Kir Bulytschow
Die lila Kugel Aus dem Russischen von Aljonna Möckel
Der Kinderbuchverlag Berlin
1. Auflage 1986 (g) ...
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Kir Bulytschow
Die lila Kugel Aus dem Russischen von Aljonna Möckel
Der Kinderbuchverlag Berlin
1. Auflage 1986 (g) DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN - DDR 1986 (für diese Ausgabe) (g) Pionerskaja prawda, 1983 Lizenz-Nr. 304-270/57/86-(20) Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V15/30 LSV 7733 Für Leser von 10 Jahren an Bestell-Nr. 632 578 3 00540
ISBN 3-358-00746-4
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Gromoseka und die Spinne Der Vagabundenplanet Pech auf der ganzen Linie Alissa hat eine Vermutung Die unterirdische Stadt Das Geheimnis der unterirdischen Stadt Das Gefängnis auf der Insel Der Virus des Bösen Das Zeitalter der Märchen Die Rückkehr Handgemenge auf dem Kosmodrom Im Märchenwald Sechsundzwanzigtausend Jahre zurück Gerassik Der Irrtum Der Drachen Langsamkauer Das Schiff vom Vagabunden Die jagd nach der Kugel Der Abflug In den Bergen Wohin mit der Kugel?
1. Gromoseka und die Spinne Die kleine weiße Sonne stand genau im Zenit, deshalb waren die Schatten kurz. Dort, wo die Bäume Schutz vor der Sonne boten, wuchs dichtes grünes Gras, das stachlig war wie eine Ansammlung von Igeln. Etwas weiter weg, an ungeschützten Stellen, ragten rötliche, gleichfalls mit Stacheln versehene Kugeln aus der Erde. Näherte man sich ihnen, wurden die Nadeln länger und gerieten in Bewegung. Es war besser, nicht gar so dicht an sie heranzugehn, sonst konnte es passieren, daß sie ein paar Nadeln abfeuerten. Alissa war im Skaphander, und so prallten die Nadeln von ihr ab. Dennoch spürte sie den Aufschlag der kleinen Geschosse und fürchtete ständig, eine besonders spitze Nadel könnte das Metallgewebe des Schutzanzugs durchbohren. Hier galt es vorsichtig zu sein, wie im Krieg. Alissa hatte zwar noch nie einen Krieg erlebt, bisher aber auch keinen Planeten kennengelernt, der sich Menschen gegenüber so abwehrend verhielt. Der übliche Morgengang von der Kuppel zur Ausgrabungstätte dauerte keine fünf Minuten, dennoch war man nicht vor unangenehmen Überraschungen sicher. So auch jetzt: Alissa sah Gromoseka und zwei seiner Archäologen auf sich zukommen, hinter ihnen den Vater, der den Betäubungsblaster schußbereit hielt. »Halt!« rief Gromoseka und hob warnend drei seiner Tentakel. Drei weitere Fangarme machten sich an der Waffe zu schaffen, die beiden restlichen trugen die Instrumentenkisten. Die Archäologen blieben wie angewurzelt stehen, auch Alissa erstarrte. Ihr Vater, Professor Selesnjow, bewegte sich gleichfalls nicht. Alissa schaute genauer hin und begriff, was Gromoseka stutzig gemacht hatte. Auf dem Pfad, den sie in den letzten zwei Wochen tausendmal betreten hatten, war im Laufe der Nacht ein kräftiger, etwa fünf Meter hoher Baum mit unzähligen gelben Blättern gewachsen. Ein leichter Wind bewegte sacht die langen, zarten Blätter, Schmetterlinge umschwirrten die Blüten. Ein hübscher Anblick. Nur daß hier eben zehn Stunden zuvor nicht die Spur eines Baumes zu sehen gewesen war. Gromoseka schob die lange Sonde mit dem Analysator vor. Die Sondenspitze schaukelte unmerklich hin und her, so als schnuppere sie. Als sie nur noch zehn Zentimeter vom äußersten Zweig entfernt war, holte der Baum plötzlich aus und versetzte ihr einen solchen Hieb, daß der Archäologe sie nicht mehr halten könnte. Sie fiel zu Boden und wurde sofort von den Nadeln der rötlichen Bälle bombardiert. Gromoseka geriet in Zorn. »Mir reicht's jetzt!«, seine Augen hinter dem durchsichtigen Helm flackerten. Er riß den Blaster hoch und feuerte einen Betäubungsschuß auf den Baum ab. Die Zweige rollten sich augenblicklich ein, die gelben Blüten schlossen sich, und der Baum versank im Boden. Der Grund nahm ihn in sich auf, zurück blieb ein kleines Häufchen Erde, und hätte Alissa diesen Vorgang nicht mit eigenen Augen beobachtet - sie, hätte so etwas nie für möglich gehalten. Die Archäologen, gefolgt von Gromoseka, Alissa und ihrem Vater, gingen vorsichtig um die Stelle herum, wo der Baum verschwunden war, und erklommen einen kleinen Hügel mit quadratisch ausgehobenen Löchern. Hier wurden die Ausgrabungen durchgeführt. Gromoseka blieb am Rand des Ausgrabungsgeländes stehen und überblickte seine Begleiter. »Ich wiederhole«, sagte er betrübt, »mir reicht's. So eine schwierige Expedition hatte ich noch nie. Auf achtzig Planeten habe ich schon gearbeitet, bin mit Bewohnern unserer Galaxis zusammengetroffen, wie man sie sich vorstellen oder auch nicht vorstellen kann, doch eine so räuberische, hinterhältige und gefährliche Gegend ist mir noch nicht vorgekommen. Wo ist Graberoboter Nummer drei?« Die Roboter und die anderen archäologischen Maschinen standen in der Mitte des Platzes - in ihrer Reihe gähnte eine Lücke. Einer der Roboter fehlte. Gromoseka stürzte nach vorn. »Vorsicht!« rief Professor Selesnjow, aber es war bereits zu spät. Der riesige Körper des gutmütigen, doch aufbrausenden Archäologen Gromoseka vom Planeten Tschumaros, dreihundertzwanzig Kilogramm Lebendgewicht, acht Fangarme, vier Elefantenbeine in Skaphandern, drei Blaster und ein Schwert, all das war in Sekundenschnelle aus dem Blickfeld verschwunden, denn Gromoseka stürzte in eine getarnte Fallgrube, die jemand in der vergangenen Nacht mitten auf dem Platz ausgehoben hatte.
Als die Archäologen, Alissa und ihr Vater zu der Grube rannten, zappelte Gromoseka bereits in den Armen einer gigantischen Spinne, deren spitze Zähne, trübes Gift versprühend, über den Plasthelm glitten, bestrebt, ihn zu durchbeißen. Professor Selesnjow mußte fast seine gesamte Blasterladung opfern, damit die Spinne endlich ihren Griff lockerte und auf dem Grund der Grube verstarb. Etwa zehn Minuten brauchten sie, um mit Hilfe der Roboter den festgekeilten Expeditionsleiter herauszuhieven. Gromoseka war so betrübt und gekränkt, ein Opfer der Spinne geworden zu sein, daß er bat: »Laßt mich in der Grube. Ich bin nicht würdig, wieder das Licht der Welt zu erblicken. Schüttet mich mit Sand zu und vergeßt meinen Namen.« »Gromoseka, Lieber«, beschwichtige ihn Alissa, »jeder von uns hätte hier reinfallen können, sogar ich.« Als sie Gromoseka herausgezogen hatten, stellten sie fest, daß sich unter ihm der verstümmelte Graberoboter Nummer drei befand. Offenbar hatte sich die Spinne, auf der Lauer liegend, zunächst an ihm laben wollen. Natürlich konnte sie mit ihm nicht ihren Hunger stillen, doch sie hatte ihn total zerstört. Gromoseka setzte sich an den Rand der Grube, wischte das Gift vom Helm und sagte: »Bitte verzeih mir, Freund Selesnjow, daß ich dich auf diesen bösartigen Planeten gelockt habe. Zu jeder Minute bringe ich dein Leben und das deiner entzückenden Tochter in Gefahr. Wahrscheinlich wird niemand von uns lebend hier wegkommen.« »So schlimm ist's doch gar nicht«, erwiderte Selesnjow, der ausgeglichen er war als sein alter Freund, »meiner Meinung nach ist dieser Planet sehr interessant für einen Biologen.« »Da geb ich Papa recht«, sagte Alissa, »mir gefällt es hier.« »Man könnte glatt den Verstand verlieren«, stöhnte Gromoseka, »ihr seid die reinsten Selbstmörder.« »Wenn du willst, flieg ruhig wieder ab, Gromoseka.« fuhr Alissa fort, »Papa und ich bleiben noch ein bißchen.« Gromoseka musterte Alissa mit all seinen Augen aufmerksam von Kopf bis Fuß, dann lächelte er plötzlich breit, wobei er ein paar mächtige Haifischzähne sehen ließ. »Ich verstehe«, rief er aus, »ihr wollt damit andeuten, daß ich der feigste Archäologe im Weltall bin, nicht wahr? Das aber müßt ihr erst beweisen!« Damit stellte er sich, auf seine dicken Beine und dröhnte über den ganzen Platz: »Warum fangen wir nicht endlich mit der Arbeit an?! Unverzüglich mit den Ausgrabungen beginnen!« Freilich brüllte er nur, um sich selbst zu beruhigen, denn zu dieser Zeit waren seine Kollegen längst am Werk. Sie gruben eine Festung aus, die es auf diesem seltsamen Planeten offenbar vor langer Zeit einmal gegeben hatte.
2. Der Vagabundenplanet Der Planet, auf dem der Ärchäologe Gromoseka in die Falle gegangen war, hieß Vagabund. Natürlich war das nicht sein offizieller Name. In allen Nachschlagewerken wurde er unter der Bezeichnung KKO-1 geführt: Künstliches Kosmisches Objekt Nr. 1. Ein zweiter Planet dieser Art war nicht bekannt, es würde ihn auch kaum geben. Der Vagabund war rein zufällig entdeckt worden. Aus dem einfachen Grund, weil er im Gegensatz zu allen anderen Planeten keine eigene Sonne besaß. Fehlt aber die Sonne, ist ein Planet unsichtbar. Die Galaxis besteht aus Gestirnen, um die Planeten kreisen. Besitzt ein Planet jedoch keinen Stern, den er umkreisen kann, so bedeutet das - er ist heimatlos, hat keinen festen Platz im Kosmos und fliegt einfach vor sich hin, im kalten dunklen Raum, wo Gestirne so selten sind wie Wasserquellen in der Sahara. Der Vagabund nun wurde aufgespürt, weil er in jenen Teil der Galaxis geflogen war, in dem sich die Erde befindet. Die Astronomen errechneten, daß sich dieser Planet nicht in der Geraden, sondern auf einer riesigen Kreisbahn bewegte, wobei er ein und denselben Punkt erst nach sechsundzwanzigtausend Jahren wieder erreichte. Er muß relativ dicht am Sonnensystem vorbeikommen, so wie schon einmal vor sechsundzwanzigtausend Jahren, vielleicht auch vor zweiundfünfzig und achtundsiebzigtausend Jahren ... Eines Tages jedenfalls hatte im Arbeitszimmer von Professor Selesnjow, dem Direktor des Kosmischen Tierparks in Moskau und bekannten Spezialisten für außerirdische Lebewesen, das Videofon geklingelt. Als
er den Bildschirm einschaltete, erblickte er das runde, vieläugige Gesicht seines alten Freundes, des Archäologen Gromoseka vom Planeten Tschumaros. Gromoseka öffnete den gewaltigen, mit Haifischzähnen bestückten Schlund, legte die vorderen Fangarme auf die gepanzerte Brust, in der seine drei gütigen, freilich auch hitzigen Herzen schlugen, und sagte: »Selesnjow, mein Freund, pack deine Sachen, du fliegst mit mir zum Vagabunden.« »Guten Tag, Gromoseka«, Selesnjow lächelte, - »ich kenne keinen Vagabunden. Aber ich hab große Sehnsucht nach dir und würde mich über einen Besuch freuen. Genauso wie Alissa.« »Du verstehst aber auch gar nichts!« brauste Gromoseka auf. »Ich spreche vom Pluto mit dir, mein Raumschiff startet in zwölf Minuten, und ich hab's eilig. Wenn ich nicht rechtzeitig auf dem Vagabunden bin, kommen dort die Archäologen von allen Enden der Galaxis zusammen und machen jene bedeutenden Entdeckungen, die allein mir zustehen.« »Von was für einem Vagabunden sprichst du eigentlich?« »Nicht einmal in die Zeitungen schaust du«, empörte sich Gromoseka. »Hast du denn nicht gehört, daß Kapitän Kim einen künstlichen Planeten entdeckt hat, der im Kosmos von Stern zu Stern fliegt und nirgends zur Ruhe kommt?« »Du mußt wissen«, sagte Selesnjow verlegen, »daß ich gerade erst von einer Expedition zurück bin.« »Dann hör zu. Es hat sich herausgestellt, daß der vagabundierende Planet andere Körper nicht wie üblich anzieht, sondern abstößt.« »Das ist unmöglich«, sagte Selesnjow entschieden. »Unterbrich mich nicht, ich hab bloß noch acht Minuten. Kim hat weiterhin herausgefunden, daß dieser Planet innen hohl und seine Hülle künstlich ist. Hörst du mir zu?« »Aber ja.« »Der Planet ist gewissermaßen umgestülpt. Was bei anderen Himmelskörpern außen, ist bei ihm innen, hast du verstanden?« »Gar nichts habe ich verstanden.« »Du mußt dir eine große Nuß mit einem winzigen Kern vorstellen. Gras und Pflanzen, Berge, Hügel, Flüsse und Seen befinden sich auf der Innenseite der Schale, der Kern aber ist die Sonne. Das heißt, von unserem Standpunkt aus kann man auf diesem Planeten nur mit den Füßen nach oben gehen.« »Was vom Standpunkt der Physik aus Unsinn ist«, erwiderte Selesnjow. »Alle deine sogenannten Flüsse würden sich nach innen ergießen, und selbst die Berge würden auf diese innere Sonne stürzen.« »Nicht doch«, rief Gromoseka, »die Hülle dieses Planeten ist mehrschichtig, darin liegt das Geheimnis. Die äußere Schicht besteht aus einer superharten Legierung, die mittlere aus einem Stoff, den unsere Physiker Graviferrum genannt haben. Es handelt sich um ein Metall, das sämtliche Gegenstände anzieht. Mit anderen Worten - die Schale der Nuß ist eine Art Magnet, der alles anzieht, was sich auf seiner Innenseite befindet. Dementsprechend stößt er mit der gleichen Kraft alles ab, was außen ist. So kann die kleine künstliche Sonne, die sich im Zentrum des hohlen Planeten befindet, nirgendwohin verschwinden, die Schalenwände ziehen sie alle zugleich an, und sie wird wie mit unsichtbaren Fäden gehalten.« »Wenn das so ist ... « begann Selesnjow, doch Gromoseka unterbrach ihn. »Jetzt nicht«, sagte er hastig, »unsere Zeit ist fast um. Hör gut zu: Vorerst weiß niemand, wann und weshalb die Bewohner dieses Planeten ihre Heimat verlassen haben. Dort gibt's kein einziges vernunftbegabtes Wesen, dafür aber jede Menge Tiere und Vögel. Wir als Archäologen müssen die Städte ausgraben und herausfinden, was dort passiert ist. Kurz, ich habe dir bereits Billets für den Liner gebucht, der übermorgen vom Mond zum Wassermann fliegt. Wenn ihr nahe genug am Vagabunden seid, schicke ich euch mein Raumschiff entgegen, und ihr steigt um. Ist alles klar?« »Und wie soll ich zurückkommen«, versuchte Professor Selesnjow entgegenzuhalten, »außerdem - ich hab eine Menge Arbeit hier ... « »Eine Rückkehr wird mit der Zeit nur leichter«, beschwichtigte ihn Gromoseka. »Der Vagabund bewegt sich aufs Sonnensystem zu und fliegt in einigen Wochen ganz dicht an der Erde vorbei.« »Also gut«, Selesnjow war drauf und dran nachzugeben, »eine Woche könnt ich erübrigen ... « »Zwei Wochen!« »Gleich zwei? Und weshalb sprichst du von mehreren Billetts?«
»Ganz einfach«, sagte da eine Stimme von der Tür her. Sie gehörte Alissa. »Gromoseka wußte, daß ich mit dir fliege, ich hab doch Winterferien!« »Genau«, bestätigte Gromoseka, und der Bildschirm erlosch. »Ausgeschlossen«, sagte Selesnjow. »Aber warumt«, entrüstete sich Alissa, »hab ich dich auch nur ein einziges Mal enttäuscht? Wir sind schließlich schon oft gemeinsam ins Weltall gereist.« »Und was wird Mama sagen?« »Mama wird sagen: Wenn ihr versprecht ... « -In diesem Augenblick erschien die Mutter im Zimmer und sagte-. »Wenn ihr versprecht, nicht endlos im Regen rumzulaufen, beim Baden tiefe Gewässer zu meiden, die Schiffsluke im freien Raum verschlossen zu halten, jeden Tag etwas Warmes zu essen, euch nicht zu zanken, die Hände vor den Mahlzeiten zu waschen, keine Drachen zu reizen, rechtzeitig schlafen zu gehn, so bin ich einverstanden, mich zweieinhalb Wochen von euch zu erholen.« »Siehst du, Papa«, sagte Alissa, »Mama ist viel klüger als du.« »Wäre sie klug«, erwiderte Selesnjow, »hätte sie mich nie zum Mann genommen.« »Und sich nie diese Tochter ausgesucht«, fügte die Mutter hinzu. Selesnjow seufzte, legte den angefangenen Artikel beiseite und rief das Informatorium an, damit man ihm schnellstens sämtliche Fakten über den kürzlich entdeckten Vagabundenplaneten übermittelte.
3. Pech auf der ganzen Linie Nachdem Gromoseka aus der Grube gezogen worden war, blieb er noch eine Weile ziemlich verstört. Er fürchtete nichts auf der Welt außer Spinnen und langen Weißbroten. Mit den Weißbroten hatte es folgende Bewandtnis: Als Gromoseka klein gewesen war, bestand seine Großmutter immer darauf, daß er seinen Teller leer aß. Ließ er etwas übrig, schlug sie ihm mit einem solchen Brotlaib auf den Kopf. Das tat zwar nicht weh, doch die Kränkung hielt sich über viele Jahre in Gromosekas stolzem Herzen. Die Spinnen dagegen fürchtete er, seit ihm ein sprechender Vertreter dieser Gattung auf dem Planeten Persipona, wo Gromoseka Aspirant gewesen war, für die Prüfung in Chronologie eine Vier voraussagte. Er bekam sie tatsächlich, büßte sein Stipendium ein und mußte sich ein Semester lang ziemlich durchhungern. Von diesem Augenblick an glaubte er, Spinnen könnten unangenehme Dinge prophezeien, und hatte Angst vor ihnen. Auch bei dem heutigen Unfall fürchtete er nicht etwa, gefressen zu werden, sondern nur eine unangenehme Nachricht. Selbst die Tatsache, daß die Spinne schweigend verendet war, konnte ihn nicht beruhigen. Er schaute sich unentwegt um, ob nicht etwa eine zweite, diesmal sprechende Spinne auftauchte. »So ein Pech, Pech auf der ganzen Linie«, wiederholte Gromoseka unentwegt mit finsterer Miene, während er an den Gräben entlangschritt, in denen die Roboter arbeiteten, von den Archäologen beaufsichtigt. Wenn Gromoseka von Pech sprach, so meinte er damit nicht nur Spinnen und Bäume mit gelben Blüten. Vielmehr war das Geheimnis um den Vagabundenplaneten noch immer offen. Dabei hatte es so geschienen, als könnte Gromosekas Expedition schon am ersten Tag die simple Frage beantworten, von wem und zu welchem Zweck dieser Planet errichtet wurde, wer seine Bewohner waren und wohin sie damals verschwanden. Nicht etwa, daß die Archäologen keine Entdeckungen gemacht hätten - Reste von Städten und Siedlungen fanden sich an vielen Stellen. Allerdings waren diese Siedlungen irgendwie unwirklich. Im Boden, der den Planeten von innen her mit einer fünf Meter dicken Schicht bedeckte, wurden Steinplatten entdeckt, Holzbohlen, Teile von Eisenwaffen, Tonscherben. Doch kein einziges Buch, keinerlei Kunstwerk, nicht einmal Spielzeug. Professor Selesnjow und Alissa hatten dagegen mehr Glück. Die Tierwelt des Planeten war erstaunlich und mit nichts vergleichbar. Die hiesigen Vier-, Sechs- und Vielfüßler besaßen alle dieselbe Eigenschaft: Sie waren bösartig. Im gesamten Universum herrschen die gleichen biologischen Gesetze. Jedes Lebewesen ist bestrebt, zu überleben und seine Nachkommenschaft durchzufüttern. Wenn eine Füchsin deshalb gezwungen ist, Jagd
auf Hasen zu machen, eine Boa, Mäuse zu verschlingen, so ist daran nichts Erstaunliches. Dagegen würde ein Wolf niemals über einen Elefanten oder ein sechs Meter langes Krokodil herfallen, weil das glatter Selbstmord wäre, ein Spatz nie Jagd auf ein Nashorn machen, weil darin kein Sinn läge. Hier aber verhielt sich alles anders, jeder fiel über jeden her, ob das nun sinnvoll war oder nicht. Deshalb versteckten sich die Lebewesen voreinander, griffen unverhofft und bösartig aus dem Hinterhalt an. Aus diesem Grund waren sie auch alle, selbst die reinsten Pflanzenfresser, mit gewaltigen Kiefern, Stacheln, Giftdrüsen und Nadeln, ja fast mit Raketengeschossen, ausgestattet. »Darin liegt keinerlei Logik«, sagte Professor Selesnjow zu Alissa, als sie am Ufer des Flüßchens unterhalb des Hügels saßen, wo die Ausgrabungen durchgeführt wurden. »Ein solches Verhalten läuft sämtlichen Naturgesetzen zuwider. Dieses Rätsel ist nicht weniger seltsam als die anderen Geheimnisse des Planeten.« »Ganz meine Meinung«, erwiderte Alissa. Sie fand es kränkend und ausgesprochen dumm, ständig im Skaphander herumzulaufen, wo um sie her ganz normale Luft war. Doch was halfs. Gerade jetzt schwirrte wieder eine Mücke über ihrem Kopf herum. Wer wußte, was sie vorhatte. Alissa war kaum mit diesem Gedanken zu Ende gekommen, als das Insekt einen Stachel von zwei Zentimetern Länge ausfuhr und im Sturzflug auf sie niederging. Der Stachel verbog sich beim Aufprall auf den Helm, und das Mädchen, obwohl auf den Angriff vorbereitet, zuckte zusammen. »Dummes Stück«, sagte sie zu der Mücke. Das Tier raste erneut auf sie zu, verfehlte aber das Ziel und stürzte zu Boden. Das Flüßchen war flach, klar und nicht sehr breit. Man sah die Steinchen auf dem Grund und in der Tiefe den matten Glanz der metallenen Planetenbasis. Alissa hätte gern gebadet, doch das blieb ein Wunschtraum, weil selbst die winzigen Fischchen darauf aus waren, - sich an jedem festzukrallen, der ins Wasser stieg. Das Mädchen stand am Ufer, schaute dem Spiel der Fischchen zu und dachte: Wie seltsam, daß ich den metallischen Grund des Flusses sehe. Wenn ich einen sehr kräftigen Fuß hätte, könnte ich mal heftig aufstampfen und den Grund durchstoßen. Dann befände ich mich mit dem Bein im schwarzen unendlichen Kosmos, das Wasser aber würde wie eine Fontäne aus dem Fluß entweichen, nach außen drängen und sich in runden Tropfen im Universum verteilen. Professor Selesnjow filmte die Fische und entnahm Wasserproben, um sie später auf Mikroben zu untersuchen. Alissa hielt Wache, denn man wußte nie, wann und woher plötzlich ein angriffslustiges Vieh zum Vorschein kam, um sich ihren Vater einzuverleiben. Nicht daß ihm ernstlich Gefahr gedroht hätte, doch es ist in jedem Falle unangenehm, wenn sich mitten in der schönsten Arbeit ein bösartiger Bär auf einen stürzt. Und so mußte Alissa, statt durch die Gegend zu streifen, angespannt die nahe liegenden Büsche beobachten und den Blaster schußbereit halten. Natürlich war das gleichfalls interessant: Wer von ihren Freunden hatte schon Gelegenheit, die Betäubungspistole in der Hand, auf einem fernen gefährlichen Planeten unter einer künstlichen Sonne zu stehen. Und mehr als das - den Blaster auch zu gebrauchen. Denn plötzlich zuckte etwas im rötlichen Gras auf, eine silbrige Schlange schoß auf Selesnjow zu. Alissas Hand senkte sich in dem Augenblick, als die Schlange den Kopf hob um sich auf ihr Opfer zu stürzen. Das Mädchen drückte ab: Ein kurzer Blitz, das Reptil ringelte sich zusammen, richtete sich nochmals auf und sank in Schlaf. »Weshalb hast du geschossen?« fragte Selesnjow, ohne den Kopf zu heben. »Ich hab dir zu einem seltenen Exemplar verholfen.« Sie schaute den Abhang hinunter - an dieser Stelle hatte sich der Fluß in den Hügel gefressen, auf dessen Kuppe die Archäologen arbeiteten. Hier und dort wuchs, sich mit den Wurzeln am Hang festklammernd, stachliges Gesträuch. Im Schatten eines dieser Büsche entdeckte Alissa einen dunklen Fleck. Sie kam jedoch nicht dazu, ihn genauer zu betrachten, weil in diesem Augenblick die massige Gestalt Gromosekas oben auf dem Hang auftauchte. Er winkte mit all seinen Fangarmen. »Heureka«, dröhnte er über den ganzen Fluß und die Ebene, »wir haben's gefunden!« »Was habt ihr gefunden?« rief Selesnjow zurück. »Das verrate ich nicht, es soll eine Überraschung sein.« Gleich darauf war seine Gestalt mit den vielen Beinen, Armen und Augen verschwunden. Erstaunlich, überlegte Alissa, die dem Vater beim Zusammenpacken der Instrumente zusah, seit wie vielen Jahrhunderten die Menschen »Heureka« rufen, ohne sich zu vergegenwärtigen, daß es sich um ein
altgriechisches Wort handelt. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte als erster der Gelehrte Archimedes dieses Wort gebraucht. Als er nämlich in die Badewanne stieg und feststellte, daß das Wasser über den Rand schwappte. Diese Gelehrten waren schon merkwürdige Leute. Der eine kletterte in die Wanne, ein anderer ging in den Garten und beobachtete, wie die Äpfel vom Baum fielen. »Möchte mal wissen, was danach geschah«, sagte Alissa unvermittelt. »Wann - danach?« Der Vater begriff nicht. »Nun, Archimedes stieg in die Wanne, stellte fest, daß sein Körper so viel an Gewicht verliert, wie das verdrängte Wasser an Masse besitzt. Doch was passierte dann?« »Dann?«, Der Vater begann zu überlegen. »Ich könnte mir vorstellen, daß Archimedes vergaß, sich anzuziehen, nackt auf die Straße lief und sein berühmtes >Heureka< ausrief.« »Richtig«, sagte Alissa. »Und der erstbeste Polizist hat ihn wegen groben Unfugs festgenommen. Ich jedenfalls glaube, selbst im Altertum sind die Gelehrten für gewöhnlich nicht nackt auf der Straße rumgelaufen. Aus unerfindlichem Grund überliefert die Geschichte immer nur die ersten Augenblicke. Dabei folgen den ersten doch stets auch zweite. Durchaus möglich also, daß sie Archimedes verhaftet haben ... « »Kannst schon recht haben«, erwiderte Selesnjow, »doch auf dem Polizeirevier gab es bestimmt eine Badewanne. Archimedes kletterte hinein und bewies den Gesetzeshütern, daß seine Entdeckung Hand und Fuß hatte.« »Daraufhin haben sich auch die Polizisten ausgezogen und sind einer nach dem andern in die Wanne gestiegen.« »So lange, bis alles Wasser übergeschwappt war.« »Und der letzte Polizist, für den es nichts mehr zum Verdrängen gab, behauptete dann, Archimedes habe doch unrecht.« »Denk doch nur mal an Newton«, sagte der Vater. »Nachdem ihm der Apfel auf den Kopf gefallen war ... « Doch die Selesnjows kamen nicht dazu, das Schicksal der großen Gelehrten weiter zu erörtern, denn in diesem Augenblick - sie passierten gerade den Fluß durch eine Furt - schoben sich die eisernen Kiefern eines Tieres aus dem Sand und packten Alissa beim Fuß. Sie ließen erst wieder los, als Selesnjow seine Tochter ans Ufer geschleppt hatte, zusammen mit dem unerklärlichen Tier, das einzig aus Zähnen zu bestehen schien. Während der Professor das beißwütige Vieh von Alissas Schuh löste, schaute sie hinauf zu jener Stelle, wo sie vor kurzem den dunklen Fleck gesehen hatte. Dieser Fleck erwies sich als ein Loch im Hügel, möglicherweise sogar als ein Höhleneingang. Gerade wollte sie den Vater aufmerksam machen, daß diese Höhle auf ein eventuell verstecktes Raubtier untersucht werden müßte, da erschien oben erneut Gromoseka, enttäuscht und gekränkt, weil es seine besten Freunde offenbar überhaupt nicht eilig hatten, sich mit eigenen Augen von seiner großartigen Entdeckung zu überzeugen.
4. Alissa hat eine Vermutung Gromosekas Entdeckung war in der Tat bedeutsam. Als die Roboter den Schuttberg inmitten der abgebrannten Festung beseitigt -hatten, stießen sie auf die Leichen von Wesen, die in dieser Festung. ums Leben gekommen sein mußten. Der Fußboden des Saales war von den Skeletten und Waffen früherer Krieger bedeckt. Die Wesen, die den Vagabundenplaneten bewohnten, besaßen Ähnlichkeit mit Menschen, waren allerdings kleiner, schmaler in den Schultern und hatten längliche, an den Seiten plattgedrückte Schädel. Sie waren mit kurzen Schwertern ausgerüstet, Streitäxten und Rohren, aus denen sie nach Meinung Gromosekas vergiftete Pfeile schossen. Die Roboter summten aufgeregt, fotografierten und säuberten, was sie gefunden hatten. »Ich bin zu der Schlußfolgerung gekommen«, erklärte Gromoseka, »daß diese Festung während eines Krieges zerstört wurde. Seitdem ist niemand mehr hierher zurückgekehrt. Der Krieg fand offensichtlich vor reichlich fünftausend Jahren statt.«
Alissa war nicht zum ersten Mal bei Ausgrabungen dabei und wußte, daß jede antike Stadt aus mehreren Schichten bestand. Die unterste Schicht war die älteste. jedesmal vergehen Jahre, die Menschen schütten Straßen auf, bauen neue Häuser anstelle der verfallenen, verlieren Gegenstände und kehren Staub und Abfall in den Hof. Auf diese Weise wächst eine Stadt unentwegt in,die Höhe. Demzufolge gehört die nächste »Kulturschicht« zu einer späteren Epoche. Und wenn eine Stadt lange lebt, gibt es entsprechend viele Schichten. Mitunter bleibt von einer verlassenen Stadt nur eine Anhöhe, die nicht von der Natur, sondern vom Menschen erschaffen wurde, angefüllt mit den Überresten menschlichen Seins wie ein Eintopf mit Erbsen. Die Festung auf diesem Hügel freilich war anders beschaffen. Sie besaß nur eine einzige, zudem ziemlich dünne Schicht. Unter dieser Schicht war Felsgestein. Folglich hatten die Menschen nur kurze Zeit in dieser Stadt gelebt. Und wenn die Menschen nun ganz woanders gewohnt hatten, die Festung nur eine Zuflucht vor den Feinden war? Doch wo kamen sie her? Und sogleich erinnerte sich Alissa an das schwarze Loch im Hügelhang, das sie vom Fluß aus gesehen hatte. »Hör zu, Gromoseka«, sagte sie, »und was ist, wenn die Leute sich nur zeitweise hier aufhielten, ihre Behausungen aber ganz woanders hatten? « »Das soll wohl ein Scherz sein«, erwiderte der Archäologe. »Nein, eine Vermutung.« »Aber wir haben keine anderen Siedlungen in der Nähe gefunden«, widersprach Gromoseka. »Und wenn sie irgendwo in der Tiefe liegen? Im Hügelinnern?« »Das ist doch Unsinn«, sagte Gromoseka barsch. »Du siehst selbst.« Er klopfte mit dem Fuß gegen das Felsgestein, das von den Robotern freigeräumt worden war. »Nun, wenn es Unsinn ist ... « Alissa bestand nicht weiter auf ihrer Meinung. Sie hatte schon längst beschlossen, die Höhle am Fluß unter die Lupe zu nehmen. Sie würde sich umschaun und dann berichten. Falls es etwas zu berichten gäbe. Der Skaphander; den sie trug, war stabil, und einen Blaster besaß sie ebenfalls. Außerdem war es immer interessant, das zu tun, worauf die Erwachsenen nicht kamen.
5. Die unterirdische Stadt Die Archäologen vertieften sich so in ihre Entdeckungen, daß Alissa sicher war, mindestens zwei Stunden Zeit bis zum Mittagessen zu haben. Sie steckte den Blaster in den Gürtel, überprüfte, ob sich die Nachtbrille im Skaphander befand, und machte sich auf den nicht sehr weiten, doch riskanten Weg. Als Alissa den Fluß durchwatet hatte, blieb sie stehen und schaute zum Höhleneingang hoch. Bis dorthin waren es etwa zehn Meter, der Abhang war sehr steil, fast senkrecht. Auf halber Strecke setzte zwar Dornengestrüpp ein, doch die ersten fünf Meter würde sie sich an kleine Felsvorsprünge klammern und ans Gestein pressen müssen. Alissa schaute sich um - keinerlei Gefahr schien zu drohen. Sie suchte sich ein paar Vorsprünge in der Felswand aus und setzte den Fuß auf den untersten, Die ersten drei Meter brachte sie gut hinter sich, dann jedoch verließ sie das Glück. Nirgends mehr der geringste Vorsprung, kein einziger Spalt im Gestein, lediglich ein kleiner Strauch mit spitzen Blättern einen Meter über ihrem Kopf. Alissa versuchte eine Vertiefung in den harten Fels zu ritzen, doch ihre Handschuhe waren dafür zu weich, und einen stabileren Gegenstand hatte sie nicht mitgenommen. Ich werde wohl oder übel wieder hinunterklettern und mir einen anderen Weg suchen müssen, dachte sie, verspürte aber nicht die geringste Lust dazu. Das Dornengestrüpp war ja gleich über ihr. Da fiel ihr der Blaster ein. Vorsichtig, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, holte sie die Pistole aus dem Gürtel. Natürlich wußte sie, daß sein Strahl einzig dafür bestimmt war, das Opfer zu betäuben, dennoch wollte sie nichts unversucht lassen. Eng an den Fels gepreßt, streckte sie die Hand mit dem Blaster zur Seite und drückte auf den Abzug. Ein greller Strahl fuhr ins Gestein, wirbelte eine kleine Staubwolke auf, richtete aber sonst nichts aus. Alissa schaltete den Blaster auf Maximum und spürte plötzlich die Gefahr. Nicht daß sie etwas sah oder hörte - sie hatte einfach die deutliche Empfindung, daß unter ihr ein Feind lauerte.
Ein einziger Blick genügte, um ihr zu zeigen, wie recht sie hatte: Am Fuße des Abhangs stand ein Ungeheuer, einem Krokodil ähnlich, nur auf hohen Beinen, und schien zu überlegen, wie Alissa zu verschlingen war. Würde das Tier sich auf die Hinterbeine erheben, könnte es das Mädchen ohne Schwierigkeiten beim Fuß packen und herunterziehn. Alissa sah sich außerstande, das Ungeheuer davon abzuhalten. Auf den Fußspitzen balancierend, war sie vollauf beschäftigt, Halt an der kahlen Wand zu finden. Als das Tier sah, daß Alissa nun doch die Hand mit dem Blaster vom Gestein löste, duckte es sich blitzschnell und schnellte wie eine Feder in die Höhe. Dieser Sprung änderte unvermutet Alissas. Lage. Vor Schreck machte sie nämlich gleichfalls einen Satz nach oben und krallte sich am Gebüsch fest, das unterhalb des Höhleneingangs wuchs. Woher sie die Kraft dazu nahm, war ihr selbst unbegreiflich. Das Ungeheuer rutschte mit beleidigtem Gebrüll bäuchlings den Abhang wieder hinunter, Alissa dagegen hangelte sich an den Zweigen hoch und war kurz darauf bereits in der Höhle. Etwa eine Minute blieb sie reglos am Eingang liegen, lauschte, ob sich jemand in der Höhle befand, doch sie vernahm nicht den geringsten Laut. Das Mädchen erhob sich. Sie winkte dem Ungeheuer zum Abschied zu, worauf es erneut beleidigt aufheulte, dann setzte sie die Nachtbrille auf und schritt ins Dunkel hinein. Die Höhle war leer, was Alissa ziemlich enttäuschte. Sie hatte gehofft, kaum daß sie hier war, auf Truhen mit Edelsteinen oder wenigstens auf Bücher aus jener vergangenen Zivilisation zu stoßen. Gleich am Eingang führten Gänge in verschiedene Richtungen, auch gab es in Stein gehauene Treppen. Alissa stieg eine hinauf, schaute rechter Hand in ein Gewölbe, danach in ein anderes. Die Räume waren gleichfalls leer. Das Mädchen blieb erst einmal stehen. Sie sagte sich, daß hier etwas nicht stimmte. Aber ja, natürlich, das war es! Die Treppen! Die Höhle mußte von vernunftbegabten Wesen geschaffen sein! Gewiß, auch die Natur brachte einen geraden Hang und sogar einen quadratischen Raum zuwege, doch Treppen - niemals. Gänge und Räume gab es hier unzählige, aber vielleicht schien es Alissa auch nur so, weil sie nicht gewohnt war, durch Höhlen zu streifen. Doch was nun weiter, wohin sollte sie gehen? Alissa kam zu folgendem Schluß: Wenn sich über ihr die Festung befand und doch eine Schlacht stattgefunden hatte, so würde es aller Wahrscheinlichkeit nach einen Gang von der unterirdischen Stadt dorthin gegeben haben. Den müßte sie finden und die Luke im Augenblick aufstoßen, da Gromoseka sagte: »Die Ausgrabungen sind beendet, mehr ist hier nicht zu holen!« Dann würde sie den Kopf aus dem Boden stecken und erwidern: »Gromoseka irrt, die Ausgrabungen fangen gerade erst an.« In solche Gedanken vertieft, wählte das Mädchen einen Gang, der nach oben führte. Und sie hatte Glück. Schon nach einigen Schritten gelangte sie an einen Kreuzweg, wo verloren eine kleine Bronzeaxt lag. Sie war mit glitzernden Edelsteinen verziert und trug eine hübsche Gravierung in Form von Blumen und Tieren. Alissa hob die Axt auf. Sie war schwer, lag aber in der Hand, als wäre sie eigens für sie angefertigt worden. Fast bedauerte sie, daß es hier keinen Spiegel gab - sie hätte sich zu gern mit der Streitaxt in der Hand bewundert. Aber vielleicht war das gar keine Streitaxt, sondern ein Zeichen für Fürstenmacht? Wie schade, daß es schon in einer Woche wieder nach Hause ging, jetzt, wo die Entdeckungen gerade erst begannen. In diesem Augenblick bemerkte Alissa eine Tür. Es war die erste Tür in diesem unterirdischen Labyrinth, und sie war zu. Aus Eisen bestehend, war sie mit den gleichen Mustern verziert wie die Axt. Sie besaß jedoch keine Klinke, sondern nur eine kleine runde Öffnung in der Mitte. Alissa wollte sie aufstoßen, doch das gelang nicht. Auch gut, dachte sie, sollen sich die Archäologen damit befassen, schließlich müssen sie etwas zu tun haben. Nach dieser reichlich selbstzufriedenen Überlegung wollte Alissa den Rückweg antreten, doch sie begriff sehr schnell, daß sie sich verirrt hatte. Sie versuchte sich zu erinnern, durch welchen Gang sie hierhergelangt war, doch Korridore gab es viele. Anfangs war sie nicht sonderlich erschrocken - was gab es schon in einer leeren Höhle zu fürchten? Doch sie irrte umher, die Grotten verzweigten sich, gingen ineinander über, und schon bald glaubte sie, eine Ewigkeit in dieser Finsternis im Kreis zu laufen.
Das Echo der eigenen Schritte ließ den Eindruck entstehen, als folge ihr jemand. Alissa begann hastiger zu atmen, zwang sich, ruhig zu bleiben, doch ihre Beine liefen wie von selbst immer schneller. Nach der nächsten Biegung hielt sie es nicht länger aus und begann zu rennen. Sie hastete durch dunkle Flure, rutschte Rinnen hinunter, kletterte über Treppen, jagte durch kleine und große Säle. Nicht alle von ihnen waren leer. Sie bemerkte im Vorbeilaufen, daß in dem einen Saal Waffen und Metallrüstungen lagen, in einem anderen Steinstatuen oder auch zerbrochene Tongefäße. Alissa hatte kein Gefühl mehr für die Zeit - sie hätte nicht sagen können, wie lange sie schon umherirrte. Und wieder führte eine Treppe nach oben. Alissa stürzte auf sie zu und fand sich in einem großen Saal mit tief herabhängender Decke. Doch auch hier keinerlei Ausgang. Rein mechanisch lief das Mädchen zur gegenüberliegenden Wand, wobei sie über ein auf dem Boden liegendes Skelett in Rüstung stolperte. Das Skelett zerfiel bei der Berührung in Staub. In diesem Augenblick merkte Alissa, wie erschöpft sie war. Sie hatte keine Kraft mehr, weiterzugehen, und setzte sich an der Wand auf den Fußboden. Plötzlich hörte sie ein Klopfen über sich. Was hatte das zu bedeuten? War dort etwa das Ungeheuer von vorhin zu Hause, hatte sein Opfer gewittert und wollte es nun verspeisen? Alissa hielt den Atem an. Noch ein Schlag, danach ein schauerliches Quietschen, daß einem das Herz erstarrte. Im gleichen Augenblick bildete sich in der Decke ein grelles Rechteck, in dem ein riesiger, scheußlich anzusehender Schatten auftauchte. Alissa begriff, daß sie verloren war. Doch ganz ohne Widerstand würde sie sich nicht ergeben. Sie zog den Blaster, zielte und drückte ab. Ein kurzes Brüllen, dann plumpste ein gewaltiger Körperschwer zu ihr herab. Alissa wagte einen Schritt auf das verwundete Ungeheuer zu - es war im Skaphander, trug einen Helm und schlief. Da erkannte Alissa voller Entsetzen, daß sie den Archäologen Gromoseka unschädlich gemacht hatte. Während sie noch überlegte, wie sie es hatte fertigbringen können, den alten Freund für ein Ungeheuer zu halten, sprang nun auch ihr Vater durch die Öffnung herunter. Mit einem Blick erfaßte er die Situation. Selesnjow fühlte Gromosekas Puls. »Er schläft«, stellte er fest. Dann nahm er eine Ampulle aus der Notapotheke und gab dem Archäologen eine Spritze. »Er wird gleich wieder aufwachen«, sagte er und schrie erst danach Alissa an-. »Wie bist du überhaupt hierhergekommen!« Selesnjow brüllte nur, wenn er Angst um seine Tochter hatte. »Ich habe eine unterirdische Stadt entdeckt«, sagte Alissa bescheiden. »Vergeßt nicht, das im Buch festzuhalten, wenn ihr mal darüber schreibt.« »Aber wie..., weshalb ... Wer hat dich gebeten, verdammt noch mal!« Selesnjow war außer sich, aber Alissa nahm ihm das nicht übel. Als Vater eines so unternehmungslustigen Kindes hatte er es weiß Gott nicht leicht. »Ich hab nur meine Pflicht gegenüber der Wissenschaft erfüllt«, sagte Alissa. »Ich hatte eine Hypothese und mußte sie überprüfen. Wer hätte mir denn ohne Beweise geglaubt?« »So ist das immer bei ihr sagte Gromoseka, der wieder zu sich kam. »Die Ideen sind da, nur mit der Ausführung hapert's.« Er setzte sich mühsam auf. »Was hätte ich denn sonst tun sollen?« »Mit mir reden, mich überzeugen! Und nicht einfach drauflosballern.« »Ihr hättet mich doch bloß ausgelacht. So konnte ich euch viel besser überzeugen. Oder etwa nicht?«
6. Das Geheimnis der unterirdischen Stadt Von diesem Augenblick an veränderte sich das Leben in der Expedition. Freilich konnte sich Selesnjow nicht enthalten zu sagen: »Du bist ganz umsonst in die Höhle geklettert, wir wären auch ohne dich auf sie gestoßen, vielleicht eine halbe Stunde später. Du dagegen hättest dir den Hals brechen können.« »Hab ich aber nicht«, erwiderte Alissa. Die unterirdische Stadt belohnte die Archäologen mit vielen erstaunlichen Funden. Nun konnte man sich schon eher ein Bild davon machen, wie die Bewohner von Festung und Stadt einst gelebt hatten.
»Wir haben insgesamt acht Siedlungen und eine Festung ausgegraben«, verkündete Gromoseka vor versammelter Mannschaft. »In den Wohnstätten fanden wir nichts außer ein paar Scherben von Schüsseln und Töpfen, verrosteten Waffen und den Überresten eines Brandes. Woraus wir schlußfolgern können, daß all diese Siedlungen und die Festung durch einen langen, erbitterten Krieg zugrunde gingen, in dem auch die Bewohner des Planeten einander ausrotteten. Zuerst kämpften sie mit Gewehren und Kanonen, später, als ihnen Eisen und Munition ausgingen, griffen sie zu Stöcken, schossen mit Pfeil und Bogen, brachten sich mit Messern und Steinen um. Sie kämpften so verbissen, als wären sie nur zum Töten auf die Welt gekommen. Irgendein Fluch lag über dieser Zivilisation ... « Gromoseka sprach bekümmert, seine Fangarme hingen traurig herab. »Nur die Tiere konnten sich bisher nicht ausrotten«, sagte Alissa. »Sie flüchteten in die Wälder, wollen einander aber gleichfalls umbringen. Wenn das so weitergeht, wird's auf dem Vagabunden bald kein einziges Lebewesen mehr geben.« »Und was hat es mit der unterirdischen Stadt auf sich?« fragte Professor Selesnjow. »Alles, was wir in den Truhen und Verstecken gefunden haben, dient einzig und allein Kriegszwecken: Waffen, Vorräte für den Fall einer Belagerung, Munition.« Alissa sah sich um. Der Gemeinschaftsraum der Kuppel, unter der die Archäologen wohnten, war fast bis obenhin angefüllt mit Waffen aller Art, die sie aus der Höhle herbeigeschafft hatten. Wie ist so etwas bloß möglich, dachte Alissa entsetzt. Es kann doch nicht sein, daß Menschen, vernunftbegabte Wesen, ihre Entwicklung nur vorangetrieben haben, um Krieg zu führen. Professor Selesnjow saß seit dem Morgen vor dem Elektronenmikroskop. Er wollte jetzt vor allem herausfinden, woher diese ausgeprägte Bösartigkeit bei all den Tieren, Vögeln und Insekten des Planeten stammte. Er arbeitete angestrengt etwa zwei Stunden, dann begab er sich zu den Käfigen mit den gefangenen Tieren. Er fütterte sie, stellte Beobachtungen an. Danach kehrte er zu seinem Mikroskop zurück, um weiter nach dem Geheimnis der Angriffslust zu suchen. So ging das weitere vier Tage, am fünften aber trugen die Archäologen eine kompakte Schicht in der Tiefe der unterirdischen Stadt ab. Sie stießen dort auf das Archiv und die Bibliothek des Planeten. Mehrere Tage lang blieb Gromoseka in seinem kleinen Arbeitsraum hinter der dünnen Trennwand, wo ununterbrochen die Übersetzungsmaschine surrte. Sie dechiffrierte die Sprache der Vagabundenbewohner. Die anderen Archäologen sahen inzwischen die Filme durch, die gleichfalls dort gefunden worden waren. Wobei es nicht gar so wichtig war, auf welche Weise sie zur Wahrheit vordrangen. Es war schließlich ihr Beruf, die Vergangenheit aus Bruchstücken auferstehen zu lassen: das Tongefäß aus einem Scherben, die Statue nach einem Teil des Körpers, die Handschrift nach einem Papierfetzen. Bedeutend wichtiger war es zu erfahren, was sich auf dem Planeten abgespielt hatte, und das fanden sie denn auch heraus. Geschehen aber war dies: Vor langen Zeiten, ungefähr vor dreißigtausend Jahren, hatte es einen Planeten gegeben, der um einen Stern kreiste. Dieser Planet besaß Ähnlichkeit mit der Erde, und seine Bewohner flogen bereits in den Kosmos. Eines Tages erkannten sie, daß ihrem Stern Gefahr drohte - er würde in einigen hundert Jahren explodieren. Obwohl die Menschen dieses Planeten vieles vermochten und eine Menge erreicht. hatten, waren sie doch nicht imstande, zu einem anderen Stern zu fliegen: Ihr Sonnensystem befand sich am Rande der Galaxis, und die Entfernung zum nächsten Himmelskörper betrug viele Lichtjahre. Und so schufen sie, um sich zu retten, in dreihundert Jahren angespannter Arbeit, an der sich ausnahmslos alle Bewohner beteiligten, einen künstlichen Planeten, den sie auf ihre Umlaufbahn brachten. Dieser künstliche Planet aber war unser Vagabund. Nachdem sie im Innern des neuen Himmelskörpers eine künstliche Sonne, Wasser, Berge und Pflanzen installiert hatten, fürchteten die Bewohner den Untergang ihres Sterns nicht mehr. Sie konnten sich in aller Ruhe auf die Suche nach einem neuen Stern begeben. Die gesamte Bevölkerung des zum Tode verurteilten Planeten siedelte auf den Vagabunden um, der durch einen explosiven Schub die nötige Geschwindigkeit erhielt, ins Zentrum der Galaxis davonzujagen. Der Planet hatte sich in ein Raumschiff verwandelt. Einige Jahre nach ihrem Aufbruch ins All mußten die Bewohner des Vagabunden mit ansehen, wie ihre Sonne explodierte und die einstige Heimat vernichtet wurde. Es war eine bittere Erkenntnis, daß all ihre
Städte und Kulturdenkmäler in Schutt und Asche lagen, die Wälder verbrannt, die Seen verdampft waren, ihr früherer Planet sich in einen glühenden Gasball verwandelt hatte. Doch entscheidend blieb - die Menschen hatten sich in Sicherheit bringen können. Sie irrten viele Jahrhunderte im All umher. Frühere Generationen starben aus, neue wurden geboren; die alte Heimat wurde mit der Zeit ferne Erinnerung, während der künstliche Planet auf der Suche nach einem neuen Stern unentwegt den Kosmos durchpflügte. Etwa dreitausend Jahre nach Beginn der Reise näherte sich der Vagabund einem Sternensystem, das über eigene Planeten verfügte. Die Bewohner schickten ein kleines Raumschiff zur Erkundung aus. Es kam mit der Nachricht zurück, daß die neue Sonne für ein Leben geeignet sei, auf einem ihrer Planeten aber vernunftbegabte Wesen existierten. So fanden sie auf einen Schlag sowohl einen neuen Stern als auch Brüder im Verstand. Leider erwies sich dieser Verstand als nicht gar so brüderlich, wie sie gehofft hatten. jener Planet wurde von grausamen Königen regiert, die sich ständig bekriegten. Als die Gesandten vom Vagabundenplaneten eines der Königreiche aufsuchten und sich vorstellten, begriff der Herrscher seine riesige Chance. Er brachte das Raumschiff in seine Gewalt und ließ einen Teil der Besatzung töten., Den Rest zwang er, mit seinen eigenen Soldaten an Bord zum Vagabunden zurückzufliegen. Die Bewohner des Vagabunden waren in dem Glauben erzogen, daß nur freundschaftlich gesinnte Menschen im Kosmos lebten. Sie selbst hatten längst vergessen, was Kriege sind, und keine Ahnung, daß es Menschen gab, die einander umbrachten.
Deshalb wurde das Raumschiff, vollgestopft mit den Soldaten des Königs Beson - sein Name fand sich in den Chroniken und trug die Beifügung der Große und der Eroberer -, von den Bewohnern in der Hoffnung auf eine gute Nachricht mit Blumen begrüßt. Als sich dann die Luken öffneten und die Soldaten, mit Feuerwerfern bewaffnet, heraussprangen, sahen sich die Bewohner des Vagabunden außerstande, Widerstand zu leisten. Schon nach wenigen Tagen war der gesamte künstliche Planet mit seinem weisen und friedliebenden Volk in den Besitz der Banditen geraten. Nicht daß die Bewohner das widerstandslos hingenommen hätten. Viele von ihnen starben im Kampf für die Freiheit. Doch im Kampf für die Freiheit finden meist die Tapfersten und Klügsten den Tod, am Leben bleiben vielfach jene, die sich verstecken, erst einmal abwarten, sich unterordnen. Und hauptsächlich solche Leute waren es auch, die, um zu überleben, zu Knechten der Eroberer wurden. Nachdem Beson der Große den Vagabunden in seine Gewalt gebracht hatte, befahl er, ihn auf die Umlaufbahn des eigenen Sterns zu befördern, um von diesem neuen Stützpunkt aus all seine Feinde zu besiegen. Doch daraus wurde nichts. Im Krieg, den er gegen die Bewohner des Vagabunden führte, kamen fast alle Wissenschaftler und Ingenieure des künstlichen Planeten ums Leben. Sie wurden von Besons Soldaten als erste ausgerottet, denn Despoten fürchten kluge Menschen, machen die es ihnen doch schwer, das Volk in
Knechtschaft zu halten. Sklaven sollen nach dem Willen der Herrscher unwissend und möglichst Analphabeten sein. Zu spät begriff Beson, daß er den Vagabunden nicht auf der Umlaufbahn halten konnte. Während er nach den Schuldigen suchte, entfernten sie sich immer weiter vom heimatlichen Stern. So besaß Beson der Eroberer jetzt zwar einen ganzen Planeten, doch das nützte ihm nichts. Schon bald hatten Freunde und Feinde auf dem Heimatplaneten ihn vergessen. Der Vagabund aber raste, einen gewaltigen Kreis in der Galaxis beschreibend, weiter durchs All. Auch wenn Beson und seine Würdenträger nun den Planeten beherrschten - sie waren keineswegs zufrieden. Sie wollten auf einen anderen Planeten übersiedeln, einen, der größer und sicherer war, denn sie lebten in der ständigen Furcht, die künstliche Sonne auf dem Vagabunden könnte erlöschen oder seine dünne Hülle reißen. Und dann, viele Jahre später, schon nach dem Tode Besons, näherte sich der Vagabund dem Sonnensystem unserer Erde. Sie schickten das letzte Raumschiff aus, das ihnen noch zur Verfügung stand, um herauszufinden, ob man diesen Planeten erobern könnte. Das Schiff landete, mußte aber bald wieder starten, denn der Vagabund flog unentwegt seinen Kurs, und niemand konnte ihn zum Stehen bringen. Die Nachfahren von Besons Soldaten hatten also nur wenig Zeit. Für eine Ubersiedlung hätte sie ohnehin nicht gereicht, doch waren auch die Bewohner unseres Planeten nicht nach ihrem Geschmack. Aber sie wußten, daß sie in sechsundzwanzigtausend Jahren erneut dicht an der Erde vorbeikommen würden. Damit die Erde zu diesem Zeitpunkt bereit wäre, sie, die Eroberer, aufzunehmen, ließen sie eine mysteriöse lila Kugel zurück, die kurz vor der Ankunft des Vagabunden explodieren und alle Bewohner töten sollte. »Eine Atombombe etwa?« fragte Alissa. »Eine mit Zeitzünder?« »Nicht doch«, erwiderte Selesnjow, »was hätten sie mit einem radioaktiv verseuchten Planeten anfangen sollen. Außerdem könnte eine einzelne Bombe, selbst wenn sie enorm wirksam wäre, nicht alle Menschen umbringen.« »Aber was stellt diese lila Kugel dann dar?« fragte Alissa. »Wir müssen es unbedingt herausfinden.« »Alissa hat recht«, stimmte Selesnjow zu. »Wenn man den Archiven Glauben schenken darf, so droht der Erde Gefahr. Auf dem Vagabunden aber gibt es niemanden mehr, der uns erzählen könnte, worin diese Gefahr besteht.« »Und auch nicht, wo die Kugel versteckt ist«, fügte Alissa hinzu. »Sich gegenseitig so auszurotten, einfach unverständlich ... «, murmelte Gromoseka. »Dabei hätten sie in Frieden und Eintracht leben, sich weiterentwickeln können ... « »Na ja, mit Entwicklung war nicht viel drin«, entgegnete Selesnjow. »Auf dem Vagabunden gibt es weder Berge noch richtige Erde, wo also hätten sie beispielsweise Eisenerz oder Öl hernehmen sollen? Oder Steine, um Städte zu errichten? Man konnte hier zwar leben, stagnierte aber. Und je mehr die Bewohnerzahl wuchs, desto schwerer wurde es, die Menschen zu ernähren. Wenn auch ein gewaltiges, so ist der Vagabund immerhin nur ein Raumschiff.« »Und wenn sie bloß angegeben haben?« fragte Alissa. »Kamen auf die Erde, um sie zu erobern, doch die Ritter damals haben sie verjagt. Sie schämten sich, kehrten zu ihrem Planeten zurück und sagten einfach: >Wir wollten nur nicht.< Wir haben in unserer Klasse auch so einen Jungen, den Paschka Geraskin. Wenn er mit einer Matheaufgabe nicht klarkommt, behauptet er immer, er hätte keine Lust.« »Schon möglich, daß sie nur angeben wollten«, sagte Selesnjow nicht sehr überzeugt. »Vielleicht hatten sie aber auch einen bestimmten Plan.« »Wem nützt denn ein Plan für sechsundzwanzigtausend Jahre im voraus?« entgegnete Alissa. »Ich zum Beispiel kann nicht mal für zwei Tage vorausplanen.« »Gromoseka«, sagte Selesnjow, »lies doch bitte noch einmal Wort für Wort die Stelle über die Kugel vor.« Gromoseka nahm ein vergilbtes Blatt zur Hand und wiederholte: »Wir haben in einem Versteck eine von unseren lila Kugeln zurückgelassen. Wenn wir uns das nächste Mal diesem Planeten nähern, wird sie ihr Werk tun. Der Planet wird sich unseren siegreichen Truppen widerstandslos ergeben, so daß all seine Länder und Berge uns gehören. Wir sind dann unumschränkte Herrscher über alles und haben keine Feinde mehr.« Selesnjow hörte aufmerksam zu, dann sagte er: »Mir gefällt das ganz und gar nicht, Gromoseka.«
»Ist doch Unsinn«, der Archäologe lachte. »Kein einziger von diesen Eroberern existiert mehr, die Erde aber lebt und entwickelt sich.« »Trotzdem«, beharrte Selesnjow, »was hat es mit dieser lila Kugel auf sich?« »Wir werden auch das herausfinden«, erwiderte Gromoseka. »Und wann?« fragte Alissa. »Schon bald, meine Kleine.« »Nimm mir's nicht übel, Gromoseka«, sagte Alissa, »aber du hast gut reden. Dein Planet ist weit, und kein Räuber hat dort jemals eine lila Kugel hinterlassen.« »Vielleicht doch«, antwortete Gromoseka, »allerdings dürfte sie dann längst verrottet sein. Verrostet und zu Staub zerfallen. Wahrscheinlich handelt sich's bloß um irgendeinen mystischen Gegenstand zur Abschreckung von bösen Geistern.« »Wann nähert sich der Vagabund der Erde?« fragte Selesnjow. »In etwa zweihundert Tagen.« Der Professor erhob sich. Er stand nachdenklich da und erinnerte in dieser Pose an einen Kranich. »Ich bin sehr besorgt«, sagte er schließlich. »Aber was können diese Wilden jetzt noch ausrichten!« »Vergiß nicht, daß es auf dem Vagabunden Menschen gab, die sich den Machthabern total unterworfen haben. Auch Gelehrte und Ingenieure waren dabei, sehr gebildete Leute. Kluge Menschen aber, wenn sie um ihr Leben fürchten müssen, stellen oft sonstwas her, nur um ihren Herrschern zu Willen zu sein. Und die treiben dann Mißbrauch damit. Darum bitte ich dich nochmals sehr dringend, Gromoseka, durchwühlt ihre Archive und versucht herauszufinden, worum es sich bei der lila Kugel handelt.«
7. Das Gefängnis auf der Insel Gromoseka machte sich zwar lustig über die Befürchtungen des Professors, dennoch war die gesamte Expedition von diesem Augenblick an nur noch damit beschäftigt, Material über die lila Kugel zu finden. Auch Alissa suchte kräftig mit. Der Archäologe und seine Kollegen betrachteten die Sache als ziemlich aussichtslos, und Gromoseka brummte in einem fort, daß es eine solche Kugel bestimmt gar nicht gäbe, das Ganze ein von diesen Bösewichtern ersonnenes Märchen sei. Auf der Erde, so argumentierte er, existierten ja gleichfalls die Märchen vom fliegenden Teppich und dem Geist in der Flasche. »Von wegen Märchen«, widersprach Alissa, »diese Dinge haben vor sehr langer Zeit wirklich existiert. jetzt allerdings gibt es sie nicht mehr.« »Erzähl mir doch nichts«, sagte Gromoseka, »natürlich sind das Märchen.« »Nein und nochmals nein«, beharrte Alissa. »Die Menschen erfinden keine Märchen, sie geben nur weiter, was sie kennen. Vielleicht ist nicht immer alles richtig, einiges durchaus übertrieben, aber existiert hat es schon.« »Auch der fliegende Teppich?« Gromoseka lachte. »jawohl. Genau wie die Zwerge und der Unsterbliche Kastschej.« »Und wann haben sie deiner Meinung nach gelebt?« »Im Zeitalter der Märchen.« »Von so einer Epoche habe ich noch nie gehört!« »Alissa hat recht«, schaltete sich ihr Vater ein. »Auf der Erde hat es diese Märchenepoche tatsächlich gegeben. jetzt, da wir eine Zeitmaschine besitzen, konnten wir das exakt ermitteln.« »Und wann war diese Epoche?« »Sie lag zwischen der dritten und der vierten Eiszeit«, erklärte Alissa. »Bei uns auf der Erde wechselte ständig das Klima. Bei dem einen Wechsel tauchten zum Beispiel Dinosaurier und ähnliche Ungeheuer auf, beim nächsten starben sie aus, und das Mammut trat an ihre Stelle. Bis auch das durch einen Klimaumschwung zugrunde ging. Ist doch einleuchtend, oder?« »Schon, aber was hat das mit den Märchengestalten zu tun?« »Während der letzten Eiszeit sind auch sie ausgestorben. Nur die Menschen haben überlebt.«
»Damals gab es also schon Menschen?« »ja, die allerersten, die Urmenschen.« »Sehr seltsam, daß Zwerge und Drachen ausgestorben sein sollen, während die Menschen am Leben geblieben sind.« »Du hast ja keine Ahnung, Gromoseka, wie widerstandsfähig wir Menschen sind. Wir überleben so gut wie alles.« »Bloß die lila Kugel nicht«, sagte Gromoseka. Es sollte ein Scherz sein, doch niemand lachte. So beeilte er sich hinzuzufügen: »Und wann war diese Märchenepoche genau?« »Vor etwa ... Augenblick ... Papa!« rief Alissa plötzlich aufgeregt. »Was geschah auf der Erde vor sechsundzwanzigtausend Jahren?!« »Da begann gerade die letzte Eiszeit.« Selesnjows Augen wurden, kaum daß er das gesagt hatte, kugelrund. »Nein so was, wieso bin ich bloß nicht selber draufgekommen! Wenn die Eroberer vom Vagabunden wirklich vor sechsundzwanzigtausend Jahren auf der Erde landeten; so war das am Ende der Märchenepoche.« »Was habt ihr nur dauernd mit euren Märchen!« seufzte Gromoseka. »Wollt ihr damit andeuten, daß die Eroberer aus Angst vor den Drachen flüchteten?« , »Durchaus möglich«, erwiderte Selesnjow. An diesem Tag hatte Alissa eine neue Idee. Wir suchen nach solchen Kugeln, dachte sie, aber immer nur hier unten, wo die Eroberer gelebt haben. Wenn die Kugeln aber wirklich so gefährlich sind, wurden sie bestimmt an einem sicheren Ort versteckt. Fragt sich nur, wo. Etwa einen Kilometer von ihrem Hügel entfernt, befand sich eine kleine Insel im Fluß. Dort war eine Anhäufung von Steinplatten zu erkennen, die man für die Überreste eines Bauwerks halten konnte. Gromoseka hatte diese Insel längst erkunden wollen, bisher jedoch nie Zeit gefunden. So beschloß Alissa, das auf eigene Faust zu tun. Sie nutzte einen Augenblick, als die Archäologen und ihr Vater im Archiv saßen, um die schriftlichen Aufzeichnungen und Filme durchzusehen. Alissa entfernte sich unauffällig vom Hügel und begab sich am Ufer des Flüßchens entlang zur Insel. Sie erreichte ihr Ziel schnell. Die Insel, lediglich durch einen schmalen Wasserlauf vom Ufer getrennt, lag hübsch und friedlich da. Windstille herrschte, und im Flüßchen, hier etwas breiter als am Hügel, floß lautlos das Wasser dahin. Dennoch glaubte Alissa eine Gefahr zu wittern. Sie nahm den Blaster zur Hand und watete durch eine Furt hinüber. Das Wasser umspülte sanft ihren Skaphander. Am anderen Ufer angelangt, blieb Alissa erst einmal stehen und lauschte. Offenbar befand sich niemand hier, auch kein Tier, das sie anzufallen drohte. Sie schritt die Insel ab, die nicht mehr als fünfzig Schritt lang und keine zwanzig breit war. Nicht das geringste Lebenszeichen. Seltsam, dachte Alissa, auf der Insel müßte es doch Tiere geben, Vögel, wenigstens Insekten. Ein unheimlicher Flecken! Ob sie nicht doch lieber zurückkehrte? Sollte Gromoseka sich die Insel selber ansehen. Alissa erklomm die Anhäufung der Steinplatten und entdeckte einen Spalt, der groß genug war, daß sie hindurchklettern konnte. Drinnen war es finster. Das Mädchen begriff, daß es nicht leicht war, sich durch diesen Spalt zu zwängen, zumal sie die Waffe in der Hand behalten wollte. So warf sie vorsichtshalber einen Stein hinunter, ehe sie das Wagnis einging. Sie hörte, wie der Stein schon nach kurzer Zeit aufschlug. Nach einigem Überlegen entschloß sich Alissa. Sie steckte die Beine durch den Spalt und ließ sich langsam hinabgleiten, wobei sie sich an den Rändern der Steinplatten festhielt. Ihre Füße reichten nicht bis auf den Boden, und die Lage wurde schwierig. Wie sollte sie wieder nach oben gelangen, wenn es noch ein oder zwei Meter bis zum Grund waren? Allerdings hatte es auch wenig Sinn, hier herumzubaumeln, sich mit der einen Hand festhaltend, während die andere den Blaster umkrallte. Ach was, entschied sie schließlich, soll kommen, was will! Sie ließ sich fallen und prallte ziemlich schmerzhaft auf, denn der Boden war viel näher als erwartet. Alissa verlor das Gleichgewicht und fand sich auf allen vieren wieder; der Blaster knallte gegen den Steinboden. Ein Gegenstand rollte zur Seite und ging zu Bruch ... Alissa hielt vor Schreck den Atem an.
Eine Minute verging, vielleicht auch mehr, dann hob Alissa den Blaster wieder auf. Ihre Augen gewöhnten sich allmählich ans Halbdunkel - ein Sonnenstrahl fiel durch den Spalt. Alissa ertastete einen Tontopf, der seitlich von ihr lag. Sie befand sich in einem niedrigen, in den Fels gehauenen Saal. Unmittelbar vor ihr aber war ein Gitter, das den Raum in der Mitte teilte. Das Gitter bestand aus dicken Eisenstäben, die so dicht nebeneinander in Decke und Fußboden eingelassen waren, daß man nicht einmal die Hand hätte durchstecken können. Alissas Augen hatten sich nun ans Dunkel gewöhnt, und sie sah, daß sich hinter dem Gitter etwas befand. Als sie vorsichtig ein paar Schritte nach vorn trat, erkannte sie auch, was dort so weiß schimmerte. Auf dem Boden lagen Skelette mit Restfetzen verblichener Kleidung. Es waren vielleicht zwanzig oder dreißig solcher Skelette, und von jedem führte eine dicke Eisenkette zur steinernen Wand. Da begriff das Mädchen, daß sie hier in einem Gefängnis stand. Diese Menschen waren an die Wand gekettet worden und später, als der Krieg alle auslöschte, auch die Gefängniswärter, jämmerlich verhungert ... Alissa hatte nur noch einen Wunsch: möglichst schnell von hier fortzukommen. Sie rannte zu dem Spalt und sprang hoch, um-den Rand der Steinplatte zu erreichen, doch daraus wurde nichts. Und was jetzt? dachte Alissa erschrocken. Niemand aus ihrer Gruppe würde auf den Gedanken kommen, sie hier, auf der kleinen Insel, zu suchen. Sollte sie etwa vor Hunger und Durst umkommen? Der helle Spalt war ja greifbar nahe! Wenn man sich genau darunterstellte, konnte man die kleine heiße Sonne sehen, die gleichmütig auf das Menschlein dort in der Mausefalle schaute. Alissa warf einen Blick in die Runde - Staubkörnchen tanzten im Lichtstrahl. Sie hoffte einen großen Stein, vielleicht auch einen Stuhl zu finden, auf den sie sich stellen könnte. Doch nichts außer einer einsam daliegenden Lanzenspitze. Alissa, sagte sie da eindringlich. zu sich selbst, verlier jetzt nicht den Kopf. Schließlich bist du ein denkender Mensch und hast schon ganz andere Situationen gemeistert. Was also tun? Zunächst zwang sie sich, in aller Ruhe ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen. Die Wärter, so überlegte sie, werden schwerlich durch diesen Spalt heruntergestiegen sein. Folglich mußte es hier einen Ausgang geben. Von diesem Gedanken angespornt, begann Alissa die Felswände zu untersuchen. Sie waren kalt, hier und da tropfte es. Eine dämmrige Stille herrschte ... Und dann ertastete Alissa plötzlich eine Tür. Sie war aus Eisen und schon ziemlich durchgerostet. Hoffentlich ist sie nicht verschlossen, flehte das Mädchen innerlich, hoffentlich führt sie oder ein anderes Tor dahinter ins Freie. Alissa wollte die Tür aufstoßen, doch sie gab nicht nach. Sie rührte sich auch nicht, als das Mädchen sie heranziehen wollte. Da geriet Alissa in Zorn und versetzte ihr einen kräftigen Fußtritt. Der Schuh fuhr durchs Blech, die Tür brach auseinander, und Alissa stürzte schmerzhaft auf den Steinfußboden. Verblichene Knochen, verrostete Rüstungen und Lanzen purzelten auf sie herab - offenbar hatte hier vor langer Zeit ein erbitterter Kampf stattgefunden. Das Mädchen rappelte sich auf und klopfte sich den jahrtausendealten Staub ab. Das erste, was sie empfand, war Enttäuschung, denn auch hier schien kein Weg ins Freie zu führen. Sie warf einen verrosteten Kampfhelm beiseite, schleuderte mit dem Fuß ein paar kupferne Harnische fort, als unvermutet unter all dem Krempel hervor eine dunkle Kugel auf sie zurollte, nicht größer als ein Tennisball. Alissa betrachtete sie ohne besonderes Interesse, ließ sich nicht einmal von der Tatsache beeindrucken, daß die Kugel lila schimmerte. Gleich darauf rollten zwei weitere Kugeln vom gleichen Aussehen hinter der Tür hervor, und eine davon geriet in den Lichtstrahl, der von oben durch den Spalt fiel. Alissa ging wieder zu dem Gitter, hinter dem die Skelette lagen, und klammerte sich erschöpft an einen der Eisenstäbe. Der Stab gab nach und löste sich aus seiner Verankerung im Fußboden. Auf diese Weise hielt das Mädchen unerwartet eine Art kräftigen Speer in der Hand. Plötzlich kam ihr die Erleuchtung: Sie schleppte die Eisenstange zu dem Spalt, wo die Decke ein bißchen durchhing. Sie setzte das eine Ende des Stabes auf den Fußboden, klemmte das andere neben der Öffnung fest. Alissa rüttelte kräftig daran - er hielt. Der Rest war reine Routinesache, denn im einundzwanzigsten Jahrhundert ist wohl jedes Mädchen imstande, eine zwei Meter hohe Stange zu erklimmen.
Eine Minute später war sie im Freien. Die Sonne schien hell, und der Spalt in dem unterirdischen Gewölbe wirkte von hier aus klein und ungefährlich. Friedlich raunte das Flüßchen, eine kleine Wolke schob sich vor die Sonne. Hoch über ihrem Kopf flog ein Vogelschwarm dahin, und Alissa mußte daran denken, daß sie eben noch befürchtet hatte, nie wieder ins Freie zu gelangen. Bei der Vorstellung an ein so grauenvolles Ende überlief sie ein Schauder. Sie tat einen Schritt auf den Fluß zu und blieb im gleichen Augenblick wie angewurzelt stehen. Himmel, was war sie doch für ein Dummkopf! Gleich darauf stapfte sie bereits hastig durchs Wasser, sie hatte es eilig, ins Lager der Archäologen zu kommen. Sie hatte ja die Kugeln gefunden! Freilich war es ihr vor Schreck nicht in den Sinn gekommen, sie mitzunehmen. Doch je näher Alissa dem Lager kam, desto mehr verlangsamte sie den Schritt: Wie sollte sie Gromoseka gestehen, so ein Angsthase gewesen zu sein? Alissa beschloß zu tun, als sei nichts geschehen. Wie nebenbei wollte sie die Vermutung fallenlassen, die lila Kugel, die ihr Vater so fürchtete, sei bestimmt auf der kleinen Insel versteckt. Gewiß lachte man sie wieder aus, gab ihr zu verstehen, daß ein Kind wie sie nichts von Archäologie verstünde. Nun, sie würde nicht streiten, sich einfach stolz erhobenen Hauptes einen der Roboter schnappen, mit ihm auf die Insel gehen und ihm befehlen, die Kugeln aus dem Gewölbe zu holen. Das gäbe vielleicht einen, Triumph! In diese Gedanken vertieft, langte Alissa im Lager an, wo sie auch gleich Stimmen aus dem Archiv vernahm: Gromoseka und die anderen sichteten noch immer die Unterlagen. »Na, wie sieht's aus«, fragte Alissa, als sie eingetreten war, »gibt's was Neues?« Gromoseka sah sie mißbilligend an und sagte: »Ich bin unzufrieden mit dir, Alissa. Wir sind zur Zeit auf jedes Augenpaar angewiesen, du aber stromerst sonstwo rum.« »Ich und rumstromern?!« Alissa tat entrüstet. In diesem Augenblick wurden schnelle Schritte auf dem Flur laut, und sie drehte sich um. Ihr Vater stürzte ins Archiv, aufgelöst und außer Atem. »Hört mal«, rief er, »hört doch mal, was ich gefunden habe!« »Etwa eine lila Kugel?« fragte Gromoseka verblüfft. »Nein, das nicht, aber dafür den Virus! Den Virus des Bösen! Er muß vor langer Zeit ins Blut sämtlicher Lebewesen des Planeten gelangt sein und Veränderungen in ihrem Nervensystem bewirkt haben. Bei jedem einzelnen bis hin zur kleinsten Mücke. Das ist eine erstaunliche und furchtbare Entdeckung, begreift ihr?!« »Ist dieser Virus ansteckend?« fragte Gromoseka mißtrauisch, denn er hatte große Angst, krank zu werden. »ja, sehr. Er gelangte damals ins Blut der Menschen, und der Haß führte zu einem Krieg, der sie alle Vernichtete.« »Und wie verhielt es sich bei den Tieren?« »Die Tiere besitzen keine Kanonen und Messer, aber sie werden immer weniger.« »Gibt es eine Medizin gegen diesen Virus?« fragte Alissa. »Gewiß könnte man sie finden. Die Menschen haben im Laufe der Zeit gegen jeden Virus ein Mittel gefunden. Sie haben die Grippe und den Krebs ausgerottet, bald wird man auch den gewöhnlichen Schnupfen besiegen ... Nur braucht es in diesem konkreten Fall viele Tage angestrengter Arbeit, und ich allein werde die Aufgabe schwerlich lösen können.« »Sei bloß vorsichtig, Selesnjow«, warnte Gromoseka. »Ich hab gelesen, daß sich ein Wissenschaftler den Pesterreger eingespritzt hat, um die Behandlungsmethoden zu studieren. Er ist daran gestorben. Aber eins ist natürlich wichtig: Wir haben wieder ein Geheimnis dieses Planeten gelüftet. Bleibt uns bloß noch herauszufinden, was die lila Kugel enthält. Vorausgesetzt, daß es sich um kein Märchen handelt.« Da begriff Alissa, daß sie nicht länger zögern durfte. »Es ist kein Märchen«, sagte sie bedeutungsvoll, »ich habe die lila Kugeln gefunden.«
8. Der Virus des Bösen Alle hatten sich im Laboratorium unter der Kuppel versammelt. Auf einem kleinen Metalltisch hinter einer dicken Glaswand lag friedlich die lila Kugel. »Wir haben zwei entscheidende Entdeckungen gemacht«, begann Professor Selesnjow, und Alissa achtete darauf, keins seiner Worte zu verpassen. »Während ich dem schrecklichen Virus auf die Spur kam, hat
Alissa das unterirdische Labor gefunden, in dem Wissenschaftler gefangengehalten und gezwungen waren, eine furchtbare biologische Waffe zu entwikkeln - eben jenen Virus des Bösen. Dort in der lila Kugel schlummert er friedlich und wartet auf den Augenblick, da er ins Freie gelangen kann. Da, seht selbst, was dieser Virus aus einem Lebewesen machen kann.« Selesnjow betätigte einen Knopf, und in einem kleinen Verschlag hinter der Glaswand öffnete sich eine Luke. Zwei friedfertige Meerschweinchen, von der Erde zu Versuchszwecken mitgebracht, krochen auf den Tisch. »Wie bist du eigentlich daraufgekommen, daß die lila Kugel gerade diesen Virus enthält?« fragte Gromoseka den Professor. »Welche für einen ganzen Planeten tödliche Gefahr könnte eine so kleine Kugel sonst enthalten?« Die beiden Meerschweinchen liefen aufeinander zu und begannen sich freundschaftlich abzulecken. Selesnjow hantierte an einigen Griffen, gleich darauf packten Eisenkrallen die lila Kugel und zerschlugen sie. Die Meerschweinchen hatten nichts davon bemerkt. Eine Minute, vielleicht auch länger, fuhren sie in ihrem Spiel fort. Bis das eine Tier plötzlich seine langen Zähne entblößte und kräftig zubiß. Das zweite Tier, verwundert über diesen unerwarteten Angriff, wich zurück, aber dann war der Virus der Feindseligkeit auch in sein Blut gedrungen. Es stürzte sich wie eine Bestie auf das erste Meerschweinchen und krallte sich in ihm fest. Die beiden dicken, eben noch gutmütigen Tiere verschmolzen in einem wild kämpfenden Knäuel; Fellbüschel flogen in alle Richtungen, Blut begann zu fließen. »Papa, hör auf«, rief Alissa, »mach Schluß damit!« »Ein Gegengift gegen diesen Virus gibt es leider noch nicht. Die Tiere werden so lange kämpfen, bis eins von ihnen stirbt.« Alissa wandte sich ab. Nur gut, daß kein Laut durch die Glaswand drang. In diesem Augenblick sagte Gromoseka: »Und du glaubst, Selesnjow, daß sie eine solche Kugel auf der Erde versteckt haben?« »ja. Ich bin fest davon überzeugt. Vor sechsundzwanzigtausend Jahren. Sie hatten keine, Zeit, sich lange auf der Erde aufzuhalten, und ließen diese Kugel gewissermaßen als Zeitbombe zurück. Wenn sich ihr Planet der Erde erneut näherte, wollen sie sich auf ihr ansiedeln. Zu diesem Zeitpunkt würde die lila Kugel explodieren und den Virus freisetzen. Ein schrecklicher Krieg würde ausbrechen, in dem jeder gegen jeden kämpft. Die Menschen würden sich gegenseitig ausrotten und die Eroberer vom Vagabunden einen unbesiedelten Planeten vorfinden, auf dem alles erhalten geblieben wäre: die Fabriken und Häuser, die Bergwerke und Felder, die Schulen und Kindergärten. Nur die Menschen, die das alles verteidigen könnten, gäbe es nicht mehr.« »Und die Eroberer hat es dann selbst getroffen?« vergewisserte sich Gromoseka. Alissa zwang sich zu einem Blick durch die Glaswand. Eines der Meerschweinchen lag leblos auf der Seite, das zweite stand zähnebleckend über sein Opfer gebeugt, war aber selbst so stark verwundet, daß es jeden Augenblick tot umfallen konnte ... »Bei uns auf der Erde gibt es ein Sprichwort«, sagte Selesnjow. »Wer das Schwert hebt, wird durch das Schwert sterben. Hast du es schon mal gehört?« »Wir auf dem Tschumaros haben einen ähnlichen Spruch«, erwiderte Gromoseka. »Du meinst also, daß eine dieser Kugeln hier explodiert ist?« »Ja. Aber das war bestimmt kein Zufall. Ihr Archäologen werdet das noch genau herausfinden. Diese Banditen kämpften doch um die Macht auf dem Planeten, und so hat wohl jemand die Kugel mit voller Absicht zur Explosion gebracht.« »Vielleicht waren es die Sklaven?« sagte Alissa. »Auch das ist möglich«, stimmte Selesnjow zu. »Jedenfalls begann ein grauenvoller Krieg, in dem es keine Sieger gab. Er dauerte bis zu jenem Tag, da auch der letzte Mensch gestorben war.« »Und sie waren nicht fähig, ein Gegengift zu entwickeln?« fragte einer der Archäologen. »Wahrscheinlich machten sie sich gar nicht die Mühe, sie waren ja mit Töten beschäftigt.« »Dann setz dich jetzt hin und arbeite.« sagte Gromoseka. »Du mußt dieses Gegengift schnellstens finden.« »Das schaffe ich allein leider nicht«, erwiderte Selesnjow, »dazu braucht's ein richtiges Labor, vielleicht sogar mehrere.«
»Was redest du da«, empörte sich Gromoseka, »hast du vergessen, daß sich auf der Erde möglicherweise eine Zeitbombe befindet, die allen den Tod bringen kann?!« Was bin ich doch für ein dummes Ding, dachte Alissa unterdessen. Ich hab diese Kugeln mit Füßen bearbeitet. Geradezu ein Wunder, daß sie nicht kaputtgegangen sind. Nicht auszudenken, was passiert wäre! Ich würde jetzt vielleicht versuchen, den lieben Gromoseka umzubringen, der aber hätte schon längst meinen Papa getötet. Nein, das darf man sich wirklich nicht vorstellen! Aber leider war es eben doch vorstellbar, denn genau in diesem Augenblick fiel auch das zweite Meerschweinchen tot um. »Wir können nur hoffen, daß der Mechanismus der lila Kugel nach so vielen Jahren nicht mehr funktioniert«, sagte Selesnjow, doch seine Stimme klang kein bißchen überzeugt. Er betrachtete traurig die toten Tiere. »Papa«, sagte da Alissa, »wir müssen schnellstens zur Erde zurückfliegen.« »Das müssen wir tatsächlich«, stimmte der Vater zu. »Und ich werde euch begleiten«, entschied Gromoseka.
9. Das Zeitalter der Märchen Sie brachen in irrer Hast auf. Den größten Teil der Ausrüstung und der gefundenen Gegenstände ließen sie in der Hoffnung zurück, nochmals auf den Vagabunden zurückzukehren. Den wichtigsten, zugleich aber auch gefährlichsten Fund nahm Alissas Vater in besondere Obhut: In einem speziellen Metallcontainer lagen auf weichem Polster drei lila Kugeln, die Professor Selesnjow den Erdenbiologen zur Erforschung übergeben wollte. Drei Stunden nach dem Tod der Meerschweinchen hob das Raumschiff vom Vagabunden ab und nahm Kurs auf die Erde. Unterwegs versuchte die Besatzung unablässig, Verbindung mit der Heimat aufzunehmen, doch da sie mit Überlichtgeschwindigkeit flogen, gelang das nicht. Sie mußten auf den Augenblick warten, da das Schiff das eigene Sonnensystem erreichte. Und so grübelten sie zunächst über etwas anderes nach wie sie nämlich die auf der Erde versteckte lila Kugel finden könnten. Die Kugeln waren aus Ton, folglich mit keinerlei Detektor aufzuspüren. Und wenn tatsächlich vor sechsundzwanzigtausend Jahren ein Raumschiff vom Vagabunden auf der Erde gelandet war, dann müßte erst mal einer herausfinden, wo genau. Zu jener Zeit gab es ja weder Fernschreiber noch Fotoapparate. »Noch nicht einmal das Rad war damals erfunden«, sagte Gromoseka. Er war betrübt. Schon am Morgen hatte er ein Fläschchen Baldrian getrunken, doch auch das konnte seine Stimmung nicht bessern. Plötzlich hob er zwei seiner Fangarme, klopfte sich damit gegen die Stirn und rief: »Es gibt einen Ausweg!« »Und der wäre?« fragte Selesnjow. »Wir müssen schnellstens Skaphander herstellen. Für alle Erdenbewohner. Dann wäre der Virus machtlos.« Selesnjow hielt eine Antwort auf diesen Vorschlag für überflüssig. Auch Alissa begriff, daß fünf Milliarden Skaphander so schnell unmöglich anzufertigen waren, selbst wenn alle Fabriken der Erde nichts anderes produzierten. »Nur keine Bange, Gromoseka«, sagte sie, »wir finden die Kugel schon.« »Aber wie?!« »Wir suchen das Zeitinstitut auf, bitten um eine Zeitmaschine und fliegen in die Vergangenheit, sechsundzwanzigtausend Jahre zurück. Dort werden wir dann beobachten, wo diese Banditen landen. Wir nehmen ihnen die Kugel ab und machen sie unschädlich.« »Wenn das alles so einfach wäre ... «, sagte ihr Vater. »Es ist wirklich nicht einfach«, stimmte Gromoseka zu. »Wir haben keine Ahnung, an welchem Punkt der Erde sie niedergingen ... Außerdem gab es zu diesem Zeitpunkt ja noch kaum Menschen. Nur Ungeheuer. Eine solche Reise ist sehr gefährlich; auch wissen wir nicht, ob wir die Kugel rechtzeitig finden, das heißt, bevor sie in unserer Zeit explodiert.« »Wir müssen's trotzdem riskieren«, sagte Selesnjow. »Ich jedenfalls werde in die Vergangenheit aufbrechen«, erklärte Alissa entschieden.
»Das ist kein Abenteuer für Kinder, mein Schatz«, erwiderte Gromoseka. »Du hältst das Ganze vielleicht für ein Spiel, in Wirklichkeit aber hängt von dieser Fahrt in die Vergangenheit das Schicksal der Menschheit ab.« »Mein lieber Gromoseka«, sagte Alissa ernst und stand sogar auf, um etwas größer zu wirken, »auf der ganzen Erde gibt es bisher nur eine einzige Zeitmaschine, die einen Menschen sechsundzwanzigtausend Jahre zurückbefördern kann.« »Wieso denn das?« »Alissa hat recht«, erklärte Selesnjow, »unsere Zeitmaschinen sind im allgemeinen nicht leistungsstark genug, um derart ferne Epochen zu erreichen.« »Ich lasse aber nicht zu, daß Alissa fährt!« begehrte Gromoseka auf. »Die Ungeheuer werden sie verschlingen!« »Ich und kein anderer muß fahren«, widersprach Alissa. »Ich war bereits dort und habe gewisse Verbindungen.« »Was denn für Verbindungen!« Gromoseka lachte. »Etwa zu den Mammuts?« »Nicht nur zu ihnen«, erwiderte Alissa. »Ich hab auch Bekannte unter den Drachen, Riesen und Zauberern, kenne Sindbad den Seefahrer, Scheherezade und sogar Gerassik, einen Jungen aus der Urgesellschaft.« »Wa-a-as?« Gromoseka blinzelte vor Verwunderung mit all seinen Augen. »Die Kleine ist wohl krank.« »Ich bin kerngesund«, entgegnete Alissa, »nur muß ich dir in aller Form sagen, Gromoseka, daß du dich in der Geschichte der Erde sehr schlecht auskennst.« »Dann klär mich auf, kleines Wesen, öffne mir die Augen.« Was Alissa denn auch tat. Erst vor kurzem, so erklärte sie, erst seit die Wissenschaftler Zeitreisen ermöglicht und sich in zurückliegenden Epochen aufgehalten hätten, sei eine Etappe in der Geschichte der Erde entdeckt worden, von deren Existenz bisher niemand etwas geahnt habe. Obwohl ihre Spuren bis ins Heute führten und ihre Gestalten jedem dreijährigen Kind bekannt wären. Zwischen der dritten und der letzten Eiszeit, berichtete Alissa weiter, hätten die Wissenschaftler das Zeitalter der Märchen entdeckt. Wie sich herausstellte, gab es damals auf der Erde wirkliche Drachen, Zauberer, Dschinne, Hexen, Zwerge, sprechende Tiere, das Väterchen Frost - kurz all jene Wesen, die wir jetzt als Fabelwesen bezeichnen und an deren Existenz die Erwachsenen nicht glauben. Später, fuhr Alissa fort, kamen die Kälte und das Eis. Die Flüsse froren zu, die Zauberer und Zwerge starben aus oder suchten in Höhlen Zuflucht, an irgendwelchen versteckten Orten. Die letzte Eiszeit überlebten nur die Menschen. Sie befanden sich in jener Epoche noch im Zustand der Urgesellschaft und hatten gerade erst den Umgang mit dem Feuer und ein bißchen Ackerwirtschaft gelernt. Natürlich lebten sie still und unauffällig dahin, hatten Angst vor Drachen und Riesen. Doch sie besaßen ihnen gegenüber einen großen Vorteil: Sie konnten arbeiten. Sämtliche Fabelwesen, so klug sie auch sein mochten, waren dazu nicht in der Lage. All ihre Märchenschlösser, fliegenden Teppiche und sonstigen Wunder waren nur Zauberei und später, als die große Kälte kam, niemandem mehr von Nutzen. Wie das mit den Hexenmeistern eben so ist: Sie können ein Schloß, sogar einen Palast errichten, und alles darin, einschließlich der eisernen Türen, wirkt echt. Doch sie haben keine Ahnung, wie sie eine Heizung in ihrem Schloß installieren sollen, ja sie können nicht einmal die Fenster abdichten, damit's weniger zieht. Milch schöpfen die Zauberer aus Milchflüssen, süßen Brei nehmen sie von Breiufern - aber Kühe melken oder Zucker aus Zuckerrüben herstellen haben sie nie gelernt. Wie sollten sie auch, dafür sind's ja Zauberer. Die Menschen dagegen wußten sehr gut, wie man Kühe melkt, sie konnten einen Pflug herstellen, Fenster abdichten oder einen Ofen in ihrer Hütte setzen. Und obwohl sie's in dieser langen Eiszeit sehr schwer hatten, standen sie es doch durch und erlebten, daß sich das Eis zurückzog, das Grün der Gräser wieder zum Vorschein kam. Und plötzlich fielen ihnen die früheren Erdenbewohner ein: Wo steckten all die Zauberer, Hexen, Dschinne und Drachen? Sie waren, wie sich herausstellte, verschwunden. Die Menschen würden fortan ohne sie leben und brauchten niemanden mehr zu fürchten. So geschah es auch; die Drachen und Zauberer gab es nur noch in der Erinnerung, und selbst die verblaßte mit der Zeit immer mehr. Die Erwachsenen halten gleich gar nichts von der Epoche der Märchen. Sie betrachten das alles als bloße Phantasie, die Kinder dagegen wissen, daß Märchen die reine Wahrheit sind. Nur eben nicht die Wahrheit von heute, sondern eine aus fernen, fernen Zeiten ...
»Diese Geschichte kommt mir sehr unwahrscheinlich vom sagte Gromoseka, als Alissa schließlich schwieg. »Allerdings hatten wir auf unserem Planeten auch keine Eiszeiten.« »Und Märchen, habt ihr die?« »Nein. Als wir Kinder waren, hat man uns, immer nur wahre Geschichten über die Heldentaten und Feldzüge unserer Krieger erzählt oder von schönen Damen, die mit gefalteten Fangarmen mehrere Jahrhunderte auf die Rückkehr ihrer Ritter warteten.« »Du tust mir richtig leid, Gromoseka«, sagte Alissa. »Du würdest es bestimmt nicht bereuen, wenn du mit mir kämst.« »Du behauptest allen Ernstes, daß du schon dort warst?« »Sie war wirklich da«, bestätigte Selesnjow, »und ist wie durch ein Wunder heil geblieben.« »Bei mir grenzt alles an Wunder«, erwiderte Alissa, »selbst die Straße überquere ich auf wundersame Art.« »Aber wie ist das möglich«, fragte Gromoseka, »wer hat dich da reingelassen?« »Ich bin durch den Märchenwald gegangen«, erklärte Alissa. »Dort steht diese Zeitmaschine.« »Das wird ja immer besser«, jammerte Gromoseka, »was denn nun wieder für ein Märchenwald!« »Ach, ganz einfach. Als die Gelehrten zu dem Schluß gekommen waren, daß mit dem Ende des Märchenzeitalters auch die Fabelwesen ausstarben, beschlossen sie, diese Wesen ins Rote Buch einzutragen.« »Wohin?« »Ins Rote Buch. Das ist so eine besondere Liste, in der alle vom Aussterben bedrohten Tiere verzeichnet sind. Und dann hat man für sie ein spezielles Naturschutzgebiet angelegt, eben den Märchenwald. Dort leben jene, die gern auch heute noch existieren möchten, unter einer gläsernen Kuppel.« Gromoseka sah sich hilfesuchend zu Selesnjow um - konnte man Alissa wirklich glauben? »Es ist die Wahrheit«, bestätigte der Professor. »Und der Leiter des Märchenwaldes, Iwan Iwanowitsch, ist ein guter Freund von Alissa. Sie hat ihm seinerzeit manchen Dienst erwiesen.« »Was ebenfalls stimmt«, sagte Alissa.
10. Die Rückkehr Der Flug zog sich endlos hin. Schließlich war es soweit: Das Raumschiff hatte die Umlaufbahn der Erde erreicht und begann, die Geschwindigkeit drosselnd, mit dem Bremsvorgang. Während Gromoseka die Landung vorbereitete, versuchte Selesnjow Verbindung zur Erde aufzunehmen. »Erde, hören Sie mich«, wiederholte, er mehrmals, »hier spricht das Raumschiff vom Tschumaros. Wir befinden uns im Anflug und werden in Kürze landen. Wir kommen in einer dringlichen Mission und erbitten deshalb einen Landeplatz außer der Reihe.« »Was ist geschehen?« meldete sich endlich die ferne, kaum hörbare Stimme des Dispatchers. »Weshalb fordert ein archäologisches Raumschiff bevorzugte Abfertigung? Unser Kosmodrom ist überlastet ... « »Der Erde droht Gefahr«, begann Selesnjow. »Wir haben auf dem Vagabundenplaneten einen tödlichen Virus entdeckt. Gegen die Erde soll ein biologischer Krieg geführt werden.« »Von wem?« Der Dispatcher begriff nicht. »Versetzen Sie sämtliche biologischen Labors der Erde in Alarmbereitschaft. Bitte schicken Sie uns einen hermetisch abgeschlossenen Wagen der Schnellen Hilfe, wir führen gefährliche Fracht mit.« »Ich verstehe kein Wort«, rief der Dispatcher, »drücken Sie sich genauer aus!« »Ein Raumschiff vom Vagabundenplaneten hat auf der Erde einen gefährlichen Virus hinterlegt.« »Wo genau?« »Das wissen wir nicht.« »Wann war das?« »Vor sechsundzwanzigtausend Jahren.« Der Dispatcher hüstelte verwirrt und sagte nichts mehr. »Hallo, Kosmodrom, hören Sie mich!« rief Selesnjow erneut. »Aber ja, wir hören Sie. Eine Frage - ist noch jemand außer Ihnen an Bord?« »Der Leiter der Expedition, Gromoseka«, antwortete Selesnjow.
»Wir möchten ihn sprechen.« »ja, ich höre?« meldete sich der Archäologe. »Verehrter Gromoseka«, ertönte es im Mikrofon, »wir haben soeben mit Professor Selesnjow gesprochen. Sagen Sie bitte, ist er normal?« »Wie meinen Sie denn das?« fragte Gromoseka drohend. »Im üblichen Sinn. Ist er vielleicht überarbeitet, hat er Temperatur?« »So begreifen Sie doch endlich, Sie Dummkopf«, brüllte Gromoseka, »der Professor ist normaler als Sie und ich zusammen! Der Erde droht tatsächlich tödliche Gefahr!« »Was denn, seit sechsundzwanzigtausend Jahren?« vergewisserte sich der Dispatcher. »Ich entlasse Sie!« jaulte Gromoseka auf und donnerte seine Pranke voller Wucht auf den Sender. Es knackte laut, Kristallsplitter und Drahtenden flogen in alle Ecken. Die Alarmlampen leuchteten auf, die Verbindung war unterbrochen. »Was hast du angestellt!« rief Selesnjow. »jetzt ist alles verloren, wir haben keinen Kontakt mehr.« »Dafür hab ich's ihm aber gezeigt«, raunzte Gromoseka verwirrt; er gab eigene Fehler nur ungern zu. »Ich hatte so gehofft, ihn davon zu überzeugen, daß wir völlig normal sind. Noch eine halbe Stunde, und ich hätte es geschafft. Und was sollen wir jetzt tun?« »Nichts anderes«, sagte Gromoseka. »Wir fliegen zur Erde und überzeugen sie.« »Ja, aber wie! Hoffentlich werden uns die Stunden, die wir dadurch verlieren, nicht zum Verhängnis.«
»Das weiß man natürlich nie«, antwortete Gromoseka philosophisch. »Du hast recht. Und den Direktor vom Märchenwald müssen wir auch noch überzeugen.« »Wird er dir glauben?« fragte Alissa. »Er muß.« »Nein, Papa, das dürfen wir nicht riskieren. Du hast selbst gesagt, daß jetzt jede Minute zählt.« »Aber was willst du tun?« »Während du dich mit, deinen Kollegen in Verbindung setzt, laufe ich in den Märchenwald, steige in die Zeitmaschine und fliege ins Zeitalter der Märchen.« »Kommt gar nicht in Frage!« rief Selesnjow. »Kommt gar nicht in Frage!« brüllte Gromoseka. »Warum denn nicht?« widersprach Alissa sanft. »Weil es gefährlich ist«, antworteten Selesnjow und Gromoseka gleichzeitig. »Lange nicht so gefährlich«, erwiderte Alissa, »als wenn ich kriegerisch wie das Meerschweinchen werde und mit einem Messer auf meinen geliebten Papa losstürze.« »Wir finden einen Erwachsenen, der sich auskennt«, sagte Selesnjow. »Na gewiß doch, aber nicht gleich am ersten Tag. Außerdem wird dieser Mensch keine Vorstellung von der Märchenepoche haben, und auf dem Vagabunden war er auch nicht.«
»Das ist wirklich zum Verrücktwerden«, sagte Gromoseka und sah den Professor an. Der hob nur resigniert die Arme. Alissa diskutierte nicht weiter, ihr war ohnehin klar, daß außer ihr niemand für die Reise in Frage kam. Wozu also viel Worte machen, sie würde einfach abwarten. Und so setzte sie sich bis zur Landung gemütlich in einen Sessel.
11. Handgemenge auf dem Kosmodrom Nachdem die Verbindung zum Raumschiff vom Tschumaros abgebrochen war, geriet das Kosmodrom in Unruhe. Was ja kein Wunder war: Da näherte sich ohne jede Anmeldung ein Raumschiff der Erde, nahm Kontakt auf, und eine nervöse Stimme erklärte, daß dem Planeten tödliche Gefahr drohe. Dann aber redeten die da oben ungereimtes Zeug, erzählten was von sechsundzwanzigtausend Jahren und irgendwelchen Außerirdischen, wonach die Verbindung urplötzlich wieder abriß. Und so begannen die Instrumente des Dispatcherdienstes das Raumschiff zu orten. Sie fanden es schließlich im mondnahen Raum, umgaben es sofort mit einem Gravitationsnetz, schalteten seine Triebwerke ab und ließen es vorsichtig auf einem abgeschiedenen Atoll mitten im Stillen Ozean landen. Auf dem Videoschirm der Leitzentrale machte das Raumschiff einen völlig normalen Eindruck. Keinerlei Spuren einer Beschädigung. Dennoch schwieg sein Funkgerät beharrlich. Das Schiff ging gehorsam auf dem Betonfeld des Kosmodroms nieder. Sofort rasten alle verfügbaren Rettungswagen zum Landeplatz, nahmen an der Ausstiegsluke Aufstellung. Löschfahrzeuge hatten ihre Schläuche in Bereitschaft, um das Schiff kreisten unablässig die Strahlungsmeßgeräte. Im größten der Autos aber saß zusammen mit dem Dispatcher des Kosmodroms Professor Smith, der bedeutendste Spezialist für Kosmospsychosen, der eigens aus Australien herbeigerufen worden war. Sie brauchten nicht lange zu warten. Die Luke war kaum geöffnet, als auch schon drei Gestalten heraussprangen: ein großer schlanker Mann mittleren Alters mit zerzaustem Haar und einem Metallgefäß in der Hand; ein seltsames Wesen mit vielen Augen und Haifischzähnen, das an einen Elefanten oder auch einen Achtfüßer erinnerte; und ein Mädchen von etwa zehn Jahren in rotem Anzug. Die drei stürzten auf Professor Smith und den Dispatcher zu, ehe sie noch richtig aus dem Auto gestiegen waren. »Beeilung!« rief Selesnjow. »Wo sind die Arzte und Biologen? Ich habe hier einen Container mit dem schrecklichsten Virus, den das Universum je kannte!« »Was trödelt ihr so herum?!« ließ sich nun auch das Wesen vernehmen, das Ähnlichkeit mit einem Elefanten und einem Achtfüßer besaß. Nur das Mädchen Alissa sagte nichts. »Immer mit der Ruhe«, erklärte der Dispatcher, »keine Panik. Fürs erste wird Professor Smith euch untersuchen, danach durchlauft ihr die Quarantäne, dann könnt ihr der Reihe nach berichten.« »Dazu ist keine Zeit«, erwiderte Selesnjow. »Zuerst müßt ihr mich ans Videofon lassen, dann könnt ihr uns untersuchen, soviel ihr wollt.« Er machte Anstalten, zur Dispatcherzentrale zu stürzen, doch die Kosmodromroboter versperrten ihm den Weg. »Dummköpfe!« schrie Gromoseka. »Selbstmörder! Lauf los, Selesnjow, ich halte sie auf!« Er schleuderte die Roboter mit seinen Fangarmen beiseite. Die Roboter, für die der Angriff unerwartet kam, wußten nicht, wie sie sich einem vernunftbegabten, doch rauflustigen Wesen gegenüber verhalten sollten. Smith und der Dispatcher sprangen ins Auto zurück, verschanzten sich dort. Gleich darauf hörte man, wie der Dispatcher sagte: »Nun gibt es leider wirklich keinen Zweifel mehr, daß die Besatzung der >Tschumaros< den Verstand verloren hat.« »Sie haben recht«, erwiderte Professor Smith, »meine ersten Beobachtungen bestätigen das vollauf. Wir müssen sie isolieren.« Der Dispatcher drückte einen Knopf auf dem Steuerpult seines Wagens, gleich darauf ließen fliegende Roboter ein dünnes Netz herunter, das sich über Selesnjow legte. »Springt zur Seite!« rief Alissa, doch es war bereits zu spät. Das Netz hatte die drei wie eine Spinnwebe umfangen.
»So, meine Freunde«, sagte Professor Smith, nun wieder mutiger geworden, aus dem Auto heraus: »Jetzt geht's in meine Klinik. Aber keine Angst, ihr werdet nur untersucht, bekommt etwas zur Beruhigung ... « »Und die Erde geht inzwischen kaputt, ja?!« sagte Gromoseka drohend. »Sie erheben das Schwert gegen Ihre Frau, während die Schwiegermutter Ihre Kinder erdrosselt, ja?!« Er wollte das Netz zerreißen, doch es hielt zuverlässig. »Ein sehr ernster Fall«, erklärte Professor Smith und kratzte sich das Nasenbein. »Einer so ausgeprägten Psychose bin ich, ehrlich gesagt, noch nicht begegnet.« Dann sah er Alissa ernst an und wandte sich an sie: »Und du, Mädchen, glaubst du auch, daß der Erde tödliche Gefahr droht?« Alissa überlegte. Was sollte sie antworten? Wenn sie dem Vater und Gromoseka recht gab, würde man sie ebenfalls für verrückt halten. Erklärte sie die beiden für krank, käme sie möglicherweise zwar frei, doch der Vater und Gromoseka landeten unweigerlich in der Klinik. Allerdings könnte sie, während die beiden dort aufgehalten wurden, vielleicht in die Märchenepoche gelangen und die vertrackte lila Kugel finden. »Warum schweigst du, mein Kind?« fragte der Psychiater. Alissa kam nicht zum Antworten, denn in diesem Augenblick zog Gromoseka, der es satt hatte, gegen das unnachgiebige Netz zu kämpfen, den Blaster und ballerte in die Luft. Das Netz war darauf natürlich nicht eingerichtet, es begann zu knistern und riß. Die fliegenden Roboter stoben in alle Himmelsrichtungen davon, Gromoseka schüttelte wie ein furchteinflößender Recke die Überreste des Netzes von seinen Schultern und rief mit Donnerstimme: »Hände hoch, ihr Opportunisten und Kleingläubigen!« Der Dispatcher hob verdattert die Arme, Professor Smith jedoch, ungeachtet seines ehrwürdigen Alters und seiner schmächtigen Statur, folgte dieser Aufforderung nicht. Er war den Umgang mit Kranken gewohnt, und so neigte er lediglich den Kopf, beobachtete Gromoseka, als würde er einen interessanten Film sehen. »Und jetzt - alles in den Wagen!« befahl der Archäologe. Sie fanden nur mit Mühe im Auto Platz. Drei Viertel des Raumes nahm allein Gromoseka in Anspruch, der in dreien seiner Fangarme je einen Blaster hielt. So langten sie schließlich in der Dispatcherzentrale an, einen Schwarm von Feuerwehrautos, von Kranken-, Strahlungsmeßwagen und sonstigen Fahrzeugen im Gefolge. Der Dispatcher schimpfte: »Das werden Sie büßen. Und erreicht haben Sie auch nichts. Gleich wird Großalarm ausgelöst, dann kommen Sie in die Klinik. Und zwar für eine ganze Weile, das garantiere ich Ihnen.« Der Dispatcher war vor allem gekränkt, weil man ihn auf seinem eigenen Kosmodrom gefangengenommen und gezwungen hatte, etwas gegen seinen Willen zu tun. Außerdem hatte er Angst, dieser verrückte Achtfüßer könnte ihn und Professor Smith erschießen. Dieser Elefant mußte in der Tat wahnsinnig sein! Selesnjow wandte sich zu Professor Smith um. »Herr Kollege«, sagte er, »ich versichere Ihnen, daß wir völlig normal sind. Warum wollen Sie uns nicht glauben?« »Normale Leute reden keinen Unsinn und schießen auf dem Kosmodrom nicht mit Blastern«, erwiderte der Psychiater leise. »Aber Sie halten es doch für möglich, daß der Erde Gefahr droht?« »Na gewiß«, stimmte Professor Smith unverzüglich zu. »Ein Buchhalter auf meiner Station in Melbourne hehauptet ja auch, wir wären allesamt mit Mikroben infiziert, die uns zu Sklaven von Außerirdischen machen. Selbst ich trüge solche Mikroben in mir. Gegen die Erde sei ein Eroberungsfeldzug im Gange, von dem wir nicht die leiseste Ahnung hätten.« »Ihr Buchhalter ist krank, aber wir sind gesund«, erwiderte Selesnjow. »Außerdem sammelt dieser Buchhalter Konfektpapier. Sammeln Sie auch etwas?« »Verschwende doch keine Worte an sie«, ließ sich Gromoseka vernehmen, der sämtliche Fahrgäste überragte, »die überzeugst du sowieso nicht.« Das Auto hielt vor dem hohen Turm der Leitzentrale. Gromoseka wachte darüber, daß seine Gefangenen keine Tricks versuchten. »Na los, raus mit euch«, sagte er düster und trieb sie aus dem Wagen. Smith und der Dispatcher begaben sich gehorsam in die Zentrale. Der stellvertretende Dispatcher saß verschreckt vor seinem Pult und versuchte zu begreifen, was es mit diesem geheimnisvollen Schiff auf sich hatte. »Hände hoch!« befahl Gromoseka.
Der Stellvertreter folgte der Aufforderung verwirrt. »Und wie soll es jetzt weitergehn?« fragte Selesnjow. »Ist doch klar«, sagte Alissa, die als letzte eingetreten war. »Ich begebe mich schnell in die Märchenepoche, während ihr beiden die Anwesenden überzeugt, daß wir nicht verrückt sind. Allerdings brauche ich ein Luftschiff.« »Dein Vorschlag ist vernünftig«, stimmte Gromoseka zu, »bis auf einen Punkt. Ich tauge nicht für Überzeugungsarbeit, ich habe schwache Nerven und, ein empfindsames Herz. Außerdem braucht Alissa in der Märchenepoche Hilfe und Schutz. Deshalb überlasse ich dir jetzt einen der Blaster, Selesnjow. Wir fesseln all diese Zyniker und Kleingläubigen, einschließlich des unfähigen Psychiaters.« »Wieso denn unfähig!« empörte sich Professor Smith und reckte sein graues Bärtchen vor. »Ganz einfach. Weil ein guter Psychiater längst die Wahrheit herausgefunden hätte. Er würde einen berühmten Wissenschaftler nicht mit einem kranken Buchhalter vergleichen, der Konfektpapier sammelt. Konfektpapier! Ist dir klar, Alissa, wozu er sich verstiegen hat? Wie er uns kränken wollte? Erst mal sehen, ob dieser Buchhalter wirklich geistesgestört ist und wir nicht tatsächlich mit Mikroben infiziert worden sind. Wer weiß, vielleicht ist dieser angebliche Psychiater sogar ein Agent der Außerirdischen.« »Also das geht zuweit!« schrie Mister Smith. »Ich protestiere entschieden! Sie sind der typische Geisteskranke mit einem Hang zum Aggressiven.« »Mund halten!« brauste Gromoseka auf. Dann begann er die Gefangenen hastig mit Draht zu fesseln. Das fiel ihm nicht sonderlich schwer, er hatte ja viele Hände. Die Dispatcher schimpften, wagten es aber nicht, sich zu widersetzen. Professor Smith, von Gromoseka zutiefst beleidigt, drohte ihm unentwegt, er würde schon noch in seiner Klinik landen. Dort würde man ihn kurieren, bis er ganz klein und still wäre. Zwei Minuten später waren alle gefesselt. Gromoseka überließ Selesnjow einen der Blaster und sagte: »Ruf in der Akademie der Wissenschaften an, trommle deine Freunde und überhaupt alle normalen Leute zusammen und schlag Alarm. Sobald deine Kollegen da sind, machst du dich an die Erforschung des Virus. Alissa und ich fliegen inzwischen ins Zeitalter der Märchen. Wo befinden sich eure Luftschiffe?« Die Dispatcher schwiegen. Ihr Chef, mit gefesselten Armen und Beinen auf einem Stuhl sitzend, schüttelte den Kopf. Er hatte nicht die Absicht, sich diesen Verrückten zu unterwerfen. »Dann müssen wir eben ohne seine Hilfe zurechtkommen, Alissa«, sagte Gromoseka. »Wirst du mit ihnen fertig, Selesnjow?« »Aber klar. Paßt vor allem ihr gut auf. Ihr wißt ja selbst, dort gibt's Zauberer, Menschenfresser ... « »Und Drachen«, fügte Alissa hinzu. »Ich hab keine Angst vor ihnen.« Mit diesen Worten lief sie zum Ausgang und ließ ihren Vater allein mit den Gefangenen zurück, die ihn voller Furcht und zugleich voller Haß betrachteten. Wie hätten sie auch zu Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts darauf vorbereitet sein sollen, an einen Stuhl gefesselt zu werden? Drei Minuten später waren Alissa und Gromoseka bei den Luftschiffen angelangt, die ganz in der Nähe der Dispatcherzentrale standen. Diese Luftschiffe waren so schnell, daß die beiden bereits eine Stunde später in Moskau sein würden, wo sich der Märchenwald befand.
12. Im Märchenwald Die riesige durchsichtige Kuppel über dem unberührten Wald, in dem sich die Märchenwelt aus ferner Vergangenheit verbarg, blitzte im Randgebiet von Moskau wie ein Wassertropfen auf. Das Luftschiff setzte eilig und so steil zum Landen an, daß den beiden Passagieren fast das Herz zur Kehle hochrutschte. Gleich darauf kam es vor dem Diensteingang zum Märchenwald zum Stehen. Alissa stürzte ins Schloß, wo sich die Verwaltung befand. Sie fürchtete, der Direktor des Märchenwalds, der gütige Iwan Iwanowitsch, könnte abwesend sein, doch er erwartete die Gäste bereits an der Zugbrücke. »Guten Tag«, rief er, als er Alissa erblickte und hinter ihr Gromoseka, tapsend wie ein Elefant. »Dein Vater hat gerade angerufen und mich gebeten, die Zeitmaschine in Gang zu setzen. Es ist alles bereit.« Mit diesen Worten rannte er ins Schloßinnere.
»Wie steht's bei Papa?« erkundigte sich Alissa, ohne stehenzubleiben. »Er hat offenbar Probleme«, antwortete der Direktor. »Aber weshalb eigentlich die Eile? Er rief vor zehn Minuten an und bat mich, dir und deinem Freund Gromoseka schnellstens die Zeitmaschine zur Verfügung zu stellen, weil ihr die Erde retten müßt. Dann sprach er noch von irgendwelchen Schwierigkeiten und legte auf. Was sind das für Schwierigkeiten?« »Ach, nichts Besonderes«, erwiderte Gromoseka. »Selesnjow hat zwei Dispatcher und einen gewissen Professor Smith gefangengenommen und will der Menschheit nun beweisen, daß er trotzdem normal ist.« »War das nicht anders zu machen?« »Ganz und gar nicht!« rief Alissa. Sie waren im Innenhof des Schlosses angelangt. Gromoseka stieß einen Ruf des Staunens aus und blieb wie angewurzelt stehen. Er hatte auch allen Grund zur Verblüffung: Zusammengeringelt und den ganzen Hof ausfüllend, lag dort ein riesiger Drachen mit drei Köpfen und sonnte sich. »Vorsicht, Alissa!« rief Gromoseka. Doch das Mädchen rannte bereits freudig zum mittleren Kopf des Drachens, der sie breit anlächelte. »Ach du mein Golddrachen«, rief sie, »ich hatte schon richtig Sehnsucht nach dir!« »Welch ein Glück, daß du da bist«, antwortete der Drachen. In diesem Augenblick bemerkte sein zweiter Kopf, daß Gromoseka einen Blaster aus dem Gürtel zog, und er brüllte: »Bist du verrückt, das hier ist ein Naturschutzgebiet, da kannst du doch nicht schießen!« Iwan Iwanowitsch drehte sich um und stürzte, den Drachen abschirmend, auf den Archäologen zu. Obwohl er ziemlich klein war und wie ein Stubengelehrter aussah, zeichnete er sich doch durch ein tapferes Herz und Liebe zu seinen Schützlingen aus. Auch Alissa begriff, daß ihr Freund drauf und dran gewesen war, eine Schießerei zu beginnen. »Gromoseka«, sagte sie entschieden, »wenn du deinen Blaster nicht bei Iwan Iwanowitsch läßt, wirst du nirgendwohin fliegen. In der Märchenepoche begegnen uns auf Schritt und Tritt solche Drachen. Wenn du da jedesmal losballem wolltest, kämen wir nicht weit.« »Was soll ich bloß tun«, antwortete verlegen Gromoseka, der nun begriffen hatte, daß der Drachen ein alter Freund Alissas war. »Schließlich hab ich deinem Vater versprochen, gut auf dich aufzupassen.« »Wie oft muß ich dir noch sagen, daß du auf mich nicht aufzupassen brauchst«, schimpfte Alissa. »Durch dich entsteht mehr Gefahr als Schutz. Gib den Blaster her.« »Auf gar keinen Fall«, erwiderte Gromoseka. »Gut, wir befinden uns hier in einem Naturschutzgebiet, und ich entschuldige mich in aller Form beim Direktor und dem Drachen. Aber in der Märchenepoche gab es solche Gebiete nicht.« »Schluß jetzt«, sagte Alissa eisern. »lwan Iwanowitsch, dieser Archäologe fliegt nicht mit in die Vergangenheit.« »Ein vernünftiger Entschluß«, stimmte der Direktor zu. »Ich unterwerfe mich der groben Gewalt.« sagte Gromoseka und reichte dem Direktor seinen Blaster. »Er sollte überhaupt hierbleiben«, ließ sich der Drachen vernehmen, »so ein Ungeheuer verschreckt doch dort alle.« Der Drachen, ein bißchen feige, war durch den Anblick des Blasters aus dem Gleichgewicht geraten. »Ohne mich wird auch Alissa nirgendwohin fliegen«, sagte Gromoseka entschlossen. »Und die Erde kann wohl zugrunde gehen?« sagte Alissa. »Deine Sicherheit ist mir wichtiger als das Schicksal der Erde«, erwiderte der Archäologe halsstarrig. Alissa winkte resigniert ab. Sie begriff, daß sie diesen unzuverlässigen Gefährten nicht abschütteln konnte. Was halfs, sie würde sich in der Vergangenheit mit ihm abplagen müssen. »Na schön«, sagte sie schließlich, »fahren wir.« Sie eilten weiter. »Alissa«, rief ihr der Drachen hinterher, »richte meinem Cousin einen Gruß aus.« »Das werd ich tun, Gorynytsch«, erwiderte Alissa. Sie wollten gerade im Schloß verschwinden, als sich der Drachen nochmals vernehmen ließ. »Alissa«, rief er, »ich glaube, daß dein unerzogener Freund noch einen Blaster in der Gesäßtasche hat. Sei so gut und überprüfe das.«
»Das darf doch nicht wahr sein!« Alissa lieb stehen. »Bist du wirklich zu solcher Falschheit herabgesunken, Gromoseka?« Gromoseka wurde vor Verlegenheit ganz schwarz - Menschen werden in diesen Fällen rot. »Ach herrje«, murmelte er, »den hab ich ganz vergessen.« Er holte den Blaster aus der Gesäßtasche und reichte ihn Iwan Iwanowitsch. Der Direktor des Märchenwaldes, in jeder Hand eine Pistole, sah jetzt richtig furchteinflößend aus. In dem niedrigen Gewölbe mit der Zeitmaschine wurden sie von dem König erwartet, der das Märchenreich regierte. Er war dick, saß auf einer kleinen Bank und legte eine Patience. »Was machst du denn hier?« fragte Iwan Iwanowitsch erstaunt. »Vor fünf Minuten schon hättest du mit deiner Audienz beginnen müssen. Im Thronsaal sind bereits alle Hasen, Zwerge und sonstigen Wesen deines Reiches versammelt. Sie warten auf die Erörterung wichtiger Fragen.« »Ich will aber nicht«, entgegnete der König. »Ich kenne diese Fragen. Sie wollen sich bloß wieder über Rotkäppchen beschweren, das schlecht lernt, die Schule schwänzt und den Wolf ärgert. Aber was kann ich dagegen tun? Schließlich hat sie eine Großmutter, soll die sich darum kümmern.« In diesem Augenblick erkannte der König Alissa und sprang vor Freude auf. »Mein Mädchen«, rief er, »wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen! Aber was hast du da für ein Ungeheuer bei dir, etwa ein Neuzugang für mein Reich?« »Nein, Hoheit«, erwiderte Alissa, »das ist mein Freund, der Archäologe Gromoseka. Wir müssen schnellstens in die Märchenepoche, wo wir etwas Wichtiges zu erledigen haben.« Ilwan Iwanowitsch war inzwischen zur Zeitmaschine getreten, die an eine Telefonzelle erinnerte, und begann sie aufs Zeitalter der Märchen einzustellen. »Welches Jahr braucht ihr genau?« fragte er. »Sechsundzwanzigtausend Jahre, drei Monate und zwei Tage zurück«, antwortete Gromoseka. »Das würde ich nicht empfehlen«, sagte der, König. »Ich bin noch heute glücklich darüber, daß ich dieser Zeit entrinnen konnte.« »Wieso das?« fragte Gromoseka verwundert. »Ach, das Klima. Ein grausiges Klima. Sogar im Juni liegt Schnee, und der Nordwind bläst. Außerdem gibt es jede Menge Ungeheuer und Hexen ... Du willst doch nicht etwa in diesem Aufzug dorthin, Alissa, in diesem dünnen Anzug!« Wieso, dachte Alissa, haben die Erwachsenen nur immer den Wunsch, unsereinen nach ihrem Willen auszustaffieren! Sogar Iwan Iwanowitsch sieht mich schon an, als hätt ich was ausgefressen. Und nun noch dieses Glitzern in Gromosekas Augen. Als wenn wir Kinder nicht selber wüßten, wie wir uns anziehn müssen. Ließe man die Großen gewähren, sie würden einem augenblicklich drei Pelzmäntel und ein Regencape überstreifen, auch den Regenschirm kriegte man in die Hand. Das ist schon ein Elend. Kaum will man mal spazierengehn und öffnet die Tür - draußen scheint die Sonne, und die Vögel singen -, schreien schon Großmutter oder Großvater, Mutter, Vater oder einfach ein Onkel, der gerade zu Besuch ist: »Weshalb hast du nichts übergezogen?« »Also los jetzt«, sagte Alissa so streng wie möglich, »ihr scheint zu vergessen, daß es hier nicht um einen Schnupfen geht, sondern um das Schicksal des ganzen Planeten.« In diesem Moment kam, flügelschlagend und wie ein angestochenes Ferkel schreiend, ein zerzauster und schmutziger weißer Rabe in den Saal geflogen. »Wo wollt ihr hin«, rief er, »seid ihr verrückt?! Das Kind hat ja so gut wie nichts an! Das gibt noch ein böses Ende!« »Ach, du bist's, Durinda«, sagte Alissa. »Grüß dich, aber wir haben jetzt keine Zeit.« »Was denn, ihr wollt ohne mich fahren?« sagte der weiße Rabe und setzte sich aufs Dach der Zeitmaschine. »Kommt gar nicht in Frage. Dort geht ihr alle miteinander zugrunde.« »Aus welchem Alptraum stammt der denn!« rief Gromoseka. »Selber Alptraum«, erwiderte der Rabe schnippisch. »Du hast mir noch lange nichts zu sagen. Bist wohl ein Außerirdischer?« »Ich bin Professor Gromoseka vom Planeten Tschumaros«, sagte der Archäologe.
»Angenehm. Und ich bin der weise weiße Rabe Durinda aus der Märchenepoche. Zur Zeit halte ich mich zwar im Märchenwald auf, aber ich habe große Sehnsucht nach meiner Heimat. Deshalb werde ich mit euch fliegen.« »Hör zu, Durinda, wir im Märchenwald haben sowieso die Nase voll von dir«, sagte Iwan Iwanowitsch. »Wenn du also wieder in deine Epoche zurückkehren willst, wo man übrigens keinerlei Verlangen nach dir hat, würde uns das nur freuen.« »Aber zuerst soll er den silbernen Löffel zurückgeben, den er gestohlen hat«, sagte der dicke König. »Was denn«, begehrte der Rabe lautstark auf, »ausgerechnet mich beschuldigt man einer solchen Tat?! Ich werde keinen Flügelschlag mehr hierher tun und allen erzählen, was für jämmerliche Verleumder sich in diesem sogenannten Naturschutzgebiet versammelt haben.« Mit diesen Worten zog der Rabe einen Kreis unter der Decke und flog aus dem Saal. »Ein typischer Hysteriker«, sagte der dicke König. »Mit einer Neigung zur Kleptomanie. Ein Fall für den Psychiater.« Unterdessen hatte Iwan Iwanowitsch die Zeitmaschine eingestellt. »Wieviel wiegen Sie?« fragte er Gromoseka. »Achteinhalb, Wirle«, antwortete der Archäologe höflich, »das ist nicht allzuviel.« Alissa sah sehr wohl, daß ihr Freund Angst hatte, nicht mitgenommen zu werden, und daß er deshalb zu dieser kindlichen List griff. Erwachsene tun so etwas viel öfter als die Kinder selbst. »Und wieviel sind das in Kilogramm?« fragte lwan Iwanowitsch genauso höflich. »Etwas mehr als hundert«, antwortete Gromoseka. »Aber ich könnte die Schuhe ausziehn und meinen Füller dalassen.« »Könnten Sie Ihr Gewicht nicht genauer angeben?« bohrte Iwan Iwanowitsch weiter. »Ich hab es vergessen.« »Noch ein bißchen genauer?« »Dreihundertzwanzig Kilo«, gab Gromoseka seufzend auf. »Das ist zuviel, was?« »Na ja, ganz schön viel«, sagte Iwan Iwanowitsch. »Aber ich warne Sie: Allein lasse ich Alissa um keinen Preis in die Märchenepoche fahren.« »Ach, diese Überlastungen immer«, sagte der dicke König. »Ich bin selbst nur mit Mühe hierhergelangt, hätte mein Ziel um ein Haar verfehlt. Um eine Sekunde wär ich im neunzehnten Jahrhundert steckengeblieben, hätte womöglich mit Napoleon Bekanntschaft gemacht. . .« »Das wäre vielleicht besser gewesen«, erwiderte finster Iwan Iwanowitsch. Mitunter bereute er es, sich auf die Sache mit dem Märchenwald eingelassen zu haben. Märchenwesen waren nur in Büchern schön, im realen Leben brachten sie eine Menge Unannehmlichkeiten. Er brauchte nur diesen König zu nehmen. Manchmal konnte man sich gütlich mit ihm einigen, dann wieder wurde er plötzlich unausstehlich, wollte partout jemanden unterjochen, vergiften, bestrafen oder begnadigen. Es war halt seine Herrschernatur. Iwan Iwanowitsch mußte ihm zwei Regimenter Bleisoldaten kaufen, die der König mit Hilfe einfacher Zauberei zum Leben erweckte, so daß sie nun im Thronsaal umhermarschierten. Aber walte Gott, einer der Soldaten käme aus dem Tritt oder scherte kurz aus - eine Prügelstrafe wäre ihm sicher. Iwan Iwanowitsch hatte einmal beobachtet, wie der König mit seinen Soldaten umsprang, und war zu dem Schluß gekommen, daß selbst Bleimenschlein unter solchen Umständen eines Tages rebellieren könnten. »Na, dann rein mit Ihnen«, sagte Iwan Iwanowitsch, »es wird bloß ein bißchen eng.« »Oh, vielen Dank«, sagte Gromoseka gerührt. Er war fast überzeugt gewesen, nicht in die Vergangenheit reisen zu dürfen, und hatte sich bereits darauf eingestellt, ein Faß aufzumachen. »Sie sind ein wahrhafter Wissenschaftler und Mensch. Wenn alles vorüber ist, werde ich in unserer Tschumaroser Zeitung über Sie schreiben.« Unter diesen Beteuerungen zwängte er sich in die Zeitkabine, zog auch mit einiger Mühe seinen Bauch ein, damit ein Plätzchen für Alissa übrigblieb. Ist tatsächlich ein bißchen eng, dachte Alissa, aber dafür weich. »Fertig«, sagte sie zu Iwan Iwanowitsch, wir können starten. Und rufen Sie meinen Papa an, vielleicht braucht er Ihre Hilfe, wenn sie ihn ins Irrenhaus sperren.«
»Das kann ich einfach nicht glauben«, erwiderte der Direktor des Märchenwaldes. Er wollte die Kabinentür schließen, doch in diesem Augenblick kam erneut der Rabe Durinda angeflogen. Im Schnabel hielt er ein großes Bündel. »Wo willst du hin?!« rief der dicke König. »Wo willst du hin?!« rief Iwan Iwanowitsch. Sie hatten beide erkannt, daß der Rabe tatsächlich in die Vergangenheit entwischen wollte. Doch der Vogel wich ihren ausgestreckten Armen geschickt aus. Er schleuderte sein Bündel in den schmalen Spalt zwischen Gromosekas Kopf und Kabinendecke, dann flutschte er selber hinein. »Komm sofort heraus!« befahl Iwan Iwanowitsch ungehalten. Aber Durinda war verschwunden. Nur seine durchdringende Stimme ertönte hinter Gromosekas Ohren hervor: »Wagt es ja nicht, irgendwas gegen mich zu unternehmen! Der Märchenwald ist kein Gefängnis, sondern ein Zufluchtsort. Wenn ihr mich anrührt, verliere ich meine Achtung für euch.« »In seinem Bündel ist lauter Diebesgut!« zeterte der dicke König. »Auch mein Silberlöffel. Gib ihn heraus!« »Was jetzt«, fragte Gromoseka, »sollen wir aussteigen?« »Nicht nötigt, antwortete Alissa. »Das fehlte noch - sich mit Durinda anzulegen. Schalten Sie die Maschine ein, Iwan Iwanowitsch.« Der Direktor tat, wie ihm geheißen. Die Tür schloß sich, auf den Pulten flammten Lämpchen auf, ein Summen und Vibrieren - dann spürten sie nichts mehr. Oder fast nichts. Denn in der Finsternis, die die Zeitreisenden bei diesem schier endlosen Flug, diesem Wirbeln und Fallen ergriff, spürte Alissa trotz allem die Krallen des verängstigten Raben im Nacken, der in einem fort jaulte, krächzte, knirschte und verlangte, man solle ihn unverzüglich herauslassen, statt ihn zugrunde zu richten. Er lamentierte noch, als die Reise längst beendet war.
13. Sechsundzwanzigtausend Jahre zurück Alissa öffnete mit einiger Mühe die Tür der Zeitkabine, die im riesigen Astloch einer alten Eiche verborgen war. Diese Eiche befand sich auf der kleinen Lichtung eines undurchdringlichen Zauberwaldes. Obwohl die Reise nur wenige Minuten gedauert hatte, war Alissas Körper von der unbequemen Haltung ganz taub und ihr Haar zerzaust. Die eine Wange war von Durindas Krallen völlig zerkratzt. Nach ihr wälzte sich auch Gromoseka aus der Kabine. Er war wie betäubt und begriff nicht ganz, was um ihn her geschah. Alissa drehte sich um. Auf dem Boden der Kabine lag als kleines schmutzigweißes Federbündel der Rabe Durinda, daneben der Packen mit seiner Habe. »Lebst du noch, Durinda?« fragte Alissa. »Nein«, antwortete der Vogel leise, »man hat mich totgetreten.« »Aber du saßest doch bei mir auf dem Kopf.« »Na ja, dann hast du mich eben mit deinem Kopf breitgedrückt.« »Und wie kann ich das wiedergutmachen?«
»Gib mir eine Goldmünze, vielleicht erwache ich wieder zum Leben.« »So ein Pech«, sagte Gromoseka und begann in seiner Jakkentasche zu kramen, »ausgerechnet heute hab ich keine Goldmünzen bei mir. Hilft auch was anderes?« »Ich denk schon«, erwiderte der Rabe. »Wohin müßte man Ihnen die Goldmünze eigentlich legen, damit Sie sich besser fühlen?« fragte Gromoseka vertrauensselig. »In den Schnabel«, sagte der Rabe und öffnete ihn weit. »Augenblick, Gromoseka«, rief Alissa, »du darfst einem Raben nicht über den Weg trauen, selbst wenn er tot ist. Paß mal auf, wie schnell ich ihn wieder zum Leben erwecke.« »Wie denn das?« fragte der Vogel mißtrauisch. »Ich sage dir einfach, daß sich die Tür der Zeitkabine in zwei Sekunden automatisch schließt und du ins einundzwanzigste Jahrhundert zurückkehrst.« »Das ist nicht wahr!« rief der Rabe, sprang auf die Beine, schnappte mit dem Schnabel sein Bündel, flog mit einiger Mühe ins Freie und zu einem tiefhängenden Ast. Dort machte er sich's mit beleidigter Miene bequem. »Komm, Gromoseka«, sagte Alissa, »wir müssen auf schnellstem Wege zu der kleinen Hütte.« »Zu welcher Hütte?« »In der Eiszeit gab es bereits Urmenschen. Einer von ihnen ist der Junge Gerassik. Ein erfolgreicher Erfinder, der zum Beispiel das Rad entdeckt und herausgefunden hat, warum die Äpfel zur Erde fallen. Wenn das Raumschiff vom Vagabundenplaneten hier war, weiß er ganz bestimmt davon. Er ahnt nämlich schon, daß die Menschen eines Tages ohne die Hilfe von Zauberern fliegen werden. Überhaupt ist er der Meinung, die Hilfe der Zauberer sei erniedrigend für die Menschheit.« Gromoseka schnaufte unwillig, und Alissa wußte auch, warum: Der Archäologe glaubte nicht an Zauberei, Übersinnliches, Unsichtbares, Wahrsagerei und Geisterbeschwörung. Er war ein ganz gewöhnlicher Gelehrter mit Fangarmen, acht Augen und Elefantenbeinen. Und der Meinung, das sei so ganz in Ordnung. Hätte er hundert Jahre früher gelebt, überlegte Alissa - er hätte um nichts in der Welt an den Besuch von Außerirdischen geglaubt. Sie durften keine Zeit mehr verlieren, deshalb machte sich Alissa auf den Weg. Gromoseka folgte ihr, nicht ohne enttäuscht über die Tasche zu streichen, in der vorhin der Blaster gesteckt hatte. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann setzte kalter Nieselregen ein. Der Sommer in der Märchenepoche war kühl - die Eiszeit stand unmittelbar bevor. Vor einem großen grauen Findling blieben sie stehen, denn dort waren grob die Worte eingemeißelt: »Gehst du nach rechts - verlierst du den Kopf, gehst du nach links - verlierst du das Pferd, gehst du geradeaus verlierst du alles.« »Wir müssen nach links«, sagte Alissa. Gromoseka zögerte, während Alissa bereits ausschritt. »Wieso nach links?« rief er ihr hinterher. »Weil wir kein Pferd haben«, erwiderte Alissa. »Das leuchtet ein«, stimmte Gromoseka zu. Er entdeckte einen großen dürren Ast an einer alten Eiche, sprang hoch und hängte sich dran. Der Ast brach mit lautem Knacken ab, und Gromoseka hielt nun einen riesigen Stock in seinen Fangarmen. »Na, fühlst du dich jetzt sicherer?« fragte Alissa. Bei sich aber dachte sie, daß Gromoseka mit seinem Lärm bestimmt das ganze Märchenreich aufgestört hatte. Seine Bewohner würden sich den Kopf darüber zerbrechen, ob da zwei Recken gegeneinander kämpften oder ein entzaubertes Schloß eingestürzt war. »An dieser Stelle«, sagte Alissa unvermittelt, »hätten wir unser Pferd verloren.« Der Pfad war hier so breitgetreten, daß er fast schon einen Platz bildete, der von Pferdeknochen, Riemenzeug, ja sogar Deichseln übersät war. Etwas seitlich davon standen Schlitten. »Was ist denn hier passiert?« fragte Gromoseka verwundert. »Hat es eine Schlacht gegeben?« »Ri-i-ie-se!« rief Alissa, und noch einmal: »Ri-i-ie-se, wo bi-iist du?« Nur das Echo kam aus dem Wald. »Seltsam«, sagte Alissa, »hier müßte eigentlich der Riese sitzen, der alle Pferde frißt.« »Den Riesen gibt es nicht mehr«, ließ sich ein leises Stimmchen vernehmen. Es kam von unten.
Alissa sah auf einem kleinen Stein einen Zwerg mit roter Zipfelmütze sitzen, der etwas in einen Pferdezahn ritzte. »Guten Tag«, sagte Alissa, »ich war lange nicht mehr hier. Können Sie mir vielleicht sagen, was mit dem,Riesen Roßfresser geschehen ist?« »Er-ist weggegangen«, erwiderte der Zwerg. »Die Kälte hat ihm zu schaffen gemacht, sein Ischias, und Pferde gab's auch nicht mehr genug. Er hat sich in den Süden, in wärmere Gefilde, verzogen, hofft dort die Eiszeit zu überstehen.« »Und was ist aus dem Menschenfresser auf der anderen Seite des Weges geworden?« »Er hat sich bei der Hexe als Wächter verdungen. Aber nicht freiwillig. Ein Menschenkind namens Gerassik hat ihn zur Verzweiflung getrieben.« »Wie denn das?« fragte Alissa. »Der Menschenfresser hat eine Menge Leute vertilgt, er ist über jeden, hergefallen, der ihm unter die Finger kam. Sogar einen Räuber hat er sich vor Hunger einverleibt. Nicht zu zählen die vielen Zwerge. Deshalb beschloß Gerassik, den Menschenfresser zu vertreiben. Er ging zum Dorfschmied und ließ sich ein kleines Mädchen aus Eisen anfertigen, Rotkäppchen. Er bemalte sie, daß sie ganz echt wirkte, zog ihr ein Kleid an, gab ihr einen Korb in die Hand, als wollte sie zum Pilzesammeln gehn, dann schlich er eines Nachts zur Höhle des Menschenfressers und stellte das Mädchen am Wegrand auf. Der Menschenfresser war immer sehr hungrig, deshalb ließ sich auch niemand mehr in seiner Nähe blicken. Als er nun eines Morgens erwachte und das Mädchen sah, fiel er, schlaftrunken wie er war, auf die Täuschung herein und schnappte sich den Happen. Von da an hatte er keine Zähne mehr. Aber was ist ein Menschenfresser schon ohne Zähne?« »Ein Prachtkerl, der Gerassik!« sagte Alissa erfreut. »Ach was, Prachtkerl«, knurrte der Zwerg, »er hat ohne Sinn und Verstand gehandelt. Kämpft man so vielleicht gegen das Böse? Er hätte den Menschenfresser entweder ganz töten müssen oder ihn gar nicht erst anrühren sollen.« »Aber warum denn?« »Ein Menschenfresser ohne Zähne ist schlimmer als einer mit. Früher hat er sich wenigstens nicht vom Fleck gerührt, saß da, als wäre er beschäftigt. Wer nicht verschlungen werden wollte, machte einen Bogen um ihn und blieb am Leben. Nun dagegen mußte er einen Broterwerb suchen und ließ sich von der Hexe anheuern. Seither treiben die beiden gemeinsam ihr Unwesen. Die Hexe verspricht ihm immer mal Eisenzahne, aber sie hat es nicht eilig damit. Und weißt du auch, warum?« »ja, weil er sie dann verlassen und an seinen Stammplatz zurückkehren könnte.« »Genau. Vorerst aber folgt er ihr wie ein Schatten. Er hat kräftige Arme und schnelle Beine - der reinste Henkersknecht. Und wenn er bisher nur seinen eigenen Kopf besaß, in dem ohnehin nicht viel steckte, so führt er jetzt die Befehle der Hexe aus. Und die hat Verstand - das muß man ihr lassen.« »O ja, den hat sie«, stimmte Alissa zu. »Doch wo ist Gerassik jetzt?« »Um den steht's.schlecht«, erwiderte der Zwerg, »er mußte sich verstecken. Der Menschenfresser hat die Hexe gebeten, ihm bei der Vernichtung des jungen zu helfen, und gleich als erstes fielen sie über seine Hütte her. Doch zum Glück war Gerassik vorher gewarnt worden und in den Wald geflohen. Seither versteckt er sich dort. Sein Vater aber, ein alter Bauer, hat sich nicht mehr in Sicherheit bringen können, er wurde von den beiden in Stücke gerissen.« »Was denn, sie haben ihn getötet?!« »Die kennen kein Mitleid.« Plötzlich hörten sie Flügelschlagen über sich. Ganz tief, fast -die Baumzweige streifend, flog ein weißer,Vogel mit einem Bündel im Schnabel. »Der Rabe Durinda ist wohl zurückgekommen?« sagte der Zwerg verwundert. »Er war lange nicht mehr hier, es hieß, er hätte sich woanders eingerichtet.« »Was soll ich jetzt bloß tun?« überlegte Alissa statt einer Antwort laut. »Wo soll ich Gerassik suchen?« »Was willst du denn von ihm?« »Ich bin mit ihm befreundet und wollte ihn wiedersehen«, sagte Alissa.
Gromoseka hatte es sich auf dem Boden bequem gemacht, während er dem Gespräch zuhörte. Er schabte mit seinem Federmesser den Stock glatt. »Was wollt ihr eigentlich hier?« erkundigte sich, der Zwerg, mit einem scheelen Blick auf Gromoseka leise. Er hatte Angst vor dem Archäologen vom Planeten Tschumaros. »Verehrter Herr«, sagte da Gromoseka, »wir haben Informationen, daß vor kurzem ein Raumschiff auf der Erde gelandet ist.« »Ein was?« fragte der Zwerg, der nicht das geringste begriff. »Ein Raumschiff! Von einem anderen Planeten.« »Ich bin doch kein Seemann«, antwortete der Zwerg verblüfft, »ich kenne mich in Schiffen nicht aus.« »Ein Raumschiff! Das ist ein Luftschiff!« »Da müssen Sie schon bei den Zauberern nachfragen«, sagte der Zwerg. »Ihnen, verehrter Herr Zwerg, muß das alles wirklich etwas seltsam erscheinen«, erklärte Alissa, »aber haben Sie in den letzten Tagen oder Nächten vielleicht einen Stern vom Himmel fallen sehn?« »Nachts pflege ich zu schlafen«, erwiderte der kleine Kerl, »ich bin ein anständiger Zwerg. Sollen sich doch die Eulen und Zauberer um die Sterne kümmern.« »Und tagsüber?« »Am Tag, mein Kind, gibt es keine Sterne«, erwiderte der Zwerg. »Wenn ihr weiter keine Fragen an mich habt, werde ich euch jetzt verlassen. Mein Mittage ssen wird kalt.« Mit diesen Worten schritt der Zwerg zu einem Baum, bog um eine dicke Wurzel und war verschwunden. »Das war der erste Mißerfolg«, sagte Gromoseka. »Und wenn das Raumschiff noch gar nicht gelandet ist?« »Du hast es doch selbst so errechnet«, erwiderte Alissa. »Wenn du nicht sicher bist, hättest du eine andere Zeit wählen müssen.« »Natürlich hab ich's errechnet, aber wissen wir denn, ob die sich nicht verspätet haben?« »Moment mal«, sagte Alissa, »Zwerge sind unzuverlässige Augenzeugen. Sie sind zu klein und schauen außerdem nicht gern zum Himmel.« »Dann laß uns andere Augenzeugen suchen.« Alissa und Gromoseka zogen weiter. Kurze Zeit später gelangten sie zu einer Hütte, deren Dach eingestürzt war. Der Pfad vor der Tür war von Kletten und Brennesseln überwuchert. Ringsumher Stille, alles wirkte staubig und verwahrlost. Inmitten der Hütte befand sich eine offene Herdstelle - Öfen kannten die Menschen jener Zeit noch nicht. Über der Herdstelle war ein Loch im Dach, damit der Rauch abziehen konnte. Ein kleines Fenster ohne Scheibe, auf dem Tisch daneben aber, gewissermaßen als Erinnerung an Gerassik, ein kleines Holzrad, das auf einen Stock gesteckt war. Wie's schien, war Gerassik dabei, das Fuhrwerk zu erfinden. »Ach, Gerassik, mein Freund«, seufzte Alissa. Sie nahm das kleine Rad als Andenken mit und verließ die Hütte wieder. Gromoseka wartete draußen auf sie. »Niemanden angetroffen?« fragte er. Alissa gab keine Antwort, es war auch so alles klar. »Komm weiter«, sagte,sie. »Wir gehen zum Fluß, dort finden wir bestimmt etwas, das uns zum Schloß des Zauberers Ooch bringt. Der wird uns helfen.« Sie erreichten den Fluß sehr schnell, die Ungeduld trieb sie vorwärts; malten sie sich doch deutlich aus, daß vielleicht gerade jetzt - einem Ei vergleichbar, aus dem das Kücken schlüpft - die lila Kugel platzte und den unheilbringenden Virus über der Erde freisetzte. Inmitten der nichtsahnenden Leute, die zur Arbeit eilten, sich in ihre Flyer setzten oder sich auf dem Kosmodrom drängten. »Ich möchte mal wissen«, sagte Alissa, während sie den Pfad zum Fluß hinuntereilte, »ob es meinem Papa gelungen ist, die Gelehrten von der drohenden Gefahr zu überzeugen.« »Ich hoffe es«, antwortete Gromoseka, »das Talent dazu hat er jedenfalls.« »Vorsicht!« rief Alissa. Zwischen den Büschen blitzte eine graue Schnauze auf - Wölfe! Gromoseka drehte sich um. Einer der Wölfe steckte seine Nase ins Freie, schnupperte und fletschte die Zähne. Doch den Archäologen erschreckte das nicht weiter. Obwohl das Tier zweimal so groß war wie ein gewöhnlicher Wolf, nahm Gromoseka lediglich seinen Knüppel von der Schulter und drohte ihm damit. Der Wolf neigte den Kopf zur Seite, blinzelte und ... war augenblicklich verschwunden.
»Weißt du, Gromoseka«, sagte Alissa, »du bist ja doch von Nutzen. Hätte ich dich nicht mitgenommen ... « »... würde dich jetzt der Wolf fressen«, ergänzte Gromoseka. »Ganz zum Leidwesen deines Vaters.« »Das ist sehr gelinde ausgedrückt.« Der Fluß, zu dem sie hinunterstiegen, war breit und führte viel Wasser. Es sah grau aus, weil der Himmel grau war. Am Ufer zitterte das Schilfrohr, als friere es, weil es bis zum Knie im Wasser stehen mußte. Aus dem Schilf ragte die Spitze eines Einbaums mit einem Ruder. »Wir müssen flußabwärts«, sagte Alissa, »und je weiter wir diese Gegend hinter uns lassen, desto besser. Siehst du den Wald am anderen Ufer? Da wohnt die Hexe, und gleich daneben hausen die Räuber.« Alissa stieg ein und schaute zu, wie sich Gromoseka ins Boot quetschte - der Einbaum sank tief ein, das Wasser reichte fast bis zum Rand. »Beweg dich bloß nicht«, warnte sie, »sonst kentern wir.« Sie waren mit ihrem Boot kaum weg, als es am Ufer hinter ihnen lebendig wurde. Die Wölfe steckten ihre Schnauzen aus dem Schilf, heulten, und einer rief heiser, mit gefletschten Zähnen: »Na wartet, ihr Ferkelchen, wir kriegen euch schon noch!« »Ich bin alles andere als ein Ferkel«, sagte Gromoseka gekränkt. Das Ufer gegenüber wirkte ausgestorben. »Und wer ist dort zu Hause?« erkundigte sich der Archäologe. »Ach, alles nur negative Gestalten«, antwortete Alissa. »Die Hexe, von der du schon gehört hast, in ihren Diensten ein schwarzer Kater und neuerdings der zahnlose, aber gefährliche Menschenfresser. Und natürlich die Räuber, diese Säufer und Raufbolde, die vom Nichtstun ganz verdorben sind. Allerdings sind sie keine hoffnungslosen Fälle - sie sollten nur mal mir in die Hände geraten, ich würde sie schon umerziehen.« Der Fluß trug das Boot schnell die Strömung hinab, und Alissa brauchte bloß manchmal das Ruder ins Wasser zu tauchen, damit sie genugend Abstand zum Ufer behielten. Das Schilf rechterhand bewegte sich von Zeit zu Zeit - offenbar wurden sie von den Wölfen verfolgt. Das linke Ufer jedoch lag nach wie vor still da. »Müssen wir noch lange fahren?« fragte Gromoseka fröstelnd. Ihm war kalt. »Ich denke, wir können in einer halben Stunde anlegen«, antwortete Alissa. Doch unvermittelt richtete sie sich auf. Sie hatte am linken Ufer in einiger Entfernung ein paar Gestalten entdeckt, die eilig dahinhetzten. Etwas schien dort im Gange zu sein.
14. Gerassik Kurze Zeit später trieb das Boot auf eine Gruppe ungewaschener und ungekämmter Leute zu, die sich um eine hohe, knorrige Eiche dicht am Ufer drängten. Sie schwangen Dolche, Säbel, Äxte, einige versuchten auch den Baum zu erklimmen, schafften es jedoch nicht. Über dem Baum aber kreiste ein seltsames, zylinderförmiges Gebilde, aus dem ein Zottelkopf mit Hakennase schaute. Dünne Knochenhände versuchten jemanden, der sich offenbar im Blattwerk verborgen hielt, mit einem Besen herauszufischen. »Na bitte«, sagte Alissa, »jetzt kannst du dich mit ein paar anderen Bewohnern aus der Märchenepoche bekannt machen, Gromoseka. Die da am Baum sind Räuber. Die ganze Horde samt ihrem Hauptmann. Und in dem Mörser dort oben sitzt die Hexe.« »Was hält sie denn in den Händen? « »Einen Besen, was sonst. Der dient ihr als Steuer.« »Sehr interessant«, sagte Gromoseka. »Nach welchem Prinzip arbeitet dieser Mörser eigentlich? Ist es die Antigravitation?« »Einfacher, mein Freund, viel einfacher«, erwiderte Alissa. »Nach dem Prinzip der Zauberei. In der Märchenepoche waren besondere physikalische Gesetze wirksam.« »Ist doch Unsinn«, widersprach Gromoseka, »in allen Zeiten und auf allen Planeten gelten die gleichen physikalischen Gesetze. Wenn sie uns trotzdem unterschiedlich scheinen, haben wir sie bloß ungenügend studiert.« Alissa stritt nicht mit ihm - das Boot war fast an der Eiche angelangt. Sie starrte angeregt ins Blattwerk, wollte herauskriegen, wer sich dort versteckt hielt. Plötzlich lugte ein Jungengesicht aus den Blättern.
»Gerassik!« Alissa hatte ihren Freund sofort erkannt. »Wir suchen dich! Was machst du denn da?« »Alissa!« rief Gerassik erfreut. »Die Bande will mich umbringen!« »Sieht ganz so aus«, stimmte Alissa zu. »Und das alles wegen dem Menschenfresser?« »Natürlich.« »Dann spring ins Wasser, wir fischen dich auf.« »Aber ich schwimme nicht gut.« »Trotzdem. Unser Boot ist so überladen, daß ich damit nicht ans Ufer komme.« »Wirst du wohl verschwinden«, heulte von oben die Hexe, »sonst versenke ich dich!« Gerassik kam zu dem Schluß, daß er nichts zu verlieren hatte. Er kroch auf einen überhängenden Ast und sprang ins Wasser. Die Räuber stürzten hinter ihm her, doch der Junge paddelte schnell, auf Hundeart, hinter dem Boot her, das von der Strömung flußab getrieben wurde. Alissa bremste mit dem Ruder ab. Die Räuber rannten ihnen am Ufer nach und stießen wilde Schreie aus. Sie waren empört, daß ihnen die Beute entwischte. Die Hexe flog ganz dicht über dem Wasser, um dem jungen den Besenstiel über den Kopf zu schlagen. »Verehrte Greisin«, sprach Gromoseka da mit Donnerstimme, »ich bitte Sie, mit dem Unfug aufzuhören! Sehen Sie denn nicht, daß Sie es mit einem Kind zu tun haben?« »Für den einen ist's ein Kind, für den andern ein hinterhältiger Lump«, erwiderte die Hexe. »Du aber schweig, Mißgeburt. Einen wie dich hab ich im Leben noch nicht zu Gesicht bekommen. Würdest du mir im Traum begegnen - ich käme um vor Angst.« »Laß sie reden«, sagte Alissa. Sie spürte, daß Gromoseka gekränkt war und jeden Augenblick die Selbstbeherrschung verlieren konnte. Unter Garantie ließ er sich dann zu etwas Unbedachtem hinreißen. Doch es war bereits zu spät. Gromoseka explodierte wie ein bengalisches Feuer. Die Hexe, die es noch nie mit einem Archäologen vom Planeten Tschumaros zu tun gehabt hatte, wußte nichts von seinen langen, beweglichen Fangarmen. Gromoseka schleuderte einen davon hoch, schnappte sich den Besenstiel und zog ihn mit einem Ruck herunter. Die Hexe kam nicht mehr dazu, den Besen loszulassen, ihr Mörser kippte zur Seite, und sie fiel in den Fluß. Der Zylinder, seiner Last entledigt, stieg erleichtert auf und strebte, vom Wind angetrieben, dem Wald zu. Freilich endete dieses Abenteuer auch für Gromoseka böse. Er konnte sich gleichfalls nicht mehr halten und stürzte ins Wasser. Alissa sprang hinterher, bei diesem Zwischenfall aber schlug das Boot um. Dem gekenterten Kahn, der jetzt Ähnlichkeit mit dem Rükken eines kleinen Wals besaß, streckten sich von allen Seiten Arme entgegen. Alissa sah, wie sich Gromoseka, der nicht schwimmen konnte, mit all seinen Armen am Boot festkrallte, die Hexe hielt sich mit Entsetzensschreien auf der anderen Seite fest. Gerassik langte gerade so mit den Fingern ans Heck, und da das Mädchen als einzige gut im Wasser zurechtkam, fand sie diesen Anblick ziemlich komisch. Dabei war die Situation für die anderen alles andere als lustig. Alissa schwamm von hinten an das Boot heran und rief Gerassik zu: »Wir stoßen es vorwärts!« Sie bewegten das Boot auf eine kleine Insel zu, die sich als Hügel über dem Fluß erhob. Das Wasser war schrecklich kalt, der Einbaum trieb schnell dahin, und Alissa bemerkte, daß die Räuber ihnen mit Geheul am Ufer folgten. Sie hofften wohl, das Boot würde angeschwemmt werden. »Halte durch, Alte!« riefen die Räuber der Hexe zu. »Gib ja nicht auf!« Plötzlich verspürte Alissa einen Ruck - die Bootsspitze war nahe der Insel auf Grund gestoßen, Gleich darauf berührten auch ihre Knie den Boden. Gromoseka, der schon ganz blau war, erhob sich zu voller Größe und strebte dem Trockenen zu. Die Hexe, die ihre Knochenfinger mit einiger Mühe vom Bootsrand gelöst hatte, rannte hinter ihm her. Alissa und Gerassik versuchten den Einbaum wieder umzudrehen. »Wir haben sowieso keine Ruder«, sagte Gerassik. Die Insel war nicht länger als zwanzig Meter und nur halb so breit. In ihrer Mitte wuchsen niedrige Sträucher. Das Ufer, an dem die Räuber lauerten, war zwar ganz nahe, doch das Wasser dazwischen zum Glück tief und reißend.
Gromoseka und die Hexe hüpften auf und ab - sie wollten warm werden. Der Archäologe hatte seinen Knüppel eingebüßt und der Hexe klebten die nassen grauen Zottelhaare am Kopf, ihr Rock schlotterte um die dürren Beine. »Das wirst du mir büßen«, sagte sie zähneklappernd zu Alissa. »Selber schuld«, erwiderte Alissa, »weshalb macht ihr Jagd auf Gerassik.« Gerassik sprang unterdessen auf einem Bein umher, um das Wasser aus dem Ohr zu bekommen. »Ich werde den Bengel schon noch kriegen«, die Hexe drohte ihm mit der mageren Faust. »Den ganzen Menschenstamm werde ich vernichten.« Gromoseka stapfte noch immer von einem Riesenbein aufs andre, um warm zu werden. »Ich hab nun begriffen«, sagte er. »Es ist tatsächlich an der Zeit, daß diese Ungeheuer aussterben.« »Ich sterbe noch lange nicht aus«, sagte die Alte, »gib dich keinen falschen Hoffnungen hin. Im Gegenteil, ich werde euch alle überleben. Ich verstecke mich im dunklen Wald unter Baumstümpfen, streife durchs Dickicht und verspeise kleine Kinder. Nur keine Bange, ich sterbe nicht aus.« »He--e-exe!« schrie jemand vom Ufer herüber. Es war der Räuberhauptmann. »Was sollen wir tun, wie können wir dir helfen?!« »Ruf den Menschenfresser!« antwortete die Hexe. »Er soll herkommen und allen den Garaus machen!« »Also wirklich, die reinsten Monster«, sagte Gromoseka. »Man hat ja glatt den Eindruck, die Zivilisation sei noch nicht bis hierher vorgedrungen.« »Wir haben bis jetzt ohne sie gelebt und werden auch künftig ohne sie auskommen«, erwiderte die Hexe. »Weshalb bist du eigentlich auf den Baum geklettert?« erkundigte sich Alissa bei Gerassik. Der Junge, der nicht wollte, daß die Hexe ihn hörte, flüsterte Alissa ins Ohr: »Die Zwerge hatten mich unter der Erde versteckt. Bei ihnen war es aber eng, dunkel und unbequem. Eine Woche hielt ich mich verborgen, dann beschloß ich, lieber in die Einöde zu gehn. Doch die Räuber waren mir auf der Spur. Ein Glück, daß ihr gekommen seid.« »Das ist der Vorteil der Märchenepoche«, sagte Alissa. »Hier kann man jederzeit auf den glücklichen Zufall hoffen. Aber mal was anderes, Gerassik, hast du nicht zufällig einen Stern vom Himmel fallen sehn?« »Wann soll das gewesen sein?« »Das weiß ich nicht genau - gestern, vielleicht auch vorgestern.« »Na ja, es fallen ziemlich oft Sterne vom Himmel«, erwiderte Gerassik, »manchmal mehrere in einer Nacht. Anscheinend ist der Himmel schon ziemlich alt, er hält nicht mehr richtig.« »Wie meinst du das mit dem Halten?« fragte sie erstaunt. Doch dann fiel ihr ein, daß der Himmel für Gerassik ja etwas Starres war, schließlich hatte er keine Schule besucht und nie etwas von Kopernikus gehört. Woher sollte er Kenntnis vom Kosmos haben? »Weshalb interessiert dich dieser Stern?« fragte Gerassik. »Bist du deswegen hergekommen?« »ja, ich muß ihn finden.« »Wahrscheinlich ist er heruntergefallen, während ich bei den Zwergen unter der Erde hockte.« »Schade«, sagte Alissa, »du warst meine ganze Hoffnung.« Die Hexe und Gromoseka standen in einiger Entfernung voneinander und zitterten noch immer, sie konnten sich einfach nicht erwärmen. Die Hexe ließ keinen Blick vom Ufer, sie wartete ganz offensichtlich auf Verstärkung. »Und was jetzt?« erkundigte sich Gromoseka, »wir haben keine Ruder.« »Wir passen sowieso nicht zu dritt ins Boot«, erklärte Gerassik. Alissa jedoch war mit ihren Gedanken bei der lila Kugel. »Großmutter«, sagte sie plötzlich zur Hexe, »wenn Sie uns helfen, lassen wir Sie frei.« »Was, ich höre wohl nicht recht!« rief die Alte. »Dabei dachte ich, du wolltest um Gnade flehn. Na wartet, gleich kommen meine Freunde mit dem Menschenfresser und machen euch den Garaus.« »Sollen sie ruhig kommen«, sagte Alissa. »Trotzdem. Haben Sie vielleicht bemerkt, daß kürzlich ein Stern vom Himmel gefallen ist?« »Du kannst mich in Stücke reißen, von mir erfährst du kein Wort«, erwiderte die Alte barsch. »Und von dem Stern erzähl ich dir gleich gar nichts.« »Demnach gab es also einen Stern?«
»Reiß mich in Stücke, na los«, sagte die Hexe wild entschlossen. »Ajajaj!« tönte es plötzlich durchdringend von oben. »Ich hab es ja gewußt, daß die Sache böse ausgeht.« Der Rabe Durinda kam zur Insel geflogen, nun freilich ohne Bündel im Schnabel. Ihm folgte ein zweiter, etwas kleinerer Vogel - eine graue Taube. Die beiden ließen sich im Gebüsch auf der Insel nieder. »Ihr sitzt in der Tinte«, fuhr Durinda fort, »ich hab's geahnt. Ohne Fahrzeug, so aufs Geratewohl, dem Schicksal und den bösen Räubern ausgeliefert! Ach, Alissa, mein armes Mädchen!« »Hör auf, Panik zu machen, Durinda«, sagte Alissa. »Bei uns ist alles in bester Ordnung, wir legen nur eine kleine Rast ein.« »So naß, wie ihr seid, kann man doch keine Rast machen!« lamentierte der Rabe. »Ihr kriegt unter Garantie eine Lungenentzündung.« »Hast du etwas über den herabgefallenen Stern in Erfahrung bringen können, Durinda?« »Ich hab mich mit nichts anderem beschäftigt«, antwortete der weiße Rabe. »Meine ganze Zeit hab ich drangesetzt, Verwandte besucht, ihnen kleine Gastgeschenke gegeben und sie dann ausgefragt. jetzt bist du an der Reihe, Taube.« Die Taube drehte ihr zierliches Köpfchen und sagte: »Da ich ein schönes verzaubertes Mädchen bin, verbringe ich die Nächte in Erwartung meines Ritters, der mich erlöst. Deshalb schaue ich immerzu in den Himmel.« Sie verstummte und senkte den Blick. »Sprich weiter, meine Liebe«, sagte Durinda, »die Freunde warten.« Doch die Taube schwieg beharrlich. »Da müssen wir ihr wohl oder übel das Schnäbelchen vergolden«, sagte der Rabe, »was habt ihr zu bieten?« »Ich werde ewig in deiner Schuld stehn«, sagte Alissa lächelnd. »Also gut, aber vergiß es nicht. Nun erzähl weiter, mein verwunschenes Kind.« »Gestern gegen Morgen fiel ein großer Gegenstand vom Himmel«, fuhr die Taube fort. »Ich dachte schon, es wäre mein Liebster, der mich schnell erlösen will.« »Und was war es in Wirklichkeit?« »In Wirklichkeit war es gar nicht für mich ... « In diesem Augenblick schallten Schreie vom Ufer herüber, und Alissa sah die Räuberhorde am Fluß, in ihrer Mitte den schmuddeligen, behaarten Riesenkerl von Menschenfresser. Seine Kleidung bestand aus Bärenfellen, um die Wangen hatte er einen schmutzigen Lappen gebunden, damit die abgebrochenen Zähne nicht so schmerzten. »Wo ist er«, brüllte der Menschenfresser, »laßt mich den Bengel nur erst schnappen!« »Ich halte ihn auf«, sagte Gromoseka leise, »versuch du inzwischen, von der Insel wegzukommen.« »Taube«, rief der Rabe Durinda, »wir haben keine Minute zu verlieren. Wo ist dein Prinz heruntergefallen?« Die Räuber waren mittlerweile am Fluß angelangt und blieben am Ufer stehen, während der Menschenfresser, seine Riesenpranke gegen die Wange gedrückt, ins Wasser schritt. »Ach ja«, sagte die Taube, »dort hinter dem Wald war es. Ich bin am Morgen hingeflogen, konnte aber keinen Stern finden. Nur ein häßliches Ei, so groß wie ein Haus, liegt dort. Damit wäre mein Prinz nie gekommen.« »Stimmt genau«, sagte Alissa, »das Raumschiff!« »Schwimm los, Alissa«, drängte Gromoseka, »mach dir um mich keine Sorgen.«
»Ich kann doch Gerassik nicht allein lassen!« rief Alissa. »Er soll sich rittlings aufs Boot setzen, du aber schwimmst hinterdrein und stößt es vorwärts. Hast du verstanden?« »Danke, Gromoseka, du bist ein schlauer Kerl. Gerassik, zu mir!« Sie stießen zu zweit den Einbaum ins Wasser. Gerassik setzte sich rittlings darauf, und Alissa tat, was ihr der Archäologe geraten hatte. Das Wasser kam ihr jetzt nicht mehr ganz so kalt vor - man gewöhnt sich eben an alles. Die Strömung erfaßte das Boot und trieb es flußabwärts. Gerassik half Alissa, indem er mit den Armen ruderte. Als Alissa sich umdrehte, sah sie, daß die Schlacht auf der Insel in vollem Gange war. Der Menschenfresser war an Land gegangen, wo ihn der gewichtige Gromoseka bereits erwartete. Der Archäologe war zwar nur halb so groß wie sein Gegner, beherrschte aber Sambo und Karate, wovon der andere nicht die geringste Ahnung hatte. Freilich behinderte die Hexe den Archäologen nach Kräften, indem sie sich von hinten an ihn hängte und ihn mit Armen und Beinen bearbeitete. An die Flüchtenden dachte niemand mehr. Außer dem Raben Durinda, der über ihnen flog und mitleidig mit durchdringender Stimme barmte: »Nein, das schafft ihr nie und nimmer! Ganz unmöglich könnt ihr das schaffen. Ihr geratet entweder einem Wolf zwischen die Zähne oder einem Hai, ihr werdet schon sehen. Was für ein Jammer, und ihr seid so nette junge Leute.«
Alissa hielt es für ausgeschlossen, daß sich in dem kalten Wasser Haie aufhielten, und Wölfe konnten bekanntlich nicht schwimmen. Sie drehte sich ein letztes Mal zur Insel um, sie hatte Angst um Gromoseka. Und tatsächlich stellte die Hexe dem Archäologen gerade ein Bein, so daß er der Länge nach hinfiel. Sofort stürzte sich der Menschenfresser auf ihn ... Doch selbst wenn Alissa jetzt hätte kehrtmachen wollen, sie hätte das Boot nicht gegen die Strömung wenden können. Eine Sekunde spater war die Insel hinter einer Flußbiegung verschwunden.
15. Der Irrtum »Hierher«, rief die Taube, die hinter Durinda flog, »von hier führt ein Pfad direkt zu dem eisernen Ei.« Alissa begann aus voller Kraft mit den Beinen zu arbeiten, um das Boot zum Ufer zu drehen. Kaum angelangt, stürmte sie auch schon den Pfad hinauf, und Gerassik folgte ihr. Sie hatte allerdings nicht die geringste Vorstellung, was sie tun sollte, wenn das Raumschiff tatsächlich hier war. Sie konnte ja schwerlich auf die Kosmosbanditen zulaufen und sagen: »Wir haben euch durchschaut!« Vor Schreck würden die sonstwas anstellen. Auch quälte Alissa die ganze Zeit der Gedanke, daß sie Gromoseka seinem Schicksal überlassen hatte. »Was ist das für ein Stern«, ertönte da Gerassiks Stimme in ihrem Rücken, »wozu brauchst du ihn?« »Wie soll ich dir das erklären? Eigentlich ist der Stern ein fliegendes Schiff. Es hat sehr schlimme Menschen an Bord, die uns alle mit dem Virus des Bösen infizieren wollen.« »Infizieren? Mit einem Virus?« »Ach ja, ich vergesse immer wieder, daß du noch ein Wilder bist«, sagte Alissa. »Sie wollen uns eine Krankheit anhängen.« »Euch oder uns?« fragte Gerassik. »Uns. Denjenigen, die später hier leben werden.« »Wenn's um die Leute eurer Zeit geht, weshalb sind sie dann nicht gleich zu euch geflogen?« fragte Gerassik verwundert. Doch Alissa kam nicht dazu, die Sachlage genauer zu erklären. Die Johannisbeerbüsche lichteten sich, und sie gelangten auf eine breite Lichtung, in deren Zentrum ein riesiges dunkles Ei lag. Alissa blieb wie angewurzelt stehen und packte Gerassik bei der Hand, damit er nicht ins freie Gelände lief. Sie lauschte. Es war still, was bedeutete, daß die Kosmonauten entweder noch auf dem Schiff waren, um Analysen durchzuführen und die Lage zu erkunden, oder aber bereits von Bord, um irgendwo in der Nähe die lila Kugel zu vergraben. »Was meinst du, Gerassik, sind sie noch drin?« »Wer?« »Na, die Außerirdischen.« »Das ist kein Schiff«, sagte Gerassik bestimmt, »das ist ein Ei. Ein Schiff hat Masten und Segel. Oder Ruder.« »Ach, Gerassik, du mußt noch eine Menge lernen! Du hast ja keine Ahnung, zu welchen Höhen sich die Menschheit mit der Zeit aufschwingen wird. Begreif doch, solche großen Eier kann es nicht geben.« »Woher soll ich wissen, was es alles für Eier gibt«, erwiderte Gerassik zweifelnd. Er war von seiner Märchenwelt alle möglichen Wunderdinge gewohnt. »Man soll nie wegen Kleinigkeiten streiten«, lenkte Alissa ein. »Sag mir lieber, ob sie schon ausgestiegen sind.« »Aus diesem Ei ist noch niemand rausgeklettert«, antwortete Gerassik, »sieh doch selbst, kein einziger Grashalm ringsum ist niedergetreten.« Diese Auskunft beruhigte Alissa. Sie verließ sich auf die erstaunlich guten Augen des Jungen. »Wollen wir warten, bis es schlüpft?« fragte Gerassik. »Sie müssen bald rauskommen«, sagte Alissa. »Ihr Planet fliegt gerade am Sonnensystem vorbei, für sie ist jede Stunde kostbar. Wir warten.« Dann laß uns lauschen.« »Worauf denn?«
»Na, auf das Kücken. Wir gehen an das Ei ran und horchen. Wenn es schlüpfen will, wird es klopfen.« Alissa seufzte - dieser Junge war gar zu halsstarrig. Dennoch machte sie einen Schritt nach vom. Ein kleiner Sumpfhöcker unter ihrem Fuß federte und gab glucksend Wasser frei. »Moment«, sagte Gerassik und sah in die Höhe, wo über ihnen Durinda und die Taube kreisten. »He, Durinda«, rief er, »sieh doch mal nach, wer in dem Ei sitzt und ob er schlüpfen will.« »Warum denn ich, warum denn ich?« protestierte der Rabe. »Das ist viel zu riskant. Sie könnten mich fangen und einsperren.« »Ein Vogel kennt sich aber besser in solchen Dingen aus.« »Und was bekomme ich dafür?« fragte der Rabe. »Ich revanchiere mich, wenn wir wieder im Märchenwald sind«, versprach Alissa. »Jetzt aber horch bitte, was die da drin treiben.« »Na gut, allerdings mußt du mir dafür im Märchenwald jeden beliebigen Wunsch erfüllen, einverstanden?« quarrte der Rabe. »ja doch, nur beeil dich jetzt.« Der Vogel flog unwillig zu dem eiförmigen Raumschiff. Bevor er sich auf der gewölbten Oberfläche niederließ, beschrieb er mehrere Kreise in der Luft. Da er offenbar nichts Verdächtiges vernahm, streckte er weit die Füße von sich und näherte sich, verzweifelt mit den Flügeln schlagend, dem Raumschiff, bis er es mit den Krallen berührte. Es war, als hätte er Angst, sich zu verbrennen. Schließlich ließ er sich doch nieder und neigte horchend den Kopf. »Es klopft, es klopft!« rief der Rabe plötzlich aufgeregt. »Gleich kommt es raus!« Mit diesen Worten erhob er sich eilig in die Luft und entschwand in Richtung Wald. Die Taube folgte ihm. Alissa und Gerassik, die schon auf die Lichtung hinauslaufen wollten, erstarrten auf der Stelle und lauschten. Das Raumschiff stand reglos da, kein einziger Laut drang zu ihnen. »Das muß ja ein Riesenkücken sein«, flüsterte Gerassik. Schön, wenn es wirklich bloß ein Kücken wäre, dachte Alissa. Die Kücken jedoch, die aus diesem Ei schlüpfen, haben Schußwaffen und führen Böses im Schilde. Auf einmal vernahm Alissa einen dumpfen Schlag. Es gab keinen Zweifel: Die im Raumschiff bereiteten sich auf den Ausstieg vor. Eine Minute später erfolgte der zweite Schlag. Alissa hockte sich hinter einen Strauch und zog Gerassik zu sich herunter. Sie überlegte fieberhaft, wie sie sich verhalten sollte, denn die Außerirdischen würden die lila Kugel ja nicht sofort verstecken. Sie würden sich erst einmal umschauen wollen, gewiß hatten sie Flugmaschinen oder Geländewagen an Bord. Wie sollte sie die Banditen verfolgen? Sie mußte schnell zum Zauberer Ooch laufen, alle guten Geister mobilisieren, damit sie ihr halfen. Und wieder ein Schlag im Innern des Raumschiffs. Das Raumschiff erzitterte. Noch ein Schlag. An der Oberfläche bildete sich ein kleiner Riß, der sich beim nächsten Stoß, auseinanderlaufend, nun über die ganze Seite erstreckte. Alissa war starr vor Verblüffung. Die Schläge folgten einer auf den anderen. Nach dem zehnten, vielleicht auch zwölften Stoß brach das Raumschiff förmlich auseinander. Die Splitter seiner Umhüllung fielen ins Gras, und inmitten dieser Trümmer entdeckten die beiden ein riesiges, völlig nacktes Kücken mit dünnem Hals und einem kleinen Flaumbüschel auf dem Kopf. Das Kücken öffnete weit seinen gelben Schnabel, in dem ohne weiteres eine Telefonzelle Platz gefunden hätte, und gab einen Piepser von sich, bei dem sämtliche Blätter von den umstehenden Bäumen fielen. »Was ist denn das?« flüsterte Alissa entsetzt. »Na was schon, ein Kücken«, erwiderte Gerassik, kein bißchen erstaunt. »Ich hab dir's doch gesagt. Aber du hattest ja dauernd deine Außerirdischen im Kopf.« »Und was wird mal aus ihm?« »Der Vogel Rock. Hat dir Sindbad der Seefahrer nicht von ihm erzählt?« »Das schon, aber ich hätte nie gedacht ... Himmel, wir verlieren hier unsre Zeit ... Los, komm jetzt!« »Wohin?« »Zurück zu Gromoseka. Wir müssen ihn retten.«
»Den haben sie bestimmt schon gefressen«, sagte Gerassik niedergeschlagen. »Sie fressen jeden, der ihnen unter die Finger kommt.« »Erstens ist noch nicht erwiesen, daß Gromoseka ihnen in die Hände gefallen ist, zweitens können sie ihn gar nicht fressen ... Er ist nämlich mit einem Panzer bedeckt.« Alissa richtete sich auf, und in diesem Augenblick wurden die beiden von dem Kücken bemerkt. Es zog eines seiner roten Beine aus den Schalenresten, verlagerte unsicher sein Gewicht darauf, tat den ersten Schritt seines Lebens, zog das zweite Bein nach und ließ den zweiten Schritt folgen. Seine großen runden Augen öffneten sich und bekamen lebendigen Glanz. Der dritte Schritt fiel ihm schon um vieles leichter. Dann lief das Vogeljunge watschelnd auf Alissa zu. »Sieh doch mal, wie lustig er ist«, sagte Alissa. »Was stehst du hier noch rum«, Gerassik zog Alissa bei der Hand, »der pickt dich weg wie einen Käfer.« Sie rannten durchs Gebüsch zurück zum Fluß. Das Kücken piepste durchdringend und jagte hinter der ersten Beute seines Lebens her. Im gleichen Augenblick wurde es finster. Alissa schaute hoch - Mutter Rock, mit ihren Flügeln den Himmel verdeckend, glitt zu ihrem Kind hinunter. Glücklicherweise hatte sie die beiden Menschenkäfer nicht bemerkt. Das Kücken aber, als es seine Mutter erblickte, krächzte zur Begrüßung freudig los. Alissa und Gerassik rannten, was die Beine hergaben, am Ufer zurück. Sie waren völlig außer Atem, als sie zu der Stelle gelangten, die sich genau gegenüber der kleinen Insel befand. Die Insel lag ausgestorben da: keine Hexe, kein Gromoseka, kein Menschenfresser. Alissa setzte sich unter einen Baum, um Luft zu holen. »Eigentlich, Gerassik«, sagte sie schließlich, »stehn wir viel schlechter da als am Anfang. Vor einer Stunde wußte ich nicht, wo sich das Raumschiff vom Vagabundenplaneten befindet, jetzt weiß ich ebensowenig und hab außerdem keine Ahnung, wo sich Gromoseka aufhält.«
16. Der Drachen Langsamkauer Ihre Lage war in der Tat miserabel. Niemand hatte das fremde Raumschiff gesehen. Wenn es überhaupt gelandet war, so vielleicht weit entfernt, zum Beispiel in der arabischen Wüste. In diesem Fall wäre Alissa auf die Hilfe der Zauberer oder Sindbad des Seefahrers angewiesen, der ja bekanntlich am heißen Ufer des Arabischen Meeres lebte. Andererseits konnte sie nicht gut um die halbe Welt sausen, ohne zu wissen, was mit Gromoseka passiert war. »Und wohin jetzt?« fragte Gerassik. Er hatte fast nichts auf dem Leib, war barfuß und nach dem Bad im Fluß noch immer nicht ganz trocken, beklagte sich aber nicht. Er besaß eine Eigenschaft, die den Menschen auszeichnet: Wenn der Freund Hilfe braucht, hast du Hunger und Kälte zu vergessen. Sie erhoben sich und stiegen die Uferböschung hinauf, zum Wald und zur Hütte der Hexe. Gerassik ging voran und musterte aufmerksam den Boden, - er war ein Meister im Spurenlesen. »Sie haben ihn geschleift«, sagte er. »Wahrscheinlich gefesselt und hinter sich hergezogen.« »Tot oder lebendig?« »Lebendig. Er hat sich gewehrt. Siehst du, hier sind Grasbüschel ausgerissen. Du bleib jetzt mal hier stehen«, sagte Gerassik, Ich lauf los und erkunde die Gegend.« »Ich hab aber Angst, dich allein loszuschicken.« »Im Gegenteil«, erwiderte Gerassik, »Ich müßte Angst haben, wenn du dabei wärst. Du kannst nämlich nicht wie ein Schatten durch den Wald streifen, sie würden dich hören. Ich lauf nur hin, schau mich ein bißchen um und komme auf dem schnellsten Wege wieder. Das ist das beste. Du bleib inzwischen unter diesem Baum sitzen, aber ohne zu husten oder dich blicken zu lassen. Sonst stöbert dich womöglich sonstwer auf. Ich beeile mich.« Mit diesen Worten verschwand Gerassik im dichten Wald. Alissa war nun allein - genau der richtige Augenblick, um zu überlegen, was weiter zu tun sei. Doch Gedanken ganz anderer Art kamen ihr in den Sinn. Wie mochte es ihrem Vater gehen? Wenn sie ihm nun nicht geglaubt, ihn ins Irrenhaus gesperrt hatten? Und wie mochte es um die lila Kugel stehen? Lag sie noch immer reglos da, oder war sie vielleicht schon explodiert?
»Alissa, mein Kätzchen«, ertönte über ihr plötzlich eine bekannte, dumpfe Baßstimme. »Suchst du vielleicht mich?«
Alissa war so erschöpft, daß sie nicht mal mehr erschrecken konnte, als sie den Kopf hob und über sich einen Drachenkopf hin und her schaukeln sah. Er gehörte dem Cousin des Drachens Gorynytsch, der im Märchenwald zu Hause war. »Guten Tag, Langsamkauer«, sagte Alissa. »Nein, ich suche nicht dich, sondern ein paar Bösewichter.« »Zu schade, daß du nicht mich suchst.« »Wieso schade?« »Weil du versprochen hattest, mir aus der Zukunft ein Bild von meiner Großnichte Nessie aus dem schottischen Loch Ness mitzubringen.« »Ach ja, entschuldige«, sagte Alissa, »aber deine Großnichte weigert sich, fotografiert zu werden. Die Menschen versuchen seit Jahrzehnten, sie zu knipsen, doch sie taucht unter, sobald sie einen Fotoapparat sieht.« »Also wirklich, das ist typisch für meine Großnichte«, sagte der Drachen. »Sie war schon immer sehr zurückhaltend. Aber was hat dich dann hergeführt, Alissa? Kann ich dir behilflich sein? Möchtest du, daß ich jemanden in Stücke reiße?« »Sag mal, mein Lieber, hast du vielleicht einen oder mehrere Sterne vom Himmel fallen sehn?«
»Wann soll das gewesen sein?« »In den letzten Tagen.« »In den letzten Tagen war der Himmel wolkenverhangen, meine Kleine, sogar nachts. Und obwohl ich in meinem Alter kaum noch schlafe und gern in die Sterne schaue, konnte ich keinen einzigen entdecken.« »Schade. Niemand hat was gesehen, dabei muß einer runtergefallen sein!« »Was denn, in eurer Zeit fallen wohl keine Sterne mehr vom Himmel?« »Doch, aber hier handelt es sich um einen besonderen Stern.« In diesem Augenblick sah Alissa Gerassik aus dem Wald kommen. Gerassik, der einen riesigen Drachen über dem Kopf seiner Freundin baumeln sah, hob tapfer einen Stein auf und trat auf das Ungeheuer zu, um es zu vertreiben. »Na, na«, sagte der Drachen, »bitte keine Mätzchen. Vor hundert Jahren hat schon mal ein Menschenjunge mit einem Stein nach mir geworfen, ich hab noch heute eine Narbe unter dem Auge meines rechten Kopfes.« »Nein, des linken«, widersprach der linke Kopf, der den rechten offenbar ziemlich beneidete. »Du kannst ja mal fühlen.« »Laß den Stein, Gerassik«, rief Alissa, »dieser Drachen ist ein Bekannter von mir!« »Das kennen wir«, brummte Gerassik. »Erst sind's Bekannte, und dann schnappen sie zu.« Er ließ den Stein sinken, behielt ihn aber in der Hand. »Na, was gibt's dort?« erkundigte sich Alissa. »Nichts Besonderes. Dein Gromoseka sitzt eingesperrt und gefesselt in der Hütte.« »Hat er Schmerzen?« »Ich glaub nicht. Er spielt mit dem Menschenfresser Knochenlegen und schimpft mächtig dabei, allerdings nicht in unserer Sprache.« »Und was wollen sie mit Gromoseka machen?« »Das haben sie mir nicht verraten. Vielleicht wollen sie ihn zum Abendbrot verspeisen. Ich denke, das wird von ihrem Hunger abhängen. Wenn sie halbwegs satt sind, heben sie ihn fürs Frühstück auf. Ein bißchen Zeit haben wir also.« »Dann müssen wir jetzt zum Zauberer Ooch. Der weiß bestimmt, wo dieses vertrackte Raumschiff gelandet ist.« »Zu Fuß schaffen wir's nicht«, erwiderte Gerassik, »es ist zu weit. Wir müssen uns was anderes einfallen lassen. Wenn wir vielleicht eine Ochsenblase nehmen und sie übers Feuer halten, daß sich möglichst viel Rauch bildet - bestimmt erhebt sie sich in die Luft, oder?« »Gerassik, hör sofort auf, die Luftfahrt zu erfinden! Die Menschheit ist dafür noch nicht reif.« »Hm«, sagte Gerassik zustimmend und sah nachdenklich den Drachen an. »Das mit der Ochsenblase hab ich schon probiert. Sie ist zu klein, bringt einen Menschen nicht hoch. Und wenn wir nun ... « »Was siehst du mich so an?« fragte der Drachen. »Drachen dagegen«, fuhr Gerassik fort, als hätte er die Frage des Drachens nicht gehört, »müßten eine große Blase haben. Wenn wir nun so eine Drachenblase nehmen und sie mit Rauch hochschicken ... « »Und wenn er zehnmal dein Freund ist, Alissa«, sagte der Drachen, »ich werde ihn unverzüglich zu Asche machen und vernichten. Aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus. Es gibt nur noch einige wenige Drachen auf der Welt, er aber will mir die Blase herausnehmen.« Er begann sich zu blähen, aus den Nüstern all seiner Köpfe quoll Rauch. »Ihr sollt aufhören, euch zu streiten!« rief Alissa. »Auf der Stelle! Wir müssen schnellstens zum Zauberer Ooch, von ihm hängt das Schicksal der Erde ab. Bitte, mein guter Drachen, kaure dich hin, wir klettern auf deinen Rücken, und du bringst uns zum Zauberer.« »Dich trag ich gern«, sagte der Drachen, »nicht aber diesen kleinen Menschenbanditen, dieses Ungeheuer, das die Drachen vernichten will, nur um durch die Luft zu fliegen ... Ihn - niemals!« »Du hast ja keine Ahnung vom Erfinden«, sagte Gerassik. »Und ob ich die habe. Ich mag es nur nicht, wenn man mich dafür in Stücke zerlegt.« »Das hab ich doch bloß so hingesagt«, erwiderte Gerassik. »Wenn du allerdings eines Tages ausgestorben bist, probier ich deine Blase unbedingt aus.«
»Ich werde dir einen zusammenfaltbaren Luftballon aus Seide schicken, Gerassik«, sagte Alissa, »aber laß wenigstens für kurze Zeit von deinen Ideen ab.« »Das sind vielleicht Zeiten und Sitten!« seufzte der Drachen. Doch da er im Grunde kein böses Wesen war, legte er sich den beiden Menschenkindern zu Füßen, damit sie auf seinen Rükken klettern konnten. Langsamkauers Rücken war uneben und von spitzen, glitschigen Schuppen bedeckt, er war schon lange nicht mehr gewaschen worden. Alissa und Gerassik setzten sich rittlings auf den Kamm, hielten sich an einem Dorn fest und lehnten sich gegen einen anderen, ganz als befänden sie sich zwischen den Höckern eines Spielplatzkamels. Der Drachen richtete sich auf, wandte ihnen einen Kopf zu und fragte: »Sitzt ihr gut?« »Danke, es ist sehr bequem.« »Kissen gibt's bei mir keine«, sagte der Drachen, »ihr müßt's also ertragen. Und überhaupt sind wir keine Reittiere.« »Darüber müßte man nachdenken«, sagte Gerassik, »vielleicht könnten wir euch zähmen. Vorausgesetzt, ihr sterbt nicht vorher aus.« »Ich werd dir gleich - von wegen zähmen!« knurrte der Drachen. »Ich komm ihm wie ein Mensch entgegen, er aber ... « »Ich doch auch«, erwiderte Gerassik. »Eben, eben«, sagte der Drachen und setzte sich in Bewegung. »Nein, Seite an Seite mit den Menschen, das wird kein Leben für uns. Sie sind gar zu egoistisch.« Der Drachen trottete am Ufer dahin, und Alissa konnte von oben sehen, wie sich seine riesige schuppige Pfote nach vorn schob, mit den Krallen ins Gras grub. Sein Rücken schwankte sacht wie ein Schiffsdeck. In diesem Augenblick wurde ihr auch bewußt, wie hungrig sie war - jetzt würde sie sogar Suppe essen. »Übrigens hab ich den Eindruck«, ließ sich der Drachen plötzlich vernehmen, »daß der Zauberer Ooch in dienstlicher Angelegenheit nach Arabien geflogen ist.« »Aber warum hast du das nicht eher gesagt!« rief Alissa. »Bist du sicher?« »Ich hab gestern den Recken Zentnerschwer getroffen. Er erzählte mir, Ooch habe ihn als Wächter angeworben, damit er in seiner Abwesenheit das Schloß bewacht.« »Dann leg einen Schritt zu, vielleicht ist er noch nicht weg!« Der Drachen schüttelte den einen Kopf. »Laufen«, sagte er, »ist ganz und gar nicht nach unserm Geschmack.« »Später«, sagte Gerassik, »wenn wir die Drachen als Reitund Lasttiere dressiert haben, müssen wir spitze Haken entwickeln, um sie damit in den Rücken zu pieken. Wenn wir kräftig drücken, werden sie schon rennen.« »Schluß, aus«, jaulte der Drachen, »meine Geduld ist zu Ende. Klettert runter. Der Mörder und Unterdrücker da, aber auch du, seine Freundin. Da bleib ich doch lieber ohne Foto von meiner Großnichte Nessie, dafür aber ein freies Fabelwesen.« Der Drachen hatte sich bereits auf den Bauch niedergelassen und war schon im Begriff, seine Passagiere ins Gebüsch zu schleudern, als Alissa plötzlich rief: »Sieh mal, dort kommen sie!« Der Drachen warf sämtliche Köpfe auf einmal hoch. Ein gleißender Streifen durchschnitt den Himmel. Er ging von einem grellen Stern aus, der geradenwegs auf Alissa zusteuerte. Sogar der Drachen, bekannt für seine Furchtlosigkeit, steckte die Köpfe unter die Achseln, wo sie sich drängten, um ja nicht das schreckliche Schauspiel ansehen zu müssen. Der Stern verwandelte sich in einen Feuerball und verschwand hinter den Baumwipfeln. Und erst nach einigen Sekunden prasselte ein Donnergrollen auf Alissa herab. Es klang, als würde jemand gegen ein riesiges, gespanntes Laken hämmern. Der Windstoß, der gleich darauf aus dem Wald herüberfuhr, bog die Zweige der Bäume nach unten und versetzte dem Drachen einen solchen Schlag, daß er auf die Seite fiel. Alissa und Gerassik aber rollten ins Gras, zusammen mit herabgefallenen Ästen, Blättern und Nüssen. Alissa holte erst mal tief Luft und rappelte sich auf. Der Drachen lag noch-immer. Gerassik setzte sich auf, sah Alissa an und sagte: »Ist das dein Stern?« »ja, das müßte er sein.« »Na weißt du, das ist ja ein Sternriese ... Ich fürchte, da ist jetzt ein gewaltiges Loch im Himmel - kaum auszudenken.«
»Na wenn schon«, erwiderte Alissa, »durch dieses Loch fliegen sie später wieder davon.« »Aber ja, das ist gar nicht übel!« rief Gerassik und sprang auf. »Da kann ich nachts durch das Loch schaun und herausfinden, was hinter dem Himmel steckt. Das hat mich schon immer interessiert.« »Steh auf, Drachen, wir müssen weiter«, sagte Alissa. »Sie sind dort hinterm Wald.« »Ich denke nicht dran«, antwortete der Drachen Langsamkauer. »Der eine will mir an die Blase, der andre jagt mich geradenwegs in die Hölle. Macht doch, was ihr wollt, aber laßt mich in Ruhe. Eure Menschenangelegenheiten sind mir schnuppe. Ich möchte mein Leben in der Märchenepoche in Frieden zu Ende bringen.« »Ach, laß ihn doch«, sagte Gerassik. »Diese Rieseneidechse ist feige wie ein Wurm.« »Ich zeig dir gleich, was ein Wurm ist!« bellte der Drachen, blieb aber liegen.
17. Das Schiff vom Vagabunden Das Schiff - diesmal war es wirklich eins - besaß gleichfalls Eiform, nur daß es oben und unten nicht so plattgedrückt war. Zum Glück ging es auf offenem Gelände nieder, im sumpfigen Ödland hinter dem Wald, das nur von Moos und Steinen bedeckt war. Es erstreckte sich bis zum Horizont und verschwand dort im Nebel. »Werden wir wieder warten?« fragte Gerassik leise, als sie hinter einem großen Stein etwa hundert Schritt vorn Schiff entfemt stehenblieben. »Natürlich. Bis sie rauskommen.« »Und von Durinda keine Spur«, sagte Gerassik. »Der arme Vogel hat es mit der Angst bekommen und ist fortgeflogen. Sonst hätten wir erfahren, ob sie bald schlüpfen.« »Aber ich sag dir doch: Das da drin sind keine Kücken, sondem Außerirdische.« »Natürlich«, erwiderte Gerassik, »das hast du voriges Mal auch behauptet.« ja, aber da war's nur ein Ei!« »Eben, eben.« »Das hier dagegen ist ein Raumschiff.« »Selbstverständlich«, antwortete Gerassik, und Alissa begriff, daß sie den jungen aus der Urzeit kein bißchen überzeugt hatte. Ihr Gespräch wurde jäh unterbrochen, weil seitlich am Schiff langsam eine runde Luke auffuhr. Von dort wurde eine Leiter zur Erde heruntergelassen. »Na siehst du«, flüsterte Alissa, die selbst schon zu zweifeln begonnen hatte. »Tatsächlich«, sagte Gerassik erstaunt. »Ich hab noch nie gesehen, daß Kücken so schlüpfen.« Wenige Sekunden später erschien ein Bewohner des Vagabundenplaneten in der Öffnung. Er besaß Ähnlichkeit mit einem Menschen, war aber viel schmaler. An den Seiten schien er gleichsam eingedellt. Er war in Metallhelm und dunkelgrauem Skaphander und trug einen goldenen Gürtel, an dem ein langes Schwert hing. Der Fremde musterte die Umgebung, lauschte, drehte sich dann um und rief etwas ins Schiffsinnere. Danach begann er, eine große Pistole in der Hand, die Treppe hinabzusteigen. Er war nervös, drehte ständig den Kopf und hielt die Waffe mal in die eine, mal in die andere Richtung, so als erwarte er von irgendwoher einen Angriff. Der Angriff kam auch, allerdings von einer Seite, die der Fremde ganz und gar nicht im Auge hatte. Pfeifend und kreischend stieß der Vogel Rock im Sturzflug zum Schiff herunter. Er setzte dicht neben dem Flugkörper auf, der ihm gerade mal bis zum Bauch reichte, und versetzte ihm einen mächtigen Schnabelhieb. Oje, dachte Alissa, dieser Vogel ist genau wie Gerassik überzeugt, daß es sich um ein verlorengegangenes Ei von ihm handelt. Er möchte seinem Kücken beim Schlüpfen helfen. Das Metall erwies sich für den Schnabel des Vogels als zu stabil, und das versetzte ihn in Raserei. Er begann mit doppelter Wucht gegen das Schiff zu hämmern. Der erschrockene Fremdling stürzte zur Luke, wobei er verzweifelte Pistolenschüsse auf den Vogel abgab. Der aber, selbst wenn ihm das offenbar nicht angenehm war, verzog keine Miene. Sein Mutterinstinkt, dem Kleinen zu Hilfe zu kommen, war stärker als der Schmerz.
Die Luke schlug krachend zu. Gleich darauf wurde seitlich aus dem Schiff ein Geschütz ausgefahren, das sein Rohr nach oben schwenkte. »Flieg weg, Vogel!« rief Alissa. Doch wie hätte der Vogel Rock, daran gewöhnt, das größte und stärkste Wesen auf der Erde zu sein, vor solch winziger Kanone Angst haben sollen? Er versetzte dem Raumschiff einen so kräftigen Schnabelhieb, daß es zu schwanken begann und beinahe umgestürzt wäre. Da schoß ein weißer Feuerstrahl aus dem Kanonenrohr. Der Vogel zuckte zusammen und stürzte, mit den Flügeln für Sekunden das Schiff verdeckend, schwer zu Boden. Er erinnerte jetzt an eine große zerfetzte Decke. -Der gigantische gelbe Schnabel öffnete sich kurz und klappte mit einem Knacken wieder zu: Der Vogel war tot. »Wie konnten sie bloß«, flüsterte Gerassik entsetzt, »einen so seltenen Vogel!« »Nun begreifst du hoffentlich, wie gefährlich sie sind«, sagte Alissa. »Gegen die kommt kein Zauberer an.« »Aber was können wir tun?« »Sie werden wieder wegfliegen. Sehr bald schon«, erwiderte Alissa. »Wir müssen nur verhindern, daß sie heute etwas tun, das die Menschen der Zukunft in Gefahr bringt.« Der Außerirdische schaute erneut aus dem Schiff und schoß dem Vogel aus seiner Pistole sicherheitshalber nochmals in den Kopf - er fürchtete wohl, ihn nicht gänzlich getötet zu haben. Dann stieg er die Treppe hinunter, näherte sich dem Rock und stieß ihm die Stiefelspitze gegen das Schnabelende. Der gelbe Schnabel war etwa zwei Meter lang, in seinem Innern hätte ohne weiteres ein Mensch Platz gefunden. Die anderen Außerirdischen drängten sich an der Luke und riefen ihrem Kumpel lachend etwas zu. Gleich darauf kam einer der Banditen mit einem schwarzen Kasten unter dem Arm aus der Luke. Es handelte sich anscheinend um einen Fotoapparat, denn er richtete das Gerät auf den anderen Mann, der sich in Siegerpose neben dem Kopf des Vogels aufgebaut hatte, und begann zu knipsen. Dann verließen auch die anderen das Schiff. Sie lachten, klopften sich gegenseitig auf die Schultern und nahmen nach kurzem Zögern neben dem toten Vogel Aufstellung, um sich gleichfalls fotografieren zu lassen. Als letzter kam ein Außerirdischer in goldenem Helm und mattschwarzem Skaphander aus dem Schiff. Er gesellte sich zu den anderen, und sie ließen sich alle zusammen ein letztes Mal aufnehmen: der Kommandeur mit dem goldenen Helm in der Mitte, die übrigen einen Schritt hinter ihm. »Hör mir aufmerksam zu, Gerassik«, sagte Alissa, »von dir hängt vielleicht das Schicksal der ganzen Erde ab. Die Leute dort haben etwas sehr Gefährliches auf die Erde gebracht, ein Gift, viel schlimmer als der Fliegenpilz. Es ist imstande, sämtliche Bewohner unseres Planeten auszurotten. Es befindet sich in einer lila Kugel, die diese Fremden hier zurücklassen wollen. Wir müssen herausfinden, wo sie die Kugel verstecken. Sobald sie wieder abgeflogen sind, nehmen wir sie an uns.« »Und wann werden sie die Kugel verstecken?« »Das weiß ich nicht. Es wäre schön, wenn's gleich passierte. je eher wir das Gift finden, desto besser.« »Du hast wohl Angst um Gromoseka?« »Um den auch«, sagte Alissa. Ein kleiner schwarzer Schatten blitzte über ihnen auf: Der Rabe Durinda kam zum Schiff geflogen, neben dem sich die Außerirdischen noch immer fotografierten. Er sah, schon von weitem, was dem Vogel Rock widerfahren war, und begann zu lamentieren: »Was für ein Skandal! Sie haben ihn getötet! Wo er doch Mutter war! Die armen Kinder!«
Der Mann mit dem goldenen Helm gab einen kurzen Wink, und auf seinen Befehl hin feuerten die anderen auf Durinda. Sie konnten natürlich nicht wissen, daß es sich um einen Märchenvogel handelte, hatten auch keine Ahnung, daß in dieser Epoche selbst die unverständigsten Wesen sprechen konnten, wodurch sie freilich nicht klüger wurden. Und überhaupt hatten sie keine Vorstellung, welche der Erdenwesen vernunftbegabt waren, ob die Vögel oder die Ameisen. Denn diese Außerirdischen waren es gewohnt zu schießen, bevor sie überlegten.Durinda schwang sich entsetzt hoch in die Luft. »Ihr Räuber«, schrie er, »ich werde mich beschweren!« Eine weiße Feder flog trudelnd zur Erde. Der Rabe suchte in den tiefhängenden Wolken Zuflucht. Die Fremden lachten. Alissa hatte sie vorher immer für finstere, trockene Gesellen gehalten, die unverzüglich Luft- und Bodenproben entnehmen würden, um danach ihre lila Kugel zu vergraben. Doch nichts von alledem. Die Außerirdischen hatten es ganz und gar nicht eilig. Sie machten voller Vergnügen Lockerungsübungen neben dem Schiff, zwei begannen zu boxen, andere versuchten, dem Vogel Rock eine Feder herauszuziehn als Andenken vielleicht? Für den Kapitän - so nannte ihn Alissa bei sich - wurde ein Sessel mit hoher Rückenlehne ins Freie getragen, in dem er es sich mit übergeschlagenen Beinen bequem machte. Gleich darauf wurden drei ausgehungerte, ärmlich gekleidete Männer aus dem Schiff getrieben. Sie blinzelten im grellen Tageslicht, kniffen die Augen zusammen, und Alissa sagte sich, daß sie lange im Dunkeln gesessen haben mußten. Die Männer unterschieden sich von denen der Raumschiffbesatzung. Sie waren kleiner und magerer; gewiß handelte es sich bei ihnen um versklavte Bewohner des
Vagabundegplaneten. Beim Anblick des Vogels Rock erschraken die Gefangenen und blieben wie angewurzelt stehen. Doch die Krieger trieben sie mit Stößen in den Rücken zum Kapitän. Der Kommandant lachte bloß über die unglücklichen Männer und gab einen befehlenden Wink. Alissa beobachtete, wie sich den Gefangenen zwei andere Krieger näherten. Einer trug ein Tablett mit verschiedenen Gräsern, wilden Äpfeln, Blättern, Schnecken, ja sogar Steinen. Der zweite hatte einen Notizblock in der Hand. »Was denn«, fragte Gerassik, »sind sie hungrig?« Der Kapitän hob die Stimme, und die Wächter stießen die Sklaven an das Tablett heran. Einer nahm mit unsicherer Hand einen Grashalm vom Tablett und begann darauf herumzukauen. Er verzog angewidert das Gesicht, spuckte aus. Da versetzte ihm der Wächter einen derben Schlag. Der Häftling kaute gehorsam erneut, während ihn die anderen Männer gespannt beobachteten. »Verstehst du jetzt?« fragte Alissa. »Nein, noch nicht«, gab Gerassik zu. »Das ist doch ganz einfach. Sie haben nicht genug Instrumente für ihre Untersuchungen, da benutzen sie ein lebendes Labor.« »Ein was?« »Versuchstiere gewissermaßen. Um zu überprüfen, ob unser Gras und unsre Früchte als Nahrung für sie geeignet sind. Wenn ja, so bedeutet das, sie können die Erde erobern.« »Und wenn nicht?« »Dann werden die Gefangenen sterben oder sich wenigstens sehr quälen.« »Sie können einem leid tun«, sagte Gerassik. »Und nun stell dir vor, was passiert, wenn diese Banditen die Macht auf der Erde an sich reißen.« Die Sklaven aßen nach und nach alles auf, was auf dem Tablett war, die Krieger aber beobachteten sie und stellten Fragen, bei deren Beantwortung sie sich hin und wieder fast ausschütten wollten vor Lachen offenbar erkundigten sie sich, ob es den Gefangenen schmeckte. Aus dem Weidengebüsch, das auf einem Hügel im Sumpfgelände wuchs, kam ein Außerirdischer mit einer neuen Kostprobe. »Oje!« rief Alissa aufgeregt. Der Fremde hielt zwei dicke bärtige Zwerge an den Beinen. Als seine Kumpane die Beute entdeckten, wieherten sie los. »Werden sie die etwa auch kosten?« fragte Gerassik. »Wenn ich nur wüßte, was ich tun soll«, sagte Alissa. »Einerseits müssen wir unbemerkt bleiben, weil davon ja das Schicksal der Erde abhängt, andererseits quälen sie die Zwerge!« »Wenn du dich einmischst, wird's auch für dich schmerzhaft«, sagte Gerassik weise. »Wir müssen was erfinden.« »Aber was bloß!« Alissa sah, wie die Zwerge aufs Tablett geworfen wurden. Der Kapitän beugte sich über sie, nahm einem von ihnen die Zipfelmütze ab, untersuchte sie von allen Seiten und stülpte sie sich dann über den Zeigefinger. Jetzt wird er gleich daraufkommen, daß die Zwerge vernunftbegabte Wesen sind, dachte Alissa, denn nur sie sind imstande, Mützen und Hüte herzustellen. Bestimmt wird es ihnen dann peinlich sein. Der Kapitän warf die Zipfelmütze ins Gras und gab einen Befehl. Einer der Soldaten stürzte zum Schiff. Alissa nahm mit halbem Ohr das Rascheln von Zweigen wahr und drehte sich um. Gerassik war verschwunden. Ob er es mit der Angst bekommen hat? dachte sie. Dabei hielt ich ihn immer für furchtlos. Der Außerirdische brachte eine Schale an, die zwischen drei Beinen befestigt war. In der Schale lag etwas Weißes. Der Krieger stellte sie vor den Kapitän, der ein kurzes Rohr aus dem Gürtel holte und es an den weißen Inhalt der Schale hielt. Eine bläuliche Flamme schlug hoch. Dann packte der Krieger einen der Zwerge, mit einer großen Zange und hielt ihn übers Feuer. Alissa konnte sehen, wie sich der kleine Kerl vor Schmerzen wand. Sein dünnes Piepsen hallte über den Sumpf. Vor dem Zwergenschmerz beugten sich, angstvoll flüsternd, die Grashalme, und die Frösche verbargen sich in den Pfützen. Nur ein Frosch, er hatte ein goldenes Krönchen auf dem Kopf, begann vor Empörung laut zu quaken.
Alissa sprang auf, um den Zwergen zu Hilfe zu eilen - sollte kommen, was wollte. Es gab Augenblicke im Leben, da man, um einen Schwachen zu retten, selbst die Pflicht hintenanstellte. Doch in diesem Augenblick flog pfeifend etwas Dunkles durch die Luft. Ein kleiner Stein traf den Kommandanten genau an der Nase. Er jaulte auf und fiel vom Sessel in die Pfütze. Alissa drehte sich hastig um und begriff, daß ihr Freund Gerassik geschossen hatte. Er hatte auf der Lichtung einen biegsamen Baum ausfindig gemacht und einen Strick, den er sonst am Gürtel trug, um zwei Äste einer Astgabel gebunden. Dann hatte er den Strick gespannt und auf diese Weise das erste Katapult auf Erden entwickelt. »Leg dich hin!« rief Alissa. Gerassik gehorchte und tauchte hinter einen Sumpfhöcker. Genau zur rechten Zeit, denn die Außerirdischen begannen wild in seine Richtung zu ballern. Die Kugeln peitschten nur so um den Baum, wirbelten das Wasser und Schmutzklumpen auf. Die Pfützen begannen zu schäumen. Alissa preßte sich mit dem ganzen Körper in den nassen Boden. Die beiden Zwerge nutzten das Durcheinander und versteckten sich im Gras. Als die Schießerei vorüber war, sah Alissa, wie sie geduckt durchs Gras davonschlichen. Sie waren ohne Mützen, zerzaust und verschmutzt. Dann trat Stille ein. Alissa hob vorsichtig den Kopf. Die Fremden wagten es nicht, sich weit vom Schiff zu entfernen. Sie standen im Halbkreis und zielten in alle Richtungen. Der Kapitän versteckte sich hinter den Rücken seiner Krieger und hielt ein blutiges Taschentuch an die Nase. Gar nicht weit von Alissa aber schwamm in der Pfütze, den weißen Bauch nach oben, der Frosch mit dem goldenen Krönchen auf dem Kopf - er war tot. Ach, jetzt ein Maschinengewehr, und Alissa würde diese Banditen auseinanderjagen. Natürlich wären der Vater und Gromoseka gegen eine solche Selbstjustiz, aber was sollte man sonst, auf sich allein gestellt, gegen Leute tun, die andere unterjochten und töteten. Die kein Mitleid kannten oder es zumindest nicht zu zeigen wagten. Ahnte denn keiner der Zauberer, was sich hier tat?!
18. Die jagd nach der Kugel Und wie als Antwort auf ihre Gedanken sah Alissa einen nicht mehr neuen, bunten Teppich langsam am Himmel entlangschweben. Seine Ecken bewegten sich leicht, und das Ganze erinnerte an eine Meereswoge. Der fliegende Teppich! Kam also doch noch einer der Zauberer. Ach ja, dort, ganz weit oben, fast unter den Wolken, kreiste auch der Rabe Durinda. Folglich hatte er einen der Zauberer aufgespürt und ihm vom Tod des Vogels Rock erzählt. Die Außerirdischen entdeckten den fliegenden Teppich nicht sofort. Erst als sein Schatten auf den Kapitän fiel, hob der den Kopf, preßte sich erschrocken gegen die Bordwand des Schiffes und stieß einen Schrei aus. Nun schauten auch die anderen nach oben. Zunächst begriffen sie nichts, glaubten, es mit einem neuen Vogel zu tun zu haben. Da ihre Nerven schon ziemlich angegriffen waren, begannen sie unverzüglich auf den Teppich zu schießen. Der Teppich ruckte mehrmals, dann glitt er - bestrebt, den Kugeln auszuweichen abwärts, setzte schließlich steil zur Landung an und klatschte auf die Sumpfhöcker. Zwei der Krieger liefen hin und feuerten eine Salve auf ihn ab. In der Annahme, den Teppich außer Gefecht gesetzt zu haben, hoben sie ihn an den Rändern hoch und schleppten ihn zum Kommandanten. »So ein Jammer«, flüsterte Gerassik und kroch zu Alissa, »sie haben mit ihren Kugeln den ganzen Baum verstümmelt. Aber dafür hab ich's einem von denen tüchtig gegeben, findest du nicht?« »Die Zwerge müßten dir ein Denkmal setzen«, sagte Alissa. »Wer war eigentlich auf dem Teppich?« »Wer soll sich bei all den Zauberern und ihren verschiedenen Teppichen auskennen? Da gibt's Orientteppiche, arabische und unsre einheimischen. Ich glaube, es war ein einheimischer.« Der Rabe Durinda kreiste unter einer Wolke, und von dort hörte man schwach sein Lamento: »Was für ein Verbrechen, gegen so einen Mann die Hand zu erheben!« Plötzlich sah Alissa, wie sich der Körper des toten Froschkönigs aus dem Wasser hob und langsam durch die Luft hin zu ihr schwebte. Er ließ sich sacht aufs Gras der Kuhle nieder, in der sich Alissa versteckt hielt. Da
begriff sie, daß sich neben ihr ein Zauberer mit Tarnkappe befand. Und so fragte sie: »Sind Sie auch nicht verletzt?« »Nein«, antwortete eine leise, gewichtige Stimme. »Sind Sie's, Zauberer Ooch?« fragte Alissa. »Ja, mein Mädchen, ich bin es. Um den Teppich ist es schade, sie haben ihn völlig durchlöchert. Und neue werden nicht mehr hergestellt, man hat's verlernt. Bist du wegen dieser Banditen zu uns gekommen?« »Ja«, sagte Alissa, »wie haben Sie es erraten?« Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, sich mit der Luft zu unterhalten. Sie hatte das Verlangen, die Hand auszustrecken und den Zauberer zu berühren, um sich zu überzeugen, daß er tatsächlich existierte. Ooch, der ein weiser alter Mann war, hatte ihren Wunsch wohl erraten, denn gleich darauf spürte Alissa, wie sich ihr eine warme, leicht rauhe Hand auf die Schulter legte. Eine Kugel pfiff über ihren Kopf - einer der Außerirdischen hatte sicherheitshalber in ihre Richtung geschossen. »Als erstes«, sagte. der Zauberer, »möchte ich den Froschkönig zum Leben erwecken. Es wäre ein großes Unglück, wenn es ihn nicht mehr gäbe. Er ist so freundlich, arbeitsam und hilfsbereit, er muß einfach am Leben bleiben. Mit ihm würde ein ganzes Märchen sterben.« Der Körper des Frosches erhob sich wieder ein Stück in die Luft, und Alissa vernahm einen tiefen Seufzer. Der Zauberer hatte das Tierchen offenbar an seinen Mund geführt, um ihm neues Leben einzuhauchen. Bald darauf kam Bewegung in den Frosch, er zog seine langen Beine unter sich und setzte sich genau vor Alissas Gesicht in der Luft auf. Dann rückte er sein Krönchen zurecht. »Danke, Zauberer«, sagte der Frosch, »sterben ist qualvoll.« »Geh jetzt und versteck dich im Wasser«, sagte der unsichtbare Zauberer. »Bleib so lange dort, bis sie weggeflogen sind.« »Das gefällt mir aber nicht«, sagte der Froschkönig ein bißchen launisch. »Während ich unter Wasser sitze, verpaß ich vielleicht meine Prinzessin.« »Keine Bange«, sagte Alissa, »notfalls komm ich selber zu dir; wenn ich groß bin.« »Und wann wird das sein?« fragte der Froschkönig, der natürlich nicht rechnen konnte. »Schon bald«, erwiderte Alissa, »du siehst ja selbst, ich bin fast erwachsen.« »Na gut«, stimmte der Frosch zu, »aber sieh mich nicht so an, ich bin fast nackt.« Mit diesen Worten sprang der Frosch von dannen und verschwand in einer Pfütze. »Können Sie nicht auch den Vogel Rock wieder lebendig machen?« fragte Alissa. »Der Atem aller Zauberer zusammengenommen würde nicht reichen«, sagte Ooch traurig. »Erzähl mir lieber, was passiert ist, Alissa. Ich stamme zwar aus der Märchenepoche, bin aber nicht auf den Kopf gefallen. Nicht von ungefähr nennt mich das Volk einen weisen Mann.« »Das ist wahr«, stimmte Gerassik zu, »unter all den Zauberern ist er der beste. Er treibt keinen Unfug.« Ooch schwieg. Bestimmt mußte er über Gerassiks Worte lächeln, doch das konnte Alissa nicht sehen. Das Mädchen begann ihm von der lila Kugel zu erzählen. »Wir müssen sehr vorsichtig sein«, sagte sie. »Sobald sie die Kugel versteckt haben, muß ich zurück in die Zukunft. Hoffentlich zünden sie sie nicht schon hier - ihr würdet alle um kommen ... Und überhaupt gibt es dann wahrscheinlich gar keine Zukunft.« »Du irrst, Alissa«, erwiderte der Zauberer. »Schließlich bist du auf die Weit gekommen, eine ganze Zivilisation existiert in deiner Zeit. Folglich haben sie die Kugel hier in unserer Epoche nicht zur Explosion gebracht.« »Wir müssen trotzdem vorsichtig sein«, beharrte Alissa. »Du hast recht«, sagte der Zauberer Ooch. »Sie haben meinen geliebten Teppich durchlöchert, den mir einst mein Freund, der Zauberer Rachilal-Hassan, schenkte. Das Unglück ist nur passiert, weil ich unvorsichtig war.« »Geben Sie mir die Tarnkappe«, sagte Alissa, »ich schleich mich auf das Schiff, stöbere die lila Kugel auf und bringe sie in Sicherheit.«
»Du selbst würdest zwar unsichtbar sein«, antwortete der, Zauberer, »nicht dagegen die Kugel. Sie würden dich schnappen. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen. Vielleicht sollten wir warten, bis sie sich schlafen legen?« - Unmerklich neigte sich die Sonne dem Horizont zu; eine graue regnerische Dämmerung senkte sich herab. »Ich weiß, was zu tun ist«, sagte Gerassik. »Ich selbst werde die Tarnkappe überstreifen und zu ihnen gehen. Ich werde die Kugel holen und sie durch die Luke in den Sumpf werfen.« »Augenblick, Gerassik«, widersprach Alissa. »Immerhin haben wir den Zauberer Ooch hier. Er weiß besser, wie wir an die Kugel herankommen. Vielleicht kann er die Leute auf dem Schiff verzaubern.« »Das ist ganz und gar unmöglich, Alissa«, erwiderte Ooch, »ich könnte nicht einmal dich verzaubern. Das gelingt nur bei Wesen, die der Märchenepoche angehören. Und überhaupt sind wir Zauberer solide Personen. Die Geister, Hexen und Übersinnlichen dagegen für uns reiner Aberglaube.« »Ich hab aber gelesen ... «, begann Alissa. »Psst, ich höre etwas«, unterbrach sie der Zauberer. »Was denn?« »Sie beraten sich.« »Aber Sie kennen doch ihre Sprache gar nicht.« »Ist das so wichtig? Ich verstehe jede beliebige Sprache. Sowohl die der Menschen als auch die der Unholde, Tiere und Vögel. Wäre ich sonst ein Zauberer?« Auf einmal stand Ooch, ein Greis in langem blauem Mantel, mit Stirnglatze und Bart, neben Alissa. Er hielt eine kleine, perlenbesetzte Mütze in der Hand. »Nun bist du erstaunt, was?« sagte er listig lächelnd. Dann steckte er den Kopf aus dem Gebüsch und wandte das eine Ohr den Männern vor dem Schiff zu, deren Stimmen kaum hörbar herüber drangen. Er warf die langen grauen Haare zurück, und schon begann zu Alissas Verblüffung das Ohr schnell zu wachsen, so daß es Ähnlichkeit mit einem großen Kohlkopf bekam. »Ein Geräuschefänger«, sagte der Zauberer, »begreifst du seine Arbeitsweise?« »Na klar«, sagte Alissa. »Dann hör jetzt gut zu. Ich werde Wort für Wort übersetzen, den Reim darauf mußt du dir selber machen.« Der Zauberer schloß die Augen, und sein Gesicht nahm einen entrückten Ausdruck an. Er begann eilig die Rede des Kapitäns wiederzugeben: »Natürlich könnten wir sie schon jetzt samt und sonders vernichten«, Alissa sah, wie der Kapitän das Taschentuch an die blutende Nase führte, »sie verdienen nichts anderes.« »Genau, weiser Kapitän, sie verdienen nichts anderes!« »Doch was würden wir damit erreichen? Wir besitzen nur die eine Kugel, mehr haben diese Halunken nicht zustandegebracht.« Ganz offensichtlich meinte er die unterjochten Wissenschaftler auf dem Vagabundenplaneten. »Folglich müssen wir diesen Trumpf so nutzen, daß es uns später nicht leid tut. Was geschieht, wenn sie jetzt hochgeht?« »Sie würden sich gegenseitig totschlagen«, antwortete einer der Außerirdischen. »Wenn wir das nächste Mal herkämen, fänden wir einen verlassenen und gesäuberten Planeten vor.« »Es könnten aber auch einige Leute übrigbleiben. Im Verlauf von sechsundzwanzigtausend Jahren, bevor unsere Nachfahren erneut herkämen, hätten sie es dann mühelos zu Nachkommenschaft gebracht. Die Starken überleben. Wir würden es mit neuen Feinden zu tun bekommen, diesmal weit schlimmer als dieser Vogel.« Der Kapitän wies auf den Rock. »Was sollen wir also tun, Kapitän?« »Es gibt nur einen Ausweg. Wir müssen die lila Kugel gut verstecken und einen atomaren Zeitzünder anbringen. Nach sechsundzwanzigtausendjahren explodiert die Kugel, und dann werden sie einander genau zu dem Zeitpunkt ausrotten, wenn wir im Anflug sind. All die Städte und Fabriken aber, die sie in dieser Zeit errichtet haben, kriegen wir gratis dazu.« »Hurra, unser weiser Anführer!« riefen die Außerirdischen. »Das wär's«, sagte der Zauberer Ooch, »sie sprechen nicht mehr.« »jetzt müssen wir abwarten«, sagte Alissa nachdenklich. »Was wohl Gromoseka macht? Zu schade, daß er nicht hier ist.«
»Wer ist nicht hier?« fragte der Zauberer. Sein Ohr wurde allmählich kleiner und erreichte schließlich normale Größe.
»Sie hat einen Freund«, erklärte Gerassik, »und der ist in die Fänge der Hexe geraten. Vielleicht fressen sie ihn auf, vielleicht hat er aber auch Glück. Er ist ganz in Ordnung, sieht jedoch zum Gruseln aus - schlimmer als ein Dschinn.« »Könnten Sie mir helfen, ihn zu befreien?« fragte Alissa den Zauberer. »Ich soll mit der Hexe verhandeln?! Nie und nimmer!« sagte der Zauberer stolz. »Ich spreche seit dreihundert Jahren nicht mehr mit ihr.« »Aber Gromoseka droht Gefahr.« »Du mußt schon entschuldigen, doch das fällt nicht in mein Gebiet.« »So sind sie immer, diese Zauberer«, sagte Gerassik. »Ziemlich beschränkt, man könnte fast sagen, nicht von dieser Welt.« »Wieso nicht von dieser Welt!« protestierte Ooch. »Na ja, eben verhext. Jeder beliebige Mensch an deiner Stelle würde losrennen, um dem andern zu helfen.« »Ein Mensch bin. ich tatsächlich nicht«, stimmte Ooch zu. »Im Rahmen meiner Möglichkeiten aber helfe ich gern. Doch wo es nicht geht, geht es nicht.«
Alissa schaute unverwandt zum Schiff hinüber. jeden Augenblick mußte dort einer der Außerirdischen mit der lila Kugel auftauchen. Sie würden sie vergraben und wieder abfliegen. Ach, wenn sie die Kugel doch endlich hätte! Und dann war es soweit - ein Außerirdischer erschien in der Luke. Alissa stand auf, um besser sehen zu können, doch Gerassik gab ihr einen schmerzhaften Klaps auf den Kopf, und sie legte sich wieder hin. Die Hände des Außerirdischen waren leer. Er drehte sich zum Kapitän um und sagte etwas. »Was sagt er?« fragte Alissa den Zauberer. »Eine Minute«, erwiderte Ooch, und sein Ohr begann erneut zu wachsen. »Ach, zu spät«, Alissa winkte ab, »sie haben sich schon abgesprochen. Möchte bloß wissen, wie.« Der Kapitän erhob sich, und die erschöpften, verängstigten Gefangenen - einer von ihnen hielt sich den Bauch – trugen den Sessel auf seinen Befehl zurück ins Schiff. Der fliegende Teppich blieb liegen, wo er war. Nun trotteten auch die Krieger zum Schiff. Im Abendlicht wirkten sie wie schwarze Schatten. Jeder schleppte etwas. Zwei der Männer trennten mit einer Streitaxt den Kopf vom Rumpf des Vogels Rock, sie wollten ihn wohl als Trophäe mitnehmen. »Na los, was sagen sie?« fragte Alissa und schaute wie gebannt auf das riesige Ohr des Zauberers. »Sie fliegen ab«, sagte Ooch. »Aber was ist mit der Kugel?« »Was ich nicht weiß, weiß ich nicht.« »Sie müssen doch etwas gesagt haben! « »ja, sie sprachen von einem sicheren Versteck.« »Und wo soll das sein?« »Das können die dort drüben besser erklären.« »ja verstehen Sie denn nicht?!« schrie Alissa. »Sie fliegen gleich ab, und wir wissen nicht, wohin.« »Wir schicken den Raben Durinda hinterher«, sagte Gerassik, »wo ist er überhaupt?« »Der kreist irgendwo über uns.« »Er kann ihnen unmöglich auf den Fersen bleiben«, sagte Alissa. »Ich mit meinem Teppich aber auch nicht. Zumal er so durchlöchert ist.« Nun verschwanden auch die letzten Männer im Schiff, und Alissa faßte einen Entschluß. Sie riß dem Zauberer die Tarnkappe aus der Hand und sagte hastig: »Versuchen Sie mich zu finden, Ooch. Du aber, Gerassik, lauf zur Hexe und befreie Gromoseka.« »Wo willst du hin!« rief der Zauberer, ohne darauf zu achten, daß die Außerirdischen in der Nähe waren. »Dir als Mensch steht das nicht zu, du darfst die Tarnkappe nicht tragen!« Er streckte die mageren Hände aus, um Alissa aufzuhalten, aber sie war bereits unsichtbar, und so konnte er sie nicht fassen. Alissa stürzte zum Schiff, um es noch zu erreichen, ehe sich die Luke schloß.
19. Der Abflug Alissa schaffte es im letzten Moment. Sie war so in Eile, daß sie dem Außerirdischen, der die Luke bediente, schmerzhaft gegen den Ellbogen prallte und zur Seite flog. Der Mann schrie erschrocken auf, sah sich nach allen Seiten um, konnte aber nichts entdecken. Dann rief er etwas ins Schiffsinnere, jemand gab Antwort. Alissa ließ keine Sekunde verstreichen - sie war bestrebt, sich schnellstens zu verstecken. Sie befand sich in einem niedrigen, kreisrunden Raum, von dem sich Luken in verschiedenen Richtungen öffneten. Eine steile Treppe führte nach oben, von dorther drang Maschinengeräusch. Der Raum war leer, wirkte unbewohnt und unbehaglich. Alissa wußte nicht, ob es an der dunklen Tönung der Decke und der Wände lag oder am Fehlen jeden Gegenstandes, auf dem das Auge hätte verweilen können. Alissa beobachtete, wie die Außerirdischen ihre Trophäen hastig in die angrenzenden Räume trugen. Drei der Männer schleppten unter großen Mühen den Kopf des Vogels Rock, dann warfen sie ihre Beute durch eine Bodenklappe, die jemand geöffnet hatte, nach unten. Gleich darauf sah das Mädchen, wie die Gefangenen, die vorher an der Wand gestanden hatten, ebenfalls zu der Bodenluke gingen und von ihren Wächtern einer nach dem anderen hinuntergestoßen wurden, ohne daß sie Widerstand leisteten.
Der Kapitän des Raumschiffs stieg die Treppe hinauf, seine Kumpane folgten ihm. Inzwischen überlegte Alissa, ob sie hier unten, an der Ausstiegsluke bleiben oder lieber dem Kapitän folgen sollte. Nun, es war wohl besser, am Ausstieg Posten zu beziehen: Wenn man dann landete, um die lila Kugel zu verstecken, konnte sie sofort ins Freie schlüpfen. Oder nein, lieber doch nicht. Sie mußte das Risiko eingehen und dem Kapitän auf den Fersen bleiben. Von der Kommandobrücke aus konnte sie verfolgen, wohin der Flug ging. Sonst würde sie zwar die Kugel bekommen, aber nicht wissen, wohin es sie verschlagen hatte. Womöglich mußte sie dann verhungern oder mit der Kugel im Arm erfrieren. Während sie noch überlegte, verriegelten die Männer die Außenluke, schlossen auch die Innentüren und verschwanden. Gleich würden sie starten. Alissa aber befand sich an ungeschützter Stelle, wer wußte, welchen Startbelastungen sie ausgesetzt sein würde. Das Mädchen durfte keine Zeit mehr verlieren. So stürmte sie gleichfalls die Treppe hinauf und befand sich nun in der ziemlich engen und dunklen Kapitänskajüte. Der Kapitän hatte bereits seinen Platz vor dem Steuerpult eingenommen, rechts und links von ihm saßen die Kopiloten. In der Kajüte standen zwei weitere Sessel; der eine war durch einen der Krieger besetzt, der andere zu ihrer Erleichterung noch frei. Alissa rannte zu dem Sessel, ließ sich aufatmend hineinfallen. Der Krieger daneben hatte offenbar ihre Schritte oder ein verdächtiges Geräusch gehört und sah verblüfft in ihre Richtung. Doch selbst wenn er einen Verdacht geschöpft hätte - er wäre nicht mehr dazu gekommen, ihn auszusprechen, weil sich das Dröhnen der Triebwerke verstärkte und das Schiff steil in die Höhe schoß. Alissa wurde in den Sessel gedrückt; ein Glück nur, daß sie das Fliegen im Kosmos gewohnt war und wußte, wie es dabei zuging. Die Überbelastung dauerte nicht allzulange. Der Kapitän schaltete den Videoschirm ein, und man sah darauf die Erde aus etwa hundert Kilometern Höhe. Sie schwamm langsam unter dem Schiff dahin, und Alissa begriff, daß sie sich in Richtung Osten bewegten. Unter ihnen zog gerade das Schwarze Meer vorüber. Es unterschied sich etwas von dem heutigen, war ihm aber schon ähnlich. Das Kaspische Meer dagegen war weit größer als im 21. Jahrhundert. Sie hatte direkt Mühe, es wiederzuerkennen. Dahinter zog sich Steppe hin - die Karakum, wie Alissa begriff, freilich viel grüner als die der Zukunft. Alissa stellte sich hinter den Kapitän, bemüht, ganz leise zu atmen. Sie sah nun Berge unter sich. Die Minuten flossen langsam dahin, das Mädchen hatte es satt, reglos dazustehen, trat einen Schritt zurück und prallte unverhofft gegen den Krieger, der ebenfalls von seinem Sessel aufgestanden war. Sie hatte ihn völlig vergessen. Der Krieger schrie erschrocken auf, so daß sich der Kapitän und die Kopiloten umdrehten. Ihr Gefährte begann schnell zu sprechen, Alissa drückte sich an die Wand: Sie fürchtete, die Außerirdischen könnten das Schiff durchsuchen. Die hatten jedoch offenbar noch nie etwas von Tarnkappen gehört und quittierten die Klagen des Kriegers mit lautem Gelächter. Alissa beruhigte sich, riskierte erneut einen Blick auf den Bildschirm. Die Berge waren jetzt höher, ihre Gipfel mit Schnee bedeckt. Sie wollten kein Ende nehmen. Himmel, wohin hat es mich verschlagen, dachte Alissa entsetzt, das ist ja der Himalaja! Hoffentlich fliegen wir noch ein Stück weiter und landen im alten Indien, dort ist es wenigstens warm. Sollten wir hier niedergehn, würde ich glatt erfrieren! Nun mach schon, flieg weiter, zieh die Landung noch ein bißchen hinaus ... Alissa hätte den Kapitän am liebsten hypnotisiert. Doch ihre Hoffnungen sollten sich nicht erfüllen. Der Kapitän gab Befehl, niederzugehen, und sie konnte gerade noch in ihren Sessel tauchen.
20. In den Bergen Als das Schiff stand, schaffte es Alissa als erste, die Kommandozentrale zu verlassen. Sie rannte die Treppe hinunter und bezog unweit der Ausstiegsluke Posten, damit sie, wenn geöffnet wurde, gleich hinausspringen konnte. Plötzlich war auch der Krieger mit einem Ärmvoll Pelzmänteln zur Stelle. Der Kapitän streifte sich einen Pelz über, die anderen Männer folgten seinem Beispiel. jetzt so einen Pelz haben, dachte Alissa, aber sie war
im Zweifel, ob die Tarnkappe auch dann noch wirkte. Wahrscheinlich doch, ihr Skaphander war ja gleichfalls unsichtbar. Alissa nutzte den günstigen Augenblick, da die Außerirdischen beschäftigt waren, und zog den letzten Pelz, den der Krieger noch in den Händen hielt, sacht zu sich heran. Der Krieger wunderte sich, gab das Kleidungsstück aber nicht her, zog es vielmehr seinerseits an sich. Alissa ruckte stärker, der Krieger hielt fest. Sie begriff, daß sie gegen den Mann nichts ausrichten konnte, höchstens entdeckt würde. So ließ sie den Pelz bedauernd los, und der Krieger, der das nicht erwartet hatte, flog gegen die Wand. Der Kapitän geriet in Zorn und brüllte ihn an. Der Krieger wollte sich rechtfertigen, doch in diesem Moment öffnete sich eine Luke an der Seite des Raumes. Ein Außerirdischer trat ein, er hielt behutsam eine durchsichtige Tasche in der Hand. In dieser Tasche schaukelte sacht die lila Kugel. Alissa konnte den Blick nicht von ihr losreißen. Obwohl sie eigens ihretwegen auf dem Schiff war, kam ihr das Auftauchen dieses Gegenstands wie ein Zauber, ein unwirklicher Traum, vor. Die Männer um sie her blieben dagegen völlig ruhig. Der Kapitän ging zu dem Außerirdischen mit der Kugel und schaute nach, ob alles in Ordnung war. Ein anderer Krieger kam hinzu, er trug ein längliches, am vorderen Ende zugespitztes Gerät. Der Kapitän ließ den Blick über die Anwesenden gleiten und gab Befehl zum Ausstieg. Die Luke wurde entriegelt und öffnete sich. Ein frostklarer Sternenhimmel spannte sich über dem Landeplatz, der sich am Hang eines riesigen Gletschers befand. Der Wind trieb vereinzelte Schneeflocken heran, und die Bö, die zum Schiff hereinfuhr, war so eisig, daß die Männer buchstäblich zur Seite wichen. Alissa graute es bei dem Gedanken, in diese Kälte hinaus zu müssen. Vielleicht sollte sie nur aufpassen, wo sie die Kugel versteckten, und dann aufs Schiff zurückkehren? Gleich darauf lächelte sie über die eigene Dummheit- Mit Sicherheit würde das Schiff auf schnellstem Wege zum Vagabundenplaneten fliegen. Dann müßte sie den Rest ihres Lebens als beklagenswerte Gefangene auf diesem Räuberplaneten zubringen. Der Kapitän schrie seine Untergebenen an, und sie setzten sich, die Waffen im Anschlag, lustlos in Bewegung. Er selbst verließ das Schiff gleich nach dem Mann, der die Tasche mit der lila Kugel trug. Dann sprang auch Alissa ins Freie - genau zum richtigen Zeitpunkt, denn die Männer auf dem Schiff hatten es der Kälte wegen eilig, die Luke zu schließen. Alissa blieb unschlüssig neben dem Raumschiff stehen: Wie sollte sie es anstellen, Spuren im Schnee zu vermeiden! Sie mußte in die Fußstapfen der Außerirdischen treten. Das aber war gar, nicht so leicht, denn die Männer, beinahe doppelt so groß wie sie, machten weite Schritte. Sie mußte also von einem Fußabdruck in den anderen springen, und davon wurde ihr fast warm. Die Männer wollten sich nicht zu weit vom Schiff entfernen und erklommen einen flachen Felsvorsprung. Der Kapitän wies auf einen Punkt in der Mitte, und der Mann mit dem länglichen Gerät - es handelte sich um eine Bohrmaschine - begann seine Arbeit. Gesteinssplitter flogen in alle Richtungen. Alissa trat von einem Bein aufs andere - die Kälte drang ihr durch Mark und Knochen. Im Felsen bildete sich allmählich eine Vertiefung. Der Kapitän legte die Kugel langsam und sehr sorgfältig hinein, die übrigen Männer schafften Steine herbei, die sie als kleine Pyramide vorsichtig um die Kugel herum aufschichteten. Dumm sind sie jedenfalls nicht, dachte Alissa. Im Flachland gibt es im Laufe der Jahrtausende viel Bewegung. Hier jedoch, auf dem Dach der Welt, werden die Berge das Geheimnis der, lila Kugel reglos und stumm bewahren ... Der Kapitän musterte die Pyramide mit einem letzten Blick, dann eilte er, zitternd vor Kälte, als erster zum Schiff zurück. Die anderen folgten ihm hastig. Alissa wollte gleichfalls hinterher, genauer gesagt, ihre Beine zogen sie ins Warme, doch der Kopf befahl ihnen: Haltet aus, ihr dürft nicht weg von hier. Die Außerirdischen verschwanden im Schiff, die Luke schloß sich. Alissa verfolgte den Vorgang, als stünde sie auf einem leeren Bahnsteig und müßte zuschauen, wie der Zug ihre geliebte Mama forttrug. Durchhalten, Alissa, murmelte sie immer wieder, du mußt durchhalten.
Ein Beben ging durchs Schiff, Schnee stiebte auf, dann schoß das Raumschiff, schnell an Höhe gewinnend, in den Abendhimmel, bis es nur noch ein kleiner Stern schien. Die Dämmerung auf den Gipfeln des Himalaja neigte sich ihrem Ende zu. Der Himmel war auf der Seite, wo die Sonne unterging, grünlich verfärbt, auf der gegenüberliegenden Seite aber bereits tiefblau. Alissa nahm die Tamkappe ab und steckte sie in die Tasche. Sonst wurde sie womöglich von den eigenen Leuten nicht gefunden. Der Frost war jetzt bestimmt so stark, daß jedes Thermometer geplatzt wäre, Um nicht zur Eissäule zu erstarren, ging das Mädchen zu der kleinen Pyramide und begann die Steine abzutragen. Hätte sie doch wenigstens Handschuhe mitgenommen! Ihre Hände wurden augenblicklich stocksteif. Die Steine waren schwer, und auch das Atmen bereitete ihr Mühe. Sie befand sich immerhin in fünf Kilometern Höhe das war nur etwas für Alpinisten. Doch Alissa wußte, daß sie nicht aufhören durfte. Der Frost wartete nur darauf, daß sie aufgab. Endlich hatte sie sich an die Kugel herangearbeitet. Alissa nahm sie in die Hände; sie war bereits eisig, wirkte schwer und glatt. Nun mußte sich das Mädchen an den Abstieg wagen. Doch die Berge wollten kein Ende nehmen. Die Hände waren steifgefroren, die Kälte drang ihr bis ins Mark. Zu allem Überfluß kam Wind auf und peitschte ihr schmerzhaft ins Gesicht. Wie gern hätte sich Alissa in den Schnee gesetzt und ein bißchen geschlafen. Aber ihr war klar, daß sie das auf keinen Fall durfte. Und wenn sie's doch tat, nur für eine Minute? Sie kauerte sich nieder ... Plötzlich merkte sie - schon im Einschlafen -, daß jemand gar nicht weit von ihr ein Feuer anzündete. Holz knisterte, es roch nach Rauch. Alissa sagte sich, das müsse ein Traum sein, freilich ein sehr angenehmer. Doch da hörte sie von fern eine Stimme: »Das darfst du nicht, so erfrierst du.« Sie fühlte sich von kräftigen Armen hochgehoben und öffnete mühsam die Augen. Nein, das war kein Traum. Ein Bursche mit kurzem, rötlichem Bart hielt sie in den Armen. Er war in Schafpelz und hoher Fellmütze - an den Füßen trug er Filzstiefel. Hinter ihm aber, im Schnee, stand ein gewöhnlicher russischer Ofen mit einem Rohr, aus dem Rauch quoll. Der Bursche setzte Alissa auf den Ofen, öffnete das Türchen, legte ein paar Holzscheite nach, und die Flammen knisterten noch lustiger. Dann kletterte auch er auf den Ofen und sagte: »Fahren wir, mein Alter!« Der Ofen ruckte an, hob sich langsam in die Luft und begann über dem Schnee dahinzuschweben, den Abhang hinunter. »Danke«, sagte Alissa, »noch ein paar Minuten, und ich wäre erfroren.« »Das stimmt«, erwiderte der junge Mann. »Dich haben nur wenige Augenblicke vom Tod getrennt. Bist du von deinen Leuten vergessen oder absichtlich zurückgelassen worden?« »Ich wollte es so.« »Na, wenn's aus freien Stücken war. Ich hab nur gesehn, daß da was vom Himmel herunterkam. Zuerst dachte ich, der böse Frost Timofejewitsch will mich holen, und ich hab mich versteckt. Dann aber sah ich, daß sie wieder abflogen. Da sagte ich mir: Wozu sind sie hergekommen, wenn sie doch wieder abfliegen? Ich bin losgefahren, um nachzuschauen, und so fand ich dich, kurz vor dem Erfrieren.«
»Ich weiß, wer du bist!« rief Alissa aufgeregt. »Du bist der dumme Iwanuschka, der auf seinem Ofen durch die Gegend fährt und eine Prinzessin geheiratet hat. Ich hab es früher gelesen, als ich noch kleiner war.« »Du kannst einfach Wanja zu mir sagen«, antwortete der Bursche. »Was mich betrifft, so hast du recht, nur das mit der Prinzessin stimmt nicht.« Der Ofen wär mittlerweile den Hang hinabgeglitten in ein enges Tal und blieb vor dem Eingang einer großen Höhle stehen. »Mach dich klein«, sagte Wanja, und der Ofen fuhr ins Höhleninnere, wo er in einem großen Raum an der Wand zum Stehen kam. Das Holz in seinem Feuerloch brannte nun stärker und erhellte die ärmliche Ausstattung des Raumes. Es gab hier einen Tisch, Bänke, ein paar Regale mit Hausrat und auf dem Fußboden Felle. Dort saßen zwei kleine Jungen, die Alissa erstaunt anstarrten. Eine hübsche junge Frau in langem Kleid, das mit Pelz und Posamentenstickerei verziert war, kam aus dem Dunkel und sagte: »Sei willkommen, Mädchen. Bringst du vielleicht eine Nachricht von meinem Vater?« »Ich kenne Ihren Vater nicht«, erwiderte Alissa. »Ich selbst stamme auch nicht aus der Märchenepoche, sondern aus der Zukunft. Sind Sie eine Prinzessin?« »Ich hab dir doch gesagt, daß ich's nicht mit Prinzessinnen halte«, sagte Wanja und sprang vom Ofen. »Das ist Schneeflöckchen, meine Frau.« »Sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft ZU machen«, antwortete Alissa. Sie wußte zwar, daß sie eigentlich gleichfalls hätte vom Ofen klettern müssen, doch ihre Augen fielen wie von selbst zu. Müdigkeit und Wärme hatten sie umfangen, und sie bemerkte nicht, wie sie einschlief.
21. Wohin mit der Kugel? Als Alissa die Augen aufschlug, glaubte sie, zu Hause zu sein und gleich zur Schule zu müssen. Doch dann hörte sie das Blubbern von Brei im Topf auf dem Ofen, Kinderlachen und Löffelklirren. Schneeflöckchen deckte den Tisch. »Guten Morgen!« sagte Alissa. »Na, bist du aufgewacht?« erwiderte Schneeflöckchen. »Komm, frühstücke mit uns.« »Danke.« Schneeflöckchen stellte einen Teller Brei vor Alissa hin, gab ihr einen Löffel und sagte: »Wir sind nicht reich, du darfst es uns nicht verübeln.« »Danke«, sagte Alissa ein zweites Mal, »haben Sie denn schon gegessen?« »Die Kinder sind fertig, ich selbst aber brauche keine warmen Speisen. Im Gegenteil, sie schaden mir.« »Und weshalb leben Sie hier?« erkundigte sich Alissa. »Aus Liebe«, antwortete Schneeflöckchen. »lwanuschka hat sich, kaum daß er mich sah, so in mich verliebt, daß er sogar darauf verzichtete, sich nach einer Prinzessin umzusehen. Doch mein Vater, Frost Timofejewitsch, war gegen unsere Liebe. Um so mehr, als gerade der Frühling begann und wir weiterziehen mußten, um nicht wegzutauen. Da hat mich Iwanuschka auf seinen fahrenden Ofen gesetzt und ins Himalaja Gebirge gebracht. Hier herrscht ewiger Frost, und auch der Zorn meines Vaters kann uns nicht erreichen.« »Aber habt ihr denn keine Langeweile?« fragte Alissa. »Wieso Langeweile?« Schneeflöckchen setzte sich zu Alissa an den Tisch, stützte den Kopf auf die zierliche weiße Hand und verzog lächelnd die roten Lippen. »Iwanuschka, hat meinetwegen auf alles verzichtet, er gibt es nicht zu, sehnt sich aber sehr nach dem Wald und den Flüßchen seiner Heimat. Trotzdem verläßt er mich nicht. Wir sind glücklich zusammen. Die Kinder wachsen heran, ich kümmre mich um die Wirtschaft; auch wenn sie klein ist - zu tun gibt's genug. Wir gehen auf Jagd, müssen auch hinunter ins Tal, um Holz und Gemüse zu holen. Keine Zeit also für Langeweile ... Aber jetzt erzähl doch du mal, weshalb sie dich in den Bergen zurückgelassen haben. Wem warst du im Wege?« »Ich hatte etwas Wichtiges zu erledigen ... «, begann Alissa, schon im nächsten Augenblick durchzuckte es sie: Wo war die lila Kugel? Sie suchte den Platz neben.sich ab, sprang auf, stürzte zum Ofen. »Hier war eine Kugel«, sagte sie, »eine lila Kugel. Haben Sie sie weggenommen?« »Wir brauchen nichts -von Fremden«, antwortete Schneeflöckchen. »Aber vielleicht spielen die Kinder damit. Sie besitzen ja kaum Spielzeug, da nehmen sie, was ihnen in die Finger kommt. Hab nur keine Angst, sie geben sie wieder zurück.« »Aber die Kugel ist äußerst gefährlich!« rief Alissa und rannte aus der Höhle. Hell funkelte der Schnee, am tiefblauen Himmel schien die Sonne. Unweit der Höhle tollten Schneeflöckchens Kinder und benutzten die lila Kugel als Ball. »Gebt sie sofort her!« schrie Alissa und erschauerte vor Kälte. Die Jungs freuten sich, denn sie glaubten, das fremde Mädchen wolle mit ihnen spielen. Als Alissa bei ihnen war, warfen sie sich die Kugel gegenseitig zu, damit das Mädchen sie nicht zu fassen bekam. Alissa stellte sich voller Entsetzen vor, daß die Kugel vielleicht schon im nächsten Augenblick gegen einen Stein prallte und zerbrach. Da kam Iwanuschka den Hang herauf. Er schleppte ein großes Stück Holz auf der Schulter. Einer der jungen rannte ihm entgegen. »Halten Sie ihn auf«, rief Alissa, »das ist gefährlich!« »Ach wo«, Iwanuschka lächelte, »mein Petenka ist ein flinkes Kerlchen, der tut sich nicht gleich was.« »Ihr versteht aber auch gar nichts«, Alissa schossen die Tränen in die Augen, »kein bißchen versteht ihr!« Die Tränen verschleierten ihr den Blick, und plötzlich glaubte sie ein Staubkorn ins Auge bekommen zu haben. Doch was da am blauen Himmel als kleiner schwarzer Punkt auftauchte und zusehends näher kam, war kein Staub. Schon eine Minute später entpuppte er sich als fliegender Teppich, der freilich ein bißchen schlingerte und in Luftlöcher fiel. Auf dem Teppich saßen eng aneinandergedrängt Alissas Freunde. »Hallo, Zauberer«, rief Alissa, »beeil dich!«
Nun sah auch Iwanuschka die Gäste. »Du meinst, sie kommen zu dir?« fragte er. »Vielleicht gehören sie zu Frost Timofejewitsch, und ich muß mich verstecken.« »Keine Angst, die kommen nicht deinetwegen«, beschwichtigte ihn Alissa und rannte zum Teppich, der inzwischen gelandet war. Gromoseka richtete sich auf seinen Elefantenbeinen auf; er hatte die lila Kugel in den Händen des kleinen Jungen entdeckt. »Alissa«, sagte er vorwurfsvoll, »ich hatte dir doch eingeschärft, gut auf die Kugel aufzupassen. Dir kann man wirklich nichts ernsthaft anvertrauen!« Er streckte gebieterisch einen seiner Fangarme aus, und Petenka gab ihm die Kugel vor Schreck auf der Stelle zurück. Gromoseka steckte sie in die Tasche. »Ich hab ja schon alles mögliche gesehen«, sagte mit bebender Stimme Iwanuschka, »so ein Schreckgespenst aber noch nie.« Er legte das Holz im Schnee ab und nahm seine kleinen Söhne schützend in die Arme. »Ihr braucht euch nicht zu fürchten«, sagte Alissa, obwohlsie sich ein bißchen über Gromoseka ärgerte - man konnte meinen, nicht sie, sondern der Archäologe habe in den Bergen sein Leben riskiert, um an die Kugel heranzukommen, »das sind meine Freunde.« »Deine Freunde?« sagte Iwanuschka. »Gut, dann bitte ich sie zu mir nach Hause. Über Gäste freuen wir uns immer.« Drei Minuten später saßen die völlig durchfrorenen Reisenden in der Höhle. Der Rabe Durinda kletterte auf den Ofen und jammerte laut, daß er unter Garantie eine Bronchitis bekäme. Iwanuschka und Schneeflöckchen besaßen kaum Lebensmittelvorräte, und so sagte der Zauberer Ooch lediglich, sie sollten den Tisch eindecken, um das übrige kümmere er sich selber Man kann sich vorstellen, was für herrliche Speisen kurz darauf auf dem Tisch standen. Gerassik stürzte sich so übers Essen her, daß seine Ohren wackelten, aber auch die Jungen von Iwanuschka standen ihm nicht nach. Nur Gromoseka, der normalerweise einen guten Appetit hatte, nahm kaum etwas zu sich. Er dachte nach. »Über das Wichtigste«, sagte er schließlich, »haben wir uns in der Aufregung gar keine Gedanken gemacht.« »Und das wäre?« fragte Alissa. »Wie wir die Kugel wieder loswerden.« »Wir nehmen sie einfach mit, dann kann Papa sie unschädlich machen«, schlug Alissa vor. »Das gefällt mir nicht«, erwiderte Gromoseka. »Wir haben ja schon eine Kugel in der Zukunft. Das könnte zu einem ziemlichen Durcheinander führen.« »Vielleicht sollten wir sie vergraben ... «, sagte Alissa, verstummte aber sofort. Was konnte das nützen. Die Kugel würde trotzdem explodieren und den Virus freisetzen. »Und wenn wir sie einfach wegwerfen?« schlug der Zauberer Ooch vor. »Wie denn wegwerfen?« Gromoseka verstand nicht. »Auf den Mond zum Beispiel« sagte Ooch und lächelte in seinen Bart. »Ein solcher Vorschlag ist nur durch absolute Unwissenheit zu erklären«, Gromoseka seufzte. »Sie haben ja keine Ahnung, wie viele Kilometer es bis zum Mond sind.« »Außerdem würde eure Kugel gegen den Himmel prallen und wieder zurückfallen«, fügte Gerassik hinzu, der sich gerade mit einem Steinmesser ein Stück gebratene Pute einverleibte. »Die Entfernung ist kein Problem«, erwiderte der Zauberer. »Fast hätte ich mal einen Dschinn zum Mond geschleudert, und eure Kugel ist viel leichter.« »Klar schafft er das!« rief der Rabe Durinda vom Ofen. »Bei ihm geht das ja nicht mit Kraft, sondern durch Zauberei.« »Also nein«, Gromoseka breitete resignierend all seine Fangarme aus, »da komme ich wirklich nicht mehr mit. Eure Märchen hängen mir langsam zum Hals heraus.« »Wenn Ooch sagt, er kann es, dann kann er es auch«, widersprach Alissa, die an Märchen glaubte. Sie bedankten sich bei der Hausfrau und verließen die Höhle. »Aber wo ist der Mond?« fragte Gerassik. »Ich sehe keinen Mond. Wir müssen warten, bis es Nacht wird.« »Das spielt keine Rolle«, antwortete der Zauberer. »Ehe die Kugel dort ist, hat der Mond seine Position erreicht.«
Alissa musterte den Zauberer erstaunt - ganz offensichtlich wußte er mehr, als es einem gewöhnlichen Vertreter seiner Gattung zukam. Der Zauberer nahm die Kugel zur Hand, krempelte den Ärmel seines blauen, mit Sternen bestickten Mantels hoch und wollte schon mit seinem dünnen Greisenarm ausholen, als Alissa ihm mit einem Ausruf Einhalt gebot. »Nicht werfen!« rief sie. »Das dürfen wir nicht!« »Aber warum denn nicht?« fragte,Ooch. »Weil es auf dem Mond Leute gibt: Expeditionen, besiedelte Gebiete, eine ganze Stadt!« »Das macht nichts«, erwiderte Gromoseka, »die haben alle Skaphander.« »Und wenn der Virus dennoch Schaden anrichtet?« »Entscheidet euch endlich«, sagte der Zauberer und zog die Nase hoch, »ich krieg sonst Schnupfen.« »Ich weiß wirklich nicht, was wir tun sollen«, meinte Alissa. »Na ja«, sagte der Zauberer, »wenn ich ein bißchen kräftiger aushole, kann ich die Kugel auch weiter werfen.« Und noch ehe jemand etwas erwidern konnte, holte er Schwung und schleuderte die Kugel in die Höhe. Die Kugel stieg, an Tempo gewinnend, immer höher, verschwand schließlich ganz aus dem Blickfeld, und nur eine weiße Spur, ähnlich der eines Düsenflugzeugs, blieb am blauen Himmel zurück. »Oje, was haben Sie gemacht!« sagte Alissa erschrocken. »Was ist schon Schlimmes dabei«, erwiderte Ooch. »Die Sonne ist so heiß, daß kein einziger Virus auch nur eine Sekunde dort überleben könnte.« »Was denn, Sie haben die Kugel zur Sonne geworfen?« »Unsereins hat stets noch etwas Pulver in Reserve«, antwortete der Zauberer bescheiden. »Pulver?« fragte Gerassik. »Was soll das sein?« »Etwas, das noch nicht erfunden ist, mein Junge«, erwiderte Ooch. »Dann werde ich es erfinden«, sagte Gerassik.