Boris Strugatzki Die Ohnmächtigen
Inhalt Erstes Kapitel September. Wadim Danilowitsch Christoforow, genannt Resulting ...
338 downloads
1177 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Boris Strugatzki Die Ohnmächtigen
Inhalt Erstes Kapitel September. Wadim Danilowitsch Christoforow, genannt Resulting Force 9 Lyrische Abschweifung Nr. 1 Timofej Jewsejewitschs Vater 32 Zweites Kapitel Dezember. Zweiter Montag. Juri Georgijewitsch Kostomarow, genannt Polygraf Polygrafowitsch Lyrische Abschweifung Nr. 2 Thälmann Iwanowitschs Vater 62
34
Drittes Kapitel Dezember. Immer noch zweiter Montag. Klein Motowilowo 68 Lyrische Abschweifung Nr. 3 Der Chefarzt, Sohnemanns Papachen 99 Viertes Kapitel Dezember. Mittwoch. Die Nacht des Patriarchen Fünftes Kapitel Dezember. Donnerstag. Robert Valentinowitsch Patschulin, genannt Festplatte 128 Lyrische Abschweifung Nr. 4 »Jemandes Tochter« und ein wenig Statistik 155
103
Sechstes Kapitel Dezember. Derselbe Donnerstag. Grigori Petelin, genannt Giftzahn 159 Lyrische Abschweifung Nr. 5 Giftzahns Vater oder Große Kinder, große Sorgen 183 Siebtes Kapitel Dezember. Freitag. Etliche vorbereitende Maßnahmen Achtes Kapitel Dezember. Immer noch Freitag. Die Mannschaft ist beisammen
187
210
Neuntes Kapitel Dezember. Samstag. Ein geschlossener Bruch
234
Zehntes Kapitel Sonntag. Finale 266 Lyrische Abschweifung Nr. 6 Das Leben geht weiter 296 Elftes Kapitel Dezember. Dritter Montag. Überhaupt keine Zeit mehr 302
Welch Wunder, ist die Sternenpracht der Nacht allein für uns gemacht von einem Schöpfer und Bewahrer. Wenn aber all das ringsumher von selbst entstanden ist, das wär noch wunderbarer! Alexander Kuschner Es wird die Geschichte eines Wundertäters, der in unserer Zeit lebt und keine Wunder tut. Er weiß, daß er ein Wundertäter ist und alle möglichen Wunder tun könnte, aber er tut es nicht. Daniil Charms
Erstes Kapitel September. Wadim Danildwitsch Christofdrdw, genannt Resulting Force »Heute nacht hab ich von meinem toten Vater geträumt«, teilte Timofej Jewsejewitsch mit äußerst besorgter Stimme mit. »Also? Irgendwas Schlimmes wird auf jeden Fall passieren ...« Wadim schaute ihn ohne jedes Interesse an und vertiefte sich wortlos wieder in die Berechnung der gewichteten Mittelwerte. Er mußte noch die beiden letzten Beobachtungsreihen bearbeiten, und Timofej Jewsejewitsch Syschtschenko benötigte keinerlei Antworten oder gar Kommentare. Er reinigte wieder einmal den Spirituskocher. Das Gerät wurde mit Benzin betrieben, es lief lautlos, war nagelneu (ein Wunder der Konversion von Raketentechnik) und verschmutzte daher besonders gern. Staatseigentum. Die Hitze zog schon herauf. Das Lüftchen, das gegen Morgen aufkommen wollte, war ganz erstorben, der Tag versprach drükkend heiß zu werden, schweißtreibend und ermüdend. Der Himmel war klar, völlig wolkenlos, aber fern am Horizont im Osten und im Westen waren der Bermamyt und der Dolch in grauen Dunst gehüllt, als habe dort jemand insgeheim unsichtbare Lagerfeuer entfacht. Wadim beendete die Arbeit an den nächtlichen Beobachtungen, packte die Unterlagen in die Mappe und blickte zum Elbrus, der geisterhaft, fast durchsichtig vor einem weißlich klaren Himmel stand, und aus irgendeinem Grund fiel ihm plötzlich ein, daß er schon lange nichts mehr ins Tagebuch geschrieben hatte. Er ging zum Kommandeurszelt hinunter, kramte das Tagebuch unter dem Nachtzeug hervor und setzte sich wieder ans Tischchen. Er blätterte. Blieb an einem Eintrag hängen. Begann zu lesen. 14.8. ... Der Bergrücken ist nicht übel, er ähnelt irgendwie den Bergketten auf dem Mond. Der Elbrus steht schrecklich und fremdartig unter den Wolken. Unser Charbas aber ist mit kurzem Gras und mickrigen blauen Blümchen bewachsen. Es fliegen Hummeln umher und klammern sich gierig und grob an diesen Blümchen fest, als wollten sie sie auf der Stelle vergewaltigen.
Am Morgen ertönten plötzlich Flügelrauschen und ein verzweifelter Schrei. Ein Schatten schoß vorüber, und unter dem Wagen verkroch sich ein zu Tode erschrockenes Vöglein. Wie sich herausstellte, handelte es sich um den mißglückten Angriff eines Falken ... ... Tengis hat gesagt, daß man nicht lange in Kontakt mit Gott bleiben kann, ohne den Verstand zu verlieren. Ich glaube, das steht bei Umberto Eco. Oder doch nicht? Egal. Es klingt jedenfalls stark ... Drauf, daß wir noch immer leben, Daß sie uns die Löhnung noch geben, Und daß hier die Berge beben Und Frühnebel kriechen naß. Nur steile Wege Und das Felsgeröll am Paß. Die Wolken ziehn träge Um Dolch, Bermamyt, Charbas ... 16.8. Der Kommandeur braucht nur wegzufahren, und schon passiert unweigerlich etwas. Das Lager ist von Kühen überfallen worden. Ein kräftiger grauer Bulle hat angefangen, sich mit donnergleichem heiseren Gebrüll an der Antenne zu reiben, und hat augenblicklich das Gegengewicht abgerissen. Die Kühe kamen heran, stellten sich in einer Reihe auf und glotzten stumpfsinnig das Lager an. Der Bulle war so großmächtig, daß ich mich zuerst feige im Zelt verkriechen wollte, in der Hoffnung, daß sich alles irgendwie von selber einrenkt. Aber der Bulle lud noch drei Kühe ein, sich an der Antenne zu scheuern (offensichtlich seine liebsten), und sie fingen an, direkt neben meinem Ohr geräuschvoll zu pissen, während die ganze Herde geradewegs aufs Lager zukam. Da habe ich fieberhaft das Gewehr geladen und bin losgegangen, den Hirten suchen. Da war natürlich weit und breit kein Hirte. Also bin ich zurückgegangen (die Kühe waren inzwischen nahe heran) und habe den Bullen angeschrien: »U-hu!« und mit den Armen vor ihm gefuchtelt. Der Bulle antwortete »U-u!« und tat einen Schritt vorwärts. Ich bin zitternd hinters Kommandeurszelt gelaufen und habe von dort aus die Kühe angeschrien: »Verschwindet - fort mit euch, fort!« Die Kühe zuckten nur abfällig. Da ging mir ein Licht auf. Ich nahm ein Tau, begann damit zu knallen und zu schlagen und rief »U-hu!«, aber nur an die Kühe gewandt. Die Kühe, halt bloß Frauen, zuckten zusammen und begannen
zurückzuweichen. Der Bulle wußte mein Feingefühl zu schätzen und begann lässig ebenfalls mit dem Rückzug, wobei er unterwegs mit den Kühen flirtete. Dann gingen sie alle weg. Moral: Schrei niemals den Chef an - schrei die Untergebenen an und warte geduldig, bis der Chef mitkriegt, was Sache ist und wie er sich verhalten soll... 18.8. ... Im Zelt war es dunkel. »He, Hausherr«, rief ich halblaut. Niemand antwortete. Ich hockte mich hin und tastete mit der Hand umher. Ich fand einen Fuß im Stiefel und zog daran, und zwar möglichst sacht. Der Fuß ruckte in meiner Hand und lag dann wieder reglos. »Heda!« rief ich und erfaßte schon, erriet schon, daß die Sache faul war. Der Mann im Zelt schwieg. Und plötzlich merkte ich, wie sich in mir Kälte ausbreitete. Der Mann atmete nicht. Ich langte in die Tasche der Wattejacke und schnippte mit dem Feuerzeug. Der Wind ließ das bläuliche Flämmchen zittern, aber ich konnte den Mann zur Gänze sehen. Er lag auf dem Rücken, ausgestreckt, die Hände kraftlos neben den Körper gelegt, und schaute mit halb offenen Augen zum niedrigen Zeltdach. Sein Gesicht war zerschlagen und das Blut zu schwarzen Flecken getrocknet, und schwarze Flecken waren auf den großen, breiten Handflächen geronnen ... Wadim las nicht weiter. Er änderte nur >zum niedrigen Zeltdach< in >zum durchhängenden Zeltdach< und überblätterte gleich mehrere Seiten. 20.8. Nachts hat ein Orkan getobt. Plötzlich ging der Spirituskocher aus, etwas zerrte am Zelt und etwas stürzte auf mich. Es hatte zwei Heringe herausgerissen. Fortgeweht hatte es den Tisch 10 Meter weit, den Deckel der Kasserolle 20 Meter und die Suppenschüssel 50 Meter ... Eben ging mir durch den Kopf: Jede alternative Variante der Geschichte enthält mehr soziale Entropie als die real geschehene. Oder mit anderen Worten: Die Geschichte entwickelt sich derart, daß die soziale Entropie nicht anwächst. Der zweite Hauptsatz der Klio. (Und was ist mit den Finsteren Zeiten? Die Tschings-Chans, Tamer-lans, Attilas? Das sind Mikroräume der Geschichte, Mikrofluktua-tionen. Und überhaupt,
wer weiß: Wenn Temudschin als Kind an Diphtherie gestorben wäre, wäre an seine Stelle vielleicht jemand getreten, der gleich die halbe Welt in Brand gesetzt hätte ...) 21.8. Wieder allein. Ich kämpfe wie ein Löwe mit den Kühen. Bei jeder fortlaufenden Kuh ist der Schwanz ausgestreckt, das Schwanzende aber bleibt locker und schwingt hin und her. Es sieht aus, ab ob die Kuh einem spöttisch Winke-winke macht. Man muß festhalten: Das schrecklichste Tier auf der Welt ist die Kuh. (Hunter hat unrecht: Er hält den Leoparden dafür - was für ein Unsinnl) Ich wurde vernichtend geschlagen. Das Gegengewicht haben sie zweimal abgerissen, der Funk ist tot. Zweimal ist es mir gelungen, den Bullen zum Rückzug zu zwingen, aber beim dritten Mal kam er von Westen und tauchte plötzlich hinter meinem Rücken auf, und da stand er, drei Schritte von mir entfernt. Er scharrte mit dem Huf, senkte die Hörner und riß mit heiserem Brüllen das Maul auf - offensichtlich stieß er dreckige Flüche aus ... Der letzte Eintrag lag eine Woche zurück. 29.8. Ich sitze allein da. An der Kiste lehnt ein Knüppel, daneben habe ich eine Pyramide von handlichen Steinen aufgeschichtet. Auf dem Psychrometer liegt ein Katapult mit einem Vorrat an Geschossen. Ich erwarte den Feind, aber der Feind ist von der Hitze derart außer sich, daß er nicht einmal herandrängt - er scheuert sich nur wie wahnsinnig am topographischen Meßpunkt dritter Ordnung ... Er nahm den Füller, warf abermals einen Blick auf den Elbrus, um Inspiration zu schöpfen, und begann zu schreiben: »Nun ist wieder eine Woche vergangen«, schrieb er. »Es war keine üble Woche - heiß und ohne Regen mit Hagelschauern. Frühmorgens allerdings fällt schon Reif aus, und die Nase friert, wenn man sie aus dem Schlafsack steckt. Die Zeit vergeht, aber ich habe überhaupt keine Lust, Aufzeichnungen zu machen. Wir sitzen auf dem Charitas, jetzt zusammen mit Timofej. Jeden Tag ein und dasselbe. Aufstehen, Erbsensuppe essen und - zum x-ten Male alte Tagebücher durchlesen. Und natürlich Diskussionen über alles mögliche, die in persönliche Angriffe übergehen. Dann der Abend, wir machen den Spirituskocher an, entzünden eine Kerze
und - Schach, Kakao und wieder Diskussionen über alles mögliche, die in persönliche Angriffe übergehen. Timofej ist ein sonderbarer Mensch. Der Kommandeur hat mal (mit nachdenklicher Stimme) über ihn gesagt: >Mit wie vielen S beginnt wohl das Wort „Syschtschenko"? ...«<* * Im Familiennamen Syschtschenko klingen mehrere ähnliche russische Wörter an, die mit einem doppelten S beginnen (ssy...), aber nur ein entsprechender Wortstamm beginnt mit einem S man denkt daher sofort an >syschtschik<, was »Fahnden oder >Spitzel< bedeutet. Der sonderbare Mensch Timofej ließ sich vernehmen: »Beehren Sie uns mit Ihrer Aufmerksamkeit. Empfangen Sie Gäste. Lange nicht gesehene.« Wie sich zeigte, war Mahomet zu Besuch gekommen. In seiner ganzen schmuddeligen, unrasierten, wilden, krummnasigen Pracht, die Timofej Jewsejewitsch in heilsamen, urwüchsigen Schrecken versetzte. Diesmal saß er elegant zur Seite geneigt im Sattel und hielt in der rechten Hand einen Emaille-Eimer, und zwar, wie sich alsbald herausstellte, mit Fleisch. Genauer, mit Hammelfleisch. »Das schickt die Obrigkeit«, erklärte Mahomet, während er das Pferd zum Stehen brachte und den Eimer Wadim überreichte. Wadim nahm den Eimer und rief: »Timofej Jewsejewitsch. Seien Sie so gut.« Timofej kam hinter dem Küchenzelt hervorgestürzt, griff sich den Eimer und verschwand sofort wieder auf seinem Territorium warf nur unter verwilderten Augenbrauen hervor einen kurzen wachsamen Blick auf Mahomet. Mahomet, sehr zufrieden mit dem Eindruck, den er machte, ließ zwei Reihen stählerner Zähne blitzen und sagte ihm hinterher: »Gib den Eimer zurück, ja?« Wadim schlug vor: »Steig ab. Laß uns ein wenig beisammensitzen.« »Danke, ich sitze schon den ganzen Tag«, antwortete Mahomet auf die ihm eigentümliche Art. »Wir trinken ein Teechen«, beharrte Wadim. »Danke. Ich muß weiter. Die Obrigkeit. Du erwartest Gäste?«
»Gäste? Wo sollen die denn hier herkommen. Ich erwarte niemanden.« »Und wo ist der Kommandeur?« »Auf Erkundung. Er kommt gegen Abend wieder.« Timofej Jewsejewitsch tauchte wieder neben ihnen auf; nun schon mit dem geleerten Eimer. Mahomet nahm den Eimer entgegen, warf ihn in der Hand hoch, schaute rechts, schaute links und sagte beiläufig: »Du erwartest also keine Gäste?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, ritt er fort. »He, Mahomet! Wann holt ihr den Stier hier weg?« rief ihm Wadim hinterher. Mahomet drehte sich halb um und ließ sich belehrend vernehmen: »Das ist ein übler Stier. Du nimmst einen Stein und schlägst ihm damit zwischen die Hörner. Mit ganzer Kraft. Etwas anderes versteht er nicht. Ein übler Stier. Nimm einen großen Stein - und zwischen die Hörner ...« »Eine originelle Lösung«, sagte Wadim in seinem Rücken. »Das wird unser Leben verbessern.« Mahomet wandte sich nicht mehr um. Sich leicht im Sattel wiegend, ritt er den Hang hinunter - ganz ohne Straße, übers Geröll, nach Norden, auf den von blaugrauem Dunst umgebenen kahlen Berg zu, der nicht nur für seinen bezaubernden Namen >Schwiegermutterzähne< berühmt war, sondern auch für eine Serpentinenstraße, deren einheimische Bezeichnung übersetzt >Seelenverderbnis< lautete. Timofej Jewsejewitsch meldete sich zu Wort: »Elendes Fleisch«, sagte er zänkisch. »Was soll ich damit machen? Wir werden uns daran die letzten Zähne ausbeißen.« »Machen Sie ein Chartscho«, schlug Wadim vor. »Naja ... Chartscho ... Chartscho ist ungesund.« »Na, dann machen Sie eine Hammelbrühe. Mit Knoblauch. Und Makkaroni. Schlafmittel und Abführmittel in einem. Nicht nur ungesund, sondern auch wohlschmeckend.« Timofej Jewsejewitsch erwiderte darauf nichts, begann nur, tatkräftig mit irgendwelchen von seinen Tellern und Pfannen zu klappern, und dann sang er plötzlich mit dünner Stimme:
Wie soll ich nicht singen, nicht vor Freude springen, Wenn's in meiner Hütte doch glänzt auf allen Dingen? Die drückende Hitze war endgültig da und stand jetzt ringsum, über dem Osthang stieg und zitterte die Luft, und plötzlich erschienen dort lautlos, als schwebten sie durch dieses Zittern, gefleckte Kuhleiber, Hörner, wedelnde Schwänze, speicheltriefende Mäuler. Wadim, der im Sessel döste, verfolgte sie mit Augen, die es immer stärker zuzog. Timofej Jewsejewitsch aber tönte immer noch traurig und ohne Unterlaß: Mäuschen auf dem Ofen schlägt die Zimbeln fein, Spinnchen an der Wand webt sich in Spitze ein. Wie soll ich nicht singen, nicht vor Freude springen, Wenn's in meiner Hütte doch glänzt auf allen Dingen? Dann unterbrach er sich abrupt und sagte, als wundere er sich: »Kommen da unsere?« Sogleich wurde Wadim munter und lauschte. Es war nichts zu hören außer dem Zischen des Kochers. »Ausgeschlossen«, sagte er. »Woher? Es ist noch nicht einmal zwei.« »Aber ich sag Ihnen, daß ich was höre. Ein Auto kommt. Von dort.« Abermals lauschte Wadim. Da schien es tatsächlich irgendwelche fremden Geräusche zu geben, aber das wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein, und aus Aberglaube und purem Starrsinn sagte er: »Das ist doch ausgeschlossen. Er hat doch klipp und klar gesagt: Nicht vor neunzehn Uhr, eher später.« »Gut, gut«, stimmte Timofej Jewsejewitsch leichthin zu. »Meinetwegen ...« Er stand inmitten seiner Wirtschaft (Kocher, Teller, Schüsseln, Gabeln und Löffel, Eimer, Kanister), hatte beide Hände als Sonnenschirm an die Stirn gelegt und blickte nach Süden, zur Straße hin. Zugestimmt hatte er aus dem einzigen Grund, daß er sich völlig sicher war, recht zu haben. Und je sicherer er sich war, umso leichter stimmte er zu. Der Gegner sollte selbst, persönlich, ohne weitere Argumente und seine, Timofejs, Anstrengungen einsehen, daß er sich blamiert
hatte. Das war bei Timofej Jewsejewitsch die hohe Schule der Diskussionsführung. Zu jedem beliebigen Thema. Auf der Straße erschien hinter einem grünen Hügelchen hervor ein Autodach, und sogleich wurde klar, daß der große Dispu-tant und Sieger diesmal danebenlag - das Dach war schwarz, glänzend, luxuriös, in dieser Gegend völlig fehl am Platze: das Dach eines großen, teuren, sehr teuren, unanständig teuren Automobils. Dann erschien auch das Automobil selbst - kroch mit Mühe hinter dem Hügelchen hervor: schwarz, in der Sonne glitzernd, ein verbissen luxuriöser Jeep Grand Cherokee, ein Straßenkreuzer, bis in halbe Höhe in grauen getrockneten Schlamm gehüllt. Er kroch hervor und hielt sofort an, als traue er sich nicht weiter, blieb ein paar Sekunden lang reglos stehen, blickte mit allen seinen zwanzig Scheinwerfern, Nebelleuchten und Weitstrahlern starr geradeaus, und dann riß er auf einmal alle vier Türen auf und begann, ohne Eile und gleichsam widerwillig Passagiere auszustoßen. »Was sind das für welche?« erkundigte sich Timofej Jewsejewitsch. In seiner Stimme klang Furcht. »Ich weiß nicht.« »Und wieso hat Mahomet gesagt, daß Sie Gäste erwarten?« »Das hat er nicht gesagt.« »Aber ich hab's doch selber gehört!« entgegnete Timofej Jewsejewitsch mit Hysterie in der Stimme. Vom Jeep her kamen drei auf sie zu, und noch ein paar blieben beim Wagen, doch Wadim schaute nur auf jene drei. Genaugenommen schaute er nur auf den in der Mitte: ein feiner, nicht besonders großer, sehr ordentlicher Mann ganz in Grau, elegant, anscheinend sogar mit Spazierstock. Ein alter Bekannter. Er ging locker und zügig, im übrigen aber ohne Eile er ging, wie es ihm am bequemsten war, ging, um eine Sache zu Ende zu bringen, die schon in Petersburg begonnen, damals aber kein Ende gefunden hatte und die jetzt eines raschen und wirkungsvollen Abschlusses bedurfte. So gehen die energischen, sich jung gebenden Politiker vor den Objektiven der Fernsehkameras - entschlossen, nachdrücklich und zielstrebig.
Seine spitzen Stiefeletten glänzten aristokratisch im Sonnenlicht, hier in der Welt der groben Lederstiefel und der schmutzigen Sportschuhe völlig fehl am Platze. Links von ihm und einen halben Schritt zurück marschierte ein Schrank von einem Kerl, anderthalb Kopf größer, mit einer straff sitzenden Lederjacke und anscheinend glatzköpfig, vielleicht auch kahlrasiert. Wadim betrachtete ihn ebensowenig wie den dritten - einen kleinen, anscheinend ganz harmlosen, unbedeutenden, schmalschultrigen Mann mit einer Ledermütze auf dem großen Kopf und in einem braun-grünen Tarnanzug. »Ich kann partout nicht verstehen, was das für Leute sind ...«, murmelte Timofej Jewsejewitsch. »Wozu haben sie dort angehalten? Konnten sie nicht bis hier fahren? ...«, murmelte er, dazu noch etwas Halbverständliches, nun schon völlig verzweifelt. Die drei kamen zügig näher und waren schon fast heran. Der graue Bekannte winkte zur Begrüßung mit seinem Spazierstock, der überhaupt kein Spazierstock war, sondern eine Art schwarzer polierter Zeigestock, den er anscheinend immer bei sich führte. Von dem er sich nie trennte. Wie ein britischer Offizier von seiner Reitgerte. Das kräftige Nashorn ging rechts um das Wirtschaftszelt herum und blieb wer weiß warum neben Timofej stehen, überragte ihn wie der Golem, und jetzt sah man, daß er durchaus nicht kahlrasiert war, sondert wirklich glatzköpfig - mit einem Rest rotblonden Flaums über den Ohren und mit einem sommersprossigen Scheitel, auf dem sich längst kein Flaum mehr befand. Seine Visage war rund und unangenehm asymmetrisch, als leide er unter einem Zahngeschwür. Der Graue mit seinem zweiten Begleiter indes kam links um das Zelt und näherte sich Wadim mit den Worten: »Guten Tag, guten Tag, Wadim Danilowitsch. So treffen wir uns also wieder. Was habe ich Ihnen gesagt?« Wadim schaute zu, wie er sich lässig und elegant an den Tisch setzte (ganz ohne Einladung), die Beine übereinanderschlug, mit
der wippenden Stiefelette funkelte, mit seinem lackierten Stöckchen - einem schwarzen spitzen Zeigestock mit einer kleinen Kugel am Ende. »Sie sehen aus, Wadim Danilowitsch, als hätten Sie vergessen, wie ich heiße ... Oder haben Sie's nicht vergessen?« »Ich hab's nicht vergessen«, preßte Wadim zwischen den Zähnen hervor. »Wunderbar. Reden wir?« »Worüber?« »Na, immer noch darüber. Ist es Ihnen entfallen?« Wadim schwieg. »Soll ich Sie dran erinnern?« Wadim schwieg und musterte ihn unter den Augenbrauen hervor. Der Mann in Grau lächelte - das höfliche, unverbindliche Lächeln eines Salonlöwen, der ein unverbindliches Gespräch über das Wetter führt. Oder über Politik. Oder über Fußball. Das großköpfige Männchen im Tarnanzug setzte sich nicht, obwohl freie Stühle gleich daneben standen, gut zu sehen. Er lehnte sich mit dem Rücken an den Beobachtungspfosten und verschränkte seine dünnen Beine auf komplizierte Weise. Er lächelte ebenfalls, aber irgendwie zerstreut, als sei er in Gedanken weit weg und denke an etwas ganz anderes. Im Verein mit den reglosen kleinen Schlangenaugen wirkte dieses Lächeln seltsam und unangenehm. Die Hände hielt er in den Jackentaschen und wackelte dort, in den Taschen, immerzu mit den Fingern, als ob er dort in den Taschen etwas suche oder betaste. Das kräftige Nashorn aber ragte über Timofej empor wie ein Götzenbild - reglos, riesig, ungelenk, wie von innen aufgeblasen. Der arme Timofej Jewsejewitsch saß hingekauert unter ihm und wagte sich nicht zu rühren - seine Pupillen hatten die ganze Iris verdrängt und zuckten hin und her, erstickenden Kaulquappen ähnlich. »Was denn - haben Sie sich durch ganz Rußland hierherbemüht, um wieder über diese Dummheiten zu reden?« preßte Wadim zwischen den Zähnen hervor.
»Ich habe Ihnen gleich gesagt, daß unser Gespräch ernst ist. Sie haben es nicht ernst genommen, aber das ist Ihr Problem. Es gibt Leute, die das alles durchaus nicht für Dummheiten halten ...« »Da irren die sich eben. Ich habe Ihnen immerzu und unmißverständlich gesagt ...« »Stop. So kommen wir nicht weiter«, sagte der graue Mann mit sichtlichem Bedauern. Er hatte einen seltsamen Vor- und Vatersnamen: Erast Bonifatjewitsch. Es gab freilich keinen triftigen Grund zu der Annahme, daß er wirklich so hieß. »Lassen Sie uns ganz von vorn beginnen«, schlug Erast Bonifatjewitsch vor. »Sie wissen doch, wer zum Gouverneur gewählt wird?« »Mein Gott«, sagte Wadim und schloß demonstrativ die Augen. »Nicht >Mein Gott<, sondern antworten Sie einfach. Sie wissen es doch?« »Nun, nehmen wir an, ich weiß es.« »Nein, mein Lieber! Ganz ohne mehmen wir an<. Wissen Sie es oder nicht? Sie wissen es doch!« »Ich weiß es«, gab Wadim widerwillig zu. »Der General wird gewählt.« »Gott sei Dank! Endlich haben wir uns wenigstens in einem Punkt verständigt.« »Über gar nichts haben wir uns verständigt. Ich habe auch früher nicht bestritten, daß ich es weiß ...« »Eben! Genau darum geht es, Wadim Danilowitsch. Genau darum! Und jetzt Frage Nummer zwei: Woher wissen Sie das?« Wadim runzelte die Stirn. »Ja, das kann ich Ihnen nicht erklären! Woher wissen Sie, daß ... na, sagen wir: >Auf jeden Winter folgt ein Mai« »>Wir danken dafür der Partei.< Ein untaugliches Beispiel. Das wissen alle.« »Na, und das wissen auch alle. Daß der General gewählt wird. Zweifeln Sie etwa daran?« »In höchstem Maße.« »Sollten Sie aber nicht. In die Stichwahl kommen der General und der Sjuganow-Mann. Der General siegt. Zweimal zwei ist vier.« »Also ich bin überzeugt, daß der Intelligenzler gewählt wird.«
»Ja? Lesen Sie wenigstens Zeitungen? Wissen Sie, wo der Intelligenzler in den Umfragen steht?« »Das weiß ich. Aber gewählt wird der Intelligenzler, und Sie, Wadim Danilowitsch, werden dazu beitragen.« »Schon wieder! Ich habe Ihnen doch schon letztes Mal klipp und klar gesagt ...« »Was Sie mir letztes Mal gesagt haben, weiß ich durchaus noch. Und ich habe Ihnen damals klipp und klar erklärt, daß uns diese Antwort nicht im mindesten zufriedenstellt. Erinnern Sie sich?« »Was heißt >uns« »Wissen Sie das nicht? Uns. In Großbuchstaben: U-N-S.« »Ich verstehe nicht.« »Sie verstehen sehr gut. Spielen Sie nicht den Trottel. Man hat Ihnen alles schon gesagt, und zwar völlig eindeutig.« »Nichts hat man mir gesagt«, entgegnete Wadim starrsinnig. »Irgendein Ajatollah. Was hat ein Ajatollah damit zu tun? Wieso ein Ajatollah?« »Hören Sie auf, den Trottel zu spielen«, wiederholte Erast Bonifatjewitsch mit Nachdruck. »Ich spaße nicht.« Der Großköpfige hatte unterdessen eine Handvoll Nüsse aus der Tasche geholt und begonnen, sie eine nach der anderen sehr geschickt mit einer kleinen speziellen Zange zu knacken. Die Kerne warf er sich ohne hinzuschauen in den Mund, die Schalen ließ er ins Gras fallen. Das alles tat er völlig mechanisch - sein Blick war auf Wadim geheftet, ohne zu blinzeln. Doch er lächelte. Immer noch. Nur daß das Lächeln inzwischen schon ganz blaß geworden war, wie es bei einer stark unterbelichteten Fotografie vorkommt. »Sie, Wadim Danilowitsch, sollten lieber nicht schweigen«, ermahnte ihn Erast Bonifatjewitsch. »Ich werde Sie noch einmal daran erinnern und es Ihnen erklären, falls Sie mich tatsächlich nicht verstanden haben sollten: Das ist ein ernstes Gespräch. Also antworten Sie lieber.« Wadim löste die trockenen Lippen voneinander. »Was denn, glauben Sie etwa wirklich, daß ich die Zukunft machen kann?« »Ich glaube es nicht«, sagte Erast Bonifatjewitsch gewichtig. »Ich weiß es.«
»Aber das sind doch Hirngespinste«, sagte Wadim hilflos. »Hirngespinste sind das!« »Keineswegs. Uns ist wohlbekannt, daß Sie die Zukunft nicht nur sehen, sondern sie auch, wie Sie selbst es ausdrücken, >machen< können. Wir wissen das aus sehr zuverlässigen Quellen. Den zuverlässigsten, Wadim Danilowitsch!« »Hirngespinste«, wiederholte Wadim. »Verstehen Sie etwa nicht selber, daß das Hirngespinste sind? ... Sowas gibt es doch einfach nicht!« Und da ertönte unerwartet und darum besonders schrecklich der Aufschrei von Timofej Jewsejewitsch: »Wadim Danilowitsch! Sehen Sie sich vor! Täuschen Sie die Genossen nicht! Sie können es doch! Sperren Sie sich nicht, tun Sie, was die wollen ...« »Herrgott«, sagte Wadim und schaute ihn entsetzt an. »Worauf wollen Sie denn hinaus?« »Ich weiß doch alles!« Timofej Jewsejewitsch saß immer noch in der Hocke, als entleere er sich, und in dieser erbärmlichen Pose schrie er anklagend, schien vor Wut zu beben und streckte sogar anklagend die Hand in Wadims Richtung aus. »Ich sehe doch, wie Sie andauernd für uns Wetter machen! ... Er macht Wetter!« fuhr Timofej Jewsejewitsch fort, nun schon vertraulich an den grauen Erast Bonifatjewitsch gewandt, der jetzt mit seinem ganzen Wesen lebhaftestes Interesse für den Vorgang ausdrückte. »Er sagt es nicht vorher, nein-nein, er macht es! Schon die ganze Zeit. Wenn wir müde sind vom Beobachten Regen. Wenn wir mehr Beobachtungen brauchen - das schönste Wetterchen! Schauen Sie: Jetzt ist Herbst, aber wir hier haben Hitze, laufen ohne lange Hosen herum ... Er muß ja jetzt Beobachtungen machen, braucht klaren Himmel, er kann es jetzt nicht gebrauchen, wenn die ganze Nacht kein Stern zu sehen ist!« »Ich wüßte doch gern: Mit wie vielen S beginnt wohl das Wort >Syschtschenko« erkundigte sich Wadim mit heiserer Stimme, und der rotblonde Golem legte Timofej plötzlich die riesige Pranke auf den Kopf, und Timofej verstummte sofort, als habe man ihn mitten im Wort ausgeschaltet.
Es wurde still, und in dieser Stille resümierte Erast Bonifatjewitsch: »Volkes Stimme! Sperren Sie sich nicht, Wadim Danilowitsch, es hat keinen Zweck. Alle wissen alles über Sie. Dreiundneunzig waren alle durch die Bank überzeugt, daß die Demokraten gewinnen werden. Das ganze Sowjetvolk wie ein Mann. Nur Sie haben gesagt: Nein, Jungs, daraus wird nichts, sondern ihr kriegt Shirinowski. Und so kam es! Vierundneunzig waren alle überzeugt, daß es in Tschetschenien keinen Krieg geben wird, und nur Sie allein ...« »Was wollen Sie von mir? Das verstehe ich nicht«, sagte Wadim. »Halten Sie mich für einen Zauberer, was?« »Ich weiß nicht«, sagte Erast Bonifatjewitsch nachdrücklich. »Ich weiß es nicht und will es gar nicht wissen. Was wir wollen, ist, daß bei den Gouverneurswahlen der Mann gewinnt, den aus irgendeinem Grunde alle den Intelligenzler nennen, und wie Sie das machen, geht uns überhaupt nichts an. Zauberei? Bitte sehr, dann eben Zauberei. Magie, Verwünschungen, Telekinese Futu-rokinese sozusagen -, Gott befohlen. Überhaupt, behalten Sie Ihr Knowhow für sich, darauf sind wir nicht aus. Klar?« »Mir ist klar, daß Sie den Verstand verloren haben«, sagte Wadim langsam. Er stand plötzlich auf. »Gut«, sagte er. »Na schön. Gleich. Ich hole nur die Papiere ...« Er machte eine Bewegung zum Zelt hin, aber der elegante Erast Bonifatjewitsch schaute nicht einmal hin, sondern warf nur dem rotblonden Golem einen Blick zu, und der befand sich anscheinend mit einem einzigen Schritt - sofort zwischen dem Zelteingang und Wadim. »Rotblondes Haar - das bringt Gefahr ...«, sagte Wadim zu ihm, als er nicht weiterkam, und das asymmetrische Gesicht des Golems wurde noch schiefer, er schien sogar vor Anspannung die Augen zusammenzukneifen. »Was?!« fragte er außerordentlich aggressiv, aber mit unerwartet hoher und heiserer Stimme. »... Und ein feuerroter Mann zündet feste Häuser an ... Entschuldige«, berichtigte sich Wadim hastig. »Ist nicht persönlich gemeint. Das hab ich so dahergesagt - vor Schreck.«
»Beachte ihn nicht, Keschik«, sagte Erast Bonifatjewitsch beiläufig. »Das hat er so dahergesagt. Ein Scherz. Er ist sehr verschreckt. Das kommt bekanntlich vor ... Wadim Danilowitsch, setzen Sie sich lieber. Also wirklich, was springen Sie auf wie von der Tarantel gestochen? Ein bemerkenswerter Bekannter von mir sagt in solchen Fällen: Setzen Sie sich auf den Popo ... Was können Sie dort im Zelt schon haben? Irgendeine doppelläufige Büchse, nehme ich an? Die müßten Sie ja erst noch hervorkramen, dann Patronen suchen, laden ... Das ist doch lächerlich, wirklich, nicht ernst zu nehmen. Lassen Sie's sein, reden wir lieber weiter.« Wadim setzte sich wieder an den Tisch, strich sich mit beiden Händen die Haare glatt. »Wie die Franzosen in solchen Fällen sagen«, brachte er mit gequältem Lächeln hervor, »n'aime si des fils d'avec siecle. Was übersetzt heißt: >Nehm' Sie de Füß' da weg, Sie Ekel.<« Erast Bonifatjewitsch verstand es, wenn auch nicht auf Anhieb, und erkundigte sich sogleich: »Und was sagen in diesem Fall die Engländer?« »Keine Ahnung.« »Na gut, angenommen ... Und die Griechen?« »Menepte hoi? Ni menepte hoi.« »Was übersetzt heißt ...« »Mähn Äbte Heu? Nie mähn Äbte Heu. Ein Genrebild. Und lehrreich. Weil sie höchstens Gras mähen.« Daraufhin schniefte Erast Bonifatjewitsch vieldeutig und sagte anerkennend: »Geistreich. Sie sind ein geistreicher Gesprächspartner, Wadim Danilowitsch. Aber lassen Sie uns auf unsere kleine Angelegenheit zurückkommen.« »Aber ich weiß nicht, was ich Ihnen noch sagen soll«, brachte Wadim hervor und blinzelte müde. »Sie hören mir nicht zu. Ich sage Ihnen: Es ist unmöglich. Sie glauben mir nicht ... Sie glauben an Wunder, aber Wunder gibt es nicht.« »Und die Zukunft zu kennen?« sagte Erast Bonifatjewitsch eindringlich. »Die Zukunft zu kennen - ist das etwa kein Wunder?« »Nein. Das ist kein Wunder. Das ist eine Fähigkeit.«
»Die Zukunft zu korrigieren ist auch eine Fähigkeit.« »Aber nicht doch!« sagte Wadim verdrießlich und voll Abscheu. »Ich habe es Ihnen doch erklärt. Das ist wie eine Gasröhre von großem Durchmesser: Sie schauen hindurch und sehen dort, am anderen Ende, ein kleines Bild - das ist sozusagen die Zukunft. Wenn Sie die Röhre in eine andere Richtung schwenken würden, sähen Sie ein anderes Bild. Eine andere Zukunft, verstehen Sie? Aber wie Sie schwenken, wenn sie hundert Tonnen wiegt, tausend Tonnen - denn das ist ja gleichsam der Wille von Millionen von Menschen, verstehen Sie? >Die Resultante von Millionen Willem - das habe nicht ich gesagt, sondern Lew Tolstoi. Wie soll man diese Röhre schwenken? Womit? Mit dem Schwanz, entschuldigen Sie den Ausdruck?« »Das ist einzig und allein Ihr Problem«, entgegnete Erast Bonifatjewitsch, der übrigens aufmerksam zugehört und Wadim keineswegs unterbrochen hatte. »Womit es Ihnen am besten paßt, damit schwenken Sie sie.« »Aber es ist unmöglich!« »Wir wissen, daß es möglich ist.« »Und wie kommen Sie darauf, um Himmels willen?« »Aus den zuverlässigsten Quellen.« »Was denn nun wieder für Quellen?« »Er hat es selbst gesagt.« »Was?« Wadim verstand nicht. »Nicht >was<, sondern >wer<. Er selbst. Verstehen Sie, von wem ich rede? Erraten Sie es? Er selbst. Er selbst hat es gesagt. Das hätten Sie sich übrigens denken können, also wirklich.« »Sie lügen«, brachte Wadim hervor und verschluckte sich. »Das ist unhöflich. Sogar flegelhaft.« »Er kann Ihnen das nicht gesagt haben.« »Und dennoch hat er es gesagt. Urteilen Sie selbst: Woher sonst hätten wir davon erfahren können? Wem sonst konnten wir glauben? Überlegen Sie.« In diesem Augenblick erwachte Timofej Jewsejewitsch wie aus Hypnose. Er stieß einen schrecklichen schrillen Schrei aus, stürzte plötzlich los und davon - in riesigen Sprüngen, wobei er über gespannte Zeltschnüre sprang, Haken schlug wie ein
riesenhafter verschwitzter Hase mit angelegten roten Ohren - er sprang aus dem Lager hinaus und rannte zum Nordhang, direkt auf die durchsichtig funkelnden Zuckerhüte des Elbrus zu. Alle blickten ihm nach wie gebannt. Dann fragte der groß-köpfige Nußliebhaber schnell, fast unverständlich: »Wegputzen, Kommandeur?« »Nicht doch. Wozu? Soll er rennen ...« Erast Bonifatjewitsch erhob sich plötzlich ein Stück und winkte mit seinem Stab jemandem über das Küchenzelt hinweg - offensichtlich denen, die beim Wagen geblieben waren: Alles in Ordnung, macht euch keine Gedanken. »Soll er rennen«, wiederholte er und setzte sich wieder. »Er hat seine eigenen Angelegenheiten, wir haben unsere, nicht wahr, Wadim Danilowitsch?« Wadim schwieg und schaute Timofej Jewsejewitsch nach -der sprang immer noch, schlug immer noch Haken, ließ die langen Beine mit den Eierwaden in den niemals geputzten Stiefeln wirbeln. Er machte das alles nicht schlecht für einen über fünfzigjährigen Mann, auf dem Enkel und Krankheiten lasteten ganz und gar nicht schlecht. Anscheinend trug ihn der Meister Horror selbst auf seinen bleichen Flügeln, und er hätte jetzt nicht stehenbleiben können, selbst wenn er es sehr gewollt hätte. »Sie schweigen ...«, murmelte Erast Bonifatjewitsch, nachdem nicht nur eine Antwort, sondern überhaupt eine Reaktion von Wadim ausgeblieben war. »Sie schweigen weiterhin. Als hatten Sie Ihre Zunge verschluckt ... Na schön. Dann beginnen wir mit der Eskalation. Keschik, sei so gut.« Das glatzköpfige Nashorn Golem-Keschik trat sofort von hinten heran und nahm Wadim in seine metallischen, schweißigen Arme - umklammerte ihn um den Rumpf herum, lehnte sich auf ihn, preßte ihn auf den Klappstuhl, fixierte ihn, stellte ihn ruhig, nagelte ihn fest - nur in Wadim drin knackten irgendwelche Knöchelchen oder Knorpel. Jetzt konnte sich Wadim nicht mehr rühren. Überhaupt nicht. Er versuchte es nicht einmal. »Laß ihm eine Hand frei«, kommandierte unterdessen Erast Bonifatjewitsch. »Die rechte. So. Und rück ein bißchen herum, damit ich seine Physiognomie sehen kann und er meine. Gut. Danke ... Jetzt hören Sie mir zu, Wadim Danilowitsch«, fuhr er
fort und rückte mit seinem plötzlich feindselig eingefallenen Gesicht nahe heran. »Ich werde Ihnen jetzt eine kleine Lehre erteilen. Damit Sie endgültig begreifen, auf was für einer Welt Sie sich befinden ... Augen auf!« brüllte er unerwartet lauthals, riß seinen schwarzen Zeigestock hoch und drückte den spitzen Stachel Wadim unter dem linken Auge gegen die Wange. »Blikken Sie mir gefälligst in die Augen! Das wird eine ernste Lehre, aber dafür für Ihr ganzes restliches Leben ... Ljopa, fang an eins!« Der großköpfige kleinwüchsige Ljopa steckte die Nüsse weg, wischte sich die Handfläche an der Hose ab und kam näher, lässig mit den Backen der Zange klappernd. Es war eine glänzende helle Zange, speziell zum Nüsseknacken - zwei metallene Handgriffe mit gezähnten Einbuchtungen an dem Ende, wo sie quer mit einem Niet verbunden waren. Der großköpfige kleinwüchsige Ljopa erfaßte mit einer kaum merklichen, routinierten Bewegung Wadims kleinen Finger mit diesen gezähnten Ein-buchtungen und drückte die Handgriffe zusammen. »So klein und so widerw-wärtig ...«, sagte Wadim mit atemloser Stimme zu ihm. Sein Gesicht war grau geworden, und auf die ganze Stirn war plötzlich in großen Tropfen Schweiß getreten. »Keine Mätzchen!« befahl Erast Bonifatjewitsch ärgerlich. »Es tut Ihnen sehr weh, und es wird noch mehr wehtun. Ljopa -zwei!« Der kleine Ljopa leckte sich mit rascher Bewegung die Lippen und bekam geschickt den zweiten Finger zu fassen. »N-na, du!« zischte der rotblonde Golem-Keschik Wadim ins Ohr und verlagerte noch mehr Gewicht auf ihn. »S-stillhalten! ...« »Fertig. Es reicht ...« Wadim blieb die Luft weg. »Es reicht. Ich bin einverstanden.« »Nein!« entgegnete Erast Bonifatjewitsch. »Ljopa - drei!« Diesmal begann Wadim zu schreien. Erast Bonifatjewitsch, riskant weit auf dem Stuhl zurückgelehnt, beobachtete ihn und spielte mit dem schwarzen Zeigestock. Auf sein Gesicht trat ein Ausdruck verächtlicher Befriedigung. Alles verlief nach einem gut durchdachten und mehr als einmal bewährten Schema. Alles wurde richtig gemacht. Dem
ungehorsamen Menschen wurden bedächtig, akkurat, geschickt und mit Geschmack die Finger gequetscht, und zwar so, daß die Nagelbetten unbedingt mit erfaßt wurden. Der Mensch schrie. Wahrscheinlich hatte sich der Mensch schon eingepißt. Dem Menschen wurde eine ernste Lehre erteilt, und der Mensch war zerquetscht und gebrochen. Was letzten Endes auch bezweckt war: der Mensch in einem exakt definierten Zustand. Dann ordnete er an: »Fertig. Genug ... Ljopa! Ich sagte: Genug!« Und sie ließen von ihm ab, beide. Kehrten auf ihre Ausgangspositionen zurück. Wie Hunde. In ihre Hütten. Schweinehunde. Schakale. Henkersknechte. Wadim betrachtete seine blau angelaufenen Finger und weinte. Die Finger quollen rasch an, das Blaue und Violette wurde zusehends schieferschwarz. »Es tut mir sehr leid«, ließ sich Erast Bonifatjewitsch wieder mit der zurückhaltenden Stimme des Mannes von Welt vernehmen. »Das war jedoch unzweifelhaft vonnöten. Eine notwendige Lehre. Sie wollten partout nicht glauben, wie ernst das alles ist, aber es ist sehr ernst! Nun weiter im Text ...« Er steckte die schmale weiße Hand hinters Revers seines Jacketts und brachte ein langes weißes Kuvert zum Vorschein. »Das ist Geld«, sagte er. »Nicht wenig übrigens. Fünftausend Bucks. Für Sie. Ein Vorschuß. Sie können es nehmen.« Das lange weiße Kuvert lag vor Wadim auf dem Tisch, und Wadim betrachtete es mit von Tränen glasigem Blick. Er zitterte heftig. »Hören Sie mich?« erkundigte sich Erast Bonifatjewitsch. »He! Antworten Sie, genug geflennt. Oder sollen wir die Prozedur wiederholen?« »Ich höre«, sagte Wadim. »Geld. Fünftausend ...« »Sehr gut. Es gehört Ihnen. Als Vorschuß. Nicht zurückzuzahlen. Wenn am sechzehnten Dezember der Intelligenzler gewinnt, bekommen Sie den Rest - noch einmal Zwanzigtausend. Wenn aber nicht ...« »Am sechzehnten Dezember wird niemand gewinnen«, preßte Wadim zwischen den Zähnen hervor. »Es gibt einen zweiten Wahlgang.«
»Egal, egal ...«, sagte Erast Bonifatjewitsch ungeduldig. »Wir sind keine Formalisten. Und Ihnen ist völlig klar, was wir von Ihnen wollen. Wenn der Intelligenzler Gouverneur wird, erhalten Sie weitere Zwanzigtausend. Wenn er es nicht wird, dann kriegen Sie hingegen großen Ärger. Sie haben jetzt eine gewisse Vorstellung davon, was das für Ärger sein wird.« Wadim schwieg und preßte mit der linken gesunden Hand die verletzte rechte an die Brust. Er zitterte noch immer. Er weinte nicht mehr, doch es war ihm partout nicht anzusehen, ob er bei Vernunft oder in einem krankhaften Stupor war - ein auf einem albernen Klappstuhl zusammengekrümmter, verschwitzter bleicher Mensch. Erast Bonifatjewitsch erhob sich. »Das wär's. Sie sind gewarnt. Die Zeit läuft. An die Arbeit. Sie haben nicht allzuviel Zeit, um Ihre Gasröhre mit dem großen Durchmesser zu schwenken - gerade mal fünf Monate, sogar weniger. Bekanntlich« - er hob belehrend einen blassen Finger »kann sogar eine kleine Anstrengung einen großen Berg verrükken, wenn genug Zeit zur Verfügung steht. Also gehen Sie lieber sofort an die Arbeit ...« »Wenn es keine Reibung gibt ...«, flüsterte Wadim, ohne ihn anzublicken. »Was? Ja, natürlich. Aber das ist Ihr Problem. Womit ich Ihnen alles Gute wünsche. Guten Tag.« Er wandte sich zum Gehen, hielt aber inne: »Für den Fall, daß Sie beschließen, nach Amerika zu fliehen oder überhaupt den Helden zu spielen - Sie haben eine Mutter, und wir wissen genau, daß Sie sie sehr lieben ...« Seine Gesicht zuckte voller Abscheu. »Ich kann derlei primitive Erpressung nicht ausstehen, aber mit Ihresgleichen geht es ja nicht anders, mit Dreckskerlen ...« Wieder setzte er zum Gehen an, und abermals hielt er inne. »Als kleine Gefälligkeit für den Vorschuß«, sagte er mit einem angenehmen Lächeln. »Wollen Sie mir nicht verraten, wer demnächst an die Spitze des Föderativen Sicherheitsdienstes kommt?« »Nein«, sagte Wadim. »Will ich nicht.«
»Warum denn so? Sind Sie beleidigt? Dazu besteht kein Grund. Das ist doch nichts Persönliches: Es ist einfach Arbeit, eben ein besonderes Business und weiter nichts.« »Verstehe«, sagte Wadim und schaute ihm ins Gesicht. »Ich weiß das zu schätzen.« Das Sprechen fiel ihm schwer, und er sprach die Wörter besonders sorgfältig aus - wie jemand, der sich selbst nicht hört. »Aber ich kann Ihnen nicht gefällig sein. Ich weiß, was Millionen wollen, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, was ein Dutzend Chefs will.« »Ach, so ist das? Nun ja. Natürlich. Dann - alles Gute. Viel Erfolg.« Und er ging, ohne sich noch einmal umzuwenden, und schwenkte dabei sein schwarzes Stöckchen - elegant, gerade, ganz in Grau, selbstsicher, gut geschützt, verdammt zufrieden mit sich selbst. Der kleine Ljopa eilte ihm schon hinterher, ohne sich verabschiedet zu haben, und steckte im Gehen seinen Nußknacker in die Tasche - so klein und so widerw-wärtig! ... Keschik aber blieb noch. Zunächst machte er ein paar Schritte seinem Chef hinterher, doch kaum war Erast Bonifatjewitsch hinter dem Küchenzelt verschwunden, blieb er stehen, wandte Wadim sein rötliches Gesicht zu, das auf einmal verzerrt war wie von plötzlichen Zahnschmerzen, und ohne auszuholen gab er ihm mit der weichen dicken Pfote eine Ohrfeige, daß der sofort mitsamt dem Stuhl zu Boden stürzte und mit weißen, verdrehten Augen liegenblieb. Keschik betrachtete ihn ein paar Sekunden lang, dann noch ein paar Sekunden das schmale weiße Kuvert, das unbeaufsichtigt auf dem Tisch lag, dann wieder Wadim. »Sch-schweinehund beschissener ...«, zischte er kaum hörbar, machte kehrt und stürzte los, schwer mit den dicken Beinen stampfend, um seine Leute einzuholen. Eine Zeitlang blieb Wadim liegen, wie er gefallen war - auf dem Rücken, die Beine grotesk gespreizt, unter sich den beim Umfallen zusammengeklappten Stuhl. Dann erschienen in seinen Augen Farbe und Vernunft, er begann zu atmen und versuchte, sich auf die Seite zu drehen, auf den Ellenbogen des verletzten Armes gestützt. Es gelang ihm. Er befreite sich von dem Stuhl, an dem er sich verhakt hatte. Kroch ...
Aufzustehen versuchte er nicht einmal. Er kroch auf Ellenbogen und Knien, stöhnte, rang nach Luft, schaute nur vorwärts -auf die beiden Eimer mit Mineralwasser, die frühmorgens unter das Wirtschaftszelt gestellt worden waren. Kriechend erreichte er sie. Er setzte sich irgendwie auf, bleckte im voraus die Zähne und steckte die verletzte Hand in den näher stehenden Eimer. »Nichts stoppt den Energizer ...«, sagte er ins Leere hinein und erschlaffte, lauschte auf seinen Schmerz, auf seine Verzweiflung, auf die Leere, die er in sich empfand, und - mit ohnmächtigem Haß - auf das düstere samtweiche Tuckern des luxuriösen Jeep Cherokee, der irgendwo dort hinter dem Zelt, auf der huk-keligen Straße ohne Eile wendete. Lyrische Abschweifung Nr. 1 Timofej Jewsejewitschs Vater ... Timofej ist ein sonderbarer Mensch. Er kommt wer weiß warum immer wieder auf seinen Vater zu sprechen. Ein überaus weites Betätigungsfeld für einen eingefleischten Psychoanalytiker. Der Vater hier, der Vater da. Was für ein Draufgänger der Vater war. Wie geschickt. Und wie tiefsinnig. Wie findig ... Ein Beispiel für das Draufgängertum: So ungefähr neunzehnhundertsechsundfünfzig. Der Antikainen-Kolchos (irgendwo auf der Karelischen Landenge unweit Leningrads). Ein Baubataillon unter dem Befehl, klar doch, des Vaters reißt einen Speicher ab, der noch von den Finnen stammt. Ein grundsätzlicher Streit zwischen dem Vater und einem einheimischen Brigadier: ob die Soldaten den Speicher an einem einzigen Tag auseinandernehmen können oder aber keinesfalls. Der Verlierer muß auf den Schornstein klettern und dort (vor aller Augen) >reinscheißen< (was gesagt ist, ist gesagt, da beißt die Maus keinen Faden ab). Also: Sie haben nicht nur den Speicher in sieben Stunden zerlegt, sondern als der Brigadier mit einem Blick auf den hochragenden Schornstein (fünf Meter) zu jammern anfing, er habe es plötzlich im Kreuz - da ist, na klar doch, der Vater »wie ein Adler hochgeflogen, hat sich dort hingesetzt und
'reingeschissen ... entschuldigen Sie den Ausdruck«. Und der Vater war damals schon, also mal ehrlich gesagt, achtundvierzig und 'was ... Ein Beispiel für den Tiefsinn: »Der Mensch ist ein zweibeiniges Tier, immer neidisch, niemals satt...« (Das hatte er weiß Gott wo aufgelesen - er würde es sich ja wohl kaum selber ausgedacht haben?) Und weiter: »Der standhafteste Soldat ist derjenige, den man betrügt. Mit Wahrheit kann man keine Soldaten erziehen, aber erziehen muß man sie, sonst tanzen sie einem auf der Nase herum ...« Er (der Vater, klar doch) erinnerte sich überhaupt gern an den Krieg. Aber irgendwie auf sonderbare Weise. In seinem Krieg wurde nicht geschossen und anscheinend nicht einmal getötet. »... Kommen die Soldaten gelaufen: Genosse Hauptmann, dort im Keller liegt Wein - zwölf Fäßchen! Ich sofort: Zwei Fäßchen für den Alten, und dalli, dalli, mit Musik ... Der Alte war sehr zufrieden, hat mir eine Parabellum geschenkt, Beutegut, hatten sie irgendeinem Oberst abgenommen ...« Offensichtlich verstand er sich anzupassen, dieser, na klar doch, Vater. »Wir hatten einen Chef der Spionageabwehr SMERSCH Major Skitalez - ein Vieh, Tod in den Augen, aber mir hat er aus der Hand gefressen wie'n Pferd ... Weil man sich anpassen können muß, und das ist eine Wissenschaft!...« Neunzehnhundertfünfundvierzig hatte er, schon in Ostpreußen, jawohl, gleichzeitig mit der Mama, der Hausherrin, und ihrer Tochter zusammengelebt. Sozusagen in ein und demselben Bett. Und zwar ganz ohne Gewalt: Sie hatten sich von selbst angeboten, sollte er da etwa nein sagen ? ... Und im Herbst desselben Jahres fünfundvierzig, schon in der Mandschurei, hatten sie aus den Stoßdämpfern der Geschütze die Bremsflüssigkeit abgelassen und in den freien Raum Seide gestopft, damit sie am Kontrollpunkt nicht erwischt wurden ... Und so weiter, durchweg im selben Stil. Gestorben war er neunzehnhundertsechsundsiebzig: Beim Eisangeln, aber schon im Frühjahr - in der Nähe von Kiwgoda hatte es ihn mitsamt der Eisscholle ins offene Wasser abgetrieben, und niemand hat ihn jemals wieder gesehen ... >In langweiligen Gesprächen über Menschen der Vergangenheit sind die Geheimnisse ihrer großen Taten verborgen.< Ich weiß
nicht recht, bin mir nicht sicher. Übrigens habe ich meinen Vater überhaupt nie zu Gesicht bekommen. Nicht einmal auf Fotos. Und vielleicht ist es auch besser so? ... Zweites Kapitel Dezember. Zweiter Montag. Juri Georgijewitsch Kostomarow, genannt Polygraf Polygrafowitsch Nachts war Tauwetter hereingebrochen - es floß, tropfte, trommelte auf die eisernen Fenstervorsprünge. Mit plötzlichem Krachen stürzten angetaute Eispfropfen herab, fielen in die viele Etagen hohen Rohre der Regenrinnen. Es wurde feucht und klamm, auch im Hause. Die ganze Nacht über hatte er sich herumgewälzt, war aufgewacht und mit Mühe wieder eingeschlafen, hatte im schweren Halbschlaf gehört, wie Jeanne hastig und unverständlich jemandem etwas anscheinend völlig Zusammenhangloses erzählte, das dabei aber, so sonderbar es scheint, sehr aufrichtig und lupenrein war - wie das Murmeln eines Bächleins inmitten von Grün. Infolgedessen hatte er sich nicht ausschlafen können: Er war in aller Herrgottsfrühe aufgestanden - es war noch nicht einmal sieben -, mit Kopfschmerzen und fuchsteufelswild. Dabei stand ihm ein schwerer Tag bevor: drei Kontakte, und zwar jedesmal mit unterschiedlichen Objekten und einer davon überhaupt im Freien. Für den Anfang ging er wie abgesprochen viertel vor neun an die Ecke Kleine Bassinstraße/Lublinsker (wo an einem Haus seit unvordenklichen Zeiten mit Kreide in Druckbuchstaben »SJUGANOW rette rußland« geschrieben stand), kaufte sich wie abgesprochen eine Kremwaffel und begann sie zu essen, wobei er - aus eigener Initiative - die dort aushängende kleine Zeitung Die Petropawlowsker Zeit vom Vortag las. Die nächste Laterne befand sich nicht besonders nahe, so daß es in der verdammten Morgenfinsternis schwer war, zu lesen, und uninteressant obendrein: Da stand irgendwas über Berufsausbildung, über die Pelzmesse und noch so ein vorweihnachtliches Gesülze ... Einen Regenschirm hatte er natürlich nicht dabei - wer nimmt schon im Dezember einen Schirm mit? Doch fünf vor neun
begann es zu regnen. Alle, die sich bis dahin an der Ecke angesammelt hatten - alle diese armen Frühaufsteher, von denen manche eine Verabredung hatten, andere auf den Vierer-Bus warteten - zogen einer wie der andere die Schultern zusammen und die Köpfe ein und bekamen gleichermaßen unglückliche und nasse Gesichter, als hätten sie geweint. Eine Minute vor neun (der pedantische deutsche Mistkerl!) erstand an der Ecke der Arbeitgeber - in einem geräumigen englischen Mantel bis an die Fersen und mit einem titanischen Regenschirm, ebenfalls englisches Fabrikat. Er nahm eine Position einen Schritt von Juri entfernt ein, wandte ihm fachmännisch den Rücken zu (und die nasse glänzende Wölbung des Schirms) und begann auf den Kunden zu warten, der offensichtlich weder ein Deutscher noch ein Pedant war und sich daher verspätete, wie es sich für einen normalen russischen Menschen männlichen Geschlechts gehört, wenn er von der Verabredung weder besonders Gutes noch außerordentlich Schlechtes erwartet. Es vergingen jedoch keine fünf Minuten, und es zeigte sich, daß der Kunde zudem überhaupt kein Mann war. Juris Aufmerksamkeit war von einem Artikel über die Korruption bei der Miliz gefesselt worden, und als er wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte, bedrängte den Arbeitgeber eine stattliche, hervorstechende Person in einem braunen Ledermantel und mit einem riesigen roten, aufgebauschten Haarschopf, auf dem kleine Wassertropfen schön funkelten. In den Händen hielt sie ein gewichtiges orangefarbenes Ridikül, und sie sprach zwar im Flüsterton, aber ungewöhnlich eindringlich und energisch. Ihr ganzer Anblick rief ihm den heutzutage halb vergessenen Ausdruck >ein verwogenes Weib< in Erinnerung - wie auch die vom Arbeitgeber diesbezüglich bevorzugte Formulierung >ein Roß mit Eiern<. Da die Person sich größte Mühe gab, Vertraulichkeit zu wahren, war sie - vor allem zu Beginn - schlecht zu hören. Doch sie flüsterte donnergleich und konnte überhaupt nicht flüstern - sie gehörte zu denen, die ihre Ansicht lauthals verkünden, dem Feinde zum Schrecken. Heftig und schallend. Daher war Juri
recht schnell auf dem laufenden, zumal der Arbeitgeber unter dem Ansturm des braunen Mantels fortwährend zurückweichen mußte (um nicht von den Hufen zermalmt zu werden) und bald schon mit seinem nassen Schirm gegen Juris Schulter stieß, so daß dieser beiseite treten und Platz machen mußte, wobei er freilich in Hörweite blieb. Die Angelegenheit aber lief darauf hinaus, daß den Kunden, wie sich herausstellte, heute nacht ein Hexenschuß getroffen hatte. Er war so gegen fünf aufgestanden, um austreten zu gehen, und da hatte es ihn erwischt, und zwar so, daß man den Ärmsten auf Händen (»buchstäblich!«) aus der Toilette aufs Sofa tragen mußte, und jetzt kann er sich nicht mehr wie ein normaler Mensch bewegen, ja, nicht einmal mit Krücken. (Krücken haben sie nämlich im Hause - seit unvordenklicher Zeit und genau für solche Fälle.) Man mußte ihm sogar eine Diclofenac-spritze geben, und jetzt schläft er. Also denken Sie nichts Falsches: Es kann überhaupt nicht die Rede davon sein, daß er seinen Verpflichtungen nicht nachkäme, die Rede ist nur und ausschließlich von einem unglücklichen Zusammentreffen von Umständen und sozusagen von einem Unfall ... Der verdatterte (und halb niedergetrampelte) Arbeitgeber wehrte sich schwach und schüchtern in dem Sinne, da sei ja wohl, nun ja, nichts zu machen, sie möge sich doch um Himmels willen nicht beunruhigen, nicht doch, das sei ja überhaupt nicht schlimm, solle er sich auskurieren, sie würden telefonieren, richten Sie ihm mein Mitgefühl aus, so ein Pech aber auch, doch es ist ja weiter nichts passiert, was machen Sie sich solche Sorgen ... Und dann gingen sie mit gedämpften Stimmen in die zweite Flüsterrunde. Als alles vorbei war (die hervorstechende stattliche Person entfernte sich ebenso plötzlich, wie sie über sie hereingebrochen war - stürmte plötzlich los, nahm den herangekommenen ViererBus im Sturm und walzte unterwegs irgendeine zerstreute Alte nieder), holte der Arbeitgeber, ohne aus seiner großen Erleichterung ein Hehl zu machen, tief Luft, schaute lässig nach rechts und nach links und ging (im Spazierschritt) die Kleine Bassinstraße entlang auf die Metrostation zu. Nachdem er die
zwecks Konspiration angemessenen zwei Minuten abgewartet hatte, folgte ihm Juri (mit den Schritten eines Sowjetangestellten, der zu spät zur Arbeit kommt). In der Unterführung trafen sie sich. »Und warum eigentlich das Flüstern?« erkundigte sich Juri, dem der alte Witz über das Auto des Generals auf der Regierungsroute eingefallen war. »Weil wir uns nach dem Dampfbad ein kaltes Bier gegriffen haben ...«, antwortete der Arbeitgeber sogleich und mit heiserer Stimme - ihm war anscheinend derselbe Witz eingefallen. »Ich habe keine Ahnung, was er ihr da zusammengefaselt hat, daß sie auf Konspiration verfallen ist ... Aber das ist überhaupt eine sonderbare Geschichte, muß ich dir sagen. Da kriegen wir also im entscheidendsten Moment einen Hexen...« Und nachdem er sich just so, mitten im Wort, unterbrochen hatte, verstummte der Arbeitgeber und verfiel in tiefes Grübeln. Juri versuchte ebenfalls, über das Geschehnis nachzudenken, es kam aber nichts Interessantes dabei heraus. Er hatte noch nie mit deduktiven, induktiven oder sonstwie formallogischen Fähigkeiten geglänzt. Für gewöhnlich sah er nur das Wesen der Dinge, ohne dabei im geringsten die Hintergründe zu verstehen. Da hat der also ein Treffen vereinbart. Hat ihn also ein Hexenschuß erwischt ... Sowas passiert. Hat, statt selbst zu kommen, sein Weib losgeschickt. Weil es ihm peinlich war, einfach gar nicht zu erschienen ... Und wo ist da nun das Problem? Für Juri selbst stellte sich jetzt nur ein Problem, und zwar ein völlig anderes. Gegen den Arbeitgeber war der sprichwörtliche Schotte ein Verschwender. Würde er ihn jetzt für den ausgefallenen Einsatz bezahlen oder sich drücken? Übrigens durchaus berechtigterweise. >Wofür zahlen, wenn da nichts zu bezahlen ist?< Und heraus kam (nach Anwendung von Deduktion und Induktion), daß zwanzig Greenbacks - in Klammern: Bucks -sich gerade eben in Luft aufgelöst hatten, in kalte, widerwärtig nasse Luft. Wo es zudem zog - damit das Auflösen besser ging. Er versuchte sich zu erinnern, wieviel letztes Mal bei ihm noch auf dem Konto gewesen war, doch es fiel ihm nicht ein. Jedenfalls wenig. Hundert Schwarzgrüne. Oder zweihundert.
Unterdessen gingen sie schon am Gitterzaun des Freiheitsparks entlang, der Regen wurde immer stärker und widerwärtiger, die Passanten immer nasser und schwärzer, als seien es Ertrunkene, die gerade aus dem Wasser (aus einer dampfenden Brühe) herausgeklettert waren. Sie sahen völlig leblos aus, ganz anders als der Arbeitgeber, auch wenn er in Gedanken versunken war. Dem Denker Rodins ähnelte er übrigens keineswegs. Er hatte dichtes, absolut graues Haar und das ständig rote, geradezu karmesinrote Gesicht eines skandinavischen Seefahrers oder aber eines gestandenen Konsumenten geistiger Getränke. »Bei solchem Wetter«, sagte Juri und wischte sich das kribbelnde Wasser vom Gesicht, »jagt ein guter Herr keine Hundeseele aus dem Haus. Ohne Regenschirm.« »Ja wer hat sie denn geheißen, keinen Schirm mitzunehmen, fragt sich da.« Der Arbeitgeber reagierte augenblicklich, freilich ohne aus seinen Gedankengängen aufzutauchen. »Was heißt >sie« »Na, die Hundeseele.« Juri wußte darauf nichts zu erwidern, und eine Zeitlang gingen sie beide schweigend weiter, um den durchbrochenen Zaun des Parks herum auf den Parkplatz, wo der Wagen des Arbeitgebers im Regen stand, ein Niwa, düster und schmutzig wie eine Artillerie-Zugmaschine auf dem Höhepunkt der Herbstoffensive. Sie stiegen ein, und augenblicklich liefen alle Fenster an und wurden völlig undurchsichtig. Der Arbeitgeber machte sich daran, sie mit einem schmuddeligen Handtuch mit Waffelmuster abzuwischen, und Juri saß müßig da und dachte, daß es in dem Wagen nach Katzen stank, nicht auszuhalten, wie es stank, wohl schon seit einem halben Jahr, als sie Rotohr, den Kater des Arbeitgebers, in die tierärztliche Poliklinik gebracht hatten und Rotohr, an Autos nicht gewöhnt und außer sich vor Angst, alles ringsum vollgepißt hatte - die Sitze, den Boden und zu guter Letzt auch Juri, der für ihn tiefes, aber hilfloses Mitleid empfand. »Eins verstehe ich nicht«, verkündete plötzlich der Arbeitgeber, der inzwischen schon die wichtigsten Glasflächen abgewischt hatte und jetzt mit den abscheulich knirschenden
Scheibenwischern die Frontscheibe von Schmutz befreite. »Ich verstehe nicht, wozu diese verwickelten und offensichtlichen Lügen notwendig waren.« »Und wer belügt denn dich Ärmsten?« fragte Juri, mit berufsmäßiger Routine sofort auf der Hut. »Na, dieses Weibsbild, die Rothaarige ... Hätte doch sagen können, daß er sich erkältet hat. Oder dringend auf Arbeit gerufen worden sei ... Aber nein - >Hexenschuß<, >Krücken<, >Spritze< ... Was soll das für eine Spritze sein - gegen Hexenschuß?« Juri betrachtete ihn mißtrauisch. Überprüfte der ihn? >Teste-te< ihn (wie er zu sagen pflegte)? Aber danach sah es ja nicht aus! Der Arbeitgeber ist geizig, aber gerecht. Das Gespenst des »knisternden Jackson« flimmerte plötzlich von neuem im Raum der erwachten Phantasie. »Sie hat dich mit keinem Wort belogen«, sagte er so gewichtig wie möglich. »Was heißt?« Der Arbeitgeber wandte sich mit dem ganzen Körper zu ihm um und fixierte ihn mit den hellgrünen Augen. »Was heißt, alles, was sie dir gesagt hat, war wahr.« »Du verbürgst dich dafür?« »Nu.« »Exakt?« »Nu!« sagte Juri mit Nachdruck und entschloß sich, zum Zwecke größerer Überzeugungskraft sogleich einzuflechten: »Bezahlst du mich etwa umsonst?« Der Arbeitgeber schüttelte das karmesinrote Gesicht. »Nein. Ich will schon hoffen, Bruderherz, daß ich's nicht umsonst tue ... Aber mich dabei über dich wundern - das muß ich immer wieder. Weiß Gott. Na schön, fahren wir.« Und sie fuhren. Rollten mit grunzendem Motor den schwarzen, nassen Prospekt der Schipka-Helden entlang, wo orangegelbe Laternen leuchteten, durch hoffnungslos niederprasselnden Regen, mit Nebel vermischt, scherten gelegentlich riskant auf die Gegenfahrbahn aus, wenn sie riesige Lkws und endlos lange Anhänger von Hernlastzügen überholten, bogen dann (bei
eindeutigem >Gelb< und aus der linken Spur) nach rechts ab und tauchten sofort in den Tunnel unter dem Freiheitsplatz ab. Beide schwiegen. Juri schwieg, weil er sich im Zustand hungriger Befriedigung befand und die Vorfreude auf den im Schweiße seines Angesichts verdienten Zwanziger genoß. Der Arbeitgeber indes schwieg gewohnheitsmäßig. Es stand ein Kontakt bevor, vor einem Kontakt redete er nicht gern, nicht einmal vor dem geringfügigsten, jetzt aber stand anscheinend ein komplizierter Kontakt bevor, und der erforderte anscheinend volle Konzentration und innere Ausrichtung auf das Objekt. Schweigend kamen sie zu seiner heimatlichen Jelabuger Straße, schweigend stiegen sie aus, schweigend gingen sie ins Haus. Der Wachmann Wolodja, der an dem Tischchen am Eingang zur >Intellekt< A. G. saß, winkte ihnen freundlich zu - sie nickten beide schweigend und einmütig. Sie stiegen die breite altmodische Treppe (einst von weißem Marmor und jetzt, nach der Reparatur, marmoriert angestrichen) hinauf in den ersten Stock: der Arbeitgeber voran, Juri hinterher, zwei Stufen hinter ihm, mit aller Ehrerbierung, wie es sich für einen Lohnarbeiter gehört. Vor der Tür zum Büro blieben sie stehen und verursachten endlich ein Geräusch: Der Arbeitgeber rückte mit unverständlichem Zischen das wieder zur Seite gerutschte provisorische, mit der Hand (und zwar von Juri) geschriebene Schildchen PRIVATDETEKTEI »SUCHE - STEALTH« zurecht, worauf sie ins Vorzimmer traten. Hier war es hell und Gott sei Dank warm. Die Sekretärin Miriam Solomonowna sprach am Telefon, bedachte die beiden, als sie ihrer ansichtig wurde, mit einem strengen Blick und zeigte mit einem langen schwarz-purpurroten Fingernagel auf den Arbeitgeber. »... Ja, er ist gerade gekommen, einen Augenblick ...«, sagte sie in den Hörer, bedeckte das Mikrofon mit der Hand und teilte mit: »Das ist Kuguschew. Er ist sehr unzufrieden, ruft heute schon zum zweiten Mal an.« Der Arbeitgeber ging sofort in sein Zimmer, Juri aber zog den nassen Mantel aus und hängte ihn auf den Ständer.
»Wollen Sie Kaffee?« erkundigte sich Miriam Solomonowna. Sie stand schon auf dem Sprung - ihre füllige Gestalt drückte drängende Bereitschaft aus, unverzüglich zu Diensten zu sein: Kaffee, Tee, ein Gläschen Brandy, eine Zigarette Marke Winten, eine Datei ausdrucken, einen Verweis finden, ein belegtes Brot machen, den Reparaturdienst anrufen, die Bullen kommen lassen, eine Spritze geben, ein Loch in der Tasche stopfen, eine Verrenkung richten - sie konnte alles und weigerte sich niemals, etwas zu tun. Sie war ein wahrer Schatz. Sie war sechsundfünfzig, ihre Kinder hatten sich entweder in die Staaten oder nach Israel abgesetzt, der Mann war seit langem abgängig, sie war frei und langweilte sich. Sie war eine entfernte Verwandte des Arbeitgebers, eine sehr entfernte: Er kam jedesmal durcheinander, wenn er versuchte, den Verwandtschaftsgrad zu bestimmen - die Tante einer Kusine der Pflegemutter oder etwas noch weiter Abgelegenes. »Danke«, sagte Juri und fügte in Voraussicht einer neuen Frage sogleich hinzu: »Danke, nein. Wir kriegen jetzt gleich einen Kunden«, erklärte er, obwohl er nichts zu erklären brauchte Miriam Solomonowna benötigte keinerlei Erklärungen. Sie war sich selbst durchaus genug - dieses weiße Rubensweib mit den Anthrazithaaren der Hekate. »Wollen Sie die Post durchsehen?« erkundigte sie sich und hielt ihm eine gelbe Mappe mit akkurat zugebundenen Bändern hin. »Na ja ...« Er nahm die Mappe, überlegte, was er ihr sagen könnte, der Hekatehaarigen, irgend etwas Nettes, Freundliches, Warmes - und sagte (auf ganz und gar amerikanische Art): »Gut sehen Sie heute aus, Miriam Solomonowna!« Sie lächelte mit den glänzenden Lippen. »Das liegt an dem Mistwetter«, erklärte sie. »Erhöhte Luftfeuchtigkeit steht mir, wie Sie schon mehrfach bemerken konnten.« Das war nicht wahr (er spürte den charakteristischen "Stoß gegen die Seele", wie er das bei sich nannte - die Ärzte nannten es eine Extrasystole des Herzens), und das Lächeln, mit dem er auf die Unwahrheit antwortete, geriet ihm falsch, obwohl man doch meinen sollte - was machte ihm diese kleine, alltägliche,
uneigennützige, nur dem Fortgang des Gespächs dienende Schwindelei schon aus? »Dann gehe ich mal ans ertragreiche Werk«, sagte er und nahm eilig die Mappe. »Was ich auch Ihnen von ganzem Herzen wünsche.« In seinem Zimmer telefonierte der Arbeitgeber noch immer. Er hatte sich in seinem Chefsessel (hundertfünf Dollar einschließlich Anlieferung) breitgemacht - einem kohleschwarzen Ding mit unglaublich hoher Rückenlehne und runden Armstützen -, hatte sich auf überaus komplizierte Weise zu einem Knoten aus langen wippenden Extremitäten zusammengekrümmt und ähnelte jetzt entweder einem Kraken im schwarzen Herrenanzug oder aber einem Knäuel von Insekten im Zustand der sogenannten Verklammerung, das heißt bei der Liebe. Juri dachte (zum x-ten Male!): Tja, wenn ihn jetzt ein zufällig vorbeikommender Kunde sähe, dem fiele nicht im Traum ein, uns anzuheuern - höchstens fürs Zirkuszelt. »... Die Hauptsache!« beschwor der Arbeitgeber mit seiner spezifischen, nur für Kunden reservierten Samtstimme den Telefonhörer. »Nein, nein, genau das ist die eigentliche Hauptsache! Und alles andere ist unwesentlich, Staub, leerer Raum, glauben Sie mir nur ...« Juri hörte nicht hin, sondern ging geradewegs zu seinem Arbeitsplatz, setzte sich, legte die gelbe Mappe mit der Post beiseite und begann, die Apparatur einzurichten. Er schaltete den Computer ein, überprüfte das Tonbandgerät, den Signalknopfalles schien okay zu sein: Das Tonband nahm auf und spielte ab, der Knopf ließ sich leicht und lautlos drücken und hinterließ am Finger das angenehme Gefühl eines Tischtennisballs, und das Signallämpchen am Tisch des Chefs funktionierte - wenn man sich eigens Mühe gab, konnte man sein rotes Aufblinken an der Schuhsohle des Arbeitgebers bemerken, die sich jetzt ungefähr dort befand, wo sich während eines Geschäftskontakts seine Physiognomie zu befinden hatte. Eigentlich war das eine unglückliche Lösung - mit dem Signallämpchen. Der Kunde konnte den Widerschein bemerken und mißtrauisch werden oder sich wundern oder gar nachfragen, und das wäre ganz und gar
nicht wünschenswert. Doch ihnen war nichts anderes eingefallen, alle anderen Signalmethoden hatten sich entweder als kompliziert oder als unzuverlässig erwiesen, und die Erfahrung lehrte, daß dem Kunden für gewöhnlich nicht der Sinn danach stand, auf geheimnisvolle rötliche Lichtreflexe auf dem rätselhaften karmesinroten Gesicht des Großen Detektivs zu achten. »Das Schild an der Tür muß richtig befestigt werden«, wies der Arbeitgeber an. Er hatte schon den Hörer aufgelegt und entflocht sich jetzt, mit den Gelenken knackend. »Kümmere dich drum.« »Gut«, sagte Juri. »Sofort?« »Sobald es geht. Aber jetzt ist es schon drei nach elf. Der Kunde kann jeden Moment kommen.« »Er verspätet sich«, sagte Juri in sicherem Ton. »Solche verspäten sich immer.« »Woher weißt du das?« erkundigte sich der Arbeitgeber neugierig. »Du hast ihn noch nicht einmal gesehen.« »Es ist an der Stimme zu erkennen. Solche verspäten sich immer.« »Was für welche?« »Na ...« Juri wußte nicht, was er sagen sollte. »Die so unsicher was vor sich hin nuscheln. Weder hü noch hott sagen ...« »Hör mal, ist bei dir womöglich auch noch so ein Talent vorhanden?« Juri kam nicht mehr zum Antworten, da die amtsmäßig strenge Stimme von Miriam Solomonowna aus der Wechselsprechanlage auf dem Tisch verkündete: »Pawel Petrowitsch, Herr Jepantschin ist da. Er hat für elf einen Termin.« Der Arbeitgeber zeigte Juri eine Fratze, die ungefähr "einen Schmarren hast du, aber kein Talent" bedeutete, und sprach samten ins Mikrofon: »Ich lasse bitten.« Herr Jepantschin (Thälmann Iwanowitsch Jepantschin, 68 Jahre, alleinstehend, Rentner von vormals unionsweiter Bedeutung, ehemaliger angestellter Funktionär der Philatelistischen Gesellschaft der Russischen Föderation, ein bekannter Briefmarkensammler, langjähriger und verdienter Gutachter der zuständigen Organe, wohnhaft unter der Adresse ... Telefon ...
Fax ..., keine schädlichen Gewohnheiten, keine politischen Überzeugungen, lebt in Scheidung, die Frau wohnt in Moskau, der Sohn ist Astrophysiker, lebt allein, arbeitet im SternbergInstitut für Astronomie ... usw., usf., u. dgl.) erwies sich als ältliches, staubiges Männlein mit auseinanderstehenden Goldzähnen und flinken Mäuseaugen in dem faltigen Gesicht eines Akaki Akakijewitsch Baschmatschkin. Er kam herein und grüßte ohne jede Würde, rieb sich flink-flink die kalten blaugrauen Händchen, schniefte durch das graue Näschen (kein Graf de la Fere, nein, ganz und gar kein Graf, und nicht einmal ein Kanzler Seguir, sondern eher schon ein Herr Bonacieux - aber ein vom Alter und vom asketischen Leben unter der Sowjetmacht merklich zusammengeschrumpfter). Er setzte sich ordnungsgemäß in den ihm angebotenen Sessel. Heimlich, aber aufmerksam schaute er sich um und fing sogleich einen kleinen Zank wegen Juri an, dessen Anwesenheit ihm natürlich unnötig und sogar störend vorkam. Der Arbeitgeber vertrat in dieser Sache natürlich die genau gegenteilige Ansicht. Es ergab sich das folgende Gespräch, in dessen Verlauf sich Juri feinfühlig ausschwieg und fortführ, rasch das Dossier des Kunden durchzusehen (»Ganzkörperfoto mit rätselhaften Intimitäten«, wie sich der Arbeitgeber bezüglich solcher Dossiers auszudrücken pflegte). »Mein Fall, sehen Sie, ist außer-ordent-lich delikat, außerordentlich ...« »Selbstverständlich, lieber Thälmann Iwanowitsch! Mit anderen befassen wir uns ja überhaupt nicht ...« »Thälmann«, berichtigte ihn sein Kunde in verärgertem und sogar launischem Ton. »Ich heiße Thälmann Iwanowitsch, wenn Sie erlauben.« »Ich bitte um Verzeihung. Und Sie können jedenfalls bei uns auf vollständige und absolute Vertraulichkeit zählen.« »Ja-ja, das ist mir klar ... Frol Kusmitsch hat Sie mir ebendarum empfohlen ...« »Na sehen Sie!« »Und trotzdem ... Hier liegt ein ganz besonderer Fall vor. Die Sache ist derart kitzlig ... Ich werde große Namen nennen
müssen, sehr große ... Und übrigens, die Deutschen sagen: Was zwei wissen, weiß auch das Schwein, he-he, Entschuldigung. Zwei!« »Ich stimme Ihnen vollauf zu, verehrter Thälmann Iwanowitsch. Und den Deutschen auch. Aber wie jemand sagte, der sich auskannte: >Zwei ist die Lieblingszahl des Alkoholikers. < Und in der Heiligen Schrift steht überhaupt ganz klipp und klar: >Wo zwei von euch versammelt sind, da bin ich unter euch.< Und dementsprechend weise ich Sie darauf hin, bin einfach verpflichtet, Sie darauf hinzuweisen, daß unser ganzes Gespräch aufgezeichnet wird.« »Ach, das also auch noch! Aber in diesem Fall werde ich wohl leider gezwungen sein ...« Und der in seinen besten Erwartungen gekränkte Herr Jepantschin schickte sich demonstrativ an, diese ungastlichen Gefilde zu verlassen - er regte sich und stellte dabei eine beherrschte diplomatische Verstimmung zur Schau, setzte Gesicht und Körper in Bewegung, fing an, sich vom Sessel zu erheben, aber natürlich ging er nirgends hin und begann nicht einmal zu diskutieren, sondern setzte sich nur wieder hin, möglichst stabil, und ließ sich folgsam vernehmen: »Na schön, wenn das so ist ... Wenn es anders nicht geht ...« »Geht es nicht, Thälmann Iwanowitsch!« fiel der Arbeitgeber mit Samtstimme ein. »Anders geht es keineswegs. Noblesse, versteht sich, oblige. Das war und bleibt unser Grundsatz, und was die Garantien angeht, so sind sie absolut, und Sie können sich sicher sein, daß auch diesbezüglich noblesse bei uns ohne Abstriche oblige: Nichts, was hier gesprochen wird, wird diesen Raum verlassen. Nicht ohne Ihre spezielle Genehmigung, versteht sich.« Augenscheinlich gab sich Herr Jepantschin mit den geäußerten Zusicherungen zufrieden. Abermals unterstrich er in zwei, drei ungeordneten Sätzen, wie überaus und ausgesprochen kitzlig die zu verhandelnde Angelegenheit sei, wieder, ohne besonders auf den Gegenstand einzugehen, dafür aber mit besonderem Nachdruck, wobei er den (für Juri) geheimnisvollen Frol Kusmitsch erwähnte, der ihm den Arbeitgeber als ernsthaften
Profi und in höchstem Maße anständigen Menschen empföhlen habe, und erst nach dieser völlig Zusammenhang-, ja geradezu gegenstandslosen Einführung kam er endlich zur Sache. Die Sache - die er im Gegensatz zum Vorangegangenen in geschliffen glatten, gut ausformulierten und vielleicht sogar vorher eingeübten Sätzen darlegte - bestand in Folgendem: Herr Jepantschin war, wie sich herausstellte, nicht einfach ein großer Briefmarkensammler, er war (»wie ich ohne falsche Bescheidenheit vermelde«) der Besitzer der größten Briefmarkensammlung in der UdSSR (er sagte tatsächlich »in der UdSSR«), die die Emissionen ausnahmslos aller Länder der Welt enthielt, allerdings mit dem Jahr 1960 als Grenze. Marken, die nach diesem Jahr herausgebracht worden waren, interessierten ihn aus irgendeinem Grunde nicht, doch alles vorher Ausgegebene war Gegenstand seines Interesses und in erheblichem Umfang - »in sehr erheblichem Umfang, etwa in der Größenordnung von fünfundneunzig Prozent« - in seiner bemerkenswerten Sammlung vertreten. Inmitten des zahlreichen, außerordentlich schönen, aber sozusagen "gewöhnlichen" Materials enthalte seine Schatzkammer auch eine gewisse Menge von >Weltraritäten<, wahren philatelistischen Perlen, genauer gesagt, von Brillanten reinsten Wassers und unbeschreiblichen Wertes. Jeder dieser Brillanten sei berühmt, auf der ganzen Welt in zwei, drei, höchstens zehn Exemplaren bekannt, und wenn - was selten, äußerst selten vorkomme! - so einer bei einer Auktion auftauche, dann zahle der neue Besitzer dafür -zigtausende, wenn nicht Hunderttausende von Dollars. Und einer dieser Brillanten, vielleicht der wertvollste von allen, sei ihm vor ein paar Monaten abhanden gekommen, genauer sagt, barbarisch geraubt worden. Und er habe eine Vermutung, wer diesen Raub ausgeführt habe. Irgend etwas zu beweisen habe er (Thälmann Iwanowitsch) jedoch keine Möglichkeit, es gebe nur begründete Verdachtsmomente, und die Aufgabe, die er dem Arbeitgeber stellen wolle, bestehe just darin, aus dieser überaus heiklen Situation wenigstens einen annähernd akzeptablen Ausweg zu finden und, wenn möglich, die verletzte Gerechtigkeit
wiederherzustellen, und zwar, das gesetzliche Recht auf Privateigentum zu verteidigen - und sei es ohne Strafe für den Verbrecher, falls sich solch eine Strafe als schwer zu realisieren erweise ... Merkwürdig: Er begann nach einem vorher zurechtgelegten Text zu sprechen und redete anfangs hölzern, leidenschaftslos und vorsichtig, als taste er sich über ein Minenfeld vor, doch allmählich kam er in Fahrt, die Geschichte dieses widerwärtigen, gemeinen Verbrechens, dieser zutiefst persönlichen ungerechten Kränkung riß alte Wunden auf, er wurde leidenschaftlich und böse. »Wie konnte er es nur wagen, dieser niederträchtige Dieb? Wie konnte es es wagen, Hand an das Allerheiligste zu legen? ...« ... Er nämlich, wissen Sie, sammelt die englischen Kolonien, aber ich ja die ganze Welt. Und dabei sind nun meine englischen Kolonien doppelt so gut wie seine, und das versetzt ihn in Wut, das bringt ihn ganz außer sich ... Was denn - er ist Akademiemitglied, Millionär, und was bin ich? Ein Niemand. Aber meine Sammlung ist doppelt so gut. Das kann er nicht mehr ertragen, und er schreckt vor nichts zurück, um mich herabzusetzen -wenn nicht so, dann eben anders ... Erst hat er über mich entwürdigende Gerüchte verbreitet, ich habe beim NKWD ... beim KGB ... Egal, alles Unsinn. Hat Intrigen gesponnen, damit man mich aus der Leitung der >Gesellschaft< ausschloß. Und jetzt ist er - bitte sehr! - auch noch kriminell geworden ... ... Es war ein schwüler Augustabend, ein Gewitter zog auf, es war heiß, das Akademiemitglied - ein korpulenter, kurzatmiger Mann - wischte sich immer wieder mit einem luxuriösen Seidentüchlein ab, sie tranken am Eßtisch Tee und sprachen »über seltene Retusche-Varianten früher Marken von Mauritius«. Sie waren allein in der Wohnung, Polina Konstantinowna hatte ihnen den Tee serviert und war bis Montag fortgegangen (es war nämlich Freitag, gegen acht, neun Uhr abends). Die Fenster standen offen - der Hitze wegen es nützte wenig, aber es war ein wichtiger Umstand, denn anscheinend begann alles mit einem Windstoß vor dem Gewitter: Der Wind drang plötzlich ins Zimmer,
die Fensterflügel schlugen klirrend zu, vom Tisch wurden die Papierservietten heruntergeweht, er versuchte (wer weiß warum), sie zu fangen, riß ein Glas, den Teekessel, eine Schale mit Konfekt und noch etwas mit, alles fiel aufs Tischtuch, dann zu Boden, das Akademiemitglied sprang mit unanständigem Gelächter (Was sollte denn daran komisch sein?) vom Sessel auf, um seine Hose vor dem verschütteten Tee in Sicherheit zu bringen ... ... Nein, Marken hatten auf dem Teetisch natürlich nicht gelegen. Alle Alben waren dort geblieben, wo sie sie betrachtet hatten auf einem gesonderten Tischchen in der Ecke, wo die Schränke mit der Sammlung standen. Aber sonderbar: Aus irgendeinem Grund befanden sich auch einige Einsteckalben auf dem Fußboden, obwohl sie vom Ort des Teetrinkens mindestens drei Meter entfernt waren, eher mehr. Er konnte nicht erklären, wie das passiert war. Er verstand es selber nicht. Als sei damals plötzlich irgendeine Bewußtseinstrübung über ihn gekommen. Eben hatte er noch am Teetisch gesessen und versucht, die fortfliegenden Servietten zu fangen, und plötzlich, ohne jeden Übergang, sitzt er schon auf dem Sofa an der Wand gegenüber, das Akademiemitglied macht sich an den Wirbeln zu schaffen, um die Fenster zu schließen, und die Einsteckalben liegen auf dem Fußboden, vier Stück, und ein paar Marken sind aus den Klemmtaschen gefallen und liegen ganz nahebei - auf dem Fußboden neben dem Zeitungstischchen und darunter. ... Nein, damals hatte er dem keine Bedeutung zugemessen - er war nur erschrocken, daß die herausgefallenen Marken beschädigt worden sein könnten. Doch wie sich zeigte, war alles in Ordnung, alle Marken waren heil und unversehrt, zusammen mit dem Akademiemitglied hatte er sie sogleich aufgesammelt und in den betreffenden Alben an die richtigen Stellen gesteckt ... Nein, er erinnerte sich nicht mehr, was das für Marken waren. Wohl Britisch Zentralafrika. Aber das war ja unwichtig irgendwelche gewöhnlichen Marken, zu hundert, zweihundert >Michelmark<, nichts Besonderes, deshalb hatte er es sich auch nicht gemerkt.
... Überhaupt waren ihm, ehrlich gesagt, viele Einzelheiten jener Ereignisse nicht in Erinnerung geblieben, und der ganze Abend war seither im Gedächtnis mit so einem unklaren Nebel überzogen, und es blieben bezüglich gewisser ganz einfacher Dinge irritierende Unklarheiten. Zum Beispiel: War der Telefonanruf sofort nach dem Unfall beim Teetrinken erfolgt, oder kam ihm das jetzt nur so vor? Wohl doch gleich danach. Aber vielleicht auch nicht ... Hatten das Akademiemitglied und er den Teekessel ein zweites Mal aufgesetzt, oder war der Besucher sofort nach dem Zwischenfall mit Hinweis auf die vorgerückte Stunde gegangen? Er konnte sich nicht entsinnen. Eine Lücke. Unklarheit. Es würde für den Fall wohl keine Rolle spielen, Tatsache aber war, daß sich das alles in der Erinnerung sonderbar unscharf darstellte, wie in einem verstellten Fernglas. ... Er ist ein schmutziger, schmutziger Typ! Seine Enkel studieren schon, und er rennt immer noch jungen Weibern hinterher, der alte Bock. Und er redet auch schmutzig, jedes Wort eine Schweinerei. Können Sie sich vorstellen - plötzlich erzählt er mir aus heiterem Himmel, daß er beim Arzt war, da haben sie irgendwelche Analysen gemacht, und die Spermatozoen sind bei ihm, sehen Sie, alle lebendig! Hä?! Was gehen mich, möchte ich wissen, seine Spermatozoen an? Schmutzig ist er, schmutzig, mit nichts als schmutzigen Gedanken. Und ein Dieb. ... Ich werde Ihnen jetzt offen sagen, was ich selbst davon halte: Er hat mich mit irgendwas vergiftet. Immerhin ist er Chemiker. Hat mir irgendein Zeug in den Tee geschüttet und sich, während ich bewußtlos dalag, aus der Sammlung genommen, was er wollte. Und die Alben hat er auf den Boden geworfen, als sei es der Wind gewesen ... Ihm wird ja nicht umsonst nachgesagt, er sei ein Hypnotiseur; er kommt zu jemandem, um angeblich ehrlich seine Sammlung zu kaufen, benebelt ihm die Sinne, und das Opfer gibt die Sammlung für einen Pappenstiel her. Danach erschrickt er, der Ärmste - aber es ist zu spät und nichts mehr zu beweisen ... Zumal, er ist ja Akademiemitglied, Preisträger! >Wie können Sie so etwas von ihm auch nur denken?! Ajajai!< Aber nichts da mit >ajajai<. Ganz und gar nichts ...
Juri hörte sich diese verworrenen Klagen, vermischt mit Beschimpfungen, nahezu geistesabwesend an - er war einer Ohnmacht nahe. Das Herz schlug unregelmäßig, ja es schlug nicht einmal mehr, sondern zuckte nur krampfhaft wie eine Pferdehaut unter den Schlägen der Zügel. Er kämpfte verzweifelt gegen die aufsteigende Übelkeit an, er litt unter Atemnot, und im Kopf ging ihm wie eine kaputte Schallplatte ein einziger Satz aus irgendeinem Roman herum: >Und da begriff ich, wofür man mich bezahlte ...< Ein paarmal hatte er schon den verstohlenen, zornig-beunruhigten Blick des Arbeitgebers auf sich gespürt, darauf aber nur mit verärgert hochgezogenen Brauen und finsteren Grimassen geantwortet, was hieß: >Laß mich in Ruhe! Kümmere dich um deine Angelegenheiten.< Eine derart irrsinnige Konzentration von Lügen war ihm lange nicht mehr untergekommen, vielleicht hatte er sogar dergleichen überhaupt noch nie erlebt. Der grau-staubige Thälmann Iwanowitsch log buchstäblich, wenn er den Mund aufmachte, praktisch Minute für Minute, und zwar ohne erkennbaren Sinn oder irgend ersichtliches Ziel. Jede neue Unwahrheit hieb mit dem Zügel auf den Herzmuskel des armen Juri ein, quer über beide Kammern und die Herzkranzgefäße noch dazu. Juri hatte fast aufgehört, in Thälmann Iwanowitschs Lügen einen Sinn wahrzunehmen, und betete zu Gott nur um eines - daß er jetzt nicht mit dem ganzen Körper auf den Tisch stürzen möge, geradewegs auf seine Aufzeichnungs- und Kontrollgeräte und vor allem auf den Roten Knopf, den unablässig zu drücken ihm schon Schwielen am Zeigefinger verursachte. ... Sie fragen mich, warum ich nichts unternommen habe. (Ein Schlag auf die Herzkranzgefäße - nichts dergleichen hatte ihn irgendwer gefragt.) Und was? Was hätte ich tun sollen? Übrigens habe ich durchaus etwas unternommen! Welche Varianten ich nicht durchprobiert habe! Ich bin persönlich zu ihm gegangen und wußte doch, daß das eine Luftnummer wird, aber ich bin hingegangen! >Daß Sie sich nicht schämen<, hab ich gesagt. (Lüge.) Habe ihn geradezu gefragt: >Wo bleibt Ihr Gewissen, mein Herr?< (Lüge, Lüge, Lüge.) >Sie sind doch ein verdienstvollen, sag ich, >älterer Mann! Sollten langsam an Gott
denken!< (Lügt, lügt, der graue Ratterich - nirgends ist er hingegangen, niemanden hat er geradezu irgendwas gefragt ...) »Und was hat er Ihnen denn geantwortet?« Endlich schaltete sich der Arbeitgeber ein - und wie immer im unerwartetsten Augenblick. »Wer?« »Das Akademiemitglied. Was hat er Ihnen auf die geradezu und direkt gestellten Fragen geantwortet?« »Nichts. Was hätte er auch antworten sollen? Hat sich ausgeschwiegen. Nur mit seinem künstlichen Gebiß gelächelt.« »Nicht widersprochen? Sich nicht empört? Nicht gedroht?« Das trat Thälmann Iwanowitsch gleichsam auf die Bremse. Er bewegte laulos die grauen Lippen. Zog ein kariertes Taschentuch hervor, wischte sich die Stirn ab, den Mund, aus irgendeinem Grund auch die Hände - erst die linke Handfläche, dann die rechte. »Sie kennen ihn schlecht«, sagte er schließlich. »Ich kenne ihn überhaupt nicht«, entgegnete der Arbeitgeber. »Übrigens, wie, sagten Sie doch, lautet sein Familienname?« »Hab ich das denn gesagt?« schreckte Thälmann Iwanowitsch auf. Sogar seine spitzen kleinen Ohren richteten sich auf »Haben Sie es denn nicht gesagt? Akademiemitglied ... Akademiemitglied ... Wyschegradski, nicht wahr?« Thälmann Iwanowitsch verzog nur das Gesicht, sogar ein wenig spöttisch. »Nein«, sagte er beinahe herablassend. »Nicht Wyschegradski. Keineswegs.« »Wer dann?« »Ich möchte keine Namen nennen«, ließ sich Thälmann Iwanowitsch noch herablassender vernehmen, »solange mir nicht klar ist, ob Sie bereit sind, meinen Fall zu übernehmen, und was genau Sie zu tun gedenken.« Doch es war nicht möglich, den Arbeitgeber in die Schranken zu weisen oder ihn gar zu überrumpeln. Noch niemandem (soweit sich Juri erinnern konnte) war es gelungen, den Arbeitgeber zu überrumpeln. Er antwortete unverzüglich und nicht weniger herablassend.
»Wenn ich keine Namen kenne«, sagte er, »kann ich Ihnen überhaupt nicht erklären, was ich zu tun gedenke, und nicht einmal entscheiden, ob ich bereit bin, Ihren Fall zu übernehmen.« Thälmann Iwanowitsch schwieg wohl eine ganze Stunde lang, dann schniefte er und sagte in kläglichem Ton: »Ich bin ja mit ihm beinahe selber ins Kriminelle abgerutscht. Sie werden es nicht glauben. Ich habe ja allen Ernstes erwogen, ihm ein paar schwere Jungs zu schicken, damit sie sie ihm wegnehmen ... oder ihm wenigstens« - sein Gesicht verzog sich und wurde vollends unangenehm - »die Ohren langziehen ... ihm wenigstens die Visage polierten ... Und vor allem - es wäre nicht teuer gewesen. Eine Kleinigkeit. Gott sei Dank hat Frol Kusmitsch es mir ausgeredet, da kann ich froh sein, sonst wäre ich ins Kriminelle abgeglitten und ewig nicht wieder 'rausgekommen ...« »Und wieviel wollte man denn von Ihnen haben?« »Eine Kleinigkeit. Fünfhundert Bucks.« »Hm. Wirklich nicht teuer. Mit wem haben Sie sich verständigt?« Thälmann Iwanowitsch ging sofort auf Distanz. »Was kümmert Sie das? Wozu wollen Sie das wissen?« »Dazu«, erklärte der Arbeitgeber in belehrendem Ton, »daß ich alle kennen muß, ohne Ausnahme, die in diese Geschichte eingeweiht sind. Ohne die geringste Ausnahme!« »Ja niemand ist in diese Geschichte eingeweiht ...« »Was heißt denn >niemand<. Da wäre erstens Frol Kusmitsch ...« »Nichts dergleichen!« protestierte Thälmann Iwanowitsch und erhob sich sogar - um überzeugender zu wirken - ein Stück von seinem Sessel, worauf er in einer angespannten und keineswegs eleganten Haltung erstarrte. »Ich habe ihm nur in den allgemeinsten Zügen ... ohne Namen ... ganz ohne Einzelheiten ... »Ein überaus heikler Fall. Es sind wichtige Personen in ihn verwickelt. < Weiter nichts. Was wollen Sie denn?! Ich versteh doch alles!« »Das ist gut. Aber was ist nun wirklich mit Ihrem Banditen, der einen halben Riesen kostet?« »Ich habe überhaupt nicht mit irgendwelchen Banditen gesprochen! Wie kommen Sie darauf! Ich habe da einfach einen
Bekannten. Dem habe ich überhaupt nichts erzählt, nur gesagt, da sei einer, dem man eine Lehre erteilen müßte ...« »Dem Akademiemitglied.« »Nicht doch! Einfach so einem Typ. Und fertig.« Das war wahr. Zumindest gab es hier keine Spur direkter Lüge wenigstens dafür schönen Dank, kleines staubiges Männlein, dachte Juri, den die Extrasystolen seines Herzens schon völlig geschafft hatten. Der Arbeitgeber wartete eine Sekunde (ob nicht das rote Licht aufleuchten würde) und fuhr fort: »Und in der >Gesellschaft< haben Sie niemandem davon erzählt?« »Das fehlte noch! Natürlich nicht.« »Freunden?« »Ich habe keine Freunde. Solche, denen ich es erzählen könnte.« »Briefmarkensammlern, mit denen Sic bekannt sind?« »Herrgott, nicht doch.« »Dem Sohn? Ihrer Frau?« »Hören Sie doch auf. Was kümmere ich die?« seufzte Thälmann Iwanowitsch. »Die haben ihre eigenen Plackereien.« »Aber das heißt, daß von dieser betrüblichen Geschichte niemand weiß?« »Ja. Genau das. Wie ich Ihnen ja dargelegt habe. Niemand.« »Aber warum eigentlich?« erkundigte sich der Arbeitgeber wie nebenher, aber so, daß sich Thälmann Iwanowitsch sogleich anspannte und sogar die graublauen Händchen um die Armlehnen krallte. »Na ... Was heißt >warum Wozu denn?« »Ich weiß nicht, wozu.« Der Arbeitgeber zuckte mit den Schultern. »Ich wollte mir nur Klarheit verschaffen. Für die Zukunft. Denn wie stellt sich das dar? Ihnen wird eine überaus wertvolle Briefmarke gestohlen. Sie wissen, von wem. Sie ahnen, auf welche Weise. Es vergehen vier Monate, und nun erweist sich: Sie haben keinerlei ernste Schritte unternommen ... niemanden von dem Verbrechen informiert ... sich nicht einmal an die Miliz gewandt. Warum?« Das war eine interessante Frage. Thälmann Iwanowitsch gab darauf keine Antwort. Genauer gesagt, er antwortete mit einer
Gegenfrage: »Ich verstehe nicht - werden Sie meinen Fall übernehmen? Oder nicht?« »Das weiß ich noch nicht«, erwiderte der Arbeitgeber. »Ich bin noch beim Denken, beim Überlegen ... Nach welcher Marke werden wir eigentlich fahnden?« Thälmann Iwanowitsch zog das ganze Gesicht in Falten und ähnelte sofort einer alten Kartoffel. »Hören Sie. Müssen Sie das denn unbedingt wissen?« »Mo-ment mal!« ließ sich der Arbeitgeber mit Samtstimme vernehmen. »Würden Sie denn selber nach einem gestohlenen Gegenstand suchen wollen, ohne zu wissen, was es für ein Gegenstand ist?« »Ja, ja, freilich ...«, murmelte Thälmann Iwanowitsch. Er hatte partout keine Lust, den gestohlenen Gegenstand zu benennen. Er wäre gern ohne dies ausgekommen. »Reicht denn nicht einfach die Angabe: eine seltene, wertvolle Marke? Eine sehr seltene, sehr wertvolle ... einmalige. Hm?« »Wo soll das >angegeben< werden?« »Na ja, ich weiß nicht ... Irgendwie so ... ohne Bezeichnung. Als Umschreibung ... Das ist ja doch nur etwas für Spezialisten. Für Profis sozusagen ... So aber - wozu? ... Für wen? ...« Er sprach immer leiser und leiser und verstummte dann. Weiter unverständlichen Unsinn zu murmeln genierte er sich, den Gegenstand nennen wollte er nicht, und was er mit dem ganzen Knäuel an Widersprüchen machen sollte, wußte er nicht - also saß er schweigend da, den Kopf auf die Brust gesenkt, und betrachtete seine auf den Knien gefalteten Händchen. »Die »British Guayana« erkundigte sich plötzlich der Arbeitgeber, genauer: er sagte es halblaut. Thälmann Iwanowitsch zuckte zusammen und erbleichte sofort. »Woher wissen Sie?« flüsterte er mit belegter Stimme. Der Arbeitgeber zuckte mit den Schultern. »Was kümmert es Sie? Ich weiß es. Hab's erraten.« Eine Zeitlang schauten sie einander an, ohne den Blick abzuwenden. Der Arbeitgeber - selbstsicher, mit der stolzen Bescheidenheit eines Schülers, der einen bemerkenswerten, aber unverhofften Sieg über den Herrn Lehrer errungen hat.
Thälmann Iwanowitsch aber erschrocken, sogar gehetzt, wie er nichts verstand, frappiert war, sich allmählich von dem erlittenen Schlag erholte und neue Schläge erwartete ... Doch er gehörte auch nicht zu den Schwächlingen, unser Thälmann Iwanowitsch, er war nicht so leicht zu überrumpeln, schon gar nicht frontal. Seine Blässe ging allmählich zurück, der Ausdruck von Angst verschwand, und seine ganze groggy Verfassung begann sich zu verflüchtigen. Und plötzlich trat auf sein Gesicht Verständnis, vermischt mit leichter Verachtung. »Gar nichts wissen Sie«, sagte er erleichtert und schon wegwerfend. »Sie haben etwas läuten hören und wissen nicht, woher. Sie denken ja an die rote One-Cent-Marke - nein, mein Bester, da sind Sie auf dem Holzweg! Hat da etwas aufgeschnappt - die Eincenter! Übrigens, woher sollten Sie es auch wissen. Sie haben wahrscheinlich als Kind Marken gesammelt?« »Als Kind«, gestand der Arbeitgeber. Jetzt war die Reihe an ihm, mit bekümmert gesenktem Kopf dazusitzen und schamhaft den Blick abzuwenden. Der Schüler war in die Schranken verwiesen worden, wo er fortan im Zustande von Aufmerksamkeit und Fleiß zu verbleiben hatte. Thälmann Iwanowitsch aber (der Herr Lehrer), der nach dem errungenen offensichtlichen Sieg sogleich gütiger und weicher geworden war, erlaubte sich eine vernünftige Herablassung und erzählte sogleich, was das in Wahrheit für eine Marke war. Juri freilich, der der Philatelie unendlich fern stand, erfaßte aus den herablassenden Erklärungen höchstens den Kern der Sache. Die Marke hieß »British Guayana, erste Nummer<. Als ob er diesen Pferdenamen (aus dem Bereich der Traberprüfungen) erläutern wolle, beschrieb Thälmann Iwanowitsch sie auch als »zwei Cent auf rosa Papier«. Von diesen Marken gab es auf der Welt gar nicht so wenig, ganze zehn Stück, doch sie alle waren, wie sich herausstellte, »gestempelt«, »gelaufen«, Thälmann Iwanowitschs Marke hingegen war »postfrisch«, »allerdings ohne Gummierung«, und dieser Umstand (daß sie »postfrisch« war, nicht das Fehlen der Gummierung) war entscheidend. Nicht nur, daß sie kraft dieses Umstandes in die Kategorie der Unikate fiel,
es wußte zudem auch niemand von der Existenz einer solchen niemand auf der ganzen Welt, keine Menschenseele: Sie war Thälmann Iwanowitschs großes und süßes Geheimnis, das Symbol seiner absoluten Überlegenheit über alle anderen und wohl auch der rote Faden seiner Existenz unter den Menschen und Umständen ... Als er das alles darlegte, hörte er sogar auf grau zu sein - er wurde rosig, ein Pionier/Komsomolze mit heller, kräftiger Stimme, er war um dreißig, vierzig Jahre jünger geworden. Er war glücklich geworden. Er hatte offensichtlich vergessen, daß er diese Marke nicht mehr besaß. Er hatte überhaupt alles vergessen, seine Augen waren jetzt groß, glänzend und freudig, und die Händchen flogen nur so, wie es sich für einen von Inspiration erfaßten Dichter oder Tribun gehört. Und alles, was er sagte, war wahr. »Und wo haben Sie sie her?« erkundigte sich der Arbeitgeber, und Thälmann Iwanowitsch verstummte sofort, als habe man ihm die Luft abgewürgt. Der Arbeitgeber wartete geduldig. Im Zimmer war es so still, daß Juri sogar das leise Schurren des Magnetbandes im Kassettengerät zu hören glaubte. »Wozu? Wozu wollen Sie das denn wissen?« flüsterte Thälmann Iwanowitsch schließlich - und zwar mit solcher Qual in der Stimme, daß der Arbeitgeber sich anscheinend erweichen ließ. »Die Einzelheiten können Sie weglassen«, sagte er mitfühlend. »Wie, was, wo - das ist unwichtig. Ich möchte nur wissen: Wer war der letzte Besitzer? Vor Ihnen?« »Ich weiß es nicht«, sagte Thälmann Iwanowitsch (preßte er mit sichtlicher Mühe aus sich heraus). (Wahr, stellte Juri fest - nicht ohne Verwunderung.) »Wie das?« sagte der Arbeitgeber. Er wunderte sich ebenfalls. »Wie kann das sein? Daß Sie ihn nicht kennen?« Thälmann Iwanowitsch schwieg. Wieder schwieg er - wieder grau, rattenhaft, trübsinnig, und wieder betrachtete er seine Händchen, die tugendhaft auf den Knien lagen. »Nun gut«, sagte der Arbeitgeber. »Meinetwegen. Gott mit Ihnen. Wenn Sie nicht wollen, dann lassen Sie's. Es wird auch so
gehen. Aber wie heißt denn nun Ihr Akademiemitglied? So sperren Sie sich noch nicht, also wirklich! Sie haben doch schon von ihm erzählt: Akademiemitglied, Chemiker, Briefmarkensammler, bedeutender Spezialist für die englischen Kolonien ... Petersburger. Glauben Sie etwa, wir könnten ihn jetzt nicht ermitteln? Können wir natürlich, nur daß wir mit unseren Nachforschungen unnötig Staub aufwirbeln. Denken Sie doch was hätten Sie davon, wenn Staub aufgewirbelt wird?« Thälmann Iwanowitsch ließ sich von dieser energischen Rede anscheinend völlig überzeugen, verhielt sich aber nichtsdestoweniger unerwartet. Er erhob sich plötzlich aus dem Sessel, beugte sich über den Tisch des Arbeitgebers, sagte halblaut »Wo kann man hier bei Ihnen ...?« und fing an, ihm etwas auf einen kleinen Zettel zu kritzeln. »Aber bitte ohne Gequassel. Ich habe Ihnen nichts gesagt!« erklärte er triumphierend und schob dem Arbeitgeber demonstrativ den Zettel unter die Nase. Dann kehrte er in den Sessel zurück, warf wer weiß warum einen Blick auf Juri (zum erstenmal in der ganzen Zeit - schaute herausfordernd, von oben herab, >tja, so sind wir<) und wiederholte: »Aber bitte ohne Gequassel. Was nicht gesagt ist, ist nicht getan!« Eine Zeitlang betrachtete ihn der Arbeitgeber mit einem Gesichtsausdruck, der ein wenig frappiert wirkte; er nahm den Zettel, las, was da geschrieben stand, nickte zufrieden, dann holte er aus der Brusttasche das matt schimmernde >Ronson<, schnippte, hielt den Zettel an die lange bläuliche Flamme, wartete, bis das Feuer seine Finger erreichte, und warf die verkohlten Reste in den kupfernen Aschenbecher. »So?« fragte er Thälmann Iwanowitsch. »So geht es auch«, stimmte Thälmann Iwanowitsch scheinbar gleichmütig zu, in Wahrheit aber sehr zufrieden. »So und nicht anders!« ließ sich der Arbeitgeber strengen Tones vernehmen und begann, die Asche mit einem Bleistiftstummel zu zerdrücken. »Ich habe von Ihrem Fall einen gewissen widersprüchlichen Eindruck gewonnen«, sagte er. »Ich muß nachdenken, bevor ich eine endgültige Entscheidung treffe. Hast ist hier unnötig und
sogar schädlich. Mein Rat: Nichts selbständig unternehmen. Überhaupt nichts unternehmen. Sie werden jetzt meinem Sekretär zweihundert Standardeinheiten zahlen - für die Konsultation. Binnen zwei Tagen werde ich Sie anrufen, wir treffen uns abermals und schließen vielleicht einen Vertrag. Zu den Vertragsbedingungen dann mehr, aber berücksichtigen Sie im voraus: Wir sind eine teure Firma.« Thälmann Iwanowitsch nickte betrübt. Er war mit allem einverstanden. Er schien überhaupt nicht mehr zuzuhören. Und kaum daß der Arbeitgeber eine Pause machte - die bedeutungsvolle Pause, ehe er das Heikelste formulierte -, teilte Thälmann Iwanowitsch plötzlich mit: »Mein Vater war Philatelist ...« Der Arbeitgeber verstummte höflich in Erwartung der Fortsetzung, doch die Fortsetzung kam und kam nicht, es verging eine Minute (das ist sehr lange, wenn im Gespräch eine Pause von einer Minute entsteht, quälend lange - ein hoffnungslos tauber Abgrund an stummer Zeit), dann begann die zweite Minute, und da brach es plötzlich aus Thälmann Iwanowitsch heraus. ... Sein Vater war Philatelist. Nicht irgendein berühmter Philatelist, nein, es fehlte ewig an Geld, dafür war er aber aufopferungsvoll und kenntnisreich, Thälmann Iwanowitsch lernte viel von ihm und trat überhaupt in seine Fußstapfen. Der Vater also brachte nach dem Krieg als Beute eine gewisse Anzahl Briefmarken mit - die Zeit war damals so, viele brachten ganze Koffer voll mit, und viele heute bemerkenswerte Sammlungen nahmen ihren Anfang just damals, aus diesen Koffern. Der Vater freilich hatte keine Koffer, nicht die Spur - ein paar Alben und einen Schuhkarton, der mit Marken verschiedener Länder und Zeiten vollgestopft war. Und erst viele Jahre später, der Vater lebte schon nicht mehr, Thälmann Iwanowitsch hatte es selbst schon zu etwas gebracht und war unter Fachleuten bekannt, fiel ihm dieser Karton in die Hände, und er beschloß nachzusehen, was das für Material sei und ob sich da nicht etwas Interessantes fände.
In dem Karton fand sich unter anderem ein gelbes, festes Kuvert aus Kodak-Fotopapier und in dem Kuvert etliche Dutzend unterschiedlichster Marken, darunter auch auf Ausrissen von Briefumschlägen. Eigentlich werden >Briefstücke< (das heißt, sorgfältig aus dem Kuvert herausgerissene, und zwar so, daß mit der Marke die Poststempel, Aufkleber und sonstiger spezifischer Kram erhalten bleiben) besonders geschätzt, hier aber, in dem gelben Kuvert, gab es nur irgendwelche ramponierte Fetzen von Briefumschlägen und Postkarten, schmutzig, manchmal sogar fettig und dem Aussehen nach alles andere als sammelwürdig. Er nahm sie zu einem besonderen Haufen zusammen und legte sie in eine Schale mit warmem Wasser, damit die Marken vom Papier abweichten - in der Mehrheit »gewöhnliche deutsche Fürstentümer und irgendwas Uninteressantes aus der Schweiz«. Wie groß aber war seine Überraschung, als er eine halbe Stunde später in dem kalt gewordenen Wasser - unter den Fetzen durchnäßten Papiers und den frei umherschwimmenden Marken -dieses blendende Wunder auf rosa Papier fand, diese British Guayana Nummer eins, in hervorragendem Zustand, wunderbar beschnitten, ein >Kabinettexemplar< oder sogar >de luxe superb<, sauber, ungestempelt, allerdings leider ohne Klebstoff. Es war übrigens nicht ausgeschlossen, daß die Marke ursprünglich sogar gummiert war, wie es sich auch für eine postfrische Marke gehört, der Klebstoff sich aber im warmen Wasser unwiederbringlich aufgelöst hatte ... Oder vielleicht hatte sie nie eine Gummierung besessen, wie man es oft bei Marken findet, die in heißen tropischen Ländern herausgegeben wurden ... Jetzt konnte man nur raten, wer der vormalige Besitzer dieses Unikats war. Klar war nur, daß es sich um einen vorsichtigen und vorausschauenden Menschen handelte, der auch gebildet war und durchaus wußte, welch ein Schatz sich in seinen Händen befand - er hatte sein wertvolles Stück recht geistreich versteckt: es auf ein achtlos abgerissenes Stück eines alten Kuverts gelegt und irgendeine Bayernmarke akkurat darübergeklebt, am ehesten wohl aus den zwanziger Jahren, damit das Format möglichst groß und der Wert möglichst gering war ... Eine ganz
einfache Rechnung: Wenn tatsächlich jemand nach der Sammlung trachtete, wen würde da neben den schönen vergoldeten Schaubeck-Alben ein Schuhkarton interessieren und verlocken, vollgestopft mit Marken minderer Qualität, und erst recht in diesem Karton ein unansehnliches gelbes Kuvert aus Kodak-Fotopapier? Während er diese Abenteuergeschichte a la Louis Boussenard erzählte, war Thälmann Iwanowitsch so aufrichtig und offenherzig, wie es überhaupt menschenmöglich ist. Und seine ganze Geschichte, so erstaunlich es sein mochte, war wahr, eine ungewöhnlich reine Wahrheit ohne Beimengungen. Allerdings mit einer einzigen, aber recht wesentlichen Ausnahme: Es hatte kein gelbes Kuvert in einem Schuhkarton gegeben. Es war nicht dort gewesen. Es war auf irgendeinem anderen Wege zu Thälmann Iwanowitsch gelangt. Auf einem völlig anderen. Und Thälmann Iwanowitsch wünschte aus irgendeinem Grunde nicht zu erzählen, auf welchem. Lyrische Abschweifung Nr. 2 Thälmann Iwandwitschs Vater In dem großen, sogar riesigen Arbeitszimmer (wo alles riesig war - die Sessel, das elektrische Licht, der Tisch, die Fenster, von titanischen Vorhängen verdeckt, das Lenin-Porträt über die ganze Wand) befanden sich zwei kleine Menschlein, beide in gewisser Hinsicht einander ähnlich: Sie waren beide grau, hatten schütteres graues Haar, Wangen, ein für allemal von den Pocken entstellt, nur daß einer von ihnen ruhig am Tisch stand und sein Gesicht reglos war, der andere aber in einem gigantischen Sessel an ebendiesem Tisch saß und mit dem ganzen Körper einschließlich des Gesichts gequält zuckte, als versenge ihm der Sessel den Hintern. Bald verlangte es ihn, aufzustehen, Hände an der Hosennaht, bald sich bis auf Null zu verkleinern, überhaupt zu verschwinden und sich anderswo zu befinden, und seine Gedanken zuckten so fieberhaft und gequält wie er selbst. Selbstverständlich schwieg er eisern und versuchte, nicht einmal zu atmen. Und es schwieg (lange, unerträglich lange) der zweite
Mann - schaute auf die Wand zwischen den Fenstern, ins Nichts, als ahne er, daß er, wenn er das Menschlein im Sessel anblickte, es mit diesem Blick unwillkürlich töten könnte. Dann sagte er - leise und fast nicht zu verstehen: »Es besteht die Ansicht, daß man unserem Freund und Verbündeten Herrn Roosevelt ein gutes Geschenk machen muß. Man hat mir mitgeteilt, daß er Philatelist ist. Sich mit Philatelie befaßt. Ist das wahr, Genosse Jepantschin?« »Jawohl, Genosse Stalin!« Das Männlein im Sessel verschluckte sich und hustete krampfhaft. »Entschuldigen Sie ... Und man sagt, er sei ein leidenschaftlicher Philatelist!« Es trat eine neue lange, aufreibend lange, quälende Pause ein. »Und was bedeutet das - >Philatelie« »Das Sammeln von Briefmarken, Genosse Stalin. Zum Zweck, eine Kollektion anzulegen, sowie ...« »Das weiß ich. Ich frage: Was bedeutet das Wort selber - >Phila-te-lie In welcher Sprache?« »Das ist Griechisch, Genosse Stalin. Und die Übersetzung ... wie sagt man es am besten ... Buchstäblich?« »Natürlich. Am besten buchstäblich.« »>Abneigung gegen Postgebühren ... So ist es wohl am genauesten.« »Wie haben Sie gesagt?« »>Abneigung gegen Postgebühren, Genosse Stalin. Oder noch genauer: >Liebe zum Nichtbezahlen von Postgebühren< ...« Der Stehende sagte verwundert: »Irgendwelche Dummheiten ...« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Und überhaupt eine dumme Beschäftigung. Ein erwachsener, kluger Mann, Politiker, und befaßt sich mit Dummheiten.« Wieder schwieg er eine Weile. »Aber vielleicht ist er überhaupt nicht klug? Vielleicht halten ihn nur alle für klug, und in Wahrheit ist er ein Dummkopf?« Und er begann zu lachen - leise, fröhlich und unerwartet, als habe plötzlich sein weltbekanntes Porträt zu lachen begonnen. Und ebenso unerwartet verdüsterte sich seine Stimmung wieder. »Und was meinen Sie, hat er sowjetische Marken in seiner Sammlung?«
»Ich glaube, ja, Genosse Stalin. Ich glaube, er hat eine sehr gute Sammlung von sowjetischen Marken.« »Hat er alle sowjetischen Marken?« »Das glaube ich nicht, Genosse Stalin. Ich glaube, niemand auf der Welt hat alle sowjetischen Marken.« »Warum?« »Es gibt Raritäten, von denen nur fünf, sechs Stück bekannt sind, sogar weniger.« »Das ist gut. Das ist sehr gut. Ihre Aufgabe nimmt Gestalt an. Man muß eine komplette Sammlung aller sowjetischen Marken zusammenstellen, und wir überreichen sie Herrn Roosevelt. Was glauben Sie, wird er zufrieden sein?« »Er wird begeistert sein, Genosse Stalin. Aber das ist unmöglich.« »Warum?« »Man kann keine vollständige Kollektion zusammenbringen ...« »Betrachten Sie das als Parteiauftrag, Genosse Jepantschin. Sie müssen sie zusammenbringen. Termin - in einem Monat. Wir denken, das wird genügen. Wenden Sie sich an Genosse Be-rija. Er ist informiert und wird Ihnen helfen.« »Zu Befehl, Genosse Stalin«, sagte das kleine Männlein Jepantschin und verging vor Entsetzen. ... Doch unabhängig von diesem Entsetzen hatte sein Denken zu arbeiten begonnen. Vom konsularischen Halbrubel würde er sein eigenes Exemplar abgeben müssen, dachte er besorgt. Und den ungezähnten Farbfehldruck >70 Rub.< ... Wo bekam er den Lewanewski mit dem verdrehten Überdruck und dem kleinen >f< her? ... Gurwiz-Kogan hatte ihn gehabt, er hatte ihn verkauft wem? Er muß es wissen. Er weiß es. Und er wird es sagen. Nicht mir, den Organen wird er es sagen ... Dem Genossen Berija wird er es sagen, dachte er mit einer plötzlichen Härte, die ihn selbst erstaunte: Er fühlte sich stark und groß, wie es bei ihm manchmal im Traum vorkam ... So oder ungefähr so also fand die einzige und letzte Sternstunde in seinem Leben statt. So oder ungefähr so erzählte er später seinem Sohn davon - dem kleinen, weinerlichen, launischen, aber aufgeweckten Thälmann Iwanowitsch. Aber nichts erzählte
er davon, was er duchgemacht hatte, als man ihn in dem riesigen schwarzen Auto in den Kreml gebracht hatte. Wie er in dem riesigen Arbeitszimmer heldenhaft dagegen angekämpft hatte, sich vor Angst in die Hosen zu machen. Und wie er am Tag darauf einen Herzanfall bekommen hatte - vor nervlicher Überanstrengung. 'In langweiligen Gesprächen über Menschen der Vergangenheit sind die Geheimnisse ihrer großen Taten verborgenen.' ... Und natürlich hatte er nichts davon erzählt, wie er in einer Sonderwohnung gesessen und vier schreckliche Wochen lang fieberhaft die Geschenkkollektion für den verdammten Amerikaner zusammengestellt hatte - aus den vielen Sammlungen, die ihm ein unangenehmer Mann in Zivil brachte manchmal schweigsam, manchmal aus irgendeinem Grund krankhaft gesprächig, manchmal beherrscht, morgen aber plötzlich ungeniert, gestern ein Schönling (Milch und Blut) und heute nichts von alledem - aber immer äußerst unangenehm im Umgang, und seine Augen waren immer die eines Wolfes, hungrig, zielgerichtet und einen gleichsam aufs Korn nehmend. Dabei hätte es so viel zu erzählen gegeben! Wie er in einem durch und durch, bis zum letzten Schräubchen ausgekühlten Flugzeug, nachdem man ihn nachts aus dem Bett geholt hatte, an einen unbekannten Ort flog, der sich als Leningrad erwies, das Funkmuseum, wo in einem eisigen, bis in den Keller ausgekühlten, einst luxuriösen Gebäude die Staatliche Kollektion eingefroren war - ein unschätzbarer philatelistischer Schatz unter der Aufsicht eines halbtoten Kustos, der kaum noch einem Menschen ähnelte, eher einer schwarzen Mumie, eingemummelt in drei Pelzmäntel und einen Kutscherpelz ... Wie ihm die Flände zitterten und ihm übel wurde, wenn sich wieder einmal eine Sammlung, die ihm der Mann in Zivil brachte, als die Kollektion eines Bekannten erwies, die er zuvor hundertmal gesehen, mit neidischen Blicken blankgeputzt hatte ... Und natürlich stand ihm auch sofort der Besitzer vor Augen, aber nicht als lebendiger Mensch, sondern als Leichnam, obwohl er natürlich ahnte, daß sie niemanden umbringen würden - sie würden einfach für den Bedarf des Staates konfiszieren und eine
Quittung ausstellen ... na ja, einen einlochen - im äußersten Fall ...im alleräußersten Fall ... Er wollte nicht daran denken. Wie er einmal das Bewußtsein verloren hatte, als statt des gewohnten Wolfes in Zivil plötzlich ein Kerl in Uniform in die Sonderwohnung kam und schon von der Schwelle her brüllte: »Sabotierst also, du Miststück? Willst eins in die Fresse? Behinderst die Untersuchungen? ...« Wie sich zeigte, hatte er auf der Liste den Namen eines Philatelisten falsch angegeben, statt eines Z ein S geschrieben - woher sollte er denn wissen, wie sich dieser bescheuerte Familienname schrieb, hatte ihm noch nicht in den Ausweis geschaut ... und die hatten ihn nicht finden können, hatten die ganze Stadt Gorki auf den Kopf gestellt - so einer war nicht zu finden, wie vom Erdboden verschluckt ... Gott sei Dank klärte sich alles augenblicklich, und die Sache ging mit diesem Wutschrei und einem kleinen Unwohlsein bis zum Ende des Tages ab ... Dann war alles vorbei gewesen. Man hatte ihn kommen lassen, ihm gedankt, ihn eine Schweigeverpflichtung unterschreiben lassen, und ein paar Monate später (auch der Krieg war schon vorbei) bekam er eine Wohnung - zwar in Leningrad, dafür aber eine gute, mit zwei Zimmern im zweiten Stock (in Moskau hatte er im Souterrain gewohnt, wo das Fenster auf die Gemeinschaftstoilette hinausging). Und ein weiteres halbes Jahr später lud man ihn zu einem großen Chef ein, und der überreichte ihm lächelnd eine Anweisung, die ihn berechtigte, beschlagnahmtes Material nach eigener Wahl »in 2 Ex.« in Empfang zu nehmen. Als Mitarbeiter, der sich ausgezeichnet hatte. (»Sie haben ja Ihre eigenen Marken hergegeben, aus Ihrer Sammlung, wir wissen das doch, haben's nicht vergessen ...«) Im Depot für beschlagnahmte Güter warf ihm ein schläfriger feister Hauptfeldwebel an die zwanzig Alben auf die Theke ... Herrgott, das war wie in einem schönen Traum! Er wählte aus und wählte aus, blätterte, schaute durch, legte beiseite, traf eine Entscheidung und nahm sie sofort wieder zurück ... O süße Qual der freien Wahl! Und dann, als er sich schon entschieden hatte, schon ausgewählt, schon beiseite gelegt und sogar schon die Empfangsbestätigung unterschrieben hatte - hielt er es nicht
mehr aus, begann zu quengeln, zu bitten, mit Tränen in der Stimme zu betteln - ach, noch etwas, wenigstens dieses kleine Einsteckalbum (unter anderem mit einer Zusammenstellung der Black Penny), er ist doch so winzig, steht sicherlich nicht einmal im Verzeichnis ... Und man stelle sich vor: Der feiste Hauptfeldwebel erwies sich als Mensch mit Herz. Das kleine Einsteckalbum gab er ihm natürlich nicht, aber er stellte ein paar Kartons auf die Theke, anscheinend Schuhkartons, und bot an: Such dir einen aus, ist nicht schade drum. Und er suchte sich einen aus. Da war aller möglicher Kram, >Altdeutschland< auf kleinen Briefstücken mit Stempeln, aber sowas liegt ja auch nicht auf der Straße. Er nahm es. Sollte es bei ihm liegen ... ... Diese Einzelheiten hatte er auch niemals erzählt, nicht einmal seinem Sohn, und natürlich auch niemandem, daß er bis zum Ende seines Lebens >für die< gearbeitet hatte - als Gutachter für beschlagnahmtes Material. Und es übrigens niemals bereut hatte. Drittes Kapitel Dezember. Immer ndch zweiter Montag. Klein Motowildwo »Erstmal, erstmal koch ich Tee, und dann mahl ich mir Kaffee«, sang der Arbeitgeber zu einer nicht recht definierten, aber jedenfalls barbarischen Melodie vor sich hin. »Was ist denn das nun wieder?« erkundigte sich Juri ohne besonderes Interesse. »Keine Ahnung. Fiel mir nur eben so ein.« Sie saßen an dem Tischchen, wo für gewöhnlich die Verträge unterzeichnet wurden, und tranken Tee, der von Miriam Solomonowna serviert worden war. Es war ein makellos heißer, rubinfarbener Ceylontee in schmalen Gläsern mit silbernen Untersätzen. Zum Tee wurden Sandgebäck Marke >Neshnost< und göttliche, zu Hause gebackene Milchbrötchen angeboten Miriam Solomonowna war wie immer auf einsamer Höhe. Juri freilich trank den Tee ohne jeden Genuß und gähnte immerzu krampfhaft. Ihm mangelte es nach der Überbeanspruchung an Sauerstoff, und er hätte gern wenigstens
zehn Minuten ein Nickerchen gemacht. Irgendwann geb ich den Löffel ab, dachte er hoffnungslos. Was hab ich mir nur für eine Arbeit ausgesucht, du liebe Güte ... »Ich verstehe trotzdem nicht: Klickt da etwas in dir, oder wie?« fragte plötzlich der Arbeitgeber mit eindringlichem Blick. »Oder wie«, antwortete Juri abweisend. Er suchte sich ein möglichst dunkles Milchbrötchen aus, biß lustlos hinein, trank ein bißchen Tee aus dem Löffel. »Nein, also wirklich ...«, beharrte der Arbeitgeber. »Ich bin selber nicht auf der Wurstbrühe hergeschwommen, Gott sei Dank, irgendwie kann ich Lüge und Wahrheit unterscheiden, aber nicht zu hundert Prozent, wahrlich.« »Ich aber - zu hundert Prozent. Das ist der ganze Unterschied zwischen uns. Für diesen Unterschied bezahlst du mich.« »Gut, gut. Bezahlen ... Du könntest andauernd von Geld reden ... Aber erklär es mir. Du hast es schon so oft versprochen. Also, was empfindest du, wenn er lügt, was hast du dabei für ein Gefühl? Körperlich?« Juri ließ schmerzhaft die Kiefer knacken, würgte das nächste Gähnen ab. Ja wie soll ich dir das erklären, dachte er hoffnungslos. Vor allem - es einem gesunden Menschen erklären, bei dem das Herz wie ein Metronom schlägt ... Es ist nicht zu erklären. Und wozu auch. »Als ob das Leben durch die Schulterblätter entweicht«, sagte er langsam. Und wunderte sich sogleich über sich selbst. Er hatte es ja nicht sagen wollen, es aber trotzdem gesagt. Und natürlich völlig vergebens. »Ist das ein Zitat?« erkundigte sich der Arbeitgeber. »Nein. Das ist so eine Empfindung.« »Hauptsache, du machst mir kein X für ein U vor.« »Ach, geh doch zum ...« Nun hatten sie also drüber gesprochen. Eine Zeitlang ging das Teetrinken in demonstrativ unfreundlichem Schweigen weiter. Dann fragte der Arbeitgeber betont sachlich: »Morgen entzifferst du die Aufzeichnung?« »Selbstverständlich. Vielleicht sogar schon heute.«
»Heute schaffst du es nicht«, sagte der Arbeitgeber wie im Ton einer Entschuldigung. »Wir haben heute noch einen Kunden. Und zwar einen sehr ernsten. Wie ist es, hältst du das durch?« »Wenn er genauso lügt wie der vorhin - dann gebe ich unbedingt den Löffel ab. Verlaß dich drauf. Das war ganz was Besonderes.« »Hm-ja, ein merkwürdiges Exemplar. Ich weiß nicht, was ich denken soll.« »Ich versuche es nicht einmal«, sagte Juri und goß sich noch ein halbes Glas ein. »Totale Finsternis. Ich habe keine Vorstellung, was du mit alledem anfangen wirst.« »Gar nichts vermutlich.« »Wie das?« »Dem hat einfach niemand diese Marke gestohlen.« »Wie das?« Der Arbeitgeber trank seinen Tee aus, lehnte sich auf dem Sofa zurück, verknotete seine kräftigen Beine zu einer absonderlichen Jeansschraube und widmete sich dem >Ronson< und einer Zigarette - zündete sie akkurat an, blies zwei akkurate Ringe zur Decke und schaute Juri aus zusammengekniffenen Augen an. »Vor allem solltest du dich damit nicht zu sehr belasten«, riet er mit Nachdruck. »Was hast du davon? Du mit deinen moralischen Prinzipien?« Meine moralischen Prinzipien, dachte Juri. O Gott! >Du sollst nichts Fremdes nehmen und keine Unwahrheit sprechend Und im übrigen: >Pause machen, Wagen schmieren; Wagen schmieren, Pause machen.< Eine luxuriöse ethische Palette, die schneebedeckten Gipfel der Moral ... »Pause machen, Wagen schmieren«, sagte er laut, »Wagen schmieren, Pause machen.« »Wahrhaftig!« rief der Arbeitgeber aus, und als habe er sich einen Ruck gegeben, begann er, die Zigarette im Aschenbecher auszudrücken. »Fahren wir. Wir haben noch tüchtig was wegzuschrubben - fünfundvierzig Ka-em auf Schotter.« Doch es gelang ihnen nicht, loszufahren: Ohne Bericht, dafür aber im mächtigen grauen Wattemantel bis zu den Fersen stürzte Borka Solotonoschin herein, Agent B, gutaussehend und
quicklebendig. Nachdem er eilig Hände geschüttelt hatte (rote Pfoten, frisch gefrostet, eisig), zog er vorn unter der Jacke einen Stapel Papier mit krummen Ecken hervor und reichte ihn - mit unverständlichem Gemurmel - dem Arbeitgeber, sich selbst aber schüttete er, ohne sich zu setzen oder gar auszuziehen, ins erstbeste, nicht abgewaschene Glas den Rest des Ceylontees. Nach seiner Erscheinung zu urteilen, hatte der Regen draußen aufgehört, das Tauwetter ebenfalls, und es fiel jetzt dichter Schnee - dieser Schnee nun fing an, auf Borka zu tauen und in Klumpen auf den Teppich, das Tischchen, das Sofa zu fallen, da sich Borka unablässig bewegte, rührte, kochte, verdampfte, und Juri stand auf und ging zu seinem Arbeitsplatz - möglichst weit weg von all diesen physikalischen Erscheinungen. Der Arbeitgeber schaute die Papiere schnell, aber aufmerksam durch wie ein Lesegerät, etwa ein Scanner, und fixierte Borka erwartungsvoll. »Das ist alles?« erkundigte er sich. »Er sagt, es sei alles«, antwortete Borka, ohne mit dem Kauen und Teetrinken aufzuhören. »Prachtkerl«, sagte der Arbeitgeber zu ihm. Er öffnete die Tür des Wandtresors, legte die Papiere hinein, holte ein Päckchen aus der Tiefe (grün, mit darumgespanntem Gummi), steckte es in die Seitentasche und verschloß den Tresor wieder. »Werden Sie ihn kommen lassen? Ihm die Leviten lesen?« wollte Borka wissen. »Unbedingt.« »Soll ich anrufen?« »Ungesäumt.« »Gleich jetzt?« »Auf keinen Fall!« sagte der Arbeitgeber. »Jetzt gehst du nach Hause, nimmst eine warme Dusche, ißt etwas, bumst deine Swetlana ...« »Sie ist auf Arbeit«, sagte Borka und zerfloß in einem glücklichen Lächeln. »Sie hat gestern eine Arbeit gefunden.« »Na, dann duschst du noch mal - kalt ...« »Aber der zerkaut sich doch jetzt die Finger, Pal Petrowitsch. Der wird doch vor Erwartung glatt das Zeitliche segnen ...«
»Wetten, daß nicht?« schlug der Arbeitgeber vor. Er war schon dabei, seinen großmächtigen Mantel überzuziehen. »Du wirst ihn abends anrufen, so gegen sieben, nicht früher, und bestellst ihn für morgen um zehn hierher. Und er soll den Rest mitbringen ...« »Er hat gesagt, das sei alles.« »Er soll den Rest mitbringen!« brüllte der Arbeitgeber. »Sag ihm das. Und in genau diesem Ton. Soll er sich in die Hosen machen - dieser Adenom Prostatitowitsch, dieser inoperable!« >Aclenom Prostatitowitsch< war die Perle des Tages, und Juri klatschte bereitwillig Beifall - der Arbeitgeber hatte ihn verdient. Doch der Arbeitgeber hatte sich schon wieder auf den Ernst des Lebens eingestellt. »Pack das Aufnahmegerät ein«, kommandierte er. »Und beweg dich, du siehst doch, daß ich schon im Mantel dastehe.« »Das geheime oder das gewöhnliche?« erkundigte sich Juri. »Nimm beide. Für alle Fälle. Kann nicht schaden.« »Zu Befehl, Kommandeur«, sagte Juri und begann, das Aufzeichnungsgerät einzupacken. Agent Borka aber stand mit einem Glas kalt gewordenen Tees da und hypnotisierte mit entsagungsvoll-nachdenklichem Blick das einzige in der Schale verbliebene Milchbrötchen - so hypnotisiert ein Chamäleon eine vor Entsetzen erstarrte Fliege, ehe es sie ein für allemal mit der Zunge einkassiert. Im Wagen richtete sich Juri darauf ein, ein wenig zu dösen - er entspannte sich, den Kopf an den Spalt zwischen Lehne und Seitenwand geschmiegt, schloß die Augen und versuchte, an etwas Angenehmes zu denken. Wie er in das kleine Kellergeschäft >24 Stunden< geht und dort allerlei Schmäckerchen für Jeanne kauft: etwa Karbonade, Lachs, heiß geräuchertes Störfleisch ... ein französisches Stangenbrot ... Oliven ... Kaviar ... Und eine Flasche Beefeater und SchweppesTonic, versteht sich ... Es soll für uns ein Festmahl des Geistes werden, dachte er wollüstig. Ein Abend fleischlicher Genüsse und freudiger Ergüsse ... Nur wenn sich der Kunde als schlecht erweist, ist es nichts mit den fleischlichen Genüssen - sie werden sich verflüchtigen ...
»Und was ist das für ein Kunde?« fragte er, ohne die Augen zu öffnen. »Gemach, gemach«, antwortete der Arbeitgeber. »Ein normaler Kunde. Ein großer Redner.« »Aber dabei ein großer Schwindler?« »Hoffentlich nicht. Sonst ist er nichts wert. Und ich übrigens auch nicht«, fügte der Arbeitgeber selbstkritisch hinzu. »Die Handlung findet bei ihm zu Hause statt?« »Nein. Die Handlung entwickelt sich für uns in den Wänden des Brysgowizynschen Alters- und Behindertenheims. Hast du von Herrn Brysgowizyn gehört, von Leonid Jurjewitsch? Ein DollarMultimillionär und wohlmeinender Beschützer der Kleinen und Schwachen - heimatloser Hunde und Katzen, verwaister Krokodile und auch hoffnungsloser Krüppel. Eine phänomenale Persönlichkeit, aber ihm werden wir nicht begegnen. Er ist jetzt in Dresden auf der Porzellanmesse. Wir aber werden eine offene und ausführliche Unterredung mit Herrn Koloschin haben, Alexej Matwejewitsch Koloschin. Alexej ist ein Mensch, der seinesgleichen sucht. Das ist eine Gestalt! Du wirst selbst sehen.« Sie standen am Platz des Sieges und ließen den Verkehr vorbei, der ihnen auf der Pulkower Chaussee entgegenkam. An die Stelle der sanften flaumigen Flocken war jetzt heftiger Graupel getreten, der Wind ließ ihn in Säulen wirbeln, und im grauen Licht des träge ersterbenden Bißchens von Tag sah man, wie auf dem vom plötzlichen Frost Überfallenen Asphalt Eisbelag gefährlich glänzte. »Und wo wird sich das alles abspielen?« »In der Ortschaft Motowilowo.« »Oh, Motowilowo! Der Nabel der russischen Erde.« »Nein, Bruderherz«, entgegnete der Arbeitgeber. »Der Nabel der Erde ist Groß Motowilowo, aber wir beide fahren nach Klein Motowilowo.« Juri schloß die Augen wieder und enspannte sich. Dann eben klein. Von ihm aus überhaupt - mikroskopisch. Mikro-Motowilowo - das klang nicht einmal übel. Makro-Motowilowo und Mi-kroMotowilowo ... Noch an die drei Stunden, dachte er. Na,
meinetwegen vier, und alles ist vorüber, und ich kann auf alles pfeifen. Wenn nur der Kunde sich nicht als schwierig erweist. Soll es doch ... soll es doch ein würdiger alter Herr sein, den es verlangt, sagen wir, dem Schicksal seines nicht ganz wohlgeratenen Enkels nachzuforschen ... Oder zum Beispiel dem Schicksal der Tochter, die in die Netze organisierter Erpressung geraten ist ... Interessant, woher wohl der feine Herr aus dem Altersheim das Geld hat, um uns zu bezahlen? >Wir sind eine teure Firma ...< »Und was ist das für einer - dieser Galoschin?« erkundigte er sich, ohne die Augen zu öffnen. »Nicht Galoschin«, sagte der Arbeitgeber belehrend, »und nicht Kaloschin, sondern Koloschin. Er ist Geheimnisträger.« »Was ist er?« »Eine Person, der Informationen bekannt sind, die ein Staatsgeheimnis darstellen.« Als Juri das hörte, wurde er unruhig und öffnete die Augen. »Das hat uns gerade noch gefehlt! Wozu machst du das?« »Gemach, gemach. Wir haben alles im Griff. Niemand macht Probleme, keine. In Wahrheit ist das ein hochbetagter Invalide, unendlich weit von allem entfernt. Also beruhige dich und penne weiter. Wir müssen noch jede Menge wegschrubben, und das auf dieser Straße.« Die Straße war eine Eisbahn. Es dämmerte schon - die Stunde zwischen Hund und Wolf-, der Gegenverkehr hatte die Scheinwerfer eingeschaltet, und in ihrem zunächst noch gelblichen Licht glänzte düster das Eis. Alle, die ihnen entgegenkamen, fuhren langsam, fuhren nicht einmal, sondern krochen, arbeiteten sich vorsichtig voran, als ob sie mit dem Abblendlicht die Straße vor sich abtasteten. »Gleich werd ich singen«, sagte der Arbeitgeber angespannt vor sich hin, und Juri setzte sich sofort gerade auf und langte sicherheitshalber nach dem Griff über der Tür. Sieht übel aus, dachte er. Der Arbeitgeber schien überhaupt nichts gemacht zu haben, nichts Merkliches, nur Gas hatte er vielleicht ein klein wenig mehr gegeben, um nicht vollends stehenzubleiben, doch der Wagen wurde plötzlich zur Seite getragen, er zog schwerfällig
Schlangenlinien und begann seitlich wegzurutschen, seitlich, seitlich wie ein Krebs über die Steine. »Abends ist mit grauem Dunst die Nacht ...«, begann mit kläglicher, hoher, dünner Stimme der Arbeitgeber, während er mit ganz sachten Handbewegungen den Wagen abfing, «... übern roten Himmel vorgedrungen ...« Jedesmal, wenn sie auf ein schwieriges, unpassierbares oder gefährliches Stück Straße gerieten, begann der Arbeitgeber zu singen, und seine Lieder waren in diesen Fällen immer klagend, seltsam und Juri in der Regel völlig unbekannt. »... hat der Wind ein Lied zu mir gebracht, Liebste, das du seinerzeit gesungen ...« Gleich werden wir in irgendeinen Mercedes knallen, dachte Juri, der versteinert auf die luxuriösen roten Schlußlichter eines vor ihnen einherkriechenden ausländischen Wagens starrte. Das können wir unser Lebtag nicht bezahlen ... Oder einer knallt auf uns drauf, so ein cooler Typ. Mit demselben Ergebnis ... Oder wie wär's mit der Böschung? Eine gute Böschung, vielversprechend, zwei Meter hoch ... (Und graue, halbblinde gleichgültige Häuschen, halb im Schnee versunken, links und rechts von der Straße. O dieser bleierne Idiotismus des Landlebens!) Der Wagen scherte abermals aus, und abermals ohne jeden ersichtlichen Grund. Juri umklammerte mit der rechten Hand den Griff noch fester und stemmte die linke gegen das Armaturenbrett - zur größeren Festigkeit. >Zur Festigkeit, zur Leichtigkeit und zum besseren Abfließen des Blutes<, ging es ihm mir nichts, dir nichts durch den Sinn, der Arbeitgeber aber heulte noch immer, litt, klagte: »Ach, ich hab so oft an dich gedacht, wo du jetzt wohl sein magst in der Ferne ...« Sie fuhren schon über eine Stunde. Es dunkelte. Die Lichter des Gegenverkehrs blendeten, und das Eis auf der Straße sah aus, als sei das keine Straße, sondern ein zugefrorener Fluß. Die weiße Grütze des Schneetreibens warf sich im Scheinwerferlicht hin und her. Hinter ihnen hing gut zwei Minuten lang mit funkelnden Lichtern ein monströser Überlandbus, bis er schwerfällig ausscherte und verbissen zum Überholen ansetzte. Juri biß die Zähne zusammen. Los schon, Eisen ist genug da.
Das ist vielleicht ein Überholkünstler ... Der Bus zischte und fauchte, hing nun schon links über ihnen, und der Arbeitgeber verstummte und war am Steuer vollends versteinert - er kroch kaum noch am äußersten Straßenrand dahin und wagte weder Gas zu geben noch, Gott behüte, zu bremsen. Dann entfernte sich das Sternbild aus roten und gelben Lichtern zusammen mit dem riesigen Heck des Überland-Dread-noughts, auf dem sich eine schmutzige Schneekruste gebildet hatte, nach vorn, hing ein Weilchen neben dem ausländischen Wagen, der wie flachgedrückt wirkte (anscheinend vor Entsetzen), und verschwand endgültig in Nacht und Schneegestöber. »Abends fiel Regen sacht, du hast gescherzt, gelacht, schenktest mir blutrote Nelken so schön ...«, sang der Arbeitgeber erleichtert, an Geist und Körper etwas entkrampft. Dieses Lied kannte Juri, daher fiel er sogleich bereitwillig und begeistert mit der zweiten Stimme ein: »Morgens darauf im Traum, herrlich, man glaubt es kaum, hab ich die Blumen, die roten, gesehn ...« Im Scheinwerferlicht vor ihnen tauchte der blaue Wegweiser »Klein Motowilowo 6 km« auf, der Arbeitgeber verringerte die Geschwindigkeit auf ein Minimum und bog mit größter Vorsicht nach rechts (wenigstens nicht nach links!) auf eine von jungfräulichem Schnee zugewehte Straße mit einer flachen Fahrspur ab. Zu beiden Seiten erhoben sich hier wunderbar ungefährliche Schneewehen, hinter den Schneewehen zitterte schwarzes Gebüsch im Winde, und im Scheinwerferlicht war jetzt Gott sei Dank nichts zu sehen als die Säulen wirbelnden Schneegraupeis und silberschwarze Leere. Wenn ihr sie draußen trefft, sie in der Freiheit trefft, Bitte versucht dann nicht, sie zu verführn -Hab doch nichts anderes hier hinter kaltem Stein Als ihre Liebe allein mehr zu verliern ... Bei den letzten Worten dieses alten wehmütigen Liedes, von dem es hieß, es sei noch zur Zeit der Großen Einfuhren von einem berühmten Knastbarden gedichtet worden, kamen sie zu den weit offenen, schiefen Torflügeln in einem hohen Bretterzaun. Der Zaun verschwand links und rechts in der undurchdringlichen Finsternis des Schneetreibens, so daß nur ein paar Dutzend
Meter abgeschabter Bretter mit trübsinnig durchhängendem Stacheldraht obenauf zu sehen waren. Der geräumige Hof jenseits des Zauns war leer. In seiner Tiefe leuchteten verschiedenfarbig die zugezogenen Fenster eines flachen zweistöckigen Hauses mit verschneiten Autos an der Auffahrt. Beiderseits des Hauses bildeten einzelne Bäume so etwas wie ein Wäldchen. Unter der einsamen Laterne mitten auf dem Hof aber stand mit krummen Schultern ein verschneiter Mann in einem bodenlangen Umhang mit Kapuze (ganz wie der Soldat auf Wereschtschagins Triptychon >Alles ruhig am Schipkapaß<), und um ihn herum rannte, die Leine hinter sich herschleifend, ein gefleckter Foxterrier, der dem Aussehen wie auch dem Verhalten nach einem konzentriert energischen lockigen Ferkel ähnelte. Im hell erleuchteten und leeren Vestibül hing ein unbekannter, aber starker Geruch, nicht wie im Krankenhaus, sondern eher zoologischer oder botanischer Natur, vielleicht aber auch nur der Geruch von Herztropfen im Verein mit einem leichten, gleichsam pulsierenden Rüchlein von etwas undefinierbar Mistigem. Eine Tante in einem grünen Kittel saß reglos in der Ecke, einen Schrubber quer über den Knien und einen weißen Blecheimer neben sich - sie betrachtete sie ohne jedes Interesse und schwieg. Hinter dem Empfangstresen befand sich niemand, und es versuchte nicht einmal jemand, sie aufzuhalten, als sie - der Arbeitgeber entschlossen voran, Juri mit besorgt-finsterer Miene hinterdrein - den Raum durchquerten und in einen Korridor eintauchten, der von bläulichen Leuchtstoffröhren erhellt war. Der Arbeitgeber war anscheinend schon hier gewesen, seiner Orientierung nach zu urteilen aber nicht oft. Zunächst war er (ständig auf die Uhr blickend) in den zweiten Stock gegangen, auf irgendein dämmriges verqualmtes Zimmerchen ohne Menschen und ohne Licht gestoßen, dann unter Erwähnung des Teufels wieder hinab in den ersten Stock, er war den ganzen Korridor entlanggegangen und hatte dabei die Türschilder gelesen, bis er an das verglaste blinde Ende kam, hinter dem nichts mehr lag als Schneegestöber und wehmütig schwankende Bäume, war scharf nach rechts durch eine unscheinbare Tür
ganz ohne Aufschriften und Wegweiser abgebogen und auf einer spärlich beleuchteten schmalen Treppe wieder in den zweiten Stock hinaufgestiegen. Die ganze Zeit war ihm Juri schweigend und ohne zu murren gefolgt, hatte sich nur über die sonderbaren Zustände in diesem sonderbaren Altersheim gewundert: menschenleer wie in einem verwunschenen Königreich, überall haarige Palmen in breiten Bottichen und - Stille wie in einem Gotteshaus.Danach wurde es freilich noch sonderbarer. Sie öffneten ohne anzuklopfen eine verglaste, aber mit weißer Farbe übermalte Tür mit einem Schild (das zu lesen Juri keine Zeit blieb: etwas wie >Daktyloskopie< oder >Otolaryngologie< blitzte auf, hielt sich aber nicht im Gedächtnis). Hinter der Tür fand sich ein Zimmerchen - Tisch, gläserne Regale (mit Arzneifläschchen) links und rechts, an den Wänden gruselige medizinische Tafeln mit zerlegten Körperteilen. An einem Tisch saß ein Mann in einem unsauberen weißen Kittel und las die Zeitung >Kommersant<; er ähnelte sonstwem - einem Henker, einem Fleischer, einem Garderobier -, aber keinesfalls einem Arzt oder auch nur einem Sanitäter. Die Zeitung senkte er sofort und legte sie beiseite, dann betrachtete er die Eingetretenen mit hellen, kaum blinzelnden Augen - runder Kopf, weißblonde Igelfrisur, der schwere Unterkiefer und die massigen Schultern eines berufsmäßigen Rausschmeißers. »Wir haben einen Termin bei Alexej Matwejewitsch«, erklärte ihm der Arbeitgeber eilig, sogar mit einer gewissen Dienstfertigkeit (wie es Juri schien), und schaute wieder auf die Uhr. »Romanow. Pawel Petrowitsch. Büro >Suche-Stealth<.« Der breitschultrige Doktor senkte den Blick, schob mit seinem dicken Finger irgendwelche ungeordneten Papiere auf dem Tisch auseinander und fuhr mit dem nämlichen Finger auf einem Papier nach unten, offensichtlich einer Liste. Nachdem er dort anscheinend die Zarennamen des Arbeitgebers gefunden hatte, stand er ohne Mühe auf, ging zu einer zweiflügligen Tür in der Tiefe des Zimmerchens und klopfte zweimal mit den Fingerknöcheln gegen die Füllung. Anscheinend erhielt er keinerlei Antwort, doch er stieß leicht gegen die Tür und machte eine einladende Geste zum Arbeitgeber hin: Bitte.
Sie gingen hinein. Kaum waren sie drin, war Juri sofort blind, starr vor Schreck und von nervösem Schweiß bedeckt. In dem Raum herrschten Finsternis und eine betäubende Hitze wie in einem Schwitzbad auf dem Dorf, wo der Rauch einfach durch die Deckenluke abzieht. Licht fiel nur auf das unnatürlich weiße Bett mit zerknitterten Laken und den Menschen inmitten dieser Laken - genauer gesagt, auf seine untere Hälfte: Beine in langen Unterhosen, barfuß und wie leblos, als habe sie jemand anders irgendwie hingeworfen. »Wieso kommst du zu spät, Jungchen?« knarrte aus der Dunkelheit eine nörgelnde Stimme. »Wann solltest du kommen? Du solltest von vier bis fünf kommen. Und wie spät ist es jetzt?« Die Stimme hatte etwas unangenehm Brüchiges oder Heiseres beim Zuhören verspürte man den quälenden Drang, sich zu räuspern. »So haben wir das nicht abgemacht. Gleich werde ich dich kehrt marsch schicken und im Recht dabei sein!« Ohne auf diesen plötzlichen Tadel zu antworten, holte der Arbeitgeber das grüne, gummiverschnürte Päcken von zuvor heraus und legte es fein ordentlich auf das Nachttischchen zwischen Flaschen, Wein- und Wassergläser und Teller mit angetrockneten Speiseresten. »Hm ...« Der abweisende Mann in Unterhosen wurde sofort zugänglicher. »Na schön«, sagte er etwas ruhiger. »Schwamm drüber. Warum kommst du so spät? Schlechte Straße?« »Glatteis«, pflichtete ihm der Arbeitgeber bei, als sei nichts gewesen. »Wir haben es kaum bis hierher geschafft, Ehrenwort. Ich dachte, wir knallen irgendwo dagegen ...« »Nicht der kommt zuerst ans Ziel, der am schnellsten läuft«, ließ sich der Besitzer des Bettes belehrend vernehmen, »sondern der, der früher losläuft! Hättest früher losfahren sollen, dann wärst du nicht zu spät gekommen. Dann hättest du mich alten Mann nicht in Unruhe versetzt ...« »Entschuldigen Sie, Alexej Matwejewitsch«, sagte der Arbeitgeber folgsam. »Wird nicht wieder vorkommen.« »Das will ich hoffen!« sagte der Hausherr streitsüchtig und erkundigte sich mit unverhohlener Feindseligkeit in der Stimme:
»Und wen hast du da mit? Den hast doch du mitgebracht, nehme ich an?« »Ich, ich«, beruhigte ihn der Arbeitgeber. »Das ist mein Mitarbeiter. Jura heißt er. Er wird alles aufzeichnen, Alexej Matwejewitsch. Für die Geschichte.« »Ha! >Geschichten für die Geschichten Je nun. Vielleicht auch für die Geschichte, das spielt keine Bedeutung ...« Mittlerweile hatte sich Juri schon an die Dunkelheit gewöhnt und begann sich allmählich zu orientieren. Er sah jetzt, daß das Zimmer groß war (der entferntere Teil, jenseits des Bettes, lag völlig im Dunkel verborgen), in der Nähe stand links ein großer ovaler Tisch mit Stühlen darum, irgendwelche titanischen Schränke oder Büffets an den Wänden ... unter den Füßen ein dicker Teppich ... schwarze Fensterquadrate, mit flauschigen Stores dicht verschlossen ... Das alles war etwas seltsam (für ein Altersheim), aber am seltsamsten wirkte (im von den Laken gestreuten Licht) doch der Hausherr selbst: glänzender kahler Schädel, an den Seiten mit struppigen Haaren bedeckt, ein struppiger, in alle Richtungen abstehender Bart, eine riesige schwarze Brille übers halbe Gesicht (zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nannte man so etwas >Konserven<) - er erinnerte auf quälende Weise an jemanden, an irgendeinen allgemein bekannten und äußerst unangenehmen Menschen, und nach kurzer Zeit kam Juri darauf: Vor ihm auf dem zerwühlten Bett lag der tschetschenische Bandit und Terrorist Salman Radujew in eigener Person, allerdings ohne seine übliche Militärmütze mit dem langen Schirm, dafür in Unterhosen. Von dieser seiner kleinen Entdeckung erschüttert, hatte Juri den eigentlichen Augenblick der Vorstellung verpaßt; er verbeugte sich linkisch und verspätet und begann, seine Kutte aufzuknöpfen, während er sich gleichzeitig nach einer Sitzgelegenheit umsah. Da lag er aber falsch! »Setzt euch auf den Fußboden, auf den Boden!« ordnete der Bandit wie auch Terrorist an. »Auf den Teppich! Der Teppich ist gut, bequem, setz dich auf den Hintern ... Und nicht ausziehen! Flöhe ausschütteln - nichts da!«
Der nun vollends verdatterte Juri erstarrte, die Finger am letzten Knopf, der Arbeitgeber jedoch verzog keine Miene: Ohne ein Wort zu verlieren, kreuzte er seine langen Beine und setzte sich sofort geschickt zwei Schritt vom Bett entfernt im Schneidersitz hin, ohne sich an dem Umstand zu stören, daß sich sein Kopf jetzt genau in Höhe der Unterhose befand. Juri schwankte immer noch, doch da bedachte ihn der Arbeitgeber mit solch einem Blick (schräng von unten), daß er sich schleunigst hinhocken und dann in den Lotussitz gehen mußte, wobei er das Knacken in den Gelenken und den quälenden Schmerz in den verspannten, auf derlei plötzliche Heldentaten überhaupt nicht vorbereiteten Sehnen überwinden mußte. Der seltsame (und schreckliche) Hausherr aber sprach schon als habe er den ganzen Tag daraufgewartet, es gar nicht erwarten können und nun endlich doch solch eine seltene und ersehnte Gelegenheit gefunden. Es brach förmlich aus ihm heraus. Er redete ununterbrochen, gierig, aber außerordentlich wirr, sprang ohne ersichtliches System von einem zu anderen, und zunächst war es sehr schwer, ja fast unmöglich, zu verstehen: Worüber redete er eigentlich? Über wen? Über welche Zeiten und Orte? ... ... Ihr Krankensaal war sehr groß, breit und lang, vielleicht eine altertümliche Kaserne oder ein staatliches Krankenhaus noch aus der Zarenzeit: hohe, gewölbte Decken, mit gemusterten fliesen belegte Fußböden, die Fenster wie im Gefängnis - weit oben, gut drei Meter über dem Fußboden und mit zwei Gittern, eins innen, das andere außen, jenseits der Scheiben. Achtundsechzig Betten, und fast die ganze Zeit voll belegt - ein kompletter Satz von unsereins: fünf Dutzend Iwanoiden im Alter von sechzehn bis sechzig. Kalt war es immer in diesem Saal, ewig froren sie dort alle wie kahle Hunde, aber man sagte ihnen: So muß es sein, kusch! ... Kälte, Langeweile, keinerlei weibliches Personal, die Sanitäter durchweg Kerls, Soldaten, und dann gab es nicht einmal genug zu essen: Diät Nummer fünf, Breie-Kleie-Scheißereie, und gekochtes Fleisch kriegten sie nur an den hohen Feiertagen: im
Oktober, im Mai und dann noch zu Neujahr. Aber die Betten waren gut, Holzbetten mit Sprungfedermatratzen, und immer saubere Bettwäsche, sie wurde zweimal in der Woche gewechselt, die Kittel waren warm, aus Flanell, gestreift, die Unterhosen und Hemden allerdings schlechter als hier, Soldatenwäsche mit dem Stempel >Sechste Sonderverwaltung NNKW<. Aber was das für ein NNKW war, wußte niemand und hatte niemals jemand gewußt ... Vor allem langweilten sie sich allesamt zu Tode. Bücher lesen das war nicht die Sorte Leute zum Bücherlesen. Spaziergänge waren nicht vorgesehen. Blieb nur eins: Rauchen und die Zungen wetzen. Man hatte sie natürlich allesamt streng verwarnt, daß sie untereinander nicht schwatzen sollten, >der Feind hört mit<. Wie hätte man da an sich halten können? Und wovon sollten die Leute denn reden, wenn nicht über ihre Quälereien. Schließlich waren sie ganz unter sich. Wo sollen da verdammt nochmal Feinde herkommen, wenn ich aus Piter bin, Wowa Krummbein aus Tschkalow und Tolja der Lappen sogar überhaupt aus dem Lager, der krumme Hund ... (Das alles wirkte fast wie in einem krankhaften Traum. Oder es drängte sich einem plötzlich auf das alles sei Theater. Eine unnatürlich grell beleuchtete Szene. Ein genialer, mit nichts zu vergleichender Schauspieler auf dieser Szene ... sein endloser und gewollt zusammenhangloser Monolog, fast ohne Gesten und ganz ohne Mimik ... Die leblose Unbeweglichkeit des absurden Theaters, und nur ab und zu taucht - plötzlich, ohne Anweisung, ohne die geringste Spur einer Anordnung, lautlos wie ein Schatten und wortlos wie das Gespenst eines Statisten - auf der anderen Seite des Bettes eine Frauenfigur auf, in der Dunkelheit kaum zu sehen, aber in schwarzem, unanständig dünnem Kleid auf nacktem Körper, und reicht diesem absonderlichen Erzähler wieder ein Glas mit einem dunkel-kirschroten Getränk ... Und eine Höllenhitze, die Luft in der Lunge scheint schon zu brutzeln, aber die ausgestreckte Hand - mit dem Diktaphon - fühlt sich aus irgendeinem Grund eiskalt an ...) Feiner war ein Kaukasier, entweder Grusinier oder Ossete - er schwieg immerzu, und wenn man ihn ansprach, durchbohrte er einen mit einem widerwärtigen
finsteren Blick, daß man es oft sogar bedauerte, ein Gespräch mit ihm gesucht zu haben. Rund um die Uhr fraß und schlief er nur, er wurde von uns getrennt versorgt, bekam eine besondere Diät, doch er wurde nicht dick und war immer hungrig wie ein Wolf, es war schrecklich anzusehen, wie er Hühnerfleisch mitsamt den Knochen fraß oder seinen Brei löffelte - kein Krümelchen ließ jemals er auf dem Teller, dabei bekam er doppelte Ration, vielleicht sogar dreifache. Und natürlich nicht umsonst. Auf dieser Welt gibt's überhaupt nichts umsonst. Er wurde nicht oft zur Behandlung geholt, ein, vielleicht zwei Mal pro Woche, aber zurück brachten sie ihn im Rollstuhl, selber gehen konnte er nicht, und schwarzblau war er nach diesen Behandlungen geworden wie 'n Erhängter. Liegt einen Tag lang platt da (still, ohne einen Ton, sogar Atem ist manchmal nicht zu hören), und dann ist er wieder putzmunter ... Aber eines Abends alle hatten sich schon nach und nach zum Schlafen hingelegt, die Gespräche versickerten, verstummten eins nach dem anderen steht er plötzlich vom Bett auf, groß wie irgend so 'ne Statue, und geht los, geht, geht, ohne links oder rechts zu blicken, zum Ausgang, wo sich der diensthabende Feldwebel den Hintern plattsaß und vor Langerweile in der Nase bohrte. Dieser Feldwebel wollte aufspringen (der war übrigens auch kein Hänfling, 'n strammer Kerl - aufgepumpt, wie man heute sagt), aber er fegte ihn beiseite, wie man Brotkrümel vom Tischtuch fegt) dieser Feldwebel knallte ohne einen Mucks auf die Fliesen im Gang zwischen den Betten und blieb bis auf weiteres dort liegen wie eine Marionette. Er aber, kerzengrade wie ein Schrank, geht in den Korridor hinaus, dort poltert etwas, etwas kreischt, als ob eine Katze zerquetscht wird - und aus. Wir haben ihn nie wieder gesehen, als ob es diesen Menschen nie gegeben hätte ... Und war das denn überhaupt ein Mensch? Ich weiß nicht, kann darüber nicht urteilen. Das heißt, am Anfang war er natürlich einer, wie alle anderen, aber was haben sie dann aus ihm gemacht? Das, weißt du, ist die Frage! Dann war da noch Kostik, Kostja Groschakow - so 'n kleiner Wuseliger, schwarzhaarig, so ein Armenier ... In Wahrheit war er überhaupt kein Armenier, aber sie hatten es ihm gleich zu Beginn
angehängt - >Karapet< und >Awanes< -, und so blieb es bis ganz zu Ende an ihm hängen. Was also machten sie mit dem? Er ging nicht mehr 'raus. Das heißt, aufs Klo. Weder pinkeln noch groß. Überhaupt nicht. Einen Monat lang nicht, noch einen. Alle hatten es schon bemerkt, wieherten, die Hengste, rissen Witzchen, aber was war daran eigentlich komisch? Kannst du dir vorstellen, auf einem U-Boot eine Besatzung, die nicht muß? Oder Kosmonauten zum Beispiel? Eine nützliche Sache, da ist doch nichts komisch dran ... Dann wurde er von uns wegverlegt. Warum? Wohin? Wozu? Er kam einmal von der Behandlung, packte seine persönlichen Sachen zusammen und erklärte: >Macht's gut, Jungs, ich werde von euch wegverlegt, denkt an mich.< Dabei war er fröhlich, als ob er einen Orden gekriegt hätte. Na ja, wir waren auch nicht besonders traurig, er hatte in letzter Zeit unangenehm zu riechen begonnen, nach so einer Art Karbolseife, irgendwas Chemischem, und zwar besonders stark gegen Abend ... (Sonderbar! Entweder lag es an der schwarzen Höllenhitze, die aus der Tiefe des Zimmers herandrang, oder an der widernatürlichen Kälte - beinahe Frost -, die von dem Kunden ausging, oder an dem Kunden selbst - einem in Reglosigkeit erstarrten, die Zähne bleckenden, mit struppigen Haaren zugewachsenen Halbtoten - oder an seiner brüchigen Stimme ... vielleicht aber auch an der Art, wie er redete ... oder vielleicht wirklich an dem, was er erzählte ... Das alles erzeugte eine Atmosphäre der Unwirklichkeit und Unmöglichkeit dessen, was vor sich ging, die Atmosphäre eines würgenden kleinen MalariaAlptraums ... Und dann lag in dieser Atmosphäre noch aus irgendeinem Grunde eine träge, graue Drohung und eine unerklärliche Gefahr, als habe man nicht einen Menschen vor sich, einen aus unbegreiflichen Gründen gesprächigen Erzähler, sondern eine unsichtbare murmelnde Menge ... Warum eine Menge? Wieso eine Menge? Wahrscheinlich, weil eine Menschenmenge schon keine Menschen mehr sind, die Menge ist ein besonderes, gefährliches Tier, unberechenbar und undefinierbar, ohne jede Beziehung zum Menschen oder zu etwas Menschlichem ...)
Die meisten von ihnen waren durch und durch gewöhnlich. Man stopfte sie dreimal täglich mit irgendwelchem Dreck, streckte sie auf Apparaturen aus metallischen silbrigen Röhren, verdrehte sie auf diesen Apparaturen auf unterschiedliche Weise, bis die Knochen aus den Gelenken sprangen ... flößte ihnen Mixturen ein, ließ sie jeden Tag scheffelweise Tabletten schlukken ... Man hielt sie in völliger Dunkelheit oder aber im Gegenteil bei hellem Licht, diesen bei Hitze, jenen wieder in einer Wanne mit Eis ... Man kochte sie. Tot umfallen will ich, man kochte sie - wie ein Ei! Hab's selber gesehen: in solchen besonderen Bottichen ... Mir haben sie einmal zwei Schläuche gleichzeitig 'reingesteckt einen in die Gurgel, den anderen am unteren Ende, und so hab ich fast den halben Tag lang bäuchlings dagelegen und gedacht, ich geh endgültig den Löffel ab ... Tolja den Lappen haben sie von einer Schlange beißen lassen, so einer roten, einer richtigen, lebendigen, er hat dann die ganze Nacht lang phantasiert - von Weibern ... Von diesen ganzen Behandlungen haben wir gekotzt, pausenlos geschissen, uns eingepißt, mußten hundertmal pro Nacht raus, kriegten am ganzen Körper Wasserblasen, der eine ist gelb geworden wie bei Gelbsucht, ein anderer dagegen schwarz angelaufen wie der allerletzte Säufer ... Aber im großen und ganzen blieben wir, wie Gott uns geschaffen hatte: Die Dummen wurden nicht klüger, die Klugen nicht dümmer. Wir änderten uns nicht, und es passierte mit uns nichts von der Art, daß es sich lohnen würde, abends bei ein paar Bierchen drüber zu reden. Und es war uns auch schnuppe! Das Geld rieselte, jeden Monat - fünf Hunderter aufs Sparbuch, und diese Sparbücher waren personengebunden, und wir hatten sie bei uns. Und die Zeiten waren damals so: Ein >Moskwitsch<, ein >Saporoshez< kosteten damals im Laden fünfeinhalbtausend, frei zu haben, und ein >Wolga< zwölf ... Es gab damals keine >Wolgas Na, dann war es eben ein >Pobeda<, wo ist der Unterschied? ... So daß wir für solches Geld uns auch drei Schläuche hätten 'reinstecken lassen und noch dankbar gewesen wären, wenn sie Stellen dafür gefunden hätten. Übrigens hatten sie keinen von uns mit Gewalt dorthin gezwungen - alles Freiwillige, jeder einzelne: »Für die Heimat, für Stalin!«
Der Chefarzt war bei denen so ein kleiner, dicklicher, rosiger, sauberer, ein gut gewaschener Knubbel. Die Haare immer sauber anliegend und wie naß, als käme er aus der Dusche, auf der Nase ein Kneifer, weiße Pfötchen, schwache, er hielt sie immer eine über der anderen auf dem Bauch, und der Bauch ragte ihm ewig aus dem offenen Kittel. Und ein rechteckiges Schnurr-bärtchen unter der Nase. So ein komisches, harmloses Männlein, 'n Kaninchen. Aber er durchschaute jeden. »Hast wiedew ona-niewt, Mistkewl!« Mit seinem dünnen, widerwärtigen Stimmchen und mit solchem Ekel vor einem, als sei man ein Haufen Scheiße. »Hab ich dich gewawnt odew nicht? Kwiegt kein Fleisch, der Mistkewl, bis zu den Oktobewfeiewtagen ...« Ich weiß nicht, wie es bei den anderen war, aber mir hat er immer gesagt, wenn sich mir im Behandlungszimmer das Innerste zuäußerst kehrte: »Duwchhalten, Kosak, wiwst unbedingt Ataman. Laufen wiwst du wie Nuwmi undTowe schießen wie Bobwow.« Das mit Bobrow war klar, der war damals Außenstürmer beim ZDKA, aber der Nurmi, das war irgend so ein Läufer, ich glaube, ein Finne oder vielleicht 'n Schwede ... (Der Arbeitgeber hörte ihm zu wie einem Skalden der Vorzeit, der ihm die Jüngere Edda singt - in selbstgefertigter Übersetzung ins Soldatenrussisch -, doch manchmal stieß er plötzlich in eine Pause hinein und begann ihn mit Fragen zu bedrängen. »Und wie lautete der Familienname von Tolja dem Lappen?« »Von Tolja? Dem Lappen? Keine Ahnung. Ich erinnere mich nicht. Vielleicht Lapajew? Oder Lapaiski oder so ...« »Und weswegen hatte er gesessen?« »Wegen Diebstahl. Besitzgier. Hatte irgendeine Wohnung ausgeräumt und war sofort aufgeflogen, der Wichser aus der Pokrowka, nicht einmal ausschlafen ließen ihn die Bullen. Hat fünf Jahre abgefaßt, aber nach zwei haben sie ihn entlassen wegen vorbildlicher Führung und sozialer Nähe zum Proletariat.« »Aus Piter?« »Hm. Aus der Nejschlotski-Gasse. Ich bin später mit ihm dort gewesen. Ich weiß nur nicht, ob die Gasse noch existiert oder schon weg ist - ich erinnere mich, da war damals ein großer Bauplatz, sie haben das Hotel >Leningrad< gebaut ...«
»Und wie hieß der Chefarzt?« »Hör mal, du Nervensäge, ich hab dir doch alles schon erklärt ...« »Ja, aber womöglich ist es Ihnen wieder eingefallen. Immerhin ist eine Woche vergangen.« »Mir kann nichts einfallen, was ich nicht weiß und nie gewußt habe. Ich erklär's nochmal: Die Soldaten nannten ihn >Genosse Oberste Die Weißkittel ins Gesicht - ebenfalls. Aber unter sich nannten sie ihn den >Chef< oder >Papachen<.«) Ich weiß noch genau, daß es am siebten März passierte. Ich erwachte - jemand rüttelte mich an der Schulter. Aber ich war nach der Sitzung vom Vortag ganz krank, konnte keinen klaren Gedanken fassen, und vor den Augen hatte ich etwas wie einen Tüllschleier. Aber da redet Tolja der Lappen auf mich ein, Augen voll Glut, sehn bloß nicht gut: Steh auf, Aljoscha, wir müssen uns auf die Socken machen, es ist schon niemand mehr da. »Was heißt, niemand mehr da?« Aber der Saal war wirklich leer, kein Mensch, und die Betten nicht gemacht, alles stehengelassen wie bei einem Brand. Ich springe auf, aber ich hab ja nichts anzuziehen! Kleidung stand uns nicht zu. Unterwäsche und ein Kittel mit Latschen. Wohin in diesem Aufzug? Und von wegen Nerven klappern mir die Zähne. Tolja und ich stürzen zum Ausgang - überall leer! Im Operationssaal - leer, in den Verbandszimmern - leer, auf den Posten - niemand ... Wir kommen ins Vestibül - riesig wie'n Bahnhof, und wieder keiner, bloß die Außentür klappt im Zugwind. Und da bin ich geistig weggetreten. Mir wurde schwarz vor Augen, und ich hab alles vergessen. Ich erinnere mich an irgendeine Gasse mit Kopfsteinpflaster ... alte heruntergekommene, bröcklige Häuser überm Kopf ... irgend so eine Alte schaut mich aus einem Torweg an ... Und als ich wieder völlig zu mir kam, war ich schon auf Toljas Bude, unter Dieben und Banditen ... Na, das ist schon nicht mehr so interessant. Woher denn! Sehr sonderbare gab es! Zum Beispiel erinnere ich mich an zwei ... Der eine - das reinste Kind, so um die sechzehn ich war damals selber 'ne Rotznase, aber sogar mir kam er wie ein kleiner Junge vor, so ein absoluter Dreikäsehoch. Er hieß Denis, an den Familiennamen erinnere ich mich nicht, genauer
gesagt, ich weiß ihn nicht. Segelohren, der Hals dünn wie'n Finger, schmale Hände, die Pfoten aber rot wie bei 'nem Gänserich, und kräftig. Ein Jüngelchen ... Aber den zweiten nannten wir alle Sohnemann. Keine Ahnung, wessen Sohnemann er war, aber sogar der Chefarzt nannte ihn so: »Und jetzt, Sohnemann, mein Gutestew, widmen wiw uns Ihnen pewsön-lich ...« Also diese beiden quälten sie auf ganz besondere Weise. Was sie eigentlich genau mit ihnen machten, weiß ich nicht, und keiner von uns wußte das. Sie ... schrien. Tag und Nacht schrien sie, mehrere Tage lang. Ärzte rennen um sie herum, mit verzerrten Gesichtern, mit Spritzen, mit Infusionsgeräten, hin und her, schirmen sie in der äußersten Ecke vor uns ab, aber was nützt's - sie schrien ja doch aus voller Lunge, schrien sich die Seele aus dem Leib ... Da brachte man sie überhaupt fort und irgendwo weiter weg unter, noch hinter dem zweiten Behandlungszimmer, aber es kam vor, daß man im ersten Behandlungszimmer auf dem Bauch lag, einen Schlauch da drin, und hörte, wie sie dort drauflosschrien - durch vier Wände und den Korridor hindurch. Ich verstehe nicht, wie man derartige Qualen aushalten konnte, aber macht nichts, sie haben sie hübsch ausgehalten. Der Mensch ist zu allem fähig. Fünf Tage lang schreit er unter unerträglichen Schmerzen, wenn auch völlig bewußtlos, und dann schläft er sich vierundzwanzig Stunden lang aus - und ist wieder putzmunter. Nur daß er sich an nichts von dem erinnert, was in diesen Tagen mit ihm geschehen ist ... Habe ich dir gesagt, was sie auf diese Weise aus ihnen machen wollten? Nein? Dann ist es gut so: Darüber soll man nicht quasseln. Womöglich ist es wahr? Geb's Gott, daß es nicht wahr ist ... (»Und das Haus, in dem Sie untergebracht waren? Das Gebäude selbst? Erinnern Sie sich denn da an gar nichts?« »An nichts. Und nicht, daß ich mich nicht erinnern könnte -ich weiß es nicht. Man hat mich nachts dort hingebracht, in einem geschlossenen Milizwagen ... Ich erinnere mich: irgendein Hof, strömender Regen, ringsum schwarze Wände, kein einziges Fenster erleuchtet ... Ja, wie viele Etagen es da gab, kann ich auch nicht sagen. Ein Rätsel voller Geheimnisse ...«
»Und spazieren hat man Sie nie geführt?« »Spazieren, mein Bester? Wann denn? Zwischen den Behandlungen? Zwischen den Behandlungen schläfst du wie im Fieber und siehst Alpträume von Weibern ... Was ich mir gut gemerkt habe, das ist das Vestibül. Warst du mal auf dem Witebsker Bahnhof? Also genau so'n Saal, unten zweifarbige Fliesen, die Decke verglast, und an den Wänden irgendwelche Gitter, wie schmiedeeisern ...«) Anstelle von Spaziergängen hatten sie regelmäßige Treffen mit dem Genossen Sicherheitsbeauftragten. Zweimal pro Woche, plus nach Bedarf. Wer wem was gesagt hatte, wann, wozu, und wer dabei zugegen war. Das übliche System, übrigens sehr bequem, um persönliche Rechnungen zu begleichen. Wie heißt es in der Bibel? Auge um Auge, verdammich, Zahn um Zahn. Ich bin ein friedfertiger Mensch, aber ich rate keinem, sich mit mir anzulegen. Jemandem die Fresse polieren - das ist was für Schwachsinnige. Ich würge dir an der Fresse vorbei so ein Ding rein, daß du dein Lebtag dran denkst und es dir zehnmal überlegst, ehe du mir noch mal auf die Füße trittst ... Nein, er treffe sich mit keinem von denen. Woher auch? Es ist. so lange her! Da gab es allerdings einen interessanten Fall: Kommt einer und bringt, sagt er, seine Frau mit. Das Weib ist fünfzig und noch ein Stück drüber, und er ist höchstens dreißig, na, meinetwegen fünfunddreißig. Das Weib ist schön, muß man zugeben, taugt aber gar nichts ... Egal, darum geht es nicht. Ich aber schaue nicht sie an, sondern ihn und traue meinen Augen nicht: Der kleine Denis. Eins zu eins, in Lebensgröße. »Deniska! Bruderherz! Erkennst du mich nicht?« Er schaut mich mit farblosen Augen an: Sie irren sich, sagt er, ich kenne Sie nicht. »Was heißt, du kennst mich nicht?! Denis?« Es ist Denis. »Und ich bin Ljoschka-Galosche! Erinnerst du dich an das Laboratorium?« Nein, er erinnert sich an kein Laboratorium, zuckt nur mit den Schultern. »Und Sohnemann, erinnerst du dich an den etwa auch nicht?« Einen Sohnemann kennt er ebensowenig ... Ich sehe ja, er lügt mir dreist ins Gesicht, ich kann aber nichts machen. Und vor allem verstehe ich nicht: Warum? Warum gibt er es nicht zu?
Hat er Angst? Dabei sind doch so viele Jahre vergangen, niemand weiß mehr etwas von den Sachen damals ... Ich fing sogar an, wütend auf ihn zu werden: Wenn das komisch sein soll, dann verstehe ich den Witz nicht. Oder haben sie dir das Gehirn in den Schädel gedroschen? ... Aber ziemlich schnell bin ich stutzig geworden: Wieso denn Deniska? Deniska müßte jetzt um die siebzig sein, 'n alter Knacker wie ich ... Vielleicht ein Verwandter? Sein Sohn? ... Das will er auch nicht zugeben. Hat vollends die Sprache verloren. Na schön, hab ich ihn in Ruhe gelassen, aber dann, viel später, hab ich gedacht: Fiat es Papachen etwa doch geschafft? Altert er etwa seither nicht mehr, und er nimmt mir übel, daß ich damals das mit ihm und Sohnemann dem Horcher gemeldet habe? Irgend etwas war zwischen ihnen vorgefallen. Etwas Ungutes, irgendeine Konfrontation. Er hatte zufällig etwas mitgehört: wie sie einander in der Raucherecke anschrien, von der eigenen Wut blind und taub - diese minderjährige halbe Portion, Denis, und Sohnemann, schon ein erwachsener Mann, solide, sollte man meinen, kein Schreihals, ein hochnäsiger feiner Herr mit grauem, etwas schütterem Haar und einem riesigen Muttermal im Genick ... Er hatte es mitgehört und offensichtlich dem Horcher zugetragen, nicht einmal aus Feindseligkeit, sondern einfach, damit dieser feine Herr sich nicht gar zu viel einbildete, der übriggebliebene Bourgeois ... Und gestritten hatten sie über den Genossen Stalin, wobei irgendwelche seltsamen, entsetzlichen Worte gefallen waren: »ein Extrakt aus Zhouzhipilzen«, »ein Aufguß von violetten Muzin«, aber das ging noch an, chinesische Medizin, doch da gab es auch härtere Worte: »unmenschliche Qualen«, »Verdammnis«, »Unsterblichkeit« ... Eine (wie üblich) völlig zusammenhanglose, wirre Geschichte ohne Anfang und Ende, und Juri gelang es nicht einmal, diese bemerkenswerten Worte von einem »Muttermal im Genick« richtig zur Kenntnis zu nehmen, als der Hausherr sich unerwartet selbst mitten im Satz unterbrach und plötzlich mit sich fast überschlagender Stimme krächzte: »Aus, aus, aus! Verschwindet. Ab durch die Mitte. Die Sitzung ist beendet. Ich werde jetzt kacken. Wollt ihr zusehen, wie ein Gelähmter kackt?
Ein Anblick, würdig des Pinsels eines Dichters. Samson, der den Rachen des Manneken Pis aufreißt ...« Und sogleich tauchte aus dem Nirgendwo, ohne Veranlassung, ohne Ruf, ohne Befehl, lautlos die üppige Schönheit in dem unanständig durchsichtigen Seidenzeug auf; von selbst schaltete sich ein riesiger stummer Fernsehschirm an der linken Wand ein und begann in Spektralfarben zu leuchten; in den Händen der Schönen erschien plötzlich ein weiß-porzellanenes Wunder der Sanitärhygiene; aus den schwarzen Tiefen des Zimmers wehte eine vollends unerträgliche Hitze heran; und ehe Juri auch nur den Mund zugemacht hatte, fand er sich in dem medizinischen Vorzimmer wieder, in einer Atmosphäre göttlicher Kühle und plötzlicher Sicherheit; und der diensthabende Rausschmeißer hinter dem Tisch erschien ihm wie ein alter und rührend guter Bekannter ... Im Wagen schwiegen sie eine Zeitlang, und obwohl die Straße nach wie vor miserabel war, sang der Arbeitgeber nicht, sondern pfiff nur leise durch die Zähne. Dann holte Juri das Diktaphon hervor, spulte es ein Stück zurück und hörte sich die unangenehme brüchige Stimme an. »Wie findest du ihn?« fragte der Arbeitgeber. »Normal. Note zwei. Sogar zwei plus.« »Aber ein Mal hat er doch jedenfalls gelogen?« »Sieht so aus. Als er in dem leeren Gebäude blieb.« »Genau«, stimmte ihm der Arbeitgeber zufrieden zu. »Und weißt du, wie ich das erraten habe? Letztes Mal hat er mir diese Geschichte ganz anders erzählt: Sie hätten ihn in einem geschlossenen Wagen aus der Stadt gefahren und dort direkt in den Schnee geworfen ...« »Hm. Und dann noch diese Geschichte mit Deniska ... der mit seiner Frau zu ihm kam ...« »Die ist auch irgendwie ... nicht überzeugend ... Da ist etwas geschwindelt, ich verstehe nur nicht, was genau ... Na schön. Hör mal, hast du schon oft mit ihm gesprochen?« »Ja. Heute war das dritte Mal.« »Und was ist - hat er sich tatsächlich nicht erinnert, wie dieser ... na, dieser Sohnemann hieß? Der feine Herr?«
»Silezki«, antwortete der Arbeitgeber rasch, und sofort war offensichtlich, daß er log. Das war ihm selber klar; er lachte und sagte: »Er hat sich nicht erinnert. Oder wollte sich nicht erinnern. Also wirklich, ich schwöre dir ... Warum fragst du eigentlich?« »Ich habe da einen Bekannten«, sagte Juri möglichst beiläufig. »Der hat genauso ein Muttermal im Genick.« »Ja?« Der Arbeitgeber warf ihm einen raschen Blick zu. »Und wie alt ist denn dein Bekannter?« erkundigte er sich - ebenfalls beiläufig. »So um die sechzig, denke ich. Oder fünfundsechzig.« »Nein. Das ist er nicht. Es paßt nicht. Der müßte heute ein gutes Stück über hundert sein.« Wieder schaute er ihn an, diesmal unverhohlen eindringlich. »Obwohl andererseits freilich, wenn man es bedenkt ... Machst du mich mit ihm bekannt?« »Wohl kaum«, sagte Juri und hielt gelassen dem berühmten Blick stand. »Was nützt er dir? Da wird nur ein alter Mann unnütz beunruhigt.« Der Arbeitgeber schwieg eine Weile. Juri holte das zweite Diktaphon heraus, das geheime, überprüfte die Aufzeichnung hier war auch alles in Ordnung. Na schön, dachte er. Das kommt später dran. Ich will heute überhaupt nicht nachdenken. Über gar nichts. Verdammt. »Und wer ist das überhaupt, dein Alexej Matwejewitsch?« erkundigte er sich. »Was? Hast du es nicht begriffen? Das ist doch Alexej der Gute. Der große Heiler. Liest du denn keine Zeitungen?« »Nein. Und Radio höre ich auch nicht.« »Und Reklame werfen sie dir auch nicht in den Briefkasten?« »Reklame lese ich auch nicht. Und sehe nicht fern. Bin ganz unscheinbar, was ich auch dir von ganzem Herzen wünsche ... Und wovon heilt er?« »Von allem«, sagte der Arbeitgeber im Ton eines freigiebigen Hausherrn. »Und was haben wir mit ihm zu schaffen?« »Nicht wir«, sagte der Arbeitgeber. »Das ist ein Auftrag.« »Was für ein Auftrag?«
»Ihn auszunehmen. Er weiß eine Menge, dieser LjoschkaGalosche. Du hast es doch selbst gesehen.« »Und wer ist der Auftraggeber?« Der Arbeitgeber antwortete nicht sofort, aber immerhin, er antwortete: »Der Ajatollah«, sagte er. »Entschuldige.« Wieder der Ajatollah, wollte Juri sagen, sagte es aber natürlich nicht. Dem Chef mußte doch klar sein, daß das nicht anging. Es war gefährlich. Und auch anrüchig. Bucks stinken nicht? Und wie sie stinken. Wenn man daran riecht. Aber wenn man nicht eigens an ihnen riecht, dann freilich ... Dann stinken sie nicht. Ich will nicht für den Ajatollah arbeiten, ist dir das klar? Für Pawel Petrowitsch Romanow - mit Vergnügen. Für mich, den Liebsten - bittesehr. Aber für den Ajatollah arbeiten will ich nicht. Mir wird übel davon. Und nicht nur vor Angst. Sie kamen bereits in die Stadt hinein, die weiß vom frischen Schnee dalag und schwarz von den Schatten der Quecksilberlampen und vom nassen Asphalt. >Hinterm Fenster weißer Schein - da muß Schnee gefallen sein ... Hinterm Fenster schwarzer Schein - ach, da schaut die Nacht herein ...< Der Arbeitgeber hielt am Kellergeschäft >24 Stunden<, reichte ohne ein Wort der Ermahnung sechzig Bucks in Zwanzigerscheinen herüber und fuhr winkend von dannen. »Bis morgen, zehn null null, wie eine Eins, am Arbeitsplatz - da werden wir noch so einen Onkel mit Bart ausschütteln ...« Ja, meinetwegen einen mit Hörnern. Juri ging in den Laden hinunter und kaufte für vierzig Bucks etwas zusammen. (In dem Laden waren alle seine alten Bekannten, und sie nahmen von ihm Bucks, Deutschmark oder sogar südafrikanische Rand - zu einem besonderen Kurs, versteht sich, aber so ist nun mal das Sellavie ...) Seine Hände waren (auf amerikanische Art) mit zwei großmächtigen Paketen bepackt, und um die wertvollen Flaschen nicht aufs Spiel zu setzen, drückte er, am Haus angelangt, den Klingelknopf mit dem Kinn. Zum Glück kam Jeanne gleich gesprungen, riß die Tür auf und an ihren viereckigen Augen erkannte er sofort: Etwas stimmte nicht. »Was ist?«
»Dein Wadim ist da ...«, sagte Jeanne leise und irgendwie erschrocken. »Weißt du, ich glaube, er ist ganz außer sich, Ehrenwort.« »Mein Gott! ...«, sagte Juri, aber eher erleichtert als verärgert oder unzufrieden. Seitdem Wadim von seiner albernen Expedition in den Nordkaukasus zurückgekehrt war, befand er sich immerzu in einer Verfassung, die für ihn ganz ungewöhnlich war. Er war irgendwie still, unscheinbar, unauffällig geworden - in einem Ausmaß, daß er mitunter für gewöhnliche Augen überhaupt unsichtbar zu sein schien. Er war freilich auch früher schon so gewesen, stach kaum hervor, doch jetzt wirkte er förmlich abgeschabt wie ein alter Fünfer. Er war zum Greis geworden. Und jemand von den Jungs hatte festgestellt (sogar einigermaßen erschrocken), daß Wadim jetzt gelegentlich auf frappierende Weise die Kontrolle über sein Gesicht verlor und dann völlig einem verwirrten und sogar unterwürfigen alten Penner ähnelte. Was ist denn mit dir los, alter Knochen? fragten sie ihn. Wo drückt der Schuh? ... Er hielt sie sich mit Zitaten aus Fernsehreklamen vom Leibe. Marischa, die dieses Bild des Zerfalls und Niedergangs nicht ertrug, schleppte ihn in eine private Poliklinik, wo sie Bekannte hatte und wo man ihn übrigens körperlich gesund, aber psychisch niedergedrückt fand (was ohnedies offensichtlich war) und ihm eine Serie irgendwelcher mistiger Injektionen empfahl, von denen es Wadim anscheinend nur noch schlechter ging. Jetzt schlief er auf dem Sessel vor dem ohne Ton laufenden Fernseher, und sein Gesicht war noch erbärmlicher und elender als sonst, der Mund halb offen, und die geschlossenen grauen Lider zuckten krampfhaft. Juri schnupperte an ihm - nach Alkohol roch er nicht. Na schön, soll er pennen. Vorerst. Und dann sehen wir weiter. Er kehrte in die Küche zurück, wo Jeanne schon heftig zugange war - sie raschelte mit fettig gewordenem Einwickelpapier, öffnete Pakete, legte Essen auf Tellern zurecht, schnitt irgend etwas Rosig-Fettiges, klappte mit der Kühlschranktür, klapperte mit Messern und Gabeln - ist wohl auch hungrig geworden, meine
Alte, und jiepert nach einem zum Trinken. (Ob man das wohl so sagen kann: nach einem zum Trinken jiepern?) Ihm blieb nur noch, die Flaschen zu entkorken und das Gin Tonic zuzubereiten, die erste Portion, die am besten schmeckt. Es ploppten die aufgerissenen Tonic-Dosen, es klirrte das Eis im durchsichtigen Blau des göttlichen Getränks, sie stießen mit den dickwandigen Gläsern an und tranken, und sofort begann in dem müden Kopf ein fröhlicher Lärm, und die Welt wurde durchaus annehmbar, sogar mehr noch - gemütlich und hübsch. Die Welt wurde gut, aber anspruchsvoll - sie mußten es eilends wiederholen ... Als das Telefon klingelte, waren sie schon vollends von dieser Welt - gutherzig und verteufelt hübsch. Mit nicht sehr sicheren Schritten ging Jeanne, um, wie sich herausstellte, mit Marischka über irgendwelche kulinarischen Fragen zu quasseln - zur Debatte stand das Rezept für die Torte >Aristokrat<. Juri seinerseits stellte plötzlich fest, daß er mit dem aus dem Nichts aufgetauchten Wadim anstieß, der sich anscheinend im weichen Sessel ordentlich ausgeschlafen hatte und jetzt bereit war, Genüge zu tun - sogar vor Vorfreude einen rosigen Teint bekommen hatte. Es ergab sich ein seltsames Gespräch. »Für wen wirst du stimmen?« erkundigte sich Wadim plötzlich, während er die Gabel in ein zerfallendes Stück heiß geräucherten Lachs stieß. »In welchem Sinne?« »Na, bei der Wahl.« »Bei welcher Wahl?« »Verdammt. Liest du denn keine Zeitungen?« »Ja, ich lese keine! Ich lese keine Zeitungen! Was wollt ihr denn alle von mir? Ich lese keine, und euch rate ich das auch!« »Ich kann die Zukunft verändern«, sagte Wadim plötzlich und starrte ihn, nachdem er das gesagt hatte, erwartungsvoll an. »Und?« sagte Juri, als keine Fortsetzung folgte. »Was - und? Kann ich's? Oder nicht?« »Ich weiß nicht«, sagte Juri aufrichtig.
»Dann hör zu, verflucht nochmal! Ich - kann - die - Zukunft verändern. Ist das wahr? Oder nicht?« »Kumpel ...«, sagte Juri. »Ach, mein Gott!« Ihm war endlich aufgegangen, was von ihm verlangt wurde, aber momentan war er ja zu nichts imstande. »Hör mal, Kumpel, laß uns lieber noch einen trinken. Je nun ...« Wadim, der ganz aufgekratzt wirkte - kerzengrade, angespannt -, betrachtete ihn verständnislos, dann aber leckte er sich über die Lippen und entspannte sich. »Ach so«, murmelte er. »Du bist ja angegangen, hab ich ganz vergessen ... Entschuldige. Weißt du, mir kam es so vor, als könnte ich schon ... Es ist mir im Tran so vorgekommen. So ein schöner Traum war das.« Lyrische Abschweifung Nr. 3 Der Chefarzt, Sohnemanns Papachen »Wer brüllt da bei dir die ganze Zeit?« wollte der Große Vorgesetzte wissen und verzog bei der eigenen Frage schmerzlich das Gesicht. Wahrscheinlich hatte er nach gestern abend Kopfschmerzen. Oder vielleicht machten ihm die Gase schwer zu schaffen. Er litt offensichtlich und unverhohlen an Meteorismus. Außer Meteorismus hatte er ein riesiges fettes Gesicht - eine Rübe mit der Spitze oben -, sowohl weißlich wie eine Rübe als auch mit dunklen Flecken, als sei die Rübe angefault. Die Augen wirkten auf diesem Gesicht wie etwas biologisch Uberflüssiges. »Das sind Expewimente im Gange, Genosse Genewal«, erklärte der Chefarzt, so dienstbeflissen er nur konnte. »Auf vollen Touwen. Ohne jede Unterbwechung. Genosse Genewal.« »Und den Hals stopfen kann man ihm nicht?« »Gewiß, man kann. Abew dawuntew leidet höchstwahwscheinlich das Expewiment.« »Welches Experiment?« »Das nämliche, Genosse Genewal«, sagte der Chefarzt bedeutsam.
Die Rübe schaute ihn an, blinzelte mit den Menschenaugen und schien angestrengt nachzudenken ... Und plötzlich ertönte ein langes Zischen, und es begann wie auf dem Klo zu riechen. Offensichtlich hatte die Spannung ein gewisses zulässiges Höchstmaß überschritten. »Entschuldigung«, ließ sich die Rübe mit einfältiger Erleichterung vernehmen. »Bei Ihnen ist Aktivkohle angezeigt, Genosse Genewal«, bemerkte der Chefarzt, doch der Genosse General nahm dieses interessante Thema nicht auf. »Sie, Doktor, machen jetzt schon den sechsten Monat Ihre Experimente«, sagte er und wechselte plötzlich zum >Sie< über. »Und wo sind die Ergebnisse?« »Die Ewgebnisse sind vielvewspwechend, Genosse Genewal.« »Seit sechs Monaten reden Sie mir von Ihren Ergebnissen. Den vielversprechenden. Aber wo sind sie?« »Die Aufgabe ist sewr kompliziewt, Genosse Genewal. Niemand auf dew Welt ...« »Ich weiß, ich weiß!« Der Große Vorgesetzte schwieg eine Weile, dann sagte er mit Nachdruck: »Wenn man es irgendwo schon könnte, dann würden wir, Genosse Professor, auch ohne dich auskommen. Verstanden?« »Jawohl.« »Also.« Der Vorgesetzte schwieg abermals und lauschte. »Und wieso brüllt er eigentlich so? Unverständlich.« »Es tut weh«, erklärte der Chefarzt. »Pawallel schmewzstil-lende Medikamente zu nehmen ist abew ...« »Was heißt: >Es tut weh Wem tut es weh?« »Dew Vewsuchspewson. Dem Fweiwilligen. Das ist ein sehw schmewzhaftew Pwozeß, Genosse Genewal ...« (Der Vorgesetzte hörte mit halb geöffnetem Munde zu, so daß man die Goldzähne sah. Seine bleichen Wangen röteten sich langsam. Liefen rot an. Scharlachrot.) »Dawin besteht das ganze Pwoblem, leidew. Den eigentlichen Pwozeß haben wiw schon im Gwiff, zumindest in ewstew Nähewung, abew die Nebenwiwkungen ...« Da nahm der Vorgesetzte endgültig die Farbe frischen rohen Fleisches an und brüllte los. »Du gerührtes Stück Scheiße!«
brüllte er. »Übriggebliebener Schädling! Schweinehund, weißgardistischer! Ist dir klar, für wen du deine beschissenen Präparate entwickelst? Ist dir klar, wer sie einnehmen wird, du fetter Kotzbrocken, Arschficker, Judensau! ... Hast hier eine Vetternwirtschaft aufgemacht und betreibst Verrat? Aufstehen, Oberst, wenn Sie mit einem Generalleutnant reden!« Der Chefarzt erhob sich bereitwillig und hörte sich geduldig, Hände an der Hosennaht, die Beschimpfungen an, wartete auf eine Gelegenheit, sich zu rechtfertigen. Nicht, daß er daran gewöhnt gewesen wäre - für gewöhnlich sprach man mit ihm höflich und sogar ehrerbietig -, aber dieser rübenköpfige Furzer brüllte immer, es machte ihm Spaß, und er fand immer einen Vorwand, um nach Herzenslust loszubrüllen. Sich Luft zu machen. Meteorismus ist eine üble Sache, schmerzhaft und erniedrigend. Und ein Vollidiot war er auch noch. Die Großmutter hatte gesagt: Für 'ne Kopeke Zwiebel, für'n Rubel Wind - das galt für ihn, sowohl im wörtlichen Sinne als auch im übertragenen ... Aber jetzt war er wohl fertig, es war alles heraus. Er hatte sich beruhigt. Gleich würde er ihn sich setzen lassen ... »Setzen Sie sich, Genosse Chefarzt«, sagte der Vorgesetzte erschöpft. »Ihnen ist selber klar, daß so eine Situation untragbar ist. Man muß etwas unternehmen.« »Selbstvewständlich, Genosse Genewalleutnant. Genau da-wan awbeiten wiw jetzt:« »Gut. Weiter so. Und wenn Sie irgendwelche Medikamente brauchen ... Mixturen, Präparate - melden Sie es unverzüglich, wir beschaffen sie.« »Zu Befehl.« Der Vorgesetzte betastete eine Zeitlang vorsichtig, geradezu zärtlich mit weißen, goldflaumigen Fingern seine Wangen, dann fragte er: »Aber in der Hauptsache, sagen Sie, kommen Sie voran?« »Jawohl. Die Hauptaufgabe ist beweits gelöst.« Der Vorgesetzte nickte, seine Augen wurden auf einmal zu Schlitzen. »Und wir funktioniert denn diese Sache bei Ihnen? Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was das ist. Ein Schutz gegen Krankheiten? Oder? ...« Er wagte es denn doch nicht,
auszusprechen, was es sonst sein könnte, und deutete nur mit den Händen etwas unbestimmt Gefährliches an. »Ich bin nicht befugt, diese Fragen zu erörtern«, sagte der Chefarzt trocken und fügte rachsüchtig hinzu: »Mit Ihnen.« Das machte den gebührenden Eindruck. Der Genosse Generalleutnant ließ wieder einen fahren - saftig, mit Hingabe -, und da stand der Chefarzt auf, nahm aus dem gläsernen Apothekenkasten ein Röhrchen mit Aktivkohle und hielt es ihm über den Tisch hinweg hin. »Ich kann es Ihnen wiwklich nuw empfehlen«, sagte er ermutigend. "In langweiligen Gesprächen über Menschen der Vergangenheit sind die Geheimnisse ihrer großen Taten verborgenen." Viertes Kapitel Dezember. Mittwoch. Die Nacht des Patriarchen Er heißt Sten Arkadjewitsch Agre. Der Vorname könnte ungewöhnlich wirken, aber nur in unserer heutigen entideologisierten Unzeit. In Wahrheit bedeutet Sten - >STalinENgels<. Er hatte übrigens irgendwann auch einmal einen älteren Bruder, der Marlen hieß: Marx plus Lenin. Wo aber dieser anscheinend durch und durch russische Mensch so einen exotischen Familiennamen herhat, habe ich bisher nicht herausfinden können. Kenntnisreiche Leute erklären, daß >agre< auf Sanskrit >der erste< oder sogar >der höchste< bedeutet, auf Grusinisch heißt es >So< (>So ein zerstreuter Mensch ...<), und auf Iwrit sind >agra< (auf der letzten Silbe betont) >Steuern<. Das ist alles, was ich zu diesem Thema in Erfahrung bringen konnte. Also nichts. Daß ich mich jetzt bereit gefunden habe, über ihn zu schreiben, liegt nicht etwa daran, daß ich Angst vor euch hätte. Man soll nicht übertreiben. Und natürlich erst recht nicht, weil ich euch helfen wollte. Überhaupt nicht, weil ich in dieser Beschäftigung irgendeinen nützlichen oder pragmatischen Sinn sähe. Ich habe diese Aufzeichnungen begonnen, weil ich anscheinend vollends
begriffen habe: Von mir bleibt später einmal nichts auf der Welt als diese Aufzeichnungen. Mehr noch: Auch von ihm selbst wird nichts als meine Aufzeichnungen bleiben. Nun ja, vielleicht noch ein paar Gerüchte, die heute schon wie Legenden klingen. Und eine große Anzahl von Interviews, die keinerlei Information liefern, sondern nur die Phantasie anregen und neue Gerüchte, neue Legenden hervorbringen. Über ihn sind auch bisher schon seltsame Gerüchte und saftige Legenden im Umlauf. Ich nehme an, in eurer Abteilung sammelt irgendwer sie sorgfältig, sortiert sie (mit seitlich herausgestreckter Zunge) und analysiert sie gründlich. Ich will nicht einmal ausschließen, daß ihr einen Teil dieser Gerüchte selbst erfunden und verbreitet habt... Aber zwei Legenden werde ich hier anführen. Eine, weil sie mir perfekt erscheint, beim Weitererzählen bis zum Zustand einer fertigen Kurzgeschichte geschliffen. Und die zweite, weil ich selbst Zeuge des Ereignisses war und an diesem Beispiel beobachten kann, wie sich die bescheiden-alltägliche Raupe der Tatsache in den prächtigen Schmetterling der Legende verwandelt. Alsdann, die erste Geschichte. Die Handlung spielt so etwa im Jahre vierundneunzig, nicht später als fünfundneunzig. Es fährt ein Oberleitungsbus, der Tageszeit entsprechend nicht voll, die Leute sitzen. Alles ist still und friedlich. Auf dem Rücksitz hat sich ein Onkelchen von unbestimmtem Zuschnitt niedergelassen, von dem man zunächst nur eins sagen kann - daß er dem großen proletarischen Mustopf entstammt. Wahrscheinlich sitzt er genau deswegen ganz allein und langweilt sich anscheinend. Und er beginnt zu reden, genauer gesagt: zu verkünden. »An der nächsten Haltestelle«, verkündet er, »steigen zwei aus, und einer steigt ein.« »Und an der nächsten Haltestelle steigt niemand aus, aber eine Mutti mit Kind steigt ein ...« »Und an der nächsten steigen vier aus und drei ein ...« Auf alle diese Ankündigungen achtet zunächst kaum jemand, doch recht schnell bemerken die Leute, daß sich sämtliche unerbetenen Vorhersagen auf sonderbare Weise erfüllen. Alle. Ohne Ausnahme. Und absolut exakt.
»... An der nächsten Haltestelle steigen drei aus, und zwei steigen ein - ein Mann und eine Frau.« Genau. »Was kommt als nächstes? Der Moskauer Bahnhof? Zwei steigen aus, drei ein ...« Absolutely! Die Münder klappen allmählich auf, die Leute bekommen Stielaugen. Jetzt hören ihm schon alle zu, als sei er irgendein Shwanezki, ausgenommen ein blasses Fräulein, das sich in einen lackierten Krimi vertieft hat. Alle anderen aber hören begierig, mit süßem Entsetzen, zu, wobei es niemand wagt, sich zu ihm umzudrehen, nur die Ohren haben alle aufgestellt wie geprügelte Kater. »... Und an der nächsten steigt einer ein, und einer steigt aus.« Genau: Einer steigt ein (und wird übrigens sogleich mißtrauisch ist er hier richtig, und was geht hier vor?), aber wer steigt aus? Niemand! Der Obus steht mit offenen Türen da, die Uhren ticken, schon wenden sich etliche schadenfrohe Visagen zu dem verkaterten Propheten um, schon beginnen sich die Türen zu schließen, doch da schlägt das bleiche Fräulein plötzlich die Lektüre zu, drängt sich mit dem Ausruf »Ojojoi« (oder etwas in der Art) an ihrem Sitzbanknachbarn vorbei und wird beinahe von den Türen eingeklemmt, kann aber doch noch hinausspringen. Durch den Obus geht ein unterdrücktes Seufzen. Alle warten, was weiter geschieht, aber weiter geschieht nichts: Der Prophet schweigt und kämpft heldenhaft gegen Entzugserscheinungen an. Und als der Obus das nächste Mal hält, steht er von seinem Platz auf - klein, zerzaust, mit schiefem Mund - tritt auf die Zwischenstufe hinab, um auszusteigen, und verkündet zu guter Letzt: »Sechsundneunzig wird Jelzin gewählt, und zweitaus'ndsechs gibt's 'nen Atomkrieg mit den Terroristen ...« Diese Geschichte handelt von ihm. Obwohl er keineswegs klein, sondern dann schon eher groß ist, nicht zerzaust, sondern außerordentlich gepflegt, und sich nie so betrinkt, daß er einen Kater hat. (Er ist überhaupt ungern betrunken. »Wozu soll ich mich betrinken?« fragt er düster. »Ich bin auch so fröhlich.«) Ich erinnere mich gut an die Zeiten, als alle noch am Leben und
sogar gesund waren, damals war er oft guter Stimmung, war einem Gläschen nicht abgeneigt und erging sich mit Vergnügen in Scherzen. Jetzt scherzt er nicht mehr. Niemals. Und die, die sich in seiner Gegenwart einen Scherz erlauben, blickt er an. Fixiert sie. Als warte er auf eine Fortsetzung. Die zweite Geschichte ist recht simpel und in weitaus geringerem Maße kanonisch. Auf einen gewissen (heiligen) Mann stürzt sich eine Horde spaßsüchtiger Halbwüchsiger, die an irgendwelchem Dreckszeug geschnüffelt haben, oder vielleicht auch nur, um ihn auszunehmen. Sie umringen ihn, drücken ihn gegen einen Gartenzaun und schicken sich an, ihn zu quälen, doch da erhebt er laut seine Stimme, an den Anführer gewandt: »Verlieren Sie keine Zeit! Suchen Sie gleich morgen dieses Buch. Autor soundso, Titel soundso. Suchen Sie es!« Die verdatterten (wieso eigentlich?) jungen Taugenichtse lassen sofort von ihm ab, und der Anführer macht sich tatsächlich auf die Suche nach dem Buch. Das betreffende Buch, wie Sie sich denken können, findet er nicht, aber dafür beginnt er zu lesen und wird - rechtzeitig - ein ordentlicher und sogar hervorragender Mensch. Überaus interessant sind an dieser ziemlich geschmacklosen Geschichte die Varianten von Büchern und Autoren. Am häufigsten wird die Bibel genannt: die Offenbarung oder der Prediger Salomo. Manchmal Bücher über Naturwissenschaft, sagen wir: »Courant und Robbins! >Was ist Mathematik?Diophantische Gleichungend« Und manchmal völlig unbekannte und anscheinend erfundene, nirgends existierende Bücher, zum Beispiel: Arthur Miles, >Wie man man selber wird< ... Doch am merkwürdigsten ist etwas anderes. Am merkwürdigsten ist, daß er den elenden kleinen Rowdy mit >Sie< anredet. In allen Versionen dieser Geschichte, die ich gehört habe. Und das trifft auch auf ihn zu. Er ist der einzige mir bekannte Mensch, der immer alle mit >Sie< anspricht - sogar einen zehnjährigen Bengel. Was die Geschichte selbst angeht, war in Wahrheit alles anders. Er fuhr mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock, aber Tengis, Marischa und ich beschlossen, etwas für die Gesundheit zu tun, und gingen zu Fuß. Diese beiden Hirnis hingen einen
Treppenabsatz weiter oben herum, anscheinend schon lange (nach der Menge der Kippen zu schließen), und sobald er das Fahrstuhlgitter öffnete, stürzten sie sich auf ihn und schafften es, ihn mehrmals zu schlagen. Was sie eigentlich wollten, ist unklar geblieben, aber jedenfalls konnten sie nichts Schlimmes mehr tun - wir kamen hinzu, und Tengis nahm sie sich vor. Ich stürzte zu ihm, um ihm vom Boden aufzuhelfen, aber er stand schon selbst auf, wobei er sich am Gitter festhielt -weiß, wütend, ein bißchen Blut fließt ihm übers Gesicht, Augen wie ein Urvieh. »Geben Sie ihn her«, befahl er Tengis und zeigte auf den kleineren von den beiden Hirnis, er selbst aber beugte sich vor, dicht an diesen Hirni heran, neigte sich zu seinem Hirniohr und flüsterte etwas niemand von uns hat gehört, was eigentlich. Und dann befahl er Tengis, sie laufen zu lassen, und sie gingen, setzten kaum einen Fuß vor der anderen, wie folgsame Paralytiker. Der kleinere Hirni aber war drei Stufen hinabgegangen, als er sich plötzlich umdrehte und (mit grenzenlosem Unverständnis) fragte: »Aber wozu ?« - »Gehen Sie, gehen Sie. Sie werden es später verstehen«, gab er zur Antwort, und damit hatte diese Geschichte eigentlich ihr Ende, und weiter ging es mit Verbänden, Tetanusspritzen und derlei Kram aus dem Repertoire unserer Marischka. Dann gibt es noch die Geschichte, wie er einen Menschen ins Leben zurückholte, einen neunzigjährigen Greis, der im Begriff war, in den Armen der heulenden Verwandtschaft still zu verscheiden, und der, wieder zu sich gekommen, plötzlich losschrie: »Onkel Sten! Das bin doch ich - der kleine Spatz! Sie haben mich auf Ihren Knien reiten lassen, wissen Sie noch?« Uberhaupt gibt es verdächtig viele Geschichten von Leuten, die älter als er oder mindestens genauso betagt sind, sich aber seit der Kindheit - ihrer eigenen Kindheit - so an ihn erinnern, wie er jetzt ist. Ich war selbst bei einem Fall dieser Art zugegen, als er (in einem Anfall letzter Verzweiflung) seine Frau, Tatjana Olegowna, zu irgend so einem großen Heiler brachte, und der, als er ihn erblickte, ausrief: »Sohnemann! Was denn, erkennst du mich nicht? Das bin doch ich, Ljoschka-Galosche!« Aus seinen Worten folgte, daß sie beide so vor fünfzig Jahren in derselben
Zelle gesessen hatten, oder etwas in der Art. Eine sonderbare Geschichte, wenn man berücksichtigt, daß er niemals und aus keinem Anlaß gesessen hat und daß er sich - nach den Worten des Heilers - »in all den Jahren überhaupt nicht verändert« hatte. In immerhin fünfzig Jahren? Der Heiler freilich war nichts wert, er hat Tatjana Olegowna nicht helfen können ... Übrigens ist über seine Vergangenheit überhaupt wenig bekannt. Er selbst erzählt niemals etwas von sich. Und teilt nie irgendwelche Erinnerungen mit. Vielleicht gibt es nichts, woran er sich erinnern könnte? Oder vielleicht hat er alles vergessen und existiert jetzt nur in Gegenwart und Zukunft? Als ich ihn einmal geradezu fragte und dabei sogar riskierte, mir seine herablassende Mißbilligung zuzuziehen, antwortete er mir unerwartet ruhig und sogar mit gewisser Verwunderung: »Aber ich habe wirklich nichts über meine Vergangenheit zu erzählen. Da gibt es nichts als zahlreiche Versuche und Irrtümer. Ich mag mich nicht an das alles erinnern. Die geglückten Versuche sind für mich längst zur Gegenwart geworden, und von den mißlungenen will ich nicht reden - ich schäme mich. Schäme mich bis heute. Es genügt, daß ich die Fehler nicht wiederhole.« Das ist nicht wahr. Er wiederholt Fehler. Er ist überhaupt kein Herrgott, nicht einmal ein Genie - er ist ein Interpretator. Das sind seine eigenen Worte: »Verstehen Sie doch, ich bin kein Schöpfer. Ich bin nur ein Interpretator. Ich erschaffe nichts, alles ist schon erschaffen, ohne mein Zutun und vor mir. Ich benenne es nur.« Völlig beiseite lasse ich die Geschichten und Legenden mit Mord, Verstümmelung und sonstigen Untaten. Momentan beispielsweise sind Gerüchte im Umlauf (und sogar in den Zeitungen wurde darüber geschrieben), es kämen häufiger Fälle vor, wo Killer ein lähmendes Nervengift verwenden. Oder irgendein besonders schreckliches Gas, das fast augenblicklich tötet. Man findet Leichen von Bürgern (in der Regel von recht wohlhabenden, sogar reichen: Geschäftsleute, Besitzer aller möglichen AGs und GmbHs, Erdölmagnaten, Spielhöllenkönige), bei denen das Leben unvermittelt infolge plötzlichen Atemstillstands aufhörte. In der regulären Statistik habe ich drei
solche Fälle im Laufe der letzten zwei Jahre, aber ich erinnere mich, daß so etwas auch früher vorgekommen ist. Man fand sie in Autos, in Hausfluren, auf Treppenfluchten, manchmal neben ihren Leibwächtern, die ebenfalls Schaden genommen hatten, aber wieder zu sich kamen und nichts sagen konnten: Sie sind ganz normal mit dem Boß irgendwo langegangen, plötzlich fiel das Atmen schwer, es wurde ihnen schwarz vor Augen, sie fielen in Ohnmacht, kamen wieder zu sich, und da lag neben ihnen eine Leiche, und es roch nach verbranntem Papier ... Also diese Geschichten handeln alle nicht von ihm. Er ist heikel. Ich würde sogar sagen - auf heikle Weise gütig ... »Ich möchte nicht als altmodisch gelten, aber: das Leben ist heilig«, »Was wir nicht gegeben haben, sollen wir nicht nehmen«, »Der Tod ist größer als jedes Problem« ... Und so weiter. Morgens liest er Zeitungen. (Er hat vier Zeitungen unterschiedlicher Ausrichtung abonniert, und eine weitere - die >Allgemeine< -hat für ihn schon seit etlichen Jahren ein Wohltäter abonniert, der es aus irgendeinem Grund für angezeigt hält, unbekannt zu bleiben.) Er liest gierig. Schnieft. Krächzt ein bißchen. Plötzlich beginnt er, wütend in der Nase zu bohren. Fährt mit den Ellenbogen über die aufgeschlagenen Seiten, zerknittert sie gnadenlos und fängt dann an, sie fieberhaft mit seinen trockenen weißen Handflächen zu glätten. Klappert mit der Schere. Schneidet Notizen aus. Oder Tabellen. Oder Textpassagen. Es ist völlig ausgeschlossen, zu verstehen, was eigentlich ihn interessiert. Alles. >Das angeborene Verbot des Brudermordes< (ein Artikel von Konrad Lorenz). >Gegenwart und Zukunft der Literatur< (ein Jahresüberblick). 'Operation Greif' (wie Skorzeny im Dezember 1944 Eisenhower zu liquidieren versuchte). >Die Belagerung von Watergate< (der Skandal, über den Nixon stürzte). >Hölle und Paradies, im Ozean verloren< (über die Galapagos-Inseln). >Suche nach einer Antwort auf eine schwierige Frage< (zur Sexualerziehung von Kindern und Jugendlichen). >Die Kapitulation von Leutnant Onoda< (die Geschichte eines Samurais, der auf den Philippinen ganz allein bis 1972 weiterkämpfte). Durchschnittsalter 900?< (populärer
Artikel zu Fragen der Langlebigkeit). >Geständnisse eines Mörders> (Offenbarungen des Terroristen Baruch Nadel, der den Mord an Graf Bernadotte organisierte). >Die Menge der Einsamem (über Rocker, Blousons noirs und dergleichen) ... Vor allem aber Statistik. Jeglicher Art. >Der relative Anteil der Militärausgaben am BSP der USA<, Kaderfluktuation: Gründe und Warnung, >Vom Problem der Geburtenquote und der demographischen lgnoranz<, >Der Intellekt der Wissenschaftler von Cambridge<, >Die Generation des Jahres 2000<, >Produktive Gebiete des Ozeans<... Die Ausschnitte werden in Mappen verstaut, deren Bänder zugeknotet, die zerschnittenen Seiten in den Papierkorb geschmissen. Ich kann mich an keinen Fall erinnern, keinen einzigen, daß er all diese Informationen irgend benutzt hätte. Er ist alles andere als ein Gelehrter, sein Gedächtnis taugt rein gar nichts, oder er ist zu faul, es zu benutzen. Sein Gedächtnis bin ich. Zu dem Zweck hat er mich ja - damit ich mich an alles erinnere, was aus irgendeinem Grunde plötzlich benötigt wird. Nur daß es nicht oft, ach, wie selten vorkommt, daß ich auf diese Art gebraucht werde. Für gewöhnlich benutzt er mich nicht als Datenbank, sondern als ganz gewöhnliches Notizbuch. »Wann muß ich mich mit diesem Kretin von den >Daily News< treffen?« »Ich möchte Marischa sehen, setzen Sie sich mit ihr in Verbindung und verabreden Sie einen Termin am Mittwoch um fünfzehn Strich sechzehn Uhr.« »Wir haben vergessen, dem Institut für angewandte Astronomie zu antworten? Haben wir. Sehr schön. Entwerfen Sie einen Text mit einer höflichen Ablehnung, ich werde ihn unterschreiben ...« Ebensogut könnte er sich einen Tischkalender zulegen. Das würde ihn weitaus billiger kommen. Aber hierbei ist der springende Punkt, glaube ich, daß es keinen Spaß macht, einen Tischkalender herumzukommandieren, es geht wohl überhaupt nicht. Außer Zeitungen und Zeitschriften liest er nichts. Er ist schon lange und tief in jenes Alter vorgedrungen, wo man überhaupt keine Belletristik und auch sonst wenig liest, und wenn schon, dann sozusagen >Tatsachenliteratur< Wörterbücher,
Enzyklopädien, historische Werke oder ganz und gar unerwartete Lehrbücher. Er lebt allein, schon seit vier Jahren. Er hat eine Frau, Tatjana Olegowna, sie ist sehr krank, aber schon seit vier Jahren in einer Spezialklinik untergebracht, und das anscheinend für immer. Er fährt jeden Montag zu ihr, und wenn er wiederkommt, ist er jedesmal finster und böse wie ein Drache, zischt mich an: »Schluß! Ich fahre da nicht mehr hin. Und lassen Sie sich ja nicht einfallen, mich daran zu erinnern! Schluß!...« Außerdem hat er einen Sohn. Der sieht etwa wie dreißig aus. Er lebt jetzt, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, in Australien, hat dort einen Antiquitätenladen. Ein großgewachsener, weißblonder Schönling (weder nach der Mutter noch nach dem Vater geraten) mit den Manieren eines Großkopfeten und heftigem englischen Akzent. Er kommt mehrmals pro Jahr, sie haben irgendwelche gemeinsamen, mir unverständlichen, anscheinend philatelistischen Angelegenheiten. Aber hauptsächlich jagt er (ich meine den Sohn) seit langem und erfolglos hinter der alten Uhr von Tengis her. Er ist ganz verrückt nach dieser Uhr, bietet jedesmal, wenn er da ist, mehr dafür und bettelt mit seinem gebrochenen Russisch (wie mit Brei im Mund) den Papa (Daddy), er möge ihm helfen, Tengis zu überreden. Der Daddy weicht höflich aus, Tengis ebenfalls, und nach einem halben Jahr wiederholt sich alles von vorn. Außer dieser Uhr scheint ihn nichts mit dem Sohn zu verbinden. Fremde Leute, die einander auf höfliche Weise gleichgültig sind. Tieren gegenüber ist er ebenfalls gleichgültig. Bei ihm lebt aber eine Schildkröte namens >Alte<. Raschelt in den Ecken mit zerknülltem Papier. Schaut mit ihren vernunftlos-scharfsichtigen Greisenaugen, als sehe sie etwas hinter dem Ereignishorizont. (Ich kann mir gut vorstellen, wie er sie tief in einer Herbstnacht, nachdem er sich in seiner leeren Sechszimmerwohnung eingeschlossen hat, auf die Hand nimmt, mit einem Finger über den kühlen glatten Knochen des Panzers streicht, ihr in die kleinen leblos-unbeweglichen Augen blickt - und vor Sehnsucht und Einsamkeit vergeht.)
Die Wohnung ist gigantisch, altertümlich, mit einem kräftig abgelagerten Geruch der Vergangenheit. Die Decken sind gut vier Meter hoch, Stuck (Meergötter, Wasserpflanzen, Najaden, Nereiden), die Elektrik auf Putz, auf altertümlichen Porzellanröllchen, mächtige Kronleuchter im Besuchs- und im Arbeitszimmer, die Schlafzimmer aber (es gibt zwei) sind mit teurem Holz getäfelt, und die Fenster sind bunt verglast und stellen eine gelbe Sonne über braunem Horizont dar. Es gibt noch ein abseits liegendes Zimmer, ein kleines Zimmerchen ohne Fenster, im Grunde eine Abstellkammer, mit Regalen vollgestellt. Dort steht ein Computer, der immer eingeschaltet ist (und auf dem immer ein Programm CROSSYST läuft - ich habe keine Ahnung, was das für ein Progranm ist), und der Luftzug läßt die über die Regale gehängten zahllosen gestrickten Wollschwänze unheimlich hin und her schwingen lang, schmal, zu fünf Maschen, grauschwarz wie die verlausten Zöpfe eines Nomaden. Hier herrscht immer Halbdunkel, es ist beängstigend wie in einem Götzentempel und riecht stickig nach Staub und Spinnweben. Ob er Freunde hat? Eine interessante Frage. Ich würde selbst gern verstehen, ob er Freunde hat. Freunde sind Menschen, die man >wegen allem< liebt, wegen allem ohne Ausnahme. Im Grunde liebt wie sich selbst, denn nur mit sich selbst kann man sich über alles verständigen, wütend Ohrfeigen austeilen und dann verzeihen und vor Zärtlichkeit weinen. Solche also hat er nicht. Er hat uns, aber wir sind ihm keine Freunde, wir sind für ihn eher Kinder, aber geliebte Kinder. Aber nicht gleichauf mit ihm. Aber Kinder, ohne die das Dasein keinen Sinn hat. Aber eine Stufe unter ihm. Wie ein mit Mühe und Qual geschriebenes Buch für den Schriftsteller, eine Statuette für den Bildhauer, ein Brillant für den Meisterjuwelier. Man kann den Edelstein, den man aus dem groben, unreinen Diamanten herausgeholt hat, freudig und innig lieben, aber nicht mit diesem Stein befreundet sein. Von Zeit zu Zeit bekommt er Besuch. In der Regel sind das alte Leute, in der Regel Greise, sehr selten Greisinnen. Manche Besuche sind ziemlich seltsam. Doch am seltsamsten ist, daß (mit äußerst seltenen Ausnahmen) nie jemand zweimal zu ihm
gekommen ist. Obwohl man fast jedesmal sieht, daß es sich um alte Bekannte handelt, >sieh einer an!, ja wer ist denn das?<, >eine Ewigkeit nicht gesehen!«. Öfter als die anderen ist das Akademiemitglied bei uns. Ein Berg von einem Mann. Der Quinbus Flestrin. Riesig, bauchig, Pranken, ein Kreuz wie ein Schrank, Beine wie Bäume, Wangen wie zwei Pasteten. So nennt er ihn auch: Akademiemitglied. Und dann noch - gelegentlich - Preisträger. Er ist tatsächlich Mitglied der Akademie (Physikochemiker, Erdölchemie), in seinen Kreisen sehr bekannt und Träger aller möglichen und unmöglichen Preise: Voriges Jahr zum Beispiel hat er einen ziemlich prestigeträchtigen Preis des saudischen Königs erhalten - einen unglaublichen Haufen Bucks (nach Abzug der Steuern, versteht sich). Doch mit dem Sensei unterhält er sich keineswegs über Physik samt Chemie, nicht einmal über Erdöl, sondern über Briefmarken und Geld. Nur über Briefmarken und Geld. Der Sensei beklagt sich, daß es ständig an Geld mangelt und daß man ihm neulich eine »Nummer Vier« angeboten habe (keine BH-Größe, versteht sich, sondern die Nummer Vier irgendeiner sehr wertvollen Marke - »auf Briefstück mit Moskauer Stempel«), er aber ablehnen mußte, verdammte Armut. Darauf antwortet ihm das Akademiemitglied irgendwas in der Art, Geld mache nicht glücklich, und beklagt sich seinerseits, er habe neulich (vom Geld des saudischen Königs) einem völlig verblödeten Greis ein paar gute Marken abgekauft, und prompt habe der es sich anders überlegt und verlange jetzt »alles zurück«, drohe mit der Miliz und der Öffentlichkeit und sogar mit angeblich zu allem bereiten >Kumpels< ... Die Gespräche über Geld kann ich verstehen und sogar interessant finden: Geld ist immer interessant. Aber wenn sie von den Marken zu reden anfangen!... Tengis behauptet, sie seien beide große Kenner. Mag sein. Jedenfalls verstehe ich bei ihren Gesprächen über Marken immer nur Bahnhof. »Die sind ohne Wasser?« »Nein, mit.« »Quer?« »Drei quer, aber die auf dem Briefstück ist längs.«
»A-hm. Gut abgeschlagen ... Ein Dreier. Das ist wohl Kronstadt? Aber verwischt - schade.« »So ist sie eben. Ich war's ja nicht.« »Und großgezähnte hat er nicht?« »Die Einser hat er, frisch, im Viererblock.« »Und keine Fünfer?« »Gestempelt. Ein Dreierstreifen ...« Und so weiter. Geben Sie das Ihren Dechiffrierem. Es gibt noch einen sehr seltsamen Besucher. Er kam einmal ohne vorherigen Anruf - nicht jung, nicht alt, rotbraun wie eine Tabakpfeife, roch auch genauso nach Nikotin, nach neuester Mode schlecht rasiert (n-Tagebart), klein, aber furchteinflößend und irgendwie durchweg unnatürlich wie göttliche Sünde. Ich wollte ihn nicht hereinlassen, aber er schaute mich nur mit Dracula-Augen an (ich weiß nicht, was das bedeutet: unter den Brauen hervor, die ganze Iris nichts als Pupille und in den Augäpfeln blutige Äderchen), blickte mich an und stellte sich mit Schmirgelstimme und einem unangenehmen R-Fehler vor, er sei Vertreter der Sozialversicherung und verpflichtet, dringend mit dem ehrenwerten Herrn Agre zu sprechen, wobei es um dessen, Sten Arkadjewitschs, dringliche Erfordernisse gehe ... Nicht an Dracula erinnerte er (Gott mit ihm, dem Dracula, was weiß ich schon von dem?), sondern an den alten Pew, den blinden Mörder bei Stevenson. Ich bekam Angst - bis zum physischen Widerwillen, bis zum Persönlichkeitsverlust, und ließ ihn herein. Wie sich herausstellte, kannten sie einander, und zwar seit langem. Eine geschlagene Stunde redeten sie über schwer Verständliches, erörterten irgendwelche albernen Fragebögen, gifteten sich wegen der Antworten auf völlig idiotische Fragen an. (»Haben Sie den überwiegenden Teil Ihres Lebens in der Großstadt verbracht? Ja/Nein«, »Regelmäßige Zahnpflege? Ja/Nein«, »Körperliche Übungen: regelmäßig, regelmäßig in Maßen, regelmäßig aktiv« ...) Ich konnte sie fast nicht hören, starrte den Versicherungsvertreter nur wie hypnotisiert an. Ihn anzuschauen, ohne beinahe physisch zusammenzuzucken, war quälend schwer, ihn überhaupt nicht anzuschauen unmöglich. Also schaute ich, fast ohne etwas zu hören und zu verstehen.
Doch dann begannen Namen aufzutauchen, in der Regel unbekannte, doch plötzlich huschten auch bekannte vorüber: Kosto-marow, Chan ... (Was für ein Chan? Tengis?) Da erhob sich der ehrenwerte Herr Agre majestätisch und sprach: »Ich bitte Sie zu mir herein!« (Als hätten sie bisher nicht bei ihm befunden, sondern im Treppenhaus.) Und sie entfernten sich in die Abstellkammer, brum-melten dort noch eine gute Stunde lang über irgend etwas, wobei sie einander von Zeit zu Zeit heftig anschrien, und danach erschienen sie wieder: der Versicherungsvertreter voran (mit zufriedenem Aussehen und nicht gar so verunsichernd wie anfangs), der ehrenwerte Herr Agre hinterher, mit völlig verzerrtem Gesicht und einem großen Glas Kognak in der Hand. An diesem Kognak nippte er dann schweigend noch eine halbe Stunde, nachdem die Sozialversicherung gegangen war und er sich an seinen Arbeitsplatz gesetzt hatte, als taue er auf, als beruhige er sich nach starkem Streß. Und als ich zu fragen wagte, worum es eigentlich ging und wer das war, antwortete er: »Der Todesengel war das« - und widmete sich wieder seinem Glas. Und ich glaubte ihm. Fast. Denn wissen Sie, ihm nicht zu glauben war ziemlich schwer, ihm zu glauben aber ganz unmöglich ... Ich habe diese Episode hier angeführt, um deutlich zu machen: Nutzen werdet ihr von mir kaum haben - ihr werdet von mir nichts Interessantes über seine Beziehungen erfahren, wie ich selbst auch in zehn Jahren tadellosen Dienstes nichts darüber erfahren habe. Was seine Kunden betrifft, so sind sie zu Dutzenden und Aberdutzenden vor mir vorbeigezogen, sie sind alle völlig offiziell in die entsprechenden Dateien eingetragen worden, und diese Dateien können jederzeit vorgelegt werden - auf eine entsprechende Anforderung, sagen wir, des Finanzamtes hin. Dutzende und Aberdutzende von - hauptsächlich - Mamas und Omas mit ihren Sprößlingen ...Es kommen auch Papas und Opas darunter vor, aber diese Variante ist seltener, fast exotisch. Gierige Elternaugen in gieriger Erwartung eines Wunders - heute, sofort, am liebsten mitten in der Sitzung ... Erschrockene Kinderaugen, in denen das Erschrecken so rasch und rührend
von erschrockenem Interesse abgelöst wird und dann von einer gründlichen Sachlichkeit, und schon hat man einen konzentrierten schnaufenden kleinen Jungen vor sich, als sei der mit irgendeinem umwerfenden, wunderbar riechenden, nagelneuen, eben als Geschenk erhaltenen Baukasten beschäftigt... Und der ewige gequälte Ausruf: Und warum denn kein Mädchen? Er weiß selber nicht recht, warum er nicht mit Mädchen arbeiten kann. Mit Mädchen, mit jungen Frauen, mit Matronen ... Einmal hat er gesagt (nicht zu mir, aber in meinem Beisein), er sehe die Menschen gleichsam, als seien sie durchscheinend - Adern, eine überaus komplizierte Zellstruktur, Fäden, ein sich regendes, an Farbnuancen reiches, kompliziert organisiertes Gemisch - Frauen aber sehe er überhaupt nicht: Für ihn seien alle durchweg Gefäße aus Terrakotta, Türkis, Graphit, Malachit - undurchsichtig, wenn auch unwahrscheinlich, fast göttlich schön ... Aber: Sich an dem Anblick erfreuen - ja, mit ihnen arbeiten - nein. Und dabei sind die Eltern von Mädchen besonders - unglaublich, erstaunlich, unwahrscheinlich ! - aufdringlich ... Er ist bescheiden. Das muß man ihm lassen. Er hat keine hohe Meinung von sich - weder in Worten noch in Taten. Für seine größte und unverzeihliche Sünde hält er Faulheit und das kategorische Unvermögen, sich mit etwas zu befassen, das ihn nicht interessiert. Wenn ich ihn in dem Sinne behellige, er müsse doch nun endlich an die Arbeit gehen, antwortet er mir mit dem Prediger Salomo: »Am guten Tag sei guter Dinge, am bösen Tag aber denke nach.« Aber in Wahrheit denkt er nicht so. Er hat einfach plötzliche Anfälle eines schöpferischen Stupors, die ihn quälen wie ein Ekzem - an dem man nicht stirbt, von dem man aber auch niemals vollständig geheilt wird. Ich weiß, daß er nicht gern an dieses sein Ekzem denkt. Daran zu denken langweilt und bedrückt ihn. Er findet (wie mir scheint) überhaupt - und schon seit recht langer Zeit - das Dasein langweilig und bedrückend. Seit er seinen zweiundzwanzigsten Anfall beruflicher Impotenz durchgemacht und plötzlich begriffen hat, daß diese Anfälle nie mehr aufhören werden ... Ich glaube, das ist das einzige, was ihn wirklich ängstigt und beunruhigt.
Sicherlich erinnert er sich selbst nicht mehr, wann das zum erstenmal und endgültig geschah. Gewiß war das, als habe er in sich den Samen des Todes entdeckt: Auf einmal begreift man ein für allemal, daß man sterblich ist und nicht mehr gar so viel Zeit bleibt - na, fünfzehn Jahre, zwanzig... Dabei hat man sich gestern noch für unsterblich gehalten (und war es also auch)! Was sind zwanzig Jahre Leben im Vergleich zur Unsterblichkeit? Was sind die spärlichen Portionen ... die episodischen Ausbrüche ... die glücklichen Anfälle von Inspiration, die verhältnismäßig rar geworden sind, im Vergleich zu jenem triumphierenden Bewußtsein der Leistungsfähigkeit, das einen noch vor kurzem erschüttert hat, vor gerade mal einem Dutzend Jahre ... Der Empfindung grenzenloser Allmacht. Der Empfindung Gottes in der Brust - hier, direkt unter der Schlüsselbeingrube, wo jetzt seit einiger Zeit - keinerlei Empfindungen mehr vorkommen, ausgenommen natürlich den ischämischen Schmerz, wenn man glaubt, man könne wie früher dem Bus hinterherrennen ... Ich sehe, wie gallig er Menschen beneidet, die ihren Beruf jederzeit ausüben können, wann immer es ihnen paßt. Künstler beneidet er. Musiker. Akrobaten. Wenn ein Akrobat einen Salto rückwärts machen will - spannt er die Muskeln an, geht in die Knie, läßt den Körper hochschnellen, überschlägt sich in der Luft und steht wieder auf den Füßen, fest und exakt wie angegossen. Oder jemand schlägt in die Tasten und bringt eine Melodie hervor, die es bis eben nicht gegeben hat und die es auf einmal gibt... Hauptsache - im selben Augenblick, da man es gerade wollte ...es einem in den Sinn kam ... einem beliebte ... Mehrmals hat er in meinem Beisein (aus verschiedenen Anlässen) wiederholt: »Holz hacken ist deshalb so beliebt, weil man bei dieser Tätigkeit den Erfolg sofort sieht.« Das sind nicht seine eigenen Worte, es ist ein Zitat, ich weiß nur nicht mehr, woher. Und er empfindet großes Mitgefühl für Verfasser aller Art. Weil etwas zu verfassen heißt, etwas zu erfinden, was es sonst ohne einen nicht gäbe, vorher nicht gab und anderswo nicht gibt. Eine Erfindung, die sich wiederholt, wieder und wieder - letzten Endes die Entdeckung des Wissens über den Menschen, den man vor
sich hat: der dasitzt, nichts begreift, einen nur anstarrt und nicht im Traume auf den Gedanken käme, daß alles schon passiert ist, daß man nicht mehr ihn vor sich sieht, wie er so glotzt, nicht seine sterbliche Hülle, sondern das Wesen, sein Innerstes, seine Seele. Seine Gegenwart und Zukunft auf viele Jahre voraus, Amen ... Wie Sie sehen, nähere ich mich allmählich der Hauptsache, seiner Arbeit, nähere mich ihr gleichsam auf einer unsicher schwankenden Spirale, komme näher und kann partout nicht hinkommen, weil ich nicht weiß, wie ich möglichst genau davon erzählen soll. Mit Geheimnissen hat das nichts zu tun! Er selbst erzählt gern und ohne jeden äußeren oder inneren Zwang jedem, der ihn danach fragt, von seiner Arbeit. Manchmal habe ich den Eindruck, daß er selber versucht, sich über sich selbst und seine Beschäftigung klarzuwerden - es versucht, sich anstrengt, sich müht, in der Regel unbeholfen, manchmal durchaus mit Eleganz, aber immer erfolglos. Ich finde es bemerkenswert und seltsam, daß er zwar gern zu Interviews mit Journalisten bereit ist, aber geradezu vorsätzlich und gezielt allen Publikationen eine Absage erteilt, die einiges Gewicht haben. Den >Moskauer Nachrichten< - ein entschiedenes Nein. Den >Iswestija< - ein Nein. Dem >Kommersant< - nein, nein und nochmals nein. Dem >Moskauer Komsomolzen< - hm ... nein. >Argumente und Fakten< - na ja ... aber eigentlich nein, entschuldigen Sie, nein ... Dafür aber irgend so ein >Logos und Kosmos< - mit Vergnügen! Die >Stimme des Unerforschtem - ja, ja, morgen um zwölf. >Die schwarze Aura< bittesehr! (Mir ist klar, daß seine Arbeit ihn nicht zuletzt auch ernährt, Reklame braucht er wie das täglich Brot, und sei es auch nur, um einen gewissen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Von den höheren Aufgaben und ungenannten Zielen will ich gar nicht reden ... Übrigens, wenn man es recht bedenkt: Was soll ihm Reklame, wenn wir fünf, sechs Anmeldungen pro Woche haben und wählerisch sind wie ein bis zur Unanständigkeit gereizter Nero Wolfe. Aber er nimmt liebend gern Honorare für seine
Interviews. »Ha!« ruft er voll freudiger Befriedigung aus. »Hundert Bucks! Ein warmer Regen! Was sind wir doch für verdienstvolle Verdiener!«) Hier als Beispiel ein Stück aus seinem Interview für das Blättchen "Morgenröte der Magie": ... »Es ist also doch eine wunderbare Gabe?« »Ein Gabe - ja. In dem Sinne, daß sie gottgegeben ist. Nichts Erworbenes. Aus einer undenkbaren Verstrickung der Chromosomen entstanden. Aber warum sagen Sie >wunderbar< ? Der Instinkt, der zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Meise veranlaßt, sich für einen Zweig zu interessieren, ihn aufzuheben, ihn irgendwohin auf einen Baum zu schleppen, ohne daß sie schon weiß, wohin, und dann plötzlich auf irgendeine Weise - auf welche? - zu verstehen: Hier muß er hin, in diese Astgabel, nur hier und sonst nirgendwo-hin ... Ist das ein Wunder?« »Aber das ist... nun ja ... eine reine Instinkthandlung ...« »Und ein Wissenschaftler, der mitten in der Nacht, halb im Schlaf, halb im Phantasieren, plötzlich begreift, daß man den Energie-lmpuls-Tensor, hol ihn der Teufel, dem Massetensor gleichsetzen muß, und dann rückt alles an seinen Platz, und das Universum bekommt einen neuen Sinn? Ist das kein Instinkt? Sagen Sie mir bloß nicht, das sei Verstand! Ich habe mich eigens bei Mathematikern, bei Physikern erkundigt. Verstand wird gebraucht, um eine Entdeckung zu erklären, sie den anderen und vor allem sich selbst verständlich zu machen. Die Entdeckung selbst hat mit dem Verstand überhaupt nichts zu tun. Sie taucht aus dem Nichts auf, aus heiterem Himmel, aus den Fingern ... Und ein Arzt, der anhand des Gesichtsausdrucks, des leidenden Blicks, der Hautfarbe eine exakte Diagnose stellt?« »Nun, das ist einfach Erfahrung ... über Jahre hinweg angehäufte Information ...« »Ein Computer kann auch noch mehr Information haben, aber was nützt sie ohne Programm? Und welches Programm arbeitet im Kopfe jenes Arztes? Wer hat es dort eingegeben? Und woraus folgt, daß sich dieses Programm im Kopf befindet? Vielleicht ist es in allen Körperzellen zugleich? Oder vielleicht in der Seele? « »Ja, aber ohne Information ist jedes Programm machtlos ...«
»Und wer sagt Ihnen, daß ich ohne Information auskomme? Ein kleiner Junge sitzt vor mir, ich sehe seine Hände, die Finger, die Farbe der Wangen, seine wackelnden Ohren ... Ich rieche seinen Geruch. Höre seine Stimme. Die Worte, die er spricht, seine Antworten auf meine Fragen und wie er sie beantwortet... Das ist doch so viel Information, daß jeder Computer überfordert wäre ... Dabei weiß ich nicht einmal, was ich davon brauche und was nicht! Das Programm entscheidet ohne mich. Vielleicht genauso ein Programm wie im kleinen heißen Körperchen der Meise, nur viel raffinierter ... Übrigens, woher sollen wir das wissen? Vielleicht ist es auch ganz im Gegenteil ein viel primitiveres Programm, ganz stupide ...« »Das heißt, Sie stellen einfach Fragen ?« »Beispielsweise. Beispielsweise stelle ich einfach Fragen. Und höre mir die Antworten an. Beobachte die Antworten. Diese Antworten enthalten alles, was ich brauche ... Nur daß es immer weniger Fragen werden, leider.« »Und jeder beliebige Junge ...« »Jeder Junge. Genau gesagt, überhaupt jeder Mensch. Jeder Mensch ist ein wandelndes Grab von Talent.« »Und Sie öffnen dieses Grab?« »Grob gesagt, ja. Aber ich grabe es nicht aus - ich öffne es.« »Und Sie sind sich sicher, daß Sie ihm damit eine glückliche Zukunft verschaffen?« »Davon habe ich keine Ahnung. Ich mache keine Menschen glücklich. Ich mache keine Menschen besser. Ich suche bei ihnen nur Talente und wähle das stärkste aus, das dominierende.« »Und wenn es kein Talent gibt?« »Ich weiß nicht, was dann wäre. Aber bisher ist das nicht vorgekommen. Vielleicht gelingt es mir nicht immer, das wichtigste Talent zu finden, aber irgendein Talent habe ich noch immer gefunden ... Völlige Talentlosigkeit scheint ein sehr seltenes Talent zu sein ...« Und so ist es tatsächlich. Er stellt Fragen. Der Junge sitzt vor ihm, hat sich mehr oder weniger ungezwungen in den speziellen gemütlichen Sessel auf der einen Seite des Tisches gepflanzt, er aber sitzt gekrümmt auf einem Stuhl mit gepolsterter Sitzfläche
und gerader geschnitzter Lehne gegenüber, klappert mit den flinken Stricknadeln und stellt Fragen. Manchmal singt er auch und verlangt, daß der Junge mitsingt. Oder er liest Gedichte vor. Oder denkt sich welche aus. Oder fängt plötzlich an, logische Denkaufgaben zu lösen. Eine Menge Varianten, und man weiß vorher nie, welche davon er wählen wird. Ich glaube, er weiß es selber nicht... Seine Lieblingsbeschäftigung während dieser Arbeit ist es, lange Wollstreifen zu stricken, die absolut zu nichts zu gebrauchen sind. Drei Knäuel - schwarze, weiße und graue Wolle. Er führt seine ... Befragung? seinen Unterricht? Dialog?, klappert ohne hinzuschauen mit den Nadeln, der Streifen wächst, kriecht ihm unter den Fingern hervor, und dann trennt er ihn entweder wieder auf (wobei er mit Emphase irgendwelche finsteren Schamanenflüche oder -Sprüche murmelt), oder er trägt ihn triumphierend wie ein Kriegsbanner durch die ganze Wohnung und hängt ihn in der Abstellkammer auf, wo es davon schon Dutzende gibt... Nachdem er den Ausdruck bis zu dieser Stelle gelesen hatte, legte er ihn beiseite - über die im Laufe des Monats auf dem Zeitungstischchen angesammelten Schichten von Büchern, Manuskripten, Zeitungen, zerknitterten Briefen, Schlafmittelschachteln und ebensolchen Ausdrucken auf teurem bläulichem Papier -, stemmte sich im Bett hoch, setzte sich und stellte die bloßen Füße auf den Boden. Er mußte mal. In der Wohnung herrschte die übliche dumpfe Stille, doch nach ein paar Sekunden begann er das feine trockene Knistern zu hören, das von der Birne in der Stehlampe ausging - sie war im Begriff, durchzubrennen. Dann tauchte auf dem Hintergrund der Stille und dieses Knisterns ein neues Geräusch auf - ihm ging nicht sofort auf daß im Badezimmer ein Hahn schlecht zugedreht war und Wasser ins Waschbecken lief. Und dann fuhr draußen ein Lkw vorbei, rumpelte eisern über die Huckel, und die Stille war fort, als sei sie beleidigt - als verberge sie sich verärgert im Korridor, in der Tiefe des Hauses, in der Abstellkammer. Er steckte die Füße in die Pantoffeln und schlurfte den Korridor entlang zur Toilette.
Dann ging er ins Badezimmer und wusch sich dort lange die Hände, betrachtete sein Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken. Etwas war mit diesem Gesicht nicht in Ordnung, etwas war nicht wie immer, und da bemerkte er plötzlich, daß er überhaupt keine Augenbrauen mehr hatte. Rasch rückte er die Brille auf die Nase: Von den Brauen war fast nichts übrig. Das heißt, er hatte auch früher keine Brauen wie Breshnew oder auch nur wie Nixon gehabt, doch jetzt ragten anstelle der rechten drei einsame wild wachsende Haare hervor, und von der linken war überhaupt nur noch irgendein erbärmliches bißchen grauer Flaum geblieben. »Ja«, sagte er laut und hustete sich den Kehlkopf frei. »Nicht wie bei Nixon.« Der Rhythmus gefiel ihm, und während er sich die Hände am Handtuch trocknete, sang er nach der Melodie der Cucaracha: »Nicht wie bei Nixon, nicht wie bei Nixon ...« Das Handtuch war nicht mehr frisch. Unter dem Pantoffel knirschte und knackte eine locker gewordene Fliese. Er bückte sich, um sie zurechtzuschieben, und erblickte in der Ecke unter der Heizung die Alte. Die Schildkröte pennte friedlich, die Pfoten und den dicken, kurzen schwarzen Schwanz unter sich gezogen. Gleich neben ihr lagen ihre Kötel wie aus irgendeinem Text herausgefallene große Kommas. »Weiß der Teufel, in was für einem Zustand das Haus ist!« sagte er laut. Die Stille gefiel ihm auf einmal nicht mehr. Eine neuerliche Stille wie Watte. Eine wie Watte, aber dafür eine private. Persönliche. Eigene ... Ein körperloses Zwielicht von Geräuschen. Schatten von Geräuschen. Gespenster ... Das war die Einsamkeit. Das war es. Ihn fröstelte, und eilends zog er den alten gestrickten Morgenmantel über, schlug ihn vorn übereinander, knotete den seidenen Gürtel straff zusammen. Der Morgenmantel roch ... Der Morgenmantel riecht. Die Handtücher sind nicht frisch. Uberall sind Fliesen locker. Die Wanne ist rötlich, das Klobecken grau. Nicht wie bei Nixon ... Er kehrte ins Schlafzimmer zurück, setzte sich aufs Bett und nahm, ohne sich hinzulegen, den Ausdruck in
die Hand. Ungefähr zehn Seiten hatte er noch nicht gelesen; er überflog die beiden letzten. Seine Handschrift: winzige Buchstaben wie Glasperlen, sorgsam miteinander verbunden, die Zeilen gleichmäßig wie mit dem Lineal gezogen, Arabesken - das ähnelt überhaupt keinem Text, man sollte meinen, daß gar niemandem in den Sinn kommt, derlei zu lesen. Es zu betrachten - ja: mit der Lupe, den Atem anhaltend, wie man ein altertümliches Ornament betrachtet, wie Philatelisten ihre Lieblingsmarke betrachten. Aber es keineswegs zu lesen. Einmal habe ich gewagt, ihn zu fragen: »Was schreiben Sie, Sensei? Memoiren?« Es ergab sich ein seltsames Gespräch, genauer gesagt, ein Monolog. Anfangs wiederholte er mehrmals: »Memoiren ... hm, Memoiren ... Memoiren?« - als prüfe er den Geschmack des Wortes. Aber dann sagte er mit seltsamer und unerwarteter Geringschätzung: »Aber Memoiren - das ist ja ... Sie verstehen doch, Robert: Das ist etwas Vergangenes. Das ist schon geschehen. Ich bin doch nicht irgendein Historiker. Was kümmert mich die Vergangenheit. Ich schreibe die Zukunft...« Genau so hat er es gesagt: »Ich schreibe die Zukunft.« Einfach. Ganz einfach. Ganz aufrichtig. Und ohne etwas zu beschönigen. Wie ein Journalist sagen würde: »Ich schreibe einen Artikel.« Wie ein Buchhalter sagen würde: »Ich schreibe den Quartalsbericht.« Ich weiß nicht, was er meinte. Seine Manuskripte habe ich natürlich nicht gelesen. Nur einmal habe ich zufällig über seine Schulter hinweg zwei Zeilen auf einer neuen Seite gesehen: »Wenn du willst, daß sich in hundert Jahren etwas auf der Welt ändert -beginne sofort. Gottes Mühlen mahlen langsam.« Dreißig Stunden habe ich darangesetzt und dreißig Seiten Tips an euch zusammengetippt, nur um zu wiederholen, was euch schon verschiedene Leute dreißigmal vorher gesagt haben. Ich weiß nichts über ihn. Niemand weiß etwas über ihn. Es ist, als habe er keine Vergangenheit. Er kommt nirgendwoher. Und er ist niemand. Der begeisterte Zyniker Tengis hält ihn für den letzten großen Wundertäter auf unserer Erde, und dieser Letzte der Wundertäter dünkt sich imstande, den Stamm der verschwundenen Zauberer
wiedererstehen zu lassen - der Menschen, die ihr wichtigstes Talent kennen und darum frei von Komplexen sind, ruhig, selbstsicher, selbstgenügsam, gut. Er zeugt sie Jahr für Jahr zu Dutzenden und kann partout nicht verstehen (oder will nicht glauben?), daß das Leben hinterherläuft wie das Schwein hinter dem undichten Wagen und sie alle mit seiner verdammten Schnauze aufhebt und zermalmt: sie zerbeißt, zerkleinert, zerbricht, verbiegt, kauft, tötet... Wadim hält ihn natürlich für einen >Macher der Zukunft<. Für ihn ist er eine männliche Moira. Bei den alten Griechen: Klotho spinnt den Schicksalsfaden, Lachesis läßt dem Menschen sein Teil zukommen, Atropos schneidet den Faden ab. Also ist der Sensei dreifaltig. Er kennt die Zukunft nicht, er macht sie. Er klappert mit den silbernen Nadeln, strickt die schwarz-weißen Schals des Schicksals ... Ich weiß nicht mehr genau, wer - ich glaube, Marischa gebrauchte den schönen Vergleich vom bitteren Engel, der den Willen Gottes auf Erden vollstreckt. Der strafende Schläge und zärtliche Belohnungen austeilt. Aber Bosheit gibt es so viel auf der Welt und Güte so wenig. Und so sind die Blitze alle längst verbraucht, aber Belohnungen gibt es noch einen Schrankvoll: da ist niemand, dem, und nichts, wofür man sie geben könnte ... Sollte man sie jetzt nicht an alle austeilen - da doch jeder Sünder zugleich ein Gerechter ist? Es gibt ja im ganzen Weltall niemanden als den sich hin und her werfenden, gequälten, leidenden und siegenden Menschen ... Matwej wiederum, dieser Sänger rationaler Phantasmagorien, hält ihn für einen Außerirdischen, den Progressor einer Superzivilisation. Es ergibt sich ein ziemlich stimmiges Bild. Sie mühen sich, wenigstens ein bißchen am Gang unserer Geschichte zu verändern. Alle wissen längst, daß man nichts ändern kann und darf, aber einzelne Wirrköpfe versuchen es immer noch, ohne sich und andere zu schonen. Und Tatjana Olegowna, seine Frau, ist auch von dort, eine von denen. Als sie erkrankte, weigerte sie sich, zurückzukehren, es war das Jahr 1991 und so viel Wichtiges zu tun, und so hat die Krankheit sie
aufgefressen, und dann verlor sie den Verstand - sie hat vergessen, wo sie sich befindet, redet in ihrer eigenen Sprache, erkennt ihren Mann nicht mehr ... Überhaupt haben diese Prozessoren im 19. Jahrhundert ganze Arbeit geleistet: ein energischer Versuch, die Technik entscheidend voranzubringen, wobei der technische Fortschritt durch eine machtvolle Entwicklung der humanistischen Disziplinen abgefedert wurde (Puschkin, Dostojewski, Tolstoi, Dickens, Darwin, Freud u. dgl.). Aber es wurde dennoch nichts draus - die animalische Trägheit der Masse siegte. Den Lauf der Geschichte kann man nicht ändern. Man kann nur versuchen, den Menschen zu verändern. Aber wie? Was an ihm soll man austauschen und wogegen? Alle gut machen? Aber Güte macht ja passiv. Sie klug machen? Aber das gelingt nicht bei allen, wie man nicht alle zum Sprintprofi trainieren kann. Sie geduldig machen? Aber es gibt ja keine klare Grenze zwischen Geduld und Gleichgültigkeit -in der Praxis ist Duldsamkeit in neun von zehn Fällen Gleichgültigkeit ... Ich weiß nicht. Die griechischen Götter haben sich des öfteren ins Leben einzelner Sterblicher eingemischt, aber niemals auch nur den Versuch unternommen, den Gang der menschlichen Geschichte zu beeinflussen, den Fortschritt. Und jetzt sind es auch zu viele Menschen geworden - die Götter können nicht mehr alle und jeden im Auge behalten. Ich glaube überhaupt nicht an Gott und an Götter. Ich glaube nicht, daß es eine vernünftige Kraft gibt, die imstande wäre, nach ihrem Gutdünken auf mein Leben einzuwirken. Aber ich glaube, daß auf der Welt sehr seltsame Menschen vorkommen. Ich weiß es einfach. Ende der zweiten Fassung 9. Dezember Als er bis zum Datum gelesen hatte, legte er die Seiten des Ausdrucks möglichst akkurat übereinander, stand auf und ging ins Arbeitszimmer. Schaltete den Kronleuchter ein. Schaltete die Tischleuchte ein. Legte den Ausdruck auf den Tisch, setzte sich aber nicht, sondern ging zum Fenster und blickte eine Zeitlang auf die verschneite Straße und das schwarze Haus gegenüber.
>Hinterm Fenster weißer Schein - da muß Schnee gefallen sein ... Hinterm Fenster schwarzer Schein - ach, da schaut die Nacht herein ...< Er kehrte zum Tisch zurück, setzt sich auf den gepolsterten Sitz des geschnitzten Stuhls mit der hohen geraden Lehne, nahm den Kugelschreiber und begann sofort zu schreiben - seine Arabesken zu zeichnen, zu malen -, gleich unter dem Datum, wo zum Glück genug Platz frei war. Jetzt ist es wesentlich besser geworden. Aber Sie müssen sich Mühe geben, daß ein ganz und gar widerlicher, stinkender Greis herauskommt. 1. Manchmal packt ihn ein Drang von unten her (man nennt das einen imperativen Drang), dann läßt er alles stehen und liegen und rennt auf den Abort. 2. Wenn er ißt, ist das ganze Kinn fettig. 3. Sein Morgenmantel wird nie gewaschen, riecht nach Ziegenbock. 4. Noch etwas. Denken Sie drüber nach. Vergessen Sie nicht, daß Ihre Fähigkeit, sich >an ausnahmslos alles zu erinnern<, denen gut bekannt sein muß. Achten Sie deshalb auf unglückliche Formulierungen in der Art wenn ich mich nicht irre<, >ich weiß nicht mehr genau, wen - die wirken im Lichte der erwähnten Tasache auf einen aufmerksamen Leser sonderbar und gekünstelt... Er begann noch einen Absatz: »Nicht so viel über die persönlichen Lebensumstände. Das nützt nichts ...« Aber diese Worte strich er sofort wieder kreuzweise durch und merkte an: »Im übrigen schreiben Sie, wie Sie wollen.« Er saß eine Weile da, drehte den Kugelschreiber in den Händen, und plötzlich begann er leise zu singen und mit der Handfläche den Rhythmus zu schlagen: Schleppt mich sacht. Schleppt mich sacht. Denn ich bin der Kämpe meines Landes. Sagt Dank! Sagt Dank! Sagt Dank! »Wo ist der Tapfere?« rief er aus, wobei er den Rhythmus unterbrach, ihn aber sogleich wieder aufnahm:
Fort in den Ofen geschleppt und gebraten ... Wo ist der Feigling? Fort, um zu melden! Fort, um zu melden! Er unterbrach sich und schrieb rasch ganz unten hinzu: Keine Namen. Ich kenne mich mit dem TschekismusKagebismus nicht aus, aber eins ist klar: Sie wissen von uns genausoviel, wie wir selbst über uns sagen oder schreiben. Und das heißt, je weniger wir über uns reden und schreiben, desto weniger wissen sie über uns. Dann las er alles soeben Geschriebene durch und legte den Kugelschreiber hin. »Ich bin kein Feigling«, sagte er mit Überzeugung. »Ich bin nur vorsichtig. Genauer gesagt - ich versuche es zu sein. Also >schleppt mich sachtAjatollah<. Einzelheiten wurden nicht mitgeteilt, aber es gab eine Notiz: >Mit Vater und Begleitperson. Verstehe das, wer will. Ich verstand es so, daß
außer dem Papa (und nicht der Mama, was schon an sich ziemlich selten vorkommt) noch jemand den Jungen begleiten wird -zum Beispiel ein Kassierer mit einem Koffer Grüne. Was nur zu passend käme. Wir hatten noch für einen Monat Geld in der Kasse (bei unserem Bedarf), und auf der Liste künftiger Patienten standen nur zwei, wovon einer auch noch ein Mädchen war - eine Luftnummer. Genau um neun Uhr dreißig klingelte es an der Tür, ich schaute den Sensei an, und da keine Anweisungen kamen, nicht einmal die Andeutung davon, ging ich öffnen. Irritiert. Es stellte sich freilich sofort heraus, daß nicht der Patient zu früh gekommen war, sondern irgendwelche zwei Jungs, die den Rotz hochzogen und um Sekundenklebstoff baten - der Schlauch sei ihnen kaputtgegangen, vom Fahrrad. Ich schickte sie ohne jedes Mitleid eine Etage nach oben (oder nach unten, wie's beliebt) und kehrte an den Arbeitsplatz zurück, wo ich auf einen fragenden Blick hin die Lage meldete. Wir beliebten zu lachen. Das war ein mir besonders verhaßtes Lachen - das Lachen erdrückender Überlegenheit. Auf solch ein Lachen folgte für gewöhnlich eine kurze, aber erschöpfende Lektion zum Thema »Erstaunlich, wie schlecht die heutige Jugend sich auskennt ...« Erstaunlich, wie wenig sich die heutige Jugend - und die Jugend überhaupt - in der sie umgebenden Realität auskennt. (Ausgesprochen wurde das im Ton eines nörgelnden Cheiron, der einen minderjährigen Herakles belehrt.) Diese Ihre Fahrradgeschichte ist eine bemerkenswert charakteristische Replik finsterer Vorstellungen unseres Jahrhunderts. Sogar ihm (Cheiron) sei bekannt, daß die Rotzjungen heutzutage Sekundenkleber ausschließlich zum Schnüffeln benutzen. Sie schnüffeln ihn, die Mistkerle (wurde mir gesagt). Holen sich einen Kick. Was sollen denn das für Fahrräder sein, überlegen Sie selbst, mitten im Dezember? ... Der wievielte ist heute übrigens? Ich teilte ihm (steinernen Gesichts, wie ich hoffe) mit, welches Datum war, dazu gleich noch den Wochentag und die Moskauer Zeit, worauf sich unser Gespräch auf natürliche Weise erschöpft hatte und jeder seinen Angelegenheiten nachging. Er blätterte in
alten Ausschnitten aus der Zeitung 'Im Ausland', und ich dachte an die beiden Bürschchen, die jetzt (blau vor Kälte und verrotzt, vergiftet und auf neues Gift aus) Wohnung für Wohnung abklapperten und um Sekundenkleber bettelten, um sich dann in irgendeinem Keller, wo es nach Katzen und Pennern stinkt, ihren billigen Kick zu holen, süßlich und ekelerregend wie unser ganzes stinkendes Leben. Um zehn Uhr null vier klingelte es, und der Sensei knurrte: »Wenn er doch nur noch eine Minute gewartet hätte, dann hätte ich ihn zum Teufel jagen lassen. Können nicht pünktlich kommen, die Neuen Russen ...« Ich ging öffnen. Durch den Türspion waren auf der anderen Seite des Gitters drei Gestalten zu sehen: die eine sehr groß, schwarz, die zweite wesentlich kleiner in elegantem Grau und die dritte ganz klein, schwarz-weiß. Ich öffnete die Tür und trat ans Gitter. Der Chef war bei ihnen natürlich der Mann im grauen Anzug, verteufelt elegant, mit einem mattbleichen Gesicht (wie der Graf von Monte Cristo) und einem durch und durch schlan-genhaften Lächeln auf den glänzenden (wie geschminkten) Lippen. Der in dem schwarzen, straff sitzenden Leder - ein Trumm von einem Mann, rotblond mit einer Glatze, sommersprossig und rundköpfig - war bei ihnen zweifellos die »Begleitperson«. Der eigentliche Patient aber war natürlich ein Junge, so um die sieben, vielleicht auch zehn (ich kenne mich da nicht aus), im strengen schwarzen Anzug, weißes Hemd mit Schlips, glänzende Lackschuhchen, hält sich an Papas Hand fest und wirkt widernatürlich und sogar, wie ich meine, unangenehm - wie jedes Kind, das betont erwachsen gekleidet ist. Kein Zweifel, das waren >sie<, aber ich als Pedant, der dazu neigt, alles förmlich anzugehen, öffnete ihnen das Gitter nicht, sondern begrüßte sie nur mit aller mir zu Gebote stehenden Höflichkeit: »Guten Tag. Womit kann ich dienen?« »Guten Tag«, ließ sich der vornehme Lausebengel deutlich vernehmen, und der Mann mit dem Schlangenlächeln ließ die makellos weißen Zähne blitzen und sprach, ohne Zeit zu verlieren, die Parole aus: »Der Ajatollah läßt Sie grüßen, mein
verehrter Herr!«, und er fügte schon von sich aus hinzu: »Friede diesem Hause und allen seinen guten Bewohnern!« Ich schloß ihnen die Pforte im Gitter auf, worauf sich der rotblond-sommersprossige Brachykephale unverzüglich entfernte - ohne ein einziges Wort verfügte er sich in den Fahrstuhl und knallte die Tür derart zu, der Schwachkopf, daß das ganze Haus erzitterte. »Herrgott!« konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen, der graue elegante Papa aber breitete nur die Hände aus, ganz Mitgefühl plus aufrichtige Reue. In seiner rechten Hand zeigte sich dabei irgendein langes spitzes Stöckchen wie ein Zeigestock. Aber es war natürlich kein Zeigestock. So ein merkwürdiges Stöckchen - meiner Ansicht nach gar zu spitz ... Ich führte sie in den Korridor, wo sie sich nicht auszogen, weil sie nichts auszuziehen hatten (klar - sie kamen direkt aus der Limousine, wo es immer warm und trocken war und nach Zedern roch). Hier ließ ich sie vor unserem großen Spiegel stehen, der riesig und finster ist wie die Tür in eine fremde Dimension, ich selbst aber schaute ins Arbeitszimmer und nickte dem Sen-sei zu - in dem Sinne, daß alles okay sei. Der Sensei erwiderte das Nicken, ich führte sie hinein - das Bürschchen voran, den Papa hinterdrein und der Sensei erwartete sie schon, zwischen seinen Computern, Quarzhalbkugeln und Papierbergen aufragend, hinter sich die weit offenen Türen des grandiosen Aktenschranks - von dorther blickten halbblind Tausende von Mappen mit ihren flachen orangegelben, blauen, weißen und roten Hüllen, und die wirren Tentakel der Schließbänder regten sich im Luftzug, und jedem wurde augenblicklich klar, daß es für einen einfachen Zeitgenossen ganz unmöglich ist, in diesem Hort der Vergangenheit irgend etwas Nützliches zu finden. Ich muß zugeben, daß der Sensei in dieser Perspektive und in dieser Ansicht (aufragend, die Finger in die Haufen von Zeitungsausschnitten vergraben, in seinem purpurroten Pullover, der weit und zugleich anliegend ist, mit stetem Blick unter der gewölbten brauenlosen Stirn hervor) nicht verfehlen kann, einen gewissen Eindruck zu machen, und jawohl, er machte ihn. Auf alle. Sogar auf mich. An diesen Anblick konnte man sich nicht gewöhnen, wie ich mich niemals an die tragischen Flammen des
Sonnenuntergangs gewöhnen werde oder, sagen wir, an den schrecklichen Schein der Milchstraße in einer schwarzen Winternacht. »Guten Tag!« sagte der Westentaschen-Gentleman mit klarem Stimmchen (wie man es ihm beigebracht hatte), und sein Erzeuger äußerte etwas wie »sehr angenehm«, wurde aber sogleich von einer zornig-majestätischen Handbewegung unterbrochen, die ihn gleichsam aus dem Blickfeld hinwegfegte, und ich war schon zur Stelle - nahm ihn bei dem eleganten Ellenbogen, sanft, aber nachdrücklich, führte ihn zum Sessel, ließ ihn sich setzen, bedeutete ihn mit einem Blick >Still! Schweigen Sie, please!<, und glitt lautlos an meinen Platz, so daß der gentlemanierliche Junge allein inmitten des Arbeitszimmers blieb. Sofort wurde ihm ängstlich und unbehaglich zumute, sogar der Wirbel auf dem Scheitel sträubte sich, er legte die fest zusammengeballten kleinen Fäuste auf den Rücken und schubberte gar nicht gentlemanlike mit der einen an der anderen. Der Sensei setzte sich vorsichtig zurecht und legte die Handflächen dachartig aneinander, wie der Onkel auf dem Plakat von >Unser Haus Rußlands Die Inspiration kam näher. Die Augen des Sensei wurden nußförmig, die Stimme tief - warm und weich wie kostbarer Pelz. »Wie heißen Sie, junger Mann?« »Alik.« »Sehr gut, Alik. Wunderbar. Kommen Sie, setzen Sie sich. Der Sessel ist weich, bequem ... Ja, so, hervorragend, machen Sie es sich bequem ... Ich heiße Sten Arkadjewitsch. Sie können mich auf amerikanische Art einfach Sten nennen. Wir werden jetzt zusammen ein nützliches Spiel spielen. Ich werde Fragen stellen, und Sie werden antworten. Klar?« »Und wozu?« »Alik. Fragen stelle nur ich. Und Sie antworten nur. Sie können antworten, was immer Sie wollen, aber antworten müssen Sie. Abgemacht?« »Und wenn ich was nicht verstehe?« »Alik. Fragen stelle nur ich. Weiter niemand. Antworten können Sie alles, was Sie wollen; ob Sie etwas verstanden haben, spielt
überhaupt keine Rolle. Hauptsache, daß ich auf jede von meinen Fragen eine Antwort von Ihnen bekomme. Beginnen wir?« »Ja.« Die Sitzung begann. Der Sensei lehnte sich zurück und fragte (leichthin, ohne jeden Nachdruck): »Wo ist der Tapfere?« »Den werden sie in den Ofen stecken«, erwiderte Alik und lächelte freudig, überaus zufrieden, daß er es so schnell und geschickt geschafft hatte. An seltsame Fragen hatte ich mich längst gewöhnt. Und an seltsame Antworten auch, doch das war offensichtlich ein Fall, den nicht einmal der Sensei erwartet hatte. Er betrachtete den erfreuten Alik schweigend, mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck: Entweder hatte etwas plötzlich sein Interesse geweckt, oder er war geradezu verblüfft. »Und wo ist der Feigling?« fragte er schließlich in einem ungläubigen Ton. »Der ist losgelaufen, alle verpetzen!« Der Sensei schwieg ein Weilchen und erkundigte sich einschmeichelnd: »Wir lesen Jack London?« »Wer ist denn das?« Aber der Sensei hielt sich nicht bei Jack London auf (Erzählung >Der Walzahn< in der russischen Übersetzung von KljaginaKondratjewa). »Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?« wollte er wissen. »Ein Ritter.« »Was für ein Ritter?« »Ein eiserner. Glänzt. Mit Lanze.« »Und wie reitet er?« »Was das Zeug hält!« sprudelte der einfallsreiche junge Gentleman freudig hervor. Ich hörte ihnen mit halbem Ohr zu, betrachtete meinerseits den eleganten Erzeuger und konnte mich nur wundern, wie gleichgültig er sich zu dem Geschehen verhielt. Anfangs, muß ich sagen, hatte er Interesse gezeigt: Die kleinen Augen funkelten, er setzte sich gerade hin und ließ, den Schlangenmund halb offen, den Blick neugierig vom Sensei zu dem Jungen und zurück
schweifen, versuchte offensichtlich zu verstehen, was vor sich ging - die übliche Reaktion eines Neulings auf unsere Exerzitien. Doch dann gab er es anscheinend ziemlich schnell auf, etwas zu verstehen, bekam einen trübe-gelangweilten Ausdruck, lehnte sich im Sessel zurück und begann mit seinem bedrohlichen Zeigestock zu spielen - den er geschickt, virtuos, für das Auge nicht zu fassen bald verschwinden, bald wieder aus dem Nichts erscheinen ließ, als sei es ein Zauberstab. Ein doch ziemlich sonderbarer Vater. Obwohl wir natürlich noch ganz andere erlebt hatten. »... Was hat diese Katze gemacht?« »Den Tiger gefressen.« »Und was sagte die Katze?« »Ich habe den Tiger besiegt! Ich habe den Tiger gefressen!« »Wo kam der Tiger her?« »Der war da. Er brannte.« »Tiger! Tiger! Brand entfacht in den Wäldern tiefer Nacht? Dieser Tiger?« »Nein. Sondern der, der alles mag.« »Kein Tiger, sondern Tigger?« »Ja! Ich habe Tigger besiegt! Ich habe Tigger gefressen! ...« Der Sensei war schon beim Stricken - er klapperte, die Hände hoch erhoben, mit den Nadeln, zog die Fäden nach, schaute aber nur auf den Jungen und sah jetzt weiter nichts als den Jungen. Und hörte nichts anderes. Nahm nichts wahr. Man konnte beispielsweise einen Computer fallen- oder den >Walkürenritt< in voller Lautstärke laufen lassen oder, sagen wir, sich mit dem Vater prügeln - der Sensei hätte nichts von alledem bemerkt, sondern nur die Stimme erhoben und seine haarlosen Brauen bis zur Decke hochgezogen. Im Grunde verstehe ich ja: Die Fragen sind eine ernste Sache. Letzten Endes beginnt in diesem Leben alles mit Fragen. Zum Beispiel die ganze Wissenschaft. Das weiß jeder Dummkopf. Sogar der letzte Dummkopf weiß, daß eine richtig gestellte Frage die halbe Antwort enthält ... Wir wollen uns nicht um Zahlen streiten - eine Hälfte wohl kaum und längst nicht immer, aber einen großen Teil, den enthält sie zweifellos. Doch der Sensei
stellt keine richtigen Fragen! Richtig gestellte Fragen interessieren ihn überhaupt nicht. Es gab eine Zeit, da habe ich stundenlang dagesessen, die Wand angestarrt und bin im Geiste eine von diesen Sitzungen durchgegangen, habe mich mit dem Versuch gequält, die Strategie herauszufinden oder wenigstens eine Taktik, oder wenigstens einen flüchtigen Sinn in dieser Abfolge zusammenhangloser Sätze im Frageton. Und ich habe nichts gefunden. »... Der Papa hat schwarze Augen, die Mama hat schwarze Augen, aber der Sohn hat graue. Glauben Sie, daß das sein kann?« »Ja.« (Sie spielten jetzt schon >glaubst du oder nicht<.) »Und daß der Papa graue Augen hat, die Mama graue Augen und der Sohn schwarze, glauben Sie das?« »Ah - nein. Das glaube ich nicht.« »Da tun Sie recht. Und daß eine Grille mit den Beinen hört, glauben Sie das?« »Ja.« »Und daß es Behauptungen gibt, die man weder beweisen noch wiederlegen kann - glauben Sie das?« »Ja!« »Kluger Junge. Und können Sie ein Beispiel anführen?« »Kann ich. >Gott hat alles erschaffene Nicht zu beweisen.« »Hm ... Und daß es Gott gibt, glauben Sie?« »Ja.« Also ich glaube nicht daran ... Apropos: Ich erinnere mich überhaupt nicht an die Fragen, die er mir vor zwanzig Jahren gestellt hat, als mich die Mutti zur Überprüfung zu ihm brachte. Ich habe ein absolutes Gedächtnis (manche haben ein absolutes Gehör, ich - ein absolutes Gedächtnis). Ich erinnere mich an alles. Ich erinnere mich, daß es vier Sitzungen waren. Ich erinnere mich, was die Mutti während jeder dieser Sitzungen trug, und an den brauen Schlafrock, den der Sensei damals hatte (mit einem Speiseeisfleck am linken Krageneck), erinnere ich mich auch bestens. An das Datum erinnere ich mich, an die zugehörigen Wochentage, an das Wetter - die Temperatur, den
Luftdruck, die Windgeschwindigkeit ... Aber an die Fragen erinnere ich mich nicht. Und nicht im geringsten an meine Antworten. ... Vielleicht sucht er die Gödelschen Fragen (geht mir manchmal durch den Sinn), ebenjene Fragen, auf die man weder mit >ja< noch mit >nein< antworten kann, ohne gegen die Wahrheit zu verstoßen? Wohl kaum. Doch selbst wenn er sie tatsächlich sucht - wozu dann? ... Er beklagt sich andauernd, daß er nicht genug Fragen hat. Aber manche Fragen stellt er nie. Zum Beispiel die große Frage jeder Gegenwart: »Warum ich?« Eine Frage wie ein Aufschrei. Unser ganzer Erdenkreis ruht darauf wie Sankt Petersburg auf dem Sumpfland ... Man kann sich allerdings ziemlich schwer einen Kontext vorstellen, in den sich diese Frage einfügt. Doch was kümmert ihn der Kontext? >Wir treten jetzt in eine neue Phase der Kultur ein, in der die Antworten auf Fragen keine Feststellungen sein werden, sondern neue, tiefgründiger formulierte Fragen.< Das hat W. W. Nalimow in seinem philosophischen Traktat >Der Seiltänzer< geschrieben. Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Aus irgendeinem Grund machen alle heutigen Philosophen auf mich den Eindruck verantwortungsloser Schwätzer. Keinerlei Solidität. Keinerlei Gründlichkeit. Und sogar die Fachterminologie (die bewährte Waffe der Klassiker) hilft ihnen nicht - man hat erst recht das widerstrebende Gefühl, daß man obendrein auch noch für dumm verkauft wird. In einem ernsten Text findet sich plötzlich etwas in der Art von Kaschpirowski, von Tschumak ... »... Wem gehört es?« »Der ist sowieso weg.« »Wer soll es haben?« »Wer zuerst kommt.« So. Ein belesener Junge. Conan Doyle liest er auch. "Das Ritual der Familie Musgrave", russisch von D. Liwschiz. Aber er zitiert ungenau. Es muß heißen: >Dem, der dahingegangen ist< und >Der, der da kommen wird< ... »Welches war der Monat?« »Ein Sommermonat.«
Richtig wäre: "Der sechste vom ersten." Aber trotzdem gar nicht übel. Was wächst da für ein Nachwuchs heran. Die Konkurrenz, Bob Valentinowitsch, die Konkurrenz! Marktwirtschaft. »Wo stand die Sonne?« »Über dem Baum.« »Wo lag der Schatten?« »Unter der Borke.« »Wie wurde ausgeschritten?« »Zehn und zehn, und dann noch fünf und fünf ...« »Was sollen wir dafür geben?« »Alles, was wir haben, wir geben alles.« Der Sensei wurde plötzlich des Rituals der Musgraves überdrüssig, oder vielleicht hatte sich dieses Sujet einfach erschöpft - er wechselte abrupt das Thema. »Der Kopf des Büffels, seine Hörner und die vier Hufe sind durchs Fenster gegangen. Warum geht sein Schwanz nicht hindurch?« »Weil der Schirm aufgegangen ist!« »Alle haben eine Heimat. Welche Heimat hast du?« »Heute morgen habe ich Reisbrei gegessen, zu Mittag gibt es Suppe mit Fleischklößchen und Plinsen mit Aprikosenkonfitüre.« »Worin gleichen meine Hände den Händen eines Gottes?« »Sie spielen Klavier.« »Warum erinnern meine Füße an die Füße eines Esels?« »Bei unserer Minka sind sie verschiedenfarbig ...« Das waren irgendwelche mir unbekannten Texte. Oder vielleicht hatte er begonnen, sich selbst Fragen auszudenken - das kam auch vor, wenngleich nicht oft. »... Was muß man zwölf Stunden am Tag tun?« »Diese Frage zerquetsche ich an der Wand!« »Was ist Buddha?« »So ein besonderes Stöckchen.« »Ach so? Und was ist der reine Körper des Dharmas?« Hier wurde das Bürschchen plötzlich nachdenklich. Bisher hatte er geantwortet wie aus der Pistole geschossen, nun aber stockte er, seine Miene verdüsterte sich, und er sagte unsicher: »Das ist ein Beet. Mit Erdbeeren ...«
Der Sensei schien ihm nicht mehr zuzuhören. Er fragte rasch: »Seine Diener sind Shakyamuni und Maitreya. Wer ist er?« »Ein Bürger der Stadt Petersburg, der schreckliche Dummkopf Juri Wandalenski! Und seine Diener sind Merker, weil sie alles merken.« Da begann unter der Jacke des Vaters das Mobiltelefon zu zirpen. Der Vater riß es hervor, wie James Bond seine Beretta aus dem Schulterhalfter reißt, und er selbst stürzte vom Sessel fort zur Tür, möglichst weit weg von den Leuten, um seine ungeheuer geheimen superprofessionellen Verhandlungen zu führen. Meine Aufmerksamkeit schweifte zu ihm ab, auf seine charakteristische Pose >Der Neue Russe spricht übers Mobiltelefon< -eine allegorische Figur vom Beginn des Jahrtausends, ein Stoff für einen neuen Rodin ... Als ich mich aber wieder den laufenden Ereignissen zuwandte, stellte ich fest, daß das Frage-und-Antwort-Spiel vorbei war, jetzt spielten sie >Dichterabend<: »... Der Regen peitscht die Autos vor sich her«, sagte der Junge mit Hingabe auf, »der Wind fängt an, schon Bäume umzuhauen. Die Fahrer fürchten sich und hoffen sehr, sie überfahren keine alten Frauen ...« Der Sensei trug ihm zur Antwort etwas von einer Katze vor: »Halb geht sie auf der Straße, halb segelt sie ganz sachte durch die Luft.« Worauf ihm der Junge einen Abzählvers herunterrasselte: »Es waren drei Chinesen: Jak, Jak-Zidrak, JakZidrak-Zidrak-Zidroni. Und drei Chinesinnen: Zypa, Zypa-Dripa, Zypa-Dripa-Limpoponi. Heiratet der Jak die Zypa, Jak-Zidrak die Zypa-Dripa, Jak-Zidrak-Zidrak-Zidroni Zypa-Dripa-Limpoponi ...« Und der Sensei deklamierte ihm genüßlich seine geliebten Verse: Hilefin zulefum Haulefaus dielefie Kilefinderlefer spralefangelefen: »Valefaterlefer! eilefein erlefertrulefunknerlefer Malefann Halefat ilefim Nelefetzelefe silefich gelefefalefangelefen!« Der Junge gab auf und fragte: »Was ist das?« »Sie müssen selber draufkommen«, schlug der Sensei vor. (Seine Nadeln funkelten nur so, der staubgraue Streifen Gestricktes hing schon bis zum Boden herab.)
Der Junge dachte ein paar Sekunden lang nach, bewegte konzentriert die Lippen, dann strahlte er plötzlich wie ein Honigkuchenpferd: »Hin zum Haus die Kinder sprangen!« »Tüchtig!« rief der Sensei aus, stand auf und warf das Gestrickte mit beiden Händen auf den Tisch. »Fertig! Für heute - fertig. Ah ...«, wandte er sich an den eleganten Vater, und der sprang unverzüglich vom Sessel hoch. »Lassen Sie die Adresse hier ...«, sagte der Sensei zu ihm. »Obwohl - wozu? Ich kenne Ihre Adresse ... Das schriftliche Gutachten schicke ich per E-Mail. Das vorläufige, versteht sich. Die nächste Sitzung ist in fünf Tagen, am Dienstag, zur selben Zeit. Und achten Sie darauf] daß der Junge die ganze Zeit über nichts liest. Beliebige Spiele, Fernsehen, Kino, Musik - aber kein einziges Buch bitte. Auf Wiedersehen, mein Herr. Auf Wiedersehen, Alik. Robert, seien Sie so gut ...« Der Junge gab dem Papa die Hand, und ich führte beide zum Gitter. Der sommersprossige Brachykephale war schon zur Stelle - hatte sich auf dem Treppenabsatz breitgemacht und schimmerte schwarz und rotblond. Der Junge sagte plötzlich: »Erast Bonifatjewitsch, ob wir jetzt in die Zoohandlung gehen könnten?« Ich muß wohl unwillkürlich auf der Suche nach diesem Erast Bonifatjewitsch zur Seite gelinst haben (Was für ein Erast Bonifatjewitsch? Woher auf einmal?), und der Grau-Elegante mußte meine Verwirrung bemerkt haben. Er lächelte (die reinste Viper!) und sagte herablassend: »Sie irren sich, Robert Valentinowitsch! Ich bin keineswegs Aliks Papa ...« Und sofort an Alik gewandt: »Natürlich, natürlich. Wohin du nur willst, mein Herzchen ...« Und wieder zu mir: »In loco parentis. Nur in loco parentis!« Ich schluckte das mit aller mir zu Gebote stehenden Demut und schloß das Gitter auf, wobei ich möglichst wenig mit den Schlüsseln zu klappern versuchte. Was kümmerte es mich schließlich, ob er der Erzeuger des gentlemanierlichen Patienten war oder nur ein Ersatzmann? Die Hauptsache war die überwiesene Summe. Übrigens war mir durchaus klar, daß auch
die überwiesene Summe längst nicht die eigentliche Hauptsache war. Als ich wieder in die Wohnung kam, saß der Sensei an seinem Platz, aufrecht wie ein Diplomat beim Empfang, und beendete die Strickerei. »Und?« sagte er ungeduldig zu mir. »Was für ein Eindruck?« »Das war, wie sich herausstellt, überhaupt nicht sein Vater ...«, setzte ich an, wurde aber entschieden unterbrochen. »Ich weiß, ich weiß! Das meine ich nicht. Wie finden Sie den Jungen?« »Ein komischer Junge, glaube ich«, sagte ich vorsichtig. »Ein komischer! Und das ist alles, was Sie mir zu sagen haben?« »Fast.« »Was heißt >fast« »Fast alles«, sagte ich und bedauerte schon bitter, daß ich mich überhaupt auf dieses Gespräch eingelassen hatte. Offensichtlich war der Sensei Feuer und Flamme, und in diesem Fall hielt man lieber Abstand. Um sich nicht die Flügelchen zu verbrennen. »Sie haben bemerkt, daß ich ihn gefragt habe, was Buddha ist ...« »Ja, und er hat geantwortet, das sei 'so ein Stöckchen'.« »Und wissen Sie, wie die korrekte Antwort lautet? >Ein Stöckchen, mit dem man sich den Hintern kratzt«. Die berühmte Antwort von Yunmen in einem Köan aus dem >Mumonkan< ...« »Auf Russisch, wenn's geht, bitte.« »Egal, egal. >Was ist Buddha?< - >Ein Stöckchen, mit dem man sich den Hintern kratzte. - >Was ist der reine Körper des Dharmas?< - >Ein Beet mit Pfingstrosen.< ...« »Aber er hat gesagt: >Ein Beet mit Erdbeeren< ...« »Sie finden das alles komisch?« »Ich habe mich ungenau ausgedrückt. Es ist nicht komisch, es ist sonderbar.« »Warum sonderbar?« »Ich glaube nicht an Telepathie, Sensei.« »Was hat das mit Telepathie zu tun? Was denn für eine beschissene Telepathie? Sie haben überhaupt nichts verstanden.
Er hat mir das gesagt, was ich hören wollte! Im Rahmen seiner Möglichkeiten, versteht sich.« »Ja, Sensei«, sagte ich gehorsam. »Was heißt >ja« »Er hat gesagt, was Sie von ihm hören wollten. Ich verstehe nur nicht, worin sich das von Telepathie unterscheidet. Im gegebenen konkreten Fall.« Er antwortete nicht. Warf die Stricknadeln zu Boden, stand auf, hob seine armselige Strickerei hoch empor und ging geschwind wie ein junger Mann aus dem Arbeitszimmer, und der staubgraue Schwanz schlängelte sich wie ein seltsames heidnisches Banner hinter ihm her. »Mittagessen!« rief er gebieterisch, schon im Korridor. »Wir haben uns heute ein gutes Mittagessen verdient, hol sie der Teufel allesamt und mit allem Drumherum!« Ich briet ihm sein Lieblingsessen: Vorgefertigte >Beefsteaks aus dem Fleisch von Stierkälbern<. Mit Fadennudeln. Und mit koreanischen Möhren als Vorspeise. Und ich machte Sojasoße warm. Und stellte Tomatensaft mitsamt Salz und Pfeffer auf den Tisch. Die ganze Zeit über saß er an seinem Platz - in der Sofaecke am Fenster - und blickte durch mich hindurch, zog sinnlose Grimassen, so daß er vielleicht dem Akademiemitglied Pawlow ähnelte, vielleicht auch einem bejahrten Schimpansen oder womöglich allen beiden. Um ihn abzulenken (und zu unterhalten), erzählte ich ihm den Witz von dem Kaukasier vor dem Käfig des Gorillamännchens (»Gurgen, bist du das? ...«). Er kicherte und befahl plötzlich, Wodka auf den Tisch zu stellen. Verdattert (am hellichten Tage, es standen noch sechs Stunden Arbeit bevor ...) und wortlos stellte ich eine Flasche >Petrosawodskaja< und sein Lieblingsglas mit dem silbernen Boden hin. »Eine Bloody Mary!« verkündete er. »Heute haben wir uns eine Bloody Mary verdient. Sie auch?« »Nein, danke«, sagte ich. »Sollten Sie aber. Es gibt nichts Besseres, als in der Mitte eines Arbeitstages auf alle Regeln und Festlegungen zu pfeifen und ein mit blutigem Schweiß erarbeitetes Glas Bloody Mary zu tinken!«
Ich schwieg mich aus, sah zu, wie er seinen zweischichtigen Lieblingscocktail herstellte (einen >flüssigen Imbiß<), und hörte zu, wie er von der machtvollen Diskussion erzählte, die unlängst im Internet losgebrochen war: ob man die Mary in zwei Schichten anfertigen oder im Gegenteil vermischen solle; wie die Seiten im Laufe einer Woche ihre Ansichten, Fälle aus dem Leben und Zitate der Klassiker ausgetauscht hatten und wie die Verfechter des Mixens nach Punkten gesiegt hatten. »... Da haben Sie ein klassisches Beispiel, Robby, wie eine stumpfsinnige, grobe, ungebildete Mehrheit einen unverdienten Sieg über angeborene Intelligenz und guten Geschmack erringt!« Er trank genußvoll aus, leckte sich blinzelnd die Lippen und nahm mit der Gabel ein Büschel Möhrenschnitzel. »Der Junge könnte vielleicht einen Mentor brauchen«, erklärte er ohne jeden Ubergang. »Ihre Meinung?« Ich hatte keine Meinung. Und ich verstand überhaupt nicht, wieso der kleine Junge solche Begeisterung auslöste. Na, ein belesener Junge. Na schön, sogar ein Telepath. Gott befohlen. Hatten wir hier etwa noch keine Telepathen erlebt, in diesem Haus? »Marischka?« fragte ich aufs Geratewohl. Er warf mir nur einen tadelnden Blick zu, und ich hielt sofort den Mund. Weil sie selber vier Kinder hat und dazu einen völlig hilflosen Mann mit dem Spitznamen Übrig. (>Der Übriggelassene Spinnrich< - eine Anspielung auf die Gewohnheit einiger gliederfüßiger Damen, ihre Männchen gleich nach den intimen Spielen oder sogar währenddessen aufzufressen. Übrig ist ihr zweiter Mann. Und der erste ist auch nicht aufgefressen worden, wie wir zunächst alle glaubten: Er hat sie in unvordenklichen Zeiten verlassen, ganz wie im Witz, aber nicht wegen einer anderen Frau, sondern wegen eines anderen Mannes.) Sie aber ist Direktorin/ Erzieherin/Manager/Sponsorin/Schutzengel eines Internats für geistig behinderte Kinder. Ihre Wohnung hat sie gleich dort beim Internat. Ein höllisches Paradies - Lärm, Aufruhr, eine Mischung von schwachsinnigen und völlig normalen Kindern, Heulen, Lachen, Schluchzen, alle sind mit irgendwas beschäftigt, auf dem Boden quer durchs ganze Zimmer
Tapetenrollen (zum Bildermalen), Barbypuppen, bunte Pyramiden, nie verstummende Tuten und Trompeten, die Bildschirme von Computerterminals, von der Decke hängen Strickleitern - und zwischen alledem schreitet, ein wohlwollendes Lächeln auf den breiten Lippen, der Übriggelassene Spinnrich auf dem Wege in seine Höhle, wo er Kinderverschen und kleine Erzählungen für Zeitschriften bastelt und dabei hartnäckig, aber sieglos mit Grigori Oster, Charms, Eduard Uspenski und derlei Koryphäen wetteifert (»Der Regen pladdert, aufs Blätterdach pocht er, die Ente schnattert - auch jemandes Tochter ...«). Weiter kann er nichts, so daß Marischka in Wahrheit nicht vier, sondern fünf Kinder hat ... Plus das ganze Internat. Der Sensei machte sich den zweiten Cocktail, sah sich das Glas mit Wohlgefallen gegens Licht an und (»In kleinen Dosen ist Wodka in beliebiger Menge unschädlich ...«) trank aus räusperte sich gründlich und langte nach den Möhren. Ich schaute zu, wie er seine geliebten Beefsteaks aß, wobei er überaus elegant, sogar graziös mit Messer und Gabel hantierte. Er sagte nichts, doch ich wußte, daß er immer noch auf eine Antwort wartete. »Matwej vielleicht?« Ich wußte, daß sich Matwej nicht eignete, hatte aber keinen besseren Vorschlag. Leider gehört Matwej zu denen, die die Menschheit lieben, ihren einzelnen Vertretern und insbesondere Kindern gegenüber aber völlig gleichgültig sind. >Ein Talent für Mathematik, rein wie ein Kristallkelch.< Der Junge Motl. Der Gromat - der Große Mathematiker. Der klassische Jude, schmalbrüstig, rundrückig, blaß, hakennasig, ohne Ohrläppchen eine makellose Illustration zur Judenbestimmungsliste der Zeitung >Volkswahrheit<. Dem Sensei war er ziemlich spät vorgestellt worden - im Alter von dreizehn Jahren, und der Sensei hatte ihm damals das Buch >Kubische Formern von Juri Manin geschenkt. (Das Buch beginnt mit den Worten: »Jeder Mathematiker, dem die Zahlentheorie nicht gleichgültig ist, hat am eigenen Leibe den Zauber von Fermats Theorem über die Summe der Quadrate zweier natürlicher Zahlen erfahren.«) Im Alter von vierzehn Jahren löste der Junge Motl die sogenannte
>Zweite Hilbertsche Aufgabe< (die freilich, wie sich herausstellte, schon lange vor ihm gelöst worden war), mit fünfzehn aber die "Achte Aufgabe" die damals noch niemand gelöst hatte. An der Universität wurde er direkt aus der achten Klasse und gleich fürs zweite Studienjahr angenommen. Dabei wurde eine Anzahl sowjetischer Gesetze verletzt und der Widerstand zahlloser sowjetischer Bürokraten gebrochen. Die sich auftuenden Perspektiven waren blendend, zwei begeisterte Akademiemitglieder, denen aus irgendeinem Grunde jede antisemitische Solidarität abging, förderten ihn ohne Rücksicht auf ihren Ruf und hatten natürlich letzten Endes verdientermaßen darunter zu leiden. Ihnen (und ihm selbst) wurde das bei dem Wunderkind bis ins Absurde gesteigerte soziale Gerechtigkeitsgefühl zum Verhängnis. Statt im stillen Kämmerlein den fast schon erledigten Goldbachschen Satz vollends zu erledigen, begann er plötzlich, Erklärungen zur Verteidigung politischer Gefangener zu unterzeichnen und a la Akademiemitglied Sacharow leidenschaftliche Botschaften an die sowjetische Regierung zu verfassen. Aber er war eben kein Akademiemitglied Sacharow. Er konnte keine Bomben bauen, er konnte nur beweisen, daß die Anzahl der sogenannten Frimzahlenpaare unendlich ist. Das genügte nicht. Die über Gebühr begeisterten Akademiemitglieder erhielten eine dienstliche Verwarnung, und der Junge Motl selbst wurde - fürs erste - mit einem Ausreiseverbot belegt, dann überall entfernt, verwandelte sich im Handumdrehen in einen berufsmäßigen Dissidenten, gab die Mathematik auf und wäre sicherlich am Ende im Gefängnis oder im Irrenhaus verfault, doch da kam Gott sei Dank gerade rechtzeitig die Perestroika, und die zuständigen Organe hatten andere Sorgen. Er hat es überstanden, doch nun schon in neuer Eigenschaft. Das Talent als Kämpfer für Gerechtigkeit erwies sich bei ihm als stärker denn sein mathematisches Talent. Und nun ist er der -krummrückige, ewig hungrige und wie eine arbeitsame Hummel struppige Organisator und Inspirator mehrerer mikroskopischer Parteien und denkt an nichts als ans Wohl des Volkes, das er nicht
sonderlich originell auffaßt: »Zermalmt das Miststück!«, und fertig ... Der Sensei nahm die Reste der Nudeln auf die Gabel, trank Tomatensaft nach und sang - zum Zeichen der Dankbarkeit mir gegenüber - leise: »Oi, ich hab mich sattgegessen, Milchtopf umgedreht, habe Wässerchen getrunken, nun noch ein Gebet! ... Matwej, sagen Sie?« fragte er zurück, während er sich den Mund an der Serviette abwischte. »Unser Gromat, von keinem übertroffen? Der Gromat ist in seiner gegenwärtigen Erscheinungsform zu nichts zu gebrauchen, als die Zitadellen der Korruption im Sturm zu nehmen. Sowie die Bastionen des sozial Bösen. Zum Mentor eignet er sich so gut wie der Herr Robespierre. Augustin Bon Joseph.« Ich schwieg. Ich wußte nicht, was ich ihm noch vorschlagen sollte. Die Neuen kannte ich fast gar nicht, und von den Alten Herren eignete sich keiner. Ich stellte das Geschirr ins Abwaschbecken und den Teekessel auf den Herd - Kaffeewasser kochen. Dann sagte ich: »Und warum glauben Sie überhaupt, daß er einen Mentor braucht?« »Das habe ich nicht gesagt!« entgegnete er und rauchte eine Zigarette an. »Ich habe gesagt: >vielleicht<.« »Oder vielleicht auch nicht.« »Oder vielleicht auch nicht«, stimmte er zu. »Davon rede ich schon nicht mehr. Ich bin schon bei etwas anderem ...« Und er verstummte, schaute zum Fenster hinaus, machte von Zeit zu Zeit einen Zug und stieß heftig den Rauch aus - als spucke er ihn aus. Ich wartete auf eine Fortsetzung, dann wusch ich das Geschirr ab, wischte mit einem feuchten Schwamm über den Tisch und stellte die dicken Tassen aus brauner Fayence hin. Er rauchte immer noch schweigend, und ich widmete mich dem Kaffee. »Es will partout nicht klappen«, sagte er schließlich. »Ich habe mich heute so über diesen Jungen gefreut. Sie sehen es nicht, Robby, und können es wohl auch nicht sehen, aber ich weiß genau: Dieser Junge ist Extraklasse, der steckt uns alle in die Tasche, wenn er nur genug Zeit bekommt. Er ist ein Lehrer!«
Ich lauschte ihm mit (hoffentlich) überaus ehrerbietigem Gesichtsausdruck. Er glaubte natürlich, was er sagte. Aber ich wußte ja, daß das an sich noch gar nichts bedeutete. Einfach wieder so ein Anfall von Optimismus. Anfälle von Optimismus hatten wir auch früher schon. Für gewöhnlich enden sie bei uns mit Anfällen von kohlrabenschwarzem Pessimismus. So ist das Leben. Flut und Ebbe. Auf und ab. Sonnenauf- und -Untergänge. Schwarzweißfilm. »Sie glauben es nicht ...«, sagte er tadelnd. »Na schön. Wie Sie wollen. Darum geht es mir nicht. Es geht mir darum: Er ist ein Lehrer, und er braucht überhaupt keinen Mentor. Aber mir ist plötzlich in den Sinn gekommen: Na, und wenn er einen Mentor brauchen würde? Wenn er ihn dringend brauchen würde! Heute. Sofort. Wo sollen wir einen hernehmen? Worunter auswählen? Hm? Sie wissen es nicht? Ich weiß es auch nicht ...« Er stukte die Kippe in den Aschenbecher - voller Haß wie ins Auge eines geschworenen Feindes. »Ihr seid faul und abgestumpft. Gott hat euch im Ubermaß beschenkt wie sonst keinen, aber ihr seid stehengeblieben. Ihr steht. Posiert. Oder liegt. Ihr seid euch auf widerwärtige Art selbst genug, ihr wollt nicht fliegen, es genügt euch vollauf, höher als die Masse zu springen, ihr seid zufrieden - sogar die Unzufriedensten von euch ...« Er versuchte, sich noch eine anzustecken, doch da war ich auf der Hut. Er gab widerstandslos die Zigarettenschachtel her, ohne es auch nur zu bemerken. »Bogdan? Mein Liebling, ja, ich bestreit's nicht, mein Liebling. Der Heilsbringer. Der Hort des Guten ... Wo ist er jetzt, dieser unser Hort des Guten? Eine Korallennatter! Reptil gehörntes! Man hat Angst, sich ihm zu nähern. Ich fürchte mich, mit ihm zu reden, wenn wir uns begegnen, können Sie sich das vorstellen?« »Er betreut zur Zeit schon jemanden«, erinnerte ich ihn für alle Fälle, doch er hörte nicht hin. »Der Hort des Guten ... Mein Gott, was ist aus euch allen geworden! Und Tengis? >Gegen das Böse kämpfen<, heißt es jetzt, >ist, als ob man einzeln gegen Wanzen kämpft: Widerwärtig, leicht und absolut zwecklose Und deswegen braucht
man nicht mehr gegen das Böse zu kämpfen, sondern soll lieber mit Weibern 'rummachen oder Varietevorstellungen für Neurussen geben ... Juri Kostomarow verdient sich ehrlich und stumpfsinnig sein täglich Brot, unser Polygraf Polygrafowitsch ... Andrej der Furchtbezwinger ist ein Greis. Mit fünfzig ist er ein Greis! Was wird in hundert Jahren aus ihm? In zweihundert? Ein Wrack? Und dabei sind das alles die Trabanten, die Elitetruppe, die Alte Garde! Die Alten Herren! Und die Jungen sind noch zu nichts zu gebrauchen, weil sie noch nichts können. Die plappern immer nur: >Gib, gib!< O verfluchtes Schwein des Lebens!« »Sie haben Wadim vergessen«, sagte ich. »Die Resulting Force.« »Genau. Die Resulting Force. Aber wie kommen Sie darauf daß ich ihn vergessen habe?« »Ich hatte den Eindruck.« »Ich habe niemanden vergessen.« Offensichtlich wollte er nicht über Wadim reden. »Ich erinnere mich an euch alle. Ich sehe euch im Traum, wenn Sie es wissen wollen. Glauben Sie denn, ich verstehe nicht, daß Sie, Sie persönlich, Meister Festplatte, hier bei mir versauern, an einem warmen Plätzchen ohne frische Luft? Und ich weiß, wer daran schuld ist!« »Das verfluchte Schwein des Lebens.« Er schaute mich an und zog dünkelhaft die haarlosen Brauen hoch. »Sie meinen, ich hätte nicht recht?« Ich zuckte mit den Schultern und beschäftigte mich mit dem Kaffeegeschirr. Natürlich hatte er recht. Wie immer. Ich könnte dem, was er da zusammengeredet hatte, noch eine Menge hinzufügen. Vieles Traurige könnte ich noch hinzufügen ... Robert Patschulin, genannt die Festplatte ... Zum Teufel. Zum Kuckuck. Ich will nicht darüber nachdenken ... Aber warum ist das alles so? Wir sind ja alle zufrieden! Wir sind ja alle durchaus zufriedengestellt ... Das verfluchte Schwein des Lebens. »Aber, Sensei«, sagte ich, »wir sind ja alle zufrieden. Man könnte sagen, mit uns ist alles okay ... Wollten Sie das denn nicht?« Er antwortete augenblicklich: »Natürlich nicht! Ich wollte durchaus nicht, daß ihr zufrieden seid. Ich wollte nicht einmal, daß ihr
glücklich seid. Wenn's beliebt, will ich gerade, daß ihr nicht zufrieden seid. Nie. Jedenfalls die meiste Zeit des Lebens nicht ... Ich wollte, daß ihr Respekt verdient. Spüren Sie den Unterschied?« Er stand auf, stützte sich schwer auf die Tischplatte. »Na schön. Danke für das Mittagessen. Ich leg mich ein bißchen hin. Und Sie machen - bitteschön - das Protokoll. Jetzt gleich. Da gab es überaus bemerkenswerte Wendungen!« Er entfernte sich in seine Wohngemächer, und ich setzte mich an den Computer und versuchte, den Arbeitsdialog zu rekonstruieren. Natürlich fand ich darin keinerlei >überaus bemerkenswerte Wendungen<, abgesehen von den Fällen, wo der Knabe mit seinen Antworten ganz dicht am Ausgangstext gelegen hatte, und dann gefiel mir noch >ein Bürger der Stadt Petersburg, der schreckliche Dummkopf Juri Wandalenskk. Diese Perle würde ich bei Gelegenheit unbedingt Juri dem Polygrafen präsentieren, das würde >verschärft< sein (wie sich mein mißratener Neffe auszudrücken beliebt, der Held der kapitalistischen Arbeit). Um vier rief Wadim an und verlangte mit tonloser Stimme nach dem Sensei, wenn's möglich sei, versteht sich. »Er hat sich hingelegt. Aufs Sofa. Ist es dringend?« »Hm-nein ... Nicht unbedingt.« Er rief schon zum vierten Mal beim Sensei an, jedesmal war es 'nicht unbedingt' nötig, und jedesmal wurde nichts daraus. Mir schien, der Sensei wollte sich offensichtlich nicht mit ihm treffen. Und das konnte er nicht verstehen. (Ich übrigens auch nicht.)»Wie geht es dir denn so?« erkundigte ich mich für alle Fälle. »Gar nicht. Kommst du?« »Wohin?« »Zu Tengis.« »Wann?« »Morgen um sieben. Da versammeln sich alle.« »Höre ich zum erstenmal.« »Wieso, hat Tengis nicht angerufen?« »Nein.«
»Na, dann wird er es noch tun«, versprach Wadim gleichmütig und legte auf. Ein paar Minuten lang dachte ich über ihn nach und kam wieder zu keinem Ergebnis, und da rief tatsächlich Tengis an und teilte in seiner üblichen abgehackten Art mit: »Morgen ... bei mir ... neunzehn Uhr ... Kannst du?« »Worum geht es denn?« fragte ich für alle Fälle - womöglich hatte sich etwas geändert. »Es muß sein.« »Hat sich etwas verändert? Irgendwelche neuen Umstände?« »Wirst schon sehen, dammich. Man muß was unternehmen. Die Wahlen stehen vor der Tür.« »Schön«, sagte ich ohne jede Begeisterung. »Was sein muß, muß sein. Zumal wir lange nicht zusammengekommen sind. Was mitbringen?« »Na weißt du, dammich! Was für 'ne blöde, dammich, Frage!« »Andere, glaube ich, gibt's gar nicht«, sagte ich und schaute auf den Bildschirm. »Die klugen Fragen sind längst ausgegangen. Und mit den Antworten sieht's auch mau aus.« (Auf dem Bildschirm sah ich: »... Worin gleichen meine Hände den Händen eines Gottes?« »Sie spielen Klavier.« »Warum erinnern meine Füße an die Füße eines Esels?« »Bei unserer Minka sind sie verschiedenfarbig ...«) »Sag lieber: Wie geht's deiner Karre? Läuft sie?« erkundigte ich mich, da mir der Montag eingefallen war. »Na ja, seit heute morgen ist sie gelaufen, dammich ... Sah aber blaß aus!« »Am Montag mußt du den Sensei fahren, das weißt du natürlich noch. Dammich.« »Ach, dammich ... Tatsächlich. Der dritte Montag. Wann soll ich da sein?« »Um zehn hier. Ich erinnere dich noch dran, mach dir keine Sorgen.« »Wieso soll ich mir, dammich, Sorgen machen? Du bist doch bei uns, dammich, die Festplatte.« Er legte auf, und mir wurde plötzlich klar, daß ich über ihn nachdachte. Nicht über die Arbeit und nicht über den Montag,
auch nicht über den unglücklichen Wadim, sondern über ihn. Und über mich. Über uns alle, hol uns alle der Teufel. Der Superkämpfer, der Psychokrat, der Große Mann. Ein Schönling, ein Faulpelz, bis vor kurzem noch ein wilder Playboy und jetzt ein vom Kampf gegen das Böse hoffnungslos erschöpfter leidenschaftlicher Philumenist. Er sammelt Streichholzschachtel-Etiketten! Tengis! Herrgott! ... Kann das denn sein? Es kann. Leider. Jetzt taugt er höchstens dazu, ein Hindernis aus dem Weg zu räumen, zum Beipiel jemanden dazu zu bringen, etwas zu >vergessen<. Nichts ist von ihm geblieben als der gußeiserne Blick unter gesenkten Brauen hervor, dazu die Lider, die fast den ganzen Augapfel bedecken, dazu der angewiderte Mund. Nach seinem heutigen Verständnis sind die Menschen - alle ohne Ausnahme - nichts als Scheiße. Widerwärtige Fressen. Geifernde Mäuler. Verschleimte Augen. Nasse Pfoten. Stinkende Achselhöhlen und Unterhosen ... Flucht auf Teufel komm 'raus, jedes zweite Wort ist >dammich<. Zwanghafter Schürzenjäger, der seine Weiber jede Woche wechselt. Und dabei hoffnungslos verliebt in eine verlogene, gefallsüchtige Schlampe. Auf diese seine >Oljuschka< (eine leichtsinnige und wohl sogar lasterhafte Frau) wirken die psychokratischen Kunstgriffe von Tengis aus irgendeinem Grund überhaupt nicht, und sicherlich eben weil er wie ein Gymnasiast in sie verliebt ist -hängt an ihren Lippen, macht sich für sie zum Affen, vergibt ihr (nimmt nicht wahr), daß sie ihn betrügt, bettelt sie an, ihn zu heiraten und sich ein Kind anzuschaffen. Ich kenne keinen erschütternderen und würdeloseren Anblick als Tengis, wie er diese Quadratschlampe anbettelt, mit ihm zu Placido Domingo zu gehen. Man kann sich denken, was sie rund ums Bett mit ihm anstellt ... Der Sensei, der Arme, kann nur ahnen, womit sich Tengis jetzt größtenteils befaßt: Er jobbt in privaten psychiatrischen Ambulanzen und Ausnüchterungseinrichtungen, wo er >durch Suggestion< Abgeschlaffte, Schnapsdurchtränkte und Drogenabhängige kuriert. Und manchmal, von allen guten Geistern verlassen, tut er dasselbe einfach bei sich zu Hause, für gutes Geld, ready cash, zumal er eine gute Wohnung hat, zwei Zimmer ...
Und Andrjuscha der Furchtbezwinger ist nicht einfach ein Greis, lieber allwissender Sensei. Er ist ein widerlicher, ekelhafter, ätzender, nervender alter Sack. Obwohl er dabei aussieht wie ein Bild aus der >Vogue< - ein buntlackiertes, duftendes Bild, daß man es ablecken möchte. >Vor ihm fürchten sich sogar Alter und Tod.< Mag sein, Sensei, mag sein. Die Struldbruggs werden ja auch sozusagen vom Tode gemieden, doch das hat sie nicht sympathischer gemacht ... Warum bringt Furchtlosigkeit gerade Gewissenlosigkeit hervor? Gewissenlosigkeit, Unmoral und überhaupt - Gleichgültigkeit, kalt wie der Hintern einer Hure. Das Geheimnis ist groß. Der Mensch verliert gleichsam die letzten Hemmungen. >Er fürchtet nichts.< Aber etwas fürchten -unter sonst unveränderten Bedingungen - muß er anscheinend ... >Gottesfurcht<. Und Bogdan der Heilsbringer ist in irgendeiner AG oder GmbH Buchhalter geworden, die Einzelheiten habe ich nicht verstanden und wollte sie auch nicht genauer wissen. Und es gefällt ihm dort. Dem Heilsbringer! Die Firma stellt die Fruchtbonbons »Mama Meadows< her, die Nachfrage ist riesig, Bogdan geht mit stolzgeschwellter Brust einher, und wenn man zu ihm sagt: »Na, du Buchhalter«, korrigiert er einen gewichtig: »Merk dir, ich bin kein Buchhalter, sondern Hauptbuchhalter!« Wann hat er zum letzten Mal dieses sein berühmtes >Heil< geschenkt? Wem? Aber er kann sie ja allesamt nicht ausstehen, ist sauer auf sie wie der Herrgott auf den Teufel ... Und Juri der Polygraf arbeitet bei einem Privatdetektiv, stellt fest, ob die plärrenden Zeugen lügen oder die Wahrheit sagen, und trinkt fast nie, weil er im Tran die Fähigkeit verliert, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Und Kostja-Beelzebub hat der Sensei überhaupt nicht erwähnt. Dabei befaßt sich unser Herr der Fliegen (für Geld!) mit der Vernichtung (>Überredung<) von Schaben, der Ausrottung von Kellermücken und der >Hinausführung< von Ratten. Sehr gut kann man, wie sich zeigt, auch verdienen, wenn man bei Hauskatzen die Frucht abtreibt - nur zwei Sitzungen, völlig schmerzlos und absolut unschädlich für die Gesundheit. Fünfzehn Bucks, leicht verdientes Geld.
Und alle sind zufrieden! Niemand von uns beklagt sich. Kein Gedanke! Das verfluchte Schwein des Lebens! Wieder klingelte das Telefon. »Papa«, piepste es aus dem Hörer. »Die Mama will mit dir reden.« »Warte! Pfötchen ...!« schrie ich auf, doch am Hörer war schon meine geliebte Nummer Zwei. Sie wollte wissen, wohin ich wieder dieses verdammte Sparkassenbuch gesteckt hatte. »Und was meinst du, mein Goldschüppchen, wo man sein Sparkassenbuch hinstecken kann? Versuch's doch mal im Kühlschrank.« - »Weißt du was, mein Spaßvogel, dämlicher! ...« »Mein Smaragd, mein saphirner, d'avant les enfants!« - »Die Sparkasse macht gleich zu, und du kommst mir mit Späß-chen ...« Ich legte eilends dar, wo sich dieses verdammte Sparkassenbuch befand, und war sofort wieder allein. Und allein geblieben, dachte ich plötzlich (ganz unpassender-und sogar unanständigerweise) daran, wenn heute, da sei Gott vor, natürlich, aber trotzdem, wenn Saschka, mein Perlmuttknopf, mich verlassen und zu ihrem Bergadler Wolodja Cher-guani gehen würde, dann würde ich, hol mich der Teufel, dann würde ich Schuft heil und am Leben bleiben, so lästerlich es klingt: würde mit den Zähnen knirschen, mich sicherlich besaufen, aber es am Ende überstehen, ich Ärmster. Aber wenn sie dabei meine kleine Walja mitnähme! ... Mein Fischlein. Meine Tinchen. Mein Krümel ... Mit den grauen rührenden Augen - und das, wo Mama und Papa dunkle Augen haben und überhaupt keine rührenden ... Nie schreit sie, nie ist sie laut, nie bockig. Und wenn man sie kränkt, weint sie leise und bitterlich, und in solchen Augenblicken würde ich ihr alles geben, was ich habe, und alles, was nicht erlaubt ist, auf der Stelle erlauben ... Nein, was für ein Glück ich doch habe, daß sie ein Mädchen ist und daß ich niemals vor dem verfluchten Dilemma stehen werde, ob ich sie dem Sensei vorstellen soll oder nicht! Obwohl ich manchmal - selten, nachts, wenn ich nicht einschlafen kann und mit offenen Augen daliege - mit kaltem Entsetzen begreife, daß die Zeit kommen wird, und ich werde sie hinbringen, werde sie
fein brav hinbringen und den Sensei mit kläglicher Stimme anbetteln, er möge eine Ausnahme machen und sie empfangen und mit ihr reden und sein Urteil fällen ... Weil ich nicht weiß, was es heißt - 'Respekt zu verdienen' (wessen Respekt denn? wozu?), und was >Glück< ist, verstehe ich auch nicht ganz, dafür weiß ich aber genau, welche Qual das ist, keine Befriedigung im Leben zu finden; ich sehe immerzu rings um mich diese höl-zerntrübsinnige Übelkeit, und ich werde nicht zulassen, daß mein Krümel, mein Tinchen, mein Pfötchen in dieser hölzernen, trübsinnigen, üblen Übelkeit versinkt. Dann soll sie schon lieber zufrieden sein, was immer das bedeutet. Lyrische Abschweifung Nr. 4 »Jemandes Tochter« und ein wenig Statistik >Dabei sind die Eltern von Mädchen besonders - unglaublich, erstaunlich, unwahrscheinlich! - aufdringlich ...< Diese zum Beispiel waren schon viermal gekommen. Beim ersten Mal zu dritt (in voller Besetzung: Papotschka, plus Ma-motschka, plus Lieblingstöchterchen alias »halbwüchsiges Fräulein", beim zweiten Mal zu zweit (Papotschka plus Mamotschka) und noch zweimal - die Mama allein. Der Papa war eine unbestimmte Größe, ohne Vor- und Vatersname, aber zweifellos Staatsbeamter, so auf Stadtebene. Die Mamotschka indes, Eleonora Kondratjewna, war eine Frau von dem Typus, die schon in jungen Jahren >gut erhaltene aussehen. Sie war aus dem Geschlecht der kämpferischen Damen, die in Gebietskomitees, Gewerkschaften und Sozialämtern zu Hause sind, ein Kampfweib der höchsten Klasse und von unglaublicher Durchschlagskraft. Eine Balliste. Ein Katapult. Eine mauerbrechende Kanone. Ein Einhorn. Aber da war sie an den Falschen geraten: Der Sensei stand wie die Große Chinesische Mauer unter dem Ansturm der Nomaden. ... Ein unangenehmes Mädchen - zickig, dünn, abweisend, mit finsterem Blick unter der gesenkten Stirn hervor. Robert erhielt den Auftrag, ihr Kakao zu geben, solange im Arbeitszimmer die heiklen Verhandlungen abliefen. (Tonbandgerät ausschalten,
Gespräch nicht mithören, das Kind unterhalten und sich bereithalten.) Das Kind stocherte ohne jede Begeisterung mit dem nicht ganz sauberen Finger in der Keksschale. Wählte einen Keks aus, biß ab und warf ihn zurück. Die Krümel streute sie aufs Tischtuch. Das Papier von den Pralinen warf sie auf den Fußboden. Robert wurde böse und befahl ihr, es aufzuheben sie hob es auf, legte es auf den Rand der Untertasse und fixierte ihn mit finsterem Blick, als wolle sie sich den Mistkerl ein für allemal merken. Dann (nachdem sie zwei Tassen Kakao getrunken hatte) stand sie (schweigend) vom Tisch auf und preßte die Stirn gegens Fensterglas - stand an die zwanzig Minuten reglos da und schaute zu, wie die Jungen auf dem Spielplatz Eishockey spielten. Ein bezauberndes Wesen von zwölf Jahren und ohne jede Spur von etwas, das für sie einnehmen könnte ... Um die Situation zu entkrampfen, sang ihr Robert vor: Es war ein Mädchen, jung und unberührt, Die wurde von Banditen einst entführt; Den Schurken mußte sie gehorsam sein, Sie sperrten sie in der Mansarde ein. (Eine alte komische Romanze. Dem Mädchen widerfahren allerlei Schrecknisse im Stil des neunzehnten Jahrhunderts - sie lassen sie hungern und frieren, fesseln sie mit Handschellen, werfen sie in den Ozean, aber nach jeder Strophe folgt der Refrain: >Am Morgen aber lächelt sie schon wieder und steht am Fenster, wie es immer war; sie neigt die Hand zu ihren Blumen nieder, und aus der Kanne fließt das Wasser klar.< Ein unbeugsames und unsinkbares Mädchen. Sehr komisch.) Es half nichts. Belohnt wurde er mit demselben finsteren Blick >unter gesenkten Lidern hervor«. Er murmelte das klassische »... die Ente schnattert - auch jemandes Tochter« vor sich hin, räumte den Tisch ab und wartete auf das Ende der Verhandlungen. Der Sensei weigerte sich natürlich, mit ihr zu arbeiten. Es wurde die Standarderklärung gegeben (überaus höflich): Mit Mädchen zu arbeiten gelingt mir leider nicht. Ich danke Ihnen für das großzügige Angebot - nein. Doch die Sache erwies sich als nicht so einfach. Unverzüglich und plötzlich (gleich am
nächsten Tag) tauchte im Haus der unheimliche Versicherungsvertreter auf, und eine geschlagene Stunde stritten sie über etwas Unverständliches und Unangenehmes. Es kamen lauter Euphemismen zum Einsatz, und Robert verstand nur, daß der Versicherunsvertreter dem häßlichen Mädchen eine gewaltige Zukunft vorhersagte, der Sensei sich aber weigerte, diese Zukunft zu schmieden. »Ich habe hier keine Tierfarm. Ich kann keine Rasse herauszüchten. Ich kann nur das bemerken, was schon vorhanden ist. Und was ich hier bemerke, gefällt mir nicht. Entschieden nicht!« Irgend etwas Ungutes sah er in diesem unangenehmen Kind. Irgendeine Verheißung des Bösen. Und der Versicherungsvertreter bestritt diese Vision eigentlich gar nicht. Er war nur der Ansicht, verheißen sei da nicht >das Böse<, sondern >ein Nutzen - ein gigantischer Nutzen für diese Welt (»eure Welt«, sagte er), die »festgefahren, besudelt, mit der schmatzenden Schnauze in die Sackgasse geklemmt« sei. Das war noch nicht dagewesen: Der konzentrierte Angriff auf den Sensei dauerte zwei Wochen. Die Eltern, der Versicherungsvertreter, wieder die Eltern und wieder der Versicherungsvertreter. Der Sensei hielt stand. Als Robert den Versicherungsvertreter zum letztenmal zur Tür brachte und ins Arbeitszimmer zurückkehrte, fragte ihn der mit finsterer Miene am Tisch sitzende Sensei plötzlich: »Können Sie sich diesen Menschen als rundliches rosa Ferkelchen mit kleinem, quadratischem Schnurrbart vorstellen und mit der schnarrenden Redeweise eines verzogenen geschniegelten Bubis?« Robert überlegte und sagte, nein, er könne es nicht, seine Vorstellungskraft reiche nicht aus. »Bei mir auch nicht«, gestand der Sensei. »Was macht nur die Zeit aus uns! ... Und können Sie sich mich vorstellen - rank wie eine Pappel und mit einem üppigen schwarzen Haarschopf? Unter dem man übrigens diesen verdammten Genickstoß nicht sieht, ihn nicht einmal ahnt?« Er könne es, sagte Robert aufrichtig, obwohl er nicht gleich verstand, von was für einem >Genickstoß< die Rede war. »Schmeichler«, beschied ihn der Sensei ohne ein Lächeln und zitierte auf einmal (fast wörtlich) Monroe: »Der Mensch ändert sich im Laufe seines Lebens nicht, er wird einfach sich selbst
immer ähnlicher ...« Das klang überzeugend, und Robert verkniff sich die Frage, wen er meinte - sich selbst oder den schrecklichen Versicherungsvertreter ... Und was das mißratene Mädchen damit zu tun hatte, fragte er lieber auch nicht - sollte doch alles seinen Gang gehen, der Sensei würde jedenfalls schon wissen, was sein muß und was nicht. ... Aber vielleicht liegt es auch gerade daran, daß wir nicht mit dem weiblichen Geschlecht arbeiten? (erlaubte er sich damals zu denken.) Auf einhundertsiebenundzwanzig Mathematiker und Physiker haben wir es gebracht (oder hundertachtund-zwanzig?), wenn man den Gromat mitzählt, der schon in prähistorischer Zeit aufgetaucht ist. Und nur drei Ärzte, allesamt Herzspezialisten. (Warum eigentlich?) Hundertzwölf Ingenieure, Manager, Techniker, Erfinder ... Hier und da ein paar Vertreter der humanistischen Richtung, Kunstwissenschaftler, Journalisten, ein Schriftsteller ... Und kein einziger Politiker. Und - vor allem - kein einziger Lehrer. Nicht ein einziger! Denn Marischka ist ja keine Lehrerin, Marischka ist Kindergartenerzieherin und überhaupt Mutter. Und außer ihr hatte es nie Mädchen unter ihnen gegeben ... Sechstes Kapitel Dezember. Derselbe Donnerstag. Grigori Petelin, genannt Giftzahn Als Wadim zu Ende gesprochen hatte, blieb Grischa der Giftzahn noch eine Zeitlang am Fenster stehen und schaute hinaus. Draußen war nichts Interessantes zu sehen - wild aussehende knochige Muschiks mit gestrickten Banditenmützen luden dort riesige würfelförmige Kisten von einem Lkw. Wadim zu betrachten wäre weitaus interessanter gewesen: der herzerwärmende Anblick eines völlig vernichteten Menschleins. Trübsinnig und unterwürfig. Zerquetscht. Ästhetisch richtig war es jedoch, so zu stehen: mit dem Rücken zu ihm, ohne ihn anzuschauen und gleichsam ohne ihn zu sehen. Darin lag >Dramaturgie<.
Er fragte (noch immer ohne sich umzuwenden): »Na, und was willst du von mir?« »Ich weiß nicht«, sagte Wadim wehmütig. »Ich klopfe an alle Türen. Mir bleibt keine Wahl.« »Und trotzdem - womit kann ich dir helfen, ich, ein schwacher kranker Mann?« »Ach laß doch sein, Grischa. Alle wissen längst alles.« »Was wissen sie denn? Was können sie eigentlich wissen?« »Na schön, sie wissen's nicht. Na schön, sie ahnen es.« »Ich glaube, wir beide waren nie so dicke Freunde«, sagte Giftzahn. »Oder irre ich mich?« »Woher soll ich das wissen? Ich habe mich dir gegenüber immer gut verhalten. Du warst es, der sich mit mir zerstritten hat, weiß der Teufel warum.« Giftzahn wandte sich endlich um und musterte ihn betont eindringlich. Er sah ein blasses Gesichtchen mit roten Flecken auf den Wangen. Eine trübsinnige Nase. Einen halb offenen Mund mit einem unsicheren halben Lächeln. Bittende Augen ganz wie bei einem hungrigen Hund, und sie blinzelten rasch. Übrigens war es just dieser Mann gewesen, der den Spitznamen >Giftzahn< für ihn erfunden hatte. Tengis hatte das wohlklingende, aber denn doch zu exotische >Olgoi-Chorchoi< vorgeschlagen, doch >Giftzahn< hatte sich letzten Endes durchgesetzt - in einem ehrlichen Konkurrenzkampf. Zu Recht. Ein einfacher Spitzname, aber gut, treffend ... »Und wo wohnt der Ajatollah?« erkundigte sich Giftzahn mit allem ihm zu Gebote stehenden Wohlwollen. »Ich weiß nicht.« »Und dieser Erast Bonifatjewitsch?« »Ich weiß gar nichts«, sagte Wadim wehmütig. Giftzahn wandte sich wieder zum Fenster um. >Ihre Pose befriedigt mich.< Der Mistkerl erinnert sich natürlich nicht einmal daran. Für ihn war das damals nur ein kleines, gewohntes Vergnügen - anscheinend im passenden Zusammenhang einen Lieblingsklassiker zu zitieren und zur Tagesordnung überzugehen. Das ist so seine dumme Lieblingsbeschäftigung: verschiedene Zitate an die Gegebenheiten anpassen. Dumme
Zitate. Ihm ist damals ja überhaupt nicht in den Sinn gekommen, wie wichtig das für mich war: ein Blockadearchiv, sechzehn Briefe aus Leningrad nach Wologda und zurück. Nie wieder ist mir so etwas untergekommen. Und wird mir nun wohl auch nie mehr unterkommen ... »Na schön«, sagte er und machte eine Pause, gründlich, gewichtig wie ein Pflasterstein. »Ich habe dich verstanden. Ich denke drüber nach.« »Ja, denk drüber nach, tu mir die Liebe.« »Tu ich. Die Liebe - tu ich. >Ihre Pose befriedigt mich.< So steht es, scheint's, bei den Klassikern?« Als Antwort wurde ihm ein hinreißend blasses, dummes kleines Lächeln zuteil. Jetzt hatte dieser Zitatenfreund jenen unglücklichen Ausdruck im Blick, wie er bei Hunden vorkommt, wenn sie einen Haufen machen. »Ich verstehe allerdings nicht, was ich da tun kann. Alle diese deine Anspielungen sind Unsinn. Also reiß den Mund nicht zu weit auf ... Und dieser Intelligenzler, was ist das für ein Vogel?« »Nichts Besonderes. Ein Professor. Korrenspondierendes Akademiemitglied. Ein ehrlicher Mann, ganz anständig.« »Ich habe ihn im Fernsehen gesehen. Ein Rassepferd.« »Ja. Ohne Frage ... Sein Stabsquartier hat er übrigens hier, bei dir im Hause, um die Ecke.« »Ah ... Ich wundre mich schon, da steht immer eine Herde von Mercedeslimousinen, wie an der Tränke ... Hör mal, was ist eigentlich los? Wenn du ihn so anständig findest - dann streng dich an! Setz dich hin, blas dich auf und organisiere ihm entsprechende Umfrageergebnisse.« Wadim lächelte wieder sein Hundelächeln (das inzwischen schon wie ein Todesgrinsen aussah) und gab keine Antwort. »Na schön«, sagte Giftzahn. »War's das? Dann geh mit Gott. Grüß die Mutti. Die lebt doch noch, nehme ich an?« Er sah Zorn, Wut, Raserei und den Wunsch, zuzuschlagen (mit dem Fuß zuzutreten, in den Schritt, aus dem Stand), erschrak aber nicht im geringsten - er hatte hier nichts zu fürchten. Im Gegenteil, er empfand eine heftige Befriedigung, um so heftiger, als er schon genau wußte: Nichts würde er für diesen Scheißkerl
tun, keinen Finger für ihn rühren, sollte er doch kriegen, was ihm zustand. Alles, was er sich im Leben verdient hatte. Jedem das Seine. Als Wadim (mit seiner ohnmächtigen Wut, seiner tödlichen Wehmut, seinem vermoderten Schrecken vor dem morgigen Tag) gegangen war, setzte er sich an die Tisch, schaltete die helle Lampe ein und zog die Mappe mit den Briefen näher heran. Sehr geehrter Nikolai Dimitriewitsch! Ich sende Ihnen herzliche Grüße und eile, Ihnen zu melden, daß ich mich im Kraterzentrum eines Vulkanausbruchs befinde. Die nationale Krankheit entwickelt sich hier derart, daß sie den ganzen Kaukasus mit Leichen zu überziehen droht. Hochachtungsvoll... Ein offener Brief nach Petrograd, datiert vom 7. Februar 1918, noch mit den später abgeschafften alten Buchstaben, aber ohne Unterschrift. War ihm etwa schon klar geworden, daß man solche Botschaften lieber nicht unterschrieb? Wohl kaum. Doch dem Text nach zu urteilen, war es ein hellsichtiger Mensch und nicht ohne Humor ... Der einen gewissen Respekt verdiente, obwohl er sicherlich ein weißer Knochen war, ein hochnäsiges Miststück aus dem Adel ... Die hatten den Staat vor die Hunde gehen lassen. An den Herrn Direktor der Kurse zur Ausbildung von Kriegsversehrten als Aufseher der Bodenmelioration. Vom dauernd vom Militärdienst befreiten Gemeinen des 8. Schützenregiments Sergej Nikolajewitsch Tschepowskoi, wohnh. Siedl. Kabakly, Omsker Ei-senb.linie, Werst 927. Ich habe Ihre Mitteilung über den Beginn der Kurse und den Prospekt erhalten, die am 21. Dez. 917 abgesandt wurden, habe ich am 14. Februar 918 erhalten, daß ich am 20. Feb in Petrograd sein muß, was ich leider in dieser Frist nicht konnte, aber in Anbetracht des gegenwärtig durchgemachten Moments in Rußland, und der schwierigen fast unmöglichen Fahrt mit der Ei-senb. bin ich nicht gefahren; bitte aber untertänigst, wenn die Kurse nicht stattgefunden haben aber in Zukunft stattfinden, mich dann rechtzeitig in Kenntnis zu setzen, dann komme ich. Sergej Tschepowskoi.
Seitlich auf einem freien Flecken die genaue und gründliche Notiz: >Abgeschickt am 16. Febr. 1918.< Tjaa. Der hatte ganz entschieden noch nichts begriffen. Der vom Militärdienst befreite Gemeine. Höchstwahrscheinlich mit irgendeiner Kopfverletzung, wenn nicht überhaupt ohne Arme oder Beine. Und nirgends eingerichtet, nein - er sucht panisch und verzweifelt nach einer Möglichkeit, wenigstens irgendwie seine armselige Zukunft zu sichern, und versteht nicht, der Dämlack, daß er keine Zukunft hat und auch keine mehr haben kann ... >Im Kraterzentrum eines Vulkanausbruchs. < 15. Mai, alter Kalender. Liebe Njussja! Schreibe bitte ob es Dir gut geht und ob Du nicht auf Befehl der Bolschewiki irgendwo im Keller des Smolny sitzt? Wie wir denen ihre Art kennen vom Ende anzufangen d.h. erst verhaften und einsperren und dann erst einen Grund dafür suchen, befürchten wir ob nicht womöglich mit Dir sowas passiert ist... Kein Zweifel - eine fette, üppige Kuh. Kleinbürgerin. Idiotin. Keinen eigenen Gedanken im Kopf. Wenn sie überlebt hat, hat sie zwanzig Jahre später mit derselben schwachsinnigen Selbstsicherheit den Zeitungen nachgebetet, "die werden zu Recht erschossen ... die zuständigen Organe irren sich nicht, kein Rauch ohne Feuer ..." Wir leben nicht besonders gut, sind aber noch nicht verhungert, obwohl es einen Augenblick gab, da glaubten wir, wir seien erledigt. Im Grunde leben wir wie Studenten, immer mit Geld, das sich gerade findet. Wir verkaufen unsere Sachen sehr billig, weil unsere Käufer wie die Krähen unsere Not gewittert haben, also machen die ihren Reibach und zahlen nicht einmal einen halbwegs anständigen Preis. Wie zum Tort kauft niemand den Sattel, dabei ist das unser stärkster Trumpf. Wenn den jemand kaufen würde, würde Vater unverzüglich nach Moskau fahren und die Sache mit seiner Rente betreiben. Aber wenn wir es dem natürlichen Lauf der Dinge überlassen, können wir noch ein Jahr warten, wenn wir nicht vorher verhungert sind ... Irgendein Sattel. Was hat ein Sattel damit zu tun? Vielleicht waren sie früher Gutsbesitzer, und vom ehemaligen Reitstall ist ihnen nur ein luxuriöser Sattel geblieben. Mit Schabracke. Siehe
>Die drei Musketieren Freilich, das ist kaum wahrscheinlich: Welche Rente kann im Jahre achtzehn ein Gutsbesitzer bekommen? Andererseits, wo kommt in einer kleinbürgerlichen oder, sagen wir, einer Beamtenfamilie ein Sattel her? Es wäre gut, wenn wir die Rente lockermachen und möglichst bald hier wegfahren. Die Lebensmittel sind hier gar zu teuer. Bald werden wir sie uns nicht mehr leisten können. Obwohl nach den Zeitungen zu urteilen dort, wo wir hinwollen, die Cholera schon begonnen hat, aber das schreckt uns nicht, denn an der Cholera stirbt man oder auch nicht, aber der Hunger kennt keine Gnade ... N-nein, der Hunger wird euch nicht erwischen. Und die Cholera natürlich erst recht nicht. Ihr seid ewig. Ewig! Hol euch der . Teufel, mitsamt euren Renten und euren Lebensmitteln. Was soll werden, Njussja, was soll nur werden wenn es dieses Jahr noch eine Mißernte gibt. Das ganze Menschenvieh wird sich erheben und wird sich dann gegenseitig die Kehlen durchbeißen. Na ja, es ist alles der Wille des Herrn ... Das stimmt nun aber genau. Sowohl das von dem Vieh als auch das vom Willen des Herrn. Wie viele Jahre ... wie viele Jahrhunderte wiederholt ihr das: der Wille des Herrn, der Wille des Herrn. Dünger. Die Sache ist die daß unser Vermieter allen und jedem sagt, daß ihm die Mieter nur eine Last sind, er braucht nur einen Tag dazusitzen und zu nähen, und schon hat er die ganze Miete für die Whng. herein. Und daß ihm die Ruhe seiner Person wichtig ist. Aber natürlich lügt er das alles und ganz dreist, denn so einen Geizhals und Spekulanten habe ich noch nicht gesehen. Neulich hat er Tante Katerina Kartoffeln verkauft für 45 Rub. das Maß und selber hat er seinen Verw. dafür 25 Rub. bezahlt. Und das derselben Tante Katerina, die sie um 3 nachts geholt haben und gebeten, daß sie die tote Ehefrau wäscht. Und wenn man ihn reden hört, ist er der reinste Heilige ... Ein Stempel auf dem Brief: >Twer, 28. 5. 18<. Es ist fast ein Jahrhundert vergangen, und was hat sich geändert? Die Kartoffeln sind billiger geworden. Oder auch nicht. Je nachdem, was so ein >Maß< ist ... So, und jetzt haben wir eine Postkarte.
Seltsam: ganz voll Fliegendreck. Haben sie die an die Wand gehängt, oder was? Wanja, bring eine Petroleumlampe mit, eine behalt für dich und Njuscha. Njuscha bittet darum, daß ihr bei ihren Sachen das kleine Kissen laßt. Batschil ist nicht nach Sar. gefahren und wird wohl auch überhaupt nicht... Abgeschickt am 2. 22. 18 aus Moskau nach Petrograd. Wo sind sie jetzt, diese Njuscha und dieser geheimnisvolle Batschil? Aber die Petroleumlampe kann ohne weiteres noch heil sein. Übrigens, nein, wohl kaum. Wer hebt denn eine Petroleumlampe auf? Höchstens ein letzten Endes verblödeter Sammler. Liebe Leta. Ich gratuliere Dir nachträglich zum Namenstag. Leta, vielen Dank für den Zwieback, der ist sehr nötig, weil ich jetzt geringere Zuteilung bekomme. Urlaub kriegen wir nicht (so eine Schweinerei), sonst würde ich dich besuchen kommen. Schick, wenn du kannst, Kartoffeln. Gib Miiksja und Wolik von mir einen Kuß, aber nicht vergessen! Grüße an Boris AI. Lelja. Diese Postkarte wurde am 26. 7. 19 aus Orjol nach Petrograd abgesandt. Zwieback, Kartoffeln, Zuteilung ... Haben die damals überhaupt noch über etwas anderes miteinander gesprochen? Immerhin war der Krieg im Gange. General Denikin, der Vorstoß Mamontows, Budjonny bildet die Erste Reiterarmee ... In Wahrheit nicht Budjonny, sondern jemand ganz anderes, der später überflüssig und liquidiert wurde, aber darum geht es ja nicht ... Ach, zum Kuckuck mit ihnen allen! Sie haben gekriegt, was sie verdienten. Alle. Jeder einzelne ... Und was haben wir hier Krebsförmiges? Estimata sinjoro1 Mi tralegis Vian anonceton kaj kuragas skribi al Vi ... Abgeschickt aus Irkutsk nach Cerveny Kostelec, Tschechoslowakei, und das ist nun schon im Dezember einundzwanzig. Das legen wir beiseite. Sprachen sind nicht unsere Stärke, nein, wirklich nicht: Deutsch mit Wörterbuch. Seltsam - wie ist eine Karte, die in die Tschechoslowakei geschickt wurde, in dieses durchweg russische Archiv geraten? Wera-lieb, wir stehen in Armawir. Heiße Tage, wie zuvor, aber sehr schön. Es kommen leichte Wolken heran, ein sanfter Wind.
Ich war in der Stadt auf dem Markt und bin von den Preisen sehr enttäuscht. Süßkirschen 8-15 Mio. das Pfund. Was für ein geringer Unterschied zu Petrograd! Himbeeren 15 Mio. In Krylowskoje war die Butter nicht teuer (2 Pf. - 26 Mio.), aber ich hatte leider nichts, worin ich sie hätte mitnehmen können. In Papier wäre sie zerlaufen. Nächstes Mal muß ich mich anders auf die Reise machen. Sehr wenig Wegzehrung mitnehmen, aber Gefäße für Milch, für Butter. Die Wegzehrung, die ich mitgenommen habe, ist fast durchweg schlecht geworden. Die Koteletts haben 1 Tag durchgehalten, die Piroggen 2 Tage, die ganze Wurst ist verdorben. Es ist ein Jammer, etwas wegzuwerfen, vor allem, wenn es von fürsorglichen Händen gemacht worden ist. Ich küsse dich innig ... Am 22. 6. 23 von Armawir nach Petrograd geschickt, schon haben sie sich sattgegessen, schon fressen sie Koteletts, Butter pfundweise ... Piroggen ... Ist ihnen alles am Arsch vorbeigegangen. Als ob nichts gewesen wäre - kein Hunger, kein Krieg, keine Katastrophen. Alles geht vorbei! Nur die Koteletts sind ewig -von fürsorglichen Händchen gemacht ... Er setzte sich am Computer zurecht, um alle Daten zu den Kuverts und Postkarten in die Datenbank einzutragen, doch da tauchte plötzlich Timofej von seinem Lager her auf - legte ihm erst die heiße Schnauze auf den Oberschenkel und stieß ihm dann, als er keine Antwort (in Klammern: keinen Gruß) bekam, die Nase gegen den Ellenbogen, kräftig und hartnäckig. Giftzahn schaute zum ihm herab und sagte: »Na, Tier. Hast dich schon vollgemacht?« - >Noch nicht, aber bald<, erwiderte Timofej und wedelte heftig mit dem Schwanzstummel, wobei er fiepte und leidenschaftlich atmete. Dann legte er sich, den dünnen Hintern hochgereckt, auf die Vorderpfoten und begann so mit dem Kopf zu wackeln, daß die schwarzen Ohren wie Fetzen im Wind umherflogen und nach allen Seiten Geifer spritzte. Es war wirklich Zeit, ihn auszuführen. Der Mensch hatte seit früh um sieben nickt mehr gekackt. Im Gegensatz zu manchen, die privilegiert waren und zweimal stündlich ... Er begab sich aufs Klo, und Timofej folgte ihm natürlich wie angebunden, und die ganze Zeit, während er dort auf der
Kloschüssel ächzte und seine pathologischen Behinderungen überwand, hörte er, wie jenseits der Tür die Krallen ungeduldig und nervös übers Linoleum scharrten und ein gequältes Fiepen erklang, dünn und verzweifelt, fast im Ultraschall, und er lächelte beim Gedanken an das zottelige dumme Tier, das jetzt vor Verzweiflung und Kummer verging, daß es seinen gottgleichen Herrn, den Ernährer und den Stützpfeiler dieser Welt, nicht von Angesicht zu Angesicht sehen konnte. Ein komischer Hund, weiß Gott. Gute Menschen sind diese Hunde. Im Unterschied zu den Menschen. Die Hunde sind gute Menschen, die Menschen aber sind in der Regel räudige Hunde ... Dann machte er dem Hund das Fressen fertig - schaufelte mit einem großen Löffel reichlich in Timofejs Schale und stellte sie auf ein besonderes Bänkchen, damit das Tier, wenn sie vom Spaziergang zurückkamen, sich gleich nach Herzenslust an seinem Fresserchen gütlich tun konnte. Und erst danach nahm er die Leine vom Haken und widmete sich eingehend den Vorbereitungen zum Spaziergang. »Wissen möchte ich: Warum hat dieses Häufchen Unglück dich Timofej Jewsejitsch genannt?« sprach er laut vor sich hin, während er die Leine am Halsband befestigte. »Was bist du denn für ein Jewsejitsch? Du bist doch irgendein Rexowitsch. Oder mindestens ein Artemonowitsch ...« Artemonowitsch widersprach nicht - er wollte auf die Straße und war mit jeder Version einverstanden. Ehe sie gingen, schaute er in den Spiegel. Rückte die Baskenmütze zurecht. Strich sich mit der Handfläche über den Acht-Tage-Bart. War durchaus zufrieden mit sich und öffnete die Wohnungstür einen Spalt breit. Es war wenig wahrscheinlich, hier auf eine Gefahr zu stoßen, aber bekanntlich sind die unangenehmsten Dinge im Leben just wenig wahrscheinlich. Vorsicht hatte noch keinem geschadet ... Dort, in dem jetzt fremden Gebiet, war es still, und man roch den Duft - oder aber Gestank - rätselhafter Wohlgerüche. Auf dem Flur war bis zur Biegung niemand zu sehen; eine Glühlampe einzuschrauben war naturgemäß niemandem in den Sinn gekommen, so daß nur das Stück Biegung selbst erleuchtet war - aber nicht von elektrischem
Licht, sondern von einem gelblichen, wabernden - sie hatten anscheinend wieder Öllämpchen angezündet. Er trat auf den Flur, hielt den ungestüm zerrenden Timofej zurück und machte sich daran, sorgfältig die Tür zu seinem Territorium zu verschließen. Hier hinter dieser Tür war alles seins: seine sechseinhalb Quadratmeter, seine kleine Küche mit dem Gaskocher, seine Sanitärzelle mit der schrecklich anzuschauenden, aber durchaus brauchbaren Wanne. Irgendwann einmal hatte hier das Dienstmädchen gewohnt. Wie hatte sie eigentlich geheißen? Anastassija Andrejewna hatte sie geheißen, jawohl, er aber hatte sie Assewna genannt und mehr als alle auf der Welt geliebt. Sie war groß, weich, gutherzig, und in ihrer Umgebung roch es immer wunderbar nach weichen Sahnebonbons ... Eigentlich hatte er wohl überhaupt niemanden außer ihr jemals geliebt, so daß er wohl auch keinen Vergleich hatte ... (Sie war ihm jetzt rein zufällig in den Sinn gekommen, durch eine Assoziation, die dem Bewußtsein nicht zugänglich war, denn sein Bewußtsein war mit einem einzigen Gedanken und nur einem durchaus gewohnten - Bild befaßt: Der Pilot des Raumschiffs verläßt unter Beachtung aller Vorsichtsmaßnahmen seine Festung und tritt in die fremde und gefährliche Welt. Dieses Bild war in seiner Phantasie schon vor langer Zeit entstanden, an die Zeit davor konnte er sich gar nicht mehr erinnern: Das Raumschiff ist auf einem fremden Planeten gescheitert, der Pilot verbringt den Rest seines Lebens hinter den stählernen Wänden, und da draußen brodelt, siedet, blubbert, dampft stinkend ein fremdes und auf den Tod gefährliches fremdes Leben, das Furcht und Haß erweckt. Furcht immer, Haß leider nur gelegentlich ...) Während er sich an den Schlössern zu schaffen machte (drei Schlösser und zur Sicherheit noch eine besondere Sperrvorrichtung), tauchte um die Biegung herum plötzlich lautlos eine Gestalt in Weiß auf und blieb dort stehen, in dezentem Abstand - fremdartig und sogar ein wenig unheimlich im schwankenden Licht des Ollämpchens. Und auf einmal hörte er einen monotonen Gesang, hart an der Hörgrenze, und nicht
einmal einen Gesang im üblichen Sinne des Wortes, sondern als ob mehrere Stimmen halblaut in singendem Tonfall etwas Rhythmisches läsen. »Guten Tag«, sagte er für alle Fälle zu der weißen Gestalt und erhielt als Antwort eine lautlose Verbeugung mit vor der Brust zusammengelegten Händen. Das schmaläugige dunkle Gesicht war reglos und drückte nichts aus als eine absolut unmenschliche Ruhe. Er wartete zwei Sekunden, doch weiter geschah nichts und konnte ja auch nichts geschehen: Die Miete hatten sie (strikt nach Vereinbarung) vor vier Tagen bezahlt, und weiter hatten sie kein Thema zum Austausch und konnten auch gar keins haben, also sagte er höflich »Sayonara« und hatte auf einen Schlag seine Japanischkenntnisse zu gut einem Viertel erschöpft. Er war diesen Leuten gegenüber immer höflich, aber in Wahrheit gefielen sie ihm nicht - ebensowenig wie alle anderen Menschen auf dieser Erde. Zudem verstand er sie überhaupt nicht, was auf erstaunliche Weise keinen Respekt und nicht einmal Interesse nach sich zog, wie man hätte erwarten können, sondern eher nur zusätzliche Abneigung und sogar eine gewisse Verachtung. In Gedanken nannte er sie immer Japse, obwohl er sich keineswegs sicher war, daß er gerade Personen japanischer Nationalität vor sich hatte und daß er irgendwann einmal die auf Vorrat erworbenen und irgendwie nützlichen Wendungen >konnichi-wa<, >wakari-masen< und das in dieser Situation anscheinend unangebrachte >watakashi-wa tabe tai< würde gebrauchen können. Doch diese Schlitzaugen zahlten, und zwar nicht schlecht, für jene vier Zimmer, wo er einst mit den Eltern gewohnt hatte und wo er jetzt keinen Zugang mehr hatte. Nicht, weil die rätselhaften Mieter ihn dort nicht hätten sehen wollen vielleicht hätten sie überhaupt nichts dagegen gehabt, ihn einzuladen, sich näher bekannt zu machen, sich auf freundlichen Fuß zu stellen, vielleicht sogar zu versuchen, ihn in diese geflüsterten Gesänge einzubeziehen, zu ihren seltsam riechenden Öllämpchen und den weißen Gewändern -, vielmehr hatte er dort deshalb keinen Zugang, weil er ihn sich selbst verboten hatte, sich ein für allemal abgetrennt hatte von dem, was einmal war, und von der Vergangenheit nur Assewnas
Zimmerchen mit der eigenen Toilette und dem separaten Zugang behalten hatte, der früher >Hintereingang< geheißen hatte. Vorsichtig lauschend und sich umblickend ging er die Hintertreppe hinab, die schmutzig grau war, mit schmutzigen Fenstern zum Hof hin (seit den Zeiten der Sowjetmacht nicht mehr geputzt), mit dem von einem unglaublichen Kraftmenschen bizarr verbogenen genieteten Eisengeländer (das sich schon seit der Blockadezeit in diesem urtümlichen Zustand befand), mit den vollgespuckten und mit Bedacht (man könnte meinen - mit Sorgfalt) zugemüllten Stufen und den alten Kondomen, die an den über und über beschmierten Wänden klebten. Das war eine Mülltreppe, eine Klotreppe, eine Museumstreppe, das, was man in Südrußland >den Hinterem nennt. Er hatte sich freilich längst daran gewöhnt, und Timofej gefiel es hier sogar, zumindest war es interessant für ihn: Er las diese Treppe, wie ein wißbegieriger Mensch eine frische, voluminöse Boulevardzeitung liest. Außerdem hatte der Hund die Gewohnheit, mit seinen Urinabsonderungs-Prozeduren gleich hier zu beginnen, ohne bis auf die Straße zu warten, und er tat es mit Vergnügen, wenngleich ohne die angezeigte Gründlichkeit. Das Herrchen hinderte ihn nicht daran, ermunterte ihn aber auch nicht - er ging einfach die Stufen hinab, ohne stehenzubleiben, und gab einem keine Gelegenheit, sich von ganzem Herzen der Prozedur zu widmen, bis zur Neige. Auf Timofej ruhten hier alle Hoffnungen: Er konnte Fremde absolut nicht leiden, und kein Penner, kein fremder Bandit hatte eine Chance, seiner feindseligen Aufmerksamkeit zu entgehen. Eins über den, Schädel konnte man auf dieser Treppe übrigens auch von einem guten Bekannten kriegen - zum Beispiel von Kostja dem Schläger aus dem dritten Stock ... Draußen waren sie mit dem Abladen fertig, die sehnigen Banditen waren verschwunden, und nur zwei halb bekannte Tanten mit Mülleimern neben den Füßen (ein voller mit Deckel, der andere soeben ausgeleert) diskutierten zehn Schritt vom Müllcontainer entfernt die Preiserhöhungen für Elektroenergie. Er grüßte sie sicherheitshalber, sie erwiderten den Gruß beiläufig und folgten ihm ohne jedes Interesse mit den Blicken. Sie
kannten ihn von klein auf und hatten ihn längst vorwärts und rückwärts durchgehechelt. Als sie in der Allee waren, gab er Timofej endlich Gelegenheit, so lange mit erhobenem Hinterbein dazustehen, wie es zur völligen Befriedigung notwendig war, er selbst musterte inzwischen aufmerksam die Gegend. Die Stunde des Hundes war schon gekommen, doch im Blickfeld war Gott sei Dank nichts wirklich Gefährliches zu sehen. Da war die Marmordogge, die wie ihr eigenes Gespenst neben dem eleganten Frauchen ein-herschritt, so einer angemalten Ziege mit Pelz und unnatürlich langen Beinen; da war der bekannte alte Schäferhund mit dem herabhängenden Bauch und dem durchgebogenen Rücken; zwischen den Bäumen huschte noch etwas Kroppzeug herum: ein ewig griesgrämiger ellenlanger Dackel, das kläffende, aber harmlose Bologneserhündchen aus dem fünften Stock und noch ein weiterer Hund, schwarz, von unbekannter Rasse und überhaupt gänzlich unbekannt, mit einem Schrank von einem Herrchen, stämmige Beine wie das Heidnische Götzenbild. Der Hauptfeind, ein schwarzer Terrier namens Borka, war vorerst nicht zu sehen und würde, so Gott will, heute auch nicht kommen. Er blieb mit seinem ekelhaften Neurussen mitunter tagelang weg, und manchmal kam er zu einer anderen Zeit als alle normalen Pfunde auf die Straße. Mit einem Halt an jedem Baum gingen sie bis ganz ans Ende der Allee, ohne sich mit jemandem anzulegen und überhaupt stillfriedlich-indifferent. Timofej lief ohne Leine, er war nicht der Typ, der plötzlich selbstvergessen losrennt - und sei es der anziehendsten Dame nach. Er hatte so große Angst, wieder verlorenzugehen, daß er nicht einmal weiter als bis zum zweiten Baum vorauslief, und wenn das doch aus Versehen geschah, blieb er sofort stehen, wartete und wedelte rituell mit dem Schwanzstummel. Ein komischer Hund, weiß Gott. Er hatte wohl bei seinen früheren Herrchen allerlei auszustehen gehabt, oder vielleicht konnte er einfach die Schrecken seines herrenlosen Daseins in der großen Stadt nicht vergessen, die gleichgültig war wie ein Bordstein und grausam wie der Hungertod.
Er war schon im Begriffj um hundertachtzig Grad kehrtzumachen (zumal die Natur, genauer gesagt, das verdammte Adenom schon daran erinnerte, daß es Zeit war, sich auf den Nachhauseweg zu machen, hin zum heimischen Klo), blieb aber stehen, als er um die Ecke, offensichtlich im Gebiet jenes Stabsquartiere, von dem der Hosenscheißer Wadim gesprochen hatte, eine nicht besonders große, aber alles in allem hier unübliche Menschenmenge erblickte, die den gesamten Bürgersteig überflutet und sich sogar auf Teile der Fahrbahn ergossen hatte. Die glänzenden Dächer von ein paar der üblichen >Mercedes<-Limousinen schwammen in dieser Menge wie Inselchen bei Hochwasser. Irgend etwas ging dort vor. Irgendein Meeting. Genauer gesagt - ein Treffen mit dem Gouverneurskandidaten: Da gab es eine hochgewachsene Gestalt im hellen Mantel, sie ragte über der Menge auf und sprach zu ihr von der obersten Stufe des Paradeeingangs zum Büro, wedelte mit weit ausgebreiteten Armen über sie hin. Und eine Stimme drang von dort heran - die Worte waren nicht zu verstehen, doch sogar aus fünfzig Metern Entfernung war zu hören, daß es eine satte, samtene und hallende Stimme war, wie bei dem unvergeßlichen Dozenten Lebjadjew (Funktionstheorie komplexer Variablen), als er seine berühmten Prinzipien für die Zensierung von Prüfungen verkündete: »Wer tadellos auf alle Fragen des Prüfungszettels und auf alle Zusatzfragen antwortet, bekommt Se-e-ehr gu-u-ut ... Wer tadellos auf alle Fragen des Prüfungszettels antwortet, aber bei einer Zusatzfrage etwas ins Stocken gerät, bekommt Gu-u-ut ...« Er empfand ein augenblickliches Aufflackern von Haß und ging fast unwillkürlich, die Füße trugen ihn von selbst - über die Straße, um näher heranzutreten ... Wozu? Er hätte nicht erklären können, wozu, selbst wenn ihm in den Sinn gekommen wäre, es irgendwem zu erklären. Er mußte das hören und sehen. Und fertig. Aus der Nähe. Ausführlich. Er mußte. Wie immer in solchen Fällen, hatte er keinen einzigen zusammenhängenden Gedanken im Kopf, keine klar bewußten oder auch nur irgend etwas Bekanntem ähnelnden Wünsche. Physiologie. Trance. Die Füße gingen von selbst, und im Kopf kreiste
zusammenhangloses Zeug, verkündet von der widerwärtig samtenen Stimme: »... Heute haben wir später angefangen, und darum müssen wir früher aufhören ...« (Immer doch derselbe Lebjadjew, der an der Fakultät ein scharfer Parteifunktionär war und regelmäßig zu spät zum Beginn seiner eigenen Vorlesungen kam.) Er hörte nicht einmal etwas, kein einziges Wort. Er sah nur, wie die edel geformte aristokratische Fresse mit den tadellosen Zähnen auf-und zuging. Und wie die begeisterten Augen feucht funkelten. Er sah die funkelnden Reifpünktchen auf der schneeweißen Igelfrisur, die breiten weißen Hände, die im professoral exakten Rhythmus der unhörbaren Rede gestikulierten ... (Er hatte immer hervorragend gesehen; wie die legendäre Mutter von Tycho Brahe sah er mit bloßem Auge die Venusphasen und konnte alle fünf Kugeln exakt in Elf-UhrPosition in den Achterring setzen.) Und jetzt schien es ihm plötzlich, daß er diesen Menschen sogar roch - ein Geruch von teurem Kölnischwasser wehte heran, der gesunde kräftige Geruch eines energischen kräftigen Mannes, der keine erniedrigenden Krankheiten kannte, überhaupt keine Krankheiten, und dazu keine niedrigen Gefühle und die für gewöhnliche Menschen gewöhnlichen animalischen Wünsche. Der Haß flammte auf und begann, in ihm zu wachsen wie eine eitrige Geschwulst - schmerzlos, aber rasch. Es hatte sich davon, wie sich zeigte, im letzten halben Jahr schon eine Menge angesammelt, doch bisher hatte sie sich in ihm ruhig verhalten, harmlos und ungefährlich wie alte Langweile, jetzt aber war sie plötzlich erwacht und schickte sich an, den Raum der Seele zu verschlingen, und begann dort zu pulsieren, drängte heraus, grünlichgelb, giftig und gefährlich wie Chlor-Kampfgas. Sie nahm ihm den Atem. Er wollte schreien, doch sie saß in der Kehle fest ließ ihn nicht atmen und leben. Er wollte die Ansammlung von Haß in diesen weißen, gepflegten, trainierten, ewig gesunden Körper stoßen, wie die weiße Kobra ihre krummen Zähne in ihr Opfer schlägt, um mit dem Gift in es einzubrechen. Um es zu töten. Dunkel war ihm bewußt, daß es gefährlich war. Es war zuviel Volk ringsumher. Die Wachleute mit den finster angespannten
Gesichtern lassen die Blicke schweifen, und einer hat ihn schon fixiert, sein Gesicht verhärtet sich, er macht sich schon bereit, zielt im Geiste schon ... Das würde ihn jetzt nicht aufhalten. Nicht einmal ein Schuß in die Kehle würde ihn jetzt wohl aufhalten - es ist heraufgestiegen, hat sich aufgebläht, sich gespannt, bereit zur Explosion, zum Durchbruch, zum Aufflammen wie ein ungeheuerlicher, widernatürlicher, übernatürlicher Orgasmus ... Jetzt gleich wird es als giftig gelbe, erstickende, verbrennende, hundert Meter lange Zunge hervorstoßen ... noch ein bißchen ... jetzt gleich ... nein, es darf nicht sein, ist gefährlich, jetzt schauen schon zwei her ... Und da kam es ihn plötzlich von unten her an, packte ihn augenblicklich und heftig (bei den Ärzten heißt das »imperativer Drang<), und sogleich verblaßte der Haß, löste sich entkräftet auf, sank herab, entschwand ins Nichts, und die Füße - wieder ganz von selbst trugen ihn fort, nach Hause, schnell, noch schneller, gleich geht es los, aus, er hält es nicht durch, aus, aus ... Und unter einem Torbogen knöpfte er sich fieberhaft, in beschämender Hast, irgendwie die Hose auf - Gesicht zur Wand, in einer unnatürlichen und albernen Pose, aus irgendeinem Grund auf einem Bein stehend, direkt vor den Augen einer Dame mit Töchterchen - und stöhnte vor Scham auf, als er sich mühsam und schmerzhaft entleerte. Das war's, dachte er mit gewohnter Bitterkeit. Das war's. Das war's ... Wo war Timofej? Timofej war zur Stelle - stand neben ihm in seiner abweisendsten Haltung und beobachtete das Töchterchen. Er mochte keine Kinder und traute ihnen nicht. »Was macht denn der Onkel?« fragte unterdessen das Kind mit hellem Stimmchen. »Ist der Onkel krank?« Der Onkel war nicht krank. Der Onkel war fix und fertig. Der Onkel hatte sich von innen die Hose naß gemacht und kam sich ohne Wenn und Aber wie ein Stück Scheiße vor. Aber jener, der Bedeutsame, der Tadellose und von den Massen Geliebte, hatte überhaupt nichts bemerkt. Seine Leibwächter schon, sie hatten offensichtlich Verdacht geschöpft, obwohl sie natürlich nicht verstanden, was vor sich ging, aber dieser feine Herr Demokrat hatte nicht das Geringste gespürt. Eine völlig taube Nuß.
Zurückgehen, dachte er mit träger Bosheit. Zurückgehen und den Mistkerl erledigen ... Er wußte, daß er nicht zurückgehen würde. Heute nicht. Morgen. Später. Plötzlich empfand er - über die ohnmächtige Wehmut hinweg - einen unerwarteten Schub von Begeisterung: Es war etwas aufgetaucht, was er im Gedächtnis behalten sollte, worüber jetzt gründlich nachzudenken sich lohnte. Nicht nur darüber, wo er ein altes Archiv auftreiben könnte, möglichst aus der Blockadezeit, sondern auch darüber, wie es sein würde, wenn sie einander wieder begegneten. Auf irgendeiner Wahlveranstaltung beispielsweise. Die haben doch jetzt anscheinend Wahlen? Also muß er vor den Wählern sprechen. Bin ich ein Wähler oder nicht? ... Ich bin ein Wähler. Ich habe das Wahlrecht. Und ich habe gewählt. Ihn. Soll er jetzt beten - ich habe ihn ausgewählt ... Ihm fiel ein, was kürzlich der Hosenscheißer Wadim gesagt hatte, und er kicherte: Nichts kriegst du ab, mein Hosenscheißerchen, sie werden ihn niemals wählen, weil ich ihn ausgewählt habe, du aber mach dir nur Hoffnungen, so gut du kannst, du kriegst das Einzige, was dir im Leben gebührt: bittere Enttäuschung. Denn es heißt ja: Enttäuschung ist das bittere Kind der Hoffnung ... Zu Hause zog er sich zunächst einmal um. Hose und Unterhose warf er in die Waschmaschine. Die Maschine war schon voll, und voll war auch die Kiste mit der schmutzigen Wäsche -so voll, daß der Deckel nicht mehr schloß. Heute würde er also Waschtag machen müssen. Wir sind einfache Leute, haben kein Dienstmädchen, wir halten uns keins, waschen selber, kochen selber, wischen selber den Fußboden ... Stimmt's, Tier? Hast du deinen Brei gefressen. Das war's. Fleisch gibt's heute nicht. Fleisch gibt's morgen ... Das Telefon klingelte unerwartet laut. Besonders laut eben darum, weil es unerwartet kam. Um sieben. Wer konnte das sein? >Kein Anruf für den Oberst ...< Wie sich herausstellte, war es Tengis. Der Psychokrat. Vor Tengis hatte er ein wenig Angst. Vor diesem wütenden Tier mußte man auf der Hut sein. Der machte keine Späße und liebte keine ... »Olgoi-Chorchoi? Grüß dich.« »Ach, der Herr Psychokrat persönlich? Du lebst noch?«
»Mach dir nur keine Hoffnungen, Olgoscha. Alias Chor-choscha. Hör mal, hast du Dimka Christoforow in letzter Zeit gesehen?« »Heute erst. Ein widerwärtiger Anblick.« »Du bist also auf dem laufenden?« »Auf dem laufenden worüber?« »Über seine Probleme.« »Ja. Leider. Er hat mir mit seinem Geheule die ganze Weste naß gemacht.« »Klar. Also, ich habe dir mitzuteilen. Wir treffen uns morgen bei mir, um neunzehn Uhr ...« »Wer sind >wir« »Die Trabanten. Die Alten Herren. Alle.« »Und was habe ich damit zu tun?« »Mach keinen Scheiß, Grigori! Das ist eine ernste Sache. Das geht uns alle an. Heute Dimka, morgen du.« »Mach du keinen ... Meinetwegen würdet ihr euch garantiert nicht versammeln.« »Ich versichere dir, wir würden.« »Ihr haßt mich doch jetzt alle!« »Ubertreib nicht, Olgoscha. Ubertreib nicht deine gesamtrussische Bedeutung. Du bist nicht besonders anziehend, das, dammich, ist wahr, aber du bist einer von uns, und das hat bisher niemand aufgehoben. Und es kann auch keiner aufheben ...« Es war einfacher, nicht zu streiten. Es war einfacher, zuzustimmen und dann zu tun, was ihm paßte. »Na schön. Überredet. Ich überleg mir's. Neunzehn Uhr, sagst du? Und was haben wir morgen - Freitag?« »Ja. Morgen, bei mir, neunzehn Uhr.« »Ich überleg mir's.« »Mach keinen Scheiß!« »Versuch ich. Und du - leb. Wenn du kannst.« »Ich hab dir doch gesagt, dammich: Mach dir nur keine Hoffnungen!« Tengis legte den Hörer vorsichtig auf, als sei er aus dünnstem Porzellan, und atmete hörbar durch die Nase aus.
»Ein unheimlicher Typ«, sagte er. »Kommt er?« fragte Olga. »Ich weiß nicht. Aber er hat Angst vor mir, also kommt er vielleicht.« »Hast du etwa keine Angst vor ihm?« Sie betrachtete sich aufmerksam im Spiegel, als sehe sie sich nach langer Pause zum erstenmal. »Ein bißchen schon.« »Aber warum? Ich habe mal mit ihm telefoniert. Er ist höflich. Und völlig harmlos, der Stimme nach zu urteilen.« »Ja. Aber das Äußere täuscht, wie der Igel sagte, als er von der Schuhbürste stieg.« »Keine Ferkeleien, bitte. Und was hat er für ein Talent?« »Er kann bemerkenswert hassen.« »Das bringt euer Sensei den Leuten also auch bei?« »Der Sensei bringt niemandem etwas bei, nichts. Er öffnet nur die Tür.« »Wie-das-wie-das ?« »Ein Mensch schaut und sieht: Vor ihm ist ein Zaun. Oder sogar eine Wand. Aus Stein. Aber der Sensei sagt: Da ist eine Tür, mach auf und geh hindurch ...« »Und?« »Und der Mensch geht hindurch.« »Und wie ist das nun mit dem Haß?« »Er ist durch die falsche Tür gegangen. Es war ein Irrtum.« »Der Sensei irrt sich?« »Ja. Und gar nicht so selten. Er hat Grischa "Eine amerikanische Tragödie" gegeben, aber Grischa hat statt dessen >Reise ans Ende der Nacht< gelesen.« »Ich verstehe nicht.« »Niemand versteht das. Glaubst du, der Sensei selber versteht es? Scheiß drauf.« »Geht es bei dir nicht ohne Kraftausdrücke?« »Gehen tat es schon, aber wozu?« »Auf Bitte der Werktätigen.« »Zu Befehl. Die Stimme der Werktätigen ist Gottes Stimme.«
»Erzähl lieber von diesem deinem Olgoi-Chorchoi. Was heißt das übrigens - >Olgoi-Chorchoi« »>01goi-Chorchoj< ist mongolisch und bedeutet »schrecklicher Wurm<. Es gibt so eine Legende, daß er in der Wüste lebt und aus der Entfernung tötet - entweder mit Giftgas oder mit einem Stromschlag.« »Und was hat dein Grischa damit zu tun?« »Hör mal, Prinzessin, wozu willst du das alles wissen?« »Er tut mir leid«, sagte Olga. »Na sowas. Du hast ihn doch nie gesehen.« »Dann erzähl doch.« »Er ist ein kleiner, dicker, immer unrasierter Mann mit starrem Blick. Sehr unsauber.« »Mit schlechten Zähnen?« »Weiß ich nicht mehr. Ich glaube, ja. Er pflegt seine Zähne nicht zu zeigen.« »Er lächelt nie.« »Nicht daß ich wüßte. Wieso sollte er lächeln? Er ist mutterseelenallein - weder Verwandte noch Freunde ...« »Warum?« »Seine Verwandten sind alle gestorben, und die Freunde hat er vergrault.« »Womit?« »Was meinst du, macht es Freude, mit einem Menschen Umgang zu haben, der bei jeder Begegnung fragt: >Du lebst noch?< Mit erstaunter Stimme.« »Ich weiß nicht. Es ist sicherlich unangenehm. Aber er fragt das doch nicht im Ernst?« »Woher soll ich das wissen? Kann sein, im Ernst. Es gab eine Zeit, da hat er zu der Truppe gehört, aber dann hat er sich abgesetzt. Ist einfach nicht mehr gekommen. Und hat nicht mehr angerufen. Ist für sich geblieben. Er sitzt in seinem Käfterchen wie ein Wolfsspinne im Loch und liest fremde Briefe.« »Wozu?« »Das ist so sein Hobby. Er kauft alte Familienarchive auf. Läuft auf Müllplätzen herum, auf allen möglichen Deponien, und sammelt alte Briefe. Wie ein Penner. Wenn ein Haus vor dem
Abriß steht, ist er zur Stelle, unser Olgoi-Chorchoi, mit Sack und Taschenlampe ... Speläologe, beschißner.« »Du kannst ihn überhaupt nicht leiden, nicht wahr?« »Wieso sollte ich ihn leiden können? Wo er uns alle doch haßt?« »Na und? Du haßt auch alle.« »Stimmt nicht. Mir wird nur manchmal einfach übel. Aber er - ja, er haßt.« »Wie kommst du darauf?« »Dann komm doch morgen zu mir - du wirst es sehen.« Olga verzog das Gesicht. »Nein.« »Was - nein?« »Ich komme nicht. Mir gefällt es bei euch nicht.« »Warum eigentlich nicht? Das wollte ich schon immer fragen.« »Ich weiß selber nicht. Ihr seid mir unheimlich. Oder zuwider. Oder unheimlich zuwider.« »Seltsam! Dabei sind das doch alles außergewöhnliche Menschen. Jeder einzelne eine Persönlichkeit. Oder ein Typ.« »Na schön. Ich will nicht darüber sprechen. Erzähl mir lieber von deinem Olgoi-Chorchoi.« »Gerade der ist von uns der Uninteressanteste, glaube ich. Ich weiß partout nicht, was ich über ihn erzählen soll.« »Wer sind denn seine Eltern?« »Die sind schon tot. Die Mutter ist gestorben, als er noch kein Jahr alt war. Der Vater wohl schon vor gut dreißig Jahren. Er hat ihn einmal mit dem Riemen verprügelt, wüst, voller Wut, für irgendeine kleine Gemeinheit, und da hat er selber gleich den Löffel abgegeben. Das Herz. Das war kein gewöhnlicher Mann ein berühmter Architekt, baute Villen für die Obrigkeit, Preisträger, Akademiemitglied, Parteigenazwale. Hat sein Leben lang gesoffen wie ein Loch. Ein Mann mit mächtigen Leidenschaften und schwacher Gesundheit. Seine Lieblingsredensart war >Auf der Welt ist alles Schwachsinn oder Pfusch< ...« Er verstummte, ging in die Küche, holte eine Büchse Gin Tonic aus dem Kühlschrank, riß sie auf, nahm einen Schluck, stutzte dann und fragte: »Willst du?« Sie ließ ungeduldig den Haarschopf wedeln und sagte: »Erzähl weiter.«
»Hm, genau weiß ich ja nichts. Nun ja, er blieb bei der Stiefmutter. Er ist, sagen wir, zehn Jahre alt, die Stiefmutter zwanzig. Nach allem, was man hört, war sie eine unbeschreibliche Schönheit und durch und durch eine Nutte ... Entschuldige, aber anders kann man das nicht sagen. Sie hat ihren Architekten um zwanzig Jahre überlebt, gesoffen wie ein Loch und sich gegen Ende ihres Lebens auch noch gespritzt. Sie hat allein in fünf Zimmern gewohnt, nach und nach alles verkauft - alle Teppiche, alles Kristall, bis zum letzten Stuhl hat kahle Wände zurückgelassen und Grischas Käfterchen, wo er sich mit irgendeiner Alten eingerichtet hatte, mit dem Dienstmädchen, die war für ihn so eine Art Arina Rodionowna ... Ach, zum Teufel mit ihm, komm her, Pfötchen.« »Wag ja nicht, mich Pfötchen zu nennen!« »Wieso denn das auf einmal?« »Weil sich das dein Robert ausgedacht hat.« »Gut. Dann werde ich dich Fuß nennen. Mein Füßchen. Der Fuß meines Schicksals. Ach, ich ertrag's nicht mehr, so nehmt den letzten Gruß: Die Hand des Schicksals schwer brach mir der Liebe Fuß ...« »Mein Gott, wie du mir auf den Geist gehst! ... Rück ein Stück.« »M-m-m-?« »Nein. Ich will nicht. Hör auf.« »Tut das Köpfchen weh?« »Alles tut weh. Ich habe übrigens den ganzen Tag gewaschen ... Laß mich.« »Wir werden aussterben!« »Keine Angst, wir sterben nicht aus. Schon allein eure berühmte Marischa sichert die Reproduktion, und das reichlich.« »Na, ich weiß nicht. Marischka hat drei Kinder. Oder vier? Hab's vergessen. Und wenn's just vier sind. El de Pres hat zwei. Robert eins. Jurka der Polygraf null, und keins in Aussicht. Dimka - null ...« »Aber dafür Andrej Jurjewitsch!« »Ja, das stimmt. Aber die sind alle unehelich.« »Was ist da für ein Unterschied?« »Keiner. M-m? ...«
»Laß mich, ich bitte dich. Wasch lieber das Geschirr ab.« »Weiß Gott, wir werden aussterben! Du wirst schon sehen, Fuß meiner Seele!« Lyrische Abschweifung Nr. 5 Giftzahns Vater oder Große Kinder, große Sorgen Er kam früh nach Hause, zog das Jackett aus, hängte es akkurat auf den Bügel und sagte seiner Frau (ohne hinzuschauen, während er den Schlips lockerte): »Wodka.« Sie schoß ins Wohnzimmer, kam mit einem Glas auf einem Tablett zurück (dreiviertel voll, auf einem Tellerchen Pickles, eine dreieckig gefaltete Serviette). Angewidert nahm er das Schnapsglas, schüttete es auf den Teppich aus, ging selbst ans Büffet und goß sich ein Weinglas voll. Trank es mit drei Schlucken aus. Zog die Luft durch die weiß gewordenen Nasenlöcher ein. Blieb ein paar Sekunden lang reglos stehen, dann fragte er (noch immer ohne sie anzuschauen): »Zu Hause?« - »Zu Hause«, flüsterte seine Frau. Zweifellos wußte sie schon alles: Sie hatten sie angerufen, alles brühwarm erzählt, sie mit ihrem freudigen Mitgefühl von Kopf bis Fuß vollgeschissen ... Schweren Schrittes (als hätte er den ganzen Tag am Bahnhof Säcke verladen) ging er durch die ganze Wohnung, die Korridore entlang, riß die Tür mit dem (bei irgendeiner Behörde gestohlenen) Schild >Bitte anklopfen< auf, trat ins Zimmer und ließ die Tür hinter sich offen: Er gedachte nur ein paar Worte zu sagen und sofort wieder zu gehen (der Haß nahm ihm die Luft, zusammen mit dem Herzrasen). Der Filius war bei seiner Lieblingsbeschäftigung: Er sah alte Papiere durch. Mit alten Papieren war sein ganzen Zimmer zugemüllt, als sei es nicht das Zimmer eines Halbwüchsigen, sondern irgend so ein beschissenes Archiv im Wohnungsamt. Und es roch durch und durch nach altem Papier, und an der Wand standen schief zwei rötliche abgeschabte Koffer - die hatte er neulich von irgendeinem Müllplatz angeschleppt, mitsamt Wanzen und Schaben.
Den Vater schaute er flüchtig an, dann senkte er den Blick -das Gesicht, eben noch rosig und aufgeregt, war augenblicklich erstarrt und gleichsam gelb geworden. Er wollte dem Jungen einen einzigen Satz sagen, aber so, daß alles darin läge. >Ist dir wenigstens klar, was du angerichtet hast?< ging es ihm wirr durch den Kopf. Was diese Scheißkerle jetzt mit mir machen werden, ist dir das klar?< Und plötzlich kam ihm in den Sinn: >Na, die rissen ihm aber den Hintern auf, daß ihm Hören und Sehen vergingt Da war ihm Halitsch eingefallen. Ausgerechnet jetzt fiel ihm Halitsch ein! Aber es paßte gar zu gut auf ihn: >Die bestellte Entrüstung entlud sich gleich und mit Auslassungspunkten gespickt; dann die Folgerung im Personalbereich: Mit Verweis an die Werkbank geschickt ...< Mit meiner Gedenkstätte ist es jetzt Essig, wurde ihm plötzlich mit erstaunlicher Klarheit bewußt. Ob ich bereue oder nicht, ob ich diesen kleinen Schmarotzer verurteile oder nicht - die Gedenkstätte kriege ich nicht mehr. Ich kriege überhaupt nichts mehr. Bis ans Lebensende werde ich Privataufträge zusammenschustern. Der Architekt Petelin ist erledigt - der ist ein für allemal im Arsch. Doch zu sagen, erwies sich sogleich, gab es nichts. Nichts hatte er diesem gelbgesichtigen dicklichen Halbwüchsigen zu sagen, dessen beide Großväter im Vaterländischen Krieg geblieben waren und der in Gesellschaft von ein paar Kumpels (und, wie sich herausstellte, schon das dritte Jahr hintereinander) Hitlers Geburtstag gefeiert hatte. Zu den Kumpels gehörten: der Sohn des Ersten Sekretärs des Bezirkskomitees, der Neffe eines Werkdirektors und Mitglieds im Büro des Gebietskomitees ... Und ihnen allen hätte er nichts sagen können, selbst wenn er sie plötzlich hier vor sich gehabt hätte. »Aber warum Hitler?« fragte er schließlich tonlos. »Erklär es, ich verstehe das nicht.« »Weil's der zwanzigste April ist«, sagte der Sohn des Chefarchitekten unerwartet bereitwillig und hob sogar den Blick zu dem Chefarchitekten, und seine Augen waren aufrichtig, rund, aber mit einem seltsamen Gelb darin. Der Chefarchitekt verstand die Antwort freilich trotzdem nicht.
»Ja, und was ist deswegen?« wollte er wissen. »Sein Geburtstag«, erklärte der Filius mit einem schwachen Lächeln. Ihm gefiel offensichtlich, wie passend er geantwortet hatte. Er selbst gefiel sich offensichtlich auf einmal - hier und jetzt. Offensichtlich hatte er seine Lage überhaupt nicht erfaßt. Das Miststück. Die Laus. »Was denn, kannst du keine Juden leiden?« fragte er aus reinem Beharrungsvermögen. Um nicht zuzuschlagen. Um das Miststück nicht an der Wand zu zerquetschen. »Wer kann die schon leiden?« antwortete der Filius träge und lässig. Und er verzog abschätzig den Mund. Den Vater schaute er jetzt überhaupt nicht an, und vielleicht bekam er gerade deswegen nicht mit, was vor sich ging. »Die können sich selber nicht leiden«, fügte er hinzu. Wie beiläufig. »Dabei war deine Mutter eine Halbjüdin«, sagte der Chefarchitekt Petelin. »Was habe ich damit zu tun?« entgegnete der Filius und fügte angewidert hinzu: »Das ist eure Sache. Kommt selber damit klar.« Da schritt Petelin senior quer durchs Zimmer auf ihn zu, schon völlig außer sich. Alles vor ihm wurde gelb, die Wände verschwammen, in den Ohren erklang ein mechanisches Heulen oder Klirren, und wie auf einen Jagdspieß, wie gegen eine Kugel traf er plötzlich auf einen gelben, steten, leuchtenden Blick. Es überströmte ihn wie eiskalter Eiter, und er fand sich auf dem Fußboden wieder, auf dem Rücken, unter sich die Trümmer eines zebrochenen Stuhles, und in die Brust schnitt es ihm wie Messer, seine letzten Minuten waren gekommen, das erkannte er sofort und nahm es hin als den letzten und endgültigen Anfall des katastrophalen Pechs der letzten Tage. Er versuchte aufzustehen, zappelte mit Armen und Beinen, stützte sich irgendwie auf den Teppich, der unter ihm wogte. Es stank unerträglich nach verbranntem Papier, der Gestank erstickte ihn, er bekam überhaupt keine Luft, und im Kopf ging ihm irgendein zusammenhangloser Unsinn herum. >Die Zähne des Gelbem, >Die Zähne des Gelben sind abgebrochen< ... (Der
Titel irgendeiner Trilogie aus der fernen Kindheit, irgendwas Patriotisches über Samurai und Grenzsoldaten, über den Chasan-See und die Besymjannaja-Kuppe ...) Er machte sich qualvoll auf dem Fußboden zu schaffen, immer noch beim Versuch, aufzustehen, und schaute den Filius an, denn nichts anderes hatte er in dem gelben Nebel vor den Augen. Wie der Filius mit der Lupe wieder in einem alten Stück Papier kramt. Wie er das Papier sorgsam hochhebt und gegens Licht hält. Wie er sein verschwommenes, schwaches, aber zufriedenes Lächeln lächelt ... Offensichtlich war es ihm gelungen aufzustehen: Er fand sich im Korridor wieder, konnte kaum die taub gewordenen Beine bewegen, er kroch die Wand entlang, mit der Brust an sie gepreßt, riß einen nach dem anderen die Stiche herunter, die in Rahmen hinter Glas in Augenhöhe hingen. ... Dann war da noch das Besucherzimmer, wo er auf dem Teppich lag, neben dem Tisch aus Rotholz, unterm Kopf ein zusammengeknülltes Tischtuch, seine Frau mit der Spritze, ihre rosa Lippen bewegen sich, die Augen sind vor Tränen gläsern, sie ist noch ganz jung, ein Mädchen, erst vor sechs Monaten haben sie geheiratet, sie hat noch so viel vor sich ... »Der Gelbe«, sagte er, und das waren seine letzten Worte. »Die Zähne des Gelben. Die Zähne des Gelben sind abgebrochen.« Siebtes Kapitel Dezember. Freitag. Etliche vorbereitende Massnahmen Das ist vielleicht eine Nacht, die Schlotte hinunter mit ihr! ... Mit diesem energischen, aber wenig intelligenten Satz auf den Lippen oder, genauer gesagt, im Kopf erwachte (kam zu sich? zur Besinnung?) Matwej Aronowitsch Wul, unter Freunden und Bekannten besser als Gromat bekannt, das heißt als der Große Mathematiker. Der Morgen hatte noch nicht richtig begonnen, aber die Nacht (eine unheimliche, wirre Nacht) kam schon mächtig ins Grübeln, und die Sterne über der etwas weiter entfernten Schonung wurden im Vorgefühl der unvermeidlichen Morgendämmerung blasser. Es war sieben Uhr morgens. Das
griesgrämige Nieseln hatte ganz aufgehört, aber auch richtiger Frost war noch nicht gekommen, nur die Ränder der Pfützen am Wege hatte dünnes Eis überzogen, und die vom Dach herabhängenden Eiszapfen waren gewachsen und sahen selbstsicher aus - nicht wie am Abend zuvor. Das Zimmer war über Nacht gründlich ausgekühlt. Der arme Wadim lag platt auf dem Bett, Nase und Stirn gegen die Wand gepreßt, die Bettdecke auf ihm sah flach aus, als sei überhaupt nichts unter dieser Decke, nur daß unter ihr einsam und rührend ein nacktes Bein mit etwas angeschmuddelter Fußsohle und riesiger knochiger Ferse hervorragte. Der Pelzmantel lag auf dem Boden und entfaltete dort seine struppigen Innereien. ... Eine unheimliche Nacht. Eine vernebelte Nacht. Als sie hier angekommen waren, hatte Wadim die ganze Zeit gefroren, er hatte heftig gezittert, übers Gesicht strömte ihm Schweiß, die Hände aber waren kalt wie Gänsefüße. Er warf immer mehr und mehr Holzscheite in den Ofen, nach einer Weile wurde es im Zimmer unerträglich warm, im Hause roch es nach Kohlengas und Rauch, er aber fror trotzdem und zitterte und mußte sich übergeben, und schließlich zog er den Schaffellmantel über, den Matwej eigens für ihn aus der Truhe des Großvaters geholt hatte. Aber das Schaffell nützte ihm auch nichts ... Und er war betrunken. Er war schon gestern betrunken gewesen, als Matwej ihn besuchen kam - für alle Fälle, Wadims Stimme hatte ihm am Telefon nicht gefallen: das trunkene, brüchige Stimmchen eines zermalmten Menschleins. De visu zeigte sich Wadims Zustand sogar noch schlechter als die Stimme am Telefon. Da war kein Wadim. Uberhaupt keiner. Vor Matwej wankte und zappelte, alle Naselang das Gleichgewicht verlierend und beinahe vom Stuhl fallend, ein verlotterter, schwitzender Mann mit weißem Gesicht und roter, tropfender Nase, der zwar entfernt an Wadim erinnerte, aber nicht Wadim war, sondern eine bösartige Karikatur auf ihn, wie sie selbst der schlimmste Feind nicht hätte ersinnen können. Er war allein zu Haus, und er war sternhagelvoll - seit langem und bitter, als habe er sich schon gut eine Woche vollaufen lassen (obwohl er gestern am Telefon noch
ziemlich menschenähnlich gewirkt und sogar auf seine übliche Art Witze gerissen hatte). »Und wo ist Sofja Jefimowna?« Auf diese durchaus harmlose und sogar natürliche Frage hin verzerrte sich sein Gesicht noch mehr, er fuchtelte Matwej vielsagend mit dem Finger vor der Nase herum (im Sinne: »N-nein, Freundchen ... das wird nichts ... versuch's gar nicht erst...«), und dann zeigte er ihm doch tatsächlich eine Feige - damit an der negativen Antwort auch nicht der geringste Zweifel blieb. Matwej verstand zunächst nicht, was diese Geheimnistuerei sollte, erfaßte aber sofort, daß Wadims Mutti nicht zu Hause war, seit langem nicht, und daß sie anscheinend nicht bald zurückkommen würde, und darum würde er, Matwej, hier sitzen müssen, sitzen und sitzen, denn Wadim in diesem Zustand alleinzulassen wäre einfach verantwortungslos, und Matwej hielt sich bei all seinen Mängeln für einen verantwortungsbewußten Menschen. Darum blieb er und trank zusammen mit Wadim den Rest einer großen Flasche mit bläulichem herben, wäßrigen Dreckszeug aus, und dann noch eine Flasche Dreckszeug (irgendeinen steinalten Fruchtlikör aus schal gewordenen Vorräten) - und weg war die Nacht. Gott sei Dank brauchte Wadim wenigstens keinen Gesprächspartner. Er redete die ganze Zeit selbst, hörte sich selbst mitfühlend zu, kicherte selbst über das, was er erzählte, unterbrach sich selbst, fing ein paarmal zu weinen an, rief sich angesichts seiner Schwäche aber selbst sofort schonungslos zur Ordnung. Drei - völlig zusammenhanglose - Geschichten gingen in seinem Gemurmel auf sonderbare Weise durcheinander. Die eine schien völlig real zu sein - von einem schrecklichen, einem Teufel ähnlichen Mann, einem Satan mit einem Stachel statt eines Zeigefingers - die Matwej schon bekannte Kaukasusgeschichte von Drohungen und Forderungen (nur daß jetzt aus ihr speziell noch hervorging, daß sie Wadim nicht schlechthin gedroht hatten - wie er es früher erzählte -, sondern ihn auch noch aufs Widerwärtigste gefoltert). Die zweite Geschichte -ohne Anfang und Ende - handelte davon, wie eine heftig aufgedrehte Gesellschaft (auf dem Bermamyt? in Kamennomost? -jedenfalls
auch dort im Kaukasus) aus der Teestube geht, hinausgeht, hinausgeht und partout nicht hinauskommt, so haben sich alle vollaufen lassen, und einen gewissen Mischka tragen sie überhaupt auf der Schulter 'raus, er kotzt in dickem graubraunem Strahl, und ein großes Jagdmesser (übrigens nicht registriert) fällt ihm aus der Scheide am Gürtel und klirrt über die steinernen Stufen ... Alles ziemlich glaubhaft und sogar recht lebensecht, man versteht nur nicht, was das Ganze soll. Und die dritte Geschichte war vollends sonderbar. Da kam ein Zelt vor, Berge (wieder), eine bewölkte Nacht mit Regen, irgendein unangenehmer Mensch namens Timofej, der auf dem Klappbett nebenan pennte ... oder vielleicht auch gar nicht pennte, sondern nur so tat ... Und plötzlich taucht in der Nähe ihres Zeltes wie durch Zauber noch ein Zelt auf... und darin ein fremder Mann ... nirgendwoher ... niemand ... tot... ermordet, zu Tode geprügelt und verunstaltet ... Und dann tauchen noch irgendwelche Leute auf, zwei, auch unklar, woher, die über dem Leichnam weinen und nebelhafte Drohungen ausstoßen, aber nicht an Wadim gerichtet, sondern anscheinend an ebendiesen Timofej, der da in seinem Schlafsack auf der Seite liegt und sich feige schlafend stellt ... Eine seltsame, wenig glaubhafte, offensichtlich zu irgendeinem Zweck (zu welchem?) erfundene Geschichte ganz ohne definiertes Ende, ja wohl auch ohne Anfang ... Im großen Zimmer von Wadims Wohnung, wo alles wirr, kaputt, schmutzig, zertreten herumlag, wo die Deckenlampe brannte und die Stehlampe neben dem Sofa auf dem Fußboden lag, wo alles verqualmt war wie in einem Kinoklo, hing eine Atmosphäre krankhaften Fieberwahns und abgestandener Angst, aus der längst schon ein vertrauter Schrecken geworden war ... Finsterer Schrecken. Bleicher Schrecken ... >Was der finstre Schrecken ist jenes, der das Spiel beginnt .. .< (ging es Matwej im Kopf herum, der völlig die Kontrolle verloren und keine Ahnung hatte, was er mit alledem anfangen sollte). >Und bleichen Schrek-ken wiederholten die Spiegel ohne Zahl ...< Er konnte nur Wadim bei den vom Schweiß glitschigen Händen packen, damit er nicht irgend etwas zerschlug, umwarf, zerschmetterte, zertrat ...
... Plötzlich klingelte das Telefon - dumpf, unter Sofakissen hervor - unverhofft wie ein plötzlicher Besucher auf der Schwelle. »Wer ist da? Mutti? Mutti, ich hab doch gesagt, du sollst nicht anrufen! Bei mir ist alles in Ordnung, ich hab nur Schnupfen ... Mutti, ich hab doch gesagt, du sollst nicht anrufen! Ruf nicht mehr an ...« Und nachdem er aufgelegt hatte, übergangslos, schon an Matwej gewandt: »Dabei hab ich ihr doch gesagt: Ruf nicht an! Das wird doch alles abgehört ... Jetzt wissen sie, wo sie ist. Sie verstecken - von wegen ...« Eine neue Zigarette, die zitternde Fland mit dem Feuerzeug, rote, schielende Augen. »Die bringen mich um - na schön. Das ist nicht das Schlimmste. Pfeif drauf. Aber die werden mich ja foltern. Werden mich zum Krüppel machen, die Schweine. Daß ich den Rest des Lebens im Rollstuhl sitze ... Ich bin einer von den kleinen Leuten, weißt du? Von den kleinen. Ich brauche nichts, ich bitte um nichts und fordere schon gar nichts. Ja, es kommt vor, daß ich ... Kommt vor. Weißt du, wie das ist? Ich sehe plötzlich so etwas wie den Zusammenhang der Dinge ... einen Weg ... auf dem alles entlangläuft wie auf Gleisen ... Aber doch nicht mehr! Warum genügt ihnen das nicht? Warum wollen sie, daß ich etwas Unmögliches mache? Das ist so klar: Wenn jemand den Weg sieht, heißt das doch nicht, daß er ihn auch bahnen kann ... Und es ist nicht einmal ein Weg. Es ist eine Röhre - aus Reton, eng, sie ruft bei mir Klaustrophobie hervor ... Ich bin ein kleiner Mann, versteht doch, um Gotteswillen. Ein kleiner ...« Das Wort >klein< ließ ihn um hundertachtzig Grad herumschwenken; er wurde plötzlich ganz wuschig: Wo war die Kleine? »Ich hab doch für morgen früh noch eine Kleine. Hab sie extra aufgehoben. Hast du sie genommen? Gib sie her, sei kein Schuft! Gib sie zurück, bitte, also ich bitte dich ... Matwej, hol dich der Teufel, verdammt, gib die Kleine her, Jude elender ...« Er kroch unters Sofa, stieß die umgefallene Stehlampe beiseite, fand das gesuchte Fläschchen, nahm es zwischen beide Hände, hielt es sich an die Wange wie ein geliebtes Kätzchen ... Matwej versuchte, ihn in die Heia zu bringen, aber keine Chance! Es trieb ihn plötzlich in die Küche - Kaffee kochen. Kaffee brauchte er auf einmal dringend, der Ärmste. Zunächst war zu hören, wie
ihm dort Geschirr herunterfiel, und dann roch es plötzlich in der Wohnung nach Gas. Wie sich erwies, hatte er alle Flammen aufgedreht, keine angezündet, sondern stand mit dem Ibrik in der Hand da und schaute mit vor Entsetzen völlig verzerrtem Gesicht durchs Küchenfenster auf den Hof, wo irgendwelche Leute (ganz friedliche, darunter Frauen) gerade in einen schwarzen >Wolga< ein- oder vielleicht auch ausstiegen. Es war schon weit nach Mitternacht, als Matwej beschloß, ihn von hier wegzubringen. Möglichst weit. Sollte er sich wenigstens in Ruhe ausschlafen, draußen in der Natur. Bemerkenswerterweise hatte Wadim nichts dagegen. Ganz im Gegenteil, er trottete sogar von selbst sogleich in den Flur, um sich anzuziehen, wobei er listig vor sich hinredete: »Angeschissen seid ihr ... kriegt mich nicht ... Heute ist Donnerstag und morgen schon Freitag ... Angeschissen ...« Im Wagen schlief er sofort ein, als sei er ausgeschaltet worden, und schlief aufs erfreulichste, ruhig und tief, doch als sie nach Chwoinoje kamen, erwachte er, und in der Datsche fing alles von vorn an, einschließlich des Gestammels von den (erfundenen und realen) Vorgängen im Kaukasus und hysterischer Versuche, die vergessene, in der Stadt zurückgelassene Kleine zu finden ... Matwej zog sich an und ging an die frische Luft. Er müßte in den Schuppen gehen, den Brennholzvorrat im Hause auffüllen, doch er blieb auf der Außentreppe stehen, atmete mit ganzer Kraft die klare Luft ein und aus, die vor Kälte stach und frisch war wie ein Fichtenzweig direkt aus dem Wald. Frostige Stille lag über der Welt, nicht einmal Hunde waren zu hören, und zwischen den Tannen hindurch leuchteten stumpf die Fenster des Nachbarhauses links, wo wie üblich überall Licht brannte und keine Menschenseele, nicht die geringste Bewegung zu sehen war, als sei das kein Häuschen, sondern ein verwunschenes Schloß. Alles war wie immer. Matwejs Shiguli stand - wohlbehalten -dort, wo er zu stehen hatte, und blinkte still mit dem roten Punkt der eingeschalteten Signalanlage. Im Haus rechts war man offensichtlich schon aufgestanden - aus dem Schornstein stieg dicker weißer Rauch -, doch auch dort war alles still und reglos.
Ja, was hast du denn eigentlich erwartet, George Dandin, dachte Matwej, während er die Außentreppe hinabging. Einen Spitzel, der mit der Schulter am Telefonmast gegenüber festgefroren ist? Oder vielleicht eine Ansammlung von Gangsterautos, die sich vor dem Tor drängen? Mach dich doch nicht lächerlich. So läuft das doch nicht. Wenn es überhaupt läuft. Eine irgendwie sonderbare Geschichte, irgendwas ist daran zuviel und stört ... Irgendwas Übertriebenes ... Er versuchte, einen vorüberhuschenden nüchternen Gedanken festzuhalten (sehr wertvoll in diesem Chaos von Fieberphantasien), doch es gelang ihm nicht, der Gedanke entwischte ihm, verschwand in der Trübnis und Finsternis verdächtiger Kunstgebilde. Jetzt mußte er warten, bis der Gedanke abermals auftauchte. Macht nichts, wir haben Zeit, warten wir. Heute ist erst Donnerstag ... Pardon, Freitag. Es ist erst Freitag, und heute treffen wir uns alle bei Tengis und werden eine Lösung finden. Wenn es eine gibt. Er trug drei Bündel Holz ins Haus und legte sie im Flur ab, machte im Zimmer Feuer, ging in die Küche und stellte den Teekessel halb voll Wasser aufs Gas. Dann kramte er die Vorräte durch. Nicht, daß überhaupt nichts zu essen dagewesen wäre, doch es war alles hoffnungslos weit vom genießbaren Zustand entfernt. Rohstoffe. Nicht einmal Halbfertiges, sondern tatsächlich Rohstoffe: Mehl, Graupen, Rüben, Möhren ... Immerhin, im Kühlschrank fanden sich Hühnereier. Drei Stück. Aber mit dem Brot sah es ganz schlecht aus: ein halber Laib Roggenbrot, steinhart, von lauter dunklen Rissen durchzogen wie ein mittelasiatischer Takyr. Als er wieder ins Zimmer kam, um noch ein paar Scheite in den Ofen zu werfen, saß Wadim schon im Bett, das Schaffell um die Schultern gezogen, und betrachtete mit einer Mischung aus Verzweiflung und äußerstem Widerwillen in einem kleinen Spiegel seine verquollene Physiognomie. »Hör mal«, sagte er. »Ist heute Mittwoch oder Donnerstag?« »Heute ist Freitag.« »Du lügst.« »Ehrenwort.« »Also müssen wir heute zu Tengis?«
»Ungesäumt.« Wadim begann zu stöhnen und sich Wangen und Stirn zu reiben, als wolle er auf diese Weise seine ganze Wirtschaft in Ordnung bringen. »Na, und wie steht es mit dem Hedging des GKO-Porte-feuilles mit Hilfe von Futures?« erkundigte sich Matwej vorsichtig. Das war eine Kontrollfrage. Wadim schwieg ein paar Sekunden lang, antwortete dann aber trotzdem - widerwillig, aber so, wie es sich gehörte: »Tut mir leid. Ich kann mich nur für eine persönliche Teilnahme am Sekundärhandel der GKO/OFZ aus dem Dealingroom verbürgen.« Gott sei Dank, sagte Matwej im stillen und hockte sich, den Schürhaken in der Hand, vor den Ofen. »Wie war ich gestern?« wollte Wadim wissen. »Unterschiedlich. Ganz in Ordnung auch. Manchmal.« »Hab ich viel zusammengequasselt?« fragte Wadim beschämt. »Oh ja. Das kann man wohl sagen.« »>Manchmal ist Kauen besser als Reden<«, teilte Wadim mit, als wolle er seine gelungene Rückkehr in die Wirklichkeit demonstrieren, und sogleich erkundigte er sich: »Und kriegt man denn in diesem Haus nichts zu beißen? Irgendwas Salziges vielleicht?« »Salz ist da«, beschied ihm Matwej. »An die zwei Kilo. Kommt sofort. Beachte, daß ich um zwölf nach Selenogorsk muß, zum Seminar. Kommst du mit oder bleibst du hier?« »Ich überleg's mir«, sagte Wadim. Bis Mittag hatte Tengis drei Spritis behandelt und begab sich, angefüllt mit quälendem Abscheu vor sich selbst und dieser ganzen Welt, in die Dondurejew-Straße Nummer sechs. Gegenüber war ein Cafe, und sämtliche Leute aus dem Lager des Ajatollahs pflegten in diesem Cafe zu Mittag zu essen. Tengis besetzte ein Tischchen am Fenster und bestellte Tschachochbili von Hammelfleisch, Salat und Chatschapuri. Was er trinken wolle? Mineralwasser bitte. Irgendeins. Aus fünftausend Meter Tiefe? Sehr schön, bringen Sie dieses ...
Jenseits des Fensters lag eine saubere, stille kleine Straße ohne Autos und fast ohne Passanten - der trockene Asphalt der Fahrbahn, das mit Platten gepflasterte Trottoir ohne einen einzigen Zigarettenstummel - und auf der Seite gegenüber ein hellgelbes einstöckiges, einzeln stehendes Haus mit rührenden Türmchen auf dem Dach, mit zwei breiten (einladenden] Durchfahrten zum Innenhof beiderseits eines luxuriösen Portals, an dem makellose Glasscheiben und geschnitztes schwarzes Holz glänzten. Und kein einziger Wachmann in Sichtweite. Nicht einmal die üblichen blind wachsamen Kameras. Und natürlich erst recht -an der Wand neben der Auffahrt - keinerlei Schilder mit vergoldeten Buchstaben, keine Reklameplakate, Neonaufschriften am Rand des Daches und derlei kommerzielle Banalitäten. Das strenge, aber einladende Haus eines sehr reichen Menschen. Kein Auto auf der Aufahrt, dafür waren in der Tiefe des Hofes mehrere zu sehen, und allesamt luxuriös. Während Tengis ohne Hast das Tschachochbili aß, fuhr ein schwarzer Wagen auf den Hof (anscheinend ein Rolls-Royce, aber wer konnte die jetzt schon auseinanderhalten), und ein Mann mit Diplomatenköfferchen kam zu Fuß (irgendwoher von rechts) und betrat das Gebäude völlig ungehindert durch das Portal. Und weiterhin waren keinerlei Anzeichen einer getarnten Wache oder auch nur irgendeines alttestamentarischen Pförtners (mit Tressen von Kopf bis Fuß) zu beobachten. Das alles sah ziemlich seltsam aus, aber wiederum nicht übermäßig seltsam. Immerhin hatte der Volksmund den Ajatollah zu einem Manne erklärt, der niemanden fürchtete und den im Gegenteil alle fürchteten. Alle ohne Ausnahme. Von A bis Z. Außer mir, dachte Tengis mit boshafter Befriedigung. Und außer unserem Andrej Jurjewitsch, versteht sich ... Übrigens, ob der nicht einmal Angst vor den Zahnklempnern hat, der verdammte Furchtbezwinger? Das kann doch nicht sein. Ich muß ihn unbedingt fragen. Aha. Und er erzählt als Anwort den neuesten Witz über Zahnklempner und lacht kurz - sein eisiges Lachen, von dem es jeden Sterblichen sonderbar fröstelt und das Herzchen sich zusammenkrampft ... oder vielleicht das Seelchen?
Unterdessen taten sich die prächtigen Flügel des Portals auf und spuckten eine erste Portion Büroangestellte aus. Tengis schlürfte langsam das eisige Wasser, das jemand in der Tiefe von fünftausend Metern aufgestört hatte, und schaute zu, wie sie fächerförmig ausschwärmten - die einen gingen nach rechts, andere nach links aus dem Blickfeld, und wieder andere kamen geradewegs herüber unter das gastliche Dach des Spezialrestaurants mit dem donnerbrodelnden Namen Schaschlik Tschebureki. Einer nach dem anderen tauchten sie in der Tür auf, alle leicht gekleidet, ohne Mantel und ohne Hut, allesamt Stammgäste: Ohne Eile nahmen sie ihre wohlbekannten, ersessenen Plätze ein, tauschten lebhaft gastronomische Bemerkungen aus, und manchmal riefen sie ungeniert quer durch den Saal, redeten freundschaftlich mit den Kellnern, bestellten »das Übliche, Wolodja«, und Tengis spürte auf sich etliche fragende und wohl sogar wachsame Blicke, und zwei massige Kerle musterten ihn von der Tür her geradezu feindselig - anscheinend hatte er ihren gewohnten verdammten Tisch besetzt. Doch nachdem sie nur einen Augenblick an der Schwelle gezögert hatten, kamen sie trotzdem heran, und ohne um Erlaubnis zu bitten, wie das unter anständigen Leuten üblich ist, zogen sie die Stühle gegenüber von Tengis nach Hausherrenart energisch zurück, schauten ihn abermals unverhohlen feindselig an, und nachdem er diese Blicke geistesabwesend-gleichmütig hinnahm (er saß mit halb geschlossenen Augen zurückgelehnt da und nippte an seinem exotischen Getränk), hörten sie auf, ihn zu fixieren, und riefen nach einem Kellner namens Tolja, der auf den Spitznamen (denn sein Familienname konnte es kaum sein) Maradona hörte. Zweifellos waren das Wachleute (>Wachstrukturen<) - kräftige junge Burschen mit gleichermaßen kegelförmigen Köpfen, mit kämpferisch kurzem Haar und nicht minder kämpferischen eckigen Schultern zu jeweils fünfundsiebzig Zentimeter Breite. Freilich ähnelten sie einander nur in den allgemeinen Umrissen und wohl auch im Auftreten, mehr aber nicht. Der, der sich Tengis gegenübergesetzt hatte, war ein rechter Schönling, mit dunklem Teint, weißblondem Haar und schwarzen gemalten
Brauen, breiter als die Schultern, das hagere Gesicht eines Asketen und Filmhelden. Der andere sah weitaus weniger vorteilhaft aus: eine Fresse wie eine rosige Sechzig-Kilo-Hantel, die Seiten und der Bauch quollen aus dem Jackett heraus, und er war sogar weniger kräftig als vielmehr fett - ein helläugiger Eber, Fleisch und Fett, eine menschliche Sackgasse der Evolution ... Sie bestellten Tschanachi und wurden blitzartig bedient, als habe man in der Küche schon seit dem Morgen gewartet: Jetzt kommen gleich der Eber und der Schönling, und dann muß sofort ... augenblicklich ... unverzüglich ... Tengis schaute zu, wie sie große Schlucke aus ihren Bechern nahmen, das Lawasch in Stücke rissen, von den Salatbüscheln abbissen - gierig, zügig, eifrig -, als führten sie eine vertraute und geliebte Arbeit aus; er wartete, bis sie mit dem Tschanachi fertig waren und sich den Tschebureki zuwandten, die man ihnen frisch vom Rost serviert hatte, und dem >Tuborg<jDosenbier - sich alldem genauso gierig, eifrig und geschickt zuwandten, und ebenso schweigend ... Er bereitete sie vor, brachte sie in den erforderlichen Zustand, vorsichtig, unmerklich, so daß weder sie selbst noch - Gott behüte! - jemand anders es bemerkte, und als der Augenblick gekommen war, schaltete er den Eber aus und gleichzeitig den Schönling ein, da ihm letzterer verständiger und brauchbarer erschien. Der begann sogleich bereitwillig und schnell zu reden, als liege es ihm schon lange auf der Seele, als habe er schon lange auf solch eine seltene Gelegenheit gewartet - begann wortreich und sogar umständlich, mit angemessen gesenkter Stimme einem guten Menschen von dem zu erzählen, was ihm am wichtigsten war, am Herzen lag, sein Ureigenstes. Sonderbarerweise erwies sich seine Rede als unerwartet korrekt, durchaus intelligent, fast ohne Vulgarismen und ganz ohne die jetzt allgemein üblichen geistund geschmacklosen Kraftausdrücke. Er redete freilich irgendein dummes Zeug über die Aussichtslosigkeit seines gegenwärtigen Daseins, über den Dschungel des Lebens, über seine Potenzprobleme, die er neuerdings hatte, anscheinend wegen nervlicher Überlastung Tengis unterbrach ihn ohne jede Rücksicht und erkundigte sich beiläufig, ob der Chef jetzt am Platz sei. Es erwies sich, daß man
ihn heute noch nicht gesehen hatte, aber andererseits, sehen Sie, woher solle er, der Schönling, das wissen - ob der Chef am Platz sei oder unterwegs, er, der Schönling, sei in der Firma ein kleines Licht, er lebe, wie es befohlen werde, Sie wissen, wie es heißt: >Stößt man uns, dann falln wir um, schickt man uns, dann gehn wir los<, überhaupt habe er ja eigentlich den Chef noch nie richtig zu Gesicht bekommen, ausgenommen damals natürlich, als er ihm über die Tapeten Bericht erstattete ... Was denn nun wieder für Tapeten? Über die abwaschbaren, mit Drachen, göttlich schön, aus Japan ... oder aus China? ... Schon gut, sagte Tengis zu ihm. Keine Einzelheiten. Und wo sitzt er, der Chef, wie kommt man zu ihm? Wie sich zeigte, saß der Chef im ersten Stock, im Weißen Saal, und einfach so zu ihm gehen könne man nicht, da müsse man sich erst anmelden ... bei der Sekretärin ... bei ihm ist da immer eine Sekretärin auf Posten - soll eine ausgesprochen böse Möse sein, entschuldigen Sie den Ausdruck ... Da tauchte der in sich versunkene Eber plötzlich aus dem Nichts auf (wohl von dem kräftigen Ausdruck geweckt) und erkundigte sich heiser und feindselig: »Wieso quasselst du hier plötzlich los? Quasselkopp, bescheuerter.« Tengis bedachte ihn mit einem kurzen Blick unter gesenkten Brauen hervor, und der Eber gab sofort Ruhe. Verstummte. Nahm einen Schluck aus der Dose - gründlich, als hole er tief Luft vorm Tauchen. Und tauchte ab. Und weg war er. Tengis konnte in Ruhe weiterarbeiten, doch leider war aus dem Schönling schon nichts mehr herauszuholen. Und er wußte auch gar nichts. »Kolja und ich sind auf dem Parkplatz eingesetzt. Wir sind für die Wagen zuständig. Ranholen, wegfahren. Durchchecken, überprüfen. Sichern. Im Haus haben wir ja eigentlich nie zu tun. Sie sollten nicht mit uns reden, sondern mit jemandem von den Sachbearbeitern. Die Mädchen, die da sitzen, die sind aus dem Büro ...« Tengis ließ ihn los. Er ließ sie beide los, und sogleich standen sie auf, stellten die Stühle ordentlich an ihren Platz, verabschiedeten sich mit einer ungelenken Verbeugung und gingen ihrer Wege, wobei sie noch aus ihren Dosen tranken - groß, schwer,
unbegabt ... Aber der Schönling sah dabei trotzdem ganz und gar nicht übel aus: hübsch, nicht einfach massig, sondern sportlich elegant und sogar schön - ein erfreulicher Anblick. Als Mensch aber offensichtlich eine Null, und noch dazu mit dem geistigen Horizont einer knienden Ameise. Na, Gott mit ihnen beiden ... Die Mädchen aus dem Büro hatten unterdessen unter Klirren und Scheppern irgend etwas auf ihrem Tisch umgestoßen, irgendeinen Krug mit Saft - augenblicklich schwamm der Tisch, es tropfte auf den Fußboden, Gabeln und Löffel flogen beiseite die Mädchen waren lauthals lachend aufgesprungen, brachten Klamotten und Täschchen in Sicherheit, schon eilte der Kellner Maradona zu ihnen, überhaupt nicht böse und bereit, zu dienen und zu bedienen, die Mädchen aber schauten sich um, sahen die freien Plätze und kamen plappernd zu Tengis an den Tisch, ohne etwas von den Vorgängen begriffen zu haben und schon völlig bereit zum sofortigen Gebrauch. Er wartete freilich, bis Maradona ihnen von dem ruinierten Tisch ihr kaum angeknabbertes Chatschapuri brachte und einen neuen Krug für sie beschaffte und die Reste vom Festmahl der Wachstrukturen wegräumte - sie indes kicherten die ganze Zeit lebhaft miteinander und >plapperten, plapperten, plapperten, die verdammten dummen Hühner< (ganz wie in Andrej Jurje-witschs Lieblingswitz über den jung verheirateten Mann und seine Eindrücke vom neuen Familienleben). Tengis schienen sie überhaupt nicht zu beachten, doch er wußte, daß sie ihn aufmerksam und durchaus professionell taxierten und sich in bezug auf ihn nicht sicher waren (ob er nun Aufmerksamkeit verdiene oder nur so ein bißchen Schaum am Straßenrand sei), und er wartete nicht ab, bis sie selbst ihre Wahl trafen, sondern nahm sie ins Gebet, daß die Rippen nur so knackten, und im Laufe von zehn stillen, intim-vertraulichen, fast verliebten Minuten erzählten sie ihm der Reihe nach alles, was sie wußten, und alles, was sie nur ahnen konnten, und alles, was sie gehört hatten, aber selber nicht recht glaubten ... Bunt wie tropische Schmetterlinge und ebenso hirnlos. >Mit den Flügelchen klapp, klapp. < Beide waren sie niemand und nichts. Ermüdend prächtige Weibchen, widerlich-göttliche Gefäße zur
Aufnahme gewisser Überschüsse der Lebensprozesse eines sich ergötzenden Organismus ... Kätzchen. Berauschend stinkende giftige Kätzchen. Zweibeinige Luxusmaschinen zum vielfachen Verkehr ... Er schloß die Augen, um das Bild loszuwerden, das sich ihm aufdrängte, und beide, sofort befreit, verstummten erschrocken, als lauschten sie den Echos ihres eigenen sinnlosen und gefährlichen Geplappers; ihre Hühnergehirne, die nichts begriffen, spürten eine finstere Bedrohung, Furcht erfaßte sie, Unbehagen - eisiger Winter drängte in die offenherzigen Ausschnitte ihrer Kleider und ließ sie eisig erstarren, überzog die luxuriöse Atlaspelle mit Gänsehaut ... Ohne sich abzusprechen und ohne aufzuessen sprangen sie auf und eilten verzweifelt zum Ausgang, schwenkten die farbigen Täschchen an den langen Riemen und hätten um ein Haar zu rennen begonnen, nahmen nichts ringsum wahr, sahen nicht die fröhlich erstaunten Blicke der Kollegen, hörten nicht die spöttischen Fragen und die Anspielungen auf Verdauungsvorgänge ... Er versuchte nicht einmal, sie zurückzuhalten. Er hatte schon alles erfahren, was er wissen wollte. Oder fast alles. Sagen wir: viel und genug. Denn alles wußte nicht einmal der Ajatollah selbst. Er schaute über die Straße hinweg zu dem einladenden Haus des reichen Mannes. Des Mannes und Gebieters ... Jetzt auf der Stelle hingehen, dachte er. Und alles selbst tun. Abrupt. Ratzbatz. Er stellte sich vor: wie er eintritt, wohin er sich wendet, auf welcher Treppe er hinaufgeht, was er zu wem sagt ... Der resultierende Film kam ihm durchaus wahrscheinlich und sogar glaubhaft vor. Jetzt auf der Stelle. Ohne sich auch nur anzuziehen (die Kutte hier in der Garderobe lassen - sagen, er werde gleich wiederkommen). Die Sache zu Ende bringen, das Miststück zermalmen, und bis fünfzehn Uhr dreißig könnte er es noch zur Dispensairebehandlung in der Barmalejstraße schaffen ... Er suchte Blickkontakt zu Maradona und beorderte ihn heran, um zu bezahlen. Das Wasser aus fünftausend Metern Tiefe hatte er nun doch nicht ausgetrunken. Hatte es nicht bewältigt. Einfach nur Wasser - was finden die Leute bloß daran?
Zur selben Zeit hatte Andrej Jurjewitsch Beljunin (unter seinen Freunden der Furchtbezwinger genannt) eine Unterredung mit Kornej Awerjanowitsch Jessaulow, in gewissen Kreisen vor allem als >Korn< bekannt, außerdem als >Jessaul<. Das Gespräch fand in einer neuen, absolut leeren Mehrzimmerwohnung eines neuen, eben erst erbauten elitären Hauses statt, die verhandelnden Parteien saßen auf großen Kisten mit irgendeiner luxuriösen Apparatur (außer den Verpackungskisten gab es nichts in der Wohnung, diese Kisten dafür in großer Anzahl), beide rauchten >Marlboro< und stippten die Asche auf eine zwischen ihnen auf dem Fußboden ausgebreitete Nummer der großformatigen Zeitung >Tag X<. Die Stimmen klangen in dieser riesigen Wohnung etwas seltsam, mitunter schienen sogar Resonanzen aufzutreten, es roch frisch nach Farbe, nach Lack, alles ringsum glänzte und funkelte - die Rahmen und Füllungen der Türen, der Fußboden, auf dem ein schlechthin undenkbar kostbares dreifarbiges Parkett gelegt war. Der Hausherr entsprach all dieser Pracht vollauf: ein nagelneuer grauer Mantel bis zu den Knöcheln, bordeauxroter Schlips (schwarz changierend), ein blasses, aristokratisch langgezogenes Gesicht, ideal rasiert, inspirierte hellbraune Locken nach Art des jungen Beethoven - vor Andrej saß zweifellos ein russischer Edelmann in der zehnten Generation, ein Abkömmling der Turgenjewschen Adelsnester, ein wunderbarerweise erhalten gebliebenes elitäres Exemplar - nur die Augen verrieten ihn, der vorsichtige, unstete Blick eines erfahrenen Raubtiers durchaus von dieser Welt, und zwar in der schmutzigsten und entsetzlichsten Erscheinungsform dieser Welt. Freilich, das alles waren Spiele einer unruhigen Phantasie. Andrej wußte einfach, wen er vor sich hatte, und dieses Wissen prägte auf ganz natürliche Weise die Wahrnehmung. Und das war gut so: Bei diesem Jessaul mußte man auf der Hut sein. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. »Und wieso hat Alexander Alexandrowitsch nicht selbst Verbindung zu mir aufgenommen?« erkundigte sich der Jessaul wie nebenbei, während er die rauchende Spitze seiner Zigarette
zu betrachten schien, in Wahrheit aber äußerst aufmerksam, aus den Augenwinkeln, seinen Gesprächspartner beobachtete. »Er ist verreist. Weit weg. Sehr weit.« Der Jessaul nickte und gab so zu verstehen, daß ihn die Antwort zufriedenstellte, und sofort fragte er wieder etwas, und wieder wie beiläufig: »Und wie haben Sie ihn kennengelernt, Andrej Jurjewitsch? Wenn es kein Geheimnis ist, versteht sich.« »Es ist kein Geheimnis, versteht sich. Ich habe mit ihm zusammen Shambala gesucht.« »Haben Sie's gefunden?« »Nein. Haben wir nicht. >Dann kam der Förster und jagte alle zum Teufel ...< Das ist so ein Witz!« erklärte Andrej eilends auf einen kurzen, augenblicklich auf ihn einstechenden mißtrauischen Blick hin (als sei plötzlich ein Wespenstachel aus der gestreiften Scheide gefahren). »In Wahrheit sind die Grenztruppen über uns gekommen und haben uns mitsamt all unserer Habe und den Genehmigungspapieren dazu abgeschoben. Chinesische Grenzer - das ist eine ernste Sache, kann ich Ihnen versichern.« »Oh ja!« stimmte der Jessaul zu und machte eine Miene, als habe er sein ganzes bewußtes Leben hindurch just und ausschließlich mit chinesischen Grenzern zu tun gehabt. (Freilich, wenn man es recht bedachte: Weiß Gott, mit wem alles er es zu tun gehabt hatte, dieser bemerkenswerte Mann, in den unglaublich langen, unwahrscheinlich langen sechsunddreißig Jahren seines Lebens ... vielleicht auch mit Chinesen.) »Womit also kann ich Ihnen denn nun dienen?« erkundigte er sich, leicht nach vorn gebeugt, während er seinen Zigarettenstummel sorgfältig an der Zeitung ausdrückte. »Alexander Alexandrowitsch hat Sie mir als jemanden empfohlen, der alles über alle weiß.« Der Jessaul deutete eine Verbeugung an. »Danke. Aber das haben Sie schon gesagt. Was konkret interessiert Sie?« »Alexander Alexandrowitsch hat Sie auch als jemanden dargestellt, der Vertraulichkeit verlangt, aber auch selbst völlige Vertraulichkeit garantiert.«
»Unbedingt. Also?« »Mich interessiert der Mann, den alle den Ajatollah nennen.« Diesmal antwortete der Jessaul nicht sofort. Offensichtlich hatte er etwas ganz anderes zu hören erwartet - sein langes Gesicht schien noch länger zu werden, er wirkte, als sei er enttäuscht von dem Gehörten. Oder beunruhigt. Oder vielleicht gekränkt? ...»Ich hoffe, ich trete Ihnen mit dieser meiner Bitte nicht zu nahe?« erkundigte sich Andrej. »Falls doch, dann ...« »Nein, nein, keineswegs. Aber ist Ihnen klar, wie gefährlich derlei Fragen sind?« »Das ist mir klar«, sagte Andrej mit einem beruhigenden Lächeln. »Ich fürchte, es ist Ihnen nicht klar«, entgegnete der Jessaul scharf. »Aber das geht mich übrigens gar nichts an. Also, was genau wollen Sie wissen?« »Eigentlich interessiert mich alles, aber ich verstehe ... Sie benötigen konkrete Fragen ... Gut, beginnen wir ganz von vorn. Name?« »Er heißt Chan Awtandilowitsch Hussainow.« »So eine sonderbare Zusammenstellung von Namen! Ein Tatar?« »Kann sein. Aber geboren wurde er neunzehnhundertsiebzig in Leningrad. Der Vater war ein bekannter Dekorateur, ist früh gestorben. Chan wuchs ohne Vater auf. Hat das Militärmechanische Institut absolviert, Elektronikspezialist. Ins Geschäft ist er mit Computern eingestiegen, jetzt befaßt er sich mit allem nur Denkbaren: Elektronik, Autos, Werkzeugmaschinen, Erdöl, er hat eine Restaurantkette ...« »Glücksspiele?« »Nein.« »Drogen?« »Nein. Nichts Illegales. Niemals. Prinzipiell.« »Frauen? Männer?« »Nein. Eine Ehefrau, ein kleiner Sohn, sein ein und alles. Ein vorbildlicher Familienvater, und das betrachtet er als die Norm.« »Schwächen?« »Kommt darauf an, was man dafür hält«, entgegnete der Jessaul. »Stimmt. Wie steht es mit den sieben Todsünden?«
Der Jessaul überlegte. »Völlerei vielleicht - er ißt gern, schmackhaft und viel.« »Krankheiten?« »Keine.« »Phobien?« Der Jessaul lächelte plötzlich. »Da ist etwas. Er fürchtet sich vor Spinnen, Käfern, Schaben - eine Heidenangst! Wie ein Kind.« »Klar. Arachnophobie. Kommt vor. Trinkt er?« »Nur grusinischen Wein, halbtrocken. Twischi, Achascheni, Chwantscharka, Kindzmarauli ...« »Wie der Genosse Stalin.« »Dem Genossen Stalin ähnelt er kaum.« »Aber dessen Grundprinzip vertritt er ja mit Erfolg: >Mensch weg - Problem weg.«< Der Jessaul wiegte den Kopf. »Das ist nicht bewiesen«, sagte er. »Es ist kein einziger Fall bekannt, daß er seine ... Konkurrenten ... physisch beseitigt hätte ... oder sonst jemanden. Er hat völlig andere Methoden.« »Ach so? Welche denn?« »Ich würde sagen: schonende. Er ruft jemanden zu sich und redet mit ihm. Wie, worüber - das hat noch niemand erzählt. Aber nach dem Gespräch ist der Betreffende nicht wiederzuerkennen. Ein anderer Mensch.« »Durchweg friedfertig?« »Überhaupt - ein anderer. Insbesondere durchweg friedfertig.« »Und lächelt die ganze Zeit. Wie jenes Mädchen.« »Welches Mädchen?« »Das artige Mädchen. Das auf der Baustelle immer einen Helm trug. Während der ungehorsame Junge keinen trug. Und auf beide fiel Bauholz herab. Der Junge - zerquetscht, aber sie geht ihrer Wege und lächelt nur ...« »Ja. Ich erinnere mich. >Und seither geht sie immer mit einem Helm herum und lächelt pausenlos ...< Nun ja. So ähnlich. Sehr sogar.« »Schreckliche Dinge erzählen Sie mir, Kornej Awerjanowitsch.« »Sie wollten es ja so, Andrej Jurjewitsch.«
»Und was, wenn jemand, den er zu sich eingeladen hat, plötzlich solch eine Ehre ablehnt?« »Ich weiß nicht. Solche Fälle sind noch nicht beobachtet worden. Verbürgen kann ich mich übrigens nicht dafür. Ich weiß es einfach nicht. Es gibt darüber keine Information.« »Gut«, sagte Andrej. »Das heißt: überhaupt nicht gut, aber alles sehr interessant und nützlich. Und wie steht es bei ihm mit einem Hobby?« »Na, sein wichtigstes Hobby ist die Arbeit. Aber es gibt noch ein paar zusätzliche Neigungen. Beispielsweise sammelt er alte Waffen - Schwerter, Rüstungen, Pistolen ...« »Ich habe zwei altertümliche Pistolen«, sagte Andrej. »Von den Vorfahren geerbt. Sehr alte, aus der Zeit Puschkins, wenn nicht noch älter. Eine sogar mit Bajonett.« »Mit Bajonett? Wozu?« »Wozu schon: Geschossen, nicht getroffen - also durchlöchert man den Busurman mit dem Bajonett.« »Klar ... Ja, das ist es. Haben Sie vor, sie ihm zu verkaufen?« »Kann sein.« »Hm.« »Na, vielleicht nicht verkaufen«, sagte Andrej leichthin. »Vielleicht verschenken.« »Ein toller Einfall«, bemerkte der Jessaul und zündete sich eine neue Zigarette an. »Spotten Sie nicht. Sie denken womöglich sonstwas von mir, aber ich will ja bloß eins: mich mit ihm treffen, mit ihm reden, mich anfreunden, ihn um etwas bitten.« »Das ist nun gerade ganz einfach«, entgegnete der Jessaul. »Dondurejew-Straße sechs. Dort hat er sein Büro. Er ist dort jeden Tag, den der Herrgott werden läßt, einschließlich Samstag und Sonntag, von zehn bis sechs. Bittesehr: gehen Sie hin, melden Sie sich an ...« »So einfach?« »Nichts ist einfacher.« »Jeden beliebigen Tag?« »Jeden beliebigen Tag. Wenn er überhaupt in der Stadt ist, natürlich.«
»Bemerkenswert«, sagte Andrej. »Und wo wohnt er?« »Zu Hause empfängt er nicht. Niemals und niemanden.« »Ach, so ... Und trotzdem?« »Wenden Sie sich an die Adressauskunft«, sagte der Jessaul kalt. Eine Zeitlang schwiegen sie. Der Jessaul rauchte, warf ruhig und erwartungsvoll ab und zu einen Blick auf Andrej. Er sah jetzt aus wie jemand, der lange gezögert, endlich eine bestimmte Entscheidung getroffen hatte und nun bereit war, wenn nötig bis in die Nacht hier zu sitzen. Aber das waren wohl nach wie vor und zweifellos immer noch dieselben Spiele einer gereizten Phantasie. Andrej zog ein langes, schmales Kuvert aus der Brusttasche und reichte es mit einer halben Verbeugung dem Jessaul. Und da kam es zu einer Stockung. Eine lange Sekunde, womöglich sogar zwei schaute der Jessaul das Kuvert an und verharrte reglos, und Andrej fiel sogleich wieder ein, was man ihm diesbezüglich gesagt hatte: >... wenn er es aber nicht nimmt, dann bete zu Gott. Dann solltest du besser gleich wegfahren, möglichst weit weg, ins Ausland, nach Tasmanien ...< Endlich streckte der Jessaul die Hand aus und nahm das Kuvert entgegen (ohne hineinzuschauen, steckte er es in die Manteltasche, als sei es das Wechselgeld für einen Zehner), Unterdessen fiel Andrej auch der Anfang des Satzes ein: >Wenn er das Honorar nimmt, hat das noch gar nichts zu bedeuten, wenn er es aber nicht nimmt ...< »Ich danke«, sagte der Jessaul höflich. »Ich hoffe, Sie sind zufrieden?« »Vollauf.« »Vielleicht haben Sie noch Fragen?« »Wohl kaum.« »Dann hören Sie sich einen kostenlosen Rat an: Lassen Sie dieses Vorhaben sein.« »Welches Vorhaben?« »Ich weiß nicht. Das wissen Sie besser. Jedenfalls - lassen Sie es sein. Es wird nichts draus. Sie sind nicht der Erste und auch nicht der Letzte.«
»Und warum glauben Sie, daß nichts daraus wird?« »Na, zum Beispiel«, sagte der Jessaul, »weil ich ihn natürlich über dieses unser Gespräch informiere.« »Ha!« sagte Andrej gut aufgeräumt. »Raffiniert! Und was ist mit der Vertraulichkeit? Sie haben doch völlige Vertraulichkeit versprochen.« »Ich habe Sie gewarnt, daß Sie gefährliche Fragen stellen.« »Es gibt keine gefährlichen Fragen, nur gefährliche Antworten.« »Stimmt. Aber im gegebenen Fall ist das ein und dasselbe.« »Gott sei Dank, daß Sie nichts über mich wissen«, sagte Andrej. »Sie sind ein gefährlicher Mann, Kornej Awerjanowitsch. Sie sind gefährlicher als meine Fragen und erst recht gefährlicher als Ihre Antworten.« »Wie kommen Sie darauf daß ich nichts über Sie weiß? Ich weiß über Sie alles, was ich wissen muß, und dazu noch eine Menge unnützes Zeug.« »Ja? Zum Beispiel?« »Ich weiß, wie alt Sie in Wahrheit sind. Wie oft Sie verheiratet waren, wie viele Kinder Sie haben, wie viele Enkel. Ich weiß, wie Sie Shambala gesucht haben. Der Berg Kailas. Das Tal des Todes. Die Heimstatt des Hungrigen Teufels ... Alles weiß ich. Wie Sie Kala-i-Mug ausgegraben haben und was daraus geworden ist. Wie Sie nach dem >Schwarzen Prinzen< getaucht sind ... Eine lange Aufzählung. Sie sind furchtlos, dabei aber sehr berechnend, die Abwesenheit von Furcht geht bei Ihnen einher mit einer tierischen, entschuldigen Sie den Ausdruck, Genauigkeit des Verhaltens: Sie wählen jedesmal instinktiv die richtige Route, die schlaueste Finte, um die Gefahr zu vermeiden. Sie singen hervorragend und klimpern nicht übel auf der Gitarre ... Und vieles mehr. Soll ich fortfahren, oder?« Andrej hörte sich das alles an und wahrte eine durch und durch wohlwollende, dabei aber ironische Miene. Statt einer Antwort zitierte er: »Und Iwan Dummkopf heiratete Wassilissa die Weise, und nun hieß sie Wassilissa Dummkopf ...« »Ja, ja, davon habe ich auch gehört: Ein großer Kenner von Witzen.« »Oh, yes! Da bin ich in meinem Element.«
Der Jessaul zuckte mit den Schultern. »Dann erzählen Sie den letzten«, schlug er vor. »Den letzten«, fragte Andrej nach und lächelte. Der Jessaul antwortete nicht. Er schwieg, und seine durchsichtigen Augen waren auf einmal reglos wie auf einem Foto. »Bitte«, sagte Andrej. »Lenin und Dzierzynski sind in die Pilze gegangen. Und plötzlich taucht hinter den Bäumen noch irgendein Pilzsammler auf. Lenin packt Dzierzynski am Mantel und schreit: >Felix Edmundowitsch! Mein Beste'g! Wo'gauf wa'gten Sie denn. Schießen Sie doch, schnelle, Dzierzynski peng-peng! Lenin läuft zu der Leiche, dreht sie mit dem Fuß um und sagt zufrieden: >Bestimmt wiede'g ein Menschewiki« Der Jessaul lächelte - aus reiner Höflichkeit. »Das soll der letzte sein? Dieser Witz hatte schon einen grauen Bart, als ich noch unterm Tisch durchspaziert bin.« »Sicherlich. Ich habe ihn rein instinktiv erzählt.« »Was heißt?« »Dieses Wörtchen bei Ihnen - >der letzte< -, wissen Sie, das hat mich drauf gebracht.« Der Jessaul lächelte abermals, und wieder völlig lustlos. »Ja. Sie sind nicht von der schüchternen Sorte, Andrej Jurjewitsch.« »Kein Zweifel. So ist es in der Tat, Kornej Awerjanowitsch: überhaupt nicht von der schüchternen Sorte. Geben Sie das so weiter.« Mit dieser optimistischen Note kam die Unterredung zum guten Ende. Ganz ohne Opfer und Sachschaden. Und jetzt konnte er ruhigen Gewissens zu Tengis gehen. Er war schon spät dran, aber das war nun mal nicht zu vermeiden. Alle verspäten sich hin und wieder. Nur der kommt nie zu spät, der überhaupt nichts tut ... Achtes Kapitel Dezember. Immer noch Freitag. Die Mannschaft ist beisammen
Natürlich kam niemand pünktlich zur festgelegten Zeit. Zuerst erschienen - nur um zehn Minuten verpätet: Marischka, beladen mit Beuteln voll Lebensmittel, und Kostja-Beelzebub mit zwei Flaschen >Kristall<. Es war jedoch niemand in der Wohnung, und nachdem sie solcherart das Schlüsselloch geküßt hatten, machten sie es sich wie gewohnt auf dem Treppenabsatz neben dem Müllschlucker bequem und rauchten jeder eine Zigarette. Sie unterhielten sich hauptsächlich über die Skandale um die bevorstehende Wahl sowie über das seltsame Verhalten des Dollars. Ihre Wahlpräferenzen stimmten nicht überein. Marischka gedachte, für den Intelligenzler zu stimmen, Kostja aber hielt den Intelligenzler für einen Langweiler, einen Tölpel und einen Schwätzer. Er war für den General. Sehnsucht nach Oberst Skalosub habe er, sagte ihm Marischka ärgerlich. »Er stellt euch in zwei Reihen aufj und wer sich muckst, kriegt gleich eins drauf ...« Wird ja auch längst Zeit, entgegnete Kostja unversöhnlich. Wir müßten längst in zwei Reihen stehen, und eins draufkriegen auch, daß Ruhe ist ... Es wird viel zuviel gekläfft, weißt du. Möpse ... Lang, dürr, lauter Ecken, Ellenbogen, Hebel und Scharniere, mit seinem ewig grünen bodenlangen Mantel, ähnelte er weniger Beelzebub als vielmehr Duremar. Und er war ja auch in gewissem Sinne Duremar. Nur daß Duremar Blutegel liebte, Kostja aber all die kleinen Wesen. Ohne jede Ausnahme. (Blutegel liebte er auch. Und sie ihn.) Doch am meisten liebte er Gliederfüßer - vergötterte, achtete, schätzte sie, sang bei jeder Gelegenheit ihr Loblied, es fehlte nicht viel, und er hätte sie geküßt. Zum Beispiel Schaben. Oft und mit Genugtuung wiederholte er: »Jeder einzelne Mensch ist klüger als eine Schabe, das ist wahr, aber jede Menschenmenge ist unendlich dümmer als jeder Schwarm Schaben.« Bogdan (alias Heilsbringer) gesellte sich zu ihnen, als die entomologische Wahldiskussion zum Thema »Sind bei Schaben Wahlen möglich, und wenn ja, wie müßte das aussehen?< in vollem Gange war. Er nickte Beelzebub zu, berührte mit den Lippen Marischkas warme Hand, die süß und behaglich roch wie hausgemachtes Konfekt, und er unterbrach den Fluß von Kostjas Auslassungen, indem er für alle Fälle seinen Begleiter vorstellte:
»Wowa. Ein Schützling«, weil er sich partout nicht erinnern konnte, mit wem von den Alten Herren er seinen Schützling schon bekannt gemacht hatte und mit wem nicht. Wie zu erwarten (Bogdan hatte sich mittlerweile daran schon gewöhnt), machte der Schützling Wowa auf die Anwesenden den üblichen Eindruck. Es entwickelte sich eine Szene. Der Schützling Wowa verbeugt sich ungelenk, und die riesige Mütze aus grau-weißem Pelz ruscht ihm prompt über die Augen. Er rückt sie mit einer krampfhaften Bewegung der Hand, dick wie ein Holzscheit, zurecht - natürlich mit derselben Hand, in der er das plastikverschweißte Paket mit den Flaschen hält - und die Flaschen knirschen im Paket, und zwar so bedrohlich, daß Kostja, Funken von seiner Zigarette versprühend, ruckartig hinlangt, um sie zu retten, aber Gott sei Dank geht alles gut. Alle lächeln angespannt, Marischka sagt mit ihrem sanftesten Stimmchen: »Wir kennen uns doch schon ... Wowotschka, wollen Sie einen Kaugummi?« Kostja-Beelzebub indes (dem das alles neu ist) schweigt, und es ist klar, daß ihn das Äußere des Schützlings Wowa (wie auch dessen Manieren) bis ins Mark getroffen hat. (Ein Down-Syndrom. Ein absoluter, lupenreiner Fall von DownSyndrom. Riesige ungefüge Beine, ein Hängearsch wie bei einem alten Flußpferd, trübsinnige, immer hoffnungslos hängende Schultern, riesige Pfoten ... Und ein fettes bleiches Gesicht mit Schielaugen - ständig halboffener Mund und Stearinwangen, mit jungem Speck unterfüttert. Und der ihn ständig umgebende schwere Geruch wie von einem Pferd. Und das unverständliche Weiberstimmchen. Und das quälende Unvermögen, Wörter in Zusammenhang zu bringen ... Und die phantastische Ungeschicklichkeit der Bewegungen ... Ein bilderbuchreifes häßliches Opfer einer erbarmungslosgleichgültigen Trisomie auf dem einundzwanzigsten Chromosom ... Und eine überschattete, unschätzbare, grausame Gabe - tief, tief unter dieser beklemmenden Hülle, am Grunde seiner sonderbaren Seele.) »Du kannst dich wieder abregen«, sagte Bogdan und bedachte Beelzebub mit einem spöttischen Lächeln. »Wowa ist absolut
ungefährlich. Manchmal ist er sogar nützlich. Wowa, wie sieht es bei Onkel Kostja mit der Gesundheit aus?« »Steine!« erwiderte Onkel Kostja unverzüglich. Er mochte es nicht, die Initiative zu verlieren, und verlor sie niemals. »Steine, und unter den Steinen sitzt ein kleiner Krebs.« Und da Wowa darauf nicht im mindestens reagierte und wie jemand aussah, der nur eine nebelhafte Vorstellung hat, worum es hier geht und was überhaupt heute für ein Tag ist, begann Kostja sogleich, sein Gespräch mit der letzten Geliebten wiederzugeben. (Einen Dialog von der Art: »Wer ist Bradbury?« »Ein Psychiater.« - »???!!!« - »Ja doch, ich weiß, ein Schriftsteller.« -»Was hat er denn geschrieben?« - »Die »Aufzeichnungen eines Wahnsinnigem ...«) »Nein«, sagte Wowa unerwartet. Er hatte, wie sich zeigte, die Sache mit Bradbury nicht beachtet und schaute nur Bogdan an. »Nichts davon. Aber es kommt eine Grippe. Morgen.« Kostja verstummte mitten im Satz. »Siehst du«, sagte Bogdan und betrachtete mit Genugtuung das rasch wechselnde Spektrum von Beelzebubs Mimik. »Und du hattest Angst.« »Kostja!« sagte Marischka, sofort beunruhigt. »Das heißt, du bist jetzt Bazillenträger? Fürchterlich!« Sie kramte in ihrer voluminösen Tasche und holte wie ein Zauberer ein Kaninchen eine lange Mullbinde hervor. »Streif das über.« »Das fehlte noch!« entrüstete sich Kolja. »Streif es sofort über!« Da schepperte die Tür des Fahrstuhls, und endlich zeigte sich der Hausherr - in einem kurzen, luxuriösen schwarzen Chromledermantel, finster wie eine Gewitterwolke und unfreundlich wie ein Zollinspektor. Er musterte die Versammelten mit schwerem Blick aus seinen halbgeschlossenen Augen, schaute auf die Uhr und murmelte: »Na gut, gut ... Kommt 'rein ...« Und alle trotteten gehorsam zu ihm hinein. In dem kleinen Korridor kam es zu dem üblichen Gedränge und Wirrwarr, alle Männer versuchten, Marischka galant aus dem Mantel zu helfen, und Wowa, der Schützling, nahm seine titanische Mütze selbst ab und stand mit ihr inmitten des
Durcheinanders allen im Wege, ohne selbst etwas Nützliches tun zu können. Und sie hatten sich noch nicht alle glücklich aus der Felle geschält, als es klingelte und sich ein verspäteter Gast durch die Tür schob. Andrej der Furchtbezwinger, makellos exakt in seinen seelischen und körperlichen Bewegungen und überhaupt makellos wie der Mensch der kommunistischen Zukunft (oder der aristokratischen Vergangenheit - wie's beliebt). Er tauschte Küsse mit Marischka, machte zu den anderen winke-winke und erzählte sogleich den neuesten Witz über den Hacker und seine DNS. Ohne recht das Ende des Witzes abzuwarten, warf Tengis ihm zu: »Hast du ihn getroffen?«, und der Furchtbezwinger fixierte ihn aus seinen hellen Augen und antwortete aus irgendeinem Grunde auf Ukrainisch: »Ja freilich!« - sie hatten wie immer ihre eigenen Angelegenheiten, wobei heute nicht schwer zu erraten war, welche. Und da traf auch der Verursacher der Feierlichkeiten ein (unglücklich, wie im Fieber, mit einem unablässigen Lächeln wie ein für alle Zeiten aufgezogenes Spielzeug) - Wadim Christoforow vom Kaukasus alias Resulting Force, ein Märtyrer seines Talents, und mit ihm der >ihn zeitweilig begleitende< Matwej, besorgt, grauenhaft schlecht rasiert und anscheinend sogar mit krummerem Rücken als gewöhnlich. Als er das Pärchen erblickte, spannte sich Bogdan innerlich, doch so ging es wohl nur ihm. Die anderen begannen vielmehr noch stärker zu lärmen, zu quasseln und durcheinander zu wuseln, obwohl das zweifellos auch nur eine Reaktion auf dieses Pärchen war, aber eine andere, hysterischere. Im Wohnzimmer, dessen ganze Mitte ein altertümlicher Tisch einnahm, wie immer mit einem schweren Tischtuch darauf, war es traditionsgemäß dämmrig, fast dunkel (nur die orange Straßenlaterne hinter den halb zugezogenen Stores beider Fenster), und als jemand die selbstgemachte Deckenlampe einschaltete, die einer Raumstation der fernen Zukunft ähnelte, erstanden an den Wänden Bilder, flammten auf, begannen zu glühen: Schemjakins rot-schwarzer Herzog Alba starrte die Gäste mit eisiger Feindseligkeit an, und von der gelb-blauen Straße aus
Igor Tjulpanows »Spaziergängen des einundzwanzigstens Jahrhunderts< wehte die gewohnte wehmütige Langeweile heran, und ein kleiner Judas bückte sich vor dem Angesicht eines riesigen Christus auf einem großen Bild, wo die übrigen elf Apostel entspannt und friedlich schliefen, bläulichgrün, bleich, durchgefaulten Hühnerkadavern ähnlich ... Ob Tengis etwas von Malerei verstand, war eine strittige Frage, aber eine eigenartige Auswahl der Bilder hatte er zweifellos getroffen - auf jemanden, der diese Galerie zum erstenmal sah, wirkte sie niederschmetternd, wer sie aber schon kannte und nur einen zerstreuten Blick daraufwarf, begriff plötzlich, daß er früher hier wieder etwas übersehen und wieder etwas nicht vollends verstanden hatte ... Beelzebub betrafen alle diese Überlegungen nicht im geringsten; mit seiner Mullbinde einem Chirurgen vor der entscheidenden Operation ähnlich, stürzte er sogleich hinter Marischka her in die Küche, der Schützling Wowa jedoch - ja doch, eben-der erstarrte. Der junge Mann war an derlei Kunst nicht gewöhnt worden. Übrigens war er wohl kaum an irgendeine Kunst gewöhnt worden. Sein Papa war ein Alkoholiker in der x-ten Generation, die Mama indes Besitzerin von drei Gemüseläden, ein verwogenes Weib aus dem Geschlecht der unbeugsamen russischen Karyatiden, also der weiblichen Gegenstücke des Atlas ... Plötzlich nahm das Stimmengewirr in der ganzen Wohnung zu: Jurotschka der Polygraf war eingetroffen, rosig, großgewachsen, mit vollen Wangen und einem fröhlichen Bürsten-Schnurrbart. »Poli!« scholl es ihm entgegen. »Achtung-Achtung, As Kostomarow im Anflug! ... Gebt ihm Wodka, rasch! Ehe es zu spät ist, Wodka, ich bitte euch ...« Und schon brachte man aus der Küche ein Glas Wodka, und schon nahm der unglückliche Kostomarow es entgegen und trank es aus, wobei er etwas von der diamantenen Flüssigkeit auf seinen Schal und einen Ärmelaufschlag des halb ausgezogenen Mantels schüttete. »Ausgetrunken? Gott sei Dank! Jetzt können wir uns wie normale Menschen unterhalten ...«
»Hör mal, Jurka, aber ehrlich: Wie ist das beim Sensei - lügt der auch? Wenigstens manchmal?« »Ja alle lügen, Bruder, da kannst du Gift drauf nehmen ...« »Wirklich alle?« »Jeder einzelne. Nur daß das keinerlei Bedeutung hat, weil sowieso niemand zuhört, niemandem.« »Gut gesagt!« »Das war leider nicht ich, Bruder. Das heißt das Liebermannsche Gesetz ...« »Was für ein Liebermann?« »Weiß der Kuckuck, Bruder. Einer von denen.« »Willst du eine?!« »Gern doch.« »Und zwei?« »Mit größtem Vergnügen.« »Und drei?« »Vier geht auch.« »Und fünf?« »Wie Heimaturlaub!« »Und sechs?« »Ist laut Vorschrift nicht vorgesehen ...« Und dergleichen Späßchen aus dem ArmeeEntlassungsjahrgang fünfundachtzig. ... Sie setzten sich, rückten dabei laut knirschend die Großvaterstühle, verteilten sich in der gewohnten Ordnung um den Tisch (den vor Schüchternheit halbtoten Wowa hatten sie in die entfernte Ecke bei der Standuhr gejagt - damit er niemanden störte und dort blieb er mit halboffenem Mund und großen Augen hängen); schon wurde Alkohol ausgeschenkt, und die Messer klirrten auf den Tellern, und Hände langten über den Tisch nach den Appetithappen, verlängert von silbernen Gabeln aus dem altertümlichen Familienservice; alle waren aufgelebt (oder taten so, als seien sie es); alle redeten drauflos, so gut sie nur konnten, alle wirkten hungrig (und waren es vielleicht sogar wirklich), und alles war ganz wie üblich, wie in alten Zeiten, als sie zusammengekommen waren, um einfach nur ohne bestimmtes Thema zu quasseln und gut zu essen.
Mein Gott, dachte Bogdan. Wie sehr ich das alles doch früher geliebt habe! Dabei ist es gar nicht lange her, keine fünf Jahre sind vergangen. Dieses fröhliche Stimmengewirr, der Zigarettenrauch, das Klirren der Bestecke am gedeckten Tisch und der Geruch von Zwiebel und Käse, die Marischka schon in der Bratröhre bäckt, und das präagonale Zischen des Biers in den geöffneten Flaschen und das Gedränge im ganzen Wohnzimmer (»Entschuldige, Bruder.« - »Macht nichts, Bruder, trampel nur weiter auf mir 'rum...«) - dieses ganze liebe Tohuwabohu, die ganze Rabelais'sche, beinahe olympische Atmosphäre der Vorfreude auf göttliche Häppchen für Seele und Körper ... Nichts davon war geblieben außer Irritation und dem Wunsche zu gehen, vergleichbar einem bedrückenden Ischiasschmerz, und dem beschämenden Gedanken: Na schön, noch zwei, meinetwegen auch drei Stunden, und alles ist vorbei, und man kann nach Hause gehen ... Die plapperten wie immer, ganz wie gewöhnlich, als sei nichts Besonderes geschehen - plapperten über alles und nichts gleichzeitig. Über Eiskunstlaufen. Über die letzte Fernsehserie (die niemand gesehen hatte, über die aber aus irgendeinem Grunde trotzdem alle auf dem laufenden waren). Über die Erdölpreise. Über Literatur, versteht sich. Und über Philosophie. Seit ewigen Zeiten quasseln wir gern über Literatur und Philosophie. »Die Veräußerlichung seiner selbst!« »Was ist das denn wieder?« »Hab ich vergessen. Hab's irgendwo gelesen. >Die Ödipalität als Veräußerlichung seiner selbst<.« »Jung oder so'n Zeug?« »Durchaus möglich. Da war von einem Kind männlichen Geschlechts die Rede, welches auf irgendeine schlaue Art und Weise das Fehlen eines Phallus bei seiner lieben Mama kompensieren will.« »Schade, daß Festplatte nicht da ist - der würde dich mit Zitaten zuschütten.« »Macht nichts, Bruder. Erstens schüttet er weniger zu, als daß er sie identifiziert. Und zweitens kommen wir auch ohne Festplatte
aus: >Der Postmodernismus hat die generelle Metonymie des Avantgarde-Totalitarismus metaphorisiert.<« »Kraß. Klingt toll. Selber ausgedacht?« »Nein. Das ist aus derselben Quelle.« »Laßt gut sein, jede Wissenschaft hat ihre eigene Sprache.« »Allerdings gibt es Wissenschaft, und es gibt das >Anstarren der Wand<, Bruder.« »Oder noch besser: Es gibt die Physik, und alles andere ist Briefmarkensammeln.« »Ich muß doch bitten, das Briefmarkensammeln in Ruhe zu lassen! Die Philatelie ist heilig.« »... Ich habe neulich bei Jaspers geblättert - in der Philosophischen Autobiographie -, und habe nichts, aber auch gar nichts Nützliches daraus entnehmen können. Außer daß Heidegger, wie sich zeigt, ein Nazi war. Woraus unverzüglich folgt: In jedem Meer des Verstandes findet sich unweigerlich eine Insel der Dummheit. Aber das habe ich ja wohl auch vorher gewußt ...« »Nicht >der Dummheit<, sondern 'der Gemeinheit'.« »Na und? Wo ist im gegebenen Fall der Unterschied?« »Sag das nicht, Bruder! Und ob da ein Unterschied ist! Wie zwischen einer Windjacke und einer Windhose.« »Trotzdem: Es gibt Wissenschaft, und es gibt das 'Anstarren der Wand'.« »... Ich glaube, es war Hilbert, der über einen armen Kerl gesagt hat: "Seine Phantasie reichte nicht für die Mathematik, also ist er Dichter geworden." Da sind sie mit ihm durchgegangen, mit dem großen Mann. Es geht dabei ja nicht um die Quantität der Phantasie, sondern um die Qualität. Ebensogut könnte man über Beckenbauer sagen: Er war nicht kräftig genug, um Schwerathlet zu werden, und da ist er Fußballer geworden ...« »Was für ein Beckenbauer?« »Mein Gott! Mit wem man sich hier unterhalten muß!« »Ich habe neulich in einem Haus die Schaben überredet. Ein Fräuleinchen. So um die sechzehn, bezaubernd wie ein Kätzchen, das sich leckt. Ich hab sie angebaggert. Merke, daß es
nicht klappt. Ich frage: >Was denn, Sie wissen nicht, wer Bradbury ist?< "Weiß ich", sagt sie, >ein Psychiater ...«< Übrigens plapperten nicht alle drauflos. Tengis war immer noch finster und schweigsam. Er nahm hin und wieder einen Schluck gekühlten Wodka, trank Mineralwasser nach, aß überhaupt nichts, schaute nur auf den leeren Teller, und wenn er den Blick aus den leicht vorquellenden, düsteren Augen mit den schweren roten Lidern hob, hielt kaum jemand diesem Blick stand - es wurde einem unbehaglich, man fröstelte und wollte so tun, als sei da gar kein Blick gewesen, sondern nur ein kleines Mißverständnis, und gleich werde sich alles aufs Beste klären und bereinigen. Und schön war er - schrecklich und großartig zugleich wie ein Dämon von Wrubel. >Ein Schönling und ein ganzer Kerl, und ganz bestimmt kein Jud ...< Es sieht beschissen aus, dachte Bogdan, während er ihn verstohlen betrachtete. Anscheinend werden wir überhaupt nichts zustande kriegen. Anscheinend ist dieser Brocken für uns zu groß. Aber vielleicht hat er nur wieder irgendwelchen Zoff mit der Fürstin Olga? ... Die Fürstin kann übrigens unsere Marischka nicht ausstehen, deshalb ist sie nicht hier. Braucht sie auch nicht. Gott mit ihr, ohne sie ist es sogar besser ... Marischka aber war bezaubernd wie immer (wie ein grinsendes Kätzchen). Kornblumenblaue Augen. Eine Bruststimme mit einem Anflug von Heiserkeit. Und ein wundersames Lachen, das sie verlieh wie ein Ordensband. An ihre lieben Lausebengel. Ihre geliebten Jungs. Sie wußte genau, daß die Jungs sie nicht enttäuschen würden. Sie hatten sie nie enttäuscht und würden es auch jetzt nicht tun. Und wenn jemand zuckt, ist sie sogleich zur Stelle und gibt ihm Halt. Oder lächelt ihn an. Oder sagt einfach: Ich bin hier ... Woher hat sie diesen unbegreiflichen Glauben an uns? Wir sind ja in Wahrheit absolut ohnmächtig gegenüber der Niedertracht, gegenüber jeder bösartigen Kraft. Ich rede gar nicht von Gangstern und Sexualverbrechern gegenüber gewöhnlichem Rowdytum sind wir ohnmächtig! Etwa du, verdammter Heilsbringer - kannst du dich zweier Straßenräuber erwehren? Ihnen eins in die Fresse geben? Dem Mistkerl in die Eier treten? Dafür habe ich einfach nicht genug Bosheit in mir.
Und trotzdem glaubt Marischka an uns. Und dieser Glaube ist so teuer, daß man ihn kaum erwerben kann. Wie Liebe. Wie Gesundheit. Wie Talent. Sind wir etwa tatsächlich besser, als wir aussehen? ... »Letzten Endes hängt alles nur von uns selbst ab!< Leider. Das ist es ja eben. Mir wäre es lieber, alles hinge von jemandem ab, der zuverlässiger ist ... Der Held des Tages aber, Wadim, war gelblichbleich und sah elend aus, die Augen rot und verschwommen, der Mund schief, als sei ihm ständig übel und als werde er sich gleich direkt auf den Teppich übergeben. (>So einer bist du also - der Mensch des dritten Jahrtausends!<) Der besorgte Matwej kümmerte sich rührend um ihn, rückte ihm nachdrücklich etwas zu essen hin, lief in die Küche um Mineralwasser, hob ihm zu Boden gefallenes Besteck auf - offensichtlich hatte ihn Wadim mit seinen Weibertricks gründlich ins Bockshorn gejagt, und der Große Mathematiker wußte schon nicht mehr, was noch zu befürchten stand. Der Anblick war eher ekelhaft, doch zu seiner Verwunderung empfand Bogdan dabei so etwas wie einen Stich von Eifersucht: Noch nie hatte er den Gromat derart fürsorglich und derart aufmerksam gesehen, er hatte ihn sich so nicht einmal vorstellen können - diesen giftig-ätzenden Schlaukopf, der keinerlei Erbarmen kannte, weder sich selbst noch anderen gegenüber und auch nicht für unsere ganze absurd-idiotische Welt. Tja, Wadim selber aber erwies sich nun als als der reinste Waschlappen. Rotz und Spucke. Pfui ... Oder schauspielerte er doch nur? Das konnte nicht sein. Freilich ... Nichts wissen wir voneinander, wir vermögen auch gar nichts zu wissen, und so geht es das ganze Leben lang. Eine Entdeckung nach der anderen, und alle sind sie aus irgendeinem Grunde widerwärtig. Es tun sich die bemalten Türen der Seele auf, und von dorther riecht es auf einmal derart faulig, daß es selbst einen Heiligen umwirft ... »Mmm! Marischka! (Knusper-knusper.) Was für Toastschnitten! Göttlich! ...« »Und was ist das? Beefsteaks?« »Trödel nicht herum! Beefsteakisiere!« »Das sind keine Beefsteaks, Bruder. Das ist Reinkahack.«
»Waas?!« »Reines Kalbs-Hackfleisch, Bruder. Entschuldige, Bruder.« »Hört mal! Genug gefressen. Bob ist noch nicht da!« »Auf Bob warten - na weißt du ... Bob ist nicht sein eigener Herr: Wenn man ihn gehen läßt, dann kommt er. Und keine Minute früher ...« »Iß doch was, bitte. Ich bitte dich, Wadim, laß dich nicht volllaufen. Warte ...« Dsing-dsing-dring - mit einem Messer am Randes eines Schnapsglases. Tengis. Er war zu dem Schluß gekommen, es sei an der Zeit, und hatte sich zur Tat aufgerafft. »Meine Herrschaften! Ladies und Gentlemen! Achtung! Seid ihr etwa zum Fressen hergekommen? Hört auf, euch vollzuschlagen, dammich! Erst die Arbeit!« »Genau!« (Das war Wadim. Schon aufgekratzt, und sogar mehr als genug.) »Verhandelt wird der Fall Wadim Christoforow, bekannt als Resulting Force! Ich bitte! Hier steh ich nun vor euch wie nackt ...« »Sei doch still, um Gotteswillen! Gib das Glas her! ... Du verstehst doch überhaupt nicht zu trinken, Arsch mit Ohren ...« »J-ja! Aber dafür verstehe ich mich zu betrinken!« »Still! Mund halten, allesamt! Wir beginnen. Die Umstände des Falles sind allen bekannt? Allen, nehme ich an ...« »Wowa nicht.« »Wowa wird's aushalten. Ich wende mich an die Alten Herren: Sind alle auf dem laufenden?« Die Alten Herren waren auf dem laufenden. Alle. Manche hatten diese Geschichte schon mehrfach gehört - sowohl von Wadim als auch voneinander. Allen war alles klar. Und niemand wußte, was zu tun wäre. »Ich habe eine Frage an Dimka«, sagte Bogdan. »Haben sie in letzter Zeit von sich hören lassen? Oder nicht?« »Woher soll ich das wissen.« Wadim zog, betrunken wie er war, die Wörter in die Länge. »Die hören mein T-te'fon ab, die Schweine ...« »Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?« beharrte Bogdan geduldig.
»>Nicht in diesem Leben ...«< Wadim kicherte hysterisch. »Laß ihn in Ruhe«, sagte der besorgte Matwej zu Bogdan. »Was willst du von ihm? Er weiß weiter nichts. Und kann sich nichts denken.« »Das sehe ich«, sagte Bogdan und verstummte. Nichts werden wir zustande kriegen, dachte er. Wir sind entweder gleichgültig oder ohnmächtig. Die Ohnmächtigen dieser Welt ... Aber eins ist frappierend: Ich scheine ihn ja zu beneiden. Man macht Jagd auf ihn, erwartet noch etwas von ihm, jemand braucht ihn, oder er ist jemandem im Wege, oder vielleicht kann er jemandem von Nutzen sein. Ein Plappermaul, ein Schwächling, ein Waschlappen, aber er verkörpert einen bestimmten Wert, und anscheinend keinen geringen. Ich aber bin leer. Und niemand braucht mich. Wie eine ausgetrunkene Bierbüchse. Unterdessen betrank sich Wadim zügig. Matwej packte ihn bei den Händen, nahm ihm das Glas weg, stellte die Flaschen weiter weg - es half nichts. Wadim schien sich buchstäblich ein Ziel gesetzt zu haben: sich sinnlos zu besaufen - so gründlich und so schnell wie möglich. Und wahrscheinlich war es tatsächlich so. Vielleicht war er es leid, nüchtern zu sein. »Alle, die euch teuer sind, verdienen das Allerbeste«, verkündete er, ohne jemandem zuzuhören oder etwas zu hören. »Ich werd' mir einfach den Kopf waschen und gehen ... Was könnt ihr denn überhaupt verstehen? Habt ihr schon mal von dem gehört: Erast Bonifa-tjewitsch heißt er ... Päderast Bonifatjewitsch ... Wenn ich 'ne doppelläufige Büchse zur Hand hätte, würde ich dem Schwein eins in die Fresse geben ...« Und er schüttete sich vor Lachen aus, hustete Gelächter hervor und wankte dabei mit dem ganzen Körper regellos hin und her wie ein Luftballon im Wind. »Gib das Glas her, sag ich dir!« »So laß ihn doch in Ruhe, also wirklich!« »Halt den Mund. Siehst du nicht, was er anstellt? ... Hinsetzen!« »F-fr'eit für Wadim Christoforow! ...« Da ertönte die Standuhr (ein düsterer schwarzer Turm, an dem Lack und Messingvignetten glänzten) - sie ächzte auf und schlug, dumpf, mit edel zurückhaltender Gewalt, so daß alle sogleich
verstummten, als habe in ihrer Mitte plötzlich ein Älterer das Wort ergriffen, und so war es ja im Grunde auch: es war eine altertümliche deutsche Uhr, die jemand seinerzeit aus Weimar als Reparation mitgebracht hatte. Gleichmäßig arbeitete sie achtmal ihr >chr-r-bammm!< ab, seufzte dann auf und verstummte. Und Jura der Polygraf sprach, wie es der Brauch war, demonstrativ andächtig: »Himmel, ich schwöre, am liebsten stände ich auf! ...« Und alle wechselten Blicke und lächelten, und aus irgendeinem Grunde wurde allen wohl zumute. Allen außer Wadim natürlich, dem unter gar keinen Umständen mehr wohl zumute werden konnte. Ihm konnte jetzt nur schlecht werden, und so wurde ihm denn schlecht, und Matwej führte ihn zusammen mit Marischka eilends ins Bad, die anderen aber begannen wieder lauthals durcheinanderzuschwatzen hauptsächlich, um die quälenden Geräusche zu übertönen, die von dort herandrangen. »... Bel'b!« »Was ist, mein Kummer?« »Hör auf zu schwindeln!« »Niemals! Richtige Käfer gibt es keine mehr. Noch vorgefunden habe ich Nashornkäfer. Oryctes nasicornis. In der Gegend von Luga gab es ziemlich viele. Aber einen lebendigen Hirschkäfer habe ich nie gesehen. Sie sind jetzt alle für immer verschwunden. Der Gemeine Rosenkäfer - Cetonia aurata - ist selten geworden. Den großen Laufkäfer findet man im Garten nicht ...« »In Japan gibt es übrigens jede Menge Käfer. Die züchten die dort.« »Das ist vielleicht ein Vergleich! Japan hat den Krieg verloren. Für totalitäre Staaten ist es nützlich, einen Krieg zu verlieren -das bringt sie sofort zur Räson.« »Wir haben auch einen Krieg verloren.« »Stimmt. Aber erstens viel später. Und zweitens - wir kommen sichtlich zur Räson.« »Davon ist irgendwie nichts zu merken.« »Ist es, ist es. Aber die Käfer kriegen wir nicht mehr wieder. Höchstens, daß wir in Japan welche kaufen. Aber es hat alles sein Gutes: Bei uns sind erstaunliche Schaben aufgetaucht!«
»Hört mal, ihr Penner, werden wir hier Sprüche klopfen oder, dammich, uns an die Arbeit machen?« »... Die Frau macht auf. Arme gesenkt, Kinn offen ...« »Nicht übel. Aber mir hat der von dem Neurussen besser gefallen. Wie er aus der Ermitage kommt und sagt: >Na ja. Nicht umwerfend, natürlich, aber eins muß man ihnen lassen - sauber haben sie's da ...«< »>Maschka, mein liebes Frauchen! Du hast Kinder gekriegt? Wie viele? Drei? Sind die von mir?< ...« »... Und du stell dir den >Revisor< aus der Sicht des Beamten vor. Eine Geschichte, wie ein kleiner Hochstapler und Mistkerl anständige und ordentliche Leute hereingelegt hat ...« »... Hör mal, das ist interessant - was wäre, wenn Nikolai findig genug gewesen wäre, Alexander Sergejewitsch statt zum Kammerjunker gleich zum Kammerherrn zu ernennen?« »Übrigens habe ich erst auf meine alten Tage erfahren, daß Olga die Schwester von Tatjana war ...« »Herrgott! Und für wen hast du sie denn gehalten?« »Na, ich weiß nicht, Bruder. Eine Freundin. >So sagt, ihr Mädchen, eurer Freundin ...<« Dann tauchte Marischka wieder auf, verwirrt und zerzaust, goß sich sofort, ohne sich zu setzen, Mineralwasser ein und trank gierig. »Na ja«, sagte sie und ließ sich auf dem nächsten Stuhl nieder. Andrej sagte mit recht brauchbarer französischer Aussprache: »Monsieur Christoforoff va s'animaliser.« Die es verstanden hatten, schwiegen, die anderen erst recht. Beelzebub aber erkundigte sich sachlichen Tones: »Habt ihr ihn hingelegt?« »Matwej ist bei ihm ...«, antwortete Marischka, ohne auf die Frage einzugehen. »Jungs, so hält er das nicht lange durch, man muß etwas tun, wirklich. Bogdan, willst du dich mit ihm befassen?« »Nein«, sagte Bogdan so scharf, daß alle sofort verstummten und nun ihn anschauten. Sogar Tengis. Sogar der Schützling Wowa.
»Du wirst entschuldigen, aber warum nicht?« sagte Marischka hilflos. »Das ist doch jetzt ganz offensichtlich ein Kunde für dich.« »Ich möchte lieber keine Erklärungen geben«, sagte Bogdan in einem Ton, der geeignet war, das Gespräch zu beenden. Und das Gespräch endete. »Was hast du herausgefunden?« wollte Tengis wissen und ließ seinen schweren Blick zum Furchtbezwinger schweifen. »Hast du irgend etwas in Erfahrung gebracht?« »Ja. Ich habe erfahren, daß der Ajatollah eine bemerkenswerte Persönlichkeit ist und nur zwei Schwachstellen hat.« »Ganze zwei?« sagte Jura der Polygraf. »Da ist er doch geradezu ein Schwächling!« »Erstens: Er liebt seine Frau. Zweitens: Er liebt seinen Sohn.« »Mein Gott!« sagte Marischka nervös. »Der Sohn ist klein?« »Ja. Zehn Jahre.« Eine Zeitlang schwiegen alle, die Blicke auf die Teller gerichtet, und nur Marischka musterte alle nacheinander und kam langsam in Fahrt. »Das ist nichts für uns«, sagte sie schließlich entschieden. »Aber das weiß er ja nicht«, entgegnete der Furchtbezwinger. »Daran will ich nicht einmal denken«, sagte Marischka. »Und euch erlaube ich es auch nicht. Vergesst es. Auf der Stelle.« »>Stolz ist der kennzeichnende Zug ihres Gesichts'«, ließ sich Jura der Polygraf vernehmen - zweifellos ein Zitat. »Gut, gut«, sagte Marischka ungeduldig zu ihm. »Aber ich möchte darüber nicht einmal reden.« »Tja, mein Herzchen«, sagte Tengis und schaute ihr ins Gesicht. »Entweder werden wir hier Rotz und Wasser heulen, dam-mich ...« »Ja, wir werden Rotz und Wasser heulen! Und basta! Da gibt's nichts zu reden!« »Sag das mal Dimka ...«, schlug Tengis finster vor, wandte allerdings den Blick ab. »Ich sage es ihm, keine Angst. Und er wird mir zustimmen. Mir, nicht dir.«
Nun ja, das dürfte unklar und keineswegs offensichtlich sein, dachte Bogdan, fing aber keine Diskussion an, sondern erkundigte sich nur sachlich bei Tengis: »Man kann nahe an ihn herankommen?« »Kann man.« »Wo also ist das Problem?« Tengis antwortete nicht, als wisse er nicht, was er sagen sollte. Alle blickten ihn an und warteten. »Es ist gar zu leicht, an ihn heranzukommen«, sagte Tengis schließlich langsam. »Das gefallt mir nicht.« »Will sagen?« »Ich bin ungehindert in sein Büro gegangen, dammich, wie aufs eigene Klo. Der Mistkerl war nicht am Platz, aber trotzdem - diese Leichtigkeit ... diese Freizügigkeit ... Da müßte doch eine Wache sein wie im Kreml. Irgendwas stimmt da offensichtlich nicht, dammich. Sowas gibt's nicht. Ich hatte den Eindruck, daß das ein Hinterhalt ist. Eine Falle für Dummköpfe.« Matwej erschien, außer Atem, aber fröhlicher. »Dem Herrgott sei Dank«, sagte er. »Er ist endlich eingepennt ... Na, was habt ihr hier ohne mich beschlossen?« »Er hat noch eine Schwäche«, sagte der Furchtbezwinger und wich der Frage aus. »Er leidet an Arachnophobie.« »Was ist denn das nun wieder?« wollte Jura wissen. »Er hat Angst vor Spinnen, Käfern, Asseln und dergleichen.« »Oh! Das ist interessant!« Beelzebub lebte auf. »Heftige Angst?« »Es hieß: auf den Tod. Wie ein Kind.« »Überlaßt ihn mir!« sagte Beelzebub freudig. »Wo wohnt er? Adresse?« »Er wohnt im Zarenhaus. Da lassen sie dich nicht hinein.« »Macht nichts! Tengis wird mich hinbringen.« »Einen Dreck werd ich«, sagte Tengis. »Das Zarenhaus, weißt du - da läuft alles automatisch ...« »Na, dann eben nicht«, stimmte Kostja leichthin zu. »Was soll ich letzten Endes dort bei ihm in der Wohnung machen. Ich komme auch so bestens zurecht.« Alle blickten ihn erwartungsvoll an, er aber strahlte und freute sich, ruckelte vor Vergnügen sogar auf dem Stuhl herum - er
hatte die Lösung schon erkannt, der eifrige Duremar, und es war auch nicht schwer zu erraten, was genau er vorhatte, nur daß dieses Vorhaben vor dem Hintergrund der gegebenen Umstände albern und unseriös wirkte - infantil und leichtsinnig wie alle Vorhaben Beelzebubs. Dann hörte er plötzlich zu strahlen auf, runzelte die Stirn, nieste verzweifelt in die eilends vorgehaltenen Hände und langte sogleich unter dem drohenden Blick Marischkas in die Tasche nach der Mullbinde. »Hast mir da was zusammengeunkt, Wowa«, sagte er näselnd und blinzelte vorwurfsvoll mit den tränenden Augen. »So ein dämlicher Schützling, wo hat denn dein Mentor seine Augen ...« Bogdan sagte: »Der Mentor möchte trotzdem ganz verstehen, wovon hier bei euch die Rede ist. Wir kennen Dimka doch schon eine Ewigkeit. Er ist ja ein Phantast, eine Künstlernatur, warum soll ich ihm glauben?« »Na weißt du!« sagte Matwej zugleich verdattert und aufgebracht. »Nein, erlaube mal! Voriges Jahr hat er uns das Spektakel mit dem Sinken der D-Mark veranstaltet. Vorvoriges Jahr haben wir alle wie die Idioten ...« »Hör auf, Heilsbringer. Mach dich nicht lächerlich.« Matwej verzog das Gesicht und goß sich Wodka ein. »Wenn du keine Ahnung hast, dann maß dir auch kein Urteil an. Du hättest ihn diese Nacht sehen sollen.« »Und was ist diese Nacht so Besonderes vorgefallen?« »Das will ich nicht erzählen. Er krepiert vor Angst, verstehst du?« »Nein. Ich verstehe nicht. Wer garantiert, daß er uns nicht wieder eins von seinen Vaudevilles vorspielt? Als ob ich Dimka nicht kennen würde!« Matwej sagte darauf nichts, verzog nur noch mehr das Gesicht und trank seinen Wodka aus, ohne einen Happen zu essen und anscheinend ohne es überhaupt zu merken. »Ich glaube ihm«, sagte Marischka. »Ich auch«, sagte Tengis wie widerwillig. »Ich habe den Eindruck, du, Heilsbringer, suchst einfach einen Vorwand, um dich zu drücken«, sagte Andrej der
Furchtbezwinger mit einem höflichen Lächeln. »Ich betone: Ich habe den Eindruck. Entschuldige. Nichts für ungut, ja?« »Ja«, sagte Bogdan. »Du siehst doch, in welcher Verfassung er ist ...« »Sehe ich. Wie ein überfüllter Abort.« »Mag sein. Aber ist das denn nicht deine Arbeit?« »Mag sein. Sicherlich sollte ich ihn ausräumen. Aber ich werd's nicht tun.« »Das sind deine Probleme«, sagte der Furchtbezwinger mit einem höflichen Lächeln. »Dies ist ein freies Land ...« »Er ist einsam, daß es kein Vergleich ist«, sagte Matwej mit einem ihm sonst gar nicht eigenen Nachdruck. »Weißt du, was er zu mir gesagt hat? Stell dir, sagt er, einen Kilometerpfosten mitten in der Steppe vor. Auf einer Tafel steht: Eintausendfünfunddreißig Ka-em, und auf der anderen: dreitausendeinhundertvierundvierzig. Und ich stehe bei diesem Pfosten. Allein.« Was wißt ihr schon von wirklicher Einsamkeit, dachte Bogdan mit einer Art finsterer Befriedigung. Ich könnte euch sagen, was wirkliche Einsamkeit ist. Und wißt ihr noch (hätte er gern gefragt), wie er uns alle beinahe überzeugt hat, in Piter sei eine Bande von >Säuberern< aufgetaucht? So hatte er sie genannt: Säuberer. Entweder eine neue Sekte oder sogar neue Menschen, eine plötzliche Wendung der Evolution. Die nämlich sollten die Stadt vom Abschaum säubern, in erster Linie von den Lügnern: Sie fingen sie weg und prügelten sie mit Weidenruten zeremoniell, mit einem Urteil, in besonderen geheimen Räumen, wobei sie weiße Masken trugen. Und die Weidenruten wurden nach althergebrachten Rezepten in Essigessenz getränkt ... Und es hätte damals ja nicht viel gefehlt, und Jurka der Polygraf hätte geglaubt, in ein, zwei Jahren gäbe es für ihn keine Arbeit mehr ... ... Und wie er sich ausgedacht und allen unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt hatte, in der Stadt verschwänden Menschen. Schon seit Jahren. Und in erheblichen Mengen. Sie werden in die Zukunft geschickt. Nach einem sonderbaren, schwer verständlichen Prinzip. Die Sache sei aber die, daß man ein letales Gen der Menschheit entdeckt habe, das sich wie ein Lauffeuer ausbreite, und jetzt versuche man, wenigstens ein paar
zu retten ... Marischka hatte das übrigens geglaubt und wollte sogleich jene Retter ausfindig machen, um für ihr Kinderheim zu bitten ... Na schön. Wie ihr wollt. Ich bin mir selber nicht sicher, daß er jetzt eine Show abzieht. Er ist ein Spinner, gewiß, aber doch kein Talma, Francois Joseph, und nicht einmal ein Innokenti Smoktunowski ... Und überhaupt bereitet er mir Übelkeit ... In diesem Augenblick fiel von der Decke (oder von der Lampe?) wie ein Stein etwas Schweres, Vielfüßiges, Lebendiges herab prallte mit beinernem Geräusch gegen den Rand der Zukkerdose, sprang weg, überschlug sich und lief blitzschnell übers Tischtuch - in einem wahnsinnigen Zickzack um Flaschen, Tassen und Gläser herum. Es war zweifellos eine Schabe - wie es Bogdan vorkam, faustgroß, dergleichen hatte er noch nie gesehen ... schwarz mit rotem Schimmer rannte sie im Slalom über den Tisch und sprang wie eine Schwalbe vom Hang Beelzebub auf die Knie, um sofort zu verschwinden, als sei sie nie dagewesen, als sei eine widerwärtige Vision allen vor den Augen vorbeigehuscht und alsbald spurlos verschwunden. Niemand hatte Zeit, richtig zu erschrecken, doch alle zuckten einmütig und geräuschvoll zurück, Marischka aber schrie kurz auf und rutschte mitsamt dem Stuhl an die Wand zurück. »Himmel-Arsch-und-Zwirn!« sagte Tengis und sprang auf; ein Chor entrüsteter Stimmen brach aus, aus dem Marischkas verzweifelter Schrei besonders hervorstach: »Verschwinde, das Vieh kriecht auf dir herum, verpiß dich!« Beelzebub machte beschwichtigende Gesten, warf Kußhände nach allen Seiten, und sogar durch die Mullbinde hindurch war zu sehen, wie selbstzufrieden er grinste, und als die Schreie und Verwünschungen abflauten, versprach er unheilverkündend: »Dieser Mistkerl wird noch >Capivi!< schreien ...«, aber alle waren derart böse und gereizt, daß niemand auch nur fragte, was er damit eigentlich sagen wolle. Übrigens war sowieso alles klar allein schon vom Tonfall her. Beelzebub wurde gezwungen, vom Stuhl aufzustehen, die Jacke weit aufzumachen, das Hemd aufzuknöpfen, die Hosenbeine zu schütteln. Die Extremisten verlangten, er solle sich nackt
ausziehen. Der Herr der Fliegen wollte sich vor Lachen ausschütten. »Sie ist doch nicht hier! Die ist längst im Keller ... Ist sie denn blöd?« Auf dem Höhepunkt der Verwirrung klingelte es an der Tür, Robert erschien, streng und ernst wie immer, sie setzten ihn in den einzigen Stuhl mit Armlehnen, gössen ihm Wodka ein, Marischka brachte aus der Küche ein paar noch warme Beefsteaks. Bogdan sah zu, wie sie sich um Festplatte bemühten, und verscheuchte eifrig unfeine Gedanken an die Privilegien eines Leibadjutanten wie auch an das Leuchten mit reflektiertem Licht. Das war alles Unsinn. Bob war aristokratisch, ohne hochnäsig, und streng, ohne grausam zu sein. Eine durchaus würdige Persönlichkeit, in der Tat, und einen Unwürdigen würde der Sensei ja auch nicht in seiner Nähe behalten. Und aus irgendeinem Grunde fiel ihm plötzlich ein, wie Tengis gekränkt zu Robert gesagt hatte: »Du bist ja unter uns das Symbol für Super-hyper-Hochanständigkeit. Du denkst ja sogar, dammich, wenn du 'n Zäpfchen 'reinschiebst, an nichts anderes, als wie du dabei die höchstmögliche Hochanständigkeit bewahrst ...« Robert hatte damals mit einem kurzen Lachen geantwortet - offensichtlich kam ihm das Bild weniger kränkend als vielmehr komisch vor. Nein, nein, er ist ein guter Kerl, unsere Festplatte, nur ein bißchen gar zu trocken ... »Wie geht es denn unserem Sensei?« fragte Bogdan aus Höflichkeit. Jemand mußte das ja fragen. »Mit dem Sensei ist alles in Ordnung«, gab Robert lakonisch Bescheid, während er ein Beefsteak aß. »Anweisungen? Wünsche?« schaltete sich der schon gründlich angegangene Jura der Polygraf ein. »Befehle?« »Rühren. Weitermachen.« Robert gedachte offensichtlich nicht, sich über dieses Thema auszubreiten, was übrigens seiner Gewohnheit entsprach. »Wahres Feingefühl ist immer unmerklich«, kommentierte Andrej der Furchtbezwinger die Situation und erkundigte sich: »Sollen wir dir erzählen, was wir hier vereinbart haben?« »Unbedingt. Aber knapp.« »Klar doch. Natürlich knapp. Tengis, erzähl's ihm.«
Tengis sagte: »Also. Ich schlage folgende Variante vor. Die Wahl ist am Sonntag. Am Sonntag, gleich früh am Morgen, zieht Dimka hierher zu mir. Soll er erst mal hier wohnen, da bin ich ruhiger. Am Montag gehe ich zum Ajatollah und rede mit ihm. Danach gehen wir dem Umständen gemäß vor. Du, Beelzebub, mußt bis dahin vollständig bereit sein. Schaffst du das?« (Beelzebub nickte.) »Gut. Ich habe noch eine Ersatzvariante, aber zunächst, Bob, sag, in welchem Umfang wir mit den Sensei rechnen können?« »In gar keinem«, sagte Robert und wischte mit einem Stück Brot die Soße auf. »Wie das? Hast du denn nicht mit ihm gesprochen?« »Doch. Hab ich. Zuletzt vor einer Stunde. Wir können nicht mir ihm rechnen.« »Aber warum, dammich? Was hat er dir gesagt?« »Wörtlich?« »Ja doch, wörtlich.« »Er hat gesagt: >Eine Mannschaft ist eine feine Sache. Man kann die Schuld immer jemand anderem zuschieben.«< »Was, dammich, soll das heißen?« wollte Tengis irritiert wissen. »Das ist die sogenannte >Achte Regel Fingales<. Wenn dir das weiterhilft.« »Und das ist alles?« »Und das ist alles«, sagte Robert die Festplatte und langte nach dem schon kalt gewordenen Toast auf der riesigen Schale aus Kusnezow-Porzellan. »Hör mal, Matwej«, fuhr er übergangslos fort. »Ich wollte dich schon seit langem fragen. Kann man >Gott hat das Weltall erschaffene als eine Gödelsche Behauptung bezeichnen?« Bogdan hörte überhaupt nicht hin. Es interessierte ihn nicht, ob das eine Gödelsche Behauptung war, zumal er nur eine nebelhafte Vorstellung hatte, was das bedeutete, und sich völlig sicher war, daß nicht Gott das Weltall erschaffen hatte. Er stand auf, trat vom Tisch zurück und winkte den Schützling Wowa zu sich. Sie mußten an die Arbeit gehen. Er gab nicht viel, was er in diesem Leben konnte, doch was er konnte, tat er besser als viele. Vielleicht besser als alle anderen.
Er ging ins Schlafzimmer. Wowa stapfte hinter ihm her und ächzte wie ein Lastpferd. Doch in diesem Ächzen war schon Begeisterung zu hören: Der Schützling witterte Arbeit, und er arbeitete gern. Obwohl er noch nicht viel vermochte. Wadim lag auf der Seite, ein Arm hing zum Boden herab, sein grünliches Gesicht war vom Kissen gedrückt, und er sah ganz wie ein zerquetschtes Tier aus. Er war jetzt einfach ein Weinschlauch, angefüllt mit Verzweiflung, Ohnmacht und stinkender Angst. Aber er ist ja ganz gesund, wandte Wowa ein. Das kommt dir nur so vor, antwortete Bogdan. Er ist unglücklich, und Unglück ist eine Krankheit. Mehr noch, es ist der Ursprung aller Krankheiten auf der Welt. Unglück läßt sich nicht heilen, wandte Wowa ein. Es geht von selber vorüber wie Regen. Oder es geht nicht vorüber, sagte Bogdan. Oder es geht nicht vorüber, stimmte Wowa zu. Aber dann ist es kein Unglück mehr, sondern eine Daseinsweise ... »Es ist beruhigend«, zitierte Bogdan, »die Welt als einen Traum zu betrachten. Wenn du einen Alptraum hast, wachst du auf und sagst dir, daß es nur ein Traum war. Man sagt, die Welt, in der wir leben, unterscheide sich nicht im geringsten davon.« Doch Wowa hatte das >Buch des Samurai< auch gelesen. Und schätzte es ebenso. »Andererseits aber«, entgegnete er sogleich, »muß man sogar eine Schale Reis oder Tee auf die rechte Weise in die Hände nehmen, ohne im mindesten nachlässig zu sein und die Wachsamkeit zu versäumen.« Bogdan lachte und unterbreitete dem Schützling sein Lieblingszitat: »Das ist kein Rat zur Vorsicht«, sagte er. »Es geht darum, sich schon zu Lebzeiten vorzustellen, du seist bereits tot.« »Diese Regel gilt nicht für uns«, sagte Wowa, als sei er gekränkt. »Die ist für die.« »Für uns auch, Wowa. Für uns auch ... Na schön. Fangen wir an?« »Versuchen wir es«, sagte Wowa nachdenklich und vorsichtig und hockte sich vor Wadim hin, seinen voluminösen Hintern eines jungen Degenerierten nach hinten gereckt.
Neuntes Kapitel Dezember. Samstag. Ein geschlossener Bruch »Er ist kein Musiker!« wiederholte der Sensei ungeduldig (zum dritten Mal). »Er ist überhaupt kein Musiker und wird nie ein Musiker werden.« »Aber er gibt ja seine Geige überhaupt nie aus der Hand!« beharrte der Vati. »Wir haben ihm eine Geige gekauft, und er möchte sie am liebsten mit ins Bett nehmen ...« »Die Spielzeugmaschinchen hat er doch schließlich aufgegeben? Und die Modelleisenbahn, nicht wahr?« »Aber das ist doch etwas ganz, anderes! Damals war er ein kleines Kind.« »Er ist immer noch ein Kind«, sagte der Sensei. »Machen Sie keinen Erwachsenen aus ihm. Wenn er erwachsen wäre, würde ich mich nicht mit ihm befassen.« »Aber der Pädagoge hat doch gesagt, daß er ein absolutes Gehör besitzt!« »Herr Firago, ich habe auch ein absolutes Gehör. Aber ich bin kein Musiker. Außerdem habe ich ein absolutes Geruchsempfinden, und trotzdem bin ich kein Diensthund.« »Das ist ganz etwas anderes.« »Haben Sie mein Gutachten gelesen?« »Natürlich! Wir haben es wie eine heilige Schrift gelesen.« »Haben Sie verstanden, was da steht?« »Da steht ...« »Da steht, daß der Junge seiner Natur nach - seinem Wesen nach, verstehen Sie? - ein Systematiker ist. Er ist ein begabter Archivar, Sammler, vielleicht ein künftiger Linne oder Mendelejew ... Und Sie wollen einen Fiedler aus ihm machen. Damit er bei zweitrangigen Hochzeiten aufspielt. Oder überhaupt mit dem Hut auf dem Erdboden auf der Geige herumsägt - in Metrounterführungen.«
»Aber Sie müssen zugeben, Sten Arkadjewitsch, wenn man Anstrengungen unternimmt ... Wenn Sie sich trotz alledem bereit fänden ...« »Mit Anstrengungen hat das nichts zu tun. Ich kann keinen guten Musiker aus einem guten Archivar machen! Ich mache überhaupt niemanden, aus nichts. Zum Teufel, ich habe es Ihnen doch von Anfang an erklärt! Ich sage nur: Da ist der Weg, den er am besten beschreitet ...« »Wenn zusätzliche Stunden notwendig sein sollten, sind wir bereit, das Honorar so weit wie nötig zu erhöhen ...« »Sie verstehen nicht die Bohne, Firago. Sie hören mir nicht zu. Wie alt sind Sie, vierzig?« »Zweiundvierzig.« »Machen Sie noch ein Kind. Vielleicht wird ein Musiker draus. Und jetzt habe ich zu tun. Auf Wiedersehen. Robert, machen Sie die Rechnung für Herrn Firago fertig.« Und er eilte fort, drehte wütend den Kopf hin und her und lockerte im Gehen den verhaßten Paradeschlips. Robert stand sofort auf, Hände an der Hosennaht - auf diese Art demonstrierte er die angebrachte Ehrerbietung. Nicht, daß es so bei ihnen üblich gewesen wäre, aber auf die Kunden mußte das den geeigneten Eindruck machen - und machte ihn auch. Schon sprang der Herr Firago krampfhaft auf, rund und rosig, wie ein aufgeblasener Luftballon, und versuchte sogar eine Verbeugung zu dem sich rasch entfernenden Maitre hin. Herr Firago war Geschäftsmann, also sicherlich kein kompletter Esel - aber es wollte ihm offensichtlich partout nicht in den Kopf, daß es Dinge gibt, die man nicht kaufen kann. >Wenn man Anstrengungen unternimmt. Wenn man sich Mühe gibt. Wenn man sich richtig große Mühe gibt und alle notwendigen Anstrengungen unternimmt ...< »Glauben Sie, daß ich ihn nicht umstimmen kann?« erkundigte er sich besorgt bei Robert. »Wenn ich mir zum Beispiel richtig große Mühe gebe?« »Ich würde es Ihnen nicht empfehlen«, antwortete Robert, ebenfalls besorgt. Mit aller ihm zur Verfügung stehenden Sorge. »Man kann den Bogen überspannen. Begnügen wir uns lieber vorerst mit dem Erreichten. Und dann wird man sehen.«
Das war eine erprobte Idee, die immer funktionierte. Hauptsache, in der Vorstellung des Kunden eine Perspektive aufbauen, der Rest passiert dann allmählich ganz von selbst. »Das heißt, Sie glauben, in ein, zwei Monaten? ...« »Eher in einem halben oder einem ganzen Jahr«, sagte Robert und nahm den Ausdruck des Vertrags samt Rechnung aus dem Drucker. »Na ja ...« Die Perspektive nahm Gestalt an, der Prozeß kam in Gang. »Sicherlich haben Sie recht. Ich bin bereit, mich auf Ihre Kompetenz zu verlassen. Sie werden mich in Kenntnis setzen, wenn es nötig wird?« »Wir werden uns noch des öfteren sehen«, versprach Robert. »Wir haben jetzt festen Kontakt. Wahrscheinlich werden zusätzliche Konsultationen erforderlich sein. Und das mehrfach. So ist es immer ... Hier ist Ihre Rechnung. Wie ist es Ihnen lieber - mit Scheck oder bar??« Herrn Firago war es bar lieber. Und aus irgendeinem Grund in DMark. Wobei er den Vorschuß, wie sich Robert erinnerte, in Pfund Sterling bezahlt hatte. Offensichtlich versuchte er auf diese Weise irgendwie etwas gutzumachen. Er gehörte anscheinend zu denen, die ständig ein Viertelprozent gutzumachen versuchen. Das war sein Modus operandi, der schon fließend in einen Modus vivendi übergegangen war. Gewiß war das für sein Gedeihen günstig. Gewiß war er reich. (Ein Mercedes, ein großschnäuziger Chauffeur und Leibwächter, eine mit Kreditkarten und Valuta vollgestopfte Brieftasche.) Aber bei alledem war er trotzdem auch noch ein Dummkopf. »Erlauben Sie ...«, sagte er und hielt Robert ein buntes Papierchen hin (anscheinend zweihundert Mark). »Zum Zeichen der Verbundenheit ... und als besonderer Dank ...« Robert warf einen flüchtigen Blick auf das Papierchen, preßte zwecks größerem Nachdruck die Lippen zusammen und richtete den Blick auf Herrn Firagos Gesicht - aber nicht auf die Augen, sondern tiefer, auf die rosigen, sich nervös bewegenden Lippen. Es kam zu einem Augenblick schneidender Peinlichkeit, und er dauerte an die zehn Sekunden.
»Klar! Habe verstanden!« Herr Firago hob die Hände (in der einen die Brieftasche, in der anderen das Papierchen). »Die Andeutung ist verstanden und beherzigt! Alles Geld - aus einer Kasse, richtig, vernünftig. Ich war taktlos. Vergessen wir's, abgemacht?«Vergessen? Robert lächelte im stillen. Von wegen. »Abgemacht«, sagte er. Und als er in seinem Tonfall eine gewisse unwillkürliche Abfälligkeit bemerkte, sogar eine Art hochherrschaftliche Herablassung, fügte er eilends hinzu: »Kein Problem. Kommt vor.« Und da geschah auf dem Gesicht des Herrn Firago, auf diesem rosigen, dümmlichen Gesichtchen eines Porzellanferkels eine schwer zu fassende Veränderung, und er selbst veränderte sich vollständig - als habe er den Rücken durchgedrückt und sei sogar größer geworden. Robert, erstaunt und aufmerksam geworden, wollte sich schon auf eine ehrpusselige Tirade gefaßt machen (zur Verteidigung unbefleckter Ehre und Würde), doch Herr Firago senkte vielmehr aus irgendeinem Grund die Stimme und erkundigte sich plötzlich: »Sagen Sie, stören wir beide den Maestro nicht? Quasseln wir hier nicht zu laut?« Das Wort >quasseln< klang in seinem Mund völlig unerwartet und unangebracht, und auch die Frage selbst wirkte wie aus dem falschen Stück, als habe Salieri-Smoktunowski plötzlich in der Art von Juri Nikulin zu sprechen begonnen. »Das glaube ich nicht«, sagte er betreten. »Ich glaube nicht, daß er uns überhaupt hört ... Aber schreien sollte man natürlich nicht«, fügte er für alle Fälle hinzu. »Woher denn. Im Gegenteil. Und wie ist es hier bei Ihnen mit >Wanzen« »Was für Wanzen?« Herr Firago veränderte sich zusehends. Wo war der rosa Luftballon mit den Ferkelmanieren geblieben? Vor Robert stand ein besorgter und aufmerksamer Gentleman, der zwar zur Fülle neigte, dabei aber durchaus elegant und sogar bedeutsam aussah. »Ich meine Aufzeichnungsgeräte«, erläuterte er sachlichen Tones. »Wie ist es damit bei Ihnen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Robert, vor Verwunderung gekränkt. »Worum geht es eigentlich?« »Es geht darum, daß ich jetzt mit Ihnen über ziemlich intime Dinge sprechen will. Geht das? Oder lieber nicht?« Robert ging der Gedanke durch den Kopf, der Vati habe einen Anfall von Verfolgungs- mitsamt Größenwahn, doch Herr Firago zerstreute diesen Verdacht sofort. »Ich soll Sie von German Tichonowitsch grüßen«, sagte er, wobei er die Stimme noch gründlicher senkte und Robert direkt in die Augen blickte - von Pupille zu Pupille, genauso wie es einmal German Tichonowitsch selbst getan hatte. Und obwohl German Tichonowitsch in seiner Rolle zweifellos viel überzeugender wirkte, bekam es auch Herr Firago gar nicht übel hin. So, dachte Robert und fühlte ein unangenehmes Frösteln im Unterbauch. Es geht los. Ein Vierteljahr ist vergangen, und wie sich zeigt, ist nichts vorüber. Die lassen nicht locker: Gibt man ihnen den kleinen Finger, behalten sie die ganze Hand ... »Danke«, sagte er, bemüht, die Stimme möglichst gleichmäßig klingen zu lassen, aber anscheinend ging ihm entweder mit der Stimme oder mit dem Gesicht etwas schief, der Herr Firago lachte plötzlich auf (nicht ohne Feingefühl) und fuhr fort: »German Tichonowitsch hat mich gebeten, herauszufinden, wie Sie mit Ihrem Manuskript vorankommen. Es sind schon drei Monate vergangen, eine Menge Zeit, da kann man einen Roman schreiben ...« »Ich bin kein Romanautor«, sagte Robert und kämpfte mit Mühe den Wunsch nieder, sich die Lippen zu lecken. Die trok-kenen Lippen mit der klebrigen Zunge. Ekelhaft. »Versteht sich«, stimmte ihm der Mitarbeiter von German Tichonowitsch sofort zu, der noch vor kurzem der Vati gewesen war. »Versteht sich von selbst, wer würde das bestreiten. Aber trotzdem? Nicht ich, German Tichonowitsch möchte es wissen. Wann können wir mit dem Versprochenen rechnen?« Da bot sich natürlich die Redensart >Auf Versprochenes wartet man drei Jahre< an, aber das wäre gar zu erbärmlich gewesen, kleinlich und bösartig. Und hilflos.
»Ich würde es vorziehen, das mit German Tichonowitsch selbst zu erörtern.« »Verständlich! Aber da ich nun mal hier bin, was soll ich ihm übermitteln?« »Übermitteln Sie ihm genau das«, sagte Robert so fest wie möglich. »Wortwörtlich.« »Mein Gott, beunruhigen Sie sich doch nicht!« rief Herr Firago aus. »Wenn Sie nicht wollen - dann eben nicht. Natürlich, genauso werde ich es übermitteln. Wortwörtlich. Also wissen Sie, Robert Valentinowitsch! Sie sehen ja ganz mitgenommen aus. Arbeiten Sie in aller Ruhe, wir haben es nicht eilig. Niemand drängt Sie. Hauptsache, es wird getan ...« Robert antwortete nicht, und Herr Firago ließ augenblicklich von ihm ab, wurde geschäftig, wurde wieder zum Vati - besorgt und ein wenig dümmlich, er schickte sich zu gehen an, das Porzellangesichtchen hektisch. Mit steinerner Miene begleitete Robert ihn in den Korridor, reichte ihm Mantel, Schal, Hut. Das Aktenköfferchen. Herr Firago packte schnaufend seine Siebensachen, erkundigte sich besorgt: »Sie nehmen also an, daß er mich noch kommen lassen wird?« und setzte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, Richtung Ausgang in Marsch, und das so zügig und energisch, daß Robert kaum rechtzeitig die Tür vor ihm aufsperren konnte. Sie verabschiedeten sich am Gitter. »Ich setze große Hoffnungen in Sie, Robert Valentinowitsch, was meine Angelegenheit betrifft. Wenn sich die geringste Möglichkeit bietet, versuchen Sie sie voranzubringen, sozusagen ... Der Junge trennt sich nie von der Geige ...« Robert nickte. Es drängte ihn, dem Besucher noch etwas hinterdreinzusagen (zur Übermittlung an German Tichonowitsch), irgend etwas Gewichtiges, etwas Bedeutsames, doch er wußte nicht, was. Im Kopf ging ihm nur herum: >So schert euch fort! Was geht den Dichter, der doch den Frieden liebt, ihr an?< Das wäre sowohl gewichtig als auch bedeutsam gewesen, paßte aber absolut nicht zur Situation. Darum sagte er nichts. Er verabschiedete sich nicht einmal. Dann kehrte er an den Arbeitsplatz zurück, holte aus der unteren Tischschublade die Mappe mit dem Manuskript und blätterte
gedankenlos ein paar Seiten um. Er hatte etwas lesen wollen, stellte jedoch fest, daß er vor sich nichts sah als das Ferkelgesicht des Vatis mit den aufmerksamen Augen German Tichonowitschs. Schweinepack. Aber was hast du eigentlich von ihnen erwartet? Daß sich alles von selbst ganz still verwächst und verliert? Nein, mein Lieber: Erst den kleinen Finger, dann die ganze Hand. Aber ich habe euch ja nicht einmal den Finger gegeben, ihr habt mich um euren gewickelt. Profis ... Er nahm die letzte Seite aus der Mappe und las die Anmerkungen des Sensei durch. Vier Punkte. Das heißt, strenggenommen drei. 1. Manchmal packt ihn ein Drang von unten her (man nennt das einen imperativen Drang), dann läßt er alles stehen und liegen und rennt auf den Abort. 2. Wenn er ißt, ist das ganze Kinn fettig. 3. Sein Morgenmantel wird nie gewaschen, riecht nach Ziegenbock. 4. Noch etwas. Denken Sie drüber nach. Er hatte nachgedacht. Doch ihm war nichts Konkretes eingefallen. Es war ihm zuwider. Sowohl nachzudenken war widerlich als auch sich etwas auszudenken. Und vor allem blieb ganz unverständlich, wozu denn nun das alles gut sein sollte? Vergessen Sie nicht, daß Ihre Fähigkeit, sich >an ausnahmslos alles zu erinnern<, denen gut bekannt sein muß. Achten Sie deshalb auf unglückliche Formulierungen in der Art wenn ich mich nicht irre<, >ich weiß nicht mehr genau, wer< - die wirken im Lichte der erwähnten Tasache auf einen aufmerksamen Leser sonderbar und gekünstelt... Dann noch ein halber Absatz, kreuzweise durchgestrichen, doch den Text entziffern konnte man ohne besondere Mühe: »Nicht so viel über die persönlichen Lebensumstände. Das nützt nichts ...« Und darunter war angemerkt: »Im übrigen schreiben Sie, wie Sie wollen.« Hat es mit höchsteigener Hand Seiner Kaiserlichen Majestät niederzuschreiben geruht ... Was bezweckt er damit? Etwas bezweckt er. Ich habe nicht die mindeste Ahnung, was. Aber ich
hätte mich gleich weigern sollen. Kategorisch. Ohne zu überlegen. »Nein«, und basta. Was hätten sie mir schon getan? Mich nicht ins Ausland gelassen? Da zieht es mich ja gar nicht hin, mir geht es auch hier nicht schlecht ... Ich hätte auf euch pfeifen sollen. Es ist ja nicht mehr wie früher ... Aber die Ordnung ist wohl die alte, dachte er bitter. >Das Neue Jahr, die Ordnung ist die alte, das Lager ist von rostig kaltem Stacheldraht umringt, und wachsam blicken Hundeaugen, kalte, wie kalter Stahl ringsum von allen Seiten blinkt ...< Na-na-na, sagte er sich. Doch nicht in solchem Grade ... Stimmt, nicht in solchem. Es ist nicht tödlich, dafür aber wird einem übel. Mir. Und ihm? Wird ihm etwa nicht übel? Er stand auf und ging - für alle Fälle vorsichtig, um möglichst kein Knarren oder Schlurfen hören zu lassen - den Korridor entlang. Das Schlafzimmer: die Tür weit offen, die Lüftungsklappen in den Fenstern weit offen, die Gardinen zugezogen, still, leer. Das Wohnzimmer: die Tür weit offen, still, leer, die Stehlampe brennt. Er selbst liegt in seiner Lieblingspose auf dem Sofa: die Zeitung quer überm Bauch, die lange krumme Nase zur Decke gerichtet, ein Pantoffel ist auf den Fußboden gefallen. Er schläft. Die Augen sind geschlossen. »Was ist los?« erkundigte sich der Sensei sogleich. Wie sich zeigte, hatte er die Augen durchaus geöffnet, nur zusammengekniffen, und sie blickten sehr aufmerksam und interessiert. »Sie sind wieder an mich herangetreten«, sagte Robert. Der Sensei schwieg ein paar Sekunden lang, dann fragte (oder erklärte?) er: »Herr Firago.« »Ja. Er hat gefragt, wie die Arbeit an dem Manuskript vorankommt.« »Darum ist er mir auf die Nerven gegangen, so gut er konnte. Ich dachte noch: Was ist uns denn da für ein Esel untergekommen, daß Gott erbarm. Dabei wollte er einfach, daß ich möglichst bald abziehe ... Und was haben Sie ihm gesagt?« »Ich habe gesagt, daß ich mit ihm nicht rede. Sollen mich seine Vorgesetzten vorladen.«
Der Sensei stand ächzend auf und setzte sich, wobei er mit dem Fuß nach dem verlorenen Pantoffel fischte. Die Zeitung rutschte zu Boden, er beachtete sie nicht. »Wieso waren Sie so streng zu ihm, Robin?« »Wie hätte ich denn sein sollen?« »Na, ich weiß nicht ... Sie hätten die legitime Wißbegier eines Mitarbeiters der zuständigen Organe befriedigen können. Ihm erzählt, wie die Arbeit vorankommt: Ich bin bald fertig, wenn es soweit ist, werde ich sofort ... Der Mann ist doch nicht sein eigener Herr, wozu also ihn so streng abbürsten.« Robert machte zwei Schritte, bückte sich, hob die Zeitung auf, legte sie möglichst akkurat zusammen und brachte sie bei den Papieren auf dem Zeitungstischchen unter. Dann sagte er: »Mir ist von ihm übel geworden, Sensei, das ist alles.« Der Sensei erklärte (als zitiere er einen Grundsatz): »Sie wissen über uns nur das, was wir ihnen selber sagen. Also sollen sie's doch wissen. Das, was wir beide ihnen sagen.« »Und wozu sollen die überhaupt etwas über Sie wissen?« »Das ist ihre Arbeit. Eine Drecksarbeit. Aber interessant! Finden Sie nicht?« »Ich weiß nicht«, sagte Robert. »Und will es auch nicht wissen. Mir wird von denen übel.« »Die normale Reaktion eines normalen Menschen«, sagte der Sensei billigend. »Sie sind ein absolut gesunder und normaler Mensch, Robin. Wozu ich Sie beglückwünsche.« »Das heißt, Sie bestehen weiter darauf, daß ich ...« »Ich bestehe darauf, Robin. Aufs entschiedenste. Es wird den Kräften des Friedens und des Fortschritts nützen. Das können Sie mir glauben.« Es war klar, daß er abermals nichts richtig erklären oder auch nur andeuten würde. Und es war klar - sonnenklar -, daß er ein Ziel hatte, einen Plan, ein Vorhaben. Und er würde dabei mitziehen müssen. Wenn er nun schon einmal für ihn arbeitete. »Was haben wir heute zu Mittag?« erkundigte sich der Sensei. »Was hätten Sie denn gern?« »Fischsuppe. Und Sandwiches aus Schwarzbrot mit Adschika.«
Robert konnte nicht an sich halten, er grinste wie ein zufriedener Säugling. »Wahnsinnig ungesund!« »Pfeif drauf. Alles ist ungesund. Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre: >Alles, was im Leben Spaß macht ...<« »>Alles Gute im Leben ist entweder illegal oder unmoralisch, oder es macht dick.< Das Erste Pardosche Postulat. Na schön, überredet. Sie bekommen Fischsuppe und Schwarzbrot mit Adschika.« »Mit Butterbrot und Adschika!« »Mit Butterbrot und Adschika.« Der Sensei seufzte zufrieden, legte sich wieder lang und faltete die Hände auf der Brust. »Wunderbar«, sagte er. »Dann bleibe ich noch ein Weilchen horizontal. Nach dem Mittagessen ist Schlafen Silber, aber vorher - Gold!« Robert widersprach nicht. Er kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück, und sofort klingelte es an der Tür. Um diese Zeit war niemand bestellt, und Robert, schon im voraus mit finsterer Miene, ging nachsehen, wer sich da eingefunden hatte. Wie sich herausstellte, hatte sich der unglückliche Wadim >Resulting Force< eingefunden, schon durchaus nüchtern, aber - mit seiner gestopften grauen Windjacke, seiner Ledermütze - entweder einem Penner ähnlich oder einem versoffenen Studenten: durchgefroren, zusammengekrümmt, rotnasig und naß. »Ich will zum Sensei«, erklärte er gleich an der Tür auf Roberts verwundert-unfreundlichen Blick hin. »Der Sensei hat zu tun.« Damit schien er geradezu gerechnet zu haben. »Na, dann setze ich mich einfach zu dir. Geht das? Oder hast du auch zu tun?« Und in der Frage klang solch eine erbärmliche Bereitschaft, das Schlimmste hinzunehmen, solch ein zermalmter Stolz, solch eine Hoffnungslosigkeit mitsamt kläglicher Anmaßung, daß Robert unwillkürlich zur Seite trat, um ihn hereinzulassen. Im Korridor ließ er ihn die Windjacke auf einen Bügel hängen, die durchnäßten Turnschuhe aus- und Gästepantoffeln anziehen,
führte ihn ins Bad, gab ihm ein Handtuch, damit er sich die Visage abtrocknete. Wadim fügte sich ohne Einwände und sogar bereitwillig, und Robert dachte, daß er solch einen Wadim schon lange nicht gesehen hatte: still, folgsam, gehorsam. Anscheinend hatte die gestrige >Säuberung des Seelenraumes< ihr lichtes Werk getan. Zunächst hatte er ihn ins Dienstzimmer führen wollen, entschied dann aber, das sei zu nahe am Sensei, und wählte die Küche. Zumal er in Kürze ohnehin das Mittagessen zubereiten mußte. In der Küche setzte sich Wadim wie ein wohlerzogener Junge auf den Hocker, die Hände unterm Hintern, und sie unterhielten sich. Durchaus zivilisiert. »Soll ich ein Teechen kochen?« »Tee-schön?« »Ja, Tee-schön. Soll ich?« »Was hast du denn für welchen?« »>Kräftigen<.« »Na, ich hoffe ja, daß es kein dünner ist.« »Nicht doch. Er heißt so: >Kaiserlicher<. >Kräftiger<. Tee.« Wadim sang nachdenklich: »>Großer Tiger< - diesen Tee trinkt ein jeder gern ...« »Klar. Vielleicht ein Kaffee-schön?« »Trinken wir Kaffee, den Staat bringt's in die Höh!« »Hm. Du bist heute gut in Form. Vielleicht ein bißchen Wodka?« »Nein«, sagte Wadim entschieden. »Davon hab ich genug. Zumal ich jetzt ein innerlich reiner Mensch bin. Hast du übrigens gesehen, wie er das macht?« »Bogdan? Nein. Hab ich nie gesehen. Und?« »Nun ja. Es wäre interessant, das zu sehen. Diese >Reinigung< ist doch kein Firlefanz. >Reinigung des Subraums<.« »Ich weiß nicht, ich hab's nicht gesehen«, wiederholte Robert. »Ich weiß, daß er mit seinem Zögling, mit diesem Wowa, zu dir ins Zimmer gegangen ist, und nach einer halben Stunde ist er dann wieder herausgekommen, sehr finster, und hat gesagt: »Fertig, das reicht für ihn, den Scheißkerl ...< Das heißt - für dich.« »Und was hat Wowa gesagt?«
»Wowa hat gar nichts gesagt. Wowa sah aus, als habe er überhaupt nur eine nebelhafte Vorstellung, wo er sich befindet und welches Jahr wir haben.« »Diese Reinigung ist 'n starkes Ding«, sagte Wadim. »Ich erinnere mich an nichts. Aber als ich erwachte - als ob das gar nicht ich selbst wäre. Als ob ich von irgendeinem lange verschleppten Dreck genesen sei ... Kannst du dir das vorstellen?« »Nein.« Wadim nickte und schaute an Robert vorbei zum Fenster. »Als sei ich ein völlig neuer Mensch, und sogar einer, den ich kaum kenne. Der hat was drauf, unser Bogdan. Dabei habe ich, muß ich zugeben, nie so richtig an ihn geglaubt. Ich dachte, daß ist alles nur so ein provisorischer Pfusch. Für alte Weiber ...« Er schwieg einen Moment. »Freilich, es wird jedenfalls nicht lange vorhalten. Leider.« Robert hatte keine Lust, in Einzelheiten zu gehen. Und er wußte ja selbst, daß es nicht lange vorhielt. »Und wo ist Matwej?« fragte er. Einfach so. Um das Thema zu wechseln. »Dem bin ich abgehauen.« »Wirklich? Und ich dachte, er sitzt unten in seinem Auto.« »Er sitzt sicherlich irgendwo in seinem Auto, aber wohl kaum hier unten ... Was willst du von ihm?« »Nichts weiter. Ich wollte ein bißchen mit ihm reden.« »Red doch ein bißchen mit mir«, schlug Wadim vor. Und sah dabei ganz ernst aus. (Worüber?, wollte Robert sogleich fragen. Worüber sollen wir uns jetzt unterhalten? Uns beieinander beklagen, wie unglücklich wir sind - halb zerschmetterte Opfer von gewalttätigen Erpressern?) »Und was hältst du davon?« sagte Robert statt dessen. »Wovon?« »>Gott hat das Weltall erschaffen< - ist das eine Gödelsche Behauptung oder nicht?« »Was ist >eine Gödelsche Behauptung« »Na, eine, die man weder beweisen noch widerlegen kann.«
Wadim schaute ihn an, verzog den Mund und murmelte dann: »Deine Sorgen möchte ich haben.« Und da entschloß sich Robert plötzlich. Was soll's? Er konnte es ruhig wissen. Er erhofft sich ja immer noch etwas, hat sich gerade hereingedrängelt, um sich zu erniedrigen ... »Du hast dich vergebens hier hereingedrängelt«, sagte er. »Der Sensei wird uns nicht helfen, und das sogar aus zwei Gründen. Erstens will er offensichtlich, daß wir dein Problem selbst lösen. Ohne ihn.« »Klar. Und zweitens?« »Und zweitens ist der Ajatollah sein Kunde.« »Das lügst du«, sagte Wadim, und seine Augen sahen wieder wie gestern aus - die Augen eines erfolglosen Bettlers, nur eines nüchternen. »Leider nicht. Ich lüge nicht. Du kannst also nur auf dich selbst zählen.« Jetzt betrachtete ihn Wadim mit plötzlicher Verwunderung. »Hör mal, du bist ein grausamer Mensch. Warum? Oder kannst du mich aus irgendeinem Grunde nicht leiden?« »Nichts dergleichen«, sagte Robert nervös. »Ich kann nur nicht mehr mitansehen, wie du dich ohne jeden Sinn abquälst. Dir wird niemand helfen, vergiß es. Wir können nicht, und er will nicht.« »Schönen Dank auch«, sagte Wadim langsam. »Hast deinen Kameraden getröstet. Schönen Dank, mein Lieber und Guter ...« Robert setzte das Gespräch nicht fort. Er wandte Wadim den Rücken zu und zog (geräuschvoll) den Gemüsekasten hervor. Er wählte vier möglichst große Kartoffeln aus, warf sie (geräuschvoll) ins Abwaschbecken. Streckte die Hand nach dem Messer aus. Ihm war widerwärtig zumute, als habe er eine unnötige und völlig nutzlose Gemeinheit begangen. Obwohl es in Wahrheit seit langem Zeit gewesen war, ihm zu sagen, wie die Dinge lagen. Die Wahrheit. Die bittere. Die Wahrheit ist überhaupt etwas wenig Appetitliches und manchmal vollends Ungenießbares ... Sollte er nun sein Bitteres, Ungenießbares verdauen. Da war nichts zu machen - er mußte nun so oder so damit zurechtkommen ...
Und da bemerkte Robert plötzlich, daß es hinter seinem Rük-ken irgendwie ungewöhnlich still geworden war. Als sei da gar niemand. Als sei Wadim (völlig lautlos) aufgestanden und gegangen. Verschwunden. Als habe er sich in Luft aufgelöst. Robert schaute rasch über die Schulter. Wadim saß in derselben Haltung wie zuvor da (Hände unterm Hintern), nur den Kopf hatte er zwischen die Schultern gezogen und sah aus wie ein kranker Sperling. Seine Augen waren weit offen, doch er schien nichts zu sehen. »He«, rief Robert ihn leise. »Ja doch ...«, antworte Wadim ebenso leise. »Was hast du?« »Was denn?« Wadims Gesichtsausdruck änderte sich keineswegs. Er sprach wie im Schlaf. »Ist dir schlecht, oder was?« »Nein«, sagte Wadim. »Es geht mir gut.« Plötzlich lächelte er, und das sah seltsam und sogar ein wenig beängstigend aus, als habe ein lebloser Gegenstand zu lächeln begonnen. »Die Fresse ist verschwunden!« verkündete er plötzlich. »Was für eine Fresse?« »Die rote«, sagte Wadim noch immer wie im Schlaf. »Vom General. Mit dem Schnurrbart.« Robert langte nach dem nächsten sauberen Glas, goß rasch Mineralwasser ein und hielt es Wadim unter die Nase. Der wehrte ab. »Hör auf!« sagte er irritiert, zog eine rot angelaufene Hand unter sich hervor und schob das Glas verärgert weg. »Mit mir ist alles in Ordnung. Du verstehst nicht: Die Fresse ist verschwunden. Ein halbes Jahr lang hat sie mir vor Augen gestanden wie angeklebt, Tag und Nacht, und jetzt hab ich hingeschaut - und sie ist weg!« »Und was ist da?« fragte Robert für alle Fälle. »Nichts. Leere ...« Er nahm Robert plötzlich das Glas ab und trank es gierig aus. »Brr, ich bin sogar in Schweiß geraten. Na so was ...« Er wollte noch etwas hinzufügen und hatte schon den Mund geöffnet, sagte aber nichts, sondern drehte abrupt den Kopf -mit dem Ohr zur Küchentür hin, und da hörte auch Robert die sich
nähernden schweren Schritte und das Schlurfen der Pantoffeln übers Parkett. Wie mein Fjodor-Kater, dachte er. Ich muß in den Bericht schreiben: >Er kann sich lautlos wie ein Luftzug bewegen, aber manchmal lärmt und trampelt er wie ein Städter im Wald ...< Fjodor-Kater. Der kann, wenn er will, auch wie ein Pferd klingen: trapp-trapp-trapp-trapp ... Der Sensei erschien in der Tür, gütig, häuslich, im Schlafanzug. »Ah«, sagte er und lächelte. »Wadim Danilytsch! Persönlich! Ich freue mich, Sie in unseren vier Wänden begrüßen zu können. Essen Sie mit uns?« Wadim stand auf, doch er tat es irgendwie seltsam, mit einer Pause - als habe er zunächst überhaupt nicht aufstehen wollen, es sich dann aber anders überlegt und sich eben doch erhoben. Und er erwiderte den Gruß nichts, sondern verbeugte sich nur schweigend ... Und verbeugte sich nicht einmal, sondern nickte nur kurz, wie man einem unerwünschten Bekannten bei einer zufälligen Begegnung zunickt. Der Sensei sagte: »Stimmt etwas nicht? Was ist es?« »Als ob Sie es nicht wüßten!« entgegnete Wadim. Dreist. Er steckte sogar die Hände in die Hosentaschen, nahm sie aber sofort wieder heraus. »Seit zwei Monaten versuche ich, zu Ihnen vorzudringen. Zu einem Empfang beim Präsidenten kommt man leichter.« Der Sensei hörte auf, gutmütig zu lächeln. »Ja. Zum Präsidenten kommt man leichter. Aber jetzt sind Sie doch hier? Ich höre.« »Was gibt es denn jetzt noch zu hören!« sagte Wadim noch immer dreist. »Es ist zu spät!« »Ach so? Es ist zu spät?« »Zu spät.« »Da heißt, ich bin jetzt frei?« »Ja mit Gott! Sie sind doch immer frei. Wer die Macht hat, hat auch die Freiheit.« »Ich danke Ihnen«, sagte der Sensei sanftmütig, und diese Sanftmut war unheimlich. Eisig. Von dieser Sanftmut lief es einem kalt über den Rücken. Robert zumindest ging es so. Aber dieser junge Dummkopf schien nichts zu sehen und nichts zu hören: Die Hände hielt er krampfhaft an der Hosennaht, die
Fäuste geballt, die Daumen abgespreizt wie bei einem Kind gleich würde er etwas Derartiges verzapfen, daß man ihn auf der Stelle hinauswarf. Wie seinerzeit Giftzahn hinausgeworfen worden war - ein für allemal. Robert ließ ein Tranchiermesser das größte - klirrend in das Abwaschbecken fallen, aber das half überhaupt nichts. Die Hysterie brach sich bereits Bahn. »Das können Sie halten, wie Sie wollen!« schrie Wadim, schon ganz in Fahrt, ohne etwas zu sehen und zu hören. »Sie halten sich ja immer abseits! ... Und sind dabei immer im Recht, nicht wahr? Wir sind ja bei Ihnen nur Kostgänger ... Sie haben uns angefuttert, nämlich, und jetzt gehören wir zu Ihnen ...« (Was für einen Schwachsinn faselt dieser zum Vieh gewordene Kretin? Was meint er, und womit denkt er eigentlich?) »... Sie aber sind obenauf! Sie sind immer obenauf! Sehen gelangweilt zu, wie das Leben strudelt. Wir strudeln hier alle wie die Verdammten, Sie aber geruhen zuzuschauen! Dabei sind wir doch nackt, haben nichtmal eine Haut, dieses ganze Gestrudel hat uns die Haut abgezogen. Macht nichts! Strudeln wir noch ein bißchen und lassen uns eine neue wachsen! So sehen Sie das doch? ... Die Götter schweigen, also widersprechen sie nicht. Kunst ist ja immer die gnadenlose Auslese der Inspirationen ... Aber wissen Sie, wie das ist, wenn man ausgelesen wird? Wenn man mutterseelenallein ist und keiner einem hilft - keine Freunde, keine Verwandten, kein Lehrer, auf den man bis zuletzt gehofft hat? ...« »Ich weiß es«, sagte der Sensei ernst, und Wadim verstummte und schluchzte nur kurz wie vor Verzweiflung. »Geh, wenn es dich zur Blindenheilung treibt«, zitierte der Sensei (völlig ernst, ohne jede Ironie, die hier durchaus angebracht gewesen wäre), »um dann, wenn dich der Zweifel packt, zu sehen, wie deine Jünger schadenfroh dich schmähen und ungerührt die Menge bleibt ...« Wadim schwieg, doch seine Fäuste öffneten sich plötzlich, und die Arme hingen locker herab. »Kommen Sie, Wadim«, sagte der Sensei zu ihm. »Ich habe Sie verstanden, aber das alles müssen wir in Ruhe besprechen.
Möglichst nicht im Stehen, sondern im Sitzen ... Es wird nicht lange dauern«, sagte er zu Robert. »Ein halbes Stündchen. Entschuldigen Sie.« Und sie gingen, alle beide: der Sensei, leicht wie eine Pusteblume, Wadim aber hinter ihm her - schon mit eingezogenem Kopf, schon fügsam -, schlaff wie ein Ballon, aus dem Luft abgelassen worden ist. Die Verbindung zum Arbeitszimmer war eingeschaltet, Robert hätte den Schalter umlegen und hören können, was sie dort redeten, doch er tat es nicht. Seine Phantasie war immer schwächer als das Gedächtnis, und er stellte sich nur vor, wie Wadim dem Sensei zu Füßen liegt, für die Dreistigkeit und Grobheit um Verzeihung bittet und ihn um Hilfe anfleht, der Sensei aber sitzt da wie Buddha und verkündet seine Koans. Um dieses wenig anziehende Bild zu vertreiben, nahm er sich wütend die Kartoffeln vor, dann die Möhren, und dann öffnete er die Konserven mit Buckellachs im eigenen Saft. Das Bild verschwand, erschien wieder, verblaßte abermals, er konnte es partout nicht loswerden, und dann ertönte plötzlich laut die Sprechverbindung, und der Sensei sagte: »Wadim geht jetzt. Begleiten Sie ihn bitte, Robert.« Er drehte das Gas unter der Kasserolle herunter und ging zu Wadim hinaus. Der zog bereits seine grauen durchnäßten Turnschuhe an, den Hintern gegen die Wand gelehnt, sein Gesicht war rot von der unbequemen Haltung, er schnaufte, sah aber weder erbärmlich noch zerschmettert aus. Mehr noch - er sah zufrieden aus. Gott sei Dank. Zum Teufel mit den Einzelheiten! Keine Verletzten und Sachschäden - was kann sich ein friedlicher Bürger, der keinen Anspruch auf die Lenkung historischer Abläufe erhebt, auf dieser Welt mehr erhoffen? ... Und trotzdem konnte er sich die Frage nicht verkneifen. »Und? Habt ihr euch ausgesprochen?« »Wenn man es so nennen kann«, antwortete Wadim, der Mühe hatte, an seiner Windjacke vorn und hinten zu unterscheiden. »Und was hat er dir gesagt?« »Hernach?« »Also gut - hernach.« »>Du hast mein Knochenmark erworben.<«
»Klar. Und zuvor hat er verkündet: »Die Zeit ist reif. Warum sollte ich dir nicht sagen, was du erreicht hast?«< »Ja, etwas in der Art. Nur daß er niemanden duzt. Auch mich nicht.« »Das ist er doch nicht selbst. Das ist Bodhidharma. In letzter Zeit interessieren wir uns für Zen-Buddhismus.« »Ja, wie das ganze Land des besiegten Sozialismus ...« Sie standen schon am Gitter, und Robert klapperte mit den Schlüsseln, öffnete die Pforte. Als sie aufging, zitierte er: »Endlich war Hui-ke an der Reihe. Er verneigte sich ehrerbietig und blieb reglos und schweigend stehen. Der Lehrer sagte: „Du hast mein Knochenmark erworben." ...< Bist du auch reglos und schweigend stehengeblieben?« »Nein«, sagte Wadim. »Ich habe ihm gesagt, daß die Fresse verschwunden ist.« »Und was hat das zu bedeuten?« »Daß ich sie geschwenkt habe. Die Röhre mit dem großen Durchmesser.« Er strahlte unverhohlen. Er war stolz. Robert gestand: »Ich verstehe nicht die Bohne. Aber ich freue mich für dich, Hui-ke. Ich bin froh, daß es wieder besser um dich steht, Hui-ke.« »Benimm dich!«*, sagte Wadim und trat in die Kabine. Während er zur Metrostation >Moskowskaja< ging, während er in den Taschen kramte, um das Geld für eine Fahrt zusammenzukratzen (das ganze Geld war irgendwohin verschwunden, in ein >Nirgendwo< jenseits aller Erinnerung), während er die Rolltreppe hinabfuhr (und dabei rannte wie in der fernen Kindheit, sich selbst und andere gefährdend, daß die Umstehenden aufgebracht riefen und die beunruhigte Diensthabende am Fuße der Rolltreppe ihn ermahnte), während er inmitten der nassen Menschenmenge auf den Zug wartete und während er fuhr, von der nassen Menschenmenge in die Haltung Stillgestanden-Hände-an-der-Hosennaht gedrängt - die ganze Zeit über zwang er sich, nicht zu denken, und dachte dennoch: >Wie? Wie habe ich das gemacht? Oder ist es von selbst passiert? Oder ist gar nichts passiert, und ich verliere einfach vor Angst den Verstand?< Denn ihm war klar, daß er nicht versuchen
durfte, das >Wie< zu verstehen. Das nützte nichts. Es war sogar gefährlich. Jemand hat mich schon früher davor gewarnt. Jemand von unseren Leuten ... Wer? Richtig, versuch dich lieber zu erinnern: Wer war das, dieser kluge-neunmalkluge Burattino, der mir gesagt hat: >Laß gut sein, quäl dich nicht, das vergeht entweder von selbst, oder es vergeht überhaupt nicht ...< Ihm fiel partout nicht ein, wer das gewesen war, obwohl ihm sowohl der Tonfall als auch der selbstsichere Blick noch in Erinnerung waren: >... und dann decken wir dich.< Im Laufe des letzten beklemmenden und übelkeiterregenden Monats waren viele zuversichtliche Worte gesagt und viele selbstsichere Behauptungen gemacht worden, doch aus irgendeinem Grund erinnerte er sich nur an dieses eine Gespräch, vielleicht, weil man ihm vorgeschlagen hatte, nichts zu tun und nur geruhsam mit dem Strom zu schwimmen - auf die Styx zu ... Vor der heimatlichen Haustür, direkt unter der orange leuchtenden Straßenlaterne, stand der bekannte >Shiguli<, schmutzig wie ein Müllcontainer. Und heraus kletterte schon eilig der aufgeregt dreinschauende Matwej, und schon ertönte die berühmte aufgeregt-befremdete Frage: »Wo warst du?« »Bier trinken«, antwortete Wadim und begann selbst zu lachen so geschickt hatte er es hingekriegt. Doch dann verging ihm das Lachen: Wie sich herausstellte, hatte Matwej nicht einfach hier gestanden und auf ihn gewartet, sondern war zu ihm nach Hause geeilt, wollte dabeisein, ihn beschützen, beobachten und überhaupt die Lage unter Kontrolle behalten. Da war keine Kontrolle notwendig, versuchte ihm Wadim klarzumachen. Alles war schon geregelt. Alles war okay ... »Aber erlaube! Wir hatten doch vereinbart ... Tengis hat es doch klipp und klar gesagt!« Ja, dein Tengis kann mich doch am Abend besuchen! Ihr braucht mich nicht mehr zu beschützen, geht euch das in den Kopf? »Was heißt: Wir brauchen nicht?« Na, rührt euch, wegtreten! - Nein, das wollte Matwej nicht in den Kopf Nachdem er Wadim aus den Augen verloren hatte, war er einen halben Tag lang durch die Straßen gefegt, hätte beinahe im Leichenschauhaus angerufen, hatte alle Bekannten aufgestöbert, war in zwölf Vergnügungsetablissements gewesen und hatte
dann noch eine gute Stunde hier unter der Laterne herumgehangen und wer weiß worauf gewartet ... Es wollte ihm nicht in den Kopf, daß seine ganze Mühe vergebens war. »Dummkopf«, sagte Wadim schließlich zu ihm. »Kannst du wenigstens verstehen, daß jetzt gleich eine Frau zu mir kommen soll? Wozu können wir beide dich dabei gebrauchen, fragt sich?« »Was denn nun wieder für eine Frau?« erkundigte sich Matwej misstrauisch. »Ljudmilka. Erinnerst du dich an Ljudmilka? Das Model?« »Ich erinnere mich an Ljudmilka«, gab Matwej zu, noch immer im Banne schrecklichen Argwohns, aber schon erheblich besänftigt. »Ich habe sie gerade so am Telefon erreicht, mich mit ihr für jetzt verabredet, ist das nicht zu verstehen?« »Irgendwie siehst du momentan nicht sehr nach einem Don Juan aus«, sagte Matwej und durchbohrte ihn mit einem Staatsanwaltsblick. »Wieso denn das? Worauf spielst du an? Ich sehe sogar sehr danach aus. Und verdirb mir nicht das Vergnügen, bitte. Verzieh dich.« Schließlich gelang es ihm, Matwej loszuwerden. Wadim lief die Treppe hinauf, schloß die Wohnungstür auf - und erstarrte auf der Schwelle. Er hatte ganz vergessen, was er vor zwei Tagen hier angestellt hatte, und bildete sich einen Augenblick lang voller Panik ein, sie seien hiergewesen - rachsüchtig und bösartig wie Harpyien, gemein und gnadenlos. Die Panik kam plötzlich und war niederschmetternd, als sei etwas in ihm explodiert; fast wäre er gestürzt - die Knie wurden ihm weich doch da kam er auch schon wieder zu sich und erinnerte sich an alles. Er ging ins Zimmer, hob die schief liegende Stehlampe (die seine Mutter so liebte) auf, stellte sie hin (inmitten vom Chaos und Müll), er schaute sich um, ging langsam zwischen den verstreuten Dingen hindurch zum Fenster, blickte durch die zugezogenen Tüllgardinen hinaus. Der würde nicht wegfahren, nein. Der würde nie wegfahren. Er würde geduldig warten, um zu überprüfen, ob die besagte Ljudmilka kam, wann sie kam, wirklich sie, um welche Zeit? ... Alles unter Kontrolle ...
Er schaute sich um, fand die Telefonschnur, folgte ihr zum Apparat, der unter alten Zeitschriften Wissen ist Macht< und Mappen mit Manuskripten verschüttet war, wählte eine Nummer. (Das Telefon funktionierte erstaunlicherweise.) Das etwas heisere Stimmchen von Ljudmilka erklärte von oben herab: »Sie sprechen mit dem Anrufbeantworter. Hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Piepton.« Der Piepton ertönte, doch Wadim hinterließ keinerlei Nachricht. So geht doch alle zum Teufel! Er knallte den Hörer aufs Telefon, stand aus der Hocke auf und schaute sich nochmals um. Grauenhaft! Eine Schande! Widerwärtigste Verwahrlosung! ... Wie ich das hasse ... Er war von Natur ein Ordnungsfanatiker und konnte Durcheinander nicht ausstehen. Vielleicht war gerade das der Grund, daß er, wenn er sich betrank und die menschliche Verfassung einbüßte, immer derart widerliche Unordnung anrichtete. Nach dem Prinzip des Doktor Jekyll alias Mister Hyde ... Er konnte froh sein, daß er wenigstens in der Gefühlsverirrung beim Persönlichkeitsverlust nicht den Fußboden vollgekotzt hatte ... Eine gute Stunde lang reinigte er sorgfältig, gründlich und sogar mit einer gewissen wohligen Leidenschaft den Augiasstall. Matwej war unten anscheinend des Wartens überdrüssig geworden (und außerdem war ihm anscheinend eingefallen, daß es einen zweiten Eingang vom Hof her gab), und er war endlich weggefahren. Als Wadim mit den verstreuten Zeitschriften fertig war, das Bücherregal aufgehoben und an seinen Platz gestellt hatte, rief Matwej an und erkundigte sich, wie es ihm gehe. Er sei auf dem Gipfel der Glückseligkeit, antwortete Wadim. »Wirklich?« Absolut. »Denk dran«, sagte Matwej, »ich bin die ganze Zeit zu Hause, und der Wagen steht unter Dampf. Wenn was ist - melde dich sofort!« Und was sei mit Tengis? Der stehe auch unter Dampf, sagte Matwej. Danke, Jungs, aber wirklich, es ist nicht mehr nötig. Alles hat sich geregelt. »Wie?« fragte Matwej . »Von selbst«, antwortete Wadim. »Aber wenn sich alles von selbst geregelt hat - das ist noch wunderbarer!«, zitierte Matwej und legte auf. Da kam Wadim ein Gedanke, und er rief die Tante in Naklashnaja an. Die Mutti kam ans Telefon, und sie redeten
miteinander. Bei ihr sei alles in Ordnung, Gott sei Dank, nur die Angina sei noch nicht weg, aber ansonsten sei alles in Ordnung. Und auch bei Wadim war alles in Ordnung. Auf der ganzen Welt herrschte eine durchgehende, lückenlose und vollständige Ordnung, er brauchte nur noch das Sofa zurechtzurücken, das in die Mitte des Zimmers gerutscht war, und die Bücher an ihre Plätze zu stellen, die den Boden bedeckten wie ein bunter Schwarm toter Vögel ... Und in diesem Augenblick fiel es Wadim ein. Ihm fiel ein, wer ihm gesagt hatte: Quäl dich nicht und streng dich nicht an, alles vergeht von selbst oder überhaupt nicht. Das hatte ihm natürlich Andrej gesagt. Der Furchtbezwinger. Gleich beim ersten Mal, als er, am ganzen Körper zitternd und verzweifelt, zu ihm gelaufen gekommen war, um sich zu beklagen und um Schutz zu bitten. »Erniedrige dich nicht mit Hoffnung. Alles vergeht von selbst, oder es vergeht überhaupt nicht. Nimm einfach an, daß du schon tot bist, und niemand kann dir etwas antun, nichts ...« Bei der Erinnerung daran erfaßte ihn abermals Furcht, ganz wie damals, obwohl es jetzt anscheinend nichts mehr zu fürchten gab. Ein langes, aristokratisches Gesicht betrachtete ihn abfällig vom anderen Ende des Tunnels her, aus irgendeinem Grund nur von links erhellt - von einem goldfarbenen, gleichmäßigen Licht. Zu alledem bin ich ja jetzt auch noch reich, dachte er plötzlich. Doch er verdrängte diesen Gedanken sofort als verfrüht und daher gefährlich. Zur selben Zeit aber saß Andrej Jurjewitsch Beljunin (genannt der Furchtbezwinger) in der Küche seines Kumpels Serjosha Wagel, unter den Alten Herren auch unter dem Spitznamen >El de Pres< bekannt. Sie wechselten ohne Eile neutrale Bemerkungen (größtenteils übers Eishockey), tranken Bier aus langen kalten Büchsen und beobachteten aus den Augenwinkeln das kleine Söhnchen von El de Pres, das auf einem eigenen Stuhl vor einem Teller saß. Das Söhnchen kämpfte mit seinem Abendbrot. Die Anordnung war wie folgt: In der linken Hand hielt er ein großes, einmal angebissenes Stück Brot, in der rechten die Gabel mit einer darauf aufgespießten Viertelbulette, und eine weitere halbe Bulette wurde mitsamt einem Häufchen
Kartoffelbrei auf dem Teller unappetitlich kalt. Außerdem befanden sich ungefähr eine Viertelbulette, eine gewisse Menge Brot und Brei hinter einer seiner Wangen, wodurch das hübsche, schwarzäugige Gesichtchen (ganz die Mama) schmerzlich asymmetrisch aussah. Die Mama war mit der älteren Schwester zur Zeit im Schwimmbad, und Papa El de Pres bemühte sich eifrig und ungeschickt, die strengen Anordnung auszuführen: >Die Buletten braten, den Kartoffelbrei warm machen, das Wesen verpflegen, ihm einen Eßlöffel Pertussin geben und um acht - ab ins Bett.< Doch das Wesen wollte sich nicht verpflegen lassen. Das Wesen hatte überhaupt niemals Appetit, und wenn sich gar der Papa der Fütterung widmete, wurde die Prozedur der Nahrungsaufnahme zur Bulettomachie und zum reinsten Zirkus. »Kau-e!« ordnete El de Pres, der zum wiederholten Male die Geduld verlor, in absichtlich nörgelndem Ton an. »Kaue und schlucke. Gram deines Erzeugers.« Der Gram machte ein paar hastige Bewegungen mit den Kiefern, schluckte nichts hinunter und erstarrte wieder in Reglosig-keit, die beinahe tragisch war. »Er will nicht«, erklärte El de Pres. »Er will nicht, und basta. Ist verstockt.« »Vielleicht sollte man ihn einfach lassen?« schlug Andrej vor, wobei er sicherheitshalber die Stimme senkte. »Was heißt: ihn lassen? Und wer soll für ihn futtern?« »Wenn er Hunger kriegt, wird er selber was verlangen.« »Was verstehst denn du davon?« sagte El de Pres mit müder Geringschätzung. »Bei deiner Vorstellung von Vaterpflichten ...« Andrej schloß fest die Augen und hob beide Hände (Handflächen nach vorn) zum Zeichen, daß er schwieg, sich ergab und überhaupt für immer den Mund halten würde, El de Pres aber verkündete entschieden, schon nicht mehr an ihn gewandt: »Also. Du kaust und schluckst hinunter, was du im Munde hast! Dann ißt du auf] was auf der Gabel ist, und die Hälfte vom Brei, und ich lasse dich laufen. Abgemacht?« Der Gram nickte eilig und fing sogleich zu kauen an - vorbildlich und demonstrativ, mit dem ganzen Körper: Er klapperte bei
dieser Gelegenheit sogar mit den Zähnen, ruckte auf dem Stuhl hoch und fuchtelte heftig mit der Gabel, auf der das Stück Bulette stak. (Vielleicht in der Hoffnung, das Stück werde herunterfallen und das Problem sich von selbst lösen?) »Willst du noch Bier?« erkundigte sich der erfahrene Vater bei Andrej, während er aufstand und zum Kühlschrank ging. »Wir haben >Tuborg<, unter anderem.« »Danke, mir reicht es.« »Och, was sind wir doch steinhart!« »Weißt du, wie der Genosse Stalin den Genossen Molotow genannt hat?« »Ich weiß: einen steinharten Leninisten.« »Hm. Fast. Er hat ihn einen >steinernen Hinterm genannt.« »Ach so? Und - mißbilligend? Oder lobend?« »Eher lobend.« »Das ist doch seltsam«, bemerkte El de Pres tiefsinnig. »Wen man auch hört, bei allen ist der Genosse Stalin immer guter Laune, gutmütig und zu Scherzen aufgelegt ...« "Das nennt man >Auslese der Beobachtungen«" erklärte Andrej. »Die, die ihn bei schlechter Laune gesehen haben, haben einfach nicht überlebt, und ihre Erzählungen hat die Geschichte uns nicht überliefert.« »Kann sein«, stimmte El de Pres zu. »Aber vielleicht war er wirklich kein schlechter Kerl? Hm?« »So wie dein Chef?« »Wen meinst du?« erkundigte sich El de Pres, bei dem sich augenblicklich professionelle Wachsamkeit einstellte (als habe jemand in der Menschenmenge eine Hand in die Innentasche des Jacketts gesteckt). »Was heißt: >wen Hast du so viele Chefs?« »Ah ... Nein, mein Chef ist in Ordnung. Ich kann nicht klagen. Ein trauriger Mann mit langem Haar.« Andrej schaute ihn verwundert an. »Du bist ja ein Dichter! Wie das klingt: >Ein trauriger Mann mit langem Haar
Da spürte Andrej den Blick des schwarzäugigen Wesens auf sich und wollte ihm schon aufmunternd zuzwinkern ... oder irgendeine komische Grimasse schneiden ... oder wenigstens mitfühlend den Mund zusammenpressen ... Doch er ließ es bleiben. Er hatte seine Erfahrungen. Kinder konnten ihn nicht besonders gut leiden, das wußte er. Irgend etwas an ihm weckte ihr Mißtrauen: Sie versuchten, nicht mit ihm zu reden, gingen nicht auf Spiele ein und auch nicht auf seine Scherze. Das betrübte ihn, aber wiederum nicht allzu sehr. Es ist natürlich unangenehm, wenn so ein sympathisches Kerlchen einen feindselig und mißtrauisch anschaut, aber es gibt ja wohl schlimmere Situationen, nicht wahr? Zum Beispiel, wenn einen irgend so ein teuflischer Pitbull feindselig anschaut. »Also«, erklärte Papa Serjosha entschiedenen Tones, der diesen Blickwechsel bemerkt, aber völlig falsch verstanden hatte. »Werden wir nun essen, oder werden wir mit Onkel Andrej Zublinzeln spielen?« »Ich will Saft«, erklärte der Gram und wich einer direkten Antwort auf die Frage aus. »So. Ein legitimer Wunsch. Ich gieße dir Saft nach. Trink. Aber danach schluckst du sofort, was du im Munde hast, und hol dich der Teufel, gib diese Bulette her, und das Brot kannst du liegen lassen, leg es auf den Teller, ich räume alles weg, nur dieses Stück Bulette ißt du auf ... das auf der Gabel. Abgemacht, oder?« Das ähnelte einer vollständigen und bedingungslosen Kapitulation und war im Grunde auch eine. Großmütig ignorierte Andrej die vernichtende Niederlage des erfahrenen und geschickten Papas Serjosha und fragte: »Nun gut. >Ein trauriger Ritter mit langen Haaren.< Und genauer?« »>Ein trauriger Mann.< Wenn du schon zitierst, dann richtig.« »Entschuldige. >Ein Mann.< Und was, fragt sich, ist das für ein Mann? Es sind Legenden über ihn im Umlauf. Ist das alles wahr?« »Kommt darauf an, was.« »Daß er aus Menschen Schäfchen macht, zum Beispiel.« »Wie das?«
»Da kommt jemand zu ihm«, erklärte Andrej, »irgend so ein Mafioso. Ein Menschenfresser. Und heraus kommt er friedlich wie ein Lamm. Als Vegetarier.« El de Pres wiegte den Kopf. »Höre ich zum erstenmal.« »Daß seine Wohnung eine Mischung aus Ermitage und Lou-vre sei. Mit lauter altertümlichen Waffen behängt, allen möglichen Rüstungen, Jatagans ...« »Das weiß ich nicht. Ich war nie bei ihm zu Hause.« »Hast du ihn denn überhaupt jemals gesehen?« fragte Andrej sacht. El de Pres fauchte nur geringschätzig, stand dann auf und ging wortlos aus der Küche - unnatürlich lautlos und leicht bei seiner Masse. Andrej sah den Gram an und - er konnte sich doch nicht beherrschen - schnitt ihm eine Grimasse in dem Sinne: So also steht es, mein Freund - was hast du doch für einen nervösen und leicht erregbaren Papa ... Es kam freilich keinerlei Kontakt zustande, das Bürschchen wandte den Blick zur Seite - und biß sogar von den Resten der Bulette ab, um nur nicht mit dem unangenehmen Onkel zu kommunizieren. (Seine rechte Wange wurde sogleich noch praller.) El de Pres kam zurück (ebenso plötzlich und lautlos) und hielt Andrej ein Farbfoto von unbeschreiblicher Schönheit unter die Nase: Sommer, Grün, eine luxuriöse weiße Limousine von abnormer Länge und daneben irgendwelche Leute - sie stehen bei den aufgerissenen Türen. »Wer, glaubst du, ist das?« fragte El de Pres mit unaussprechlicher Verachtung. »Du.« »Und das?« »Ich weiß nicht.« »Er. Beachte übrigens: gleich daneben. Nämlich.« »Verstehe. Du hast gewonnen. Ich gebe auf.« Aber tatsächlich: >Ein trauriger Mann mit langen Haaren.< Ein blasses, leicht fülliges Gesicht, gesenkte Mundwinkel, die Augen wegen der Sonne ein wenig zusammengekniffen (in der Hand eine dunkle Brille). Alle ringsum lächeln, zeigen die Zähne - er nicht. Ihm ist traurig zumute. Oder vielleicht langweilig. Er wirkt
irgendwie ... unmodern! Genau das ist es: unmodern. Unmoderne Kleidung - abgetragen und durchhängend. Ein unmodernes Gesicht ... Der Gesichtsausdruck unmodern ... Und diese allgemeine traurige Schlaffheit ... »Und wer ist die Frau?« »Seine Ehefrau. Aljona Grigorjewna.« »Schön.« »Na weißt du!« »Sie ist schö-ön ...«, wiederholte Andrej. »Haben sie Kinder?« »Ja. Ein Söhnchen. Alik. Der hat uns da fotografiert.« »Und der da, mit dem Stöckchen?« El de Pres streckte die Hand aus und nahm ihm das Foto weg. »Wenn du viel weißt, weißt du, was dann passiert?« »Herrg... Was sollen das schon für Geheimnisse sein! Warte, was steht denn da geschrieben? Zeig!« El de Pres zeigte es, und zwar mit Vergnügen. Auf der Rückseite stand in deutlicher Kinderschrift (mit Faserstift): >Für El de Pres mit Dank für alles<. Und eine verschlungene, unleserliche Unterschrift. Und ein Datum: Juli vorigen Jahres. Ohne Tag. Wahrscheinlich, weil die Aufnahme an einem Tag gemacht, die Unterschrift aber an einem anderen gegeben worden war. »Und warum nennt man ihn den Ajatollah?« »Er heißt Chan Awtandilowitsch«, sagte El de Pres scharf. »Oder Herr Hussainow. Und du solltest keine Dummheiten nachbeten.« Andrej betrachtete ihn schweigend: wie riesig, schwarz, bedrohlich und von gerechtem Zorn erfüllt er war. Dann sagte er: »Erinnerst du dich an den Kailas?« »Na«, antwortete El de Pres und wurde sogleich sanfter, wurde Serjosha, Serge, der Graue, der Zahnlückige. »Der Schwarze Berg. Das Tal des Todes. Titapuri ...« »Die >Heimstatt des hungrigenTeufels< ...« Serjosha war nicht mehr böse, sein Blick wurde nachdenklich. »Wenn ich damals den Herrgott selber Ajatollah genannt hätte, wärst du mir da etwas böse gewesen?« »Na, eigentlich bin ich ungläubig ...« El de Pres war drauf und dran, von der plötzlichen Erinnerung vollends weich zu werden, wurde aber sofort wieder streng. »Genug!« sagte er zu dem
Gram-Wesen. »Du hast mich geschafft. Verschwinde, daß ich dich nicht sehe. Spielzeug aufräumen! Du hast für alles zehn Minuten ... Gib die Gabel her ...« Der Gram gab freudig die Gabel mit dem Stück Bulette her, rutschte vom Stuhl und stapfte freudig weiter in die Wohnung hinein, wobei der aus der Strumpfhose herausgerutschte Zipfel des karierten Flanellhemdes wedelte. »Nicht die Kraft siegt«, sagte Andrej belehrend, »sondern es siegt die Geduld.« »Wovon redest du?« fragte El de Pres mißtrauisch, ging der Frage aber nicht weiter nach - er steckte den Rest der Bulette in den Mund, die Gabel aber warf er ohne aufzustehen und ohne zu zielen quer durch die ganze Küche ins Abwaschbecken. Es klirrte. »Hör mal«, sagte Andrej nachdenklich. »Was meinst du, warum mich die Kinder nicht mögen?« »Wer mag dich denn überhaupt?« »Hm. Stimmt auch wieder. Obwohl ... die Frauen! Die Frauen lieben mich.« »Das ist keine Liebe«, sagte El de Pres wegwerfend. »Das ist Lüsternheit. Was hat das mit Liebe zu tun?« Andrej fiel aus irgendeinem Grunde sofort der Witz von dem Mann ein, der seiner Angetrauten einmal ein scharfes Pornovideo vorspielen wollte, er erzählte den Witz aber nicht: Serjosha hatte immer Schwierigkeiten mit Humor. Komische Geschichten kamen bei ihm nicht an, und im Leben nahm er nie etwas Komisches wahr. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, pflegte er zu sagen. »Mir passiert nie etwas Komisches ...« Er war ein strenger Bursche. Dafür aber zuverlässig wie ein Rolls-Royce. »Und woher weiß er, daß du El de Pres bist?« fragte Andrej plötzlich und wurde diesmal augenblicklich verstanden, obwohl anscheinend schon von etwas ganz anderem die Rede war. »Da wundere ich mich selbst«, gestand El de Pres. »Er weiß es irgendwoher. Er weiß überhaupt alles.« »Aber du hast es ihm nicht gesagt?«
»Natürlich nicht. Wozu? Und wann denn? Er hat überhaupt nur zweimal mit mir gesprochen: als ich für ihn zu arbeiten begonnen habe und als er mich abkommandiert hat ...« »Wohin denn nun wieder abkommandiert?« »Na, zur Leibwache von diesem, von dem Professor, unserem Kandidaten.« »Aha ...« »Ich bin ja nicht ganz zu ihm übergewechselt«, erklärte El de Pres, während er eine neue Dose aus dem Kühlschrank holte. »Zu dem Kandidaten. Das ist ja nur für die Zeit der Wahl.« »Und, ist die Arbeit schwer?« »Nicht doch. Normal. Ich würde sogar sagen - läppisch. Wer will denn was von ihm, von unserem Professor?« »Es heißt aber, seine Umfragewerte sind plötzlich steil angestiegen«, bemerkte Andrej beiläufig. »Ja, heißt es. Ich habe heute morgen im Stab angerufen - dort sind alle ganz aus dem Häuschen. Aber eigentlich ist es seltsam - wieso plötzlich?« »Ich habe keine Ahnung«, log Andrej. Gewisse Vorstellungen dazu hatte er durchaus. »Überhaupt, was soll's? Ich kann es gar nicht erwarten, daß dieser ganze Quatsch vorbei ist und ich zu meinen Leuten zurückkehre. Ich habe es satt. Die Mannschaft von diesem Professor sind lauter Nervenkranke. Irgendwie angeknackst.« »Was hast du denn erwartet? Hohe Politik.« »Na ja, hohe ...«, knurrte Serjosha El de Pres. »Turmhoch. Vielleicht soll ich dir doch noch ein Bier geben? Was nuckelst du schon seit über einer Stunde an der leeren Dose?« »Danke, nicht nötig. Mir geht's auch so gut.« »Hast du Angst zuzunehmen?« »Nein. Ich habe vor gar nichts Angst, wie du vielleicht schon gehört hast.« »Hab ich, hab ich ... Als Leibwächter bist du keinen Pfifferling wert.« »Wieso denn das?« »Weil«, erklärte El de Pres belehrend, während er die nächste Dose öffnete, »ein richtiger Leibwächter vor allem Angst haben
muß. Nur dann nützt er etwas. Eine Tante in der Menge holt einen Spiegel heraus - um sich die Lippen anzumalen -, und du bist verpflichtet, sofort zusammenzuzucken und aufzumerken.« »Das ist vielleicht eine Arbeit! Den ganzen Tag lang so zusammenzucken?« »Klar doch. Wie'n Verdammter. Aber anmerken lassen darf man sich natürlich nichts. Aussehen mußt du - wie die ägyptische Sphinx. Ein >steinerner Hinterm ...« Er lachte, aber irgendwie unfroh. Sein Gesicht wirkte auf einmal älter, die Augen reglos. »Irgend so ein Idiot, der seinen Hund Gassi führt, schaut irgendwie falsch drein...« Er verstummte, murmelte dann: »Weißt du, ich werde lieber doch noch einmal anrufen ...« Er holte ein Mobiltelefon aus der Gesäßtasche und drückte auf einen Knopf. »Irgendwie bin ich plötzlich unruhig geworden«, erklärte er wie zur Entschuldigung. »Ich verstehe selber nicht, warum ... Tolja, bist du das? Ja, ich. Und, wie sieht's bei euch aus? ... Tatsächlich? ... Ihr macht einen drauf? Ob das nicht zu früh ist? ... Ich sage, habt ihr nicht zu früh angefangen? ... Ja? Na, Gott sei Dank ... Dann mach. Mach, sage ich! ... Bis morgen ... Sie sind ganz aufgekratzt!« erklärte er Andrej, merklich froher gestimmt. »Sind aufgekratzt, die Koryphäen! Ob das nicht zu früh ist?« Zehntes Kapitel Sonntag. Finale Er stand in der Küche vor dem offenen Kühlschrank, aß ein belegtes Brot mit Rührei und schaute nach, was sonst noch im Kühlschrank zu holen wäre. Draußen vor dem Fenster fiel hell und langsam der Schnee, es war still und ruhig. Er genoß es, an nichts zu denken. Heute war es ihm bemerkenswert leicht und angenehm, an nichts zu denken, um sich fühlte er eine leichte und warme, zärtliche flauschige Leere und nichts als diese Leere. Vielleicht zum erstenmal seit einem halben Jahr.
Er hatte sich hervorragend ausgeschlafen und genoß das Vorgefühl, wie er das Wohnzimmer in Schuß bringen würde, wo er schon gestern in erheblichem Maße Ordnung geschaffen hatte, aber nicht genug, zweifellos nicht genug. Das Zimmer rief im Gedächtnis noch immer den alten Reklamespruch wach: >So sieht ein schwer zu entfernender Fleck unter dem Mikroskop aus.< Ich muß diese Gelegenheit nutzen, dachte er voller Vorfreude. Die Bücher endlich in der richtigen Anordnung aufstellen: die Gesammelten Werke für sich, die Belletristik für sich, und zwar nach dem Alphabet, die phantastische Literatur für sich, in das Regal links ... An der Tür klingelte es (er schaute automatisch auf die Kuckucksuhr des Großvaters) Punkt zwölf: ding, ding, ding-dingding - jemand von den >alten Herren< hatte sich eingestellt. Höchstwahrscheinlich Matwej - mit seiner konzentriert zielstrebigen Nase und dem ein für allemal erstarrten quälenden Mitgefühl auf dem langen Gesicht. Er mußte ihn sofort was zu essen holen schicken, jawohl. Die Hauptsache war, ihn nicht zur Besinnung kommen zu lassen, und Brot war keins im Hause ... Doch wie sich zeigte, war es nicht Matwej: Unter tragischen Brauen hervor schaute ihn aus tragisch-schwarzen Augen ohne Lidschlag ein völlig unbekannter Mann mit Barett an. Bei ihm, hinter seinem Rücken, waren im ewigen Halbdunkel des Treppenhauses noch irgendwelche Leute zu sehen, und als er sie sah - er hatte sie noch nicht erkannt, nur erblickt -, blieb Wadim die Luft weg, und alles, was sich in ihm seit gestern beruhigt zu haben schien, was scheinbar ganz erledigt war, vergangen und unumkehrbar, kam plötzlich hoch und explodierte, als sei eine Bombe in einen Sumpf eingeschlagen. Von dieser schrecklichen Explosion in seinem Inneren schien er sogar für einen Moment blind geworden zu sein, er hatte verstanden, wer das war (wie ein Hund versteht - ohne Worte, ohne Namen, ohne Bezeichnungen), und da sprach der Mann mit dem Barett: »Guten Tag, Wadim Danilowitsch. Ich möchte nur für ein paar Minuten zu Ihnen, erlauben Sie?« Wadim trat gehorsam vor ihm in den Korridor zurück, und der Mann mit den tragischen Brauen folgte ihm, nahm im Gehen
seine Mütze ab, hinter ihm aber traten jene beiden aus dem Halbdunkel, und zwar voran der Elegante mit dem knöchellangen Ledermantel, aristokratisch blaß, widerwärtig bekannt, mit dem lackierten Zeigestöckchen in der rechten Hand. Und da sagte Wadim heiser: »Nein. Der da nicht. Ich erlaube es nicht! ...« Und der Mann mit dem Barett bat sogleich (ohne sich im geringsten zu wundern und sehr höflich) den AristokratischEleganten: »Erast Bonifatjewitsch, bleiben Sie draußen. Bitte. Und du, Semjon, auch. Es dauert nicht lange ... Darf ich ablegen?« fragte er Wadim. »Ja«, sagte Wadim, dem ein Anfall plötzliches Hasses die Kehle zuschnürte. »Ja, natürlich.« Der Haß wich ebenso plötzlich, wie er gekommen war, doch seine Gedanken und Gefühle schwirrten ungeordnet durcheinander. Dieser Mann (das war ja ganz offensichtlich), just dieser Mann hatte ihn das letzte halbe Jahr über gequält, gepeinigt, eingeschüchtert (und das aufs schändlichste, daß sich Wadim vor Angst in die Hosen gemacht hatte), da war ja der Unmensch - das Vieh, der moralisch Entartete, der langsame Henker, der verdammte Kinderverkrüppler, das Schwein, der Abschaum ... Er mußte ihn auf der Stelle schlagen. Ihm gegens Schienbein treten. Ihm ins Gesicht spucken ... Doch statt dessen empfand er auf völlig unerklärliche Weise, gegen jede Natur, gegen Vernunft und Logik für ihn jetzt freundschaftlichste Sympathie, eine Art zärtliche Resonanz und sogar aus irgendeinem Grunde Mitgefühl. Es war irgendwie klar, daß er, dieser Mann, sich jetzt selbst in einem quälenden seelischen Zwiespalt befand, moralisch krank war, daß er ganz gewöhnliches menschliches Mitleid brauchte, und Wadim verspürte den dringenden Wunsch, dieses Mitgefühl irgendwie zum Ausdruck zu bringen ... Zum Beispiel, indem er ihm beim Ausziehen half. Und Wadim nahm ihm die federleichte Pelzkutte aus den Lländen und hängte sie an die Flurgarderobe, und das schwarze mephistophelische Barett mit den Tropfen halb getauten Schnees legte er auf das Tischchen unter dem Spiegel.
»Treten Sie ein«, bat er mit der größten ihm zu Gebote stehenden Freundlichkeit und begleitete ihn ins Wohnzimmer, obwohl er ihn zunächst in die Küche hatte führen wollen, wohin er jeden seiner eigenen Leute gebeten hätte. Aber das war denn doch keiner von den eigenen Leuten. Ein sehr sympathischer Mensch, der dringend und offensichtlich seelischen Trostes und sogar der Hilfe bedurfte - aber keinesfalls einer von den eigenen Leuten. Ein Fremder. Ein ganz und gar Außenstehender ... Und es war ja unmöglich, einfach so, ohne jede Vorbereitung, ohne die mindeste Strafe (und sei es auch nur pro forma) all die Kränkungen und Wunden zu vergessen, die ihm noch vor ganz kurzer Zeit zugefügt worden waren. Über diese seine zusammenhanglosen und sogar widernatürlichen Empfindungen verwundert, bat er den Gast, in Muttis Sessel Platz zu nehmen, setzte sich selbst gegenüber und erkundigte sich in durchaus weltmännischem Ton: »Vielleicht etwas Tee?« Er wußte genau, daß sie keinerlei Tee brauchen würden und daß es überhaupt kein weltmännisches Gespräch geben würde, und er verstand derlei Gespräche auch gar nicht zu führen, dennoch zwang ihn etwas, diese Frage zu stellen und die höfliche und wohlbegründete Ablehnung mit einem erwartungsvollen Lächeln zu quittieren. »Danke, nein«, sagte der Gast und wirkte dabei überaus ernst. »Für den Morgentee ist es etwas spät, und bis zum Five-o'-clock, werden Sie zugeben, ist es noch ziemlich lange hin ...« Er machte eine mikroskopische Pause und stellte sich vor: »Ich heiße Chan Awtandilowitsch. Wir sind doch noch nicht miteinander bekannt?« »Sehr angenehm«, sagte Wadim. Irgend etwas mußte er ja antworten. (Obwohl er eigentlich ganz anders hätte antworten müssen: >Von wegen - nicht bekannt! Von diesem unserem Mangel an Bekanntschaft ist mir sozusagen die Haut in Fetzen abgegangen. Besonders an den Fingern.< Freilich, das wäre grob gewesen. Unanständig, unangemessen grob. Und unangebracht.) »Außerdem nennt man mich oft den Ajatollah«, fuhr Chan Awtandilowitsch mit derselben traurigen Ungezwungenheit fort.
»Das wissen Sie wahrscheinlich. Aber so nennen mich nur die, die mit mir nicht bekannt sind.« »Ja«, sagte Wadim. »Ich verstehe Sie.« Und er verstand jetzt wirklich sehr gut, daß nur jemand völlig Außenstehendes und Fremdes, der nie diese sanfte traurige Stimme gehört, nie die tragisch gebrochenen Brauen und die langen schwarzen Haare gesehen hatte, die das schmale blasse Gesicht umrahmten - daß nur ein ganz hoffnungsloser Wilder und Barbar, ein unverbesserliches Vieh, ein Penner aus dem Keller solch einen prächtigen traurigen Menschen mit diesem düsteren asiatischen Spitznamen >Ajatollah< in Verbindung bringen konnte. »Wie ich sehe, haben Sie hier eine Reparatur?« sagte der Gast halb fragend, halb feststellend, während er sich unverhohlen umblickte. »Ja ... etwas in der Art ... Ich räume auf ...« Wadim fiel ein, wie die Unordnung entstanden war, und hätte beinahe wieder einen Anfall von Erbitterung erlitten, doch wieder traf er auf den traurigen Blick von Chan Awtandilowitsch, und wieder verflüchtigte sich die Erbitterung, wich dem Mitgefühl und der Bereitschaft zum Mitleid, sobald welches vonnöten war. Es trat eine kurze Pause ein, fünfzehn Sekunden beiderseitiger Peinlichkeit - als wisse der traurige Mann nicht, womit er eine neue Seite des Gespächs beginnen sollte, und schwanke, krampfe sich innerlich ob der eigenen Unsicherheit zusammen. Wadim spürte diese Schwankungen und diese Unsicherheit beinahe körperlich, er hätte nur zu gern geholfen, gern irgend etwas gesagt, um das Schweigen zu durchbrechen, wußte aber partout nicht, was. Er konnte das Gespräch doch nicht gut auf den Schnee vorm Fenster bringen? ... (Und außerdem dachte er plötzlich daran, daß der Gast durchaus nicht so selbstsicher und gewichtig war, wie er sich zeigen wollte und wie es auf den ersten Blick schien. In ihm steckte tatsächlich ein gewisser nicht zu fassender Wurm, eine verborgene Befürchtung, vielleicht sogar Furcht? Und das war unverständlich und unangenehm, und es störte wie ein Niednagel.)
»Vor allem«, begann Chan Awtandilowitsch schließlich doch eine neue Seite, »erlauben Sie mir, Sie zu beglückwünschen. Sie haben eine Heldentat vollbracht, die ... Ja, ja, ja, bestreiten Sie es bitte nicht: Jeder, der etwas Unmögliches vollbringt, vollbringt eine Heldentat!« Wadim gedachte überhaupt nicht, es zu bestreiten, obwohl es auch in gewisser Weise sonderbar gewesen wäre, diesen unerwarteten und sonst übertriebenen Komplimenten zuzustimmen. Mindestens wäre es unbescheiden gewesen. Nur zu gern hätte er mit irgendeinem Reklamespruch geantwortet, doch wie zum Tort kam ihm gerade jetzt nichts Passendes in den Sinn, und er zuckte nur mit den Schultern, als wolle er sagen: >Na schön ... was war da schon ... nicht der Rede wert ...< »Merkwürdig, aber Sie sehen überhaupt nicht glücklich aus«, sagte Chan Awtandilowitsch erstaunt. »Sie sehen erschöpft aus.« »Das bin ich auch«, stimmt Wadim zu, vom Scharfsinn des Gastes frappiert. »Ich bin müde wie Sisyphos«, fügte er plötzlich hinzu, für sich selbst unerwartet. »Können Sie sich vorstellen, wie erschöpft Sisyphos war, als es ihm endlich gelungen war, seinen Stein auf den Berg zu wuchten?« (Na sowas, wie schön ich das formuliert habe, dachte er erstaunt. Wo kam das denn her?) »Ich kann es mir vorstellen«, sagte Chan Awtandilowitsch bereitwillig. »Sehr gut kann ich mir das vorstellen, und ich glaube, er hat sich überhaupt nicht glücklich gefühlt.« »>Das Glück findet man nur auf ausgetretenen Wegen.<« »Stimmt. Woher stammt das?« »Puschkin hat das öfters gesagt. Ich glaube, es stammt von Chateaubriand. Oder von Montaigne? Ich weiß nicht mehr. Mir kam das sehr treffend vor: Das Glück - das sind die Liebe, Familie, Freunde ... Unbedingt etwas Wohlbekanntes, Gewöhnliches, keinerlei Exotik ...« »Ja. Sehr treffend. Sehr.« Und wieder trat ein Schweigen ein, das sich dehnte. Das Thema >Glück< schien erschöpft zu sein, das von Sisyphos' Erschöpfung erst recht. Das Gesicht von Chan Awtandilowitsch
bekam einen leidenden Ausdruck, doch er nahm sich zusammen und sagte, als beginne er einen Vortrag: »Das liegt ja nur daran, daß im gegenwärtigen Rußland auf den Posten eines großen Chefs entweder ein ehemaliger Parteigenosse* oder ein sogenannter kräftiger Wirtschaftsmann kommen kann, oder einer aus den bewaffneten Organen ...« »Oder ein Großkrimineller«, warf Wadim nicht ohne Bosheit ein. Er konnte es sich einfach nicht verkneifen. Es lag ja auf der Hand. »Ja, selbstverständlich.« Chan Awtandilowitsch zog es vor, die Spitze nicht zu bemerken, oder er bemerkte sie wirklich nicht. »Bei uns ist ein Großkrimineller einfach eine Abart von jemandem aus den Organen: eine verborgene, geheime, bedrohliche Kraft ... Aber darum geht es mir nicht. Ich wollte sagen, daß Ausnahmen möglich sind, wenngleich wenig wahrscheinlich. Mehr noch, sie sind vielleicht sogar gefährlich. Da wird, beispielsweise, ein Arzt gewählt - und die Leute holen sich einen Papa Doc in russischer Ausführung auf den Hals. Können Sie sich einen Papa Doc in russischer Ausführung vorstellen?« »Nun, wie soll man das sagen«, entgegnete Wadim. »Die virtuelle Geschichte ist immer schrecklicher als die reale.« Chan Awtandilowitsch klatschte lautlos in die Hände. »Sehr treffend. Doch warum glauben Sie, ein russischer Papa Doc sei virtuelle Geschichte?« »Weil die virtuelle Geschichte eine ist, die Wirklichkeit hätte werden können, es aber nicht geworden ist.« »Sie ist es geworden!« sagte Chan Awtandilowitsch durchdringend und mit Nachdruck. »Dank Ihnen, immerhin, ist sie gerade Wirklichkeit geworden.« Wadim betrachte eine Zeitlang sein blasses, traurig lächelndes Gesicht. »Aber Sie wollten doch selbst, daß der Intelligenzler gewinnt«, brachte er schließlich hervor. »Ich verstehe nicht ...« »Ich wollte das?« wunderte sich Chan Awtandilowitsch. »Sie irren sich! Mir war es völlig gleichgültig, das versichere ich Ihnen ... Denken Sie doch, was kümmert mich das alles? Etwas anderes ist es, daß schon der Versuch selbst, den Gang der Ereignisse zu
verändern ... Die >Röhre von großem Durchmessen zu schwenken - so nennen Sie das doch anscheinend? -, das ist ja ein Wunder. Daran von Anfang an zu glauben war unmöglich ...« »Warten Sie«, unterbrach ihn Wadim nervös. »Wollen Sie sagen, daß nicht Sie mir den Auftrag gegeben haben ..., die Röhre zu schwenken?« »Selbstverständlich nicht ich! Sie messen meiner Person gar zu große Bedeutung bei. Ich hätte es niemals selbst gewagt, Ihnen solch eine Aufgabe zu stellen. Aber man hat mich gebeten, und ich hätte mir unmöglich erlauben können, die Bitte abzuschlagen.« »Wer hat Sie gebeten?« »Was denn, das wissen Sie nicht? Haben es nicht erraten?« »Nein.« »Nein?« Chan Awtandilowitsch befand sich sichtlich in einer heiklen Lage. Es hatte den Anschein, daß er das begonnene Gespräch schon bedauerte. »Aber in diesem Fall bin ich mir durchaus nicht sicher, ob ich imstande bin ... Wozu? Das hat doch keinen Sinn ...« »Was hat keinen Sinn?« Chan Awtandilowitsch antwortete nicht. Lügen wollte er offensichtlich nicht, die Wahrheit sagen noch weniger. Nach einer ganz unzweideutigen und unverhohlenen Pause sagte er plötzlich: »Letzten Endes, welchen Unterschied macht es für Sie aus? Die Hauptsache ist ja etwas anderes. Die Hauptsache ist, daß sich alle Ihre Probleme jetzt erledigt haben. Alle. Sie haben gesiegt. Und das heißt, wie einer meiner Bekannten sagt, >Sie können ganz ungezwungen atmen<.« Das war eine ziemlich niederträchtige Abwandlung eines sehr bekannten Verses. Im Grunde ein fader Witz. Hier völlig unangebracht. Doch gesagt hatte Chan Awtandilowitsch es mit so plötzlich hervorbrechendem und keineswegs scherzhaftem Hochmut, und er war plötzlich so unzugänglich und majestätisch geworden, daß Wadim (über sich selbst erstaunt) auf einmal innerlich erzitterte und auf seinem eigenen Gesicht ein widerwärtig herausforderndes Lächeln bemerkte. Sogleich fiel ihm Puschkin ein: >Zum Teufel, ich habe die Gemeinheit in allen
Adern gespürt<, und um gegen diese unvermittelte und beschämende Vorstellung anzukämpfen, verkündete er mit Reklamepathos: »>Freier Atem! Schnell und lange!«« Doch Chan Awtandilowitsch sah anscheinend nie fern, weshalb er auch diesen törichten Ausfall überhaupt nicht verstand. Er zog nur fragend die tragischen Brauen in die Höhe, als warte er auf eine Fortsetzung oder wenigstens Erklärung, doch er wartete vergeblich und wiederholte: »Welchen Unterschied macht es für Sie aus, Wadim Danilowitsch? Sagen Sie lieber: Was werden Sie jetzt tun? Sie haben noch nicht darüber nachgedacht, was Sie jetzt tun werden?« Das war eine gute Frage, weil Wadim natürlich über nichts dergleichen nachgedacht hatte. Und nicht vorhatte, darüber nachzudenken. Jetzt wollte er nur verstehen, wer ihm das eingebrockt hatte und wozu. Ein völlig nutzloser und sogar törichter Wunsch, aber dafür nur zu natürlich. »Und warum soll ich überhaupt darüber nachdenken?« fragte er gereizt. »Darum«, sagte Chan Awtandilowitsch durchdringend, »daß Sie jetzt in gewissem Sinne zu einer Quelle der Evolution geworden sind.« »Na und?« »Ja, eigentlich ist das nichts Besonderes ... Höchstens ... daß Sie aufmerksamer sein müssen. Irgendwo habe ich gelesen: Die Evolution vernichtet die sie hervorbringenden Ursachen ...« »Das habe ich auch gelesen«, sagte Wadim langsam. »Und auch irgendwo ...« Das Telefon klingelte unerwartet, so daß sie beide aus irgendeinem Grunde zusammenzuckten und Wadim abermals (beiläufig) bemerkte, daß sein Gast nur selbstsicher aussah, in Wahrheit aber angespannt war und die ganze Zeit irgendeine Unannehmlichkeit zu erwarten schien. Er nahm den Hörer ab. »Hallo.« »Das ist Andrej«, sagte der Furchtbezwinger. »Er ist bei dir?« »J-ja ... Wen meinst du eigentlich?« »Wo sitzt ihr? Im Wohnzimmer?« »Hm.«
»Oder in der Küche?« »Nein, im Wohnzimmer. Und?« »Nichts. Für alle Fälle«, gab der Furchtbezwinger eine unverständliche Erklärung ab. »Du bleibst vor allem standhaft«, fügte er hinzu. »Halte noch an die fünf Minuten aus, wir sind gleich da.« »Was heißt - >wir« fragte Wadim, doch der Furchtbezwinger hatte schon aufgelegt. Wadim tat das auch und sagte mit einem Schulterzucken zu dem Gast: »Ein sonderbarer Anruf Die Jungs werden anscheinend gleich zu Besuch kommen ...« Er sagte es als Entschuldigung, doch der Gast faßte es ganz anders auf und schickte sich an, sofort zu gehen. »Ja, natürlich, natürlich ...«, sagte er hastig. »Entschuldigen Sie, ich sitze hier bei Ihnen herum, dabei wollte ich weiter nichts, als Ihnen meine Bewunderung ausdrücken ... Und übrigens, hier ...« Er griff ins Jackett, erfaßte dort etwas, blieb aber hängen, wurde rot vor Peinlichkeit, brachte dann doch ein Bündel Dollar mit einer Banderole hervor und legte es mitten auf den Tisch. »Glauben Sie bitte nicht, daß ...« Da verzerrte sich plötzlich sein Gesicht auf ungewöhnliche Weise - als habe man ihn mit Feuer versengt oder als erblicke er ein widerwärtiges Gespenst. »Was ist das?!« schrie er beinahe, wobei er krampfhaft aufsprang und sich hinter dem Stuhl verschanzte. Wadim schaute sich um und sprang ebenfalls hoch. Aus dem Schlafzimmer kam, ein plötzlich aus dem Nichts aufgetauchtes knisterndes Rascheln verbreitend, etwas Schwarzgestreiftes, Großes, schwebte durch die Luft auf sie zu, eine Art fliegende Qualle, die Wadim groß wie eine Handfläche vorkam - mit einem Büschel herabhängender regloser, wie gelähmter Fühler oder Beine, der längliche schwarzgestreifte Körper zuckte ohne ersichtlichen Grund, und wie ein Hubschrauber-Propeller stand darüber ein durchsichtiges raschelndes Flirren. Es war eine riesige Wespe. Eine Tigerhornisse. Vorigen Sommer war plötzlich ein Nest davon überm Balkon aufgetaucht, und er hatte einen richtigen Krieg gegen diese fingerlangen Ungeheuer führen müssen, die furchtlos waren und gefährlich wie eine fliegende Viper.
»Yok-kelemene! ...«, flüsterte Wadim und wich unwillkürlich zurück. Die Hornisse schwebte schon über dem Tisch, gerade auf Chan Awtandilowitsch zu und zielte mit ihrem Körper gleichsam auf ihn - langsam, schrecklich, unabwendbar, und Wadim schlug verzweifelt mit der Hand nach ihr, ohne rechtzeitig an die möglichen Folgen zu denken oder auch nur richtig zu erschrecken. Er traf (das Gefühl in der Hand war, als habe er in einen Haufen trockener Blätter geschlagen). Die Hornisse fiel auf den Tisch, direkt auf das Geldbündel, und lag platt darauf, die gestreiften Beine ausgestreckt, immer noch mit dem langen gestreiften Bauch zuckend und ohnmächtig mit den geäderten gelblichen Flügeln schlagend. Sie war ungeheuerlich, unnatürlich groß - von der Länge eines Mittelfingers -; Wadim hatte derlei noch nie gesehen und nicht einmal geglaubt, daß es so etwas gebe. »Danke«, sagte Chan Awtandilowitsch, fast ohne die verstummten Lippen zu bewegen, und fügte sogleich mit Verzweiflung in der Stimme hinzu: »Noch eine! Herrgott ...« Aus dem Schlafzimmer schwebte mit knisterndem Surren eine zweite heran - noch größer, noch schrecklicher, noch gefährlicher anzusehen. Diese aber flog mit sichtlicher Mühe wie ein angeschossenes Bombenflugzeug, das es gerade noch bis zum heimatlichen Flugplatz schafft; natürlich zog sie keine Spur von öligem Rauch hinter sich her, doch da war diese mechanische Anspannung, fast Kraftlosigkeit, eine gewisse Unsicherheit, als fliege sie blind, ohne zu wissen, wohin und wozu. Hubschrauber sind die Seelen abgeschossener Panzer<, fiel Wadim aus heiterem Himmel ein. Dieser riesige, schwerfällige, halbtote Bomber sah auch wie jemandes Seele aus - die Seele irgendeines unterirdischen giftigen Ungeheuers - und keineswegs unsterblich, sondern im Gegenteil so, als wolle sie im Fluge das Zeitliche segnen. Sie kam gerade bis zum Tisch und fiel unweit der ersten herab, an die zwanzig Zentimeter von ihr entfernt, und im Unterschied zur ersten zappelte sie nicht einmal - sie lag reglos und kraftlos auf dem Tischtuch, als sei sie zerquetscht worden.
Chan Awtandilowitsch war schon im Korridor. Panisch mit den Händen fuchtelnd, ja geradezu mit dem ganzen Körper, zog er krampfhaft seine Kutte an, fand die Ärmellöcher nicht, krankhaft grau, mit plötzlich hervortretendenden mehrtägigen kohleschwarzen Bartstoppeln - seine Lippen bewegten sich unablässig, er murmelte etwas Unverständliches, davon, es sei »schon das zweite Mal« und »alles kein Zufall - da droht jemand ...« (Oder >dreht) Wadim half ihm, die Kutte anzuziehen, schüttelte die Tropfen vom Barett und reichte es ihm; er begriff nichts, die Situation kam ihm fast phantasmagorisch vor, nichts war verständlich an diesen teuflischen Hornissen, die plötzlich mitten im Winter zum Leben erwacht waren (Wo waren sie bisher gewesen? Unterm Bett? Hinterm Sofa? Im Kleiderschrank?), und besonders unverständlich war diese Panik, dieses beinahe unanständige Entsetzen, das jetzt seinen traurigen Gast quälte. An ihm war keinerlei Trauer mehr. Keinerlei Würde. Nur die unerklärliche pathologische Panik ... Da schellte die Türklingel, und sofort hieb jemand mit der Faust gegen die Tür. Plötzlich waren erregte und unangenehm laute Stimmen zu hören - drei oder vier Stimmen, Männerstimmen, anscheinend unbekannte. »Herrgott!« rief Chan Awtandilowitsch aus. »Die werden sich doch dort gleich gegenseitig umbringen!« Er riß die Wohnungstür auf, und auf dem Treppenaufgang, im ewigen stinkenden Halbdunkel, nur von der Lampe im Wohnungskorridor erhellt, zeigten sich vertraute Gesichter: Andrej der Furchtbezwinger (überheblich und voller Verachtung stieß er kurze Flüche aus), Jura der Polygraf (ein Paket mit Nahrungsmitteln in den Armen, rosig, ja sogar rot im Gesicht, und ebenfalls fluchend) und der Semjon von vorhin (mit seinem grauen Igelschnitt, der an den Augenbrauen anfing, und - zum Teufel! -mit einer richtigen Pistole schußbereit in der Hand). Sie alle schrien einander gleichzeitig an, und es war kein vernünftiges Wort zu verstehen außer absolut finsteren Schimpfwörtern.
Chan Awtandilowitsch verwandelte sich - augenblicklich und nicht wiederzuerkennen. Ohne eine Sekunde zu verlieren, sprang er zwischen sie, die Arme weit ausgebreitet. »Stopp-stopp-stopp!« schrie er mit gebieterischer und unerwartet lauter Stimme. »Aufhören! Degen in die Scheiden, meine Herren, die Degen in die Scheiden! Semjon, steck das Schießeisen weg. Sofort! Aljoscha!« (Das war an jemanden gerichtet, der außer Sicht einen Treppenabsatz weiter unten stand und wohl auch eine Pistole in der Hand hielt.) »Alexej, beruhige dich! Es passiert nichts Schlimmes. Niemand hat vor, jemanden anzugreifen, nicht wahr, meine Herren?« (Das war nun an den Furchtbezwinger gerichtet, immer noch sehr laut, aber in überaus wohlwollendem Ton und sogar mit wohlwollendem Gesichtsausdruck.) »Die heilige und reinste Wahrheit«, antwortete der Furchtbezwinger und hörte auf der Stelle mit den obszönen Flüchen auf - er war jetzt wunderbar, edel und majestätisch wie König Artus in Lebensgröße. Oder wie Sir Nigel. Oder wie Lord Glenarvan. Er war nun die reinste Freude, ihn anzuschauen wenn Wadim nicht die Knie gezittert hätten bei dem Gedanken, daß der in klassischer Kampfpose erstarrte Semjon (wie auch der von hier aus unsichtbare Aljoscha) gleich aus seiner riesigen vernickelten Pistole das Feuer eröffnen würde - er dachte nicht daran, sie >in die Scheide« zu stecken. »Wir zumindest ...« Der Furchtbezwinger betonte das >wir< derart stark, daß ihm sogar ein wenig die Stimme überkippte, doch er berichtigte sich sofort: »Wir zumindest haben nicht vor, anzugreifen. Aber wir haben vor, zu verteidigen! Und das aufs entschiedenste.« »Wen und gegen wen?« erkundigte sich Chan Awtandilowitsch und machte einen Schritt zu Seite, um mit der Hand nun doch das vernickelte Schießeisen des unnachgiebigen Semjon Richtung Fußboden zu drücken. »Sie wissen genau, wen und gegen wen«, erklärte der Furchtbezwinger von oben herab. »Tun Sie nicht so! Alle wissen doch alles. Sagen Sie mir lieber, bitte - Sie treffen doch schon den ganzen Tag auf kleine, aber widerwärtige Unannehmlichkeiten, mein Herr? Nicht wahr?«
»So ist es«, sagte Chan Awtandilowitsch nach einem ganz winzigen Zögern. »Ich hoffe, Sie waren klug genug, zu verstehen, daß das durchaus keine Zufälle waren?« »Das war also I-ihr Werk ...«, sagte Chan Awtandilowitsch gedehnt und sogar mit einer gewissen Befriedigung. »Stellen Sie sich vor - ja.« »Herrgott, aber wozu?!« »Wir wollen, daß Sie unseren Freund in Ruhe lassen.« »Sie meinen Wadim Danilowitsch? Aber ich habe doch nicht das Geringste gegen ihn! Wir beide haben die allerbesten Beziehungen. Und ich achte und schätze ihn zutiefst ...« »Das ist mir neu«, preßte der Furchtbezwinger zwischen den Zähnen hervor und schaute Jurka den Polygrafen fragend an. Jurka der Polygraf (glasklar nüchtern und angespannt wie vor einem großen Kampf) fixierte Chan Awtandilowitsch schon wie ein Vorstehhund die Waldschnepfe. Er fing den Blick des Furchtbezwingers auf und nickte - kurz und deutlich, als setzte er das Wappensiegel unter einen geprüften Text. Und da blickte der Furchtbezwinger schon zu Wadim hin, die Lippen auf überaus komische Weise zusammengepreßt. »Ihr könnte mich mal kreuzweise«, sagte Wadim zu ihm mit trockener Kehle. Er hatte endlich die Stimme wiedergefunden. »Beschißne Verteidiger ...« Damit war die Klärung (respektive Unterredung, respektive Konfrontation] glücklich zu Ende, und die hohen klärenden Seiten trennten sich, jede anscheinend mit sich selbst zufrieden und anscheinend auch mit dem Ergebnis. Zumindest äußerlich sah es just so aus. Chan Awtandilowitsch ging, nachdem er sich vor allen anderen verbeugt hatte, in Begleitung von Semjon und Aljoscha nach unten (zu seinem Mercedes), ihm entgegen aber kamen betont geruhsam und würdevoll herauf: Beelzebub mit spöttischer Siegermiene und Matwej, der das Kettchen mit den Autoschlüsseln leichthin um den Zeigefinger kreisen ließ und niemanden direkt anzuschauen wünschte. Hier ging es ganz ohne Verbeugungen und Reverenzen ab, wenngleich durchaus auf dem Niveau des vereinfachten diplomatischen Protokolls (das
heißt kühl, aber ohne wechselseitige drohenden Ausfälle, Schreie und Blankziehen von Schießeisen). Und dann drängte die ganze Truppe geräuschvoll, trampelnd und mit Siegesrufen in die Wohnung und fegte den Hausherrn von der Schwelle seiner eigenen Wohnung. Die Anspannung der Kampfbereitschaft war von ihnen abgefallen - sie fanden das Leben leicht und gut, es war ausgestanden -, sie waren auf einmal rosig, fröhlich, stimmgewaltig und allem auf der Welt gegenüber wohlgesonnen. »Was haben Sie denn hier für grüne Stilleben!« schrie Beelzebub auf, kaum daß er im Wohnzimmer war. »Wo haben Sie die aufgerissen, Wadim Danilowitsch?« Wadim zeigte ihm schweigend den Finger und steckte das Bündel in eine Gesäßtasche der Jeans (die mit dem Reißverschluß). Die Hornissen lagen nicht mehr auf dem Tisch. Als hätte es sie überhaupt nie gegeben. Doch es hatte sie gegeben. »Wie haben dir meine Zöglinge gefallen?« fuhr Beelzebub fort, während er seine Kutte ab- und ins Zimmer warf. »Wie fandest du meine Vespa crabro? Haben sie den nötigen Eindruck gemacht? Unser Ajatollah, nehme ich an, hat sich in die Hosen gemacht? Bezaubernde Geschöpfe, nicht wahr? Im Brehm steht übrigens: >Ihre Nester erreichen sehr beeindruckende Ausmaße - fast von der Größe eines Eimers. < Aber der gute alte Brehm hat die heutigen Hornissenmutanten nicht gesehen!« Wadim wollte ihn fragen, wo diese beeindruckenden >Vespa crabro< sich gegenwärtig verborgen hielten und ob sie sich nicht in der Nacht bei ihm, Wadim, einfinden könnten, doch Beelzebub hörte nicht zu - mit unverändertem Feuereifer erzählte er bereits (allen, die es hören wollten oder auch nicht), wie er am Morgen für den Ajatollah ein >kleines heimeliges Theaterstückchen« mit auserlesenen Asseln (Oniscus asellus) in den Hauptrollen aufgeführt habe. Auch das mit Mutanten, versteht sich. »Mit Mutanten geht es am besten, die sind gehorsam, träge, zu allem bereit, verstehst du mich? ... Da hat er sich unbedingt in die Hosen gemacht! Garantiert! ... Schade, daß es niemand gesehen
hat, aber ich weiß auch so: Eingekackt hat sich seine Fleiligkeit nach Strich und Faden eingekackt!« Natürlich war er der Held des Tages, unser Beelzebub - der dünne, langbeinige, knochige Herr der Fliegen, alias der Rmoahal, alias der Tlawatli, alias der Tolteke - der würdige Nachfahr der Rasse der Atlantiden der Vorzeit, die mit der Macht des Wortes und des Geistes über Tiere und Pflanzen geboten. Er hatte ein Mittel gegen den unbesiegbaren Herrscher gefunden. Er hatte ihn gezwungen, seine bösartigen Absichten aufzugeben. Er hatte ihn dazu gebracht, sich in die Hosen zu machen ... Doch man hörte ihm trotzdem unaufmerksam zu, denn er war ein Schwätzer. Man umarmte ihn um die knochigen Schultern, man klopfte ihm auf den etwas krummen Rücken, zauste ihn die ohnehin struppige Mähne (gelb wie bei einem Löwen), Matwej versuchte ihn im Überschwang der Gefühle sogar auf die Stirn zu küssen, doch in der Hauptsache kümmerte man sich doch nicht um Beelzebub, sondern um die Vorbereitung des Siegesmahles: Man entkorkte die mitgebrachten Flaschen, legte das mitgebrachte Essen auf Teller, verlangte vom Hausherrn Messer und Gabeln ... Sie lärmten und amüsierten sich - die Sieger. Sie hatten nicht die geringste Ahnung, was eigentlich vor sich ging. Sie glaubten, daß von nun an alle Aufgaben glücklich gelöst seien und daß just sie diese Aufgaben gelöst hätten. Und überhaupt waren sie heute Helden. Jeder einzelne. Sie hatten den Ajatollah ausfindig gemacht und vom Morgen an durch die ganze Stadt verfolgt. Der Held Matwej hatte sich an seinen weißen Mercedes gehängt wie eine Bulldogge an ein Hosenbein und den Mistkerl keinen Schritt weit entkommen lassen - und er hatte das ziemlich professionell hingekriegt, wenn man von dem Moment an der Ecke Moskauer Prospekt/ Frunsestraße absah, wo er im Eifer des Gefechts beinahe in das weiße Luxusheck hineingedonnert wäre, aber da war Gott vor gewesen. Der Held Andrej hatte die Verhandlungen mit dem Gegner auf einer für einen gewöhnlichen Menschen unerreichbaren diplomatischen Höhe geführt: Er hatte den Mistkerl mit seiner persönlichen Überlegenheit erdrückt und zweifellos den obszön
fluchenden Semjon mit seinem beschissenen Schießeisen beim Fluchen noch übertroffen. Und was Jura den Polygrafen anging, so war der wie immer exakt, eindeutig und absolut konkret gewesen ... Auf alle diese Heldentaten wurde mit stürmischem Enthusiasmus und sogar mit einer gewissen Gier getrunken, wieder eingeschenkt und wieder getrunken. Jetzt dröhnten die Köpfe auch schon vom Alkohol. Matwej drängte es zu singen, und er sang auf der Stelle drauflos - das alte, längst von allen vergessene und außer Gebrauch geratene, aber unvergänglich schöne Lied: Auf dem Weg nach Biggle-Double (auf dem Weg nach BiggleDouble!) durch den Schatten einer Pappel ... Und Beelzebub fiel sogleich ein (mit der >vierten Stimme«): ... geht vergnügt ein junger Mann, schreitet aus, so schnell er kann, und es winkt ihm nach die Pappel ... Plötzlich stellte sich heraus, daß alle dieses Lied kannten, und aus irgendeinem Grunde standen alle auf (mit den Gläsern in der Hand), feierlich und gleichzeitig wie heim Absingen einer geliebten Hymne. ... und nun weiß der junge Mann: Bald kommt er zu Hause an, kommt er heim nach Biggle-Double! Was für eine Teufelei, dachte Wadim, während er sorgfältig die energischen Synkopen mitmachte. Was ist da plötzlich über uns gekommen? Was für eine allumfassende, plötzliche und gegenseitige Liebe? ... Seine Gedanken verhakten sich ineinander und verwirrten sich, wurden zu einem >Bart<, wie ihn jeder Angler kennt. Aus irgendeiner unerwarteten Schlinge tauchte plötzlich auf: >Die Evolution vernichtet die sie hervorbringenden Ursachen ...< Darüber mußte er nachdenken. Aber wozu eigentlich? Vielleicht lieber im Gegenteil über gar nichts nachdenken, sondern lieber noch einen trinken ... und dann wieder einschenken. Letzten Endes kann ich auf die Evolution pfeifen. Überhaupt. Hauptsache, daß wir hier alle
Brüder sind ... und für immer. Und wo wart ihr alle, als ich vor Angst die Scheißerei hatte? fragte er und zog aufs erschrecklichste die Brauen zusammen. Wo? Noch vor einer Woche? ... Und plötzlich ist es - da! - wie eine Erleuchtung über uns gekommen ... Und sofort streng: So darf man nicht denken. Das gehört sich nicht. Das ist unwürdig. Von Freunden denkt man nicht so. Von Brüdern ... Richte nicht, Bruder! (Da hat sich wohl Jurotschka eingemischt. Der Polygraf.) Ja wer richtet denn? Ich? Kein Gedanke. Das Jüngste Gericht. 'Die Entscheidung des Jüngsten Kreisgerichts ist vom Jüngsten Bezirksgericht bestätigt worden, und jetzt wird beim Obersten Jüngsten Gericht Berufung eingelegt...' O gierige Opfer des Jahrhunderts! Letzten Endes sind alle Menschen schwach. Alle ohne jede Ausnahme. Und besonders schwach sind die sogenannten Supermen: Sie kommen mit sich selbst nicht zurecht und reagieren sich an anderen ab. Die auch schwach sind ... Wieso >Unsinn Obwohl ... Und wenn es just kein Unsinn ist. Übrigens: Wenn du willst, daß man dir zuhört, dann rede Unsinn ... Da tauchte neben ihm Andrej auf, legte Wadim den Arm um die Schultern und begann, ihn sanft zu bereden, er möge mit ihm irgendwohin fahren... irgendwo weit weg, in eine unsägliche Ferne ... Er hat dort ein Hügelland, einen ganzen Planeten von Hügeln, Tausende - gleichförmige runde, nicht besonders hohe Kuppen, im Frühling seidig grün und weich, im Sommer bräunlich gelb, stachlig, Hitze ausstrahlend ... und dazwischen windet sich wie eine launische Schlange (ein riesiger Drachendarm) eine Kette von siebenundvierzig Seen von biblisch phantastischer Schönheit: der erste grün und scheinbar fest wie Malachit, ein anderer unglaublich gelb, ölig und wie tot, der dritte schwarz wie Pechkohle, doch wenn man ihn in einem bestimmten Winkel zur Sonne betrachtet, sprüht das feste schwarze Wasser in allen Regenbogenfarben, spektralrein, als sei das kein Wasser, sondern irgendein Supermonitor ... Und dort müßten sie Krebse fangen ... Es gibt dort Krebse, verschiedenfarbig und schwer wie Gold ... eigentlich sind sie sogar aus Gold: Sie ziehen Gold aus dem Wasser und dem Schlamm - Gold, Molybdän, Uran ... Jeder von diesen Krebsen ist ein paar tausend Bucks wert, aber geht
es denn um die Bucks? ... Du weißt besser als ich, daß es überhaupt nicht um die Bucks geht. ... Ich weiß. Aber wozu brauchst du mich dabei? Nimm lieber Beelzebub, der wird dort deine Krebse >besprechen< wie Schaben im Badezimmer ... Mensch, es geht doch um dein Bestes. Du weißt: Laß ab vom Bösen, und du wirst Gutes tun. Ich weiß: Wenn du vom Guten abläßt, wirst du nichts Böses tun ... Was soll daran gut sein: Die machen dich dort fertig. Heute haben wir dich herausgehauen, morgen aber werden wir es vertriefen, und haps! - haben sie dich. ... Du hast nichts verstanden, sagte Wadim zu ihm. Bei mir ist alles gut. Hervorragend! ... Laß uns einen trinken. »So seid doch still, ihr Gruftis!« brüllte Matwej plötzlich, und als es etwas stiller wurde (alle außer Beelzebub verstummten und schauten ihn an), sagte er ein paar unverständliche Worte und schloß: »... Dein Intelligenzler-Professor siegt ihm ersten Wahlgang: achtundsechzig Prozent - ein klarer Sieg!« »Und?« sagte Wadim, der mit einiger Verspätung merkte, daß er angesprochen war. »Ich mache hier die Finger krumm!« blaffte Matwej und hob den Laptop über den Kopf, mit dem er sich in einem Eckchen auf dem Sofa eingerichtet hatte. »Sie haben die Hochrechnungen veröffentlicht ... Der Soros-Fonds ... Der Professor hat achtundsechzig Prozent der Stimmen, der General siebenundzwanzig. Ein klarer Sieg im ersten Wahlgang.« »Wessen Sieg?« erkundigte sich Beelzebub, der in der Regel eine lange Leitung hatte. (»Ich begreife langsam, aber immer!«) »Des Professors!« »Wieso des Professors?« sagte Beelzebub, und sein Blick wanderte zu Wadim. Und nun schauten schon alle Wadim an, als habe der etwas getan - plötzlich, und zwar etwas Unanständiges. Er zuckte mit den Schultern. »Was versuche ich euch denn schon die ganze Zeit klarzumachen ...«, sagte er nachdrücklich. »Aber ihr hört ja nicht zu.« Alle schwiegen. Alle waren gleichsam nüchtern geworden. »Ich sag dir doch« - Wadim wandte sich an Andrej. »Man braucht mich nicht zu verteidigen. Bei mir ist alles okay ...«
»Das heißt, du hast das getan?« sagte Andrej langsam. »Hm. Na und?« »Na und?« wiederholte Andrej. »Er fragt: Na und?« »Ich hab's eben gemacht«, sagte Wadim. »Wenn ich bloß verstehen könnte: Wie?« Andrej sagte: »Das fragte er uns: >Wie?< Uns!« Und Jurka der Polygraf sagte: »Das heißt also, wir haben uns für nichts abgestrampelt? Oder doch nicht?« Und Beelzebub sagte: »Das ist vielleicht 'n Ding! Glaubst du das denn selber?« Und Matwej sagte: »Tja, und was werden wir jetzt damit anfangen?« Das war keine neue Frage, aber dafür die einzig richtige. Nur daß niemand die Antwort darauf kannte. Punkt zwanzig Uhr, als die Wahllokale geschlossen wurden und es zulässig war, begann das langerwartete Meeting vor dem Eingang zum Stabsquartier. Der Frost setzte einem schon ganz schön zu. An den Ohren zwickte es, die Finger in den Handschuhen wurden kalt, aber unter der schußsicheren Weste war es trotzdem heiß, und vor Anspannung rann ihm hin und wieder der Schweiß an Bauch und Rücken herab. El de Pres verstand selber nicht, woher bei ihm diese Anspannung kam. Auf den ersten (wie auch auf den zweiten und dritten) Blick war alles ruhig und ganz normal. Die gewohnte Vielfalt der aufblickenden Gesichter, die Augen, aufgerissen vor Angst, auch nur ein Wort zu verpassen, die halboffenen Münder und diese fieberhafte Bereitschaft, in Applaus auszubrechen, sobald der Tonfall des Redners darauf schließen läßt. Der Redner war wie üblich auf der Höhe. Er war sich absolut sicher, daß er bereits gewonnen hatte, gab sich aber bescheiden, vermied Schärfen, doch das Selbstgefühl des Siegers ließ sich nicht verleugnen, und vielleicht war er gerade darum heute besonders gut, locker und großzügig, er scherzte heute sogar, was er sich sonst niemals erlaubte. (>Die Menge liebt keine Scherze, die Menge ist immer verbissen ernst ...<) Über dem ganzen Platz, der schwarz von Menschen war, stiegen im Scheinwerferlicht Säulen weißen Dampfes aus den
schneebedeckten Gullideckeln auf, und Dampfwölkchen schössen aus jedem halboffenen Mund, der Schnee auf den am Straßenrand liegenden Haufen glänzte feierlich silbern, und dort, weiter weg, wo der Platz und die Menge aus dem Lichtkreis entschwanden, glitzerte der Schnee finster an den Baumästen und auf den Sträuchern einer kleinen Allee. Auch dort standen Leute, aber wenige: Das waren zufällige Passanten - von der Sorte, die in der Allee ihre Hunde ausführten. Und noch ehe El de Pres sich richtig klar wurde, warum in ihm dieses Gefühl einer schmerzhaften Anspannung aufgetaucht war, wehte von dort, von jenseits der schwarz-weißen, finster glitzernden Sträucher, plötzlich eisige Gefahr heran, vor der es keine Rettung gab. Das war kein Zielen und nicht einmal überhaupt eine >Absicht, es zu Ende zu bringen*. Es war mit nichts zu vergleichen: Die Drohung ließ die Augäpfel vor Kälte erstarren und war gelb und glänzend. Wie frischer Eiter, aber eiskalt. Er starrte, als er sie spürte, und verlor etliche in Hilflosigkeit eingefrorene Sekunden, und dann erinnerte er sich: Dasselbe hatte sich vor ein paar Tagen ereignet, genau dasselbe, und es war von derselben Stelle ausgegangen - von den Sträuchern - und damals ebenso plötzlich verschwunden, wie es aufgetaucht war. Heute aber verschwand es nicht ... es dauerte an ... strömte mit unmenschlicher Gewalt heran ... drohte aufzubrechen, Untergang zu verbreiten, gesichtlos und unabänderlich. Es blieb nichts zu tun. Rechtzeitig zu reagieren war möglich, etwas zu tun - nicht. Vor den Professor zu springen, ihn mit dem eigenen Körper zu decken ... ihn bei dem üppigen grauen Haarschopf zu packen, diesen imposanten Körper im Pelzmantel erbarmungslos herunterzureißen, zu verbergen, hinter die über der Balustrade liegende Bleiabschirmung zu stoßen ... einfach Aufruhr zu machen ... Das alles, ja, konnte er rechtzeitig tun, doch das alles - wußte er -, das alles war zwecklos. »Deckung!« sagte er ins Laryngophon und sah noch das erstaunte Gesicht von Petja Fedortschuk, der sich zu ihm umdrehte - und alles, was er vorhergefühlt hatte und um keinen Preis verhindern konnte, geschah.
Ein leuchtend heller Fleck erschien dort, wo in der kleinen Allee die zufälligen Gaffer standen - als habe jemand eine seltsame, schlecht fokussierte Taschenlampe eingeschaltet. Ein länglicher Fleck, unregelmäßig, höckrig, mit trüben dunklen Stellen darauf ... Dieser Fleck füllte sich rasch mit gelbem Licht, als graue Schatten wirbelten Dampfschwaden darüber, alles auf dem Platz wurde gelb - die Menschenmenge, die Dampfsäulen, die aufblickenden Gesichter ... Das ist ein Gesicht, erkannte er plötzlich. Jemandes Totenmaske, erkannte er. Golden. Unbekannt ... Und da gefor ihm plötzlich die eisige Feuchtigkeit auf den Augen, und er verlor augenblicklich das Bewußtsein ohne jede ersichtliche Ursache, ohne Schmerz, ohne Übelkeit, nur auf der Zunge und in der Kehle brannte es plötzlich heftig, als habe er aus Versehen heißen Kaffee getrunken. Aber es roch überhaupt nicht nach Kaffee. Der Geruch war stark, unbekannt und eher unangenehm. Fegefeuer, dachte er entrückt - durch den gelben Nebel. Er wußte selbst nicht, woher und warum ihm dieses Wort in den Sinn kam, das er im ganzen Leben vielleicht zweimal gehört und jedenfalls nie selbst ausgesprochen hatte. Fegefeuer, Fegefeuer, wiederholte er schweigend und versuchte qualvoll, zu verstehen, warum alles ringsum gelb war und er selbst schon nicht mehr stand, sondern saß, mit dem Rücken gegen die Balustrade gelehnt - Arme und Beine spürte er nicht, die verbrühte Kehle brannte, die Augen in ihren Höhlen waren eiskalt und sahen zu (ganz von selbst, ohne sein Zutun), wie Tolja und Fanas, gebückt wie unter einem Bombenhagel, einen langen toten Körper im langen Pelzmantel ins Haus zogen. Ihnen entgegen stürzten, von Dampfwolken umhüllt, wie von Sinnen die aufgescheuchten Stabsleute und die Jungs von der inneren Wache. Und das alles geschah in gelber dichter Stille, als habe man ihm die Ohren mit festen feuchten Wattebäuschen verstopft. Petja Fedortschuk verdeckte plötzlich dieses ganze stumme Bild mit seinem Körper - er hockte sich hin, schaute ihm ins Gesicht, bewegte die Hand vor seinen Augen, und sogleich verschwand die dichte Watte aus den Ohren, und El de Pres begriff, daß das überhaupt keine Watte war, sondern das dichte hysterische
Gebrüll aus Hunderten von aufs Äußerste angestrengten Kehlen - der vereinte Schrei der Menge im äußersten Stadium der Panik. Und durch dieses Geschrei hindurch fragte Petja (ganz ruhig und sogar sachlich): »Na, wie ist's? Keine Löcher?« »Weiß nicht«, sagte El de Pres und zog die ungehorsamen Beine an. »Was war das?« fragte Petja, während er ihm aufhalf. »Weiß nicht ...« Die Knie waren weich, trugen ihn aber, und an den Händen hatte er aus irgendeinem Grund keine Handschuhe, und beide Handflächen waren zerschrammt - die kleinen länglichen Wunden waren angeschwollen, näßten, und er leckte sie automatisch ab wie in der Kindheit. »Hast du ihn gesehen?« fragte Petja. Sein Gesicht, rosig und ruhig, drückte nichts aus als sachliches Interesse. Die pechschwarzen Haare standen ihm zu Berge wie immer, und wie immer war er exakt und auf jede Wendung der Ereignisse gefaßt. Nur die >Makarow< in seiner Hand sah denn doch nicht ganz so gewöhnlich aus. »Ich weiß nicht«, sagte El de Pres zum dritten Mal und fragte selbst: »Was ist mit dem Professor?« »Ich denke, der ist hinüber«, sagte Petja. Er schaute schon nicht mehr El de Pres ins Gesicht, er blickte über seinen Kopf hinweg auf den Platz, suchte mit den Augen dort etwas Beachtenswertes und schien nichts zu finden. »Du hast ihn wirklich nicht gesehen?« fragte er abermals. Da riß sich El de Pres zusammen, drehte sich um hundertachtzig Grad und blickte ebenfalls auf den Platz. Dort wimmelte es von herumlaufenden Menschen, die aus vollem Halse brüllten und offensichtlich nicht wußten, wo sie hinrennen und Deckung suchen sollten. Das wäre einer Panik von Schaben in der Wanne ähnlich gewesen, doch es gab auch eine ganze Anzahl, die nicht herumrannte, sondern im Schnee lag - an die zwanzig Leute, vielleicht auch fünfzig; sie lagen quer über den Platz und bildeten eine fast regelmäßige Figur, ein langgestrecktes Oval, das sich von der kleinen Allee bis hier erstreckte. Manche regten sich und
schienen zu versuchen, aufzustehen, doch die meisten lagen reglos. Völlig reglos. Anscheinend waren sie auch hinüber. »Dort hinten war was«, sagte El de Pres. »In der Allee, im Gebüsch.« »Was war da?« »Ich sage dir doch - ich weiß es nicht. Hab's nicht gesehen.« »Und warum hast du >Deckung< gesagt?« »Weil ich etwas gewittert habe.« Petja schaute ihn an und spitzte die Lippen. »Nun ja, nun ja. Dafür wirst du ja auch bezahlt ... Und witterst du jetzt etwas?« »Ich weiß nicht. Eher nicht.« »Na schön«, sagte Petja entschlossen. »Gehen wir und sehen wir nach.« Sie gingen die Rampe hinab und über den Platz - Petja (die >Makarow< in der Hand) voran, El de Pres hinterher - mit weichen Knien: Als wären ihm die Beine eingeschlafen, liefen jetzt heiße Fünkchen hindurch. Links, auf dem Bürgersteig, drängten sich die Menschen; sie waren leiser geworden, schrien, aber nicht so durchdringend wie zuvor, und es waren weniger anscheinend waren die am ärgsten Verschreckten weggelaufen, und geblieben waren die unverbesserlich Neugierigen ... Rechts aber, wo die schwarzen Körper lagen, war es ganz still, nur ein trockener, krampfhafter Husten erklang von dort, qualvoll und vielstimmig wie wirres Gewehrfeuer. Und da war ein starker, etwas bitterer und hier ganz unangebrachter Geruch - wie von aufgewirbeltem alten Staub oder von angesengtem Papier. »Petja, riechst du was?« »Ja?« »Wonach riecht das?« »Es riecht danach, daß wir beide keine Arbeit mehr haben«, sagte Petja und lachte unfroh, während er einen wütenden Blick über die Schulter zurück warf. Er sagte noch etwas, aber da schrie in der Menge links jemand besonders gellend (»Einen Rettungswagen! Ruft einen Rettungswagen, ihr Idioten!«), und El de Pres hörte Petja nicht und fragte auch nicht nach. Petja war ein Witzbold, aber jetzt war
ihm nicht nach Witzen zumute. El de Pres hatte endlich erfaßt, was vorgefallen war, und diese Erkenntnis durchfuhr ihn so siedendheiß, daß er vollends zu sich kam. Er hatte es vermasselt. Der Chef hatte ihm eine Aufgabe übertragen, aber er hatte es vermasselt. Zum erstenmal im Leben, dafür aber vollständig und komplett, ohne jede vernünftige Rechtfertigung ... Aber ich konnte ja nichts machen, dachte er verzweifelt. Es war überhaupt nichts zu machen ... Ihm war klar, daß das keine Rechtfertigung war. Und er versuchte auch gar nicht, sich zu rechtfertigen. Das war so sinnloses Gemurmel - das schäbige Gemurmel der Versehrten Berufsehre. Dieses Gemurmel wird sich niemand anhören, es gibt ja auch niemanden, der es anhören könnte ... Petja schritt rasch aus, und schon waren sie in der kleinen Allee inmitten der Sträucher, Schneehaufen und silbrigen Bäume. Hier war es dämmrig und leer - nur in einiger Entfernung ballten sich ungeordnet irgendwelche dunklen, unsicher hin und her gehenden Personen. Und stille Hunde. Diese Leute hatten allesamt Hunde dabei. Und weiter gab es hier natürlich nichts. Die Quecksilberlampen schickten lebloses Licht durchs Gewirr der Zweige. Der Schnee war ganz zertreten, schwarz hoben sich Hundehaufen ab, und zwischen diesen Hundehaufen lag ganz am Ende der Allee ein regloser Körper, dessen Mütze in den Schnee gefallen war. Ein schwarzer herrenloser Pudel mit nachschleifender Leine streunte um ihn herum, und El de Pres stellte beiläufig fest, daß der Pudel heftig zitterte, und aus irgendeinem Grunde fiel ihm Mephistopheles ein ... Zwischen diesem schwarzen Pudel und Mephistopheles bestand ein Zusammenhang - welcher, hatte er vergessen. »Und? Witterst du hier irgendwas? Hm?« fragte Petja, während er wachsam um sich blickte. »Nein. Verstehst du ... es ist alles schon wieder abgeklungen ... Ich weiß nicht, wie ich's dir erklären soll ...« »Schau nur, wie sie alle daliegen«, sagte Petja. »Wie eine Zigarre, stimmst's?« Er steckte die >Makarow< ins Achselhalfter und schaute auf diesen unglaublich regelmäßigen Fleck, den die auf dem verschneiten Platz liegenden Körper bildeten. Er sah wirklich aus
wie eine Zigarre. An der einen Spitze standen sie jetzt, das andere Ende stieß auf die Balustrade, wo jetzt nichts mehr war, nur die aufgescheuchten Stabsleute ohne Mantel und Hut herumwirbelten. Als sei eine giftige Flammenzunge irgendwo hier hinter dem Gebüsch hervorgekommen und habe alle verbrannt, die sich auf dem Weg zu ihrem Ziel befanden. »Ein Flammenwerfer«, sagte Petja. »Oder eine Art Gaswerfer.« Da war überhaupt kein Flammenwerfer, wollte El de Pres sagen, doch er sagte es nicht, weil Petja selbst wußte, daß es weder ein Flammen- noch ein Gaswerfer gewesen war, sondern etwas, wovon sie noch nie gehört hatten. Und wohl auch sonst niemand. »Am ehesten ähnelte es einem Laser«, sagte El de Pres dann doch. Für alles Fälle. Ihm war klar, daß es nichts nützte. »Und warum dann eine Zigarre?« entgegnete Petja sofort. »Kusch, verschwinde«, sagte er zu dem Pudel, der sich ihm zu nähern versuchte. »Verschwinde, sag ich!« »Laß sein«, sagte El de Pres nervös. »Rühr ihn nicht an.« »Ach, zum Arsch mit ihm! Ich kann die Flohtaxis nicht leiden.« »Vielleicht gehört er zu dem ... dem hier ...« Petja bückte sich und steckte dem Liegenden zwei Finger hinter den Kragen, dann stand er wieder auf, wischte sich die Finger an der Kutte ab, verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Das Gesicht des Liegenden war grau, bleiern, leblos, und El de Pres spürte plötzlich wieder den Geruch von angesengtem Papier. Er zwang sich, sich hinzuhocken. Der Geruch ging von dem Körper aus. Doch es gab keinerlei Brandspuren. Und überhaupt keine Spuren einer Verletzung. Er lag einfach da, die schlaffen Arme unter sich, ein toter Mann mit halb offenem Mund und glasigen Augen im dunklen, sehr unrasierten Gesicht. Irgendein Penner. Reglos, irgendwie hingeworfen, genauso wie die paar Dutzend auf dem Platz. Und sie alle rochen nach angesengtem Papier. Oder nach angebranntem Brei. Oder nach verbranntem Haar ... Aber auf dem Platz waren immerhin manche am Leben geblieben. Zwei oder sogar drei regten sich, und einer war sogar aufgestanden, und von quälendem Husten geschüttelt, schwankend, fast wieder zu Boden geworfen von diesem Husten, trottete er jetzt fort, irgendwohin, nur weg von hier ...
»Und?« sagte Petja ungeduldig. Anscheinend erwartete er von El de Pres immer noch Offenbarungen. Petja war ein einfacher Mensch: Wenn wir schon in die Scheiße gegriffen haben - na schön, holen wir wenigstens irgendeine Information heraus. >Was genau ist passiert? Auf welche Weise? Wo befand er sich? Wie ist er entkommen? ...< El de Pres zwang sich zu einer Bewegung - er blickte noch einmal um sich (und entdeckte nichts Neues), ging um den Körper herum, der zitternde Hund preßte ihm die trübsinnige Schnauze gegen die Beine, El de Pres ging vorsichtig auch um den Hund herum (und dachte beiläufig: Den müßte man jetzt verhören - der hat bestimmt alles gesehen), im Schnee waren entlang der Sträucher viele Hundespuren, von Menschen überhaupt keine, und jenseits des Gebüschs lag der Schnee völlig unberührt. Man hatte wahrscheinlich direkt vom Weg aus geschossen, hinter dem Rücken von dem mit dem Pudel hervor, über seinen Kopf hinweg und über die Köpfe der Menge: Die Balustrade war von hier aus bestens zu sehen, lag wie eine Bühne im Scheinwerferlicht. Jener hatte geschossen und war seiner Wege gegangen, ohne Hast, zur Weißbirkenstraße hin, wo höchstens ein, zwei Lampen brannten und wo wahrscheinlich sein Wagen stand. Vielleicht war er aber auch die Allee entlanggegangen - ruhig, auf dem Fußweg, ohne Panik und Aufregung, zwischen den Bäumen hindurch, zwischen den Hunden und ihren Herrchen ... »Eins verstehe ich nicht«, sagte er zu Petja. »Ich habe ihn ja gewittert. Eindeutig. Aber warum war ich überzeugt, daß nichts zu machen sei? Weder decken und wegzerren - nichts. Es war hoffnungslos, verstehst du?« Er verstummte, weil er ja doch nichts richtig erzählen, geschweige denn erklären konnte. Und es war auch ein sinnloses Unterfangen - es Petja zu erklären. Was hatte Petja damit zu tun? Spar dir deine Erklärungen lieber für später auf) dachte er voller Widerwillen. Du wirst jetzt dein Leben lang Erklärungen schreiben müssen ... >Der Liebling des Präsidenten«, der alles vermasselt hat ... Aber was konnte ich denn machen, fragt sich? Meine Aufgabe war beschränkt: Ich
mußte ihn wittern. Hab ich ihn gewittert? Hab ich. Und? Und nichts! Es war nichts zu machen. Und das werde ich niemals erklären können, niemandem, dachte er verzweifelt. Wie soll ich erklären, woher ich wußte, daß nichts zu machen war? ... »Und du?« sagte er zu Petja. »Hast du denn nichts gesehen? Gar nichts?« (Petja schüttelte den rotwangigen Kopf) »Überhaupt nichts?« Er erwartete keine ernsthafte Antwort. Wieso auch? Doch Petja antwortete plötzlich - völlig ernsthaft, wenn auch knapp. Er hatte nichts gesehen. Alles war völlig normal gewesen, und dann hatte er >Deckung< gehört, sich (vorschriftsmäßig) sofort gedreht, um den >Körper< zu decken, doch der Professor fiel bereits - wie er stand, eine Hand erhoben -, fiel auf den Rücken, und Fanas und Tolja fingen ihn sofort auf. »... Und du knietest und schienst über die Brüstung kriechen zu wollen, und dann hast du dich umgedreht und dich mit dem Rücken dagegengelehnt. Und dann bist du anscheinend völlig weggetreten ...« »Und den Schuß hast du nicht gesehen?« »Da war kein Schuß.« »Und was war?« »Rein gar nichts war«, sagte Petja Fedortschuk. »Plötzlich fingen alle an zu fallen, und die anderen brüllten los und rannten hin und her wie die Schaben ... Verpiß dich, Köter!« zischte er haßerfüllt und trat dem Pudel in die Seite, der sich abermals zu nähern versuchte. Der Hund stieß einen abgehackten Laut aus, sprang fort und schoß die Allee entlang, den Kopf gesenkt, mit hängenden Ohren und die Nase im Schnee, als versuche er dort etwas für ihn Lebenswichtiges zu entdecken. Die Leine schleifte hinterher und sprang über die gefrorenen Hundehaufen. El de Pres schaute zu, wie der Hund rannte, und dachte: Ihn mit nach Hause nehmen, für Klein-Serjoshka? Das wäre eine Freude. Aber es geht ja nicht einmal das: die Allergie, hol sie der Teufel. Was ist das doch für ein lausiges, hoffnungsloses Leben! Nichts geht, und nichts liegt vor einem außer mistigen Unannehmlichkeiten ...
Er schaute noch immer dem weglaufenden Hund hinterher, als gleich von drei Seiten hupend, heulend, blinkend Rettungswagen und die >Lunochods< der Polizei auf den Platz fuhren. Lyrische Abschweifung Das Leben geht weiter Nr. 6 ... Von ihren Krankheiten weiß ich nichts Genaues. Ich weiß, daß sie Krebs hatte. Man hat ihn herausgeschnitten, anscheinend durchaus erfolgreich (>wie in einem Säckchen herausgenommen^). Ich weiß, daß sie von da an darauf gewartet hat, daß der Krebs wiederkehrt, daß er wiederkam und sie eine zweite Operation überstand, auch anscheinend durchaus erfolgreich. Sicherlich wartet sie auch jetzt darauf, wenn sie überhaupt auf etwas wartet. Ich erinnere mich an sie, wie sie jung und schön war. Ich war bis über beide Ohren in sie verliebt wie wir alle, unsere ganze Truppe. Wir haben sie umschwärmt wie die Leibhusaren, sind allesamt quer durchs Zimmer gestürzt, um ihr Feuer zu geben, haben unseren Geist blitzen lassen, uns vor ihr hervorgetan, ein jeder so gut er konnte, und wenn sie dann aus dem Zimmer ging, haben wir einander verdattert angeschaut: Was, um Himmels willen, ist denn mit uns los, Jungs? Vor unseren Augen hat sie sich in eine trockene hakennasige Hexe mit langen weißlichen Bartstoppeln am Kinn verwandelt. Nur die nußbraunen Augen sind geblieben und die Samtstimme, doch selbst das genügte uns, um von ihr begeistert zu sein. Einmal - sie war gerade nach der zweiten Operation nach Hause zurückgekehrt - hörte ich zufällig, wie sie entsetzt zu ihm sagte: »Schau nur - das da bin ich.« Das war in der Küche. Auf dem Küchentisch lag ein ausgenommenes Huhn - weiß, nackt, mit frieseligen Keulen und einer schamlosen schwarzen Öffnung dazwischen ... »Ein ausgenommenes Huhn«, sagte sie voller Entsetzen und wiederholte: »Ein ausgenommenes ...« Das war die Zeit, als sie zu trinken begann.
Endlose Kartenpatiencen auf dem Küchentisch. Liköre. Obstschnäpse. Später auch gewöhnlicher Wodka - eine Flasche pro Tag, und dann auch zwei ... Das Radio auf dem Fensterbrett, auf dem Kopf die Klammer mit den Kopfhörern, auf dem Wachstuch ausgelegte Karten, eine halbleere Flasche und ein Glas gleich daneben -das war unser gewohntes allabendliches Stilleben. Ich glaubte, sie höre Musik, doch einmal, als sie eingeschlafen war, das Gesicht auf dem Wachstuch, nahm ich die Kopfhörer vorsichtig ab und lauschte: Da sang ein klares Kinderstimmchen »Ave Maria gratia plena Dominus tecum benedicta tu in mulieribus et benedictus fructus ventris tui Jesus ...« Und ein trauriger Kinderchor fiel ein: »Sancta Maria mater Dei ora pro nobis peccatoribus ...« Ich rief ihn, und er schleppte sie mit Mühe zu Bett - sie war schon abgemagert, aber groß und damals immer noch schwer. Erst jetzt ist sie eingeschrumpft wie ein toter Luftballon ... Robert faltete die ausgedruckten Seiten in der Mitte, faltete sie nochmals, überlegte eine Sekunde, dann riß er sie entschlossen in Fetzen. Das kann man niemandem zeigen. Und es braucht auch niemand. Das Leben geht weiter. Das Leben geht trotz allem weiter: Nun ist auch schon der Sonntag fast vorüber, und der Montag steht vor der Tür. Sollte er Tengis anrufen, ihn noch einmal erinnern, oder reichte es schon? Es reicht, entschied er. Er versuchte, nicht an den nächsten Tag zu denken: das Krankenzimmer mit den zugezogenen Vorhängen, das krankhafte Gelb der Nachttischlampe, der leblose Geist elender Unentschiedenheit - noch kein Tod, aber auch kein Leben mehr ... Lenk dich ab, sagte er sich und lenkte sich gehorsam ab: Er nahm die Seiten mit der heutigen Portion vom jüngsten Artikel des Sensei, überflog den halb bekannten Text - der Sensei hatte doch noch Änderungen vorgenommen und etwas zum besseren Verständnis hinzugefügt. Es wird sich nichts verändern, solange wir nicht lernen, irgendwie mit diesem haarigen, düsteren, dreisten, faulen, schlauen Affen umzugehen, der in jedem von uns sitzt. Solange wir nicht lernen, ihn irgendwie zu erziehen. Oder zur Räson zu bringen. Oder wenigstens zu dressieren. Oder zu täuschen ... Denn nur diesen
Affen geben wir mit den Genen an unsere Kinder und Enkel weiter. Nur ihn -und weiter nichts. (Ach bin ein alter Hacker, und ich weiß genau, daß es auf der Welt kein Programm gibt, welches sich nicht verbessern ließe. Aber was heißt verbessern, wenn von der DNS die Rede ist?<) Aber was einen wirklich frappiert: Alle sind zufrieden1 Oder fast alle. Oder fast zufrieden. Die Unzufriedenen stöhnen, weinen und heulen, beten, werden von Anfällen der Menschenliebe geschüttelt, sind aber außerstande, etwas zu ändern. Es sind Heilige. Sich Aufopfernde. Ohnmächtige Fanatiker. Sie verstehen nicht, daß niemand erzogene Menschen braucht. Jedenfalls vorerst noch nicht... Das ist wie mit dem Analphabetentum - die Analogie ist vollständig. Jahrtausende hindurch waren Analphabeten die Norm, und niemanden hat es beunruhigt, außer Heiligen und Fanatikern. Es mußte etwas sehr Wesentliches im Sozium verändert werden, damit Lesen und Schreiben unerläßlich wurden. Etwas grundlegend Wichtiges. Und da lernten wie durch einen Wink von Mosis Stab binnen rund hundert Jahren alle lesen und schreiben. Vielleicht ist auch Erziehung vorerst für unser Sozium nicht notwendig? Wir brauchen keine toleranten, ehrlichen, arbeitsamen Menschen, auch keine liberal denkenden: Es besteht an ihnen keinerlei Bedarf - bei uns ist auch so alles in Butter. (>Sollen sie mich doch manipulieren. Nichts dagegen. Aber so, daß ich es nicht merke ...<). Mit dieser Welt muß vielleicht etwas Rätselhaftes und vielleicht sogar Sakrales geschehen, damit die Welt des Erzogenen Menschen bedarf. Damit er für die Menschheit vonnöten ist. Für sich selbst und seinen Nächsten. Und solange dieses Geheimnis nicht verwirklicht ist, wird alles wie eh und je weitergehen. Die elende Kette der Zeit. Die Kette gewohnter Laster und moralischer Armut. Die verhaßte Arbeit im Schweiße seines Angesichts und ein mieses Leben in Umgehung der verhaßten Gesetze ...So lange, bis es plötzlich und aus irgendeinem Grund notwendig wird, diese Ordnung zu verändern ... (>Bei uns in Rußland wirken nur zwei Gesetze: der Energieerhaltungssatz
und der Entropiesatz - und auch die werden bei Bedarf mit Erfolg verletzt. <) Robert brachte keinerlei Korrekturen an, obwohl sie sich aufdrängten. Sollte er es am Morgen selbst durchlesen und selbst korrigieren. Altruismus ist der Egoismus des edlen Menschen. Wir sind zwar Altruisten, aber nicht so große, daß wir korrigieren, was sowieso zur Korrektur verurteilt ist. Das Leben ging weiter. Es war an der Zeit, die Spritze zu geben und nach Hause zu gehen. Im Schlafzimmer brannte kein Licht. In den Morgenmantel gehüllt, lag der Sensei auf dem Bett, Gesicht zur Wand, zusammengekrümmt - er stellte sich schlafend. An der Wand über ihm spielten schwache Lichtreflexe auf dem Lack eines Bildes von Pirosmani - wie es hieß, war es ein Original. Am besten gefiel Robert der Titel. Das Bild hieß >KALTER BIER< (in großen Druckbuchstaben). »Die Spritze, Sensei. Es ist an der Zeit.« »Was für eine Spritze? Wozu? Es ist doch dunkell« »Das macht nichts, so ein Ziel ist schwer zu verfehlen. Außerdem kann man Licht machen.« »Das ist wahr ... Ob vielleicht ein würdevoller Kompromiß möglich ist?« (Der gequälte Humor eines hilflosen Greises, der in eine dunkle Ecke gedrängt war, aus der es nur einen Ausgang gab -zum morgigen Tag, zum Montag, zum Haus des Schmerzes. Solchen Humor galt es zu unterstützen, und sei es nur aus gewöhnlicher Barmherzigkeit. »Ich gehe keine Kompromisse ein«, antwortete Robert herablassend, während er die Umhüllung der Spritze aufriß. Der Sensei fragte plötzlich (ohne sich umzudrehen, immer noch mit dem Gesicht zur Wand): »Verurteilen Sie mich ebenfalls, Robin?« Na klar doch«, sagte Robert. »Aber wofür eigentlich?« Doch er hatte schon aufgemerkt - die Stimme des Sensei gefiel ihm ganz und gar nicht. »Für das, was ich mit Wadim gemacht habe.«
»Ach so? Sie haben etwas mit Wadim gemacht?« Robert versuchte immer noch, den humorvollen Ton zu wahren, obwohl schon kein Zweifel mehr blieb, daß von ernsten Dingen die Rede war. Und plötzlich begriff er. »Haben Sie es denn nicht gemerkt?« »Doch«, sagte Robert. »Jetzt eben.« »Glauben Sie, daß das zu grausam war?« »Wen kümmert schon, was ich glaube«, murmelte Robert. Vielleicht murmelte er es auch gar nicht, sondern dachte es nur. (>Ihr seid faul und abgestumpft. Gott hat euch im Übermaß beschenkt wie sonst keinen, aber ihr seid stehengeblieben ...<) Plötzlich fiel ihm Wadims Gesicht ein, kein Gesicht, sondern eine Physiognomie - feucht, verfroren, bläulich angelaufen, die Physiognomie eines unanständig, bis zum Ekel verschreckten Menschen. (War es das wert gewesen? Sicherlich ...) Und der Hundegeruch, der von ihm ausging ... Und seine Stimme - das winselnde Stimmchen eines geprügelten Lakaien ... (>Ihr seid euch selbst genug, ihr wollt nicht fliegen, es genügt euch vollauf, höher als die Masse zu springen, ihr seid zufrieden sogar die Unzufriedensten von euch ...<) Und deshalb muß man uns manchmal die Sporen geben? Schenkeldruck? Damit wir nicht stehenbleiben? Sicherlich. Wenn man einen Menschen nicht einmal ins Wasser wirft, lernt er nie schwimmen, obwohl Gott selbst die Fähigkeit dazu in ihm angelegt hat. Und wenn man uns nicht mit Fußtritten zum Zahnklempner jagt, dann laufen wir halt mit Löchern in den Zähnen herum ... Übrigens, was machte es jetzt schon aus. Er hatte es getan, hatte sein Ziel erreicht, und jetzt quälte er sich. Wadim lief doch jetzt wohl mit stolzgeschwellter Brust herum: Er war ein Sieger und hatte alle Zahnklempner hinter sich. Dieser seltsame Alte aber quälte sich, weil er sich nicht sicher war und sich partout nicht überzeugen konnte, daß das erreichte Ziel die Mittel rechtfertigte. »Mit uns geht es nicht anders«, sagte Robert so gut er konnte im Brustton der Überzeugung. »Der Sieg macht alles wett ...« (Der
Sensei hörte zu. Aufmerksam. Das Genick mit dem schwarzroten Fleck des 'teuflichen Nackenschlags' angespannt.) »Das erreichte Ziel rechtfertigt die Mittel«, sagte Robert diesem Fleck. Es war ihm unangenehm zu lügen. Aber vielleicht log er letzten Endes gar nicht? »Fertig, Ihre Zeit ist abgelaufen«, sagte er munter und brach das Ende der Ampulle ab. »Enttäuschung ist das bittere Kind der Hoffnung«, sagte der Sensei. Er lag immer noch mit dem Gesicht zur Wand. »Aber vielleicht doch etwas später? Kurz bevor Sie gehen?« »Ich bin eigentlich schon beim Gehen. Es ist elf Uhr.« »Zapfenstreich! Der Feiertag ist vorbei!« sagte der Sensei und hob den Schoß des Morgenmantels an. Elftes Kapitel Dezember. Dritter Montag. Überhaupt keine Zeit mehr Sie fuhren genau um zehn los, unterwegs schwiegen sie die meiste Zeit. Der Sensei saß auf seinem üblichen Platz (dem sichersten, hinten rechts) und sagte überhaupt kein Wort - nur ganz zu Beginn hatte er, als er sich setzte, leise Tengis begrüßt. Die Neuigkeit über den Intelligenzler hatte ihn schlechthin zerschmettert - nie zuvor hatte ihn Robert so still und folgsam erlebt. Vom frühen Morgen an, von dem Augenblick, als irgendein wohlmeinender Angestellter des Ajatollahs angerufen und das nette Geschenk überreicht hatte, wollte er nichts, war mit allem einverstanden und nickte nur, als hacke er mit der Nase, und zwar jedesmal mit einer gewissen Verspätung, als sei ihm der Sinn nicht sofort aufgegangen. Wie sich herausstellte, wußte Tengis von den Ereignissen des Vortages alles und anscheinend sogar mehr. Uber seine eigenen Kanäle. Uber die Einzelheiten schwieg er sich aus und wurde angesichts des Sensei überhaupt schweigsam. Er steuerte den Wagen mit einer für ihn ungewöhnlichen Vorsicht, fing keinerlei Gespräche an und stieß nur hin und wieder (halblaut) die nächste
Portion >dammich< hervor, vermischt mit Beschimpfungen der »beknackten Eisglätte«. Robert aber war erst recht nicht nach Gesprächen zumute. Er dachte an die >seltsamen Widrigkeiten des Lebens<, an den unglücklichen Intelligenzler-Professor, an den armen >Giftzahn<, am meisten aber daran, was sein würde, wenn sie ankamen: ob ihn der Sensei mit ins Krankenzimmer nehmen oder alles irgendwie glimpflich abgehen würde. Ins Krankenzimmer wollte er um keinen Preis. Er erinnerte sich an jenes aschfahle und völlig fremd gewordene Gesicht, den eingefallenen faltigen Mund, die langen weißlichen Haare auf den Wangen, den schmerzlichen Blick eines hilflosen, entkräfteten Tieres ... die knochige Brust im Ausschnitt des grauen Hemdes ... an den bitteren Uringeruch ... Es ist doch erbarmungslos, dieses unser alltägliches Leben. Und das Schlimme ist nicht, daß wir uns dabei ändern. Das Schlimme ist, daß es uns verwandelt. Alle. Immer. Ohne jedes Mitleid. Und ohne jede Gnade ... Sie kamen genau um zwölf an. Tengis ließen sie im Wagen. Allein. Vor dem Gebäude befand sich niemand. Die Tannen standen still und traurig unterm Schnee, es waren weder Besucher auf der breiten Eingangstreppe zu sehen noch spazierende Patienten, die finnische Schlitten bugsierten. An der Tür zum Krankenzimmer hielt der Sensei Robert an und sagte leise zu ihm: »Warten Sie hier. Aber gehen Sie bitte nicht weg. Vielleicht werde ich Sie rufen ... Und ich will nicht, daß man mich stört.« Robert gehorchte natürlich. Er atmete auf Er ging von der Tür in die Tiefe des Vestibüls, setzte sich in einen schweren Ledersessel am Zeitungstischchen, erblickte sein verzerrtes Spiegelbild auf dem Bildschirm des riesigen ausgeschalteten Fernsehers. Er biß sich auf die Lippe, nahm, ohne hinzuschauen und ohne etwas zu sehen, irgendeine alberne Zeitschrift vom Tischchen. Er schämte sich in Grund und Boden. Aber wie komme ich dazu! Es ist doch nicht meine Pflicht, dabeizusein ... Ich bin doch kein Arzt. Und kein Verwandter ... Er wußte, daß es seine Pflicht war. Sowohl das war seine Pflicht als auch noch vieles andere Unangenehme, Unappetitliche, Bittere und
Beschämende ... Aber doch nicht so beschämend wie die Erleichterung, die man empfindet, wenn man sich drücken kann. >Tut euch niemals selbst leid<, fiel ihm ein. „Jeder von uns verdient Mitleid, nur Selbstmitleid ist würdelos.“ Im Hause herrschte eine unwahrscheinliche, unglaubliche, dröhnende Stille. Wie in einem verwunschenen Schloß. Es war unnatürlich still, hell, leer, und es roch wie in einem botanischen Garten - nach Spezereien und Märchen. Man hörte weder gebieterisch-freimütige Gespräche des medizinischen Personals noch das Schlurfen gebeugt einhergehender Patienten noch den lauten Wortwechsel der Schwestern, die die Quadratkilometer des hiesigen Linoleums schrubbten - hier gab es nichts von der eigenartigen Atmosphäre eines großen Krankenhauses, mochte es noch so privilegiert und teuer sein. Freilich, es war ja eigentlich auch kein Krankenhaus. Es war ein Hospiz für Reiche. Für sehr Reiche. Und vielleicht nicht einmal ein Hospiz. In einem Hospiz verbringen die hoffnungslosen Fälle den Rest ihrer Tage. Dies hier aber war ein Palast der Hoffnung. Das Haus der Allerletzten Hoffnung ... Zunächst, die ersten fünf Minuten etwa, geschah ringsum nichts. Er blätterte in der Zeitschrift - bunte Glanzpapierseiten, Fotos von luxuriösen Autos und Frauen, funkelnde Wolkenkratzer, spezielle Texte, für ein spezielles Publikum geschrieben ... Er blickte zerstreut links und rechts den Korridor entlang, änderte die Stellung der ausgestreckten und übereinandergelegten Beine, versuchte, nicht auf die unverständliche Stimme des Sensei zu hören, die durch die Tür des Krankenzimmers drang (die Stimme hatte sich plötzlich aus der Stille herauskristallisiert -entweder hatte der Sensei die Tür nicht richtig geschlossen, oder die Schallisolierung war hier wie in einem billig gebauten Mietshaus) ... Nichts geschah. Exotische Pflanzen in Kübeln links und rechts des gigantischen, über die halbe Wandbreite reichenden Fensters verströmten tropische Gerüche. Jenseits des Fensters lag ein verschneiter Parkplatz, darauf standen ein paar verschneite Limousinen und der Nullsechser-Lada von Tengis, der überhaupt nicht verschneit, aber ziemlich schmutzig war. Aus dem Auspuff kam gekräuselt ein Rauchfähnchen.
Dann zeigte sich plötzlich Bewegung im Korridor links. Um die Ecke herum kam ein medizinisches Wägelchen (ein gläsernes Regal auf Rädern) und zusammen mit ihm eine klassische, geradezu dem Bilderbuch entsprungene Krankenschwester (gerade wie eine Stehlampe, in Nonnentracht, regloses Gesicht und zusammengepreßte Lippen). Sobald er die beiden erblickt hatte (das Wägelchen und die Nonne), wußte Robert sofort, daß sie just hierher unterwegs waren, in dieses Zimmer, zum Sensei, und daß er eilends Maßnahmen ergreifen mußte. Er stand auf und war mit zwei Schritten an der Zimmertür, stellte sich mit dem Rücken dagegen. Die Zeitschrift hatte er dabei wer weiß warum mitgenommen, sie nur zu einer Röhre gerollt, und mit dieser Röhre begann er, in die offene linke Hand zu schlagen. Auf diese Weise wollte er gleichsam unterstreichen, wie unverrückbar er hier stand und daß er keinesfalls zu weichen gedachte. Er kam sich dabei ziemlich albern vor. Und unsicher. Die Nonne und das Wägelchen näherten sich - gemächlich, unbeirrbar und völlig lautlos -, als schwebten sie über der Teppichbahn. Die kleinen Kolben und Gläser in dem Regal ruckel-ten geräuschlos, die reglosen, farblosen Augen der Nonne blickten an ihm vorbei und unbeugsam. Robert zog in Gedanken die Schultern zusammen. Im voraus. Im Vorgefühl. Hinter seinem Rücken aber, hinter der Tür, war die Stimme des Sensei plötzlich deutlich zu vernehmen, und ganz gegen seinen Willen hörte Robert: »... Es wird sich nichts verändern, solange wir nicht lernen, irgendwie mit diesem haarigen, düsteren ... dreisten, faulen Affen umzugehen ...« Die Stimme wurde wieder unverständlich (als ob der Sensei im Zimmer auf und ab gehe und jetzt der Tür den Rücken zugekehrt habe), die Nonne aber kam dicht heran und blieb stehen, fixierte ihn aus ihren farblosen Knöpfen, und ihr Blick wurde fordernd und mißbilligend: als habe sie eben erst das Hindernis vor sich entdeckt und warte jetzt mit kalter Ungeduld, daß sich dieses Hindernis von selbst auflöse und verschwinde. »Entschuldigen Sie, aber Sie können hier nicht hinein«, sagte Robert zu ihr und überwand dabei den natürlichen Wunsch, der Frau und Krankenschwester aus dem Weg zu treten.
»Blutanalyse«, sagte die Nonne, fast ohne die zusammengepreßten Lippen zu öffnen. Sie blickte weiterhin durch ihn hindurch. Glatt hindurch. »Nicht jetzt, bitte. Jetzt kann niemand hier herein.« »Sie ist für jetzt angesetzt.« »Bitte«, sagte Robert. »Nicht jetzt. Jetzt geht es nicht.« »Gut«, stimmte die Nonne plötzlich zu. »Ich komme in einer Stunde wieder. Aber sie soll nichts essen.« Und mit gewohnter Bewegung machte sie kehrt und entschwand den Korridor entlang, lautlos wie ein weißes Gespenst mit unnatürlich geradem Rücken. Hinter der Tür rief der Sensei plötzlich aus: »Aber was einen wirklich frappiert: Alle sind zufrieden! ...« Die Tür war tatsächlich nicht ganz zu. Robert wollte sie schon schließen, doch sogleich ging ihm auf, daß es ein Schnappen oder Quietschen gegeben hätte, irgendein dummes verräterisches Geräusch, und das wäre peinlich ... Er schwankte und wußte nicht, was er tun sollte. Zumal plötzlich sein Interesse erwacht war. »Das ist wie mit dem Analphabetentum - stell dir das für einen Moment vor. Jahrtausende hindurch waren Analphabeten die Norm ...« Er mußte etwas unternehmen. Unverzüglich und entschieden. Doch er unternahm nichts. Er hörte zu. Lauschen gehört sich nicht. Aber er lauschte ja nicht. Er hörte zu! Und das war etwas ganz anderes, als es zu lesen. »... die elende Kette der Zeit. Die Kette von Lastern und moralischer Armut. Die verhaßte Arbeit im Schweiße seines Angesichts und ein mieses Leben in Umgehung der verhaßten Gesetze ... So lange, bis jemand die Notwendigkeit empfindet, diese Ordnung zu verändern ...« Da bemerkte der Sensei wohl selbst, daß die Tür nicht richtig geschlossen war - seine Stimme kam näher, und die Tür fiel ins Schloß. Mit einem Schnappen. Aber ohne Quietschen ... Robert atmete auf und kehrte zu seinem Sessel zurück. Er warf die zusammengerollte Zeitschrift auf das Tischchen, setzte sich, streckte die Beine. Nicht, daß die Rede des Sensei etwas Neues
enthalten hätte, doch einen gewissen Eindruck hatte sie gemacht (und zwar einen starken), wobei am stärksten (wie ihm plötzlich aufging) das Gefühl der Totenstille als Antwort auf die Offenbarungen des Sensei wirkte - als übe er vor dem Spiegel im leeren Korridor irgendeine Nobelpreisrede. Oder vielleicht war sie heute bei Sinnen? Das kam ja vor. Wenn auch sehr selten. Und von Monat zu Monat seltener ... Übrigens hatte es dort beim Sensei auch etwas Neues gegeben. Doch, doch, streit es nicht ab. Zusammen mit dem Alten. Und dann - stark hatte das bei ihm geklungen, mit Verzweiflung gesagt und mit Qual ... ... Mit dieser Welt muß vielleicht etwas Rätselhaftes und vielleicht sogar Sakrales geschehen, damit die Welt des Erzogenen Menschen bedarf. Damit er für die Menschheit vonnöten ist. Für sich selbst. Und solange dieses Geheimnis nicht verwirklicht ist, wird alles wie eh und je weitergehen. Die Kette gewohnter Laster und moralischer Armut. Die verhaßte Arbeit im Schweiße seines Angesichts und ein mieses Leben in Umgehung der verhaßten Gesetze ... So lange, bis es plötzlich und aus irgendeinem Grund notwendig wird, diese Ordnung zu verändern ... Das ist es ja gerade: Wir wissen nicht, was unsere arme niederträchtige Welt braucht und was mit ihr noch passieren muß, damit sie endlich den Erzogenen Menschen haben will. Wir wissen ja überhaupt so vieles nicht. Sogar viel einfachere Dinge. Wissen Sie zum Beispiel, daß Walter Scott seine berühmtesten Romane unter Pseudonym geschrieben hat, genauer gesagt, überhaupt anonym? Daß der blutige Pol Pot anfangs ein sanfter, intelligenter, bescheidener Mensch war, ein liebender und sogar zärtlicher Vater, und daß er in jungen Jahren Salot Sar hieß? Welches waren zum Beispiel die letzten Worte von Wassili Lwowitsch Puschkin, wissen Sie das? Niemand wird das jemals erraten. »Wie langweilig die Artikel von Katenin sind!« sagte er als letztes. (So muß man die Literatur lieben!). Er versuchte, sich an noch etwas zu erinnern - an etwas Unerwartetes, das er unlängst gelesen hatte - und gerade wollte ihm etwas einfallen (über die Azteken), doch da begannen auf dem Korridor wieder Truppenbewegungen des Gegners, und er wandte seine Aufmerksamkeit der schnöden Wirklichkeit zu.
Den Teppichläufer entlang näherte sich ohne Eile, aber zielstrebig ein ziemlich seltsames Paar. Die Rolle des gläsernen Fahrregals spielte jetzt ein Rollstuhl, statt der Nonne kam ein Mönch - ein nicht besonders großer, doch sichtlich sehr kräftiger, breitschultriger Mann in einem schwarzen Sportanzug mit einem nicht zu erkennenden roten Emblem auf dem Herzen, im Rollstuhl aber thronte etwas ganz und gar Ungereimtes - der Körper eines Invaliden, ganz in Hellblau mit Silber und Gold, mit silbernen und goldenen Drachen vom Hals bis zu den Füßen ein kahler weißer Schädel mit zottigem schwarzem Bart und unnatürlich riesiger dunkler Brille, die das halbe Gesicht verdeckte. Nun denn, dachte Robert bitter. Jetzt also die. Er stand auf und nahm seinen Posten ein - Rücken zur Tür, versuchte sich selbstsicher und locker zu geben, wie es sich für einen richtigen Leibwächter gehört. Tengis müßte hier sein, dachte er beiläufig. Der alte Tengis würde hier ganz und gar nicht stören ... Der Gegner näherte sich, und jetzt konnte Robert die Augen dessen sehen, der den Rollstuhl schob. Unangenehme Augen. Wolfsaugen. Oder eher wohl Schlangenaugen. Gleichgültig wie bei einem Reptil, dabei aber durchsichtig, hell. Ja, ohne Tengis würde es hier nicht abgehen. Robert zog das Mobiltelefon hinterm Gürtel hervor. Aber vielleicht wollen die gar nicht zu uns? ... Doch sie wollten just zu ihnen. Der Rollstuhl blieb einen Schritt vor der Tür stehen, und der zottige Invalide sagte mit hoher, leicht brüchiger Stimme: »Guten Tag, mein Lieber. Wir möchten zu Sten Arkadjewitsch. Zu Herrn Agre.« In diesem Augenblick erkannte ihn Robert: Es war derselbe Große Heiler (namens Ljoschka-Galosche), zu dem sie schon Tatjana Olegowna ohne jeden Nutzen gebracht hatten. Nur daß er inzwischen zugewachsen war wie der Commandante Che Guevara. Und sich einen Leibwächter zugelegt hatte. »Herr Agre empfängt jetzt nicht«, sagte Robert ihm ohne jede Freundlichkeit. »Das macht nichts. Mich wird er empfangen.«
»Herr Agre hat gebeten, ihn nicht zu stören«, sagte Robert fast mechanisch, während er selbst verstohlen den feindlichen Leibwächter betrachtete und fieberhaft dachte: Ist es Zeit, den Alarmknopf auf dem Mobiltelefon zu drücken, oder noch zu früh? »Mein Lieber«, sagte unterdessen der Heiler mit brüchiger Stimme, während er mit den weißen Händen beruhigende Gesten machte. »Es ist alles in Ordnung. Sten Arkadjewitsch hat mich für diese Zeit bestellt ...« »Ich habe Anweisung, daß er nicht gestört werden darf.« »Und ich erkläre, daß just ich erwartet werde, du unverständiger Mensch ...« Das Gespräch war sichtlich in eine Sackgasse geraten, und seine lebhafte Vorstellungskraft malte Robert das unerfreuliche Bild heraufziehender Gewalt aus: ein Stoß gegen den Schmerzpunkt, Einwirkung auf den Abschaltpunkt und derlei Freuden, wie sie in der modernen Literatur über Gangster und Killer geschildert werden. Er drückte auf den Alarmknopf des Mobiltelefons und überantwortete sich - sozusagen - seinem Schicksal. »Ich, mein Lieber, mag es nicht, wenn man sich mir entgegenstellt ...«, verkündete der hartnäckige Invalide, wobei er seine brüchige Stimme hob, und da tat sich Gott sei Dank die Tür auf, und der Sensei erschien wie ein Deus ex machina. Sein Gesicht war besorgt und bis zur Unkenntlichkeit angespannt, und er sagte: »Alexej. Ich erwarte Sie. Kommen Sie herein ... Allein!« fügte er sofort hinzu, als er eine Bewegung des schlangenäugigen breitschultrigen Mönches bemerkte. Es kam zu Aufregung. Der Rollstuhl paßte nicht gleich durch die Tür, man mußte manövrieren, und daran beteiligten sich alle einschließlich des luxuriösen Invaliden Alexej. Er drehte mit beiden Händen die vernickelten Räder vor und zurück, wobei er in wechselndem Tonfall vor sich hinredete: »Allein, un-be-dingt allein ... Na sehen Sie, mein Lieber, und Sie haben mir nicht geglaubt ... Ich, Sten Arkadjewitsch, sage ihm: Ich bin bestellt! Er aber steht da wie der Mamai-Hügel ...« Unterdessen näherte sich von links den Korridor entlang in fast unnatürlichem Tempo ein finsterer Tengis, aufs Schlimmste gefaßt, doch da war der Rollstuhl ins Zimmer gezwängt worden, die Tür fiel ins Schloß,
und sie blieben zu dritt auf dem Korridor - drei Leibwächter, etwas außer Atem und noch immer mißtrauisch. Doch die Anspannung wich schon von ihnen, verschwand wie die Luft aus einem durchlöcherten Reifen. Wie ein Schmerzanfall. Wie ein Schock. Der breitschultrige Mönch musterte sie ein letztes Mal aus den durchsichtigen, absolut gleichgültigen Augen, machte (linksum) kehrt und entfernte sich ins Vestibül, zum Fernseher, setzte sich davor, nahm eine Zeitung vom Tischchen und schlug sie sofort auf - schnell und gierig, als habe er Sehnsucht nach Neuigkeiten. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich ebenfalls in die Ausgangspositionen zurückzuziehen. Robert kehrte in seinen Sessel zurück, und Tengis stellte sich an die durchsichtige Wand zwischen den Palmen und blickte hinab zum Parkplatz. »Dammich ...«, sagte er ärgerlich. »Ich hab den Wagen nicht abgeschlossen. Hab's in der Eile vergessen.« »Wer braucht denn schon deine Blechkiste«, antwortete Robert, ohne sich umzudrehen. »Aber, aber! Bitte keine Vertraulichkeiten!« Tengis trat vom Fenster weg und setzte sich neben Robert. »Na, entschuldige.« Robert beobachtete unter gesenkten Brauen hervor den potentiellen Gegner, und wieder spielte ihm die Phantasie vielfältige unangenehme Bilder vor. Sie schwiegen eine Weile, sahen nun schon beide zu, wie der potentielle Gegner in der Zeitung blätterte. »Mein Gedächtnis ist ganz schlimm geworden«, sagte Tengis. »Alles vergeß ich.« »Namen, Adressen, konspirative Treffpunkte ...« »Nein, wirklich. Neulich, stell dir vor, habe ich den Familiennamen eines Kunden vergessen. Er liegt mir auf der Zunge, aber er fällt mir, dammich, nicht ein.« »Das nennt man eine Blockade«, erklärte Robert geistesabwesend. »Stottern des Gedächtnisses.« »Ja, das weiß ich schon ... >Sich etwas merken ist nicht schwer schwer ist, sich daran zu erinnern.< Und so weiter. Bezüglich der »staubigen Bodenkammern bei uns in den Köpfen< ...«
»Du zitierst ein wenig? Bald werde ich bei euch auf dem Zitatenindex den ersten Platz einnehmen.« »Den hast du schon, dammich. Die Person in der nächsten Umgebung, sein Privatsekretär. Wir zitieren immer nur dich ...« Das erklang das Zirpen eines Mobiltelefons, und der potentielle Gegner zog es hastig aus der Tasche. Er sprach leise, war aber gut zu hören, und um so unverständlicher schien, was er sagte. »... Die weiße? Na ja - silbrige ... Jawohl. Aber links unten war sie nicht ... Gestern. Verstanden. Ja ... Jawohl ... Machen wir. Jawohl.« Er steckte das Telefon weg, und ohne den Kopf zu wenden, entfernte er sich raschen Schrittes den Korridor entlang dorthin, woher er vor zehn Minuten aufgetaucht war. »Was das für welche sind, ist mir nicht ganz klar ...«, sagte Tengis nachdenklich. »Oder kennst du sie?« »Keine Ahnung«, log Robert, um sich nicht zu albernen Erklärungen bemühen zu müssen. »Ich glaube, den in dem prächtigen Morgenrock habe ich irgendwo gesehen ... Im Kino vielleicht? In einem Reklamestreifen?« »Na, und mit dem anderen ist dir alles klar, nehme ich an?« »O ja«, sagte Tengis. »Da gibt es, dammich, keine vernünftigen Fragen und kann es keine geben.« Robert widersprach nicht, und Tengis fragte mit gesenkter Stimme: »Schlimm?« Er machte eine Kopfbewegung Richtung Krankenzimmer. »Ich weiß nicht«, sagte Robert. »Habe nichts gesehen. Ich glaube, es steht schlimm.« Wieder schwindelte er, aber er konnte doch nicht erklären, was es mit der Nobelpreisrede auf sich hatte, die der Sensei einem halben Leichnam vortrug. »Dammich«, sagte Tengis bekümmert, und beide schwiegen lange. Dann erkundigte sich Tengis: »Und wie hat dir diese Geschichte gefallen? Ich meine die mit dem Intelligenzler.« Robert zuckte mit den Schultern.
»Ja, meine Herren«, sagte Tengis. »Wahrlich: Alles, was auf unnatürliche Weise begonnen wurde, muß auch auf unnatürliche Weise enden.« Robert entgegnete ohne jede Begeisterung: »Was soll denn daran unnatürlich sein: Sie haben ihn platt gemacht wie einen einfachen Muschik. Wenn man von den Einzelheiten absieht, versteht sich. Bei den Einzelheiten hast du recht. Da kann man nur mit den Schultern zucken.« »Nein, mein Bester, sag das nicht. Nicht wie einen einfachen Muschik. Überhaupt nicht. Und es geht nicht nur um die Einzelheiten. "Wenn Blicke töten könnten, würde die Bevölkerung stark zurückgehen." Giftzahn konnte das. Er war das Olgoi-Chorchoj, ihr habt nur alle nicht daran glauben können ... Aber weißt du, wer ihn bewacht hat? Den Intelligenzler. El de Pres. Persönlich.« »Und wer ist das?« Robert wunderte sich. »Wer ist das, warum kenne ich ihn nicht?« »L. D. P.« Tengis malte drei Buchstaben mit Punkten in die Luft. »Der Liebling des Präsidenten.« »Jemand von unseren Leuten?« erriet Robert. »O ja. Und nicht irgendeiner, sondern Serjosha Wagel.« »Ach ... >der ideale Leibwächten. Ich bin mit ihm nicht bekannt.« »Natürlich, er verkehrt nie mit uns. Genauer gesagt, selten.« »Seltener geht's nicht. Nie.« »Mit dir - nie. Aber mit uns, mit den einfachen Leuten, verkehrt er selten, aber immerhin.« »Und wieso hat er ihn nicht gerettet, wenn er doch >ideal< ist? Oder ist er nur Spezialist für Präsidenten?« »Das ist ja eben das Problem, dammich. Das ist das Problem! Gegen einen Knüttel helfen keine Mittel, scheint's.« »Kaum ein Trick wird besser nützen, als nur stets zu Haus zu sitzen«, zitierte Robert, und wieder schwiegen sie. Den Korridor entlang raschelte (von rechts nach links) noch eine Nonne mit Haube und einem dicken Stapel Papier im gebeugten Arm. Es war still wie im Vorzimmer irgendeiner überaus hohen Exzellenz, doch so sehr Robert auch sein Gehör anstrengte, kein Laut drang mehr aus dem Krankenzimmer, und er konnte sich
überhaupt nicht vorstellen, was jener seltsame Wunder-Invalide in dem blauen Kittel mit den silbernen Drachen jetzt dort tat. Da fiel Robert plötzlich aus heiterem Himmel (nun ja, eigentlich aus verständlichen Gründen) ein einige Zeit zurückliegendes Gespräch ein, das zwischen dem Sensei und einem Abgesandten des Ajatollahs stattgefunden hatte - ein Gespräch über den Intelligenzler, den sie übrigens beide einmütig und ohne Absprache >unseren Professor< genannt hatten. »In der Ökonomie besitzt unser Professor eher Überzeugungen als Kenntnisse«, hatte damals der Mann des Ajatollahs gesagt. Und der Sensei hatte höflich angemerkt, das klinge wie ein Zitat. »Es ist ja auch ein Zitat«, hatte der Mann des Ajatollahs bemerkt (geschniegelt, langgesichtig, langhändig, überhaupt lang, von tadelloser Höflichkeit, durchweg wie aus dem Ei gepellt - von den Lackstiefeletten bis zu den verwendeten Zitaten). »Aber Sie werden zustimmen müssen, daß es paßt.« - »Ach so? Und woher ist es?« - »Stellen Sie sich vor, ich weiß es nicht. Ich habe ein seltsames Gedächtnis: Texte merke ich mir gut, aber überhaupt nicht die Quellen.« Da hatte der Sensei Robert angeschaut, und Robert war eingesprungen: »Andre Gide. Die Verliese des Vatikan. Übersetzung von Losinski. Das Zitat ist nicht ganz genau.« - »Danke«, hatte der Sensei zu ihm gesagt und sich wieder dem Mann des Ajatollahs und dem Gesprächsthema zugewandt. »Aber er braucht ja auch gar nicht über Sachkenntnis zu verfügen, unser Professor. Überzeugungen genügen. Er ist ja Politiker, kein Ökonom.« - »Wir sind exakt derselben Ansicht«, hatte der Mann des Ajatollahs sofort erwidert, und dann begannen sie anscheinend die Einzelheiten zu erörtern (und jetzt war klar, welche: Wie man am wirksamsten den armen Resulting Force in Gang setzte) - jedenfalls war Robert augenblicklich weggeschickt worden, um Kaffee türkisch zu brühen ... »Trotzdem schade«, sagte Tengis plötzlich. »Natürlich, schade«, stimmte Robert zu. »Er hat sich so gequält, der Ärmste, und alles für die Katz. Aber dafür hat er gelernt, die Röhre herumzuschwenken!« »Was für eine Röhre?« »Die von großem Durchmesser.«
»Von dem rede ich doch nicht!« sagte Tengis ärgerlich. »Dammich. Mit dem ist alles klar. Ich rede von dem unglückseligen Giftzahn. Obwohl ich alles über ihn weiß. Mehr als ihr anderen. Das war vielleicht einer ... Weißt du, einmal hat er plötzlich in meinem Beisein zu sinnieren angefangen: Warum betrachtet er mit Freude Welpen und Kätzchen, aber von kleinen Kindern, und zwar von allen, wird ihm übel? Warum tut ihm ein kranker Hund leid, daß er heulen könnte, irgendein Penner aber nicht geringsten? >Eine alte Frau<, sagt er, >führt ihren Mops spazieren, der ist alt wie die ägyptische Sphinx, schon völlig verknöchert - mit dem Mops habe ich Mitleid, aber die Alte kann meinetwegen abkratzen, und sie widert mich an ...< Ich habe ihm damals gesagt: »Sicherlich hast du einfach Tiere sehr gern, Olgoichen-Bin-destrich-Chorchoichen?< Und weißt du, was er mir geantwortet hat? >Nein<, hat er gesagt. >Ich kann einfach keine Menschen leiden. Überhaupt nicht. Keinen einzigen.< Und dabei hat er mich angeschaut wie einen Haufen frische Scheiße. Ohne sich deswegen im mindesten zu genieren, sogar herausfordernd.« »Hm-ja, ein hinreißend sympathischer Mensch war er, Friede seiner Asche. Aber wozu mußte er den Intelligenzler kaltmachen?« »Das fragst du mich, dammich? ... Und wie kommst du überhaupt daraufj daß er überhaupt jemanden kaltgemacht hat? Vielleicht hat er auf diese komplizierte, dammich, Art und Weise Selbstmord begangen?« »Ist das möglich?« erkundigte sich Robert. »Woher, dammich, sollen wir wissen, was möglich ist und was nicht, wenn vom Homo sapiens die Rede ist? Ich beispielsweise denke, daß sich an alles zu erinnern, wie du dich erinnerst - also das ist wirklich unmöglich, dammich. Oder Schaben zu dirigieren wie unser Belzi.« »Verstanden.« »Und?« »Und fertig. Ich habe verstanden. Habe verstanden, was du sagen willst ... Momentchen.«
Robert stand auf. Von links näherte sich der potentielle Gegner raschen Schrittes, energisch, drängend -, und hinter seinem Rücken wand sich und flatterte in der Luft wie ein Banner, wie ein Rittermantel ein silbriges Band, irgendein leichter, halb durchsichtiger funkelnder Schleier: Eine ziemlich dicke Rolle dieses Stoffes hielt er mit beiden Armen umklammert, als sei es ein Kind. Das sah ziemlich sonderbar aus, doch Robert stand jetzt nicht der Sinn nach Einzelheiten, und seien sie noch so seltsam - er eilte zur Tür und stellte sich davor. »Ich soll nur etwas überbringen«, sagte der feindliche Leibwächter in unerwartet bittendem Ton. Robert bemerkte beiläufig, daß er keineswegs außer Atem war, als sei er nicht soeben schnellen Schrittes gegangen, ja beinahe gelaufen. Und sein Gesichtsausdruck erwies sich als durchaus menschlich, keineswegs wölfisch wie zuvor. Und überhaupt ... Robert preßte die Lippen zusammen, drehte sich um und klopfte leise an die Tür. Die Tür ging sofort auf - als habe man dort gestanden und ungeduldig auf das Klopfen gewartet; jenseits der Tür aber lag nun eine ägyptische Finsternis, und es wehte von dort eine trockene Hitze heran wie aus einer Sauna, der Sensei aber streckte schon die langen gierigen Hände über die Schwelle aus und sagte: »Geben Sie her ... Na? Was ist denn?« Robert war erstarrt. Neben ihm raschelte wie Seide das silbrige Gewebe, berührte sein Gesicht (schwach knisterten elektrostatische Entladungen] - er aber konnte den Blick nicht von diesem düsteren Anblick wenden: Im schwachen Schein der Nachttischlampe, aufrecht wie eine gotische Figur - eine Gorgo, eine Harpyie - saß, die schwarzen Hände schlaff auf der Decke, im Bett eine Mumie - mit halboffenem eingefallenem Mund, abstehenden Haaren wie trockenes Werg, dunkelgelb, tot, und die runden reglosen Augen leuchteten rot ... Die Tür fiel ins Schloß, und Robert atmete auf, kam zu sich wie nach einer kurzen Ohnmacht. Der feindliche Leibwächter murmelte etwas neben seinem Ohr - Robert vernahm nichts und hörte nicht hin. Soll doch alles verdammt sein, dachte er kraftlos und ungeordnet. Wozu nützt das alles, fragt sich, wenn alles
derart endet? ... Ich will das nicht! ... Er hatte gleichsam einen Blick in die Hölle geworfen, auf die Kohlen, das Schwefelinferno, und war wieder aufgetaucht, verbrannt, in plötzlichen Schweiß gebadet. »Weißt du, ich werde dann, wenn du nichts dagegen hast, doch lieber gehen«, sagte Tengis. Robert schaute ihn an. Anscheinend hatte Tengis nichts bemerkt. Anscheinend sah von außen alles völlig normal, anständig und würdig aus - keinerlei vorübergehende Grünstichigkeit und Trübung des Blicks oder sonstige Anzeichen einer kurzzeitigen Psychopathie. »Mir gefällt nicht, daß der Wagen nicht abgeschlossen ist«, erklärte Tengis. »Es kann sonstwas passieren.« »Ja, natürlich«, sagte Robert möglichst lässig. »Natürlich, geh nur. Ich komme klar.« »Und wenn plötzlich ...«, sagte Tengis bedeutungsvoll mit einem Blick zum potentiellen Gegner hin (der schon wieder beim Fernseher in Zeitschriften blätterte). »Selbstverständlich«, sagte Robert. »Na, dann«, sagte Tengis und ging lautlos über den Teppichläufer. Dann stand Robert am Fenster zwischen den Palmen und sah zu, wie sich Tengis um das Auto kümmerte - die Scheiben putzte, die Nummernschilder reinigte, etwas Pulverschnee vom Dach fegte ... Für den Dezember zogen die Wolken unnatürlich schnell am Himmel dahin, beängstigend schnell, wie man es manchmal in Filmen sieht, und Robert erfand plötzlich ein Rätsel: >Sie haben keine Hände und können doch sogar am Himmel ziehen was ist das?< Das ist übrigens eine Frage, dachte er. Ich muß sie dem Sensei schenken. Wenn das alles vorbei ist. Das wird ja alles vorbeigehen - früher oder später, so oder anders, auf Biegen oder Brechen ... Eine Frage war das zwar, aber keine richtige. Er spürte es. Wieder eine falsche Frage. Eine Luftnummer. Eine Phrase mit einem Fragezeichen am Ende. Übrigens kann nie jemand mit Bestimmtheit sagen, ob eine Frage nützt oder nicht. Man muß es
ausprobieren. Mit der Methode von Versuch und Irrtum. Hysterische Versuche und verbissene Irrtümer. Er registrierte im Gedächtnis: >Was ist das: Hat keine Beine, läuft aber schnell?< Für alle Fälle. Er kämpfte gegen die Erinnerung an, die plötzlich hochkam - eigentlich aus verständlichen Gründen: Es war ja ein reines Analogon, drängte sich von selbst auf, kroch aus dem Sumpf des Gedächtnisses hervor wie ein düsteres häßliches Tier ... Damit fertigzuwerden überstieg seine Kräfte, und vorsichtig gestattete er sich die Erinnerung. Nicht vollständig. Absatzweise. Um sich an nichts Überflüssiges zu erinnern. Wobei er alle Naselang auf Überflüssiges stieß und es krampfhaft zurückdrängte, in den tiefsten Keller ... Ein Anruf in der Hölle, das war es gewesen. Herrgott, wie ungern der Sensei dort angerufen hatte! Er hatte sich mit Händen und Füßen gesträubt, gezischt, sich geärgert, sich fast physisch gequält und schließlich doch angerufen - wobei er augenblicklich eine falsche Munterkeit ausgestrahlt hatte, von standardmäßigem Optimismus und erzwungenem Mitgefühl erfüllt war ... Jener aber lag schon im Sterben. Hoffnungslos. Lungensarkom. Robert hörte das alles mit - über den Nebenanschluß. (Es war seine ständige ekelhafte Pflicht, über den Nebenanschluß mitzuhören, wenn es keine gegenteilige Anweisung gab, hol der Teufel diese Zustände ...) »Stenni, mein Lieber ... Das ist so eine Qual ... so eine Qual ... Laß das alles sein, vergiß es. Das ist nichts für uns ... So ein hoher Preis, Stenni ...« (Eine schwache Stimme aus einem qualmenden Höllenfeuer. Und ein Bild: von einem dunstigen, schwarzen, fest verschlossenen Zimmer. Ein schwarzes Tuch auf der Nachttischlampe. Ein sinnloser und gnadenloser Lichtfleck auf den Laken. Atemnot. Angst. Schmerz. Tod.) Und die (wie aufgestörte Schaben) wirr durcheinanderlaufenden sinnlosen Fragen: Was >sein lassen, vergessen? Was für ein >Preis Und wieso >für uns< - >Das ist nichts für uns Hatte denn der Sensei selbst verstanden, wovon die Rede war? Und hatte er überhaupt etwas gehört? Er hatte irgendeinen kläglichen Unsinn gemurmelt: Halte durch, halte durch, Kumpel, man muß durchhalten, halte bitte durch ... Was durchhalten? Wie? Wie
durchhalten? ... Ich will nicht daran denken, erklärte sich Robert entschlossen, doch es wurde nichts aus dieser Entschlossenheit ... Wie sich zeigte, konnte er jetzt überhaupt an nichts anderes mehr denken: die heiße Finsternis, die roten Lichter der Pupillen und das fieberhafte Flüstern aus der Vergangenheit. Aus dem Augenwinkel bemerkte er irgendeine unnormale Bewegung hinter seinem Rücken und wandte sich um. Der Sensei stand auf der Schwelle des Krankenzimmers. In seinem albernen gestreiften Anzug ähnelte er entweder einem flüchtigen Sträfling oder einem zur Salzsäule erstarrten Gespenst. Er war grünlich-bleich. Er schwitzte - auf Stirn und Hals zitterten große Tropfen, rannen über die Glatze. Die Augenlider bewegten sich nicht. Er war außer sich. Robert trat auf ihn zu - um ihn unterzufassen, ihn zum Sessel zu begleiten -, doch der Sensei schob ihn mit der Hand weg, ging selbst (unsicheren Schrittes) ins Vestibül, ließ sich selbst in einem Sessel nieder, blieb zunächst ein paar Sekunden mit geradem Rücken sitzen und fiel dann gleichsam in sich zusammen - er sackte zusammen wie ein fachgerecht gesprengtes Gebäude -, und sein Gesicht verzerrte sich auf einmal und verlor den intelligenten Ausdruck. Er hätte nicht herkommen sollen, dachte Robert erbittert. Er nahm das Röhrchen mit Nitrokor heraus, schüttete sich drei Körnchen auf die Handfläche, bot sie dem Sensei an - der streckte wie ein gehorsames Kind die Zunge heraus, die Zunge sah schlecht aus, belegt, rissig ... Er hätte nicht kommen sollen. Wozu fährt er überhaupt hierher? Wem nützt er hier? Er zerreißt sich nur für nichts und wieder nichts das Herz ... Der feindliche Leibwächter senkte die Zeitung und verfolgte mit eindringlichem, wohl sogar mitfühlendem Interesse das Geschehen. Neugierige haben uns hier gerade noch gefehlt. Robert machte einen Schritt zur Seite, um den Sensei abzuschirmen -er tat es demonstrativ und dreist: Wenn du Lust hast, zu beobachten, dann beobachte meinen Hintern ... »Er hat gesagt, er bringt sie auf die Beine«, sagte der Sensei undeutlich, wie mit vor Kälte steifen Lippen. Er warf Robert einen
bittenden Blick zu. »>Stehe auf und gehe.< Und sie wird gehen. Aber ich glaube es nicht.« Robert schwieg. Was gab es da zu sagen? Es fiel ihm nicht einmal etwas ein. Doch da ließ sich plötzlich der feindliche Leibwächter vernehmen: »Man muß glauben!« sagte er mit Inbrunst. »Glauben muß man! Wenn Er es gesagt hat, dann muß man es glauben!« Der Sensei wandte sich mit dem ganzen Körper zu ihm um und schob Robert weg, damit er nicht störte. (Ohne jedes Feingefühl. Wie einen Einrichtungsgegenstand.) »Sie halten das für möglich?« fragte er verzweifelt. »Nicht ich halte das für möglich. Es ist Er, der es für möglich hält.« (Das >Er< kam bei ihm unzweifelhaft mit einem Großbuchstaben heraus.) »Also muß man glauben!« Der Sensei blökte zur Antwort etwas geradezu unanständig Jämmerliches, doch Robert hörte den beiden schon nicht mehr zu. Im Korridor war (von der Treppe her, die links lag) eine neue handelnde Person aufgetaucht: eine Gestalt, die sonderbar und zugleich beängstigend vertraut, hier aber völlig fehl am Platze war - ein untersetzter Mann mit einem rötlichbraunen Gesicht, das glänzte wie der Kopf einer Tabakspfeife, klein, stämmig, selbstsicher - er war stehengeblieben, beobachtete sie und machte gleichzeitig geruhsam und unverhohlen seinen Hosenschlitz zu. Der Versicherungsvertreter. Der Todesengel. Nur aus irgendeinem Grunde im weißen Arztkittel und sogar mit einer leicht schief sitzenden Chirurgenkappe. Was macht der hier, dachte Robert, und neben dem Versicherungsvertreter erschien unterdessen ein weiterer weißer Kittel, und noch einer, und mehr - ein ganzes Konsilium bildete sich plötzlich auf dem Korridor und schaute still, ehrerbietig auf den Rotgesichtigen (einer wie der andere mit einer Mappe unterm Arm, Stethoskope um den Hals, mit weißen Kappen, und fast alle mit Brille). Ihrer fünf. Vielleicht sechs. Die tägliche Visite des medizinischen Sonderstabs - unter der Führung des Chefarztes. Der Versicherungsvertreter (Chefarzt?) beendete seine heikle Prozedur, und auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, das
Robert unheilverkündend vorkam, obwohl es in Wahrheit wohl eher ironisch oder vielleicht sogar freundlich war. »Mein Fweund!« verkündete der Chefarzt (Versicherungsverteter) mit knarrender, aber lauter und wohl sogar volltönender Stimme. »Was füw eine Begegnung! Schön, dich zu sehen!« Als er ihn vor sich erblickte, verstummte der Sensei (der eben noch etwas von der Kraft des Glaubens oder des Glaubens an die Kraft gemurmelt hatte) und unternahm einen erfolglosen Versuch, vom Sofa hochzukommen. Robert faßte ihn bei der nach vorn gestreckten Hand und half ihm auf. »Was tun Sie hier?« rief der Sensei aus und schaute den Versicherungsvertreter beinahe entsetzt an. »Wie? Sie sind hier?« »Ich gedenke, diese wohlbestellte Einwichtung zu ewwew-ben«, erklärte der Versicherungsvertreter und kam mit nun schon offensichtlich wohlmeinendem Lächeln näher, während sein RFehler noch stärker hervortrat. »Das heißt, ich habe sie schon ewwowben. Du kannst miw gwatuliewen: dem Eigen-tümew!« »Ich gratuliere«, sagte der Sensei mit dem Audruck vollständigen und hoffnungslosen Unverständnisses. »Danke. Ich hoffe, du gwatuliewst miw aufwichtig?« Der Sensei stieß einen unbestimmten Laut aus, Robert aber erblickte plötzlich den feindlichen Leibwächter - der stand stocksteif da, Hände an der Hosennaht, und verschlang den Versicherungsvertreter (Chefarzt? Eigentümer?) mit ergebenen Blicken. Es kam zu einer Art klassischer stummer Szene: der stocksteife Leibwächter, die ehrerbietigst in Posen bedingungsloser Bereitschaft erstarrten Ärzte, der Sensei, der nichts verstand, und mittendrin ein gutmütig und unheimlich lächelnder Mann mit einem Gesicht, schwarzrot und glänzend wie der Kopf einer teuren Tabakspfeife. Und da wurde plötzlich die Tür des Krankenzimmers aufgerissen, und in seinem Rollstuhl kam der prächtige Invalide herausgefahren, den Rollstuhl aber schob eine gebeugte Hexe mit fahlem Gesicht, halboffenem eingefallenen Mund und roten Augen.
»Ich sage dir: Stehe auf«, verkündete der Invalide durchdringend und triumphierend, als blase er Trompete, »nimm dein Bett und gehe heim! Einem jeden wird gegeben nach seinem Glauben!« Niemand hatte Zeit, sich zu fassen oder auch nur zu wundern, als die Knie der Frau einknickten, sie ihr schreckliches Gesicht mit den plötzlich halb toten Augen zurückwarf und auf den Teppich fiel - weich und lautlos, wie erfahrene Epileptiker zu fallen vermögen. Oder Alkoholiker, die schließlich doch das Gleichgewicht verloren haben. »Vielleicht rauchst du doch eine?« fragte Tengis vorsichtig. »Nein. Ich lasse es. Ich denke, er wird jetzt gleich kommen.« Robert versuchte, möglichst ruhig zu sprechen. Vor den Augen stand ihm Tatjana Olegowna - wie sie zu Boden fiel, das tote Gesicht zur Zimmerdecke zurückgeworfen ... und die von allen Seiten auf sie zulaufenden wehenden weißen Kittel ... und irgendwelche Alarmklingeln schellten ihm noch immer in den Ohren, und das wirre Durcheinander vieler Stimmen, und schrille unverständliche Anweisungen: »tarara-rabumm, dalli!« und die schreckliche Stimme des Versicherungsvertreters/Eigentümers: »Idiot, zugewachsenew! Haben sie diw ins Gehiwn geschissen? Ungebildetew Kwetin!« Und alles übertönend die trockene, unbeugsame Stimme des Sensei: »Gehen Sie zum Wagen. Ich bitte Sie - zum Wagen!« - die Stimme eines Kommandeurs, dabei zitterten ihm selber die Beine, die greisenhaft dünnen Beine in den engen gestreiften Hosen ... »Ist es ganz schlimm?« fragte Tengis mitfühlend. »Was Gutes ist da kaum«, murmelte Robert. »Wenn man genau wüßte, was mit dem Menschen nach dem Tode geschieht«, sagte Tengis tiefsinnig, »würde man um keinen Preis leben.« »Mit dem Menschen geschieht nach dem Tode nichts. Alles, was dann geschieht, geschieht mit der Leiche.« »Deswegen knirschen wir auch ein bißchen«, sagte Tengis. »Laß das Philosophieren. Das kannst du nicht.« »Ich versuch's auch gar nicht. Ich lenke dich bloß von den finsteren Gedanken ab.« »Auf die allerbeste Weise.«
»Natürlich. Wie lenkt man sich von unangenehmen Gedanken ab? Indem man sich erinnert, daß man sterblich ist. Und sofort rückt alles an seinen Platz. Es taucht ein Maßstab auf, verstehst du?« »Ich verstehe. Nur: Wenn ich daran denke, daß Bier aus Atomen besteht, habe ich keine Lust, welches zu trinken.< Da kommt er, scheint's. Mach dich startbereit.« »Bin ich längst. Der Ofen ist doch an ...« Robert hörte nicht hin. Auf die ausgedehnte Vortreppe trat der Sensei heraus und schlug sogleich die Arme um sich, und er war nicht allein. Der Versicherungsvertreter/Eigentümer kam mit ihm, und sie blieben auf der obersten Stufe stehen, noch immer im Gespräch. Beide sprachen sie nicht besonders artikuliert, und zunächst konnte Robert an den Lippen nur den seltsamen Satz des Eigentümers ablesen: »Sind doch schwer, was? Was hab ich dir versprochen?« Dann wandte er sich ab, und Robert sah seinen Mund nicht mehr, der Sensei aber sagte aufgebracht: »Und warum soll ich Ihnen glauben? Was haben Sie getan, daß ich Ihnen glaube?« Der Eigentümer antwortete etwas Unsichtbares, wandte sich zur Seite und sah im Profil wie ein Rabe aus, und da fiel es Robert ein, wie der Sensei ihn neulich genannt hatte: Lachesis. Er hatte ihn Lachesis genannt. »Sie stirbt«, sagte der Sensei. »Ich habe Sie tausendmal gebeten: Tun Sie etwas.« - »Da ist nichts zu machen. Sie ist schon gestorben. Finde dich damit ab. Alles, was ich tun kann, ist, ihr den Verstand zurückgeben. Für ein paar Tage.« - »Und sei's für eine Stunde. Ich will Abschied nehmen.« -»Willst du nicht. Gib es zu ...« - »Sie sind einfach ein Stück rostiges Eisen«, sagte der Sensei. »Ich hasse Sie.« - »Verstehe. Das ist dein Recht. Schlag mich, wenn du willst.« - »Das wäre widernatürlich.« - »Macht nichts. Alles, was geschieht, ist natürlich ...« Darauf antwortete der Sensei nichts, und eine Zeitlang schwiegen sie, starrten einander an, Auge in Auge. Gleich haut ihm der Sensei eins in die Fresse, dachte Robert mit rachsüchtiger Genugtuung. Und da fragte Tengis halblaut: »Wer ist das?« »Lachesis«, sagte Robert mit einem schiefen Lächeln.
»Wer?« »Lachesis. Eine Moira. Eine Moira männlichen Geschlechts. Klotho spinnt den Schicksalsfaden; Lachesis läßt dem Menschen sein Teil zukommen; Atropos schneidet den Faden ab.« Tengis schaute immer noch mit reglosem Blick. »Und du schwindelst nicht?« sagte er fast klagend. »Ich weiß nicht«, gestand Robert ehrlich. »Du lügst, dammich. Die Moiren sind doch Frauen, oder etwa nicht?« »Im alten Griechenland waren sie Frauen. Aber bei uns in Rußland sind es Männer. Wie du siehst.« »Irgendwie schrecklich«, sagte Tengis. »Wir werden alle so«, sagte Robert. »Warte, stör nicht.« Die alten Männer begannen wieder zu reden, und jetzt war vollends unverständlich, wovon. »Sie spannen mich ganz vergeblich auf die Folter«, sagte der Sensei. »Ich werde ja doch nicht mit Ihrem Schützling arbeiten.« - »Warum denn nicht?« »Ich habe es Ihnen schon tausendmal erklärt: Ich arbeite nicht mit dem weiblichen Geschlecht.« - »Beachte: Ich könnte dir dasselbe sagen. Wort für Wort ...« - »Sie sind einfach ein Stück rostiges Eisen«, wiederholte der Sensei mit taub gewordenen Lippen. »Ich hasse Sie.« - »Danke. Das ehrt mich natürlich. Aber mich haben schon ganz andere Leute gehaßt ...« Das rotschwarze Gesicht strahlte vor Selbstzufriedenheit, im Gesicht des Sensei aber stand nicht nur Haß, da stand auch Furcht. Wieso denn? Der Sensei fürchtete niemals irgendwen und irgendwas. Was nun wieder für ein Schützling? Und plötzlich verstand er: Das Boshafte Mädchen. Von der redeten sie jetzt. Wieder. Schon zum dritten Mal. >Am Morgen aber lächelt sie schon wieder und steht am Fenster, wie es immer war; sie neigt die Hand zu ihren Blumen nieder, und aus der Kanne fließt das Wasser klar ...< Dieser rotgesichtige Teufel will das >alles heilende Böse< auf die Welt loslassen, doch der Sensei will nicht. Der Sensei hat Angst. Er hat einfach Angst, und fertig. Und der Mistkerl mit der schwarzen Fresse erpreßt ihn ... Er sah zu, wie sich die beiden Greise mit Verbeugungen verabschiedeten - mit altmodischer Höflichkeit, würdevoll,
verteufelt anständig. Er sah die Worte von Lachesis: »Ich erwarte weiterhin eine Antwort.« Und die Worte des Sensei: »Ich habe Ihnen schon geantwortet. Wagen Sie nicht, mich zu quälen ...« Oder etwas in der Art - die Lippen des Sensei waren jetzt wieder wie gefroren, wie taub. Robert sprang aus dem Wagen, faßte noch auf der Treppe den Sensei unter, führte ihn zum Auto, half ihm auf einen der hinteren Sitze. »Schon gut, schon gut«, murmelte der Sensei undeutlich. »Es ist alles in Ordnung. Ich kann ... durchaus ...« Robert schnallte ihn an, setzte sich neben Tengis, schnallte sich selbst an. »Los«, sagte er zu Tengis, und der wendete akkurat und sanft den Wagen. (Lachesis stand immer noch an der Auffahrt, sein schreckliches Gesicht hob sich schwarz vor den Schneefladen ab, die an den Wänden des Gebäudes klebten, die Hand hielt er lässig zum Gruß erhoben wie der Genosse Stalin am Mausoleum.) Wer braucht denn eure Weltprobleme, dachte Robert aufgebracht an die Adresse des Versicherungsvertreters/Eigentümers/ Lachesis. Laßt die Welt in Ruhe und befaßt euch mit euren eigenen Privatangelegenheiten. Und sofort wird es für alle leichter ... Ihm war klar, daß der Sensei dieser simplen Ansicht niemals zugestimmt hätte. Dem Sensei ließ diese Welt ja auch keine Ruhe, die zu unglücklich eingerichtet war, als daß man einfach in ihr leben könnte, ohne die Einrichtung zu verändern. Aber dem Sensei glaube ich. Und Lachesis nicht ... Ach, scher dich doch zum Teufel, unangenehmer Alter, dachte Robert. Ich glaube überhaupt keinem, der vorgibt, mir mein Teil zukommen zu lassen. Laßt mich mit meinem Schicksal allein, und mein Schicksal und ich werden irgendwie miteinander klarkommen ... Letzten Endes habe ich auch nichts dagegen, wenn ich gelenkt werde, aber unter der Bedingung, daß ich davon nichts merke ... Ihm war klar, daß er sich etwas vormachte. Er war nicht die Spur geeignet, mit seinem Schicksal allein klarzukommen. Und keiner von uns taugt dazu, dachte er. Nicht einmal Tengis der Psychokrat. Der Sensei hatte einmal voll Bitterkeit gesagt (als Antwort auf irgendeinen dummen Vorwurf): »Ich mache ja jetzt alles schlecht. Ich schlafe sogar schlecht.« Das gilt auch für uns
alle. Und besonders schlecht verfügen wir über unser Schicksal. Ja, wir verfügen gar nicht darüber. Überhaupt nicht. Dilettanten. Kein Hauch von Professionalität ... Da wurde er abgelenkt, weil der Sensei plötzlich zu sprechen begann, und seine Stimme war scharf und ungewohnt: »Für wann haben wir den Jungen bestellt?« fragte er. »Für morgen«, sagte Robert. »Vormittags um zehn.« »Ich weiß, daß es um zehn ist. Aber geht es nicht heute? Jetzt gleich?« »Hm, ich weiß nicht.« »Uns bleibt keine Zeit, Robert. Keine Zeit. Rufen Sie an. Richten Sie es ein. Lügen Sie irgendwas zusammen. Damit er in ein paar Stunden kommt. Am besten in einer Stunde. Sind wir in einer Stunde zu Hause, Tengis?« »In zwei«, sagte Tengis knapp. »Sehr gut. Dann also in zwei. Lügen Sie, wenn es notwendig ist.« »Gut«, sagte Robert und griff nach dem Mobiltelefon. »Ich versuche es.« »Lügen Sie irgendwas«, wiederholte der Sensei abermals. »Sagen Sie, daß sich neue wichtige Umstände ergeben haben.« »Ich werde was erfinden«, versprach Robert, während er die Nummer wählte. »Kein Sorge, Sensei.« »Es bleibt keine Zeit mehr«, sagte der Sensei geradezu verzweifelt. Er lehnte sich zurück, legte die Hände auf die Knie, beugte sich aber gleich wieder vor, hing beinahe in den Gurten. »Überhaupt keine«, wiederholte er. »Überhaupt keine Zeit mehr.« ENDE Anmerkungen und Hinweise des Übersetzers Hier sind Anmerkungen und Querverweise gesammelt, die für das Verständnis des Romans und seiner Handlung wohl nicht unbedingt notwendig, aber doch interessant sind. Das betrifft
gewisse beiläufig erwähnte russische (auch sowjetische) Realien, die dem deutschen Leser kaum vertraut sein werden, vor allem aber die zahlreichen Zitate aus anderen literarischen Werken bzw. Anspielungen darauf. Einen Großteil der Hinweise auf Zitate verdanke ich den Recherchen, die Viktor Kuril-ski unter Mitarbeit mehrerer Strugatzki-Kenner durchgeführt hat und deren Ergebnisse im russischen Internet zugänglich sind. Ich übergehe einige Zitate aus Texten, die auch dem heutigen russischen Leser nichts sagen und die im Kontext des Romans eher zufällig wirken; hingewiesen wird auf Stellen, die im Roman ausdrücklich als Zitate hervorgehoben sind oder die beim (russischen) Leser wichtige Assoziationen wecken können, aber auch auf solche, die die charakteristische Atmosphäre unter der sowjetischrussischen Intelligenz kennzeichnen. Einige Gedichte und Lieder sind ältere oder neuzeitliche Folklore. Wo diese Hinweise nichts anderes erkennen lassen (und ausgenommen die ukrainische Folklore), darf man davon ausgehen, daß Boris Strugatz-ki die Verse verfaßt hat. Übersetzungen und Nachdichtungen der Zitate stammen, wenn nicht anders vermerkt, von mir. Wo vorhandene deutsche Fassungen schlecht in den Romankontext passen, habe ich aus dem Russischen übersetzt (Jack London aus dem Englischen); dies betrifft vor allem ursprünglich chinesische und japanische Texte aus dem Umfeld des Zen-Buddhismus, wo man bei vorliegenden russischen, englischen und deutschen Übersetzungen eine unglaubliche Streubreite der Versionen und Interpretationen findet. Für Leser, die nicht damit vertraut sind, noch eine Anmerkung zu russischen Namen. Diese bestehen (auch in offiziellen Dokumenten) immer aus drei Teilen: Vor-, Vaters- und Familienname; beispielsweise hieß Wadim Danilowitsch Christoforows Vater Daniil. Die Anreden per Du nur mit dem Vornamen oder per Sie mit dem Familiennamen (Herr Christoforow) entsprechen weitgehend dem deutschen Gebrauch, nur daß in der Sowjetunion >Herr/Frau< nur gegenüber Ausländern ge-
braucht und sonst grundsätzlich >Genosse/Genossin< gesagt wurde. Von den Vornamen gibt es im zwanglosen Gespräch zahlreiche verschiedene Ableitungen, so kann aus Wadim Dimka und aus Juri Jura, Jurka oder Jurotschka werden; diese Zusammenhänge erkennt man relativ schnell, und sie sind nicht komplizierter, als wenn ein englischer Robert als Rob, Bob oder Bobby erscheint. Typisch russisch ist indes eine dritte Anredeform, nämlich mit Vor- und Vatersname, die gleichzeitig eine gewisse Vertrautheit und besonderen Respekt signalisiert und meistens mit >Sie< verwendet wird; auf diese Weise kann man jemanden auch im Gespräch mit einem Dritten nennen, bei dem man ein ähnliches Verhältnis gegenüber der betreffenden Person voraussetzt. Der besondere Respekt kann sich aus den Eigenschaften und Verdiensten des Betreffenden ergeben, aus seinem sozialen Status (etwa als Vorgesetzter) oder einfach aus seinem vorgerückten Alter; neuerdings ist diese Art der Anrede mitunter schon zur Floskel geworden und wird eher verwendet, um die Distinguiertheit des Sprechenden zu betonen. Seite 7: Das Motto von Daniil Charms stammt aus dessen >Roman< (tatsächlich ist es eine Erzählung) >Die alte Frau<, deutsch von Peter Urban in dem Band D. Charms: Alle Fälle. Zürich: Haffmans 1995. Seite 10: »Ich glaube, das steht bei Umberto Eco.« Das Zitat lautet dort: »Und die Erfahrung des Numinosen hält man nicht lange aus, ohne den Verstand zu verlieren.« Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel, deutsch von Burkhart Kroeber, Teil 1, Kap. 1. Seite 10: »Drauf, daß wir noch immer leben ...«: Die Verse von Boris Strugatzki lehnen sich in Rhythmus und Reimschema eng an das sehr bekannte romantisch-heroische >Lied von der stürmischen Jugend< an. Seite 25: »Die Resultante von Millionen Willen«: So bezeichnet Lew Tolstoi in Krieg und Frieden sinngemäß den Ablauf der Geschichte (und
zwar im zweiten, diskursiven Teil des Epilogs, der in den meisten deutschen Ausgaben fehlt). Seite 29: »Fünftausend Bucks.«: Der Dollar ist im postsowjetischen Rußland de facto die Standardwährung für fast jede Art von Geschäften geworden und heißt umgangssprachlich >Bucks< (wie im Amerikanischen, russisch aber sogar in der Einzahl: »ein Bucks«). Seite 30: Der Föderative Sicherheitsdienst (russisch >FSB< abgekürzt) ist die wichtigste russische KGB-Nachfolgeorganisation. Seite 33: »SMERSCH«: Die russische Abkürzung stand für >Smert Schpionam>:"Tod den Spionen<. Seite 33: »In langweiligen Gesprächen ...«: Zitat aus Hagakure. Das Buch des Samurai von Tsunetomo Yamamoto, Kapitel 2. In der deutschen Ubersetzung von Kenzo Fukai (München: Knaur 2002) lautet der Satz allerdings: »Im ermüdenden Geschwätz alter Leute verbergen sich verdienstvolle Taten.« Seite 34: »Polygraf Polygrafowitsch«: In Michail Bulgakows satirischer Erzählung >Hundeherz< (verfaßt 1925, bis 1987 verboten, aber durch Untergrund-Veröffentlichungen auch in der Sowjetunion bekannt) transplantiert ein sowjetischer Professor einem Hund Hypophyse und Hoden eines Mannes, worauf sich der Hund allmählich in einen Menschen verwandelt und sich den Namen >Polygraf Polygrafowitsch< zulegt. Seite 35: >Miliz< ist die in Rußland bis heute beibehaltene sowjetische Bezeichnung für die Polizei. Seite 44: Akaki Akakijewitsch Baschmatschkin ist eine Figur aus dem >Mantel< von Gogol. Seite 44: Graf de la Fere, Seguir, Bonacieux sind Gestalten aus den Drei Musketieren von Dumas.
Seite 45: »Wo zwei von euch versammelt sind ...« Evangelium des Matthäus 18, 20: »Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Seite 48: »... beim NKWD ... beim KGB«: Die für die innere Sicherheit und Geheimdienstarbeit (also auch den politischen Terror) zuständige sowjetische Behörde, anfangs dieTscheka (»Außerordentliche Kommission^, hat vielfach den Namen und die formelle Position im Staatsapparat gewechselt: Staatliche Politische Verwaltung (russische Abkürzung: GPU), Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKWD), aus dem 1946 das Ministerium des Inneren wurde, daraus ausgegliedert das Ministerium für Staatssicherheit, welches später als Komitee für Staatssicherheit (KGB) einen anderen (de facto höheren) Status erhielt. Seite 51: »Und da begriff ich, wofür man mich bezahlte ...« ist ein Zitat aus All the King's Men von R. R Warren, Kapitel 1. (Die deutsche Übersetzung von Ilse Krämer Der Gouverneur vereinfacht den Satz zu »... was ich zu tun hatte«.) Seite 59: »Zweihundert Standardeinheiten«: Offiziell dürfen Geschäftsleute in Rußland nur Rubel in Zahlung nehmen. Preise werden aber sogar in Läden - oft in >Standardeinheiten<, d. h. in Dollar angegeben und dann (theoretisch oder tatsächlich) zum jeweiligen Tageskurs in Rubeln bezahlt. Seite 64: Lawrenti Pawlowitsch Berija war von 1938 bis 1945 Chef des sowjetischen Innen- bzw. Staatssicherheits-Ministeriums und organisierte zu dieser Zeit - wie auch noch danach als PolitbüroMitglied - den Stalin-schen Terror. Nach Stalins Tod wurde er von Chruschtschow entmachtet und als >englischer Spion< erschossen. Seite 75: »O dieser bleierne Idiotismus des Landlebens!« ist zusammengezogen aus »diese bleiern lastenden
Scheußlichkeiten des unkultivierten russischen Lebens« (Maxim Gorki: Meine Kindheit, Kap. XII, deutsch von August Scholz) und »Idiotismus des Landlebens« (Marx & Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Abschnitt I). Seite 79: »... die Zarennamen des Arbeitgebers ...«: In der Zarendynastie der Romanows kamen die Namen Pawel (Paul) und Pjotr (Peter) oft vor, so bei Pawel Petrowitsch I.; Romanow ist aber auch als bürgerlicher Name ziemlich häufig. Seite 82: Diät Nr. 5 war die in sowjetischen Kureinrichtungen vorgeschriebene Kost für Patienten mit Leber- oder Darmproblemen, fast durchweg Getreide- und Gemüsebrei. Seite 116: »Am guten Tag sei guter Dinge, am bösen Tag aber denke nach.« Dies ist eine Besonderheit der russischen Bibelübersetzung; eigentlich muß es Prediger 7, 14 heißen (wie in der revidierten LutherÜbersetzung): »... und am bösen Tag bedenke: Diesen hat Gott geschaffen wie jenen, damit ...« usw. Seite 117: »Holz hacken ist deshalb so beliebt ...«: Der Ausspruch wird - in variierender Formulierung - Albert Einstein zugeschrieben. Seite 118: »Den >Iswestija< ... Dem >Moskauer Komsomolzen« ...« Die >Iswestija<, das vormalige offizielle sowjetische Regierungsorgan, und der Moskauer Komsomolze«, einst ein Blatt des sowjetischen kommunistischen Jugendverbandes, sind jetzt natürlich in Privathand und haben mit ihrer ehemaligen Ausrichtung kaum noch etwas zu tun. Seite 124: Der Begriff >Progressor<, von Arkadi und Boris Strugatzki in mehreren ihrer Science-Fiction-Romane eingeführt, hat inzwischen Verbreitung über diese Romane hinaus gefunden. Er meint Menschen oder Außerirdische, die auf Seiten des Fortschritts (oder was sie dafür halten) lenkend und meistens
heimlich in die Geschicke einer anderen, niedriger entwickelten Zivilisation eingreifen. Seite 127: »Schleppt mich sacht« bis »Fort, um zu melden!« stammt aus Jack Londons Erzählung >Der Walzahn< (The Whale Tooth). Es geht darin u.a. um Kannibalismus auf den Fidschi-Inseln. Seite 127: »Tschekismus-Kagebismus« Über Tscheka und KGB vgl. Anm. zu Seite 48. Seite 130: »Neue Russen« nennt man die Leute, die in Rußland seit etwa 1991 zu - teilweise selbst für westliche Verhältnisse exorbitanten - Vermögen gekommen sind. Damit ist oft die Vorstellung vom kulturlosen, angeberischen Neureichen verknüpft. Seite 132: >Unser Haus Rußland« war eine der praktisch ohne Basis >von oben her-ab< gegründeten russischen Parteien; sie bestand von 1995 bis 1999 und galt als Lobby der Oligarchen und der staatlichen >Gasprom<. Seite 134: »Tiger! Tiger! Brand entfacht / in den Wäldern tiefer Nacht ...« ist der Beginn des Gedichts >Der Tiger< von William Blake, deutsch von Thomas Eichhorn. Seite 134: Tigger, eine Gestalt aus A. A. Milnes Kinderbuch The House at Pooh Corner, wurde in der derzeit erhältlichen Neuübersetzung Pu baut ein Haus in > Tiegen umbenannt. Seite 136: Kaschpirowski, Tschumak: Zwei sowjetische Psychotherapeuten, die Ende der achtziger Jahre mit Behandlungen im Fernsehen berühmt (oder berüchtigt) wurden. Seite 136 f.: »Wem gehört es? ...«: Die Fragen aus Arthur Conan Doyles >Das Ritual der Familie Musgrave< werden hier in der Ubersetzung von Alice und Karl Heinz Berger zitiert. Seite 137:
»Der Kopf des Büffels, seine Hörner ...« bis »Seine Diener sind Shakyamuni ...«: Mit einer Ausnahme stammen diese Fragen und die zugehörigen - hier abgewandelten - Antworten aus dem Mumonkan, einer japanischen Sammlung von Zen-Köans, die auf die chinesische Vorlage Wumengoan (>Schranke ohneTor<) zurückgeht. Seite 138: »Was muß man zwölf Stunden am Tag tun?« ist eine Frage eines Mönchs an Yunmen Wenyan (864-949, japanisch Ummon) aus einer Sammlung von Aussprüchen des Yunmen. Seite 138 f.: »Halb geht sie auf der Straße ...« Anspielung auf das Kindergedicht von Daniii Charms >Die wundersame Katze<, wo eine Katze einen Splitter in der Pfote hat und mit Luftballons beim Gehen unterstützt wird. Seite 139: Hin zum Haus die Kinder sprangen: »Vater! ein ertrunkner Mann Hat im Netze sich gefangen!« Das ist der Beginn von Puschkins in Rußland allgemein bekanntem Gedicht >Der Ertrunkene< (deutsch von Fr. v. Bodenstedt). Seite 144: Der Junge Motl ist eine Gestalt aus Motl, der Kantorsohn von Scholem Alejchem. Seite 144: »An der Universität wurde er direkt aus der achten Klasse ... angenommen«. - In der Sowjetunion ging man zehn Jahre zur Schule und dann ggf. an eine Hochschule oder Universität, wo die Ausbildung auf einem Niveau begann, das ungefähr den beiden letzten Jahren des deutschen Gymnasiums entspricht. Seite 145: »Zermalmt das Miststück!« spielt auf den Satz »Ecrasez l'infäme« (Zermalmt die/das Schändliche!) an, mit dem Voltaire des öfteren - etwa am Schluß von Briefen - gegen die institutionalisierte Kirche und gegen religiösen Fanatismus wetterte. Seite 146:
Augustin Bon Joseph war der jüngere Bruder des weitaus bekannteren Maximilien de Robespierre und soll ihm freiwillig aufs Schafott gefolgt sein. Seite 152: Die Struldbruggs kommen bei Jonathan Swift in der dritten von Gullivers Reisen vor. Seite 152: »Das Geheimnis ist groß.« Brief des Paulus an die Epheser, 5, 32. Seite 156: »Es war ein Mädchen, jung und unberührt ...«: Das Lied stammt aus der Zeit kurz nach 1910 und gehörte zum Repertoire des Theaters >Die Fledermäuse Seite 160: Das Allergorhaihorhai, russisch zu >01goi-Chorchoi< verballhornt, ist ein mongolisches >wurstförmiges< Fabeltier und vor allem durch die gleichnamige Science-Fiction-Erzählung von Iwan Jefremow (deutsch >Der Tod in der Wüste<) bekannt geworden. Seite 160: »Ihre Pose befriedigt mich.«: Im Roman Die Jagd nach der Million (auch: Ein Millionär in Sowjetrußland) von Ilf und Petrow sagt das der >große Kombinaten Ostap Bender zu einem vor ihm knienden kleinen Schwindler. (Die Stelle im Kapitel >Die Antilope< fehlt in der deutschen Übersetzung von Brod, v. PrußGlowatzky und Hoffmann.) Seite 168: »Timofej Jewsejitsch ... Artemonowitsch« >Jewsejitsch< ist eine alter-tümelnd-vertrauliche Form des Vatersnamens Jewsejewitsch (vgl. Kapitel 1), >Artemonowitsch< eine Anspielung auf den Hund Artemon in Alexej Tolstois sehr bekanntem Kinderbuch Das goldene Schlüsselchen oder Die Abenteuer des Burattino, einer Variation von Collodis Pinoc-chio. Seite 176: »Enttäuschung ist das bittere Kind der Hoffnung« bezieht sich auf eine Stelle in Schopenhauers >Aphorismen der Lebensweisheit V B 14 (in Parerga und Paralipomena): »[Wir] ersinnen vielerlei
chimärische Hoffnungen, von denen jede mit einer Enttäuschung schwanger ist ...« Seite 181: Arina Rodionowna war die Kinderfrau Puschkins. Seite 184: »Na, die rissen ihm aber den Hintern auf...«: Die sechs Verszeilen stammen aus der >Walzerballade über die Schwiegermutter aus lwanowo< des Liedermachers und Dissidenten Alexander Halitsch (Galitsch). Im Roman stehen sie leicht abgewandelt, und die Nachdichtung des Fragments ist notgedrungen ebenfalls etwas frei. Seite 186: Die von N. Kostarew unter dem (wohl irgendwie englisch gemeinten) Pseudonym »Niked Mat« verfaßte Trilogie Der gelbe Teufel, Die Zähne des Gelben, Die Zähne des Gelben sind abgebrochen erschien 1924 und 1926. Es sind typische Abenteuerromane aus der kulturpolitisch recht liberalen Zeit der Neuen Ökonomischen Politik. Seite 190: »Was der finstre Schrecken ist / jenes, der das Spiel beginnt ...« sowie »Und bleichen Schrecken wiederholten / die Spiegel ohne Zahl ...«: Die beiden Zitate stammen aus den Gedichten >Die Zaubergeige< bzw. >Der Schrecken< von Nikolai Gumiljow. Seite 192: >Shiguli< ist eine sowjetische Automarke, im Westen unter dem Namen >Lada< vermarktet. Seite 192: »Ja, was hast du denn eigentlich erwartet, Georges Dandin« ist eine Anspielung auf das gängige Zitat »Du hast es gewollt, Georges Dandin« aus Molieres Stück Georges Dandin oder Der beschämte Ehemann. Seite 194: »GKO/OFZ«: GKO und OFZ sind die Namen russischer Staatsanleihen, die in den neunziger Jahren aufgelegt wurden. Seite 200: »Mit den Flügelchen klapp, klapp.« Im Stück Das gewöhnliche Wunder von Jewgeni Schwarz heißt es: »Heute zum Beispiel sehe ich: Da fliegt ein Schmetterling. Winziger Kopf, hirnlos. Mit
den Flügeln macht er klapp, klapp - dümmer geht's nicht!« (1. Akt, deutsch von Günter Jä-niche.) Seite 202: »Ich habe mit ihm zusammen Shambala gesucht.« Shambala ist das legendäre ideale Königreich irgendwo in Tibet, auch unter dem Namen Shangri-La bekannt. Seite 206: «... also durchlöchert man den Busurman ...« >Busurman< oder >Basur-man< nannte man im alten Rußland alle möglichen Feinde, insbesondere wohl orientalische. Seite 208: »Wie Sie Kala-i-Mug ausgegraben haben ...« Kala-i-Mug ist ein Hügel in Tadschikistan, unter dem in den dreißiger Jahren eine Festung aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. gefunden und später ausgegraben wurde. Seite 210: »Sehnsucht nach Oberst Skalosub«: Oberst Skalosub (>Felszack<) ist eine Gestalt in Alexander Gribojedows Komödie Verstand schafft Leiden. Im 4. Akt, 5. Szene erklärt er, wie sein Feldwebel mit allen Frei- und Schöngeistern verfahren würde; allerdings heißt es bei Gribojedow: »Er stellt euch in drei Reihen auf ...« Seite 210: »Es wird viel zuviel gekläfft, weißt du. Möpse ...« In Krylows Fabel >Der Elefant und der Mops< bellt der Mops den Elefanten an, um sich unter den Hunden Respekt zu verschaffen. Seite 210: Duremar ist der Blutegelverkäufer aus Alexej Tolstois Märchenerzählung Das goldene Schlüsselchen, vgl. Anm. zu Seite 168, »Artemonowitsch«. Seite 212: >Die Aufzeichnungen eines Wahnsinnigem ist der Titel einer Novelle von Nikolai Gogol und einer Erzählung von Lew Tolstoi. (Bei Gogol deutsch auch >... eines Irrem.) Seite 215f.: »Willst du eine?!« bis »Ist laut Vorschrift nicht vorgesehen ...» Der -
auch in Rußland längst nicht jedermann verständliche - Dialog wird klar, wenn man den ersten Satz kennt. In der russischen Armee gab es zu Sowjetzeiten (wie auch heute noch) das offiziell bekämpfte, insgeheim aber geförderte »Großväter«-System, bei dem die Wehrpflichtigen des letzten Dienstjahres, die »Großväter«, fast unumschränkte Gewalt über die neuen Rekruten hatten. Hier nun fragt ein »Großvater« so einen Neuling, ob er ihm eine in die Fresse hauen soll. Seite 221: »Hier steh ich nun vor euch wie nackt« ist eine Zeile aus dem Lied von Alexander Halitsch >Das rote Dreiecke Seite 224: »... wenn Nikolai findig genug gewesen wäre, Alexander Sergejewitsch ...« Die Rede ist von Zar Nikolai I. und Alexander Puschkin. Seite 224: Olga, Tatjana sind Gestalten aus Puschkins >Eugen Onegin<. Seite 224: »So sagt, ihr Mädchen, eurer Freundin ...« ist der Anfang des bekannten neapolitanischen Liedes >Dicitencello vuje< von Rodolfo Falvo und Enzo Fusco. Seite 224: »Monsieur Christoforoff va s'animaliser« ist angelehnt an den Satz »Monsieur de Maupassant va s'animaliser« (»Herr Maupassant vertiert«), den Isaak Babel in seiner Erzählung >Guy de Maupassant< als letzten Eintrag in der Krankengeschichte Maupassants zitiert. Seite 225: »Stolz ist der kennzeichnende Zug ihres Gesichts« - »La fierte est le vrai caractere de sa physiognomie« schrieb C. C. de Rulhiere, der Sekretär des französischen Gesandten in Rußland, in seiner Histoire, ou Anecdotes sur la Revolution de Russie en l'annee 1762 über Katharina die Große. Seite 229: «... kein Talma, Frangois Joseph, und nicht einmal ein Innokenti Smoktunowski ...« F.-J. Talma (1763-1826) war ein berühmter
französischer Theaterschauspieler, I. Smoktunowski ein aus vielen Filmen bekannter sowjetischer Charakterdarsteller. Seite 230: »>Capivi!< schreien« ist eine Anspielung auf »... we must make him cry >Capivi!«< in Rudyard Kiplings >Slaves of the Lamp< (im Band Stalky Co.); Kipling hat den Ausdruck seinerseits aus Handley Cross von R. S. Surtees übernommen. >Capivi< ist anscheinend eine Verballhornung von >Peccavi< (lateinisch für »Ich habe gesündigt«). Bei Kipling sagt das ein halbgebildeter Schüler, als er mit Freunden die Rache an einem verhaßten Lehrer plant. Seite 232: »Es ist beruhigend, ...« Tsunetomo Yamamoto: Hagakure. Das Buch des Samurai. Aus dem zweiten Kapitel. Deutsch von Kenzo Fukai. München: Knaur 2002. Seite 233: «... sogar eine Schale Reis oder Tee auf die rechte Weise in die Hände nehmen ...« Daidoji Yuzan: >Budoshoshinshu< (Geleit für den, der den Weg des Kriegers beschreitet), Kapitel 1, Regeln des Samurai. Seite 233: »Das ist kein Rat zur Vorsicht. ...« Tsunetomo Yamamoto: Hagakure. Das Buch des Samurai. Aus dem elften Kapitel. A. a. O. Seite 23 7; Innokenti Smoktunowski hat u.a. den Salieri in der russischen Verfilmung von Puschkins >Mozart und Salieri< gespielt; Juri Nikulin war ein berühmter Zirkusclown und Filmkomiker. Seite 240: »So schert euch fort! ...«: Aus Alexander Puschkins Gedicht >Der Dichter und die Menge<. Seite 241: »Das Neue Jahr, die Ordnung ist die alte ...« Die Strophe stammt aus einem Lied aus den fünfziger Jahren. Seite 243: »Sandwiches aus Schwarzbrot mit Adschika«: Adschika ist eine außerordentlich scharfe kaukasische Gewürzpaste.
Seite 250: »Geh, wenn es dich zur Blindenheilung treibt ...«: Die Strophe stammt aus dem 1915 verfaßten Gedicht >Verließ' uns schlichtes Fühlen, frisches Wort .. .< von Anna Achmatowa, deutsch von Rolf-Dietrich Keil. Seite 252: »Du hast mein Knochenmark erworben«, »Die Zeit ist reif ...«: z.T. leicht abgewandelte Zitate aus »>Das Zen des Bodhidharma< in der Niederschrift Dogens«. (Drei Absätze später folgt eines der Zitate in wörtlicher Fassung.) Seite 271: »Das Glück findet man nur auf ausgetretenen Wegen.« - Im >Roslaw-lew< schreibt Puschkin: »Ii n'est de bonheur que dans les voies commu-nes«, dito in einem Brief an N. I. Kriwzow vom 10. 2. 1831. Der Satz steht ähnlich in Chateaubriands Rene. Seite 273: »Sie können ganz ungezwungen atmen« ist eine Abwandlung von zwei Versen aus dem Gedicht >Der Verrückte< von A. Apuchtin: »So nehmen Sie doch Platz. Die Furcht hinfort! / Sie können sich ganz ungezwungen geben.« - »Sich geben« und »atmen« klingen russisch ähnlich, aber, wie Wadim bemerkt, der Witz ist ziemlich fad. Seite 273: »Zum Teufel, ich habe die Gemeinheit in allen Adern gespürt«, soll Puschkin zu einer Bekannten über eine unverhoffte Begegnung mit Zar Nikolai I. gesagt haben. Seite 274: »Die Evolution vernichtet die sie hervorbringenden Ursachen ...«: Der Gedanke steht sinngemäß unter anderem in I. Prigogine, I. Stengers: Time, Chaos, and Quantum (deutsch Das Paradox der Zeit. Zeit, Chaos und Quanten. München 1993). Seite 278: »Oder wie Sir Nigel. Oder wie Lord Glenarvan.« Sir Nigel ist der Held von Conan Doyles historischen Romanen The White Company und Sir Nigel. Lord Glenarvan ist eine Figur aus Die Kinder des Kapitän Grant von Jules Verne. Seite 281:
«... der Rmoahal, alias der Tlawatli, alias der Tolteke - der würdige Nachfahre der Rasse der Atlantiden der Vorzeit...« Die von Piaton aufgebrachte Atlantis-Überlieferung wurde erst seit dem 19. Jahrhundert zum Mythos von einer vorgeschichtlichen SuperZivilisation ausgebaut und ausgiebig mit Pop-Esoterik verknüpft; einen neuen Schub brachte die New-Age-Bewegung. The Story of Atlantis (1896) von William Scott-Elliot, eine fiktive Enzyklopädie des ebenso fiktiven Kontinents, zählt die »Urrassen« von Atlantis auf, und zu den Unterrassen einer davon gehören die Rmoahal, die Tlawatli und die (historisch realen) Tolte-ken. Seite 282f.: »Auf dem Weg nach Biggle-Double ...« ist ein Lied aus den fünfziger Jahren. Seite 283: »O gierige Opfer des Jahrhunderts«: In Andrej Wosnessenskis Gedicht »Monolog eines Beatniks< lauten zwei Zeilen (in wörtlicher Übersetzung): »O gierige Dinge des Jahrhunderts! / Die Seele wurde mit Veto belegt.« Die erste davon wurde vor allem dadurch bekannt, daß die Strugatzkis sie als Titel ihres 1965 (deutsch 1981) erschienenen SF-Romans Die gierigen Dinge des Jahrhunderts verwendeten, der eine entartete Uberflußgesellschaft zeigt. Seite 295: Lunochod ist eigentlich der Name des ferngesteuerten Forschungsfahrzeugs, das die UdSSR 1970 auf dem Mond landen ließ. Seite 299: Das »Haus des Schmerzes« bezieht sich auf Die Insel des Doktor Moreau von H. G. Wells. Seite 307: »die letzten Worte von Wassili Lwowitsch Puschkin« Wassili Lwowitsch Puschkin war Alexander Puschkins Onkel. Seite 310: »Er aber steht da wie der Mamai-Hügel ...«: Auf dem MamaiHügel bei Wolgograd befindet sich eine riesige Gedenkstätte für die sowjetischen Verteidiger von Stalingrad.
Seite 313: »Kaum ein Trick wird besser nützen, als nur stets zu Haus zu sitzen« stammt aus Soja Esrochis Gedicht Von den Tricks<. Seite 313: »In der Ökonomie besitzt unser Professor eher Überzeugungen als Kenntnisse« bis »Das Zitat ist nicht ganz genau.«: Wörtlich heißt es in Gides Die Verliese des Vatikan (Drittes Buch, Kapitel 4) in der deutschen Übersetzung von Thomas Dobberkau: »in sozialen Fragen argumentierte er eher mit Überzeugungen als mit Sachkenntnis«. Seite 321: »Ich sage dir, stehe auf, nimm dein Bett und gehe heim!« Evangelium des Markus, 2, 11.