eine neue Heimat finden musste, obwohl sie es nicht wollte. Wie macht man eine neue Heimat? Sie riss sich heraus und zwang sich, weiter zuzuhören. »Allerdings muss ich voraussetzen«, fuhr der Ingenieur fort und erhob den Zeigefinger, »dass jeder von Ihnen weiß, was es mit der Elektrizität auf sich hat und wie die elektrische Telegraphie funktioniert.« Wieder wanderte er bedeutungsvoll von Blick zu Blick. Die Kutsche stürzte in ein Schlagloch. Chiara erschreckte sich. Sie schrie verhalten und schlug sich
die Hände vor den Mund. Es war ihr peinlich. Bestimmt sah man ihr an, wie einsam und verloren sie sich fühlte. »Bei der Telegraphie«, dozierte der Ingenieur, »wird die elektrische Kraft durch einen Eisendraht geleitet, wobei man sagen muss, dass dieser Strom ausgesprochen schnell ist, wesentlich schneller als zum Beispiel diese Kalesche, in der wir sitzen und leiden…« Er lachte. »Also sehr, sehr schnell, blitzschnell, wie man ja auch sagt. Von Lyon nach, sagen wir, Trévoux, das ist nicht weit. Das Problem ist nun, dass der Strom beim Fließen immer schwächer wird. Wenn er in Trévoux ankommt, ist kaum noch etwas zu spüren; es reicht gerade, um den Telegraphenzeiger zu bewegen, und das war’s auch schon.« Er machte ein trübes Gesicht. Chiara musste lächeln. Der Ingenieur sah aus wie ein Huhn, sein Kopf bewegte sich ruckartig, die Augen klebten weit getrennt am Schädel und funkelten verwirrt. »Wenn wir den Vater dieser Signorina retten wollen, brauchen wir frische Elektrizität für den nächsten Abschnitt der Reise bis Paris. Statt also einen Zeiger zu bewegen, bewegen wir in Trévoux nur einen Schalter!« Er klatschte in die Hände. Chiara hatte nun alle Farbe verloren. Sie blickte auf den Boden. Sie hätte davonlaufen können, aber die Stiefel waren schwer, als wären sie voller Lehm, wie früher, wenn sie im Garten gespielt hatte, nach dem Regen und wenn der Boden umgeworfen war. Man lief und rannte, aber die Klumpen Lehm wurden immer größer und machten jeden Schritt zur Qual… »Da also tritt die moderne Technik auf den Plan und siehe, es gibt eine Rettung!« Der Mann riss die Hände in den Kutschenhimmel. »Der Schalter in Trévoux, was macht er? Er schaltet also frischen Strom hinzu und weiter geht’s! Nach Villefranche und so weiter. Es ist ein Wunder. Wir retten ein Leben! Das Telegraphenrelais verfügt über eine Batterie oder
einen Dynamo. Die lebensentscheidende Frage des Operateurs wird von Posten zu Posten weitergeleitet, bis nach Paris. Die Antwort kehrt zurück und der Vater kann leben, er kann leben, er lebt, er lebt!…« Der Ingenieur hatte Tränen in den Augen. »Wir haben ihn gerettet, Mademoiselle!« Er griff nach Chiaras Händen. Auch sie weinte und wischte sich verstohlen das Gesicht, schaute durch die Fenster auf die vorüberfliegenden Bäume, die ziehenden Felder und die in der Ferne kriechenden Dächer und Schlote. Die Kalesche wurde langsamer und hielt an. Die Pferde scheuten. Es musste ein Hindernis im Wege sein, denn weit und breit waren kein Haus und keine Seele zu sehen. Alle drängten an die Scheiben. Ein unterwegs zugestiegener Fahrgast, der neben Bianca saß und sich als »Pädagog und Wundarzt« ausgewiesen hatte, öffnete den Schlag und lehnte sich hinaus, um mehr zu sehen. »Was ist, die Herren Postillione?«, rief er. »Nichts!«, war die erstaunliche Antwort. »Gar nichts?« Der Wundarzt drückte den Schlag auf und stieg auf die staubige Landstraße hinunter. Chiara folgte ihm. Sie war froh, sich ein bisschen die Beine vertreten zu können. Die Pferde standen still; einer der Kutscher ließ den Riemen der Peitsche über ihre Rücken streichen und schnalzte. »Sie wollen nicht«, sagte er. »Aber es gibt keinen Grund.« Der Wundarzt zog die Brauen hoch, wandte sich um und suchte in den Gesichtern der anderen Rat, die nun ebenfalls ausstiegen, sich reckten und große Augen machten. Die Straße war frei, nichts Erkennbares versperrte den Tieren den Weg. »Und was nun?«, fragte der Ingenieur. Er blinzelte umher, ging hierhin, dorthin, blickte unter den Wagen, rüttelte an der Deichsel, prüfte die Räder und Achsen. »Die Pferde haben ihren eigenen Kopf. Was gedenken Sie zu tun, meine Herren?
Ich schlage vor, wir legen eine gute Pause ein und sehen dann weiter. Vielleicht liegt was in der Luft.« »In der Luft!«, sagte der Arzt mit ironischem Unterton und schüttelte den Kopf. Bianca fasste Chiara am Arm und erzählte ihr leise, wie sie einmal in der Nähe von Florenz mit einem Pferdewagen liegen geblieben sei. Niemand habe die Rappen dazu bewegen können, auch nur einen Schritt weiterzugehen. »Stregoneria!« Wie verhext! »Und?«, fragte Chiara. Bianca lächelte nachdenklich. »Sie wurden ausgetauscht und erschossen.« Chiara löste sich von ihr und trat zur Seite. Der Wundarzt war nach vorne gelaufen. »Es ist nichts!«, rief er. »Ich sehe nichts, ich höre nichts, ich fühle nichts.« Er hob die Schultern und ließ die Arme fallen. »Herr Ingenieur! Das ist wohl Ihr Metier. Die Pferde sehen ein elektrisches Gespenst, sie wittern diesen Zitterstoff, von dem man in den Zeitungen liest. Dort heißt es, dass der Zitterstoff, mit der die Elektrizität einhergeht, auch Krankheiten verursacht. Was sagen Sie zu diesem Fortschritt?« Chiara spürte den Angriff. »Herr Doktor«, sagte der Ingenieur versöhnlich, »bislang hat niemand einen Weg gefunden, diesen Zitterstoff wissenschaftlich nachzuweisen.« »Wissenschaft, Wissenschaft!«, rief der Wundarzt. »Ich wette, es sind neunundneunzig Dinge von hundert in der Welt, die die Wissenschaft nicht messen kann. Und die Pferde? Warum gehen Sie nicht hin und reden wissenschaftlich auf sie ein?« Er winkte ab und wollte keine Antwort hören. Der Ingenieur zog den Mund breit. »Weil es Pferde sind«, sagte er so leise, dass nur Chiara es hörte. Sie schmunzelte ihm zu.
Da kam der Arzt zurück, blieb vor dem Ingenieur stehen und sagte mit zittriger Stimme: »Sie vergessen Gott, Monsieur! Gott! Das ist es. Als Pädagoge muss ich mich vor diesem Krieg verwahren.« »Vor welchem Krieg?« »Vor dem Krieg der Aufklärung«, wetterte der Wundarzt. »Was sollen beispielsweise diese jungen Damen denken, wenn sie hören, dass im Grunde alles nur Elektrizität ist und unser Herrgott gar nichts tun kann, um unsere Seelen vor dem Unheil zu bewahren? Sagen Sie mir das!« »Sie übertreiben, Signore«, sagte der Ingenieur, noch immer erstaunlich gefasst. »Ich denke nach und reagiere, mein Herr«, wehrte sich der Arzt und Pädagoge. »Wir reden über nichts, das ist das wahre Problem. Vor uns steht ein exemplarischer Fall. Wir sind abhängig von dem, was wir wahrnehmen, und nun stehen wir hier und nehmen nichts wahr. Nur die Pferde wissen, was sie stört.« »Und Gott«, sagte der Ingenieur. »Und Gott«, bestätigte der Arzt und blickte kritisch. Chiara tat einen Schritt zur Seite. Der Wundarzt war zu dicht neben ihr stehen geblieben und roch nach Schweiß und Käse. Der Ingenieur stand in Biancas Nähe und wischte sich mit einem Tuch das Gesicht. Die Pferde schnaubten. Chiara sah das Fell zittern, elektrisch zittern, dachte sie und ließ den Blick über die öden Felder streifen. Sie ging ein Stück auf den Wegrain zu, trödelte, ohne weiter auf die Streithähne hinter sich zu achten, die sich Wort und Widerwort zuwarfen, während die beiden Kutscher, die auch längst herabgestiegen waren, bei den Tieren standen und aufgeregt tuschelten. Die Stimmen klöppelten hölzern in der trockenen, windstillen, summenden Luft. Es war wie auf dem Theater, von dem die
Mutter erzählt hatte, wenn sich ein Stück im Stück ereignete und sich die Wirklichkeiten überlagerten. Ihr wurde warm, das Kleid war hinderlich, wie immer. Überhaupt stellte sich die Frage nach der Wirklichkeit dessen, was sich soeben hier ereignete. Es war gar nicht die sinnliche Realität, an der Chiara zweifelte. In Gedanken erhob sie sich über dieser offenen Bühne und blickte von oben auf die Straße herab. Sie sah die Kutsche auf dem Weg stehen, die Pferde davor und die Menschen, auch sich selbst – sie sah die Farben der Felder, Gräben und Oleanderbüsche in der Umgebung und die dunklen Töne der Erde. Bis vor kurzem war ihr das Leben wie ein großes Spiel erschienen. Jeder, den sie kannte, hatte seine Rolle, seine Aufgabe gehabt und daraus seinen eigenen Sinn erhalten. Nur selten war diese Kinderwelt durchbrochen worden, etwa, als vor ein paar Jahren ihr Hund Pino krank geworden und vom Vater fortgebracht worden war, »an einen Ort, wo das Leid ein Ende hat«. Oder als die Großeltern gestorben waren, vor noch längerer Zeit. Ein andermal hatte es in der Nachbarschaft ein Feuer gegeben; vier Menschen, die sie kannte, waren umgekommen, und Chiara hatte wochenlang geträumt und auch im Wachsein Angst gehabt, den Toten zu begegnen. Solche Dinge passten nicht in das Spiel, in welchem alles, jedes Ding und Wesen, irgendwie beseelt gewesen war, das Brot, ein Messer, der Tisch, der Fliederbaum, die Säge, jede Maus und jede blaue Fliege auf den Fensterscheiben. Allerdings war dieses Märchenleben nicht erst mit dem Tod der Eltern zerbrochen, sondern schon längst vorher. Still und schleichend hatte alles eine eigentümliche Schräglage eingenommen, wie eine Insel, die sich als riesiges, steuerloses Schiff entpuppt. Die elterliche Katastrophe war der Sturm gewesen, der das Schiff zum Kentern brachte und versinken ließ. Sie, Chiara, allein zurückgeblieben, schwamm jetzt in
einem Ozean und um sie her dümpelten alle anderen Dinge: Brote, Tische, Sägen, Kutschen, Pferde, Menschen und natürlich alle Vögel, Fliegen, Ingenieure, Wundärzte und Postillione dieser irr gewordenen, wild zerrissenen Welt. Früher hatte der Tisch die Säge gekannt, die ihn zerschnitt; die Säge kannte den Baum, aus dessen Holz ihr Griff hergestellt worden war; das Brot trug dieselbe Seele in sich, die der Wind ins Kornfeld wehte; und natürlich konnten Pferde sprechen und Fliegen, Steine und das Gras, das immer vornehm schwieg. Chiara ging zurück zur Kutsche. »Verzeihung, Signore. Darf ich etwas sagen?«, fragte sie den Wundarzt. »Ich glaube nicht, dass es uns etwas angeht, was die Pferde tun oder nicht tun.« Der Mann machte den Mund auf, die Winkel zuckten erregt. Sein Blick fuhr in Chiara wie ein Messer hinein. »Ach, bitte, halten Sie mich nur nicht für ungezogen oder vorlaut«, sagte sie schnell. »Aber ich denke wirklich, dass diese Tiere ihre eigene Freiheit haben. Sie gehen oder sie gehen nicht.« Sie blickte zu Boden. »Eine Philosophin mitten unter uns!«, rief der Ingenieur amüsiert. »Eher eine junge Spötterin«, antwortete der Arzt. »Noch dazu eine, die sowohl Gottes Ordnung als auch den kausalen Kosmos leugnet, um den Sie sich ja wissenschaftlich bemühen.« In diesem Augenblick rief einer der Postillione herüber, dass man die Ursache für die Unterbrechung gefunden habe. Ein Dorn werde soeben aus dem Huf eines der Pferde gezogen. »Woraus wir lernen«, meinte der Ingenieur, »dass hinter jedem Nichts ein Etwas steckt.« »Wenn Sie all dies hier von oben wie ein Vogel sehen würden, Monsieur«, sagte Chiara mutig, »wären Sie bestimmt
bereit zu glauben, dass dieser Dorn nicht die geringste Rolle spielt…« »Sie ist mir unheimlich«, raunte der Wundarzt dem Ingenieur beim Einsteigen zu. Chiara ließ sich nichts anmerken. Die Kalesche fuhr weiter. Chiara zählte die Wegsteine, die Bäume, die Dächer und Scheunen, Menschen und Tiere. In Valence aß man Graupensuppe. Bis Lyon, erklärte sie dem Ingenieur (mit dem Wundarzt mochte sie nicht reden), seien es von hier noch zwölf Meilen. Sie habe zu Hause auf einer Karte nachgesehen. Von Lyon bis Straßburg betrage die Strecke etwa fünfzig Meilen, und zwischen Straßburg und Berlin lägen weit über hundert. »Hundert Meilen!«, wiederholte sie mit hoher Stimme. »Alles in allem werden wir mehr als zweihundert Meilen zurückgelegt haben, wenn wir am Ziel sind. Wenn ich einen Kreis um mein Heimatdorf schlage mit diesem Radius, berühre ich Le Havre, Valencia, Tunesien, Athen beinah, dann Bukarest und schließlich Warschau…« Niemand außer ihr und Bianca reiste bis Berlin. Der Ingenieur verließ die Kutsche schon in Besancon, der Wundarzt in Beifort, wo eine Achse brach und man den Wagen wechseln musste. Die Dame mit dem Schleier wurde krank. Sie erbrach sich lästernd aus dem Fenster und nahm bis kurz vor Mülhausen lang hingestreckt und in Decken eingehüllt die vordere Sitzbank in Beschlag, während sich der Rest der Reisenden mit der anderen Bank begnügen musste. Als man die Dame aus dem Wagen trug, stolperte ein Knecht, brach sich das Bein und musste seinerseits getragen werden. Der neue Helfer stach sich an einem Ast ein Auge aus. Der Schmied des Dorfs erklärte, dass diese Kette von Unglücken nur mit Gewalt zu brechen sei. Man schlug zwei Katzen tot. Eine Hexe wurde hergerufen, die Weidenruten schnitt und auf
bestimmte Weise flocht und an die Deichsel hängte. Chiara sah aus der Entfernung zu und betete. Dann fuhr man weiter, und sie zählte hundertdreizehn Elfen in den Kronen der Platanen, deren Laub noch jung war. Der Schwarzwald drückte. In Kolmar starb ein Pferd, in Straßburg stürzte eine Brücke in den Fluss. Bis Rastatt zählte Chiara sechzehnhundert blühende wilde Apfelbäume und siebzehn leere Galgen, bis Würzburg hundertdreiundzwanzig Dörfer. Bis Erfurt sah sie hundertelf Marienbilder, die sie dreimal mit sich selber malnahm, daraus die Wurzel zog und eins, eins, sechs und neun erhielt. Am zwölften Tag, seit sie Marseille verlassen hatten, stand der Vater plötzlich winkend am Rande einer Lichtung, allein, verloren, wie ein verirrtes Kind. Chiara schrie und sprang zum Fenster und lehnte sich hinaus. Da war das Schauerbild verschwunden.
Das Universum ist zu klein für ihn
Es war doch schaurig! Im letzten Tageslicht, zum Abendessen, erreichte die Kalesche Potsdam. Von hier ging es durch dichten Wald. Es wurde Nacht. Sie polterten durch Dörfer, nur ein paar Fenster leuchteten schwach. Dann war es wieder finster. Fast bis zur großen Stadt, die sich mit einer breiten Straße ankündigte, ebenfalls in tiefer Dunkelheit verborgen. Chiara sah nur Silhouetten, rechts und links, sehr stattliche Fassaden, aber alles grau und lichtlos. Schließlich durchführen sie ein großes Tor; hier brannten ein paar Laternen und ein Straßenfeuer loderte, um das sich eine Schar Soldaten die kalten Hände rieb. Dahinter wurde es gleich wieder dunkel. Sie fuhren lange, bogen hier nach links und dort nach rechts. Die Straßen wurden eng. Und endlich hielt der Wagen irgendwo, kein Licht und Leben weit und breit, wie tausend unbewohnte Häuser. Die Kutscher sprangen ab und öffneten die Schläge, klappten die Treppen aus und lösten auf dem Wagendach die Koffer. Chiara stieg als Erste aus. Sie stand vor einem hohen, dunklen Wohnhaus mit dunklen Fenstern unter einem dunklen Himmel, der zur Begrüßung alle Sterne und den Mond verschlungen hatte. Dann, endlich, öffnete sich vorne eine Tür und eine einzelne Laterne warf ein fahles Licht auf ein Gesicht, das langsam näher kam: »Das junge Fräulein aus Italien? Ich heiße Jakob. Die Familie schläft schon. Benvenuto in Berlin! Piacere di conoscerla.« Der Diener begrüßte auch Bianca, die soeben aus der Kutsche stieg. Er reichte Chiara die Laterne, nahm dem Postillion die Koffer aus der Hand und schleppte sie zum Haus. »Hier
drinnen darf ich kein Licht entzünden«, sagte er leise. »Der Professor hat es streng verboten.« Er schloss die Haustür. Draußen entfernte sich die Kutsche. »Außerdem hat der Herr Professor entschieden, dass, wenn das junge Fräulein später als Mitternacht eintrifft, es leider in der Kutsche nächtigen muss.« Das leider habe er, Jakob, in den Satz eingefügt. Chiara blieb dicht neben Bianca stehen. Das Ganze war ihr unheimlich. Am liebsten hätte sie das Haus sofort wieder verlassen oder sich an Bianca festgehalten. Sie hielt das Licht in die Höhe. Dann reichte sie es dem Diener, der zur Treppe ging. Er legte den Finger an den Mund und nahm die ersten Stufen. Chiara ergriff ihren Koffer und folgte ihm; Biancas Reisetasche blieb in Jakobs Hand. Im dritten Stock wurde die Treppe schlicht und roh. Vor einer Speichertür blieb Jakob stehen und wandte sich um. »Ich dachte, dass den Fräuleins der Reisewagen als Schlafzimmer doch nicht so recht behagen möchte.« Damit öffnete er die Tür und betrat den Speicher. Er drückte eine neue Tür auf und leuchtete in die Kammer, die dahinter lag und von einem Bett und einem Schrank fast gänzlich ausgefüllt wurde. Chiara trat ein und stellte den Koffer hin. Sie fühlte, wie alle Kraft von ihr abfiel. Leere und Erschöpfung krochen bis in ihre Glieder vor. »Nu schlafen Sie erst mal wohl«, hauchte der Diener. Er machte eine Kerze an. Schließlich empfahl er sich mit einer seltsamen Verbeugung und schloss hinter sich die Tür. Die Enttäuschung lag Chiara wie ein großer Stein in der Brust. »Ich beneide dich schon jetzt, dass du wieder nach Hause fahren darfst«, flüsterte sie. Bianca nahm sie in den Arm.
Sie packten nur das Notwendigste aus, legten sich beide in das Bett und schliefen sofort ein. Als Chiara erwachte, hatte sie Kopfschmerzen und sah ein Stück grauen Himmel im Geviert eines winzigen Dachfensters schräg über dem Bett. Von draußen klang Wagenrasseln in die Kammer. Bianca schlief noch fest. Sie hatte Chiara den Rücken zugewandt und pustete leise. Chiara schaute sich um. Wenn dies ihr zukünftiges Zuhause werden sollte, würde sie davonlaufen, so viel stand fest. Irgendwie würde sie sich bis nach Hause durchschlagen, und wenn es ein Jahr dauern sollte. In Italien gab es Freunde und Bekannte, hier gab es nichts. Nicht mal Berlin, die große Stadt, von der sie bis jetzt keinen Stein gesehen hatte und keinen Menschen außer Jakob, dem Diener. Sie schloss die Augen, gewann die Überzeugung, dass sie noch gar nicht wach geworden war, und dachte an die toten Eltern. Sie wurde ein zweites Mal wach. Diesmal schien die Sonne gelb herein. Bianca war schon aufgestanden und zog sich an. »Ich habe Stimmen gehört«, sagte sie. »Bestimmt klopft gleich der Diener an die Tür.« Chiara fühlte sich schrecklich. Der Kopf tat ihr noch immer weh, sie hatte weder Kraft noch Mut, um aufzustehen und diesem neuen, völlig fremden Leben zu begegnen. Am liebsten hätte sie sich unter die Bettdecke verkrochen und wäre nie wieder aufgetaucht. Sie wollte keine Stimmen hören, schon gar keine, die Deutsch sprachen und denen sie womöglich etwas antworten musste. Sie hatte nichts zu sagen, keinem Diener und keinem Onkel, den sie gar nicht kannte. Sie würde Jakob um Papier und Schere bitten, tausend Ziffern ausschneiden und die Wände dieser jämmerlichen Kammer tapezieren, damit sie nicht erstickte. Sie blickte Bianca Hilfe suchend an. »Ich will nichts, gar nichts. Ich bin nichts…«
»Chiara, sei vernünftig!« »Ich kann nicht. Ich habe meine Vernunft in Marseille verloren, in Lyon, Straßburg, Würzburg, Halle oder was weiß ich…« Bianca schüttelte den Kopf und wickelte ihr Haar in einen festen Knoten. »Es ist deine Familie!« Chiara lachte ernst. »Woher soll ich das wissen? Wer beweist mir das? Ich kenne diese Menschen nicht. Es sind Chinesen oder Indianer. Ich bin am Ende der Welt und am Ende meines Lebens.« »Jetzt kokettierst du aber.« »Und wenn schon…« Chiara machte Fäuste. Im selben Augenblick wurden Schritte hörbar. Jemand klopfte an die Tür. »Nein!«, sagte Chiara. »Ja, bitte!«, rief Bianca schnell. Es war Jakob. Er sah bei Licht ein wenig abgerissen aus. Der Rock hatte abgeriebene Stellen und an den Füßen trug er Holzpantinen. »Wenn die Fräuleins fertig sind… Der junge Herr wartet schon beim Frühstück.« Er ließ die Tür angelehnt und ging weg. Die hölzernen Schritte entfernten sich. »Ist doch reizend«, sagte Bianca. »Der erste fremde Mensch und es ist gar kein Indianer!« Chiara knurrte. Dann warf sie die Decke zurück und stemmte sich aus dem Bett. Sie zog sich an, steckte ihr Haar hoch und hasste sich. »Aber du bist schön, wie du bist«, behauptete Bianca. Sie schob Chiara nach draußen, und sie gingen, beide ängstlich, die Treppe nach unten, wo alle Türen zu waren und niemand sie empfing. Doch es roch nach Kaffee und irgendwo wurde ein Stuhl gerückt; es quietschte hässlich auf dem steinernen Boden. »Wer ist der junge Herr?«, fragte Chiara. »Mein Onkel?«
Eine Tür flog auf. Ein Junge in Chiaras Alter stand da und lachte über den Schreck in den Gesichtern. »Ich bin Toto, meine italienischen Damen! Als ich zur Welt kam, habe ich gelacht und alle fürchten sich vor mir.« Er hatte eine helle Stimme, blondes Haar und war etwas kleiner als Chiara. Er trat zu ihr hin, gab ihr artig die Hand und sagte: »Theodor Göttling, Ihr Vetter und Cousin.« Dann begrüßte er Bianca. »Mein Vater ist außer Haus, wir können frühstücken.« Er bot die Plätze an. Jakob hielt eine riesige Kaffeekanne in der Hand, kam klappernd näher und goss die Tassen halb voll. Toto starrte Chiara an. »Ich träume manchmal von Italien«, sagte er. »Ich glaube, dass die Luft dort eine Art Färbung hat, vielleicht palmengrün, und dass es überall nach Nüssen riecht.« Chiara lächelte. Ein paar deutsche Sätze schwirrten ihr durch den Kopf, aber sie war zu aufgeregt, um auch nur ein Wort zu sagen. »Unser Vater hat nie erzählt, dass er eine Schwester in Italien hatte. Wir waren von der Nachricht sehr überrascht. Meine Mutter hat geweint. Wenn sie Sie kennen lernt, wird sie wieder weinen. Sie weint sehr schnell in letzter Zeit.« Chiara wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie nippte an dem Kaffee und wagte kaum, den blonden Jungen anzusehen. »Erschrecken Sie nicht, wenn mein Vater nach Hause kommt«, sagte er und hüstelte. »Sie werden sich bestimmt erschrecken. Er ist Professor und ein wenig seltsam. Normalerweise sagt man, um höflich zu sein, dass einer es nicht so meint, wenn er so ist. Aber ich möchte das nicht sagen.« »Sie sind sehr ehrlich«, sagte Chiara leise auf Italienisch und merkte, dass sie bleich wurde. Sie versuchte es auf Deutsch. Toto lächelte.
»Jetzt müssen Sie aber was essen.« Er nahm Brot, Butter und Konfitüre, stellte sie in die Nähe der beiden Teller und nickte auch Bianca auffordernd zu. »Leider spreche ich kein Italienisch. Bitte, sagen Sie dem Fräulein Bianca, dass sie in unserem Hause willkommen ist, egal, wie sich mein Vater benehmen wird.« Chiara übersetzte es und wechselte mit Bianca ein paar Blicke. Dieses Berlin wurde ihr immer unheimlicher. Nichts schien einfach und normal zu sein. Oder sie war überempfindlich und ihre Furcht verzerrte alles nur. Oder dieser Toto sagte Dinge, die jeden anderen Menschen ebenso verunsichert hätten; am Ende war er nur ein bisschen überdreht, wie alle Jungen. Toto winkte ihr zu. »Machen Sie sich keine Sorgen. Meine Mutter, Helene und Minchen werden Sie mögen.« Sie aßen schweigend. Sogar Jakob, der Diener, hatte sich an den Tisch gesetzt und frühstückte. »Der junge Herr«, sagte er nach einer Weile, »ist nur für Sie daheim geblieben. Er hat mit seinen Schwestern nach Strausberg sollen, zum Frühlingsfest. Aber er wollte partout nicht.« »Das war ein Geheimnis, Jakob«, sagte Toto und wurde rot. »Oh Verzeihung, junger Herr«, murmelte der Diener kauend. Die beiden feuerten sich Blicke zu. Aber es war nicht mit ganzem Ernst, nicht böse; Chiara spürte es. Sie ließ sich nichts anmerken und verlegte sich aufs Beobachten und Stillesein. Es war alles furchtbar seltsam und unendlich fremd. »Das Frühlingsfest ist albern«, stellte Toto fest. »Jakob übertreibt. Sie waren es nicht ganz allein, Fräulein Chiara. Obwohl: Gehört es sich denn etwa, einen Gast dem leeren Haus zu überlassen? Einfach so?« Er bohrte seine hellen Augen in ihren Kopf. Sie blickte weg.
»Sie sind jetzt… eine Waise«, sagte er plötzlich. Seine Stimme war leiser und schwimmend. »Darf ich Ihnen mein Mitgefühl aussprechen?« Er erhob sich flüchtig und verbeugte sich. Jakob machte es ihm unbeholfen nach. Chiara nickte ausdruckslos, unsicher, ob das alles ehrlich war und überhaupt zu glauben. Auch Bianca blickte verlegen umher. »Man sagt, Ihre Eltern seien nachts erstickt. Der Kamin oder die Öfen…«, sagte Toto. Es klang betroffen. Chiara nickte. Der Junge legte das Brot zurück, von dem er soeben hatte abbeißen wollen. »Ich hatte einen Schulkameraden, dem ist es vor ein paar Jahren passiert. Ich habe versucht, sein Unglück nachzufühlen. Ich kroch ihm in die Seele oder ich glaubte es zu tun. Ganz umsonst. Es geht nicht. Wir sind allein in uns, nicht wahr?« Er blickte Chiara an, so offen und frei, dass sie sich schämte, auch nur für einen Moment an seiner Ehrlichkeit gezweifelt zu haben. »Ich habe das Gleiche erlebt«, sagte sie auf Deutsch. »Und auch, als ich neun oder zehn Jahre alt war. Ein seltsamer Zufall, oder?« »Wenn es ein Zufall ist«, sagte Toto bedeutungsvoll und aß weiter. »Ach!«, rief sie, plötzlich mutig geworden. »Wir wachen so einfach in das Leben auf, nicht wahr, und denken, aha, so geht das also und dies und jenes. Aber dann merken wir, dass wir gar nicht der… sovrano…« »Herrscher«, sagte Jakob überraschend. »… der Herrscher im eigenen Haus sind.« Chiara strahlte stolz. Toto hatte aufgehört zu kauen. Er schluckte ein paarmal herzhaft. Dann machte er sich gerade und legte die Hände vor sich auf den Tisch.
»Na gut«, sagte er. Sonst nichts. Chiara wartete. Alle warteten. Jakob blies die Wangen auf. Bianca zupfte an einer eigensinnigen Strähne, die ihr dauernd vor die Augen flog. Sie verstand kein einziges Wort. »Ich meine«, redete Chiara weiter, denn Toto schwieg beharrlich, »dass unsere… contentezza…« »Zufriedenheit«, übersetzte Jakob prompt. »… dass unsere Zufriedenheit, die wir vielleicht empfinden, labil ist, ein… ragna…« »Ein Spinnennetz.« »… ein Spinnennetz ist… mit viel Gewinn, aber sehr empfindlich.« Chiara blickte Jakob an. Sie musste gar nichts fragen. »Ich habe vier Jahre lang bei einem italienischen Grafen gedient«, erklärte er mit spürbarem Stolz und griff noch einmal nach der Kaffeekanne. »Vuole bere qualcosa?« »No, grazie«, antwortete Chiara und fühlte zum ersten Mal, seit sie Italien verlassen hatten, so etwas wie Geborgenheit und sogar Wärme. Toto machte ein dunkles Gesicht. »Zufriedenheit! Glück!«, rief er, hob den Deckel der Zuckerdose hoch und blickte unter den Tisch, suchte in seiner Hosentasche und bohrte sich im Ohr. »Ja, wo ist sie bloß, die Zufriedenheit? Vor ein paar Wochen lag sie noch irgendwo herum. Niemand hat sich drum geschert. Aber da ging es meinem Vater auch noch besser. Wissen Sie, Fräulein Chiara, was mein Vater antwortet, wenn Sie ihn fragen, wie es ihm geht? Er sagt, das Universum ist zu klein. Der Kosmos ist zu eng für ihn und Gott ist eine Zuckererbse. Eines Tages hätte er sie spielend in den Mund genommen und verschluckt.«
Toto saß plötzlich klein und eingefallen da. Seine Lippen waren hart. Chiara sah, dass der Junge eine Last schleppte, die schwerer war als seine Schultern breit. »Ich helfe Jakob beim Abräumen«, sagte Bianca auf Italienisch und rückte mit dem Stuhl vom Tisch ab. Es machte wieder dieses schrille Quietschen und tat in den Ohren weh. Der Diener antwortete, dass es gewiss nicht nötig sei zu helfen. Bianca holte das Tablett, das an der Wand lehnte, und sammelte Besteck ein. Jakob war ganz aufgeregt und rot geworden und arbeitete ihr zu. Seine Schuhe klopften auf dem Boden und die Hände flogen ihm nur so. Toto stand auf, entschuldigte sich und verließ die Küche. In der Stille hörte man, dass er die Treppe nach oben lief. Es verging keine Minute, als mit einem Mal ein leises Zischeln die Luft erfüllte. Chiara sah sich um und suchte. Das Geräusch schien keine Quelle zu haben, es kam von überall her, wie das Summen einer Biene. »Das ist der junge Herr«, sagte Jakob, als sei nichts Besonderes geschehen. »Er befindet sich im obersten Stock, im Arbeitszimmer des Professors und spricht in den Phonotransitor.« »Wie bitte?« Chiara suchte weiter und fand einen metallenen Trichter, der neben der Küchentür an der Wand hing und ihr bisher nicht aufgefallen war. Ein straff gespannter Eisendraht verlief zur Decke und verschwand in einem fingerdicken Loch. »Der Phonotransitor des Professors«, sagte der Diener. »Er hat ihn selbst erfunden und erbaut.« Chiara hielt ein Ohr an das Gerät und hörte deutlich Totos Stimme. Sie klang ein wenig dünn und kratzend, aber es war Toto, der ein Lied sang und summte. »Wenn er aufhört, müssen Sie am Glöckchen ziehen, Signorina, das ist die kleine Kette neben dem Trichter. Dann weiß er, dass Sie ihn verstanden haben. Natürlich können Sie
auch selber sprechen. Mit dem Glöckchen ruft man den anderen, um ihm etwas zu sagen. Eine sehr moderne und vor allem nützliche Erfindung.« »Ja«, sagte Chiara bewundernd und horchte gebannt. Plötzlich war es still. Chiara richtete den Mund auf den Trichter und rief: »Grazie, Signore! Ihr Lied hat mir sehr gefallen.« »Kommen Sie nach oben!«, quäkte der Trichter. »Soll ich wirklich?«, fragte Chiara in Jakobs und Biancas Richtung. »Was?«, rief Toto. »Sie müssen lauter sprechen!« »Ich komme!«, antwortete Chiara laut genug und ging in den Flur. Oben wartete Toto und führte sie in das väterliche Arbeitszimmer. Zwei hohe Fenster ließen das Sonnenlicht durch die schweren Vorhänge herein und beleuchteten eine Unmenge Bücher, die in hohen Regalen die Wände bedeckten. Unter den Fenstern standen Tische mit mechanischen Apparaten, darunter eine Elektrisiermaschine, die Chiara einmal in einem Jahrmarktszelt in Prato mit ihrem Vater erlebt hatte. Dort hatten sie elektrischen Regen, eine elektrische Kanone, einen elektrischen Tanz und eine elektrische Spinne gesehen. Die furchtbaren Blitze hatten einem Kind versehentlich die Hand verbrannt. Neben der Tür hing der hiesige Trichter des Sprechapparates, nur dass man den Draht nicht sah, der vermutlich hinter den Regalen verlief. »Die Stimme fliegt durch den Draht, nicht wahr?«, sagte Chiara. »Der Draht verbindet zwei Membranen«, erklärte Toto. »Vater spricht von so genannten Schwingungen.«
»Schwingungen«, wiederholte Chiara und bewegte sich langsam hin und her. »Jedenfalls hat Vater uns Kindern damit gerne viel Angst eingejagt. Er war das Hausgespenst und hatte große Macht über uns, etwa wenn wir unten in der Küche die Teller nicht leer essen wollten oder sonst wie ungehorsam waren. Dann sprach der Geist aus dem Trichter und wir rannten schreiend davon.« »Und heute?« »Heute erschreckt man junge Damen«, sagte Toto und blickte Chiara lange an. Er hatte helle, freundliche Augen und einen schönen Hals, wie ihr erst jetzt auffiel. Sein Haaransatz war weich und schimmerte vom dichten, blonden Flaum. »Oder die Mutter sagt dem Vater Bescheid, wenn der Institutsbote ein Päckchen abgegeben hat. Oder er fragt sie, was es zu essen gibt.« Toto fasste das Klingelkettchen und zog daran. Sofort meldete sich Jakob aus der Küche und fragte, was er wünsche. »Wir möchten gerne Tee trinken, Jakob«, antwortete er und griente. »Sehr wohl, junger Herr. Also Tee«, entgegnete der Trichter und Chiara hielt sich die Hand vor den Mund. »Ich glaube nicht, dass Ihr Vater es begrüßen würde, wenn wir in seinem Arbeitszimmer Tee trinken«, sagte sie. »Ich höre nicht länger auf ihn«, meinte Toto kühl. »Ich bin ziemlich erwachsen und unser Vater ist recht schwierig. Ich glaube, ich habe bereits so etwas angedeutet, oder?« Chiara fand das alles ziemlich albern. Sie nickte trotzdem zustimmend. In der Mitte des Zimmers stand ein runder Tisch mit vier bequem aussehenden Sesseln. Toto ging hinüber und bot ihr höflich an, dort Platz zu nehmen.
»Mein Vater ist Spielzeugmacher und Mechanikus.« Sie hatte Lust, Toto zu beschwindeln. »Er hat eine Maschine erfunden, mit der man wie ein Vogel fliegen kann.« »Warum lügst du mich jetzt an?«, fragte Toto ernst. »Ich lüge nicht. Und sagen Sie nicht du zu mir!« »Wir sind verwandt, Chiara. Es gehört sich durchaus, einander zu duzen.« »Nicht, wenn man von so weit her kommt wie ich«, erwiderte Chiara und hob den Kopf. Der Vetter lachte frech. Er durchschaute sie. Es tat ihr weh. Sie bezwang sich und ließ nichts nach außen dringen. Der Mund, die Augen durften nichts verraten! »Was soll daraus werden, Cousine?«, fragte er. »Ein Wettstreit über die nicht anwesenden Väter? Wir sollten uns vertragen. Zumal in diesem Haus.« Chiara wollte fragen, wie er dies meine. Sie schwieg. Der fremde, deutsche Onkel flößte ihr schon Furcht ein, noch bevor er selber in Erscheinung trat. »Heute ist der erste Tag in meinem neuen Leben«, sagte sie zaghaft und blickte zu Boden. Das half ein bisschen. Toto lenkte ein. Er habe sie auf keinen Fall irgendwie verletzen wollen, überhaupt nicht. Sie solle sich nur wohl fühlen und merken, dass sie sehr willkommen sei. »Meine Mutter ist der liebste Mensch. Sie hat gesagt, dass du in die Familie aufgenommen wirst, als wärst du ihr eigenes Kind.« Chiara lächelte. Plötzlich klingelte das Glöckchen, als wäre es lebendig. Jakobs Stimme piepte aufgeregt aus dem Trichter hervor. Toto sprang auf und lief hin. »Mein Vater kommt!«, rief er. »Das ist der Vorteil dieses vorzüglichen Apparates!« Chiara stand aus dem Sessel auf. Toto öffnete leise die Tür und schloss sie ebenso geräuschlos.
»Du gehst nach oben, damit er uns nicht zusammen sieht. Ist besser so.« Chiara blickte ihm nach, bis er nach unten hin verschwunden war, und betrat die rohe Speichertreppe. Aus der Eingangshalle klang das Schlagen der großen Tür herauf. Es folgten Stiefelschritte und ein lauter, grober Ruf, den sie nicht verstand. Sie blieb stehen und horchte. Bianca fiel ihr ein, die noch bei Jakob in der Küche saß. Chiara war froh, nicht unten bei den anderen zu sein. Sie würde oben warten, bis Toto unten war, und lauschen, was passierte. Dann würde sie ihm tapfer in die Tiefe folgen, wo plötzlich Stimmen aufeinander schlugen, laut und angriffslustig. Sie verstand kein Wort. Es echote herauf, verworren, kriegerisch. Dann Stille, lauernd, wie ein Hinterhalt. Chiara setzte sich auf eine Stufe. Ihr Mut gefror. Sie horchte angestrengt, mit klopfendem Herzen. Aber es blieb ruhig. Sie kroch in sich hinein und schlug die Hände vors Gesicht und weinte unhörbar.
Als sie die Küche betrat, schlug ihr ein starker Duft entgegen. Es war Vanille oder Nelken oder beides. Am Fenster stand ein Mann in Uniform, ein Offizier wohl. Er hatte Totos helle, strahlende Augen. Unter einer geraden Nase lag ein schöner, fester Mund. Kein Bart! Der Onkel war recht groß und hatte braunes, wallendes Haar, das wegen seiner Länge weder zu der Uniform noch zu seiner soldatischen Haltung passen wollte. Auch Bianca schien beeindruckt und starrte, während Chiara sich mit Mühe abwendete, hinter sich die Tür zumachte und einen ausdrucksvollen Knicks zuwege brachte. »Ich bin Chiara Lisa Morelli«, sagte sie.
Wieder fühlte sie diesen Blick, der sie auf Anhieb für sich einnahm und ihr Furcht einjagte. Auch Toto hatte sich verändert. Er stand am Herd und hielt eine lange Gerte in der Hand, auf deren Spitze ein Apfel steckte. Jakob blieb bleich im Hintergrund und schaute streng zu Boden. »Also?«, sagte der Onkel, respektive Professor Göttling. Chiara war so verwirrt wie noch nie in ihrem Leben. Da begann Toto unsicher und mit hochrotem Kopf ein Lied zu singen: »Es lächelt der See, er ladet zum Bade, der Knabe schlief ein…« »Ja, wahrhaftig!«, rief Göttling. »Und nun entschieden lauter, bitte!« Wie sein Blick und seine Statur, so war auch seine Stimme. Sie hatte den Klang eines großen Instruments, dazu bewegte sich sein Gesicht in starker Mimik, die Hände griffen in die Luft. Toto sang lauter: »… der Knabe schlief ein am grünen Gestade. Da hört er ein Klingen, wie Flöten so süß, wie Stimmen der Engel im Paradies…« »Ja gut. Hör auf damit!«, unterbrach ihn der Mann barsch. Toto sah ihn an wie ein ertappter Dieb. Der Apfel in seiner Höhe pendelte bedenklich hin und her. Göttling überzog Chiara mit seinem ungeheuren Blick, ließ eine Zeit verstreichen und sagte aus großer, innerer Entfernung: »Ich bin dein Onkel, mein Kind. Sie wollen mich zu deinem Vormund machen. Was denkst du, wessen Vorteil wird das sein?« »Ich weiß es nicht«, sagte Chiara mit ärgerlicher Schwäche. »Deine Mutter war meine Schwester, aber sie hat sich vor langer Zeit ihrer Familie mit aller Absicht entfremdet. Darauf wächst keine Liebe, nicht wahr?« »Nein, Signore.« Er löste sich von seinem Platz am Fenster, ging zu Toto und gab ihm eine knallende Ohrfeige.
»Du weißt sehr genau, dass ich verboten habe, mein Arbeitszimmer zu betreten. Ganz zu schweigen von einer uns völlig fremden Person, die sich zufällig in unserem Haus aufhält.« Er wandte sich wieder Chiara zu. Sein Gesicht war plötzlich wie gegossenes Eisen. »Es herrscht in diesem Haus eine gewisse Ordnung, von der mein Sohn nichts wissen will. Theodor führt seit einiger Zeit einen aussichtslosen Krieg gegen mich und die zivilisierte Welt. Er hat seinen Sinn auf die Freiheit gerichtet. Aber die Freiheit ist nun mal ein Gut, das nur auf dem Fundament und im Klima einer soliden Lebenserfahrung keinen Schaden nach sich zieht. Der Jugend steht sie, wie ich finde, gar nicht zu.« Er sah alle anderen der Reihe nach an, wobei weder Toto noch Jakob noch Bianca die Kraft zu finden schienen, sich seinem Blick auch nur für Sekunden zu entziehen. »Ich weiß nicht, wie die Verhältnisse in Italien sind«, fuhr Göttling fort. »In Berlin jedenfalls halten wir auf Gehorsam, und ich verlange, dass auch du dich dieser Ordnung unterwirfst. Ich bedauere, was dir geschehen ist. Ich habe meine Schwester schlecht gekannt. Man sagt, ich sei schwierig. Aber ich bin gewinnbar, ich bin einnehmbar, ich habe ein Herz, auch wenn meine Familie das Gegenteil behauptet.« Er verlor sich. Sein Blick schweifte umher und blieb an Bianca haften, die noch am Tisch saß. »Was Sie betrifft, junge Dame, gestatte ich Ihnen, vier Tage in meinem Haus zu verweilen. Wenn Sie bitte innerhalb dieser Frist Ihre nötigen Dinge für die Rückreise regeln möchten…« Chiara übersetzte es und Bianca nickte totenbleich. Dicht über ihrer Oberlippe glänzte feiner Schweiß im Flaum der Härchen. »Man sagt«, wandte sich Göttling erneut an Chiara, »dass dein Vater ein Fidibus gewesen sei…« Er lachte seltsam.
Chiara verstand das Wort nicht. »Ein Fidibus, ein Kasper«, erklärte der Professor, der es gleich bemerkt hatte. »Ein Spielzeugmacher, Zauberkünstler, ein Trickbetrüger sozusagen.« Chiara biss sich auf die Lippen. »Er war Erfinder und Mechanikus«, sagte sie beherrscht. Dieser Mann hatte bloß Glück, dass ihr Vater nicht mehr in der Lage war, sich selber zu verteidigen und sie in Schutz zu nehmen. Sie hob den Kopf und hielt seinem schneidenden Blick stand. »Ein Erfinder!«, fragte er betont und zuckte mit dem schönen Mund. »Was hat er denn erfunden, dein Herr Vater?« Chiara schwieg. »Er muss doch irgendwas erfunden haben, dass du ihm diesen… Ehrentitel verleihst«, spottete Göttling offen. »Wir leben schließlich in einem Zeitalter der großen Erfindungen, nicht wahr? Die Erfinder sind die wahren Fürsten unserer Staaten! Und eines Tages werden sie erfinden, dass alle zur selben Zeit miteinander reden können, ganz egal, wo man sich auf dem Erdball gerade befindet, in China oder Chile. Sie werden es Communication nennen oder Omnication oder gar Colloquium omnilogi. Es ist wie ein riesiges Netz und jeder Mensch darin ein Knoten, und Raum und Zeit spielen keine Rolle mehr in dieser neuen Welt.« Er lachte dröhnend. Toto zuckte zusammen, als hätte ihn eine zweite Ohrfeige getroffen. »Und weiter!«, rief Göttling. »Sie werden mein Orendaskop verwenden, mit dem sich das Mana eines jeden Menschen sichtbar machen lässt. Es kann die besondere Emanation jedes Menschen messen und sagt aufs Gran genau, wie man sich ihm gegenüber zu verhalten hat, um ein gewisses Ziel zu erreichen, um ihn zu lenken. Niemand wird sich davor schützen können. Es werden Gesprächskriege geführt. Wir sterben oder siegen in
Manipulationsschlachten. Wir werden uns einander nicht mehr an die Kehle, sondern an die Seele gehen. Ha!« Er hatte mit einem Mal dunkle, traurige Augen. Chiara glaubte ihn versteckt weinen zu sehen. Er tat ihr plötzlich Leid. Er war ein Ungetüm. Und dennoch fühlte er bestimmt, was alle fühlen. »Wo ist Luise?«, fragte er. »Auf dem Markt, Herr Professor«, antwortete Jakob. »Was kocht sie?« »Schoten mit Schwein, Herr Professor.« Göttling straffte seine Haltung und zog den Uniformrock glatt. Wieder sah er Chiara an. »Ich werde dich beizeiten über das Ausmaß meiner Seele unterrichten, mein Kind. Es hat eine besondere Bewandtnis damit. Ich passe nicht wie jedermann in dieses Universum. Der Kosmos hat seine Grenzen, aber der Mensch wächst über sie hinaus«, dozierte der Professor. Durchaus wie ein Professor!, befand Chiara und nickte artig. »Ich bin ein solcher Mensch«, erklärte er ernst. »Das ist natürlich schwer zu verstehen, wie du dir denken kannst. Aber du darfst mir glauben, dass ich weiß, was ich sage…« Er drehte sich um und blickte durch das Fenster auf die belebte Straße hinaus. Wagen rasselten. Kopftücher und prunkvolle Hüte schwebten vorüber. Chiara sah Toto im Augenwinkel. Er tat ihr unendlich Leid, wie er so dastand, gelähmt und irgendwie hilflos mit diesem dummen Apfelzepter in der Hand. »Was ist eigentlich eine Nichte für den Onkel?«, fragte Göttling unerwartet. »Und was ist umgekehrt ein Onkel für die Nichte? Das sollte man sich einmal überlegen. Die Voraussetzung für eine solche Beziehung ist doch, dass beide einander kennen. Sie müssen sich nicht sehr gut, keineswegs intim kennen. Aber es sollte sie doch eine gemeinsame Zeit
verbinden und eine Räumlichkeit, die das bloße abstrakte Verwandtschaftsverhältnis mit etwas Leben füllt. Was sagst du, mein Kind?« Chiara fühlte seinen schweren Blick. »Nichts davon lässt sich auf uns anwenden, oder?«, sagte er, noch bevor sie überhaupt ein Wort gefunden hatte. »Trotzdem bin ich bereit, mein Leben einzuschränken. Jawohl, einzuschränken. Wir sind bereits fünf Menschen in dieser Familie; mit Jakob und Luise, der Köchin, sogar sieben. Das ist kein Kinderspiel. Ich fühle mich verantwortlich. Ich kenne meine Pflichten. Und es sind schwierige Aufgaben, bei denen mir niemand hilft. Ich bin allein. Jeder ist allein. Wir sind ins Leben geworfen und gehen auf den Tod zu. Dazwischen liegt der Sinn. Wir müssen einen Sinn erfüllen. Welchen Sinn wirst du in deinem Leben erfüllen, Chiara Lisa?« Chiara stockte der Atem. »Ich weiß nicht…«, stammelte sie. »Nicht gut. So wie das Blut zum Herzen gehört, die Luft zur Lunge, so gehört der Sinn zum Leben und zu unserer Seele. Der Gipfel des Sinns ist das hohe Ziel, das Werk, die große Aufgabe. Wenn wir vom Leben den Sinn subtrahieren, bleibt zu wenig zurück. Ein Tier. Ein Ich-loses Wesen, das Nahrung zu sich nimmt und ausscheidet und nicht einmal weiß, was eine ideale Zahl ist.« Er riss die Augen auf. »Weißt du, was eine ideale Zahl ist, Lisa?« Chiara!, wollte sie höflich korrigieren, aber sie traute sich nicht. »Ideal?…« Sie suchte umher, als stünde die Antwort irgendwo auf eine der Wände geschrieben. »Ich denke, Zahlen sind reine Ideen, Ideale…«, sagte sie schließlich und beobachtete Göttlings Mund. »Wer redet solchen Unfug?«
»Monsignore Albertino, mein Lehrer.« »Ach herrje! Wo lebt der Mann? In Transsilvanien?« Er lachte und schüttelte sich. »Theodor, erkläre du deiner Cousine, was eine ideale Zahl ist, und beeile dich bitte, ich muss wieder ins Institut zurück. Wieso bist du überhaupt hier und nicht in der Schule?« »Ich…« Totos Gesicht ging in Flammen auf. »Man hat ein Feuer im Keller entdeckt und uns nach Hause geschickt.« »Stell diesen albernen Stab wieder weg!«, befahl Göttling. »Das Schauspiel ist vorbei. Sag Lisa, was du zu sagen hast!« Der Junge schluckte. Er dachte nach. »Was ist?«, fragte der Professor ungeduldig. Und zu Chiara gewandt setzte er hinzu: »Er ist schändlich langsam. Man muss sich schämen. Das soll mein Sohn sein!… Was ist nun, Tölpel?« Ohne den Blick einen Lidschlag lang von seinem Vater abzuwenden, stellte Toto die Gerte weg. Göttling kam bedrohlich langsam auf ihn zu und hob die Hand. »Die ideale Zahl…«, stotterte der Junge. »… ist nach Kummer durch ihre Teilbarkeitseigenschaften definiert… Kummer beweist, dass es für die idealen Zahlen eine eindeutige Faktorzerlegung gibt…« »Naja«, sagte Göttling und zog seine Uhr hervor. Und zu Chiara: »In Wahrheit weiß er gar nicht, was er da sagt. Aber wer weiß das schon, nicht wahr? Ich empfehle mich… Und sagt der Mutter bitte, dass es heute Abend später wird.« Er ging zur Tür, öffnete sie und drehte sich noch einmal um. »Wie gesagt, ich bin gewinnbar, mein Kind. Ich habe ein Herz. Ich bin aus Fleisch und Blut. Die Welt mag mir zu klein sein, darunter leide ich. Aber du bist hübsch, Lisa. Ich erwarte von dir, dass du mir einen Anlass gibst, mich für dich einzusetzen. Vielleicht zeige ich dir gelegentlich, woran ich arbeite, was mein Ziel ist und welchen Sinn ich meiner Seele
zugeordnet habe. Ich habe erfahren, du seiest mathematisch begabt, das klingt doch interessant. Endlich ein Kind im Hause, das Verstand hat. Vielleicht lernst du, welche Gefahren von gewissen Zahlen ausgehen. Wir werden längst bedroht. Also!…« Er nickte ihr freundlich zu, schloss die Tür und hinterließ eine dumpfe, bleierne Stille, in die hinein Bianca plötzlich wie ein Kind zu schluchzen anfing. Jakob kam und schlug mit seinen Holzpantinen einen harten Takt. Er zog ein großes, sauberes Schnupftuch aus der Tasche, beugte sich zu ihr herunter und murmelte: »Per favore, Signorina!«
Er ist ein Scheusal! Ich hasse ihn!« Bianca ließ sich auf ihr Bett fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Chiara stand an dem kleinen Dachfenster. Sie hörte Bianca zu und fühlte sich erschöpft. Aber das Italienische zu hören tröstete ein wenig. »Ich habe noch nie einen so grässlichen Menschen erlebt«, schimpfte Bianca unter ihren Händen hervor. »Da kannst nicht hier bleiben, nicht in diesem Haus und nicht in diesem Land…« Chiara lachte lautlos und bitter in sich hinein. Wenn es so einfach wäre! Wenn es nur eine dieser wohlhabenden Bildungsreisen wäre, auf der sie sich befänden, sozusagen auf den Kopf gestellt: Eine junge Italienerin statt eines zwanzigjährigen Engländers reiste zum Vergnügen in den Norden statt in den Süden, um »die Kultur« zu sehen. Sie könnte ihre Sachen packen und verschwinden. Ganz sorglos und beneidenswert und Geld spielt keine Rolle!… »Ach, Bianca«, sagte sie. »Ja, wenn wir Touristen wären, wie die Engländer sich nennen, wenn sie reisen und sich zum Spaß die Welt anschauen… Ich muss vernünftig sein, wie die
Erwachsenen es verlangen.« Sie verließ das Fenster und setzte sich zu Bianca auf den Bettrand. »Und dies hier ist meine neue Familie…« Bianca blickte sie aus roten Augen an und schüttelte den Kopf. Chiara hätte ihr verraten können, dass sie selbst längst nicht so enttäuscht war, wie Bianca es zu sein schien. Aber sie verschwieg es. Wenn sie genau in sich hineinhorchte, war das Vertrauen zu Bianca nicht groß genug, um es zu sagen. Sie glaubte ihr die Betroffenheit nicht recht: dass sie mit ihr, Chiara, so viel Mitleid empfand. Da war vom ersten Augenblick an in Italien schon etwas gewesen, das sich zwar nicht festmachen ließ, aber zäh erhalten blieb. Es war ein Gefühl, das sie beschlich, wenn sie Bianca ansah und sich ihre Blicke trafen. Sie nahm Biancas Hand und sagte: »Ich bin ganz stark. Du musst dir keine Sorgen machen. Ich werde mich einleben…« Aber sie wusste, dass sie log. Sie würde sich überhaupt nicht einleben. Sie hatte ja noch nicht einmal Totos Mutter kennen gelernt und auch nicht seine Schwestern. Die von Toto behauptete Freude über die Ankunft der Nichte und Cousine als neues Mitglied der Familie war vielleicht nur die Hoffnung auf Schützenhilfe gegen diesen unberechenbaren Ehemann und Vater. Und wenn die Hilfe ausblieb? Wenn sie, Chiara, sich als schwach erwies, könnte es mit all der gut gemeinten Zuneigung und Freundschaft schnell ein Ende finden. Es klopfte an die Tür und Chiara schreckte hoch. »Ich bin es, Toto. Darf ich hereinkommen?« Er schob die Tür auf und blieb im leeren Rahmen stehen. Er war ganz atemlos vor Wut. »Haben Sie sich sehr erschreckt?«, fragte er. »Ich habe versucht, Sie vorzuwarnen, aber es ist ziemlich sinnlos, glaube ich. Er ist nicht mehr bei Sinnen. Ich führe Tagebuch über
seine Veränderungen, seit einem Jahr schon. Das Schlimmste ist, dass Mutter sich nicht wehren kann. Er regiert uns alle wie ein irrgewordener Duodezfürst.« Und zu Chiara: »Komm mit, Cousine! Ich kann dir etwas zeigen, dann verstehst du mich.« Er streckte eine Hand vor. Chiara stand auf, nahm die Hand und ließ sich nach draußen auf den Speicher ziehen. »Wir kommen wieder, Fräulein Bianca«, rief er und lief zur Treppe. Chiara warf Bianca einen überraschten Blick zu, verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern. Sie schloss die Kammertür und folgte Toto, der schon in der unteren Etage angekommen war. Er lief weiter vor ihr her, nahm drei, vier Stufen auf einmal und machte erst im Parterre Halt, vor einer Kellertür, an deren Klinke er heftig rüttelte, um ihr zu zeigen, dass sie abgeschlossen war. Dann sah er Chiara verschmitzt an und zog einen großen Schlüssel aus der Hosentasche. Im selben Moment wurde die Küchentür geöffnet und Jakob lugte hervor. »Sie sind in Gefahr, junger Herr«, sagte er. »Luise kommt über die Straße auf das Haus zu.« »Danke, Jakob!«, sagte Toto und schloss eilig die Tür auf. »Luise petzt. Wir müssen uns beeilen.« Er entzündete eine Kerze, ließ Chiara den Vortritt und verschloss die Tür von innen. Schließlich legte er einen Finger an den Mund und flüsterte: »Luise hasst Jakob, seit er sie abgewiesen hat. Und weil sie weiß, dass er den Kellerschlüssel verwahrt, kann sie ihm und uns schaden, wenn sie merkt, dass wir hier sind…« Draußen wurde die Haustür auf- und wieder zugemacht. Chiara horchte und hielt die Luft an. Aber sie hatte keine Angst. Toto stand dicht neben ihr, das Licht flackerte von seinem Atem. Sie fühlte seinen Arm an ihrem; es war schaurig
schön in dieser engen, dunklen Heimlichkeit. Sie konnte ihn riechen und mochte, was sie roch. Luise, die Köchin, stöhnte unter der Last ihrer Einkaufskörbe. Sie rief Jakob zu Hilfe und schimpfte derb über die Preise auf dem Markt. Kaum war jenseits Ruhe eingetreten, als Toto die Kerze nach unten hielt und den Stufen in die Tiefe folgte. Chiara sah alte, rohe Ziegelsteine neben und über sich. Das Treppengewölbe war beunruhigend hoch und leer. Je tiefer sie vordrangen, umso kühler und stiller wurde es um sie her, bis sie plötzlich auf der Kellersohle standen und das Kerzenlicht kaum mehr bis zur Decke langte und auch die Wände nur noch spärlich und recht unheimlich beleuchtet wurden. »Das ist die Hölle«, sagte Toto, als hätte er genau gewusst, womit er Chiara treffen konnte. Hier unten war es wirklich anders als oben an der Tür. Es fühlte sich nicht länger wie der Keller eines ganz normalen Hauses an. Chiara schnalzte leise und horchte, wie der Klang wie Glas zersprang. Mit einem Mal fühlte sie sich gar nicht mehr wohl. Aber was sollte Toto von ihr denken? »Wenn mein Vater wüsste…«, sagte der leise in die schreckliche Stille. »Er würde mich totschlagen.« »Warum sind wir dann hier?« »Ich will, dass du mir glaubst, wie er ist«, antwortete er. »Findest du das nicht grausam?« »Ihm gegenüber?« »Mir gegenüber«, sagte sie. »Dummkopf! Ich bin nicht hier, um Ferien zu machen.« Toto sagte nichts. Aus der Dunkelheit vor ihnen tauchte eine Mauer auf, in der sich eine Tür befand. Toto holte einen zweiten Schlüssel hervor und öffnete. Er ging vor und leuchtete den Raum aus, so gut er konnte.
In der Mitte stand ein großer Tisch, auf dem ein Wirrwarr von Gläsern und Schläuchen blitzte. »Das ist sein Orendaskop«, sagte Toto und führte die Kerze hier und da näher heran. »Ich habe zusammengerechnet sicher Monate dort unter dem Tisch verbracht. Wir alle. Ich meine uns Kinder.« Chiara fühlte Hitze in sich aufsteigen. Vielleicht war es klüger, ja lebensrettend, sofort zu fliehen, Hals über Kopf, wie ihre Flucht aus dem Rathaus. Nur weg! Raus hier und verschwinden! »Du hast hier unten an diesem Apparat gesessen?« »Er hat mein Mana gemessen.« Totos Stimme bebte. »Ich habe Angst, dass du mir nicht glaubst.« »Ich bin noch gar nicht richtig hier angekommen – und weiß schon nicht mehr, ob ich bleiben möchte.« »Du musst.« »Oh ja«, sagte sie und wandte sich zur Tür. »Bitte, bring mich wieder nach oben, Toto. Das hier ist wirklich nichts für mich.« Toto schloss hinter ihr ab. Sie stiegen die Treppe nach oben. Auch die Kellertür wurde von ihm wieder leise und sorgsam zugesperrt. »Das Sicherste ist«, flüsterte er, »du klopfst jetzt an die Küchentür und begrüßt Luise. Ich komme in ein paar Minuten nach.«
Luise, die Köchin, war eine hagere, nicht mehr junge Frau mit rätselhaften Augen und lückenhaften Zähnen. Sie sprach sehr schnell und Chiara hatte Schwierigkeiten zu verstehen, was sie sagte. Ihr Küchenregiment war streng. Niemand widersprach ihr. Sie kommandierte Jakob herum, als wäre sie selbst die
Hausherrin, und auch Totos jüngere Schwestern Minchen und Helene, die am Nachmittag zusammen mit ihrer Mutter nach Hause und in die Küche kamen, folgten ihr gehorsam und holten ohne Zögern und Murren eine Menge Zwiebeln, Wein und Eingemachtes aus der Vorratskammer. Frau Göttling, die Tante, gab Chiara die Hand und lächelte entfernt. Es war eine luftige Berührung, verbunden mit einem schweifenden, träumerischen Blick aus schönen, dunklen Augen. »Wir freuen uns«, sagte sie und entschuldigte sich, weil ihr »nicht gut« sei; sie wolle ein Weilchen liegen. Toto, als er kam, schien seiner Mutter aus dem Weg zu gehen. Er beobachtete sie aus dem Hintergrund der Küche. In seinem Ausdruck lag Distanz, glaubte Chiara zu erkennen. Sofort rief sie sich zur Ordnung; es gehörte sich bei Gott nicht, diesen Menschen, die bereit waren, sie ganz herzlich bei sich aufzunehmen, mit so viel frecher Neugier und zweifelndem Misstrauen zu begegnen. Plötzlich bekam sie einen Schreck. In dem Trichter der Hör- und Sprechanlage steckte ein festes Stück Stoff, ganz offenbar, um zu vermeiden, dass irgendein Geräusch aus der Küche in den Apparat und hinauf in Göttlings Arbeitszimmer vordrang. Und wirklich, sie merkte es erst jetzt: Alle sprachen leiser als normal, oh ja, als fürchteten sie, gehört zu werden! Die Tante verließ die Küche. Die Mädchen setzten sich an den großen Tisch und begannen still und sehr geordnet ihre Schultaschen auszupacken, Schreibzeug und Hefte. Chiara lächelte ihnen flüchtig zu. Sie schauten weg, blinzelten schüchtern zurück, stets ernst auf ihre Arbeit konzentriert. Ihre Schreibfedern kratzten leise. Es war die Köchin, die sie in ihrem Blick behielten und die die Mädchen ihrerseits wortlos und beinah unsichtbar zu lenken schien. Helene, die ältere, mochte zwölf Jahre alt sein und hatte dünnes, glattes, braunes Haar, ein rundes Gesicht, aber den
schlanken Hals ihrer Mutter. Minchen war etwas jünger. Sie war fast blond und mit dichten, fortstrebenden Locken und, wie auch Toto, mit den ergreifenden Augen ihres Vaters beschenkt. Beide hatten sie die durchsichtige Haut ihrer Mama und trugen teure, fein geklöppelte flämische Kragen. Wenn Helene etwas sagte, hing Minchen an ihren Lippen und formte die Worte nach, ohne sie zu sprechen. Wenn Minchen selber sprach, stotterte sie ein bisschen und zuckte aufgeregt mit den Mundwinkeln. Luise sprang herbei und schlug ihr blitzschnell auf den Mund, wohl um ihr den Tick auszutreiben. Minchen wurde rot, schämte sich ordentlich und schwieg für eine Weile. Sobald sie wieder etwas sagte, wiederholte sich der rüde Vorgang – freilich ohne dass der Tick damit bezwungen worden wäre. »Jetzt wollen wir aber nicht übersehen«, sagte Luise in das emsige Schaffen am Tisch hinein, »dass unser Haus unverhofften Zuwachs erhalten hat, und da haben wir ein junges, hübsches Mädel aus einem fernen, fremden Land.« Sie lachte Chiara an. »Chiara Lisa kommt aus Italien, wie ihr wisst. Sie denkt anders, sie fühlt anders als wir und sie mag andere Speisen und Getränke. Habe ich Recht?« Chiara lächelte verlegen. »Sie können ruhig Ja sagen, Fräulein Chiara«, fügte die Köchin hinzu. »Es ist keine Schande, mischblütig zu sein. Wenn man sich Mühe gibt, kann man das Schlechte darin überwinden und nur das Gute bleibt zurück.« Sie hob bedeutungsvoll die Brauen und schnitt tapfer in einen großen Kopfsalat. »Wir alle sind vom Herrn erschaffen, der Indianer ebenso wie der Mohr, der Eskimo und der Chinese. Alle haben eine Seele, und wenn sie gut ist, erwartet sie das Himmelreich.« Bei dem Wort »Himmelreich« kippte Jakob plötzlich zur Seite, stürzte polternd auf den Boden und begann einen
rasenden Kampf gegen alles und sich selbst zu führen. Luise riss die Mädchen von dem Tisch weg, stieß sie zur Tür und befahl, draußen auszuharren, bis alles vorbei sei. Toto war hinzugesprungen und zog den Tisch ein sicheres Stück von dem Tobenden fort, der schon an den Händen blutete vor lauter wildem Schlagen. Dann rief er Chiara zu, sich vorzusehen. Sie stand ganz steif vor Schreck, hielt sich die Hand vor den Mund. Draußen tuschelten die Mädchen. Luise blaffte sie leise zischend an, den Mund zu halten, sie wüssten ganz genau, dass ihr Vater nichts von Jakobs Fallsucht wissen dürfe. »Er entlässt ihn nämlich sofort«, erklärte die Köchin in Chiaras Richtung und schloss die Küchentür, um von dem Tumult ja nichts in den Flur dringen zu lassen. Allmählich wurde Jakob schwächer. Aus seinem Mund quoll Schaum. Die Augen stierten in den eigenen Kopf zurück, der ganze Körper schüttelte sich, als ob er furchtbar fror. Chiara zitterte vor Mitleid. Sie sah die Eltern tot am Boden liegen, die ganze Bilder- und Gefühlsflut stürzte wieder auf sie ein. Nur Toto stand besonnen da und wartete, bis Jakob seine kranke Wut verlor. Dann holte er die Schüssel mit dem Waschzeug und eine Wolldecke. Er hockte sich neben den Stöhnenden, der langsam ruhiger wurde und schließlich liegen blieb, als hätte er sich für ein paar Augenblicke ausgeruht. Toto legte die Decke über ihn, wusch ihm das Gesicht und versorgte seine Wunden. Chiara konnte gar nicht wegsehen. Wie Jesus, dachte sie betroffen, so kniete Toto bei dem Kranken und gab ihm seine Würde wieder, die der Diener eben erst wie aus rätselhaftem Selbsthass wild zerschlagen hatte. Luise reinigte den Boden. Die Mädchen traten ernst und schweigend ein und nahmen wieder ihre Arbeit auf. Niemand sagte etwas. Jakob kam zu sich. Toto half ihm, sich zu setzen. Er zog die Decke enger um die Schultern und tupfte ihm den Schweiß von seiner Stirn. Der Diener flüsterte verlegen und
Toto nickte und beruhigte ihn. Dann stand er auf und schob den Tisch zurück an seine ordentliche Stelle. Er räumte auf und schließlich half er Jakob wieder auf die Beine und brachte ihn zu seinem Stuhl, wo er, noch ganz benommen, sitzen blieb. Die Köchin füllte einen Becher Milch und schnitt ein Stück vom süßen Brot ab. Der Diener schwieg und dankte mit den Augen. Chiara kehrte an den Tisch zurück. Sie bat Luise um Arbeit. Die Köchin ließ sie Säume nähen, und um sie her sah alles aus, als sei das Unglück nie geschehen. Am Abend, vor dem Einschlafen und im Kerzenlicht, erzählte Chiara flüsternd, was vorgefallen war. Bianca hatte in der Stadt die Reise vorbereitet und sich einen Kutschenplatz gekauft. Jetzt lag sie müde neben Chiara in den Kissen und hörte leise atmend zu. Als Chiara hinsah, um ihre Meinung zu erfahren, war Bianca eingeschlafen.
»Nichte Lisa! Oh ja. Komm nur herein und setz dich!«, sagte Professor Göttling, stand von seinem überfüllten Schreibtisch auf und rückte Chiara einen Sessel zurecht. Er hatte einen langen Hausrock an, roch überraschend gut und trug goldrot schimmernde Seidenschuhe an den Füßen. Sie schloss die Tür des Arbeitszimmers und nahm verwundert und verlegen Platz. Sie war noch immer unruhig. Sie hatte einigermaßen geschlafen, war aber früh wach geworden und hatte lange in die kalte Luft gestarrt. Göttlings Einladung in sein Arbeitszimmer hatte sie in Form eines schön geschriebenen Kärtchens auf ihrem Frühstücksteller vorgefunden. Sie schaute sich flüchtig um. Auf einem kleinen Tisch am Fenster stand eine Schale mit Rasierzeug, das Messer lag daneben. Als sie mit Toto hier oben gewesen war, hatte sie es
übersehen. Der Gedanke, dem Onkel dabei zuzuschauen, wie er sich rasierte, gefiel ihr. Bei ihrem Vater hatte sie es sehr geliebt. »Du musst gestern einen völlig falschen Eindruck von mir erhalten haben«, sagte Göttling wie zur Begrüßung. »Diese Küchenbühne muss ein schlechtes Licht auf mich geworfen haben.« Er hüstelte und setzte sich zu ihr in einen der Sessel. »Theodor ist manchmal ziemlich schwierig, musst du wissen. Um ganz ehrlich zu sein, er ist faul. Wir lernen auf diesem Weg ein bisschen für die Schule. Wilhelm Tell, nicht wahr?« Chiara schwieg verlegen. Ihre eigenen Hände waren ihr im Weg. Sie wusste nicht, wohin damit. »Der Junge ist nicht dumm, Gott bewahre«, fuhr Göttling fort. »Er hat Phantasie, manchmal zu viel, glaube ich. Man muss mit dem, was er so sagt, sehr vorsichtig sein. Seine Erfindungsgabe ist uferlos, sein Mut hat keine Grenzen. Und er träumt oft schlecht.« Chiara nickte unsicher. Göttling blinzelte. Es war anders als am Vortag. Er sah sie freundlich im Rhythmus dessen, was er sagte, an. Chiara fasste Vertrauen, wenn auch zögerlich. »Du darfst mich nicht für einen schlechten Menschen halten«, setzte er hinzu und legte die Hände schalenartig, mit den Flächen nach oben, ineinander. »Ich habe in meinem Leben viel Erfolg genossen. Es hat mich wohl ein bisschen verwöhnt. Ich gebe zu, ich bin eitel.« Er sah Chiara einen Atemzug lang eindringlich an. »Aber ist das nicht sehr menschlich?« »Ja«, sagte Chiara kaum hörbar. »Siehst du. Das, was ich gestern über das große Werk, den Sinn und die Gefährlichkeit der Zahlen gesagt habe… es klang bestimmt zu streng und ist nicht für das Gemüt eines Kindes
geeignet. Verzeih mir bitte! Aber etwas Wahres ist doch daran, findest du nicht?« Chiara gab ihm Recht. Es fiel ihr gar nicht schwer. Ihre Unruhe hatte sich geglättet. »Ich bin Wissenschaftler«, begann Göttling von neuem, rückte im Sitzen ein Stück nach vorn und ließ sich tiefer in den Sessel fallen. »Was glaubst du, was ein Wissenschaftler tut, Lisa?« Chiara war überrascht. Sie musste überlegen. Verschiedene Antworten boten sich an. »Er legt das Skelett des Lebens frei«, sagte Göttling, bevor sie sich für eine Variante entschieden hatte. »Der Wissenschaftler und Mathematiker verbindet die Physik mit der Philosophie, finden und fragen…« Das hatte er schön gesagt. Chiara fühlte sich verstanden. »Glaube mir, Kind, die Zukunft unserer Nation wird zu neunzig Prozent davon abhängen, was die Wissenschaftler denken. Als Mathematiker setzen wir eine Welt, die man nicht greifen kann und die es dennoch logisch gibt. Das ist der Grund, warum uns niemand will und dennoch jeder braucht. Keiner will uns bezahlen. Wozu auch? Nur wenn wir Zinsen errechnen, die Lotterie mit Hoffnungsformeln versehen und geheime Briefe verschlüsseln, sind wir akzeptiert. Aber sobald einer von uns von autoamorphen Funktionen redet, lässt man ihn verhungern. Das nenne ich ein Schicksal! Nicht Glücksal, sondern Pechsal, nicht wahr?« Er lachte so dröhnend, dass Chiara zusammenfuhr. »Hast du etwa Angst vor mir?«, fragte er betroffen. Er war so stark und sicher, das gefiel ihr. Aber er war auch bedrohlich. »Was sagte ich? Wir leben für die Lotterie, die Börse und die Spionage. Was ist ihr gemeinsamer Nenner? Das Geld!« Er warf den Kopf zurück und blies Luft in die Höhe. »Das heilige,
goldene, obskure Geld, um das sich alles dreht, mein Kind!« Jetzt schien er abwesend, nur einen Herzschlag lang. Dann kam er wieder zu sich und blickte Chiara glühend an. »Ich hasse Geld! Ich hasse es wie das stille Vergehen der Zeit. Ein unhörbarer Schlag fällt auf den anderen…« Er sprang aus seinem Sessel auf, lief zu der Uhr und hielt das Pendel an. Das Zimmer stürzte in die Stille. Es brauste in den Ohren. Chiara klammerte sich an irgendein fernes, kaum wahrnehmbares Fuhrwerk. »In Italien«, sagte sie, »habe ich vor Publikum die dritte Wurzel aus einer siebenstelligen Zahl in weniger als zwei Minuten gezogen.« Sie senkte den Blick und wartete gespannt. Göttling ließ eine Weile verstreichen. Schließlich sagte er gelassen: »Ja, sicher, wir finden unser Glück auf dem Jahrmarkt. Dort lächelt niemand mehr, dort wird gelacht. Was ist der Unterschied zwischen dem Salon, in welchem du aufgetreten bist, und einem Zirkus? Alle staunen und fragen sich, wie du das anstellst, und dann klatschen sie, als hättest du einen Purzelbaum gemacht. Ich verbitte mir das!« Er war plötzlich recht laut geworden, besann sich aber und wurde wieder leiser. »Deine Mutter war eine schöne Frau. Ich habe sie als Kind bewundert. Sie hat mir vorgesungen und -gespielt. Unsere Eltern durften es nicht wissen. Der Vater war sehr streng und hielt die Kunst für das größte Übel der Welt. Meine Schwester, deine Mutter, hat sich diesem Zwang durch Flucht entzogen. Sie war mutig und stolz. Ich war gehorsam.« Er hatte mit einem Mal kleine, eng stehende Augen. »Es war ja gut so«, fügte er hinzu, wie um sich selber zu bestätigen. »So wurde ich Wissenschaftler und Offizier. Ich diene meinem Vaterland. Hast du ein Vaterland, Lisa?« »Italien«, sagte sie.
»Genau. Und mit diesem Vaterland im Herzen lebst du nun in Berlin. Wir müssen dich konvertieren. Das ist kompliziert. Du bist ein Gemisch, mein Kind. Aber ich helfe dir. Es wird tüchtig zu tun geben für dich, womit du dich für Preußen verdient machen kannst.« Chiara schämte sich. Sie hätte nicht sagen können, wofür. Sie musste an die Eltern denken. Wieder drängten sich die Tränen in die Augen und sie schämte sich noch mehr. Es war vertrackt. In ihrem Kopf sah es aus wie in einer Schüssel Spaghetti. »Du musst dich wundern«, sagte Göttling, »warum ich bereits heute schon so vertraulich mit dir spreche. Es ist eigentlich nicht meine Art. Ich bin misstrauisch, und zwar ganz zu Recht, wie uns das Leben lehrt. Wie schwer trägt man an all den tiefen Enttäuschungen, nicht wahr?« Chiara fühlte sich von ihm besiegt in einem Kampf, dessen Sinn sie nicht verstand. Doch, er hatte sie bezwungen. Sie war wehrlos. Sie gehörte ihm! Es machte ihr Angst. »Deine Mutter erzählte mir oft Geschichten, Märchen, allerlei Zeugs. Ich erinnere mich gerne, und je länger ich dich anschaue, umso mehr erkenne ich sie… Und sie soll tot sein…?« Er drehte sich um und nahm aus einer Dose eine schlanke Zigarre. Er entzündete sie bedächtig. Der Rauch kräuselte zur Decke empor und bildete einen dünnen, bläulich schimmernden Nebel. »Ach, die Geschichte vom Zornringel etwa!«, rief er fröhlich. »Die muss ich dir erzählen. Zornringel ist ein Geist, ein Troll vielleicht, weder gut noch böse. Er lebt hier unten an der Spree und wechselt die Gestalt. So etwas wie ein griechischer Titan mit göttlichen Kräften und menschlichen Schwächen.« Er paffte selbstvergessen. Der Rauch schwebte in zarten Sphären und Strähnen, die sich langsam ineinander schoben und vermischten.
»Eine dieser Geschichte wollte ich immer wieder hören. Wie Zornringel noch ganz nackt und hilflos war und dennoch siegte.« Göttling rauchte. Es duftete derb und verlockend. »Da geht er am Beginn der Welt den Weg zwischen Tag und Nacht, das sind ein helles Tuch auf dieser Seite und ein schwarzes Tuch, das jedes Licht schluckt, auf der anderen. Ein Drache tritt ihm entgegen und lacht ihn aus, weil Zornringel weder ein Fell noch einen Panzer, keine Schuppen und nicht einmal Gefieder hat. Nichts! Überhaupt nichts!… Wenn ich dich das nächste Mal sehe, brüllt der Drache, fresse ich dich auf! Zornringel läuft traurig davon und weiß sich nicht zu helfen. Da sieht er am Wegrand eine alte Frau sitzen und gar bitter weinen. Zornringel fragt sie, was passiert sei, und sie sagt ihm, dass sie allein die Welt erschaffen habe, so wie sie ist, das helle Tuch des Tages und das schwarze Tuch der Nacht. Aber sie wisse, dass das Werk noch nicht vollendet sei, und darum sei sie traurig. Zornringel grübelt eine Weile. Dann geht er zu der Frau und bittet sie um einen Eimer Leim und hundert spitze Nägel. Er wälzt sich in dem Leim und badet in den Nägeln und springt vom Weg ins schwarze Tuch der Nacht…« Göttling war wie ein Kind und schien alles, was er da erzählte, selbst zu sehen. »Er rollt und kollert wild umher, und wie er wieder auf dem Weg steht, da schimmern tausend Sterne in der Nacht. Die hat er in das Tuch gestochen. Zum Dank darf Zornringel den Nagelmantel behalten und trägt ihn heute immer noch. Er begegnet dem Drachen und dieser zieht den Hut vor ihm. Noch heute glauben die Leute in Thüringen, dass Igel ihre Stachel wie Armbrustpfeile abschießen und damit Menschen blenden können.« Chiara staunte. Sie sog den Zigarrenduft ein, der das ganze Zimmer füllte.
»Es wäre schön«, sagte sie, »wenn man selbst auch solche Kräfte hätte, wenn nötig, eine andere Gestalt anzunehmen.« »In was würdest du dich verwandeln?«, fragte Göttling. Chiara überlegte. Es kam auf die Notlage an. Das deutsche Wort »Notlage« kannte sie nicht. »Ich würde… Vielleicht, wenn ich einmal Mäuschen spielen müsste…«, sagte sie dann. »Meine Mutter nannte es so, wenn sie meinen Vater ausspionierte. Er behielt vieles für sich und redete nicht viel, obwohl er Italiener war. Aber Mutter war sehr neugierig und das bin ich auch.« Sie lächelte verlegen. »Ein paarmal spielten wir die Geschichte heimlich«, erzählte Göttling. »Ich war der Drache und die alte Frau. Deine Mutter war Zornringel und trug einen wirklich gefährlichen Kopfschmuck aus Stecknadeln. Wir spannten weiße Tücher und teures, mit Ruß geschwärztes Seidenpapier auf und pieksten Löcher hinein und wurden vom Vater furchtbar geschlagen. Er hatte einen besonderen Stock mit einem Schlitz, der ganz entsetzlich pfiff, wenn man in die Luft schlug. Damit lief der Vater durch das Haus und kündigte sich an und rief die Zahl der Schläge, die man zu erwarten hatte. Es war schlimmer als das Schlagen selbst. Zweiundzwanzig, vierundvierzig, sechsundachtzig. Er wählte meistens gerade Zahlen; alles an ihm war gerade und sozusagen rechtwinklig. Ich habe es von ihm geerbt, das Gerade und das Winklige, nicht wahr, und habe mich davon nie lösen können…« Plötzlich wurde ihm bewusst, wie intim es war, was er da sagte, und wie peinlich. Er hielt inne, fuhr aus dem Sessel hoch und zerdrückte die Zigarre. »Ach!«, rief er und sein Gesicht war rot. »Was ich da erzähle! Bist du verschwiegen, Lisa? Ich wäre dir sehr dankbar.« »Oh ja«, hauchte Chiara ohne Zögern, unsicher, ob er noch freundlich war oder sich jäh veränderte.
»Bist du stumm wie eine Tote?« »Eine Tote?…« »Tot und stumm«, sagte er. Seine Züge waren plötzlich dunkel. Er spielte mit seinem Rocksaum. »Ich finde es sehr niedlich, wie du manchmal schielst… Wenn du so gut rechnen kannst«, sagte er schnell, »weißt du etwas über die elliptischen Funktionen oder die Mannigfaltigkeiten des Herrn Abel, die Ludolfsche Zahl und die Annahme, dass Pi eine magische Zahl ist? Hier haben wir das Tor zum Geheimnis der Zahlen überhaupt, die übrigens nah daran sind, sich wider uns, die Menschen, zu verschwören, weil wir herzlos sind.« Chiara schüttelte verwirrt den Kopf. »Es handelt sich um mathematische Probleme, deren Lösung dem Bezwinger viel Ehre und Anerkennung einbringen wird. Ich bemühe mich seit einiger Zeit um Ergebnisse. Es ist langwierig und sehr ermüdend. Vieles wiederholt sich im Einzelnen endlos und ist damit eine Herausforderung für das Hirn einer begabten Schnellrechnerin. Ich selbst fühle das Alter, mein Kind. Ich blicke auf mein Leben und sehe hinter mir mehr ausgefüllten Raum als leeren vor mir. Es ist schmerzlich und zernagt die alte Lebensfreude, das Gefühl der Jugend oder doch der stolzen Lebensmitte, des Nützlichseins und der noch zu erringenden Ziele. Das alles wird fad und unscharf. Und wie jäh, wie unmerklich! Plötzlich ist man vierundvierzig, eine gefährliche Zahl, nicht wahr, und stellt fest, dass der Zenit so gut wie überschritten ist. Und ganz und gar lautlos! Wann ist es bloß geschehen? Wieso habe ich nichts davon bemerkt? Es gibt gewisse Augenblicke, in denen eine Qualität sich neigt und eine andere zutage tritt, und wir sind blind dafür.« Er stockte irritiert. Er hatte sich nicht wieder gesetzt und stand nun am Fenster und spähte hinaus. »Ein Korn macht keinen Haufen Körner«, sagte er.
»Legst du ein zweites Korn dazu, hast du noch immer keinen Haufen, auch mit einem dritten nicht. Aber wann beginnt der Haufen? Irgendwann bin ich an meinem Lebenshöhepunkt vorbeigegangen, ganz ahnungslos. Jetzt blicke ich den Weg zurück und sehe diesen Wendepunkt… als wäre ich nie daran vorbeigegangen.« »Wenn wir einen Körnerhaufen sehen«, sagte Chiara mutig, »dann erkennen wir ihn. Nur im Werden sehen wir ihn nicht.« Sie hob langsam die Hand. »Sehen Sie, Onkel? Die Hand bewegt sich dorthin. Aber wann ist sie am Ziel? Wo ist dieses Dort? So ruhig kann ich die Hand nicht halten. Das eine sind die Worte, das andere ist die Tat. Die Hand ist jetzt dort. Aber eigentlich saust sie noch immer minimal hin und her wie eine Stubenfliege.« Göttling schnaufte, als wäre er eine Treppe hinaufgelaufen. »Jetzt weiß ich, was passiert ist«, sagte er und sah sie scharf an. »Du misstraust mir immer noch, nicht wahr? Ich verstehe dich sogar. Du hast soeben deine Eltern verloren und sollst nun in mir den Ersatz sehen. Und ich bedränge dich mit philosophischen Problemen und meinem Älterwerden, als ob sich so etwas gehörte in Gegenwart einer jungen Dame… Ach ja, und sicher hat Theodor dich in den Keller geführt, oder?« Chiara wurde rot. Sie fühlte, dass ihr Gesicht in Flammen stand. »Ja, das ist so seine Art, das tut er gerne«, fuhr Göttling fort und schmollte seltsam. »Er will mich kränken, der Junge. Er hat das Vertrauen in seinen Vater verloren… Sein Vater ist gesund und lebendig, und er attackiert ihn, wo er nur kann, während seine Cousine aus der Fremde froh wäre, wenn ihr Vater noch lebte, nicht wahr? So gedankenlos sind Kinder! Zuweilen fühle ich, dass meine eigene Familie mir misstraut und mich beobachtet. Sie schmieden Ränke gegen ihren Führer und Ernährer, der ich bin. Und alle unterschätzen mich. Das
ganze Universum ist zu eng und dürftig. Nimm es dir zu Herzen, Lisa, und enttäusch mich bitte nicht, wie Theodor es tut!« Chiara wusste nicht, wohin sie sehen sollte. Ihre Wangen brannten lichterloh. »Niemals, Onkel«, hauchte sie. »Ich verspreche es Ihnen und will mich daran halten, ganz gewiss.« Göttling zog ein Tuch hervor und wischte sich die nassen Augen. »Es ist so, mein Kind… Ich erzähle dir jetzt ein schweres Geheimnis… Ich habe vor einiger Zeit eine Aufgabe übernommen, die so gewaltig ist, dass man sich an höherer Stelle keinen anderen Rat wusste, als sich an mich zu wenden. Die Regierung, du verstehst. Es handelt sich um ein mathematisches Problem. Es ist für die Nation, für das Vaterland von eminenter Bedeutung. Die Welt hängt davon ab, der Kosmos fast.« Er machte eine Pause und streifte Chiara mit einem flüchtigen Blick. »Die Aufgabe ist so groß, dass sie sogar meine Kraft beinah überschreitet. Nicht so sehr meine Gedankenkraft, sondern die Leistungsmenge dessen, was ich als einzelner Mensch in einem gewissen Zeitraum rechnen kann, verstehst du mich?« Chiara nickte. Sie empfand Erleichterung und fasste wieder Mut. »Ich wäre bereit«, sagte er, »wenn du mir beweisen könntest, dass deine mathematische Leistung wirklich so ist, wie du sagst… ich würde dich unter Umständen mitarbeiten lassen. Was meinst du?« »Wenn ich Ihnen helfen kann, Onkel«, antwortete Chiara, »werde ich es ohne Zögern tun. Es wäre mir die freudigste Pflicht.« Er dankte ihr. »Natürlich muss ich prüfen, an welcher Stelle deine Mithilfe Sinn erfüllt. Es geht um viele Tausend
Teilberechnungen, für die man ein Heer von Rechnern benötigen würde. Aber ein solches Heer haben wir nicht und das Vaterland, Lisa, das Vaterland ist in Not, es braucht uns und wartet, dass wir unser Bestes geben und das Letzte opfern…« Chiara hätte gerne erfahren, worum es ging. Es erschien ihr unhöflich zu fragen. Sie wartete, dass der Onkel von sich aus etwas sagte, das ihr weiterhalf. Aber er setzte sich wieder und betrachtete schweigend seine Hände, als hätte er das Gesagte nicht gemeint und das Gemeinte nicht gesagt. »Die junge Dame, die dich begleitet«, fragte er plötzlich mit verändertem Gesicht, »wer ist sie eigentlich? Seid ihr euch nah? Magst du sie? Oder wurde sie dir bloß als deine Begleitung an die Seite gestellt? Ich glaube, das Letztere ist der Fall, nicht wahr?« Chiara bestätigte es. Sie war abermals erstaunt, wie hellsichtig und klug der Onkel war. Es tat ihr weh, ihre Sympathie für Toto zu schmälern. Aber es war nötig. Seine Auffassung über den Vater war falsch, sein Misstrauen ungerecht. Sie nahm sich vor, mit ihm zu sprechen, behutsam, aber eindringlich genug, dass er erkannte, wie sein Vater wirklich war. Vielleicht etwas nervös, ja, und erschöpft von seiner Arbeit, womöglich ungeduldig und im Streit auch dann und wann mal ungerecht. Wer war das nicht? Alles in allem aber war der Onkel ehrlich und offenkundig guten Willens und voll bester Absicht, niemandem zu schaden. »Bianca«, sagte Chiara, um seine Frage zu beantworten, »ist eine Nichte unseres Amtsschreibers. Ich kannte sie nicht, bis das Unglück geschah. Sie bemüht sich sehr, mir zu helfen. Vielleicht sind wir während der langen Reise Freundinnen geworden. Ich bin nicht sicher. Doch, ja…«
Sie hasste sich dafür, in dieser Weise offen an Biancas Ehrlichkeit zu zweifeln. Sie hatte keinen Grund. Und dennoch: Der Onkel hatte einen heiklen Punkt getroffen. Vielleicht war es der Altersunterschied; Bianca war erwachsen. Die Art, wie sie sich zuweilen beinah kindlich benahm, bloß um ihr, Chiara, ähnlicher zu werden, war hässlich und irgendwie verräterisch. »Sie ist lieb und gibt sich alle Mühe«, stellte sie entschieden fest. Sie wollte daran glauben. »Ich mag sie. Ich will ihre Freundin sein. Ich bin es.« Göttling stand wieder aus dem Sessel auf. »Du gefällst mir, Nichte«, sagte er. »Sag deiner italienischen Freundin, dass sie in meinem Hause willkommen ist und bleiben kann, solange sie will.« Chiara bedankte sich artig und stand ebenfalls auf. Noch nie in ihrem Leben hatte sie ein solches Gespräch geführt, hatte sie einen Erwachsenen erlebt, der wie der Onkel redete. Göttling öffnete gewandt die Tür. Chiara machte einen Knicks und trat auf den gähnenden, knisternden Flur hinaus.
Unten klopfte sie an die Tür der Küche und wartete, bis sie Luise rufen hörte. »Nur herein!« Alle saßen an dem großen Tisch, auch die Tante. Jakob, dessen linke Hand verbunden war, Luise und die beiden Mädchen schnitten Zwiebeln und Salat. Toto fehlte und auch Bianca war nicht da. Luise summte ein Lied, die Kinder stimmten manchmal ein. Das Kratzen und Schneiden der Messer wob ein zartes Klanggewebe wie einen Teppich, über dem Luises Stimme schwebte, die plötzlich Worte fand und richtig sang, dann wieder in ihr Summen fiel. Die Tante seufzte ab und zu. Sie blickte kurz auf, sah Chiara an und lächelte verletzt.
»Hast du mit ihm gesprochen?«, fragte sie, so unerwartet und mit so zerbrechlicher Stimme, dass Chiara erschrak. »Er kann charmant sein, oh ja. Du hättest ihn erleben sollen, als wir jung waren. Er war überall der Mittelpunkt.« Beim ersten Wort war Luise mit ihrem Lied verstummt. »Bitte, setz dich zu uns!«, sagte die Tante, die das feinste, gläsernste Gesicht besaß, das Chiara je gesehen hatte. »Er mag dich. Sie ist die Tochter meiner Schwester, hat er gesagt, also ist sie klug und geschickt. Ich will sie mir ansehen. Das hat er mir selbst gesagt. Wenn er bloß nicht so launisch wäre!« Chiara nahm ein Messer, setzte sich und half beim Schneiden. Luise begann wieder zu summen und wiegte den Kopf im Rhythmus des Liedes. Sie trug ein buntes Tuch auf ihrem prallen, zu einer Schnecke hochgewundenen Haarzopf. Die freien Zipfel wippten ulkig hin und her. »Wenn du willst«, sagte die Köchin zu Chiara, »und wenn die Frau Professor es erlaubt, kannst du nachher mit mir zum Markt kommen und einen Korb tragen.« Frau Göttling gab ihr Einverständnis. Die Mädchen guckten eifersüchtig und flüsterten. Ein Blick der Mutter brachte sie sofort zur Ruhe. Sie hatten beide die seidene, transparente Haut von ihrer Mutter, die gleichen schönen grünen Augen und die hohen Wangenknochen. Die Lippen waren weiß und blutleer und ihre Hände zitterten. Eine Weile blieben sie still, dann brach das erste, halb unterdrückte Kichern aus Minchen hervor. Helene folgte auf dem Fuß. Die Mutter drohte ihnen. »Ich weiß, dass ich ein bisschen schiele«, sagte Chiara. »Man muss genau hinsehen, dann merkt man es. Es ist das linke Auge.« Die Mädchen sahen ihre Mutter an und schlugen sich die Hände vor den Mund.
»I wo«, sagte die Tante. »Du schielst kein bisschen. Ich will es gar nicht sehen. Man bildet es sich ein. Was sagst du, Luise?« Die Köchin lehnte sich vor und blickte Chiara frontal an. »Nein, Frau Professor, ich sehe nichts.« »Doch, doch!«, riefen die Töchter. Chiara musste lachen. Sie konnte Minuten vor dem Spiegel verbringen und ihre Augen betrachten; das linke blickte einen Hauch nach innen, da war sie sicher, und alle daheim im Dorf wussten es und waren sich einig, dass Chiara Morelli von Geburt an schielte. »Besonders hübsch«, hatte ihr Vater gesagt – als er noch lebte. Chiara wurde ernst und hätte sich beinah geschnitten. »Es macht mir nichts aus, verehrte Tante«, sagte sie. »Ich lache darüber, sonst nichts.« Frau Göttling schaute sie milde an. »Die Mädchen platzen vor Albernheit, wenn man sie nicht dauernd in die Grenzen weist. Warst du auch so dumm?« »Si«, sagte Chiara und konnte wieder lachen. Die Mädchen kicherten, verschluckten sich und mussten husten. Als das Gemüse bewältigt war, stand man vom Tisch auf. Jakob versorgte es weiter auf dem prasselnden Herd. Luise und Chiara zogen sich die Mäntel an, griffen nach den Körben und verließen das Haus. Der Himmel war recht freundlich, aber es wehte ein kühler, unbekannter Wind und Chiara fröstelte. Sie schaute umher, alles war fremd und sehr groß und viel. Sie staunte über die Menge der Soldaten, die ihnen überall begegneten, und hörte immer wieder Trommelwirbel in scharfen Echos über die Dächer marschieren. »Die Frau Professor ist sehr krank«, sagte Luise irgendwann. »Es ist wichtig, dass Sie immer darauf Rücksicht nehmen. Es
sind Kopfschmerzen und Schwindelanfälle. Ich glaube, sie hat zu viel Blut, aber sie will sich partout nicht schröpfen lassen. Ich weiß nicht, was es noch werden soll. Vielleicht träumt sie auch schlecht oder schüttet ihr Essen gleich wieder weg, wenn Jakob es aufgetragen hat; Sie müssen wissen, sie isst immer alleine.« »Warum?«, fragte Chiara und schüttelte sich im Gehen. »Das wissen nicht einmal die Ärzte. Bestimmt waren es schon zehn oder fünfzehn, die gekommen sind. Alles ganz umsonst. Die Ärmste!« Luise grüßte jemand, der vorüberging, dann noch jemand und wieder andere, blieb aber nie stehen, um ein paar Worte zu wechseln, wie man es zu Hause in Italien tat. Je weiter sie gingen, umso belebter wurden die Gassen und Straßen. Der Lärm nahm zu. Poltern, Rufe und Pfiffe erfüllten die Luft. Schließlich sah Chiara den Markt, die langen Reihen der bunten Stoffdächer, die Fahnen der Stände und die wimmelnden Menschen, wahrhaftig wie Bienen. »Sie haben sich bestimmt gewundert«, sagte Luise, »wie der Professor mit Ihnen redet.« Sie tauchten in das Getümmel ein. Chiara fühlte sich ertappt und wusste gar nicht, was sie antworten sollte. »Ich weiß genau, wie er dann ist«, setzte die Köchin hinzu. Wie er wann ist?, hätte Chiara gerne gefragt. Sie kamen vor die ersten Verkaufsstände. Geflügel, Eier, lebende Küken. »Wenn er Sie für sich einnehmen will«, sagte Luise, als hätte sie Chiara die Frage von der Stirn abgelesen. »Er wird Ihnen Geschenke machen. Er wird Ihnen Kleider kaufen und allerlei süßes Zeug. Passen Sie nur auf! Da gefällt er sich sehr. Ist schlimm, dass ich das erzählen muss. Aber besser, Sie erfahren es von mir. Deshalb habe ich Sie mitgenommen. Im Haus sprechen wir nicht darüber. Er hört zu viel mit, durch seinen Apparat. Manchmal denke ich, er ist verhext, das ganze Haus…«
Sie war beim Geflügel stehen geblieben und zupfte misstrauisch an einem der Hühner herum. Die Marktfrau kam. »Vor eener halben Stunde ausjenommen!«, rief sie, als stünden sie zwanzig Schritt entfernt. »De besten, die es jibt, Madame!« »Das sagen alle.« »Aber nu ehrlich, und janz preiswert und och ordentlich Fett…« Luise verzog den Mund. Sie schlenderte weiter. Chiara folgte ihr und fühlte sich jetzt unwohl und verwirrt. Die Unterhaltung mit dem Onkel hatte ihr gut getan. Er war freundlich gewesen und ja, gewiss auch sehr vertraulich, das schon, und es mochte wohl sein, dass es sich nicht gehörte, einer Fremden gegenüber solche Dinge auszuplaudern; er hatte es selbst angemerkt und sich auch irgendwie bei ihr entschuldigt. So bedenklich, wie Luise das Gespräch erscheinen ließ, war es ihr, Chiara, wirklich nicht erschienen. Die Köchin drehte sich um und wartete, bis Chiara nah herangekommen war. Dann sagte sie mit dunkler Stimme: »Oh, wenn Sie wüssten, Fräulein, wie sehr der Herr Professor sich verändert hat. Wir alle machen uns Sorgen. Und seine Frau tut mir am allermeisten Leid.« Chiara wollte nachfragen, sie traute sich nicht. Sie wusste nicht, wie sie ihre Frage stellen sollte und ob es nur eine Frage war oder nicht mehrere. Am übernächsten Stand kaufte Luise ein Huhn. Es blutete noch. Die Marktfrau rieb es mit Stroh ab, wickelte es sorgfältig in Rhabarberblätter ein und legte es in Chiaras Korb. Von irgendwo tönte Lärm herüber. Chiara wandte sich um, sah aber nichts Ungewöhnliches. Die Marktfrau hatte rote, vorspringende Augen, ihre Hände waren rau und aufgequollen. Plötzlich echoten Rufe über den Platz, alle Köpfe drehten sich. Eine Gruppe Uniformierter sprengte auf Pferden heran, Chiara
sah ihre Lanzen und Gewehre im Sonnenlicht blitzen. Die Menge auf dem Markt bewegte sich in Wellen. Die Reiter trieben einen Mann vor sich her oder sie jagten ihn wie einen Fuchs. Die Menschen rannten schreiend auseinander. »Ein Deserteur!«, rief jemand. »Ein Verräter, Franzose oder Österreicher, ein Spion!« Die Soldaten hielten ihre Pferde an. Es waren vier Ulanen, mit hohen, schwarzen Mützen. Sie trugen graue Hosen, blaue Röcke und lange, glatte Stiefel. Der Getriebene stand mit todesängstlichem Gesicht, umringt von Leuten. Er blutete am Kopf. Dann fuhr es Chiara durch den ganzen Körper: Der Mann sah aus wie… Signore Tulpino, der alte Schreiber, Biancas Onkel. Es war ein schlimmer Traum. Einer der Ulanen holte aus und traf den Mann, der sofort hinfiel. Die Menschen machten Platz. Ein zweiter Reiter näherte sich, warf ein Seil mit einer Schlinge hin und rief etwas in die Menge. Und wartete und wiederholte den Befehl. Bis langsam, zögernd, ein Junge aus den Reihen trat, die Schlinge nahm und sie Tulpino, oder diesem Menschen, der ihm so schrecklich ähnlich sah, über einen Fuß schob, die Schlinge zuzog und ängstlich um sich blickte. Der Reiter mit dem Seil gab seinem Pferd die Sporen und zerrte den Gefangenen, der sich jetzt schreiend wand und drehte, quer durch den Kot der Straße fort, bis sich die Menge schloss und Chiara nichts mehr sehen konnte. Sie hatte Tränen in den Augen, wischte sie mit einer Handbewegung weg und spähte zu Luise, die mit verschränkten Armen bei den Körben stand. »Das macht man mit Leuten, die das Vaterland verraten«, sagte sie und schob die nasse Unterlippe vor. »Ein Spion, na ja!« Sie sah Chiara forschend an, deutete auf den Korb am Boden, in dem das Huhn lag, und zielte auf die nächsten Stände hin, wo kleine, bunte Hügel aus Gemüse sich erhoben.
Chiara folgte ihr, fast willenlos, betäubt von dem Ereignis. Sie sah Tulpinos Kopf und wie er jetzt wohl totgeritten wurde oder im Verlies von heute an verrottete. Sie wusste, dass es nicht Tulpino war. Und trotzdem ging ihr alles furchtbar nah. Jedenfalls beschloss sie, Bianca nichts davon zu sagen. Es würde sie bloß quälen und ihr Gedanken machen, die ganz gewiss unnötig waren. Luise kaufte ein, die Körbe wurden immer schwerer, bis die Köchin entschied, einen Handkarren zu mieten, auf dem zusätzlich ein großer Ballon Apfelmost Platz fand. Der Karren wurde von einem mageren Jungen geschoben, der kaum älter als zehn war und an den Händen hässliche Ausschläge hatte. Luise verbot ihm, auf dem Rückweg irgendetwas anderes außer seinem Wagen zu berühren. Als sie vor dem Haus angelangt waren, gab sie dem Jungen ein Geldstück und rief Jakob, der den Frauen beim Entladen half. Drinnen entband sie Chiara von den nächsten Pflichten, öffnete die Tür zum Salon, als hätte sie geahnt, was zu entdecken war, und sagte mit scharfem Unterton: »Na bitte. Ich hab es Ihnen gesagt!« Sie deutete auf ein großes, schwarzes Seidentuch, das auf einem der Sessel lag und etwas Flaches, Längliches bedeckte. Auf dem Tuch lag eine Karte, auf der Professor Göttling seine Nichte »herzlich« grüßte. Luise ging in die Küche. Chiara hob den leichten, weichen Stoff hoch. Vor ihr lag ein wunderschöner Abakus aus dunklem Ebenholz mit glänzenden Beschlägen. Chiara war nicht sicher, was sie fühlen oder denken sollte. Sie nahm den Abakus in beide Hände. Das Holz war zarter als das Tuch, in das es eingeschlagen war. Die dreiundsechzig Kugeln waren weißes Elfenbein. Es war beschämend; wie sollte sie dem Onkel danken? Er wollte sie gewinnen, das war ihr sonnenklar. Nur dass Luise es gewusst zu haben schien, war ärgerlich und stellte den Onkel in ein schiefes Licht. Aber
nein! Er selber hatte sie, Chiara, vorgewarnt und angedeutet, dass die Familie immer wieder gegen ihn zu Felde zog. Bestimmt vertraute er darauf, dass sie auf seiner Seite stand und dass sie ihm beim Rechnen half, dort, wo sie konnte. Die Rechentafel war das Zeichen seiner Freundschaft. Und warum sollte sie ihm widerstehen? Sie nahm das Tuch und die Karte und trug alles zusammen die Treppe hinauf, um es Bianca zu zeigen, die hoffentlich oben in der Schlafkammer war. Als sie am Arbeitszimmer des Onkels vorüberkam, trat sie leise auf aus Angst, er könnte da sein und herauskommen, um sie zu fragen, was sie fühlte. Sie fühlte nichts Bestimmtes, sie war verwirrt. Sie hatte sein Geschenk im Arm und hielt es fest. Sie schlich behutsam weiter, bis nach oben. Die Tür zur Kammer stand ein Stück auf, es war still. Die Kugeln der Rechentafel rutschten hin und her und klackten leise. Chiara schwitzte vom Steigen. Sie würde Bianca sagen, dass sie beruhigt nach Hause fahren konnte, dass sie, Chiara, in diesem Hause Freundschaft und Geborgenheit erfuhr. Sie trat durch die Tür in die Kammer – und erstarrte. Bianca saß zitternd auf ihrem Bett und weinte. Die Koffer lagen auf dem Boden, der Schrank stand offen, alle Kleider waren herausgerissen und Mutters Knöpfe lagen weiter hinten ausgestreut, daneben das Intarsienkästchen. Chiara fasste sich, warf das Geschenk aufs Bett und fiel Bianca um den Hals. »Es waren zwei«, wimmerte sie auf Italienisch. »Nur Jakob war im Haus und hat es nicht bemerkt. Ich kam vom Hof und ging die Treppe rauf, da hörte ich Geräusche. Ich habe sie gestört. Sie kamen aus dem Zimmer und haben mich geschlagen und sind dann fortgerannt. Was haben sie gesucht?« »Ich weiß es nicht«, log Chiara und schielte nach dem Kästchen. Alle Hoffnung auf ein neues, gutes Leben war
zerfallen. Der Tod der Eltern war kein Unfall gewesen! Und Vaters Feinde hatten sie und Bianca die ganze Reise lang im Blick behalten! Und wenn sich die Pläne noch in dem Versteck befanden, würde dieser Albtraum weitergehen! Sie hielt sich an Bianca fest und wollte sie nie mehr loslassen. »Ich habe dir erzählt, dass mein Vater diese Maschine erfunden hat«, flüsterte sie und bebte vor Angst. »Dann kamen ein paar Herren und interessierten sich dafür. Ich habe die Pläne. Man hat sie schon zu Hause in Italien gesucht, am Tag, als Papa und Mama starben. Ich habe sie hier im Haus versteckt. Niemand wird sie finden. Aber ich habe Angst.« »Vielleicht ist es besser für uns, wenn sie gefunden werden. Man wird dich zwingen, sie herauszugeben.« »Noch hat mich niemand danach gefragt«, wandte Chiara ein. »Ich kenne die Leute ja gar nicht.« »Sie werden zurückkommen.« »Bis dahin warte ich.« Chiara ließ Bianca los. Die Worte verklangen, aber ihre Bedeutung echote schmerzhaft in ihr nach, die unsichtbare Bedrohung, die in allem mitschwang. Chiara ließ sich erschöpft zurück in Biancas Arme fallen und weinte ihre Angst heraus. Bianca strich ihr übers Haar, küsste ihre Schläfe und wiegte sie mit ernster Zärtlichkeit.
Sie weiß nicht, was sie fühlen soll
Es war der neunte Tag ihres neuen, bodenlosen Lebens in Berlin. Chiara straffte sich, sie musste sich zusammennehmen! Es war der Abschied. Bianca hatte einen Brief erhalten. Man bat sie heimzukehren. Sie saß in der voll besetzten Schnellpostkutsche, winkte durch das Fenster und wischte sich die Augen. Chiara weinte auch, zum dritten oder vierten Mal, sie wusste es nicht mehr. Bianca fuhr nach Hause, in das alte Leben, zurück zu Onkel Luigi, zum Schreiber Tulpino, zur Hexe Spini, zu den Carabinieri und zu Monsignore Albertini… Luise hatte Chiara und Bianca zum Gasthof Drei Linden begleitet. Sie stand etwas abseits und winkte mit einem Taschentuch. Die Pferde traten unruhig auf der Stelle. Die Postillione rüsteten die letzten Taschen und Pakete auf dem Wagendach. Dann stiegen sie auf den Bock hinunter, griffen die Zügel und ließen ihre Peitschen über die Pferderücken streichen. Der Wagen zog an, die hohen Eisenräder schlugen auf das Pflaster und Bianca sandte einen letzten Gruß herüber. Chiara schaute durch die Tränen. Ihr war sehr klar, dass sie die junge Frau nie Wiedersehen würde. Es tat ihr weh. Oh doch, sie waren Freundinnen geworden! Das Schicksal hatte sie zusammengeführt, das »Pechsal«, dachte sie und hörte den Herrn Professor es sagen, ihren Onkel, der ihr plötzlich wieder fremd erschien und merkwürdig. Bianca würde ihr jedenfalls fehlen, sie fehlte ihr schon jetzt, in diesem Augenblick, wo sie hier allein zurückblieb. Luise merkte, dass es Chiara nicht gut ging. Sie kam zu ihr, zog sie an sich und hielt sie fest, bis der Wagen die
Straßenecke erreichte, laut rasselnd einen Bogen fuhr und gänzlich aus dem Blick geriet. Der Fußweg zurück zum Haus wurde qualvoll. Als hätte Chiara bis zu diesem Zeitpunkt nicht erkannt und wahrgenommen, was geschehen war und wie ihr Leben verlief, stürzte abermals die Gewissheit darüber über sie hin. Noch einmal und wieder viel tiefer wurde ihr klar, dass sie nun eine Waise war. Wie schon vor der Reise kam es ihr auch diesmal vor, als gäbe es verschiedene Leitern der Erkenntnis über ein solches Schicksal. Von Ebene zu Ebene stieg sie in einen Schacht hinunter, der bis ins Fegefeuer führen mochte. Am Morgen noch hatte Bianca sie davon unterrichtet, dass alles Eigentum im elterlichen Hause von Onkel Luigi entweder verkauft oder verwaltet werden würde, woraus ihr, Chiara, in unregelmäßigen Abständen ein gewisser Geldbetrag zugute komme, dessen jeweilige Höhe allerdings nicht zu bestimmen sei. Das Haus selber war gemietet; es gab allerdings ein winziges Stück Gartenland außerhalb der Stadt sowie die Werkstatt des Vaters mit allen Werkzeugen und Materialien, die freilich nicht viel abwerfen würden. Mehr sei da nicht, das wisse Chiara ja. Ein bisschen Geschirr, ein paar Kleider und Bücher. Aus und vorbei. »Ich liebe die Neun«, sagte Chiara, um die Gedanken und Gefühle zu bändigen. »Neunundneunzig ist meine Abschiedszahl.« Luise sah sie fragend an. »Pass auf! Neunundneunzig mal neunundneunzig mal neunundneunzig ist genau neunhundertsiebzigtausendzweihundertneunundneunzig. Viele schöne Neunen!« Luise schüttelte den Kopf. »Was Sie für Flausen denken, Fräulein«, sagte sie. »Sie sind wie Theodor und der ist wie sein Vater. Da sieht man die
Familie. Die Frau Professor hat mir einmal erzählt, dass der Großvater Göttling selig auch so ein Kindskopf war. Oh je! Wehe, Sie verraten mich!« Sie hielt sich den Mund zu. »Der Vater des Herrn Professor war nämlich als junger Mann zur See gefahren und hatte China und Cathay gesehen, die ganze Welt. Dann kam er nach Leipzig zurück und baute für den Fürsten eine fliegende Maschine, mit der er stürzte und sich die Knie brach. Da baute er sich einen kleinen Wagen und rollte neben dem Fürsten durch den Park. Der Fürst nahm ihn mit nach Weimar. Sie frühstückten mit dem Geheimrat Goethe, der schon alt war. Der Herr Professor war noch ein kleiner Junge. Sein Vater nahm ihn mit. Goethe schenkte dem Kind allerlei Spielzeug. Der Professor hat es aufgehoben, es liegt oben in seinem Arbeitszimmer. Unter anderem ein wunderschöner Abakus, den er hütet wie sein eigenes Augenlicht.« Chiara fühlte ihr Herz schlagen. Sie wagte nichts zu sagen. »Sind die Türen immer fest verschlossen?«, fragte sie nach einer Weile. »Jemand hat unsere Kammer durchsucht.« »Jakob hat es mir erzählt«, sagte Luise. »Er hat alle Fenster überprüft und Türen. Ich erinnere mich daran, dass einmal ein armer, hungriger Kerl in unsere Speisekammer eingebrochen ist. Gott soll es ihm verzeihen, oder?« Chiara nickte. Sie hatte in der Nacht nach dem Vorfall kaum geschlafen. Im Traum waren Fremde über den Dachboden geschlichen und hatten geflüstert. Bianca hatte im Schlaf gemurmelt und geseufzt. Überhaupt hatte das Haus seither sein Klima gewechselt. Sie war am Morgen froh gewesen, es zu verlassen, und hatte jetzt ein wenig Angst, es wieder zu betreten. Sie kamen an einer breiten Hofeinfahrt vorbei. Drinnen machte man sich daran, ein Schwein zu schlachten. Es lag schreiend auf der Seite, man hatte ihm die Beine
zusammengebunden. Der Schlachter wetzte das Messer. Neben ihm hockten ein paar Kinder, drei, vier Jahre alt, und schauten zu. Der Mann lachte das Leben aus und schnalzte mit der Zunge. Das Schwein zuckte und wand sich in seiner Ohnmacht. Chiara sah sein Gesicht, es hatte fast menschliche Züge, voller Schmerz und Hoffnungslosigkeit. Sie blieb stehen. Der Mann trat vor, klemmte den Kopf des Schweins zwischen die Stiefel und packte das offene Maul. Das Tier verstummte. Er drückte den mächtigen Schädel nach hinten und setzte den Stich. Blut schoss hervor, ein Helfer hielt die Schüssel hin und fing es auf. Die Kinder klatschten in die Hände. Das Schwein quietschte, röchelte. Die Kinder blickten herüber, als seien Chiara und Luise sehenswerter als dieser rote, spritzende Tod. Luise zog Chiara mit sich. Chiara machte sich frei und bat sie, einen Augenblick zu warten. »Bis seine Seele auffährt, bitte!« Die Köchin zögerte. Es war ihr wohl unangenehm. Der Schlachter und sein Helfer schielten schon herüber. Die Kinder streckten ihre Zungen heraus. Das Schwein war leblos. Der es getötet hatte, wischte das Messer sauber. Der andere trug behutsam die volle Schüssel ins Haus. Chiara ging weiter. Ihr war, als schwebte sie. »Jakob hält immer die Augen offen«, sagte Luise. Es dauerte, bis Chiara begriff, dass sie die durchwühlte Kammer meinte. »Er ist ein guter Mensch und zuverlässig. Einmal hat er mir ein Schiff geschenkt, aus Papier gemacht, zu meinem Geburtstag. Dabei weiß ich gar nicht genau, welcher Tag das ist. Jakob hat ihn erfunden, ist das nicht wunderbar? Wann haben Sie Geburtstag, Fräulein Chiara?« »Am vierten April.« »Ein Frühlingskind!«, rief Luise. Ein Fuhrwerk klapperte vorüber. »Ein Lenzenkind, das wächst geschwind und Gott
schenkt ihm den Sommer. Es blüht und fliegt im Lebenswind und macht uns keinen Kummer.« Chiara sah die Schweineseele gegen den Himmel fliegen. Es war ein Vogel. Er flatterte kaum. Der warme Wind trug ihn empor. Als sie das Haus betraten, lag auf Chiaras Platz am großen Esstisch ein Kranz geflochtener Blumen. »Den hat Theodor gemacht«, erklärte Jakob. »Jetzt gehören Sie richtig zur Familie, Signorina Chiara.« Und auf Italienisch: »Mögen dieses Haus und seine Menschen Ihnen nur Gutes angedeihen lassen.« Damit machte er eine leichte Verbeugung, nahm die Hand, die Chiara ihm zögerlich entgegenhielt, und küsste sie berührungslos.
Alle, mit Ausnahme des Onkels, saßen im guten Zimmer bei Tisch. Jakob trug das Abendessen auf. Es gab in Zucker glasierte Kartoffeln, Spitzkohl und gekochtes Rindfleisch, das nach Lorbeer und Kümmel duftete. Die Mädchen und Toto tranken verdünnten Fruchtsaft, die Tante nippte an einem Glas Weißwein; sie hatte dunkle Ränder unter den Augen. Minchen und Helene saßen über Eck, sie durften während des Essens nicht miteinander reden und gaben sich versteckte Zeichen, zwinkerten sich zu und hatten bedeutungsvolle Weisen, das Besteck an ihren Tellerrand zu legen. Chiara aß ohne Appetit. Sie fühlte, wie die Blicke der anderen über sie hinstrichen, sobald sie auf den Teller schaute, und wie sie flüchteten, wenn sie wieder hochsah. Alle waren ziemlich verlegen, neugierig, unsicher. Toto spielte mit der Gabel und rückte Muster aus Kartoffelstücken und klein geschnittenem Fleisch zurecht. Er hatte einen merkwürdigen Fleck im Gesicht, schräg über dem linken Auge. Ein paarmal fasste er dort hin und verzog den Mund. In seinem Blick
wechselten sich Müdigkeit und ängstliche Erwartung ab, als ob die Tür aufgehen und eine Gefahr eintreten könne. Bloß welche, fragte sich Chiara. Sie trank als Einzige Wasser, wie zu Hause, wie immer. Sie mochte keine Säfte und schon gar keinen Wein, und wenn, dann nur roten, mit Wasser verdünnt, sehr blass und nicht so sauer. »Luise wird dich morgen in die Stadt begleiten, Chiara. Du lernst den Schneider Goldfuß kennen. Gute Kleidung ist das Wichtigste«, sagte die Tante plötzlich in das Klappern der Messer und Gabeln. »Theodor hätte dich begleiten können, aber ich möchte es nicht. Er hat sich äußerst tadelhaft benommen. Dein Onkel wird dir sicherlich schon gesagt haben, dass wir unsere Sorgen mit dem Jungen haben. Sogar seinen Lehrern widerspricht er unentwegt und bringt uns peinlich ins Gerede.« Toto scharrte auf seinem Teller herum. Chiara sah, dass er fast platzte vor unterdrückter Wut. Irgendetwas musste vorgefallen sein. »Dass wir einen Ruf zu verlieren haben«, fuhr die Tante fort, »scheint ihn nicht zu interessieren. Er enttäuscht uns. Dabei war er ein so lieber Junge. Ich weiß nicht, welcher Teufel in ihn gefahren ist. Seit mein Mann das Institut leitet und verständlicherweise neue Pflichten übernommen hat, führt sich Theodor auf, als sei sein Vater verrückt geworden.« Ihre Lippen zitterten. »Dieser Hochmut! Und da wundert er sich, wenn sein Vater aus der Haut fährt.« Toto stieß seinen Teller weg, sprang auf und rannte aus dem Zimmer. »Da siehst du es!«, rief die Mutter entrüstet. »Er hat jeden Anstand vergessen, der Junge. Als ob ein Vater nicht das Recht hätte, von seiner Familie, von seinen Kindern Unterstützung und Mithilfe zu verlangen, zumal es um delikate Dinge geht, die für uns alle wichtig sind.«
Chiara hatte aufgegessen. Sie wartete, dass die Tafel aufgehoben wurde. Sie wollte Toto suchen und fragen, was passiert war. Die Tante schwieg gefährlich. Ihre Bewegungen waren kraftlos, das Gesicht zerfiel vor Müdigkeit, die Haut war grau. »Ich möchte mich einmal bedanken«, sagte Chiara, »dass Sie mich aufgenommen haben…« Der Satz, spürte sie, hatte ein etwas unangemessenes Gewicht. Doch das Gesicht der Tante wurde plötzlich hell. »Ich bin gerne hier und will mich fügen«, schwindelte Chiara, als wäre es ihre Pflicht wieder gutzumachen, was immer Toto angerichtet hatte. »Ich habe Vertrauen in Gott, der meine Hand über mich hält und weiß, welchen Weg ich gehen muss… ohne meine Eltern gehen muss.« Frau Göttling wurde bleich und nickte ihr zu. Die Mädchen schlugen sich die Hände vor den Mund und kicherten versteckt. »Luise wäre dir dankbar«, sagte die Tante, »wenn du ihr in der Küche zur Hand gingst und bei der Wäsche. Ich sage dir ganz offen, dass ich es für überflüssig halte, Mädchen auf eine Schule zu schicken. Was man für das Leben braucht, lässt sich im Haus lernen. Dein Onkel ist da anderer Ansicht. Vielleicht hat er Recht und ich irre mich. Bist du in Italien auf eine Schule gegangen?« »Ich hatte zusammen mit einem Dutzend anderer Mädchen einen privaten Lehrer, Monsignore Albertino. Ich mochte ihn und habe viel gelernt.« »Dann kannst du dich ja freuen. Ich werde dir nicht im Wege stehen, Kind, solange du im Haus deine Pflichten versiehst. Luise berichtet mir wöchentlich.« »Si, Signora«, sagte Chiara und nahm sich ehrlich vor, allen berechtigten Forderungen zu entsprechen.
»Du kannst abräumen, Jakob«, sagte die Tante und rückte ihren Stuhl zurück, um aufzustehen. Sofort sprangen die Mädchen auf und flüchteten. Chiara ging Jakob zur Hand. Toto saß in der Küche und schnitzte mit finsterer Miene an einem Stück Holz herum. Auf dem Boden lag eine helle Insel aus Spänen. Er schnitzte ein Schiff, der Rumpf war gut zu erkennen. »Damit fliehen wir«, flüsterte er Chiara zu. »Wenn du nicht mitmachst, bringe ich mich um. Dich mit. Ich kann es hier nicht mehr ertragen. Alle sind so falsch und verlogen. Sie predigen Wasser und saufen Wein, bis sie umfallen.« Er spuckte in die Holzflocken. »Ich habe es Ihnen gesagt, junger Herr«, bemerkte Luise, die es gehört hatte. »Ich sage es seit einem Jahr. Aber Sie wissen es ja besser.« »Sei still, Luise! Und hör auf, mich zu siezen!«, zischelte Toto. Und zu Chiara: »Glaub ja nicht, dass sie wirklich Sie zu mir sagt. Das tut sie bloß, wenn sie mich hasst.« »Ich hasse dich nie«, sagte die Köchin und schüttelte den Kopf. »Doch! Sonst würdest du mir helfen, aus dem Haus zu kommen.« »Du redest ein Zeug!« »Ohne Luise und Jakob kann ich es nicht schaffen«, erklärte Toto und ließ Chiara nicht aus dem Blick. »Mein Vater lässt mich scharf überwachen. Er hat einen Büttel in seinem Institut, Montgolfier, eigentlich ein Tier, ein Wolf, glaube ich, oder vielleicht ein Menschenfuchs. Jedenfalls lässt er sich allmorgendlich von ihm die Sohlen lecken. Dann macht dieser Montgolfier Tee, und wenn es dunkel wird, lackiert er die Fußnägel meines Vaters rabenschwarz.« »Theodor!«
»Pardon, Madame!« Toto hielt den Schiffsrumpf in die Höhe. »Damit geht’s nach Amerika! Und du kommst mit!« Er meinte Chiara. »Wir zwei in Arkansas bei den Regulatoren! Wenn du Lust hast, lese ich dir etwas vor. Friedrich Gerstäcker. Die Regulatoren in Arkansas. Das sind freie Männer, die ihr Schicksal selber wählen. Ein geniales Buch…« »Nein, nein«, murmelte die Köchin. »Ich sterbe noch vor Sorge. Diese Familie bringt mich um.« »Dich nehmen wir auch mit, Luise«, trällerte Toto. »Wenn du mir schwörst, mich nie mehr zu verraten.« »Ich habe dich noch nie verraten.« »Du verrätst mich jeden Tag. Indem du diese Familie, die dich umbringt, liebevoll versorgst… Aber Amerika!«, schwärmte er. »Das Gold liegt überall im Boden. Du kannst es mit bloßen Händen herausgraben und lebst wie ein Fürst. Ich gründe eine Stadt und eine Manufaktur für Gewehre und spanische Pistolen. In dieser Stadt erlaube ich nur solchen Menschen zu leben, die das Gold und die Freiheit lieben. Jeder soll an sich denken. Wer schwach ist, muss sterben. Amerika wird das stärkste Land der Welt. Alle werden sich ihm unterordnen müssen. Jeder alte König hat vor jedem Amerikaner einen Kratzfuß zu machen. Es gibt nur eine Sprache, nur eine Währung und keine Trachten. Jeder ist seines Nachbarn Feind. Die Weite zählt. Wir messen nicht in Ellen oder Meilen, sondern Hundertmeilensprüngen. Es gibt nur bestes Fleisch zu essen, süßes Brot und Honig. Alle Bücher werden verbrannt. Jedermann trägt Waffen, die ihm das Leben erhalten. Wer sie am besten und am schnellsten bedient, der überlebt. Es gibt nur einen Fürsten, den Präsidenten, viel strahlender und tausendmal grausamer als Napoleon.« »Wirrkopf!«, rief Luise. »Oh ja. Und du bleibst hier im staubigen, dunklen Berlin«, sagte Toto. »Zur Strafe. Ich habe euch nämlich belauert, Vater
und dich. Du hast ihm verraten, dass ich nicht in der Schule war und stattdessen in die Stadt gegangen bin. Das ist vier Tage her. Leugne ja nicht!« »Weil es dumm ist«, wehrte sich die Köchin. »Aber du bist nicht für meine Erziehung zuständig!«, entgegnete er. »Ja, tu mir nur tüchtig weh, das war schon immer dein Steckenpferd!« Luises Stimme klang weinerlich. Die Tür sprang auf und Jakob kam mit dem Rest des schmutzigen Geschirrs herein. »Die Signorina wird in einer Stunde abgeholt«, meldete er. »Ein Bote des Ministeriums war da und hat den Wagen avisiert. Er bringt die junge Dame ins Institut.« »Aha, mein Vater reicht dir seine goldene Hand, Chiara«, sagte Toto. »Sei auf der Hut!« »Es ist doch eigentlich zu spät für heute, oder?«, wunderte sich Luise. »Aber der Herr Professor wird schon wissen, was er tut.« »Oh ja«, rief Toto. Er legte Schiff und Messer auf den Tisch und machte sich daran, die Späne zusammenzufegen. »Er weiß immer sehr genau, was er tut. Das wird die Nichte Chiara schon noch merken. Bestimmt sperrt er sie in einen goldenen Käfig, darauf wette ich. Er füttert sie rund und fett, bis sie davon unglücklich ist.« Er suchte Chiaras Blick. »Er wird dich einfangen und ordentlich zügeln. Er wird dir seine große Aufgabe vorführen und erklären, wie bedeutsam sie ist und wie bedeutend er selber damit werden wird.« Chiara wich ihm aus. Sie fand es hässlich, was er sagte, wie er es sagte, dass er es sagte. Am liebsten hätte sie ihn ordentlich zurechtgewiesen. Aber er würde es sich natürlich nicht gefallen lassen, also schwieg sie. Er beobachtete sie. Es sah aus, als ahnte er, was sie dachte.
»Du glaubst mir nicht«, stichelte er. »Du denkst, ich bin verrückt, ich verunglimpfe meinen Vater, und weil du deine Eltern verloren hast, kannst du überhaupt nicht verstehen, wie einer so undankbar und ungerecht sein kann.« Sie blickte weg, unsicher geworden. Warum bohrte er sich so in ihre Gedanken? Weil sie dasselbe tat? »Du kommst dir wohl sehr klug vor«, sagte sie gereizt. »Aber ich kenne zehnmal Klügere als dich. Vielleicht hat dein Vater dich geschlagen, es geht mich gar nichts an. Am Ende hast du ihm wirklich Anlass dazu gegeben und willst es bloß nicht eingestehen. Du bist mir zu stolz, Theodor. Ich mag dich nicht, nicht so. Du bist roh und überheblich. Jetzt wirst du lachen und denken: Ja, ein Mädchen!« Toto lachte. Aber es klang unglücklich und kam nicht aus dem Herzen. Chiara stand auf. Sie versprach Luise, am Morgen früh auf zu sein und bei der Vorbereitung des Frühstücks zu helfen. Dann ging sie auf den Flur hinaus, nach oben in ihr Zimmer.
Der Wagen trug das Wappen des Königs und wurde von einem vermummten Kutscher gelenkt, der keine Peitsche hatte und mit den Pferden, wie es schien, Polnisch oder Russisch sprach. Es mochte jener Montgolfier sein, dachte Chiara, als sie das Haus verließ und sich den Mantel überwarf. Und Toto hatte Recht. Der Mann war dunkel und hielt mit Absicht sein Gesicht verborgen. Sie stieg ein und wartete. Es roch nach Tabak. Die Scheiben waren schmutzig und auf dem Boden lagen überall zertretene Brotreste. Dafür waren die Sitze gut gepolstert und die Räder hatten Federn, so dass Chiara, als der Wagen anfuhr, gleich zu schweben glaubte. Die Häuser und Menschen flogen nur so vorbei. Im Nu bog die Kutsche um die Ecke und wäre beinah
umgestürzt. Chiara klammerte sich an eine Lehne. Die Fahrt wurde noch schlimmer, die Luft zum Atmen wurde einem vom Mund fortgerissen. Draußen schrumpfte die Welt zu wirren Strichen und Schlieren, die Achsen schrien, die Räder hämmerten im Teufelstakt. Chiara wurde es schlecht, sie war nah daran, gegen das Wagendach zu schlagen und zu rufen. Sie bezwang sich mit Mühe. Der Wagen flog durch Gassen und Straßen, streifte Ecksteine und Pfosten und wühlte Erde auf. Die Leute blickten ihr nach. Schließlich polterte die Kutsche durch ein hohes Tor. Dahinter saßen Soldaten, die sich um nichts scherten. Sie rauchten Pfeifen, warfen Würfel in den Sand. Endlich verlangsamte sich die Fahrt und Chiara holte Luft. Ihr Herz trommelte. Sie durchfuhren einen Park, die Räder knirschten leise, man hörte Vögel singen. Vor einem Haus, das aussah wie ein Schloss, blieben die Pferde stehen und schnaubten. Ein Diener sprang herbei und stellte eine Treppe an. Chiara trat mit fiebernden Gefühlen auf den weißen Kies und schluckte tapfer ihre Angst hinunter. Der Diener wies ihr den Weg. Der dunkle Kutscher folgte ihnen. Sie betraten eine Eingangshalle, in der nach links und rechts geschwungene Treppen in die Höhe führten. Im zweiten Stock pochte der Diener an eine große Tür und horchte. Er öffnete und steckte nur den Kopf hinein. Dann bot er Chiara höflich an, das Zimmer zu betreten. Sie hörte die Schritte des Kutschers hinter sich, der ihr mit Abstand nachging, plötzlich schneller wurde und an ihr vorbeieilte, nach links einbog und zwischen hohen, eng gestellten Bücherregalen verschwand. Der Diener schloss die Tür. Chiara stand allein und wartete. Es roch brenzlig, als hätte eben noch Papier gebrannt. Der Onkel saß in einem breiten Sessel hinter einem Tisch und flüsterte. Sein Kopf bewegte sich, ein bisschen wie bei einem Kind, das Buchstabe für Buchstabe entziffern muss. Er hatte
eine Brille auf, die er mit beiden Händen hielt. Ein Buch lag aufgeschlagen vor ihm. Es waren Zahlen, großen Mengen von Zahlen, Reihen, Kolonnen, Türme, strenge Gruppen und versprengte Haufen. Chiara blinzelte, um mehr zu sehen. Die Fenster waren zugehängt und ließen nur das halbe Licht herein. Der Onkel zischelte und winkte mit der Hand ins Leere. Chiara rührte sich nicht. Eine Wanduhr tickte. Schließlich blickte er kurz auf, nickte flüchtig, als hätte Chiara etwas gesagt. »Natürlich, wenn wir uns einmal einig sind…«, sagte er und blätterte, wischte sich über Mund und Nase; er hatte diesen Tick, er war Chiara schon am Vortag aufgefallen. »Diese immense Arbeit, Lisa, verstehst du? Es zehrt mich aus.« Er sah sie an. »Hast du dich über mein Geschenk gefreut? Wenn du wüsstest, von wem ich diesen Abakus erhalten habe. Ich war noch ein Junge…« Chiara wusste nicht, was sie sagen sollte. »Es ist der schönste, den ich je gesehen habe.« »Ja, du weißt, wie es mit solchen Geschenken ist, nicht wahr? Sie sind das Produkt plötzlicher Gefühle und dann bereut man es. Nein, bitte, du darfst jetzt nicht glauben, ich… Er gehört dir, für immer. Du bist es mir wert, Lisa. Aber man verbindet eben gewisse Dinge damit. Du bist doch fast erwachsen. Nein, ich will dir keine Angst machen. Jetzt hast du Angst, nicht wahr? Bitte, verstehe mich nicht falsch! Ich brauche deine Hilfe, Kind! Wir probieren es einmal aus, das mit dem Kopfrechnen. Bist du damit einverstanden?« »Ja«, sagte Chiara. Sie fand es selbstverständlich. Sie musste ihn andauernd ansehen. Er sah so müde aus. Seine Hände waren ruhelos mit ein paar Dingen auf seinem Schreibtisch beschäftigt. Es waren schlanke, fingerlange Figuren, vielleicht Schachfiguren oder kleine Götter.
»Die meisten Erwachsenen nehmen Kinder in deinem Alter nicht ernst«, sagte er. »Sie glauben, ihr wäret nicht zuverlässig, und vielleicht ist etwas daran, wenn ich Theodor sehe. Dich, Lisa, will ich ganz anders verstehen und behandeln. Wann wird einem von Gott oder dem Schicksal so aus dem Nichts ein weiteres Kind in die Arme gelegt? Das will ich redlich schätzen lernen. Wir probieren es, nicht wahr?« Er schaute suchend umher, sein Blick streifte über die Bücher in den Regalen, es waren Hunderte, wie im Studierzimmer seines Hauses. »Also, du bist jetzt fünfzehn, ich bin vierundvierzig Jahre alt. Ach, Lisa, du darfst nur nicht grübeln, dass ich so vertraulich mit dir rede. Wir sind uns fremd. Ich brauche es manchmal, so zu sprechen, diese Nähe… Natürlich trennen uns Welten. Aber eine verbindet uns ja. Es ist die der strengen Zahlen, nicht wahr?« Er wischte sich über Mund und Nase. »Sie verbinden uns für immer, diese Zahlen, die Welt des logischen Geistes.« Chiara folgte ihm. Sie wuchs beständig an dem, was er sagte. Sie liebte jedes Wort. Wie Unrecht Toto hatte! »Also fünfzehn und vierundvierzig«, sagte er. »Wir bilden eine Reihe und die Summe vierzehn. Das Produkt der Reihe ist achtzig. Wir teilen und erhalten was?« Chiara rechnete und antwortete ohne Zögern: »Fünf Komma sieben, eins, vier, zwo, acht, fünf, sieben.« »Auf sieben Dezimalstellen genau. Gut«, stellte Göttling fest. »Jetzt bilden wir das Produkt aus vierzehn und achtzig und ziehen die Wurzel.« »Drei, drei Komma vier, sechs, sechs, vier, null, eins«, sagte Chiara prompt. Der Professor sah sie prüfend an. »Weißt du, dass ich dir glaube? Ich kann es nicht mal nachvollziehen. Du rechnet wie eine Maschine, wie ein Abakus mit Seele.« Sie lachte verlegen. Es hatte ihr nur Spaß gemacht.
»Ich weiß nicht«, fuhr er fort, »wie sehr du dich mit der Magie der Zahlen auskennst. Jede Zahl hat einen eigenen lebendigen Charakter, eine grausame Kraft, ein wesenseigenes Gesicht, das diese Zahl nicht bloß numerisch ins Universum der Mengen einbettet, sondern auch… bedeutsam werden lässt. Das Geheimnis dieser Bedeutungen ist vielleicht das größte Rätsel der Welt. Ich bin ihm auf der Spur. Ich kommuniziere mit den Zahlen, ich fühle mit ihnen, und ich weiß, dass sie enttäuscht sind von uns, den Menschen, weil wir mit kaltem Herzen rechnen, nur mit Mengen. Sie sind uns nichts, die Zahlen. Niemand liebt sie, denkt sich in sie hinein. Es ist herzlos. Ich habe es dem König gesagt, dem Fürsten, Lisa. Wenn wir so weitermachen, werden sich die Zahlen gegen uns verschwören, so wahr ich Göttling heiße. Sie werden einen Aufruhr anzetteln, sie werden Fehler in unsere Berechnungen streuen und jede Formel ihrem Sinn entfremden. Das können sie, sie leben, sie haben ein Seele, jede Zahl.« Chiara war gefesselt. Wie sehr sprach dieser Mann ihr aus dem Herzen! Nicht einmal Monsignore Albertino war dem, was sie selbst über Zahlen dachte, so nah gekommen. »Es wird früher oder später zur Revolte kommen, zu einer Verschwörung der Zahlen gegen uns. Ist es dir denn nie passiert, italienische Nichte, dass dich gewisse Zahlen sozusagen überfallen haben? Sie springen aus dem Nichts in deinen Sinn und lassen dich nicht mehr in Ruhe. Sie prasseln wie ein Steinschlag ins Gehirn, bis dir ganz übel ist. Ich kenne das. Ich warne vor der Einundvierzig. Sie ist voller Hass, schnellt aus dem Dunkel ihrer Wurzel, so zwischen sechs und sieben, an das Licht und grinst dich an, schwimmend, nebulös und voller List, ein Aas von Zahl! Desgleichen nenne ich die Dreiundsiebzig, die Dreiundachtzig… ah! und die Hundertneun. Primcharakter, voller Schlechtigkeit und bösem Zorn…«
Der Kutscher tauchte plötzlich aus dem Dunkel auf. Er trug einen Schal, den er sich halb ums Gesicht gewickelt hatte. »Musst du uns erschrecken?«, rief Göttling. »Nicht wahr, er ist ein bisschen grausig, der tapfere Montgolfier. Du musst dich nicht fürchten. Er ist ein Kind, eigentlich. Ein Wolf hat ihm das Gesicht zerbissen, deshalb schämt er sich, ganz zu Recht, wie ich finde. Er wäre besser dran gestorben, als die Welt mit diesem Anblick zu beschmutzen. Also hält er sich bedeckt, auf meinen Befehl hin. Aber wir sind Freunde, fremde Freunde sozusagen. Ich ernähre ihn und er zeigt mir, ohne es zu wollen, wie ungleich die Menschen eigentlich sind und dass ein jeder seinen festen Standort hat. Wir stützen einander, der eine ist die Krücke des anderen. Sag ja, Montgolfier!« »Ja, Herr Professor«, sagte der Mann mit einer überraschend hohen Stimme. Göttling zeigte mit dem Finger auf ihn. »Was ist daran noch menschlich? Allenfalls die Gliedmaßen. Er hat einen schwachen Willen, man muss ihn antreiben wie einen Esel. Er beweist uns das Wesen des Menschen aus dem Mangel heraus, nicht wahr?« Chiara fühlte mit, der Kutscher tat ihr Leid. »Er kann nicht zwei und vier zusammenzählen«, behauptete Göttling, »aber manche Zahlen sieht er einfach vor sich stehen, als wären es Kräuter oder Schmetterlinge. Da leuchten seine Augen wie Küstenfeuer, und er wird treu und nutzbar, wie ein richtiger Mensch, den die Natur nicht umsonst in die Welt gesetzt hat. Streng dich nur an, Lisa, und du erfährst dasselbe Lob von mir.« Er wischte sich durch das Gesicht und blinzelte. Montgolfier sprang wie auf ein Stichwort nach vorne, warf sich zu Boden und schielte seitlich und mit immer noch verborgenem Gesicht zu ihm herauf. Chiara trat erschreckt zurück und stieß mit dem Rücken gegen ein Regal. Nur Göttling rührte sich nicht. Die Geste
seines Kutschers ließ ihn kalt und unbewegt. Ohne den Blick auch nur für eine Sekunde nach unten zu wenden, sagte er wie nebenbei: »Das tut er gerne mal. Er hat Angst vor dir, und dass ich dich ihm vorziehen könnte. Ein kleiner, dummer, menschlicher, abscheulicher Neid, der ihn von Zeit zu Zeit befällt.« Chiara fürchtete sich nun doch. »Steh auf, Kerl, und sofort!«, rief der Professor. Der Kutscher wuchtete sich schnaufend hoch. Chiara mied es, ihm in das Gesicht zu sehen. Sie wartete auf eine neue Rechenaufgabe. Aber nichts geschah. Der Onkel schaute abwesend zum Fenster hinaus. Es roch mit einem Mal recht seltsam. Sie wusste nicht, ob es der Kutscher war oder etwas anderes in dem Zimmer, in welchem weiter hinten ein paar Pflanzen standen, die sie erst jetzt bemerkte. Sie hatten lange, starke Blätter und trugen dunkle Früchte. Montgolfier verschwand zwischen den Regalen. »Und komm ja nicht wieder vor!«, rief Göttling ihm nach. »Oder doch. Komm zurück! Spiel uns den schlimmen, hässlichen Gora vor! Tu, was ich dir sage, und kein Widerwort!« Er schlug zornig auf den Tisch, dass es knallte. Chiara drückte sich in eine Ecke. »Montgolfier! Wird’s bald!« Das Gesicht des Onkels war blutrot, er schrie und spuckte. »Ich kriege dich, du Kriecher, du Nichts, Erbärmlicher!…« Der arme Mann kam aus der Büchergasse ins Licht, der Kopf noch immer von dem Schal verhüllt. »Los, nimm das Tuch weg! Wir wollen das Ungetüm sehen, den Gora, den Affen, das Geschöpf der tausend Teufel…« Der Kutscher buckelte ängstlich. Zaghaft begann er, sich den Schal vom Gesicht zu wickeln. Chiara schaute nicht hin. Sie schämte sich. Sie wollte nicht. »Nein, bitte, Onkel!«, flehte sie.
»Bist du so zimperlich?« »Ich will’s nicht sehen.« »Aber es ist ulkig. Es härtet ab. Es lehrt dich viel.« »Ich will nicht, bitte!…« Er sah sie an, zögerte, schien nachzudenken. »Ach ja… Also gut.« Montgolfier hielt sofort inne. »Ja, geh! Geh schon!«, rief Göttling enttäuscht. »Ich entschuldige mich. Verzeih mir, Nichte Lisa! Wir wollten rechnen, nicht wahr? Die große Aufgabe…« Er straffte sich mit Mühe. Der Kutscher schlurfte ins Dunkle und verschwand. »Schau, mein Kind«, sagte Göttling plötzlich mit samtener Stimme. »Du musst begreifen, dass ich natürlich nicht die ganze Aufgabe erklären kann. Es ist ein Geheimnis, was sage ich, ein furchtbares, ungeheures Geheimnis, so geheim, dass selbst der König nicht präzise weiß, um was es geht. Die Minister machen Andeutungen, wiegen die Köpfe, winken mit den Händen und lassen hier und da ein paar Brosamen fallen. Aber alles wäre zu viel. Ein Staatsgeheimnis eben, Fürst Bismarck selbst ist involviert. Wir dienen dem Vaterlande, das steht fest. Die Regierung ist dabei, das Militär, die Diplomatie im Ganzen eigentlich. Alles höchst heikel jedenfalls. Ich darf dir nur Bruchstücke nennen. Die geheimnisvolle Zahl Pi, ich sagte es, die Kreiszahl…« Er starrte sie aus aufgerissenen, weißen Augen an. »Bitte, stell dir einmal vor, eine ausländische Macht will unseren König töten. Keine Sorge, es ist nur ein Beispiel! Nur wenige haben das Wissen, die Kraft und Gelegenheit, den Anschlag zu vereiteln. Und nun verhandelt man, schreibt Briefe, sendet Botschaften durch den elektrischen Draht, sendet Boten aus und fängt und foltert sie. Kurz, es bedarf natürlich einer Polizeischrift, einer Chiffrensprache, die
geheim bleibt. Das ist der Punkt. Hier tritt die Wissenschaft auf den Plan, der Mathematiker. Denn er entwickelt ein System, mit dem ein Brief kein Brief mehr ist und die Telegraphennachricht nur noch eine Kette dummer Zeichen.« Er sah sie eindringlich an. Chiara hatte sich ein wenig beruhigt. Der Onkel war so groß und klug; er war vielleicht manchmal nervös und ungeduldig, überlastet, so dass er grausam wurde, wenn ihn niemand aufhielt. Das war alles. Im Grunde war er voller gutem Willen. Sie nahm sich vor, auf seiner Seite zu verharren, egal, was Toto sagte. Sie löste sich von dem Regal, fasste neues Vertrauen und kam näher. Göttlings Miene wurde hell. »Ich sehe, du verstehst mich«, sagte er. »Das System übersetzt den Brief in Nichts. Aber die Kenner des Systems setzen ihn neu zusammen, dass der Brief lesbar wird. Aus Unsinn wird wieder Sinn. Der Witz ist, dass es stets vier oder fünf Kenner des Systems sind, die zusammenkommen müssen und nur gemeinsam tätig werden können. Einer allein bleibt gänzlich rat- und hilflos.« Er strahlte wie ein Kind. »Ist dir klar, dass du mit niemandem darüber reden darfst, mit niemandem! Wir sind verschworen, Lisa, heilig und bedingungslos. Wir werden eine Messe feiern und den Schwur besiegeln müssen. Bist du damit einverstanden?« »Ja«, sagte Chiara und fühlte Stolz aufsteigen. »Aber ach!« Seine Stimme stürzte barsch herab. »Leider ist die Messe mit ein paar Schmerzen verbunden. Wir verbrennen uns die Haut. Es geht nicht leichter. Wir sind verpflichtet, uns zu brandmarken. Gott und König verlangen es. Jetzt musst du dich erschrecken. Ich kann es spüren und es tut mir selber weh.« Sie fühlte den Schreck.
»Montgolfier ist ein phantastischer Brandmarker, er tut es mit Bedacht und Achtung. Die Eisen sind nicht größer als ein Fingernagel. Wir sind kein Vieh, nicht wahr! Hältst du das aus, Lisa? Bist du bereit, solche Schmerzen auf dich zu nehmen?« Er bohrte sich in ihren Blick. »Es muss nicht heute sein. Komm erst mal zur Ruhe. Aber allein mein Angebot an dich ist bereits ein tödliches Geheimnis, das deine Seele schon verändert hat. Du bist nicht mehr dieselbe mit diesem Wissen. Verstehst du, was ich sage?« »Ja«, sagte sie, diesmal leiser und mit Zweifel in der Stimme. »Ja«, wiederholte sie schnell und in der vagen Hoffnung, dass sich damit ihre Angst besiegen ließe. »Montgolfier!«, rief Göttling. »Die Eisen! Allesamt! Und flink!« Chiara fröstelte mit einem Mal. Der dunkle Mann rumorte irgendwo. Sie hörte, wie er pustete und Flüche ausstieß. Das Wort »Eisen« quälte sie. Es schien schon in seinem Klang die Schmerzen zu enthalten, von denen der Onkel gesprochen hatte. Montgolfier tauchte zwischen den Regalen auf und trug etwas wie eine Monstranz vor sich her, ein rotsamtenes Bündel, nicht größer als ein Päckchen Zigarren. Er legte es behutsam auf den Tisch, und alle blickten schweigend eine Weile darauf, als ob es jeden Augenblick lebendig werden würde. Chiara hielt den Atem an. Da beugte sich Göttling vor, löste ein schwarzes Stoffband, welches das Bündel zusammenhielt, und schlug den schimmernden Samt zurück. Chiara starrte auf die Eisen. Es waren fünf. Sie waren fingerlang und rau und hatten runde Köpfe. An den Köpfen befanden sich die Brandzeichen. Chiara schaute weg. Es tat ihr weh. »Ja, das macht Angst«, sagte der Onkel, der sie beobachtet hatte. Er nahm eines der Eisen und hielt es Chiara hin.
»Du musst es in die Hand nehmen, Lisa, damit du jetzt die Furcht und Phantasie verlierst. Sonst geht es nicht. Die Erwartung ist zu schlimm. Noch glüht das Eisen nicht. Sieh es dir genau an, es ist dein Schwur auf Treue und Verschwiegenheit.« Chiara hatte einen Schritt zurück getan. Sie konnte nichts berühren. »Überlege nur«, sagte Göttling, »es gibt nur wenige Mittel, mit denen sich die eingeborene Nation im Herzen tilgen und durch eine andere ersetzen lässt. Wie schwer, ja fast unmöglich es ist! Dies hier ist das ungeheure Privileg, aus der Hand des Königs, wahrhaftig, ich lüge nicht.« Sie taumelte, sie träumte. »Schau her, Lisa! Unser König.« Er winkte mit dem Eisen wie mit einer kleinen Fahne. »Aus seiner Hand. Glaubst du, jedem Kind würde diese Ehre zuteil? Überhaupt…« »Nein«, hauchte sie und streckte langsam die Hand vor. Als das Eisen sie berührte, schreckte sie zurück. »Lisa!«, mahnte Göttling. Sie nahm das Eisen in die Hand. Es war kühl und schwer. Der Schaft war mehreckig geschmiedet, am Kopf erkannte sie das Zeichen. Es war ein Tier, ein Vogel, wie es schien. »Das ist der heilige Greif«, erklärte der Onkel. »Teils Vogel, teils Löwe… Du bist so bleich, mein Kind.« Chiara gab ihm das Eisen schnell zurück. Es brannte schon in ihrer Hand. »Wird es mein Zeichen sein?« »Unser Zeichen«, sagte der Onkel weich und feierlich und befahl Montgolfier, die Eisen wieder wegzubringen. »Wie soll ich dir nur Mut machen? Ich habe wirklich Angst, dass du noch fahnenflüchtig wirst.« »Oh nein, Onkel«, sagte Chiara. »Ganz sicher nicht.« Ihre Stimme klang schwach. »Es ist nur alles so überraschend und unerwartet. Ich bin nicht vorbereitet worden.«
»Natürlich. Niemand versteht dich besser als ich.« Er wischte sich über Mund und Nase. »Multiplizieren wir die Ziffernfolge unseres Alters mit sich selbst. Wie lautet sie? Eins, fünf, vier, vier. Wie schnell bist du?« Chiara rechnete eine Sekunde und sagte: »Zwo, drei, acht, drei, neun, drei, sechs.« »Wie wunderschön! Der Wechsel mit der heiligen Drei, nicht wahr? Das hat Bedeutung! Fühlst du, wie die Zahlen sich verschwören?« Er nahm ihre Hand und deutete einen artigen Kuss an. Chiara wurde rot. »Ich werde tapfer sein, Onkel«, sagte sie, »und will immer fleißig für Sie rechnen. Das gelobe ich.« »Morgen in aller Frühe, wenn du einverstanden bist. Es gibt hier im Institut ein Laboratorium mit einem Ofen.« Er wurde laut. »Montgolfier, wir brauchen saubere Tücher und Verbände! Und einen Eimer Kohlen.« Und wieder leiser, zu Chiara: »Es wird ein Fest, ich verspreche es. Du wirst mir danken. Wir beten gemeinsam zu Gott. Der König selbst wird es erfahren, ich benachrichtige den Fürsten Bismarck. Alle freuen sich, wenn sie von unserem Geheimnis hören. Natürlich sind sie eingeweiht, an höchster Stelle.« Er stand auf und spähte in die Flucht der Regale, aus der der Kutscher gehetzt erschien und dienerte. »Hast du gehört, was ich gerufen habe?« »Ja, Herr«, murmelte er. »Nimm Papier und Feder!« Göttling zog sich seinen Rock glatt. »Zwei Depeschen! Die erste an den Hofrat Doktor Rauch. Dass wir Erfolg auf ganzer Linie haben; die vierhundert Dezimalstellen der Verhältniszahl des Kreisumfangs zum Durchmesser sind so gut wie errechnet. Ich arbeite Tag und Nacht daran, wörtlich: Tag und Nacht, verstanden?… Die zweite geht an den Minister… Das System steht jetzt auf eisernen Füßen, es fehlen noch ein paar
Einzelheiten. Ich erwarte den Wechsel über die verabredete Summe. Zügig!… Nein, lass das mit dem Wechsel weg!« Der Kutscher schrieb im Stehen, tief über den Tisch gebeugt. Die Tinte spritzte, zahllose blaue Sterne befleckten den weißen Himmel des Papiers. »Und weiter!…« Chiara war überrascht, dass dieser wilde Montgolfier so flüssig schreiben konnte, nach dem, was der Onkel über ihn gesagt hatte. Göttling rang die Hände. »Eine dritte Botschaft. Wir senden sie elektrisch, mit dem Telegraphen, damit jeder sieht, dass wir modern sind. An das Büro des Fürsten. Parole Greif. Wir siegen! Gott ist auf unserer Seite. Ich opfere mich ganz und gar, Tag und Nacht, unersättlich…« Er brach ab und schüttelte den Kopf. »Nein, nicht elektrisch. Der Fürst will es nicht… Oder doch! Wir bleiben dabei. Es macht Eindruck.« Er klatschte in die Hände und blickte auf die Wanduhr. »Herrgott, Luise wird mich hängen! Bring dieses Kind nach Hause, Montgolfier! Und trage es auf Händen wie ein Küken. Ein Kratzer, ein Hautriss und du bist mausetot!« Der Kutscher schlug die Stiefel zusammen und salutierte. Chiara war fast krank vor Stolz und Furcht. Sie dankte ihrem Onkel und knickste tief. Sie schwebte. Das Blut trommelte in ihrem Kopf. Montgolfier öffnete ihr die Tür, und sie trat auf den dunklen Flur hinaus, wo sie gleich stehen bleib und wartete, dass er vorausging. Montgolfier durchschritt das Institutsportal. Auf der Straße war es düster. Es regnete, das Pflaster glänzte hübsch und spiegelte die Ampeln und Feuer wider, die soeben von den Wachen angezündet wurden. Die Kutsche stand bereit. Montgolfier öffnete das Türchen und Chiara kletterte hinein. Die Pferde zitterten, die Räder schlugen auf den Stein. In einer Nebenstraße wurde es ganz
unerwartet leise. Man hatte Stroh gelegt, vielleicht um einen einflussreichen Kranken, der hier wohnte, vor dem Lärm zu schützen. Der Wagen federte und Chiara flog durch Raum und Zeit. Sie fühlte, wie die Straße unter ihr versank. Die Dächer kamen näher und plötzlich war durch die Kutschenscheiben der Blick frei auf die grenzenlose Stadt; ein Ozean aus schiefen Dächern, Schattenrissen, hellen Fenstern, Straßenfeuern, Lampen und Laternen. Der Wagen stieg und kam den Wolken nah. Die Stadt verschwand in dunklen Nebelfetzen. Chiara sah nach oben, da war der schwarze Himmel über ihr und tausend Sterne flirrten. Sie funkelten und sangen hell wie Engel, und Gott stand über ihnen und die Mutter Gottes und ihr sündenreiner Sohn. Sie sah auch ihre Eltern, die mit sorgenvoller Miene das Leben ihres Kindes überschauten. Sie winkte ihnen zu und wollte etwas rufen. Da stürzte ihr der Himmel um. Der Wagen schrie und kippte, die Fenster brachen und die Wände, wie Papier, die Scheiben splitterten, das Holz zerriss und hundert Töne schnitten in die Luft. Dann war es still. Chiara hörte Stöhnen, Pferdeschnauben, Rufe und den Klang von Schritten. Sie war bewegungslos und schmeckte süßes Blut und fühlte, wie alle Welt aus ihren Sinnen schlich.
Chiara blinzelte angestrengt. Das Atmen tat ihr weh. Es war ein bisschen wie vor ein paar Wochen in Onkel Luigis Haus, nachdem sie vom Dach des Elternhauses gefallen war. Das Licht des Zimmers schien einen eigenen Klang zu haben, die Geräusche um sie her bekamen Farben und bei jeder Regung ihrer Glieder bewegte sich das Bett, die Wände und die Sprossen des halb verhängten Fensters bogen sich und knickten ein. »Fräulein?…«
Es klang wie Biancas Stimme an jenem Vormittag des großen Unglücks, an dem die dunkle Zeit begonnen hatte. »Sind Sie wach?… Wie geht es Ihnen?« Aber diese Stimme sprach Deutsch und gehörte einer jungen Frau, die keine Ähnlichkeit mit Bianca hatte. Sie war hell und sommersprossig, und ihr Gesicht wurde von einer steifen, weißen Kopfhaube eingefasst, die den größten Teil des blonden Haars bedeckte. Ihre Lippen waren bleich, die Nase spitz und ihre Augen klein und etwas trübe. »Da haben Sie ja ein schönes Glück gehabt. Die Kutsche ist in Trümmern.« Chiara schloss die Augen. Das Schwindelgefühl hatte nachgelassen. »Ist mein Onkel, der Herr Professor Göttling, hier?« »Ein Professor?«, fragte die junge Frau. »Ich weiß nicht, eigentlich ist niemand hier.« »Ach«, machte Chiara. Sie war auf einen Schlag allein und unbekannt. »Und ich?«, fragte sie. »Sie, Fräulein?« »Was ist mit mir passiert?« »Ich bin nur die Pflegerin. Die Ärzte sind nach Hause.« »Ist denn keine Untersuchung gewesen?«, hakte Chiara nach und holte mühsam Luft. »Ja, doch.« Die Pflegerin legte Wäschestücke zusammen. Das Zimmer war beunruhigend leer, die Stimmen wehten fort. »Auf der Kutsche ist das Wappen des Königs«, sagte Chiara. »Hat man keinen Boten in das Institut geschickt?« »Ich weiß es nicht, Fräulein. Vielleicht. Wie wissbegierig Sie sind!« »Aber ich hatte einen schweren Unfall, immerhin! Ich befand mich auf dem Weg zu… meiner Familie. Jetzt ist es hell und Morgen, und niemand weiß, wo ich bin.«
»Es ist Nachmittag«, korrigierte die Pflegerin. »Und es ist Sonntag. Die Ärzte kommen erst morgen wieder. Ein paar Gendarmen waren da und haben alles aufgeschrieben.« Chiara schloss noch einmal die Augen, damit das alles verschwand und etwas anderes wirklich würde. »Sind wir denn vom Himmel gefallen?« »Der Wagen hat sich überschlagen und ist in einen Garten gestürzt und ganz zerbrochen, glaube ich.« Die Frau kippte spielerisch eine Hand auf den Rücken. »Man hat einen Fehler gefunden.« »Einen Fehler?« »Etwas fehlte wohl. Ein Bolzen. Das Rad lag weit vorne, von wo der Wagen herkam. Ihr Wagen. Die Gendarmen haben es gesagt. So ein Bolzen kann herausfallen. Oder nicht?« »Vielleicht«, sagte Chiara leise. Die Pflegerin blickte sie fragend an und arbeitete weiter. Chiara presste sich eine Hand auf die Brust und atmete. So allein wie jetzt war sie vor ein paar Augenblicken noch nicht gewesen, überhaupt noch nie. Sie lag mitten in der leeren Welt auf einem fremden Bett und hatte Schmerzen. Alles, was gewesen war, am Vortag, der Onkel in seinem Institut, die Angst, die Eisen, erschien ihr fern und wie geträumt. »Ich komme später noch einmal herein«, sagte die Pflegerin, packte einen Stapel Wäsche und ging zur Tür. Sie öffnete. Von draußen fielen bunte Geräusche herein, als ob Jahrmarkt wäre. Die Tür klappte zu und es war still. Wieso, dachte Chiara, wieso liege ich allein? Wenn dies ein Hospital ist, warum steht mein Bett nicht dort, wo alle Betten stehen? Das Zimmer wurde plötzlich eng, es schrumpfte weiter… »Fräulein! Hallo!«, rief sie zaghaft. Dann lauter: »Hört mich niemand?« Es gab entfernte Stimmen, Schritte, Klappern, das Gebäude lebte. Nur das Zimmer nicht, das ihr den Atem nahm. Es war
einfach nicht geschaffen für kranke Menschen, die gesundeten. Es war zu leer, zu weiß, zu eng und schwer. Der Tod, das weiß man, ist nicht kleinlich! »Zu Hilfe!…« Chiara bebte, die Panik trieb ihr den Schweiß aus der Haut. Sie schlug die Decke zurück und stemmte sich hoch, die Brust tat weh. Sie wollte noch einmal rufen. Sie war zu schwach. Sie starrte, ihre Augen brannten. Sie fiel in die Kissen zurück. Sie weinte laut und suchte ein lateinisches Gebet in der Erinnerung, die aber nur in Stücken zu ihr kam. Sie sprach das Vaterunser, auf Italienisch, sang den Anfang eines Kinderlieds, hörte die Stimme der Mutter, dicht an ihrem Ohr… Da schlug mit einem Knall die Tür auf, und der Onkel trat ins Zimmer, hinter ihm die Pflegerin mit rotem Kopf und schmalem Blick. Der Onkel trat ans Bett, er hatte Augen wie Fäuste. »Das werden Sie bereuen, gute Frau, ich schwöre es bei meinem Leben!« Er überflog das unheimliche Zimmer. »Ich schwöre es bei meinem Blut, bei meiner Mutter! Das Kind in diese Gruft zu legen! Ekelhaft!« Er drehte sich um, fasste die junge Frau am Arm und schob sie, schneller, als sie gehen konnte, zu der Tür zurück. Sie strauchelte und fing sich und flüchtete mit aufgerissenen Augen. Er warf die Tür ins Schloss. »Dieser Albtraum wird Folgen haben, die nicht nur den Geheimrat, sondern auch den Minister staunen lassen werden!… Wo bleiben denn die Helfer?« Der Onkel fuhr erneut herum und riss die Tür auf. Er lief auf den Flur hinaus und schrie: »Wo bleiben diese Männer?« Chiara weinte, im Weinen lachte sie. Es war so schön! Es war wie auf dem Theater, in einem Märchen. Sie hatte einen Helden an ihrer Seite, der Onkel war ihr Retter! Von draußen kamen Schritte näher. Der Wunderheld kehrte ins Zimmer zurück, sein Mund war gespannt, die Augen scharf. Ihm
folgten zwei Männer, die sofort das Bett anhoben und Chiara aus dem Sterbezimmer trugen. »Verzeih mir, Kind, dass ich nicht sofort an deiner Seite war. Es ist eine Tragödie.« Der Onkel folgte den Trägern. »Punkt sieben bin ich morgen hier! Das wird ein Feuerzauber, ein Schlachtfest, sage ich. Ich fühle mich persönlich angegriffen und gekränkt…« Er geriet außer Atem, spuckte aus. Sie erreichten den Krankensaal. Die Helfer stellten das Bett ab. Alle reckten die Hälse. Der Onkel riss einen Stuhl heran und stützte sich. Chiara hätte gern vor Glück geschrien, vor Erleichterung und Schreck, alles mischte sich und schmerzte lichterloh. »Jemand hat einen Bolzen herausgezogen, Onkel«, sagte sie, als die Männer gegangen waren. »Es war bestimmt kein Unfall…« Göttling machte große Augen. »Es wird alles bis ins Kleinste untersucht.« Chiara wurde es leicht, das Luftholen schmerzte kaum noch. Es tat so wohl, dass jemand sie verteidigte. Sie vertraute dem Onkel. Er schützte sie und sie würde ihm helfen. Es war in ihrem Herzen fest beschlossen, sicher und wahrhaftig wie ein Gebet. Der Onkel griff nach ihrer Hand. »Fühlst du nicht auch, dass uns beide ein Schicksal verbindet? Ich sehe eine Zahl, Lisa, die nur uns gehört. Keine rationale Zahl für jedermann…« Er sprach ihr aus dem Herzen! »Ich sehe diese Zahl, die uns zusammenwachsen lässt, ich fühle sie. Man kann sie nicht nennen, es ist keine Ziffer, nicht wahr? Aber sie hat die Kraft, uns zu vereinen, im Wissen, Lisa. Wenn wir zusammenhalten, erobern wir die Welt. Welcher Engel hat dich mir gesandt? Das war derselbe Gott, nicht wahr, der dir die Eltern nahm, meine Schwester. Er will, dass dieses
unser Blut zusammenkommt. Siehst du es auch, Lisa, mein Kind?« »Ja, Onkel«, hauchte Chiara und fühlte die große, glühende Männerhand in ihrer. »Wir werden ein Werk schaffen«, fuhr Göttling fort, »das nie zuvor geschaffen wurde, ein Titanenwerk, eine eigene Zahlenwelt, in deren Glanz die schnöde Menschenwelt verblasst. Ein Riesenwerk, sage ich, das selbst dem König die Tränen in die Augen treiben wird. Ich sehe ihn, wie er uns dankt und mit tausend schweren Talern überhäuft, ach, mehr noch…« Chiara strahlte. »Ich bin so froh, dass alles gut gegangen ist. Montgolfier ist doch gesund?« »Dem werde ich die Leviten gelesen«, sagte Göttling. »Immerhin hat er die Kutsche gelenkt, dieser Tölpel. Natürlich kann er nichts dafür. Trotzdem!« Er wischte sich über den Mund und sah sie eindringlich an. »Ich will, dass du dich ausruhst, schlaf ein bisschen! Morgen hole ich dich hier heraus, und es gibt ein Donnerwetter, wie du es noch nie gehört hast. Ich kenne den Geheimrat, der das Haus leitet, und er wird mir bitter büßen müssen, was seine Trinen mit dir angerichtet haben.« »Bitte, seien Sie nicht zu streng und böse«, sagte Chiara. Alle Angst und Wut waren schon verflogen. Sie hätte der ganzen Welt verzeihen können, der Pflegerin schon gerade, die das Missgeschick womöglich gar nicht selbst verursacht hatte. Göttling legte Chiaras Hand auf das Betttuch, als wäre sie aus Porzellan. »Die strengen Pflichten rufen mich«, sagte er. Sie dankte ihm. Er winkte ulkig und durchflog den Saal, die Kranken folgten ihm mit langen Blicken. Dann starrten sie zu
Chiara, die erschöpft die Augen schloss und seit dem Tod der Eltern zum ersten Mal so etwas wie Zufriedenheit empfand.
In der Nacht öffnete sich die Erde. Ein Riss entstand, noch breiter als die große Allee, die Berlin durchschnitt. Chiara sah Menschen, Pferde, Scheunen, Kutschen, Häuser darin verschwinden. Der Boden fraß mit ungeheurer Gier und wurde niemals satt. Die Gier hatte Zähne und Krallen und wuchs bis in die Wolken, ein Höllenlärm entstand, lauter, als Chiara schreien konnte, und plötzlich fasste jemand ihren Arm. »Ist alles gut, Fräulein?« Die Pflegerin tupfte ihr die Stirn. »Es ist noch früh. Sie können weiterschlafen.« Chiara öffnete die Augen. In den hohen Fenstern dämmerte das erste Licht. Die Frau reichte ihr ein Glas Wasser. Chiara trank. Irgendwo weinte eine Kranke. »Wir hatten Notstand, deshalb das schlechte Zimmer«, flüsterte die Pflegerin. Chiara dankte ihr, dass sie sie geweckt hatte. »Morgen darf ich nach Hause. Ich bin gesund.« Die Pflegerin sah sie besorgt an. »Ich würde mich sehr für Sie freuen.« Sie lächelte und ging. Drüben, am anderen Ende des Saals, wimmerte die Kranke. Chiara spürte, dass sie jetzt nicht wieder einschlafen würde. Die Art, wie die Pflegerin geantwortet hatte, beunruhigte sie. Chiara wollte dem Onkel vertrauen, der in ein paar Stunden kommen würde, um sie abzuholen. Aber das Vertrauen hatte einen feinen Riss. Ihr fiel der Albtraum ein. Sie wälzte sich herum, die Brust tat plötzlich weh. Sie hielt die Luft an, fühlte, suchte, atmete behutsam. Dann wieder kräftig, in sich forschend, unentschieden und gereizt. Das alte Missgefühl kam wieder auf. Sie machte Fäuste und Tränen stiegen aus der Wut empor. Sie hasste sich
dafür und biss sich ihre Lippen taub, zur Strafe, um alles abzutöten, um stumpf zu werden für die Welt. Draußen wurde es heller. Es war ein schweres Licht, wie Marmor. Immer mehr Patienten wurden wach. Sie wälzten sich, stöhnten, husteten, tuschelten wie Kinder. Chiara stemmte sich hoch. Sie wollte die Beine auf die Erde stellen, da wurde ihr schlecht. Sie fiel zurück. Es erschreckte sie. Die Pflegerin hatte Recht, sie war noch nicht gesund, sie merkte es mit jedem Atemzug genauer. Die Kranken schlichen umher. Sie drehten die Köpfe, äugten herüber und nickten einander wissend zu. Es roch bitter, die schlechte Luft war undurchdringlich. Irgendwo klirrten Gläser, schlugen Türen zu und jemand sandte Pfiffe durch das Haus. Chiara fasste den Entschluss, tapfer zu warten, Geduld zu zeigen, wie es sich gehörte. Der Onkel meinte es gut mit ihr, daran wollte sie nicht länger zweifeln. Welchen Sinn machte das Misstrauen, wie sollte es ohne guten Glauben weitergehen? Der Onkel würde sie früher oder später aus dem Hospital abholen. Sie streckte sich, sie drängte den Schmerz zur Seite, sie versuchte, ruhig zu atmen und das innere Beben loszuwerden. Es war, als zitterte ihr Herz, anstatt im Takt zu schlagen, als lebte in der Brust ein böser Zwerg und zwickte mit Pinzetten in die Rippen. Um sieben Uhr kam der Geheimrat in den Saal, ein kleines, krank wirkendes Männlein, dessen schwarzer Bart größer war als sein ganzer Kopf. Chiara merkte erst, dass es der Arzt war, als er schon an ihrem Bett stand, umringt von jungen Männern in strengen, schwarzen Röcken und mit starren, weißen Kragen. Jetzt musste er den Professor erwähnen, den er sicher sehr gut kannte. Aber er schwieg. Stattdessen fühlte er ihre Stirn, zog ihr den Augenrand herunter und horchte mit einem schlanken Holzrohr in die Brust, während er unverständlich redete, als
wäre er allein. Die Lernenden beugten sich tief herunter, um zu hören, was er sagte. Die Vorderen drehten sich, sobald sie etwas verstanden hatte, nach den hinten Stehenden um und gaben seine Sätze zischelnd weiter. »Wann darf ich gehen?«, fragte Chiara irgendwann mit allem Mut. Der Arzt blickte sie mit Kinderaugen an. Dann sagte er leise: »Sie, Signorina Morelli, bleiben uns erst einmal erhalten. Wollen Sie schon sterben? Sie sind schwach, aber Sie sind jung und darin liegt die Stärke. Essen Sie, essen Sie! Wir wollen es uns ersparen zu schildern, wie es in Ihnen ausschaut.« Chiara wurde bleich. »Mein Onkel, der Herr Professor Göttling…« »Der Herr Onkel, junge Dame«, unterbrach er sie, »mag ein besserer Arzt sein als ich. Ich kenne ihn nicht. Aber wenn er Ihnen versprochen hat, dass wir Sie entlassen können, dann hat er sich geirrt.« »Was ist mit mir?«, fragte sie. »Ich hatte einen Unfall.« Der Geheimrat tat schon den ersten Schritt zum nächsten Bett. »Und Glück im Unglück, dass wir die Gelegenheit hatten, in die Brust zu horchen. Es ist noch glimpflich abgegangen. Sie leben noch. Wir hoffen, dass nichts Unerwartetes passiert. Vielleicht hat eine Rippe Sie geritzt. Der Körper ist sein eigener Feind. Adieu, mein Kind!« Er sah sie nicht mehr. Die Schüler umringten ihn ganz. Sie lag wie taub im Kopf da und hatte keine Kraft mehr. Der Arzt kannte den Onkel nicht, wie es schien, kein bisschen, überhaupt nicht. Trotzdem! Bestimmt würde er nachher kommen und sie trösten und Mitleid haben. Sie mochte ihn jetzt immer mehr, den guten, treuen Onkel, der mit dem Geheimrat schimpfen wollte. Sie lag still da und weinte lautlos und blickte in das Marmorlicht und atmete.
Kaum hatten der Geheimrat und seine Schüler den Saal verlassen, als ein Geräusch aufkam, als liefe draußen auf den Fluren ein Pferd. Chiara reckte den Hals, um etwas zu sehen. Sogar die Kranke mit den Schmerzen wurde still und horchte. Es wurde immer deutlicher. Es waren Hufe, die das Holz der Dielen schlugen, es echote herein. Und plötzlich lief ein Zebra in den Saal. Wie hingezaubert trabte es, die Nüstern bebend, mitten durch die Krankenbetten. Alles staunte, lachte, rief sich zu. Hinter dem Zebra ging eine Frau in Lumpen, sie hatte einen Stock und trieb das Tier. Es trabte weiter, schnaubte und lief zur anderen Tür hinaus. Die Frau ging ihm nach, schlug mit dem Stock in die Luft, dass es pfiff, und fluchte unverständlich. Alle Augen folgten ihr, bis nichts mehr zu erkennen war. Die Hufe waren noch zu hören, wurden leiser und verloren sich im Haus. Chiara fiel erschöpft zurück. Da lag etwas neben ihrem Bett am Boden. Ein Päckchen. Sie stand mühsam auf und ging die wenigen Schritte, bückte sich und nahm es. Es war Papier, ein flaches, längliches Paket, das biegsam war. Sie legte sich hin und hielt es in der Hand. Die Frau mit dem Zebra musste es verloren haben. Der ganze Vorfall erschien mit einem Mal geträumt. Doch alle hatten es gesehen. Chiara befühlte das Päckchen. Eine feste, rote Schnur hielt es zusammen. Dann entdeckte sie den Schriftzug, ihren Namen, Signorina Morelli, in winzigen handgeschriebenen Buchstaben und schwer zu sehen, weil es bräunlichrote Tinte war, im Tone des Papiers. Ihr wurde schwindelig. Der Knoten war zu klein und fest. Es passierte zu viel. Der Unfall, die Schmerzen in der Brust, das Zebra und das Päckchen. Sie war erschöpft, wollte gar nicht mehr wissen, was es mit dem Papierbündel auf sich hatte. Sie schloss die Augen, fühlte die Schnur, den Knoten, die Bedrohung, die leise auf sie niederging wie giftiger Regen. Die Pflegerin betrat den Saal. Chiara versteckte das Paket.
»Der Geheimrat ist außer sich«, rief die Frau. »Niemand an der Pforte weiß, wie das Tier ins Haus gekommen ist. Man hat es jetzt im Hof angebunden und die Garde verständigt. Es wird eine Untersuchung geben. Ungeheuerlich!« Sie wechselte Verbände. Immer wieder äugte sie in Chiaras Richtung, beinah selbst wie ein Gendarm. Es schien, als beugte sich die ganze Welt vom Himmel hoch auf Chiara herab und führte etwas gegen sie im Schilde. Die Pflegerin kam näher. Es waren große, hässliche Wunden, die sie behutsam reinigte und neu verband. Die kranken Frauen zerbissen sich die Lippen, sie murrten drohend wie Katzen. Die Pflegerin sprach ihnen zu, strich den Älteren über das Haar und summte für die Jüngeren traurig klingende Lieder. Sie trug einen Korb von Bett zu Bett, in dem sich Stoffstreifen und die Schere befanden. Die Schale mit dem Rosenwasser trug sie in der anderen Hand. Sie machte kleine Schritte und reckte ihren Hals, als gelte es, über Hindernisse wegzublicken. Chiara tat, als schliefe sie. Sie blinzelte unter die Decke, hielt das Päckchen fest und horchte auf das Wimmern, Husten, Flüstern, auf ferne Schritte und eine Glocke, die weich und tief irgendwo im Haus die Stunden zählte. Wie schön es wäre, dachte sie, wenn jetzt der Onkel durch die Tür in den Saal träte und sie rettete. Sie hörte seine schwere, tragende Stimme, ganz anders als die schwache, flüchtige des Arztes. Sie sah den Blick des Onkels, der sie festhielt und dem nichts entging. Sie roch den derben Duft, der ihn umgab, Zigarrenrauch und Männlichkeit aus Schweiß und Öl, mit dem er sich das dichte, dunkle Haar einrieb und glättete. Als Chiara aufschaute, saß die Pflegerin am letzten Bett und tupfte, wickelte und schnitt. Einige der anderen Patientinnen tranken Tee und aßen Brot. Man tuschelte, es gab Geheimnisse. Chiara richtete sich auf, da sah sie vorne auf dem
Boden eine Schere liegen. Eine Schere für die Schnur! Sie wartete, bis die Pflegerin gegangen war. Dann stand sie auf und nahm die Schere. Alle sahen es, wie eingeweiht in einen Plan. Nur sie, Chiara, war die Ahnungslose, die Fremde in dem trüben Spiel, in welchem außer ihr ein jeder seine Rolle kannte und den Sinn der Handlung. Sie legte die Schere unter die Decke zu dem Päckchen; die zwei gehörten dicht zusammen. Einen solchen Zufall gibt es nicht! Sie fühlte den Knoten. Und plötzlich wusste sie, was in dem Bündel war und wer es ihr auf diese kühne Weise zugesendet hatte. Sie hob die Bettdecke und schnitt ohne Zögern die Schnur durch, riss das Papier ab und blickte auf die dicht beschriebenen Bögen. Der oberste war ein Brief an sie, an Lisa, an die liebe, teure Nichte… Mein gutes Kind, las Chiara und betrachtete das Wappen, in welchem eine Schlange und ein Rebstock sich umrankten. Nach all den Schicksalsschlägen, die dich bislang ereilt haben, bin ich nun gezwungen, dich obendrein zu enttäuschen. Sieh nur, ich bin ein hilfloser Sklave meiner Institutsmühle, die mich gnadenlos vorantreibt und es mir unmöglich macht, dich wie versprochen heute Morgen aus den Klauen des Geheimrats zu befreien. Bitte mich nicht, dir alle Gründe und Umstände zu erklären. Alles ist politisch und geheimnisschwer. Es zerdrückt mich, ich leide sehr. Was ist die Welt doch für ein lüsterner Kehricht! Und wie froh bin ich darin, endlich ein so helles Wesen wie dich auf meiner Seite zu wissen. Die Engel wissen nicht, dass sie Engel sind, schreibt Swedenborg. Wie beneidenswert und süß. Verliere nicht den Mut, denn wie du siehst, mache ich mir Gedanken. Anbei sende ich dir ein paar Blätter mit Rechenaufgaben. Es ist wenig und kaum ermüdend für dich. Aber mir hilft es sehr. Und aller Welt, denn hinter unseren Rücken droht eine Gefahr, die von den Zahlen ausgeht. Es betrifft die Ludolfsche Zahl, von der ich dir erzählt
habe, oder hob ich es vergessen? Vor zwanzig Jahren berechnete ein gewisser Zacharias Dahse, ein bekannter Rechenkünstler, die Kreiszahl Pi bis auf zweihundert Dezimalstellen. Wenn du Zeit und Ruhe hast, kannst du es weiterbringen. Ich behaupte, dass die dreihundertfünfzehnte Stelle Periode ist. Versuche es, mein Kind und rechne fleißig, so weit du eben kommst. Je weiter, desto besser. Aber reibe dich nicht auf! Obwohl man sich zwingen muss, wenn es gilt, ein Ziel zu erreichen, das wirst du mir glauben. Ich verehre dich. Luise wird das Paket holen. Ich gebe ihr Kuchen mit für dich. Wenn du sie siehst, so denke an mich und vertraue mir. Das ist Ehrlichkeit und Treue. Die Welt ist klein, das darfst du nie vergessen. Glaube nur an uns! Ich bin wie diese Kirschen. Göttling. Chiara ließ das Blatt fallen. Sie hob es wieder auf und las es viermal nacheinander. Die Hitze stieß ihr durch die Haut. Sie legte sich die Hand an die Stirn und fühlte, wenn sie ihre Augen schloss, das Fieber. Die Pflegerin kam. Chiara riss die beschriebenen Seiten von der Decke und versteckte alles drunter. Die Schere ließ sie liegen. »Da ist sie ja!«, rief die Pflegerin und lachte. »Kann sein, dass sie mir aus der Hand gesprungen ist, das freche Ding. Ich danke Ihnen, Signorina.« Sie nahm die Schere vom Bett und hatte ein Gesicht wie eine Maske. »Was sorgen Sie sich? Der Geheimrat hofft für Sie. Schlafen Sie, schlafen Sie, so viel Sie können, und essen, essen!« Sie tänzelte weg. Angst und Jubel. Chiara fühlte den Brief unter der Bettdecke. Er brannte lichterloh in ihrer Hand. Die Blätter mit den Aufgaben lagen dabei. Sie rechnete ein bisschen und erreichte die einhundertzwölfte Dezimalzahl von Pi. Es tat ihr gut. Sie blickte der Pflegerin nach, die längst verschwunden war. Eine andere Pflegerin brachte Tee und Brot. Das Mädchen machte einen Knicks, als wäre Chiara eine Gräfin. Es lief gebückt und
schnell davon. Chiara hatte nicht mal Danke sagen können. Sie nippte, der Tee war lauwarm. Das Brot enthielt Kümmel, es war hart. Das Mus roch etwas bitter, schmeckte aber süß. Das Marmorlicht wechselte mit dem Zug der Wolken und der Schatten. Die ersten Besucher kamen, ganze Familien drängten sich um die Kranken. Es war laut. Aus dieser Menge glitt mit einem Mal Toto an Chiaras Bett und setzte sich. Er wedelte mit einem Brief. »Wenn mein Vater mich erwischt, bringt er mich um. Hier ist der Beweis für seine Schuld. Ich habe gebettelt, dass er mich statt Luise herkommen lässt, um das Paket zu holen. Er war nicht zu erweichen. Luise kommt um vier.« Er reichte ihr den Brief. »Lies selbst! Er hat das Geld genommen und nichts dafür getan, es sind Agenten, glaube ich. Und nun jagen sie ihn wohl. Mutter weiß nichts davon. Er hat den Brief weggeworfen.« Chiara las. »Er ruiniert uns«, sagte Toto aufgeregt. »Er lügt, egal, was er sagt. Warum glaubst du mir denn nicht?« »Was soll ich glauben?«, rief sie. »Dass er Menschen umbringt oder Zapfen aus Dachstühlen zieht, damit sie zerbrechen? Legt er Brände, vergiftet er Brunnen?« »Oh ja«, flüsterte Toto. »Er vergiftet Menschenseelen. Deine!« »Er arbeitet fleißig«, sagte Chiara erschöpft. »Ich war im Institut und habe seinen Schreibtisch gesehen, die Aktenberge, die Bücher…« »Und dieser Brief ist nichts?« »Du solltest dich schämen, ihn Fremden zu zeigen. Den eigenen Vater zu verraten…« »Ich habe Angst«, sagte Toto leise und blickte sich ruhelos um. »Er hat sich verändert. Nicht dass er früher herzlicher
gewesen wäre, nie. Er bringt Unglück in die Welt und hält sich selbst für einen Gott.« »Wie war er früher?« »Er war streng, unerbittlich. Er ließ mich rechnen, bis ich weinte. Ich war vier oder fünf Jahre alt. Ich habe nichts verstanden. Er zwang mich zu verstehen. Und in gewissen Grenzen hatte er Erfolg. Ich wurde, was er selber hatte werden wollen, ein kleiner Kopf- und Schnellrechner, mit dem man einen Zirkus machen konnte. Er hat mich maßlos überschätzt und sich und mich der Lächerlichkeit preisgegeben. Ich fühlte, dass uns niemand ernst nahm. Sie nannten mich den Adam Zwerg. Ich musste gepuderte Perücken tragen und Kniehosen und gelackte Schnallenschuhe, ich trug ein Barett und sah aus wie ein winziger Stierkämpfer. Es war so erniedrigend…« Er stand auf und duckte sich sofort. Die Pflegerin schaffte sich in dem Gedränge der Familien Platz, half einer alten Frau beim Gehen. Toto glitt zur Seite, er wollte nicht gesehen werden. »Ich glaube dir nicht«, sagte Chiara trotzig, warf den Brief hin und zog sich die Decke bis unter das Kinn. Toto blitzte sie an. »Gut, Cousine, gut! Ich wollte dich warnen. Aber du liebst ihn schon, denkst du etwa, ich merke es nicht?« Er zerbiss seine Enttäuschung und gab sich kaum mehr Mühe, leise zu sein. »Bestimmt hat er dir einen reizenden Brief geschrieben, das kann er vorzüglich. Da lobt und schmiert er so lange, bis man ihm das Herz auftut. Aber warte, bis er drinnen ist!…« Die Leute drehten die Köpfe. »Bist du denn sicher, dass du krank bist?«, fuhr er wütend fort. »Wer sagt dir das? Für mich siehst du gesund aus. Das soll Fieber sein?« Er legte seine Hand an ihre Stirn. »Es scheint mir Angst zu sein. Aber ich bin kein Arzt, ich heiße nicht Geheimrat Doktor Riedel, der hier regiert und in unserem Hause ein und aus geht, solange ich denken kann. Sie haben
zusammen studiert und sich geschlagen und vertragen, in Gießen, glaube ich.« Er glühte vor Wut. Chiara sah ihn weinen. Es war nur ein glänzender Film auf den Augen. Sie ärgerte sich schon, sie hatte ihm nicht wehtun wollen. Und wenn sie ehrlich war, beunruhigte sie das, was er behauptete, durchaus. So fest und sicher waren ihre Gefühle keineswegs. »Was soll ich denn tun?«, sagte sie leise. »Ich muss doch alles glauben, was geschieht. Was sonst?« Er nickte. Er nahm ihre Hand. Sie ließ es zu. Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte er: »Wir müssen uns beide sehr vorsehen. Ich habe dir den Keller in unserem Haus nicht umsonst gezeigt und mein Vater hat mich nicht umsonst dafür bestraft.« Er wischte sich die Augen trocken. »Ich gehe jetzt besser.« Er zwang sich zu lächeln und mischte sich unter die Leute. Chiara sah sein wirres Haar. Dann war er fort.
Luise kam tänzelnd in den Saal. Gleich hinter ihr und doch vollkommen abgeschnitten und für sich ging Göttling. Chiara traf ein viel heftigerer Schreck, als sie erwartet hatte. Hatte sie nun Vertrauen zu ihm oder nicht? Der Onkel ging gebeugt und schwer belastet. Er hielt die Hände auf dem Rücken und blickte scheu umher, überall hin, nur nicht zu ihr, als existierte seine Nichte gar nicht. Luise trat an das Bett und schüttelte den Kopf. »Er ist ein bisschen nervös.« Sie fasste Chiaras Arm und knetete ihn. »Na Kind? Das haben wir ja bald. Nur Mut!« Und dann, nach einem schweren Seufzer: »Ich soll dich von Jakob grüßen, er sagt, das Haus ist ohne dich ganz trüb und leblos.« Chiara dankte umständlich. Der Onkel beachtete sie noch immer nicht. Er trat auf der Stelle und spähte über die Länge
des Saals in den Flur, als erwartete er, dass jemand kam. Unter Chiaras Kissen lag das Päckchen mit den Rechenblättern. Sie hatte sich einen Bleistift geliehen und die Aufgaben in weniger als einer Viertelstunde gelöst. Vielleicht wartete der Onkel darauf, dass sie ihm von sich aus sagte, dass sie mit dem Rechnen fertig war. »Ich habe Ihnen Kuchen mitgebracht«, sagte Luise. Sie stellte einen Korb aufs Bett und nahm ein Stoffbündel heraus. Sie hielt es Chiara lockend hin und beugte sich vor, damit Göttling hinter ihr nichts hörte: »Er ist deprimiert, sage ich Ihnen, es zerreißt einem das Herz. Der Himmel weiß, was ihm über die Leber gelaufen ist. Ich habe ihm geraten, in den Gottesdienst zu gehen. Das macht die Seele leichter. Aber er brummt nur wie ein kranker Bär.« Sie warf den Blick zur Decke und richtete sich auf. »Herr Professor, Ihre Nichte. Sie erwartet, dass Sie sie begrüßen. Oder nicht?« Chiara wurde rot. Göttling sah sie teilnahmslos an. Dann kam er näher, wischte sich Mund und Nase und sagte: »Entschuldige, ich bin wirklich nicht bei mir und habe alle Gründe dazu. Ich werde den Eindruck nicht los, dass ich überall am falschen Ort bin. Ich eile vom Institut nach Hause und zurück, dann hierher. Jetzt habe ich das Gefühl, ich sollte besser im Institut sein. Das heißt, ich werde gleich wieder gehen, verspreche dir bitte nicht zu viel von meinem Besuch. Ist jemand hier gewesen? Vor mir? Ich meine – jemand, den wir beide kennen?« Chiara schluckte. »Nein«, sagte sie heiser und kniff sich unter der Decke in die Hand. »Überall herrscht Krieg, aber du siehst und hörst ihn nicht«, erklärte Göttling. »Ich habe gelesen, dass die Österreicher neuerdings Agenten haben, die sich irgendwann in dein Leben schleichen und dann jahrelang als Freunde dicht an deiner
Seite sind.« Er sah sie genau an. »Luise könnte vor vier Jahren eingeschleust worden sein. Eines Tages erhält sie eine Nachricht, einen Befehl und wird aktiv. Sie verwandelt sich und tut, worauf sie all die Jahre hingewartet hat. Oder unser Jakob…« »Herr Professor!«, sagte die Köchin mit verhaltener Empörung. »Ich mache nur Spaß«, sagte der Onkel. Chiara fühlte das Päckchen unter der Bettdecke. Sie lächelte dem Onkel flüchtig zu, streifte ihn mit einem kalkulierten Blick und nickte mehrmals mikroskopisch. Er tat ihr Leid. Toto misstraute ihm, dem eigenen Vater, der es spürte und in diesem Unwohlsein immer nervöser wurde. Die eigene Familie hinterging ihn, nicht weniger dreist als die Agenten, mit denen er sich leichtsinnig, arglos eingelassen hatte, ohne die bitteren Konsequenzen zu erkennen. »Es gibt aber immer Menschen«, sagte sie, »die ehrlich sind und treu, egal, was andere sagen.« Er blickte sie an. Sie sah Freude über sein Gesicht huschen. Er hatte sie verstanden, sie waren im Bunde! Luise schaute irritiert umher. »Wo ist der Geheimrat Riedel?« »Er war da«, log Chiara, »und ließ ausrichten, sobald mein Onkel hier sei, die Pflegerin nach ihm zu schicken. Würden Sie…?« Luise straffte sich und ging. Chiara zog das Päckchen unter der Decke hervor und reichte es dem Onkel. Göttling, als hätte er sich erschreckt, machte einen kleinen Sprung zurück und staunte. »Was ist das?« »Ihr Paket, Onkel«, sagte Chiara halblaut. »Was für ein Paket? Ich weiß nicht… was meinst du denn?« »Ihr schöner Brief!«, rief sie leise. »Sie haben ihn mir geschrieben und ich war sehr gerührt.« »Ich?«
Chiara griff unter ihr Kissen und zog das zusammengefaltete Blatt hervor. Sie behielt den Flur im Blick und hielt dem Onkel den Brief entgegen. Er nahm ihn, wie man etwas nimmt, vor dem man Angst hat. Er entfaltete die Blätter und überflog die Zeilen. Sein Mund verzog sich. »Wessen Schrift ist das? Meine keineswegs. Wir sind Objekte, Lisa. Man beobachtet uns. Wir werden auf Schritt und Tritt verfolgt, nicht wahr? Belügst du mich auch nicht? Oder hast du nur Angst vor dem glühenden Eisen, wenn Montgolfier dich brandmarkt? Da kann ich dich beruhigen…« Er blinzelte sie an. Chiara fühlte ihre Lunge, es schmerzte plötzlich wieder. Ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können. »Aber das Paket«, sagte sie endlich. »Die Zahl Pi.« Göttling gab ihr den Brief zurück, das Päckchen behielt er. »Ja, natürlich. Die Zahl Pi. Wenn du wüsstest, wie dankbar ich dir bin…« Chiara stürzte immer tiefer in die Ungewissheit, ihr schwindelte. Das Atmen war unmöglich. Wenn sie bloß hätte beten können! Sie flüsterte auf Italienisch, legte die Hände aufeinander, als ob sie hätte beten wollen. Der Onkel machte einen Schritt zurück, er konnte seine Augen kaum von ihren Händen lösen. Er schüttelte den Kopf und riss sich los. Luise kehrte zurück. Allein. »Der Geheimrat ist beim König«, zitierte sie bitter. »Dass ich nicht lache! Diese Schnepfe! Na, ich habe auch was ausgeteilt…!« »Wir müssen gehen!«, entschied der Onkel ungehalten. »Ja, gut«, sagte Luise. Sie deutete auf den Kuchen, um Chiara zu erinnern. »Zu Hause fragt man nach dir«, sagte sie. »Alles wird gut.«
Göttling stand schon in der Saalmitte. Er hielt das Bündel mit den Rechenblättern halb verdeckt unter dem Arm. Luise überholte ihn. Die Kranke, die bislang gewimmert hatte, lachte hell. Der Onkel flüchtete vor ihr und schob Luise vor sich in den leeren Flur.
Das Zahlenzimmer
»Das ist kein Fieber mehr, das ist bloß Aufregung«, sagte Geheimrat Riedel und nahm die Hand von Chiaras glühender Stirn. »Sie sind frei, Signorina. Gehen Sie, wohin Sie wollen. Draußen steht ein seltsamer Mensch. Er hat einen Wagen und zwei kräftige Hände, um Ihre Tasche zu tragen. Sein Name klingt fragwürdig.« »Montgolfier«, sagte Chiara. »Oha!«, machte der Arzt. »Er fliegt wohl, statt zu fahren. Auch gut. Jedenfalls sind Sie mit Lob entlassen. Grüßen Sie mir Ihren Onkel, den Professor, und leben Sie wohl!« Damit schüttelte er Chiara die Hand, gab der Pflegerin ein Zeichen und zog den Tross der medizinischen Schüler mit sich fort. Vier Tage waren seit dem Unfall mit der Kutsche vergangen. »Ein bisschen Hysterie und Träumerei«, hatte der Geheimrat diagnostiziert und ein paar Bäder und Umschläge verordnet, ansonsten hülfen »gute Worte, gesunder Appetit und frische Luft und die gibt’s draußen«. Chiara wusch sich und zog sich an. Sie trug die Tasche zum Flureingang, verabschiedete sich von den anderen Patientinnen und ging zum Hauptportal. Montgolfier begrüßte sie mit einer ungebührlich tiefen Verbeugung. Er küsste beinah ihre Hand. Dann nahm er die Tasche und trug sie zum Wagen. Die Sonne schien und in den Bäumen rief ein Zilpzalp. Chiara stieg ein und ließ den Kutscher die Türe schließen. Sie war sehr aufgeregt, ihr Herz schlug zwischen Angst und Freude hin und her. Sie hätte weinen können. Es war der Weg nach Hause. Aber das richtige Zuhause lag schon schrecklich fern zurück, nicht ganz verblasst natürlich, doch ohne Helligkeit und Farbe
und als traurige Erinnerung, die ihr sofort das Wasser in die Augen trieb. Und Bianca fehlte, mehr als sie je erwartet hätte – die fremde, ältere, seltsam neugierige Bianca, die ihr durchaus nicht immer nur gefallen hatte. Wie gern hätte sie jetzt Italienisch mit ihr gesprochen, nur um die Melodie zu hören. Bianca hätte sie auch fragen können, wem sie ihr Vertrauen schenken sollte in diesem Wirrwarr, dem Onkel oder Toto, Luise, dem Geheimrat, der Pflegerin vielleicht? Sie alle waren eigenartig und sehr anders als die Menschen, die sie noch vor kurzem, daheim im Kreise ihrer Eltern, um sich gehabt, geliebt, gemocht, vielleicht auch nur geduldet hatte, ganz egal. Dort war es warm gewesen, hell und freundlich. Hier war das Leben wie die Sprache, hart und kantig, schleppend, schwer und immer in Gefahr zu bersten. Die Kutsche hielt. Sie waren angekommen. Jakob eilte aus dem Haus, ähnlich wie in jener Nacht, als sie und Bianca in Berlin eingetroffen waren. Er rief die Begrüßung in seinem ulkigen Berliner Italienisch. Chiara reichte ihm die Hand, trat auf das Pflaster und folgte ihm ins Haus. Die Küche war verwaist und alle Zimmer. Chiara war enttäuscht. Der Diener kochte Schokolade und schnitt süßes Brot. Weder der Onkel noch Toto oder bloß die Köchin waren in den vergangenen zwei Tagen im Hospital gewesen. Die Pflegerin hatte Grüße ausgerichtet, wörtliche, als wäre jemand am Portal gewesen oder hätte eine Botschaft durch den elektrischen Telegraphen überbracht oder durch das Horchgerät des Onkels, den Phonotransitor, hier aus dem Haus bis in das Hospital. Chiara trank die Schokolade, sie aß das Brot. Die Leere des Hauses kränkte sie. Sie schaute zu, wie Jakob Messer schärfte. Das schleifende Geräusch verschlimmerte die Stille. Chiara fühlte plötzlich, welche Last sie in diesem Hause war. Niemand hatte sie gewollt. Sie war vom Himmel gefallen; der Onkel hatte es selbst so ausgedrückt und seine Freude war am
Ende doch geheuchelt. Jeder war gezwungen, sie, die arme Waise, aufzunehmen, und wer sie abwies, stand mit Schande da. Die beiden Schwestern hatten von der Mutter schon gewisse Blicke abbekommen; alles war nur Zwang und Etikette und niemals echte Sympathie. Keiner wollte diese Überraschungsnichte wirklich haben. Sie lebte ja bereits im Dach, im Niemandsland, wo nicht einmal das Personal logierte. Jakob und Luise schliefen unter ihr im Anbau, mit keiner schrägen Decke und keiner Gaube, kleiner als ein Taubenschlag! »Ach, Signorina Chiara!«, rief Jakob plötzlich. »Ich habe eine Überraschung für Sie.« Er wischte das Messer ab und legte es in die Schublade zurück. »Der Herr Professor hat mir den Auftrag erteilt, Ihnen etwas zu zeigen.« Er ging zur Tür. »Bitte!« Chiara stand auf. Es fiel ihr schwer zu laufen, die Beine schienen voller Blei zu sein. Jakob nahm die Treppe. Er führte sie prompt in den Anbau, an den sie eben noch gedacht hatte. Es war ein langer Flur, der um die Ecke bog und dunkel war. Chiara fühlte sich mit einem Mal gefangen, verstrickt. Sie hatte die Geheimnisse satt, sie war es müde, überrascht zu werden. Jakob fasste den Knauf einer Tür und öffnete. Chiara blickte unwillig in ein großes Zimmer voller schöner Möbel, Teppiche und Bilder. In der Mitte stand ein breites Bett mit hohen Pfosten und einem Himmel aus eng plissierter, blauer Seide. Auch das Bettzeug glänzte teuer. Alles war mit besonderer Sorgfalt ausgerichtet, die Stühle waren aus rotem Holz und ihre Polster reich bestickt. Der Teppich war so dick wie Rasen und an den Wänden befanden sich Tapeten mit italienischen Motiven, die Chiara plötzlich doch ergriffen und jäh zu Tränen rührten. Sie sah Venedig, von der Sonne angestrahlt, und zum Fenster hin den Petersdom, so wunderbar und wirklich, dass sie lange wortlos dastand und nicht wusste,
was sie diesmal fühlen sollte und ob nicht hier und gleich ein neuer Eindruck auf sie wirken würde, der alles, was sie jetzt empfand, im nächsten Augenblick zunichte machte, verschob, verdrehte und ins Gegenteil verkehren mochte. »Oh nein«, sagte Jakob, als hätte er ihr ins Herz geblickt. »Es ist wirklich nur für Sie gemacht.« Erst jetzt entdeckte Chiara, dass alle Motive an den Wänden, auf den Stühlen aus Tausenden von Ziffern bestanden. Sie trat benommen näher heran. Die Häuser und Menschen, das Meer, die Sonne, alles setzte sich aus den Figuren kleiner und großer Zahlen zusammen wie ein Mosaik. Ein wunderbarer Ozean aus Ziffernketten, -kreisen, -linien und -mäandern, oft viele Male dicht übereinander gebracht und vom Auge nicht mehr einzeln trennbar, an anderen Stellen nur ganz transparent, wie Nebelschleier fließend, schwebend, ahnungshaft. »Die Handwerker und Künstler waren Tag und Nacht im Hinterhaus«, sagte der Diener und schaute Chiara erwartungsvoll an. »Während Sie im Hospital waren, Fräulein Chiara.« »In nur vier Tagen?« »Das weiß ich nicht genau«, antwortete Jakob. Er schien selber überrascht von dem Gedanken. »Nein, nicht ganz so kurz.« »Aber es ist wunderschön«, sagte Chiara schnell. Sie betrat das Zimmer ganz, drehte sich staunend auf der Stelle und wehrte sich auch nicht mehr. Und dennoch war die Freude und Bewunderung verdorben. Sie spürte, dass auch dies nicht gänzlich das war, was es schien. Wenn der Onkel diesen ungeheuren Aufwand für sie trieb, war damit ein Zweck verbunden, das konnte niemand übersehen. Und Jakob las wieder ihre Gedanken und sah sie recht verlegen an. »Nun ja, mein Kind!« Er krümmte sich. »Es ist ein Geschenk an Sie,
sagt der Professor. Er will Ihnen eine Freude machen, denke ich.« Chiara nickte schwach. Sie war mit ihrem Misstrauen nicht viel besser als die Menschen, die das Misstrauen traf. Es lag nicht nur am Onkel, nicht bloß an Toto, die beide, verbohrt und stolz, sich mit demselben Misstrauen anfeindeten. Sie, Chiara, musste diesen Bann brechen, sie hatte die Möglichkeit, für Versöhnung zu sorgen. Und der Anfang war vielleicht, dieses seltsame Geschenk zu akzeptieren. Ohne Hintergedanken! »Ach, lieber Jakob!«, sagte sie zuversichtlich. »Ich bin doch dankbar, dass mich alle so gut aufgenommen haben. Sehen Sie nur mal, wie ungewollt ich an Ihre Tür klopfen musste! Und niemand hat mich abgewiesen, oder?« »Dio mio, nein!«, rief Jakob erfreut. »Also kümmert es uns auch gar nicht mehr, wann der Herr Professor mit dem Bau des Zimmers angefangen und wie lange es gedauert hat?« »No no«, sagte Chiara und ging mit sicheren Schritten noch tiefer in das wunderbare Zahlenzimmer und konnte sich nicht satt sehen. Schräg zum Fenster, so dass das Licht auf seine Schreibplatte fiel, stand ein hoher Sekretär mit geschliffenen Scheiben. Dazu gehörte ein bequemer Stuhl mit breiten Lehnen. Auf der Schreibfläche lag ein Stoß Papier, und Chiara sah sofort, dass es weitere Aufgaben waren. Ihr kam der Gedanke, dass es dem Onkel vielleicht peinlich war, ihr diese Dinge selbst zu geben, in seiner Not und Verlegenheit, die ihm zweifellos die Ruhe raubten. Warum sonst griff er auf mysteriöse Päckchen und anonym hinterlassene Papiere zurück? Wie musste es in seinem Herzen ausschauen? Sicher war er heilfroh, dass sie die Fähigkeiten hatte, ihm zu helfen. Er hatte ja selbst angedeutet, dass sie »ein Geschenk des Himmels« sei, gerade jetzt, wo er in Schwierigkeiten steckte und das Schicksal, sein Glücksal und ihr Pechsal, ihm zu Hilfe kam: der Tod der Eltern! Doch
das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Berlin und die Heimat in Italien lagen Hunderte von Meilen auseinander, die höchsten Berge trennten sie. Und doch: Sie, Chiara, ihre Anwesenheit in diesem Haus war das Verbindende. Dieser schicksalhafte Bund war dem Onkel sicher peinlich. Sie nahm sich vor, es ihm mit diesen Worten oder ähnlich zu erklären, damit er sah, dass sie die Peinlichkeit und seine Sorgen wohl verstand, und er die lästige Verlegenheit, die ihnen beiden nur im Wege war, womöglich überwinden konnte. Chiara rückte den Lehnstuhl von dem Sekretär ab und setzte sich. Die Polster waren weich. Sie lehnte sich zurück, hob den Kopf und blickte Jakob an. »Darf ich also übermitteln«, fragte er, »dass Sie sich freuen?« Für einen Moment schloss sie die Augen. Dann nickte sie zweimal in dem guten Bewusstsein, etwas Wichtiges verstanden zu haben.
Jakob war gegangen und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Es hatte ein seltsames Geräusch gemacht, als sei etwas Schweres, Hartes auf den Boden geschlagen. Dann war es still geblieben. Chiara hatte ihre Tasche ausgepackt. Ein Häuflein Kleider lag für die Wäsche bereit, den Rest der Sachen legte sie in die Kommode. Die Schubladen ließen sich leicht und lautlos bewegen, als liefen sie auf Rollen. Das Holz roch gut. Vor dem Spiegel lag ein holländisches Deckchen, liebevoll geklöppelt und ebenfalls ringsum mit Ziffern bestickt. Eine Weile brachte Chiara damit zu, sich in Ruhe alles anzusehen. So viele Details verblüfften sie. Da waren kleine mathematische Probleme in den Motiven der Tapete versteckt, nicht gleich zu erkennen, man müsste sehr gut hinsehen und wissen, um was es dabei ging. Dann entdeckte sie, dass jede Ziffer in dem Zimmer ihre eigene Farbe hatte. Die Eins war
immer gelb, die Acht entweder blau oder violett. Die Fünf war grün, die Drei lila. Die Sieben leuchtete ocker, die Zwei war meistens grau, die Vier dagegen rot und dunkelbraun die Null. Die Sechs, fand sie heraus, sie flimmerte geheimnisvoll. Das ganze Zimmer war ein Wunderding, ein tausendfaches Zahlenlabyrinth und ein Geschenk für sie, Chiara oder Lisa, die nun gar nicht wusste, was sie fühlen sollte im Angesicht der Mühe und Genauigkeit, mit der der Raum für sie verschönert worden war. Sie saß ganz still und in ihrer Seele mehr und mehr bestürzt, bis ihre Freude und das Staunen nach einer Zeit von Zweifel angefressen wurden. »Warum nur?«, fragte sie sich leise. Welcher Antrieb lag diesem ungeheuren Aufwand bloß zugrunde? Was dachte sich der fremde Onkel angesichts der fremden Nichte? Sie schüttelte den Gedanken ab, er war undankbar und dreist. Sie zog die Blätter mit den Aufgaben zu sich heran, öffnete das Tintenfass und nahm den neuen Federhalter in die Hand. Sie wollte nicht immer wieder fragen und zweifeln. Sie fing an zu rechnen. Aber die Zweifel schlichen wie lauernde Tiere durch das Zimmer, kauerten mit spitzen Zähnen in den Ecken und leckten sich die Pfoten. Sie hatte eine Weile gerechnet und war auch weit gekommen, als ihr Blick auf ein Taschentuch fiel, das auf einem Nachttisch neben dem Bett lag. Sie sah sofort, dass etwas von dem Stoff bedeckt wurde, das nicht gleich gesehen werden sollte. Sie legte den Federhalter hin, blieb aber sitzen und stützte die Arme auf die Lehnen des Sessels. Wieder nahm sie die tiefe Stille des Hinterhauses wahr. Das einzige Geräusch war die leise Arbeit einer Uhr, deren Räder sich in den verschiedenen Kreisen ihrer Zeit bewegten. Das Pendel schwang dazu und wippte hin und her… Chiara wollte aufstehen und das Taschentuch hochheben. Es waren höchstens drei Schritte, um den Nachttisch zu erreichen.
Sie starrte hin – und plötzlich wusste sie, was darunter lag. Die Hitze fuhr ihr durch den Körper bis in den Kopf hinauf. Sie seufzte, legte die Hände ineinander und drückte sie zusammen, bis das Blut entwich. Sie nahm wieder die Schreibfeder, tauchte sie ein und fuhr entschlossen mit dem Rechnen fort. Sie zählte und redete halblaut. Sie zwang sich zu rechnen und zu schreiben. Sie wollte nicht wieder hinsehen zu dem kleinen Tisch, auf dem die Schmerzen lagen, aber mit den Schmerzen das Versprechen, die feste Treue und der Schwur. Sie fühlte, wie ihre Haut am ganzen Körper kribbelte. Sie blickte hin. Es war, als hätte das vom Tuch bedeckte Eisen ihren Blick wie ein Magnet auf sich gezogen. Der Federhalter fiel ihr aus der Hand und machte einen breiten Klecks auf das Papier. Sie stand auf und ging zu dem Tisch. Sie hob das Taschentuch auf. Das Brandeisen lag schwer und dunkel auf dem Holz. Chiara atmete tief. Sie nahm das Eisen in die Hand. Sie fühlte wieder ihre Haut, selbst an den Beinen. Die Hand umschloss das kühle Eisen, es hatte scharfe Kanten. Sie fragte sich, wo an ihrem Körper die Brandmalung vorgenommen würde. Am ehesten auf dem Rücken, dachte sie, dort waren die Schmerzen sicherlich am besten auszuhalten. Dann überlegte sie, wie lange Montgolfier das glühende Eisen wohl auf die Haut drücken würde. Eine Sekunde oder länger? Und wie roch es, wenn Menschenhaut verbrannte? Gab es Salben, um die Qual zu lindern? Sie legte das Eisen auf den Tisch zurück. Sie nahm das Tuch und ließ es darüber fallen, so dass es aussah, als hätte sie es nicht berührt und angeschaut. Sie ging zum Sekretär und setzte sich. Sie wischte über den trockenen Klecks auf dem Papier. Sie würde nicht mehr rechnen können, das spürte sie. Sie blickte auf die Zahlen, nahm den Federhalter und legte ihn in die Schale zurück. Sie fühlte Tränen laufen, sie hasste diese
Tränen. Sie stand auf und schritt zur Tür, drehte den gläsernen Knauf, wollte öffnen – die Tür bewegte sich kein Stück. Chiara versuchte es noch einmal und noch ein drittes Mal. Sie wollte rufen, holte Luft und schwieg. Sie glitt zu Boden, summte leise, fasste in den schweren, weichen Teppich. »Adesto! Basta!«, sagte sie. »Genug!« So wenig also vertraute ihr der Onkel! So fremd erschien sie ihm, so anders und entfernt, dass er sie gefangen nehmen musste! Nicht, dass die Tür verriegelt war, verletzte sie, sondern dieses Misstrauen… Doch plötzlich fiel ihr ein, dass sie ja selbst nicht besser war und gerade eben noch (wie oft schon?) dem Onkel jede Güte abgesprochen hatte. Er hatte dasselbe Recht wie sie, ihr zu misstrauen; wie Spiegelbilder standen sie einander gegenüber und wurden sich nicht grün. Sie schüttelte den Kopf. Sie stand vom Boden auf und wischte sich das Kleid glatt. Sie trocknete die Tränen mit dem Taschentuch, das Eisen drohte. Dann nahm sie wieder an dem Schreibtisch Platz. Sie nahm die Schreibfeder, hielt sie fest. Sie hustete. Gar nichts geschah. Sie rechnete nicht, schrieb nicht, flüsterte nicht. Sie horchte auf die Uhr, atmete die strenge Stille und fühlte ihre Haut, ein jedes Stück, am ganzen Körper, überall. Sie schwebte zwischen Schlaf und Wachen. Draußen fiel das letzte Sonnenlicht spät ein, es glühte in den Bäumen und auf einer Hauswand weiter hinten. Rascheln. Chiara schreckte hoch und setzte sich. Der Riegel wurde aufgestoßen, die Tür geöffnet. Der Kutscher trug ein Tablett mit einer Schale dampfender Suppe, Brot und Milch. Sein Gesicht war halb von einem Tuch verdeckt. Er stellte die Sachen auf den Tisch und blickte Chiara ängstlich an. »Nicht bese sein, Frollein«, sagte er. »Es war nicht Jakobs Schuld, dass die Tür zu ist und Se nu wie in nem Gefängnis sind. Er hat so Angst, Se wärn ihm bese.«
»Nein«, sagte sie. »Kann ich ihm also sagen, dass Se nicht bese sind?« »Ja, doch.« »Der Herr Professor ist verreist. Es war sehr dringend. Er hat kaum Zeit gehabt zu packen, so Hals über Kopp. Aber ich soll Se beruhigen, dass alles gut wird. Und er lässt fragen, ob Se bei ihm stehen und nicht flüchtig werden, da hat er wohl doch Angst vor.« »Alle haben Angst, oder?«, fragte Chiara verwundert. »Jakob, Sie, ich und nun sogar der Onkel…« Der Kutscher machte eine Verbeugung. Er war schon wieder an der Tür und starrte sie aus aufgerissenen Augen an. »Das mit der Kutsche, Frollein, tut mir Leid. Das wollt ich nicht.« »Ich weiß, Signore Montgolfier.« Chiara schaute zu dem Tisch, sie hatte Appetit. Sie stand auf und holte die beschriebenen Rechenblätter. »Die Arbeit ist fertig«, sagte sie und hielt sie Montgolfier entgegen. »Wird es noch mehr geben?« Der Kutscher zuckte mit der Schulter, dann nickte er. »Sehr viel mehr, Frollein. Der Herr Professor hat mir alles anvertraut. Eigentlich wohn ich im Institut, aber solang er verreist ist, hat er mir erlaubt, ins Haus zu kommen. Die Frau Professor mag es nicht, wenn ich hier bin. Wenn Se rufen wollen, liebes Frollein, ich verstecke mich im Keller.« Er machte einen Satz zurück und war schon draußen vor der Tür. Er ließ einen Spalt offen, durch den er sehen konnte. »Das Eisen!«, rief Chiara unterdrückt. Der Kutscher spitzte den Mund. »Das wartet. Erst müssen Sie bereit sein, sich dem Orendaskop zu ergeben. Es tut nicht weh. Sie werden sogar lachen.« Chiara staunte. »Ich hol Se nach unten in den Keller, warten Se nur ab.« »Danke!«, hauchte sie.
Sie wartete, bis die Tür geschlossen und der Riegel in das Schloss gefallen war. Dann ging sie zu dem Tisch, auf dem das Essen stand. Sie war bestürzt. Es war ungeheuerlich. Bevor sie sich aus freien Stücken die Haut verbrennen ließ, musste sie dem Onkel noch einen Dienst erweisen. Am Orendaskop! Was immer das bedeutete. Sie seufzte. Sie aß, sie brach das Brot und trank die Milch. Die Suppe schmeckte sehr viel besser als alles, was sie in dem Hospital bekommen hatte. Sie war mit Wein und Rosmarin gekocht, es duftete wie früher, wie daheim. Chiara legte den Löffel an den Schalenrand. Sie schloss die Augen und sog die Luft ein und atmete tief. Wie seltsam alles war! Sie war gefangen und hatte keine Angst, nicht mehr. Und wenn der Kutscher kam, dann würde sie ihm in den Keller folgen. Ihr Herz war aufgeregt und hüpfte durch das wunderschöne Zahlenzimmer… Sie aß weiter ihre Suppe, bis fast nichts übrig war. Es klopfte an der Tür. Chiara fuhr zusammen. »Bist du noch wach, mein Kind?« Es war die Tante. Sie öffnete. »Iss bitte weiter. Ich wollte dich nicht stören.« »Ach, bitte nehmen Sie Platz, verehrte Tante«, sagte Chiara und stand auf. Die streng gekleidete Dame kam herein, sie schloss die Tür und setzte sich. »Mein liebes Kind«, begann sie. Chiara hatte ebenfalls Platz genommen. Sie legte die Hände gefaltet in den Schoß und hörte zu. »Du musst dich sehr wundern«, sagte die Tante und blickte in die Höhe. Sie wirkte unruhig. »Ach, was will ich bloß?… Eine Familie ist eine eigene, eng umrissene Welt, ein kleiner Staat beinah… Nein, ich muss anders beginnen. Das versteht doch niemand, oder?« Sie überlegte, spielte mit den Händen. »Jeder hat seine eigene Stellung und Aufgabe, selbst die Kinder, sobald sie ein gewisses Alter haben. Die Mädchen
haben die Pflicht, Luise bei der Wäsche zu helfen und bei den Handarbeiten. Du bist übrigens von jetzt an von diesen Dingen befreit, Chiara. Für die Mädchen ist es keine schwere Arbeit und sie lernen etwas. Ich selber führe insgesamt das Haus, die tausend Dinge, die dabei zu regeln sind, sei es der Vorrat an Lebensmitteln, die Kleider, Stoffe oder auch die Kohlen und das Holz, damit wir heizen und kochen können. Das nimmt mir niemand ab. Ich tue es gerne, es ist nicht immer leicht, es ist meine Pflicht… Ach, was rede ich bloß? Fast wie dein Onkel.« Sie lachte gezwungen und ein wenig zu laut. Chiara nickte ihr aufmunternd zu. Sie empfand Stolz, auch von der Tante ins Vertrauen gezogen zu werden, als eigentlich Fremde und fast noch ein Kind. »Ja, dein Onkel«, sagte die Tante. »Und nun Theodor, mein Sohn, dein Cousin, dieser Hitzkopf… Man könnte meinen, er habe das italienische Blut und nicht du. Du bist so ruhig. Theodor ist aufbrausend und streitsüchtig. Er widersetzt sich den Regeln des Familienstaats. Sein Vater wird daran zugrunde gehen. Theodor will nichts lernen, er hält alles für fad und uninteressant. Es interessiert ihn nicht, was Cäsar sagte oder dieser schreckliche Napoleon. Er träumt. Er will Erfinder werden und das Haus verlassen. Er bringt uns ins frühe Grab, der Junge. Und deshalb bin ich hier, Chiara, weil wir hoffen, dass du vielleicht einen guten Eindruck auf ihn machst. Du bist so ruhig und vernünftig. Mein Mann bewundert dich, er hat die schlimmste Angst, du könntest ihm entfliehen, seltsam eigentlich. Darum verriegelt er die Tür und sperrt dich ins Gefängnis… Es tut mir Leid.« Sie blickte Chiara eindringlich an. »Wie fühlst du dich? Wie geht es dir? Müssen wir uns irgendwelche Sorgen machen?« Chiara lächelte verlegen. »Oh nein, verehrte Tante. Überhaupt nicht. Ich bin ganz fleißig und liebe dieses Zimmer.«
Mehr traute sie sich nicht zu sagen. Sie war unsicher geworden, was die Tante eigentlich meinte, ob es nur um Toto ging oder um viel mehr, um einen Hintergrund, den sie nicht kannte, den es aber gab und der bisweilen, ganz zart und flüchtig, auch zu spüren war. »Ach, da bin ich aber froh«, sang die Tante mit hoher, plötzlich gelöst klingender Stimme. »Darf ich meinem Mann also sagen, dass du für ihn den guten Mut behältst?« Chiara war verwundert, wie sehr die Frage denjenigen Jakobs und Montgolfiers ähnelte, die ebenfalls beide gleichsam um die Befugnis ersucht hatten, dem Onkel mitzuteilen, wie sie sich fühlte – als seien sie damit beauftragt worden. »Ja«, sagte sie. Sie wusste nicht mehr, ob das Ja ganz ehrlich war, und fragte sich, jetzt dringlicher, mit welcher Absicht die Tante das Zahlenzimmer eigentlich betreten hatte. »Es ist durchaus ein wenig… befremdlich, hier eingeschlossen zu sein«, sagte sie nach einer Atempause. »Es wird nicht allzu lange dauern«, erklärte die Tante. »Der Anlass ist eben dieser Staat, als den man die Familie sehen kann. Dein Onkel steht an der Spitze, er genießt es und beherrscht uns alle. Natürlich hat er seine Gedanken, die er nur gewissen Menschen mitteilt, so wie der König seinen Ministern. Wir finden uns damit ab.« Sie wirkte wieder nervös. »Er bespricht seine Ideen mit seinen Kollegen, wie sich das gehört. Sie verstehen ihn. Wir stören bloß dabei. Jedenfalls hat er den Wunsch, solange er verreist ist, dass die Tür verriegelt bleibt. Ist das vielleicht obszön? Wirst du gut schlafen können, Chiara?« Chiara nickte verwirrt. Die Tante war ein Rätsel, sie hatte sich zurückverwandelt, aus der fast heiteren Frau, die sie eben noch gewesen war, in ein getriebenes Tier mit ruhelosen Augen.
»Dein Onkel liebt die Ordnung«, sagte sie gedämpft. »Leider hat er uns seinen persönlichen Diener ins Haus gebracht, du kennst ihn ja. Ich schätze ihn nicht sehr, wofür mein Mann mich tüchtig rügt. Aber dieser Mensch ist mir kein bisschen geheuer, er riecht seltsam. Niemand weiß, was er im Keller tut. Ich erfahre nichts, das macht mich unruhig.« Sie stand abrupt auf. »Oh, wenn ich zurückdenke. Als wir jung waren.« Sie drehte sich hin und her und lächelte verloren. »Die ganze Stadt war auf den Beinen, als wir Mann und Frau wurden. Es war ein wahres Blumenfest, der Himmel regnete Blüten, verstehst du? Ja, wenn man zart und jung ist…« Sie hielt inne. Sie sah Chiara an, ihre Augen hatten wieder diesen Glanz. Ihre Stimme hatte sich verändert, klang rau und beinah männlich, als sie sagte: »Ich wollte dich trösten. Ich will nicht, dass du dich unnötig ängstigst. Herrje, ich würde irre werden in diesem Zimmer mit all seinen Zahlen.« Sie lachte, wieder spitz und laut. Chiara lächelte verlegen. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?« »Aber ja.« »Ist niemals ein Brief für mich gekommen? Ich verstehe das nicht. Signore Tulpino hat mir versprochen, jedem zu helfen, der mir schreiben will. Haben sie mich alle schon vergessen?« »Ich weiß es nicht, mein Kind.« »Ich bin dort groß geworden. Ich hatte Freunde. Meine Eltern hatten Freunde.« »Du tust mir Leid«, sagte die Tante und berührte Chiaras Wange. »Dieser Montgolfier kommt jeden Augenblick, um dich zu holen.« Sie wandte sich zur Tür. »Ich möchte ihm nicht begegnen. Er hat etwas… Elektrisches, in seinen Haaren blitzt es. Er riecht verbrannt, als ob er aus der Hölle käme.« Wie auf Zuruf bewegte sich die Tür. Der Kutscher stand im Spalt.
»Verzeihung, Madame! Die Tür war nicht verschlossen und ich dachte…« Die Tante tat, als gäbe es ihn nicht. Sie fasste Chiaras Schulter. Das Kind sprang auf und machte einen Knicks. Montgolfier öffnete die Tür ganz und trat höflich zur Seite. Die Tante hob den Kopf und ging an ihm vorbei. »Sind Sie bereit, Signorina?«, fragte er düster. Chiara fürchtete sich doch, so leicht und einfach war das nicht. Sie holte Luft und sah den Kutscher an. »Zum Keller?« »Zum Keller, Mademoiselle. Das Orendaskop… Ihr Mana sozusagen.« Er schlug ein Kreuz über Stirn und Herz und wies nach draußen.
»Was hat Ihnen der Schlingel denn erzählt, als er mit Ihnen hier unten war?«, fragte Montgolfier. »Bestimmt nur Unsinn. Das Orendaskop ist etwas sehr Vernünftiges. Ich bin natürlich kein Professor, aber ein bisschen weiß ich schon.« Er sprach mit einem Mal sehr ordentlich und berlinerte kaum mehr. Er ging um den Tisch herum, auf dem der Apparat stand. Chiara war an der Tür stehen geblieben, sie hatte ein flaues Gefühl und dachte an den Besuch im Keller mit Toto. »Das hier ist die Lichtbogenlampe«, erklärte der Kutscher mit spürbarem Stolz. »Der Strom fließt zwischen zwei Kohlenstücken und ist heller als die Sonne, so hell, dass Ihre Hand durchsichtig wird. Aber es tut nicht weh, nichts passiert. Man sieht das Mana in der Hand, es sind nur Schatten und Wolken, aber man sieht es und kann es messen. Der Professor sammelt die Ergebnisse und kann damit in die Zukunft sehen. Ich schließe jetzt die Akkumulatoren an. Lassen Sie sich von dem jungen Herrn bloß nicht verrückt machen. Er verachtet seinen Vater, gehört sich das vielleicht?«
Er machte sich weiter hinten im Dunkeln an den Batterien zu schaffen. Es waren ein Dutzend schwarzer Klötze, groß wie Hocker. »Sie nehmen bitte hier Platz, Frollein«, sagte er und wies auf einen Stuhl. Chiara setzte sich. »Bitte, legen Sie Ihre Hand auf diese Platte. Wer möchte nicht gerne wissen, wie viel Lebensenergie in ihm steckt? Das ist doch ganz natürlich, ganz normal. Jeder interessiert sich dafür. Bloß der junge Herr hetzt alle Welt gegen seinen Vater auf, nicht mal die eigene Mutter verschont er damit. Sie haben sie ja erlebt, wie abgeschlagen und nervös sie ist…« Er spannte elektrische Drähte über den Apparat hin, drehte große Flügelschrauben auf und zu und prüfte die Bewegungen einiger Hebel und Räder. »Weiß Gott, ich bin derjenige, der am meisten gegen die Frau Professor wettern könnte«, fuhr er fort. »Aber ich tue es nicht. Natürlich nicht. Ich weiß, was sich gehört; bin gar nicht so tumbe, wie alle immer denken.« Chiara beobachtete ihn. Seine Stimme war freundlich. Er war vertieft in seine Arbeit, emsig und ganz selbstvergessen. Die Tür war fest verschlossen. Von irgendwoher drang ein Geräusch in den Raum, ein fernes Singen oder Jammern, es schwebte, schwoll an und verklang, kehrte wieder und starb, um nach einer Weile erneut herangeweht zu werden. »Hören Sie das?«, fragte Chiara. Der Kutscher hantierte weiter, sah nicht einmal auf und antwortete: »Ach, das ist gar nichts.« »Es klingt beunruhigend, oder?« »Nichts, Mademoiselle.« »Aber ich höre es doch.« »Sie dürfen gar nicht darauf achten.«
»Was ist es denn, um Gottes Willen?«, fragte sie. »Es ist ganz weit weg und geht uns nichts an.« »Etwa eine Menschenstimme?« »Vielleicht«, murmelte Montgolfier. Er schien mit seinen Vorarbeiten fast fertig zu sein. »Es quält mich«, sagte Chiara. »Sie werden staunen«, entgegnete er, als wäre nichts. »Da ist doch jemand.« »Niemand, den Sie kennen, Signorina. Das Experiment beginnt.« Er legte Schalter um. »Sie müssen sich konzentrieren, sonst schlägt es fehl. Bitte!…« »Da! Hören Sie?« »Gar nichts. Die Maschine läuft. Schließen Sie die Augen!« Chiara hatte die Hand auf die kühle Scheibe gelegt. Das ferne Jammern war nicht länger zu hören. Montgolfier sah Chiara mit einem Auge an; das andere wurde von dem Tuch bedeckt, mit dem er sein Gesicht vor fremden Blicken schützte. »Jetzt!«, sagte er und legte einen letzten Hebel um. Es knallte. Chiara schreckte zusammen. Ein ungeheures Licht entstand. Es drang durch ihre Augenlider und zischte hässlich. »Sie dürfen blinzeln«, sagte er. Das Licht war unerträglich. Es roch beunruhigend. Chiara sah ihre Hand auf der Glasplatte, die sich ziemlich erwärmt hatte. Tatsächlich drang das Licht von unten durch die Haut, durchs Fleisch, sie glaubte ihre Knochen zu erkennen, es waren dünne, verwischte Schatten, blutig rot geädert und mit dem Herzschlag zuckend. Montgolfier schlug abermals ein Kreuz und deutete auf ihre Hand. »Sehen Sie nur, Signorina, das Mana!«, sagte er. »Hier diese Inseln! Sie ziehen sich von innen nach außen. Der Herr Professor weiß es besser. Ich zeichne es nur ab. Spiralen! Spiralen sind was Gutes, beinah ewiges Leben. Sehen Sie?« Chiara suchte.
»Ja«, sagte sie, unsicher, ob sie sah, was er sah. »In diesen Inseln befindet sich die ganze Kraft des Lebens…« Da war wieder das Geräusch. Es klang wie lautes Jammern, Weinen. Chiara blickte den Kutscher an. »Es ist ein Mensch!«, stellte sie fest. »Ein Mensch, oh ja«, antwortete er. »Sicher. Warum nicht?« »Er ruft nach uns. Er braucht unsere Hilfe«, sagte Chiara. »Vielleicht, Mademoiselle, vielleicht. Kümmern wir uns lieber um Ihr Mana. Wenn der Herr Professor kommt und die Arbeit ist nicht getan, gibt’s Prügel.« Chiara spürte seine Angst. »Ach nein. So ist mein Onkel nicht«, sagte sie. »Sie verkennen ihn, alle verkennen ihn, auch Theodor.« Der Kutscher runzelte die Stirn. Er nahm ein Stück Papier und zeichnete. Er zeichnete die Inseln, die er sah. Chiara sah sie nicht, jedenfalls nicht deutlich. Montgolfier rollte ein Tuch auf und legte es über Chiaras Hand. Das Tuch war feucht und schluckte das Licht. Nach einer Zeit verfärbte es sich, Linien entstanden, erst schwach, dann deutlich sichtbar, eine filigrane Landschaft, ein Wegeplan. Die Glasplatte war heiß geworden, Chiaras Hand tat weh. Sie sagte nichts. Der Kutscher zeichnete. »Glauben Sie etwa«, sagte er nach einer Weile, »der Herr Professor wird uns schonen? Er weiß immer seinen Willen durchzusetzen. Sie sollten niemals etwas gegen ihn durchsetzen wollen. Wir sind in seinen Fesseln, beide, alle.« Das Tuch hatte sich dunkel verfärbt. Die Linien waren dicht wie Gewebe. »Das Glas wird zu heiß«, sagte Chiara. »Ich verbrenne mir die Hand.«
Montgolfier wich ihrem Blick aus. »Kein bisschen, Frollein. Sie müssen sich beruhigen, das ist das Wichtigste. Sie sind zu aufgeregt.« Das Jammern hatte aufgehört. Chiara war verwundert; während Montgolfier eben gesprochen hatte, war um seinen Kopf ein durchsichtiges, blaues Licht entstanden. Jetzt war es erloschen. Sie horchte. Der Lichtbogen sprühte, in der Maschine zischelte der Strom. »Darf ich die Hand für einen Moment von der Platte nehmen?«, fragte sie. »Es tut mir weh.« »Nein, Mademoiselle«, sagte der Kutscher entschieden. »Auf keinen Fall. Wir müssen uns zusammenreißen. Es gibt im Leben viele Momente, die uns nicht behagen, und dennoch zwingt uns unsere Pflicht, die Tränen zu unterdrücken. Seien Sie eine tapfere Soldatin, Signorina, dieses eine Mal, das Vaterland wird es Ihnen danken, gar kein Zweifel. Es hat sich noch niemand an der Maschine verbrannt.« Beim letzten Satz war wieder dieses Licht erschienen, wie ein leuchtender Nebel, eine blaue Glut der Luft. Chiara bezwang den Schmerz, so gut sie eben konnte. Der Kutscher zeichnete. Es waren bunte Linien, Inseln, Felder. Sie wollte nicht in seiner Gegenwart weinen, sie war eine Soldatin. Die Hand tat weh, es wurde schlimmer. Es war, als brannten sich die Inseln in ihre Haut. Sie wartete und ertrug es. Montgolfier arbeitete versunken, das blaue Licht war nicht mehr sichtbar. Es war schwer, die Angst zu bändigen. Etwas Bedrohliches durchwob den Raum. »Der Herr Professor schätzt Sie sehr«, sagte der Kutscher plötzlich. »Er hat es mir selbst gesagt. Pass mir ja auf das Frollein Lisa auf, sonst kannst du was erleben, hat er gesagt. Also werde ich gut aufpassen, weil mir mein Fell was wert ist…« Er war mit seiner Arbeit fertig, hielt das Blatt ins weiße
Licht und nickte zufrieden. Dann legte er es in eine Mappe und ordnete die Stifte, mit denen er gezeichnet hatte. »Mir jedenfalls liegt was an seinem Lob«, fuhr er fort. »Sie glauben gar nicht, wie böse er werden kann…« Jetzt war kein Licht um seinen Kopf zu sehen. »Er ist ein guter Mensch«, setzte er hinzu. Genau in diesem Augenblick erschien der Nebel. Er selber sah ihn nicht; nur sie, Chiara, schien die Gabe dieser Sicht zu haben; vielleicht infolge der Maschine, überlegte sie. Montgolfier schwieg und sofort erlosch das blaue Licht, genauso plötzlich, wie es erschienen war. Er schaltete den Apparat aus. Es wurde dunkel. Chiara sah nur Konturen. »Wissen Sie«, sagte er, »ich habe dem Herrn Professor sehr viel zu verdanken. Er hat mir gewissermaßen das Leben geschenkt. Eine traurige Geschichte. Möchten Sie sie hören?« Chiara nickte. Sie kühlte sich die Hand an einer metallenen Platte des Apparats. Die Bogenlampe knisterte erschöpft. Und plötzlich war da wieder dieses Jammern. Chiara hielt den Atem an. »Es ist Theodor!«, rief sie und stand von dem Stuhl auf. »Aber ja«, sagte der Kutscher, als sei nichts. »Wir müssen ihm helfen.« »Wir müssen uns selber helfen, Mademoiselle Lisa. Ich erzähle Ihnen, was passiert ist. Ich war so gut wie tot…« »Nein, ich will nichts hören!« »Aber Sie haben genickt. Jetzt müssen Sie mir zuhören. Denken Sie nicht an den jungen Herrn, er hat es sich selbst zuzuschreiben.« »Wird er bestraft?«, fragte Chiara aufgeregt. »Natürlich. Was sonst? Denken Sie, er darf sich so einfach gegen seinen Vater auflehnen? Wo kämen wir denn hin? Wir haben alle Pflichten. Ich war so gut wie tot. Der Herr Professor
hat mich freigekauft, in ein neues Leben zurückgekauft, sozusagen…« Chiara stand schon an der Tür. »Wo ist er?« »Sie können nicht zu ihm.« »Wir müssen!« »Wir müssen uns selber helfen.« Das Klagen und Rufen wurde lauter. Es war herzzerreißend. Chiara öffnete die Tür. »Ich muss Sie dringend bitten, hier zu bleiben, Frollein Lisa«, sagte Montgolfier. »Bedenken Sie doch, welche Verantwortung ich trage. Der Herr Professor wird mich hart bestrafen, wenn er herausfindet, was Sie tun und was ich zugelassen habe. Wollen Sie, dass er mich blutig schlägt?« »Er würde Sie niemals blutig schlagen.« »Ich glaube Ihnen nicht. Sagen Sie mir, wo Toto ist und was mit ihm geschieht!« »Er ist im Straßenkeller«, antwortete der Kutscher, plötzlich müde wirkend. »Das ist ein langer Gang, der vom Haus aus bis unter die Straße führt. Der Herr Professor wird sich an uns beiden bitter rächen…« »Aber nein!«, rief Chiara verzweifelt. »Warum hat er ihn dort eingeschlossen? Ich verstehe das nicht.« »Weil der junge Herr zu viel mit Ihnen geredet hat«, sagte Montgolfier. Er schwitzte. »Jetzt kennen Sie die Wahrheit. Sie sind es schuld!« Chiara blickte ihn empört an. »Ja, ja!«, rief er. »Er hat mit Ihnen gesprochen und Sie mit ihm. Er hetzt Sie gegen seinen Vater auf, lässt kein gutes Haar an ihm, der Bengel, macht uns alle kaputt am Ende…« »Das glaube ich Ihnen nicht.« Chiara war den Tränen nah. »Ich habe meinen Onkel als einen sehr gütigen Menschen erlebt«, sagte sie unsicher. »Alle um ihn her lügen und
verdrehen die Dinge. Niemand sagt die Wahrheit, weder Sie noch mein Cousin.« »Wenn Sie mir nicht glauben, dann folgen Sie mir!«, entgegnete Montgolfier wütend, entzündete eine Handlaterne und öffnete nun selbst die Tür. »Der junge Herr war übrigens nicht bereit, sich das Treuebrandmal setzen zu lassen, da sehen Sie, wie widerspenstig er ist.« Der Kutscher folgte einem langen Gang. Chiara ging ihm nach. Das Jammern wurde deutlicher, ergreifender. »Toto wird sich geängstigt haben. Ich habe auch Angst vor den Schmerzen«, sagte sie. »Pah!«, machte Montgolfier, als sei der Einwand ganz und gar unsinnig. »Das Brennen tut kein bisschen weh, wenn man es richtig anstellt, und jeder weiß es…« Chiara blieb vor Überraschung stehen. Vor sich, um den Kopf des Kutschers, sah sie den geheimnisvollen Lichtschein bläulich schimmern. Sie ging schnell weiter, damit der Mann nur ja nichts merkte. Der Kellergang schien kein Ende zu haben. Toto klagte immer lauter, als fühlte er, dass jemand kam. Vor einer schweren, hölzernen Tür blieb Montgolfier stehen und drehte sich um. »Sie stoßen uns alle ins Unglück, Mademoiselle.« Chiara antwortete nicht. Sie war zu aufgewühlt. »Ich gestatte Ihnen einen einzigen Blick, nur damit Sie mir glauben«, sagte der Kutscher. »Tun können wir nichts. Schlagen Sie sich das aus dem Kopf!« Er schob den Riegel auf. Die Scharniere quietschten. Drinnen wurde es plötzlich still. Der Kutscher hielt die Laterne hoch, das Licht fiel knapp in einen Raum, der weder Wände noch eine Decke zu haben schien. Der Boden, das erkannte Chiara, war nur trockener Lehm. Sie merkte, dass ihr schwindlig wurde, sie bezwang sich. Das Laternenlicht kroch tiefer in die
stickige Höhle, die Luft war alt und schwer. Chiara strengte ihre Augen an. Fünf, sechs Schritte weit entfernt hockte eine Gestalt am Boden, sie kniete, wie es schien. Und es war Toto. Sie ging näher heran. Er blickte sie aus nassen, roten Augen an. Er kniete auf dem Boden und hatte die Hände vorgestreckt, es war eine quälende Haltung, das sah sie gleich. Montgolfier war mit der Laterne ein Stück weit in den Raum gegangen. Chiara sah nun immer mehr, vor Empörung entfuhr ihr ein heller Ruf, ein leiser Schrei. Totos Hände ruhten auf einem Gestell und waren daran festgebunden. Seine Knie ruhten nicht bloß auf dem harten Lehm, sondern wurden vom Gewicht des Körpers auf ein schmales Bett aus dünnen Ruten gepresst, das quer am Boden lag. Die Füße steckten in einer Art Kasten, offenbar, um jede Veränderung der schlimmen Lage zu verhindern. Der Junge begann wieder zu weinen. Der Himmel mochte wissen, wie lange er schon in diesem Folterstock gefangen war. »Das war in keinem Fall der Onkel«, flüsterte Chiara benommen. »Nein, nein, ganz sicher nicht.« »Ach!«, machte Montgolfier. »Und wer sonst?« »Ich weiß es nicht.« Sie weinte. Sie zog ein Tuch hervor und wischte Toto das Gesicht. »Einer Strafe geht immer eine Tat voraus«, erklärte Montgolfier. »Oder: Auf das Vergehen erfolgt nun mal die Buße, das weiß man doch.« »Nein«, sagte Chiara. »Das hier hat nichts Menschliches mehr…« »Es geht schon«, schluchzte Toto. »Wir müssen ihn sofort befreien!«, forderte sie. »Bloß das nicht!«, rief Toto kraftlos. »Es geht schon. Lass mich hier. Es dauert nicht mehr lange.« Chiara schlug sich die Hände vors Gesicht. Sie verstand rein gar nichts mehr. Der Kutscher stand schon an der Tür und
forderte sie auf zu kommen. »Sie machen alles schlimmer, als es ist, Frollein. Diese Tür wird für noch eine kurze Stunde verschlossen, dann ist der junge Herr erlöst. Nun kommen Sie schon!« »Niemals!« »Herrje! Wenn das Opfer einmal laut klagt und jammert, ist es bestimmt mehr aus lauter Zorn denn vor lauter Schmerzen. – Habe ich nicht Recht?« »Ganz sicher«, sagte Toto und verzog das Gesicht zu einem knappen Grinsen. Chiara traute ihren Augen nicht. Bestimmt war es das schlechte Licht gewesen, eine Täuschung! »Bitte!«, rief Montgolfier. »Ich muss Sie jetzt zurück ins Zahlenzimmer bringen. Sie müssen rechnen, da ist noch furchtbar viel zu tun. Soll ich denn dem Herrn Professor sagen, dass Sie die Prüfung nicht bestanden haben?« Er winkte sie zu sich. Ihr war, als fühlte sie das Winken auf der Haut. Sie strich Toto über das verschwitzte Haar. Er nickte tapfer. Sie wandte sich zur Tür; ihr fiel nichts ein, was sie hätte tun können. Sie war nicht weniger gefangen als Theodor. Sie ging nach draußen in den schwarzen Kellergang. Der Riegel fiel ins Schloss. Das gelbe Licht zerbrach in Blitze. Die Wände lebten und bewegten sich. Eine Prüfung also, dachte sie – das war es, was sie hier ertragen musste. Der Kutscher war vorausgegangen. Sie tat den ersten Schritt, um ihm zu folgen, sie wollte nicht. Es war wie jener Fußweg von zu Hause bis zum Rathaus, an jenem Morgen, vor einer kurzen Ewigkeit, als alles angefangen hatte…
Auf dem Zahlentisch lagen die Aufgaben, ein ganzer Stapel, den Chiara ab und zu aus der Distanz betrachtete. Sie ging nicht näher hin; sie wusste, sobald sie eine der Aufgaben las,
würde sie zu rechnen anfangen. Doch das wollte sie jetzt nicht. Sie war verärgert. Montgolfier hatte sie hier eingeschlossen, als wäre es das Normalste der Welt, als wäre sie ein dummes Püppchen, das an Fäden hing. Vielleicht war es ihre eigene Wehrlosigkeit, die sie wütend machte. Das Zahlenzimmer, der schöne Abakus, alles hatte seinen Wert verloren. Sie konnte nicht mehr an die große Aufgabe glauben, die dem Onkel so sehr am Herzen lag. Er hatte es sich selbst verscherzt. Sie war es endgültig leid, hin- und hergeworfen zu werden, wie es dem Onkel, dem Kutscher oder Toto gerade passte. Sie hatte sehr wohl sein Grinsen bemerkt und sicher war es keine Täuschung gewesen. Und sie war es satt, darüber nachzugrübeln, was Totos Grinsen zu bedeuten hatte. Im Moment war ihr egal, was aus ihm wurde, und es kümmerte sie auch nicht, ob der Onkel Scherereien bekam, wenn sie jetzt nicht rechnete. Hatten denn die anderen sich bemüht, ihre Not zu sehen? Vielleicht hatte Toto Recht und der Professor Göttling war kein wohlwollender Onkel, sondern ein Egoist, nichts weiter, kalt, berechnend und nur auf seinen Vorteil aus. Womöglich war er wirklich nicht der Mensch, für den sie ihn gehalten hatte. Sie holte die Dose mit den Knöpfen hervor, schüttete die Knöpfe aus und baute kleine Türme, hölzerne, perlmutterne und elfenbeinerne. Es wurde eine kleine Festung, mit Gefängnissen und dicken Mauern. Chiara spielte, vergaß die Zeit, sie rechnete ein bisschen. Da waren neunzehn hohe Türme mit je elf Knöpfen, prompt aus Elfenbein, vierzehn Türme aus Perlmutt und neun aus Holz, zu jeweils sieben flachen Knöpfen. Nicht alle Knöpfe eigneten sich zum Bau von Türmen, nur die ebenen. Am Ende waren es dreihundertundachtundachtzig Knöpfe, eine kleine Stadt beinah, mit Wegen, Toren und Kasernen. Chiara zog die zweite Wurzel aus der Summe. »Vier Komma vier, vier«, sagte
sie leise – stolz auf die Schnelligkeit, mit der ihr das Ergebnis zugefallen war. Sie bildete eine traurige Zahl, die Neunzehn Komma-Sieben, und eine Zahl des Glücks, das waren die drei Vieren mit dem Komma… Sie war am Boden eingeschlafen und wurde wach, weil jemand an der Tür war. Es war ein Kratzen. Chiara war noch ganz benommen. »Chiara! Liebe Cousine«, raunte eine Stimme durch das Holz. »Ich bin es, Theodor. Ich bin frei. Ich kann die Tür nicht öffnen und muss sofort zurück nach drüben. Öffne die Kommode, die am Fenster steht!« »Ich glaube nichts mehr«, sagte Chiara. »Du musst, du musst! Ich bin sonst verloren. Montgolfier hat mich befreit, aber er sagt, dass mein Vater noch mehr Strafen ausgedacht hat. Ich will ihm nicht begegnen. Ich fliehe.« »Was hast du denn getan? Bloß, weil du mit mir geredet hast? Das glaubt dir niemand.« »Es kümmert meinen Vater nicht, was Recht ist. Er will nur Gehorsam, von mir, von dir…« »Ich kann mir selbst nicht helfen!«, rief Chiara entmutigt. »Du musst rechnen, rechnen! Tu, was er sagt, damit er dir vertraut und sich sicher fühlt. Ich glaube, er mag dich leiden. Das ist deine Chance und meine. Vergiss die Kommode nicht… und denke an Amerika!« Chiara fasste sich ans Herz. Sie rief noch einmal durch die Tür, aber es blieb still. Toto war schon gegangen. Sie wischte die Knöpfe zusammen und warf sie in die Dose. Die Wut, die Enttäuschung waren nicht verflogen. Was hatte sie getan, dass Gott sie strafte? War sie ein schlechter Mensch? Einmal, als Kind, hatte sie einem Mädchen nicht geholfen, das gefallen war und blutete. Das viele Blut hatte sie zu sehr erschreckt, da war sie weggerannt und hatte sich geschämt. Oder war es die Strafe für das eine Mal, als sie sich ohne
Kleider in Mutters Spiegel angesehen hatte? Sie hatte sich gefallen, obwohl Monsignore Albertini sie gelehrt hatte, dass nur die Seele gut sei und der Körper übel. Sie hatte sich sogar berührt, die weiße, zarte Haut gefühlt und durchaus gewusst, dass es verboten war. Sie träumte, säuselte, vergaß die Welt für einen Augenblick. Sie dachte an ihr altes Zimmer, das Bett, den Schrank, den Schaukelstuhl zum Dösen, ihre Bilder. Als plötzlich ein Geräusch aufkam und nicht aus der Erinnerung, sondern hier, im Zahlenzimmer, im güldenen Verlies! Es war ein rätselhaftes Zirpen, das keinen eigentlichen Ursprung, keinen Ort zu haben schien. Es flirrte überall, es flüsterte und schnarrte leise. Chiara sah sich um, dann fiel ihr die Kommode ein. Sie öffnete ein Türchen und hörte deutlich eine Stimme sprechen. Sie musste sich bücken und sah mit einem Mal den Trichter in der Ecke hängen. Toto quäkte draus hervor. »Chiara, hörst du mich?« »Ja«, antwortete sie. »Mein Vater ist im Anmarsch, hüte dich! Und er schleppt tausend dunkle Wolken mit sich, wie es scheint… Hast du mit dem Rechnen angefangen, das er was sehen kann? Ich mag dich sehr! Denk an Amerika!« Der Trichter verstummte, der Draht zirpte nach, dann war es still. »Toto!«, rief Chiara vergeblich. Sie zog den Kopf aus der Kommode, schloss die kleine Tür und ging zum Rechentisch. Ich mag dich sehr!, hörte sie Toto immer wieder sagen. Sie wurde fahrig; das Rechnen wollte nicht gelingen. Sie war zu aufgeregt. Plötzlich hörte sie draußen Schritte näher kommen. Sie bangte, was der Onkel diesmal sagen würde und ob er vielleicht schon wusste, was im Keller vorgefallen war und überhaupt… Der Riegel quietschte. Die Tür ging auf. Göttling trat ins Zimmer. Chiara wurde klein. Der Onkel schloss die Tür. Sein
Gesicht war fleckig, die Augen lagen tief und drohten finster. Er schnaubte, schlug die großen Hände ineinander und sagte mit entsetztem Blick: »Soll ich dich nun auch verlieren, Lisa, liebe Nichte? Alle reden gegen mich, beschimpfen mich, drohen mir, stellen mir Fallen und wollen mich vernichten. Ich bin am Ende. Ich sehe schon, dass auch du dich von mir abgewendet hast. Dort liegt die Arbeit und nichts davon ist fertig. Wann habe ich dich betrogen, wann verletzt, beleidigt oder überfordert, sag es mir!« Chiara wurde rot. »Also bin ich ein Unmensch, ja? Einer, der vergisst, sich mit Gefühl um die verwaiste Tochter seiner verstorbenen Schwester zu kümmern! Womit versündige ich mich eigentlich? Lass ich dich hungern, verweigere ich dir die Obhut, musst du frieren, redet niemand mit dir? Bin ich der Teufel, dass ich mich von euch beleidigen lassen muss? Der Bengel spuckt mir ins Gesicht…« »Weil du ihn einsperrst und quälst!«, rief Chiara verzweifelt. »Wer behauptet das?« »Ich habe es gesehen«, antwortete sie und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Du hast es gesehen!«, rief Göttling. »Du hast es also gesehen, ja?« Er stach sich zwei Finger in die Augen. »Mit deinen schönen Augen also! Soll ich dir sagen, was wir mit den Augen sehen, willst du es wissen? Nichts! Überhaupt nichts sehen wir. Ein bisschen Licht vielleicht, Farben, Schatten, das ist alles. Sehen! Ein großes Wort. Weißt du denn auch, was das Gesehene bedeutet? Vielleicht ist da in deinem Kopf nur eine Laterna magica, die bloß abbildet und nichts wirklich sieht. Wir sehen sowieso nur, was wir sehen wollen. Die Wahrheit ist nicht sichtbar, glaube mir! Kein Deut davon.« Er presste die Lippen aufeinander.
Chiara wagte nicht, ihn anzuschauen. Sie wusste wieder nicht, was sie glauben, denken, fühlen sollte. Wenn er auch nur ein wenig Recht hatte und alle ihm nur Fallen stellten, in die er immer wieder tappte… tappen musste! »Stehst du noch auf meiner Seite, Lisa?«, fragte der Onkel plötzlich. Chiara starrte ihn an. »Oder habe ich dich schon verloren? Haben sie dich abgejagt? Ich dachte daran, dass wir morgen den Schwur einbrennen, brandmarken, verstehst du? Die Treue in die Haut einbrennen, wie es sich gehört…« Sie nickte schwach. Sie wollte gar nicht nicken, aber ihr Kopf bewegte sich auf und nieder. »Ja«, flüsterte sie. »Ich will ja treu sein, lieber Onkel, ganz treu, ich verspreche es.« »Schön«, sagte Göttling mit süßlicher Stimme. Er ging zu dem Arbeitstisch und legte eine Hand auf die Papiere. »Und wie ist es mit dem Rechnen? Ich war bislang sehr zufrieden, ja beeindruckt, kann ich sagen. Deine Arbeit ist wichtiger, als du dir vielleicht vorstellen kannst.« Er hustete ausgiebig. »Schau nur, das mit dem Einschließen, du musst es verstehen, es sind nun einmal hochgeheime Dinge, die du tust, unmöglich, davon auch nur ein Komma nach außen gelangen zu lassen. Natürlich leidest du, das weiß ich. Leider kann ich es nicht vermeiden, die Regierung zwingt mich… es ist die wichtigste Bedingung…« Er wartete, bis sich ihre Blicke trafen. »Ja, ja, Bedingung, Kondition. Zwingend, streng und polizeilich, politisch obendrein. Schwer zu erklären, mein Kind. Jedenfalls der eigentliche Druck, nicht wahr?« »Ja«, sagte Chiara und fühlte sich verzaubert. Sie schielte zu den Arbeitsblättern.
»Ich tue es ja, lieber Onkel, du sollst nicht daran zweifeln. Es macht mir Freude.« »Wie sehr ich dich bewundere«, antwortete er. »Weißt du eigentlich, dass wir bisher fünfzehn Kopfrechner haben bezahlen müssen, um dieselbe Arbeit in zehn Tagen zu schaffen, die du an einem Morgen tust? Und diese Leute sind so langsam! Ich kann dir gar nicht sagen, wie stolz ich auf dich bin. Ist das kein Sieg? Wo ist dein eigener, italienischer Stolz, dein glühender Stolz, schöne Lisa? Ich würde vor Stolz platzen, wenn ich…« Er schlug sich vor die Brust und lachte polternd. Chiara fühlte sich leichter. Das Lob war süß und hatte gut getan. Sie würde rechnen – und freute sich darauf. Wenn das verschlossene Zimmer eine Bedingung war, dann blieb ihr immer noch die Freiheit, stolz zu sein; der Onkel hatte Recht. »Ich bin ganz erleichtert«, sagte sie. Göttling setzte sich. Ihr schien, als fiele eine Spannung von ihm ab. Sein Mund wurde weich, die Augen hatten einen warmen Glanz. »Sie dürfen mir nicht böse sein«, erklärte Chiara. »Es ist immer noch alles sehr fremd. Der Weg in den Keller mit Montgolfier hat mir Angst gemacht.« »Es stimmt«, sagte der Onkel, »ich habe Theodor bestraft, vielleicht zu hart, es tut mir Leid.« Er rang die Hände. »Aber welcher Richter macht sich nicht schuldig? Soll ich jetzt vor dem Jungen kriechen und er lacht mich womöglich aus? Er hasst mich, das ist meine Strafe.« Er stand auf. »Ich verlasse dich, mein gutes Kind. Verzeih, dass Montgolfier dich belogen hat, dass ich verreist sei. Ich habe ihn dazu gezwungen.« Er schaute auf die Rechenblätter und achtete darauf, dass Chiara seinen Blick bemerkte. »Erlaubst du mir, stolz auf dich zu sein? Wer hat schon eine solche Nichte? Eine Nichte, die ihn rettet…«
Chiara glaubte Tränen in seinen Augen zu sehen. Er wandte sich ab und schritt zur Tür. »Verzeih mir also, wenn ich gleich den Riegel schließen muss!« »Aber ja«, sagte sie betroffen. »Ich mache mich sofort an die Arbeit. Nur vor dem Brandmarken fürchte ich mich sehr.« »Denke an den Lohn der Schmerzen! Die Ehre, der König und das Vaterland.« Damit verließ er das Zahlenzimmer und verschloss die Tür. Chiara setzte sich. Ihr war schwindelig, sie fühlte Übelkeit. Sie zog die Blätter zu sich und nahm den Bleistift zur Hand. Sie zwang sich. Sie sah die Brandeisen vor sich, wie sie glühten. Ihr war, als könnte sie die Hitze fühlen. Die Übelkeit schnürte ihr den Leib ein, das Atmen schmerzte wieder. Nichts als Einbildung, dachte sie und kämpfte, schluckte tapfer, wartete so lange, bis es leichter wurde. Dann nahm sie das erste Blatt und las die Zahlen halblaut vor. Ihre Stimme zitterte, wurde rau und brach. Plötzlich zischelte die Kommode, der Trichter sprach! Chiara fühlte einen Schreck. Sie stand auf. Sie ließ das Türchen zu, als wollte sie die Stimme gar nicht hören. Endlich öffnete sie es. Es war Toto, der sie rief. »Ich höre dich«, sagte sie kraftlos und wiederholte es, weil Toto nichts verstanden hatte. »Dringend, Chiara! Dringend!«, rief er. »Mein Vater kommt, um mich zu schlagen! Er belügt dich. Warum glaubst du mir nicht?« Die Stimme fiepte wie ein kleines, freches Tier. »Lass mich in Frieden!«, rief Chiara. »Ich kann nicht mehr. Ihr quält mich noch zu Tode. Ich hasse euch!« Sie stieß das Türchen zu und warf sich auf das Bett. Die Kommode zirpte aufgeregt und hörte gar nicht auf. Chiara schlug die Hände an die Ohren. Es war bei Gott nicht bloß ein Traum, aus dem sie einfach hätte aufwachen können. Sie
sprang trotzig auf, setzte sich an den Tisch und rechnete. Sie musste sich nicht anstrengen, es fiel ihr zu, wie immer. Die Kommode wurde still. Chiara wusste, was gleich geschehen würde. Toto würde an der Tür erscheinen und weiter auf sie einreden. Sie hörte schon seine Schritte. Er würde wieder über den Vater klagen, ihr drohen und Angst machen und später würde der Onkel alles wieder aushebeln, glätten, sie loben und bestechen und sie selber würde weinen vor Unsicherheit, Verzweiflung, Furcht und Ausweglosigkeit. Es war Theater. Sie, Chiara, stand im Mittelpunkt. Alle Linien führten zu ihr hin, deshalb verstand sie nicht, was um sie her passierte, deshalb auch wechselte das Klima dieses Hauses wie das Wetter. Nichts war sicher, weil nichts sicher sein sollte! – Sie konzentrierte sich, sie rechnete, sie musste rechnen, da hatte Toto Recht, sie musste ihre Rolle weiterspielen! Die Schritte kamen näher… »Chiara, liebes Kind!« Es war nicht Toto. Es war Luise, ihre Stimme drang durchs Holz. »Es ist gewiss ganz unbeabsichtigt, dass man dich hier einschließt. Ich finde es abscheulich. Du darfst nicht zu schlecht darüber denken. Niemand will dir Schaden zufügen. Ich glaube, der Herr Professor hat sich nur erschreckt, weil du dich so erschreckt hast… Du bist vielleicht zu schreckhaft. Er ist ganz verstört und hat rote Augen. Leider bin ich nicht im Besitz des Schlüssels und kann dir gar nicht helfen. Vielleicht hat ihn der junge Herr, er stiehlt ihn manchmal, auch auf die Gefahr hin, dass er geschlagen wird. So ist er eben.« Chiara hatte mit dem Rechnen aufgehört. Sie saß starr da, ihre Hände zitterten. »Die Frau Professor hat sich für dich eingesetzt«, fuhr die Köchin jenseits fort. »Du kannst dich freuen.«
»Ich kann mich nicht mehr freuen«, antwortete Chiara. »Ich bin zu oft enttäuscht worden, ich glaube nichts mehr.« »Ach, i wo!«, rief Luise heiter, als gelte es, Späße zu machen. »Mir wirst du doch vertrauen, oder? Wir sind ein bisschen Freundinnen geworden. Ich habe dich verteidigt und beschützt, das verlangt einen Zoll von dir…« Die Köchin lachte hoch. »Da habe ich vorhin mit Anton gesprochen, so am Fenster, wie er so vorbeigeht. Anton trägt die schönste Uniform der Königlichen Garde, ein Charakterherz, nicht schön, aber treu, was selten ist bei Männern!« Sie lachte wieder. »Anton also erzählt mir eben, dass er vergangene Woche auf dem Jahrmarkt war… Hörst du mir zu?« »Ja«, rief Chiara zweifelnd. »Und weißt du, was er dort erlebt hat? Einen Schnellrechner, der hat riesige Zahlen miteinander malgenommen, mir nichts, dir nichts, dass es allen schwindelig wurde. Ich habe Anton von dir erzählt. Schade, dass die Tür verschlossen ist, ich hab dich gern in meiner Küche sitzen. Aber was kann ich tun? Der Herr Professor ist gezwungen, so zu handeln, glaube mir. Natürlich wäre es mir genauso unheimlich, hier eingesperrt zu sein. Anton, der große Junge, hat nur gelacht, als ich ihm erzählte, was hier los ist. Er würde die Tür zertreten, hat er gesagt. Nee, Anton würde sich das nicht gefallen lassen…« »Luise!«, rief eine zweite Stimme plötzlich von tiefer drinnen. »Das wird dich teuer zu stehen kommen!« Es war die Tante. Chiara stand auf und ging zur Tür, um besser hören zu können. »Wie kann ein Mensch so indiskret sein! Nicht bloß, dass du das Kind verrückt machst mit deinen Geschichten, du plauderst auch mit Fremden über unser Haus, über die Geheimnisse des Herrn Professors! Das hat Folgen, wie du dir wohl denken kannst.«
»Ich bitte um Verzeihung, Madame!«, flehte Luise sofort. »Das wollte ich gar nicht. Das Kind tat mir nur Leid. Ich dachte…« »Unsinn! Kein Wort mehr!«, forderte die Tante. »Geh in deine Küche und hüte dich, noch ein einziges Mal hier an die Tür zu kommen!« Chiara hörte die Köchin sich entfernen. Ein Schlüssel klirrte. Die Tür wurde aufgeschlossen. Die Tante blickte mit gütigem Gesicht herein. »Mein Gott, Chiara, was musst du von uns denken? Eine unmögliche Person! Komm, mein Kind! Ich habe das Essen auftragen lassen. Wir gehen zusammen. Du musst hier nicht alleine sein, weißt du, dafür sorge ich.« Chiara musste sich festhalten. Ihr war übel. Sie schluckte, bis es vorüberging. »Das Essen wird dir schmecken. Dein Onkel hat Gäste bekommen, ganz unerwartet. Es sind seltsame Leute. Alle sitzen schon bei Tisch, nur du fehlst noch. Ich glaube, diese Herren sind Beamte. Freust du dich?« Chiara brachte kein Wort heraus. Sie nickte schnell und wich dem Blick der Frau aus. »Die Papiere. Soll ich sie mitnehmen?«, fragte sie und deutete zum Schreibtisch. »Lass nur, Kind«, sagte die Tante. »Das ist gar nicht so wichtig, wie immer alle tun. Wir wollen jetzt zusammen sein und gut essen und trinken. Das ist dringlicher als rechnen.« Chiara zwang sich zu lächeln. Die Tante wartete, bis sie an ihr vorbei und durch die Tür gegangen war. Draußen folgten sie dem Flur zum Vorderhaus.
Am üppig gedeckten Esstisch saßen der Onkel, Theodor, mit sehr blasser Haut und zitternden Händen, sowie zwei Herren in
langen, schwarzen Röcken, preußische Beamten, erklärte Göttling. Der eine war jung, der andere bestimmt schon an die Dreißig. Beide hatten stechende Augen, als hätte man es ihnen antrainiert. Sie schienen bemüht, ihre Anspannung zu verbergen. Ihre Blicke flogen überall umher, zuweilen huschte ein seltsames Schmunzeln über den Mund des Älteren. Chiara verbarg sich für einen Augenblick hinter ihrer Tante, die ins Zimmer trat, sich aber gleich umwandte und das Mädchen ernst hereinwinkte. Göttling stand auf und nahm Chiaras Hand. »Das ist Lisa, meine teure Nichte.« Er zog ihren Stuhl vom Tisch zurück und wies ihr höflich den Platz zu. Die Herren hatten sich ebenfalls erhoben und verbeugten sich. Toto machte eine unklare Bewegung mit dem Kopf, stand nur halb auf und ließ sich wieder fallen. Die Männer schwitzten. Chiara ekelte sich, lächelte dagegen an und setzte sich. Ihr war selbst ziemlich heiß, sie konnte sich riechen; es war ihr peinlich. »Lisa ist unsere ganze Hoffnung«, erklärte der Onkel. »Sie lebt sich wohl noch ein. Ein tragischer Unglücksfall hat ihr die Eltern entrissen. Sie vermisst Italien sehr. Wir versuchen, ein Ersatz für sie zu sein, für alles, Eltern und Freunde in einem. Wir kümmern uns herzlich um sie und versorgen sie mit allem, was ein junges Mädchen braucht, nicht wahr? Ich denke über eine gute Schule nach. Morgen wird sie deswegen mit meiner Gattin ausfahren und ihren Schneider kennen lernen. Eine gute Schule fordert gute Kleidung.« Er lächelte angestrengt. Die Tante lehnte sich zu Chiara herüber und flüsterte: »Das ist eine Überraschung.« »Freust du dich?«, fragte der Onkel laut. Chiara musste husten.
»Sie ist recht abgespannt«, sagte Göttling zu den Gästen. »Das Klima bekommt ihr nicht, sie atmet zu viel von unserem Heimatsand bis in die hübschen Lungen hinein.« Er lachte dröhnend. Die beiden Herren schmunzelten und bohrten ihre Blicke in Chiara. Sie schaute auf ihr Gedeck. Auf dem Tellerrand leuchteten hellrote Blüten. Das Besteck war schweres Silber, die Tischdecke hatte fein gestickte Trauben, Reben, Blätter. »Italien!«, sagte der ältere der Männer. Er hatte ein rotes Gesicht und zu tief liegende Augen, als dass sie freundlich hätten wirken können. Aber seine Hände waren schmal und schön, wie ihre eigenen. Der jüngere hatte einen schönen Mund. »Ich behaupte«, erklärte der andere, »dass niemand die romanische Seele umformen kann, schon gar nicht zu einer preußischen. Sie tun mir Leid, Mademoiselle.« Chiara schmunzelte. »Meine Mutter war eine Deutsche, der Herr Professor ist mein Onkel, wie er schon sagte.« »Ein Onkel, der sich kümmert und bemüht«, warf Göttling ein. »Aber im Grunde haben Sie Recht, Monsieur. Meine Schwester war ein südliches Temperament, sie hatte Feuer im Blut und tanzte wie eine Zigeunerin.« »Aber Sie sind ein ganz anderes Talent, oder?«, sagte der Fremde wissend zu Chiara. »Sie tanzt wie ihre Mutter«, rief Göttling, »allerdings mit allen Zahlen, die uns Gott geschenkt hat. Ich bin sehr stolz, Messieurs. Wir haben Anlass, uns zu freuen. Die politische Lage ist ernst und raubt uns die Bequemlichkeit, die wir ansonsten wohl gewohnt sind.« Er blickte Chiara an. »Da sind Einschränkungen diversester Art, nicht wahr? Aber das Vaterland zwingt uns, es ist nun einmal die ethisch höhere Kategorie und zerdrückt zuweilen das Private. Doch wir sind bereit zu leiden…«
Als hätte er ein Losungswort gehört, stand Toto plötzlich auf. Er hielt den Kopf gesenkt und legte die Hände flach auf seine Schenkel, dass es Chiara nur so fröstelte. Das war nicht Toto, niemals! Mit rauer Stimme sagte er: »Ich danke meinem guten Vater, dass er mir hier und jetzt die Möglichkeit gibt, mich zu bekennen…« Er schluckte ein paar Mal. »… den wahren Kern des Herzens anzuschauen, das in meinem Körper schlägt…« Seine Hände bebten, der ganze Junge zitterte. Chiara wollte schreien. Sie biss sich auf die Zunge. Die beiden Gäste nickten anerkennend. Toto blickte leer, ohne Fixpunkt, das Gesicht kalkweiß, das Haar zerzaust. »Das persönliche Opfer«, fuhr er hustend fort, »ziert unser Leben, krönt es für Gott und König und schenkt der Erde ihren Sinn.« Er setzte sich. Die Tante stieß hörbar Luft aus. Ihre Augen wurden weiß, plötzlich fiel ihr Kopf nach hinten, die Hände rutschen in den Schoß. Luise schrie. Der Onkel starrte bloß, tat aber nichts, um seine Frau zu stützen. Jakob sprang hinzu und hielt sie fest, ließ sie behutsam von ihrem Platz zu Boden gleiten. Luise brachte Kissen für den Kopf. Die beiden Herren waren aufgestanden und blickten beinah angewidert über die Tischecke hin. Chiara konnte sich nicht regen, etwas lähmte sie, sie rang mit Übelkeit. Toto saß reglos da und schaute mit traurigen Augen auf seine bewusstlose Mutter, die ganz langsam wieder zu sich kam. »Es ist mir überaus peinlich, Messieurs«, sagte Göttling und schüttelte hilflos den Kopf. »Bitte, haben Sie Geduld! Das Essen wird unverzüglich aufgetragen. Jakob, Luise, wir tun, als sei nichts gewesen! Verzeihen Sie, meine Gattin hat zu wenig Blut, es ist zu dünnflüssig, wo sie geht und steht, überfällt sie der Schwindel…« Er machte eine wegwinkende Handbewegung. Seine Frau schlug die Augen auf und leckte
sich die Lippen. Sie lallte etwas. Jakob half ihr hoch, bis sie am Boden saß. Schließlich stand sie auf und ließ sich aus dem Zimmer führen. Die Herren hatten die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten wie Kinder. Der Onkel blinzelte beunruhigt. Er ging zur Tür und schimpfte dem Diener und Luise hinterher. Chiara wagte nicht, ihn anzusehen. Bleierne Stille kehrte ein. Toto räusperte sich; er war so schrecklich anders, fremd, verzaubert. Wie er sich bewegte, das Gesicht, der zuckende Mund, die kalten Augen! Chiara blickte auf ihre Hände. Sie legte sie links und rechts neben den Teller, damit es irgendeine Ordnung gab, und wartete. Luise brachte die Suppe und füllte die Teller. Niemand sprach. Göttling nahm als Erster seinen Löffel und forderte mit einer Geste zum Essen auf. Das Besteck klapperte. Erst jetzt merkte Chiara, dass sie Hunger hatte. Die Suppe war eine klare Rinderbrühe. Toto rührte nur darin, statt zu essen. Er nippte an seinem Löffel und ließ die Suppe wieder in den Teller tropfen. »Iss ordentlich, Junge!«, befahl Göttling, der seinen Sohn nicht aus den Augen ließ. Toto zuckte zusammen. Er legte den Löffel an den Tellerrand und starrte in die Suppe. »Wie müssen an unsere Gäste denken«, sagte der Onkel und hörte plötzlich ebenfalls auf zu essen. Die beiden Herren tupften sich den Mund, hoben die Brauen und beobachteten gespannt, wie Göttling weiter mit seinem Sohn verfahren würde, um sich Respekt zu verschaffen. Chiara behielt ihren Löffel in der Hand. Er schwebte über dem Blütenrand des Tellers und zitterte wie vom Wind bewegt. Es war seltsam. Sie sah und hörte alles, was um sie her geschah. Aber es drang nicht gänzlich zu ihr vor, es berührte sie nicht mehr. Sie musste schmunzeln, es war ihr peinlich, nicht einmal die Ohnmacht ihrer Tante war ihr bis ins Herz
gedrungen. Alles, was hier geschah, war nicht real, nicht wirklich wie der Tod der Eltern, wie der Brand des Nachbarhauses, den sie als Kind hatte mit anschauen müssen, ergriffen von der Furcht, dass die Flammen auf das Elternhaus übergreifen könnten. All das war hart und klar gewesen, entschieden und zum Greifen nah. Im Unterschied zu allem, was Berlin bedeutete! Hier lebte sie wie im Nebel, jeder Blick erreichte nur den jetzigen Moment, im folgenden konnte alles schon verändert sein, das Gegenteil von dem, was noch vor einer Stunde gültig schien. Das also!, staunte sie verwundert. Sie, Chiara, saß hier und hielt den Löffel fest. Die beiden Gäste lauerten darauf, dass der Onkel seinen Sohn bezwang. Der Onkel selbst schien plötzlich wieder angeschlagen, geschwächt, gebrochen beinah. Sein Blick verfing sich in den Zimmerpflanzen, haftete an der Tapete, flüchtete zum Fenster, stürzte auf den Boden. Das also verunsicherte sie! Toto triumphierte still. Er aß nichts, er fand sich wieder, sein Mund bekam Kontur und wurde fest. Chiara konnte zusehen, wie die Lebenskraft in ihn zurückfand, wie er Farbe bekam und der Wille sich in seine Haltung schlich. Das also waren die Knoten, die sie nicht lösen konnte! Sie erkannte Toto wieder. Er stand auf, so plötzlich, dass die Gäste zuckten und der Vater starrte, und verließ das Zimmer. »Theodor!«, schrie Göttling. Die Tür schlug zu. Luise öffnete im nächsten Augenblick und trug die Schale mit dem Brot herein. »Also Schluss!«, rief der Onkel und stemmte sich hoch, wankte wie von einem Faustschlag getroffen. »Ich kenne ihn nicht mehr. Ich habe ihn verloren, endgültig. Die Trennung, das Ende. Aus und vorbei!« Er hatte Blut an den Lippen, schmeckte es, nahm seine Serviette und tupfte sich verwundert den Mund.
Die Beamten blickten betroffen, neugierig. Sie wischten sich die Hände. Luise ergriff die Flucht. Der Onkel stand gefährlich vorgebeugt und stützte sich mit beiden Fäusten auf. »Wer bin ich? Wer hat mich verurteilt?« Er sah Chiara an. »Es ist deine Schuld! Seit du gekommen bist, hat er sich verändert. Er schöpft irgendeine Kraft aus dir, es ist mir schleierhaft.« Er wurde lauter. »Du weißt doch längst, was los ist. Tu nicht so! Ich durchschaue dich. Spielst hier die Empfindliche, die Verletzte. Dabei hast du mir ein Versprechen gegeben, dass ich dir die Haut verbrennen darf… Das ist also deine Treue!« Er drehte sich um, riss die Tür auf und warf sie von draußen zu. Chiara saß wie vom Blitz getroffen da. »Sie haben ihn erzürnt, Fräulein«, sagte der junge Mann. »Uns hat er gesagt, Sie hörten auf ihn, Sie seien kooperativ. Nun stellt sich heraus, dass in Wahrheit Sie die Fäden in der Hand halten.« Chiara starrte ihn an. »Verzeihen Sie, meine Herren, aber seit ich in Berlin bin, weiß ich nicht, in welches Spiel mein Onkel mich verwickelt.« »Kooperativ!«, wiederholte der Altere deutlich. »Das würde bedeuten, Sie gäben uns wenigstens einen Anhaltspunkt, einen Hinweis, damit wir zögern können, ihrem Onkel wehzutun. Wir haben Vorgesetzte, junge Dame. Haben Sie kein Mitleid mit Ihrem armen Onkel? Er befindet sich in der misslichsten Lage und uns sind die Hände gebunden. Er ist in Gefahr, in Lebensgefahr!« »Liegt es an meiner Arbeit, am Rechnen?«, fragte Chiara verzweifelt. »War ich nicht schnell genug, nicht fleißig genug? Ich habe doch gerechnet und der Onkel war zufrieden. Was soll ich noch tun? Ich rechne weiter, geben Sie mir Aufgaben! Ich helfe ja. Aber niemand weiht mich ein, worum es geht. Ich handle blind.«
»Diskret lautet das Wort«, sagte der Jüngere. »Regierungsdinge sind diskret, Geheimnisse von erstem Rang, das ist modern, schwierig vielleicht, aber sehr modern. Wir verfügen über Spezialisten, die nur einen Anstoß brauchen, um den einmal eingeschlagenen Weg bis an das Ende zu gehen, technisch.« Chiara wäre am liebsten aufgesprungen und weggerannt. »Worum geht es? Habe ich mich schuldig gemacht? Mein Onkel klagt mich an, und ich habe keine Ahnung, wessen.« »Wir sind nicht befugt, uns einzumischen«, erklärte der Ältere. Er spielte mit seinem Löffel, rührte in der kalt gewordenen Brühe. »Im Vertrauen, wenn er diese Unterlagen nicht beibringt, Ihr Onkel, der Herr Professor, wird Preußen dennoch überdauern.« Er lächelte falsch. »Nur für seine Gesundheit, nein, da kann ich dann nicht garantieren. Er steht unter Druck, verstehen Sie? Seine Lage ist – wie soll ich sagen? – beschissen! Die Dame des Hauses hat das, denke ich, gut verstanden, als sie vorhin…« »Es geht um meinen Vater«, sagte Chiara halblaut und mehr zu sich selbst. »Sie wollen seine Pläne, die Maschine, seine Klugheit…« »Nicht ganz so theatralisch, Mademoiselle«, sagte der Jüngere und lachte. »Mit den Schnurren Ihres Onkels müssen Sie sich selbst auseinander setzen. Er hat kürzlich einen Orden erhalten, haben Sie das gewusst? Der Minister selbst hat ihn an seine Brust geheftet, für eine ausgezeichnete Berechnung der Zahl Pi. Ich hoffe nur, dass es wirklich der Verdienst Ihres Onkels war und nicht Ihr eigener. Das wäre Betrug. Der König von Preußen wünscht sich nichts sehnlicher als eine lebende Rechenmaschine, munkelt man. Er ist vernarrt in Zahlen. Vielleicht betrügt Ihr Onkel Sie auf ganzer Linie, schmückt sich keck mit Ihren Federn. Dabei stünde Ihnen alle Ehre zu. Ich will nur davor warnen, die Dinge zu vermischen. Der
Orden, das Institut, die Mathematik sind das eine. Wir, die Sicherheit der Diplomatie, die politische Zukunft Preußens sind das andere. Sorgen Sie sich nicht, wir sind verschwiegen, das ist unser Beruf. Bleiben wir bei der Sache…« »Bei welcher Sache?«, fragte Chiara. »Der Sache Ihres Vaters. Sie haben mich verstanden.« »Er ist tot!« »Das stimmt. Was folgt daraus?« »Nichts. Mein Leben ist kaputt.« »Das ist dumm. Ihr Onkel ist gezwungen, seine Schulden zu begleichen. Er hat uns etwas verkauft, in dessen Besitz er noch nicht war. Ich glaube, er kann es ohne Ihre Hilfe gar nicht finden.« »Er hat uns zum Essen gebeten«, sagte der Altere. »Und nun sitzen wir vor kalter Brühe und schauen zu, wie der Herr Sohn den Vater drangsaliert. Er wollte Sie uns… vorführen, bitte, verzeihen Sie den Ausdruck. Sie sind Geld wert, sehr viel Geld, wie es scheint. Sie an unserer Stelle wären genauso ratlos und irritiert, Signorina. Ich glaube, Ihr Vater ist ermordet worden. Ein Dummkopf hat’s getan. Er glaubte, Ihr Vater sei in Pisa. Er wollte nur die Schwester Ihres Onkels, des Herrn Professor, töten, die Gattin Ihres Vaters… oh, Verzeihung… Ihre Mutter. Ihr Herr Vater sollte sehen, wie ernst es diesem Schurken ist. Geschmacklos, finden Sie nicht auch?« Chiara fühlte, wie ihr schwarz vor Augen wurde. »Ein Unglück, ein blöder Zufall, tragisch wie eine griechische Tragödie«, fügte der Mann kalt hinzu. Sie stand auf und wollte hinausgehen, als mit einem Schlag die Tür aufflog. Der Onkel trat herein. Montgolfier folgte ihm. »Bitte sehr! Bring meine Nichte in ihr Zimmer zurück und verriegele die Tür!«, rief der Onkel. »Sofort! Sie hat zu arbeiten. Wir wollen hoffen, dass sie es klaglos tut, damit nicht
alles noch schlimmer und hässlicher wird, als es ohnehin ist, nicht wahr?« Chiara konnte sich nicht wehren, sie folgte Montgolfier. Sie wollte nicht, dass er sie berührte. Der Flur war heller als das Esszimmer. Die Sonne stand tief und schien herein, das Licht floss warm und golden die Treppe herab. Der Kutscher ließ sie vorgehen, um sie im Auge zu behalten. Auch dieses Misstrauen hatte einen schlechten Atem, sie roch die Skepsis, die ihn trieb. Da flog hinter ihnen eine Tür auf und Schreie schlugen durch den Flur. Es waren die Mädchen, die gellend aus der Küche kamen. Luise folgte ihnen. »Feuer! Feuer!«, schrie sie. »Er hat das Haus angezündet, der Junge war’s! Theodor, Herrgott im Himmel! Feuer!…« Montgolfier rannte zur Küche. Schwarzer Rauch quoll in den Flur. »Wasser!«, rief er. »Die Eimer aus dem Keller, schnell. Jemand muss es den Nachbarn melden und keine Zeit verlieren! Die Eimer, die Wassereimer!« Er lief zur Kellertür und sprang die Treppe hinunter. Sofort flogen die Löscheimer durch die Tür nach oben und schlugen auf den Boden. Luise fing sie ein und trug gleich drei zur hinteren Tür, die in den Hof führte, wo die zweite Pumpe stand. Die Tür zum Esszimmer wurde aufgerissen. Der Onkel trat heraus. Die beiden Gäste folgten ihm, ergriffen jeder einen Eimer und eilten schon zur Hoftür. Alle husteten. Der Rauch drang tiefer vor, die Küche brannte lichterloh. Chiara hielt die ängstlichen Kinder bei sich fest, drängte sie in Richtung Hoftür. Die ersten Wassereimer wurden schon herein- und zu dem Brand getragen. Chiara wartete, bis eine Gasse frei war, griff ihren Mantel und die der Kinder und schob die Zwillinge nach draußen in die Sicherheit. Die Gäste, Montgolfier, Luise und die ersten Nachbarn arbeiteten. Der Onkel, unter der
Platane, bewegte den langen, geschwungenen Pumpenschwengel; der Schweiß perlte ihm von der Stirn. »Es war der Junge, meint Luise!«, rief er, als er die Tante kommen sah. Sie schwankte, lief zu Chiara und den Kindern und war noch bleicher als in ihrer Ohnmacht. »Glaub ihm kein Wort, Chiara!«, rief sie. »Er lügt, Luise lügt, sie alle lügen. Theodor würde so etwas nicht tun, nie und nimmer. Ich kenne ihn, er ist mein Leben, mein Sohn, ich liebe ihn. Ein gerader, ehrlicher Junge, fast schon ein Mann… Wo ist er bloß?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Chiara. »Dein Onkel ist ein ungerechter Mensch und grausam.« Die Tante drückte die Kinder an sich. »Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt. Er trägt ein Geheimnis in seinem Herzen. Er ist ein Egoist. Man überhäuft ihn mit Ehren und es ist dein Verdienst. Ich schäme mich für ihn…« Sie schob die Kinder vor sich her durch das Gedränge. Chiara blieb stehen, sie verlor die Tante aus den Augen. Auf dem Hof waren jetzt an die hundert Menschen zusammengelaufen, Nachbarn, Soldaten, Handwerker, Passanten, die von draußen durch das Tor kamen. Alle schrien und liefen durcheinander. Die meisten trugen Wasser in das brennende Haus. Es war ein ungeheurer Lärm. Der Boden war zertreten, nass und glitschig. Noch immer quoll der Rauch durch die Tür ins Freie. Erschöpfte Helfer mit verbundenen Gesichtern saßen an der Gartenmauer, Frauen brachten Brot und Tee, ein Wundarzt behandelte Verbrennungen, feuchte Tücher und Laken wurden verteilt. Chiara stand und schaute wie gelähmt. Niemand beachtete sie. Sie blickte an sich herunter, das Kleid, die Schuhe waren schmutzig, es war ihr einerlei. »Chiara Lisa! Schnell!«
Es waren die beiden Mädchen, sie weinten. Die eine fasste Chiaras Hände und zog sie fort, zur Gartenmauer, zur Remise. »Bitte!…« Das Tor war angelehnt. Von drinnen klang lautes Poltern heraus, Rufe, nein, es waren Schreie, die im Feuerlärm fast untergingen. Die Mädchen hielten sich die Ohren zu und rannten weg. Chiara schob das Tor auf. Drinnen war es finster. Sie folgte den Schreien, die aus dem hinteren Teil der Remise kamen, und sie erkannte Totos Stimme! Das Herz blieb ihr fast stehen. Sie schlich sich an, sah das fahle Licht einer Handlaterne. Dahinter bewegten sich Schatten. Der Onkel schlug auf Toto ein, der schon am Boden lag. Der Onkel schlug mit einem Stock, mit einem Knüppel. Beide schrien. Chiara stand still, im Kopf trommelte die Angst. Sie hob das Kleid und rannte los, wäre beinah doch gestolpert, schrie nun selber, dass es sie erschreckte. Göttling fuhr herum und hob den schweren Stock. Er traf sie am Arm, sie spürte kaum etwas. Derselbe Arm bewegte sich, die Hand daran fasste nach dem Holz, wie eine fremde Hand, ein fremder tauber Arm, der nicht zu ihr gehörte. Sie ergriff den Knüppel, schwang ihn hoch und schlug dem Onkel auf den Kopf. Er kippte wie ein totgeschlagener Ochse um. Toto starrte Chiara an. Er blutete am Hals, am Kopf und an den Händen. Von draußen schwamm der Feuerlärm herein. »Ich habe ihn getötet«, flüsterte Chiara. »Ich habe ihn erschlagen, meinen Onkel.« Toto war aufgesprungen. »Wir müssen weg hier! Niemand weiß, dass wir hier sind. Das ist die Freiheit, das ist Amerika. Bitte! Wir müssen fliehen. Bestimmt kommt er gleich zu sich, dann gnade uns Gott!« Chiara schüttelte den Kopf. Sie fühlte nur schwere Angst, Mutlosigkeit, die Gedanken wirbelten umher. Toto fasste sie am Arm. Er schlich zum Vordertor, lugte hinaus. Niemand war
zu sehen. Alle waren bei dem Feuer. Toto öffnete das Tor und zog Chiara mit sich auf die Straße. Der Lärm vom Hof sprang über die Dächer und klirrte auf das Pflaster. Sie drückten sich eng an den Häusern entlang und erreichten die Allee, dann lag die schwarze Wand des Parks vor ihnen. Sie huschten über einen Weg, bis in die tiefe Dunkelheit. Hier horchten sie. Es war so still, als hätte es die Menschenwelt noch nie gegeben…
Amerika
Chiara duckte sich und spähte ängstlich zu den Häusern, die den Park flankierten. »Wir sind frei«, sagte Toto. »Amerika. Gibt es größeren Reichtum?« »Du bist ein noch viel schlimmerer Träumer, als ich dachte«, antwortete Chiara. Toto kramte in seinen Taschen. Dann hielt er etwas in der Hand. Eine flache, lederne Gürteltasche. »Rate!« »Lass den Unsinn, Toto! Wir sind in Not.« Es knisterte. »Das ist Geld!«, flüsterte er. »Mehr Geld, als du je gesehen hast. Es gehörte meinem Vater. Jetzt gehört es uns. Ich habe es ihm gestohlen und ich habe mich gut gefühlt dabei. Ich bin ins Arbeitszimmer meines Vaters geschlichen und fast gestorben vor Angst. Aber ich habe es geschafft. Wenn das Haus ausbrennt, wird niemand etwas merken. Wir sind reich, Chiara. Amerika!« Er lachte derb. »Versteh doch! Es ist mein Lohn dafür, dass er mich fast totgeschlagen hat und mir die Haut mit seinen verdammten Eisen verbrennen wollte. Mutter hat es sich gefallen lassen, für die Treue. Dabei ist er selbst nicht treu.« Seine Stimme wurde tief und rau. »Er ist verräterisch und lügt, er lügt sie an. Er hat andere Frauen, ich habe es gesehen…« Chiara fasste seinen Arm. »Das Geld gehört Agenten«, fuhr Toto fort. »Sie fordern es von ihm zurück. Im Grunde gehört es ihm gar nicht.«
Chiara versuchte, das viele, was passiert war, zu sortieren. Dass Toto dieses Geld bei sich hatte, beruhigte sie, aber es machte ihr auch Angst. »Wir sind beide fünfzehn Jahre alt«, sagte sie. »Das Geld nützt uns nichts. Man wird die Gendarmen benachrichtigen und eine Untersuchung einleiten. Am Ende werden wir bestraft.« »Chiara, es gibt kein Zuhause mehr«, entgegnete Toto. Sie hörte den bissigen Unterton. »Du hast das Feuer gelegt«, sagte sie. »Es sind tausend Taler! Wenn auch nur in Papieren«, antwortete er so leise, dass sie es beinah nicht verstanden hätte. Es wäre ihr lieber gewesen, sie hätte es nicht gehört. »Hast du?« »Nein.« »Ich glaube dir nicht«, sagte sie. »Dann lässt du es bleiben. Mein Vater, dein Onkel, trägt einen stolzen Orden, den du für ihn verdient hast…« »Trotzdem!« »Ihm hast du immer wieder vertraut, mir vertraust du nicht.« »Nein.« Chiara zitterte vor Kälte. »Obwohl er dich gequält hat? Ich wette, er wollte dir auch das Zeichen in den Arm brennen. Er versucht es bei jedem. Seinen Kutscher hat er vollständig in seine Gewalt gebracht. Was muss noch passieren, damit du mir glaubst?« Sie schwieg beharrlich. Sie schämte sich dafür. Es hätte sich gehört, ihm zu antworten. Aber sie war zu erschöpft. Sie konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. »Wir gehen zur Poststation und treffen dort einen Mann, der uns hilft«, sagte Toto. »Er ist Italiener. Es wird dich trösten.« Er nahm ihre Hand und zog sie fort. »Das Leben fängt an, Chiara. Eine Lisa gibt es nicht mehr, so hat er dich doch
genannt, oder? Mich nannte er manchmal… Napoleon. Ich hasse ihn dafür!« Sie gingen am Rand des Parks entlang. Es tat Chiara gut, geführt zu werden. Toto hatte ein Ziel, mochte es ihr, wie alles, auch noch so seltsam erscheinen. Er war stark. In der Ferne brannten Lichter. Das Laufen wärmte. Er musste sie nicht ziehen, sie ging allein neben ihm her, hielt Schritt. In den Fenstern der Häuser brannten Kerzen, Lampen und Laternen. Dort lebten Menschen, dort wurde geredet, gelesen, gegessen oder gar gelacht. Es machte ihr Mut. Die Büsche und Bäume standen wie Riesen um sie her und boten Schutz. »Amerika«, sagte sie. Es klang wie eine Parole. Toto drückte ihre Hand. Er kam ihr mit einem Mal sehr männlich und erwachsen vor. Sie sah sein Profil, die gerade Stirn, den schönen Mund. Sie wollte es ihm sagen, fand aber nicht den Mut. »New York«, sagte er, als hätte er die plötzliche Harmonie mit ihr gefühlt. »Nimm nur das Wetter dort. Hier regnet es, und in New York macht sich niemand Gedanken, wie das Wetter wird. Die Leute vergessen es einfach. Wenn du Hunger hast, jagst du und kochst und isst. So einfach. Ich habe es gelesen. Natürlich gibt es auch Gefahren, Indianer, die einem die Haut abziehen, da heißt es wachsam sein. Und es gibt die Regulatoren, das sind freie Männer, die für das Gute kämpfen und für Ordnung sorgen…« Chiara lief ein Schauer über den Rücken. »Wir haben nicht einmal unsere Kleider«, sagte sie. Auch dachte sie an den schönen Abakus aus Goethes Händen. »Erzähl mir!«, sagte sie schnell. »Wie wird es in New York? Gibt es dort Bäder wie in Paris, wo das Wasser aus der Wand fließt und man nicht in den Garten auf den Abtritt muss? Ich stelle mir vor, dass die Luft eine andere Farbe hat, ein bisschen
gelblich oder ocker, ganz warm jedenfalls, aber alles sehr, sehr fremd.« Sie spürte, wie wohl es Toto tat, dass sie ihm diese Fragen stellte, ihn bestätigte. Seine Schritte waren fest und sicher in der Dunkelheit. Sie hatten das Ende des Parks erreicht, ein Sandweg führte auf eine kleine Holzbrücke zu, die sie überquerten. Chiara hörte Stimmen und erschrak. Toto zog sie weiter. Man sah Laternen, Pferde schnaubten, es roch nach Dung. Sie betraten ein Gehöft. In den Ställen brannten Fackeln. Chiara erkannte die Umrisse hochrädriger Wagen, die nebeneinander in einer langen Reihe standen. Auf den Deichseln saßen Männer und tranken aus hohen, schlanken Krügen. Sie blickten neugierig her. Toto ging über den Hof auf ein einzelnes helles Fenster zu, neben dem sich eine Tür befand. Chiara folgte ihm. Die Ruhe war verdorben, aber sie vertraute ihm. Sie betraten ein Kontor. Hinter einem Schreibpult saß ein Mann mit einem runden, chinesischen Gesicht. »Guten Abend, Monsieur Göttling«, sagte er in überraschend gutem Deutsch. »Der Capitano Maggi ist schon im Hause. Es ist alles vorbereitet, wie Sie es angeordnet haben, und stets zu Ihren Diensten.« »Ich hoffe, du erschreckst dich nicht«, sagte Toto zu Chiara. »Das ist keine Zauberei, sondern Sorgfalt, Planung, Umsicht.« Chiara lächelte wehrlos. »Der Wagen geht um fünf Uhr morgen früh«, sagte der Chinese. »Oben sind die Zimmer bereitet. Gehen Sie nur hinauf, Sie werden müde sein. Maddalena wird Ihnen Brot und Schokolade bringen.« Aus der Dunkelheit im Hintergrund war, wie ein Geist, ein Mädchen erschienen, ein Kind noch, aber mit ernsten, fast erwachsenen Zügen. Es deutete nach draußen zu einer schmalen Treppe und ging voraus. Das Gesicht des Mädchens
kam Chiara bekannt vor, aber es fiel ihr niemand ein, mit dem sie es verbinden konnte. Die Zimmer waren klein und schlicht. Sie lagen nebeneinander und wurden nur von einer dünnen Holzwand getrennt. Auf einem Hocker unter dem Fenster brannte eine Kerze. Das Bett war schmal und hoch. An einer Wand stand eine geflochtene Truhe, über der ein Kreuz hing. Chiara setzte sich auf das Bett und unterdrückte die Tränen, die in den Augen brannten. Sie fror. Sie zog sich die Bettdecke über den Rücken. Das Mädchen lugte durch die offene Tür herein, es war elf, zwölf Jahre alt und hatte hübsche, braune Zöpfe. Es waren seine Augen, die Chiara schon einmal gesehen hatte. Aber wo? Toto ging vorüber. Ihm folgten neue, andere Schritte, die von schweren Stiefeln. Der Dielenboden knarrte laut. Dann hörte sie eine tiefe Männerstimme und wusste im selben Moment, an wen sie das Mädchen erinnerte. »Signore Göttling! Bene. Geht es Ihnen gut?« Toto antwortete höflich. Er kannte den Mann, den auch Chiara bereits einmal getroffen hatte, vor gar nicht langer Zeit. Sie stand auf, ging zur Tür und sagte: »Guten Tag, Capitano. Seltsam, dass wir uns hier wiedertreffen.« Der Kapitän blickte sie verdutzt an. »Si?… Wir kennen uns?…« »Die Überfahrt von Livorno nach Marseille«, erinnerte Chiara. »Es ist ein paar Wochen her. Und nun sind wir beide in Berlin.« »Ma di certo!«, rief der Mann. Sein Blick wanderte unsicher zwischen Toto und ihr hin und her. »Das ist Chiara Lisa Morelli«, sagte Toto. »Und dies ist Capitano Maggi.« Chiara reichte dem Kapitän die Hand.
»Ich sah vorhin Ihre Tochter«, sagte sie, »und dachte sofort, sie bereits irgendwo gesehen zu haben. Es war der junge Matrose auf dem Dampfschiff, der meinen Liegestuhl trug.« »Die beiden sind Zwillinge«, sagte der Capitano. »Sie heißt Maddalena und er heißt Pulce. Er ist meine rechte Hand, nein, meine beiden Hände.« Er rief nach ihm. Der junge Mann kam die Treppe herauf, sah Chiara und wurde rot. Sie konnte es sogar bei dem schwachen Licht noch sehen. Sie nickte ihm zu. Er lächelte verlegen. »Wo ist Ihre Begleiterin, Signorina Chiara?«, fragte der Kapitän. »Sie ist zurück nach Italien gereist.« »Und Sie sind hier geblieben«, stellte er zufrieden fest. Dann sagte er auf Italienisch: »Glauben Sie ja nicht, ich hätte Ihre Bemerkung über die archimedische Wasserschraube vergessen!« Er lachte herzlich. Toto schaute Chiara fragend an. Sie zuckte mit den Achseln. »Ein Landsmann, Theodor. Genau wie dieser junge Mann.« Sie sah Pulce an. Der Capitano klatschte in die Hände. »Erklären Sie ihr bitte, Signore Göttling«, rief er, »dass ich der Mann bin, der Sie beide nach Amerika bringt. Oh ja. Na gut, nicht gleich über den Atlantik, aber immerhin, wenn alles funktioniert, nach Hamburg, wo die Schiffe warten. Das ist die neue Zeit, Signorina. Sie sind doch aufgeschlossen und haben für alles Neue ein offenes Ohr.« Und zu Toto: »Sie liest englische Zeitungen!« Chiara war zu müde, um sich zu wundern. »Ihr junger Freund hat sich in den Kopf gesetzt, die Welt zu erobern«, sagte der Capitano Maggi, »Gott sei Dank hat er das nötige Geld. Fortschritt ist teuer. Ich hasse Geld. Aber nur wer diesen Hass überwindet, kommt vorwärts. Erinnern Sie sich an unser Gespräch auf dem Schiff? Die Dampfmaschine? Bene.
Sie treibt die neue Welt voran!« Er blickte Chiara strahlend an. »Nicht wahr, das löst Verwunderung aus, ich verstehe das sehr gut. Wir beide, oder nicht? Und dennoch. Jetzt staunen Sie!« Er blähte sich. Dann fügte er hinzu: »Ich werde einen solchen Dampfmotor in die Gondel einer Montgolfiere bauen.« Chiara holte Luft, als hätte sie so viel geredet. »Der Motor wird gleichzeitig den Ballon mit Heißluft füllen und eine Luftschraube bewegen«, fuhr der Capitano fort, »die das Luftschiff nach vorne treibt. Ich bin ehrlich und bescheiden, Signorina: Nein, ich habe diese Idee nicht selbst gehabt, leider. Monsieur Giffard hat es uns vorgemacht. Aber handeln wir nicht in seinem Sinne, wenn wir ihm folgen? Eine Montgolfiere aufsteigen zu lassen ist einfach. Aber Giffard hat uns gezeigt, wie man sie in eine Richtung treibt. Er hat ein Schiff der Lüfte kreiert, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Basta!« Er schlug sich die Hand vor die Brust und blickte jedem ins Gesicht. Chiara schwitzte plötzlich. »Mit einem Ballon?«, flüsterte sie. »Si.« »Es ist die Zukunft«, sagte Toto. »Das Fliegen!«, hauchte Pulce und bohrte seinen schönen Blick in Chiara. »Amerika!«, fügte der Capitano betont hinzu. Es klang wie eine Losung. »Es handelt sich eindeutig um die größte Erfindung der Menschheit«, sagte er und sprühte Feuer. »Dereinst wird der Himmel nur so wimmeln und surren von lauter reisenden Ballonen. Die Menschen werden an einem einzigen Tag von Livorno nach Neapel fliegen. Brrrsss!«, machte er und strich mit der Hand über dem Kopf die Decke entlang. »Lächeln Sie ruhig, Signorina Chiara, ich habe dennoch Recht. Wie Vogelschwärme werden diese Maschinen über den Himmel jagen. Kriege wird man damit führen, denn
sie überqueren Sümpfe, Flüsse, Berge, Grenzen und den Papst. Zöllner und Soldaten werden auf sie schießen, doch die Kugeln fliegen längst nicht hoch genug…« »Was unsere Reise betrifft…«, wandte Toto ein, dem das Schauspiel vielleicht peinlich wurde. »Ah si!«, rief Maggi. »Selbstverständlich! Wir fliegen von Berlin bis an die Küste. Dort wartet schon das Dampfschiff. Um die Welt, Signora e Signore! Wir werden siegen! Certo!« Damit verließ er seine Bühne (so kam es Chiara vor) und verschwand grußlos nach unten. Seine Kinder folgten ihm. Toto grinste. Chiara ging in ihr Zimmer. Sie wollte nur noch schlafen. Toto lugte herein. »Ich bin zwar ein Dieb, und du musst mich nicht mehr grüßen, wenn du nicht willst. Aber ich danke dir, dass du mich gerettet hast. Der Alte hätte mich sonst totgeschlagen.« »Hast du das Feuer gelegt?«, fragte Chiara. »Traust du es mir zu?« »Si«, sagte sie leise und schloss die Zimmertür. Sie legte sich aufs Bett, löschte das Licht und hörte unten den Kapitän erzählen. Er sprach mit Herrn Liang, dem Chinesen, dessen Stimme ab und zu wie ein Kratzen durch den Boden drang.
In der Nacht schlief sie tief und fest. Als sie morgens erwachte, taten ihr die Glieder weh und sie fröstelte heftig. Draußen war es dämmrig. Toto schlich in ihre Kammer, grüßte sie, strich über ihre Wange und fühlte ihre glühende Stirn. Dann lief er die Treppe hinunter und kehrte mit zwei Filzdecken zurück, die er über das Bett legte. »Du hast ganz rote Augen«, sagte er. »Ich sterbe«, sagte sie.
»Nie«, antwortete er. Er brachte ihr Tee und Medizin. Es war ein bläuliches Pulver, grob und salzig. Es brannte am Gaumen und wollte gar nicht in den Schlund. Toto blieb am Bett sitzen. Sie schlief halb wieder ein, glitt über Weinhänge und dampfende Wiesen, auf denen Schafe oder Schweine lagen. Ein Teich aus Blut! Sie schreckte hoch und schrie. Toto hielt sie fest, sie wurde ruhiger. »Erzähl mir, wie es dazu gekommen ist, dass er dich so geschlagen hat«, sagte sie. »Du bist der Einzige, der mir die Schuld leichter machen kann. Hast du das Feuer gelegt, Toto?« »Ich bin der Feuerengel«, sagte er. »Also ja.« »Also nein!« Er stand auf. »Dass du mir das wirklich zutraust. Glaubst du ehrlich, ich könnte das Leben und die Gesundheit meiner Familie aufs Spiel setzen? Es brannte schon; er hat mich an der Hoftür gesehen und ist sofort auf mich los. Ich habe geschrien und ihn zuerst geschlagen, ja. Ich hatte schon das viele Geld in der Tasche, ein Dieb mit schlechtem Gewissen. Als er mich schlug, habe ich mich nicht mehr gewehrt. Ich wollte mich schlagen lassen, aber er hätte mich totgeschlagen, Chiara!« Sie schloss die brennenden Augen. »Es macht mich alles krank. Ich will diese Leute finden, die meine Eltern getötet haben. Ich möchte diese Männer bestrafen, sie quälen…« Sie schüttelte sich. »Jetzt habe ich mein zweites Elternhaus verloren.« »Kein gutes.« »Nein«, sagte sie schwach. »Es war trotzdem mein Zuhause gewesen, auch wenn dein Vater furchtbar ist und ungerecht und mich vielleicht ausgenutzt hat.« Toto blickte sie nicht an. »Und wenn er tot ist?«, fragte sie.
»Er ist nicht tot.« »Du weißt es nicht.« »Er hat gestöhnt.« »Das bedeutet nichts.« Sie seufzte. »Ich werde nie wieder Ruhe finden. Als ich klein war, gab es die einsamste Zahl von der Welt. Ich habe sie selbst so genannt: die einsamste Zahl von der Welt. Sie tat mir unendlich Leid. Es war eine erdachte Zahl, die keine Umgebung hatte, nichts über ihr, nichts unter ihr. Sie lag wie ein Stern im leeren Weltall und man konnte auch nicht mit ihr rechnen. Aber deshalb war sie nicht weniger liebenswert als jede andere Zahl, im Gegenteil. Obwohl sie nichts konnte und ganz nutzlos war, mochte ich sie sehr. Jetzt fühle ich mich selber wie die einsamste Zahl von der Welt.« Sie hoffte, dass Toto etwas sagte, etwas, das ihr half, sie aufmunterte. Aber er sah sie nur traurig an und spielte mit den Händen. »Kannst du nicht nach Hause gehen, damit wir wissen, was passiert ist?«, fragte sie. »Vielleicht kannst du Jakob oder Luise abfangen, wenn sie aus dem Haus gehen, und sie fragen.« »Auf keinen Fall«, sagte er. »Tu es mir zuliebe!« »Nein.« Er stand auf und ging zur Tür. Chiara war enttäuscht. Sie ließ ihn gehen. »Ruf mich, wenn du etwas brauchst«, sagte er und schloss die Tür. Sie war allein, einsam wie die einsamste Zahl. Sie schlug die Decken zurück, die Zimmerluft war kühl. Sie wollte aufstehen, sie setzte sich und merkte gleich, dass ihr schwindelig wurde. Sie ging zum Fenster. Im Hof standen die Kutschen bereit. Koffer wurden aufgeladen und festgeschnürt, die Pferde gefüttert, Reisende nahmen voneinander Abschied. Chiara dachte an die geplante
Ballonfahrt; es beunruhigte sie. Draußen schrien Kinder, sie hetzten einen Hund mit Ruten und Peitschen. Eine Frau rief sie zur Ordnung, drohte ihnen. Chiara fuhr zusammen. Die Frau sah aus wie… Aber das war unmöglich! Oder doch? Chiara warf sich ihren Mantel über, lief zur Tür und sprang die Treppe nach unten. Der Chinese stand an seinem Schreibpult, er hielt ein Teeglas in der Hand und grüßte ernst. Chiara rannte in den Hof und sah sich um. Die Kinder waren fort und auch die Frau war nicht zu sehen. Die Postillione standen in Gruppen zusammen und rauchten lange, weiße Pfeifen. Sie äugten herüber, tuschelten und pafften helle Kräusel in die Luft. »Was ist?« Sie fuhr herum. Hinter ihr stand Toto. »Ich dachte…«, sagte sie leise und blinzelte. »Da war eine Frau. Ich habe sie von oben gesehen.« »Was?«, fragte Toto ungeduldig. »Ich dachte, es sei… Bianca. Aber das kann doch nicht sein.« »Nein«, sagte er wie nebenbei. Er blickte über den Hof. »Ich bin nur nervös, oder? Ich habe mich furchtbar erschreckt. Bianca ist doch bestimmt längst in Italien. Wie lange ist es her, dass sie gefahren ist?« Toto zuckte mit den Schultern. »Gleich kommt der Capitano Maggi«, sagte er. »Wir haben viel zu besprechen. Wie mächtig man ist, wenn man Geld hat. Er behandelt mich wie einen wichtigen Herrn, dabei sind wir fast noch Kinder.« Sie gingen nach unten und betraten das Kontor. »Dieser Kapitän ist mir ein Rätsel«, sagte der Chinese. »Ist er im Hause?«, fragte Chiara. »Nein. Er selbst kommt selten her. Seine Kinder sind in meinen Diensten. Das Mädchen macht die Zimmer, der Junge
geht in den Ställen zur Hand. Haben Sie gefrühstückt, junge Frau?« Chiara schüttelte den Kopf. »Darf ich Sie zum Speisezimmer führen?« Er machte eine seltsame Verbeugung. »Das Brot ist frisch und das Mus garantiert schimmelfrei.« Er lachte. Chiara dankte höflich. Sie wollte erst nach oben in das Zimmer, um sich umzuziehen. Der Reifrock quälte sie. Dennoch fühlte sie sich jetzt besser als vorhin, nach dem Erwachen. Sie ging hinauf. Wenig später klopfte es. Toto lugte durch die Tür. Er hielt ein helles Bündel in der Hand, hob es beinah triumphierend in die Höhe. Es entrollte sich, es war eine leinene Kniehose. Die Beine baumelten herab wie tote Glieder. »Die ziehst du an«, sagte Toto und warf die Hose im hohen Bogen auf das Bett. »Nein.« »Oh doch! Es ist bequemer und sicherer.« Chiara musste lachen. »Ich geh ja schon«, sagte er. Er schloss die Tür, dann schlug er zweimal gegen das Blatt und Chiara hörte ihn zur Treppe und nach unten gehen. Sie blickte auf das Häuflein auf dem Bett. Sie hatte noch nie eine Hose auch nur mit den Händen berührt. Der Gedanke allein hatte etwas Verbotenes, Unanständiges. Sie stand da und fühlte, dass sie nicht die Kraft hatte, die Hose aufzuheben, als wöge der Stoff einen Zentner. Sie beugte sich vor und tastete. Toto mochte sie getragen haben, sie hatte Falten, Kniffe, Linien. Chiara zog die Hand zurück, rieb nichts zwischen den Fingerspitzen und fühlte doch etwas. Sie schüttelte den Kopf. »Niemals«, flüsterte sie. »Oh doch!«, äffte sie Toto nach. »Ja, wenn es der Herr befiehlt…« Sie bückte sich wieder und hob die Hose vorsichtig am Gürtelsaum hoch, mit nur zwei Fingern
wie einen großen Regenwurm, hielt sie weit von sich entfernt und schaute nur. Behutsam führte sie die Hose näher zu sich, noch näher, sie roch daran, noch immer in gehörigem, zögerlichem Abstand, und ließ sie fallen. Sie fühlte ihr Kleid, das enge Mieder, die hängenden Reifen. Sie holte Luft. Plötzlich straffte sie sich. Sie öffnete das Kleid und zog es aus, das Unterkleid, die Strümpfe ließ sie an. Dann, entschlossen, trotzig, hob sie die Hose auf und warf sie wieder hin. Sie trug den Stuhl vom Bett zur Tür, wo sie ihn dicht unter die Klinke stellte. Sie kehrte zum Bett zurück, nahm die Männerhose, drehte sie, betrachtete sie, ließ die Beine vor sich lose auf den Boden hängen. Sie setzte sich und zog das linke Hosenbein über ihren Fuß, zog den Stoff bis zu den Schenkeln hoch und stand auf. Es wurde warm ums Bein. Sie hob den rechten Fuß und zog die Hose ganz an, absonderlich, eine Hose, dachte sie, in der man springen, tanzen könnte. Sie stellte sich gerade, schloss den Bund mit zwei Knöpfen. Nie würde sie so bekleidet nach draußen in den Flur treten können und gar die Treppe nehmen, an den Hof war nicht zu denken. Es klopfte wieder. Der Schreck fuhr ihr in die Glieder. »Hast du sie angezogen?« »Nein!« »Du lügst!« »Es sieht entsetzlich aus!« »Du wirst dich dran gewöhnen. In Paris tragen alle Frauen Hosen. Es macht sie stark.« »Ich sehe aus wie eine Bäuerin.« »Umso besser. Wie willst du mit einem Kleid in die Gondel klettern?« Er stieß die Tür auf und schob den Stuhl fort. »Was erlaubst du dir!« »Beeil dich, Chiara! Ich laufe in den Hof…« Damit verschwand er und sie stand da, verlegen, ertappt, als hätte sie
gesündigt. Sie tat ein paar bequeme Schritte und band die Hosenenden unter den Knien zu. Sie drehte sich, sie fühlte sich frei. Paris!, dachte sie und musste lachen. Paris, Amerika!… Sie wischte sich die Hände und verließ das Zimmer. Das Frühstückszimmer war dunkel, es hatte keine Fenster. Ein paar Kerzen brannten. Der Tisch hatte ein Gedeck. Es roch nach Tee. Maddalena kam und kicherte, schlug sich die Linke vor den Mund und lief davon. Sofort kehrte sie mit einem Tablett zurück, servierte Tee und Brot. Aus der Küche klangen Stimmen herüber. Chiara horchte. Eine Stimme kannte sie. Sie wurde bleich. Sie wäre gerne aufgestanden und hätte nachgesehen. Aber ihr fehlte der Mut. Sie hörte Bianca sprechen, auf Italienisch, es war kein Irrtum! »Verzeihen Sie!«, sagte sie und stieß den Stuhl unter sich fort. Mit ein paar Schritten war sie im Flur und an der Küchentür. Da war es still. Sie lugte herein. Auf dem Herd köchelte das Essen in den großen Töpfen. Das Mädchen war Chiara gefolgt. »Wen suchen Sie, Signorina!«, fragte sie auf Italienisch. »Kann ich Ihnen helfen?« Chiara dankte knapp. Sie entschuldigte sich und ging zurück, goss Tee in ihre Tasse und starrte lange in die Schlieren an der dampfenden Oberfläche, die das Kerzenlicht in zarte Farben brach und spiegelte. Ab und zu schaute Maddalena aus dem dunklen Flur herein und flüchtete gleich wieder. Jetzt gab es keine Stimmen mehr. Chiara hatte das Gefühl, als wüssten alle, was sie dachte. Als wüssten alle besser noch als sie, was ihr geschah und noch geschehen würde. Nach dem Frühstück traute sie sich nicht in den Flur aus Angst, tatsächlich Bianca zu begegnen. Sie war nicht mehr sicher, ob sie sie vorhin gesehen und gehört hatte oder nicht. Die Erinnerung war trügerisch. Maddalena kam, um das Tablett zu holen. Chiara schlich ihr nach. Das Mädchen drehte
sich verwundert um. Chiara lächelte verlegen, ertappt wie eine Lügnerin. Sie wartete, bis Maddalena in der Küche war, und eilte dann vorbei, ängstlich, von ihr aufgehalten und gefragt zu werden, was sie habe, ob sie sich fürchte oder etwas ähnlich Peinliches. Als sie am Kontor vorüberkam, trat der Chinese heraus und knetete die kleinen, gelben Hände. »Der junge Herr Göttling lässt ausrichten«, sagte er, »dass sein Vater wohlauf sei. Sie wüssten schon Bescheid. Man habe Ihre Sachen aus dem Haus holen und vor die Stadt auf die Tempelhofer Wiesen bringen lassen, wo der Ballon gefüllt werde. Wenn Sie bereit sind, Signorina Chiara, wird Sie ein Wagen dorthin bringen, wann immer Sie es wünschen.« Sie fühlte sich, als hätte jemand sie geohrfeigt. »Und das Feuer? Das Haus?«, fragte sie. Die Augen des Chinesen wurden groß und rund. »Verzeihung, Signorina. Ich kann nur sagen, was der junge Herr mir aufgetragen hat.« Chiara entschuldigte sich höflich. »Wenn ich mich noch waschen dürfte…« Sofort rief er Maddalena aus der Küche. Chiara ärgerte sich. Daran hatte sie nicht gedacht: dass er immer wieder dieses Kind bemühen würde, wenn sie etwas wünschte. »Sind Sie die junge Dame, die so vorzüglich rechnen kann?«, fragte er plötzlich. Chiara nickte überrascht. »Kennen Sie Sanssouci, das Schloss, den Wohnsitz unseres Königs?« »Nein.« Chiara war über die Maßen erstaunt. »Verzeihen Sie, aber wenn Sie wüssten, wie sehr man Sie dort braucht. Der König wäre hocherfreut, Sie kennen zu lernen. Wenn Sie es wünschen, werde ich dafür sorgen, dass…«
»Ich?« »Oh ja, Signorina. Die Zukunft unseres Landes, der ganzen Welt… Wenn Sie mir erlauben würden… Ich habe Zugang zum Schloss, ich kenne Leute.« »Wie sollte ich mich wehren und warum?«, sagte Chiara, immer noch verwirrt und unsicher, wie sie reagieren sollte. »Also Sanssousi, Mademoiselle. Ich weiß Bescheid…« Maddalena tauchte aus dem Flur auf und machte einen Knicks. Ihr Blick traf Chiara, ein seltsam heller, scharfer Blick. Chiara hatte Lust, dem Kind die Zunge rauszustrecken oder es zu schlagen. Sie bat den Chinesen um ein Handtuch. Der winkte wieder Maddalena zu. Chiara ging ihr wütend nach, unsicher, woher der Zorn im Grunde rührte. Das Kind wies sie in eine Kammer und brachte eine Schüssel Wasser, Seife, Tücher. Es machte einen neuen Knicks und schloss die Tür. Chiara wusch sich, fror sofort, rieb sich ab und kämmte sich im Spiegel. Ihr fiel auf, dass sie sich verändert hatte, als wäre sie sich jetzt nach längerer Zeit selbst wiederbegegnet. Ihr Gesicht, die Augen hatten einen neuen Ausdruck. Die Lider fielen tiefer herab, schien ihr. Es machte sie ernst und erwachsen, traurig und dunkel. Sie prüfte die Haut, sie war wie Samt, blass wie immer, oder blasser? Die Lippen waren voller geworden, die Zähne waren gerade und schön, darauf war sie stolz. Nur der Blick war voller Unglück, aber dieses Unglück sollte niemand sehen. Sie lachte in den Spiegel, lächelte sich schmerzlich an. Es ging so. Sie übte es ein paar Mal, bis sie sich sicher fühlte, ein bisschen immerhin. Sie kleidete sich an, öffnete die Tür und schritt mit ihrer Maske den Flur entlang, bis zum Kontor. »Geht es Ihnen gut?«, fragte der Chinese. Chiara lachte hart. »Ich bin so weit, verehrter Herr Liang. Und ich habe keine Angst mehr vor dem Fliegen.«
»Ah ja!«, machte er. Er ging zur Hoftür und rief hinaus, dass ein Coupé flink anzuspannen sei, um die Signorina vor die Stadt zu fahren.
Der Ballon war ein riesiges, windschiefes Zelt aus tausend Flicken, wie es schien. Der Stoff lag auf einem gewaltigen Gestell aus Holz, das vorne, am Feuer, in Augenhöhe seinen Anfang nahm und vierzig Schritte weit allmählich anstieg, bis auf fast dreißig Fuß, und auch entsprechend breiter wurde. An der tiefsten Stelle der Konstruktion stand ein Becken mit glühenden Kohlen. Zwei Helfer fächerten die in wilder Hitze schwimmende Glut und wedelten jeden Funken fort, der dem Stoff näher als zwei Fuß zu kommen drohte. Der Capitano Maggi stand dabei und erteilte allerlei Warnungen und Befehle. Die heiße Luft, vermischt mit brodelndem Qualm, wurde vom Wind und von den Helfern unentwegt in den gewaltigen Stoffschlauch getrieben, der sich an seinem fernen Ende schon ein wenig aufgebläht und angehoben hatte. Chiara war sprachlos. Sie hatte sich den Ballon nicht so riesig vorgestellt, länger als das Elternhaus und gewiss aus so viel Stoff gemacht, dass man dasselbe Haus damit hätte spielend zudecken können. Sie schaute in die sprühende Glut und dachte an die Eisen und die Schmerzen, denen sie entgangen war. Sie fror. Sie tat einen Schritt weiter auf das Kohlenbecken zu und staunte über die große Reisegondel aus festem Korb, die in der Nähe auf dem Feld stand. Aus ihrer Mitte wuchs der Schornstein des Dampfmotors empor. Gleich daneben ragte das Rohr in die Höhe, aus dem der heiße Dampf steigen würde, um den Ballon auch während der Fahrt zu füllen. An der Seite erkannte sie die Luftschraube, deren Drehung den Ballon in Bewegung setzen würde, und gegenüber, am anderen Ende der Gondel, stand hoch und stolz das Ruder, mit dem der Capitano,
wie er ihr bereits begeistert erzählt hatte, dem Luftschiff seine Richtung geben würde, »… in die Zukunft, in die neue Zeit. Das ist modern!«. Das neue Wort kam Chiara albern vor. Es klang wie Mode, als ob das Ungetüm aus buntem Stoff ein Sonntagsrock für einen Riesen wäre, der nach New York spazieren wollte. »Hat er das alles mit deinem Geld bezahlt?«, fragte sie Toto leise, als er vorüberging. »Mit dem Geld deines Vaters, der noch lebt und sich heute auf die Suche nach uns machen wird?« »Mein Vater ist unsterblich«, antwortete er. Er machte ein finsteres Gesicht. Chiara zwang sich zu lächeln, es strengte sie an. Am liebsten wäre sie einfach weggelaufen und hätte sich versteckt. Der Ballon wuchs langsam und mit ihm ihre Furcht. »Ich will das nicht«, sagte sie. Toto blickte sie an. »Was?« »In den Himmel hinauf. Damit!« »Ich dachte, wir mögen uns, Chiara.« »Das tun wir. Aber auf der Erde.« »Und Amerika? Du vertraust mir nicht«, stellte er fest. Sie deutete mit dem Kopf in Maggis Richtung. »Mach dir wegen ihm keine Sorgen. Er ist Ingenieur.« »Wieso können wir nicht, wie andere Leute, mit der Kutsche fahren? Von Berlin nach Hamburg fliegen, das ist unmöglich!« Toto schwieg. Sie konnte seine Enttäuschung sehen und fühlen. Das hatte sie nicht gewollt. »Mag sein, dass so ein Ballon eine kleine Strecke überwindet, davon habe ich gelesen. Aber doch nicht bis nach Hamburg.« »Wir haben den Willen, es zu versuchen«, sagte er. »Darauf kommt es an. Wir sind Helden. Helden gewinnen nichts, wenn sie nichts riskieren.«
Chiara gab sich geschlagen. Alles in ihr sträubte sich. Toto stülpte die Unterlippe vor und hob den Kopf. »Ich will dich nicht zwingen und nicht ängstigen. Wenn du möchtest, kannst du mit dem Wagen reisen.« Natürlich erwartete er, dass sie ihm widersprach. »Lass uns Frieden schließen«, sagte sie. »Und was bedeutet das?« »Dass ich wohl mitreisen werde, in dem Korb.« Die Worte waren wie Steine. »Ich will keine Angst mehr haben. Ich nehme mir vor, an die Zukunft zu glauben.« Er strahlte sie an. »Ich will auch nicht alleine reisen«, setzte sie hinzu. »Es gehört sich nicht.« Er nahm ihre Hand und drückte sie, dass es fast wehtat. Sie hätte sich gerne gegen ihn gelehnt oder gar an ihn gedrückt, um seine Wärme zu fühlen, um ihn zu riechen. Stattdessen sog sie Qualm ein und musste husten. Der Wind spielte mit dem Feuer, die Helfer fächerten vergebens. Der Kapitän erhob die Faust, als wollte er dem Wind drohen. »Und wenn ich doch nicht mit in den Korb steige?«, sagte sie laut, dass es auch der Capitano hörte. »Aber Signorina!«, rief er. »Das wollen Sie uns nicht antun. Wir brauchen Sie! Sie sind das Gefühl, das Weibliche, die Liebe. Ein Luftschiff ohne Weiblichkeit, wie soll das gehen? Impossibile! Ich bitte Sie! Soll ich vor Ihnen auf die Knie fallen? Was soll ich tun?« Maggi fiel tatsächlich auf die Knie. Chiara musste schmunzeln. »Stehen Sie bitte auf, Signore Maggi, um Gottes Willen, die Leute gucken schon. Ich will ja mutig sein, das müssen Sie mir glauben.« »Das ist die Heldin!«, rief der Capitano den Helfern zu. »Sie, Signorina Chiara, führen das Logbuch. Das ist abgemachte Sache. Stellen Sie sich vor, die Eintragungen werden nicht
täglich gemacht, wie auf den Meeren, sondern jede Stunde. Stündlich!« Er riss die Augen auf. Sie nickte. Sie wollte nicht nicken. Sie fühlte Stolz, Beklemmung und Verlegenheit. Etwas in ihr wehte ihr entgegen und etwas anderes trug sie spielend fort, als ob sie träumte. Die Männer schleppten Säcke heran und schütteten frische Kohlen in das eiserne Becken. Chiara beobachtete den Himmel, den der Capitano wortreich lobte. Der Wind werde noch nachlassen und die Luft sich bis zum Mittag erwärmen. Toto hing ihm an den dünnen Lippen. »Heute Morgen war mir, als hätte ich Bianca sprechen hören«, sagte Chiara. »Sag, dass ich spinne!« »Du spinnst, Chiara«, sagte Toto kaltblütig. »Jedenfalls hat jemand in der Küche italienisch gesprochen und es war nicht Maddalena.« Sie spürte, wie angespannt Toto war, wie er sich bemühte, es zu verbergen. In einiger Entfernung war die Menge der Neugierigen mittlerweile stark angewachsen. Bestimmt hundert Leute oder mehr standen im Halbkreis um den Ballon, der wie ein faltiger, bunt bemalter Wal am Boden schlief und atmete. Und immer neue kamen. Aus Richtung der Stadt krochen lange Reihen dunkler Punkte über die Felder auf den Startplatz zu. Zwei Zeichner hatten ihre Blöcke auf den Knien, und weiter hinten hatte ein Photograph sein Stativ errichtet und stellte, von Kindern dicht umzingelt, seine Kamera ein. Er hatte einen jungen Assistenten, dem er laut und aufgeregt Anweisungen erteilte und schließlich befahl, ja den Apparat zu schützen, während er selbst »die Perspektive prüfen« werde und »welcher Winkel angemessen« sei. Chiara war sehr interessiert. Vor Jahren hatte sie von ihrem Vater eine photographische Platte geschenkt bekommen, auf
der ein rabenschwarzer Mann aus Afrika zu sehen war mit stechend weißen Augen und einem großen Messer in der Hand. Sie ging näher heran. Die Kinder stießen einander und tuschelten. Der Assistent war sehr damit beschäftigt, das Stativ mit beiden Händen festzuhalten, während er mit grimmen Blicken um sich schoss. Es war so schwer, sich vorzustellen, dass in dem Apparat das Licht ein Bild erzeugte, das identisch schien mit dem, was in der Wirklichkeit zu sehen war. Was für ein Stoff ist Licht? Ein Gas, ein Pulverzeug aus unsichtbaren Teilchen? Oder ist es gänzlich spurlos, ungreifbar und flüchtig wie Gefühle? Es musste etwas tragen können. Es trug doch einen Anblick, etwas Sichtbares durch eine enge Öffnung in den Kasten, worin es diese Dinge wieder preisgab, gleichsam unverändert, lebensecht und fast wahrhaftiger als an den Orten seiner Herkunft. Zwar hatte sie den Neger nie in Wirklichkeit gesehen, doch sah er auf dem Glas lebendiger aus als jeder Mensch aus Haut und Haaren. Was sie in jedem Falle ganz erstaunlich fand, war, dass die Photographie die Zeit einfing und anhielt. Der Afrikaner auf der kleinen Platte nahm keine Dauer ein, er war ein Zeitpunkt, insofern war er nichts als starres Licht, so wie der Goldfisch, den Chiara einmal am Rande eines Teichs gesehen hatte, eingefroren und bewegungslos, bis ihm die Frühlingssonne wieder Leben schenken würde. Chiara war nicht traurig, dass die Glasplatte für sie verloren war. Das Bild war, bei allem Reiz, doch unheimlich gewesen und insbesondere nachts hatte sie es stets aus ihrem Zimmer in Vaters Arbeitsraum verbannt. Natürlich aus der Angst, dass es womöglich eine andere Sonne gäbe, die diesen Unhold und sein Schreckensmesser ganz unmerklich aus seinem Licht- und Zeiteis hätte auftauen und befreien können…
Der Photograph kehrte zurück und vertrieb die Kinder, erklärte aufgeregt, kommentierte, gestikulierte. Dann beschimpfte er den Assistenten, der »wie ein dummer Ochse« offenbar das Glas der Linse berührt hatte. Eine Flasche und ein Lappen wurden hervorgeholt und die Optik penibel gereinigt und poliert. Allzu gerne wäre Chiara jetzt unter das große, schwarze Tuch getaucht und hätte das noch ungefrorene Dauer- und Bewegungsabbild in dem Kasten in aller Ruhe angeschaut. Aus den Umstehenden löste sich ein hagerer Mann und trat auf den Photographen zu. Der Hagere hielt eine Zeitung in der Hand. Chiara streifte die Zeitung mit einem Blick, das Wort Feuer hielt sie sofort fest und schoss ihr einen Strahl Hitze ins Herz. Der Photograph deutete auf Maggi und der Mann ging ohne Zögern auf den Capitano zu und sprach ihn an. Chiara ging ihm nach, sie behielt die Zeitung im Auge und das schlimme Wort. Der Capitano breitete die Arme aus und redete. Der Mann holte ein Büchlein hervor und schrieb emsig mit. Chiara ging noch näher heran. Maggi beschrieb die Luftschiffreise, als hätte sie erfolgreich stattgefunden. Der Ballon war wieder ein gutes Stück gewachsen und blähte sich enorm. Der Motor kochte. Die Helfer trugen das Gepäck zur Gondel und Chiara zitterte vor ängstlicher Erwartung. Der Korb wurde an das untere Ende des Ballons gefahren, Ketten lagen dort bereit und Seile, Bolzen, Schrauben, Eisenstreben und eine Leiter. Der Wind hatte, wie von Maggi angekündigt, nachgelassen. Die Menschen bildeten jetzt einen dichten Ring. Die brodelnde Luft des Kohlenbeckens strömte ungehindert in die Öffnung des Ballons und trieb ihn sichtbar auf, wie ein Brot im Ofen. Es war ein prächtiges Bild. Der Stoff war nicht, wie es zunächst erschienen war, ein Teppich ordnungsloser Flicken. Je mehr er wuchs, umso deutlicher erkannte Chiara, dass der
Ballon bemalt war. Es waren weiße Wolken, die sie sah, und blaue Luft und schließlich tauchten Gegenstände auf, die sie noch nie gesehen hatte. Es waren Gruppen kleiner Kreuze, Flügeldinger, elf, zwölf und mehr, die sich im Stoff entfalteten. Silbern glänzende Gebilde mit starren Fittichen, ein bisschen wie geschmiedet und verschraubt. Alle sahen es und flüsterten und staunten, und niemand konnte sagen, was es war. Der Ballon stand nun fast senkrecht und machte einen langen, breiten Schatten, der nach Nordwesten fiel und dessen Ränder sich am Boden, dort, wo Chiara stand, sachte hin und her bewegten. Die Sonne blendete. Die Helfer arbeiteten an dem riesigen Gestell, lösten hier und dort den aufstrebenden Stoff, wo er an Enden und Kanten hängen blieb. Dann wurde der Ballon mit der Gondel verbunden, die Ketten klirrten, die Leiter wurde angelegt und der Capitano stieg als Erster die Sprossen empor, hielt am Korbrand vor dem Einstieg inne und wandte sich der Menge zu. »Meine Damen und Herren!«, rief er und alle blickten her. »Sie werden an diesem großartigen Tag Zeugen eines historischen Augenblicks. Dieses Luftschiff wird gleich seine Reise von Berlin nach Hamburg antreten…« Ein Raunen durchlief die Menschenmenge. »Jawohl, von Berlin nach Hamburg, fast vierzig preußische Meilen. Bene! Viele schütteln jetzt den Kopf und meinen, das sei ganz unmöglich. Aber unmöglich ist nichts, wenn man den Willen hat und das Wissen dazu. Es wird bald Apparate geben, mit denen wir den Menschen von Kopf bis Fuß durchschauen können, Geräte, die unsere Stimme und alles, was wir sehen, über die ganze Welt verbreiten, und Maschinen, die wie Vögel fliegen, nein, falsch, sie fliegen schneller und viel, viel weiter…« Hier und da wurde gelacht. Chiara musste an das Orendaskop ihres Onkels denken und wunderte sich für einen Augenblick.
»… und es gibt Männer in dieser Zeit, die für den Fortschritt sogar ihr Leben einsetzen, denn gefährlich ist es schon dort oben in der Höhe.« Er kletterte in den Korb, zog an einem Hebel und ließ einen schrillen Pfiff ertönen, der sich weit über die Tempelhofer Wiesen hin verlor. Chiara fühlte den Pfiff auf der Haut. Toto winkte ihr zu. Sie machte Fäuste und bezwang sich. Sie lächelte, es war erzwungen. Capitano Maggi streckte beide Hände gegen den Himmel und setzte seine Rede fort. »Was ist das Leben des Einzelnen, wenn der Fortschritt der Zivilisation auf dem Spiel steht? Ich habe eine Maschine erfunden und erbaut, die jede bisher gemachte menschliche Erfahrung hinter sich zurücklässt. Nein!«, schrie er beinahe, »nicht diese Montgolfiere, die hier über uns schwebt. Etwas ganz anderes, das Sie erst sehen und erfahren werden, wenn wir in den Wolken sind…« Wieder Raunen und Zischeln. Die Menge bewegte sich in Wellen. Chiara wiederholte leise das Wort, den Namen, von dem sie nicht gewusst hatte, was er bedeutete, Montgolfiere, und dass er überhaupt etwas bedeutete. »Ich glaube nicht an ein Jenseits!«, rief der Capitano plötzlich. »Es existiert nichts jenseits unserer Erkenntnismöglichkeiten. Wenn wir sterben, bleibt nichts zurück, keine Seele, kein Bewusstsein, kein Himmelreich außer demjenigen, das wir heute erobern werden.« Er schwitzte stark. »Die kausalen Wissenschaften räumen endgültig auf mit aller Religion und Schwärmerei. Wir sind lebende Maschinen und die Welt ist eine einzige riesige chemische, physikalische, organische Fabrik. Das ist die Zukunft! Wir leben aus dem Augenblick und für die Gegenwart. Was kümmert uns das Morgen, sofern es auf das Heute noch kein Licht wirft? Was ist die Vergangenheit, sofern
sie nicht die Wissenschaften und Erkenntnis vorantrieb? Nichts. Wir leben heute und heute forschen wir und wagen wir und riskieren unser Leben…« Er bückte sich und hob einen großen Beutel in die Höhe. Der Beutel hatte lange Riemen. Es ist ein Rucksack, dachte Chiara und bemühte sich, den Worten Maggis einen vernünftigen Sinn beizufügen. Es fiel ihr schwer. Viele schüttelten den Kopf, stießen einander an und wechselten Blicke. »Mit dieser Erfindung werde ich die Welt erstaunen«, rief der Capitano. Seine Stimme brach und war längst heiser. »Mit meinem Leben werde ich beweisen, dass der Himmel unsere Heimat ist, genauso wie die Erde und das Meer. Der Mensch ist geschaffen, alles zu erobern, das Schwache unterliegt dem Stärkeren, es ist Natur, Natur!« Er blickte Chiara an. »Nur herein, mein Kind! Wir starten. Grabt die Anker aus! Ich mache Dampf.« Er verschwand unter dem Rand der Gondel und tauchte an dem Motor wieder auf. Chiara ging zu der Leiter. Es war, als sollte sie ein Schafott ersteigen. Toto stand hinter ihr. Sie fasste alle Kraft zusammen und kletterte nach oben. Sie betrat den Korb durch den offenen Einstieg. Toto folgte ihr. Drinnen war es enger als vermutet. Den meisten Raum nahm die Maschine ein, dann die Körbe mit den Kohlen, der Proviant und die Instrumente, mit denen sich die Reise würde überwachen lassen. Die Menschen drängten näher, sie riefen Grüße, Fragen, manche drohten laut, dass alles nur des Teufels sei. Chiara fror. Der Korb stand im Schatten des Ballons, ein Wind strich vorüber und trug die Wärme fort. Im nächsten Augenblick war es vorbei. Der Motor strahlte seine Hitze ab. Der Lärm kroch Chiara in die Glieder. Am liebsten hätte sie sich hingesetzt, ihr war ein wenig übel. Sie stützte sich auf den breiten Lederrand der Gondel und fühlte, dass ihr die Farbe
wich. Der Reporter stand am Fuß der Leiter und notierte unbeirrt. Chiara sah die Zeitung. Sie schaute aus seiner Tasche und drohte herauszufallen. Chiara las das schlimme Wort, Feuer, und auch die Wörter Professor, Institut und gefährlich, fraglich und… Toto sah, was sie sah, und wurde bleich. »Du musst das verstehen«, rief er in den Trubel. »Ich hatte Angst, dass du nicht mitkommst.« Chiara bat den Reporter um die Zeitung und las. Professor G. hieß es, habe bis zum Ende des Feuers unentdeckt in der Remise gelegen und sei erst nach über drei Stunden ins Hospital gebracht worden, wo die Ärzte um sein Leben kämpften. Sein Wohnhaus sei im Parterre ausgebrannt. Chiara starrte auf das Blatt. Sie wollte sofort aussteigen, zurück in die Stadt und den Onkel um Verzeihung bitten. »Mi scusi, Signorina. Ich bitte um Vergebung!«, rief Maggi, als hätte er alles beobachtet und durchschaut. Er schloss den Einstieg. »Aussteigen ist nun leider nicht mehr möglich. Ich verbiete es. Der Himmel ruft und unser Ruhm. Da bin ich unerbittlich, egoistisch wie der Papst.« Er lachte. Der Ballon zerrte fühlbar an der Gondel. Die Männer schoben das Glutbecken zur Seite. Die Halteseile knarrten. Der Ballon bewegte sich bedrohlich, nickte wie ein Riesenschädel, zitterte und drehte sich. Die Leiter wurde fortgenommen. »Nein!«, flehte Chiara. »Chiara!«, sagte Toto. Sie sah es nur in der Bewegung seiner Lippen. Der Lärm schwoll an. Hunde bellten den Ballon an. Die Menschen schrien, klatschten, warfen Hüte in die Luft. »Chiara!« Sie glaubte ihm ja. Sie verstand ihn schon. Aber dass er gar kein Mitgefühl für seinen Vater hatte, das erschreckte sie. Dass ihr Onkel vielleicht im Sterben lag, während sie hier in den Himmel flogen, das bestürzte sie; es war bizarr, herzlos und abscheulich.
»Es ist abscheulich«, rief sie. Es war ihr egal, ob Maggi sie hörte. »Ihr seid abscheulich!« Toto blickte verärgert. »Schäm dich, Theodor!«, rief sie. »So geht man nicht mit seinem Vater um.« Sie konnte sehen, wie er in sich wühlte. In diesem Augenblick gab es einen Stoß, der Korb bewegte sich. Er schwebte dicht über den Boden und pendelte ein paar Mal hin und her. Die Männer draußen hielten ihn an Seilen fest. Maggi salutierte. Dann ließen sie die Seile los, die Erde sackte weg und mit ihr alle Menschen, Dinge, Hunde und Gewächse. Die Welt! Chiara wischte sich die Tränen ab. Der Korb stieg auf und die Gesichter wurden kleiner. Dann, jäh, sah sie ein Gesicht, das ihr wie eine scharfe Klinge in den Körper fuhr. Sie sah Bianca. Es war Bianca! Sie irrte sich gewiss nicht. Es war die eine Freundin, die ihr noch geblieben war. Sie fasste Totos Arm und deutete nach unten. Er sah Bianca ebenfalls. Sie war es zweifellos. »Sie ist doch nach Italien abgefahren«, sagte er laut in das Zischen und Stoßen der Maschine. Chiara nickte erschöpft. Sie dachte nichts, sie fühlte nichts mehr. Sie träumte, dass sie flog. Es war ganz sicher nicht die Wirklichkeit, was sie erlebte. Die Erde schwand. Auch Bianca war jetzt in dem Mosaik der Menge nicht mehr zu erkennen. »Wirklich, oder?«, rief sie. Toto zuckte mit den Schultern. Sie stiegen. Der Capitano schaufelte Kohlen. Er drehte an Ventilen, die heißen Dampf entließen. Die Erde drehte sich. Die große Stadt streckte sich, sie lag wie Spielzeug da. Chiara hielt sich fest und schluckte angestrengt. Sie war nah daran, sich zu übergeben. Die Felder unten waren hundert bunte Tücher. Der Himmel war aus Glas. Der Schwindel riss an ihr, obgleich sie von dem Anblick überwältigt war. Der Startplatz
war nur noch ein auseinander strebendes Gewimmel. Schon hatten sie den Rand der Tempelhofer Wiesen überflogen, ein Dorf lag in der Tiefe, Kuchenhäuser, Mäusezäune, Kühe wie Insekten, Schweine wie aus Marzipan. Die Welt schien von hier oben federleicht zu sein. Das ganze Leben hatte kein Gewicht mehr und gar nichts schien bedeutend. Die Bäume waren grüne Sträuße, die Menschen Zwerge. Je länger sie hinunterschaute, umso leichter wurde ihr. »Das habe ich gemeint«, sagte Maggi. »Die Höhe reinigt das Gemüt, sie bläst den Staub der Wirklichkeit davon. Hier atmen wir, hier fühlen wir…« Er betätigte einige Hebel. Der Motor hörte auf zu stampfen. Es wurde still. »Gott!«, sagte sie laut. Toto sah sie an, wischte sich mit der Hand durch das Gesicht. Er hatte schwere, träge Augen. »Die Stille jetzt, dieses Blau…«, fügte sie hinzu. »Nein, bitte, keine Religion!«, befahl Maggi voller Leidenschaft. »Nicht hier im Himmel! No!« Er klatschte und begann zu tanzen. Die Gondel schlingerte.
Es war, als schwebte sie im Innern einer Kugel, einer ungeheuer großen. Die Farbe der Luft war schwefelig und es ging kein Wind. Das Land, statt am Horizont nach unten wegzutauchen, stieg ringsum in der Ferne an, höher und höher, bis sich die Farben und Konturen im gelben Dunst verloren. Es war das Innere des Ballons, Chiara blickte durch eine Öffnung vor sich in die Gondel. Der Ballon war übergroß, die Öffnung war ein Krater, die Gondel war ein mächtiges Schiff. Sie träumte bloß… Und als sie sich umwandte, saßen da siebenundzwanzig hohe Zahlen an einer langen Tafel. Die Gestalten glänzten, als wären sie mit Öl berieben worden. Die Zahlen speisten. Es fehlte ihnen nichts. Der Wein war edel, der
Braten duftete verführerisch, der Käse schmeckte köstlich, das Obst war regenfrisch und türmte sich in hohen, zart bemalten Schalen. Chiara grüßte höflich. Die Zahlen tupften sich die Lippen, legten ihre Tücher schön gefaltet an die Seite, synchron und einstudiert wie ein Ballett im Sitzen. Chiara sah die Zahlen wartend an. Sie fragte, ob es einen Grund gab, sich zu ängstigen. Die Zahlen lachten. Nein, keine Sorge!, riefen sie. Das Haus sei sicher, die Welt solide und das Leben fest. Und dennoch: Die Zahlen bluteten aus Mund und Nase. Sie baten um Verzeihung für die Unannehmlichkeit. Oh ja, die Menschen seien kalt und fühllos; Zahlen seien für sie nichts als Mengen, Größen, keine Liebe, keine Freundschaft, kein Gefühl. Als ob das Rechnen nur berechnend wäre, herzlos, ohne Lebensglut. Als ob nicht jede Zahl ein eigenes Wesen sei mit Wünschen, Hoffnungen und einer Sehnsucht, die bloß nicht menschenähnlich sei. Jeder wisse doch, wie tief verwurzelt Zahlen sind, wie sie versteckt, verstrickt in anderen Zahlen leben, sich trennen, winden, in die Freiheit streben. Sie, Chiara, leide mit den Zahlen mit, das wisse man; und trotzdem müsse sie für eine Zeit erfahren, wie es ist, wenn sich die Zahlen plötzlich weigern, sich widersetzen und den Aufruhr planen. Man werde sich entziehen, werde rebellieren, sich verweigern, schlimme Fehler machen. Sie, Chiara, solle sich nicht wundern, wenn sie nicht mehr rechnen könne. Das sei die Warnung. Sie müsse jetzt nach unten springen, durch die Öffnung in die Gondel, in den Korb mit der Maschine, und sich beeilen, weil sich in diesem Augenblick ein Unglück nähere… Da glitt sie durch die Öffnung des Ballons und stürzte in den Korb. Toto lag am Boden, er schlief. Sie zog sich hoch und sah, wie Signore Maggi außen an der Dampfmaschine arbeitete
und schimpfte. Sie hörte, wie er rief, und seine Stimme wurde leiser, dünner, von ferne rufend. Er fiel! Er stürzte auf die Erde nieder! Chiara beugte sich, so weit sie konnte, vor. Sie schrie. Ein Wald zog unter ihnen hin, ein Teich und Wiesen. Sie hörte nichts mehr. Toto wurde wach. Er war verwirrt. Sie stützte ihn. Die Gondel, jetzt leichter als zuvor, flog höher in den Himmel, unaufhaltsam, wie es schien. Schon zogen Wolken dicht vorbei wie Nebel und zum Greifen nah. Das Luftschiff trieb dahin, der Dampfmotor stand still und zischte nicht mal mehr. Sie stiegen weiter in die Höhe. Die Erde wurde fahl und bittere Eiseskälte blies in ihre Kinderherzen die schiere Todesangst hinein…
»Ich kann es nicht mehr… Ich kann nicht mehr rechnen«, sagte Chiara. Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. »Der Capitano ist aus dem Korb gestürzt und ich kann nicht mehr rechnen! Wo ist die Stadt? Ich sehe nichts. Wir sind tausend Fuß hoch und werden sterben.« Toto machte eine Grimasse. »Wenn ich bloß mit der Maschine umgehen könnte«, rief er. »Wie man das Ding zum Laufen bringt.« Er stand auf, legte hier und da die Hände an die verschiedenen Hebel, drehte an den Ventilen. Nichts passierte. Ein Bussard näherte sich dem Ballon, ein zweiter kam hinzu. Sie flogen weite Kreise, ohne einen Flügelschlag. Sie blickten her, entfernten sich und stürzten nieder, kletterten im Wind erneut empor. »Ich kann nicht mehr rechnen«, sagte Chiara. »Ich habe es geträumt. Wieso sind wir beide eingeschlafen, hier oben, und Signore Maggi hat uns nicht geweckt? Ich verstehe das nicht.« »Was verstehst du schon!«, schnaubte Toto. Sie sah ihn erschreckt an.
»Ich glaube, der Ballon hat eine Leine«, sagte er, »mit der sich oben eine kleine Klappe lösen lässt. Wenn ich bloß wüsste, welche Schnur es ist.« Er fingerte an den verschiedenen Leinen herum, die aus dem Ballon nach unten in die Gondel führten. Plötzlich kletterte er an der Maschine hoch. »Toto! Bitte nicht! Ich habe Angst!« »Sei still!« »Nein!« »Warum müssen Mädchen immer stören?«, schimpfte er. »Ich habe es satt! Sollen wir bis in alle Ewigkeit nach oben steigen?« Er versuchte, durch die Öffnung in den Ballon hinaufzusehen. »Du fällst herunter!« »Ich falle nicht! Ich halte mich fest. Ich weiß nicht, warum Maggi abgestürzt ist. Vielleicht hat er sich fallen lassen.« »Sag so was nicht, Toto!« »Ich sage, was ich will!« »Ich habe Angst um dich!«, rief Chiara. »Hör auf, Angst um mich zu haben. Ich hasse das! Wir sind im Himmel, wir sind vielleicht so gut wie tot. Ich muss das tun!« Sie zuckte zusammen. Sie biss sich auf die Zunge. Ein Schauer lief ihr durch den Körper. Sie schämte sich und mochte Toto kaum mehr ansehen. »Ich wusste nicht, dass du so hässlich sein kannst«, sagte sie nach einer Pause. »Und dass du mich nicht magst.« »Hör auf damit!«, rief er herunter. »Du bist meine Cousine.« »Und wenn schon.« »Man sucht sich seine Verwandten nicht aus, oder?« »Wie böse du bist!« »Sei still!«
Sie schwieg. Ihr Mut versiegte. Sie knirschte mit den Zähnen, ärgerte sich über sich selbst. Toto hing wie ein Affe an den Stangen und wedelte mit den verschiedenen Schnüren. Sie verfolgte jede seiner Bewegungen. Für einen Augenblick hasste sie ihn! »Ich hasse dich, Toto!« »Von mir aus, Chiara!«, rief er und lachte grell. Sie hätte ihn jetzt töten können. Sie brauchte nur sein Bein zu fassen und ihn zu stoßen… »Ich habe dir doch nichts getan«, rief sie. »Meine Eltern sind gestorben und ich wurde nach Berlin gebracht. Verwandtschaft ist Schicksal, du hast es selbst gesagt.« Er antwortete nicht. Sie dachte an die Eltern im Himmel und wie nah sie ihnen war. Wie schön es wäre, jetzt eine schaurig süße Entdeckung zu machen, vielleicht ein großes Himmelstor, das dorthin führte, wo die Toten waren und die Seligen. Was wäre, wenn sie plötzlich Engel sehen würde? Wie Bussarde womöglich, nur weiß und menschlich, mit gütigen Gesichtern, hellen Stimmen und goldenem Gefieder! Das Himmelreich, wie Monsignore Albertini es beschrieben hatte, mit blühenden Terrassen, Honig, Milch und weißem Brot in Fülle, Orangen und Rosinen säckeweise. Es war, als fühlte sie bereits den süßen Schreck. Das Paradies! Der liebe Gott darin, die herrliche Madonna, das Jesuskind! All die wunderbaren Gestalten, die man nie mit eigenen Augen sah. Wenn sie sie jetzt plötzlich doch sah, wie bei einem Wunder, die toten Eltern gar!… »Und Amerika?«, rief sie Toto zu. »Du willst mich doch mitnehmen. Wir sind ja auf dem Weg!« »Ganz sicher nicht«, entgegnete er grimmig. Er zog eine lose Leine herauf und schlug mit dem Ende nach ihr. »Ich glaube, Frauen und Mädchen eignen sich nicht für Amerika. Da bin ich sogar sicher…«
Chiara sprang zur Seite, sonst hätte er sie getroffen. Er lachte von oben herab. »Wärst du mal besser daheim in Italien geblieben. So gescheit und behände, wie du bist, wärst du alleine klargekommen. Wozu brauchst du eine neue Familie? Und sonniger ist es dort auch und nicht so viele dumme Wolken…« Sie wandte sich ab. Sie ließ ihn fuchteln und suchen. Sie hielt sich die Ohren zu, sie wollte seine Stimme nicht mehr hören. Sie schaute hinaus, ihre Beine zitterten, die Hände. Sie hatte Lust, ihre Wut hinauszuschreien und ihn zu schlagen. Was dachte er sich, was fühlte er? War es der Schrecken, dass der Capitano verunglückt war? Sie konnte selber nicht begreifen, was geschehen war. Das Schlimmste war das Gefühl, dass sie nicht mehr rechnen konnte. Ja, es war sogar Gewissheit. Sie dachte an ein paar Zahlen, legte sie in Gedanken zurecht, sah sie verschwommen und scheiterte. »Was habe ich dir denn getan?« »Du bist hier!«, rief Toto. »Das reicht.« Chiara wischte sich die Wangen und sagte nichts mehr. Der Ballon hatte aufgehört zu steigen, sie sah es an den Wolken. Toto hatte es geschafft. »Und dieses gestohlene Geld«, rief sie. »Ich hasse es! Ich will nichts mehr davon hören.« »Ich hatte nie die Absicht, es mit dir zu teilen«, sagte er und kletterte herunter in den Korb. Er vermied es, ihrem Blick zu begegnen, setzte sich in eine Ecke und zog die Knie ans Gesicht. »Wenn ich nicht länger fähig bin zu rechnen«, sagte sie nach einer Pause, »bin ich von jetzt an ein ganz anderer Mensch. Und was bin ich denn noch wert? Dein Vater mochte mich nur wegen des Rechnens, er hätte mich sonst nie bei sich aufgenommen.« »Da siehst du…«
»Was?« »Wie schlecht er ist«, rief Toto. »Ich glaube nicht an seinen Familiensinn. Ich wette, er hat Montgolfier auf unsere Fährte gehetzt und Bianca steckt mit ihnen unter einer Decke.« »Toto!« »Oh ja.« »Das nimmst du sofort zurück! Nicht Bianca!«, schrie sie. Sie sprang zu ihm und schlug ihm ins Gesicht. Er stieß sie weg. Die Gondel pendelte. Sie kreischte vor Wut, schlug neu auf ihn ein. »Bin ich nichts für dich, nur ein dummes Kind?« Sie ließ sich fallen und weinte. Im Weinen versuchte sie, Zahlen zu empfinden, wie sie es ihr Leben lang getan hatte. Es wollte nicht gelingen, es war ein Durcheinander, alles schwirrte, dass ihr übel wurde. Der Korb schien sich zu überschlagen. »Toto!«, rief sie. »Du musst mir helfen!…« Lass mich nicht im Stich!, wollte sie noch rufen, verbot es sich aber, als hätte ihr Stolz sie plötzlich geschüttelt. Sie starrte ihn zornig durch die Tränen an und schlug mit der Hand auf den Boden der Gondel. »Die Zahlen haben mich verlassen.« »Du spinnst doch.« »Hast du noch nie Zahlen gefühlt, ihren eigenen Klang gehört? Hast du keine Phantasie? Ich bin von Zahlen verfolgt worden, glaube mir. Manchmal kann ich sie schmecken…« Er tat, als träte er nach ihr. »Etwas ist um mich, in meinem Rücken«, sagte sie. »Ich sehe es nicht, aber ich fühle es. Und was ist, Toto, wenn es jemanden gibt, der meine Eltern ermordet hat, nur damit ich nach Berlin komme und hier bleiben muss?« Toto verzog den Mund. »Für so wichtig hältst du dich? Obwohl, meinem Vater traue ich zu, dass er seine eigene Schwester töten lässt.« Er spuckte über den Rand nach draußen.
Chiara schüttelte sich, als ließen sich die Wörter einfach abwerfen. »Aber wenn dein Vater darin verwickelt ist«, sagte sie. Die Tränen liefen ihr weiter aus den brennenden Augen, »dann war es Rache, dass ich ihn erschlagen habe…« »Eben.« »Ich habe meine Eltern gerächt und dich.« »Das hast du gut gemacht.« Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. »Lass das sein!«, forderte Toto. »Das ist mehr Theater, als ich ertragen kann. Dir fehlt das Publikum, der Vorhang ist geschlossen. Warte, bis wir gelandet sind.« Er war so grausam! Hätte sie ein Messer in der Hand gehabt, keine Sekunde würde sie zögern, ihn zu töten, mit tausend Stichen, tausend Schnitten, bis er leer geblutet wäre. Sie lag erschöpft da. Sie konnte ihre Arme nicht mehr heben, sie würde nie mehr aufstehen können. Wozu noch weiterleben? Warum stürzte die Gondel nicht einfach zur Erde… »Ich will tot sein«, rief sie. Er lachte. Es tat so weh, als hätte er sie mit einem Messer aufgeschlitzt. »Vielleicht will ich ebenfalls sterben«, sagte er. »Ich bin wie mein Vater. Er liebt es, andere zu quälen, zu erniedrigen, sie zu verletzen, zu beleidigen. Das ist mein Blut, das ist meine Herkunft, ich bin genauso. Besser, du gehst mir aus dem Weg!« Chiara ließ ihn reden. Sie zählte angestrengt. Aber die Zahlen wichen ihr aus, schlugen nach ihr, beleidigten sie. Alles war sinnlos, ziellos, kalt. »Mein Vater glaubt nur ans Geld, an Ruhm und Macht«, sagte Toto. »Gar nichts ist ihm heilig, er hat keine Werte; das ist mein Vater, er ist monströs. Ich bin monströs, wir sind von einem Blut. Als du zu uns kamst, glaubte ich, dass ich mich retten könnte und dass ich vielleicht anders bin. Ich bin es
nicht. Ich fühle das. Ich fühle, was mein Vater fühlt. Ich bin genauso schlecht, verwerflich und korrupt. Lauter Schmutz, Kot und Abschaum!« Die Gondel zitterte. Chiara spürte, dass sie sanken, es drückte in den Ohren und im Kopf. Sie stand auf und blickte hinaus. Sie überflogen einen Wald, ein Dorf, Höfe, Wege, Wiesen. Die Erde streckte sich. Zwei Reiter trabten durch ein Feld, sie schauten herauf und winkten, hielten spielend Schritt. Die Hufe trieben Staub hoch, den der Wind verwehte. Von Berlin war weit und breit nichts zu erkennen. Chiara fror, sie summte leise, kniff sich in den Arm. Es war ein grausiges Gefühl, der Erde wieder näher zu kommen, beruhigend und doch bedenklich. Toto war noch immer zornig. Sie mochte ihn nicht ansehen. Nicht, dass er ihr nicht Leid tat; es war ein Misstrauen in ihr, ein schleichender Ekel vor seinem Selbstmitleid, mit dem er sich hier panzerte. Natürlich hoffte er, dass sie ihm zusprach, ihn auffing, tröstete, dass sie erklärte, ihn zu mögen, und keine Zweifel hege, dass er besser als der Vater und Onkel sei. Sie hatte keine Lust dazu. Sie fühlte sich entfernt von ihm. Er hatte sich von ihr entfernt, nicht umgekehrt! Es waren seine Worte, seine Abwehr, seine Wut gewesen, mit der er sie ins Herz getroffen hatte. »Jetzt verstehe ich!«, rief er plötzlich und nestelte an seinem Gürtel. »Capitano Maggi ist nicht aus der Gondel gestürzt, er ist gesprungen, er lebt und flüchtet. Er hat mein Geld gestohlen! Mein Vater hat nicht Montgolfier an unsere Fersen geheftet, sondern ihn, den feinen italienischen Signore, von Anfang an. Ich habe geglaubt, einen Freund gefunden zu haben, einen Vertrauten.« Er schlug mit Wucht auf den Rand des Korbs. Chiara zuckte zusammen… und gleich ein zweites Mal… Denn irgendetwas, draußen, schwirrte laut, pfiff und peitschte durch die Luft. Dann flog ein Knall herauf.
»Jemand schießt auf uns!«, rief Toto. Chiara war sofort auf den Beinen. Die beiden Reiter standen auf dem Feld. Der eine hielt ein Gewehr im Anschlag. Ein zweiter Schuss echote herauf, diesmal ohne das Geräusch der Kugel. »He!«, schrie Toto und winkte aufgeregt. »Das könnte uns den Kragen kosten!« »Oui!«, schallte es zurück. Die Männer lachten. Der Ballon war noch etwa hundertfünfzig Schritte hoch. Die Reiter winkten, als gelte es zurückzugrüßen. Schon sauste eine neue Kugel durch die Luft und schlug in die Maschine ein, es war ein heller, lustiger, metallener Klang. »Messieurs!«, rief Toto. »Ihre Kugeln töten uns. Wir kommen aber sowieso, die Schießerei ist nicht vonnöten.« »Man kann nie sicher sein!«, lautete die Antwort. »Wer, bitte, sind Sie?«, fragte Chiara. »Vieux copains! Nur Freunde, die euch Gutes wollen!« Ein vierter Schuss erklang, die Kugel traf die Gondel. Chiara schrie. Toto duckte sich und wagte nicht mehr aufzustehen. »Bitte!«, brüllte er. »Sie sehen doch, dass unser Luftschiff niedergeht…« »Wer weiß?« Die Männer ritten wieder, jetzt hörte man die Hufe schlagen. Chiara kauerte am Boden, Toto lugte durch ein Loch im Korbgewebe. »Wir wissen«, rief einer der Männer, »dass Reisende, wenn sie sich durch die Luft bewegen, sehr wohlhabend sind. Wir glauben nicht, dass wir uns irren.« Es knallte abermals. »Außerdem habe ich in meinem ganzen Leben noch nie auf ein so wunderschönes Ziel gezielt, auf ein so himmlisches, wenn Sie verzeihen!« Die neue Kugel fegte durch den Ballonstoff, es war ein leises, arglos klingendes Geräusch. »Wir bleiben liegen!«, befahl Toto.
Chiara wäre niemals aufgestanden. Sie schloss die Augen. Sie sah den Tod vom Himmel kommen, er trug ein langes, rotes Schwert. Er lockte sie, er lächelte und bot ihr Brot und Kuchen. Die Zeit blieb stehen, ihr Herz zersprang und keine Engel kamen ihr zum Trost und sangen. Plötzlich gab es einen starken Ruck. Äste krachten, Laub wirbelte umher. Chiara wurde mit Gewalt gegen das Geflecht geworfen, dann fiel der Korb ein Stück, der riesenhafte Stoff ging langsam auf sie nieder. Toto schrie vor Schreck. Noch einmal stürzten sie und blieben wieder hängen. Endlich war es ruhig, es schneite purpurrote Buchenblätter. Sie blieben reglos liegen und horchten angespannt. Toto hielt plötzlich ein Messer in der Hand. »Nein, bitte!«, flüsterte Chiara. »Oh doch! Und wie!«, zischte er. Er drehte sich dem Wandloch zu, er sah hinaus. Im selben Augenblick hörte man aus der Entfernung Pferdeschnauben. Chiara hatte Schmerzen in der Stirn vor Angst, sie knetete die nassen Hände. Toto hielt das Messer fest. Sein Körper pulste, seine Schläfen waren straff gespannt, die Augen rot vor Zorn. Draußen kamen Schritte näher. Der Korb fing an zu knarren, knirschen. »He, ihr da! Was ist? Habt ihr euch die Hälse gebrochen?… Umso besser!« Die Stimmen kamen von steil unten, leises Lachen. Toto legte einen Finger an den Mund. Chiara roch die Pferde, hörte, wie sie tänzelten und mit den Nüstern brausten. Sie nickte atemlos. »Ich kann auch noch mal schießen, um klarzustellen, dass ihr nicht mehr lebt. Zur Sicherheit.« Der Abzugshahn klickte trocken. Die beiden Räuber sangen: »Wir schießen jetzt, wir schießen gern! Wir schießen nah, wir schießen fern… Ach, ihr Guten, habt ihr denn Gott auf eurer Seite? Glaubt ihr tatsächlich, dass ihr rechtens dort oben durch die Lüfte fliegt?
In Arabien würde man euch köpfen. Was für eine ungeheure Anmaßung! Haben Menschen etwa Flügel? Gott hat ja Geduld mit euch, aber was zu viel ist, ist zu viel.« Es knallte. »Bitte!«, rief Chiara. Sie biss sich auf die Zunge, dass es blutete. Toto hielt das Messer bereit, die Knöchel traten weiß hervor. In diesem Moment machte der Korb eine jähe, seitlich drehende Bewegung, rutschte nach vorn und stürzte, so schnell und leise, dass es kaum fühlbar war, senkrecht nieder. Es krachte fürchterlich, die Äste barsten. Es gab einen dumpfen Schlag, dann war es mäuschenstill. Ein Kuckuck rief. Es klang wie Lachen. Chiara raffte sich zusammen, der Schreck glitt von ihr ab, die Beine und der Nacken taten weh. Toto war schneeweiß. Der Kuckuck lachte noch einmal. Toto stand auf. »Jedenfalls sind wir am Boden«, sagte er und blickte in die Höhe. Der Ballon, die Reste davon hingen aufgerissen im Geäst. Toto lehnte sich vorsichtig hinaus und sah nach unten. Erschreckt fuhr er zurück. »Komm, hier heraus!« Er drängte Chiara an den anderen Rand der Gondel. »Beeil dich!« Der Korb stand schief. Chiara kletterte hinaus. Toto reichte ihr die Taschen. Dann stieg er selber aus. Chiara blickte in die Ferne, ängstlich ahnend, was sich unter ihnen zugetragen hatte. Erst als sie beide schon ein Stück gegangen waren, schauten sie zurück. Unter der schweren Gondel sah sie die beiden toten Männer liegen, unkenntlich aus der Ferne und umso schlimmer in der Phantasie. Nichts regte sich, man hörte keinen Laut. Die beiden Pferde grasten in der Nähe. Chiara betete. Toto ging zu den Pferden. Chiara nahm ihre letzte Kraft zusammen und folgte ihm. Sie gingen lange, mit großem Abstand
voneinander. Chiara rieb dem Fuchs den warmen Hals und sah sich manchmal um. Die Rotbuche und das Unglück wurden kleiner, bis sie verschwunden waren. Nur hinterm Horizont verschwunden, denn in den Seelen war das Bild jetzt riesengroß.
Das bengalische Gefühl
Toto führte den Rappen, Chiara den Fuchs. Als es dunkel wurde, sahen sie ein Dorf, wo man die Tiere versorgen lassen konnte. Womöglich nannten die Bauern einen Kaufpreis und man würde sie dalassen können. Chiara meinte, dass sei Diebstahl, man solle sie der nächsten Poststation anvertrauen. Toto lachte. Die Pferde seien die gerechte Wiedergutmachung für die erlittene Bedrohung, für die Schüsse und die schlimme Angst. Nach einer Weile war das Dorf erreicht. Sie fragten nach Berlin und erhielten Auskunft, dass die grobe Richtung stimme. Zu Fuß indessen seien sie noch einen ganzen Tag entfernt. Der Wirt des Gasthofs und seine Gäste gingen zu den Pferden. Die Leute machten einen großen Kreis, es wurden mehr. Sie tuschelten und blickten seltsam. »Woher seid ihr?«, fragte der Wirt. »Berlin«, antwortete Toto. »Und die Pferde?« »Gefunden.« »Niemand findet Pferde«, sagte der Wirt und kratzte sich ausführlich. »Doch, draußen in den Feldern, sie standen da…« »Ich denke mal, ihr habt sie eher gestohlen.« »Wieso sollten wir sie hierher führen, wenn wir sie gestohlen hätten?«, sagte Chiara. »Weil ihr dachtet, wir zahlen einen guten Preis.« Der Mann blickte in die Runde. Die anderen stimmten zu. »Wir kennen die Pferde. Sie gehören Friedrichsen aus Hermewitz, dem haben sie vor ein paar Tagen einen Schwarzen und einen Fuchs
geklaut, genau so, wie sie dort stehen. Ihr seid nicht aus Berlin, ihr habt in Brückenberg geschossen, auf Bauern, ja, geschossen, mit dem Gewehr…« Chiara fasste Totos Arm und hielt sich fest. »Also?…« Der Wirt trat näher, holte ein kurzes Seil aus der Rocktasche und hielt es Toto unter die Nase. »Ich sage, ihr seid Pferdediebe!« Toto legte die Hände auf den Rücken, der Mann fesselte ihn. Chiara sah ein, dass es sinnlos war, sich zu wehren. Sie dachte daran, ohnmächtig niederzusinken, aber das würde nichts ändern. Sie legte ebenfalls die Hände hinter sich und fühlte, wie der Mann das Seil fest um ihre Handgelenke band. Jemand nahm die Taschen von den Sattelbändern. Die Pferde wurden weggeführt. Dann setzte sich der Tross in Bewegung, die Dorfstraße hinauf, bis vor ein schiefes Haus. Der Wirt gab den anderen ein Zeichen. Nur er selbst und die beiden Gefangenen traten durch die Tür. Die Stube war niedrig, dunkel und verrußt. Es roch nach kaltem Pfeifenrauch und Schnaps. Hinter der Tür saß eine alte Frau mit schwarzem Kopftuch. Ihr kleines Gesicht lugte hervor. Sie zwirbelte an einem Rosenkranz und kaute. Auf dem Tisch brannte eine Kerze. In einer Schale lag ein Stück Gottvaterbrot, es war grau und hart und hatte tiefe Risse. »Es sind Friedrichsens Pferde, die aus Hermewitz«, sagte der Wirt. »Die beiden wollten sie verkaufen.« »Das ist nicht wahr!«, wandte Toto ein. »Sei still!«, fuhr ihn die alte Frau hart an. »Ihr hättet sie verkauft oder getötet und davon gegessen. Aber es sind schöne, wertvolle Tiere!« Sie machte eine wegwischende Handbewegung. Der Wirt drängte die beiden zu einer schmalen Bank. Sie setzten sich. Die Alte murmelte. Chiara wollte etwas sagen,
aber der Wirt schlug ihr auf den Mund. Toto wäre um ein Haar aufgesprungen. »Ihr dachtet, ihr seid weit genug von Hermewitz entfernt«, sagte die Alte. »Ihr dachtet, hier kennt niemand die Pferde und ihr könnt sie feilbieten. Aber Pferdediebstahl rennt schneller als Geburt und Tod.« »Wir sind keine Diebe!«, rief Toto empört und fing sich vom Wirt eine Ohrfeige ein, die ihn von der Bank herunter vor die Wand warf. »Du schweigst, wenn Anastasia spricht!« Die Alte blickte nicht auf, vielleicht war sie blind. »Wisst ihr nicht, dass Kinder, wenn sie sündigen, noch härter bestraft werden als Erwachsene? Denkt nur an die Martern der heiligen Corona oder der heiligen Reparata! Was habt ihr euch dabei gedacht? Ich sehe nicht mehr viel, aber ich durchschaue euch genau.« Sie begann wieder unverständlich zu murmeln. Der Wirt fing an, in Totos Taschen zu wühlen. Toto wich zurück, der Wirt schlug ihn. Er fand den Ledergürtel unterm Hosenbund, wo sich die eingenähte Geldtasche befand, riss die Tasche auf. »Leer.« »Werft sie ins Loch!«, befahl die Alte. Der Wirt ging zu ihr und küsste ihre Hand. Dann stieß er die beiden Gefangenen wütend aus der Stube, nach draußen, wo noch die anderen Männer standen und gewartet hatten. Einige trugen Fackeln. Es war stockdunkel geworden, nicht einmal die Bäume oder Giebel waren zu erkennen. Die beiden Gefangenen wurden eingekreist und abgeführt. Die Straße hatte tiefe Löcher, Chiara stolperte ein paar Mal und wurde hochgerissen. Vor einer Scheune machte der Gerichtszug Halt. Die Fackelmänner gingen hinein. Sie stellten sich bereit, beleuchteten den Boden. In der Erde öffnete sich ein dunkles
Viereck, ein Sandloch eigentlich. Chiara fröstelte. Der Wirt stieß sie nach vorne, sie musste springen und fiel hin. Toto folgte ihr, er zitterte vor Wut. Ehe sie sich versahen, schoben die Männer schwere Bohlen auf das Loch; die beiden duckten sich, es war beinah, als würden sie begraben. Chiara war so überrascht, bestürzt von dieser Grausamkeit, dass sie nichts sagen konnte. Nur Toto fasste sich und schrie: »Wir haben nichts getan! Zwei Männer haben auf uns geschossen. Sie sind tot. Es waren ihre Pferde!« Die letzte Bohle nahm den Rest des Lichts. Sie hörten fassungslos, wie schwere Steine auf das Holz geschoben wurden. Die Stiefelschritte, die Stimmen draußen wurden leiser und entfernten sich. Dann war es totenstill. »Toto?«, flüsterte Chiara. »Ja.« »Was ist das?« »Unsere Folter«, sagte er. »Aber wir haben nichts getan!« »Wer weiß?« »Wie meinst du das?« »Hinter uns liegt nichts als Unglück.« »Du willst bloß tapfer sein«, sagte sie. »Wir träumen bloß, Chiara. Wir bilden uns alles nur ein. Wenn wir singen oder husten, wird es hell und das Leben kommt zurück. Die Leute entschuldigen sich bei uns und sagen, dass alles ein Versehen war. Mein Vater steht draußen vor der Scheune und nimmt mich in den Arm. Er hat doch ein gutes Herz, ich habe mich mein Leben lang geirrt, er liebt mich. Der liebe Gott will uns prüfen, ein Engel kommt und rückt die Steine und Balken fort und sagt uns, dass wir uns nicht fürchten sollen.«
Chiara fühlte, wie er zitterte. Sie fasste seine Schulter, sie berührte seinen Hals. Er lehnte sich an sie. Er roch bitter, aber es gefiel ihr sehr. »Wir werden ersticken, Chiara«, flüsterte er. »Niemand sucht nach uns, niemand weiß, wo wir sind. Es ist, wie auf einem anderen Stern zu sein. Der Stern heißt Kindertod und ist so weit von der Sonne entfernt, dass ihr Licht nicht mehr dorthin reicht.« »Nicht!«, sagte Chiara. »Hör bitte auf damit!« »Aber wer rettet uns?« »Ich weiß es nicht.« Sie schwiegen, sie hielten sich fest. Die Kälte kroch tiefer in die Glieder. Chiara fühlte Totos Atem im Gesicht, es war wie Nebel. »Als Kind, wenn ich ganz leise war«, sagte Chiara nach einer Weile, »konnte ich die Zahlen sprechen hören, sie waren lebendig und hatten ulkige Namen. Die Neun hieß Goldröschen, die Sechzehn hörte auf Himmelhochher. Goldröschen und Himmelhochher hatten ein helles Kind, das war die Fünfundzwanzig oder Zwergteller, und ein dunkles Kind, die Sieben oder Salzboden. Salzboden und Zwergteller hatten wiederum zwei Kinder, das dunkle Heubrot, die Achtzehn, und Honighaut, die Zweiunddreißig, und so weiter.« »Hör auf damit!«, rief Toto. Sie wollte nicht aufhören. »Es gibt arglose und gefährliche Zahlen. Die größeren sind gefährlicher, sie verbergen sich in ihrer Masse. Die nachgiebigen sind die, die eine Drei oder eine Sieben enthalten. Die Unteilbaren, die Prime, sind gern für sich. Sie liegen faul herum und sagen nichts. Die Geraden sind labil wie entzündliche Stoffe. Die Fünf ist launisch, arrogant, wankelmütig, nachtragend, sie streitet mit der Neun und mit der Elf. Mir begegnete eine Vierundvierzig, die fast gläsern
war und furchtbar zitterte. Sie befand sich in der Nähe der Einundvierzig und zersprang beinah vor Eifersucht…« Toto schlug im Dunkeln nach ihr. Sie wich erschreckt zurück. Die schweren Bohlen dicht über ihren Köpfen waren rau gesägt und hatten noch die Rinde an den Kanten. Toto fand im Dunkeln am Boden ein Brett und horchte, ob draußen jemand Wache hielt. Sie hörten nichts. Das Brett war längs gerissen und ließ sich in zwei lange Hälften spalten. Eine dieser Hälften trieb Toto von unten in einen Spalt zwischen den Bohlen. Er schaffte es, es war die Kraft der Angst, der Enge und Verzweiflung. Toto legte sich mit dem Rücken auf die Erde und trat den Keil, das halbe Brett, tiefer in den Spalt. Die Bohlen bewegten sich. Nach ein paar Tritten konnte Chiara eine Hand ins Freie strecken. Toto bohrte weiter und schob den zweiten Keil in die Bohlenspalte, hebelte drauflos und fluchte, als das Holz zerbrach. Jetzt hatte er drei Keile, die er zwischen die Bohlen steckte und bewegte. Die Steine auf den Bohlen gaben nach. Nach einer Weile konnte er den Arm durchstrecken, er tastete umher. Sie weinten beide, aus Zorn, Enttäuschung und Erschöpfung. Dann machten sie sich gegenseitig Mut. Toto fasste Chiara an der Taille und hob sie hoch. Sie steckte schon den Kopf hindurch. Der Nachthimmel färbte ein paar Ritzen in dem Scheunentor schwarzblau. »Nichts, nichts«, sagte sie. Er ließ Chiara vorsichtig zu Boden. Dann hob sie ihn hoch, er küsste sie aufs Haar, sie fühlte es. Er schob seinen rechten Arm und ein Stück der Schulter durch den Spalt, fasste mit der Linken an die andere Bohlenkante und drückte sie auseinander, der Kopf wollte ihm platzen. Zoll für Zoll trennten sich die Bohlen. Die halbe Brust ließ sich schon dazwischenzwängen. Schließlich stützte er die Arme auf und stemmte sich ins Freie. Chiara kletterte ihm nach, sie hielt sich an ihm fest und wollte
gar nicht wieder von ihm lassen. Er roch so gut! Nach Heu und Holz, nach Rauch und Nelken? Das Scheunentor war fest verriegelt. Sie weinten wieder aus Verzweiflung, Enttäuschung, Zorn. Als plötzlich ein Geräusch aufkam. Es waren Pferde, ein Wagen, Räder. Sie wurden lauter, kamen immer näher. Der Wagen wurde langsamer. Chiara starb vor Angst. Vor der Scheune, als hätte sie gerufen, hielt der Wagen an. Die Pferde sträubten, stampften. Jemand stieg herab und kam ans Tor. Als Chiara die Stimme hörte, wurde ihr schlecht. Sie ließ sich fallen. »Montgolfier!«, rief Toto. »Wir sind hier drinnen, Kerl! Woher weißt du, dass…?« Es krachte, Toto sprang zurück. Holz splitterte. Der Himmel wurde sichtbar. Das Dorf lag still in seiner Niederung, ein Scherenschnitt. Chiara stand auf. Sie schmeckte Staub. Sie trat hinaus und blickte im Dunkeln auf die hohe, schwarze Kutsche, die wie ein bedrohliches Bauwerk vor dem Himmel stand. In ihr bissen sich Erleichterung und Todesangst. Sie ging näher, drinnen saß der Onkel, seine Augen blitzten im Licht der Laterne, die Montgolfier entzündet hatte. Sie sah, dass der Onkel einen weißen Turban trug – es war ein breiter Verband am Kopf – und dass er lächelte. »Dafür, dass ich dir verzeihe, Nichte Lisa«, sagte er, »bist du mir allerhand schuldig.« Er hatte es beinah gesungen, es klang wie das Psalmensingen zu Ostern. »Du wärst hier jämmerlich verreckt, wenn deine Freundin Bianca nicht gewesen wäre. Sie hat euch gut verfolgt. Montgolfier hat ihr geholfen. Sie klebten beide an euch wie Pech, und an meinem Geld, das mir mein Sohn gestohlen hat. Du darfst wieder atmen, mein Kind. Die Luft ist gut, die Nacht ist trocken. Wie fühlst du dich?«
Chiara war unfähig, etwas zu sagen. Sie drehte sich nach Toto um, der ein paar Schritte entfernt dastand und starrte. Montgolfier fasste seine Schulter und führte ihn zum Kutschbock. Er drohte ihm. Der Wagen zitterte, es klirrte metallisch. »Steig bitte ein, Lisa, nimm Platz!«, sagte Göttling. »Theodor sitzt oben bei meinem treuen Knecht, dort, wo die Ketten für die Füße sind. Hier drinnen brauchen wir das nicht. Wir sind schon zivilisiert, nicht wahr!« Er lachte. Es klang fast herzlich. »Ich habe mir nur mein Geld zurückgeholt. Dachtet ihr, ich hätte nicht bemerkt, dass Theodor zu einem Dieb geworden ist? Amerika!«, rief er verächtlich. »Was ist das? Eine Lotterie im Himmel? Ich wünschte, ich wäre ein römischer Imperator. Ich würde diesen Capitano Maggi kreuzigen lassen. Was für ein Name! Was für ein abgründiger Mensch! Er trug eine Art Schirm, der sich im Fallen öffnete, freilich nicht ganz so, wie er wohl sollte. Maggi zerschlug sich die Knochen und blutete zu Tode. Es gibt gutes Blut und schlechtes Blut, das eine ist für die Engel, das andere für die Egel. Ich hatte kein Mitleid.« Montgolfier war hinter Chiara getreten und drückte ihr die Faust in den Rücken. Es tat nicht weh, es schmerzte im Herzen, alles, jeder Laut, jede Regung. Sie fasste den Türgriff der Kutsche und setzte den Fuß auf das Trittbrett. Der Wagen gab ein wenig nach, die Pferde traten auf, das Zaumzeug klingelte hell. Chiara zog sich nach oben und setzte sich dem Onkel gegenüber auf die Bank. Er starrte. Der Blick zerstach ihr das Gesicht. Sie schaute weg. »Sieh mich an, Lisa!«, befahl Göttling. »Wir haben eine Menge zu bereden. Nichts ist Zufall. Nur weil du nicht alles bemerkst, bedeutet dies nicht, dass sich die Welt hinter deinem Rücken nicht weiterdreht. Eigentlich wartet die Arbeit. Die Zahl Pi, oder hast du sie vergessen? Du hättest dich besser geschont, statt zu verreisen, hättest dich behüten lassen sollen,
statt nach Amerika zu fliegen…« Er lachte. »Aber ich muss mich entschuldigen, nicht wahr? Ich hätte dich nicht einsperren dürfen, es tut mir Leid. Das gehört sich nicht. Die Seele braucht nichts dringlicher als ihre Freiheit. Ich verspreche, dass du von heute an frei bist zu gehen, wohin du willst. Ich habe eingesehen, dass alles, was ich getan habe, falsch war. Übertreibe ich? Nein. Ich finde, das Schicksal… hat uns aneinander gekettet, wir sind ein Geist, ein Fleisch, mein Kind. Wie weit warst du mit den Dezimalen?« Chiara musste schlucken. »Bis zwohundertsechzehn Stellen hinter dem Komma, Onkel«, sagte sie mit seltsam rauer Stimme. »Wir haben Dahse also überrundet. Gut.« Göttling betastete seinen Verband. »Dreihundertvierzehn bis August, das ist unser Ziel, Lisa, vergiss es nicht. Wir müssen siegen, eine Sache der Ehre. Was sagst du?« »Ja, Onkel.« »Bitte?« »Ich verehre dich sehr.« Es war nicht ihre eigene Stimme. »Das gefällt mir.« Göttling nahm seinen Gehstock und stieß gegen den unsichtbaren Kutschenhimmel. Sofort setzte sich der Wagen in Bewegung. Draußen zogen die Schattenrisse der niedrigen Häuser vorbei. Es musste spät geworden sein, in keinem Fenster brannte Licht. »Ich gebe zu«, sagte Göttling laut in den Räderlärm, »dass ich dich um die Erfahrung des Fliegens beneide.« Der Onkel hielt den Kopf mit dem Verband für einen kurzen Moment auf eine Hand gestützt. Vielleicht hatte er Schmerzen. »Onkel«, sagte Chiara. »Ich hätte zur Mörderin werden können. Ich wollte Theodor…« »Ich weiß, Lisa«, unterbrach sie Göttling. »Bin ich nicht mitfühlend, wie ich euch rette und helfe, wieder ins Leben zurückzufinden? Denkst du etwa, ich weiß nicht, wie schlimm
die Furcht sein muss, zum Totschläger des eigenen Onkels geworden zu sein, des eigenen Blutes? Ich verzeihe dir, Lisa, ich verzeihe dir.« Chiara schwieg beschämt. »Es gibt Leute«, fuhr der Onkel fort, »die behaupten, ich hätte einen Orden erhalten für das, was du gerechnet hast. Das ist eine Lüge. Man ist intrigant, man hat sich gegen mich verschworen. Ich weiß, warum. Ich habe dich bereits ernsthaft gewarnt, dass wir keineswegs im Frieden leben. Es gibt solch einen Orden überhaupt nicht. Natürlich bin ich auf deine Hilfe angewiesen, wer wollte das bestreiten? Aber wie sollte ich dich gegen deinen Willen dazu bringen… wie könnte ich dich zwingen zu rechnen? Das wollte ich nie. Ich bin ungeschickt. Und wenn ich mit den Ergebnissen an die Öffentlichkeit gehen werde, wie kann ich vermeiden, dass du es erfährst und mich zu Recht anklagst? Soll ich dich für immer einsperren, abschirmen, soll ich dich totschlagen, nicht die Nichte den Onkel, sondern umgekehrt, der Onkel das schwesterliche Kind! Dummheit. Kasperkram!« Er lachte hüpfend. Chiara musste mitlachen, es tat in den Wangen weh, als hätte man ihr lange ins Gesicht geschlagen. »Wenn ich das Rennen gegen Zacharias Dahse gewinne, dann ist klar, dass du mit auf dem Podest stehst, Lisa. Wenn wir den Wettbewerb gewinnen! Wir werden glänzen, nicht wahr? Wir beide werden dem König die Hand reichen und seinen Dank entgegennehmen und den des Fürsten Ministerpräsidenten, den ich persönlich kenne. Bismarck ist ein kluger Mann, ein wenig dünkelhaft. Ich treffe ihn morgen…« Der Wagen donnerte über eine hölzerne Brücke. Chiara fuhr erschreckt zusammen, fing sich wieder und entspannte sich. Ihr Herz jagte, die Brust brannte, als hätte sie ein großes Glas Branntwein in einem Zug getrunken.
»Ich wünsche mir«, rief sie, als die Brücke geschafft war, »dass Sie Ihrem Sohn genauso verzeihen wie mir.« Göttling schwieg pikiert, sie spürte seine Wut. »Du denkst doch nicht, dass wir sang- und klanglos nach Hause fahren, als sei nichts geschehen. Das Haus ist ausgebrannt! Es existiert nur noch eine Ruine, die ich gar nicht mehr betreten möchte. Meine Frau und die Kinder leben mit dem Gesinde in der oberen Etage. Es stinkt unerträglich. Wir sind gesellschaftlich kaltgestellt, der Verlust ist immens.« »Wohin fahren wir?« »Dorthin, wo die Macht ist, wo ihr beide hingehört. Theodor, um sich zu bessern, um Buße zu tun – du, um deine Fähigkeiten zur Entfaltung zu bringen. Theodor hat eine neue Aufgabe, es ist alles vorgebreitet. Amerika!«, wiederholte er mit der gleichen Verachtung wie zuvor. »Amerika! Dass ich nicht lache! Ich weiß schon, er hat Friedrich Gerstäcker gelesen, diesen Schreiberling! Die Träumerei von der grenzenlosen Freiheit, Gleichheit aller Menschen, Demokratie und Rechte… Nichts als Kinderkram! Wann will der Schlingel bloß erwachsen werden?« »Ihre beiden Gäste beim Abendessen, lieber Onkel«, sagte Chiara, »die mir sehr merkwürdig und unheimlich erschienen… als das Feuer ausbrach, diese Leute machten Andeutungen, dass meine Eltern… Wenn ich nur wüsste…« Sie fühlte sich mit einem Mal überraschend wach und stark. »Du weißt doch, wer diese Kerle sind«, antwortete Göttling. »Sie kleben mir an den Fersen wie Montgolfier an eurem Ballon. Haha. Sie warten auf dieses verdammte Chiffriersystem, das mir nicht gelingen will. Wenn ich dir sage, was das für Leute sind… Ich traue ihnen nicht. Sie haben mir Geld gegeben; es war ein Fehler, dass ich mich überhaupt mit ihnen eingelassen habe. Ich glaubte, wenn ich ihnen zeige,
was du kannst. Ich brauche Glück, ich brauche Nachsicht, Lisa. Du hilfst mir doch?« »Ja, Onkel.« »Ich bin in deiner Schuld.« »Verzeihen Sie Ihrem Sohn?« Göttling blickte sie an. »Er ist vielleicht kein schlechter Junge. Manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann, zweifle ich, ob er mein leiblicher Sohn ist. Ich weiß, ich bin obszön. Entschuldige bitte!… Diese Kerle sind der Abschaum, Handlanger, die lügen für Geld, Lisa, das ist ihr Beruf. Sie jagen mich. Du wirst mir doch helfen, oder?« »Ich kann nicht mehr rechnen, Onkel.« Der Satz klang wie eine scharfe Waffe, es war ein Angriff. Chiara atmete schwer. Göttlings Augen blitzten im Licht der pendelnden Außenlaterne. Es war ein verstohlenes, verschworenes, ungesetzliches Licht, ehrlos und unehrlich wie diese ganze Kutschenfahrt, wie alles um sie her. »Ich habe es verloren«, fügte sie hinzu. »Die Zahlen haben mich verlassen.« »Dich verlassen?«, fragte der Onkel. »Sozusagen.« »Du scherzt. Ist dir etwas auf den Kopf gefallen, so wie mir?« »Nein, Onkel.« »Ich bin dein Lebensretter, Lisa.« »Ja, als der Bruder meiner toten Mutter ist es Ihre Pflicht…«, sagte sie. »Ihre Gäste meinten, es sei ein Deutscher gewesen, der meine Eltern tötete. Ein Mann aus Berlin… Sie müssen mir verzeihen, lieber Onkel. Es bewegt mich und will nicht aus dem Kopf.« Der Onkel setzte sich gerade und spähte durch die Fenster in die Nacht.
»Man reist nicht in der Dunkelheit, nicht wahr«, sagte er mit zu hoher Stimme. »Ganz unvernünftig. Es sei denn, man hat einen triftigen Grund, etwa, weil man sich auf der Flucht befindet oder jemandem helfen will. Was nachts alles passieren kann, Räuberbanden, wilde Tiere, die Wälder sind voll davon, die Polizei ist fern und wehrlos…« »Ein Mann aus Berlin sei nach Italien gereist«, unterbrach ihn Chiara. Sie fasste wieder Vertrauen. »Er habe meinen Vater bloß erschrecken wollen, mit dem Tod meiner Mutter. Der Mörder habe geglaubt, dass mein Vater verreist sei…« »Ja«, sagte Göttling in den Lärm; fast hätte Chiara es nicht gehört. Er schüttelte den verbundenen Kopf. »Ja?«, fragte Chiara. »Ich weiß es, Kind. Ich wusste es immer, seit es geschehen ist. Niemand hat sich mehr erschreckt, geekelt, selbst gehasst als ich, dein Onkel. Aber man hat mir die Lippen vernäht, verstehst du, vernäht, mit Drohungen verschlossen, man hat mich zum Schweigen gezwungen. Wie soll ich es erklären?« Sein Kopf fiel nach vorn, der helle Verband leuchtete schwach. Die Schultern zuckten. Chiara schüttelte sich. Sie hatte nicht den Mut zu fragen. Sie spürte, wie schwer er daran trug, wie ihn die Sorge drückte. »Sie haben es gewusst, Onkel?« Er nickte. Chiara entdeckte ein paar ferne Lichter, sie tanzten hinterm schwarzen Glas. »Es war ein Plan, an höchster Stelle ausgedacht«, sagte Göttling. »Diese Höhe macht schwindelig, macht krank, sie kann sogar töten, Lisa. Ich darf es dir nicht sagen. Ich bin nicht sicher, ob nicht sogar Theodor womöglich etwas weiß, etwas gemerkt hat, abgehorcht, ausspioniert, er ist geschickt. Seine Mutter ist unfähig, schwach, sie widersteht ihm nicht, krank eigentlich. Sie hat ihn von Anbeginn verzärtelt. Schon wie sie ihn nennt: Toto! Er ist ihr Spielzeug, sie küsst ihn, weil ich sie
nicht mehr küsse. Aber sie riecht nicht gut, was soll ich tun? Verzeih mir, Kind…« Die Lichter kam näher. Der Himmel war eher grau als schwarz. Die Hufe trommelten dumpf, der Wagen polterte. Chiara hörte, wie der Kutscher zweimal durch die Zähne pfiff. »Wenn du wüsstest«, fuhr Göttling fort, »wie schlecht es mir geht damit, wie zerrissen ich bin. Man sagt zu mir: Verehrter Professor, Sie sind der Onkel dieses begabten Kindes, sie ist Ihre Nichte. Binden Sie sie an sich, machen Sie ihr Geschenke, schmeicheln Sie ihr, tun Sie, als sei alles in der besten Ordnung, damit sie uns hilft, wenn uns die Zahlen verlassen. Und so stehe ich vor dir: die Scham, die Unsicherheit, nicht wahr? Die Gefahr, von dir enttarnt zu werden, nämlich nicht bloß der Onkel zu sein, sondern der Agent, der Schwindler, der Handlanger für die seelenlosen Planer dieses Unglücks. Ich bin mittendrin, mein Kind. Ich bin so schuldig, wie noch nie ein Mensch von Schuld getrieben war. Ich wiege Zentner nur an Sünde und Gewissen. Du kannst mir nicht verzeihen, du nicht!« Er schwieg und schnaufte. Er blickte nicht auf. »Aber nicht Sie selbst, nicht Sie persönlich«, sagte Chiara vorsichtig. »Doch nicht so, dass Sie einen solchen Plan mit erdacht haben…« Er schüttelte den Kopf. »Das Ministerium, glaube ich, an allerhöchster Stelle. Dort, wo man über Zeit und Zukunft nachdenkt. Ich bin zu klein. Ich bin ein Bruchteil von dem, was du bist, was du für sie bist, wie du ihnen erscheinst, wie wertvoll, unbezahlbar. Sie würden Kriege führen, um Menschen wie dich für sich zu gewinnen.« »Nein.« »Doch, mein Kind. Solange du für sie rechnest, bist du wichtiger als vier Minister, was sag ich, zehn, zwanzig.« »Die Zahlen waren immer lebendig in mir«, erzählte sie mit einer Stimme, als fiele es ihr plötzlich leicht. »Sie redeten zu
mir, sie hatten Namen. Sie tauchten von alleine auf, da war ich noch ganz klein, als ob man Farben sieht. Ich wusste immer gleich, was sie bedeuteten, wie sie zusammenhingen, zueinander standen und welchen Regeln sie folgten. Sie hatten Klänge, Gesichter und Stimmen. Sie waren unverwechselbar, sie waren wie Laub oder Blüten. Ich habe sie geschmeckt, sie dufteten und ließen sich mit den Händen tasten. Jede Zahl ist wie ein enger Freund, ich kenne jede, ich fühle, was sie fühlt, ich weiß, was sie denkt, nichts an ihnen kann mich überraschen, sie sind ein Stück von mir… Aber jetzt habe ich Angst, dass ich alles verliere. Eine sonderbare Taubheit, Dumpfheit, Dunkelheit ist irgendwo in mir…« »Das ist meine Schuld!« »Aber nein.« »Ich hätte dich behüten sollen, mich zurücknehmen. Ich habe Goethes Abakus für dich gerettet. Lisa, wenn man dich anspricht, sage bitte niemand, dass ich mit dir darüber gesprochen habe. Es wäre mein sicherer Untergang. Versprichst du es? Und wenn wir angekommen sind, zieh bitte diese grässlichen Hosen aus!« »Ja, Onkel… Aber warum Theodor vorne bei Montgolfier in Ketten?« »Weil er immer dreist ist und mir fortspringt, ich kenne ihn! Er hasst den Hof, den König, den Fürsten, alle. Mein Sohn ist ein Demokrat, ein Anarchist, ohne Gott und Glaube, ein Fallender. Es muss doch eine Ordnung geben, selbst wenn es nicht die beste ist. Amerika!«, rief er zum dritten Mal. Er tat Chiara Leid. Sie fühlte seine Schwäche, seine Hoffnungslosigkeit, die Müdigkeit in seinem Leben. Sie sagte nichts. Mit einem Mal verschwammen die Empfindungen, ihre Augen wurden schwer. Sie war selbst so unendlich müde; die Furcht und helle Aufregung waren das Einzige gewesen, was sie bis jetzt wach gehalten hatte. Sie fühlte, wie sie fortglitt.
Der Kopf sank, wurde vom Rumpeln des Wagens wieder hochgerissen, stieß gegen die gepolsterte Seite. Der Onkel redete weiter. Die Wörter klöppelten, purzelten wie Würfel durch den engen Raum. Chiara griff danach, sie sprangen weg. Sie taumelte, es wurde schwarz um sie und fern und plötzlich still.
Sie wurde wach. Draußen standen Soldaten mit roten Gesichtern, ihre Stiefel knarrten, sie hielten knisternde Fackeln in die Höhe. Der Wagenschlag stand offen. Der Onkel war schon ausgestiegen, stand auf dem nassen Pflaster. Es war sehr kalt, die Luft war nebelschwanger. Der Onkel reichte ihr die Hand. Sie bückte sich und stieg nach unten. Sofort kletterte ein Soldat in den Wagen, ihm folgte ein Hund, der aufgeregt in jeden Winkel schnupperte. Der Soldat hatte eine lange Nadel, mit der er kräftig in die Polster stach. Er fasste in die Schlitze zwischen Bank und Wänden, tastete den Himmel ab, den schmutzigen Boden, suchte in den Fußwärmern und schüttelte die Decken aus. Montgolfier und Toto waren ebenfalls abgestiegen. Der Kutscher hielt die Ketten. Toto stand da wie ein Verbrecher. Sein Gesicht war schmutzig, die Soldaten musterten ihn mit Argwohn. Einer fingerte an seiner Jacke, durchwühlte die Taschen und ließ verächtlich von ihm ab. Montgolfier blieb nicht verschont. Sogar der Onkel musste sich ergeben und seine Manteltaschen nach außen stülpen. Chiara wurde es schwindelig. Jemand fing sie und führte sie ins Torhaus. Hier durfte sie sich setzen. Sie dankte atemlos. Ein Ulan beäugte sie vom Tisch aus, er hatte große, nasse Lippen. Sie legte den Kopf gegen die Fensterscheibe und schaute nach draußen. Die Räder des Wagens standen in einer tiefen, breiten Querrinne, die den Boden teilte. Jetzt erinnerte sie sich,
im Schlaf (oder schon im Erwachen?) einen Stoß gefühlt zu haben, als die Kutsche in die Rinne fiel und die Pferde erschreckt wieherten. Der Ulan lächelte verlegen, er stellte einen Becher Wasser hin und nickte. Chiara trank. »Wo sind wir denn?« »Im Schloss«, sagte er. »Das erste Tor. Wir suchen jeden Wagen nach Waffen ab, Schießpulver, Spione. Sie glauben gar nicht, wie gefährlich diese Zeiten sind, Madame.« Er schnäuzte sich. »Erst gestern wurde im Park ein Räuber erschossen. Er hatte Gift bei sich. Wer weiß, wen er damit töten wollte?« Die Tür wurde aufgestoßen und der Onkel trat ein. »Seien Sie behutsam, junger Mann, wenn Sie mit der Dame umgehen«, sagte er. »Der König hat nach ihr verlangt. Falls Sie sie schädigen, schneidet er Ihnen die Ohren ab oder etwas Schlimmeres.« Er lachte grimmig. »Meine Kutsche ist anständig, Nichte Lisa. Du darfst wieder einsteigen.« Er machte eine Verbeugung, als wäre sie eine Gräfin. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und ging nach draußen. Sie stiegen ein. »Ist es wahr, was du gesagt hast«, fragte sie, als der Schlag geschlossen worden war. »Dass mich der König sehen möchte?« »Gewissermaßen. Er wird verzaubert sein, du wirst ihn betören.« Montgolfier schnalzte mit der Peitsche, die Pferde zogen an. Es wurde wieder dunkel. Es musste Mitternacht sein. Nachdem sie eine Weile gefahren waren, erreichten sie den zweiten Torposten. Auch hier mussten sie den Wagen verlassen, alles wurde durchsucht, auch Papiere wurden abgestempelt und gewechselt. In der Ferne zählte eine helle Glocke die Stunden.
Göttling zog Chiara auf die Seite. »Ich muss dir vorkommen wie ein Ungeheuer, heute so, morgen so, die pure Willkür, nicht wahr? Aber ich mochte meine Schwester, deine Mutter, ich hatte sie eine Ewigkeit nicht gesehen, ich habe viel an sie gedacht. Ich bin in Trauer. Glaubst du mir?« »Ja.« »Meister Liang wird es dir erklären.« »Herr Liang?« »Erschrick dich nicht! Du kennst ihn aus der Poststation in Berlin. Er vermietet dort die Zimmer und tut nebenbei noch viel anderes. Ein guter, stolzer Mensch.« »Ich verstehe das nicht«, sagte Chiara, ganz entsetzt, weil sich abermals der Boden unter ihr zu öffnen schien. »Wieder einmal, du Ärmste. Meister Liang wird dir alles erklären, er hat so seine Art…« Sie durften wieder in den Wagen steigen. »Du darfst das Rechnen weder verlernen noch dir wegnehmen lassen«, zischelte Göttling aufgeregt. »Lass das auf keinen Fall zu, um Gottes Willen! Es ist deine Rettung, unsere Rettung. Lisa!« Montgolfier pfiff und stieß Toto auf den Kutschbock, die Ketten klingelten. Die Fahrt ging weiter durch die Nacht. Bis neue Lichter flackerten. Diesmal waren es große Holzfeuer, an denen sich Soldaten wärmten. Dahinter leuchteten hohe Fenster, ein Schloss womöglich. Die Kutsche durchfuhr ein drittes Tor, sehr langsam, aber ohne anzuhalten. Ein weiter Hof umschloss sie, abermals Soldaten, Fackeln, Hunde und Musketen mit blitzenden Bajonetten. Der Wagen hielt, ein Diener öffnete die Tür und grüßte heiser. Göttling nickte. Immer wieder hatte er während der Fahrt Chiara beobachtet, es war ihr nicht entgangen. Entweder sorgte er sich um sie oder um sich selbst und seine Pläne, von denen er nichts sagte, nur Andeutungen
ausstreute. »Du wirst dich wundern. Warte nur.« Oder: »Ich wette, es wird dir gefallen. Alle werden dich bewundern, du kannst stolz sein. Ich bin stolz auf dich.« Chiara hatte nicht die Kraft, ihn auszufragen. Es war ihr beinah einerlei, wie schon so oft zuvor, wenn er seine Überraschungen über sie hingeschüttet hatte. Jetzt stieg der Onkel aus und schritt, ohne auf Chiara zu warten oder ihr ein Wort zu sagen, auf einen breiten Hauseingang zu, der von Laternen beleuchtet wurde. Ein schlanker Mann in einem straffen, blauen Anzug stand in der Tür und streckte ihm die Hand entgegen. Chiara drückte sich in den Sitz. Die Müdigkeit riss wie ein wildes Tier an ihr. Sie legte den Kopf an die Scheibe und schaute hinaus. Montgolfier kletterte auf das Pflaster, Toto folgte ihm, jetzt trug er seine Ketten selbst, niemand hielt ihn. Er ging auf den Hauseingang zu, wo sein Vater stand, und blieb in einiger Entfernung stehen. Der Onkel unterhielt sich weiter mit dem Mann im blauen Rock. Schließlich drehte er sich um und winkte Toto zu, der sofort loslief, die Ketten in den Händen, das Klirren flog zerrissen durch den Hof. Chiara schien es, als wäre Toto mit dem Ort vertraut, mit allem, was geschah. Er wehrte sich nicht, blickte sich nicht um. Zwei weitere Herren kamen an die Tür, man grüßte sich, sprach, gestikulierte höflich. Dann verschwanden alle, Göttling ging voran, breitete die Arme aus; mehr konnte Chiara nicht erkennen. Sie sah die Silhouetten in dem Fenster, Schattenrisse, und schließlich nichts mehr. Sie lehnte sich zurück. Der Wagen schaukelte, die Pferde wurden ausgespannt und weggeführt. Es fing an zu regnen, ein feines, leises, dichtes Rauschen klang herab. Tropfen schlugen gegen die Fenster, perlten ab und hinterließen lange, krumme Tränen. Chiara schloss die Augen. Die Angst verlor sich; was blieb, war eine ferne Ruhelosigkeit, als ob die Erde leise zitterte.
»Signorina Morelli«, sagte plötzlich eine Stimme, die ihr einen Schreck einjagte und ihr doch vertraut erschien. Sie blickte sich um. Im gegenüberliegenden Fenster sah sie einen dunklen Umriss und beruhigte sich. Es war Herr Liang, der durch das Glas sprach. Er trug einen großen, geflochtenen Hut mit breiter Krempe und verschwand, kehrte auf ihrer Seite wieder und bat um die Erlaubnis, einsteigen zu dürfen. Chiara forderte ihn auf. Er schloss die Tür und setzte sich. »Ich danke sehr. Der Professor hat Sie gewiss vorbereitet, dass Sie sich nicht zu Tode erschrocken haben, mich zu sehen, oder?« Chiara nickte verwirrt. »Ihr Zimmer ist bereit«, sagte der Chinese. »Es gibt eine Tasse Tee und etwas Suppe. Sie müssen furchtbar hungrig sein und müde. Erst einmal schlafen, Fräulein Chiara, und frische Kräfte sammeln, bitte!« Er verneigte sich unpassend. Chiara war zu erschöpft, ihn das zu fragen, was ihr auf der Zunge lag. Die Schwere ihrer Glieder zog sie herab, als trüge sie nasse Kleider. »Sie müssen mir verzeihen, Meister Liang, es ist zu viel passiert…« »Das sage ich doch. Jetzt hilft nur noch Ruhe, Schlaf, tief und traumlos. Morgen ist ein schwerer Tag…« »Warum?« »Es muss Sie jetzt nicht kümmern. Wir warten noch einen kurzen Augenblick hier in der Kutsche, bis der Regen nachgelassen hat. Vertrauen Sie mir!« »Ja.« »Wofür ich Ihnen danke«, sagte er. Und dann: »Herr Gott, Sie müssen sich… verführt, betrogen vorkommen. Es ist gar nicht unsere Absicht. Es geht um so viel mehr, wie soll ich sagen, um Preußens Schicksal, nein, Deutschlands, das nicht einmal Ihr wahres Heimatland ist. Sehr verzwickt und schwierig, wie Sie sehen. Sie dürfen mir vertrauen, Chiara. Ich bin ein guter Mensch und will mich Ihnen vorstellen. Ich
wurde in Kiangsu geboren und kam als Kind mit meinem Vater nach Berlin. Als er den Storch ritt und starb, blieb ich hier und wuchs in der Familie seines Kompagnons auf.« Er beugte sich plötzlich vor. Chiara drückte sich ins Polster. »Nein, nein! Es ist meine besondere Aufgabe, Ihnen zu erklären… Bitte, haben Sie keine Angst! Ich muss den Zusammenhang aufzeigen zwischen Ihnen und der Welt, Ihren unglücklichen Eltern, der Politik und unserer Zeit. Sie sehen schon, wie verwickelt alles ist…« Er machte wieder eine entschuldigende Verbeugung. »Darf ich Sie fragen, wo wir sind?« Chiara sah ihn genau an. »Im Schloss, mein Kind. Bei unserem König.« Liang zögerte einen Moment. »Unsere Zeit…«, begann er dann von neuem. »Oh, in hundert Jahren wird man sagen, dass unser Jahrhundert, das neunzehnte, die Welt verändert habe wie kein anderes vor ihm. Die Maschinen, die elektrische Kraft, das menschliche Bewusstsein steigen in eine neue Höhe empor, da wird es Begeisterung geben, Leidenschaft und tiefste Skepsis. Geist und Stoff kämpfen um die Vorherrschaft. Der Stoff gewinnt. Die alte Zeit ist um, der Glauben stirbt. Wussten Sie, dass gewisse Dinge heute sogar mit Papiergeld bezahlbar sind? Eigentlich undenkbar. Papier! Es taugt doch gar nichts, man könnte es zerreißen oder fälschen; egal, es zählt. So ganz verstehe ich das selber nicht. Als Gott die Welt schuf, hat er alle Energien, alle Gedanken, alle Kräfte zusammenwirken lassen, konzentriert auf eine einzige Idee. Können Sie mir folgen?« Chiara nickte schwach. Der Chinese fuhr fort. »Unsere Zeit erlebt das Gegenteil und glaubt, dass es zum Besseren hinführe. Die verschiedensten Interessen, Ziele, Pläne, Blickwinkel streben immer weiter auseinander. Die Menschen individualisieren sich. Die Folge ist ein kompliziertes Netz von Streitigkeiten und Intrigen, von
tausend Lebenswegen, wo jeder seinen eigenen als den wichtigsten anschaut und verteidigt. Das ist von Grund auf neu. Der persönliche Blick blieb früher Königen und Kardinälen vorbehalten und selbst diese dienten noch dem Kaiser und dem Papst. Es wird nicht lange dauern und ein jeder träumt davon, sein eigener Fürst und Führer zu sein, schlimmer, Papst und Kaiser zu werden, über alle anderen Köpfe hinweg, rücksichtslos nur um sich selbst besorgt… Ich verwirre Sie, oder? Aber es ist besser, wir bleiben noch hier. Drinnen weiß man nie, wer mithört.« Er schaute prüfend zum Fenster hinaus. »Oh, ich ahne, wie Sie sich fühlen, Signorina. Es ist kein richtiges Gefühl, eher ein wolkiger Eindruck, der einem das Herz zerdrücken kann. Die Eltern sind mausetot und es gibt keine Erklärung. Kein Platz für wirklichen Zorn, keine Erleichterung. Nichts. Ein laues Dazwischen, schwimmend, haltlos.« Chiara fühlte, was er sagte. Es war lähmend, es brachte das Blut zum Stillstand. Nach langer Zeit schlichen sich mit einem Mal wieder die Bilder vom Tod der Eltern ins Gedächtnis, die beiden offenen Särge in dem Zimmer, die kalte Stille des vertrauten Hauses, die uferlose Leere in ihr selbst. »Nichts wäre mir lieber«, sagte der Chinese leise, »als Ihnen zu erklären, dass der Hof, Berlin, die Regierung, Ihr Onkel, ja sogar ich persönlich, gewissermaßen als der Sprecher des Hofes in dieser sehr pikanten Angelegenheit, dass wir alle nichts mit dem Tod Ihrer Eltern zu tun haben. Aber ich würde lügen. Oder wie gerne würde ich erzählen, dass Ihre Eltern Opfer einer romantischen Verschwörung wurden. Wie tröstend, wenn ein Tod solch hohen Sinn erhält und in der Geschichte seine Spuren hinterlässt! Damit lässt sich Stolz verbinden…« Er rang die Hände. Chiara fühlte, wie der Druck zunahm, es war, als schüttete ihr jemand Steine in den offenen Leib.
»Kommen Sie, es wird Zeit«, sagte Herr Liang und stand auf. Er stieg aus und wartete, bis sie sich gesammelt hatte. »Ich weiß, es ist schwer, Signorina. Kommen Sie, vertrauen Sie mir!« Sie gingen über den Hof auf einen Nebeneingang zu. Sie betraten eine große Küche, Feuer brannte, es war warm und Chiara fühlte sich sofort geborgen. »Bitte!« Liang schob ihr einen Stuhl zurecht. Sie setzte sich. Er brachte eine Kanne Tee, füllte ihr die Tasse, wedelte den Dampf herauf. »Riechen Sie! Es ist der beste Tee der Welt. Sie haben ihn verdient.« Chiara roch, nahm die Tasse und pustete. Ihre Hände wurden warm. Sie nippte vorsichtig, das heiße Getränk kroch wie ein guter Geist in sie hinein und füllte sie mit Duft und Hitze. Sie fühlte ihr eigenes Gewicht, als wäre sie soeben einem Bad entstiegen oder als hätte man sie bis vor ein paar Augenblicken an den Schultern festgehalten und jäh freigegeben. Liang setzte sich zu ihr. »Es quält mich sehr, glauben Sie mir! Ich sagte, ich sei ein guter Mensch. In China würde niemand so etwas von sich behaupten; es käme einer Todsünde gleich. Aber Berlin ist nicht Kiangsu und ich bin kein Christ. Ich bin gar nichts…« Er goss sich eine eigene Tasse halb voll und führte sie zum Mund. Chiara war bemüht, ihm zu vertrauen. Sie prüfte jede seiner Regungen, die Art, wie er beim Trinken die Finger spreizte, wie er blickte, blinzelte, wie sich der Mund zur Seite zog und seine Wange zuckte. »Todsünde. Was für ein Wort!«, sagte er missbilligend. Und ganz unvermittelt: »Dreiundachtzig.« »Neunundachtzig«, entgegnete Chiara, ohne nachzudenken. Sie war überrascht. »Siebenundneunzig«, konterte er.
»Hunderteins«, rief sie. Etwas zündete in ihr, ein Feuer im Gehirn. »Zwohundertdreiunddreißig… Die Gerechtigkeit des Schicksals!« »Die Gerechtigkeit des Schicksals«, wiederholte der Chinese. Und nach einer Pause: »Die Provinz Hunan, wo dieser Tee wächst, ist ein merkwürdiger Landstrich. Man sagt, dort wächst ein Wein, dessen Trauben einer sonderbaren Regel folgen: Sie haben entweder einunddreißig, einundvierzig oder einundsechzig Früchte. Man flüstert es sich zu, man redet nicht darüber.« Er hob beschwichtigend die Hand. »Fürchten Sie sich nicht, Fräulein Morelli. Es sind nur chinesische Geschichten. Aber sie erzeugen bei Europäern oft etwas… Ich nenne es… das bengalische Gefühl.« »Ich fühle nichts«, schwindelte Chiara. »Dann trinken Sie jetzt besser Ihren Tee!«, sagte er entschieden. »Trinken Sie! Es muss sein.« »Sie bedrohen mich, Monsieur.« »Ich helfe Ihnen.« »Es fühlt sich nicht an wie Hilfe.« »Dann bin ich ungeschickt. Trotzdem möchte ich, dass Sie tun, worum ich Sie bitte.« Seine Stimme brach. Er holte heftig Luft und stellte seine Tasse hin. »Der König…« Er zögerte. »Nein, ich selber wünsche mir, dass Sie sich helfen lassen und verstehen, was Ihre ungeheuren Fähigkeiten sind.« Er ließ ein paar Sekunden verstreichen. »Eins, drei, null, sieben.« »Eins, drei, eins, neun«, antwortete Chiara prompt. »Verstehen Sie? Ist Ihnen klar, über welches Können und Wissen Sie verfügen? Ich will Sie nicht bedrohen. Wer das beherrscht, was Sie beherrschen, hat die Zukunft in der Hand.« Er sah sie bittend an. Er tat ihr beinah Leid. Da war ein Funken von Vertrauen in ihr, Spuren von Verständnis, ein Lot von Nähe. Sie presste den Mund und gab nichts preis. Dabei hätte sie in diesem Augenblick die Hand nach vorne strecken
und ihm reichen können, diesem Fremden, der ihr mit einem Mal so ähnlich mit ihr selbst erschien. »In meiner Jugend«, erzählte er und seine Stimme wurde zaghaft, »als ich dreizehn, vierzehn war, fiel mir zum ersten Mal auf, wie wankelmütig die Erwachsenen sind. Den einen Tag erlebte ich meinen Vater so, den nächsten ganz verändert. Wer von uns beiden taumelte? Als ob der Teufel verschiedene Seelen in die Fleischeshüllen steckte, bloß um mich zu quälen. Ich war verstört. Heute denke ich, auch das ist so ein Zeichen für die neue Zeit, eine Ahnung unserer Zukunft, der Maschinenzukunft, von der ich vorhin sprach. Wir zerteilen uns in Gläubige, Sehnsüchtige, Melancholische, Liebende, Hassende… und zugleich in nur noch Denkende, Rechnende, Kalkulierende, Lügende und verzweifelt Zählende… zählende Wesen ohne Blut, Freundschaft und Mitleid. Aber was zählen wir eigentlich? Und warum mit dieser Blindheit und Verzweiflung, wie Ertrinkende…« Er hatte Tränen in den schmalen Augen. Chiara wehrte sich nicht länger. Etwas brannte in ihr, loderte, die Hitze der Gewissheit, dass sie aufgehoben war. Herr Liang stand auf, er verneigte sich. »Es ist die Gerechtigkeit des Schicksals, manche sagen: das bengalische Gefühl Horchen Sie in sich! Sie stehen über allen Dingen, Wesen, Menschen und Gedanken, hoch über allen Seelen. Beinah wie Gott. Sie sehen alles, Sie verzeihen alles, was geschehen ist. Hundertmal müssen Sie sich gewundert haben, wie sich Ihr Onkel Ihnen gegenüber verhalten hat. Er hat Sie gequält, aber er war dazu gezwungen. Er hat mir selbst erzählt, wie sehr Leid es ihm tat, Sie von einem auf den anderen Tag glücklich und unglücklich zu machen. So war es doch, oder? Ihr Onkel ist keineswegs unschuldig. Er hat verletzliche Seiten, man kann ihn zwingen, Dinge zu tun, und er wurde gezwungen. Was ich sagen will, ist…« Er roch wieder an dem
Tee. »Was ich sagen muss: Sie sind das Opfer höherer Interessen geworden. Die Politik hat kein Gesicht, niemand ist persönlich tätig, niemand will sich die Hände schmutzig machen. Ich will es einmal so erklären: Der König hat von Ihnen gehört, ja, von Ihnen, Signorina Morelli, und dass Sie rechnen können wie ein ganzer Saal bezahlter Kalkulatoren, die sich mit den Zahlen plagen, die ein Staat verwalten muss. Der König liebt Zahlen. Er hat von Ihnen gehört und einen Auftrag erteilt, den Auftrag, Sie nach Berlin zu holen. Das ist alles.« Er machte eine seltsame Pause. Chiara war wieder wach. Es war ihr schleierhaft, woher die Kraft kam. »Das ist eigentlich alles, Ihr ganzes Unglück. Man hat einen königlichen Auftrag auf den Weg geschickt. Der König wünscht etwas, und eine ganze Maschinerie setzt sich in Bewegung, die niemand recht versteht. Der Auftrag gerät an den Ministerpräsidenten, dieser erteilt ihn dem Minister, der ihn wiederum an einen Staatssekretär weiterleitet, der damit beginnt, sich konkrete Gedanken zu machen, wie man den Wunsch des Königs in die Tat umsetzen kann, verstehen Sie?« »Ja«, sagte Chiara. »Der Staatssekretär formuliert den Auftrag sozusagen offiziell und reicht ihn schriftlich und als hochgeheime Sache an einen Agenten weiter, der ihn unterwürfig entgegennimmt. Der Agent ist ein einfacher Mann. Er hat den König noch nie leibhaftig gesehen, nicht einmal den Ministerpräsidenten. Er küsst dem Sekretär die Füße, weiter kommt er nicht. Aber er funktioniert, er tut, was man von ihm erwartet und verlangt. Er soll die Kopfrechnerin Chiara Lisa Morelli von Italien nach Berlin bringen, nicht bloß zu einem Besuch, nein, als eine Art Geschenk für den König, denn als solches möchte der Minister diese Person dem König präsentieren, um seine eigene Stellung zu verbessern. Das Mädchen soll in Berlin beim
König bleiben, freilich so, dass es selbst keine Entscheidung treffen muss, denn nie würde sich das hochbegabte Mädchen freiwillig entscheiden, seine Eltern, seine Heimat zu verlassen, um nach Berlin zu gehen, dort zu leben und für den König zu rechnen, für Preußen nämlich, für den Staat…« Er nahm die Tasse und trank, schielte über den Rand, um zu sehen, was seine Worte in Chiaras Gesicht bewirkten. Er sah sie aus noch schmaleren Schlitzen an als sonst. Chiara verstand ihn, sie verstand jedes Wort, auch die lautlosen Worte hinter den Worten. Sie zwang sich, nichts zu zeigen; sie sagte nichts und wartete. »Ja«, hauchte sie nach einer Zeit, als Signal an ihn, weiterzusprechen. Liang nickte. »Der Wunsch des Königs lautete ursprünglich schlicht, Sie, dieses ungewöhnliche Mädchen, nach Berlin zu holen. Man brauche es. Aber je weiter dieser Auftrag fortschritt, umso mehr spreizte er sich und übertrat seine Ufer. Immer neue, immer mehr Leute wurden eingebunden, Franzosen, Schweizer, schließlich Italiener, die ihr Geld verdienen wollten, egal mit welchen Mitteln. Ein fatales Uhrwerk kam in Gang und drehte sich. Am Hof ahnte niemand mehr, was in Italien eigentlich geschah. Bis eines Tages die Nachricht kam, dass Ihre Eltern unerwartet verstorben seien und sich ein Bruder Ihrer Mutter Ihrer annimmt. Die Nachricht wurde, wie soll ich sagen, mit einer Mischung aus Bedauern und Freude hier am Hof aufgenommen. Der Staatssekretär konnte dem Minister melden, dass sich die Kopfrechnerin aufgrund tragischer Umstände bereits auf dem Weg nach Berlin befinde, ein begabtes Waisenkind, ein Schicksalskind, das in die Obhut seines Berliner Onkels komme…« Er pausierte wieder, skeptisch blickend. Chiara war nie in ihrem Leben wacher, aufmerksamer gewesen, klarer im Verstand, als hätte jemand sie verzaubert. Sie trank den Tee
aus der Provinz Hunan, wo manches nicht mit rechten Dingen zuging. Ihre Gedanken waren seltsam leicht, als schwebte sie, als stünde sie wieder in der Gondel des Ballons. Die Welt lag tief unter ihr und schien bedeutungslos, wie Spielzeug, wie hingelegte Knöpfe aus Perlmutt, aus Holz und Elfenbein. »Darf ich weiterreden?«, fragte Herr Liang. Sie nickte freundlich. »Was sagte ich?… In die Obhut des Berliner Onkels… Jetzt sehen Sie, in welcher Lage Ihr Onkel war, als Sie hierher kamen. Er kannte den Wunsch des Königs – und nun erfuhr er vom Tod Ihrer Eltern, seiner eigenen Schwester. Er selbst hatte sich ja ohnehin, ganz unabhängig davon, in eine Lage gebracht, in der Sie ihm sehr gelegen kamen, das wissen Sie. Er wollte Sie für sich behalten; natürlich wusste er, dass er Sie verlieren würde, an den König. Er erhielt wiederholt Besuch von Leuten, die Sie keinen Augenblick aus den Augen ließen. Signorina Bianca war Ihnen ja die erste Zeit am nächsten. Sie wusste, welches Unglück sich ereignet hatte, welche Tragödie, von niemand hier bewusst verursacht und doch geschehen und von allen mit verschuldet. Natürlich trägt der König eine gewisse Schuld. Er hätte wissen müssen, dass ein solcher Wunsch und Auftrag aus dem Ruder laufen kann. Niemand wünscht sich, einen anderen Menschen seiner Heimat zu entreißen, seinen Eltern, Freunden, seinem Leben. Der König hatte einen königlichen Wunsch, der sich in eine Kette von Aufträgen verwandelte, an deren Ende der Tod stand. Der König wollte niemanden töten, im Gegenteil, er wollte Sie für sich gewinnen, er will es immer noch. Ich weiß nicht, wie viel von dem, was ich Ihnen sage, schon an sein Ohr gelangt ist. Ich weiß es wirklich nicht. Ich bekomme meine Aufträge vom Staatssekretär, nicht einmal vom Minister, der noch nie mit mir gesprochen hat. Ich bin ein kleines Zahnrad, Sie sind ein
Zahnrad, Chiara. Das ist die Wahrheit, die Ihnen mitzuteilen meine Pflicht geworden ist. Verzeihen Sie mir, bitte!« Er stand auf und verbeugte sich noch einmal tief und lange. Dann setzte er sich wieder, nahm Chiaras Hände und hielt sie lange fest. Es war ihr angenehm und voller Trost. Sie weinte nicht. »Es fühlt sich… leicht an«, sagte sie. »Das ist der Tee«, erklärte Liang, »das bengalische Gefühl. Man sieht alles aus der Höhe, unbeschwert und ohne Schuldenlast. In Wahrheit gibt es ein ganzes Netz, ein wirres Wurzelwerk aus Schuld, auf jeder Ebene, für jeden Tag und Ort und jede Seele, die damit beschäftigt war. Wenn Sie Rache üben wollen, müssen Sie ein Dutzend Leute strafen, beim König angefangen, bis hinunter zu irgendeinem italienischen Verbrecher, den hier niemand kennt und kennen möchte. Es ist diabolisch, Chiara, teuflisch. Und ich schäme mich.« »Das müssen Sie nicht, Meister Liang. Ich verzeihe Ihnen ja, ich verzeihe jedem. Ich verzeihe meinem Onkel, ich hatte ihm bereits verziehen und er mir. Wir tragen alle unsere Schuld, die einen mehr, die anderen weniger. Es gäbe immer einen Anlass, Krieg zu führen. Ich will es nicht. Ich bin müde. Ich bin angekommen, an einem Ort, den ich noch gar nicht richtig sehe. Ich fühle es, Herr Liang, bengalisch offenbar, wenn Sie es mir gestatten…« Der Chinese half ihr aufzustehen. »Sagt Ihnen der Begriff Verschwörung der Zahlen etwas? Hat Ihr Onkel mit Ihnen darüber gesprochen?« »Ich glaube, ja.« »Ich persönlich halte es für Unsinn«, erklärte der Chinese. »Der König glaubt daran. Meiner Meinung nach hat Ihr Onkel diese Idee in die Welt gesetzt, mit aller Absicht. Der König jedenfalls lebt nun in Angst, und seine Hoffnung ist, dass
Sie…« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich weitersprechen soll.« »Ich bin zu müde«, sagte Chiara. »Gewiss.« Er führte sie ins Treppenhaus und zu den Zimmern. Chiara legte sich sogleich zu Bett, ihr Schlaf war so tief und traumlos wie noch nie. in Diener öffnete die breite Saaltür. Chiara trat ein, als ob sie schwebte. Es war eine Art Theater. Auf dem Parkett E standen in dichten Reihen einzelne Tische, auf denen Akten kleine Türme bildeten. Chiara überschaute den Saal, es waren einhundertdrei Tische und vor jedem saß ein Mann und arbeitete. Die Männer rechneten, wie es schien, Finanzbeamte offenbar. Sie zählten lange Kolonnen von Zahlen zusammen, dividierten, subtrahierten, zogen Wurzeln, rechneten Quersummen und Schnitte aus. Vorne, auf der Bühne, schrieb ein Einzelner mit Kreide Zahlen auf eine große Tafel. Immer wieder kam ein Bote aus den engen Reihen und trug ein Stück Papier zur Bühne, der Tafelmann nahm es entgegen und fügte ein Ergebnis zu den anderen. Es war ein großes, breites Raunen, Scharren, Flüstern, in das Meister Liang, der Chiara begleitete, plötzlich rief: »Messieurs, Gentlemen, meine sehr verehrten Herren, darf ich Ihnen Signorina Chiara Lisa Morelli aus Italien vorstellen. Sie ist eigens angereist, um uns zu zeigen, was man mit Zahlen unternehmen kann und wie geschwind…« Chiara fühlte hundert Blicke auf sich ruhen und wurde rot. Am liebsten wäre sie sofort hinausgelaufen und hätte sich versteckt. Das Raunen floss in Wellen durch den hohen Raum, die Wände warfen es zurück. Plötzlich fiel die Sonne durch die Fenster und sprühte Gold. Die Sonne half ihr, es war seltsam, das Licht verlieh ihr Mut und Lust, sich zu behaupten.
»Frau Morelli ist im Begriff«, erklärte Liang, »die so genannte Ludolfsche Zahl, also die Zahl Pi, bis auf dreihundertvierzehn Stellen hinter dem Komma zu berechnen. Professor Göttling behauptet, dass die dreihundertfünfzehnte Stelle unerwartet Periode sei. Frau Morelli benötigte für die ersten zweihundert Stellen dreiunddreißig Tage, das ist die Hälfte dessen, was Herr Zacharias Dahse aus Hamburg vor zwanzig Jahren brauchte.« Das Flüstern wurde stärker, die Blicke mehrten sich. »Der König hat nun einen Wettstreit ausgelobt«, rief er weiter. Es wurde still. »Signorina Morelli wird mit Ihnen in den Wettkampf treten, hier im königlichen Finanzsaal, meine Herren.« Neues Tuscheln, Raunen. Meister Liang rief »Ja, ja!« und hob beide Hände in die Höhe. »Ich schlage vor, dass jemand aus Ihren Reihen eine beliebige Multiplikation vorschlägt, Herr von Dorn schreibt sie an die Tafel und der Wettstreit beginnt. Die Uhr läuft mit. Vielleicht warten wir noch, bis der Minister kommt, er will persönlich Zeuge sein und dem König Bericht erstatten.« Ein Diener ging auf Liang zu und flüsterte. »Ich höre soeben«, sagte der Chinese, »dass der Minister noch verhindert ist.« Er lächelte in Chiaras Richtung. Sie war nervös, sie wusste gar nicht, ob sie jetzt würde rechnen können. Für einen Moment wallte Panik herauf und raubte ihr den Atem. Sie durfte Herrn Liang nicht enttäuschen, der sich so einfühlsam um sie gekümmert hatte, der auch am Morgen noch einmal mit ihr geredet hatte über die Tragödie, über Schuld und Leichtsinn unbekannter Leute, über die Macht und Ahnungslosigkeit des Königs und das bengalische Gefühl, das sie die Nacht begleitet hatte und das sie auch jetzt noch tröstlich wahrnahm, trotz allen Schmerzes.
»Mister Jones«, rief Liang, »darf ich Sie vielleicht bitten…« Und leise zu Chiara: »Er ist unser bester Rechner, sehr zuverlässig, beinah elegant.« Weiter hinten erhob sich ein älterer Herr mit hoher Stirn, schütterem, weißem Haar und grauer Haut. Er blies die Wangen auf und sagte dann: »Well I do not know… Finden Sie nicht auch, Herr Liang, dass wir uns nicht dazu hergeben sollten, Kinderspiele zu veranstalten?« Liang riss die Augen auf, seine Farbe wechselte. »Excuse me, Mister Jones! Sie glauben, dass wir uns über Sie lustig machen wollen. Wie kommen Sie darauf? Ich will Sie natürlich nicht in Verlegenheit bringen, ich dachte nur, es sei anschaulich zu zeigen, was die junge Dame kann.« »Was kann sie denn?«, fragte jemand anderes aus den Reihen. »Rechnen«, sagte der Chinese nüchtern. »Nur rechnen, das ist alles.« »Schnell rechnen ist keine Kunst«, rief Mister Jones. »Und wenn doch, so rate ich der jungen Lady, sich vor gewissen Gesellschaften zu zeigen, die dafür Verständnis haben. Davon gibt es genug, auch in Berlin. Wir müssen arbeiten, das Ministerium sitzt uns im Nacken.« »Der Minister höchstpersönlich hat mir die Erlaubnis erteilt, Ihnen unseren Gast vorzustellen, und zwar auf, wie er sagte, beeindruckende Weise…« »Ho, ho!«, rief jemand. Lautes Tuscheln. Liang hob die Hände, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. »Mister Jones, werden Sie nun eine Aufgabe stellen oder nicht? Ich warte.« Mister Jones hatte sich gesetzt. Er erhob sich wieder, blickte um sich und wischte sich mit einem Tuch den Hals.
Chiara schämte sich. Es war ihr furchtbar peinlich, sie ging zurück zur Tür. Dort standen zwei Bedienstete in Uniform und blickten streng. »Well then«, sagte Mister Jones. »Wenn es denn sein soll. Vermutlich wird die junge Dame uns auch vor dieser fatalen Verschwörung der Zahlen retten, mit der ihr Onkel alle Welt verrückt und sich berühmt macht.« Er lachte schnatternd. »Ich schlage drei Zahlen vor, die zu multiplizieren sind: drei hoch drei, vier hoch vier, fünf hoch fünf. Ready, steady, go!« Der Mann an der Tafel hob die Kreide und schrieb. Chiara musste nicht zur Tafel sehen. Die Zahl stand klar und lesbar vor ihr. »Einundzwanzig Millionen sechshunderttausend«, sagte sie. Der Engländer starrte herüber. »Wie bitte?« Chiara wiederholte das Ergebnis. Meister Liang lächelte. »Was meinen Sie, Mister Jones, stimmt die Antwort?« Jones zögerte, blickte sich Hilfe suchend um. Die meisten der Rechner saßen schon über ihre Papiere gebeugt und schrieben. Der Mann an der Tafel ließ die Kreide sinken. »One moment please«, bat Mister Jones, nicht mehr so laut wie zu Beginn. Alle rechneten. Die Zeit floss hin. Chiara zählte die Sekunden. Als sie bei neunundfünfzig angelangt war, nahmen die Diener Haltung an. »Der Herr Minister!« Die Stühle scharrten, die Rechner standen, einer nach dem anderen, auf. Ein schlanker, schöner Herr mit langer, gerader Nase betrat den Saal. Seine Augen waren schwarz und tief, der Mund mit Schwung und voller Farbe. Chiara sah ihn und wurde wieder rot, die Hitze flog ihr ins Gesicht. »Guten Morgen, meine Herren!«, sagte der Minister mit einer überraschend schmalen, schnarrenden Stimme, die gar nicht zu
seiner Statur passen wollte. »Bitte nehmen Sie Platz. Ich habe wenig Zeit.« Er blickte sich um, sah Chiara und lächelte sie an. »Wir haben von heute an einen ganz besonderen Gast auf Sanssousi. Signorina Morelli kommt aus Italien zu uns… aber das wissen Sie natürlich schon. Der König verbindet sehr besondere Hoffnungen mit ihrer Anwesenheit…« Er ging auf Chiara zu, nahm ihre Hand und küsste sie. Chiara fühlte seinen Mund auf ihrer Haut. Ihr wurde schwindelig, sie biss die Zähne aufeinander. »Ich weiß«, sagte der Minister, »dass es genügend Stimmen gibt, die die Bedrohung einer wahrhaftigen Verschwörung der Zahlen für eine Dummheit halten, Gentlemen. Man mag darüber denken, wie man will. Aber wenn auch nur die kleinste Möglichkeit besteht, dass wir, wie soll ich sagen, vor einem Krieg der Zahlen stehen, vor einer arithmetischen Revolte, dann müssen wir rechtzeitig geeignete Maßnahmen ergreifen, um dieser Gefahr zu begegnen. Unser Staat steht auf dem Spiel, die Ordnung, das Königtum, das ganze bürgerliche Leben.« Er holte tief Luft und blickte ernst und genau in die Reihen der Beamten. Mister Jones hatte sich geduckt. Chiara fühlte sich bestärkt und versteckte sich nicht länger. »Ich sehe, Sie haben mit dem Wettstreit schon begonnen?«, fragte der Minister in Liangs Richtung. Der Chinese nickte. »Mister Jones, sind Sie so weit?« »Ja, Sir.« »Und das Ergebnis?« »Miss Morelli is right«, antwortete Jones kleinlaut. »Wie lange haben Sie gebraucht?«, fragte der Minister in die Reihen. »Hundertachtzehn Sekunden«, sagte der Mann an der Tafel. »Und Fräulein Morelli?« Der Mann schwieg verlegen.
»Meister Liang?« Der Minister sah ihn an. »Drei, vier Sekunden, Herr Minister. Ich hatte gerade angefangen zu zählen.« »Also glänzend. Der König wird entzückt sein. Er schläft nicht mehr, seit dieses Gerücht umgeht. Wenn man wüsste, wer damit angefangen hat. Quasi una fantasia! Was denken Sie, Liang?« »Er sieht die schleichende Gefahr, wie viele andere!«, rief plötzlich jemand von hinten. Der Minister drehte sich um. Göttling stand in der Tür und strahlte, als hätte man ihm soeben den Schwarze-Adler-Orden verliehen. »Die Lage ist sehr ernst, Herr Minister«, rief er außer Atem. »Wir sollten uns nicht von unerfahrenen, voreiligen Skeptikern auf falsche Pfade leiten lassen. Natürlich wird uns nicht das kleine Einmaleins abhanden kommen. Aber was ist mit den aggressiven Zahlen, den transzendent-irrationalen, den Partikularisatoren, was ist mit der Mersenne’schen Primzahl, mit der Abel’schen Mannigfaltigkeit, mit dem Übergangshomöomorphismus und der trichotomischen Mathematik? Was passiert, wenn uns das Skalarprodukt im Stich lässt oder die Stirling’sche Formel nicht mehr richtig anzuwenden wäre? Die wirklichen Gefahren lauern jenseits, Herr Minister, dort, wo nicht jeder Schüler und Finanzbeamte Einsicht hat. Diese schwierigen Zahlen machen sich zuweilen selbstständig, verbergen sich, lassen kleine Fehler zu, geringfügige Abweichungen, die wir erst erkennen, wenn das Kind im Brunnen liegt.« Der Minister hatte Falten auf der Stirn. Der Onkel hob den Kopf und blickte vornehm, beinah überheblich. Chiara staunte nur, mit welcher Kraft er schwindelte, denn dass er blendete, das war ihr klar.
»Nun, Herr Professor, ich…«, sagte der Minister. Er zögerte. »Sie sind der Fachmann, obwohl… es gibt Stimmen, die diese Dinge deutlich von sich weisen und für Flausen halten, das sei gesagt.« »Stimmen, Stimmen«, sagte Göttling. »Es gibt immer Stimmen. Aber Stimmen sind das eine, die Wirklichkeit, der Staat das andere. Unser König braucht die Zahlen. Das Land, die Menschen, die Wirtschaft, der Handel, alles sind nur Mengen, Größen, Zahlen.« »Freilich. Wie auch immer. Sie sagen, dass Ihre Nichte die besondere Fähigkeit habe, die Welt der Zahlen anders wahrzunehmen…« »Die Regungen des arithmetischen Universums, Herr Minister.« »Vorzüglich.« »Sie versteht die Seele der Zahl, das Herzensherz der Algorithmen, sie fühlt mit ihnen, sie schmeckt sie, so, wie wir einen Kuchen auf der Zunge haben oder den Duft der Rose riechen. Das ist anders.« Er machte eine präsentierende Gebärde, die Chiara traf wie eine Ohrfeige, eine Beleidigung. Nicht dass es ihr nicht gefallen hätte, was er sagte, sondern dass er hier, an dieser Stelle davon sprach. Sie kam sich nackt vor, ausgezogen, auf frischer Tat ertappt. Göttling pustete sich auf. Der Minister hing schon an seinen Lippen, die Beamten horchten atemlos. Nur Meister Liang war in den Hintergrund getreten und vergrößerte den Abstand immer wieder. »Die Welt der Zahlen ist nicht gänzlich unsere Welt«, dozierte der Onkel. »Gott hat uns das Geschenk gemacht, zu einem Teil dort hineingreifen und hineinschauen zu dürfen. Aber das Entscheidendste, das Erhabene in der Mathematik bleibt uns für gewöhnlich doch verschlossen. Da ahnen, spekulieren, schätzen wir allenthalben und sind dumme
Kinder. Das hohe Ross, auf dem wir sitzen, ist ein Holzpferd und drinnen steckt der Irrtum, das mathematische Misslingen. Meine Nichte hat mich eingeweiht, es war für mich sehr schmerzlich und enttäuschend…« Sein Gesicht verzerrte sich. Chiara mochte gar nicht glauben, was sie sah. Der Onkel war ein Scharlatan, er machte falsche Politik – mit ihr, mit seiner Nichte, die eine Waise war, weil dieser Hof und dieser Staat Interessen hatte, Wünsche, Visionen, mochten sie gut oder böse sein. In dieses Räderwerk war sie geraten und der Onkel war davon ein Rädchen, das sich hier drehte, das quietschte und sich schamlos spreizte, was das Zeug hielt, dreist und liederlich… »Ich kann Sie nur eindringlich warnen, Herr Minister«, sagte Göttling streng. Er spielte Zirkus, hielt einen Jahrmarkt ab; sie, Chiara, war das Unikum, die Dame ohne Unterleib! »… Ich rate dem König zu handeln. Mit Hilfe meiner Nichte kann es ihm gelingen, die drohenden Gefahren abzuwenden…« »Nein, lieber Onkel!« Chiara schüttelte den Kopf, die Locken flogen. »Ich will das nicht!« Alle starrten sie an, als hätte sie ein Glas zerschlagen. »Verzeihen Sie, Herr Minister«, rief sie. »Jawohl, ich habe gerechnet, schnell und richtig. Ich kann es eben. Ich kann noch größere Zahlen bewältigen, Mister Jones.« »Lisa!« Göttling schnaufte. »Aber was ich nicht kann, ist, mit einer Welt zu sprechen, die auch mir verborgen ist. Mein Onkel verspricht etwas, das ich nicht halten kann. Er lügt. Ich will nicht lügen.« »Chiara Lisa!« »Verzeihen Sie mir, lieber Onkel! Es ist zu viel. Ich muss Sie im Stich lassen. Ich weiß nichts von Ihren Plänen. Ich wusste nichts vom König, von seiner Angst, von seinen Wünschen, mich am Hof zu sehen, und von der Art und Weise, wie es sich ereignete, dass ich nun hier bin und hier bleiben muss. Ich
werde bleiben, aber ich will nicht mit einer Lüge bleiben. Das ist alles«, setzte sie hinzu und trat zurück. Es war still. Man konnte Göttling atmen hören. Er röchelte. »Herr Minister, ich… Meine Nichte, wir werden…« Er wurde purpurrot und wankte. Der Minister hüstelte. Er drehte sich herum. »Nun, Herr Professor Göttling, vielleicht… Ich habe den Eindruck, dass Sie sich vielleicht vergriffen haben…« Die Rechner tuschelten. Chiara stand bleich und schuldbewusst am Eingang, sie war unentschieden, ob sie hinauslaufen oder bleiben sollte. In diesem Moment griff Göttling sich ans Herz, er strauchelte, tat einen kurzen, rauen Ruf und stürzte hin. Meister Liang fasste sich als Erster, lief hin und kniete sich daneben. Er rief um Hilfe, man möge einen Arzt benachrichtigen. Der Minister schüttelte den Kopf, winkte zu den Dienern und flüchtete nach draußen. Einige Finanzbeamte kamen zögernd näher und machten einen Halbkreis um den Kranken, der regungslos am Boden lag. Chiara war erstarrt, die Glieder schmerzten wie in Krämpfen. Sie wollte gehen, die Beine versagten ihr den Dienst, sie standen hölzern unter ihr. Ihr Kopf tat weh, die Hände waren kalt wie Eis.
Die Verschwörung der Zahlen
Nachdem Göttling im Schloss zunächst in eines der Gästezimmer gelegt worden war, hatte man am selben Abend Lärm vernommen. Diener hatten Toto aus einem abgelegenen, verriegelten Wandschrank befreit, sein Gesicht war feuerrot und geschwollen. Chiara hatte ihn ausgefragt, was denn nur vorgefallen sei, aber nichts erfahren. Am Morgen hatte man Göttling in die Stadt, ins Hospital gebracht. Toto und Chiara folgten später, die Kutsche hielt am Krankenhaus. Aber sie mochten beide nicht hineingehen. Stattdessen wagte Toto sich nach Hause, ängstlich, zögerlich. Chiara machte ihm Mut. Wenn er nichts mit dem Feuer zu tun hätte, brauchte er sich nicht zu fürchten. Der erste Anblick war erschreckend. Das Feuer hatte viel zerstört. Über den Fenstern im Erdgeschoss, wo die Flammen offenbar mit wildem Zorn ins Freie geleckt hatten, sah man, vom Regen schon verwaschen, alten Ruß auf der Fassade. Lange, dunkle Nasen liefen lotrecht über die hellen Sandsteinquader in die Tiefe und verästelten sich am Fenstersturz zu einem breiten, schmutzigen Geflecht, das Chiara an ein gewaltiges Flussdelta erinnerte, das sie einmal in einem Atlas ihres Vaters angesehen hatte. Im Parterre lagen die Reste der Wand- und Deckentäfelung am Boden. Überall standen Gerüste, auf denen Maurer, Putzer und Stuckateure arbeiteten. Toto wagte ein paar Schritte in den Flur und flüchtete gleich wieder.
Chiara wartete draußen auf der Straße. Plötzlich, aus dem Staub, tauchte hinten an der Treppe Luise auf und tat vor Überraschung einen leisen Schrei. »Um Himmels willen! Nur leise. Die Mutter ist noch sehr verbittert und weit entfernt, Ihnen zu verzeihen, junger Herr.« Sie ging auf Toto zu und breitete, ein wenig zaghaft, beide Arme aus. Toto rührte sich nicht. Dann trat er ein paar Schritte auf sie zu, blieb wieder stehen und sagte heiser: »Oh Luise, wenn du wüsstest…« »Ach was!«, sagte sie und ging entschlossen auf ihn zu, zog ihn an sich und drückte ihn. Er ließ es sich gefallen. »Ich bin nicht schuld an dem Feuer. Ich war es nicht«, sagte er. »Glaubst du mir, Luise?« Sie lächelte und nickte. Chiara betrat den Flur, sie atmete den Staub ein. »Wir hatten Angst, zurückzukommen.« »Ja, ja.« Luise drehte sich um und rief Jakob, der sogleich die Treppe herunterkam und die beiden freundlich begrüßte. »Wir haben die Zeitungen gelesen«, sagte er. »Man kann es gar nicht glauben. Ich bin ganz aufgeregt. Ein Ballon! War es denn wirklich alles so?« Toto bestätigte mit zaghaftem Stolz. »Erst einmal nach oben«, sagte Jakob und winkte alle tiefer in den schwarzen Flur, zur Treppe hin. Er legte einen Finger an den Mund. »Die gnädige Frau hat Migräne.« Sie gingen nach oben und folgten Jakob in das Hinterhaus. Die Küche, die nur ein großes Durcheinander war, befand sich jetzt in einem alten Gesindezimmer. Die Wände waren voll gestellt mit Kisten, Fässern, Säcken und Geschirr. In einer Ecke türmte sich ein kleiner Hügel aus Körben, Backformen, Pfannen, Töpfen und großen Steingutschalen. Der Ofen glühte. In einem Topf köchelte das Essen. Es roch nach Rotkohl,
Nelken, Zwiebeln. Auf dem Tisch lag ein Haufen geschälter Kartoffeln und ein Messer. Jakob nahm es und setzte seine Arbeit fort. Luise trug einen Eimer Wasser herein, füllte einen Topf und setzte ihn dicht neben den anderen auf die heißen Ofenringe. »Alles ist sehr beengt, seit wir nach oben mussten«, sagte sie. »Die Familie isst im Arbeitszimmer des Professors.« Sie suchte Totos Blick und schüttelte den Kopf. »Die gnädige Frau ist sehr schwach. Sie spricht nicht mehr. Ich flöße ihr das Essen ein, aber sie verliert Gewicht. Als wären ihre Lebensgeister aufgezehrt. Geheimrat Riedel war bei ihr und weiß gar nicht mehr, was er noch tun soll.« Die beiden Mädchen kamen herein und steckten die Köpfe zusammen. In ihren Gesichtern war ängstliche Vorsicht. Chiara grüßte sie. Sie machten einen Knicks und starrten ihren Bruder an. »Da bin ich wieder!«, rief Toto und lächelte gequält. »Es hat ein schlimmes Feuer gegeben«, sagte Minchen. »Die Frau Mama spricht nicht mehr. Der Herr Papa ist krank.« »Die Frau Mama weint, wenn sie uns sieht«, sagte Helene. »Vielleicht kannst du sie trösten, Theodor.« »Ich besuche sie nachher in ihrem Zimmer, da könnt ihr dabei sein und mir helfen, wenn ihr möchtet.« »Wir könnten zusammen von Luise etwas Stoff erbitten«, sagte Chiara, »und vielleicht etwas Hübsches nähen.« Sie spürte sofort, dass ihr Vorstoß allzu forsch war. Die Mädchen blickten verlegen zur Seite, drucksten herum und wurden rot. »Was ist?«, fragte Toto. »Das dürfen wir nicht«, antwortete Minchen. »Was?« »Mit der Cousine Lisa spielen.« »Sie heißt Chiara.« »Ja«, sagte das Mädchen und senkte den Blick.
Chiara flüchtete nach vorn. »Ich werde eure Frau Mutter darum bitten. Vielleicht erlaubt sie es ja doch.« Die Schwestern sahen sie unsicher an. »Luise, ich gehe hoch zur Mutter. Es muss sein. Jetzt. Kommst du, Chiara?« Sie freute sich, dass er sie bei sich haben wollte. Aber bestimmt war es nur seine Angst; er brauchte sie als Sekundantin, als Beistand und Verteidigung, als Zeugin seiner Unschuld. Der Gedanke tat ihr weh und brannte in der Brust und in den Augen. Sie verließen die provisorische Küche und gingen nach oben. Toto klopfte an, öffnete und steckte den Kopf hinein. Die Mutter saß in einem breiten Lehnstuhl. Am linken Handgelenk trug sie einen festen, weißen Verband. Der Ruhesessel stand im Schatten, dem Fenster abgewandt. Sie traten ein und blieben stehen. »Mutter?«, sagte Toto. Sie schien ihn nicht zu hören. »Wir sind zurück. Chiara ist bei mir.« Er zögerte. »Ich habe mit dem Feuer nichts zu tun.« »Lüge mich nicht an!« Die Mutter blickte halb zu ihm. Ihre Stimme schellte kränklich. »Ich kann dich nicht anschauen«, fuhr sie leise fort. »Es war falsch zu behaupten, du seiest unschuldig.« »Nein, Mutter. Ich bin schuldig. Aber ich habe das Feuer nicht gelegt.« »Es tut mir alles weh. Ich glaube nichts mehr. Ich hoffe, du begreifst das Ausmaß deiner Aufsässigkeit, deiner blinden Wut auf alles.« Toto knackte mit den Fingerknöcheln. »Dein Vater will das Haus verkaufen. Er will uns in alle Winde zerstreuen und wird es schaffen. Die Zukunft ist ein
schwarzer Vorhang. Ich bin niemand mehr. Deine Schwestern werden nicht mal mehr die Schule besuchen können.« »Das ist sehr ungerecht, Mutter«, verteidigte sich Toto. »Glaubst du, ich wäre noch einmal hierher zurückgekommen mit solcher Schuld auf der Seele? Ich müsste ja ganz krumm gehen vor lauter Last.« »Dein Vater ist zerbrochen, an dir und deinem Krieg, den du gegen ihn geführt hast. Willst du auch noch leugnen, dass du ihm sein Geld gestohlen hast?« »Nein«, sagte Toto. »Aber es war meine Gegenwehr. Vielleicht kindlich. Ich bereue es. Er hat das Geld zurück.« »Du bist widerlich!«, rief die Mutter schwach. »Verzeihen Sie, liebe Tante!«, sagte Chiara plötzlich. »Darf ich etwas sagen?« Die Tante schwieg. »Es ist nur meine Schuld, Tante, nicht Theodors. Ich habe Ihren Gatten mit einem Holz verletzt. Er schlug auf Theodor ein, in der Remise, während das Feuer um sich griff. Ich habe den Onkel am Kopf getroffen, er stürzte und blieb liegen und wir sind fortgerannt.« Die Tante drehte sich um und blickte Chiara an. »Willst du die Heldin spielen, die Retterin, die Romantikerin?« Sie fasste sich mit der Rechten an das verbundene Handgelenk. Chiara sah ihr Kinn, die weißen, dünnen Lippen zitterten. »Ich habe ihn nicht allein bekämpft«, sagte Toto. »Du hast genauso einen Krieg gegen ihn geführt, Mutter, solange ich denken und empfinden kann. Da sind die Spuren…« Er deutete auf den Verband. »Schweig still!«, fuhr ihn die Mutter an. Sie glühte vor Zorn. »Muss ich mir von meinem eigenen Kinde Richterworte sagen lassen? Ja, stich nur in mein Herz. Du bist geschickt darin, immer schon gewesen, Söhnchen!« Sie lachte bitter.
Chiara trat ein paar Schritte zurück, um aus dem Blick der Tante zu gelangen. »Weil ich schwach bin, nur weiter so! Mein Sohn ist das Abbild seines Vaters. Als hätte einer von euch je Rücksicht auf mich genommen. Chiara, wo versteckst du dich? Ich will dich ansehen. Komm her! Ich erzähle dir aus meinem Leben. Jeder kann es hören. Ich bin durchgefallen, mein Mann ist ein Betrüger. Dich, mein Kind, hat er genauso betrogen wie mich, das weißt du. Du hast gearbeitet und er lässt sich vom König loben.« Ihre Augen sprühten überraschend Feuer. »Das ist nicht wahr, Tante.« »Oh doch, er hat sich immer gut herausgeredet, das konnte er. Dabei hätte er sich denken können, dass sein Betrug niemals von Dauer sein wird. Kann irgendjemand das begreifen?« Chiara wagte nicht, auch nur den Kopf zu bewegen. Toto kam zu ihr und fasste ihre Hand. »Lass, bitte! Mutter!« »Nein, ich lasse nicht! Sie kann es hören. Der Pfarrer bangt um mich, er befürchtet, dass ich den Verstand verliere. Vielleicht. Wer weiß? Schön eigentlich. Man ist dann lastenfrei, oder? Kein Wort hat ein Gewicht. Das ganze Leben wird leicht. Zu leicht…« Sie schwenkte die verletzte Hand. »Ich habe Lust, ihn zu verraten. Am Abend des Tages, an welchem er um meine Hand anhielt, fand ich eine Schale Blut auf meinem Fensterbrett. Es war von ihm. Es sollte ein Zeichen seiner Treue sein. Er hatte diesen Spleen. Ich versteckte die Schale unter meinem Bett. Am anderen Morgen zeigte er mir die Wunde an seinem Arm. Ich fand das wunderbar, schauerlich, romantisch. Jetzt erscheint es mir bloß noch ekelhaft, geschmacklos, billig. Das also ist die Liebe!« Sie lachte bitter. »Das große Leben mit… Herrn Professor Göttling…« Sie sank tief in den Sessel ein. Es tat Chiara weh, sie so zu sehen. Toto ließ sie los und schlich zur Tür.
»Liebe, gute Tante«, sagte Chiara. »Ich will dir helfen. Ich werde arbeiten, ich werde Geld verdienen.« Ihr war klar, wie bedeutungsarm die Worte waren, wie leicht dahingesprochen. Trotzdem fühlte es sich tröstlich an, sie laut zu sagen. »Ich kann arbeiten!« »Ich verliere alles«, antwortete die Tante. »Ich habe mich aufgegeben, die größte aller Sünden. Ich bin zu alt, mich selbst zu retten. Ich habe gehofft, jemand fängt mich auf… Geht! Geht weg, beide! Lasst mich sein!« »Und meine Schwestern?«, fragte Toto. »Sie gehen mir längst aus dem Weg, diese Püppchen. Sie drucksen bloß herum und können mich nicht lieben. Niemand kann mich lieben. Alles kalt! Geht, geht!… Theodor, mein Junge! Ich bin zweiundvierzig Jahre alt. Im Alter wird das Blut so schwer und starr…« Sie winkte zur Tür hin und griff fest in die Lehnen des Stuhls. Toto ging zu ihr und berührte ihre Schulter, flüsterte etwas, das Chiara nicht verstand. Sie trat auf den Flur hinaus und schloss leise die Tür. Sie folgte der Treppe nach oben, bis auf den Speicher und zu der kleinen Schlafstube. Die war voll gestellt mit allerlei vorm Feuer geretteten Dingen, die man hastig in Kisten und Kasten geworfen hatte. »Sie wird es wieder tun…« Toto war ihr gefolgt und stand plötzlich in der offenen Tür. Er deutete auf sein Handgelenk. »Was ich ihr nicht verzeihen kann, ist«, fügte er hinzu, »dass sie nie wenigstens heimlich einmal zu mir gehalten hat. Sie kannte ihn ja, sie weiß doch, wie er ist.« »Wir sind ziemlich erwachsen«, sagte Chiara. Der Satz gefiel ihr. Toto blickte skeptisch herüber. Er spielte mit den Schuhspitzen, schob ein bisschen Dreck zusammen und verwischte ihn. »Irgendwie haben wir jetzt beide unsere Eltern verloren.«
Er schaute allzu traurig aus, fand sie. Am liebsten wäre sie zu ihm hingegangen und hätte ihn festgehalten. Aber da waren so viele Hürden überall. Jedes Mal, wenn sie den Wunsch empfand, ihn zu berühren, war sie wie gelähmt. Als hätte er geahnt, was sie jetzt fühlte, verzog er plötzlich den Mund und sagte: »Ach, Chiara, was willst du denn mit meinem Kreideherz?« Er klopfte sich gegen die Brust und hustete derb. Sie musste trotzdem lachen. Am liebsten hätte sie ihm jetzt gesagt, wie sehr sie ihn mochte. Er lachte knapp zurück und drehte sich weg. Sie hörte seine Schritte auf der verschmutzten Treppe knirschen. Es klang eilig und gehetzt. Sie ging ihm nach.
Am liebsten hätte sie die Augen ganz geschlossen. Sie blinzelte, horchte angestrengt auf Totos Schritte vor ihr auf dem Steinfußboden. Sie wollte gar nichts sehen. Vor allem wollte sie den Onkel nicht sehen und stand doch kurz davor, es würde sich nicht vermeiden lassen. Es war wie vor das Gericht kommen, vor den Richter treten und sein Vergehen beichten müssen. Die Flure des Hospitals waren dunkel. Sie durchschritten den Saal, in welchem sie selbst vor ein paar Wochen noch gelegen hatte, und erreichten ein zweites Treppenhaus. Sie stiegen über die Blütenmuster der Stufen empor bis in den dritten Stock. Toto zog die weiße Flurtür auf. Chiara mochte den Knauf gar nicht berühren, sie folgte ihm mit leichtem Schwindel und trommelndem Puls. Toto drehte sich nach ihr um. Vor einer der Zimmertüren blieb er stehen. Es war die Nummer neun. Eine schwierige Zahl mit alter Last. Drei Dreien, dachte Chiara, die Sieben mit der dummen Zwei… »Eins zu wenig,
um eine Zehn zu sein«, sagte sie halblaut. »Eine Zehn wäre besser, heller. Sie riecht auch gut.« Toto zögerte einen Moment. Dann fasste er die Klinke, zaghaft, und öffnete. Chiara ging ihm nach. Jetzt hatte sie die Augen offen, aber sie blickte nicht zum Bett. Sie sah das hohe, grelle Fenster, einen Schrank, zwei Stühle, den Tisch und einen Korb voll weißer Wäsche, der verloren in der Ecke stand. Dann merkte sie, was ihre wahre Angst war: dass der todkranke Onkel plötzlich zu ihr sprechen könnte. Zwar hatte Luise behauptet, dass er immer schwieg. Trotzdem. Was würde sein, wenn ihr Erscheinen ihn veränderte? Wenn er sich erschreckte und zurückfand in sein Leben? Natürlich war nicht sie, Chiara, allein an allem schuld. Dennoch. Sie ging am Bett vorbei, bis zu dem Fenster und schaute durch die alten, krummen Scheiben. Draußen sah sie Wolken, Häuser, Bäume, Menschen, die durch das Glas (wenn sie sich selber hin- und herbewegte) ganz verzaubert und verschwommen schienen. »Er wird nicht sprechen«, sagte Toto. »Vater?…« Es stach ihr ins Herz. »Aber er sieht mich an. Er weiß, dass wir da sind. Komm her, Chiara!« »Nein.« »Wieso nicht?« »Ich kann nicht.« »Er sieht ganz friedlich aus.« »Ich will nicht.« Chiara hielt sich am Fenstergriff fest. Die Beine waren schwer, die Lider fielen zu. »Atmet er denn richtig?«, fragte sie. »Er bewegt sogar die Hände… Vater!« Toto drehte sich immer wieder zu ihr. »Komm doch, bitte!« Sie blieb stehen. Sie fühlte sich zu schlecht. »Bestimmt hört er, was wir sagen«, flüsterte Toto.
»Oh nein!« Sie wollte es nicht. Sie wollte wegrennen. Sie wollte nicht zu ihm hingehen und etwas sagen. Sie hasste es, so zu tun, als fühlte sie kein Gewissen, und umgekehrt, als wäre da nicht auch so etwas wie Genugtuung, Erleichterung, ja Freude in ihr, dass der Onkel litt, dass er womöglich sterben würde. Abrupt wandte sie sich um, ging hin und nahm seine Hand, die neben der anderen obenauf lag. Die Hand war kühl und zitterte. »Ich weiß, was du denkst«, sagte Toto. »Aber bevor du dich schlecht und schuldig fühlst und glaubst, du müsstest dich bei ihm entschuldigen, muss er es umgekehrt bei dir tun.« »Er kann ja nicht«, sagte Chiara. »Er tut mir genauso Leid wie dir. Er ist mein Vater…« Die Zimmertür flog auf. Montgolfier trat ein, er trug ein großes Bund strahlender Margeriten im Arm, legte sie auf den Tisch und blickte misstrauisch umher. »Nein, bitte«, sagte er finster. »Ich wünsche nicht, mit Ihnen zu sprechen. Ich sage nichts. Es tut mir zu weh, wenn ich das sagen darf. Der Herr Professor ist darüber im Bilde. Wer hat Sie überhaupt hereingelassen? Wenn Sie mich einfach meine Arbeit tun lassen wollen…« Er marschierte wieder zur Tür hinaus und verschwand im Flur. Chiara und Toto sahen sich verwundert an. Keine Minute verging, als der Kutscher erneut eintrat. Diesmal trug er Rosen, einen Arm voll, rote, gelbe. Er legte sie zu den anderen Blumen, holte zwei Vasen und füllte sie mit Wasser aus der Waschkaraffe. Er stellte die Blumen hinein und verschwand abermals. Chiara ging ihm nach. Draußen bat sie Toto herzukommen, um selber anzuschauen, was sie sah. Sie trauten ihren Augen nicht. Im Flur erstreckte sich, im Halblicht, ein Meer aus Blüten, geflochtenen Kränzen und Gebinden. Montgolfier hatte sich, vielleicht aus dem Heizungskeller des Hospitals, zwei Helfer kommen lassen und
dirigierte, kommandierte lautstark, dass es widerhallte, welche Dinge, Girlanden, Blumen, Vasen, als Nächstes in das Krankenzimmer zu tragen und aufzustellen seien. Dann wurden gehobelte Bretter hergebracht, die Chiara noch mehr Rätsel aufgaben. Sie sprang zur Seite, weil die Männer voll beladen angelaufen kamen. Drinnen begannen sie zu sägen, zu hämmern, bauten aus dem Holz verschieden hohe und lange Bühnen, die sie nach Anweisung in Gruppen zusammenstellten und links und rechts vom Bett aufstellten. Montgolfier drapierte sie mit Deckchen und stellte schließlich die Blumenvasen und eine Menge Töpfe darauf. Es war ein Gartenfest für einen Kranken, der nicht bei Sinnen war, der mit geschlossenen Augen dalag und nur atmete; als gelte es, die Krankheit des Professors noch zu feiern. Es war wie Christi Himmelfahrt. Der Duft der Blumen löste Schwindel aus. Toto saß kalkweiß und sprachlos auf einem Stuhl. Chiara war nah daran zu lachen, bis Montgolfier noch einmal durch die Tür hereinkam, hinter ihm die beiden Helfer mit einem sonderbaren Tisch, der ihr sofort bekannt erschien. Sie fröstelte. Die Männer stellten den Tisch nah an das Krankenbett. Dann gingen sie und trugen die Maschine, das Orendaskop, herein. Gleich hinter ihnen schritt der Geheimrat Doktor Riedel in den Blütenraum, steif und feuerrot. Er holte Luft und pustete. »Was, meine Herren, ist das?« »Anweisung des Patienten«, sagte der Kutscher kaltblütig. »Es geht auf seine Kappe. Sie müssen sich nicht sorgen, Herr Geheimrat.« »Dieser Mann ist gar nicht fähig, Anweisungen zu geben.« »Das sagt man so«, entgegnete Montgolfier. Der Arzt riss die Augen auf. Montgolfier schnitt ihm das Wort ab. »Kann sein, dass Sie ihn nicht verstehen, Herr Doktor. Ich verstehe ihn. Er spricht,
in gewisser Hinsicht. Diese Maschine wird ihm zudem Erleichterung verschaffen.« »Seien Sie still, Mann!«, fuhr ihn Riedel an. Er drehte sich um und entdeckte Toto. »Ach, der Herr Sohn! Ich will Ihnen sagen, junger Mann… ich kenne Ihren Vater furchtbar lange. Er ist… ein gefährlicher Mensch. Wir haben zusammen studiert, und ich erinnere mich, dass er einmal die Hand gegen den Ordinarius erhoben hat. Ich kann es heute noch nicht fassen.« Der Arzt war in Rage. »Ihr Vater vertrat schon damals recht sonderbare Ansichten. Er glaubte, dass wir alle nur Zellen eines größeren Organismus seien. Natürlich leitete er daraus für sich gewisse Freiheiten ab, ja er berechnete sie mit geheimnisvollen Formeln und mit Zahlen. Er fühlte sich als Richter über andere, hoch über die Menschenwelt gestellt. Er ist gefährlich!…« Er hob drohend die Hand. »Was reden Sie denn da?«, rief Montgolfier und dekorierte weiter mit seinen Blumen, als sei nichts geschehen. »Was ich rede?«, rief der Geheimrat empört. »Göttling hat mit Katzen angefangen und mit Menschen aufgehört. Das rede ich! Er hat Katzen regelrecht dressiert oder in Trance versetzt. Jedenfalls liefen sie ihm auf der Straße hinterher, es sah komisch aus. Bis er ihnen befahl, sich in den Fluss zu werfen. Oh ja! Er beschwor die Tiere, sie sprangen ins Wasser und ertranken. Voilà!« Riedel schwitzte heftig. Der Schweiß perlte von den Schläfen, den Hals hinab bis in den hohen, steifen Kragen. »Katzen!«, sagte der Kutscher abfällig. Chiara war nah daran, seine Frechheit zu bewundern, es sogar Mut zu nennen oder Selbstbewusstsein. »Was Sie nicht wissen, Herr Geheimrat«, rief er und begann, den Apparat aufzubauen. »Womit Sie sicher nicht gerechnet haben… Wenn wir schon Krieg führen und ich hier an seiner Statt um seine Ehre kämpfen muss…« Er nickte in Göttlings
Richtung und blinzelte. »Wir sind Vertraute, wir sind Freunde, der Professor und ich. Seit langer Zeit. Das bedeutet, ich vertraue ihm, verstehen Sie? Und ich verteidige ihn.« Er lachte und blickte Chiara und Toto triumphierend an. Toto saß grau und krumm auf seinem Stuhl. Montgolfier war noch lange nicht fertig. »Als Sie ein junger Arzt waren, Herr Geheimrat… das weiß ich von dem Herrn Professor… Sie waren recht taub gegenüber neuen Erkenntnissen der Medizin. Nun, ich weiß es eben. Es stimmt doch, dass ein gewisser Ordinarius lehrte, dass man sich nicht nur nach, sondern vor allem vor der Behandlung der Patienten die Hände waschen muss. Unbedingt. Ich weiß es nun mal. Sie haben es nicht verstanden und nicht getan. Nichts. Erst, als eine Reihe von Patienten sehr viel kränker wurden, als sie waren… Muss ich mehr erzählen?« Riedel war atemlos vor Empörung. »Streiten Sie nur, Gentlemen!«, sagte Toto gereizt. »Dort liegt mein Vater und stirbt und Sie haben nichts Besseres zu tun, als diesen dummen Maulkrieg zu führen. Es widert mich an!« »Oho!«, machte der Geheimrat. »Langsam! Sie nutzen unsere Verwirrung doch nur, um sich selbst von allen Sünden zu reinigen. Die Lage Ihres Vaters ist fatal, und ich weiß nicht, was dieser Zirkus hier soll, die Blumen, dieser Apparat. Es gibt auch Ihre Fehltritte, junger Mann, davon sollten Sie nicht abzulenken versuchen.« Toto straffte sich und verschränkte die Arme. »Lass uns gehen!«, flüsterte Chiara. Er schüttelte den Kopf. »Wir bleiben. Wir halten es durch. Mein Vater, mag er sein, wer er will, hat nicht gelebt, um von Bütteln und Besserwissern seiner Ehre beraubt zu werden. Was er mir angetan hat, ist eine Sache. Was Sie ihm antun, eine andere. Mag sein, dass ich mich rächen will. Sie jedenfalls…«
Er meinte Riedel. »… haben nicht das Recht, uns zu beleidigen!« »Sie auch nicht, junger Mann«, warf Montgolfier ein. »Bloß, weil er Sie gezwungen hat zu singen? Dass ich nicht lache! Er wollte Sie erziehen. Wäre ich Ihr Vater, ich hätte Sie geschlagen!« »Das hat er ja!«, rief Chiara. »Ich hab es selbst gesehen.« »Ach ja?«, entgegnete der Kutscher. »Aber leider nicht genug. Oder müsste ich sonst die Arbeit tun, die wohl eher ein guter, dankbarer Sohn für seinen Vater erledigen würde? Bitte schön! Diese Blumen, der Apparat, der ganze, schlimme Tod!…« Montgolfier schien zu weinen. Chiara musste immer wieder hinsehen. Sein Mund zitterte, die Hände waren emsig mit den elektrischen Kupferschnüren beschäftigt. Die beiden Helfer standen in der Nähe, um sofort beizuspringen, eine Zange zu halten oder ein Stück Leitung. »Was ist das eigentlich?«, fragte der Geheimrat. »Das Orendaskop, mit dem der Professor Verbindung mit dem Weltall herstellt.« »Was habe ich gesagt?«, rief der Arzt. »Der große Organismus… und wir sind nur die Einzelzellen. Es ist unglaublich!« Auf Chiara wirkte alles kindisch, unernst. Die Männer schleppten eine Batterie heran. Der Kutscher hatte zwei große, schwarze Platten links und rechts am Krankenbett verschraubt, dicht am Kopf des Onkel. »Die Strahlung an!«, befahl Montgolfier. Alle starrten auf den Apparat, der plötzlich zu sprühen anfing. Es roch verbrannt. Der Geheimrat, man sah es ihm sehr deutlich an, war außer sich. Es surrte laut, der Strom bewegte sich. Die beiden Helfer wichen bleich zurück. Dann gab es ein Geräusch, das weniger dem Apparat entströmte als der Luft des Zimmers, dem ganzen Raum, den Wänden. Chiara blickte
um sich. Es klang von überall her und jeder hörte es. Toto suchte mit den Augen. Nur Montgolfier schien nicht verblüfft. Er trat ans Krankenbett und beugte sich – nein, er verneigte sich, bis sein Gesicht ganz dicht an dem des Onkels war, und sagte: »Nur tapfer, Herr Professor! Sie müssen lauter sprechen! Alle Kraft!« Und wirklich, das Geräusch nahm zu, es wurde deutlicher, wenn man von deutlich reden mochte, denn verstehen konnte Chiara nichts. Sie konzentrierte sich. Es klang vielleicht wie eine Stimme, ein fernes Flüstern, Zischeln, Hauchen. »Ja, also!«, rief der Arzt. »Ein solcher Unfug!« Der Kutscher drehte sich um und legte einen Finger an den Mund. »Müssen Sie denn immer stören, Monsieur? Was macht es, wenn Sie einmal nichts begreifen?« »Psst!«, machten die Helfer. Chiara horchte angespannt. Aus unbestimmter Höhe und doch auch irgendwo vom Boden hoch kam eine Stimme, keine Menschenstimme, eher ein mechanischer Gesang, ein moduliertes Schnarren, ein dünnes Gurgeln, das nach Worten und nach Sprechen klang. »Er spricht!«, flüsterte Montgolfier. Alle waren starr vor Überraschung. Ferne Rufe oder Schreie irrten durch das Hospital und störten. Dann wieder das Gesäusel. »Lauter!«, forderte der Kutscher. »Und klarer, Herr Professor! Mehr Energie!« Er fingerte am Apparat; es blitzte heftig. »Jetzt!« »Wo?« »Hier!« »Ich höre nichts.« Und plötzlich wieder etwas Stimmenähnliches. »…isa.« Chiara wurde bleich.
»…ara,…isa!« »Er ruft mich«, sagte sie mit trocknem Mund. Alle blickten her. »… Ach… Lisa!…« »Er spricht zu ihr!«, rief Montgolfier. »Er redet aus dem Weltall…« »… Lisa, Nichte!… Du hast… Du hast mich…« Chiara sah den Tod, sie hörte ihn, den Onkel und den Tod! »… Du hast mich umgebracht.« »Ja, ich bin schuld!«, rief sie, noch bevor die Stimme wiederkam. »Verzeihen Sie mir, bitte!« »Ich kann nicht… kann nichts…«, klirrte es. »Du hast mich… hast mich so enttäuscht. Lisa, meine Nichte… Hab ich dir nicht alles geschenkt, ein Zimmer, ein Haus, eine Familie?…« Chiara schluckte. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. »Wenn du ehrlich bereuen willst…«, sagte die Stimme. »Montgolfier wird dir noch einmal… die Treueeisen zeigen. Das Glutbecken steht schon bereit…« »Ja, Onkel«, sagte sie schwach. Der Kutscher legte das Bündel aufs Bett und schlug den Stoff zurück. Die Eisen klirrten aufeinander. Geheimrat Riedel schnappte nach Luft. »Nein!«, rief Toto plötzlich. Mit einem sicheren Schritt sprang er zum Bett, bückte sich und riss einen dünnen Draht aus seinen Halterungen, der unterhalb, dicht an der Bodenleiste frei verlaufen war. Er warf ihn dem Kutscher vor die Stiefel. »Das ist die Stimme! Die Todesstimme meines Vater! Der Phonotransitor aus seinem Arbeitszimmer! Oder hört jemand ihn noch sprechen?« Er stand dicht vor Montgolfier und pustete ihn an. »Uns eine schöne Zaubervorstellung geben, das
war es wohl! Uns tüchtig in die Herzen sprechen! Uns das Gewissen bitter machen!« Er schubste den Rutscher wütend auf das Fenster zu. Montgolfier war feuerrot. Er stolperte. Toto schob ihn weiter vor sich her. »Wer hat denn in den Trichter gesprochen und wo? Im Nebenzimmer? Ein dritter Helfer? Zeig ihn uns!« Er packte den Kutscher an der Schulter, riss ihn herum und stieß ihn auf die Tür zu. Montgolfier sträubte sich, so gut er konnte, stemmte sich dagegen. Er rutschte mit den Stiefeln über den Boden. Toto schlug ihn, griff ihm ins Haar und zog ihm mit einem Ruck die Binde vom Gesicht. Chiara schreckte hoch. Das Gesicht des Kutschers war ein Schlachtfeld, die rechte Hälfte fehlte eigentlich. Der Kutscher schrie vor Zorn. Toto drängte ihn, schlug weiter auf ihn ein. Alle folgten ihnen auf den Flur. Draußen wurde der Lärm noch schlimmer. Chiara sah im Augenwinkel, dass der Onkel sich bewegte. Er stöhnte plötzlich. Sie hörte Toto draußen rufen, schlagen. Geheimrat Riedel schrie um Hilfe. Jemand stürzte polternd auf den Boden. »Onkel?«, sagte Chiara und trat ans Bett. »Nichte Lisa…« Göttling öffnete die dunklen, tief eingefallenen Augen. Der Mund war grau. »Waren Sie denn wach, Onkel, als eben jemand durch den Draht sprach?« Chiara war aufgewühlt. Trotzdem war da noch Mitgefühl. »Wer hat vorhin gesprochen, lieber Onkel?« »Riedel hat ja Recht«, flüsterte Göttling. »Ich bin ein schlechter Mensch. Ich bin gefährlich. Ich bin mit schuld am Tod deiner Eltern, meiner eigenen Schwester. Es war niemals meine Absicht… Es war leichtsinnig, auf diese Männer einzugehen… Und Eitelkeit, grenzenlose Eitelkeit…« Er atmete schwer. »Sie wollen mir die Haut verbrennen lassen, Ihrer eigenen Nichte!«, sagte Chiara.
»Weil es mir viel bedeutet«, sagte er erschöpft. »Nicht, dich leiden zu sehen, sondern unsere enge Bindung. Wir wären durch das Weltall miteinander verbunden worden. Meine Unschuld, meine Schuld, Stationen in der Ewigkeit, im All…« Draußen vor der Tür war jetzt der größte Tumult. Chiara hörte, wie sie sich schlugen, wie sie schrien und tobten. Sie mochte gar nicht hingehen und schauen, wer genau auf wen einschlug. »Und diese vielen, vielen Blumen?«, fragte sie. Göttling lächelte. »Die Blumen und das Weltall. Lisa! Die Unendlichkeit in jeder Knospe, in jedem Samenkorn. Der Zahlenstrahl, nicht wahr? Der Weltraum ist unendlich groß, nirgends leer, allenthalben mit Substanz gefüllt. Die Weltzeit ist ebenfalls unendlich. Ewigkeit! Die Substanz… das ewige Spiel beginnt von neuem. Unsere Mutter Erde wird in Millionen Jahren in die Sonne stürzen…« Er schloss erschöpft die Augen. »Lisa… Lisa!…« Draußen hatte der Lärm seinen Höhepunkt erreicht. Chiara ging zur Tür. Montgolfier lag blutend am Boden. Toto schlug noch immer auf ihn ein und stieß die Helfer von sich, die ihn bedrängten. Chiara ging weiter. Sie wischte sich das nasse Gesicht. Sie brauchte frische Luft, sie konnte nicht mehr atmen, nicht diese Luft! Sie folgte dem Flur bis zu der Treppe. Eine Pflegerin begegnete ihr. Hinter ihr kamen Uniformierte herauf, sechs Männer mit Hauben und Säbeln und strengen Gesichtern. Chiara nahm die Stufen nach unten, ihre Schritte echoten. Eine zweite Pflegerin kam ihr entgegen und sah sie fragend an. Der Lärm von oben drang bis ins Treppenhaus.
Chiara ging zur Poststation. Meister Liang war hoch erfreut. Er stellte unverzüglich einen Wagen bereit, der sie ins Schloss
fuhr. Sie erhielt ein helles Zimmer mit Blick in den Park. Man gab ihr Kleider, Schuhe, eine eigene Garderobe. Am Abend kam ein Lakai und verbeugte sich fast bis zum Boden. Er führte sie durch Flure bis zu einem Saal, in welchem eintausendvierhundertundachtundzwanzig Kerzen brannten. Sie sah es auf den ersten Blick, es war die heilige Zahl. Meister Liang kam ihr entgegen und küsste ihre Hand. Er trug eine grässliche, grünrote Uniform. Chiara hätte ihn um ein Haar nicht erkannt. Als hätte er in ihren Kopf geschaut, sagte er gedämpft: »Ich entschuldige mich für diesen Aufzug.« Und gleich darauf: »Sie haben ganz Recht, mein Kind, die Anzahl der Kerzen stimmt: Wir nennen sie die chinesische Zahl. Ich glaube gar, sie entstammt der Nördlichen Sung-Dynastie und ist fast tausend Jahre alt. Ich habe dem König ein Buch darüber geschenkt. Er ist in Zahlen vernarrt, wie Sie sehen, der Arme. Sie können ihn lenken wie ein Kind. Anhand der heiligen Zahl lässt er so gut wie alles berechnen, die Steuern, seine Militärausgaben, den Eisenbahnbau, die Zölle, den ganzen hoffnungslos verschuldeten Staatshaushalt. Ich glaube, er will Kaiser werden oder Papst.« Er wies Chiara den Weg. Sie schritten über riesige, dicke Teppiche durch ein Spalier von Tischen, auf denen genau dreihundertsiebenundfünfzig Kerzenleuchter die Luft erwärmten. »Seine Majestät, der König…«, sagte Liang feierlich und lächelte. »Wo?« »Er kommt sofort. Seien Sie ganz unbefangen, wir haben Mittwoch. Mittwochs tanzen die Kinder und er hat die allerbeste Laune. Er wird Sie mit einer hohen Primzahl begrüßen. Antworten Sie einfach mit einer noch höheren; er wird entzückt sein.« »Ist das alles?«, fragte Chiara.
Herr Liang nickte vergnügt. Dann drehte er sich komisch und machte einen Kratzfuß. »Ihr Onkel ist so was von naiv. Als ob ein König, auch wenn er schwach wie Wilhelm ist, sich nicht gegen ihn zu wehren wüsste! Er hat den frisch gebackenen Ministerpräsidenten, unseren Fürsten Bismarck, an seiner Seite, das genügt ihm und er hat Recht. Der Fürst ist schlau. Noch ein paar Jahre und alle revolutionären Ideen innerhalb des Volks werden von ihm aufgesogen sein wie die Sauce von dem Brot, eingefangen, abgefangen und dressiert. Jetzt ist man erst mal mit dieser unseligen Verschwörung der Zahlen befasst. Dass ich nicht lache! Ihr Onkel war emsig und, bei aller Einfachheit, nicht ungeschickt. Der König ging sofort in die Falle. Eine Revolte der Zahlen, das zerstört den besten Staat und seine Staatsfinanzen. Hätten Sie den König gerettet?« »Ich?« »Sie, als die Geheimwaffe Ihres bemitleidenswerten Onkels.« »Oh nein.« Chiara hörte ein Geräusch und fuhr herum. Eine Flügeltür wurde geöffnet und sieben Kürassiere betraten den Saal, der von den Kerzen immer mehr aufgeheizt wurde. Chiara blies sich Luft zur Stirn hinauf. Dann stockte ihr der Atem. Zischelnd und flüsternd strömten plötzlich Kinder in den Saal, ein ganzer Schwarm, es waren hundert. Jedes Kind trug eine Kappe auf dem Kopf mit einer Zahl, ein- und zweistellige, nicht höher. Sie verteilten sich und bildeten nach einer Weile eine Gasse, durch die, bedeutungsvoll und ernst, der König Wilhelm näher kam, ein älterer Herr mit wässrigen, aber gütigen Augen. Chiara machte einen Knicks und zweifelte für einen Augenblick. Dass es wirklich der König war, erkannte sie eher in Meister Liangs Blick und Haltung, weniger am König selbst, der einen viel zu schlichten Anzug trug. So wie die Kinder hatte auch er eine Kappe aus festem Papier auf dem
Kopf, es war eine große, silberne Hundert. Der König lachte freundlich, blieb stehen und blickte Chiara lange an. Sie verneigte sich noch einmal, unbeholfen, wie sie selber fand, und blickte scheu zur Seite. »Achthundertneunundfünfzig«, sagte der König mit tiefer, singender Stimme. »Achthundertdreiundsechzig«, antwortete Chiara. Der König rief: »Achthundertsiebenundsiebzig!« »Achthunderteinundachtzig«, entgegnete sie sicher. »Tausenddreizehn!« »Achtzehnhundertsiebenundsechzig«, rief Chiara. »Und neunzehnhundertneunundneunzig.« »Sie macht mir große Freude, Meister Liang«, sagte der König. »Was ist mit Wurzeln?« »Naja, Wurzeln, Majestät«, sagte der Chinese, als wäre es nichts. »Zweitausendunddrei?«, fragte der König. »Vier, vier, Komma, sieben, fünf, vier, acht…«, antwortete Chiara ohne Zögern. »Das lob ich mir! Das ist mehr als Gold wert, Meister Liang.« »Tja, Majestät.« Liang verneigte sich. »Preußen wächst, Liang, es wächst und wächst…« »Gewiss, Majestät.« »Wo ist der Fürst?« »Der Ministerpräsident lässt sich entschuldigen.« »Was heißt…?« »Unwohl, Majestät«, antwortete Herr Liang leise. »Wieder der Unterleib?«, fragte der König. »Jawohl, der Unterleib, der grässliche, jawohl.« Der König wandte sich an Chiara. »Bloß kein Sorge, Sie sind keineswegs umsonst hier, liebes Fräulein. Wir werden Sie bezahlen, hoch bezahlen.«
Chiara wurde rot. »Nein, kein Widerwort!«, sagte der König. »Es soll alles seine Ordnung haben.« Er nahm die Kappe mit der silbernen Hundert vom Kopf und machte eine weitschweifende Bewegung damit. »Das sieht natürlich albern aus, ich weiß. Wie Spielerei. Eine lehrreiche Spielerei allerdings…« Die Kürassiere an der Tür nahmen plötzlich Haltung an. Sie traten mit den Stiefeln, dass es knallte. Ein düsterer Zeremonienmeister kam herein und rief krächzend: »Der Fürst und Ministerpräsident!« Der König machte Augenschlitze. »Fürst! Wie gut! Das ist ein Schatz von Mädel! Wir werden es verstecken und bewachen müssen wie unser Staatsgold. Ich höre, Ihr Magen, der Darm…« »Majestät«, grüßte der Fürst mit starker Stimme und blickte unter tiefhängenden Lidern aus flinken, hellen, noch immer jungen Augen hervor. Dann machte er in Chiaras Richtung eine nickende Bewegung. »Signorina Chiara Lisa Morelli?…« Chiara erschreckte es, dass er ihren Namen kannte. »Fürst von Bismarck-Schönhausen«, sagte Herr Liang, um sie einander vorzustellen. Der Fürst trug einen langen, schwarzen Mantel und einen Gehstock. Damit klopfte er ein paar Mal auf den Boden. Sofort fuhr eine aufgeregte Unruhe in die Kinder, sie formierten sich, hielten ihre Zahlenhauben fest und bildeten vier lange Reihen, zwischen denen sich gewisse Zahlen gegenüberstanden. Es war das Einmaleins. Ohne dass es Chiara aufgefallen war, hatte sich am anderen Ende eine kleine Musikkapelle aufgestellt und fing jetzt an zu spielen. Die Kinder tanzten. Der Tanz war reines Rechnen. Jedes Kinderpaar war eine Aufgabe, die ein dritter Tänzer löste. Die Kinder wechselten geschickt, bis alle Multiplikationen vorgekommen waren. Es dauerte. Schließlich gab es ein
Finale, einen großen Zahlenkreis. Die Kinder knicksten und der König klatschte Beifall und bedankte sich. Die Menge tippelte zur Tür und wurde rauschend, tuschelnd in den Flur entlassen. Nie im Leben hatte Chiara etwas Dümmeres gesehen. Sie schielte zu Herrn Liang, der sicher ahnte, was sie fühlte, und nur die Augenschlitze öffnete und sich für einen Atemzug noch straffer aufrecht stellte. Sie erstickte fast und war nah daran, laut herauszulachen. »Nun ja, Fräulein Morelli«, sagte der Fürst wie aus heiterem Himmel, »Sie müssen sich das Lachen nicht so sehr verkneifen, es drängt am Ende doch heraus…« Chiara fühlte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. »Wir haben Verständnis. Bestimmt sieht nichts blödsinniger aus als dieser Zahlentanz. Und doch ist alles Absicht, Pädagogik, Politik.« Der Fürst federte in die Knie, als wollte er springen, stach mit dem Stock nach vorne in die Luft und nickte. »Eine neue Zeit ist angebrochen, nichts weniger als dies. Wir können es uns nicht länger leisten, Geld für Tand und Verzierungen auszugeben. Wir können unsere Staats- und Landesfeinde nicht länger nur mit Pulver und Eisen bekämpfen, auf dem Schlachtfeld Trommeln schlagen, Trompeten blasen, als ob der Krieg ein Theaterstück wäre. Wenn wir die Fürsten einen wollen, und das wollen wir, müssen wir ihnen klar machen, wie mathematisch unsere Zukunft sein wird, wie kühl berechnend…« »Ja, staunen Sie nur, junges Fräulein, staunen Sie! Solche Dinge bespricht der Fürst nicht mit jedem«, sagte der König. Der Fürst knurrte seltsam und fuhr fort. »Wir brauchen eine neue Gesellschaft, die nicht bloß vertikal gebaut ist, sie muss vor allem in die Breite gehen, griechisch-demokratisch. Die Republik ist alles, das sage ausgerechnet ich! Wir müssen rechnen, rechnen, rechnen! Weg mit den Puderzöpfen, mit dem
alten Stolz, mit Ehrenworten, Pflichtgefühl und heiligen Schwüren! Das alles muss berechnend funktionieren, es muss auf soliden Zahlen ruhen, nicht auf Worten, Blicken, Händedrücken. Wir müssen unpersönlich werden, der neue Mensch ist nur Materie, Menge und Kalkül!« Er holte tief Luft und wirbelte den Gehstock durch die Luft. »Ja, lachen Sie getrost, Signorina«, rief er aufgedreht. »Ich sag es frei heraus: Sie sind unsere Zukunft, Sie und diese Kinder dort. Ihre Fähigkeiten sind uns mehr als heilig. Wir haben viel mit Ihnen vor. Vor allem müssen wir zusehen, dass uns die Zahlen… wie soll ich sagen?… geneigt bleiben, verstehen Sie? Es gibt Stimmen, die… Manche Fachleute nehmen an, dass die Welt der Zahlen ein gewisses Eigenleben führt, so ähnlich wie die Sprache eines Volkes, von der wir glauben, dass sie einen nationalen Willen hat, der sich im Mythos, im Märchen oder Volkslied äußert. Es gibt Anzeichen, dass die Zahlen nicht ganz seelenlos sind… Man sagt, Sie, Signorina, hätten eine besondere Begabung… Beziehung…« Chiara lächelte. Sie spürte, wie ihr Lächeln dem Fürsten an das Herz ging. Es war so einfach! »Wir hegen Hoffnungen, Mademoiselle«, sagte Bismarck. »Wenn wir am Rande einer Revolte der Zahlen stehen, ich nenne es einmal so, dann steht die Existenz des Staates auf dem Spiel. Ich muss es gar nicht weiter ausführen. Die Vertreter dieser Theorie spalten sich in Lager. Die Kirchenleute meinen, es gehe um Moral. Sie glauben, dass wir herzlos rechnen, gewissenlos mit Mengen operieren, unmenschliche Formeln isolieren und lebensfremd und wider die Natur verwenden. Die Praktiker sehen die Gefahr, dass die Zahlen uns… annektieren werden, dass sie uns versklaven, wenn wir weiter nur das Wissenschaftliche betreiben, immer nur exakt sind und keine Toleranz mehr pflegen. Alle haben
Recht. Der König hat die Pflicht, die Gefahr zu erkennen, die Kräftelinien zu bündeln und einen Weg aus dem Dilemma aufzuzeigen, um… verzeihen Sie!… nicht weniger als die Welt zu retten.« Der König klopfte ungeduldig mit dem Stock. »Und das alles ganz todernst, mein Fräulein, Ihre absolute Verschwiegenheit vorausgesetzt. Ich gehe davon aus, dass unser Herr Liang Sie in das Wesentliche eingeweiht hat.« Er sah sie eindringlich an. »Meister Liang, ich wiederhole mich, geben Sie der jungen Dame jedes Mittel, Geld, Gold, Juwelen, ganz egal. Sie soll für Preußen rechnen, nach Herzenslust! … Eins, sieben, sieben, sieben…« »Eins, sieben, acht, drei«, entgegnete Chiara ohne Zögern. Der König drehte sich galant. Seine Augen waren hell. »Dankbarkeit, Treue, Signorina. Werte, Ethik, Glauben, Würde… Reichern Sie die Mathematik an, ich bitte Sie! Lassen Sie sie menschlich werden!« Herr Liang und der Fürst verneigten sich. Chiara knickste höflich. Der König folgte seinen Kürassieren durch die Flügeltür nach draußen. Auch der Fürst verabschiedete sich. Er reichte Chiara die Hand. »Ich schlage vor, Sie wohnen im Schloss. Wir haben da ein hübsches, helles Zimmer… ein Zahlenzimmer sozusagen, ha ha.« Er dienerte und ging. Chiara nickte dem Chinesen zu. »Sie bleiben bei mir, oder? Ich bitte Sie…« Er ging voraus. Sie folgte ihm. »Ich würde mich hier bloß verirren!…«
»Chiara. Kind!…« Es war Bianca! Ihr Italienisch war Musik. »Chiara, uccellino!…« Vögelchen! Es war wirklich Bianca!
Sie stand am anderen Ende einer tiefen Flucht von Türen, eine Reihe von fünf Sälen, die nacheinander immer schönere, hellere, frohere Farben hatten, Stofftapeten, breite Sessel, Teppiche und tausendfache Leuchter. »Wie Leid du mir tust, mein Engel!«, rief sie und kam auf Chiara zu. Chiara trug den Abakus bei sich und spielte damit. Sie glaubte längst nicht mehr, dass er wirklich einmal dem Geheimrat Goethe gehört hatte. Der Onkel hatte allzu oft gelogen, übertrieben, sich verstellt. »Ich hätte dir so gern gesagt, was ich wusste«, sagte Bianca und blieb eine Zimmertiefe vor Chiara stehen. »Ich hatte den Auftrag, dich auf der Reise zu begleiten, dir ein wenig eine Freundin zu sein in all dem Unglück.« »Ich bin dir nicht böse«, antwortete Chiara. »Ich könnte Gott böse sein. Aber das wäre ja, als wäre ich dem Weltall böse. Meister Liang hat mir sehr geholfen. Ohne ihn wäre ich verzweifelt, weil ich sonst nie genau erfahren hätte, was geschehen ist. Meine Eltern im Himmel müssen viel wütender sein als ich. Vor ihnen sollte der Mörder sich vorsehen.« »Wie Recht du hast, Chiara.« Bianca ging weiter, blieb ein paar Schritte vor Chiara stehen. »Das Schloss ist ein goldener Käfig«, sagte Chiara. »Nicht nur für mich, auch für den König. Stell dir vor, Bianca, er hat es mir selbst verraten, er flüsterte, damit es niemand hört. Er verehrt mich, er behütet mich. Ich lebe wie im Märchen. Ich habe die teuersten Kleider, die man sich vorstellen kann. Ich habe eine eigene Zofe… Oh Gott, was soll bloß aus mir werden?« Bianca ließ Chiaras Hand los. »Ich wünsche dir Glück, ganz viel Glück, nicht bloß äußerliches, nicht nur Kleider…« »Toto fehlt mir sehr«, sagte Chiara plötzlich. »Ich glaube, es geht ihm nicht gut. Mein Onkel quält ihn. Er will ihn erziehen.
Eine Wäscherin hat mir erzählt, dass er nachts einen Karren von Gebäude zu Gebäude zerrt, wie ein Esel, und die Wäsche sammelt. Behandelt man so seinen Sohn?« »Toto hat das Feuer gelegt«, sagte Bianca. Chiara wurde bleich. »Er hat Papier auf dem Herd liegen lassen, damit es sich entzündet, wenn niemand in der Küche ist.« »Dass er so lügen konnte…« »Ich habe erfahren«, fuhr Bianca fort, »dass er im Stadtschloss den neuen Küchenelevator treten muss, das ist ein großes Rad, auf das ein Seil gewickelt ist, an dem ein Kasten aus der Küche nach oben in den Speisesaal gezogen wird. Der Professor lässt ihn strengstens überwachen, durch Montgolfier, der keine Nachlässigkeit duldet.« »Ich bin nur froh«, sagte Chiara, »dass ich nichts davon mit ansehen muss. Aber es tut mir dennoch weh. Ach, Bianca, dieses Leben ist außen schön, aber innen zäh. In vier Tagen reisen wir nach Rom, der Fürst Bismarck und ich. Ich bitte ihn, mich einmal freizulassen, um in die Stadt zu fahren, nur für ein paar Stunden. Immer sagt er: Morgen, übermorgen, überübermorgen. Wie nah werde ich in Italien unserem Dorf kommen, mir wird schon bang, wenn ich nur daran denke. Stell dir vor, ich wollte Onkel Luigi einen Brief schreiben und ihn fragen, warum mir niemand aus dem Dorf schreibt, ob mich alle vergessen haben. Gerade fing ich an zu schreiben, da trocknete mir die Feder ein, sie schrieb nicht mehr. Ich habe sie frisch eingetaucht, wieder und wieder… ganz unnütz, sie wollte nicht mehr schreiben. Mir kam der Gedanke, dass eine fremde Kraft… etwas, das viel stärker als die Feder ist, stärker als ich, als wir alle zusammen… Ich sollte ihm vielleicht nicht schreiben und Fragen stellen… Onkel Luigi…« Chiara rieb sich die Augen.
Plötzlich drehte sie sich hin und her. »Schau nur, wie schön das Kleid ist! Ich muss nie wieder Hosen tragen!« Sie lachte hell. »Ein Geschenk der Fürstin. Sie liebt es, mit mir Tee zu trinken. Leider ist sie furchtbar langweilig und will immer mit mir beten. Verrate mich bloß nicht! Aber sie hat etwas sehr Mütterliches. Ich tue ihr Leid, sie weiß etwas und denkt, dass ich es nicht weiß. Sie tröstet und verwöhnt mich. Du glaubst nicht, wie wohl mir das tut…« Ihre Arme flogen hoch, die Kugeln des Abakus klickten ulkig. »Was soll nur aus mir werden? Vergangene Nacht konnte ich nicht einschlafen. Ich musste über mein Leben nachdenken. Ich sah es wie ein Vogel, aus der Höhe, wie meine Eltern es vom Himmel herab betrachten. Nichts muss mich erdrücken, sagt Meister Liang. Das bengalische Gefühl, Bianca! Es ist ein bisschen albern, und trotzdem… Es trägt dich über jedes Feuer, über jeden Fluss, über jede Todesschlucht… behauptet Meister Liang. Ich glaube, er hat Recht.« Sie schaute durch die Fenster in den Park, wo ein paar Hunde spielten. Sie bissen sich und bellten heiser. Liebe Chiara, in den vielen trüb vergangenen Wochen habe ich ein Dutzend Mal versucht, dich zu besuchen. Jedes Mal wurde ich vom Pförtner des Schlosses abgewiesen. Er behauptet deinen Namen nicht zu kennen, aber meine Briefe nimmt der Heuchler. Ich weiß von Legationsrat Hübner, einem Freund unserer Familie, dass man in allen Salons längst von dir redet – genauer: Man flüstert wohl, weil du ein ziemliches Geheimnis bist, ein wahres Staatsgeheimnis offenbar. Ich bin froh, dass du nach all den Irrwegen, die mein Schwerenöter-Vater dir beschert hat (ich habe leider mitgeholfen, verzeih mir!), vielleicht einen Weg gefunden hast, auf eine bessere Bestimmung hinzuleben und zu wirken. Man
erzählt sich, du hättest eine Formel gefunden, alle Primzahlen zu entwickeln. Das sei nach den Versuchen der Messieurs de Fermat und Mersenne noch niemandem gelungen. Ich weiß nicht, welchen Nutzen so etwas haben kann, aber wenn du es für den König tust, wird der Zweck uns allen dienen. Es heißt auch, du seiest schon in Paris gewesen und in Moskau vor der Zarenfamilie aufgetreten, mit glänzendem Erfolg; ich bewundere dich sehr. Alle hier sind stolz auf dich. Luise lässt dich grüßen und Jakob sowieso. Selbst meine Mutter sagt, das Haus sei ohne dich zu still. Am allermeisten fehlst du mir. – Was meinen Vater betrifft, so hat man ihn auf einem Karren vom Hospital zu uns ins Haus gebracht. Er schneidet Wörter aus den Zeitungen und klebt sie mit Gummi neu zusammen. Es sind Artikel, die den Hof betreffen und natürlich dich. Die Zeilen, die mein Vater daraus macht, ergeben keinen Sinn. Wenn man ihm eine Zahl nennt, behält er sie nicht oder er verwechselt sie sofort mit einer anderen. Der wilde Montgolfier versorgt ihn hier im Hinterhaus; er trägt sogar das Bettgeschirr zum Abtritt und wäscht seinem Abgott den Rücken bis zum Steiß hinunter. Er füttert ihn und singt ihm Lieder vor. Es ist gut, den Tyrannen am Boden zu sehen, ihn zerschlagen zu erleben und ganz machtlos. Auch habe ich meine Mutter so weit, dass sie froh ist, ihm nicht mehr begegnen zu müssen. So ist zwar die Familie für immer vernichtet, aber dafür ist es ein paar Seelen leichter ums Herz als vorher. Vielleicht renne ich doch noch von hier fort, eines Tages, und segele nach Amerika! Manchmal träume ich davon und bin traurig, wenn ich merke, dass es nur ein Traum war. Das großzügige Geld, das zusammen mit deiner gedruckten Karte eintraf (die uns allen sehr gefallen hat, besonders meinen Schwestern, die sie bunt ausgemalt haben) – das Geld hilft uns sehr. Im Parterre sind die meisten Zimmer wiederhergestellt. Du kannst dir nicht ausdenken, wie
erleichtert meine Mutter war, zu erfahren, dass wir in unserem Hause wohnen bleiben können. Sie fürchtet allerdings, dass sie dir für immer etwas schuldig bleiben wird. Ich habe sie beruhigt, aber sie hört nicht zu, wenn ich erkläre, dass wir, du und ich, eine Seele sind. Wir sind doch eine Seele, oder? Ich glaube fest daran. Wir fliegen. Wir teilen einen Blick, wir verstehen die Welt aus einem Gefühl heraus, davon will und kann ich nicht mehr lassen. Ich weiß, wie garstig ich mich vor dir aufgeführt habe, nicht andauernd, zum Glück. Es sind dunkle Launen, die mich selber quälen. Vielleicht verzeihst du mir. Meine Angst ist, dass du in diesen Rissen meiner Seele meinen Vater wiedererkennst und mich verabscheust. Vorgestern sah ich eine Montgolfiere am Himmel. Sie stand ganz still, ein bisschen wie ein dunkler Mond. Ich dachte wieder an Amerika. Ich habe die Romane von Friedrich Gerstäcker noch einmal aus dem Schrank genommen. Sie gefallen mir nicht mehr. Als hätte unsere Reise sie für mich verdarben. Aber wie stolz ich darauf bin, dieses Abenteuer mit dir durchgestanden zu haben! Ich weiß, Chiara, dass du unser Haus nie mehr betreten wirst, nicht von deiner Höhe aus, die du im Schutz des Schlosses in diesem letzten Vierteljahr erklommen hast. Ich habe deinen Intarsienkasten gefunden und an mich genommen, er ist meine ganze Hoffnung, dich doch wiederzusehen. Das Kästlein wartet hier auf dich oder eine Nachricht, die mir sagt, was ich damit tun soll. Du fehlst mir, Chiara. Wo bist du? Ich werde diesen Brief (wie schon die anderen) an die Pforte bringen. Dass man ihn dort annimmt, ist für mich das einzige Indiz, dass du im Schloss lebst. Einmal habe ich den Pförtner gefragt, wieso er dich verleugnet und gleichzeitig meine Briefe weiterleitet. Er nahm seine Pieke und stach mich, dass ich blutete. Ich bin beharrlich. Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, wandere ich in Gedanken voller Sorgen durch Sanssouci
und suche dich. Lächerlich! Nein, ich lache nicht. Vor ein paar Tagen sah ich auf der Straße einen Mann, der aussah wie unser Capitano Maggi, der uns so im Flug betrogen und bestohlen hat. Auch er fehlt mir. Und wer lügt nicht in dieser Welt und wer ist kein Betrüger? – Und seltsam: Ich glaube, Bianca schrieb einmal ihren Namen mit Kreide auf die Remisentür im Hinterhof. Es war bestimmt ein Gruß für dich, den ich hiermit weiterleite. Wohin bloß, liebe Chiara? – Was ist noch passiert? Gestern lief ein Zebra über unsere Straße, alle waren sehr verblüfft. Es war wie träumen. – Ich küsse dich. Addio piccola mia.